Handbuch Kindertrauer: Die Begleitung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien 9783666402272, 9783525402276, 9783647402277

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Handbuch Kindertrauer: Die Begleitung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien
 9783666402272, 9783525402276, 9783647402277

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402276 — ISBN E-Book: 9783647402277

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402276 — ISBN E-Book: 9783647402277

Franziska Röseberg/Monika Müller (Hg.)

Handbuch Kindertrauer Die Begleitung von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien

Vandenhoeck & Ruprecht © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402276 — ISBN E-Book: 9783647402277

Mit 27 Abbildungen und 9 Tabellen Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über ­http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-647-40227-7 Umschlagabbildung: Zoonar.com/Dagmar Schneider © 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen /  Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen Umschlag: SchwabScantechnik, Göttingen Druck und Bindung: e Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Inhalt

Vorwort der Herausgeberinnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 Alison Penny Zur Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

I Eine theoretische Annäherung

Bianca Senf und Lisa Eggert Entwicklungspsychologische Aspekte in der Arbeit mit trauernden Kindern und Jugendlichen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Margaret Stroebe und Monika Müller Das Halten oder Lösen der Bindung an den Verstorbenen – Das duale Trauer-Prozess-Modell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 Esther Fischinger Die Tafelrunde lädt ein – Systemische Perspektiven zur Kindertrauer . . . . . . . . . 35 Phyllis R. Silverman und Sam M. Silverman Gedenken und Andenken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 Robert A. Neimeyer Die Rekonstruktion von Bedeutung infolge eines Verlusts: eine Perspektive für das weitere Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 David W. Kissane Ein familienzentriertes Betreuungsmodell auf der Basis einer FRI-Typisierung – Wie man Familien, die von einem negativen Trauerverlauf bedroht sind, identifizieren und ihnen helfen kann, die eigenen Stärken zu nutzen . . . . . . . . . 69

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Inhalt

Julie Stokes Resilienz und trauernde Kinder – Wie wir Kinder dabei unterstützen, nach dem Tod eines Elternteils eine resiliente Grundhaltung zu entwickeln . . . . 79 Liz Rolls Die Evaluation von Kindertrauer-Diensten in Großbritannien . . . . . . . . . . . . . . . 97

II Trauer im Kontext von Sterben,Tod und Abschiednahme Wenn Eltern erkranken und sterben

Franziska Kühne, Frank Schulz-Kindermann, Corinna Bergelt und Tall Katz-Biletzky Kinder körperlich kranker Eltern – Belastungsfaktoren und Ansätze für Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Bianca Senf Die Trauer von Kindern und Jugendlichen nach dem Tod eines Elternteils am Beispiel Krebserkrankung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 Wenn Kinder sterben

Schwester Frances Dominica und Christine Young Die Trauer sterbender Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener . . . . . . . . . 147 Dennis Klass Unterstützung trauernder Eltern – Selbsthilfe oder professionelle Hilfe? Zwei Wege zum gleichen Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Hubertus Busch und Reinhard Buyer Das Unmögliche gangbar machen – Eltern erleben den Tod eines Kindes . . . . . 161 Betty Davies Familiale Funktionalität und Trauerreaktionen bei hinterbliebenen Geschwistern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 170 Katrin Beerwerth Kinder erleben den Tod eines Geschwisterkindes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 Heike Brüggemann Kinder erleben die Fehl- bzw. Totgeburt eines Geschwisterkindes . . . . . . . . . . . . 183

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Inhalt

Wenn bedeutsame andere Verluste eintreten

Chris Paul Kinder und Jugendliche als Trauernde nach einem Suizid – Eine Möglichkeit menschlichen Handelns . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Mechthild Schroeter-Rupieper Kinder erleben den Tod von Großeltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 Thorsten Adelt Der Trainer ist plötzlich verstorben – Wenn ein Spiegel erblindet: ein Beratungsgespräch mit Eltern in einer psychotherapeutischen Praxis für Kinder und Jugendliche, wie es stattgefunden haben könnte . . . . . . . . . . . . . 202 Monika Schneider Wenn Kinder um Tiere trauern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Stephanie Witt-Loers Kinder erleben die Trennung ihrer Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208 Familien mit Kindern im Kontext der Palliativmedizin

Lukas Radbruch Palliativpatienten mit Kindern – die Sicht eines Arztes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Nicole Nolden Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen als Angehörige von Patienten auf der Palliativstation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Andrea Gasper-Paetz Den Tod zu Hause erleben – ein Tabuthema für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene! Oder vielleicht doch eine Chance? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 Abschiednahme und Seelsorge

Heiner Melching Mit Kindern Abschied nehmen – Kinder bei Beerdigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Georg Schwikart … denn sie werden getröstet werden! Seelsorge für trauernde Kinder . . . . . . . . . 257

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III Trauerbegleitung

Donna L. Schuurman Ein Club, dem keiner beitreten will – Ein Dutzend Lektionen, die ich von trauernden Kindern und Jugendlichen lernte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 Stephanie Witt-Loers Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen und begleiten? . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Unterstützung für Kinder in Institutionen

Marita Lammertz Vom Umgang mit Tod und Trauer in Kindertageseinrichtungen . . . . . . . . . . . . . 285 Bettina Hagedorn Hospiz macht Schule – Ein Präventionsprojekt an Schulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Nicole Nolden, Kirsten Fay und Raymond Voltz Umgang mit Sterben, Tod und Trauer – ein Projekt für Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 9 bis 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 309 Annette Wagner, Klaudia König-Bullerjahn und Ruthild Kruschel Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung an Förderschulen 315 Jürgen Langer Schulische Krisenintervention und Notfallseelsorge in der Schule – Intervention und Hilfe in der akuten Trauersituation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 Spezifische Trauerbegleitungsangebote

Susanne Kraft Einzelbegleitung in der Kindertrauer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 Petra Rechenberg-Winter Der Lebenszyklus – Ein systemisches Modell zur Begleitung . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Andrea Henseler, Marita Lammertz und Franziska Röseberg »Es ist gut zu wissen, dass es auch noch andere gibt« – Kinder in Trauergruppen begleiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Maria Traut Trauernde Jugendliche in Gruppen begleiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366

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Inhalt

Annette Dobroschke-Bornemann Verwitwete Eltern und ihre Kinder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 372 Ursula Fülbier »Bei aller Schwere ein Austausch, der mir gut tut« – Gruppen für verwitwete Eltern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 382 Franziska Röseberg »Einen Platz im Leben für die Trauer schaffen« – Ein Forschungsbeispiel mit Impulsen für die Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 392 Lana Reb Trauerbegleitung im Internet – die Online-Beratungsstelle »www.youngwings.de« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411 Romy Kohler »doch-etwas-bleibt.de« – Der Trauerchatroom für Jugendliche und junge Erwachsene, ein Projekt des Hospizes Bedburg-Bergheim . . . . . . . . . . . . . 417 Katrin Döveling und Katrin Wasgien Emotionsmanagement im Netz: Kindertrauer online – Ein aktueller Forschungsbeitrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Mehr als Begleitung

Christine Fleck-Bohaumilitzky und Christian Fleck Wann hilft Begleitung in Trauersituationen – wann ist Therapie sinnvoll? Komplizierte Trauer? Was ist das? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 435 David Trickey Zu viel Angst, um traurig zu sein – Traumatische Trauer bei Kindern . . . . . . . . . 443 Stefan Reichelt Wenn Verlust zum Trauma wird – Interventionen aus psychotraumatologischer Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Djura Többen Das Vorkommen von Trauer bei Kindern und Jugendlichen in psychotherapeutischen Kontexten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 471

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Inhalt

Sabine Trautmann-Voigt, Corinna Windisch und Ute Brunne Die Trauer über das Nicht-gesehen-Werden – Trauer im psychotherapeutischen Prozess einer Familie nach Suizid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 481

IV Weiterführendes für Anbieter

Franziska Röseberg, Monika Müller und Bianca Senf Entwicklungen im Bereich der familienorientierten Trauerbegleitung und Netzwerkbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 489 Detlef Bongartz Entwicklung eines Curriculums zur Befähigung von professionell tätigen Menschen für die Kindertrauerbegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 495 Nicole Nolden und Annette Wagner Fundraising zur Finanzierung von Kindertrauerbegleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 508 Detlef Bongartz Supervision für Trauerbegleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Übergeordnete Adressen in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 524 Literaturhinweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 525 Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 533 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 545

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Vorwort

Dieses Buch entstand in der Intention, Praxis und Theorie der Trauerbegleitung von Kindern, Jugendlichen, jungen Erwachsenen und deren Familien zu verbinden. Theoretische und erfahrungsbasierte Beiträge ergänzen einander und spannen einen weiten Bogen. Die Auswahl an Themen und Autoren1 bedeutet gleichzeitig auch Begrenzung. Wir haben Beiträge von internationalen Autoren ausgewählt, die mit ihren Modellen, ihren praktischen Erfahrungen und ihren Forschungsarbeiten einen wichtigen Beitrag zum aktuellen Verständnis von Trauer geleistet haben. Die deutschsprachigen Autoren sind Experten mit langjähriger Erfahrung, die diese in ihren Beiträgen bereitstellen und dazu einladen, sich zu orientieren, aber auch kritisch zu reflektieren, weiterführende Fragen zu stellen und zu diskutieren. Sie stehen exemplarisch für eine große Bandbereite an Trauerbegleitungsangeboten in Deutschland. Wir freuen uns sehr, dass so viele Autoren der Einladung zu diesem gemeinsamen Buch gefolgt sind. Manchmal machen unterschiedliche Begrifflichkeiten deutlich, dass die Autoren aus verschiedenen Fachbereichen kommen, vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Erfahrungen schreiben oder auch kulturell geprägte Unterschiede bestehen. Wir haben bewusst darauf verzichtet, die Termini zu vereinheitlichen. Dies trägt der Tatsache Rechnung, dass das Verständnis von Trauer und die Unterstützung in der Trauer keinesfalls einheitlich sind. Manches, vor allem die Fallbeispiele2, mögen sehr nahegehen. Wir laden Sie, liebe Leser, ein, sich von den Geschichten berühren zu lassen. Unsere eigenen Emotionen sind ein wesentliches Werkzeug in der Begleitung von Trauernden. Das Buch möchte sensibel machen für das, was Kinder, Jugendliche und Familien erleben, wenn Verluste und insbesondere der Tod eines für sie bedeutsamen Menschen in ihr Leben tritt. Gleichzeitig will es Hilfestellung im Umgang mit trauernden Kindern, Jugendlichen und deren Familien geben und das Thema von verschiedenen Blickwinkeln aus beleuchten. Franziska Röseberg und Monika Müller 1

Aufgrund besserer Lesbarkeit wird die männliche Form hier im Vorwort sowie auch in den Beiträgen des Handbuches auch dann benutzt, wenn weibliche Personen mitgemeint sind. 2 Zum Schutz der Betrofffenen sind in den Beiträgen bei Fallbeispielen alle Namen anonymisiert.

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Alison Penny

Zur Einführung

Der Tod eines nahestehenden Menschen kann für Angehörige jeden Alters verheerend sein. Im Fall von Kindern und Jugendlichen führt dieser zu Veränderungen und Herausforderungen, die überall spürbar sind: in Bezug auf ihre physische und psychische Gesundheit ebenso wie auf ihre Lernfähigkeit und ihre Beziehungen. Kinder reagieren sehr unterschiedlich auf Verlust. Dabei hängt viel davon ab, inwieweit ihre Familien und das weitere System sie unterstützen und ihnen ein warmherziges und verlässliches Umfeld bieten, in dem über den Verstorbenen gesprochen werden kann und in dem Kinder ihre Gefühle und Sorgen mitteilen dürfen. Dennoch kann es für trauernde Eltern, die vielleicht zum ersten Mal die Elternrolle allein übernehmen müssen, extrem schwierig sein, ihren Kindern Zeit und Aufmerksamkeit zu schenken. Andere Erwachsene, Gleichaltrige und Freunde finden es oft problematisch, adäquate Unterstützung anzubieten. Sie haben Sorge, das Falsche zu sagen, die Betroffenen aufzuregen oder die Dinge schlimmer zu machen. Die Unterstützung durch Familie und Freunde braucht manchmal eine Untermauerung durch einen organisierten, integrativen Rahmen, der von lokalen Diensten geschaffen werden kann. Angestellte in Schulen, Kindergärten, im Gesundheitswesen, in psychologischen, sozialen und palliativmedizinischen Diensten müssen zusammenarbeiten, um trauernden Kindern ein unterstützendes Netzwerk zu bieten. Dazu benötigen sie Informationen, Training und Unterstützung. Dieses Buch ist daher eine sehr willkommene Ergänzung der bisher zum Thema Trauer veröffentlichten Literatur für all diejenigen, die trauernde Kinder und Jugendliche in Deutschland unterstützen. Theorien zum Trauerverhalten bei Erwachsenen sind sehr viel weiter entwickelt als zum Trauerverhalten von Kindern. Forschungsergebnisse, die bei Untersuchungen von Erwachsenen gewonnen wurden, lassen sich nicht einfach auf Kinder und Jugendliche übertragen. Hier ist eine entwicklungsorientierte Perspektive gefragt, die vom I. Teil dieses Bandes gut abgedeckt wird. Hier findet der Leser eine Einführung in die wichtigsten Theorien in Bezug auf Interventionen bei trauernden Kindern und ihren Familien. Diese Einführung dient gleichzeitig als Bezugsrahmen und setzt alle weiteren Beiträge des Bandes in einen Kontext. Kinder machen sehr unterschiedliche Erfahrungen mit Tod und Trauer, denn der Tod eines Elternteils oder eines Geschwisters führen zu sehr verschiedenen Änderungen im Familiensystem. Ein vorbereitetes Sterben in einem Palliative-Care-Kontext stellt ein

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Zur Einführung

Kind vor andere Herausforderungen als ein plötzlicher Tod durch Selbsttötung. Teil II dieses Bandes beleuchtet daher verschiedene Wege, auf denen Kinder und Jugendliche dem Tod und ihrer Trauer begegnen, und beschäftigt sich mit den unterschiedlichen Situationen, in deren Rahmen Kinder Verlust erfahren können. Die unterschiedlichen Netzwerke im Leben eines Kindes – Familie, Freunde und Gemeinschaft – können verschiedene Formen der Unterstützung bereithalten. Von der Familie braucht ein Kind vielleicht eher Informationen, Rückhalt, Wärme und Strukturen. Vonseiten der Schule ist es wichtig, den Verlust anzuerkennen, ihn zu verstehen und dem Kind in Bezug auf etwaige Lernschwierigkeiten oder Mobbing Rückendeckung zu geben. Hilfreich ist auch, wenn Lehrer wissen, wo sie weitere Hilfe anfragen können, falls diese nötig ist. Psychologische Dienste können ein Umfeld schaffen, in dem Kinder über ihren Verlust und ihre Zukunft sprechen dürfen, ohne Angst haben zu müssen, andere damit zu belasten. Ein Treffen mit anderen Betroffenen kann ihnen Mut geben und das Gefühl vermitteln, dass sie Teil einer Gemeinschaft sind, in der andere Ähnliches erlebt haben. Teil III dieses Bandes zeigt daher im Detail auf, wie Unterstützung in den unterschiedlichen Bereichen, das heißt sowohl familiär, freundschaftlich und privat als auch schulisch und institutionell, am besten gewährleistet werden kann. Dabei werden auch die aktuellsten Formen des Beistands für Kinder, die trauern, einbezogen, wie beispielsweise Hilfe online. Auch die wichtige Frage, in welchem Szenario und ab welchem Zeitpunkt manche Familien tiefergehende Hilfe benötigen, wird nicht vernachlässigt. In Teil IV wenden sich Beiträge den zentralen Themen von Fundraising, Nachhaltigkeit und einer reflektierten Praxis zu. Es ist von äußerster Wichtigkeit, dass Fachleute in der Lage sind, zentrale Ergebnisse der für sie relevanten Forschung zu identifizieren und diese Erkenntnisse in ihre Praxis zu integrieren. Bei diesem Prozess wird das »Handbuch Kindertrauer« ebenfalls sehr hilfreich sein. Der organisatorische Druck, einen Dienst erfolgreich zu leiten und dabei angemessen auf die Bedürfnisse betroffener Familien zu reagieren, lässt Fachleuten oft wenig Zeit, sich mit den aktuellsten Entwicklungen in ihrem Bereich zu befassen. Eine der wichtigsten Rollen des Childhood Bereavement Network (CBN) in Großbritannien ist, zwischen Organisationen und einzeln praktizierenden Fachleuten zu vermitteln und beide zusammenzubringen. Wir von CBN waren uns bewusst, dass viele Spezialisten in ihrer Rolle recht allein sind und es begrüßen würden, sich mit Fachkollegen austauschen zu können. Gemeinsam, so dachten wir, können wir sowohl auf politischer als auch auf praktischer Ebene mehr erreichen. Wir beobachten mittlerweile die vielen Vorteile, die es bringt, wenn Fachleute und Ehrenamtliche verschiedener Disziplinen landesweit zusammengeführt werden. Es ist durch unsere Arbeit möglich geworden, sich in Bezug auf eine erfolgreiche Praxis auszutauschen, die Komplexität von Aufgaben zu diskutieren, gemeinsame Projekte zu entwickeln sowie die nationale oder lokale Politik zu beeinflussen. Letztlich sind es diese Netzwerke, die Kindern und ihren Familien helfen, denn sie gewährleisten eine bessere Zusammenarbeit in Bezug auf Überweisungen zu Diens-

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Alison Penny

ten und Spezialisten sowie die Deckung eines landesweiten Bedarfs. Wir freuen uns daher sehr, von deutschen Netzwerken wie dem Bundesverband Trauerbegleitung e. V. und dem Bundesarbeitskreis Trauerbegleitung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien zu erfahren. Wir hoffen sehr, dass wir in Zukunft voneinander lernen und zusammenarbeiten können, um den Wandel herbeizuführen, den wir uns wünschen.

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I Eine theoretische Annäherung

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Bianca Senf und Lisa Eggert

Entwicklungspsychologische Aspekte in der Arbeit mit trauernden Kindern und Jugendlichen

Jeder Mensch hat ein mehr oder weniger intuitives und/oder theoretisches Wissen über die psychische Entwicklung von Kindern und eine Idee, welche Verhaltensweisen in welcher Altersstufe angemessen oder weniger angemessen sind – insbesondere derjenige, der sich mit der Thematik näher befasst. Im Umgang mit trauernden Kindern ist es dennoch oft hilfreich, grundlegende entwicklungspsychologische Konzepte zu den Themen Trauer und Verlusterfahrung zu kennen. Naturgemäß ist die Arbeit mit trauernden Kindern durch die Kooperation verschiedener primär pädagogisch, medizinisch oder theologisch ausgebildeter Professionen geprägt. Dadurch ergeben sich viele Chancen und Möglichkeiten, wechselseitig von der Perspektivenvielfalt zu profitieren. Im Umgang mit Kindern, die mit einer Verlusterfahrung konfrontiert sind, ist es sinnvoll, auf Erkenntnisse der Entwicklungspsychologie zurückgreifen zu können und so eine Ergänzung der eigenen Perspektive zu erfahren. Dieser Beitrag will eine Brücke schlagen und versuchen das bestehende individuelle Repertoire an Hintergrundwissen zu explizieren und zu erweitern. Insbesondere soll eine integrative, methodenübergreifende Betrachtungsweise entwicklungspsychologischer Aspekte der Trauer bei Kindern angestrebt werden. Psychoanalyse, Tiefenpsychologie, Lerntheorie, systemische Ansätze und viele andere Bereiche versuchen sich in der Entwicklungspsychologie letztlich derselben zentralen Frage zu widmen: Wie entwickeln Kinder ein emotionales und kognitives Verständnis von Tod und Sterben? Daher wird im Folgenden dargelegt, was Entwicklung in der psychologischen Literatur bedeutet, wie emotionale und kognitive Entwicklung definiert sind und sich wechselseitig beeinflussen und was dies für die Frage »Was wissen Kinder vom Sterben und vom Tod?« bedeutet.

Der psychologische Entwicklungsbegriff: Leben als Meistern von Herausforderungen Welche der historischen entwicklungspsychologischen Perspektiven (Eriksons Theorie der psychosozialen Krisen, Havighursts Konzept der Entwicklungsaufgaben) man auch einnimmt, eines ist ihnen allen gemeinsam: Unterschiedlichen Altersstufen sind unterschiedliche zentrale Themen oder zu lösende Aufgaben/Probleme zugeordnet. Aus psychoanalytischer Perspektive des Stufenmodells von Erikson (1976) sind wech-

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Bianca Senf und Lisa Eggert

selnde zentrale Konflikte zu lösen. Beispielsweise entscheidet sich durch Erfahrungen des Kindes zwischen dem 4. und dem 6. Lebensjahr, inwieweit es eine stärkere Unabhängigkeit entwickelt und eine gute Balance zwischen Initiative und Schuldgefühl findet. Nach Havighurst (1948/1972) kommt es in der Kindheit unter anderem vor allem darauf an, eine positive Einstellung zu sich selbst als wachsendem Organismus zu entwickeln. Darauf aufbauende neuere entwicklungspsychologische Perspektiven betrachten Entwicklung stärker als individuellen Prozess denn als lineare Abfolge (Oerter, 1995). Implizit ist allen Konzeptionen gemein, dass die Kindheit eine besonders zentrale Phase der Entwicklung ist, dass Entwicklung Prozesscharakter hat und ge- oder misslingen kann. Daraus lässt sich schließen, dass an unterschiedlichen Punkten in der Entwicklung, selbst wenn starke individuelle Stressoren ausbleiben, immer wieder neue Herausforderungen gemeistert werden müssen. Deutlich wird weiterhin, dass Verlustereignisse in der Kindheit stärkere Entwicklungsrisiken bergen als im Erwachsenenalter. Befasst man sich mit Kindern und Jugendlichen, die trauern, gilt es immer, die generellen Entwicklungsanforderungen im Blick zu behalten. So mag ein Siebenjähriger gerade die ersten Schritte hin zum selbstständigen Weltentdecker tun und lernen, seine Hausaufgaben allein zu erledigen, wohingegen ein Jugendlicher mit 15 Jahren erstmals eine Paarbeziehung eingeht und mitten in einer echten Identitätssuche steckt. Auf Basis der individuellen, kontinuierlichen psychischen Entwicklung sind Verlusterlebnisse besondere Einschnitte, die als »kritische Lebensereignisse« (Filipp u. Aymanns, 2010) konzeptualisiert werden können und die es zu bewältigen gilt. In der Klinischen Psychologie geht man davon aus, dass derartige Lebensereignisse zu einem substanziellen Anteil konkrete Stressoren sind, die das Risiko der Entwicklung einer psychischen Störung erhöhen. Einschneidende Verlustereignisse im Kindes- und Jugendalter sind also als Risikofaktoren zu betrachten, die eine gesunde psychische Entwicklung gefährden können. Ob sich eine wie auch immer geartete psychische Auffälligkeit entwickelt, hängt jedoch von den Bewältigungskapazitäten des einzelnen betroffenen Kindes ab und diese wiederum vom Vorhandensein interner und externer Ressourcen, die die Bewältigungsmöglichkeiten jedes Individuums determinieren (Lazarus, 1981).

Eine entwicklungspsychologische Betrachtung: Wie erlebt ein Kind Verlust und Tod? Die Auseinandersetzung mit dem Tod ist ein Resultat der normalen geistig-seelischen Entwicklung des Kindes und unterliegt einem fortlaufenden Reifungsprozess. Verschiedene Faktoren, vor allem aber der emotionale und kognitive Entwicklungsstand, beeinflussen, auf welche Basis ein einschneidendes Verlusterlebnis trifft. Es scheint fast profan und doch wird eben dieser Aspekt häufig nicht berücksichtigt: Was ein Kind,

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Entwicklungspsychologische Aspekte

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das trauert, braucht, auf welche eigenen Bewältigungsmechanismen es zurückgreifen kann, hängt ganz elementar damit zusammen, wie weit die Entwicklung der Gefühlsund Gedankenwelt des Kindes fortgeschritten ist. Selbstverständlich interagieren beide Systeme; das Fühlen beeinflusst das Denken und umgekehrt. Da wir als Erwachsene häufig sehr von unserem eigenen Denksystem ausgehen und dadurch das dem Denken vorgeschaltete Fühlsystem der Kinder außer Acht lassen, sollen beide nachfolgend voneinander unterschieden werden. In Bezug auf Tod und Sterben erweist es sich als hilfreich, immer beide Aspekte zu betrachten, um die innere Welt des betroffenen Kindes zu erfassen.

Das Verlustgefühl oder: Wann können Kinder den Tod erfahren? Manch ein Autor unterlag dem Fehlschluss, dass ein Nichtbegreifen (ein Nichtaussprechen oder Nichtdenken) des Todes auch mit dem Nichtvorhandensein einer emotionalen Wahrnehmung (einem Nichtfühlen) eines Verlusts einhergehe. Einer der bekanntesten dieser Autoren ist Sigmund Freud (1915/1946). Er schreibt in seiner »Traumdeutung«, dass selbst neunjährige Kinder wenig vom Tod verstünden und infolgedessen auch keine Angst vor ihm hätten. Durch diese Auffassung wurden Generationen von Wissenschaftlern, die sich mit diesem Thema beschäftigten, beeinflusst. Beispielsweise widmen Tausch-Flammer und Bickel (1994, S. 77) in ihrem sonst kenntnisreichen Buch »Wenn Kinder nach dem Sterben fragen« Kindern unter drei Jahren gerade einmal sechs Zeilen, in denen sie postulieren, dass diese den Tod nicht begreifen. Bei derartigen Postulaten geht man davon aus, dass Fühlen ohne kognitives Korrelat weniger real oder intensiv sei. Implizit wird nahegelegt, dass ein Verlusterleb­nis somit bei kleinen Kindern weniger aktive Verarbeitung bedürfe als bei älteren Kindern und Erwachsenen. Doch wie fatal für den Umgang mit dem betroffenen Kind ist es, anzunehmen, dass das Fehlen eines kognitiven Korrelats (»Mama wird nie wiederkommen!«) gleichzusetzen sei mit einem wenig ausgeprägten Schmerz sowie einem wenig ausgeprägten Verzweiflungs- und Trauergefühl – Gefühle also, die kaum eine Bewältigung nötig hätten. Die beschriebenen Fehleinschätzungen resultieren insbesondere aus einer Vermischung der verbalen, kognitiven und emotionalen Ebene psychischen Erlebens. Sie haben nach Auffassung des amerikanischen Psychiaters Irvin D. Yalom (1989) inhaltliche und methodische Gründe. Viele Untersuchungen sind beispielsweise so konzipiert, dass nicht die Kinder selbst über ihr Verständnis vom Tod befragt wurden, sondern deren Eltern oder Erzieher. Dass Kinder auf Verlust emotional reagieren, wird augenfällig, wenn man die Forschung zur Bindungstheorie von John Bowlby (1983; 2001) und Sylvia Anthony (1972) betrachtet. Ein psychisch gesundes Kind reagiert auf den Verlust der Bezugsperson mit Schreien und Weinen, also mit dem Ausdruck von Emotionen. Bleibt eine adäquate Antwort auf diese Gefühlsäußerungen aus, ver-

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Bianca Senf und Lisa Eggert

armt der emotionale Ausdruck. Anhand qualitativer Studien können einige Autoren belegen, dass Kinder unter zwei Jahren sich schon mit dem Tod – und dies bedeutet nach Ansicht dieser Autoren, mit der Vernichtung ihrer Existenz – beschäftigen. Anna Freud (1960) war zum Beispiel der festen Überzeugung, dass Kinder bereits ab ihrem zweiten Lebensjahr ein tiefes Wissen vom Tod und seiner Bedeutung erlangen können (vgl. auch Anthony, 1972; Kastenbaum u. Aisenberg, 1972; Furmann, 1974). Es gibt für Yalom (1989; 2008) nach eingehendem Studium relevanter Literatur außerdem überzeugende Beweise dafür, dass Kinder den Tod in einem sehr frühen Alter entdecken und befürchten, dass auch sie selbst sterben würden. Diese Entdeckung ängstige das Kind sehr und seine Hauptentwicklungsaufgabe bestehe darin, mit dieser Angst umgehen zu lernen. Zentral ist daher, aus einem Fehlen von Verbalisierung der inneren Empfindungen keinesfalls abzuleiten, dass die zugrunde liegenden Gefühle nicht erlebt würden. Aufgrund eigener klinischer Tätigkeit sowohl mit sterbenden Kindern als auch mit Kindern krebskranker, sterbender Eltern halten wir es in der praktischen Arbeit mit Eltern und Kindern für ratsam und notwendig, davon auszugehen, dass auch Kinder unter zwei Jahren das Wesen des Todes intuitiv erfassen und darauf mit großer Angst reagieren. Auch ist es elementar wichtig, sich bewusst zu machen, welche Möglichkeiten, die eigenen Gefühle kognitiv zu verarbeiten bzw. zu verbalisieren, ein Kind hat. Diese Möglichkeiten sind wiederum insbesondere durch das allgemeine Niveau der kognitiven Entwicklung beeinflusst und altersabhängig.

Das Todeskonzept von Kindern: Wann können Kinder den Tod begreifen? Neuere Ansätze zur altersspezifischen Entwicklung des Todeskonzeptes greifen fast ausschließlich auf die Arbeiten und Annahmen von Jean Piaget (1983; 1997) zur Entwicklung des Denkens zurück. Dieser nahm an, dass sich das Denken in unterschiedlichen Phasen entwickle. In Korrespondenz zu Piagets Betrachtungsweise haben Alain Di Gallo und Dieter Bürgin (2006; siehe auch Bürgin, 1989) ein Phasenmodell entwickelt. Verschiedene Autoren gehen davon aus, dass sich im Verlauf der kindlichen Entwicklung bis zum Jugendalter vier Dimensionen des Todesbegriffs herausbilden (Nagy, 1959; Plieth, 2001): 1. Nonfunktionalität: Der Tod bedeutet völligen Stillstand der Körperfunktionen. 2. Irreversibilität: Der Tod ist nicht mehr rückgängig zu machen. 3. Universalität: Alle Lebewesen müssen einmal sterben. 4. Kausalität: Die Ursachen des Todes sind biologisch. Laut Hannelore Wass (1995) ist es zentral, hierbei immer zu berücksichtigen, dass man nicht allein vom Alter eines Kindes ausgehend beurteilen sollte, was es weiß, sondern dass der individuelle Stand der kognitiven Entwicklung berücksichtigt werden muss.

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Entwicklungspsychologische Aspekte

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Die folgenden Altersangaben sind in Anlehnung an die Arbeiten der oben genannten Autoren entstanden und als ein Gerüst zu verstehen, das kindliche Denken über den Tod zu verstehen und zu systematisieren. Sie ersetzen keinesfalls den aufmerksamen Blick auf das individuelle Kind und sein Familiensystem, denn die praktische Erfahrung bestätigt immer wieder, dass jenseits dieses Gerüstes alles an Wissen über den Tod möglich ist. Säuglinge und Kinder bis zwei Jahren In diesem Alter sind die verbalen Ausdrucksmöglichkeiten sehr begrenzt. Die entsprechenden Reaktionen des Säuglings äußern sich in Unruhe, Schreien, Schlafstörungen und Veränderungen des Essverhaltens; mit zunehmendem Alter des Kindes dann in weinerlichen, zum Teil verzweifelten Reaktionen, wie zum Beispiel sich auf den Boden werfen, sich wegdrehen von der Person, die sich zuwendet, Suchverhalten, Daumenlutschen oder Bauchschmerzen. Di Gallo und Bürgin schlussfolgern, dass, wenn man die heftigen emotionalen Reaktionen der Kinder auf den Verlust der Bezugsperson sieht, schwerlich davon ausgegangen werden kann, dass das Kind zu Empfindungen und Vorstellungen von Todesnähe noch nicht fähig ist. Das Kind kann noch nicht zwischen belebt und unbelebt unterscheiden und die Endgültigkeit des Todes wird kognitiv noch nicht begriffen, so sucht und ruft das Kind immer wieder nach dem verlorenen Elternteil. Dennoch erlebt es den Verlust stark emotional (Di Gallo u. Bürgin, 2006). Kinder von zwei bis vier Jahren Das Kind interessiert sich für den Tod. Es kennt beispielsweise das Wort dafür und beschäftigt sich intensiv damit, wenn es zum Beispiel mit einem toten Tier spielt. Das Kind entwickelt Vorstellungen von belebt und unbelebt. Manche Kinder versuchen mit einem Stöckchen, das sicheren Abstand bietet, zu überprüfen, ob man den toten, erstarrten Vogel noch einmal zum Fliegen bringen kann. Die Fähigkeit, den Tod und seine Folgen begrifflich fassbar zu machen, ist noch begrenzt, das bedeutet, dass der Tod reversibel ist. So suchen Kinder oft nach dem verstorbenen Elternteil, warten auf seine Rückkehr und fragen den Überlebenden, wann Mama/Papa endlich zurückkomme. Es ist auch die Phase des magischen Denkens und der Allmachtsfantasien, in denen der Tod mit Gespenstern, Hexen und Zauberern in Verbindung gebracht wird. Die Vorstellung, gegen das Gespenst (den Tod) zu siegen, hilft dem Kind gegen seine Angst vor der existenziellen Bedrohung. Die Vorstellung des Todes korrespondiert dabei sehr stark mit dem, was Eltern ihrem Kind über den Tod vermitteln. Kinder von vier bis sechs Jahren Langsam beginnt nun die Phase des intuitiven Denkens. Das Kind entwickelt die Fähigkeit, Dinge einzustufen und zu ordnen, versteht jedoch noch nicht die zugrunde liegenden Prinzipien und Ursachen. Viele Kinder wissen in dieser Zeit, dass der Tod

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Trennung bedeutet. Leblose Dinge können allerdings noch für lebendig gehalten werden. Versteht das Kind die Unbeweglichkeit, kann es sich dennoch Sorgen machen, dass der Verstorbene Schmerzen oder Hunger leiden muss oder aus dem Sarg nicht alleine herauskommen kann und keine Luft mehr bekommt. Das Kind ist oft noch der Überzeugung, dass der Tote im Sarg nur schläft. Tod wird von vielen Kindern als Bestrafung oder Fehlverhalten erlebt (»Mama ist gestorben, weil ich böse war«). Gegen Ende dieser Phase beginnen die Kinder die Endgültigkeit des Todes immer mehr zu begreifen. Kinder von sechs bis neun Jahren Der Tod wird in dieser Altersgruppe oft personifiziert als der böse Mann oder Sensenmann, als Skelett oder Totenvogel. Er kann das Kind, so glaubt es, ereilen, wenn es böse war, und es kann ihm mit List und Tücke entkommen. Die Vorstellung, dass der eigene Tod vermeidbar ist, kann allerdings nur noch schwer aufrechterhalten werden. Die Tatsache, dass jeder lebendige Organismus, also auch man selbst, einmal sterben muss, wird von den meisten Kindern zunehmend verstanden. Das Kind erwirbt das Wissen, dass Tote weder essen noch wachsen noch schlafen und auch nicht mehr atmen können. Erst im Lauf der Zeit folgt dann das Wissen, dass Tote auch nicht mehr fühlen können und infolgedessen auch keine Angst in ihrem Grab haben. Insgesamt wird das Denken des Kindes flexibler und es kann ursächliche Zusammenhänge herstellen. Kinder von neun bis zwölf Jahren In diesem Alter weiß das Kind, dass der Tod endgültig ist und fast alle Kinder verstehen gegen Ende dieser Phase das Erscheinungsbild eines toten Menschen. Sie wissen, dass ein toter Körper sich verändert, dass er kalt ist, fahl und ganz anders aussieht. Kinder, die nicht persönlich vom Tod eines nahen Angehörigen betroffen sind, entwickeln großes Interesse, eine Leiche anzuschauen oder sie sehr genau beschrieben zu bekommen. Das abstrakt-operationale Denken (Piaget, 1983) bildet sich immer weiter aus, das heißt, es ist nicht mehr an die konkrete Erfahrung im Hier und Jetzt gebunden. Archaische Vorstellungen können aber noch auftauchen. Kinder ab zwölf Jahren und Jugendliche Nun können Kinder die Endgültigkeit und die Konsequenzen, die der Tod für sie hat, erkennen. So machen sich Jugendliche große Sorgen, wie es um die finanzielle Absicherung bestellt ist, wenn der Vater/die Mutter als Ernährer der Familie ausfällt. Die Denkmuster, über die auch Erwachsene verfügen, sind ihnen normalerweise zugänglich. Da die Endgültigkeit des Todes erkannt wird, quälen sich Jugendliche oft mit Sinnfragen, und das bereits ganz unabhängig davon, ob sie mit einem Todesfall in der unmittelbaren Umgebung konfrontiert sind. Kinder entwickeln in der Pubertät ihre

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eigenen Gedanken und Ideen über den Tod und stellen oft Überzeugungen ihrer Eltern, vor allem religiöse, völlig in Frage. Eng verbunden mit dem Wissen des Kindes oder Jugendlichen über den Tod sind seine (Trauer-)Reaktionen auf den Tod eines Elternteils.

Fazit Zusammenfassend lässt sich sagen, dass man in der Arbeit mit trauernden Kindern immer deren emotionalen und kognitiven Entwicklungsstand im Blick behalten sollte. Darauf basiert letztlich, welche Möglichkeiten den Kindern in ihrem Trauerprozess als aktivem Bewältigungsvorgang zur Verfügung stehen. Auch professionelle Unterstützung, die immer eine erfolgreiche Bewältigung kritischer Lebensereignisse zum Ziel haben sollte, muss an den individuellen Fähigkeiten der Klienten, in dem Fall also an denen der trauernden Kinder, ausgerichtet sein.

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Bianca Senf und Lisa Eggert

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Margaret Stroebe und Monika Müller

Das Halten oder Lösen der Bindung an den Verstorbenen Das duale Trauer-Prozess-Modell

In diesem Beitrag gehen wir der Beziehung zwischen einer fortbestehenden Bindung (FB = »continuing bonds«) und der Verlustbewältigung nach. In der deutschen Sprache hat das Wort »Bewältigung« (abgeleitet von »Gewalt«) sehr leicht die Konnotation von erledigen, bezwingen, überwinden, mit Erfolg ausführen und hinter sich bringen. Deshalb ist uns einleitend wichtig, dass wir dieses Wort in einem weniger kämpferischen Sinn einsetzen, wohl wissend, dass der Schmerz um einen großen Verlust ein Leben lang Teil der Persönlichkeit bleibt, wenngleich er dann nicht mehr in der Heftigkeit und Ausschließlichkeit der ersten Wochen, Monate und Jahre auftritt. Mit »bewältigen« meinen wir hier: den Anforderungen einer sehr schwierigen Situation oder schweren Aufgabe gerecht werden. Es geht eher um ein Zurechtkommen mit dem Schmerz und darum, ihm eine Bedeutung zuzugestehen, als darum, ihn in den Griff zu bekommen. Wir werden die wissenschaftliche Kontroverse vorstellen, die es zum Thema Halten oder Lösen gegeben hat. Im Anschluss werden wir unsere theoretische Antwort auf diese Kontroverse darlegen. Aber zuerst ist es wichtig, die gesundheitlichen Konsequenzen zu erwähnen, die mit einem Verlust und der Trauer verbunden sind. Der Verlust eines geliebten Menschen bedeutet für die Zurückbleibenden großes Leid, nicht nur einhergehend mit einer erhöhten Sterblichkeitsrate, sondern auch mit erhöhter Morbidität. Unterschied in %

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Abbildung 1: Sterblichkeitsraten von Witwern über 54 Jahren im Vergleich zu Sterblichkeitsraten von verheirateten Männern (aus: Parkes, Benjamin u. Fitzgerald, 1969)

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Die erhöhten Sterblichkeitsraten wurden einer klassischen Studie von Parkes, Benjamin und Fitzgerald (1969) entnommen. Abbildung 1 zeigt prozentuale Unterschiede zwischen den Sterblichkeitsraten von Witwern über 54 Jahre im Vergleich zu verheirateten Männer gleichen Alters, in Abhängigkeit von der Anzahl der Jahre seit dem Verlust der Ehefrau. Das betrifft vor allem das erste halbe Jahr nach dem Tod der Ehefrau. Neuere Forschung hat diese Ergebnisse bestätigt und zeigt zum Beispiel auch eine erhöhte Mortalität bei Eltern nach dem Verlust eines Kindes (Li, Precht, Mortensen u. Olson, 2003). Obwohl das Sterblichkeitsrisiko sehr hoch erscheint, gibt es – in absoluten Zahlen ausgedrückt – nur sehr wenige verwitwete Personen, die tatsächlich frühzeitig sterben. Deshalb ist es auch wichtig, die Morbidität anzuschauen. Beispielsweise treten Gesundheitsprobleme häufiger bei Verwitweten als bei nicht Verwitweten auf. In Tabelle 1 sind einige Auswirkungen für bestimmte Partnergruppen von Verstorbenen ausgewählt, die sowohl physische wie auch psychische Schwierigkeiten und Störungen beinhalten. Obwohl die Prozentsätze variieren, ist deutlich, dass es eine Minorität ist, die unter diesen Auswirkungen leidet. Es ist deshalb hochrelevant, gerade diejenigen zu identifizieren, für die nach dem Verlust eines nahestehenden Menschen ein Risiko besteht, unter körperlichen und psychischen Gesundheitsauswirkungen zu leiden. Denn nur so lässt sich ein passendes Angebot von professioneller Hilfe erstellen. Zu den Risikofaktoren zählen auch herkömmliche Bewältigungsstrategien (wie zum Beispiel Alkoholkonsum, veränderte Essgewohnheiten oder ein übermäßig erhöhtes Sport- oder Arbeitspensum). Diese können bei Gesundheitskonsequenzen eine erhebliche Rolle spielen. Tabelle 1: Gesundheitliche Auswirkungen eines Verlustes auf ausgewählte Partnergruppen Morbidität: Ausgewählte Resultate Gesundheitsprobleme

Gruppe

Prävalenz

Körperliche Gesundheitsprobleme (Stroebe u. Stroebe, 1993)

Junge Witwen/r

20 % (4–6 Monate) 12 % (nach 2 Jahren) [vgl. 3 % Verheiratete]

Posttraumatische Belastungsstörung (Schut et al., 1991)

Partner

9 % (erste 2 Jahre: zu allen 4 Zeiten der Messungen)

Depressive Störung (Zisook u. Shuchter, 2001)

Witwen/r

24–30 % (2 Monate nach dem Tod) 16 % (nach einem Jahr)

Komplizierte Trauer (Middleton et al., 1993; Forstmeier u. Maercker, 2007)

Witwen/r

5–33 % (akute Trauerperiode)

Hinsichtlich der in der Forschung nachgewiesenen gesundheitlichen Auswirkungen stellt sich nun die Frage: Können bei den körperlichen und psychischen Störungen fort-

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Das Halten oder Lösen der Bindung an den Verstorbenen

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bestehende Bindungen an den Verstorbenen eine Erleichterung oder Lösung bringen? Dabei ist zunächst zu klären, was unter fortbestehender oder anhaltender Bindung verstanden wird. Laut der wesentlichen Forschung auf diesem Gebiet (zum Beispiel Field, Gal-Oz u. Bonnano, 2003; Shuchter u. Zisook, 1993) ist sie definiert als »das Vorhandensein einer fortdauernden innerlichen Beziehung zu einer verstorbenen Person«. Bitte beachten Sie, dass mit den Übersetzungsvarianten »fortbestehend« und »anhaltend« die gebräuchliche Übersetzung von »continuing bonds« in Frage gestellt wird.1 Die Begriffe »fortbestehende Bindung« oder »weiterbestehende Verbindung« enthalten stärker den Aspekt einer in die Zukunft reichenden Verbindung und treffen so das Wesentliche besser als der Ausdruck »fortdauernde Bindung«, auch wenn dies nur eine kleine Nuance bedeutet. Wenn man an fortbestehende Bindung denkt, meint man nicht eine feststehende, statische Verbindung. Wenn man sich beispielsweise einen Verstorbenen in einer neuen Rolle vorstellt, die der Verstorbene während seiner Lebenszeit noch nicht innehatte – zum Beispiel die Rolle als Großvater – und welche somit eine neue Beziehung/Verbindung zum Verstorbenen eröffnet, dann trifft das Wort »fortdauernd« diesen Aspekt nicht. Grundlegend bleibt bei der Forschung auf diesem Gebiet aber trotz aller Feinabstufungen in den Definitionen die Frage, ob und wie bedeutsam fortbestehende Bindungen für die Verlustbewältigung sind. Wie verhält sich die Bindung in Bezug auf die Verarbeitung des Verlustes eines geliebten Menschen? Ist es besser für die irgendwann eintretende »erfolgreiche« Bearbeitung eines Verlustes, die Verbindung zum Verstorbenen zu lösen, oder ist es sinnvoll, die Verbindung zum Verstorbenen aufrechtzuerhalten? Was sagt die Wissenschaft zu dieser Frage? Die Meinungen hierzu variierten über die Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Frühere Modelle, sehr unter dem Einfluss von Freud, vertraten die Ansicht, die Bindungen seien unbedingt und radikal zu lösen. Spätere Modelle dagegen zeigten die Vorteile fortbestehender Verbindungen auf (zum Beispiel Klass, Silverman u. Nickman, 1996). In Bezug auf die Lösung der Bindung schrieb Freud (1917/1975) in »Trauer und Melancholie«: »Die Realitätsprüfung hat gezeigt, dass das geliebte Objekt nicht mehr besteht, und erlässt nun die Aufforderung, alle Libido2 aus ihren Verknüpfungen mit diesem Objekt abzuziehen […] Jede einzelne der Erinnerungen und Erwartungen, in denen die Libido an das Objekt geknüpft war, wird eingestellt, überbesetzt und an ihr die Lösung der Libido vollzogen […] Tatsächlich wird aber das Ich nach der Vollendung der Trauerarbeit wieder frei und ungehemmt« (S. 199). Die theoretischen Ideen zur Lösung der Bindung wurden auch in Beratungs- und Therapiegrundsätzen widergespiegelt, wie man an dem Statement der auf diesem Gebiet führenden Psychiaterin Beverley Raphael erkennt: »um den Prozess der psy1

Die Autorinnen möchten sich an dieser Stelle besonders bei Frau Dr. Kathrin Boerner für ihren Diskussionsbeitrag bedanken. 2 »Libido« bedeutet »Energie«, während »das Objekt« auf die geliebte verstorbene Person weist.

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chologischen Trauer zu erleichtern […] ist die schrittweise Lösung von Bindung zum Verstorbenen« nötig (Raphael u. Nunn, 1988, S. 200). Interessanterweise gibt es aus sehr unterschiedlichen Kulturen Belege, die nahelegen, dass die Lösung von Bindungen der Weg zu sein scheint, mit Trauer umzugehen. Zum Beispiel ist in der traditionellen Navajo-Indianer-Kultur Trauer auf vier Tage beschränkt (Miller u. Schoenfeld, 1973). Das Ausdrücken von Trauer ist in dieser Zeit erlaubt, aber nach vier Tagen kehrt man zum normalen Leben zurück. Es ist dann nicht mehr gestattet, in irgendeiner Weise Trauer zu zeigen oder über den Verstorbenen zu sprechen. Der Grund hierfür ist die Furcht vor der Macht des Geistes des Verstorbenen, da dieser den Lebenden dem Glauben der Navajo-Indianer nach Schaden zufügen kann. Die Veröffentlichung des Buches »Continuing bonds. New understandings of grief« von Klass et al. (1996) führte zum Umdenken: Nach Klass et al. sind nämlich fortbestehende Bindungen ein gesunder Teil im weiteren Leben des Zurückgebliebenen. Das Anhalten der Bindung fördere sogar die Trauerbewältigung. Tatsächlich scheint es plausibel, dass eine adäquate Trauer das Fortbestehen der Bindung beinhaltet. Es ist darüber hinaus nicht schwierig, hierzu Illustrationen zu finden, wenn man sich erneut interkulturellen Beispielen zuwendet. Zum Beispiel gibt es in Japan und anderen asiatischen Ländern Schreine zur Verehrung der Ahnen, in die bei einigen Subkulturen die Namen der Verstorbenen eingraviert sind. »Auch«, so schrieb Yamamoto (1970), »bleibt in diesen Kulturen ein Zugang zu den Verstorbenen bestehen, der Trauernde kann zu ihnen sprechen, er kann den Verstorbenen Nahrungsmittel oder sogar Zigaretten anbieten – alles in allem werden die Verstorbenen geehrt, ernährt, mit Getränken versorgt und bleiben für den Trauernden erhalten.« Es gibt also widersprüchliche Ergebnisse in der Forschung (siehe Field, 2008; Klass et al., 1996; Stroebe u. Schut, 2005). Wir möchten hier nicht auf Details eingehen, aber die Ergebnisse wissenschaftlicher Studien ergeben bisher kein einheitliches Bild in Bezug auf die eine oder die andere Position. Aus unserer Sicht, und hierauf möchten wir uns konzentrieren, hat das (unter anderem) damit zu tun, dass entweder das Halten oder auch das Lösen der Bindung nicht gleichermaßen und zu jedem Zeitpunkt zu jedem Hinterbliebenen passt. Wir müssen uns die Frage stellen: Für wen fördert eine anhaltende Bindung die Verlustbewältigung? Um dies zu beantworten und Vorhersagen darüber zu ermöglichen, ob und wann das Festhalten an einer Bindung oder das Lösen hilfreich, heilsam oder problematisch ist, ist eine theoretische Perspektive nützlich. Daher beziehen wir uns im Folgenden auf unser Verlustbewältigungsmodell, das duale Prozessmodell (DPM; Stroebe u. Schut, 1999; 2010; Stroebe, Schut u. Boerner, 2010)3. Laut dem DPM (siehe Abbildung 2) findet Bewältigung im Rahmen der Alltagserfahrungen statt. Zu manchen Zeiten orientiert sich der Hinterbliebene mehr auf die Verlustbewältigung (Verlust-orientiert = VO), zu anderen Zeiten nimmt er sich Aufgaben der Wiederherstellung vor (Wiederherstellungs-orientiert = WO). Beide 3 Das DPM ist kompatibel mit der Theorie von Bowlby (1980).

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Das Halten oder Lösen der Bindung an den Verstorbenen

Das duale Prozessmodell (DPM) der Trauerbewältigung (Stroebe u. Schut, 1999)

Alltagserfahrungen Verlustorientiert

Wiederherstellungsorientiert

Trauerarbeit Sich aufdrängende Gedanken

Sich an Lebensänderungen anpassen

Fortbestehen/ Auflösung der Bindung

Neue Dinge unternehmen Sich von Trauer ablenken

Verleugnung/Vermeiden von Realitätsveränderungen Oszillieren

Verleugnen, Trauer vermeiden Neue Rollen, Identitäten, Beziehungen entwickeln

Abbildung 2: Das DPM (aus: Stroebe u. Schut, 1999)

Umgangsformen mit dem Verlust und seinen Auswirkungen sind für eine erfolgreiche Trauerbewältigung notwendig. VO (Abbildung 2, linke Seite) beinhaltet verschiedene Dimensionen, die mit der verstorbenen Person zu tun haben. Als Beispiel seien hier der Friedhofsbesuch oder die Grabpflege genannt. WO (Abbildung 2, rechte Seite) dagegen beinhaltet die Verarbeitung stresserzeugender Aspekte, die mit den Veränderungen im Leben einhergehen, die als sekundäre Konsequenz des Verlustes zustande gekommen sind. So geht es zum Beispiel darum, Aufgaben der verstorbenen Person zu übernehmen. Weil zwei Orientierungen postuliert werden und beide notwendig sind, wird ein Prozess der emotionalen Regulierung, den wir Oszillieren nennen, integraler Bestandteil des Modells. Die Pfeile symbolisieren das Oszillieren zwischen diesen Polen. Nach dem DPM hängt die erfolgreiche Adaption von einer gelungenen Balance zwischen Trauerarbeit und aktiven Zuwendungsaufgaben ab (vgl. Znoj, 2005, S. 11). Natürlich muss eingeräumt werden, dass die Realität immer komplexer als ein grafisches Modell ist. Wie sehr beide Pole notwendig und hilfreich für einen gesunden Trauerprozess sind, mag das nachstehende Beispiel verdeutlichen. David, ein älterer Seminarteilnehmer, berichtete in einer Selbsterfahrungseinheit sehr berührend vom Tod seines Vaters, der im Krieg gefallen war. David war zu diesem Zeitpunkt 13 Jahre alt und der einzige Junge von drei jüngeren Geschwistern. Er vermisste den Vater

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Margaret Stroebe und Monika Müller

sehr stark, vor allem ihre Spaziergänge im Wald und den gemeinsamen Aufenthalt in des Vaters Schreinerei, wo er dem Vater zur Hand gegangen war und vieles schnitzen durfte. Die ersten Monate litt David unter Schlaflosigkeit und auch unter Albträumen. Er schnitzte einen kleinen Hausaltar, auf den er einen letzten Feldpostbrief und einen Orden des Vaters deponierte. Jeden Tag brachte er eine frische Blume dorthin und verabschiedete sich abends vor dem Zubettgehen vom Vater. Die Onkel und Tanten der Familie und einige Nachbarn suchten ihn von Zeit zu Zeit mit dem Satz zu ermutigen: »Nun bist du der Mann im Haus und musst deiner Mutter und deinen Schwestern beistehen!« Auch wurden Erwartungen laut, dass er doch sicher später die Schreinerei übernehmen würde. Davids Besuche bei den Verwandten, Nachbarn und dem alten Gesellen, die am Anfang häufig waren, ließen mit den Monaten nach, auch schnitzte er nicht mehr. Nur einen kleinen Hobel aus der Werkstatt, den er bis heute besitzt, nahm er mit in sein Zimmer. Er lieh sich nun vermehrt Bücher aus und erklärte der Verwandtschaft, dass er Lehrer werden wolle.

Das DPM kann verglichen werden mit anderen Verlustbewältigungsmodellen, zum Beispiel mit dem Phasenmodell von Bowlby (1980) und dem Traueraufgabenmodell von Worden (1991, verändert in der neuen Ausgabe, vgl. 2008). Tabelle 2 verdeutlicht dies. Tabelle 2: Vergleich der Verlustbewältigungsmodelle (aus: vgl. Stroebe u. Schut, 1999; 2010) Vergleich der Modelle Phasenmodell (Bowlby, 1980)

Traueraufgabenmodell (Worden, 1991)

Duales Prozessmodell (DPM) (Stroebe u. Schut, 1999)

Schock

Den Verlust als Realität akzeptieren

Den Verlust als Realität akzeptieren … und die Realität einer veränderten Welt akzeptieren

Sehnsucht/Protest

Den Trauerschmerz erfahren

Den Trauerschmerz erfahren … und sich Zeit vom Trauerschmerz freinehmen

Verzweiflung

Sich anpassen an eine Umwelt, in der der Verstorbene fehlt

Sich anpassen an eine Umwelt, in der der Verstorbene fehlt … und mit der (subjektiv) veränderten Welt klarkommen

Wiederherstellung

Emotionale Energie abziehen und in eine andere Beziehung investieren

Emotionale Energie abziehen und in eine andere Beziehung investieren … und neue Rollen, Identitäten und Beziehungen entwickeln

Das DPM baut auf dem Traueraufgabenmodell auf und widerspricht auch dem Phasenmodell nicht, aber es fügt den Oszillierungsprozess hinzu. Auch ist die Wiederherstellungsorientierung allein für das DMP charakteristisch (siehe Tabelle 2).

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Das Halten oder Lösen der Bindung an den Verstorbenen

DPM: Formen komplizierter Trauer normale Trauer Verlustorientiert

Wiederherstellungsorientiert

chronische Trauer

abwesende/ verzögerte Trauer

traumatische Trauer

Abbildung 3: Drei Varianten komplizierter Trauer, eingebunden ins DPM (aus: Stroebe u. Schut, 1999; 2010)

Verschiedene Formen von Trauerkomplikationen sind kompatibel mit dem DPM (siehe Abbildung 3). Drei Varianten sind bekannte Komplikationsarten bei Trauer, nämlich die chronische Trauer, die abwesende/verzögerte Trauer und die traumatische Trauer (siehe Parkes, 1996; Stroebe, Schut u. van den Bout, 2013). VO ist in ausgeprägten Fällen mit chronischer Trauer verbunden, WO mit abwesender/verzögerter Trauer. Das heißt: Sowohl die dauernde (»ruminative«), exzessive Beschäftigung mit dem Verlust als auch die exzessive Vermeidung einer Beschäftigung mit dem Verlust stellen einen erheblichen Risikofaktor für eine pathologische Entwicklung dar. Eine Krankenschwester berichtete in der Supervision von einem sie bedrückenden Fallbeispiel: Eine Witwe, die ihren Mann lange gepflegt und eine sehr liebevolle Beziehung zu ihm hatte, erstaunte ihr Umfeld, als sie kurz nach seinem Tod verkündete, dass ihr Glaube an einen Himmel und ein Paradies keine Trauer erlaubten. Auch wolle er das sicher nicht; er wolle sie zufrieden und fröhlich. Sie ging aus, nahm an allen möglichen Festlichkeiten teil und vermied in Gesellschaft Erzählungen und Erinnerungen an ihn. Bald verkaufte sie die Eigentumswohnung und gab seine persönlichen Sachen weg. Den Schwestern des Palliativdienstes, die sie zu einem Gedenkgottesdienst und einem Hinterbliebenen-Treffen einluden, entgegnete sie, man müsse nach vorne schauen.

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Dieses Beispiel aus der Praxis lässt in seiner Fixierung auf Wiederherstellung eine Vermeidungstendenz und einen erschwert verlaufenden Trauerprozess vermuten. Die Bewegung zwischen den benannten Polen scheint zu fehlen. Zu starkes Vermeiden kann die langfristig erfolgreiche Adaption verhindern. Eine Störung im Oszillieren, wie sie das Fallbeispiel aufzeigt, spricht für traumatische Trauer (zum Beispiel posttraumatische Stresssymptome, sich aufdrängende Gedanken). Das lange Verharren an einem der beiden Pole des dualen Prozessmodells verrät die Gefahr einer Störung, die sich möglicherweise physisch oder psychisch manifestiert. Es kann also gesagt werden, dass die Bewegung zwischen beiden Seiten und die Bewegung überhaupt ein wichtiges Kennzeichen einer angemessenen Trauer ist. Wichtig ist zu erkennen, dass es nur in Extremfällen zu Komplikationen kommt. Menschen sind in verschiedenem Ausmaß Verlust- oder Wiederherstellungs-orientiert, und für die meisten Menschen wird ihre VO-/WO-Strategie letztendlich zu einer erfolgreichen Bewältigung führen, sofern ihre Bewältigung nicht mit extremem Klammern oder intensiver Vermeidung in Bezug auf den Verstorbenen in Zusammenhang steht. Wie hängen die verschiedenen Formen komplizierter Trauer nun aber mit bindungsrelativierten Bewältigungsstrategien zusammen? Um diese Frage zu beantworten, möchten wir als Letztes eine Verbindung herstellen zwischen dem DPM und dem Anhalten versus dem Lösen der Bindung (vgl. Abbildung 4). Bei der so genannten normalen Trauer ist die Bindung zu der verstorbenen Person beibehalten, in veränderter Form und im Wechsel von Konfrontation und Vermeidung von VO- und WOStressoren. Bei chronischer Trauer ist die extreme Form von Festhalten an der Bindung nicht adaptiv; die Bindung müsste gelöst werden. Bei abwesender/verzögerter Trauer ist wiederum eine extreme Vermeidung oder Aufgabe der Bindung nicht adaptiv; man müsste sich mit der Realität des Verlustes auseinandersetzen. Schließlich besteht bei traumatischer Trauer Verwirrung bezüglich des Festhaltens oder Aufgebens der Bindung. Eine Auseinandersetzung mit den Bindungsproblemen ist hier notwendig und kann durch eine gute Begleitung und Beratung gefördert und gestützt werden. Als Schlussfolgerung ist festzustellen, dass weder die fortdauernde Bindung noch das Lösen der Bindung allgemein passend oder unpassend ist. Eine solche SchwarzWeiß-Interpretation sollte vermieden werden. Das duale Prozessmodell der Trauerbewältigung bietet ein differenziertes Bild an, indem es zeigt, wie verschiedene Orientierungen und Bewältigungsstrategien mit dem Fortdauern/Lösen der Bindung zusammenhängen. Es ermöglicht Vorhersagen darüber, wann das Anhalten bzw. Lösen der Bindung zum Verstorbenen hilfreich, heilsam oder problematisch ist. Somit kann dieses Modell einerseits dazu dienen, den Zusammenhang zwischen der fortbestehenden Bindung zum Verstorbenen und der Anpassung an den Verlust zu untersuchen, und andererseits professioneller Hilfe wichtige Informationen bieten.

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Das Halten oder Lösen der Bindung an den Verstorbenen

Anhalten vs. Lösen der Bindung? (Stroebe, Schut u. Boerner, 2010)

Verlustorientiert

Normale Trauer: Bindung in anderer Form beibehalten – adaptiv

Chronische Trauer:

Wiederherstellungsorientiert

Festhalten der Bindung nicht adaptiv –

Abwesende/verzögerte Trauer:

müssen die Bindung lösen

Aufgeben der Bindung nicht adaptiv – müssen sich mit der Realität des Verlustes auseinandersetzen

Traumatische Trauer: Verwirrung bzgl. Festhaltens oder Aufgebens der Bindung Nicht adaptiv – Auseinandersetzung mit Bindungsproblem notwendig Abbildung 4: Anhalten und Lösen der Bindung im Zusammenhang des dualen Prozessmodells (aus: Stroebe, Schut u. Boerner, 2010)

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Margaret Stroebe und Monika Müller

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Esther Fischinger

Die Tafelrunde lädt ein Systemische Perspektiven zur Kindertrauer

»Das möchte ich meinen Kindern zeigen!« (Isabella, zehn Jahre alt, sechs Monate nach dem Krebstod ihrer Mutter). Gemeint ist ein Foto, das ihre Mutter als junge Frau am Ufer eines Sees zeigt, lachend der Kamera zugewandt. Diese intuitiv vollzogene Bewegung hin zur transgenerationalen (weiblichen) Achse der Familie erlaubt es dem Mädchen, sich in der Trauerzeit eines weltenbewegenden Umbruchs zu (re-)orientieren, sich an (Über-) Lebenskräfte rückzubinden und in einer selbstnährenden Imagination eine heilsame Entwicklungsperspektive zu erschließen. Isabella verbindet das Vergangene mit dem Zukünftigen, rekonstruiert und konstruiert (lebenslohnende) Wirklichkeit. Sie stellt sich identifikatorisch in eine (Erfahrungs-)Kontinuität und verankert sich als Teil eines sinnbezogenen größeren Ganzen. Isabella befindet sich zum Zeitpunkt ihres größten Verlustes auf vielerlei Weise in Kommunikation. Sie nimmt ihre Position ein am Kreuzungspunkt der für sie relevanten Bezugsgrößen und aktiviert ihr Bindungssystem auf mehreren Ebenen – einmal in einer Art Binnengespräch über das Symbol des Fotos mit der intrapsychischen Repräsentanz ihrer Mutter. Gleichzeitig entwickelt sie im Dialog mit sich selbst einen visionären Entwurf für ein zukünftiges Selbst. Darüber hinaus adressiert sie ihre Absicht an die aktuell in ihrer Lebensumwelt für sie bedeutsamen Personen und versichert sich damit ihrer Unterstützer (Familienmitglieder, Therapeutin). Staunen lässt sich des Weiteren auch darüber, dass Isabellas kinderweise Worte unsere Aufmerksamkeit gleichsam präventiv auf die besondere Verbindung zwischen Großeltern und einer zukünftigen Enkelgeneration richten: In der Arbeit mit Schicksalsbindungen finden Adamaszek (2001) und andere mit großer Regelmäßigkeit wirkmächtige Ereignisse in der Biografie der Vorausgeborenen, die oft erst in der zweiten Generation über stellvertretende Lebens- und manchmal auch Krankheitsäußerungen der Enkel eine not-wendende Würdigung des (traumatischen) Geschehens einfordern. Wir tun also gut daran, Isabellas vorwegnehmendem, achtsamem Hinweis auf die Bedeutung der Systemverletzung für die noch ungeborenen Familienmitglieder zu folgen. Ihre salutogenetische Ressource wird in der Zukunft unter anderem davon bestimmt sein, wie viel Respekt andere für die gelebte Trauer der Gegenwart aufbringen. Isabella fokussiert auf das Wesentliche des systemischen Ansatzes: Menschen sind beziehungsorientierte Wesen, was sie erleben, erhält seine Bedeutung im Beziehungs-

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kontext. Dies führt zum Verständnis einer komplexen Welt bewegter, wechselseitiger Einflussnahme von Einzelelementen, die in ihrer Bezogenheit aufeinander ein einzigartiges größeres Ganzes – ein System – bilden, das über eine definierte Architektur und autonome Selbstverwaltungsstrukturen verfügt.

Allgemeine systemische Betrachtung interaktioneller Prozesse »Alles einzeln ist schön – alles zusammen ist wunderschön« (Merle, sieben Jahre alt, nach dem Suizid des Vaters). Systeme werden über zwei sich in Feinabstimmung austarierende Grundmuster charakterisiert: Einmal gibt es die Tendenz, eine konstante Systemidentität aufrechtzuerhalten (Morphostase), und zum anderen die Fähigkeit, sich Veränderungen anzupassen, notwendige Entwicklungen einzuleiten (Morphogenese). Wachstumsenergie und Bewahrungskräfte arbeiten dabei als aufeinander bezogene Gegenspieler Hand in Hand (Schmidt, 2004, S. 139 ff.). Die für das System zu erzielende Homöostase ist somit nie ein statisches, sondern immer ein dynamisches Phänomen. Systeme schwingen unter- und miteinander und beeinflussen sich auf diese Weise permanent gegenseitig. Soziale Systeme definieren sich über Kommunikation und gestalten ihre Wirklichkeit durch sie, dabei gibt es keine objektivierbare Realität, sondern nur vereinbarte Realität. Das bedeutet, dass Wahrheit ebenfalls nur als eine für wahr-genommene (Wahrheit gegebene) subjektive Zustandsbeschreibung verstanden werden kann. Sobald wir (zum Beispiel als professionelle oder auch ehrenamtliche Helfer) in Kontakt treten mit einem System, beeinflussen wir es bereits allein durch unsere Beobachtung, unsere Einstellungen, unsere Haltung und verändern damit das Gleichgewicht eines menschlichen Gefüges (Erkenntnisse der Kybernetik, 2. Ordnung). Was zu Systemveränderungen führt, ist jedoch immer abhängig von der Durchlässigkeit der Grenzen in der jeweiligen (zum Beispiel familiären) Einheit, da diese einer Selbststeuerung unterliegt, welche ihre Offenheit oder Geschlossenheit gegenüber Impulsen von außen bestimmt. Die Wirksamkeit von externen Einflussmaßnahmen (zum Beispiel von Beratungen/therapeutischen Interventionen) ist abhängig von der korrespondierenden internen Aufmerksamkeit und Reaktionsbereitschaft des betroffenen Systems – diese anhaltend selbstgestalterische Kraft bezeichnet man mitunter auch als Autopoiesis. Systeme erschaffen sich also in einem dauerhaften Prozess (nichtlinear/nichtintentional) aus sich selbst heraus immer wieder neu nach organischen Prinzipien, die wir fördern und unterstützen können; letztlich gilt es jedoch, den autonomen Gestaltungswillen des uns anvertrauten Systems anzuerkennen und die Reziprozität von Beziehungen in allen Konsequenzen zu durchdenken. Insbesondere die Begleitung eines trauernden Familiensystems erfordert die Anerkennung paritätisch und zirkulär wirksamer Kommunikationsprinzipien, handelt es sich dabei doch stets um einen ko-evolutionären Prozess, das heißt einen immer alle Beteiligten in die

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jeweilige Veränderungsdynamik einschließenden Ansatz, der Berater und Beratene wechselseitig beeinflusst und inspiriert.

Systemische Betrachtung intrapsychischer Vorgänge Eine Vision: »Papa schau her: Jetzt bin ich schon größer als die Mama. Dich […] einzuholen war ja nicht schwer« (Annika, elf Jahre alt, etwa zwei Jahre nach dem Tod des Vaters in einer Notiz ihres Memory-Books). Annika ist ziemlich groß geworden im letzten Jahr. Sie trauert darum, dass ihr verstorbener Vater auf seinem Lebensweg »quasi stehen geblieben ist«. Annika erkennt aufgrund ihres altersangemessen reifen Todeskonzepts, dass es für ihren Vater endgültig und unumkehrbar keine Entwicklung, kein Wachstum mehr geben wird. Dies ist zugleich aber auch ein (scham- und schuldbesetzter) Konflikt für das Mädchen, dem sie im inneren Gespräch mit ihrem Papa Geltung verschafft und damit die väterliche Anwesenheit (seine seelische Repräsentanz) an ihren gegenwärtigen Entwicklungsstandort, in ihre Nähe, zoomt. Ihre Loyalität wahrt sie, indem sie betont, auch ihre Mutter eingeholt zu haben. Annika darf nun, da die Ungehörigkeit des anachronistischen Todes offengelegt wurde, ihre beiden Eltern überwachsen, über ihre Trauer hinauswachsen. Neben den biologischen, sozialen, politischen, kulturellen Systemen im Umgebungsfeld gibt es auch im Binnengeschehen der Psyche unterschiedliche Anteile, die in vielfältigem Wechselspiel interagieren. Die Systembeziehungen der Persönlichkeitsaspekte untereinander sind ebenfalls bemüht, ein funktionales Gleichgewicht mit einem schlüssigen, in sich stimmigen Persönlichkeitskern zu erhalten, und darüber hinaus dynamisch aktiv, um (auch abweichende/herausfordernde/verwundende) Erfahrungen zu integrieren und eine Homöostase auf reiferem Niveau wiederzuerlangen. Vielleicht lässt sich die Mehr-Seelen-wohnen-ach-in-meiner-Brust-Gemeinschaft mit ihren funktionalen Ich-Anteilen unter der Führung eines gesunden Selbst am besten am Bild einer Ritterrunde verstehen: Jeder Einzelne in der Runde bedarf der Aufmerksamkeit des Königs und ist damit ein mit anderen konkurrierender Counterpart am Hof, jedoch verbindet alle ein vitales (Eigen-)Interesse, das Reich als schützenswerte Struktur zu verteidigen und dem Repräsentanten gegenüber loyal und verbindlich zu handeln. Einzelne Protagonisten können sich aber für unterschiedlich lange Zeiträume (beim Turnier/im Wettstreit) als autonome Personen verhalten und als selbstreferenzielle Individualitäten empfinden. So fühlen wir uns zeitweise vollständig hilflos, sind zornig, ängstlich oder traurig. Und in diesem Verständnis einer Ritterrunde kann dann sogar eine innere Familientherapie begonnen werden: »D. h. mit seinen Teilen wie mit einer Gruppe arbeiten, wobei das Selbst als Therapeut für die Familie der Teile fungiert« (Schwartz, 1997, S. 170). Eine in uns angelegte Multiplizität gestattet, auch vorübergehende extreme Gefühlszustände nur als extreme Selbstwahrnehmung einzel-

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ner Aspekte in uns zu sehen, »statt als Beweise für eine Pathologie in unserem Kern« (S. 35). Trauer ist dementsprechend keine Krankheit, sondern ein Anpassungsvorgang an die unablässige Metamorphose alles Lebendigen. In Anlehnung an die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie für Kinder (PITT, Krüger u. Reddemann, 2007) lassen sich Imaginationskräfte als Ressourcen nutzen, um die kundigen Anteile eines trauernden Kindes als Bündnispartner zu gewinnen. Der im Erdreich tief verwurzelte und von der Sonne genährte Baum, eine schützende Hülle aus Licht, Zeitreisen etc. sind wirksame Metaphern. Die Stärke wilder Tiere, Schutzengel, Elementargeister, Feen, Zauberer und unzerstörbare Helden können zu innerseelischen Helfern werden. Die kreative Arbeit an einem Familienwappen, in dem die unterschiedlichen Kompetenzen der einzelnen Mitglieder zu einem außenwirksamen Bild der spezifischen Charakteristika der Familie zusammengefügt werden, ist eine wunderbare Methode, die Kohärenz, den Zusammenhalt der familialen Einheit, über den Tod eines Angehörigen hinaus zu stärken. So vergrößerten zwei jugendliche Mädchen beispielsweise ein von ihnen als Collage gestaltetes Wappen und hängten es im zentralen Eingangsbereich des Hauses auf. Ein Memory-Book mit Fotos eines besonderen Familienausflugs, einer Duftprobe des Parfums der verstorbenen Mutter, einem eingeklebten Stück Stoff des Lieblings-T-Shirts des Vaters zu erstellen, ist ebenfalls bindungsachtende, schöpferische Arbeit an der Erinnerung. Das Lesen und Fortschreiben von Märchengeschichten, in denen es schier unüberwindbaren Gefährdungen zum Trotz personifizierten, heilsamen Selbstanteilen gelingt, die Prüfungen zu meistern und nicht nur das Leben an sich zu retten, sondern eben auch Aspekte der Schattenwelt zu integrieren, sind Beispiele für die Nutzung unserer reichen inneren Ausstattung zur Neuorientierung. Auch die Arbeit mit schwierigen, zerstörerischen Introjekten (seelische Äquivalente destruktiver Personen oder belasteter Beziehungen) ist in einem imaginären Raum leichter und kann Distanzierungstechniken zugeführt werden. Grundsätzlich finden damit in der hypnosystemischen Trance der Binnenarbeit Verschmelzungssehnsüchte (Wiedervereinigung mit der verstorbenen Bindungsperson) ebenso ihren Platz wie wichtige, aber mitunter vernachlässigte Aspekte der Trauer, nämlich die Wut und der Zorn. Verletzte Selbstanteile können an einer geschützten Stelle untergebracht werden – so ist sich das Kind selbst der innere sichere Ort. Schwer traumatisierte Anteile dürfen sich im Verborgenen zeigen, bis sie sich genug geschützt fühlen, um der Gesellschaft beizuwohnen. Eine wunderbare (systemanalytische) Beschreibung der Lösung aus erstarrter Trauer findet sich in dem Kinderbuch »Bitte umsteigen!« (Matti, 2009), in dem ein Unwetter die Ego-States (durch einen traumatisierenden Verlust unverbundene Ich-Anteile) eines trauernden Mädchens an einem externen Ort zusammenführt und dadurch eine vorsichtige (Wieder-)Annäherung an die abgewehrten Gefühle und das verdrängte Wissen entsteht. In diesem leisen Drehbuch einer inneren Bühnenarbeit kommen die abgespaltenen Aspekte aus den Kulissen und beenden handlungsleitend die Stagnation des prolongierten Trauerprozesses.

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Verstorbene Bindungspersonen bleiben wichtige Ansprechpartner »Emily ist geboren worden. Nur ganz selten nervt sie. Im Gegensatz zu uns hat sie dunkle Haare und dunkle Augen« (Lukas, zwölf Jahre alt, zeigt in einem Brief an seine vor knapp sieben Jahren verstorbene Schwester, dass in der Weite seines Herzens zwei gleichberechtigte schwesterliche Beziehungen unterhalten werden). Auch der Geschwisterverlust ist eine lebenslang und zentral wirksame Erfahrung. Für das überlebende Geschwister verändert sich das Bezugssystem auf drastische Weise. Seine ursprünglich vertrauensvolle Weltsicht ist torpediert, die Aufmerksamkeit der Bindungspersonen zuerst auf das kranke, behinderte oder verunglückte Kind fokussiert, dann durch die Trauer der Eltern und Großeltern belegt. Der eigene Platz im Familiensystem verschiebt sich und muss neu verhandelt werden. Der Tod eines Kindes verursacht Spurrillen in den fortbestehenden Beziehungen der Angehörigen untereinander. Da es in der Trauer um nahe Bezugspersonen sehr unbedacht wäre, eine Loslösung im Sinne eines end-gültigen, abschließenden Trennungsvollzugs zu fordern, geht es um eine Entwicklung und Entfaltung der kindlichen Persönlichkeit, die den Verstorbenen als integrierten Anteil einbezieht. In der kindlichen Entwicklung kommt es ja erst nach und nach zu einer Differenzierung zwischen dem Selbst und dem anderen. Anfangs ist es ein gemeinsames Körper-Selbst, das das Kind in der Symbiose mit der Mutter erfährt, auf das es nach seinen Möglichkeiten mit hoher Überlebenskompetenz aktiv von Anfang an einwirkt; später erst beginnt es nach und nach zwischen sich und seiner ersten Bindungsperson zu unterscheiden, ehe weitere Triangulierungsangebote (zum Beispiel der Vater als Dritter) das System erweitern. Die Wahrnehmungen seiner selbst werden quasi gedolmetscht durch die Reaktionen seiner Umwelt; das erste Echo der eigenen Gefühlszustände durch die Bindungsperson ist ein Transkript vormals unbekannter und unverständlicher Selbstaspekte. Durch die – die Bedürfnisse des Kindes adäquat interpretierenden und beantwortenden – Erwachsenen, welche ihre Hilfs-Ich-Funktionen empathisch und verlässlich zur Verfügung stellen, entwickeln sich mit der Zeit innere (Ab)Bilder (Imagines) der Bindungspersonen, die auch ohne deren physische Anwesenheit das Sicherheit spendende Visavis in einem intrapsychischen Raum repräsentieren. Ein Trennungsereignis in frühester Kinderzeit generiert – sofern kein vollgültiger Ersatz einer alternativen substituierenden Bezugsperson angeboten wird – eine relevante Bedrohung unserer physischen, mentalen und seelischen Gesundheit, wenn es erfolgt, bevor die primären Liebesobjekte, unsere ersten Bindungspersonen, sich als stabile und gefühlsmäßig positiv besetzte Vorstellungen (Objektrepräsentanzen) in uns abgebildet und in der Folge zu einer sicheren Selbstwahrnehmung geführt haben. Auch noch später in der Kindheit hinterlassen der nicht zu kompensierende passagere sowie ein endgültiger Verlust einer Bindungsperson tiefe Spuren in der Identitätsentwicklung. Denn Abschied von einer Bindungsperson bedeutet immer auch einen (Eigen-)Anteilverlust des sich noch in Entfaltung befindlichen kindlichen Selbst.

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Die spezifische Qualität der (Liebes-)Bindung vermag jedoch – trotz eines so radikalen Beziehungsabbruchs wie der Trennung von der Bindungsperson durch den Tod – als innerseelische Bezugsgröße erhalten zu bleiben, und die das Kind stärkenden Persönlichkeitsaspekte des sterbenden bzw. verstorbenen Menschen können als Ressource zur Verfügung stehen. Damit dies möglich wird, müssen Kinder ihr Bindungssystem aktivieren und auf die innere Suche gehen dürfen. Eine wundervolle Parabel bietet Roberto Piumini (1994) in seinem Buch »Matti und der Großvater« mit seinem metaphernreichen Spaziergang eines kleinen Jungen an, der, während sich die Erwachsenen nicht vom äußerlichen Abschiedsprozess der Sterbestunde lösen können, über eine abenteuerliche Reise des alten Mannes in sein Körperinneres das gute Introjekt fest in sich verankert. Bei unvorbereiteten und tabuisierten Abschieden ist es – ganz unabhängig von der kognitiven Reife des Kindes – viel schwieriger, Bewusstheit für die Endgültigkeit und Unumkehrbarkeit des Todes zu erlangen; gerade dann sind Rituale in den Zwischen- und Übergangszeiten der ersten Trauer haltgebend. Manchmal kann ein erinnernder Epilog durch fantasierte Treffen mit dem verstorbenen Großvater ein guter Weg sein, ihn nach-zu-verabschieden: »›Ja‹, sagte Opa. ›Genau […] über all das haben wir nie geredet […] mir fehlt, dass ich Dir nicht auf Wiedersehen gesagt hab.‹ Und da mussten die beiden ein bisschen weinen« (Aakeson u. Eriksson, 2005).

Kinder und Jugendliche als Mitglieder des trauernden Familiensystems »Jedes der Tiere bewahrte eine besondere Erinnerung an den Dachs – irgendetwas, was er sie gelehrt hatte und was sie jetzt ausnehmend gut konnten. Dachs hatte jedem von ihnen ein Abschiedsgeschenk hinterlassen, das sie wie einen Schatz hüteten. Mit ihren verschiedenen Gaben konnten sie alle einander helfen […] Danke, Dachs, sagte der Maulwurf leise. Er war überzeugt, dass ihn der Dachs hörte« (Varley, 1984/1992). Das gemeinsam zusammengesetzte Mosaik eines Lebenslaufes dient als kostbarer Nachlass, wie es Susan Varley (1984) in ihrem Klassiker »Leb wohl, lieber Dachs« dessen Freunde hautnah erleben lässt. Insbesondere Art und Umstände des Todes, vorausgehende Verlusterfahrungen, elterliches Modellverhalten und Art und Stärke der Bindung (Worden, 1996) prägen unseren Umgang mit der wohl größtmöglichen Verletzung unserer Sicherungssysteme. Forscher wie Bowlby und Nachfolger haben ihr Augenmerk auf eine grundsätzliche Systeminformation innerhalb der abgestimmten Interaktionen zwischen Mutter und Kind gerichtet, nämlich das Bindungsverhalten. Auch in vorübergehenden Trennungssituationen wurde das Verhalten von kleinen Kindern beobachtet und in verschiedene Kategorien eingeteilt (Ainsworth u. Bell, 1970, und nachfolgende Forschung). Die Mehrzahl der Testkinder zeigte eine Ausgewogenheit zwischen Sicherheit suchendem und ihre Neugier befriedigendem Verhalten (sicher gebundene Kinder), viele gaben

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sich pseudounabhängig, litten jedoch sichtlich (unsicher-vermeidend gebundene Kinder), eher wenige Kinder waren extrem anhänglich (unsicher-ambivalent gebundene Kinder), eine größere Restgruppe wechselte desorientiert, deutlich gestresst zwischen zu- und abwendendem Verhalten, und war auch nach der Wiedervereinigung kaum zu beruhigen (desorganisiert gebundene Kinder). Es ist unschwer nachzuvollziehen, dass bei existenziellem Verlust ein weitgehend sicher gebundenes Kind andere (prognostisch günstigere) Voraussetzungen hat als ein hochambivalent verstricktes Kind oder gar eins mit der Hypothek chaotisch-verstörender Bindungsmuster, ist doch bei den letztgenannten Bindungstypen das Basisvertrauen in eine stabilisierende Resonanz bereits vor Eintritt der Katastrophe erschüttert. Von den Eltern (oder anderen erwachsenen Bindungspersonen) selbst erlittene, frühe Verluste sind ihrerseits oft der Grund für deren defizitäres Trauerausdrucksverhalten und reduzierte Schwingungsfähigkeit. Einflussgrößen, die mentale und psychische Gesundheit nicht nur trotz Trauer (eine Not-Reifung der kindlichen Persönlichkeit findet wohl immer statt), sondern auch mit der Trauererfahrung ermöglichen, werden im Rahmen dieses Handbuches aus vielen Perspektiven beleuchtet. Kinder, die einen existenziellen Verlust zu betrauern haben, haben ein breites Spektrum an sehr verschiedenen Vorerfahrungen. Gemeinsam ist ihnen die abhängige Position im Familiensystem, dass sie zum Verständnis der Ereignisse sowohl auf altersangemessene Erklärungen als auch die Spiegelungen ihrer Gefühle durch ihre Bindungspersonen angewiesen sind und erwachsene Modelle für ihr Trauerausdrucksverhalten benötigen. Dennoch sind Kinder aktiv daran beteiligt, überlebensrelevante Strategien nicht nur für sich, sondern auch für ihre Angehörigen in den Dienst der Bewältigung zu stellen. Sie besitzen wertvolle Selbstheilungskräfte und entwicklungsentsprechende Vorstellungen davon, was für sie selbst und die sie unterstützenden Erwachsenen hilfreich ist, ja sind darüber hinaus gute Ratgeber für ihre Umgebung. Ihre eigenen Erklärungskonstrukte und ihr intuitives Welten-Wissen bieten uns einen Fundus an Selbsttröstungsideen an. Es sind letztlich in gemeinsamer Anstrengung entwickelte Versuche, sich dem Unbegreiflichen zu nähern, die beide Seiten bereichern. Wollen wir Kinder und Jugendliche während des drohenden oder nach einem bereits erlittenen Verlust einer Bezugsgröße in ihrem Leben unterstützen, ist es langfristig sinnvoll, sich ihnen gegenüber weniger instruierend als zuhörend und beobachtend zu verhalten und die systemische Bedeutung unterschiedlicher Trauerreaktionen der Gemeinschaft im Auge zu behalten. Isoliert betrachtet, sehen wir oft sogar sehr kleine Kinder, die manchmal viel zu große Verantwortung übernehmen (sich damit immer wieder überfordern) und in Gefahr geraten, stellvertretende Erwachsenenrollen auszufüllen. Nichtsdestotrotz dürfen Kinder ihre oft so besondere innere Stärke, ihr bindungsaktivierendes Einfordern, ihre instinktiven Trostqualitäten ebenfalls zur Verfügung stellen. Andererseits begegnen uns Jugendliche, die nicht immer den Erwartungen entsprechen und zum Austausch mit den nächsten Angehörigen wenig Bereitschaft zeigen, sondern in ihrer Peergroup, ihrer Freundschaftsclique, den Verlust zu

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bewältigen versuchen. Eventuell nehmen sie bevorzugt die Angebote der modernen Medien wahr und tauschen sich in Chatrooms (einige davon professionell angeleitet) mit anderen betroffenen Gleichaltrigen aus. Damit pendeln sie zwischen den für sie relevanten Systemen. Betrachten wir also Trauergemeinschaften als dynamisches Ganzes, so erkennen wir die Autoregulationsbemühungen eines Systems, welches sich instinktiv als Überlebenseinheit versteht. Dieser Trauerorganismus – vergleichen wir ihn mit dem oft beschriebenen Mobile im Sturm – zehrt von der Fähigkeit, seine verschiedenen Trauerorgane zu verschiedenen Zeiten zu be- und entlasten. Aus diesem Grund kommt es auch zu den auffallend antizyklischen Bewegungen in einer trauernden Familie, das heißt zu versetzten Reaktionen ihrer einzelnen Mitglieder. Unter Umständen zeigen sich zuerst die angepassten, leistungsbereiten, kompensierenden Seiten der Trauerbewältigung (auffallend gute Schulnoten oder ausgeprägt fürsorgliches bzw. konfliktarmes Verhalten) und sind als schützende Gesten den Überlebenden gegenüber ein- und wertzuschätzen. Gelebte Bedürftigkeit und unter Umständen auch Symptombildung (Anpassungsstörungen, Depressionen, Ängste) von Kindern und Jugendlichen konstellieren sich daher oft erst in einer Phase weitgehender Stabilisierung der beteiligten erwachsenen Personen. Immer aber ist die Spurensuche nach dem charakteristischen Engramm im Familienwappen – entstanden durch den jeweiligen Umgang mit großen und kleinen Herausforderungen, mit Verlusten und biografischen Brüchen wie auch den besonderen Befähigungen, diese zu bewältigen, ja vielleicht sogar daran gewachsen und erstarkt zu sein – als Arbeit an der Mehrgenerationenperspektive unerlässlich für das Verständnis eines akut oder auch dauerhaft belasteten Familiensystems. Sie lässt sich in ihrer Belebensfreude wohl kaum besser darstellen, als Imme Dros und Harrie Geelen (1992) es taten in ihrem Bilderbuch »Das O von Opa«: »›Ich habe auch zwei Opas. Einen normalen und einen toten. Und der tote Opa konnte alles. Und alle Spiele‹ […] Jim spielt jeden Tag mit einem Spiel aus Opas Schränkchen. Er hat niemanden, mit dem er spielen kann. Aber er hat eine Idee. Er legt einen Berg Kissen auf einen Sessel. Auf den Berg setzt er einen Hut. Und zwischen die beiden obersten Kissen schiebt er eine Zigarre. Dann legt er zwei Stapel Karten auf den Tisch: ›Du bist dran, Opa‹, sagt er.«

Das Netz der Helfer – Pfadfinder im System »›Was ist los?‹ fragte die Ente besorgt. ›Ist ein Unfall passiert?‹ ›Psst, sie schläft‹, sagte der Frosch. Aber die Ente meinte, die Amsel schaue irgendwie krank aus. Da kam der Hase daher. Als er von weitem sah, dass da was los war, rannte er schnell zu den anderen. Er kniete sich neben die Amsel und sagte dann: ›Sie ist tot‹« (Velthuijs, 1998). Überlebende Systeme schaffen es, sich in einer Krise neu auszubalancieren. Die vitale Fähigkeit von Familien, sich dem Abschied zu stellen und einen Neuanfang zu wagen, gehört zu unseren wesentlichsten Erfahrungen in der Begleitung von Trauersystemen.

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Die Tafelrunde lädt ein

Hans Goldbrunner (1996) hat es mit großer Nachdrücklichkeit formuliert: »Es geht nicht darum, bestimmte Teile der Trauer […] etwa den intensiven Schmerz auszuleben, sondern die unterschiedlichen Arten der Trauer der einzelnen Teile eines sozialen Systems miteinander in Interaktion treten zu lassen […] um den interpersonalen Austausch wieder zum Fließen zu bringen« (S. 155). Kompetenz in der Trauerbegleitung bedeutet oftmals, aus der zweiten Reihe heraus weniger handelnd als koordinierend, vermittelnd, bestätigend und beruhigend wirksam zu werden. Unmittelbare Bezugspersonen in ihrem persönlichen Kontaktangebot an die betroffenen Kinder ermutigend anzuleiten, das Zirkulieren des Informationsflusses zu initiieren, neue Fäden zu knüpfen oder bestehende innerhalb eines vorhandenen (regionalen) Betreuernetzwerkes zusammenzuführen, ist das methodische Rüstzeug einer indirekten, aber hochwirksamen systemischen Intervention. Derartigen Initiativen muss selbstverständlich eine Einverständniserklärung der Sorgeberechtigten zugrunde liegen, eine explizite Auftragsklärung ist hier die Voraussetzung. Ein der jeweiligen Familienkultur mit Respekt begegnendes Kommunikationsangebot dient dem Austausch im Helferkreis, aber auch der Sensibilisierung der Angehörigen für das bereits vorhandene Unterstützungssystem. Die Routine des Alltags in der gewohnten sozialen Umgebung zu unterstützen, hat in der Erstversorgung von trauernden Kindern Vorrang. In Gesprächen zum anamnestischen Hintergrund der Familie ist immer wieder ebenso beharrlich wie detailreich zu erfragen, welche Ansprechpartner aus dem relevanten Lebensumfeld für das Kind bedeutsam sein könnten (erweiterte Verwandtschaft, Paten, Freundinnen, Nachbarn, Lehrer, Trainer etc.). Als »one step behind« könnte man das kompetente Innehalten des Beraters in seinem Vertrauen in die regenerativen Kräfte der betroffenen Familien bezeichnen. Sich nicht mit vermeintlich besseren Lösungsvorschlägen einzubringen, sondern behutsam den verschiedenen Ausdrucksformen der Trauer einen Raum der Wertschätzung zu öffnen, wird die Schwingungsfähigkeit des Systems anstoßen und autoregulativ heilsame Verantwortungsübernahme fördern.

Die inneren Helfer der Helfer – wertvolle Ratgeber »Wenn mein Seelenfisch verzweifelt ist, fragt er den großen, schlafenden Felsen um Rat« (Lorenz, elf Jahre, Mukoviszidose-Patient). Affekte der Verzweiflung, Wut oder Angst des betroffenen Kindes korrespondieren mit den ohnmächtigen Gefühlen von Kontrollverlust, Kränkung und Scham bei den Begleitern. Diese Emotionsspiralen sind den Angehörigen wie Helfern bekannt – sie prägen Abschied und Neuorientierung und verändern die Beziehungen zu den überlebenden Bindungspersonen. Idealisierung des Verstorbenen und Provokation in der Beziehungsgestaltung mit den Verantwortung übernehmenden Erwachsenen durchlaufen wie ein roter Faden den Begleitprozess. Wir können eben keine Wiedergutma-

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chung anbieten, sondern nur Not-Lösungen, »zweitbeste Lösungen«, wie es Roland Kachler (2010, S. 71) so treffend im doppelten Wortsinne formuliert. Und hier beginnt unser eigener Schmerz, denn jeder von uns besitzt sie, die Erfahrung der elementaren Trauer und den damit verbundenen gefährlichen Wunsch der Wiedergutmachung. Wir alle sind bei Zeiten durch tiefste Erschütterungen gegangen, haben immer wieder aufs Neue Unwiederbringliches verloren (kindliche Größenfantasien, Vertrauen in andere, vermeintliche wirtschaftliche Sicherheiten, scheinbar unzerstörbare Freundschaften, Orte der Identifikation, Zukunftsträume), haben Lebensabschnitte beendet und damit Selbstentwürfe betrauert, geliebte Personen verabschiedet – wir sind zerbrechlich und haben es längst an Leib und Seele erspürt. Das eigene Trauer-Kind gehört also zu unserem persönlichen inneren System; wir sollten es einladen, an der Tafelrunde der Helfer teilzunehmen, denn es hat intuitive Kompetenzen; aber wir sollten ihm auch die Möglichkeit geben, sich zu distanzieren, sobald es bei synchronen Verletzungen zu sehr in Eigenresonanz zu schwingen beginnt. Dafür benötigen wir unverwundete Erwachsenenanteile in uns, die die Verantwortung für unsere Selbstfürsorge übernehmen. Persönliche Verortung, transparente Information im Team und Fallsupervisionen sind langfristig unverzichtbare Instrumentarien, um die Gegenübertragungsprozesse zu reflektieren. Damit ähnelt der Beitrag kundiger Trauerbegleiter einer Gratwanderung zwischen der bewussten, befristeten Umgehung eines apodiktischen Abstinenzgebots einerseits (welches zugehende, mitschwingende, selbstreferenzielle Trauerarbeit konzeptuell nicht abbildet) und der Vermeidung pseudolegitimierten Agierens (das wohl eher der eigenen Entlastung dient, aber das Vertrauen in die vitalen Selbstheilungskräfte der Betroffenen konterkariert) andererseits. Am Ende dieses Beitrags steht eine kleine Übung, das heißt ein Impuls, mit dessen Hilfe wir uns für einen Moment unser eigenes tragfähiges Netzwerk vergegenwärtigen können – natürlich lässt sich die Selbsterforschung in leicht adaptierter Form auch bei Kindern und Jugendlichen anregen. Meist stärkt diese Suchbewegung das Bewusstsein für die systemimmanenten Energiequellen einer verwundeten Gemeinschaft. Impuls: System und Netzwerk Wäre es nicht wunderbar, die eigene Welt noch einmal mit den Augen und der Entdeckerfreude eines Kindergartenkindes betrachten zu können? Das Bewusstsein, dass alles möglich ist (magisches Denken), die Lust am schöpferischen Gestalten und die Empfindung, selbst der Nabel der Welt zu sein, lässt Kinder in diesem Alter sich als Mittelpunkt eines Sonnensystems erleben. Übernehmen Sie diese omnipotente Haltung für einen Augenblick, erlauben Sie sich eine zehnminütige Pause und organisieren Sie sich Stifte und Papier (da Sie viel Raum benötigen, empfiehlt sich mindestens Größe DIN A2 – übliche Zeichenblockgröße). Nun beginnen Sie mit Ihrer Person und malen eine gelbsaftige, energiesprühende Sonne in die Mitte des Blattes, darum herum elliptische Bahnen für die Sie, die Sonne, umkreisenden Planeten.

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Die Tafelrunde lädt ein

In die der Sonne am nächsten liegende Umlaufbahn zeichnen Sie die Menschen, die Ihnen spontan als sehr wichtig gegenwärtig sind (wahrscheinlich sind einige Menschen momentan für Sie besonders bedeutungsvoll). In die zweite und dritte Umlaufbahn zeichnen Sie entsprechend die Menschen, mit denen Sie vielleicht auch den Alltag teilen, aber die nicht die gleiche überragende Bedeutung für Sie haben wie die Personen, die Sie in den innersten Kreis aufgenommen haben. Entwerfen Sie nun so lange weitere Bahnen, wie es notwendig ist, um alle diejenigen aufzunehmen, die Sie als zugehörig empfinden. Auch wichtige Tiere sind erlaubt! Manchmal entsteht der Wunsch, verstorbene Angehörige und Freunde zu positionieren, und mitunter tauchen Erinnerungen an Menschen auf, mit denen Sie länger keinen Kontakt hatten, die Ihrem Gefühl nach aber auch mit eingetragen werden sollten – entsprechen Sie Ihrem Bedürfnis und kennzeichnen Sie diese Planeten mit einem kleinen symbolischen Hinweis (Tipp: Lassen Sie sich auch für Veränderungen Zeit!). (Rechenberg-Winter u. Fischinger, 2010, S. 20)

Literatur Aakeson, K. F., Eriksson, E. (2005). Erik und das Opa-Gespenst. Hamburg: Oetinger. Adamaszek, R. (2001). Familienbiographik. Heidelberg: Carl-Auer. Ainsworth, M. D. S., Bell, S. M. (1970). Attachment, exploration and separation: Illustrated by behavior of one-year-olds in a strange situation. Child Development, 41, 49–67. Dros, I., Geelen, H. (1992). Das O von Opa. München: Middelhauve. Goldbrunner, H. (1996). Trauer und Beziehung. Systemische und gesellschaftliche Dimensionen der Verarbeitung von Verlusterlebnissen. Mainz: Matthias Grünewald. Kachler, R. (2010). Hypnosystemische Trauerbegleitung. Heidelberg: Carl-Auer. Krüger, A., Reddemann, L. (2007). Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie für Kinder und Jugendliche. Stuttgart: Klett-Cotta. Matti, T. (2009). Bitte umsteigen! Hamburg: Dressler. Rechenberg-Winter, P., Fischinger, E. (2010). Kursbuch systemische Trauerbegleitung. Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht. Piumini, R. (1994). Matti und sein Großvater. München: Hanser. Schmidt, G. (2004). Liebesaffären zwischen Problem und Lösung. Hypnosystemisches Arbeiten in schwierigen Kontexten. Heidelberg: Carl-Auer. Schwartz, R. C. (1997). Systemische Therapie mit der inneren Familie. München: Pfeiffer. Varley, S. (1984/1992). Leb wohl, lieber Dachs. Wien: Annette Betz. Velthuijs, M. (1998). »Was ist das?«, fragt der Frosch. Düsseldorf: Sauerländer. Worden, J. W. (1996). Children and grief. When a parent dies. New York: Guilford Press.

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Phyllis R. Silverman und Sam M. Silverman

Gedenken und Andenken1

Dieser Beitrag konzentriert sich auf die Kommunikationsmuster zwischen einem verwitweten Elternteil und dessen minderjährigen Kindern. Diese Muster sind davon beeinflusst, inwiefern alle Betroffenen die Endgültigkeit des Todes akzeptieren. Wir verwenden hier den Begriff Endgültigkeit im Sinne des physischen Todes, denn für viele Menschen bedeutet der physische Tod nicht das Ende einer Person, wie wir an späterer Stelle diskutieren werden. Die hier verwendeten Daten stammen aus mehreren Quellen: »Das Widow-toWidow«2-Programm war ein Experiment in gegenseitiger Hilfe für frisch verwitwete Frauen. Witwen, die bereits seit einiger Zeit verwitwet waren, boten Frauen, die unlängst ihren Partner verloren hatten, ihre Hilfe an. Viele dieser frisch Verwitweten hatten Kinder, die noch bei ihnen lebten (P. R. Silverman, 1972; 2004). Einer Evaluation zufolge, die im Anschluss an die ursprüngliche Initiative durchgeführt worden war, sprachen sehr viele dieser Witwen über ihre Kinder (Silverman u. Englander, 1975). Die Autoren interviewten sowohl die verwitwete Frau als auch deren Kinder. Des Weiteren sind auch unsere Erkenntnisse aus der »Harvard/MGH Child Bereavement Study« (P. R. Silverman, 2000) in diesen Beitrag eingeflossen. Bei dieser Studie handelte es sich um ein Forschungsprojekt, in das verwitwete Frauen und Männer involviert waren und das beleuchten sollte, wie die Kinder dieser Trauernden mit dem Tod des verstorbenen Elternteils zurechtkamen (Silverman u. Worden, 1993; P. R. Silverman, 2000; Silverman u. Kelly, 2009). Kulturübergreifendes Material stammt aus bereits veröffentlichten anthropologischen Quellen. In ihrer Gesamtheit geben diese Erkenntnisse Aufschluss darüber, wie die Betroffenen sich mit dem Verstorbenen über den Tod hinaus verbinden, sich seiner erinnern und wie sie mit der Endgültigkeit des Todes umgehen. Eine Diskussion aus der Feder mehrerer Autoren wurde nachfolgend unter dem Titel »Continuing bonds« (Klass, Silverman u. Nickman, 1996) veröffentlicht.

1 Dieser Beitrag ist die aktualisierte Version eines älteren Fachartikels: Silverman und Silverman, 1979. Wir danken dem Herausgeber für die erneute Abdruckgenehmigung. 2 Wörtlich etwa: von Witwe zu Witwe.

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Gedenken und Andenken

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Mit der Endgültigkeit des Todes umgehen Wir wissen, dass kleine Kinder nicht begreifen, dass der Tod endgültig ist, die Verstorbenen nicht wieder ins Leben zurückkehren und die Parameter ihres Lebens sich für immer verändert haben. Selbst Erwachsene, die ja mit der Realität des Todes viel eher vertraut sind, haben Schwierigkeiten, diese Realität anzunehmen. Während des Zeitraums unmittelbar nach einem Todesfall ist die Endgültigkeit des Todes für eine frisch verwitwete Frau noch sehr surreal. Daher ist es recht typisch, dass Betroffene noch reflexiv handeln, also so, als sei der Partner immer noch am Leben. Die Hinterbliebenen planen die Beerdigung ihres Ehepartners in der Regel so, wie diese es sich gewünscht hätten: »Er wollte keine große Beerdigung mit vielen Leuten«, und die Verwitweten verhalten sich auch sonst weiter so, als seien sie immer noch verheiratet: »Trotz des Drucks vonseiten seiner Familie hatte ich doch das Gefühl, tun zu müssen, was er gewollt hatte.« Dem widerspricht der Bericht einer anderen Witwe: »Ich konnte mich einfach nicht mit seiner Mutter streiten. Sie bestand auf einen Beisetzungsgottesdienst in der katholischen Kirche, in die wir als Familie niemals gegangen sind. Die Kinder und ich fühlten uns sehr unwohl, und das machte die ganze Erfahrung noch viel surrealer, als sie ohnehin schon war.« Viele verwitwete Menschen sind erschüttert, wenn sie realisieren, dass sie selbst ein Jahr nach dem Tod ihres Partners immer noch Dinge kaufen, die dem Verstorbenen gefallen hätten. Ein Witwer reflektierte: »Ich fand dieses Foto, das vor zwanzig Jahren aufgenommen worden war, und dachte: ›Gott, meine Frau sieht aber hübsch aus.‹ Dann sah ich mir andere Personen auf dem Foto an und mir wurde klar, dass mehrere davon bereits tot waren. Ich war verdutzt, denn ich realisierte, dass meine Frau schon über ein Jahr tot war, ich sie aber automatisch nicht den Toten zuordnete.« Überbleibsel solcher Gefühle halten sich lange Zeit auf verschiedenen Ebenen des Unbewussten und münden in unterschiedliche Verhaltensweisen. »Es ist jetzt drei Jahre her, und ab und zu, wenn wir alle in der Küche sind, dann drehe ich mich zur Tür und erwarte, dass er auch hereinkommt.« Die Ungläubigkeit eines kleinen Kindes in Bezug auf die Endgültigkeit des Todes findet vielerlei Ausdruck (Nagy, 1959). So beschrieb zum Beispiel eine Mutter die Reaktion ihres dreijährigen Sohnes auf den Tod seines Vaters folgendermaßen: »Er fragte oft, wann denn sein Vater nach Hause käme und wann wir einen neuen Vater bekämen. In den ersten Monaten nach dem Tod rief er oft nachts nach ihm.« Da ein kleines Kind nicht zwischen der tatsächlichen Realität und dem, was seinen eigenen Wünschen gemäß Realität sein sollte, unterscheidet, sprechen diese Kinder bereitwillig über den Tod. Jüngere Kinder haben weniger Hemmungen, ihre Erwartungen auszudrücken, und reagieren vielleicht sogar mit mehr Toleranz, wenn diese Wünsche sich nicht erfüllen. Wie Nagy (1959) zeigte, gleichen Kleinkinder die Welt des Toten der Welt an, die ihnen vertraut ist: »Er fragte dauernd, ob Vati seine bequemen Klamotten anhabe, wenn er bei Gott sei, oder ob er seine Arbeitskleidung trage oder ob er jemals wieder nach Hause komme.«

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Wie von Nagy beobachtet, sind Kinder sich ab dem Alter von elf Jahren ihrer Gefühle bewusst und, wie Erwachsene zuweilen auch, in Bezug auf diese Gefühle gehemmt oder befangen. Ein Mädchen im Teenageralter sprach im Rahmen der »Widows-to-Widows«-Studie über ihren Vater, den sie mit elf Jahren verloren hatte. Sie berichtete: »Für eine lange Zeit erwartete ich, dass er zurückkäme, so, als sei es alles nicht wahr. Ich dachte immer: ›Gleich kommt er die Straße herunter.‹« Ein älteres Mädchen erinnerte sich, dass sie sich jeden Abend beim Abschließen der Haustür unwohl gefühlt hatte. »Für eine lange Zeit nach seinem Tod, vor allem in kalten Nächten, fühlte ich mich, als ob ich meinen Vater aussperrte. Ich dachte, ich bin wohl verrückt, aber ich machte mir Sorgen, dass ihm kalt sei. Ich hab das noch nie jemandem erzählt.« In diesen Berichten wird deutlich, wie ähnlich Erwachsene und Jugendliche auf einen Verlust reagieren. Beide kämpfen auf gleiche Weise damit, die Endgültigkeit des Todes zu akzeptieren. Wir erwarteten, dass die Sichtweise eines Erwachsenen sich von der eines kleinen Kindes unterscheiden würde. Berücksichtigt man aber die Gefühle eines hinterbliebenen Ehepartners und zuweilen dessen Verhalten, so lassen sich beide als identisch mit der kindlichen Erwartung interpretieren: Der Verstorbene wird zurückkehren. Für Erwachsene und ältere Kinder führt dies gefühlsmäßig zu einer besonderen Spannung, denn beide wissen ja, dass der Verstorbene fort ist und niemals wiederkehren wird. Der Wunsch, die Hoffnung, der Glaube daran, dass es doch nicht so sein möge, hält sich trotzdem hartnäckig. Das kann sich auch in Träumen ausdrücken. Ein Jugendlicher berichtete: »Ich träumte, er sei wieder bei uns – für ein paar Tage – und musste dann wieder gehen, also, dass er zurückgekehrt sei, aber wieder gehen musste. Er hatte seinen Koffer dabei, und er nahm ihn und ging. Morgens wachte ich auf und dachte, er sei dagewesen. So, als sei er geschäftlich unterwegs, und ich wüsste nie, wann er zurückkäme. Die Träume kamen immer wieder, aber nur für ungefähr zwei Wochen.« Ein kleines Kind, weniger bewusst und viel direkter, fragt hier klar und deutlich: »Wann kommt Daddy nach Hause?«

Die Kommunikation zwischen Eltern und Kind Was geschieht, wenn ein Kind versucht, mit seinem verbliebenen Elternteil über den Verlust zu sprechen? Wir meinen hier nicht die eigene Trauerreaktion des Elternteils, sondern wie diese sich in Bezug auf die Kinder auswirkt und kommuniziert wird. Sobald wir begreifen, dass Eltern und Kinder sich mit den gleichen Problemen auseinandersetzen, verstehen wir auch die Reaktion der Witwe auf die Frage: »Wann kommt Papa nach Hause?«, nämlich: »Es war, als stoße er mir ein Messer in den Leib.« Was bedeutet tot? Eine andere Witwe, eine Mutter dreier Kinder unter fünf Jahren, sagte: »Manchmal fühle ich mich, als wollte ich jedes Mal schreien, wenn er mir noch

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eine Frage stellt. Ich beiße mir auf die Zunge, um nicht zu sagen: ›Halt den Mund!‹ Manchmal wechsle ich einfach das Thema.« Eine Mutter von Teenagern, die gewusst hatten, dass ihr Vater sterben würde, sagte zu ihnen: »Papa ist fort, aber er wird immer bei uns sein.« Für sie bedeutete es nicht das Ende. Sie sagte auch: »Als ich ihnen sagte, dass Papa gestorben war, stellten sie zwar ein paar Fragen, aber sie schienen diese Tatsache still zu akzeptieren. Darüber war ich zu diesem Zeitpunkt dankbar.« Sie wollte nicht, dass ihre Kinder Fragen stellten, durch sie sie selbst gezwungen sein würde, die Realität des Todes anzunehmen, bevor sie dazu emotional imstande war. Daher sprach also niemand darüber, was Tod hieß oder was er für die Familie in Zukunft bedeuten würde. Weil Kinder Angst haben, das hinterbliebene Elternteil auch noch zu verlieren, und quasi einen doppelten Verlust vermeiden wollen, ziehen sie sich oft zurück, wenn sie merken, dass Mutter oder Vater infolge ihres eigenen Schmerzes Schwierigkeiten haben, über den Tod zu sprechen (Silverman u. Silverman, 1975). Eltern interpretieren aber zuweilen das Schweigen ihres Kindes als ein Zeichen dafür, dass das Kind sich nicht wirklich dessen, was geschehen ist, bewusst ist. Einigen Eltern ist dies recht, andere verübeln es ihren Kindern. »Wenn sie draußen spielten, dann ging ich davon aus, dass es ihnen gut gehe. Ich war beruhigt, weil sie sich verhielten wie immer.« Viele Witwer und Witwen sprachen aber mit tiefem Bedauern über die Trauer von Kindern, die sehr still geworden waren und schlaflose Nächte hatten – dabei waren sie sich nicht bewusst, dass Kinder Stille suchen, um überfordernde Reize zu vermeiden, mit denen sie nicht umgehen können. Ältere Kinder können die das Unvermögen ihrer Mütter, den Verlust zu akzeptieren, verstärken, indem sie so tun, als sei nichts geschehen. »Nach der Beerdigung rief ich meine Freunde an. Meine Mutter fand es unmöglich, dass ich einfach mit ihnen losgezogen bin, aber ich musste etwas tun. Mit ihnen zusammen zu sein, tat mir gut. Das konnte ich ihr nicht erklären.« Hier scheint ein Mädchen Zuflucht im Vertrauten gesucht zu haben, in einer Welt, die sich nicht geändert hatte. Eine Witwe verschenkte oder versteckte alle Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann. Eins ihrer Kinder fragte: »War Papa böse?«, weil es davon ausging, dass die Abwesenheit von Erinnerungsstücken ein Zeichen dafür sei, dass man den Vater besser vergäße. Diese Witwe sagte viele Jahre später, dass sie niemals über den Schmerz hinweggekommen sei, den diese Andenken an die Vitalität ihres verstorbenen Mannes und an ihr gemeinsames Leben in ihr auslösten. Erst später konnte sie anerkennen, wie schmerzhaft das für ihre Kinder gewesen war und dass sie um derentwillen vielleicht hätte versuchen können, anders mit der Situation umzugehen. Wieder andere Menschen drücken die Leugnung des Todes dadurch aus, dass sie vor der gesamten Situation fliehen.3 Ein Teenager erinnert sich an die Zeit unmittelbar nach dem Tod seines Vaters: »Ich kann mich erinnern, dass meine Mutter durchs 3 Hinsichtlich einer guten Beschreibung dieses Verhaltens aus der Perspektive betroffener Kinder siehe Silberberg, 2010.

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Haus ging und neue Vorhänge besorgte, eine neue Polsterung für die Sitzmöbel und sonst auch alles Mögliche änderte. Ich erinnere mich, dass ich ins Zimmer kam und es mich störte, denn da war gar nichts, was noch so war wie vorher. Ich fand es schrecklich: Es sah aus wie ein ganz anderes Zimmer. Da waren vorher so viele schöne Dinge gewesen, die ich mit meinem Vater assoziierte. Ich weiß nicht, was meine Mutter da geritten hat, aber sie hat einfach alles erneuert.« Die Kinder scheinen Erinnerungen an die Vergangenheit zu suchen. Eine anhaltende Verleugnung vonseiten des hinterbliebenen Elternteils kann zu Problemen führen, vor allem für das Kind. Mit den Worten einer 17-Jährigen: »Ich war erst fünf, als mein Vater starb. Und hier bin ich, zwölf Jahre später, und laufe auf dem Friedhof herum auf der Suche nach seinem Grab. Meine Mutter hat es mir nie gezeigt. Plötzlich ist es mir aber wichtig. Ich muss wissen, wo mein Vater begraben liegt« (P. R. Silverman, 1987). Es gibt Zeiten, in denen sich eine Unfähigkeit zur Kommunikation entwickelt. Das kann so weit gehen, dass sie wie eine Verschwörung des Schweigens aussieht. Das Problem liegt darin, dass verwitwete Menschen nicht über ihre verstorbenen Partner sprechen können, bis sie einen Weg gefunden haben, mit der neuen Realität umzugehen. Dieser Weg beinhaltet die Integration des Widerspruchs zwischen dem, was sie fühlen, und dem, was als Realität anerkannt werden muss. Betrachtet man, wie sehr sich die Gefühle von trauernden Eltern und ihren Kindern ähneln, und versucht zu begreifen, wie schwierig es für beide ist, miteinander zu sprechen, so fragt man sich, ob es hier nicht um eine menschliche und universelle Grundhaltung gegenüber dem Tod und seiner Endgültigkeit geht. Schneidman (1971) berichtet, dass unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit 61 Prozent der Bevölkerung in den USA an ein Leben nach dem Tod glauben. Die Frage nach einer allgemeinen Grundhaltung ist von entscheidender Bedeutung für die Diskussion der Kommunikation zwischen verbliebenen Elternteil und Kindern, da ihre Beantwortung unsere Beobachtungen erklärt und verknüpft. Dabei müssen wir den Widerspruch beachten, den unser westliches Denken hier verursacht: Als westliche Intellektuelle sind wir daran gewöhnt, nur Ideen zu berücksichtigen, die sich logisch und rational behandeln lassen. Man darf also nur vorbringen, was sich experimentell beweisen und durch Kriterien messen lässt, die von unseren Fachkollegen anerkannt werden. Bedenkt man die Auswirkungen von Verlust und Tod auf die überwiegende Mehrheit aller Menschen, so kann man die Idee eines Lebens nach dem Tod nicht eliminieren. Der Versuch, diese Auswirkungen zu rationalisieren, bedeutet, einen der wichtigsten Aspekte unserer menschlichen Realität außer Acht zu lassen. An dieser Stelle möchten wir einen kleinen Teil des Beweismaterials für die weite Verbreitung des Konzepts eines Lebens nach dem Tod präsentieren, das zum Beispiel von Anthropologie, Religion, Literatur und Psychoanalyse zusammengetragen wurde – und das sind nur einige der Bereiche, in denen man auf dieses Konzept stößt. Vielleicht lässt sich dann das Dilemma besser begreifen, in dem sich ein Elternteil befindet, das mit seinem Kind über den Tod seines Partners sprechen muss.

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Die Bedeutung des Todes und die Dynamik nach einem Todesfall Beginnen wir mit einem Zitat von Frazer: »Die Frage, ob unsere bewusste Persönlichkeit nach dem Tod noch existiert, ist von fast allen Kulturen positiv beantwortet worden. In Bezug auf diesen Punkt gibt es kaum oder sogar keine Skeptiker oder Agnostiker. Demzufolge verdiente die Doktrin der menschlichen Unsterblichkeit – oder zumindest die eines Lebens nach dem Tod – einen Platz in der Reihe der am wichtigsten etablierten Wahrheiten, wenn man nur eine solch abstrakte Wahrheit wie eine Frage nationaler Politik durch das Zählen von Stimmen erfassen könnte. Wenn man nämlich diese Frage zum Thema einer Abstimmung machte und die gesamte Menschheit daran beteiligt wäre, so bestünde kein Zweifel darüber, dass die Mehrheit sich zugunsten eines Lebens nach dem Tod aussprechen würde. Die wenigen Abtrünnigen würden überstimmt sein und ihre Stimmen in einem großen Getöse untergehen« (1924, S. 33). Diese Überzeugung wird von Menschen aller Zeiten und Kulturen geteilt, zum Beispiel von den alten Ägyptern (Gardiner, 1935; Frankfort, 1948/1961, Kap. 4) und den Azteken (Brinton, 1890). Alle großen Weltreligionen beinhalten ein Konzept von einer Art fortdauernden Existenz nach dem Tod. Im Judentum verdeckt zuweilen der rabbinische Fokus auf das Gesetz diesen Aspekt. Die jüdische Volksreligion bezieht ihn dagegen deutlich mit ein, und zwar in den Geschichten des Baal Shem Tov (BenAmos u. Mintz, 1970), in denen man auf genau jene Elemente in Bezug auf das Leben nach dem Tod trifft, die auch in anderen Religionen zu finden sind. Dieser Glaube entspringt scheinbar dem starken Kontrast zwischen der Vitalität des Lebens und der Passivität, die unmittelbar auf den Tod folgt. Das muss man gewissermaßen erklären, und es ist plausibel, dass eine vitale Kraft – die Seele – den Körper bewohnt wie ein Haus. Im Tod wird die Seele freigesetzt und begibt sich zu einem anderen Ort oder geht in einen anderen Seinszustand über. Einen wunderschönen Ausdruck finden dieser Glaube und die dahinter liegende Logik in der Aussage eines kanadischen Eskimos: »Der Tod selbst ist ebenso mysteriös wie die Art und Weise, in der er in unser Leben tritt. Wir besitzen kein sicheres Wissen über den Tod außer der Tatsache, dass Menschen, die wir lieben, plötzlich von uns genommen werden – einige auf eine natürliche und nachvollziehbare Weise, zum Beispiel, weil sie alt oder schwach sind. Andere dagegen verlassen uns auf eine Weise, die uns geheimnisvoll erscheint, weil wir keinen besonderen Grund sehen, warum ausgerechnet diese Menschen sterben sollten, und weil wir wissen, dass sie gerne weitergelebt hätten. Aber grade das macht den Tod ja zu einer großen Kraft. Der Tod allein bestimmt, wie lange wir in diesem Leben, an das wir uns so klammern, verbleiben dürfen. Er allein trägt uns hinüber in ein anderes Leben, das wir nur aus den Erzählungen lange verstorbener Schamanen kennen. Wir wissen, dass Menschen sterben, weil sie alt oder krank waren, einen Unfall hatten oder jemand ihnen das Leben genommen hat. All dies verstehen wir – etwas ist zerbrochen. Was wir nicht begreifen, ist die Veränderung, die in einem Körper vorgeht, wenn der Tod von ihm Besitz ergreift. Es ist derselbe Körper, der unter uns wandelte, der warm

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war und lebendig und ebenso sprach, wie wir sprechen. Plötzlich aber ist er einer Kraft beraubt, ohne die er erkaltet, leblos wird und verwest. Daher sagen wir, dass ein Mensch krank ist, wenn er einen Teil seiner Seele verloren hat, oder eine seiner Seelen. Wenn dann dieser Teil dem Menschen nicht zurückgegeben wird, so muss er sterben. Und deshalb sagen wir, dass ein Mensch stirbt, wenn seine Seele ihn verlässt« (Rasmussen, 1930a, S. 92; hinsichtlich ähnlicher Berichte, siehe auch Frazer, 1924). Ein wichtiger Nachweis für die Existenz einer über den Tod hinaus existierenden Seele ist die Anwesenheit der Toten in Träumen und Tranceerlebnissen. Ein NetsilikEskimo berichtete von einer alten Erzählung, der zufolge ein Ereignis im Traum wahr geworden sei. Daraus folgerte er: »Es beweist, dass Träume wahr sind, und deshalb glauben wir ihnen. Und daher glauben wir auch, dass die Toten, die wir im Traum so lebhaft vor uns sehen, in Wirklichkeit lebendig sind. So haben Träume uns gelehrt, dass Menschen nach dem Tod wirklich weiterleben. Sehr oft besuchen uns unsere geliebten Verstorbenen im Schlaf, und wir sehen sie lebendig und genauso, wie sie zu Lebzeiten auf Erden waren« (Rasmussen, 1930b, S. 213). Unter den Klamath-Indianern gilt der Glaube, dass die Ankunft eines Toten in der Anderswelt, der Welt der Geister, den Hinterbliebenen in Träumen offenbart wird (Hale, 1892). Die Überzeugung, dass Tote im Traum erscheinen, gilt als Beweis für ein Leben nach dem Tod und ist weit verbreitet. In der frühen Psychoanalyse wurde die Präsenz von Toten im Traum dahingehend interpretiert, dass sie zumindest eine Präsenz in der Psyche eines Klienten haben. Die Beziehung zwischen dem Konzept der Seele und der Welt des Traums begegnet uns genauso häufig in der Psychoanalyse wie in unterschiedlichen Kulturen (Marcinowski, 1921; Roheim, 1952). Daher kommentiert Stekel (1943/1967) die Träume einer Mutter, die ihren Sohn im Krieg verloren hat, so: »In anderen Träumen ist der tote Sohn noch am Leben, das heißt also, dass, obwohl verstorben, er für seine Mutter immer noch lebendig ist« (S. 266). In Verbindung mit einem anderen Patienten, bei dem der Tod des Vaters ohne testamentarischen Nachlass zu einem fortwährenden Konflikt mit seinem Bruder geführt hat, interpretiert Stekel die Träume des Sohnes als einen Weg, den Tod des Vaters ungeschehen zu machen (S. 23). Ein anderer früher Psychoanalytiker schreibt, dass der Zyklus von Schlaf und Wachen gedanklich unmittelbar zu einem Konzept von Tod und Wiedergeburt führt: »Schlaf drückt auf den Träumer wie ein Gewicht […] es führt ihn fort von Licht, Freiheit und Bewegung. An dieser Stelle erfolgt eine Umwandlung der Todessymbolik in eine Wiedergeburtssymbolik. Es spielt keine Rolle mehr, welcher Teil des OppositionsPaars Leben–Tod zuerst genannt wird. Schlafwandeln kann entweder mit Leben–Tod oder Tod–Leben in Verbindung gebracht werden. Im ersten Fall muss man einen Zwischenbegriff einfügen, nämlich das Sterben, im zweiten Fall die Wiedergeburt. Dieser Zwischenbegriff kennzeichnet den Übergang, den psychischen Prozess, das Treten über die Schwelle« (Silberer, 1912, S. 677). In diesem Zitat macht Silberer auch den wichtigen Unterschied zwischen dem Zustand des Todes und dem der Wiedergeburt sowie dem Prozess, durch den der eine in den anderen übergeht. Im Unterbewussten sind Leben und Tod symmetrisch, sie

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sind austauschbar. Daher ist der Tod nicht endgültig, und die Gegenwart der Toten besteht weiter als eine Dimension im Leben der Hinterbliebenen. In Kulturen und Religionen, in denen ein gut entwickeltes Konzept bezüglich dessen besteht, was nach dem Tod geschieht, wird von fest etablierten Ritualen Gebrauch gemacht, um die Toten davon abzuhalten, sich in das weitere Leben der Hinterbliebenen einzumischen. Die alten Ägypter richteten sogar Briefe an verstorbene Verwandte und trafen Vorkehrungen für die Versorgung der Seele mit Nahrung im Jenseits (Gardiner, 1935; Frankfort, 1948/1961). Festtage wurden am Grab begangen und beinhalteten ein Mahl, von dem man glaubte, die Toten wohnten ihm auch bei. Dieser Brauch hielt sich zumindest bis in die jüngere Vergangenheit (Frankfort, 1948/1961) und könnte sogar heute noch existieren. Frazer (1924) hat zahlreiche Beispiele dafür angeführt. Die Toten spielen eine Rolle, die von Kultur zu Kultur und in verschiedenen Religionen unterschiedlich ist. An diesem Punkt zeigt sich eine große Vielfalt bezüglich der Frage, was genau mit der Seele geschieht, ob sie Unheil anrichten kann und anderer, verwandter Themen. Für uns Westler, die extrem geprägt sind von dem wissenschaftlichen Rationalismus der letzten zweihundert Jahre, besteht ein Zwiespalt zwischen dem Wissen unserer Intuition oder unseres Unbewussten und dem, was unser Intellekt als objektive Realität wahrzunehmen glaubt. Die nachhaltigste Auswirkung dieser Zwiespältigkeit ist, dass wir Diskussionen unterdrücken, die die psychische Realität eines Glaubens an das Jenseits zum Thema haben. Solche Diskussionen werden daher in den Bereich anthropologischer oder ethnografischer Studien von »primitiven« Kulturen verbannt. Da unser Verhalten sich jedoch mehr auf unsere seelische als die objektive Realität gründet, macht diese Unterdrückung die Entwicklung einer vernünftigen Umgangsweise mit dem Thema noch problematischer.

Leben ohne die Gegenwart des Verstorbenen Aufgrund dieses realen Glaubens an das Fortleben eines Menschen nach dem Tod und vielleicht auch durch die Muster der Gewohnheit, die durch jahrelanges Zusammenleben entstanden sind, bleiben Angehörige in der Erwartung zurück, der Verstorbene werde irgendwann wiederkehren. Zumindest gehen manche Hinterbliebene davon aus, dass er weiterhin täglich mit ihnen interagiert. Diese inakzeptable, aber dennoch vorhandene Erwartung wird zwangsläufig enttäuscht, und in den Reaktionen auf eben diese Enttäuschung liegen Schwierigkeiten begründet. Dabei liegt das Problem bei den Eltern, denn Kinder scheinen eher in der Lage zu sein, ihre eigenen Gefühle anzunehmen. Dagegen haben ältere Kinder, die bereits Züge erwachsenen Verhaltens angenommen haben, ebenso Probleme wie ihre Eltern.

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Was muss zwischen Eltern und Kindern geschehen, wenn ein Elternteil stirbt? Andere Autoren haben bereits auf die Notwendigkeit hingewiesen, herausfinden zu müssen, ob Kinder mögliche Schuldgefühle in Bezug auf den Tod von Vater oder Mutter hegen. Wichtig ist auch, über ihre Erfahrung einer Welt zu sprechen, in der sie die Realität eines Todes kennen lernen, der jeden früher oder später ereilen wird. Jedoch mag in einer Familie, in der ein Elternteil verstorben ist, das Problem nicht im Erklären von Tatsachen liegen. Berücksichtigt man, wie sehr alle Familienmitglieder von der Abwesenheit des Verstorbenen gleichermaßen betroffen sind, mag es unrealistisch erscheinen, über den Tod zu sprechen. Der oben beschriebene Glaube an die weitere Existenz des Toten spielt für die Betroffenen zunächst eine sinnvolle Rolle. Er ermöglicht es Hinterbliebenen, die Beisetzung zu überstehen und langsam die Realität des Todes in ihr Bewusstsein eindringen zu lassen, ohne die eigene Psyche zu überfordern. Wir glauben nicht, dass es sinnvoll ist, diesen Zustand zu früh durchbrechen zu wollen. Betroffene Eltern müssen sich ihrer Erfahrung bewusst sein und diese entweder als typisch oder untypisch akzeptieren, und nicht etwa als Anzeichen einer psychischen Störung. Es geht darum, zu begreifen, wie diese Gefühle ihre Fähigkeit bestimmen, in der eigenen Familie präsent zu bleiben. Die Realität des Todes kann natürlich nicht auf Dauer verleugnet werden. Das Leben einer Familie ist ja dadurch unwiederbringlich verändert. Für Eltern und Kinder stellt sich die Frage, ob sie als ein Familienverband weiterbestehen können. Ein 16-jähriger Junge sagte nach dem Tod seiner Mutter: »Wenn mein Vater abends das Essen auf den Tisch stellte und ich abräumen half, während meine Schwester den Abwasch machte – dann hatte ich immer ein gutes Gefühl. Ich hatte solche Angst, dass wir als Familie nicht mehr weitermachen könnten, nachdem meine Mutter gestorben war.« Der Vater des Jungen machte eine ähnliche Beobachtung: »Meine Kinder machten sich Sorgen, ob wir hier wohnen bleiben würden. Die jüngeren hatten Sorgen, dass die Dinge nicht laufen würden oder dass mir etwas passieren würde. ›Wie sollen wir jetzt die Wäsche waschen? Du weißt ja nicht mal, wie man die Waschmaschine anstellt.‹ Ich konnte das nicht dem Zufall überlassen. Wir konnten zu der Zeit nicht wirklich über den Tod meiner Frau sprechen, aber wir sprachen darüber, welche Dinge wie erledigt werden mussten.« Wenn der Vater stirbt, dann liegt der Fokus vielleicht mehr auf der Frage, wie die Familie sich jetzt ökonomisch über Wasser halten kann. Eine Witwe sprach über die Bandbreite der Reaktionen ihrer acht Kinder auf den Tod des Vaters: »Als wir nach der Beerdigung zur Ruhe kamen, brach mein ältester Sohn das Schweigen: ›Kann ich zurück an die Uni?‹ Ich versuchte ihm zu versichern, dass wir das schon schaffen würden. Selbst, wenn es keine drastischen Veränderungen gibt, so realisieren sie doch, dass Dinge sich ändern werden. Meine Jüngste, die zu diesem Zeitpunkt sieben Jahre alt war, bot mir an, auf ihr gesamtes Taschengeld zu verzichten. Das war ihre Art, einen Beitrag zu leisten. Sie hat Spaß an ein bisschen Dramatik und hat das wahrscheinlich

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irgendwo im Fernsehen gesehen. Die Kinder mussten erfahren, dass wir als Familie weiterbestehen und zusammenarbeiten können.« Die Rolle des Verstorbenen musste hier umverteilt werden – entweder unter den Familienmitgliedern oder unter den Helfern außerhalb des Systems. Das wiederum muss geschehen, ohne dass versucht wird, den Verstorbenen einfach zu ersetzen. Jemand muss die Arbeit machen, die der Verstorbene vorher geleistet hat, ohne aber gleichzeitig dessen Rolle in Gänze mit zu übernehmen. Die meisten Eltern scheinen sich der Schwierigkeiten bewusst zu sein, die entstehen, wenn Kindern erlaubt wird, die Rolle verstorbener Elternteile zu übernehmen. Aufgrund der unausgesprochenen und oft nicht einmal bewussten Überzeugung, dass der Tote zurückkehren wird, ist ein umsichtiger Umgang mit diesem Thema oft wegen ihrer eigenen Trauerreaktionen nicht so einfach möglich für die Eltern. Ein Witwer sagte sechs Monate nach dem Tod seiner Frau: »Beim ersten Familienausflug nach dem Tod meiner Frau saß plötzlich meine älteste Tochter im Auto auf dem angestammten Platz meiner Frau. Das machte mich sehr traurig. Die Kinder schienen es aber zu brauchen, dass sie da sitzen konnten, und ich entschied schließlich, dass wir einen Plan aufstellen würden, bei dem jeder einmal an die Reihe käme und neben mir sitzen dürfe. Sobald ich es als ein Bedürfnis erkannte, mir nahe sein zu wollen, und nicht als einen Versuch, den Platz meiner Frau usurpieren zu wollen, nahm mir das den Druck, und wir alle fühlten uns besser.« Nur wenn, so erscheint es im Großteil der Fälle, Eltern und Kinder sich wieder sicher fühlen in dem Wissen, dass sie als Familie weiterexistieren können, nur dann ist es möglich, der Bedeutung des Todes ins Auge zu sehen. Taubheit und Ungläubigkeit lassen nach, so dass ein Prozess beginnen kann, bei dem das eigene Denken und Tun der neuen Realität angepasst wird. Ein junges Mädchen sagte drei Jahre, nachdem ihr Vater gestorben war: »Ich weiß nicht, ob ich vor drei Jahren eine Lebensphilosophie hatte. Aber jetzt weiß ich, dass, wenn mir etwas genommen wird, wenn ich jemanden verliere, der mir nahestand, ich trotzdem weiterlebe. Die Welt endet nicht. Ich muss weitermachen mit dem, was ich tue. Man sollte es nicht alles verändern lassen. Es wird sich nicht einrenken – wenn jemand stirbt, dann kommt der nicht wieder. Wenn es sich also nicht von selbst einrenkt, dann muss ich eben lernen, damit zu leben.«

Verweigerung und Verneinung Wie passen sich Familien den weitreichenden Folgen eines Verlusts an? Es lassen sich hier zwei Arten des Umgangs unterscheiden: Verweigerung und Verneinung. Die Terminologie ist hier nicht ganz zufriedenstellend, da viele Menschen diese beiden Begriffe gleichsetzen würden. Wir gebrauchen Verneinung hier im Sinne von Sam M. Silverman (1968) als eine Verneinung der Signifikanz des Todes durch das Festhalten

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an einem neuen oder fortdauernden Leben des Verstorbenen.4 Beide Zustände folgen aufeinander: Verweigerung kann Teil der ersten Reaktion auf den Tod sein und Monate oder sogar Jahre andauern. Somit ist Verweigerung oftmals in der Zeit kurz nach einem Verlust anzutreffen. Jesuitische Missionare bemerkten unter den Indianerstämmen Nordamerikas die Praxis, den Namen eines Toten nicht mehr auszusprechen. Ein Jesuitenpater drückte es so aus: »Sie begraben die Erinnerung an den Toten zusammen mit dessen Körper so vollständig, dass sie danach nicht einmal mehr die Nennung seines Namens tolerieren« (S. M. Silverman, 2009). Zusammen mit der Ungläubigkeit, also der Fassungslosigkeit über das Geschehen, kommt die Unfähigkeit, von sich selbst als verwitwet zu denken. Ungläubigkeit wird zu wirklicher Verweigerung, wenn, um niemanden aufzuregen, einige Menschen den Verstorbenen niemals erwähnen. Sie argumentieren, dass das die Kinder nur unnötig traurig machen würde. Dieselbe Zwölfjährige, deren Traum wir oben beschrieben haben, reagierte sehr negativ auf Verwandte und Freunde, die ihr Geschenke mitbrachten: »Sie beschenkten mich, als würde das die Situation ändern. Das war keine Hilfe, mir ein Geschenk zu geben und kein Wort zu sagen. Ich hätte es lieber gehabt, wenn jemand zu mir gekommen wäre und gesagt hätte: ›Es tut mir leid, dass das passiert ist‹. Ich bin auch ein Mensch. Wenn sie meiner Mutter diesen Respekt erweisen, warum dann nicht auch mir?« Dieses Mädchen protestierte somit gegen das Bedürfnis einiger Erwachsenen, ihm, dem Kind, die Trauer abzusprechen. Verweigerung kann vielerlei Ausdruck finden – einer davon ist Schweigen. Manche versuchen, die Vergangenheit auszumerzen, oder verhalten sich so, als sei nichts geschehen. Das heißt, der Verlust hat nicht stattgefunden, und das Leben, das dementsprechend nicht gelebt worden ist, auch nicht. Nach und nach wird der Prozess der Verleugnung offensichtlich – nämlich dann, wenn Menschen sich mit der Zeit der Bedeutung des Verlusts mehr bewusst werden. »Wir sprechen jetzt viel über ihn. Es ist, als sei er in Urlaub. Oh ja, wir wissen, dass das nicht stimmt, aber es hilft uns, uns daran zu gewöhnen.« Menschen scheinen also Wege zu finden, das Gefühl des Verlustes abzumildern. Wenn das Gefühl des Verlusts nachlässt, dann ist es einfacher, über den Verstorbenen zu sprechen. Zuweilen benennen Freunde oder andere Hilfeleistende das Bedürfnis einer Familie, ihr Schweigen zu brechen: »Die Lehrerin bat mich, zur Sprechstunde zu kommen. Die Leistungen meiner Tochter hatten nachgelassen, und sie weinte in der Schule. Sie dachte, mir wär das egal, weil ich mich immer abwandte, wenn der Name ihres Vaters fiel. Sie wollte darüber sprechen, wie sehr sie ihn vermisste. Ich war dankbar für diese gute Lehrerin, die unsere Situation verstand. Letztendlich war ich diejenige, die entschied, dass meine Tochter in das Jahresgedächtnis involviert sein solle, und sie schätzte das sehr.« 4 Um ein Missverständnis zu vermeiden: »Verneinung« hat hier nicht die im Deutschen oft angenommene negative Konnotation der Ignoranz. Es geht hier vielmehr um eine Verneinung der Endgültigkeit des Todes, also eigentlich um eine Bejahung – die Bejahung des Glaubens an ein weiterführendes Leben des Verstorbenen (Anmerkung der Herausgeber).

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Verneinung ist im Gegensatz zur Verweigerung eher ein aktives Verhaltensmuster. Damit versuchen Menschen, das Dilemma zwischen dem realen Verlust eines Menschen und dem Bedürfnis, sein Andenken lebendig zu halten, zu lösen. Verneinung verleiht dem Tod Bedeutung, sorgt dafür, dass der Tote auf gewisse Weise weiterlebt. Die traditionelle Betrachtung von Trauer verlangt, dass Hinterbliebene den Verstorbenen aufgeben (Klass et al., 1996). Heutzutage wissen wir, dass es wichtig für Trauernde ist, mit der Vergangenheit verbunden zu bleiben, denn das wird den Gefühlen und Bedürfnissen von Trauernden viel eher gerecht. Dabei ist es aber zentral, dass Betroffene nicht verhaftet bleiben, also quasi nicht nur in der Vergangenheit leben. Die Betrachtungsweise sorgt auch für ein produktiveres Ergebnis. Wir sprechen hier über die Notwendigkeit einer neuen Beziehung zur Vergangenheit. Man kann die Vergangenheit nicht wirklich aufgeben. Lily Pincus (1975) identifiziert mit der Verneinung einen emotional gesunden Prozess, den sie »Inkorporierung« nennt und während dessen »der Verstorbene internalisiert und somit ein Teil des Trauernden wird«. Verneinung ist also ein Mechanismus der Anpassung, der in den allermeisten Fällen ermöglicht, mit einer neuen Realität umzugehen. In unserer Studie erfuhren wir von unterschiedlichen Wegen, auf denen Familien lernten, eine neue Realität zu integrieren (Klass et al., 1996). Für die Kinder und ihre Eltern war es dabei sehr wichtig, sich ihrer verstorbenen Väter,Mütter oder Ehepartner zu erinnern und diese in ihrem Leben zu behalten. Wir nannten dieses Phänomen »continuing bonds« – Bindungen, die weiter bestehen. Viele Jahre lang war die Vorstellung akzeptiert, man müsse die Vergangenheit loslassen. Dabei sagt uns die Vergangenheit, wer wir sind und wo unser Platz in der Welt ist. Diese Erkenntnis kam in gewisser Weise zuerst durch die Kinder, die an unserer Studie teilnahmen. Sie verneinten die Rolle nicht, die ihre (verstorbenen) Eltern in ihrem Leben spielten, aber sie passten sie dennoch einer neuen Realität an: •• Sie siedelten die Verstorbenen an einem anderen Ort an, zumeist im Himmel. •• Sie unternahmen Anstrengungen, die Erwartungen zu erfüllen, von denen sie annahmen, dass ihre verstorbenen Eltern sie gehabt hätten. In den Worten eines jungen Mädchens: »Meine Mutter würde mich UMBRINGEN, wenn ich nicht gut in der Schule wäre.« •• Sie versuchten, Kontakt aufzunehmen: Sie besuchten zum Beispiel das Grab des Verstorbenen und erzählten ihm, wie es in der Schule war, oder sie brachten einen Freund mit, um sie dem Verstorbenen vorzustellen. •• Sie riefen Erinnerungen wach, das heißt, sie widmeten sich beispielsweise in Tagträumen dem Verstorbenen oder bestimmten Dingen, die sie immer gemeinsam unternommen hatten. Manche behielten auch Besitztümer des Verstorbenen oder andere Objekte als Erinnerungsstücke. •• Sie beschrieben, dass sie in manchen Dingen dem verstorbenen Elternteil nacheifern wollten, zum Beispiel bei der Wahl eines Berufs oder in der Art und Weise, wie der Verstorbene andere Menschen behandelt oder der Gemeinschaft gedient hatte.

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Viele Eltern waren mit diesem Verhalten einverstanden und fanden ihren eigenen Weg, die Erinnerung an den Verstorbenen zu ehren. In jedem Fall waren das immer Wege, die jeder Einzelne für sich und für den eigenen Nutzen wählte (Silverman u. Nickman, 1996). Verneinung drückt sich auch durch eine Übertragung von Charakteristiken des Verstorbenen auf hinterbliebene Familienmitglieder aus. Eine Witwe sicherte die andauernde Präsenz des Toten dadurch, dass sie ihrem Kind nahelegte, als Erwachsener wie sein Vater zu werden. In den Worten einer Betroffenen drückt sich dies so aus: »Ich sagte meinem Sohn, er solle so gut sein wie sein Vater, und auch so klug.« Ein anderes verwaistes Kind brachte sich selbst das Spielen auf dem Instrument bei, das der Vater kurz vor seinem Tod gekauft und nie zu spielen gelernt hatte. Ein Witwer sagte ein Jahr nach dem Tod seiner Frau: »Meine Frau wusste, dass sie sterben würde. Sie hat die Kinder vorbereitet und sogar den Mädchen das Kochen beigebracht. Sie sind jetzt stolz darauf, zu tun, was ihre Mutter gewollt hätte.« Verneinung drückt sich also unterschiedlich aus und hilft den Betroffenen gewissermaßen, eine adäquate Form zu finden, durch die das Gedenken an die Toten im eigenen Leben bewahrt werden kann. Eine Möglichkeit ist auch, die eigene Trauer mit der Gemeinschaft zu teilen. Dazu gehört die regelmäßige Niederlegung von Blumen am Grab oder auch der jüdische Brauch, dem Toten eine Schriftrolle in der Synagoge zu widmen oder ein Buch über sein Leben zu verfassen (P. R. Silverman, 1977). Viele Betroffene finden einen Weg, das Andenken der Toten lebendig zu halten, zum Beispiel, indem sie dessen karitative Arbeit finanziell unterstützen oder selbst weiterführen. So oder auf anderen Wegen ermöglichen sie auch den Kindern, die Erinnerung an Vater oder Mutter wachzuhalten. Rituale bieten der Gemeinschaft eine Möglichkeit, Trauernden bei der Akzeptanz des Verlustes zu helfen, zum Beispiel durch Übergangsriten wie Beisetzung, Totenwache oder Gedächtnisgottesdienste. Gedächtnisgottesdienste oder -andachten betonen den fortwährenden Einfluss des Verstorbenen ebenso wie seine physische Abwesenheit. Eine Zeit des Gedenkens an die Verstorbenen ist in vielen Kulturen anzutreffen, oftmals verbunden mit einer Zeremonie nach Ablauf eines Jahres. Fortwährendes Gedenken des Toten wie zum Beispiel im katholischen Jahresgedächtnis oder im jüdischen Yizkor, einem Gedenkgebet, erfüllen diesen Zweck über mehrere Jahre. Kinder wollen und sollen in diese Rituale involviert sein, ebenso wie in alle Anlässe des Totengedenkens über die kommenden Jahre nach einem Verlust. Dies hilft, mit der neuen Realität umzugehen: »Mein Sohn weiß, wann der Todestag seiner Mutter ist. Er erinnert mich manchmal daran, damit wir gemeinsam in die Synagoge gehen können, um das Yizkor zu sprechen.« Wir haben beobachtet, dass es dabei die Kinder waren, die am stärksten involviert sein wollten. Eine Frau sagte: »Als meine Tochter heiratete, war mein Mann bereits mehrere Jahre tot. Sie erzählte mir später, dass sie zwei Brautsträuße gehabt habe: einen, den sie auf der Hochzeitsgesellschaft in die Menge warf, und einen, den sie auf das Grab ihres Vaters legte.« Es kam unserer Erfahrung nach öfter vor, dass

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Teenager das Grab regelmäßig besuchten. Eine Witwe berichtete von ihrer Sorge, dass dies ihrem Kind nicht guttun und sie es auch nicht mit ihm teilen könne. Das Kind hingegen schien Rituale zu suchen, die ihm halfen, die Beziehung mit dem nun verstorbenen Vater neu zu strukturieren. Kirchenbesuche oder Aufenthalte in einer Synagoge oder das regelmäßige Aufsuchen des Grabes helfen manchen Kindern, dieses Bedürfnis nach Struktur auszuleben: »Ich komme klar, weil ich glaube, dass ich meine Mutter wiedersehe, wenn ich sterbe. Ich glaube an den Himmel und ein Leben nach dem Tod.« Dieser Glaube an einen Himmel kann aber auch eine negative Komponente haben, wie die Worte eines jungen Erwachsenen zeigen, dessen Vater starb, als er neun Jahre alt war: »Ich glaubte wirklich daran, dass er mich beobachtete. Ich hatte Angst, etwas Schlechtes zu tun. Ich war deshalb so unsicher, dass ich Mühe hatte, meine Pubertät zu überstehen. Erst jetzt kann ich meinen Glauben aus einer anderen Perspektive betrachten. An ein Leben nach dem Tod zu glauben, ist hilfreich, aber wir müssen Kindern helfen, das nicht als polizeiliche Handlungsanweisung zu verstehen.« Unsere Arbeit suggeriert, dass es hilfreich für Betroffene ist, eine Form des Weiterlebens für den Verstorbenen zu finden, um mit der Spannung zwischen dessen physischer Abwesenheit und der eigenen Ungläubigkeit gegenüber einem endgültigen Tod umzugehen. Dies kann geschehen durch die Inkorporierung des Verstorbenen oder durch lebendige Formen der Andacht. Menschen müssen lernen, mit ihren Erinnerungen zu leben, ihre Gefühle anzunehmen und so die Vergangenheit zu einem Prolog für Neues zu machen.

Fazit Die Beobachtung der ersten Phase von normaler Trauer zeigt, dass ein hinterbliebener Ehepartner sich weiterhin so verhält, als sei der Verstorbene immer noch präsent. Kinder zeigen diese Ungläubigkeit angesichts des endgültigen Todes noch deutlicher. Diese fortwährende Erwartung, dass der Verstorbene noch anwesend sei, führt zu einer Spannung zwischen Kindern und dem hinterbliebenem Elternteil, wenn darüber nicht gesprochen werden kann. Es gibt vielfältiges Beweismaterial in Bezug auf Rituale in verschiedenen Kulturen und Religionen, die den universellen Glauben an das Weiterleben eines Menschen nach dem physischen Tod anerkennen, zumindest in Aspekten. Diese Rituale dienen gleichzeitig dazu, die Toten in das Reich hinüberzugleiten, dem diese nun angehören. Jeder Trauerbegleiter muss sich der Erwartung, der Tote sei noch anwesend, bewusst sein. Die am meisten verbreiteten Methoden eines Umgangs vonseiten der Betroffenen sind Verweigerung (üblicherweise am ausgeprägtesten unmittelbar nach dem Tod) und Verneinung (die später in Erscheinung tritt). In der Verneinung des Todes, die eigentlich eine Bejahung des weiterführenden oder ewigen Lebens ist,

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können Betroffene den Tod eher akzeptieren, indem sie ihr Gedenken in Ritualen und Andachten begehen. In letzteren Prozess müssen besonders trauernde Kinder miteinbezogen werden. Übersetzung: Karola Hassall

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Robert A. Neimeyer

Die Rekonstruktion von Bedeutung infolge eines Verlusts: eine Perspektive für das weitere Leben

Als sie eines Morgens nach dem Aufwachen erfuhr, dass ihre Mutter Cara im Krankenhaus war, um dort ihr Baby zur Welt zu bringen, war die fünfjährige Alexis voller Vorfreude. Als jüngstes von drei Kindern wollte Alexis so gerne selbst eine große Schwester sein. Monatelang hatte sie am Bauch ihrer Mutter gefühlt, wenn ihre kleine Schwester sich bewegte oder trat, sogar versucht, mit ihr zu sprechen, und ihr Ohr an den Bauch ihrer Mutter gelegt, um auf Antworten zu lauschen, und ihre Mutter Cara hatte gelacht. Erst als ihre Mutter zwei Tage später wieder nach Hause kam, tieftraurig und mit leeren Armen, erfuhr sie, dass das Baby tot geboren worden war. Nun gehörte sie zu einer trauernden Familie, die einen gemeinsamen Verlust zu begreifen versuchte, der für jedes Familienmitglied eine eigene Bedeutung hatte. Immer schon ein wissbegieriges Kind, war es Alexis  – und weniger ihre älteren Geschwister –, die ihrer Mutter schwierige Fragen stellte: »Warum ist unser Baby gestorben? Wo ist es jetzt? Wirst du auch sterben? Wann?« Während Cara, die kaum ihre Tränen zurückhalten konnte, nach tröstenden und zugleich ehrlichen Antworten suchte, beschäftigte sich Alexis zum ersten Mal mit den Themen Sterblichkeit, Vergänglichkeit, dem Fortbestehen einer Beziehung über den Tod hinaus und mit einer kindlichen Spiritualität auf der Suche nach dem Sinn. Noch in derselben Woche kam sie vom Kindergarten mit einer außergewöhnlichen Zeichnung ihrer Familie nach Hause, nicht wie sonst als lächelnde Strichmännchen, sondern stattdessen als Eier, jeweils eines für ihre Mami, ihren Papa, die ältere Schwester, den älteren Bruder, sie selbst und ihr Baby, erkennbar nur an ihrer relativen Größe zueinander. Verwundert befragte Cara ihre Tochter wegen der Darstellungsweise, und Alexis erklärte, dass jedes der Eier ein Familienmitglied darstelle, »bevor es geboren wurde«. So hatte sie sich das Leben im Uterus vorgestellt, ohne dass sie je zuvor mit ihren Eltern auch nur ansatzweise über menschliche Fortpflanzung gesprochen hatte. Gerührt lobte Cara ihre Tochter für die wunderschöne Zeichnung und zog sich dann wieder einmal in ihr Zimmer zurück, in welchem sie jeden Tag stundenlang heimlich weinte. Einige Tage später hörte Cara verwundert theatralisches Weinen aus Alexis’ Zimmer und schaute nach. Beim Eintreten sah sie Alexis auf dem Boden, eine Babypuppe in einem mit einem Papiertaschentuch abgedeckten Schuhkarton, umrundet von Teddybären. Auf die Frage, was sie da tue, schaute Alexis zu Cara auf und sagte: »Ich möchte genauso sein wie du, Mami. Mein Baby ist auch gestorben.«

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In einem weitaus größeren Ausmaß als andere Kreaturen zeichnen wir Menschen uns dadurch aus, dass wir nicht nur in einer gegenwärtigen, physischen Welt leben, sondern auch in einer Welt, die von lang anhaltenden Erinnerungen bevölkert ist, von weit vorausgreifenden Antizipationen, Reflexionen, Zielen, Interpretationen, Hoffnungen, Bedauern, Meinungen, Metaphern – in einem Wort: Bedeutungen. Tatsächlich ist es diese Fähigkeit, eine symbolische Welt zu konstruieren und zu bewohnen, die es uns gestattet, Erfahrung mit Sprache auszuschmücken, zu sprechen und gehört zu werden, Zusammenhänge herzustellen, Geschichten aus unserem Alltag oder unsere gesamte Lebensgeschichte neu zu bearbeiten oder beidem standzuhalten. In bedeutungsvollen Handlungen (»acts of meaning«), wie Jerome Bruner (1990) diese Fähigkeit genannt hat, suchen wir eine Ordnung, eine Basis, einen Plan in der menschlichen Existenz, insbesondere in unserer eigenen. Wie das Erlebnis von Alexis zeigt, suchen Kinder nicht weniger als Erwachsene auf eine ihnen angemessene Art und Weise nach Ordnung und nach Verstehen und konstruieren Bedeutungen von Lebensereignissen anhand der ihnen zur Verfügung stehenden kognitiven, emotionalen, relationalen und kulturellen Ressourcen. Und doch verschaffen sich zuweilen die harten Fakten des gegenwärtigen Augenblicks Geltung, manchmal brutal, und strapazieren oder zerstören das fein gesponnene Netz von Deutungen, auf welchen unser nur allzu verletzliches, als selbstverständlich vorausgesetztes So-Sein in einer gegebenen Welt beruht. Nie wird dies deutlicher, als wenn diese fragilen Erwartungen, Vorstellungen und Illusionen auf inkompatible, jedoch unwiderlegbare Ereignisse treffen – die Diagnose einer eigenen schweren Erkrankung, der tragische Tod eines Elternteils, die Kunde vom plötzlichen Tod eines Geschwisters. In solchen Momenten können wir uns in eine Welt geworfen fühlen, die fremd ist, einsam, unbewohnbar; eine Welt, die unsere für selbstverständlich gehaltenen Realitäten, in welchen wir verwurzelt sind und auf welche wir für ein Gefühl der Sicherheit und der Anbindung bauen, radikal erschüttert oder von uns abtrennt. Ich schreibe diesen kurzen Beitrag, um Sie einzuladen, ihre Aufmerksamkeit auf diese potenzielle Deutungskrise zu richten, die sich für uns alle plötzlich auftun kann, wo auch immer wir uns gerade auf unserem Lebensweg befinden.

Verlust und die Suche nach Bedeutung Genauso wie Philosophen, Linguisten und Theologen betonen auch viele Psychologen die Rolle von Deutungen in menschlichen Leben. Im Besonderen fokussieren sowohl klassische als auch zeitgenössische Konstruktivisten (Kelly, 1955/1991; Neimeyer 2000; 2009) auf die Prozesse, anhand derer Menschen den nahtlosen Strom von Lebensereignissen interpunktieren. Es gelingt den Menschen auf diese Weise, die Ereignisse in bedeutungsvolle Episoden zu strukturieren sowie in wiederkehrende Themen einzuteilen. Diese Episoden und Themen weisen Ereignissen eine persön-

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liche Signifikanz zu und bestimmen die Suche der Menschen nach Validierung ihrer Beziehung zu anderen. Narrativ betrachtet, konstruieren wir letztendlich eine ureigene Lebensgeschichte, wenngleich diese sich notwendigerweise der symbolischen Ressourcen unseres Entwicklungsalters sowie Zeit und Ort bedient. Das Ergebnis ist eine Selbst-Narration (Neimeyer, 2004), definiert als »eine übergreifende kognitiv-affektive Verhaltensstruktur, welche die ›Mikro-Narrationen‹ des Alltagslebens in eine ›MakroNarration‹ einordnet, die unsere Selbstgewissheit konsolidiert, das für uns charakteristische Spektrum an Emotionen und Zielen begründet und unser Auftreten auf der sozialen Bühne des Lebens leitet« (S. 53 f.). Aus dieser Perspektive ist Identität eine narrative Errungenschaft, indem sich die Vorstellung unseres Selbst aus Geschichten bildet, die wir über uns und über andere, die für uns eine Bedeutung haben, erzählen, und aus den Geschichten, die wir in deren Gegenwart spielen. Nicht zuletzt wird genau diese Selbst-Narration von »seismischen« Lebensereignissen zutiefst erschüttert, wie zum Beispiel dem Tod einer geliebten Person, was dann einen Prozess der Bestätigung, Reparatur oder Ersetzung der Grundgeschichte und des Grundmotivs der eigenen Lebensgeschichte auslöst (Calhoun u. Tedeschi, 2006; Neimeyer, 2006). Nach einem lebensverändernden Verlust stürzen sich hinterlassene Kinder und Erwachsene häufig in eine Suche nach Bedeutungen, die verschiedene Ebenen umfassen – von einer praktischen (Wie ist mein Angehöriger gestorben?) über eine Beziehungsebene (Was für eine Familie sind wir nun, da wir keine Mutter mehr haben?) bis hin zur spirituellen oder existenziellen Ebene (Warum konnte Gott das nur zulassen?). Wie – und ob – wir uns mit diesen Fragen beschäftigen und Antworten finden oder ob wir einfach aufhören zu fragen, prägt die Art und Weise, in der wir uns dem Verlust anpassen, und wer wir durch diese Erfahrung werden. Die Fragen, die Alexis gestellt hatte, waren sowohl einfach als auch bohrend, praktisch wie spirituell, verbal geäußert oder inszeniert. Am Ende ist es ihrer Familie gelungen, ihr zu helfen, die geeigneten Antworten zu finden und somit Selbstsicherheit trotz des Risses durch die Totgeburt ihrer kleinen Schwester in der Lebensgeschichte der Familie wiederzuerlangen. Forschungsarbeiten zum Thema der Rekonstruktion von Bedeutung bei Verlusterfahrungen bestätigen zunehmend dieses grob skizzierte Konzept. Die Resultate zeigen erste klinisch nutzbare Details darüber, wie Hinterbliebene die unwillkommene Veränderung ihres Lebens durch den Verlust bearbeiten – zum Besseren wie auch zum Schlechteren – und wie wir als professionelle Helfer die Suche nach Bedeutung unterstützen können. Es sollte aber von Anfang an berücksichtigt werden, dass eine Verlusterfahrung nicht unausweichlich die Selbst-Narrationen der Hinterbliebenen dezimiert und eine Revision oder Neubewertung von Lebensdeutungen bedingt, da manche Menschen in säkularen oder spirituellen Überzeugungen oder Verhaltensweisen, die ihnen in der Vergangenheit nützlich waren, Trost finden. Tatsächlich berichten nur wenige Hinterbliebene über eine Suche nach Bedeutung angesichts einer solchen Erfahrung, besonders dann, wenn es sich um einen relativ normativen und erwarteten Tod nahestehender Personen handelt. Das Nichtstattfinden einer solchen Suche ist einer der positiven Prädiktoren für einen positiven Ausgang des Trauererlebens (Davis, Wortman, Lehman u. Silver, 2000).

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Jedoch gibt es Hinweise darauf, dass selbst bei normativen Verlusten wie Verwitwung im hohen Lebensalter eine signifikante Minderheit der Hinterbliebenen für eine sehr lange Zeit Schwierigkeiten hat, ihrer Verlusterfahrung einen Sinn zuzuschreiben (Bonanno, Wortman u. Nesse, 2004). Zudem zeigte sich in einer Longitudinalstudie von Coleman und Neimeyer (2010) mit verwitweten Probanden, dass diejenigen, die zum Zeitpunkt von sechs und 18 Monaten nach dem Tod des Partners von einer Suche nach dem Sinn des Verlusts berichteten, belastendere und anhaltende Trauerreaktionen noch nach vier Jahren der Trauer aufwiesen. Tatsächlich ist durch Forschungsergebnisse zur komplizierten, verlängerten Trauerstörung belegt, dass das Ringen mit Bedeutungslosigkeit in vielen Populationen ein Hauptkennzeichen lähmender Trauerreaktionen ist (Prigerson et al., 2009). In einer großen Kohorte trauernder junger Erwachsener mit unterschiedlichen Verlusterlebnissen war zum Beispiel die Unfähigkeit, einen Sinn im Tod des anderen sehen zu können, während der ersten beiden Jahre der Anpassung mit ausgeprägtem, alles beherrschendem Trennungsschmerz assoziiert (Holland, Currier u. Neimeyer, 2006). Bei Verlusterlebnissen, die auch objektiv eher als traumatisch eingeschätzt werden, gibt es Hinweise darauf, dass häufiger nach der Bedeutung oder einem Sinn des Verlusts gesucht wird und dass dies die Mehrheit derjenigen betrifft, die den plötzlichen Tod eines Familienmitglieds betrauern, oder Eltern, die ein Kind verloren haben (Davis et al., 2000). Forschungsergebnisse zeigen, dass eine Bedeutungskrise besonders akut bei Menschen auftritt, deren Verlust auf einem Suizid, einem Mord oder einem tödlichen Unfall beruht. Betroffene berichten von deutlich intensiveren Kämpfen darum, dem Verlust einen Sinn zuzuschreiben, als diejenigen, deren Nahestehende eines natürlichen Todes gestorben sind. Überdies ist die Rolle des Sinn-Zuschreibens – eine Hauptform der Bedeutungskonstruktion – so hervorstechend als Grund für die Symptomatologie komplizierter Trauer, wie sie von der ersteren Gruppe erfahren wird, dass sie nahezu perfekt als Mediator für die Auswirkungen gewaltsamer Tode funktioniert. Sie erklärt praktisch alle Unterschiede zwischen Betroffenen von Verlusten durch traumatische Ereignisse und Betroffenen von Verlusten durch einen natürlichen Tod (Currier, Holland u. Neimeyer, 2006). Forschung bei Eltern, die ein Kind verloren haben, untermauert die einflussreiche Rolle der Bedeutungskonstruktion für die Vorhersage von Trauerauswirkungen in Bezug auf die Anpassung an einen Verlust. Keesee, Currier und Neimeyer (2008) fanden bei der Untersuchung einer großen Gruppe von Müttern und Vätern, deren Kinder in einem Zeitraum von vor einigen Monaten bis zu vor mehreren Jahren gestorben waren, heraus, dass weder die Länge der seitdem vergangenen Zeit noch das Geschlecht des Elternteils noch die Kriterien natürlicher oder gewaltsamer Tod großen Einfluss auf die Trauerbearbeitung der Eltern hatten, gemessen an Erhebungen in Bezug auf normative Trauersymptome (zum Beispiel Traurigkeit, Vermissen des Kindes) oder in Bezug auf Symptome komplizierter Trauer (zum Beispiel anhaltende Unfähigkeit, sich um andere Personen zu sorgen, Langzeiteinschränkungen in der Erfüllung von Aufgaben bei der Arbeit oder im Familienkontext). Hingegen zeigte sich das Ausmaß

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an Bedeutungskonstruktion als aussagekräftiger Prädiktor für Trauersymptome, die zusammen auftreten. Der Grad der Bedeutungskonstruktion hatte einen 15-mal stärkeren Einfluss auf die Leiderfahrung als jeder andere der oben genannten objektiven Faktoren. Eine qualitative Analyse von Aussagen der Eltern verstorbener Kinder über Arten der Bedeutungszuweisung (Lichtenthal, Currier, Neimeyer u. Keesee, 2010) erbrachte weitere erhellende Einblicke. Nach im Durchschnitt sechs Jahren gaben nicht weniger als 45 Prozent der Eltern an, immer noch keinen Sinn im Tod ihres Kindes finden zu können. Mehr als 20 Prozent konnten keinen sich trotzdem einstellenden persönlichen Gewinn aus der Verlusterfahrung benennen, wie zum Beispiel an persönlicher Stärke gewonnen zu haben – was ihnen hätte helfen können, den großen Schmerz des tragischen Verlustes zu mildern. Insgesamt hatten die Eltern 32 verschiedene Ansätze diskutiert, dem Tod ihres Kindes einen Sinn zuzuschreiben. 14 dieser Ansätze bezogen sich auf Sinnkonstruktion und 18 auf unerwarteten persönlichen Gewinn bzw. Lichtblicke im Kontext des Verlusts – wobei jeder der Ansätze ein Mittel darstellte, einer tragischen Erfahrung Sinn abzugewinnen. Die häufigsten Bedeutung stiftenden Themen gingen mit religiösen Überzeugungen einher (etwa der Vorstellung, der Tod des Kindes sei Teil eines göttlichen Plans, oder dem Glauben an eine Wiedervereinigung nach dem Tod). Die häufigsten einen Gewinn zuschreibenden Themen waren mit einem größeren Wunsch verbunden, anderen zu helfen, oder mehr Mitempfinden des Leids anderer. Eltern, die sich auf spezifische Sinn stiftende Themen beriefen, die beispielsweise den Tod Gottes Willen zuschrieben oder die Vorstellung hatten, dass das Kind nun nicht länger leiden müsse, und Eltern, die von einem Gewinn berichteten, wie etwa neu geordneten Prioritäten im Leben, hatten weniger maladaptive Trauersymptome. Wie die Suche nach Sinn bei Kindern und Jugendlichen verläuft, die mit dem Tod eines Familienmitglieds zurechtzukommen versuchen, wurde noch nicht untersucht. Aber es ist wahrscheinlich, dass konkrete Vorstellungen spiritueller Art vom Angehörigen (zum Beispiel als Engel oder als wachsamer Geist) oft eine hilfreiche Rolle in diesem Prozess spielen, wenn kulturelle Bedingungen solche Sichtweisen unterstützen. Schlussendlich muss betont werden, dass die Anpassung an den Verlust mehr beinhaltet als das Überwinden schmerzvoller Symptome von Trauer und Depression. So hat sich gezeigt, dass signifikant viele Menschen nach einem Verlusterlebnis über Resilienz oder sogar persönliches Wachstum berichten, dies insbesondere, wenn die Trauersymptome so bedeutsam sind, dass sie als Anlass zur Rekonstruktion von Bedeutung genommen werden, aber gleichzeitig auch nicht so vernichtend sind, dass sie die Rekonstruktion störend beeinflussen (Currier, Holland u. Neimeyer, 2012). Auch die oben erwähnte Langzeitstudie bei Verwitweten von Coleman und Neimeyer (2010) kann so interpretiert werden, dass Bedeutungskonstruktion sich positiv auf die Adaptation von Trauererlebnissen auswirkt. Denn sie ergab bei Beschäftigung mit Sinnkonstruktion in den ersten sechs Monaten nach dem Tod des Partners einen höheren Grad an positiver Gemütsverfassung und Wohlbefinden nach Ablauf von vier Jahren. Daher scheint die Förderung von Rekonstruktion der Bedeutungswelt eine prioritäre

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therapeutische Option in der Behandlung vieler trauernder Klienten zu sein – eine, die nicht nur zur Linderung der Symptome komplizierter Trauer dient, sondern auch das Empfinden von Hoffnung und Selbstwirksamkeit in deren veränderten Lebenssituationen freisetzt. Ein kürzlich entwickeltes, validiertes, multidimensionales Instrument zum Assessment, inwiefern ein Hinterbliebener seinen Verlust in ein größeres System persönlicher Bedeutungen integrieren kann, wird sowohl die Praxis als auch die Forschung weiter voranbringen (Holland, Currier, Coleman, Neimeyer, 2011). Wie kann eine Konstruktion von Bedeutung bei trauernden Kindern und Jugendlichen unterstützt werden? Konkrete therapeutische Vorgehensweisen umfassen ein breites Spektrum von Methoden der Psychotherapie (Neimeyer, 2012) oder der Ausdruckskünste (Thompson u. Neimeyer, 2014), um jungen Menschen zu helfen, ihrem Verlust und ihrem veränderten Leben eine Bedeutung zu geben. Dies reicht von Formen des Storytellings (Geschichtenerzählens) und akrostichischer Poesie über Musik- und Bewegungstherapie bis hin zur Kunsttherapie (Malen, Zeichnen) und zur bildenden Kunst. All diese Methoden können sowohl in der Einzel-, Familien- oder Gruppentherapie wie auch in anderen Kontexten eingesetzt werden. Ich hoffe, dass dieses »Handbuch Kindertrauer« einen gewinnbringenden Beitrag für die therapeutische Praxis in der Begleitung von Kindern und Jugendlichen leisten wird, dass es dabei hilft, den Sinn menschlicher Verlusterfahrungen zu verstehen, und dass es die ganz speziellen Ressourcen der deutschen Sprache nutzt, um der universellen Herausforderung der Auseinandersetzung mit Trauer zu begegnen. Übersetzung: Birgit Jaspers

Literatur Bonanno, G. A., Wortman, C. B., Nesse, R. M. (2004). Prospective patterns of resilience and maladjustment during widowhood. Psychology and Aging, 19, 260–271. Boerner, K., Heckhausen, J. (2003). To have and have not: Adaptive bereavement by transforming mental ties to the deceased. Death Studies, 27 (3), 199–226. Bruner, J. (1990). Acts of meaning. Cambridge, Mass: Harvard University Press. Calhoun, L., Tedeschi, R. G. (Eds.) (2006). Handbook of posttraumatic growth. Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum. Coleman, R. A., Neimeyer, R. A. (2010). Measuring meaning. Searching for and making sense of spousal loss in late life. Death Studies, 34 (9), 804–834. Currier, J. M., Holland, J. M., Neimeyer, R. A. (2006). Sense-making, grief and the experience of violent loss: Toward a mediational model. Death Studies, 30 (5), 403–428. Currier, J. M., Holland, J. M., Neimeyer, R. A. (2012). Prolonged grief symptoms and growth in the first two years of bereavement. Evidence for a non-linear association. Traumatology, 18, 65–71. Davis, C. G., Wortman, C. B., Lehman, D. R., Silver, R. C. (2000). Searching for meaning in loss. Are clinical assumptions correct? Death Studies, 24 (6), 497–540. Holland, J. M., Currier, J. M., Neimeyer, R. A. (2006). Meaning reconstruction in the first two years

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of bereavement. The role of sense-making and benefit-finding. Omega. Journal of Death and Dying, 53, 173–191. Holland, J. M., Currier, J. M., Coleman, R. A., Neimeyer, R. A. (2011). The Integration of Stressful Life Experiences Scale (ISLES). Development and initial validation of a new measure. International Journal of Stress Management, 17 (4), 325–352. Keesee, N. J., Currier, J. M., Neimeyer, R. A. (2008). Predictors of grief following the death of one’s child. The contribution of finding meaning. Journal of Clinical Psychologiy, 64 (10), 1145–1163. Kelly, G. A. (1955/1991). The psychology of personal constructs. New York: Routlegde. Lichtenthal, W. G., Currier, J. M., Neimeyer, R. A., Keesee, N. J. (2010). Sense and significance. A mixed methods examination of meaning-making following the loss of one’s child. Journal of Clinical Psychology, 66 (7), 791–812. Neimeyer, R. A. (2000). Narrative disruptions in the construction of self. In R. A. Neimeyer, J. D. Raskin (Eds.), Construction of disorder. Meaning making frameworks for psychotherapy (pp. 207–241). Washington: American Psychological Association. Neimeyer, R. A. (Ed.) (2001). Meaning reconstruction and the experience of loss. Washington: American Psychological Association. Neimeyer, R. A. (2004). Fostering posttraumatic growth. A narrative contribution. Psychological Inquiry, 15, 53–59. Neimeyer, R. A. (2006). Re-storying loss. Fostering growth in the posttraumatic narrative. In L. Calhoun, R. G. Tedeschi (Eds.), Handbook of posttraumatic growth. Research and practice (pp. 68–80). Mahwah, New Jersey: Lawrence Erlbaum. Neimeyer, R. A. (2009). Constructivist psychotherapy. London u. New York: Routledge. Neimeyer, R. A. (Ed.) (2012). Techniques of grief therapy: Creative practices for counseling the bereaved. London u. New York: Routledge. Prigerson, H. G., Horowitz, M. J., Jacobs, S. C., Parkes, C. M., Aslan, M., Goodkin, K., Raphael, B., Marwit, S. J., Wortman, C., Neimeyer R. A., Bonanno, G., Block, S. D., Kissane, D. W., Boelen, P., Maercker, A., Litz, B. T., Johnson, J. G., First, M. B., Maciejewski, P. K. (2009). Prolonged grief disorder. Psychometric validation of criteria proposed for DSM-V and ICD-11. Plos Medicine, 6, 1–12. Thompson, B., Neimeyer, R. A. (Eds.) (2014). Grief and the expressive arts. Practices for creating meaning. London u. New York: Routledge.

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David W. Kissane

Ein familienzentriertes Betreuungsmodell auf der Basis einer FRI-Typisierung Wie man Familien1, die von einem negativen Trauerverlauf bedroht sind, identifizieren und ihnen helfen kann, die eigenen Stärken zu nutzen

Nach einem und während eines Verlustes bildet die Familie den natürlichen Raum, innerhalb dessen Trauer Ausdruck finden kann. Menschen suchen zuerst Unterstützung bei ihren Familien. Eine familienorientierte Herangehensweise hilft schon sehr früh, die von einem negativen Trauerverlauf bedrohten Familien zu identifizieren, während diese innerlich noch mit der palliativen Versorgung des Sterbenden befasst sind. Werden solche Familien richtig betreut, so hat dies wiederum positive Auswirkungen auf deren Fürsorge für den Kranken. Es ermutigt und optimiert außerdem eine Beteiligung des gesamten Familienverbandes. Der behandelnde Spezialist lernt den Sterbenden kennen und hält das Andenken an diese Besuche wach, während er nach dem Tod therapeutisch oder begleitend mit der Familie arbeitet. Dieser Beitrag beschreibt präventive Familientherapie als ein erfolgreiches Modell, das Familien helfen kann, die von erschwerter oder komplizierter Trauer bedroht sind. Zur Identifizierung derjenigen Familien, die ein erhöhtes Risiko eines negativen Trauerverlaufs aufweisen, bedient sich das hier vorgestellte Modell präventiver Familientherapie des Family Relationships Index (FRI), einer Einteilung in Familientypen, die der Beitrag als theoretischen Hintergrund vorstellen und näher erläutern wird. Gunther, ein Ingenieur, war 43 Jahre alt, als man bei ihm fortgeschrittenen Darmkrebs feststellte. Er erfuhr, dass er nur noch wenige Monate zu leben hatte. Die Familienmitglieder erinnerten sich bei der ersten Familientherapie-Sitzung an den furchtbaren Tag, an dem sie von den erschütternden Neuigkeiten gehört hatten. Seine beiden Kinder, Stefan (14 Jahre) und Anja (zwölf Jahre), gingen noch zur Schule. Die Mutter, Monika, fühlte sich um eine glückliche Zukunft betrogen. Tränen waren an dem Tag vergossen worden. Die Familie hatte Schwierigkeiten damit, offen über Gunthers Krankheit zu sprechen, aus Angst, was vor ihnen liegen würde. Die Eltern erinnerten sich aber auch an ihre frühere Trauer, nachdem ihr erstes Kind im Säuglingsalter verstorben war. Gabriele war eine Frühgeburt gewesen, und die Kinderärzte hatten gehofft, sie würde den Kampf um ihr Leben gewinnen, bis sie im Alter von

1

Es geht um Familien, die in einem palliativen Kontext umsorgt und betreut werden.

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nur vier Monaten an einer Infektion gestorben war. Zu diesem Zeitpunkt waren die Eltern nicht in der Lage gewesen, über ihren tragischen Verlust zu sprechen (siehe Abbildung 1). Es fanden noch fünf Familientherapie-Sitzungen statt, bevor Gunther starb. Die in diesem Rahmen möglichen, offenen Gespräche machten Kinder und Eltern zu einer Einheit, basierend auf einem gegenseitigen Verständnis von der Situation und voneinander. Kleine Meilensteine der Begegnung wurden als denkwürdig gefeiert, während die Familie ihrer Traurigkeit in neuem Einvernehmen begegnete. Als Gunthers Schwäche zunahm, half es Stefan, bestimmte Arbeiten für seinen Vater zu übernehmen, während Anja sich sehr anhänglich und liebevoll verhielt. Die Familie pflegte Gunther mutig bis zum Ende. Der Therapeut wohnte der Beerdigung bei, während der Monika eine einfache, aber schöne Gedenkrede hielt. In sechs weiteren Sitzungen nach Gunthers Tod verlieh Monika ihrer Trauer Ausdruck und war in der Lage, sensibel und empathisch auf die Gefühle ihrer Kinder einzugehen. Diese wiederum lernten das persönliche, emotionale Erbe zu schätzen, dass ihr Vater ihnen hinterlassen hatte. Monate gingen ins Land, und Anja und Stefan merkten, dass ihre Freunde den Vater nicht mehr erwähnten. Sie wünschten sich, weiterhin einen Raum zu haben, in dem sie ihre Erfahrungen austauschen konnten. Sie planten eine Zeremonie, bei der Gunthers Asche in Gabrieles Grab beigesetzt werden sollte. Ihr Trauerweg half ihnen dabei, zu sensiblen Jugendlichen heranzuwachsen, die sich um einander und die Bedürfnisse ihrer Mutter sorgten und kümmerten. Die Sitzungen fanden nun gegen Ende dieses ersten Jahres weniger häufig statt und endeten, als alle Beteiligten der Zukunft positiv entgegensahen. 45

46 Monika, nicht berufstätig, emotionales Barometer FRI = 11

Gunther, Ingenieur, geradeheraus und organisiert, Kolonkarzinom FRI = 9

4m Gabriele, Todesursache neonatale Infektion, Frühgeburt

14 Stefan, Schüler, ruhig, beschützt die Mutter FRI = 9 COH = 3

12 Anja, Schülerin, laut, will überall dabein sein FRI = 9

Abbildung 1: Genogramm der Familie von Gunther – FRI = Family Relation Index (FamilienBeziehungs-Index), COH = Coheresive (Kohärenz)

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Ein familienzentriertes Betreuungsmodell auf der Basis einer FRI-Typisierung

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Theoretische Hintergründe Mit Hilfe des so genannten Family Relationships Index (FRI; Moos u. Moos, 1981) ist es gelungen, eine empirische Typologie von Familien aufzustellen, die mit dem Sterben umgehen müssen.2 Diese Einteilung richtete sich bei ihrer Entstehung danach, wie Familienmitglieder die Beziehungsmuster innerhalb der Familie wahrnahmen. Dabei konnten fünf Typen identifiziert werden, die hier kurz beschrieben werden. Davon sind zwei als gut funktions- und anpassungsfähig klassifiziert worden. Sie werden in der Forschung als unterstützende Familien und Konflikt lösende Familien bezeichnet. In diesen Familien sind Zusammenhalt und gegenseitige Unterstützung stark ausgeprägt. Auch werden unterschiedliche Meinungen und Standpunkte toleriert (Kissane et al., 1996a). Zwei weitere Typen von Familie zeigen dagegen starre und gestörte Interaktionsmuster (zum Beispiel schlechteren Zusammenhalt, weniger Austausch und stärkere zwischenmenschliche Konflikte). Diese Familien können als missmutige und feindselige Familien beschrieben werden, und viele Mitglieder solcher Familien entwickeln Anzeichen psychischer Krankheit. Feindselige Familien sind chaotisch und lehnen Hilfe ab, während missmutige Familien Hilfe zwar annehmen, aber von allen Familientypen die höchste Depressionsrate aufweisen (Kissane et al., 2003). Der fünfte Familientyp ist ein Zwischentypus und ist durch einen leicht gestörten Zusammenhalt gekennzeichnet (Kissane et al., 1996a). Die Mitglieder solcher Familien unterliegen in Bezug auf die psychologische Anpassung an den Verlust ebenfalls einem erhöhten Risiko (Kissane et al, 1996b). Empirische Studien fanden heraus, dass im Bereich Palliative Care 50 Prozent aller Familien den beiden gut funktionierenden Familientypen zugerechnet werden können und 15 Prozent Charakteristika der beiden dysfunktionalen Typen zeigen, wobei die Rate in der ersten Zeit nach dem Verlust auf 30 Prozent steigt, um dann langsam wieder zu fallen. Dem Zwischentypus angehörende Familien machen im Bereich Palliative Care 30 Prozent aus (Kissane et al., 2003). Auch sie zeigen in der ersten Zeit nach einem Verlust mehr dysfunktionale Strukturen, da hier der situationsabhängige Stress für alle Familienmitglieder am stärksten spürbar ist. Es wird außerdem noch ein durch Vermeidung geprägter Familientyp angenommen, der sich möglicherweise genau deshalb der Forschung entzieht (Kissane u. Bloch, 1994). Die hier verwendeten Namen und Beschreibungskriterien helfen beim Verständnis, sollen aber nicht als klinische Zuweisungen oder Diagnosen verstanden werden. Der Sinn dieser Typologie liegt vielmehr darin, Familien mit dem Risiko eines negativen 2 Anmerkung der Übersetzerin: Der FRI ist ein validiertes Messinstrument, das Ende der 1970er Jahre an der amerikanischen Stanford Universität von Rudy Moos entwickelt wurde. Bestehend aus zwölf Items der Family Environment Scale (90 Items) liefert er gezielte Informationen darüber, wie die Mitglieder einer Familie als Team zusammenarbeiten, wie der Zusammenhalt ist, wie sie sich über ihre Gedanken und Gefühle austauschen und wie sie mit Konflikten umgehen.

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Trauerverlaufs identifizieren zu können. Diese Familien können dann zu einem Treffen mit einem zuständigen Spezialisten eingeladen werden. Daten wurden in Australien an 701 Angehörigen von tödlich an Krebs erkrankten Patienten im Rahmen von sechs kommunalen Palliative-Care-Diensten erhoben. Diese Daten wurden dann zwecks einer Validierung randomisierten klinischen Studien unterzogen (Kissane et al., 2006). Diese Studien testeten die Wirkung dieser prophylaktischen, familienorientierten psychologischen Intervention. Damit sollte ermöglicht werden, Familien, die einem dysfunktionalen Familientypus zugerechnet worden waren, bei einem besseren Umgang mit der Situation zu unterstützen. Die Unterstützung galt sowohl für die Zeit der palliativen Betreuung sowie für den Zeitraum nach dem Tod des Krebspatienten. Familien wurden auf der Basis der Wahrnehmung von Dysfunktionalität durch einzelne Familienmitglieder einem der drei dysfunktionalen Typen zugerechnet. Daraufhin wurden die Beziehungen der Familienmitglieder untereinander sowie mögliche psychische Auffälligkeiten untersucht. Weitere Untersuchungen bestätigten zusätzlich die Annahme, dass missmutige und feindselige Familien sowie Familien des Zwischentyps einem größeren Risiko in Bezug auf einen psychisch negativen Trauerverlauf unterliegen. Mitglieder solcher Familien zeigten deutlich öfter Symptome von Depression und allgemein Symptome einer psychischen Notlage. Sie berichteten auch von einer geringen sozialen Anpassungsfähigkeit an die neue Situation in vielen Bereichen. Das gilt beispielsweise in Bezug auf Hausarbeit, Beruf, Hobbys und andere soziale Aktivitäten sowie die Beziehung zu den eigenen Kindern oder zu anderen Verwandten – und ganz allgemein in Bezug auf ihre psychische Funktionsfähigkeit (Kissane u. Bloch, 2002). Innerhalb der drei psychosozial dysfunktionalen Familientypen kommt es zu verschiedenen Verhaltensmustern. Die Zugehörigkeit zu feindseligen Familien verspricht im Vergleich mit den Familien des Zwischentyps das gehäufte Auftreten einer depressiven und zwanghaften Symptomatik sowie von Angststörungen. Gleichzeitig kommt es in feindseligen Familien eher zu Wut aufeinander und es bestehen größere Reibungspunkte zwischen Familienmitgliedern als bei den missmutigen Familien. Missmutige Familien schneiden aber ihrerseits in den Kategorien Wut und Reibungspunkte schlechter ab als Familien des Zwischentyps, dasselbe gilt in Bezug auf Angst und einen grundsätzlichen Leidensdruck (Kissane et al., 2003). Verglichen mit Familien des Zwischentyps sind die feindseligen und missmutigen Familien auch sozial schlechter organisiert, beispielsweise im Bereich Hobby und Beruf sowie in ihrer allgemeinen sozialen Funktionsfähigkeit. Mitglieder der beiden dysfunktionaleren Familientypen, die sich zu verstärkten Symptomen von Depression bekannten, berichteten auch von schlechteren Beziehungen zu ihren Kindern (Kissane et al., 2003). Die Erhebungen veranschaulichen das Nachlassen der psychosozialen Funktionsfähigkeit von den gut funktionierenden Familienverbänden der ersten zwei Typen über die des Zwischentyps bis hin zu den Familien der beiden dysfunktionalen Typen. Die Forschung geht davon aus, dass anpassungsfähige Kommunikationsformen und familiärer Zusammenhalt Familien dabei helfen können, sich auf eine antizipierte

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Ein familienzentriertes Betreuungsmodell auf der Basis einer FRI-Typisierung

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Trauer vorzubereiten und sich der Situation besser anzupassen (Lichtenthal, Prigerson u. Kissane, 2010). Dementsprechend besteht bei Familien der beiden dysfunktionalen Typen und des Zwischentyps eine schlechtere Prognose in Bezug auf deren Fähigkeit, mit antizipierter Trauer umzugehen. Die jeweils für diese drei Familientypen charakteristischen Verhaltensweisen erhöhen bei den Betroffenen das Risiko einer komplizierten Trauer (Lichtenthal et al., 2010), die ihrerseits an eine schlechte psychosoziale (Prigerson et al., 2009), biologische (O’Connor, Wellisch, Stanton, Olmstead u. Irwin, 2011) und körperliche (Maciejewski, Zhang, Block u. Prigerson, 2007) Gesundheit gekoppelt ist. Aus diesem Grund ist es empfehlenswert, Familien in Bezug auf ein bestehendes Risiko vor dem Hintergrund der fünf beschriebenen Familientypen einzuschätzen. Im Bedarfsfall kann man betroffenen Familien des feindseligen und missmutigen sowie des Zwischentyps dann eine fortlaufende präventive psychosoziale Betreuung zukommen lassen (Kissane, Zaider, Li u. Del Gaudio, 2012).

In der Praxis – wie soll familienorientierte Therapie gestaltet werden? Palliative-Care-Dienste erkennen zunehmend den Sinn eines Treffens mit der ganzen Familie. Ein solches Treffen kann helfen, um zu Beginn einer Zusammenarbeit die familiären Bedürfnisse auszuloten, in Bezug auf Pflege zu informieren und auf das Kommende vorzubereiten. Während die Krankheit und deren Behandlung ihren Verlauf nehmen, können Fachleute diese Zeit nutzen, um Fragen rund um das familiäre Beziehungsgefüge zu stellen, vor allem in Bezug auf Kommunikation, Zusammenhalt und Konflikte (Kissane u. Hooghe, 2011). Eine Einteilung mit Hilfe des FRI ist zulässig für Jugendliche ab zwölf Jahren. Sie kann auf einfache Weise in das Treffen mit der Familie einfließen, um Familien mit einem höheren Risikofaktor zu identifizieren. Manchmal äußert eine Familie Sorge in Bezug auf Kommunikation, Teamwork und gegenseitige Unterstützung sowie die Fähigkeit, Konflikte auszutragen und abweichende Standpunkte zu tolerieren. In solchen Fällen können Fachleute die Familie zu weiteren Treffen einladen, um an diesen Bereichen zu arbeiten. So ist ein Plan für eine weitere psychosoziale Betreuung der Familie entworfen.

Techniken, Strategien und Herausforderungen Die Erstellung eines Genogramms (von drei Generationen) erlaubt, die Familiengeschichte von Betroffenen zu würdigen. Sie ist aber auch hilfreich, gestörte Beziehungsmuster zu erkennen und zu benennen. Solche Skripte befreien die Familie von Schuld, während sie bei der Betrachtung anerkennen, welche Verhaltensweisen in der

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Familie einander von Generation zu Generation vorgelebt und weitergegeben wurden (Byng-Hall, 1988). Eine genaue Betrachtung von Beziehungsmustern innerhalb der Familie sowie von deren Umgangsweise mit Verlust ist sehr informativ. Wenn Familien erkennen, dass und wie ein Muster sich über Generationen hinweg fortsetzen kann, dann können sie eingeladen werden, eine andere Haltung gegenüber einem bestimmten (nun als Muster offenbar gewordenen) Verhalten einzunehmen. Der Schutzinstinkt jeder Familie macht das Sprechen über eine schwere Krankheit oder das Risiko des Todes schwierig. Therapeuten müssen hier Möglichkeiten finden, um Familien bei dem Denken an die Zukunft zu ermutigen. Das schließt ein, welche Formen praktischer Pflege und Versorgung von der Familie bevorzugt werden, an welchem Ort das Sterben stattfinden soll und welche Vorkehrungen für die Beisetzung getroffen werden müssen. Beim Sprechen über den Tod hilft ein Fokus auf die Bedeutung von Lebensqualität dabei, selbst im Angesicht dieses schweren Themas nicht die Hoffnung zu verlieren. Wenn eine Familie sich mutig und offen dem Sprechen über den Tod stellt, dann bietet ein solches Gespräch auch die Möglichkeit, die Leistungen, den Wert, den Lebensinhalt und die Würde des Sterbenden zu feiern. Außerdem sind solche Gespräche die Vorboten einer Chance, tatsächlich Abschied zu nehmen. Wenn die Krankheit aber noch nicht weit fortgeschritten oder die Familie zu einem Gespräch über den Tod noch nicht in der Lage ist, so respektiert ein weiser Therapeut dies und wartet einen späteren Zeitpunkt ab. Die Wahrung eines Schutzraumes für Gespräche mit einer Familie ist eine fundamentale Verantwortung des Therapeuten. Viele Familien schieben eine Auseinandersetzung mit ihren Konflikten auf, bis sie sicher sind, dass ein Therapeut wirklich in der Lage ist, ihnen zu helfen. Andere gehen ihre Themen sofort an, und es fällt dem Therapeuten zu, sich zurückzuhalten und die Sitzung explorativ mit Fragen zu begleiten, die nicht so sehr auf Inhalt und mehr auf den Prozess fokussiert sind. Falls nötig, so setzt er Grenzen, die verdeutlichen, wie solche Prozesse respektvoll verlaufen und unterschiedliche Standpunkte vorgebracht werden können. Eskaliert ein Konflikt und ist ein Schutzraum innerhalb der Sitzung nicht mehr gegeben, so werden Familien sich schnell zurückziehen und alle weiteren Bemühungen aufgeben, um einen größeren Schaden zu vermeiden. Ein Therapeut muss damit rechnen, dass er von der Familie dazu aufgefordert wird, Partei zu ergreifen. Eine solche Aufforderung betont, wie wichtig eine neutrale Position für den Therapeuten ist, während er versucht, mit der Familie Lösungen für Schwierigkeiten oder Konflikte zu erarbeiten. Weiterhin unterscheidet sich der zirkuläre Stil des Fragens stark von dem linearen Vorgehen in einer Einzeltherapie-Sitzung. Zirkuläre Fragen vonseiten des Therapeuten laden Familienmitglieder dazu ein, ihre Ideen zu den Gefühlen, Erfahrungen oder dem Leiden eines anderen Familienmitglieds auszudrücken. Dieses Vorgehen unterstützt die Fähigkeit, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, und ermöglicht so hoffentlich einen Prozess der Unterstützung und des gegenseitigen Verständnisses (Dumont u. Kissane, 2009).

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Es ist zum Vorteil aller, wenn im Rahmen therapeutischer Sitzungen eine Kultur empathischer Anteilnahme innerhalb der Familie gefördert wird, anstatt diese Rolle dem Therapeuten zu überlassen. Auf diese Weise können Familien allmählich lernen, einander in Zeiten der Not zu unterstützen. Daher bewegen sich Therapeuten in diesem Kontext zwischen wohlüberlegten Fragen und integrativen Zusammenfassungen. Letztere stellen sicher, dass die Familie den therapeutischen Prozess versteht, während beide Methoden im Kombination helfen, den Zeitrahmen der Sitzung zu regulieren und die Selbsterfahrung der Familie in den Vordergrund zu stellen. Während der Therapeut die Familie und deren Beziehungsverhalten kennen lernt, bemüht er sich, neben den Verletzlichkeiten auch die besonderen Stärken zu entdecken (Bonanno et al., 2002). Lob und positive Bestärkung der einer Familie eigenen Widerstandskräfte ist ein Kernziel dieser Therapieform, während sie den Weg ebnet, um das Wohlergehen einer Familie in Zeiten der Not zu fördern. Familientraditionen und -bräuche, ein bestimmtes Motto, ethnische Hintergründe, Erinnerungen an Leistungen und das persönliche Erbe des Verstorbenen, spirituelle oder religiöse Traditionen, Humor, berufliche Erfolge, Kinder und Kindererziehung, Stolz auf die nächste Generation oder sogar die eigene Großzügigkeit als Pflegekraft – all dies hilft bei der Entdeckung von Dingen, die an einer Familie bemerkenswert sind, und bildet den Grundstock für einen »Lobgesang« auf ihre Stärken. Kritische Äußerungen, die eine Familie gegeneinander vorbringt, müssen immer sorgfältig umformuliert werden. Um Schuldzuweisungen zu vermeiden, ist es hilfreich, die einem bestimmten Verhalten zugrunde liegende Motivation zu begreifen, die unterschiedlichen Erwartungen aneinander sowie mögliche persönliche Allianzen zu verstehen und eine Perspektive einzunehmen, bei der unwillkommene Verhaltensmuster externalisiert und von außen betrachtet werden. Indem ein Therapeut Neugier und Respekt für alle unterschiedlichen Positionen vorlebt, hofft er, dass die Familie ihm in dieser Hinsicht folgt und so einen neuen, konstruktiven Weg betritt, der bestimmt ist von der Offenheit für neue Erfahrungen (Kissane et al., 2012).

Der therapeutische Prozess Nach ein oder zwei Treffen, die einander in kurzen Abständen folgen, entwirft der Therapeut mit der Familie zusammen einen Plan für das weitere Vorgehen. Die Häufigkeit der Sitzungen ist dabei an die Bedürfnisse der Betroffenen gekoppelt. Ein oft gewählter Rhythmus besteht hier in einem Treffen alle drei bis vier Wochen. Dies hilft, das therapeutische Ziel zu unterstützen und es nicht aus den Augen zu verlieren. Dabei sind die Gesundheit und das Wohlergehen des Krebspatienten von größter Wichtigkeit. Sitzungen finden zumeist im Heim der Familie statt, zumal der Patient oft bereits zu krank ist, um es zu verlassen (Kissane u. Bloch, 2002). Diese Treffen im eigenen

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Heim ermöglichen außerdem auf wertvolle Weise, Krisen therapeutisch als Potenzial für Wachstum und Veränderung zu nutzen. Therapeuten wohnen oft der Beerdigung bei, um damit die Beziehung zu den Klienten zu stärken sowie ihren Respekt für den Verstorbenen auszudrücken. Eine Weiterführung der Therapie nach dem Tod des Patienten ermöglicht die Konstanz von Betreuung. Des Weiteren können die Aussagen, Wünsche und Motive des Verstorbenen die Sitzungen weiterhin bereichern und stärken – vor allem, da alle Beteiligten, inklusive des Therapeuten, mit ihnen direkt vertraut sind. Das Teilen der Trauer miteinander ist ein normaler Prozess zwischen Familienmitgliedern in der Trauerarbeit. Hier bemühen sich Familienmitglieder um die Konstruktion eines neuen Sinns, neuer Rollen und veränderter Beziehungen (Kissane et al., 2012). Sobald sich Lösungsansätze und Verbesserungen zeigen, lässt sich die Häufigkeit der Sitzungen langsam auf zunächst zwei- und dann schließlich auf dreimonatige Intervalle reduzieren. Das Ende der Therapie wird offen angesprochen und vorbereitet, inklusive einer Präventionsstrategie für Rückfälle in alte Verhaltensmuster. Der Fokus liegt darauf, zu erarbeiten, wie auch in Zukunft die neuen Ansätze und Impulse genährt und erhalten werden können. Da dieses Modell sich auf die Unterstützung familieneigener Stärken gründet, so ist auch das Ende der Therapie gleichermaßen eine Beglückwünschung zu dieser Stärke und Widerstandskraft.

Einige Faustregeln Folgende Auflistung von Faustregeln fasst das Ausgeführte abschließend noch einmal zusammen: •• Durch das Konzept eines familienorientierten Modells kann Trauerbegleitung oder -therapie bereits während der palliativen Versorgung des Sterbenden beginnen. •• Einige Familien sind einem höheren Risiko in Bezug auf einen negativen Trauerverlauf ausgesetzt, weil sie eine schlecht ausgeprägte Kommunikationskultur besitzen, weniger Zusammenhalt haben oder in einen Konflikt verstrickt sind. Solche Familien präventiv zu identifizieren und mit ihnen zu arbeiten, ist kosteneffektiv, respektiert aber gleichzeitig die Fähigkeit kompetenterer Familien, sich mit der Zeit langsam und von selbst an einen Verlust anzupassen. •• Mit Hilfe des so genannten Family Relationships Index (FRI) ist es gelungen, eine empirische Typologie von Familien aufzustellen, die das Identifizieren von Familien mit erhöhtem Risiko zu einem negativen und komplizierten Trauerverlauf ermöglicht. •• Das aktive Teilen von Trauer miteinander ist in der Trauerbegleitung ein wichtiger Standard. •• Die therapeutische Arbeit mit der gesamten Familie dient dem Wohl der einzelnen Familienmitglieder und verhindert eine negative Bewertung untereinander.

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•• Familienorientierte Trauertherapie respektiert kulturelle und religiöse Bedürfnisse und kann in diesem Kontext den Gebrauch von Ritualen anbieten und nutzen. •• Familienorientierte Therapie kann mit anderen Formen der Trauerbegleitung einhergehen und ist vor allem für Familien mit älteren Kindern oder Jugendlichen sehr sachdienlich. Übersetzung: Karola Hassall

Literatur Bonanno, G. A., Wortman, C. B., Lehman, D. R., Tweed, R. G., Haring, M., Sonnega, J., Carr, D., Nesse, R. M. (2002). Resilience to loss and chronic grief. A prospective study from preloss to 18-months postloss. Journal of Personality and Social Psychology, 83, 1150–1164. Byng-Hall, J. (1988). Scripts and legends in families and family therapy. Family Process, 27, 167–180. Dumont, I., Kissane, D. W. (2009). Techniques for framing auestions in conducting family meetings in palliative care. Palliative & Supportive Care, 7, 163–170. Kissane, D. W., Bloch, S. (1994). Family grief. British Journal of Psychiatry, 164, 728–740. Kissane, D. W., Bloch, S. (2002). Family focused grief therapy. Milton Keynes: Open University Press. Kissane, D. W., Bloch, S., Dowe, D. L, Snyder, R. D., Onghena, P., McKenzie, D. P., Wallace, C. S. (1996a). The Melbourne family grief study I. Perceptions of family functioning in bereavement. American Journal of Psychiatry, 153, 650–658. Kissane, D. W., Bloch, S., Onghena, P., McKenzie, D., Snyder, R., Dowe, D. (1996b). The Melbourne family grief study II. Psychosocial morbidity and grief in bereaved families. American Journal of Psychiatry, 153, 659–666. Kissane, D. W., Hooghe, A. (2011). Family therapy for the bereaved. In R. A. Neimeyer, D. L. Harris, H. R. Winokuer, G. F. Thornton G. F. (Eds), Grief and bereavement in contemporary society. Bridging research and practice (pp. 287–302). London u. New York: Routledge. Kissane, D. W., McKenzie, M., Bloch, S., Moskowitz, C., McKenzie, D. P., O’Neill, I. (2006). Family focused grief therapy: a randomized controlled trial in palliative care and bereavement. American Journal of Psychiatry, 163, 1208–1218. Kissane, D. W., McKenzie, M., McKenzie, D., Forbes, A., O’Neill, I., Bloch, S. (2003). Psychosocial morbidity associated with patterns of family functioning in palliative care. Baseline data from the Family Focused Grief Therapy controlled trial. Palliative Medicine, 17, 527–537. Kissane, D. W., Zaider, T. I., Li, Y., Del Gaudio, F. (2012). Family therapy for complicated grief. In M. Stroebe, H. Schut, Bout, J. van den (Eds.), Complicated grief. Scientific foundations for health care professionals (pp. 248–262). London u. New York: Routledge. Lichtenthal, W. G., Prigerson, H. G.; Kissane, D. W. (2010). Bereavement. A special issue in oncology. In J. C. Holland, W. S. Breitbart, P. B. Jacobsen, M. S. Lederberg, M. J. Loscalzo, R. McCorkle (Eds.), Psycho-Oncology (2nd ed.) (pp. 537–547). Oxford u. New York: Oxford University Press. Maciejewski, P. K., Zhang, B., Block, S. D., Prigerson, H. G. (2007). An empirical examination of the stage theory of grief. JAMA, 7, 716–723. Moos, R. H., Moos, R. S. (1981). Family environment scale manual. Palo Alto: Stanford Consulting Psychologists Press. O’Connor, M-F., Wellisch, D. K., Stanton, A. L., Olmstead, R., Irwin, M. R. (2011). Diurnal cortisol in complicated and non-complicated grief. Slope differences across the day. Psychoneuroendocrinology, 37 (5), 725–728.

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Prigerson, H. G., Horowitz, M. J., Jacobs, S. C., Parkes, C. M., Aslan, M., Goodkin K., Raphael, B., Marwit, S. J., Wortman, C., Neimeyer, R. A., Bonanno, G. A., Block, S. D., Kissane, D. W., Boelen, P., Maercker, A., Litz, B. T., Johnson, J. G., First, M. B., Maciejewski, P. K. (2009). Prolonged grief disorder. Psychometric validation of criteria proposed for DSM-V and ICD-11. PLoS Medicine, 6 (8), 1–12.

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Resilienz und trauernde Kinder1 Wie wir Kinder dabei unterstützen, nach dem Tod eines Elternteils eine resiliente Grundhaltung zu entwickeln

Einige Kinder stehen großes emotionales und physisches Leid sowie belastende Situationen und Ereignisse in ihrem Umfeld nicht nur durch, sondern entwickeln sich dennoch ausgesprochen gut. Für andere jedoch ist das Leben ein ständiges Ringen. Oft haben sie als Erwachsene eine schlechte Ausbildung, eine Reihe scheiternder Beziehungen oder Beziehungen, in denen Gewalt ausgeübt wird, psychische Probleme und leben in benachteiligten Verhältnissen. In Hinblick auf die Resilienz hinterbliebener Kinder fragen wir uns, was genau sie zum Gelingen ihres Lebenswegs befähigt. Wie viel ihres weiteren Weges basiert auf Genen, Erziehung, Ausbildung, dem Einfluss von Mentoren, dem eigenen Temperament oder geistiger Gesundheit (Brooks u. Goldstein, 2005)? Kinder sind weder einfach von Geburt an resilient noch werden sie es allein durch ihre Erfahrungen. Die Frage ist nicht mehr, ob und in welchem Ausmaß Gene und das Umfeld zusammenwirken, um Resilienz bei Kindern und Erwachsenen zu erzeugen, sondern wie dies vonstatten geht. Nach Brooks und Goldstein (2001; 2002) können Kinder in der Entwicklung einer resilienten Grundhaltung unterstützt werden, indem man ihnen hilft, mit Druck und Belastung umzugehen. Wie gut ein Kind schwierige Situationen meistert, beruht auf einer komplexen Kombination persönlicher Stärken und seiner individuellen Vulnerabilität, aber auch auf den Interaktionen mit Familienmitgliedern, Freunden und dem weiteren sozialen Netzwerk. Resilient ist ein Kind nicht nur in bestimmten Lebenslagen, sondern es verfügt über bestimmte Einstellungen und Grundhaltungen (Brooks u. Goldstein, 2001). Es wird angenommen, dass sich bei jedem fünften jungen Menschen, der ein Elternteil durch Tod verliert, emotionale und Verhaltenssymptome in einer Ausprägung zeigen, die eine Überweisung an spezialisierte Dienste rechtfertigt (Dowdney, 2000). Wir verfügen sowohl über Erkenntnisse aus der Forschung als auch die entsprechenden Maßnahmen, um trauernden Kindern zu helfen (Sandler, Wolchik u. Ayres, 2008). Daher wäre es unverzeihlich, zukünftige Generationen allein zu lassen mit ihren Gefühlen der Verwirrung, der Isolation und des Ausgeschlossenseins. Alle Szenarien und Zitate in diesem Beitrag stammen aus Familien, die von Winston’s Wish begleitet wurden. Winston’s Wish ist eine gemeinnützige Einrichtung für trauernde Kinder in Großbritannien. Dort werden junge Menschen dabei unterstützt, 1

Überarbeitete und ergänzte Fassung von Stokes, 2007, Kap. 3.

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sich an das Leben nach dem Tod eines Geschwisters oder Elternteils anzupassen. Namen und Details, anhand derer man auf die Identität der Personen schließen könnte, wurden geändert oder ausgelassen, um die Schweigepflicht nicht zu verletzen. Der Terminus »Eltern« umfasst leibliche Eltern, Stiefeltern und andere zentrale Personen, die elterliche Funktionen übernehmen.

Resilienz bei Verlust eines Elternteils Im International Resilience Project wurden Daten über rund 600 Elfjährige erhoben. Die Liste der Angaben der Kinder über das größte Unglück, das ihnen widerfahren war, wurde vom Tod eines Elternteils oder des Großvaters oder der Großmutter angeführt (Grotberg, 1997). Ein Kind, das sich an den Tod eines Elternteils anzupassen sucht, wird dies eher nicht schnell schaffen. Sieht es so aus, als würde das Kind rasch wieder »auf normal schalten«, kann dies auf eine ambivalente oder gehemmte Trauerreaktion zurückgehen. Außerdem muss sich das Kind an große Veränderungen innerhalb der Familie anpassen, zu denen – neben den normalen Trauerreaktionen – oftmals eine Vielzahl sekundärer Verluste gehören. Der hinterbliebene Elternteil ist durch den Verlust möglicherweise selbst in großem Maße beeinträchtigt, und die Begegnungen mit Freunden fühlen sich seltsam an. Die Erfahrungen bei Winston’s Wish haben gezeigt, dass Kinder, die ein Elternteil verloren haben, sich besser an die neue Situation anpassen, wenn sie •• zumindest eine sichere Bindung und positive Beziehung zu einem kompetenten Erwachsenen haben – im Idealfall zum hinterbliebenen Elternteil, sollte es diesen geben; •• eine gesunde Bindung zur verstorbenen Person aufrechterhalten; •• in gutem Kontakt zu Gleichaltrigen stehen; •• ein Kompetenzgebiet haben, das sie selbst schätzen und welches gesellschaftlich anerkannt wird. Stephen In einer jüngeren Evaluation wurden Eltern, deren Kinder eine Trauerbegleitung erhalten hatten, gefragt, ob sie bei ihrem Kind Zeichen von Resilienz sähen. Stephens Mutter antwortete: »Stephen hat so viele Dinge gesagt, die auf einen Zuwachs an innerer Stärke hinweisen, Bemerkungen darüber, nach vorne zu blicken, zu lernen mit der Traurigkeit zu leben, aber trotzdem Spaß zu haben, darüber, sich zu erinnern, aber immer auf eine Art, die sein Leben bereichert. Er sagt zum Beispiel: ›Dad fände das toll, Dad wäre stolz, ich weiß, dass er bei mir ist.‹ Er hat sogar seinem Großvater geholfen, als seine Großmutter gestorben ist. Mein Vater sagte einmal zu mir: ›Ich nehme mir Stephen da zum Vorbild; es gibt noch so viel, warum es sich lohnt, zu leben, sich zu erinnern und nach vorne zu schauen.‹«

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Stephen hatte einen guten Start ins Leben, eine liebevolle Familie und eine enge, respektvolle Beziehung zu seiner Mutter. Er verfügte über kognitive und emotionale Intelligenz, war beliebt, witzig, hatte vielfache sportliche und künstlerische Fähigkeiten, wofür er viel Anerkennung erhielt. Er empfing klare Botschaften, insbesondere vonseiten seiner Mutter, wie wichtig es sei, auf gesunde Art und Weise die Beziehung zu einem verstorbenen Menschen aufrechtzuerhalten. Auch hatte seine Mutter sich um Unterstützung für ihren Sohn und sich selbst bemüht und einen spezialisierten Dienst gefunden, der mehr als zweihundert Meilen entfernt war. Jack Die Geschichte von Jack zeigt eine deutlich andere Erfahrungswelt eines Kindes im gleichen Alter wie Stephen. Es handelt sich in diesem Fallbeispiel um ein Kind, welches Coaching benötigte, um eine Haltung größerer Resilienz aufzubauen, nachdem sein Vater Suizid begangen hatte (im Hinblick auf das Thema: Kinder von Eltern, die durch Suizid starben, siehe auch Love, 2006; Wood, Byram, Gosling u. Stokes, 2010). Nach einer langen, komplizierten Vorgeschichte mit psychischen Erkrankungen hatte Jacks Vater sich erhängt. Nach sechs Einzelsitzungen konnte Jacks Mutter trotz ihrer eigenen, sehr ambivalenten Gefühle ihrem verstorbenen Mann gegenüber langsam akzeptieren, dass es für ihren Sohn wichtig war, eine Beziehung zu seinem Vater zu konstruieren, die sich nicht schädlich auf ihn selbst auswirken würde. Jack wiederum hatte verstanden, dass er Hilfe brauchte, um sich von den psychischen Erkrankungen seines Vaters und dessen Suizid abgrenzen zu können. Mutter und Sohn wurden ermutigt, zusammen ein so genanntes Erinnerungsglas zu füllen, in das vor allem die guten Erinnerungen gelegt werden sollten (Stokes, 2004, S. 114). Hierfür wurden ihnen fünf Kategorien genannt, die mit den folgenden Worten begannen: •• ein ganz besonderer Moment, den wir zusammen verbracht haben, •• etwas, worüber wir uns zusammen gefreut oder worüber wir gelacht haben, •• eine Erinnerung, die mich tröstet, •• etwas, das ich an ihm sehr gemocht habe, •• etwas, das ich an unserer Beziehung geschätzt habe. Danach haben sie sich über ihre Erinnerungen unterhalten. Dies war nur möglich, nachdem sowohl Mutter als auch Sohn zuvor viel Zeit gegeben worden war, ihre nicht unerheblichen, ambivalenten Gefühle des Zorns und der Verachtung gegenüber dem Verstorbenen auszudrücken. Jack, der musisch begabt war, kreierte einen metaphorischen »Berg des Zorns« mit afrikanischen Trommelklängen. Nach einer besonders erschöpfenden Trommelsession brach er zusammen und schluchzte: »Warum nur war mein Vater manisch-depressiv?« Diese Anerkennung seines Zorns und seiner Traurigkeit war ein erster kleiner, jedoch wichtiger Schritt in Richtung der Expression von Gefühlen und der Konstruktion einer zuversichtlichen Bedeutungsgeschichte über den Suizid seines Vaters.

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Risikofaktoren bei trauernden Kindern Auch wenn nur begrenzte Ressourcen für die psychische Gesundheit von Kindern bereitgestellt werden, ist es wichtig anzuerkennen, dass der Tod eines Elternteils oder Geschwisters schon an sich einen wesentlichen Risikofaktor bedeutet (Dowdney, 2000). Sogar Kinder wie Stephen, die als resilient wahrgenommen werden, profitieren von persönlicher Begleitung durch Trauerdienste. Besonderen Risiken ausgesetzt sind jedoch Kinder mit vulnerablem und gewaltaffinem Hintergrund, Kinder in besonderer Obhut, jugendliche Straftäter und traumatisierte Kinder (British Medical Association, 2006). Es bedarf immer noch großer Anstrengungen, Entscheidungsträger in der Gesundheitspolitik von der Relevanz und dem Bedarf an frühzeitigen und langfristigen Interventionen für besonders vulnerable trauernde Kinder zu überzeugen.

Evaluation von Resilienz Jährlich werden mehr als 400 Kinder von Winston’s Wish begleitet (Assessment, Einzelbegleitung und Gruppenarbeit mit offenem Zugang). Weitere 8.000 Kinder pro Jahr erhalten Unterstützung über eine nationale Helpline und noch mehr Kinder kontaktieren den Service über die Fragenseite seiner Internetplatform. In den vergangenen 15 Jahren waren schätzungsweise 10 Prozent der uns zugewiesenen Kinder in hohem Grad resilient (leicht in die Angebote einzubeziehen, meist mit einem unterstützenden Elternhaus und Bedarf an den gängigen Angeboten des Dienstes). Die große Mehrheit (75 Prozent) wurde als mittelgradig resilient eingeschätzt (zumeist über professionelle Behandler zu uns gekommen, in der Regel mit Bedarf an weiterer Begleitung durch uns bei neu auftretenden Veränderungen, bei einigen mit Bedarf an Einzelbegleitung vor der Arbeit in Gruppen). Die verbleibenden 15 Prozent waren im Wesentlichen hochgradig vulnerable Kinder (mit Beeinträchtigungen durch verschiedene psychologische und soziale Faktoren, mit fehlender Unterstützung durch Eltern oder in der Obhut der lokalen Behörden – partnerschaftliche Zusammenarbeit mit ersten Ansprechstellen und längere Beziehungen zu einem Hauptansprechpartner waren hierbei von großem Wert). Jüngere Auswertungen der Arbeit mit besonders vulnerablen Kindern (zum Beispiel mit Kindern, in deren Familienumfeld ein Mensch ermordet wurde) zeigen, dass die meisten eine sie aufsuchende Betreuung brauchen, um sicherzustellen, dass überhaupt ein Assessment stattfindet. Generell profitiert die Mehrheit trauernder Kinder von frühzeitigen Interventionen (innerhalb von sechs Monaten nach dem Todesfall). Es gibt zunehmend Hinweise darauf, dass die entsprechenden Dienste einen positiven Einfluss auf die Entwicklung von Resilienz haben – bei eher moderatem Kostenaufwand (Stokes, 2004).

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Gender und Resilienz bei Kindern Nach einer Untersuchung bei Familien, die Trauerangebote in Anspruch nahmen (Stokes, 2004), zeigte sich, dass Väter 75 Prozent und Mütter 25 Prozent der Todesfälle ausmachten und sich somit die Mehrzahl der Kinder, die einen KindertrauerDienst kontaktieren, mit der Erinnerung an einen Vater beschäftigte. Die Bedeutung von männlichen Vorbildern für Jungen ist gut dokumentiert (Neal, 2007). Ebenso ist bekannt, dass die Mehrzahl derjenigen, die sich für eine entweder hauptberufliche oder ehrenamtliche Arbeit in Kindertrauer-Diensten entschieden haben, aus Frauen besteht – in der Regel zwischen 35 und 65 Jahren. Daher ist es wichtig, aktiv nach jüngeren Männern mit unterschiedlichem kulturellen Hintergrund für die Befähigungskurse und Trainings zu suchen. Je besser es uns gelingt, statt der Vulnerabilität eine gesunde Sensibilität bei Jungen aufrechtzuerhalten, desto resilienter werden sie sein und bleiben. Resilienz ist das neue Kennzeichen psychischen Wohlbefindens bei Jungen und männlichen jungen Erwachsenen. Bei Jungen zeigt sich häufig, was Pollak (2005) Pseudo-Resilienz nennt. Erwachsene und auch die betroffenen Kinder selbst unterliegen dadurch leicht der Täuschung, dass die stoische Maske tatsächlich einer stoischen Haltung entspricht, anstatt dass sie eine tiefere Begegnung mit dem verborgenen Schmerz des Jungen riskieren. Nach außen hin mag der Junge fröhlich, ausgelassen und resilient wirken, doch im Innern kann er in Wirklichkeit einsam, ängstlich und verzweifelt sein, weil Jungen unter dem gesellschaftlichen Druck stehen, keine Schwächen zu zeigen, einen strikten Code der Männlichkeit zu befolgen und ihre Emotionen – koste es, was es wolle – zu verbergen. Oft fällt es nicht besonders auf, wenn Jungen bei schulischen Leistungen unter ihren Möglichkeiten bleiben, ihre Freundschaften nicht funktionieren, sie depressiv verstimmt oder sogar suizidal sind (Pollack, 2005). Manchmal findet sich ein kurzes Zeitfenster für einen Einblick, wenn infolge eines Todesfalls in der Familie von Trauer ausgegangen werden kann – disruptives Verhalten wird dann höchstwahrscheinlich als solches wahrgenommen werden. Aus der Literatur über Trauer bei Erwachsenen sind genderbezogene Unterschiede in der Trauer bekannt (Stroebe, Hansson, Stroebe u. Schut, 2001). McLaren (2004) gibt Einblicke in die Genderunterschiede bei der Trauer um ein verstorbenes Kind. Daher ist es besonders wichtig, das Design von Trauerinterventionen und auch Informationen im Print-Bereich so zu gestalten, dass sich Jungen und Väter, männliche Begleiter bzw. Behandler und Ehrenamtliche angesprochen fühlen. Winston’s Wish lädt trauernde Teenager zum Beispiel zu Wochenendausflügen ein, bei denen das Programm zum einen Abenteuer beinhaltet, die Teenager vor Herausforderungen stellen und körperlich anspruchsvoll sind, und bei denen die Kinder zum anderen von Klinikern und Ehrenamtlichen mit Interesse und Erfahrung in Outdoor-Aktivitäten begleitet werden. Unserer Erfahrung nach spricht diese Maßnahme besonders Jungen im Teenageralter an, eine Gruppe, die oft als schwer erreichbar erachtet wird. Das Drei-Tage-Programm unseres Hauses lädt Jugendliche dazu ein, die Erfahrungen mit dem Tod eines Familien-

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mitglieds zu teilen, und bestätigt die Ergebnisse zunehmender Forschung zu diesem Thema, die gezeigt haben, wie wichtig körperliche Aktivitäten für die Entwicklung einer resilienten Haltung sind (Brewer u. Sparkes, 2011; Stokes, Cook u. Reed, 2009). Hassan »Alles dreht sich nur darum, wie es meiner Mutter geht«, sagte Hassan, ein 15-jähriger Moslem, einmal. »Jeden Tag weint sie, dann schreit sie, dann nimmt sie ein Foto meines Vaters in die Hände und weint wieder. Niemand in meiner Familie fragt mich, wie es mir geht oder ob ich einen schlechten Tag habe. Aber mein Lehrer in der Schule ist super. Er hat eine Liste mit allen wichtigen Daten, meinem Geburtstag, wann mein Vater Geburtstag hat, seinem Todestag und von allen muslimischen Feiertagen, an denen ich ihn am meisten vermisse. Es war cool mit den anderen Jungs im Camp. Mit einem habe ich mich befreundet und wir mailen uns mindestens einmal pro Woche. Und ich bin auch im Chatroom. Wenigstens gehöre ich jetzt irgendwo dazu und die anderen merken, wenn ich traurig bin.«

Entwickeln einer resilienten Haltung: Welche Charakteristika und Faktoren braucht es dafür? Resiliente Kinder haben Fähigkeiten, eine Selbstwahrnehmung und eine Sicht auf die Welt, die wir bei Kindern, die die beschriebenen Herausforderungen nicht so gut durchstehen, nicht in diesem Maße finden. Hoffnungsvoll in die Zukunft zu blicken, ist ein Baustein für innere Stärke, dazu das Vermögen, anderen zu vertrauen und zu riskieren, sichere Bindungen einzugehen. Ebenfalls essenziell ist es, einen Wert und Geborgenheit in der Beziehung zu einer verstorbenen Person erkennen zu können. In erster Linie muss das Kind einen Weg finden, der Frage nach Leben und Tod eine Bedeutung zuzumessen, die künftiges Wachstum ermöglicht. In Tabelle 1 werden die verschiedenen Faktoren aufgeführt, die einen Einfluss auf die Fähigkeit eines Kindes haben, seinen weiteren Lebensweg gelingend zu gestalten. Die Tabelle präsentiert eine Erweiterung der Liste, die von Masten (2001) generell für Kinder zusammengestellt wurde.

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Resilienz und trauernde Kinder

Tabelle 1: Faktoren mit positivem Einfluss auf die Resilienz hinterbliebener Kinder Kind

Familie

Geselliges und anpassungsfähiges Temperament in der frühen Kindheit

Stabiles und unterstützendes häusliches Umfeld

Eigenschaften, die sowohl vom Kind selbst als auch dem Umfeld geschätzt werden (begabt, gut aussehend, humorvoll etc.)

Autoritativer Erziehungsstil (hohe emotionale Wärme, Setzen von Grenzen, Kontrolle)

Kann Freundschaften mit Gleichaltrigen aufbauen und pflegen

Anteilnahme der Eltern an der schulischen Ausbildung

Verfügt über Strategien, eigene Gefühle und eigenes Verhalten zu steuern

Höherer Bildungsgrad der Eltern

Gute Problemlösungsfähigkeit

Spirituelle oder religiöse Anbindung

Setzt sich realistische Ziele

Unterstützende Beziehungen mit anderen Familienmitgliedern oder Freunden

Hat das Gefühl der Kontrolle über das eigene Leben Positive Selbstsicht (Selbstvertrauen, hohes Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeitserleben) Ausgewogenes Selbstbild, sieht sowohl eigene Stärken als auch eigene Schwächen Blickt mit Hoffnung und Vertrauen in die Zukunft

Guter sozioökonomischer Status

Elternteil oder anderer Erziehungsberechtigter ist aufgeschlossen gegenüber Unterstützungsangeboten für sich selbst und das trauernde Kind Elternteil oder anderer Erziehungsberechtigter hatte eine positive Beziehung zu der verstorbenen Person Der weitere Familienumkreis bietet praktische und emotionale Unterstützung an, die von dem Elternteil geschätzt wird

Soziales Umfeld

Kulturelle und gesellschaftliche Faktoren

Lebt in einer »guten Gegend« (sicher, gewaltfrei, bezahlbares Wohnen, Freizeitzentren, gute Luft, sauberes Wasser)

Gesellschaftlich geringe Akzeptanz von körperlicher Gewalt, Drogengebrauch, Armut und sozialer Ungerechtigkeit und Ungleichbehandlung im Gesundheitswesen

Schulen mit gutem Bildungsangebot und gutem Umgang mit Trauer Arbeitsmöglichkeiten für Eltern und für junge Menschen Gute Gesundheitsversorgung und Notfalldienste Verfügbarkeit von und Zugang zu Trauerdiensten für Kinder, wo diese andere hinterbliebene Kinder treffen können

Die Politik der Regierung ist auf das Wohl von Kindern gerichtet und umfasst Präventionsmaßnahmen Politisch wird dies auch durch langfristige und gesicherte finanzielle Förderung von staatlichen und gemeinnützigen Einrichtungen getragen Der Tod eines Elternteils oder Geschwisters wird als bedeutender Risikofaktor für die seelische Gesundheit von Kindern anerkannt Sowohl Regierung als auch Gesellschaft erkennen den Wert von Trauerdiensten für Kinder an und unterstützen diese mit Ressourcen

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Zweifellos besteht ein hoher Bedarf an der Unterstützungsleistung von Trauerdiensten mit Angeboten für Kinder, Eltern und deren soziales Umfeld. Die Arbeit dieser Dienste hat einen positiven Einfluss auf die Resilienzentwicklung, und zwar dahingehend, dass Kinder nicht nur die ersten Jahre nach einem Todesfall in der Familie gut überstehen, sondern ihre innere Widerstandskraft für den gesamten weiteren Lebensweg gestärkt wird. Welche Faktoren helfen einigen Kindern und Jugendlichen, mit ihrer Trauer umzugehen, während andere von Gefühlen der Hilflosigkeit und Hoffnungslosigkeit erdrückt werden? Einige gehen einen erstaunlich guten Weg, der nicht unbedingt zu erwarten war, und finden die innere Stärke, Widrigkeiten zu überwinden. Eine Studie aus dem Jahr 2008, in der auch Kinder zehn Jahre nach der Begleitung durch Winston’s Wish befragt wurden, zeigt, dass sogar traumatisierte Kinder die Kapazität haben, ihr weiteres Leben gut zu gestalten (Brewer u. Sparkes, 2011). Mit den Empfehlungen für die Praxis (siehe unten) möchten wir Praktikern Hilfen für die Stärkung von Resilienz geben. Die Daten stammen aus einer Bedarfsanalyse von Familien, die von Winston’s Wish begleitet wurden (Stubbs, Ailovic, Stokes u. Howells, 2008). Empfehlungen für die Praxis 1. Befähigen Sie das Kind, eine kohärente Narration (Geschichte) zu konstruieren, die es im gesamten weiteren Leben mit emotionaler Integrität erzählen kann (Lichter, Mooney u. Boyd, 1993; Mclntyre u. Hogwood, 2006). Erkennen Sie dabei an, dass diese Geschichte sich mit dem Kind verändern und entwickeln wird und nicht selten der Bedarf an weiterer Begleitung zu einem späteren Zeitpunkt entsteht oder die Teilnahme an offenen Angeboten notwendig wird. 2. Entwickeln Sie kognitive und Verhaltensstrategien, um Kinder beim Umschreiben negativer Skripte zu unterstützen. Negative Skripte sind Überzeugungen oder Verhaltensweisen, die im Alltag ständig mit vorhersagbaren negativen Ergebnissen einhergehen. 3. Helfen Sie dem Kind, effektive Kommunikationsstrategien zu entwickeln, um mit Familienmitgliedern und Freunden über seine Trauer sprechen zu können. Stärken Sie sein Vertrauen in die eigene Version der Geschichte und darin, mit Personen seines Vertrauens darüber zu sprechen. 4. Stellen Sie sicher, dass das Kind ein altersgerechtes Verständnis des dualen Prozessmodells (siehe den Beitrag von M. Stroebe und M. Müller in diesem Buch, S. 25 ff.) erwirbt und so befähigt wird, auf gesunde Art und Weise zwischen verlustorientierten und wiederherstellungsorientierten Stressoren zu »oszillieren« (Stroebe u. Schut, 1999). Erklären Sie dies in angemessener Sprache und nutzen Sie Beispiele, um ihm die Akzeptanz seiner Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen auf seinem Weg mit der Trauer zu erleichtern. Dieses Modell ist in besonderer Weise geeignet, um jungen Menschen aus ihrer Abkapselung zu helfen, in der sich Gefühle der Verärgerung mit dem Bedürfnis, sich mit Aktivitäten abzulenken, abwechseln.

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5. Schaffen Sie Gelegenheiten zur Begegnung hinterbliebener Kinder, bei denen sie Empathie füreinander entwickeln und positive Beziehungen miteinander aufbauen können. Bieten Sie hierzu direkte Möglichkeiten (zum Beispiel Tagesgruppen, Wochenendveranstaltungen mit Übernachtung) und auch indirekte (zum Beispiel Bücher, Websites, Newsletter und Filme). 6. Sorgen Sie für Angebote, die Kinder ansprechen und keinen vordergründig therapeutischen Anstrich haben. Auch ein Kindertrauerclub darf Spaß machen, lebendig, cool und unverbindlich sein. 7. Helfen Sie trauernden Kindern, sich in der Begegnung mit Gleichaltrigen und ihren Lehrern in der Schule wohl und verstanden zu fühlen. 8. Bieten Sie immer auch Dienste für die Eltern oder andere Erziehungsberechtigte trauernder Kinder an. 9. Entwickeln Sie Angebote, die auf den Zusammenhalt und die Anpassungsfähigkeit von Familien bauen und diese darin unterstützen, mit der tiefen Trauer des Verlustes umzugehen, aber auch mit gegenwärtigen und späteren sekundären Verlusten, wie etwa einem Umzug, neuen Partnern oder Stiefkindern. 10. Bieten Sie ein Spektrum altersgerechter Aktivitäten, welche Kinder darin bestärken, eine sichere und über den Tod hinaus bestehende Beziehung zu einem verstorbenen Elternteil, einem Bruder oder einer Schwester aufrechtzuerhalten. Bedenken Sie, dass Kinder im Laufe ihrer Entwicklung mehrmals zu Ihnen kommen können und dann jeweils ihrer Entwicklung entsprechende, andere Angebote brauchen.

Maßnahmen, die ganz speziell darauf ausgerichtet sind, die Ressourcen und Fähigkeiten von Kindern zu stärken, mit ihrem Verlust umzugehen und sich positiv weiterzuentwickeln, halten wir für angebrachter als solche, die ausschließlich auf die Veränderung problematischer Verhaltensweisen fokussieren. Dies ist besonders in der Begleitung von den Kindern von großer Wichtigkeit, die aufgrund bekannter komplizierender Faktoren einem höheren Risiko ausgesetzt sind. Zeitnahe und passgenaue Trauerangebote für Kinder haben präventiven Charakter und können eine Vielzahl von Kindern vor Begegnungen mit der Jugendpsychiatrie, Jugendgerichtsbarkeit, schulischen und anderen Sozialdiensten bewahren.2 Trauerdienste für Kinder sollten eine Reihe von Querschnittsangeboten für betroffene Kinder und andere Menschen, die einen positiven Einfluss auf deren Sichtweisen haben können, vorhalten, zum Beispiel für Familienmitglieder, Lehrer, Freunde, aber auch andere Gleichaltrige mit einem Verlusterlebnis. Dabei haben die Anbieter die Verpflichtung, eine umfassende Einschätzung des Bedarfs von Kindern und ihren Familien vorzunehmen, so dass die verfügbaren Ressourcen effizient zur Stärkung der 2 Anmerkung der Übersetzerin: Eine Reihe von Grundsatzpapieren in Großbritannien hat sich intensiv diesem Thema gewidmet, siehe Childhood Bereavement Network, Policy and Practice: http://www.childhoodbereavementnetwork.org.uk/policyPractice_policy.htm (Zugriff am 26. 02. 2014).

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Resilienz trauernder Kinder eingesetzt werden. Ein exzellenter Überblick über kurze Interventionen findet sich bei Monroe und Kraus (2005).

Erinnerung und Resilienz Tiefere Kenntnisse über Erinnerungsprozesse sind hilfreich, um zu erklären, warum manche trauernde Kinder größere innere Stärke zeigen als andere (Stokes, 2004, S. 69–73). Eine Studie von Lohnes (1994) bestätigt die klinische Beobachtung, dass Resilienz mit positiven und heiteren Erinnerungen assoziiert ist. Dabei beziehen sich Kinder intensiv auf Objekte, die die Trennungsangst mindern und sie zum Geschichtenerzählen anregen. Sich weiterhin gefühlsmäßig auf das verstorbene Elternteil einzulassen, ermöglicht es dem Kind, sich weiterhin normal zu entwickeln. Jedoch bedeutet das Aufrechterhalten dieser Bindung wiederholtes Ringen mit dem Verlust und mit Gefühlen der Traurigkeit, Schuld, Angst, Scham und Zurückweisung, die damit einhergehen können. Trauerdienste für Kinder müssen daher gewährleisten, dass eine Reihe von Angeboten (auch für Eltern) darauf ausgerichtet sind, ihnen zu einem ausgewogenen Nebeneinander von Loslassen und Festhalten zu verhelfen, damit die Verbliebenen zu einer neuen Familie ohne die Anwesenheit der verstorbenen Person werden können. Die Rahmentheorie des dualen Prozessmodells, welche den Einfluss von Bindungsstilen auf die Trauer einbezieht, muss als wegweisend für diese Anforderungen an die Dienste gelten (Stroebe, 2002). Basierend auf diesem Modell müssen Erwachsene das kindliche Bedürfnis respektieren, unvermittelt zwischen Trauern und Nicht-Trauern zu wechseln. Dies ist eher als spontane Regulierung des Gefühls zu verstehen, von der Trauer überwältigt zu werden, als dass es bedeutet, der Verlust beträfe das Kind nicht wirklich. »Ich war sechs Jahre alt, als mein Vater zu mir nach unten kam und mir vorsichtig zu erklären versuchte, meine Mutter sei gerade in ihrem Schlafzimmer gestorben. Ich werde mir nie verzeihen, dass ich daraufhin fragte: ›Kann ich ein Kit Kat haben?‹« Jüngere Kinder neigen eher dazu als ältere, mit dem verbliebenen Elternteil zusammen Erinnerungen auszutauschen, und sie sind mitteilsamer und emotional abhängiger vom verbliebenen Elternteil. Die entwicklungsbedingten, wesentlichen Unterschiede müssen daher sowohl bei der Konzeption von Gruppen- als auch von individuellen Angeboten berücksichtigt werden (Silverman, 2000). »Da ist ein Land der Lebenden und ein Land der Toten, und die Brücke zwischen ihnen ist die Liebe – das einzige Bleibende, der einzige Sinn« (Thornton Wilder, 1967): Die Geschichte von Becky weiter unten zeigt, wie die Erinnerungsarbeit für das Bauen dieser Brücke genutzt werden kann, nicht nur für eine Brücke der Liebe, sondern auch der Resilienz. Um wichtige, positive Erinnerungen zu bewahren, müssen Kinder sich dieser immer wieder vergewissern. Elaboriertes Wiederholen – so wie bei Becky – ist eine

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effiziente Technik, um Erinnerungen langfristig immer wieder aufrufen zu können. Das Gehirn ist ein »Muskel« und wir sind lebenslang Lernende (Medina, 2008). Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass trauernde Kinder ein Toolkit, einen Methodenkasten, brauchen, um Erinnerungen, die eine sichere Bindung zu einem verstorbenen Elternteil herstellen, zu pflegen und sich daran erfreuen zu können (Brewer u. Sparkes, 2011). Becky Als Becky vier Jahre alt war, wurde bei ihrer Mutter eine unheilbare Erkrankung diagnostiziert. Zwei Jahre später starb sie. Während dieser Zeit hatte ihre Mutter zwar die Hoffnung gehabt, dennoch weiterzuleben, gleichzeitig aber auch begonnen, eine Erinnerungskiste für Becky zusammenzustellen – nur für den Fall, dass die Ärzte vielleicht doch Recht hätten. Diese Kiste enthielt viele Dinge, jedes davon bezog sich auf eine Geschichte, in der Becky sich als geliebt und etwas Besonderes fühlen konnte – auf frühe Kindheitserinnerungen, die ohne diese Erinnerungsanker vielleicht verloren gehen würden. In der Kiste war auch eine Flasche des Parfums ihrer Mutter. Einen kuscheligen Schal mit diesem Duft besprüht, nahm Becky nachts mit ins Bett als Seelentröster. Einige Dinge in der Kiste, zum Beispiel Briefe, hatte die Mutter für später vorbereitet, wenn Becky ein Teenager sein und deren Botschaften besser verstehen würde. Betty war sehr stolz auf ihre Erinnerungskiste, die sie in ihrem Zimmer unter dem Bett aufbewahrte. In den ersten Monaten nach dem Tod ihrer Mutter wollte sie diese Kiste nahezu jeden Abend mit ihrem Vater durchsehen. Mit der Zeit wurden die Abstände größer, und sie zeigte die Kiste nur Menschen, zu denen sie sehr großes Vertrauen hatte. Als sie älter wurde, begriff sie, dass diese Kiste sie in zweierlei Weise an ihre Mutter erinnerte – schmerzlich, aber auch tröstend. Langsam entwickelte sie ihre ganz eigenen Mechanismen, die Bindung aufrechtzuerhalten und doch auch loszulassen. Die Erinnerungen versicherten sie ihres Selbstempfindens und stärkten ihre seelische Widerstandskraft im Umgang mit weiteren Veränderungen in ihrem Leben – der Wechsel auf eine neue Schule, eine neue Lebenspartnerin des Vaters und Stiefgeschwister. Im Erwachsenenleben half ihr ihre Resilienz, funktionierende Beziehungen und Freundschaften aufzubauen, und in ihrem Vertrauen darin, eine gute Mutter sein zu können.

Die Anwendung von Coaching Sandler et al. (2008) und Haine, Wolchik, Sandler, Millsap und Ayers (2006) haben gezeigt, dass der Grad der Wärme zwischen einem trauernden Kind und dessen hinterbliebenem Elternteil einen Schlüsselfaktor für einen positiven Trauerverlauf darstellt. Dieselben Autoren haben jedoch auch darauf hingewiesen, dass es für Eltern sehr wichtig ist, klare Grenzen zu setzen, selbstbewusste Entscheidungen zu treffen und ihrem Kind eine effektive Struktur anzubieten, und zwar all das mit der so wichtigen Wärme. Cuddy, Kohut und Neffinger (2013) zeigten, wie effektiv es im Kontext

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der Arbeitswelt ist, wenn Führungskräfte in der Lage sind, ihre fachliche Stärke und Kompetenz mit Wärme und Empathie zu kombinieren. Der Beitrag argumentiert, dass Führungskräfte durch Coaching darin unterwiesen werden können, in verschiedenen relevanten Situationen Wärme und Stärke zu demonstrieren. Es stellt sich daher die Frage: Wie können wir als Fachleute Eltern am besten helfen, ihrem Kind diese Art von Unterstützung angedeihen zu lassen, während sie selbst trauern? Dienste, die auf die Stärkung von Resilienz in trauernden Kindern zielen, sollten vernünftigerweise auch darauf hinarbeiten, Eltern Werkzeuge an die Hand zu geben, um ihnen zu helfen, das Vertrauen ihrer Kinder zu stärken, selbstbewusst mit ihnen umzugehen und Entscheidungen zu treffen. All dies hilft Kindern, darauf zu vertrauen, dass ihr Familienleben nicht so fragil ist, wie sie nach dem Tod eines Elternteils vielleicht befürchten. In den letzten Jahren haben erfolgreiche Führungskräfte und Unternehmer Executive Coaching als eine effektive Methode identifiziert, die das kreative Denken anregt und dabei hilft, ein Team durch ein gemeinsames Ziel sowie die Förderung eines besseren Urteilsvermögens zu stärken. Familien brauchen Führungsqualitäten dieser Art in einer Situation voller Unwägbarkeiten und angesichts einer unklaren Zukunft. Ein Coach für Führungskräfte hilft diesen, sich als fähig wahrzunehmen, mit Druck umzugehen, Klarheit zu schaffen und den absoluten Glauben daran aufrechtzuerhalten, dass seine Angestellten ihre Ziele erreichen können. Ich selbst habe einige Jahre lang als Executive Coach gearbeitet und verfüge über mehr als zwanzig Jahre Erfahrung in der Begleitung trauernder Eltern. Aus diesem Grund erschien mir die Erforschung einer Verbindung zwischen diesen beiden Bereichen wichtig. Kinder wollen natürlich ihre Eltern in einer Zeit der Bedrohung ihrer Identität und ihres Familienlebens als selbstsichere Führungspersonen erleben. Diese Aussage ist sowohl für einen Dreijährigen relevant, der darauf konzentriert ist, dass das hinterbliebene Elternteil ihn weiter versorgen kann. Sie ist ebenso zutreffend für Teenager, deren Trauer sich vielleicht eher in Wut manifestiert, die über die Grenzen normaler Jugendrebellion hinausgeht und sich gegen das hinterbliebene Elternteil oder auch gegen dessen neuen Lebenspartner richtet. Coaching kann dabei helfen, Eltern (die selbst noch mit ihrer Trauer umgehen lernen) ein Gefühl für ihre eigene Stärke, innere Ruhe und Neugier zu vermitteln. Dies ist besonders zentral in den ersten zwei Jahren nach dem Tod eines Elternteils oder Geschwisterkindes. Das folgende Beispiel zeigt, wie eine Mutter durch Coaching lernte, mit einer Reihe von Problemen umzugehen, denen sie sich nach dem plötzlichen Herzinfarkt-Tod ihres Mannes nicht stellen und die sie nicht mit ihren Kindern besprechen konnte. Die Mutter, Sally (39 Jahre), arbeitete in Teilzeit als Ernährungsberaterin in einem örtlichen Krankenhaus. Sie war seit ihrem 25. Lebensjahr glücklich mit Tom verheiratet gewesen und das Paar hatte zwei Kinder: Daniel (15 Jahre) und Sarah (acht Jahre). Sally hatte bereits

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eine Reihe von eher traditionellen Trauerbegleitungs-Diensten in Anspruch genommen, als ich ihr nach einigen Sitzungen vorschlug, ihr durch Coaching Strategien dabei zu helfen, die Führungsrolle in ihrer Familie zu übernehmen. Dabei standen zwei Schlüsselprobleme im Vordergrund: 1. Sie musste den Sommerurlaub planen – einen Urlaub, vor dem ihr persönlich graute. 2. Sie sollte im September ihre Arbeit im Krankenhaus wieder antreten.

Das Coaching bot einen Rahmen, um beide Schwierigkeiten mithilfe dieser Fragen-­ Trilogie anzugehen: •• Was wollen wir/will ich wirklich? •• Wie können wir es erreichen? •• Wer muss wann und wie was tun? Dies sind drei scheinbar einfache Fragen, die chronologisch beantwortet werden müssen und die einer Person Zeit geben können, über die Grenzen ihrer gegenwärtig eingeschränkten Welt hinaus zu denken. Oft werden 70 Prozent der Coaching-Sitzungen auf die Erforschung der ersten, sehr grundsätzlichen Frage verwendet: Was wollen wir/ will ich wirklich? Das Wie herauszuarbeiten nimmt dagegen gewöhnlich 25 Prozent der Zeit in Anspruch. Wenn qualitativ wertvolle Bedenkzeit auf die Beantwortung der ersten zwei Fragen verwendet wird, ist die Beantwortung der dritten Frage normalerweise eine mühelose Angelegenheit – denn die Motivation und nötige Klarheit sind dann beim Klienten bereits vorhanden. Um herauszufinden, was Sally in Bezug auf den Sommerurlaub wirklich wollte, wandten wir uns einer Reihe von untergeordneten Fragen zu, um einer Antwort näher zu kommen. Zunächst sagte sie, sie wolle den Kindern nach dem Tod ihres Vaters zu Jahresbeginn einen gelungenen Urlaub ermöglichen. Sie waren immer als Familie in den Urlaub gefahren, und Sally wollte diese Tradition weiterführen. Um sicherzustellen, dass dies wirklich ihrem eigenen Gefühl entsprach, stellte ich eine Reihe von Fragen, bevor wir uns dem Wie zuwandten: Was ist hier die Definition von gelungen in Bezug auf die Ferienplanung? Was hält Sie gegenwärtig davon ab, einen solchen gelungenen Urlaub zu planen? Auf einer Skala von 1 bis 10 – wie sehr möchten Sie diesen Plan verwirklichen? Warum ist die Antwort nicht 10 und wie/unter welchen Umständen könnte eine 10 daraus werden? Wir begannen die Erforschung des Wie mit einer einfachen Frage: Wie sieht die Realität aus (in Bezug auf die Organisation sowie die Reise selbst), wenn die Familie dieses Jahr in den Sommerurlaub fährt? Sally sagte, dass die Realität in den vergangenen zwei Jahren gezeigt hätte, dass die Organisation eines Familienurlaubs etwas schwierig sei, denn Daniel und Sarah interessierten sich für sehr unterschiedliche Dinge. Die Lösung habe für die Eltern darin bestanden, im Ausland eine Selbstversorger-Unterkunft zu mieten, wobei Papa die Pool-Belustigung bestritten habe. Daniel, der unter einer milden Form von AspergerAutismus leide, sei im Urlaub besonders auf Privatsphäre bedacht, während seine kleine Schwester gern neue Freundschaften schließe. Der Vater habe einen Führerschein gehabt

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und habe so Ausflüge organisieren können, die für alle Familienmitglieder geeignet gewesen seien. In diesem Jahr hatten Sally und ihr Mann Tom, wie sich herausstellte, bereits vor dessen Tod eine Villa in Frankreich gemietet – in der Nähe eines früheren Urlaubsortes, der Daniel besonders gut gefallen habe. Diese Umstände waren die Realität, mit der Sally nun arbeiten musste. Ich fragte sie: Wie könnte jetzt, fünf Monate nach Toms Tod, ein gelungener Urlaub aussehen? Bei dieser Frage brach Sally in Tränen aus und gab zu, dass sie sich nur sicher fühlen und als Elternteil nicht überfordert sein wolle. Sie wolle wirklich gerne mit den Kindern wegfahren. Sie könne sich aber einfach nicht vorstellen, fröhlich zu sein – und würde so anderen Familien nur zur Last zu fallen, die freundlicherweise eine gemeinsame Reise angeboten hätten. Ich bat sie, darüber nachzudenken, was »sicher« und »nicht überfordert« für sie bedeute, und sie stellte sich im Detail vor, wie genau sich das anfühlen würde. Ich fragte sie dann: »Wenn Sie auf einer Skala von 1 bis 10 angeben sollten, wie sehr Sie sich motiviert fühlen, zwei sichere, nicht überfordernde Kurzurlaube zu organisieren, mit welcher Zahl würden Sie sich einschätzen?« Sally dachte sorgfältig darüber nach (sie schien jetzt eher im Problemlösungs-Modus zu sein als zu Beginn der Sitzung, als sie von der Trauer um den Verlust ihres Familienurlaubs übermannt gewesen war). Zögernd sagte sie schließlich: »Ich denke, ich liege bei 7.« Ich fragte sie: »Denken Sie, wir könnten diese Zahl auf 7,5 oder 8 steigern, und wenn ja, dann wie?« Nachdem sie darüber nachgedacht hatte, sagte sie, dazu müsse sie erst einmal ein klärendes Gespräch mit ihren Kindern führen. Nur so könnten sie alle auf einen Nenner kommen und den besten Mittelweg finden. Ich fragte sie zuletzt noch: »Wie würde ein Mensch, den Sie wirklich bewundern, ein solches Gespräch angehen?« Diese Frage sollte Sally dabei helfen, die Lösung des Problems und den Lösungsplan konkreter zu machen. Auf Sallys Gesicht breitete sich ein warmes Lächeln aus. »Ich würde es machen wie Barbara!« Als ich fragte, was genau Barbara tun würde, sagte sie: »Barbara würde zuerst Daniel zur Seite nehmen und ihm das Problem erklären. Sie würde sagen, sie brauche seine Hilfe dabei, alles gemeinsam mit ihr durchzudenken und einen Weg zu finden, den Urlaub ohne seinen Vater zu gestalten. Selbst wenn er patzig oder wütend würde – Barbara behielte doch immer die Ruhe. Sie würde den Prozess so lange nicht aufgeben, bis Ideen und positive Lösungen gefunden wären. Auf dieser Basis überlegten Sally und ich nun, wie man ein solches konstruktives Gespräch im Detail gestalten könnte. Nach nur zwanzig Minuten war also aus der Frage »Was wollen Sie wirklich?« die Antwort entstanden: »Was ich wirklich will, ist, mich mit den Kindern hinzusetzen und gemeinsam zu besprechen, was sich in Bezug auf den Urlaub gut anfühlt in diesem ersten schrecklichen Jahr nach Toms Tod. Ich will ihnen ehrlich und selbstbewusst sagen können, dass ich die Villa in Frankreich absagen möchte, weil es mich überfordert, mit dem Auto dorthin zu fahren, und es tut mir auch zu weh, ohne meinen Mann dort zu sein. Ich werde ihnen vorschlagen, vielleicht hier in England ein oder zwei kürzere Urlaube zu buchen, und sie dabei nach ihren Ideen und Wünschen fragen.«

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Nachdem Sally also ihr Was in Bezug auf den anstehenden Familienurlaub mit viel mehr Klarheit und Selbstbewusstsein formuliert hatte, konnte sie sich dem Wie zuwenden. Dabei ging es darum, das Problem mit den Kindern zu besprechen und ihnen auf sensible Weise klar zu machen, dass auch sie jetzt manche Dinge anders betrachten und angehen müssten. Der Lösungsplan war sehr eindeutig und klar – Sally versprach, ein klärendes Gespräch mit den Kindern zu führen und sich mit ihnen vor unserer nächsten Sitzung auf einen gemeinsamen Plan für die Ferien zu einigen. Sally sagte, dass sie sich bestärkt und nun in der Lage fühle, den Urlaub in der ursprünglich geplanten Form abzusagen und mit den Kindern so zu kommunizieren, dass das Ergebnis konstruktiv und positiv ausfallen werde. Anstelle von Streit, Schuld und dem Gefühl, als Mutter versagt zu haben, war sie motiviert, das Gespräch in positive Bahnen zu lenken und so zu einem Erfolg zu machen. Denn, so sagte sie, es werde in den kommenden Monaten sicher noch eine Reihe weiterer erste Male geben, die von der Familie gemeinsam gemeistert werden müssten – zum Beispiel Sallys Rückkehr zu ihrer Arbeitsstelle, Weihnachten, Geburtstage, Prüfungsergebnisse und vieles mehr. Sally reflektierte die Sitzung und befand: »Als ich heute kam, war ein Teil von mir abgespalten und ich fühlte mich wie eine schlechte Mutter. Ich fühlte mich so niedergeschlagen und hilflos. Ich bin sicher, die Kinder spüren das – vor allem Daniel, der es aufgrund seiner Krankheit ohnehin schwierig findet, seinen Ängsten und Gefühlen Ausdruck zu verleihen. Ein anderer Teil von mir will aber dafür kämpfen, meine Familie zu erhalten, und ich kann das erreichen, gemeinsam mit den Kindern.« Eine Woche später kam Sally wieder zu mir – diesmal nicht nur mit einem klaren Plan, wie der Sommerurlaub aussehen sollte. Sie hatte auch mit den Kindern ausgearbeitet, wie die Familie damit umgehen würde, wenn Sally im September wieder arbeiten musste. Sie hatten außerdem beschlossen, eine rote Baseballkappe des Vaters mit in die Ferien zu nehmen. Tom hatte diese Kappe während des letzten gemeinsamen Urlaubs gekauft und getragen und damit alle zum Lachen gebracht. Jetzt, wo der Vater körperlich nicht mehr anwesend war, hatten sich manche Dinge eben verändert und mussten anders angegangen werden. Die rote Kappe sollte für die Familie das Signal dieser Umstellung sein und zugleich Toms symbolische Anwesenheit signalisieren. Sie sollte immer dann hervorgeholt werden, wenn es etwas im Familienkreis zu besprechen gab. Das sollte vor allem für Dinge gelten, die jetzt nach Toms Tod anders waren oder sich ändern sollten. Daniel gefiel dieses eindeutige, konkrete Signal, denn es half ihm, zu verstehen, wie wichtig es seiner Mutter war. Sally und ich übten in den folgenden vier Sitzungen neben der grundsätzlichen Trauerarbeit weiterhin gemeinsam die Coaching Skills. Allmählich akzeptierte Sally, dass sie manchmal den Kindern ein sensibles und starkes Vorbild sein musste, damit Daniel und Sarah ihre eigene Trauer ausdrücken konnten, ohne Angst zu haben, dadurch das Familiengefüge zu gefährden.

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Schlussfolgerungen Nach dem Tod eines Elternteils oder Geschwisters ändert sich der Lebensweg eines Kindes in gravierender Weise – es wird niemals mehr dasselbe Kind sein wie vor diesem Ereignis. Kindern kann jedoch geholfen werden, ihrer Trauer eine Bedeutung zuzuschreiben, die im Selbstempfinden und auch aus der Sicht anderer von Resilienz zeugt. Unsere Aufgabe als Praktiker ist es sicherzustellen, dass das Resilienz-Toolkit, der Methodenkasten eines Kindes, ausreichende Ressourcen enthält, damit es sich auf seinem Weg weder hilflos noch isoliert oder stigmatisiert fühlt. Gesundheitspolitisch bestehen immer noch Barrieren, dies anzuerkennen, aber wir dürfen nicht müde werden, weiterhin zu belegen, dass eine Investition in Trauerdienste für eine Begleitung im ersten Jahr nach dem Tod (manchmal auch schon während der Zeit vor dem Tod) sich aufgrund enormer Einsparungen und weniger psychischer Belastungen in den Folgejahren rentiert. Newman (2002) sieht »ein großes Problem darin, dass Kinder durch eine zunehmende Dichte von Problemfeldern beeinträchtigt werden, denen sie ausgesetzt sind, und [darin, dass] dies ihre ›natürliche‹ Resilienz nachhaltig schwächt«. Frei zugängliche Trauerdienste, die auf das Wohlbefinden von Kindern zielen, anstatt auf die Identifizierung und Eliminierung von Risiken, sind der Schlüssel zum Erfolg der Every-Child-Matters-Agenda (Jedes-Kind-zählt-Agenda) in Großbritannien (Rayner u. Montague, 2000). Auch wenn ein Konzept wie das der Resilienz objektiv weder wahr noch falsch sein kann, so ist doch seine Nützlichkeit bewiesen. Langsam entwickelt sich auch ein Rahmenkonzept für Resilienzstärkung in der Praxis und in der Politik (Newman, 2002). Die Umsetzung in der Trauerarbeit lässt aber noch zu wünschen übrig. Die Kenntnis des Bedarfs trauernder Kinder und dessen Berücksichtigung könnten in hohem Maße zur Lebensqualität vieler Tausend Familien beitragen – heute und auch in der Zukunft – und letztlich auch zur Lebensqualität der Gesellschaft als solcher. Trauer muss einen Platz auf der Agenda zur Erhaltung der psychischen Gesundheit finden, neben populäreren Themen wie Mobbing, Drogengebrauch und Jugendstraftaten (National CAMHS Review, 2008). Wenn dies erreicht ist, werden hoffentlich weniger Kinder mit Verlusterfahrungen unter Mobbing leiden oder ihren tiefen Kummer mit Drogen und Alkohol betäuben, bevor sie ihren Zorn antisozial ausleben. Eine resiliente Grundhaltung ebnet den Weg für trauernde Kinder in ein Erwachsenenleben mit der Möglichkeit zur Wahl und zur Nutzung von Chancen, ausgestattet mit Ressourcen, die ihnen ein zufriedenstellendes und erfolgreiches Leben ermöglichen, das ihnen erlaubt, ihr volles Potenzial auszuschöpfen. Übersetzung: Birgit Jaspers

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Liz Rolls

Die Evaluation von Kindertrauer-Diensten1 in Großbritannien

Während der letzten Jahrzehnte ist vor allem in den Industriestaaten das Interesse daran gewachsen, Kindern, die einen Verlust erlitten haben, professionelle Hilfe zukommen zu lassen. In Großbritannien entstanden diese Dienste als separate Organisationen Mitte der 1990er Jahre. Mittlerweile gibt es 175 Organisationen, die Mitglied des UK Childhood Bereavement Network (CBN) sind. Ähnliche Entwicklungen haben in Australien, Europa und den USA stattgefunden. In Deutschland bieten etwa 51 Prozent aller pädiatrisch-onkologischen Abteilungen professionelle Hilfe für trauernde Geschwister an (Friedrichsdorf, Menke, Brun, Wamsler u. Zernikow, 2005). In Großbritannien trägt der ehrenamtliche Sektor 85 Prozent dieser Dienste. Davon sind 14 Prozent freestanding – das heißt, sie bilden eigenständige Organisationen –, während der Großteil anderen Organisationen angegliedert ist. Davon sind 44 Prozent (Kinder-)Hospize, 10 Prozent NHS Palliative Care Settings2, 17 Prozent Trauerbegleitungsdienste für Erwachsene und 6 Prozent andere Dienste. Bereits im Frühstadium der Entwicklung dieser Dienste war die Frage der Evaluation von entscheidender Bedeutung für die Anbieter. Ihre Arbeit reflektierende Praktiker reagierten auf die Bedürfnisse von trauernden Kindern und deren Familien durch Bewertung, Evaluation und erfahrungsbasierte Anpassung der Angebote (Avis, 2003, S. 79). Im Laufe der Zeit haben sich eine Reihe von Evaluationsstrategien eingebürgert (Rolls, 2007). Trotz alledem ist in Großbritannien ein wachsender Druck in Bezug auf die Evaluierung von Diensten zu beobachten, vor allem in Bezug auf die Wirksamkeit der Service-Einrichtungen (Rolls u. Penny, 2011). Dies hat seine Ursache in neuen Richtlinien, die auf einen Abbau des Wohlfahrtsstaats zielen, was sich vor allem in der verminderten Bereitstellung von Ressourcen zeigt. Die Evaluation von Diensten hat viele Funktionen. Zunächst kann sie die Frage nach der Effektivität eines Dienstes beantworten (Funktioniert das so? Oder: Stimmt 1 2

Childhood Bereavement Services. Anmerkung der Übersetzerin: Palliativdienste des NHS. NHS steht für National Healthcare System, das größtenteils staatlich organisierte und verwaltete öffentliche Gesundheitssystem Großbritanniens. Seit einigen Jahren ist jedoch eine zunehmende Privatisierung des NHS zu beobachten, die mit dem konstanten politischen Abbau des britischen Wohlfahrtsstaats verbunden ist.

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Liz Rolls

das Preis-Leistungs-Verhältnis?). Evaluation hilft aber auch bei Fragen, die essenziell sind für eine reflektierte und ethische Praxis, vor allem bei der Frage nach Relevanz (Tun wir hier das Richtige?) und nach Effizienz (Tun wir es auf die richtige Weise und können wir es verbessern?). Dennoch sind Dienste, die Trauerbegleitung für Kinder anbieten, als Dienstleister für komplexe Interventionen bei der Evaluation mit vielen Herausforderungen konfrontiert. Dieser Beitrag wird kurz diese Herausforderungen berücksichtigen und im Folgenden die Ergebnisse und Empfehlungen einer Studie beschreiben, die Evaluierungspraktiken von Diensten im Bereich der Trauerbegleitung für Kinder und Jugendliche erfasst hat. Danach sollen potenzielle Methoden aufgezeigt werden, mit deren Hilfe solche Dienste evaluiert werden können. Zuletzt wird beschrieben, welche Erfolge in Bezug auf die zentrale Empfehlung der Studie zu verzeichnen sind: die Entwicklung von gemeinsamen Richtlinien zur Erfolgsmessung für Kindertrauer-Dienste in Großbritannien.

Die komplexe Natur von Kindertrauer-Diensten Die Herausforderung bei der Evaluierung von Kindertrauer-Diensten besteht in der komplexen Natur der Dienstleister einerseits sowie der komplexen und kontroversen Natur von Evaluation als Methode andererseits. Schut und Stroebe (2011) argumentieren, dass Trauer-Intervention »nicht alle Schmerzen und Leiden nehmen kann, die mit Verlust einhergehen. Das Ziel (von Intervention) muss bescheidener sein, um die Trauernden vor unnötigen Konsequenzen des Verlusts zu beschützen« (S. 6). Zu einer Zeit, in der die verbliebenen Eltern(-teile) vielleicht nicht in der Lage sind, diesen Schutz zu gewährleisten, bieten Kindertrauer-Dienste eine »ökologische Nische« an (Rolls, 2004) – einen Schutzraum für bestimmte Erfahrungen –, in der einem trauernden Kind geholfen wird, seine Trauererfahrungen und die damit einhergehenden erheblichen Herausforderungen zu integrieren (Rolls u. Payne, 2007).

Kindertrauer-Dienste als Anbieter komplexer Interventionen Um das von Schut und Stroebe formulierte Ziel zu erreichen, bieten Dienste eine Reihe von Interventionen an, die in ihrer Anwendung unterschiedlich organisiert sind. 62 Prozent aller Dienstleister in Großbritannien bieten Unterstützung in Form von Trauergruppen an und 86 Prozent durch Einzelberatung (Rolls und Payne, 2003). In Deutschland wird von pädiatrischen Palliative-Care-Diensten organisierte Trauerbegleitung für Kinder zu 33 Prozent in Trauergruppen, zu 30 Prozent in Selbsthilfegruppen und zu 30 Prozent in Einzelberatung durch qualifiziertes Personal wie zum Beispiel durch Psychologen oder Geistliche durchgeführt (Friedrichsdorf et al., 2005).

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Die Evaluation von Kindertrauer-Diensten in Großbritannien

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Zusätzlich gibt es telefonische Beratung, Webseiten, Info-Broschüren oder Ähnliches. Hinter diesen unterschiedlichen Angeboten verbergen sich unzählige kreativ organisierte Aktivitäten wie zum Beispiel eine Erinnerungszeremonie durch das Anzünden von Kerzen für den Verstorbenen, das Basteln von Erinnerungskästchen oder das Kolorieren von Filmstreifen zur Unterstützung von Kindern beim Erzählen ihrer Trauergeschichte. Es ist diese Vielfalt, welche die Arbeit von Kindertrauer-Diensten als komplex kennzeichnet – es handelt sich hier um Interventionen, die viele mögliche »aktive Bestandteile« haben (Campbell et al., 2000). Der UK Medical Research Council schlägt vor, dass komplexe Interventionen beschrieben werden als »Interventionen, die mehrere interaktive Komponenten aufweisen. Es gibt jedoch mehrere Dimensionen von Komplexität. Diese hat vielleicht mehr mit der Bandbreite möglicher Ergebnisse zu tun oder mit der Variabilität der Zielgruppe als mit der Anzahl von Elementen im Interventionspaket selbst« (Craig et al., 2008, S. 7). Einige Dimensionen komplexer Interventionen beinhalten: •• »die Anzahl und den Schwierigkeitsgrad von Verhaltensweisen, die von denjenigen angeeignet werden müssen, die Intervention entweder anbieten oder empfangen, •• die Anzahl von Gruppen oder organisatorischen Ebenen, die Ziel der Intervention sind, •• die Anzahl und Variabilität der Ergebnisse, •• den Grad der Flexibilität oder die Passgenauigkeit, die von der Intervention zugelassen werden« (S. 7).

Einige Aspekte von Evaluation, die sich aus dieser Komplexität ergeben Im Fall von Kindertrauer-Diensten ist es das komplexe und dynamische Wesen des Settings, das eine Reihe von Merkmalen hervorbringt, die in komplizierter Weise miteinander verwoben sind. Jedes dieser Merkmale impliziert wichtige Fragen für die Evaluation von Diensten. Nach Rolls (2011) beinhaltet die Diskussion: •• Trauer in der Kindheit und ihren Verlauf Die Erfahrung von Verlust in der Kindheit wird nicht voll verstanden, zumindest nicht theoretisch, und nicht aus der Perspektive des Kindes ausgedrückt. Infolgedessen besteht Unsicherheit über den Verlauf von Trauer in der Kindheit. Es gibt dazu keinen allgemeinen Konsens, ebenso wenig wie zu den Resultaten, die in Bezug auf normal trauernde Kinder Erfolg versprechen. Die komplexe soziale und kontextbezogene Natur von Kindertrauer ist ein Konzept, das durch eine Reihe von Dimensionen vermittelt wird, die ihrerseits für Einflüsse offen sind (Christ, 2000; Dowdney, 2000). Aus diesem Grund ist es schwierig, zu identifizieren, wie Dienstleister die Erfahrung ihrer Interventionen verbessern

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können und ob Besserung/Veränderung bei den Betroffenen eindeutig auf diese Interventionen zurückgeführt werden kann. Die Aufgabe von Diensten und die von ihnen intendierten Ergebnisse Es entsteht die Frage nach der Aufgabe von Diensten und nach den angestrebten Ergebnissen in Bezug auf jedes Kind, das einen solchen Dienst in Anspruch nimmt. Bedeutet Intervention, in den inneren Gefühlszustand eines Kindes einzugreifen? Bedeutet sie, Symptome zu reduzieren? Oder sollten Dienstleister Kinder über Trauer aufklären? Sollte ein Gefühl von Eingebundensein in die größere symbolische Gemeinschaft angestrebt werden (Rolls, 2008)? Diese Vielfalt der Aufgaben von Intervention erschwert es, Ergebnisse zu standardisieren (auch wenn eine der Intervention zugewiesene Besserung unmittelbar zu beobachten war). Veränderungen im Gefühlsleben von Klienten während und nach der Intervention werden möglicherweise als Endergebnis wahrgenommen, obwohl sie eher vorübergehender Natur sind. Die Nutzer von Kindertrauer-Begleitung Dienste bieten eine Reihe von unterstützenden Maßnahmen für Betroffene an. Ihr primärer Fokus ist das Kind, mit dem sie direkt arbeiten, aber sie kümmern sich auch um die Eltern(-teile), um deren Fähigkeit zu erhöhen, auf die Bedürfnisse ihres trauernden Kindes einzugehen, und um die Konsequenzen der Verlusterfahrung zu reduzieren. Es stellt sich die Frage, wer hier Gegenstand der Evaluierung sein soll: das Kind, die Eltern/Betreuer oder die Familie (Dowdney, 2000). Wenn der Fokus auf dem Kind ruht: Wie sollte dann am besten die Evaluierung erfolgen, so dass das Kind keinen Schaden nimmt (Rolls u. Payne, 2007)? Wie sollen die Interessen des Kindes erfasst und evaluiert werden? Und, falls die Perspektive der Eltern auch berücksichtigt wird: Wie sollen die möglicherweise widersprüchlichen Erfahrungsberichte interpretiert werden? Die Frage, was die Interventionen beinhalten und was evaluiert wird Im Gegensatz zu den USA gibt es in Großbritannien keine Tradition von standardisierten, in Handbüchern zusammengefassten Richtlinien. Dagegen gibt es eine breite, aber limitierte Anzahl von nichtstandardisierten Interventionen für Betroffene, die eine individuelle, kulturell angemessene Antwort auf die Bedürfnisse des Kindes in Trauer bereithalten. Hawe, Shiell und Riley (2004) nennen dies »context level adaptation« (Anpassung an den Kontext) (S. 1561). Darüber hinaus stellt sich die Frage: Sollte der Fokus einer Evaluierung auf den Anbieter als Ganzes, auf ein spezifisches Programm, auf einen Bereich wie zum Beispiel die telefonische Beratung oder auf die therapeutische Begegnung (Einzel/ Gruppe) gerichtet sein? Die Art der Inanspruchnahme von Diensten im Bereich Kindertrauer Kinder und ihre Familien nutzen während ihrer Trauer die verfügbaren Dienste zu unterschiedlichen Zeiten. Das bedeutet, dass sie diese Dienste oft mehr als einmal und zudem in den verschiedenen Phasen nach einem Trauerfall in Anspruch nehmen, während eines Zeitraums, den Kraus (2010) in Bezug auf die angebotenen Maßnahmen die »verlängerte Garantie-Periode« (S. 135) nennt.

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Zu welcher Zeit ist also die Einführung eines Evaluations-Instruments angemessen, und wie wird die Rückkehr zu einem Dienst in späteren Evaluierungen gemessen und nachgewiesen?

Die komplexe und umstrittene Natur von Evaluation als Methode Es gibt viele Definitionen von Evaluation. Sie wurde zum Beispiel beschrieben als »der Gebrauch wissenschaftlicher Methodik und das rigorose und systematische Sammeln von Forschungsergebnissen mit dem Ziel, die Effizienz einer Organisation, eines Dienstes oder Programms (zum Beispiel Interventionen im Rahmen von Diensten im Gesundheitswesen) im Hinblick auf im Vorfeld gesteckte Zielsetzungen abzurufen« (Bowling, 2002, S. 9). Ebenso ist Evaluation bezeichnet worden als »ein systematisches Vorgehen, das den Wert eines Unterfangens reflektiert und einschätzt« (UCL Public Engagement Unit, 2010) (zum Beispiel im Rahmen eines Programms oder Events). Evaluation ist jedoch niemals eine wertfreie Aktivität – und die Frage, was »Beweismaterial« definiert, ist eine Herausforderung. Das gilt vor allem in Bezug auf komplexe Interventionen von Organisationen wie den Kindertrauer-Diensten und es stellt sich die Frage, auf welche Weise diese komplexe Arbeit für Evaluation und Kontrolle zugänglich gemacht werden kann. In Großbritannien wird der Großteil von Einstufungsmerkmalen für die Entwicklung klinischer Praxisrichtlinien (wie zum Beispiel die Einstufungsmerkmale des National Institute for Clinical Excellence) durch kontrollierte randomisierte Studien3 formuliert. Dies gilt als »Goldstandard« (Baker, Young, Potter u. Madan, 2010). Bei Anbietern wie den Kindertrauer-Diensten treten in dieser Hinsicht jedoch potenziell ethische und methodische Probleme auf, nämlich bei der Randomisierung von trauernden Kindern (Smith u. Cantley, 1985; Oakley, 1990). Ein inhärenter Widerspruch besteht darin, dass das benutzte Forschungsdesign auf soziale Prozesse hin kontrolliert werden muss, um eine Intervention (Maßnahme) zu untersuchen, in der diese sozialen Prozesse von zentraler Bedeutung sind (Oakley, 1990).

3 Im Englischen RCTs = randomised controlled trials.

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Die UK Mapping Evaluations Study Zur Entwicklung eines Evaluierungsrahmens für die Kindertrauer-Dienste in Großbritannien wurde eine Studie durchgeführt, die alle bisherigen Evaluierungsaktivitäten innerhalb dieser Dienste genau betrachten sollte, die UK Mapping Evaluations Study. Diese Studie zur Bestandsaufnahme sollte Folgendes identifizieren und ermitteln4: •• zentrale Themen bei der Evaluierung von Kindertrauer-Diensten in Großbritannien, •• die Bandbreite der bis dato stattgefundenen oder zu diesem Zeitpunkt stattfindenden Evaluationen, •• die Bandbreite von Eingaben (Input), Prozessen, Folgen (Output) sowie Ergebnissen, die evaluiert werden müssen, •• wie diese Evaluierungen am besten durchgeführt werden sollten und von wem. Es waren zwei Gruppen von Experten involviert. Zunächst nahmen 86 britische Kindertrauer-Dienste im Rahmen von sechs Fokus-Gruppen an der Studie teil. Zwei Fragebögen wurden an diese Dienste verteilt. Zusätzlich wurden 22 Experten interviewt, die als Repräsentanten von Organisationen oder als Individuen mit Erfahrung in Forschung und Evaluation in vergleichbaren Bereichen identifiziert worden waren. Dabei gab es eine Reihe von Schlüsselergebnissen. Zunächst wurde die Bürde offenbar, die die Arbeit britischer Kindertrauer-Dienste zusätzlich belastet: eine verstärkte Forderung nach Evaluation, schriftlich niedergelegten Regelwerken und Spezifizierungen, zum Beispiel in Bezug auf Gesundheitsschutz, Sicherheit und Beschäftigung. Dieser Forderung zu entsprechen bedeutet ein intensives Zusammentragen und Analysieren von Daten sowie das Schreiben von Berichten durch die Dienste – Aktivitäten, welche die Serviceleistung dieser Dienste zunehmend erschweren. Des Weiteren scheinen britische Kindertrauer-Dienste zunehmend umfangreich evaluiert und eine Menge an Evaluationen durchgeführt zu werden. Der Großteil dieser Evaluationen wird mit Hilfe von Fragebögen geleistet, die nach Interventionen an Teilnehmer ausgegeben werden, um den Grad von deren Zufriedenheit zu messen. Das heißt: Es wird mit viel Aufwand evaluiert, wie hilfreich Nutzer den Dienst finden (wie zufrieden sie sind), aber weniger der Frage nachgegangen, was geholfen und sich verändert hat. Schließlich ergab die Bestandsaufnahme Defizite in Bezug auf die folgenden Bereiche: •• bezüglich einer Evaluierung von der gesamten Bandbreite an Interventionen, die von einem Dienst angeboten werden, •• bezüglich der Evaluierung von Wirksamkeit einer Einrichtung und/oder von klinischer Wirksamkeit, •• bezüglich der formalen Evaluierung von Organisationsstrukturen, •• bezüglich einer Vorher-Nachher-Evaluierung von Ergebnissen, •• bezüglich zusammengetragener schriftlicher Befunde.

4 Eine ausführliche Darlegung der Ziele dieser Studie findet sich bei Rolls (2007).

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Darüber hinaus scheinen bei der Evaluierung von Kindertrauer-Diensten eine Reihe weiterer Probleme aufzutreten, die zum Thema gemacht werden müssen, darunter das Zusammentragen demografischer Basisdaten des Evaluationsgegenstandes, die sehr begrenzt und lückenhaft ausfielen. Aufgrund fehlender Klarheit darüber, welchen Fokus die Fragebögen haben sollten, war es für viele Dienste schwierig, ihre eigene Arbeit durch das Zusammentragen und Analysieren von Daten über längere Zeit zu überprüfen oder (zur Orientierung) mit anderen Diensten zu vergleichen. Die Dienste waren sich jedoch darüber im Klaren, dass sie nur durch ein starkes, evidenzbasiertes Plädoyer auf Politiker, die Medien, Sponsoren und öffentliche Stellen würden einwirken können. Zwei ergebnisorientierte Fragen wurden formuliert: Wie effektiv ist der Dienst? und Was ist seine Wirkung/der gemeine Nutzen? Drei informationsund kontrollorientierte Fragen wurden identifiziert (Rolls, 2007), und zwar in Bezug auf: 1. die Ergebnisse: Was sind die Wirkungen und durch wen/was werden sie bewirkt? 2. die Nutzer von Diensten: Wie ist deren Demografie? 3. die Service-Führung: Entspricht der Dienst den Standards/Richtlinien?

Potenzielle Handlungsansätze in Bezug auf die Evaluierung britischer Kindertrauer-Dienste Gibt es Methoden, mit deren Hilfe Daten ermittelt werden können in Bezug auf den Einfluss eines Programms und vor allem in Bezug auf das Phänomen der Besserung, die im Kontext der unvorhersehbaren Dimensionen und Erfahrungsprozesse stattfindet, durch die Kindertrauer-Dienste charakterisiert sind? Diese Frage stellt sich vor allem, wenn man die Herausforderungen und die diesbezüglichen Sorgen berücksichtigt, die bereits dargelegt wurden. Während eine Standardisierung von Interventionen nicht angemessen scheint, so könnte jedoch eine Abkehr von RCT (Randomised Control Trials: Kontrollierte randomisierte Studien) in der möglichen Abwesenheit qualitativ hochwertiger Befunde resultieren (Hawe et al., 2004). Genau diese aber benötigt unser Sektor zunehmend dringend. Um dem zu begegnen, könnten drei miteinander verwandte Handlungsansätze bezüglich Evaluationen hilfreich sein. 1. Ansatz: Klarheit darüber schaffen, was evaluiert werden soll Donabedian (1980) hat eine Struktur angeboten, mit der sich die Komponenten untersuchen lassen, die innerhalb eines Dienstes einer Evaluierung unterzogen werden können. Diese Komponenten beinhalten: •• die Strukturen, also den betrieblichen Rahmen von Aktivitäten inklusive des betrieblichen Umfelds wie der zur Verfügung stehenden Gebäude oder der verwendeten Materialien,

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•• die Voraussetzungen (Input) und deren Operationalisierung: die verschiedenen Mitarbeiter und deren Einsatzbereiche, der Ort und die Art der Gebäude, die zur Verfügung stehenden Einrichtungen und Materialien, •• die Prozesse: die Aktivitäten und wie diese durchgeführt werden, •• die Leistungen (Output): die Materialien, zum Beispiel welche Literatur zur Verfügung gestellt wird, •• die Ergebnisse: die Effizienz (und/oder Wirkung) relevanter Aktivitäten in Bezug auf Individuen oder eine Gemeinschaft. Als ein Beispiel für dieses Handlungsmodell identifiziert Tabelle 1 die möglichen Bedeutungen von Erfolg und potenzielle Methoden der Evaluierung für jede dieser Komponenten. Tabelle 1: Komponenten zur Evaluierung möglicher Definitionen von Erfolg und Methoden der Datensammlung (nach Donabedian, 1980) Komponenten

Strukturen

Eingaben (Input)

Mögliche Definitionen von Erfolg

Potenzielle Methoden der Evaluation

Eine suffiziente, angemessene und gut funktionierende Einrichtung und Ausstattung

Ein beschreibendes Gutachten, basierend auf der Auswertung von Fragebögen

Die Anbindung/Begehbarkeit des Gebäudes

Eine auf Dokumenten basierende Analyse

Eine angemessene Anzahl und Bandbreite von Personal

Ein beschreibendes Gutachten, basierend auf der Auswertung von Fragebögen Eine auf Dokumenten basierende Analyse (Budget)

Gut geplante Interventionen Gute Teilnahme Prozesse

Ausgang (Output)

Implementierung, der Prozess als hilfreiche Erfahrung

Eine Dokumentation und Analyse dynamischer Ereignisse und Interaktionen inklusive Kommunikationen (Qualität, Zeitpunkt), Bereitstellung von Informationsmaterial

Integrierte und kohärente Aktivitäten

Spezifische Aktivitäten mit Hilfe von Fragebögen, Umfragen, Peer Reviews und Interviews.

Qualität/Zugänglichkeit von Materialien

Ein beschreibendes Gutachten, basierend auf der Auswertung von Fragebögen

Anzahl der Nutzer des Dienstes Besucher auf der Webseite Hausbesuche Training/Weiterbildungsangebote

Eine auf Dokumenten basierende Analyse Interviews

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Ergebnisse

Verbesserung/Veränderung (in Verhalten, Fertigkeiten, Wissen, Haltung)? Was hat sich verbessert/verändert (beabsichtigt/unbeabsichtigt)?

Ergebnismessungen, die sich auf spezifische Dimensionen beziehen (zum Beispiel emotionale oder kognitive Reaktionen; Beziehungen; Identität)

Wirkung auf andere Dienste?

2. Ansatz: Klarheit darüber schaffen, was standardisiert werden soll Hawe et al. (2004) argumentieren, dass »Standardisierung mit komplexen Systemen hadert« (S. 1561), aber dass eine andere Sichtweise dazu befähigen könnte, Interventionen in einer kontrollierten Studie zu evaluieren. Die Autoren schlagen insbesondere vor, die von der Intervention ermöglichten Abschnitte auf dem Weg der Besserung zu standardisieren und nicht die Komponenten oder formalen Inhalte der Intervention selbst (zum Beispiel die Gruppen-Aktivität oder den telefonischen Hilfsdienst). Es ist die Aufgabe einer Intervention und nicht ihre Form, die bei der »context level adaptation«, also der Anpassung an das Zielpublikum, eine zentrale Rolle spielt, während die Integrität dessen, was evaluiert werden soll, dabei gewahrt werden muss (Hawe et al., 2004). Jeder Dienst sollte zum Beispiel eine Info-Broschüre in Bezug auf Sprache, Kultur und Lernstile der lokalen Bevölkerung anpassen und entsprechend verteilen, eine Standardisierung der Verteilung hingegen ist nicht sinnvoll. 3. Ansatz: Die Anpassung eines ganzheitlichen oder pluralistischen Handlungsgrundgedankens Einen ganzheitlichen Ansatz des Nachdenkens über Evaluierung haben Smith und Cantley (1985) vorgeschlagen. Sie argumentieren für ein Modell der pluralistischen Intervention, das die Bedeutung und die Kriterien von Erfolg innerhalb eines Dienstes identifiziert und aufzeigt – und zwar aus der Perspektive verschiedener Beteiligter inklusive der Kinder, ihrer Eltern, der Sponsoren oder der Dienstleister. Der Dienst wird infolgedessen hinsichtlich dieser unterschiedlichen Definitionen von Erfolgskriterien evaluiert – unter Einsatz einer Bandbreite von Methoden und Maßstäben (Triangulation). Die Vorteile dieses Ansatzes sind, dass seine pluralistischen Evaluierungsmaßnahmen nicht nur »verschiedene Wege zur Bestimmung und Messung von Erfolg offenbaren, sondern auch Information liefern, die dabei helfen, zu erklären, warum es in einem bestimmten Kontext zu Erfolg oder Misserfolg kommt« (Clarke u. Dawson, 1999, S. 21). Damit bietet der Ansatz einen wichtigen Gewinn für reflektierte Fachleute.

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Entwicklung eines Instruments zur Erfassung der Ergebnisqualität für das Feld der Kindertrauer Es wurde eine Reihe von Empfehlungen formuliert, um die ersten Befunde der beschriebenen Studie zur Bestandsaufnahme (UK Mapping Study) zu benennen. Der wichtigste Schritt liegt jedoch in der Entwicklung einer Richtlinie für ein gemeinsames Evaluierungsprogramm, das folgende Punkte beinhaltet: •• ein Set von gemeinsamen Basisdaten, •• einen gemeinsamen Fragebogen zur Messung der Nutzerzufriedenheit, •• gemeinsame Indikatoren zur klinischen Wirksamkeit. Aufgrund dieser Befunde wurden unter der Schirmherrschaft des CBN5 weitere Gelder beantragt, um einen standardisierten Maßstab zu entwickeln, der erheben sollte, welche Veränderungen Dienste für trauernde Kinder und Jugendliche bewirken. Die Studie bezog Schlüsselpersonen wie Kinder, Jugendliche, Eltern/Betreuer, Leiter von Diensten, Dienstleister, Sponsoren/Auftraggeber, Akademiker und überweisende Fachleute mit ein. Ihre Aufgabe war, die Veränderungen zu identifizieren, die – nach Smith und Cantley (1985) – die Erfolgsmarker darstellen. Diese Betrachtungen wurden zusammen mit einer Bestandsaufnahme existierender internationaler Erfolgsrichtlinien für Interventionen im Bereich der Kinder- und Jugendpsychologie und der Palliative Care zusammengefasst, um angemessene, standardisierte Erfolgsmaßstäbe für die Intervention bei trauernden Kindern und Jugendlichen zu etablieren. Diese Maßstäbe wurden in 14 britischen Kindertrauer-Diensten in einer Pilotphase eingeführt.

Schlussbemerkungen Evaluierung ist von zentraler Bedeutung für die Bereitstellung von Kindertrauer-Diensten und die ethische Arbeit reflektierter Fachleute. Vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen ist die Evaluierung von Ergebnissen zunehmend wichtig. Es stellt sich jedoch im Kontext komplexer Interventionen zum einen die Frage, auf wen oder was genau sich diese Wirkungen beziehen, und zum anderen, wie diese Wirkungen standardisiert und gemessen werden sollen. Trotz der Komplexität von Kindertrauer-Diensten in Bezug auf ihre unterschiedlichen Aktivitäten und Wirkungsbereiche teilen sie dennoch alle eine Reihe gemeinsamer Ziele (vgl. Rolls u. Payne, 2004, S. 317): •• Angebot eines sicheren Ortes zur Exploration, •• Zugang zu unausgesprochenen oder unbewussten Gefühlen,

5 UK Childhood Bereavement Network.

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•• Hilfestellung bei dem Versuch, dem, was geschehen ist, und den daraus resultierenden Gefühlen einen Sinn zu geben, •• Hilfestellung beim Umgang mit diesen Gefühlen, •• Verbesserung der Kommunikation zwischen Familienmitgliedern, •• Erinnerungen und Lebensgeschichten kreieren, •• Gefühle der Isolation verringern, •• stellvertretend die Möglichkeit von Hoffnung für die Zukunft bewahren. Kindertrauer-Dienste und die wichtigsten Akteure in diesem Arbeitsfeld zusammenfassend zu untersuchen und deren Formulierungen der Aufgaben von solchen Diensten in einer Synthese zu vereinigen, ermöglicht die Entwicklung eines Maßstabs, der die Ergebnisse aller Kindertrauer-Angebote erfasst. Diese gemeinsamen Formulierungen bieten die Möglichkeit einer Standardisierung, die Hawe et al. (2004) als Kernstück einer Methodologie ansehen, welche die Funktion vor die Form stellt. Die Entwicklungen im Pilotprojekt werden von Diensten in ganz Großbritannien mit Interesse beobachtet. Es wird zu einem validierten Maßstab zur Erfassung von Wirkungen von Kindertrauer-Diensten führen und entscheidend zur Evidenzbasierung beitragen, die den Wert dieser Dienste zeigt. Übersetzung: Karola Hassall

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Liz Rolls

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II Trauer im Kontext von Sterben, Tod und Abschiednahme Wenn Eltern erkranken und sterben

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Franziska Kühne, Frank Schulz-Kindermann, Corinna Bergelt und Tall Katz-Biletzky

Kinder körperlich kranker Eltern Belastungsfaktoren und Ansätze für Interventionen

Trauer um den Verlust von Normalität im Familienalltag – ein Fallbeispiel Herr S. war 45 Jahre alt, als bei ihm im Rahmen der Nachsorge eines Rektum-Karzinoms ein schnellwachsendes Glioblastom diagnostiziert wurde. Es folgten Bestrahlung und Operation. Den Erstkontakt mit unserer Beratungsstelle nahmen Herr S. und seine Ehefrau während des Krankenhausaufenthaltes auf. Seine Frau wirkte sehr aufgelöst und verzweifelt. Beide hätten offen mit den Kindern über die erste Krebserkrankung gesprochen, ihnen altersangemessen erklärt, dass der Vater krank gewesen sei, der Tumor operativ behandelt und er wieder gesund werde. Nun wüssten sie nicht, was sie tun sollten, sie könnten doch ihren zwei Töchtern von neun und zwölf Jahren nicht eine solche Belastung zumuten. In dem Gespräch wurde den Sorgen der Eltern Raum gegeben und anschließend wurden erste Ideen zur Kommunikation mit den beiden Töchtern zusammengetragen. Herr S. hielt sich während des Gespräches sehr zurück. Wenn er mit leicht verwaschener Sprache leise sprach, wiederholte er Anmerkungen seiner Frau. Als er seine Frau weinen sah, brach auch er in Tränen aus. Seine Frau kam einige Wochen später allein zum ambulanten Gespräch in unsere Beratungsstelle. Herr S. begleitete sie nicht, da er aufgrund seiner kognitiven Einschränkungen nicht mehr einbezogen werden konnte. Sie habe mit den Kindern über die schwere Erkrankung ihres Mannes gesprochen. Die Töchter wüssten, woran der Vater erkrankt sei und dass er nicht mehr gesund werde. Sie wisse aber nicht, wie sie die Situation verkrafteten. Sie sorge sich um die jüngere Tochter, die sie als verschlossener erlebe. Stockend berichtete Frau S., dass ihr Mann sich sehr verändert habe. Die Gedächtnis- und Sprachstörungen hätten sich verschlechtert, er sei desorientiert und es komme vor, dass er auf den Teppich uriniere. Er sei aufbrausender und »zu ehrlich«. So beschimpfe er vor allem die ältere Tochter, die sich dies sehr zu Herzen nehme und sich dadurch noch mehr um ihn bemühe. Im Anschluss an das Gespräch mit der Mutter wurden Gesprächstermine mit den Kindern vereinbart. Die Neunjährige zeigte ein großes Mitteilungsbedürfnis. Während sie malte, sprach sie von ihrer Traurigkeit, ihren Ängste und darüber, dass der Vater versterben werde. Zögernd fragte sie: »Kann man Krebs bekommen, weil man sich super erschrocken hat?« Auf Nachfrage erklärte sie, dass sie den Vater einmal aus Witz sehr erschrocken habe. Nun sorge sie sich, die Krebserkrankung verursacht zu haben. Die zwölfjährige Tochter wusste

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Franziska Kühne, Frank Schulz-Kindermann, Corinna Bergelt und Tall Katz-Biletzky

viel über die Krankheit und ihre Auswirkungen auf die Familie und war innerlich mit dem bevorstehenden Verlust des Vaters beschäftigt. Im Gespräch weinte sie und konnte sich kaum beruhigen. Es mache sie sehr ängstlich und traurig, aber auch wütend und neidisch, dass andere Kinder mit einem gesunden Papa aufwachsen dürften. Sie habe Angst, mit dem Vater allein zu sein. Er sei ärgerlicher als früher, und sie wisse nie, wie er sich im nächsten Moment verhalten werde. Zudem befürchte sie eine plötzliche erkrankungsbedingte Krisensituation, in der sie, allein mit dem Vater, nicht wisse, wie sie reagieren solle.

Im Anschluss an die Erstgespräche mit Eltern und Kindern wurde ein Rückmeldegespräch mit der Mutter geplant, in dem das weitere Vorgehen vereinbart wurde.

Theoretischer Hintergrund Familiäre und individuelle Bedeutung der körperlichen Erkrankung eines Elternteils Eine schwerwiegende körperliche Erkrankung von Eltern mit minderjährigen Kindern tritt außerhalb des im individuellen und familiären Lebenszyklus antizipierten Ablaufs ein (Rolland, 1999) und beeinflusst Familienmitglieder jeglichen Alters wie auch das Familiensystem als Ganzes (Wein, 2000). Rolland (1990) beschreibt den Einfluss einer elterlichen Erkrankung auf das Familiensystem und betont, dass elterliche Erkrankungen sowohl mit mehr familiärer Kohäsion oder Wachstum, aber auch mit größerer Distanz oder auch Zerrüttung in den familiären Beziehungen einhergehen könne. Reaktionen von Familienmitgliedern können als Ressource oder Belastung verstanden werden, was vom Behandler das Einnehmen einer neutral-offenen Haltung und das Einbeziehen aller wichtigen Perspektiven erfordert, um das Wiedergewinnen einer familiären Balance zu unterstützen (Huse-Kleinstoll, 2013). Vor diesem Hintergrund können für Kinder und Jugendliche Schwierigkeiten darin bestehen, sich an Änderungen von Alltagsabläufen und Rollenzuteilungen von Eltern und anderen Bezugspersonen anzupassen, einen Umgang mit unverständlichen oder ängstigenden Symptomen der Erkrankung zu finden, intensive medizinische Behandlungen und die damit verbundene Unsicherheit sowie existenzielle Verunsicherungen und die Angst vor dem Tod des Elternteils auszuhalten (Saldinger, Cain u. Porterfield, 2003; Compas, Worsham, Ey u. Howell, 1996; Giesbers, Verdonck-de Leeuw, van Zuuren, Kleverlaan u. van der Linden, 2010). Je nach Entwicklungsphase müssen von Kindern und Jugendlichen charakteristische Belastungsfaktoren bewältigt werden (Möller, Romer u. Bergelt, 2010; Rauch u. Muriel, 2004; Romer, Barkmann, Schulte-Markwort, Thomalla u. Riedesser, 2002). Säuglinge können die emotionale Situation der primären Bindungspersonen genau wahrnehmen und auf depressive Verstimmungen oder emotionale Abwesenheit der

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Kinder körperlich kranker Eltern

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Eltern mit verstärktem Weinen, anklammerndem Verhalten oder Ess- und Schlafstörungen reagieren. Im Kleinkindalter stehen die Erfahrung der Abwesenheit der wichtigsten Bindungspersonen und die damit verbundenen Veränderungen von Rollen und Routinen, aber auch erkrankungs- und behandlungsbezogene Ängste im Vordergrund. Im Vorschulalter ist das magische Denken zentral für die Verarbeitung der elterlichen Erkrankung. Fantasien bezüglich der Ursache der Erkrankung beziehen sich in dieser Entwicklungsphase mitunter auf eine Eigenverursachung (»Ich bin schuld, weil ich mit Mama gestritten habe«) oder auf Ängste bezüglich einer möglichen Ansteckung mit der Erkrankung. Im Schulalter können körperbezogene Ängste in den Vordergrund treten. Kinder haben Sorge, die Eltern unnötig zu belasten, und halten daher bisweilen die eigenen Gedanken und Gefühle zurück. Im Schulalter besteht ein erweitertes Verständnis von spezifischen Ursachen der Erkrankung und von deren Therapien. Oft werden körperliche Symptome wie Kopf- oder Bauchschmerzen bei Kindern beobachtet. Jugendliche reflektieren umfassender über die möglichen Verläufe der Erkrankung. So treten zum Beispiel Fragen nach deren Vererbbarkeit auf. Daneben können Konflikte zwischen wahrgenommener Verantwortung für den kranken Elternteil einerseits (bis hin zur Parentifizierung) und Autonomie und Ablösung andererseits bestimmend sein. Psychische Belastung minderjähriger Kinder Anhand von Fragebogenerhebungen ist wiederholt die psychische Belastung von Kindern körperlich kranker Eltern dargestellt worden, ohne dass insgesamt eine signifikante Erhöhung psychischer Störungen beschrieben worden ist (Osborn, 2007; Romer et al., 2002). Eine Subgruppe von Kindern und Jugendlichen mit krebskranken Eltern ist besonders durch internalisierende Symptome, das heißt Symptome von Ängstlichkeit, Depressivität oder Somatisierung, gekennzeichnet (Osborn, 2007). Höhere psychische Belastungen scheinen für jugendliche Mädchen zu bestehen (Grabiak, Bender u. Puskar, 2007; Osborn, 2007; Romer et al., 2002; Visser, Huizinga, Graaf, Hoekstra u. Hoekstra-Weebers, 2004). Elterliche Depressivität (Krattenmacher et al., 2012; Visser et al., 2004) und familiäre Dysfunktion (Krattenmacher et al., 2012; Osborn, 2007; Visser et al., 2004) stellen weitere wiederholt beschriebene Risikofaktoren dar. Eine aktuelle Metaanalyse bezieht Familien mit minderjährigen Kindern und chronisch erkrankten Eltern (zum Beispiel HIV/Aids, MS, Schädel-Hirn-Trauma) ein (Sieh, Meijer, Oort, Visser-Meily u. van der Leij, 2010). Jüngeres Alter der Kinder, jüngeres Alter der Eltern, geringerer sozioökonomischer Status und eine längere Krankheitsdauer scheinen mit einer deutlicheren kindlichen Belastung einherzugehen. Jugendliche mit chronisch kranken Eltern waren in einer vergleichenden Untersuchung durch mehr internalisierende Symptome gekennzeichnet, hatten mehr Pflichten in Haushalt und Pflege, erlebten mehr Isolation und mehr tagtäglichen Stress als Jugendliche mit gesunden Eltern (Sieh, Visser-Meily u. Meijer, 2013). In Studien zum Coping von minderjährigen Kindern krebskranker Eltern (zum Beispiel Compas et al., 1996; Thastum, Johansen, Gubba, Olesen u. Romer, 2008; Kühne et al., 2012) wird beschrieben, dass es

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für Kinder hilfreich ist, verschiedene problem- und emotionsbezogene Bewältigungsstrategien flexibel anzuwenden. Zusammenfassend geben diese Studien wichtige Anhaltspunkte für Screening- und Interventionsverfahren für die Zielgruppe. Danach ist es hilfreich, individuelle (zum Beispiel Geschlecht und Alter der Kinder, Alter und psychische Belastung der Eltern, Coping), krankheitsbezogene (zum Beispiel Krankheitsdauer) und familiäre (zum Beispiel familiäre Funktionsfähigkeit, sozioökonomischer Status) Belastungsfaktoren zu beachten.

Erfahrungen und praxisrelevante Hinweise Kritische Betrachtung von Interventionskonzepten für Kinder körperlich kranker Eltern Krebspatienten mit minderjährigen Kindern wünschen sich einer Befragung zufolge elternschafts- und familienbezogene psychosoziale Unterstützung, vor allem wenn jüngere Kinder zur Familie gehören (Ernst et al., 2013). Diesbezügliche Unterstützungsangebote werden häufiger von Frauen, von jüngeren, in Partnerschaft lebenden oder psychisch belasteteren Eltern oder von Eltern mit als belastet wahrgenommenen Kindern in Anspruch genommen (Ernst et al., 2013). Interventionskonzepte für Familien mit körperlich krankem Elternteil und minderjährigen Kindern zielen hauptsächlich auf das Verständnis von Krankheit und Behandlung, das Ausdrücken und Normalisieren von Gefühlen, beinhalten die Unterstützung bei der innerfamiliären Kommunikation und beim Einsatz von adäquaten Copingstrategien, die Stärkung der wahrgenommenen Elternkompetenz sowie die Begleitung in Verlust und Trauer (Diareme et al., 2007; Kühne et al., 2012; Niemelä, Hakko u. Räsänen, 2010; Visser et al., 2004). Obwohl die Erkrankungsphase meist in die Konzeptgestaltung einbezogen wird, ist eine konkrete Abstimmung der Interventionstechniken auf das Erkrankungsstadium und die jeweiligen kindlichen Bedürfnisse selten (Diareme et al., 2007). Die Zufriedenheit mit und Akzeptanz der präventiven Interventionen wird von erkrankten und gesunden Eltern und Kindern als hoch beschrieben (Kühne et al., 2012; Niemelä et al., 2010). Obwohl zunehmend Einzel- oder Gruppeninterventionen für Kinder körperlich kranker Eltern entwickelt, veröffentlicht und in der Versorgungspraxis eingesetzt werden, gibt es Nachholbedarf in den Bereichen theoretische und empirische Fundierung, Strukturierung und in der zugehörigen empirischen Evidenz (Diareme et al., 2007; Kühne et al., 2012; Niemelä et al., 2010, Scott et al., 2008). Insgesamt ist noch immer von Kindern körperlich schwer kranker Eltern als einer in der Versorgungslandschaft zu wenig beachteten Zielgruppe auszugehen (Diareme et al., 2007; Niemelä et al., 2010).

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Kinder körperlich kranker Eltern

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Ansätze für Interventionen in spezifischen Erkrankungssituationen Entwicklungspsychologische Aspekte bilden, wie oben beschrieben, einen wichtigen Rahmen der kind-, familien- und elternzentrierten Beratung und sind mehrfach publiziert (zum Beispiel Möller, Romer u. Bergelt, 2010; Rauch u. Muriel, 2004). Nachfolgend soll vor dem entwicklungspsychologischen Hintergrund kurz auf einige charakteristische Situationen im Zusammenhang mit einer elterlichen Erkrankung eingegangen werden. Bei längeren Trennungen, zum Beispiel infolge von Stammzelltransplantationen oder anderen schwerwiegenden medizinischen Eingriffen, ist es besonders für jüngere Kinder wichtig, Kontakt mit dem erkrankten Elternteil halten zu können (Möller, Kühne u. Romer, im Druck). Im Vorhinein können Eltern und Kinder vereinbaren, wie dies für beide Seiten gut realisierbar ist. Dazu gehören Telefon- oder Chatzeiten und der Austausch von Fotos, Bildern oder Briefen. Wenn erlaubt und von den Kindern gewünscht, können Besuche auf der Station geplant werden, wobei Ängste der Kinder genau eruiert werden sollten. Für Säuglinge und Kleinkinder ist eine verlässliche, gesunde erwachsene Bindungsperson in dieser Zeit entscheidend. Kognitive, emotionale, Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen, die mit einer Hirntumor- oder einer neurologischen Erkrankung in Verbindung stehen können, sind vor allem dann schwer auszuhalten, wenn sie unverständlich bleiben (Schubart, Kinzie u. Farace, 2007). Zwei zentrale Interventionsprinzipien beziehen sich daher auf altersentsprechende Psychoedukation über sukzessive Veränderungen und die Stärkung der Distanzierungsfähigkeit der minderjährigen Kinder (Kühne u. Möller, im Druck). In palliativer Erkrankungssituation eines Elternteils sind für minderjährige Kinder die für ihre Entwicklung so wichtigen Aspekte Vorhersehbarkeit und Stabilität minimiert (Saldinger, Cain, Kalter u. Lohnes, 1999). Mitunter vermeiden Eltern das Gespräch über Sterben und Tod mit ihren Kindern aufgrund der Angst vor der eigenen psychischen Dekompensation, weil sie fürchten, nichts tun, die Reaktion ihrer Kinder nicht einschätzen oder nicht angemessen Trost spenden zu können (Haagen u. Romer, 2006). Im Kommunikationsprozess sind altersangemessene, hoffnungsvolle, aber nicht unrealistische Erklärungen, zum Beispiel über zu erwartende körperliche Veränderungen, wichtig (Kühne, Möller u. Romer, im Druck). Sorgen und Ängste der Kinder sollten aktiv angesprochen, Kindern aber auch die Möglichkeit zu Rückzug und Ablenkung gegeben werden. Gefühle können dann besser in Worte gefasst werden, wenn Eltern ihre eigenen Gefühle gut kennen und Räume dafür geschaffen haben.

Bezugnahme auf das Fallbeispiel In der im Fallbeispiel beschriebenen Familie waren die Themen Sterben und Tod vom ersten Beratungsgespräch an präsent und es war erlaubt, sie auszusprechen. Entsprechend dem in unserer »Beratung für Kinder körperlich kranker Eltern« am Uni-

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Franziska Kühne, Frank Schulz-Kindermann, Corinna Bergelt und Tall Katz-Biletzky

versitätsklinikum Hamburg-Eppendorf angewandten Interventionskonzept (Romer, Bergelt u. Möller, im Druck; Romer u. Haagen, 2007) wurden aus den diesem Konzept zugrunde liegenden wichtigen Zielen (siehe Tabelle 1) Stützung des elterlichen Kompetenzerlebens (Mutter) und Integration ambivalenter Gefühle (Tochter) für die fokussierte Beratung ausgewählt. Tabelle 1: Wichtige Ziele in der Beratung körperlich kranker Eltern und ihrer Kinder (Romer, Bergelt u. Möller, im Druck; Romer u. Haagen, 2007) Familienebene Offenere Kommunikation über die elterliche Erkrankung Flexiblerer Umgang mit divergenten Bedürfnissen einzelner Familienmitglieder Reduzierung altersunangemessener Parentifizierung Elternebene Stützung des elterlichen Kompetenzerlebens Erhöhung der emotionalen Verfügbarkeit der Eltern Kindebene Bessere kognitive Orientierung Legitimierung eigener Gefühle und Bedürfnisse Aktivere Bewältigung Integration ambivalenter Gefühle Unterstützung (antizipierender) Trauer

In den Gesprächen mit der Mutter war demnach das vorrangige Ziel, sie zu entlasten und zu stärken. Anfänglich standen ihre Unsicherheit über die neurologischen sowie kognitiven Einschränkungen, die Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen ihres Mannes, deren Auswirkungen auf die Familie und den Alltag im Vordergrund. Mit Hilfe psychoedukativer Elemente konnte die Mutter die Veränderungen schrittweise mit den Töchtern besprechen und sie dahingehend bestärken, dass die Persönlichkeitsänderungen und Verhaltensweisen des Vaters nicht willentlich verursacht sind und nichts mit ihnen zu tun haben. Bei der älteren Tochter wurde die psychische Belastung im Verlauf immer deutlicher, so dass wir eine ambulante Kinder- und Jugendpsychotherapie empfahlen und sie bis zu deren Beginn begleiteten. Mit der jüngeren Tochter wurden die Schuldgefühle, veränderte familiäre Beziehungen und ihre Ängste vor dem Tod des Vaters thematisiert. Ihre Gefühle konnte sie in ihrem Tagebuch und in Bildern beschreiben. Außerdem wurde ein Gespräch zwischen ihr und der Mutter moderiert, das beiden half, sich ihre Gefühle zu zeigen, und das dadurch entlastend wirkte.

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Kinder körperlich kranker Eltern

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Fazit Hinsichtlich der Belastungsfaktoren und Ansätze für Interventionen bei Kindern körperlich kranker Eltern ist abschließend festzuhalten: •• Eine schwerwiegende körperliche Erkrankung betrifft alle Familienmitglieder, selbstverständlich auch minderjährige Kinder. Auf familiärer Ebene können sowohl eine stärkere Kohäsion als auch mehr Distanz Folge der Erkrankung sein. •• Bedarfen und Bedürfnissen nach psychosozialer Unterstützung von Familien mit körperlich schwer krankem Elternteil und minderjährigen Kindern wird in der Praxis der Versorgung, zum Beispiel aufgrund des Pilotcharakters von Projekten, noch nicht ausreichend begegnet. •• Kontaktdaten von Beratungsstellen vor Ort sind zum Beispiel bei der Interessengemeinschaft »Kinder krebskranker Eltern« der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für psychosoziale Onkologie unter www.dapo-ev.de aufgelistet.

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Bianca Senf

Die Trauer von Kindern und Jugendlichen nach dem Tod eines Elternteils am Beispiel Krebserkrankung

Elisa ist elf Jahre alt. Sie lebt mit ihren Eltern und ihrem drei Jahre jüngeren Bruder, der an einer körperlichen Behinderung leidet, in einer Mietwohnung in einem Vorort einer größeren Stadt. Finanziell geht es der Familie ganz gut, jedenfalls hat Elisa noch nie gemerkt, dass Geld ein Thema zwischen den Eltern ist. Elisa wächst mit dem Gefühl auf, dass sich die Eltern nicht verstehen. Sie streiten sehr oft. Elisa ist gut in der Schule, strengt sich immer sehr an, um gute Noten nach Hause zu bringen. Sie versucht auch sonst nicht noch zusätzlich »Stress zu machen«, wo die Eltern bereits so viel mit dem kleinen Bruder zu tun haben, der viel Aufmerksamkeit und Energie benötigt. Schon immer ist sie eher ein Papakind. Die Mutter von Elisa ist ein emotionaler, aufbrausender Charakter und dabei immer sehr bemüht, alles richtig zu machen. Seit Elisa denken kann, ist der Vater der, auf den man sich verlassen kann, der immer eine Lösung weiß für jedes Problem. Auch und gerade wenn sie sich etwas nicht zutraut, macht er ihr Mut. Lebensbedrohliche Erkrankung eines Elternteils – eine existenzielle Bedrohung Eines Tages findet Elisa die Mutter weinend und zitternd am Küchentisch, als sie von der Schule nach Hause kommt. »Papa ist krank. Er muss ins Krankenhaus.« Elisa merkt in den nächsten Wochen, dass etwas ganz und gar nicht stimmt. Zwar sagt keiner direkt etwas, aber sie merkt, dass die Eltern große Angst haben. Auch Elisas Verhalten verändert sich. Sie klebe an ihrem Vater, sagt die Mutter, und auch der Vater weiß sich nicht mehr zu helfen. Die große Angst, dass der Vater sterben könnte, äußert sich im Gewand von Panikanfällen, Schlafstörungen und Albträumen. Die Mutter ist in dieser Zeit wenig Halt, zu sehr ist sie damit beschäftigt, sich selbst aufrecht zu halten und den Alltag irgendwie zu bewältigen. Manchmal gibt Elisa der Mutter die Schuld an der Erkrankung des Vaters. Die Erkrankung des Vaters schreitet nach ein paar Monaten relativer Stabilität scheinbar plötzlich fort. Jetzt merkt man ganz deutlich, dass es ihm sehr schlecht geht. Er ist oft für die einfachsten Dinge zu schwach, auch die geliebten Radtouren, die, seit Elisa Rad fahren kann, fest zum Sonntagsprogramm gehören, fallen nun ganz aus. Elisa leidet unter Albträumen und ihr anklammerndes Verhalten nimmt weiter zu. Sie ist unruhig, sobald der Vater nicht im selben Zimmer ist. Sie hängt sich oft an seinen Hals und sagt, dass er ihr aller-, allerbester Papa sei und sie ihn ganz doll lieb habe. Es treten immer häufiger medizinisch bedrohliche Situationen ein. Als der Vater notfallmäßig auf die Intensivstation verlegt wird, erklärt ihr keiner, was dort passiert. Und hinein darf sie auch nicht. Sie sei

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noch ein Kind, das gehe nicht, sagen die Schwester und der Arzt. Also lässt die Mutter sie mit dem Bruder zu Hause, wenn sie den Vater besuchen geht. Tod eines Elternteils – Abschied nehmen Als der Vater auf eine Palliativstation verlegt wird, versucht die Mutter Elisa auf das Sterben des Vaters vorzubereiten – vorzubereiten auf eine Situation, die nicht mehr abwendbar scheint. Doch Elisa ist nicht bereit, die Hoffnung aufzugeben, dass doch noch alles wieder gut werden kann. Die Gespräche gestalten sich schwierig, Elisa möchte nicht wissen, dass sie den geliebten Vater unwiderruflich verlieren wird. Die Mutter hat nicht die Kraft, sich mit der Tochter auseinanderzusetzen. Der Vater selbst spricht mit niemandem über den nahenden Tod, auch und explizit nicht mit Elisa. Elisa ist zu Hause bei ihrem jüngeren Bruder, als die Mutter sie anruft und ihr am Telefon mitteilt, dass sie sie nicht abholen könne, da der Vater soeben verstorben sei. Elisa ist schockiert und weiß nicht, was sie tun soll. Als der kleine Bruder sie fragt, was los sei, erzählt sie ihm, was passiert ist und tröstet ihn. Elisa ist über den Tod des Vaters sehr verzweifelt und reagiert mit aggressiver Abwehr gegen die Mutter. Beiden Elternteilen nimmt sie es sehr übel, dass sie nicht richtig mit ihr gesprochen hätten: »Warum hat Papa mir nicht gesagt, dass er sterben wird«, schreit sie weinend. »Ich versteh das nicht, hat er mich denn gar nicht lieb gehabt?« Nach dem Verlust – mittel- und langfristige Folgen Elisas Verzweiflung legt sich nicht. Ihre Mutter empfindet Elisa als Zumutung und wertet sie ab. Sie findet in ihr keinen Halt und auch sonst ist niemand an ihrer Seite. Sie übernimmt die Funktion des Vaters und kümmert sich um all das, was ihre Mutter nicht schafft. Einziger Trost ist ihr Hund, den sie abgöttisch liebt. In der Schule ist sie weiterhin gut. Sie ist fleißig, damit ihr verstorbener Vater stolz auf sie wäre. Seelisch geht es ihr immer schlechter. Suizidgedanken sind häufig. Doch sie fühlt Verantwortung für den verstorbenen Vater und ihren kleinen Bruder. Auch in den folgenden Jahren geht es Elisa häufig nicht gut. Es fällt ihr schwer, sich auf irgendetwas zu verlassen, hat sie doch erlebt, dass im Zweifelsfall alles ganz anders sein kann, als man einen Augenblick vorher noch glaubte. Sie merkt, dass sie mit ihrem Leben einfach nicht zurechtkommt. Manchmal, wenn gar nichts mehr zu funktionieren scheint, denkt sie darüber nach, ob es nicht besser wäre, einfach weg zu sein. Dann müsste sie sich mit all den Schwierigkeiten einfach nicht mehr auseinandersetzen.

Diese Fallgeschichte beschreibt, was den Verlauf betrifft, keinen Einzelfall. Der Hergang ist, wenn auch mit graduellen Unterschieden, vor allem klinische Realität. Allerorten ist eine große Hilflosigkeit zu beobachten, wenn es darum geht, mit Kindern und Jugendlichen über das Sterben und den Tod zu sprechen und ihnen in der Trauer eine verlässliche Stütze zu sein: Wir wissen tief in unserem Wesen einfach wenig bis nichts vom Warum, Woher und dem Wohin. Wir können in der Regel den Tod nicht begreifen, nicht greifen. Unser Selbst ist nicht in der Lage, dass Nicht-Sein zu erfassen.

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Die Trauer von Kindern und Jugendlichen nach dem Tod eines Elternteils

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Selbst wenn wir religiös eingebettet sind, lösen die Themen Sterben, Tod und Trauer Hilflosigkeit und (Todes-)Angst aus. In diesem Beitrag wird zunächst der Stand der aktuellen Forschung zu den Auswirkungen, die der Tod eines Elternteils auf Kinder und Jugendliche haben kann, referiert. Im Anschluss wird ausgeführt, was man unter Trauer versteht, wie sich normale Trauerreaktionen von Kindern und Jugendlichen äußern und was auf einen pathologischen Trauerverlauf hinweisen kann. Mit Rückbezug auf das vorangestellte Fallbeispiel wird auf konkrete, praktische Interventionsmöglichkeiten eingegangen und von diesen ausgehend Möglichkeiten der Unterstützung für Kinder und Jugendliche vorgestellt, die sich bisher als hilfreich erwiesen haben.

Aktueller Stand der Forschung: Was wissen wir über die Trauer bei Kindern? »Zwar gibt es kein Sehen ohne Denken. Aber es genügt nicht, zu denken, um zu sehen« (Maurice Merlau-Ponty). Die wissenschaftliche Datenlage belegt eindrücklich, was es für ein Kind bedeutet, wenn ein Elternteil verstirbt. Kinder und Jugendliche, die einen Elternteil oder, um mit der Sprache der Psychoanalyse zu sprechen, einen bedeutsamen Anderen verloren haben, leiden oft über Jahre oder Jahrzehnte unter diesem Verlust. Im Kontakt wirken die Kinder und Jugendlichen oft traurig und verloren. Ihr Gefühl von Verlorensein in der Welt wird selten erkannt, geschweige denn angemessen berücksichtigt. Der verbleibende Elternteil ist verständlicherweise von der eigenen Trauerverarbeitung und der neuen Situation, die häufig auch von ökonomischen Sorgen begleitet wird, absorbiert, so dass wenig oder kein Raum und Aufmerksamkeit für die Trauer der Kinder bleiben. Viele Lehrer merken in der Regel nur auf, wenn der Unterricht irgendwie gestört wird, Freunde der Familie trauen sich oft nicht, die Kinder anzusprechen, und vielen Behandlern fehlt ebenfalls der Zugang oder auch das Gefühl, hier Verantwortung zu tragen. Die Durchführung von Studien mit Kindern, deren Vater oder Mutter an einer schwerwiegenden Erkrankung leiden oder bei denen ein Elternteil verstorben ist, ist prinzipiell nicht einfach. Studien sind aufwendig, erfordern einen hohen personellen Aufwand, viel Fingerspitzengefühl und die Bereitschaft aller Beteiligten, einschließlich der Untersucher selbst, sich zu trauen, was sich die wenigsten Menschen zutrauen: Kinder mit ihrer Trauer zu konfrontieren und nachzufragen, wie es ihnen mit dem Tod der Mutter oder des Vaters geht, was sich verändert hat, was sie sich wünschen und brauchen. Dies sind wesentliche Gründe, warum uns bislang nicht ausreichend empirische Erkenntnisse vorliegen. Nachfolgend soll ein Überblick über existierende praxisrelevante Erkenntnisse gegeben werden.

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Tod eines Elternteils – unbegreiflich und doch wahr Aller Wahrscheinlichkeit nach weisen Kinder nach dem Tod eines Elternteils auch langfristig ein erhöhtes Risiko auf, psychisch krank zu werden. Bereits seit langem herrscht in klinischen Fachkreisen die Überzeugung, dass ein substanzieller Anteil dieser Kinder längerfristige psychische Auffälligkeiten entwickelt. Einer der Ersten, der sich explizit mit dieser Thematik auseinandersetzte, war Rutter (1966), der als Vater der Kinderpsychologie gilt. Insbesondere aus psychoanalytischer Perspektive gilt als unstrittig, dass frühe Verlusterfahrungen langfristige Einflüsse auf das psychische Wohlbefinden haben (siehe auch den Abschnitt »›Ich komme mir so anders vor und mich versteht keiner mehr‹: Normale Trauer oder pathologische Trauer?«, S. 125 ff.). Bis heute unterstützt eine Vielzahl an Kollegen Rutters Sichtweise (Christ, 2000; Furmann, 1974; Worden, 1996). Zentral ist zu unterscheiden, welche Art von Belastungen tatsächlich mit einem Entwicklungsrisiko für die Kinder verbunden ist. Zunächst einmal ist unstrittig, dass eine schwere Erkrankung eines Elternteils zu Beeinträchtigungen führt. Siegel et al. (1992) untersuchten die psychosoziale Anpassungsfähigkeit von Schulkindern mit unheilbar kranken Eltern. Hier zeigte sich, dass die untersuchten Kinder unter einem niedrigeren Selbstwertgefühl litten, die soziale Kompetenz schlechter ausgeprägt war als in der Vergleichsstichprobe und auch insgesamt mehr Verhaltensprobleme auftraten. Auch Angst und Depressivität waren stärker vorhanden als in der Kontrollgruppe. Eine schwere Erkrankung führt also wahrscheinlich in vielen Fällen zu psychischer Beeinträchtigung bei den Kindern. Diese Belastungen sind nur sehr schwer von den aus dem Tod eines Elternteils resultierenden Auswirkungen auf die Kinderseele zu trennen. In Untersuchungen, die sich mit Kindern nach dem Tod des Elternteils befassten, fanden sich widersprüchliche Ergebnisse: Worden (1996) berichtet in seinem Buch, dass zwei Jahre nach dem Tod eines Elternteils 21 Prozent der betroffenen Kinder klinisch relevante psychische Symptome aufwiesen, wogegen dies nur bei 3 Prozent der Vergleichsgruppe, die keinen solchen Verlust erlebt hatte, der Fall war. Es wird bei Worden (1996) aber auch deutlich, dass mittel- bis langfristig nicht alle Kinder, die einen Elternteil verlieren, psychische Probleme haben, die sie in ihrem Leben beeinträchtigen. Bylund Grenklo et al. (2013) fanden eine erhöhte Rate für selbstverletzendes Verhalten und Suizidversuche bei Jugendlichen, der Verlust des Elternteils lag zum Erhebungszeitpunkt mehrere Jahre zurück. Auch Dietz et al. (2013) bringen Belege dafür, dass das Risiko der Kinder für eine psychische Erkrankung steigt. Für Kalter et al. (2002) war hingegen klar, dass die Konsequenzen des Verlusts der Bezugsperson differenzierter zu betrachten seien. Es fanden sich zunächst keine Unterschiede im Depressions- bzw. Angststörungsrisiko. Die Autoren konnten allerdings aufgrund der relativ kleinen Stichprobe auch keine Subgruppenanalysen in Bezug auf Alters- und Geschlechtseffekte bzw. sonstige Variablen untersuchen. Cerel, Fristad, Verducci, Weller und Weller (2006) wiesen psychopathologische Auffälligkeiten nach und vertraten die These, dass diese vor allem durch weitere, dem Tod folgende Stressoren, wie beispielsweise ein niedriger sozioökonomischer Status, verstärkt würden. Dass Kinder nach dem

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Tod eines Elternteils mit multiplen Stressoren konfrontiert sind, merkte auch Worden (1996) an. In seiner Arbeit wird insbesondere deutlich, dass der Tod eines Elternteils mit teils einschneidenden Veränderungen auch im Alltag der Familie einhergeht, die die betroffenen Kinder belasten können. Um zu unterscheiden, inwieweit psychische Symptome der Kinder mit allgemeinen biografischen Faktoren, der Erkrankungsphase oder tatsächlich dem Tod des Elternteils assoziiert sind, wäre es unbedingt erforderlich, die Veränderungen über die Zeit mittels Längsschnittstudien zu untersuchen. Aufgrund des immensen Aufwands, der mit solchen Forschungsbestrebungen verbunden ist, existieren diesbezüglich nicht viele Arbeiten. Insgesamt gehen heute die allermeisten Autoren davon aus, dass Kinder in ihrer psychischen, geistigen und sozialen Entwicklung ernsthaften Schaden erleiden können, wenn ein Elterntei stirbt (Bowlby, 2006; Bugge, Helseth u. Darbyshire, 2009; Furman, 1974; McPherson, 2007; Rutter, 1966; Siegel, Karus u. Raveis, 1996; Siegel et al., 1992). Daneben stellt sich die Frage, welche Faktoren beeinflussen, ob ein Kind nach einem solchen Erlebnis wieder zu neuer Stabilität findet oder auch Jahre später noch mit emotionalen und verhaltensbezogenen Problemen kämpft. Tränen, Wut, Verzweiflung und Schweigen: Trauern Kinder anders als Erwachsene? Viele Aspekte kindlicher Trauer ähneln dem Erleben der Erwachsenen, die einen einschneidenden Verlust zu verschmerzen haben. Die Trauerreaktion eines Kindes nach dem Tod eines Elternteils ist zunächst einmal nicht nur ein zweckmäßiger, sondern evolutionär absolut notwendiger Anpassungsprozess: Die Lebensbedingungen verändern sich grundlegend, eine Neuorientierung kann erst erfolgen, wenn der Abschied vom Vorher vollzogen wurde (vgl. Zimbardo, 1992, S. 381). Diese Anpassungsleistung, die Kinder ebenso wie Erwachsene bewältigen müssen, wird heute gemeinhin als Trauerarbeit bezeichnet. Bereits Freud (1917/2000) ging davon aus, dass der Trauernde weniger einen passiven als einen aktiven Prozess durchläuft bzw. durchlaufen muss. Diese Auffassung Freuds hat in seiner Gültigkeit nichts verloren, wenn man sich die Arbeiten beispielsweise von Bürgin (1989) oder Worden (1996) anschaut. Es ist also nicht so, wie naiv teils angenommen wird, dass nur genug Zeit vergehen muss, und dann ist alles gut. Vielmehr ist aktives psychisches Handeln wesentlich, damit aus der Trauer irgendwann auch eine Neuorientierung erwachsen kann. Vergleichbar mit einer tiefen Wunde braucht es notwendigerweise Zeit, aber auch Fürsorge und Pflege, damit letztlich Heilung möglich ist. Auch bleibt ab einem gewissen Schweregrad der Verletzung eine Narbe zurück. Es tut irgendwann nicht mehr kontinuierlich so weh, dass es kaum auszuhalten ist, jedoch verschwindet der Schmerz auch nicht einfach, er hinterlässt Spuren, die zeitweise sehr bewusst werden. Trauerarbeit hat Prozesscharakter und damit kann es nützlich sein, unterschiedliche Anpassungsleistungen bestimmten Phasen (vgl. Bowlby, 2006; 2009) zuzuordnen. Dieser Prozess verläuft nicht linear, dennoch lassen sich verschiedene Phasen

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unterscheiden. In der ersten Phase der Betäubung wird der Tod oft gefühlt noch nicht realisiert. Es fällt schwer, die Tatsachen in Gänze zu erfassen. Eher wird alles wie im Traum oder unter Schock als unwirklich erlebt: Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Die verschiedensten Emotionen können in hoher Intensität einschießen. In der zweiten Phase weigert sich die Psyche des Hinterbliebenen, die Endgültigkeit des Verlusts anzuerkennen. Typisch ist das Gefühl, der Verstorbene könne im nächsten Moment zur Tür hereinkommen, oder der Eindruck, die Stimme des Verstorbenen zu hören. Häufig kommen auch Schuldgefühle auf, Überlegungen, was man hätte tun und sagen können, um das Unabwendbare abzuwenden. Das, was war, wird immer wieder angezweifelt. In der darauffolgenden Phase der Desorganisation und Verzweiflung wird das Ausmaß des Verlusts bewusst. Nicht länger schützen Taubheit oder Zweifel vor der tiefen Traurigkeit. Suizidgedanken, der Wunsch, bei dem Verstorbenen zu sein, sind hier oft anzutreffen. In der letzten Phase folgt langsam eine Akzeptanz, ein Integrieren des Verlusts in die eigene Biografie und darauf aufbauend eine Neuorientierung in Bezug auf Gegenwart und Zukunft. Der Hinterbliebene nimmt wieder aktiv am Leben teil. Letztlich gilt es, einen angemessenen Platz für den Toten im emotionalen Leben zu finden. Andere Autoren verwenden vergleichbare Konzepte, wenngleich beispielsweise das, was Bowlby Phasen nennt, bei Worden (1996) als Aufgaben bezeichnet wird und auch die exakten inhaltlichen wie zeitlichen Festschreibungen variieren. Zur Beantwortung der Frage, ob und wie sich die kindliche Trauer von der bei Erwachsenen unterscheidet, ist es unabdingbar, Trauerprozesse von Kindern insgesamt besser zu verstehen. Christ (2000) beschreibt, wie einige andere Autoren auch, dass die Trauer des Kindes oft nicht so hörbar und offen sichtbar mitgeteilt wird und entsprechend schwer zu erkennen ist. Kinder und Jugendliche drücken Trauer häufig nicht unmittelbar aus. Ein Kind sagt nicht: »Ich fühl mich so, als hätte ich allen Boden unter den Füßen verloren, nichts macht mehr Sinn«, wie es Erwachsene formulieren können. Kinder äußern, wenn überhaupt, Sätze wie: »Ich bin so allein«, »Ich möchte einen Hund, ich will etwas, was nur mir gehört«. Häufig zeigt sich die Trauer im Rückzug in Fantasiewelten. Wenn auch heute stundenlanges Spielen am PC oder Musikhören schon fast zum normalen Alltag von Kindern und Jugendlichen gehört, nimmt dieses Verhalten eher besorgniserregend zu. Es ist also unerlässlich, das Verhalten des Kindes aufmerksam im Blick zu haben und daraus Rückschlüsse zu ziehen und mit dem Kind ins Gespräch zu kommen. Oftmals ist auch die Äußerung körperlicher Beschwerden Ausdruck von Trauergefühlen. Nicht selten, dass beispielsweise eine Jugendliche, die ihre Mutter an Brustkrebs verloren hat, plötzlich Brustschmerzen entwickelt. Auch hinter einer Umstellung der Ernährungsgewohnheiten auf gesunde Kost, an sich ein wünschenswertes Verhalten, kann die Angst liegen, selbst krank zu werden und an einer Krankheit zu sterben. Es ist verständlich und dennoch hoch problematisch, dass diese verkleideten Äußerungen von Trauer häufig nicht als solche erkannt werden. Dies mag mitunter auch daran liegen, dass das Erkennen der Situation des Kindes den Erwachsenen zu einer Auseinandersetzung mit der kindlichen Trauer herausfordern würde und er sich dem nicht gewachsen fühlt. Im Hinblick auf die Trauer der Kinder ist insbesondere zentral, auch traueruntypisches

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Verhalten als möglichen Ausdruck von stattfindenden Trauerprozessen in Betracht zu ziehen. Wolfet (1993) vermutet beispielsweise, dass bei trauernden Kindern häufig die Fehldiagnose eines Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom gestellt wird, da die untersuchten Kinder motorisch sehr unruhig und aggressiv sind (»acting-out«-Verhalten). Es wird angenommen, dass das motorisch unruhige Verhalten ein Abwehrverhalten gegen die Bewegungslosigkeit des Todes darstellen könnte. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Trauer des Kindes oder Jugendlichen der von uns Erwachsenen vor allem im Erleben und den damit verbundenen Aufgaben der Trauerverarbeitung ähnelt, sich aber im Ausdruck und den Möglichkeiten der Verarbeitung deutlich unterscheiden kann. Erschwerend kommt hinzu, dass sich das Kind in einer abhängigen Position befindet und somit deutlich stärker als der Erwachsene auf die Feinfühligkeit bedeutsamer Anderer angewiesen ist. Je nach Stand der kognitiven und emotionalen Entwicklung hat das Kind oft keine Worte, um zu benennen, was in ihm passiert, keine Erfahrungen, um zu beurteilen, wie es reagieren darf, was hilfreiche Reaktionen sind, und keine ausreichenden eigenen Regulationsmöglichkeiten. Verlässliche Bezugspersonen, zu denen eine vertrauensvolle Beziehung besteht, sind unerlässlich. Nur sie sind in der Lage, dem Kind die Fertigkeiten und Fähigkeiten zu vermitteln, die nötig sind, damit letztlich nach der Trauer eine Neuorientierung erfolgen kann. »Ich komme mir so anders vor und mich versteht keiner mehr«: Normale Trauer oder pathologische Trauer? Was ist nun adäquater Ausdruck kindlicher Trauerprozesse? Woran erkennt man, dass es sich bei kindlichem Verhalten nicht mehr um normale Reaktionen in Anbetracht des einschneidenden Verlusts, sondern um problematische Anzeichen einer misslingenden Verarbeitung des Erlebten handelt? Ausschlaggebend bei der Beantwortung dieser Frage ist, zu berücksichtigen, inwieweit Erwachsene Emotions- und Verhaltensäußerungen wie auch körperliche Symptome des Kindes als Trauerzeichen interpretieren. Wie bereits im vorherigen Abschnitt ausgeführt, sind hier Missverständnisse wahrscheinlich. Bei der Beurteilung, inwieweit das Kind adäquat trauert, muss immer das Alter und der Entwicklungsstand des Kindes berücksichtigt werden. Da jede Altersstufe mit bestimmten Entwicklungsaufgaben einhergeht (vgl. den Beitrag von B. Senf und L. Eggert in diesem Buch, S. 17 ff.) und daraus auffälliges Verhalten resultieren kann, muss jeweils bedacht werden, ob das Verhalten diese normale kindliche Entwicklung reflektiert oder auf den Verlust zurückzuführen ist. Häufig lässt sich beides nicht klar trennen (Bowlby, 2006; Christ et al., 1993; K. Siegel et al., 1992). Dennoch soll nachfolgend in Tabelle 1 eine Übersicht gegeben werden, wann ein Kind typische Trauerreaktionen zeigt und wann es seine Trauer eher in einer problematischen nicht gelingenden Weise verarbeitet. Insgesamt gilt, dass Intensität und Dauerhaftigkeit der entsprechenden Reaktion heranzuziehen sind, um zu einem individuellen Urteil zu gelangen und den Unterstützungsbedarf eines Kindes einzuschätzen.

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Tabelle 1: Normale und pathologische Trauerreaktionen bei Kindern und Jugendlichen (American Academy of Pedratrics, 2000, S. 446) Normales Verhalten

Anzeichen für problematische Trauerverarbeitung

Schock oder Gefühllosigkeit

Langfristige Verleugnung oder Vermeidung von Gefühlen (das Kind spricht nicht über den Verstorbenen

Weinen

Immer wiederkehrendes Weinen/Weinkrämpfe

Traurigkeit

Anhaltende Depression und persistierende Suizidgedanken

Ärger

Anhaltender Ärger, der sich eventuell noch steigert

Schuldgefühle

Anhaltende Schuldüberzeugungen

Vorübergehendes Unglücklichsein

Unglücklichsein ohne Veränderung

Verschlossenheit

Sozialer Rückzug vom normalen Leben

Erhöhte Anhänglichkeit

Trennungsängste

Ungehorsam

Oppositionelles Verhalten oder Störung

Mangelndes Interesse für die Schule

Abfall der Schulleistungen, Schul- und Lernschwierigkeiten

Vorübergehende Schlafstörungen

Anhaltende Schlafprobleme (Einschlaf- und Durchschlafprobleme, Albträume

Physiologische, psychosomatische Beschwerden

Symptome des Verstorbenen, zum Beispiel Brustschmerzen beim Kind, wenn die Mutter an Brustkrebs verstorben ist

Verminderter Appetit

Essstörungen (zu viel, zu wenig, bulimisches Verhalten)

Kurzzeitige Regression

Anhaltende Regression (vierjähriges Kind trinkt zum Beispiel wieder aus der Nuckelflasche, will wieder in seinen alten Kinderwagen zurück und nicht mehr laufen)

Gut oder schlecht sein

Überangepasst sein oder agressives Verhalten ändert sich nicht oder wird noch stärker

Glaube, der Verstorbene sei noch am Leben

Anhaltender Glaube, der Verstorbeme sei noch am Leben

Jugendliche orientieren sich mehr an Freunden als an Familie

Promiskuitives oder delinquentes Verhalten

Das Verhalten ist in den letzten Tagen bis Wochen aufgetreten

Das Verhalten ist in den letzten Wochen bis Monaten aufgetreten und verschlimmert sich

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Die amerikanische Pädiatrische Gesellschaft (American Academy of Pedratrics, 2000), auf die die Gegenüberstellung der Tabelle 1 zurückgeht, vertritt die Auffassung, dass zunächst einmal alle psychischen und psychosomatischen Reaktionen des Kindes im ersten halben Jahr nach dem Verlusterlebnis als normal einzuordnen sind (S. 446). Aufgrund der klinischen Erfahrung halte ich diesen Zeitraum für zu knapp bemessen (vgl. hierzu ausführlich Senf, 2011, S. 224–227). Darüber hinaus muss immer im Einzelfall beurteilt werden, inwieweit das Kind letztlich professioneller Unterstützung bedarf. Wenngleich der Tod eines Elternteils immer eine schreckliche Erfahrung ist, muss das Kind dennoch nicht zwingend umgehend einem Psychologen vorgestellt werden. Heftige Reaktionen auf heftige Einschnitte im Leben des Kindes sind zunächst einmal eine sehr adäquate Antwort. Nach dem Tod einer der (in der Regel) bedeutendsten Personen im Leben eines Kindes wie Vater oder Mutter kann das Kind von seinem inneren Erleben her sein Leben nicht wie gewohnt und unauffällig weiterleben wie bisher. Es muss für eine bestimmte Zeit in Traurigkeit, Schmerz und Leid versinken dürfen, und zwar unabhängig davon, in welchem Gewand diese Gefühle sich verkleiden. Zudem ist zu beachten, dass das Kind sich auch mehrere Monate nach dem Tod des Elternteils noch komplett verändern kann (Christ et al., 1993). Es ist nicht selten, dass es sich in den ersten Monaten völlig normal und unauffällig verhält, also keine Probleme macht, und dann plötzlich auffällige Verhaltensweisen auftreten, die nicht der Altersphase entsprechen. Dies ist für die Umwelt oft nicht verstehbar. Dennoch kann sich hinter diesem Verhalten eine ganz gesunde Entwicklung verbergen. Es stellt sich dann häufiger im Gespräch mit dem Kind oder Jugendlichen heraus, dass es wieder mehr Stabilität bei dem verbliebenen Elternteil spürt. Dies vermittelt dem Kind Sicherheit. Es spürt wieder soliden Boden unter den Füßen und kann nun, ohne Angst haben zu müssen, dass es nicht aufgefangen wird, seine aufgestauten, zuvor nicht geäußerten Gefühle äußern. Besser nicht darüber sprechen oder: Welche Faktoren beeinflussen das Gelingen kindlicher Trauerprozesse? Wie sich der Tod, der Verlust eines Elternteils unabhängig von psychopathologischen Diagnosen für die betroffenen Kinder und Jugendlichen anfühlt und was er auslöst oder auslösen kann, erfährt man oft nur in der Retrospektive und hier insbesondere aus der psychotherapeutischen Praxis. Hier zeigen viele Fallberichte eindrücklich, dass der Tod eines Elternteils deutliche Spuren hinterlässt (Buchheim u. Kächele, 2007; Krejsa, 2004; Lander, 2011). Diese Fallanalysen geben Hinweise darauf, dass die Reaktionen der Kinder auf den Tod eines Elternteils von vielen Faktoren beeinflusst werden. Dabei zeigt die klinische Praxis, wie nicht anders zu erwarten, dass eine ganze Reihe von Elementen einen Einfluss darauf haben, wie sehr und vor allem wie langfristig ein Kind leidet. Bedeutsam sind vor allem der Krankheits- und Trauerverarbeitungsstil der Eltern, vor allem des verstorbenen Elternteils, die spirituelle Orientierung oder Nicht-Orientierung, die Unterstützung durch Geschwister, das Vorhandensein

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von personellen und finanziellen Ressourcen, die Unterstützung durch Freunde und Angehörige und die Umstände, wie jemand stirbt. Ein Ergebnis, dass aufmerken lässt, fanden Christ et al. (1993). Sie realisierten eine Studie mit Kindern, deren Eltern unheilbar an Krebs erkrankt waren und dann verstorben sind. Hier waren die Kinder vor dem Tod der Eltern höher belastet als nach dem Tod des erkrankten Elternteils. Jüngere Kinder waren dabei ängstlicher und depressiver als ältere Kinder. Möglicherweise ist also nicht allein der Tod des Elternteils an sich der zentrale Belastungsfaktor, sondern vor allem damit assoziierte Stressoren. Verschiedene Studien belegen Auffälligkeiten in der Stressachse, so dass davon auszugehen ist, dass die Stressantwort bei Kindern und Jugendlichen, bei denen ein Elternteil verstorben war, nicht adäquat funktioniert hatte (Haine, Ayers, Sandler, Wolchik u. Weyer, 2003; Kaplow et al., 2013). Dies würde wiederum für die von Christ et al. (1993) vertretene These sprechen, dass durch ein Ungleichgewicht in der neuroendokrinen Stressregulation Belastungsfaktoren bei diesen Kindern und Jugendlichen stärker wirken. Auch wird anhand verschiedener Arbeiten deutlich, dass insbesondere der Erziehungsstil einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung psychopathologischer Auffälligkeiten hat (Hagan et al., 2011; Hagan et al., 2012; Kwok et al., 2005; Lin, Sandler, Ayers, Wolchik u. Luecken, 2004). Das ist plausibel, insofern Eltern als Modell für Bewältigungsverhalten dienen und außerdem eine Balance aus sicherheitsstiftender Konsequenz und Halt vermittelnder Wärme geben können, die eine Reorganisation der durcheinandergewirbelten Stressachse ermöglichen könnte. Zusammenfassend lässt sich sagen: Der Tod eines Elternteils stellt einen schwerwiegenden Einschnitt im Leben eines Kindes dar. Kinder drücken ihren Kummer häufig anders und verdeckter aus als Erwachsene. Intensive Trauerreaktionen sind natürlich, wichtig und gut. Bei einem substanziellen Anteil der betroffenen Kinder entwickeln sich allerdings auch mittel- bis langfristig psychische Auffälligkeiten, die Anpassung an ein Leben ohne den verstorbenen Elternteil gelingt nicht oder nicht ausreichend. Generell gilt es, zwei Fragen zu beantworten: die Frage, ob die Trauer des Kindes einen gelingenden Trauerprozess reflektiert, und die Frage, ob die Ressourcen der erwachsenen Bezugspersonen ausreichen, um diesen ausreichend zu unterstützen. Zu beiden Fragen wird im Folgenden ausführlich Stellung genommen.

Professionelle Begleitung: Erkrankung und Tod eines Elternteils verarbeiten In annähernd zwanzig Jahren Begegnung mit schwer kranken oder sterbenden Kindern und mit Kindern, die ein Elternteil verloren haben, bin ich sehr viel Angst, Hilflosigkeit und Unsicherheit begegnet, wenn das Thema Tod im Raum stand. Diese Angst und Unsicherheit setzt sich fort, wenn es darum geht, Kinder und Jugendliche auf den Tod eines Elternteils vorzubereiten und nach dem Tod eines Elternteils zu begleiten. Beson-

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ders schwierig wird es, wenn jüngere Kinder betroffen sind. Hier nimmt die Abwehr der Erwachsenen ein Ausmaß an, das den erfahrenen (Sterbe- und Trauer-)Begleiter betroffen und manches Mal verzweifelt und verständnislos zurücklässt. Der Umgang mit der Thematik im akutstationären Bereich kann nur als desaströs bezeichnet werden. Selten, dass medizinisches Personal überhaupt nachfragt, ob Kinder involviert sind, geschweige denn, dass Eltern Hilfen bereitgestellt werden, und sei es nur eine Adresse, an die sie sich wenden können. Dieses Phänomen ist dennoch gut erklärbar, wenn man sich die Ausbildung von Ärzten, Pflegern, aber auch von Lehrern und Erziehern vor Augen führt. Dass das Thema Sterbebegleitung, Angst vor dem Tod, Auffangen der betroffenen Kinder einschließlich der nachfolgenden Trauerbegleitung in der Regel jedoch auch keinen Raum in der psychotherapeutischen Ausbildung und nur einen spärlichen Platz in entsprechender Literatur einnimmt (vgl. Cierpka et al., 2001), ist mehr als beklagenswert und nicht zu verstehen. Es gibt mittlerweile mehr als reichlich Hinweise, dass ein Kind, das einen Elternteil gerade verliert oder verloren hat, einen Verlust erleidet, der mit wenig im Leben der meisten Menschen zu vergleichen ist (vgl. auch Silvermann, 2000). Hier sind sich auch fast alle Personen, die involviert sind, einig. Die Abwehr der erwachsenen Familienmitglieder beginnt, wenn es darum geht, die Kinder zu informieren, sie in das, was in ihrer Familie gerade geschieht, einzubeziehen. Die Argumente ähneln sich: »Es tut dem Kind nicht gut, wenn es das hier alles sieht«, oder: »Es soll die Mutter so in Erinnerung behalten, wie sie früher war, sonst leidet es sein Leben lang unter diesem schrecklichen Anblick«, oder: »Das Kind ist noch viel zu klein, um das alles zu verstehen, es schadet ihm eher, als dass es ihm Nutzen bringt.« Alle diese Argumente entbehren jeder klinischen Erfahrung und widersprechen dem Forschungsstand zur Thematik. Das Gegenteil ist der Fall: Für Kinder, die nicht in den Prozess einbezogen sind, entsteht häufig ein Bindungsvakuum und ein kommunikatives Loch, aus dem alle Beteiligten ohne Hilfe schwer wieder herausfinden. Die Kinder werden mit ihrem Nicht-Verstehen, was passiert, ihrem Kummer und ihrer Angst übersehen und überhört – mit entsprechenden psychischen und psychosozialen Folgen. Dies ist nicht nur traurig, sondern angesichts dessen, was man heute weiß, fahrlässig. Helfern und Behandlern jedweder Profession kommt als Teil des (Behandlungs-)Systems eine besondere Rolle in der Begleitung der betroffenen Familien zu. Sie sind hier in besonderer Weise herausgefordert. Darüber hinaus spielen Erzieher, Lehrer und Trainer (Sportvereine etc.) eine herausragende und nicht hoch genug einzuschätzende Rolle im Unterstützungssystem. Die Datenlage zeigt deutlich, dass Kinder bei angemessenem Umgang mit dem Tod eines Elternteils nicht zwingend langfristig psychische Auffälligkeiten zeigen. Nachfolgend sollen zunächst allgemeine Grundlagen der Begleitung von Familien, Kindern und Jugendlichen dargelegt werden. Hierbei wird vor allem die Zeit ab dem Zeitpunkt beschrieben, an dem feststeht, dass Heilung nicht mehr möglich ist. Im Anschluss wird anhand des anfangs dargestellten Fallbeispiels von Elisa exemplarisch auf den Erstkontakt vor, während und nach dem Tod eines Elternteils eingegangen. Situationen und Themen, mit denen man möglicherweise konfrontiert wird, wer-

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den skizziert und Möglichkeiten des hilfreichen Umgangs aufgeführt und schließlich werden Empfehlungen gegeben, die sich in der klinischen Praxis bewährt haben und wissenschaftlich untermauert werden konnten.

Allgemeine Grundlagen – Basiswissen für eine gelingende Begleitung Der Erstkontakt: Beziehungsaufbau und Informationsgewinn Die wichtigste Voraussetzung, um gut zu beraten, ist die Fähigkeit, in kürzester Zeit eine Vertrauensbeziehung herstellen zu können. Für alle, auch für ganz akute Situationen, in denen keine Zeit der Vorbereitung bleibt, hat sich folgendes Vorgehen bewährt: •• den Druck, die Sorgen und Hilflosigkeit wahrnehmen, •• Empathie und Verständnis für die Gefühle und das Anliegen ausdrücken, •• heftige Gefühle aushalten und nicht bewerten, •• Gefühle und Anliegen in Worte fassen, •• rückversichern, ob man alles richtig verstanden hat, •• eine unterstützende und ermutigende Gesprächshaltung einnehmen. Um weiter hilfreich zu sein, ist es essenziell, sich Informationen über folgende Aspekte einzuholen: •• aktuelle Situation und Anliegen, •• Alter des Kindes/der Kinder und Wissen/Information des Kindes von der spezifischen Krankheit, dem Sterben und dem Tod, •• Krankheitsverarbeitungsstil und augenblicklicher Stand der Verarbeitung, •• vorhandene Konzepte hinsichtlich des Verlaufs der Erkrankung, •• ob ein Mitdenken und Mitfühlen eines »worst case«-Szenarios erlaubt ist/stattgefunden hat. Weiterhin nützlich ist es zu erfahren, wie sich die Familie zusammensetzt, wer zum Unterstützungssystem gehört und wie das System Familie funktioniert. Über Letzteres kann man als Berater Hypothesen bilden und sich selbst klar werden, wer in der Familie den höchsten Druck, die größten Sorgen hat und wer am stabilsten zu diesem Zeitpunkt wirkt. Diese Informationen können, je nachdem, mit wem man spricht, sehr rasch eingeholt werden. Reflexion des eigenen Handelns: Meine Möglichkeiten und Grenzen Je nachdem, in welchem Kontext man arbeitet, werden die Anfragen und das, was vom professionellen Berater erwartet wird, verschieden aussehen. Eines haben alle Situatio-

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nen gemeinsam: Die Not und Hilflosigkeit in dieser Situation seitens der Familie oder der Anfragenden (muss nicht immer identisch sein) ist GROSS. Jeder, der als Berater angefragt wird und hilfreich sein möchte, muss sich zunächst die Frage beantworten, ob er die Person ist, die dem Kind, der Familie Halt geben kann. Das heißt, er muss über genügend menschliche und fachliche Kompetenz auf verschiedensten Ebenen verfügen, damit er nicht noch zu einem zusätzlichen Belastungsfaktor wird. Wird die Frage mit Nein oder mit Jain beantwortet, ist es ratsam, sich nach einem erfahreneren Kollegen umzuschauen, der die Beratung übernehmen kann. Wird die Frage mit Ja beantwortet, ist es, auch wenn die Zeit drängt, wichtig, sich einen Überblick zu verschaffen. Hier gilt: Je drängender und Druck auslösender die Anfrage, desto wichtiger ist es, Ruhe zu bewahren, einen Schritt zurückzutreten und die Situation zu betrachten. Die Gefahr, einfach mitzuagieren oder in Gegenübertragungen zu geraten (übermäßig identifiziert, verstrickt, verwickelt zu sein), ist relativ groß und kann mehr Schaden als Nutzen bringen. Prinzipiell ist es in diesen Kontexten nicht ratsam, ohne Kenntnis des Familiensystems und dessen, was es fühlt, denkt und welche Bedürfnisse es hat, in Beratungen einzusteigen. Ohne zu wissen, was die Anfragenden genau denken und möchten, ist die Gefahr groß, dass wir als Berater an ihren Wünschen und Bedürfnissen vorbei beraten. Vertrauen gewinnen: Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit Einem Menschen sagen zu müssen oder mit ihm das Wissen zu teilen, dass er bald sterben wird, trifft auch uns Helfer, zumindest wenn man in der Lage ist, sich im Innersten einzuschwingen. Das Hin-Fühlen bedeutet, selbst damit in Kontakt zu kommen, was es bedeuten könnte, jetzt zu sterben oder jemand bedeutsamen Anderen zu verlieren. Mit Kindern oder Jugendlichen diese Erfahrung zu teilen, fordert auch den erfahrenen Helfer mit jeder Zelle seines Seins. Vor diesem Hintergrund gilt es, sehr großes Verständnis aufzubringen, wenn die Mitbetroffenen und der Sterbende selbst die Wahrheit verbiegen und beschönigen. Einer der bekanntesten Sänger Deutschlands, Herbert Grönemeyer (2002), beschreibt genau dies, wenn er singt: »Wir haben die Wahrheit so gut es ging verlogen«. An dieser Stelle gilt es für uns Erwachsene, Verantwortung für das Wohl der Kinder zu übernehmen, und das bedeutet: die Wahrheit und nichts als die Wahrheit – und dies empathisch und in kindgerechten, nichts verschleiernden Worten. Kinder haben ein Recht auf eine aufrichtige, wahrhaftige Beziehung und hierzu gehört, sie nicht mit vermeintlich guter Absicht außen vor zu halten. Es ist das Außenvorhalten, was die Verzweiflung der Kinder auf die Spitze treibt, nicht das empathische, taktvolle, tröstende Gespräch über die Realität. Eltern sollte erklärt werden, warum es von so großer Bedeutung ist, die Kinder zu informieren. Zuvor sollte jedoch herausgearbeitet werden, aus welcher motivationalen Lage heraus die Eltern die Situation verschleiern.

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Alles hat seine Zeit – Wiederkehrende Schwerpunkte in der Begleitung Die Struktur der nun folgenden Ausführungen stützt sich auf die langjährige klinische Erfahrung, dass mit dem Eintritt einer lebensbedrohlichen Erkrankung in das Leben des Kindes ein Trauerprozess beginnt, der die Angst vor Verlust (Alltag, Unbeschwertheit, Elternteil) widerspiegelt. Das bedeutet, dass von Beginn an der aufmerksame Umgang mit dem Kind und dem Jugendlichen wesentlichen Einfluss darauf hat, ob eine gelingende oder eine ungünstige Trauerverarbeitung stattfindet. Da verschiedene Themen in typischen zeitlichen Mustern immer wiederkehren, folgen die Ausführungen dem Verlauf der Erkrankung des Elternteils von dem Moment an, in dem feststeht, dass es keine Heilung geben wird (palliative Phase) über die Zeit der Sterbens (Sterbephase) bis hin zur langen Phase ohne den Verstorbenen (eigentliche Trauerphase). Es sollen typische Aspekte, die in der Begleitung der Kinder und Jugendlichen während des Sterbens und nach dem Tod eines Elternteils eine Rolle spielen, näher beleuchtet werden. Zur beispielhaften Illustration wird jeder Phase zunächst ein kurzer Bericht vorangestellt, der verdeutlicht, was in der Begleitung von Elisa, dem elfjährigen Mädchen des zu Beginn des Beitrags vorgestellten Fallbeispiels, während der drei aufeinanderfolgenden Phasen geschehen ist. Die palliative Phase Elisa äußerte nach dem ersten Gespräch mit der Psychoonkologin den Wunsch, weiter in die Beratung kommen zu dürfen: »Da habe ich jemanden für mich alleine.« Der Vorschlag der Psychoonkologin, eine Kinderpsychotherapie zu beginnen, wird sowohl von Elisa als auch von den Eltern nicht aufgenommen und so wird eine beratende Begleitung vereinbart. Die Beratungsstunden sind intensiv, Elisa gewinnt Vertrauen und ihre Anspannung löst sich spürbar. Das anklammernde Verhalten dem Vater gegenüber lässt ebenso nach wie auch die aggressive Haltung der Mutter gegenüber. Am liebsten arbeitet Elisa mit dem Familienbrett. Auf dem Familienbrett kann sie angstfrei alle möglichen Konflikte nachspielen und vor allem Lösungsmöglichkeiten finden. Elisa hat, als die Erkrankung ihres Vaters fortschreitet, immer wieder Angst, dass der Vater sterben könne, und reagiert darauf mit schlimmen Albträumen. Ihr Gefühl in den Träumen beschreibt sie so: »Auf meinen Schultern krallt sich ein großer, schwarzer Vogel fest und will mich mitnehmen.« Das Analysieren der Albträume und die damit verbundene Möglichkeit, sie in den Kontext ihrer Gefühle zu stellen, wirken entlastend und geben Elisa Sicherheit. Sie versteht, warum sie so schlimm träumt, das hilft.

Papa wird sterben! – Ende des Glaubens, dass doch alles gut wird. – Die Frage »Warum hat mir keiner was gesagt?« stellt jedes Kind, jeder Jugendliche, der darüber, dass die Mutter oder der Vater sterben wird, nicht informiert wurde, voller Verzweiflung. Die Verzweiflung und Erschütterung eines Kindes oder eines Jugendlichen, die nicht über den nahenden Tod von Vater oder Mutter aufgeklärt wurden, ist kaum steigerungsfähig.

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Kinder und Jugendliche brauchen eine Vorbereitung auf dieses einschneidende, die ganze Welt des Kindes zerstörende und mit nichts zu vergleichende Ereignis. Geschieht dies nicht, beeinflusst dass die Trauerverarbeitung negativ. Wenn irgend möglich, sollte diese Information vom sterbenden Elternteil selbst kommen. Auch Elisa hat auf die Frage, warum ihr Papa nichts gesagt habe, verzweifelt weinend reagiert – und sie stellt die Frage nach elf Jahren immer noch. Es scheint so, dass Kinder sich zusätzlich entwertet fühlen. Ich bin es meiner Mutter/Vater nicht wert, dass sie/er mit mir ehrlich spricht. Dies ist ein hartnäckiges, quälendes Gefühl. Bei der Mitteilung, dass Vater oder Mutter sterben müssen, ist es wichtig, zu beobachten, ob das Kind die Botschaft auch wirklich verstanden hat. Wenn eine vehemente Verleugnung (nicht Verdrängung) stattfindet, sollte geschaut werden, wie diese Verleugnung sich begründet. Möglicherweise gibt es in der Familie unterschiedliche Haltungen, die das Kind ausdrückt. Ein weiterer Grund, Kinder möglichst rasch zu informieren, ist das Wissen, dass es prinzipiell jedem Erwachsenen klar ist, dass Kinder und Jugendliche jede atmosphärische Veränderung in der Familie wahrnehmen. Die Erwachsenen wirken bedrückt, haben eventuell rot geweinte Augen, sprechen gebrochen oder leise, huschen durch die Wohnung oder verhalten sich betont positiv oder pointiert. Auch das bewusste »so tun, als ob nichts wäre« und jedes Ausweichmanöver ist für Kinder sehr schnell spürbar. Dieses Spüren und Nicht-sicher-Wissen macht Kindern große Angst, um nicht zu sagen Todesangst. Die Fantasien des Kindes, was los sein könnte, was sich Schreckliches ereignet haben könnte, können so bedrohlich und nicht aushaltbar werden, dass die Gefahr besteht, dass sich die Kinder selbst gefährden. Dies reicht von Essensverweigerung über Unfälle zu selbstverletzendem Verhalten. Wieso darf ich nicht zu ihm? – Abschied nehmen als aktiver Prozess. – Abschied nehmen, selbst wenn es kleine Abschiede im Alltag sind, ist schwer und geht oft mit Tränen einher. Kindern sollte ein frühes Abschiednehmen ermöglicht werden, damit das Kind, aber auch der sterbende Elternteil die Gelegenheit hat, sich los-zu-lösen. Für das Kind und vor allem auch den Jugendlichen ist es von immenser Bedeutung, dass er »gehen gelassen« wird. Dabei ist wichtig, dass Abschied zu nehmen kein singuläres Ereignis ist und sein sollte, sondern ein Prozess. In diesem Zusammenhang sollte dem Kind vorher erklärt werden, wie der sterbende Elternteil ausschaut, welche Veränderungen es erwarten muss, welche Geräte im Zimmer stehen usw. So braucht es sich vor dem, was sich hinter der Krankenzimmertür verbirgt, nicht zu fürchten und sein Nicht-Wissen mit schrecklichen Fantasiebildern zu füllen. Darüber hinaus ermöglicht man dem Kind auf diese Weise, den Prozess des sich zurückziehenden Lebens mitzuverfolgen, zu erleben und zu sehen. Dadurch kann das Kind den Tod (irgendwann) auch als eine Erlösung für den Sterbenden erfahren. Manchmal ist ein Besuch aufgrund zu großer Entfernung nicht möglich. Hier sollte nach Alternativmöglichkeiten gesucht werden: Telefon, Skype (über Internet), Fotos, Videobotschaften sind beispielsweise Möglichkeiten, Kontakt zu halten. Auch kann es sehr sinnvoll sein, mit dem kranken Elternteil und dem Kind gemeinsam über das, was nach dem Tod geschehen soll, wie zum Beispiel Beerdigung und Trauerfeier, zu sprechen (siehe »Die Trauerphase«, S. 138 ff.).

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Die Vorstellung, den Sterbenden noch einmal zu sehen und sich endgültig zu verabschieden, ist bei Kindern und Jugendlichen oft mit Angst und Panik besetzt und verursacht große Unsicherheit. Hinzu kommt, dass die betroffenen Kinder feine Antennen dafür haben, ob der verbleibende Elternteil oder der für das Kind bedeutsame Erwachsene das wohl gut fänden. Sätze wie: »Behalte deine Mama lieber in Erinnerung, wie sie war«, oder: »Das ist nichts für dich«, sind an der Tagesordnung. Hier kann man aufgrund klinischer Erfahrung deutlich sagen, dass diese Haltung falsch ist und den Kindern perspektivisch schadet. Schuldgefühle als Reaktion über Jahre hinweg stehen hier an erster Stelle. Ich will Mama behalten! – Die Bedeutung von Erinnerungsstücken – »Bekomme ich das Handy von Mama?« Was oft von Erwachsenen als herzlose Frage oder als ein »nicht so stark betroffen sein« interpretiert wird, drückt einen tiefen Wunsch aus, die Verbindung aufrechtzuerhalten, etwas ganz Persönliches von dem sterbenden Elternteil für sich zu haben. Eltern sollte dies genau erklärt werden und man kann sie mit Ideen unterstützen, was man dem Kind hinterlässt. Das sind sehr berührende, emotionale Situationen, die häufig mit großer Trauer und Tränen einhergehen. Sie sind darüber hinaus auf eine Art heilsam. Kindern und Jugendlichen bedeutet es besonders viel, wenn der sterbende Elternteil ihnen beispielsweise ein Lieblingskleidungsstück, ein Schmuckstück oder Ähnliches übergibt. Unterstützend für den Eltern-Kind-Kontakt in der schwierigen Situation ist es auch, gemeinsame Fotos zu erstellen. Hier braucht vor allem der sterbende Elternteil viel Unterstützung, zum Beispiel: »Wie würde es Ihnen gehen in einer solchen Situation? Wäre es für sie wichtig, wie Ihr Partner ausschaut? Unsere Erfahrung zeigt, dass es Kindern immens wichtig ist, gerade aus den möglicherweise letzten Tagen ein Erinnerungsbild zu haben.« Auch ein Brief an das Kind oder die Kinder, eine besprochene Kassette oder eine Videobotschaft ist für die Kinder von zentraler Bedeutung und hilft, dass die Trauerverarbeitung gelingt. Bei allen Ideen, die man der Familie gibt, gilt selbstverständlich, sich sehr fein auf das Gegenüber einzustimmen und nichts überzustülpen. Die Erfahrung zeigt, dass die Ideen, die angeboten werden, dazu führen, dass die Hinterbliebenen eine eigene Idee entwickeln, die genau zu ihnen passt. Die Sterbephase Als es Elisas Vater massiv schlechter geht und es keine Behandlungsoptionen mehr gibt, die das Sterben verhindern könnten, wird er auf eine Palliativstation verlegt. Sowohl die Mutter von Elisa als auch die Psychoonkologin sprechen mit Elisa, teilen ihr mit, dass der Vater nicht mehr lange zu leben habe. Elisa glaubt ihrer Mutter nicht und wehrt sie ab. Da die Beziehung zur Mutter deutlich von Misstrauen geprägt und sehr konfliktreich ist, kann Elisa diese Nachricht von ihrer Mutter nicht akzeptieren. Sie wirft der Mutter vor, dass diese den Vater aufgegeben habe und ihn nicht lieben würde, sonst könne sie so was nicht sagen. Der Psychoonkologin gegenüber äußert sie sich hier nicht explizit, sie versucht jedoch eine günstigere Nachricht herauszulocken. Die wichtigste Botschaft der Psychoonkologin an

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dieser Stelle: »Ich bin für dich da.« Für Elisas seelische Gesundheit wäre das Gespräch mit dem Vater ein Geschenk gewesen, das er ihr leider nicht geben konnte.

Wie sag ich, dass es bald zu Ende geht? Eltern beraten und unterstützen. – Idealerweise wurde das Kind auf das Sterben des Elternteils frühzeitig, das heißt ab dem Zeitpunkt der Klarheit vorbereitet und man kann an dieses Wissen anknüpfen: »Elisa, es ist jetzt ganz schwer, was ich dir sagen muss, und ich weiß gar nicht richtig, wie ich beginnen soll. Wir haben ja schon öfter darüber gesprochen, wie arg schlecht es dem Papa geht. Das hast du ja auch gestern gesehen. Jetzt ist es so, dass die Nieren und auch die Leber nicht mehr arbeiten. Du weißt ja, die Nieren und die Leber sind ganz wichtig, damit alle Giftstoffe abtransportiert werden. Die Ärzte sagen, dass es ab jetzt jederzeit sein kann, dass der Papa sterben muss.« Elementar ist hier, auf die Gefühle und die Fragen des Kindes zu reagieren, da zu sein und die Gefühle auszuhalten. Körperkontakt wie streicheln und in den Arm nehmen, wenn das Kind es möchte, sind besser als Worte, die das Kind nicht mehr erreichen, wenn die Todesnachricht erst mal überbracht ist. Häufig trifft man als Berater auch auf Familien, von denen man wenig weiß oder in denen zuvor nie mit dem Kind gesprochen wurde. Beispielsweise wissen die Kinder, dass Mutter oder Vater krank sind. Sie wissen aber nicht, dass die Krankheit Krebs heißt, und schon gar nicht, wie fortgeschritten sie schon bei Diagnosestellung war. Wenn das Kind also nicht explizit ein Wissen darüber bekommen hat, wie die Situation aussieht, ist spätestens, sobald absolut klar ist, dass ein Elternteil sterben wird, der Augenblick gekommen, zu dem es seelischer Misshandlung gleichkommt, das Kind nicht vorzubereiten. Die Aufgabe von Begleitern ist es, die Erziehungspersonen behutsam zu unterstützen, damit ein Gespräch mit dem Kind oder Jugendlichen geführt werden kann. Wenn irgend möglich, sollte es mit dem Sterbenden gemeinsam geführt werden. In einem gemeinsamen Gespräch bekommt das Kind vermittelt: Wir gehören zusammen. Wir haben alle den gleichen Informationsstand und tragen die Erfahrung und den Kummer gemeinsam. Dies gibt den Kindern Sicherheit durch Wahrhaftigkeit. Wenn der Sterbende zu schwach ist, sollte diese Aufgabe der verbleibende Elternteil übernehmen, sofern er eine gute Beziehung zu dem Kind hat. Ist dies nicht der Fall, sollte nach einer Person geschaut werden, die eine enge, gute Bindung an das Kind hat. Für alle Gespräche gilt, dass man sich Unterstützung holen sollte, wenn man selbst die Befürchtung hat, die Worte nicht über die Lippen zu bringen. Das Wie der Übermittlung dieser schlechten Nachricht hängt von vielen Faktoren ab und von dem, was im Vorfeld gesprochen wurde. Über eines sollte man sich unabhängig davon, wie gut man vorbereitet ist, keine Illusionen machen: Es wird ein schweres Gespräch bleiben. Die wichtigste Voraussetzung ist die, dass man offen, ehrlich und von Liebe getragen die Botschaft »Mutter/Vater wird in den nächsten Tagen sterben müssen« überbringen möchte, weil man davon überzeugt ist, dass es dem Kind und allen in der Familie hilft. Darüber hinaus ist elementar wichtig, das Kind zu Gesprächsbeginn dort abzuholen, wo es sich gerade befindet. Dies rein örtlich/körperlich wie auch emotional. Man kann

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also Bedingungen schaffen, die es etwas leichter machen und dem Kind helfen, zu erfassen, was gerade geschieht: »Ich weiß nicht, was du gerade darüber denkst, wie es Mutter/Vater geht. Ich habe, und das tut sehr weh, leider keine guten Nachrichten. Es fällt mir sehr schwer dir/euch das zu sagen. Wir haben uns aber versprochen, immer ehrlich und offen zu sein und du/ ihr habt ein Recht darauf, zu wissen, wie es um Vater/Mutter steht. Leider ist es so, dass alle Medikamente nicht mehr helfen. Im Gegenteil, sie belasten den Körper nur noch. Die Ärzte sagen, dass es ab jetzt jederzeit so weit sein kann, dass Mutter/Vater stirbt.« Bei alldem sollte klar sein, dass es um ein Gespräch, das heißt um einen Dialog geht, nicht um einen Monolog und ausschweifende Erklärungen, auf die man als Strohhalm gern zurückgreift. Nach der Überbringung eines Todesurteils – und um nichts anderes handelt es sich in diesem Augenblick – sind Begründungen unwichtig geworden. Das Ankoppeln und Bezugnehmen, beispielsweise mit Fragen, ist deshalb elementar wichtig für das Kind. Wichtig für die Familie ist es, einen Rahmen und eine Struktur zu bekommen, wie es nun weitergehen wird, was sinnvoll ist. Hier geht es also darum, die Anliegen genau zu klären (siehe auch »Der Erstkontakt: Beziehungsaufbau und Informationsgewinn«, S. 130). Ich will ihn nicht alleine lassen! Sollten Kinder während des Sterbeprozesses dabei sein? – Häufig wird vom Partner des Sterbenden die Frage gestellt, wann es wohl so weit sein wird. Auch Kinder stellen sich diese Frage. Niemand legt sich hier gerne fest, dennoch gibt es Anzeichen, wann der Sterbeprozess einsetzt, und es tut allen, auch den Kindern gut, wenn sie einordnen können, was passieren wird und woran man erkennt, dass es sich nur noch um wenige Stunden handelt, bis Vater oder Mutter nicht mehr atmet, wann er/sie gestorben ist. Die wichtigsten Anzeichen sind einfach erklärt und geben den Angehörigen eine gewisse Sicherheit. Man sollte hier den Arzt bitten, dass er das übernimmt. Ganz besonders in dieser Situation zählt die Qualität der Worte, nicht die Quantität. Sehr hilfreich ist es zu besprechen, ob das Kind oder auch der Partner das Bedürfnis haben, bei dem Sterbeprozess dabei zu sein. Dies ist eine gute Gelegenheit, um zu klären, welche Bedürfnisse und Vorstellungen diesen Wunsch steuern. Weicht ein Kind, so war dies bei Elisa, nicht mehr von der Seite des Vaters aus der großen Angst, dass er allein und ohne sie sterben könnte, ist es gut, zu fragen, was es befürchtet, was es denkt. Wichtig ist, nicht nur den Kindern zu erklären, dass die klinische Erfahrung immer wieder bestätigt, dass gerade in dem Moment, in dem der Angehörige, der über Stunden nicht vom Bett gewichen ist, frische Luft schnappt, sich einen Kaffee holt, die Wäsche wechselt, der Todkranke stirbt. Dazu eine Erklärung aus persönlicher Perspektive: Sterben ist meines Erachtens ähnlich wie die Geburt ein sehr intimer Prozess. Es ist anzunehmen (Hypothese), dass manche Sterbende nur in Ruhe sterben können, wenn niemand im Raum ist oder niemand, zu dem eine starke emotionale Bindung besteht. (Es soll der Vollständigkeit halber an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass genau das gegenteilige Bedürfnis, nämlich nicht alleine sterben zu wollen, das Thema sein kann.) Diese Erklärung half (beruhigte) Elisa im Nachhinein. Eine solche

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Erklärung im Vorfeld hat meiner Ansicht nach höchsten Präventionscharakter im Hinblick auf eine gelingende Trauerverarbeitung. Hat das Kind, eher sind es erfahrungsgemäß die Jugendlichen, das Bedürfnis, in der Klinik zu übernachten, sollte man es darin bestärken. Nichts verhindert einen Trauerprozess so sehr wie Schuldgefühle im Sinne: »Ich hatte ihr versprochen, dass ich sie nicht allein lasse und nun ist sie ohne mich gestorben.« Um der Familie und explizit dem Kind und Jugendlichen Sicherheit zu geben, ist es wichtig, dass man mitteilt, in welchem Rahmen man wann da sein kann, um auf Fragen reagieren zu können. In diesem Zusammenhang wird häufig auch schon thematisiert, wer einem zur Seite steht, wenn der Sterbefall eingetreten ist. Hier sollte man als Berater sehr gut aufpassen, keine falschen Versprechungen zu machen, sondern vorher abgeklärt haben, was innerhalb der eigenen Arbeitsstruktur angemessen ist. »Wir können noch zwei bis drei Termine verabreden und gemeinsam schauen, was Sie als Familie brauchen.« Vernetzung mit Institutionen und Menschen, die sich mit der Trauerverarbeitung auskennen und beschäftigen, sind hier unerlässlich (siehe auch den Beitrag von F. Röseberg, M. Müller und B. Senf, S. 489 ff.). »Wie sag ich’s meinem Kinde?« – Die Konfrontation des Kindes und des Jugendlichen mit dem Tod eines Elternteils – »Wie sag ich’s meinem Kinde?« ist der Beginn eines Gedichtes von Mascha Kaléko (2010) und sie beschreibt in diesem Gedicht die Sprachlosigkeit angesichts der Fragen des Kindes nach dem Tod. Für die Situation, wenn der Tod eingetreten ist, gilt all das, was in den Abschnitten vorher schon ausgeführt wurde. Das Erste, was man als Berater in diesem Erstkontakt dem verbliebenem Elternteil und/oder betroffenem Kind vermitteln sollte, ist die aufrichtige Anteilnahme: »Es ist schwer, in einer solchen Situation Worte zu finden«, »Es tut mir unendlich leid für Sie/dich/Ihre Familie«. Auch ein stummes, die Anteilnahme ausdrückendes Händedrücken, die Hand auf die Schulter zu legen oder ähnliche Gesten, also starke nonverbale Kommunikation, können als sehr wohltuend empfunden werden. Dabei gilt: keine Intervention, mit der ich mir selbst unsicher bin. Eine der häufigsten Fragen von Eltern, die in dieser akuten Situation gestellt werden, ist immer wieder, ob die Kinder den toten Elternteil noch einmal sehen sollten. Das konkrete Verabschieden ist ein äußerst wichtiger Schritt im Trauerprozess. Es gibt jedoch, wie bereits des Öfteren betont, eine deutliche Tendenz zu Sätzen wie: »Behalte Mama/Papa in Erinnerung, wie sie/er war«, also lebendig. Dies erschwert es den Kindern ungeheuer, den Tod wirklich zu begreifen und die Unwiderruflichkeit irgendwann akzeptieren zu können. Das letzte Bild des Verstorbenen ist ein wichtiges und wesentliches Bild und das Kind sollte darauf wie auf alles andere auch vorbereitet werden. Je weniger das Kind über den Tod weiß, desto wichtiger sind die Erklärungen. Elisa wurde mitgeteilt, dass der Vater nun im Beerdigungsinstitut aufgebahrt sei. Sie wusste, wie es dort aussehen würde, und vor allem, wie ihr Vater aussehen würde. Die Frage, ob das Kind den Verstorbenen noch mal sehen sollte, ist mit einem eindeutigen Ja zu beantworten, allerdings mit einer wichtigen Einschränkung: Wenn das Kind oder der Jugendliche auch nach behutsamen Nachfragen und dem Angebot der

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Begleitung den Verstorbenen nicht sehen möchte, sollte nicht gedrängt oder gar darauf bestanden werden. Der Versuch, zu ergründen, wovor das Kind Angst hat, gibt jedoch auf alle Fälle Hinweise, was emotional benötigt wird. Elisa wollte den Vater sehen, jedoch nicht mit der Mutter zusammen. Sie hatte vor deren Gefühlsausbrüchen Angst, wie sie später erzählte. Das heißt, sie konnte an dieser Stelle sehr gut für sich sorgen. Die Trauerphase Die Begleitung der Familie von Elisa kann aus strukturellen Gründen nicht mehr weitergeführt werden. Die Mutter von Elisa war schon lange vor der Erkrankung ihres Ehemannes in psychotherapeutischer Behandlung und Elisa möchte zu keiner neuen Therapeutin. Die Trauerzeit findet ohne Begleitung statt. Die einzige Bezugsperson für Elisa ist die Mutter. Diese ist als nun Alleinerziehende und als alleinige Ernährerin der Familie völlig überfordert, was absolut nachvollziehbar ist. Das erste Jahr nach dem Tod des Vaters erlebt Elisa als emotionale Hölle. Die Trauerverarbeitung bleibt stecken. Elisa zeigt viele Symptome einer pathologischen Trauerverarbeitung. Sie vermeidet fortan Gefühle, hat anhaltend Ängste, die sich in Form von Albträumen äußern. Sie fühlt sich einsam, allein auf der Welt und unglücklich. Diese Symptome nehmen zu. Häufig hat sie Suizidgedanken. Das Verhältnis zur Mutter verschlechtert sich weiter, obschon diese sich nach Kräften um ihre Tochter bemüht. Eine wirkliche Neuorientierung gelingt nicht. Elisa begleitet weiterhin die Frage, warum ihr Vater ihr nicht gesagt hat, dass er sterben müsse. Die Trauer von Elisa findet kein sicheres Gegenüber, weder im Außen noch im Innen. Ihr geht es immer wieder schlecht und sie bemüht sich verzweifelt, Boden unter die Füße zu bekommen. Wenn es ganz schlimm wird, nimmt sie telefonisch oder per E-Mail Kontakt zu ihrer früheren Psychoonkologin auf. Sie möchte gern zu ihr in die Psychotherapie. Dies lässt sich aufgrund der strukturellen Situation nicht realisieren. Elisa bittet die Psychoonkologin, ihr bei der Suche nach einem Therapeuten behilflich zu sein. Als Grund für die Aufnahme einer Therapie gibt sie an, dass sie mit ihrem Leben einfach nicht zurechtkomme. Vor allem falle es ihr sehr schwer, Beziehungen einzugehen und sie zu halten. Alle Therapieversuche, die Elisa in den kommenden Jahren unternimmt, scheitern am mangelnden Vertrauen von Elisa zu den jeweiligen Therapeuten. Als sich der Todestag ihres Vaters zum 15. Mal jährt, nimmt sie wiederum Kontakt zur Psychoonkologin auf. »Ich möchte mich und mein Leben nicht ständig nur auf den Tod meines Vaters reduzieren. Es muss doch noch mehr geben in meinem Leben und das will ich finden.« Für Elisa scheint es wichtig, mit dem einzigen Menschen, dem sie in der schlimmen Zeit Vertrauen schenkte, einen Abschluss zu finden. In mehreren Sequenzen versuchen Elisa und die Therapeutin Puzzlestein um Puzzlestein zusammenzusetzen, um ein Bild zu bekommen, das zwar nicht vollständig und schön ist, mit dem sich aber, so die Hoffnung, besser leben lässt.

Das Danach vorwegnehmen? Tabuthema Beerdigung und: Wie geht es weiter? – Mittlerweile sind sich viele Menschen einig, dass Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen

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in das kommende Verlusterlebnis miteinbezogen werden müssen. Denn es ist wichtig, dass man sie ernst nimmt und ehrlich zu ihnen und mit ihnen ist. Unsicherheit entsteht häufig darüber, was man ihnen zumuten kann, sollte oder darf. Unter Berücksichtigung der schon im Abschnitt »Der Erstkontakt: Beziehungsaufbau und Informationsgewinn« (S. 130) ausgeführten Kenntnisse, wie Alter des Kindes, Verständnis des Kindes, Beziehung zum Verstorbenen, sollte jedes Thema, was die Kinder beschäftigt und um das sie sich Sorgen machen, grundsätzlich zu besprechen sein. Es teilt sich, dies ist gesichert, in jedem Fall nonverbal mit, dann allerdings mit einem Code versehen, den man mühsam dechiffrieren muss. Voraussetzung für solche schwierigen Gespräche ist, dass nicht primär egozentrische Ziele verfolgt werden, die außer Acht lassen, wie das Familiensystem mit den Gesprächen zurechtkommen kann. In einer Situation wie bei Elisa, in der der Vater jedes Gespräch über sein baldiges Sterben geblockt hat, wäre es nicht möglich gewesen, mit ihm über den Ablauf der Beerdigung zu sprechen. Das heißt, die Annäherung an bestimmte Themen sollte, wenn irgendwie möglich, Schritt für Schritt erfolgen. Über die Beerdigung kann jedoch jemand mit dem Kind sprechen, der keine Berührungsängste und zudem Interesse daran hat, herauszubekommen, was wichtig für das Kind ist. Idealerweise ist dies der verbleibende Elternteil. Es gehört zu einem ganz normalen Prozess für jeden Menschen, in einer solchen Situation daran zu denken, was geschieht, wenn der betreffende Mensch gestorben ist. Auch Kinder und Jugendliche tun dies. Es spricht nur in der Regel niemand darüber. Es gilt als pietätlos und unangemessen. Hier sollte die Frage erlaubt sein, ob das, was jeden Mensch mehr oder weniger in einer solchen Situation bewegt, überhaupt pietätlos und unangemessen sein kann. Die Erfahrung spricht eher dafür, dass es auf das Wie von Fragen ankommt. Kinder haben uns hier in der Regel den guten Realitätsbezug voraus. Je jünger sie sind, je weniger Tabus sie im Kopf haben, desto direkter fragen sie. Elisas Bruder fragte beispielsweise: »Stirbt der Papa? Wo kommt er dann hin? Wenn er vergraben wird, dann bekommt er doch Sand in die Nase, oder?« Kinder sollen aussprechen dürfen, mit was sie sich beschäftigen. Nur so bekommt man auch mit, was sie brauchen. Rituale und Strukturen bilden einen wichtigen und nicht zu unterschätzenden Baustein in der Trauerverarbeitung. Im aktiven Tun einer Beerdigung zum Beispiel, einem Ritual, mit dem die Hinterbliebenen dem Toten einen Platz geben, bildet sich die innere Realität des Verlustes im Außen ab. Auch die Todesanzeige ist ein solch wichtiges Ritual. Es ist dabei für Kinder wichtig, auf die Trauerfeier vorbereitet und an ihr und ihren Vorbereitungen beteiligt zu werden. Dies fängt bei der Formulierung der Todesanzeige an und hört bei dem Aussuchen des Sarges oder der Urne nicht auf. Bei Kindern ab zwölf Jahren und Jugendlichen sind sich alle Beteiligten relativ einig, dass sie ebenfalls zur Beerdigung gehen. Bei kleineren Kindern wird jedoch, wie schon beschrieben, häufig gezögert. Je jünger die Kinder, desto größer das Zögern. Es gibt in der Regel mindestens einen Verwandten, der entsetzt sagt: »Das kannst du doch nicht machen, das Kind ist doch noch viel zu klein!« Bei Elisa war es keine Frage, dass sie bei der

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Beerdigung dabei sein würde, auch für ihre Mutter nicht. Elisa suchte den Sarg mit aus und sie legte mit ihrem Bruder Lieblingsdinge des Vaters und einen Brief mit in den Sarg. Es gilt dann, dem Kind den Ablauf der Beerdigung zu schildern und zu klären, was das Kind brauchen könnte, wer für es da sein wird, wenn der verbliebene Elternteil Kondolenzbezeugungen entgegennimmt. Geteiltes Leid ist halbes Leid: Die Trauerfeier. – Für kleinere Kinder ist die Beerdigung häufig zu lang und sie wollen weg aus der Situation. Der kleine Bruder von Elisa sagte beispielsweise: »Wann hören die denn endlich auf zu schaufeln, ich habe Hunger«. Dies sagt natürlich nichts über die innere Befindlichkeit des Kindes zum Verlusterlebnis aus oder darüber, ob er verstanden hat, was hier gerade geschieht. Die Trauerfeier bildet also einen nächsten wichtigen Baustein in der Trauerverarbeitung des Kindes wie auch des Erwachsenen. Das Kind erfährt hier im Außen, was es zum Teil in seinem Inneren erlebt. In einer Trauergemeinde werden alle Aspekte von Trauer durch die beteiligten Menschen sichtbar und erlebbar. Das Kind sieht versteinerte Gesichter, Menschen, die weinen und lachen, schwatzen, Erinnerungen austauschen, Anekdoten erzählen. Die Kinder erleben Gemeinschaft und was der verstorbene Elternteil anderen Menschen bedeutet hat. Wichtig ist, dass das Kind weiß, was mit der Trauerfeier auf es zukommt und an welche vertraute Person es sich wenden kann, wenn etwas zu viel wird oder Unsicherheit hervorruft. Geteilte Freude ist doppelte Freude: Muss ich wieder in die Schule? Oder: wenn der Alltag wieder einkehrt. – Wie lange man ein Kind aus der Schule herausnimmt, muss individuell entschieden werden. Viele Kinder und Jugendliche haben Angst vor diesem ersten Mal nach dem Ereignis und möchten den Schulbesuch hinauszögern. Der Hintergrund ist oft die Befürchtung, dass ihnen Fragen gestellt werden, auf die sie keine Antworten wissen. Sie haben Angst vor falschem Mitleid und davor, aus der Gruppe herauszufallen. Hier brauchen sie Hilfestellung, wie sie auf die Fragen oder auch die Nicht-Fragen reagieren können. Viele Kinder und Jugendliche brauchen in der Zeit der Trauer mehr als sonst das Gefühl, eingebettet zu sein in die Familie, und das Gefühl, mit dem Schmerz nicht allein zu sein. Das heißt, Kinder brauchen die Gemeinschaft, zumindest das Angebot von Gemeinschaft. Das Gefühl, gerade das Gleiche zu erleben, gibt Sicherheit und Kraft, Orientierung und Zuversicht, dass es irgendwann besser wird. Hier sind Erwachsene ein wichtiges Modell für die Kinder: »Ist der Ausdruck von Gefühlen erlaubt, auch das Gefühl von Freude?«, »Darf ich mich freuen, obwohl Mutter oder Vater gerade gestorben ist, oder zeigt dass, dass ich sie nicht vermisse?« Hier brauchen die Kinder viel Erlaubnis, so zu sein, wie sie sind. Was hilft noch? – Bestimmte Fragen und Unsicherheiten in Bezug auf den Umgang mit den Veränderungen und Problemen, die der Tod eines Angehörigen nach sich zieht, treten bei vielen Hinterbliebenen auf. Daher nachfolgend der Versuch, Fragen, die während der Trauerphase immer wieder gestellt werden, zu beantworten:

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Die Trauer von Kindern und Jugendlichen nach dem Tod eines Elternteils

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•• Soll ich im Alltag etwas verändern? Grundsätzlich sollte man bemüht sein, die Alltagsstruktur beizubehalten, da sie Halt und Sicherheit vermittelt, jedoch nicht »auf Teufel komm raus«. Alle befinden sich in einer Ausnahmesituation und auf diese muss auch mit manchen Ausnahmen reagiert werden dürfen. •• Soll der Lehrer, die Erzieherin, der Trainer informiert werden? Grundsätzlich sollten Menschen, die Verantwortung für das Kind tragen, über den Tod des Elternteils informiert werden. Erziehungspersonen sollten aufmerksam sein, aber das Kind nicht unter Beobachtung stellen. Es sollte besprochen werden, bei welchen Auffälligkeiten man angesprochen werden möchte. Kinder sollten wissen, dass der Erzieher, Lehrer oder der Trainer des Fußballvereins informiert wurde und ansprechbar ist. Sie sollen sich aber nicht unter Druck gesetzt fühlen, sich gegen ihr Bedürfnis anvertrauen zu müssen. Insgesamt ist jedes Herausheben aus dem Gruppenverband für Kinder und Jugendliche eher unangenehm und sollte unterlassen werden. •• Wie soll ich mit dem Kind, dem Jugendlichen umgehen? So normal wie möglich. Zu Hause ist schon alles anders, alles erinnert an den verlorenen Elternteil, das heißt, es muss trauerfreie Zonen geben. Auch auf beständig besorgte Blicke sollten alle verzichten. •• »Wie geht es dir?« Es kommt oft vor, dass Erwachsene die Kinder im Beisein anderer Menschen fragen, wie es ihnen geht. Was soll das Kind darauf antworten? Es schaut in der Regel verlegen auf den Boden und sagt: »Gut.« Fragen nach dem Befinden sollten, wenn sie notwendig sind, unter vier Augen gestellt werden. Unter vier Augen sollte man dem Kind auch sagen, dass man darüber informiert ist, was geschehen ist, und ihm sagen, dass man für das Kind da ist, wenn es was braucht. Es ist wichtig, deutlich zu machen, dass es mit allen Fragen zu einem kommen kann. •• Wie Mitleid bekunden? Mitleidige Blicke, über den Kopf zu streicheln und Äußerungen wie: »Du armes Kind«, oder: »Das arme Kind«, sollten im Beisein der Kinder unterlassen werden. Man bringt das Kind in Verlegenheit. Hilfreicher ist es, aufmerksam zu sein und zu schauen, was das Kind jetzt braucht/möchte und welches Signal es uns gibt. •• Wenn sich das Kind zum Tod von Mutter oder Vater äußert, wie soll ich reagieren? Verständnis und Empathie sind die Antworten. Nachfragen sollte insgesamt immer von der Reaktion des Kindes abhängig gemacht werden. •• Mein Kind spricht nicht, ich mache mir Sorgen, was kann ich tun? Insbesondere Jugendliche möchten nicht ständig über den Verlust sprechen und man sollte das Kind oder den Jugendlichen nicht mit Fragen bedrängen. Günstiger ist es, Angebote zu machen und bei jüngeren Kindern eher Verhalten und Gefühle zum Anlass zu nehmen, die Trauer anzusprechen: »Du bist die ganze Zeit so wütend, ist es, weil du Mami so vermisst oder sauer auf sie bist, weil sie nicht mehr da ist?« Weiterhin sollte überprüft werden, ob man selbst ein gutes Modell abgibt. Häufig zeigen Eltern kein Gefühl, um ihr Kind zu schonen. Das Kind lernt dabei, dass Gefühle zu zeigen nicht in Ordnung ist.

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•• Sollte mein Kind einem Fachmann, einem Psychologen vorgestellt werden? Prinzipiell sind Trauerreaktionen nicht zu pathologisieren und der Psychologe ist daher zumindest für einen direkten Kontakt nicht erforderlich. Im Gegenteil, das Kind könnte die Information empfangen: Ich bin nicht normal, so wie ich bin. Auch hier gilt: Die beste Hilfe für die Kinder ist die Stabilität der Eltern. Diese sollten sich bei Unsicherheiten Beratung gönnen. Der mit der Thematik erfahrene Berater sollte dann eingeschaltet werden, wenn sich Trauerreaktionen verfestigen und ein Verhalten sich herauskristallisiert, das für das Kind und das Familiensystem schädlich ist (siehe auch »Normale Trauer oder pathologische Trauer«, S. 125 ff.).

Gedanken zum Schluss Die Auseinandersetzung mit Tod und Sterben gehört zu unseren wichtigsten Entwicklungsaufgaben. Man kann diese Auseinandersetzung eine Weile ignorieren und vermeiden, man entgeht ihr jedoch nicht. Für Kinder ist es daher günstig, in einer Zeit, in der sie noch keinen schlimmen Verlust erlitten haben, über das Thema zu sprechen, zu philosophieren. Gelegenheiten im kindlichen Alltag gibt es reichlich. Der Verlust eines Elternteils kommt in der Regel für die Verarbeitungskapazitäten eines Kindes, die diesem zur Verfügung stehen, viel zu früh. Es ist zu früh, zu viel an Belastung. Die Weltenordnung wird auf den Kopf gestellt und die Welt des Kindes gerät aus den Fugen. Ein wesentliches Gefühl von Sicherheit geht unwiderruflich verloren. Wie Kinder diese Erfahrung in ihr Leben integrieren können, hängt jedoch maßgeblich davon ab, wie die Trauer verläuft. Der Trauerverlauf hängt wesentlich von der Qualität der Beziehung zu dem noch lebenden Elternteil oder der vertrauensvollen Bezugsperson ab, die für das Kind verantwortlich ist. Das empathische, akzeptierende Verstehen und Begleiten und die von Hoffnung getragene Haltung des Erwachsenen sind die besten Garanten für eine Integration dieses Verlustes in das Leben des Kindes.

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Die Trauer von Kindern und Jugendlichen nach dem Tod eines Elternteils

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Wenn Kinder sterben

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Schwester Frances Dominica und Christine Young

Die Trauer sterbender Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener

Helen House und Douglas House bieten Kurzzeitpflege (Respite Care), stufenweise Entlassungsmodelle und Sterbebegleitung für Menschen mit lebenslimitierenden Erkrankungen zwischen null und 35 Jahren sowie Langzeitunterstützung für deren Familien. Meist leben die Kinder und jungen Menschen bei ihren Familien und sind nur für kurze Zeiträume, mit oder ohne ihre Familien, Gast in unseren Häusern. Helen House, das erste Kinderhospiz weltweit, wurde 1982 eröffnet. Douglas House – für Menschen zwischen 16 und 35 Jahren – besteht seit 2004 und wurde auf dem Gelände von Helen House errichtet. Während die jungen Gäste in Douglas House behaupten, es sei eher wie ein Fünf-Sterne-Hotel, komplett mit Bar, ist Helen House von der Philosophie und Architektur her eher wie ein Zuhause konzipiert. Wir sehen die Eltern als Experten in der Versorgung ihrer Kinder an und unsere Aufgabe darin, ihnen zuzuhören und von ihnen zu lernen. Unser Personal ist multiprofessionell, es besteht zur einen Hälfte aus examinierten Pflegekräften, zur anderen Hälfte aus einem breiten Spektrum von Berufsgruppen und Arbeitsbereichen. Wir bieten Eins-zu-eins-Betreuung. Als Paul zum ersten Mal ins Helen House kam, war er zwölf Jahre alt. Er litt an zystischer Fibrose, wusste nach Angaben seiner Eltern aber wenig über seine Erkrankung und deren Verlauf. Bei den ersten zwei Respite-Aufenthalten waren seine Eltern dabei, doch dann wollte er allein kommen: »Mir ist so langweilig zu Hause – und ich habe mich gerade mit meinen Eltern gestritten!« Seine Eltern versuchten, ihm den Aufenthalt auszureden, doch er war fest entschlossen. Nachdem sie uns das Versprechen abgenommen hatten, nicht von uns aus ein Gespräch über seine Erkrankung und deren Prognose mit ihm zu beginnen, und nachdem wiederum sie widerstrebend unsere Bedingung akzeptiert hatten, dass wir – sollte Paul selbst das Thema ansprechen – nicht unsere Regel brechen würden, niemals ein Kind anzulügen, ließen sie ihn bei uns. Er verabschiedete sich mit offensichtlichem Triumph. Kaum waren sie durch unser Tor gefahren, da wandte er sich schon an eines unserer Teammitglieder (das jüngste) und sagte: »Ich hab’ zystische Fibrose und das ganz schön schlimm. Wahrscheinlich bin ich nächstes Jahr um diese Zeit schon tot. Wie ist das denn so?« Er erwartete eine kurze und präzise Antwort. Zufrieden mit dem, was er gehört hatte, wollte er dann mit einem anderen Jugendlichen, den er beim letzten Respite-Aufenthalt kennen gelernt hatte, einen Film sehen.

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Schwester Frances Dominica und Christine Young

Was wir in all den Jahren in Helen und Douglas House gelernt haben, ist, dass die Trauer eines sterbenden Kindes, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen von einer Reihe Faktoren beeinflusst wird. Zu diesen gehören das Alter, der Entwicklungsstand, die Kräfteverhältnisse und Kommunikationsstile innerhalb der Familie und die Art, wie in dieser mit Schwierigkeiten umgegangen wird, die Erfahrungen des jungen Menschen mit Tod und Sterben und wie dies mit ihm besprochen wurde, der Kontext der Erkrankung, deren aktuelle Phase sowie natürlich die Persönlichkeit und das Temperament des betroffenen jungen Menschen. Jedoch ist es wohl die größte Herausforderung für ein sterbenskrankes Kind oder einen sterbenskranken Jugendlichen, jemanden zu finden, der tatsächlich anerkennt, dass dieser junge Mensch sterben wird, und der dessen Traurigkeit aushalten kann, ohne sie wegzureden, zu schmälern oder gar das Gespräch darüber einfach zu beenden. Oft ist es schwierig für junge Menschen, ihre Gedanken und Gefühle über den Tod auszudrücken, nicht zuletzt deswegen, weil Erwachsene entweder aktiv oder passiv versuchen, sie davon abzuhalten. Wenn aber junge Menschen über den Tod sprechen, spiegeln sich darin oft die Ansichten und Erklärungsversuche ihrer Eltern. Einige suchen sich Ansprechpartner, mit denen offenere Gespräche möglich sind und bei denen sie nicht das Gefühl haben, sie beschützen zu müssen. Es ist niemals einfach, Antworten auf die großen Fragen des Lebens zu geben. Weder wissen wir, wie es ist zu sterben, noch wie ein Leben nach dem Tod – sollte es dies überhaupt geben – sein wird. Es ist absolut in Ordnung zu sagen: »Das weiß ich nicht«, oder: »Das verstehe ich auch nicht«, wenn dies ehrliche Antworten sind. Kinder und Jugendliche haben kein Problem damit, ehrliche Antworten zu akzeptieren, wie schwierig das auch vielleicht für sie sein kann, wohl aber mit fühlbarer Heuchelei oder Unehrlichkeit. Authentizität ist für sie das Wesentliche. Junge Menschen können sehr gut erkennen, ob ein »Das weiß ich nicht«, genuin ist oder ob Körpersprache und nonverbale Hinweise auf das Gegenteil hindeuten. Es ist wichtig, darauf zu achten, wann diese jungen Menschen uns mit Bedacht ein Stichwort geben, soweit wir das können, Antworten auf das zu geben, was sie wissen möchten, und dabei Formulierungen und Denkansätze zu benutzen, die sie verstehen können. Dabei kann es hilfreich sein, nach einer ehrlichen »Das weiß ich auch nicht«Antwort dem jungen Menschen die Frage zu stellen: »Was denkst du denn darüber?« So können wir ein Gespräch auf der Ebene führen, die sie vorgeben, und erfahren etwas über ihre Ängste und Sorgen, denen wir uns dann zuwenden können. Diese Sorgen können sehr verschieden von dem sein, was wir Erwachsenen uns vorgestellt haben. Daher sollten wir uns von unseren Annahmen freimachen und uns den mit der Krankheit und dem Sterben zusammenhängenden Themen aus der Perspektive des betroffenen Kindes oder Jugendlichen widmen. Viel von dem, was wir gegenwärtig über kindliche Konzepte von Tod und Sterben wissen, basiert auf Modellen der kindlichen Entwicklung (zum Beispiel Dyregrov, 2008). Diese Modelle sind immens hilfreich in unserer Arbeit, aber nach unserer Erfahrung in der Arbeit mit zum Beispiel hinterbliebenen Geschwistern, sterbenskranken Kindern,

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Die Trauer sterbender Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener

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Jugendlichen und jungen Erwachsenen sollten diese Modelle nicht als starr, sondern eher flexibel verstanden werden. So machte uns der Kommentar einer schwer kranken 17-Jährigen sehr nachdenklich, die vor ihrem frühen Tod so viel wie möglich vom Leben haben wollte. Frustriert wegen der Ansichten einiger anderer zu ihrer Haltung schrie sie: »Wie kommt ihr dazu zu sagen, ich sei dafür nicht reif genug? Ich sterbe!« Jungen Menschen mit einer lebenslimitierenden Erkrankung sind oft viele der so genannten normalen Erfahrungen und Entwicklungsschritte verwehrt. Und doch entwickeln sie aufgrund dessen, was ihre Erkrankung und deren Behandlungen ihnen abverlangen und was sie durch die Begegnung mit anderen, ebenfalls schwer kranken jungen Menschen erfahren, eine größere Reife, als es ihrem Alter entspricht. Gleichzeitig zu wissen, dass sie nicht die gleichen Erfahrungen machen wie ihre gesunden Peers und nicht lange genug leben werden, um an all den Veränderungen in der weiteren Entwicklung zu partizipieren, die ihre Altersgenossen als selbstverständlich voraussetzen, ist ein weiter Verlust, mit dem die sterbenskranken jungen Menschen umgehen müssen. Der zwölfjährige Paul nahm das Gespräch über das Sterben noch einige Male wieder auf, wenn ihm danach war – manchmal nach Tagen, manchmal nach Monaten. So wie wir unsere Rolle verstanden, bestand sie darin, dafür offen zu sein, in den Dialog einzusteigen und uns dabei nach seinen Themen zu richten, ihn zur Kommunikation zu ermutigen, diese aber nicht zu forcieren. Pauls Eltern wollten zunächst nicht glauben, dass ihr Sohn über sein baldiges Sterben Bescheid wusste, doch selbst nachdem sie diese Tatsache akzeptiert hatten, hatten wir nicht den Eindruck, dass sie mit ihm darüber sprachen.

Diese Art von unausgesprochenem Einverständnis und von Verstellung findet sich häufig in Familien mit einem sterbenden Kind. Bei Paul wie bei anderen jungen Menschen scheint die Familie stillschweigend darüber übereingekommen zu sein, weder über den bevorstehenden Tod noch über dessen Bedeutung zu sprechen. Die Eltern geben uns gegenüber an, sie wollten ihren Sohn oder ihre Tochter nicht mit diesem Wissen belasten und ihr Kind vor der Wahrheit schützen. Oft wird dieses beschützende Schweigen von den jungen Menschen erwidert – auch sie möchten sowohl niemandem aus ihrer Familie Kummer bereiten als auch sich selbst nicht den Emotionen der anderen aussetzen, welche durch Gespräche ausgelöst würden. Manchmal haben sie auch Angst davor, ihre Familie würde sich von ihnen abwenden, wenn sie sie mit ihrer eigenen Traurigkeit oder ihrem Zorn konfrontierten. Auch wenn dieses einvernehmliche Sich-Verstellen dazu führen kann, dass der betroffene junge Mensch allein gelassen wird in seiner Trauer und mit seinen Sorgen, so müssen wir es doch als Abwehrverhalten respektieren, welches es möglicherweise sowohl den jungen Menschen als auch deren Eltern gestattet, mit der Intensität der Situation umzugehen. Wir professionellen Begleiter müssen bei solchem Abwehrverhalten behutsam vorgehen, dabei – wo immer es möglich ist – eine offene Kommunikation fördern, aber niemals erzwingen oder dahingehend manipulieren. Aber es gibt auch Familien mit einem offenen Kommunikationsstil. Dann ist den professionellen Begleitern sterbenskranker junger Menschen eine noch höhere Verant-

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wortlichkeit auferlegt, wenn sie aufrichtig und sensibel zugleich auf versteckte Hinweise oder ganz direkte Fragen und Kommentare reagieren sollen. Junge Menschen testen gerne aus, ob und wie andere auf sie eingehen: Wer lässt sich durch einen hingeworfenen Köder auf ein ernsteres Gespräch ein, wer kann die tiefe Traurigkeit aushalten, dass sie bald alles zurücklassen müssen, wer die Wut und den Zorn darüber, was sie alles nicht mehr erreichen können im Leben, etwa den Wechsel zur nächst höheren Schulform, den Führerschein zu machen oder einen Partner zu finden und mit ihm eine Familie zu gründen. Erfahrungsgemäß werden die Ansprechpartner aus unserem Team nicht zufällig ausgewählt. Wir haben den Eindruck, dass meist die jüngeren Teammitglieder den oben erwähnten Test bestehen und die Wahl daher auch eher auf sie fällt. Zu beurteilen und eine Entscheidung darüber zu treffen, mit wem sie sprechen können, zeugt wohl auch von der Mündigkeit der jungen Menschen. Wenn junge Menschen und ihre Familien in guten Zeiten offen und ehrlich miteinander kommunizieren, dann wird sich das in schwierigen Lebenssituationen wahrscheinlich nicht ändern. Für Familien mit nichtoffener Kommunikation gilt dies leider auch. Wegen einer lebenslimitierenden Erkrankung werden zurückgezogene, verhaltene Menschen nicht plötzlich fähig, sich gegenseitig ihr Inneres offenzulegen, und wenn, dann eher nicht als durchgängig verändertes Verhalten. Ein zehnjähriges Mädchen in Helen House sagte einmal: »Mir hilft es, darüber zu sprechen, aber ich finde nicht, dass man jemanden dazu zwingen sollte, wenn er das nicht will.« Werden jedoch solche Gespräche gesucht, aber die Familie kann oder will sie nicht leisten, dann wählen sich die jungen Menschen – wie Paul – einen ihrer Begleiter aus. Natürlich ist das Spektrum breiter als diese beiden gegensätzlichen Kommunikationsstile. In jeder Familie findet sich auch eine für sie akzeptable, wenn nicht sogar angenehme Gesprächsführung über das Sterben. Lucy war seit ihrer Tumordiagnose vor vielen Jahren regelmäßig zu Gast in Helen House. Nun ein Teenager, war sie die letzten 18 Monate mehr als ein Mal dem Tod nahe gewesen. Durch diese Krisen ergaben sich dann doch zwischen ihr und ihrer Familie Gespräche über den Tod. Gemeinsam bereiteten sie sich darauf vor und planten sogar ihr Begräbnis. Lucy wollte mehr wissen über den »little room« in Helen House, den stets kühlen Abschiedsraum, in dem unsere jungen Gäste nach ihrem Tod noch eine Weile bei uns bleiben. Sie wollte ihn sehen, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie es dort wohl sein würde und was mit ihrem Körper nach dem Tod geschehen würde. Doch obwohl ihre Eltern und sie offen über ihr Sterben gesprochen hatten, ging den Eltern das dann doch zu weit. So schaute sich Lucy das Zimmer mit einer Person ihres Vertrauens aus unserer Einrichtung an, die dort all ihre Fragen beantwortete, wozu ihre Eltern noch nicht bereit gewesen waren.

Indem sie zuweilen kurz Gespräche über das Sterben anstießen, sich dann aber wieder mit anderen Themen beschäftigten, war Lucys und Pauls Botschaft an uns: »In der Zwischenzeit wollen wir einfach leben, leben, leben!« Ganz ähnlich sind die Beobachtungen des Teams in Douglas House. Auch sie erleben die emotionalen Schwankungen der jungen Erwachsenen in ihrer Obhut zwischen der tiefen Trauer um all das, was

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Die Trauer sterbender Kinder, Jugendlicher und junger Erwachsener

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sie aufgeben müssen, und dem sehnlichen Wunsch, ganz alltägliche Dinge zu tun und nicht anders als andere Menschen behandelt zu werden. Dies entspricht dem dualen Prozessmodell von Stroebe und Schut (2010) in der Trauerbearbeitung. So erwähnte etwa ein 17-Jähriger mit weit fortgeschrittener muskulärer Dystrophie seinen baldigen Tod und schon im nächsten Satz sein Ziel, in der Computerbranche zu arbeiten. »Ich weiß, dass ich keine 22 Jahre alt werde, aber das ist schon in Ordnung.« Auf die Frage, ob er Angst habe, antwortete er: »Nein. Aber weißt du, eigentlich denke ich auch nicht so viel darüber nach, sondern lebe einfach.« Die Trauer sterbenskranker Kinder, Jugendlicher oder junger Erwachsener ist meist mehrschichtig. Da ist zum Beispiel die Kumulation von Verlusterfahrungen durch die Erkrankung selbst. Dies können körperliche und geistige Einbußen sein, die zu einer zunehmenden Abhängigkeit von anderen führen. Wut und Schimpftiraden sind dann Reaktionen auf den Rückgang bereits erlangter Unabhängigkeit und den Kontrollverlust – und auch das Betrauern. Dazu kommen die Verluste an Beziehungen mit Gleichaltrigen und den für das Alter üblichen Erfahrungen und Erlebnissen. Manchmal spielt hierbei auch der Einfluss der Eltern eine Rolle, die den nachvollziehbaren Wunsch haben, ihr Kind in Watte zu packen. Auch das Selbstwertgefühl kann verloren gehen. Und dann ist da noch die antizipatorische Trauer in Hinblick auf all die Verluste, die die Zukunft bringen wird – Menschen, die ihnen am wichtigsten sind, Hoffnungen und Zukunftsträume, die Aktivitäten des täglichen Lebens, die sie jetzt noch ausführen und genießen können. Ein außergewöhnlich reifer zwölfjähriger Junge, der oft in illusionsloser Weise und scheinbar furchtlos mit seiner Familie und seinen Freunden über seinen bevorstehenden Tod gesprochen hatte, zeigte sich sehr viel weniger forsch, als er begriff, dass nun sein Lebensende wirklich nahe war: »Ich liebe meine Familie so sehr und mein Zuhause und mein Leben – muss ich jetzt wirklich sterben?« In Helen House und Douglas House unterstützen wir unsere jungen Gäste dabei, ihre Verluste so anzunehmen, wie sie selbst es möchten, und auch zu dem Zeitpunkt, der ihnen entspricht. Gleichzeitig helfen wir ihnen dabei, so intensiv wie möglich zu leben. Die Gefühlswelt, der wir dabei begegnen, umfasst Angst, Zorn, Traurigkeit und Einsamkeit. Nicht immer werden diese Gefühle verbalisiert, sondern manchmal auf kreative Art und Weise ausgedrückt, manchmal aber auch überhaupt nicht gezeigt. Einige junge Menschen ziehen sich in sich zurück, werden depressiv. Wenn uns Gefühle gezeigt werden, geschieht dies oft auch während pflegerischer oder anderer Tätigkeiten, so dass ein Gespräch eher nebenbei verläuft, als dass es explizit geführt wird. Oft zeigt sich eine große Sorge um die Familienmitglieder, die sie zurücklassen werden. Ein Teenager in unserer Einrichtung hatte beobachtet, wie sich die Familie eines Kindes nach dessen Tod verhielt. Er hatte gesehen, dass die Angehörigen trotz ihrer Tränen noch lächeln konnten, dass sie immer noch eine Familie waren, wenn auch nicht mehr dieselbe. Er hatte sogar mit ihnen zusammen in der Küche gegessen und sich mit ihnen unterhalten. Das hatte er tröstlich gefunden und es uns erzählt. Er berichtete uns, dass er sich seit der Diagnose seiner Erkrankung hauptsächlich Sorgen darüber gemacht habe, wie seine Familie wohl mit seinem Tod zurechtkommen werde.

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Schwester Frances Dominica und Christine Young

Er hatte sich einfach nicht vorstellen können, wie sie überhaupt weiterleben könnten, aber nun wusste er, sie würden weiter atmen und sie würden es überleben. Er hatte ein Beispiel dafür gefunden. Einige unserer Mitarbeiter sind der Überzeugung, dass diese spezifische Sorge Einfluss darauf haben kann, wann ein junger Mensch stirbt – dass sie nicht vom Leben loslassen können, bevor sie von ihren Angehörigen die Erlaubnis zum Sterben erhalten. Die Philosophie unserer Einrichtungen ist es, anzuerkennen, dass unsere jungen Gäste und deren Familien die Experten für die Versorgung der jungen Menschen sind, und ihnen die Führung hinsichtlich dieser Versorgung zu überlassen. Es ist unerheblich, dass nur wenige dieser Familien Experten darin sind, mit Tod und Sterben umzugehen, wenn auch manche Familien bei genetischen Erkrankungen tragischerweise den Tod von zwei oder mehr Kindern erleben müssen. Unsere Grundhaltung ist auch bei diesen Familien dieselbe – und wir arbeiten mit allen Familien nach den gleichen Prinzipien. Wir respektieren den Wunsch mancher Eltern, nicht von uns aus ein Gespräch über die Prognose oder das Sterben zu beginnen, aber bei direkten Fragen werden wir die jungen Menschen nicht anlügen. Unserer Erfahrung nach stellen Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene keine Fragen, für deren Antworten sie nicht bereit sind oder deren Antworten sie nicht sowieso schon vermuten und nur bestätigt wissen möchten. Wir glauben, dass es für die jungen Menschen tröstlich ist zu wissen, dass sie auf dem Weg bis zu ihrem Tod nicht allein sein werden, wir sie dabei unterstützen, mit ihrer Trauer umzugehen und uns ihren Gedanken und Gefühlen stellen. Unsere Mitarbeiter in Helen House und Douglas House helfen Familien dabei, diesen Weg miteinander zu gehen, aber nicht immer ist dies möglich oder sogar das Optimale. Wie schon beschrieben, ziehen es manche Familien vor, nicht untereinander über ihre Traurigkeit und ihren Kummer zu sprechen. Bei solchen Familien haben wir in unserer Einrichtung ganz besonders die Aufgabe, ein geschütztes Umfeld zu schaffen, in dem die jungen Menschen ihre Gefühle ausdrücken dürfen und sich trauen, ein Gespräch zu beginnen, wenn sie hierzu ermutigende Signale erhalten. Denn oft finden solche Gespräche deswegen nicht statt, weil sie Angst haben, etwas Falsches zu sagen oder zu tun. Um zu zeigen, dass diese Angst unbegründet ist, müssen wir für sie den Raum schaffen, zu sagen, was immer sie sagen möchten, ihnen empathisch und mit genuinem Interesse und echter Anteilnahme zuhören. Dies ist weniger ein Handeln als die Haltung des Bezeugens und Anerkennens der Trauer der jungen Menschen. Übersetzung: Birgit Jaspers

Literatur Dyregrov, A. (2008). Grief in children. A handbook for adults. London: Jessica Kingsley Publisher. Stroebe, M., Schut, H. (2010). The Dual Process Method of coping with bereavement. A decade on. Omega. Journal of Death and Dying, 61 (4), 273–291.

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Dennis Klass

Unterstützung trauernder Eltern – Selbsthilfe oder professionelle Hilfe? Zwei Wege zum gleichen Ziel

Ich habe von deutschsprachigen Kollegen viel gelernt, vor allem über das Konzept der Trauerbegleitung. Dieses Konzept ist bis jetzt allerdings nicht bis in die amerikanische Forschung und in Hilfsangebote für trauernde Eltern vorgedrungen. Vielleicht kann aber die amerikanische Praxis deutschen Kollegen helfen, ein noch breiteres Verständnis für das Konzept Trauerbegleitung zu entwickeln, indem ich beschreibe, welche Hilfsangebote wir trauernden Eltern in den USA anbieten. In früheren Zeiten kam der Tod eines Kindes häufiger vor als heute. Daher war es für Eltern einfacher, Menschen zu finden, die einen solchen Verlust selbst bereits erlebt hatten und Ratschläge erteilen konnten. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts gab es aber zunehmend weniger Anlaufstellen für verwaiste Eltern. Sowohl betroffene Eltern als auch Fachleute für psychische Gesundheit reagierten auf dieses Vakuum. Eltern gründeten Selbsthilfegruppen, deren Mitglieder ihre eigene Weisheit nutzten, um Eltern mit frischer Trauer beizustehen und Rituale zu entwickeln, mit deren Hilfe die Beziehung mit den verstorbenen Kindern weiterbestehen konnte. Mittlerweile gibt es zahlreiche Gruppen, zum Beispiel: Bereaved Parents, Compassionate Friends, Parents of Murdered Children, Mothers Against Drunk Driving, Empty Arms, MISS Foundation. Diese Organisationen sind nur lose in Ortsgruppen organisiert. Eltern, deren Verlust schon etwas länger zurückliegt, leiten die Sitzungen und helfen anderen, die in einer ähnlichen Position sind, wie sie selbst es noch vor wenigen Jahren waren. Die Ortsgruppen kommunizieren durch Rundbriefe und Konferenzen miteinander. Einige erhalten Gelder von der Regierung, aber die meisten tragen sich selbst. Nur wenige sind medizinischen Einrichtungen oder Diensten angegliedert. Die meisten dieser Gruppen werden also von den trauernden Eltern selbst organisiert, geleitet und finanziert. Ihre Mitglieder schätzen das Wissen, dass sich aus eigener Erfahrung herleitet und sozusagen im Schmelztiegel der eigenen Trauer gehärtet wurde. Obschon es noch wenige Richtlinien aus der Forschung gab, gelang es einigen Fachleuten, psychotherapeutische Modelle für die Praxis zu entwickeln, die heute entweder als Trauerberatung oder Trauertherapie bezeichnet werden. Obwohl die Forschungslage heutzutage besser ist, fallen die Ergebnisse bezüglich einer Wirksamkeit von Trauertherapie sehr unterschiedlich aus. Eine Intervention durch Fachleute basiert auf fachspezifischem Wissen – auf einem Wissen, das sich sowohl aus einer objektiven Analyse der Situation als auch aus einer strikten Abgrenzung zwischen Fachleuten und Hilfe

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Dennis Klass

suchenden Trauernden herleitet. Die amerikanische Praxis würde davon profitieren, wenn sie Prinzipien des deutschen Konzepts Trauerbegleitung integrieren könnte, aber bis jetzt haben nur sehr wenige amerikanische Therapeuten auch nur davon gehört.

Selbsthilfe oder Intervention von außen? Als sowohl Selbsthilfegruppen als auch professionelle Unterstützung noch in den Kinderschuhen steckten, stieß ich oft auf Feindseligkeiten und Misstrauen zwischen diesen beiden Strömungen. Davon ist mittlerweile weniger zu spüren, aber dennoch ist immer noch eine gewisse Abwehr vorhanden. Fachleute werfen den Selbsthilfegruppen-Leitern vor, sie würden trauernde Eltern dazu ermutigen, an ihrer Trauer festzuhalten. Einige behaupteten sogar, diese Gruppen würden sozusagen mit dem Feuer spielen, da Trauer als eine psychische Krankheit zu verstehen sei. Nur ausgebildete Fachleute könnten ihrer Meinung nach mit den auftauchenden suizidalen Tendenzen, den fremden und befremdlichen Bewusstseinszuständen und den sich aufdrängenden Bildern der Trauer umgehen. Leiter von Selbsthilfegruppen dagegen sagen, dass niemand, der nicht selbst durch diesen Prozess gegangen sei, eines anderen Trauer begreifen könne und ihm helfen könne, diese auszudrücken. Während der Treffen von Selbsthilfegruppen hörte ich viele Berichte darüber, wie wenig hilfreich sich Berater und Therapeuten erwiesen hatten. Eine Frau sagte über ihren Therapeuten: »Er hat mir bei vielen Einsichten geholfen – aber in Bezug auf andere Bereiche meines Lebens. Meine Trauer hat er nicht begriffen.« Es hilft auch nicht, wenn ein Therapeut, der zu einem solchen Treffen als Dozent eingeladen wird, seinen Vortrag beginnt, indem er behauptet, er verstehe die Trauer der Eltern – sein Hund sei schließlich vor kurzem auch gestorben. Als die Organisation Bereaved Parents1 in St. Louis eine Zweigstelle eröffnete, fragte man mich, ob ich als Berater fungieren könnte. Ich übernahm diese Rolle für nunmehr zwanzig Jahre. Aus der Ortsgruppe gingen Untergruppen für die Eltern totgeborener, ermordeter und durch Suizid verstorbener Kinder hervor. Nachdem Bereaved Parents sich als Ortsgruppe etabliert hatte, bat man mich, eine Beratungsstelle für Trauer und Verlust zu leiten. Ungefähr die Hälfte meiner Klienten waren trauernde Eltern. Einige davon hatten ihre Kinder erst kürzlich verloren, andere dagegen waren auf ihrem Trauerweg weiter fortgeschritten. In diesem Beitrag reflektiere ich meine eigenen Erfahrungen mit Selbsthilfegruppen und als Trauertherapeut. Selbsthilfe, Beratung und Therapie unterscheiden sich voneinander. Sie helfen auf verschiedene Art und Weise. Vielleicht können wir Trauer 1

Anmerkung der Übersetzerin: Trauernde Eltern. Der Begriff »verwaiste Eltern« wird in Deutschland häufig gebraucht, ist aber auch etwas umstritten, weil vielfach die um ein Kind trauernden Eltern noch andere Kinder haben und so nur »teilverwaist« sind.

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Unterstützung trauernder Eltern – Selbsthilfe oder professionelle Hilfe?

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besser begreifen, wenn wir darüber nachdenken, welche Rolle diese Formen der Hilfe jeweils übernehmen. Selbsthilfe und Therapie konkurrieren nicht miteinander. Ich schlage in diesem Beitrag vor, dass sie vielmehr zwei sehr gute, wenn auch verschiedene Wege darstellen, um über Trauer nachzudenken.

Worauf sich Selbsthilfe am besten versteht Wir können die in Selbsthilfegruppen stattfindenden Heilungsprozesse als eine Serie transformativer Erfahrungen verstehen, die Eltern helfen, die Beziehung zu ihrem Kind weiter fortzuführen (Klass, 1996, 1999). Indem die Realität des Todes ebenso wie die Realität der immer noch vorhandenen Beziehung Teil einer gemeinschaftlich geteilten Realität werden, kann die Beziehung zu einem verstorbenen Kind in das psychische Leben der Eltern integriert werden. Das Trauerziel ist also hier nicht, die Bande zu dem verstorbenen Kind zu kappen, sondern diese Beziehung auf eine neue Art und Weise in das Leben und das soziale Netzwerk der Eltern zu integrieren. Kurz nach einem Verlust ist der Tod eines Kindes für die Eltern noch eine entsetzliche Wahrheit, die sehr surreal erscheint. Die Dissoziation, die Eltern in Bezug auf ihre eigene Psyche wahrnehmen, wird auch von ihrem sozialen Umfeld gespiegelt. Menschen erwähnen den Namen des Kindes nicht in ihrer Gegenwart und Fragen nach dem Befinden implizieren, dass es ja gar nicht so schlimm sein könne, wie die Eltern es tatsächlich empfinden. Eltern begegnen der Auffassung anderer, dass sich das verstorbene Kind durch ein neues Baby ersetzen lasse oder Gott ihr Kind im Himmel ja nun mehr liebe, als die Eltern es je auf Erden hätten lieben können. Den Eltern scheint es, als sei ihr Leben angehalten worden, während es andernorts weitergeht. Die erste Botschaft einer Selbsthilfegruppe an solche Eltern ist: Du bist nicht allein. In der Therapie entwickelt sich die Beziehung zwischen Therapeuten und Klienten langsamer. Wenn Selbsthilfe hingegen effektiv ist, so wirkt sie sofort. Die Betroffenen fühlen: Diese Menschen hier sind wie ich. Oftmals wird die erste Nähe in Selbsthilfegruppen zu der Person hergestellt, deren Kind in einem ähnlichen Alter war oder auf die gleiche Weise verstarb. Das verstorbene Kind ist in der Gruppe real anwesend, ebenso wie die Beziehung der Eltern zu diesem Kind real ist. Sitzungen beginnen mit dem Ritual, dass jeder sich vorstellt, den Namen seines Kindes nennt und etwas über dessen Tod erzählt. Alles innerhalb dieser Sitzungen geschieht in dem Wissen, dass das Kind lebte, verstorben ist und immer noch eine sehr große Bedeutung für das Leben der Eltern hat. Eine Frau sagte zu mir: »Hier in der Gruppe bin ich immer noch Tommys Mutter.« Mitglieder lernen die Kinder der anderen kennen. Mindestens einmal im Jahr werden in den so genannten Fotoabenden Bilder der Kinder herumgereicht und Eltern erzählen Anekdoten. »Mein Kind ist gestorben« wird transformiert in »Unser Kind

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ist gestorben«. Die Kinder sind keine verlorenen Besitztümer, sondern haben Namen, Gesichter und Lebensgeschichten. Den Schmerz über den Verlust und die Bindung an ihre Kinder zu teilen bedeutet auch, Wege zu teilen, auf denen dieser Schmerz Linderung finden kann – das betrifft vor allem das soziale Leben der Eltern. Oft sind Sitzungen praktischen Themen gewidmet, beispielsweise wie man das verstorbene Kind in Fest- und Feiertage integrieren kann. Es gibt viele Lösungen, und jede Antwort hängt davon ab, wie eine Person zu sich und der Welt steht. Eine Mutter bastelte einen Kranz für die Tür mit bunten Bändern, inklusive eines schwarzen Bändchens. »Da ist es«, sagte sie, »wer es sehen und etwas dazu sagen will, ist dazu eingeladen. Auf diese Weise bin nicht ich diejenige, die es nicht erwähnt.« Ein Paar wollte gern Geschenke für ihr verstorbenes Kind kaufen, also schickten sie diese Geschenke an eine Hilfsorganisation für bedürftige Mütter und Kinder. Den Vorschlag eines anderen – und damit dessen Lösungsansatz – aufzugreifen zeigt, dass der Schmerz geteilt wird. Die Antworten auf praktische Probleme helfen Eltern dabei, ihre Familie und Gemeinschaft in einem neuen Licht zu sehen. Betroffene berichten oft davon, dass sie ihren Familien und Freunden mühsam beibringen müssen, wie diese sich ihnen gegenüber jetzt am besten verhalten sollen. Oft gründet sich diese Neustrukturierung von Beziehungen auf Erfahrungen in der Selbsthilfegruppe. Gruppen entwickeln Rituale, die eine über den Tod hinausgehende Bindung an ihre Kinder ebenso ausdrücken wie die Beziehung zu ihrer Gemeinschaft. Der Koordinator des jährlich stattfindenden Picknicks schrieb beispielsweise, dass es Essen und Spiele geben würde, aber dass »unsere verstorbenen Kinder das Herz und die Seele dieses Picknicks bilden. Wir nehmen teil für sie und wegen ihnen, und für sie lassen wir Ballons fliegen, um sie zu integrieren und uns ihrer zu erinnern. Wir werden mit Helium gefüllte Luftballons und wasserfeste Textmarker austeilen. Das gibt uns die Chance, noch einmal zu sagen, was uns auf dem Herzen liegt – vor allem: ›Ich liebe dich‹. Und dann werden wir dort zusammen stehen, die Welt um uns herum vergessen, und ein jeder wird seinen eigenen Gedanken nachhängen, Gefühlen nachspüren oder Gebete sprechen, während hunderte Ballons in den Himmel steigen, einem unbekannten Ziel entgegen, von dem wir aber überzeugt sind, dass es erreicht wird.« Die Kinder bilden Herz und Seele der Gruppe, denn die Bindungen an ihre Kinder binden auch die Gruppenmitglieder aneinander. Die Kinder befinden sich im Zentrum der Gruppe, nicht nur in jedem einzelnen Elternteil. Sie sind dort, wo die Luftballonnachrichten ankommen. In diesem Ritual können Eltern sich sowohl an das Kind im Außen wenden als auch dessen Präsenz im Innern fühlen. Weil die Bindung an das Kind mit anderen geteilt wird, ist die Gruppe stark. Und weil die Gruppe stark ist, fühlt sich die Bindung an das Kind sicherer und realer an. Ein Luftballon, der zum Himmel fliegt, ist eine fragile Botschaft. Hunderte von Botschaften, jede davon an ein anderes Kind gerichtet, müssen einfach am Ziel ankommen. Begreifen wir also den Weg trauernder Eltern als eine Serie transformativer Erfahrungen in Bezug auf die Bindung an ihr Kind, so verstehen wir, inwiefern Selbsthilfegruppen hier eine große Unterstützung leisten können.

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Unterstützung trauernder Eltern – Selbsthilfe oder professionelle Hilfe?

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Worauf sich eine Intervention durch Fachleute am besten versteht Die Trauer von Eltern kann auch als einschneidendes Ereignis vor dem Hintergrund ihrer Lebensgeschichte verstanden werden. Eltern müssen herausfinden, wie ein verstorbenes Kind jetzt noch Teil ihrer Geschichte sein kann und was ihr Leben ohne dieses Kind für einen Sinn hat. In diesem Kontext liegt der Sinn der Trauer darin, eine dauerhafte Biografie zu konstruieren, die es »den Lebenden ermöglicht, die Erinnerung an die Verstorbenen in ihr gegenwärtiges Leben zu integrieren« (Walter, 1996, S. 7). Therapie versteht sich darauf, so scheint es mir, Eltern dabei zu helfen, ihre Lebensgeschichte zu verstehen und zu rekonstruieren, ebenso wie ihr Familiensystem. Solche persönlichen und familiären Geschichten können natürlich oft auch (teilweise) gestört sein. Einige Eltern müssen lernen, mit den negativen Elementen in der Beziehung zu ihrem Kind zu leben. Hierbei kann Therapie helfen, die eigene Geschichte zu verstehen und zu bearbeiten. Barbara kam zu mir in Therapie, nachdem sie einen Monat zuvor einen Selbsttötungsversuch unternommen hatte. Ihre Tochter Abby war drei Jahre zuvor im Alter von zwanzig Jahren gestorben. Barbara blieb für sechs Monate in Einzeltherapie und setzte die Therapie dann für weitere drei Jahre zusammen mit ihrem Ehemann Fred als Paartherapie fort. Ich hatte beide bei einem Treffen von Bereaved Parents kennen gelernt, aber sie hatten nur an drei Sitzungen teilgenommen, da das Teilen von schmerzhaften Erinnerungen bei Barbara zu einer Verschlimmerung des Trauerschmerzes geführt hatte. 15 Jahre vor Abbys Tod war Barbara mit Depression ins Krankenhaus eingewiesen worden. Ihr Vater war sowohl körperlich als auch sexuell gewalttätig gewesen, ihre Mutter passiv und vermutlich depressiv. Die Geschwister hatten in der Kindheit Allianzen gebildet, aber dem Missbrauch des Vaters nachgegeben und waren dadurch einander nicht verbunden geblieben. Mit sechs Jahren war Abby zu ihrer Großmutter gezogen, wo sie bis zu ihrem elften Lebensjahr gelebt hatte. Ihre Aufgabe war es gewesen, die Großmutter zu pflegen. Barbara hatte keine Erinnerung daran, jemals von ihr irgendeine Form von Fürsorge erfahren zu haben. Freds Vater war in der kleinen Stadt in den Südstaaten, in der die Familie gelebt hatte, bekannt für gewalttätige Akte gegen Farbige gewesen. Fred hatte versucht, ein guter Sohn zu sein. Die Botschaft seines Vaters war gewesen, dass es wichtig sei, was die Nachbarn denken würden. Er hatte Fred und seine Mutter bestraft, wenn er der Meinung gewesen war, dass sie sich wie »weißer Abschaum«2 verhalten würden. Seinen Bruder beschrieb Fred als wild – eine Qualität, die sein Vater gefördert habe. Freds und Barbaras Tochter Abby war mit einem Herzfehler auf die Welt gekommen, den Barbara verursacht zu haben glaubte, da sie während der Schwangerschaft bestimmte Medikamente eingenommen hatte. Abby hatte bereits sehr früh gewusst, dass sie vermut2 Anmerkung der Übersetzerin: White trash: ein in den USA und vor allem in den Südstaaten verwendeter, abfälliger Begriff für in Armut lebende Menschen der amerikanischen Unterschicht.

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lich nicht alt werden würde, und war bei ihrer neunten Operation gestorben. Sie hatte auf zweierlei Weise auf das Wissen um ihre Krankheit reagiert: mit Depression und Rebellion. Mit 18 Jahren hatte sie eine Überdosis genommen und war ins Krankenhaus eingeliefert worden. Seit ihrem 13. Lebensjahr hatte sie außerdem durch eine Reihe sexueller Eskapaden rebelliert. Eine davon hatte in Verbindung mit einer universitären Gruppierung gestanden und auf der Polizeiwache geendet. Abby war sexuell sehr aktiv gewesen und hatte ihre Freunde gegeneinander ausgespielt. Alle diese Freunde waren ihrem Vater unakzeptabel erschienen. Barbara und Fred waren mit Abbys Verhalten unterschiedlich umgegangen. Für Fred hatte seine Tochter alles verkörpert, was sein Vater verachtet hatte, und so hatte Fred sich machtlos gefühlt und war gleichzeitig sehr wütend gewesen – ein Zustand, den Abby genossen hatte. Barbara dagegen hatte sich insgeheim mit Abby identifiziert und bewundert, wie diese hatte Männer manipulieren können. Manchmal hatte es Barbara geschienen, als tue Abby das, was sie eigentlich gerne selbst tun würde, wäre sie in der Lage dazu. Freds Wut auf Abbys Verhalten hatte Barbara an die Wut ihres Vaters erinnert. Als Barbara während einer Therapiesitzung über ihre Befürwortung von Abbys Sexualität sprach, erstarrte sie plötzlich. Vor ihrem inneren Auge war ein Bild aufgetaucht: Es war der Schatten eines Mannes, der sie angreifen wollte. Während sie mit dieser Angst arbeitete, erinnerte sie sich an die Art und Weise, mit der ihr Vater sie anzüglich gemustert hatte, wenn sie ein Kleid getragen hatte, und wie er sie in die Brüste gezwickt hatte. Sie fühlte sich, als stünde sie zwischen Abby und Fred, den es ärgerte, dass sie auf Abbys Seite stand. Barbaras Selbsttötungsversuch hatte viele Bedeutungsebenen. In den Sitzungen zu Beginn der Therapie sagte sie, dass sie am Leben bleiben wolle und der Suizidversuch eine Grube sei, aus der sie hinausklettern würde. Dennoch identifizierte sie sich eindeutig mit Abby. In unserer ersten Sitzung sagte sie, Abby sei jetzt eine Stimme in ihrem Kopf, die ihr gute Dinge zuflüstere, wobei sie nicht sagen könne, was diese guten Dinge seien. Vor ihrem Selbsttötungsversuch hatte Barbara keinerlei Bindung mehr zu ihrer Tochter gefühlt. In unserer zweiten Sitzung berichtete sie aber von einem Traum, in dem Abby sie angerufen und gesagt habe, es gehe ihr gut und sie sei in Südfrankreich. Der Anruf sei aber unterbrochen worden. Vier Monate lang waren die Sitzungen überwiegend von Barbaras Wut auf Fred und von Erinnerungen an ihre eigene Kindheit bestimmt. Sie las ein Buch über die Heilung des inneren Kindes und lernte das Spielen. Sie blies Seifenblasen. Und sie erinnerte sich, dass sie eine kompetente Mutter gewesen sei, beispielsweise als sie in Abbys High School eine bessere Anpassung an die krankheitsbedingten Bedürfnisse ihrer Tochter gefordert habe. Sie erkannte Freds Bestehen auf Disziplin als seinen Weg, Liebe zu zeigen. Sobald seine Wut ihr verständlicher wurde, reagierte Barbara anders darauf. Das Leben zu Hause verlief in ruhigeren Bahnen, und Barbara berichtete von positiven Erinnerungen an Abby. Sie besuchte Abbys Grab und fühlte dort Frieden. Fred bereute die Wut, die er immer noch fühlte, und betrachtete Abbys Leben in dem Licht seines Versagens als Vater. Er hatte Angst, auch Barbara zu verlieren. Mein Ziel war, beide bei ihrer Kommunikation zu unterstützen und ihnen zu helfen, gemeinsam eine akzeptable Form der Erinnerung an Abby zu finden, die sie beide teilen konnten. Gemeinsam

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Unterstützung trauernder Eltern – Selbsthilfe oder professionelle Hilfe?

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formulierten wir Abbys Rebellion als eine Rebellion gegen den Tod, nicht gegen Fred. Er begann, ihre Sexualität als Lebenshunger und ihre Manipulation von Männern als einen Akt der Macht und Kontrolle in einem nicht kontrollierbaren, von Hilflosigkeit geprägten Leben zu sehen. Fred war leidenschaftlich an Autorennen interessiert. Mit der maskulinen Art seiner Tochter, dem Tod kämpferisch zu begegnen, konnte er sich identifizieren. Er begann, über ihre Eskapaden zu lachen und sich an die Anforderungen seines Vaters an ihn selbst zu erinnern, der gleichzeitig das Verhalten seines Bruders toleriert hatte. Die Therapie nahm eine ganz neue Wendung, als Barbaras und Freds Sohn (18 Jahre) und seine 16-jährige Braut ein Baby bekamen. Beide fanden, dass sie ihrer Schwiegertochter bessere Eltern seien, als sie es für Abby jemals hätten sein können. Dieses Baby war für beide eine zweite Chance. Aber diese Geschichte ist lang und soll hier nicht erzählt werden. Die Trauer von Barbara und Fred war schwierig und oft dysfunktional, da ihr Leben und ihr Familiensystem dysfunktional waren. Während ihrer Therapie gelang es ihnen aber, eine dauerhafte Biografie ihrer selbst und ihrer Tochter aufzubauen und zu gestalten. Sie integrierten Abbys Leben und Tod in eine neue Geschichte, die es ihnen erlaubte, die Beziehung zu ihrer Tochter als ein positives Element in ihrem Leben fortdauern zu lassen.

Schlussfolgerung Selbsthilfe und professionelle Hilfe haben ihre Stärke in unterschiedlichen Bereichen. Ich habe in diesem Beitrag zwei Denkansätze in Bezug auf Trauer vorgestellt, die jeweils die unterschiedlichen Vorteile dieser beiden Methoden verdeutlichen. Begreifen wir die Heilung verwaister Eltern als einen Prozess der Transformation ihrer Beziehung zu dem verstorbenen Kind, so stellen wir fest, dass der Reichtum von Selbsthilfe in dem gemeinschaftlich geteilten Raum veränderter Bindung besteht. Verstehen wir aber Heilung als die Konstruktion einer neuen, dauerhaften Biografie eines jeden Elternteils, des Kindes und des gesamten Familiensystems, so liegt der Reichtum in der Analyse und der Erarbeitung neuer Narrationen. Beides wird durch eine Therapie ermöglicht. Natürlich findet auch im Rahmen der Selbsthilfe die Konstruktion einer dauerhaften Biografie statt. Ebenso gewiss wird auch in der Arbeit zwischen Therapeut und Klient die Bindung an das verstorbene Kind transformiert. Beide Ansätze sind Wege zum gleichen Ziel. Verschiedene Menschen empfinden unterschiedliche Ansätze hilfreich, und ich kenne viele trauernde Eltern, die von beiden Angeboten Gebrauch machen. Übersetzung: Karola Hassall

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Dennis Klass

Literatur Klass, D. (1996). The deceased child in the psychic and social worlds of bereaved parents during the resolution of grief. In D. Klass, P. R. Silverman, S. Nickman (Eds.) (1996). Continuing bonds. New understandings of grief (pp. 199–215). London u. a.: Taylor & Francis. Klass, D. (1999). The spiritual lives of bereaved parents. Philadelphia: Brunner/Mazel. Walter, T. (1996). A new model of grief. Bereavement and biography. Mortality, 1 (1), 7–25.

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Hubertus Busch und Reinhard Buyer

Das Unmögliche gangbar machen Eltern erleben den Tod eines Kindes

»Und wie geht es jetzt weiter?« So fragte die Mutter nach dem Arztgespräch, in dem ihr und ihrem Mann mitgeteilt worden war, dass man nun die Hirntoddiagnostik bei ihrer Tochter durchführen werde. Mehrere Tage musste gewartet werden, bis die Medikamente im Blut so weit abgebaut waren, dass sie keine Auswirkungen mehr auf das Untersuchungsergebnis haben konnten. Die Familie des fast sechs Jahre alten Mädchens stand am Bett ihres Kindes und schaute mich an, fragend, suchend, verzweifelt, schweigend. Die Eltern, der Bruder, die Großeltern waren da, und auch ein Nachbar und Freund der Familie. Normalerweise haben nicht so viele Angehörige gleichzeitig Zutritt zur Intensivstation. Aber wenn ein Kind stirbt, dann ist alles anders, dann gelten andere Regeln. Wie ein Albtraum war für die Familie alles, was in diesen wenigen Tagen geschehen war. Sophia hatte einen scheinbar normalen Erkältungsinfekt gehabt. Für die Eltern auffallend war jedoch die ängstliche Unruhe ihrer Tochter gewesen. Vorsorglich war die Mutter am Nachmittag noch mit ihr beim Hausarzt gewesen. Als sie am Abend zu Bett hatte gehen sollen, hatten sich plötzlich ihre Atemwege verschlossen, und sie hatte keine Luft mehr bekommen. Trotz sofortiger Notfallmaßnahmen durch den Vater und den schnell anwesenden Notarzt hatte dem Kind letztlich nicht mehr geholfen werden können. Sophia war in die Klinik gekommen und auf der Intensivstation beatmet worden. Ihre Herz-Kreislauf-Situation war nach der Reanimation durch den Notarzt zunächst stabil gewesen. Nach wenigen Tagen hatte sich aber leider der Anfangsverdacht bestätigt: Das Gehirn des Mädchens war zu lange ohne ausreichende Sauerstoffversorgung gewesen. Bei Sophia wurde der Hirntod festgestellt. Die genaue medizinische Ursache für diese Tragödie konnte letztlich nicht endgültig geklärt werden. Die Frage der Mutter, wie es jetzt weitergehe, stand im Raum.

Die Frage der Mutter von Sophia im Fallbeispiel hat einen dreifachen Bezugsrahmen. Zunächst bezog sich die Frage auf die Situation nach der Hirntoddiagnostik: Wie geht es jetzt weiter? Schaltet man alle Geräte ab? Ist das nicht furchtbar mit anzusehen? Wird unser Kind Schmerzen haben, spürt es was – oder ist es vielleicht schon gar nicht mehr da mit seiner Seele? Und was machen wir dabei? Was können wir tun? Diese und andere Fragen, Gedanken und Ängste stehen im Raum, sie sind wichtig, und es ist notwendig, ihnen den Platz und die Zeit zu geben, die sie brauchen. Sie können den Betroffenen helfen, sich aus der ohnmächtigen Haltung des Zuschauen-

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Hubertus Busch und Reinhard Buyer

Müssens ein Stück weit zu lösen und zum Handeln zu kommen und so vielleicht noch etwas Wichtiges für den Sterbenden tun zu können. Für uns im Team der Intensivstation ist es eine Aufgabe, das Sterben des Kindes so zu gestalten und zu begleiten, dass es für möglichst alle Beteiligten einen gangbaren Weg durch das Unumgängliche hindurch geben kann. Die Frage der Mutter bezieht sich außerdem auf die Zeit direkt nach dem Tod des Kindes. Das Kind ist noch im Krankenhaus, aber es ist tot und damit ja eigentlich kein Patient mehr für eine Klinik. Dieses Gefühl, mit ihrem verstorbenen Kind nun nicht mehr in der Klinik dazuzugehören, teilen viele Eltern. Manche möchten so schnell wie möglich mit ihrem Kind weg, andere suchen und brauchen noch sehr die vertraute und damit schützende Umgebung, in der ihr Kind die letzte Lebenszeit verbracht hat. Für die Eltern stellen sich Fragen, die mit den nun notwendigen nächsten Schritten zu tun haben. Wie lange bleibt unser Kind noch hier – und wie lange können wir bleiben? Wo kommt unser Kind anschließend hin? Können wir es auch später oder morgen oder übermorgen noch mal sehen? Können Verwandte und Freunde kommen und es sehen? Was müssen wir tun, um die Beerdigung zu regeln? Solche und andere Fragen tauchen oft auf, genauso wie Gedanken, die sich um den Ursache-Wirkungs-Ablauf des Geschehenen drehen: Hätte ich den Tod verhindern können? Habe ich etwas übersehen oder versäumt? Hat jemand anderes, zum Beispiel der Arzt, einen Fehler gemacht? Diese Fragen kommen meist bereits in der Klinik auf und spielen dann später in der Zeit der ersten Trauer oft eine unglaublich intensive und bedeutungsvolle Rolle in der Auseinandersetzung mit dem Verlust. Schließlich reicht die Frage der Mutter aber noch viel weiter in die Zukunft, als es bisher beschrieben ist. Sie berührt die unausweichliche Perspektive eines Lebens ohne das geliebte Kind. Und dieser Gedanke ist absolut unvorstellbar. Mit dem Tod des Kindes ist nichts mehr im Leben so, wie es war – und wie es einmal werden soll, ist völlig unklar und in keiner Weise vorhersagbar.

Unterstützungsmöglichkeiten nach dem Versterben – Erfahrungen aus der Praxis Bevor wir auf die Unterstützungsmöglichkeiten der Eltern im weiteren Verlauf der Trauer eingehen, wollen wir noch einmal den Blick auf die Situation des Sterbens und seine Begleitung lenken. Alles, was hier geschieht und ermöglicht wird, aber auch, was versäumt oder erschwert wird, hat Bedeutung für den weiteren Weg durch die Trauer. Der Tod eines Kindes stürzt Mütter, Väter und Geschwisterkinder in eine hoffnungslose Überforderungs- und Stresssituation. Was ist zu tun? Was ist zu fragen? Wie kann man mit den aufkommenden, wechselnden Gefühlen, wie mit der Ohnmacht umgehen? Blitzschnelle Gedanken und Fragen rasen durch den Kopf, oder es entsteht eine bleierne Leere, und es ist, als liefe man im Nebel, ohne Kontakt zur übrigen Welt.

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Das Unmögliche gangbar machen

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Dennoch, und das ist von großer Bedeutung, werden viele Details der Umgebung wahrgenommen und geradezu ins Gedächtnis eingebrannt. Jedes Wort wird gehört, auch wenn nicht alles in seiner Bedeutung eingeordnet werden kann, manches davon wird unauslöschbar in der Erinnerung gespeichert. »Was ist jetzt zu tun, was später nicht mehr getan werden kann?«, hat ein Freund des Vaters eines sterbenden Kindes gefragt. Diese Frage ist für uns zu einer zentralen Schlüsselfrage geworden. Worauf kommt es jetzt in diesem Moment an? Was brauchen die betroffene Mutter, der Vater, was benötigen die Schwester, der Bruder in dieser Situation? »Ich bin für Sie da, ich kann Sie ein Stück in dieser Situation begleiten.« Das könnte eine erste Ansprache an die Betroffenen sein. Eine offene Person als Gegenüber mit einem offenen Angebot der Begleitung kann helfen, in der tragisch verworrenen Situation zumindestens einen Adressaten für all das innere Durcheinander zu finden. Nun erleidet jeder Mensch so ein Schicksal auf seine ganz einmalige Weise. Die Umstände, die Vorgeschichte, das soziale Umfeld, die persönliche Verfasstheit – alles spielt eine wesentliche Rolle. Auf was ist zu achten? Das Erste und Wichtigste erscheint uns, den Betroffenen das Gefühl von Sicherheit und Halt zu geben. Da ist jemand, der weicht nicht aus und läuft nicht weg. Da ist jemand, der sieht, was ist, und vielleicht weiß er einen Weg. Er kann die Bedeutung dessen, was geschehen ist, einigermaßen einschätzen. Ich kann mich an ihn halten. In der Rolle als Seelsorger kann ich für die Betroffenen ein Gegenüber sein und damit zu so etwas wie einem Lotsen werden. Ein Lotse allerdings, und das ist das Wichtige, der das Schiff nicht in seine Richtung und seinen Weg bringt, sondern die Betroffenen zu Kapitänen auf ihrem eigenen Schiff macht. Das ist nicht so einfach, wie es sich anhört. Zumal die Frage ist, ob – im Bild gesprochen – die Kapitäne überhaupt in der Lage sind, Steuerungsfunktionen auszuüben und Entscheidungen zu treffen. Hier kommt nun den Faktoren Raum und Zeit eine entscheidende Bedeutung zu. Wenn es gelingt, den Betroffenen genügend Zeit und geschützte, wertschätzend gestaltete Räume zur Verfügung zu stellen, dann kann etwas Wertvolles geschehen. Es kann geschehen, dass die Angehörigen spüren, was sie jetzt in dieser Situation eigentlich brauchen und wollen. Dass sie aus der Fremdbestimmung, die man bei einem Klinikaufenthalt erlebt, zu einer gewissen Autonomie kommen und dass sie ihre Bedürfnisse äußern können. Das ist die Grundlage, um miteinander einen gangbaren Weg finden zu können. In diesem Schutzraum, in dieser zur Verfügung gestellten Zeit geschehen entscheidende Dinge: Da wird Kontakt mit dem verstorbenen Kind aufgenommen, und manchmal erscheint es fast so, als würde es noch leben. Es wird mit und zu ihm gesprochen, es wird gestreichelt, geküsst und im Arm gehalten, oft für lange Zeit, im Bewusstsein, dass es dafür in Zukunft keine Möglichkeit mehr geben wird. Es wird so intensiv betrachtet, wie vielleicht nie zuvor, jede Faser seines Gesichtsausdrucks wird sich eingeprägt. Es wird gewaschen und schön angezogen, und dabei fallen erschütternde Sätze wie: »Es tut uns so leid, dass wir es nicht geschafft haben, dich groß zu ziehen, entschuldige bitte.« Da wird manche mit dem Kind erlebte Geschichte erzählt,

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Hubertus Busch und Reinhard Buyer

es wird dabei gelacht – und es wird geweint. In einem Segnungs- oder Abschiedsritual kann sich die Situation noch einmal konzentrieren. Unserer Vorstellung nach gehört es zu den letzten wichtigen Dingen, die man noch für das geliebte Kind tun kann, nämlich es der schützenden und bewahrenden Liebe des Göttlichen, des Höchsten anzuvertrauen. Noch ist das Kind da, sichtbar und spürbar, und doch hat es sich bereits von hier verabschiedet. Dieser Zustand kann in einem solchen Ritual aufgenommen, ausgedrückt und symbolhaft begangen werden. Diese Zeit mit dem Kind ist eine kostbare, unwiederbringliche Zeit. Hier geht es um das Intimste einer Beziehung. Die Zeit steht still, alles andere ist unwichtig. Nur der Augenblick, die Angehörigen und das Kind sind von Bedeutung. Die Unterstützung der Eltern liegt also zum einen darin, für einen würdigen Rahmen und ausreichend Zeit zu sorgen, zum anderen aber auch Angebote eines gestalteten Abschieds zu machen und zusätzlich für geordnete organisatorische Abläufe zu sorgen. Alle organisatorischen Ungereimtheiten, wie unklare Zuständigkeiten, fehlende Unterstützung oder gegenläufige Informationen und Meinungen, erschweren die Trauer. Genauso haben alle hilfreichen Unterstützungen in dieser Zeit eine positive Auswirkung für den Weg durch die Trauer. Sie können den Eltern auf dem Weg durch das stürmische Meer der Trauer für bestimmte Momente das Gefühl von Halt und Klarheit geben.

Unterstützungsmöglichkeiten in der Trauer Die erste Zeit der Trauer wird im Nachhinein von den Eltern oft so beschrieben, dass sie gar nicht wissen, wie sie sie überhaupt überlebt haben. Manche arbeiten bald nach dem Tod ihres Kindes wieder, gerade Männer stürzen sich mitunter regelrecht in die Arbeit, andere sind für längere Zeiten nicht arbeitsfähig. In dieser Zeit, in der der Blick immer wieder in die Vergangenheit hin zu dem Leben und Sterben des Kindes geht und eine Zukunft ohne dieses Kind noch überhaupt nicht vorstellbar ist, ist es hilfreich, dass Eltern die Geschichte ihres Kindes erzählen können – und zwar immer wieder. Es ist ein großes Bedürfnis, vom Kind zu erzählen. Auch wenn man als Zuhörer schon vieles gehört hat, ist es gut, wenn man auch weiterhin sein Ohr und sein Herz den Eltern zur Verfügung stellen kann. Immer wieder erzählen zu können, hilft zu begreifen, was da eigentlich geschehen ist. Das Reden stellt in kleinen Schritten Sinnzusammenhänge her und versucht das (in Worte) zu fassen, was letztlich unfassbar bleibt. Zudem sollte der Hausarzt in dieser Zeit ein guter Begleiter für die Eltern sein. Trauer hat auch eine körperliche Seite, mit der sie sich zeigt. Der Körper ist geschwächt, anfälliger für Infekte und andere Erkrankungen. Deswegen ist ein geschulter begleitender Blick auf den Körper wichtig, und die Mutter oder der Vater haben einen professionellen Menschen, dem sie in Abständen in ihrer Trauer immer wieder begegnen,

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der sie kennt und mit dem sie sich bei Bedarf austauschen können. Das setzt natürlich voraus, dass der Arzt dazu bereit ist, sich ernsthaft mit trauernden Menschen auseinanderzusetzen und sie in seiner Arztrolle zu begleiten. Öfters suchen Eltern auch die Hilfe von Psychotherapeuten als Unterstützung in der Trauer. Dies ist vor allem sinnvoll, wenn besondere belastende Situationen, wie zum Beispiel traumatisierende Todesumstände, mehrfache Verlusterfahrungen, eigene Erkrankung oder massive Schuldgefühle, die Trauer erschweren, blockieren oder entgleisen lassen. Mitunter kann auch der Aufenthalt in einer psychosomatischen Klinik als Akutmaßnahme notwendig sein. Seit mehreren Jahren gibt es Reha-Angebote für Familien, in denen ein Kind gestorben ist. Diese Familien-Rehas finden großen Zuspruch und werden von den allermeisten Müttern und Vätern als wertvolle Hilfe sowohl für sich selbst als auch für das gesamte Familiensystem erlebt. Eltern erzählen dennoch immer wieder, dass es gerade in der ersten Zeit letztlich keine Hilfe gibt, denn das Leid und den Schmerz, den sie erleben, kann nichts wirklich lindern. Dass das so ist, gilt es zu akzeptieren. Mitunter formulieren Eltern sogar deutlich, dass sie auch nichts von diesem unsagbaren Schmerz missen wollten, schließlich sind sie durch ihn ihrem Kind verbunden und nahe. Trotzdem gibt es Hilfreiches, was man in der Begegnung mit trauernden Eltern anbieten kann. So ist alles, was dazu beiträgt, normale Alltagsabläufe in der Familie zu erhalten, ein Segen. Nachbarn oder Freunde können zum Beispiel für ein warmes Mittagessen sorgen, sie können helfen, die Geschwisterkinder in den Kindergarten zu bringen, sie in der Schule zu unterstützen, sie zum Sport im Verein oder zu ihren Freunden zu bringen usw. Wenn möglichst viel von dem erhalten bleibt, was den Alltag nicht nur des verstorbenen, sondern auch seiner Geschwister geprägt hat, unterstützt und trägt das die Kinder in der Zeit der Trauer – und es entlastet die Eltern. Zeit ist im Zusammenhang mit Trauer immer relativ zu verstehen. Jede Mutter und jeder Vater hat ihr/sein eigenes Tempo, ihre/seine eigenen Wege, ihre/seine eigenen Zeiträume, in denen sie/er trauert. Diese gilt es in der Begleitung zu erkennen und zu unterstützen. Erwartungen, dass die Trauer in einem bestimmten Zeitraum erledigt sei, wenn man nur aktiv genug trauere, sind nicht angemessen. Viele Eltern suchen in ihrer Trauer den Kontakt zu anderen betroffenen Eltern. Hier spielen die Verwaisten Eltern als Selbsthilfeorganisation eine wesentliche Rolle. In ganz Deutschland existiert ein Netzwerk von Gruppen für trauernde Eltern. In diesen Gruppen können Eltern einen guten Ort für sich, für ihr verstorbenes Kind und für ihre Trauer um dieses Kind finden. Auch wenn jede Mutter und jeder Vater seine eigene Geschichte hat, ist es eine besondere und wohltuende Erfahrung, unter Gleichbetroffenen sein und erzählen zu können. Niemand muss sich erklären oder rechtfertigen für das, was er empfindet, was er denkt, was er erlebt – und sei es auch scheinbar noch so verrückt. In der Gruppe ist niemand allein damit, andere Betroffene kennen solche oder ähnliche Gedanken und Erfahrungen auch. Niemand muss sich in Frage stellen lassen, weil er nach fünf Jahren immer noch trauert. Und während es

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im normalen Lebensalltag nach einem Jahr kaum noch Menschen gibt, die mit den Eltern über den Verlust ihres Kindes reden mögen, so ist das in diesen Gruppen wohltuend anders. Trauernde Eltern sind miteinander unterwegs in einer ganz eigenen Form von Solidargemeinschaft, sich gegenseitig ermutigend, stärkend, ertragend und stützend. Diese Hilfe ist für viele Betroffene ein wichtiger Augenblick auf ihrem Weg durch die Trauer. Gleichwohl muss man auch erwähnen, dass es Eltern gibt, die ihren Weg bewusst ohne solche Gruppen gehen. Sie haben andere Formen und Hilfen, mit denen sie in ihrer Trauer leben. Es ist wichtig, für sich selbst herauszufinden und auszuprobieren, was in der Trauer hilfreich ist und was nicht. Im Laufe der Zeit – und dabei geht es um Jahre – verändert sich die Trauer um das verstorbene Kind. Irgendwann denken die Eltern nicht mehr ständig und überall an ihr Kind. Das kann zunächst erschrecken und Schuldgefühle wecken, weil es wie ein Verrat am eigenen Kind erlebt werden kann. Ähnlich geht es Eltern, wenn sie zum ersten Mal wieder lachen, frei und unbeschwert – wenn auch nur für einen Augenblick. Denn danach sind sie schnell wieder in ihrem Schmerz und in der Realität des Verlustes angekommen. Dennoch sind solche Veränderungen wichtige Schritte auf dem Trauerweg. Neben den Schmerz und die große Sehnsucht nach ihrem Kind tritt zunehmend auch die Dankbarkeit in die Erinnerung der Eltern. Eine Dankbarkeit dafür, dass sie dieses Kind haben durften und dass es ihr Leben so einzigartig wertvoll gemacht hat. War das Leben lange Zeit nur vom Verlust bestimmt und geprägt, merken Eltern irgendwann zunehmend, dass sie ihr eigenes Leben wieder aufnehmen können und dürfen. Sie begreifen, dass sie ihr Kind dadurch nicht aufgeben müssen. Im Gegenteil, sie leben ihr eigenes Leben, aber sie leben es gemeinsam mit ihrem Kind, tief verbunden in einer neu gewonnenen Form der Beziehung zu ihm. Die Mutter aus dem diesem Beitrag vorangestellten Fallbeispiel formulierte das nach mehreren Jahren in einem Brief so: »Aus meinem Leben ohne meine Tochter ist im Laufe der Zeit ein Leben mit dem Verlust meiner Tochter geworden. Heute kann ich wieder mein eigenes Leben leben, ich kann lachen und mich freuen, ich unternehme viel und nehme am Leben teil – aber ich tue es mit meinem verstorbenen Kind. Sie ist immer da und immer dabei. Das, was geschehen ist, ist geschehen und bleibt als die Erfahrung, die mein Leben am meisten geprägt hat, immer gegenwärtig. Das heißt aber nicht, dass es ständig im Vordergrund wäre, das nicht, ich denke öfters überhaupt nicht dran – aber es ist trotzdem da.« Wenn sich die Trauer von Eltern in einer solchen Weise verändert hat, sprechen wir von einer integrierten Trauer. Oft haben sich dann auch ritualisierte Formen des Umgangs mit dem Verlust entwickelt. Das ist vor allem an bestimmten Tagen und Zeiten (zum Beispiel Geburtstag, Todestag, Weihnachten) oder auch an bestimmten Orten (zum Beispiel Friedhof, Ort des Sterbens, früherer gemeinsamer Urlaubsort) von wichtiger Bedeutung. Solche Rituale geben dem Verstorbenen und der Trauer um ihn einen festen und verlässlichen Raum. Sie verhindern, dass das tote Kind in Vergessenheit gerät, und sie helfen immer wieder aufs Neue, gangbare Wege durch die Zeiten der Trauer und des Schmerzes gehen zu können.

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In diesem Zusammenhang haben auch regelmäßig wiederkehrende Gedenkfeiern oder Gedenkgottesdienste eine wichtige Funktion. Viele Familien, die an unserem jährlichen Gedenkgottesdienst für alle, die um ein Kind trauern, teilnehmen, sagen, dass ihnen dieser Tag wichtig ist. Er ist der Tag ihres Kindes und er wird jedes Jahr ganz bewusst von der ganzen Familie frei gehalten.

Ein zweiter Blick auf Sophias Eltern Am Anfang dieses Beitrags standen der Tod von Sophia und die Frage ihrer Mutter: »Wie geht es jetzt weiter?« Nun möchten wir noch einmal auf das skizzierte Fallbeispiel blicken, aber aus Sicht der Frage: Wie ist es weitergegangen? In einem Kontakt mehrere Jahre nach dem Tod Sophias konnte die Mutter davon berichten, wie es in ihrem Leben und dem ihrer Familie weitergegangen war. Jeder in der Familie konnte für sich wieder am Leben teilhaben, mit dem Gefühl, dass dieses Weiterleben gut und wertvoll sei, dass es so sein dürfe und auch von Sophia so gewollt sei. Jeder, Mutter, Vater und Bruder hatten lange, ganz eigene und schwierige Trauerwege zu gehen – und es war klar, dass diese Wege nie ganz aufhören, sondern die drei Hinterbliebenen auf ihre jeweils eigene Art lebenslang begleiten werden. Jeder führte für sich sein Leben in Verbundenheit mit der verstorbenen Tochter und Schwester und immer wieder taten sie es auch gemeinsam als Familie. Auch nach langer Zeit erinnerte sich die Mutter an die Zeit in der Klinik, an jeden einzelnen Tag und was an ihm geschehen war, an viele Begegnungen und Gespräche, an einzelne Sätze, Worte, Blicke und Gesten, hilfreiche und belastende. Sie war froh, dass wir Sophia getauft hatten, und auch wenn die Taufe auf der Intensivstation zwischen all den Geräten stattgefunden hatte, war es für sie eine zutiefst spirituelle Erfahrung gewesen. In diesem Ritual hatte sich für sie die Erfahrung von Leben in all seiner Verletzlichkeit, aber auch in seiner ganzen Intensität und Kraft verdichtet. Die Taufe war für sie zu einem Trittstein der Hoffnung in der Trauer geworden. Es gab auch Erfahrungen, die die Situation der Familie zusätzlich belastet haben. Aufgrund der Hektik, die an Sophias Todestag auf der Intensivstation geherrscht hatte, waren die Angehörigen relativ bald nach dem Tod ihres Kindes nach Hause gegangen. Später hatten sie gemerkt, dass es zu früh gewesen war, sie hätten noch länger bei ihr bleiben wollen. Der Gedanke, dass sie ihre Tochter allein gelassen haben, war einige Zeit sehr belastend gewesen. Das verstorbene Kind vom Bestatter nach Hause bringen zu lassen, war im Fall Sophias nicht möglich gewesen, weil die Frage einer Obduktion noch nicht endgültig geklärt gewesen war. Als die Eltern am nächsten Tag zu ihrem Kind in den Abschiedsraum der Klinik gekommen waren, hatten die Stunden dazwischen gelegen, die sie eigentlich noch gern mit ihr gehabt hätten. Ein anderes Thema, das vor allem den Vater sehr stark beschäftigt hatte, war das

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Gefühl von Schuld gewesen. Er sagte: »Ich empfinde es wie eine Schuld, dass ich ihr nicht helfen konnte.« Dieses Schuldempfinden hatte Sophias Vater, obwohl er wirklich alles ihm Mögliche getan hatte.

Der Bericht von Sophias Mutter zeigt, welch wichtige Rolle die Erinnerung an diejenige Zeit, in der das Kind in der Klinik gestorben ist, für den Trauerprozess der Eltern spielt, wie intensiv sich alles eingeprägt hat, was in dieser Zeit dort passiert ist oder auch nicht. Es wird zudem klar, wie wesentlich es ist, dass die Eltern die Möglichkeit haben, noch so viel Zeit bei ihrem gestorbenen Kind in der Klinik bleiben zu können, wie es für sie nötig ist Beim Vater von Sophia erscheint darüber hinaus eine Form von Schuldgefühl, die mit einem tief verwurzelten Menschheitserleben zu tun hat, nämlich der Aufgabe der Eltern, ihre Kinder großzuziehen und sie ins Leben hinein zu begleiten. Wenn das Schicksal diese Aufgabe verwehrt, bleiben die Eltern mit leeren Händen und unerledigter Aufgabe zurück. Die Frage nach der Schuld taucht bei fast allen trauernden Eltern in irgendeiner Form auf. An dieser Stelle möchten wir nicht weiter auf dieses Thema eingehen, aber gern auf das Arbeitsbuch von Chris Paul (2010) zur Begleitung von Schuldfragen im Trauerprozess hinweisen. Zehn Merksätze zum Schluss 1. Jedes Sterben und jede Trauer ist einzigartig und einmalig, so wie das Leben jedes Menschen einzigartig ist. 2. Jedes Kind ist einzigartig für seine Eltern – und das bleibt es auf besondere Weise auch nach seinem Tod. 3. Alle Begegnungen, Handlungen und Äußerungen, die die Eltern in der Zeit des Sterbens ihres Kindes durch die Menschen um sie herum erfahren, haben eine Auswirkung und Bedeutung (unterstützend oder belastend) für die Trauer. 4. Eine gute Sterbebegleitung kann den Weg in und durch die Trauer unterstützen. 5. Das Leben von Eltern nach dem Tod ihres Kindes ist eine kaum zu beschreibende Herausforderung, eigentlich ist es eine Unmöglichkeit. 6. Eltern sollten immer wieder Raum haben, von ihrem verstorbenen Kind erzählen zu dürfen. 7. Alles, was den Eltern hilft, sich an ihr Kind zu erinnern und die Bindung an das verstorbene Kind über den Tod hinaus zu spüren, zu pflegen und zu vertiefen, sollte unterstützt werden. 8. Wenn Eltern in ihrer Trauer signalisieren, dass sie sich wieder mehr dem Leben zuwenden, sollten sie darin ermutigt und bestärkt werden. 9. Die Trauer um das verstorbene Kind begleitet die Eltern lebenslang, insofern der Verlust eine Erfahrung ist, die das gesamte Leben begleitet und als solche immer wieder akut spürbar werden kann. Dennoch gibt es so etwas wie ein Ende der Trauerzeit, und zwar etwa dann, wenn die Eltern sich wieder ihrem eigenen Leben zugewendet haben und ihre Trauer integriert und oft auch ritualisiert ist.

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10. Auch wenn das Kind schon lange tot ist, tut es den Eltern gut, wenn man an ihr Kind denkt und das auch zeigt. Es hilft gegen die Angst, dass ihr Kind einmal vergessen sein könnte.

Literatur Paul, C. (2010). Schuld/Macht/Sinn. Arbeitsbuch für die Begleitung von Schuldfragen im Trauerprozess. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

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Marta war zwölf, ihr Bruder David 14 Jahre alt, als ihre Familie von ihrem kleinen Heimatort in eine 500 Kilometer entfernte, größere Stadt zog, weil ihr Vater hoffte, dort Arbeit zu finden. Ihre Mutter Gertie war deswegen sehr unglücklich, denn sie hatte ihr ganzes Leben in diesem kleinen Städtchen zugebracht und sich fast jeden Tag mit ihren beiden Schwestern getroffen, die während ihrer depressiven Phasen ihr Rettungsanker gewesen waren. David wollte seinen dortigen Fußballverein nicht aufgeben; Marta hatte Angst davor, ihre beste Freundin verlassen zu müssen und auf eine neue Schule zu gehen, wo sie niemanden kannte. Die Pläne des Vaters, Joe Schmidt, für ein neues Leben gingen aber nicht auf. Nur sporadisch fand er schlecht bezahlte Gelegenheitsjobs. Als wäre dies nicht schon schlimm genug, wurde David sehr häufig krank, hatte Fieber und Halsschmerzen. Noch im selben Jahr, in dem sie umgezogen waren, starb er an einer schweren Form von Leukämie. Für eine Beerdigungsfeier hatte die Familie kein Geld, somit kam auch niemand – weder aus dem alten Heimatort noch aus ihrer neuen Gemeinde. Joe und Gertie waren deswegen verbittert. Seiner Frau und Tochter gegenüber erklärte Joe mit Nachdruck, dass sie alle weder weinen noch über David sprechen würden: »Tränen oder Worte bringen ihn uns nicht zurück.« Als Gertie fragte, ob sie ihre Schwestern besuchen dürfe, antwortete Joe: »Was wissen die schon über unser Leben?« Auch wollte er nicht, dass irgendwer in Martas Schule von Davids Tod erfuhr. Daraufhin klagte Gertie: »Warum gerade wir? Immer trifft es uns! Nie ist irgendetwas gut in unserem Leben!«, und glitt zurück in die Depression. Im Umgang mit Mitschülern oder Lehrern war Marta ängstlich und verunsichert. Sie schaffte es nicht, ihre Hausaufgaben zu erledigen, litt unter Kopfschmerzen und Schlafstörungen. An den meisten Tagen blieb sie zu Hause oder wanderte durch den Park, anstatt in die Schule zu gehen. Sie wünschte sich, dass sie diejenige wäre, die gestorben wäre – dann würde wenigstens ihr großer Bruder mit seinem Fußballspiel etwas Freude in das Leben ihrer Eltern bringen, wie er es früher getan hatte. Familie Martens lebte auch in einer kleinen Stadt. Peter Martens hatte dort eine eigene Reparaturwerkstatt für Haushaltsgeräte und war Vorsitzender des örtlichen Rotary Clubs. Seine Frau Sally arbeitete Teilzeit im Geschäft und kümmerte sich um die vier Kinder, drei Töchter im Teenageralter (Carol, 13; Fran, 14; Suzanne, 16 Jahre alt) sowie den achtjährigen Sohn Sam. Mit vier Jahren war bei Sam eine seltene und zum Tod führende Bluterkrankung diagnostiziert worden. Bis zu seinem neunten Geburtstag ging es Sam sehr gut, doch dann

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starb er innerhalb weniger Wochen. Fast hundert Menschen – nahe und entfernte Verwandte, Freunde aller Altersgruppen – kamen zur Beisetzung, boten danach immer wieder ihre Hilfe an oder brachten Essen vorbei. Peter and Sally schlossen für eine Weile das Geschäft und fuhren mit den Mädchen an ihren Lieblingsstrand, den sie »Refuge Rock« genannt hatten. Dort erzählten sie sich stundenlang ihre liebsten »Sam Stories«, weinten und lachten zusammen. Carol und Sam hatten eine besonders enge Beziehung gehabt. Ihre Eltern sahen deutlich, wie groß Carols Kummer war, und konsultierten nach ihrer Rückkehr einen Freund der Familie, der selbst in der Beratung tätig war, wegen Unterstützungsangeboten für ihre Tochter. Carol und ihre Schwestern zeigten weiterhin gute Leistungen in der Schule und bei ihren außercurricularen Aktivitäten. Alle drei fanden Halt und Unterstützung durch ihre engen Freunde und ihre Lehrer, die gut über die Familiensituation informiert waren.

Familiale Funktionalität und Trauer Drei weit gefasste Kategorien von Faktoren beeinflussen Trauer in Familien: individuelle Variablen, welche auf charakteristischen Merkmalen der Trauernden beruhen, wie etwa die Beziehung zwischen dem verstorbenen Kind und den anderen Familienmitgliedern; Umfeld-bezogene Faktoren (soziale, familiäre und kulturelle) und situative Faktoren, welche mit den Umständen des Todes zusammenhängen. Alle Faktoren interagieren im Trauerkontext. Dieses Kapitel widmet sich der Familie als kritische Umfeld-Variable in der Trauer um ein Geschwister. Die Familie ist ein System, in dem die Summe (die Familie) mehr ist als die Summe ihrer Teile (die Familienmitglieder). Dies bedeutet, dass die Familie mehr ist als die bloße Zusammenstellung individueller Personen. Das System Familie hat ein Eigenleben, das mehr als die zu ihr gehörenden Individuen reflektiert. Daher führt der Tod eines Kindes zu einer völlig veränderten Familie. Die Dimensionen der Funktionalität von Familien ereignen sich entlang eines Kontinuums von Funktionalität, so dass die Interaktionen eher entlang dieses Kontinuums variieren, als dass sie als positiv/negativ oder als gut/schlecht zu bezeichnen wären. In Familien, in welchen Gedanken und Meinungen frei und ohne Furcht vor gegenseitigen Beschuldigungen ausgesprochen werden können; eine große Bandbreite von Gefühlen benannt wird und Unterschiede toleriert werden; Rollen flexibel sind; das Muster für den Umgang mit Herausforderungen in der Suche nach Problemlösungen besteht und nicht in der Äußerung von Anschuldigungen; die einzelnen Mitglieder fähig sind, andere um Hilfe zu bitten und diese auch anzunehmen; kontroverse Überzeugungen und Werte freimütig geäußert und besprochen werden – in solchen Familien sind alle Mitglieder, inklusive der Kinder, in größerem Maße fähig, mit ihrem tiefen Kummer umzugehen und sich gegenseitig zu unterstützen (Davies, Reimer, Brown u. Martens, 1995; Davies, 1999). Die oben beschriebenen Familien von Marta und Carol veranschaulichen unterschiedliche Level familialer Funktionstüchtigkeit. In Martas Familie erteilten sie und

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ihre Eltern sich gegenseitig kaum Auskunft übereinander, auch nicht über ihre Gefühle. Zudem bestand der Vater darauf, mit niemandem außerhalb der Familie über Familienangelegenheiten zu sprechen. Selbst suchte die Familie nicht nach externer Unterstützung, nahm aber den Menschen aus ihrem Heimatort die fehlenden Hilfsangebote übel. Im Gegensatz dazu sprach man in Carols Familie offen über seine Erlebnisse mit und Gefühle für Sam, Erlebnisse wurden mit anderen geteilt. Die Familie suchte Unterstützung, wenn sie diese brauchte, und sie war dankbar für gegebene Hilfen. Martas und Carols Trauererleben konnten unterschiedlicher kaum sein. Wenn es darum geht, einem trauernden Geschwister zu helfen, dann sollten professionelle Berater die Funktionalität der entsprechenden Familie evaluieren und dabei beachten, dass dies bei manchen Familien – und damit auch die Arbeit mit diesen Familien – schwieriger ist als bei anderen (Kissane et al., 2003). Dabei ist es wichtig, zu untersuchen, ob die Mitglieder einer Familie sich eher darauf konzentrieren, sich gegenseitig zu unterstützen, oder ob sie sich jeweils um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern wollen. Es hat den Anschein, dass die Individuen in Martas Familie eher sehr zurückhaltend darin sind, ihre Ansichten in Gegenwart der anderen zu äußern; höchstwahrscheinlich würde der Vater die Rolle des Wortführers ergreifen. Daher ist es essenziell herauszufinden, ob Marta und ihre Mutter die Auffassungen Joes teilen, und zwar, indem Gespräche mit allen drei Familienmitgliedern stattfinden. Die Empfehlung, an Trauergruppen teilzunehmen, wird sich bei eher geschlossenen Familien wahrscheinlich nicht als tragbares Konzept erweisen; der Aufbau von Vertrauen und einer engen Beziehung zu einem professionellen Berater ist hier daher die angemessene Strategie. Bei geringerer familialer Funktionalität sollten Beratende nie mehr als eine potenzielle Ressource auf einmal ansprechen und aufmerksam beobachten, inwiefern die einzelnen Vorschläge Disruptionen auslösen. Bei besser funktionierenden Familien kann auch eine ganze Reihe von Optionen gleichzeitig vorgestellt und besprochen werden. Die weitaus meisten Familien schätzen die Möglichkeit, ihre Geschichte zu erzählen. In einigen Familien zeigt sich eine Tendenz zur Repetition der Geschichten, und die Gefühle, die mit diesen assoziiert sind, treten wieder an die Oberfläche. Daher ist das Zuhören ein zentraler Aspekt in der Begleitung aller trauernden Familien. Beachtet werden sollte, dass die meisten Familien deshalb ihre Geschichten wiederholt erzählen, weil sie sich davon ein besseres Verstehen erhoffen, und nicht, weil sie darin unterstützt werden wollen, an der Funktionalität ihrer Familie etwas zu ändern. Für alle Familien ist es schwierig, die Vergangenheit in die Gegenwart zu inkorporieren; manche sind gegen eine Reorganisation resistent (Panke u. Ferrell, 2010; Marshall u. Davies, 2011). Sie treten auf der Stelle, sind traurig, deprimiert oder zornig, so wie Gertie. Zudem zeigen solche Familien kaum Toleranz gegenüber ihren eigenen Reaktionen oder denen anderer, wie das Beispiel von Joe zeigt. Andere Familien wiederum wollen die Veränderungen, die stattgefunden haben, bilanzieren, die Bedürfnisse der einzelnen Familienmitglieder identifizieren – so wie es die Martens’ in Bezug auf Carol getan haben –, und sie wollen ihre Erfahrungen für ein vorwärtsgewandtes Leben nutzen.

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Familien mit eher ausgeprägter familialer Funktionstüchtigkeit können sich besser auf die Trauerreaktionen der hinterbliebenen Geschwister fokussieren (Davies, Reimer, Brown u. Martens, 1995; Davies, 1999).

Unterstützung trauernder Geschwister Geschwister eines verstorbenen Kindes nennt man »forgotten grievers«, die vergessenen Trauernden1. Beim Tod eines Bruders oder einer Schwester wird ihnen in der Regel keine Aufmerksamkeit geschenkt – nicht, weil sie ihren Eltern nichts bedeuten, sondern weil diese so von ihrer Trauer eingenommen sind, dass die Kraft für die Beachtung der Bedürfnisse der hinterbliebenen Geschwister nicht ausreicht. Die Auswirkungen des Todes eines Geschwisters können lang anhaltend sein (Packman, Horsley, Davies u. Kramer, 2006) und sich in vier Bereichen manifestieren, die sich am besten in Zitaten Betroffener ausdrücken lassen (Davies, 1999; Davies u. Limbo, 2010): »In mir tut alles weh« (»I hurt inside«), »Ich verstehe nicht« (»I don’t understand«), »Ich gehöre nicht dazu« (»I don’t belong«) und »Ich bin nicht gut genug« (»I’m not enough«). Nicht alle Kinder, die ein Geschwister durch den Tod verloren haben, zeigen alle vier Auswirkungen, aber doch die meisten – in unterschiedlicher Ausprägung. »In mir tut alles weh«: Die erste Reaktion enthält alle typischen Emotionen, die mit Trauer assoziiert werden – Traurigkeit, Zorn, Frustration, Einsamkeit, Angst, Schuld, Unruhe und viele weitere für Trauer charakteristische Gefühle. Anders als bei Erwachsenen, die fähig sind, ihre Reaktionen zu benennen, manifestieren sich die Reaktionen von Kindern in unterschiedlichen Verhaltensformen, zum Beispiel Rückzug, Aufmerksamkeit erregen, Ausagieren, Streitlustigkeit, Angst vorm Zubettgehen, Schlafstörungen, Änderungen des Essverhaltens. Im Umgang mit Kindern, die diesen inneren Schmerz ausdrücken, sollten Erwachsene deren Verhalten nicht nur zulassen, sondern die Kinder sogar dazu ermutigen, ihren Schmerz so auszudrücken. Dabei sollten sie sich bemühen, ihre eigenen Gedanken und Gefühle mit ihren Kindern zu teilen, um sie so wissen zu lassen, dass sie in dieser Situation nicht allein sind. Wenn Erwachsene Kindern das Ausleben ihrer Gefühle nicht gestatten, fassen die Kinder dies als Botschaft auf, mit ihren Gefühlen sei etwas nicht in Ordnung. Reagieren die Erwachsenen ungeduldig oder machen sich über die Kinder lustig, werden die Kinder ihre Gefühle unterdrücken. »Ich verstehe nicht«: Das Todeskonzept von Kindern hängt in großem Maße von ihrer kognitiven Entwicklung ab. Sobald Kinder jedoch wissen, dass es so etwas wie den Tod gibt, hat sich ihre Verständniswelt nachhaltig verändert. Wenn sie nicht in klarer, einfacher und ihrem Alter angemessener Weise darin unterstützt werden, zu 1

Anmerkung der Herausgeber: In Deutschland wird in diesem Zusammenhang der Begriff »Schattenkinder« kontrovers diskutiert.

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Betty Davies

verstehen, was geschehen ist, denken sie sich eigene Erklärungen aus, die in der Regel beinhalten, dass sie selbst für den Tod und auch für das Leid ihrer Eltern verantwortlich sind. Ohne Vorgabe von Erklärungsmustern werden ihre Angst und ihre Unsicherheit zunehmen. Berater sollten profunde Kenntnisse zur Einschätzung der kognitiven Entwicklung von Kindern besitzen, angemessene Erklärungen für Geschehenes geben können und offen sein für die Fragen von Kindern (Corr, 2008). »Ich gehöre nicht dazu«: Ein Todesfall in der Familie erschüttert Alltagsroutinen und Lebensmuster. Eltern sind von Kummer überwältigt, vollkommen eingespannt aufgrund organisatorischer Aufgaben und der Sorge für die lebenden Kinder. Die Kinder wiederum sind überfordert von der Hektik und von der Tiefe der Emotionen, denen sie ausgesetzt sind. Oft sind sie verunsichert, wissen nicht, was sie tun sollen – vielleicht möchten sie helfen, aber sie wissen nicht, wie, oder wenn sie es versuchen, wird ihre Mühe nicht anerkannt. Dies gibt ihnen das Gefühl, zu stören oder nicht mehr dazuzugehören. Zudem empfinden sie sich selbst als anders als ihre Spiel- oder Schulkameraden – auch das gibt ihnen ein Gefühl der Nicht-Zugehörigkeit. Eltern sollten darin unterrichtet werden, wie sie ihre Kinder in Familiengespräche und -ereignisse einbeziehen können. »Ich bin nicht gut genug«: In der Annahme, dass sie in irgendeiner Weise für den Kummer ihrer Eltern verantwortlich sind, fühlen Geschwister von verstorbenen Kindern möglicherweise, dass sie nicht genug seien, um ihre Eltern jemals wieder glücklich machen zu können. Vielleicht, so mögen sie denken, war ja der verstorbene Bruder oder die verstorbene Schwester das Lieblingskind der Eltern und es wäre besser gewesen, wenn sie stattdessen gestorben wären. Manche Kinder versuchen dann, so gut wie überhaupt möglich zu sein, um ihren Wert zu beweisen. Ihnen muss das Gefühl vermittelt werden, dass sie so, wie sie sind, etwas ganz Besonderes sind, aber nicht durch Vergleiche mit dem verstorbenen Geschwister. Oft möchten Kinder ihre Eltern nicht noch mit ihrem Kummer belasten, weil diese schon mehr als genug zu tragen haben. Erwachsene können bei Kindern das Gefühl stärken, jemand Besonderer zu sein, wenn sie Interesse an deren Leben zeigen, ihnen versichern, wie wertvoll und einzigartig sie sind. Kindern dieses Gefühl zu geben, ist wahrscheinlich der wichtigste Beitrag, den Familien für deren Adaptation nach dem Tod eines Geschwisters geben können. Faustregeln •• Nutzen Sie die Dimensionen familialer Funktionalität, um die Situation trauernder Familien nach dem Tod eines Kindes einzuschätzen. •• Denken Sie daran, im Verlauf der Zeit Informationen von verschiedenen Familienmitgliedern zuammenzutragen. •• Hören Sie sich die Familiengeschichte aus der Perspektive aller Familienmitglieder an. •• Nutzen Sie die Erhebung der Familienfunktionalität für die Auswahl Ihrer Ansätze (zum Beispiel für das Eröffnen von Ressourcen).

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•• Beachten Sie, dass die Familienfunktionalität das Vermögen beeinflusst, auf die Trauerreaktionen von Kindern (»In mir tut alles weh«, »Ich verstehe nicht«, »Ich gehöre nicht dazu« und »Ich bin nicht gut genug«) einzugehen. •• Die Ziele in der Interaktion mit trauernden Kindern sind: sie zu trösten und ihren Schmerz ernst zu nehmen; Erklärungen und Deutungen anzubieten, wenn sie nicht verstehen; sie einzubeziehen und teilhaben zu lassen, wenn sie sich nicht zugehörig fühlen; sie zu stärken und ihres Wertes zu versichern, wenn sie das Gefühl haben, sie selbst genügen nicht, um ihre Eltern jemals wieder glücklich sein zu lassen. •• Je ausgeprägter die Funktionalität einer Familie ist, desto wahrscheinlicher ist sie in der Lage, die individuellen Bedürfnisse jedes Kindes zu bedenken und optimal darauf einzugehen. •• Die Stärkung der Funktionalität einer Familie leistet einen wertvollen Beitrag für die Unterstützung trauernder Geschwister. Übersetzung: Birgit Jaspers

Literatur Corr, C. A. (2008). Children’s emerging awareness of death. In K. J. Doka, A. S. Tucci (Eds.), Living with Grief. Children and adolescents (pp. 5–17). Washington: Hospice Foundation of America. Davies, B. (1999). Shadows in the sun. The experiences of sibling bereavement in childhood. Philadelphia: Brunner/Mazel. Davies, B., Limbo, R. (2010). The grief of siblings. In N. B. Webb (Ed.), Helping bereaved children. A handbook for practitioners (3rd ed.) (pp. 69–91). New York: Guilford Press. Davies, B., Reimer, J. C., Brown, P., Martens, N. (1995). Fading Away. The experience of transition in families with terminal illness. Amityville: Baywood Publishing. Kissane, D. W., McKenzie, M., McKenzie, D. P., Forbes, A., O’Neill, I., Block, S. (2003). Psychosocial morbidity associated with patterns of family functioning in palliative care. Baseline data from the Family Focused Grief Therapy controlled trial. Palliative Medicine, 17, 527–537. Marshall, B., Davies, B. (2011). Bereavement in children and adults following the death of a sibling. In R. Neimeyer, D. Harris, H. Winokuer, G. Thornton (Eds.), Grief and bereavement in contemporary society. Bridging research and practice (pp. 107–116). London u. New York: Routledge. Packman, W., Horsley, H., Davies, B., Kramer, R. (2006). Sibling bereavement and continuing bonds. Death Studies, 30 (9), 817–841. Panke, J. T., Ferrell, B. R. (2010). The family perspective. In G. Hanks, N. Cherny, N. A. Christakis, M. Fallon, S. Kaasa, R. K. Portenoy (Eds.), Oxford textbook of palliative medicine (4th ed.) (pp. 1437–1444). Oxford: Oxford University Press.

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Katrin Beerwerth

Kinder erleben den Tod eines Geschwisterkindes

Finn und seine Schwester Marie Finn war elf Jahre alt, als seine zwei Jahre jüngere Schwester starb. Finn wusste schon lange, dass dieser Tag kommen würde, denn Marie hatte eine lebensverkürzend verlaufende Stoffwechselerkrankung. Schon früh konnte er auf die Frage hin, welche Krankheit seine Schwester habe, ausführlich Bericht erstatten. Er erzählte, dass sie bettlägerig und blind sei, nicht mehr sprechen könne, häufig zusätzlich Sauerstoff benötige und ihr Körper durch die Spastik verformt sei. Er betonte aber auch, was sie alles noch konnte: schmusen, die Stimmen unterscheiden, Musik hören, lachen. Was er niemandem erzählte, ist, dass er manchmal entsetzlich wütend auf Marie war und dass er sich eine Zeit lang gefragt hat, ob er deswegen schuld am Tod der Schwester sei.

Die Beziehungen von Geschwistern sind sehr unterschiedlich. Manche Geschwister sind sich nicht nur vom Alter her nahe, sondern haben eine enge, liebevolle Beziehung. Manch andere Geschwister scheinen ein distanzierteres Verhältnis zu haben. Doch eins teilen alle Geschwister: Eigentlich sollten die Geschwister die Menschen in ihrem Leben sein, die sie am längsten begleiten, länger als die Eltern und die späteren Partner. Geschwisterliche Beziehungen zählen zu den frühesten Bindungen, die uns prägen. Geschwister haben oft eine unterschiedliche Sichtweise auf das Erleben innerhalb der Familie, doch sie teilen auch vieles: die Eltern, manches Geheimnis, Rituale etc. Sie haben einen gemeinsamen Ursprung und dies verbindet trotz aller geschwisterlichen Differenzen. Geschwisterliche Beziehungen sind stark persönlichkeitsbildend. Wenn eine Schwester/ein Bruder schwer erkrankt oder gar verstirbt, hat dies zwangsläufig einen enormen Einfluss auf das Geschwister, auch bei einer eher distanzierten Beziehung. Hier mag der Überlebende beispielsweise betrauern, dass er nie die Schwester/ den Bruder hatte, den er sich wünschte. In zunehmendem Alter kann auch die Frage auftauchen, ob es nicht gelungen wäre, eine harmonischere Beziehung aufzubauen. Wie den Eltern wird auch den Geschwistern durch den Tod der Schwester/des Bruders ein Stück Zukunft und Hoffnung genommen und die Familie, so wie sie sie kannten, existiert nicht mehr. Mit dem Tod eines Kindes verschiebt sich die Geschwisterkonstellation: Aus einer Schwester/einem Bruder wird ein Einzelkind, ein mittleres Kind ist auf einmal das älteste unter den lebenden Geschwistern, oder dem jüngeren Kind verstirbt der ältere

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Beschützer. Der Tod eines Kindes kann auch zur Folge haben, dass es nur noch ein Geschlecht unter den überlebenden Geschwistern gibt. Es ist für das überlebende Geschwister vonnöten, eine neue Rollenidentität zu entwickeln. Diese schwierige Aufgabe muss das Kind/der Jugendliche in einer Zeit leisten, in der das gesamte Familiensystem um Stabilität ringt. Es kann sich für das Kind/den Jugendlichen bedrohlich anfühlen, erlebt es seine Eltern vielleicht zum ersten Mal völlig erschüttert und nicht als den gewohnten Rückhalt. Insbesondere wenn das überlebende Geschwister nun die Position des verstorbenen Kindes übernimmt. Bis zum Tod war der Bruder/ die Schwester gewohnt, durch das ältere Geschwister Halt und Trost zu finden, nun wenden sich die jüngeren Geschwister an ihn/sie. Bereits mit der Diagnose der Erkrankung ändert sich das Zusammenspiel im Familiensystem. Durch häufige Arztbesuche, Therapien, Krankenhausaufenthalte und die tägliche Pflege des erkrankten Kindes ist die zeitliche Kapazität der Eltern automatisch in einem hohen Maß an das erkrankte Kind gebunden. Die Organisation dieses aufwendigen Alltags mit plötzlich einhergehenden gesundheitlichen Krisen des erkrankten Kindes stellen die Eltern immer wieder vor schwierige Situationen, in denen sie verständlicherweise wenig Aufmerksamkeit auf die Geschwister richten können. Geschwister werden manchmal zwangsweise von Verwandten oder Freunden betreut und sind in dieser instabilen Situation oft obendrein außerhalb des vertrauten Zuhauses untergebracht. Sicherlich erleben dies Geschwister unterschiedlich, auch abhängig von ihrem Alter, doch die Trennung von den Eltern und die Sorge um das Geschwister ist in der Regel sehr belastend. Untersuchungen haben gezeigt, dass betroffene Geschwister an Gesundheitsstörungen wie Schlafstörungen, Essstörungen sowie Kopfschmerzen leiden können, welches aber weder von den Eltern noch von den Kindern in dieser Dimension gesehen wird (Wiemann, 2000). Geschwister lernen früh, sich zurückzunehmen, Verständnis zu zeigen, flexibel zu reagieren. Manchmal übernehmen sie in der Familie die Rolle des Sonnenscheins, des Clowns oder des Vermittlers und sorgen so für einen Ausgleich im Familiensystem. Interessant ist in diesem Zusammenhang der Begriff der Schattenkinder. Mit ihm wird beschrieben, dass die gesunden Geschwister im Schatten der erkrankten leben und dies negative Auswirkungen auf ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit hat. Kinder nehmen Veränderungen in ihrer Familie sehr feinfühlig wahr, auch wenn wir Erwachsenen überzeugt sind, es gut verheimlichen zu können. Eine Atmosphäre, in der das Kind die Unsicherheit, Angst, Verzweiflung und Wut der Eltern spürt, ohne einbezogen zu sein, lässt das Kind einsam zurück, auch wenn hinter dem Verhalten der Eltern die Motivation steckt, die Kinder zu schützen. Alleingelassen versucht das Kind selbst Antworten auf seine Fragen zu finden und mit der eigenen kindlichen Fantasie können sehr angsteinflößende Bilder entstehen. Auf die spürbare Differenz im Familienleben können Kinder mit Rückzug, Verstummen, Aggressionen und Krankwerden reagieren. Eine offene, altersentsprechende Kommunikation über die familiäre Situation, das Krankheitsbild und den Therapieverlauf wirken dem entgegen (Wiemann, 2000). »Kinder brauchen ehrliche Antworten, um

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sich mit dem Geschehen auseinandersetzen zu können« (Knöll, 2003, S. 49). Sie helfen ihnen, sich in das erkrankte Kind hineinzuversetzen und das Verhalten der Eltern zu verstehen (Wiemann, 2000). Dies arbeitet Ohnmachtsgefühlen entgegen und das Kind/der Jugendliche kann sich aktiv mit seiner Situation beschäftigen. So ist der Begriff »Schattenkind« vorsichtig anzuwenden. Einerseits macht er auf die Situation von Geschwistern aufmerksam, andererseits stigmatisiert er sie. Manche Geschwister wachsen mit der schweren Erkrankung der Schwester/des Bruders auf, für sie ist diese Situation Alltag. Sie können sich an andere Zeiten nicht oder kaum erinnern. So würden manche Geschwister diese familiäre Situation auch nicht als belastend beschreiben, für sie ist es die vertraute Normalität. Betroffene Familien, die sich ein engmaschiges Netzwerk mit beispielsweise Kinderpflege- und Kinderhospizdiensten aufgebaut haben, schaffen Freiräume für sich und für die Geschwister. In diesen besonderen Lebenssituationen können Geschwister auch positive Kompetenzen erwerben. So können sie über eine hohe Empathie und ein gesteigertes Selbstbewusstsein verfügen und ihre Persönlichkeitsentwicklung kann sich beschleunigen (Henkel u. Stahl, 2008). Zu bedenken gilt, dass es uns Menschen manchmal erst mit einem zeitlichen Abstand und mit einer gewissen Reflexionsfähigkeit auffällt, was wir in unserer Kindheit oder Jugend vermisst haben oder was uns negativ beeinflusst hat. Wenn Geschwister früh selbstständig sind und dies lange als Kompetenz angesehen haben, kann irgendwann die Erkenntnis kommen, dass die Selbstständigkeit für sie ein wichtiger Mechanismus war, um in ihren Familiensystemen bestehen zu können. Aber wenn sie sich durch ihre Eltern auch in der schwierigen Zeit der Erkrankung des Geschwisters, bei dessen Tod und in der Trauer angenommen gefühlt haben, dann kann dies auch versöhnlich gesehen und als Stärke angenommen werden. Hier wird deutlich, worauf es ankommt. Es ist wichtig zu sehen, wie sich das jeweilige Geschwisterkind selbst fühlt. Fühlt es sich in seiner Familie trotz alledem gesehen? Hat es das Gefühl, dass jemand Zeit für seine Fragen hat, sich für seine Belange, auch die alltäglichen, interessiert? Gibt es jemanden, der auch seine negativen Gefühle dem Geschwister gegenüber versteht, zum Beispiel den Neid auf die vielen Geschenke im Krankenhaus, die Konkurrenz um die elterliche Aufmerksamkeit? Für uns Begleiter ist es unerlässlich, genau hinzuhören, wie es den Geschwistern geht, und sie nicht in eine Schublade einzusortieren. Und selbst wenn wir das Gefühl haben, eine Schwester/ein Bruder steht im Schatten des erkrankten Kindes, ist der Begriff »Schattenkind« destruktiv. In unserem Beispiel wächst Finn mit der Erkrankung seiner Schwester auf. Marie hätte aber auch an einer akuten Krankheit leiden oder durch einen Unfall plötzlich sterben können. Es ist ein Unterschied, ob sich das Geschwister langsam mit der Erkrankung und dem möglichen Tod auseinandersetzen kann oder von jetzt auf gleich mit einer neuen Wirklichkeit konfrontiert wird. Geschwister können mehrfache Verlierer sein; sie trauern nicht nur um den Tod der Schwester/des Bruders, sondern auch um die Eltern, die durch ihre eigene starke Trauer als verlässliche Bezugspersonen mitunter nicht zur Verfügung stehen. Manch eine Familie fällt in eine Schockstarre und die Eltern verstummen. Das überlebende

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Geschwister ist mit seinem Erleben auf sich bezogen. Weiterhin haben sich die Lebensgewohnheiten stark verändert. Eventuell sind die Geschwister auf einmal viel mehr im Fokus ihrer Eltern und werden stark behütet, da die Eltern Angst haben, noch ein Kind zu verlieren. Vielleicht werden sie aber auch damit konfrontiert, dass ihre Eltern das verstorbene Kind glorifizieren. Dies ist für die überlebenden Geschwister eine schier aussichtlose Situation, können sie sich mit der toten Schwester/dem toten Bruder nicht mehr messen. Die Einsicht, dass dies ein chancenloses Bemühen ist, kann sich bis ins Erwachsenenalter ziehen und die Suche nach einer eigenen Identität erschweren. Die Sorglosigkeit der Kindheit nimmt durch den Tod ein jähes Ende. Bezugspersonen wie Lehrer, Trainer, Nachbarn oder Freunde können überfordert sein und sich zurückziehen. Gerade der Rückzug von Freunden ist für Jugendliche eine schwierige Situation, orientieren sie sich doch viel stärker als Kindergarten- und Grundschulkinder an ihrer Peergroup und sind bereits im Begriff, sich von ihrem Elternhaus zu lösen. Wem teilen sich diese Jugendlichen mit, denen es nun nicht mehr wichtig ist, mit den Gleichaltrigen über die neusten Trends, Musik und die »Bravo« zu quatschen? Für betroffene Kinder, gerade für die Jugendlichen, ist es wichtig, sich mit anderen Betroffen auszutauschen, zu merken, ich bin nicht allein mit meinem Erleben. In einer Gruppe von gleichfalls vom Tod eines Geschwisters Betroffenen gibt es ein Verständnis für den Verlust und es ist möglich, sich über existenzielle Fragen auszutauschen. Die Frage nach dem Tod, nach dem Glauben oder auch nach der Gerechtigkeit im Leben können hier geäußert werden (Hladik u. Mirbach, 2000). Stirbt ein Kind, so konzentriert sich die Aufmerksamkeit der Umwelt oft auf die Eltern. Dies wird auch daran deutlich, dass häufig der Begriff »verwaiste Eltern« benutzt wird, auch wenn es noch weitere Kinder in der Familie gibt. Diese Begrifflichkeit unterschlägt, dass alle Familienangehörigen von dem Verlust betroffen sind. Kinder trauern zwar anders als Erwachsene (Specht-Tomann u. Tropper, 2004), aber ihre Trauer ist genauso echt und tief wie die der Erwachsenen. Geschwister berichten, dass sie nach dem Tod der Schwester/des Bruders aus dem Umfeld aufgefordert wurden, nun besonders lieb zu den Eltern oder für diese da sein zu müssen. Dies kann zur Folge haben, dass das Kind seine eigenen Gefühle, seine eigene Trauer zur Seite drängt und dass ihm diese aberkannt wird (DeVita-Raeburn, 2005). Wenn sich Kinder schon während der Erkrankung zurücknehmen, um den Eltern nicht zur Last zu fallen, und sich dieser Prozess nach dem Tod fortsetzt, kann dies die Entwicklung einer eigenen Identität stören. Verstärkt wird dieser Prozess, wenn das Geschwisterkind sich langfristig mit dem verstorbenen Geschwister identifiziert. Zurück zu Finn und Marie Obwohl Finn wusste, dass Marie eines Tages sterben würde, erschüttert ihn der Tod in seiner ganzen Person. Finn ist auf einmal kein großer Bruder mehr. Er hatte sich liebevoll um seine kleine Schwester gekümmert. Nun fühlt er sich verloren. Dies äußert sich, indem er manchmal laut und wild im Haus herumtobt. Seine Eltern nehmen sein Verhalten verwundert wahr, so kennen sie ihren Finn nicht. Sie fragen sich, ob er gar nicht richtig um

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seine Schwester trauert. Erschrocken sind sie auch, als sie einen Anruf des Klassenlehrers bekommen. Finn und ein Klassenkamerad, Leon, haben sich geprügelt. Beide Jungen schweigen. Zeugen berichten, dass Finn Leon sehr aggressiv geschlagen habe. Erst im Gespräch mit der Schulsozialarbeiterin kommt die Geschichte zum Vorschein. Leon hatte sich aufgeregt, dass er am Nachmittag auf seine jüngere Schwester aufpassen sollte und sich erst später verabreden konnte. Finn hatte dafür kein Verständnis und es entwickelte sich ein handfester Streit. Im Gespräch kann Finn äußern, dass er auf einmal so eine Wut im Bauch gehabt habe, dass er fast geplatzt wäre. Neben der Wut auf Leon, der sich seines Erachtens anstelle, sei er wütend, dass Marie tot sei und dass sie ihn mit den Eltern allein gelassen habe. Abends hat Finn Schwierigkeiten einzuschlafen. Einerseits macht er sich Sorgen, dass auch er krank werden könnte, und andererseits vermisst er Marie besonders, wenn er zur Ruhe kommt. Dann steigen die Erinnerungen in ihm auf, aber auch die unschönen. An seinem sechsten Geburtstag hatte sich Maries Erkältung so verschlimmert, dass seine Mutter mit ihr ins Krankenhaus gefahren ist. Seine Piratenparty musste verschoben werden. Er war wütend und enttäuscht, und das hatte er Marie spüren lassen. Einmal war er sogar so wütend, dass er sie angeschrien hatte, sie solle endlich sterben, dann könne er auch mal nach Mallorca in den Urlaub fahren. Ihm tat es später leid und das hatte er Marie auch ins Ohr geflüstert. Jetzt sind ihm diese Situationen wieder präsent. Er schämt sich dafür, erzählt es aber niemanden. Ob Mama und Papa sich nicht sowieso gewünscht hätten, dass er gestorben wäre? Wie stolz die beiden Marie immer präsentiert haben, wenn Mama ihr die Zöpfe geflochten und ihr etwas Hübsches angezogen hat. Sie haben dann immer von ihrem Mäuschen gesprochen. Jetzt hat er auch noch in Mathe eine schlechte Arbeit geschrieben, von der die beiden noch gar nichts wissen. Finn findet es auch ungerecht, dass Marie tot ist und er noch leben darf. Wie gerne wäre er jetzt bei ihr. Eigentlich ist er schon viel zu alt für Maries Musik, aber wenn es keiner mitbekommt, stellt er sich ihre Lieblingsmusik an. Dann ist sie ihm ganz nah. Wenn das seine Freunde mitbekommen würden! Eigentlich weiß er, dass seine Freunde ganz okay sind. In der Geschwistergruppe des ambulanten Hospizdienstes für Kinder und Jugendliche, die er schon lange besucht, erzählen Kinder, wie doof es für sie in der Schule sei, weil die Klassenkameraden nichts mit jemandem zu tun haben wollten, der einen Blödi als Schwester/Bruder habe. Aber zurzeit findet es Finn mit seinen Freunden auch schwierig. Einerseits würde er gerne zu Timm hinüberlaufen, aber andererseits ist er es leid, von Timms Eltern komisch angeguckt zu werden. Da ist es mit Timm einfacher, der tut einfach so, als ob nichts passiert wäre. Aber das stört Finn auch. Schließlich kannte Timm Marie gut. Er würde seinem besten Freund gerne einmal erzählen, wie komisch es jetzt zu Hause sei und dass er manchmal am liebsten weglaufen würde, weil er es zu Hause nicht mehr aushalte. Aber wo soll er hin? Früher hat er öfter bei Oma und Opa geschlafen, aber die sind seit Maries Tod auch untröstlich. Am Montag ist ein neuer Junge in seine Klasse gekommen. Finn wusste nicht, was er in der Vorstellungsrunde sagen sollte. Sollte er sagen, dass er eine Schwester habe oder gehabt habe? Manchmal muss Finn laut loslachen und alle schauen ihn erschrocken an. Er

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stellt sich dann vor, dass er als ein Außerirdischer auf diese Welt gekommen sei und erst einmal verstehen müsse, wie die Menschen leben würden. So fühlt er sich nämlich. Eigentlich ist das eher zum Weinen, aber er stellt sich vor, wie er es Marie erzählt. Und in Gedanken lachen sie dann zusammen über den Nachbarn, der jetzt immer die Straßenseite wechselt, wenn er Finn sieht, oder über die Lehrerin, die Finn gar nicht mehr in die Augen sehen kann.

Ergebnis Folgende Sachverhalte bringen die Ausführungen dieses Beitrags noch einmal abschließend auf den Punkt: •• Geschwister teilen eine besondere Beziehung, die wie selbstverständlich zu ihrem Leben gehört und ihre Persönlichkeit prägt. •• Durch die schwere Erkrankung/den Tod eines Kindes ist die gesamte Familie betroffen, auch und gerade die Geschwister, deren Bezugspersonen deren Trauerreaktionen in dieser schwierigen Situation aufgrund der Anforderungen oder der eigenen Trauer nur bedingt auffangen können. •• Geschwister, die den Tod einer Schwester oder eines Bruders erleben, brauchen Menschen, von denen sie mit ihren ganz eigenen Bedürfnissen in den Blick genommen werden können. Dies ist manchmal für Menschen, die nicht direkt involviert sind, leichter. •• Begleiter sollten sensibel sein für die jeweilige individuelle Situation eines überlebenden Geschwisters und sich von ihm selbst erklären lassen, wie es seine Situation erlebt, was es braucht. •• Die Anforderungen an die überlebenden Geschwister sind hoch und es braucht eine lange Zeit, um die eigene Trauer in das Leben zu integrieren. Der Verlust bleibt ein Leben lang. •• Geschwister brauchen ein Umfeld, in dem sie über ihre (verstorbene) Schwester/ ihren (verstorbenen) Bruder erzählen können und in dem sie auf aufrichtiges Interesse stoßen.

Literatur DeVita-Raeburn, E. (2005). Das leere Zimmer. Weiterleben nach dem Verlust eines Bruders oder einer Schwester. Heidelberg: mvgVerlag. Henkel, W., Stahl, N. (2008). Familie und Geschwister. In B. Zernikow (Hrsg.), Palliativversorgung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Heidelberg: Springer. Hladik, M., Mirbach, B. (2000). Ja aber wo leiden sie denn? Impressionen aus den Geschwisterprojekten »Achtung, jetzt komm ich!!!«. WIR, Zeitschrift der Kinderkrebsstiftung, 2, 14–16. Zugriff am

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23. 08. 2013 unter http://www.kinderkrebsstiftung.de/fileadmin/KKS/files/zeitschriftWIR/2000_2/ woleidensie.pdf Knöll, G. (2003). Von da an kein Kind mehr. In G. Knöll, Bundesverband Verwaiste Eltern in Deutschland e. V. (Hrsg.), Du bist tot – ich lebe. Trauernde Geschwister. Norderstedt: Books on Demand. Specht-Tomann, M., Tropper, D. (2004). Wir nehmen jetzt Abschied (3. Aufl.). Düsseldorf: Patmos. Wiemann, C. (2000). Die Schattenkinder. Auswirkungen lang anhaltender stationärer Therapie auf das Leben der Geschwister von krebskranken Kindern. WIR, Zeitschrift der Kinderkrebsstiftung, 2, 8–10. Zugriff am 23. 08. 2013 unter http://www.kinderkrebsstiftung.de/fileadmin/KKS/files/ zeitschriftWIR/2000_2/schattenkinder.pdf

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Heike Brüggemann

Kinder erleben die Fehl- bzw. Totgeburt eines Geschwisterkindes

Myriam und Sven erwarten ihr zweites Kind, als sie in Myriams 38. Schwangerschaftswoche ins Krankenhaus kommen, weil bei Myriam die Wehen eingesetzt haben, und erfahren, dass ihr Baby im Mutterleib verstorben ist. Nach einigen Stunden bringt Myriam ihren Sohn zur Welt und nimmt ihn, nach anfänglichem Zögern auf den Arm. Sven und Myriam genießen diese einzigen Stunden mit ihrem Sohn Ben. Auf meine Frage, wann denn die vierjährige Tochter komme, werden beide sehr ängstlich und abwehrend: »Nein, das wollen wir ihr nicht antun, nicht dass sie dann noch Albträume bekommt.« Behutsam befrage ich die Eltern über ihre Tochter, lasse von ihr erzählen, so dass sie im übertragenen Sinne im Kreissaal ist. Sven berichtet, dass Jule ein fröhliches Mädchen sei, aber auch sehr sensibel, dass sie die Stimmungen in der Familie sofort wahrnehme; sie reagiere dann mit Schreien oder Unruhigsein, wolle nicht einschlafen und träume viel. Sie habe sich so auf ihren Bruder gefreut und immer den Bauch gestreichelt. Schnell wird den Eltern klar, dass sie den Tod von Ben vor Jule nicht verheimlichen können, aber sie können sich noch nicht vorstellen, dass sie ihren Bruder sehen soll. Ich erkläre ihnen, dass Jule ihre eigenen Fantasien entwickeln werde, sofern sie sich nicht von Ben verabschieden könne. Plötzlich kann Myriam ganz klar sagen: »Nein, sie soll nicht irgendwelche Fantasien haben, ihr Bruder ist doch so hübsch.« Den Eltern ist sehr wichtig, dass ich sie bei dem ersten Kontakt zwischen Jule und Ben unterstütze. Jule, an der Hand ihrer Oma, schaut sich ganz zaghaft im Raum um, krabbelt dann zu ihrer Mutter aufs Bett und kuschelt mit ihr. Nach ein paar Minuten schauen sie sich gemeinsam Ben an, der, in ein Handtuch gewickelt, ebenfalls auf dem Bett liegt. Myriam streichelt ihren Sohn, Jule deckt das Handtuch auf, nimmt Bens Arm, lässt diesen wieder fallen und sagt: »Baby paputt.« Dann will sie auf Papas Arm und ihren Schnuller; nach ein paar Minuten will sie wieder auf das Bett, versucht Ben den Schnuller zu geben und bemerkt: »Geht nicht.« Sven setzt sich dazu und sagt: »Ja, wenn man tot ist, kann man nicht mehr schnullern.« Später bemalen Myriam und Sven dann zusammen mit Jule den Sarg und legen Ben gemeinsam hinein. Zur Beerdigung geht Jule auch mit, obwohl viele Verwandte meinen, dass es ihr nicht gut tun würde. In den folgenden Monaten berichten die Eltern, dass Jule sich immer wieder versichern müsse, ob Ben wirklich tot sei, und dass sie bei jedem Besuch auf dem Friedhof für ihren Bruder singe. Jule wisse, warum ihre Eltern traurig seien, sie erzähle darüber ganz

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unbefangen im Kindergarten und im Supermarkt. Sie habe keine Angst mit ihren Eltern über Ben zu sprechen. Jule sei stolz, einen Bruder zu haben, aber auch traurig, ihn nicht bei sich zu haben. Mittlerweile haben Myriam und Sven ein drittes Kind bekommen, Finn. Während der Schwangerschaft hat Jule ihre Eltern immer wieder gefragt, ob dieses Baby auch wieder auf den Friedhof komme.

Jule durfte den Tod von Ben begreifen, und das ganz langsam und behutsam, in ihrem eigenen Tempo und mit ihren eigenen Möglichkeiten. Ihre Eltern fühlten sich ernst genommen mit ihren Sorgen und Ängsten, so konnten sie mit ihrer Tochter gemeinsam den Weg des Abschieds gehen. Heute ist es in den meisten Krankenhäusern Standard, dass Eltern ihre toten Kinder sehen dürfen, dass Fotos, Gedenkkarten, Hand- und Fußabdrücke gemacht werden. Es wird unterschieden zwischen Fehlgeburten, mit einem Gewicht unter 500 Gramm, und Totgeburten, mit einem Gewicht über 500 Gramm, jeweils ohne Lebenszeichen (ohne Atmung, keine pulsierende Nabelschnur, kein regelmäßiger Herzschlag). Eltern haben immer das Recht, ihre Kinder zu bestatten. Allerdings wird in Krankenhäusern oftmals davon abgeraten, die Geschwister mit einzubeziehen, um ihnen das nicht anzutun, damit sie keinen Schock oder gar Albträume bekämen. Meines Erachtens muss an dieser Stelle noch viel Aufklärungsarbeit geleistet werden, damit nicht durch die Unsicherheit einzelner Mitarbeiter der natürliche Trauerprozess der Geschwister gestört wird. Eltern sehen ihr totes Kind mit den Augen der Liebe und nicht der Professionalität, sie brauchen die Sicherheit, dass sie nichts Falsches tun. Wenn sie mit ihren Ängsten ernst genommen werden, ihnen Zeit gelassen wird und sie begleitet werden, dann können sie auch ihren anderen Kindern den Anblick und die Berührung ermöglichen. Kinder erfahren ihre Umwelt über die Berührung und deshalb sollte ihnen auch diese Möglichkeit nicht verwehrt werden. Sind die Geschwister sehr unsicher, kann man sich deren Neugier zunutze machen, indem man das Baby locker in ein Tuch einwickelt und die Kinder zum Beispiel dazu anregt, die Finger zu zählen. Oftmals reicht es aber auch aus, Vorbild zu sein und die Berührungen zu kommentieren, Geschwister finden dann eigene Erklärungen, warum das Baby tot sei, zum Beispiel: »Der Mund ist viel zu klein, um an Mamas Brust zu trinken.« In der heutigen Zeit gibt es schon sehr früh in der Schwangerschaft die Möglichkeit, über Ultraschall das ungeborene Kind zu sehen, ein Bild von ihm in den Händen zu halten. Kinder spüren sehr früh die Veränderungen im System Familie, die eine Schwangerschaft verursacht, oftmals zeigen sie aufgrund dieser Veränderungen neue oder schon abgelegte Verhaltensweisen, werden wieder sehr anhänglich, schlafen schlecht, weinen viel. Eltern lassen die Geschwister an der Schwangerschaft teilhaben, nehmen sie mit zu den Untersuchungen bei Hebamme und Arzt, lassen sie den Bauch streicheln, lesen mit ihnen entsprechende Bücher. Wenn das Baby dann tot ist, herrscht Stille, nicht nur bei der Geburt, sondern auch innerhalb der Familie und im Umfeld.

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Kinder erleben die Fehl- bzw. Totgeburt eines Geschwisterkindes

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Gerade jetzt brauchen die Geschwister Informationen, Gespräche mit den Eltern und Rituale, um sich in dieser neuen Welt zurechtzufinden. Geschwister spüren sehr deutlich die Stimmungen der Eltern und benötigen dafür Erklärungen. Kinder müssen wissen, dass nicht sie schuld an dem Tod des Babys sind, dass die Traurigkeit aller Beteiligten nicht durch sie ausgelöst wird. Sie benötigen einen Austausch über ihre Fantasien, ohne das Gefühl zu haben, ein Tabu zu brechen oder die Eltern wieder ganz traurig zu machen. Die fünfjährige Svenja sieht ihre Mama weinen und fragt: »Mama, bist du wieder traurig, weil das Baby tot ist?« Kathrin nickt, nimmt Svenja auf den Schoß und versichert ihr, dass sie aber auch sehr froh sei, dass sie Svenja habe. Die Fünfjährige geht ins Kinderzimmer und kommt nach einiger Zeit mit einem Kunstwerk zurück: »Mama, ich habe dir ein neues Baby für den Bauch gebastelt, jetzt musst du nicht mehr weinen.« Zu sehen ist die Form einer Gebärmutter mit einem kleinen Menschen, geklebt und gemalt, sowie einer langen Nabelschnur aus Wolle. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es für Kinder ist, auch die Trauer ihrer Eltern zu erleben, denn nur so lernen sie selber, dass Trauer zum Leben dazugehört. Kinder lernen an ihren Vorbildern, dass sie Trauer zeigen dürfen, aber auch, dass jeder Mensch unterschiedlich trauert und dass es da kein Richtig oder Falsch gibt. Hinzu kommt, dass sie, anstatt in Hilflosigkeit zu erstarren, früh erfahren, wie gut man Trauernden begegnen und was man ihnen Gutes tun kann. Kinder bringen den Eltern ein Taschentuch, nehmen sie in den Arm, zeigen, was ihnen selber in der Trauer gut tut. Svenja bringt ihrer Mutter den Teddy: »Der darf jetzt mal bei dir bleiben, damit du nicht so alleine bist.« Trösten wird ein wichtiger Bestandteil des Familienlebens, jeder spürt, dass Trost gut tut, dass man selber gut trösten kann, und begreift darüber hinaus, dass man nicht auf alles eine Antwort finden kann. Geschwister benötigen, wie auch alle anderen Betroffenen, Urlaub von der Trauer – das bedeutet, dass sie auch unbeschwerte Zeiten erleben dürfen. Der Alltag der Kinder sollte möglichst erhalten bleiben und sie müssen spüren, dass sie die Eltern alleine lassen können. Hier fungieren die Eltern ebenfalls als Vorbild, zum Beispiel, indem sie sich Unterstützung in der Zeit der Trauer holen und dies den Kindern gegenüber auch klar benennen; es spielt dabei keine Rolle, ob die Unterstützung über Professionelle oder über Freunde läuft: Auf dem Schulweg sagt Nora zu ihrem Sohn Benjamin: »Wenn du jetzt in der Schule bist, treffe ich mich mit Carla, mit ihr kann ich so gut über Mira reden.« Petra sagt zu ihrer Tochter: »Weinen tut mir auch gut, du musst dir keine Sorgen machen, gehe ruhig zu deiner Freundin.« Stirbt während der Schwangerschaft zum Beispiel ein Zwilling, wird der überlebende Zwilling trauern; man weiß heute, dass die ungeborenen Kinder einander spüren, streicheln und genießen. Somit ist klar, dass nach dem Tod ein Verlust stattfindet, der sich dann auch nach der Geburt im gesamten weiteren Leben des nicht verstorbenen Zwillings bemerkbar machen könnte: »Ich war immer auf der Suche, wonach, wusste ich nicht, bis mir meine Eltern von dem Tod meine Zwillingsbruders in der 22. Schwangerschaftswoche erzählten« (vor 21 Jahren). Eltern sollten also auch in dieser Situation über das verstorbene Kind sprechen, selbst wenn es sich um einen Fetozid handelt.

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Heike Brüggemann

Auch in der Schwangerschaft verstorbene Kinder bleiben für alle Familienmitglieder lebenslang ein Bestandteil der Biografie. Geschwister benötigen hier ebenfalls das Vorbild der Eltern, die dem verstorbenen Kind einen Namen geben und die Reihenfolge der Geschwister einhalten. Hilfreich ist weiterhin, ein Foto an die Wand neben die Fotos der anderen Kinder zu hängen und den Kindern zu helfen, dafür eine Sprache zu finden, zum Beispiel: »Ich habe zwei Brüder, einen, der bei uns lebt, und einen, der gestorben ist.« Benjamin: »Auch ich habe eine Schwester, aber die wohnt nicht bei uns, sondern im Himmel … aber meine Schwester hat Flügel.«

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Wenn bedeutsame andere Verluste eintreten

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Chris Paul

Kinder und Jugendliche als Trauernde nach einem Suizid Eine Möglichkeit menschlichen Handelns

Die meisten Menschen sterben am Ende einer längeren Krankheit, einige an einem plötzlichen Organversagen, einige in einem Unfall, bei einer Naturkatastrophe, in einem Krieg oder durch einen Mord und einige sterben durch einen Suizid. Bei dieser Todesursache wird der Tod durch den, der ihn stirbt, selbst herbeigeführt. In Deutschland sind es rund 10.000 Menschen im Jahr, die durch Suizid sterben – von den jährlichen ca. 880.000 Sterbefällen sterben also ca. 1,2 Prozent durch eine Selbsttötung. In allen bekannten Kulturen und Epochen hat es Menschen gegeben, die sich selbst getötet haben – der erfahrene Psychiater Asmus Finzen bringt es auf die Formel: »Suizid ist eine Möglichkeit menschlichen Handelns« (Finzen, 1997, S. 17). Die Möglichkeit, Suizid zu begehen, haben Menschen offensichtlich ab dem Beginn der Pubertät, denn in der deutschen Suizidstatistik findet sich eine Altersverteilung, die im Alter von elf Jahren beginnt und bis ins hohe Alter reicht. Männer töten sich deutlich häufiger als Frauen, zahlenmäßig gibt es die meisten Suizide im Alter zwischen vierzig und sechzig Jahren. Kinder und Jugendliche können deshalb durch vielfältige Verluste zu Suizidhinterbliebenen werden: Ein Elternteil, ein Geschwisterkind, ein Großelternteil, eine Tante, der beste Freund, die erste Liebe oder der bewunderte Vertrauenslehrer können sich getötet haben. Die allgemeingültige Möglichkeit menschlichen Handelns im Suizid zeigt sich auch darin, dass weder bestimmte Einkommensklassen und Bildungslevel noch Gesundheitszustände oder Familienbindungen garantieren können, dass eine Selbsttötung in der Familie oder im Freundeskreis ausgeschlossen ist.

Haltung und Deutung Gängige Benennungen der Selbsttötung wie »sich umbringen« oder »den Freitod wählen« sind Begriffe, die bestimmte Deutungen einer Selbsttötung transportieren. Diese Deutungen spielen eine große Rolle, wenn es um die Begleitung von Kindern geht, bei denen ein Elternteil oder Geschwisterkind, vielleicht aber auch eine bewunderte Jugendclubleiterin oder ein Mitschüler sich selbst getötet hat. Trauerbegleitende, die bisher mit dem Tod vor allem im Kontext von körperlichen Erkrankungen konfrontiert waren, werden durch Suizidtrauernde herausgefordert, sich mit anderen Seiten

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Chris Paul

und Formen des Sterbens auseinanderzusetzen. Dazu gehören auf der einen Seite psychische Erkrankungen, die dem Suizid vorangegangen sein können. Auf der anderen Seite gehört dazu ein Überdenken der eigenen Einstellung zum selbstgewählten Tod. Supervision, Intervisionsgespräche oder eine entsprechende Fortbildung sind die geeigneten Orte, um eigene Ängste vor Suiziden, das eigene Unverständnis oder die eigene Ablehnung der Selbsttötung zu besprechen. Die trauernden Kinder und Jugendlichen müssen für sich selbst eine Deutung, ein Verständnis und Erklärungen für das, was geschehen ist, finden. Dabei sollten meiner Ansicht nach Begleitende wertschätzende Gesprächspartner sein können – Gesprächspartner, die sowohl die Kinder selbst und ihre lebenden Familienmitglieder als auch den Menschen, der sich selbst getötet hat, mit Respekt wahrnehmen können. Schuldzuweisungen von außen sind für die trauernden Kinder und Jugendlichen nicht hilfreich. Auch scheinbar tröstende Äußerungen wie: »Euch geht es doch ohne den Vater und seinen Alkoholismus besser als mit ihm«, sind abwertende Urteile gegen den verstorbenen Vater und damit kontraproduktiv für den Trauerprozess eines Kindes. Das gilt ebenso für Idealisierungen, die sich in Äußerungen wie: »Deine Schwester muss unheimlich mutig gewesen sein, das zu machen«, ausdrücken. Eine Darstellung der Selbsttötung als besonders mutig erhebt die Selbsttötung in den Rang einer vorbildlichen Tat. Für den Trauerprozess kann dies eine Verengung der fortgesetzten Bindung auf die Selbsttötung bedeuten, die innere Verbundenheit bzw. das Erbe, das angetreten wird, sollten aber nicht auf einen so gefährlichen Aspekt des Verstorbenen verengt werden. Im extremen Fall kann solch eine Einstellung zu Nachfolgesuiziden führen. Unterstützend ist es, wenn Begleitende angstfrei mit der Todesursache Suizid umgehen können. Auch Wertungen wie: »Das ist das Allerschlimmste«, halte ich für unangebracht. Jede Todesart hat ihre eigenen Schrecken – sowohl für Erwachsene wie für Kinder und Jugendliche. Hilfreich ist eine für alle trauernden Kinder gleich geltende Konzentration auf die Bewältigungsstrategien der Familie als Ganzes und jedes einzelnen Trauernden darin – unabhängig von den Umständen des Sterbens.

Besonderheiten in der Vorgeschichte Kinder und Jugendliche, deren Familienangehörige an einer fortschreitenden Erkrankung gestorben sind, haben vielleicht Expertenwissen über ambulante und stationäre Versorgung erworben. Sie kennen sich aus mit Krankheitsbildern und Behandlungsformen, sie sind gewöhnt an ein Pflegebett im Wohnzimmer, an körperliche Veränderungen des erkrankten Familienmitglieds und an größere Teams von professionellen und ehrenamtlichen Unterstützern in diesem Prozess. Kinder, deren Elternteil oder Geschwisterkind sich selbst getötet hat, haben eine andere Vorgeschichte dieses Todes erlebt. Entweder hat es keine Anzeichen für eine Krise gegeben oder sie sind dem Kind

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oder Jugendlichen nicht bewusst gewesen. Dann fällt der Suizid wie ein überraschender Wirbelsturm über die Familie herein. Ähnlich wie bei einem Unfall oder einem Hirnschlag fehlt jede Form der inneren und äußeren Vorbereitung, die Familie muss sich von jetzt auf gleich auf eine völlig veränderte Lebenssituation einstellen. Bei einem Suizid kommen die massiven Selbstzweifel an der eigenen Wahrnehmung (»es war doch alles gut«) und mit ihnen die Fragen nach dem Warum der Selbsttötung erschwerend hinzu. Bei Suiziden, denen eine Erkrankung vorangegangen ist, haben die Kinder und Jugendlichen meist im Vorfeld ein besonderes Verhalten bei einem Geschwister oder Elternteil bemerkt. Psychische Störungen oder eine Sucht beeinflussen das Familienleben und den Kontakt untereinander. Genau wie bei körperlichen Erkrankungen innerhalb eines Familiensystems geschieht es auch bei psychischen Erkrankungen, dass die Konzentration aller sich auf das erkrankte Familienmitglied richtet. Die gesunden Kinder (und Erwachsenen) erhalten dadurch weniger Aufmerksamkeit und beginnen gleichzeitig, die gesunden Erwachsenen (und Geschwisterkinder) zu stützen. Während körperliche Erkrankungen nicht nur im stationären Bereich, sondern inzwischen auch zu Hause durch Netzwerke aus ambulanter Pflege, Physiotherapie, Ernährungsberatung und Ehrenamt unterstützt werden, bleiben Familien mit einem psychisch erkrankten Mitglied weitgehend allein mit den Auswirkungen der Erkrankung. In stationäre Psychiatrie- oder Kuraufenthalte sind Familienmitglieder selten miteinbezogen, zu Hause gibt es in der Regel Arztbesuche und Einzeltherapien ausschließlich für das erkrankte Familienmitglied. (In Ausnahmefällen werden Familientherapien für alle angeboten und einige Kliniken bieten Selbsthilfegruppen für Eltern und Partner der psychisch Erkrankten an. Bei Suchterkrankungen existieren Selbsthilfegruppen für Partner und erwachsene Kinder.) Ein spezielles Unterstützungsangebot für Kinder und Jugendliche fehlt. Gleichzeitig sind die Tabus, die Erkrankungen wie Depression, Bipolare Störungen, Schizophrenie und Alkoholismus oder Drogensucht umgeben, inzwischen stärker als die Tabus, die zum Beispiel die Krankheit Krebs betreffen. Familien, in denen ein oder mehrere Mitglieder psychisch erkrankt sind, ziehen sich häufig aus Scham und auch aus Erschöpfung zurück und versuchen der Umwelt ein normales Familienleben zu suggerieren. Kinder und Jugendliche unterstützen die Erwachsenen bei ihren Versuchen, die Familienehre zu erhalten, indem sie über das, was sie mit dem psychisch kranken Elternteil oder Geschwisterkind erleben, schweigen. Begleitende sollten sich in die Situation dieser Kinder einfühlen können und ohne Schuldzuweisungen die Lebensumstände zu verstehen versuchen. Sachliche Informationen über das jeweilige Krankheitsbild können den Begleitenden dabei helfen und sie in die Lage versetzen, dem Kind alles zu erklären, was mit der Erkrankung zusammenhängt (einige Bilderbücher, die am Ende des Buches aufgeführt sind, können dabei helfen). Wenn sehr viel Scham im Spiel ist, kann ein Gespräch in einer Gruppe, bei der die Todesarten gemischt sind, ungünstig sein, weil die Kinder auf keinen Fall ihre verstorbenen Eltern oder Geschwister in ein schlechtes Licht rücken möchten. Dann ist ein Einzelgespräch geschützter.

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Besonderheiten beim Sterben, bei der Abschiednahme und Beerdigung Suizide sind plötzliche Tode. Das hat Auswirkungen auf das Trauererleben. Niemand hat in der Familie die Gelegenheit gehabt, sich auf den Tod und die daraus folgenden Veränderungen vorzubereiten. Die Todesnachricht platzt meist in Form von uniformierten Polizisten in den Familienalltag. Die ersten Stunden nach einem Sterben bzw. einer Todesnachricht, in denen Trauernde nach einer längeren körperlichen Erkrankung Anteilnahme und Unterstützung erleben, ist für Suizidhinterbliebene mit polizeilichen Ermittlungen gefüllt, die ein Verbrechen ausschließen sollen. Mehrere fremde Menschen durchsuchen das Haus und vernehmen die Familienmitglieder, persönliche Dinge werden beschlagnahmt, Familienmitglieder werden manchmal gezwungen, sich bis zu ihrer Vernehmung in verschiedenen Räumen aufzuhalten. Angesichts der Plötzlichkeit dieser Ereignisse sind die emotionalen Reaktionen oft stärker als bei vorbereiteten Toden. Lautes Klagen, Schreien, körperlicher Zusammenbruch und manchmal auch starke Aggressionen können diese Stunden bestimmen. Für Kinder kann es schwer sein, diese starken Emotionen bei ihren Eltern und älteren Geschwistern mitzuerleben. Für Jugendliche kann es sein, dass sie sich selbst zum ersten Mal in einer emotionalen Ausnahmesituation erleben und sich für das eigene Verhalten im Nachhinein schämen. Andere Kinder erfahren erst beim Nachhausekommen, zum Beispiel von der Schule, vom Tod eines Familienmitglieds, wenn die Erwachsenen bereits ruhiger und durch andere unterstützt sind. Plötzliche Tode verlaufen meist ohne Zeugen, niemand weiß, wie sich jemand vor und während seines Suizids fühlt, was er denkt, ob es ihm schlecht geht oder er sich auf seinen Tod freut. Fantasien treten für Kinder und Jugendliche nach einem Suizid an die Stelle von klaren Fakten. In der Begleitung sollte Raum sein, die faktischen Fragen sachlich zu besprechen und auch spirituellen Vorstellungen Raum zu geben. Wenn Sterben als ein Vorgang verstanden wird, der sowohl den Körper als auch die Seele betrifft, ist das vor allem bei Todesarten mit starken körperlichen Verletzungen sehr hilfreich. Die Fantasien müssen sich nicht mehr ausschließlich auf alle nur möglichen Verletzungen richten, sondern können sich auch mit seelischem Geschehen trösten. Die Abschiednahme vom Verstorbenen ist nach einem Suizid oft nur verzögert möglich, da der Abschluss der polizeilichen Ermittlungen abgewartet werden muss. Je nach Suizidmethode ist die Abschiednahme nur eingeschränkt oder in Einzelfällen sogar gar nicht möglich. Kinder und Jugendliche sollten wie sonst auch in die Entscheidungen miteinbezogen werden, die Wichtigkeit von Erklärungen und das Angebot von Begleitung ebenso wie das Angebot von kreativen Abschiedsmöglichkeiten wie Sargbemalung unterscheiden sich nicht von anderen Todesarten. Falls ein Kind den Verstorbenen selbst gefunden hat oder anderen überwältigenden Eindrücken ausgesetzt war, sollten Symptome wie Schlaflosigkeit, Erinnerungsblitze, Aggressionen oder starker Rückzug im Verlauf des Trauerprozesses beobachtet wer-

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den. Eventuell ist eine Spieltherapie für die Kinder bzw. eine Jugendtherapie für die Heranwachsenden hilfreich.

Suizide benennen Da Kinder die Welt sehr gegenständlich wahrnehmen, ist die Frage nach dem Wie, Wann und Wo eines Sterbens für sie häufig sehr wichtig. An dieser Stelle fürchten sich die meisten Erwachsenen nach einem Suizid, ihrem Kind die Wahrheit zu sagen. Die Entscheidung darüber liegt bei den Erziehungsberechtigten. Sie müssen unterstützt werden, damit ihre Kinder von ihnen lernen können, über die Selbsttötung eines Familienmitglieds oder Freundes zu sprechen. Deshalb zitiere ich im Anschluss unter der Überschrift »Wichtige Hinweise für Eltern« einige Ausschnitte aus der Broschüre »Trauer nach Suizid bei Kindern und Jugendlichen« (Paul, 2009). Wichtige Hinweise für Eltern »Denken Sie daran, dass Ihre Kinder erst noch lernen, über einen Suizid zu sprechen und darüber nachzudenken, ihre Einstellung und Begriffe sind noch nicht fertig ausgeformt. Entweder lernen sie es von Ihnen oder von jemand anderem. Wenn Sie mit Ihren Kindern sprechen, haben Sie die Möglichkeit, die Grundstimmung und Einstellung Ihrer Kinder zu dem verstorbenen Menschen und seiner Todesart zu beeinflussen. Wenn Sie nicht mit ihren Kindern sprechen, wird die Einstellung Ihrer Kinder zum Suizid und damit auch zu dem toten Familienmitglied ausschließlich durch die Äußerungen von anderen Menschen geprägt. Das können die Bemerkungen von Bekannten, Schlagzeilen in der Zeitung oder Abschnitte aus Büchern oder dem Internet sein, oft sind die respektlos, abwertend oder verherrlichend. Denken Sie daran, dass das, was Sie sagen, für Ihre Kinder gleichzeitig ein Erklärungs- und Deutungsangebot für das Geschehene ist. Günstiger als einzelne Informationsbruchstücke sind zusammenhängende Erzählungen, zum Beispiel ›Papa war sehr krank, du hast ja in den letzten Monaten gemerkt, dass er oft im Bett lag und gar nicht mehr mit uns gelacht hat wie früher. Die Krankheit war nicht in seinem Körper, wie damals bei Opa, sondern in seinem Kopf. Er konnte nicht mehr so denken und fühlen wie früher. Deshalb war er manchmal auch so unfreundlich zu dir, dann war die Krankheit stärker als das, was er in Wirklichkeit zu dir sagen wollte. Zum Schluss war die Krankheit in ihm so stark, dass Papa in den Wald gelaufen ist und da an seiner Krankheit gestorben ist.‹ Auf Nachfragen ergänzen Sie die genaueren Todesumstände, zum Beispiel ›da hat Papa sich an einem Baum aufgehängt und ist daran gestorben.‹ Einzelheiten, die erschreckend oder verletzend sind (für die Erwachsenen oder für die Kinder, meist für beide), können Sie zu umschreiben versuchen. Zum Beispiel müssen Sie nicht alle Verletzungen aufzählen, die ein Mensch nach einem Sturz oder

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beim Überfahrenwerden erlitten hat. Falls ihr Kind auf ausführlichen und detailgetreuen Informationen besteht, bemühen Sie sich um eine sachliche Sprache. Behalten Sie in Erinnerung, dass Kinder nicht blutrünstig sind, sondern versuchen, die Wirklichkeit eines Todes unter anderem durch diese Fragen zu verstehen. Versichern Sie Ihren Kindern, dass das verstorbene Familienmitglied sie geliebt hat. Das ist besonders wichtig, wenn die Kinder vor dem Suizid die psychische Erkrankung eines Familienmitglieds miterlebt haben und Aggressionen, Beschimpfungen oder Gleichgültigkeit ihnen gegenüber die letzten Erinnerungen bilden« (Paul, 2007).

Besonderheiten in der emotionalen Verarbeitung Kinder fühlen sich schnell verantwortlich für alles, was in ihrer Umgebung passiert. Wenn ein naher Mensch stirbt, geben sie sich unabhängig von der Todesursache häufig die Schuld. Kinder profitieren von einer deutlichen Klärung der Verantwortlichkeiten: »Du bist ein Kind und trägst keine Verantwortung für das, was Erwachsene tun!« Solange einem Kind die Selbsttötung jedoch unverständlich erscheint, wird es immer wieder zu einer Erklärung zurückkehren, in der jemand, vor allem es selbst Schuld hat. Selbstbeschuldigungen können nur gemildert werden, wenn ein anderes Erklärungsmodell für die Selbsttötung überzeugend genug ist, zum Beispiel der Suizid als Folge einer psychischen Störung oder Sucht. Für Kinder ist es sehr hilfreich, zum Beispiel Depressionen als »Krebs der Seele« anzusehen, damit ist eine Normalität und Begreifbarkeit hergestellt. Jugendliche suchen differenziertere Erklärungen und lassen sich auch von ihren Selbstvorwürfen nicht so leicht abbringen. Das Gespräch über Ursachen und Anlässe einer Selbsttötung steht auf der einen Seite, auf der andere Seite eine Arbeitsweise, die eine Selbstwertstärkung der trauernden Kinder und Jugendlichen in den Vordergrund stellt. Suizide sind von denen, die sie begehen, vermutlich eine Aussage über sich selbst. Aber ihre Angehörigen und Freunde lesen sie als Aussage über die Beziehung zu ihnen. Selbsttötungen werden von den Zurückbleibenden als grundlegende Zurückweisungen erlebt. Ihre Liebe, ihr Bemühen und auch gemeinsame Pläne werden durch den Suizid unmöglich, dies wird empfunden als hätte jemand gesagt: »Du bist es nicht wert, dass ich für dich und unsere Pläne weiterlebe.« Eine tiefe Hoffnungslosigkeit kann sich entwickeln, die dazu führt, dass eigene Lebenspläne nicht entwickelt oder nur mutlos umgesetzt werden. Starkes Anpassungsverhalten, das Gefühl, für andere (vor allem die Familie) verantwortlich zu sein, Selbstzweifel und Angst vor Entscheidungen können vor allem Heranwachsenden das Leben schwer machen. Nachsterbewünsche können aus Sehnsucht nach den Verstorbenen und aus Überforderung und Mutlosigkeit entstehen. Junge Menschen empfinden es als entlastend, über diese Nachsterbewünsche und ihre Lebensmüdigkeit sprechen zu können. Die meisten von ihnen möchten leben, wissen nur nicht so genau, wie das gehen soll.

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Ernsthafte Suizidgefahr besteht, wenn ein Jugendlicher seine Hobbys und Freunde aufgibt und sich völlig zurückzieht; wenn ein Jugendlicher anfängt, Dinge zu verschenken, die ihm oder ihr bisher sehr wichtig waren (das sind Abschiedsgeschenke, die in Vorbereitung auf den eigenen Tod gemacht werden) und wenn jemand offen von Suizidplänen spricht. Suizidgefährdete Jugendliche (und Erwachsene) finden Unterstützung bei verschiedenen Stellen, zum Beispiel einem Krisendienst, einer psychosozialen Beratungsstelle oder einem psychiatrischen Landeskrankenhaus. Informationen über das Beratungsangebot in Ihrer Region bekommen Sie Tag und Nacht kostenlos bei der Telefonseelsorge (Telefon: 0800/1110111 oder 0800/1110222). Angst ist ein Begleiter von Trauerprozessen nach einem Suizid. Das Grundvertrauen in die Zuverlässigkeit einzelner Menschen und sogar in die Gerechtigkeit des Lebens überhaupt wird durch eine Selbsttötung erschüttert. Angebote für trauernde Kinder und Jugendliche nach einem Suizid sollten eine Möglichkeit eröffnen, über die entstandenen Ängste bei sich selbst und bei den übrigen Familienmitgliedern zu sprechen und Strategien im Umgang damit zu erarbeiten.

Literatur Bundesgeschäftsstelle Agus e. V. (Hrsg.) (2012a). e. V. Suizid – was sage ich meinen Kindern? Hinweise für Gespräche mit jungen Menschen. Bayreuth: Agus. Zugriff am 07. 03. 2014 unter http:// www.agus-selbsthilfe.de/wir-bieten-an/downloads/informationsblaetter/ Bundesgeschäftsstelle Agus e. V. (Hrsg.) (2012b). Faltblatt für Kinder und Jugendliche. Du hast dir das Leben genommen – und was soll ich jetzt machen? Trauer nach Suizid – Hinweise für junge Menschen. Bayreut: Agus. Zugriff am 07. 03. 2014 unter http://www.agus-selbsthilfe.de/wir-bieten-an/ downloads/informationsblaetter/ Finzen, A. (1997). Suizidprophylaxe bei psychischen Störungen. Prävention. Behandlung. Bewältigung. Bonn: Psychiatrie-Verlag. Paul, C. (2007). Trauer nach Suizid – bei Kindern und Jugendlichen (3. Aufl.). Bayreuth: Agus.

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Kinder erleben den Tod von Großeltern

Die Oma vom neunjährigen Alexander wird in absehbarer Zeit sterben. Sie hat stark abgenommen, an manchen Tagen kann sie nicht mehr alleine laufen. Oma und Mutter halten es zum Schutz des Jungen für besser, es ihm vorerst nicht mitzuteilen. Obwohl sich Enkel und Großmutter sehr nahestehen, möchte Alexander in der nun folgenden Zeit bei der Oma plötzlich nicht mehr vorbeigehen. »Ich besuche sie, wenn es ihr wieder besser geht«, sagt er. Als die Mutter ihm eine Woche später doch berichtet, dass die Oma nicht mehr gesund werde, schweigt Alexander eine Weile, dann nickt er und sagt: »Das habe ich mir schon gedacht.« Dann weint er, rutscht nahe an die Mutter heran, die nun auch weinen muss. Gemeinsam halten sie sich, trösten sich so gegenseitig und die Mutter fragt: »Alex, sollen wir die Oma gleich zusammen besuchen gehen? Sie liegt jetzt nur noch im Bett, sie kann nicht mehr aufstehen. Sollen wir vorher noch Windbeutel vom Bäcker besorgen? Die esst ihr beide doch immer so gerne.« Zwei Tage später besorgt sich Alexander ein Notizheft. Er überlegt mit seinen Eltern Fragen, die er der Oma, die schließlich den Krieg erlebt hat und außerdem eine Imkerin war, zu ihrem Leben stellen könnte. Kuchen essen und erzählen: Das sind schöne und wichtige Dinge, die der Enkel und die Oma bei aller Traurigkeit jetzt noch erleben können, weil sie um den anstehenden Tod wissen.

Krankheit oder Tod können viele unterschiedliche Emotionen in einer Familie auslösen. Erkrankt die Oma oder stirbt der Großvater, sind Eltern manchmal verunsichert, wie sie sich in Bezug auf ihre Kinder verhalten sollen. Väter und Mütter sind häufig mit ihrer eigenen Trauer beschäftigt, denn sie erleben die schwere Krankheit oder den Tod ihres eigenen Elternteils, manchmal den Tod zum ersten Mal für sich selbst hautnah. Es bedeutet für die erwachsenen Kinder, die die Eltern ja sind, dass sie lernen müssen, ohne den verstorbenen Elternteil weiterzuleben, und dass sie eventuell gleichzeitig für den überlebenden Elternteil Sorge fühlen. Der Tod der eigenen Eltern erinnert an die eigene Sterblichkeit, was zusätzliche Ängste hervorrufen kann. Zugleich können sich neue Familiendynamiken in der Ursprungsfamilie entwickeln, wenn Geschwister miteinander Absprachen zur Pflege oder Beerdigung treffen oder sich im Hinblick auf beides uneins sind. Es ist grundsätzlich eine große Aufgabe, verantwortungsvoll als Vater oder Mutter für die vielfältigen Belange der Kinder zuständig zu sein. Wenn Eltern ihre eigene Trauer leben oder anderweitig versuchen, ihr Gefühlsleben zu ordnen, kann es gesche-

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hen, dass sie aufgrund persönlicher Überlastung die emotionalen Bedürfnisse ihrer Kinder übersehen oder auch überbewerten. Trotz Trauer wegen Krankheit mit eventuellem Pflegebedarf oder des Todes des eigenen Elternteils müssen gleichzeitig die Familiensituation, der Haushalt, die eigene Arbeitsstelle etc. im Blick behalten werden. Für Pädagogen und pflegende Fachleute ist es wichtig, das zu wissen. So können sie Verständnis für manche Reaktionen aufbringen und gleichzeitig Eltern durch Information und Gesprächsaustausch eine Stütze sein. Kinder und Jugendliche zeigen ihrem Alter, ihrem Typ und der Beziehungsnähe zum kranken oder verstorbenen Großelternteil entsprechend unterschiedliche bis keine Trauerreaktionen. So ist es möglich, dass Jungen und Mädchen, die keine ausgeprägte Traurigkeit nach außen zeigen, manchmal gar nicht als aktive Trauernde wahrgenommen werden. Andere Eltern versuchen wiederum aus Sorge, die Kinder könnten zu traurig werden, diese so gut wie möglich vom Geschehen abzuschotten. Vielleicht stellen sie auch ihre eigenen Gefühle zurück, beißen die Zähne zusammen, um ihren Kindern keine zusätzlichen traurigen Momente zu bieten. Dabei können, dürfen und sollen Kinder und Jugendliche trauern, Trauer bei ihren Eltern sehen und vor allem sowohl durch ihr individuelles Trauern als auch durch das der Eltern Trauer bewältigen erlernen. Dies ist ein wichtiger Bestandteil für die Entwicklung ihrer sozialen Kompetenz und somit eine Erziehungsaufgabe. Die jetzigen Trauererfahrungen legen den Grundstein dafür, wie Kinder und Jugendliche zukünftig mit einem Verlust umgehen. Erleben Kinder, dass Eltern bei Freunden, in Krankenhäusern, bei ambulanten Diensten oder Trauerbegleitern Hilfe erfahren, lernen Kinder, dass auch dies eine Lösungsstrategie bei Problemen sein kann. Bereits mit der lebensbedrohlichen Erkrankung eines Familienangehörigen stellt sich für Eltern, damit auch auf Palliativstationen oder Hospizen die Frage: Sollte man die Kinder über den anstehenden Tod informieren, auch, wenn die Oma noch Wochen oder Monate zu leben hat? Ich plädiere dafür, möglichst früh Klarheit in die neue Familiensituation zu bringen. Kinder, wie auch Alexander im Eingangsbeispiel, sind empfänglich für Gefühls- und Gemütsveränderungen. Sie spüren atmosphärisch, wenn ihre Eltern etwas vor ihnen verheimlichen, ebenso wie Eltern meist spüren, wenn ihr Kind sehr bedrückt ist. Insbesondere Kinder, die von ihren Eltern als sehr sensibel bezeichnet werden, erzählen später von ihren Nöten, damals ohne Informationen alleine gelassen worden zu sein. Kinder merken, wenn sie vom aktuellen Familienleben ausgeschlossen werden. Das schafft Unruhe und Unsicherheit. Jungen und Mädchen verfügen über reichlich Fantasie, sich zu überlegen, warum die Eltern belastet oder geheimnisvoll, manche Situationen sogar unheimlich wirken. Sprechen Eltern mit ihnen jedoch sachlich und einfühlsam über die Situation und zeigen ihre Trauer, fühlen Kinder sich ernst genommen, informiert und miteinbezogen. Erhalten Familien Unterstützung durch medizinische und soziale Systeme, werden Kinder deutlicher verstehen, warum die Eltern momentan verändert sind. Zusätzlich haben Eltern und Kinder eventuell weitere Bezugspersonen, bei denen sie Ängste, Schuldgefühle, Fragen und Spekulationen benennen und mit denen sie sie besprechen können.

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Ein Mindestalter, Kinder über den Tod von Großeltern zu informieren, gibt es nicht. Dem Baby im Bauch kann man genau wie dem pubertierenden Jugendlichen erzählen, dass die Oma stirbt. Wichtig ist es, darum zu wissen, was Jungen und Mädchen im entsprechenden Alter verstehen und wie ihre Trauerreaktionen sein können. Es ist die Aufgabe von Eltern, Erziehern, Lehrern, Hospizlern, Psychotherapeuten, Medizinern und weiteren Bezugspersonen oder Beratern, sich dazu Wissen anzueignen, damit Kinder und Jugendliche Unterstützung und Verständnis erhalten können, anstatt wegen der Unwissenheit und den Ängsten der Erwachsenen ausgeschlossen zu werden. Wenn die Enkelkinder im Alltag eine Beziehung zu den Großeltern hatten, dann braucht diese Beziehung auch nicht in Krankheitstagen abzubrechen. Regelmäßige kurze Besuche bei dem kranken, vielleicht sterbenskranken Opa können sichtbar helfen, zu verstehen, dass der Tod unabwendbar ist, dass ein Abschied ansteht. Gab es über eine längere Zeit kaum noch Kontakte, zum Beispiel, weil ein jugendlicher Enkel wenig Zeit und Interesse für die Großeltern hatte oder diese wenig Verständnis für die Lebensform des Jugendlichen hatten, kann das Wissen um die Endlichkeit eine Chance sein, wieder in Beziehung zu kommen, eventuell durch Hilfe von außen. Beim Krankenhausbesuch hilft es, die vielen, für Kinder und Jugendlichen ungewohnten medizinischen Geräte nicht zu ignorieren. Eltern können schon vor dem Besuch beschreiben, welche Instrumente vorhanden sind und warum sie benötigt werden. Es kann auch hilfreich sein, ein Foto aus dem Krankenzimmer zu zeigen, um Sicherheit durch sichtbare Information zu geben. Eltern können darauf hinweisen, dass der Opa nicht mehr alleine laufen könne und deshalb im Krankenzimmer ein Rollstuhl stehe, dass Oma durch die Krankheit oder ihr Alter schnell ermüde, eine Sauerstoffsonde oder mehrere intravenöse Infusionen benötige, dass es bestimmte Gerüche im Krankenzimmer gebe. So können Veränderungen, auch befremdliche Gegenstände oder Situationen mit Verständnis, vielleicht auch mit Neugierde wahrgenommen werden, statt zu ängstigen. Wenn Hospizler, Pflegepersonal und Mediziner kindgerecht mit ihrem Fachwissen den Kindern vor Ort zur Verfügung stehen, kann das für alle Seiten hilfreich, beruhigend und interessant sein. Wenn Wesensveränderungen, Verwirrung, zu starker Schmerz oder Unruhe die Enkel erschrecken könnten, sind auch hier sachliche Erklärungen oft hilfreich. Kinder und auch Jugendliche haben anstelle eines Besuchs auch die Möglichkeit, sich durch ein Bild, Brief, Geschenk oder Foto mit Oma oder Opa in Kontakt zu fühlen. Mit Hilfe eines Fotos aus dem Krankenzimmer können Eltern später berichten, wo das Geschenk platziert ist und wie die Reaktion darauf war. Möchte das Kind dennoch mitkommen, probieren Sie es aus. Mit Information, auch vor Ort im Krankenzimmer, mit Hilfe bei der Begrüßung, der Möglichkeit, sich jederzeit wieder verabschieden zu dürfen und einer anschließenden Aussprache über den erlebten Besuch können Eltern nichts falsch machen. Sina, ein 15-jähriges Mädchen, wollte ihren aufgrund eines Hirntumors verwirrten Opa im Krankenhaus besuchen. Die Eltern waren sich unklar darüber, ob es Sina nicht verängstigen würde und ob ihr Opa in so einem Zustand gesehen werden wollte. Wir sprachen mit

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Sina darüber, dass der Opa jetzt, wo er verworrene Sachen rede, das nicht mache, weil er dumm oder betrunken, sondern weil er krank sei. Und dass es schön sein könne, auch in der Krankheit, ja, auch wenn man deshalb komische Sachen erzähle, Besuch vom Enkelkind zu bekommen. Sina besuchte ihren Opa gemeinsam mit der Mutter und es war eine wichtige und berührende Begegnung, der Beginn von selbstverständlichen Besuchen der Enkelin bis zum Tod des Großvaters. Sinas Eltern haben später erzählt, dass die Tochter an dem gemeinsamen Besuch gewachsen sei. Aber auch den Eltern wurde bewusst, dass sie sich eine familiäre Verbundenheit eben auch im Alter und in Krankheit anstelle einer Vereinsamung zu Lebzeiten wünschten.

Verbindet man den Krankenbesuch mit einem Eis an der Bude, einem Wettrennen auf dem Rückweg, einem guten Gespräch über die aktuelle Situation oder anderen wichtigen Alltäglichkeiten, kann das Leiden eher als ein trauriger, aber dazugehöriger Teil des Lebens wahrgenommen werden, als wenn man jedes Mal anschließend stillschweigend nach Hause schleicht. Kinder, auch schon zweijährige, können beim Krankenbesuch eine Aufgabe, wie Blumen zu gießen oder ein Kissen aufzuschütteln, übernehmen, wenn sie das gerne möchten, und so Teil des Prozesses werden. Eltern können ihre Kinder auf den anstehenden Tod vorbereiten, indem sie erklären, dass keine Medizin der Welt Opa gesund machen werde, dass die Medizin und die Pflege nur noch helfen könne, dass er keine oder weniger Schmerzen haben werde. »Ja, Opa wird sterben«, dürfen Eltern sagen, wenn das Kind danach fragt. »Bis dies geschieht, dauert es vielleicht noch eine Zeit. Wir versprechen dir, dich aber zu informieren, wenn wir merken, dass es nur noch ein oder zwei Tage dauern wird.« Wenn Kindern versichert wird, dass sie mit und nach dem Tod nicht allein gelassen werden, fühlen sie sich sicherer. Stirbt ein Großelternteil, müssen Eltern entscheiden, ob sie die Kinder mit zur Aufbahrung nehmen. Entgegen der landläufigen Meinung, Kinder und Jugendliche zu fragen, ob sie an Aufbahrung oder Beerdigung teilnehmen wollen, behaupte ich, dass diese Haltung nicht fair ist. Sie bekommen im aufwühlenden Moment des Todes meist ein kurzfristiges Angebot, sich für etwas eventuell Trauriges und Unbekanntes oder für eine Ablenkung zu entscheiden. Jungen und Mädchen, gleich welchen Alters, haben nicht die Weitsicht der Erwachsenen, dass es für ihr weiteres Leben gut sein könne, Tod, Traurigkeit und Abschiede innerhalb ihrer Familien kennen zu lernen. Nicht die kranke Oma oder der tote Opa machen Kindern grundsätzlich Angst, das unsichere, oftmals ängstliche Verhalten der Erwachsenen und fehlende Informationen bewirken diese Atmosphäre. Die meisten Eltern kämen nicht auf die Idee, ihre Kinder zu fragen, ob diese Lust haben, auf den 60. Geburtstag der Oma mitzukommen. Die Selbstverständlichkeit, dass die Kinder mit dabei sind, gehört bei einer gelungenen Großeltern-Enkel-Beziehung aber nicht nur zu der Geburtstagsfeier, sondern auch zu der Abschiedsfeier. Wenn es für die Eltern selbstverständlich ist, dem Verstorbenen einen ihm passenden, würdevollen Abschied zu ermöglichen, dann werden ihre Kinder es wie selbstverständ-

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lich ebenso erlernen und mit in den Abschied einbezogen sein. So, wie sie auch viele andere, nicht immer einfache Dinge erlernen müssen und dürfen. Eltern können ihre Kinder und Jugendliche eher fragen, ob sie zum Krankenbesuch, zur Aufbahrung oder Beerdigung Blumen, Brief, Musik oder ein weiteres Geschenk mitnehmen möchten. Das sind Dinge, die sie tatsächlich selber entscheiden können. Die Aufbahrung ist ein gutes und würdevolles Ritual zwischen Tod und Beerdigung. Der Aufbahrungsort muss auch nicht sofort betreten werden. Sich Zeit zu nehmen hilft: Die Familie kann erst einmal zur Tür reinschauen und sich an den Anblick gewöhnen – an die Seite gehen, über das Gesehene reden und nach ein paar Minuten zurückkehren. Das bedeutet, den Kindern vor Augen zu führen und zu erklären, dass Oma jetzt in einem Sarg, einer Holztruhe liege und aussehe, als schlafe sie friedlich, aber in Wirklichkeit tot sei. Es könne sein, dass sie sehr blass sei, weil das Blut bei toten Menschen nicht mehr fließe. Vielleicht ist auch die Haut von Oma gelblich verfärbt, weil zum Schluss die Leber nicht mehr richtig gearbeitet hat. Man kann Kindern Leichenflecken erklären und diese mit blauen Flecken nach einem Stoß vergleichen. Mit dieser, auch zum Leben dazugehörigen Situation werden Kinder und Jugendliche mit Hilfe einer sicheren Bezugsperson nicht überfordert, sondern begleitet, und zudem werden ihnen fürs weitere Leben wichtige Erfahrungen und Kenntnisse gelehrt. Jüngere Kinder, dazu alle diejenigen, die den Tod noch niemals erlebt haben, ganz besonders auch geistig behinderte Menschen, benötigen neben der sprachlichen Information das Sehen und auch Begreifen der Situation. Bei der alleinigen Erklärung: »Opa ist tot«, wird kein Kind verstehen, was dies heißt. Ein Blick auf den toten Opa ohne Erklärung wird möglicherweise wenig zum Verständnis des Todes beitragen, da der Großvater eventuell eher schlafend als tot aussieht. Nur das Anfassen des Toten, ohne vorherige Hinweise, könnte furchtbar erschrecken, aber wenig informativ sein. Erst wenn die Sinneswahrnehmungen hören, sehen und fühlen zusammenkommen, werden wir Menschen die Bedeutung tot verstehen und besser begreifen können. Ähnlich ist es beim Kreislauf des Lebens: Ein Geschwisterkind wird in der Familie geboren. Niemand käme auf den Gedanken, den Kindern nur davon zu erzählen. Nein, sie dürfen die kleine Schwester, den Bruder sehen, anfassen, ja, und auch wenn volle Windeln unangenehm sind, sogar manchmal riechen. Ein Geschwisterkind zu bekommen bedeutet durchaus oft ebenfalls, verschiedene Verluste zu erleben. Kinder, die jedoch von ihren Eltern bei der Geburt eines Geschwisters und beim Tod eines lieben Menschen einbezogen und wahrgenommen werden, nehmen trotz der Verluste keinen Schaden. In den Wochen und Monaten nach dem Tod können Eltern sich nicht darauf verlassen, dass ihre Kinder, besonders Jugendliche, irgendwann mit ihren Gedanken zum Verlust von selbst auf sie zukommen. Kindern fehlen vielleicht die Worte, Jugendliche verschieben ihre Trauer eventuell, weil sie diese gerade emotional gar nicht gebrauchen können. Großeltern werden nach dem Tod häufig auch nur punktuell vermisst, das heißt besonders in Zeiten und Situationen, in denen ihre Anwesenheit wichtig und von spezieller Bedeutung gewesen wäre: zum Trösten, zu Weihnachten, bei der Taschengeldausgabe am Wochenende oder beim Abendgebet. Es ist möglich, dass Kinder die

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Kinder erleben den Tod von Großeltern

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Eltern durch Nicht-Reden schützen möchten, weil sie befürchten, dass Mama oder Papa beim Sprechen über die eigenen verstorbenen Eltern traurig reagieren könnten. Fotos zu betrachten und an den Verstorbenen durch Erzählungen zu erinnern, kann dazu dienen, innerhalb einer Familie zu verdeutlichen: Hier braucht niemand Angst vor Erinnerung oder Traurigkeit zu haben. Hier wird gelacht, geweint, erzählt und weitergelebt. Der zwölfjährige Matthias sagte nach dem Tod seines Großvaters: »Mama, dass Großvater gestorben ist, das ist schade. Ich weiß noch, wie wir mit dem Zug nach Münster gefahren sind, um einen Bauernstuten zu kaufen, und wie ich im Bahnhof immer 10 Pfennig in die Kasse der Märklin-Eisenbahn reinstecken durfte. Aber Großvater war jetzt schon alt und total krank und konnte so auch nicht mehr weiterleben. Nur, dass Großmutter jetzt ganz alleine ist, das finde ich so traurig!« Großeltern können eine besondere Rolle im Leben von Enkelkindern spielen. Dabei ist es gleich, ob sie gemeinsam ein Haus bewohnen, sich täglich oder nur an bestimmten Tagen sehen, ob sie sich Briefe schreiben, bei Facebook mailen oder telefonieren. Es gibt eine familiäre Bindung und damit eine Verbindung in die Vergangenheit und Gegenwart. Wenn Matthias sagt: »Aber so konnte Großvater nicht mehr weiterleben«, dann gilt dies für seinen alten Großvater und Matthias erlebt hier den Kreislauf des Lebens. Manchmal sind Kinder auch erleichtert, dass das Leiden, aber auch die Pflegesituationen vorbei sind. Ja, es ist traurig, Matthias sagt: »schade«, und dennoch fühlt sich das, was er gerade erlebt, richtig an. Erst sterben die Großeltern, dann die Eltern, wenn sie ganz alt sind, und auch das Kind stirbt einmal, aber erst dann, wenn es selber Großvater oder Großmutter geworden ist. Nein, nicht immer sterben Großeltern, wenn sie alt sind. Manchmal sterben Omas oder Opas auch unerwartet jung, manchmal auch zuerst die Eltern und ein Kind oder die Großeltern übernehmen vorübergehend Erziehungsaufgaben im Haushalt der Kinder. Auch das hat dann wieder einen Einfluss auf die Bindung und spätere Trauer. Doch grundsätzlich gilt: Es ist eine der Aufgaben in einem familiären und sozialen System, mit Kindern sowohl freudige, normale als auch traurige Ereignisse zu durchleben. Wenn Kinder Glück haben, erlernen sie von den Erwachsenen einen gesunden Umgang, ihren Gefühlen Ausdruck zu geben, und dadurch Krisenbewältigung für das weitere Leben. Wenn unsere Gesellschaft Glück hat, erziehen wir in Familien, Kindergärten und Schulen, in unserer gesamten Gesellschaft junge Menschen, die später einmal in der Lage sein werden, mit ihrem eigenen Leben, aber auch mit Krankheit, Alterserscheinungen und dem Tod ihrer Eltern, Erzieher, Lehrer, von Politikern und vielen anderen Menschen menschlich umzugehen, und dies auch dank der Großeltern.

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Thorsten Adelt

Der Trainer ist plötzlich verstorben Wenn ein Spiegel erblindet: ein Beratungsgespräch mit Eltern in einer psychotherapeutischen Praxis für Kinder und Jugendliche, wie es stattgefunden haben könnte

Durch den Tod erblindet dieser Spiegel Ich verstehe Ihre Sorge um ihren Sohn. Wenn sich das Verhalten und die Interessen eines Jugendlichen plötzlich so verändern, dann macht man sich natürlich Gedanken. Dass er nicht mehr zum Training geht, ja diesen Sport ganz aufgeben will, seit sein Trainer bei diesem Unfall verstorben ist, dass er, was er vorher eher selten gemacht hat, nur noch zu Hause oder mit seinen Freunden abhängt und zu nichts mehr zu motivieren ist, das kenne ich von Jugendlichen, die den Verlust einer Bezugsperson, die nicht zur Kernfamilie gehört, erlitten haben. Vielleicht kennen Sie das ja aus eigener Erfahrung, dass sich Jugendliche spätestens in der Pubertät Leitbilder suchen, denen sie folgen können, während sie sich zu Hause immer mehr abgrenzen. Ich kann die Eifersucht mancher Eltern nachvollziehen, die größte Mühe haben, ihr Kind dazu zu bringen, zu Hause irgendwelche Pflichten zu übernehmen, während ein Wort eines Trainers genügt, und der Jugendliche folgt seinen Anweisungen. Ihr Sohn scheint in seinem Trainer jemand gefunden zu haben, der ihn in angemessenem Maße gefordert und gefördert, an seine Fähigkeiten und Stärken geglaubt hat. Das ist wie ein Spiegel, der ihm gezeigt hat: »Du bist wer! Du kannst was!« Und das ist bei der Suche nach einer eigenen Identität, wie sie im jugendlichen Alter stattfindet, von enormer Wichtigkeit. Das gibt Orientierung in einer Welt, in die er noch hineinwachsen, sich einfinden muss. Stellen Sie sich einen Wegweiser vor, der zeigt: »Hier geht es lang!« Das ist sehr an die Person gebunden, die sich der Jugendliche als Leitbild gewählt hat. Und durch den Tod dieser Person erblindet dieser Spiegel, der Wegweiser ist plötzlich nicht mehr da. Und es entsteht eine Orientierungs- und Ziellosigkeit, in der es keine klare Richtung mehr gibt.

Trauer zeigt sich nicht nur im Weinen Warum er jetzt nicht mehr zum Training geht? Weil der Sport in dieser Phase seiner Entwicklung sehr mit der Person des Trainers verbunden war, eben mit diesem Spiegel. An diesem Punkt war die Leitfigur des Trainers wichtiger als die Sportart. Dazu

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Der Trainer ist plötzlich verstorben

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kommt, dass jedes Training mit dem Verlust, den Ihr Sohn erlitten hat, verbunden ist, mit dem Trainer und der Trauer und dem Schmerz über seinen Tod. Sich einem neuen Trainer anzuschließen, ist für ihn vielleicht wie ein Verrat an seinem alten Trainer. Das macht es ihm, vielleicht vorübergehend, vielleicht für immer, unmöglich, zum Training zu gehen. Auf Ihre Frage, ob dieser plötzliche Tod und dieser Verlust erklärt, warum Ihr Sohn zeitweise so gereizt, genervt und manchmal auch explosiv auf jede Ansprache von Ihnen reagiert, kann ich nur sagen, dass das sicherlich eine große Rolle spielt. Trauer zeigt sich nicht nur in Tränen, auch andere Gefühle sind damit verbunden. Da sind Hilflosigkeit, Zorn und Wut, Orientierungslosigkeit, das Gefühl, dass nichts mehr stimmt. Und wenn nichts stimmt, ist es auch schwer, das Richtige zu tun oder zu sagen. Das gilt sowohl für Ihren Sohn also auch für Sie, wenn Sie mit ihm in Kontakt kommen. Und ja, dass Ihr Sohn sich vor einer Woche zum ersten Mal betrunken hat, dass passt auch in dieses Bild. Vielleicht ein Versuch, diese undeutlichen Gefühle, die in ihm toben, zu betäuben und loszuwerden. Was Sie beschreiben, kenne ich aus meiner Praxis. Da ist der Lehrer plötzlich verstorben, der von der Schülerin sehr verehrt und angehimmelt wurde, für den sie sich angestrengt hat, immer gute Noten hatte. Und plötzlich sackt sie in ihren Leistungen ab, macht keine Hausaufgaben mehr, interessiert sich nicht mehr für dieses Fach, das ihr doch vorher so großen Spaß gemacht hat. Das kann kurz- oder mittelfristige Auswirkungen haben, aber auch die ganze weitere Schullaufbahn negativ beeinflussen; zumal wenn die Bedeutung des Verlustes unausgesprochen, undeutlich bleibt. Ihr Sohn hat sich in seinem Trainer ein für sich positives Leitbild gewählt, zu dem er einen engen persönlichen Bezug, einen wirklichen Kontakt hatte, so wie dies auch bei Lehrern oder anderen positiv besetzten Personen des persönlichen Umfeldes der Fall ist. Es können auch Leitbilder gewählt werden, zu denen es keine reale, persönliche Beziehung gibt, wie dies zum Beispiel bei Popstars der Fall ist. Auch hier kann der Tod des gewählten Idols zu einer tiefen Krise führen, weil er eine große Orientierungslosigkeit hinterlässt.

Was den Tod besonders macht Ja, das ist eine gute Frage: Ist es nur der Tod einer Leitfigur, der eine solche Krise auslöst? Kann es nicht ebenso der Wegzug sein oder das Verlassen des Vereins oder der Schule aus anderen Gründen? Die Tatsache des Todes spielt eine besondere Rolle. Auf einen Wegzug kann der Jugendliche mit Enttäuschung reagieren, sich im Stich gelassen, vielleicht verraten und verlassen fühlen. Diese Enttäuschung und die damit verbundenen Emotionen wie Frustration, Wut und Zorn oder Ärger, auch Trauer, können zu ähnlichen Reaktionen führen, zum Nachlassen der Leistung, zur Aufgabe von Interessen. Aber es bleibt ein, wenn auch nicht mehr präsentes, physisches Gegen-

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Thorsten Adelt

über, auf das sich die Gefühle richten können. Das ist mit dem Tod anders. Jugendliche sind zwar meist schon so weit, dass sie ihre Wut und ihren Zorn auf die verstorbene Person empfinden, wie Erwachsene auch, gleichzeitig durch ihre negativen Gefühle in einen inneren Konflikt geraten, weil sie rational wissen, dass dem verstorbenen Menschen nur schwer ein Vorwurf zu machen ist. Was beim Tod eines Leitbildes für Jugendliche aber erschwerend hinzukommt und ihn besonders macht, ist die Tatsache, dass Jugendliche, bewusst oder unbewusst, mit der Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftigt sind: Wer bin ich? Wozu bin ich da? Wo und was ist mein Platz in dieser Welt? Erinnern Sie sich an ihre eigene Jugendzeit, in der Sie mehr oder weniger deutlich mit der Frage beschäftigt waren: Wozu bin ich da? Wäre es nicht besser, ich wäre tot? Zumal wenn Sie, um Abgrenzung von den Eltern bemüht, sich nicht unterstützt und ungeliebt gefühlt haben? Bei ihrer Sinnsuche bekommen Jugendliche durch die Zuneigung und Unterstützung der Leitfigur zumindest vorübergehend eine befriedigende und ausfüllende Antwort nach dem Sinn, finden Halt und eine Richtung, in die sie weitergehen können. Der von mir erwähnte Spiegel, der die Leitfigur für den Jugendlichen ist, sagt nicht nur: »Du kannst was und du bist wer!«, er sagt auch: »Lebe! Du hast einen Platz in dieser Welt!« Und wenn in dieser sensiblen Phase der Ich-Werdung der Spiegel durch den Tod des Gegenübers erblindet, tritt mehr oder weniger bewusst die Frage in den Vordergrund: »Welchen Sinn hat das Leben, diese vorübergehende Zeit, in der man da ist, wenn am Ende doch der Tod steht? Wenn man doch alles verliert, was man sich aneignet?« Das macht den Verlust durch Tod besonders.

Geben Sie ihm Zeit Sie fragen mich, was Sie tun, wie Sie Ihrem Sohn zur Seite stehen und ihm helfen können. Ehrlich gesagt, habe ich keine klare Antwort darauf, und ich glaube auch nicht, dass es eine klare Antwort darauf gibt. Wichtig ist, dass Sie Verständnis dafür haben, dass der Tod seines Trainers eine Bedeutung für ihn hat und keine Lappalie ist, dass Sie ihn nicht drängen, wieder zum Training zu gehen, sondern ihm Zeit geben, sich neu zu finden. Dass Ihr Sohn sich mit seinen Freunden betrunken hat, sehe ich als einmaliges Ereignis nicht nur negativ. Er wendet sich seinen Freunden zu, findet in seiner Gruppe möglicherweise den Halt, den er so vermisst. Auch wenn es von außen nicht sichtbar ist: Er trauert um den Verlust eines Menschen, der ihm viel bedeutet hat. Mehr, als er vielleicht selbst weiß. Geben Sie ihm Zeit. Vielleicht macht sein Verhalten jetzt mehr Sinn für Sie. Und mit Ihrem Verständnis, das Ihr Sohn auch unausgesprochen spüren wird, wird er wieder seinen Weg aus der Orientierungslosigkeit finden. Schauen Sie, wie es sich entwickelt. Und sollte es neuen Anlass zur Sorge geben, bin ich gern zu weiteren Gesprächen bereit, mit Ihnen und auch, sein Einverständnis vorausgesetzt, mit ihm.

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Monika Schneider

Wenn Kinder um Tiere trauern

Ich war etwa neun Jahre alt, als ich unverhofft ein Meerschweinchen bekam. Eine Freundin meiner Mutter gab es ab, den Grund dafür weiß ich nicht mehr. Es war ein Glatthaarmeerschweinchen, weiß, mit roten Albinoaugen und ich nannte es »Wuschel«. Wuschel war zwar nicht mehr der Jüngste, aber sehr fidel. Wenn ich aus der Schule nach Hause kam, erkannte er meine Schritte im Treppenhaus und fing an, durchdringend zu fiepen, in der Hoffnung, ich hätte ihm seine Leibspeise mitgebracht – Löwenzahn frisch vom Feld. Er gab seiner Forderung noch Nachdruck, indem er die Gitterstäbe zwischen seine Zähne nahm und wie verrückt an seinem Käfig ratterte. Wuschel mochte mich – ich konnte ihn, wann immer es mir danach war, auf den Arm nehmen und streicheln. Manchmal legte ich mich auf mein Bett, mit Wuschel und seinen Glucksgeräuschen im Ohr, immer in der Angst, später auf meinem Bauch seine Hinterlassenschaften in Form von kleinen Kötteln vorzufinden, was nicht selten vorkam. Dass Wuschel ein sehr einsames Meerschweinchen war, wusste ich damals nicht. Niemand der Erwachsenen in meiner Familie machte sich ernsthaft Gedanken um artgerechte Tierhaltung und Pflege eines Meerschweinchens und so wusste ich wenig bis nichts von ihm, wusste nicht, dass er sich nach anderen Meerschweinchen und viel mehr Platz zum Laufen und Hüpfen sehnte. Ich liebte es, ihn zu streicheln, etwas Warmes und Lebendiges im Arm halten zu können, welches mich wiederum für so einzigartig hielt, dass er mich – und wirklich nur mich – jeden Tag aufs Neue mit seinen Pfiffen begrüßte. Als ich wie jedes Jahr an Pfingsten vom Zeltlager nach Hause zurückkehrte, war Wuschel nicht mehr da, sein Käfig war leer. Meine Eltern waren selbst über Pfingsten verreist gewesen und hatten ihn auf dem Balkon der Wohnung stehen gelassen. Es war ein sehr heißer Juni mit viel Sonne gewesen – zu viel Sonne für ein Meerschweinchen. Er war an Hitzschlag gestorben. Tieftraurig konnte ich es nicht fassen, dass er nicht mehr da war. Auf meine Frage, wo er jetzt sei, deutete meine Mutter auf eine leere Packung Trockenfutter für Hunde. Meine bitteren Tränen wurden mit einem leicht verwunderten, amüsierten Lächeln zur Kenntnis genommen. »Es war doch nur ein Meerschweinchen, wir können doch ein neues kaufen.«

So wie im Fallbeispiel oder in ähnlicher Art und Weise werden Kinder häufig den Abschied von ihrem Haustier erleben, ungeachtet dessen, wie sehr das eigene Tier für sie Verbündeter, Freund und vertrautes Wesen gewesen ist. Oft ist der Verlust des

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Monika Schneider

geliebten Haustieres die erste bewusste und schmerzliche Erfahrung, die Kinder ab Kindergartenalter mit dem Thema Tod und Trauer machen. Und diese Erfahrung wirft viele Fragen in ihnen auf, die gestellt werden möchten: »Wieso ist mein Tier gestorben? Was passiert jetzt mit dem Körper? Sehe ich mein Tier wieder? Gibt es einen Himmel und wenn ja: auch für Tiere?« Voraussetzung für das offene Stellen von Fragen ist ein erwachsenes Gegenüber, dass das Kind in seiner Trauer um das Tier ernst nimmt, diese Fragen hören möchte und sie nicht beschwichtigt, kleinredet oder gar belächelt. Trauerreaktionen, wie Weinen oder emotionaler Rückzug, müssen vom Erwachsenen mit einer authentischen Ernsthaftigkeit getragen und ausgehalten werden. Auch der Versuch, das verstorbene Tier baldmöglichst durch ein neues zu ersetzen, achtet nicht die Einzigartigkeit der Beziehung, die zwischen dem Kind und seinem Tier bestand. Vielmehr ist hier die eigene persönliche Einstellung der erwachsenen Begleiter zum Thema Trauer um ein Tier für das Kind von äußerster Wichtigkeit und authentische Äußerungen zum Thema sind unabdingbar. Kinder spüren sofort, ob Worte, die fallen, ehrlich gemeint sind – sie spüren hindurch. Auch viele Erwachsene wissen aus ihrer Kindheit von einer großen Liebe zu einem für sie ganz besonderen Tier zu berichten. Oft ist die Trauer um den Verlust dieses Tieres nach Jahren, manchmal auch nach Jahrzehnten, noch präsent. Häufig wird die damalige emotionale Reaktion der Eltern und/oder Bezugspersonen auf die Trauer um das Tier als abwertend und wenig einfühlsam beschrieben – mit seelischen Folgen für das Kind. Da es sich an den erwachsenen Begleitern emotional orientiert und diese als Vorbild betrachtet, beginnt es unter Umständen an der Richtigkeit der eigenen Gefühlsintensität zu zweifeln. Diese ersten Erfahrungen mit Trauerreaktionen brennen sich in die Kinderseele ein, werden meist ein Leben lang nicht vergessen und haben Einfluss auf das Vertrauen in unsere eigene Gefühlswelt. Kinder schreiben den Wert eines Tieres nicht seiner Rasse zu, kategorisieren sie von Natur aus nicht in Nutztier und Haustier. Somit kann ihnen jedes Tier, zu dem eine emotionale Bindung besteht, ein wichtiger und wertvoller Gefährte sein – sei es Hund, Huhn, Kaninchen, Schaf oder Katze. Wenn man sich diesen Aspekt vor Augen führt, dann ist es für Kinder, die in landwirtschaftlichen Betrieben aufwachsen, besonders schwer, offen um ein Tier zu trauern: Sie erleben immer wieder aufs Neue, wie das liebgewonnene kleine Kälbchen plötzlich nicht mehr da ist, wie die Kaninchen, welche sie ins Herz geschlossen haben, mit abgezogenem Fell vom Balken der Scheune baumeln. Hier erfährt das Kind früh: Um Katze und Pony darf man trauern, um Ferkel und Schaf nicht. Mit Blick auf ihre Bezugspersonen, die nicht selten ihren Kindern eine entseelte Beziehung zum (Nutz-)Tier vorleben, um selbst nicht mit Trauergefühlen konfrontiert zu werden, lernen sie, ihre natürlichen Trauerreaktionen in Richtig und Falsch zu kategorisieren. Offen gelebte Trauer um ein Tier ist hier nicht erwünscht und wird meist aberkannt. Empfehlenswert zu diesem Thema ist das Bilderbuch »Still, ich denke an das Huhn« von Hans Hagen (1996), in dem in einfacher, dennoch poetischer Sprache die Geschichte von Jan-Erik erzählt wird, der um sein totes Huhn trauert.

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Wenn Kinder um Tiere trauern

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Besteht zum verstorbenen Tier keine enge, persönliche Beziehung, gehen die meisten Kinder offen und neugierig auf die Gegenwart des Todes zu: Da wird der tote Vogel auf dem Hof des Kindergartengeländes vom Boden aufgehoben, der Körper wird gemeinsam inspiziert, betrachtet und seine Veränderungen werden ohne Scheu kommentiert. Oft ist da ein Mitgefühl, welches geäußert wird, und gleichzeitig steht die Frage im Raum, was denn wohl passiert sein könne. Kinder suchen nach Erklärungen für den Tod: »Vielleicht ist der Vogel gegen das Fenster geflogen, vielleicht hat die Katze ihn erwischt?« Möglichkeiten werden ausgesprochen und untereinander ausgetauscht. In der praxisbezogenen Arbeit mit Kindern hat sich gezeigt: Wenn man sich während solcher Begebenheiten als präsenter Begleiter der Kinder auf ihr Erleben und ihre Fragen einlässt, kann eine für beide Seiten bereichernde Situation entstehen. Vorschläge, das Tier zu begraben, werden (wenn nicht von den Kindern selbst geäußert) meist angenommen und mit viel Tatendrang angegangen. Auf dem Gelände wird eine geeignete Stelle ausgesucht und zusammen ein Grab geschaufelt. Kinder haben von sich aus den Impuls, das Grab auszuschmücken, es werden Blumen und Gras für ein weiches Polster gesammelt, auf das der Vogel dann vorsichtig gebettet wird, oft begleitet von offenen Äußerungen des Mitgefühls für das Tier: »Der arme Vogel!« Kinder halten Traurigkeit aus: Sie müssen sie nicht wegreden, klein machen, überspielen. Und so kann man am geschmückten Grab eines unbekannten, kleinen Vogels stehen und Kinder erleben, die sich ganz der Situation hingeben: Ein Lebewesen, welches lebendig war, ist jetzt tot – das macht traurig und diese Traurigkeit darf im Idealfall gelebt, ausgedrückt und als Teil menschlicher Empfindungsvielfalt verstanden werden.

Literatur Hagen, H. (1996). Still, ich denke an das Huhn. München: Middelhauve.

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Stephanie Witt-Loers

Kinder erleben die Trennung ihrer Eltern

Auf intensives Bitten des Vaters hat Marie (13) die SMS ihrer Mutter auf verfängliche Kontakte mit einem anderen Mann kontrolliert. Dadurch bestätigt sich der Verdacht eines außerehelichen Verhältnisses. Maries Mutter spricht seitdem nicht mehr mit Marie, der Vater beachtet sie kaum noch. Marie ist wütend auf ihren Vater, weil er sie in die Auseinandersetzung der Eltern einbezogen hat. Sie fühlt sich von beiden Eltern verstoßen, ungeliebt und vertraut keinem von beiden mehr. Nach der Trennung der Eltern zieht Marie zu ihrem Vater. Es besteht nur der nötigste Kontakt zur Mutter. Mit der Trennung zerbricht auch die Beziehung zu den Großeltern mütterlicherseits.

Gesellschaftliche Entwicklungen haben familiäre Strukturen, persönliche Bindungen und Beziehungen verändert. Heute wird fast jede zweite Ehe in Deutschland geschieden. Die Trennung der Eltern kann bei Kindern und Jugendlichen tiefe Trauer und Schmerz auslösen. Häufig fehlt ihnen in ihrem Trauerprozess hilfreiche Unterstützung, sie machen negative Erfahrungen im Umgang mit der Krise und verlieren wesentliche Ressourcen. Deshalb ist es für Kinder und Jugendliche oft schwer, mit nachfolgenden Verlusten umzugehen. Der Trauerprozess nach einer Trennung und damit die weitere psychische, persönliche und soziale Entwicklung des Kindes und Jugendlichen werden von verschiedenen Faktoren beeinflusst. Dazu zählen die veränderte Lebenssituation in den Systemen Ursprungsfamilie und neue Lebensgemeinschaft und der Umgang damit. Ebenso werden Bindungserfahrungen, die Unterstützung des sozialen Umfeldes, bereits gemachte Erfahrungen mit der Bewältigung von Krisen, der Zugang zu sachlichen, wertfreien Informationen, die Zugehörigkeit zu Kultur und Religion und der Entwicklungsstand des Kindes zum Zeitpunkt der Trennung eine Rolle spielen. Meist lehnen Kinder die Trennung der Eltern grundsätzlich ab und wünschen sich ein heiles Familienleben mit Vater und Mutter. Aber auch wenn Kinder und Jugendliche die Trennung generell als Entlastung von der bisherigen schwierigen Lebenssituation empfinden, kann die Trauer um eine nicht gelebte Beziehung (Vater, Mutter, Familie) sehr schmerzhaft sein und intensive Trauerarbeit erfordern. Erleben Kinder mit, wie das Familiengefüge langsam zerbricht, beginnt ihr Trauerprozess schon vor der tatsächlichen Trennung. Häufig gehen durch die Trennung stabile, soziale Netze und verlässliche Beziehungen verloren. Betroffenen Kindern und Jugendlichen steht dann weniger Unterstützung nach der Trennung aus dem sozialen Umfeld zur Verfügung,

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Kinder erleben die Trennung ihrer Eltern

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weil Familienmitglieder und Freunde zerstritten sind und Kontakte abgebrochen wurden. Damit gehen auch Möglichkeiten verloren, Bindungen zu anderen Bezugspersonen aufzubauen. Gleichzeitig sind durch die häufige Berufstätigkeit von Alleinerziehenden, Kinder in einer schwierigen Lebenssituation oft auf sich selbst gestellt. Der Psychoanalytiker Helmuth Figdor gibt in »Kinder aus geschiedenen Ehen: Zwischen Trauma und Hoffnung« (2004) einen »Überblick über günstige und ungünstige Entwicklungsbedingungen nach der Scheidung« (S. 149), den ich im Folgenden neben den Erkenntnissen der Trauerforschung miteinbeziehen möchte. Trauerprozesse nach einer Trennung können aus verschiedenen Gründen schwer sein. Denn Eltern schaffen es nicht immer, die Sorgerechtsfrage schnell und aggressionslos zu lösen, sie bewältigen die Trennung nicht immer, ohne ihre Kinder emotional stark zu belasten oder sie Teil ihres Konflikts werden zu lassen. Eltern können eigene Bedürfnisse oder Gefühle von denen des Kindes oft nicht trennen und erschweren Kindern und Jugendlichen damit die Identitätsfindung. Auch bleibt die Bindung zu beiden Elternteilen nach der Trennung nicht immer erhalten. Zugleich erleben Kinder, dass Bindungen (Ehe/Familie/Eltern) nicht immer dauerhaft sind. Die daraus entstehende Verunsicherung kann Entwicklungs- und Trauerprozesse erschweren. Zudem können sich Ängste, nicht mehr geliebt zu werden, entwickeln, die durch die schmerzhafte Erfahrung, aufgrund der Trennung von einem Elternteil verlassen worden zu sein, verstärkt werden. Die Entfaltung und Stabilität des Selbstwertgefühls kann negativ beeinflusst werden. Gedanken von Schuld an der Trennung der Eltern oder daran, ein Elternteil dem anderen vorgezogen zu haben, bei ihm zu leben, können den Trauerprozess nach einer Trennung belasten. Ein positives Selbstbild und Liebe zu sich selbst werden durch die Trennungserfahrungen oft zerstört oder nicht entfaltet und können nicht als wichtige Ressourcen im Trauerprozess genutzt werden. Neben den genannten psychischen Reaktionen reagieren Kinder zudem häufig mit Unsicherheit, Hilflosigkeit, Verzweiflung, dem Gefühl von Bedrohung der eigenen Existenz, Verlassenheit, Selbstzweifeln, Versagen und Ohnmacht auf die Trennung und zeigen durch körperliche Symptome, dass sie unter der Verlustsituation leiden. So können Bauchschmerzen, Kopfschmerzen, Konzentrations- oder Schlafstörungen auftreten. Zudem sind Verhaltensweisen wie beispielsweise Aggression, Regression oder soziale Reaktionen wie Rückzug möglich. Normalerweise liebt ein Kind beide Eltern, möchte kein Elternteil verlieren und von beiden Elternteilen geliebt werden. Kinder sehnen sich deshalb häufig auch noch Jahre nach einer Trennung nach dem woanders lebenden Elternteil, oder sie wünschen sich eine Wiedervereinigung der Eltern. Gefühle von Hilflosigkeit, Versagen und Ohnmacht sowie der Verlust von Selbstwert sind meist die Folge, wenn Kinder spüren, dass sie es nicht schaffen, ihre Eltern wieder zusammenzubringen. Die Sehnsucht nach Wiederherstellung der Ursprungsfamilie kann die Anpassung an die aktuelle Lebenssituation erschweren, weil Kinder die Realität nicht annehmen möchten. Kinder erfahren oft schmerzlich, dass ihnen durch eine Trennung die Möglichkeit genommen wird, bei

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Konflikten mit einem Elternteil beim anderen Schutz zu suchen, und dass sie auf den Elternteil, bei dem sie leben, angewiesen sind. Nicht selten werden sie von ihren Eltern mit sich widersprechenden Wahrheiten konfrontiert oder als Mittel eingesetzt, eigene Interessen dem Partner gegenüber durchzusetzen. Zudem erleben Kinder, dass Eltern sich gegenseitig abwerten oder dass sie die Abneigung des einen Elternteils dem anderen gegenüber teilen sollen. Meist wissen sie dann nicht mehr, wem sie überhaupt vertrauen können. Kinder und Jugendliche empfinden auch heute noch nach Trennungen dem sozialen Umfeld gegenüber die Scham, in keiner richtigen, das heißt intakten Familie zu leben. Sie sprechen oft nicht, auch nicht mit Freunden, über die Trennung der Eltern und tun so, als sei alles wie bisher. Durch die Trennung entstehen häufig zusätzliche schwerwiegende sekundäre Verluste (Umzug, Trennung von Geschwistern, anderen nahen Bezugspersonen, Verlust von Freunden, Kita-/Schulwechsel, Haustier wird nicht behalten, Hobbys gehen verloren). Diese erfordern äußere Anpassung und manchmal das Erlernen neuer Fähigkeiten (Schulweg alleine machen, Mahlzeiten zubereiten, Mithilfe im Haushalt). Oft muss der gewohnte Lebensstandard wegen finanzieller Einbußen eingeschränkt werden. Diese mehrfachen Verluste zu verkraften braucht Zeit und seelische wie körperliche Anstrengung. Neu entstandene Familienstrukturen und Veränderungen nach der Trennung verlangen von Kindern neben den normalen Entwicklungsaufgaben und den äußeren Anpassungsleistungen auch eine innere Anpassung an die Lebenssituation (Rolle als Kind getrennter Eltern, eine Rolle in zwei Lebensgemeinschaften einnehmen, neue Partner/Bezugspersonen der Mutter und/oder des Vaters, Halbgeschwister etc.). Tragen zum Beispiel beide Eltern das Sorgerecht und wechseln sich mit der Betreuung der Kinder ab, so müssen Kinder sich den zwei neu entstandenen Lebensgemeinschaften und den jeweils dort geltenden Regeln anpassen. Möglicherweise werden alle verfügbaren Kräfte für diese Anpassungen gebraucht und der Trauerschmerz wird zunächst auf später verschoben. Zugleich haben Kinder und Jugendliche durch die Konfliktsituation zwischen den Eltern nicht immer genügend Raum und Zeit, den Trennungsverlust zu betrauern. Setzen sich Kinder und Jugendliche erst später mit der Trauer, die die Trennung der Eltern verursacht hat, auseinander, wird diese oft nicht mehr als solche erkannt und gewürdigt.

Trauerprozesse nach Trennungen begleiten Die aufgeführten Aspekte machen deutlich, mit wie vielen unterschiedlichen Belastungen Kinder nach Trennungen umgehen müssen. Deshalb sollte die bestmögliche, individuelle Unterstützung im Umgang mit dem Verlust gefunden und der Trauerprozess mit besonderer Aufmerksamkeit und Fürsorge begleitet werden. Es ist wesentlich, Kindern auch nach längerer Zeit Raum für ihre Trauer zu geben, denn oft lassen die momentanen Lebensumstände ein Trauern zunächst nicht zu. Zudem

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Kinder erleben die Trennung ihrer Eltern

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werden Kinder und Jugendliche sich immer wieder neu und ihrer Entwicklung entsprechend mit dem Verlust auseinandersetzen. Der Schmerz um die Trennung kann auch nach längerer Zeit, zum Beispiel an besonderen Tagen wie Einschulung oder Schulabschluss, an denen sich Kinder und Jugendliche die Nähe beider Eltern wünschen, intensiv sein. Hier helfen Verständnis und der ehrliche Wille beider Eltern, solche Situationen für das Kind so gut wie möglich zu gestalten. Eltern meinen oft, dass ihre Kinder mit der Trennung gut zurechtkommen und nicht darunter leiden. Häufig zeigen die Kinder ihren Schmerz jedoch nicht oder drücken ihn auf eine den Bezugspersonen schwer verständliche Art aus. Eine Trennung bleibt für die meisten Kinder ein sehr schmerzhafter Verlust, den auch Eltern neben ihren eigenen Belastungen wahrnehmen sollten. Es braucht Zeit, Kraft und liebevolle Begleitung, um diesen Schmerz zu bearbeiten. Erfahrungsgemäß kann ein Verlust besser verkraftet werden, je mehr innere und äußere Ressourcen vorhanden sind. Darum sollten solche Ressourcen auch nach Trennungen unbedingt gefördert und gestärkt werden. Innere Ressourcen können sein: Selbstwert, Selbstliebe, Selbstwirksamkeit, Lebensfreude, Sicherheit, positive Erfahrungen im Umgang mit Verlusten. Ein stabiles soziales Netz, Erhaltung von Bindungen, Zuneigung, Liebe, sachliche wertfreie Informationen, als hilfreich empfundene Unterstützung, finanzielle Sicherheit, Erhalt von Strukturen stellen äußere Ressourcen dar. Insgesamt tragen Eltern dazu bei, die Verlustsituation für ihr Kind zu erleichtern, wenn sie bei wesentlichen Entscheidungen, die das Kind betreffen, kooperieren, wenn sie weiterhin gemeinsam die Verantwortung für das Kind übernehmen, sich gegenseitig über wichtige Ereignisse oder Entwicklungen des Kindes informieren, respektvoll miteinander umgehen und eigene Bedürfnisse von denen des Kindes trennen. Kindern und Jugendlichen fällt es häufig schwer, zu akzeptieren, dass die Trennung Realität ist. Zeigen beide Elternteile, dass sie das Kind weiterhin lieben, halten beide Kontakt zum Kind, machen aber gleichzeitig deutlich, dass die Trennung endgültig ist, wird es Kindern und Jugendlichen leichter fallen, die gegenwärtigen Lebensumstände anzunehmen. Zudem sollten Kinder und Jugendliche von vielen Seiten die Zusicherung erhalten, dass es richtig ist und sein darf, wenn sie weiterhin beide Elternteile lieben. Eltern und andere Bezugspersonen sollten dafür sorgen, dass eine Bindung zu beiden Elternteilen möglich ist. Ehrliche Zuneigung und die Bestätigung der Eltern, aber auch die von Menschen aus dem Lebensumfeld des Kindes, erwünscht zu sein, helfen, Gefühle wie nicht geliebt, gewollt zu sein oder versagt zu haben zu vermeiden sowie die eigene Entwertung zu verhindern. Fällen Kinder und Jugendliche die Entscheidung selbst, bei welchem Elternteil sie leben möchten, ist es entlastend, wenn diese von beiden Elternteilen respektiert und von niemandem mit Liebensentzug sanktioniert wird. Auch die wiederholte Bestätigung, dass das Kind keine Schuld an der Trennung der Eltern trägt, ist hilfreich im Trauerprozess. Damit Kinder und Jugendliche sich auf die neue Lebenssituation einstellen können, sollten sie frühzeitig ausreichend, sachlich und ihrem

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Verständnis entsprechend über bevorstehende Veränderungen informiert werden. Sie sollten gefragt werden, was sie sich wünschen, aber nicht zu Entscheidungen gezwungen werden. Zudem brauchen Kinder und Jugendliche die Möglichkeit, ihrem Schmerz um die Trennung der Eltern mit den dazugehörigen Konsequenzen Ausdruck zu verleihen, auch wenn andere Bezugspersonen (Elternteil, Großeltern, Freunde) diesen nicht teilen. Hier ist es eine große Hilfe, wenn Bezugspersonen sowie das soziale Umfeld Kindern und Jugendlichen das Gefühl vermitteln, dass sie um das, was sie durch die Trennung verloren haben, trauern dürfen. Erschwert wird der Trauerprozess, wenn Kinder erleben, dass ihr Verlust nicht als solcher anerkannt wird (zum Beispiel erklärt wird: »Für dich ändert sich doch nicht so viel und du hast doch immer noch beide Eltern.«). Kinder brauchen auch nach Trennungen die Möglichkeit, über Erinnerungen zu sprechen und diese zu bewahren. Sie müssen Vergangenes wie Zukünftiges, das ihre Ursprungsfamilie« betrifft, wertfrei erfahren. So kann die Bindung zu beiden Elternteilen erhalten, eine eigene Identität entwickelt und der Verlust in das weitere Leben integriert werden. Nach einer Trennung empfinden Kinder das Leben oft als unsicher, haben das Gefühl, dass nichts wirklich verlässlich und dauerhaft ist. Hilfreich ist es darum, möglichst viel Kontinuität, Stabilität und Sicherheit im Alltag (Hobbys, Rituale, Wohnsituation) zu erhalten. Wesentlich ist hier der Erhalt von Bindungen zu Großeltern, anderen Mitgliedern der Ursprungsfamilie oder zu engen Bezugspersonen, damit Kinder und Jugendliche sich nicht von allen Menschen verlassen fühlen und Möglichkeiten bekommen, in ihrem Lebensumfeld zu trauern. Eltern sollten trotz eigener Verletzungen dazu beitragen, dass Kinder keine einseitigen, idealisierenden oder abwertenden Vorstellungen von Elternteilen entwickeln. Auch wenn seit Jahren kein Kontakt zu einem Elternteil bestand oder dieser nie kennen gelernt wurde, kann sich im Laufe der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen Trauer um eine nicht gelebte Beziehung entwickeln. Diese Trauer verlangt ebenfalls Anerkennung und Begleitung. Trauerprozesse nach einer Trennung können für betroffene Kinder und Jugendliche sehr intensiv und anstrengend sein. Oft können außenstehende Menschen Kinder und Jugendliche entlasten und unterstützen, um mit den aus der Trennung erlittenen Verlusten leben zu lernen. Zudem können Informationen zu Trauerprozessen und Trauerreaktionen sowie die professionelle Unterstützung des Kindes und der Bezugspersonen sehr wertvoll sein.

Maries Trauer nach der Trennung Maries Eltern sind so mit sich und ihren Problemen beschäftigt, dass sie Marie als Trauernde gar nicht wahrnehmen. Auch das soziale Umfeld erkennt nicht, dass Marie ihre Eltern und ihr Zuhause verloren hat. Es fehlen Menschen, denen sie sich mit ihren Gefühlen und

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Kinder erleben die Trennung ihrer Eltern

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Sorgen anvertrauen kann. Marie empfindet Schuld an der Trennung der Eltern. Hätte sie die Mutter nicht kontrolliert, wäre, so Maries Idee, die Trennung vielleicht doch noch zu vermeiden gewesen.

Die Geschichte von Marie zeigt beispielhaft, wie wenig Unterstützung Kinder und Jugendliche oft finden, wenn sie sich schwer tun, die Trennung ihrer Eltern zu verkraften. Häufig nehmen sowohl Eltern als auch andere Bezugspersonen die Trauerreaktionen von Kindern und Jugendlichen nach einer Scheidung gar nicht wahr. Hilfreich wäre in Maries Fall die Entlastung von den Schuldgefühlen durch Erklärungen der Eltern. Zudem könnte Marie leichter einen Umgang mit der erlittenen Trennung finden, wenn die Bindung und Liebe zu beiden Eltern erhalten bliebe. Dies würde bedeuten, dass die Eltern eigene Bedürfnisse und Verletzlichkeiten zurückstellen müssten. So könnte ein für Marie angemessenes Trauern um ihren Verlust und eine Anpassung an die neue Lebenssituation gelingen.

Abschließende Merksätze Folgende Merksätze fassen abschließend noch einmal zusammen, was im Hinblick darauf, wie Kinder und Jugendliche die Trennung ihrer Eltern erleben, zu beachten ist: •• Die Trennung sowie sekundäre Verluste aus der Trennung können nachfolgende Trauerprozesse der Kinder und Jugendlichen erschweren oder blockieren. •• Kinder und Jugendliche brauchen nach einer Trennung auch längerfristig und immer wieder Zeit und Raum für ihre Trauer. •• Kinder und Jugendliche sollten wertfrei, ihrer Entwicklung entsprechend, über die anstehende Trennung und Veränderungen des Lebensalltags informiert werden. •• Kinder und Jugendliche aus getrennten Beziehungen brauchen die ehrliche Anerkennung ihres Verlustes und müssen als Trauernde von Bezugspersonen und ihrem sozialen Umfeld wahrgenommen werden. •• Die Trauer des Kindes darf nicht geschmälert werden, auch wenn das soziale Umfeld sich nicht mit beiden Elternteilen verbunden fühlt. •• Kinder und Jugendliche dürfen nicht in die Konflikte der Eltern involviert werden. •• Kinder und Jugendliche brauchen emotionale Zuwendung, Raum, Zeit und Ausdruck für ihre Gefühle, Gedanken und Sorgen sowie die Förderung individueller Ressourcen. •• Bezugspersonen müssen respektieren, dass ein Kind, ein Jugendlicher beide Elternteile liebt. •• Kinder und Jugendliche aus getrennten Beziehungen benötigen Sicherheit, Stabilität sowie Kontinuität und die Erfahrung, dass verlässliche Strukturen bestehen bleiben. •• Kinder und Jugendliche nach Trennungen brauchen eine besondere Bestätigung, erwünscht und geliebt zu sein.

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Stephanie Witt-Loers

•• Kinder und Jugendliche benötigen die Bestätigung, dass sie an der Trennung keine Schuld tragen. •• Kinder und Jugendliche müssen über Erinnerungen sprechen, sie bewahren dürfen und haben das Recht, Vergangenes und Zukünftiges ihrer Ursprungsfamilie wertfrei zu erfahren. •• Kinder und Jugendliche brauchen nach einer Trennung ihrer Eltern verlässliche und belastbare Bezugspersonen in ihrer Trauer.

Literatur Figdor, H. (2004). Kinder aus geschiedenen Ehen: Zwischen Trauma und Hoffnung. Wie Kinder und Eltern die Trennung erleben. Gießen: Psychosozial.

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Familien mit Kindern im Kontext der Palliativmedizin

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Lukas Radbruch

Palliativpatienten mit Kindern – die Sicht eines Arztes

Die Diagnose einer lebensbedrohlichen Erkrankung, zum Beispiel einer fortgeschrittenen Krebserkrankung oder einer unheilbaren neurologischen Erkrankung wie der amyotrophen Lateralsklerose, bricht meist wie ein Wirbelsturm über den Patienten herein. Plötzlich ist die Zeit, die bleibt, so viel kürzer als geplant. All die Dinge, die man später mal machen wollte, der Umbau im Haus, die Weltreise, das Buch, das man schreiben wollte, all dies wird nun plötzlich nicht mehr möglich sein. Besonders schlimm ist dieser Einbruch aber, wenn es um die eigenen Kinder geht. Es gehört doch zur Elternrolle, dass man die Kinder aufwachsen sieht, miterlebt, wie sie Schule und Ausbildung durchlaufen, später Beruf und Partner wählen und vielleicht eine eigene Familie gründen. Mit der Mitteilung der Diagnose ist dieses Miterleben nun in Frage gestellt. Wie viele gemeinsame Familienfeste und wie viel gemeinsames Erleben werden noch bleiben? Aus diesem Verlust der zukünftigen Möglichkeiten kann eine tiefe Trauer und Verzweiflung entstehen. Bei den meisten Palliativpatienten wird im Verlauf der Erkrankung ein Wechsel der Prioritäten deutlich. Wenn früher vielleicht der Beruf oder bestimmte Statussymbole einen hohen Stellenwert für die Lebensqualität hatten, kommt nun die Familie an erster Stelle. Umso bedrückender wird dann die Trauer um die bisher verpassten und in der Zukunft nicht mehr möglichen Gelegenheiten, verschiedene Situationen und Ereignisse mit den Kindern mitzuerleben. Während bei vielen Palliativpatienten im Verlauf einer lebensbedrohlichen Erkrankung der bevorstehende Tod zunehmend akzeptiert wird, scheint eine solche Akzeptanz für Eltern mit kleinen Kindern nicht möglich. Mütter mit kleinen Kindern können geradezu als Beispiel dafür gelten, dass in den Trauerphasen von Kübler-Ross das Stadium der Akzeptanz eben nicht immer erreicht wird. Während ich mit einer vierzigjährigen Patientin mit fortgeschrittenem Ovarialkarzinom die Vor- und Nachteile einer Chemotherapie diskutierte, die so viele Nebenwirkungen haben würde und nur so geringe Chancen auf Tumorverkleinerung und Lebensverlängerung (nicht Heilung), dass ich diese Therapie eigentlich gar nicht anbieten wollte, bestand sie auf einem Therapieversuch. Sie wolle lieber mit fliegenden Fahnen untergehen als aufgeben, denn sie habe das Gefühl, das sei sie ihren Kindern schuldig, sagte sie. Neben ihrem Bett hing ein Bild, das ihre zehnjährige Tochter gemalt hatte, mit der Unterschrift: »für Mama zum Gesundwerden«. Da scheint es ja gar nicht möglich zu sein, dass man stirbt und die kleinen Kinder zurücklässt.

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Lukas Radbruch

Vonseiten der Kinder wird wiederum häufig ein ganz natürlicher Umgang mit Krankheiten und kranken Menschen wie auch mit dem Tod beschrieben. Balfour Mount, einer der Pioniere der Palliativmedizin, beschrieb eine rührende Szene, als einige der Patientinnen der Palliativstation in Montreal vor dem Gebäude im Rollstuhl in der Sonne saßen. Ein kleines Mädchen vom nahegelegenen Kindergarten kam auf eine Patientin zu, die an einem entstellenden Tumor im Gesicht litt, und fragte: »Du hast aber ein hässliches Gesicht! Soll ich dir einen Kuss geben, damit es besser wird?« (»My, you have an ugly face! May I kiss it to make it better?«) Auch in meiner Erfahrung gehen Kinder von schwer kranken und sterbenden Patienten ganz normal mit der ungewohnten Situation um. Das bedeutet für mich aber auch, dass ich nicht das gleiche Verhalten erwarte wie von einem erwachsenen Angehörigen. Kleine Kinder sind nicht auf Kommando voller Mitgefühl und Pietät, sie sind auch nicht leise, nur weil da jemand im Bett liegt. Wenn kleine Kinder zu Besuch auf der Palliativstation sind, kommt es oft nur zu einem kurzen Intermezzo am Patientenbett, und danach flitzen sie über die Station, die Terrasse oder den Innenhof, während der Patient vielleicht noch möchte, dass sie auf dem Bett sitzen und schmusen. Dies hängt natürlich auch damit zusammen, dass jüngere Kinder noch ein anderes Verständnis vom Tod haben als Erwachsene. Das Konzept des Todes beinhaltet aus thanatologischer Sicht die drei wesentlichen Prinzipien Universalität (jeder Mensch stirbt), Nonfunktionalität (im Tod haben alle Körperfunktionen aufgehört) und Irreversiblität (der Tod ist unumkehrbar). Aus der psychologischen Forschung ist bekannt, dass kleine Kindern diese drei Prinzipien nicht oder nur eingeschränkt annehmen. Zur Irreversibilität: »Ja, Opa ist tot, aber wann kommt er denn wieder?« Zur Nonfunktionalität: »Kriegt Oma denn noch Luft, wenn der Sarg zugeschraubt wird?« Zur Universalität: »Ja, jeder stirbt, aber doch nicht mein Papa, und ich auch nicht.« Der Tod ist für sie manchmal noch nichts so Endgültiges, Erschreckendes, Unwiderrufliches. Erst im Alter zwischen vier und zwölf Jahren stellt sich langsam das Verständnis für die drei Prinzipien ein (wenngleich mir in meinen zynischen Momenten der Verdacht kommt, dass auch bei manchen Erwachsenen vor allem die Universalität nicht ganz angenommen wird). Dennoch oder vielleicht gerade deshalb erlauben die Palliativstationen den Besuch von Kindern und Jugendlichen und unterstützen die Patienten und Angehörigen darin, die Kinder mitzubringen. Feste Besuchszeiten sind auf einer Palliativstation ohnehin nicht möglich, aber gerade für junge Familien mit Kindern wird gern flexibel geregelt, dass und wie die Kinder zu Besuch kommen können. Mittlerweile gibt es gute Bücher zum Thema Tod und Sterben für Kinder und Jugendliche aller Altersgruppen, und die meisten Palliativstationen haben solche Bücher und andere Informationsmaterialien für Kinder als Angehörige und ihre Eltern sichtbar im Angebot. Das steht im direkten Gegensatz zu anderen Bereichen der Medizin, zum Beispiel zu Intensivstationen oder zur Geburtshilfe. Auf vielen Intensivstationen sind Kinder unter 16 Jahren als Besucher nicht erlaubt, selbst wenn der Patient schwer erkrankt oder verletzt ist, vielleicht an seiner Erkrankung oder an den Verletzungs-

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Palliativpatienten mit Kindern – die Sicht eines Arztes

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folgen versterben und dann eventuell keine Möglichkeit eines Zusammentreffens mit den Kindern mehr bestehen wird. Begründet wird dies wie in der Geburtshilfe damit, dass von den Kindern die Gefahr einer Infektion des geschwächten Patienten ausgeht. Auch hier findet langsam ein Umdenken statt, und viele Intensivmediziner lassen Ausnahmen von den strengen Regeln zu. Ein aktuelles Beispiel zeigt aber, dass dies Umdenken noch nicht alle Intensivstationen erreicht hat. Ein im Palliativkonsildienst begleiteter Patient mit multiplem Myelom hatte sich trotz der onkologischen Behandlung in seinem Gesundheitszustand rapide verschlechtert. Die Oberärztin der Intensivstation erklärte der Ehefrau, dass sie nur zu den Besuchszeiten nachmittags kommen könne. Während ihre Kinder (11, 14 und 17 Jahre) vormittags in der Schule seien und sie somit allein zum Besuch hätte kommen können, müsse sie jedoch dann beim Krankenbesuch nachmittags die Kinder mitbringen, entgegnete daraufhin die Ehefrau. Auch dies wurde von der Oberärztin aber abgelehnt, die Kinder könnten nicht auf die Intensivstation kommen. Erst durch umständliche Organisation wurde es der Ehefrau möglich, wenigstens allein und ohne die Kinder den Ehemann zu besuchen. Ein Besuch der Kinder war nicht möglich. Das wäre auf einer Palliativstation oder im Hospiz nicht denkbar. Hier muss man sich eher manchmal davor schützen, zu heftig in die andere Richtung zu reagieren, wenn die Kinder vielleicht mehr im Fokus der Aufmerksamkeit des Teams stehen als der Patient. Bei einer Patientin, die wegen eines Ovarialkarzinoms auf der Palliativstation aufgenommen wurde, war bereits einige Tage vor der Aufnahme von der schwierigen Familiensituation berichtet worden. Die drei Töchter waren im Teenageralter, und bereits vor der stationären Aufnahme wurde davon gesprochen, dass sie Probleme mit der Krankheitsverarbeitung hätten und das Team sich dringend um sie kümmern müsse. Als die Patientin dann in Begleitung ihrer Familie aufgenommen wurde, wurde sie selbst erst mal fast gar nicht beachtet, weil alle Aufmerksamkeit auf die Kinder gerichtet war. Die Kinder selbst hatten aber bereits eine gute Anbindung an ein Familientherapiezentrum, und es bestand kein Bedarf an weiteren Therapie- oder Begleitungsangeboten. Die Angehörigen der Palliativpatienten verhindern manchmal, dass die Kinder mit zum Besuch ins Krankenhaus kommen. Meist steckt die Angst dahinter, die Kinder würden es nicht aushalten, vielleicht auch über die körperlichen Veränderungen des Kranken erschrecken, zum Beispiel bei extremem Gewichtsverlust oder bei entstellenden Tumoren im Gesicht. Fast immer ist diese Angst unberechtigt. Die Kinder können eher mit dem Anblick der krankheitsbedingten Veränderungen umgehen als mit den Fantasien und Schuldgefühlen, die bei ihnen entstehen, wenn sie am Besuch gehindert werden. Als Palliativmediziner müssen wir die Eltern oft informieren und manchmal auch überzeugen, dass so ein Krankenbesuch dem Kind nicht schaden wird. Allerdings sollten die Kinder den Besuch auch selbst wollen. Wenn ein Kind den Palliativpatienten nicht besuchen will, sollte es nicht dazu überredet werden. Für eine solche Ablehnung mag es viele Gründe geben, so berichtete eine Mutter, dass die Toch-

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Lukas Radbruch

ter des Patienten einfach nicht das Krankenhaus betreten wolle, weil sie damit Krankheit und Siechtum verbinde, denn dort sei der Vater ja nur, wenn es ihm schlecht gehe. Genauso sollte Jugendlichen als Angehörigen genügend Freiräume gelassen werden. Der Wunsch nach Nähe zum erkrankten Elternteil und das Bedürfnis nach Abgrenzung können in einen starken Konflikt treten und die normalen Probleme der Pubertät ins Unerträgliche steigern. So berichtete die Tochter einer Palliativpatientin, dass sie natürlich sehr traurig sei, aber manchmal auch sehr wütend auf ihre Mutter, denn ihre Freundinnen würden ausgehen und sich amüsieren, aber sie müsse immer bei der kranken Mutter bleiben, und wenn sie mal mit auf eine Party gehe, habe sie gleich ein schlechtes Gewissen. Ähnliche Probleme werden auch von anderen Jugendlichen berichtet. Die Arbeit von Palliativmedizinern mit Patienten, die Kinder haben, ist durch die enge Zusammenarbeit im palliativmedizinischen Team gekennzeichnet, in dem Mitarbeiter der Pflege, Sozialarbeiter, Psychologen und andere Patienten und ihre Familien unterstützen und begleiten. Manchmal ist es hilfreich, gegenüber den Eltern zum Beispiel zu thematisieren, welche weiteren Erwachsenen die Kinder und Jugendlichen in diesen Situationen unterstützen könnten und dass es oft hilfreich sei, wenn Erzieher und Lehrer informiert seien. Wissen Letztere, was Kinder und Jugendliche erleben, können sie wichtige Unterstützer sein. In manchen Fällen, in denen eine Begleitung im palliativmedizinischen Kontext allein nicht ausreicht, ist es ratsam, ins Unterstützernetzwerk Trauerbegleiter und bei Bedarf auch Psychotherapeuten, möglichst mit Erfahrung in Familientherapie, einzubinden. Als erster Schritt empfiehlt sich aber zunächst, im Team kritisch zu überlegen, ob das Problem denn nun auf der Seite der Patienten, der Kinder oder des Personals liege, und erst danach die notwendigen Maßnahmen einzuleiten. Auch für Mitarbeiter im hospizlichen und palliativen Kontext stellen Familien mit Kindern nicht selten eine Herausforderung dar. Patienten, die Kinder hinterlassen, berühren oft in besonderem Maße. Vor diesem Hintergrund erfordert es eine gute Reflexion des eigenen beruflichen Handelns, um die Bedürfnisse der Patienten und ihrer Familien in den Mittelpunkt stellen zu können. In den weitaus meisten Fällen werden die Kinder aber kein Problem darstellen, sondern auf der Palliativstation so wie auch in der häuslichen Versorgung die verbleibende Lebenszeit der Patienten mit Wärme und Freude füllen, und vielleicht sind sie manchmal auch ein Vorbild für die Erwachsenen mit ihrem natürlichen Umgang mit Sterben und Tod.

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Nicole Nolden

Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen als Angehörige von Patienten auf der Palliativstation

Ein Patient der Palliativstation, Herr Meier, der an einer weit fortgeschrittenen Krebserkrankung mit sichtbaren, exulzerierenden, tennisballgroßen Metastasen litt, bat um eine Beratung bezüglich des Umgangs mit seiner sieben Jahre alten Tochter Lisa. Das Gesicht von Herrn Meier war entstellt, und er hatte keine Haare auf dem Kopf. Das Verhältnis zu seiner Exfrau war zerrüttet, und das letzte Treffen mit seiner Tochter, zu der er immer ein inniges Verhältnis gehabt hatte, lag elf Monate zurück. Der einzige Wunsch, den Herr Meier vor seinem nahenden Tod hatte, war, seine einzige Tochter Lisa noch einmal zu sehen. Auch die Tochter wollte ihn unbedingt besuchen. Mutter und Vater hatten Sorge, wie die Tochter den Anblick und die Situation aufnehmen würde und wie sie selbst mit dem Kind umgehen sollten.

Theoretischer Hintergrund Kinder und Jugendliche erleben den Verlust einer wichtigen Bezugsperson als eine zentrale Gefährdung ihres Bedürfnisses nach Sicherheit und Orientierung. Der Verlust ist in erster Linie mit Angst assoziiert. Eine Vielzahl von unterschiedlichen Reaktionen wie Aggressionen, Depressionen, Schulschwierigkeiten, Essstörungen, Somatisierungsstörungen, Substanzabusus, Rückzug und Isolation bis hin zu Schuldfantasien sind möglich (Znoj, 2004). Betroffene und Angehörige fühlen sich in ihrem elterlichen Selbstverständnis verunsichert. Sie sind damit beschäftigt, sich selbst mit der Krankheit auseinanderzusetzen, und fühlen sich häufig überfordert, die Kinder adäquat über die Krankheit und den nahen Tod zu informieren (Rauch u. Muriel, 2004). Manche Kinder leiden still und unbemerkt (Visser et al., 2005). Eltern unterschätzen oft die Belastung der Kinder, da sie einen vermeintlich guten Umgang der Kinder mit der Situation wahrnehmen. Ein unauffälliges Verhalten der Kinder, die ihre Eltern nicht zusätzlich mit ihren Sorgen und Ängsten belasten wollen, wird fehlinterpretiert (Welch, Wadsworth u. Compas, 1996). Eine über einen langen Zeitraum aufrechterhaltene Diskrepanz zwischen der wahrgenommenen Realität und der wohlgemeinten Lüge der Eltern, um die Kinder vor vermeintlich schwierigen Erfahrungen zu schützen, kann zu psychischen Erkrankungen führen, die manchmal auch erst Jahre später zutage

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Nicole Nolden

treten (Siegel, Raveis u. Krus, 1996). In der Stressforschung gilt der Tod eines Elternteils als gravierendstes kritisches Lebensereignis für Kinder (Walper u. Schwarz, 2002). Schweigen verunsichert die Kinder zutiefst, sie spüren die Furcht der Erwachsenen und übernehmen sie (Husebø u. Klaschik, 2006). Je plötzlicher ein Kind den Tod erlebt, desto schwerer wird es, dieses Erlebnis zu verarbeiten. Deshalb sollte Kindern die Chance gegeben werden, sich frühzeitig auf dieses tragische Ereignis vorzubereiten (Franz, 2008). Ein wichtiges Anliegen sollte es daher sein, die Kommunikation zwischen den Erwachsenen und den Kindern zu fördern, die Aufmerksamkeit der Eltern auf die Bedürfnisse der Kinder zu lenken und die elterlichen Kompetenzen in dieser Krise zu stärken (Rauch u. Muriel, 2004). Nicht immer ist dies jedoch in einer solch kritischen Phase umzusetzen. Vom Verlust des Partners betroffen oder geschwächt durch die eigene Krankheit, hat der Vater oder die Mutter vielleicht nicht die Kraft, sich den Kindern so zuzuwenden, wie sie es benötigen (Tausch-Flammer u. Bickel, 2012). Hilfreich ist für Kinder und Jugendliche in dieser Zeit ein direkter Ansprechpartner, der sie auf Wunsch begleitet und sie zu Fragen, zum Gespräch und zum Ausdrücken ihrer Gefühle ermuntert (Romer u. Haagen, 2007). »Besonders wenn ein Familienmitglied im Sterben liegt, kann es für die Kinder nichts Schlimmeres geben, als ›geschützt‹ und ferngehalten zu werden, bis es zu spät ist. Wenn die Kinder als Kinder von Anfang an teilnehmen dürfen, werden sie oft gut vorbereitet sein. In der Regel werden dann die Eltern erleben, dass die Kinder ihnen eine nicht wegzudenkende Unterstützung geben« (Husebø u. Klaschik, 2006, S. 197). Jugendliche sollten besondere Beachtung finden, da sie sich in einer Entwicklungsphase befinden, die geprägt ist von Merkmalen wie körperliche Veränderungen, Identitätssuche, Definition der Geschlechterrolle, Autonomiestreben, Unsicherheit, Instabilität, Ängste und Gefühlschaos. Diese Instabilität des Ichs und die vielen zu bewältigenden Entwicklungsaufgaben können es dem Jugendlichen erschweren, seine Trauer erfolgreich zu bewältigen. Der Tod einer geliebten Person kann einen Jugendlichen leicht aus der Bahn werfen. Sie weisen eine höhere Verletzlichkeit als Erwachsene auf, wenn sie mit einer kritischen Lebenssituation konfrontiert werden (Petermann, 2013). Tabelle 1 bietet einen Überblick über mögliche Reaktionen von Jugendlichen bei schwerer Erkrankung eines Familienmitglieds.

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Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen

Tabelle 1: Mögliche Reaktionen Jugendlicher auf die schwere Erkrankung eines Familienmitglieds Normales Verhalten eines Jugendlichen in der Pubertät

Verhalten eines Jugendlichen bei schwerer Erkrankung eines Familienmitglieds

Zitate von Jugendlichen während der Begleitung auf einer Palliativstation*

Heftige Reifungs- und Ablösungskonflikte

Autonomiebestrebungen werden aufgegeben/stattdessen hohes Verantwortungsgefühl

»Nein, ich kann nicht mit meinen Eltern über meine Probleme sprechen. Sie würden darunter zusammenbrechen. Ich muss für alle stark sein.«

Konformitätsbestrebungen

Sozialer Rückzug

»In der Schule versuche ich immer zu lächeln, damit die anderen nicht erfahren, wie es mir geht. Ich will nicht, dass jemand über mich redet. Meine Lehrer wissen, dass meine Mama krank ist, aber so Genaueres auch nicht.«

Perspektiven suchen, Zukunft planen

Angstgefühle

»Kann ich jetzt noch in einer anderen Stadt studieren? Muss ich mich immer um meinen Vater kümmern, wenn meine Mutter gestorben ist?« »Müssen wir umziehen?«

Vielzahl von Entfaltungsmöglichkeiten

Schlechtes Gewissen

»Mein Vater hat mich einmal gefragt: ›Du weißt, wie krank deine Mutter ist?‹ Ich habe geantwortet: ›Ja Papa, aber ich kann nicht die ganze Zeit traurig sein.‹ Er weiß nicht, wie schlecht es mir geht und dass mir schwindelig ist und ich Kopfweh habe.« »Ich habe ein schlechtes Gewissen, wenn ich mit meinen Freunden in die Disko gehe.«

Auflehnung gegen die Eltern

Idealisierung des Verstorbenen, Überforderung

»Meine Mutter hat auch nie gejammert und alles geschafft. Ich möchte so werden wie sie.«

Keine Schwäche zeigen

Wut und Aggression

»Meine Lehrer und Mitschüler sind Dreck. Alle sollen mich in Ruhe lassen!« »Ein Klassenkamerad hat gesagt: ›Fick deine Mutter.‹ Da habe ich zugeschlagen.«

Verselbstständigung der Jugendlichen

Verdrängung

»Meine Freunde wissen Bescheid. Sie sind bei mir, wenn ich in der Pause auf der Schultoilette weine. Meine Freunde kommen mich dann besuchen, und wir unternehmen etwas. Sie versuchen mich abzulenken, und das tut gut.«

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Nicole Nolden

»Helfen dir deine Freunde?« »Ja sie sind da für mich, aber richtig helfen können sie nicht. So viele sagen, wir können sprechen, aber das geht nicht so richtig. Auch mit meiner Verwandtschaft geht es nicht.« Lebenskonzept in Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Normen und Anforderungen

Auffälligkeiten

»Mir geht es wirklich richtig schlecht.« »Wo im Körper empfindest du dieses Gefühl?« »Im Kopf und im Herz.« »Und wie sieht es aus? Kannst du es mit einer Farbe beschreiben?« »Auf jeden Fall ganz dunkel.« »Und wie fühlt es sich an?« »Es ist ganz, ganz schwer.«

* Zentrum für Palliativmedizin, Uniklinik Köln

Ein Trauerprozess muss jedoch nicht nur negative Auswirkungen haben. So gaben Kinder in einer Umfrage an, besonders in schwierigen Situationen, die sie durchleben mussten, gereift zu sein (Timmermanns, Frankenstein-Anft u. Schnabel, 1998). Kinder können durch ein so einschneidendes Ereignis auch besondere soziale Kompetenzen ausbilden: »Eine Schwierigkeit liegt sicherlich darin, die reifen, sozial kompetenten Verhaltensweisen der Kinder von den ›stummen Hilfeschreien‹ und den erwünschten angepassten Reaktionen zu unterscheiden« (Hümmeler, Tari, Drobniak u. Heußner, 2009, S. 18).

Erfahrungen auf einer Palliativstation und praxisrelevante Hinweise Die Auseinandersetzung mit einer schweren Erkrankung bedeutet für Eltern solch eine Anstrengung, dass sie häufig keine Kraft mehr haben, die Kinder adäquat zu begleiten. Erfahrungen mit sterbenden Menschen auf der Palliativstation, die Kinder oder Enkel zurücklassen müssen, verdeutlichen immer wieder, wie hilfreich es für Familien sein kann, in solch einer Krisenzeit von einer neutralen, kompetenten und ruhigen Person begleitet, beraten und unterstützt zu werden. Dies erfordert Zeit, Flexibilität, Erfahrung und Wissen. Sowohl in Palliative-Care-Schulungen als auch auf der Palliativstation kann man immer wieder beobachten, dass die Mitarbeiter im Umgang mit Kindern unsicher sind und Sorge haben, etwas falsch zu machen. Die Erfahrungen auf der Palliativstation in Köln mit der Bereitstellung eines speziellen Ansprechpartners für die Trauer von Kindern und Jugendlichen zeigen, dass ein solcher Ansprechpartner eine Entlastung für die Mitarbeiter darstellt. Diese Person kann Fragen der Eltern beantworten, sie im Umgang mit ihren Kindern stärken und ihnen helfen, diese altersgerecht zu unterstüt-

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Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen

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zen. Sie kann den Eltern Mut zusprechen, dass sie das Richtige tun, und ihnen Hilfsmittel an die Hand geben für eine Situation, auf die sie niemals vorbereitet wurden und die allen so Unvorstellbares abverlangt. Prof. Dr. Raymond Voltz, Direktor des Zentrums für Palliativmedizin der Uniklinik Köln, hat schon sehr früh die Notwendigkeit erkannt, die Mitarbeiter in dieser Hinsicht zu entlasten, und durchgesetzt, dass in seinem Zentrum eine speziell geschulte Mitarbeiterin beschäftigt wird. Wichtig bei der Begleitung ist, den Eltern oder Bezugspersonen die Verantwortung und Betreuung ihrer Kinder so lange wie möglich selbst zu überlassen. Natürlich haben Eltern große Angst vor einem Gespräch, in dem es um ihren nahen Tod und den Abschied von ihrem Kind gehen könnte. Sehr eindrucksvoll war die Aussage der schwer kranken Mutter eines 14-jährigen Sohnes: »Stellen Sie sich vor, da sagt eine Bekannte zu mir, ich müsse mich nun langsam von meinem Sohn verabschieden. Das ist unmöglich. Keine Mutter würde sich jemals von ihrem Kind verabschieden. Ich habe meinem Sohn im Gegenteil gesagt, dass ich immer wie ein Kokon um ihn sein werde und dass meine Liebe ihn begleiten wird, solange er lebt.« In Beratungsgesprächen muss deutlich werden, dass Kinder immer die Wahrheit erfahren und über die Krankheit aufgeklärt werden sollen. Sollten sie zufällig von anderen davon erfahren, kann das einen nicht wieder gutzumachenden Vertrauensverlust bedeuten, und es schwächt das Selbstbewusstsein des Kindes. Wo sich der Krebs im Körper befindet, kann man anhand eines Anatomiebuches oder einer einfachen Zeichnung zeigen. Niemals sollte man dies am eigenen oder am Körper der Kinder erklären. Ebenfalls sollte man den Eltern empfehlen, über Schuld und Ansteckungsgefahr zu sprechen, auch wenn Eltern immer wieder mit hochgezogenen Augenbrauen versichern, dass dies kein Thema für die Kinder sei. Ein Elternpaar erzählte, dass ihre sieben und neun Jahre alten Kinder seit drei Jahren nichts von der Schwere und der Art der Erkrankung der Mutter wüssten. Als die Kinder danach gefragt wurden, antworteten sie wie aus der Pistole geschossen: »Sie hat Krebs.« »Was glaubt ihr, was passieren wird?« »Sie stirbt bald.« »Warum hat sie Krebs?« Der Sohn antwortete: »Weil ich immer so ein böser Junge war und der Mama so viel Stress gemacht habe.« Die kleine Schwester schrie dazwischen: »Und ich habe auch Krebs. Mir tut mein Hals so weh.« Beide Kinder zeigten extreme Verhaltensauffälligkeiten. Der Sohn prügelte sich viel, und das Mädchen klaute. Die Lehrer waren über die Schwere der Krankheit nicht informiert. Ein anderes siebenjähriges Mädchen glaubte, dass die Ärzte schuld daran seien, da sie die Mama immer schlafen legten und sie danach kaum aufwachen könne. Sie sah die Ansteckungsgefahr darin bestätigt, dass sie sich immer die Hände desinfizieren musste. Vermeintlicher Schutz des Kindes vor der Wahrheit kann dieses zutiefst verunsichern, wie zum Beispiel die Aussage einer Mutter: »Keine Sorge, ich breche den Krebs aus.« Oft ist die Fantasie der Kinder schlimmer als die Realität, vor der die Eltern sie am Ende ohnehin nicht schützen können. So erzählte ein sechsjähriges Mädchen: »Die Mama hat ein Monster im Kopf.« Eltern sollten ihre Kinder auf mögliche Veränderungen vorbereiten und ihnen die Sicherheit geben, dass sie als eine der Ersten informiert werden, sobald sich etwas

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Nicole Nolden

Dramatisches verändert. So können Kinder beruhigt in den Kindergarten oder die Schule gehen, ohne Angst zu haben, dass ihnen niemand Bescheid sagen würde. Die Frage des Kindes: »Stirbt Papa jetzt?«, sollte beantwortet werden mit: »Wir machen uns alle große Sorgen. Keiner weiß, wann jemand stirbt, aber es kann sein, dass Papa nicht mehr lange leben kann.« »Was, wenn du auch stirbst?« »Du hast Angst, dass du dann alleine bist, oder? Ich hoffe, dass ich noch lange lebe. Ich passe im Straßenverkehr auf und gehe zu Vorsorgeuntersuchungen. Wenn ich aber doch sterben sollte, haben wir vorgesorgt. Dann kommst du zu Tante Ida.« Klarheit ist hier sehr wichtig. Kinder brauchen die Sicherheit, dass ihnen jemand zu essen und ein Dach über dem Kopf gibt. Den Kindern sollten alle Veränderungen durch die Krankheit und die Wirkung der Medikamente erklärt werden. »Die Medikamente helfen gegen die Schmerzen, machen aber sehr müde.« Oft haben Eltern den trügerischen Eindruck, dass ihre Kinder alles ganz gut verkraften oder dass sie ohnehin noch nichts verstehen würden. Manchmal berichten Eltern auch verwundert: »Mein Kind trauert oder weint gar nicht.« Auf die Frage, wie die Eltern selbst mit ihrer eigenen Trauer umgehen und ob sie vor den Kindern weinen, entgegnen sie nicht selten: »Nein, natürlich nicht.« Immer wieder sind sie erstaunt zu hören, dass sie das Vorbild sind, dem die Kinder sich anpassen. Wenn sich Eltern zusammenreißen, werden die Kinder lernen, dass man seine Gefühle besser zurückhält. Eine Oma sagte zu dem vierjährigen Enkel: »Nicht weinen, sonst ist die Mama traurig.« Kinder brauchen die Erlaubnis, traurig zu sein, genauso wie sie lachen oder wütend sein dürfen. Manche Kinder entwickeln eine Überfürsorge für das gesunde Elternteil. Auch hier sollten Eltern ermutigt werden, genau hinzuschauen, ob das Kind sich nicht überfordert, und es bei Bedarf aus der Verantwortung entlassen mit den Worten: »Ich finde es toll, dass du dich so um mich kümmerst. Aber auch ich habe gute Freunde, die mich auffangen und mir helfen.« Die Bezugspersonen sollten motiviert werden, ebenfalls mit den Kindern über den Umgang mit ihrem sozialen Umfeld zu sprechen, darüber, wie sie sich verhalten möchten, was sie sagen wollen oder wo ihre Grenzen sind. Es ist hilfreich, wenn man in der Kita oder Schule eine gemeinsame Vorgehensweise abspricht und die Krankheit thematisiert wird, so dass alle Kinder Bescheid wissen und es mit ihren Eltern zu Hause besprechen können. Oft erlebt man viel Unsicherheit bei den Eltern. Eine Mutter fragte: »Mein Kind möchte heute Nacht mit mir auf der Palliativstation bleiben und im Zimmer meines Mannes schlafen. Die Ärzte sagen, es könnte sein, dass er bald stirbt. Was soll ich tun?« Wenn die Kinder bei den Eltern bleiben möchten und die Eltern es sich zutrauen, ist es ratsam, dies zuzulassen. Es kann dann zu einem positiven und sehr stärkenden Erlebnis werden. »Was soll ich tun, wenn mein Kind aufwacht und der Papa ist tot?« »Das, was sie normalerweise auch tun würden. Gehen Sie zum Bett ihres Mannes, weinen Sie, sprechen Sie, berühren Sie ihn – ihr Kind wird es Ihnen nachmachen. Sie sind das Vorbild. Bleiben Sie gelassen, selbst wenn ihr Kind auf dem Bett herumturnen möchte und die Augen des toten Vaters vielleicht sogar auf- und zumachen will, um den Tod mit allen Sinnen zu beGREIFEN.«

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Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen

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Es ist ratsam, die Beerdigung gemeinsam mit dem Kind vorzubereiten und zu besprechen und dem Kind während der ganzen Trauerfeier eine vertraute Person zur Seite zu stellen, die mit ihm bei Bedarf hinausgeht. Hilfreich ist am Ende einer Beratung, den Bezugspersonen ein Informationsblatt auszuhändigen, auf dem sie das Besprochene noch einmal nachlesen können und Adressen für weiterführende Hilfen finden. Ein Vater bedankte sich und sagte, er habe alles, was vorher mit ihm besprochen worden sei, im Verhalten seiner Tochter wiedererkannt. Sie habe die verstorbene Mutter auch noch gesehen und angefasst. Danach sei sie fröhlich über den Klinikflur gerannt. Im Kindergarten habe sie erzählt, dass die Mama nun tot sei, und zu Hause habe sie zum Papa gesagt: »Aber wenn die Mama nicht mehr tot ist, gehen wir sie doch wieder besuchen, oder?« Dem Vater war vorher erklärt worden, dass dies in dem Alter durchaus normal sei und dass Kinder in der Regel Zeit und Endlichkeit erst wirklich verstehen würden, wenn sie die Uhr lesen könnten. Man kann davon ausgehen, dass ein offener und ehrlicher Umgang mit den Kindern ihr Selbstbewusstsein stärkt und dazu führt, dass sie sich als einen wichtigen Teil der Familie erleben. Sie fühlen sich handlungsfähig und nicht ohnmächtig. Kinder, die immer nah dabei sein durften, haben oft ihren sterbenden Eltern oder Großeltern noch sehr bewegende Sätze gesagt oder geschrieben. Sie bekundeten ihre Liebe, bedankten sich für die Zeit mit ihnen, bedauerten, dass die Eltern oder Großeltern nun sterben müssten, und wünschten ihnen viel Glück »da oben« und hofften, sie irgendwann wiederzusehen. Welch ein wertvoller Schatz für beide Seiten – dem Beschenkten und dem Schenkenden! Immer wieder beeindruckend ist, wie viel ein sterbenskranker Mensch in der ihm verbleibenden kurzen Zeit noch bewirken kann, zum Beispiel wenn das sterbende Elternteil die Beziehung des Kindes zu dem zurückbleibenden Ehepartner noch versucht zu stärken, selbst wenn das Verhältnis der Eltern untereinander bisher nicht gut war. Auch kann der Schwerkranke noch ein gemeinsames Foto mit dem Kind aufnehmen oder ihm einen Brief schreiben, in dem er Eigenschaften oder Gesten des Kindes beschreibt, die er besonders an ihm mag, und Dinge, die er ihm wünscht. Kinder wollen stolz sein auf ihre Eltern und Großeltern. Deshalb empfiehlt es sich, an die Eltern adressierte Briefe oder E-Mails, in denen den Eltern für irgendetwas gedankt wurde, für die Kinder aufzubewahren. Man kann den Eltern auch anbieten, Kraftsteine zu beschriften. Eine ältere Dame weinte und erzählte sehr viel bei der akribischen Auswahl von geeigneten Steinen für ihre drei Enkel. Auf einen Stein schrieb sie: »Für Charlotte, ich schenke dir meine ganze Liebe. Deine Oma«, und malte neben das Datum ein großes Herz. Sie war froh, traurig und sehr geschafft. Sie erlebte, dass sie trotz ihrer körperlichen Schwäche noch etwas ganz Persönliches und Unbezahlbares geschaffen hatte – eine Kraftquelle für ihre Enkel für schwere Zeiten. Es ist schön, die Übergabe mit einer Traumreise zu verbinden, in der die Kinder die Augen schließen, den Stein fest in ihrer Hand halten und angeleitet werden, an ein besonders schönes Erlebnis mit der Oma zu denken, bei dem sie sehr glücklich waren. Die Kinder werden aufgefordert, sich diesen Moment mit allen Sinnen ganz nah zu holen. »Und wann immer ihr traurig

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oder einsam seid oder einfach nur Kraft braucht, könnt ihr diesen Stein drücken, und die Oma wird ganz nah bei euch sein.« Dieser Stein hat für viele Kinder wahre Zauberkraft. Eine Familie berichtete sichtlich bewegt, dass nach einer solchen Traumreise zum ersten Mal alle Emotionen losgebrochen seien, was allen sehr gut getan habe. Sie hätten den Opa zum ersten Mal weinen sehen, der auch zum ersten Mal beide Enkel in den Arm genommen habe. Als die Kinder später in den Patientengarten kamen, wollten sie wissen, was nun mit der Oma passieren würde. Eine gute Antwort könnte sein: »Eure Oma macht sich jetzt auf einen besonderen Weg, und keiner weiß, wo er hinführt. Ihr könnt sie begleiten und ihr helfen, zum Beispiel sie streicheln oder mit ihr kuscheln oder ihr einen kühlen Waschlappen auf die Stirn legen. Was tut euch gut, wenn ihr krank seid?« Sie antworteten: »Ruhe, Umarmung, etwas zu trinken, Erzählen, Vorsingen.« »Ja, all das könnt ihr nun tun, solange es geht. Und wenn es nicht mehr geht, dann tun das eure Gedanken, eure Liebe, eure Wünsche.« Wenn Eltern sich aufgrund ihrer psychischen oder physischen Belastung nicht mehr in der Lage sehen, ihre Kinder zu unterstützen, übernimmt die psychologische Fachkraft/Trauerbegleiterin auf ihren Wunsch hin deren Begleitung. Die Kleinen spüren genau, wer sie sicher und ruhig durch die Situation führen kann, und so konnte man manches Mal erleben, dass Kinder, die ihre Begleiterin gerade erst kennen gelernt hatten, deren Hand nahmen und sagten: »Ich möchte mit dir aus dem Zimmer gehen!«, oder auf ihren Schoß krabbelten. Auch wenn vermeintlich klar ist, dass Patienten nicht mehr ansprechbar sind, sollte man es nie versäumen, sich ihnen vorzustellen, zu beschreiben, welche Aufgaben man habe, was man mit den Kindern besprechen werde, und zu fragen, ob das so in ihrem Sinne sei. Die meisten Kranken haben bei solch einer Frage gelächelt und genickt. Sie sollen bis zum Schluss das Gefühl haben, mitentscheiden und steuern zu können, was mit ihren Kindern geschieht. Eine erkrankte, sehr schwache Mutter bedeutete mit letzter Kraft, man solle nicht mit ihrer Tochter über das Sterben sprechen. Als ihr das versprochen wurde, sank sie beruhigt in die Kissen zurück. In dem nachfolgenden Gespräch mit ihrer jugendlichen Tochter wurde dennoch alles angesprochen, was das Mädchen bewegte, ohne vom Sterben selbst zu sprechen. Zu Beginn eines Gespräches sollte man sich den Kindern ebenfalls zunächst vorstellen und fragen, ob sie wüssten, warum man sich unterhalte. Man kann erläutern, dass man sich in diesem Krankenhaus um Kinder und Jugendliche kümmere – dass man ihnen helfe, Dinge zu verstehen. Für dieses Verstehen kann man zum Beispiel Kinderbücher, Zeichenblock und Malstifte, Steine, Symbole und Handpuppen nutzen. Wichtig ist, immer mehrere Handpuppen zur Auswahl zu haben, damit beide Gesprächspartner jeweils eine Puppe über die Hand streifen können. Diese erwachen dann zum Leben, und die Kinder trauen sich, alles zu fragen, ohne Furcht vor Zurückweisung. Bevor man den Kindern etwas über die Krankheit erklärt, sollte man sie immer erst fragen, ob sie überhaupt etwas darüber wissen möchten. Im Gegensatz zu uns Erwachsenen, die sich manchmal aus Höflichkeit Dinge anhören, die sie vielleicht gar nicht wissen möchten, haben Kinder noch einen guten Selbstschutz. Manchmal hören

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sie gebannt zu, und mitten im Satz springen sie auf und wollen spielen gehen. Oder sie fangen mit der Schwester einen Streit wegen einer Nichtigkeit an, weinen und machen so eine Fortsetzung des Gesprächs unmöglich. Oft wurde die Frage gestellt: »Sollen sich meine Kinder von der toten Oma verabschieden?« »Ja, wenn die Kinder dies möchten.« Eltern sollten ihren Kindern dafür Ruhe und Zeit einräumen. Große Nervosität und Angst der Eltern überträgt sich sofort auf die Kinder. Familien auf der Palliativstation wird angeboten, die Verabschiedung der Kinder von einem Toten bei Bedarf zu begleiten oder im Anschluss an den Besuch des Toten noch ein Gespräch im Meditationsraum zu führen. Wichtig ist auch, die Kinder auf die körperlichen Veränderungen vorzubereiten, vor allem, wenn sie die Oma zum Beispiel länger nicht mehr gesehen haben. Man kann beschreiben, dass sie zum Beispiel viel dünner geworden ist, die Fingernägel blau sind, die Haut blass und transparent aussieht, der Mund oder die Augenlider ein wenig offen stehen oder die Wangen eingefallen sind. »Was ist, wenn mein Kind vom Anblick völlig geschockt ist?« Man kann nie vorhersagen, wie Kinder reagieren werden. Das macht Eltern Angst. Als ein sechsjähriges Mädchen beim Anblick der toten Oma weinend aus dem Zimmer rannte, waren die Eltern sehr betroffen und wollten sofort mit ihrer Tochter nach Hause fahren. Sie wurden gebeten, dennoch erst gemeinsam in den Meditationsraum zu kommen, wo Getränke, Kekse und ein Malblock bereitstanden. Die Kleine wurde gefragt, was sie gesehen habe, und sie wimmerte: »Die Oma sah so anders aus.« »Was sah anders aus?« »Die Fingernägel waren blau und das Gesicht so dünn und weiß und irgendwie war das gar nicht mehr meine Oma.« »Was glaubst du, wo deine Oma jetzt ist?« »Im Himmel.« »Kannst du dir vorstellen, dass jetzt nur noch die Hülle von deiner Oma hier ist und die Seele schon aus dem Körper gewandert ist?« »Was ist die Seele?« Dies kann man mit Hilfe eines Handschuhs erklären: »Das ist ein lebloser Handschuh und wenn ich nun meine Hand hineinschiebe, kann er sich bewegen und wird lebendig. Wenn ich die Hand wieder herausnehme, ist es nur noch eine tote Hülle. Und das, was den Handschuh bewegt und ausgemacht hat, ist nun an einem anderen Ort – wo immer der ist.« Sie nahm den Handschuh, probierte es immer wieder aus und schien zu begreifen. Die Mutter war für diesen Vergleich dankbar, denn die Oma sollte verbrannt werden. Das Bild, welches das Mädchen danach malen wollte, war freundlich und farbenfroh, und die Eltern schienen erleichtert. Eltern und Tochter aßen und tranken und hatten die Möglichkeit, das Erlebte in aller Ruhe zu verdauen. Vor der Verabschiedung kam es noch zu folgendem Gespräch: »Ich finde es mutig, dass du dich von der Oma verabschiedet hast.« Die Kleine entgegnete verwundert: »Machen das nicht alle Kinder?« »Nein.« »Warum nicht?« »Warum glaubst du, machen sie es nicht?« »Weil sie Angst haben?« »Ja, das könnte ein Grund sein.« »Ich habe keine Angst.« Einige Zeit später traf man die Familie immer noch auf dem Flur. Die Mutter lächelte und meinte: »Unsere Tochter wollte noch einmal zur Oma.« Wenn Kinder den Verstorbenen nicht mehr verabschieden dürfen oder wollen, kann man die Eltern ermutigen, ein Foto von ihm zu machen, als Erinnerung, die später den Enkeln gezeigt werden kann.

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Manchmal wird die Begleitperson gebeten, den Kindern die Todesnachricht zu überbringen, weil der Hinterbliebene sich dazu nicht in der Lage sieht. Das sollte man möglichst vermeiden, weil es wichtig ist, dass den Kindern diese Nachricht von einer engen Bezugsperson mitgeteilt wird. Stattdessen kann man anbieten, den Hinterbliebenen bei diesem Gespräch zu begleiten. Es zeigte sich oft, dass die Eltern trotz vorheriger Angst nach einem solchen Gespräch gestärkt aus der Begegnung herausgingen. Jugendliche leiden erfahrungsgemäß bei einem Verlust in besonderem Maße. Sie öffnen sich seltener und ziehen sich teilweise mit ihrem Schmerz zurück. Ihre Eltern machen sich häufig große Sorgen, da sie keinen Zugang zu ihnen finden. Ihre Lehrer sind kaum informiert, weil die Betroffenen nicht auffallen wollen. In den wenigsten Fällen kennen sie andere Jugendliche, die Ähnliches erlebt haben, um sich auszutauchen (siehe Tabelle 1, S. 223). Für den Einstieg in ein Gespräch ist es hilfreich, ihnen Symbole anzubieten, aus denen die Jugendlichen sich eines für ihre Stimmung auswählen können. Ein 13-jähriges Mädchen wählte hierzu einen kleinen Papierregenschirm: »Ich nehme den hier, aber er muss geschlossen sein, denn er bietet mir keinen Schutz. Ich werde nass und bin schutzlos. Meine Mutter war immer mein Schutz und nun ist ihr Schutz für mich weg.« Eine gute Ausdrucksform für die Gefühle Jugendlicher ist die Musik. Fragt man sie, welches Lied sie mit Trauer verbinden, zücken die meisten sofort ihr Handy und spielen es vor. Die Frage, was sie in dem Lied anspricht, kann einen idealen Einstieg in ein Gespräch bieten. Nachdem man über ihre Sorgen und Nöte gesprochen hat, kann man gemeinsam nach Ressourcen suchen, die sie in ihrer Trauer nutzen können. Trauernde Jugendliche müssen auch ermahnt werden, auf ihre Grenzen zu achten, zum Beispiel: »Du musst dir selbst eine gute Mutter sein, das heißt, du solltest dich selbst so behandeln, wie deine Mutter es tun würde, wenn sie dich so leiden sehen würde.« »Achte auf die Signale des Körpers. Was will er dir sagen? Bei Schwindel musst du dich ausruhen!« In dem Gespräch mit einer Jugendlichen wurde über das Gefühl gesprochen, anders zu sein. Sie erkannte, dass sie durch eine solche Erfahrung reifer geworden war und sich plötzlich unter ihren bisherigen Freunden einsam fühlte. Sie erlebte, dass manche Kameraden ihre Veränderung komisch fanden und wieder andere genau das plötzlich an ihr schätzten. Es veränderte sich viel für sie, aber manches auch zum Guten. Eine 15-jährige Jugendliche wollte ihre kranke Mutter bis zum Schluss in der Wohnung pflegen, entgegen aller Ratschläge der Ärzte, Pfleger und Psychologen. Es ist ihr trotzdem gelungen und war für beide sehr wichtig. Dennoch muss ein Jugendlicher aufgeklärt werden, was dies schlimmstenfalls bedeuten kann, zum Beispiel beim Erkrankten Krämpfe, Luftnot oder mögliches Verbluten. Nicht jeder kann das ertragen. Eine Tochter schockierte eine von ihrem Mann getrennt lebende Mutter mit dem mutigen Satz: »Ich möchte zu Papa ziehen, weil ich dein Leiden nicht mehr aushalte.« In einem Familiensystem, besonders mit Jugendlichen, ist es manchmal schwer, mögliche Ängste, Befürchtungen und Schuldgefühle aktiv anzusprechen und das unterschiedliche Trauerverhalten der Familienmitglieder zu akzeptieren.

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Bei Konflikten mit Jugendlichen sollte eine Vertrauensperson außerhalb der Familie gefunden werden, möglichst ein gleichgeschlechtlicher Ansprechpartner. Hilfreich kann auch der Austausch mit gleichaltrigen Jugendlichen, die sich in ähnlicher Situation befinden, innerhalb einer Trauergruppe oder in einem speziellen Chatroom im Internet sein. Wenn man sich mit Jugendlichen vertrauensvoll unterhält, kann man in der Regel davon ausgehen, dass sie das eine oder andere hilfreich empfinden und für sich nutzen werden – selbst wenn sie zunächst genau das Gegenteil signalisieren sollten. Wenn man voraussieht, dass ein Gespräch schwierig wird, ist es empfehlenswert, spazieren zu gehen, um Dinge in Bewegung zu bringen. Eine Jugendliche rannte förmlich durch die Stadt. Sie redete dabei wie eine Wasserfall und immer mit dem Nachsatz: »Ich will überhaupt nicht reden.« Besuch von Lisa auf der Palliativstation bei ihrem Vater Herr Meier empfand den bevorstehenden Besuch seiner Tochter wie einen Sechser im Lotto. Auch für die Krankheit sei er dankbar. Er habe so viel falsch gemacht und sehe nun die Chance, noch einiges zu richten. Wir sprachen über all seine Fragen: »Wie soll ich mit meiner Tochter reden?«, »Welche Dinge kann ich ihr erzählen?«, »Was sollte ich nicht sagen?« Ich erklärte, dass Lisa das Gespräch leiten werde. Er solle nur auf ihre Fragen antworten und sie nicht mit Informationen, die sie vielleicht nicht hören wolle, überlasten. Sie werde das Tempo vorgeben und das Thema wechseln, wenn es ihr zu viel werde. Wir bereiteten sein Patientenzimmer vor und verteilten Handpuppen, Bücher und Malutensilien im Raum, so dass die Tochter sie selbst entdecken und auswählen konnte. Ich erklärte ihm, dass sie vielleicht bei seinem Anblick so geschockt sein könne, dass sie sofort wieder hinaus renne oder ihm nicht näher kommen wolle. In diesem Fall würden wir in den Meditationsraum gehen, und sie habe dann die Möglichkeit, wieder zurückzukommen, und das so oft, wie sie es wolle. Sie brauche eventuell die Option eines schrittweisen Annäherns. Mit der Mutter sprach ich zunächst telefonisch über ihre Sorge vor den möglichen Fragen der Tochter. Sie wollte unter anderem wissen, ob sie Lisa die Wahrheit sagen solle, wenn sie frage, ob der Papa sterben werde. Frau Meier bat mich, nicht nur mit ihrer Tochter vorher zu sprechen, sondern auch mit ihr und Lisa gemeinsam in das Patientenzimmer zu gehen und sie nicht allein zu lassen. Als Lisa und ich uns ein wenig kennen gelernt hatten, fragte ich, ob sie wisse, wie ihr Papa jetzt aussehe. Sie nickte und erzählte von den kleinen Wunden an den entsprechenden Körperstellen. Ich sagte: »Ja, Lisa, da sind Wunden, aber sie sind nicht klein. Sie sind im Gegenteil sogar sehr groß. Sie sind so groß wie ein Tennisball. Weißt du, wie groß ein Tennisball ist?« Sie nickte. Ich forderte sie auf: »Dann zeig mir doch bitte mal mit deinen Händen, wie groß so ein Tennisball ist.« Sie tat es. Wir sprachen auch darüber, dass er aufgedunsen sei und keine Haare mehr habe, dass er aber ihr alter Papa sei mit demselben Herzen und genauso mit ihr sprechen könne wie immer. Vielleicht werde sie über das Aussehen des Vaters erschrecken und sie dürfe jederzeit das Zimmer wieder verlassen. Sie

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müsse nichts tun, was sie nicht wolle, und sie könne immer mit uns in den nahe gelegenen Meditationsraum gehen. Sie könne alle Fragen stellen. Dann gingen wir alle drei gemeinsam in Herrn Meiers Krankenzimmer. Mutter und Tochter waren beim Anblick des Vaters sichtlich geschockt. Sie sagten kein Wort und schluckten schwer. Aber Herr Meier verhielt sich so wie immer und fing sofort an zu sprechen, setzte sich an den Tisch und fragte Lisa, ob sie auf seinen Schoß wolle. Sie bejahte, aber setzte sich mit dem Rücken zu ihm. Beide konnten nun auf ein Pixi-Buch vor ihnen schauen und lasen es abwechselnd vor. So musste Lisa ihn nicht direkt ansehen. Ich saß ihnen genau gegenüber, und es war sehr bewegend, Herrn Meier überglücklich mit seiner Tochter auf seinem Schoß zu sehen. Lisa verhielt sich sehr zurückhaltend, konnte aber über das Lesen in Kontakt mit ihrem Vater bleiben. Frau Meier saß auf dem Sofa und starrte ihn geschockt an. Von der Seite konnte sie die beiden ungestört beobachten und sich langsam an den Anblick gewöhnen. Sie kämpfte mit den Tränen. Herr Meier stellte Lisa viele Fragen, auf die sie alle antwortete. Nachdem das zweite Pixi-Buch ausgelesen war, fragte ich Lisa, ob sie nun vielleicht mit ihren Eltern allein sein wolle. Ich könnte dann im Meditationsraum auf sie warten. Lisa nickte. Nach einer Weile kam Frau Meier zu mir und erzählte mir betroffen, dass sie nicht gedacht habe, dass er so schlimm aussehen würde. Sie blieb einige Zeit bei mir und erzählte mir von ihren Gefühlen und Sorgen. Dann ging sie zurück zu Tochter und Vater. Nach einiger Zeit kam Lisa allein zu mir in den Raum und lachte und brachte die beiden Handpuppen mit. Lisa erzählte, dass sie mit ihrem Papa mit den Handpuppen gespielt habe. Sie gab mir nun eine Handpuppe und wir spielten ebenfalls. So erfuhr ich von Lisa, dass sie nun wisse, warum der Papa so krank sei. Er habe Krebs. Papa habe sich früher nie eingecremt und sei viel zu lange ohne Sonnenschutz in der Sonne gewesen. Daher habe er den Hautkrebs. Die Krankheit sei nicht ansteckend. Sie sagte, dass sie sich nun schon an sein Aussehen gewöhnt habe, mache sich aber ein wenig Sorgen, weil er rauche – denn dann könne er ja noch einen Krebs bekommen zu dem jetzigen und an Krebs könne man ja sterben. Ihr Papa habe früher oft gelogen, deshalb hätten sich ihre Eltern leider getrennt, aber nun werde er immer die Wahrheit sagen, und sie werde jede Änderung erfahren. Lisa bemalte noch einige Steine für ihren Papa. Dann kamen Herr und Frau Meier ebenfalls zu mir und wir saßen zu viert im Raum. Die Stimmung war fast fröhlich. Frau Meier deutete mir mit Fingersprache, dass Lisa ihrem Papa sogar direkt ins Gesicht geschaut habe. Sie war sehr bewegt und versprach, dass Lisa nun ihren Papa regelmäßig einmal pro Woche sehen dürfe. Herr Meier nickte freudig. Lisa umarmte Herrn Meier und wollte ihn gar nicht mehr loslassen. Herr Meier genoss es so sehr und sog alles in sich auf. Es war für ihn wohl einer der glücklichsten Momente, und ich durfte Zeuge sein. Lisa sagte: »Ich vermisse dich jetzt schon.« Herr Meier war so stolz, alles richtig gemacht zu haben. Seine Eltern wollten ihn an diesem Abend besuchen, zu denen künftig auch der Kontakt mit Lisa wieder erneut intensiviert werden sollte – als »Erinnerung an ihren Papa«, wie Herr Meier es ausdrückte. Frau Meier rief mich einen Tag später an und war in Sorge um ihre Tochter, die den Besuch zunächst gut verkraftet und dann doch viel geweint habe. Lisa habe alle Fragen

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gestellt, auf die ich Frau Meier vorbereitet hätte, und sie sei sehr dankbar, dass sie nun genau wisse, wie sie damit umgehen könne. Sie sagte, ohne Vorbereitung wäre sie ins offene Messer gelaufen. Als Frau Meier Lisa vorsichtig erklärt hatte, dass Papa wahrscheinlich bald sterben werde, hatte Lisa geweint und gesagt, dass sie dann auch sterben und nicht ohne ihren Vater leben wolle. Ich beruhigte Frau Meier und erklärte ihr, dass Lisa keine Suizidgedanken hege, sondern dass dies eine normale Reaktion des Kindes sei und bedeute, dass sie da sein möchte, wo ihr Papa sei. Ich erklärte Frau Meier auch, dass Lisa alles Recht habe, traurig zu sein und zu weinen, denn die Situation sei wirklich sehr schlimm. Ich verstand ihre Sorge. Als Mutter möchte man sein Kind so gern schützen, aber ich machte ihr auch klar, dass Kinder manchmal stärker seien, als wir denken würden, und dass Lisa für den Schock, den sie erlebt habe, noch milde reagiere und dass es gut sei, wenn sie ihre Trauer herauslasse, anstatt alles in sich hineinzufressen. Das beruhigte Frau Meier ein wenig. Ich riet ihr, sich nach Möglichkeit ein bis zwei Tage von der Arbeit frei zu nehmen, um ganz nah bei ihrer Tochter sein zu können und ihr zu zeigen, dass sie die schwere Zeit gemeinsam durchstehen würden. Wenn Lisa im Moment nicht in die Schule gehen wolle, solle sie auch zu Hause bleiben dürfen. Dennoch solle die Mutter den normalen Alltag nach Möglichkeit aufrechterhalten. Frau Meier erzählte, dass Lisa unbedingt den Papa habe anrufen wollen und während des ganzen Telefonats fröhlich geredet habe. Als sie aber aufgelegt habe, habe sie nur noch geweint. Ich erklärte ihr, dass Lisa nun genau spiegele, was ihr Vater ihr vorlebe. Er gehe locker und nicht betrübt mit seiner Krankheit ihr gegenüber um, und sie tue es ihm gleich, weil sie glaube, dass er es so haben wolle. Bei der Mutter hingegen könne sie alle Gefühle zulassen. Die große Frage, die die Mutter belastete, war, ob sie Lisa irgendwann vor dem Anblick des Vaters beim weiteren Fortschreiten der Krankheit schützen müsste und Lisa sich dann endgültig verabschieden sollte. Auch ich hatte darüber bereits nachgedacht und mich mit der behandelnden Ärztin ausgetauscht. Ich erklärte der Mutter, dass vielleicht der wahre Anblick des kranken Vaters besser sei als alle Horrorfantasien, die Lisa bei einem bewussten Abschirmen vom Vater entwickeln könne. Ich riet ihr, den Vater in kürzeren Abständen zu besuchen, damit die schnelle körperliche Veränderung nicht jedes Mal wieder einen heftigen Schock bei Lisa auslösen würde. Ebenfalls riet ich, Lisa, solange sie es ausdrücklich selbst wolle, zu ihrem Vater zu lassen, auch, während er sterbe. Lisa besuchte den Vater von da an regelmäßig. Es ging ihm zusehends schlechter. Die Mitarbeiter des Hospizes, in das er verlegt worden war, riefen bei Frau Meier an und baten sie, mit ihrer Tochter zu kommen, da sie glaubten, dass Herr Meier nicht sterben könne, ohne Lisa gesehen zu haben. So kam Frau Meier mit Lisa erneut in das Hospiz und blieb eine Weile bei ihm. Lisa drückte ihn fest und sagte ihm die Dinge, die sie sagen wollte. Mutter und Tochter waren sicher, dass der Vater alles bemerkte und verstand. In dieser Nacht starb Herr Meier, und Lisa wollte immer wieder diesen Satz hören: »Mama, er konnte nicht sterben, ohne mich gesehen zu haben.«

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Abschließende Merksätze Folgende Merksätze fassen das, was der Beitrag über die Begleitung von Kindern mit Angehörigen auf der Palliativstation verdeutlicht hat, noch einmal abschließend zusammen: •• Die Priorität sollte immer darin liegen, die Bezugspersonen im Umgang mit ihren Kindern zu stärken und als Berater die Kinder nur im Notfall zu begleiten. •• Beachtet werden muss die besondere palliative Situation. Innerhalb kürzester Zeit muss man sich klar werden, welches Anliegen der Patient in Bezug auf das trauernde Kind hat und was man ihm diesbezüglich anbietet – immer im Hinblick auf seine Verfassung und auf das sehr kurze Zeitfenster. •• Wichtig sind für die Kinder angemessene, altersgerechte Erklärungen, das aktive Ansprechen von Ängsten, Fantasien, möglichen Schuldgefühlen und Informationen über Ansteckungsgefahr bzw. Vererbbarkeit der Krankheit. •• Das Kind bestimmt, was, wann und wie viel es hören will! •• Das Kind sollte frühzeitig über die Krankheit aufgeklärt werden. Eine schreckliche Wahrheit ist oft besser als die Fantasie eines Kindes, das aus falsch verstandenem Schutzgedanken ferngehalten wird. •• Die Krankheit ist anhand einer Anatomiezeichnung zu erklären, nicht am eigenen oder am Körper des Kindes. Das würde Angst hervorrufen. Notfalls kann man eine einfache Zeichnung anfertigen. •• Im Patientenzimmer sollten immer Block und Stifte bereitliegen. Kinder, die den Anblick der kranken Person nicht ertragen, richten oft ihre komplette Aufmerksamkeit auf das Malen, so dass sie den Kranken nicht anschauen müssen. •• Es ist unerlässlich, für eine angenehme Atmosphäre zu sorgen und eine Rückzugsmöglichkeit in einem anderem Raum zu schaffen, in dem Getränke, Gebäck und Malutensilien bereitstehen. •• Das Kind sollte wissen, welche Konsequenzen die Krankheit konkret mit sich bringt und welche Vorkehrungen die Eltern getroffen haben, zum Beispiel für den Fall, dass das zweite Elternteil ebenfalls stirbt. •• Es ist darauf zu achten, dass Kinder nicht zu viel Verantwortung übernehmen. •• Eltern sind Vorbild im Trauerverhalten. Sie sollten die Kinder nicht mit ihren Gefühlen überfluten, dürfen aber dennoch vor den Kindern weinen. •• Dem Kind ist deutlich zu machen, dass alle Gefühle erlaubt sind, und ihm sind auch trauerfreie Zeiten zuzugestehen. •• Kinderbücher, Handpuppen, angefertigte Kinderzeichnungen, Symbole oder auch Lieder bieten einen guten Einstieg in ein Gespräch. •• Ein Einbeziehen der Kinder stärkt ihr Selbstbewusstsein. Sie erleben sich als wichtigen Teil der Familie, dem man zutraut, diese Last zu tragen. Sie fühlen sich dann weniger hilflos und ohnmächtig und haben weniger Angst. •• Es gilt, den Abschied von einer toten Person vorzubereiten. Den Kindern ist zu erklären, wie sich der Mensch äußerlich verändert hat, und die Eltern sind über

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mögliche Reaktionen zu informieren. Es ist wichtig, beim Abschied vom Toten als Berater im Hintergrund anwesend zu bleiben, um die Familie gegebenenfalls auffangen zu können. •• Das Kind sollte Ruhe und Zeit bekommen, um sich zu verabschieden und den Toten mit allen Sinnen wahrzunehmen.

Literatur Franz, M. (2008). Tabuthema Trauerarbeit. Kinder begleiten bei Abschied, Verlust und Tod. Werl: Don Bosco Verlag. Hümmeler, V., Tari, S., Drobniak, B., Heußner, P. (2009). Kinder krebskranker Eltern. In P. Heußner, M. Besseler, H. Dietzfelbinger, M. Fegg, K. Lang, U. Mehr, D. Pouget-Schors, C. Riedner, A. Sellschopp (Hrsg.), Manual Psychoonkologie. Empfehlungen zur Diagnostik, Therapie und Nachsorge (3. Aufl., S. 18–24). München: W. Zuckschwerdt Verlag. Husebø, S., Klaschik, E. (2006). Palliativmedizin (4. Aufl.). Heidelberg: Springer. Petermann, F. (Hrsg.) (2013). Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie (7. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Rauch, P. K., Muriel, A. C. (2004). The importance of parenting concerns among patients with cancer. Critical Reviews in Oncology Hematology, 49 (1), 37–42. Romer, G., Haagen, M. (2007). Kinder körperlich kranker Eltern. Göttingen: Hofgrefe. Siegel, K., Raveis, V. H., Krus, D. (1996). Pattern of communication with children when a parent has cancer. In L. Baider, G. L. Cooper, A. Kaplan De-Nour, Cancer and the family (pp. 109–128). Chichester: John Wiley & Sons. Tausch-Flammer, D., Bickel, L. (2012). Wenn Kinder nach dem Sterben fragen. Ein Begleitbuch für Kinder, Eltern und Erzieher (12. Aufl.). Freiburg: Herder. Timmermanns, P., Frankenstein-Anft, A., Schnabel, J. (1998). Tod und Trauer im Umgang mit Kindern. Eine Planungshilfe zur Befähigung von pädagogisch Tätigen in Tageseinrichtungen für Kinder. Köln: Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen. Visser, A., Huizinga G. A., Hoekstra H. J., Graaf, W. T. van der, Klip, E. C., Pras, E., Hoekstra-Weebers, J. E. (2005). Emotional and behavioural functioning of children of a parent diagnosed with cancer: A crossinformant perspective. Psychooncology, 14, 746–758. Walper, S., Schwarz, B. (Hrsg.) (2002). Was wird aus den Kindern? Chancen und Risiken für die Entwicklung von Kindern aus Trennungs- und Stieffamilien. Weinheim: Beltz. Weiss, S. (2007). Trauer um den verstorbenen Vater. Der Trauerprozess im Kindes-, Jugend- und jungen Erwachsenenalter. München: VDM Verlag Dr. Müller. Welch, A. S., Wadsworth, M. E., Compas, B. E. (1996). Adjustment of children and adolescents to parental cancer. Parents’ and childrens’ perspectives. Cancer, 77.1409–1418. Znoj, H. (2004). Komplizierte Trauer. Fortschritte der Psychotherapie. Göttingen: Hogrefe.

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Andrea Gasper-Paetz

Den Tod zu Hause erleben – ein Tabuthema für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene! Oder vielleicht doch eine Chance?

Die Konfrontation von Kindern mit dem Tod ist immer noch ein gesellschaftliches Tabuthema. Einerseits möchte man sie schonen und andererseits gibt es eigene Hemmungen, sich ihrem Verlust zu stellen. »Kinder stehen am Anfang ihres Lebens und sollen unbeschwert aufwachsen können« (Bracht-Bendt, 2012, S. 1). »Gegenüber Kindern fällt es Erwachsenen besonders schwer, über Tod und Verlust zu sprechen« (Weiß, 2006). Bis vor einigen Jahrzehnten war es in Deutschland üblich, zu Hause im Kreis der Familie zu sterben. Somit gehörte der Tod eines Familienmitglieds zur unmittelbaren Erlebniswelt eines Kindes. »Durch die Institutionalisierung des Todes kommt es heute nur noch selten vor, dass der Tod eines Menschen unmittelbar miterlebt wird, die meisten Kinder und Jugendlichen haben noch nie einen Sterbenden oder einen Toten gesehen« (Weiß, 2006, S. 26). »Insgesamt gesehen ist das Kindesalter heute die gesündeste und am wenigsten von Tod und Sterben bedrohte Phase des gesamten Lebens« (Student, 2009, S. 1). Das Wissen, dass der Tod ein jedes Lebewesen betreffendes, unentrinnbares und endgültiges Schicksal ist, ist einem Kind nicht angeboren, sondern wird erst im Laufe der Jahre erworben. Viele Kinder und Jugendliche erleben den öffentlichen Umgang mit dem Thema Tod und Sterben innerhalb unserer Gesellschaft als ein Tabuthema, während der Tod in ihrem eigenen, vor allem medialen Leben, fast omnipräsent ist. Tod geschieht im Fernsehen, im Kino oder am PC, meist heldenhaft, actionreich, spektakulär oder übertrieben brutal dargestellt. Dieser Tod hat nichts mit der Lebenswirklichkeit zu tun. Das Sterben und den Tod nah zu erleben, im Sinne von an ihm beteiligt zu sein, ihn mit-anzusehen, mit-zuspüren, mit-zuerfassen und mit-zuertragen sind Chancen für Kinder und Jugendliche – wenngleich mitunter sehr leidvolle Chancen –, mit dem Unmöglichen und Unabwendbaren begreifbarer und erfassbarer bekannt gemacht zu werden. Sebastian, neun Jahre Herr K. war ein 56-jähriger, verheirateter Mann, der im November 2012 die Diagnose eines metastasierten Kolonkarcinoms erhielt und nach einer palliativen Entlastungsoperation, bei nicht vorhandener weiterführender onkologischer Therapieoption, schnellst möglichst nach Hause entlassen werden wollte.

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Den Tod zu Hause erleben

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Er stammte gebürtig aus Tschechien, war dort ein erfolgreicher Gastronom gewesen und erst vor zwei Jahren nach Deutschland übergesiedelt, um hier ein Casino zu betreiben. Herr K. und seine Familie sprachen fließend Deutsch. Seine beiden Töchter waren verheiratet, eine Tochter lebte mit Ehemann und zwei Kindern in der Nähe, die zweite Tochter mit ihrer Familie in Berlin. Zu Beginn der Begleitung im Rahmen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung (SAPV) erzählte Herr K. ein wenig über seine Familie. Er wollte möglichst viel Zeit ungestört mit seiner Ehefrau und seiner Mutter, die aus Tschechien zu Besuch war, verbringen. Durch die stetige Verschlechterung seines Allgemeinzustandes stieg die Präsenz des SAPV-Teams und der Familienmitglieder zu Hause. Es gab viele Fragen zu beantworten, und Ehefrau sowie Tochter wurden von unserer Seite in die medizinisch-pflegerische Versorgung einbezogen und angeleitet. Die Zeit der An-Nähe-rung In diesem Prozess kam immer wieder die Sprache auf Sebastian, den erstgeborenen, neunjährigen Enkelsohn seiner ältesten Tochter, die in der Nähe wohnte und auch fast täglich ihren Vater besuchte und der Mutter bei der Versorgung half. Alle beschrieben das Verhältnis des Enkelsohns zum Opa als sehr eng, und so fragte ich bei einem Besuch, ob Sebastian denn zu Besuch komme. Herr K. wirkte etwas verunsichert angesichts meiner Frage und sprach davon, dass er sich erst noch ein bisschen erholen müsse, denn in seinem jetzigen Zustand wolle er nicht, dass sein Enkel ihn sähe. Seine Tochter, Sebastians Mutter, war eher ambivalent. Sie erlebte, dass Sebastian zu Hause oft nach dem Opa fragte, und nahm Sebastians Sehnsucht und seinen Wunsch nach Nähe wahr, vertröstete ihn aber gleichfalls auf die Zukunft. Sie äußerte viele Bedenken und Ängste und verlangte vor allem nach Erfahrungswerten, wollte wissen, worauf sie achten müsse. Wir sprachen viel über Sebastian, aber erst einmal nicht mit Sebastian. Es war die Zeit der »bewussten Bewegungen«, zu denen der Auftrag gehörte, Sebastian kindgerecht und seiner Beziehung entsprechend die Annäherung an den kranken Opa und gleichzeitig das Abschiednehmen von diesem zu ermöglichen. Ich ermutigte die Tochter in diesem Prozess, bestärkte sie, auf ihr Gefühl zu vertrauen, und versuchte gleichzeitig durch Fachwissen und meinen Erfahrungshintergrund Sicherheit zu vermitteln. In der Nachbetrachtung aus heutiger Perspektive glaube ich, dass diese Sondierungsgespräche wichtige vertrauensbildende Maßnahmen waren, die die Mutter in ihrem Gefühl bestärkt und durch Information und Erfahrungsaustausch ihre Bedenken und Ängste abgeschwächt haben. Es zeigte sich im Verlauf, dass es keine Stabilisierung des Krankheitszustandes gab, sondern eine ständige Veränderung der Symptomlage mit Zunahme der Hilfsbedürftigkeit, die einer fast täglichen Präsenz durch uns bedurfte. Bei einem meiner Besuche erzählte mir Herr K., dass sein Enkel Sebastian da gewesen und es wie immer gewesen sei.

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Andrea Gasper-Paetz

In der letzten Lebensphase konnte Herr K. seine Übelkeit, seinen körperlichen wie geistigen Verfall nicht mehr ertragen, und er bat um eine palliative, zeitlich begrenzte Sedierung. Dieser Wunsch wurde von der Familie mitgetragen. Nachdem wir im SAPV-Team das weitere Vorgehen ausführlich besprochen hatten, begannen wir mit der Applikation von Medikamenten, die Herrn K. in Tiefschlaf versetzten. Die Familie bewachte den Schlaf, und nachdem er nach Erwachen einige Stunden entspannter mit seiner Familie verleben konnte, war am Abend wieder der Wunsch nach medikamentös initiierter Sedierung vorhanden. Die Zeit der gelebten Nähe Als ich in der Wohnung von Herrn K. eintraf, war dort wieder einmal die Familie versammelt, und ich lernte Sebastian kennen. Seine Mutter hatte ihn in ihrem Zuhause von den Geschehnissen am Morgen erzählt und ihn bestärkt, am Abend mit zum Großvater zu kommen. So saß abends ein sehr interessierter und aufmerksam auf alles achtender Sebastian an Opas Seite im Bett, und ich musste jeden meiner Schritte erklären und versprechen, dass der Opa nach dem Schlafen wieder aufwache. Die Infusionen und Ableitungen schienen ihn nicht zu ängstigen, und nachdem der Opa bestätigt hatte, dass ich ihm mit meinen Maßnahmen nicht wehtue, durfte ich fortfahren. Nachdem Herr K. eingeschlafen war, setzte sich Sebastian auf die Couch zu seinen Eltern und sprach leise mit ihnen. Es entwickelte sich ein Gespräch, in dem jetzt nicht Herr. K. im Vordergrund stand, sondern Sebastian. Alle Familienmitglieder arbeiteten daran, das Geschehene für Sebastian verständlich und emotional verkraftbar zu gestalten. Er sah seinen Großvater entspannt schlafen, er konnte ihn berühren, ihm etwas sagen und beruhigt mit seinen Eltern nach Hause gehen in vertrauernder Hoffnung, dass der Großvater wieder aufwache. Die nächsten Tage standen im Wechsel von Schlaf- und Wachphasen, in denen Sebastian seinen Opa besuchte und die vorhandene Bewusstseinslage des Opas nicht mehr vorrangige Bedeutung zu haben schien. Er war Teil der sorgenden Familie geworden, die in einer Ausnahmesituation sehr eng miteinander lebte. Berücksichtigung seiner Autonomie Seine Mutter konnte trotz ihrer eigenen Betroffenheit und Traurigkeit gut auf Sebastians Fragen eingehen und erklärte ihrem Sohn, dass der Opa bald sterben werde und dann nicht mehr, anders als bisher erlebt, wach werden würde. »Ob er den Opa dann noch mal sehen dürfe«, lautete eine seiner Fragen, und nachdem diese bejaht worden war und man ihm versprochen hatte, ihn notfalls auch aus der Schule abzuholen, schien es für Sebastian in Ordnung. Ich habe die Wünsche und Anliegen Sebastians in dieser Situation als Ausdruck seines eigenständigen Abschiednehmens verstanden. Es geschah dann auch so, wie die Mutter es Sebastian erklärt hatte. Herr. K. verstarb an einem Morgen, während die Mutter Sebastian zur Schule brachte, um danach direkt Herrn K. aufzusuchen. Dem Versprechen gemäß wurde Sebastian aus der Schule abgeholt. Er nutzte die Möglichkeit, den toten Opa zu sehen, ihn anzufassen, mit ihm zu sprechen und auf diese Weise in den Kreis der Trauernden aufgenommen zu sein. Dieses konrete Erleben des Opas schaffte eine Selbstverständlichkeit in der Besonderheit der Situation.

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Herr K. hatte im Vorfeld seiner Familie mitgeteilt, wie er sich seine Verabschiedung zu Hause und seine Beisetzung in Tschechien wünsche. Nach einigen Wochen habe ich die Ehefrau von Herrn K. noch einmal besucht. Sie hatten am vergangenen Wochenende die Urne in Tschechien im kleinsten Kreis beigesetzt. Sebastian habe selbst entschieden, daran nicht teilzunehmen. Er spreche aber noch viel über den Opa, und überhaupt würden sie oft als Familie zusammensitzen und sich gemeinsam an die letzte sehr intensive und schwere Zeit erinnern.

Gemeinsamkeit herstellen – keine Schutzmaßnahmen, die ausgrenzen »Sollen wir das Kind für die Zeit zu Verwandten oder Freunden bringen, damit es das nicht mitbekommt?« Diesen Satz von betroffenen Eltern hören wir häufig, und dahinter verbergen sich oftmals Gefühle wie die Angst, etwas falsch zu machen; eine gefühlte Verantwortung, das Leid vom Kind fernzuhalten; auch Angst vor möglichen Spätfolgen; gut gemeinte Ratschläge von Außenstehenden; die eigene emotionale Überforderung mit der Situation und noch einiges mehr. Kinder leben in Abhängigkeiten. Sie benötigen Vorbilder, besonders in Krisensituationen, bei Verlusterfahrungen und in ihrer Trauer. Das Sterben zu Hause ermöglicht Kindern und Jugendlichen viel Individualität und Intensität, die alters- und entwicklungsentsprechend gestaltet und behutsam begleitet werden muss. »Angehörige, die einem Menschen das Sterben zu Hause ermöglicht haben, sind offenbar weniger von körperlichen und seelischen Krankheiten (als Folge der Trauerreaktion) geplagt als Menschen, denen dies nicht vergönnt war. Das Sterben zu Hause hat also für die Hinterbliebenen auch eine heilsame Funktion« (Student, 2009, S. 36). Damit dies auch für Kinder und Jugendliche zutrifft, benötigen sie die Bereitschaft und Erlaubnis der Eltern oder Zugehörigen, das Sterben erleben zu dürfen, Teil der trauernden Gemeinschaft zu sein, und zudem die Gewissheit, sich in der eigenen emotionalen Ausdrucksweise angenommen und beschützt zu fühlen. Das gemeinsame Durchleben des Sterbens eines Angehörigen kann zu einer tragenden Erfahrung werden, die verbindet. Erwachsene Bezugspersonen sind jedoch oftmals im Erleben der eigenen Trauer nicht in der Lage, das Kind bei dessen Miterleben des Sterbens zu begleiten, und so ist die Schutzmaßnahme, das Kind aus der Sterbesituation herauszunehmen, auch ein nachvollziehbarer Selbstschutz. Aber dieses Schonen kann als Ausgeschlossensein, ja sogar als Vertrauensbruch von Kindern erlebt werden. Es benötigt von uns professionellen Helfern Zuversicht, Mut und Vertrauen, das schwankende Bauchgefühl der Zugehörigen zu klären und ihre Unsicherheiten und Ängste mit empathischem Verständnis und fachlichem Beistand zu begleiten.

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Jessica, zwölf Jahre Frau W. war geschieden. Als alleinerziehende Mutter von Jessica lebte sie in freundschaftlichem Kontakt mit deren Vater bei getrenntem Wohnraum im gleichen Ort. Durch die Erkrankung an einem Bronchialkarzinom war sie mit 51 Jahren bereits berentet und lebte in sehr engen finanziellen Möglichkeiten ohne staatliche Unterstützung. Der geschiedene Ehemann versuchte, den Haushalt von Frau W. notdürftig aufrechtzuerhalten, ging einkaufen, konnte jedoch bei fehlendem Führerschein und ebenfalls begrenzten finanziellen Ressourcen kein Freizeitangebot für die Tochter ermöglichen. Ich lernte Frau W. im Rahmen der spezialisierten ambulanten Palliativversorgung kennen. Frau W. lenkte schon nach dem ersten Kontakt den Fokus auf ihre Tochter. Sie spürte, dass sie bald sterben würde, und die Sorge um Jennnifer und ihre Zukunft erweckten in ihr Kraftreserven, die sie für ihr Kind nutzen wollte. Ihre Tochter besuchte die Förderschule und verbrachte die Nachmittage zumeist allein in ihrem Zimmer am PC. Frau W. hatte die Erkrankung nie verschwiegen, die Besuche beim Onkologen und Chemotherapie waren Jessica vertraut, dass die verbleibende Lebenszeit der Mutter jedoch sehr begrenzt war, hatte sie ihr nicht gesagt. Sie war sich unsicher, ob und wie sie es ihrer Tochter sagen sollte. Sie hatte gute Vorstellungen von dem, was Jessica im Hinblick auf den Verlust und die Trauer helfen könnte, und eine große Bereitschaft, Hilfen anzunehmen. So stellten wir mögliche Angebote zusammen (zum Beispiel die Einbindung des Ehrenamts für Fahrdienste, um Kontakte für Jessica zu ermöglichen, die Teilnahme an einem Workshop Kunsttherapie sowie die Kontaktintensivierung zum Jugendamt). Das Schneckenhaus-Verhalten Beim nächsten Hausbesuch lernte ich Jessica kennen, ein schüchterner, unsicher wirkender Teenager, der sich hinter dem Rücken der Mutter versteckte und engen körperlichen Kontakt zu ihr suchte. Der Beginn unseres Gespräches gestaltete sich etwas holprig, nur ab und zu tauchte Jessica aus ihrer sicheren Deckung hervor, um mir kurz auf eine Frage zu antworten. Befragt, was sie denn gerne in ihrer Freizeit tue, zeigte sie mir zögerlich Bilder, die sie selbst gemalt hatte. Neben dem Chillen mit den Freundinnen war Malen eine Tätigkeit, die ihr Freude bereitete. Es stellte sich heraus, dass sie unter der krankheitsbedingten Immobilität der Mutter und der daraus resultierenden Isolation sehr litt und sehr gerne mehr Kontakt zu ihren Freundinnen am Nachmittag hätte sowie die Möglichkeit, an Freizeitaktivitäten teilzunehmen. Im Vorfeld hatte ich eine ehrenamtliche Mitarbeiterin unseres Teams gewinnen können, die gerne bereit war, Jessica einmal in der Woche den Besuch bei den Freundinnen zu ermöglichen, was von Jessica direkt angenommen wurde. Im Rahmen eines Begleitprojektes mit der benachbarten Kunsthochschule konnte Jessica außerdem in einer offenen Malwerkstatt mit Unterstützungsangeboten durch zwei Kunsttherapiestudentinnen einmal pro Woche gestaltend tätig sein. Auch hierzu organisierten wir die Teilnahmemöglichkeit durch ehrenamtliches Engagement.

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Das Malen ermöglichte Jessica, Gefühle nonverbal auszudrücken, und gleichzeitig konnte sie ihrer Mutter eine kleine Freude machen, indem sie ihr ein selbst gemaltes Bild schenkte. Sie hatte keine Berührungsängste, und im Kontakt mit anderen teilnehmenden betroffenen Kindern erfuhr sie zudem Gemeinschaft durch geteiltes Schicksal. Dieser gelungene Kontakt zu externen Hilfsangeboten war auch eine vertrauensbildende Maßnahme, die Jessica es ermöglichte, nach dem Tod ihrer Mutter das Angebot zur Teilnahme an Gruppentreffen von »Trau Dich Trauern«, einem Angebot für trauernde Kinder und Jugendliche, ohne Ängste oder Ablehnung anzunehmen. Vorher lag der Fokus der Begleitung auf den konkreten Hilfs- und Entlastungsangeboten für Jessica in der Zeit des abschiedlichen Lebens zu Hause, in der Gewissheit des nahenden Todes der Mutter. Daniel, 17 Jahre Daniel hatte bereits die Schule abgeschlossen, versuchte berufliche Perspektiven zu erarbeiten, bisher jedoch ohne konkrete Ergebnisse. Er traf keine Freunde und verbrachte die Zeit meist in seinem Zimmer am PC. In unseren Kontakten war er sehr zurückhaltend und verkörperte in Konkurrenz zu seinem Vater, der bis zum Zeitpunkt der Tumorerkrankung der Mutter nur wenig Kontakt zu seiner Exfrau und seinem Sohn gehabt hatte, die Rolle des Mannes im Haus. Die Erkrankung seiner Mutter war Daniel bekannt, er sprach jedoch nicht darüber und stellte mir bei meinen häufigen Besuchen auch keine Fragen. Der Krankheitsverlauf war rasch voranschreitend und bedurfte einer ständigen Anpassung der Medikation an die Symptome. Das Sich-verantwortlich-Fühlen Am Nachmittag des Todestages der Mutter war ich zu Besuch. Der Sterbeprozess war deutlich zu erkennen, die Dyspnoe und die Angstattacken benötigten eine neue Medikation, die ich in Anwesenheit der sterbenden Patientin mit Daniel besprach, da der Vater an diesem Nachmittag nicht anwesend war. Er wirkte emotional distanziert und zurückhaltend. Er selbst äußerte sich wie folgt: »Ich habe alles unter Kontrolle.« Eine von mir in Betracht gezogene Verlegung der Mutter auf die Palliativstation kam für ihn nicht in Frage. Am Abend wurde meine Kollegin im Rufdienst noch einmal hinzugerufen, da bezüglich der Medikation und der möglichen Bedarfsmedikation doch große Unsicherheit bei Daniel und dem Vater herrschte. In einem langen Gespräch konnten diese Unklarheiten behoben werden und Daniel wurde darauf hingewiesen, dass seine Mutter sterbend sei und er mit ihrem Tod rechnen müsse. An diesem Abend blieb der Vater nicht über Nacht. Die Patientin verstarb um zwei Uhr morgens, und in seiner Not wählte Daniel die Notrufzentrale. Der Notarzt vor Ort verständigte die Polizei. Da die Todesursache erst einmal unklar war, wurde seine verstorbene Mutter noch in der Nacht in die Gerichtsmedizin gebracht. Um acht Uhr am Morgen rief Daniel sehr sachlich klingend an. Natürlich habe er gewusst, dass er nicht mehr den Notarzt hätte rufen müssen. Natürlich habe er gewusst, dass er einfach nur bei uns, dem SAPV-Dienst, hätte anrufen können, aber, aber … In seiner Panik

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und Überforderung hatte er automatisch die 112 gewählt und hatte nun Angst, dass seine Mutter obduziert würde. Er bat mich, diesen unglückseligen Zustand der Polizei mitzuteilen. Die Umstände konnten schnell geklärt werden, und Daniel wirkte sichtlich erleichtert. Dies war der einzige Moment, in dem ich bei Daniel eine emotionale Reaktion gespürt habe.

In der nachfolgenden Betrachtung des Fallbeispiels stellten wir uns folgende Fragen: •• Warum war der Vater in dieser Nacht in seine Wohnung gegangen? •• Hatten wir die Überforderung von Daniel im Vorfeld nicht gesehen oder nicht beachtet? •• Hätten wir als entlastende Maßnahme für Daniel, die Patientin – auch gegen seinen Wunsch – auf der Palliativstation aufnehmen sollen? In nachfolgenden Gesprächen sprach Daniel über sein Erleben der letzten Nacht mit seiner Mutter. Seine Körperhaltung und seine Stimme signalisierten mir, dass er über sich und nicht von sich sprach und dass diese nichtemotionale Ausdrucksweise zu seinem Schutz und zur Wahrung seiner Achtung notwendig war. Er machte seinem Vater keine Schuldzuweisungen. Weshalb sein Vater gerade in dieser Nacht in seiner eigenen Wohnung übernachtete, haben wir nicht erfahren. In der Nachbetrachtung äußerte Daniel seine Überforderung, die er am Abend gespürt habe, sich aber nicht habe zugestehen wollen. Es hatte für ihn einen hohen Trostwert, dass seine Mutter zu Hause sterben konnte.

Es geht um das Leben – diesseits des Todes und trotz des Todes Das Sterben und den Tod zu Hause zu erleben, ist für Kinder und Jugendliche immer eine tiefgreifende, einschneidende, schmerzhafte und verändernde Erfahrung. Sie wird durch die Umstände des Todes und die Begleitung während der Sterbephase in entscheidender Weise geprägt, und die Erinnerung daran gestaltet die nachfolgende Trauer. Inmitten der Polarisierung des Todes zwischen Tabuthema oder glorreicher Chance findet die Begegnung mit Sterben und Tod real statt, wenn das Unbegreifliche unabwendbar mitten im Lebensraum einer Familie geschieht. In der (Mit-)Gestaltung dieses Prozesses sollte unsere besondere Aufmerksamkeit den Kindern und Jugendlichen zukommen. Es gilt, einen Lebensraum zu schaffen, in dem noch normales, alltägliches Leben möglich ist und gleichzeitig die Annäherung an den bevorstehenden Verlust emotional ausgelebt werden darf. Dazu benötigt es von uns professionellen Begleitern authentisches Mitfühlen, wertfreie Anerkennung der Einzigartigkeit emotionaler Ausdrucksweisen und Vertrauen in die Verarbeitungsqualitäten von Kindern und Jugendlichen. Es bedarf der Stärkung und Ermutigung von Bezugspersonen, des gemeinsam durchlebten Zweifelns und der Achtung vor einer jeden Entscheidung. Kenntnisse von

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Unterstützungsangeboten, die den Sterbeprozess begleiten oder auch als weiterführende Begleitmaßnahmen dienen, sind zudem unbedingt notwendig.

Literatur Bracht-Bendt, N. (2012). Stellungnahme der Kinderkommission des Deutschen Bundestages zum Thema »Kinder und Trauer«. Kommissionsdrucksache 17. Wahlperiode 17/14. Berlin. Zugriff am 28. 08. 2013 unter http://www.bundestag.de Student, J.-C. (2009). Zu Hause sterben. Hilfen für Betroffene und Angehörige (9. Aufl.). Bad Krozingen: Deutsches Institut für Palliative Care. Weiß, S. (2006). Die Trauer von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen um den verstorbenen Vater. Inaugural-Dissertation an der Ludwig-Maximilian-Universität München, Fakultät für Psychologie und Pädagogik. Zugriff am 08. 03. 2014 unter http://edoc.ub.uni-muenchen.de/7351/

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Abschiednahme und Seelsorge

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Heiner Melching

Mit Kindern Abschied nehmen – Kinder bei Beerdigungen

Die Fragen, ob Kinder an Beerdigungen teilnehmen sollten, ob sie einen Toten oder einen sterbenden Menschen sehen oder berühren können und welche Formen der Unterstützung sie, wenn ja, jeweils benötigen, sind mir immer wieder begegnet, und zwar sowohl während meiner Tätigkeiten als Bestatter und Trauerbegleiter für trauernde Eltern und Geschwister als auch im Sozialdienst einer Palliativstation. Bei genauerer Betrachtung wurde allerdings deutlich, dass der Unterstützungsbedarf vornehmlich aufseiten der Erwachsenen zu suchen ist, die sich nicht nur darum sorgen, dass dem Kind eine Überlastung droht, sondern auch eine Ahnung davon haben, welche Fragen des Kindes auf sie zukommen und mit welcher eigenen Ratlosigkeit sie konfrontiert werden könnten. Vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen ist es mir deshalb ein Anliegen, darauf hinzuweisen, dass es auch in Bezug auf die Gestaltung einer Abschiednahme/Beerdigung nicht vordergründig darum geht, die beteiligten Kinder entsprechend vorzubereiten und einzubeziehen, sondern dass sich auch hier der Blick auf das gesamte Familiensystem richten muss. Die unmittelbaren Bezugspersonen der Kinder (in der Regel die Eltern) müssen ermutigt und gegebenenfalls befähigt werden, sich auf dieses Abenteuer der Begegnung mit dem Thema Tod gemeinsam mit ihren Kindern einzulassen. Dieser notwendige und für alle Seiten hilfreiche Dialog zwischen Bezugsperson und Kind kann und muss nach meiner Einschätzung nicht an Trauer- und Abschiedsprofis delegiert werden. Die in diesem Kontext tätigen Profis (womit, genauso wie beim Begriff professionelle Begleiter, auch im weiteren Verlauf dieses Beitrags ebenso wie die beruflichen die vielen ehrenamtlichen Begleiter gemeint sind, die in diesem Feld tätig sind) können hier allenfalls kommunikationsfördernd tätig sein und dabei helfen, Rahmenbedingungen zu schaffen, die ein gemeinsames Abschiednehmen mit Kindern und Erwachsenen erleichtern. Mit der Verschiebung der Interventionszielgruppe, weg von den Kindern und hin zu den Erwachsenen bzw. zum sozialen System, ändern sich natürlich auch Strategien und Handlungsoptionen, die ein stimmiges Abschiednehmen ohne Ausgrenzung von Kindern und Jugendlichen befördern können. So unnötig es mir erscheint, in diesem Buch zu erläutern, warum Kinder und Jugendliche als fester Bestandteil einer sozialen Gruppe diesen Status nicht verlieren, wenn im Umfeld ein Todesfall eintritt, und sie somit selbstverständlich miteinbezogen werden sollten, so nötig erscheint es mir in der Praxis professionell Tätiger, gute Argumente und Beispiele zu finden, die es den Bezugspersonen von Kindern ermöglichen

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Heiner Melching

zu verstehen, warum es sinnvoll und hilfreich ist, Kindern die Beteiligung an einer Beerdigung/Abschiednahme zu ermöglichen. Da in diesem Buch bereits an anderen Stellen auf Theorien zum kindlichen Verständnis von Tod und Sterben sowie zur Kommunikation mit Kindern hingewiesen wird, möchte ich anhand eines exemplarischen Beispiels und von persönlichen Erfahrungen auf Möglichkeiten hinweisen, Kinder in die Gestaltung und Durchführung einer Abschiednahme mit einzubeziehen.

Der erste Kontakt Die erste Begegnung findet in der Regel nicht mit den Kindern, sondern mit Erwachsenen statt. In Bezug auf eine Bestattung erfolgt dieser Erstkontakt zumeist in einem Bestattungsinstitut oder im Haus der trauernden Familie (im Folgenden Trauerhaus genannt). Ich habe es mir dabei angewöhnt, immer danach zu fragen, ob es im Umfeld Kinder gebe, für die der/die Verstorbene eine Bedeutung habe. Je enger die Bindung des Kindes zur verstorbenen Person ist, desto wichtiger erscheint es mir, Kindern die Möglichkeit des Dabeiseins zu geben; natürlich ohne daraus irgendeine Art der Verpflichtung entstehen zu lassen. Ich erinnere mich an eine Situation, in der ich als Bestatter zum Erstgespräch im Trauerhaus war und auf die obligatorische Frage nach Kindern die Antwort erhielt, dass der siebenjährige Enkel des Verstorbenen zum Spielen in sein Zimmer im ersten Stockwerk geschickt worden sei, weil man ihn leider nirgendwo anders habe unterbringen können, und die 13-jährige Enkeltochter sich auf einer Klassenfahrt befinde. Beide Kinder hatten eine enge Bindung zu ihrem Opa. Der darauf folgende Dialog gestaltete sich in etwa so:1 I: Warum hätten Sie Ihren Sohn gerne woanders untergebracht bzw. warum wurde er zum Spielen in sein Zimmer geschickt? A: Weil das, was wir hier besprechen, doch nichts für ihn ist. I: Wir besprechen die Beerdigung seines Opas, der ihm ja etwas bedeutet. A: Aber wir werden ja auch über viele Formalitäten, über Kosten usw. reden, das würde ihn ohnehin langweilen. I: Schicken Sie Ihren Sohn auch ansonsten raus, wenn Sie Dinge besprechen, von denen Sie annehmen, dass sie ihn langweilen würden? A: Nein, natürlich nicht, aber dies hier wird er noch nicht verstehen, er ist erst sieben. I: Was meinen Sie mit verstehen? A: Dass sein Opa nun tot ist, wo er jetzt ist und was mit ihm geschieht. I: So richtig verstehen – was tot bedeutet – kann ich auch nicht. Das hat doch auch viel mit Fantasie zu tun. Ich glaube, dass wir Erwachsenen nicht wirklich mehr über den Tod wissen als Kinder. 1

I = Ich, A = Angehörige

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Mit Kindern Abschied nehmen – Kinder bei Beerdigungen

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A: Ja, mag sein, aber das, was wir jetzt an praktischen Dingen besprechen, die Beerdigung – und dann soll es ja auch eine Einäscherung werden –, das wollen wir ihm nicht zumuten. Und das, meine ich, das wird er nicht verstehen. I: Könnte es dann nicht umso wichtiger sein, dass wir ihm jetzt helfen, das etwas besser zu verstehen? Oder dass Sie von ihm erfahren können, was er bereits zu verstehen imstande ist? A: Wir wussten ja auch nicht, ob es Ihnen recht wäre, wenn er dabei sein würde. Er kann nämlich auch recht anstrengend sein und ruhig sitzen ist überhaupt nicht sein Ding. I: Da haben Sie Recht, es war nicht klug von mir, Sie am Telefon nur darauf hinzuweisen, welche Unterlagen Sie bereithalten sollen, und nicht zu erwähnen, dass mich Kinder bei solchen Gesprächen überhaupt nicht stören. Ich habe schon viele derartige Gespräche erlebt, bei denen Kinder dabei waren, und habe damit ausschließlich positive Erfahrungen gemacht. A: Sollen wir Ihn jetzt dazuholen? I: Was glauben Sie, was er denkt, was wir hier machen, oder was er jetzt gerade macht? A: Wir haben ihm gesagt, dass der Mann vom Beerdigungsinstitut kommt und wir die Beerdigung seines Opas besprechen. Vermutlich wird er oben auf der Treppe sitzen und versuchen zu lauschen, was wir besprechen. Er ist ein sehr neugieriger Junge. I: Glauben Sie, dass unser Gespräch für Sie persönlich schwieriger wird, wenn Ihr Sohn dabei ist, machen Sie sich diesbezüglich irgendwelche Sorgen? A: Wenn wir ihn jetzt dazuholen, wird er bestimmt auch bei der Beerdigung dabei sein wollen. I: Spricht etwas dagegen? A: Ich weiß nicht, ob ihn das überfordert. Er wird schon mit dem Stillsitzen Probleme haben. I: Was das Stillsitzen betrifft, war ich schon oft erstaunt, mit welcher Ausdauer Kinder, von denen es niemand erwartet hätte, ruhig bei einer Beerdigung dasitzen können. Aber dennoch würde ich Ihnen empfehlen, eine vertraute Person damit zu beauftragen, sich während der Trauerfeier mit um Ihren Sohn zu kümmern. Dann müssen Sie nicht dauernd auf ihn achten und können so Abschied nehmen, wie es für Sie in dem Moment am besten ist. Diese Person kann dann auch Ihrem Sohn Fragen beantworten oder etwas erklären oder einfach mit ihm rausgehen, wenn er das möchte. Ich würde auch immer empfehlen, mit Kindern einen Platz am Rand einzunehmen, weil man sich dann sicherer fühlen kann und weiß, dass man jederzeit problemlos weggehen kann. Benötigt wird so ein Fluchtweg zwar so gut wie nie, aber es ist dennoch gut, ihn zu haben. Was Ihre Sorge vor der Überforderung betrifft, sind sich Fachleute einig, dass es auch im Hinblick auf das Erlernen von Bewältigungsstrategien für Kinder besser ist, an einer Beerdigung teilnehmen zu dürfen, als ausgegrenzt zu werden. Letzteres kann eben auch dazu führen, dass Kinder sich fragen, was sie falsch gemacht haben, dass sie nicht dabei sein dürfen, was wiederum zu unnötigen Schuldgefühlen führen kann. A: Ja, das klingt eigentlich ganz einleuchtend. I: Gibt es noch weitere Sorgen oder Bedenken?

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A: Naja, wenn ich zum Beispiel weinen muss; ich kenne das noch von der Beerdigung meiner Mutter, als ich da die Musik und die Blumen aussuchen sollte, da sind mir schon die Tränen heruntergelaufen. I: Was würde sein, wenn es wieder passiert und Ihr Sohn dabei ist? A: Er würde sehen, dass ich sehr traurig bin – und er würde versuchen, mich zu trösten. I: Ist er ein guter Tröster? A: Oh ja – das kann er wirklich gut. I: Na dann spricht wohl nichts dagegen, ihn zu fragen, ob er runterkommen möchte – oder Sie sagen ihm einfach, dass er jederzeit dazukommen darf, wenn er möchte – oder wir lassen einfach alle Türen auf, dann ist das Lauschen einfacher, falls ihm das besser gefällt. A: Okay, ich gehe hoch und frage ihn – aber das mit der Einäscherung sollten wir ihm noch nicht erzählen. Das finde ich zu heftig, dass wir seinen Opa verbrennen lassen. Ich bin da selber noch nicht so ganz glücklich mit. I: Okay, es muss ja auch nicht alles heute geschehen. Aber dann sollten wir heute auch noch keine Urne aussuchen, sonst wird er sich fragen, wie wir seinen Opa da hineinbekommen. Wenn es dann aber eine Einäscherung wird, sollte er es schon erfahren. Ich kenne Kinder, die mit vielen Fragen später vor einem Urnengrab standen und sich gefragt haben, ob der Verstorbene hochkant begraben wurde oder zerteilt oder zerquetscht wurde, um in so ein kleines Grab zu passen. Wenn sich nachher die Gelegenheit ergibt oder Ihr Sohn danach fragt, kann ich ja von den unterschiedlichen Möglichkeiten einer Bestattung berichten und dann den Unterschied zwischen einer Erd- und Feuerbestattung erklären, wenn Ihnen das lieber ist. Sie könnten dann als Familie überlegen, was der Wunsch des Verstorbenen war und welche Form der Bestattung Sie als stimmig empfinden. A: Gut, dann geh ich jetzt und sag ihm Bescheid. I: Wie heißt Ihr Sohn? A: Lasse.

Sollten Kinder Tote anschauen/anfassen? Lasse kam etwas unsicher mit seiner Mutter ins Wohnzimmer, ich stellte mich ihm vor, sagte ihm, dass ich mich freue, ihn kennen zu lernen und es gut finde, dass er nun dabei sei. Als ich erzählte, dass wir seinen Opa aus dem Krankenhaus abgeholt und zu uns ins Beerdigungsinstitut gebracht hätten, fragte er sofort, ob er ihn dort besuchen könne. Als ich ihm sagte, dass dies durchaus möglich sei, schauten seine Eltern sich fragend an, warfen mir dann einen fragenden Blick zu und sagten, dass sie sich erst noch überlegen müssten, ob sie ihn überhaupt noch einmal anschauen möchten. Ich erwiderte daraufhin: »Natürlich, das hat ja auch noch Zeit und muss nicht heute entschieden werden. Das sollte aber jeder für sich entscheiden und nicht einer oder zwei

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Mit Kindern Abschied nehmen – Kinder bei Beerdigungen

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für die ganze Familie. Wir werden ja auch noch darüber sprechen, welche Kleidung er anbekommen soll und ob ihn jemand aus der Familie anzieht oder wir es gemeinsam machen oder ob das jemand aus dem Beerdigungsinstitut übernehmen soll. Wenn Lasse seinen Opa dann nicht mehr anschauen möchte, kann er ihm ja auch ein Bild malen oder etwas anderes mit in seinen Sarg legen lassen.« Ich fragte Lasse dann noch, ob er schon einmal einen toten Menschen gesehen habe oder ob er eine Vorstellung davon habe, wie das sei. Er hatte schon einmal einen Toten im Fernsehen gesehen und im Kindergarten hatte er mit seiner Gruppe bereits einen toten Vogel begraben, den sie dort gefunden hatten. Er wusste auch, dass Tote sich kalt anfühlen und nicht mehr sprechen oder atmen können. Ich erklärte seinen Eltern später, dass Kinder noch mehr als Erwachsene daran gewöhnt seien, vornehmlich mit ihren Sinnen zu lernen, weshalb es gut sein könne, einen Toten zu sehen und zu berühren, um die Tatsache, dass der Opa gestorben sei, im wahrsten Sinne des Wortes be-greifen zu können. Vor dem Hintergrund, dass der Opa in Kürze begraben oder verbrannt werde, könne es hilfreich sein, wenn Lasse die Leblosigkeit des Körpers durch Sehen oder Berühren tatsächlich erfahren könne, damit er sich keine Sorgen darum machen müsse, ob der tote Körper in der Erde friere oder Schmerzen erleide. Ich habe schon Kinder erlebt, die einen toten Angehörigen kräftig gekniffen hätten, um festzustellen, dass er auch wirklich nichts mehr spüre. Kinder hätten in aller Regel viel weniger Berührungsängste bei einem Toten als Erwachsene. Mir sei immer wieder aufgefallen, dass fast jeder Erwachsene vor dem Betreten eines Aufbahrungsraumes tief Luft hole, all seinen Mut zusammennehmen müsse, um dann mit einem beherzten Schritt diesen Raum, in dem sich sein verstorbener Angehöriger befinde, zu betreten. Kinder hingegen gingen sehr schnell in diesen Raum hinein, näherten sich dem toten Menschen und scheuten sich kaum, ihn sehr schnell zu berühren, während ich von Erwachsenen häufig gefragt werde, ob es überhaupt bedenkenlos möglich sei, einen Toten anzufassen oder gar zu küssen.

Tatsächlich ist, wenn ich mit Angehörigen darüber spreche, ob sie und auch die betroffenen Kindern den Verstorbenen noch einmal sehen wollten, an dieser Stelle häufig der Hinweis nötig, dass ein Mensch dadurch, dass er gestorben ist, nicht giftiger wird, als er es vorher gewesen ist. Nein, es gibt kein Leichengift, und vermutlich ist jeder Geldschein infektiöser als eine Leiche, sofern der Mensch nicht vor seinem Tod an einer hochinfektiösen Erkrankung litt. Wichtig finde ich auch noch den Hinweis, dass es beim Anschauen eines Verstorbenen grundsätzlich nicht darum geht, zu sehen, wie schön jemand ist, sondern darum, zu begreifen, wie tot jemand ist. Dies ist ein völlig anderer Auftrag, aus dem sich auch ergibt, dass Verstorbene nicht so zurechtgemacht und geschminkt werden sollten, dass es aussieht, als kämen sie gerade aus dem Urlaub, und dass es bei einer Aufbahrung auch nicht darum geht, jemanden so in Erinnerung zu behalten, wie er war, sondern zu begreifen, wie er ist. Das Gespräch im Trauerhaus dauerte knapp drei Stunden, während derer Lasse zwischendurch spielte, gelegentlich für sehr kurze Zeit den Raum verließ und ansonsten sehr interes-

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siert und aufmerksam zuhörte und Fragen stellte. Er interessierte sich für viele technische Details, wie schwer ein Sarg ist, wie er auf den Friedhof und in das Grab kommt, wer ihn trägt, was für Blumen und welche Musik ausgesucht wurden, und vor allem, in welchem Auto wir seinen Opa aus dem Krankenhaus abgeholt hatten. Er fand es sehr cool, dass es ein fetter Mercedes war, denn sein Opa hatte auch einen solchen gefahren. Lasse hat sich dann später im Beerdigungsinstitut den Leichenwagen genau angeschaut (wir sind sogar eine kleine Runde damit gefahren) und natürlich hat er auch seinen Opa besucht, dem er noch ein selbst gemaltes Bild mit in den Sarg gelegt hat. Er hat am offenen Sarg seines Opas geweint und wenige Minuten später auch wieder gelacht und danach gefragt, wer nun Opas Mercedes bekomme. Erwachsene sind häufig irritiert, dass Kinder so wechselhaft in ihren Gefühlen erscheinen. Dies liegt daran, dass Kinder einen unmittelbareren Zugang zu ihren Gefühlen haben und im Gegensatz zu Erwachsenen nicht jedes Gefühl rational abgleichen und auf dessen Richtigkeit überprüfen. Dadurch sind sie einfach schneller als wir. Lasse war dann auch beim Trauergespräch mit dem Pastor anwesend, der ihn und seine Schwester im Rahmen der Trauerfeier mehrfach namentlich erwähnt und direkt angesprochen hat, was beide regelrecht mit Stolz erfüllte.

Kindern Leid ersparen? Ein wichtiges Thema war auch, ob Paula, die 13-jährige Schwester von Lasse, während der Klassenfahrt über den Tod des Opas informiert werden oder ob man ihr noch ein paar unbeschwerte Tage gönnen sollte. Mir war dabei die Klärung folgender Fragen wichtig: Wie würde Paula es empfinden, wenn sie bei der Rückkehr von ihrer Klassenfahrt erführe, dass ihr Opa bereits vor einigen Tagen gestorben sei, während sie sich andernorts amüsiert habe? Würde sie deshalb eventuell ein schlechtes Gewissen bekommen oder sich Vorwürfe machen? Würde sie sich belogen fühlen oder betrogen um die Möglichkeit, die Trauerfeier mitzugestalten, die ihr Bruder ja hatte? Welche Auswirkungen würde dieses gut gemeinte Ersparen von Kummer auf das Beziehungsgeschehen in der gesamten Familie haben? Würde es Paulas Leid verkürzen, verzögern oder ihre Trauer vereinfachen? Es wurde sehr schnell klar, dass es keine Alternative dazu gab, Paula umgehend zu informieren. Schließlich reißt uns der Tod eines nahestehenden Menschen immer aus dem Alltag heraus und zwingt uns zur Lebensunterbrechung. Der Verlust einiger schöner Tage auf der Klassenfahrt gehört eben auch zum Verlust des Opas mit dazu, und es wird noch viele schöne Tage für Paula geben, während die Möglichkeit zur Abschiednahme von ihrem Opa unwiederbringlich ist. Es wurde dann überlegt, ob die Eltern ihr die Nachricht am Telefon mitteilen können oder ob es besser durch die Lehrerin oder einen Seelsorger vor Ort geschehen sollte. Das Ergebnis dieser Überlegungen war, dass auch im Hinblick auf die familiären Beziehungen selbst die holperigste Nachrichtenübermittlung durch ein

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Mit Kindern Abschied nehmen – Kinder bei Beerdigungen

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Familienmitglied besser sein würde, als wenn die Benachrichtigung (egal wie gut und professionell) von einem Außenstehenden erfolgen würde. Also ist der Vater in den ca. 100 Kilometer entfernten Ferienort gefahren und hat seine Tochter über den Tod des Opas informiert, um ihr auch die Möglichkeit zu geben, gleich mit nach Hause zu fahren, sofern sie das wünsche.

Kindern Möglichkeiten eröffnen Ich habe viele solcher Situationen erlebt und denke, dass es in jedem Fall gut ist, wenn Kinder, egal welchen Alters, selbst entscheiden können, inwieweit sie miteinbezogen werden oder nicht und wie aktiv oder passiv sie sich an der Gestaltung einer Beerdigung beteiligen wollen. Ich habe Kinder erlebt, die eine Urne selbst zum Grab getragen und beigesetzt haben, andere haben etwas Musikalisches vorgetragen oder Rituale mitgestaltet, zweimal waren sogar Kinder beim Einkleiden von Verstorbenen (beide Male jüngere Geschwister) dabei, und andere wiederum haben sich eher passiv verhalten und waren mehr beobachtend dabei. Ich habe keine Kausalität zum jeweiligen Alter der Kinder feststellen können, hierbei scheinen eher Persönlichkeitsstrukturen und bisherige Erfahrungen eine Rolle zu spielen. Ein Beispiel, bei dem die Beerdigung eines achtjährigen Mädchens maßgeblich von Kindern aus deren Schule, Kindergarten und Kirchenchor gestaltet und dabei ein sehr persönliches Ritual entwickelt wurde, findet sich in einem Artikel des Fachmagazins »Leidfaden« (Melching, 2013, S. 52).

Von Kindern lernen Zu bedenken ist auch, dass es bei einer Beerdigung nicht um das Organisieren einer Veranstaltung geht, sondern um das stimmige Gestalten einer Abschiednahme. Wenn Kinder dabei sind, die eventuell durch ihr kindgerechtes Verhalten hier und da für Irritationen sorgen, ist auch dies sicherlich nicht problematisch. Ich denke da an einen etwa zehnjährigen Jungen, der bei einer Beerdigung in dem Moment, als der Sarg ins Grab herabgelassen wurde, seine Mutter anstupste und mit sehr lauter Stimme die Stille dieses schweren Moments durchdrang, indem er rief: »Mama! – Wo ist jetzt eigentlich das Kopfende und wo das Fußende?« Während die Trauergemeinde betreten nach unten schaute, beschlich die Mutter ein unangenehmes Schamgefühl, und sie dachte, ihr Sohn hätte jetzt eine der verbotensten Fragen zum falschesten aller möglichen Zeitpunkte gestellt. Nun reagierte allerdings der Pastor sehr geschickt, indem er seine gefalteten Hände auseinanderzog, sich dem Jungen zuwendete, ihn mit dem Namen ansprach und ebenso laut und deutlich sagte: »Das ist eine sehr gute Frage – wollen wir doch mal sehen, wer das von den Erwachsenen hier weiß.« Er blickte in die Runde und

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Heiner Melching

erntete bei der teils schmunzelnden und teils zunehmend irritierten Trauergemeinde ausschließlich ratloses Achselzucken. Und so begann er am Grab zu erklären, dass es auf kirchlichen Friedhöfen üblich sei, die Verstorbenen mit Blickrichtung nach Osten zu beerdigen, und auf städtischen Friedhöfen, sie mit Blickrichtung nach Süden zu begraben. Da die Beerdigung auf einem städtischen Friedhof stattfand, zeigte er die Himmelsrichtungen an und deutete gen Süden. Alle wussten nun die Antwort auf die Frage des Kindes. Inzwischen hatte der Sarg den Boden des Grabes erreicht, womit ein ansonsten sehr schwerer Moment überwunden war, es wurde ein Gebet gesprochen, und die Trauergemeinde wurde zum gemeinsamen Kaffeetrinken eingeladen. Dort war die Frage des Jungen für viele noch ein Thema und eine Frau berichtete (wenn auch etwas scherzhaft), dass sie dem Jungen sehr dankbar für diese Frage sei, weil sie nun auch endlich wisse, warum sie am Grab ihres Vaters noch nie einen so richtigen Kontakt zu ihm verspürt habe. In der fälschlichen Annahme, das Kopfende eines Grabes sei immer dort, wo sich der Grabstein befinde, habe sie bisher immer zum Fußende ihres verstorbenen Vaters gesprochen. Es sind häufig die unbefangenen Fragen von Kindern, die uns zum Nachdenken herausfordern und durch die wir selbst vieles lernen können. Somit geht es nicht darum, Kindern mit einem (diesbezüglich nicht vorhandenen) Wissensgefälle von oben nach unten zu erklären, was Tod bedeute und wie eine Beerdigung abzulaufen habe, sondern es geht darum, sich gemeinsam mit ihnen, auf Augenhöhe und getragen von kindlicher Neugier, den großen Fragen des Lebens und des Todes anzunähern.

Schlussbemerkungen Natürlich sind nicht alle Eltern so leicht zu überzeugen, wie die Eltern von Lasse und Paula, und manche sind nicht in der Lage, solch einen Weg mit ihren Kindern zu gehen. Dann gilt es, auch diese Entscheidungen zu akzeptieren. Es ist sicherlich nicht ratsam, Eltern die Beteiligung ihrer Kinder aufzuzwingen, da sie schließlich die Verantwortung für ihre Kinder haben und alle Entscheidungen langfristig mittragen können müssen. Neben ermutigenden Gesprächen und Unterstützungsangeboten können auch Kinderund Bilderbücher für Eltern eine Hilfe sein, bei ihren Kindern das Thema Beerdigung anzusprechen. Besonders zu empfehlen sind »Die besten Beerdigungen der Welt« von Ulf Nilsson (2006) und »Hat Opa einen Anzug an?« von Amelie Fried (1997). In Bezug auf die Beteiligung von Kindern an Beerdigungen halte ich folgende Aspekte für bedeutsam: •• Auftragsklärung! – Ist es meine Aufgabe/mein Auftrag, zu intervenieren? Wenn ja, dann: •• aktiv nach Kindern und Jugendlichen sowie deren Beziehung zum Verstorbenen fragen,

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Mit Kindern Abschied nehmen – Kinder bei Beerdigungen

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•• gegebenenfalls auch nach Kindern im Umfeld fragen, zum Beispiel Schule, Kindergarten, Sportverein, Freundeskreis, Nachbarschaft, •• eventuell vorhandene Ängste und Sorgen der Eltern bezüglich einer Beteiligung von Kindern ernst nehmen und diese nicht als falsch, sondern als Ausdruck von Fürsorge (und gegebenenfalls eigenen Ängsten) verstehen, •• Mut machen, sich den Fragen von Kindern sowie deren und den eigenen Ängsten zu stellen, •• Mechanismen des Be-greifens von Kindern erklären, auf die Bedeutung von sinnlichen Erfahrungen hinweisen, •• über Gestaltungsmöglichkeiten aufklären, zum Beispiel Rituale, gemeinsames Einkleiden, Sargbeigaben – hierzu gehören auch bestattungsrechtliche Fragen, wie zum Beispiel dass jeder Verstorbene unabhängig vom Sterbeort auch nach Hause gebracht werden kann, dass man den Bestatter immer (unabhängig von eventuell vorhandenen Sterbegeldversicherungen) frei wählen kann und dieser eine Vertrauensperson sein sollte, es gibt keine Verpflichtung, überhaupt einen Bestatter einzuschalten (je nach Bundesland mit Ausnahme für die Überführungen), usw., •• Zeit geben – es gibt kaum verbindliche Fristen, die dazu führen, eine Beerdigung schnell durchführen zu müssen (Bestattungsrecht = Länderrecht), •• Kinder jeden Alters möglichst selbst entscheiden lassen, inwieweit sie einbezogen werden möchten, •• eine verständliche Sprache wählen – im oben genannten Beispiel haben wir keinen Leichnam eingesargt, sondern den gestorbenen (oder toten) Opa von Lasse in den Sarg gelegt, •• Kinder (auch im Rahmen der Trauerfeier) direkt und mit deren Namen ansprechen, •• auf gut gemeinte Beschönigungen verzichten: Opa ist nicht »eingeschlafen«, sondern gestorben, auch Kinder können mit Wahrheiten und Realität besser umgehen als mit irrealen Fantasien und Beschönigungen, •• die Kommunikation mit Kindern und Jugendlichen (sofern vorhanden) nicht hinauszögern – Kinder und Jugendliche sind ein fester Bestandteil des sozialen Umfelds, sie gehören dazu, •• realisieren, dass Kinder nicht unbedingt weniger über den Tod als Erwachsene wissen, •• berücksichtigen, dass Kinder oftmals vor den Schrecken des Todes behütet werden sollen, dadurch aber meistens ausgegrenzt werden, •• beachten, dass Kinder andere Ausdrucksformen für ihre Trauer haben (Trauer selten verbal ausdrücken – nicht in einer Erwachsenensprache), •• davon ausgehen, dass Kinder einen unmittelbareren Zugang zu ihren Gefühlen haben und dadurch schwankender erscheinen, •• bedenken, dass vor allem Jugendliche ihre eigenen Wege und Ansprechpartner benötigen (also nicht unbedingt die Eltern).

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Heiner Melching

Literatur Fried, A. (1997). Hat Opa einen Anzug an? München: Hanser. Melching, H. (2013). Rituale als Mittel zum Zweck. Leidfaden. Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer. Rituale – zwischen Pathos und Folklore, 2 (1), 44–53. Nilsson, U., Eriksson, E. (2006). Die besten Beerdigungen der Welt. Frankfurt a. M.: Moritz. Radbruch, L., Melching, H. (Hrsg.) (2012). Kinder und Jugendliche – ein Trauerspiel. Leidfaden. Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer, 1, (4).

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Georg Schwikart

… denn sie werden getröstet werden! Seelsorge für trauernde Kinder

David wacht mit Bauchweh auf. Das kommt schon mal vor, wenn man neun Jahre alt ist. Vielleicht hat er etwas gegessen, was ihm nicht bekommen ist. Vielleicht drückt sich auf diese Weise auch ein psychisches Problem aus, die Angst vor einer Klassenarbeit zum Beispiel. Wie auch immer, er bleibt zu Hause und geht nicht zur Schule. Als bis zum Abend alle Hausmittel nicht geholfen haben und die Schmerzen immer schlimmer werden, bringen ihn seine Eltern ins Krankenhaus. Man untersucht dort den Jungen, merkt, dass die Werte tatsächlich auffällig schlecht sind, findet aber keine Ursache. Man will ihn zur Beobachtung über Nacht dabehalten und gibt ihm etwas zur Beruhigung. David schläft ein – und wacht nie mehr auf. Ein seltener Fall, ein Fall für die Wissenschaft. Aber wen interessiert das in diesem Augenblick? David ist tot. Seine Familie – geschockt! Und auch die Schule, die informiert wird, kann es nicht fassen: Lehrerinnen und Lehrer, Schülerinnen und Schüler, ebenso deren Angehörige wurden vom Tod heimgesucht. Überraschend kam er, unvorbereitet. Und nicht willkommen! Man bittet mich, Davids Klasse zu besuchen. Dort hat die Lehrerin bereits ein Bild des Jungen aufgestellt, eine Kerze und Blumen davor. Ich lasse mir von David erzählen: Er hat anderen seine Sachen geliehen. Er war beim Fußball super im Tor. Er konnte Schach spielen. Er trug so lustig das Hexengedicht vor. Er sang gern, und das Schlümpfe-Lied hatte er am liebsten. Dann spreche ich mit den Kindern über die Trauer, die manchmal ist wie Traurigsein, manchmal aber auch wie Wut oder Angst. Die Kinder erzählen von ihren Gefühlen und Gedanken. Am Tag nach der Beerdigung, die im engsten Familienkreis stattgefunden hat, feiern wir einen Gottesdienst für die ganze Grundschule. Alle Kinder der Klassen 1 bis 4 sind da, alle Lehrerinnen und Lehrer, viele Eltern der Kinder – und auch die Eltern und die Schwester von David. Den Gottesdienst bereitete ich gemeinsam mit zwei Frauen vor, einer Lehrerin und einer Ehrenamtlichen aus der Pfarrgemeinde. Wir hatten folgende Idee entwickelt: Am Eingang der Kirche darf sich jedes Kind aus einem Korb einen »Edelstein« nehmen (eine Glaskugel oder ein Mineral), schöne, glatte, glänzende Stücke. Nach der Begrüßung erzähle ich dann, was mir von David berichtet worden ist, von seiner Bereitschaft, auszuleihen, von Fußball und Schach, von Hexengedicht und Schlümpfe-Lied. David ist wertvoll gewesen wie ein Schatz. Wie ein Geschenk.

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Dann fordere ich die Kinder auf, die »Edelsteine« zurück in den Korb zu legen, der jetzt vor dem Altar steht. Jedes Kind spürt: »Das ist gemein! Wir haben doch gedacht, wir hätten den Edelstein geschenkt bekommen. Nun müssen wir ihn wieder hergeben!« Aber so ist es auch mit David: Auf einmal müssen sich alle wieder von ihm trennen. Doch dies ist nur der eine Teil, der im Gottesdienst zur Sprache kommen soll, der Verlust und die seltsamen Gefühle der Trauer. Der andere ist die Frage, wie wir die Verzweiflung, die Davids Tod ausgelöst hat, in einen Zusammenhang bringen können mit Gott. Wir hören den Abschnitt aus der Offenbarung des Johannes (21, 1–5a), wo es heißt: »Gott wird in der neuen Welt abwischen alle Tränen, und der Tod wird nicht mehr sein.« Aber noch sind wir in der alten Welt, in der es Tod, Trauer und Tränen gibt. Ich blase eine exponiert stehende Kerze aus. Der christliche Glaube verheißt aber auch Trost: die Hoffnung, dass der Tod nicht der Sieger ist. Dass alle, die gestorben sind, zu Gott kommen, zu einem neuen Leben. Dass es ihnen gut geht. Dass David nie mehr Schmerzen haben wird … Manchmal können wir dieser Zusage des Glaubens nicht vertrauen, aber manchmal wagen wir dieses Vertrauen. Ich zünde die Kerze wieder an.

Als Glaubende gehen wir den Weg, nicht als Schauende Kinder haben ihre eigenen Fragen zum Tod – und ihre eigenen Antworten. Erwachsene tun gut daran, erst einmal zuzuhören. Was Trost schenkt, ist richtig: »Oma ist jetzt im Himmel!«, »Onkel Frank sitzt auf der Wolke«, »Frau Tölle wird als Schmetterling wiedergeboren« – ich würde diesen kindlichen Verheißungen nicht widersprechen. Es kann aber auch sein, dass Sorge aufbricht: »Wie bekommt der Opa im Grab Luft?«, »Bin ich schuld, dass Laura gestorben ist?«, »Werden wir Dirk nie mehr wiedersehen?« – hier gilt es, zu klären, denn manches können wir über den Tod wissen, anderes nur glauben. Ein Toter braucht keine Luft mehr. Für den Tod eines Menschen ist in der Regel kein anderer verantwortlich, sondern das Alter, eine Krankheit oder ein Unglück. Ob wir die Verstorbenen einmal wiedersehen werden, ist hingegen eine Frage des Glaubens. Seelsorge umfasst den ganzen Menschen, also nicht nur die Seele, sondern auch den Geist und den Leib. Seelsorge an Trauernden, zumal an Kindern, setzt auf Stabilisierung, Ermutigung, Stärkung; die Weiterlebenden sollen Zuspruch erfahren. Es gilt zu differenzieren: War der Verstorbene eine nahe Bezugsperson oder ein entfernter Verwandter, eine Nachbarin, ein Kollege der Eltern? Es gibt eine unmittelbare Betroffenheit und eine indirekte, bei der nicht der Tod des Verstorbenen beeinträchtigt, sondern die Trauer an sich. Mutter und Vater bedrückt oder weinend zu sehen, kann Kindern Furcht einflößen. Und wenn es ein Familienmitglied war: Wurde der Tod nach langem Leiden erwar-

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… denn sie werden getröstet werden!

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tet, ja, ersehnt? Kann man Frieden schließen mit dem Ende, das wir dann Erlösung nennen? Oder tritt der Tod mit all seiner Wucht auf, so dass wir ihn als ungerecht empfinden, weil er einen Jugendlichen durch einen Unfall oder eine Erwachsene durch Suizid hinwegnimmt? Seelsorge braucht Gespräch, braucht Austausch, und ein wichtiger Bestandteil dieser Kommunikation ist das Schweigen. Seelsorger tun gut daran, authentisch zu bleiben. Sie müssen nicht alles wissen, sie können nicht jede Frage beantworten, sie brauchen nicht alles zu glauben. Man darf aber von ihnen erwarten, dass sie dennoch die Antworten des Glaubens auf die Frage nach dem Tod weitergeben. Das ist ihre Aufgabe, auch wenn sie selbst in einer bestimmten Situation mit diesen Antworten nicht übereinstimmen. Der Glaube ist weiter und größer als der Einzelne. Das ist eine große Entlastung. Wir dürfen uns vom Traditionsstrom des Glaubens tragen lassen. Und da spielt der Tod von Anfang an eine entscheidende Rolle: Jesus starb, sogar auf eine grausame Art. Er wurde begraben. Er teilte das Schicksal eines jeden Menschen. Aber der Tod hat nicht triumphiert. Wir feiern Ostern – und zwar jeden Tag, wenn wir bekennen: Jesus lebt! Gott hat ihn aus dem Tod geholt und ihm neues Leben geschenkt. Genauso macht er es mit jedem Menschen. Der Gottesdienst eignet sich nicht für Diskussionen und sollte schon gar nicht als Unterrichtsstunde missbraucht werden. Gottesdienst ist ein Dienst, den Gott an den Menschen ausübt: Er gibt die Zusage, die Menschen nicht allein zu lassen im Tod. Seelsorgende bringen den Mut auf, diese Zusage – manchmal anscheinend gegen die offenkundigen Tatsachen – in Wort und Zeichen auszudrücken. Das bedeutet keineswegs, den Tod erklären zu wollen, ihn zu verharmlosen, gar zu verherrlichen. Er bleibt ein dunkles Geheimnis. Zum Geheimnis des Glaubens gehört aber, dass wir den Tod des Herrn verkündigen und seine Auferstehung preisen, bis er kommt in Herrlichkeit. Im Gottesdienst darf der Skandal des Todes nicht liturgisch verbrämt und mit frommen Sprüchen verkleistert werden. Der Tod muss ausgehalten werden, wie auch die Botschaft der Auferstehung ausgehalten werden muss. Neben Formulierungen und Sinn-Bildern, die den Kindern vertraut sind, verwendet der Seelsorger eine verständliche, offene und ehrliche Sprache. Außerdem bemüht er sich um Kürze: Die Ansprache speziell für Kinder übersteigt nicht sieben Minuten, der Gottesdienst endet nach einer halben Stunde. Noch einmal: Es geht nicht darum, so zu tun, als wäre alles nicht so schlimm. Aber in allem Schlimmen gibt es Trost: »Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden« (Matthäus 5, 4). Nicht leicht zu verstehen, dieser Satz aus den Seligpreisungen der Bergpredigt, denn ein trauerndes Kind empfindet sich nicht als selig. Aber es geht nicht ums Verstehen. Es geht um eine Zusage, der ich vertrauen kann. Dieses Vertrauen ermutigt, den Weg fortzusetzen, weiterzuleben mit der Lücke, die der Verstorbene hinterlässt. Das braucht Zeit. Gott begleitet diesen Weg. Die Toten sind den Weg bereits zu Ende gegangen, sie leben.

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Georg Schwikart

Erfahrungen aus der Praxis Trauernde Kinder brauchen Sensibilität und Aufmerksamkeit. Seelsorger können sich davon überfordert fühlen und sollten aufrichtig prüfen, ob sie sich der Aufgabe gewachsen fühlen, selbst Unterstützung benötigen oder die Aufgabe der Begleitung/ Betreuung besser einem anderen anvertrauen. Die Botschaft des Glaubens braucht nicht in ihrer ganzen theologischen Vielfalt dargestellt zu werden. Eine Verdichtung, die auch eine Vereinfachung bedeuten kann, soll kindgerecht sein, also verständlich und anschaulich. Dazu helfen Symbole. An eine Wäscheleine vor dem Altar sind Porträtbilder aus der Zeitung oder aus Kalendern geklammert: Kinder, Greise, Erwachsene aus allen Kontinenten. Im Gottesdienst werden diese Gesichter betrachtet, vielleicht denkt man sich Situationen aus, in denen die Aufnahmen gemacht wurden. Dann löst der Seelsorger schweigend die Klammern. Die Bilder fallen oder schweben zu Boden wie Laub im Herbst: Wir sind sterbliche Wesen, doch wir fallen nicht tiefer als in Gottes Hände. Eine Tür steht vor dem Altar. Wir gehen jeden Tag durch Türen, manchmal durch unbekannte. Was ist dahinter? Die Geburt ist eine Tür, die Einschulung, die Hochzeit – lauter Durchgänge im Leben. Alle Menschen haben am Ende durch noch eine Tür zu gehen, eine unbekannte. Jeder muss allein hindurch. Doch hinter der Tür erwartet uns nicht etwas, sondern jemand. Das Poster eines Weges wird betrachtet. Er schlängelt sich durch die Landschaft, geht bergauf, bergab. So ist das Leben, so ist die Trauer. Ein Weg mit Serpentinen, mit Sackgassen, mit Ruhebänken, mal breit, mal schmal, aber ohne Abkürzung. Trauer ist ein Weg, keine Endstation. Sie führt zurück ins Leben, und Jesus begleitet uns. Kleine Symbole können große Wirkung entfalten: Dem Verstorbenen ein gemaltes Bild oder einen Brief mit ins Grab zu geben, tut trauernden Kindern gut. Wer eine Kerze anzündet, blickt ins Licht. Beim Vaterunser einander die Hände zu halten, lässt spüren: Ich bin nicht allein. Ein Segenskreuz auf die Stirn gezeichnet zu bekommen, macht die Zusage greifbar: Gott ist dir nah.

Trauer hat ihren Platz, Hoffnung hat ihren Platz Meine Aufgabe als Seelsorger bei Davids Tod verstand ich als eine doppelte: Einerseits im Gespräch mit den Kindern in der Schule zu erfahren, was sie vom Tod allgemein wissen, wie sie über ihn denken, welche Empfindungen Davids Tod bei ihnen auslöst. In dieser Stunde konnte ich das eine oder andere erklären, musste allerdings auch manche Frage offen lassen, etwa, warum David gestorben ist. Er ist gestorben, weil er krank war – aber warum er krank war und warum Gott das nicht verhindert hat, das weiß ich auch nicht. Andererseits fiel mir im Gedenkgottesdienst die Aufgabe zu, von der Hoffnung der Christen Zeugnis abzulegen, und zwar in der konkreten Situation der Trauer um

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… denn sie werden getröstet werden!

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David. Die Trauer hatte ihren Platz, der schmerzliche Verlust, symbolisch verdichtet im Edelstein. Die Hoffnung hatte ihren Platz, versinnbildlicht in der Kerze. Ich verleugnete den Tod nicht mit Halleluja-Gesängen, aber ich überließ ihm nicht das Feld, überließ ihm nicht die Deutungshoheit über unser Leben. Meine Tipps für Seelsorgerinnen und Seelsorger in der Begleitung trauernder Kinder •• Bleibe authentisch! Du musst nicht alles wissen, können, glauben. •• Erkläre und verharmlose den Tod nicht. Wage es, gegen den Tod die Botschaft des Glaubens zu setzen. •• Flüchte dich nicht in liturgische Floskeln und fromme Sprüche. Sprich einfach, verständlich und kurz. •• Biete Symbole an, Zeichen und Gesten, die den ganzen Menschen im Blick haben. •• Nimm dir Zeit – und vergiss nicht, deine eigenen Kraftspeicher wieder aufzufüllen.

Zehn Rechte für Kinder, die um einen Menschen trauern 1. Du hast das Recht, traurig zu sein. Trauer ist ein ganz normales Gefühl. 2. Du hast das Recht, dich nicht schuldig zu fühlen. Du hast keine Schuld am Tod des Menschen, um den du trauerst! 3. Du hast das Recht, zu weinen. Weine, wenn dir danach ist! Dafür muss sich niemand schämen. 4. Du hast das Recht, zornig zu sein. Vielleicht bist du zornig – auch das ist in Ordnung. Schreie deine Wut heraus! 5. Du hast das Recht, zu schweigen. Wenn du magst, dann schweige. Wenn du reden möchtest, rede. 6. Du hast das Recht, allein sein zu wollen. Brauchst du Zeit zum Alleinsein, so nimm sie dir. 7. Du hast das Recht, Angst zu haben. Manchmal macht der Tod Angst. Sprich mit einem Menschen, dem du vertraust. 8. Du hast das Recht, Fragen zu stellen. Hast du Fragen? Es gibt keine falschen Fragen zum Tod. Darum frage! 9. Du hast das Recht, dich zu erinnern. Deine Erinnerungen kann dir niemand nehmen! Hüte sie wie einen Schatz. 10. Du hast das Recht, zu lachen. Sei fröhlich und lache, wenn dir danach ist – du darfst dich über das Leben freuen!

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III Trauerbegleitung

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Donna L. Schuurman

Ein Club, dem keiner beitreten will Ein Dutzend Lektionen, die ich von trauernden Kindern und Jugendlichen lernte

Ich werde oftmals als Expertin im Bereich Kinder und Tod vorgestellt, was sich auf mein Engagement der letzten 16 Jahre im Dougy Center gründet, dem National Center for Grieving Children & Families in Portland, USA. In diesem Zeitraum teilten mehr als 12.000 Kinder und Teenager sowie deren Eltern oder Betreuer ihre Trauerzeit miteinander, mit unserem Personal und unseren Ehrenamtlichen. Alle gehörten sie einem Club an, dem keiner beitreten will – dem Club derer, die den Tod eines Familienmitglieds oder engen Freundes erlebt hatten. Durch sie habe ich mir wohl die Wörterbuchdefinition eines »Experten« verdient – also eines Menschen, der ein hohes Maß an Fertigkeit oder Wissen in Bezug auf ein bestimmtes Thema besitzt. Dieser Expertenstatus wird vielleicht noch gesteigert durch meinen Doktortitel in Beratung/ Begleitung – trotz der Tatsache, dass meine gesamte Studienzeit lediglich eine Stunde zum Thema Tod und Sterben umfasste sowie eine kurze Bestätigung, dass auch Kinder von Trauer betroffen sind. Eine Expertin, in der Tat! Die wahren Experten, so glaube ich, sind die Kinder und Familien, die in dem mysteriösen und chaotischen Netz aus Erfahrungen, das wir Trauer oder Verlust nennen, gefangen waren und gezuckt und gezappelt haben. Ich ziehe es vor, mich als Gesandte zu betrachten, als jemanden, der sich auf einer Mission befindet, um die Interessen eines anderen zu repräsentieren oder voranzutreiben. Deshalb habe ich mich entschlossen, das Thema Trauer bei Kindern und Jugendlichen nicht im Licht der Literatur, von Theorien, Texten oder entwicklungsbezogenen Herausforderungen zu diskutieren – obwohl alle diese Quellen hilfreiche Information bereithalten. Stattdessen will ich aufzählen und reflektieren, was ich von den Experten gelernt habe: den drei- bis 18-Jährigen, deren Geschichten zu teilen ich in den letzten 16 Jahren das Privileg hatte. 1. Kinder wissen und verstehen viel mehr, als man ihnen zugesteht. Ich kann gar nicht mehr abschätzen, wie viele Eltern sich mir über die Jahre verschwörerisch anvertraut haben und sagten, ihr Kind oder Jugendlicher kenne nicht alle Details von Papas (oder Mamas oder eines anderen) Tod. Das sei vielleicht auch besser so, und sie wüssten nicht, wie sehr das Kind von dem Tod betroffen sei. In einem besonders sprechenden Beispiel wurde dem neunjährigen Joshua gesagt, sein Vater, der Suizid

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Donna L. Schuurman

begangen hatte, sei bei einem Autounfall gestorben. Während seiner ersten Gruppensitzung teilte er den anderen, ebenfalls trauernden Sechs- bis Zwölfjährigen mit, sein Vater habe sich umgebracht. »Aber sagt das nicht meiner Mama«, wies er die Gruppe an. »Sie denkt, es war ein Autounfall.« Kinder wissen, hören, beobachten und verinnerlichen viel mehr, als Erwachsene sich bewusst machen. Ihre Antennen sind fein darauf getunt, Signale von ihrer Umgebung aufzunehmen. Sie wollen Erwachsene vor weiterem Schmerz bewahren – ebenso wie wir unsererseits die natürliche Neigung verspüren, die Kinder zu beschützen. Nur weil sie nicht verbal ausdrücken, was in ihnen vorgeht, heißt es nicht, dass sie nicht trauern. 2. Einer der größten Hemmfaktoren in der Heilung von Kindern nach einem Trauerfall sind … Erwachsene! Vor Jahren hatte Art Linkletter in den USA eine Show mit dem Namen »Kinder sagen die seltsamsten Sachen!«, die all jene lustigen, unverschämten und genialen Meinungsäußerungen von Kindern vorstellte. Trauernde Kinder dagegen könnten ihre eigene Show produzieren mit dem Titel »Erwachsene sagen die dümmsten Sachen!« Wenn die Themen vom Vermissen des Verstorbenen, Reue über die Vergangenheit oder von unerfüllten Träumen und Wünschen in Gruppen- und individuellen Gesprächen auftauchten, gossen die wenig hilfreichen und unterstützenden oder schlichtweg verletzenden Reaktionen von (vermutlich) wohlmeinenden Erwachsenen unnötig Öl ins Feuer der ohnehin komplexen und verwirrenden Trauererfahrung. Ich denke nicht, dass Erwachsene die Dinge bewusst verschlimmern wollen, sondern dass hier dreierlei Hindernisse auftreten: Eines ist unsere eigene Angst vor dem Tod und die daraus folgende Vermeidung unangenehmer Wahrheiten. Ein weiteres ist ein Mangel an Verständnis dafür, welche Worte oder Handlungen für Kinder hilfreich sind. Das dritte und vielleicht heimtückischste Hindernis ist die verstörende Wahrheit, dass es anstrengend und schwierig ist, mit einem Kind zusammenzuleben, dessen Schmerz wir nicht wegmachen oder vertreiben können. 3. Trauernde Kinder muss man nicht HEIL machen. Trauer ist keine Krankheit, die man heilen muss. Sie ist keine Aufgabe mit definierbaren, aufeinander aufbauenden Arbeitsschritten. Es ist keine Brücke, die man überqueren, keine Bürde, die man tragen, und keine Erfahrung, von der man sich erholen muss. Sie ist eine normale, gesunde und vorhersehbare Reaktion auf Verlust. Ihre Symptome sind normale Reaktionen und mögen veränderten Appetit ebenso beinhalten wie Veränderungen im Schlafverhalten, im Energiehaushalt und in der Motivation. Ihre Dauer und Intensität variiert von Individuum zu Individuum auf der Grundlage multipler Faktoren wie der Persönlichkeit eines betroffenen Kindes, seines unterstützenden Systems, der Beziehung des Kindes zum Verstorbenen und dem Sinn, den es aus dem

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Verlust ableitet. Nicht alle trauernden Kinder und Jugendliche brauchen Beratung, Therapie, Selbsthilfegruppen oder professionelle Hilfe. Einige sehr wohl. In jedem Fall ist es unsere Aufgabe als Eltern, Therapeut, Berater oder Freund, die Kinder zu unterstützen und ihnen zu helfen, nicht aber, sie zu heilen oder ihnen dabei behilflich zu sein, Trauer zu verarbeiten oder hinter sich zu lassen. 4. Trauernden Kindern muss man nicht das Trauern beibringen, sondern man muss ihnen erlauben, zu trauern und dass sie dem Trauern ihre eigene Bedeutung zuweisen. Ich glaube, die Haltung, Kindern müsse das Trauern beigebracht werden, ist ein fehlgeleiteter Versuch, der sich auf eine falsche Vorstellung von der Natur eines Kindes und seiner Trauer gründet. Es wird angenommen, wir (egal, wer wir sind) könnten oder sollten ein Kind das Trauern lehren. Ich glaube, dass die Kinder das Trauern ganz von allein und in einem gesunden Rahmen lernen, solange wir Sicherheit, Ehrlichkeit, Erlaubnis und Beispiel anbieten. Man kann sich leicht in den Verhaltensmustern heilen und anweisen verlieren, wenn eine Aufforderung zum Erfahrungsaustausch oder das einfache Zuhören dem Bedürfnis der Kinder viel eher entsprechen würden. Darüber hinaus teilen selbst die kleinsten Kinder mit Erwachsenen das unstillbare Bedürfnis, zu verstehen und Erfahrung mit Sinn zu versehen. »Warum ich?« und »Warum ist das geschehen?« sind Fragen, die selbst Dreijährige stellen, wenn sie versuchen, ihre Welt zu verstehen. Die Art und Weise, in der wir ihnen helfen, auf diese kritischen Fragen ihre eigenen Antworten zu finden, wird ihr Leben für immer formen. 5. Kinder sind resilient, aber sie befinden sich nicht in einem Vakuum. Resilienz ist kein Unfall. Das Wort (von lateinisch resilire) bedeutet, zurückzuspringen oder -hüpfen, und zwar zu einem ursprünglichen Zustand, ein Vorgang, der zugleich beinhaltet, sich zu erholen. Resilienz erfährt zunehmendes und wohlverdientes Interesse vonseiten von Forschern und Fachleuten, und man weiß mehr und mehr darüber. Zum Beispiel ist bekannt, dass man bei resilienten Kindern auf einen positiven Selbstwert und eine internale Kontrollüberzeugung trifft (Werner u. Smith, 1992). Es gibt indes starke Anzeichen, dass Kinder, die ihre Eltern verloren haben, einen sehr viel geringeren Selbstwert haben im Vergleich zu Kindern ohne diese Verlusterfahrung (Schuurman, 2003). Des Weiteren zeigen sie in sehr viel höherem Maße externale Kontrollüberzeugungen (Lutzke, Ayers, Sandler u. Barr, 1997). Was wir über Resilienz in Kindern wissen, hat daher eine enorme Relevanz in Bezug darauf, wie wir Kindern nach einem Todesfall oder anderen dramatischen Verlusten helfen können. Zeit, die auf Resilienz-Forschung verwendet wird, ist gut genutzte Zeit.

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6. Theorien sind prima, aber wie C. G. Jung sagt: »Lerne deine Theorien gut, aber leg sie beiseite, wenn du die Wirklichkeit der lebendigen Seele berührst.« Manchmal denke ich, sind wir zu sehr damit beschäftigt, alles, was wir sehen, als Theorie zu formulieren, anstatt unsere Theorien aus dem entstehen zu lassen, was wir sehen. Theorien sind hilfreiche Ansätze, um Prozesse, Ereignisse oder Phänomene zu verstehen und einzuordnen, aber die Theorie sollte niemals mit der Sache an sich verwechselt werden. Das Wort »Theorie« stammt vom griechischen Wort theoros, das Zuschauer bedeutet, und man sollte niemals die Rolle der Zuschauer oder der verspäteten Einsicht mit den Ereignissen auf dem Spielfeld verwechseln. Unsere Theorien können unsere Fähigkeit trüben, wirklich für ein trauerndes Kind da zu sein, wenn wir nur um es herumscharwenzeln und dabei die »Wirklichkeit der lebenden Seele« nicht wahrnehmen. Jedes Kind ist ein Lehrer und sollte am besten von Erwachsenen betreut werden, die bereit sind, sich etwas beibringen zu lassen. 7. Etiketten sind geeignet für Flaschen, Dosen und Schachteln – aber nicht so gut für Kinder. Die Modediagnose heutzutage scheint ADHS zu sein, inklusive aller Medikamente und Zuweisungen, die damit einhergehen. Nicht, dass ich die Existenz von ADHS abstreiten will. Ich denke aber, es wird damit über- und fehldiagnostiziert (und somit auch nicht richtig behandelt), vor allem im Fall von trauernden Kindern. Einige dieser Zuweisungen, also Etikettierungen, pathologisieren Kinder, ordnen sie etwas zu und bevormunden sie gleichwohl mit Bandagen aus oberflächlichem Selbstwerttraining, anstatt sich auf die Stärken der Kinder und auf deren Kompetenzbildung zu konzentrieren. Mich schaudert es, wenn ich höre, dass Erwachsene Kinder oder andere Erwachsene abqualifizieren, weil sie ausagieren, so, als ob das nach Aufmerksamkeit strebende Verhalten am besten zu ignorieren sei. Natürlich agieren sie aus – nämlich Angst, Schmerz, Verwirrung, Unsicherheit, Zweifel oder Wut. Ignoriert man dieses Verhalten oder bewertet (etikettiert) es zu schnell, dann müssen diese Kinder weiter ausagieren – in Mustern, die noch mehr Aufmerksamkeit fordern. Ich erinnere mich an ein Kind, dessen Diagnose von einem Team von Psychologen und dem beratenden Psychiater diskutiert wurde. Handelte es sich um Oppositionelles Trotzverhalten oder Borderline mit der Möglichkeit einer psychischen Abspaltung? Der Fachmann, der mit diesem Kind gearbeitet hatte, fügte dem nur weise die Hypothese Verängstigtes Kind hinzu. Ich will nicht behaupten, dass DSM-VI-Kategorien und ernste psychische Störungen nicht existieren, sondern nur, dass wir nicht vergessen dürfen, dass sich hinter jedem dieser Etiketten ein verängstigtes Kind verbirgt.

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8. Der Trauer Ausdruck zu verleihen, hilft beim Heilungsprozess, aber die Form, in der dies geschieht, variiert enorm. Am wichtigsten ist, verstanden zu werden. Die Rolle emotionaler Gesundheit und des Ausdrucks von Gefühlen hat seit dem Ende des 20. Jahrhunderts zunehmend die Aufmerksamkeit von Forschern auf sich gezogen. Der Psychologe James Pennebaker (1990), einer der wichtigsten Experten in diesem Bereich, hat mehrere Dutzend Studien geleitet und ausgewertet, die das Zusammenspiel zwischen emotionalem Ausdruck und psychischer sowie physischer Gesundheit verdeutlichen. Zwei Aspekte werden hier jedoch häufig falsch verstanden. Ein Aspekt ist der feine Unterschied zwischen einem Gefühl (sowie dessen Ausdruck) einerseits und Grübelei andererseits. Das englische Wort für Grübelei, »rumination«, stammt von dem lateinischen Verb ruminare, was »wiederkäuen« bedeutet und im Lateinischen verwendet wurde, um die Tätigkeit wiederkäuender Säugetiere zu beschreiben. Diese Tiere stoßen wiederholt bereits Gefressenes, Anverdautes auf und kauen es erneut. Ein gesunder emotionaler Ausdruck besteht aber nicht in diesem endlosen Wiederkäuen von halb verdauten Gefühlen. Hier wird es knifflig, denn wer entscheidet, was gesundes und ungesundes Verdauen ist? Wann werden gesunde Gefühle zur Grübelei? Ein weiteres Missverständnis kreist rund um das Wesen hilfreichen emotionalen Ausdrucks. Es scheint, dass nicht nur der Ausdruck allein hilfreich ist, sondern das Gefühl, verstanden zu werden. Pennebaker (1990) behauptet, dass »Traumata der frühen Kindheit, die nicht mitgeteilt werden, schlecht für die Gesundheit des späteren Erwachsenen sein können« (S. 19 f.). Wir sollten aber nicht annehmen, dass ein Mensch ungesund ist, nicht trauert oder es nicht richtig macht, weil er sich nicht auf Wegen mitteilt, die wir für akzeptabel halten. 9. Wir wären besser beraten, wenn wir Gefühle als Botschaften unserer Seele annähmen, anstatt sie als Feinde zu sehen, vor denen wir davonlaufen müssen. »Depression ist Inspiration ohne Form«, so sagte mir einst ein weiser Therapeut. Zum ersten Mal begriff ich unangenehme Gefühle als positive Signale und nicht als Feinde. Aber wir leben in einer Kultur, in der wir Fluchtwege geschaffen haben, institutionalisiert für die ersten Anzeichen von Unbehagen. Diese Fluchtwege sind Medikamente oder andere legale Drogen wie Alkohol oder Nikotin, zwanghaftes Shopping, Essen oder Fernsehen. Was ist dein Gift? Nach einem Verlust ist es natürlich und gesund, Gefühle zu haben, die sich eben nicht gut anfühlen. Wenn wir versuchen, sie aus unserem Bewusstsein zu verdrängen, verschwinden sie nicht einfach – sie köcheln weiter auf der seelischen Warmhalteplatte. Ich will nicht behaupten, dass Medikamente niemals angezeigt sind oder dass wir an emotionalen Stürmen verzweifeln sollen. Ich habe aber beobachtet, dass wir unsere

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Kinder und Jugendlichen viel öfter dazu ermutigen, Emotionen zu ignorieren, zu vergraben oder vor diesen davonzulaufen, als dass wir ihnen den gesunden Ausdruck von Gefühlen vorleben. Oft mögen wir einfach die Form nicht, in der ein Gefühl seinen Ausdruck findet. Wut ist ein gutes Beispiel – anstatt gesunde Wege für den Ausdruck gerechtfertigter Wut zu finden, neigen wir dazu, sie zu unterdrücken. Anstatt zu sagen: »Du bist wütend, weil dein Vater gestorben ist – das wäre ich auch«, und dann gesunde Wege zu finden, diese Wut auszuleben, sagen wir: »Mir gefällt nicht, was du mit dieser Wut anrichtest, also hör damit auf.« Dann haben die Kinder immerhin umso mehr Grund, wütend zu sein! 10. Shakespeare war teils im Recht, wenn er predigte: »Gib dem Leiden Worte!« Aber Shakespeare war eben auch ein Schriftsteller. Einem anderen Dichter, William Wordsworth, wurde nachgesagt, dass er nach seines Bruders Tod (durch Ertrinken) so verstört war, dass er für zwei Monate kein Wort sprach. Als er seine Stimme wiederfand, schrieb er: »Ein tiefes Elend hat meine Seele menschlich gemacht.« Picasso hätte vielleicht dafür plädiert, dem Leiden Farbe zu geben, und Beethoven hätte verfochten, es mit Musik auszudrücken. Alles das ist nicht falsch. Leiden braucht Ausdruck, aber nicht immer durch Worte. Je mehr Erlaubnis wir Kindern und Jugendlichen erteilen, je mehr Werkzeuge wir ihnen an die Hand geben, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie eigene Wege des Ausdrucks jenseits der üblichen, engen Varianten finden. Gib dem Leiden Worte, ja, aber auch Farbe, Kleber, Hammer und Nägel, lange Spaziergänge, ruhige Musik, Spiel und alle anderen möglichen Varianten, inklusive Schweigen. 11. Kinder brauchen, wollen und verdienen Ehrlichkeit, Wahrheit und Entscheidungsfreiheit. Ich habe viele Erwachsene damit kämpfen sehen, ob und wie sie nach einem Verlust mit Kindern darüber sprechen. Normalerweise frage ich, was genau geschehen sei, und wenn sie mit dem Erzählen fertig sind, sage ich: »Und genau das sagen Sie ihnen.« Wir bauen Vertrauen auf, indem wir Kindern ehrlich auf ihre Fragen antworten – selbst wenn diese Antwort ist: »Ich weiß es nicht.« Kindern fundierte Entscheidungen zu überlassen und ihnen eine Bandbreite an Möglichkeiten zu eröffnen, hilft ihnen, ein Gefühl der Stabilität zurückzugewinnen, nachdem ihre Welt durch Verlust erschüttert wurde. Hilfreich ist auch die Erkenntnis, dass man nicht alles kontrollieren kann, was geschieht. Das kann nämlich keiner von uns. Uns ist aber überlassen, wie wir unsere Reaktionen kontrollieren. Wir sollten jedoch nicht davon ausgehen, dass wir immer wissen, was für unsere Kinder am besten ist. Der Mutter eines achtjährigen Mädchens, dessen Vater und drei Brüder bei einem Autounfall gestorben waren, wurde empfohlen, es ihrer Tochter zu überlassen, ob diese

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die vier Toten sehen wolle. Die Mutter erklärte denen, die ihr dies empfahlen, genau, wie die Toten und das Setting aussehen würden, und sie sprach über ihre Sorge, dass diese Bilder der Leichen zur letzten Erinnerung ihrer Tochter werden würden. Die Tochter antwortete der Mutter hingegen vehement: »Wenn ich sterben würde, und sie würden nicht kommen, um mich zu sehen, wäre ich so wütend! Ich weiß, sie wollen, dass ich komme und auf Wiedersehen sage.« Sie sah die Toten und beschrieb später stolz ihre Entscheidung und was die Wahl ihr bedeutet habe. Wenn wir fundierte Entscheidungen ermöglichen, umgehen wir die gängige Beschwerde, dass Kinder entweder in Entscheidungen, die Verstorbene betreffen, gezwungen werden – oder dass sie darin nicht einbezogen werden. Wir befähigen sie, ein Stück verlorene Kontrolle zurückzugewinnen und Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen zu übernehmen. 12. Das Beste, was Eltern, Berater, Therapeuten, Lehrer, Sozialarbeiter, Tanten, Onkel oder Nachbarn tun können, ist zuhören. Zuhören – das bedeutet hören, nicht nur mit unseren Ohren, sondern auch mit unseren Augen, unserem Herzen und unserer Seele. Es bedeutet, nicht anzunehmen, dass wir Antworten bereithalten – oder bereithalten sollten. Es gilt, individuelle Unterschiede zu erlauben, nicht in Beurteilungen oder Oberflächlichkeit zu verfallen. Den Tod eines geliebten (oder verhassten) Menschen zu betrauern, ist ein Prozess, der sich auf verschiedenen Wegen, Zeitrahmen und Intensitäten entfaltet. Ich glaube, dass unsere wichtigste Aufgabe das Zuhören ist. Einer der Gründe, warum ich nach 16 Jahren immer noch in diesem Bereich arbeite, ist, dass ich kontinuierlich von den Kindern, Jugendlichen und ihren erwachsenen Bezugspersonen lerne. Sie alle teilen hier am Dougy Center ihre Geschichte mit uns. Während ich Kinder interviewte, die den Suizid eines Elternteils erlebt hatten, beschrieb ein Teenager mit dem Namen Philip mir eine Begegnung mit seiner toten Mutter im Traum. Er fragte sie, warum sie sich umgebracht habe, und sie antwortete, dass sie gewusst habe, sie würde niemals gesund, und sie habe gewollt, dass er ein Leben frei von ihren Eskapaden und ihrem unberechenbarem Verhalten führen könne. Philip sah mich an und sagte: »Also sagte ich, dass ich sie verstehe, und ich vergab ihr.« Die Therapeutin in mir dachte: »Das klingt gesund.« Philip fügte schnell hinzu: »Bitte sag meinem Vater nichts davon.« Ich vermutete, er wolle nicht, dass sein Vater davon wisse, damit dieser nicht glaube, sein Sohn sei verrückt, weil er mit seiner Mutter im Traum spreche. Obwohl ich also glaubte, die Antwort zu kennen, fragte ich ihn, warum sein Vater nichts davon wissen solle. Als er antwortete »Oh, er würde nur wollen, dass ich ihr noch alle möglichen anderen Fragen stelle«, wurde ich daran erinnert, dass junge Leute wie Philip meine Lehrer sind. Ich bin die Schülerin. Wenn wir uns daran erinnern, dann ist Raum für magische Heilung. Übersetzung: Karola Hassall

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Literatur Lutzke, J., Ayers, T., Sandler, I., Barr, A. (1997). Risks and interventions for the parentally bereaved child. In J. Wolchik, I. Sandler (Eds.), Handbook of children’s coping: Linking theory and intervention. New York: Plenum Press. Pennebaker, J. (1990). Opening up: The healing power of expressing emotions. New York: Guildford Press. Schuurman, D. (2003). Never the same. Coming to terms with a parent’s death when you were a child. New York: St. Martin’s Press. Werner, E., Smith, R. (1992). Overcoming the odds. High risk children from birth to adulthood. New York: Cornell University Press.

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Stephanie Witt-Loers

Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen und begleiten?

Ich habe unglaubliche Angst, auch noch meine Tochter Lena (elf Jahre) zu verlieren, sie hat sich zurückgezogen und ich weiß nicht, wie ich mit ihr umgehen soll. Ständig habe ich das Gefühl, alles falsch zu machen, deshalb spreche ich auch den Tod von Anja nicht mehr an (Dieter, 34 Jahre alt, nach dem Tod seiner Frau Anja).

Kinder und Jugendliche trauern Unabhängig von ihrem Alter können Kinder nicht von den vielfältigen Auswirkungen, die aus dem Tod einer nahestehenden Person resultieren, ferngehalten werden. Der Tod eines nahestehenden Menschen ist für Kinder jeden Alters ein nicht nur emotional spürbares Ereignis. Das Fehlen des nahestehenden Menschen, die damit oft verbundene veränderte Lebenssituation sowie ungewohnte Reaktionen von Bezugspersonen verlangen von Kindern und Jugendlichen auf vielen Ebenen große Anpassungsleistungen und lösen häufig einen Verlust an Grundvertrauen und Sicherheit aus. Kinder reagieren je nach kognitivem und emotionalem Entwicklungsstand mit ihren alters- und persönlichkeitsspezifischen Möglichkeiten auf den Verlust. Jüngere Kinder besitzen noch nicht die gleichen Voraussetzungen, sich mit Trauer auseinanderzusetzen, wie ältere Kinder, Jugendliche oder Erwachsene. Dazu gehören die Fähigkeit, abstrakt zu denken, das Gefühl für Zeit sowie die Möglichkeit, sich sprachlich komplex auszudrücken. Jüngere Kinder reagieren auf den Verlust allein durch ihr Verhalten und sind auf Erwachsene angewiesen, die sie sensibel wahrnehmen. Erst mit zunehmendem Alter können Kinder alle Aspekte des Todesbegriffs (Tod ist endgültig, alle Lebewesen sterben einmal, Tod hat biologische Ursachen) verstehen und sich dementsprechend mit dem Verlust auseinandersetzen. Die fortschreitenden kognitiven Möglichkeiten und ihrer Entwicklung entsprechende Informationen ermöglichen es Kindern und Jugendlichen, den Tod und seine Konsequenzen zunehmend zu begreifen. Sie setzen sich in ihren unterschiedlichen Altersphasen immer wieder neu mit ihrer Trauer und der Bedeutung des Verstorbenen für ihr eigenes Leben auseinander. Die »Themen der Trauer« (Worden, 2011) werden unter veränderten Fragestellungen und Sichtweisen

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bearbeitet und das Geschehen wird immer wieder neu in die persönliche Lebensbiografie eingeordnet. Wie Kinder und Jugendliche mit dem erlittenen Verlust umgehen, hängt zudem von vielen verschiedenen Faktoren ab. Dies sind nach James William Worden (Worden, 2011) die Art der Beziehung zum Verstorbenen, die Erfahrungen von Bindung, das Todesverständnis und der persönliche Entwicklungsstand des Kindes/Jugendlichen, das Erfahren der Todesnachricht, die Todesumstände und die Lebensumstände (Familiensituation, Biografie, Vorverluste, eigene Gesundheit). Daneben spielen zusätzliche Belastungen (tägliche Versorgung, Umzug, Schulwechsel, finanzielle Unsicherheit, Verhalten von Bezugspersonen, Verlust an Zuwendung, Auflösung verlässlicher Strukturen, Verlust von Hobbys, dass der Schulweg alleine gemacht werden muss), das soziale Umfeld und die darin erfahrene und als hilfreich empfundene Unterstützung, eigene Ressourcen (Selbstbewusstsein, Selbstwirksamkeit, kognitive Kompetenzen, Kreativität etc.), Kultur, Religion, Geschlecht sowie Erfahrungen und Wissen zum Themenkomplex Sterben, Tod und Trauer eine wichtige Rolle. Aber auch die Gesamtstruktur der Familie und die Art des Umgangs mit Krisen und Verlust im System Familie beeinflussen den Trauerprozess. Bei jüngeren Kindern sind die Gefühle der Trauer oft sprunghaft, schwankend und können plötzlich wechseln. Jugendliche ziehen sich in ihrer Trauer häufig zurück, zeigen ihre Gefühle nicht. Trauer zeigt sich sowohl bei Kindern als auch bei Jugendlichen zudem in körperlichen, psychischen und sozialen Reaktionen. Trauerprozesse kosten körperliche und seelische Kraft und können beängstigend sein. Auch Kinder und Jugendliche sind vielen unterschiedlichen, sehr intensiven und oft widersprüchlichen Gefühlen wie Schmerz, Verzweiflung, Liebe, Ohnmacht, Wut, Scham, Panik, Freudlosigkeit, Angst, Trauer, Dankbarkeit ausgesetzt. Vielfach spielt die Auseinandersetzung mit dem Gedanken, schuldig zu sein, eine belastende Rolle.

Trauer in der Familie Stirbt ein nahestehender Mensch aus dem familiären Umfeld nehmen Kinder und Jugendliche psychische Reaktionen ihrer Eltern, wie Trauer, Angst, Sorge und Verzweiflung, sensibel wahr und spüren die zusätzlichen Belastungen und Veränderungen im gewohnten Alltag oft sehr schmerzlich. Nicht nur das Kind oder der Jugendliche, sondern das gesamte Familiensystem ist von den Auswirkungen des Todes betroffen. Mit der eigenen Trauer und den Anforderungen des Alltags (zum Beispiel finanzielle Probleme und Schwierigkeiten bei der täglichen Versorgung) zurechtzukommen, bedeutet deshalb häufig eine Überforderung für die Familienmitglieder. Die Trauerreaktionen auf den Verlust werden sich, obwohl ein und dieselbe Person gestorben ist, bei jedem sehr individuell äußern, zumal der Verstorbene für jeden aus der Familie eine andere Bedeutung und Rolle hatte. Das macht ein gegenseitiges Verständnis oft schwer. Aber

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Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen und begleiten?

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auch wenn Kinder und Jugendliche um einen Freund oder Mitschüler trauern, wirkt sich dies auf das gesamte System Familie aus, denn durch den erlittenen Verlust wird sich das Kind verändern. Zudem kennen die Eltern den Verstorbenen oder die Hinterbliebenen häufig und trauern mit.

Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen? Eltern glauben manchmal, dass es besser sei, mit ihren Kindern nicht über den Tod zu sprechen, oder sie meinen, dass ihre Kinder nicht trauern. Kinder und Jugendliche nehmen viel mehr wahr und verfügen über ein größeres Verständnis und mehr Sensibilität, als wir glauben. Sie spüren auch unausgesprochen, dass etwas passiert ist. Gut gemeinte Rücksichtnahme verursacht eher Angst, Gefühle des Ausgeschlossenseins, der Einsamkeit und oft sogar einen Vertrauensverlust gegenüber den Eltern. Häufig sind trauernde Eltern mit ihrem eigenen Schmerz so beschäftigt, dass sie ihre Kinder als Trauernde nicht wahrnehmen. Eltern haben zudem oft den Eindruck, es stünden ihnen kaum Möglichkeiten zur Verfügung, wie sie ihren Kindern hilfreich zur Seite stehen können. Meiner Erfahrung nach fehlen Eltern oft einfach Informationen zu Entwicklungs- und Trauerprozessen sowie zu Trauerreaktionen. Aus diesem Informationsmangel resultierende Unsicherheiten verhindern häufig einen offenen Umgang mit der Trauer und ihren Auswirkungen im System Familie. Wesentlich für die Unterstützung ist, dass Eltern ihre Kinder der individuellen Entwicklung, der Lebenssituation, der Persönlichkeit und den Bedürfnissen entsprechend unterstützen. Auch in späteren Lebensphasen sollten sie ihnen aufmerksam im Hinblick auf die Trauer begegnen. Einige Orientierungshinweise, die sich in der Praxis als hilfreich erwiesen haben, seien hier kurz zusammengefasst. Zudem gilt: Jeder Weg der Trauer ist so einzigartig wie jeder Mensch selbst. Deshalb müssen auch Kinder und Jugendliche in ihrer persönlichen Art zu trauern respektiert werden.

Krisen und Verlust in der Familie Kinder und Jugendliche richten ihr Verhalten in Bezug auf Krisen und Verluste nach dem Vorbild ihrer Eltern. Thematisieren Eltern Krisen und Verluste sowie die damit in Zusammenhang stehenden Veränderungen nicht oder werden Gefühle nicht zugelassen, schließen sich Kinder diesem Verhalten an. Trauerprozesse für den Einzelnen, aber auch für die gesamte Familie werden so erschwert. Werden in der Familie Gefühle sowie Gedanken im Zusammenhang mit dem Verlust offen kommuniziert und bleiben Eltern authentisch, ist es ihren Kindern eher möglich, persönlichen Bedürfnissen im Trauerprozess nachzugehen und einen individuellen Umgang mit dem Verlust zu

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finden. Ist die ganze Familie betroffen, sollten Möglichkeiten der Entlastung für die gesamte Familie, aber auch für den Einzelnen gefunden werden. Die Inanspruchnahme ganz praktischer Hilfe von außen wie Essen kochen, Fahrdienste übernehmen, Hausaufgabenhilfe – aber auch eine professionelle Unterstützung durch Trauerbegleiter oder Psychologen – kann dabei nützlich sein. Gerade weil jeder anders trauert, nehmen Familienmitglieder oft von anderen Angehörigen der Familie an, sie würden nicht oder nicht richtig trauern. Informationen und Gespräche helfen dann, individuelle Trauerprozesse und Trauerreaktionen zu würdigen und zu akzeptieren. Zudem werden innerhalb der Familie Rollen neu verteilt, Rollen aufgegeben oder neue Fähigkeiten müssen erlernt werden. Es braucht Zeit und Geduld, die Familien sich zugestehen sollten, bis jeder seine neue Rolle gefunden hat, bis Formen der Kommunikation, Rituale und Strategien in der Familie entwickelt sind, die es ermöglichen, mit dem Verlust umzugehen. Eine Familientrauerbegleitung kann diesen Prozess unterstützen und es jedem Familienmitglied erleichtern, seinen Bedürfnissen entsprechend zu trauern. Eltern können ihre Kinder außerdem unterstützen, indem sie den Schmerz und die für Kinder und Jugendliche aus dem Tod entstandenen Konsequenzen anerkennen. So ist zum Beispiel der Tod ihres 16-jährigen Mitschülers und Freundes für Nina ein sehr einschneidendes, schmerzhaftes Erlebnis, das zu einer Neuorientierung von Werten und der Frage nach der Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens führt. Wie groß der Schmerz nach einem Verlust für das betroffene Kind oder den Jugendlichen ist, sollten Eltern nicht bewerten. Wertungen, auch über die Art zu trauern, führen eher dazu, dass Kinder und Jugendliche sich einsam und unverstanden fühlen. Trauerprozesse brechen manchmal auch erst nach Jahren auf, dann helfen Kommentare nicht wie: »Das ist schon so lange her, das kann doch jetzt nicht mehr so dramatisch für dich sein!« Hier sollten Eltern einfühlsam für das Kind da sein. Bei Tanja (zwölf Jahre) bricht nach dem Tod ihrer Tante die Trauer um die vor neun Jahren gestorbene Mutter auf. Sie durchlebt einen schmerzhaften Trauerprozess und benötigt die Unterstützung ihrer Familie und eine professionelle Begleitung.

Kinder und Jugendliche informieren Eltern sollten ihre Kinder zeitnah über den Tod eines nahestehenden Menschen informieren. Das Geschehen lässt sich nicht rückgängig machen, aber es kann ein bestmöglicher Umgang damit gefunden werden. Wenn Eltern Kindern Dinge verheimlichen oder sie über andere erfahren, dass ein nahestehender Mensch gestorben ist, entsteht bei Kindern der Eindruck, ihre Eltern würden ihnen nicht vertrauen und ihnen nichts zutrauen. Dies wiederum kann zu einem Vertrauensverlust und zu Gefühlen von Einsamkeit führen. So erzählt der sechsjährige Tom in der Trauergruppe, dass er es schlimm fand, dass seine Eltern den älteren Geschwistern schon in der Nacht den Tod

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Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen und begleiten?

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des Bruders Kevin mitgeteilt, ihn aber erst am nächsten Morgen informiert hätten. »Da warst du sicher wütend!«, kommentiert ein anderes Kind. »Nein, ich war nicht wütend, ich war sehr traurig, das ist was ganz anderes.« Hier zeigt sich, wie viel Kinder auch in diesem Alter bereits verstehen und dass sie eigene Gefühle schon differenzieren können. Fühlen Eltern sich nicht in der Lage, mit ihren Kinder über das Geschehen zu sprechen, können sie sich Unterstützung holen. Je nach Alter entwickeln Kinder, wenn sie nicht informiert werden, eigene Erklärungen und Fantasien, die oft beängstigender sind als die Realität selbst. Kinderfragen, die ich höre, sind zum Beispiel: »Wer hat Schuld, dass Papa tot ist?«, »Ist der Krebs ansteckend?«, »Wenn der Papa verbrannt wird, tut das weh?«, »Wo sind in der Urne der Kopf und die Füße?«, »Gibt es trotzdem noch Weihnachten?« Jugendliche fragen sich: »Bin ich noch normal?«, »Muss ich jetzt auch sterben?«, »Welchen Sinn hat mein Leben noch?« Kinder und Jugendliche sind angewiesen auf Informationen, um ein realistisches Weltbild zu entwickeln, um Zusammenhänge und sich selbst zu verstehen sowie den Verlust in ihre eigene Lebensgeschichte zu integrieren. Für ältere Kinder und Jugendliche kann es deshalb sehr wertvoll sein, Informationen zu Trauerprozessen und Trauerreaktionen zu erhalten.

Abschied nehmen Grundsätzlich unterstützen Eltern den Trauerprozess ihrer Kinder, indem sie dazu ermutigen, sich vom Verstorbenen zu verabschieden (ihm noch etwas zu sagen oder mitzugeben, ihn zu berühren, an der Trauerfeier teilzunehmen) sowie den Abschied aktiv mitzugestalten. Den Verlust zu begreifen, zu verstehen, dass jemand tot ist und nicht wiederkommen wird, fällt leichter, wenn auch sinnlich und haptisch ein Begreifen ermöglicht wird. Kinder und Jugendliche sollten vorab altersentsprechend informiert werden und nicht unvorbereitet oder allein in eine solche Situation geschickt werden. Zudem sollten Eltern immer nur Angebote machen und Kinder nie zu etwas zwingen. Sind Eltern selbst zu betroffen, um die Aufgabe der Begleitung beim Abschied zu übernehmen, kann eine weniger belastete Vertrauensperson des Kindes zur Unterstützung hinzugeholt werden.

Gespräche und Fragen Kinder und Jugendliche werden von ihren Eltern durch eine offene, ehrliche Kommunikation unterstützt, durch die Möglichkeit und Ermutigung, Fragen zu stellen, und durch altersgerechte, sachliche Informationen, die ihnen bei der kognitiven Orientierung helfen. Eltern sollten ihre Kinder und Jugendlichen zudem in einer klaren, eindeutigen Sprache ansprechen und immer wieder Raum und Zeit für Fragen und

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Gespräche schaffen. Eine deutliche sprachliche Benennung (ist gestorben, ist tot) hilft, das Geschehen sachlich zu verstehen und den Tod als Realität zu begreifen. Eltern können ihren Kindern ehrlich antworten. Dabei müssen sie nicht auf alle Fragen eine Antwort kennen, zum Beispiel nicht auf die Frage: »Wo ist der Verstorbene jetzt?« Kinder lernen, auch mit unbeantworteten Fragen zu leben, und finden für sich tröstende Vorstellungen, die sich im Laufe der Entwicklung wieder verändern. Sie werden die Ehrlichkeit schätzen und wissen, dass sie sich ihren Eltern anvertrauen können. Sie sollten aber nicht mit Informationen überschüttet werden. Möchten Kinder mehr wissen, manchmal auch erst nach einiger Zeit, werden sie wieder nachfragen. Ein Mangel an Information hingegen kann dazu führen, dass Kinder sich übergangen fühlen oder dass sie sich die Schuld an dem geben, was geschehen ist. Trauernde Kinder sollten nach einem Verlust immer wieder die Bestätigung bekommen, dass sie nicht verantwortlich für den Tod sind und keine Schuld tragen.

Zeit, Raum, Geborgenheit und Struktur Kinder und Jugendliche brauchen Zeit, Raum sowie Möglichkeiten, um ihre Gedanken, Gefühle (auch Wut) und Sorgen auszudrücken. Diese Gefühle und Gedanken gilt es, auszuhalten und zu vermitteln, dass das Kind angenommen ist. Auch Wut und Aggression brauchen ihren Ausdruck, dürfen aber niemand anderen verletzen. Hier ist es wichtig, Verständnis zu zeigen, Wege zu finden und trotzdem liebevoll Grenzen zu setzen. Den Schmerz um den Verlust können Eltern nicht verhindern, aber sie können ihren Kindern beistehen, indem sie Geborgenheit und Zuneigung schenken. Besonders jüngere Kinder sind auf Körperkontakt angewiesen. Zudem zeigen verlässliche Abläufe und Alltagsrituale sowie konstante Bezugspersonen, dass nicht alles verloren und unsicher geworden ist, dass noch Dinge erhalten und vertraut geblieben sind. Kinder in ihrer gewohnten Umgebung zu lassen, vorausgesetzt, sie haben sich dort aufgehoben gefühlt, kann eine ebenso wichtige Unterstützung sein.

Angebote Altersentsprechende Angebote zu kreativem Tun (Malen, Schreiben, Spielen, Basteln) zu Bewegung, zur Beteiligung an oder zur gemeinsamen Entwicklung von Ritualen, helfen, den Schmerz auszudrücken und zu durchleben. Eltern können ihre Kinder auf Unterstützungsmöglichkeiten wie Trauerbegleitung, Trauergruppen, Trauercafés, Seelsorger, Psychologen, Internetforen sowie auf Angebote, die nicht direkt mit dem Themenkomplex verbunden sind, jedoch in der Trauer hilfreich sein können (Sport­ angebote, Malen, Fotografieren, Steinarbeiten, Musik machen …) aufmerksam machen.

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Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen und begleiten?

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Es tut Kindern und Jugendlichen meist gut, wenn sie außenstehenden Menschen in einem geschützten Raum von ihren Sorgen und Gefühlen erzählen, sich mit anderen Betroffenen austauschen können, ihrer Trauer Ausdruck geben dürfen oder sich auf kreative und körperliche Art beschäftigen und als selbstwirksam erfahren können.

Erinnern Eltern machen nichts falsch, wenn sie über den Verstorbenen sprechen, sich an gemeinsame Erlebnisse erinnern und seinen Namen nennen, denn es ermöglicht ihnen selbst und auch ihren Kindern, dem Verstorbenen einen neuen Platz im Leben zu geben und eine fortgesetzte Bindung (Worden, 2011; Klass, Silverman u. Nickman, 1996) zum Gestorbenen zu schaffen. Deshalb brauchen Kinder und Jugendliche auch ihre eigenen Erinnerungsgegenstände und Fotos des Verstorbenen. Für Kinder und Jugendliche kann es zudem von Bedeutung sein, im Laufe ihrer Entwicklung noch etwas über den Verstorbenen zu erfahren. Für Julia zum Beispiel ist es wichtig zu hören, dass ihr verstorbener Vater auch gut malen konnte und dass sie dieses Talent von ihm geerbt hat. Geburtstage, Todestage, Weihnachten und andere Feste oder Ereignisse sind wichtige Tage, an denen der Verstorbene fehlt. Eltern sollten gemeinsam mit ihren Kindern überlegen, wie diese verbracht werden, auch wenn es manchmal schwer ist, einen gemeinsamen Nenner für die Gestaltung dieser Tage zu finden.

Anpassen an neue Lebenssituationen Kinder und Jugendliche müssen sich an die neue Lebenssituation ohne den Verstorbenen anpassen. Durch den Tod des nahestehenden Menschen ändern sich Beziehungen sowie gesellschaftliche Rollen, die Kinder und Jugendliche innehaben (Schwester, Einzelkind, Waisenkind, ältestes oder jüngstes Kind, Freund). Die Anpassung erfordert eine Neuorientierung, Flexibilität und Kraft, weil sich Lebensperspektiven verändern und oft neue Fähigkeiten für neue Aufgaben erlernt werden müssen. Damit Kinder und Jugendliche ihre eigene Identität entwickeln können, sollten Eltern in diesem Prozess darauf achten, dass sie ihren Kindern keine Rollen oder Aufgaben aufbürden, die ihnen nicht entsprechen, oder dass die Kinder solche nicht von sich aus übernehmen. Lena aus dem Eingangsbeispiel übernimmt nach dem Tod der Mutter viele Aufgaben im Haushalt, möchte den Vater entlasten und trösten. Sie ist überfordert mit der Rolle, dem Vater die Frau ersetzen zu wollen, denn sie ist ein Kind.

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Stephanie Witt-Loers

Gut für sich selbst sorgen Trauernde Eltern sollten wissen, dass sie ihre Kinder wesentlich unterstützen und ihnen ein Vorbild sind, indem sie in ihrer eigenen Trauer gut für sich selbst sorgen. Das heißt, sich um die eigene Gesundheit, Stabilität und Ressourcen zu kümmern oder Unterstützung in Anspruch zu nehmen. Hilfreich kann auch der Kontakt zu anderen Betroffenen sein. »Es hat gut getan zu hören, dass es normal ist, dass trauernde Kinder schnell die Gefühle wechseln. Außerdem verstehe ich jetzt, dass Maike aus Sorge, mir könne auch etwas passieren, so ängstlich geworden ist und sich an mich klammert«, erzählt eine Mutter, deren Mann an Krebs gestorben ist. Kinder können sich eher auf ihren Trauerprozess einlassen, wenn sie sich keine existenziellen Sorgen um ihre Eltern machen und nicht das Gefühl haben, ihre Eltern mit ihrer eigenen Trauer verschonen zu müssen. Zeigen Eltern nach einem Verlust, dass sie sich grundsätzlich zutrauen, mit der neuen Lebenssituation zurechtzukommen und mit den anfallenden Problemen fertig zu werden, vermittelt dies Kindern Zuversicht und bestärkt sie, eigene Wege und Möglichkeiten im Umgang mit dem Verlust zu finden.

Ressourcen aufdecken und aktivieren Eltern können ihre trauernden Kinder fragen, wie es ihnen mit ihrer Trauer gehe, welche Erfahrungen sie mit anderen Menschen, zum Beispiel mit Freunden, oder in der Schule machen, was ihnen helfen würde, was ihnen fehle. So fühlen Kinder sich von ihren Eltern gesehen und es ist leichter, konkrete Unterstützung anzubieten. Eltern können auch von eigenen Erfahrungen berichten, das verbindet miteinander. Gerade weil Trauern anstrengend ist, körperlich wie seelisch, ist es wesentlich, Zeiten und Räume zu schaffen, in denen Kraft gesammelt werden kann. Oft haben Kinder und Jugendliche ein schlechtes Gewissen, wenn sie Dinge tun, die ihnen Freude machen, wenn sie spielen, ausgehen, Freunde treffen oder ihre Hobbys weiter ausüben. Wertungen aus dem sozialen Umfeld, wie: »Dein Bruder ist tot und du gehst tanzen!«, »Dass du dich nicht schämst, jetzt an deinen Sport zu denken!«, »Dir scheint ja der Tod von Karin nichts auszumachen, so wie du dich verhältst!«, erschweren es Kindern und Jugendlichen, einen Weg zu finden, mit ihrer Trauer umzugehen, und sollten vermieden werden. Es ist für Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen wichtig, sich mit Dingen zu beschäftigen, die außerhalb der Trauer liegen, die Kraft geben, Freude machen und den Kontakt zum sozialen Umfeld erhalten. Es hilft, wenn Kinder und Jugendliche die ausdrückliche Bestätigung bekommen, dass Kraft zu tanken ein wichtiger Aspekt der Trauerarbeit ist und nichts mit einer Verleugnung des Verstorbenen zu tun hat, Maßstab für die Liebe zu ihm ist oder anzeigt, ob richtig getrauert wird.

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Wie können Eltern ihre Kinder unterstützen und begleiten?

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Soziales Umfeld Kinder und Jugendliche benötigen ein soziales Umfeld, das sie in ihrer Trauer unterstützt. Deshalb sollten nahestehende Verwandte, der Freundeskreis, die Kita, die Lehrer usw. über den Tod und die damit verbundenen Folgen für das Kind informiert werden. Sind Menschen des sozialen Umfelds für die Situation sensibilisiert, können sie mehr Verständnis, Zuwendung und wichtige Unterstützung geben. Wenn trauernde Eltern und Kinder aus der eigenen Betroffenheit heraus nicht in der Lage sind, die Information selbst weiterzugeben, dann können Eltern außenstehende Menschen um Unterstützung bitten. Informationen an das soziale Umfeld sollten bei Jugendlichen nur in Absprache mit diesen erfolgen. Eltern unterstützen ihre Kinder, indem sie: •• Gefühle und Konsequenzen aus Krisen und Verlusten offen kommunizieren, •• gut für sich selbst sorgen (Gesundheit, Bedürfnisse, Kontakt, Ausdruck von Gefühlen, Ressourcen aktivieren, Unterstützung in Anspruch nehmen, zukunftsorientierte Perspektiven entwickeln), •• sich informieren über Entwicklungs- und Trauerprozesse, Trauerreaktionen und Unterstützungsmöglichkeiten, •• ihr Kind als Trauernden wahrnehmen, den Verlust für das Kind anerkennen, die Art, wie ihr Kind trauert, sowie Wünsche nach Nähe und Distanz respektieren, •• ihr Kind der Entwicklung angemessen über Tod, Trauer sowie bevorstehende Veränderungen informieren und in diese einbeziehen, •• eine klare und wertfreie Sprache wählen und ehrlich auf Fragen antworten, •• eigene Trauer zeigen und mit ihrem Kind über Trauerreaktionen sprechen, •• ihr Kind unterstützen, den Verlust zu begreifen, •• Sorgen des Kindes ernst nehmen, thematisieren und für mögliche Entlastung sorgen, •• ihrem Kind Möglichkeiten geben, Abschied zu nehmen und diesen aktiv mitzugestalten, •• ihr Kind nicht zu etwas zwingen: Angebote müssen Angebote bleiben, •• ihrem Kind versichern, dass es keine Schuld am Tod hat, •• die Bedürfnisse des Kindes wahrnehmen, •• ihr Kind ermutigen, den eigenen Trauerweg zu gehen, •• dafür sorgen, dass das soziale Umfeld (Kita/Schule/Freunde) informiert ist, •• Raum und Zeit geben für den Ausdruck von Gefühlen, Sorgen, Bedürfnissen, Gedanken, •• ihrem Kind bewusst machen, was trotz des Verlusts erhalten geblieben ist, •• darauf achten, dass das Kind keine Rolle oder Verantwortung übernimmt, die ihm nicht entspricht, •• Ressourcen wahrnehmen und fördern: Selbstwert, Lebensfreude, Sicherheit, stabile Beziehungen, kreativer Ausdruck, kraftgebende Tätigkeiten, gewohnte Umgebung, …, •• dafür sorgen, dass verlässliche, belastbare Bezugspersonen für das Kind da sind,

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Stephanie Witt-Loers

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zusätzliche Verluste (Zuhause, soziales Umfeld, Hobbys, …) beachten, so viel Struktur, Stabilität und Kontinuität wie möglich im Alltag erhalten, heilsame Erinnerungen zulassen, sich austauschen, vorher bestehende Probleme im Bereich Körper, Psyche, Familie, soziales Umfeld berücksichtigen, •• eine fortgesetzte Bindung zum Verstorbenen ermöglichen und darauf achten, dass diese nicht beängstigend ist, •• emotionale Zuwendung, Fürsorge, Geborgenheit und Liebe geben, •• ihrem Kind die Möglichkeit geben und die Zeit lassen, sich immer wieder neu und den Fähigkeiten entsprechend mit dem Verlust auseinanderzusetzen.

Literatur Klass, D., Silverman, P. R., Nickman, S. L. (Eds.) (1996). Continuing bonds. New understandings of grief. London u. a.: Taylor & Francis. Worden, W. (2011). Beratung und Therapie in Trauerfällen. Bern: Huber.

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Unterstützung für Kinder in Institutionen

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Marita Lammertz

Vom Umgang mit Tod und Trauer in Kindertageseinrichtungen

Häufig wenden sich Mitarbeiter aus Kindertageseinrichtungen an Kindertrauerbegleitdienste, wenn sie in ihrem Arbeitsfeld mit dem Thema Tod in Berührung kommen. Der vorliegende Beitrag wurde vor dem Hintergrund der Erfahrungen in der Beratung von Mitarbeitern in Kindertageseinrichtungen im Bonner Projekt »Trau Dich Trauern«1 und dem Unterricht an Fachschulen für Sozialpädagogik entwickelt. Eine ausführliche Darstellung findet sich bei Franz (2004), die Struktur des Beitrags wurde in Anlehnung an Hinderer und Kroth (2005) verfasst.

Ein Kind aus unserer Kindertageseinrichtung ist gestorben Frau A. (Sozialpädagogin) ist bereits seit zwanzig Jahren Leiterin einer großen Kindertageseinrichtung mit über hundert Kindern. Sie verfügt über entsprechende berufliche Erfahrung und Routine. Im Rahmen der jährlich zur Verfügung stehenden Konzeptionstage nahmen sie und ihr Team die Gelegenheit wahr, sich in einem Seminar mit den Themen Sterben, Tod und Trauer auseinanderzusetzen und dies im Kontext zu ihrer beruflichen Rolle zu reflektieren. Neben Möglichkeiten zur Selbsterfahrung erhielten die Teammitglieder wichtige Informationen und Kenntnisse über den Umgang mit der Trauer in Kindertageseinrichtungen. Wie tief es beruflich erfahrene Erzieherinnen trotz präventiver Maßnahmen aber erschüttert und lähmt, wenn ein Kind aus ihrer Kindertageseinrichtung stirbt, zeigte sich mir, als Frau A. mich ein Jahr später an einem Samstagnachmittag anrief. An diesem Samstag hatte der Tod nicht vor der Türe der Institution Kindergarten Halt gemacht. Sie teilte mir mit, dass an jenem Morgen der fünfjährige B. bei einem Wohnungsbrand ums Leben gekommen sei. Sie bat um Hilfe. Sie war sprachlos, geschockt, ohnmächtig und zutiefst betroffen. Nur noch bedingt war sie in diesem Moment in der Lage, auf ihr theoretisch und präventiv erlerntes Wissen zurückzugreifen.

1

Zentrum für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Seliger Gerhard Bonn/Rhein-Sieg.

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Marita Lammertz

Der Tod eines Kindes konfrontiert jeden Menschen mit Fassungslosigkeit. Für Erzieherinnen in einer Kindertageseinrichtung ist eine solche Gegebenheit die glücklicherweise seltenste, gleichsam aber auch dramatischste. Mit dem Tod eines Kindes bricht ein Stück Zukunft weg, und es gibt dafür keinen Trost. Es entsteht eine absolute Ausnahmesituation, in der tiefe Gefühle der Ohnmacht, der Sprachlosigkeit und Lähmung oftmals zu einer Handlungsunfähigkeit führen. Zunächst sei gesagt, dass Frau A. an dieser Stelle genau richtig gehandelt hat. In ihrer Betroffenheit war es wichtig, Hilfe von außen für die ersten Handlungsschritte in Anspruch zu nehmen. Jeder Anspruch an sich selbst, eine solche Situation als Institution alleine zu meistern, kann zu einer Überforderung sowie auch zu tiefen Verletzungen der beteiligten Menschen führen und nachhaltige Folgen haben. Beratung und Begleitung In Kindertageseinrichtungen berührt die Arbeit mit dem Thema Tod drei ineinander übergehende Bereiche: Hierbei handelt es sich neben der Beratung und Kommunikation mit Eltern um die einfühlsame Begleitung trauernder Kinder sowie den Bereich der praktischen Ausgestaltung des Themas bzw. der betreffenden Situation im Team und im Alltag der pädagogischen Gruppenarbeit. In allen diesen drei Bereichen steht die Person der Erzieherin im Mittelpunkt der Handlungen. In den vielen Kursen, die ich in Fachschulen und Kindertageseinrichtungen durchgeführt habe, begegneten mir Fachkräfte mit immer wieder ähnlichen Fragen und Unsicherheiten: •• Wie gehe ich mit meiner eigenen Betroffenheit um? •• Wie kann ich konkret angemessen als Erzieherin agieren und reagieren, wenn ich selbst von den vielfältigen Gefühlen der Trauer übermannt werde? •• In welcher Form informiere ich Eltern und Kinder darüber, was passiert ist? •• Wie kann ich in meiner Rolle den Kindern, den Eltern, dem Personal und der betroffenen Familie gerecht werden, was ist sinnvoll bzw. hilfreich und an welchen Stellen gilt es, sich abzugrenzen? •• Wie setzen wir als gesamte Kindertageseinrichtung Zeichen der Anteilnahme? In den folgenden Ausführungen richten wir zunächst den Fokus aus den Augen einer Erzieherin auf die Gruppe der Eltern und Kinder. Bei deren Begleitung und Beratung in einer Kindertageseinrichtung gibt es eine Phase der Information, eine Phase der Aktivität und eine Phase der Normalität. Auf alle drei Phasen wird nacheinander genauer eingegangen.

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Vom Umgang mit Tod und Trauer in Kindertageseinrichtungen

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1. Tag – Phase der Information Beim Tod eines Kindes aus einer Kindertageseinrichtung müssen die anderen Kinder sowie deren Eltern möglichst zeitnah informiert werden. Um Spekulationen keinen Raum zu bieten, ist die beste Form der Informationsweitergabe an die Eltern der Elternbrief, auch dann, wenn die Nachricht des Todes sich beispielsweise in einer kleinen Institution schon verbreitet hat. Frau A. schrieb einen Elternbrief, der noch am ersten Vormittag (unterschrieben mit: »Das Team der Tageseinrichtung«) in den Fächern aller Kinder verteilt wurde. Der Brief begann mit folgenden Worten: »Liebe Eltern, es fällt uns schwer, Ihnen heute mitteilen zu müssen, dass B. aus unserer Löwengruppe bei einem tragischen Unglück gestorben ist.«

Im Elternbrief hat das Team die Möglichkeit, die eigene Betroffenheit, Trauer und Hilflosigkeit auszudrücken. Weiterhin sollten die Eltern durch den Brief erfahren, dass die Erzieherinnen noch am gleichen Morgen mit allen Kindern in den Gruppen über den Tod des Kindes sprechen und gemeinsam überlegen werden, wie sie Zeichen ihrer Anteilnahme setzen können. Hilfreich ist auch, den Eltern in dieser Form mitzuteilen, dass alle Kinder in der Einrichtung Chancen bekommen, ihre Gefühle und Gedanken mitzuteilen, Fragen zu stellen und sich mit dem Verlust auseinanderzusetzen. Nun mag es in jeder Kindertageseinrichtung Eltern geben, die gerne auch in solchen Situationen die Erzieherin im Tür-und-Angel-Gespräch vereinnahmen, gerade dann, wenn sie ihre eigene Erschütterung bekunden möchten. In verständnisvollen, aber klaren Sätzen ist es möglich, betroffenen und fragenden Eltern zu vermitteln, dass das Team jetzt Zeit braucht für erste Handlungsschritte, um selber mit der Situation zurechtzukommen und sich zu sortieren. Wichtig ist dabei, sich nicht in Gesprächen mit Eltern zu verfangen, tröstende Worte finden zu wollen, wo es keinen Trost gibt. Natürlich sind Eltern auch betroffen, möchten sich mitteilen und aktiv werden. In der Regel möchten sie helfen und als Elternschaft Zeichen des Mitgefühls setzen. Deshalb sollte man die Eltern spüren lassen, dass sie in ihrer Betroffenheit wahrgenommen werden und zu einem etwas späteren Zeitpunkt informiert und in weitere Aktivitäten miteinbezogen werden. Wesentlich ist in der Phase der Information am ersten Morgen das Gespräch mit den Kindern. Hierbei ist es mir ein großes Anliegen, zu vermitteln, dass es niemanden gibt, der besser mit den Kindern sprechen kann als die betreffende Erzieherin aus der jeweiligen Gruppe. In einem solchen Moment erlebe ich häufig Erzieherinnen, die neben ihrer eigenen Befangenheit viel Angst und Unsicherheit haben, mit den Kindern über den Verlust zu sprechen. Gesagt sei an dieser Stelle, dass die Erzieherin der Gruppe das Vertrauen aller Kinder hat. Sie ist diejenige, die die Kinder täglich begleitet. Sie kennt alle Kinder in ihren Verhaltensweisen, in ihren Gefühlswelten, Aktionen und Reaktionen und nicht zuletzt in ihren Beziehungen zum verstorbenen Kind.

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Marita Lammertz

Eine Kollegin könnte sie im Gespräch begleiten. Entscheidend aber ist, dass wenigstens eine Erzieherin aus der Gruppe in diesem Moment für die Kinder da ist und dass sie es ist, die den Kindern die Situation mit behutsamen Worten vermittelt. Wenn auch Angst spürbar ist, so verfügt die Erzieherin doch durch ihre tägliche Gruppenarbeit mit den Kindern über eine klare, dem Alter der Kinder und der Situation angemessene Sprache, in der sie vermitteln kann, was passiert ist. Es müssen nicht viele Worte gesagt werden, Details verunsichern Kinder und Erzieherinnen. Vielmehr ist bedeutsam, dass die Kinder die Betroffenheit der Erzieherin erleben dürfen und dennoch spüren, dass sie jetzt für sie da ist. Tränen dürfen fließen, Gedanken und Gefühle dürfen formuliert und gezeigt werden. In diesem Augenblick ist die den Kindern ohnehin vertraute Erzieherin also eine ganz wichtige Bezugsperson, die ihnen die Tür öffnen kann zu ihren eigenen Gefühlen, Gedanken und dem Umgang mit dem Verlust. Gemeinsam kann die Gruppe überlegen, wie sie Zeichen der Anteilnahme setzt. 1. Tag – Phase der Aktivität Mit den Zeichen der Anteilnahme, die gemeinsam beschlossen wurden, gelangen wir schon in die Phase der Aktivität, die erfahrungsgemäß allen Beteiligten gut tut. Kinder sind aktiv, sie wollen helfen, tätig werden. Kinder drücken ihre Gefühle seltener in Worten als vielmehr in der spielerischen Aktivität aus. Deshalb geht es in dieser Phase der Aktivität um das Tätigwerden mit der Gruppe, um Rituale und Gedenken. So kann die Gruppe nach einem Gespräch beginnen, eine Trauerecke oder einen Trauertisch im Gedenken an das verstorbene Kind zu gestalten. Hinsichtlich der Ausgestaltung sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Sicherlich werden in diesem Moment die Kinder sogleich ihre Gedanken und Ideen äußern und motiviert sein zu helfen. Nur einige Beispiele seien hier genannt – einige Kinder könnten: •• einen Bilderrahmen für ein Foto des verstorbenen Kindes gestalten, •• eine Kerze mit Wachsplatten im Gedenken an das verstorbene Kind gestalten, •• Bilder zu ihren Gefühlen und Gedanken malen, •• einen Blumenstrauß zusammenstellen, •• Steine beschriften oder bemalen. 1. Woche – Phase der Aktivität Im weiteren Verlauf der ersten Woche nach dem Verlust werden alle Betroffenen spüren, wie gut es ihnen innerhalb der Tageseinrichtung tut, durch gemeinsame Aktivitäten das Verlusterlebnis zu bearbeiten und über das kreative Tun ins Gespräch zu kommen und der Trauer Ausdruck zu verleihen. Aus einer Vielzahl von Möglichkeiten möchte ich in diesem Abschnitt nur einige nennen, die meiner Erfahrung nach von Erzieherinnen vorzugsweise in der Arbeit mit den Kindern umgesetzt werden:

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•• das Basteln einer eigenen großen (ruhig im DIN-A4-Format oder größer) Kondolenzkarte aus Tonkarton, auf der jedes Kind aus der Gruppe einen Platz hat – darin sollte lediglich etwas über die eigene Befindlichkeit – natürlich auch die der Kinder – zum Ausdruck gebracht werden, •• die Gestaltung einer Erinnerungskiste, eines Erinnerungsglases oder einer Collage, •• die Gestaltung einer Perlenkette (mit Perlen zum Beispiel aus Ton oder aus Salzteig), bei der jedes Kind eine Perle auffädelt und dazu in Gedenken an das verstorbene Kind etwas formuliert (zum Beispiel einen Wunsch, ein Gefühl, eine Erinnerung), •• die gemeinsame Betrachtung von thematisch passenden Bilderbüchern, •• das Malen von Bildern zu Gefühlen und Gedanken. Alle Kolleginnen der Kindertageseinrichtung sollten einbezogen werden, damit das gesamte Personal die Kinder entsprechend reflektieren und prozessorientiert begleiten kann. Frau A. entschied sich am zweiten Tag zu einer außerordentlichen Dienstbesprechung mit allen Kolleginnen am Nachmittag, nachdem alle Kinder abgeholt worden waren. Sie bat auch mich um meine Anwesenheit. Alle Erzieherinnen nahmen spontan teil. Es zeigte sich, wie wertvoll ihnen diese Zeit war, um einerseits eigenen Gedanken und Gefühlen nachspüren zu können sowie andererseits im Miteinander jene weiteren Handlungsweisen zu finden, die der individuellen Situation in ihrer Kindertageseinrichtung entsprachen. Aufgrund der Größe der Einrichtung kam auch die Frage auf, was die anderen Gruppen und die Eltern tun könnten.

Mit der Frage am Ende des Fallbeispiels gelange ich zu einem weiteren wichtigen Aspekt: der Kindertageseinrichtung als Gesamtinstitution. Wenn ein Kind aus einer Institution stirbt, sollte – neben der betroffenen Gruppe – auch die komplette Tageseinrichtung als Gemeinschaft reagieren. Dies könnte beispielsweise durch die Formulierung einer Traueranzeige oder durch die Gestaltung eines Kondolenzbuches geschehen (in das jeder aus der Tageseinrichtung etwas schreiben, malen oder in dem jeder eine Seite gestalten kann). An dieser Stelle ist es nun möglich, die Eltern in die Überlegungen einzubeziehen und ihnen damit die Gelegenheit zu bieten, aktiv zu werden und zu helfen. Eine relevante Frage seitens der Erzieherinnen ist immer wieder die Frage nach einer möglichen Teilnahme der Kinder an der Beerdigung. In der Regel scheuen betroffene Erzieherinnen aus berechtigten Gründen die Teilnahme an der Beerdigung mit den Kindern. Es bedarf einer ganz besonderen und intensiven Begleitung (im Vorfeld, während der Beerdigung sowie auch im Nachgang), wenn ein Kind im Vorschulalter an einer Beerdigung teilnehmen soll. In der Praxis erlebe ich die Erzieherinnen meist zögernd und mit einem gesunden Gefühl dafür, dass sie diese Begleitung innerhalb der Gruppe nicht leisten können. Die Gestaltung einer Gedenkfeier innerhalb der Kindertageseinrichtung ist daher für mich eine sehr empfehlenswerte Alternative. Deshalb möchte ich in dieser Phase

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der Aktivität, die sich auf die gesamte Institution richtet, den Fokus auf die Planung einer Gedenkfeier legen. Als Erstes ist zu klären: Wer wäre aus dem Team bereit, die Verantwortung für die Durchführung zu übernehmen? Eine Gedenkfeier sollte nicht zu lang, gut vorbereitet und strukturiert sein. Für den Aufbau ist zum Beispiel empfehlenswert: eine Einführung (was führt uns zusammen?), ein gemeinsames Ritual (eine Handlung von allen Beteiligten in Gedenken an das verstorbene Kind) sowie ein Abschluss (was wünschen wir für uns? – zum Beispiel ein Segensspruch). In der von Frau A. angesetzten Dienstbesprechung entschied sich das Team für eine Gedenkfeier. Einige Erzieherinnen erinnerten sich an bestimmte Lieder, die B. gerne gehört und selber gesungen hatte. Für das gemeinsame Ritual sollten für alle bunte Luftballons (mit Gas gefüllt) bereitgehalten werden. Auf DIN-A5-Blättern bekam jeder die Möglichkeit, etwas für das verstorbene Kind zu malen oder zu schreiben und dieses an den Luftballon zu binden. Frau A. sagte mir im Nachhinein, sie seien alle auf einen großen freien Platz gegangen, um miteinander im Gedenken an B. die Luftballons steigen zu lassen. Es sei ein sehr intensiver, aber auch etwas befreiender Moment gewesen, der mit dazu beigetragen habe, in den nächsten Tagen innerhalb der Gruppen wieder ein Stück Normalität leben zu können.

Richten wir zum Schluss unseren Blick – wieder aus den Augen einer Erzieherin – auf die Familie, in der das Kind gestorben ist. Trotz aller Ängste und Unsicherheiten ist es ratsam, vorsichtig und behutsam Kontakt zur betroffenen Familie aufzunehmen. Bemerkenswert ist an dieser Stelle wieder die Rolle der Erzieherin. Ihr haben die Eltern ihr eigenes Kind täglich über viele Stunden hinweg anvertraut. Macht man sich das als Erzieherin bewusst, wird auch klar, wie verletzend es für eine betroffene Familie sein könnte, wenn nach dem Tod des Kindes die Erzieherinnen, die das Kind in ihrer Gruppe hatten, keine Möglichkeit der Kontaktaufnahme finden. Etwas Tröstendes zu sagen gibt es nicht, aber es ist wichtig, da zu sein. So könnten beispielsweise die Erzieherinnen aus der Gruppe einige Wochen später zu zweit die Familie besuchen und das Kondolenzbuch der Kindertageseinrichtung mitnehmen. Voraussetzung dafür ist eine vorherige Kontaktaufnahme und die Gewissheit, dass man kommen darf. Eine besondere Aufmerksamkeit (zum Beispiel durch eine gesonderte Karte) gilt dabei den Geschwisterkindern. Vielleicht sind darunter sogar welche, die die Kindertageseinrichtung ebenfalls besuchen oder zukünftig besuchen werden. Geschwisterkinder erleben ihre trauernden Eltern im tiefen Gefühlschaos und befinden sich dadurch bedingt oft in einer Angst um ihre Eltern und gleichzeitig in ihrer eigenen Trauer um den Verlust ihres Geschwisters.

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2./3. Woche – Phase der Normalität Nach ca. einem Monat teilte mir Frau A. mit, dass die Erzieherinnen der Löwengruppe gemeinsam mit den Kindern den Trauertisch aufgelöst hätten. Das Foto von B., das auf dem Tisch gestanden habe, hätten sie in eine Collage mit anderen Gruppenfotos eingearbeitet und eingerahmt. Es hänge jetzt an der Wand in der Ecke, in der zuvor der Trauertisch gestanden habe. Hin und wieder würden Kinder wie Erzieherinnen vor dem Bilderrahmen stehen, sich erinnern und über die Fotos sprechen, auch über das von B. Gedanken und Gefühle seien noch da, und dennoch sei wieder eine Routine und Normalität im Alltag möglich, die den Kindern gut tue und ihnen helfe, wieder gerne, ohne Angst und mit Freude in die Kindergartengruppe zu kommen.

Kinder springen in die Pfütze der Trauer hinein und auch wieder hinaus (Ennulat, 2003). Oft berichteten mir Erzieherinnen, dass zumeist nach der Gedenkfeier im Verlauf der zweiten Woche nach dem Tod etwas Ruhe und damit verbunden wieder ein Stück Normalität in den Alltag der Gruppe einkehre. Und manchmal brauchten sie die Gewissheit, dass dies auch so sein dürfe. Vor diesem Hintergrund ist es sehr wichtig, dass Erzieherinnen in der Begleitung der ihnen anvertrauten Kinder die Phase der Normalität erspüren, sie aufgreifen und sukzessive umsetzen. Offenheit für den inneren Prozess der Kinder sowie Authentizität im Umgang mit den eigenen Gefühlen sind die Grundlagen dafür, gemeinsam als Gruppe im ganz eigenen Tempo durch die Zeiten der Betroffenheit und Trauer zu gehen, aber sie auch immer mal wieder zu verlassen. Der Raum, den das gemeinsame Verlusterlebnis eingenommen hat, darf nach und nach kleiner werden. In einer gemeinsam gestalteten Collage mit vielen Bildern aus dem Gruppenalltag kann vielleicht mit einem Bild dem verstorbenen Kind ein neuer Platz zugewiesen werden.

Ein Kind aus meiner Gruppe verliert einen nahen Angehörigen Die vorauseilende Trauer Frau C. arbeitete schon mehrere Jahre als erfahrene Erzieherin in einer Gruppe mit zwei- bis sechsjährigen Kindern. Vor dem Hintergrund ihrer Tätigkeit nahm sie Kontakt zu mir auf und bat um Unterstützung. Sie berichtete mir von D., einem fünfjährigen Kind aus ihrer Gruppe. Laut ihrer Erzählungen war D. ein aufgeschlossener, lebensfroher Junge, der zusammen mit seiner alleinerziehenden Mutter lebte. Seine Mutter sei ganztags berufstätig, so dass D. viel Zeit in der Kindertageseinrichtung verbringe. Seine Mutter erfahre aber große Hilfe und Unterstützung durch ihre eigene Mutter, die Oma von D. So sei es üblich, dass die

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Oma D. morgens bringe und ihn am Nachmittag abhole. Neben seiner Mutter sei die Oma für D. die wichtigste Bezugsperson. Sein Vater sei nicht präsent. Frau C. teilte mir weiterhin mit, dass sie einen guten Zugang zu D., seiner Mutter sowie zu seiner Oma habe. Durch die regelmäßige Präsenz der Oma in der Vergangenheit sei vieles auch mit ihr abgesprochen worden. Nun sei die Situation seit einiger Zeit nicht mehr so wie früher. Seine Oma leide an Bauchspeicheldrüsenkrebs mit raschem Krankheitsverlauf. D. zeige sich im Kindergartenalltag in letzter Zeit oft gedankenverloren, nicht mehr so lebendig und fröhlich wie sonst. Er weise immer häufiger seine Spielkameraden zurück und weine manchmal einfach los. Seine Mutter sei manchmal hektisch, manchmal wirke sie auch ängstlich, hilflos und trauernd. Sie habe zu Frau C. gesagt, dass sie sich alleingelassen fühle und ihr die Unterstützung ihrer Mutter an allen Stellen fehle.

Zunächst geht es mir um den im Fallbeispiel aufgezeigten Aspekt der vorauseilenden Trauer: Ein Kind, das den Sterbeprozess einer wesentlichen Bezugsperson miterlebt, steht immer in der Spannung zwischen Hoffen und Bangen. Sowohl bei seinen Mitmenschen als auch in sich selbst erfährt das Kind eine Trauer im Vorfeld, eine Trauer, die vorauseilt und dazu führt, dass es in seinen Aktionen und in seinen Reaktionen für die Erzieherin unberechenbar wird. In dieser Phase wünschen sich die Kinder einerseits die Normalität, die der Alltag in einer Kindertageseinrichtung mit sich bringt, und andererseits möchten sie in ihrer individuellen Situation wahrgenommen und verstanden werden. Deshalb sollte sich im Fall einer vorauseilenden Trauer die Erzieherin ganz auf die Familiensituation und mögliche Verhaltensänderungen des jeweiligen Kindes einstellen und den Betroffenen regelmäßig einen geschützten Raum bieten, in dem Gedanken und Gefühle ausgesprochen und Fragen gestellt werden dürfen. Die Vorbereitung auf den bevorstehenden Verlust Die Mutter von D. zeigte in einem Gespräch Frau C. gegenüber viele Ängste. Frau C. erinnerte sich an einen meiner Workshops, bei dem sie selbst Teilnehmerin war, und erzählte der Mutter von unserer Arbeit. Sie hatte als Erzieherin an sich selbst den Anspruch, D. und seine Mutter in dieser Situation adäquat zu begleiten, wünschte sich für sich aber auch ein Stück fachliche Rückendeckung. So bat sie mich um ein Gespräch zu dritt. Ihr Anliegen war zum einen, der Mutter zu ermöglichen, in einem geschützten Rahmen in Kontakt zur eigenen vorauseilenden Trauer zu kommen. Zum anderen war es Frau C. wichtig, gemeinsam das Verhalten von D. zu reflektieren, sich die gesamte Situation ein Stück anzuschauen, um dann nach Wegen und Möglichkeiten zu suchen, wie sie als betreffende Erzieherin – auch in Zusammenarbeit mit der Mutter – D. helfen könne. So konnten tatsächlich bereits im Vorfeld viele wichtige Aspekte hinsichtlich dieser ganz individuellen Familiensituation besprochen sowie das Repertoire an konkreten Handlungsmöglichkeiten erweitert werden.

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Diese schwere Zeit erfordert von der betreffenden Erzieherin sehr viel Aufmerksamkeit, Achtsamkeit und Empathie. Das Auf und Nieder der Gefühle wie Angst, Hoffnung, Trauer bedrückt Betroffene zutiefst auch schon vor dem Todeszeitpunkt. Hier muss das gesamte Team einer Kindertageseinrichtung zusammenarbeiten und einbezogen werden. Sinnvoll ist, gemeinsam zu reflektieren, welche Erzieherin das betroffene Kind in dieser schweren Zeit am besten begleiten kann. Einerseits darf der Antrieb zur Begleitung eines betroffenen Kindes nicht geprägt sein durch tief empfundenes Mitleid oder durch die Identifikation mit dem Schicksal des Kindes. Gedanken und Vorstellungen können dabei schnell projiziert werden. Andererseits gehen Erzieherinnen in der Regel nie unbelastet an das Thema heran, und deshalb sollte es innerhalb des Teams Möglichkeiten geben, über Ängste und Unsicherheiten sprechen und diese berücksichtigen zu können. Ebenso erlebt die gesamte Kindergruppe, insbesondere die Freunde und Spielkameraden, diese Zeit und die damit verbundenen Gefühlsschwankungen des betroffenen Kindes mit. Dieses Miterleben führt zu neuen Reaktionen sowie Unsicherheiten und wirft in den anderen Kindern Fragen auf, in denen sie die persönliche Situation des Kindes auf ihr eigenes Familienleben projizieren: »Kann denn meine Oma jetzt auch diese Krankheit bekommen? Und kann meine Mama auch krank werden?« In diesem Fall ist es wichtig, dass die Erzieherin im pädagogischen Gruppenalltag für die möglichen Fragen und Reaktionen der anderen Kinder eine hohe Sensibilität mitbringt. Diese wiederum setzt eine vorausgegangene intensive und persönliche Auseinandersetzung der Erzieherin mit der Thematik voraus. Um die Kinder in ihren aufkommenden Ängsten und Unsicherheiten angemessen begleiten zu können, ist es unerlässlich, dass sich die Erzieherin zunächst mit ihren ureigenen Fragen, Gedanken und Gefühlen zu den Themen Sterben, Tod und Trauer befasst, diese reflektiert und dabei im Laufe der Zeit eine Haltung entwickelt, die in ihr erwachsen ist. Nur so ist es der Erzieherin möglich, die gesamte Gruppe in ihrer Eigendynamik sowie das betroffene Kind in Einzelarbeit ehrlich und authentisch, gleichwohl aber auch behutsam, liebevoll und mit Verständnis zu unterstützen. Die Verlusterfahrung Nun war es geschehen. Die Oma von D. war gestorben. D. äußerte ganz klar, er wolle bei der Beerdigung seiner Oma dabei sein. Seine Mutter suchte wieder das Gespräch zu Frau C. In ihre eigene Trauer mischte sich Hilflosigkeit. Sie hatte Angst vor der Beerdigung und davor, für ihren Sohn nicht in der Form da sein zu können, wie er es sicherlich bräuchte. Sie habe aber niemanden, der D. an diesem Tag vertrauensvoll begleiten könne. Sie fühle sich alleingelassen. So entstand die Frage, ob Frau C. als wichtige Bezugsperson für D. an dem Tag der Beerdigung für ihn dabei sein könne. Durch die vorbereitende Zeit auf den Verlust sei sie ihm nahe und genieße sein Vertrauen. Durch ihre Distanz zur Verstorbenen sei sie nicht so betroffen und könne D. entsprechenden Halt geben.

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Marita Lammertz

Und es kam so. Die Erzieherin Frau C. war während der Beerdigung zur Begleitung von D. dabei. Seine Mutter, aber auch D. selbst zeigten sich sehr dankbar.

Kinder in diesem Alter können bereits in gewissem Maße in Abschiedsrituale einbezogen werden, jedoch benötigen sie dabei unbedingt einen vertrauenswürdigen Menschen, der sie bei diesen Schritten begleitet, ihnen Halt gibt und als Gesprächspartner für sie da ist. Es muss jemand sein, der sich auf die Denkweise und die Ebene des Kindes einlassen kann. Altersgemäß befindet sich ein Kindergartenkind in der Phase des magischen Denkens. Das Kind kennt zwar das Wort »tot«, aber dieses Wort hat für das Kind noch keine endgültige Bedeutung. So erwartet das Kind eine Rückkehr des Verstorbenen, was sich wiederum oft in seinen anschließenden Spielhandlungen und Äußerungen zeigt. Das Kind stellt häufig viele Fragen und wiederholt diese immer wieder zur eigenen Vergewisserung des Todesfalls. Hinter seinen Fragen kann sowohl die Frage nach der biologischen Antwort wie auch die Frage nach dem Warum des Sterbens als Ausdruck persönlicher Betroffenheit stehen. In den meisten Fragen möchte ein Kindergartenkind jedoch seinen eigenen Gefühlen und seiner Betroffenheit Ausdruck verleihen. Vor dem Hintergrund dieser entwicklungspsychologischen Bedingungen sollten deshalb Bezugspersonen, die ein Kind in einem Verlusterlebnis begleiten, in der Lage sein, das Spiel und die ganz eigene Sprache eines Kindes in diesem Alter zu verstehen. Im Spiel kann die Erzieherin als Sprachrohr für das Kind fungieren. Sie kann zuhören, Worte widerspiegeln und dadurch Türen in seinem Herzen öffnen. Damit ermöglicht sie dem Kind einen Zugang zu sich selbst und den ganz eigenen Gefühlen und Gedankenwelten. Die Zeit danach Einige Tage nach der Beerdigung kam D. mit einem Foto seiner verstorbenen Oma zu Frau C. in die Kindergartengruppe. Sie schauten sich das Foto gemeinsam an, sprachen miteinander über seine Oma, über sein Verlusterlebnis, aber auch über seine eigenen Erinnerungen an die Großmutter. In diesem Gespräch ermunterte Frau C. ihn, mit ihr im Kindergarten eine Erinnerungskiste zu basteln. So könne er, wenn er wolle, Erinnerungsstücke oder Fotos mitbringen, sie ihr zeigen und sie behutsam in der Kiste aufbewahren. Er könne die Kiste jederzeit mit nach Hause nehmen oder sie an einen sicheren Ort im Kindergarten stellen. D. freute sich über das Angebot und nahm es bereitwillig an.

Ein trauerndes Kind, das nach dem Verlusterlebnis zurück in die Kindertageseinrichtung kommt, möchte einerseits seine Kindertageseinrichtung als normalen Ort erleben, so wie es ihn kennt. Andererseits möchte es in seiner Situation insbesondere von der Erzieherin gesehen und verstanden werden. In diesem Moment spielt die Erzieherin in ihrer Vorbildfunktion hinsichtlich ihres weiteren Umgangs mit dem trauernden Kind sowie auch mit der Gesamtgruppe eine tragende Rolle.

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Vom Umgang mit Tod und Trauer in Kindertageseinrichtungen

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Wichtig ist zunächst, dass das trauernde Kind bei seiner Ankunft auf individuelle Weise spüren darf, dass alle um seinen Verlust wissen und sich nun freuen, dass das Kind wieder da ist. Kommt das trauernde Kind zurück in die Kindertageseinrichtung, so wirken bekannte Strukturen sehr entlastend, da es zu Hause momentan keine Struktur mehr gibt und ein Ausnahmezustand herrscht. So sollten die Tage des trauernden Kindes wenigstens in der Kindertageseinrichtung ihren normalen Ablauf haben. Das Kind wünscht sich dort die Stabilität des Alltags. Das ihm bereits vertraute Gerüst aus Regeln, Grenzen und Pflichten gibt ihm Sicherheit. Gleichzeitig sollte die Kindertageseinrichtung sich auch als Raum verstehen, in dem Trauer möglich ist. Auch hier ist wieder die Erzieherin in ihrer Haltung gegenüber der Trauer für alle ein Vorbild. Als direkte und konkrete Bezugsperson ist es wichtig, das trauernde Kind in seinem eigenen Tempo zu begleiten, wachsam zu sein und situationsorientiert mit ihm das zu tun, was es braucht. Dies könnte durch verschiedene Einzelangebote unterstützt werden, wie zum Beispiel: •• die Gestaltung einer Erinnerungskiste, eines Erinnerungsbuches, eines Erinnerungsglases, …, •• verschiedene Malangebote hinsichtlich dessen, was das Kind erlebt hat, •• auf die individuelle Gegebenheit abgestimmte Bilderbuchbetrachtungen, •• die Auseinandersetzung mit den Gefühlen im Gespräch und in kreativer Arbeit (Gefühlsbarometer), •• die Gestaltung eines Tagebuches. Trauer braucht aber auch eine besondere Gemeinschaft in der Kindergruppe. Zum einen darf das trauernde Kind aufgrund seines Schicksals nicht das Gefühl haben, aus der Gruppe ausgeschlossen zu sein, zum anderen benötigen die anderen Kinder der Gruppe das Gefühl, etwas tun zu können, das den Schmerz lindert. Außerdem haben die Kinder der Gruppe auf jeden Fall Fragen, auch wenn sie nicht fragen. Deshalb sollte die Erzieherin Atmosphäre schaffen und Gelegenheiten geben, das Thema Tod und Trauer zu bearbeiten. Dies könnte vonseiten der Erzieherin zum Beispiel durch folgende Anregungen unterstützt werden: •• die Gestaltung von Hilfskärtchen, •• das Basteln von Teelichtgefäßen, die man in einem Gesprächskreis aufstellt und mit denen man die Kinder ermutigt, ihre Gedanken zu äußern und Fragen zu stellen, •• das Malen von Bildern zum Thema (»Mein Himmelsbild«), •• gemeinsame Bilderbuchbetrachtungen zum Thema, •• einen gemeinsamen Friedhofsbesuch.

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Marita Lammertz

Abschließend möchte ich betonen, dass Erzieherinnen sich im Umgang mit trauernden Kindern stets bewusst machen sollten, welche wichtige Rolle sie in der Begleitung einnehmen und was in einem solchen Fall Begleitung konkret bedeutet. So sollten sie über ein bestimmtes Wissen zur Thematik verfügen: •• Welche Todesvorstellungen haben Kinder in diesem Alter? •• Wie wird in anderen Kulturen getrauert? •• etc. Weiterhin sollten sie im pädagogischen Alltag: •• offen für das trauernde Kind sein, •• immer auf Augenhöhe mit dem Kind sein, •• das Kind in seinen vielfältigen Verhaltensweisen und Gefühlen wahrnehmen, •• authentisch sein, •• immer an der Seite des trauernden Kindes mitgehen, nicht drängeln, nicht bedrängen, nicht ziehen und nicht in eine Richtung schubsen, sondern in seinem eigenen Tempo Hilfe anbieten und als Sprachrohr fungieren, wenn es mal keine Worte oder Bilder zur Verfügung hat. Die eigene Auseinandersetzung mit der Thematik sowie die stetige Achtsamkeit für sich selbst sind für das professionelle Handeln einer Erzieherin von großer Bedeutung. Nur so ist eine prozessorientierte, individuelle und reflektierte Begleitung möglich.

Literatur Ennulat, G. (2003). Kinder trauern anders. Wie wir sie einfühlsam und richtig begleiten. Freiburg: Herder. Franz, M. (2004). Tabuthema Trauerarbeit. Kinder begleiten bei Abschied, Verlust und Tod (2. Aufl.). München: Don Bosco. Hinderer, P., Kroth, M. (2005). Kinder bei Tod und Trauer begleiten. Konkrete Hilfestellungen in Trauersituationen für Kindergarten, Grundschule und zu Hause. Münster: Ökotopia Verlag.

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Bettina Hagedorn

Hospiz macht Schule Ein Präventionsprojekt an Schulen

»Meine Trauer, meine Tränen, warum gebt ihr euch jetzt frei?« Dieses Zitat einer zehnjährigen Schülerin zwei Wochen nach Ende der Projektwoche beschreibt ihr Erleben der Wirkung von »Hospiz macht Schule«.

Ein Präventionsprojekt Es ist eine der vielen Rückmeldungen, die immer wieder deutlich zeigen, für wen wir dieses Projekt machen: in erster Linie für die Kinder, in zweiter für die Eltern und unter einem gesamtgesellschaftlichen Blick betrachtet: für eine andere Gesellschaft, in der die Einzelne1 durch die Auseinandersetzung mit dem Tod zu einem intensiveren und manchmal auch gelasseneren Leben findet. Zwei Indikatoren für Glück – dies ist zumindest die Hoffnung, die sich damit verbindet. Es gibt einige Anzeichen dafür, dass sie sich erfüllt. »Hospiz macht Schule« ist innerhalb der Hospizbewegung entstanden und ist eins der ersten Projekte – wenn nicht das erste –, das explizit als Prävention gedacht ist. Statt gerufen zu werden, wenn eine Familie betroffen ist und sich unter existenziellem Druck mit dem Thema Tod und Sterben auseinandersetzen muss – mit all den Gefühlen, die an anderer Stelle in diesem Buch bereits beschrieben werden –, gehen wir als Hospizler aktiv auf die Generation der Grundschüler in der dritten und vierten Klasse zu. Diese zeigen eine oft sehr unbefangene Herangehensweise und vor allem etwas, was für Neun- bis Zehnjährige sehr typisch ist: echten Forschergeist. Kinder sind in diesem Alter höchst interessiert daran, zu erkennen und zu verstehen, wie etwas ist. Und das schließt die Frage nach dem Tod und dem Sterben ein. Meines Erachtens dürfen wir an dieser Stelle auch nicht den Einfluss der Medien vernachlässigen. So wird in Manfred Spitzers Buch »Vorsicht Bildschirm« eine Studie von Lukesch et al. (2004) zitiert, die darstellt, dass viele Kinder inzwischen davon ausgehen, Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden, da derartige Verbrechen immer wieder bereits im Kinderfernsehprogramm gezeigt werden – aber kaum jemand im Normalfall mit den 1

In diesem Beitrag wird alternierend die weibliche und männliche Geschlechterform verwendet.

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Bettina Hagedorn

Kindern über Tod und Sterben spricht. Die Erfahrung, dass jemand zu Hause eines natürlichen Todes stirbt, gehört längst nicht mehr zur Lebenserfahrung von Kindern, wie es schon nicht mehr zur Erfahrung ihrer Eltern gehört hat. Die meisten Erwachsenen gehen den Fragen der Kinder zu Tod und Sterben aus dem Weg. Was sie in dem Alter am häufigsten hören ist: »Dafür bist du noch zu klein«, »Das erkläre ich dir mal in Ruhe, da habe ich jetzt keine Zeit zu.« Kinder erleben deutlich, dass die Erwachsenen sie vertrösten und Scheu haben, über dieses Thema zu sprechen. Diese Tabuisierung erzeugt Angst. Der Kreislauf kann nur durchbrochen werden, wenn es Erwachsene gibt, die sich dem Thema stellen und in der Konsequenz auch den Fragen der Kinder. Hier sind gerade Hospizler mit ihrem Hintergrund der intensiven Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und Sterben in den Vorbereitungsseminaren für ihren Einsatz geeignet. Sie selbst haben sich dafür entschieden, durch ihre Tätigkeit der ehrenamtlichen Begleitung von Sterbenden und ihren Angehörigen immer wieder mit dem Thema konfrontiert zu werden. Und wie viele meiner Kolleginnen bestätigen können, erleben ehrenamtliche Sterbe- und Trauerbegleiter ihre Arbeit als Bereicherung. Mit Kindern im Alter von neun und zehn zum Thema Tod und Sterben arbeiten zu können, erfordert in unserem Konzept neben dem Hospiz-Befähigungskurs auch die Erfahrung als Sterbebegleiterin. Die Ehrenamtlichen berichten in der Projektwoche von ihrer Tätigkeit in einfachen Worten: am Bett sitzen, die Hand halten, etwas vorlesen, spazieren gehen und für Gespräche da sein. Und hier ist Authentizität gefragt.

Die Idee für »Hospiz macht Schule« »Hospiz macht Schule« ist entstanden als eines der Projekte, die im Rahmen der »Generationsübergreifenden Freiwilligendienste« von 2005 bis 2008 vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2007) gefördert wurden. Die Hospizbewegung Düren e. V. hatte die Trägerschaft für dieses Projekt übernommen und gemeinsam mit der damaligen Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz e. V. Experten in eine Arbeitsgruppe geladen, die sich dem Thema unter einem ganz neuen Aspekt widmete: Wie wäre es, wenn wir nicht mehr erst dann zum Einsatz kämen, wenn es in einer Familie bereits zu einer Erkrankung gekommen ist – und dann auch noch in einem meist sehr späten Stadium –, sondern wenn wir das, was wir in unserer Hospizarbeit erleben, auf eine andere Art weitergeben würden? Bisher gab es in der Hospizbewegung Konzepte zur Arbeit mit Betroffenen, mit Trauernden, für Informationsveranstaltungen zur Weiterverbreitung der Idee, jedoch noch kein Konzept, um mit (nicht direkt betroffenen) Kindern in diesem Umfang zu dem Thema zu arbeiten, und zwar ohne sie zu überfordern. Schnell wurde klar, dass es dazu neben viel Zeit vor allem auch vieler Personen bedurfte.

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Hospiz macht Schule

Der Einsatz der Ehrenamtlichen So entstand nicht nur eine Projektwoche zu dem Thema, sondern die Idee, die bis heute besonders ist und das Projekt trägt: der Einsatz von fünf bis sechs Ehrenamtlichen pro Klasse (siehe Abbildung 1). So kann neben gemeinsamen Impulsen in der Gesamtklasse immer auch in Kleingruppenarbeit jedes einzelne Kind über Erfahrungen in geschütztem Rahmen erzählen. Oder Fragen stellen, die es in der Großgruppe bzw. der Gesamtklasse eventuell nicht stellen würde. Die Beziehung zur ehrenamtlichen Gruppenleitung ist ein wesentlicher Aspekt im gesamten »Hospiz macht Schule«.

Abbildung 1: Ein Teil des »Hospiz macht Schule«-Teams im Einsatz, von links: Uli Radon, Uschi Keller, Christa Leroy, Mechthild Lutz-Wirz, Elke Deckers und Rita Derichs. Ganz rechts im Bild die Klassenlehrerin.

Das Gesamtkonzept Die Umsetzung des »Hospiz macht Schule«-Projektes erfordert einen hohen Einsatz sowohl der jeweiligen Ehrenamtlichen als auch des Hospizvereins. Da an anderer Stelle (Hospizbewegung Düren-Jülich e. V., 2010) im Detail die jeweilige Unterrichtsgestaltung dargestellt wurde, möchte ich mich auf die Darstellung unserer bald neunjährigen Erfahrung rund um das Projekt konzentrieren.

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Bettina Hagedorn

Vorbereitung durch das Schulungsseminar »Hospiz macht Schule« Um das Projekt durchführen zu können, ist eine Schulung der Ehrenamtlichen zur Gestaltung und Durchführung der Projektwoche notwendig. Diese Schulung findet an einem Wochenende statt und beinhaltet sowohl die Auseinandersetzung mit eigenen ersten Erfahrungen in der Kindheit als auch die Darstellung der Inhalte, Methoden und der Intentionen der einzelnen Unterrichtseinheiten. Weiterhin wird auf die Kontaktaufnahme mit den Schulen, die Vorbereitung und Durchführung des Elternabends und die Chance der Öffentlichkeitsarbeit mit dem Projekt eingegangen. Auch Sponsoring ist bei diesem aufwendigen und materialintensiven Projekt ein Thema, welches immer wieder sehr unterschiedliche Resonanz findet und zu neuen Ideen und Ergebnissen führt (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Übergabe des »Hospiz macht Schule«-Kalenders 2012, mit Bildern und Texten der Kinder, der von der Firma Grünenthal gesponsert wurde an die Hospizbewegung Düren-Jülich e. V. (von links: Rita Derichs, Uschi Keller, Margret Rausch, Elke Deckers, Bettina Hagedorn, Uli Radon, Christa Leroy). Der Reinerlös des Verkaufs konnte für die Materialien in den nächsten Projekt­ wochen eingesetzt werden.

Sind diese ersten Hürden genommen, so nehmen die Ehrenamtlichen Kontakt mit einer Grundschule in ihrer Region auf. Während die ersten Erfahrungen vor acht Jahren noch von viel Zurückhaltung seitens der Schulen geprägt waren, zeigt sich inzwischen der Erfolg unserer Arbeit: Das Projekt wurde 2008 mit dem Pulsus-Preis der Techniker Krankenkasse und der »Bild am Sonntag« ausgezeichnet. Dies hatte einen sehr positiven Effekt auf die Bereitschaft der meisten Schulen, das Projekt auch an ihrer Schule durchführen zu lassen. Schulen, die bereits Erfahrung mit dem Projekt sammeln konnten, laden die Ehrenamtlichen immer wieder ein. Auch Lehrerinnen,

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die den Effekt der Projektwoche auf die gesamte Klassenstimmung erlebt haben, zeigen sich begeistert vom Projekt (siehe Abbildung 5, S. 304). Die Themen der einzelnen Tage der Projektwoche: »Werden und Vergehen«, »Krankheit und Leid«, »Sterben und Tod«, »vom traurig sein« und »Trost und Trösten« bauen aufeinander auf und sind in ihrer Gestaltung sehr unterschiedlich, so dass auch die Unterrichtsgestaltung altersangemessen abwechslungsreich für die Kinder ist. Die Kinder erwerben neben Wissen vor allem auch Handlungskompetenzen, die sie direkt umsetzen. So gibt es am fünften Tag eine Handlungssituation, in der das Schreiben von Trostbriefen geübt wird. Bei einer Abschlussfeier, die auch Bestandteil des Projektes ist, gab es dann tatsächlich folgende Situation: Ein Großvater erlitt einen Schwächeanfall und musste ins Krankenhaus eingeliefert werden. Die Kinder setzten sich hin und schrieben ihrer Klassenkameradin einen Trostbrief.

Erleben und Erfahrung Es gibt eine Rückmeldung, die immer wieder nach der Projektwoche erfolgt: Die Ehrenamtlichen sind erstaunt und erfreut darüber, dass die Kinder in diesem Alter kaum Berührungsängste mit dem Thema haben. Im Vorfeld wird immer wieder von Erwachsenen vermutet, dass die Kinder entweder Angst haben oder sich Angst entwickeln könnte. Dies bestätigt sich aber in der Woche selbst nicht, sondern das Gegenteil trifft zu: In diesem Alter überwiegt bei den meisten Kindern der bereits oben erwähnte Forschergeist und sie zeigen ein Interesse an dem Thema und begegnen ihm mit großer Neugier. Manche Situationen – wie zum Beispiel der Besuch einer Ärztin oder Krankenschwester am zweiten Tag – sind so eindrücklich, dass sie in den Rückmeldungen der Kinder immer wieder erwähnt werden. Auch der Film, der während der Woche gezeigt wird: »Willi wills wissen. Wie ist das mit dem Tod?« (Wege, 2002), löst echte Begeisterung aus. Durch das Projekt werden Fragen, die die Kinder zu dem existenziellen Thema Tod haben, auf eine sachliche Art beantwortet. Und natürlich treten bei diesem Thema immer wieder intensive Gefühle auf. Auch hier lernen die Kinder mit den Ehrenamtlichen: Man darf traurig sein, man darf weinen – und man darf auch wieder lachen und froh sein. Auf einer Fortbildung in Eupen haben wir den schönen Satz gehört: »Kinder trauern in Pfützen.« Eine Beschreibung, die wir durch unsere Erfahrungen im Projekt nur bestätigen können. Es wird am vierten Tag mit dem Thema »vom traurig sein« darauf eingegangen, dass es viele verschiedene Arten von Trauern gibt und jeder auch etwas anders damit umgeht. Bereits hier entwickeln die Kinder eine Sensibilität dafür, dass das, was sie selbst gerne hätten – hier wird besonders »gemeinsam Musik hören« oft genannt –, von manchem anderen gar nicht tröstend erlebt wird, der sich vielleicht erst zurückziehen möchte, und dass Erwachsene auch anders mit ihrer Trauer umgehen als Kinder.

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Bedeutung für die Kinder Statt über die Kinder zu erzählen, möchte ich gerne an dieser Stelle aus den Rückmeldungen der Kinder selbst zitieren. Dies ist möglich, weil die Kinder nach jeder Projektwoche eine Art Lerntagebuch (siehe Abbildung 3 und 4) ausfüllen und damit auch das Projekt selbst bewerten. Sie werden gefragt, was ihnen gefallen hat – und natürlich auch, was ihnen nicht gefallen hat. Hier kann ich vorweggreifen: Nicht gefallen hat den meisten Kindern, dass die Projektwoche so schnell vorbei war … Mehr Kinder, als wir jemals erwartet hatten, schreiben: »Ich habe gelernt, dass ich vor dem Tod keine Angst haben muss.«

Abbildung 3: Beispiel 1 eines Lerntagebuches

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Hospiz macht Schule

Abbildung 4: Beispiel 2 eines Lerntagebuches

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Bedeutung für die Lehrerinnen Auch die Lehrerinnen sind aufgefordert, ihre Rückmeldung zum Projekt nach der Projektwoche einzureichen. Neben den direkten Rückmeldungen sind es diese Briefe, die uns immer wieder zeigen, wie wesentlich die Auseinandersetzung mit dem Thema auch von den ausgebildeten Pädagoginnen bewertet wird (siehe Abbildung 5 und Abbildung 6).

Abbildung 5: Ausschnitt aus einem von einer Lehrerin ausgefüllten Evaluationsbogen

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Hospiz macht Schule

Abbildung 6: Brief von einer Lehrerin mit ihrer Rückmeldung zur Projektwoche

Der letzte Satz aus dem Brief der Lehrerin Birgit Schüller beschreibt in meinen Augen die hospizliche Erfahrung: Die Auseinandersetzung mit dem Tod führt zu einem aktiveren Leben (vgl. Abbildung 6). Wir sind immer dankbar für diese Rückmeldungen. In den vergangen Jahren hat sich hier im Kreis Düren (und dies wird auch aus anderen Projekten aus den anderen Bundesländern berichtet) gezeigt, dass die Schulen, an denen das Projekt bereits durchgeführt wurde, bestrebt sind, auch für die nächsten Klassen eine Projektwoche anzubieten. So ergeben sich enge Kontakte zwischen Hospizbewegungen und Grundschulen.

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Bedeutung für die Eltern Während der ersten Projektphase, dem ganzen ersten Jahr, in dem es um die Entwicklung der Unterrichtseinheiten für die Projektwoche ging, gab es eine Angst: die Eltern würden sich der Durchführung der Projektwoche gegenüber nicht besonders aufgeschlossen zeigen. Diese Angst resultierte aus meiner damals achtjährigen Erfahrung als Koordinatorin der Hospizbewegung, gemäß der die meisten Anfragen der Eltern folgenden Tenor hatten: »Sie meinen doch auch, dass es besser ist, wenn wir unser Kind davon fernhalten?« Damit war je nach Zustand des Angehörigen der Besuch im Krankenhaus, im Hospiz, im Altenheim gemeint oder auch die Beerdigung. Eltern fragten meistens nicht, was zu tun sei, es ging ihnen vielmehr darum, ihre geplante Vorgehensweise bestätigt zu bekommen. Daher möchte ich an dieser Stelle besonders der ersten Mutter danken, die jemals auf einem Elternabend etwas zum Projekt gesagt hat. Nach einer kurzen Vorstellung der Projektwoche zeigte sie auf mich und sagte wörtlich: »Ich bin so froh, dass Sie das machen. Ich weiß oft gar nicht, was ich sagen soll. Am liebsten hätte ich noch eine Projektwoche für uns vorher.« Auch wenn diese noch nicht entstanden ist – eine ganze Projektwoche für Eltern als Vorbereitung (!) –, so war dies doch eine ermutigende Rückmeldung, der sich an dem Abend mehrere Eltern angeschlossen haben. Es soll aber keineswegs verschwiegen werden, dass auf vielen Elternabenden sehr intensiv über die Projektwoche diskutiert wird und es besorgte Eltern gibt, die sich nicht vorstellen können, dass so eine Projektwoche geeignet ist, um ihre Kinder an das Thema heranzuführen. Auf diese Diskussionen werden die Ehrenamtlichen am Schulungswochenende auch vorbereitet. Inzwischen gibt es so viele positive Rückmeldungen – von den Kindern selbst –, dass die Eltern uns einen Vertrauensvorschuss geben und der Durchführung zustimmen. Und es gibt eine Erfahrung, die immer wieder von Ehrenamtlichen weitergegeben wird: Gerade die skeptischen Eltern, die einen hohen Diskussionsbedarf an den Abenden hatten, kommen beim Abschlussfest auf sie zu und drücken ihren Dank und ihre Anerkennung aus. Das zeigt mehr als vieles andere, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema zu einer Bereicherung werden kann, gerade dann, wenn zunächst Zurückhaltung und Skepsis im Vordergrund stehen.

Bedeutung für die Ehrenamtlichen Die Idee, nach vielleicht zehn Jahren Sterbebegleitung mit unserem hospizlichen Thema noch einmal ganz anders umzugehen, hat sich für die meisten Ehrenamtlichen als eine Erfahrung erwiesen, von der sie begeistert berichten! Anstatt in einer konkreten Einzelbegleitung Beistand und Stütze zu sein, mit einer Gruppe Kinder zu arbeiten, die wissbegierig sind und sehr schnell Zutrauen zu den Ehrenamtlichen entwickeln, ist eine sehr befriedigende Erfahrung.

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Hospiz macht Schule

In unserem »Hospiz macht Schule«-Team in Düren wird die Projektwoche vier Mal im Jahr angeboten. Und seit wir die Hospizbewegung Düren-Jülich e. V. geworden sind, finden auch dort zwei Mal im Jahr Projektwochen statt. Die beiden Teams unterstützen sich bei personellen Engpässen auch gegenseitig. Es soll nicht unterschlagen werden, dass die Projektwochen für die Ehrenamtlichen auch anstrengend sind. Jeden Tag vier Schulstunden in der Grundschule zu verbringen ist für die meisten doch schon länger her. Und der Geräuschpegel in den Klassen trägt auch dazu bei, dass es eine pragmatische Konsequenz gibt: Nach den Schulstunden nehmen sich die meisten Ehrenamtlichen nichts mehr vor. Ein Nebeneffekt von »Hospiz macht Schule« ist in den letzten Jahren immer wieder erwähnt worden: Seit die Ehrenamtlichen in die Klassen gehen und mit den Kindern arbeiten – meist ja im Verhältnis fünf Kinder zu einer Ehrenamtlichen –, steigt der Respekt vor dem Beruf der Grundschullehrerin. Denn diese steht täglich allein und durchgehend bis zu dreißig Schülern gegenüber bzw. unterrichtet sie.

Bedeutung für den Hospizverein Für den jeweiligen Hospizverein bietet das »Hospiz macht Schule«-Projekt einen ganz besonderen Vorteil: In jeder Klasse, in der das Projekt stattgefunden hat, kennen die Eltern die Hospizbewegung und haben auch die Ehrenamtlichen persönlich kennen gelernt. Dadurch verringert sich die Hemmschwelle, die Hospizbewegung zu kontaktieren, wenn sie benötigt wird. Innerhalb einer Gemeinde kann es so passieren, dass wir Menschen erreichen, die wir vorher nie hätten erreichen können. Obwohl es für die Koordinatorinnen schwierig ist, dass fünf bis sechs Ehrenamtliche meist ein bis zwei Wochen im Jahr gebunden sind und damit für den Einsatz in der Sterbebegleitung nicht angefragt werden können, ist auf der anderen Seite die Chance, die Hospizbewegung bekannter zu machen, eine Chance, die nicht vernachlässigt werden sollte. Und es ist für die Öffentlichkeit ein neuer Ansatz, die Hospizbewegung nicht im Hinblick auf das als schwer wahrgenommene Thema Tod und Sterben mit der Betreuung von Hospizpatienten oder -gästen in Verbindung zu bringen, sondern mit einer Arbeit, die den Umgang der nächsten Generation mit diesem schweren Thema erleichtern wird. So die Hoffnung.

»Hospiz macht Schule« als Impuls für die Gesellschaft Mit »Hospiz macht Schule« leisten wir einen Beitrag für die Gesellschaft, mit dem wir unserem Ziel, das Thema Tod und Sterben wieder so in der Gesellschaft zu integrieren, dass wir uns in letzter Konsequenz überflüssig machen, einen Schritt näherkommen.

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Dies ist der Impuls, der von »Hospiz macht Schule« in die Gesellschaft getragen werden kann. Um es mit den Worten einer Ehrenamtlichen zu sagen: »Ich habe selbst keine Kinder. Und wenn ich alt werde und pflegebedürftig, dann wünsche ich mir, dass ich von diesen Kindern versorgt werde, die dann keine Angst vor dem Umgang mit mir haben.« Heute können wir sagen, dass »Hospiz macht Schule« ein Erfolg geworden ist. Dies ist den Ehrenamtlichen zu verdanken, die es vor Ort in den Schulen umsetzen. Es gibt eine besonders schöne Erfahrung, die im Luxemburger »Hospiz macht Schule«-Projekt von Ferny Hentges berichtet wird: Am dritten Tag von »Hospiz macht Schule«, dem Tag, an dem es um das Thema Tod und Sterben geht, umarmt ein Mädchen die Ehrenamtliche und sagt: »Heute ist der schönste Tag in meinem Leben – nach meinem Geburtstag!« »Warum das denn?« »Weil wir über alles reden können.«

Literatur Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, (Hrsg.) (2007). Zivilgesellschaft stärken – Engagement fördern. Generationsübergreifende Freiwilligendienste. Mit Für Einander. Initiative ZivilEngagement. Berlin. Zugriff am 13. 03. 2014 unter http://www.bmfsfj.de/RedaktionBMFSFJ/ Broschuerenstelle/Pdf-Anlagen/G_C3_BCF_20-_20Brosch_C3_BCre,property=pdf,bereich= ,rwb=true.pdf Hospizbewegung Düren-Jülich e. V. (Hrsg.) (2010). Hospiz macht Schule. Ludwigsburg: der hospiz verlag. Spitzer, M. (2005), Vorsicht Bildschirm! Elektronische Medien, Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft. Stuttgart: Klett.

Filmhinweis Wege, R. (Regisseur) (2002). Willi wills wissen. Wie ist das mit dem Tod? (Auch als DVD erhältlich). Bayerischer Rundfunk. Grünwald: Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht.

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Nicole Nolden, Kirsten Fay und Raymond Voltz

Umgang mit Sterben, Tod und Trauer – ein Projekt für Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 9 bis 13

Einführung eines Fallbeispiels In einem Berufskolleg führten wir einen Projektunterricht zum Thema »Umgang mit Sterben, Tod und Trauer« durch. Es handelt sich um ein Konzept für Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 9 bis 13. Zwei Wochen vor Beginn des Termins in der Schule wurden Fragebögen, welche die Schüler anonym ausfüllten, ausgewertet und mit der Lehrerin besprochen. Diese war beim Durchlesen erschüttert, dass sie von den massiven Trauererlebnissen der Heranwachsenden nichts wusste, obwohl sie offensichtlich einen guten Draht zu den Schülern hatte.

Theoretischer Hintergrund Nicht nur die Literatur beschreibt – besonders bei Jugendlichen – einen erschwerten Zugang zu den Themen Sterben, Tod und Trauer (Petermann, 2002), auch die Erfahrungen auf einer Palliativstation1 und in einem Trauerverein2 bestätigen dies. Immer wieder wird beobachtet, dass betroffene Heranwachsende große Hemmungen haben, sich zu öffnen, wenn sie von einem Trauerfall betroffen sind. Sozialer Rückzug, der Versuch, die Trauer zu verbergen oder zu maskieren, das Ablehnen angebotener Unterstützung, aber auch Angstgefühle oder aggressives Verhalten können die Folgen sein (Znoj, 2004). Für Jugendliche spielt die Suche der eigenen Identität und die Frage nach dem Sinn des Lebens eine zentrale Rolle. Damit eng verbunden besteht bei ihnen ein großes Interesse am Tod, insbesondere am eigenen Tod und an der Frage, was nach dem Tod geschieht. Die Auseinandersetzung mit der eigenen Endlich- und Sterblichkeit kann auch Ängste vor Krankheit und Schmerzen auslösen (Reinthaler u. Wechner, 2010). Hilfreich bei diesen Fragen ist die Gegenwart unterstützender Erwachsener, die selbst auf angemessene Art und Weise mit der Todesangst umgehen können (Unverzagt, 2007). Obwohl die Themen Sterben, Tod 1 Zentrum für Palliativmedizin, Uniklinik Köln. 2 TrauBe Köln e. V. – Trauerbegleitung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

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Nicole Nolden, Kirsten Fay und Raymond Voltz

und Trauer wieder Einzug in unsere Gesellschaft halten, werden sie leider immer noch wenig mit Jugendlichen diskutiert (Rechenberg-Winter u. Fischinger, 2008). Viele Menschen begegnen diesen Themen nach wie vor mit Sprachlosigkeit, Unsicherheit und Hilflosigkeit. Es erscheint daher sinnvoll, Jugendlichen bereits im Vorfeld die Möglichkeit zu geben, sich mit den Themen Sterben, Tod und Trauer in einem geschützten Rahmen auseinanderzusetzen. Neben dem Zuhause ist die Schule der bedeutsamste Ort, an dem sich Jugendliche aufhalten. Häufig verbringen sie mehr Zeit mit ihren Klassenkameraden als mit ihren Eltern. Man muss davon ausgehen, dass sich in jeder Schulklasse auch Jugendliche in einer akuten Trauersituation um einen ihnen nahestehenden Menschen befinden. Die Themen Sterben, Tod und Trauer sowie Verlust und Vergänglichkeit tangieren also alle Schüler, wenn auch in unterschiedlicher Häufigkeit und Intensität. Wenn Jugendliche überhaupt mit anderen ihre Trauer teilen, dann vornehmlich mit engen Freunden, in der Regel mit Mitschülern. Daher spielt die Schule eine wichtige Rolle bei der Heranführung und Auseinandersetzung mit den Themen Sterben, Tod und Trauer (Becker, 2006). Punktuell werden diese Themen in den Unterrichtsfächern Deutsch, Religion, Philosophie und Ethik behandelt, doch eine explizite Aufnahme dieser Thematik in die Schulprogramme findet nicht statt. Dabei kann eine Integration dieser Themen in die Schulkultur zu einer gesunden Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Todes führen und stellt eine bedeutende Ressource im Umgang mit Sterben, Tod und Trauer dar. Die Schüler erhalten die Möglichkeit, ihre eigenen Gefühle bewusst wahrzunehmen und auszudrücken und im Umgang mit anderen Menschen stabile und enttabuisierte Einstellungen und Verhaltensweisen zu entwickeln (Jennessen, 2007).

Erfahrungen und praxisrelevante Hinweise Um Jugendlichen bereits im Vorfeld die Möglichkeit zu geben, sich mit den Themen Sterben, Tod und Trauer in einem geschützten Rahmen auseinanderzusetzen, entwickelten wir einen Projektunterricht zu diesen Themen für Schüler der Jahrgangsstufen 9 bis 13. Auch Schülerpraktikanten eines Gymnasiums, die für die Dauer von zwei Wochen bei uns im Zentrum für Palliativmedizin der Uniklinik Köln betreut wurden, lieferten hilfreiche Denkanstöße aus Sicht der Zielgruppe für die Entwicklung des Projektunterrichts. Das Konzept bietet Schulen die Möglichkeit, auf die besondere Situation und die Bedürfnisse dieser Altersgruppe einzugehen, und soll Lehrer und Schüler unterstützen, präventiv und begleitend zu arbeiten. Inhalte des Projektunterrichts sind Vorträge über Palliativmedizin und Hospizarbeit, Selbsterfahrungsübungen, Diskussionen, Kreativarbeit, Rollenspiel und Filmbesprechung. Mindestens zwei Mitarbeiter waren während des ganzen Projekttages ständig in der Schulklasse anwesend, um aus der Praxis berichten und in Krisensituationen eingreifen zu können. Ein vorher benannter Lehrer sowie die zwei Projektleiterinnen

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Umgang mit Sterben, Tod und Trauer

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standen auch im Anschluss an den Projekttag als Ansprechpartner für die Schüler zur Verfügung. Außerdem erhielten die Schüler ein Informationsblatt mit den wichtigsten Kontaktstellen und weiterführender Hilfe zu den Themen Sterben, Tod und Trauer in der näheren Umgebung. Während eines vom Deutschen Hospiz- und PalliativVerband e. V. geförderten zweijährigen Pilotprojektes nahmen insgesamt 260 Schüler beiden Geschlechts aus zwölf Klassen an unserem Projektunterricht teil. Der Projektunterricht wurde an allen Schulformen erprobt. Zusätzlich entwickelten wir Schülerfragebögen, die zwei Wochen vor Beginn des Projektunterrichts und direkt im Anschluss daran von den Schülern anonym ausgefüllt wurden. Die Evaluation der Schülerbefragung sowie die Rückmeldung der Lehrer ergaben eine sehr positive Bewertung des Projekttages. Die Auswertung (Nolden et al., in Vorbereitung) zeigt deutlich, dass die Schüler die Schule als geeigneten Ort ansehen, sich mit den Themen Sterben, Tod und Trauer unbefangen innerhalb der Klasse auseinanderzusetzen. Auch nahmen sie die Möglichkeiten der Palliativmedizin und der hospizlichen Arbeit am Lebensende mit großem Interesse auf. Am Ende des Projekttages waren fast alle mit der Durchführung sehr zufrieden, obwohl die Jugendlichen vor Beginn des Projektunterrichts nur mittleres Interesse gezeigt hatten. Nur sehr wenige hatten vorab Befürchtungen, dieses Thema zu bearbeiten. Ein Mädchen mit einem Hirntumor hatte Angst vor diesem Tag und entschied sich, am Unterricht einer anderen Klasse teilzunehmen. Im Verlauf des Tages, als sie hörte, dass auch gelacht wurde, war sie neugierig. Sie wollte am Vormittag wieder zu ihren Klassenkameraden stoßen und arbeitete aktiv an allen Einheiten mit. Sehr bewegt hat uns ihre Arbeit aus Ton zum Thema Jenseitsvorstellung: Sie modellierte zwei Kinder, die auf einer Insel unter einer Palme in der Sonne lagen und sich an der Hand hielten. Die Schülerin kommentierte ihr Werk mit den Worten: »Ich stelle mir vor, dass, wenn man stirbt, es so ist, wie wenn man von einer Welle weggespült wird und irgendwo wieder an Land gespült wird, wo es schön ist. Dort treffe ich meinen Freund, der letztes Jahr verstarb, und wir halten uns an der Hand.« Nicht überrascht hat die Tatsache, dass fast alle schon einmal mit dem Thema persönlich konfrontiert worden waren und dass sich nur sehr wenige mit Hospizen auskannten. Fast gar keiner konnte sich unter dem Begriff »Palliativmedizin« etwas vorstellen. Einige gaben an, dass sich ihre Angst vor Tod und Sterben durch den Projekttag reduziert habe. In der Abschlussgesprächsrunde wurde häufig Suizid als weiteres Wunschthema angegeben. Einige Schüler mit schweren Trauererlebnissen nahmen nach dem Projekttag weiterführende externe Hilfe in Anspruch. Die Ergebnisse der Schülerbefragung zeigen, dass ein solcher Projekttag für die Heranwachsenden einen großen Gewinn bedeuten kann. Sie erleben, dass man dieses schwere Thema mit einer gewissen Leichtigkeit angehen kann, und erfahren gleichzeitig, dass sie persönlich reifer werden. Es ermöglicht den jungen Menschen einen Zugang zu einem schwierigen, aber wesentlichen Thema und kann darüber hinaus auch präventiv auf ihren Umgang mit Krisensituationen einwirken. Die Jugendlichen lernen

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Nicole Nolden, Kirsten Fay und Raymond Voltz

innerhalb des Projektunterrichts die professionellen und ehrenamtlichen Hilfsangebote für schwer kranke Menschen kennen und können als wesentlicher Multiplikator in unserer Gesellschaft helfen, die wichtigen Säulen Palliativmedizin und Hospizarbeit weiter bekannt und somit einer breiten Bevölkerungsschicht zugänglich zu machen. Schüler können bereits frühzeitig eigene Bewältigungsmöglichkeiten ausloten und ihre soziale Kompetenz im Umgang mit anderen trauernden Menschen vertiefen. Die Durchführenden des Projektes konnten auch auf Seite der Lehrpersonen feststellen, dass anfängliche Unsicherheiten und Hemmnisse im Verlauf des Projekttages reduziert wurden. Dies war wichtig, denn eine Unsicherheit des Klassenlehrers im Umgang mit dem Thema übertrug sich direkt auf die Schüler. Generell wurde die Anwesenheit eines Lehrers von den Schülern als beruhigend und hilfreich empfunden. Die Lehrer haben durch diesen Projekttag häufig viel Persönliches über einzelne Schüler erfahren, konnten darauf eingehen und daraus resultierende schulische Defizite und Verhaltensweisen besser verstehen und einordnen. Daraus ergaben sich manchmal weiterführende und intensive Gespräche zwischen Lehrern und Schülern. Wichtig erschien, den Pädagogen Hilfestellung für einen besseren Zugang zu den betroffenen Jugendlichen zu geben. Ihr häufig geäußerter Wunsch nach Weiterbildung in dieser Richtung bestätigt dies. Unsere Diskussionen auf zwei vom Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend finanzierten Expertensymposien sind auf positive Resonanz gestoßen. Sie bewirkten eine Unterstützung auf Bezirks-, Landes und Bundesebene mit dem Ziel einer bundesweiten Umsetzung des Konzeptes.

Bezugnahme auf das Fallbeispiel Die Durchführung des Projektunterrichts am Berufskolleg war geprägt einerseits von einer gewissen Leichtigkeit und andererseits von Trauer und Schwere. Immer wieder beeindruckend war die Offenheit der Schüler, mit der sie über ihre persönlichen, teilweise sehr schweren Erfahrungen sprachen: »Ich habe auch schon einen Suizidversuch hinter mir«, und der Respekt, den die Mitschüler ihnen entgegenbrachten. Sie zeigten großes Interesse an den Themen und arbeiteten konzentriert mit. Klara, 17 Jahre alt, brach während eines Filmes in Tränen aus, der einen Patienten am Lebensende zeigte. Bei einem Spaziergang über den Schulhof erzählte sie der Referentin, dass sie eigentlich gar nicht an dem Projekttag habe teilnehmen wollen, weil sie so betroffen sei, aber ihr Vater habe sie gedrängt: »Es ist bestimmt gut für dich, wenn du endlich mal darüber reden kannst.« Sie hatte erst vor ein paar Monaten eine enge Bezugsperson im Familienkreis verloren, die an Krebs gestorben war. Die Familie tat sich sehr schwer, darüber zu sprechen, und jeder nahm bisher Rücksicht auf den anderen und schwieg. Ihr fiel es zunehmend schwer, zur Schule zu gehen, und sie fehlte immer öfter. Auch das Unterdrücken der Trauer wurde immer anstrengender und sie

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Umgang mit Sterben, Tod und Trauer

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fühlte sich oft völlig erledigt. Ja, sie habe gute Freunde, die seien auch für sie da, aber so richtig helfen könnten sie ihr nicht. Sie seien nicht in der gleichen Situation und wüssten daher nicht, was es wirklich bedeute. Ihre Familienmitglieder wolle sie nicht zusätzlich belasten. Nein, mit der Lehrerin habe sie nicht gesprochen. Die Lehrerin hatte schon vor Projektbeginn erzählt, dass dieses Mädchen sehr belastet sei und bisher jeden Gesprächsversuch seitens der Lehrerin abgeblockt habe. Nachdem Klara und die Projektdurchführende eine halbe Stunde auf dem Schulhof zugebracht hatten, ging es ihr sichtlich besser. Sie hatte sich alles von der Seele geredet. Zurück in der Schule führte sie noch ein längeres Gespräch mit ihrer Lehrerin, was beiden ebenfalls sehr gut tat und manches klären konnte. Eine Woche nach dem Projekttag erkundigte sich die Referentin per E-Mail nach Klaras Befinden. Klara schrieb zurück: »Mal gut, mal schlecht.« Toll sei, dass sie nach dem Projekttag endlich mit einem Familienmitglied über ihre Sorgen und Ängste gesprochen habe und dass die betreffende Person die gleichen Probleme habe und dass es nun schon viel besser gehe, das Thema Trauer anzusprechen. Die Referentin riet ihr, psychotherapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen, da es noch andere belastende Dinge in ihrem Leben gab. Obwohl sie große Hemmungen vor diesem Schritt hatte, wollte sie ihn dann dennoch gehen, um ihr Leben in den Griff zu bekommen. Alle Schüler erhielten Adressen über Trauerbegleitungsangebote und psychologische Unterstützung in ihrer Nähe. Die Klassenlehrer meldeten uns zurück, dass die Schüler vor allem lobten, dass ihnen zugehört wurde und dass sie mit ihren Sorgen und Belastungen ernst und wahrgenommen und in ihrer Trauer wertschätzend unterstützt wurden.

Merksätze Folgende Merksätze fassen die Ergebnisse und Erfahrungen des beschriebenen Projektes im Hinblick auf Folgeprojekte noch einmal zusammen: •• Unverzichtbar ist eine gute Vorbesprechung mit dem Lehrer über seine eigene Auseinandersetzung mit dem Thema und in Bezug auf Informationen über mögliche Reaktionen der Schüler. •• Es sollte eine angenehme Atmosphäre und ein geschützter Rahmen (Schweigepflicht/Regeln) für die Schüler geschaffen werden. •• Die Referenten müssen authentisch sein und flexibel auf die Bedürfnisse der Schüler eingehen. •• Die Referenten sollen vor allem in den Pausen oder auch während Kreativarbeiten als Ansprechpartner bereitstehen, da die Schüler sie oft für intensive Einzelgespräche nutzen. •• Die Projektdurchführenden sollten kompetent sein im Umgang mit trauernden Schülern, mit Krisenintervention und mit dem Thema Suizid.

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Nicole Nolden, Kirsten Fay und Raymond Voltz

•• Je ruhiger die Referenten auf aufgewühlte Schüler einwirken und ihnen Einzelgespräche ermöglichen, desto schneller kommt es zu einer Beruhigung der Schüler. Es sollte nicht unterschätzt werden, wie schnell Informationen durch SMS, E-Mail oder Twitter in der ganzen Schule verbreitet werden und für Verunsicherung sorgen können. •• Schülern sollte signalisiert werden, dass ein Aufbrechen der Emotionen während des Projektunterrichts für sie eine Chance darstellen kann, sich ihrer Gefühle bewusst zu werden, sie zuzulassen und in einem geschützten Raum mit erfahrenen Ansprechpartnern darüber zu sprechen. •• Demonstratives und lautes Desinteresse oder Stören kann aus eigener Betroffenheit und Abwehr resultieren. Oft sind dies die Schüler, die schwierige Verlust- und Trauererfahrungen mitbringen. Es ist wichtig, besonders auf sie zu achten und in den Pausen auf sie zuzugehen. •• Viele Jugendliche bringen sich gern ein und teilen sich gern mit. Die Referenten sollten immer wieder nach den Erfahrungen der Schüler fragen, sie jedoch nie drängen zu sprechen. •• Humor hilft eine gewisse Leichtigkeit in das eher schwere Thema zu bringen – ebenso wie Lockerungsübungen. •• Die Projektdurchführenden müssen auf ihre eigenen Grenzen achten und dem Jugendlichen nur so viel Hilfe anbieten, wie sie auch selbst leisten können und möchten. Hier sollte auf weitere Ansprechpartner und Anlaufstellen verwiesen werden.

Literatur Becker, U. (2006). Warum soll die Schule trauern? In Ministerium für Kultus, Jugend und Sport, Baden-Württemberg (Hrsg.), Vom Umgang mit Trauer in der Schule. Handreichung für Lehrkräfte und Erzieher/innen (S. 8–21). Weilheim: Bräuer. Jenessen, S. (2007). Manchmal muss man an den Tod denken …Wege der Enttabuisierung von Sterben, Tod und Trauer in der Grundschule. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren. Petermann, F. (2002). Lehrbuch der Klinischen Kinderpsychologie und -psychotherapie. Göttingen: Hogrefe. Rechenberg-Winter, P., Fischinger, E. (2008). Kursbuch systemische Trauerbegleitung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Reinthaler, M., Wechner, H. (2010). Plötzlich bist du nicht mehr da. Tod und Trauer von Jugendlichen. Innsbruck: Tyrolia. Unverzagt, G. (2007). Kinder fragen nach dem Tod. Mit einem schwierigen Thema richtig umgehen. Freiburg: Herder. Znoj, H. (2004). Komplizierte Trauer. Fortschritte der Psychotherapie. Göttingen: Hofgrefe.

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Annette Wagner, Klaudia König-Bullerjahn und Ruthild Kruschel

Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung an Förderschulen

Kris1 Als die neunjährige Kris starb, »plötzlich und unerwartet«, wie man es auch in Traueranzeigen häufig liest, war das Klassenbetreuerteam zunächst völlig überfordert. Gerade erst hatte sich Kris gemeinsam mit ihrer Mutter verabschiedet, um für eine notwendig gewordene orthopädische Operation in ein großes Klinikum zu gehen, und nun, nur wenige Tage später, sollte sie nicht mehr leben? Die Nachricht traf alle, Lehrer, Betreuer und Schüler, vollkommen unvorbereitet. Kris wurde mit dem Down-Syndrom und einem schweren Herzfehler geboren und war, nachdem sie bereits laufen und sprechen gelernt hatte, aufgrund eines Zwischenfalls im Kindergartenalter schwerstbehindert. Auf den Rollstuhl angewiesen, benötigte sie umfassende Hilfe bei allen Verrichtungen und ihre sprachlichen Fähigkeiten beschränkten sich auf wenige, schlecht verständliche Worte. Längst hatte sie das Alter, das zu erreichen die Ärzte ihr zugetraut hatten, überschritten und ihre Eltern waren einfach nur glücklich über jedes weitere Jahr an geschenkter Zeit. »Wenn es dann einmal sein muss, werden wir sie gehen lassen können«, sagten sie häufig. Kris hatte aufgrund ihres Herzfehlers einen postoperativen Zwischenfall erlitten und war verstorben, kurz nachdem ihre Mutter im Krankenhaus eingetroffen war, um sie zu besuchen. Nach ausführlichen Gesprächen unter den Lehrerkollegen war es am darauf folgenden Tag die Aufgabe, Kris’ Klassenkameraden zu informieren. Lange wurde überlegt, wie das gelingen könnte. Wie vermittelt man weitgehend sprachlosen, schwer geistig behinderten Kindern den Tod ihrer Mitschülerin? Eine solche Situation hatte man bis dato noch nicht erlebt. Im Morgenkreis zündete man eine Kerze an und erzählte von Kris und ihrem schwachen Herzen, das den Strapazen der Operation nicht gewachsen war. Mit einfachen Worten wurde versucht, ihren Tod zu vermitteln; es wurde für Kris gebetet und ihr Lieblingslied gesungen. Schnell war ersichtlich, dass die Kinder mit dieser Art der Information nichts anzufangen wussten. Sie spürten die emotionale Erschütterung der Lehrer und Betreuer, was sie verwirrte, doch inhaltlich konnten sie zunächst nicht erreicht werden. 1

Namen der Kinder sind verändert.

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Annette Wagner, Klaudia König-Bullerjahn und Ruthild Kruschel

In den folgenden Tagen wurde ein Erinnerungstisch gestaltet. Darauf befanden sich ein Foto von Kris, eine Kerze und unter Handführung hergestellte Mal- und Prickelarbeiten der Klassenkameraden. Immer wieder wurde über Kris gesprochen, um sich so auf die Teilnahme an der Trauerfeier zur Einäscherung vorzubereiten. Es wurde überlegt, ob es Sinn machte, einen äußerst unruhigen Klassenkameraden mitzunehmen – man wollte die Trauerfeier keinesfalls stören. Die Ermutigung von Kris’ Eltern, doch bitte mit allen Schülern zur Trauerhalle zu fahren, verhalf der Klassengemeinschaft zu einem berührenden Erlebnis. Daniel, der noch auf der Fahrt zum Friedhof geschrien und getobt hatte, erspürte die besondere Atmosphäre, die während der Andacht herrschte, und ließ sie vollkommen ruhig auf sich wirken. Nicole, die ihre Freude über die Busfahrt und den gemeinsamen Ausflug mit ihrer Freundin Maria lachend und lautierend geteilt hatte, schien angesichts des aufgebahrten Sarges plötzlich zu verstehen, dass Kris gestorben war und nicht mehr in die Schule zurückkehren würde. Sie weinte bitterlich und konnte sich erst Stunden später wieder beruhigen. Alle Schüler nahmen auf ihre Weise die ganz besondere Stimmung in der Trauerhalle wahr. In den folgenden Wochen und Monaten sprach man in der Klasse noch oft von Kris und schaute sich Fotos von gemeinsamen Aktionen an. Der Kontakt zu den Eltern, die erfahren mussten, dass sie entgegen ihrer Annahme, Kris gehen lassen zu können, an der Tatsache ihres Todes fast zerbrachen, wurde weiter gepflegt. Um zukünftig mit dem Thema Tod und Trauer in der Förderschule besser umgehen zu können, wurden Kris’ Lehrer nun aktiv.

Hintergrundinformationen zu Kris’ Schule Die Schule, aus deren Bereich das Fallbeispiel Kris genommen wurde, ist Teil einer großen diakonischen Einrichtung. In dieser Förderschule mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung werden im Ganztag ca. 280 Kinder und Jugendliche mit unterschiedlichsten Förderbedürfnissen betreut. Die meisten Schüler sind Tagesschüler, sie kommen täglich mit Schulbussen aus einem großen Einzugsbereich von zu Hause. Zu ihnen gehörte auch Kris. Die Schüler werden vom ersten bis zum zehnten Schuljahr nach den jeweiligen Richtlinien der verschiedenen Förderschwerpunkte unterrichtet. Daraus ergibt sich hier an der Förderschule die Definition von »Behinderung«, die eine mehrfache, erhebliche Beeinträchtigung umfasst. Die Lerngruppe, in der Kris beschult wurde, entsprach einem dritten Schuljahr. Dieser Klasse gehörten ausschließlich Schüler mit schweren Mehrfachbehinderungen an. Alle sechs saßen im Rollstuhl und waren bei allen Abläufen des täglichen Lebens auf Hilfe angewiesen. Der Förderbedarf in den verschiedenen Bereichen der Wahrnehmung war sehr hoch; der vordringliche Förderbedarf lag im basalen Bereich.

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Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung an Förderschulen

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Die zwei Jungen und vier Mädchen im Alter von acht bzw. neun Jahren konnten sich nur äußerst eingeschränkt sprachlich mitteilen, hatten aber ihre jeweils andere Art des Ausdrucks ihrer Bedürfnisse gefunden. Durch ihre Mimik oder ihr Lautieren machten sie auf sich aufmerksam und hatten so eine besondere Art der Kommunikation entwickelt. Das setzte voraus, dass ein Gegenüber viele persönliche Hintergründe kennen und mit den Schülern in einem ausgesprochen sensiblen Kontakt stehen musste, um sie verstehen zu können. In den – gemessen an normalen Klassenstärken – sehr kleinen Lerngruppen an dieser Schule sind neben jeweils zwei pädagogischen Fachkräften oft noch weitere Pflege- und Hilfskräfte und Therapeuten tätig. Diese Hintergrundinformationen zum Fall Kris zeigen auf, dass sich bei der notwendig geringen Größe des Klassenverbandes eine sehr persönliche, ja fast intime Beziehung von Lehrern/Betreuern und Schülern entwickelt. Bei der Schwere der Behinderungen und den chronischen Erkrankungen der Schüler an einer solchen Schule müssen sich alle Beteiligten damit beschäftigen, dass es öfter als gewöhnlich zu einem Sterbefall in der Schülerschaft kommt. So hat sich im Laufe der Zeit eine Kultur der Trauerbegleitung sowohl der Schüler als auch der Erwachsenen entwickelt.

Die Trauerkiste In der langjährigen Berufspraxis der Lehrer und Betreuer dieser Klasse war Kris nicht das erste Kind, durch dessen Sterben sie mit den Themen Tod und Trauer konfrontiert wurden. Unzweifelhaft war Kris aber der Impulsgeber für ein tragfähiges Konzept, das es zu entwickeln galt. Die Stiftung, der die Schule angehört, rief einen Arbeitskreis ins Leben, der sich mit dem Thema »Tod, Abschied und Trauer bei schwerstkranken Kindern und Jugendlichen« befasste. Gleich mehrere Kollegen unterschiedlicher Fachrichtungen beteiligten sich an dem Vorhaben und stellten dort gemeinsam erste konzeptionelle Überlegungen an. Eine Auswahl von Büchern sowohl für die Hand von Kindern als auch von Erwachsenen wurde angeschafft. Doch noch fehlte hier ein spezielles Bilderbuch oder anderes Medium, das die Vermittlung der Thematik »Tod und Trauer« für schwerstbehinderte Kinder mit geringen sprachlichen Fähigkeiten unterstützen konnte. Man mag es als eine Art persönlicher Trauerbewältigung ansehen, doch es zeigte sich, dass das Leben und Sterben von Kris geeignet war, festgehalten zu werden. Eine Fachlehrerin gestaltete ein wunderschönes, mit einfachsten Bildern und Texten versehenes Ringbilderbuch. Diese 14 Seiten umfassende Geschichte und die dazugehörenden Anregungen für den Benutzer bildeten die Grundlage für eine spezielle Themenkiste und waren das Erste, was in die Trauerkiste gelegt wurde. Dazu kamen das Buch auf

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DVD, eine Traumlampe2, eine CD mit Entspannungsmusik sowie Materialien zur Gestaltung einer Erinnerungsecke wie Fotorahmen und Fotoalbum, Tücher, die die Farben der Geschichte aufgreifen, und Gläschen mit Teelichtern. Es hatte sich aber auch gezeigt, dass das gemeinsame Basteln und Gestalten nach dem Bekanntwerden von Kris’ Tod eine beruhigende Wirkung auf alle Beteiligten ausübte. Man konnte etwas Sinnvolles tun. Aus diesem Grund wurde der Trauerkiste – neben dem Buch über Kris – eine Unterrichtsreihe zum Thema »Schmetterling« beigefügt, dazu gehörten das Bilderbuch »Die kleine Raupe Nimmersatt« des US-Kinderbuchautors und -illustrators Eric Carle (2007), das im Jahr 1969 erschienen ist, und eine dazu passende Mappe mit Schablonen und Kopiervorlagen. Nachdem sich, hervorgehend aus dem bereichsübergreifenden Arbeitskreis, eine entsprechende Fachkonferenz an der Schule etabliert hatte, wurde die Trauerkiste um eine Handreichung ergänzt, in der nun alle notwendigen Schritte nach dem Erhalt einer Sterbenachricht in der Einrichtung aufgelistet sind. Es ist nicht übertrieben, wenn man das Leben und Sterben von Kris als den Ausgangspunkt der Entwicklung einer besonderen Trauerkultur an dieser Schule bezeichnet. Neben vielen anderen guten Dingen, die Kris während ihrer Zeit in dieser Welt bewirken konnte, gehörte ganz sicher auch diese Aufgabe zu ihrer Bestimmung – davon sind die beiden Lehrerinnen und Klassenbetreuer fest überzeugt und Kris dafür aus ganzem Herzen dankbar.

Wichtige Erkenntnisse Liegen, wie im Fallbeispiel Kris, umfassende Beeinträchtigungen kognitiver und kommunikativer Art vor, verstärken sich Gefühle wie Ohnmacht und Ratlosigkeit sowohl bei den trauernden Mitschülern als auch bei den ebenfalls betroffenen Lehrern und Betreuern. Es ist wichtig und daher jede Anstrengung wert, das Sterben und den Tod in das aktuelle Geschehen hineinzuholen. Nichts ist schlimmer, als in Sprachlosigkeit zu verfallen und eilig über das Ereignis hinwegzugehen. Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit, die Schüler, ja die ganze Schulgemeinschaft, über den Tod einer Schülerin, eines Schülers, Lehrers oder Therapeuten zu informieren. Im Folgenden werden von der Mitteilungspflicht bis zur Vermittlung von Sicherheit weitere wichtige Erkenntnisse, die der Fall Kris für die Einrichtung mit sich gebracht hat, näher ausgeführt.

2 Eine Traumlampe funktioniert folgendermaßen: Durch die Wärmeentwicklung der Glühbirne dreht sich der innere Kunststoffzylinder und projiziert Blumen- und Schmetterlingsmotive auf den äußeren Lampenschirm – ein sehr schöner Effekt.

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Mitteilungspflicht Jeder Mensch muss sich dem Tod einer nahestehenden Person stellen, um trauern zu können: •• Die Mitteilung vom Tod der Mitschülerin, des Mitschülers an die Klassenkameraden sollte in jedem Fall zeitnah und vor allem durch eine vertraute Person erfolgen. •• Eine vertraute Umgebung ist hierbei nicht nur für die Kinder und Jugendlichen mit mehrfacher Schwerstbehinderung, sondern auch für den Überbringer der Nachricht hilfreich. •• Eine solche Benachrichtigung sollte möglichst nicht unvorbereitet erfolgen. Heute wird in Kris’ Schule beim Bekanntwerden eines Sterbefalls und nach der Information des Kollegiums eine stoffbezogene Tafel in der Pausenhalle aufgehängt. Sie bietet Platz für das Foto des oder der Verstorbenen, für Mal- und Bastelarbeiten sowie für kleine Botschaften der Mitschüler. Die Lehrer informieren ihre Klassen individuell, wobei sie auf eine umfangreiche Auswahl von Fach-, Kinder- und Jugendliteratur zurückgreifen können. Die Kollegen der betroffenen Klasse können zudem mit der Trauerkiste arbeiten. Inzwischen gibt es diese Trauerkiste auch in einer Variante für ältere Schüler. Bei Bedarf kann von der Klassenleitung der betroffenen Klasse auch die Unterstützung durch Mitglieder der Fachkonferenz in Anspruch genommen werden. Die Einbeziehung aller in das Geschehen Es ist grundsätzlich eine stärkere Belastung, von laufenden Prozessen ausgeschlossen zu werden, als sie in der Gemeinschaft durchzustehen. Dies gilt ausnahmslos für alle Menschen, auch für diejenigen, die mit schwersten kognitiven und kommunikativen Störungen leben. Die ganze Schulgemeinschaft verabschiedet sich seitdem von einem verstorbenen Schüler, in ähnlicher Art auch von verstorbenen Therapeuten oder Lehrern, immer am Freitag der auf den Sterbefall folgenden Woche mit einer Trauerandacht in der Kirche. Zuvor überlegt die betroffene Klasse gemeinsam, wie sie sich in die Gestaltung dieser Trauerandacht einbringen kann und möchte: •• Was hat den Schüler ausgemacht? •• Was mochte er und was nicht? •• An welchen Projekten hat er teilgenommen? •• Welche Musik hörte er gerne? •• Was lässt sich zu diesen Überlegungen gestalten? •• Wie kann sich die Klasse aktiv in die Andacht einbringen? In diesen Findungsprozess sind alle Schüler eingebunden, auch die schwerstbehinderten. Der Diakon der Stiftung besucht die Klasse und lässt sich über den Schüler

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berichten. Gemeinsam wird der Ablauf der Feier geplant. Auch hierbei kann die Hilfe der Fachkonferenz in Anspruch genommen werden. Seit einigen Jahren gibt es im Schulgarten der Stiftung eine Stele, geschmückt mit einem Mond aus Cortenstahl, an der im Anschluss an die Trauerandacht ein mit dem Namen des verstorbenen Schülers oder Kollegen gravierter Stern angebracht wird (siehe Abbildung 1). Dieser Stern wird bis zum Tag der Feier in der Klasse aufbewahrt und von den Mitschülern zur Stele getragen.

Abbildung 1: Stele im Schulgarten der Stiftung mit Namenssternen der Verstorbenen

Die Schüler der nicht direkt betroffenen Klassen werden einbezogen, indem sie malen oder basteln und ihre Beiträge an der Tafel in der Pausenhalle anbringen. Im Anschluss an die Trauerfeier werden alle Arbeiten in einen Ordner geheftet und den Eltern des verstorbenen Kindes geschenkt.

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Die Notwendigkeit der genauen Beobachtung Ist die Kommunikation als Ausdrucksmöglichkeit bei einem Kind oder Jugendlichen gestört, so ist eine genaue Beobachtung des Gegenübers unerlässlich. Man sollte sich immer bewusst sein, dass auch der Ausdruck von Gefühlen bei Menschen mit beschränkten sprachlichen Fähigkeiten eingeschränkt oder verändert sein kann. Nach dem Tod von Kris war eine Mitschülerin während der Trauerfeier und im Anschluss daran emotional stark belastet. Als Begleiter muss man in solchen Fällen zunächst einmal tröstend beistehen. In der Folge sollte man immer wieder über den verstorbenen Mitschüler und die veränderte Situation sprechen. Kommunikativ beeinträchtigte Kinder sind darauf angewiesen, dass ihr Empfinden bemerkt und thematisiert wird. Das gemeinsame Erinnern mit Hilfe von Fotoalben ist hilfreich und auch die Angebote zur tätigen Auseinandersetzung mit dem, was passiert ist, tun allen Beteiligten gut. Hier bieten sich Spaziergänge zur Stele oder – wenn das möglich ist – zum Friedhof an. Rituale helfen dabei, dass nicht geäußerte Bedürfnisse der Kinder nicht unbemerkt und damit unberücksichtigt bleiben: Eine Zeit lang kann ein leerer Stuhl im Morgenkreis verdeutlichen, dass das verstorbene Kind fehlt. Auch kann man ein bestimmtes Lieblingslied als festen Bestandteil in das gewohnte Repertoire aufnehmen. Die Vermittlung von Sicherheit Kinder mit schwersten Behinderungen können häufig keinerlei Einfluss auf die Befriedigung ihrer existenziellen Bedürfnisse nehmen. Sie brauchen mehr als alle anderen verlässliche Strukturen im Alltag, sichere Abläufe und das Gefühl, gut aufgehoben zu sein. In Ausnahmesituationen wie dem Tod eines Mitschülers gilt das in besonderem Maße. Bei der Annahme des Verlustes durch den Tod einer ihnen nahestehenden Person hilft das Beibehalten vertrauter Abläufe. Auch später, bei der Auseinandersetzung mit dem Trennungsschmerz, sind verlässliche Strukturen wichtig. Letztendlich ist die Vermittlung von Sicherheit eine der wichtigsten Maßnahmen, die den betroffenen jungen Menschen helfen, sich in der veränderten Realität zurechtzufinden. Das schulische Leben geht weiter, verändert zwar, aber doch mit allen vertrauten Elementen, die es zu einem Teil des geregelten Alltags machen. Das Zelebrieren eines abschiedlichen Lebens in der Schule durch das bewusste Wahrnehmen eines jeden Zusammenkommens und Auseinandergehens und das sich daran Erinnern, dass jedes Leben endlich ist, hilft allen, Schülern wie Lehrern, das eigene psychische Repertoire im Umgang mit Verlust und Trauer zu stärken. Dazu gehört: •• Ankünfte und Abschiede im Tageslauf wie zum Beispiel bewusstes Begrüßen und Verabschieden deutlich wahrzunehmen, •• Erzählkreise nach dem Wochenende, bei Einschulungs- und Entlassfeiern im Schulleben bewusst zu gestalten,

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•• Jahresfeste und Gottesdienste, zu denen eine jährlich stattfindende Andacht zum Thema »Abschied, Tod und Trauer« gehört, besonders zu feiern, •• Naturbeobachtungen im Jahreslauf zunehmend mehr Beachtung zu schenken und bewusster zu erleben.

Schlussbemerkungen Folgende Punkte fassen das Ausgeführte noch einmal abschließend zusammen: •• Auch Menschen mit schweren, mehrfachen Behinderungen sollten über den Tod eines nahestehenden Menschen informiert werden. Ein Trauerprozess ist ein laufender Prozess. Diesen in Gemeinschaft durchzustehen und so in das Geschehen einbezogen zu sein, hilft, starke Emotionen und persönliche Gefühle besser zu verarbeiten. Das sollte ausnahmslos allen Menschen ermöglicht werden, besonders aber denjenigen, die mit schweren kognitiven und kommunikativen Störungen leben. •• Bei eingeschränkter Kommunikation ist eine genaue Beobachtung des Ausdrucks von Gefühlen unerlässlich, um dem Menschen adäquat zur Seite stehen zu können. •• Kinder mit schweren Behinderungen brauchen mehr als andere die Vermittlung von Sicherheit, verlässliche Strukturen und sichere Abläufe im Alltag. •• Es ist sinnvoll, dass sich Einrichtungen schon im Vorfeld Gedanken über Abschiede, Verluste, Tod und Trauer machen. Die eigene Auseinandersetzung der Lehrer und Betreuer mit den Themen Tod und Trauer ist für die Begleitung von trauernden Kindern und Jugendlichen mit und ohne Behinderung eine überaus wichtige und hilfreiche Voraussetzung.

Literatur Carle, E. (2007). Die kleine Raupe Nimmersatt (38. Aufl.). Hildesheim: Gerstenberg.

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Jürgen Langer

Schulische Krisenintervention und Notfallseelsorge in der Schule Intervention und Hilfe in der akuten Trauersituation

Philipp ist zehn Jahre und geht in die Klasse 5, er ist ein ganz normaler, lebendiger Junge. In der neuen Schule läuft es ganz gut für ihn. Die ersten Noten sind in Ordnung, und er hat schon eine ganze Menge neuer Freunde gefunden. Philipp hat es in der letzten Zeit etwas schwer gehabt. Vor zwei Jahren ist sein Opa gestorben, an dem er besonders hing. Er hatte ihn zwar gar nicht so häufig besucht, weil er etwas weiter weg wohnte, aber die Besuche bei Opa waren für ihn immer sehr wichtig und schön gewesen. Philipp hat viele gute Erinnerungen an ihn. Opa lebte auf dem Land und hatte einen großen Garten, in dem Philipp immer spielen durfte. Im Schuppen stand noch ein alter Traktor, auf ihm turnte Philipp gern herum. Seine Oma macht den besten Apfelkuchen der Welt. Manchmal durfte Philipp Opa beim Holzmachen für den großen Kamin helfen. Dass Opa gestorben war, hat er zu Hause von seiner Mutter erfahren, die dabei sehr geweint hat. Auf die Beerdigung von Opa durfte er nicht mitgehen, »weil er noch zu klein für so etwas ist«, wie die Erwachsenen gesagt haben. Dabei wäre er gern dabei gewesen. Seit dem Tod von Opa hat sich Philipps Welt verändert. Er denkt mitten an ganz normalen Tagen plötzlich an Opa, an den Garten auf dem Land, an das Holzmachen und wird dann plötzlich ganz traurig. Philipp vermisst den Opa, er spürt, dass ihm etwas in seinem Leben fehlt, dass ihm sein Opa fehlt, den er geliebt hat und der zu seinem Leben dazugehörte. Philipp hat etwas Angst, dass auch andere Menschen sterben könnten und dann plötzlich weg sind, Menschen, die er auch gern hat und die zu seinem Leben gehören. Auch in der Schule denkt Philipp ab und zu an seinen Großvater und daran, dass er nicht mehr da ist. Doch dann muss er sich wieder auf den Unterricht konzentrieren, was auch klappt. Nun ist wieder etwas sehr Schlimmes passiert: Gestern hat sich der Vater seines Freundes und Klassenkameraden Daniel umgebracht. Seine Mutter hat ihm am Abend gesagt, dass sich der Vater von Daniel vor den Zug geworfen hat. Er sei länger schon sehr traurig und krank gewesen und seit einiger Zeit nicht mehr zur Arbeit gegangen. Seine Mutter hat noch gesagt, dass er schon mal für drei Wochen im Krankenhaus gewesen sei. Das habe aber auch nichts gebracht. Philipp kann sich das alles nicht vorstellen. Wieso hat sich der Papa von Daniel vor den Zug geworfen? Wieso macht ein Erwachsener so etwas? Was macht Daniel jetzt ohne seinen Vater? Er braucht ihn doch noch … Heute ist Daniel nicht da, er fehlt in der Schule, und der Platz neben Philipp ist leer. Philipp ist ratlos und traurig. Was machen wir denn jetzt? Wissen die anderen in der Klasse auch, warum Daniel fehlt? Wie geht es weiter?

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Jürgen Langer

Unser Fallbeispiel zeigt, welche Lebenswirklichkeit viele unserer Kinder und Jugendlichen haben. Das Beispiel von Philipp ist ganz bewusst das Beispiel eines ganz normalen Schülers, der aber noch in seiner Trauer um den Opa steckt, als er in seinem Freundeskreis, in seiner Klasse mit dem nächsten Trauerfall konfrontiert wird, der unerwartet und heftig eintritt. Welche Unterstützung bekommen nun die Schüler in dieser Klasse, welche Informationen und welche Hilfen? Haben sie die Gelegenheit, in der Klasse über das zu sprechen, was passiert ist, und über die Fragen, die sie haben? Wie gehen ihre Lehrer mit der Situation um? Wie drückt die Klasse dem direkt betroffenen Klassenkameraden gegenüber ihr Mitgefühl aus? Gehen sie mit zur Beerdigung? Wie wird das werden? Wer wird sie dabei unterstützen und begleiten? Was braucht die Klasse in dieser Situation, was brauchen die stärker betroffenen Schüler der Klasse, die – so wie Philipp – sowieso schon mit dem Thema Trauer beschäftigt sind? Was braucht jetzt vor allem Daniel, den es ganz unmittelbar und schwer getroffen hat?

Schulische Krisenintervention Zum schulischen Alltag gehört, dass Informationen über die Schüler, ihr familiäres Umfeld und ihre Lebensumstände an die Schule herangetragen werden. Die Schule und besonders die Klassenlehrer müssen mit solchen Informationen umgehen und auf sie reagieren. Kommen Nachrichten über Todesfälle und andere tragische Ereignisse, so gibt es bei jeder Schule und bei jedem Lehrer eine Schwelle, die Ereignisse markiert, die tragisch und besonders sind. Dann benötigt die Schule Hilfe von außen, weil der Erfahrungsschatz und die Fähigkeiten der einzelnen Lehrer in der akuten Situation nicht mehr ausreichen oder sie durch eine unmittelbare Krisenintervention oder Fachberatung von Experten Handlungssicherheit bekommen wollen. Das Projekt »Schulische Krisenintervention« und besonders geschulte Notfallseelsorger bieten in diesen Situationen eine solche kompetente Hilfe von außen für die Schulen an. Ein wesentlicher Faktor ist dabei, dass diese Hilfe kurzfristig greifbar ist und über eine Bandbreite an Kompetenzen, Erfahrungen und Interventionsmöglichkeiten verfügt. Wie sieht schulische Krisenintervention aus? Die vier grundsätzlichen Schritte der schulischen Krisenintervention sind: 1. Aufmerksamkeit und Information, 2. Empathie und Ausblick, 3. Struktur und Fachberatung, 4. Zutrauen und Nachhaltigkeit.

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Aufmerksamkeit und Information In der oder in den betroffenen Klassen bekommt das Ereignis durch die Intervention eine besondere Aufmerksamkeit, und es wird allen Schülern, Lehrern und Eltern gegenüber deutlich, dass die Schule durch die »Schulische Krisenintervention« auf das Ereignis reagiert. Es wird klar, dass sie sich der Situation stellt und ihre Verantwortung sieht. Es gibt viele Beispiele dafür, wie Lehrer und Schulen Situationen von plötzlicher Trauer verdrängen (»Das ist Privatsache der Familien«, »Dafür sind wir nicht ausgebildet«, »Wir sind für das Lernen verantwortlich«) und damit ihren pädagogischen Auftrag ignorieren. Wenn ich dem traurigen Ereignis Aufmerksamkeit und Raum in der Schule gebe, stelle ich mich nicht nur der Situation und den Fakten, sondern auch den Emotionen aller Beteiligten. Daher ist es zugleich hilfreich, aber auch schwer, das Ereignis angemessen zu thematisieren. Bevor eine Klasse, eine Schülergruppe oder eine Schule informiert wird, muss zuerst einmal sorgfältig geklärt werden, was genau passiert ist, welche Informationen gegeben werden sollen, was gesagt werden kann und was nicht. Vermutungen und Spekulationen gehören genauso wenig in die Schule wie Details der Ereignisse, die nicht mit den Angehörigen abgesprochen sind. Alle Informationen, die gegeben werden, sollten klar, gut verständlich und so präzise gegeben werden, dass auch die Kinder im ersten Schrecken alles gut auffassen können. Die Informationen werden am besten schriftlich fixiert, damit sie gleichlautend wiederholt werden können, wenn zum Beispiel das Lehrerkollegium oder andere Klassen informiert werden müssen. Gute Information und die Möglichkeit, ausreichend Fragen zu stellen, helfen den betroffenen Schülern zu verstehen, was passiert ist. Das ist der notwenige Beginn einer Verarbeitung. Ältere Kinder und jüngere Jugendliche (besonders Jungen) fragen oft sehr konkret und detailliert, was manchmal herzlos wirken kann. Es ist wichtig, diese Fragen auszuhalten und auch auf sie angemessene Antworten zu geben. Empathie und Ausblick In den Gesprächen und Interventionen in der Klasse ist es im Weiteren wichtig, eine angemessene Empathie zu entwickeln und auch zu zeigen. So wird es den Schülern ermöglicht, die eigenen Gefühle auszudrücken und anhand der Reaktionen der anderen einzuordnen. Auf der anderen Seite ist der Erwachsene, der die Intervention in der Klasse durchführt, auch ein wichtiges Modell, an dem die Schüler das Verhalten ablesen und bei dem sie den Umgang mit der Situation lernen können. Signalisiert ein Erwachsener (zum Beispiel ein Lehrer) den Schülern, dass er unfähig ist, mit dieser Situation der Trauer umzugehen, so schafft er ein negatives Modell für alle die Schüler, die das miterleben. Daher ist eine gute Mischung aus Empathie und persönlicher Stabilität in der Krisenintervention vonnöten. Die Interventionen in der Schule enthalten auch immer einen Ausblick auf die kommenden Tage und auf das, was passieren kann oder wird. In der akuten Phase der

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ersten Tage geht es auch noch sehr stark um die seelischen, körperlichen und sozialen Reaktionen und um die Frage, wie ich mit ihnen umgehen kann. Mit der Zeit kommen auch immer stärker organisatorische Fragen in den Blick, die auch bedeutsam sind (Wie drücken wir unser Mitgefühl aus? Nehmen wir an der Beerdigung teil? usw.). Der Ausblick auf die nächste Zeit beinhaltet auch bei jeder Intervention klare Vereinbarungen, wie es für die betroffenen Schüler und alle anderen weitergeht, wo und wie kurzfristige Hilfen abgerufen werden können (Erreichbarkeit des Beratungsteams usw.) und welche Reaktionsmöglichkeiten es gibt (Wird es einen Gedenkgottesdienst in der Schule geben, einen Trauerraum oder Ähnliches?). Der Ausblick soll den Beteiligten eine individuelle Sicherheit für die kommende Zeit geben, damit jeder weiß, woran er ist und wie er Hilfe bekommen kann, wenn er sie benötigt. Struktur und Fachberatung Ein wichtiges Element der schulischen Krisenintervention ist, dass sich hinter den konkreten Interventionen und Maßnahmen eine klare Struktur und eine gute Interventionsplanung verbergen. Diese sichern die Qualität und die fachlich richtige Abfolge der zu treffenden Maßnahmen. Wir haben für unser Konzept viele Strukturen aus den international anerkannten Standards der Krisenintervention übernommen und auf die Schulsituation angepasst, um so Ausbildungs- und Handlungsstandards zu setzen und zu sichern. Diese Konzeption und diese Standards schaffen für die eingesetzten Kräfte in der Intervention eine Sicherheit, wie vorzugehen und worauf zu achten ist. Für die Teilnehmer der Intervention, die Schüler, Eltern und Lehrer, gibt die klare Struktur die Gewissheit, dass der Helfer der Situation gewachsen ist, eine Perspektive hat und in der Lage ist, die Gruppe oder die Einzelnen durch die Krise zu führen. Aufgrund dieser Kenntnisse und Erfahrungen bietet die »Schulische Krisenintervention« Fachberatungen für Schulleitungen, Klassenlehrer, Beratungslehrer, Religionspädagogen usw. in der Krisensituation an und erweitert so deren Kompetenz in der Situation. Sie macht sie somit handlungsfähig für ihren Dienst. Damit verbunden ist eine persönliche Beratung und Begleitung, die eine Stabilisierung und Entlastung bewirkt. Zutrauen und Nachhaltigkeit Die Begleitung von Kindern und Jugendlichen in Krise und Trauer muss grundsätzlich von einer Haltung der Annahme und des Zutrauens geprägt sein. Immer wieder erleben wir im Rahmen unseres Projektes Erwachsene, die aus einer eigenen Betroffenheit oder Hilflosigkeit heraus Schüler übermäßig bemitleiden, betreuen und ihnen daher auch keine positiven Reaktionen und keine eigene Verarbeitung mehr zutrauen (siehe auch Eckardt, 2005, S. 25–28). Unsere Erfahrung ist im Gegenteil die, dass in den allermeisten Fällen Kinder und Jugendliche stark sind und dann, wenn sie von den Erwachsenen dabei unterstützt werden, auch schwere Schicksalsschläge und Trauersituationen gut

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verarbeiten können. Dies gelingt umso besser, je mehr sie stabile Bezugspersonen und feste Bezugspunkte in ihrem Leben haben, die ihnen weiterhelfen und ihren individuellen Bewältigungswegen Zeit und Raum geben. Wichtig ist auch, dass sie die Zeitpunkte und die Art und Weise der Auseinandersetzung selbst bestimmen können und ihnen das nicht alles vorgeschrieben wird. Gerade Kinder und Jugendliche brauchen auch Zeiten und Möglichkeiten der Ablenkung. Vor allem in der ganz akuten Zeit ist es ein gutes und wichtiges Zeichen, wenn sich auch stark Betroffene ablenken können und in der Lage sind, sich mit etwas ganz anderem zu beschäftigen als mit ihrer Trauer. Sie brauchen daher Begleiter, die flexibel sind, ihnen auch die Bewältigung der Trauer zutrauen, bereit stehen, ohne sich aufzudrängen, und die Sachkenntnis und das nötige Einfühlungsvermögen besitzen. Keinesfalls dürfen sie durch wohlmeinende Erwachsene mit einer problemorientierten Sichtweise weiter verunsichert oder durch deren unreflektiertes Mitleid bedrückt werden. Gerade in einer Trauer- oder Krisensituation benötigen Kinder eine stabile Alltagsstruktur in der Familie und in der Schule. Eine äußere Stabilität kann über die innere Verunsicherung und Erschütterung hinweghelfen. Daher ist ein Schulbesuch auch dann ratsam, wenn sich betroffene Kinder noch nicht ganz auf den Unterricht einlassen können. Eine längere Unterbrechung des Schulbesuchs führt meist zu einem verhängnisvollen Ganz-aus-der-Routine-Herauskommen und schafft eine weitere tiefgehende Verunsicherung und Entfremdung. Wichtig ist es hingegen, eine langfristige wohlwollende Aufmerksamkeit auf die stark betroffenen Schüler zu richten, damit auch längerfristige Entwicklungen gesehen werden und bei Bedarf eine passende Hilfestellung erfolgt. Die Bewältigung von Verlust und Trauer ist oft ein langfristiges Geschehen: Nicht selten finden wichtige Momente der langdauernden Auseinandersetzung mit Verlust und Trauer noch zwei bis sechs Jahre nach dem Ereignis statt. Es ist gut, wenn auch dann noch Begleiter bei Bedarf greifbar sind. Trauer oder Trauma Eine weitere Frage, die heute immer mehr in den Blickpunkt kommt, ist, ob ein solches Ereignis, wie es in unserem Fallbeispiel bei Daniel passiert ist, bei einem Kind ein Psychotrauma nach sich zieht oder ob es bei einer normalen Trauerreaktion bleibt. Wie lässt sich die Entstehung eines Psychotraumas oder einer komplizierten, sehr langfristigen Trauer verhindern? Was hilft, damit Kinder und Jugendliche ganz normal trauern können? Die Frage, ob ein Psychotrauma schon vorliegt oder entstehen kann, wird heute vom Umfeld schnell gestellt, da das Thema Psychotrauma in der Gesellschaft sehr präsent ist. Auch Lehrer fragen schnell: »Ist das Kind jetzt traumatisiert?«, und äußern damit verbundene Ängste um die weitere Entwicklung des Kindes oder benennen ihre persönliche Unsicherheit und Überforderung im Umgang mit dem Schüler. Gerade hier ist die besondere Kompetenz der »Schulischen Krisenintervention« hilfreich, die sich nicht nur mit dem Thema Trauer und Trauerreaktion bei Kindern,

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Jugendlichen und Erwachsenen auskennt, sondern auch über eine besondere Fachkenntnis zum Thema Psychotrauma verfügt. Fachleuten, die in beiden Bereichen zu Hause sind und auch eine gute Praxiserfahrung haben, gelingt es, eine typische Problemkonstellation zu erkennen und die angemessene Vorgehensweise festzulegen. Prinzipiell ist es wichtig, nach dem Grundsatz »trauma first« vorzugehen, also der Akutintervention bei traumatischer Belastung (peritraumatisches Intervall) und drohender Traumatisierung den Vorrang zu geben. Dennoch muss auch in der Akutphase die bestehende Trauer angemessen beachtet werden und ihren Ausdruck finden. Abschätzung des traumatischen Risikos Auf jeden Fall sollte bei jedem stark belasteten Schüler eine möglichst genaue Abschätzung des individuellen Risikos erfolgen. Dabei sind auch die Eltern des Schülers einzubeziehen, da nur sie eine genaue Kenntnis über ihr Kind haben. Es müssen die folgenden fünf Aspekte bei einem akut vom Trauma belasteten Kind geprüft und schriftlich dokumentiert werden: •• Art der traumatischen Belastung: Welche Art der Traumatisierung liegt genau vor? Ist das Ereignis, um das es geht, von einem Menschen verursacht (interpersonelle Traumatisierung; unter Umständen durch einen Täter) oder handelt es sich um einen Unglücksfall (akzidentell)? Bei einer interpersonellen Traumatisierung ist das Risiko für eine Posttraumatische Belastungsstörung höher als bei akzidentellen Traumata. Das Risiko ist höher, wenn eine enge Bezugsperson ebenfalls vom Trauma betroffen ist und wenn aufgrund des Ereignisses jemand verstorben ist. •• Aktuelle posttraumatische Symptomatik: Welche eindeutig posttraumatischen Symptome sind beim Schüler jetzt neu aufgetreten? Je mehr akute Symptome vorliegen, desto eher entwickelt das Kind eine länger dauernde Posttraumatische Belastungsstörung, desto höher ist das Risiko. •• Psychopathologische Vorbelastung: Hat das Kind früher bereits eine psychische Störung gehabt bzw. liegt zum Zeitpunkt der Traumatisierung eine solche Störung vor (zum Beispiel ADHS, Angststörung), so entwickelt sich eher eine posttraumatische Störung. •• Einschätzung des familiären und sozialen Umfeldes: Je weniger soziale Unterstützung verfügbar ist, desto höher ist das Risiko des Schülers. Wenn Eltern selbst traumatisiert sind oder an einer psychischen oder ernsten chronischen körperlichen Krankheit leiden, besteht ein größeres Risiko. •• Subjektive Bewertungen: Bei Vorliegen von traumabezogenen Schuldgefühlen (hätte ich doch aufgepasst oder auf meine Eltern gehört, dann wäre es nicht passiert) beim Kind oder seinen Eltern ist das Risiko erhöht (Landolt, 2012, S. 116–119).

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Liegen in mehreren der fünf Bereiche Anzeichen für ein erhöhtes Traumarisiko vor, sind die Eltern entsprechend zu informieren und dahingehend zu beraten, dass sie traumatologisch geschulte Fachhilfe in Anspruch nehmen sollten. Das Projekt »Schulische Krisenintervention« kann dann bei der Vermittlung helfen. Und was machen Daniel und Philipp? Wenn alles gut gelaufen ist, haben Daniel und Philipp durch die »Schulische Krisenintervention« erlebt, dass ihre Schule ein Ort ist, an dem auch die Trauer ihren Platz hat. Sie haben erfahren, dass ihre Lehrer auf ihre Sorgen und Nöte und auf besonders schwierige Lebensereignisse reagieren, dass sie mit ihnen wirklich reden und wirklich auf sie rechnen können und dass sie kompetente Hilfe organisieren. Gut fanden die beiden, dass die Lehrer nicht mit dem Thema »nervten« oder sie bloßstellten. Sie wurden nicht stärker mit dem Thema konfrontiert als es ihnen lieb oder als es nötig war. Sie wurden weder von der Klasse noch von den Lehrern übermäßig bemitleidet, sondern es wurde ihnen Unterstützung gegeben und deutlich gemacht, dass sie in der Klasse und bei den Lehrern einen persönlichen Rückhalt haben. Es wurde klar signalisiert, an wen sie sich aus der Klasse und an wen von den Erwachsenen auch langfristig wenden können, wann immer sie vertrauensvoll reden möchten oder Hilfe benötigen. Daniel hat erlebt, dass seine Mutter einen verständnisvollen und kompetenten Ansprechpartner in der Schule gefunden hat, der ihr zwar nicht alle Sorgen im Bezug auf ihren Sohn, auf seine Reaktionen, seine schulische und seelische Entwicklung nehmen kann, der ihr aber seine Zuverlässigkeit bei Fragen und Problemen zugesagt hat. Er hat versprochen, sich weiter um Daniel zu kümmern und sich dabei beraten zu lassen. Das hat Daniels Mutter gut getan und Daniel auch.

Merksätze Folgende Merksätze benennen abschließend, was Kinder und Jugendliche in der akuten Trauersituation brauchen: •• Kinder und Jugendliche brauchen in der akuten Situation Aufmerksamkeit und gute Informationen. •• Sie brauchen empathische Ansprechpartner, die offen sind für ihre Trauer, ihre Verunsicherungen und Fragen. •• Kinder und Jugendliche benötigen eine verlässliche Struktur der Hilfe, die Unterstützung sichert, Gespräche und Hilfen anbietet und sicherstellt. •• Kinder und Jugendliche brauchen Begleiter, die ihnen etwas zutrauen (auch die Bewältigung der Trauer), ohne dass die Begleiter sie durch eine problemorientierte Sichtweise weiter verunsichern und durch ihr Mitleid bedrücken.

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•• Sie benötigen eine stabile Alltagsstruktur (auch in der Schule), die ihnen in den schwierigen Wochen, Monaten und Jahren weiterhilft.

Literatur Eckardt, J. (2005). Kinder und Trauma. Was Kinder brauchen, die einen Unfall, einen Todesfall, eine Katastrophe, Trennung, Missbrauch oder Mobbing erlebt haben. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Landolt, M. A. (2012). Psychotraumatologie des Kindesalters. Grundlagen, Diagnostik und Interventionen (2. überarb. Und erw. Aufl.). Göttingen: Hogrefe.

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Spezifische Trauerbegleitungsangebote

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Susanne Kraft

Einzelbegleitung in der Kindertrauer

Vor zehn Jahren wurde unser Institut »Merlinos – Lehre und Begleitung der kindlichen Seele« in Düsseldorf gegründet. Ein Schwerpunkt der Arbeit besteht in der Einzelbegleitung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien. In der Regel biete ich die Einzelbegleitung mit dem Kind oder dem Jugendlichen einmal wöchentlich für neunzig Minuten an. Einmal im Monat führe ich ein Familiengespräch mit dem System, in dem das Kind lebt. Es gibt unterschiedliche Finanzierungskonzepte, zum Beispiel das Jugendamt oder Vereine, über die ich Eltern oder Bezugspersonen informiere. Im Bereich der Einzelbegleitungen möchte ich drei unterschiedliche Aufgabenschwerpunkte benennen, die in meiner Arbeit zu unterscheiden sind: •• Kinder und Jugendliche, die den Tod eines nahen Angehörigen durch eine Erkrankung, einen Unfalltod, Suizid oder durch Mord erlebt haben, •• Kinder und Jugendliche, die sich in einer Abschiedssituation von einem nahen Angehörigen befinden (zum Beispiel Krebserkrankung von einem Elternteil oder eine tödliche Erkrankung eines Geschwisterkindes), •• Kinder und Jugendliche, die selbst vom Tod bedroht sind. In der folgenden Darstellung habe ich mich für das Fallbeispiel eines Jungen entschieden, der viele Jahre auf eine Herz-Lungen-Transplantation wartete und an dieser letztlich verstarb. Er war ein besonderer Junge, durch den ich viele Prozesse erst richtig verstanden habe. In liebevollem Gedenken an Maximilian möchte ich von ihm berichten.

Maximilian Vor über neun Jahren wandte sich ein Verein für herzkranke Kinder an mich und stellte mir einen damals 13-jährigen Jungen, hier Maximilian genannt, mit einer schweren Herz- und Lungenerkrankung vor. Er lebte mit seinen Eltern und seinen Geschwistern in der Nähe von Düsseldorf und kam einmal in der Woche zur Einzelbegleitung in unsere Praxis. Seine körperlichen Veränderungen, unter anderem seine blauen Lip-

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pen und Finger und sein Anderssein und damit verbunden sein Ausgegrenztwerden beschäftigten ihn zunehmend. Kurze Vorgeschichte Maximilian besuchte eine Regelgrundschule und war sehr offen für andere Kinder. Leider wurde er von vielen Kindern gemieden und nicht zu Geburtstagen eingeladen, da die Eltern der anderen Kinder befürchteten, er könne auf der Geburtstagsparty Herzprobleme bekommen und kollabieren oder gar versterben. Dazu kam, dass sein Vater sich in eine andere Frau verliebte. Er trennte sich von seiner Familie und zog zu der neuen Frau. Sein neuer Wohnort war allerdings in der Nähe von Maximilian, so dass sich Vater und Sohn häufig, aber manchmal wortlos, begegneten. Diese gravierende, familiäre Veränderung stürzte die übrigen Familienmitglieder in eine heftige Trauersituation. Die Mutter (aufgrund ihrer Lebensgeschichte psychisch sehr stark belastet) gestaltete aber tapfer ihre neue Lebenssituation und war sehr intensiv und herzensgut für ihre Kinder da. Maximilian setzte sich in der Einzelbegleitung sehr stark mit seiner lebensbedrohlichen Erkrankung, dem Weggehen und dem Kontaktabbruch des Vaters und mit den spürbaren, starken Belastungen seiner Mutter auseinander. Zudem sorgte die irritierende Zeit der Pubertät, die Auseinandersetzungen mit seinen körperlichen Einschränkungen und den damit einhergehenden Schamgefühlen für weitere emotional belastende Aspekte in seinem Leben. Er erlebte viele verletzende Situationen mit Mitschülern, aber auch mit Lehrkräften, die ihn möglicherweise aus Unwissenheit und Unsicherheit abwerteten oder unter Druck setzten. Immer wieder musste Maximilian ins Krankenhaus, da sich seine Herzwerte verschlechterten und er immer weniger Luft zum Atmen bekam. Er stand viele Jahre auf der Herztransplantationsliste, bis er schließlich mit 16 Jahren nach Berlin ging, in der Hoffnung auf ein neues Leben. Nach einer kurzen Wartezeit wurden ein passendes Herz und eine neue Lunge gefunden. Er wurde transplantiert. Leider war die Operation so schwerwiegend und kompliziert, dass Maximilian nach vier Tagen fast durchgängiger Eingriffe, immer noch in Narkose liegend, verstarb. Auftrag für die Trauerbegleitung Aufgrund der umfangreichen, nicht verarbeiteten, schweren Verlusterlebnisse, die Maximilian in seinem Leben erlitten hatte, erhielt ich von seiner Mutter und dem Jugendamt den Auftrag für die Einzelbegleitung. Ich begleitete Maximilian über drei Jahre bis hin zu seinem Tod. Exkurs zur Belastung von Erwachsenen/Müttern/Vätern

Die meisten Erwachsenen fühlen sich bei kindlichen Fragen in Bezug auf Tod und Trauer schnell an ihre eigenen Grenzen gebracht. Das liegt mitunter daran, dass erwach-

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sene Menschen spüren, dass zur authentischen Beantwortung von kindlichen Fragen oder einer einfühlsamen Reaktion auf die Gefühlswelt des Kindes eine tiefgehende Reflexion und Akzeptanz eigener verletzter Gefühle vorhanden sein muss. Dieser innerpsychische Prozess hat oftmals noch nicht wirklich stattgefunden. Somit kommt es an dieser Stelle zu einer emotionalen Überforderung und einhergehend damit zu einem gelernten Reaktionsmuster – oft einem Vermeidungsverhalten. In einer konkreten Trauersituation erfordert es Energie, Klarheit und Selbstakzeptanz, sich dem zu stellen, was gerade im eigenen Gefühlsleben wahrgenommen wird und fühlbar ist. Für ein Elternteil, welches einen schmerzlichen Verlust vom Partner oder vom eigenen Kind hinnehmen muss (im Fall von Maximilian der Bedrohung des eigenen Kindes durch die schwere Erkrankung), ist es oft eine Überforderung, gleichzeitig den Blick und die Offenheit für die (anderen) eigenen Kinder zu behalten. Kinder und Jugendliche werden oft aus gut gemeinter, aber letztlich wenig hilfreicher Rücksichtnahme und Unwissenheit aus dem Abschiedsprozess ferngehalten. Häufig entwickeln sie dann Fantasien, was jetzt mit der geliebten verstorbenen Person passiert oder wie sie wohl aussehen mag. Diese inneren Bilder sind meistens viel schlimmer und bedrohlicher als die Bilder in der Realität. Früher war es normal, dass Menschen zu Hause verstarben und alle Abschied nehmen konnten. So war auch der Sterbeprozess ein natürlicher Vorgang, an dem alle Familienmitglieder und Freunde teilhaben konnten. Egal, welches Alter die Kinder hatten, sie gehörten zur Gemeinschaft. Kinder orientieren sich stark an uns Erwachsenen. Haben sie das Gefühl, wir können mit ihren Fragen umgehen, neigen sie dazu, ganz offen und unkompliziert ihre Fragen zu stellen. Je direkter und natürlicher wir bereit sind, uns mit Kindern und Jugendlichen über die Themen Krankheit – Abschied – Veränderung – Sterben – Tod auseinanderzusetzen, desto heilsamer ist dies für ihre Entwicklung.

Methoden in der Einzelbegleitung Die Methoden im Einzelkontakt sind so vielfältig und bunt wie die Charaktere und Eigenschaften der Kinder und Jugendlichen. Je nach Ressourcen und Begeisterung der Kinder arbeiten wir mit folgenden Zugängen: •• kreative Methoden und Materialien wie Malen, Kneten, Arbeit mit Sand und Ton, Werken allgemein, •• Musikinstrumente, Klanginstrumente und Stimme als Ausdruck von Lebensresonanz und Schwingungen, •• Körperwahrnehmung: spüren, auspowern, bewegen, tanzen, zur Ruhe kommen, •• Meditation/Fantasiereisen, stärkende innere Kraftbilder entwickeln, •• kindliches Spielverhalten,

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•• Spiel mit Handpuppen und Figuren, Rollenspiel, freies Spiel ohne Bewertung, Projektgestaltung mit dem Kamishibai, •• eigene Geschichte entwickeln (siehe Fallbeispiel Maximilian), •• Arbeit in der Natur – Kraftplätze, Bäume, Erde, Feuer, Wasser, •• Arbeit mit Tieren, •• tiergestützte Begleitung mit Nala, einer Berner Sennenhündin, •• Rituale, •• Sicherheit und Orientierung durch bewusste symbolische Handlungen, •• Geschichten und Märchen, •• Symbole und innere, heilsame Bilder der Trauerbegleitung, •• spirituelle Themen, »Wo ist meine verstorbene Mama? – Wie geht es ihr da, wo sie jetzt ist?«, •• Glaube und Hoffnung in kindlichen Bildern. Projektarbeit mit dem Kamishibai Ein Kamishibai ist ein japanisches Erzähltheater, bei dem die Handlung durch Bildtafeln in einem bühnenähnlichen Rahmen dargestellt wird. Es bietet die Möglichkeit, zwei unterschiedliche Bilderformate DIN A3 und DIN A4 einzulegen. Das Bild bekommt eine besondere Würdigung, es ist in einem Holzrahmen und wirkt wie eine Leinwand im Theater. Der oder die Künstler präsentieren stolz ihre eigenen Geschichten. Das Kamishibai bietet umfangreiche, kreative Möglichkeiten, mit Kindern und Jugendlichen zu arbeiten. Bei jüngeren Kindern verwende ich zusätzlich gern noch kleine Puppenmöbel und Figuren. So können die Kinder zusätzlich ihre eigene Bühne einrichten, eigene Spielsequenzen entwickeln oder immer wieder nachspielen.

Einzelbegleitung im methodischen Kontext über einen Zeitraum von sechs Monaten – Fallbeispiel Maximilian Maximilian hatte große Freude am Malen und Zeichnen mit unterschiedlichen Farben und Materialien. In den ersten Monaten der Einzelbegleitung wählte er oft Wasserfarben und Filzstifte aus. Er malte große und starke Fabelwesen mit unendlicher Atemkraft, Lebenskraft und Feuerkraft. Nichts konnte diesen Wesen passieren. In diese Bilder tauchte er ein und beschrieb seine Gefühle und Ängste, indem er den Fantasiewesen all das gab, was er sich so sehr wünschte und schmerzlich vermisste. In der darauffolgenden Phase entwickelte er Spiele auf dem Papier mit konkreten Aktionen, wie zum Beispiel das Würfeln. Je nach Punktzahl bekamen die Fabelwesen noch mehr Atemkraft und Lebenspunkte dazu. Auch an dieser Spielentwicklung feilte er sehr differenziert und liebevoll.

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Maximilian hatte eine große Leidenschaft – er liebte Fußball. Leider war es ihm durch seine körperlichen Einschränkungen nicht möglich, selbst auf dem Fußballfeld zu stehen. Er verfolgte begeistert die Bundesliga und insbesondere Spiele der deutschen Nationalmannschaft. Er sammelte leidenschaftlich gern die Sticker aller Fußballer und hatte großes Fachwissen über Vereine und Spieler. Etwa ein halbes Jahr vor seinem Tod, stellte ich ihm das Kamishibai vor. Er hatte sofort Spaß an der Idee und fing an, ein Bild zu malen. Seine Geschichte, die Fußballgeschichte, die ich im Folgenden vorstelle, ist sein Vermächtnis an mich gewesen. In großer Dankbarkeit an die intensiven und wundervollen Begegnungen mit Maximilian schreibe ich hier zum ersten Mal seine Geschichte auf. Wie immer starteten wir mit einer Ankommensrunde. Maximilian erzählte, wie es ihm gerade ging und was er aktuell erlebt hatte. Nala, unsere Berner Sennenhündin, mochte Maximilian sehr, setzte sich ohne Aufforderung oder Angebot von Leckerlis neben ihn und forderte ihn auf, sie zu streicheln. Er genoss ihre Zuwendung, lächelte sie an, während er sie streichelte, und wollte von mir wissen, warum Nala ihn wohl so mag. Meine Antwort war immer die gleiche: »Nala kann fühlen und spürt, dass du ein besonderer Junge bist. Sie fühlt sich einfach wohl bei dir.« Er zauberte aus seiner Hosentasche eine Hundekaustange hervor, wollte ihre Pfote haben und belohnte sie mit der Stange. Kauend ließ sich Nala neben ihm nieder. Maximilian lächelte übers ganze Gesicht. Ich erzählte und zeigte ihm das Erzähltheater Kamishibai. Mit großer Lust malte er mit Buntstiften auf einem DIN-A3-Blatt. 1 Bild: Die Entdeckung Dem ersten Bild seiner Geschichte, welches er zu Papier brachte, gab er den Titel: »Die Entdeckung«. Er beschrieb es so: Maximilian ist mit seinem Freund Pit unterwegs. Sie laufen durch die Gegend, bis sie plötzlich einen großen Zettel an einem Baumstamm entdecken. Da steht etwas Unglaubliches geschrieben. Die beiden Jungs müssen es mehrmals lesen, bis sie es wirklich glauben können. Die deutsche Nationalelf von Jogi Löw sucht doch tatsächlich eine Mannschaft, die gegen sie spielen möchte. Es soll ein Turnier stattfinden, wo der Sieger gegen die Jungs von Löw spielen darf. Alle weiteren Infos stehen kleingedruckt im unteren Teil des Blattes. Kurzentschlossen entscheiden sich die beiden dafür, sich für dieses Turnier anzumelden und eine Mannschaft aufzustellen. Während Maximilian malte und die Geschichte dazu erzählte, strahlte er und freute sich so, dass seine Hände anfingen zu tanzen. Diese Bewegung mit den Händen machte er immer, wenn er glücklich war und es ihm gut ging. Am Ende der Stunde durfte er sich noch ein Spiel wünschen, und er entschied sich für ein Ballspiel mit Nala. Sie sollte im Tor den Ball fangen. Sie fand es nicht so spannend, und der Ball ging ins Tor. Maximilian jubelte. 1 : 0 für ihn.

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2. Bild: Anmeldung Im Folgenden möchte ich mich nur auf die Sequenzen mit der Fußballgeschichte beschränken und die entstandenen Bilder mit den Formulierungen von Maximilian kommentieren. Maximilian begrüßte mich mit den Worten: »Ich weiß schon, was heute kommt.« Er malte einen tollen Teambus in den Farben Blau, Grün und Rot. Mit diesem Bus sind sie zu dem Platz gefahren, an dem sich die Teams anmelden konnten. Auf dem Bild hatte er auch sich gemalt, wie er die Bewerbung seiner Mannschaft in einen Kasten wirft. Dieser Vorgang wird genau überwacht, alles geht ordentlich zu. Auch bei diesem Bild war Maximilian sehr aufgeregt und genoss es, vollkommen in der Geschichte zu sein.

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3. Bild: Das Team und der Sponsor Dieses Bild zeigt viele Spieler auf Stühlen sitzend in einer Besprechung. Natürlich wollen viele mitspielen, aber Maximilian ist der Chef, und nur er hat zu entscheiden. Glücklicherweise fand Maximilian auch sehr gute Sponsoren vom Dorf, in dem er lebte. Immer wieder überlegte er, welche Spieler würden spielen dürfen. Anhand seiner Spielerauswahl wird deutlich, wie seine Woche zu Hause und in der Schule war. Verletzungen und Kränkungen bestraft er mit: »Du musst auf der Bank bleiben, hahaha.« Als große Ausnahme für die männlich geprägte Fußballwelt nimmt er seine ältere Schwester, die er bewundert, mit in die Mannschaft.

4. Bild: Das Spiel VS gegen die Nationalelf von Deutschland Dieses Bild zeigt Jogi Löw und Michael Ballack beim Auslosen der Mannschaften. Sie sitzen in bequemen Sesseln und freuen sich auf das kommende Turnier. Beide sind gut drauf und haben coole Turnschuhe an. Löw bespricht mit Ballack die Aufstellung und schreibt diese auf. In Maximilians Beschreibungen geht es viel um Marken, Geld, Ansehen und um ein gutes Team.

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5. Bild: Das erste Spiel K. O. vs. D. V. G In der Abkürzung K. O. ist der Name seines Heimatdorfes mitbenannt, deshalb verzichte ich auf die genaue Benennung des Vereins. Auf jeden Fall spielt das Team von Maximilian gegen eine Mannschaft, in der alle Spieler spielen, mit denen Maximilian im Alltag Schwierigkeiten hatte. Er verwendete viel Zeit, mit Bedacht die Spieler seiner Mannschaft und die der gegnerischen Mannschaft aufzustellen. Dabei erzählte er von Schulsituationen, in denen er »blauer Wal« oder »Spasti« genannt worden war, oder von einem Kartenspiel, in dem er Schläge auf den Handrücken einstecken musste und ausgelacht wurde. In den vier gemalten Spielsequenzen schildert er ausführlich die ungeschickten, trotteligen Gegenspieler und amüsiert sich dabei. Er selbst zeigt hervorragende Leistungen und hält grandiose Bälle im Tor. Die Menge jubelt ihm zu.

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Maximilian konnte in diesem Bild seine vielen Frustsituationen verarbeiten und auch endlich einmal, wenn auch nur zeichnerisch und verbal, austeilen. Natürlich gewann sein Team das Match. Am Ende des Bildes steht: »The Winner sind die Kicker K. O. …« 6. Bild: Das dritte Spiel K. O. vs. The Daners Auch in dieser Stunde benötigte Maximilian viel Zeit, um beide Mannschaften auszuwählen. Erlebnisse der vergangenen Woche, die ihn beschäftigten, tauchen in diesem Match auf. Seine Schwester hatte Streit mit ihrem Freund, so war es unklar, ob dieser bei dem Spiel mitspielen kann. Nach einigen Abwägungen entschied sich Maximilian, dass er trotzdem spielen sollte. Auch in der gegnerischen Mannschaft waren Spieler, zu denen er ein ambivalentes Gefühl hatte. Dieses Spiel ging unentschieden aus.

7. Bild: Die Finalrunde K. O. vs. The Pimper In dieser Stunde verarbeitete Maximilian seine letzte Krankheitswoche, in der er zu Hause gewesen war und fast den ganzen Tag ferngesehen hatte. Seine Mannschaftaufstellung hatte er sehr zügig gewählt. Die gegnerische Mannschaft besetzte er aus bekannten Gesichtern von verschiedenen TV-Formaten. So spielen Bushido, DJ Bobo, Britney Spears, Boris Becker, Dieter Bohlen usw. in dem Team »The Pimpers«. Dieses Team stellt sich ungeschickt an, und in einem spannenden Verlauf gewinnen doch tatsächlich die Kickers K. O. mit einem Ergebnis 3 : 2. Das Unglaubliche wird wahr. Die Kickers K. O. dürfen gegen die Nationalelf von Jogi spielen. Auch in diesem Prozess war Maximilian glücklich und durchlebte diesen Sieg. Sein letzter Satz auf dem Bild war: »The Winner ist K. O., unglaublich!«

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Susanne Kraft

8. Bild: Das Spiel gegen die deutsche Nationalelf Der Aufbau des Bildes war wie immer. Oben rechts schrieb er die Mannschaftsaufstellungen, die dieses Mal sehr flüssig verliefen. In diesem Spielverlauf war er sehr realistisch und malte kämpferische Aktionen der Kickers K. O. Trotz großem körperlichen Einsatz gewann das Team von Jogi Löw 120 : 0. Die Tagesschlagzeile in der Presse lautete: »Die Kickers haben sich sehr gut geschlagen!« Dieses Bild war das letzte Bild, was er vor seiner Reise nach Berlin gemalt hat. Nach einer möglichen erfolgreichen Herz-Lungen-Transplantation wollte er das Abschlussbild mit dem Titel »Die Siegesfeier« malen.

Leider kam es nie dazu, weil Maximilian, wie schon erwähnt, bei der Transplantation verstarb. Seine Mutter ließ mich per E-Mails intensiv an der Zeit in Berlin, der OP

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Einzelbegleitung in der Kindertrauer

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und seinem Tod teilhaben und schrieb in einer letzten SMS: »Maximilian ist jetzt für immer ein Engel!« Mein erster Gedanke dazu war, dass jetzt im Himmel eine Siegesfeier für ihn stattfinde.

Die Gute-Wünsche-Feier Als sich der gesundheitliche Zustand von Maximilian so verschlechtert hatte, dass die Entscheidung für eine Transplantation getroffen wurde, war es für ihn wichtig, einen guten Abschied in seiner Klasse zu finden, zu der er ambivalente Gefühle hatte. Zum einen fühlte er sich abgelehnt und nicht gesehen, zum anderen genoss er aber auch die Begegnungen und Kontakte mit Mitschülern, in denen er das Gefühl hatte, einer von ihnen zu sein. Gemeinsam überlegten wir, was ihm gut tun könnte, und so entstand die Idee, eine gemeinsame Gute-Wünsche-Feier für ihn zu veranstalten. In enger Zusammenarbeit mit seinen Lehrern gestalteten seine Mitschüler für Maximilian eine Video-CD mit einzelnen, wohlwollenden Botschaften und planten eine Feierstunde mit Musik und selbstgebackenen Kuchen. Maximilian wollte, dass ich ihn zu dieser Feier begleite, um eventuelle Fragen seiner Mitschüler mit zu beantworten. Seine Schwester backte auch für ihn einen Kuchen, den wir zur Gute-Wünsche-Feier mitbrachten. Maximilian war sehr nervös vor der Feier. Seine Mitschüler begrüßten uns mit Gitarrenspiel und Trommeln, Mitschülerinnen sangen und hatten ebenfalls leckeren Kuchen gebacken. Es war eine liebevolle, dennoch zunächst angespannte Situation, und zwar bis zu dem Zeitpunkt, an dem die Mitschüler Fragen stellen konnten, die sie beschäftigten. Hier ein kleiner Auszug aus ihren Fragen: •• Maximilian, kennst du uns denn dann überhaupt noch mit einem neuen Herzen? •• Was passiert mit deinem alten Herz? •• Wie lange wirst du operiert? •• Kannst du dann mit uns Fußball spielen? •• Wie lange hält das Herz? •• Gibt es in dem Ronald McDonald Haus ständig Hamburger? •• Wie lange musst du in Berlin bleiben? •• Weißt du, von wem das Herz und die Lunge kommen? Maximilian genoss das Interesse seiner Mitschüler. Alle waren sehr aufmerksam und zugewandt. Sie sagten ihm, dass sie ihn mögen, ihm alles Gute wünschen und in der Klasse auf ihn warten würden. Am Ende der Stunde war Maximilian sehr gerührt und meinte zu mir: »Hey, das ist eine tolle Klasse, und mein größter Wunsch ist es, dass ich wieder in diese Klasse zurückkomme.« Da an diesem Tag auch unser letzter Kontakt vor der Abreise nach Berlin stattfand, hatte ich noch eine kleine Überraschung für Maximilian. Ich hatte Herrn Hansi Flick

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Susanne Kraft

vom DFB angeschrieben, ihm die Lebenssituation von Maximilian geschildert und ihn um ein Trikot mit Unterschriften der Nationalelf gebeten. Innerhalb von zwei Wochen wurde das Trikot mit einem persönlichen Brief verschickt. So konnte ich Maximilian in unserer letzten Stunde ein Päckchen vom DFB überreichen. Beim Auspacken war er völlig überwältigt, zog das Trikot sofort an und stand vor mir mit der gesamten »Power der deutschen Nationalelf«, wie er fand. Alle wünschten ihm alles Gute für seine OP. Mit der CD seiner Mitschüler, den stärkenden Gefühlen der Gute-Wünsche-Feier und der starken Kraft der Nationalelf im Gepäck trat er seine letzte Reise nach Berlin an.

Was Einzelbegleitung will und bewirkt Die Begleitung von Maximilian war eine intensive und lehrreiche Zeit für alle Beteiligten. Es war mir wichtig, ihn in jeder Stunde zu stärken und ihm die Möglichkeit zu geben, seine Erlebnisse aufzuarbeiten, neue Wege zu entwickeln und ihn ressourcenorientiert zu begleiten. Ob es um die Auseinandersetzung mit dem Verlust des Vaters und um dessen Verarbeitung ging, um die Krankheit seiner Mutter oder seine Ängste und Unsicherheiten bezüglich seiner lebensbedrohlichen Erkrankung, Maximilian hat mir immer wieder gezeigt, wie bunt und fantasiereich seine eigene Welt sein konnte und wie sehr ihn diese immer wieder kraftvoll unterstützte. Ich bot ihm lediglich den Rahmen und eine Struktur für seine eigenen Gedanken und Wünsche. Ihm dabei so nahe und offen begegnen zu dürfen, gibt mir bis heute ein Gefühl von Dankbarkeit. Kindern und Jugendlichen in ihrer Welt zu begegnen, ist aufregend und für alle Menschen, die sich auf diesen Prozess einlassen, durchaus lehrreich. Es fühlt sich immer wieder wie ein kleines Abenteuer an, weil dieser Weg nie gleich ist, sondern individuell, kreativ, bunt, holprig und manchmal, scheinbar, ohne Ziel wirkt. Sich auf die Welt des Kindes oder Jugendlichen einzulassen, öffnet immer wieder den Blick für das Wesentliche. Die Einzelbegleitung bietet umfangreiche und individuelle Möglichkeiten, das zu begleitende Kind auf seinem Weg durch die Trauer zu unterstützen. Die vertrauensvolle Beziehungsgestaltung steht im Vordergrund jeder Begleitung, und es gilt, dem Kind unvoreingenommen, dadurch offen und wertschätzend zu begegnen. In der Einzelbegleitung geht es darum, das Kind in seinem eigenen Tempo, mit seinen eigenen inneren Bildern zu stärken, auch in Hinblick auf die Akzeptanz, dass all seine Gefühle in Ordnung sind und sein dürfen. In dieser Atmosphäre der authentischen Begegnung lernt das Kind, zu seinen eigenen Gefühlen zu stehen und einen heilsamen Ausdruck, auch für schmerzhaft erlebte Verlusterlebnisse, zu finden.

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Einzelbegleitung in der Kindertrauer

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Merksätze zu Einzelbegleitungen Folgende Merksätze bieten zum Abschluss wesentliche Punkte, die bei der Begleitung eines einzelnen Kindes in seiner Trauer zu beachten sind: •• Der Fokus der Trauerbegleitung mit Kindern und Jugendlichen liegt im Hier und Jetzt. •• Ziel der Einzelbegleitung ist eine Stabilisierung und Stärkung in der momentanen Lebenssituation. •• Trauerbegleitung ist eine Präventionsmaßnahme, die pathologischen Zuständen entgegenwirkt. •• Die Begleitung arbeitet in direkter Beziehung, stellt Übertragungsphänomene fest, arbeitet aber nicht mit ihnen. •• Ein wesentlicher Bestandteil in der Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen ist es, die Sprache des Kindes alters- und entwicklungsgerecht zu sprechen. •• Alle inneren Bilder und Fragen sind zu akzeptieren und wertzuschätzen. Sollten zerstörerische oder selbstzerstörerische Aspekte in der Begleitung auftreten, ist die Hinzunahme einer therapeutischen Intervention abzuwägen. •• In der Begleitung werden innerpsychische Widerstände benannt, aber nicht gebrochen. •• Kindliche Fragen sind offen und ehrlich zu beantworten.

Literatur Bongartz, D. (2012). Trauer bei Kindern und Jugendlichen. In E. Schärer-Santschi, Trauern. Trauernde Menschen in Palliative Care und Pflege begleiten (S. 134–144). Bern: Huber. Hirschberg, C. (2003). Todesvorstellungen in den einzelnen Altersgruppen … und wie man auf sie eingehen kann. In Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e. V. (Hrsg.), Wie Kinder trauern. Kinder in ihrer Trauer begleiten (S. 10–16). Zugriff am 14. 03. 2014 unter http:// kita.zentrumbildung-ekhn.de/fileadmin/kita/pdf/Wie-Kinder-trauern.pdf Kübler-Ross, E. (1988). Kinder und Tod. Stuttgart: Kreuz. Stokes, J., Crossley, D. (2005). Trauernde Kinder und Jugendliche – wie wir ihnen beistehen können. Landeshauptstadt München. Referat für Gesundheit und Umwelt (Hrsg.), Cheltenham: Winston’s Wish. Student, J.-C. (2000). Im Himmel welken keine Blumen. Kinder begegnen dem Tod. Freiburg: Herder.

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Petra Rechenberg-Winter

Der Lebenszyklus Ein systemisches Modell zur Begleitung

Systemisch orientierte Begleitung geht davon aus, dass alle Mitglieder eines (Familien-)Systems wechselseitig aufeinander bezogen leben und sich in all ihrem Verhalten beeinflussen. Aufgrund ihrer emotionalen Bindung, unabhängig davon, wie intensiv diese von den Einzelnen auch erlebt werden mag, prägen sie sich gegenseitig in ihrem individuellen Erleben und Handeln. »Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen« (Stierlin, 1976). Dabei zeigen die einzelnen Systemmitglieder ihren individuell eigenen Ausdruck und stimmen sich in ihren Bearbeitungsrhythmen unbewusst derart fein ab, dass sie unterschiedlich reagieren. Das hat den tiefen Sinn, dass ein System nicht überlebensfähig bliebe, wenn all seine Mitglieder gleich reagieren würden. Ein Beispiel mag dies verdeutlichen: Eine Nomadengruppe hat infolge eines Überfalls schwere Verluste zu beklagen. Einige Mitglieder klagen, andere zeigen sich verzweifelt. Doch ein anderer Teil geht scheinbar wie immer seinen Aufgaben nach, sucht Nahrung oder führt zügig zur nächsten Wasserstelle. Und es gibt einige, die all die Langsameren und Verzagenden scheinbar herzlos antreiben. Später dann, wenn die Gruppe an ihrem Ziel angekommen ist und sich in Sicherheit fühlt, eröffnet sich für die (bisher) Nichttrauernden der Raum, nachzuspüren, und die vorher Klagenden übernehmen jetzt vielleicht alltagspraktische Aufgaben. Hätten sich alle trauernd an den Wegesrand gesetzt und sich ihrem Schmerz hingegeben, hätten sie erstens nicht ihr schutzspendendes Ziel erreicht und wären zweitens in ihrer geschwächten Situation wesentlich angreifbarer gewesen. Mit scheinbar normalem Verhalten, so als wäre nicht geschehen, versucht ein angeschlagenes System mit aller Kraft, seinen Fortbestand zu sichern. Das führt im Zusammenhang von Begleitung, Beratung und Therapie zu den weiterführenden Fragen: Wer zeigt welches Verhalten? Was zeigen die verschiedenen Reaktionen über Empfinden und Gefühle, die in diesem System aktiv sind – wer repräsentiert welchen Aspekt? Wie kann diese Verschiedenheit genutzt werden? Wem hilft was? Wer wünscht sich welche Hilfestellung oder möchte eben keine? Und wann ist für wen was vonnöten?

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Der Lebenszyklus

Das Lebenszyklusmodell Dass in einem System Erleben individuell verschieden ist, Menschen ihre Situation zur selben Zeit verschieden wahrnehmen und die Situaton des einen nie die der anderen ist, kann mit Hilfe des Lebenszyklusmodell eindrücklich dargestellt werden. Es wurde von Matthias Lauterbach (2007) auf der Grundlage des Soziometrischen Zyklus von Anne E. Hale (1994) und des Healing Circle von John R. Mosher (1990) entwickelt. »Im Lebenszyklus treten oft Ereignisse in den Vordergrund, die die Dynamiken der gegenwärtigen Lebensphase zum Thema haben, die Besonderheiten der Beziehungen, die (anstehenden) Veränderungen und Entwicklungen, die Übergänge von einer Phase in die nächste« (Lauterbach, 2007, S. 74). Das Modell (siehe Abbildung 1) zeigt als räumliche Metapher eines kreis- bzw. spiralförmig angelegten Prozesses das Werden, Wachsen, Ernten, Vergehen. Es symbolisiert Tag- und Nachtrhythmen, Jahreszeiten und Wachstumszyklen. In der Arbeit mit dem Lebenszyklus lassen sich existenzielle Themen wie Identität, Lebensbestimmung, Sinnfragen oder Prioritäten der Lebensführung fokussieren. Veränderung Verwandlung Integration

nicht dazugehören in der alten Art

bei sich selbst sein

Kontakt aufnehmen, auf andere zugehen

Abschied nehmen dazugehören und beginnen, wegzugehen

aktiv mit anderen

Höhepunkt der Kontinuität

Abbildung 1: Das Lebenszyklusmodell nach Matthias Lauterbach (2007)

Beeindruckt das Lebenszyklus-Modell bereits als Grafik, so liegt seine eigentliche Stärke darin, dass es sich wirksam und intensiv als Aktionsmethode einsetzen lässt. Im Folgenden wird der Einsatz des Modells bei der therapeutischen Begleitung von Klienten ausführlich beschrieben.

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Petra Rechenberg-Winter

Vorbereitung – Erläuterung des Modells Der Lebenszyklus wird im Raum mit ca. 180 cm Durchmesser markiert, um begehbar zu sein. Seine vier Felder und vier Übergänge zwischen den Feldern sind den Klienten zu erläutern: 1. Bei sich selbst sein (Ausgangspunkt): Hier ist der Ausgangspunkt der aktionsmethodischen Arbeit. Das Feld steht für Zeiten, in denen Empfindungen von großer Stimmigkeit, Balance, In-sich-Ruhen oder die innere Sammlung überwiegen, Achtsamkeit gelebt wird und eigene Bedürfnisse wahrgenommen werden können. Der Bogen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird als reich, stimmig und positiv erlebt im Sinne von: Das ist mein Leben. 2. Kontakt aufnehmen, auf andere zugehen: Dann erfolgt ein Übergang, der die Aufmerksamkeit mehr auf andere Menschen verschiebt, auf die Gestaltung von Beziehungen, zugunsten eines gemeinsamen Erlebens. Das betrifft Kontakte mit bestehenden Beziehungen als auch vermehrtes Interesse am Beginn von etwas Neuem, wie das Umschauen nach einem neuen Arbeitsplatz, die Sehnsucht nach einer neuen Beziehungsphase oder gar einer neuen Beziehung. 3. Aktiv mit anderen: Dieses Feld symbolisiert die Zeiten gemeinsamen Erlebens und Handelns, Lebensphasen, die oft als belebend, anregend oder leidenschaftlich wahrgenommen werden. Viel Beziehung findet statt, Interaktion, Kommunikation, Gemeinsamkeit, Kreativität, Lebendigkeit. 4. Höhepunkt der Kontinuität: Ein weiterer Übergang steht an, auch wenn er oftmals gar nicht als solcher wahrgenommen wird, denn an dieser Schwelle erleben sich Menschen in vertrauten, verlässlich-gewohnten Beziehungen, verbunden mit ihren Energien ohne große Anstrengungen. Die lange Weile der Beziehungen verändert sich (unmerklich) in Langeweile. 5. Dazugehören und beginnen, wegzugehen: Veränderungen deuten sich in diesem Feld zunehmend an, Sehnsucht nach anderem wird spürbar. Beziehungen und Handlungsabläufe passen zunehmend weniger, Reibungen und Konflikte treten häufiger auf bzw. werden heftiger ausgetragen. Die eigenen Rollen mit den damit verbundenen Funktionen werden als nicht mehr passend erlebt. Der Mensch ist in ein Feld der inneren Auseinandersetzung getreten, in der das Bewahren des Gewohnten, des Wertvollen und die Veränderungsimpulse miteinander kämpfen. Er erlebt entsprechende Ambivalenzen, Befürchtungen, Hoffnungen und Erwartungen. 6. Abschied nehmen: Nach den Klärungsprozessen im vorherigen Feld kann nun im Übergang zum nächsten Feld bewusst Abschied genommen werden, im Sinne von sich scheiden und dabei Bedeutsames mitnehmen. Es kann sich dabei um das Verabschieden

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Der Lebenszyklus

von Rollen, Funktionen, Verantwortlichkeiten, Gewohnheiten handeln oder um das Beenden von Beziehungen. Dieser Schritt fällt oft schwer und ist mit Trauer, Ungewissheit und vielleicht auch mit Orientierungslosigkeit verbunden. 7. Nicht mehr dazugehören in der alten Art: Im Feld des Nicht-mehr- und Noch-nicht-Erlebens herrschen Gefühle von Unsicherheit vor, eine Suche nach Orientierung und Gefühle von Einsamkeit. In dieser Zeit erleben sich Menschen auf diversen Beziehungsebenen unsicher, sei es, weil Beziehungen sich tiefgreifend verändern, sei es, weil sie zu Ende gehen. Es ist eine Zeit des Rückblicks und des Zu-sich-selbst-Kommens, die sowohl eine Anpassung an neue Situationen erfordert als auch mit vielfältigen Erinnerungen an zurückliegende Lebensabschnitte verbunden ist. Sich verantwortungsvoll dafür zu entscheiden, den eigenen Weg weiterzugehen, ist gefordert. 8. Veränderung, Verwandlung, Integration (incorporation): Dieser Übergang ist mit intensiven Gefühlen verbunden, mit komprimierten Erfahrungen tiefgreifender Veränderungen. Die Zykluserfahrungen werden als Teil der individuellen Biografie eingeordnet: »Auch das ist mein Leben«, etwa im Sinn von Erik H. Erikson als versöhnliche Integration des Erlebten in die eigene Biografie. 9. Bei sich selbst sein: Das Leben geht weiter und entwickelt zunehmend ein neues Gleichgewicht, der ehemals erschütterte Mensch findet wieder zu sich und zu seinem an all den zurückliegenden Erfahrungen weiterentwickelten Selbst. Er ist erneut im Feld angekommen, das den Ausgangspunkt der aktionsmethodischen Arbeit bildet.

Arbeitsprozess mit Einzelnen Das begehbare Lebenszyklusmodell ermöglicht eine systemische Begleitung einzelner Klienten und dessen, was in der aktuellen Situation des Klienten zur Auftragserteilung geführt hat, also beispielsweise eine mit Trauer verbundene Verlustsituation: 1. Nachdem das Modell vorgestellt ist, wird anhand der zuvor erfolgten Auftragsklärung ein Kriterium abgeleitet, mit dem im Zyklus gearbeitet werden soll (Leitfrage). Der Klient wird gebeten, mit dem persönlich bedeutsamen Aspekt (beginnend bei dem Ausgangspunkt, dem Feld »bei sich selbst sein«) den Zyklus im Uhrzeigersinn langsam und gesammelt zu durchlaufen, Abkürzungen sind nicht zugelassen. Der Klient wird außerdem aufgefordert, beim Durchlauf die Positionen wahrzunehmen, die etwas signalisieren, Gefühle hervorrufen. Nachdem der Zyklus mindestens einmal durchlaufen wurde, sucht der Klient den Platz der aktuellen Situation, markiert diese Stelle mit einer Moderationskarte oder einem Symbol und fokussiert emotional diese Situation als auch anstehende Schritte im Hinblick auf Sinnfragen und Balancen.   Der Klient wird gebeten, vom markierten Platz der aktuellen Situation aus über Wahrnehmungen, Einfälle, körperliche und emotionale Reaktionen zu berichten.

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Petra Rechenberg-Winter

Systemische Zusammenhänge werden exploriert: »Was ist das Besondere dieses Platzes, welche Energien und welche Blockaden sind damit verbunden? Wie lange sind Sie bereits auf diesem Platz? Wie gut kennen Sie ihn aus Ihrer Biografie? Was steht konkret an? Was denken Sie, was andere Ihnen nahestehende Menschen dazu meinen? Was haben Sie zu gewinnen, was zu verlieren, wenn Sie weitergehen? Welche Erfahrungen haben Sie in früheren Zyklen erlebt? Was davon könnte jetzt nützlich/ hilfreich sein? Auf welchen Plätzen stehen Ihrer Einschätzung nach die anderen, Ihnen bedeutsamen Menschen? Was denken Sie, meinen diese zu Ihrem Platz?«   Eventuell können Plätze und Anliegen Nicht-Anwesender markiert werden. Später kann der Klient deren Positionen einnehmen und diese Erfahrungen in seine Lösungsentwicklung einbeziehen. Dann wird er gebeten, die Außenperspektive einzunehmen, eventuell übernimmt der Berater den Klientenplatz und wiederholt zentrale Aussagen, um den inneren Dialog des Klienten zu fördern. Wieder in der Außenperspektive befragt der Berater den Klienten erneut: »Welche neuen Ideen, Ansätze sind bei Ihnen entstanden, als Sie Ihre Situation von außen betrachteten? Wie sollte/müsste Ihre Geschichte aus dieser Perspektive betrachtet weitergehen?« 2. Ergänzend zur Außenperspektive wird jetzt die Zukunftsperspektive eingeführt. Der Klient nimmt den ursprünglich gewählten Platz ein und wird vom Berater eingeladen, probeweise die anstehenden Entwicklungen durch Vorwärtsgehen im Zyklus zu erforschen: »Angenommen, Sie finden einen guten Weg, wie könnten Sie dann in Ihrem Thema vorankommen? Erkunden sie mögliche gute Schritte und finden Sie einen neuen Platz.« Hat der Klient diesen neuen/zukünftigen Raum eingenommen, wird er wiederum befragt: »Welche Wahrnehmungen, Empfindungen, Ideen, Impulse stehen jetzt im Vordergrund? Wie leicht/schwer war es, hierher zu kommen? Werden Sie hier eher länger oder eher kürzer bleiben? Was ist auf diesem Platz unverzichtbar zu tun und sollte nicht versäumt werden, sondern aufmerksam und bewusst erfahren werden?« 3. Die einzelnen Plätze werden durch fortgesetzten Rollenwechsel des Klienten in Dialog gebracht, um Ideen zur Gestaltung eines nächsten kleinen, machbaren Schrittes zu sammeln und eventuell auch eine langfristige Planung zu generieren. Dabei werden besonders die Ressourcen der einzelnen Felder betrachtet. Eventuell können auch innere Repräsentanten einbezogen werden, wie der/die alte Weise oder andere archetypische Figuren, indem der Klient deren Positionen einnimmt. 4. Der Klient geht zu dem eingangs gewählten Platz zurück, erinnert die durchlebten Positionen bis zum Feld »Bei sich selbst sein« und nimmt die Erfahrungen als innere Landkarte mit, oder er sichert seine Erfahrungen in einer Zeichnung.

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Der Lebenszyklus

Arbeit mit mehreren Personen Paararbeit Das Paar einigt sich auf ein Thema, das auch weitgefasst sein kann, zum Beispiel: unsere Partnerschaft nach der Geburt unseres Kindes oder nach Beendigung der Außenbeziehung, unser Umzug nach … Die Partner durchscheiten den Zyklus und markieren ihren Platz erst anschließend, und das zur selben Zeit. Der weitere Prozess verläuft analog der Einzelarbeit, entweder nacheinander, dann sollte die Reihenfolge verlost werden, oder parallel. Es können Dialoge eingefügt und/ oder es kann mit Rollenwechsel gearbeitet werden. Zwischendurch wird die Außenperspektive eingenommen und es werden folgende Fragen reflektiert: •• Was wird Ihnen durch die Wahl Ihrer Plätze deutlich? •• Was wird für Ihre Beziehung dadurch zusätzlich möglich? •• Welche Risiken sehen Sie? •• Aus welchen Rollen und Funktionen wollen/müssen Sie sich verabschieden? •• Was könnte das für Ihre zukünftige Beziehung bedeuten? Vom zukünftigen Platz aus, nachdem ihn beide für sich erarbeitet haben, können die Partner sich eventuell zu einem möglichen Konsens für zukünftige Entwicklungen austauschen. Abschließend nehmen beide Partner die eingangs gewählten Positionen ein, um von hier aus konkrete Schritte zu verabreden. Teamentwicklung Nachdem das Team-Thema für die gemeinsame Arbeit miteinander gefunden wurde (die aktuelle Situation in unserem Team; unser Team vor der anstehenden Veränderung, nach dem Leitungswechsel unserer Abteilung, vor der Umsetzung der QM-Maßnahmen, nach dem dritten, wenig erfolgreichen Versuch, einen Konflikt zu entschärfen), durchschreiten alle Teammitglieder den Zyklus (auf ausreichende Größe achten!). Gemeinsam markieren sie ihre jeweiligen Plätze und betrachten diese miteinander aus der Außenperspektive. Die Position der Teamleitung ist zu beachten: Hat sie einen aktiven/kraftvollen Platz inne? Es werden gemeinsam Hypothesen zur aktuellen Fragestellung gebildet. Es sollte bald mit Positionen gearbeitet werden, die am Ende eines gelungenen Entwicklungsprozesses erwartet werden (»Angenommen, der Entwicklungsprozess Ihres Teams verläuft im nächsten halben Jahr sehr erfolgreich und entsprechend Ihren Zielvorstellungen: Wo ist Ihr Platz?«). Die neuen Plätze werden mit andersfarbigen Moderationskarten markiert. Die Teammitglieder spüren den anstehenden Entwicklungen nach, während sie sich von ihrem Ausgangspunkt zum Zielplatz bewegen. Anschließend erarbeiten die Teammitglieder gemeinsam aus der Außenperspektive:

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Petra Rechenberg-Winter

•• Was brauche ich konkret? •• Was werde ich einsetzen, um zum Lösungsbild zu kommen? •• Welches sind die nächsten Arbeitsschritte?

Fazit Auf diese Weise lassen sich mit dem Lebenszyklusmodell die unterschiedlichsten Themen inszenieren, in einen größeren Entwicklungszusammenhang stellen und in weitreichenden Sinndimensionen bearbeiten, die weit über die sprachlichen Zugänge hinausweisen. Insofern stellt das angeleitete Begehen des Lebenszyklus auch für die therapeutische Begleitung von Einzelnen und Familien in Trauerprozessen eine wertvolle Methode dar. Denn das Modell bietet, so wie es in seiner Anwendung beschrieben wurde, zum einen die Möglichkeit, verschiedene mit der Trauer verbundene und diese erschwerende Themen und Leitfragen systemisch anzugehen und zu begleiten. Zum anderen vermag es dabei sowohl die jeweils aktuelle Verlust- und Trauersituation des einzelnen Familienmitglieds im Lebenszyklus zu verorten und zu klären als auch die aktuellen Verortungen aller Familienmitglieder wechselseitig aufeinander zu beziehen und auf diese Weise eine hilfreiche Außenperspektive zu gewinnen.

Literatur Erikson, E. H. (1984). Identität und Lebenszyklus. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Hale, A. E. (1994). Soziometrische Zyklen. Ein Verlaufsmodell für Gruppen und ihre Mitglieder. PsychoDrama, 7 (2), S. 179–196. Lauterbauch, M. (2007). Wie Salz in der Suppe. Aktionsmethoden für den beraterischen Alltag. Heidelberg: Carl-Auer. Mosher, J. R. (1990). The healing circle. Myth, ritual, and therapy. Seattle: Blue Sky. Rechenberg-Winter, P., Fischinger, E. (2008). Kursbuch systemischer Trauerbegleitung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Stierlin, H. (1976). Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Die Dynamik menschlicher Beziehungen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.

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Andrea Henseler, Marita Lammertz und Franziska Röseberg

»Es ist gut zu wissen, dass es auch noch andere gibt« Kinder in Trauergruppen begleiten

Frau Kall telefoniert mit der Kindertrauerbegleiterin: »Ich möchte meine Kinder zur Kindertrauergruppe anmelden. Ich brauche die Gruppe eigentlich nicht, aber mein Sohn Thomas kommt nur, wenn ich mich auch anmelde. Meine Tochter Hanna weicht mir nach dem Tod meines Mannes eigentlich nicht mehr von der Seite.« Die Trauerbegleiterin vereinbart einen Beratungstermin mit Frau Kall. Frau Kall ist 46 Jahre, sie lebt mit ihrem Sohn Thomas (acht Jahre alt) und ihrer Tochter Hanna (fünf Jahre alt) in einer mittelgroßen Stadt. Sie erzählt, dass ihr Mann vor drei Monaten an einem Herzinfarkt gestorben sei. Dabei weint sie kurz, es sei für alle so plötzlich gewesen, einfach unfassbar, was da passiert sei. Sie wischt die Tränen ab und berichtet von der ersten Zeit nach dem Tod. Es sei sehr anstrengend gewesen, sie habe sehr viel Bürokratisches erledigen müssen. Sie habe finanzielle Sorgen nach dem Tod ihres Mannes, bisher war sie in Teilzeit als Einzelhandelskauffrau berufstätig. Sie glaube, dass das jetzt nicht mehr ausreichen werde, wo sie allein für die Existenz ihrer Familie sorgen müsse. Ganz besonders mache sie sich Sorgen um ihren Sohn. Er ziehe sich zurück. In ihrer Not habe sie mit seiner Lehrerin gesprochen, auch die habe bestätigt, dass er stiller geworden sei. Sie habe Frau Kall von der Kindertrauergruppe erzählt. Frau Kall wünsche sich, dass Thomas mehr über den Tod des Vaters sprechen würde, und auch ihre Tochter sei sehr anhänglich geworden nach dem Tod ihres Vaters.

So wie Frau Kall im Fallbeispiel oder so ähnlich fragen Mütter, Väter oder andere erwachsene Bezugspersonen nicht selten eine Trauerbegleitung für ihre Kinder nach dem Tod eines Familienmitgliedes an. Manchmal nimmt auch die Schule oder das Jugendamt Kontakt mit Anbietern der Kindertrauerbegleitung auf und berichtet von Familien, in denen eine Mutter oder ein Vater gestorben ist und das hinterbliebene Elternteil mit Kindern lebt, und bitten um Unterstützung im Umgang mit der Trauer für die Familie. In Deutschland haben sich zunehmend Projekte zur Begleitung von trauernden Kindern, Jugendlichen und deren Familien entwickelt und Trauerbegleitung insbesondere für Kinder wird häufig angefragt. Vielfach werden neben Beratung, Einzelbegleitung und Fachberatung Kindergruppen angeboten. Vor dem Hintergrund der Erfahrungen der Autorinnen in zwei Kindertrauerbegleitdiensten1, die im hospizlichen 1

Lebenskreis e. V., Hospizverein für ambulante Sterbe- und Trauerbegleitung, Hennef, und Trau Dich Trauern, Zentrum für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Seliger Gerhard Bonn/Rhein-Sieg.

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Andrea Henseler, Marita Lammertz und Franziska Röseberg

bzw. palliativen Kontext angesiedelt sind und unter anderem mit zeitlich begrenzten, geschlossenen Trauergruppen für Kinder und Mütter bzw. Väter arbeiten, soll verdeutlicht werden, welche Ziele mit der Trauerbegleitung von Kindern und deren Müttern bzw. Vätern im Gruppensetting verfolgt werden. Nach allgemeinen Überlegungen zur Gestaltung von Kindertrauergruppen wird beschrieben, wie Kindergruppen aufgebaut sein können, mit welchen Methoden sie arbeiten und was sich als hilfreich für eine Qualitätssicherung der Arbeit in Kindertrauergruppen erwiesen hat.

Ziele der Trauerbegleitung von Kindern und deren Müttern und Vätern in Trauergruppen Der Tod eines nahestehenden Menschen stellt sowohl Erwachsene als auch Kinder vor hohe Anforderungen: Erwachsene müssen den Alltag der Familie aufrechterhalten und für eine finanzielle Sicherung der Existenz sorgen. Sie befinden sich im eigenen Trauerprozess und wollen gleichzeitig ihre Kinder in ihrer Trauer begleiten. Kinder sind gefordert, ihr Leben in Kindergarten, Schule oder Ausbildung weiterzuführen. Sie haben ihr eigenes, sich noch entwickelndes Verständnis vom Tod und ihr emotionaler und kognitiver Entwicklungsstand ist höchst individuell. Auch sie befinden sich nach dem Tod eines Familienmitgliedes in ihrem eigenen Trauerprozess und erleben ihrerseits die Trauerreaktion der anderen Familienmitglieder. Schnell können sich nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder dabei überfordert und alleingelassen fühlen mit ihren Emotionen, Ängsten und Unsicherheiten. Häufig machen trauernde Kinder die Erfahrung, dass sie in ihrem weiteren Umfeld die Einzigen mit einer Verlusterfahrung durch den Tod eines nahestehenden Menschen sind. Da zu Hause oft nichts mehr so wie vorher ist, wünschen sich die meisten Kinder Normalität in Schule, Kindergarten oder Vereinen. Sie möchten keine andere Behandlung erfahren, aber trotzdem in ihrer Trauer wahrgenommen werden. Viele Kinder berichten jedoch, dass sie anders behandelt werden als vor dem Todesfall. Die einen erleben eine Abgrenzung durch Mitschüler, Freunde und auch Lehrer, die anderen werden überbehütet. Clara, elf Jahre: »Das interessiert in der Schule ja eh keinen.« Daniel, acht Jahre: »Die meinen immer, ich müsse den ganzen Tag weinen. Wenn ich nicht weine, fragen sie, ob ich nicht traurig bin, dass meine Schwester gestorben ist.« Ella, neun Jahre: »In der Schule haben alle vergessen, dass mein Vater gestorben ist.« Kindertrauergruppen bieten Kindern die Möglichkeit, andere Kinder kennen zu lernen, die Ähnliches erlebt haben. Hier können sie in einem geschützten Rahmen ihren Gedanken, Gefühlen und Erfahrungen Ausdruck verleihen. Besondere Schwerpunkte in Kindertrauergruppen sind die Anregung von möglichst vielfältigen Erinnerungen an den Verstorbenen, die Übung von Kommunikation über den Verstorbenen und die Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Verlust, die Gestaltung einer veränderten Beziehung zum Verstorbenen, die Wahrnehmung der innerfamiliären Veränderungen, die

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Unterstützung im Umgang mit den einhergehenden Gefühlen, die Reflexion der Beziehungen innerhalb und außerhalb der Familie und der eigenen Ressourcen im Umgang mit der Trauer. In der Kindertrauergruppe finden sowohl die Schwere des Verlustes, die Trauer als auch die Ressourcen der Kinder ihre Würdigung. Eine Begleitung von Kindern in einer Kindertrauergruppe will dazu beitragen, dass Kinder den Verlust eines ihnen nahestehenden Menschen in ihre Lebensgeschichte integrieren und auch vor dem Hintergrund dieser Erfahrung ein erfüllendes, emotional reiches Leben führen können. Da die Gruppe unterstützend und nicht ersetzend wirken soll und das gesamte Familiensystem im Trauerprozess einerseits aus den Fugen geraten sein kann, andererseits aber in der Regel dauerhaft den größten Halt für Kinder bietet, kommt der Begleitung der Bezugsperson eine enorme Bedeutung zu. Auch Melching (2012) hält eine alleinige Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen für wenig sinnvoll und betont, dass die Stabilisierung der Erwachsenen als wichtigste Hauptbezugspersonen für Kinder eine der Hauptaufgaben von Trauerbegleitungsangeboten sein sollte und dass Angebote ohne die Beachtung des familiären Systems als zweifelhaft einzuschätzen seien. So arbeiten Anbieter von Kindertrauerbegleitung in der Regel auch unterstützend mit den Erwachsenen. Meist finden zeitlich parallel zu Kindertrauergruppen Gruppen für Mütter, Väter oder andere Hauptbezugspersonen statt oder Elterngespräche flankieren die Kindergruppe. Eltern, die eine Doppelrolle als Trauernde und Begleiter ihrer Kinder bewältigen müssen, haben die Möglichkeit, in der Trauergruppe mit ihrer eigenen Trauer in Kontakt zu kommen, ohne Rücksicht auf ihre Kinder zu nehmen. Sie tauschen sich mit den anderen Teilnehmern aus und reflektieren, wie sie ihre Kinder in ihrer Trauer verstehen und unterstützen können. Die Trauergruppe kann so helfen, neue Perspektiven zu entwickeln. Mit einer separaten Unterstützung von Kindern und Eltern kann Trauerbegleitung dazu beitragen, sowohl direkt die einzelnen Familienmitglieder als auch indirekt die gesamte Familie in der Anpassung an den Verlust zu unterstützen. Ziel der familienorientierten Trauerbegleitung ist es, Verständnis für den eigenen Trauerprozess und den der anderen Familienmitglieder entwickeln zu können. Häufig führt dieser Prozess zu einer Zunahme der Kommunikation über den Verstorbenen und die Trauer in den Familien (Röseberg, 2013). Im Fallbeispiel der Familie Kall sind sowohl Mutter als auch Sohn in Bezug auf die Teilnahme an der Trauergruppe anfangs skeptisch. Es ist eine wichtige Aufgabe der Trauerbegleiterin, im Vorgespräch zu klären, worin zunächst die Vorbehalte der Mutter bestehen und welche Erwartungen sie an die Trauerbegleitung hat. Eine gemeinsame Auftragsklärung ist ein wichtiges Ziel vor oder zu Beginn der Trauerbegleitung. Manchmal steht auch die Annahme oder der Wunsch der Erwachsenen dahinter – häufig aus einem Gefühl der Überforderung heraus –, dass »Experten« mit ihren Kindern trauern und das Kind nach der »erfolgreichen Teilnahme« seine Trauer verarbeitet oder abgeschlossen habe. Frau Kall machte sich vorrangig Sorgen um ihre Kinder. Vor lauter Aufgaben, die zum Teil neu für sie waren, Anforderungen im Alltag und Sorge um die Zukunft ihrer Familie, war

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ihr der Blick auf die eigenen Bedürfnisse verstellt. Sie realisierte im Verlauf der Trauergruppe für Mütter und Väter, dass auch sie Raum und Zeit für ihre eigene Trauer brauchte, dass ihr die Gruppe ermöglichte, mehr Sicherheit im Umgang mit ihrer eigenen Trauer zu entwickeln, ihre Kinder an ihrem Vorbild lernten, mit der Trauer umzugehen. Sie konnte wahrnehmen, wie ihre Kinder trauerten und dass sich die Trauer bei beiden manchmal sehr unterschiedlich zeigte. Die Trauergruppe unterstützte sie in der Gewissheit, dass sie ihren Kindern eine gute Begleiterin in der Trauer und alleinerziehende Mutter sein konnte, auch wenn der Vater allen immer wieder fehlen würde. Dabei halfen ihr die Gelegenheit, in Ruhe das Erlebte wahrzunehmen, zu reflektieren und einen Ausdruck dafür zu finden, der Austausch mit anderen Gruppenteilnehmern und das behutsame Aufmerksammachen durch die Trauerbegleiterin, die die Gruppe leitete. Nach nur wenigen Treffen sagten Frau Kall, wie wichtig ihr und ihren Kindern diese Zeit der gemeinsamen Trauer und die Gruppe geworden seien und wie viel Halt und Verständnis dadurch zusätzlich in der Familie entstehe. Aus Sicht der Trauerbegleiter war Hanna von Anfang an gern in die Gruppe gekommen und Thomas legte die anfängliche Scheu nach den ersten Treffen ab.

Allgemeine Überlegungen zur Gestaltung von Kindertrauergruppen Grundsätzlich gibt es die Möglichkeit, offene und geschlossene Trauergruppen anzubieten. Eine offene Gruppe ermöglicht eine flexible Aufnahme von Anfragenden in der Regel ohne lange Wartezeiten. Sind die Gruppen auch zeitlich offen, entscheiden in der Regel die Teilnehmer, wie lange sie ein solches Angebot nutzen. Geschlossene Gruppen arbeiten mit einer festen Auswahl von Teilnehmern und häufig auch zeitlich auf eine bestimmte Dauer begrenzt. Hinsichtlich der zeitlichen Länge der Gruppen gibt es große Unterschiede: Sie differiert von Trauerwochenenden über Gruppen mit sieben bis zwölf Treffen bis hin zu Gruppen, die ein Jahr und länger dauern. Unabhängig vom Typ der Gruppe und von der Länge des Zeitraums, in dem sich die Gruppe trifft, ist die Zielgruppe in Bezug auf das Alter zu bedenken. Üblicherweise richten sich Kindertrauergruppen an Kinder zwischen fünf und 13 Jahren, die einen nahestehenden Menschen durch Tod verloren haben. Häufig wird individuell gemeinsam durch Trauerbegleiter und Familien entschieden, ob auch ältere oder jüngere Kinder teilnehmen können. Für Jugendliche und junge Erwachsene gibt es oft eigene Gruppen. Für jüngere Kinder ist die Trennung vom Elternteil in einer ihnen zunächst fremden Umgebung eine große Herausforderung. Deshalb werden jüngere Kinder eher in einer Einzelbegleitung oder indirekt durch eine Begleitung der Mütter bzw. Väter unterstützt. Erfahrungen zeigen, dass Kinder es schätzen, wenn die Ähnlichkeit der Erlebnisse in der Gruppe hoch ist. So gibt es spezifische Gruppen für trauernde Geschwisterkinder, für Kinder nach dem Tod eines Elternteils oder anderen wichtigen Bezugspersonen oder auch Trauergruppen nach dem Tod eines nahestehenden Menschen durch Suizid.

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Es ist jedoch auch möglich, mit inhomogenen Gruppen in Bezug auf die Verlustart zu arbeiten. Erhalten Kinder ausreichende und altersangemessene Informationen zu den Besonderheiten der unterschiedlichen Erfahrungen durch die Gruppenleiter, kann es gelingen, neben der Unterschiedlichkeit durch die Verlustarten auch die Gemeinsamkeiten im Trauererleben hervorzuheben. Das Arbeiten mit inhomogenen Kindertrauergruppen ist zurzeit in vielen Orten üblich, da kein flächendeckendes Angebot für verschiedene Verlustarten vorhanden ist. Auch in Bezug auf die Gruppenleitung gibt es unterschiedlichste Modelle. Manche Gruppen werden von qualifizierten hauptamtlichen Mitarbeitern geleitet. In Hospiz- und Palliativeinrichtungen werden sie häufig von befähigten Ehrenamtlichen unterstützt. In manchen Fällen übernehmen qualifizierte Honorarkräfte oder auch qualifizierte Ehrenamtliche die Gruppenleitung. Peer-to-Peer-Ansätze, in denen zum Beispiel betroffene Jugendliche andere Jugendliche unterstützen, sind überwiegend im Bereich der Internettrauerbegleitung in Chatrooms zu finden. Jedes Gruppensetting kann binnendifferenziert werden, indem mehrere Trauerbegleiter Teile der Impulse mit Untergruppen bearbeiten und Teile gemeinsam gestaltet werden. Auch der Zeitpunkt für die Teilnahme an einer Trauergruppe ist individuell verschieden. Viele Anbieter überlassen die Wahl des Zeitpunktes der Inanspruchnahme überwiegend den Teilnehmern. Lediglich vor einer zu frühen Teilnahme wird in der Regel in einem Beratungsgespräch abgeraten. Oft steht hinter dem Wunsch nach einer allzu schnellen Trauergruppenteilnahme der Kinder die Überforderung der Erwachsenen bzw. die Angst, etwas falsch zu machen oder zu versäumen. Hier können Beratungen und/oder überbrückende Einzelgespräche die Mütter bzw. Väter unterstützen. Nehmen Kinder zu früh nach dem Todesfall an einer Trauergruppe teil, besteht die Gefahr, dass sie ausschließlich mit ihrem eigenen Trauererleben beschäftigt sind und/ oder dem Funktionieren in der neuen Lebenssituation. Sie sind dann möglicherweise emotional oder durch die Erzählungen und den Austausch mit anderen Teilnehmern überfordert. Es gibt auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die erst Jahre nach dem Tod eines nahestehenden Menschen eine Trauergruppe aufsuchen. Auch dann kann dem eigenen Verlusterlebnis nachgespürt werden und es wird möglicherweise nochmals neu aus der aktuellen Perspektive betrachtet. Vor Gruppenbeginn ist ein ausführliches Vorgespräch unerlässlich. Es findet in der Regel mit der Mutter bzw. dem Vater und nach Möglichkeit auch mit den Kindern der Familie statt und dient unter anderem dem Kennenlernen und der Einschätzung der Situation der einzelnen Personen sowie der Familie durch die Trauerbegleiter. Welche Risikofaktoren liegen bei einzelnen Familienmitgliedern vor? Über welche Ressourcen verfügt die Familie? Dabei sind in Anlehnung an die erarbeiteten Risikofaktoren für erschwerte Trauer durch den Bundesverband Trauerbegleitung e. V. (2013; siehe auch Paul, 2011) folgende Aspekte von besonderer Bedeutung: die Begleitumstände des Todes, die Beziehung zwischen dem Trauernden und dem Verstorbenen, die Lebensgeschichte und die aktuelle Situation der Trauernden, ihre Persönlichkeit, soziale Faktoren und Ressourcen.

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Gründe, die gegen eine Trauerbegleitung generell oder gegen eine Trauerbegleitung im Gruppensetting sprechen, sind zum Beispiel die Vermutung einer Posttraumatischen Belastungsstörung, einer traumatischen Trauer oder ein sehr kurzer zeitlicher Abstand vom Todesfall bis zur Gruppenteilnahme. Es ist wichtig zu erfahren, ob Eltern und/ oder Kinder in psychotherapeutischer Behandlung sind. Es kann sinnvoll sein, mit Einverständnis der Familien bereits involvierte Psychotherapeuten zu informieren und zu klären, ob und wann eine Gruppenteilnahme sinnvoll erscheint. Bei Bedarf sollten Trauerbegleiter Familien im Einzelsetting begleiten und/oder zur weiterführenden Diagnostik oder Behandlung an Therapeuten oder andere Institutionen vermitteln. Leben mehrere Kinder in einer Familie, sollte im Vorgespräch geklärt werden, ob es sinnvoll ist, dass Geschwisterkinder gemeinsam an der Gruppe teilnehmen. Ist dies der Fall, so wird das Team auf eine mögliche Übernahme von in der Familie üblichen Rollen der Geschwister in der Gruppe achten (zum Beispiel die Rolle, andere zu beschützen, oder ein vorwiegend rationaler Umgang mit der Trauer, weil der Bruder oder die Schwester schon so viel weint) und die Kinder individuell entsprechend ihren Bedürfnissen unterstützen. Die Familien können im Vorgespräch eine Mitarbeiterin des Teams kennen lernen, sich die Räume ansehen, in denen die Treffen stattfinden, und erfahren, wie diese normalerweise ablaufen. Es wird auch darüber gesprochen, dass die Teilnahme an der Trauergruppe freiwillig ist. Da die Vorbehalte vor einer Gruppenteilnahme sowohl bei Kindern als auch Erwachsenen hoch sein können, kann dazu geraten werden, die Entscheidung für oder gegen eine Teilnahme nach dem ersten Treffen zu fällen.

Inhalt, Aufbau und Methoden von Kindertrauergruppen Kindertrauergruppen arbeiten ressourcenorientiert, stabilisierend und teilnehmerorientiert. Den theoretischen Hintergrund, vor dem die Inhalte einer Kindertrauergruppe gestaltet werden, bilden häufig Trauermodelle, die zunächst für Erwachsene entwickelt wurden. Nach Dent (2005) sind insbesondere das Aufgabenmodell von Worden (1996), das duale Prozessmodell von Stroebe und Schut (1999) sowie das Aufrechterhalten einer Beziehung zum Verstorbenen (siehe »continuing bonds« von Klass, Silverman u. Nickman, 1996) geeignet, um den Trauerprozess bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu beschreiben. Die kognitive, emotionale und soziale Entwicklung von Kindern ist dabei jedoch von besonders hoher Bedeutung (Worden, 1996). Worden modifizierte daher seine Aufgaben für den Trauerprozess von Kindern in Bezug auf die besonderen Herausforderungen aufgrund ihres Alters und Entwicklungsniveaus. Sowohl Stroebe und Schut als auch Worden nahmen immer wieder Anpassungen ihrer Modelle vor (siehe zum Beispiel Worden, 2011; Stroebe u. Schut, 2010). Aber auch systemische Aspekte der Trauer sind für die familienorientierte Perspektive bei der Arbeit mit Kindern und ihren Eltern von großer Bedeutung. Goldbrunner (1996) hebt hervor, dass eine individuumzentrierte Perspektive nur einen Ausschnitt des

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Trauerprozesses darstellt. Der Verstorbene und die Trauernden sind Teile umfassender sozialer Systeme, die durch den Tod nachhaltig erschüttert sind. Auch nach Shapiro (1994) hat der Tod eines nahestehenden Menschen Auswirkungen auf sein gesamtes Umfeld, das System Familie befinde sich in einer Entwicklungskrise. Nach RechenbergWinter und Fischinger (2010) werden Trauerprozesse als individuelle Reifungsprozesse und systemische Entwicklungszeiten verstanden. Die individuellen Anforderungen werden um eine »explizite Netzwerkperspektive« (S. 60) erweitert, in der alle Mitglieder einer Trauergemeinschaft auf ein verändertes Bezugssystem treffen. Nach Goldbrunner (1996) ist es in der systemischen Trauerbegleitung erforderlich, die für die Trauer relevanten Beziehungsmuster, Einstellungen, Stärken und Defizite zu berücksichtigen, »damit einerseits Trauer ermöglicht wird, andererseits die Voraussetzungen geschaffen werden, dass die Mitglieder und das gesamte System sich mit Hilfe der Trauer weiter entwickeln« (S. 144). Auch Neimeyer (2006, 2010) mit seinem kognitiv-konstruktivistischen Ansatz »reconstruction of meaning« und dem Verständnis von Trauern als Prozess, in dem durch den Verlust erschütterte Bedeutungszusammenhänge rekonstruiert werden, ist für die Arbeit in Trauergruppen hilfreich. Nach Nadeau (2010) trauern Individuen nicht in einem Vakuum, sondern konstruieren einen Sinn in ihren Erfahrungen in der Interaktion mit anderen. Familienmitglieder ringen um die Rekonstruktion ihrer Bedeutungszusammenhänge, indem sie miteinander kommunizieren. Nadeau (2010) beschreibt bei der Konstruktion familiärer Bedeutungszusammenhänge einen Prozess, der in Bewegung sei und gehemmt bzw. unterstützt werden könne. So bilden unter anderem Worden (1996, 2011), Stroebe und Schut (1999, 2010), Klass et al. (1996), Neimeyer (2006, 2010), Nadeau (2010), Goldbrunner (1996) sowie Rechenberg-Winter und Fischinger (2010) den theoretischen Hintergrund für familienorientierte Trauerbegleitungskonzepte und Kindertrauergruppen mit ihren thematischen Impulsen. Innerhalb dieses flexiblen Rahmens entwickelt sich der Gruppenprozess in den Kindertrauergruppen und Themen werden individuell und teilnehmerorientiert an die Bedürfnisse der Kinder angepasst. Exemplarisch werden hier die Inhalte und der mögliche Aufbau einer zeitlich begrenzten Trauergruppe mit acht Treffen dargestellt: •• Erstes Treffen: gegenseitiges Kennenlernen, sich einlassen auf die Gruppe, gemeinsames Erarbeiten von Gruppenregeln. •• Zweites bis fünftes Treffen: Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Tod, Erinnerungen an den Verstorbenen, Beziehung zum Verstorbenen, Vorstellung vom Tod, Gefühle und Umgangsstrategien in Bezug auf den Verlust und in der Zeit nach dem Todesfall, Beziehungen und Veränderungen nach dem Todesfall. •• Sechstes und siebtes Treffen: B  iografiearbeit und Ressourcen, Zukunftsperspektive, Abschied von der Gruppe: »Was nehme ich mit?« •• Nachtreffen: Wiedersehen, sich erinnern an gemeinsam Erlebtes, aktuelle Situation.

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Ein wiederkehrender inhaltlicher Schwerpunkt von Kindertrauergruppen ist die Erinnerungsarbeit, die im Folgenden in Anlehnung an Röseberg (2013) dargestellt wird. Ziel der Erinnerungsarbeit ist, »im Inneren einen guten Platz für den Verlorenen zu schaffen und Bindungs- und Verlusterfahrungen versöhnlich in die eigene Biografie zu integrieren« (Rechenberg-Winter u. Fischinger, 2010, S. 59). In den Kindertrauergruppen der Autorinnen steht die Erinnerungsarbeit oft ab dem zweiten Gruppentreffen im Mittelpunkt. Das erste Treffen dient dem Ankommen in der Gruppe und dem Vertrautmachen mit den Gruppenmitgliedern, den Leiterinnen, den Ehrenamtlichen und den Strukturen. Am Ende des ersten Treffens werden die Kinder auf das Erzählen ab dem zweiten Treffen mit Hilfe von mitgebrachten Fotos vorbereitet. So angekündigt wird jedem Kind die Möglichkeit eingeräumt, von seinen Erlebnissen im Zusammenhang mit dem Tod des Verstorbenen zu erzählen – so ausführlich wie gewünscht und wie es jeweils verkraftet wird. Gewinnen die Gruppenleiterinnen den Eindruck der Überforderung des Kindes durch Erinnerungen, zum Beispiel zu den Todesumständen oder den Erfahrungen im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Tod, und durch das Erzählen davon, unterstützen sie durch Fragen in Richtung weniger belastend erscheinender Erinnerungen (zum Beispiel: »Was hat dein Vater/deine Mutter gern gegessen?«, oder: »Was hast du besonders gern mit ihm/ihr gemacht?«, »Was konntest du besser als er/sie?«). Durch Nachfragen zur Person des Verstorbenen, zu Aussehen, Hobbys, Eigenschaften und Eigenheiten kann das erzählende Kind unterstützt werden, für sich selbst und die anderen in der Gruppe ein Bild von dem Verstorbenen entstehen zu lassen im Sinne des Erwärmens nach Müller, Brathuhn und Schnegg (2013)2. Je nach Gruppengröße stellen bei einem Treffen zwei bis drei Kinder ihre Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Tod und den Verstorbenen vor. So erfolgen die Erzählungen zum Verlust und zum Verstorbenen für jedes Kind in dieser ausführlichen Weise einmal im Laufe des zweiten bis vierten Treffens. Im weiteren Verlauf der Gruppe werden immer wieder Aspekte in Bezug auf Erinnerungen thematisiert. Das Ausmaß an Unterstützung beim Erzählprozess durch die Gruppenleiterinnen oder die Ehrenamtlichen ist unterschiedlich groß. Manche Kinder erzählen selbstständig und benötigen kaum unterstützende Nachfrage. Anderen fällt es anfangs oder zeitweise schwer, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Dann ist es Aufgabe der Gruppenleitung, in der Gruppe oder bei der sich anschließenden Reflexion im Team abzuwägen, ob unterstützende Fragen ermutigen oder eher belasten oder gar als drängend empfunden werden können. Einige Kinder wollen ihre Erlebnisse nicht in der Gruppe erzählen. In manchen Fällen fassen sie Mut zum Erzählen beim nächsten Treffen. Andere zeigen nur das mitgebrachte Foto. In den meisten Fällen finden Kinder, die ihre Erlebnisse vorerst oder auch später der Gruppe nicht erzählen, andere Wege: Sie drücken ihre Erlebnisse 2 »Trauer erwärmen – Fortbildung zur Begegnung mit und Begleitung von Menschen nach Verlusterfahrungen«, Kursleitung Thorsten Adelt, Sylvia Brathuhn, Monika Müller (Große Basisqualifikation zur Trauerbegleitung, zertifiziert in Übereinstimmung mit den Qualitätskriterien des BVT e. V., Akademie für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg).

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mit Hilfe kreativer Methoden aus (zum Beispiel beim Malen, Schreiben oder Gestalten) oder erzählen ihre Erlebnisse im Vier-Augen-Gespräch, zum Beispiel beim Basteln mit einer Person ihres Vertrauens (häufig ehrenamtliche Mitarbeiter des Teams). Hier seien einige Beispiele aus der Erinnerungsarbeit mit Hilfe kreativer Methoden genannt. Kinder gestalten beispielsweise ein Erinnerungsglas, in dem jede Farbe für eine Erinnerung mit dem Verstorbenen steht. Dazu wird eine Farbe ausgewählt, mit Hilfe von bunter Kreide Salz in der entsprechenden Farbe gefärbt und als eine Schicht in das Erinnerungsglas gefüllt. Auch Malen, Schreiben und Erzählen sind Methoden, um Kinder mit ihren Erinnerungen in Kontakt zu bringen und ihnen dabei zu helfen, sie weiterzugestalten. So kann auch gefragt werden, ob die Kinder von den verstorbenen Vätern und Müttern träumen und welche Empfindungen sie dabei haben. Gibt es für die Kinder spezifische Orte und Zeiten, in denen sie sich besonders an den Verstorbenen erinnern? Mit wem teilen sie die Erinnerungen? Gibt es Gespräche in der Familie oder mit Freunden? Schreiben Kinder Tagebuch oder ist das Gestalten einer Erinnerungskiste für sie hilfreich? Auch das Gestalten einer fortbestehenden Beziehung zum Verstorbenen (Klass et al., 1996) kann angeregt werden durch Raum für Ideen der Kinder. Welche Art der Gestaltung empfinden sie als passend für sich? Manchmal sind methodische Vorschläge hilfreich, zum Beispiel das symbolische Versenden eines Briefes oder eines Gedichtes an die Verstorbenen. Manche Kinder behalten die geschriebenen Briefe/Gedichte lieber, als sie – wie vorgeschlagen – mit einem Luftballon symbolisch zu versenden. Hier ist ein achtsamer Umgang mit angebotenen Ritualen in Kindertrauergruppen notwendig. Andere Kinder finden eher einen Zugang über das Gestalten von Symbolen in Ton für ihre Beziehung zum Verstorbenen. Manche Kinder wissen noch nicht so recht, ob und wie sie die Beziehung zum Verstorbenen gestalten können. Neben Gesprächen, Körper- und Wahrnehmungsübungen steht besonders der Einsatz von kreativen Methoden im Vordergrund bei der Arbeit mit Kindertrauergruppen. Häufig kann das Gestalten zum Ausdruck bringen, wofür manchmal Worte fehlen oder wo Worte die Tiefe der Erfahrung nur ungenügend beschreiben können. Ein Beispiel eines kreativen Gestaltungsprozesses eines Jungen mit Ton in einer Kindertrauergruppe soll dies verdeutlichen. Jan (11 Jahre) hatte seine Mutter vor einigen Jahren verloren und besuchte nun auf Wunsch seines Vaters unsere Trauergruppe. Jedes Mal, wenn er von seiner Mutter sprach, hatte er große Schwierigkeiten, sich zu erinnern. Er sagte, er erinnere sich kaum an seine Mutter und er spüre nichts mehr, wenn er an sie denke. Er sagte: »Da ist nichts mehr. Es ist nur leer.« Dabei wirkte er hilflos, hatte Schwierigkeiten, die damit verbundenen Gefühle in sich wahrzunehmen und zu äußern. In einer kreativen Einheit arbeiteten wir mit dem Material Ton. Jan saß lange Zeit da, betrachtete den Ton, sagte, er könne nicht töpfern und er wisse auch nicht, was er machen solle. Nach einiger Zeit war er am Tisch im Gespräch mit den anderen Gruppenteilnehmern und begann dabei doch zu töpfern mit den Worten: »Ich mache jetzt irgendwas.« Das, was dann entstand, war sehr ausdrucksstark. Als sein

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getöpfertes Werk fertig war, sah Jan, dass er eine Art Krug mit einem tiefen Loch getöpfert hatte, dass seine gesamte Leere verdeutlichte. Jan schien überwältigt davon. Er war sichtlich gerührt von seinem Resultat. Es war, als seien zum ersten Mal seine eigenen Gefühle für ihn selbst spürbar und begreifbar geworden.

Auch in der Biografiearbeit oder im systemischen Arbeiten finden sich Elemente der Erinnerungsarbeit, die dann mit Ideen der Rekonstruktion von Bedeutungszusammenhängen (Neimeyer, 2006, 2010) altersentsprechend kombiniert werden. Eine Möglichkeit ist hier, dass Kinder ihr Familiensystem vor und nach dem Tod mit Naturmaterialien legen. Oder sie gestalten drei Häuser (mein Haus der Vergangenheit, mein Haus der Gegenwart, mein Haus der Zukunft) mit ihnen wichtigen Menschen, Erinnerungen, Vorstellungen und Ideen vom Leben. Auch das Gestalten der eigenen Lebensgeschichte in Analogie zu einem Lebensfluss mit diversen Materialien oder im gemalten Bild können methodische Möglichkeiten sein, die Rekonstruktion von Bedeutungszusammenhängen altersgerecht anzuregen. Ziel ist es, den Erfahrungen und Gedanken der Kinder Raum zu geben und sie im Prozess der Konstruktion von Erinnerungen, einer fortdauernden Beziehung und der Rekonstruktion von Bedeutungszusammenhängen zu unterstützen. In der Auswahl der Methoden zur kreativen Umsetzung der Impulse sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt: •• Erinnerungsarbeit (Erinnerungskisten, Erinnerungsbücher, Bilderrahmen, … gestalten), •• Symbolarbeit (töpfern, Steine bearbeiten, malen, Kerzen gestalten), •• Gefühle (Gefühlsbarometer, Themenmassagen, Wutbälle, Gefühlssteine, GefühleMemory, Pantomime, …), •• Ressourcenarbeit (Steckbriefe, Fantasiereisen, Collagen, Drei-Häuser-Modell: Haus der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft, Kreideglas, …), •• Jenseitsvorstellungen (malen, schreiben, Film ansehen, zum Beispiel: den dänischen Film »Wenn das Leben geht« (2000)3. Eine umfangreiche Materialsammlung findet sich bei Witt-Loers und Halbe (2013). Häufig hat auch jedes einzelne Treffen eine wiederkehrende Struktur, die den Teilnehmern Sicherheit geben kann. Zu den wiederkehrenden Strukturen gehören zum Beispiel ein Anfangsritual, Pausen und ein Abschlussritual. Beim ersten Treffen können Kinder zum Beispiel eine Kerze gestalten, die sie immer zu Beginn der Gruppentreffen anzünden, oder sie gestalten ein Namensschild, dass jedes Mal aus einer Schatulle herausgenommen wird und so das Anfangsritual eröffnet. Der Reihe nach kann jedes Kind erzählen, wie es ihm geht und wie die Woche war. Nach dem Abschluss des Anfangsrituals folgt in der Regel ein thematischer Impuls der Gruppenleiterinnen oder ein Impuls der Kinder wird aufgenommen, der anschließend bearbeitet, besprochen und in kreativer Weise umgesetzt wird. Auch Pausen sind in Kindertrauergruppen 3

beziehbar über FWU – Das Medieninstitut der Länder: www.fwu.de

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wiederkehrende Elemente. In vielen Kindertrauergruppen wird gemeinsam gegessen, es werden Bewegungsspiele gemacht und es ist Raum für trauerfernere Themen, zum Beispiel die bevorstehenden Ferien, das nächste Fußballspiel oder andere selbst gewählte Themen. Dies schafft die Möglichkeit, von den in der Regel als schwer erlebten trauernahen Themen Abstand zu bekommen, und es werden verbindende Erfahrungen für die Teilnehmer geschaffen, die die Beziehungen untereinander intensivieren können. Das Abschlussritual dient dazu, jedes Treffen bewusst zu beenden und den Abschied zu gestalten; jedes Kind kann sich dazu äußern, wie es das Treffen erlebt hat, und dann bläst es zum Beispiel die anfangs angezündete Kerze aus oder legt sein Namenskärtchen in eine Schatulle, in der es bis zum nächsten Treffen aufbewahrt wird. Ausführliche Darstellungen zum Aufbau und zur Konzeption von Kindertrauergruppen finden sich bei Witt-Loers und Halbe (2013) und Röseberg (2013).

Qualitätssicherung in Kindertrauergruppen Unabhängig davon, ob Kindertrauergruppen allein oder im haupt- und/oder ehrenamtlichen Team geleitet werden, ist für eine fundierte Begleitung von Kindern eine Qualifizierung im Bereich der Trauerbegleitung und im Besonderen der Kindertrauerbegleitung essenziell. Der Bundesverband Trauerbegleitung e. V. verabschiedete 2013 Qualitätsstandards in der Kindertrauerbegleitung (siehe auch den Beitrag von D. Bongartz in diesem Buch, S. 495 ff.). Zusätzlich zur Qualifizierung ist eine regelmäßige Reflexion der eigenen Arbeit im Rahmen einer Intervision oder Supervision für eine Qualitätssicherung bzw. -weiterentwicklung unerlässlich (siehe den zweiten Beitrag von D. Bongartz in diesem Buch, S. 517 ff.). Eine ausführliche gemeinsame Reflexion im Team der Kinder- und Erwachsenentrauergruppe im Anschluss an jedes Gruppentreffen hat sich als hilfreich erwiesen. Ihr kommen nach Röseberg (2013) folgende Funktionen zu: 1. Qualitätssicherung innerhalb des Gruppenprozesses und Gewährleistung einer teilnehmernahen Trauerbegleitung und familienorientierten Perspektive, 2. Qualitätsweiterentwicklung und erfahrungsbasierte Überprüfung und Anpassung des Gruppenkonzeptes, 3. Unterstützung, Entlastung der Mitarbeiter durch Verbalisieren und Austausch der Erfahrungen in der Trauergruppe, 4. Supervision der ehrenamtlichen Mitarbeiter (Reflexion und Weiterentwicklung der Kompetenzen im Bereich der familienorientierten Trauerbegleitung, der gemeinsamen Haltung als Team, Reflexion des Umgangs mit Belastungen durch die familienorientierte Trauerbegleitung). Der Wunsch nach Austausch mit anderen Anbietern und die Reflexion der Erfahrungen führten zur Gründung des Bundesarbeitskreises Trauerbegleitung von Kindern,

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Jugendlichen und deren Familien 2009. Die regelmäßigen Treffen werden auch dazu genutzt, die Gruppenkonzepte und die Arbeitsweise in Kindertrauergruppen zu reflektieren. Eine Weiterentwicklung der Netzwerkarbeit, eine Bestandsanalyse und die Entwicklung von Qualitätsstandards sowie Richtlinien zur Arbeit in Kindertrauergruppen ähnlich wie in anderen Ländern wäre auch für Deutschland notwendig und hilfreich (vgl. auch den Beitrag von F. Röseberg, M. Müller und B. Senf in diesem Buch, S. 489 ff.).

Abschließende Anmerkungen Die Stimmung in Kindertrauergruppen ist oft gelöst und es wird viel gelacht. Aber es gibt daneben intensivste und anrührende Momente, in denen sich erahnen lässt, wie groß das Leid durch die gemachten Erfahrungen manchmal ist. Typisch für Kinder ist es, von einem Moment auf den anderen von einer tiefen Traurigkeit in ein fröhliches Spiel umzuschalten oder sogar albern zu werden. Oft scheint es Kindern zu gelingen, nur so viel Leid für den Moment zuzulassen, wie sie verkraften können. Auch in Kindertrauergruppen scheint für Kinder das Wahren der emotionalen Stabilität eine große Rolle zu spielen (Röseberg, 2013). So ermöglicht eine Trauergruppe sowohl ein Ausdrücken von Gefühlen wie Traurigkeit, Wut, Hilflosigkeit etc., aber auch von Freude. Gleichzeitig ist es ebenso wichtig, das Bedürfnis nach Kontrolle von Emotionen in Kindertrauergruppen zu unterstützen. Dieses Bedürfnis kann individuell unterschiedlich stark ausgeprägt sein und auch von Treffen zu Treffen variieren. Gelingt eine achtsame und von Respekt geprägte Trauerbegleitung in Kindergruppen, ist es möglich, dass Kinder in der Kindertrauergruppe bedürfnisorientiert und individuell Gefühle zulassen oder auch die Fassung wahren können. Das Nebeneinander von Freude/Lebenslust und Leid/Trauer und der manchmal schnelle Wechsel zwischen beiden können für Trauerbegleiter in Kindertrauergruppen eine große Herausforderung sein. Gleichzeitig ist es ein großes Geschenk, in diesem Spannungsfeld zu arbeiten und sich mit Kindern auf Entdeckungsreise zu begeben. Kinder aus unseren Trauergruppen sollen hier abschließend zu Wort kommen: »Ich bin genauso traurig wie vorher, dass mein Papa gestorben ist. Aber ich traue mich jetzt, darüber zu sprechen« (Lara, zwölf Jahre). »Das Sprechen am Anfang war schwer. Aber es hat mir auch gut getan. Beim Basteln hat mir das Erinnerungsglas besonders gut gefallen. Da hatte ich richtig viele Erinnerungen an meine Mama. Das war schön, aber auch ein bisschen traurig« (Paul, zehn Jahre). »Es war schön, über das Traurige zu sprechen« (Mia, fünf Jahre). »Es ist gut zu wissen, dass ich nicht alleine mit meinem Kummer bin, sondern es noch andere gibt, denen es auch so geht« (Mara, zwölf Jahre). »Ich habe hier neue Freunde gefunden, die mich irgendwie anders verstehen als meine Freunde in der Schule. Das finde ich gut« (Lars, neun Jahre).

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»Es ist gut zu wissen, dass es auch noch andere gibt«

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Maria Traut

Trauernde Jugendliche in Gruppen begleiten

»Als mein Vater vor knapp einem Jahr ganz plötzlich starb, gab es einige Leute in meiner Schule, die zu mir gesagt haben, dass sie sich gut vorstellen können, wie es mir geht. Dabei hatten die meisten einen sehr mitleidsvollen Unterton.« Die 16-jährige Lisa sitzt mit fünf weiteren Teilnehmern der Jugendtrauergruppe in der Runde, als sie unter Tränen von diesem Erlebnis erzählt, und sie berichtet weiter: »Das hat mich sehr wütend gemacht, weil es eben nicht stimmt. Niemand, der so was nicht erlebt hat, kann sich das vorstellen. Und gleichzeitig macht mich die Erinnerung an diese erste Zeit nach Papas Tod immer wieder traurig, weil ich mich so allein gefühlt habe. Meine Mutter war anfangs ziemlich viel mit sich selbst beschäftigt. Wie gut, dass es euch hier in der Gruppe gibt. Ihr wisst wirklich, wie man sich fühlt, wenn einem so etwas passiert.« Seit einigen Monaten trifft sich Lisas Gruppe alle zwei Wochen. Die Teilnehmer nutzen die gemeinsame Zeit, sich über das Erlebte auszutauschen, Ausdrucksmöglichkeiten zu finden für die vielen unterschiedlichen Gefühle der Trauer, aber auch, um miteinander fröhlich zu sein, herumzualbern, viele andere jugendliche Themen, Gedanken und Gefühle zu teilen, die ihnen auch so wichtig sind. »Wenn ich hier in der Gruppe auch mal was Lustiges erzählen kann, was ich erlebt habe und gleich danach wieder von Papa, dann weiß ich, dass diese Gefühle alle zusammengehören«, ergänzt Lisa. Besonders wichtig ist es den Jugendlichen aber, in der Gruppe immer wieder all die schönen Erinnerungen der gemeinsamen Lebenszeit mit dem/der Verstorbenen hervorzuholen. »Alles das will ich doch auf gar keinen Fall vergessen! Ich muss zwar ganz oft weinen, weil ich ja weiß, dass ich das alles nicht mehr mit ihm/ihr erleben kann, aber trotzdem, es ist so schön, daran zu denken und davon zu erzählen«, betonen die Gruppenteilnehmer immer wieder.

Erinnerungen wach zu halten und zu stabilisieren bzw. sie wie einen verborgenen Schatz zu bergen und sie im Herzen zu verankern, ist zentraler Teil der Trauerbegleitungsarbeit (nicht nur) bei Jugendlichen. Auf dieser Basis der liebenden Erinnerungen kann nach und nach auch den schweren und traurigen Gefühlen und Gedanken rund um Krankheit, Tod und Trauer Ausdruck gegeben werden. Diesen Rückhalt in einer Gruppe Gleichgesinnter, einer Schicksalsgemeinschaft, zu haben, ist für Jugendliche, die den Tod eines nahestehenden Menschen erlebt haben, eine große Hilfe. Denn, wie Lisa es uns so eindrücklich im Fallbeispiel einer jugendlichen Trauergruppe berichtet, sie fühlen sich oft mit den Gefühlen der Trauer

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sehr allein und finden häufig den hilfreichen Austausch nicht innerhalb ihres sozialen Umfelds. In der meist unruhigen, aufstrebenden Zeit der Pubertät verlieren Jugendliche auf ihrem Weg zum Erwachsenwerden durch den Verlust eines nahen Menschen, wie zum Beispiel Vater, Mutter, Geschwister, Freund/Freundin oder Sporttrainer/-in, eine wichtige Person, die ihnen Orientierung, Rückhalt und Verständnis bot, die ihnen als Vorbild diente oder an der sie sich reiben und messen konnten. In der daraus resultierenden Orientierungslosigkeit büßen sie einen Teil der Kontrolle ein, die in ihrer Pubertät so wichtig ist, um das sich so sehr in dieser Entwicklungsphase verändernde Leben »im Griff« zu haben. Der »Griff« führt sozusagen vorübergehend ins Nichts. Auch wenn die Jugendlichen einerseits danach streben, sich mehr und mehr von den Eltern bzw. vom Elternhaus zu lösen, mit aller Kraft am eigenen Weltbild schnitzen und nach einem eigenen neuen Platz in der Welt suchen, brauchen sie andererseits gerade in dieser Zeit die Unterstützung der ihnen vertrauten Menschen, die auch nach einem heftigen Streit oder nach einer der vielen Grundsatzdiskussionen zu ihnen stehen. Stirbt zum Beispiel ein solches Elternteil, das lange Zeit diese Reibungsfläche bot, kann für den Jugendlichen das sich sowieso schon verändernde Weltbild noch mehr ins Wanken geraten. Mehr denn je ist in dieser Zeit für den trauernden Jugendlichen wichtig, im normalen jugendlichen Kontakt mit seinem sozialen Umfeld außerhalb der Familie sein zu können. Der Bezug zu Freunden, Sportgruppe, Trainern, Klassenkameraden gewinnt für jeden Jugendlichen in der Pubertät an Wichtigkeit, und das nach der Verlusterfahrung durch den Tod eines nahestehenden Menschen um ein Vielfaches mehr. Meist wollen die Jugendlichen sehr schnell wieder zur Schule, zum Sport, zum Konfirmationsunterricht oder sonstigen vertrauten Gruppen gehen. Dort erleben sie neben allem, was sie emotional und existenziell zutiefst verunsichert, ihre Normalität im Kreise unbetroffener, gleichgesinnter Menschen und können ihre Ressourcen ausleben, die sie immer wieder stärken auf diesem Weg durch das tiefe Tal der Trauer. Der 14-jährige Tom erzählte in einer Gruppe, dass er in der ersten Zeit nach dem plötzlichen Unfalltod seines großen Bruders stundenlang allein in seinem Zimmer auf dem Bett gesessen habe, ohne irgendetwas zu tun, fast wie gelähmt. Aber beim Fußballtraining zweimal in der Woche habe er sich richtig auspowern können, da habe er gemerkt, dass er doch noch Kraft habe. Dass er an einem Fußballturnier zwei Tage nach der Beisetzung seines Bruders teilnehmen würde, war für ihn selbstverständlich. Alle Sportsfreunde wussten vom Tod des Bruders, Tom aber war froh, dass wenig darüber gesprochen wurde, sondern dass das gemeinsame Spiel und die körperliche Betätigung im Vordergrund standen.

Jugendliche verfügen mehr und mehr über das gleiche begriffliche Verständnis zu Sterben und Tod wie die Erwachsenen. Das heißt, das Todeskonzept ist zunehmend ausgereift – Zusammenhänge wie Nonfunktionalität, Irreversibilität, Universalität und Kausalität nähern sich in ihrem klaren Verstehen dem der Erwachsenen an und der

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Maria Traut

Tod wird in seiner ganzen Dimension verstanden. Jugendliche zeigen oft ein großes Interesse an allen biologischen Zusammenhängen des Sterbens und des Todes, machen sich ihr eigenes Bild von allem, das nicht selten sehr konträr zu den Bildern und Vorstellungen der Eltern bzw. des verbliebenen Elternteils ist. Oft sind Eltern erschrocken darüber, mit welcher Coolness über das Aussehen der Leiche, den Prozess des Sterbens und des Verfalls gesprochen wird. Ebenso verletzt fühlen sie sich manchmal von einigen rebellisch daherkommenden Verhaltensweisen. Da wird die Musik besonders laut aufgedreht, über mehrere Stunden hält sich der Jugendliche nur in seinem Zimmer auf, entzieht sich noch mehr als zuvor dem familiären Kontakt und macht möglicherweise abwertende Bemerkungen über die häufigen Tränen der Mutter. Aber – hinter diesen Fragen nach Fakten, dieser vordergründigen Coolness und in diesen manchmal rebellisch anmutenden Verhaltensweisen verbergen sich zum einen tiefe Gefühle der Trauer, der Sehnsucht, der Verunsicherung und das tiefe Bedürfnis, trotzdem alles unter Kontrolle zu haben. Zum anderen zeigt sich in ihnen die verzweifelte Suche nach Ausdrucksmitteln dessen, was den Jugendlichen zutiefst beschäftigt. Alles dies wird im folgenden Fallbeispiel deutlich. Nach langer Krankheit war Nils’ Vater vor einigen Tagen gestorben. Der 17-Jährige verbrachte viel Zeit in seinem Zimmer, beteiligte sich aber durchaus an der Planung, wie die Trauerfeier gestaltet werden sollte. Als das Gespräch sich um die Kleidung drehte, die Nils an diesem Tag tragen würde – aus Nils’ Sicht ein vollkommen überflüssiges Thema –, war für ihn vollkommen klar: »So wie immer!« Das bedeutete, dass er eine seiner abgewetzten, fransigen Jeans und seine geliebte alte Lederjacke anziehen würde. Die Mutter war entsetzt, das gehe gar nicht. Nils war fest entschlossen: So oder gar nicht! Die Trauerfeier und Beisetzung fand schließlich gemeinsam mit Nils in seiner beschriebenen Kleidung statt. Vorher und nachher gab es große Konflikte zwischen Mutter und Sohn, die Mutter war verletzt von diesem Verhalten. Monate später erzählte Nils in seiner Trauergruppe den anderen Gleichaltrigen: »Für mich war es ganz wichtig, dass ich bei der Trauerfeier genau diese Sachen trage, weil sie mich ganz besonders an meinen Vater erinnerten. Es war so was Typisches für ihn, über diese Klamotten zu meckern, und wir haben ständig darüber gestritten. Als er tot war, hätte ich mir sehnlichst gewünscht, dass wir noch mal so streiten könnten. Darum waren diese Sachen meine ganz eigene Trauerkleidung. Aber das konnte ich bis heute meiner Mutter nicht sagen.« Die Gruppe war sehr berührt und motivierte Nils, seiner Mutter jetzt doch noch davon zu erzählen. Sie würde es bestimmt verstehen.

Dieses Beispiel macht deutlich, in welcher emotionalen Ambivalenz sich die Jugendlichen befinden, mit welch ausdrucksstarken, ihnen eigenen Mitteln und Wegen sie nach Möglichkeiten suchen, diesen Emotionen in aller Klarheit Ausdruck zu geben – und diese Möglichkeiten auch finden, je mehr sie gelassen werden. Die bisher angeführten Erlebnisse von Lisa, Tom und Nils aus ihren Trauergruppen geben einen Einblick in den Stellenwert und die Bedeutung, die eine solche Gruppe für die trauernden Jugendlichen haben können. Vieles in Aufbau, Gestaltung und Durch-

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führung einer solchen Jugendgruppe ähnelt denen der Kinder und Erwachsenen. Allen ist es wichtig, mit Menschen zusammen zu kommen, die Ähnliches erlebt haben, die in ähnlichem Lebensalter sind und die damit alle Voraussetzungen mitbringen, Verständnis füreinander zu haben und neugierig aufeinander zu sein. Auf einige Besonderheiten beim Aufbau und bei der Gestaltung einer Jugendgruppe will ich im Folgenden eingehen. Zurückzuführen auf ihre oftmals große Verunsicherung nach dem Tod eines nahestehenden Menschen und auf das Bestreben, die Kontrolle zu bewahren, ist für Jugendliche die Hürde, sich um Unterstützung und Begleitung zu kümmern oder einem solchen Bestreben von Eltern oder sonstigen zugehörigen Personen zuzustimmen, in den meisten Fällen sehr groß. Nicht selten stimmen sie einem Erstgespräch nur mit großem Widerwillen zu und ihre Unsicherheit ist bei diesem ersten Treffen meist deutlich zu spüren, zum Beispiel durch extrem lässige Körperhaltung und Nervosität, vorgeschobene Coolness, langes Schweigen und Ähnliches. Hier ist die Empathie ebenso wie die Professionalität des Trauerbegleiters/der Trauerbegleiterin gefordert, dem Jugendlichen seine Zeit zu lassen, ihm diese Verhaltensweisen nicht zu nehmen, die ihm zunächst helfen, überhaupt da zu sein. Dieser sensible erste Kontakt ist ganz besonders bei Jugendlichen der erste wichtige Brückenschlag für den weiteren Verlauf der Begleitung und die mögliche Entscheidung für eine Gruppe. Mehr als für Kinder ist für Jugendliche wichtig, minutiös genaue Informationen über die Trauergruppe zu bekommen: Wer kommt dort hin? Wie viele Mädchen, wie viele Jungen? Was passiert da? Muss ich was erzählen? Und wenn mir etwas nicht gefällt, was dort gemacht wird, ist das dann schlimm? Dies und vieles mehr ist vorab von großer Wichtigkeit. So sehr wie durch den Tod des zugehörigen Menschen die Welt ins Wanken geraten ist, so sehr streben Jugendliche danach, alles Weitere so gut wie möglich »im Griff« zu haben. In der Entscheidungsphase eines Jugendlichen für oder gegen eine Gruppe hat sich aus meiner Erfahrung ein Konstrukt als äußerst hilfreich erwiesen, das ich »drei Mal kommen« nenne. Die meisten Jugendlichen sind sich anfangs unsicher, ob sie an einer Gruppe teilnehmen möchten, und sagen: »Ich kann es mir ja mal angucken!« An dieser Stelle treffe ich mit ihnen die Vereinbarung, dass sie zunächst drei Mal kommen. Das stößt nicht selten auf Unverständnis, denn warum soll man drei Mal kommen, wenn es sich doch vielleicht schon nach dem ersten Mal nicht gut angefühlt hat. Die meisten Jugendlichen lassen sich aber darauf ein, wenn ich ihnen aus meiner Erfahrung sage, dass es ihnen beim zweiten und dritten Mal schon viel besser gefallen kann, wenn nicht mehr alles so neu ist, und dass es schade wäre, sich diese Chance nicht zu lassen. Viele Jugendliche haben mir rückblickend gesagt, dass sie nach dem ersten Mal nicht wiedergekommen wären, wenn wir nicht diese Vereinbarung getroffen hätten, nun im Nachhinein aber froh seien, dass sie noch zwei Mal wiederkommen mussten. Aus der Erfahrung mit meiner Arbeit mit Jugendtrauergruppen kann ich sagen: Wenn es gelungen ist, die beschriebene anfängliche Hürde zu überwinden, und zwar mit allem Respekt für die jugendliche Besonderheit, und die Jugendlichen wirklich in einer Gruppe angekommen sind, können sie die Möglichkeiten dieser Begleitung

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Maria Traut

meist in hohem Maße für sich nutzen und beeindrucken immer wieder durch ihre Klarheit, ihre hohe soziale und emotionale Kompetenz und ihre oft besondere Uneingeschränktheit, andere an ihrem Inneren teilhaben zu lassen. Bei im Zwei- oder Drei-Wochen-Rhythmus verlaufenden Jugendgruppen hat sich ein weiteres Zugeständnis für die kontinuierliche Teilnahme als hilfreich erwiesen. Zwei Tage vor dem vereinbarten Termin bekommen alle eine Erinnerungs-SMS. In zwei oder drei Wochen ist im Leben von Jugendlichen so viel passiert, dass es hilfreich ist, noch einmal an die Gruppe erinnert und damit vielleicht auch noch einmal zur Teilnahme motiviert zu werden. Ich betone hier, dass es mein ganz persönliches Zugeständnis ist und es für mich vollkommen okay ist, dies zu tun. Es liegt aber natürlich im Ermessen jedes einzelnen Trauerbegleiters. Mit einer Gruppengröße von ca. sieben Teilnehmern ist sowohl für ausreichend Dynamik als auch für eine gute Überschaubarkeit gesorgt, so dass jeder Teilnehmer persönlich berücksichtigt werden kann. Aus meiner Sicht sind für die Jugendtrauergruppen folgende inhaltliche Bereiche besonders wichtig: •• die Stabilisierung schöner Erinnerungen aus gemeinsamer Lebenszeit mit dem Verstorbenen (für Jugendliche sind, wie im Beispiel von Nils deutlich wird, nicht nur die unbeschwerten, strahlenden Erlebnisse wichtige Erinnerungen, sondern auch die zu Lebzeiten nervigen, aber für die Beziehung so charakteristischen Eigenarten des Verstorbenen), •• einen Ausdruck zu finden für die belastenden Erinnerungen rund um Krankheit, Sterben, Tod und Todesnachricht, •• einen Ausdruck zu finden für die vielseitigen Trauergefühle von Traurigkeit bis Wut, •• eine Ressourcenstärkung, •• erste Perspektiven zu schaffen für das veränderte Leben ohne den verstorbenen Menschen. Folgende Gestaltungsmittel und Methoden sind dabei hilfreich: •• Rituale wie zum Beispiel das Anzünden einer Erinnerungskerze zu Beginn des Gruppentreffens oder das Verbrennen von kleinen Zetteln, auf die Botschaften an den Verstorbenen geschrieben wurden, •• Gesprächsrunden (Themen dazu ergeben sich aus dem Bedarf der Jugendlichen oder aus vorgestellten Texten, Büchern, Filmen, Musikstücken), •• Arbeiten mit Symbolen (Bildkarten verschiedenster Themengebiete, Symbolgegenstände, Material aus der Natur), •• Traumreisen und Entspannungsübungen, •• Schreiben (Gedicht, Geschichten, Briefe, Ressourcenheft), •• kreatives Gestalten. Vor allem das kreative Gestalten bietet eine großartige Möglichkeit, Gefühle und Gedanken zum Ausdruck zu bringen, und das zunächst ganz ohne Worte. Man kann

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Trauernde Jugendliche in Gruppen begleiten

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daran anknüpfen, dass zumindest die meisten Jugendlichen Freude an diesem Tun haben. Vor allem, wenn es gelingt, Abstand von der Erfahrung zu gewinnen, die der Kunstunterricht mit seinen Bewertungen der Arbeiten vermittelt hat, hin zu einem Gestalten fern von richtig und falsch, zu dem Erleben, dass alles Ausdruck persönlichen Erlebens ist, kann das kreative Gestalten als großes Potenzial genutzt werden. Was die Dauer der Jugendgruppen betrifft, gibt es die unterschiedlichsten Konzepte. Meiner Erfahrung nach ist es gut, es sich aus dem Gruppenprozess ergeben zu lassen, wie lange und wie oft sich die Gruppe trifft. Meist braucht es eine längere Zeit, um als Gruppe zusammenzuwachsen, Vertrauen zu finden, um Gefühle und Gedanken wirklich miteinander teilen zu können. Ich begleite eine Gruppe gewöhnlich für die Dauer von ca. einem Jahr mit 14-tägigen Treffen und folge den unterschiedlichsten Signalen, die ankündigen, dass eine Gruppe zum Abschluss kommt. Wichtig ist es dann, das in der Gruppe zu thematisieren und gemeinsam einen gestalteten Abschied mit allem zu finden, was dazugehört an Gefühlen und auch äußerlichen Gestaltungen. Denn den Abschied aktiv zu gestalten war vielen Jugendlichen nicht möglich, als es um den Tod des/der Angehörigen ging. Ein weiteres sensibles Thema im Rahmen einer Jugendtrauergruppe ist der Kontakt zu den Eltern. Fast allen Jugendlichen ist es sehr wichtig, den geschützten Raum der Gruppe für sich zu haben, Themen nicht nach außen zu tragen. Dennoch sehe ich es als Teil meiner Verantwortung als Trauerbegleiterin an, die Eltern teilhaben zu lassen an dem Prozess der Gruppenarbeit, sei es in von Zeit zu Zeit stattfindenden Einzelgesprächen, sei es an einem Elternabend. Wichtig ist dabei jedoch, das vorher mit den Jugendlichen zu besprechen, sie die Intention eines solchen Gesprächs verstehen zu lassen und ihnen auf jeden Fall zuzugestehen, dass bestimmte von ihnen erzählte Dinge nicht an die Eltern weitergetragen werden. In Deutschland fehlen bisher systematische Untersuchungen zum Nutzen und zur Langzeitwirkung von Trauerbegleitung von Jugendlichen. Die Erfahrungen in der Trauerbegleitung von Jugendlichen zeigen die Veränderung der Heranwachsenden, wenn sie erleben, dass es Möglichkeiten gibt, Gefühle auszudrücken und in Worte und Bilder zu bringen. Beeindruckend ist häufig der Kontakt der Jugendlichen untereinander. Mit Klarheit, Achtsamkeit, Kompetenz und Bedingungslosigkeit fordern sie sich heraus, stützen sich und wachsen aneinander, teilen oft mit hoher emotionaler und sozialer Kompetenz Tränen, Wut, Gedanken genauso wie jugendliche Freuden und Ressourcen. Wenn Jugendliche in einem authentischen, sozialen und institutionellen Netzwerk unterstützt und begleitet werden, wenn sie in ihrer jugendlichen Kompetenz ernst genommen werden, ohne zu Erwachsenen mutieren zu müssen, wenn sie ihre Trauer ebenso ausleben dürfen wie ihre jugendliche Freude, kann es gelingen, dass sie ein so schweres Schicksal wie den Tod eines nahestehenden Menschen in ihren weiteren, durchaus auch glücklichen Lebensweg integrieren.

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Annette Dobroschke-Bornemann

Verwitwete Eltern und ihre Kinder

Dieser Beitrag bietet eine Einführung in die Situation verwitweter Eltern und ihrer Kinder. Nach einigen Vorbemerkungen und Begriffsklärungen soll zum einen für die besonderen Herausforderungen sensibilisiert und zum anderen sollen mögliche Hilfen benannt werden.

Vorbemerkungen Definition Der Begriff »verwitwete Eltern und ihre Kinder« beschreibt die Situation, dass ein Elternteil eines minderjährigen Kindes/eines Kindes bis hin zum jungen Erwachsenenalter verstorben ist. Dabei ist für diesen Begriff (anders als vielleicht zunächst vermutet) die Wahrnehmung des Kindes entscheidend, ob es diesen Elternteil als Mutter oder Vater erlebt hat, und nicht die tatsächliche biologische Abstammung. Auch ist hier für den Begriff verwitwet die rechtliche (zum Beispiel ob mit oder ohne Trauschein zusammenlebend) und tatsächliche Beziehung zwischen den beiden Elternteilen unerheblich. In diesem Sinne gilt hier beispielsweise der unverheiratete, 54-jährige Vater eines dreijährigen Sohnes, dessen Partnerin nach 25-jähriger Beziehung ohne Trauschein an Krebs gestorben ist, ebenso als verwitwet wie die 28-jährige Mutter eines adoptierten Säuglings, deren Ehemann tödlich verunglückte, oder die 35-jährige Mutter einer 16-jährigen Tochter, die seit der Geburt von dem verstorbenen Vater ihres Kindes getrennt lebte und mit diesem lediglich über die gemeinsame Tochter Kontakt hatte. Im Folgenden geht es darum, dass ein Elternteil mit der Sorge für ein um sein anderes Elternteil trauerndes Kind betraut ist. Meist wird der verbleibende Elternteil aktuell oder in früheren Zeiten ebenfalls eine emotionale Bindung zu dem verstorbenen Menschen gehabt haben und sich auch in einer Situation des Verlusts und der Trauer befinden, was zu der besonderen Vielschichtigkeit führt, die weiter unten näher erläutert wird. Allen verwitweten Elternteilen gemeinsam sind ähnliche emotionale, organisatorische und finanzielle Fragen, Aufgaben und Herausforderungen in Bezug

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Verwitwete Eltern und ihre Kinder

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auf das Begleiten der trauernden Kinder sowie veränderte Familienkonstellationen mit neuer Rolle der Einzelnen innerhalb des Systems Familie. Es gibt sowohl Ähnlichkeiten zu dem emotionalen Erleben von Trennungsfamilien als auch klare Unterschiede. Letztere beziehen sich besonders auf die soziale Anerkennung des Verlustes und die Form der Unterstützung von Trennungsfamilien. Grundlagen der Begleitung verwitweter Eltern und ihrer Kinder Es gibt nicht den typischen verwitweten Menschen, genauso wenig wie den typischen sterbenden oder trauernden Menschen. Jede Situation ist einzigartig, bedarf der ganzheitlichen Sicht und der aus der Situationsanalyse folgenden ethisch verorteten und reflektierten, individuell geplanten Beratung, Begleitung und Unterstützung, gegebenenfalls auch Psychotherapie. Professionelle praktisch-pädagogische Begleitung von verwitweten Eltern und ihren Kindern geschieht in kontinuierlicher gegenseitiger Beeinflussung mit Theorien und Ergebnissen der Trauerforschung und durch sie. Die Intervention wird idealerweise mit Hilfe des zirkulären Problemlöseprozesses fortwährend reflektiert und neu gestaltet, da methodisches Handeln in sozialen Bezügen nicht unilinear verlaufen kann. Generelle handlungsleitende Konzepte müssen lebensalter- und lebenslagenspezifisch angepasst und Arbeitsprinzipien wie unter anderem Mündigkeit, Mehrperspektivität und Förderung von Hilfe zur Selbsthilfe müssen benannt werden (Stimmer, 2006). Verschiedene Arbeitsformen wie Einzel- und Gruppenarbeit, Arbeit mit Betroffenen und Bezugspersonen, die Kybernetik 1. und 2. Ordnung (Rechenberg-Winter u. Fischinger, 2010), bedürfen beim Arbeiten mit (Familien-)Systemen der besonderen Beachtung. Didaktisch orientiert sich das (weiterbildende, supervidierende, coachende) Begleiten der Bezugspersonen an dem Leitziel der umfassenden beruflichen Handlungskompetenz mit den Bereichen Fachkompetenz, Personalkompetenz und Sozialkompetenz.

Situation und besondere Herausforderungen verwitweter Eltern und ihrer Kinder Insbesondere wenn Menschen jung sterben bzw. wenn junge Menschen zurückbleiben, geschieht dies oft unerwartet und wird gegebenenfalls von potenziell traumatisierenden Umständen und Bildern begleitet, eventuell sogar staatsanwaltlich untersucht. Im Folgenden werden einige der vielen Veränderungen und Herausforderungen für verwitwete Eltern und Kinder weiter ausgeführt. In jedem Einzelfall werden diese anders aussehen und gewichtet sein.

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Annette Dobroschke-Bornemann

Familiengefüge Die grundlegenden Veränderungen der Familiensituation und des Familiensystems betreffen hier ein sowohl flexibles System (jüngere Menschen können meist flexibler auf sich ändernde Situationen reagieren als ältere Menschen) als auch ein gefährdeteres System: Die einzelnen Mitglieder des Systems, besonders die Kinder, befinden sich in unterschiedlichen Entwicklungsphasen, deren Übergänge von einer zur nächsten Phase aufgrund der Instabilität eine besondere Anfälligkeit für Krisen darstellen. Zudem sind die Kinder in ihrer Krisensituation abhängig von einem Menschen, der sich selber in einer Krisensituation befindet (Mehrfachbetroffenheit der Kinder). Die Veränderung der Familiensituation wird begleitet von der vollen Bandbreite der diskontinuierlichen, zum Teil widersprüchlichen Vielfalt der Trauergefühle,Trauerreaktionen und von immensen organisatorischen Herausforderungen. Hier ein Beispiel: Eine jung verwitwete Mutter im Zustand des Nicht-wahrhabenWollens und sich vollkommen Ohnmächtig-Fühlens muss die Schule ihrer Kinder sachlich über die familiären Veränderungen unterrichten und möglichst mitteilen, was für die trauernden Kinder hilfreich ist. Trotz ihres Bedürfnisses nach viel gemeinsamer Trauerzeit muss sie eine Verlängerung der außerhäusigen Kinderbetreuungszeiten beantragen und parallel gegebenenfalls noch Sorgerechts- oder Bestattungsfragen klären, während der Vermieter auf die Mietzahlung wartet, die sie nicht tätigen kann, da die Bank die Konten des Verstorbenen (noch) nicht umgeschrieben/geöffnet hat und außerdem die trauernde Schwiegermutter (verwaiste Mutter) über Schuldfragen zum Tod ihres Kindes sprechen möchte. Fehlen des Gegenübers Verwitwete Eltern, die sich aufgrund ihres Erlebens selbst in einer Extremsituation befinden, sind oft allein verantwortlich für ihre sich ebenfalls in einer Extremsituation befindlichen Kinder. Sie vermissen den gestorbenen Menschen als Partner oder Partnerin und gleichzeitig als ihr Gegenüber in der Erziehung und Versorgung ihrer Kinder. Sie erleben Überforderung bei dem Versuch, ihren halbverwaisten Mädchen und Jungen alles zu sein und alles ersetzen zu wollen: Vater und Mutter in einer Person. Dieses steigert noch das schmerzliche Vermissen des Gegenübers, das Alleinsein oder gar das Empfinden des Alleingelassen-worden-Seins. Erschwerernd wirkt in dieser Situation, wenn die Netzwerke rund um die Familie nicht unterstützend eingreifen oder beistehen können, zum Beispiel aufgrund eigener Trauer, Unsicherheit, Überforderung. Gesellschaftlich nicht anerkannte bis aberkannte Trauer, zum Beispiel als Folge von früheren Problemen in der nun durch das Sterben beendeten Partnerschaft oder aufgrund von Schuldzuweisungen bezüglich des Sterbens, isolieren das verwitwete Elternteil und ihre Kinder zusätzlich.

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Verwitwete Eltern und ihre Kinder

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Sorge und Trauer der halbverwaisten Kinder Kinder und Jugendliche drücken ihre Trauer alters- und entwicklungsabhängig sehr unterschiedlich aus. Dies erfordert von ihren privaten oder professionellen Bezugspersonen vielseitige Erkenntnis- und Reaktionsanforderungen. So erleben gerade sehr junge halbverwaiste Kinder im Kita- und Grundschulalter eine häufig weder von ihnen selbst noch von der erwachsenen Umwelt offen benannte existenzielle Angst vor dem Verlust des zweiten Elternteils und dessen Folgen. Dass diese Ängste nicht offen thematisiert werden, beruht oft auf dem Wunsch, die anderen Familienmitglieder vor Verlustängsten zu schützen. Die Mutter von zwei Söhnen, einem fünf- und einem zehnjährigen, deren Mann vor einem Vierteljahr nach langer, sehr schwerer, der ganzen Familie viel Kraft nehmender Erkrankung gestorben ist, bricht abends zusammen. Der zehnjährige Sohn ruft die beste Freundin der Mutter an, da ihm im Schock die Nummer der Feuerwehr entfallen ist. Anschließend klettert er zu seinem kleinen Bruder in das Bett und überlegt, wie es ihm und seinem Bruder nun im Kinderheim gehen würde, wenn sie dorthin kommen würden, weil nun weder Papa noch Mama für sie sorgen könnten. Die Sorge der Kinder wurde anschließend durch das professionelle Begleitungssystem mit der Mutter thematisiert und eine notarielle Verfügung für die Sorge der Kinder, falls die Mutter wieder ausfallen sollte, auf den Weg gebracht. Die Kinder reagierten erleichtert.

Das diskontinuierliche Trauern von Kindern sowie deren typisches (nicht bedenkliches, sondern altersgemäßes) heftiges Trauern über Nebenverluste (zum Beispiel das halbabgerissene Ohr vom Lieblingsplüschtier) bei gleichzeitig kaum nach außen gezeigter Trauerreaktion auf das Sterben des Elternteiles sind für die trauernden verwitweten Elternteile oft missverständlich und kaum aushaltbar. Besonders jüngere Kinder bis einschließlich des Grundschulalters benötigen die Unterstützung ihrer erwachsenen Umgebung beim Schaffen und Festigen von Erinnerungen und beim Ausdrücken ihrer Gefühle. Ihr Erleben und ihre Fragen rund um lebensbedrohliche Erkrankungen, Sterben, Tod, Trauer, gegebenenfalls Suizid, Mord etc. sowie deren Folgen müssen altersgemäß in einer Form bearbeitet werden, die ihnen sowohl ihr kindliches Vertrauen in das Leben als auch ihr kindliches Moralsystem (Unterscheidung von Gut und Böse) erhält. Dies geschieht am besten im Familienkreis, bei Bedarf mit professioneller Unterstützung, damit die halbverwaisten Mädchen und Jungen das Ernstnehmen ihrer Sorgen erfahren und Vertrauen in die Zukunft entwickeln können. Wechselwirkungen zwischen verwitweten Eltern und halbverwaisten Kindern Kinder erleben das Trauern des überlebenden Elternteils oft anders, das heißt zum Beispiel intensiver, kontinuierlicher, bedrohlicher oder willkürlicher, als dies von dem

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Annette Dobroschke-Bornemann

Elternteil selbst erlebt oder beabsichtigt wird. Wenn zum Beispiel eine verwitwete Mutter sich bemüht, den Kindern ihren Schmerz nicht zu zeigen und lediglich morgens und abends Tränen in den Augen hat, kann die kindliche Wahrnehmung dies durchaus umformulieren in »dauernd hat sie geweint«. Oder wenn ein um seine Partnerin trauernder Vater sich täglich immer mal wieder kurz zurückzieht, empfinden seine Kinder: »Papa war in der schweren Zeit nicht für uns da.« Aus Sorge hiervor versuchen viele verwitweten Eltern die Trauer um ihre Partner zurückzuhalten. Häufig beschreiben verwitwete Eltern ihr Umgehen mit sich und ihren Gefühlen sinngemäß so: »Ich muss jetzt erst einmal für die Kinder funktionieren. Deshalb habe ich meine Trauer in ein Kästchen gepackt und den Deckel oben drauf fest verschlossen. Ich weiß, dass ich später noch mal an das Ganze heranmuss, aber jetzt hab ich keine Kapazitäten dafür.« Verwitwete Eltern sind ebenso von einer Chronifizierung der individuellen Trauer bedroht wie die trauernde Familie insgesamt von einer langfristigen Störung des Familiensystems aufgrund der erspürten, aber nicht verbalisierten Trauer. Ältere Kinder neigen dazu, stillschweigend die Rolle des Ersatzpartners zu übernehmen, um das trauernde Elternteil zu entlasten und das System weiter zu stabilisieren. Sie verlieren einen Teil ihrer Kindheit. Sekundärverluste Aufgrund zusätzlicher Belastungen, die aus dem Sterben des Partners und Elternteiles resultieren, und des Entstehens von Sekundärverlusten (Wegfall eines Einkommens, Verlust des neugebauten Hauses mit Umzug, Schulwechsel, Verlust von Freunden, Bezugspersonen und schönen Erinnerungsorten/-gegenständen etc.) gelten verwitwete Eltern als besonders gefährdet in ihrem Trauerprozess (Worden, 2011). Die Sorge um die (äußere) Existenzsicherung führt oft zur oben genannten mangelnden Bearbeitung der anstehenden (inneren) Traueraufgaben.

Herausforderungen in und durch Familie, Freundeskreis und Bezugspersonen Trauer hat intra- und interpersonale Aspekte. Die als positiv empfundene vorhandene, die konflikthafte oder die fehlende soziale Unterstützung beeinflussen den Trauerprozess von Individuen und Systemen. Familie, Freundeskreis und weitere Bezugspersonen stellen eine große Ressource und idealerweise Unterstützung während des Trauerprozesses dar. Darin, dass alle, das gesamte System, betroffen sind, besteht eine besondere Herausforderung (Wer kann wen unterstützen und wer hat das Recht, am meisten zu trauern?) und Chance (miteinander den Schmerz teilen, einander ohne Worte verstehen).

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Verwitwete Eltern und ihre Kinder

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Trauernde Kernfamilie Die Verwitweten erleben es als schmerzlich, dass sie ihre Kinder nicht vor den Zumutungen des Lebens haben schützen können. Häufig entsteht außerdem zu Beginn der Trauerzeit das Bedürfnis, als Familie ganz eng mit denen, die noch da sind, zusammen zu sein. Der Verlust eines geliebten Familienmitglieds führt zur Wertschätzung der anderen Mitglieder. Diese besondere, meist auch räumliche Nähe relativiert sich während des Trauerprozesses idealerweise ebenso wie das Versagensgefühl. Das gestorbene Elternteil, der gestorbene Partner wird – wie alle Gestorbenen – häufig idealisiert. Wenn Kinder betonen: »Mama wusste immer, wie das geht«, »Papa hätte mir das aber erlaubt«, kann dies im Familienalltag als typisches elterliches Ausspielen durch die Kinder wirken, nur ist es nun mit der untypischen Situation verbunden, dass die normalen Korrekturmöglichkeiten fehlen. Ebenso kann das Vergleichen von neuen (Ehe-)Partnern/Stiefeltern kaum zu einem befriedigenden Ergebnis führen und belastet die neu entstehenden und wachsenden Beziehungen. Wenn hingegen in Kopf und Herz sicher verankert ist, dass der gestorbene Mensch gar nicht ersetzt werden kann und soll und ihm in Gedanken, Gefühlen und im Zuhause ein fester Platz zugewiesen ist, dann gelingt auch das Öffnen für neue Beziehungen. Herkunftsfamilie Die Familie des verwitweten Elternteils, seine Herkunftsfamilie, stellt oft das Stützsystem für die emotionale, organisatorische und finanzielle Versorgung des verwitweten Elternteils und dessen Kinder dar. Für diese Herkunftsfamilie ist es am schwersten, das eigene Kind, also den verwitweten Elternteil, leiden und trauern zu sehen. Im Versuch der Herkunftsfamilie, das Leiden zu lindern, gibt sie oft mehr Nähe und Hilfe als erbeten und macht ihre emotional bedürftigen, verwitweten Kinder wieder von sich abhängig. Das Zurückgehen des verwitweten Menschen in die frühere Abhängigkeit als Kind seiner Eltern schwächt diesen zum einen in Bezug auf seine eigene Elternrolle gegenüber seinen um ein Elternteil trauernden Kindern. Zum anderen kann dies unter Umständen auch frühere belastende Strukturen in der Herkunftsfamilie aktivieren angesichts der möglichen Reflexion: »Ich reagiere heute als Erwachsener so, weil ich früher durch meine Familie in dieser Weise geprägt wurde.« Hierin liegt jedoch neben der Gefahr der Verkomplizierung des Trauerprozesses auch die Chance des Bearbeitens von Vergangenem und des möglichen Besser-Machens in der aktuellen Situation, was für das gesamte Familiengefüge heilsam für Vergangenheit und Zukunft wirken kann. Schwiegerfamilie Die Schwiegerfamilie, das heißt die Herkunftsfamilie des gestorbenen Partners bzw. Elternteiles, erlebt tiefe eigene Trauer als verwaiste (Groß-)Eltern und trauernde

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Geschwister. Gerade für diese Familie lebt der gestorbene Mensch in den Kindern weiter und das Aussehen sowie die Art der Töchter und Söhne erinnern an diesen. Die verwitweten Eltern erleben häufig neben der Unterstützung durch die Schwiegerfamilie, dass diese die Kinder in ihrer Persönlichkeit nun mehr mitprägen möchte oder (insbesondere bei unverheirateten Paaren) bei der Nutzung des materiellen Erbes mitreden und mitgestalten möchte. Bezüglich des Sterbens des Partners bzw. der Tatsache, dass dieses nicht verhindert werden konnte, kommt es gegebenenfalls zu Nachfragen bei den Verwitweten, die diese als Misstrauen oder Schuldzuweisungen empfinden. Wenn der verwitwete Elternteil eine neue Partnerschaft eingeht, ist dies oft schwer zu ertragen für die Schwiegerfamilie. Für die Kinder ist der gute Kontakt zur Familie ihres gestorbenen Elternteils besonders wichtig, um hier Verwurzelung, Familiengeschichte und das Beantworten ihrer Herkunftsfragen (zum Beispiel: »Wie war Mama/Papa eigentlich als Kind?«) zu erleben. Damit dies für die Kinder gelingt, bedarf es des Bemühens der Schwiegerfamilie wie des verwitweten Elternteils. Freundeskreis und Bezugspersonen Für Jugendliche, junge Erwachsene und junge Familien sind Freundeskreise im Alltag oft präsenter und wichtiger als die Herkunfts- und Schwiegerfamilie. In Krisenzeiten wird deshalb von Freunden emotionaler Beistand und praktische Hilfe erhofft und erwartet. Häufig kommt es jedoch zur Überforderung der Freunde durch eigene Erinnerungen, Verlustängste, Grenzen in Bezug auf deren Kraft sowie Vermögen, sich in die Situation hineinzuversetzen, sowie zu Verletzungen durch vorzeitiges Aufmuntern: Die Freunde wünschen sich die Trauernden möglichst schnell wieder so, wie sie früher waren. Auch die Integration von trauernden Singles in frühere (Ehe-)Paarkreise gelingt nicht immer leicht. Hilfreich für die Beziehungserhaltung zum Umfeld ist Kommunikations- und Vergebungsbereitschaft – diese muss in der Praxis häufig von der trauernden Familie selber ausgehen.

Hilfen für verwitwete Eltern und ihre Kinder In die hilfreiche innerfamiliäre Begleitung, das Nutzen und Gestalten von Ritualen, das »alles zum ersten Mal alleine erleben« etc. führen andere Beiträge dieses Handbuches ein. In den folgenden beiden Abschnitten werden daher zum einen Hilfen für trauernde Familien und die sie Begleitenden mit Blick auf das Gesamtsystem benannt, zum anderen rechtliche, organisatorische und finanzielle Hilfen, die speziell verwitwete Eltern und ihre Kinder entlasten können.

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Angebot spezialisierter Beratungsstellen Beratung, Begleitung und Unterstützung von verwitweten Eltern müssen immer alle Mitglieder des Familiensystems sowie deren privates und professionelles Bezugssystem (zum Beispiel Mitarbeitende in Kita, Schule, Kirchengemeinde etc.) im Blick haben, bewusst fördern und als Ressource einbeziehen. Ein umfassendes Hilfe- und Stärkungsangebot an Stelle einzelner Aktivitäten bedenkt bereits in der Akutsituation die Prävention einer erschwerten bzw. komplizierten Trauer durch folgende mögliche Angebote (vgl. TABEA e. V., 2013; siehe auch unter www.TABEAeV.de): 1. Krisenintervention: ȤȤ aufsuchende Erstberatung und Begleitung in Akutsituationen, ȤȤ Begleitung bei Aufbahrung/Abschiednahme. 2. Beratung und Therapie: ȤȤ Telefonberatung und persönliche Beratung, ȤȤ psychosoziale Einzel- und Familienberatung, ȤȤ gegebenenfalls Gesprächspsychotherapie, Verhaltenstherapie, systemische Familientherapie, ȤȤ gegebenenfalls Familienmediation. 3. Geleitete (Trauer-)Gruppen: ȤȤ altersspezifische, geleitete Gruppen für trauernde Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit entsprechendem Methodeninventar, ȤȤ geleitete Trauergruppe für verwitwete Eltern, ȤȤ geleitete Gruppe für verwaiste Eltern/Geschwister des gestorbenen Elternteils, ȤȤ Kreativ- und Bewegungs-/Entspannungsangebote für Einzelne und Familien, ȤȤ gegebenenfalls tiergestützte Gruppen, ȤȤ Gedenkgottesdienste und Gedenkveranstaltungen mit explizitem Einbeziehen der Kinder und Jugendlichen. 4. Stärkung des Familiensystems: ȤȤ Familienausflüge/Reisen, ȤȤ erlebnispädagogische Tage (zum Beispiel Klettern, Erfahren von Selbstwirksamkeit). 5. Stärkung der Bezugssysteme: ȤȤ Sensibilisieren und Ermutigen des Umfeldes (Klassengemeinschaft etc.), ȤȤ Angehörigen-/Bezugspersonen-Schulungen (»Wie kann ich Kinder und Jugendliche in ihrer Trauer unterstützen?«), ȤȤ Coaching, Supervision sowie Fort-, Weiter- und Ausbildung für professionell Begleitende. 6. Allgemeines Angebot: ȤȤ Ausleihbibliothek/Mediathek, ȤȤ Internetangebote mit Informationen, Beratung, Möglichkeiten der Ritualgestaltung (zum Beispiel virtuelles Entzünden von Gedenkkerzen).

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7. Qualitätsentwicklung: ȤȤ Erarbeiten von Qualitätsstandards, ȤȤ Dokumentation und Evaluation, ȤȤ begleitendes Forschen. Insbesondere im Bereich der Angehörigen-Schulungen (nicht zu verwechseln mit Trauergruppen) liegt ein großes Potenzial zur Entwicklung der Familie. Durch Schulung der anderen professionellen Bezugspersonen, zum Beispiel aus Kita und Schule, zu den speziellen Bedürfnissen von Mädchen und Jungen rund um die Bereiche Sterben, Tod und Trauer unter Achtung der kindlichen Bindungsstile, Entwicklungsphasen und Todesverständnisse sowie eigener und institutioneller Grenzen werden sowohl die Bezugspersonen als auch die verwitweten Eltern, die ihre Kinder gut gesehen und unterstützt wissen, entlastet und gestärkt. Den Kindern und Jugendlichen hilft es, wenn die hinter den einzelnen individuellen Begleitungen stehende Theorie und Haltung stets übereinstimmend und transparent sind. Dem erschütterten Familiensystem wird so ein stabiles Begleitungssystem an die Seite gestellt, an dem sich die einzelnen Familienmitglieder neu orientieren, ausprobieren und stärken können. Mögliche rechtliche, organisatorische und finanzielle Hilfen Das Rechts- und Sozialsystem bietet eine Vielzahl von Hilfen für verwitwete Eltern und ihre Kinder. Die Beratung und Vertretung in Rechtsfragen sollte im Grundberuf juristisch ausgebildeten Fachkräften und spezialisierten Beratungsstellen übergeben werden, zum Beispiel bei Fragen rund um Sorgerecht, Erbrecht, Medizinrecht, Opferentschädigung, Schuldnerberatung. Hingegen kann auch eine spezialisierte Trauerberatungsstelle für folgende Bereiche Informationen über weitere Hilfen und gegebenenfalls Unterstützung bei deren Beantragung anbieten: Witwen- und Waisenrente, Unterhaltsvorschuss, Veränderungsmitteilungen zur Kindergeldzahlung, zeitliche Aufstockung von Kita- und Hortplätzen bzw. verlässlicher Ganztagesschule, Kur- und Reha-Beantragung, Beantragung von Hilfen gemäß SGB II und SGB XII (besonders ALG II, Hilfen zum Lebensunterhalt, Bildungs- und Teilhabepakete), kostenfreie öffentliche (Sozial-)Rechtsberatung oder Beratung beim Anwalt via Beratungsschein, Stiftungsgelder zur Kompensation der Folgeverluste, Familienhilfe und gegebenenfalls Familienpflege.

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Fazit Trauer und Trauerbegleitung von verwitweten Eltern und ihren Kindern bedarf der Wahrhaftigkeit in Gefühlen, Handlungen und Kommunikation, das heißt Ängste bezüglich weiterer Verluste, Wünsche und Bedürfnisse sollten (insbesondere von Kindern) explizit geäußert werden sowie das Gemeinsam-Sein in Trauer und Freude beachtet werden. Das Interaktions- und Kommunikationshandeln, an dem sich alle mit ihrer ganzen Persönlichkeit beteiligen, führt zu persönlicher kontinuierlicher Weiterentwicklung der Einzelnen und des Familien- wie auch Bezugssystems. Viele mögliche Hilfen und Hilfssysteme zur Unterstützung bei der Bearbeitung sowohl der emotionalen und kognitiven Traueraufgaben als auch der rechtlichen, organisatorischen und finanziellen Herausforderungen ermöglichen eine ganzheitliche Sicht bei individueller Planung. Die Prozesssteuerung liegt idealerweise bei einer koordinierenden Fachperson, das Verantworten der zu bearbeitenden Inhalte, Tempi und individuellen Lösungen bei den verwitweten Eltern und je nach Alter und Entwicklungsstand auch bei deren Kindern. Ein gesundes Familiensystem ist stark und flexibel genug, um Veränderungen und Krisenzeiten heilsam zu durchstehen. Spannung liegt im Wechselspiel der einzelnen zunächst in ihrer Trauer auf sich zentrierten Familien(system)mitglieder. (Glaubensmäßige) Sinndeutungen und Sinngebungen, gemeinsam im Trauerprozess erarbeitet, stellen die Basis dar, um als gesunde (getröstete, geheilte) Familie, in der das individuelle Trauern und der familiäre Prozess als gemeinsame Ressource erkannt und gelebt werden, in ein gestärktes und hoffnungsvolles Leben mit Zutrauen und krisengefestigtem Lebensmut hineinzugehen.

Literatur Rechenberg-Winter, P., Fischinger, E. (2010). Kursbuch systemische Trauerbegleitung (2., bearb. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Schlippe, A. von, Schweitzer, J. (2012). Lehrbuch der systemischen Therapie und Beratung I. Das Grundlagenwissen. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Stimmer, F. (2006). Grundlagen des Methodischen Handelns in der Sozialen Arbeit (2., überarb. und erw. Aufl.). Stuttgart: Kohlhammer. TABEA e. V. (2013). Hauptflyer. Alle Arbeitsbereiche. Zugriff am 15. 03. 2014 unter http://www.tabea-ev. de/wp/wp-content/uploads/pdf/Druck-Flyer/TABEA-eV_Hauptfolder_2013.pdf Worden, W. J. (2011). Beratung und Therapie in Trauerfällen. Ein Handbuch (4., überarb. u. erw. Aufl.). Bern: Huber.

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»Bei aller Schwere ein Austausch, der mir gut tut« Gruppen für verwitwete Eltern

Eine begleitende Unterstützung der Eltern gilt als unerlässlich in der Arbeit mit trauernden Kindern. In systemisch orientierten Angeboten der Familientrauerbegleitung werden neben Elternberatungen häufig Elterngruppen angeboten. Konzepte einzelner Elterngruppen wurden veröffentlicht (zum Beispiel Witt-Loers u. Halbe, 2013). Den Hintergrund dieses Beitrags bilden die Erfahrungen der Arbeit mit überwiegend verwitweten Eltern in geschlossenen Gruppen in einem familienorientierten Kinder- und Jugendtrauerprojekt, »Trau Dich Trauern«1, die parallel zu den Kindertrauergruppen (siehe den Beitrag von A. Henseler, M. Lammertz und F. Röseberg zur Begleitung von Kindertrauergruppen in diesem Buch, S. 353 ff.) angeboten werden.

Ziele der Arbeit mit trauernden Müttern und Vätern Systemisch betrachtet ist die Familie nach dem Tod eines Familienmitglieds ins Ungleichgewicht geraten. Die Auswirkungen sind für den Einzelnen, aber auch für die hinterbliebene Familie und deren Neuorientierung eine große Herausforderung. Jeder Einzelne, aber auch alle gemeinsam müssen nun sehen, wie sich das Familiensystem wieder neu ausrichtet. So erläutert eine Mutter zu Beginn der Trauergruppe, dass sie die Kinder damit motiviert habe, ihnen zu erklären, dass sie die Teilnahme an der Eltern-/Kindertrauergruppe als gemeinsames Familienprojekt annehmen sollten. Sie erhoffe sich, dass es sie alle aus der Stagnation herausführen würde. Sie beschrieb es in Analogie zu einem Computer: »Wir hängen irgendwie fest.« Aus entwicklungspsychologischer Sicht bezeichnet man die Bearbeitung eines Elternteilverlustes als die größte Anpassungsleistung, die ein Kind zu bewältigen habe (Oerter u. Montada, 1998). Anpassen an die neue Wirklichkeit müssen sich alle Personen, die Erwachsenen genauso wie die Kinder. Mit Anpassung ist hier gemeint, »dass der Trauernde nicht länger gegen den Verlust ankämpfen muss, sondern gelernt hat, mit ihm als einer unausweichlichen Tatsache zu leben« (Rando, 2003, S. 186, zitiert 1

Trau Dich Trauern – Zentrum für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Seliger Gerhard Bonn/ Rhein-Sieg.

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»Bei aller Schwere ein Austausch, der mir gut tut«

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nach Jürgens u. Jäger, 2013, S. 36). Worden (2011) differenziert innerhalb seiner vier definierten Aufgaben in der Trauerarbeit drei Bereiche, in denen die Anpassung an die veränderte Situation nach dem Tod eines nahestehenden Menschen stattfinden sollte. Diese drei Anpassungsebenen bieten den inhaltlichen Rahmen für die geleitete Gruppenarbeit, sowohl in der Kindergruppe als auch in der Erwachsenengruppe. Folgende Bereiche sind damit gemeint: •• »Externe Anpassung – die Auswirkungen des Verlusts auf die Bewältigung des Alltags, •• Interne Anpassung – die Auswirkungen des Verlusts auf das Gefühl für das eigene Selbst und •• Spirituelle Anpassung – die Auswirkungen des Verlusts auf die eigenen Überzeugungen, Wertvorstellungen und Annahmen über die Welt« (Worden, 2011, S. 52). Der wichtigste Garant aber dafür, dass das Kind diese veränderte Lebenssituation, den Verlust einer wichtigen Bindungsperson – Mutter oder Vater –, ohne nennenswerte Störung in seiner Entwicklung begreift, ist in dieser Zeit der neuen Orientierung der nun mit dem Kind allein lebende Elternteil. Eltern, die nach unserem Angebot fragen, sind sich dieser Tatsache in der Regel bewusst. Dennoch erleben sie sich oft als hilflos, nicht ausreichend unterstützend und physisch und psychisch derart belastet, dass sie Angst vor der weiteren Zukunft und dem richtigen Miteinander haben. Hinzu kommt oftmals, dass sie noch nicht wissen, wie sie finanziell zurechtkommen werden. In fast allen Fällen gibt es finanzielle Einbußen. Diese und andere parallel laufende Belastungen beeinflussen den Zugang zur Trauer und die aktive Trauerbearbeitung zusätzlich. Worden (2011) nennt dies »Mediatoren in der Trauer« (siehe S. 61–82). Bei manchen Betroffenen ist der Verlust schon länger her. Einige von ihnen sagen sogar: »Ich bin als Bezugsperson Mutter/Vater einige Monate komplett ausgefallen.« Sie sind der Meinung, dass die Kinder durch dieses Versäumnis Schaden erlitten hätten, den sie nun möglichst beheben wollen. Manchmal sind es drastische Äußerungen der Kinder, die den überlebenden Elternteil fordern. Ein im Streit ausgesprochener Satz zum Vater wie zum Beispiel: »Ich wünschte, du wärst gestorben und nicht Mama!« Oder Eltern haben Angst, dass ihre Kinder nicht mehr leben wollen, wenn sie sagen: »Ich wünschte, ich wäre da, wo Papa jetzt ist.« Nicht selten sind dies Sätze, die dazu führen, dass sich Eltern Unterstützung suchen. Manche Eltern sind unsicher und fragen sich, ob ihre Kinder richtig trauern. Genau hier setzt die Arbeit in den Elterngruppen an. Es geht darum: 1. das Verständnis für das Verhalten, die Bedürfnisse und die Trauerformen der Kinder zu erkennen und zu reflektieren und 2. dem um einen Partner/eine Partnerin trauernden Elternteil auch eine Chance zu geben, der eigenen Trauer nachzuspüren. Zu berücksichtigen sind dabei zwei gegensätzliche Reaktionsformen der überlebenden Elternteile: 1. Elternteile, die nach ihrer Einschätzung – aufgrund der eigenen Trauer – die Bedürfnisse der Kinder nicht ausreichend wahrgenommen haben, oder

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2. Elternteile, die alle Kraft in die Betreuung/Begleitung ihrer Kinder gelegt haben und so keine Chance hatten, ihrer eigenen Verlustbearbeitung nachzugehen. Beiden Bedürfnissen gerecht zu werden, liegt dem Konzept der elterlichen Gruppenarbeit zugrunde. Die Inhalte der Gruppensitzungen sind folgende: •• gegenseitiges Kennenlernen, •• sich einlassen auf die Gruppe, •• Gruppenregeln und Gruppenstruktur, •• Trauer – was ist das?, •• Kennenlernen der Themen, •• der Verlust – wen habe ich verloren?, •• die Umstände, die zum Tod führten (Krankheit, Unfall, Suizid), •• der Tod, die erste Zeit danach, die Beerdigung (War ich beim Sterben anwesend? Wo waren die Kinder? Haben wir den Toten noch einmal gesehen bzw. wer hat ihn noch einmal gesehen? Wer hat es den Kindern gesagt? Wie haben die Kinder reagiert? Wie haben wir die Beerdigung erlebt, wer von uns war da und in welcher Weise an ihrer Planung und Gestaltung beteiligt?), •• meine Erinnerungen an den Verstorbenen, •• meine Beziehung zum Verstorbenen, •• die Beziehung meiner Kinder zum Verstorbenen, •• das Leben des Verstorbenen (Was weiß ich von ihm?), •• die Gefühle meiner Trauer, •• meine Umgangsstrategien, •• die Umgangsstrategien meiner Kinder, •• was hat sich verändert? (In/bei mir? In Bezug auf die Freunde, die Familie, Arbeitskollegen und auf meine Kinder?), •• was hat sich verändert in Bezug auf meine/unsere soziale Situation/Sicherung (Einkommen, Wohnungs- oder Ortswechsel)?, •• die Bedeutung des Verstorbenen (Welche Rolle spielte der Verstorbene für mich? Welche Rolle nahm er im Familiensystem ein? Was hätte ich alles nicht kennen gelernt, wenn ich mit diesem Menschen nicht zusammengelebt hätte/zusammengewesen wäre? Welche Rolle, Bedeutung hat er jetzt noch für mich, für die Kinder, für die Familie?), •• Biografiearbeit und Ressourcen (mein Leben/Höhen und Tiefen/vorausgegangene Verluste, Selbststärkung – Was trägt mich? Woran glaube ich? Was hat sich an meiner Haltung zum Leben geändert?), •• in die Zukunft schauen!? – neue Orientierungen? (Planungen, Vorstellungen, Perspektiven für mich/für die Kinder Neugestaltung von Beziehungen), •• Abschied von der Gruppe: Was nehme ich mit?, •• Nachtreffen: Wiedersehen – sich erinnern an gemeinsam Erlebtes, die aktuelle Situation, •• der vierteljährliche offene Familien-Trauer-Treff.

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Exemplarische Erfahrungen aus den Gruppentreffen Das erste Gruppentreffen dient, wie in allen gruppendynamischen Prozessen, dazu, die erste Scheu zu überwinden und sich auf die Gruppe einzulassen, Erwartungen auszutauschen und das Konzept, die Themen der Gruppenstunden sowie Gruppenregeln kennen zu lernen und zu erörtern. Gruppendynamik wird hier verstanden als Prozess, in dem gemeinsame Erfahrungen miteinander ausgetauscht werden, um gemeinsam zu lernen und Verhaltensebenen kennen zu lernen (König u. Schattenhofer, 2011). Manche Reaktionen sind dem Trauernden zunächst fremd und er kann sich selbst nicht verstehen. Hier bieten die Arbeit in den Gruppen, der Austausch untereinander und das behutsame Nahebringen von Trauerausdrücken sozusagen Übersetzungshilfe an; immer davon ausgehend, dass es in der Begleitung der Trauernden darum geht, sie so zu unterstützen, dass sie die in ihrer persönlichen Biografie angelegten Ressourcen (wieder-)finden, um so auch neue Lösungswege für ihr Leben entwickeln zu können. Dies wiederum setzt beim Begleiter die Fähigkeit voraus, dem Trauernden mit einer Haltung zu begegnen, die ihn in die Lage versetzt, seinen Trauerweg selbstständig zu gestalten. In der akuten Situation sind seine Fähigkeiten teilweise verschüttet und er braucht Unterstützung, um im Berg der Gefühle und Alltagsanforderungen wieder konstruktiv seine Lösungswege anzugehen. So dienen oftmals (erste) Begegnungsnachmittage dazu, sich und den eigenen Verlust vorzustellen, sich den Geschichten der anderen zu stellen und sich darauf einzulassen, belastende und entlastende Erfahrungen aufzuspüren. Vonseiten der Gruppenleitung muss daher immer wieder wahrgenommen und erkannt werden, dass es in der Trauerbearbeitung, wie es Stroebe und Schut (1999) nennen, um ein »ständiges Auspendeln der Verlust-Orientierung« (hiermit ist die eigentliche Verlusterfahrung gemeint) und um die »Wiederherstellungs-Orientierung« (womit die Bereiche der grundlegenden Veränderungen, zum Beispiel der sozialen Sicherung, die Frage der Kinderversorgung, berufliche Veränderungen und dergleichen gemeint sind) geht. Es ist wichtig, den Teilnehmern die Bestätigung zu geben, dass sie bereits eine Menge geleistet haben bzw. schon viele Schritte überlegt haben und gegangen sind. Ein behütetes Ankommenlassen in der Gruppe ist sehr wichtig. Eine Teilnehmerin drückte es stellvertretend für die anderen folgendermaßen aus: »Zuerst dachte ich: ›Oh, was gruselig!‹ Ganz, ganz schwierig, alle saßen wir doch sehr in sich gekehrt und nicht wirklich gerne reden wollend, aber man war doch irgendwie in den Startlöchern dort, und je mehr man sich kennen lernte, umso mehr entspannter und netter wurde es […] Ähm am Anfang waren wir alle relativ zurückhaltend, aber ich denke, je mehr man, wir und ich und alle, uns in dieser Kleingruppe auch kennen gelernt haben, umso offener wurden wir auch und manchmal hatte man natürlich das Gefühl, oh, da prescht einer vor! Und oder ich dachte: ›OH!‹, so ab und zu, ob ich da nicht so ein bisschen zu weit gegangen bin, in dem Sinne, dass ich da vielleicht zu persönlich, zu persönlich wurde, weil mich eben auch interessierte, wie die anderen halt damit umgehen, also mit dem Verlust ihres Partners umgegangen sind, aber das hat sich dann auch relativ schnell

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ausgeräumt. Und es herrschte eigentlich zum Schluss eine ziemliche Offenheit, die uns allen guttat« (Röseberg, 2013, S. 81). Isolation zu überwinden und durch die Gemeinschaft zu erleben, dass ein dargestelltes Problem nicht nur ein individuelles Problem ist, stärkt den Einzelnen. So ist eine der häufigsten Aussagen der Trauernden bereits nach dem ersten Treffen: »Ich bin also ganz normal, die anderen kennen meine Gefühlsschwankungen, meine teilweise Handlungsunfähigkeit, meine körperlichen Beschwerden auch!« Diese Erkenntnis führt dann oftmals dazu, dass durch das Sich-verstanden-Fühlen bei aller Individualität des Umgangs ein ungeheures Selbsthilfepotenzial entstehen kann. »Der Austausch untereinander, das gegenseitige Beratschlagen, hebt Isolationen auf und bewirkt Gefühle von Aufgehobensein, Schutz und Selbstwirksamkeit« (Bausum, Besser, Kühn u. Weiß, 2011, S. 15). Die Entwicklung der gegenseitigen Unterstützung stellt eine große Anforderung an die Gruppenleitung dar und ist zugleich ein gewolltes und tragendes Element der Arbeit mit Elterngruppen. Letztlich geht es von Anfang an darum, für die Betroffenen Räume und Gelegenheiten zu schaffen, damit sie sich konstruktiv und gegenseitig bereichernd austauschen können und die Gruppensituation als hilfreich erfahren. Nach der Einstiegsphase geht es bei weiteren Treffen darum, auf behutsame Weise dem Verlusterleben in Form von Erinnerungsarbeit und den Gefühlen in der Trauer den nötigen Raum zu geben und die verwitweten Eltern dabei zu unterstützen, einen Ausblick in die Zukunft zu wagen. In Bezug auf die Gruppenleitung äußerte eine Witwe: »Also nein, sie hat mir sehr gut gefallen, war weder dominant noch bestimmend, sogar ganz im Gegenteil, sie guckte sehr genau auf unsere Bedürfnisse und ging auf die einzelnen Themen ein, als dass wir uns da eben halt ja entspannen konnten und in Ruhe über unsere Gedanken sprechen konnten und nicht über das, was sie uns eben halt aufstülpte, und das war gut so« (Röseberg, 2013, S. 83). Durch die Gruppenarbeit erhalten die Eltern zudem Informationen zum Trauererleben von Kindern und Jugendlichen und konkrete Rückmeldungen aus der Kindergruppe, um das gegenseitige Verstehen und Verständnis füreinander zu fördern und damit insgesamt ein positives Familienklima herzustellen. Dies spiegelt sich auch in den folgenden Äußerungen einer Mutter wider, die darüber berichtet, wie sich ihr Verständnis und Wissen über das Trauererleben und die Trauerprozesse von Kindern und Jugendlichen durch die Teilnahme an der Gruppe verändern konnte und man sicherer im Umgang miteinander wurde: »ein unglaublich großes Verständnis für Kinder in solchen Situationen, weil ich jetzt eben weiß, wie Kinder, dass Kinder eben effektiv anders ticken als Erwachsene und dass man in solchen Ausnahmesituationen auch nicht ganz so streng miteinander umgehen soll, sondern, dass man da, dass man da vielleicht mehr hinhören als reden sollte […] und wir vielleicht noch ein paar mehr noch ein bisschen mehr Verständnis bekamen, warum verhalten sich die Kinder so, warum redet die eine und die andere nicht, warum geht die eine mehr zum Friedhof als die andere. Wie verarbeiten die Kinder, warum lachen die Kinder trotzdem, obwohl sie eigentlich todtraurig sind, so und da das gegenseitige Verständnis unendlich wich-

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tig war, aber das kam nicht belehrend, das kam so, wie es war. Das konnte man auch hervorragend, also ich konnte das jetzt hervorragend annehmen, aber ich glaube, ich kann da für alle aus der Gruppe so sprechen« (Röseberg, 2013, S. 83). Die Beschreibung, dass Trauer von Erwachsenen dem Waten durch einen breiten Fluss gleicht, während das Trauerverhalten von Kindern eher dem Springen in Pfützen ähnelt, ist für das Verständnis von Eltern für ihre trauernden Kinder oft hilfreich (zum Beispiel Ennulat, 2003). »Das Bild von der Trauerpfütze, in welche das Kind springt, zeigt die Dynamik seiner Trauer. Manches Mal ist die Pfütze groß und besonders matschig, dann wieder spritzt es nur wenig. Kinder können in einem Moment furchtbar traurig sein und im nächsten wieder ganz fröhlich, so als hätte man einen Schalter betätigt« (Fleck-Bohaumilitzky, 2005, S. 7). Die Themenvielfalt sowie die vielen unterschiedlichen Emotionen in der Trauer sind es, die Trauernde manchmal verzweifeln lassen. Die Trauer treibt sie vor sich her, sie können sich selber nicht mehr einschätzen und glauben oft, sie würden verrückt. Die vielen Anforderungen und unterschiedlichen Aufgaben und neue Rollen, denen sie sich ausgesetzt fühlen, führen zudem dazu, dass sie sich permanent überfordert fühlen. Damit geht einher, dass sie immerzu das Gefühl haben, nicht genug zu tun oder etwas zu übersehen oder manches nicht richtig zu machen. Alles lastet nun auf ihnen und alles muss nun allein entschieden werden. Wenn sie dann aber in der Gruppe erfahren, dass es den anderen genauso geht, ist die Erleichterung darüber groß: »Ich bin/werde also nicht verrückt? Meine Form der Trauer ist also nicht krankhaft? Ich darf also auch nach zwei Jahren noch deutliche Trauerempfindungen zeigen? Ach ja, diese Heftigkeit der Gefühle kennen unsere Kinder auch? Die anderen fühlen sich also auch oftmals erschöpft und glauben vieles nicht zu schaffen?« Diese Erkenntnisse sind oft tragend für die weitere Auseinandersetzung in der Gruppe, für jeden Einzelnen und für den Umgang mit den Kindern. Für die Gruppenleitung ist es sehr wichtig, immer wieder darauf hinzuweisen, dass die Trauer einen Prozess der Wandlung durchläuft, bei dem es immer wieder darum geht, neue Erkenntnisse, neue Rekonstruktionen und Bewertungen des Vergangenen zu erlangen und gleichzeitig eine aktive Hinwendung zum Zukünftigen zu gestalten. Hilfreich scheint es auch für Trauernde zu sein, wenn sie hören, dass auch dann, wenn die Trauer anhalte, die Intensität der Gefühle durchaus nachlasse. Klass, Silverman und Nickman (1996/2011) fassen dies wie folgt zusammen: »Während der Tod endgültig und unwandelbar ist, ist es der Trauerprozess nicht« (S. 67). Die Atmosphäre in der Gruppe erlaubt Trauernden häufig Dinge anzusprechen, die sie sonst bei niemandem erwähnen. So ist zum Beispiel ein oftmals in ihrem Umfeld tabuisiertes und in den Gruppen häufig zur Sprache kommendes Thema der Umgang bzw. Zugang zum Verstorbenen über den Tod hinaus. Hiermit ist gemeint, dass viele Trauernde sich in ihrem Umfeld nicht trauen, über die andauernde Bindung zum Verstorbenen zu sprechen. In den Trauergruppen bestehen sie hingegen vehement darauf, dass sie den Verstorbenen imaginär bei sich tragen, ihn um Hilfe und Rat oder um ein Zeichen bitten, damit sie zum Beispiel Entscheidungen treffen können. Dabei geht

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es ihnen auch darum, zu zeigen, dass sie sich dem Verstorbenen immer noch nahe fühlen. Viele Trauernde haben in den letzten Jahren Begleiter und Wissenschaftler aufgrund ihrer Bekenntnisse herausgefordert, anzuerkennen, dass über den Tod hinaus eine Bindung bestehen bleibt, die durchaus Sinn hat. Klass, Silverman und Nickman (1996) beschrieben dies in ihrem Ansatz »continuing bonds«. Dieser Ansatz hat in den letzten Jahren in entscheidender Weise die Arbeit mit Trauernden verändert und insgesamt einen neuen Blick auf die Phänomenologie von Trauer geworfen. Klass et al. kamen zu dem Ergebnis, dass »die fortgesetzten Verbindungen zwischen Lebenden und Toten kein Anzeichen von verschleppter oder erschwerter Trauer sind, sondern im Gegenteil vielen Trauernden helfen, sich gestärkt ihrem neuen Leben zuzuwenden« (Klass et al., 1996/2011, S. 61). Sie kommen bei ihren Untersuchungen jedoch zu zwei wichtigen Merkmalen, die sich in ihren Auswirkungen auf die fortgesetzten Bindungen anscheinend unterscheiden: »Andauernde Verbundenheit, die in erster Linie durch positive bildhafte und sinnliche Erinnerungen hergestellt wird, scheint in langandauernder und komplizierter Trauer häufiger vorzukommen. Verbundenheit durch die Übernahme von Werten und einem Bewusstsein des Gestärktseins durch die gemeinsame Zeit scheint auf einen Trauerprozess hinzuweisen, der als nicht­erschwerte Trauer bezeichnet werden kann. Damit könnte die Form der andauernden Verbindung einen Hinweis darauf geben, wie lange ein Trauerprozess das Leben der Betroffenen beeinträchtigt – das ist bis zu diesem Zeitpunkt aber noch nicht ausreichend erforscht« (S. 61). Das Thema der forbestehenden Bindung wird sowohl in Eltern- als auch Kindergruppen bearbeitet, manchmal sprechen es Eltern von sich aus an, in anderen Gruppen braucht es einen Impuls. Das Elterngruppenangebot von »Trau Dich Trauern« findet in Form eines festen Gruppenangebotes über acht Nachmittage statt. In erster Linie orientieren sich die Inhalte an den zuvor aufgeführten Themen, die immer wieder an die Bedarfslage der Teilnehmer adaptiert werden müssen. Mit der Methode der Themenzentrierten Interaktion, ergänzt durch kurze gruppendynamische Übungen oder kreative Techniken, wie sie zum Beispiel bei den Kindern angewandt werden (siehe hierzu den Beitrag von A. Henseler, M. Lammertz und F. Röseberg zu Kindern in Trauergruppen in diesem Buch, S. 353 ff.), wird versucht diesem Anspruch gerecht zu werden. Hierzu ist es wichtig, dass jedes Gruppentreffen im Team reflektiert wird, um so das Konzept dem individuellen Gruppengeschehen anzupassen und die jeweilige Elterngruppe ressourcenorientiert und stabilisierend begleiten zu können.

Der offene Familien-Trauer-Treff Um zu gewährleisten, dass die Teilnehmer auch über einen längeren Zeitpunkt hinaus begleitet und beraten werden, hat es sich in den letzten Jahren bewährt, einen vierteljährlichen offenen Familientreff anzubieten. Zu diesem Angebot werden alle Eltern

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und Kinder, die an den geschlossenen Gruppen teilgenommen haben, eingeladen. Viele Familien nutzen dieses Angebot regelmäßig – und dies bereits über Jahre. Der Wert dieses Angebots ist nicht zu unterschätzen. Hier haben die Familien die Chance, sich an einem neutralen Platz immer mal wieder zu sehen und die jeweilig aktuelle Situation miteinander auszutauschen. Hier wird die Wandlung im Trauerprozess-Erleben für alle sichtbar und erlebbar. Hier begegnen sich diejenigen, bei denen der Verlust schon länger zurückliegt, mit denjenigen, die sich noch in einem frühen Stadium in der Trauer befinden. Dies ist bereichernd für beide. Die einen erleben, dass es anders geworden ist, und die anderen erfahren, dass es anders werden wird. Sowohl im Prozess der Begleitung der geschlossenen Gruppen als auch beim offenen Familien-Trauer-Treff bedarf es der Erklärung, dass es kein für jeden Trauernden gültiges, inhaltlich und zeitlich abhakbares Raster gibt. Dies führt oft, wie schon an anderer Stelle erwähnt, unweigerlich dazu, dass die Gruppenleitung ihr Konzept situativ anpassen muss. So muss immer wieder ein Blick auf die Unterschiedlichkeit des Trauererlebens gewagt werden, ohne dabei eine Bewertung vorzunehmen. Müller, Brathuhn und Schnegg drücken es folgendermaßen aus: »Wenn offensichtlich ist, dass diese Ungleichzeitigkeit Probleme bereitet, dann ist Übersetzungshilfe gefragt: der Hinweis auf die Realität des Ungleichzeitigen. Das ist eine Wirklichkeit, die unendlich nüchtern und darin hilfreich ist, weil sie sich jeder Bewertung von falsch oder richtig entzieht. Begleitende können hier sehr entspannend dienlich sein, wenn sie die explosive Macht des Erwarteten in der Wirklichkeit erden können« (2013, S. 79). Ein weiteres wesentliches Element dieses offenen Familientreffs ist erwähnenswert. Viele trauernde Familien nehmen bereits wenige Wochen oder Monate nach dem Verlust an einer geschlossenen Gruppe teil. Oftmals ist zu so einem frühen Zeitpunkt für einige Teilnehmer die intensive Auseinandersetzung mit der Trauer (aus den unterschiedlichsten Gründen) noch nicht möglich. Der offene Familientreff bietet neben einer rituellen Eingangsrunde, bei der sich jeder kurz vorstellt und seinen Verlust benennt und dann eine Kerze für den Verstorbenen anzündet, jedes Mal entweder einen kurzen inhaltlichen Impuls, zum Beispiel zum Trauererleben, oder eine geleitete Meditation oder einen visualisierten oder auditiven Impuls – einmal für die Erwachsenen und einmal für die Kinder und Jugendlichen. Die Erfahrungen bei den offenen Familiennachmittagen zeigen, dass sich Familien auch später und zum Teil immer wieder intensiv mit dem Thema Trauer beschäftigen und dass sich im Verlauf des Trauerprozesses immer wieder neue Facetten zeigen können. Manchmal sind es diejenigen, die während der geschlossenen Gruppe aus Sicht der Gruppenleitung inhaltlich und emotional scheinbar wenig erreicht werden konnten, die sich dann zu einem späteren Zeitpunkt sehr intensiv mit den emotionalen Aspekten ihrer Trauer auseinandersetzen. Hier wird die Realität des Ungleichzeitigen erfahrbar und in der Regel als ein bedeutsames Erleben für den Einzelnen und für die Gruppe wahrgenommen. Im Anschluss an die Vorstellungsrunde und den inhaltlichen Impuls gibt es dann für Kinder und Jugendliche immer ein kreatives Angebot (hierzu gehören zum Beispiel bildnerisches oder dreidimensionales Gestalten, das Basteln von Wutbällen oder

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Ursula Fülbier

Jonglierstäben bzw. das Filzen zum Beispiel von Traumfängern, das Vorbereiten einer Schatzsuche oder das Backen von Weihnachtskeksen). Den Eltern steht es offen, bei diesem Angebot mitzumachen oder gegebenenfalls ihre jüngeren Kinder zu unterstützen. Weiterhin stehen Getränke und Gebäck bereit, so dass man sich auch ungezwungen gesellig zusammensetzen kann. Zum abschließenden Ritual gehört eine Verabschiedung mit kurzer Reflexion des Nachmittages und dem Vortragen der Texte, die zuvor zusammen mit dem Namen der zu Erinnernden in unser Gästebuch eingetragen worden sind.

Ausklingende Gedanken Die hier dargestellten Beschreibungen der Gruppenprozesse machen deutlich, wie behutsam mit den Betroffenen umgegangen werden muss. Dies ist eine Herausforderung – insbesondere an die Gruppenleitungen und ihre Teammitglieder. Ein Qualitätsmaßstab bzw. Qualitätskriterium ist es, dass insbesondere in den Kindergruppen ein hoher Betreuungsschlüssel herrscht. Dies, so hat unsere Erfahrung gezeigt, birgt die Möglichkeit, dass die Einzelnen in der Gruppe ausreichend gesehen und gehört werden. Diese Wirkung ist nicht zu unterschätzen und wird auch des Öfteren insbesondere von den Eltern positiv angemerkt, da sie dies als bedeutsamen Unterschied zum Beispiel zur Klassenstärke in der Schule für ihre Kinder erleben, ein Unterschied, den sie als eine besondere Wertschätzung ihren Kindern und der Situation gegenüber empfinden. Aber auch in den Elterngruppen kann eine individualisierende und sensible methodische Herangehensweise nur bei einem ausreichenden Personalschlüssel (1 zu 5) realisiert werden, zumal ergänzend zu den Aktivitäten in der Gruppe häufig intensive Einzelgespräche/Einzelberatungen notwendig sind. Neben diesem quantitativen Kriterium bedarf es einer qualifizierten Professionalität der verantwortlichen Akteure, die nicht nur durch entsprechende Primärausbildung, sondern auch durch fortlaufende Weiterbildung und Supervision gesichert werden muss.

Literatur Bausum, J., Besser, L., Kühn, M., Weiß, W. (Hrsg.) (2011). Traumapädagogik. Grundlagen, Arbeitsfelder und Methoden für die pädagogische Praxis. Weinheim: Juventa Ennulat, G. (2003). Kinder trauern anders. Wie wir sie einfühlsam und richtig begleiten. Freiburg: Herder. Fleck-Bohaumilitzky, C. (2005). Wenn Kinder trauern. LebensWert, Winter 2005, 6–7. Jürgens, E., Jäger, R. (2013). Kinder, die ein Elternteil verloren haben. Aspekte einer professionellen Trauerbegleitung. neuro aktuell, 27 (219), 36–38.

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Klass, D., Silverman, P. R., Nickman, S. (1996/2011). Fortgesetzte Verbindungen. In C. Paul (Hrsg.), Neue Wege in der Trauer- und Sterbebegleitung. Hintergründe und Erfahrungsberichte für die Praxis (S. 183–190). Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. König, O., Schattenhofer, K. (2011). Einführung in die Gruppendynamik. Heidelberg: Carl-Auer. Müller, M., Brathuhn, S., Schnegg, M. (2013). Handbuch Trauerbegegnung und -begleitung. Theorie und Praxis in Hospizarbeit und Palliative Care. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Oerter, R., Montada, L. (Hrsg.) (1998). Entwicklungspsychologie. Weinheim: Beltz. Paul, C. (Hrsg.) (2011). Neue Wege in der Trauer- und Sterbebegleitung. Hintergründe und Erfahrungsberichte für die Praxis. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Rando, T. A. (2003). Trauern. Die Anpassung an Verlust. In J. Wittkowski (Hrsg.), Sterben, Tod und Trauer (S. 173–192). Stuttgart: Kohlhammer. Röseberg, F. (2013). Familienorientierte Trauerbegleitung nach dem Tod eines nahe stehenden Menschen. Qualitative Untersuchung zur Teilnehmermotivation und Wirkung einer Gruppenintervention aus der Sicht von Kindern und Eltern. Aachen: Shaker Verlag. Stroebe, M., Schut, H. (1999). The Dual Process Model of coping with bereavement: rationale and description. Death Studies, 23 (3), 197–224. Witt-Loers, S., Halbe, B. (2013). Kinder-Trauergruppen leiten. Ein Handbuch. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Worden, J. W. (2011). Beratung und Therapie in Trauerfällen. Ein Handbuch. Bern: Huber.

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Franziska Röseberg

»Einen Platz im Leben für die Trauer schaffen«1 Ein Forschungsbeispiel mit Impulsen für die Praxis

Im Rahmen des Bonner Familientrauerbegleitungsangebotes »Trau Dich Trauern«2 (TDT) wurde eine qualitative Untersuchung zum Erleben von geschlossenen Trauergruppen von Kindern und deren Müttern bzw. Vätern durchgeführt. Ziel war es, die Motivation zur Teilnahme und die Zuschreibung der Wirkung der Trauergruppe aus Sicht der teilnehmenden Kinder und Erwachsenen zu explorieren. Sechs Wochen nach Gruppenteilnahme (2005 bis 2010) wurden die Familien mit Hilfe von Fragebögen mit offenen Antwortmöglichkeiten befragt. Mit einer begründeten Auswahl von Teilnehmern wurden nach zwei Jahren Interviews durchgeführt (2010 bis 2011). Die Fragebögen und transkribierten Interviews wurden inhaltsanalytisch ausgewertet. In die Auswertung flossen die Angaben aus siebzig Fragebögen (47 Kinder, 23 Erwachsene, Rücklaufquote 30 Prozent) und Interviews mit acht Kindern und vier Erwachsenen (vier Familien) ein. Im Folgenden werden Teile der Ergebnisse der Untersuchung und Impulse für die Praxis vor dem Hintergrund der Erfahrungen bei TDT dargestellt. Eine methodische und inhaltliche Diskussion findet sich bei Röseberg (2013).

Soziodemografische Daten der Teilnehmer Im Zeitraum von 2005 bis 2010 nahmen 160 Kinder und Jugendliche und 72 Erwachsene (116 Familien) an einer der 19 Trauergruppen3 von TDT teil. Die Kinder waren zu Beginn der Kindergruppen in der Regel sieben bis 13 Jahre alt (Bereich drei bis 14 Jahre). 14- bis 19-Jährige wurden den Jugendveranstaltungen zugeordnet (Bereich 13 bis 24 Jahre). Die Erwachsenen in den parallel zu den Kinder- bzw. Jugendgruppen stattfindenden Elterngruppen waren durchschnittlich 42 Jahre alt (Bereich 29 bis 57 Jahre). Bei den teilnehmenden Kindern bzw. Jugendlichen war ein höherer Anteil 1 Zitat einer Teilnehmerin aus einer Erwachsenentrauergruppe bei »Trau Dich Trauern«, die die Kindergruppe flankierte. 2 Trau Dich Trauern – Zentrum für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Seliger Gerhard Bonn/ Rhein-Sieg, siehe auch www.traudichtrauern.de 3 Zwölf Kindergruppen, drei Jugendgruppen, vier Wochenendveranstaltungen.

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an Mädchen zu verzeichnen (100 Mädchen, 60 Jungen). Bei den erwachsenen Teilnehmern nahmen überwiegend Frauen teil (56 Frauen, 16 Männer). Insgesamt 119 Kinder und Jugendliche trauerten um ein Elternteil (Tod der Mutter: n = 42, Tod des Vaters: n = 76, eine Teilnehmerin hatte beide Adoptiveltern verloren). Ein Geschwisterverlust wurde von 34 Kindern erlebt, während sieben um andere nahestehende Menschen trauerten (Cousin, Großmutter, Onkel).4 Durchschnittlich lag der Tod des nahestehenden Menschen bei den Gruppenteilnehmern 23 Monate zurück, wobei der zeitliche Gesamtbereich sehr groß war (ein Monat bis 9,5 Jahre). Eltern mit jüngeren Kindern nahmen wesentlich früher Unterstützung in Anspruch (Abstand zum Tod bei Kindergruppen durchschnittlich 13 Monate).

Zugangsweg Während Kinder meist von ihren Familien über das Trauerbegleitungsangebot (n = 30, überwiegend Elternteile) informiert wurden, erfuhren Mütter bzw. Väter meist über Multiplikatoren (n = 17, Ärzte, Hospiz-/Palliativbereich, Kindergarten/Schule, Psychotherapeuten, Trauerbegleiter, Seelsorger, Selbsthilfegruppe) bzw. über Öffentlichkeitsarbeit (n = 8, Flyer, Zeitung, Internetseite) von »Trau Dich Trauern«.

Motivation zur Teilnahme 30 Prozent der Kinder und die Hälfte der Erwachsenen nahmen teil, weil sie sich einen positiven Effekt für sich selbst erhofften (zum Beispiel Kommunikation über Emotionen). Eltern wünschten sich eine Einschätzung von Experten und eine Unterstützung ihrer Kinder. Der Austausch mit anderen Betroffenen motivierte sowohl Kinder als auch Eltern zur Teilnahme. Ein Drittel Kinder (rund 30 Prozent) nahmen auf Weisung der Eltern teil.

4 Krebs und Herz-Kreislauf-Erkrankungen gehörten zu den häufigsten Todesursachen (46 Prozent Krebs, 28 Prozent Herz-Kreislauf-Erkrankung). In 14 Prozent der Fälle war ein Unfall die Todesursache, in 8 Prozent der Fälle lag ein Suizid vor und 4 Prozent der Todesursachen waren amyotrophe Lateralsklerose, Komplikationen in Folge einer Behinderung und Komplikationen nach operativen Eingriffen bzw. Verletzungen. Über die Hälfte der Familien erlebte eine kürzere oder längere Periode der Krankheit bei ihren Familienangehörigen vor deren Tod. Für 45 Prozent der Familien kam der Tod des nahestehenden Menschen plötzlich, ohne vorherige Anzeichen (Herzinfarkt, Unfall etc.).

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Franziska Röseberg

Bewertung der Gruppenteilnahme und Hervorhebung von einzelnen Aspekten Die überwiegende Mehrheit bewertete die Trauergruppe als positive Erfahrung (n = 45 Kinder und zwanzig Erwachsene). Lediglich ein Kind und ein Erwachsener bewerteten die Gruppe ambivalent. Zwei Erwachsene bewerteten die Gruppe negativ. Kritisiert wurden einerseits die zu geringe Gruppengröße und andererseits die Zusammensetzung der Teilnehmer. Kinder hoben insbesondere das kreative Gestalten (n = 34), die Kommunikation mit anderen Teilnehmern (n = 16), die Gruppenatmosphäre (n = 12) und die Pausen (n = 11) hervor. Der Austausch, die Gruppenatmosphäre und Gruppenleitung wurden sowohl von Kindern als auch Erwachsenen positiv bewertet. Auf die Frage: »Was hat Dir nicht gefallen?/Was hat Ihnen nicht gefallen?«, antworteten die meisten befragten Kinder (n = 30) und acht Erwachsene mit der schriftlichen Angabe »nichts«; gaben also keinerlei kritische Kommentare ab. Beklagt wurde der Zeitmangel bzw. die zu kurze Dauer der Trauergruppe insgesamt (Kinder: n = 8, Erwachsene: n = 2). Sowohl von zwei Kindern als auch von einem Erwachsenen wurde die Teilnahme an der Trauergruppe als emotionale Belastung empfunden. Ausschließlich Kinder bewerteten zu langes Sitzen/Bewegungsmangel (n = 3) und die Störungen durch andere Teilnehmer (n = 3) negativ. Ausschließlich Erwachsene wünschten sich eine größere Gruppe (n = 2) und mehr Struktur (n = 2).

Einschätzung der Auswirkung der Gruppenteilnahme auf die Kinder aus Sicht der Mütter und Väter Die überwiegende Mehrheit der Erwachsenen schätzte die Auswirkung der Gruppenteilnahme auf ihre Kinder positiv ein (siehe Tabelle 1). In 25 Aussagen wurde eine positive Auswirkung der Gruppenteilnahme auf die Kinder durch Erwachsene genannt. Besonders häufig wurde mit elf Nennungen der Kontakt mit anderen Betroffenen hervorgehoben. Erwachsene beschrieben eine Stabilisierung ihrer Kinder, ein Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft, das es ermöglichte, dass die Kinder ihre Verlusterfahrungen normalisieren würden. Genannt wurden darüber hinaus mehr Offenheit durch die Teilnahme in der Trauergruppe (n = 5, in Bezug auf Trauer/Verlust, Gefühle und Gespräche über den Verstorbenen), eine Auseinandersetzung mit dem Verlust (n = 3) und mehr Ausgeglichenheit (n = 2). Drei Erwachsene machten unkonkrete Aussagen zur Auswirkung der Gruppe. Ein Elternteil gab an, die eigene Einschätzung zum Umgang der Kinder mit dem Verlust bestätigt bekommen zu haben. Drei Erwachsene gaben an, dass sie nach der Gruppenteilnahme keine Auswirkungen auf ihre Kinder erkennen konnten. Ein Elternteil hob hervor, dass er negative Auswirkungen während der Gruppenteilnahme an seinem Kind beobachtet hatte. In sechs Aussagen fanden sich vermutete bzw. erhoffte Auswirkungen der Gruppen-

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teilnahme (besserer Umgang mit Trauer/Verlust, besserer Umgang mit Angst und Akzeptanz des Verlustes). Tabelle 1: Einschätzung der Erwachsenen zur Auswirkung der Gruppenteilnahme auf ihr Kind/ ihre Kinder Erwachsene: Wie schätzen Sie die Auswirkungen der Gruppenteilnahme für Ihr Kind/ Ihre Kinder ein? positive Auswirkungen (n = 25) •• positiver Effekt durch Kontakt mit anderen betroffenen Kindern (n = 11) –– Stabilisierung –– Zugehörigkeitsgefühl zur Gemeinschaft –– Normalität der Erfahrung »es hat sich wohl gefühlt, hatte das Gefühl, anderen geht es ähnlich wie mir.« (E3) »Meine Kinder sind gerne gekommen und es steht außer Frage, dass beide extrem positiv davon profitiert haben. Es hat ihnen gezeigt, dass sie nicht alleine sind mit diesem Schicksal und dass der Tod eines Elternteils kein Brandmal ist. Es hat dort Halt und Kraft gegeben, wo ich meinen Kindern nicht helfen konnte.« (E5) »Durch die anderen Kinder haben sie auch gemerkt, dass sie nicht die einzigen in dieser Situation sind.« (E12) »Ich glaube, dass die Gruppenarbeit stabilisierend und auch entkrampfend gewirkt hat, die Sondersituation hat ein Stück weit Normalitätscharakter bekommen.« (E14) »Auch hier habe ich einen positiven Eindruck, so dass mein Kind in der Gruppe aufgeblüht ist und gesehen hat, dass auch andere Kinder einen geliebten Menschen verloren haben.« (E22) •• mehr Offenheit (n = 5) –– in Bezug auf Trauer –– in Bezug auf Gefühle –– in Bezug auf Gespräche über Verstorbenen »Positiv, J. spricht bei vielen Gelegenheiten von ihrer Mutter und davon, dass sie traurig ist. Dass sie ihre Gefühle so ausdrücken kann, hat unserer Einschätzung nach mit den Treffen zu tun.« (E18) »Meine Kinder waren an diesen Tagen immer in froher Erwartung auf die gemeinsamen Stunden in der Gruppe. Durch die Teilnahme haben sie sich ein Stück weit mehr geöffnet und ließen es zu, über ihre Trauer zu sprechen. Zu Hause haben sie auch ihren Freunden mit großer Begeisterung von allem erzählt.« (E2) »Er konnte sich endlich öffnen und […] spricht wieder mehr über seinen Papa.« (E8) »Mein Sohn hat in der Gruppe zum ersten Mal seit Monaten über seinen Vater gesprochen. Es hat ihm gut getan, zu merken, dass er mit seiner Trauer nicht alleine ist. Er möchte, wie jeder andere Junge, dass sein Leben, soweit es geht, normal verläuft. Die Stunden haben seine Trauer ›normalisiert‹, das war sehr wichtig für ihn.« (E21) •• Auseinandersetzung mit dem Verlust (n = 3) »Sehr positiv! Sie haben sich alle mit dem Tod des Vaters auseinandergesetzt. Da wir hier nicht viel darüber reden, konnten sie gerade beim Basteln sehr viel aus sich raus lassen und das Geschehene auch besser einsortieren.« (E12) »während C. den Eindruck macht, als müsste er noch etwas verarbeiten.« (E20)

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Franziska Röseberg

•• größere Ausgeglichenheit (n = 2) »Die Gruppe war für P. das Beste, was ihm passieren konnte. Er konnte sich endlich öffnen und wirkte dadurch zu Hause etwas gelassener.« (E8) »L. wirkt sehr mit sich im Reinen.« (E20) •• Bestätigung im Umgang mit der Trauer (n = 1) »Ich habe zwar schon vorher das Gefühl gehabt, dass er den Tod seiner Mutter recht gut verarbeitet – die Gruppe hat dieses aber bestätigt und gefestigt.« (E4) unkonkrete Aussagen zu Auswirkungen (n = 3) »Sehr, sehr gut. Für meine Kinder super.« (E10) »Sehr gut. G. hat sich sehr wohl gefühlt in der Gruppe. Sie ist sehr traurig, dass wir nicht mehr jede Woche hingehen können. Es hat ihr sehr gut getan.« (E13) »Sehr positiv. Beide Kinder haben sich sehr wohl gefühlt und sind gerne gekommen. Die Gruppenteilnahme hat viele Anregungen gegeben, die fortwirken.« (E16) keine erkennbaren Auswirkungen (n = 3) »Da mein Kind leider nicht an allen angebotenen Termine teilnehmen konnte, kann ich eine direkte Auswirkung durch die Teilnahme nicht erkennen.« (E17) »Kann ich noch nicht sagen.« (E11) »Jetzt nach dem Ende ist alles wieder wie vorher.« (E23) negative Auswirkungen während der Gruppenteilnahme (n = 1) •• Verwirrung •• auffällig in Schule •• unausgeglichener »Nicht gut. Sie war verwirrt, in der Schule auffällig geworden und abends unausgeglichen. Nachts unruhig. Nachdem wir eine Woche ausgesetzt haben, ging es besser. Jetzt nach dem Ende ist alles wieder wie vorher. Der Kurs wird von ihrer Seite nicht erwähnt und die Seiten aus dem Heft hat sie entfernt!« (E23) vermutete/erhoffte Auswirkungen (n = 6) •• besserer Umgang mit Trauer/Verlust •• besserer Umgang mit Angst •• Akzeptanz des Verlustes »Eher langfristige Auswirkungen, dass die Kinder mit der Zeit lernen, mit dem Verlust und ihrer Trauer umzugehen.« (E9) »Ich hoffe aber, dass der Austausch mit anderen meinem Kind und mir auf Dauer gut tut.« (E11) »Ich hoffe, dass die Trauergruppe meinen Kindern hilft, in Zukunft gut mit ihrer Trauer und Angst umzugehen.« (E16) »Ich glaube, dass sie den Tod ihres Vaters besser akzeptieren können, wenn sie mitbekommen, dass andere ein ähnliches Schicksal teilen.« (E20) »Ich hoffe, dass mein Kind nun insgesamt etwas besser mit dem Tod des Vaters umgehen kann.« (E22) »Durch die frühe Bearbeitung des Trauerprozesses können die Spätfolgen hoffentlich gemildert werden.« (E6)

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Gesamtauswertung Fragebögen und Interviews Im Anschluss an die familienorientierte Auswertung der Interviews erfolgte eine Gesamtauswertung der Fragebögen und Interviews. Es fanden sich in den Fragebögen und Interviews Beschreibungen der subjektiv empfundenen Veränderungen nach dem Tod eines Elternteils. In manchen Fällen wurden sie direkt genannt, in anderen Fällen ließen sie sich indirekt aus den Aussagen ableiten. Im Folgenden werden die Veränderungen, die beschrieben wurden, nacheinander gemäß den Zuordnungen und Kategorien, die die Auswertung ergeben hat, aufgeführt.

Empfundene Veränderungen nach dem Tod eines Elternteils Herausfallen aus der Norm Den Tod eines Elternteils schienen Familien als gravierenden Einschnitt zu erleben. Ihrem Empfinden nach unterschieden sich die Familien nach dem Tod eines Elternteils von anderen Familien. Sowohl von Kindern als auch Erwachsenen wurde dieses Herausfallen aus der Norm beschrieben. Betroffene schrieben sich selbst zu, anders als andere zu sein. Sie empfanden sich mit ihrem Verlust als emotionale Belastung für andere. Gleichzeitig fanden sich Aussagen, in denen den Betroffenen durch das Verhalten anderer deutlich wurde, dass sie anders seien (zum Beispiel Hänseln). Das Anderssein wurde von Emotionen begleitet (zum Beispiel Einsamkeit, Beschämung). Gedanken und Gefühle nach dem Tod eines Elternteils In den Aussagen der interviewten Familien fanden sich Beschreibungen in Bezug auf die emotionale Situation der Familien nach dem Tod eines Elternteils. Aus den Nennungen wurden Kategorien gebildet: Trauer, Schmerz, Kummer, Angst, Probleme, Hilflosigkeit, Einsamkeit und das Gefühl, nicht verstanden zu werden. Es wurden Kraft- und Energielosigkeit und Zukunftsangst genannt. Aus den Aussagen der Erwachsenen ließ sich Unsicherheit im Allgemeinen oder in Bezug auf spezifische Bereiche ableiten. Es wurde die Unsicherheit in Bezug auf den Umgang mit der Trauer, in Bezug auf neue Rollen, auf Finanzen, den Umgang mit Gefühlen, den Umgang mit den Kindern und in Bezug auf Organisatorisches genannt. Das Gefühl der Überforderung fand sich in den Aussagen aller erwachsenen Interviewpartner. In den Aussagen der Kinder fanden sich Hinweise darauf, dass sich manche von ihnen nach dem Tod eines Elternteils nach außen emotional besonders stabil zeigten und vermehrt Verantwortung innerhalb der Familie übernahmen (zum Beispiel andere Familienmitglieder trösten).

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Veränderungen der inner- und außerfamiliären Kommunikation Familien, die den Tod eines Elternteils erlebten, schienen mit Veränderungen der innerund außerfamiliären Kommunikation zu reagieren. Ein häufiges Phänomen war eine unterschiedlich stark ausgeprägte Sprachlosigkeit in Bezug auf Gefühle und Erlebnisse, die in Zusammenhang mit dem Tod des Familienmitgliedes bzw. dem Toten selbst standen. In einigen Fällen schien insbesondere die innerfamiliäre Kommunikation gestört worden zu sein bis hin zum völligen Fehlen einer Kommunikation über den Verstorbenen oder die Erlebnisse im Zusammenhang mit dem Tod. Die fehlende Möglichkeit, Gefühle im Zusammenhang mit dem Todesfall ausdrücken zu können, wurde sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen hervorgehoben. In anderen Familien schien die Kommunikation mit dem sozialen Umfeld gestört zu sein. Dies führte dazu, dass sich Betroffene im Verwandten- und Freundeskreis unverstanden oder einsam fühlten. Das Sprechen über den Toten und über die Erlebnisse, die mit seinem Tod in Zusammenhang stehen, scheint eine besondere Herausforderung für Familien zu sein.

Zugeschriebene Wirkungen der Trauergruppe aus Teilnehmersicht Im Folgenden werden die aus Teilnehmersicht der Trauergruppe zugeschriebenen Wirkungen dargestellt. Dabei lieferten vor allem die Interviews mit ihren ausführlicheren Darstellungen der erinnerten psychischen Prozesse der Teilnehmer Hinweise auf die Kategorien. Die beiden Kategorien »Austausch mit anderen Betroffenen/ Gemeinschaftsgefühl« und »Kommunikation über den Verstorbenen/die Erlebnisse im Zusammenhang mit seinem Tod« fanden sich auch in den Fragebögen. Insgesamt schien die Trauergruppe sowohl für Kinder als auch für Erwachsene die Funktion zu haben, die Anpassung an die neue Lebenssituation als Halbwaise bzw. Verwitwete(r) mit minderjährigen Kindern zu unterstützen. Die Familien wurden darin unterstützt, eine funktionale Form der Anpassung an den Verlust zu entwickeln oder weiter zu stärken. Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls Sowohl Eltern als auch Kinder schrieben der Gruppe zu, hier ein Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gruppe erlebt zu haben, die sich über ähnliche Erfahrungen definierte: Familien, die den Tod eines nahestehenden Menschen erlebt hatten. Es wurde insbesondere der Austausch mit in Bezug auf die Verlusterlebnisse Gleichgesinnten als Grund dafür hervorgehoben, dass ein Gemeinschaftsgefühl entstand. In der Gruppe wurde überwiegend das Gefühl hervorgerufen, sich verstanden und ernst genommen zu fühlen.

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Bei hohem Gemeinschaftsgefühl wurden unterschiedliche Ansichten in der Gruppe als Erweiterung des eigenen Erfahrungshorizonts bewertet. Aus den Fragebögen wurde auch deutlich, dass das Zugehörigkeitsgefühl nur zugeschrieben wurde, wenn die Teilnehmer in für sie wesentlichen Merkmalen mit der Gruppe übereinstimmten. War dies hingegen nicht der Fall, wurde die Gruppe insgesamt negativ bewertet (zum Beispiel von Erwachsenen nach dem Verlust eines Kindes in einer Gruppe, in der alle anderen um einen Partner trauerten). Der Zusammenhang von erlebtem Gemeinschaftsgefühl und Gesamtbewertung der Gruppe und die Tatsache, dass der Austausch von nahezu allen Befragten genannt wurde, deuten darauf hin, dass es sich bei der Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls um eine zentrale Funktion der Trauergruppe handelt. Die Homogenität der Teilnehmer in Bezug auf Merkmale wie Art des Verlustes, Anzahl der Kinder in der Familie etc. scheint die Schaffung eines Gemeinschaftsgefühls zu fördern. Schaffung eines Raumes für die eigene Trauer Viele Teilnehmer hoben besonders hervor, dass die Trauergruppe für sie einen besonderen Raum darstellte. Es wurde betont, dass hier die Möglichkeit bestand, sich mit der eigenen Trauer zu beschäftigen, und dass keine Rücksicht auf nahestehende und persönlich involvierte Menschen (eigene Kinder, Eltern, Geschwisterkinder oder Verwandte, Freunde etc.) genommen werden musste. Die Trauergruppe wurde als wertungsfreier Raum beschrieben, in dem die Lebenssituationen und die Erfahrungen als Trauernde betrachtet und reflektiert werden konnten. Bedürfnisorientierte Regulation der Emotionen In der Trauergruppe schien eine bedürfnisorientierte Regulation der Gefühle eingeübt, erworben, wiedererlangt oder verbessert worden zu sein. Viele Teilnehmer hoben hervor, dass ihnen die Trauergruppe ermöglichte, in Kontakt mit ihren Gefühlen zu kommen. Einerseits konnten sie ihnen Ausdruck verleihen, andererseits spielte das Wahren der emotionalen Stabilität sowohl für Kinder als auch Erwachsene eine große Rolle. So ermöglichte die Trauergruppe ein Ausdrücken von Gefühlen, wie Traurigkeit, Wut, Hilflosigkeit etc., aber ausdrücklich auch von Lachen. Gleichzeitig schien das Bedürfnis nach Kontrolle von Emotionen ebenso akzeptiert und unterstützt worden zu sein. Es schien individuell unterschiedlich stark ausgeprägt zu sein und auch von Treffen zu Treffen zu variieren. Den Teilnehmern schien es in der Trauergruppe möglich zu sein, bedürfnisorientiert und individuell Gefühle zuzulassen oder auch die Fassung zu wahren. Reduzierung von Unsicherheit Insgesamt schien für viele Teilnehmer die Unsicherheit in Bezug auf die neue Lebenssituation reduziert worden zu sein. Dies bezog sich auf trauernahe Themen wie den

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Umgang mit der eigenen Trauer oder der Trauer der Kinder. Die Teilnehmer beschrieben einen Zuwachs an Verständnis für die eigenen Emotionen und die eigenen Bewältigungsstrategien sowie die Emotionen als auch die individuellen Bewältigungsstrategien der Familienmitglieder. Durch die verbesserte Kenntnis des eigenen Trauerprozesses schienen eigene Bedürfnisse klarer geäußert werden zu können. Gleichzeitig konnte aber auch die Unterschiedlichkeit der Familienmitglieder im Umgang mit ihrer Trauer besser akzeptiert werden. In manchen Familien zeigte sich die reduzierte Unsicherheit im Umgang mit der Trauer durch eine Zunahme der Kommunikation über den Verstorbenen. Es wurde aber auch mehr Sicherheit gewonnen in Bezug auf Themen wie die Rolle als Alleinerziehende, finanzielle Alleinverantwortung, Organisation des Alltags etc. Reflexion von Funktionen/Verhaltensweisen Übernommene Funktionen und Verhaltensweisen von einzelnen Familienmitgliedern und innerhalb der Familie wurden in der Trauergruppe reflektiert (zum Beispiel andere trösten, keine Traurigkeit zeigen oder immer weinen, wenn das Gespräch auf den Verstorbenen kommt). Teilnehmer überprüften die übernommenen Funktionen und Verhaltensweisen auf ihre Notwendigkeit, Funktionalität und Angemessenheit hin. Dies führte bei Teilnehmern zur Bestätigung ihrer übernommenen Funktionen und Verhaltensweisen, andere beschrieben, dass sie dazu angeregt wurden, andere Verhaltensweisen oder Strategien zu entwickeln und auszuprobieren (zum Beispiel Erinnerungen teilen, Gefühle voreinander zeigen, sie aushalten, darüber sprechen oder sich andere Gesprächspartner außerhalb der Familie suchen). Orientierung Die Trauergruppe stellte für viele Teilnehmer eine Orientierungshilfe dar. Hierbei kam es im Verlauf der Gruppe dazu, dass die Teilnehmer zu der Überzeugung gelangten, die Gefühle, Verhaltensweisen und Herausforderungen in der Familie seien in gewisser Weise normal; zumindest entsprechend der neuen familiären Situation. Sie entwickelten die Ansicht, dass das Leben als Verwitwete mit Kindern für sie handhabbar und die Familie auf dem für sie richtigen Weg sei. Dies kann als Steigerung der Selbstkompetenz bewertet werden.

Impulse für die Praxis vor dem Hintergrund der Erfahrungen bei TDT Aufgrund der Ergebnisse der Untersuchung werden im Folgenden Schlussfolgerungen für die Praxis vorgeschlagen und vor dem Hintergrund der Erfahrungen bei »Trau Dich Trauern« diskutiert.

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Familienorientierung Die Untersuchung zeigte, dass Witwen und Witwer mit Kindern nach dem Tod ihres Partners viele Veränderungen erleben und hohen Anforderungen gerecht werden müssen. Sie sind gefordert als Trauernde, als Alleinerziehende und als Begleiter ihrer Kinder sowohl im Alltag als auch in Bezug auf deren Trauer. Vor diesem Hintergrund wird deutlich, dass eine alleinige Unterstützung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen wenig sinnvoll erscheint. Die Untersuchung zeigte, dass die Erwartungen von Eltern an die Teilnahme einer Trauergruppe hoch sind. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass durch das Vorhandensein von Trauerbegleitungsangeboten für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene »bei Eltern die Hoffnung gestärkt wird, Teile der ungeliebten Auseinandersetzung mit ihren Kindern (zum Thema Tod und Trauer) an ›Profis‹ delegieren zu können und sie sich dadurch selbst von einer wesentlichen Verantwortung befreit fühlen« (Melching, 2012, S. 7). Hier ist es notwendig, die Erwartungen vor der Gruppenteilnahme explizit zu erfragen und auch im Verlauf der Trauerbegleitung eventuell implizite Erwartungen in den Blick zu nehmen und mit den Erwachsenen zu reflektieren. Die Familienorientierung ist deshalb in der Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen eine grundlegende Voraussetzung. Die Untersuchung und die Erfahrung bei »Trau Dich Trauern« zeigen, dass Eltern sich häufig Unterstützung suchen, gerade weil sie die Begleitung ihrer Kinder als elterliche Aufgabe wahrnehmen. Die Inanspruchnahme einer familienorientierten Trauerbegleitung kann dazu führen, dass Eltern dahingehend Bestätigung bekommen und Sicherheit entwickeln, dieser Aufgabe gewachsen zu sein. Angebote sollten so gestaltet werden, dass sowohl Väter bzw. Mütter als auch Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene unterstützt werden können. In Bezug auf das Gruppensetting hat sich das zeitlich parallele Arbeiten mit beiden Zielgruppen bewährt. Dies wurde auch in der Untersuchung bei TDT durch Teilnehmer positiv hervorgehoben. Eine Familienorientierung ist allerdings auch dann möglich, wenn keine gemeinsame Gruppenteilnahme erwünscht oder möglich ist. Hier sollten flankierende Einzelgespräche für Eltern die Kindertrauergruppe ergänzen. Die Teilnahme von Eltern in der Elterntrauergruppe, ohne dass die eigenen Kinder an der Kindertrauergruppe teilnehmen, kann im Einzelfall auch gewünscht sein. Auch damit wurden gute Erfahrungen bei »Trau Dich Trauern« gemacht. Jedoch waren hier zusätzlich Einzelgespräche hilfreich, in der die Situation in der Familie besprochen werden konnte. Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzung Die Untersuchung zeigt, dass der regionalen Vernetzung mit Multiplikatoren (zum Beispiel Schule, Kindergarten, Jugendamt, Ärzte, Psychotherapeuten, Hospizdienste etc.) und der Öffentlichkeitsarbeit eine hohe Bedeutung für den Bekanntheitsgrad zukommen. Vor allem über Multiplikatoren haben viele Familien Zugang zum Trauerbegleitungsangebot. Die Notwendigkeit des Ausbaus des Bekanntheitsgrades von

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Trauerbegleitungsangeboten zeigte eine Untersuchung im Aachener Raum. Hier kannten lediglich ein Drittel der befragten Mitarbeiter in pädagogischen Einrichtungen und der Kinderärzte Institutionen, die Informationen zur Unterstützung von Kindern und Jugendlichen in Bezug auf Sterben, Tod und Trauer zur Verfügung stellen (Schartmann-Unrath, 2012). Wilkinson, Croy und King (2007) diskutierten, ob möglicherweise eine gemeindenahe Trauerbegleitung unter der fachlichen Mitarbeit der Hospize einen größeren Wirkungskreis hätte. Die Ergebnisse der Untersuchung bei »Trau Dich Trauern« zeigen Übereinstimmungen mit der Untersuchung in Großbritannien. Viele Anfragen bei TDT kamen von Familien, die vorher keinen Kontakt zu Hospizen oder zur Palliativmedizin hatten. Knapp die Hälfte der Familien, die die Trauerbegleitung bei TDT in Anspruch genommen hatten, erlebte den plötzlichen Tod eines Familienmitgliedes. Einige Familien, die eine Zeit der Erkrankung eines Elternteils erlebten, hatten Kontakt zu Hospizen oder palliativmedizinischen Einrichtungen und wurden durch sie auf »Trau Dich Trauern« aufmerksam gemacht. Unabhängig von der Trägerschaft ist die Öffentlichkeitsarbeit über den Kontext der Hospizarbeit und Palliativmedizin hinaus für Anbieter im Bereich der Kindertrauerbegleitung besonders wichtig, da ihre primäre Zielgruppe nur zu einem Bruchteil Kontakt zu diesen Bereichen hat. Dauer des Gruppenangebotes Da sowohl Kinder als auch Erwachsene sich eine längere Dauer der Gruppe wünschen, sollte nach Möglichkeit die Dauer von sieben zum Beispiel auf zehn Treffen erhöht werden. Dies hätte bei gleichem personellen Aufwand bedeutet, dass nicht mehr drei sondern nur noch zwei Gruppen pro Jahr hätten stattfinden können. Unter Berücksichtigung von Vor- und Nachbereitungszeit, Ferien etc. entschieden sich die Mitarbeiter von »Trau Dich Trauern« gegen eine zeitliche Verlängerung des Gruppenangebotes und boten stattdessen vierteljährlich stattfindende offene Familiennachmittage an. In jedem Fall ist bei zeitlich begrenzten geschlossenen Gruppenangeboten zu überlegen, eine Ergänzung um ein zeitlich unbegrenztes Angebot einzurichten. Dort können Teilnehmer selbst die Dauer der Teilnahme bestimmen, die ein Bedürfnis nach einer längeren Unterstützung haben. Homogene Gruppenzusammensetzung Die Untersuchung zeigte, dass die Bewertung der Gruppe aus Teilnehmersicht eng mit der homogenen Gruppenzusammensetzung in Zusammenhang stand. Es sollte darauf geachtet werden, dass die Teilnehmer der Gruppe hinsichtlich bestimmter Aspekte möglichst homogen zusammengesetzt sind. Hier wurden insbesondere die Art des Verlustes, das Alter, die Anzahl der Kinder in der Familie als Voraussetzung für ein empfundenes Gemeinschaftsgefühl und letztendlich für die positive Bewertung der Gruppe genannt.

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Es sollte eine separate Unterstützung angeboten werden für Familien, in denen ein Kind gestorben ist, und für Familien nach dem Tod eines Elternteils. Weil die Unterstützungsangebote im Untersuchungszeitraum regional noch überschaubar waren, erhielt das Team von TDT häufig Anfragen von Familien, in denen ein Geschwisterkind oder andere nahestehende Personen gestorben waren. Diese Familien wurden vorwiegend in Einzelbegleitungen unterstützt. Manche dieser Familien fragten explizit nach einem Gruppenangebot und so nahmen 34 Kinder (21 Prozent) nach dem Verlust von Geschwisterkindern und sieben Kinder (5 Prozent) nach dem Verlust von anderen Bezugspersonen an den Kindertrauergruppen teil. 119 Kinder (74 Prozent) der Gruppenteilnehmer in den Kindergruppen trauerten um ein Elternteil. Die Gruppenleiterinnen hatten den Eindruck, dass die Integration der Kinder mit den Geschwisterverlusten und den Verlusten von anderen Bezugspersonen in die Gruppe gelingen konnte. Auch in den Fragebögen der Kinder findet sich kein Hinweis, dass die andere Verlustart für Kinder als störend wahrgenommen wurde. In den Kindergruppen schien es für die Teilnehmer weniger relevant zu sein, wer gestorben war. In zwei Ausnahmefällen wurden aufgrund von intensivem Drängen der Teilnehmer einzelne Eltern nach dem Tod eines Kindes in der Elterngruppe aufgenommen, in der ansonsten alle um einen Partner trauerten. Erwartungsgemäß wurde dies durch alle Beteiligten als schwierig bewertet. Es entstanden Hemmungen durch innere Bewertungen des Verlustes durch die Teilnehmer. Die Eltern, die um ein Kind trauerten, bewerteten die Gruppe für sich insgesamt als negativ. Insofern muss von einer gleichzeitigen Teilnahme von verwitweten Vätern und Müttern mit verwaisten Eltern an einer gemeinsamen Gruppe abgeraten werden. Dazu sollten verlustspezifische Angebote ausgebaut werden. Die Todesursache Suizid wurde in den vorliegenden Fragebögen nicht explizit erwähnt. Bezüglich der Interviews wurden Familien nach dem Tod eines nahestehenden Menschen durch Suizid ausgeschlossen, weil sie nicht der Hauptzielgruppe des Angebotes entsprachen. Familien, die den Tod durch Suizid erlebt hatten, wurde bei »Trau Dich Trauern« zusätzlich eine verlustspezifische Unterstützung empfohlen, zum Beispiel durch »Angehörige um Suizid e. V.« (AGUS e. V.5, 2014). Ein Teilnehmer wurde in einer AGUS-Selbsthilfegruppe auf TDT aufmerksam gemacht und nahm gleichzeitig an beiden Gruppen teil. Gleichzeitige Teilnahme von Geschwisterkindern Wie die Untersuchung zeigt, wird die gleichzeitige Teilnahme von Geschwisterkindern an einer Gruppenteilnahme überwiegend positiv bewertet. Es wird die Vertrautheit und das Zusammengehörigkeitsgefühl genannt, das sich stabilisierend insbesondere zu Beginn einer Gruppe auswirken kann. Für die Erwachsenen ist eine gleichzeitige Teilnahme aller Kinder der Familie möglicherweise in erster Linie praktisch. Erspart 5 Siehe unter www.agus-selbsthilfe.de

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sie doch aufwändige Fahrten und die Familie kann auch im Besuch einer Trauergruppe eine gemeinsame Erfahrung machen. Überwiegend die älteren Geschwisterkinder bewerten die gleichzeitige Gruppenteilnahme ambivalent. Auch eine der teilnehmenden Zwillingsschwestern beschreibt das Gefühl, dass sie ihre Schwester habe trösten wollen, als sie bei ihrer Erzählung zu weinen begann. Hier gilt es für die Gruppenleiter, die teilnehmenden Kinder gut im Blick zu haben – als Individuen, aber auch als Teil eines Familiensystems, in dem sie üblicherweise bestimmte Aufgaben übernehmen oder zugeschrieben bekommen. Werden diese erkannt, können sie möglicherweise im Verlauf der Gruppe angesprochen werden. Eine Entlastung von implizit übertragenen Aufgaben durch die Mitarbeiter der Kindertrauergruppen kann zum Bewusstmachen dieser Aufgaben beitragen. Ein altersentsprechendes Teilen der Kindergruppe kann sowohl den jüngeren als auch den älteren Teilnehmern ermöglichen, einen geschützten Raum ohne ihre Geschwisterkinder für sich allein zu haben. In Wochenendsettings haben die Mitarbeiter von »Trau Dich Trauern« mit Hilfe von separaten Untergruppen gute Erfahrungen mit Teilnehmern mit großen Altersabständen (Teilnehmer im Alter von fünf bis zwanzig Jahren) gemacht. Teile der Veranstaltung wurden in der altersgemischten Gruppe durchgeführt, andere wiederum in den altersentsprechenden Gruppen der Jüngeren oder der Älteren. Sind die Gruppenleitung und das Team sensibilisiert für diese Prozesse und wird sich darum bemüht, Entlastung, Kommunikation und transparente Entscheidungen der beteiligten Kinder zu fördern, kann eine gemeinsame Gruppenteilnahme von Geschwisterkindern eine positive Erfahrung werden. Die Frage sollte beim Vorgespräch geklärt und die Wünsche der Teilnehmer (Kinder und Eltern) sollten berücksichtigt werden. Methodenvielfalt Die kreativen Methoden der Trauergruppe wurden von Kindern als besonders positiv hervorgehoben. Besonders in der Begleitung von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen scheint das Angebot von verschiedensten Methoden hilfreich zu sein. So können Teilnehmer unterschiedliche Zugänge zum Ausdruck von Gedanken und Gefühlen finden und ausprobieren. Malen, schreiben, basteln, mit Ton, mit Holz oder Stein arbeiten, Collagen gestalten, aber auch Bewegungsspiele, körperorientierte Methoden und Musik sind geeignet zur Arbeit mit trauernden Kindern. Auch Gespräche können abwechslungsreich gestaltet werden, mal zu zweit, mal in einer Kleingruppe, mal im Plenum. Wichtig sind die Überlegungen, welche Intention mit der Aufgabe verfolgt wird und dass erst dann eine dafür geeignete Methode ausgewählt wird. Insbesondere ältere Kinder hinterfragen aktiv den Zweck der Übungen. Dies ist bei der Anleitung zur Aufgabe zu beachten. Die Neigung der Teilnehmer und Gruppenleiter sowie räumliche und zeitliche Möglichkeiten sollten bei der Wahl der Methode berücksichtigt werden.

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Umgang mit Befürchtungen Im Vorgespräch oder beim ersten Treffen waren bei vielen Teilnehmern Befürchtungen zu spüren, manchmal wurden sie auch direkt geäußert. Zwei der häufigsten waren: »Hier muss ich reden«, und: »Hier muss ich weinen.« Diese Befürchtungen gilt es in erster Linie wahrzunehmen. Dann können sie ernst genommen werden und es kann versucht werden, im Verlauf des Gruppenprozesses dafür zu sorgen, dass die Teilnehmer Schutz erfahren, wenn sie sich überfordert fühlen im Gruppensetting. Vereinbarungen zu Beginn einer Gruppe, wie mit solchen möglicherweise überfordernden Situationen umgegangen werden soll, kann den Teilnehmern Sicherheit vermitteln. Bei Nachfragen zu Erzählungen sollten die Gruppenleiter gut abwägen, ob in diesem Fall jemand Hilfe beim Erzählen braucht oder derjenige nicht weiter darüber sprechen möchte. Dies gelingt nur in einem gut zusammenarbeitenden Team, das die eigene Arbeit stetig reflektiert. Eine grundsätzlich von Respekt geprägte Haltung ist ebenso essenziell. Gruppenleitung Die Gruppenleitung wurde in der Untersuchung bei TDT sowohl von Kindern als auch von Erwachsenen positiv hervorgehoben. Es wurden Sensibilität, Empathie, Fachkompetenz und Moderationsfähigkeiten geschätzt. Auch die positiv erlebte Gruppenatmosphäre ist im Zusammenhang mit den Fähigkeiten der Gruppenleitung zu sehen. So kommt der Gruppenleitung ein hoher Stellenwert bei der familienorientierten Trauerbegleitung zu. Um diesen hohen Anforderungen gerecht werden zu können, müssen Leiter von familienorientierten Trauergruppen unter anderem über Kenntnisse in den Bereichen Trauer, Trauerbegleitung, Entwicklungspsychologie, der systemischen Beratung und in Bezug auf Gruppenprozesse verfügen. Zusätzlich zu ihren beruflichen Grundqualifikationen im sozialen, psychologischen, pädagogischen oder theologischen Bereich sollten sie eine qualifizierte Fortbildung nach den Richtlinien des BVT e. V. sowie Erfahrungen im Bereich der Trauerbegleitung haben. Mit einer gemeinsamen Gruppenleitung in den Kindergruppen von zwei hauptamtlichen Mitarbeitern mit pädagogischer bzw. psychologischer Berufsausbildung sowie Qualifikationen im Bereich der Trauerbegleitung und der Mitarbeit von befähigten Ehrenamtlichen wurden bei »Trau Dich Trauern« gute Erfahrungen gemacht. Die Erwachsenengruppe wurde von einer Sozialarbeiterin mit Qualifikationen im Bereich der Trauerbegleitung geleitet. Wichtig für das Team war die gemeinsame Reflexion mit haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern im Anschluss an jedes Treffen. Seit 2009 arbeitet TDT bei erprobtem Konzept und aufgrund der Erfahrung im Bereich der Familientrauerbegleitung in den Kindertrauergruppen mit einer hauptamtlichen Gruppenleiterin, die durch befähigte Ehrenamtliche unterstützt wird. Die Elterngruppe wird nach wie vor von einer weiteren hauptamtlichen Gruppenleiterin geleitet. Aus den Anregungen der befragten Teilnehmer lässt sich schlussfolgern, dass

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männliche Trauerbegleiter in familienorientierten Trauergruppen vermisst werden. Ihre Anwesenheit wurde insbesondere von Kindern gewünscht. Besondere Herausforderung: der Gruppenprozess Die Gruppenatmosphäre wurde in der Untersuchung bei TDT häufig als besonders positiv hervorgehoben. Dem Gruppenprozess kommt demnach in einer Trauergruppe eine große Bedeutung zu. Nur wenn es gelingt, Vertrauen herzustellen, kann Offenheit folgen und die Trauergruppe zu einem sicheren Ort werden, an dem sich alle Teilnehmer mit ihren persönlichen Themen beschäftigen und in den Austausch mit anderen gehen können. Es braucht dazu eine Arbeitsatmosphäre, die – so wissen wir es aus der Untersuchung bei TDT – dann als positiv bewertet wird, wenn sie von Respekt, Nähe, Offenheit und Mitgefühl bestimmt wird. In den Aussagen der Kinder in den Fragebögen finden sich Hinweise darauf, dass auch in einer Kindertrauergruppe bestimmte Verhaltensweisen von anderen als Herausforderung wahrgenommen werden können (in der Untersuchung bei TDT: stören, streiten, schlagen). Insofern erscheint es wichtig, dass darauf geachtet wird, die persönlichen Bedürfnisse aller Teilnehmer auszuloten. Das Erstellen von Regeln des Zusammenseins beim ersten Treffen, aber auch ein hoher Personalschlüssel kann hier helfen. Kinder, denen es schwer fiel, bei der Sache zu bleiben, wurden bei »Trau Dich Trauern« in manchen Fällen durch eine Eins-zu-eins-Betreuung unterstützt. Aber auch die Abwechslung von ruhigen und bewegungsorientierten Phasen kann den Prozess des konzentrierten Arbeitens an einem Thema unterstützen. Das Ausmaß, das dazu in jeder Gruppe benötigt wird, hängt stark von den Teilnehmern ab (Alter, individuelle Neigung) und es ist sicherlich schwer, alle individuellen Bedürfnisse gleichzeitig zu erfüllen. Auch hierbei kann ein hoher Personalschlüssel ermöglichen, den unterschiedlichen Bedürfnissen gerecht zu werden. Ebenfalls sind großzügige Räumlichkeiten und ein schnell möglicher Zugang nach draußen in die Natur hilfreich. Auch Pausen sind eine wichtige Intervention in einer Trauergruppe. Sie wurden in der Befragung häufig hervorgehoben und positiv bewertet. Dies zeigt, dass sich Phasen von Strukturiertheit abwechseln müssen mit freien Phasen. Auch sie ermöglichen dann eine Arbeitsatmosphäre, in der sich nach der Pause wieder intensiv mit einem Thema beschäftigt werden kann. Umgang mit dem Informationsbedürfnis der Eltern zu ihren Kindern Die Untersuchung zeigte, dass das Bedürfnis der Erwachsenen nach Rückmeldung zu ihren Kindern enorm hoch ist. Auch Wilkinson et al. (2007) beschreiben, dass Eltern über eine geringe Anzahl der Rückmeldungen der Trauerbegleiter zu ihren Kindern erstaunt waren und sich eine aktivere Rolle in der Begleitung ihrer Kinder wünschten. Erklärungen zum theoretischen Hintergrund der Arbeit der Trauerbegleiter zu bekommen, war ein weiteres Bedürfnis der Eltern in der Untersuchung von Wilkinson et al. (2007). Hier gilt es, eine Balance zwischen den Bedürfnissen der Eltern und Kinder

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zu finden und gleichzeitig die Kinder zu schützen, die sich darauf verlassen können müssen, dass ihre Aussagen innerhalb der Gruppe bleiben. Sehr häufig wurde die Sorge um die Kinder als ein Anfragegrund genannt, insofern sollte auch das Informationsbedürfnis der Eltern ernst genommen werden. Aus anderen Zusammenhängen, wie zum Beispiel Schule und Kindergarten, sind Eltern gewöhnt, eine Rückmeldung zu ihren Kindern zu bekommen. Das Team sollte sich vor dem Anbieten einer Trauergruppe Gedanken machen, wie es im Hinblick auf Rückmeldungen, die es Eltern über ihre Kinder gibt, vorgehen möchte. Hat das Team sich dazu eine Haltung erarbeitet, kann diese von allen gemeinsam vertreten werden. Insbesondere die Situation direkt im Anschluss an die Gruppe, in der die Eltern den Gruppenleiterinnen der Kindergruppe begegnen, führt verstärkt dazu, dass Eltern etwas zu ihren Kindern fragen. Darauf sollte das Team vorbereitet sein. Es wäre sinnvoll, im Vorgespräch das Informationsbedürfnis der Eltern zu erfragen. Hier sollte auch die Notwendigkeit der Vertraulichkeit und des geschützten Raumes für die Mitteilungen der Kinder in der Kindergruppe dargelegt werden. Im Fall von »Trau Dich Trauern« wurden gute Erfahrungen mit einem verhältnismäßig hohen Ausmaß an Informationen zur Kindergruppe gemacht. Einiges wurde direkt von den Eltern in der Elterngruppe erzählt (zum Beispiel Verhalten, Fragen etc. der Kinder zwischen den einzelnen Treffen, generelle Gedanken zu den Kindern). Dies wurde durch die Gruppenleiterin mit den Teilnehmern besprochen. Die Eltern wurden auch über die Aktivitäten der Kindergruppe und die zugrunde liegende Intention informiert. Konkrete Rückmeldungen erhielten die Eltern nach sorgfältiger Reflexion im Team und häufig in allgemeiner Form. In der Regel wurde versucht, gemeinsame Gespräche in den Familien anzuregen, wenn Situationen unterschiedlich eingeschätzt wurden. Ein Beispiel soll das deutlicher machen: Eine Familie ging seit dem Tod des Vaters häufig auf den Friedhof. Aber ein Sohn der Familie wollte eigentlich nicht. Der Junge hatte das im Verlauf der Kindergruppe mehrfach thematisiert. Nach Rücksprache im Team sprach die Gruppenleiterin der Erwachsenengruppe das Thema im Allgemeinen bei den Eltern an. Dies ermöglichte der Mutter, der offensichtlich schon aufgefallen war, dass ihr Sohn nicht gern zum Friedhof ging, das gemeinsam mit den anderen Teilnehmern zu besprechen. Durch das Thematisieren des unterschiedlichen Umgangs mit der Trauer in der Gruppe kam es für die Mutter zur Entlastung. Auch andere Familien kannten das von ihren Kindern. Die Mutter konnte das Verhalten ihres Sohnes besser einordnen und die Familie entwickelte eine für alle tragbare Lösung im Umgang mit dem Friedhofsbesuch in einem Familiengespräch zu Hause. Da es dem Team auch darum ging, die Nähe zwischen trauernden Eltern und trauernden Kindern zu unterstützen, wurden auch durchaus konkrete Rückmeldungen zu den Kindern nach der Reflexion im Team gegeben. Hier wurde darauf geachtet, in wertschätzender Weise den Umgang der Kinder mit der Trauer zu beschreiben. So konnte zum Beispiel die wiederholte Vermutung einer Mutter entkräftet werden, ihr Kind trauere gar nicht, weil es nicht oft weine. Die Gruppenleiterin konnte mit der Mutter gemeinsam erarbeiten, welche Äußerungen der Trauer sich bei ihrer Tochter zeigten.

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Dazu halfen ihr die Reflexionsrunden im Team mit den Kollegen aus der Kindertrauergruppe, in der berichtet wurde, dass das Mädchen unter anderem alleine laut Musik höre und Gespräche mit der Mutter eher vermied, weil sie sie nicht belasten wolle. Rückmeldungen zu Kindern im Verlauf der Gruppenarbeit, die eine Belastung für die Eltern darstellen konnten (zum Beispiel die Vermutung einer Legasthenie bei einem teilnehmenden Kind), wurden mit dem Vater bzw. der Mutter ausschließlich im Einzelgespräch angesprochen. In der Untersuchung bei TDT wurde eine gemeinsame Zeit von Eltern mit ihren Kindern im Rahmen der Trauergruppe als Anregung genannt. Die Gruppenleiterinnen versuchten zu Beginn der Arbeit bei »Trau Dich Trauern« in mehreren Gruppen im Verlauf der Gruppe ein gemeinsames Ende beider Gruppentreffen mit den Eltern und den Kindern zu gestalten. Dies stellte aber insbesondere für die Erwachsenen eine große Herausforderung dar. Nach intensiven Gesprächen in der Erwachsenengruppe war es manchen schwer möglich, sich übergangslos wieder auf ihre Kinder einzulassen. Nach dem Ende jedes Treffens, ohne dass noch gemeinsam mit den Kindern etwas gemacht wurde, konnten die Erwachsenen selbst bestimmen, wie viel Übergangszeit sie noch benötigten, indem sie noch ein wenig im Elterngruppenraum blieben. Wenn gemeinsam mit Kindern und Erwachsenen gearbeitet werden soll, ist es sinnvoll, den Übergang von der getrennten Arbeit zur gemeinsamen Arbeit zum Beispiel durch eine Pause zu gestalten. Dies sollte in verschiedenen Settings erprobt und evaluiert werden. Möglicherweise ist ein Wechsel zur gemeinsamen Arbeit auch erst im späteren Verlauf, zum Beispiel ab dem sechsten Treffen, oder bei einem Wochenendseminar besser möglich. Abschluss des Gruppensettings Sowohl in den Interviews als auch in den Fragebögen wurde bei den Erwachsenen der Wunsch nach einem persönlichen Abschlussgespräch deutlich. Dieser Wunsch bestand, obwohl im geschlossenen Gruppensetting der Abschluss der Gruppe bewusst gestaltet wurde. Es wäre empfehlenswert, in Anlehnung an das Vorgespräch ein abschließendes Beratungsgespräch einzeln mit den Erwachsenen zu führen. Denkbar wäre, dass sich die Eltern am Ende aussuchen, ob sie mit dem Leiter der Erwachsenengruppe oder der Kindergruppe das Abschlussgespräch führen wollen. Hier sollte man der persönlichen Neigung Platz einräumen und auch dem unterschiedlich stark ausgeprägten Bedürfnis nach Rückmeldungen über die Kinder. Dieses Abschlussgespräch sollte gemeinsam im Team für jede Familie vorbereitet werden. Möglicherweise haben auch ältere Kinder das Bedürfnis nach einem Einzelgespräch im Anschluss oder im Verlauf der Gruppe. Dies sollte erfragt werden.

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Weitere Unterstützung nach Gruppenende In der Untersuchung bei TDT wurde häufig geäußert, dass sich sowohl Kinder als auch Erwachsene eine längere Unterstützung wünschten. Da viele Familien den Wunsch auch schon in der direkten Rückmeldung an das Team von »Trau Dich Trauern« geäußert hatten, sich auch nach einer Gruppe noch weiter zu treffen, erwies sich die Implementierung eines offen konzipierten Unterstützungsangebotes als Ergänzung zum zeitlich begrenzten Angebot der Trauergruppe im Jahr 2006 als sehr hilfreich. Die Familien nutzen die offenen Familiennachmittage, die vierteljährlich stattfinden, um der Trauer und dem Verstorbenen immer wieder in einem sonst oft hektischen Alltag einen Platz einzuräumen. So wurde seit 2011 auch bei den offenen Familiennachmittagen zu Beginn mit einem trauerbezogenen Impuls gearbeitet. Hier können die Teilnehmer entscheiden, ob sie an dem Thema arbeiten oder sich gleich mit anderen zu einem Gespräch zusammensetzen wollen. Viele Teilnehmer scheinen auch nach längerer Zeit in größeren Abständen immer wieder verlustorientiert arbeiten zu wollen. Immer wieder nutzen die Familien die Zeit bei den Familiennachmittagen für intensive Einzelgespräche mit den Mitgliedern des haupt- und ehrenamtlichen Teams von »Trau Dich Trauern«. Nicht selten werden weitere Beratungsgespräche für Einzelne vereinbart. Für manche Familien kann nach Abschluss einer Trauergruppe auch nach längerer Zeit eine weitere Einzelbegleitung sinnvoll sein. Die Aufgabe von Trauerbegleitern liegt darin, wenn es gewünscht ist, immer wieder bedarfsgerechte Unterstützung anzubieten und über längere Zeit ansprechbar für Familien zu sein. Finanzierung Als eine Veränderung in den Familien nach dem Tod eines Elternteils wurde die Unsicherheit in Bezug auf die finanzielle Situation genannt. Gerade deshalb sollte es keine Rolle spielen, ob die Familie sich die Trauerbegleitung leisten kann. Damit qualitativ hochwertige und bedarfsgerechte Unterstützung für trauernde Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und deren Familien angeboten werden kann, ist die Sicherung der Finanzierung der Angebote zukünftig ein Anliegen mit hoher Priorität. Die Möglichkeit der Finanzierung der Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen in Einzelfällen über das Jugendamt über den Bereich »Hilfen zur Erziehung« nach § 27 SGB VIII wird von manchen Familien als stigmatisierend wahrgenommen. Auch ist die Anfrage zu jedem Einzelfall sehr aufwändig und zeitintensiv und nicht in allen Fällen kommt es zu einer Kostenübernahme. Stokes, Pennington, Monroe, Papadatou und Relf (1999) stellen die Gesundheitskultur in Frage und schlagen eine niederschwellige und präventive Unterstützung für Familien nach dem Tod eines nahestehenden Menschen in Analogie zur vorgeburtlichen Gesundheitsvorsorge vor. Hier erhielten Familien ganz selbstverständlich Unterstützung im Umgang mit der Anpassung an eine neue Lebenssituation. Es wäre wünschenswert, wenn eine möglichst

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wenig bürokratische Finanzierungsmöglichkeit sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene etabliert werden würde.

Ausblick Abschließend sei darauf hingewiesen, dass eine systematische Forschung bzw. kontinuierliche Evaluation in Deutschland noch nicht zum Standard in der Trauerbegleitung gehört. Vorschläge zur Entwicklung von standardisierten Datenerhebungen und gemeinsamen Evaluationsstrategien, die Rolls und Penny (2011) für Großbritannien gemacht haben, lassen sich auf Deutschland übertragen. Auch für Anbieter im Bereich der Kindertrauerbegleitung in Deutschland ist es notwendig, nachzuweisen, welche Wirkung Trauerbegleitung auf Kinder, Jugendliche und Familien hat. Deshalb sollte eine systematische Forschung ausgebaut werden.

Literatur Agus e. V. (2014). Homepage von Angehörige um Suizid – für Suizidtrauernde bundesweit. Zugriff am 18. 03. 2014 unter http://www.agus-selbsthilfe.de/ Melching, H. (2012). Kinder und Hunde gehen immer. Kritische Gedanken zum großen Angebot für trauernde Kinder und Jugendliche. Leidfaden – Fachmagazin für Krisen, Leid, Trauer, (4), 4–9. Röseberg, F. (2013). Familienorientierte Trauerbegleitung nach dem Tod eines nahe stehenden Menschen. Qualitative Untersuchung zur Teilnehmermotivation und Wirkung einer Gruppenintervention aus der Sicht von Kindern und Eltern. Aachen: Shaker Verlag. Rolls, L., Penny, A. (2011). Mapping evaluations of UK childhood bereavement services: Findings from a recent study. Bereavement Care, 30, 1, 43–47. Schartmann-Unrath, D. (2012). Umgang mit Verlusterlebnissen von Heranwachsenden im pädagogischen und pädiatrischen Kontext. Eine Bedarfsanalyse in Stadt und Kreis Aachen. Dissertation an der Medizinischen Fakultät der Rheinisch-Westfälischen Technischen Hochschule Aachen, Klinik für Palliativmedizin, unveröffentlicht. Stokes, J., Pennington, J., Monroe, B., Papadatou, D., Relf, M. (1999). Developing services for bereaved children: a discussion of the theoretical and practical issues involved. Mortality, 4, 291–307. Wilkinson, S., Croy, P., King, M. (2007). Are we getting it right? Parent’s perception of hospice child bereavement support service. Palliative Medicine, 21, 401–407.

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Trauerbegleitung im Internet – die Online-Beratungsstelle »www.youngwings.de«

»Hallo, ich bin neu hier. Mir geht’s momentan ziemlich mies und meine Trauer erdrückt mich fast wörtlich. Seit Weihnachten, das für mich Horror war, weil ich ständig denken musste, was wäre, wenn meine Mutter noch da wäre. Momentan weine ich mehrmals täglich und verkrieche mich nur noch in mein Bett. Ich kann teilweise gar nichts mehr machen, mir ist es selbst zu viel eine Spülmaschine auszuräumen. Ich bin manchmal total gelähmt. In der Schule ist momentan auch richtig Stress, nicht nur dass ich mich mit den Lehrern angelegt habe, wir schreiben nächste Woche 4 Klausuren. Was die ganze Sache nicht vereinfacht. Aber eigentlich ist es wirklich die Trauer. Sie überrennt mich und ich kann sie nicht stoppen, mit niemanden reden oder sie irgendwie erträglich machen. Der Tod kam einfach viel zu schnell« (Forum »www.youngwings.de«, 2013).1 Annika ist 15 Jahre alt, als ihre Mutter an einer Krebserkrankung stirbt. Annika wendet sich an YoungWings, weil sie »einfach nicht mehr weiter weiß«.

Täglich gehen bei der Online-Beratungsstelle »www.youngwings.de« eine Vielzahl von Anfragen von Jugendlichen wie Annika ein. Sie haben ihre Mutter oder ihren Vater, den besten Freund oder einen anderen geliebten Menschen durch Tod verloren und fühlen sich mit ihrem Schmerz allein und unverstanden. Die Gründe, warum sich Jugendliche im Internet Hilfe suchen, sind offensichtlich: Es ist das Medium, das ihnen vertraut ist und das für sie ganz selbstverständlich zum Alltag gehört. Sie schätzen die Anonymität und die ständige Verfügbarkeit, vielen fällt zudem das Schreiben über ihre innersten Gefühle leichter, als darüber zu reden. »Meine Lehrerin hat mich gestern gefragt wie es mir so geht, was sollte ich denn sagen, ich kann der doch nicht sagen, dass ich nachts angst habe wenn ich allein im Bett lieg. Das war so peinlich«, erzählt Annika. So wie bei den meisten Jugendlichen, scheint auch Annikas Entscheidung, sich online Hilfe zu suchen, davon beeinflusst zu sein, dass sie nicht befürchten muss, unangenehmen Situationen ausgeliefert zu sein. Das nahezu allen trauernden Jugendlichen gemeinsame Thema Scham, scheint sich beim Schreiben auf ein erträgliches Maß zu reduzieren. Geschützt durch die Anonymität ist es deshalb möglich, über schmerz1 Dieses und alle weiteren Beispiele entstammen dem Forum www.youngwings.de. Die Schreibweise wurde aus den Online-Beiträgen unkorrigiert übernommen.

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hafte Gefühle, Ängste und Verzweiflung zu schreiben. Es ist zudem zu vermuten, dass die Entscheidung für eine Beratung im Internet auch damit im Zusammenhang steht, dass die Jugendlichen die Art und Häufigkeit des Kontaktes selbst bestimmen können und damit Kontrolle über ihr Handeln haben. Dies scheint nach der Erfahrung des Kontrollverlusts von besonderer Bedeutung zu sein.

Hilfe zur Selbsthilfe: das Beratungsangebot von YoungWings Die Online-Beratungsstelle »www.youngwings.de« der Nicolaidis Stiftung wurde im Jahr 2004 gegründet und richtet sich an Kinder und Jugendliche im Alter von zwölf bis 21 Jahren, die um eine Bezugsperson trauern, unabhängig vom Zeitpunkt des Verlustes und der Art des Todes. Betreut werden sie von einem Beraterteam, bestehend aus 18 haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern mit pädagogischen, sozialpädagogischen und therapeutischen Berufsbildern sowie Studierenden der entsprechenden Fachrichtungen, die für ihre Tätigkeit geschult und regelmäßig fortgebildet werden. Das Angebot von YoungWings versteht sich als Hilfe zur Selbsthilfe und ist darauf ausgelegt, den Jugendlichen darin zu unterstützen, seinen eigenen Weg zu finden, mit dem Verlust umzugehen. Es unterscheidet sich von anderen Online-Beratungsangeboten, die meist auf Kurzzeitinterventionen abzielen, insofern, als dass YoungWings langfristig als Ansprechpartner zur Verfügung steht. Dies wird von den Jugendlichen aufgrund ihrer Erfahrung, dass Unterstützung und Verständnis in ihrem Umfeld nach kurzer Zeit abbrechen, als sehr hilfreich empfunden. »ich weiß genau dass die alle denken, ich könnte jetzt mal wieder normal werden, aber ich will mich am liebsten nur ins Bett legen«, schreibt Annika einer anderen Userin im Forum, die daraufhin antwortet: »ich kann dich gut verstehen. manchmal will man einfach nur allein sein und sich verkriechen. ich mache es dann ab und zu auch. Die ersten wochen/monate bestand mein tagesablauf auch nicht aus viel mehr. aber ich finde das es okay ist, wenn man sich ab und zu einfach nur einmummelt und im bett liegt.« YoungWings bietet ein öffentliches Forum, eine geschützte Einzelberatung mit einem Berater und einen wöchentlichen, moderierten Gruppenchat an. Die Website ist mit über zweitausend Registrierungen, mehreren Tausend Forenbeiträgen und im Schnitt siebzig parallel laufenden Einzelberatungen für viele Jugendliche eine wichtige Anlaufstelle geworden, bei der sie rund um die Uhr Hilfe suchen können. Die meisten User kommen aus Deutschland, aber auch im deutschsprachigen Ausland wird die Plattform genutzt, ebenso von deutschen Jugendlichen, die im Ausland leben und sich in ihrer Muttersprache austauschen möchten. Das Anliegen, mit dem sich die Jugendlichen an YoungWings wenden, ist meist ähnlich: Sie sind auf der Suche nach anderen, mit denen sie sich austauschen können, und nach jemandem, der ihnen zuhört und Verständnis zeigt. Die Art und Weise, wie sie YoungWings nutzen, ist hierbei sehr individuell: Manche eröffnen bei ihrem ersten

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Trauerbegleitung im Internet – die Online-Beratungsstelle »www.youngwings.de«

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Besuch ein eigenes Thema im öffentlichen Forum, andere beteiligen sich rege an schon bestehenden Themen, wieder andere fragen eine Einzelberatung an. Wendet sich ein Jugendlicher an YoungWings, so erhält er nach maximal 24 Stunden eine Antwort eines Beraters. Ein Dienstplan innerhalb des Beraterteams gewährleistet, dass diese Regelung auch am Wochenende und Feiertagen eingehalten werden kann. Insbesondere für die ehrenamtlichen Mitarbeiter bedeutet die 24-Stunden-Regelung eine hohe Anforderung: Sie verpflichten sich, die Website ein Mal täglich zu besuchen und bei laufenden Beratungen eine Beratungsfrequenz von in der Regel maximal drei Tagen einzuhalten. Für ihre Arbeit bei YoungWings müssen sie nicht, wie oft bei Anlaufstellen für Trauernde üblich, eine eigene Verlusterfahrung mitbringen. Vielmehr qualifizieren sich die Berater für ihre Online-Tätigkeit neben ihrem fachlichen Hintergrund durch eine Vertrautheit mit dem Medium Internet, die Affinität zum geschriebenen Wort sowie durch eine ausgeprägte Fähigkeit, Empathie und Verständnis über den schriftlichen Austausch zu transportieren. Neue Berater erhalten zunächst eine ausführliche Schulung sowie eine Einführung in den so genannten Berater-Leitfaden. Der Leitfaden enthält wichtige Richtlinien und Methoden der Arbeit und gibt Regeln für schwierige Beratungssituationen vor, wie zum Beispiel den Umgang mit suizidalen Jugendlichen. Anschließend werden sie im Rahmen eines so genannten Mentorenprogramms so lange von hauptamtlichen Mitarbeitern begleitet, bis beide Seiten den Eindruck haben, dass Beratungen eigenverantwortlich durchgeführt werden können. Auch nach der Phase der Einarbeitung bleiben die Berater über so genannte Schattenfunktionen, die für den User nicht ersichtlich sind, untereinander in engem Kontakt. So können Fallbesprechungen, Intervision und Supervision im virtuellen Raum stattfinden. Der persönliche Austausch nimmt jedoch einen ebenso wichtigen Raum ein: Teamtreffen, Mitarbeiter-Wochenenden und Fortbildungen finden regelmäßig statt.

Der Online-Berater als Begleiter und aktiver Zuhörer Für viele Jugendlichen ist der Kontakt im Internet das erste Mal, dass sie überhaupt von ihrer Trauer und ihrem Schmerz erzählen. »Eigentlich weiß keiner wie es mir wirklich geht, in der schule reiß ich mich zusammen, mit meinem Vater hab ich nur noch megastress, selbst meine beste freundin weiß nicht was sie sagen soll. total bescheuert«, schreibt Annika. Im Laufe der Beratung merkt sie, dass sie an diesem Zustand gerne etwas ändern würde. Mit Unterstützung des Beraters überlegt sie, wie sie sich ihrer Freundin anvertrauen und dieser mitteilen könnte, wie schlecht es ihr geht. Hierbei bleibt der Berater stets in der Rolle des Begleiters und aktiven Zuhörers, immer darum bemüht, sich auf das Tempo des Users einzustellen und sich zu versichern, dass die Begleitung in die Richtung geht, die der Jugendliche sich wünscht. Manche User sind durch diese Art der Gesprächsführung zunächst irritiert, weil sie im Widerspruch

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zu den Kommunikationserfahrungen steht, die Jugendliche üblicherweise machen. Auf Ratschläge, Tipps und Bewertungen wird auf YoungWings gänzlich verzichtet. Meist profitieren die User jedoch sehr rasch von der Haltung, die ihnen auf YoungWings entgegengebracht wird und fühlen sich in ihrer Individualität anerkannt und wertgeschätzt. So gelingt es in den meisten Fällen schnell, eine sichere und vertraute Beziehung zwischen Berater und User herzustellen, die es erlaubt, über die Dinge zu schreiben, »die ich sonst niemals jemandem erzählen würde«, wie Annika es schildert. Die Jugendlichen gewähren den Beratern in einem Ausmaß Einblick in ihre Gefühlswelt, wie es in einer Face-to-Face-Beratungssituation erfahrungsgemäß kaum möglich ist. Hier liegt vermutlich die große Chance der Online-Beratung: Sie eröffnet Möglichkeiten der Offenheit und der Vertrautheit, gerade weil Berater und User sich nicht persönlich kennen. Davon ausgehend, dass es den Trauerprozess positiv beeinflusst, wenn Worte für das gefunden werden können, was zunächst unaussprechlich scheint, bietet sie hierfür einen nahezu unbegrenzten und dennoch geschützten Rahmen. Gleichermaßen hat die Online-Beratung aber auch ihre Begrenzungen: Mimik, Gesten, Stimmlage des Ratsuchenden sind für den Berater nicht verfügbar, ebenso muss er akzeptieren, wenn der User den Kontakt ohne Ankündigung abbricht. Auch verlangt es zuweilen viel Durchhaltevermögen und kollegiale Unterstützung, wenn die Situation des Jugendlichen aus Sicht des Beraters auf vielen Ebenen schwierig scheint, die Vermittlung an eine therapeutische Anlaufstelle als sinnvoll erachtet, diese vom Jugendlichen jedoch abgelehnt wird. Die generell sicherlich kritisch zu sehende Entwicklung, dass Jugendliche mehr virtuelle Kontakte pflegen, als sich auf reale Beziehungen einzulassen, ist bekannt. Insofern ist die Frage durchaus berechtigt, ob ein Beratungsangebot im Netz diesen Trend verstärkt. Bei näherer Betrachtung jedoch wird deutlich, dass viele trauernde Jugendliche ohne das Online-Angebot gänzlich ohne passende Hilfe blieben. Dies betrifft erfahrungsgemäß nicht nur Jugendliche, die aufgrund schwieriger familiärer und sozialer Umstände auf wenig protektive Faktoren zurückgreifen können. Es betrifft auch diejenigen, die in einem stabilen Umfeld leben. Die Sprach- und Hilflosigkeit angesichts des Todes ist noch immer groß, die Aussicht, einen passenden Ansprechpartner zu finden, eher gering.

Das Online-Forum als Ort, Worte für das, was unaussprechlich ist, zu finden Neben dem regelmäßigen Kontakt mit dem Berater, der über die ganze Zeit hinweg als zuverlässiger Ansprechpartner zur Verfügung steht, scheinen die Jugendlichen vor allem von der Erfahrung zu profitieren, dass sie auf andere treffen, denen es ähnlich geht. Im Forum ist Annika in verschiedenen Themen aktiv, auch in einem, das sie selbst eröffnet hat. »Seit ich hier schreibe, fühl ich mich irgendwie anders«, schreibt sie in

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ihrem eigenen Thema, dem sie die Überschrift »Mama, warum musstest du gehen???« gegeben hat und in dem sie sich intensiv mit einer anderen Jugendlichen, deren Vater verstorben ist, austauscht. Diese schreibt ihr zurück: »irgendwie ist es schön zu lesen das du meine beiträge gern liest.vllt können sie dir auch manchmal das gefühl geben nicht allein zu sein. ich fühl mich oft allein und einsam und wenn ich hier dann lese dann fühl ich mich nicht mehr so einsam. lese deine beiträge übrigens auch sehr gern.« Das öffentliche Forum ist der Ort, an dem die Jugendlichen ausführlich davon berichten, wie sie den Tag des Todes erlebt haben, welche Fragen sie quälen, wie hoffnungslos sie sich manchmal fühlen und welche Erfahrungen sie innerhalb ihrer Familie, in der Schule und mit ihren Freunden bezüglich der Trauer machen. Hier tauchen genau die Themen auf, die in der Verarbeitung der Trauer eine besondere Rolle zu spielen scheinen und für die es nirgends anders Raum gibt. So tauscht sich Annika über mehr als ein Jahr hinweg intensiv mit sunshine, lea und Lilly darüber aus, wie unterschiedlich die jeweiligen Familienmitglieder mit der Trauer umgehen, welche Vorstellung sie davon hat, wo ihre Mutter jetzt ist, und was sie tut, um sich ihrer Mutter nah zu fühlen. So sei sie kürzlich nachts, als sie mal wieder nicht habe schlafen können, einfach aufgestanden und habe Pfannkuchen gemacht, weil ihre Mutter die so gern gegessen habe. Auch das Thema Schuld bewegt die Jugendlichen über viele Wochen. »Bei mir stellt sich gerade die Frage wie die schuld zur trauer definieren ist, ob es eine besondere Schuld ist, oder nur eine andere facette der ›normalen‹ schuld ist? Ich denke normalerweise kann man schuld beseitigen, indem man versucht die situation zu ›reinigen‹. Natürlich geht das nicht immer, manchmal geht es, kann man es nur vermindern, da man es nie rückgängig machen kann. Aber man kann es versuchen wieder gut zu machen, sich aktiv beteiligen. Aber genau das geht nicht mehr, wenn jemand verstorben ist. Man kann es nicht mehr versuchen zu bereinigen, sich versöhnen oder es besser machen, dass schlechte gewissen hinkt einem hinterher. Dass einzige was geht sich selber zu verzeihen und es so stehen lassen, aber genau das ist es was einem so schwer fällt«, schreibt Annika hierzu. Die Jugendlichen werden in ihrem Thema über die ganze Zeit hinweg von einem Berater begleitet, er liest jeden Beitrag aufmerksam durch, bringt sich auf Wunsch der User mit ein und achtet darauf, dass die auf YoungWings geltenden Regeln eingehalten werden. Oberste Priorität hat der Schutz der User. Es dürfen deshalb keine persönlichen Daten, E-Mail-Adressen oder Benutzernamen von sozialen Netzwerken gepostet werden, auch das Posten von Links ist nicht erlaubt. Ebenso ist der Berater dafür verantwortlich, darauf zu achten, dass sich der Austausch innerhalb des Rahmens des Themas Tod und den damit im Zusammenhang stehenden Schwierigkeiten bewegt. Tauchen andere Themen auf, so macht er den User auf andere spezialisierte Anlaufstellen im Netz aufmerksam. Der Zeitraum, in dem sich Jugendliche auf YoungWings aufhalten, ist sehr unterschiedlich und reicht von wenigen Beiträgen bis hin zu Begleitungen, die über zwei Jahre laufen. Dabei bleibt die Internetplattform auch in Phasen, in denen es den Jugendlichen besser geht, eine wichtige Anlaufstelle. »wollt euch nur kurz sagen, dass ich

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gerade ferien mache und es mir grad ganz gut geht, ich wollt mal danke sagen fürs zuhören, hilft mir echt, hier zu schreiben«, schreibt Annika einige Monate nach ihrem ersten Besuch auf YoungWings. Als sie sich dann endgültig dazu entschließt, die Beratung zu beenden, ist es ihr sehr wichtig, den Abschied bewusst zu gestalten. Annika und ihr Berater vereinbaren einen Zeitpunkt, an dem die Beratung geschlossen werden kann, mit der Option, sich auch wieder anders entscheiden zu dürfen. Dies und das Wissen, dass sie jederzeit eine neue Beratung anfragen kann, scheinen Annika die nötige Sicherheit zu geben, um mit einem guten Gefühl gehen zu können.

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Romy Kohler

»doch-etwas-bleibt.de« Der Trauerchatroom für Jugendliche und junge Erwachsene, ein Projekt des Hospizes Bedburg-Bergheim

Der Trauerchat für Jugendliche und junge Erwachsene ist ein niederschwelliges Angebot, das aus dem Versuch entstand, trauernde Jugendliche da zu erreichen, wo sie sich gerne aufhalten: im Internet. Wie kann man dieses Projekt kurz beschreiben? Ich möchte auf drei Dinge schauen. Auf die Homepage, die den Chatroom beherbergt, auf das Team der Begleiterinnen und auf die Nutzer, die zu uns kommen.

Die Homepage »www.doch-etwas-bleibt.de« Die Internetseite, in die der Chatroom eingebunden ist, möchte Informationen und Anregungen zum Thema Trauer und Verlust geben. Die Besucher sind aufgefordert, sich mit ihren eigenen Erfahrungen einzubringen und dadurch etwas zum Fundus, aus dem dann alle schöpfen können, beizutragen. So erst wird die Internetseite zur Seite der Betroffenen, entwickelt sich weiter und bleibt lebendig. Der Chatroom ist ein geschützter Raum, der eine Registrierung erfordert und jeden Montagabend zwischen 20.00 und 22.00 Uhr von jungen Menschen mit einer eigenen, zurückliegenden Trauererfahrung ehrenamtlich begleitet wird.

Was kann das Ziel bei dieser Art der Trauerbegleitung sein? Die Begleiterinnen des Trauerchatrooms wollen für trauernde Jugendliche da sein, ihnen Raum geben, Zeit und Zuversicht schenken. Als sie nämlich selbst im Jugendalter von Verlust und Trauer betroffen waren, haben sie gerade das vermisst. Eher gab es Ermahnungen wie: »Du musst jetzt stark sein, dich um deine kleinen Geschwister oder deine Mutter bzw. Vater kümmern.« Mitunter haben sie Verantwortung über-

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nommen, die zu schwer für sie war, und haben lediglich funktioniert. Oder sie haben auf eine Art und Weise rebelliert und protestiert, die ihre erwachsene Umgebung nicht im Zusammenhang mit ihrer Trauer verstehen konnte. Das Ergebnis bei den Jugendlichen waren dann Unverständnis der Umwelt und nicht selten körperliche und seelische Verletzungen. Manchmal gab es Menschen, die fähig waren, so für sie da zu sein, wie sie es brauchten. Sie gaben ihnen den Raum, wo alles sein durfte. Die Zeit, die ihnen dieser Raum bot, erlebten sie als sehr wohltuend. Sie unterstützte und entlastete sie in all der Schwere und Traurigkeit, die der erlittene Verlust verursachte. Dieses eigene Erleben ist eine starke Motivation, anderen Jugendlichen und jungen Erwachsenen etwas anzubieten, was so ist, wie es selbst als gut erlebt wurde. Oft erwächst die Motivation allerdings aus einer gegenteiligen Erfahrung, nämlich aus dem, was als erschwerend, hemmend und wenig hilfreich erlebt wurde. Dies gilt es in den Augen der Begleiter zu verändern. Das ist sowohl die Besonderheit als auch das größte Kapital des Projektes Trauerchat: Begleiter, die wissen, von welchen Erlebnissen und Gefühlen die Betroffenen erzählen, die diese nachempfinden können und die geben wollen, was sie selbst vermisst bzw. bekommen haben. Wenn das verantwortungsvoll umgesetzt werden soll, ist es unabdingbar, dass die Begleiter, ehe sie im Chatroom mitarbeiten, die Chance bekommen, ihre eigenen Erfahrungen intensiv zu reflektieren, zu erfahren, was ihre Ressourcen sind, aber auch, wo ihre Verletzungen und Grenzen liegen. Deshalb bekommen sie sowohl eine Ausbildung als auch eine kontinuierliche Begleitung in Form von Supervision und die Möglichkeit zu regelmäßiger Fortbildung.

Was sind die Erfahrungen des Chatrooms? Der Trauerchatroom auf der Seite »doch-etwas-bleibt.de« bietet seine Unterstützung seit vier Jahren an. Das Team besteht aus 14 jungen Frauen zwischen 18 und 32 Jahren aus ganz verschiedenen Lebensbereichen, Ausbildungs- und Berufsfeldern. Mit viel Engagement und großer Empathie schenken sie ihre Zeit. Trotz Werbung und persönlicher Ansprache haben wir erst ein einziges Mal einen jungen Mann gewinnen können, der aber nur ein Jahr im Team war. Genutzt wird der Chatroom nicht genauso ausschließlich, aber doch überwiegend von Frauen. Das Angebot wurde von Anfang an sehr gut angenommen und im Laufe seines Bestehens von einer immer größeren Zahl von Jugendlichen und jungen Erwachsenen genutzt. Das hat dazu geführt, dass wir die Anzahl der Begleiterinnen, die im Chatroom zur Verfügung stehen, von anfänglich zwei auf vier pro Abend erhöhen mussten. Nur so können wir den Anfragenden gerecht werden. Auch mussten wir nach kurzer Zeit die Bezeichnung »Chatroom für Jugendliche« um die jungen Erwachsenen ergänzen, da die User nicht – wie erwartet – zwischen zwölf und 18, sondern eher zwischen 15 und 25 Jahre alt sind.

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Von den Betroffenen bekommen wir Rückmeldungen, die uns zeigen, warum sie unser Angebot wahrnehmen. Die häufigsten Argumente sind: •• Die leichte Verfügbarkeit: Die Jugendlichen können von ihrem Zuhause aus am Chat teilnehmen. •• Die Anonymität: Immer wieder schreiben User den Begleiterinnen: »Was ich hier preisgegeben habe, das habe ich noch niemals einem Menschen erzählt.« •• Die Zuverlässigkeit und Konstanz des Angebotes: Der Chatroom öffnet an jedem Montag und bleibt dann von 20.00 bis 22.00 Uhr geöffnet, egal ob Ferien, Feste oder Feiertage sind. Die Nutzer sind jedes Jahr beeindruckt, dass auch an Weihnachten und um den Jahreswechsel gechattet wird. Sie sagen, dass alle anderen Angebote gerade zu diesen Zeiten, in denen der Verlust besonders schmerzlich ist, nicht verfügbar sind. •• Die freie Wahl: Es ist möglich, die Aufmerksamkeit einer Begleiterin in Anspruch zu nehmen, sie können aber auch den allgemeinen Raum nutzen, um mit anderen Betroffenen ins Gespräch zu kommen. •• Das Fehlen von rigiden Vorgaben: Es gibt in Bezug auf den jeweiligen Trauerweg keine zeitlichen Beschränkungen. Sie können eine Zeit lang kommen, sich verabschieden und in Zeiten, wo sie wieder Begleitung brauchen, zurückkommen. Sie können über ihren Verlust und ihre Gefühle in Verbindung mit diesem Verlust, über ihre Schwierigkeiten im Alltag, aber auch über andere Dinge wie Schule, Freundschaft oder schöne Erlebnisse sprechen. Sie können sich darüber austauschen, wie sie mit bestimmten Situationen umgehen können. Nicht alle Teilnehmer jedes Chatabends sind gleich bedürftig. Deshalb herrscht meist eine erstaunlich ausgeglichene Stimmung. Selbst wenn es manchen Usern sehr schlecht geht, gibt es andere, die gerade auf dem Hoch der Welle sind. Das stellt eine Balance her, so dass wir selten Bedenken haben, am späten Abend den Chat zu schließen und die Teilnehmer zurück in ihre Lebenswirklichkeit außerhalb des Netzes zu entlassen. Anders ist die Situation, wenn es ausnahmsweise Besucher gibt, die über Suizidgedanken schreiben bzw. eine solche Absicht offenbaren. Hier ist es oftmals hilfreich, dass einige der Begleiterinnen E-Mail-Kontakt anbieten. Dieser kann in besonders schwierigen Phasen ein Trittstein zwischen zwei Chatterminen sein. Selbstverständlich werden besonders in diesem Fall Informationen über weitergehende Hilfen und Kontaktstellen angeboten.

Abschließende Bemerkungen Die hohe Verantwortung für die Chatteilnehmer aller am Projekt Beteiligten verpflichtet, am Konzept stetig weiterzuarbeiten und das Angebot – wenn nötig – zu verändern oder zu ergänzen.

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Ebenso empfindet die Projektleitung Verantwortung gegenüber dem Team junger Menschen, das hier »ins Feuer« geschickt wird. Ich halte es für eine große Leistung, in diesem jungen Alter nach dem Durchleben einer so schweren Erfahrung wie dem Verlust eines geliebten Menschen nicht einfach weiterzugehen, sondern sich umzuwenden und andere in dieser Situation mitzunehmen. Die jungen Frauen im Team fühlen sich belohnt, wenn die Besucher am Ende des Chatabends schreiben: »Wir sind froh, dass ihr da seid. Es ist so gut, dass es euch gibt.« Dann sind sie sich sicher, dass ihre Ausbildung und ihr Engagement im Trauerchat eine Bereicherung und auch eine Unterstützung für ihr eigenes Leben sind.

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Katrin Döveling und Katrin Wasgien

Emotionsmanagement im Netz: Kindertrauer online Ein aktueller Forschungsbeitrag

D. in YoungWings: »F., du tust mir sehr gut. Es tut mir gut, was du mir sagst, und dass du mich durch deine Worte irgendwie immer wieder auf den Boden zurückholst.«

So wie D. Mitgefühl im Online-Trauerforum YoungWings (www.youngwings.de) sucht und findet, suchen und finden viele Trauernde Unterstützung im Social Web (High u. Solomon, 2011). Das Beispiel verdeutlicht: Das Social Web gewinnt damit längst nicht mehr nur als Informationsraum an Bedeutung. Vor allem für Kinder und Jugendliche, die so genannten »Digital Natives« (Prensky, 2001) stellt das Social Web virtuelle Räume der Zuflucht, aber auch Orte der Gemeinsamkeit, der Zugehörigkeit und der Vergemeinschaftung (zum Begriff der Vergemeinschaftung vgl. Weber, 1922) dar. Die zwölfjährige Jessica Joy Rees (2014)1 zeigte dies eindrucksvoll: Sie teilte ihr Schicksal, an einer lebensbedrohlichen Krankheit zu leiden, aber auch ihre Hoffnungen, ihre Ängste, ihren Mut, ihre Angst und ihre Trauer öffentlich im virtuellen Raum des Social Web. Aktuelle Studien (Döveling, 2012) legen dar, dass es vor allem Emotionen sind, die im Netz ausgetauscht werden. Das Social Web als Austauschplattform von Emotionen, die vormals im privaten Kreis mit nahen Angehörigen geteilt wurden, und speziell Trauerforen als Orte2, in denen Menschen ihr (Mit-)Gefühl mit anderen Betroffenen teilen können (Sanderson u. Cheong, 2010), gewinnen dabei zunehmend an Bedeutung. Damit verbunden nehmen auch die Möglichkeiten und die Nutzung des Trauermanagements im Sinne einer Regulation der eigenen Trauer in der virtuellen Welt des Social Webs weiter zu. Dieser Aufsatz geht der Emotionskommunikation persönlichen Leids von Kindern und Jugendlichen in speziellen Jugend-Online-Trauer-Foren nach. Vor dem Hintergrund des menschlichen Affiliationsbedürfnisses, dem »need to belong« (Baumeister u. Leary, 1995), ergeben sich die forschungsleitenden Fragen: •• Warum trauern Kinder und Jugendliche online und teilen somit ihre Gefühle mit einem unbekannten Publikum? •• Welche Inhalte teilen Kinder und Jugendliche mit ihren Gleichgesinnten online? 1 Siehe unter www.jessicajoyrees.com 2 Die hier präsentierten Daten wurden im Rahmen eines Forschungsprojekts unter der Leitung von Frau Dr. Katrin Döveling, Vertret. Prof. III 2009–2013, an der TU Dresden, erhoben.

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Katrin Döveling und Katrin Wasgien

•• Wie bewältigen Kinder und Jugendliche ihre Trauer im Zeitalter des Social Web? •• Trauern Kinder im Social Web anders als Erwachsene? •• Entsteht eine neue Form des virtuellen Emotionsmanagements (Döveling, 2012)? Nach einer theoretischen Bestandsaufnahme zum Thema zeigen zwei aufeinander aufbauende Untersuchungen die Vielschichtigkeit des virtuellen Emotionsmanagements von Kindertrauer auf: •• In einer qualitativen Inhaltsanalyse von Online-Trauererfahrungsberichten (N = 179) von Kindern und Jugendlichen wird den Motivstrukturen des emotionalen Austauschs im Netz nachgegangen. Anhand von (anonymisierten) Beispielen werden Muster und Prozesse des emotionalen Austausches illustriert. Zudem wurden Hypothesen generiert, die die Prozesse und deren Effekte speziell für Kinder und Jugendliche herausarbeiten. •• Darauf aufbauend folgen Ergebnisse einer quantitativ-inhaltsanalytischen Analyse (N = 2127). Die zuvor gewonnenen Hypothesen werden sodann auf einer quantitativen Basis diskutiert. In einem Ausblick wird ein Vergleich von virtuellem Emotionsmanagement von Kindern und Erwachsenen vorgenommen.

Verlust und Trauer online – eine qualitative Analyse Auf die Emotion Trauer als evolutionär verankerte und grundlegende Basisemotion des Menschen (Ekman u. Friesen, 1971) sowie interdisziplinäre Perspektiven verschiedener theoretischer Modelle zu Trauer wurde im Rahmen dieses Handbuchs bereits eingegangen (siehe Beiträge des I. Teils »Eine theoretische Annäherung« in diesem Buch). Hierauf Bezug nehmend werden im Folgenden primär spezielle Copingprozesse des Social Sharings of Emotions (Rimé, Mesquita, Boca u. Philipot, 1991) fokussiert: Durch Prozesse der Trauerbearbeitung3 kommt es idealerweise zu einem Coping (Lazarus u. Folkman, 1984), verstanden als Auseinandersetzung, Bewältigung und Verkraften, was schließlich die Bewältigung der als stressend empfundenen Situationen, das heißt der Trauer, ermöglicht (Hobfoll, Freedy, Green u. Solomon, 1996; Aldwin, 2007; Heim, Valach u. Schaffner, 1997; Holland u. Holahan, 2003; Maes, Le­ven­thal u. de Ridder, 1996). 3 Der Begriff der Trauerbearbeitung wird hier statt des Begriffs der Trauerverarbeitung gewählt, da nicht nur die hier dargelegten Erkenntnisse zeigen, dass es sich um einen oft lebenslänglich wiederkehrenden Prozess handelt und ein Trauernder sich im Laufe des Lebens immer wieder mit dem Schmerz auseinandersetzt. Die Beendigung der Trauer, die der Terminus der Trauerverarbeitung impliziert, wird somit vermieden.

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In der Trauerbearbeitung gilt dabei die soziale Unterstützung, in Form von emotionalen Ressourcen, als zentral (Pierce, Sarason u. Sarason, 1996; Stroebe u. Schut, 1999)4, denn Trauerarbeit erfolgt selten isoliert und rein intrapersonal, sondern stellt sich als soziales Phänomen dar (Jakoby, 2012; Rimé et al., 1991). Damit rückt das »Social Sharing of Emotions«5 (Rimé et al., 1991) als spezielle Copingstrategie in den Vordergrund der Analyse. Denn auch wenn Trauer ebenso zu Rückzug führen kann, so sprechen Betroffene mit anderen über den Verlust, um zum einen Realisierungsprozesse anzuregen und dem Erlebnis eine kognitive Sinnstruktur zu geben (Luminet, Bouts, Delie, Manstead u. Rimé, 2000; Lammer, 2004) und zum anderen auf emotionaler und informationaler Ebene Verständnis und soziale Unterstützung zu erhalten (Rimé, 2009) und ihr Umfeld für die Thematik zu sensibilisieren (Rimé et al., 1991; Rimé, Finkenauer, Luminet, Zech u. Philippot, 1998). Bei der Auswahl der Gesprächspartner werden zumeist Personen präferiert, zu denen bereits ein Vertrauensverhältnis besteht: nahe Familienmitglieder, beste Freunde oder Partner (Rimé, 2009; Pennebaker, Zech u. Rimé, 2001). Doch wie anhand des folgenden Auszugs deutlich wird, stellen soziale Online-Plattformen eine Erweiterung des sozialen Umfelds dar, insbesondere, wenn der Betroffene diese emotionale Unterstützung oder das Verständnis für Situation und Gefühlslage im realen Umfeld vermisst: H. im Trauerforum MeineTrauer (www.meinetrauer.de): »Ich kann mich niemanden mitteilen, deshalb bin ich in diesem Forum gelandet und versuche, aufzuschreiben, was mich quält.«6

Es stellt sich demnach die Frage, ob in der Online-Kommunikation des Social Web realweltliche Kommunikationsmuster in Form von Emotionsmustern auf die virtuelle Kommunikation übertragen und online fortgeführt werden (im Sinne der »Interaction Ritual Chains«, Collins, 1987). Dieses Phänomen ist jedoch kaum wissenschaftlich erforscht (Döveling, 2012) und stellt aus diesem Grund ein zentrales Erkenntnisinteresse der Untersuchung dar.

4 Die jeweilige Bewältigungsstrategie ist stark abhängig von unterschiedlichen Persönlichkeitsmerkmalen (Lazarus u. Folkman, 1984), dem Geschlecht (Thoits, 1991) und dem Alter (Ribbens-McCarthy, 2006). Der Betroffene wechselt dabei in einem emotionalen Prozess zwischen verlustorientiertem und wiederherstellungsorientierten Coping, der sich auf sein Alltagserleben und sein Umfeld auswirkt (Stroebe u. Schut, 1999). 5 »If people exposed to an emotional event have an urge to affiliate, and if they experience recurrent emotion-related thoughts and images, the resulting interpersonal situation can be expected to involve what has been called the ›social sharing of emotion‹« (Luminet et al., 2000, S. 663). 6 Zur Wahrung der Authentizität der entsprechenden Kommunikationsmuster wurde eine wortwörtliche Übertragung der Beiträge und somit auch keine Korrektur hinsichtlich der Rechtschreibung (dies betrifft auch fehlendes Leerzeichen zwischen Wörtern) vorgenommen. Dabei ist zu beachten, dass sich eine hohe Anzahl an Rechtschreibfehler jedoch vor allem als Indikator für starke Emotionalität werten lässt.

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Die qualitative Inhaltsanalyse ermöglichte hierbei eine erste explorative und strukturierte Sichtung der grundlegenden Merkmale der Interaktion von Kindern und Jugendlichen in Online-Portalen. Dabei konnten einige grundlegende Merkmale und Strukturen, unter anderem ein mangelhaftes Verständnis7 der Offline-Welt, festgestellt werden: Hypothese 1: Ein als mangelhaft empfundenes Verständnis in der Offline-Welt führt zu einem Gefühl der Einsamkeit und zur Hinwendung zur Online-Trauer Innerhalb der Online-Trauerforen teilen sich Kinder und Jugendliche mit. Sie tauschen sich mit Gleichgesinnten über Erfahrungen und Erlebnisse aus und teilen ihre Emotionen mit denjenigen, die sie aufgrund ähnlicher Erfahrungswerte verstehen können. Der Trauerprozess verlagert sich somit einerseits in den sehr öffentlichen Raum des Social Webs (Sanderson u. Cheong, 2010), andererseits aber auch in einen emotional geschützten Raum, in dem sich primär Gleichgesinnte aufhalten. Die Nutzer können differenzierte Erfahrungswerte an die Gemeinschaft weitergeben, weil der Tod des nahestehenden Menschen unterschiedlich lange zurückliegt. Es stellt sich die Frage, ob in der Art, wie innerhalb des Forums kommuniziert wird, im Kommunikationsprozess der unterschiedlichen Nutzer auch unterschiedliche Rollen (vgl. Mead, 1934) erkennbar sind, ob sich diese Rollen an Trauermodellen orientieren und ob sich Gesprächsmuster ableiten lassen. Nach Bambina (2007) können Mitglieder von Online-Gemeinschaften in die Rollen Giver und Taker aufgeteilt werden: »givers, who supply each other and the takers with support […] and takers, who do not provide anyone with support« (Bambina, 2007, S. 115). S. in YoungWings: »Ich denke ob du weinen kannst oder nicht oder wie viel du weinst ist kein Maßstab dafür, wie traurig du bist oder wie sehr du deine Eltern vermisst. Wie denkst du darüber?« Im weiteren Verlauf der virtuellen Kommunikation sagt B.: »Ja, du hast meine Frage beantwortet. […] Danke für die Informationen, und danke für die Unterstützung. Weiß vielleicht jemand von Euch, warum ich das denke?! Denkt Ihr auch so? Oder ist das nur bei mir so?«

Wie dieser Ausschnitt nahelegt, wird das Gespräch innerhalb eines Themas durch die Rollen der Nutzer geprägt und der weitere Austausch entsprechend (an-)geleitet. Dies führte zur nachfolgenden zweiten Hypothese:

7 Das von Franz (2008) als »Tabuthema« bezeichnete Gespräch von Erwachsenen mit Kindern ist oft auch verbunden mit einer Scheu der Erwachsenen, mit Kindern über Trauer, Abschied und Tod zu sprechen.

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Hypothese 2: Wenn in einem Beitrag die Rolle des Givers deutlich wird, so folgt darauf die Rolle des Takers. Wird die Rolle des Takers deutlich, so folgt die Rolle des Givers. In den weiteren Gesprächsverläufen konnten dabei Muster erkannt werden: Oftmals entwickelte sich ein intensiver Gesprächsfluss zwischen mehreren Kindern und Jugendlichen, der zunehmend über das Gesprächsthema des eigentlichen Verlusts hinausreichte. Die Jugendlichen öffneten sich zunehmend auch emotional ihrem Gesprächspartner gegenüber und offenbarten auch Informationen und Emotionen, die inhaltlich über die eigentliche Trauererfahrung hinausführten (vgl. zur Selbstoffenbarung Derlega, Metts, Petronio u. Margulis, 1993). Sympathie und gegenseitiges Mitgefühl gehen dabei ebenfalls über den Themenbereich der Trauerbearbeitung hinaus (Rimé, 2009).8 Der nachfolgende Ausschnitt aus dem Trauerforum YoungWings verdeutlicht dies: M. nach einem intensiven Austausch mit L. in YoungWings: »nein, leider spreche ich keine weitere sprache. Ich habe uch eher ein mathematishcestalent, als sprachlich Bist du in ungarn geboren geboren?«

Durch dieses zunehmende Vertrauen, das die Gesprächspartner zueinander entwickeln, werden auch die Themenauswahl der Gesprächsinhalte und die entsprechende Kommunikationsform nachhaltig beeinflusst. Dies führte zu dieser Hypothese: Hypothese 3: Je länger das Gespräch innerhalb eines Threads9 geführt wird, desto weniger verweist der Gesprächsinhalt auf den eigentlichen Verlust. Der Jahrestag eines Verstorbenen, Geburts- und Feiertage oder Momente, die den Trauernden an die verstorbene Person erinnern, können als so genannte Trigger für die Trauerbearbeitung fungieren. Unter einem Trigger (übersetzt: Auslöser) wird ein Schlüsselreiz verstanden, der dazu führt, dass bereits Erlebtes erinnert oder erneut durchlebt wird (Hamiel, 2006). Im Zusammenhang mit der Trauerbearbeitung können so Momente aufkommen, die die Erinnerung an den Verstorbenen auslösen. C. in YoungWings: »Meineweihnachtsferienseheen aus ich werde keine verwantenbesuchen,ich werde imheimbleiben.weil ich kann nich nicht feiern es geht einfach noch nicht esdisdtdaserste weihnachten ohne meine famielie was ich nicht ferien kann ich habe so angst worweinhanchten.« 8 Auf der Gemeinschaftsebene entsteht durch den gegenseitigen Vertrauensbeweis ein dynamischer Prozess des reziproken Verständnisses. Durch das (Mit-)Teilen der eigenen Gefühle werden Empathie und Sympathie offenkundig (Rimé, 2009). 9 Im Rahmen der Internetforschung wird unter einem Thread (wörtlich übersetzt: Faden) ein Unterkapitel innerhalb eines Forums verstanden, welches aus mehreren Beiträgen besteht und in der Regel einen Themenbereich innerhalb des Forums behandelt. Threads sind meist in mehrere Unterseiten unterteilt und können sehr unterschiedlich lang sein.

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Diese Trigger können einerseits zu einem (erneuten) Aufleben der Trauer und zur Hinwendung zur Online-Trauer führen und andererseits zum Aufleben der speziellen Emotion Angst, wie dies auch im oben stehenden Beispiel der Fall ist. Angst kann dabei einerseits als ein Zustand der Erregung und Verzweiflung und andererseits als Verlustangst verstanden werden, die Erinnerung an den verstorbenen Menschen zu verlieren (Wiswede, 2004). In der qualitativen Analyse konnte festgestellt werden, dass Angst vermehrt gemeinsam mit den oben beschriebenen Triggern auftritt, womit ein wiederkehrendes emotionales Kommunikationsmuster augenfällig wurde, das zur folgenden Hypothese führte: Hypothese 4: Wenn Kinder und Jugendliche sich inhaltlich mit »Triggertagen« auseinandersetzen, dann wird in dieser Thematisierung die Emotion Angst auffällig. Hierauf folgt meist eine sozio-emotionale Unterstützung anderer Betroffener. Wenn ein geliebter Mensch stirbt, fällt es den betroffenen Kindern und Jugendlichen oft schwer, zu erfassen, dass diese Person nun nicht mehr da ist (Arens, 1994) und dass kein Kontakt und keine Unterhaltung mehr möglich ist. Das Konzept der parasozialen Interaktion (Horton u. Wohl, 1956; Gleich, 1996) stellt im Rahmen der Medienpsychologie bereits seit den 1950er Jahren ein etabliertes Konzept im Hinblick auf Fernsehpersonen dar, welches sich auch auf die Online-Kommunikation mit Verstorbenen übertragen lässt.10 So können dem Verstorbenen durch das Social Web nachträglich Dinge gesagt werden, die zu Lebzeiten nicht (mehr) möglich waren und die zu einem besseren Umgang mit dem Tod führen können: L. in YoungWings: »Ich vermisse dich! ich hoffe das du morgen spüren wirst wieviele Seelen hier auf der erde an dich denken werden! ich hoffe das du Sehen wirst wer dein grab besucht und mit dir spricht. gibt es auf der anderen Seite bei euch überhaupt noch den menschlichen Geburtstag?! selbst wenn nicht morgen werde ich viel Zeit an deinem grab verbringen. Hätte ich gewusst das du gehst hätte ich dich nie mehr losgelassen!«

Die qualitative Analyse ergab, dass parasoziale Interaktionen (vgl. »continuing bonds«11, Klass, Silverman u. Nickman, 1996) vermehrt auftreten, wenn sich die Kinder und Jugendliche in einem Zustand der Verzweiflung befinden. Dieses wiederkehrende Kommunikationsmuster führte sodann zur nachfolgenden Hypothese: 10 Das Konzept der parasozialen Interaktion und Beziehung konkretisiert die soziale Beziehung der Fernsehzuschauer zu Fernsehakteuren. Der Fernsehzuschauer empfindet dabei eine Intimität aus der Distanz, eine »intimacy at a distance« (Horton u. Wohl, 1956). 11 Die Theorie der »continuing bonds« hält fest, dass das Aufrechterhalten der Beziehung zum Verstorbenen kein pathologisches Phänomen ist. Auch wenn der Verstorbene nicht mehr körperlich anwesend ist, so ist die Aufrechterhaltung der Beziehung interaktiv. Somit ähnelt die Theorie dem Konzept der online-vermittelten parasozialen Interaktion und Beziehung, wie sie hier augenfällig wurde.

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Hypothese 5: Wenn starke Verzweiflungszustände12 des Betroffenen deutlich werden, so findet verstärkt eine parasoziale Interaktion mit dem Verstorbenen statt. Auf Grundlage der qualitativen Erfassung der inhärenten emotionalen Kommunikationsstrukturen (nach Strauss u. Corbin, 1998) wurden die gewonnenen Hypothesen im nächsten Schritt quantitativ-empirisch überprüft.

Quantitative Erfassung und Überprüfung Im Rahmen der quantitativen Inhaltsanalyse, welche zwischen dem 1. und dem 16. Juni 2013 durchgeführt wurde, konnten insgesamt 2127 Beiträge aus den drei Trauerforen MeineTrauer (www.meinetrauer.de), TrauerVerlustForum (www.trauerverlustforum. de) und YoungWings (www.youngwings.de) untersucht werden. Um einen Vergleich zwischen der Kinder- und Jugendtrauer (YoungWings; n = 764) und der Erwachsenentrauer (MeineTrauer; n = 745; TrauerVerlustForum; n = 618) herstellen zu können, werden im Folgenden zunächst die Ergebnisse der quantitativen Untersuchung des Forums YoungWings dargestellt und relevante Unterschiede zur Erwachsenentrauer jeweils unmittelbar im Anschluss aufgezeigt. Ein als mangelhaft empfundenes Verständnis in der Offline-Welt wurde in 16 Prozent der analysierten YoungWings-Beiträge als Kriterium für die Zuwendung zum Online-Trauerforum thematisiert (Hypothese 1) und es konnte ein hochsignifikanter Gruppenunterschied zu den anderen Foren festgestellt werden (CV = .072***13). Das Verständnis, das den Nutzern in Online-Foren entgegengebracht wird, scheint demnach für Kinder und Jugendliche relevanter zu sein als für Erwachsene. Auch die in der qualitativen Inhaltsanalyse etablierten Rollenmuster (Hypothese 2) konnten quantitativ bestätigt werden: In 28,1 Prozent der Beiträge war das zuvor genannte Schema erkennbar, das darlegt, dass auf die Rolle des Takers ein Giver folgt, während in 24,3 Prozent der Beiträge auf einen Giver ein Taker folgte (siehe Abbildung 1). Der Gruppenunterschied zwischen Erwachsenen und Kindern stellte sich auch hier signifikant dar (Taker folgt Giver: CV = .068**; Giver folgt Taker: CV = .054**).

12 Unter Verzweiflung wird ein stark aversiver Zustand der Hoffnungslosigkeit, Hilflosigkeit, Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit verstanden (vgl. hierzu u. a. Bergius u. Caspar, 2009; Koemda-Lutz, 2009). 13 CV = Kontingenzkoeffizient Cramers V: Es werden die beiden unterschiedlichen Gruppen (Kindertrauer/Erwachsenentrauer) auf Unterschiede hinsichtlich ihrer Ausprägungen hin untersucht. Ein (hoch)signifikanter Zusammenhang bedeutet, dass erfasste Unterschiede mit großer Wahrscheinlichkeit (95 Prozent) nicht zufällig entstanden sind. (Weitere Hinweise zum CV: Bortz, 2005, S. 167 f.)

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Abbildung 1: Kommunikative Rollenstruktur im Forenvergleich

Insbesondere die an das Konzept des Self Disclosure (Derlega et al., 1993) angelehnte Hypothese 3, dass bei zunehmender Gesprächslänge die Gesprächsthemen zwischen den Kindern und Jugendlichen allgemeiner werden, konnte empirisch sehr deutlich bestätigt werden (siehe Abbildung 2): Während Alltagsthemen in nur 8,1 Prozent der Beiträge, die früh in einer Konversation verfasst wurden, auftraten, traten sie in 29 Prozent der Beiträge auf, die zu einem späteren Zeitpunkt formuliert wurden. Alltagsthemen traten im Kindertrauerforum insgesamt deutlich häufiger auf als in den Vergleichsforen (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2: Alltagsthemen nach Threadlänge im Forenvergleich; Einteilung in Gruppen nach forenspezifischen Perzentilen

Im Untersuchungsmaterial kam eine direkte Thematisierung von Angst14 insgesamt in 8,5 Prozent der Fälle vor und stellt somit keine zentrale Emotion innerhalb des Forums – auch nicht im Zusammenhang mit Triggertagen (Hypothese 4) – dar. Wird 14 Angst wird verstanden als ein Gefühl, das mit Erregung und Verzweiflung auftritt und einhergeht mit Furcht- und Schreckgefühlen (vgl. hierzu auch Bergius u. Caspar, 2009; Wiswede, 2004, S. 21 f.).

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sie jedoch direkt thematisiert, so folgt in 61,5 Prozent der betrachteten Beiträge soziale Unterstützung. Thematisierte Verzweiflungszustände hingegen (Hypothese 5) wurden insgesamt in 10,5 Prozent der Beiträge erfasst. Hierauf folgte in 13,75 Prozent der Fälle eine parasoziale Interaktion mit dem Verstorbenen. Im Sinne der »continuing bonds« (Klass et al., 1996) wird diese in den Plattformen somit besonders relevant.

Fazit Im Rahmen der empirischen Untersuchung der Online-Trauerbearbeitung von Kindern und Jugendlichen (im Alter von zwölf bis 21 Jahren) konnte im Vergleich zu Trauer von Erwachsenen festgestellt werden, dass Online-Trauer zumeist eine Erweiterung der Offline-Trauer darstellt, insofern die Mittel der Offline-Trauer nicht für eine Trauerbewältigung ausreichen (vgl. Rimé, 2009). Die Ergebnisse legen nahe, dass dieser Aspekt für Kinder und Jugendliche deutlich relevanter ist als für Erwachsene. Innerhalb des Trauerforums YoungWings konnten die zunächst qualitativ erarbeiteten Rollenstrukturen bestätigt werden. Die Rollen, welche in den Beiträgen der Nutzer deutlich werden, beeinflussen die weiterführende Kommunikation und den Kommunikationsfluss innerhalb des Threads. Bei Beiträgen, in denen für den Verfasser die Rolle des Hilfesuchenden deutlich wird, sind die Reaktionen von sozialer Unterstützung geprägt und häufig deutlich gebender Natur. Hat sich andererseits ein Giver innerhalb eines Threads etabliert, so suchen Taker speziell nach Rat und sozialer Unterstützung bei ihm. Die Rollenmuster stellen sich für den Gesprächsverlauf als relevanter dar als der zeitliche Abstand des Einzelnen zum Verlustereignis. Hiermit geht auch einher, dass auf Beiträge, in denen die Emotion Angst deutlich wird, in Form von sozialer Unterstützung reagiert wird. So wird insbesondere das Rollenmuster des Takers durch die Suche nach sozialer Unterstützung deutlich. Durch den gegenseitigen Austausch von Emotionen und Erlebnissen kann so nicht nur die Trauer bearbeitet werden, sondern es können sich auch sympathische, reziproke Beziehungen entwickeln, deren kommunikative Gesprächsinhalte deutlich über Inhalte, die unmittelbar mit dem Tod in Zusammenhang stehen, hinausgehen. Hinsichtlich des Umgangs mit der Trauer zeigt sich somit ein virtuell vermitteltes und real wirksames Coping. Auch diese Entwicklung innerhalb eines Threads stellt sich für die Kinder- und Jugendtrauer als relevanter als für Erwachsenentrauer dar. Kinder und Jugendliche suchen hierbei nicht nur nach Gleichgesinnten, die ihnen in einem speziellen Moment zur Seite stehen, sondern auch nach längerfristigen Kontakten, wie sie dies aus der digitalen Umgebung und sozialen Netzwerken bereits kennen (Prensky, 2001). Die virtuelle Welt hilft somit den so genannten Digital Natives (Prensky, 2001), die durch Facebook und andere Online-Portale mit der virtuellen Kommunikation bereits vertraut sind, auch hier bei den vormals privaten Emotionen und führt nicht nur zur Bewältigung,

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sondern ebenso zum Aufbau von Freundschaften, die über die Trauerbearbeitung hinaus neue und vor allem realweltliche Kommunikationsthemen aufweisen. Besonders auffällig stellt sich dabei eine Übertragung von Kommunikationsmustern und -prozessen dar, die sich in der realweltlichen Kommunikation bereits etabliert und gefestigt haben. Beispielhaft sind die als »Parasoziale Online-Interaktionen«15 zu bezeichnenden Interaktionsmuster: In Zuständen von Verzweiflung wählen Kinder und Jugendliche zunehmend die Online-Kommunikation, um mit den Verstorbenen zu interagieren (vgl. auch »continuing bonds«, Klass et al., 1996). Statt eines eher traditionellen und in der Öffentlichkeit stattfindenden Friedhofsbesuchs oder eines Briefs an den Verstorbenen wenden sich Kinder und Jugendliche online durch virtuelle Briefe an den Verstorbenen und nutzen zugleich die Online-Gemeinschaft als Auffangbecken für ihre Trauer, die durch virtuelle, aber gleichzeitig sehr reale soziale Unterstützung reagiert. Die immer verfügbare Online-Kommunikation unterscheidet sich dabei kaum von der realweltlichen Offline-Kommunikation: Emotionen und soziale Unterstützung werden geteilt, Rollen und Muster in Gesprächsführung und Gesprächsinhalten werden übertragen und Sympathie und Empathie hinsichtlich der emotionalen Situation des Gegenübers werden verbalisiert. Die Online-Trauerbewältigung stellt eine Erweiterung realweltlicher Kommunikation und für Kinder und Jugendliche gar ein virtuelles Refugium dar. Das Netz ist im Hinblick auf die Trauerbearbeitung ein Gewinn, ein soziales Netzwerk, ein Auffangbecken, ein Refugium, keineswegs ein Schaden.

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Mehr als Begleitung

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Wann hilft Begleitung in Trauersituationen – wann ist Therapie sinnvoll? Komplizierte Trauer? Was ist das?

Menschen im Umfeld von Trauernden sind oft irritiert von Phänomenen, die sie nicht einordnen können. Das lässt sich bei trauernden Kindern ebenso beobachten wie bei trauernden Erwachsenen. Denn es können folgende Verhaltensweisen auftreten: anscheinend zu extrem – oder zu gering – wahrnehmbare Äußerungen des Trauerns oder Äußerungen zu Zeiten, in denen nicht (mehr) mit Reaktionen gerechnet wird, oder auch in anderer Weise befremdlich erscheinende Reaktionen. Unsicherheit herrscht darüber, ob und wie geholfen werden kann, aber auch darüber, welche Art der Unterstützung notwendig und sinnvoll ist: Begleitung durch das eigene soziale Umfeld, speziell qualifizierte Ehrenamtliche im Rahmen einer Organisation, qualifizierte Begleitende in Trauersituationen, oder trauer- bzw. traumatherapeutisch qualifizierte Menschen. Ebenso stellt sich die Frage nach der passenden sozialen Form der Begleitung – eine Trauergruppe, eine Einzelbegleitung, eine Trauer-, Trauma- oder Psychotherapie oder auch mehrere Formen zugleich. Neben einer differenzierten Abwägung aller Umstände vor dem Beginn einer Begleitung muss auch damit gerechnet werden, dass im Laufe der Zeit bisher noch nicht beachtete Umstände ins Spiel kommen. In jedem Fall gilt für alle Begleitenden, die Grenzen der eigenen Kompetenz zu erkennen und gegebenenfalls weitere Unterstützung einzubeziehen.

Verschiedene Formen von Trauer – Begriffsklärung In der Literatur finden sich bei verschiedenen Autoren verschiedene Begriffe, die auch unterschiedlich beschrieben werden (erschwerte, komplizierte, versteinerte, pathologische Trauer und andere). Die Begriffe veränderten bei verschiedenen Autoren ihre Definitionen. Zur Klärung in dieser Situation schlug eine Arbeitsgruppe des Bundesverbandes Trauerbegleitung e. V. (BVT) nach Sichtung der Literatur eine Sprachregelung vor, die ausschließlich vier Begriffe zur Beschreibung von Trauer verwendet (vgl. Paul, 20111), die inzwischen auch anderweitig aufgegriffen wurde (unter anderem von Metz, 2011). 1

Dem Beitrag von Paul (2011) »Trauerprozesse benennen« liegt das Ergebnis einer Arbeitsgruppe (Fleck, Kudling, Kraft, Paul, Steuer) »Komplizierte Trauer« des Bundesverbands Trauerbegleitung (BVT) e. V. (2007–2009) zugrunde.

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Nicht erschwerte Trauer Nicht erschwerte Trauer liegt bei ca. 70 Prozent der Trauerprozesse vor (vgl. Lindemann, 1944; Middleton, Raphael, Martinek u. Misso, 1993) und zeichnet sich durch wenige Symptome, ein hohes Maß an Ressourcen, wenige Risikofaktoren aus. Erschwerte Trauer Erschwerte Trauer ist erkennbar durch das Vorliegen vieler Symptome, weniger Ressourcen, vieler Risikofaktoren. Sie kann in eine nicht erschwerte Trauer übergehen, aber auch in die Form einer komplizierten Trauer. Die wesentliche und am häufigsten notwendige Differenzierung ist die Abgrenzung von nicht erschwerter und erschwerter Trauer. Komplizierte Trauer Komplizierte Trauer wird klar abgegrenzt von depressiver Verstimmung und der Posttraumatischen Belastungsstörung. An Symptomen werden beschrieben: anhaltende Verzweiflung, nicht nachlassender Schmerz und anhaltende komplette Freudlosigkeit, beobachtbar etwa ab dem 13. Monat nach dem Verlust (vgl. Horowitz, Bonnano u. Holen, 1993). Möglicherweise ist komplizierte Trauer durch fehlenden Umgang mit Nähe und Abschieden in der Kindheit bedingt, und zwar bei gleichzeitig sehr enger, ausschließlicher Bindung an den Verstorbenen. Traumatische Trauer Bei der traumatischen Trauer werden ab ca. sechs Monaten nach dem Verlust Symptome einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS/PTSD) beobachtet (vgl. unter anderem Znoj, 2004), wie anhaltender intensiver seelischer Schmerz, Hoffnungslosigkeit, Todessehnsucht und anhaltende körperliche Reaktionen (vor allem Schlafstörungen, Intrusionen). Die Lebensqualität ist hier deutlich beeinträchtigt.

Faktoren zur Einschätzung der Situation eines Trauernden Die Faktoren, die zur Einschätzung der Situation eines Trauernden dienen, sind neben den jeweiligen Symptomen, in denen sich die Trauer zeigt, einerseits die dem Trauernden zur Verfügung stehenden Ressourcen und andererseits die – seine Situation belastenden – Risikofaktoren. Die bei verschiedenen Autoren benannten Symptome, Ressourcen und Risikofaktoren wurden in Tabellen zusammengestellt. Dabei wurde jeweils ein verschiedener

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Level einer Qualifizierung als Minimum derer, die die Trauenden begleiten, mit den jeweiligen Verlaufsformen von Trauer in Zusammenhang gesetzt. Bei einer nicht erschwerten Trauer wird in der Empfehlung der Arbeitsgruppe eine Begleitung durch Mitarbeitende mit Kleiner Basisqualifikation im Rahmen einer Organisationsstruktur als angemessen erachtet. Diese Einschätzung gilt für den Bereich von Erwachsenen. Bei Kindern sollte auch hier eine Große Basisqualifikation als Qualifizierungslevel vorausgesetzt werden, da nicht nur eine Einschätzung der Situation, sondern auch möglicherweise ein Reagieren auf sensible, komplexe Situationen nötig wird. Bei erschwerter Trauer (von Erwachsenen) geht die Arbeitsgruppe von Mitarbeitenden mit Großer Basisqualifikation aus. Bei komplizierter Trauer Erwachsener wird ein spezielles, strukturiertes Vorgehen bei Begleitung durch Mitarbeiter mit Großer Basisqualifikation genannt. Bei Kindern ist hier abzuschätzen, in welcher Situation ein therapeutisches Setting eher angezeigt ist, unter Umständen zusätzlich die eigentliche zentrale Begleitung durch das eigene Familien-/Bezugssystem der Kinder und durch zusätzlich Begleitende (die dann als ergänzende Stützung fungieren). Für den Bereich der traumatisierten Trauer ist eine Betreuung in therapeutischem Kontext bei spezieller traumatherapeutischer Kompetenz angezeigt, ergänzend dazu möglicherweise eine Stabilisierung bzw. Prozessbegleitung. Die begriffliche Einordnung wie auch die Zuordnung zu bestimmten Qualifizierungsanforderungen kann möglicherweise bei künftigen Entwicklungen (zum Beispiel Fortschreibungen von diagnostischen Katalogen, wie DSM-5 und ICD-10, Fortschreibung von Standards des BVT, aber auch einer möglichen Anerkennung von Trauerbegleitung in speziellen Fällen als Präventionsmaßnahme) eine Rolle spielen.

Die besondere Situation von trauernden Kindern Kann man die genannte Abwägung von Symptomen, Ressourcen und Risikofaktoren, wie sie für Erwachsene beschrieben ist, auf die Situation von Kindern übertragen? Es scheint, dass dies gerade auch bei Kindern gilt. Dabei scheint wichtig zu sein, bei der Einschätzung der individuellen Situation einige Aspekte noch sorgfältiger in den Blick zu nehmen, als dies bei Erwachsenen notwendig ist: Das jeweilige Alter des trauernden Kindes spielt dabei eine wichtige Rolle, der individuelle Entwicklungsstand, der sich nicht schematisch mit der Angabe des Lebensalters beschreiben lässt, ebenso systemische Aspekte. Für Kinder sind ihre Bezugspersonen, die Einbettung in ihr jeweiliges Bezugssystem besonders wichtig. In Krisensituationen sind die gewohnten Stützen die nächstliegenden und reichsten Ressourcen. Trauerbegleitung (und auch Therapie) kann hier (sofern das Familiensystem noch existiert) nie als Ersatz von oder in Konkurrenz mit, sondern nur als Ergänzung und Unterstützung des Systems stattfinden.

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Die Arbeitsgemeinschaft hatte 2009 Trauerbegleitung für Erwachsene im Blick. Auf die besondere Situation von Kindern und deren Begleitung gehen die 2013 formulierten Standards des BVT für Kindertrauerbegleitung ein (Bundesverband Trauerbegleitung e. V., 2013)

Wie ist die jeweilige Situation zu beurteilen? Wann ist Trauer erschwert? Man kann davon ausgehen, dass eine Abschätzung der Situation bei Kindern – ähnlich der bei Erwachsenen – auf einer Zusammenschau der Faktoren Ressourcen, Risikofaktoren und Symptomen aufbaut, auch wenn die besondere Situation von Kindern und Jugendlichen zu berücksichtigen ist (wie zum Beispiel das Verständnis des jeweiligen Reifestandes oder die von Ennulat beschriebene Fähigkeit, in die Trauer spontan wie in eine Pfütze hinein- und auch wieder herausspringen zu können). Die durch die Arbeitsgemeinschaft benannten Symptome werden in Tabelle 1 vorgestellt (vgl. Paul, 2011). In den folgenden zwei Unterkapiteln werden die von der Arbeitsgemeinschaft benannten Risikofaktoren und Ressourcen benannt und etwas genauer in den Blick genommen.

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Wann hilft Begleitung in Trauersituationen – wann ist Therapie sinnvoll?

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Tabelle 1: Symptome bei Trauernden Symptome Körper

Spiritualität

psychisch/emotional

–– Sucht –– Schlafstörungen –– Essstörung –– Muskelschwäche –– Kopfschmerzen –– Verspannungen –– körperliche Schmerzen –– Empfindungslosigkeit –– Zittern, Frieren –– allgemeine Erschöpfung –– reduzierter Immunstatus –– Beklemmung –– Herzschmerzen

–– SINN-Verlust –– WERTE-Verlust –– GLAUBENS-Verlust –– Bedeutungsverlust von bewährten spirituellen Ausdrucksformen

–– Unruhe –– Wunsch, nachzusterben –– Traurigkeit –– Schuldgedanken –– Überforderung –– Fassungslosigkeit –– Erleichterung –– Wut, Aggression –– Einsamkeit –– Erschöpfung –– Ängste Komplizierte Trauer: –– Verlustängste –– Gefühle von Leere –– Hoffnungslosigkeit –– tiefer Seelenschmerz Traumatische Trauer: –– Übererregtheit/ Misstrauen –– Intrusionen (belastende) –– Gefühle von Überflutung –– Dissoziation

Seelischer Schmerz

Soziales Verhalten

Kognition

Erleben von –– Wund-Sein –– Verlassen-Sein –– Sehnsucht

–– sozialer Rückzug –– Übernahme von Symptomen und Verhaltensweisen der verstorbenen Person –– Hyperaktivität –– Apathie –– Nicht-alleine-sein-Können –– Suchtverhalten

–– Akzeptanz-Probleme –– Verlust von Identität –– Einbuße von und Mangel an Konzentration –– Zuschreibung von Schuld (an sich selbst und andere) –– Verbitterung –– Vermeidungsverhalten

Risikofaktoren Risikofaktoren für das Entstehen einer erschwerten Trauer lassen sich zum einen in den Begleitumständen des Todes und der Todesart finden. Besonders belastend sind aufgrund der Unsicherheit der Situation Verluste von Menschen, bei denen der Tod nicht sicher feststeht, aber auch plötzliche Todesfälle, Todesarten, die mit Gewalt ver-

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bunden sowie mit sozialen Tabus belegt sind oder nicht als wirklich begriffen werden können, weil zum Beispiel der Abschied vom Leichnam nicht möglich ist. Zum anderen hat die Beziehung zwischen Trauernden und Verstorbenen Einfluss auf die Situation: Hier sind ambivalente Beziehungen mit größeren Anteilen widersprüchlicher Erfahrungen zu nennen (wenn zum Beispiel ein verstorbenes Elternteil sich einerseits ständig aggressiv und gewalttätig verhalten hat, andererseits zugleich das Kind auch unter großen persönlichen Opfern materiell unterstützt hat), abhängige Beziehungen (einer kann ohne den anderen nicht leben), narzisstisch geprägte Beziehungen (hier wird die andere Person als Teil des eigenen Ich angesehen) und auch besonders enge Beziehungen, etwa empfundene große Lieben, Seelenverwandtschaften, aber auch Bindungen zwischen einem Elternteil und einem Kind. Die bisherige Lebensgeschichte und die aktuelle Lebenssituation des trauernden Menschen nehmen ebenfalls Einfluss auf die Bedingungen der Trauer (Worden, 2010, 2011; Kopp-Breinlinger u. Rechenberg-Winter, 2003): dem aktuellen Verlust bereits vorangegangene oder zusätzliche Verluste durch Tod (Mehrfachverluste), Verlusterleben in Kindheit und Jugend, das nicht angemessen betrauert werden durfte (dieser Aspekt unterstreicht die langfristige Bedeutung einer angemessenen Begleitung von Kindern für deren künftige Biografie). Auch andere vorangehende oder aktuelle Verluste sind zu bedenken, zum Beispiel eigene Krankheit, Umzug, Verlust der Arbeit, auch Verlust der Heimat oder des kulturellen Umfelds. Die Persönlichkeit der Trauernden spielt eine Rolle, besonders bei Menschen, die Gefühle von Hilflosigkeit meiden, weil ihr Selbstbild das eines starken Menschen ist (das kann auch Kindern in der Erziehung vermittelt werden), bei Menschen, die starke Emotionen meiden und sich den Ausdruck von Gefühlen verbieten, oder bei Menschen mit einem rigidem Selbstbild und Rollenkonzept. Soziale Faktoren können ebenso das Risiko einer erschwerten Trauer erhöhen: etwa die Trauer nach einer sozial nicht anerkannten Beziehung, nach einer Todesursache, die einem Tabu unterliegt (zum Beispiel Suizid, Tod durch Alkohol- oder Drogenerkrankung, durch die Folgen einer als sozial problematisch angesehenen Infektion) oder die mangelhafte Unterstützung im sozialen Netzwerk der trauernden Person bzw. das Fehlen von solchen Netzwerken. All diese Risikofaktoren können auch Kinder betreffen, ihre Situation erschweren und das Risiko fördern, eine erschwerte Trauer zu entwickeln. Ressourcen Zur Einschätzung des Risikos eines erschwerten Trauerprozesses im Vorfeld und in den ersten 13 Monaten nach einem Verlust gehört, sich nicht allein die oben genannten Risikofaktoren anzusehen, sondern auch die Ressourcen, die zur Verfügung stehen. Folgende mögliche Ressourcen sind diesbezüglich zu bedenken: Ein soziales Netz, mit der besonderen Berücksichtigung von Partnerschaft, Familie, Freunden (in der Situation von Kindern insbesondere Eltern und andere Familien-

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Wann hilft Begleitung in Trauersituationen – wann ist Therapie sinnvoll?

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mitglieder, Klassenkameraden, beste Freunde, aber auch Großeltern, [Paten-]Tanten, Onkel) stützt, auch der sozio-ökonomische Status bzw. die finanzielle Sicherheit (so vorhanden) ist ein stabilisierender Faktor. Eine subjektiv erlebte Einbindung in übergeordnete Zusammenhänge (Spiritualität) kann ebenso unterstützen wie ein als sinnvoll empfundener Beruf oder andere Tätigkeiten (für Kinder und Jugendliche kann das auch die von ihnen unter Umständen bereits vor dem Verlust ausgeübte Sport- oder Freizeitaktivität sein, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe – Sport, Pfadfinder, Jugendgruppe einer Kirche – oder auch das spontane Spielen). Darüber hinaus spielen die erlebte Leiblichkeit, eigene Werte und Überzeugungen, alle Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die trauernde Person hat, wie auch die situationsangemessene Nutzung der vorhandenen Ressourcen eine wichtige Rolle – denn all dies ermöglicht zum einen ein subjektives Erleben von Selbstwirksamkeit und fördert zum anderen die Fähigkeit zur Selbstberuhigung. Die aufgeführten Ressourcen sind ebenso wie die Risikofaktoren auch bei Kindern und Jugendlichen wahrnehmbar – allerdings in der speziellen altersgemäßen Form. In den Aufzählungen von Risikofaktoren und Ressourcen wird zudem deutlich, dass das System, in dem der trauernde Mensch (und besonders das trauernde Kind) lebt, zwar einerseits als eine mögliche Quelle von Risikofaktoren anzusehen ist, die die Situation erschweren, aber andererseits zugleich eine wesentliche Quelle der Ressourcen sein kann, die helfen, die Situation zu bewältigen.

Literatur Bundesverband Trauerbegleitung e. V. (2013). Qualitätsstandards für Kindertrauerbegleitung, Stand vom 19. Februar 2013. Zugriff am 19. 03. 2014 unter http://www.bv-trauerbegleitung.de/Qualitaets­ standards/Kinder Doka, K. (1999). Disenfranchiesed grief. Bereavement Care, 18, 3, 37–39. Doyle, M. N., Hanks, G., MacDonald, N. (Eds.) (1993). Oxford textbook of palliative medicine. New York: Oxford University Press. Ennulat, G. (2013). Kinder trauern anders. Wie wir sie einfühlsam und richtig begleiten (9. Aufl.). Freiburg: Herder. Fleck, C. (2013). Risikofaktoren, Ressourcen und Symptome zur Einschätzung erschwerter Trauerprozesse. Leidfaden. Fachmagazin für Krisen Leid, Trauer, 2 (2), 76–81. Fleck-Bohaumilitzky, C. (2003). Wenn Kinder trauern. München: Südwest-Verlag. Horowitz, M. J., Bonnano, G. A., Holen, A. (1993). Pathological grief: Diagnosis and explanation. Psychosomatic Medicine, 55 (3), 260–273. Horowitz, M. J., Siegel, B., Holen, A., Bonnano, G. A., Milbrath, C., Stinson, C. H. (1997). Diagnostic criteria for complicated grief disorder. The American Journal of Psychiatry, 154 (7), 904–910. Kolk, B. van der, McFarlane, A., Weiseath, L. (Eds.) (2002). Traumatic stress. The effects of overwhelming experience on mind, body, and society. New York: Guilford Press. Kopp-Breinlinger, K., Rechenberg-Winter, P. (2003). In der Mitte der Nacht beginnt ein neuer Tag: mit Verlust und Trauer leben. München: Kösel. Lammer, K. (2003). Den Tod begreifen. Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlagshaus.

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Zu viel Angst, um traurig zu sein Traumatische Trauer bei Kindern

Dieser Beitrag beschreibt zunächst kurz, welche Wirkung der Verlust eines geliebten Menschen auf Kinder hat und was trauernden Kindern psychisch in Bezug auf ihren Trauerweg helfen kann. Danach wird erörtert, was bestimmte Ereignisse traumatisch macht und wie Kinder darauf reagieren. Im Anschluss werde ich aufzeigen, dass die Reaktionen eines Kindes auf einen traumatischen Verlust die Trauer erschweren können. Im Fall traumatischer Trauer haben nämlich oft dieselben Dinge, die einem Kind im Normalfall beim Trauern helfen können, einen gegenteiligen Effekt. Aus diesem Grund werde ich Strategien vorschlagen, durch die sich der Einfluss des Traumas minimieren lässt. Außerdem werde ich Interventionen beschreiben, die in diesem Fall Erfolg versprechen.

Nichttraumatische Trauer Die Forschung an trauernden Kindern ist mit einigen ethischen Problemen und methodologischen Schwachstellen behaftet. Dennoch gibt es hinreichende Befunde, die suggerieren, dass Kinder nach einem Verlust eine Bandbreite psychologischer Symptome zeigen und dass sie einem erhöhten Risiko ausgesetzt sind, Depressionen, Angststörungen oder somatische Erkrankungen zu entwickeln. Trauerreaktionen sind dabei zu einem gewissen Grad vom Entwicklungsalter des betroffenen Kindes abhängig (vgl. hierzu Cohen, Mannarino, Greenberg, Padlo u. Shipley, 2002; Dowdney, 2000). Viele Kinder integrieren schließlich den Verlust ohne dauerhafte Schäden. Eines von durchschnittlich fünf Kindern wird aber zum Zweck einer speziellen Intervention an zuständige Fachleute überwiesen (Dowdney, 2000).

Trauer bei Kindern – was hilft? Haine, Ayers, Sandler und Wolchik (2008) schlagen vor, dass man die Trauerreaktion eines Kindes vor dem Hintergrund der zahlreichen, miteinander interagierenden Stress-

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komponenten beurteilen sollte, die nach einem Todesfall im Leben des Kindes aktiv sind. Hierzu gehören beispielsweise Trennung (von anderen Bezugspersonen), Schmerz und Verzweiflung bei den Betreuern des Kindes oder andere Veränderungen in den Rahmenbedingungen. Des Weiteren sind hier auch die dem Kind eigenen Schutzressourcen von Bedeutung, zum Beispiel Selbstwertgefühl, Bewältigungsstrategien und Bindung. Durch diesen Referenzrahmen und auch durch die stetig wachsende Literatur zum Thema des positiven Effekts einer Intervention durch Spezialisten bei trauernden Kindern können wir mit einiger Sicherheit sagen, dass bestimmte Faktoren helfen, langfristig negative Auswirkungen der Trauer auf Kinder zu reduzieren (Sandler et al., 2003; Rosner u. Hagl, 2010; Siddaway, Wood, Schulz u. Trickey, im Druck). Diese Faktoren sind: •• gutes psychologisches Funktionsniveau der Eltern(teile) (Cerel, Fristad, Verducci, Weller u. Weller, 2006) sowie eine gesunde Bindung (Dowdney, 2000), •• elterliche Wärme und Struktur (Haine et al., 2008; Black u. Urbanowicz, 1987), •• soziale Unterstützung (Picton, 2013), •• die eigenen Gefühle nicht unterdrücken (Sandler et al., 2003; Tein, Sandler, Ayers u. Wolchik, 2006), •• die Realität des Todes akzeptieren und dem Geschehenen einen Sinn geben (Neimeyer, 2001; Worden 1996), •• eine Beziehung zu dem Verstorbenen haben (Klass, Silverman u. Nickman, 1996; Haine et al., 2008).

Was eine Erfahrung traumatisch macht Was ist der Unterschied zwischen einem traurigen oder beängstigenden Ereignis und einem traumatischen? Das kognitive Modell von PTSD1 (zum Beispiel Meiser-Stedman, 2002) hält hier eine nützliche Definition bereit. Demzufolge ist ein Ereignis traumatisch aufgrund der nicht nachlassenden Erinnerung daran oder des Sinns, der diesem Ereignis (nicht) zugewiesen wird, oder aufgrund beider Faktoren zugleich. Diese Probleme der dauernden Erinnerung und der mangelnden Sinngebung versuchen Betroffene zu vermeiden.

Erinnerung und erinnern Die Erinnerungen an nichttraumatische Ereignisse – selbst, wenn diese schwierig oder beängstigend waren – sind im Gehirn als zusammenhängende Einheit in Form eines narrativen Ablaufs gespeichert. Somit bilden die Erinnerungen also den Rahmen 1

Post-Traumatic Stress Disorder = Posttraumatische Belastungsstörung.

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für die wahrgenommene Information (Krans, Näring, Becker u. Holmes, 2009). Die sensorischen Erfahrungen (Gerüche, Geräusche, Geschmäcker, Berührungen und visuelle Eindrücke) sind mit den Worten dieser Erzählung verwoben. Erinnerungen sind zeitlich und örtlich verankert und lassen sich mit neuen Informationen aktualisieren und so gewissermaßen updaten. Der Ablauf des Ereignisses ist normalerweise zusammenhängend – ganz gleich, ob dieser Ablauf akkurat ist oder nicht. Erinnerungen an Ereignisse, die von extremen Emotionen wie Angst, Entsetzen oder Hilflosigkeit begleitet sind, unterscheiden sich von diesem Muster. Ihnen fehlt der Rahmen normaler Erinnerungen, und somit ist das Erinnerte nur als lebhafter Sinneseindruck in Form von Gerüchen, Geräuschen, Geschmäcken, Berührungen oder visuellen Eindrücken gespeichert. Diese traumatischen Erinnerungen scheinen sich leicht auslösen zu lassen und dringen sogar gegen den Willen einer Person in dessen Bewusstsein. Berichten von traumatischen Ereignissen fehlt der logische Zusammenhang. Soweit überhaupt vorhanden, sind sie wirr und lückenhaft. Werden sie abgerufen, so sind sie nicht örtlich oder zeitlich verankert. Daher werden sie zeitlich als aktuell erfahren – so, als geschähen sie im Hier und Jetzt und lägen nicht in der Vergangenheit. Sie sind mit extremem Entsetzen verbunden – ähnlich wie zum Zeitpunkt des tatsächlichen Geschehens – und so versuchen Betroffene, diese Erinnerungen zu meiden. Diese nachvollziehbare Vermeidung verhindert jedoch die Entwicklung eines mit den Sinneseindrücken einhergehenden narrativen Ablaufs des Ereignisses. Dieser bildet aber im Normalfall den wichtigen Referenzrahmen für die Sinneseindrücke (Janet, 1919/1925; Brewin, Gregory, Lipton u. Burgess, 2010).

Sinngebung Gewöhnlich besitzen Menschen eine Reihe fester Glaubenssätze in Bezug auf die Welt und darauf, wie diese funktionieren muss, oder darauf, wie andere Menschen und sie selbst sich verhalten sollten. Diese Weltanschauung ist normalerweise im Unbewussten verankert, wird nicht ausgesprochen und kommt eher automatisch als bewusst zum Tragen (Kauffman, 2013). Problematische Erlebnisse passen möglicherweise nicht in diese Weltanschauung, und so ignorieren Menschen zuweilen solche Ereignisse, passen ihre Glaubenssätze an, so dass sie mit einem Erlebnis kompatibel sind (Einpassung/ Anpassung), oder verdrehen das Ereignis, damit es zu ihrer Weltanschauung passt (Assimilation). Den Prozess, durch den bereits bestehende Denkmodelle und neue Informationen aneinander angepasst werden, bezeichnet man als Abrundungstendenz (completion tendency, Horowitz, 1986). Beispielsweise verlieh ein Teenager, der von einer Gruppe Männer angegriffen worden war, dem Ereignis den folgenden Sinn: •• Die Welt ist grundsätzlich sicher genug, jedoch nicht diese bestimmte Straße am Abend.

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•• Die meisten Menschen sind vertrauenswürdig, aber einige in Straßen-Gangs organisierte junge Menschen sind es nicht. •• Ich habe eigentlich die Kontrolle über mein Leben und bin stark, aber ich hatte acht Gegner. Manchmal allerdings lässt sich eine Erfahrung/ein Ereignis nicht sinnvoll in das eigene Weltbild einpassen oder assimilieren, kann aber gleichzeitig auch nicht ignoriert werden. Dies führt dazu, dass die vorherige Weltanschauung zerschlagen wird (JanoffBullman, 1992). Die katastrophale Botschaft des Traumas gewinnt dann die Oberhand über alle anderen Erfahrungen, und die Betroffenen entwickeln allumfassende neue und negative Glaubenssätze. Diese gründen sich auf die Erfahrungen des Traumas und bestimmen fortan, in welchem Licht diese Menschen die Welt sehen und auf sie reagieren. Solche neuen Glaubenssätze könnten sein: •• Die Welt ist nicht sicher. •• Andere Menschen sind bösartig. •• Ich bin angreifbar. Wenn Menschen dann im Glauben an diese neuen Paradigmen entsprechend handeln, kann dies in ihrem Leben zu erheblichen Schwierigkeiten führen. Das Problem der Sinnhaftigkeit eines Erlebnisses bleibt dann weiter bestehen, da das Denken daran und die daraus resultierenden möglichen Folgen zu innerer Qual führen. Also vermeiden Betroffene die Erinnerung an das Trauma, aber diese Vermeidung hindert sie auch daran, umzudenken und die wenig hilfreichen Trauma-Glaubenssätze zu revidieren. Daran wird offensichtlich, dass es weniger darum geht, ob ein Erlebnis wirklich, objektiv traumatisch war, sondern darum, welchen Sinn ein Mensch dem Ereignis zuweist. Eine leichte Verletzung mag beispielsweise Außenstehenden kaum als traumatisch erscheinen. Wenn aber ein Kind in dem Moment, in dem es sich die Verletzung zuzog, glaubte, sterben zu müssen, so kann es dadurch ein Trauma davontragen.

Stellvertretende Vermeidung Manchmal sind die erwachsenen Bezugspersonen eines Kindes (Eltern, Lehrer oder sogar zuweilen Therapeuten) besorgt, das Sprechen über ein Erlebnis könne das Kind aufregen und so die Lage schlimmer machen. Deshalb wird dieses Erlebnis niemals erwähnt. Das Kind bemerkt das, fragt sich, warum die Erwachsenen nicht darüber sprechen und tut es daher auch nicht. Die Erwachsenen denken wiederum: »Nun, das Kind spricht nicht darüber, also sollten wir es auch nicht tun.« So begeben sich alle Beteiligten in einen Kreislauf der Vermeidung.

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Die Posttraumatische Belastungstörung (PTBS) Im Durchschnitt entwickelt ein Drittel aller Kinder mit traumatischen Erlebnissen eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS; siehe Fletcher, 1996). Selbst wenn Kinder nicht vollkommen die diagnostischen Kriterien erfüllen, so leiden doch viele unter Symptomen einer PTBS. Diagnostische Kriterien einer PTBS gemäß DSM-52 unterscheiden vier Symptomgruppen, die auf traumatische Ereignisse folgen (American Psychiatric Association, 2013). Die erste Gruppe von Symptomen bezieht sich auf die Art und Weise, mit der die Erinnerung an das Ereignis in das Bewusstsein der traumatisierten Person eindringt. Selbst wenn sie nicht daran denken will, drängt sich das Geschehen dennoch immer wieder auf, und zwar sowohl während des Tages als auch nachts. Kinder nutzen möglicherweise das Spiel dazu, das Erlebnis immer und immer wieder neu zu inszenieren. Die zweite Symptomgruppe bezieht sich auf die Vermeidung von internen oder externen Auslösern der Erinnerung. Betroffene versuchen mit aller Kraft, nicht an das Ereignis zu denken, nicht darüber zu sprechen, oder sie meiden Orte und Menschen, die sie daran erinnern. Die dritte Gruppe ist den Veränderungen im Denken und Fühlen zugeordnet. Betroffene erinnern sich möglicherweise nicht mehr an wesentliche Teile eines Ereignisses. Manche entwickeln übertrieben negative Glaubenssätze in Bezug auf sich selbst, andere Menschen oder die Welt im Allgemeinen. Manche haben verdrehte Erinnerungen in Bezug auf die Auslöser oder Folgen des traumatischen Ereignisses. An vierter Stelle steht eine Symptomgruppe, die sich auf eine übermäßige körperliche Erregbarkeit bezieht. Die meisten Menschen können ihre Erregbarkeit entsprechend den Umständen kontrollieren. Falls notwendig, also beispielsweise beim Davonlaufen vor einer Gefahr, kommt in unserem Körper der Fluchtreflex sehr effektiv zum Tragen. Wenn die Gefahr vorbei ist, beruhigen wir uns wieder. Menschen mit PTBS sind aber dazu oft nicht in der Lage. Sie können sich möglicherweise nicht genug entspannen, um gut zu schlafen, sie verlieren leicht die Beherrschung, und es fällt ihnen schwer, sich zu konzentrieren. Sie sind immerzu wachsam und halten Ausschau nach der nächsten Gefahr. Wenn sie sich aufregen, dann kann es Stunden dauern, bis sie sich wieder beruhigen, obgleich es für einen nichttraumatisierten Menschen nur eine Frage von Sekunden oder Minuten wäre. Symptome aus allen vier Gruppen sind sehr normal in der Zeit, die unmittelbar auf eine schwierige Erfahrung folgt. Bei vielen Menschen verschwinden sie aber innerhalb eines Monats und müssen daher über diese Zeitspanne hinaus vorhanden sein, um als PTBS diagnostiziert zu werden.

2 The Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: Dabei handelt sich um das diagnostische Regelwerk der American Psychiatric Association (APA, 2013).

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Traumatische Kindertrauer Wenn ein Kind trauert und der Verlust unter traumatischen Umständen stattfand, so vervielfältigen sich die normalen Schwierigkeiten im Umgang damit. An die Stelle einer normalen Reaktion auf den Verlust tritt das Trauma, das einen normalen Verlauf der Trauer blockiert oder behindert. Traumatische Trauer in der Kindheit ist beschrieben worden als »der Übergriff von Traumasymptomen auf die Fähigkeit eines Kindes, zu trauern« (Cohen, Mannarino u. Knudsen, 2002, S. 311). Einige Kinder erleiden den Verlust eines ihnen nahestehenden Menschen unter objektiv traumatischen Umständen und entwickeln dennoch keine PTBS. Sie mögen für ein paar Wochen nach dem Todesfall einige Symptome von PTBS aufweisen, danach aber in der Lage sein, zu trauern und mit dem Verlust umzugehen. In anderen Fällen werden jedoch Faktoren, die einem Kind normalerweise bei der Trauerarbeit helfen, durch die traumatischen Umstände des Verlusts unterminiert oder ausgeschaltet. Ein Schlüsselelement beim Umgang mit einem Verlust besteht in der Fähigkeit, über den Verstorbenen nachzudenken und sich seiner zu erinnern. Das ist gewöhnlich traurig, aber die meisten trauernden Kinder können damit umgehen. Wenn aber der Verlust traumatisch war, mag das Kind zu verängstigt sein, um über seinen Verlust nachzudenken. Wann immer es versucht, an die verstorbene Person zu denken, ist dieses Gedenken erfüllt von den mit Trauma besetzten Todesumständen. Ein Kind mag das Gefühl haben, es trüge Schuld an diesem Tod, und demzufolge an nichts anderes denken. Vielleicht ist es aber auch so wütend auf den Verstorbenen oder die Person, von der die Todesumstände herbeigeführt wurden, dass diese Wut die Trauer blockiert.

Hilfreiche Faktoren, die fehlen oder gering ausgeprägt sind – und wie man sie wieder herstellen kann Eine gesunde Bindung und ein gutes psychologisches Funktionsniveau der Eltern(teile) Die Forschung weist einheitlich darauf hin, dass die Beziehung zwischen einem Kind und dessen Bezugspersonen ausschlaggebend ist für die Einschätzung, wie dieses Kind mit seinem Verlust umgehen wird (siehe zum Beispiel Dowdney, 2000). Des Weiteren hilft Kindern eine gesunde Bindung, ein Trauma zu verkraften. Es gibt allerdings viele Szenarien, in denen die Beziehung oder Bindung eines Kinds zu seiner Bezugsperson nach einem traumatischen Erlebnis gestört oder beschädigt sein kann. Nach einem traumatischen Verlust könnte das Kind beispielsweise denken, dass jeder, dem es zu nahe komme, ebenfalls sterben werde. Daher erlauben diese Kinder keine Nähe. Sie sind vielleicht aber auch so besorgt, dass ihr verbliebenes Elternteil

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auch sterben könnte, dass sie Vater oder Mutter nicht aus den Augen lassen und extrem klammern, was wiederum zu einer ungesunden Bindung führt. Die das Kind betreuende Person ist manchmal aber auch so mit ihrer eigenen Trauer oder anderen Aspekten des Todesfalls beschäftigt – beispielsweise einer Ermittlung durch die Polizei –, dass sie dem Kind als Ansprechpartner nicht zur Verfügung steht. Um einem Kind die größtmögliche Hilfe angedeihen zu lassen, ist es also wichtig, dass die beteiligten Fachkräfte sich über die Beziehung und Bindung zu den Kindsbetreuern informieren. Auf dieser Grundlage kann dann entschieden werden, welche Behandlung oder Intervention der Situation angemessen ist. Elterliche Wärme und Struktur Erleidet ein Kind einen traumatischen Verlust, so denken Eltern zuweilen, sie müssten sich fortan in der Erziehung und Betreuung anders verhalten. Dabei braucht das Kind jetzt mehr denn je die gleiche bekannte und verlässliche Fürsorgestruktur, die es aus der Zeit vor dem Verlust gewohnt ist. Viele Eltern wollen wissen, ob das Verhalten ihres Kindes nach einem traumatischen Erlebnis normal oder durch die Trauer begründet sei. Egal, welches Verhalten traumatisierte Kinder an den Tag legen, sie brauchen dennoch die gleichen Dinge wie ihre nichttraumatisierten Altersgenossen: eine Mischung aus Liebe und Grenzen. Sie brauchen Liebe, Unterstützung und Verständnis, aber auch Grenzen und Regeln. Nach einem traumatischen Verlust benötigen manche Betreuungspersonen besondere Unterstützung, um mit ihrer eigenen Trauer und den zusätzlichen administrativen Belastungen umzugehen, die ein traumatischer Todesfall oft mit sich bringt. Diese Hilfe von außen ist zentral, denn gleichzeitig versuchen Eltern und Betreuer, ihren Kindern mit der gleichen Wärme und verlässlichen Struktur zu begegnen wie vorher. Einige Familien brauchen auch Hilfe bei der Neuverteilung von Rollen und Beziehungen nach einem Verlust. Ein Beispiel: Ein dreizehnjähriger Junge, dessen Vater vor zwei Jahren verstorben ist, hat Schwierigkeiten im Zusammensein mit Mutter und Schwester. Vor dem Tod des Vaters hatte der Junge viel Zeit mit ihm verbracht, während sich Mutter und Schwester ihrerseits sehr nahegestanden hatten. So waren alle vier bestimmten Rollen und Regeln gefolgt, die ihrem Zusammensein halfen. Aber jetzt, zu dritt, muss dieser Junge seine Mutter mit seiner Schwester teilen, und alle finden das schwierig. Hier besteht die therapeutische Arbeit vielleicht darin, mit den Betroffenen zu erarbeiten, wie sie – vormals vier – nun zusammen als eine DreiPersonen-Familie zusammenleben können. Soziale Unterstützung Soziale Unterstützung ist wiederholt als wichtiger Schutzfaktor für die psychische Gesundheit von Kindern identifiziert worden. Auch trauernde Jugendliche zeigen bei sozialer Unterstützung weniger Anzeichen von Depression (Balk, 1990). Besonders

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Jugendliche sind aber sehr darum bemüht, sich nicht von ihren Altersgenossen zu unterscheiden, was erklären würde, warum sich so viele trauernde Jugendliche aus sozialen Kontakten zurückziehen (Worden, 1996). Auf diese Weise versagen sie sich selbst die Beziehungen, die hilfreich für sie sein könnten. Wenn jemand unter untraumatischen Umständen stirbt, mag das Umfeld eher damit umgehen können. Familie und Freunde von Trauernden mögen dann besser darin sein, Unterstützung anzubieten. Stirbt aber jemand unter traumatischen Umständen, wissen Menschen oft nicht, wie sie darauf reagieren sollen, und viele schweigen lieber, als das Falsche zu sagen. So fühlen sich Kinder und ihre Familien in solchen Fällen oft nicht unterstützt, obwohl sie einer Unterstützung in ihrer Situation mehr denn je bedürfen. Zuweilen äußern sich Freunde von traumatisierten Kindern auch auf sehr grobe und grausame Weise, beispielsweise durch Ärgern oder Mobbing. Das kommt nicht unbedingt daher, dass diese Kinder wirklich grausam sind. Es handelt sich vielmehr um eine kindliche Strategie, Distanz zu dem traumatischen Ereignis zu wahren, so dass darüber nicht gesprochen werden muss. Des Weiteren teilen sich manche traumatisierte Kinder ihren Freunden oder ihrer Familie nicht mit, weil sie diese nicht aufregen oder traurig machen wollen. Traumatische Ereignisse ziehen außerdem eher die Aufmerksamkeit verschiedener Medien auf sich, darunter Fernsehen, Tageszeitungen, Webseiten, Blogs und soziale Medien wie Facebook oder Twitter. Oft sind diese Medien so sehr auf einen spektakulären Effekt bedacht, dass sie sich nicht um eine akkurate Wiedergabe von Geschehnissen bemühen. Dabei werden Namen nicht richtig zitiert, veraltete Fotos verwendet und Details des Ereignisses auf sehr unsensible Weise oder völlig übertrieben dargestellt. Das alles kann für Kinder emotional sehr problematisch sein. Ein Interesse vonseiten der Medien bedeutet, dass viele traumatische Todesfälle journalistisch hoch gehandelt und damit zur öffentlichen Bewertung freigegeben werden. Das mag dazu führen, dass zahlreiche Menschen sich von dem »Fall« angezogen fühlen und aus diesem Grund Hilfsangebote machen, die aber meist nicht wirklich hilfreich sind. Leute besuchen beispielsweise unangemeldet das Haus der Familie oder drängen sich auf, obwohl die Betroffenen gerade sehr wehrlos und verletzlich sind. Das Medieninteresse, die Sorge von so genannten Helfern und mögliche polizeiliche Ermittlungen enden oft gleichzeitig – und zwar zu einem Zeitpunkt, zu dem die Familie eigentlich Stabilität bräuchte und sich wünschte, mit Menschen in Kontakt zu stehen. In einem solchen Fall können hinzugezogene Fachleute helfen, die Familie vor der unwillkommenen und wenig hilfreichen Aufmerksamkeit Außenstehender zu schützen und ihnen sinnvolle soziale Unterstützung zukommen zu lassen. Kinder und deren Familien können ermutigt werden, bereits bestehende soziale Netzwerke zu nutzen oder, falls notwendig, neue zu entwickeln, die vielleicht ihren durch den Verlust veränderten Bedürfnissen eher entsprechen. Kinder kann man darin bestärken, ihren bisherigen sozialen Aktivitäten und Hobbys weiterhin nachzugehen, insofern sie dort früher Unterstützung erfahren haben. Familien können bezüglich eines potenziellen Medieninteresses gewarnt und vorbereitet werden, und es lassen sich Wege finden, Kinder vor diesem Ansturm zu

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schützen. Das kann bedeutet, dass gegebenenfalls die Polizei involviert werden muss oder Berichte über die familiären Hintergründe durch einen Gerichtsbeschluss verhindert werden. Kindern kann erklärt werden, warum die Medien in einer bestimmten Art und Weise berichten, sie können die Situation dann besser einschätzen. Gefühle nicht unterdrücken Trauernde Kinder, die bewusst versuchen, ihre Gefühle vor anderen zu verbergen, sind einem größeren Risiko eines negativen Trauerverlaufs ausgesetzt als Kinder, die offen über den Verlust sprechen (Tein et al., 2006). Trauer zu spüren ist für viele Menschen ein wichtiger Bestandteil des Prozesses. Oft geht es einfach darum, dass die beteiligten Fachleute Betroffenen erlauben, tieftraurig zu sein, und dieses Gefühl zusammen mit ihnen aushalten, anstatt sie aufzumuntern oder Antidepressiva zu verschreiben. Es scheint, als ob das Gefühl von tiefer Trauer, das diese Menschen scheinbar verloren haben, nötig ist, um zugleich das Gefühl zu entwickeln, sehr froh zu sein, diesen Menschen gekannt zu haben. Trauernde Kinder lernen schnell, ihren Schmerz vor den Eltern nicht zu zeigen, um diese zu schützen oder ihnen zu helfen, nicht von den eigenen Gefühlen übermannt zu werden. Erwachsene denken oft, dass sie Trauer vor ihren Kindern nicht zeigen dürften. Kinder beobachten ihre Eltern dabei, wie diese sich zu beherrschen versuchen, und imitieren deren Verhalten. Somit ringen alle Beteiligten aus Sorge um den jeweils anderen um Beherrschung. Die bewusste Unterdrückung von Emotionen kann bei traumatischer Trauer noch ausgeprägter und problematischer sein, denn die Gefühle sind hier oft komplizierter, intensiver und erscheinen den Trauernden weniger akzeptabel. Betroffene Kinder sind vielleicht durch die Todesumstände zu verängstigt, um zu trauern, sind erfüllt von Wut auf die Person, die ihrer Ansicht nach die Schuld an dem Tod trägt, oder sie fühlen sich in gewisser Weise selbst für den Tod verantwortlich und sind mit dieser Schuld überfordert. Gefühle wie diese gewinnen dann die Oberhand über die Trauer, und Kinder versuchen, sie tunlichst zu unterdrücken. Diesen Kindern kann man erklären, dass ihre Reaktionen vollkommen verständlich sind, aber dass sie hilfreiche und angemessene Wege finden können, ihre Gefühle auszudrücken, anstatt sie in der eigenen Psyche auflaufen zu lassen. Vielleicht sind hier Rituale oder ähnliche Aktivitäten hilfreich. Falls die Gefühle mit den Todesumständen verbunden sind, so ist es sinnvoll, mit den Kindern zusammen erst die Erinnerung an das Ereignis zu bearbeiten, bevor sie sich schließlich erlauben können, ihrer Trauer darüber Ausdruck zu verleihen. Die Realität des Todes annehmen und ihr einen Sinn geben Die Realität des Todes anzunehmen ist natürlich eine der allerersten Aufgaben, mit denen ein unter traumatischer Trauer leidendes Kind konfrontiert ist. Jeder Tod kann schwer

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annehmbar sein, aber das gilt umso mehr für traumatische Verluste. Eine Gelegenheit zum Abschiednehmen kann hier hilfreich sein, aber traumatische Verluste geschehen oft plötzlich, so dass Betroffene sich nicht verabschieden können. Wenn der Tod unter traumatischen Umständen stattfand und daher einen Schockeffekt hatte, sind Kindern oft nicht in der Lage, ihn zu begreifen und anzunehmen und nehmen so auch nicht Abschied – selbst, wenn dafür vielleicht sogar Gelegenheit bestand. Ein Mädchen beispielsweise, dessen Schwester ermordet worden war, glaubte nicht, dass die sterblichen Überreste, die acht Monate später gefunden wurden, wirklich ihrer Schwester gehörten. Als die Beisetzung stattfand, konnte der Rest der Familie den Anlass als Ritual der Verabschiedung nutzen. Für die Schwester des toten Mädchens war dies nicht möglich, da es noch ein weiteres Jahr dauerte, bis sie den Tod tatsächlich als Tatsache akzeptierte. Menschen, die unter traumatischen Umständen sterben, können außerdem entstellt oder verstümmelt sein, so dass Eltern oft nicht wollen, dass ihre Kinder den Verstorbenen sehen, oder selbst nicht auf diese Weise Abschied nehmen wollen. Dies kann zu Streitpunkten führen: Menschen können sehr unterschiedliche Vorstellungen davon haben, ob Kindern erlaubt werden soll, die Leiche zu sehen, oder nicht. Als zum Beispiel die Leiche eines jungen Mädchens eine Woche nach ihrem Verschwinden im Wald gefunden wurde, hatten bereits Tiere Teile des Körpers gefressen. Die Polizei erlaubte daher der Mutter entgegen deren Wunsch nicht, die Leiche zu sehen – obwohl die Polizei eigentlich gar nicht die Autorität hat, solche Verbote auszusprechen. Einige Wochen nach der Beisetzung fragte die Schwester des toten Mädchens ihre Mutter, wie man denn sicher sein könne, dass sie wirklich ihre Schwester beerdigt hätten und nicht jemand anderen. Die Mutter gab zu, dass sich die ganze Familie gefragt habe, ob definitiv die Leiche ihrer Tochter gefunden worden sei. Obwohl ihnen versichert worden sei, die DNA sei identisch, sagte die Mutter, würden sie auch in Zukunft immer einen Rest von Zweifel hegen. Sie wünschte im Nachhinein, sie hätte darauf bestanden, ihre Tochter noch einmal zu sehen. Wird eine Leiche niemals gefunden, so ist eine Akzeptanz des Todes noch schwieriger. Die Familie kämpft dann mit einem ambivalenten Verlust. Die Hinterbliebenen leben in der Hoffnung, die vermisste Person werde zurückkehren – selbst dann, wenn alle sich bewusst sind, dass dies unwahrscheinlich ist. Fachleute können Kindern dabei helfen, auf die bestmögliche Weise Abschied zu nehmen und den Tod zu akzeptieren. Eltern kann man erklären, dass es sinnvoll sein kann, Kindern zu erlauben, die Leiche eines Verstorbenen noch einmal zu sehen, wenn der Wunsch danach besteht. Das gilt sogar dann, wenn der Tote entstellt ist. Die Leiche ist ein Beweisstück für die Realität des Todes. Sie zu sehen, hilft Kindern dabei, den Tod zu begreifen und auf konkrete Weise Abschied zu nehmen. Es ist möglich, Tote so herzurichten, dass sie nicht so entstellt aussehen, beispielsweise durch Verdeckung bestimmter Körperteile oder durch Verbände. Im Fall eines bestimmten Kindes war die Leiche so entstellt, dass sie fast komplett bandagiert werden musste, um der Familie ein Abschiednehmen zu ermöglichen. Dennoch war dies für die Familie extrem hilfreich.

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Wenn das nicht möglich ist, so hilft es vielleicht, der Familie oder den Kindern Fotos von der Leiche zu zeigen. Fotos helfen auch, eine Familie darauf vorzubereiten, die Leiche noch einmal zu sehen, oder eine Entscheidung darüber zu fällen, ob dies gewünscht wird oder nicht. Man kann Kinder und ihre Familien darauf hinweisen, was sie in der Leichenhalle erwarten könnte – wie es dort riecht, aussieht, sich anfühlt, was erlaubt ist und was nicht und wie lange der Besuch dauert. Man sollte ihnen sagen, dass sie ihre Entscheidung auch noch im allerletzten Moment ändern können. Kinder brauchen vielleicht vor, während und nach dem Besuch in der Leichenhalle besondere Unterstützung. In ihrer qualitativen Forschung an achtzig unter traumatischer Trauer leidenden Menschen stellten Chapple und Ziebland (2010) fest, dass Reue in Bezug auf die Entscheidung, einen Toten noch einmal zu sehen, überaus selten vorkam. Kinder mögen sich nach einem Trauerfall fühlen, als sei ihre gesamte Welt zusammengebrochen. Sie brauchen Hilfe dabei, ihr Leben und ihre Weltsicht wieder ins Lot zu bringen, und dabei, zu lernen, sich in der unbekannten Welt ohne den geliebten Verstorbenen sicher und geborgen zu fühlen. Wenn die Trauer aber mit Trauma besetzt ist, dann können die Umstände des Todes dieses Gefühl von Sicherheit und Aufgehoben-Sein unterminieren. Die Kinder müssen nicht nur den erlittenen Verlust und die Erkenntnis, dass noch andere, auch ihnen ebenfalls nahestehende Menschen sterben können, sinnvoll in ihr Weltbild einpassen, sondern auch annehmen, dass die schrecklichen Dinge, die man sonst nur im Fernsehen sieht, ihnen tatsächlich passiert sind. Ein Großvater, der mit 93 Jahren stirbt, mag betrauert werden, weil er nicht mehr da ist. Aber in diesem Fall kann man akzeptieren, dass Menschen eben irgendwann sterben. Die Tatsache, dass die Schwester mit 18 Jahren ermordet wird, ist entsetzlich, denn sie bedeutet, dass die Welt unberechenbar ist, es in ihr viele bösartige Menschen gibt und wir daher angreifbar und verwundbar sind. Kinder fühlen sich sicher, wenn ihr Umfeld vertraut und berechenbar ist. Nach einem traumatischen Verlust fehlen aber möglicherweise die Strukturen, die ihnen dabei helfen könnten, sich geborgen zu fühlen. Vielleicht kümmert sich eine bis dahin unbekannte Person um sie oder andere Lebensumstände ändern sich, zum Beispiel wo diese Kinder leben oder zur Schule gehen. Vielleicht sind aber auch ihre Eltern so in ihre eigene Trauer oder andere Aspekte des Todes verstrickt – zum Beispiel durch polizeiliche Ermittlungen oder Versicherungsansprüche –, dass sie für ihre Kinder nicht in dem Maße da sein können, wie diese es bräuchten. Vertraute Orte können vielleicht nicht mehr aufgesucht werden, und vertraute Dinge stehen nicht mehr zur Verfügung. Das eigene Zuhause ist vielleicht aufgrund polizeilicher Ermittlungen tabu, oder das Lieblingskuscheltier ist als Beweisstück beschlagnahmt. Die Polizei ist meistens derart mit der Ermittlung beschäftigt, dass ihr für die Sorge, ob und inwiefern diese Einfluss auf Kinder hat, kaum Raum bleibt. Durch Verlust traumatisierte Kinder brauchen nicht zwingend sofort Beratung oder Therapie. Es ist für sie aber wichtig, zu wissen, wer sie ins Bett bringt, wo sie schlafen und wer sich um sie kümmert. Therapie hat keinen Sinn in einem Umfeld, wo die Bereitstellung von Essen oder Schlafplatz ein Problem ist. Nach einem so massiv in

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das Leben eingreifenden Ereignis wie etwa einem Mord denken Menschen zuweilen, ein Kind benötige ebenso massiv eingreifende Hilfe. Dabei sind ihre Bedürfnisse sehr alltäglich. Ein mit Trauma behafteter Verlust kann den Blick eines Kindes auf die Welt, sich selbst und andere auf vielerlei Weise verändern. Fachleute können Kindern und ihren Eltern helfen, diese Veränderungen zu verstehen. Kinder glauben in diesen Fällen zum Beispiel plötzlich, dass sie keinerlei Kontrolle mehr über ihr Leben haben und werden dadurch sehr niedergeschlagen oder depressiv. Eine alternative Reaktion kann aber auch sein, alles und jeden kontrollieren zu wollen, und wenn das nicht möglich ist, wird der Versuch der Kontrolle verschärft. Solche Kinder mögen Hilfe bei der Erkenntnis benötigen, dass manche Dinge sich kontrollieren lassen und manche eben nicht. Kinder brauchen die Unterstützung ihres Umfelds, um ihrer Umwelt und bestimmten Ereignissen einen Sinn geben zu können. Möglicherweise werden ihnen unterschiedliche Versionen des traumatischen Ereignisses geschildert, und jede dieser Versionen hat potenziell eine andere Bedeutung für das Leben des Kindes. Die Schilderung eines Ereignisses, bei dem ein Auto von der Straße abkommt und mit einer Familie kollidiert, die auf dem Bürgersteig entlanggeht, kann auf viele unterschiedliche Arten erzählt werden. Bei einer Version handelt es sich um ein überaus seltenes, tragisches Unglück, an dem ein einzelner, junger, unverantwortlicher und unaufmerksamer Fahrer die Schuld trägt. Eine andere Version kann die Ereignisse aber so darstellen, dass ein Kind aufgrund dessen jedes Mal Angst hat, sobald es selbst oder ein anderes Familienmitglied das Haus verlassen muss. Bedürfnis nach Informationen Um den Tod zu akzeptieren und ihm Sinn zu geben, brauchen Kinder Informationen. Was genau geschehen ist und auf welche Weise, mag zunächst wichtiger sein als zu erarbeiten, was das für ein Kind bedeutet. Selbst kleine Kinder brauchen eine Beschreibung und Erklärung des traumatischen Ereignisses. Im Fall eines traumatischen Verlusts kann aber der Zugang zu diesen Informationen verzögert sein, zum Beispiel wenn die Polizei bestimmte Details zurückhält, die sich negativ auf die Ermittlungen auswirken könnten. Manchmal bleiben die genauen Umstände eines Todes für eine Zeit lang unklar oder gar nicht verfügbar, etwa im Fall eines Flugzeug-, Zug- oder Autounglücks. Obwohl es verständlich ist, dass Erwachsene zögern, ihren Kindern die schrecklichen Neuigkeiten eines traumatischen Verlusts zu überbringen, so müssen Kinder dennoch davon wissen. Sie müssen die Neuigkeiten umgehend und durch Menschen erfahren, denen sie vertrauen. Wenn dies ausbleibt, dann füllen Kinder die Wissenslücken selbst. Wenn ihnen niemand die tatsächlichen Geschehnisse erklärt, dann ist wahrscheinlich, dass sie ihre eigene Version kreieren. Diese Fantasie-Version mag dann sogar verstörender ausfallen als das tatsächliche Ereignis, oder Kinder beginnen zu glauben, dass sie in irgendeiner Weise die Schuld an dem Unglück tragen. Einem Kind das Ereignis zu

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erklären, macht es nicht unbedingt besser, aber es ist sehr viel hilfreicher, als ein Kind die Wahrheit durch andere Kanäle herausfinden zu lassen. Kinder können beispielsweise andere Kinder auf dem Spielplatz darüber sprechen hören oder Details aus den Nachrichten im Fernsehen erfahren. Manche erfahren erst dreißig Jahre später davon. Eine ehrliche und faktengetreue Erklärung ist wichtig, denn wenn Kinder bei dem Ereignis zugegen waren, einen Teil davon erlebt haben oder andere darüber sprechen hören, ist es für sie sehr problematisch, wenn diese Informationen nicht mit der ihnen erzählten Geschichte übereinstimmen. Nach einem traumatischen Verlust müssen Kinder mehr denn je in der Lage sein, den Erwachsenen in ihrem Umfeld zu vertrauen, anstatt deren Integrität in Frage zu stellen. Manchmal schieben Erwachsene es auf, Kindern die Wahrheit zu sagen, weil sie glauben, die Kinder könnten besser damit umgehen, wenn sie älter sind. Je länger der Aufschub, desto schwieriger wird es jedoch oft für die Kinder. Kindern einen traumatischen Verlust zu erklären und ihre Fragen zu beantworten, ist ein Prozess, der viel Zeit beansprucht und der wiederholt werden muss. Wenn ein Kind älter wird, mag es weiter nachfragen, da es mehr Details wissen möchte. So ist es unwahrscheinlich, dass ein solcher Erklärungsprozess nur einmalig stattfindet. In jedem Fall ist es für ein Kind besser, wenn jemand diese Aufgabe übernimmt, den das Kind kennt, liebt und dem es vertraut, und wenn es nicht ein vollkommen fremder Mensch ist. Daher besteht die Aufgabe von Fachleuten zuweilen darin, mit den Bezugspersonen eines Kindes zu erarbeiten, wie diese dem Kind das traumatische Ereignis erklären und wie sie es danach unterstützen können. Manchmal ist es für eine Bezugsperson einfach zu schwierig, dem Kind die Geschehnisse zu erklären, und so kann diese Aufgabe (teilweise) den Fachleuten zufallen. Auch in letzterem Fall ist es aber dennoch besser, wenn die tatsächlichen Bezugspersonen in dieser Situation anwesend sind und das Kind trösten können. Wie eine solche Erklärung genau aussieht, ist vom Alter des betroffenen Kindes abhängig. Daher mögen Erklärungen für Kinder verschiedener Altersgruppen mehr oder weniger Details enthalten. Geschwister allerdings werden mit großer Wahrscheinlichkeit untereinander über das Ereignis sprechen, so dass hier genau überlegt werden muss, was jedem Einzelnen der Geschwister gesagt wird. Die in der Erklärung verwendete Sprache ist ebenfalls von Belang, was wiederum für eine Erklärung durch Bezugspersonen spricht, denn diese haben dafür eher ein Gespür, da sie das Kind kennen. Die Informationen müssen genau sein und der Wahrheit entsprechen, damit ein Kind ihnen vertrauen kann. Weiß ein Kind, dass es Fragen stellen darf und dass diese wahrheitsgetreu beantwortet werden, dann kann man ihm das Urteil darüber überlassen, wie viele Informationen es benötigt. Wenn ein Kind Fragen stellt, dann ist es nicht nur für die Antwort bereit, sondern braucht diese vermutlich dringend. Ich habe mit vielen Kindern gearbeitet, die es sehr hilfreich fanden, den Ort des Todes aufzusuchen. Der Vater eines achtjährigen Mädchens zum Beispiel starb bei einem Zugunglück, und dem Kind half es sehr, den Unglücksort aufzusuchen, bevor die kollidierten Züge abtransportiert wurden. So begriff die Achtjährige, was genau

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passiert war, und durch ihre Anwesenheit am Ort seines Sterbens fühlte sie sich ihrem Vater verbunden. Ist das Kind erst einmal mit den nötigen Informationen versorgt, so braucht es Hilfe dabei, dem Geschehenen einen Sinn zu verleihen. Wiederum sind hier Erwachsene, denen das Kind vertraut, die es kennt und liebt, von großer Bedeutung. Kinder übernehmen die Geschichten, die Erwachsene erzählen – sie erben sie gewissermaßen sogar – und daher ist es wichtig, dass Kinder eine Version der Ereignisse hören, die sie dabei unterstützt, dem Verlust einen Sinn zu geben. Sagen Erwachsene beispielsweise zu ihnen, dass sie Glück gehabt hätten, nicht selbst umgekommen zu sein, so kann das Ereignis womöglich noch traumatischer erscheinen als vorher. Eine Beziehung zu dem Verstorbenen aufrechterhalten Über einen Verstorbenen zu sprechen und in schönen Erinnerungen an ihn zu schwelgen, hilft dabei, eine positive Beziehung zu ihm aufrechtzuerhalten, und somit auch langfristig bei der Anpassung an die neue Realität (Cohen et al., 2002). Wenn aber genau dieser Prozess wiederholt traumatische Erinnerungen an den Tod auslöst, so wird das Kind ihn zu vermeiden suchen. Dies führt wiederum dazu, dass Kinder keine Gelegenheit haben, ihre Beziehung zu dem Verstorbenen neu zu strukturieren und in der Vergangenheit anzusiedeln. Außerdem kann es sein, dass die Familie nicht über den Verstorbenen sprechen will, da dies zu schmerzhaft und verstörend ist. Letzteres ist bei unter traumatischen Umständen erlittenen Verlusten sehr häufig. Möglicherweise sprechen andere Familienmitglieder über den Verstorbenen auch in übertrieben negativer Weise, beispielsweise wenn ein Vater die Mutter umgebracht hat. In einem solchen Fall besteht in der Familie des Vaters vielleicht das Bedürfnis, das Opfer sehr negativ darzustellen, um die Tötung zu rechtfertigen. Hier können Fachleute Kindern helfen, eine gesunde und positive Beziehung zu dem Verstorbenen zu bewahren. Zunächst muss jedoch gemeinsam das Trauma der Erinnerung aufgearbeitet werden, damit es dem hilfreichen Prozess des Gedenkens nicht im Wege stehen kann. Sobald dieser Prozess weit genug fortgeschritten ist und das Kind beim Sprechen über den Verstorbenen und beim Denken an ihn nicht mehr behindert wird, ist eine Kultur des Andenkens und der positiven Erinnerungen eher möglich. Kinder können auf verschiedene Weise in der Erinnerungsarbeit unterstützt werden (Stokes, 2004).

Das Ereignis und seine Umstände verarbeiten Trotz aller Bemühungen, ein traumatisiertes Kind beim Umgang mit einem traumatischen Verlust zu unterstützen, fühlen sich einige Kinder dennoch in der Situation gefangen, denn die Todesumstände blockieren in solchen Fällen alle sonst hilfreichen Interventionsansätze.

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Daher muss in diesen Fällen der Fokus darauf ruhen, dem Kind bei der Verarbeitung des Ereignisses zu helfen, denn vorher kann es nicht trauern. Dies kann durch zielgerichtete Therapie geschehen. Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie und EMDR3 zeigen hier die besten Ergebnisse in Bezug auf Kinder, die an einer PTBS leiden (National Institute for Health and Care Excellence – NICE, 2005). Es gibt eine Reihe von Studien, die zeigen, dass durch einen Verlust traumatisierten Kindern effektiv geholfen werden kann, indem man die Symptome ihrer PTBS behandelt. In zweiter Instanz hilft dies den betroffenen Kindern, die Ereignisse zu verarbeiten und zu trauern (siehe zum Beispiel Cohen et al., 2004; Layne et al., 2001).

Der Besuch einer Gruppe für traumatisierte Kinder Manchmal glauben Kinder einfach nicht daran, dass andere wissen, wie sie sich fühlen, und oft können sie mit ihren Freunden nicht über den Verlust sprechen. Viele Dienste bieten Unterstützung in Form von Trauergruppen an. Solche Gruppen zeigen einem Kind sofort, dass es nicht das einzige Kind ist, das unter einem Verlust leidet und mit den daraus resultierenden Gefühlen umzugehen lernen muss. Besonders Teenager wollen sich nicht von ihren Altersgenossen unterscheiden, und in einer Gruppe erfahren sie, dass andere ganz ähnliche Probleme haben. Menschen, die an Gruppen dieser Art teilgenommen haben, berichten oft, dass dort durch die vergleichbaren Erfahrungen ein Grundverständnis in Bezug auf die Trauer herrscht. Das erlaubt Teilnehmern, ihre Gefühle ehrlicher und offener auszudrücken, anstatt den Schein zu wahren. Kinder, die an Trauergruppen teilnehmen, können davon profitieren, anderen zu helfen: Ihre eigenen negativen Erfahrungen haben plötzlich einen Sinn, da sie dadurch anderen Betroffenen Verständnis und Empathie entgegenbringen können. Manche Kinder haben Probleme, Erwachsenen zuzuhören oder mit ihnen über Gefühle zu sprechen. Mit Altersgenossen können sie dagegen frei sprechen und sich austauschen. Einige Kinder möchten keinen erwachsenen Therapeuten, aber einer Trauergruppe, bestehend aus Altersgenossen, stimmen sie zu – und in diesem Rahmen kann dann Therapie stattfinden. Für viele ist es auch einfacher, Trauer und Wut zu zeigen, wenn sie diese Gefühle bei anderen Kindern oder Jugendlichen beobachten.

3 EMDR – Eye Movement Desensitization and Reprocessing, deutsch: Augenbewegungs-Desensibilisierung und Wiederaufarbeitung.

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Kriminelle Aspekte Viele traumatische Todesfälle sind gleichzeitig Verbrechen, was einen Umgang mit ihnen problematisch macht. Es mag eine Gerichtsverhandlung ausstehen, und Familien fühlen oft, dass diese abgewartet werden muss, bevor es Raum für Trauer geben kann. Wenn ein Mörder in der Lage ist, zu seinem Verbrechen zu stehen, es vielleicht zu erklären oder sich sogar bei der Familie zu entschuldigen, dann kann dies im Trauerprozess helfen. Es hilft, wenn ein Vater seinen Kindern erklären kann, dass er Streit mit Mama gehabt habe, wütend geworden sei und sie so stark verletzt habe, dass selbst Ärzte sie nicht haben retten können. Dass es ihm entsetzlich leidtue und er bereit sei, für seine Tat bestraft zu werden. Das nimmt natürlich dem Geschehenen nicht die Tragweite, aber für die Kinder ist es viel besser, wenn der Vater seine Schuld einsieht, als wenn er behauptet, die Tat nicht begangen zu haben, oder sagt, dass die Mutter es verdient habe, zu sterben. Eine Gerichtsverhandlung kann für eine Familie ebenfalls schwierig sein. Zum ersten Mal hören die Familienmitglieder hier vielleicht vorher unbekannte Details des Sterbens, vorgebracht auf sehr formale und unsensible Weise (zum Beispiel die Beschreibung von Verletzungen durch den Gerichtspathologen). Möglicherweise müssen sie auch hören, dass ein Mörder seine Schuld bestreitet oder erklärt, warum das Opfer den Tod verdient habe. Das Ergebnis der Verhandlung ist nicht immer das, was die Familie sich erhofft. Ein Mörder mag mit einer kürzeren Gefängnisstrafe, mildernden Umständen oder sogar einem Freispruch davonkommen. Und all das wird außerdem im Fernsehen gezeigt und in der Zeitung berichtet, so dass jeder davon weiß. Noch komplizierter wird es, wenn ein Kind vor Gericht aussagen muss. In einem solchen Fall müssen Strategien zur Unterstützung sorgfältig zwischen dem Kind, seinem Therapeuten, seiner Familie und den Vertretern des Gerichts abgesprochen werden.

Fazit Es gibt bestimmte Faktoren, die einem Kind dabei helfen, mit Trauer umzugehen und sich an das Leben ohne eine geliebte Person anzupassen. Wenn aber die Todesumstände bei diesem Menschen von dem Kind als traumatisch empfunden werden, dann sind viele dieser Faktoren weniger wirksam oder ganz ausgeschaltet. Dies hemmt oder blockiert infolgedessen die Trauer des Kindes. Es gibt verschiedene Wege, auf denen die erwachsenen Bezugspersonen eines Kindes die Gefahr einer so blockierten und langfristig mit einem Trauma behafteten Trauer minimieren können. Manche traumatisierten Kinder benötigen jedoch eine fachmännische Intervention, um die Begleitumstände des Verlusts verarbeiten und im Anschluss daran trauern zu können. Übersetzung: Karola Hassall

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Wenn Verlust zum Trauma wird Interventionen aus psychotraumatologischer Sicht

»Einige Wochen nach dem Tod meiner Mutter entwickelte ich eine sonderbare Gewohnheit: Jeden Tag holte ich mir einen Spaten aus dem Geräteschuppen und brachte Stunden damit zu, die Schlaglöcher in der Straße vor unserem Haus zuzuschaufeln. Wenn ich ein Loch mit Sand und Steinen aufgefüllt hatte, klopfte und strich ich es an den Rändern liebevoll glatt. Da mir verwehrt war, um meine ›tote‹ Mutter zu trauern, das heißt sie endgültig zu begraben, blieb ich monatelang ihr bewußtloser Totengräber. Das für mich nie stattgehabte Begräbnis meiner Mutter kehrte so ununterbrochen als symbolische Ersatzhandlung des Löcher-Zuschaufelns wieder« (Michael Schneider, zit. nach Weber-Kellermann, 1994, S. 148).

Diese Erinnerung des Journalisten Michael Schneider zeigt, wie ein Kind mit dem durch verhinderte Trauer zusätzlich belasteten Verlust eines Elternteils umgeht: Es sucht nach kreativen Lösungen, um seine Gefühle auszudrücken und tätig Abschied zu nehmen. Traumata entstehen demgegenüber, wenn ein Ereignis derart überflutend erlebt wird, dass Ohnmacht, Verstörung und Angst den Zugriff auf altersgemäße Lösungsstrategien blockieren. Die ICD-10 definiert derartige Erfahrungen als »ein belastendes Ereignis oder eine Situation kürzerer oder längerer Dauer mit außergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmaß, die bei fast jedem eine tiefe Verzweiflung auslösen würde« (Dilling, Mombour, Schmidt u. Schulte-Markword, 1991). Wenn von den im Augenblick höchster Gefahr genetisch programmierten Copingstrategien »fightflight-or-freeze« (Huber, 2005, S. 41 ff.) Variante eins und zwei ins Leere laufen, bleibt allein das Einfrieren der traumatischen Prägesituation mit den zugehörigen Affekten und sensorischen Wahrnehmungen als Ausweg, das psychische Überleben zu sichern. Zugleich ist die traumatische Ereignisfolge im Modus des Einfrierens normalen Verarbeitungsprozessen nicht zugänglich, was in der Regel psychische, psychosomatische und psychiatrische Symptome, Phasen permanenter Alarmbereitschaft und einen erheblichen Verlust an Lebensqualität zur Folge hat.

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Das Trauma unschädlich machen Die sechsjährige Lara hat mit dreieinhalb Jahren ihre Mutter verloren, die vom Vater des Mädchens im Rahmen einer unvorhersehbaren Affekttat getötet wurde. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Bereitschaftspflege des Jugendamts ist Lara gemeinsam mit ihrem älteren Bruder, der Tatzeuge war, in eine Pflegefamilie vermittelt worden. Den Hergang der Ereignisse kennt Lara nur aus den Schilderungen ihrer Umgebung. Lara ist ein vitales, kontaktfreudiges, selbstbewusstes und intelligentes Kind, das bisher weder im Kindergarten noch in der Schule Probleme hat. Im Gegensatz zu ihrem Bruder, der sich mit der Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung in psychotherapeutischer Behandlung befand, vermittelt Lara in der Traumaambulanz unserer Klinik den Eindruck eines normal entwickelten Kindes. Im Anamnesegespräch wird deutlich, dass Lara bisher nicht getrauert hat. Den Verlust der Eltern erwähnt sie nicht oder thematisiert ihn auf provokative Weise. So hat Lara im Restaurant Fremden den Tod ihrer Mutter in drastischen Sätzen geschildert und anschließend deren Schockzustand und ihre eigene Mittelpunktstellung genossen. Im Spontanspiel gestaltet Lara wiederholt eine vollständig harmonische Welt, in der Störungen und Konflikte nicht existieren. Dementsprechend nutzt sie auch das freie Malen, um sich inmitten einer friedlich anmutenden Umgebung von negativen Erlebnissen jeder Art abzuschotten. Vom höchsten Punkt des Hügels behält Lara den Überblick. Jederzeit könnte sie sich durch die offene Tür ins schützende Innere des Gebäudes zurückziehen. Abgesehen von drei dunklen Vögeln, die einen Kontrast zur farbigen Welt aus Blumen und Herzsymbol, Schmetterling und leuchtendem Regenbogen bilden, finden sich in der Zeichnung keine Hinweise auf eine schwerwiegende psychische Verletzung (Abbildung 1). Im projektiven Figurenspiel verwandelt Lara ihre Verlassenheitsgefühle in ein autonomes, von den Zwängen der Erwachsenenwelt befreites Leben. Zugleich klingen unter dem Schutz distanzsichernder Stellvertreterhandlungen erstmals Trauergefühle an: »Die Kinder leben ganz allein, die Mutter ist gestorben und der Vater auch, die mögen das, die haben einen Kochkurs gemacht, die bringen den Müll alleine raus, denen gefällt das, manchmal ist das Mädchen ein bisschen traurig, die Größte entscheidet, wie lange die Kleinen fernsehen dürfen, die ist der Chef.« Die symbolischen Inszenierungen helfen Lara sich zu stabilisieren. Indem sie gute innere Bilder, positive Erinnerungen und Fantasien mobilisiert, schafft Lara die Grundlage, sich vorsichtig dem traumatischen Erlebniskern zu nähern.

Ressourcen und Risikofaktoren Kann es bei Kindern überhaupt einen psychisch kompetenten Umgang mit dem Verlust einer geliebten Person geben? Mit Blick auf die Zeichnungen und Spontankommentare betroffener Kinder würdigt Brocher (1980) Unmittelbarkeit, Authentizität und Fantasiereichtum ihrer Gefühle und Jenseitsvorstellungen und erkennt in ihnen ein spezifisches Ressourcenspektrum, das jenseits der ersten Lebensjahre in der Regel nicht

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Wenn Verlust zum Trauma wird

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Abbildung 1: Zeichnung von Lara

mehr verfügbar sei. Demgegenüber betont Witt-Loers (2013, S. 15), dass Kinder, weil sie nicht über das komplexe Erfahrungs- und Kognitionswissen der Erwachsenen verfügen, besonders vulnerabel sind und sich daher schwer tun, Verlusterfahrungen emotional angemessen zu deuten. »Die Gefühle der Trauer sind oft sprunghaft, schwankend und können plötzlich wechseln. Sie reichen von Heiterkeit, manchmal auch Albernheit, bis hin zu Wut, Aggression und tiefer Traurigkeit« (S. 20). Während sich die so genannte komplizierte Trauer (traumatic grief) bei Erwachsenen anhand klarer definierter Symptome trennscharf von normaler Trauer unterscheidet und im Gegensatz zu üblichen Trauerreaktionen psychotherapeutisch behandelt werden sollte (Rosner, 2013, S. 91 ff.), sind die Ausdrucksformen kindlicher Trauer oft schwerer einzuordnen. Trauer kann in psychische Erkrankungen übergehen, wenn sie ein Kind in einer entwicklungspsychologisch sensiblen Phase trifft oder additiv mit bereits vorhandenen Belastungsthemen kulminiert. Anzeichen für psychotherapeutischen Handlungsbedarf sieht Finger (1998, S. 113 ff.), wenn Gefühlsreaktionen ausbleiben, übertriebene Ängste oder Selbsttötungsgedanken entstehen, Krankheiten und Unfälle gehäuft auftreten, der Entwicklungsstand in auffälliger Weise stagniert oder eine übermäßige Identifikation mit der Krankheit des Verstorbenen beobachtet wird. Signalcharakter kommt diesen wie anderen Auffälligkeiten zu, wenn sie hinsichtlich ihrer Dauer und Intensität im Umfeld des Kindes anhaltende Besorgnis auslösen. Ob Kinder ein potenziell überforderndes Ereignis traumatisch erleben, hängt von zahlreichen Faktoren ab. Im Rahmen einer komplexen, dynamischen Reaktion korrelieren

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Merkmale des Traumas (Dauer und Intensität der Exposition, Lebensgefahr, extremer Kontrollverlust, interpersonale Gewalt), des Individuums (Alter und Geschlecht des Kindes, Entwicklungsstand, Persönlichkeit, Temperament, Intelligenz) und des Umfelds (Familie, Schule, Peers) mit persönlichen Bewertungsprozessen (Ausmaß der Hilflosigkeit, schuldbezogene Kausalattributionen) und Bewältigungsstrategien (Fähigkeit zur Modifikation und Regulation, Vermeidung oder Ablenkung) (Landolt, 2004, S. 58–63). Risikofaktoren (psychische Erkrankungen der Eltern, chronische Disharmonie, unsicheres Bindungsverhalten etc.) und protektive Faktoren (Verfügbarkeit verlässlicher Bezugspersonen, robustes Temperament, geringe Risikogesamtbelastung etc.) lassen sich im Rahmen eines »individuellen Belastungsindex« und »Gefährdungsprofil« (Fischer u. Riedesser, 1998, S. 253) erfassen und einzelfallbezogen gewichten. Wie Lara hat auch Jens im Vorschulalter einen Elternteil verloren (vgl. Reichelt, 2008, S. 134–157). Sein Vater suizidierte sich und traf im Freitod eine finale Entscheidung, die sich gegen das Leben im Allgemeinen, insbesondere jedoch gegen ein Weiterleben seiner Familie zuliebe wandte. So muss es Jens, der dem Verstorbenen besonders nahestand, empfunden haben. Sechs Jahre nach dem Verlust beginnt Jens eine Traumatherapie. In den zurückliegenden Jahren hat er sich immer stärker wie ein Einsiedler in sein Zimmer zurückgezogen, im Wechsel depressiv und antriebslos oder reizbar und wütend gewirkt. Im therapeutischen Prozess werden neben verdrängter Wut intensiv empfundene Schuldgefühle aktiviert. In dem Moment nicht zur Stelle gewesen zu sein, als der Vater die Hilfe des Sohnes vermeintlich am dringendsten benötigt hätte, deutet Jens als schuldhafte Beteiligung an den tragischen Ereignissen. Jens ist derart verstört, dass der jahrelang blockierte Trauerprozess erst mit Hilfe kreativer Bildlösungen neu stimuliert, durchlebt und schließlich abgeschlossen werden kann. Erschwerend kommt hinzu, dass der Suizid in Jens Familie lange Zeit unter dem Gebot absoluter Verschwiegenheit stand. Der komplizierte, stets am Erträglichkeitsniveau des Patienten orientierte Annäherungsprozess beschreibt eine Verlaufskurve, an deren Ende die Integration der Verlusterfahrung in ein stimmiges Selbstkonzept gelingt. Ein Lebenspanorama (Abbildung 2, im Bildausschnitt der Grabdarstellung sind Name und Todesdatum abgedeckt), das die wichtigsten Ereignisse der bisherigen Lebensspanne abbildet, verdeutlicht den Fortschritt: Eingebettet in vorwiegend positiv besetzte Erinnerungen interpretiert Jens den Verlust nun als Bestandteil biografischer Realität. Der Tod des Vaters ist weder überdimensioniert dargestellt noch wird er geleugnet, in eine leicht zu übersehene Ecke der Darstellung verbannt oder im Nachhinein aus dem Bildzyklus gelöscht. Als junger Erwachsener bestätigt Jens diesen Eindruck, Jahre nach Ende der Therapie, in einem weiteren Gespräch ausdrücklich.

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Abbildung 2: Lebenspanorama von Jens, Bildausschnitt der Grabdarstellung

Eingefrorene Worte, sprechende Bilder Das verbreitete Phänomen, hochgradig belastende Erfahrungen verbal nicht mitteilen und bearbeiten zu können, kennzeichnet Trauer- und Traumaprozesse gleichermaßen. Geläufige Metaphern wie »Es hat mir die Sprache verschlagen« oder »Mir bleiben die Worte im Halse stecken« beschreiben anschaulich den Zustand blockierter Ausdrucksfähigkeit, der sich durch Appelle, das Erlebte zu verbalisieren, häufig nicht auflösen lässt. Brathuhn und Zwierlein-Rockenfeller (2013, S. 135) verstehen den tiefgreifenden Zustand »des Schweigens und Aus-der-Sprache-Fallens« Trauernder als unmittelbare Reaktion auf »das Unbegreifliche und Unaussprechliche des Todes«, das sich Außenstehenden in Worten kaum treffend vermitteln lässt. Unter dem Eindruck verstörender Erlebnisse fehlen Traumatisierten ebenfalls häufig die Worte, ihre Erinnerungen in stimmige Narrative zu übersetzen. Stattdessen dominieren spontan getriggerte Bildfolgen ihr Erleben, was vermutlich auf die primär rechtshemisphärische Informationsverarbeitung im Zustand traumatischer Reizüberflutung zurückzuführen ist (vgl. Landolt, 2004, S. 68). In derartigen Phasen tiefgreifender Sprachlosigkeit bietet sich die Bild- und Symbolsprache als Zungenlöser und Brücke zu abgespaltenen Erinnerungen und Gefühlen an. Malend gelang es Müttern, deren Kinder sich suizidierten, einen kreativen Weg durch die Trauer zu finden (Henzler u. Riedel, 2003). Sterbende können in archetypischen Bildern Abschied nehmen, Spuren hinterlassen, Trost erfahren und

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nach innen wachsen (Müller, 2013). In Phasen psychischer Überforderung bedienen sich Kinder häufig bildsprachlicher Medien, um unter Umgehung verbaler Hinweise auf Belastungsthemen aufmerksam zu machen. Sie nutzen Zeichnungen als Gefäße für Ängste und Sorgen, suchen im kreativen Tun nach Perspektiven und Auswegen, aktivieren die schöpferische Kraft ihrer Fantasie, um Schutzräume zu schaffen, sich starke Helfer an die Seite zu malen und Ohnmacht in Handlungsfähigkeit zu transformieren. Im Einzelnen resultiert das therapeutische Potenzial bildnerischer Prozesse aus einer Gruppe spezifischer Wirkfaktoren, die im Verbund ein Komplementärschema zum Schema traumatischer Erlebnisfixierung bilden (Reichelt, 1994, 1996, 2000, 2011, 2012). Weil traumatische Erfahrungen überwiegend bildbezogen erinnert werden, visuelle Medien analoge Abrufreize bereitstellen und Kinder im bildnerischen Ausdruck mehrheitlich geübt sind, haben kunsttherapeutische Methoden für diese Altersgruppe große Bedeutung.

Traumatherapie Während noch Mitte der 1980er Jahre die Auffassung weit verbreitet war, dass Kinder selten Traumafolgestörungen entwickeln, ist mittlerweile allgemein anerkannt, dass auch sie unter Posttraumatischen Belastungsreaktionen leiden. Heute findet ein breites Spektrum bewährter Interventionstechniken in der Kinder-Traumatherapie Anwendung (Landolt u. Hensel, 2012). Ob kognitiv-behaviorale Therapien, EMDR, Narrative Expositionstherapie, traumabezogene Spieltherapie, psychodynamisch basierte Verfahren, PITT, hypnotherapeutische oder systemische Ansätze – die spezifischen Bedürfnisse und Behandlungserfordernisse betroffener Kinder und ihrer Familien sollten handlungsleitendes Kriterium für die Gestaltung individualisierter Therapiekonzepte sein. Bei Bedarf können unterschiedliche Methoden miteinander kombiniert werden. Übergreifend orientieren sich sämtliche Verfahren an der typischen Phasenfolge Stabilisierung, Traumabearbeitung, Integration. In einem Übersichtsartikel zur Diagnostik von Traumafolgestörungen betonen Tagay, Repic und Senf (2013, S. 52), dass Kinder den angst- und schambesetzten Erlebniskern erst offenbaren, wenn sie den Therapeuten als empathisches, wohlwollendes und haltgebendes Gegenüber wahrnehmen. Ein prozessdiagnostisches Vorgehen, in dessen Verlauf die eingesetzten Instrumente stetig hinsichtlich ihrer Wirksamkeit überprüft, optimiert und an bestehende Symptome angepasst werden, ist ebenso von zentraler Bedeutung (S. 53). Der elfjährige Kai befindet sich nach dem Unfalltod seiner Geschwister, die Jahre vor Behandlungsbeginn bei einem Wohnungsbrand ums Leben kamen, in traumatherapeutischer Behandlung (vgl. Reichelt, 2008, S. 219–225). Wie Jens leidet auch er unter einer gravierenden Schuldproblematik. Kai fühlt sich für den Tod seiner Brüder verantwortlich, weil er vor Ausbruch des Feuers am Unfallort mit Hilfe eines Feuerzeugs nach einem ver-

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lorenen Gegenstand suchte. Obwohl Kais Handlung erwiesenermaßen nicht die Ursache der wenig später eintretenden Katastrophe war, ist er aufgrund des engen Raum-Zeit-Zusammenhangs auf das eigene Deutungsschema fixiert. Zudem gelang es Kai trotz mutiger Rettungsversuche nicht, seine Geschwister vor der tödlichen Wirkung der giftigen Rauchschwaden zu schützen. Zu Beginn der Therapie korrigiert Kai die Unabänderlichkeit der Verlusterfahrung, indem er die Verstorbenen im bildnerischen Ausdrucksfeld wiederbelebt und als Engel zurück ins Leben setzt. In der nachfolgenden Konfrontationsphase aktiviert der nonverbale Artikulationsprozess (Abbildung 3) die zuvor umfassend blockierte verbale Ausdrucksfähigkeit: »Erst habe ich gemerkt, dass es brennt in dem Zimmer von der Oma und mir, das habe ich gerochen, dann bin ich runtergerannt und habe ›Mama‹ geschrien, meine Mutter konnte nicht helfen, Stefanie und ich haben nicht gewusst, wer die Zwillinge holen soll, erst bin ich hochgegangen, dann hat Stefanie geschrien: ›Bleib hier!‹, dann ist sie schon an mir vorbeigerannt, wir haben durch das Gequalme geredet, dann war nur noch Stille da, dann habe ich meine Brüder gehört, wie die geschrien haben, so wie ich es gemalt habe, der Qualm kam überall hin, dann war ich ganz traurig, das habe ich schon sehr lange in meinem Kopf, bis ich das alles draußen habe, dauert es noch eine lange Zeit.«

Abbildung 3: Nonverbaler Artikulationsprozess von Kai

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Zwischen Pathologie und Normalität Wie das Spektrum menschlicher Reaktionen auf endgültige Verlusterfahrungen einzuordnen ist, welche Verhaltensweisen als normal, auffällig oder pathologisch gelten, hängt von gesellschaftlichen Normen und kulturellen Traditionen ab. Das viel beachtete Plädoyer »Diagnosis: Human« von Ted Gup (2013), veröffentlicht in der »New York Times«, liest sich als nachdrückliche Forderung eines Vaters, so lange, so intensiv und so persönlich wie notwendig um den jung verstorbenen Sohn trauern zu dürfen, ohne von einem überbordenden Diagnosesystem zum Patienten erklärt zu werden. Gups Streitschrift wendet sich gegen aktuelle Tendenzen im Gesundheitswesen, die Trauer um den Verlust eines geliebten Menschen als Störung mit Krankheitswert aufzufassen. Hintergrund ist die psychische Bewertung menschlicher Trauerreaktionen, die einem beschleunigten Wandel unterworfen ist und innerhalb weniger Jahre folgenreiche Veränderungen bewirkt hat. Während 1980 ein Trauerjahr als normal galt, ließ das amerikanische Klassifikationssystem psychiatrischer Störungen (DSM-IV) Trauernden 1994 noch zwei Monate Zeit, den erlittenen Verlust erfolgreich zu bewältigen. Im aktuellen DSM-5 wurde die Toleranzgrenze auf wenige Wochen reduziert. Wer mehr Zeit benötigt, um wieder ins Gleichgewicht zu finden, gilt als Kandidat für eine psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung. »Wenn wir Trauer pathologisieren«, kritisiert der Psychiater Allen Frances (2013, S. 267 f.), »dann nehmen wir dem Schmerz die Würde, kürzen den Trauerprozess ab, der notwendig zur menschlichen Existenz gehört, und nehmen den vielfältigen kulturellen Trostritualen ihren Wert und ihre Verlässlichkeit […].Von einem einheitlichen Trauerprozess kann keine Rede sein, nirgends steht geschrieben, wie man ›richtig‹ trauert.«

Fazit Wann trauern Kinder »richtig«, wann sind sie auf therapeutische Hilfen angewiesen und wann dürfen wir darauf vertrauen, dass ihre Selbstheilungskräfte stark genug sind, den Verlust nach und nach zu überwachsen? Leider sind sichtbare Reaktionen und Verhaltenstendenzen allein kein zuverlässiger Indikator, um normal trauernde von behandlungsbedürftigen Kindern zu unterscheiden. Manche Patienten, die von traumatischen Ereignissen überwältigt wurden, entwickeln eine klassische Posttraumatische Belastungsstörung: Sie durchleben das ängstigende Ereignis in ihren Träumen immer wieder, reinszenieren bedrohliche Erlebnispassagen in hektischen Spielfolgen, fragmentierten Zeichnungen oder im aggressiven Kontakt zu Gleichaltrigen, meiden Orte, die an die unbewältigten Geschehnisse erinnern, leiden unter Unruhezuständen und Impulsdurchbrüchen. Andere entwickeln unspezifische Verhaltens- und emotionale Störungen. Sie ziehen sich aus ihrem sozialen Umfeld zurück, zeigen regres-

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sive Symptome, kontrollieren ihre Ohnmacht mit Hilfe stereotyper Angewohnheiten oder suchen ständig die schützende Nähe vertrauter Bezugspersonen. Und dann gibt es eine Gruppe Traumatisierter, die scheinbar unbeeindruckt weiterlebt, als wäre nichts geschehen. Onno van der Hart, Ellert R. S. Nijenhuis und Kathy Steele (2008) unterscheiden im Rahmen ihrer Theorie zur Strukturellen Dissoziation zwischen der Emotionalen Persönlichkeit (EP) und der Anscheinend normalen Persönlichkeit (ANP). Beide Varianten treten in längeren oder kürzeren Rhythmen wechselseitig in den Vordergrund und gehen mit umfassenden Veränderungen der Selbstorganisation und emotionalen Verfassung komplex Traumatisierter einher. Kinder im Vorschulalter sind aufgrund reger Fantasietätigkeit und der durchlässigen Verfügbarkeit variabler Rollenbilder wahre Meister im dissoziativen Verschleiern traumatischer Ereignisse. Im ANP-Modus gestalten sie ihren Alltag unter Umständen derart unauffällig, dass nicht nur sie selbst, sondern auch Eltern, Erzieher und Lehrer fälschlicherweise glauben, dass eine gravierende Überlastung ihrer Selbstheilungskräfte nicht stattgefunden habe. Wir bewegen uns also in einem Spannungsfeld doppelten Risikos: Einerseits gilt es als normal, trauernde Kinder nicht zu pathologisieren und ihnen Zeit zu lassen, den Verlust selbstständig zu bewältigen. Dazu benötigen sie keine Therapeuten, sondern mitfühlende und zugleich standfest im Leben stehende Begleiter. Hilfreich kann zudem die Teilnahme an Trauergruppen sein, die strukturierte Programme zur Trauerbewältigung anbieten. Demgegenüber sollten kompliziert trauernde Kindern zeitnah traumatherapeutische Unterstützung erfahren. Auch wenn übliche und kritisch zu bewertende Reaktionen nicht klar voneinander abgrenzbar sind, existieren Verlustkonstellationen, die ein deutlich erhöhtes Traumarisiko in sich tragen. Wenn der Tod eines geliebten Menschen wie in den skizzierten Beispielen plötzlich und unnatürlich ins Leben einbricht, mit Gewalt, extremen Schuld- und Verlassenheitsgefühlen oder physischer Verstümmelung einhergeht oder aus anderen Gründen besonders grausam erlebt wird, gilt es, Kinder genau zu beobachten. Ebenso stellen jahrelang blockierte Trauerprozesse ein hohes Risiko für die psychische Gesundheit dar. Mehr Zeit als üblich mit betroffenen Kindern zu verbringen, auf Zeichnungen, auffällige Spielideen und körpersprachliche Signale zu achten und sich nicht von klug inszenierten Verschleierungstechniken blenden zu lassen, hilft, verdeckten Traumatisierungen auf die Spur zu kommen.

Literatur Brathuhn, S., Zwierlein-Rockenfeller, S. (2013). Trauer und Sprache. Wenn Worte einfrieren. In M. Müller, S. Brathuhn, M. Schnegg, Handbuch Trauerbegegnung und -begleitung. Theorie und Praxis in Hospizarbeit und Palliativ Care (S. 131–140). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Brocher, T. (1980). Wenn Kinder trauern. Zürich: Kreuz.

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Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M. H., Schulte-Markwort, E. (Hrsg.) (1991). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10. Klinisch-diagnostische Leitlinien. Bern: Huber. Finger, G. (1998). Mit Kindern trauern. Zürich: Kreuz. Fischer, G., Riedesser, P. (1998). Lehrbuch der Psychotraumatologie. München: Reinhardt. Frances, A. (2013). Normal. Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen. Köln: Dumont. Gup, T. (2013). Diagnosis: Human. The New York Times, publ. am 2. April. Zugriff am 19. 03. 2014 unter http://www.nytimes.com/2013/04/03/opinion/diagnosis-human.html?_r = 0 Hart, O. van der, Nijenhuis, E. R. S., Steele, K. (2008). Das verfolgte Selbst. Strukturelle Dissoziation und die Behandlung chronischer Traumatisierung. Paderborn: Junfermann. Henzler, C., Riedel, I. (2003). Malen um zu überleben. Ein kreativer Weg durch die Trauer. Zürich: Kreuz. Huber, M. (2005). Trauma und die Folgen. Trauma und Traumabehandlung. Teil 1 (2. Aufl.). Paderborn: Junfermann. Landolt, M. A. (2004). Psychotraumatologie des Kindesalters. Göttingen: Hogrefe. Landolt, M. A., Hensel, T. (2012). Traumatherapie bei Kindern und Jugendlichen (2. Aufl.). Göttingen: Hogrefe. Müller, M. (2013). Nach innen wachsen. Der Sterbeprozess des Herrn B. (42), dargestellt in acht von ihm gemalten Bildern. Bonn: Pallia Med Verlag. Müller, M., Brathuhn, S., Schnegg, M. (2013). Handbuch Trauerbegegnung und -begleitung. Theorie und Praxis in Hospizarbeit und Palliative Care. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Reichelt, S. (1994). Kindertherapie nach sexueller Misshandlung. Malen als Heilmethode. Zürich: Kreuz. Reichelt, S. (1996). Verstehen, was Kinder malen. Ängste und Sorgen der Kinder in ihren Bildern erkennen. Zürich: Kreuz. Reichelt, S. (2000). Am anderen Ende der Sprache. Kinderzeichnungen sind als Hilfsmittel vor Gericht zwar verboten, bieten aber Chancen für die Traumatherapie. Süddeutsche Zeitung, 204, 8. Reichelt, S. (2008). Prozessorientiertes Malen als traumatherapeutische Intervention. Ein Beitrag zur ressourcenfundierten Bewältigung von Extremerfahrungen in Kindheit und Adoleszenz. Regensburg: Roderer. Reichelt, S. (2011). Grundzüge einer kunsttherapeutisch fundierten Traumatherapie. In H. Gruber, B. Wichelhaus (Hrsg.), Kunsttherapie mit Kindern und Jugendlichen (S. 157–174). Berlin: EB Verlag. Reichelt, S. (2012): Malen als Traumasprache. Zu den Wirkfaktoren künstlerischer Therapien in der Arbeit mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen. In D. Titze (Hrsg.), Bilder setzen Zeichen (S. 260–265). Dresden: Sandstein. Rosner, R. (2013). Komplizierte Trauer. Definition und Behandlungsmöglichkeiten eines erschwerten Umgangs mit Verlusten. In M. Müller, S. Brathuhn, M. Schnegg, Handbuch Trauerbegegnung und -begleitung. Theorie und Praxis in Hospizarbeit und Palliative Care (S. 91–96). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Tagay, S., Repic, N., Senf, W. (2013). Traumafolgestörungen bei Erwachsenen, Kindern und Jugendlichen. Diagnostik mithilfe von Traumafragebögen. Psychotherapeut, 1 (58), 44–55. Weber-Kellermann, I. (1994). Die helle und die dunkle Schwelle. Wie Kinder Geburt und Tod erleben. München: Beck. Witt-Loers, S., Halbe, S. (2013). Kindertrauergruppen leiten. Ein Handbuch. Gütersloh: Gütersloher Verlagsanstalt.

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Djura Többen

Das Vorkommen von Trauer bei Kindern und Jugendlichen in psychotherapeutischen Kontexten

Trauer allgemein Trauer an sich ist eine natürliche, gesunde Reaktion des Menschen auf Verlust und Trennungsereignisse. Verlust und Trennung können Lebensumstände, Situationen, Ablösungsprozesse, Gegenstände und Beziehungen zu Mensch oder Tier betreffen. Der Verlust einer liebevollen Beziehung, im Extremfall durch den Tod, ist im Umfeld jedes Menschen präsent. Damit gehört Trauer wie der Tod und auch die Geburt unweigerlich zum Menschsein dazu. Den Umgang damit hat der Mensch durch Trauerbräuche schon früh kultiviert. Trauer betrifft den einzelnen Menschen und ist damit in erster Linie eine individuelle, persönliche Reaktion. Sie unterscheidet sich in Intensität und Ausprägung – das heißt, die Bewältigung der Trauer kann sehr variieren. Die Kenntnis um die Verschiedenheit von Trauerprozessen ist für die, die mit Trauernden arbeiten von hoher Wichtigkeit. Hierzu sind unterschiedliche Trauerkonzepte entwickelt worden (siehe hierzu Teil I »Eine theoretische Annäherung« in diesem Buch). Was ist Trauer? Der Begriff »Trauer« geht auf das althochdeutsche Wort »truren« mit der Bedeutung »sinken, matt, kraftlos werden« zurück, im Sinne von den Kopf sinken lassen oder die Augen niederschlagen. Trauer ist psychologisch betrachtet ein emotionaler Zustand. Dieser kann sich durch Niedergeschlagenheit, Rückzug, Abwesenheit von Lebensfreude, aber auch durch Kränkung und Wut zeigen. Mit Trauer bezeichnet man zugleich den Prozess der Überwindung dieses emotionalen Zustands. Der innere Zustand und der Prozess der Trauer können nach außen getragen werden, etwa durch Körperhaltung, Gestik und Mimik sowie durch Kleidung. Sie können sich jedoch ebenso auf eine Art manifestieren, die Außenstehende nicht unmittelbar als Trauer verstehen können.

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Formen der Kindertrauer allgemein Kinder haben andere Trauervoraussetzungen als Erwachsene – entsprechend trauern sie anders. Die Art des Verlustes und die Begleitumstände, der kulturelle und/oder religiöse Hintergrund innerhalb der Familie, die Beziehungsgestaltung zu wichtigen Bezugspersonen, das soziale Umfeld mit sozialen Netzwerken, die Persönlichkeitsstruktur und Abwehrmechanismen des Kindes, das Alter des Kindes sowie seine individuellen Entwicklungsbedingungen auf kognitiver und emotionaler Ebene sind entscheidende Einflussfaktoren. Die Reaktionen der Kinder auf Verlustereignisse variieren von Verleugnung, Identifizierung, Verschiebung, Affektumkehr, Regression, körperlicher Abfuhr, Lernhemmung bis zu Pseudoreife. Ausgeprägte Gefühlsamplituden in schneller Frequenz, unvorhersehbar, widersprüchlich und spontan, können den Rhythmus bestimmen. Kinder verstecken ihre Gefühle oder sich selbst – ihr Verhalten wird sonderbar. Sie werden weinerlich, kleinkindhaft, unsicher, ängstlich oder nässen vorübergehend ein. Manche zeigen aggressive Facetten, werden laut, unzufrieden, sind schwierig im Umgang. Andere wiederum lachen, sind auffallend albern; die älteren Kinder rationalisieren und unterstützen ihre Familie, so gut es geht, vernachlässigen unter Umständen dabei sich selbst. Das Spektrum der kindlichen Trauerreaktionen ist breit. Es handelt sich dabei keinesfalls um Verhaltensstörungen, und wir sollten uns von diesen Reaktionen nicht verunsichern lassen. Hingegen benötigen die Kinder in dieser Zeit vor allem Trost und Verständnis, einfühlsame, geduldige Gesprächspartner, Aufmerksamkeit und Sensibilität, Sicherheit, Orientierung und Stabilität, aber ebenso Zeiten, in denen sie nicht trauern.

Trauer bei Kindern unterschiedlichen Alters Obwohl Trauerreaktionen bei Kindern wie beschrieben auf vielfältige Weise zum Ausdruck kommen können, lassen sich gleichwohl Anhaltspunkte für verschiedene Altersgruppen angeben (siehe Weiß, 2006; Sagaster, 2009). Kinder bis zu drei Jahren Für jüngere Kinder bis zum Alter von drei Jahren sind Verlustereignisse als endgültiger Zustand kognitiv noch nicht erfassbar. Ihre Trauer ist als Reaktion sowohl auf atmosphärische als auch auf reale Veränderungen zu verstehen. Insbesondere Säuglinge nehmen emotionale Veränderungen im Miteinander sowie die Belastung und Befindlichkeit der Angehörigen über nonverbale Signale wie Mimik und Sprachmelodie sensibel wahr und werden hierdurch verunsichert. Im Alter von 18–24 Monaten bildet sich bei den Kindern ein Konzept über das eigene Selbst heraus. Zudem beginnen sie Empathie zu zeigen. Kinder können sich schon in dieser Zeit mit einem Erkrankten

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Das Vorkommen von Trauer bei Kindern und Jugendlichen

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identifizieren und möglicherweise mit ähnlichen Symptomen reagieren. Die Abwesenheit einer Bezugsperson nehmen Kinder in diesem Alter als Bedrohung wahr. Kinder von drei bis fünf Jahren In dieser Entwicklungsphase haben die Kinder ein entsprechendes Zeitverständnis entwickelt. Sie nehmen Einzelheiten wahr, interessieren sich für das Sterben und den Tod und können zwischen lebendig und unbelebt unterscheiden. Werden die Kinder in dieser Altersphase mit dem Tod eines geliebten Tieres oder nahen Verwandten konfrontiert, können Verlustängste ausgelöst werden. Das Kind fürchtet, auch Vater und Mutter zu verlieren. Die Kinder zwischen drei und fünf reagieren möglicherweise mit Verunsicherung und leichter Kränkbarkeit, aber auch mit Trennungsängsten, nächtlichem Aufwachen sowie regressivem Verhalten. Für die Vorschulkinder stellt sich der Tod jedoch nach wie vor als reversibel dar. Kinder von fünf bis neun Jahre Kinder zwischen fünf und neun Jahren verstehen Tod als endgültige, irreversible Trennung, welche emotional belastend ist. Sie träumen häufig vom Tod ihrer Eltern und können Verlust- und Trennungsängste entwickeln. Das Sterben wird mit Alter und Krankheit in Verbindung gebracht; die eigene Sterblichkeit bleibt dabei ohne Bedeutung. In dieser Altersphase interessieren sich die Kinder für die sachlichen Aspekte des Todes wie Friedhöfe, Sarg, Beerdigungszeremonien. Kinder von neun bis zwölf Jahre Im Alter zwischen zehn und zwölf Jahren wird Tod als abschließendes und unausweichliches Ereignis anerkannt, der Trennung und Liebesverlust bedeutet. Diese Kinder fragen nach der Sinnhaftigkeit. Sie realisieren und akzeptieren die Unausweichlichkeit der eigenen Sterblichkeit. Jugendliche Zum einen nimmt in der Zeit der Adoleszenz die Identitätssuche einen hohen Stellenwert ein, wodurch Fragen über sich selbst und die eigene Sterblichkeit intensiver werden. Dabei löst die eigene Sterblichkeit bei vielen Jugendlichen derartige Ängste aus, dass sie die offene Diskussion und Konfrontation dazu meiden. Deshalb zeigen sie primär Abwehr als Trauerreaktion. Die Auseinandersetzung mit eigenen oder fremden Emotionen soll verhindert werden, diese scheint belastend und wird als Überforderung erlebt. Jugendliche bevorzugen, die Trauer mit sich selbst auszumachen. Die Bevorzugung des emotionalen Rückzugs und der Geheimhaltung hilft ihnen zudem, durch

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ihre besondere Situation in der Gleichaltrigengruppe nicht in eine Außenseiterrolle zu kommen. Ihre Trauer kann von Außenstehenden oftmals nicht wahrgenommen werden. Jugendliche schildern unterschiedlichste Gedanken, Emotionen und Symptome. Sie schwanken zwischen angemessener Anteilnahme und Abgrenzung ihrer eigenen Interessen oder bevorzugen einen sachlichen Blick auf die Verlustsituation, um dadurch Entlastung zu erfahren. Neben Ambivalenz und Rationalisierung treten Rückzug – persönlicher oder räumlicher – und totale emotionale Loslösung. Zum anderen sind ab dem 15. Lebensjahr Verlusterlebnisse und die damit verbundenen Trauerprozesse mit denen von Erwachsenen vergleichbar. Die Heranwachsenden können ihre Trauer deutlich beschreiben; ihre Trauerphasen sind allerdings kürzer als die der Erwachsenen.

Trauer im Übergang zur seelischen Erkrankung Wird der Trauerprozess unterdrückt, gar verhindert oder wird die Trauer übertrieben und übersteigert gelebt, können psychopathologische Auffälligkeiten bei den Kindern auftreten. Unter den beiden Formen komplizierter und pathologischer Trauer wird ein chronischer Prozess verstanden, bei dem die trauernden Kinder den erlebten Verlust nicht akzeptieren und in ihr Leben integrieren können. Der Entwicklungsprozess ist unterbrochen, die Anpassung an den erlebten Verlust nicht möglich. Massiver Trennungsschmerz und aufwühlende Gedanken über den Verstorbenen können den Alltag bestimmen. Gelingt es nicht mehr, diese Gefühle und Gedanken zu kontrollieren und zu kompensieren, können behandlungsbedürftige Symptome – auch erst Jahre später bis ins Erwachsenenalter hinein – als langfristige Folgen in Erscheinung treten. Dabei treten bei den Kindern internalisierende Störungen häufiger als externalisierende Störungen auf. Zu den internalisierenden Störungen gehören: •• emotionale Störungen wie Ängstlichkeit und Depressivität: Die Kinder wirken einsam, weinen viel, haben Angst, dass Schlimmes passieren könnte, fühlen sich ungeliebt, nervös, wertlos, befangen, traurig, haben Sorgen und Misstrauen, •• körperliche Beschwerden als Ausdruck psychischer Störungen: Schwindel, Müdigkeit, Schmerzen allgemein, Kopfschmerzen, Übelkeit, Augenprobleme, Hautprobleme, Bauchschmerzen und Erbrechen, •• sozialer Rückzug: Die Kinder wollen lieber allein sein, sprechen nicht, sind verschlossen und scheu, schmollen oder starren ins Leere, sind weniger aktiv, traurig, ziehen sich aus dem Freundeskreis zurück (siehe Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1998). Des Weiteren gehören zu den internalisierenden Störungen übermäßiges Sorgen, Trennungs-/Verlustängste, Antriebslosigkeit, Unsicherheit, Anhänglichkeit, Schuldgefühle, Schlafstörungen, lebensmüde Gedanken bis hin zur Suizidalität.

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Zu den externalisierenden Störungen gehören: •• dissoziales Verhalten: Die Kinder suchen schlechten Umgang, lügen, fühlen sich nicht schuldig, laufen weg, sind lieber mit Älteren zusammen, legen Feuer, stehlen zu Hause oder anderswo, fluchen, denken zu viel an Sex, schwänzen die Schule, nehmen Drogen oder Alkohol, vandalieren, •• aggressives Verhalten: Die Kinder streiten viel, geben an, sind gemein zu anderen, verlangen viel Beachtung, zerstören Eigenes oder Fremdes, sind ungehorsam zu Hause oder in der Schule, sind eifersüchtig, raufen, sind körperlich aggressiv, motorisch unruhig, schreien, spielen den Clown, sind störrisch, affektlabil, reden zu viel, hänseln, bedrohen andere, bekommen Wutausbrüche, sind sehr laut (siehe Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist, 1998). Weitere Auffälligkeiten bei Kindern, die weder zu den internalisierenden noch zu den externalisierenden Störungen zählen, sind: •• emotionale Störungen wie Zwangshandlungen oder Zwangsgedanken, schizoides Verhalten, •• soziale Probleme mit tapsigem Verhalten und Unbeliebtheit, Identitätsprobleme, •• Aufmerksamkeitsprobleme, Unkonzentriertheit, übermäßige Gereiztheit, Leistungsabfall, Unruhe, Ticks, Nervosität, •• Entwicklungsstörungen mit Entwicklungsverzögerung oder Wiederauftreten von Sprachstörungen wie zum Beispiel anhaltende Babysprache, •• psychische Störungen mit körperlicher Symptomatik wie Essstörungen, Einkoten, Einnässen, Albträumen, Sprechstörung wie Stottern oder Poltern, Nägelkauen. Bei komplizierten Trauerprozessen, bei denen die oben aufgezählten Symptome und Auffälligkeiten auftreten können, ist der Übergang zur seelischen Erkrankung fließend. Im Rahmen der Anamnese und Therapie ist die Abklärung sinnvoll, ob ein Trauerzustand oder ein unterdrückter Trauerprozess eine Rolle spielen könnte.

Risikofaktoren Die Gefahr der Entgleisung in der Trauer wird durch bestimmte Risikofaktoren begünstigt. Relevant sind das Alter des Kindes, fehlende soziale Anbindung, gehäufte Verlusterfahrungen sowie die Art und Weise des Verlustes, wie zum Beispiel unerwarteter Tod durch Suizid oder Unfall, aber auch ökonomische Zwänge oder Naturkatastrophen im Zusammenhang mit einem Umzug und Wechsel der Schule. Die Bedeutung des Verlustes im Gesamtkontext und das Auftreten pathologischer Trauer bei Bezugspersonen oder Geschwistern sind ebenso Risikofaktoren.

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Kinder erkrankter Eltern »Seit den epidemiologischen Untersuchungen von Rutter (1966) ist bekannt, dass Kinder schwer erkrankter Eltern für die Entwicklung späterer kinder- und jugendpsychiatrischer Erkankungen prädisponiert sind« (siehe Lange u. Lehmkuhl, 2012). Die Prävalenz dieser Kinder, psychopathologische Auffälligkeiten zu entwickeln, ist doppelt so hoch wie bei Kindern gesunder Eltern (Barkmann, Romer, Watson u. Schulte-­ Markwort, 2007). Davon ist etwa jedes zehnte Kind in unserer Gesellschaft betroffen. Auch die Prävalenz der psychopathologisch auffälligen Kinder mit einem an Krebs erkrankten Elternteil liegt in diesem Verhältnis. Dabei sind die Mädchen zwischen zwölf und 18 Jahren sowie die Jungen zwischen vier bis elf Jahren besonders anfällig (Visser et al., 2005). Sie entwickeln signifikant gehäuft internalisierende Symptome in Form von Ängstlichkeit und Depressivität mit Rückzug und psychosomatischen Auffälligkeiten (Osborn, 2007). Dabei bleiben die depressiven Symptome im Gesamtverlauf auf einem Niveau. Nach Schätzungen der deutschen Krebshilfe sind ca. 200.000 Kinder jährlich betroffen, deren Eltern an Krebs erkranken. »Auf Grund steigender Krebs-Inzidenzraten auch in den Altersgruppen unter sechzig Jahren (Robert KochInstitut u. Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e. V., 2010) ist damit zu rechnen, dass die Zahl der betroffenen Kinder in Zukunft zunehmen wird« (Bergelt et al., 2012). Gemäß den psychoonkologischen Leitlinien, Angehörige explizit in den Versorgungsprozess mit einzubeziehen (Arbeitsgruppe der Deutschen Krebsgesellschaft e. V., 2004), wäre es wünschenswert, diese ansteigende Zahl betroffener Kinder zukünftig gut versorgt zu sehen.

Schutzfaktoren Eine gute Familienfunktion mit emotionaler Beziehungsgestaltung und einer aktivproblemorientierten Haltung gegenüber der Verlustsituation wirken sich protektiv aus. Offene Gespräche und emotionale Authentizität innerhalb der Familie sowie das Äußern-Dürfen von Gefühlen, auch auf der Ebene einer vertrauensvollen Geschwisterbeziehung, können die Entwicklung im Trauerprozess positiv beeinflussen. Um sich auf der eigenen Gefühlsebene angemessen regulieren und anpassen zu können, ist es insbesondere für jüngere Kinder wichtig, klare und konkrete Informationen zu erhalten. Damit können relevante Ereignisse und die seelische Befindlichkeit des erkrankten Elternteils für sie einfacher eingeordnet werden. Darüber hinaus sind verlässliche Strukturen und Rituale von grundlegender Bedeutung. Die Aufrechterhaltung von Routinen wird vor allem von Jugendlichen als wichtige Stütze erlebt. Sie können unter diesen Umständen ihr eigenes Leben besser fortführen. Auch die Einbindung in tragfähige soziale Netze sind sinnvolle präventive Maßnahmen und beeinflussen das Befinden der Kinder positiv.

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Das Vorkommen von Trauer bei Kindern und Jugendlichen

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Begleitung kann sowohl auf den Verlust orientiert als auch auf zukunftsweisende aufrechterhaltende Prozesse ausgerichtet sein. Auf das jeweilige System bezogen ist es von Wichtigkeit, nicht nur die individuellen Verarbeitungshilfen für die Kinder, sondern auch die Interaktionen der Familienmitglieder untereinander in Betracht zu ziehen (siehe Weiß, 2006; Dörr et al., 2012).

Zum Abschluss ein Fallbeispiel In einer Erstvorstellung präsentiert sich ein fast 15-jähriger Jugendlicher in Begleitung seines Bezugsbetreuers aus einer Wohngruppe. Der primäre Vorstellungsgrund ist die diagnostische Abklärung der Intelligenz, da der Junge durch herausragende Denkleistungen aufgefallen ist. In der anamnestischen Erhebung wird erwähnt, dass der Junge vor kurzem einmalig aus der Wohngruppe abgängig gewesen sei und sich alkoholisiert habe. Man führe dies auf die Eingewöhnungsphase zurück, da der Jugendliche sich erst seit ein paar Wochen in der Fremdunterbringung befinde. Der Junge habe keine erziehungsberechtigten Angehörigen mehr; seine Mutter sei vor wenigen Wochen verstorben. Im Einzelgespräch beschreibt der ruhige und gefasst wirkende Patient, dass er seit Monaten die Schule geschwänzt habe, um der Mutter nah zu sein. Dem leiblichen Vater sei das Sorgerecht entzogen worden. Dem Wunsch des Jungen, jetzt beim Vater leben zu wollen, könne aus oben genannten Gründen nicht nachgekommen werden. Nach diagnostischer Testung, bei der festgestellt wird, dass der Junge durchschnittlich intelligent ist, verliert sich der Kontakt. Erst Monate später erfahren wir, dass der Jugendliche zunehmend abgängig gewesen sei, vermehrt Diebstähle begangen und sich wiederholt betrunken habe. Seine Haltung dazu sei gleichgültig und unbeeindruckt gewesen. Aufgrund der delinquenten Entwicklung könnte dem Jugendlichen nun in Zukunft Arrest oder sogar geschlossene Jugendhilfeeinrichtung bevorstehen.

Ohne die genauen Umstände seiner Herkunftsfamilie und ohne die genauen Gründe für den Sorgerechtsentzug des Vaters zu kennen, erscheint eine kriminelle Entwicklung des Jungen zunächst einmal unerwartet. Zudem überrascht die emotionale Kälte, die Gleichgültigkeit des Jungen, der doch Monate zuvor seinen Lebensalltag für die Begleitung seiner sterbenden Mutter aufgeopfert hat. Fast absurd erscheint in dieser für den Jungen tragischen Zeit der Vorstellungsgrund beim Kinder- und Jugendpsychiater: Der Junge soll auf seine Intelligenz getestet werden. Dass der Junge in Trauer sein könnte über den Tod seiner Mutter, über den Verlust seiner familiären Anbindung, über den Verlust seines Wohnortes, über den Verlust seiner sozialen Beziehungen, wird nicht erwähnt. Sämtliche Schutzfaktoren sind dem Jungen genommen, er steht mit sich und seiner Trauer allein. Und diese Trauer ist nicht leicht zu verarbeiten. Aufgrund der kumulativen Ereignisse droht eine pathologische Entgleisung, bei der eine professionelle Begleitung anzuraten wäre. Dem Jungen kann es nicht gelingen, seinen massiven

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seelischen Schmerz allein zu verarbeiten. Und unter Umständen will er diesen auch nicht zulassen, weil er weiß, dass er die Kontrolle über seine Gefühle verlieren könnte. Stattdessen externalisiert er seine Verwirrungen, seine Wut, seine Angst und seine Trauer und reagiert mit Diebstählen oder läuft möglicherweise allem davon. Sachlich betrachtet sind seine Symptome jedoch Ausdruck einer dissozialen Entwicklung, die zu begrenzen ist, vor die man den Jungen selbst oder auch andere schützen muss. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern nicht immer das sind, wonach sie auf den ersten Blick aussehen, und dass die Verhaltensweisen nicht gleichzusetzen sind mit der Person selbst. Ihr Verhalten ist vielmehr eine Reaktion auf einen Umstand, der nicht in logischem Zusammenhang stehen muss. Darüber hinaus zeigt das Beispiel, dass Trauer von Außenstehenden nicht ohne weiteres wahrgenommen werden kann. Jugendliche sind geschickt im Verbergen und bevorzugen den inneren Rückzug. Hierin liegt eine große Gefahr, die es zu vermeiden gilt. Wer mit Kindern arbeitet, darf genau hinschauen. Schnelles Werten und Verurteilen können zu falschen Einschätzungen und Entscheidungen führen. Sicherlich sollten nicht erklärbare Reaktionen von Kindern zur Vorsicht anhalten und einen aufmerksam werden lassen. Kinder trauern nicht immer, indem sie traurig sind. Insbesondere anhaltende Verhaltensänderungen sind im Auge zu behalten. Kinder haben viele Möglichkeiten, sich auf Veränderungen einzustellen: Sie sind kreativ, fantasievoll und geschickt im Kompensieren. Ihre Selbstheilungskräfte sind beeindruckend.

Literatur Arbeitsgruppe der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. (2004). Entwicklung von Leitlinien für psychosoziale Krebsberatungsstellen. Leitlinien für ambulante Krebsberatungsstellen. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www.dapo-ev.de/fileadmin/templates/pdf/leitlinie_krebsberatungsstellen_juni2004.pdf Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist (1998). Elternfragebögen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen. Deutsche Bearbeitung der Child Behaviour Checklist: CBCL/4–18. Einführung und Anleitung zur Handauswertung (2. Aufl. mit deutschen Normen). Köln: Arbeitsgruppe Kinder, Jugend- und Familiendiagnostik (KJFD). Barkmann, C., Romer, G.,Watson, M., Schulte-Markwort, M. (2007). Parental physical illness as a risk for psychosocial maladjustment in children and adolescents: Epidemiological findings from a national survey in Germany. Psychosomatics, 48, 476–481. Bergelt, C., Ernst, J. Ch., Beierlein, V., Inhestern, L., Holes, S., Möller, B., Romer, G., Koch, U. (2012). Reaktive Veränderungen in Befinden und Verhalten von Kindern bei elterlicher Krebserkrankung – Ergebnisse einer epidemiologischen Patientenbefragung. Praxis der Kinderpsychologie und der Kinderpsychiatrie, 61 (6), 378–395. Dörr, P., Führer, D., Wiefel, A., Bierbaum, A.-L., Koch, G., von Klitzing, K., Romer, G., Lehmkuhl, U., Weschenfelder-Stachwitz, H. (2012). Unterstützung von Familien mit einem an Krebs erkrankten Elternteil und Kindern unter fünf Jahren – Darstellung eines Beratungskonzeptes. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 61 (6), 396–413.

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Das Vorkommen von Trauer bei Kindern und Jugendlichen

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Lange, S., Lehmkuhl, U. (2012). Kann eine Geschwisterbeziehung bei der Bewältigung kritischer Lebensereignisse protektiv wirken? Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, 61 (7), 524–538. Osborn, T. (2007). The psychosocial impact of parental cancer on children and adolescents. A systematic review. Psycho-Oncology, 16, 101–126. Robert Koch-Institut, die Gesellschaft der epidemiologischen Krebsregister in Deutschland e. V. (Hrsg.) (2010). Krebs in Deutschland 2005/2006. Häufigkeiten und Trends. Berlin. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www.krebsgesellschaft.de/download/KID2010.pdf Rutter, M. (1966). Children of sick parents. An environmental and psychiatric study. London: Maudesley Monographs. Sagaster, M. (2009). Trauer hat viele Gesichter. Das kindliche Gesicht der Trauer. 8. Hospizenquete 13. Mai 2009 Landhaus St. Pölten. Die Boje. Ambulatorium für Kinder und Jugendliche in Krisensituationen. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www.hospiz-noe.at/upload/584_Das_kindliche_Gesicht_der_Trauer.pdf Visser, A., Huizinga, G. A., Hoekstra, H. J., Graaf, W. T. A. van der, Klip, E. C., Pras, E., Hoekstra-Weebers, J. E. H. M. (2005). Emotional and behavioural functioning of children of a parent diagnosed with cancer: a cross-informant perspective. Psychooncology, 14, 746–758. Weiß, S. (2006). Die Trauer von Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen um den verstorbenen Vater. Dissertation LMU München. Fakultät für Psychologie und Pädagogik. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://edoc.ub.uni-muenchen.de/7351/1/Weiss_Sabine.pdf

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Sabine Trautmann-Voigt, Corinna Windisch und Ute Brunne

Die Trauer über das Nicht-gesehen-Werden – Trauer im psychotherapeutischen Prozess einer Familie nach Suizid

Ein besonders tragischer Fall – der Suizid einer Mutter von zwei Kindern, den diese miterleben mussten – führte zu einem besonders tragenden therapeutischen Setting. Beide Kinder konnten in unserem Institut, der Köln-Bonner Akademie für Psychotherapie (KBAP) in Bonn, von zwei Kolleginnen zeitlich parallel behandelt werden. Beide Therapeutinnen stimmten sich eng ab, konnten zeitweise sogar gemeinsam mit beiden Kindern und dem Vater arbeiten. Eine enge supervisorische Begleitung ermöglichte es mir (S. TR.-V.), auf die Entwicklung der Psychotherapie beider Kinder einzuwirken. Die interaktionsorientierte psychodynamische Psychotherapie (Trautmann-Voigt u. Moll, 2011) half dem Geschwisterpaar mit dem Schock und der anfangs vollkommen abgespaltenen Trauer umzugehen. Eine ebenfalls parallele Betreuung des Vaters durch einen Psychologischen Psychotherapeuten im Haus half diesem, erste Schritte zur Strukturierung seines Alltags vorzunehmen. Im Folgenden wollen wir den Fall kurz schildern und Ausschnitte aus dieser eng vernetzten psychotherapeutischen Zusammenarbeit darlegen.

Souzan und Navid als Beispiel einer interaktionsorientierten psychodynamischen Psychotherapie Die Eltern von Souzan und Navid sind persischer Abstammung und erst vor ca. zehn Jahren immigriert. Souzan ist fünf Jahre alt, als ihr Vater mit ihr und ihrem elf Monate älteren Bruder die Institutsambulanz aufsucht. Während ihr Bruder sich eher zurückhaltend und ängstlich gibt, verhält sich das Mädchen außerordentlich raumgreifend und dominant. Im Rollenspiel mit der Therapeutin will Souzan die Mutter sein. Sie scheint aufs Spiel konzentriert, kriegt aber jede Bewegung im Raum mit. Insbesondere das Gespräch zwischen ihrem Vater und der Supervisorin interessiert und irritiert sie stets aufs Neue. Der Vater weint still vor sich hin, als er – sich häufig in Details verlierend – von der traumatischen Nacht berichtet, die Anlass für den heutigen Erstkontakt ist. In dieser Nacht hatte sich seine Frau, die Mutter der beiden Kinder, vom Balkon im elterlichen Schlafzimmer zu Tode gestürzt. Keines der Kinder weint in diesem Moment

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mit ihm und sie versuchen auch nicht, ihn oder sich selbst zu trösten, sondern lenken sich mit weit geöffneten Augen beim Spielen ab. Souzan Dass Souzan schon als Säugling nicht in ihren Bedürfnissen wahrgenommen und bestätigt werden konnte, lag zum einen am geringen Altersabstand zum Bruder, der seinerseits der fürsorglichen Pflege eines Säuglings bedurfte. Hinzu kam zum anderen ein Schlaganfall der Mutter während der Geburt von Souzan, welcher die Mutter für kurze Zeit selbst behandlungsbedürftig werden ließ. Ausschlaggebend für die dauerhafte Schädigung des Mädchens aber war die psychische Erkrankung der Mutter. Sie litt – wie aus den Angaben des Vaters und der Kinder zu schließen ist – an einer emotional instabilen Persönlichkeitsstörung des Borderlinetypus mit psychotischen Einbrüchen. Hin- und hergeworfen zwischen den eigenen unerfüllbaren Ansprüchen und der Unfähigkeit, diese selbst erfüllen zu können oder durch ihre Kinder und ihren Mann befriedigt zu sehen, schwankte die Mutter zwischen extremer Nähe und Fürsorglichkeit und abruptem Beziehungsabbruch mit Impulsdurchbrüchen. Ein schreiender Säugling muss für sie der Spiegel der eigenen Unzulänglichkeit gewesen sein, zu dem sie so schnell wie möglich Abstand gewinnen wollte. Der Vater, ein hochgradig versorgungsbedürftiger Mann, war und ist mit seinem eher depressiven Verhalten zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als dass er die Lücke, welche die Mutter in der emotionalen Versorgung der beiden Kinder ließ, hätte schließen können. Für die körperliche Pflege des Sohnes brachte er in den ersten Jahren zwar die Kraft auf, für Souzan aber musste gelegentlich eine Tante kommen, um sie zu baden. Also lernte Souzan früh, dass sie die nötige Aufmerksamkeit für ihr psychisches Überleben nur dann erhielt, wenn sie laut und raumergreifend agierte. Mit ihren fünf Jahren wirkt Souzan unzugänglich, trotzig und empfindsam zugleich, wenn sie in Gegenwart der Therapeutin die Aufforderungen des Vaters ignoriert. So sei das schon immer mit ihr gewesen, kommentiert der Vater. Sie mache einfach, was sie wolle. Aber im Kindergarten, da gebe es keine Beschwerden. Da sei sie von Anfang an gern hingegangen, wie ihr Bruder auch. Als Souzan begann, den Kindergarten zu besuchen, hatte ihre Mutter den ersten vom Vater bemerkten psychotischen Schub. Sie habe zwar schon immer Antidepressiva genommen, aber in diesem Jahr habe sie die Idee bekommen, extrem abzunehmen, und habe Befehle von einer Leuchte im Wohnzimmer erhalten, welche ihr aufgetragen habe, Gold zu sammeln. Die Episode endete laut Vater nach wenigen Monaten, habe aber erneut etwa sechs Monate vor dem mütterlichen Suizid begonnen. Von Neuem reduzierte die Mutter ihr Gewicht gewaltsam, indem sie nur noch Paprika aß, Essig trank und importierte Schlankheitspillen einnahm. Souzan erhielt zu dieser Zeit eine kleine Katze als Geburtstagsgeschenk, mit der sie nach Aussagen des Vaters stets wild spielte. Der Vater erzählt im Elterngespräch, dass die Katze oft schrie, wenn Souzan mit ihr im Puppenwagen durch den Flur jagte, und dass dann alle lachten.

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Die Trauer über das Nicht-gesehen-Werden

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Als die Therapeutin ihm ihr Mitgefühl für die Not der Katze spiegelt, ist dies dem Vater unangenehm, und er verharmlost das heftige Spiel. Ungefragt betont er, die Katze sei ohne Souzans Zutun gestorben, auch wenn die Mutter damals behauptet habe, Souzan habe sie getötet. Souzan sei damals untröstlich gewesen, als sie morgens mit der toten Katze ins Elternschlafzimmer gekommen sei und gefragt habe, ob diese nur schliefe. Es ist kaum anzunehmen, dass Souzan ihre Katze absichtlich tötete, jedoch das Ausmaß des grausamen Spiels verdeutlicht die innere Not des kleinen Mädchens, das schon als Säugling in seinen eigenen Bedürfnissen nach Bindung, Sinnlichkeit, körperlicher Versorgung, Rückzug und Exploration (vgl. Lichtenberg, Lachmann u. Fosshage, 2000) nicht wahrgenommen wurde. Die schwer kranke Mutter konnte selbst elementare Bindungsbedürfnisse wie Verlässlichkeit, Angemessenheit und Kontinuität nicht erfüllen, was bei Souzan zu maßloser Hilflosigkeit, Trauer und Angst führen musste (vgl. Bowlby, 1980). Dass die Mutter ebenfalls nicht dazu in der der Lage war, die Affekte angemessen zu markieren und zu spiegeln, um Souzan zu eigener Mentalisierungsfähigkeit (vgl. Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2004) zu verhelfen, steht außer Frage. Die Bereitschaft ihrer Umgebung, Souzan zu beachten, wenn sie fordernd, agil und laut war, ermöglichte dieser das Sublimieren der tiefen Trauer im sadistisch-aggressiven Spiel. Im Kontakt mit ihrer Therapeutin fordert Souzan fortwährend Grenzen ein, die sie im Gegensatz zu den vagen Abgrenzungen des Vaters umgehend akzeptiert. Sie beruhigt sich innerhalb weniger Minuten, sucht Vorwände im Spiel, um ganz nah an die Therapeutin heranzurücken. Kürzlich nannte sie sie – zunächst versehentlich, dann bewusst, aber ganz leise: »Mama«. Die Therapeutin beantwortete ihre nahezu greifbare Sehnsucht sanft mit den Worten: »Ja, so sollte es sich anfühlen mit Mama.« Einige Stunden später ergab es sich, dass sie während eines Versteckspiels im Liegen auf ihr Summen reagierte, das Angebot eines Gute-Nacht-Liedes annahm und »noch mehr« flüsterte. So kann Souzan im behutsamen Annehmen und Spiegeln ihrer Affektäußerungen vorsichtig damit beginnen, im mütterlichen Gesehen- und Versorgtwerden nachzureifen. Die Therapeutin erkennt in der Gegenübertragung Souzans Ambivalenz von Glücksempfinden und gleichzeitiger Wut beim Gefühl von Geborgen- und Angenommensein. Navid Souzans siebenjähriger Bruder, Navid, wurde als Erstgeborener wie ein kleiner Prinz behandelt. Der Vater erzählt, er habe sich neben seiner Arbeit in jeder freien Minute um Navid gekümmert, ihn im Kinderwagen umher gefahren und versucht, die Mutter zu entlasten, wo er gekonnt habe. Schließlich habe sie bereits vor beiden Schwangerschaften Antidepressiva eingenommen. Somit wuchs Navid, wie seine kleine Schwester, mit einer emotional instabilen Mutter auf. Er konnte sich folglich nie sicher sein, ob die Bindung plötzlich wegbrechen würde. Die Zuwendung des Vaters brach ab, sobald dieser aus dem Haus ging. Die Fürsorge der Mutter war aufgrund ihrer psychischen

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Erkrankung nicht verlässlich und äußerst wechselhaft. Der Junge lernte früh, nur dann komplett vorhanden zu sein, wenn der Vater bei ihm war. Es ist zu vermuten, dass Navid sich bereits im Säuglingsalter in der Zeit ohne den Vater seelisch wegbeamte, um möglichst unsichtbar zu sein. Die Berichte des Vaters bestätigen diese Annahme insofern, als er von Navid als ruhigem Baby spricht, das fast nie geschrien habe. Navid war also mit seiner emotional wenig verfügbaren Mutter weitgehend allein gelassen, zumindest die meiste Zeit des Tages über. Da der Vater, wie bereits erwähnt, depressiv und abhängig strukturiert ist, hielt sich auch seine Fähigkeit zur adäquaten Spiegelung und das so genannte Einschwingen auf die Bedürfnisse des Säuglings in Grenzen. Die Förderung einer offenen und sicheren Explorationsfähigkeit konnte der Vater ebenso wenig wie die Mutter erfüllen. Belege dafür finden sich im therapeutischen Setting beim gemeinsamen Spiel. Es ist zu beobachten, dass der Vater kaum selbst die Initiative ergreift. Er reagiert meistens, statt zu agieren, und neigt dazu, seine Kinder zur Vorsicht zu rufen und das Spiel zu bremsen. Navid antwortet darauf, ebenso wie seine Schwester, mit ausufernder Überaktivität. Diese Reaktion auf den gehemmten Explorationswunsch kann zusätzlich als ein Aufschrei in dem Sinne gedeutet werden: »Schau doch her, was ich kann! Nimm mich wahr!« Gleichzeitig setzt der Vater aufgrund seiner depressiven und stets ambivalenten Haltung keine markanten Punkte und vermag die Einhaltung von Grenzen nicht durchzusetzen. Die Geschwister lassen sich folglich in ihrer überflutenden Aktivität nur schwer begrenzen. Navids Not des Nichtgesehenwerdens hat sich mit der Geburt der Schwester noch verschärft. Jetzt war die Mutter durch den Schlaganfall bei der Geburt von Souzan noch weniger verfügbar. Außerdem musste der Junge die für seine Existenz so wichtige Aufmerksamkeit des Vaters teilen. Besonders erwähnenswert ist an dieser Stelle die stets ambivalente Haltung der kleinen Schwester gegenüber. Navid lernte sehr schnell, dass er den Ärger des Vaters auf sich zog, wenn er mit Souzan nicht auskam. Über die Geschwisterrivalität hinaus hatten nun beide Kinder jemanden, mit dem sie den ganzen Tag über zusammen waren und von dem sie gesehen und wahrgenommen wurden. Der geringe Altersabstand von elf Monaten trug dazu bei, dass die beiden schon früh miteinander spielen konnten. Auch wenn die Geschwisterbeziehung nicht mit der erstrebten liebevollen Versorgung und Anerkennung durch die erwachsenen Bezugspersonen gleichzusetzen ist, geben sich Souzan und Navid deutlich gegenseitigen Halt. So waren sie zum Beispiel zu Beginn der Therapien nur schwer voneinander zu trennen. In den Therapiestunden genießen die Kinder mittlerweile die alleinige Zeit mit »ihrer« jeweiligen Therapeutin. Nach der einzeln abgehaltenen Stunde wollen sie sich am liebsten gegenseitig zeigen und erzählen, was der/die andere gemacht hat. Trotz der beschriebenen engen Bindung unter den Geschwistern bleibt Souzan eine stetige Bedrohung für die symbiotische Beziehung Navids zum Vater. Ein Beispiel für das Spannungsfeld, in dem sich der Junge stets befindet, zeigt die folgende Spielsequenz: Beim Fußballspiel mit seiner Schwester und dem Vater zeigt sich Navid extrem empfindlich. Er fühlt sich schnell zurückgesetzt und sucht geradezu nach Situationen, in denen der Vater Souzan vermeintlich bevorzugt. Dann reagiert er weinerlich und

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Die Trauer über das Nicht-gesehen-Werden

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beleidigt, schmeißt sich auf den Boden und bleibt liegen. Es kostet einige Überredungskünste, ihn zum Aufstehen zu bewegen. Danach tritt Navid, immer noch beleidigt, gegen Möbel und entwertet seine Schwester massiv. Erst wenn der Vater den Jungen auffordert, stark zu sein, er sei ja schließlich ein Junge, besteht Navid darauf, der Boss zu sein. Dann lässt er sich erneut auf das gemeinsame Spiel ein.

Interaktionsanalyse Betrachtet man die im Fall Navid beschriebene Spielsequenz des Fußballspiels unter den Kriterien der Interaktionsanalyse (vgl. Trautmann-Voigt u. Moll, 2011), lassen sich aus den Erkenntnissen zentrale Schlussfolgerungen für die Schwerpunkte der therapeutischen Arbeit ziehen. Die im Folgenden dargestellte Analyse erhebt keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit. Eine psychodiagnostisch/interaktionsanalytisch untermauerte Analyse ist in der Regel wesentlich ausführlicher. Der Vater befindet sich während des Spiels die meiste Zeit über in passiver Haltung. Er nimmt vergleichsweise wenig Raum ein, wohingegen seine Kinder überflutend den Raum für sich beanspruchen. Sie sind laut und wild, er ist dagegen stets leise und gedämpft. Die Kraft ist innerhalb der Familie ebenfalls unstimmig verteilt. Selbst während der Vater am Ball ist, wirken seine Bewegungen schwer und gehemmt. Die Kinder bringen vollen Krafteinsatz, sie ballern mit voller Wucht gegen den Ball oder schmeißen sich auf den Boden, wenn sie sich im Tor nach dem Ball strecken. Unter dem Kriterium Zeit in der Interaktionsanalyse ist zu sehen, dass die Kinder nahezu ständig in Bewegung sind. Dabei sind sie überwiegend schnell in ihren Bewegungen. Sie brechen ihre Aktionen manchmal abrupt ab, verschnaufen kurz und setzen das Spiel fort. Das Spiel verläuft seitens der Kinder in Intervallen. Der Vater bewegt sich nur, sobald er angespielt wird, wenn er von seinen Kindern durch deren Aktivität ins Spiel involviert wird. Er reagiert langsam, manchmal zeitlich fast verzögert. Eine Passung zwischen den Kindern und ihrem Vater ist weder in Raum, Kraft noch Zeit gegeben. Somit schwingt sich die Familie nicht aufeinander ein. Die Affekte der Kinder werden vom Vater in keinster Weise gespiegelt. Die Bemühungen der beiden, sich angenommen, wahrgenommen und dem Vater nah zu fühlen, laufen ins Leere. Es kann kein echtes Miteinander stattfinden.

Schlussfolgerungen für die therapeutischen Ziele Eine der grundlegenden Aufgaben innerhalb der therapeutischen Arbeit mit Navid sieht die Therapeutin darin, dem Jungen erfahrbar zu machen, dass er weniger tun

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muss, um die ersehnte Aufmerksamkeit zu erhalten. Im Kontakt mit ihr zeigt sie ihm, dass sein Gegenüber reagiert, ohne angestrengtes Zutun seinerseits. Im Spiel spiegelt die Therapeutin seine Affekte und bietet ihm umgekehrt Affekte an, die er übernehmen oder ablehnen kann. Auch wenn er sich abwendet, bleibt sie unaufdringlich an seiner Seite und bietet wohl dosiert neue Reize, um ihm die Möglichkeit zu geben, sich einzulassen. Wenn er andere entwertet oder zu ausufernd wird, erhält er die notwendige Begrenzung bzw. erlernt Regeln des Umgangs, die er bisher nicht zu kennen scheint. In der Arbeit mit Souzan steht noch viel Trauma- und auch Trauerarbeit an, aber im Zugang über das Wahrgenommenwerden ihrer unerfüllten primären Bedürfnisse und der sanften Beantwortung dieser Wünsche scheint sich eine stabile Basis für das Aufarbeiten der erschütternden Erfahrungen etabliert zu haben. Selbstredend braucht die erfolgreiche Arbeit das aktive Zutun des Vaters. In den Elterngesprächen wird ihm sein Verhalten gespiegelt und einfühlsam erklärt. Dazu werden gelegentlich Videosequenzen, wie zum Beispiel die des oben erläuterten Fußballspiels, verwendet, die in den gemeinsamen Spielstunden aufgenommen wurden. Der Vater erhält konkrete Vorschläge, wie er alternativ handeln kann, und Hinweise auf die Nöte seiner Kinder. Mit der psychodynamisch fundierten Interaktionsanalyse haben Therapeuten ein Werkzeug an der Hand, um die Not und die Trauer von Kindern sichtbar zu machen und gezielt im Spiel und in der Reflexion darüber erste emotionale Stabilisierungen zu initiieren.

Literatur Bowlby, J. (1980). Das Glück und die Trauer. Herstellung und Lösung affektiver Bindungen. Stuttgart: Klett-Cotta. Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E, L. Target, M. (2004). Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta. Lichtenberg, J. D., Lachmann, F. M., Fosshage, J. L. (2000). Das Selbst und die motivationalen Systeme. Zu einer Theorie psychoanalytischer Technik. Frankfurt a. M.: Brandes & Apsel. Trautmann-Voigt, S., Moll, M. (2011). Bindung in Bewegung. Konzept und Leitlinien für eine psychodynamisch fundierte Eltern-Säuglings-Kleinkind-Psychotherapie. Gießen: Psychosozial.

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Franziska Röseberg, Monika Müller und Bianca Senf

Entwicklungen im Bereich der familienorientierten Trauerbegleitung und Netzwerkbildung

Der Ausgangspunkt unserer Arbeit ist die Überzeugung, dass, wann immer möglich, die Trauerbegleitung von Kindern familienorientiert, das heißt unter Einbeziehung der Familie erfolgen sollte und dass eine gute Vernetzung mit anderen wichtigen Unterstützern unabdingbar für eine gute, das heißt gelingende Trauerbegleitung ist. Im Folgenden werden Entwicklungen und Netzwerkarbeit der Trauerbegleitung in Deutschland skizziert. Zunächst richtete sich Trauerbegleitung in Deutschland überwiegend an Erwachsene. Erst in den vergangenen Jahren wurden Kinder und deren Familien als Zielgruppe für die Trauerbegleitung vermehrt in den Fokus genommen. Die Entwicklung von Angeboten zur Unterstützung von trauernden Kindern hat in den letzten zehn Jahren eine rasante Entwicklung erfahren (Paul, 2011). Konzepte einzelner Anbieter von Kindertrauerbegleitung wurden veröffentlicht (zum Beispiel Witt-Loers u. Halbe, 2013). Auch onlinebasierte Unterstützungsangebote (siehe Beiträge von Reb, S. 411 ff., Kohler, S. 417 ff. und von Döveling/Wasgien, S. 421 ff., im Kapitel »Spezifische Trauerbegleitungsangebote«) mit Informationen, virtuellen Gedenkorten, Foren, zum Teil moderierten Chats und Online-Beratungen etablierten sich ebenfalls seit Anfang 2000.1 Unterrichtsmaterialien wurden in den vergangenen Jahren konzipiert und Konzepte für Projekte an Schulen entwickelt und durchgeführt (siehe den Beitrag von B. Hagedorn, S. 297 ff., sowie von N. Nolden, K. Fay und R. Voltz, S. 309 ff., in diesem Buch). Die Entwicklung der Unterstützung von trauernden Kindern in den letzten Jahren ist vor allem der Tatsache geschuldet, dass sowohl die klinische Praxis als auch die wissenschaftliche Forschung mittlerweile hinreichend Belege dafür vorweisen kann, dass ein kritisches Lebensereignis wie der Tod eines bedeutsamen Anderen für ein Kind weitreichende, negative Folgen mit sich bringen kann. Eine kompetente Trauerbegleitung kann hier einen wichtigen Beitrag zur Anpassung an ein Leben mit dem Verlust leisten, und so kommt ihr ein nicht zu unterschätzender präventiver Charakter zu. So entwickelten und entwickeln sich folgerichtig Trauerbegleitungsangebote für verschiedene Zielgruppen, die wiederum in unterschiedlichsten Organisationsstrukturen arbeiten. Beispielsweise widmet sich die Hospizbewegung und Palliativmedizin neben der Begleitung und Behandlung von Schwerstkranken, Sterbenden und deren 1

Zum Beispiel www.allesistanders.de, www.youngwings.de, www.kindertrauer.de

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Angehörigen auch der Begleitung der Hinterbliebenen, das heißt der trauernden Angehörigen. Angebote sind unter anderem im »Wegweiser Hospiz und Palliativmedizin« (Sabatowski, Radbruch, Nauck u. Roß, 2013) verzeichnet. 2010 wurde die »Charta zur Betreuung schwerstkranker Menschen und Sterbender« (Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e. V., Bundesärztekammer, 2010) verabschiedet. Sie beinhaltet Bestandsaufnahmen, Handlungsoptionen und Selbstverpflichtungen, die in Projekten umgesetzt und in einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht werden sollen. Auch Trauer und Trauerbegleitung wurde als Thema in die Charta aufgenommen. »Zur Palliativversorgung gehört die Begleitung beim Abschiednehmen und in der Trauer […] Die Begleitung der Angehörigen endet nicht mit dem Tod der Kranken. Für alle Angehörigen, die dies benötigen, sollten Angebote zur Trauerbegleitung bestehen« (S. 23). Im Bereich der Begleitung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien wird Entwicklungsbedarf bescheinigt. Bezüglich der Netzwerkarbeit sollen hier zwei Ebenen betrachtet werden: die Netzwerkarbeit auf lokaler und auf übergeordneter Ebene. Eine nachhaltige lokale Vernetzung der einzelnen Trauerbegleitungsangebote mit Multiplikatoren sowie eine gute Öffentlichkeitsarbeit sind für Anbieter unerlässlich. Nur ein hoher Bekanntheitsgrad ermöglicht Familien den bedarfsgerechten und niederschwelligen Zugang zu Unterstützungsangeboten. Von besonderer Bedeutung ist hier die Vernetzung mit einzelnen Berufsgruppen wie Pädagogen, Ärzten, Sozialarbeitern, Psychotherapeuten, Seelsorgern etc. sowie Institutionen (zum Beispiel Schulen, Kindertageseinrichtungen, Erziehungsberatungsstellen, Jugendämtern, Hospiz- und Palliativdiensten, Akutkliniken, Krebsberatungsstellen, Beratungsstellen für Kinder krebskranker Eltern, Institutionen der Krisenintervention, Notfallseelsorgern und Krankenkassen). Die übergeordnete Netzwerkarbeit im Bereich der familienorientierten Trauerbegleitung in Deutschland ist bislang sehr heterogen. Es finden sich regional arbeitende Netzwerke, exemplarisch sei hier der 1999 entstandene Arbeitskreis Begleitung trauernder Kinder und Jugendlicher genannt, der 2001 bis 2004 als Fachstelle Trauernde Kinder und Jugendliche des Referates für Gesundheit und Umwelt der Landeshauptstadt München institutionalisiert wurde. Es entwickelten sich auch thematisch orientierte Netzwerke für unterschiedliche Zielgruppen, zum Beispiel für verwaiste Eltern und Geschwister, für Angehörige um Suizid und für Kinder krebskranker Eltern. Bereits seit 1997 vernetzen sich Selbsthilfegruppen und Trauerbegleitungsangebote für trauernde Eltern und Geschwister nach dem Tod eines Kindes in der Familie im Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland e. V. (2014). Angebote können auf der Internetseite (www.veid.de) nach Bundesländern geordnet gesucht werden und Landesverbände bzw. Regionalstellen vermitteln regionale Kontakte. Für ca. 500 Gruppen verwaister Eltern fungiert der Bundesverband als Dachverband. Angehörige um Suizid e. V. (AGUS e. V., 2014) ist seit 1989 die bundesweite Selbsthilfeorganisation für Trauernde, die den Suizid eines nahestehenden Menschen erlebt haben, auf deren Internetseite (www.agus-selbsthilfe.de) regionale Selbsthilfegruppen

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Entwicklungen im Bereich der familienorientierten Trauerbegleitung und Netzwerkbildung

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aufgelistet sind. Auch in der Psychoonkologie wird der familienorientierten Trauerbegleitung mittlerweile eine hohe Bedeutung beigemessen. »Den lebenden Elternteil und das Familienumfeld zu unterstützen, sehe ich daher als eine der wesentlichsten Aufgaben hinsichtlich der Prävention von psychosozialen Folgeproblemen der Kinder krebskranker Eltern« (Senf, 2011, S. 236). So wurden in den vergangenen Jahren vermehrt familienorientierte Angebote für Kinder krebskranker Eltern etabliert (zum Beispiel Flüsterpost e. V., o. J.; Verbundprojekt »Hilfen für Kinder krebskranker Eltern«, o. J.). Der Ausbau der Angebote, deren Vernetzung und die Forschung in diesem Bereich wurde unter anderem durch die Deutsche Krebshilfe gefördert. In der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Psychosoziale Onkologie e. V. (dapo e. V., 2014) bildete sich ebenfalls eine Interessengruppe zu diesem Thema2. Mittlerweile findet man fast in jeder größeren Stadt ein entsprechendes Angebot, und erfreulicherweise bieten auch Psychoonkologische Abteilungen in Akutkliniken oder Krebsberatungsstellen eine spezialisierte Beratung an. Der Bundesverband Trauerbegleitung e. V. (BVT e. V., o. J.) bildete ein übergeordnetes Netzwerk im Bereich der Trauerbegleitung, zunächst begrenzt für die Anbieter von Fortbildungen zur Trauerbegleitung. »Mit der Gründung des Bundesverband Trauerbegleitung e. V. (früher Bundesarbeitsgemeinschaft Qualifizierung zur Trauerbegleitung3) ist ein wesentlicher Schritt zur Qualitätssicherung der Fortbildungen zur Trauerbegleitung getan worden. Auch die notwendige Lobbyarbeit für Trauernde wird damit langfristig stärker zur gesellschaftlichen Akzeptanz von Trauerbegleitung beitragen« (Paul, 2011, S. 7). 2007 wurden Qualitätsstandards der Fortbildung zur Trauerbegleitung für Erwachsene verabschiedet und 2013 die zur Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen. Mit der Öffnung für nach den Qualitätsstandards des BVT e. V. qualifizierte Trauerbegleiter, die für 2014 vorgesehen ist, entsteht ein übergeordneter Fachverband für den Bereich der Trauerbegleitung in Deutschland. Er hat sich die Aufgaben gestellt, Qualitätsstandards kontinuierlich weiterzuentwickeln, sich für ihre Umsetzung und Veröffentlichung einzusetzen und darüber hinaus Impulse in den öffentlichen Diskurs zu geben, neueste Erkenntnisse aus der Trauer- und Lernforschung zu sichten und zu integrieren und fachpolitische wie gesellschaftliche Entwicklungen zu diskutieren (vgl. BVT e. V., o. J.). Als übergeordnetes Netzwerk für den Bereich der Trauerbegleitung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien gründete sich 2009 der Bundesarbeitskreis Trauerbegleitung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien (BAK). Die Mitgliedsinstitutionen verfolgen das Ziel, ein bundesweit integrierendes Netzwerk der Anbieter im Bereich der Kindertrauerbegleitung zu bilden. Sie tauschen Erfahrungen aus, arbeiten 2 Interessengruppe »Kinder krebskranker Eltern« der dapo e. V., Kontakt: Claudia Heinemann ([email protected]) und Christiane Gresch ([email protected]). 3 Erstes Treffen der Bundesarbeitsgemeinschaft Qualifizierung zur Trauerbegleitung 2002, Gründungsversammlung des Vereins Bundesverband Trauerbegleitung 2010, Eintragung in Vereinsregister 2011.

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an einer systematischen Sammlung der Anbieter in Deutschland und an Qualitätsstandards für den Bereich der familienorientierten Trauerbegleitung. Ein Zusammenschluss des BAK mit dem BVT e. V. ist vorbereitet. In Großbritannien verfolgt bereits seit 1998 ein übergeordnetes Netzwerk die Absicht, die Qualität und Bandbreite von Trauerunterstützung für Kinder, Jugendliche und ihre Familien in Großbritannien zu verbessern (Willis, 2005) – das Childhood Bereavement Network (CBN, o. J.). Es wurden Konsensrichtlinien (»Guidelines for Best Practice«) erarbeitet und publiziert und Konferenzen durchgeführt. Über 260 Organisationen und Einzelmitglieder erkennen das CBN »Belief Statement« sowie die »Guidelines for Best Practice« als Grundlage an. 2002 wurde in Großbritannien im Auftrag des britischen Erziehungsministeriums ein Online-Verzeichnis (siehe »Search directory«, CBN, o. J.) der verfügbaren Kindertrauerangebote erstellt. In den USA können über die National Alliance for Grieving Children (2014) landesweit Unterstützungsangebote gesucht werden. Auch in weiteren europäischen Ländern gibt es Netzwerke im Bereich der Familientrauerbegleitung. Ein erster Schritt in Richtung europäische Netzwerkarbeit wurde 2013 mit dem Family Bereavement Network in Europe4 durch britische und irische Organisationen5 unter der Mitwirkung von Akteuren aus acht europäischen Ländern initiiert. Forscher vernetzen sich europaweit unter anderem im Family Bereavement Network in Europe6, im Bereavement Research Forum innerhalb der Bereavement Services Association (2014), einzelne Universitäten unterstützen Forschungsinitiativen und Netzwerke (zum Beispiel das Centre for Death and Society an der Bath University, Großbritannien, 2014) und für spezifische Forschungsthemen gibt es eigene internationale Netzwerke (zum Beispiel das Netzwerk Death Online Research, 2013). Internationale Experten sind in der International Workgroup on Death, Dying and Bereavement (o. J.) vernetzt. Eine enge Zusammenarbeit der Anbieter von familienorientierter Trauerbegleitung in einem bundesweit agierenden, übergeordneten Netzwerk in Deutschland mit Anschluss an europäische und internationale Netzwerke wäre ein wichtiger Schritt, um durch den Erfahrungsaustausch eine Reflexion und Weiterentwicklung zu ermöglichen sowie Qualitätsstandards zu erarbeiten und weiterzuentwickeln. Ziel sollte hierbei unter anderem sein, eine aktuelle, systematische, themen- und zielgruppenübergreifende, leicht zugängliche Sammlung der Angebote vorzuhalten, um Ratsuchende – ihrem Unterstützungsbedarf entsprechend – kompetent vermitteln zu können. Ebenso wäre eine Vernetzung hinsichtlich Forschungsprojekten im Bereich der familienorientierten Trauerbegleitung mit Anschluss an europäische und weltweite Forschungsvorhaben für die familienorientierte Trauerbegleitung in Deutschland von hoher Bedeutung. Eine Bedarfsanalyse könnte klären, wie der durch die Veröffentlichung der »Charta zur 4

Ansprechpartner: Mairi Harper ([email protected]), Sacha Richardson (sacha@thelauracentre. org.uk). 5 Anam Cara (Irland) und The Laura Centre (Großbritannien). 6 Psychologisches Institut der Heriot-Watt University in Edinburgh, Großbritannien.

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Entwicklungen im Bereich der familienorientierten Trauerbegleitung und Netzwerkbildung

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Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen« angestoßene gesellschaftliche Prozess für den Bereich der familienorientierten Trauerbegleitung umgesetzt werden kann, ohne dass eine Über- bzw. Unterversorgung in einzelnen Bereichen entsteht. Auch für die Argumentation hinsichtlich der nachhaltigen Finanzierung von Unterstützungsangeboten gegenüber Krankenkassen und anderen öffentlichen Trägern ist ein Nachweis der Wirkung von familienorientierter Trauerbegleitung unerlässlich. Die langjährigen Erfahrungen der bisher heterogenen Netzwerke sollten gebündelt und Synergieeffekte genutzt werden, um für trauernde Kinder, Jugendliche, junge Erwachsene und deren Familien qualitativ hochwertige, wissenschaftlich fundierte Trauerbegleitung zu erhalten bzw. auszubauen.

Literatur AGUS e. V. (2014). Angehörige um Suizid. Agus e. V. für Suizidtrauernde bundesweit. Homepage. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www.agus-selbsthilfe.de Bereavement Services Association (2014). Homepage. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www.bsauk.org/ Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland e.V (2014). VEID. Homepage. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www.veid.de BVT e. V. (o. J.). Bundesverband Trauerbegleitung e. V. Zugriff am 19. 03. 2014 unter http://www.bvtrauerbegleitung.de CBN (o. J.). Childhood Bereavement Network. Homepage. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www. childhoodbereavementnetwork.org.uk/index.htm Centre for Death & Society (2014). University of Bath. Homepage Centre for Deatz & Society. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www.bath.ac.uk/cdas/ dapo e. V. (2014). Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Psychosoziale Onkologie e. V. Homepage. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www.dapo-ev.de Death Online Research (2013). Death Online Research. An international research network. Homepage. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://deathonlineresearch.net/ Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin, Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e. V., Bundesärztekammer (Hrsg.) (2010). Zur Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in Deutschland. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www.charta-zur-betreuung-sterbender.de/ Flüsterpost e. V. (o. J.). Unterstützung für Kinder krebskranker Eltern. Homepage. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www.kinder-krebskranker-eltern.de/ International Work Group on Death, Dying, and Bereavement (o. J.). Homepage. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://iwgddb.com/ National Alliance for Grieving Children (2014). Homepage. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www. nationalallianceforgrievingchildren.org Paul, C. (Hrsg.) (2011). Neue Wege in der Trauer und Sterbebegleitung. Hintergründe und Erfahrungsberichte für die Praxis. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Sabatowski, R., Radbruch, L., Nauck, F., Roß, J. (Hrsg.) (2013). Wegweiser Hospiz und Palliativmedizin. Ambulante und stationäre Palliativ- und Hospizeinrichtungen in Deutschland. Adresssuchmaschine. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www.wegweiser-hospiz-und-palliativmedizin.de/ Senf, B. (2011). Wenn Eltern an Krebs versterben. Kinder in ihrer Trauer verstehen und begleiten. In C. Heinemann, E. Reinert (Hrsg.), Kinder krebskranker Eltern. Prävention und Therapie für Kinder, Eltern und die gesamte Familie. (S. 215–238). Stuttgart: Kohlhammer.

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Franziska Röseberg, Monika Müller und Bianca Senf

Verbundprojekt »Hilfen für Kinder krebskranker Eltern« (o. J.). Homepage. Zugriff am 20. 03. 2014 unter http://www.verbund-kinder-krebskranker-eltern.de/ Willis, S. (2005). Work with bereaved children. In B. Monroe, F. Kraus (Eds.), Brief intervention with bereaved children (pp. 1–12). New York: Oxford University Press. Witt-Loers, S., Halbe, B. (2013). Kindertrauergruppen leiten. Ein Handbuch. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus.

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Detlef Bongartz

Entwicklung eines Curriculums zur Befähigung von professionell tätigen Menschen für die Kindertrauerbegleitung

In den letzten Monaten wurde ich als Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Trauerbegleitung e. V. (BVT) und auch als Leiter der Qualifizierung in der Kindertrauerbegleitung von interessierten Menschen angesprochen, welche Bedeutung und welche Kriterien für eine qualifizierte Ausbildung in der Kindertrauerbegleitung gelten. Es gab Stimmen von Teilnehmerinnen1, die der Ansicht waren, dass sie Menschen in Trauer gut begleiten könnten, da sie an ein oder zwei Wochenenden zu diesem Thema etwas gehört hätten. Auch aufgrund ihrer Lebenserfahrung seien sie sicherlich für diese Aufgabe prädestiniert. Weitere Kriterien konnten nicht aufgeführt werden. Diesen Sichtweisen wollten einige erfahrene und gut ausgebildete, lehrende Fachkräfte entgegenwirken und entschieden sich vor zehn Jahren, eine Bundesarbeitsgemeinschaft Trauerbegleitung ins Leben zu rufen. Aus dieser Bundesarbeitsgemeinschaft entwickelte sich der heutige Bundesverband Trauerbegleitung e. V. Der Bundesverband Trauerbegleitung e. V. hat es sich unter anderem zur Aufgabe gemacht, Standards der Qualifizierung zu erarbeiten, kontinuierlich fortzuentwickeln, umzusetzen und zu veröffentlichen, um die besondere Qualität der Angebote seiner Mitglieder zu sichern. Der Bundesverband sichtet und integriert die neuesten Erkenntnisse aus der Trauerund Lernforschung und diskutiert fachpolitisch die gesellschaftlichen Entwicklungen.

Entstehung der Qualitätsstandards in der Kindertrauerbegleitung In den ersten Treffen des BVT wurden die gesamten Konzepte der jeweiligen MitgliedsInstitutionen vorgestellt so wie Ziele und Aufgaben der Zusammenarbeit formuliert. Am 25. 01. 2007 hat der Bundesverband Trauerbegleitung e. V. die Qualitätsstandards für die Große und die Kleine Basisqualifikation zur Trauerbegleitung von Erwachsenen einstimmig verabschiedet. Am 19. 02. 2013 folgte dann die Verabschiedung der Qualitätsstandards in der Kindertrauerbegleitung im Rahmen der Großen Basisqualifikation. 1 Im Folgenden wird das feminine Geschlecht übergreifend auch dann benutzt, wenn beide Geschlechter gemeint sind.

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Detlef Bongartz

Die Mitglieder des BVT haben sich zur Einhaltung dieser Standards verpflichtet. Auf dem Hintergrund der sich ausdifferenzierenden Begleitungs- und Therapieangebote für trauernde Menschen wird eine Erweiterung der verbindlichen Standards in den kommenden Jahren kontinuierlich stattfinden. Die Vergabe von Zertifikaten nach BVT-Standards setzt Fortbildungen voraus, die verbindlich und dokumentiert die unten beschriebenen Kriterien erfüllen. In den letzten Jahren haben immer mehr Institutionen damit geworben, dass sie ebenfalls nach den Standards des BVT fort- und weiterbilden. Die Akzeptanz der von unserem Verband entwickelten Standards in der Öffentlichkeit ist erfreulich, dennoch ist es ein Anliegen des Verbandes, deutlich zu benennen, dass die Einhaltung und Umsetzung der Standards nur durch die Mitglieder des Bundesverbandes Trauerbegleitung e. V. verbindlich gewährleistet werden können. In diesem Beitrag möchte ich die vom BVT entwickelten Standards2 gern in curricularer Form überarbeiten, um den Leserinnen einen umfangreichen Einblick in die Themen, Inhalte und Ziele der Großen Qualifizierung in der Kindertrauerbegleitung zu gewähren. Sicherlich wird hierdurch deutlich, wie verantwortungsvoll und gewissenhaft die Arbeit in der Trauerbegleitung auf der Ebene der Selbsterfahrung wie auch des Wissenserwerbs ist. Es bedarf eines intensiven Einlassens auf eigene emotionale Prozesse wie auch der Bereitschaft, das erlernte umfangreiche Wissen in der Praxis umzusetzen. Nach der Qualifizierung sollen die Teilnehmerinnen bewusst und eigenverantwortlich als authentische Wegbegleiterinnen Kinder und Jugendliche durch das Tal ihrer Trauer heilsam begleiten. Darüber hinaus sollen sie das gesamte Familiensystem so stärken und unterstützen können, dass dieses den natürlichen Prozess der Trauer auch in Zukunft annehmen und gestalten kann, ohne pathologische Auffälligkeitsbilder zu entwickeln.

Was bedeutet Große Basisqualifizierung in der Kindertrauerbegleitung? Um für in der Praxis tätige Trauerbegleiterinnen fundierte Kenntnisse in der Begleitung trauernder Kinder, Jugendlicher und deren Eltern zu vermitteln, besteht ein richtungsweisendes Kriterium im Umfang der Qualifizierung. Die Inhalte der Qualifizierung in der Kindertrauerbegleitung werden in mindestens 200 Unterrichtseinheiten je 45 Minuten den Teilnehmerinnen angeboten, davon maximal 20 Prozent 2 Die in diesem Artikel vorgestellten Standards in der Kindertrauerbegleitung wurden von einer Arbeitsgruppe des Bundesverbandes Trauerbegleitung e. V., bestehend aus Detlef Bongartz, Christian Fleck, Christine Fleck-Bohaumilitzky, Birgit Halbe, Susanne Kraft, Walburga Schnock-Störmer und Hildegard Vogel, über den Zeitraum von drei Jahren entwickelt.

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Entwicklung eines Curriculums

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selbst organisiert (Hausarbeiten, Peer- oder Lerngruppe usw.), wobei für die Erlangung eines Zertifikates die Teilnehmerinnen an nachweislich 90 Prozent der vorgegebenen Unterrichtseinheiten teilnehmen müssen. Ein weiteres Qualitätskriterium ist die verpflichtende Supervision, die wahlweise intern oder extern, in Gruppen- oder Einzelsitzungen nachgewiesen werden muss. Aus unserer Sicht ist die Reflexion des eigenen beruflichen Handelns eine wertvolle und unterstützende Säule, um blinde Flecken, Unsicherheiten und eigene Fragestellungen im Begleitungsprozess zu klären. Zudem ist es sicherlich nachvollziehbar, dass die Begleitung von Kindern in Trauer ebenso den systemischen Blick für die ganze Familie und deren Umfeld erfordert, so dass gerade auch hierin weniger erfahrene Kolleginnen die Supervision als sehr hilfreich erleben. In meinem Beitrag »Supervision für Trauerbegleiter« in diesem Buch (S. 517 ff.) wird noch auf weitere wesentliche Aspekte der Supervision eingegangen. Neben den quantitativen Aspekten der Ausbildung möchte ich nun im weiteren Verlauf dieses Beitrags differenziert und deutlich die qualitativen Merkmale der Qualifizierung erläutern. Über die Teilnahme an Kursen zur Qualifizierung in der Kindertrauerbegleitung entscheiden die jeweiligen Anbieter. Die Vergabe von Zertifikaten nach BVT-Standards setzt eine Qualifizierung nach den unten beschriebenen Kriterien voraus. Die Fortbildung zur Qualifizierung in Kindertrauerbegleitung ist keine Berufsausbildung.

Standards in der Kindertrauerbegleitung Die folgende Auflistung der Voraussetzungen und der Rahmenbedingungen ist unverändert von der Homepage des BVT (www.bv-trauerbegleitung.de; vgl. Bundesverband Trauerbegleitung e. V., 2013) übernommen. Es würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen, wenn den einzelnen Aspekten ausführliche Erklärungen hinzugefügt würden. Voraussetzungen: •• in der Regel ehren- oder hauptamtliche Erfahrungen im Praxisfeld Kinder, Jugendlichen- und Familientrauer, •• Mindestalter 24 Jahre, •• Bereitschaft zur Selbsterfahrung, •• psychische Belastbarkeit, •• Schlüsselkompetenzen für die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien, aber nicht zwingend eine Berufsausbildung, •• Respekt vor Menschen verschiedener Weltanschauungen, •• Grundhaltung, die getragen ist von Akzeptanz, Empathie und Authentizität.

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Detlef Bongartz

Anamnese/Klärungsgespräch vor Beginn der Großen Basisqualifizierung: Die folgenden Punkte sind keine zwingenden Ausschlusskriterien, gelten aber als klärungsbedürftig und müssen vor einer Zusage erwogen werden: •• Hinterfragen der Motivation, •• Bereitschaft zur Selbsterfahrung, •• Betrachtung der Trauerbiografie, •• gesundheitliche Beeinträchtigungen, •• Therapieerfahrungen (therapeutische Grundausbildung und/oder persönliche Auseinandersetzung mit erschwerten Lebenserfahrungen), •• Einnahme von Psychopharmaka, •• Unbedenklichkeitserklärung bei aktueller therapeutischer Intervention. Organisatorische Rahmenbedingungen: •• Die Arbeitsinfrastruktur wird derart gestaltet, dass sie wissens-, gruppen- und prozessorientiertes Lernen fördert. •• Der Wissenserwerb wird unterstützt durch Zugang zu Fachliteratur und anderen fachbezogenen Medien. •• Die Teilnehmerinnen sind verpflichtet, an mindestens 90 Prozent der vorgegebenen Unterrichtseinheiten teilzunehmen, um ein Zertifikat zu erhalten.

Wissensinhalte, Themen und Ziele der Großen Basisqualifizierung in der Kindertrauerbegleitung Um den formalen Gesichtspunkten eines Curriculums gerecht zu werden, möchte ich den jeweiligen Themen und Inhalten (vgl. Bundesverbandes Trauerbegleitung e. V., o. J.: Wissensinhalte und Themen) der Großen Qualifizierung in der Kindertrauerbegleitung Ziele und vereinzelt auch weitere Kommentare hinzufügen, um ein verständliches Bild zu zeichnen für die zu erreichenden Kompetenzen, die sich in den Zielformulierungen wiederfinden. Grundlagen der Trauerbegleitung von Kinder- und Jugendlichen aus entwicklungspsychologischer Sicht (altersspezifische Ausdrucksarten und Entwicklungsaufgaben) Einer der größeren Unterschiede der Begleitung von Kindern und Jugendlichen zur Begleitung von Erwachsenen liegt in den im Kindes- und Jugendalter zeitlich schnellen und umfangreicheren Veränderungen der körperlichen, geistigen und emotionalen Ebenen. Während wir trotz aller Unterschiede im Verstehen und Verarbeiten von Gefühlen beim Erwachsenen eine annähernd einheitliche Vorstellung von der rationalen Seite seines Trauerspektrums haben, so ist uns das Trauerspektrum bei Kindern,

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Entwicklung eines Curriculums

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die rein auf der emotionalen Ebene ihre Gefühle spontan und ohne Filter ausdrücken, nicht mehr derartig vertraut. Von daher ist uns eher fremd, welche Bedeutung kindliche Fragen haben und was ihr Verhalten ausdrückt. Die Ziele der Qualifizierung liegen deshalb verstärkt im Bereich der Fachkompetenz. Diese betrifft einerseits das Grundwissen über Trauerprozesse bei Kindern und Jugendlichen sowie altersspezifische Verhaltensweisen. Andererseits spielen das Wissen um Übertragung und Gegenübertragung im Trauerprozess und das Wissen um die Abgrenzung von Therapie zur Beratung/Begleitung eine wichtige Rolle. Arbeit mit dem inneren Kind – Biografie-Arbeit (inklusive Selbsterfahrung und Verarbeitung eigener Verlusterfahrungen aus der Kindheit und Jugendzeit) Die Arbeit mit dem inneren Kind ist ein wesentlicher Bestandteil der Qualifizierung, da eine authentische Begegnung mit einem Kind nur dann stattfinden kann, wenn der Erwachsene sich seiner eigenen Gefühle und Handlungsmuster bewusst ist, diese zulässt und in seinem Leben akzeptierend integriert hat. Gemeint sind auch die Gefühle und Erinnerungen, die in der eigenen Kindheit als traumatisierend oder als sehr schmerzlich erlebt worden sind. Die Vermittlung dieser Inhalte läuft über tiefe Selbsterfahrung. Ziele, an denen diesbezüglich, das heißt im Hinblick auf die Selbstkompetenz, intensiv mit den Teilnehmerinnen gearbeitet wird, sind: •• die Achtung vor der Entscheidungsfähigkeit und den Werten des trauernden Kindes, Jugendlichen und der Familie entwickeln und festigen, •• Haltungen und Einstellungen zu unterschiedlichen religiösen und spirituellen Hintergründen reflektieren, zu den Jenseitsvorstellungen von Kindern und Jugendlichen sowie zu verschiedenen Arten von Verlust, •• die Reflexion der eigenen Weltanschauung, •• die Rollenreflexion im Begleitungskontext, •• die Bereitschaft zur Selbstreflexion, •• das Bewusstmachen und Reflektieren des eigenen inneren Kindes als Ressource für die Begleitung. Rollenreflexion und Selbstreflexion sind ständige Prozesse auch nach der Qualifizierung. Deshalb sollen die Teilnehmerinnen Methoden der Selbstreflexion lernen und auf folgende Aspekte achten: •• Selbstfürsorge eigenverantwortlich gestalten, •• aktuelle Lerngruppe und Lernprozess selbstreflexiv wahrnehmen und gestalten, •• Protokolle schreiben, Peergruppen, Regionalgruppen bilden, wenn möglich, kollegiale Beratung installieren, •• Fachkompetenz sichern durch Supervision, kollegiale Beratung oder Praxisbegleitung.

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Altersspezifische Begleitaspekte: in Kontakt kommen – in Kontakt sein mit Kindern und Jugendlichen respektive Lebensart erschließen Um mit Kindern in Kontakt zu kommen, ist es wichtig, ihre Sprache zu sprechen – rationale, strategische, logisch geprägte Gedanken interessieren die Kinder nicht, sie wollen ihr Gegenüber spüren, fühlen, wie es reagiert, wie stimmig das Gesagte zu dem Gefühlten passt. Kinder reflektieren nicht kognitiv, sie haben ein ausgeprägtes Feingefühl für Stimmigkeit oder Irritationen, ohne es erklären zu können. Für die erwachsene Begleiterin bedeutet dies, das Weltbild eines Kindes vor dem Hintergrund seines Entwicklungsstandes zu verstehen und mit ihm in seiner Sprache in einem verständlichen und fühlbaren Austausch zu sein. Das heißt, die Zielsetzungen, die schon bei dem Thema »inneres Kind« relevant waren, haben auch bei dem Erlernen der kindlichen Sprache Priorität. Kreative Zugänge durch: narrative Elemente – heilende Kraft von Spiel – Wissen um und Umsetzung von verschiedenen kreativen und methodischen Zugängen Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen erfordert von der Begleiterin, dass sie sich ihrer eigenen kreativen Fähigkeiten bewusst ist und diese in der Begleitung mit Kindern und Jugendlichen zulassen und auch anwenden kann. Kindliche Ausdrucksmöglichkeiten, wie unter anderem das Malen, das Spielen, Bewegung und Entspannung, Umgang mit Handpuppen und Figuren, müssen auch für die Begleiterin Elemente des Austausches und der Kommunikation mit dem Kind sein. Die Begleiterin soll in der Lage sein, ihre Gefühle über verschiedene Methoden ausdrücken zu können, nur so ist es möglich, Kinder und Jugendliche in ihrer Kommunikationswelt zu verstehen und ihnen authentisch zu begegnen. Zudem liegt eine weitere Zielsetzung in der Entwicklung nicht bewertender, nur beobachtender Sichtweisen. Hierfür möchte ich gerne ein Beispiel anführen: Im Kindergarten betrachtete eine Erzieherin ein gemaltes Bild von einem fünfjährigen Jungen. Sie sagte, das Bild sei ganz schön, aber es fehle eine Sonne und das Dach auf dem Haus. Sie wisse, dass er das noch besser malen könne, und gab das Bild dem Jungen zurück. Wenn wir dieser kurzen Sequenz für uns selber nachspüren, fühlt sich die Reaktion der Erzieherin als nicht wirklich stimmig an. Was sie durch ihre Äußerung und die Rückgabe des Bildes ausdrückte, war ihre eigene Bewertung, wie ein Bild auszusehen habe, was wohl fehle und was »besser« sein könne, wohlgemerkt, nur aus ihrer Sicht. Dem Leser ist sicherlich deutlich, dass der Junge und sein emotionaler Ausdruck weder verstanden noch wertgeschätzt wurden. Solche beschriebenen Prozesse werden in der Qualifizierung mit jeder Teilnehmerin im Hinblick auf ihr eigenes Leben bewusst angeschaut und zukünftig so intensiv reflektiert, dass eine stetige Sensibilisierung für die eigenen inneren bewertenden Urteile und Bilder über Menschen und Situationen stattfindet. Dieser Lernprozess

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Entwicklung eines Curriculums

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unterstützt und fördert einen bewussten Umgang mit eigenen Denk-, Beurteilungsund Verhaltensmustern. Grenze zur Therapie – Feldkompetenz und Organisationsnetzwerk – andere psychosoziale Hilfsangebote Trauerbegleitung ist in erster Linie eine Präventionsmaßnahme, die zur Vermeidung von manifestierten pathologischen körperlichen, psychosomatischen wie auch geistigseelischen Zuständen dienen soll. Deshalb ist es für die Lernenden notwendig, ein eigenes Berufs- und Menschenbild von Trauerbegleitung und -beratung zu entwickeln, um deutlich vertreten zu können, wo Begleitung und wo therapeutische Interventionen beginnen. Aufgrund entwicklungspsychologischer Kenntnisse wird die Trauerbegleiterin sich anbahnende Pathologien des Kindes oder des Jugendlichen erkennen können. Da eine Trauerbegleiterin keine Therapie durchführt, ist es für eine kompetente Arbeit bzw. für die Begleitung der Familie notwendig, Therapeutinnen und/oder psychosoziale Institutionen genau zu kennen und diese auch weiterzuempfehlen. Als sehr günstig erweist es sich, wenn die Trauerbegleiterin in ihrem beruflichen Umfeld in Netzwerken mitarbeitet, was den inhaltlichen wie auch den persönlichen Kontakt fördert und stark unterstützt. Gesprächsführung und methodische Interventionen für die Begleitung von Kinder-/Jugendtrauer auf der Grundlage von Trauermodellen, Traueraufgaben und systemischen Aspekten Neben den erkenntnisreichen Selbsterfahrungsanteilen, dem Erlernen und Einüben der praktischen Tätigkeit sind natürlich die theoretischen Hintergründe und das Wissen um fundierte Forschungen auf dem Gebiet der Trauerbegleitung von Kindern und Jugendlichen von besonderer Wichtigkeit. Da wir in der Kindertrauerbegleitung nicht nur mit dem Kind oder dem Jugendlichen arbeiten, sondern auch mit seinem näheren Umfeld, sprich mit seiner Familie und anderen wichtigen Bezugssystemen, wie zum Beispiel Schule oder Kindergarten, ist das Wissen um systemische Zusammenhänge und die Auswirkungen gelebter Normen und Regeln von besonderer Bedeutung für die Arbeit. Zudem soll die Teilnehmerin lernen, wie ein Erstgespräch mit den betroffenen Personen und mit den Kostenträgern zu gestalten ist. Eine klare Auftragsklärung ist für einen reibungslosen Ablauf der Trauerbegleitung von großem Vorteil. Genauso wichtig für einen gelungenen Trauerprozess ist die Gestaltung des Abschieds, da das Ende der Begleitung für das Kind wie auch für die zu begleitende Familie ein weiterer zu verarbeitender Verlust (der Bezugsperson: Trauerbegleiterin) bedeutet.

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Detlef Bongartz

Transfer des eigenen Erlebens und der erlernten Theorien in die Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien Es verlangt von den Teilnehmerinnen der Qualifizierung eine intensive innere Arbeit, um über die Sensibilisierung eigener Verhaltens- und Denkmuster zu einer Akzeptanz des Gewesenen in ihren eigenen Leben zu kommen. Dies ist eine wesentliche Voraussetzung, um sich der Welt des Kindes frei und unvoreingenommen zu öffnen. Eigene verdrängte, nicht wahrgenommene Verletzungen aus der Kindheit können die Begegnung und das Verstehen des zu begleitenden Kindes enorm beeinträchtigen, insbesondere, wenn das Kind ähnliche emotionale Verletzungen erfahren hat, die in der Begleiterin Rückerinnerungen auslösen und sich auf diese Weise bedrohlich anfühlen. Gefühle dürfen nicht abgespalten oder ignoriert werden, da sie sonst psychosomatische Erkrankungen hervorrufen können. Befähigung zur Begleitung in Einzel- und Gruppenprozessen Das Wissen um gruppendynamische Prozesse in den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsstufen der Kinder und Jugendlichen ist für die Gestaltung und Durchführung von Trauergruppen notwendig und von daher auch ein wichtiger Bestandteil der Qualifizierung. Zudem ist es ein weiteres wesentliches Anliegen, dass eine Trauerbegleiterin abzuschätzen lernt, für welches Kind eine Einzelbegleitung und für welches eine Gruppe sinnvoll erscheint. Rituale: Theoretische Aspekte zur Bedeutung und Wirkung von Ritualarbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien Die kindliche Sprache besteht aus Gefühlsbildern und symbolischen Handlungen. Diese zu verstehen und zu erlernen, ist ein Ansinnen der Qualifizierungseinheit »Rituale« der Großen Basisqualifizierung in der Kindertrauerbegleitung. Es geht hierbei um das Verstehen der Bedeutung und der Wirkung von Ritualen auf die kindliche Erlebenswelt sowie um das Erlernen der Vorbereitung, der Durchführung und der Nachbereitung eines Rituals. Gerade auch für trauernde Kinder, deren Lebensmitte ins Wanken geraten ist, bedarf es orientierungs- und sicherheitsgebender Rituale, die sie stärken, die Vertrauen und Selbstbewusstsein schaffen. Krisenintervention Beim Thema »Krisenintervention« geht es der Großen Basisqualifizierung um die Fähigkeit, auf massive Veränderungen von Lebensumständen der Kinder und Jugendlichen deeskalierend zu reagieren. Dabei gilt es zu bedenken: Ein Wissen um mögliche Ressourcen der zu begleiten-

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den Person und die Erkennung von Lösungsmöglichkeiten dienen der Stärkung und Orientierung innerhalb einer Krise und sind ein wesentlicher Fokus jeder Intervention vonseiten einer Trauerbegleiterin. Systemische Wirkung von Trauer Durch die Möglichkeit, ihre Herkunftsfamilie unter dem Blickwinkel verschiedener Methoden, wie zum Beispiel die Genogrammarbeit, Skulpturarbeit oder das Familienstellen, genauer anzuschauen, lernt die Teilnehmerin systemische Zusammenhänge und deren Auswirkungen in Familien zu verstehen. Das ermöglicht ihr, ihr diesbezügliches Wissen auch in den Kontext der Trauerbegleitung des Kindes zu integrieren. Unbewusste Verhaltens- und Beziehungsmuster, Familiengeheimnisse und deren Auswirkungen werden auf diese Weise deutlich. Die Teilnehmerin erlernt einen klaren wie auch wertschätzenden Umgang mit der Familie und erkennt Grenzen und Möglichkeiten der Begleitung innerhalb des Systems. Berücksichtigung neuer Entwicklungen in der Trauerforschung Um die Qualität der Ausbildung kontinuierlich zu gewährleisten, ist es für den Bundesverband Trauerbegleitung e. V. ebenso wie für jede Ausbilderin oder jedes Ausbildungsinstitut selbstverständlich, das eigene Qualifizierungskonzept dem neuesten Stand der Trauerforschung anzugleichen, neueste Erkenntnisse und Entwicklungen zu integrieren. Ziel ist hierbei, sowohl im Rahmen der Großen Basisqualifizierung kontinuierlich aktuelle Forschungsergebnisse zu berücksichtigen als auch den Teilnehmerinnen zu vermitteln, wie wichtig es ist, sich in der Trauerbegleitung im Hinblick auf den Forschungsstand immer auf dem Laufenden zu halten. Erschwerte Trauer und spezifische Themen wie zum Beispiel Suizid, plötzlicher Kindstod Die Teilnehmerinnen erlangen umfangreiches Wissen und stärkende Fähigkeiten im Umgang mit der normalen Trauer von Kindern und Jugendlichen. Da erfahrungsgemäß professionelle Trauerbegleitung für Kinder und Jugendliche gerade auch in Situationen schwerwiegender Verlusterlebnisse angefragt wird, ist es wichtig, dass der Umgang mit dem Thema »erschwerte Trauer« im Ausbildungskontext gelehrt und in Rollenspielen intensiv geübt wird. Bedeutung des Sicheren Ortes In der Qualifizierung gehen wir auf den aus der Traumatherapie bekannten Sicheren Ort in der Trauerarbeit als einen guten Ort für den Verstorbenen ein. Hierbei geht es um das Verstehen der Bindung zum Verstorbenen, des Wunsches, in Verbindung zu

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bleiben, als eine heilsame Ressource auf dem Weg, in sich einen sicheren Platz für den Verstorbenen zu finden, ihn quasi in diesen Ort frei zu lassen, ohne ihn zu verlieren. Für Kinder ist es ein hilfreiches wie auch vertrauensvolles Bild, dem Verstorbenen einen guten Platz zu geben. Kinder füllen diesen Ort mit eigenen Gefühlen und inneren Bilder, so dass sie wissen, dass dort, wo jetzt die verstorbene Oma ist, ein sicherer und guter Ort ist, wo es der Oma auch richtig gut geht. Vertiefung methodischer Ansätze Der Prozess des Lernens ist ein stetiger, die Auseinandersetzung mit eigenen Gefühlen und Gedanken, mit noch wirksamen Verhaltens- und Handlungsmustern bleibt eine lebenslange, durchaus lohnende Lebenshaltung, die für Klarheit und Zufriedenheit sorgen kann. Warum dies an dieser Stelle und im Rahmen der Großen Basisqualifizierung betont wird, liegt an der Erkenntnis, dass wir in der Kindertrauerbegleitung Methoden und Rituale kennen lernen und erlernen, mit denen wir einen tiefen Zugang zu der Gefühlswelt des Kindes, aber auch zu unserer Gefühlswelt erhalten. Die eigentliche Methode, um Vertrauen und Beziehung zu gestalten, um mit dem Kind seine eigene Ausdrucksform zu erarbeiten, das bin ich selber. Meine Selbsterkenntnis, meine Selbstwahrnehmung, mein Menschen- und Weltbild und die Bereitschaft eines offenen und guten Umgangs mit all meinen Eigenschaften, Fähigkeiten, meinem Wissen, meinen Urteilen und auch den blinden Flecken, ist für ein zufriedenes, authentisches, glückliches Leben die Voraussetzung. Je mehr eigene Anteile meines Lebens mir selber bewusst sind, desto leichter fällt es mir, offen und ehrlich, authentisch zu leben und frei in die Begegnung mit Lebewesen zu gehen. Auf dieser Ebene bewegen sich Kinder in der Regel schon, so dass nun im Transfer des oben angeführten Gedankens einer lebenslangen Auseinandersetzung mit eigenen Gefühlen, eines stetigen Lernprozesses die Teilnehmerinnen die Methode »Ich« (ohne das eigene Ego eigennützig ausleben zu müssen) um immer weitere Erfahrungen und Erkenntnisse vertiefen müssen, wenn sie Kinder in deren natürlichen und auch magischen Welt verstehen wollen. Natürlich werden die methodischen Ansätze des Malens, des Spielens, kreativer Medien, Geschichten und Märchen, von Bewegung und Entspannung über den Körper vertieft, aber immer wieder auch im Hinblick auf das eigene Erleben.

Weitere Aspekte, die bei der Entwicklung der Standards in der Trauerbegleitung erarbeitet wurden Nach der curricularen Darstellung der Themen und Inhalte der Qualifizierung in der Kindertrauerbegleitung möchte ich abschließend noch in übersichtlicher Form die methodischen Arbeitsformen, die Qualifikation und die Arbeitsformen der Referen-

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tinnen, die Prozessbegleitung der Qualifizierung, den Abschluss sowie Gedanken zur Zertifizierung und Evaluation auflisten, wie sie ebenfalls auf der Homepage des BVT als Qualitätsstandards für Kindertrauerbegleitung (2013) zu finden sind. Methodische Arbeitsformen: •• kreative Methoden, •• Praxistransfer, zum Beispiel Fallbesprechung, Rollenspiel, Simulation, •• Selbsterfahrung, •• Selbstreflexion, zum Beispiel Feedback, •• Supervision, ȤȤ verpflichtend während der Qualifizierung, ȤȤ empfohlen nach der Qualifizierung, •• Wissensvermittlung, zum Beispiel Vorträge, Kleingruppenarbeit, Eigenstudium und Präsentation, Besprechung von Lehrfilmen, Literaturstudium. Qualifikation und Arbeitsformen der Referentinnen: •• akademische Ausbildung, •• didaktische Qualifikation, •• Praxiserfahrung in der Trauerbegleitung, •• therapeutische Zusatzqualifikation, •• fachspezifische Grundausbildung plus ergänzende Zusatzqualifikationen, die zur Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Familien befähigen, •• systemische Qualifikation. Diese Qualifikationen müssen im Team vorhanden und abrufbar sein, werden aber nicht von jedem Teammitglied im Gesamten erwartet. Was die Prozessbegleitung der Fortbildung betrifft, gilt Folgendes: •• eine Leitungsperson gewährleistet eine kontinuierliche Prozessbegleitung, •• ein Rückgriff auf therapeutisch qualifizierte Teammitglieder ist jederzeit gewährleistet. Abschluss: Zum Abschluss der Großen Basisqualifizierung weisen die Teilnehmerinnen ihre erworbenen Kompetenzen zum reflexiven Transfer theoretischen Wissens in die Praxis nach. •• Die große Basisqualifizierung wird mit einer schriftlichen Arbeit und deren Präsentation abgeschlossen. •• Auf die jeweilige erbrachte Leistung erfolgt eine Rückmeldung.

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Detlef Bongartz

Zertifikat: Nach einer aktiven und regelmäßigen Teilnahme an der Großen Basisqualifizierung wird ein Zertifikat ausgestellt. Das Zertifikat dokumentiert die Qualifizierung in Trauerbegleitung für Kinder, Jugendliche und Familien und in ihm werden die Inhalte und der Umfang des Kurses aufgeführt. Über die Vergabe der Zertifikate entscheidet der Träger der Bildungsmaßnahme. Evaluation: Die Große Qualifizierung in der Kindertrauerbegleitung wird gemäß gängiger wissenschaftlicher Kriterien evaluiert.

Abschließende Merksätze Zum Abschluss meines Beitrages fassen die folgenden Merksätze wichtige Erkenntnisse zusammen, die sich im Hinblick auf die Befähigung professionell tätiger Menschen für die Kindertrauerbegleitung aus der Erarbeitung der Qualitätsstandards des BTV ergeben haben: •• Um Kinder, Jugendliche und das Bezugssystem professionell, verantwortungsbewusst, unvoreingenommen und heilsam durch ihre Trauer zu begleiten, ist eine qualitativ hochwertige Qualifizierung der Begleiterin notwendig. •• Praktische Erfahrungen in der Kindertrauerbegleitung, Weiterbildungen in diesem Bereich und Supervision werden die anspruchsvolle Arbeit der Begleiterin kontinuierlich verbessern und weiterentwickeln. •• Gut ausgebildete Trauerbegleiterinnen zeigen durch die Qualität ihrer Arbeit, wie wirksam und erfolgreich die Präventionsmaßnahme Trauerbegleitung ist. •• Der offene, ehrliche und annehmende Umgang mit den eigenen Gefühlen ist die Arbeitsgrundlage jeder Trauerbegleitung. – Wie sollte auch sonst eine Trauerbegleiterin so emotionale und vulnerable Wesen, wie es die Kinder in dieser Grenzerfahrung sind, verstehen und authentisch begleiten? Wie könnte ihr das möglich sein, wenn sie eigene Gefühle abspaltet und zu Vermeidungsstrategien neigt? •• Die Selbsterfahrung ist ein wesentlicher Bestandteil der Qualifizierung. Sein eigenes Leben in Klarheit, Wertschätzung und Zufriedenheit zu gestalten, beschreibt die eigentliche Methode der Trauerbegleitung, nämlich sich selber als Werkzeug der Begegnung und Begleitung anzubieten. •• Ein nicht bewertendes und festhaltendes Menschenbild ist ebenfalls Grundlage der Trauerbegleitung. •• Der Bundesverband Trauerbegleitung e. V. gewährleistet die Qualität der Angebote seiner Mitglieder.

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Literatur Bundesverband Trauerbegleitung e. V. (o. J.). Homepage. Zugriff am 28. 03. 2014 unter http://www. bv-trauerbegleitung.de Bundesverband Trauerbegleitung e. V. (o. J.). Wissensinhalte und Themen. Zugriff am 28. 03. 2014 unter http://www.bv-trauerbegleitung.de/Qualitaetsstandards/Kinder/Wissensinhalte-und-Themen Bundesverband Trauerbegleitung e. V. (2013). Qualitätsstandards für Kindertrauerbegleitung, Stand vom 19. Februar 2013. Zugriff am 19. 03. 2014 unter http://www.bv-trauerbegleitung.de/Quali­ taetsstandards/Kinder

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Nicole Nolden und Annette Wagner

Fundraising zur Finanzierung von Kindertrauerbegleitung

Vorstellung zweier Trauervereine Die finanzielle Unterstützung für die Trauerbegleitung von jungen Menschen aus öffentlichen Mitteln ist zurzeit noch sehr begrenzt und wird nur in Einzelfällen bezuschusst. Um Kindertrauerbegleitung langfristig und nachhaltig zu finanzieren, kommt daher dem Fundraising eine große Bedeutung zu. Die unterschiedlichen Möglichkeiten und Wege im Fundraising werden im Folgenden am Beispiel zweier Vereine dargestellt, die in diesem Bereich erfolgreich tätig sind. Der Verein TrauBe Köln e. V. (»Trauerbegleitung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene«, http://traube-koeln.de/) wurde am 1. 9. 2011 auf Initiative von Domino e. V. (Zentrum für trauernde Kinder) und dem Deutschen Kinderhospizverein e. V. gegründet. Nach Abschluss organisatorischer Vorarbeiten begann der Verein am 1. 1. 2012 seine pädagogische Arbeit mit zwei Kindertrauergruppen. Im ersten Jahr der Tätigkeit wurden hundert betroffene Menschen begleitet, im laufenden Jahre 2013 sind es bereits 190 Personen. Angeboten wird die Arbeit zurzeit in insgesamt acht Trauergruppen (auch mit Pferden) für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Hinzu kommen Trauerbegleitungen einzelner Personen und Beratungen, Projekttage sowie Fortbildungen in Schulen und Kitas. Der Verein besteht aus 45 Mitgliedern, darunter drei Vorstände, eine pädagogische Leiterin und deren Stellvertreterin. Circa vierzig ehrenamtliche Mitarbeiter und elf Honorarkräfte mit einer Trauerausbildung nach BVT-Richtlinien (siehe hierzu den vorangegangenen Beitrag von Detlef Bongartz) garantieren für qualitativ hochwertige Arbeit mit trauernden jungen Menschen. Wenn ein Verein gegründet wird, bemüht man sich in der Regel vorher, die erforderlichen finanziellen Mittel zu beschaffen, zum Beispiel zur Gewinnung einer Grundausstattung oder um Arbeitsräume anzumieten. Beim Verein TrauBe lief die Entwicklung, ähnlich wie in der Hospizbewegung, umgekehrt. Etwa zwanzig Personen waren von der Notwendigkeit überzeugt, trauernden jungen Menschen in Köln zu helfen, und wollten handeln, auch ohne finanzielle Absicherung – ehrenamtlich. Gerade diese Entschlossenheit hat die Spender sehr bewegt und ihre Bereitschaft zu helfen um ein Vielfaches erhöht. Bereits am 1. 4. 2013 war es möglich, dank großzügiger Spenden eigene Räume im Herzen von Köln anzumieten und sie den Bedürfnissen trauernder junger Menschen entsprechend auszustatten.

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Fundraising zur Finanzierung von Kindertrauerbegleitung

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Der Verein für Trauerarbeit Hattingen e. V. wurde im Mai 1999 gegründet (seit 2010 führt der Verein aus überregionalen Gründen außerdem den Namen »traurigmutig-stark«). Er ist ein selbstständiger Verein im Evangelischen Kirchenkreis Hattingen-Witten und hat zurzeit sechzig Mitglieder. Seit Mai 2007 ist der Verein mit einer Zweigstelle auch in Wuppertal aktiv. Im Oktober 2012 konnte in Witten der Verein traurig-mutig-stark (www.traurig-mutig-stark.de) als drittes Zentrum für Trauerarbeit eröffnet werden, und zwar in einer Wohnung, die für Kinder- und Jugendtrauerarbeit umgebaut wurde. Mit den drei Trauerzentren in Hattingen-Welper, Wuppertal und Witten bietet der Verein seit nunmehr 14 Jahren jeweils eigene Gesprächsgruppen für verwaiste Eltern, für jünger Verwitwete, für Kinder und für Jugendliche an. Darüber hinaus sind Einzelgespräche oder der Besuch eines der beiden Trauercafés möglich. In der aktiven Trauerarbeit engagieren sich die Geschäftsführerin, die als Supervisorin und Lehrsupervisorin (DGfP) ausgebildet und Mitglied im Bundesverband Trauerbegleitung ist, und vier Trauerbegleiterinnen. Diese haben alle eine mindestens zwölfwöchige pastoralpsychologische Weiterbildung und damit eine Grundausbildung in Seelsorge nach den Standards der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie absolviert. Hinzu kommen fünf ehrenamtliche Trauerbegleiterinnen mit ähnlichem, ebenfalls hohem Ausbildungsstand. Seit Beginn der Trauerbegleitung des Vereins im Jahre 1999 bis heute konnten jährlich in der Regel zwei Gruppen verwaiste Eltern, seit 2000 jährlich zwei bis drei Gruppen jüngere Verwitwete sowie seit 2003 jährlich drei bis vier Gruppen an Kindern oder Jugendlichen begleitet werden. Der siebenköpfige Vorstand besteht aus einem Vorsitzenden, seiner Stellvertreterin, der Geschäftsführung, der Schatzmeisterin und drei Beisitzer/-innen. Alle arbeiten ehrenamtlich. Bei der Geschäftsführung gibt es eine gewollte inhaltliche Überschneidung mit dienstlichen Aufgaben (Trauerarbeit als Bestandteil der Pfarrstelle für Seelsorge, Beratung und Supervision im Evangelischen Kirchenkreis Hattingen-Witten).

Kurzer theoretischer Hintergrund »Fundraising ist die systematische Analyse, Planung, Durchführung und Kontrolle sämtlicher Aktivitäten einer steuerbegünstigten Organisation, welche darauf abzielen, alle benötigten Ressourcen (Geld-, Sach- und Dienstleistungen) durch eine konsequente Ausrichtung an den Bedürfnissen der Ressourcenbereitsteller (Privatpersonen, Unternehmen, Stiftungen, öffentliche Institutionen) zu möglichst geringen Kosten zu beschaffen« (Urselmann, 2014). Dieser komplexe Prozess, wird im Folgenden kurz beschrieben.

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Nicole Nolden und Annette Wagner

Analyse: Wer kommt als Spender in Betracht Zunächst einmal muss geklärt werden, wer als Spender in Betracht kommt. Dies können zum Beispiel Einzelpersonen, Stiftungen, Unternehmen oder andere Organisationen sein (Ott u. Dicke, 2012). Menschen, die spenden und ehrenamtlich unterstützen, haben den Wunsch nach einer besseren Gegenwart und Zukunft, einer menschenwürdigen und solidarischen Gesellschaft (siehe Deutscher Fundraising Verband1). Schätzungen zufolge sind mehr als 75 Prozent der Spender von dem Thema in irgendeiner Weise persönlich betroffen (Mintzer u. Freidman, 2003) und spenden aufgrund eines persönlichen Kontaktes (Ott u. Dicke, 2012). Erhebungen der Gesellschaft für Konsumforschung haben ergeben, dass der adressierte Spendenbrief und das Face-to-Face-Fundraising, zum Beispiel im Rahmen eines Tür-zur-Tür-Fundraisings oder einer Standwerbung, zurzeit zu den erfolgreichsten Maßnahmen bei der Neugewinnung von Fördermitgliedern und Spendern zählen. Auch Berichte und Spendenaufrufe über Massenmedien wie Fernsehen und Radio haben sich bewährt. Bisher sorgte das Internet für eher geringe Einnahmen. Dennoch wird die Nutzung des Internets langfristig zum zentralen Fundraising-Instrument (Urselmann, 2007). Planung des Fundraisings Die Planung des Fundraisings sollte zeitgleich mit dem Planungsprozess der Organisation erfolgen und die Handlungsschritte sollten aufeinander abgestimmt sein. Aus den allgemeinen und besonderen Organisationszielen wird abgeleitet, wie viel finanzielle Mittel bis wann für was benötigt werden (Ott u. Dicke, 2012). Es ist ratsam, Transparenz und ethische Standards im Fundraising sowie strategische Fundraising-Ziele explizit zu formulieren und in Form von messbaren und überprüfbaren Werten zu operationalisieren. Bei diesem Prozess sollten alle Mitarbeiter zur besseren Identifizierung miteinbezogen werden und es sollte schriftlich festgehalten werden, mit welchen Maßnahmen, welche Ziele erreicht werden sollen. Nicht der schnelle Erfolg ist wichtig, sondern die langfristige und nachhaltige Finanzierungssicherung. Beachten sollte man, dass mit Überschüssen aus Fundraising-Maßnahmen erst nach einer dreijährigen Vorlaufzeit zu rechnen ist (Urselmann, 2007). Pflege der Kontakte zu den Spendern Urselmann (2007) empfiehlt: »Versuchen Sie, in der Bevölkerung Ihre Interessenten zu identifizieren und diese durch Relationship-Fundraising schrittweise zu Erst-, Mehrfach-, Dauer-, Groß- und Testamentspendern zugunsten ihrer Organisation zu machen (Upgrading)«. 1 Die wichtigsten Informationen zum Fundraising finden sich auf der Homepage des Deutschen Fundraising Verbandes (www.fundraisingverband.de) unter dem Stichwort »Häufige Fragen«.

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Fundraising zur Finanzierung von Kindertrauerbegleitung

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Spendern sollte Aufmerksamkeit und Zeit entgegengebracht werden. Sie können gepflegt werden, zum Beispiel durch persönlichen Kontakt, Direktanschreiben, Newsletter oder Einladungen zu besonderen Veranstaltungen. Wichtig ist eine Berichterstattung, wofür Spenden verwendet werden, beispielsweise durch Presseveröffentlichungen oder Videobeiträge. Spender sollten wissen, wie sehr sie zu dem Vereinserfolg beigetragen haben (Ott u. Dicke, 2012). Es ist ratsam, zu jedem Spender eine möglichst individuelle, langfristige Beziehung aufzubauen und sich nicht vor einer Kontaktaufnahme zu Großspendern zu scheuen. Man sollte ihnen gut zuhören und herausfinden, was ihnen wichtig ist. Für eine emotionale Ansprache ist es hilfreich, Betroffene selbst berichten zu lassen oder Zitate von ihnen zu verwenden. Eine immaterielle Gegenleistung für Spender kann zum Beispiel über eine Namensgebung für Räume, über Fördertitel oder über die Nennung auf der Vereinshomepage erreicht werden. Es ist wichtig, dass sich eine Person ausschließlich um Spender kümmert und man möglichst viele Ehrenamtliche im Verein ausfindig macht, die Kontakt zu wohlhabenden gesellschaftlichen Kreisen haben (Urselmann, 2007). Verwaltung: Dokumentation und Verwendung der Spendeneingänge Bei der Durchführung aller Aktivitäten sollte die Organisation immer darauf bedacht sein, zu verdeutlichen, dass sie es wert ist, eine langfristige, menschenfreundliche Unterstützung zu erhalten. Vertrauen zu den Spendern kann durch genaue Dokumentation aller Spendeneingänge und auch der Danksagung aufgebaut werden, durch die Ehrung für Spendenvorhaben, durch umsichtige Investition von Spenden und die effektive und effiziente Verwendung von finanziellen Mitteln, um die Mission des Vereins voranzutreiben. Es ist wichtig, immer in dem Bewusstsein zu handeln, dass man das Geld von anderen Menschen anvertraut bekommen hat. Diese Menschen leisten oftmals nicht nur eine finanzielle Unterstützung, sondern stellen ebenfalls ihr persönliches Talent, ihren guten Ruf und ihre wertvolle Zeit zur Verfügung (Ott u. Dicke, 2012). Ideal ist es, bekannte und einflussreiche Menschen als Paten oder Schirmherren zu gewinnen. Kontrolle: Auswertung der Fundraising-Ziele Vorher festgelegte Fundraising-Ziele sollten regelmäßig ausgewertet und bewertet werden (Ott u. Dicke, 2012): Wurden die Ziele erreicht? Was wurde beendet und was nicht? Wurde das Geld so verwendet wie geplant?

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Nicole Nolden und Annette Wagner

Erfahrungen und praxisrelevante Hinweise Die Erfahrungen beider Vereine zeigen, dass persönliche Kontakte und zwischenmenschliche Beziehungen die erfolgreichsten Wege sind, um Spenden zu erhalten. Spenden kamen bisher von Privatpersonen (zum Beispiel als Geld- oder Sachspenden anlässlich von Geburtstagen) sowie von Organisationen wie Rotary, Inner Wheel und Lions. Es spendeten Stiftungen, Firmen und Dienstleistungsunternehmen (Versicherungen, Banken und Sparkassen). Auch wurden Beträge aus Geldauflagen der Finanzverwaltung oder als Ergebnis von Bußgeldverfahren vor Gericht zur Verfügung gestellt. Es hat sich gezeigt, dass es sinnvoll ist, »Spendenpakete« zu schnüren. Hier bietet sich an, umzurechnen, welche Kosten eine Kindertrauergruppe oder die Begleitung eines Gruppenkindes pro Jahr verursacht, bezogen auf anteilige Miete, Honorarkosten, Verpflegung, Material usw., und die Kosten dieser Gruppe oder dieses Kindes als Paket spenden zu lassen. Es kann um Mietpatenschaften gebeten werden (zum Beispiel »Die Miete für diesen Tobe-Raum wird finanziert durch die Firma …«) oder man bittet um Spenden für die Ausstattung einzelner Räume (zum Beispiel für einen Fußball-Kicker oder für eine Kücheneinrichtung). Auch Veranstaltungen in den Vereinsräumen können zu Spendenaufrufen genutzt werden (zum Beispiel Sommerfest, Weihnachtsfeier, Gedenkfeier, Lesungen und Theater- oder Filmabende). Der Verein TrauBe konnte eine sehr erfolgreiche Methode der Bethe-Stiftung umsetzen. Diese hatte sich bereit erklärt, alle eingehenden Spenden eines bestimmten Zeitraums bis zu einer Obergrenze zu verdoppeln. Hierzu eignet sich die Durchführung einer eigenen Spendenkampagne, denn die Erfahrung zeigt, dass die Spendenbereitschaft durch eine solche Verdoppelungsaktion wesentlich höher ist. Einige Großspender oder Stiftungen suchen nach ganz neuen Projekten, die sie gemeinsam verwirklichen und auf ihrer Homepage präsentieren können. Bei diesen oft attraktiven finanziellen Möglichkeiten ist es jedoch wichtig, darauf zu achten, dass man gerade in der Aufbauphase die Angebote sichert, die bereits umgesetzt sind, und nicht unbedingt noch zusätzliche, neue Aktionen – so schön sie auch klingen – durchführt. Es ist wichtig, nicht zu schnell zu wachsen und die Kontrolle zu behalten. Die Anschaffung eines Verzeichnisses deutscher Stiftungen, um passende Institutionen herauszusuchen und anzuschreiben, erwies sich als mühsam und zu Beginn weniger effektiv als die persönlichen Kontakte einzelner Mitglieder und Mitarbeiter zu Firmen, Stiftungen und Privatpersonen. Ein wichtiger erster Schritt war es jedoch für den Verein TrauBe, Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband zu werden, um ein Qualitätssiegel vorweisen zu können. Auch ist es lohnend, in großen Unternehmen Mitarbeiter des Bereichs »Unternehmerische Gesellschaftsverantwortung« bzw. »Corporate Social Responsibility« anzusprechen, die meist in der Unternehmenskommunikation angesiedelt sind. Dort gibt es nicht nur Chancen für Geldspenden, sondern Weihnachtsgratifikationen oder Zuwendungen aufgrund von Firmenjubiläen können auf Wunsch in Spenden umgewandelt werden. Manche Unternehmen stellen sogar ihre Mitarbeiter für einzelne

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Fundraising zur Finanzierung von Kindertrauerbegleitung

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Tage von der Arbeit in der Firma frei, damit diese sich sozial engagieren können, zum Beispiel Räume anstreichen, Holzmöbel oder Spielgeräte bauen usw. Auch Freiwilligenagenturen können hierbei gute Partner für Vereine sein, weil sie die Vermittlertätigkeit zu den Unternehmen übernehmen. Ein großer Vorteil ist es, wenn der Verein eine konstante, jährlich wiederkehrende Einnahmequelle zu seiner Sicherung findet oder schafft (zum Beispiel der jährliche Auftritt von prominenten Künstlern innerhalb einer Veranstaltung, die auf ihre Gage zugunsten einer Spende an den Trauerverein verzichten). Wichtig ist die Pflege der Förderer mit dem Ziel, aus Einmalspenden regelmäßige Spenden zu machen. Sie erhalten einen persönlichen Dankesbrief des Vorstandes und werden auf der Vereinswebsite genannt. Bei größeren Spenden werden ein Artikel und ein Foto auf die Seite »Aktuelles« gestellt. Beim Verein traurig-mutig-stark hat es sich als sinnvoll erwiesen, in regelmäßigen Abständen mit kleinen und großen Aktionen auf die Trauerarbeit mit Kindern und Jungendlichen aufmerksam zu machen. So wurde die Ausstellung »Tote essen auch Nutella« des Stadtmuseums Münster vom 2. März bis 4. April 2004 für mehrere Wochen in den Räumen des Vereins durchgeführt. In Flyern, Presse und Fernsehen wurde darüber berichtet. Viele Schulklassen, Konfirmationsgruppen, Seniorenkreise, Pädagogen und Erzieher besuchten dadurch die Räume des Vereins, konnten hören und sehen und sich vor allem informieren. Auch die Aktion »Kleine traurige Kinder werden mutig, stark und groß«, die in der Innenstadt auf dem Marktplatz von Witten stattfand, erhielt viel Aufmerksamkeit mit Berichten in Presse und Lokalfernsehen. Bei dieser Aktion liefen zwei Kinder aus der Kindertrauergruppe auf 80 cm hohen Gehstelzen. Sie trugen besonders lange Hosen, so dass die Gehstelzen in den Hosenbeinen verschwanden. Außerdem hatte jedes Kind einen großen, mit Helium gefüllten Ballon an einem Band. Die beiden Kinder wirkten nun sehr groß, fielen auf dem Marktplatz auf und sorgten auf anregende Art und Weise für Aufsehen. Eine solche Veranstaltung erfordert natürlich eine sorgfältige Vorbereitung und gute Pressearbeit. Für eine bessere Planungssicherheit sorgt seit 2012 ein gesonderter Spendenflyer. Er wirbt für eine Fördermitgliedschaft, bei der die Spender/-innen sich für einen Zeitraum von fünf Jahren bereit erklären, jährlich eine zuvor festgelegte Summe (zum Beispiel 50 oder 100 Euro) zu spenden. Im Flyer wird deutlich gemacht, dass, wenn sich 120 Menschen und Förderer finden, die für die nächsten fünf Jahre einmal jährlich 100 Euro spenden, die Miete und weitere Kosten für die Trauerarbeit im Zentrum für Kinderund Jugendtrauerarbeit in Witten für diesen Zeitraum gedeckt ist. Förderer können sowohl Privatpersonen als auch Kirchengemeinden, Vereine oder auch Schulen sein. Der Verein für Trauerarbeit Hattingen e. V. hatte seit Beginn der Kinder- und Jugendtrauerarbeit gute Erfolge, Spenden bei Stiftungen zu akquirieren. Dies ist in den letzten Jahren schwieriger geworden. Stiftungen legen oft Wert darauf, vorwiegend brandneue Projekte zu fördern. Außerdem wird nachgefragt, wie die Arbeit nach dem Förderzeitraum aus eigenen Mitteln fortgesetzt werden kann. In den letzten Jahren

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Nicole Nolden und Annette Wagner

kam erschwerend hinzu, dass viele Stiftungen sich an bestimmte Projekte langfristig binden und damit ihre eigene Themen- und Projektvielfalt begrenzen. Im letzten Jahr wurde der Verein dennoch durch Aktion Lichtblicke e. V. unterstützt. Zurzeit läuft eine Projektförderung durch Aktion Mensch e. V., die vorher ein sehr genaues Prüfverfahren durchführte. Ein bis zwei Kulturveranstaltungen pro Jahr gehören seit Gründung des Vereins zum festen Angebot. Die Menschen lernen so die Arbeit und die Räumlichkeiten des Vereins kennen, ohne dass sie gleich an einer Gesprächsgruppe teilnehmen müssen. Die Themen Tod, Sterben oder Trauer durch ein Theaterstück, eine Lesung oder durch einen musikalischen Abend in die Öffentlichkeit zu bringen, ist eine gute Möglichkeit, auf diesem Wege auf die positiven Ergebnisse der Trauerarbeit hinzuweisen.

Bezugnahme auf die Erfahrungen der zwei Vereine Nach unseren Erfahrungen ist es wichtig, dass die Person, die sich um Spendengelder bemüht, eine leitende Funktion in der Organisation innehat, eng mit dem Thema verbunden ist und aus eigener Praxisarbeit berichten kann, um die Herzen der Menschen zu berühren, Vertrauen zu schaffen und ihre Geldbeutel zu öffnen. Die Form der persönlichen Ansprache ist für den Erfolg der Spendengenerierung mindestens genauso entscheidend wie die Transparenz über die Arbeit und Professionalität ihrer Ausführung. Hilfreiche Eigenschaften eines Mitarbeiters im Fundraising-Bereich sind: Kontaktfreude, gute Vernetzung, kreative Ideen und idealerweise Vorkenntnisse im Bereich Öffentlichkeitsarbeit. Bei der Erstellung eines Antrags bei Aktion Mensch e. V. für eine Starthilfeförderung ist der Paritätische Wohlfahrtsverband sehr hilfreich. Das Ziel der Starthilfe ist der Aufbau neuer, auf Dauer angelegter, ambulanter Angebote, die sich vom bisherigen Leistungsspektrum abgrenzen. Die Förderung konzentriert sich vorrangig auf hauptamtliche Fachkräfte als Leitungs- bzw. Koordinierungskräfte. Hierbei handelt es sich um einen abgestuften Fördersatz für die Dauer von maximal vier Jahren und für maximal 1,5 Personalstellen: im 1. Förderjahr 80 Prozent, im 2. Jahr 70 Prozent, im 3. Jahr 60 Prozent und im 4. Jahr 50 Prozent. Man sollte beachten, dass von der Einreichung bis zur Genehmigung des Antrags ein ganzes Jahr vergehen kann. Dies ist nur ein Beispiel der Förderung durch Aktion Mensch e. V. Man sollte nicht zögern, direkt einen persönlichen Kontakt zu Aktion Mensch herzustellen und sich beraten zu lassen, welche Förderung für den geplanten Verein geeignet, passend und möglich ist. Möglichkeiten der Finanzierung von Aus- und Fortbildungen sollten ebenfalls beim paritätischen Wohlfahrtsverband und bei Aktion Mensch e. V. nachgefragt werden. Um Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erzeugen, den Verein bekannt zu machen und auch ehrenamtliche Mitarbeiter zu gewinnen, erwies es sich als sinnvoll, eine lokale Tageszeitung zu bitten, über ein bestimmtes Projekt zu berichten, das zum

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Fundraising zur Finanzierung von Kindertrauerbegleitung

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Thema Sterben, Tod und Trauer durchgeführt wurde. Gleichzeitig bieten sich andere Medien, wie Radio, Fach- und Firmenzeitschriften an, wie auch die Präsenz auf Straßenfesten, Hospiztagen, am Tag des Ehrenamts oder am Weltkindertag. Diese Öffentlichkeitsarbeit ist ein nicht zu unterschätzender Motor bei der Werbung um Spendengelder. Aufgrund der Neuartigkeit dieser Thematik, des hohen ehrenamtlichen Engagements von Menschen mit viel Herzblut und ihrer Bereitschaft, sich professionell für diese Arbeit ausbilden zu lassen, und wegen des sensiblen Themas Kind und Trauer ist dies ein Bereich, den viele gern unterstützen möchten. Nach einem großen Zeitungsartikel hatten sich Stiftungen von selbst gemeldet und ihre finanzielle Unterstützung angeboten. Hinzu kam, dass man von anderen wohltätigen Vereinen an Stiftungen weiterempfohlen wurde. Es ist also immens wichtig, sich einen guten Ruf in dem betreffenden Bereich aufzubauen. Es gibt Stiftungen, die sich vorab bei anderen Personen Referenzen über die Leitung des Vereins einholen, bevor sie sich für eine Kontaktaufnahme entscheiden. Hier ist ihnen nicht nur die fachliche Kompetenz, sondern vor allem auch die persönliche und soziale Kompetenz wichtig.

Abschließende Merksätze Zum Abschluss fassen folgende Merksätze die wichtigsten Punkte im Hinblick auf das Fundraising zur Finanzierung von Kindertrauerbegleitung noch einmal zusammen: •• Vor allem sollten persönliche Kontakte ausfindig gemacht und genutzt werden. •• Presse ist eine ganz wesentliche Hilfe. Aufmerksamkeitserzeugende Aktionen sollten nach Möglichkeit immer pressewirksam begleitet werden. •• Auf das Argument des potenziellen Spenders vorbereitet sein: »Ich möchte ein neues Projekt fördern, anstatt ihre bisherige Arbeit zu unterstützen.« •• Genau prüfen, mit wem man gemeinsame Werbemaßnahmen und Aktionen durchführt, wie der Ruf und die Arbeitsweise der anderen Organisation oder einzelnen Person ist und wer von wem in welchem Maße von der Zusammenarbeit profitiert. Hier sollte ein Gleichgewicht bestehen, und es sollte zu einer Win-Win-Situation kommen. Keine voreiligen Aktionen ohne vorherige Recherche. •• Ansprechende Präsentationscharts mit vielen persönlichen Beispielen – man sollte aus der täglichen Arbeit kurz, authentisch und voller Herzblut berichten können, aber auch gut auf Fragen zur Finanzierung vorbereitet sein. •• Spender sollten Aufmerksamkeit und nach Möglichkeit regelmäßige Informationen über die Vereinsarbeit erhalten. •• Qualitativ hochwertige Arbeit auch im Ehrenamt sichern. •• Hohe Transparenz bezüglich Strukturen, verantwortlicher Personen und deren Finanzgebaren schafft Vertrauen.

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Nicole Nolden und Annette Wagner

Literatur Association of Fundraising Professionals (AFP) (2003). The AFP fundraising dictionary online. Zugriff am 28. 03. 2014 unter http://www.afpnet.org/files/ContentDocuments/AFP_Dictionary_A-Z_ final_6–9-03.pdf Deutscher Fundraising Verband (2012). Ethik und Transparenz. Charter der Spenderrechte. Zugriff am 29. 07. 2013 unter http://www.fundraisingverband.de/verband/ethische-grundsaetze/chartader-spenderrechte.html Mintzer, R.,. Freidman, S. (2003). The everything fundraising book. Create a strategy, plan events, increase visibility, and raise the money you need. Avon: Adams Media Corporation. Ott, J. S., Dicke, L. A. (2012). Understanding nonprofit organisations. Governance, Leadership, and Management (2. Aufl.). Boulder: Westview Press. Urselmann, M. (2007). Fundraising. Professionelle Mittelbeschaffung für Nonprofit-Organisationen (4. Aufl.). Bern: Haupt. Urselmann, M. (2014). Fundraising. Professionelle Mittelbeschaffung für Nonprofit-Organisationen (6. Aufl.). Wiesbaden: Springer Gabler.

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Detlef Bongartz

Supervision für Trauerbegleiter

Einzelsupervision mit Julia Eine Trauerbegleiterin, Julia, 45 Jahre, kam vor einiger Zeit in meine Praxis und fragte an, ob es möglich sei, sich eine Familie, die sie begleite, supervisorisch genauer anzuschauen. Sie erklärte, dass sie die Trauerbegleitung des Kindes A., neun Jahre, der Familie F. vor kurzer Zeit übernommen habe. Die Oma von A., die Mutter des Vaters, sei plötzlich und unerwartet verstorben. A. habe eine intensive Beziehung zu seiner Oma, zumal er auch über zwei Jahre, aufgrund beruflicher Hintergründe der Eltern, bei der Oma aufgewachsen sei. In der Schule könne sich A. seit dem Tod der Oma nicht mehr konzentrieren, er falle zusehends durch aggressives Verhalten gegenüber seinen Mitschülern auf. Diese Verhaltensweise trage er nun auch ins häusliche Umfeld mit hinein. Er wirke unruhig, in vielen alltäglichen Situationen unzufrieden und lebe unvorhersehbar seine Wutausbrüche aus. Die Trauerbegleiterin, Julia, mochte A. sehr und fand auch einen guten, offenen Zugang zu ihm. Die Beziehungsgestaltung zu A. hatte sich nach Erleben der Trauerbegleiterin Julia vertrauensvoll entwickelt. In den regelmäßig stattfindenden Elterngesprächen spüre sie aber immer wieder eine Abneigung und einen inneren Widerstand dem Vater gegenüber, den sie sich aber nicht erklären könne. In der Supervision wollte Julia nun genau diesen Widerstand, die Abneigung dem Vater gegenüber, für sich selber klären, um die Trauerbegleitung in der Familie klar und gewissenhaft weiterführen zu können. Julia äußerte eine Ahnung, dass die Gefühle ihrer Abneigung mit ihrer eigenen Familiengeschichte zu tun haben könnten, fand aber bisher noch keinen weiteren Zugang zu einem erklärbaren Zusammenhang.

Ich werde später auf den weiteren Verlauf des Fallbeispiels eingehen und die Bedeutung supervisorischer Arbeit im Kontext der Trauerbegleitung erläutern. Zuvor möchte ich an dieser Stelle auf theoretische Hintergründe der Supervision eingehen, um dem Leser einen umfangreichen Einblick in die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Beratungsinstanz Supervision zu gewähren.

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Detlef Bongartz

Theoretischer Überblick und praxisrelevante Hinweise »Supervision ist eine Beratungsmethode, die zur Sicherung und Verbesserung der Qualität beruflicher Arbeit eingesetzt wird. Supervision bezieht sich dabei auf psychische, soziale und institutionelle Faktoren. Supervision unterstützt den professionellen Umgang mit Menschen im beruflichen Kontext, dient der emotionalen Entlastung, ermöglicht neue Sichtweisen bei scheinbar unlösbaren Problemen, dient der Verbesserung der Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit von Einzelpersonen, Teams oder Gruppen« (Fellermann u. Weigand, 1996, S. 11). Da Supervision keine geschützte Berufsbezeichnung ist, sich in Folge dessen jeder Mensch Supervisor nennen darf, hat sich im Jahre 1989 die Deutsche Gesellschaft für Supervision e. V. (DGSv) in Deutschland gegründet. Eine ihrer Zielsetzungen besteht darin, Supervision als eigenständige Profession zu etablieren und die Qualität der Supervision sowohl im Ausbildungskontext wie auch in der praktischen Tätigkeit durch entwickelte Standards zu gewährleisten (zit. nach Fellermann u. Weigand, 1996, S. 7). In meiner Ausbildung zum Supervisor, die nun über dreizehn Jahre her ist, war es mir wichtig, mich mit meinen Verhaltensweisen, meinem Denken und meiner Haltung, meinem Menschen- und Weltbild, meinen Werten und Deutungsmustern, die zu verschiedenen, manchmal unbewussten, unreflektierten Verhaltensweisen führten, wahrzunehmen, zu verstehen und an den Stellen zu verändern, die ich für mich als selbsttäuschend und lebenshindernd erlebte. Über die sich immer differenzierter entwickelte Selbstwahrnehmung und die daraus gewonnenen Erkenntnisse konnte ich auch meine berufliche Rolle klarer definieren und verstehen, wie ich mich zum Beispiel in unterschiedlichen Systemen (Arbeitsumfeld, Institution, gesellschaftliche Gruppen, Familie, Freundeskreis) verhalte und wie ich mit vorgegebenen Strukturen und Hierarchien umgehe, was diese in mir an Verhaltensmuster auslösen. Die Grundlagen dieser Auseinandersetzungen halte ich für sehr wichtig, auch in Hinblick auf ein bewusstes, verlässliches, berufliches Handeln und Denken. In den Jahren nach meiner Ausbildung kamen Supervisanden mit einem ähnlichen Anliegen zu mir: Sie wollten ihr Verhalten und ihre Sichtweisen in ihrem beruflichen Umfeld reflektieren, sich in ihren Lebenssystemen besser verstehen lernen, um bestimmte qualitative Befindlichkeiten in ihrer Arbeit, wie Zufriedenheit, Klarheit, Motivation und Freude am Beruf, zu stärken. Natürlich ist es für die eigene Auseinandersetzung mit seinen beruflichen wie auch persönlichen Lebensthemen innerhalb der Supervision naheliegend, dass der Supervisor die Eigenständigkeit und Eigenverantwortlichkeit des Supervisanden unterstützt und fördert, also nicht mit guten, zu befolgenden Ratschlägen arbeitet. Der Supervisand muss eine Problemlösung aufgrund seiner Persönlichkeit und seiner Lebenshintergründe selber erarbeiten. Ein für ihn umsetzbares Handlungskonzept und die für die Umsetzung notwendige zu gewährende Zeit stehen hierbei im Vordergrund. Es gibt in der Ausbildung zum Supervisor, die meist über zwei bis drei Jahre berufsbegleitend angeboten wird, verschiedene inhaltliche Ausrichtungen.

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Supervision für Trauerbegleiter

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Da mir durch mein Studium der Heilpädagogik die analytische Sichtweise sehr vertraut wurde, habe ich mich supervisorisch für den ergänzenden systemischen Schwerpunkt entschieden. Dies ist eine hilfreiche und zum intensiveren Verständnis beitragende Variante für Trauerbegleitung, da die Kenntnis systemischer Aspekte und das Wissen um die Einflüsse verschiedener Systeme im Umfeld der Familie für die Unterstützung der Familie eine große Rolle spielen. Systemisches Denken ist in erster Linie eine Konstruktion des menschlichen Geistes, es hilft dabei, Phänomene zu erkennen, Handlungs- und Beziehungsmuster einzelner Mitglieder einer Familie zu verstehen und im größeren Zusammenhang zu sehen.

Welchen Wert und welche Bedeutung hat die Supervision im Kontext der Trauerbegleitung? Eine Projektgruppe der DGSv erarbeitete Fachfragen zum Thema Supervision im Kontext der Trauerbegleitung und wertete diese aus.1 Im Jahr 2007 erschien ein abschließender Bericht. Im Folgenden möchte ich nur einen kleinen Auszug von Ergebnissen vorstellen, um die These zu unterstützen, dass Supervision in der Trauerbegleitung wichtig ist und zur eigenen, notwendigen Psychohygiene beiträgt und dies von den Verantwortlichen der Einrichtungen und den Mitarbeitenden ebenso empfunden wird: »Menschen, die sich im Ehrenamt engagieren oder hauptberuflich in der Sterbeund Trauerbegleitung arbeiten, sind hohen emotionalen, psychischen und/oder körperlichen Belastungen ausgesetzt. Zu ihrer fachlichen und menschlichen Unterstützung und zur Aufrechterhaltung der Qualität ihrer Arbeit zählt die Supervision in besonderer Weise zu den Hilfsangeboten« (zit. nach Projektgruppe DGSv, 2007, S. 7, »Supervision im Arbeitsfeld Hospiz/Palliative Care«). »Supervision ist in vielen palliativmedizinischen und Hospizeinrichtungen für deren haupt- und ehrenamtlich Mitarbeitende verpflichtend oder zumindest dringend empfohlen« (S. 13). Als Anforderungen an den Supervisor sind benannt: •• »Supervisanden erwarten vom Supervisor eine persönliche Auseinandersetzung mit existenziellen Fragen, •• erwarten Fachwissen zu Trauer und die Bereitschaft, spirituelle Aspekte zu besprechen« (S. 15). Bevorzugte Themen der Supervision sind •• die jeweilige Fallarbeit, 1

Die Projektgruppe bestand aus: Jörg Fengler, Frank Kittelberger, Monika Müller, Christine Pfeffer, Petra Rechenberg-Winter, Josef Schmandt, Jochen Steurer.

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Detlef Bongartz

der Umgang mit eigener Betroffenheit, die Reflexion der eigenen Rolle, Konfliktbearbeitung, Selbstwertstärkung, Burnout-Prophylaxe (S. 17).

Es wurde herausgearbeitet, dass Supervisanden sich mehr Raum für Tabuthemen und spirituelle Konzepte wünschten und unter anderem Konfliktlösung, existenzielle Grenzerfahrungen, Sterben und Tod, Verlust und Trauer, Sinn, Suizidalität, multikulturelle Erfahrungen, Schuld, nonverbale Kommunikation, Selbstschutz, Nähe und Distanz, Schweigen auszuhalten als dringende Reflexionsthemen benannten (vgl. S. 17–18). Die Auswertung der Befragung von 1300 Einrichtungen aus dem Arbeitsfeld Hospiz/Palliative Care zeigt deutlich auf, wie anspruchsvoll und belastend die Begleitung sterbender und trauernder Menschen ist, was in diesem Bereich Tätige für sich und ihre Arbeit benötigen. Sterbe- und Trauerbegleiter brauchen für die permanente Auseinandersetzung mit existenziellen Lebensthemen einen Ort, an dem sie sich eigene Prozesse, als schmerzhaft empfundene Erlebnisse aus ihren Leben wohlwollend und wohl dosiert anschauen können. In dem Erkennen und Annehmen verdrängter eigener Gefühle oder Lebensthemen liegt der Schlüssel zu einer offenen und authentischen Trauerbegleitung. Somit ist der Mensch, der mit Trauernden in Kontakt ist, auch immer in Kontakt mit seinen eigenen Trauergefühlen und den dazugehörigen weiteren Gefühlsdimensionen, für die er selber einen guten Wegbegleiter benötigt. Der Supervisor sollte ein solcher sein. Der Bundesverband Trauerbegleitung e. V. hat in seinen Qualitätsstandards der Ausbildungen für den Bereich Erwachsene (2007) und für den Bereich Kinder und Jugendliche (2013) für alle Teilnehmer die Supervision während und nach der Qualifizierung als verpflichtend bzw. als dringende Empfehlung benannt und unterstreicht damit die Bedeutung der Selbstreflexion im beruflichen Trauerbegleiter-Handeln. Alle Hospize, stationär wie ambulant, und fast alle Palliative-Care-Einrichtungen haben die Notwendigkeit von Psychohygiene für ihre Mitarbeitenden erkannt und die Supervision in ihrem Begleitungs- und Schulungskonzept als festen Bestandteil integriert. Zur Abrundung des theoretischen Hintergrunds sei noch kurz darauf hingewiesen, dass der Supervisionsprozess sowohl in der Einzelberatung als auch für Teams und Gruppen seine Anwendung findet. Hier sei jedoch der Fokus der Ausführungen auf die Einzelsupervision gelegt und somit das einleitende Fallbeispiel wieder in den Blick genommen. Prozessverlauf der Einzelsupervision mit Julia In der ersten Supervisionssitzung erzählte Julia mir von ihrem beruflichen Kontext, von ihrer Motivation, ehrenamtlich für einen ambulanten Kinderhospizverein tätig zu sein, vom Erstkontakt der Koordinatorin des Hospizvereins mit der Familie F. und den Informationen, die Julia von der Koordinatorin erhielt.

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Supervision für Trauerbegleiter

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Nach dem Erstgespräch mit den Eltern von A. hatte Julia ein gutes Gefühl hinsichtlich der Begleitung. Vater und Mutter F. zeigten sich offen und wertschätzend der Unterstützung für ihren Sohn A. gegenüber. Als Julia A. kennen lernte, war sofort eine Wellenlänge zwischen den beiden spürbar. A. ging auf Julia zu, zeigte ihr sein Zimmer und erzählte vom Tod der Oma und seinen Schwierigkeiten in der Schule. Die Beziehung zwischen Julia und A. gestaltete sich im weiteren Verlauf vertrauensvoll. A. nahm Julia als Gefühlsbegleiterin an. Seine schmerzhaften und irritierenden Gefühle über den Verlust der Oma fanden im Spiel und in den gemalten Bildern einen angemessenen Ausdruck. Der Prozess der Trauerbegleitung von A. bereitete Julia keine Sorgen. Im monatlich stattfindenden Elterngespräch jedoch spürte Julia ihre steigende Abneigung dem Vater gegenüber. Was diesen emotionalen Widerstand in ihr auslöste, waren zwei Aspekte, die sie in dem Elterngespräch erfuhr. Zum einen brach der Vater einmal in Tränen aus und erzählte vom Suizid seiner Mutter (A.s Oma hatte sich selber das Leben genommen, da sie den Verlust ihres Mannes – A.s Opa – nicht verwinden konnte. A.s Opa war kurz zuvor an einem Herzinfarkt gestorben). Vater und Mutter F. bestanden darauf, die Umstände des Todes der Oma vor A. geheim zu halten. Der zweite Aspekt, der Julia verunsicherte, war der Umstand, dass Vater F. sowohl seinen Kummer über den Verlust seiner Eltern in so kurzen Abständen als auch die Schuldgefühle zum Tod seiner Mutter im Alkohol ertränkte. Nun kamen im supervisorischen Prozess Julias eigene Herkunftsfamilie und ihre Erlebnisse in ihrer Familie zur Sprache und wurden hinsichtlich ihrer Bedeutung wahrgenommen. Zum Verständnis der weiteren Arbeit mögen an dieser Stelle einige Hintergründe aus Julias Kindheit dienen: Julia wuchs in einer Familie auf, in der sich eine Tante von ihr das Leben genommen hatte. Als Kind wurden Julia die Hintergründe zum Tod der Tante verschwiegen. Erst als Erwachsene hatte sie durch beständiges Nachfragen die Wahrheit von ihren Eltern erfahren. Was die ablehnende Haltung gegenüber Vater F. von A. betrifft, ist dies dem Umstand zuzuschreiben, dass Julias Vater sich für den Tod seiner eigenen Schwester verantwortlich fühlte und auch zum Alkohol griff. Die Familie von Julia litt in den folgenden Jahren unter dem Suchtverhalten des Vaters, der nicht nur finanziell, sondern auch durch unberechenbares, aggressives Verhalten die eigene Familie immer wieder in unangenehme Situationen brachte. Im Supervisionsprozess konnte Julia durch ehrliche Rückerinnerung und Reflexion ihrer eigenen Familiengeschichte erkennen, dass sie im Vater von A. ihren eigenen Vater erlebte, unreflektiert gegen diesen rebellierte und alte, unverarbeitete, nicht zugelassene Wutgefühle, Trauer und Schmerz von damals durchlebte und auf den Vater von A. übertrug. Für Julia war die Supervison insofern von Bedeutung, als sie die Zusammenhänge erkannte, die zur Ablehnung des Vaters der Familie F. führten. Durch diese neu gewonnenen Erkenntnisse war es ihr möglich, sich für den Kontakt zu Vater F. neu zu öffnen. Wir haben im Supervisionsprozess Strategien entwickelt, die Julia davor schützten, sich in weitere Übertragungsphänomene zu verwickeln.

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Das Fallbeispiel zeigt, welchen Wert die Supervision im Kontext der Trauerbegleitung hat: Um die Trauerbegleitung mit A. sinnvoll zu gestalten, brauchte Julia die Mitarbeit und die Bereitschaft der Eltern, sich mit eigenen Trauergefühlen auseinanderzusetzen. Die Trauerbegleitung eines Kindes entspricht oftmals der Tätigkeit eines Dolmetschers, der die (emotionale) Sprache des Kindes versteht, spricht und sie erwachsenen Menschen, den Eltern, wenn nötig, übersetzt. Wäre dieser Prozess Julia nicht gelungen, weil sie weiter unverarbeitete Gefühle gegen ihren eigenen Vater auf den Vater von A. übertragen hätte, so wäre zu überlegen gewesen, ob sie die Trauerbegleitung von A. nicht besser an eine Kollegin abgebe.

Anforderungen an die Kindertrauerbegleitung Die Begleitung von Kindern und Jugendlichen erfordert vom Begleiter umfangreiches Wissen um Familiensysteme und deren unterschiedlichstes Zusammenwirken. Ein Trauerbegleiter muss einem Kind auf seiner individuellen Entwicklungsstufe und seiner aktuellen Gefühlslage liebevoll und annehmend begegnen und hierdurch auch die Bereitschaft haben, sich immer wieder auf eigene Gefühle einzulassen, die unweigerlich im nahen Kontakt zu trauernden Menschen, Kindern wie Erwachsenen, ausgelöst werden. Schon diese wenigen Aspekte weisen auf die Herausforderungen und die Verantwortung eines Trauerbegleiters nachdrücklich hin. Um sich diesen Aufgaben und den eigenen Prozessen zu stellen, ist die Supervision eine stützende und hilfreiche Säule der Entlastung.

Abschließende Merksätze Zum Abschluss benennen folgende Merksätze vier wesentliche Punkte in Bezug auf die Bedeutung, die die Supervision für die Kindertrauerbegleitung hat: •• Supervision dient der emotionalen Entlastung und der Psychohygiene, sichert und verbessert die Qualität der Trauerbegleitung. •• Supervision macht die Komplexität und Vielfalt menschlicher Sichtweisen deutlich und eröffnet neue Perspektiven des Verstehens, Handelns und Denkens. •• Trauerbegleiter sind in ihrer Tätigkeit emotional wie auch psychisch stark gefordert und sehen den hohen Bedarf an Unterstützung, den sie benötigen, durch die Beratungsmethode Supervision. •• Verantwortliche von Institutionen, die Trauerbegleitung anbieten, erkennen den hohen Wert von Supervision und verpflichten daher oftmals ihre Mitarbeitenden zur Teilnahme.

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Supervision für Trauerbegleiter

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Literatur DGSv (2007). Supervision im Arbeitsfeld Hospiz/Palliativ Care. Download http://www.dgsv.de Fellermann, J., Weigand, W. (1996). Broschüre »Supervision – professionelle Beratung zur Qualitätssicherung am Arbeitsplatz«. Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für Supervision e. V.

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Übergeordnete Adressen in Deutschland

AGUS – Angehörige um Suizid e. V. www.agus-selbsthilfe.de [email protected]

Bundesarbeitskreis Trauerbegleitung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien Internetauftritt 2015 im Rahmen des Zusammenschlusses mit dem BVT geplant [email protected] Bundesverband Trauerbegleitung e. V. www.bv-trauerbegleitung.de [email protected] Bundesverband Verwaiste Eltern und trauernde Geschwister in Deutschland e. V. www.veid.de [email protected] Deutsche Arbeitsgemeinschaft für psychosoziale Onkologie e. V. www.dapo-ev.de [email protected] Deutsche Gesellschaft für Palliativmedizin www.dgpalliativmedizin.de [email protected] Deutscher Hospiz- und PalliativVerband e. V. www.dhpv.de [email protected] Deutscher Kinderhospizverein e. V. www.deutscher-kinderhospizverein.de [email protected]

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Literaturhinweise

Weiterführende Literatur AGUS e. V. – Veröffentlichungen, beziehbar unter http://www.agus-selbsthilfe.de: – Suizid – was sage ich meinen Kindern, Hinweise für Gespräche mit jungen Menschen. (Flyer) – Du hast dir das Leben genommen – und was soll ich jetzt machen? – Hinweise für junge Menschen. (Flyer) – Chris Paul: Trauer nach Suizid bei Kindern und Jugendlichen. Themenbroschüre. Beziehbar unter: http://www.agus-selbsthilfe.de/wir-bieten-an/themenbroschueren/ Baßler, M., Schins, M.-T.(Hrsg.) (1992). Warum gerade mein Bruder? Trauer um Geschwister. Erfahrungen. Berichte. Hilfen. Reinbek: Rowohlt. Baum, H. (2002). Ist Oma jetzt im Himmel? Vom Umgang mit Tod und Traurigkeit. München: Kösel. Boediker, M.-L., Theobald, M. (2007). Trauer-Gesichter: Hilfen für Trauernde – Arbeitsmaterialien für die Trauerbegleitung (4., neu überarb. Aufl.). Ludwigsburg: der hospiz verlag. Bongartz, D. (2012). Trauer bei Kindern und Jugendlichen. In E. Schärer-Santschi (Hrsg.). Trauern. Trauernde Menschen in Palliative Care und Pflege begleiten (S. 134–145). Bern: Huber. Brocher, T. (1980). Wenn Kinder trauern. Wie sprechen wir über den Tod? Mit farbigen Kinderzeichnungen. Stuttgart: Kreuz. Bundesvereinigung Lebenshilfe für Menschen mit geistiger Behinderung e. V. (Hrsg.) (2003). Bäume wachsen in den Himmel. Sterben und Trauern. Ein Buch für Menschen mit geistiger Behinderung. Marburg: Lebenshilfe. Cassidy, Sh. (2005). Die Dunkelheit teilen. Spiritualität und Praxis der Sterbebegleitung. Freiburg: Herder. Cohen, J. A., Mannarino, A. P., Deblinger, E. (2009). Traumafokussierte kognitive Verhaltenstherapie bei Kindern und Jugendlichen. Berlin: Springer. Diakonisches Werk der Evangelischen Kirche in Deutschland e. V. (2003). Wie Kinder trauern. Kinder in der Trauer begleiten. Leinfelden-Echterdingen: Zentraler Vertrieb des Diakonischen Werkes der EKD. Dingerkus, G., Schlottbohm, B. (2006). Den letzten Weg gemeinsam gehen. Sterben, Tod und Trauer in Wohneinrichtungen für Menschen mit geistigen Behinderungen (2., überarb. Aufl.). Münster: ALPHA-NRW. Dingerkus, G., Schlottbohm, B., Hummelt, D. (2004). Werd ich ein Stern am Himmel sein. Ein Thema für alle und insbesondere für Bewohnerinnen und Bewohner von Einrichtungen für Menschen mit Behinderungen. Münster: ALPHA-NRW. Eckardt, J. (2010). Geliebtes Sternenkind. Ein Erinnerungsalbum. Gütersloh: Gütersloher Verlags. Eckardt, J. (2013). Kinder und Trauma. Was Kinder brauchen, die einen Unfall, einen Todesfall, eine Katastrophe, Trennung, Missbrauch oder Mobbing erlebt haben (2., durchges. Aufl.). Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Eder, S., Rebhandl-Schartner, P., Gasser, E. (2013). Annikas andere Welt. Hilfe für Kinder psychisch kranker Eltern. Salzburg: edition Riedenburg.

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Literaturhinweise

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402276 — ISBN E-Book: 9783647402277

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Literaturhinweise

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1

Wir danken Esther Fischinger und Maria Traut für die maßgebliche Zusammenstellung der Kinder- und Jugendliteraturempfehlungen. Die Altersangaben sind ausschließlich Richtwerte. Die Bücher sind auch für interessierte Erwachsene empfehlenswert. Grundsätzlich sind die Kinderund Jugendbücher zum Thema Sterben, Tod und Trauer auch zum begleiteten Lesen ohne ein akutes Verlusterlebnis sinnvoll.

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© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402276 — ISBN E-Book: 9783647402277

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Zum Thema schwerkranke (selbst betroffene) Kinder und Jugendliche Fynn, H. (1978). Hallo Mister Gott, hier spricht Anna (ab acht Jahren). Frankfurt a. M.: Fischer. Gaarder, J. (2001). Durch einen Spiegel, in einem dunklen Wort (ab 13 Jahren). München: dtv. Green, J. (2012). Das Schicksal ist ein mieser Verräter (ab 15 Jahren). München: Carl Hanser. Heine, H. (1995). Der Club (ab fünf/sechs Jahren). München: Middelhauve. Janisch, H., Soganci, S. M. (2003). Schenk mir Flügel (ab fünf/sechs Jahren). St. Pölten: Residenz. Lindgren, A. (1973). Die Brüder Löwenherz (ab acht/neun Jahren). Hamburg: Oetinger. Mebs, G. (1986). Birgit – eine Geschichte vom Sterben (ab acht Jahren). München: dtv. Nicholls, S. (2008). Wie man unsterblich wird (ab elf/zwölf Jahren). München: Carl Hanser. Pohl, P. (2003). Ich werde immer bei Euch sein (für ältere Jugendliche). Würzburg: Arena. Schmitt, E.-E. (2003). Oskar und die Dame in Rosa (ab zehn Jahren). Passau: Amann. Schmitt, E.-E. (Regie) (2009). Oskar und die Dame in Rosa (ab zehn Jahren). DVD. Leipzig: Zweitausendeins. Schuyesmans, W. (1997). Adieu, Benjamin (ab zwölf Jahren). München: ars edition. Der Verein Trauernde Kinder Schleswig-Holstein e. V. gibt jedes Jahr eine kommentierte Bücherliste unter dem Titel »Kind und Tod« heraus. Sie bietet einen umfassenden Überblick über Kinder- und Jugendliteratur zum Thema Sterben, Tod und Trauer. Zusätzlich werden ausgewählte Berichte, Ratgeber und Sekundärliteratur vorgestellt. Beziehbar gegen Schutzgebühr zzgl. Versandkosten bei: http:// www.trauernde-kinder-sh.de/Buecherliste_Kind__Tod.html

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402276 — ISBN E-Book: 9783647402277

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Literaturhinweise

Zu den Themen Trennung, Scheidung, Patchwork, Adoption Blazejlowsky, M. (1999). Lea zieht um (ab vier/fünf Jahren). Wien: Jungbrunnen. Endres, B., Paule, I. (2007). Familie Patchwork. Nils und seine Familie (ab fünf Jahren). Freiburg: Herder. Kunert, A., Hildebrandt, A. (2003). Und dann kamst Du (ab fünf Jahren). Ravensburg: Ravensburger. Mankell, H. (2002). Die Reise ans Ende der Welt (ab zwölf Jahren). München: dtv. Masurel, C. (2007). Ich habe Euch beide lieb! Wenn Eltern sich getrennt haben (ab vier Jahre). Gießen: Brunnen. Nöstlinger, C. (2000). Einen Vater hab’ ich auch (ab elf/zwölf Jahren). Weinheim: Beltz & Gelberg. Spinnen, B. (2004). Belgische Riesen (ab sieben/acht Jahren). München: Omnibus. Thiele, J. (2006). Der Junge, der die Zeit anhielt (ab sieben/acht Jahren). Wuppertal: Hammer. Wenniger, B., Marks, A. (1995). Auf Wiedersehen, Papa (ab vier/fünf Jahren). Gossau-Zürich: Neugebauer. Wilhelmi, F., Hein, S. (2001). Kim sucht einen neuen Papa (ab vier Jahren). Passau: Prestel. Zeevaert, S. (2005). Schön und traurig und alles zugleich (ab zehn Jahren). Weinheim: Beltz & Gelberg.

Zum Thema Kinder mit psychisch kranken Eltern Eder, S., Rebhandl-Schartner, P., Gasser, E. (2013). Annikas andere Welt. Hilfe für Kinder psychisch kranker Eltern (ab sechs Jahren). Salzburg: edition Riedenburg. Eder, S., Rebhandl-Schartner, P., Gasser, E. (2013). Annikas andere Welt. Das Bilder-Erzählbuch (ab acht Jahren). Salzburg: edition Riedenburg. Hohmeier, S. (2006). Sonnige Traurigtage. Illustriertes Kinderfachbuch für Kinder psychisch kranker Eltern und deren Bezugspersonen (ab acht Jahren). Frankfurt a. M.: Mabuse.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402276 — ISBN E-Book: 9783647402277

Die Autorinnen und Autoren

Thorsten Adelt ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut, Gestalttherapeut (HFI), in eigener psychotherapeutischer Praxis in Bonn mit den Schwerpunkten Umgang mit Krankheit, Sterben, Tod und Trauer tätig. Er bildet seit 14 Jahren Trauerbegleiter aus. Katrin Beerwerth ist Diplom-Sozialpädagogin, pädiatrische Palliative-Care-Fachkraft, Trauerbegleiterin (BVT e. V.) sowie Kunsttherapeutin. Seit 2006 ist sie in der Palliativversorgung von Kindern/Jugendlichen und in der Kinderhospizarbeit tätig, aktuell arbeitet sie als Koordinatorin im ambulanten Hospizdienst Königskinder für Kinder und Jugendliche in Münster. Corinna Bergelt, PD,  Dr. phil., ist Diplom-Psychologin, seit 1999 wissenschaftliche Mitarbeiterin an Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie des Universitätsklinikums Hamburg Eppendorf und hat die Leitung der Forschungsgruppe Psychoonkologie inne. 2003 bis 2005 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Krebsepidemiologie der Dänischen Krebsgesellschaft in Kopenhagen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Psychoonkologie, Versorgungsforschung, Rehabilitationsforschung und Patientenorientierung im Gesundheitswesen. Detlef Bongartz ist Diplom-Heilpädagoge, Physiotherapeut, Supervisor (DGSv) mit Zusatzausbildungen unter anderem in der Kinder-, Jugendlichen- und Familientrauerbegleitung (BVT e. V.), Integrative Kindertherapie, Palliative Care, Sozialmanagement. Er ist seit über dreißig Jahren im pädagogisch therapeutischen Bereich mit lebensbedrohlich erkrankten Kindern und deren Familie tätig, war fünf Jahre Koordinator einer Hospizbewegung. Seit über 15 Jahren ist er selbstständig als Referent, Berater und Familienbegleiter. 2004 gründete er das Institut Merlinos – Lehre und Begleitung der kindlichen Seele in Kaarst. Er ist Gründungs- und Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Trauerbegleitung e. V. Ute Brunne ist Diplom-Pädagogin und befindet sich in der Ausbildung zur Kinderund Jugendlichenpsychotherapeutin (tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie) in Bonn.

© 2014, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525402276 — ISBN E-Book: 9783647402277

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Die Autorinnen und Autoren

Heike Brüggemann ist Diplom-Sozialarbeiterin, Trauerberaterin, Psychoonkologin (DKG). Seit 1989 ist sie in der Begleitung und Beratung von Familien tätig, die durch eine Fehl- oder Totgeburt bzw. lebenslimitierende Erkrankung betroffen sind, und hält Vorträge, Fort- und Weiterbildungen zu diesen Themen. Hubertus Busch ist Katholischer Theologe und Klinikseelsorger seit 1990. Er ist Trauerbegleiter (BVT e. V.) und hat Zusatzqualifikationen in Personzentrierter Beratung (GwG). Seit 1991 ist er in der Kinderklinikseelsorge im Olgahospital in Stuttgart und seit 2000 in der Trauerbegleitung tätig. Reinhard Buyer ist Evangelischer Diakon und Kinderklinikseelsorger i. R. im Olgahospital in Stuttgart (1992 bis 2013). Er hat Zusatzqualifikationen in Trauerbegleitung, systemischer Familientherapie und Ethikberatung. Betty Davies, RN, PhD, CT, FAAN, lehrt an der Universität von Victoria (Kanada) und ist Professorin Emerita an der Universität von California in San Francisco (USA). Ihre Verdienste im Bereich Tod und Sterben – vor allem innerhalb der pädiatrischen Palliativmedizin – brachten ihr internationale Anerkennung ein. Sie ist Mitbegründerin von Canuck Place in Vancouver (Kanada), dem ersten unabhängigen Kinderhospiz Nordamerikas, und ist Autorin von fast 200 Büchern und Fachartikeln. Annette Dobroschke-Bornemann ist Diplom-Pädagogin, Evangelische Theologin, Psychoonkologin (DKG), Systemische Familientherapeutin, Mediatorin und Lehrbeauftragte an der Hochschule Magdeburg-Stendal und der Evangelischen Hochschule Berlin. Sie ist zertifizierungsberechtigte Dozentin für Palliative Care (SGB V) und Trauerbegleitung (BVT e. V.) mit umfangreicher bundesweiter Referentinnentätigkeit. 1992 gründete sie den überregional tätigen TABEA e. V. und leitet dessen fünf Arbeitsbereiche: Beratungsstelle für Trauernde/Familienhilfe/Psychoonkologie/Hospiz- & Palliativdienst/Akademie (www.TABEA-eV.de). Sie erhielt verschiedene Auszeichnungen, unter anderem das Bundesverdienstkreuz am Bande 2012 für ihre Aufbauarbeit und ihr Engagement in der Trauerbegleitung. Schwester Frances Dominica, FRCN, FRCPCH (hon.), ist ausgebildete Krankenschwester und Mitglied eines anglikanischen Ordens. 1982 gründete sie das weltweit erste Kinderhospiz, Helen House, in Oxford (Großbritannien). 2004 folgte die Gründung von Douglas House, eines weiteren Hospizes für Jugendliche und junge Erwachsene. Katrin Döveling, Dr. phil. M. A. in Kommunikationswissenschaft, Psychologie, Soziologie, Professorin für Kommunikationswissenschaft, befr. an der Technischen Universität Dresden 2009–2013. Seit 2013 ist sie Marie-Reiche-Forschungsstipendiatin der Technischen Universität Dresden. Sie hatte Lehr- und Forschungsaufenthalte in den USA (UC Berkeley) und Frankreich (unter anderem Université des Sciences

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Die Autorinnen und Autoren

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Humaines, Strasbourg, Université Val de Marne, Paris). Ihre Forschungsschwerpunkte sind Emotionsforschung, speziell Trauer im Netz, Empathieforschung, soziales Teilen von Gefühlen, Emotionsmanagement, Medienaneignungs- und Wirkungsforschung, Social Web, Internetforschung, Medienpsychologie und -soziologie, interpersonale Kommunikation, visuelle Kommunikation und die Tragweite von alten und neuen Medien für Gesellschaft und Individuum. Sie ist Erstherausgeberin von: The Routledge Handbook of Emotions and Mass Media (2011). London: Taylor & Francis (zusammen mit Christian von Scheve und Elly A. Konijn). Lisa Eggert ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und seit 2009 in der psychoonkologischen Behandlung im stationären und ambulanten Setting tätig. Sie übte diverse Tätigkeiten in der Jugendhilfe, unter anderm in Inobhutnahmeeinrichtungen und in einer Wohngruppe mit minderjährigen unbegleiteten Flüchtlingen aus. Kirsten Fay ist Trauerbegleiterin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (BVT e. V.) und seit 2007 im Zentrum für Palliativmedizin, Uniklinik Köln, in der Sterbe- und Trauerbegleitung tätig. Sie ist Projektmitarbeiterin im Schulprojekt »Umgang mit Sterben, Tod und Trauer. Ein Konzept für Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 9 bis 13«. Sie ist seit 2012 stellvertretende pädagogische Leiterin bei TrauBe Köln e. V. – Trauerbegleitung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene. Esther Fischinger ist Diplom-Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin, systemische Familientherapeutin sowie Kinder-Traumatherapeutin. Nach ihrem Studium in Regensburg, Zürich und München war sie als Klinische Psychologin der Universitätskinderklinik München tätig, seit 1999 arbeitet sie in eigener psychotherapeutischer Praxis bei München mit dem Schwerpunkt Krisenintervention und Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit existenziellen Verlusten. Sie ist Supervisorin und Referentin im Bereich pädiatrischer Palliative Care und akkreditierte Dozentin der Bayerischen Psychotherapeutenkammer und publiziert zu den genannten Themen in mehreren Fachverlagen. Christian Fleck, Diplom-Theologe (Univ.), M. Sc. in Supervision, ist seit 2000 Pastoralreferent in der Altenheimseelsorge. In der Klinikseelsorge war er von 1994 bis 2000 tätig. Er ist TZI-Gruppenleiter (Diplom)/RCI-International, hat eine Klinische Seelsorgeausbildung (KSA/DGfP), ist Supervisor (DGfP, DGSv) sowie Gründungs- und Vorstandsmitglied des Bundesverbandes Trauerbegleitung e. V. Christine Fleck-Bohaumilitzky, Mag. theol., ist seit 2002 Pastoralreferentin in der Klinikseelsorge. Sie ist Notfallseelsorgerin, Palliativseelsorgerin, TZI-Gruppenleiterin (Diplom)/RCI-International, hat eine Klinische Seelsorgeausbildung (KSA/DGfP), ist Supervisorin (DGSv, RCI), Beraterin für Ethik im Gesundheitswesen (CeKIB) sowie Referentin in den Bereichen Trauerbegleitung und Hospizarbeit. Sie ist Lehrbeauf-

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Die Autorinnen und Autoren

tragte an der Fachhochschule Oberösterreich im Studiengang Soziale Arbeit für den Themenbereich Trauer, Gründungsmitglied des Bundesverbandes Trauerbegleitung e. V. Ursula Fülbier ist Diplom-Sozialarbeiterin und seit 1993 am Zentrum für Palliativmedizin Malteser Krankenhaus Seliger Gerhard Bonn/Rhein-Sieg tätig. Sie baute die Trauerbegleitung für Erwachsene auf und initiierte 2005 das Familientrauerprojekt »Trau Dich Trauern«. Sie entwickelte unter anderem das Konzept der Elterngruppen. Sie ist neben der Begleitung von trauernden Kindern, Jugendlichen und deren Familien sowie trauernden Erwachsenen in der Fachberatung von Mitarbeitern aus pädagogischen, sozialpädagogischen, psychologischen und hospizlichen Arbeitsbereichen tätig. Seit 1988 arbeitet sie im Bereich Palliative Care und ist Referentin für Trauer- und Sterbebegleitung. Andrea Gasper-Paetz ist Krankenschwester und Case Managerin (DGCC). Sie ist seit 1991 am Zentrum für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Seliger Gerhard Bonn/RheinSieg tätig. 2005–2008 baute sie das Familientrauerprojekt »Trau Dich Trauern« auf und ist seit 2010 stellvertretende Leitung im Ambulanten Palliativdienst (SAPV-Team). Bettina Hagedorn ist Diplom-Psychologin und seit 1997 Koordinatorin der Hospizbewegung Düren-Jülich e. V.  (DHPV). Sie ist Palliative-Care-Kursleiterin (DGP), Case Managerin (DGCC) und Gestalttherapeutin sowie von 2005 bis 2008 Projektleitung des Bundesmodellprojekts »Hospiz macht Schule« gewesen, seitdem als Trainerin dafür im Einsatz. Sie war sechs Jahre im stationären Hospiz in Lendersdorf tätig, drei Jahre zusätzlich Assistentin des geschäftsführenden Vorstandes der Bundesarbeitsgemeinschaft Hospiz e. V.  und von den 17 Jahren bei der Hospizbewegung Düren-Jülich e. V. elf Jahre Vorstandsmitglied. Andrea Henseler ist Kinderkrankenschwester und seit 2005 Koordinatorin des ambulanten Hospizvereins Lebenskreis e. V. Hennef. Sie ist Trauerbegleiterin (BVT e. V.) mit kleiner Basisqualifikation Kindertrauerbegleitung und leitet seit 2009 Kindertrauergruppen im ambulanten Hospizverein Lebenskreis e. V. Hennef. Tall Katz-Biletzky ist Diplom-Psychologin und am Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie tätig. Sie ist COSIPBeraterin und in Weiterbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (TP). David Kissane, MD, MPM, FRANZCP, FAChPM, ist Psychiater, Psychoonkologe, Forscher und Fachautor. Er leitet das Institut für Psychiatrie an der Monash Universität in Melbourne und ist Professor für Psychiatrie an der Cornell Universität in Sydney (Australien). Internationale Aufmerksamkeit erlangte er vor allem durch die Entwicklung des hier vorgestellten Modells zur Begleitung von Familien, die systemisch von komplizierter Trauer bedroht sind.

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Die Autorinnen und Autoren

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Dennis Klass ist Professor Emeritus an der Webster Universität in St. Louis/Missouri (USA). Er promovierte an der Universität von Chicago, wo er seine Arbeit in Thanatologie als Assistent von Elisabeth Kübler-Ross begann. Er ist Autor von mehr als fünzig Büchern und Fachbeiträgen, Mitherausgeber der Fachzeitschriften »Death Studies« und »Omega – Journal of Death and Dying« sowie langjähriger Fachberater für die Zweigstelle der Organisation Bereaved Parents in St. Louis. Romy Kohler ist Erzieherin und seit 2000 Koordinatorin des ambulanten Hospiz- und palliativen Beratungsdienstes Bedburg-Bergheim. Sie ist Trauerbegleiterin (BVT. e. V.) und hat einen Master in Palliative Care für Psychosoziale Mitarbeiter (Zentrum für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Bonn/Rhein-Sieg, Rheinische Friedrich-­ Wilhelms-Universität Bonn). Sie ist Referentin für Fortbildungen und Vorträge zu den Themen Sterben, Tod und Trauer und seit 2009 Initiatorin und Projektleiterin des Trauerchats für Jugendliche und junge Erwachsene »doch-etwas-bleibt.de«. Klaudia König-Bullerjahn ist heilpädagogische Fachlehrerin und seit dreißig Jahren an einer Förderschule mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung tätig. Susanne Kraft ist Erzieherin, Kinder-, Jugendlichen- und Familientrauerbegleiterin (BVT e. V.), Systemische Familientherapeutin, Delphintherapeutin, Sozialpädagogische Familienhelferin, hat seit über zwanzig Jahren Erfahrung in der therapeutisch-pädagogischen Arbeit mit Familien, ist Gründungsmitglied des Bundesverbandes Trauerbegleitung e. V. und des Instituts Merlinos – Lehre und Begleitung der kindlichen Seele. Ruthild Kruschel ist Sonderschullehrerin und seit vierzig Jahren an einer Förderschule mit dem Schwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung tätig. Franziska Kühne, Dr. phil., ist Diplom-Psychologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie. Sie ist COSIP-Beraterin und in Weiterbildung zur Psychologischen Psychotherapeutin (VT). Sie hat zum Thema »The families of palliative cancer patients. Mixed method studies from individual, family and care perspectives« promoviert. Marita Lammertz ist Erzieherin und Trauerbegleiterin (BVT e. V.). Seit 1991 arbeitet sie pädagogisch mit Kindern in Kindertageseinrichtungen, sieben Jahre lang war sie Leiterin einer Kindertageseinrichtung. 2005 baute sie das Familientrauerprojekt »Trau Dich Trauern« auf und entwickelte unter anderem das Konzept der Kinder- und Jugendgruppen. Seitdem begleitet sie trauernde Kinder, Jugendliche und deren Familien und ist in der Fachberatung von Mitarbeitern aus pädagogischen, sozialpädagogischen, psychologischen und hospizlichen Arbeitsbereichen tätig.

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Die Autorinnen und Autoren

Pater Jürgen Langer, Dr.; C.Ss.R., ist seit 1979 Malteser. Er arbeitete als Malteser-Rettungsassistent. 1985 trat er in die Ordensgemeinschaft der Redemptoristen ein und wurde 1991 zum Priester geweiht. Er absolvierte ein Aufbaustudium der Pastoralpsychologie einschließlich Promotion sowie eine Beratungsausbildung (GWG), eine Ausbildung geistliche Begleitung in Frankfurt/Main (St. Georgen) und eine Ausbildung in Systemischer Therapie (DGSF). Seit 1992 ist er Schulseelsorger am Collegium Josephinum in Bonn (Gymnasium und Realschule für Jungen). Seit 2003 baute er das Projekt Schulische Krisenintervention auf und ist seit 2000 katholischer Beauftragter für Notfallseelsorge in Bonn. Er veröffentlicht zu den Themen Notfallseelsorge, Trauer bei Kindern und Jugendlichen, Schulpastoral und schulische Krisenintervention. Heiner Melching ist Diplom-Sozialpädagoge und Trauerbegleiter. Seit 1993 war er in verschiedenen Bereichen der Trauer- und Krisenbegleitung sowie als Bestatter tätig. 1999 bis 2008 war er Geschäftsführer und Leiter der Beratungsstelle des Vereins Verwaiste Eltern und Geschwister Bremen e. V. Seit 2009 ist er Geschäftsführer der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Darüber hinaus ist er seit 2001 als Referent im Bereich der Fort- und Weiterbildung mit Schwerpunkt Palliativmedizin für Ärzte, Pflegekräfte, Seelsorger, Hospizdienste und Studierende tätig. Monika Müller, M. A., ist Philosophin, Literaturwissenschaftlerin und Pädagogin. Sie ist Therapeutin für Integrative Gestalttherapeutische Verfahren (FPI und Universität von Jerusalem), Supervisor Clinical and Pastoral Fields sowie Master NLP (Aptos und Berkeley, USA). Sie führt seit 1989 Ausbildungskurse für Trauerbegleiter durch (»Trauer erwärmen«) und ist Gründungsmitglied des BVT e. V. und berufenes Mitglied der International Workgroup for Death, Dying und Bereavement (IWG). Sie leitete zwanzig Jahre die Koordinierungsstelle des Landes NRW für Hospizarbeit, Palliativmedizin und Angehörigenbegleitung (ALPHA Rheinland). Heute übt sie nationale und internationale Referenten- und Beratungstätigkeit aus und ist Autorin zahlreicher Fachbücher. Sie ist Herausgeberin des Fachmagazins »Leidfaden« und der »Edition Leidfaden«. Robert A. Neymeier, Ph. D., ist Professor am psychologischen Seminar der Universität von Memphis (USA). Er ist Autor von mehr als 400 Büchern und Fachartikeln sowie Mitherausgeber der Fachzeitschrift »Death Studies«. Gegenwärtig arbeitet er sowohl im Rahmen seiner Autorentätigkeit als auch in seiner Eigenschaft als Leiter nationaler und internationaler Workshops an einer adäquaten Theorie zum Thema Trauer und Sinngebung. Nicole Nolden ist Diplom-Kauffrau, Psychologische Beraterin (IAPP) und Trauerbegleiterin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (BVT e. V.). Sie arbeitete als Ehrenamtskoordinatorin und Sterbe- und Trauerbegleiterin im Zentrum für Palliativmedizin, Universitätsklinik Köln. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektleiterin des Schulprojekts »Umgang mit Sterben, Tod und Trauer. Ein Konzept für Schülerinnen

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Die Autorinnen und Autoren

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und Schüler der Jahrgangsstufen 9 bis 13«. Seit 2012 ist sie pädagogische Leiterin bei TrauBe Köln e. V. – Trauerbegleitung für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene sowie Dozentin in unterschiedlichen Institutionen. Chris Paul ist Soziale Verhaltenswissenschafterlin B. A., Trainerin und Fachautorin. Sie arbeitet als Heilpraktikerin für Psychotherapie mit dem Schwerpunkt Trauerberatung in Bonn. Als Leiterin des TrauerInstituts Deutschland konzipiert und leitet sie bundesweite Qualifizierungskurse und Fortbildungen im Bereich Trauerbegleitung für alle psychosozialen Arbeitsfelder. Ihr Ansatz der »RessourcenAktivierenden Trauerbegleitung« überträgt Elemente der Traumaarbeit in die Trauerberatung. Dazu gehört auch die die von ihr entwickelte »Konstruktive Schuldbearbeitung«. Sie ist Vorstandsmitglied des Vereins Angehörige um Suizid (AGUS) e. V. sowie Gründungsmitglied des BVT e. V. Alison Penny, BA, MA, MRes, ist Koordinatorin des Childhood Bereavement Network und der National Bereavement Alliance in Großbritannien. Sie nutzte ihre Erfahrung mit trauernden Kindern und Jugendlichen für die Optimierung von Publikationen, Praxisrichtlinien und Aufklärungskampagnen und half dem Fachbereich, einen Konsens in Bezug auf zentrale Richtlinien und Praxiselemente zu entwickeln. Gegenwärtig arbeitet sie an der Etablierung eines nationalen Messinstruments für den Fachbereich Kindertrauer in Großbritannien. Lukas Radbruch, Prof. Dr. med., ist Chefarzt am Zentrum für Palliativmedizin Malteser Krankenhaus Seliger Gerhard Bonn/Rhein-Sieg und Inhaber des Lehrstuhls für Palliativmedizin an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er ist Facharzt für Anästhesiologie, spezielle Schmerztherapie und seit 1995 im Bereich der Schmerztherapie und Palliativmedizin an den Universitäten Köln, Aachen und Bonn tätig. Er ist Herausgeber der Zeitschrift »Leidfaden«, stellvertretender Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin sowie Chair of the International Association for Hospice and Palliative Care. Lana Reb, M. A., ist Pädagogin und leitet den Kinder- und Jugendbereich der Nicolaidis Stiftung in München (www.nicolaidis-stiftung.de, www.youngwings.de). Seit 2002 ist sie in der Begleitung trauernder Kinder und Jugendlicher und Beratung hinterbliebener Elternteile tätig. Im Rahmen der Weiterbildung zur Analytischen Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin arbeitet sie psychotherapeutisch mit Kindern und Jugendlichen. Petra Rechenberg-Winter, M. A., ist Diplom-Pädagogin und Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Familientherapeutin mit Weiterbildungen in Palliative Care, Trauerbegleitung (BVT e. V.), biografisches und kreatives Schreiben. Sie arbeitet in eigener psychotherapeutischer Praxis sowie als Supervisorin, Mediatorin, Autorin und im Herausgeberteam der Zeitschrift »Leidfaden«. Sie nimmt Lehrtätig-

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Die Autorinnen und Autoren

keiten im Bereich Palliative Care, Familientherapie, Supervision, Mediation in München und Hamburg wahr. Stefan Reichelt, Prof. Dr. paed., ist Diplom-Sozialpädagoge und approbierter Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Seit 2011 ist er Professor für Kunsttherapie am Institut für Künstlerische Therapien der Alanus Hochschule für Kunst und Gesellschaft in Alfter bei Bonn. Seine Arbeitsschwerpunkte sind Kunsttherapie für das Kindes- und Jugendalter, Bilddiagnostik und Prozesssteuerung, kunsttherapeutisch fundierte Traumatherapien. Darüber hinaus arbeitet er am Kinderneurologischen Zentrum der LVR-Klinik Bonn mit den Arbeitschwerpunkten Traumadiagnostik und -therapie, Krisenintervention, Psychotherapie mit kreativen Medien. Er hat Basis- und Vertiefungskurse in Psychotraumatologie, EMDR, tiefenpsychologisch fundierter Maltherapie absolviert. 2008 promovierte er an der Humanwissenschaftlichen Fakultät der Universität Köln zum Thema »Prozessorientiertes Malen als traumatherapeutische Intervention. Ein Beitrag zur ressourcenfundierten Bewältigung von Extremerfahrungen in Kindheit und Adoleszenz«. Liz Rolls, PhD, MA, RGN, RHV, CHCT, Dipl. Psychodynamic Counselling, ist Wissenschaftlerin, Dozentin und psychodynamische Beraterin. Ihr Forschungsinteresse konzentriert sich auf den Bereich Tod und Sterben sowie die emotionale Sensibilität, die bei Forschungstätigkeit in diesem Feld zentral ist. In 2003 schloss sie eine Studie zu Kindertrauer-Diensten in Großbritannien ab, die neben der betrieblichen Struktur dieser Dienste auch die Bedürfnisse und Erfahrungen ihrer Klienten – der betroffenen Kinder und ihrer Familien – in den Fokus nahm. Franziska Röseberg, Dr. rer. medic., ist Diplom-Psychologin, Trauerbegleiterin (BVT e. V.) und Psychoonkologin (DKG). Sie engagiert sich seit 2001 im Bereich Hospizarbeit und Palliativmedizin und arbeitet seit 2005 am Zentrum für Palliativmedizin, Malteser Krankenhaus Seliger Gerhard Bonn/Rhein-Sieg. Ihr Schwerpunkt ist die Beratung und Begleitung von Patienten und ihren Angehörigen im psychoonkologischen und palliativmedizinischen Kontext. Sie implementierte die psychoonkologische Versorgung in drei nach den Kriterien der Deutschen Krebsgesellschaft zertifizierten Organkrebszentren. 2005 baute sie das Familientrauerprojekt »Trau Dich Trauern« auf und entwickelte unter anderem das Konzept der Kinder- und Jugendgruppen. Sie ist Sprecherin des Bundesarbeitskreises Trauerbegleitung von Kindern, Jugendlichen und der Familien. Monika Schneider ist Erzieherin und seit über zwanzig Jahren in pädagogischen Einrichtungen (Kindertagesstätten) tätig. Sie hat die kleine Basisqualifikation Trauerbegleitung (BVT e. V.) und ist seit 2013 in der Ausbildung zur großen Basisqualifikation Trauerbegleitung (BVT e. V.).

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Die Autorinnen und Autoren

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Mechthild Schroeter-Rupieper ist Erzieherin, Autorin und Trauerbegleiterin (BVT e. V.). Sie ist Gründerin von Lavia – Institut für Familientrauerbegleitung in Gelsenkirchen und gibt seit 1993 Seminare in der Kinder-, Jugend- und Familientrauerbegleitung im gesamten deutschsprachigen Raum und hält Vorträge in Schulungsakademien und Unternehmen. Frank Schulz-Kindermann, Dr. phil., ist Diplom-Psychologe, Psychologischer Psychotherapeut (VT), Supervisor (PTK, DGVT), Psychoonkologe (WPO), Gesprächspsychotherapeut (GwG) und Traumatherapeut (PITT). Er ist Leiter der Psychoonkologischen Versorgung und Mitglied der Institutsleitung an Institut und Poliklinik für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf. Seit 1987 arbeitet er mit Schwerkranken und Sterbenden und deren Angehörigen. Donna L. Schuurman, Ed. D., ist Geschäftsführerin des Dougy Center für trauernde Kinder und ihre Familien in Portland/Oregon (USA). Sie arbeitete als Ausbilderin des National Transportation Safety Board (NTSB) und des Rapid Deployment Teams des amerikanischen Geheimdienstes FBI sowie von medizinischem Personal, Angestellten von Hilfsorganisationen und Betreuern im Rahmen von Katastrophen-Intervention. Sie ist Präsidentin des Board of Directors for the Association for Death Education & Counseling, Mitglied der International Work Group on Death, Dying and Bereavement und Gründungsmitglied von The National Alliance for Grieving Children. Georg Schwikart, Dr. phil., ist Religionswissenschaftler, Theologe, Schriftsteller und Publizist. Er ist seit 1996 in der Trauerseelsorge tätig. Bianca Senf, Dr. rer. medic., ist Diplom-Psychologin, Psychologische Psychotherapeutin und Psychoonkologin (WPO). Sie ist Leiterin der Psychoonkologischen Abteilung am Universitären Centrum für Tumorerkrankungen am Universitätsklinikum Frankfurt/ Main und seit zwanzig Jahren in der Psychoonkologie tätig. Sie publiziert unter anderem zu den Themen Versorgungsstrukturen, Bedarfsdiagnostik in der Psychoonkologie, Krankheitsverarbeitung, Leben mit Krebs und ist als Referentin in verschiedensten Curricula/Fortbildungen zum Thema Psychoonkologie, Arzt-Patienten-Kommunikation etc. tätig. Sie ist Sprecherin des Arbeitskreises Psychoonkologen Hessen und Gründungsmitglied des Vereins Hilfe für Kinder krebskranker Eltern e. V. Phyllis Silverman, Ph.D., Sc.M, MSW, ist Forscherin, Trainerin sowie Fachautorin und widmete sich in ihrer aktuellen Forschungstätigkeit verstärkt der Trauer von Kindern und Jugendlichen. Als Projektleiterin der Harvard/MGH Child Bereavement Study befasste sie sich mit den Trauerreaktionen auf den Tod eines Elternteils. Sie lehrt als Gastdozentin an der Harvard Medical School in Social Welfare und am Brandeis University’s Women’s Studies Research Center im Bundesstaat Massachusetts (USA).

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Die Autorinnen und Autoren

Sam Silverman ist ein Forscher mit vielseitigen Interessen, darunter Tod und Sterben, Friedensforschung, Judentum des 1. Jahrhunderts n. Chr. und in jüngster Zeit der Komponist Schostakowitsch. Er ist Mitglied der International Work Group on Death, Dying and Bereavement und Autor von mehr als 200 Fachartikeln und Rezensionen. Julie Stokes, OBE, ist Klinische Psychologin, Autorin zahlreicher Bücher und Fachartikel sowie Gründerin der britischen Kindertrauer-Organisation Winston’s Wish, deren Geschäftsführerin sie 16 Jahre lang war. Gegenwärtig arbeitet sie zusammen mit deutschen Führungskräften aus der Wirtschaft an einer DACH-Kultur für frühkindliche Ernährung im deutschsprachigen Raum. In den vergangenen drei Jahren war sie stellvertretende Vorsitzende des Childhood Bereavement Network UK und 2006 erhielt sie für ihre Verdienste an trauernden Kindern und ihren Familien vom britischen Premierminister die staatliche Auszeichnung des Order of the British Empire (OBE). Margaret Stroebe, PhD, ist Professorin Emerita für Klinische und Gesundheitspsychologie an der Universität von Utrecht sowie Gastprofessorin an der Universität von Groningen (Niederlande). Als Autorin von Fachpublikationen und Leiterin von Workshops zum Thema Tod und Sterben gilt ihr jüngstes Forschungsinteresse trauernden Eltern und der Art und Weise, in der Trauerreaktionen deren Partnerschaft bestimmen und verändern. Djura Többen ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie sowie Psychotherapie und seit 15 Jahren in der Kinder- und Jugendmedizin sowie in der Kinder- und Jugendpsychiatrie tätig. Maria Traut ist Erzieherin, Heilpädagogin und Trauerbegleiterin (BVT e. V.). Seit 2002 ist sie als Trauerbegleiterin für Kinder, Jugendliche und Erwachsene (HerzLicht, Hospiz-Gruppe Stade e. V. und Hamburger Zentrum für Kinder und Jugendliche in Trauer e. V.) tätig. Sie ist Referentin für den Themenkreis Trauer und deren Begleitung bei Kindern, Jugendlichen und deren Familien. Sie ist stellvertretende Sprecherin des Bundesarbeitskreises Trauerbegleitung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien. Sabine Trautmann-Voigt, Dr. phil., ist Psychologische Psychotherapeutin und Kinderund Jugendlichenpsychotherapeutin (TP/AP/VT), Bewegungs- und Tanztherapeutin (ADTR, USA). Sie ist in eigener Praxis in Bonn tätig und Leiterin und Geschäftsführerin der Köln-Bonner Akademie für Psychotherapie und der Köln-Bonner Akademie für Verhaltenstherapie. Sie ist Mitglied des Weiterbildungsausschusses der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen und Vizepräsidentin der Deutschen Fachgesellschaft für tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie (DFT) e. V. Ihre persönlichen Schwerpunkte sind Tanz- und Bewegungstherapie, Gruppentherapie sowie Traumatherapie.

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Die Autorinnen und Autoren

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David Trickey, BSc., MA, CPsychol., ist Klinischer Psychologe, Dozent am Londoner Anna Freud Center und leitet einen Dienst für Kinder und Jugendliche mit traumatischer Verlusterfahrung. Im Rahmen seiner Arbeit steht er sowohl der britischen Polizei und als auch dem Gericht als Berater und Sachgutachter zur Verfügung. Dabei ist vor allem seine besondere Erfahrung mit Kindern, die Zeuge des Mordes an einem Elternteil wurden, hilfreich. Raymond Voltz, Prof. Dr. med., ist Direktor des Zentrums für Palliativmedizin des Universitätsklinikums zu Köln und Lehrstuhlinhaber des Stiftungslehrstuhls der Deutschen Krebsgesellschaft für Palliativmedizin an der Kölner Universität. Seit 1985 engagiert er sich für die Hospizidee und war 1994 Gründungsmitglied, von 2006 bis 2012 Vizepräsident und 2014 Kongresspräsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP). Er ist außerdem Ärztlicher Beirat und Reviewer in zahlreichen nationalen und internationalen Fachgesellschaften und von renommierten internationalen Zeitschriften. Annette Wagner ist Diakonin, Seelsorgerin, Sozialpädagogin und Bewegungstherapeutin. Sie leitet seit 2003 die Kinder- und Jugendtrauerarbeit des Vereins für Trauerarbeit Hattingen e. V. und ist seit 2012 Pädagogische Leiterin von »traurig-mutigstark« – Zentrum für Kinder- und Jugendtrauerarbeit in Witten. Katrin Wasgien, cand. M. A. im Bereich Angewandte Medienforschung an der Technischen Universität Dresden, war von 2012 bis 2013 wissenschaftliche Hilfskraft am Institut für Kommunikationswissenschaft Dresden, im Anschluss Forschungsassistenz des Projektes »Emotionen Online« unter Leitung von Dr. Katrin Döveling. Aktuelle Forschungsschwerpunkte von ihr liegen in der interpersonalen Kommunikation, der Gesundheitskommunikation sowie in der Empathieforschung. Corinna Windisch, Dr. päd., ist Diplom-Heilpädagogin, Kunsttherapeutin, Bewegungsund Hypnotherapeutin und befindet sich in psychotherapeutischer Ausbildung. Sie arbeitet mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen (Schwerpunkte unter anderem tiefenpsychologisch fundierte Kunsttherapie, Bewegungstherapie, Hypnotherapie, Meditation, Entspannungsverfahren mit malerischen, zeichnerischen und bildhauerischen Mitteln, Coaching und Workshops zur Teambildung, Selbsterfahrungsangebote, Krisenintervention). Stephanie Witt-Loers ist Trauerbegleiterin (BVT e. V.), Kinder- und Familientrauerbegleiterin (BVT e. V.), Buchautorin sowie Dozentin. Sie ist seit 2004 in der Hospizarbeit tätig und leitet seit 2008 Kindertrauergruppen. Darüber hinaus ist sie Trauerbegleiterin im Auftrag verschiedener Jugendämter und Kinderheime. Sie ist Leiterin des Instituts »Dellanima« in Bergisch-Gladbach und Initiatorin und Leiterin des DRK-Projektes »Leben mit dem Tod«.

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Die Autorinnen und Autoren

Christine Young ist eine erfahrene Beraterin und Therapeutin. Zwischen 2006 und 2011 leitete sie eine dem Kinderhospiz Helen House in Oxford (Großbritannien) angegliederte Beratungsstelle für die Familien sterbender Kinder und Jugendlicher. 2012 machte sie sich in eigener Praxis selbständig. Sie ist Koautorin eines renommierten Fachbuchs zum Thema Elterntrauer (»Parents and Bereavement«, Oxford, University Press, 2012).

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Register

A Abschied 39, 42 f., 74, 120, 123, 133, 164, 182, 198–200, 205, 225, 234 f., 247, 249, 277, 281, 296, 317, 321 f., 335, 348, 359, 363, 371, 384, 416, 424, 431, 440, 452, 461, 465 Abschied gestalten 277, 281, 363, 371, 501 abschiedlich 241, 321 Abschiednehmen/Abschiednahme 74, 109, 120, 133, 182, 192, 237, 245, 247 f., 252 f., 277, 281, 335, 348, 351, 379, 452, 461, 465, 490, 526, 528 Abschiedsfeier 199 Abschiedsgeschenk 40, 195 Abschiedsprozess 40, 335 Abschiedsraum 150, 167 Abschiedsritual 164, 294 Abschiedssituation 333 Abschied vom Leichnam 440 guter Abschied 343 verabschieden 40, 44, 134, 137, 147, 164, 183, 198, 225, 229, 233, 235, 239, 277, 315, 319, 321, 348, 351, 379, 419, 452, 490 f., 495 Weg des Abschieds 184 Achtsamkeit 293, 296, 348, 371 B Beerdigung 47, 49, 54, 70, 76, 133, 138–140, 162, 170, 183, 192, 196, 199 f., 227, 247–250, 253–255, 257, 289, 293 f., 306, 323 f., 326, 384, 473 Teilnahme an einer Beerdigung 247–249, 254, 289 Begleitung familienorientierte Begleitung 73, 76, 353, 355, 358, 363, 365, 382 Begreifen des Todes 19 f., 22, 47, 62, 120, 137,

164, 184, 200, 226, 251, 273, 278, 281, 431, 452 Belastungsfaktoren 111 f., 114, 117, 128 Bindung 19, 23, 25, 27–29, 32 f., 40, 80, 88 f., 135 f., 156, 158 f., 168, 176, 190, 201, 206, 209, 211–213, 248, 274, 279, 282, 346, 372, 387 f., 436, 444, 448 f., 483 f., 486, 503 Bindung lösen 28, 32 f., 142 Bindungsperson 38–41, 43, 112 f., 115, 383 fortbestehende Bindung 25 f., 32, 39, 57, 190, 279, 282, 387 f. Bundesarbeitskreis Trauerbegleitung von Kindern, Jugendlichen und deren Familien 14, 363, 491, 524 Bundesverband Trauerbegleitung e. V. 14, 357, 363, 365, 438, 441, 491, 493, 495, 497, 503, 506 f., 520 C Childhood Bereavement Network 13, 87, 97, 106, 492 f. D Depression 23, 33 f., 42, 66, 71 f., 122, 126, 142, 157 f., 170, 191, 194, 221, 269, 443, 449 Dokumentation 104, 380, 511 E ehrenamtliche Helfer/Begleiter 13, 36, 83, 97, 190, 240, 247, 257, 265, 298–301, 306–308, 312, 357, 360 f., 363, 405, 409, 412 f., 435, 508 f., 511, 514 f. Einzelbegleitung 82, 306, 333–336, 344 f., 353, 356, 403, 409, 435, 502 Methoden der Einzelbegleitung 335 f. Entwicklungspsychologie 17, 23, 382, 391, 405, 498, 501 Erinnerung 38, 40, 49 f., 56–59, 63, 81, 83, 88 f.,

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134, 157 f., 163, 168, 194, 212, 214, 232, 251, 261, 279, 289, 294 f., 316, 318, 323, 354, 360–362, 364, 366, 370, 375, 378, 388, 425 f., 444–447, 451, 456, 464 f. Evaluation 46, 80, 82, 97–99, 101 f., 104, 107 f., 304, 311, 380, 410, 460, 505 f. F Familientypen 69, 71–73 Finanzierung 409, 493, 508, 514 f. nachhaltige Finanzierung 493, 510 Forschungsergebnisse 12, 65, 89, 101, 503 Fundraising 13, 508–511, 514–516 Deutscher Fundraising Verband 516 Fundraising-Ziele 510 G Gedenkfeier 167, 289–291, 512 Gender 83, 432 Genogramm 70, 73, 503 Gesundheit 12, 25 f., 39, 41, 73, 75, 79, 82, 85, 94, 97, 101 f., 135, 153, 177, 189, 219, 235, 269, 274, 280 f., 308, 343, 345, 409, 449, 468 f., 490, 498, 533 Glaube 28, 31, 48, 50–54, 56, 59, 66, 90, 126, 132, 179, 249, 258–261, 336, 381, 384, 439, 446, 528 Gottesdienst 31, 47, 257–260, 322 H Haltung 36, 44, 50, 74, 79, 81, 83 f., 94, 105, 112, 130, 132, 134, 142, 149, 152, 161, 189, 199, 267, 293, 295, 326, 363, 380, 384 f., 405, 407, 414, 476 f., 484 f., 497, 499, 518, 521 I Integration 50, 68, 116, 142, 310, 347, 349, 378, 403, 464, 466 Intensivstation 119, 161 f., 167, 218 f. K Kindergarten 12, 62, 165, 179, 184, 206, 218, 226 f., 251, 253, 255, 285, 291, 294, 296, 354, 393, 401, 407, 462, 482, 500 f., 526 Kindergartenkind 294 Krebserkrankung 111, 119, 217, 221, 333, 411, 478 kritische Lebensereignisse 18, 23, 479 M

Methoden 59, 67, 75, 98, 103–105, 159, 300, 335, 354, 358, 361 f., 370, 390, 404, 413, 466, 499 f., 503–505 Aktionsmethoden 352 körperorientierte Methoden 404 kreative Methoden 335, 361 f., 404, 466, 505 Methodeninventar 379 Methodenkasten 89, 94 psychodramatische 527 Mobbing 13, 94, 330, 450, 525 N Narration 64, 86, 159 Normalität 111, 178, 194, 286, 290–292, 354, 367, 395, 468 O online 411–414, 421–424, 426 f., 429 f., 432, 489, 492 f. Online-Hilfe 13, 411, 414, 429 Online-Portale 424, 429 P Palliative Care 12, 71–73, 76 f., 95–97, 106, 108, 243, 345, 365, 391, 442, 470, 519 f., 525–527 Posttraumatische Belastung(sstörung) 26, 328, 358, 436, 444, 447, 462, 466, 468, 528 Q Qualifikation 360, 405, 504 f. große Basisqualifikation 437, 495 kleine Basisqualifikation 437, 495 Zusatzqualifikation 505 R Resilienz 66, 79–83, 85 f., 88–90, 94, 267 Ressourcen 18, 35, 38, 40, 63 f., 67, 87, 94, 128, 172, 211, 213, 274, 280 f., 310, 355, 357, 362, 376, 379, 381, 384 f., 423, 437, 440 f., 462, 504, 509, 539 ausreichende Ressourcen 94 begrenzte Ressourcen 82, 106, 240 interne und externe Ressourcen 18, 211 Ressourcen aktivieren/fördern 281 Ressourcenheft 370 ressourcenorientiert 344, 358, 388 Ressourcenstärkung 370 spezielle Ressourcen 67, 462 verfügbare Ressourcen 87

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S Schuld 54, 73, 75, 113, 124, 126, 134, 166, 168, 194, 261, 278, 328, 374, 415, 439, 451, 464, 466, 474 Schule 13, 56 f., 69, 84, 87, 89, 119 f., 126, 140, 165, 170 f., 180, 185, 192, 201, 203, 205, 217, 219, 223, 226, 233, 238, 241, 253, 255, 257, 260, 280 f., 297–300, 307–314, 316–319, 321, 323–327, 329 f., 339, 353 f., 364, 366 f., 374, 379 f., 390, 393, 396, 401, 407, 411, 415, 419, 453, 462, 464, 475, 477, 501, 517, 521, 527 f. Förderschule 240, 315 f. Grundschule 257, 296, 300, 305, 307, 314, 334, 526 schulische Krisenintervention 323–326, 329, 527, 538 Selbsttötung 13, 157 f., 189–191, 193–195 Setting 99, 271, 408, 437, 481, 484, 535 Einzelsetting 358 Gruppensetting 354, 357 f., 401, 405, 408 therapeutisches Setting 437, 481, 484 Sinnfragen 22, 347, 349 sterbende Kinder 20, 23, 128, 147–149, 151, 526, 544 Suizid 36, 65, 81, 154, 189–195, 259, 265, 271, 311, 313, 333, 356, 375, 384, 393, 403, 410, 440, 464, 475, 481 f., 490, 493, 503, 521, 524–526, 530, 539 Suizidalität 474, 520, 527 Suizidgedanken 120, 124, 126, 138, 233, 419 Supervision 31, 44, 190, 363, 379, 390, 413, 418, 497, 499, 505 f., 509, 517–520, 522 f., 535, 540 System systemische Ansätze 17, 466, 501 systemische Betrachtung 36 f. systemische Perspektiven 35 systemische Zusammenhänge 350, 501, 503 T Therapie 24, 37 f., 45, 67, 69 f., 73, 76 f., 116, 132, 138, 144, 153–155, 157–159, 177, 182, 191, 193, 217, 219 f., 235, 240, 267, 282, 314, 346, 365, 373, 379, 381, 391, 453, 457, 464, 466 f., 470, 475, 481, 486, 493, 499, 501, 503, 526–528, 533 f., 538–540, 542 traumatische 436, 442 Todeskonzept 20, 37, 173, 367 Trauer 435, 437, 442 antizipatorische 151

chronische 31–33, 474 erschwerte 69, 357, 379, 388, 435–437, 439 f., 470, 503 komplizierte 26, 31 f., 65, 67, 69, 73, 76, 235, 314, 327, 379, 388, 435–437, 439, 442, 463, 470, 475, 528, 536 traumatische 31 f., 358, 436, 439, 442 f., 448, 451, 453 Traueraufgaben 30, 376, 381, 501 Trauermodelle 11, 27, 30, 358, 422, 424, 501 Trauerreaktionen 41, 55, 65, 80, 121, 125 f., 128, 142, 170, 173, 175, 181, 197 f., 206, 212 f., 274–277, 281, 374, 443, 463, 468, 472, 541 f. individuelle 276 intensive 128 kindliche 472 menschliche 468 normale 80, 121 übliche 463 traumatische Ereignisse 35, 65, 443–447, 450, 454, 456, 468 f. Trennung 22, 39 f., 115, 177, 208–214, 235, 330, 356, 444, 471, 473, 525 f., 532 Trennung der Eltern 208–214, 356, 526 Trennungsangst 88, 126, 473 Trennungsfamilien 373 Trennungsschmerz 65, 321, 474 Trost 41, 64, 115, 120, 177, 185, 242, 258 f., 286 f., 301, 465, 468, 472, 528 V Verleugnung 29, 50, 56, 126, 133, 280, 472 Verlust von Eltern 12, 20, 23, 49, 58, 63, 79 f., 82, 85, 90, 94, 109, 111, 115, 117, 119–123, 127–129, 132–134, 137, 142, 189 f., 220, 222, 224, 227, 271, 356, 367, 375, 378, 395, 397 f., 402 f., 409, 473, 490 von Geschwistern 12, 62 f., 80, 90, 94, 97, 162, 165, 176, 179, 181, 183, 185, 367, 393, 403 von Großeltern 196, 198, 200 f., 208, 227 von Tieren 205 f., 473 W Wut 38, 43, 72, 90, 123, 150 f., 158, 177, 180, 203 f., 223, 257, 261, 268, 270, 274, 278, 364, 370 f., 389, 399, 439, 448, 451, 457, 463 f., 471, 475, 478, 483, 517, 521

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