Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation: Betriebswirtschaftliche, technische und rechtliche Herausforderungen [1. Aufl. 2019] 978-3-658-24575-7, 978-3-658-24576-4

Das Handbuch führt die vielfältigen Forschungsbemühungen der Betriebswirtschaftslehre zu Industrie 4.0 und digitaler Tra

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Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation: Betriebswirtschaftliche, technische und rechtliche Herausforderungen [1. Aufl. 2019]
 978-3-658-24575-7, 978-3-658-24576-4

Table of contents :
Front Matter ....Pages I-X
Front Matter ....Pages 1-1
Industrie 4.0 und Digitale Transformation als unternehmerische Gestaltungsaufgabe (Robert Obermaier)....Pages 3-46
Industrie 4.0 und Integrierte Informationsverarbeitung (Peter Mertens, Dina Barbian)....Pages 47-71
Industrie 4.0 – wie die Digitalisierung die Produktionskette revolutioniert (Dieter Wegener)....Pages 73-89
Industrie 4.0 im Mittelstand – Handlungspotenziale und Umsetzung (Wolfgang Becker, Patrick Ulrich, Tim Botzkowski)....Pages 91-111
Cyber-physische Systeme zwischen rechtlichen Anforderungen und rechtskonformer Gestaltung (Gerrit Hornung, Helmut Lurtz)....Pages 113-136
Front Matter ....Pages 137-137
Digitalisierung in Einkauf und Supply Chain Management (Ronald Bogaschewsky)....Pages 139-164
Die Implikationen digitaler Technologien für die Supply Chain 4.0 (Kai Hoberg, Moritz Petersen, Jakob Heinen)....Pages 165-187
Systematische Abschätzung von Wirtschaftlichkeitseffekten von Industrie-4.0-Investitionen mithilfe von Prozess- und Potenzialanalysen (Robert Obermaier, Johann Hofmann, Victoria Wagenseil)....Pages 189-203
Betriebswirtschaftliche Wirkungen digital vernetzter Fertigungssysteme – Eine Analyse des Einsatzes moderner Manufacturing-Execution-Systeme in der verarbeitenden Industrie (Robert Obermaier, Victoria Wagenseil)....Pages 205-233
Additive Fertigung und deren Auswirkungen auf Supply Chains (Katrin Oettmeier, Erik Hofmann)....Pages 235-245
Industrie-4.0-Readiness von Supply-Chain-Netzwerken (Marion Steven, Timo Klünder, Laura Reder)....Pages 247-267
Adaptive Assistenzsysteme zur Entscheidungsunterstützung für die dynamische Auftragsabwicklung: Konzeptionelle Überlegungen und Anwendungsszenarien unter Berücksichtigung des Digitalen Zwillings des Produktionssystems (Martin Kunath, Herwig Winkler)....Pages 269-294
Digitales Shopfloor-Management: Ein adaptives Informations- und Entscheidungsinstrument im Umfeld von Industrie-4.0-Produktionssystemen (Günter Bitsch)....Pages 295-315
Entwicklung, Produktion und Einsatz von Industrie 4.0-Komponenten – Betriebswirtschaftliche Potenziale des digitalen Zwillings in der Produktion (Jens F. Lachenmaier, Clemens Haußmann, Hans-Georg Kemper, Heiner Lasi)....Pages 317-337
Industrie 4.0 und Dienstleistungsproduktion: Fallstudienanalysen aus dem Bereich der Leistungsprozesse in Forschung und Lehre (Matthias Klumpp)....Pages 339-352
Front Matter ....Pages 353-353
Geschäftsmodelle im Wandel durch Industrie 4.0 – Wie sich etablierte Industrieunternehmen in verschiedenen Branchen verändern (Kai-Ingo Voigt, Christian Arnold, Daniel Kiel, Julian M. Müller)....Pages 355-378
Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische Wirkungslogik und Anwendungsfälle in einer Industrie 4.0 (Robert Obermaier, Philipp Mosch)....Pages 379-417
Industrie 4.0 – einfach machen durch Open Innovation. Vorgehensweisen und praktische Erfahrungen zur Erarbeitung neuer digitaler Geschäftsmodelle (Stefan Walter)....Pages 419-452
Vermarktung von Produkt-Service-Systemen in der Industrie 4.0: Grundlagen und zentrale Herausforderungen für die Preisbestimmung (Dirk Totzek, Gloria Kinateder, Eva Kropp)....Pages 453-477
Datenfreigabe als Grundlage für erfolgreiche Smart Services im Business-to-Business-Kontext: Herausforderungen und erste Lösungsansätze (Curd-Georg Eggert, Corinna Winkler, Jan H. Schumann)....Pages 479-501
Front Matter ....Pages 503-503
Künstliche Intelligenz: Strategische Herausforderungen für etablierte Unternehmen (Justus Wolff, Andreas Keck, Andreas König, Lorenz Graf-Vlachy, Julia Menacher)....Pages 505-528
Zur Bedeutung von Solows Paradoxon: Empirische Evidenz und ihre Übertragbarkeit auf Digitalisierungsinvestitionen in einer Industrie 4.0 (Robert Obermaier, Stefan Schweikl)....Pages 529-564
Organisationaler Wandel und Mitarbeiterakzeptanz. Vorgehen und Handlungsempfehlungen (André Ullrich, Gergana Vladova, Christof Thim, Norbert Gronau)....Pages 565-587
Der Wandel der Arbeitswelt in einer Industrie 4.0 (Rahild Neuburger)....Pages 589-608
Bestimmung der digitalen Fitness in der produzierenden Industrie (Roland Willmann)....Pages 609-622
Survival of the Quickest – Agilität als organisationale Ressource in der digitalen Transformation (Fabian Schrempf, Manfred Schwaiger)....Pages 623-648
Herausforderungen für das IT- Architekturmanagement im Zuge der Digitalisierung (Stephan Wildner)....Pages 649-663
Erweiterung datenbasierter Wertschöpfungsketten um transferierbare Modelle (Torben Schnuchel, Michael Granitzer)....Pages 665-679
Front Matter ....Pages 681-681
Industrie 4.0 – Auswirkungen auf Finanzierungsinstrumente und -prozesse sowie den Finanzleiter der Unternehmung (Stephan Paul)....Pages 683-701
Controlling in der Echtzeit-Economy: Auswirkungen der digitalen Transformation auf die Unternehmenssteuerung (Barbara E. Weißenberger, Kai A. Bauch)....Pages 703-721
Controlling in einer Industrie 4.0 – Chancen und Herausforderungen für die Unternehmenssteuerung (Robert Obermaier, Markus Grottke)....Pages 723-752
Wirtschaftsprüfung im Zeitalter der Digitalisierung (Benedikt Downar, Dominik Fischer)....Pages 753-779

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Robert Obermaier Hrsg.

Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation Betriebswirtschaftliche, technische und rechtliche Herausforderungen

Handbuch Industrie 4.0 und Digitale ­Transformation

Robert Obermaier (Hrsg.)

Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation Betriebswirtschaftliche, technische und rechtliche Herausforderungen

Hrsg. Robert Obermaier Universität Passau Passau, Deutschland

ISBN 978-3-658-24575-7 ISBN 978-3-658-24576-4  (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Springer Gabler © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Springer Gabler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Abraham-Lincoln-Str. 46, 65189 Wiesbaden, Germany

Vorwort

Der Begriff Industrie 4.0, vor knapp acht Jahren auf der Hannover Messe geprägt und verbunden mit der Vision, sämtliche Akteure industrieller Wertschöpfungssysteme ­digital zu einem sog. Industrial Internet of Things zu vernetzen, hat sich nicht nur rasant und global verbreitet, sondern auch bereits beachtliche Spuren in der industriellen Praxis ­hinterlassen. Viele Unternehmen haben Digitalisierungsprojekte gestartet, zahlreiche Forschungsprojekte laufen oder sind beantragt. Ursprünglich als Zukunftsprojekt der Hightechstrategie der deutschen Bundesregierung beschrieben, sind mittlerweile schon Forschungsprojekte mit einem Fördervolumen von rund einer Milliarde Euro angestoßen worden – mit weiter steigender Tendenz. Zudem gibt es auch andernorts Projekte; in den USA wird von einem „Industrial Internet“, auf europäischer Ebene von „Factories of the Future“ gesprochen. Dabei fällt auf, dass in vielen Ländern, allen voran in China, aber auch in den über lange Jahre regelrecht deindustrialisierten Vereinigten Staaten, die volkswirtschaftliche Bedeutung industrieller Produktion und der sie begleitenden Dienstleitungen (wieder-)erkannt wurde, weshalb erheblich in den Aufbau wettbewerbsfähiger, digital vernetzter industrieller Strukturen investiert wird. Und hier ist das Thema Industrie 4.0 auch aus deutscher Sicht zu verorten: aus dem Bemühen, die Wettbewerbsfähigkeit der hiesigen Industrie zu erhalten und auszubauen. Der derzeit in Deutschland vorherrschende Ansatz im Bereich der Forschungsförderung, Industrie-4.0-Projekte möglichst schnell „auf den betrieblichen Hallenboden“ zu bringen, ist zwar nachvollziehbar, geht aber als anwendungsorientierter Forschungsansatz von in hinreichendem Maße vorliegender Grundlagenforschung aus. Wenngleich die technische Umsetzung der Vision Industrie 4.0 zu großen Teilen auf ausgereifte Technologien, insbesondere was Sensorik, Aktorik und Vernetzung betrifft, zurückgreifen kann, war Industrie 4.0 vor allem betriebswirtschaftlich aber noch zu unscharf. Zudem sind neue Technologien aus dem Bereich der additiven Fertigung oder des Machine Learning im Vormarsch, deren betriebswirtschaftliche Potenziale erst erahnt werden können. Insgesamt steht die Industrie vor erheblichen Investitionsanstrengungen, deren wirtschaftliche Folgen mit großer Unsicherheit verbunden sind; nicht zuletzt, da der Weg der digitalen Transformation hin zu einer Industrie 4.0 selbst noch nicht mit der V

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Vorwort

gewünschten Gewissheit beschritten werden kann. Hier spielt das unternehmerische Element, mitunter bewährte Pfade zu verlassen, eine herausragende Rolle. Die betriebswirtschaftliche Analyse von nötigen Anpassungs- und Managementprozessen steht ebenso aus wie Untersuchungen zu den entsprechenden Produktivitätswirkungen. Und nicht zuletzt stecken Produktinnovation und Geschäftsmodellentwicklung sowie die dahinterliegenden Smart-Data-Lösungen erkennbar noch in den Kinderschuhen. Der vorliegende Herausgeberband beabsichtigt, als Fortführung und Weiterentwicklung der ersten betriebswirtschaftlichen Tagung zu Industrie 4.0 an der Universität Passau im Jahr 2014 und des daraus hervorgegangenen Vorgängerbandes „Industrie 4.0 als unternehmerische Gestaltungsaufgabe“ zu einem betriebswirtschaftlichen Kompendium zum Thema „Industrie 4.0 und Digitale Transformation“ zu werden. So dynamisch wie sich das Themenfeld in Wissenschaft und Praxis entwickelt, setzt der vorliegende Band freilich keinen Schlusspunkt, sondern strebt danach, den bisherigen und gegenwärtigen Entwicklungen Rechnung zu tragen und den künftigen Entwicklungen in Folgeauflagen gerecht zu werden. Die vorliegenden Beiträge zeigen in ihrer Vielfalt, welch spannendes und hochrelevantes Forschungsfeld sich mit „Industrie 4.0 und Digitale Transformation“ für die Betriebswirtschaftslehre und ihre Nachbardisziplinen auftut. Im I. Teil des Bandes werden die Konzeptionen von „Industrie 4.0 und Digitale Transformation“ in Theorie und Praxis eingeordnet. Im II. Teil werden die leistungswirtschaftlichen Aspekte der Digitalisierung in Produktion und Supply Chain Management betrachtet, während sich der III. Teil produktbegleitenden Dienstleistungen, digitalen Plattformen und Geschäftsmodellen widmet. Im IV. Teil stehen die IT sowie Innovation und Organisation im Mittelpunkt. Teil V beleuchtet schließlich die Auswirkungen der Digitalisierung auf Finanzwesen und Controlling in Unternehmen. Der Dank gilt allen, die zum Gelingen dieses Herausgeberbandes beigetragen haben: vor allem natürlich den Autoren, die mit ihren Beiträgen den wissenschaftlichen Diskurs erst ermöglichen, aber auch allen, die zur Herstellung des Bandes beigetragen haben, insbesondere den Mitarbeitern meines Lehrstuhls und hierfür insbesondere meiner Sekretärin Ulrike Haberl und meinem Assistenten Philipp Mosch. Dem ­Springer Verlag danke ich für die stets engagierte und professionelle Unterstützung unseres ­Unterfangens. Passau Januar 2019

Professor Dr. Robert Obermaier

Inhaltsverzeichnis

Teil I Industrie 4.0 und Digitale Transformation: Konzeption und Einordnung Industrie 4.0 und Digitale Transformation als unternehmerische Gestaltungsaufgabe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 Robert Obermaier Industrie 4.0 und Integrierte Informationsverarbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 Peter Mertens und Dina Barbian Industrie 4.0 – wie die Digitalisierung die Produktionskette revolutioniert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Dieter Wegener Industrie 4.0 im Mittelstand – Handlungspotenziale und Umsetzung. . . . . . . . . . 91 Wolfgang Becker, Patrick Ulrich und Tim Botzkowski Cyber-physische Systeme zwischen rechtlichen Anforderungen und rechtskonformer Gestaltung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Gerrit Hornung und Helmut Lurtz Teil II Industrie 4.0 und Digitale Transformation in Produktion und Supply Chain Management Digitalisierung in Einkauf und Supply Chain Management. . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Ronald Bogaschewsky Die Implikationen digitaler Technologien für die Supply Chain 4.0. . . . . . . . . . . 165 Kai Hoberg, Moritz Petersen und Jakob Heinen Systematische Abschätzung von Wirtschaftlichkeitseffekten von Industrie-4.0-Investitionen mithilfe von Prozess- und Potenzialanalysen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 Robert Obermaier, Johann Hofmann und Victoria Wagenseil VII

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Inhaltsverzeichnis

Betriebswirtschaftliche Wirkungen digital vernetzter Fertigungssysteme – Eine Analyse des Einsatzes moderner Manufacturing-Execution-Systeme in der verarbeitenden Industrie. . . . . . . . . . 205 Robert Obermaier und Victoria Wagenseil Additive Fertigung und deren Auswirkungen auf Supply Chains. . . . . . . . . . . . . 235 Katrin Oettmeier und Erik Hofmann Industrie-4.0-Readiness von Supply-Chain-Netzwerken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Marion Steven, Timo Klünder und Laura Reder Adaptive Assistenzsysteme zur Entscheidungsunterstützung für die dynamische Auftragsabwicklung: Konzeptionelle Überlegungen und Anwendungsszenarien unter Berücksichtigung des Digitalen Zwillings des Produktionssystems. . . . . . . . . . . . 269 Martin Kunath und Herwig Winkler Digitales Shopfloor-Management: Ein adaptives Informations- und Entscheidungsinstrument im Umfeld von Industrie-4.0-Produktionssystemen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Günter Bitsch Entwicklung, Produktion und Einsatz von Industrie 4.0-Komponenten – Betriebswirtschaftliche Potenziale des digitalen Zwillings in der Produktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Jens F. Lachenmaier, Clemens Haußmann, Hans-Georg Kemper und Heiner Lasi Industrie 4.0 und Dienstleistungsproduktion: Fallstudienanalysen aus dem Bereich der Leistungsprozesse in Forschung und Lehre. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 339 Matthias Klumpp Teil III Industrie 4.0 und Digitale Transformation von produktbegleitenden Dienstleistungen, Plattformen und Geschäftsmodellen Geschäftsmodelle im Wandel durch Industrie 4.0 – Wie sich etablierte Industrieunternehmen in verschiedenen Branchen verändern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 Kai-Ingo Voigt, Christian Arnold, Daniel Kiel und Julian M. Müller Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische Wirkungslogik und Anwendungsfälle in einer Industrie 4.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . 379 Robert Obermaier und Philipp Mosch

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Industrie 4.0 – einfach machen durch Open Innovation. Vorgehensweisen und praktische Erfahrungen zur Erarbeitung neuer digitaler Geschäftsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 419 Stefan Walter Vermarktung von Produkt-Service-Systemen in der Industrie 4.0: Grundlagen und zentrale Herausforderungen für die Preisbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 453 Dirk Totzek, Gloria Kinateder und Eva Kropp Datenfreigabe als Grundlage für erfolgreiche Smart Services im Business-to-Business-Kontext: Herausforderungen und erste Lösungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479 Curd-Georg Eggert, Corinna Winkler und Jan H. Schumann Teil IV Industrie 4.0 und Digitale Transformation von IT, Innovation und Organisation Künstliche Intelligenz: Strategische Herausforderungen für etablierte Unternehmen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 Justus Wolff, Andreas Keck, Andreas König, Lorenz Graf-Vlachy und Julia Menacher Zur Bedeutung von Solows Paradoxon: Empirische Evidenz und ihre Übertragbarkeit auf Digitalisierungsinvestitionen in einer Industrie 4.0. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 529 Robert Obermaier und Stefan Schweikl Organisationaler Wandel und Mitarbeiterakzeptanz. Vorgehen und Handlungsempfehlungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 565 André Ullrich, Gergana Vladova, Christof Thim und Norbert Gronau Der Wandel der Arbeitswelt in einer Industrie 4.0 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 589 Rahild Neuburger Bestimmung der digitalen Fitness in der produzierenden Industrie. . . . . . . . . . . 609 Roland Willmann Survival of the Quickest – Agilität als organisationale Ressource in der digitalen Transformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 623 Fabian Schrempf und Manfred Schwaiger

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Herausforderungen für das IT- Architekturmanagement im Zuge der Digitalisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 649 Stephan Wildner Erweiterung datenbasierter Wertschöpfungsketten um transferierbare Modelle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 665 Torben Schnuchel und Michael Granitzer Teil V Industrie 4.0 und Digitale Transformation in Finanzwesen und Controlling Industrie 4.0 – Auswirkungen auf Finanzierungsinstrumente und -prozesse sowie den Finanzleiter der Unternehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 683 Stephan Paul Controlling in der Echtzeit-Economy: Auswirkungen der digitalen Transformation auf die Unternehmenssteuerung. . . . . . . . . . . . . . . 703 Barbara E. Weißenberger und Kai A. Bauch Controlling in einer Industrie 4.0 – Chancen und Herausforderungen für die Unternehmenssteuerung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 723 Robert Obermaier und Markus Grottke Wirtschaftsprüfung im Zeitalter der Digitalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 753 Benedikt Downar und Dominik Fischer

Teil I Industrie 4.0 und Digitale Transformation: Konzeption und Einordnung

Industrie 4.0 und Digitale Transformation als unternehmerische Gestaltungsaufgabe Robert Obermaier

1 Problemstellung Unter dem Stichwort Industrie 4.0 wird seit geraumer Zeit die Vision einer sich anbahnenden vierten industriellen Revolution beschrieben – um nicht zu sagen ausgerufen. Kern dieser Vision stellt nach den vorangegangenen Revolutionen Mechanisierung, Automatisierung und Digitalisierung nun die Vernetzung von industrieller Infrastruktur und allen an der Wertschöpfung beteiligten Akteure dar. Freilich ist die Frage, ob die unter „Industrie 4.0“ erwartete Entwicklung nicht eher evolutionär als revolutionär sei, ex ante gar nicht entscheidbar, weil nur ex post feststellbar. Dennoch lehrt der Blick auf die früheren technologischen Revolutionen, dass sie sich mitunter langsam ausbreiten, prozesshaft ablaufen und daher zunächst kaum revolutionäre Züge tragen, aber mit einem Mal eine Dynamik erlangen können, die etablierte Produktionsweisen, Produkte und Geschäftsmodelle nachhaltig verändern, neue entstehen lassen und manche sogar auslöschen. Man mag die Entwicklung der Dampfmaschine oder die Elektrifizierung bemühen; es ist aber eigentlich kein weiter Blick zurück nötig. Am eindrücklichsten tritt die Dynamik hervor, ruft man sich nur die jüngsten technologischen Errungenschaften in Erinnerung. Durch die Digitalisierung werden Geschäftsprozesse standardisiert und automatisiert, durch die Entwicklung des Internets werden global integrierte Supply Chains und Absatzkanäle etabliert und darauf aufbauend neue Geschäftsmodelle kreiert. Dabei blieb im Rahmen dieser letzten Umwälzung – bildlich gesprochen – kein Stein auf dem anderen: Wo sind heute Agfa, Kodak, Brockhaus, Neckermann oder Quelle? Und wo waren vor zwanzig Jahren Amazon, Facebook, Google & Co.? R. Obermaier (*)  Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_1

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Interessanterweise blieb das Feld der verarbeitenden Industrie, der Bereich der physischen Produktion, längere Zeit von diesen Entwicklungen verschont. Teilweise kann das mit ausstehenden technologischen Entwicklungen erklärt werden. Im Rahmen des Computer Integrated Manufacturing (CIM) wurde zwar schon vor dreißig Jahren eine Integration von betriebswirtschaftlichen Planungs- und Steuerungsaufgaben mit den primär technisch orientierten Aufgaben der Produktion angedacht. Diese gelang jedoch nur zu einem gewissen Teil. Aus heutiger Sicht steht eine Reihe neuartiger Technologien mit einem mittlerweile beachtlichen Reifegrad bereit. Zu nennen sind: Sensorik, Aktorik, Eingebettete Systeme, Internet- und Kommunikationstechnologie, Software und Systemtechnik sowie Mensch-Maschine-Schnittstellen. In Kombination erlauben diese Technologien eine Reihe von neuartigen Funktionen im Bereich der industriellen Produktion. Mit diesen Funktionen wird die im Rahmen von Industrie 4.0 skizzierte Produktionsvision möglich, die durch eine durchgängige Digitalisierung und Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure gekennzeichnet ist. Zentrale Rolle nehmen dabei sog. cyber-physische Systeme (CPS) ein, die mittels Sensoren Daten erfassen, mittels eingebetteter Software aufbereiten und mittels Aktoren auf reale Vorgänge einwirken, über eine Dateninfrastruktur wie z. B. das Internet kommunizieren und über MenschMaschine-Schnittstellen verfügen und so eine dezentrale, intelligente Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure ermöglichen, sodass ein Echtzeitabbild aller relevanten Prozesse möglich wird. Industrie 4.0 verbindet damit nicht nur – wie aus der Welt des Internets bisher gewohnt – virtuelle Dinge, sondern ganz im Sinne des „Internet of Things“ reale Dinge mit virtuellen Dingen und diese mit Menschen. Mit diesem Übergang zu einem digital vernetzten Gesamtsystem wird versucht, eine noch engere und auf Echtzeitdaten basierende Abstimmung von betriebswirtschaftlicher und technischer Informationsverarbeitung (nicht nur) im Fertigungssektor zu erreichen. Gemeinsames Ziel von Industrie-4.0-Technologien ist die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit durch Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Instanzen sowie die Fähigkeit, aus den Daten den zu jedem Zeitpunkt optimalen Wertschöpfungsfluss abzuleiten. Durch die Verbindung von Menschen, Objekten und Systemen entstehen dynamische, echtzeitoptimierte und selbst organisierende, unternehmensübergreifende Wertschöpfungsnetzwerke, die sich nach unterschiedlichen Kriterien wie bspw. Kosten, Verfügbarkeit und Ressourcenverbrauch optimieren lassen ­ (Plattform Industrie 4.0).

Der daraus zu erwartende Nutzen wird, obgleich bislang nicht abschätzbar, als enorm erachtet. Diese erste und zentrale Ebene von „Industrie 4.0“ zielt damit auf die Prozesseffizienz industrieller Wertschöpfung. Dabei – und das zeigte sich schnell – ist der Anwendungskontext dieser Produktionsvision keineswegs auf industrielle

Industrie 4.0 und Digitale Transformation als unternehmerische …

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Produktionsprozesse beschränkt; auch die Dienstleistungsproduktion und öffentliche Leistungserstellungsprozesse werden davon betroffen sein. Als zweite wesentliche Ebene von Industrie 4.0 treten neben die „smarten“ Produktionsprozesse die Produktinnovationen in Form von intelligenten und vernetzten Produkten. Ebenso wie Akteure der Leistungserstellung zunehmend vernetzt werden können, ist dies auch auf der Ebene der Produkte möglich. Dabei ist in Erweiterung des „Internet of Things“ auch schon vom „Internet of Everything“ die Rede. Dadurch können sich Produktfunktionalitäten und das Leistungsspektrum von Produkten selbst ganz wesentlich verändern. Zudem werden Ergänzungen bzw. Überlappungen von Produkten und Dienstleistungen erwartet („the product as a service“) mit entsprechenden Auswirkungen auf Bezahl- und Geschäftsmodelle. Damit wird der Weg von Industrie 4.0 nochmals verbreitert: von der Prozessinnovation über die Produktinnovation bis hin zur Geschäftsmodellinnovation. All die damit verbundenen betriebswirtschaftlichen Fragen liegen auf der Hand: Was sind die Gestaltungsoptionen für die Unternehmensführung? Welche Herausforderungen und welche Chancen bestehen für Unternehmen darin, in Technologien zu investieren, die über die gesamte Wertschöpfung Informationen in Echtzeit zur Verfügung stellen und daraus entscheidungsrelevante Informationen zum Zweck der Unternehmensführung gewinnen und einsetzen können? Wie sind die daraus entstehenden Nutzenpotenziale zu bewerten? Welche Kosten sind zu erwarten? Wie wird dadurch die Wettbewerbsfähigkeit beeinflusst? Wie ist der damit verbundene organisationale Wandel zu gestalten? Denn die Digitalisierung verändert existierende Arbeitsabläufe und gewohnte Muster der Zusammenarbeit, der Informationsbeschaffung und des Datenaustauschs sowie Kommunikationsstrukturen und stellt daher einen nicht unerheblichen Eingriff in bestehende Unternehmen dar. Aufzuzeigen, welche betriebswirtschaftlichen Handlungs- und Gestaltungsoptionen mit Industrie 4.0 und der digitalen Transformation von Unternehmen verbunden sind, ist Gegenstand dieses Beitrags. Dazu soll zunächst ein (betriebswirtschaftlich orientiertes) Begriffsverständnis für Industrie 4.0 entwickelt werden, bevor im Anschluss Trends, relevante Technologien und Anwendungen für wettbewerbsfähige industrielle Strukturen analysiert und die sich durch Industrie 4.0 ergebenden Strategieoptionen entwickelt werden. Der Beitrag wird dabei insbesondere 1) auf die Steigerung der Effizienz von Prozessen industrieller Wertschöpfung und 2) auf die Steigerung der Effektivität von Produkten und der Wettbewerbsfähigkeit damit zusammenhängender Geschäftsmodelle eingehen.

2 Industrie 4.0 und Digitale Transformation Angestoßen durch eine Promotorengruppe, die den Begriff Industrie 4.0 erstmals auf der Hannover Messe 2011 in die Öffentlichkeit trug, wurde auf einen möglichen, durch das sog. Internet of Things (IoT) angestoßenen Paradigmenwechsel in der Industrie

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a­ufmerksam gemacht, der das Potenzial habe, eine sog. vierte industrielle Revolution auszulösen (Kagermann et al. 2011).1 Der Terminus Industrie 4.0 steht dabei ursprünglich für ein Zukunftsprojekt der deutschen Bundesregierung, mit dem die digitale Vernetzung klassischer Fertigungsindustrien vorangetrieben werden sollte, um für die Zukunft wettbewerbsfähige industrielle Strukturen auf-, um- oder auszubauen und so „die deutsche Industrie in die Lage zu versetzen, für die Zukunft der Produktion gerüstet zu sein“ (BMBF 2014). Institutionalisiert wurden diese Bemühungen in Deutschland im Rahmen einer ­„Plattform Industrie 4.0“, auf der sich mehrere Industrie- und Forschungsverbände unter Leitung des Bundeswirtschafts- und des Bundesforschungsministeriums zusammengefunden haben. Folgendes „offizielle“ Begriffsverständnis wurde dabei verlautbart: Der Begriff Industrie 4.0 steht für die vierte industrielle Revolution, einer neuen Stufe der Organisation und Steuerung der gesamten Wertschöpfungskette über den Lebenszyklus von Produkten. Dieser Zyklus orientiert sich an zunehmend individualisierten Kundenwünschen und erstreckt sich von der Idee, dem Auftrag über die Entwicklung und Fertigung, die Auslieferung eines Produkts an den Endkunden bis hin zum Recycling, einschließlich der damit verbundenen Dienstleistungen. Basis ist die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit durch Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Instanzen sowie die Fähigkeit, aus den Daten den zu jedem Zeitpunkt optimalen Wertschöpfungsfluss abzuleiten. Durch die Verbindung von Menschen, Objekten und Systemen entstehen dynamische, echtzeitoptimierte und selbst organisierende, unternehmensübergreifende Wertschöpfungsnetzwerke, die sich nach unterschiedlichen Kriterien wie bspw. Kosten, Verfügbarkeit und Ressourcenverbrauch optimieren lassen (Plattform Industrie 4.0 2014).

Der erste Teil dieser Begriffsumschreibung bezweckt die Verschränkung von technischer Produktplanung und -realisierung (Design und Konstruktion) mit betriebswirtschaftlicher Produktionsplanung und -steuerung (Produktion und Logistik) über die gesamte Wertschöpfungskette. Die explizite Kundenintegration zielt darauf ab, die „klassische“ industrielle Planungslogik zu überwinden, nach der kurzfristig eher die Kundenbedürfnisse an das (gegebene) Produktprogramm anzupassen seien. Mit anderen Worten geht es darum, auch kurzfristig kundenindividuelle Produkte nach industriellem Maßstab herstellen zu können, was zwangsläufig Auswirkungen auf das Geschäftsmodell und die strategische Produkt- und Produktionsplanung von Industriebetrieben haben wird. Der zweite Teil stellt die Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure zu sog. cyber-physischen Systemen in den Mittelpunkt, um so die physische Welt mit dem Internet zu verbinden. Aus dem so erzeugten digitalen Modell soll eine datenbasierte Entscheidungsunterstützung möglich werden, um so auf die Ebene der industriellen Wertschöpfung zurückzuwirken. 1In

etwa zeitgleich wurde in den USA mit dem Schlagwort „Industrial Internet“ eine ähnliche Initiative begonnen.

Industrie 4.0 und Digitale Transformation als unternehmerische …

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Abb. 1   Industrie-4.0-Transformationspfad. (Quelle: Eigene Darstellung)

Mittlerweile hat sich der Begriff Industrie 4.0 rasant verbreitet, und es kursieren trotz (aber auch gerade wegen) seiner Unbestimmtheit verschiedenste Auffassungen dazu. Für die weiteren Ausführungen soll unter Industrie 4.0 folgendes Begriffsverständnis Verwendung finden (Obermaier 2016): „Industrie 4.0“ beschreibt eine Form industrieller Wertschöpfung, die durch (weitgehende) Digitalisierung, Automatisierung sowie Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure charakterisiert ist und auf Prozesse, Produkte oder Geschäftsmodelle von ­Unternehmen einwirkt.

Diese Definition gibt auch den Rahmen der weiteren Ausführungen vor, die nach einer Analyse der technologischen Möglichkeiten (Ursachenebene) von Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung auf die damit verbundenen betriebswirtschaftlichen Möglichkeiten (Wirkungsebene) von Prozessen, Produkten und Geschäftsmodellen blickt. Dabei stellen die technologischen Möglichkeiten einer „Industrie 4.0“ Unternehmen vor die Aufgabe, sich diese betriebswirtschaftlich nutzbar zu machen und die damit einhergehenden Herausforderungen zu bewältigen.

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Grundsätzlich können hierbei zwei Stoßrichtungen unterschieden werden: zum einen die Wertschöpfungsprozesse und zum anderen Produkte und Dienstleistungen (Abb. 1). Beide können Gegenstand von Digitalisierungs- und Vernetzungsinvestitionen sein und damit den Pfad der digitalen Transformation von Unternehmen beschreiben. Wie darzustellen sein wird, zielt die Digitalisierung von Prozessen zunächst auf die Realisierung von Kostenvorteilen, kann aber auch Differenzierungsvorteile z. B. durch kundenindividuelle Fertigung ermöglichen. Die Digitalisierung und Vernetzung von Produkten und Dienstleistungen zielt grundsätzlich auf das zusätzliche Angebot produktbegleitender Dienstleistungen und damit Differenzierungsvorteile, kann aber auch mit Kostenvorteilen einhergehen. Damit eröffnet sich für die Unternehmensführung ein Handlungsraum, der sowohl den Digitalisierungs- und Vernetzungsgrad von Prozessen als auch von Produkten, Dienstleistungen und damit zusammenhängenden Geschäftsmodellen zum Gegenstand einer betriebswirtschaftlichen Strategieplanung (Digitalisierungsstrategie) zur Realisierung von Wettbewerbsvorteilen und den damit notwendigerweise verbundenen digitalen Transformationsprozess zu einer unternehmerischen Gestaltungsaufgabe macht. Für die digitale Transformation eines Unternehmens, d. h. das erfolgreiche Beschreiten des Transformationspfads, sind neben einer entsprechenden Digitalisierungsstrategie aber auch zwei wesentliche Kompetenzen entscheidend: zum einen die digitalen Fähigkeiten, Prozesse, Produkte und Geschäftsmodelle digital zu entwickeln und zum anderen die transformationalen Fähigkeiten, entsprechende Veränderungsprozesse im Unternehmen anzustoßen. Daraus erwächst für die digitale Transformation eine Matrix der Transformationsfähigkeit, die sich vereinfachend in einer Vierfeldermatrix darstellen lässt (Abb. 2). Unternehmen im linken unteren Quadranten (Digitale Starter) verfügen über nur geringe Digitalisierungskompetenz, obgleich sie mit Standard-ERP-Software oder einer Internetseite ausgestattet sein mögen. Unternehmen im rechten unteren Quadranten (Digitale Konservative) verfügen über bewährte Management- und Transformationskompetenz, stehen neuen Trends wie der Digitalisierung aber skeptisch gegenüber und haben noch keine entsprechenden digitalen Fähigkeiten entwickelt. Unternehmen im linken oberen Quadranten (Digitale Progressive) zeichnen sich demgegenüber durch progressiven Umgang mit neuen Digitaltechnologien aus. Allerdings vermögen sie es nicht in gleichem Maße, Prozesse, Produkte und Geschäftsmodelle zu digitalisieren, sodass ein kohärenter Transformationspfad beschritten werden könnte. Unternehmen im rechten oberen Quadranten (Digitale Profis) verstehen sich darin, die Digitalisierungsstrategie sowohl was die digitalen Fähigkeiten angeht, als auch was die Transformationskompetenz betrifft, einen echten Wettbewerbsvorteil zu generieren. Der Aufbau entsprechender digitaler Transformationsfähigkeit ist eine wesentliche Herausforderung für klassische Industrieunternehmen, die sich den Herausforderungen der Digitalisierung gegenübersehen; und zwar in beiden Dimensionen. Das modische

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Abb. 2   Industrie 4.0 Digital- und Transformationsfähigkeit. (Quelle: Eigene Darstellung; in Anlehnung an Westerman und McAfee 2012)

Verfolgen von Digitalisierungstrends bietet für sich noch keine Gewähr für eine erfolgreiche digitale Transformation. Dies zeigen neben sog. Start-ups auch Versuche von Industrieunternehmen mit sog. Digitalisierungslabs, die an der Übertragung in die Organisation des Industriebetriebs scheitern. Aber auch die Vorstellung, dass Unternehmen mit geübter Transformations- und Restrukturierungspraxis planmäßig digitale Kom­ petenzen aufbauen und aussichtsreiche Digitalisierungsprojekte starten könnten, hält praktischen Erfahrungen nicht ohne Weiteres stand.

3 Industrie 4.0 als vierte industrielle Revolution? Das Schlagwort Industrie 4.0 dient gegenwärtig dazu, das Bild einer sich anbahnenden vierten industriellen Revolution zu zeichnen. Kennzeichnend für die bisherigen industriellen Revolutionen waren technologische Innovationen als auslösendes Moment: 1) die Mechanisierung durch Ersatz von Muskelkraft durch Wasserkraft und Dampf, 2) die Automatisierung durch Einsatz elektrischer Energie und Arbeitsteilung und 3) die Digitalisierung durch Einsatz programmierbarer Maschinensteuerungen zur weitgehenden

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Abb. 3   Von Industrie 1.0 bis Industrie 4.0. (Quelle: Promotorengruppe Kommunikation der Forschungsunion Wirtschaft – Wissenschaft 2012)

Automatisierung und Standardisierung weiter Bereiche der Fertigung, aber auch vieler administrativer Prozesse mithilfe von IT. Den Kern der nunmehr ausgerufenen vierten industriellen Revolution stellt nach den bisherigen Stufen Mechanisierung, Automatisierung und Digitalisierung nun 4) die Vernetzung von industrieller Infrastruktur (Maschinen, Werkstücke, Produkte und Menschen) im Bereich der industriellen Produktion mittels CPS dar (Abb. 3). Die verwendete Zählweise ist nicht unumstritten, spielt im Rahmen dieser Ausführungen aber keine Rolle.2 Unumstritten ist freilich auch die durchaus angreifbare Auffassung nicht, eine vierte industrielle Revolution ex cathedra zu verkünden. Verknüpft wird die Kritik daran zumeist mit der – etwas müßigen – Frage, ob es sich nicht vielmehr um eine Evolution, als um eine Revolution handeln würde, da diese nur ex post, nicht aber ex ante beantwortbar ist. Allerdings sollte nicht verkannt werden, dass

2Insbesondere

das eher historisch oder sozialwissenschaftlich ausgerichtete Schrifttum versteht unter der Industriellen Revolution den tief greifenden und dauerhaften Umbruch der wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse im ausgehenden 18. und dann vor allem im 19. Jahrhundert. Als zweite industrielle Revolution beschreibt die Wirtschaftsgeschichte die Phase Hochindustrialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert, während als dritte industrielle Revolution zumeist die Phase zunehmender Digitalisierung und Ausbreitung der Computertechnik genannt wird, die als noch nicht abgeschlossen gilt. Vgl. Clark (2007), Pierenkemper (1996) und insbesondere Rifkin (2011, 2014). Demnach fiele die derzeit diskutierte Vision „Industrie 4.0“ noch unter die dritte industrielle Revolution. Einer anderen Einteilung folgen Teile der Volkswirtschaftslehre unter Rückgriff auf sog. Kondratieff-Zyklen, die eine Theorie innovationsinduzierter Wachstumszyklen propagieren und deren Zahl auf derzeit etwa fünf geschätzt wird. Vgl. z. B. Korotayev und Tsirel (2010).

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sich, in der Rückschau und von den festgestellten Wirkungen ausgehend, Revolutionen stets nur gegen die Richtung der Zeit erkennen lassen, während deren (schrittweiser) Ablauf nur mit der Zeit beschrieben werden kann und sie dabei regelmäßig den Charakter einer evolutionären Entwicklung aufweisen. Und so lehren uns frühere industrielle Revolutionen, dass sie sich mitunter langsam ausbreiten, prozesshaft ablaufen, aber mit einem Mal eine Dynamik erlangen können, die etablierte Produktionsweisen, Produkte und Geschäftsmodelle nachhaltig verändern, neue entstehen lassen und manche dafür auch auslöschen. Zeuge derartiger Entwicklungen war die gegenwärtige Generation ja zuletzt bei der Ausbreitung des Internets. Die sog. Internetrevolution hat z. B. in der Musikindustrie ehemals angestammte datenträgerbasierte Geschäftsmodelle (Schallplatte, Kassette, Compact Disc) nahezu völlig ausgelöscht und sich stattdessen zu rein digitalen Plattformen (Apple iTunes, diverse Streamingdienste, etc.) hin entwickelt. Der leise Abbau von Telefonzellen und die hingegen massenweise Ausbreitung von Mobiltelefonen und in den vergangenen Jahren zuletzt von sog. Smartphones sprechen Bände. Ähnliches war und ist vor allem im Handel zu beobachten: stationärer Handel und Versandhandel (Quelle, Neckermann) haben Marktanteile in erheblichem Umfang an Internethändler oder Plattformen wie Amazon, Zalando oder Ebay abgeben müssen. Und auch einst bildungsbürgerliche Statussymbole wie Brockhaus oder die Encyclopedia Britannica konnten gegen Google und Wikipedia nicht bestehen. Angesichts der mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen mag die damit verbundene unglaublich rasante Entwicklung aus heutiger Sicht unvermeidlich erscheinen, vor allem aber wird sie als unumkehrbar einzuschätzen sein. Überraschend ist dennoch, dass bis dato der klassische Industriebetrieb (zumindest scheinbar) im Schatten dieser Dynamik stand. Die Hauptwirkungsfelder der Internetrevolution waren und sind (noch) im Bereich Handel und Dienstleistungen zu finden. Und eine Zeitlang sah es auch so aus, als hätte industrielle Produktion angesichts abnehmender Wertschöpfungstiefen und Fertigungsverlagerungen in das weniger lohnkostenintensive Ausland ohnehin kaum Zukunft in industrialisierten Volkswirtschaften. Auch gemäß der klassischen Dreiteilung von primärem, sekundärem und tertiärem Sektor wird tendenziell erwartet, dass sich die Beschäftigtenzahlen im Zuge allgemeiner wirtschaftlicher Entwicklung vom primären Wirtschaftssektor (Rohstoff) auf den sekundären (Industrie) und von dort schließlich auf den tertiären Sektor (Dienstleistung) verlagern (Fourastié 1949). Für hoch entwickelte Industrieländer ist demzufolge kein umfangreiches Beschäftigungswachstum aus dem industriellen Sektor zu erwarten. Empirisch lässt sich diese Entwicklung sowohl für die hoch entwickelten Industrieländer als auch für Schwellenländer belegen (Szirmai 2012). Während in Schwellenländern in den vergangenen zwei Jahrzehnten die Beschäftigtenzahl anstieg, ging sie im selben Zeitraum in entwickelten Industrieländern sogar zurück. Dennoch lässt sich zeigen, dass ein starker industrieller Sektor als conditio sine qua non für ein Wachstum im dritten Sektor gilt. Es ist vielmehr kennzeichnend für den industriellen Sektor, dass eine „systematic tendency of productivity in manufacturing to grow faster than in services“

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(Rowthorne und Ramaswamy 1999) besteht. Genau dies erklärt zwar einerseits den relativen Rückgang der Beschäftigung, aber andererseits die technologisch induzierten Wachstumsimpulse aus dem industriellen Sektor. Die lange Zeit vorherrschende dichotome Sicht auf die sich vermeintlich ablösenden Sektoren verkennt dabei deren komplementären Charakter (Guerrieri und Meliciani 2005). Länder mit vergleichsweise umfangreichem industriellem Sektor weisen z. B. eine ausgeprägte Exportorientierung, höhere Investitionen im Bereich Forschung und Entwicklung, aber auch bei langlebigen Investitionsgütern auf, haben höhere Innovationsraten und eine durch den technologischen Fortschritt steigende totale Faktorproduktivität (Aghion und Howitt 2009; McKinsey 2012). Zudem zeichnen sie sich durch höherwertige Arbeitsplätze und industrielle Cluster, die in engen Austauschbeziehungen stehen, sowie durch ausgeprägte wirtschaftliche Stabilität aus (Marsh 2012; Foresight 2013; UNIDO 2013). Das lässt sich erklären: Der industrielle Sektor ist Kernelement nahezu aller Wertschöpfungsketten. Industriebetriebe, die ihre Fertigungsstandorte verlagern, verlagern nicht selten auch Beschäftigung und Wissen anderer Bereiche mit: Forschung und Entwicklung oder Marketing und Vertrieb. Hinzu kommt die enge Verzahnung von industriellem Sektor und Dienstleistungssektor, denn Dienstleistungen stellen einen ganz wesentlichen Inputfaktor für Industriebetriebe dar. Der indus­ trielle Kern von Volkswirtschaften wird daher (mittlerweile wieder) als „Rückgrat“ und „Stabilitätsgarant“ einer Volkswirtschaft gesehen. Ein Blick auf den Wertschöpfungsanteil des verarbeitenden Gewerbes am gesamten BIP der G20-Länder offenbart, dass lediglich drei Industrieländer in den vergangenen 25 Jahren diesen Anteil auf relativ hohem Niveau konstant hielten: China, Deutschland und Südkorea (Abb. 4). Die meisten anderen Länder reduzierten demgegenüber ihren Wertschöpfungsanteil – und zeigten sich gerade während der Finanzkrise 2008 entsprechend anfällig. In der Konsequenz verwundert es daher nicht, dass die lange Zeit vorherrschenden Trends der Produktionsverlagerung nunmehr differenzierter betrachtet werden. Während über einen längeren Zeitraum ein schleichendes Entfernen der Industriebetriebe aus entwickelten Volkswirtschaften zu beobachten war, mag dies zum einen ein Teil der Erklärung sein, weshalb der „klassische“ Industriebetrieb bislang von der Dynamik der Digitalisierung verschont blieb. Zum anderen ist jedoch die Einsicht in den komplementären Charakter von Industrie- und Dienstleistungssektor zentraler Ausgangspunkt für weltweite Bemühungen um wettbewerbsfähige industrielle Strukturen. Ganz im Zeichen dieser Bestrebungen steht daher das Projekt Industrie 4.0 aus Sicht Deutschlands, mit dem die digitale Transformation klassischer Fertigungsindustrien vorangetrieben werden sollte. Das verfolgte Ziel ist der Auf- und Ausbau wettbewerbsfähiger industrieller Strukturen, um „die deutsche Industrie in die Lage zu versetzen, für die Zukunft der Produktion gerüstet zu sein“ (BMBF 2014). Allerdings sind solche Bemühungen keineswegs auf Deutschland beschränkt. Die über lange Jahre regelrecht deindustrialisierten USA versuchen mit dem Industrial Internet Consortium (IIC), eine entsprechend schlagkräftige Promotorenorganisation aus

  

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Abb. 4   Wertschöpfungsanteil des verarbeitenden Gewerbes am gesamten BIP der G20-Länder. (Quelle: WorldBank, Bureau of Economic Analysis und eigene Berechnungen)

 









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Industrie, Regierung und Wissenschaft zu bilden. Dort wird synonym zum Begriff Industrie 4.0 von einem „Industrial Internet“, dem „Internet of Things“ oder dem „Internet of Everything“ gesprochen. Auch das Vereinigte Königreich forciert ähnliche Maßnahmen mit dem Projekt „The Future of Manufacturing“ (Foresight 2013). Auf EU-Ebene gibt es mit dem Projekt „Factories of the Future“ entsprechende Initiativen (EFFRA 2013), die die verarbeitende Industrie in den Mittelpunkt der Bemühungen um mehr Wachstum, Innovation und Beschäftigung stellen. Als besonders bedeutsam wird das von der chinesischen Regierung begonnene Programm „Made in China 2025“ eingeschätzt. Hierbei hat die Regierung zehn Branchen definiert, überwiegend aus dem verarbeitenden Gewerbe (darunter IT, Robotik, Fahrzeug- und Luftfahrttechnik), in denen sie führende chinesische Weltunternehmen formen will. Der sich aus diesen Bemühungen ergebende volkswirtschaftliche Nutzen ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt schwer vorherzusehen. Optimistische Schätzungen, insbesondere von Beratungshäusern, schießen derzeit dennoch ins Kraut. Für Deutschland werden z. B. von BCG (2015) erhebliche Produktivitätszuwächse (15–25 %), Umsatzsteigerungen (30 Mrd. EUR p. a.) und Investitionsschübe (250 Mrd. EUR in den kommenden zehn Jahren) erwartet. Sogar mit signifikanter Beschäftigungssteigerung im industriellen Sektor (i. H. v. 6 % in den nächsten zehn Jahren) wird gerechnet; ähnliche Einschätzungen finden sich u. a. bei PwC (2014) oder BITKOM (2014). Einschränkend ist zu all diesen Studien anzumerken, dass es sich methodisch um eher simple Hochrechnungen und selektive Einschätzungen handelt. Zudem gibt es auch zweifelndere Stimmen, insbesondere die Beschäftigung betreffend. Brynolffsson und McAfee (2014) zeichnen das Bild eines „Race against the Machine“, bei dem „der technische Fortschritt den ein oder anderen hinter sich lassen [wird] – möglicherweise auch viele.“ So gab es zwar nie „eine bessere Zeit für Arbeitskräfte mit speziellen Kompetenzen oder der richtigen Ausbildung, denn solche Menschen können die Technik nutzen, um Wert zu generieren und abzuschöpfen. Für Arbeitnehmer mit „gewöhnlichen“ Kompetenzen und Fähigkeiten gab es dagegen kaum eine schlechtere Zeit, denn Computer, Roboter und andere digitale Technik erwerben solche Kompetenzen und Fähigkeiten mit beispielloser Geschwindigkeit.“3 Solide empirische Analysen der zu erwarteten Beschäftigungswirkungen des technologischen Wandels gibt es kaum. Viel Aufmerksamkeit hat daher eine Studie von Frey und Osborne (2017) auf sich gezogen, die das Substitutionsrisiko durch Automatisierung von Berufsbildern in den USA untersuchen. Dabei kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass 47 % der US-amerikanischen Beschäftigten in Berufen arbeiten, die sich durch Tätigkeiten auszeichnen, die in den nächsten 10–20 Jahren ein besonders

3Eine

spannende Rückschau mit Ausblick liefert Autor (2015) mit seiner Analyse von „History and Future of Workplace Automation“. Siehe analog zu „Technological Anxiety and the Future of Economic Growth“ auch Mokyr et al. (2015).

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Abb. 5   Weltproduktionsfunktion und der Entwicklungspfad Deutschlands. (Quelle: Allen 2012)

hohes Substitutionsrisiko durch Computer und Algorithmen aufweisen. Damit ist nicht gesagt, dass in diesem Umfang Arbeitsplätze wegfallen werden, aber doch, in welchen Bereichen erhebliche Berufsbildveränderungen und ein entsprechender Anpassungsdruck bei den Beschäftigten zu erwarten sind. Die mit dem Stichwort Industrie 4.0 proklamierte Renaissance des Industriebetriebs im Zeichen einer vierten industriellen Revolution darf daher nicht falsch verstanden werden. Nicht der Nachbau erfolgreicher industrieller Strukturen, sondern der Neubau zukunftsfähiger Industriestrukturen steht im Vordergrund der Debatte. Dies lässt sich mit Blick auf den historischen Verlauf der industriellen Revolution beschreiben. Allen (2012) konnte mit umfangreichem Datenmaterial vor dem Hintergrund einer recht stabilen Weltproduktionsfunktion für 57 Länder4 zeigen, dass nur jene Länder, wie z. B. Deutschland, die im Zuge der industriellen Revolution zunehmend Arbeit durch Kapital ersetzten, indem sie in kapitalintensive Technologien investierten, sich auf einen Wachstumspfad begaben (Abb. 5). Mit Blick auf Industrie 4.0 bedeutet das, dass es um eine Fortsetzung der indus­ triellen Revolution geht; derart, dass nur andauernde Investitionen in kapitalintensive Technologien einen lang anhaltenden Entwicklungspfad ermöglichen. Es geht bei der „Fabrik der Zukunft“ also um die „Fabrik mit Zukunft“, und so wird in der Vision „Industrie 4.0“ der Industriebetrieb selbst zum Gegenstand der anstehenden Internetrevolution gemacht: dem „Industrial Internet of Things“. Dieser Lesart entsprechend ist Industrie 4.0 als neuer Entwicklungsschritt bzw. als Fortsetzung einer seit über 150 Jahren andauernden industriellen Revolution zu verstehen; allerdings mit anderen Mitteln als in der Vergangenheit, nämlich mit neuartigen, kapitalintensiven Technologien.

4Ein Land, das 1965 10.000 US$ Kapital pro Arbeitskraft einsetzte, konnte auch 1990 kaum mehr BIP pro Arbeitskraft erwirtschaften.

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4 Treiber von Industrie 4.0 und „Gesetze der Digitalisierung“ Die mit der Digitalisierung einhergehenden Veränderungen erscheinen aus heutiger Sicht vielfach unvermeidlich, vor allem aber als unumkehrbar. Schon sehr früh hat Zuboff (1988) mit ihren „Gesetzen der Digitalisierung“, aus heutiger Sicht weitsichtige Trendaussagen, Aufsehen erregt: • Zuboffs erstes Gesetz: Alles, was digitalisiert und in Information verwandelt werden kann, wird digitalisiert und in Information verwandelt.5 • Zuboffs zweites Gesetz: Was automatisiert werden kann, wird automatisiert. • Zuboffs drittes Gesetz: Jede Technologie, die zum Zwecke der Überwachung und Kontrolle nutzbar gemacht werden kann, wird, was immer auch ihr ursprünglicher Zweck war, zum Zwecke der Überwachung und Kontrolle nutzbar gemacht. Damit sind die zentralen Treiber, die auch unsere Industrie-4.0-Arbeitsdefinition aufgreift, adressiert: Automatisierung, Digitalisierung und Vernetzung zum Zwecke der Beeinflussung und Neuordnung von Strukturen und Prozessen der Geschäftsmodelle von Industriebetrieben. Daneben gibt es freilich weitere – durchaus überlappende – Trends, denen sich Industriebetriebe seit einiger Zeit ausgesetzt sehen. Im Weiteren sollen daher sechs ausgewählte Entwicklungen skizziert werden, die besondere Herausforderungen für die industrielle Fertigung darstellen. 1. Die zunehmende Internationalisierung der Märkte erlaubt Unternehmen einerseits die Realisierung komparativer Vorteile (z. B. bzgl. der Faktorkosten oder beim Zugang zu speziellen Ressourcen) durch Nutzung globaler Produktionsmärkte. Andererseits intensiviert sich der Wettbewerb in den erweiterten Absatzmärkten, was bei den davon betroffenen Unternehmen zu einer Erosion von Margen und vergleichsweise schlechterer Performance führen kann. Mit der zunehmenden Internationalisierung hängt der insbesondere durch komparative Faktorkostenvorteile in Niedriglohnländern ausgelöste Kostendruck zusammen, der auf jene Unternehmen wirkt, deren Kostenstrukturen an Wettbewerbsfähigkeit verlieren und die so eine schlechtere finanzielle Performance aufweisen. Häufig zu beobachten war daher die Verlagerung von Produktionszweigen in Niedriglohnländer (Offshoring), deren organisatorische Auslagerung (Outsourcing) bzw. eine Kombination davon (Offshore Outsourcing).

5Angesichts

des Aufkommens der Internettechnologie wäre in Anlehnung an Zuboff zu ergänzen: Alles, was zur Vernetzung eingesetzt werden kann, wird zur Vernetzung eingesetzt; womit bereits dem umfassenden Ausdruck vom „Internet of Things“ oder allumfassend, dem „Internet of Everything“ der Boden bereitet wäre.

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2. Da sich Unternehmen vor dem Hintergrund der Internationalisierung der Märkte und des zunehmenden Kostendrucks häufig zugunsten des „Buy“ anstatt des „Make“ entschieden haben, wurde die Auslagerung von Produktion zum Erfolgsfaktor erklärt; allerdings mit der Konsequenz steigender Komplexität und Störanfälligkeit der arbeitsteiligen Produktionsabläufe und Lieferbeziehungen. Die beschriebene Entwicklung manifestierte sich in einem weiteren Befund: dem Rückgang der Fertigungstiefe in den vergangenen Jahrzehnten; häufig begleitet von Schlagwörtern wie Konzentration auf Kernkompetenzen und „kapitalarme Produktion“. 3. (Nicht nur) im Bereich der Produktion werden seit mehr als zwei Jahrzehnten vermehrt dezentrale Planungs- und Steuerungskonzepte anstelle zentral organisierter Planung diskutiert. Als Schlagworte hielten insbesondere modulare, fraktale oder virtuelle Fabriken Einzug in den wissenschaftlichen Diskurs. Als wesentliche Strukturmerkmale lassen sich u. a. stärkere Prozessorientierung, flachere Hierarchien, stärkere Vernetzung, Selbstorganisation und Autonomie erkennen. Drumm (1996) spricht hierbei vom „Paradigma der neuen Dezentralisation“. Bezogen auf die Wertschöpfungsorganisation folgen daraus Entwicklungen hin zu stärkerer Vernetzung und Integration der beteiligten Akteure, Selbststeuerung und individualisierte Produktion sowie ein erweitertes Produkt- und Dienstleistungsverständnis. 4. Henry Ford wird in diesem Zusammenhang das Bonmot zugeschrieben, sein berühmtes Model T in jeder beliebigen Farbe zu liefern, solange diese schwarz sei. Während dieser klassische Ansatz Massenfertigung unter dem Gesichtspunkt der Kostenminimierung ermöglichte, steht dem gegenüber heute eine ausgeprägt starke Individualisierung der Nachfrage. Damit sehen sich Unternehmen vor ganz anderen Herausforderungen, nämlich eine Vielzahl kundenindividueller Produkte zu Kosten herzustellen, die denen einer Massenfertigung entsprechen. Von Mass Customization ist in diesem Zusammenhang die Rede (Pine 1993). Unternehmen, die erfolgreich sein wollen, haben keine Wahl: Sie müssen eine Vielzahl von Varianten zu wettbewerbsfähigen Preisen anbieten können. Damit einher geht eine Änderung der Zielsetzung: Eine möglichst starke Individualisierung der Produkte unter den Bedingungen einer hoch flexibilisierten (Großserien-)Produktion zu gegebenen Kosten herstellen zu können. Eine hohe Variantenzahl steigert allerdings die technologische und organisatorische Komplexität der Fertigung und steht zwangsläufig im Konflikt mit niedrigen Produktionskosten. Hohe Variantenzahlen erlauben nicht mehr die klassische Frage nach der optimalen Losgröße, da diese im Extremfall gegen eins tendiert, sondern zwingen zu einer drastischen Reduktion der Rüstkosten und weiterer Maßnahmen zu erhöhter Flexibilisierung. Die Automobilindustrie gilt hierbei als Paradebeispiel, eine Vielzahl von Produktvarianten anzubieten, diese aber im Rahmen einer industriellen Massenfertigung kostengünstig herstellen zu können. Ähnliche Beispiele liefern auch andere ­Branchen. 5. Als Weiterentwicklung der Mass Customization gilt das Open-Innovation-Konzept, bei dem versucht wird, den Innovationsprozess zu öffnen (und zu beschleunigen),

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um durch eine Integration der Unternehmensumwelt (insbesondere der Kunden) neue Produkte zu entwickeln (Chesbrough 2003). Als Kernprozesse gelten der Outside-in-Prozess, der das im Unternehmen vorhandene Wissen mit externem Wissen von Kunden, Lieferanten oder anderen Akteuren anreichert, sowie der Inside-out-Prozess, der die externe Vermarktung z. B. durch Lizenzierung fördern soll.6 6. Getrieben wird diese Entwicklung durch die sich vornehmlich bei den Konsumgütern verkürzenden Produktlebenszyklen. Daraus folgt zwangsläufig eine geringere Zeitspanne zur Gewinnerzielung der davon betroffenen Unternehmen. Dies ist unmittelbar ergebniswirksam, falls es nicht gelingt, die vorgelagerte „Time to Market“ und damit zusammenhängende Entwicklungskosten entsprechend zu reduzieren. Überdies bewirken verkürzte Produktlebenszyklen einen höheren Flexibilisierungsdruck und erfordern entsprechende Wandlungsfähigkeit der Unternehmen. Weiterer Zeitdruck entsteht, wenn z. B. aufgrund von verlängerten Transportwegen infolge globaler Produktions- und Absatzmärkte die „Time to Consumer“ verkürzt werden muss. Dies setzt schließlich eine Verkürzung von Logistikprozessen und eine Beherrschung des Supply Chain Management voraus, was ohne entsprechend hohe Qualitätsstandards bezüglich der Produkte und Prozesse nicht möglich wäre. Während noch in den 1960er-Jahren schlichte Qualitätskontrollen bei den Endprodukten als ausreichend galten, sind nunmehr viel umfassendere Qualitätsbegriffe von Nöten. Zusammenfassend lassen sich neben den „Gesetzen der Digitalisierung“ drei Typen weiterer Treiber identifizieren: Zum ersten hat sich der Wettbewerbsdruck im Bereich der industriellen Produktion über die Jahre hinweg erhöht und die Margen erodieren lassen, zum zweiten wurde insbesondere durch den ausgelösten Kostendruck nicht selten die Fertigungstiefe durch Outsourcing reduziert. Demgegenüber stehen aber zum dritten gestiegene Anforderungen an die Produktion, die vor allem in Zeitdruck, Qualitätsdruck, Innovationsdruck, Individualisierungsdruck und Variantendruck zum Ausdruck kommen. In der Summe macht all das die Beherrschung einer flexiblen Produktion zu einem kritischen Erfolgsfaktor für Unternehmen. Hier setzt die Vision Industrie 4.0 an, den Unternehmen in ihrem Kernbereich, der Leistungserstellung, zu erhöhter Wettbewerbsfähigkeit zu verhelfen. Entscheidend wird dabei sein, inwieweit es gelingt, die damit verbundenen Gestaltungsoptionen zum Zwecke der Erfüllung von Kundenerwartungen zu realisieren.

6Im

übrigen ist die direkte Einbindung von Kunden und Geschäftspartnern in Wertschöpfungsprozesse nicht nur auf Innovationen beschränkt, sondern im Kontext des Supply Chain Management bereits seit längerem Gegenstand zunehmend arbeitsteiliger Wertschöpfungsketten.

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5 Cyber-physische Systeme und Industrie-4.0-Technologien Seit jeher ist bekannt, dass Technologien wesentliche Treiber industrieller Revolutionen gewesen sind. Ungeachtet der vorgenannten Stufeneinteilung ist ein durchgängiges Element jeder industriellen Revolution der Ersatz menschlicher Arbeit durch Kapital in Form sog. General Purpose Technologien (GPT). Diese durchdringen, wie die historischen Beispiele Dampfmaschine, Elektromotor oder Computer zeigen, mit der Zeit verschiedene Wirtschaftsbereiche und eröffnen weitere, derivative Innovationspotenziale hinsichtlich anderer Technologien und der sie einsetzenden Unternehmen (Simon 1987). Zu den im Zentrum von Industrie 4.0 stehenden General-Purpose-Technologien sind die sich seit einigen Jahrzehnten ausbreitende Internettechnologie und die sich daraus derivativ entwickelnden CPS zu zählen. Ausgangspunkt zum Verständnis cyber-physischer Systeme sind jegliche Objekte („things“), die a) mittels Sensoren Daten erfassen, b) mittels eingebetteter Software aufbereiten und analysieren, c) mit Fähigkeit zur Entscheidungsunterstützung und Selbststeuerung (Regler) ausgestattet sind, d) mittels Aktoren auf reale Vorgänge einwirken, e) über eine Dateninfrastruktur wie z. B. das Internet kommunizieren, f) über MenschMaschine-Schnittstellen verfügen und g) schließlich selbst mit anderen CPS zu einem IoT vernetzt werden können (Obermaier 2016, S. 8). Die im Kontext von „Industrie 4.0“ relevanten Technologien sind daher grundsätzlich solche, die zur Etablierung von CPS beitragen können. Sie werden im Folgenden durch die fünf Technologiefelder 1) Internet- und Kommunikationstechnologie, 2) Automatisierung, Fertigungstechnologie und Robotik, 3) Sensorik und Aktorik, 4) eingebettete Systeme, Analytik und Systemtechnik sowie 5) Mensch-Maschine-Schnittstellen zusammengefasst und hinsichtlich des derzeitigen technologischen Reifegrads (sog. Technology Readiness Level) entsprechender Anwendungen eingeschätzt (Tab. 1).

6 Unternehmerische Gestaltungsfelder im Kontext von Industrie 4.0 6.1 Digital vernetzte Produktionsfaktoren Um ein besseres Verständnis davon zu bekommen, wie Industrie 4.0 betriebswirtschaftlich wirken kann, lohnt ein Blick in das Innere der Betriebswirtschaftslehre: den Industriebetrieb. Allen voran Gutenberg (1971) hat aus der theoretischen Analyse des Industriebetriebs das System der produktiven Faktoren (Elementarfaktoren Arbeit, Betriebsmittel, gegebenenfalls auch Werkstoffe und der dispositive Faktor) als Ausgangspunkt seiner Überlegungen gewählt (s. a. Bohr 1979). Diese Produktionsfaktoren werden über das

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Tab. 1  Industrie-4.0-Technologiefelder und Reifegrad. (In Anlehnung an: Agiplan 2015) Technologiefeld

Anwendung mit gerin- Anwendung mit Anwendung mit hohem gem Reifegrad mittlerem Reifegrad Reifegrad

Internet- und Kommunikationstechnologie

• Echtzeitfähige, draht- • Horizontale und vertikale Systemlose Kommunikation integration • Selbstorganisierende Kommunikationsnetze • Kommunikationsstandards

Automatisierung, Fertigungstechnologie und Robotik

• Autonome Robotik • Humanoide Robotik • Cloud Robotik • Deep Learning

• Additive Fertigungsverfahren • Sensitive Robotik

Sensorik und Aktorik

• Miniaturisierte Sensorik • Intelligente Sensorik

• Vernetzte Sensorik • Sensorfusion • Sicherheitssensorik • Intelligente Aktoren • Vernetzte Aktoren • Sichere Aktoren

Eingebettete Systeme, Analytik und Systemtechnik

• Miniaturisierte eingebettete Systeme • Simulationsumgebung • Multikriterielle Situationsbewertung

• Energy Harvesting • Multi-AgentenSysteme • Maschinelles Lernen • Mustererkennung

Mensch-MaschineSchnittstellen

•Verhaltensmodelle • Kontextbasierte Informationsrepräsentierung • Semantikvisualisierung

• Intuitive Bedien• Sprachsteuerung elemente • Gestensteuerung • IT-Sicherheit (Zugang, • Wahrnehmungsgesteuerte Schnitt- Identifikation) stellen • Fernwartung • Augmented Reality • Virtual Reality

• Echtzeitfähige Bus-Technologie • Drahtgebundene Hochleistungskommunikation • IT-Sicherheit • Mobile Kommunikation • Mehrachsroboter

• Intelligente eingebettete Systeme • Identifikationsmittel • Big-Data-Speicher- und Analyseverfahren • Cloud-Computing

Konzept der Produktionsfunktion miteinander kombiniert und mit der internen Unternehmensrechnung verknüpft, um so Aussagensysteme über wirtschaftliches Betriebsgebaren (Produktivität, Wirtschaftlichkeit und Rentabilität) zu entwickeln (Bohr 1992, 1993). Aus heutiger Sicht lassen sich viele Planungsverfahren, insbesondere Produktionsplanungs- und Steuerungssysteme, hierauf zurückführen, denn es war gerade die Analyse der Komplexität des Industriebetriebs, die zu allgemeinen Aussagesystemen im Sinne einer Allgemeinen Betriebswirtschaftslehre geführt hat. Wer die enorme Komplexität eines Industriebetriebs beherrscht, beherrscht auch weniger komplexe Systeme, könnte thesenförmig formuliert werden.

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Überträgt man die oben genannten Industrie-4.0-Charakteristika unter Rückgriff auf konkrete Technologieinnovationen nun auf das System der Produktionsfaktoren, so lassen sich folgende potenzielle Auswirkungen von Industrie 4.0 auf das Produktivsystem von Unternehmen herausarbeiten: Zu den Betriebsmitteln gehören sämtliche materiellen und immateriellen Güter und Dienstleistungen, die Leistungspotenziale besitzen und diese im Rahmen von Leistungserstellungsprozessen längerfristig zur Verfügung stellen. Die im Kontext von Industrie 4.0 relevanten Technologien lassen sich durch die Felder Automatisierung und Robotik, additive Fertigungstechnologie (z. B. 3-D-Druck), Sensorik, Aktorik, eingebettete Systeme, Software und Systemtechnik (z. B. Simulation, Big-Data-Analytik, Cloud-Services) sowie Vernetzung mittels Internet- und Kommunikationstechnologie (Internet der Dinge) beschreiben. Beispielhaft ausgedrückt bedeutet das, dass Betriebsmittel über eingebettete Systeme und deren Vernetzung „intelligenter“ werden, indem sie Fähigkeiten wie Condition Monitoring, teilweise Selbststeuerung o. ä. entwickeln. Meist kommt dies durch das Adjektiv „smart“ zum Ausdruck. Auch Werkstoffe, die als Verbrauchsfaktoren Bestandteil der Produkte werden, können durch den Einsatz von Sender-Empfänger-Systemen (z. B. RFID) zu „intelligenten“ Materialien oder Bauteilen werden. Diese sind in der Lage, Informationen über ihre Eigenschaften und erforderliche Arbeitsschritte (Arbeitspläne) auf einem Datenträger mit sich führen zu können, um so effizient transportiert, gelagert, be- oder verarbeitet bzw. montiert zu werden. Der damit im Kontext von Industrie 4.0 diskutierte Paradigmenwechsel sieht das entstehende Produkt als Akteur, das im Rahmen einer dezentralen Fertigungssteuerung den Betriebsmitteln die erforderlichen Prozesse abverlangt, anstatt von einer zentralen Fertigungssteuerung durch die Prozesse „geschoben“ zu werden. Zum Elementarfaktor menschlicher Arbeit zählen die in unmittelbarer Beziehung zur Leistungserstellung und den anderen betrieblichen Funktionen stehenden Tätigkeiten. Auch hier sind es zunächst wieder neue Technologien, die besondere Formen insbesondere von Mensch-Maschine-Interaktion in Zusammenhang mit den eben beschriebenen „smarten“ Betriebsmitteln erlauben. Diese können weitergehende Automatisierung bereitstellen, im Bedarfsfall (z. B. wenn Daten fehlen oder explizit Mitarbeiterexpertise benötigt wird) aber den Mitarbeiter z. B. für Verfahrenswahlentscheidungen o. ä. einschalten. Beginnend von intuitiven Bedienelementen, kontextbasierter Informationsdarstellung, über Sprach- und Gestensteuerung oder wahrnehmungsgesteuerte Schnittstellen bis hin zu Augmented-Reality-Systemen stehen Technologien bereit, die Mitarbeiter einerseits von automatisierbaren Routinen entlasten, sie aber andererseits durch Assistenzsysteme bei ihren Tätigkeiten unterstützen und so effizientere Arbeits- und Produktionsprozesse ermöglichen. Der Aufbau entsprechender Kompetenzen bei den Mitarbeitern gilt dabei unumstritten als wesentliche Herausforderung im Zuge der Digitalisierung von Industriebetrieben (Davenport und Kirby 2015). Jeweils für sich genommen sagt die Verfügbarkeit dieser Technologien noch nichts über deren betriebswirtschaftlichen Nutzen aus. Erst die explizite Nutzbarmachung im Rahmen der betrieblichen Leistungserstellung eröffnet Potenziale für Steigerung von

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Produktivität und Wirtschaftlichkeit des Industriebetriebs. Hinzu kommt: Die meisten der in der Diskussion stehenden Technologien erlauben vor allem in Kombination eine Reihe neuartiger Funktionalitäten im Bereich der industriellen Produktion. Eine zentrale Rolle spielen dabei die bereits dargestellten cyber-physischen Systeme (CPS), die eine dezentrale, intelligente Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure ermöglichen. Das verwendete Adjektiv „intelligent“ deutet an, dass der Einsatz und die Kombination der Technologien primär dem Zweck besserer Entscheidungen dienen. Hierbei spielen Analyse- und Entscheidungsunterstützungssysteme, die auf sog. Big-Data-Analytics und Künstlicher Intelligenz beruhen, eine besonders herausgehobene Rolle. Damit wird die Bedeutung von Industrie 4.0 endlich für den dispositiven Faktor klar. Die Kombination neuartiger Technologien mit den Elementarfaktoren und deren Vernetzung zu CPS erlaubt wesentliche Fortschritte beim dispositiven Faktor, also all jener Instanzen (und den ihnen zugeordneten Unterstützungsbereichen) mit Entscheidungsbefugnis, insbesondere durch 1) Datenerfassung und -verarbeitung in Echtzeit, 2) horizontale und vertikale Vernetzung7 (durch Internettechnologie) und 3) den Einsatz von Assistenzsystemen sowie 4) die Dezentralisierung der Steuerung. Als wesentlicher Vorzug gilt neben der Bereitstellung und Nutzung entscheidungsrelevanter Informationen, ein kontinuierliches „Echtzeitabbild“ der Fertigung zu erhalten, mit dem eine Produktionssteuerung basierend auf Soll-Ist-Vergleichen mit intelligenten Monitoring-, Datenanalyse- und Entscheidungsunterstützungsprozessen möglich wird (Smart Factory). Zu beachten ist zum einen, dass der dispositive Faktor den jeweils relevanten Informationsbedarf definieren muss und zum anderen, dass der Aufbau entsprechender Informationsversorgungssysteme sowie die Entwicklung und der Einsatz von Analysewerkzeugen angesichts der zu erwartenden Datenmengen (Big Data) eine besondere Herausforderung (z. B. für das Produktionscontrolling) darstellen.

6.2 Digitale vernetzte Wertschöpfungsprozesse und Supply Chain Management Nachdem dargelegt wurde, wo (und wie) die drei Industrie-4.0-Charakteristika Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung auf Produktionsfaktoren wirken, soll nun untersucht werden, welche Konsequenzen sich daraus auf die Produktionsprozesse eines Industriebetriebs ergeben können.

7So

wird beispielsweise im Rahmen der Einführung von integrierten Softwaresystemen für die Produktionsplanung und -steuerung (PPS) und dem Product-Lifecycle-Management (PLM) eine vertikale Integration realisiert, die dann mittels Supply Chain Management zu einer horizontalen Vernetzung mit Kunden und Lieferanten über Unternehmensgrenzen hinweg erweitert werden kann.

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Abb. 6   Wertschöpfungskette. (Quelle: Porter 1999)

Das Konzept der Wertschöpfungskette unterscheidet primäre Aktivitäten, d. h. operative Prozesse, die direkt zur Wertschöpfung und zur Entstehung von Kundennutzen beitragen, und sekundäre Aktivitäten, die in Form von Managementaktivitäten die primären Aktivitäten unterstützen und damit lediglich einen indirekten Wertschöpfungsbeitrag leisten (Abb. 6). Ausgehend von der traditionellen Wertkettenlogik, wonach die Aktivitäten und die Funktionsweise eines Unternehmens als Abfolge wertschöpfender Tätigkeiten verstanden werden können (Abb. 6), wird die Auswirkung von Digitalisierung und Automatisierung unmittelbar ersichtlich. Jegliche Tätigkeit, die durch eine Technologie ökonomisch vorteilhaft substituiert werden kann, wird substituiert werden. Am deutlichsten wird das bei der klassischen Dichotomie von Arbeit und Kapital. Stark manuell geprägte Tätigkeiten wurden im Zuge der industriellen Revolution je nach Verfügbarkeit und Kosten durch Kapital, d. h. durch Technologie ersetzt. Das Ausmaß dieses Substitutionsdrucks wird überdies durch Lohnkosten bestimmt: je höher die Lohnkosten, umso größer der Substitutionsdruck. Nach dieser simplen Logik ist davon auszugehen, dass bei den Wertschöpfungsprozessen vornehmlich dort Arbeit durch Kapital ersetzt wird, wo sich Kostenvorteile ergeben. Auch die Integration der unterschiedlichen Aktivitäten erfordert die sinnvolle Definition von Schnittstellen, welche durch Digitalisierung erst eine integrierte Datenverarbeitung ermöglichen und daher insbesondere Gegenstand von Industrie 4.0 sind (Steven 2019). Nicht alles ist freilich neu, was derzeit in diesem Zusammenhang unter dem Stichwort Industrie 4.0 diskutiert wird. (Teil-)Automatisierungen, die Bemühungen um eine integrierte Datenverarbeitung und der Einsatz von Industrierobotern sind seit Langem bekannt. Was hingegen verstärkt Bedeutung erlangt, sind die Aspekte der Digitalisierung und Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure; sowohl horizontal (auf der Ebene der Leistungserstellung) als auch vertikal (über die Ebenen der Produktionsplanung- und Steuerung).

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Darüber hinaus begannen vor etwa zwanzig Jahren Bemühungen, mit dem Konzept des Supply Chain Management (SCM) eine (horizontale) Integration der Wertschöpfungsketten mit Kunden und Lieferanten über Unternehmensgrenzen hinweg zu erreichen. Vor allem die sich in den 1990er-Jahren rasch ausbreitende Internettechnologie wurde alsbald dazu genutzt, neue und vor allem engere Formen der Koordination mit Kunden und Lieferanten zu erschließen (Otto und Obermaier 2009). Daraus entstanden vielfältige Lösungen für das Supply Chain Management, die insbesondere auch die effiziente Steuerung globaler Lieferketten ermöglichten. Zudem wurden rasch neue Vertriebsformen und Geschäftsmodelle (E-Commerce) durch Nutzung der Internettechnologie erschlossen. Interessanterweise blieben sowohl die eigentlichen Produkte als auch die betrieblichen Produktionsprozesse von der Entwicklung des Internet zunächst weitgehend unberührt. Diese sind nun Ansatzpunkt der als Industrie 4.0 angekündigten vierten industriellen Revolution. Konsequenterweise wird dabei davon ausgegangen, dass die Internettechnologie nicht nur zu engerer Kooperation zwischen Unternehmen, Kunden und Lieferanten, sondern auch zu einer intelligenten Vernetzung sämtlicher Akteure einer industriellen Fertigung beitragen kann.

6.3 Digital vernetzte Produktionsprozesse 6.3.1 Computer Integrated Manufacturing: Vision und Realisierung Was den Industriebetrieb betrifft, so wurde schon vor mehr als dreißig Jahren mit dem Konzept des Computer Integrated Manufacturing (CIM) eine weitgehende Digitalisierung im Bereich der Fertigung und mit dem Konzept des Enterprise Resource Planning (ERP) im Bereich der allgemeinen administrativen Geschäftsprozesse angestrebt (Astrop 1979; Kops 1980; Scheer 1987; Kiener et al. 2018). Die Bemühungen zielten darauf ab, eine integrierte Informationsverarbeitung aller mit der Leistungserstellung zusammenhängenden Planungs- und Steuerungsaufgaben zu erreichen, die in den primär technischen Funktionsstrang Konstruktion, Arbeitsplanung bis hin zur Programmierung der Fertigungsmaschinen sowie den primär betriebswirtschaftlichen Funktionsstrang der Produktionsplanung und -steuerung (PPS) einschließlich Qualitätssicherung unterschieden werden können. Primär betriebswirtschaftlich orientierte Systeme der Produktionsplanung und -steuerung (PPS) dienen als Entscheidungsunterstützungssysteme für den Fertigungsbereich, um den mengen- und zeitmäßigen Produktionsablauf unter Beachtung verfügbarer Ressourcen zu planen und zu überwachen, sodass vorgegebene Ziele erreicht werden. Der aufgrund erheblicher Interdependenzen im Grunde simultan zu lösende Problemkomplex wird in den meisten vorliegenden Systemen hierarchisch dekomponiert und in sukzessiv ablaufenden Planungsmodulen verarbeitet. Diese sind in der Praxis seit Längerem Bestandteil IT-basierter Lösungen zur Produktionsplanung und -steuerung. Parallel dazu sind primär technisch orientierte Planungsaufgaben zu erledigen. Ausgehend von der Produktentwicklung und Konstruktion ist die Arbeitsplanung

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Abb. 7   Y-Modell des Computer Integrated Manufacturing. (Quelle: Scheer 1987, Kiener et al. 2018)

d­ urchzuführen und sind NC-Programme zu erstellen. Des Weiteren sind die Fertigungsanlagen und die innerbetriebliche Logistik zu steuern. Diese Aufgaben sind zumeist durch entsprechende IT-Systeme unterstützt. Entsprechend entstanden diverse „CABegriffe“, wie z. B. Computer-aided Engineering (CAE), Computer-aided Design (CAD), Computer-aided Process Planning (CAP), Computer-aided Manufacturing (CAM) und Computer-aided Quality Ensurance (CAQ). Während diese beiden Stränge im Stadium der Planung noch getrennt voneinander – sinnvollerweise aber unter Rückgriff auf integrierte Datenbanken (z. B. Stücklisten, Arbeitspläne, Betriebsmitteldaten) – durchlaufen werden, ist, sobald das Stadium der Planung abgeschlossen ist und die Steuerung der physischen Produktion beginnt, eine engere Verzahnung der nachfolgenden Steuerungsaufgaben erforderlich. Daraus ergibt sich das bekannte Y-Modell Computer Integrated Manufacturing (Abb. 7; Scheer 1987).

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Die betriebswirtschaftliche Produktionsplanung läuft zumeist im Rahmen von etablierter ERP-Software weitgehend EDV-gestützt ab (linker Ast des Y-Modells), und auch die technischen Aufgaben, vornehmlich jene der Produktplanung, sind im Rahmen von CAD-CAM-Systemen (Product Lifecycle Management) integriert (rechter Ast des Y-Modells). Um die entsprechenden betrieblichen Abläufe zu unterstützen und zu verbessern, wurde eine integrierte Informationsverarbeitung zwischen prozessual zusammenhängenden betrieblichen Einheiten (Menschen, Organisationseinheiten, EDV-Systemen, Produktionsanlagen) gefordert; gerade auch, um diverse Schnittstellen- und Koordinationsprobleme isolierter Teillösungen zu vermeiden. Auch geriet der durch den damaligen Stand der Technik (Stichwort „Leitrechner“) sowie fehlende Vernetzungs- und Datenbanktechnologien bedingte zentral angelegte Planungsansatz von CIM zunehmend in Konflikt mit dem sich in der Praxis durchsetzenden Paradigma nach mehr Dezentralisierung. So kam es zum Scheitern weitergehender Integrationsbemühungen. Die Unzulänglichkeit zentralistischer Planungs- und Steuerungsansätze in der Fertigung beruht zudem auf einem deterministischen Konzept; d. h. dass die in diesen Systemen geplanten Daten, die zumeist auf historischen Durchschnittswerten basieren, keine Unsicherheit berücksichtigen und durch die fehlende Echtzeitfähigkeit keine Soll-Ist-Vergleiche zulassen. Nach Auftragsfreigabe ist eine getrennte Betrachtung von betriebswirtschaftlichen und technischen Aufgaben kaum möglich; und so ist die damit verbundene Herausforderung einer integrierten Informationsverarbeitung nochmals größer. Aus heutiger Sicht ist daher zu konstatieren, dass der Anspruch des CIM-Konzepts in der Praxis bislang nicht erreicht wurde. So existieren zwischen den Subsystemen kaum Verbindungen. Ebenso fehlt eine Anbindung an die physische Fertigungssteuerung im sog. Shopfloor nahezu völlig. Unverändert finden sich überwiegend informationstechnische Insellösungen. Die Ursachen dafür sind vielfältig. Häufig liegt es an einer schrittweisen Implementierung von nicht oder nur in geringem Umfang aufeinander abgestimmten Systemen. Beim Versuch, diese Vernetzungen zu realisieren, tritt als offenkundiges Problem eine rasch wachsende Schnittstellenproblematik zutage. Denn ein durchgängiger Datenfluss in der Fertigung scheitert daher schon an der Vielzahl und Vielfalt der beteiligten Akteure (Abb. 8). Im Extremfall kommuniziert jeder Akteur in einer Fertigung mithilfe von unterschiedlichen Schnittstellen mit jedem anderen Akteur. Die Anzahl an Schnittstellen S einer bilateral stattfindenden Kommunikation zwischen n Akteuren einer Fertigung folgt logisch folgendem quadratischen Zusammenhang:

S(n) = n(n − 1) Dass die Vielzahl der so entstehenden Schnittstellen zwischen den beteiligten Akteuren Kommunikationsprobleme mit sich bringt, liegt auf der Hand. Außerdem stößt die Aufrechterhaltung eines solchen Systems schnell an Grenzen. Je mehr Kommunikationen ablaufen bzw. je mehr Schnittstellen in einem Kommunikationsprozess auftreten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für auftretende Probleme. Zudem ist der Aufwand für

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Abb. 8   Schnittstellenprobleme in der Fertigung. (Quelle: Maschinenfabrik Reinhausen)

die technische Definition und Dokumentation entsprechender Schnittstellen sowie für deren Implementierung und Pflege erheblich. Zwar schlugen sich die wesentlichen Effekte von CIM in der Standardisierung von Geschäftsprozessen, weitgehender Automatisierung und damit einhergehenden Produktivitätszuwächsen nieder. Allerdings gelang eine (vertikale) Integration von betriebswirtschaftlichen Planungs- und Steuerungsaufgaben mit den primär technisch orientierten Aufgaben der Produktion nur in begrenztem Ausmaß. Damit bestehen aber Potenziale fort, mit dem Übergang zu einem digital vernetzten Gesamtsystem eine engere Abstimmung von betriebswirtschaftlicher und technischer Informationsverarbeitung (nicht nur) im Fertigungssektor zu erreichen. Dazu aber müssen bislang isoliert voneinander existierende Systeme industrieller Infrastruktur miteinander und mit dem Menschen in Verbindung treten können und über Sensorik und Aktorik sowohl ein Echtzeitbild der industriellen Fertigung liefern als auch mittels eingebetteter Systeme Steuerungseingriffe mit dem Ziel einer effektiven Kopplung mit der Produktionsplanung und einer effizienten Produktionssteuerung auf dem Shopfloor erlauben.

6.3.2 Manufacturing Execution Systeme Über die integrierte Datenverarbeitung hinaus steht im Kontext von Industrie 4.0 vor allem die digitale Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure zu sog. cyberphysischen Systemen (CPS) im Vordergrund; sowohl horizontal (auf der Ebene der Leistungserstellung) als auch vertikal (über die Ebenen der Produktionsplanung- und Steuerung). Dazu aber müssen bislang isoliert voneinander existierende Systeme industrieller Infrastruktur miteinander und mit dem Menschen in Verbindung treten können und über Sensorik und Aktorik sowohl ein Echtzeitbild der industriellen Fertigung liefern als auch mittels eingebetteter Systeme Steuerungseingriffe, mit dem Ziel einer effektiven

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Abb. 9   Manufacturing Execution Systeme in der IT-Gesamtarchitektur von Industriebetrieben. (Quelle: Eigene Darstellung)

Kopplung mit der Produktionsplanung und einer effizienten Produktionssteuerung auf dem sog. Shopfloor, erlauben. Als Lösungsansatz einer entsprechend intelligenten Vernetzung industrieller Infrastruktur stehen unter anderem sog. Manufacturing Execution Systeme (MES) zur Verfügung (Obermaier et al. 2010). Solche Systeme integrieren unter Nutzung der Internettechnologie alle in einer Fertigung Beteiligten. Dabei fungiert ein MES als Bindeglied sowohl zwischen dem PPS- oder ERP-System und der physischen Fertigung (vertikale Integration) als auch zwischen den einzelnen am Fertigungsprozess beteiligten Akteuren (horizontale Integration) auf Shopfloor-Ebene (Abb. 9). Im Rahmen der vertikalen Integration wird ein vom PPS-System ausgelöster Fertigungsauftrag durch das MES übernommen und auf Shopfloor-Ebene gesteuert, bis er abgeschlossen ist. Während das PPS-System Aufträge untereinander plant, koordiniert und terminiert (z. B. durch Vergabe von Start-/Endterminen), kommt dem MES eine Steuerungsaufgabe innerhalb der Abarbeitung der einzelnen Aufträge zu. Zudem w ­ erden sowohl Teilschritte als auch abgeschlossene Aufträge zurückgemeldet. Durch diese

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Abb. 10   Manufacturing-Execution-Systeme als Informationsdrehscheibe einer vernetzten Fertigung. (Quelle: Maschinenfabrik Reinhausen)

Rückmeldung wird erreicht, dass das PPS-System seine Auftragsplanung auf Real-timeDaten aufbauen kann und nicht auf Grundlage geplanter Daten rechnen muss. So wird es möglich, dass das PPS-System Aufträge unter Berücksichtigung von aktuell im Bedarfszeitpunkt erhobenen Informationen vergibt (z. B. aktueller Prozessstatus, Maschinenkapazität oder Bestand der Werkzeugmagazine einzelner Maschinen). Im Rahmen der horizontalen Integration werden die Maschinen durch das MES auf Shopfloor-Ebene informationstechnisch vernetzt. Eine wesentliche Aufgabe liegt in der Bereitstellung der nötigen Schnittstellen, um eine Kommunikation zwischen den regelmäßig mit proprietären Datenformaten arbeitenden Maschinen zu ermöglichen. Das MES fungiert dabei als zentrale Informationsdrehscheibe („information hub“) in der Fertigung (Abb. 10). Die einzelnen Akteure melden ihre Anfragen dem MES, das die geforderten Informationen bei den entsprechenden Akteuren abfragt, diese Informationen gegebenenfalls verknüpft und das Ergebnis der anfragenden Stelle überträgt. Auf diese Weise wird zudem die Anzahl der Kommunikationsschnittstellen der beteiligten Akteure einer Fertigung um ein Vielfaches reduziert, da diese nicht mehr jeweils bilateral, sondern über das MES erfolgt (Obermaier et al. 2010). Die Anzahl der Schnittstellen S einer zentralen Kommunikation beträgt dabei nur noch:

S(n) = 2n Der Rückgang an Kommunikationsschnittstellen gegenüber bilateraler Kommunikation hilft, den Wartungsaufwand und die Fehleranfälligkeit der Datenübermittlung erheblich zu senken und so eine integrierte Informationsverarbeitung zu realisieren.

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Im Kontext von Industrie 4.0 wird durchaus diskutiert, inwieweit MES als Zwischenebene einer hierarchischen IT-Architektur dauerhaft Bestand haben werden, falls Akteure auch unmittelbar miteinander kommunizieren können und die Steuerung vollständig dezentral verläuft. Diese Produktionsvision, nach der der Produktionsauftrag (bzw. das Produkt) die Produktion steuert, ist mit dem Begriff der sog. Smart Factory verbunden. Darunter wird eine Produktionsumgebung verstanden, in der sich Fertigungsanlagen und Logistiksysteme als cyber-physische Systeme weitgehend ohne menschliche Eingriffe selbst organisieren. Zentrale Idee der Smart Factory ist die Kommunikation zwischen Produkt (z. B. Werkstück) und Fertigungsanlage. Demnach trägt das Produkt seine Fertigungsinformationen (z. B. Arbeitspläne) in maschinell lesbarer Form, z. B. auf einem RFID-Chip; außerdem kennt das Produkt seine Eigenschaften und kann anhand dieser Daten seinen Weg durch die Fertigungsanlage und die einzelnen Fertigungsschritte selbst steuern („selbststeuerndes Werkstück“). Während die klassische PPS-Logik zentral angelegt war und in einem sukzessiv-deterministischen Ansatz Fertigungsaufträge „abarbeitet“, haben vielfältige Störungen und Unsicherheiten in realen Produktionsumgebungen diesen klassischen Ansatz bald an seine Grenzen geführt. Bald wurden daher dezentrale PPS-Systeme diskutiert, die den Fokus insbesondere auf Materialflussorientierung legten. Andere Konzepte der fraktalen, modularen oder virtuellen Fabrik haben versucht, die Fertigung in kleinere Einheiten zu zerlegen und mit lokaler Autonomie zur dezentralen Selbststeuerung auszustatten. Die damit verbundene Loslösung vom zentralen Ansatz hin zu einer völligen Dezentralisierung bedeutet als wesentliche Herausforderung die Optimierung des Gesamtsystems aus dezentralen, lokalen Optima. Welche Aufgaben weiterhin zentral zu lösen wären, ist eine offene Frage. Ebenso, ob damit nicht dieselben Probleme zurückkehren, die sich aus dem vergangenen Versuch einer zentral angelegten Optimierung ergeben. Theoretisch wäre eine dezentral angelegte Optimierung denkbar, wenn alle beteiligten Akteure ihren jeweiligen Zustand kennen (könnten) und die Zielfunktion eindeutig definiert ist. Praktisch ist jedoch eine enorme Komplexitätssteigerung zu erwarten, die das (neue) Extrem der völligen Dezentralisierung so unwahrscheinlich erscheinen lässt, wie das andere (ältere) Extrem der Zentralisierung. Der optimale Dezentralisierungsgrad der IT-Struktur in der Produktion stellt sich daher nicht nur als praktische, sondern auch als interessante theoretische Problemstellung (nicht nur) für Industriebetriebe heraus. Eine mögliche Lösung zwischen diesen beiden Extremen scheinen modular konzipierte MES zu sein, die für jeweilige betriebliche Teilbereiche lokale Optima erzeugen und als dezentrale Assistenzsysteme fungieren.

6.3.3 Wirtschaftlichkeitseffekte Hinsichtlich der (ökonomisch messbaren) Konsequenzen  des vermehrten IT-Einsatzes in der Industrie herrscht Ungewissheit trotz einer Vielzahl an Studien. Dieses als „Solow-Paradox“ bekannt gewordene Phänomen besagt, dass IT-Investitionen zwar überall sichtbar, aber in ihrer ökonomischen Wirkung kaum messbar seien (Solow 1987). Nichtsdestotrotz schießen mit Blick auf Industrie 4.0 seit einiger Zeit vor allem von

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Beratungshäusern optimistische Schätzungen ins Kraut. Einschränkend ist zu derartigen Studien anzumerken, dass es sich methodisch um eher simple Hochrechnungen und selektive Einschätzungen handelt, die nicht frei von Eigeninteressen sind. Eine erste wissenschaftliche Analyse von Wirtschaftlichkeitseffekten vor und nach Einführung eines MES in einem Industriebetrieb liefert eine Studie von Obermaier und Kirsch (2019). Dabei zeigt sich, dass nicht wertschöpfende Prozessschritte im Bereich der Werkzeugeinstellung um rund 40 % und Rüstzeiten um durchschnittlich 38 % reduziert werden können. Neben der zeitlichen Reduktion pro Werkzeugrüstvorgang konnte auch die erforderliche Menge zu beladender Werkzeuge gesenkt werden. Zudem konnte eine Bestandsreduktion an unmittelbar im Maschinenpark im Umlauf befindlichen Komplettwerkzeugen festgestellt werden, welche sich in einer reduzierten Kapitalbindung ausdrücken sollte. In den indirekt zur Wertschöpfung beitragenden Disziplinen der CAD/CAM-NC-Programmierung und Werkstattorientierten Programmierung (WOP) konnten die Prozesse um 13 bzw. 28 % der anfallenden Aktivitäten reduziert werden. Neben diesen quantitativen Wirkungen treten auch eine Reihe qualitativer Prozessverbesserungen auf, die sich in höherer Prozessstandardisierung, -transparenz, -sicherheit und Qualität niederschlagen.

6.4 Digitale Kundenintegration und Mass Customization Während die bisherige Darstellung von „Industrie 4.0“ stark auf den industriellen Fertigungsbereich mit dem Ziel Effizienzsteigerung fokussiert war, bestehen weitaus umfassendere Gestaltungsmöglichkeiten mit Blick auf die gesamte Wertschöpfungskette. Hier soll nun insbesondere der Prozess der kundenindividuellen Produktentwicklung betrachtet werden. Der Trend zu immer stärker individualisierten Produkten ist seit einiger Zeit unübersehbar und hat im Bereich der industriellen Fertigung unter dem Stichwort der Mass Customization einige Aufmerksamkeit erlangt (Pine 1993). Dabei verlangt eine stärkere Individualisierung bei der Entwicklung von Produkten eine möglichst flexible Fertigung, die jedoch die entstehenden Komplexitätskosten soweit als möglich zu vermeiden in der Lage ist. Im Bereich der Fertigung gilt es, die entstehenden Rüstkosten möglichst gering zu halten, um den Nutzen der Fertigungsautomatisierung realisieren und zu wettbewerbsfähigen Kosten produzieren zu können (Obermaier und Hofmann 2012). Allerdings ist eine kosteneffiziente und flexible Fertigung nur eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung, um das Konzept der Mass Customization erfolgreich umzusetzen. Hierzu ist sowohl eine Anpassung der Fertigungsstrategie als auch eine stärkere Kundenintegration erforderlich. Beides kann durch entsprechend angepasste Produktionsprozesse mithilfe von Industrie-4.0-Technologien erreicht werden. Damit hat Industrie 4.0 auch Einfluss auf die Fertigungsstrategie. Hierbei wird traditionell zwischen den beiden generischen Formen einer kundenanonymen (Make-to-stock-) und kundenauftragsbezogenen (Make-to-order-) ­

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Abb. 11   Fertigungsstrategien und Order Penetration Point. (Quelle: Eigene Darstellung)

Fertigungsstrategie unterschieden. Mischformen sowie darüber hinausgehende Formen lassen sich über das Konzept des sog. Order Penetration Point (OPP) verdeutlichen (Abb. 11). Dieser Kundenauftragsentkopplungspunkt markiert den Übergang von einer prognosegetriebenen hin zu einer mehr kundenauftragsbezogenen Fertigungsstrategie. Während die durchgezogene Linie in Abb. 11 den auftragsgebundenen und die gestrichelte Linie den prognoseabhängigen Anteil der Wertschöpfungsaktivitäten beschreibt, bezeichnet der OPP den Kundenauftragsentkopplungspunkt. Dabei ist zu beachten, dass i. d. R. nur der kundenauftragsbezogene Teil Individualisierung beim Produkt zulässt, welcher außerdem zeitkritisch ist. Das bedeutet, dass dieser Teil der Wertschöpfung möglichst schnell und deshalb in der Regel möglichst lokal erfolgen muss. Als Beispiel sei die nach wie vor herkömmliche Branche der Skihersteller genauer betrachtet. Dort wird bis heute herkömmliche Produktentwicklung betrieben, werden die Bestellungen meist im Frühjahr über Groß- und Einzelhändler auf Sportartikelmessen eingeholt, in „klassischer“ PPS-Logik Fertigungsaufträge geplant und sodann über den Sommer mit vergleichsweise hohem manuellen Anteil losweise produziert. Eine Verschiebung des OPP in Richtung Design-to-Order ist bislang nicht möglich. Denkbar wäre aber ein Szenario, in dem Skihersteller z. B. über eine Onlineplattform einen Skikonfigurator (ähnlich denen der Automobilindustrie) anbieten, die den Kunden eine enorme Variationsmöglichkeit bei der Produktauswahl bietet und ihn nicht lediglich auf den Lagerbestand des Händlers verweist. Eine entsprechende Veränderung der Wertschöpfungsstruktur würde aber auf Fertigungsstrukturen im Sinne einer Smart Factory zurückgreifen können, um die damit verbundene Variantenkomplexität beherrschen zu können. Neben leistungsfähigen Logistiksystemen kommen zur „Verschiebung“ des OPP in Richtung zunehmend auftragsgebundener Aktivitäten vor allem sog. additive Fertigungstechnologien wie 3-D-Druck infrage. Der hier ebenfalls häufig gebrauchte Begriff des

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Rapid Manufacturing bezeichnet dabei allgemein Methoden und Produktionsverfahren zur schnellen und flexiblen Herstellung von Bauteilen und Serien mittels werkzeugloser Fertigung direkt aus den CAD-Daten. Während herkömmliche subtraktive Fertigungsverfahren mittels Werkzeugen durch (entfernende) Bearbeitung (Drehen, Fräsen, Bohren, etc.) eines Rohmaterials ein Werkstück erzeugen, zeichnen sich additive Verfahren dadurch aus, dass additiv, d. h. aufbauend aus formlosem (z. B. Flüssigkeiten, Pulver) oder formneutralem (band-, drahtförmigem) Material mittels chemischer oder physikalischer Prozesse ein Werkstück erzeugt wird. Die bekannteste Maschinenklasse stellen dabei die sog. 3-D-Drucker dar, die dreidimensionale Werkstücke schichtweise aufbauen. Zusätzlich ist eine stärkere Integration der Kunden in den Prozess der Produkt­ entwicklung erforderlich. Im Zentrum stehen hierbei v. a. digitale Konfigurationsplatt­ formen, bei denen der Kunde aus vorgegebenen Gestaltungsparametern (Baukastenprinzip) individualisierte Produktvarianten erzeugen kann. Es ist offensichtlich, dass die Konfigurationsmöglichkeiten mit den Fertigungsprozessen abgestimmt sein müssen. Das bedeutet im Regelfall, dass bei gegebener Fertigungsflexibilität eine maximale Variationsmöglichkeit gesucht wird, während bei vorgegebener Variationsmöglichkeit die Fertigungsflexibilität anzupassen ist. Die Automobilindustrie ist seit Jahren in der Lage, über internetbasierte Produktkonfiguration nach dem Baukastenprinzip Fahrzeuge zusammenzustellen, die den Möglichkeiten ihrer Fertigungsanlagen entsprechen. Ein weiteres Beispiel stellt myMüsli dar, das aus Billionen möglicher Mischverhältnisse für online konfiguriertes, individuelles Müsli eine hochflexible Fertigungsanlage bereithält, um jede mögliche Kombination automatisiert herstellen zu können. Die Onlineplattform SketchUp bietet die Möglichkeit zur 3-D-Modellierung, bei der von Nutzern relativ einfach beliebige CAD-Programme online erstellt, gespeichert, getauscht und heruntergeladen werden. In Verbindung mit Herstellern könnten diese Entwürfe in reale Produkte umgesetzt werden, wozu lediglich eine Übermittlung des CAD-Programms an Produzenten nötig ist, auf deren Maschinenkapazität zugegriffen werden kann. Eine entsprechend integrierte Plattformlösung von der CAD-Software bis zum Versand des fertigen Produkts an den Nutzer bietet z. B. eMachineshop. Hier können, beginnend mit einem zur Verfügung stehenden CAD-Programm, beliebige Bauteile entworfen, produziert und an die Kunden versandt werden. LEGO ideas ist eine digitale Customer-Engagement-Plattform, die Kunden den Entwurf, die Evaluation und schnelle Einführung (oder auch Elimination) von Produktideen ermöglicht und diese im Erfolgsfall an den Umsatzerlösen beteiligt.

6.5 Digital vernetzte Produkt-Service-Systeme Während das bislang dargelegte Verständnis von Industrie 4.0 Wertschöpfungsprozesse zum Objekt der Gestaltung machte und auf eine Steigerung der Prozesseffizienz und eine Flexibilisierung der Fertigungsstrukturen ausgerichtet war, stehen im Weiteren digital vernetzte Produkte und produktbegleitende Dienstleistungen im Fokus.

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Abb. 12   Von „smarten“ Produkten zu vernetzten Produktsystemen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Intelligente, vernetzte Produkte bestehen aus drei Kernelementen: den herkömmlichen physischen Komponenten, eingebetteten intelligenten („smarten“) Komponenten und Vernetzungskomponenten. Physische Komponenten umfassen insbesondere die mechanischen und elektrischen Bauteile eines Produkts. In einem Auto wären das z. B. der Motor, die Reifen oder die Batterie. Intelligente („smarte“) Komponenten umfassen Sensoren, Aktoren, Mikroprozessoren, Datenspeicher, Steuerungen und Software in einem eingebetteten System. In einem Auto wären das z. B. die Motorsteuerung, das Antiblockiersystem, der regensensitive Scheibenwischer oder eine Antischlupfregelung des Antriebs. Vernetzungskomponenten umfassen Schnittstellen, Sende- und Empfangseinheiten für drahtgebundene oder drahtlose Kommunikation. Vernetzung kann dabei sinnvoll in drei Formen unterschieden werden: (0) keine Vernetzung, (1) One-to-one, (2) One-to-many und (3) Many-to-many (Abb. 12). One-to-one  Ein Produkt verbindet sich mit einem anderen Produkt des Benutzers (z. B. das Mobiltelefon oder das Diagnosesystem der Werkstatt mit dem Auto). One-to-many  Ein zentrales System eines Herstellers ist dauernd oder fallweise mit vielen Produkten verbunden. Das BMW Connected Drive System ist z. B. mit vielen Fahrzeugen des Herstellers verbunden und kann verschiedene Zusatzdienste anbieten.

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Many-to-many  Verschiedene Produkte verbinden sich mit verschiedenen anderen Produkten, häufig unter Nutzung externer Datenbestände (z. B. Wetter- oder Verkehrsdatensysteme, die mit Navigationssystemen eines Autos verbunden sind). Durch die Vernetzung von Produkten (Geräte, Maschinen oder Anlagen) entweder mit einem firmeneigenen System oder dem Internet können Daten ausgetauscht werden; aber vor allem werden die verbundenen physischen Objekte zusätzlich als Datenobjekte in einem Netzwerk repräsentiert; sie werden so zu cyber-physischen Objekten, die leicht zu lokalisieren, zu überwachen oder zu analysieren sind und ihre Funktionalität, ihren Zustand und ihre Anforderungen kennen. Während die Vernetzung von Objekten das „Internet of Things“ etabliert, wird die Vernetzung von Menschen und Objekten über das Internet in diesem Zusammenhang auch als „Internet of Everything“ bezeichnet. Ein bekanntes Beispiel ist Google Nest. Bei den digital zu vernetzenden Geräten handelt es sich u. a. um Thermostate und Überwachungskameras für den Heimbereich. Die Thermostate digitalisieren die gemessene Raumtemperatur, steuern über intelligente Komponenten die Heizanlage, übernehmen von der Heizölbeschaffung bis hin zu einer Steuerung der kompletten Hausklimatisierung und übermitteln diese Daten zudem über eine Internetverbindung an einen Cloud-Service, um eine Steigerung der Anlageneffizienz zu erreichen, indem z. B. weitere Informationen über Wettervorhersagen, den Aufenthaltsort der Bewohner etc. integriert werden. Erlöse generiert Google Nest über den Verkaufspreis der Geräte, über aggregierte Energieverbrauchsdaten, die Energieversorgungsunternehmen angeboten werden, und einen Anteil an den Kosteneinsparungen der Endkunden. Als besondere Herausforderungen für Industrieunternehmen, die sich in den Bereich digital vernetzter Produkte und Dienste entwickeln wollen, sind insbesondere der nötige Aufbau an IT-Infrastruktur, Datenanalysefähigkeiten und die Berücksichtigung von Aspekten des Datenschutzes und der IT-Sicherheit zu nennen. Was die Entwicklung der „richtigen“ Zusatzdienste angeht, stehen Unternehmen daher vor den Fragen, welche Funktionalitäten angeboten werden sollen, ob dafür intern ausreichend Kompetenz vorhanden ist oder ob z. B. ein geschlossenes (anbieterspezifisches) oder offenes (anbieterübergreifendes) Datenplattformsystem angeboten werden soll. Mit Blick auf die erforderliche IT-Infrastruktur ist die grundsätzliche Netzwerklogik der Vernetzung, dass mehr Verknüpfungspunkte ein Vielfaches an Nutzungsmöglichkeiten bedeutet, zu beachten. Dies betrifft sowohl die Vernetzung möglichst vieler Produkte eines Herstellers, aber mitunter auch die anderer Hersteller (u. U. auch von Daten aus anderen Domänen). Was die Datenanalysefähigkeiten betrifft, werden folgende Stufen unterschieden, die jeweils unterschiedliche Analysemethoden erfordern (Abb. 13): 1) eine deskriptive Datenanalyse beschreibt den Istzustand unter Einschluss der Datenhistorie, 2) eine diagnostische Datenanalyse ist in der Lage, Zusammenhänge zu identifizieren (ggf. Hypothesen über mögliche Ursachen und Wirkungen zu erzeugen), 3) eine prognostische Datenanalyse kann Vorhersagen über zu erwartende Zustände machen, und 4) eine präskriptive Datenanalyse unterbreitet Entscheidungsvorschläge zu möglichen Hand­ lungsalternativen.

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Abb. 13   IT-Infrastruktur, Vernetzung und Datenanalyse. (Quelle: Eigene Darstellung)

6.6 Digitale Daten- und Produktplattformen Die im Rahmen von Industrie 4.0 erforderliche weitergehende Digitalisierung und Vernetzung von Akteuren und Produkten in Wertschöpfungssystemen stellt offensichtlich enorme Herausforderungen an die bereitzustellenden IT-Systeme. Während Ausgangspunkt der Überlegungen im Bereich der PPS-Systeme eine integrierte Informationsverarbeitung war, die zu einer echtzeitfähigen Fertigungssteuerung auszudehnen ist, sind herkömmliche transaktionsbasierte ERP-Systeme dazu nicht zwingend in der Lage. Daher erfordert der prozessorientierte Pfad in Richtung Industrie 4.0 den Aufbau einer digitalen Prozessdatenplattform, mit der laufend Prozessdaten gewonnen und analysiert werden, um eine echtzeitbasierte Fertigungssteuerung zu ermöglichen. Digitale Produktplattformen, die a) als Customer Engagement Plattformen Produktinnovationen nach dem Muster der Open Innovation befördern (Chesbrough 2003), b) eine kundenindividuelle Produktentwicklung oder -konfiguration digital unterstützen oder c) für digital vernetzte Produkte die laufende Produktnutzung überwachen, steuern und verbessern bzw. produktbegleitende Dienstleistungen ermöglichen sollen, ermöglichen insbesondere über den Bereich der Produktion hinausgehende neue digitale Geschäftsmodelle. Diese plattformbasierten Formen der Kunden- und Produktintegration teilen den Grundgedanken einer Aufteilung des Geschäftsmodells auf mehrere Akteure: Plattformanbieter, Dienstanbieter, Plattform-Enabler und Endkunden (Tab. 2).

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Tab. 2  Plattformakteure. (Quelle: Eigene Darstellung) Akteur

Plattform-Anbieter

Beispiel

Hersteller (z. B. Apple, Programmierer Ford)

Kernaufgaben Wie steigere ich die Menge verfügbarer Daten? Welche Anbieter können Mehrwert auf meiner Plattform generieren?

Dienste-Anbieter

Welchen Kundennutzen kann ich bedienen? Welche Plattformen bieten die besten Aussichten?

Endkunde (DatenAnbieter)

Plattform-Enabler

Nutzer, Autofahrer OpenXC, Bluetooth Welche Plattform wähle ich? Welche Plattform generiert den besten Mehrwert aus meinen Daten?

Für welche Plattform muss ich die Kommunikation meiner Geräte ausrichten?

In der Automobilindustrie ist z. B. Ford mit OpenXC daran, eine Plattform zu etablieren, die als Kombination aus Open-Source-Hardware und -Software Fahrzeuge mit Anwendungen erweiterbar und individualisierbar machen soll. Den Entwicklern wird über einen offenen Standard Zugang zu anfallenden Daten geboten, auf deren Basis Zusatzdienste in Form von Anwendungen programmiert und angeboten werden können. Branchenübergreifend bietet Siemens mit IoT Mindsphere eine offene, internetbasierte Plattform zur Integration von Maschinen und physischer Infrastruktur mit datenbasierten Diensten. Auch die Bosch IoT Suite ist eine auf offenen Standards und Open Source basierende Plattform.

6.7 Digitale Geschäftsmodelle Für Industrieunternehmen ist insbesondere bedeutsam zu verstehen, inwieweit die Industrie4.0-Charakteristika Automatisierung, Digitalisierung und Vernetzung auf Elemente eines Geschäftsmodells einwirken. Ein Geschäftsmodell kann grundsätzlich durch zwei Kernelemente beschrieben werden: Wie schafft ein Unternehmen Wert (i. S. v. Nutzen) für seine Kunden? Und wie generiert es aus diesem Kundennutzen einen Wert (i. S. v. Gewinn) für das Unternehmen? Während der erste Teil den vom Kunden wahrgenommenen Nutzen und die dazu erforderlichen Geschäftsprozesse betont, thematisiert der zweite Teil das Erlösmodell und die Kostenstruktur. Was die Kostenstruktur digitaler Produkte betrifft, machen Iansiti und Lakhani (2014) auf drei wesentliche Eigenschaften und zugleich Unterschiede zu konventionellen Produkten aufmerksam: • Digitale Informationen können verlust- und fehlerfrei übertragen werden. • Digitale Informationen können unendlich oft und abnutzungsfrei repliziert werden. • Die Etablierung einer Netzwerkinfrastruktur erlaubt die Übermittlung digitaler Informationen an die Kunden zu Grenzkosten nahe null.

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Diese Eigenschaften einer exakten, unendlich oft wiederholbaren Replikation zu Grenzkosten von null ermöglichen es Unternehmen, ihre Geschäftsprozesse und Produkte zu skalieren, vorausgesetzt, sie sind digitalisiert und vernetzt. Was die Nutzendimension und das damit zusammenhängende Erlöspotenzial digitaler Produkte betrifft, so können Produkte, die mit dem Internet vernetzt und mit „smart components“ ausgestattet sind, gegenüber nicht vernetzten Geräten völlig neue Funktionalitäten bieten, wobei umso mehr Funktionalität generiert werden kann, je umfangreicher die Vernetzung angelegt ist. Diese Funktionalitäten erlauben das Angebot produktbegleitender Dienstleistungen und damit einen Differenzierungsvorteil. Porter und Heppelmann (2014) unterscheiden vier Funktionalitätsstufen vernetzter Produkte: 1) Überwachung, 2) Steuerung, 3) Optimierung und 4) Autonomie (Abb. 14). Überwachung erlaubt, den Betriebszustand, die Funktionsfähigkeit und die Umgebung eines Geräts über Sensoren und externe Datenquellen zu erfassen. Dadurch wird es möglich, Benutzer auf geänderte Betriebszustände und erforderliche Wartungsmaßnahmen hinzuweisen. Ebenso kann aber auch die Nutzung des Geräts selbst Gegenstand einer Überwachung sein, um so z. B. mehr über das Nutzungsverhalten herauszufinden. Diese Informationen haben Einfluss auf die Entwicklung von Produkten oder das produktbegleitende Serviceangebot. Die Steuerung von intelligenten vernetzten Geräten kann sowohl durch externe Signalübermittlung als auch durch integrierte Selbststeuerungsalgorithmen erfolgen. Dabei kann z. B. auf Betriebszustände oder Umgebungseinflüsse reagiert werden. Zudem erlaubt es eine weitergehende Produktindividualisierung durch interaktives Lernen aus der Nutzung des Gerätes. Dadurch erlauben intelligente vernetzte Produkte eine softwarebasierte Individualisierung (statt hardwarebasierten Produktvarianten), während die standardisierte Hardware massenweise kostengünstig produziert werden kann. Die Möglichkeit zur Optimierung basiert auf den entstehenden Überwachungsdaten vernetzter Geräte. Dadurch kann unter Einsatz von integrierter (oder durch Vernetzung verfügbarer) Software z. B. die Leistung, die Auslastung oder die Effizienz eines Produkts gesteigert werden. Ein prominenter Anwendungsfall ist die sog. Predictive bzw. Preventive Maintenance. Hier sollen Daten laufend gemessener Aggregatszustände Muster erkennen, die Anomalien im Systemverhalten aufdecken und damit einen bevorstehenden Maschinenausfall vorhersagen können, um frühzeitige Wartungsmaßnahmen ergreifen und einem Ausfall damit vorbeugen zu können. Die Kombination von Überwachung, Steuerung und Optimierung erlaubt es zudem, intelligente, vernetzte Produkte zunehmend mehr Autonomie übernehmen zu lassen. Autonome Produkte erkennen ihre Einsatznotwendigkeit selbst, steuern und optimieren ihre Funktion und überwachen dabei ihren Zustand. Beispiele dafür sind die in Haushalten bereits erfolgreich im Einsatz befindlichen Mähroboter. Diese mähen selbstständig, umfahren Hindernisse, nehmen Steigungen, laden bei Bedarf ihre Akkus selbst wieder auf, melden Wartungsbedarf und aktualisieren das Betriebssystem. Diese durch Vernetzung möglichen zusätzlichen Funktionalitäten eröffnen Unternehmen die Möglichkeit, produktbegleitende Dienstleistungen (Smart Services)

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Abb. 14   Funktionen der Vernetzung. (Quelle: Eigene Darstellung)

im Rahmen ihres Produkt- und Serviceangebotes anzubieten und dadurch ein Differenzierungsmerkmal als Wettbewerbsvorteil zu entwickeln. Diese basieren darauf, dass intelligente und vernetzte Produkte auch nach dem Verkauf „Kontakt“ zum Hersteller halten und so eine weitergehende Wertschöpfung ermöglichen, indem die Hersteller ihre Produkte über den gesamten Lebenszyklus begleiten und dem Nutzer laufend Zusatzdienste anbieten können. Als Beispiele gelten Industrieanlagen wie Turbinen, die über Sensoren laufend überwacht werden, um aus den gewonnenen, massiv anfallenden Nutzungsdaten einer Vielzahl von Anlagen über Big Data Analytics Erkenntnisse zu gewinnen, die dazu genutzt werden können, die Anlagenleistung zu erhöhen oder die Auslastung durch vorausschauende oder vorbeugende Instandhaltung (Predictive bzw. Preventive Maintenance) zu verbessern. Dieser zusätzliche Kundennutzen kann „abgeschöpft“ werden, indem die Kunden eine Servicegebühr für diese produktbegleitende Dienstleistung zur optimierten Anlagennutzung bezahlen. General Electric (GE) galt in den USA als Vorreiter in Sachen „Industrial Internet“; dem amerikanischen Pendant von Industrie 4.0. GE beispielsweise generiert Kundennutzen, indem es über Sensoren an Turbinen laufende Zustandsinformationen gewinnt, die dazu genutzt werden können, die Anlagenleistung zu erhöhen und die Auslastung durch vorbeugende Instandhaltung zu verbessern. Diesen zusätzlichen Kundennutzen schöpft GE ab, indem die Kunden einen Anteil an zusätzlich generiertem Umsatz oder eingesparten Kosten an GE für dieses Produkt-Service-System zur optimierten Anlagennutzung bezahlen. Während GE über lange Zeit den Großteil seines Umsatzes durch den Verkauf von Produkten generierte, wurde schon vor mehr als zehn Jahren damit begonnen, zunehmend entsprechende Contractual Service Agreements (CSA) mit den

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Abb. 15   Geschäfts- und Betreibermodelle. (Quelle: Eigene Darstellung)

Kunden zu schließen, um daraus zusätzlich Umsatz zu generieren. Wesentlicher Bestandteil dieser CSA ist eine Risikoteilung zwischen Hersteller und Kunde und eine Reduktion der Total Cost of Ownership (TCO), denn den Kunden wird eine Aufrechterhaltung der Betriebsbereitschaft (einschließlich Diensten wie Preventive Maintenance) garantiert, während der Hersteller dafür laufende Servicegebühren erhält. Eine weitergehende Entwicklung dieser Geschäftsmodelle besteht in Betreibermodellen nach dem Muster „the product as a service“ (Abb. 15). Dabei betreiben Hersteller von Maschinen und Anlagen diese selbst, während die Kunden nur für die empfangene Leistung bezahlen. Die Annahme hinter diesen Modellen ist, dass der Hersteller den Betrieb seiner Anlagen durch Digitalisierung und Vernetzung besonders effizient bewerkstelligen kann, während der Kunde sein gebundenes Kapital reduziert und statt für ein Produkt lediglich für eine Dienstleistung bezahlt. Beispiele für derartige Modelle gibt es schon einige: Triebwerkshersteller wie z. B. RollsRoyce verkaufen Triebwerke nicht mit den Flugzeugen, sondern rechnen mit den Fluggesellschaften über die Flugstunden ab und übernehmen dafür laufende Wartung, Instandhaltung und Reparatur. Hersteller von Kompressoren verkaufen nach diesem Modell Druckluft statt Geräten, Hersteller von Bohrmaschinen entsprechend gebohrte Löcher (bzw. Einsatzstunden; Schlagwort „power by the hour“). Damit transformiert sich das Geschäftsmodell von Industriebetrieben weg vom Verkauf physischer Produkte hin zu einem Angebot ­entsprechender Dienstleistungen („Servitization“).

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Ein noch weitergehender Ansatz basiert auf alternativen Erlösmodellen, die die im Rahmen der Produktnutzung entstehenden Daten durch Verkauf an Dritte „monetarisieren“. Dieses Modell ist derzeit im Rahmen vieler Internetdienste vorherrschend (v. a. Google oder Facebook). Eine Variante ist das sog. Freemium-Modell, bei dem eine Basisversion eines Dienstes kostenlos („free“) verbreitet wird, während leistungsfähigere Premiumversionen nur gegen Entgelt benutzt werden können (Anderson 2009).

6.8 Digitale Disruption Geschäftsmodelle, die sowohl auf digital vernetzten Geschäftsprozessen als auch auf digital vernetzten Produkten basieren, können insbesondere disruptives Potenzial entwickeln, da sie in der Lage sind, etablierte Produkte und Dienste zu verdrängen, wenngleich sie in der Startphase noch nicht den derzeit vorherrschenden Kundenerwartungen voll entsprechen mögen (Christensen 1997). Als mittlerweile klassisches Beispiel diene die Digitalfotografie, die zu Beginn ihres Marktzyklus technologisch (z. B. mit Blick auf die Bildauflösung) noch deutlich schlechter als die damals vorherrschende und die Kundenerwartungen treffende Fotografie (heute als Analogfotografie bezeichnet) mittels Belichtung lichtempfindlichen Filmmaterials war (Position A in Abb. 16). Das disruptive Potenzial besteht nun gerade darin, dass etablierte Unternehmen solche Innovationen zunächst unterschätzen, weil die Produktperformance der ­Konkurrenz zunächst inferior ist, sich etablierte Produkte im Zeitablauf aber von den

Abb. 16   Disruptive Innovationen. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Kundenerwartungen entfernen können (oder sich die Kundenerwartungen von etablierten Produkten wegentwickeln) und plötzlich die vermeintlich inferioren Lösungen im Zentrum der Kundenerwartungen stehen. Dies geht am Beispiel der Digitalfotografie damit einher, dass im Laufe der Zeit die Bildauflösung besser wurde und den Kundenerwartungen voll entsprach, während weitere Verfeinerungen bei klassischen Fotoapparaten (Sustaining Innovation) außerhalb der Kundenerwartungen lagen (Position B bzw. C in Abb. 16). Die eigentliche Disruption besteht darin, dass sich ganze Branchenstrukturen ändern, wenn Kunden von etablierten zu disruptiven Produkten wechseln. Am Beispiel der Fotografie betrifft dies neben den Kameraherstellern die gesamte Branche von den Filmherstellern bis hin zur Film- und Fotoentwicklung, die nur mehr ein Nischendasein führt. Mögliches künftiges disruptives Potenzial wird beispielsweise dem autonomen Fahren zugeschrieben. Neben der Entwicklung autonom fahrender Fahrzeuge mit entsprechender Sensorik und Aktorik zeichnen sich entsprechende Geschäftsmodelle dadurch aus, dass ein innovatives Mobilitätskonzept verfolgt wird: nicht der Besitz eines Autos, sondern der Zugang zu Mobilität steht im Vordergrund. Die dabei anfallenden Mobilitätsdaten können Teil des Geschäftsmodells werden. Zu nennen wären hier aber auch die dem Bereich Produktentwicklung zuzurechnenden plattformbasierten Möglichkeiten zur 3-D-Modellierung. Dabei können von Nutzern relativ einfach CAD-Pläne internetbasiert erstellt, gespeichert, getauscht und heruntergeladen werden. In Verbindung mit Herstellern können diese Entwürfe in physische Produkte umgesetzt werden. Dazu ist lediglich eine Übermittlung des CAD-Programms an einen Produzenten nötig, auf dessen Maschinenkapazität zugegriffen werden kann. Eine entsprechend integrierte Plattformlösung von der CAD-Software bis zum Versand des fertigen Produkts an den Nutzer bietet z. B. eMachineshop. Damit können sich zudem Betreiber von digital vernetzten CNC-Maschinen oder 3-D-Druckern auf einen Marktplatz für Fertigungskapazitäten begeben. Ein weiteres Szenario ist die sog. Maker Economy, die in ferner Zukunft die fabrikweise Massenproduktion dann zurückdrängen könnte, wenn lokale, private 3-D-Drucker unmittelbar individuelle Produktnachfragen befriedigen könnte (Anderson 2012).

7 Fazit Industrie 4.0 bezeichnet eine Form industrieller Wertschöpfung, die durch Digitalisierung, Automatisierung sowie Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure charakterisiert ist und auf Prozesse, Produkte oder Geschäftsmodelle von Industriebetrieben einwirkt. Damit rückt für Unternehmen die betriebliche Leistungserstellung wieder verstärkt in den Mittelpunkt betriebswirtschaftlicher Betrachtungen. Die Gestaltungsoptionen für Unternehmen lassen sich grundsätzlich in zwei Richtungen hin unterscheiden.

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Zum einen können Unternehmen in der Rolle des Industrie-4.0-Anwenders versuchen, die sich aus den technischen Möglichkeiten von Automatisierung, Digitalisierung und einer intelligenten Vernetzung industrieller Infrastruktur ergebenden Potenziale betriebswirtschaftlich zu nutzen und durch eine Steigerung der Prozesseffizienz an Wettbewerbsfähigkeit zuzulegen. Dies kann operativ, aber auch strategisch (i. S. e. Verbesserung von Wertschöpfungsstrukturen) angelegt sein; z. B. durch eine Flexibilisierung der Produktion und damit verbundener Individualisierung der Produkte durch Verschiebung des Order Penetration Point. Zum anderen können Unternehmen in der Rolle des Industrie-4.0-Anbieters versuchen, intelligente und vernetzte Produkte und damit verbundene Dienstleistungen bis hin zu innovativen Geschäftsmodellen zu entwickeln. Die Kernidee dieses Vorgehens beruht auf dem Konzept digitaler Ubiquität, d. h. der grenzenlosen Möglichkeit zur digitalen Vernetzung von Objekten (Internet of Things). Das damit verbundene wettbewerbsrelevante Paradigma ist nicht primär die Verdrängung bestehender Lösungen, sondern die Digitalisierung, Vernetzung und Neukonfiguration bestehender Produkte und Dienste. Hybride Ansätze, die sowohl auf digital vernetzten Wertschöpfungsprozessen als auch digital vernetzten Produkten basieren, können hingegen auch disruptives Potenzial entwickeln. Die Realisierung der Produktionsvision „Industrie 4.0“ kann dabei schrittweise erfolgen. Ausgehend von einer intelligenten Vernetzung industrieller Infrastruktur bieten sich enorme Möglichkeiten zur Verbesserung der Effizienz industrieller Wertschöpfungsprozesse. Mit Blick auf Produkte und Dienstleistungen geht es darum, diese mit intelligenter Vernetzung auszustatten und so Mehrwertdienste zu etablieren. Darauf aufbauend lassen sich innovative Erlös- und Geschäftsmodelle entwickeln. Grundsätzlich stehen Industriebetrieben beide strategischen Stoßrichtungen im Rahmen der Industrie 4.0 offen. Die Steigerung der Prozesseffizienz wird zur Erhaltung wettbewerbsfähiger Kostenstrukturen als notwendig einzuschätzen sein. Sie wird derzeit sehr stark von technisch orientierten deutschen Industrieunternehmen verfolgt. Demgegenüber steckt die Entwicklung intelligenter vernetzter Produkte und Dienstleistungen und damit verbundenen Geschäftsmodellinnovationen noch in den Kinderschuhen. Besonders in den USA treten in diesem Bereich Unternehmen auf, die bislang eher aus der IT und weniger aus der industriellen Fertigung stammen. Der damit bevorstehende Wettbewerb um die Vorherrschaft in der sog. vierten industriellen Revolution zeichnet sich deutlich ab (Obermaier 2014). Als zentrale Herausforderung gilt der Aufbau der notwendigen IT-Infrastruktur, sei es in Richtung digitaler Prozess- oder Produktplattformen oder den damit verbundenen Datenanalysefähigkeiten. Hierbei wird sich zeigen, ob bislang etablierte Industrieunternehmen fähig sein werden, in dieser bevorstehenden digitalen Transformation bestehen zu können oder ob eher Unternehmen aus dem Bereich der IT ihre Kompetenzen in Richtung industrielle Produktion entwickeln werden.

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Prof. Dr. Robert Obermaier  ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Accounting und Controlling an der Universität Passau. Aktuell untersucht er insbesondere die Auswirkungen der Digitalisierung (Industrie 4.0) auf die Bereiche Controlling, Unternehmensbewertung, Produktion und Entscheidungstheorie.

Industrie 4.0 und Integrierte Informationsverarbeitung Peter Mertens und Dina Barbian

1 Zum Stand Eine so steile „Karriere“, wie sie der Begriff „Industrie 4.0“ schon kurze Zeit nach der Festlegung von Wesen und Zielen des Fachgebiets erlebt, hat man in der Geschichte der betrieblichen Informationsverarbeitung selten beobachtet. Gemessen daran sind die resultierenden Anforderungen an die Integrierte Informationsverarbeitung (IIV) und an die zugehörigen Planungs- und Steuerungsverfahren bzw. -algorithmen eher unterbelichtet. In Befragungen und Experimenten geht es mehr um Spekulationen zu den potenziellen Auswirkungen, z. B. was die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Fertigungsindustrie oder die Arbeitsplätze betrifft, oder um Modellfabriken und andere Demonstratoren, mit denen die technische Machbarkeit auch relativen Laien verdeutlicht werden soll. Hierfür engagieren sich Labors von Hochschulen und außeruniversitären Forschungsinstituten, Unternehmensberatungen und Veranstalter von Fachmessen. Die uns bekannten bisherigen Überlegungen, welche Verfahren in der betriebswirtschaftlichen und wirtschaftsinformatischen Sphäre der (informations-)technische Fortschritt in der industriellen Produktion verlangt und welche Ergänzungen insoweit vorgenommen werden können bzw. müssen, reichen noch nicht sehr weit. Zum Teil können – vor allem bei Dispositionssystemen der Produktionssteuerung – bewährte Module aus Produktionsplanungs- und -steuerungssystemen (PPS-Systemen) übernommen werden. Zu einem anderen Teil ist erst jetzt die Zeit gekommen, angedachte Methoden in der Praxis zu verwirklichen. Dies betrifft alle Konstellationen, in P. Mertens (*) · D. Barbian  Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Barbian E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_2

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denen Ad-hoc-Entscheidungen zu Prioritäten von einem völligen Überblick über die aktuelle Situation in Fertigung und Logistik abhängig sind. Ein Beispiel ist das sog. Routing: Der nächste Prozessschritt eines Fertigungsauftrags ist u. a. eine Funktion von Auslastungs- und Störungsdaten an den folgenden Betriebsmitteln. Man mag bei Industrie-4.0-Systemen eine weit größere Transparenz und Flexibilität als bislang unterstellen.

2 Abgrenzungen – verwendetes Begriffsverständnis 2.1 Industrie 4.0 Die Zahl der Definitionen, die wir zu Industrie 4.0 fanden, ist sehr groß (Beispiele in ­Mertens et  al. 2017, insb. Abschn. 5.2). Eine nicht triviale Schnittmenge zu destillieren, mit der das Thema „Industrie 4.0 und Integrierte Informationsverarbeitung“ behandelt werden könnte, gelingt uns nicht. Wir benutzen hier das ursprüngliche, gut umrissene Begriffsverständnis, das auf die Protagonisten Broy, Kagermann und Wahlster zurückgeht. Demnach wird Industrie 4.0 mit dem aus der Informatik und aus den Ingenieurwissenschaften stammenden Begriff „cyber-physical systems“ (CPS) eng assoziiert oder auch gleichgesetzt, so in einem Bericht der Forschungsunion/acatech (Promotorengruppe 2013, S. 5; ausführlicher wird dies durch Robert Obermaier 2017, insb. Abschn. 2 behandelt). Betriebsmittel wie z. B. Werkzeugmaschinen, Roboter, Prüfvorrichtungen, Fahrzeuge und Lagerautomaten werden mit speziellen Computern (eingebetteten Systemen, „embedded systems“) ausgestattet. Ganz überwiegend geht man davon aus, dass diese Betriebsmittel Daten austauschen. Jedoch könnte die nächste Ausbaustufe so gestaltet sein, dass sie auch untereinander verhandeln, um schließlich automatische Dispositionen zu treffen. Alternativ wären auch Auktionen, z. B. über knappe Kapazitäten, in Betracht zu ziehen. Methodisch bestehen sehr enge Verwandtschaften zu den Software-Agenten und den Multi-Agenten-Systemen (MAS) als Teilgebiet der Künstlichen Intelligenz (KI). Informatik und Wirtschaftsinformatik hatten solche Systeme in Forschungsprogrammen und Dissertationen bereits in den 1990er-Jahren bezüglich Verwendung in Produktion und Logistik untersucht und Prototypen entwickelt (Falk 1995; Weigelt 1994). Neuere Arbeiten haben Berndt (2015) und Gath (2015) vorgelegt. Freilich wurden dabei die Wechselwirkungen zwischen den informatischen Konstrukten im Bereich der industriellen Produktion einerseits und anderen Funktionsbereichen, v. a. Vertrieb, Anlagentechnik und Rechnungswesen, zu wenig analysiert. Das folgende Beispiel, das der Verfasser Mertens zu bearbeiten hatte, zeigt das Zusammenwirken betriebswirtschaftlicher Ziele und deren Restriktionen: In einem Unternehmen der Leichtmetallindustrie sind aus großen Aluminiumblöcken auf Walzaggregaten dünne Folien zu produzieren, die man z. B. für die Verpackung von Schokoladetafeln oder für Kondensatoren benötigt. Weil die Walzen und die Produkte unterschiedlich breit sind, ist der Verschnitt zu minimieren (zweidimensionales Verschnittproblem). Das Optimieren

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gelingt mit Verfahren der mathematischen Programmierung, wobei der Bedarf an Rechenkapazität nicht unterschätzt werden darf. Generell ist das Verschnittproblem mit der Terminplanung zu verbinden. Erteilt z. B. ein Kunde einen Eilauftrag, so ist in Abhängigkeit von den bestätigten und eingeplanten Kundenaufträgen zu entscheiden, ob und wenn ja, welche anderen Aufträge zurückgestellt werden. Will man diese Entscheidung vollständig automatisieren, so sind auch Fakten zu berücksichtigen wie: 1. In welchem Maß wurden bisher Liefertermine bei den durch die Umdispositionen betroffenen Kunden versäumt? Mit anderen Worten: Dürfen wir diese Kunden erneut enttäuschen? 2. Welche Kundendeckungsbeiträge entgehen, falls ein vielversprechender neuer Kunde, ein Stamm- bzw. A-Kunde abspringt oder man einen B-Kunden zurückstellt? (Kundenwertberechnungen) Agentenbasierte Systeme erlauben Berechnungen auf sehr detaillierter Ebene. In Kauf zu nehmen sind bisher noch der hohe Datenbedarf und erhebliche Rechenzeiten. Gerade diese Nachteile verlieren aber durch den technischen Fortschritt an Relevanz. Gut geeignet sind Agenten in Kombination mit analogen Elementen von System Dynamics und diskreter Ereignissimulation (Djanatliev 2015, insb. Abschn. 4.1). Soweit im Folgenden keine besonderen Anmerkungen gemacht werden, setzen wir CPS und MAS gleich (es gibt allerdings auch Vorschläge, CPS und MAS zwar als eng verwandte Methoden einzustufen, aber hinsichtlich einzelner Merkmale, z. B. dem Automationsgrad der Mensch-Maschine-Kommunikation, zu unterscheiden). Im Grenzgebiet zwischen Fertigungswirtschaft, Operations Research und Wirtschaftsinformatik stehen Methoden zur Verfügung, die sich als Ausgangspunkt für Industrie-4.0-Steuerungen eignen. Die typischen technischen Voraussetzungen einer weitreichenden Vernetzung von Betriebsmitteln und der Rechenkapazitäten mit hohem Leistungs-Kosten-Verhältnis dürften es erlauben, auch komplizierte Algorithmen in die Praxis umzusetzen. Damit würde man den für die Fertigung typischen vielfältigen und in Wechselwirkung stehenden Restriktionen und Zielen hinsichtlich Betriebswirtschaft, Ingenieurwissenschaft und Informatik besser gerecht.

2.2 Integrierte Informationsverarbeitung 2.2.1 Ausprägungen Das Wort „Integration“ beinhaltet die Wiederherstellung eines Ganzen. In der Wirtschaftsinformatik ist Integration als Verknüpfung von Menschen, Aufgaben und Technik zu einer Einheit zu verstehen (Heilmann 1989; Fischer 1999; Heinrich et al. 2004;

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­Rosemann 1999). Insbesondere sind die folgenden Kategorien von Anwendungssystemen miteinander zu verbinden: 1. Administrationssysteme 2. Dispositionssysteme 3. Planungssysteme 4. Kontrollsysteme

}

Operative Systeme

}

Planungs- und Kontrollsysteme (PuK-Systeme)

In der angelsächsischen Fachwelt entspricht der IIV weitgehend der Begriff Enterprise Application Integration (EAI). Die Ausprägungen der IIV zeigt Abb. 1.

2.2.2 Integrationsrichtungen Nach der Integrationsrichtung in der Pyramide, die die Aufbauorganisation des Unternehmens wiedergibt (Abb. 2), kann man in horizontale und vertikale Integration differenzieren. ,QWHJUDWLRQGHU,QIRUPDWLRQVYHUDUEHLWXQJ

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Abb. 1   Ausprägungen der Integrierten Informationsverarbeitung. (Quelle: Mertens 2013, S. 14)

Industrie 4.0 und Integrierte Informationsverarbeitung

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Abb. 2   Gesamtkonzeption der Integrierten Informationsverarbeitung. (Quelle: Mertens 2013, S. 19)

Die horizontale Integration bezieht sich vor allem auf die Verbindung der Teilsysteme in der betrieblichen Wertschöpfungskette. Unter vertikaler Integration hat man sich in erster Linie die Datenversorgung der PuK-Systeme aus den operativen Systemen heraus vorzustellen.

2.3 Wechselwirkungen zwischen Integrierter Informationsverarbeitung und Industrie 4.0 – Beispiele aus Funktionsbereichen Will man das theoretische Konzept der IIV auch mit dem Gedankengut von Industrie 4.0 ausfüllen, so müssen auf den unteren Ebenen der Systematik gemäß Abb. 1 vor allem und von Ausnahmen abgesehen die Positionen 1.1.2, 1.2, 1.3, 1.5.3, 2.1, 2.2, 3.2, 4.1 und 5.2 realisiert werden. Es zeigt sich eine Vielfalt von Wechselwirkungen. Man kann das mit den folgenden Beispielen konkretisieren: 1.1.2 und 1.2  Die CPS benutzen mit anderen Teilsystemen des Fertigungssektors, aber auch mit solchen aus den Funktionsbereichen Forschung und Entwicklung, Vertrieb, Beschaffung, Versand, Kundendienst, Finanzen, Rechnungswesen, Personal und Anlagenmanagement gemeinsame Datenbanken. Beispielsweise werden bei Verzögerungen

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im Fremdbezug von Teilen (Beschaffung) die Betriebsmittel mit Aufträgen belegt, die von den ausbleibenden Komponenten nicht betroffen sind. Erzwingen Kapazitätsengpässe in der Produktion die verspätete Belieferung einiger Kunden, so finden die Agenten jene Abnehmer, denen aufgrund von Kundenwertberechnungen des Vertriebs die Benachteiligung zugemutet werden soll (s. Abschn. 2.1). Von den CPS ermittelte Verletzungen von Qualitätstoleranzen werden der Produktentwicklung zugeführt, wo man sie bei der Weiterentwicklung mit dem Ziel, fertigungsgerechte Konstruktionen zu erreichen, berücksichtigt. 1.3  Die Produktionssteuerung beachtet, dass einige Maschinen zu jenen Zeiten nicht belegt werden dürfen, in denen das Anlagenmanagement Maßnahmen der vorbeugenden Instandhaltung eingeplant hat. 1.5.3  Bestimmte Geräte (Hardware mit zugehöriger Software), z. B. solche zur Betriebsdatenerfassung (BDE) und zur Prozessdatenerfassung (PDE), werden von der Fertigungssteuerung ebenso benutzt wie die für die Kontrolle der Kapazitätsauslastung im Rechnungswesen und bei PuK-Systemen. 2.1  Die Programme zur Terminkontrolle in der Produktion dienen zugleich der Disposition von Versandaktionen. 3.2  Die Teilprozesse beim Durchlauf der Kundenaufträge sind aufeinander abzustimmen. Beispiele

Auftragsannahme oder -ablehnung wird davon abhängig gemacht, ob der Auftrag noch rechtzeitig produziert werden kann. Die Prioritäten an den Maschinen (s. Abb. 3) werden aus den Kundenwerten berechnet. Dem Versand wird der Termin angekündigt, zu dem die Qualitätskontrolle wahrscheinlich befriedigend verlaufen sein wird, wobei die Ergebnisse der BDE an den kritischen Punkten („Meilensteinen“) der Fertigung automatisch berücksichtigt werden. Die Nachkalkulation der Produktionskosten gestaltet man abhängig von der BDE, z. B. ob eine bestimmte Zahl von Teilen nachbearbeitet werden musste.

4.1  Gerade mit Industrie 4.0 wird eine weitgehende Automation der Fertigung angestrebt. Als „konkrete Utopie“ im Sinne der Philosophie, verstanden als Richtungsgeber ohne das Ziel der hundertprozentigen Realisierung, dient die Vollautomation (Mertens 1995). 4.2.2  Zum Verständnis von Industrie 4.0 wird oft gerechnet, dass die Automation nur unterbrochen und der Mensch eingeschaltet wird, wenn das System „nicht mehr weiter weiß“ bzw. wenn das Programm von vornherein einen Befehl enthält, dass eine anstehende Entscheidung vom Menschen zu treffen ist.

Industrie 4.0 und Integrierte Informationsverarbeitung

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5.2  Als „Pate“ bei Industrie 4.0 fungiert auch die Denkfigur des Echtzeitunternehmens (zur Problematik vgl. Mertens et al. 2017). Pragmatisch mag man fordern, dass neue Nachrichten als einzelne unverzüglich weitergegeben werden, mit anderen Worten, dass ein System solche Informationen nicht eine Zeitlang sammelt bzw. bündelt und dann erst kommuniziert. Die Frage, wann das „Echtzeitdenken“ von Vorteil und wann von Nachteil (z. B. weil eine Art Nervosität entstehen kann) ist, wurde bisher u. W. von der Organisationstheorie kaum behandelt.

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3 Bezüge zwischen Industrie 4.0 und Integrierter Informationsverarbeitung – Operative Systeme Die engste Verbindung zwischen den neueren Überlegungen und Konzepten zu Industrie 4.0 einerseits und IIV andererseits betrifft den Produktionssektor. Daher nehmen wir zum Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen die Einbettung von Industrie 4.0 in die Fertigungslenkung mit ihren Teilfunktionen: 1. Produktionsplanung 2. Materialbedarfsplanung (Material Requirements Planning/MRP I) 3. Produktionssteuerung 4. Qualitätskontrolle 5. Terminkontrolle

3.1 Produktionsplanung Für das Modul „Produktionsplanung“ eines PPS-Systems im Rahmen von Industrie 4.0 könnte in vielen Konstellationen die Vorabentscheidung zu fällen sein, ob bzw. inwieweit zentral oder dezentral disponiert werden soll. Wie Weigelt am Beispiel von MAS-Systemen gezeigt hat, hängt das stark von den Zielfunktionen ab (Weigelt 1994). Legt man eine Produktionsstätte mit dem Ziel minimaler Kapitalbindung aus, was in praxi heißt, dass Engpässe und Terminverzögerungen in Kauf genommen werden, so ist tendenziell eine zentralisierte Planung und Disposition die Methode der Wahl. In vielen Fällen dürften prinzipiell die herkömmlichen Verfahren zur PPS weiter verwendbar sein. Soll die Vertriebs- und damit die Produktionsstrategie hingegen flexible Reaktionen auf Kundenwünsche und kurze Lieferzeiten erlauben, so können langfristig auch MAS in Kombination mit Künstlichen Neuronalen Netzen (KNN) generell mit Maschinenlernen im Speziellen sehr hilfreich sein: Es würden bestimmte Muster der Auftragslage (u. a. Nachfragestoß, mittelfristige Überlastung, Auf- oder Abstieg im Lebenszyklus einer Produktgruppe, allgemeine Konjunkturkrise) abgegrenzt. Dann wäre mit KNN oder anderen Algorithmen der automatischen Mustererkennung bis hin zum Maschinenlernen zu registrieren, welche Kombination von Mustern (Diagnose) und Planungsverfahren (Therapie) opportun ist. In Anbetracht der Vielfalt von Berichten über die Möglichkeiten und Grenzen von KNN in anderen Disziplinen, z. B. in der Medizin, sind derartige Überlegungen noch spekulativ.

3.2 Materialbedarfsplanung Ist das einzelne Produkt definiert und liegt die Stückliste vor, so dürften sich bei Industrie-4.0-Lösungen, verglichen mit dem bisherigen Stand, kaum neue Methoden aufdrängen. Sollte Industrie 4.0, wie oft vorhergesagt, zu einer sehr viel größeren Zahl an

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Varianten führen, so würden Hilfen bei der Ableitung dieser Modifikationen aus Grundmodellen an Bedeutung gewinnen. Zu denken ist z. B. an die diversen Erscheinungsformen von Variantenstücklisten über Entscheidungstabellen, Entscheidungsbäume oder auch Wissensbasierte Konfiguratoren (Mertens 2013, insb. Abschn. 3.2.2.3). Von diesem Punkt aus sind dann die Bedarfe an Baugruppen, Einzelteilen und Rohmaterialien mit den bisher schon üblichen bedarfs- oder programmgesteuerten Verfahren zu ermitteln und über die Beschaffungsfunktion zu decken. Zu einem hoch automatisierten Industrie-4.0-System passt auch eine weitgehend automatisierte Beschaffung (vgl. Position 3.4 in Abb. 1). Der Lieferant kontrolliert über ein Netz die Bestandsentwicklung bei seinen Industrie- und Handelskunden sowie ggf. in den Zwischenlagern von Logistik-Dienstleistern und füllt deren Lager automatisch nach (Vendor Managed Inventory/VMI).

3.3 Produktionssteuerung/Werkstattsteuerung/Manufacturing Execution Systems (MES) Grundmodelle der Produktionssteuerung Theorie und Praxis haben eine große Vielfalt an Produktionssteuerungsverfahren hervorgebracht. Einen genaueren Überblick gibt Hellingrath (2002). Die Methoden lassen sich auf verschiedene Grundmodelle zurückführen; innerhalb dieser Modelle mag man die Arbeit unterschiedlich zwischen Mensch und Maschine aufteilen (personelle, interaktive oder automatische Fertigungslenkung). Der Systemplaner stellt sich aus den Grundmodellen ein individuelles Verfahren zusammen. Diese Festlegung wird nicht zuletzt auch vom Grad der Vorhersagbarkeit der Produktion beeinflusst. Fallen zahlreiche Entscheidungen (z. B. über die Zuordnung Auftrag – Maschine) aus technischen Gründen (z. B. in Abhängigkeit von der Qualität des Zwischenerzeugnisses) erst im Verlauf des Produktionsprozesses, so wählt man bisher ein gröberes Modell, das personellen Entscheidungen größeren Raum lässt, als dann, wenn der Produktionsablauf einwandfrei vorausbestimmbar ist und Änderungen wenig wahrscheinlich sind. Wegen der größeren Menge an aktuellen Informationen, die als Folge der Vernetzung an den Stationen zur Verfügung stehen, dürfte in Industrie-4.0-Umgebungen die Zahl der menschlichen Eingriffe zurückgehen.

3.3.1 Grundmodell I: Prioritätsregelsteuerung Im Mittelpunkt dieses Verfahrens stehen Prioritätsregeln, mit deren Hilfe ein (mehrere) Optimierungsziel(e) erreicht werden soll(en) (Abb. 3). CPS entscheiden in dem Augenblick, in dem ein Betriebsmittel zu belegen ist, welcher wartende Auftrag als Nächster bearbeitet wird. Eine robuste Industrie-4.0-Lösung würde man erhalten, wenn jeder Agent situationsabhängig nach einer Prioritätsregel steuerte, die er aus einem Katalog (Abb. 3) auswählt. Industrie-4.0-Systeme würden insofern über den bisher erreichten Stand der

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Produktionssteuerung hinausreichen, als die Auswahl von Regeln zeitnäher auf die aktuelle Situation abgestellt werden könnte. Beispielsweise macht die Regel KFZ (kürzeste Fertigungszeit) an Maschine M4 kaum Sinn, wenn die Folgemaschine M5 gerade überlastet ist und deshalb der auf einer Anlage als erster bearbeitete Betriebsauftrag anschließend in eine lange Warteschlange vor dem nächsten Fertigungsschritt eingereiht würde. Die Kommunikation der CPS von M4 und M5 untereinander würde durch die Vernetzung leichter als bei herkömmlichen Formen der Produktionssteuerung. Dies wird in Abschn. 4.2 vertieft. Prioritätsregeln lassen sich danach unterscheiden, welche Informationen man zu deren Berechnung heranzieht und ob diese zeitunabhängig (statisch, Regel (15)) oder -abhängig (dynamisch, Regel (5)) sind. Die Berechnung kann z. B. lediglich Informationen der betrachteten Warteschlange nutzen („lokale Regel“, Regel (3)) oder auch auf Informationen über Warteschlangen anderer Maschinen zugreifen („globale Regel“, Regel (13)). Unterteilt man die Regeln bezüglich ihrer Ziele, so streben die Regeln (5), (6), (7), (9), (10), (11) und (12) eine hohe Termintreue an, die Vorschrift (1) hat eine niedrige Durchlaufzeit zum Ziel, während (8) ein geringes Arbeitsvolumen in der Fertigung gewährleisten soll. Wurden die Zeitpuffer eines Fertigungsauftrags reduziert, so wirkt sich eine Verspätung unmittelbar auf die Termineinhaltung aus. Diesem Aspekt trägt die Regel (10) Rechnung. (11) soll verhüten, dass sich Verspätungen bei einem Arbeitsgang auf viele andere Arbeitsgänge auswirken und somit zu einer großen Unruhe im bestehenden Termingefüge führen. Regel (13) maximiert die Kapazitätsauslastung. Eine niedrige Kapitalbindung erzielt die Regel (14). In die gleiche Richtung wirkt auch die Regel (8), da die Aufträge zum Ende ihres Fertigungsprozesses beschleunigt werden, wenn sie das meiste Kapital binden. Die Regel (15) soll die Umrüstkosten minimieren. Die Regeln (1), (2), (3) und (4) sind einfach zu administrieren, jedoch ist nur schwer vorherzusagen, welche Effekte sie in Bezug auf die Optimierungsziele in einer praktischen Datenkonstellation haben. Daher wurden in zahlreichen Simulationsstudien die Auswirkungen der Vorschriften bei unterschiedlichen Fertigungssituationen untersucht (Haupt und Schilling 1993). Obwohl sich die Erkenntnisse nicht prinzipiell verallgemeinern lassen, zeigte die Regel (1) relativ gute und robuste Ergebnisse. Dies wird man sich beim Entwurf eines vergleichsweise einfachen Industrie-4.0-Systems zunutze machen. Hingegen wirkt die FCFS-Vorschrift („Regel des täglichen Lebens“) in der industriellen Produktion eher ungünstig (Huq 1999). In kombinierte Prioritätsvorgaben gehen die einzelnen Vorschriften mit Gewichtungsfaktoren ein. Dadurch wird erreicht, dass Agenten das „Gemisch“ von Zielsetzungen, das für die praktische Produktionsplanung charakteristisch ist, abbilden und durch Modifikation der Gewichtungsfaktoren auch verändern können. Als Beispiel einer mit Gewichtungsfaktoren ausgerüsteten kombinierten Prioritätsvorschrift, bei der einzelne Elemente vom Rechner im Zeitablauf selbsttätig ver-

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ändert ­werden (dynamisch kombinierte Prioritätsregel), diene die folgende Formel (vgl. ­Mertens 2013, S. 213): P(ges) = G(R) ∙ R − G(S) ∙ (ET − PT − RB) + G(P) ∙ P Es bedeuten: P(ges) Gesamte (kombinierte) Priorität R  In der Durchlaufterminierung für den Auftrag benutzter Reduzierungsfaktor ET Endtermin des Arbeitsganges laut Durchlaufterminierung PT Termin des Programmlaufs RB Restliche Bearbeitungszeit des Teils P Externe Priorität S Schlupf Die G-Werte bezeichnen die Gewichtungsfaktoren. Das so gesteuerte System verhält sich deshalb in der Prioritätsvergabe dynamisch, weil sich der Klammerwert (ET − PT − RB = S) mit dem Programmlaufzeitpunkt verändert, d. h. ein bisher noch nicht zugeteilter Auftrag bekommt im Zeitablauf eine höhere Priorität und damit höhere Zuteilungschancen. Setzt man G(S) hoch, so wird relativ hohe Pünktlichkeit erreicht. Kombiniert man in ähnlicher Weise die Schlupfzeitregel mit der KFZ-Regel (siehe oben Positionen (1) und (6)), so resultiert für viele Aufträge eine große Termintreue bei geringer Streuung der Terminabweichungen, wodurch gewisse Vorteile bei der Durchlaufzeit erzielt werden. Wie Zimmermann an einem instruktiven Beispiel zeigt, kann die falsche Wahl der Gewichte schwerwiegende Folgen haben (vgl. Zimmermann 1987, S. 94). Bei Industrie-4.0-Lösungen dürften sich mehr als bisher Ex-ante-Untersuchungen bzw. -Simulationen erübrigen, denn „intelligente“ Agenten würden die Wahl der Regel, der Gewichtungsfaktoren und anderer Parameter ad hoc treffen. Das Grundmodell I ist einfach zu verstehen. Wenn eine pünktliche und genaue BDE vorhanden ist, lässt sich damit die Steuerung rasch an die neueste Datenlage anpassen. Die Kritik an diesem Verfahren bezieht sich auf folgende Probleme: 1. Es dürfte auch in einer Industrie-4.0-Umgebung nicht trivial sein, eine geeignete Prioritätsregel auszuwählen bzw. die Parameter der Regel, insbesondere bei kombinierten Vorschriften, automatisch einzustellen (Pabst 1985, S. 57). 2. Die Pflege der vielen Parameter ist arbeitsaufwendig. 3. Teilweise können sich überproportionale Wirkungen durch eine Art Selbstverstärkungseffekt ergeben, zum Teil „verpufft“ aber auch der Effekt durch den Einfluss von Störgrößen.

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Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass relativ komplexe Wechselwirkungen zu beherrschen sind. Daher könnten zukünftige Systeme aus den vorhandenen heraus so entwickelt werden, dass man in Nahe-Echtzeit Einflussgrößen berücksichtigt, wie 1. momentane Prioritäten der alternativen Ziele (u. a. Pünktlichkeit, gute Kapazitätsausnutzung, flexible Reaktion auf verändertes Auftragsspektrum; z. B. vermehrte Eilaufträge), 2. aktuelle Ausfälle von Betriebsmitteln und/oder Arbeitskräften.

3.3.2 Grundmodell II: Betriebsmittelzuteilung und Reihenfolgebestimmung Bei diesem Grundmodell müssen die Agenten bzw. CPS bestimmen, welcher Auftrag zu welchem Betriebsmittel transportiert und wann er dort bearbeitet wird. Das Grundmodell II kommt insbesondere dort infrage, wo die Produktionsaufträge nur wenige Betriebsmittel belasten, wo alternative Zuordnungen Arbeitsgang – Fertigungsressource möglich sind und wo die Umrüstungsreihenfolge als Optimierungsproblem eine erhebliche Rolle spielt, z. B. in verschiedenen Unternehmen der Papierverarbeitung, bei der Herstellung integrierter Schaltkreise auf Siliziumscheiben (Mönch und Schmalfuß 2003) oder bei Reaktoren in der Chemieindustrie (Schönsleben 2007), wo man auch vom Kampagnenprinzip oder von prozessororientiertem Ressourcenmanagement spricht. Allgemein findet man derartige Situationen vor allem in hoch automatisierten Betrieben vor. Herkömmliche Verfahren basieren oft auf Eignungsziffern, die zum Ausdruck bringen, wie gut in technischer Hinsicht Betriebsaufträge und deren einzelne Arbeitsvorgänge den Maschinen zugeordnet sind. Zum Beispiel muss eine Fräsbank F zur Oberflächenhärte eines Werkstücks passen, die Breite des Stahlbleches zum Umbauzustand der Walze oder die Farbe einer Textilie zur Farbe des Vorgängerprodukts im Bottich. Ähnlich wie bei Grundmodell I könnten die bei Industrie 4.0 in Echtzeit zur Verfügung stehenden Auslastungsdaten der folgenden Stationen Einfluss auf die Reihenfolge erhalten, mit der z. B. die Aufträge in der Warteschlange vor F bearbeitet werden. 3.3.3 Grundmodell III: Lokale Suchverfahren Ziel der lokalen Suchverfahren ist es – wie in Grundmodell II – Fertigungsaufträge den Betriebsmitteln zuzuteilen und die Bearbeitungsreihenfolge zu bestimmen. Als wesentliche Vertreter gelten Tabu Search, Simulated Annealing und Threshold Accepting. Weiterhin kann man dieser Gruppe auch die Genetischen Algorithmen zuordnen (vgl. Grundmodell IV). Diese Methoden werden deshalb als lokale oder Nachbarschaftssuchverfahren bezeichnet, weil sie, ausgehend von einem oder mehreren bestehenden Feinplänen, einen besseren „benachbarten“ suchen. Beispielsweise könnte man in einem gegebenen Plan die Reihenfolge zweier Fertigungsaufträge auf einer Maschine vertauschen.

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Auch diese Heuristiken könnten von Industrie 4.0 profitieren, wenn zeitnahe Informationen über den weiteren Ablauf helfen, den jeweils besten „benachbarten“ Feinplan auszuwählen.

3.3.4 Grundmodell IV: Simulation und Genetische Algorithmen Nachdem es das verbesserte Preis-Leistungs-Verhältnis der Hardware in Verbindung mit „In-Memory-Computing“ immer mehr erlauben wird, für die Produktionssteuerung erhebliche Rechenkapazität zur Verfügung zu stellen, wird eine große Zahl (Größenordnung einige Tausend) alternativer Maschinenbelegungen simuliert, wobei kaum Verzögerungen in Entscheidungsprozessen, z. B. bei Ad-hoc-Umdispositionen, in Kauf zu nehmen sind (Dickersbach 2009). Das System kann unter den höchstbewerteten Simulationsergebnissen eine Steuerungsalternative auswählen (Milberg und Tetlmayer 1994). Eine Sonderform der Simulation, die sich besonders für die Steuerung mit CPS eignen könnte, sind die Genetischen Algorithmen (GA). Ein GA (Appelrath und Bruns 1994) erzeugt systematisch eine Vielzahl von Kombinationen. Dabei werden die neuen Lösungen – vergleichbar einem Fortpflanzungsprozess in der Natur – durch leichte Modifikationen aus den bisherigen gewonnen. Es gibt also „Eltern“ und „Kinder“. Die Resultate werden mithilfe einer sog. Fitnessfunktion bewertet. Die absolut beste Lösung speichert man in einem „goldenen Käfig“ ab. Analog einer „Darwin’schen Auslese“ vernichtet der Algorithmus alle schlecht evaluierten „Zeugungsresultate“, sodass nur die gut bewerteten die Chance haben, „ihr Erbgut weiterzugeben“. Entsteht beim nächsten Zeugungsvorgang eine Alternative, die besser als jene im Käfig ist, so verdrängt sie den „Käfiginsassen“. Der Algorithmus hat den wichtigen Vorteil, dass man ihn so lange laufen lassen darf, wie Zeit für die Entscheidung zur Verfügung steht, denn mit fortschreitender Rechenzeit kann nie ein schlechteres, wohl aber ein besseres Ergebnis erzielt werden. Außerdem lässt sich die Methode gut parallelisieren, indem man verschiedene Lösungspopulationen auf mehreren vernetzten Computern berechnet. Für Industrie-4.0-Systeme erwägenswert sind wegen der erreichbaren Reaktionsgeschwindigkeit auch Steuerungsmethoden, bei denen mit einer relativ groben Erstplanung begonnen wird. Dann beschränkt man sich ganz auf die laufende Anpassung an das Fertigungsgeschehen. Auf eine verfeinerte Einplanung wird verzichtet, wenn die Wahrscheinlichkeit hoch ist, dass sich der Plan doch nach kurzer Zeit erledigt, z. B. weil eine Fertigungszelle ausfällt oder ein Eilauftrag einzuschieben ist. Charakteristisch sind die Maxime „rescheduling instead of scheduling“ und Schlagworte wie „reactive scheduling“ (Dorn et al. 1998) oder „turnpike scheduling“ (Belz und Mertens 1996). Ziel ist es, nach einer Störung möglichst bald zur ursprünglichen Disposition zurückzukehren. 3.3.5 Grundmodell V: Verhandlung von Agenten Den einzelnen Fertigungssegmenten, die aus bestimmten Betriebsmitteln (Maschinen, flexiblen Fertigungssystemen, Bearbeitungszentren, Fertigungsinseln usw.) bestehen, sind Agenten in Form von kleinen und untereinander vernetzten Expertensystemen zugeordnet. In den gegenwärtig diskutierten Industrie-4.0-Konzepten entsprechen dem

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wiederum die CPS. Neben solchen, die für Betriebsmittel tätig sind, kann es auch Agenten für Kunden, Kundenaufträge, Betriebsaufträge oder Produkte geben. Derartige verteilte Systeme kommunizieren untereinander beispielsweise über einen gemeinsamen Speicher, das sog. Blackboard. In diesem werden Zwischenergebnisse oder Angebote bekannt gemacht. So versucht man, günstige Maschinenbelegungen und Reihenfolgen zu finden (Mönch 2006; Zelewski 1998). Die Agenten des an der Universität ErlangenNürnberg entwickelten prototypischen Systems DEPRODEX (Dezentrale Produktionssteuerungsexperten) verhandeln während des Produktionsprozesses laufend miteinander. Es lassen sich kooperierende und konkurrierende Agenten unterscheiden. Wesentliches Element bei kooperierenden Agenten ist der intelligente Austausch von Zeitpuffern. Bei konkurrierenden Agenten wird der Produktionsprozess als Markt betrachtet, auf dem die Nachfrage verschiedener Fertigungsaufträge auf das jeweils aktuell verfügbare Angebot an Fertigungsaggregaten trifft. Weigelt konnte zeigen, dass diese Art von dezentraler Steuerung vor allem Vorteile hat, sobald das Ziel dominiert, Durchlaufzeiten zu verkürzen und Verspätungen zu minimieren (Weigelt 1994).

3.4 Qualitätskontrolle Die Qualitätskontrolle bei Industrie-4.0-Systemen kann davon profitieren, dass die großen Fortschritte beim Leistungs-Preis-Verhältnis der Sensoren sowohl am Betriebsmittel wie auch am Produkt nach Art von Frühwarnsystemen helfen, früher und präziser zu signalisieren, an welcher Stelle bei welcher Funktion sich Unregelmäßigkeiten und Störungen anbahnen. Man könnte dann die Produktionsplanung und -steuerung wirksam mit der Instandhaltungsplanung und -steuerung integrieren (vgl. Abschn. 2.3 und 3.3.1). Bei komplizierten und feinnervigen Fertigungsprozessen – etwa in der Pharmaindustrie – werden evtl. in der Zukunft und in Einzelfällen Methoden der KI-Zusammenhänge zwischen technischen Parametern, z. B. Druck- und Temperaturschwankungen, einerseits und Streuungen der Produktqualität andererseits automatisch aufdecken.

3.5 Terminkontrolle Bei der Kontrolle der Endtermine von einzelnen Fertigungsprozessen dürften sich nur wenige Fortschritte gegenüber dem vor der Einführung von Industrie-4.0-Systemen erreichten Stand ergeben. Evtl. führen neue Algorithmen dazu, dass man weniger Verspätungen beim Endtermin des Fertigungsprozesses und damit bei der Übergabe an den Versand zu verzeichnen hat, weil MAS flexibler als bisher umdisponieren können, wenn sich an einer Zwischenstation eine Verzögerung abzeichnet. Ein gut integriertes Industrie-4.0-System wird schon bei der Gewichtung der Aufmerksamkeit, die einzelnen Verspätungen gilt, nicht nur den Fertigungssektor, sondern auch den Vertrieb berücksichtigen (s. Abb. 1, Punkt 3.2).

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3.6 Industrie 4.0 und CIM Zuweilen wird Industrie 4.0 als Weiterentwicklung bzw. Neuaufwurf (Renaissance) des CIM (Computer Integrated Manufacturing) gesehen. CIM ist ein Konzept, das in besonderem Maße den Anliegen der Integrierten Informationsverarbeitung Rechnung trägt. Eine Reihe von Ideen, vor allem die Daten-, Funktions- und Prozessintegration betreffend, aus der CIM-Literatur darauf zu prüfen, ob sie in Industrie-4.0-Konzepten verwendbar sind, könnte sich lohnen (Scheer 1990). Jedoch liegt der Schwerpunkt von CIM nur bedingt bei einer hoch automatisierten und auch nur zum Teil bei einer stark dezentral gelenkten Produktion, wie sie mit Industrie 4.0 bzw. MAS angestrebt wird. Vielmehr ist für CIM die in Abb. 4 zum Ausdruck gebrachte starke Integration der betriebswirtschaftlichen mit der technischen IV charakteristisch. Im Kreuzungspunkt der Balken des „X“, dem CAM (Computer Added Manufacturing), sind die betriebswirtschaftliche und die technische Sphäre nur noch mit Mühe und einer gewissen Willkür voneinander zu trennen.

3.7 Datenversorgung In Tab. 1 sind wichtige Daten aus der betriebswirtschaftlichen und technischen Informationsverarbeitung gelistet. Sie dürften in fortgeschrittenen Industrie-4.0-Systemen erforderlich oder zumindest hilfreich für Entscheidungen der Agenten sein. Beispielsweise kann ein Hinweis auf nachlassende Qualität oder steigende Ausfallzeiten eines Roboters dazu führen, dass in einem MAS mit konkurrierenden Agenten (vgl. Abschn. 3.3.5) diesem Roboter unter Wahrung von Nebenbedingungen automatisch weniger Fertigungsaufträge zugewiesen werden.

4 Bezüge zwischen Industrie 4.0 und Integrierter Informationsverarbeitung – Planungs- und Kontrollsysteme 4.1 Industrie 4.0 und Rechnungswesen/Controlling Üblicherweise werden die Planungs- und Kontrollsysteme von den Administrationsund Dispositionssystemen mit Daten versorgt (Vertikale Integration, s. Abb. 2). Im herkömmlichen Industriebetrieb ist die Aufbau- und Ablauforganisation relativ stabil. Entsprechend strukturiert lässt sich der Datentransfer in der Pyramide gestalten. Hingegen bedingt die größere Agilität bei Industrie 4.0 neue informatische Lösungen bei der Abstimmung zwischen der operativen und der Führungsebene.

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Abb. 4   Anwendungssysteme in Computer Integrated Manufacturing. (Quelle: Scheer 1990)

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Tab. 1  Datenversorgung. (Quelle: Eigene Darstellung) 1. Kundenstammdaten 2. Kundenauftragsdaten 3. Kundenbewegungsdaten und aktuelle Kundenbewertung, Auftragsgeschichte 4. Produktstammdaten (Stücklisten, Fertigungsvorschriften, Qualitätsparameter) 5. Produktbewegungsdaten, Qualitätshistorie 6. Aktuelle Kostendaten, z. B. Kapitalbindung als Funktion des Fertigungsfortschritts und der Kapitalmarktparameter (z. B. gegenwärtig anzusetzende Standard-Fremdkapitalzinsen) 7. Kurzfristige Absatzprognose (zu erwartende Kundenaufträge) aus der Absatzplanung 8. Betriebsmitteldaten (z. B. kurzfristig geplante Stillstände aus der Instandhaltungsplanung, nachlassende Qualität und Präzision wegen Abnutzungserscheinungen) 9. Material- und Zulieferdaten (z. B. Fehlbestände, offene Bestellungen und Wareneingänge mit Menge und Termin, Warnungen aus den Lieferbetrieben wegen sicherer oder drohender Verspätungen)

Industrie-4.0-Systeme liegen im Wettbewerb mit traditionellen Methoden der Unternehmensführung, namentlich im Produktionsbereich. Steht ein Wechsel zu Industrie-4.0-Systemen zur Diskussion, so ist auch die Funktion Rechnungswesen/Controlling einzuschalten (Mertens 2015; Mertens 2018). Vor der Umstellung auf Industrie 4.0 sind dies vor allem weiterentwickelte Methoden der Investitionsrechnung und des kalkulatorischen Verfahrensvergleichs, wobei die mit kühnen Innovationen und Technologiesprüngen verbundenen Unsicherheiten durch entsprechende Module („Investitionsrechnung bei Unsicherheit“) bis hin zu „Worst-case-Szenarios“ zu quantifizieren wären. Man mag die Frage auch so stellen: „Wie groß soll bei Berücksichtigung der technischen Möglichkeiten unter betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkten die Erhöhung des Automationsgrades ausfallen?“ Dann sind im Kern aus der Kostenstellen- und aus der Kostenträgerrechnung Daten zu übernehmen, die es erlauben, Personal- und Betriebsmittelkosten zu vergleichen. Für den laufenden Betrieb wäre es anzustreben, die von den automatischen Industrie4.0-Systemen generierten Planungs- und Dispositionsentscheidungen auch mit Zahlen aus dem Rechnungswesen zu fundieren. Hierzu würden unter Umständen Erklärungskomponenten gehören, die die Annahmen und Resultate des Rechengangs begründen. Herausforderungen, die man im Rechnungswesen und Controlling zwar kennt, die aber noch ausdifferenziert und verfeinert werden müssten, sind vor allem: 1. Besondere Risiken, die aus den erheblichen Umstellungen resultieren. 2. Vorhersagen zu Kosten, Wirtschaftlichkeit und Rentabilität. Sie sind mehr als bisher auf der Zeitachse bis hin zu Endpunkten (z. B. Auslaufen eines Erzeugnisses zusammen mit Neuinvestitionen für das Nachfolgeprodukt) zu erstrecken. Hierbei dürften Intervallprognosen nützlicher als Punktprognosen sein.

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3. Vorhandene Kosten- und Erlösrechnungen und damit die Prognosen von Deckungsbeiträgen und Gewinnen (Saldo) müssten dahin erweitert werden, dass die betriebswirtschaftlichen Folgen von kundenspezifischen Produktvariationen ohne zusätzliche personelle Analysen grob berechnet werden können. 4. Die konventionellen, auf monetäre Effekte im weitesten Sinn abstellenden Rechnungen wären für mehrdimensionale Ziele zu erweitern.

4.2 Planung der Produktionskapazitäten Die Planung der Produktionskapazitäten wird oft auch mit MRPII (Manufacturing Resource Planning) bezeichnet. Die weitgehende Automation und erst recht die Vollautomation der industriellen Fertigung als Endziel von Industrie 4.0 kann man als eine große Investition begreifen. Es geht dabei nicht um eine einzige Maschine, sondern um eine ganze Fertigungsanlage bis hin zu einem neuen Werk. Oft dürfte die Planung mit der Entscheidung einhergehen, ob die Anlage bzw. das Werk überhaupt nach dem Konzept Industrie 4.0 organisiert werden soll. Finanziell wesentliches Gewicht haben dann nicht einzelne Betriebsmittel einschließlich Robotern und eingebauten Rechenanlagen („embedded systems“), sondern die Investitionen in die Algorithmen und die sie abbildende Software. Diese Investitionen bestehen vor allem aus „Personenjahren“ und zugekauften Dienstleistungen. Man findet am Markt für Standardsoftware bereits interessante Entwicklungen (vgl. Abschn. 5). Noch schwer abzuschätzen ist, inwieweit die Modularisierung und die Standardisierung über mehrere Branchen gelingen kann. Müssen die Systeme z. B. in der Blechverarbeitung ganz anders aussehen als im Stahlwerk, der Komponentenfertigung, der Montage usw., so bleibt abzuwarten, ob ein geschlossenes, evtl. mithilfe von Parametern an besondere Bedingungen anpassbares System opportun ist oder ob man Branchensoftware benötigt. Letztere ist naturgemäß wegen der geringeren Zahl von Kunden aufseiten der Softwarehersteller schwerer zu amortisieren. Zwei Besonderheiten zeichnen sich ab: 1. Detaillierte Arbeitspläne, die es erlauben würden, ein typisches Wochen- oder Monatsprogramm zu simulieren, um zu knapp oder zu großzügig bemessene Kapazitätsquerschnitte zu identifizieren (variable Arbeitszeiten, Kapitalbindung!), dürften nicht vorliegen. Vielmehr sollen die MAS äußerst flexibel auf wechselnde Situationen reagieren. Ähnliches gilt für die Wahrscheinlichkeit von Störungen oder Ausschussraten. Daher könnte eine spezielle Investitionsrechnung für Industrie 4.0-Projekte grundsätzlich so gestaltet werden: Man geht im jeweiligen Unternehmen von den Stücklisten und Arbeitsplänen der klassischen PPS-Systeme aus, stellt fest, wo Industrie 4.0 Änderungen bedingt, und simuliert mit den Schätzungen der Umsatz-, Kosten- und Kapitalwirkung dieser Veränderungen. Bei der Quantifizierung der Ergebnisse ist zu erwägen, die im Finanzsektor entwickelten

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Kennzahlen RORAC (Return on Risk Adjusted Capital), RAROC (Risk Adjusted Return on Capital) und RAROROC (Risk Adjusted Return on Risk Adjusted Capital) zu übernehmen und an die Fertigung zu adaptieren (Fischer et al. 2015, insb. Abschn. 10.4.2). Gegenwärtig ist wegen des neuartigen Charakters einer hoch automatisierten Fertigung die Prognose von Fehlern, die im Detail liegen, im Sinne einer FMEA (Fehlermöglichkeits- und -einflussanalyse) schwierig. Beispielsweise verziehen bei dem unseres Wissens bisher größten Versuch eines radikalen Automationssprungs in der deutschen Industrie, der Halle 54 der Volkswagen AG, die Montageautomaten auch minimalen Grat beim Blechbohren nicht und hielten den Prozess an. Dies löste weitere Probleme aus. Wegen der flexiblen Reaktionen der Softwareagenten in CPS bzw. MAS ist das tatsächliche Fertigungsgeschehen schwer vorhersagbar. Betrachten wir den Prozess für einen Betriebsauftrag B: Beispielsweise erfährt der für Fertigungsstation F7 zuständige Automat A7, dass die im Normarbeitsplan vorgesehene Station F9 gestört ist. Abhängig von der voraussichtlichen Störungsdauer (diese zu beziffern ist in vielen Fällen wegen des stochastischen Charakters in sich schon ein schwierig zu handhabendes Prognoseproblem) muss A7 die Folgen verschiedener Alternativen der Bearbeitung des Produkts auf die gemischte Zielfunktion kalkulieren (u. a. maximale Termineinhaltung des Betriebsauftrags, Vermeiden von Unterbeschäftigung des anderen Betriebsmittels F11 auf dem weiteren Fertigungsgang ; minimale Leerzeiten/ maximale Kapazitätsausnutzung). Auch hier treten Prognoseprobleme auf, z. B. muss versucht werden, die Wahrscheinlichkeiten zu quantifizieren, mit der auch F11 zeitweise ausfällt bzw. durch Umdispositionen an anderen Arbeitsplätzen gerade dann überlastet sein wird, wenn B eintrifft. Das Geschehen mag der Leser mit den teils chaotischen Folgen vergleichen, wenn starke, z. B. witterungsbedingte, Zwischenfälle an einzelnen Knoten eines Verkehrsnetzes Kettenreaktionen an vielen anderen Knoten und Kanten auslösen. Die in Abschn. 3.1 angedeutete Lösung mit KNN kann eventuell auf längere Sicht über die kurzfristige Steuerung des Auftragsdurchlaufs im Fertigungssektor hinaus auch für Kontrollsysteme genutzt werden: Tritt in der Produktion überdurchschnittlich häufig ein bestimmtes Störungsmuster auf, so ist eine von der Werks- oder Unternehmensleitung veranlasste grundsätzliche Untersuchung des Phänomens angezeigt. 2. Das Konzept Industrie 4.0 wird oft mit dem Ziel besonders individualisierter Angebote und Produkte verknüpft. Die Folge ist die „Losgröße 1“ in der Fertigung. Es gilt zum einen, die in der Fertigungswirtschaft und in der Wirtschaftsinformatik entwickelte Variantenarbeitsplanung und zum anderen die Variantenkonstruktion im CAD (Computer-aided Design) so anzupassen, dass die Automation möglichst weit getrieben werden kann. Vorstellungen von Industrie 4.0 beziehen in Verbindung damit das Merkmal „über den ganzen Lebenszyklus“ mit ein. Dies wird leider bei Kapazitätsplanungen im weitesten Sinn und bei Nutzenerwägungen zu Industrie 4.0 oft unterschätzt oder gar nicht

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beachtet. Es besteht jedoch die Gefahr, dass es bei individuellen Erzeugnissen in späten Jahren des Lebenszyklus zu Problemen beim Wissenstransfer im Kundendienst und bei der Produktion und Vorratshaltung von Ersatzteilen kommt. Hier haben wir es mit erheblichen Unsicherheiten zu tun, sodass Methoden zu entwickeln sind, die dem Rechnung tragen. Zu denken wäre an Szenariotechniken, welche auch den Abbruch des Lebenszyklus bei fairer Entschädigung der darunter leidenden Kunden berücksichtigen, zum Beispiel durch Rabatte beim Kauf eines Nachfolgeerzeugnisses. Insgesamt scheinen die betriebswirtschaftlichen und ingenieurwissenschaftlichen Methoden der Lebenszyklusrechnung (Coenenberg et al. 2016, Kap. 15) und die damit korrespondierenden Konzepte der Abstimmung zwischen Dispositionssystemen auf der einen sowie Planungs- und Kontrollsystemen auf der anderen Seite noch nicht so entwickelt, dass sie unmittelbar in die mit Industrie 4.0 verbundenen Planungen übernommen werden könnten. Die Integrationsnotwendigkeiten beziehen sich zusammengefasst auf das Zusammenwirken der IT-Systeme für den Vertrieb, für die Produktionsplanung, für die Personalplanung und für das Rechnungswesen. Letzteres muss vor allem die geschätzten Kosten und Erträge von Investitionen liefern, die es erleichtern, Kapazitätsquerschnitte gezielt und agil zu erweitern und die Mehrkosten bzw. die Kostenersparnisse bei Desinvestitionen zu quantifizieren. Erbringt z. B. die oben skizzierte Simulation des voraussichtlichen mittelfristigen Produktionsgeschehens, dass an drei Fertigungsstationen überdurchschnittliche Leerzeiten nicht vermeidbar sind, so ist eine Anpassung der Fertigungskapazitäten, zum Beispiel durch zeitweises Abschalten, erwägenswert. Summa summarum ist die Ressourcenplanung bei Industrie-4.0-Systemen, zumindest für Betriebe, die wechselnde Erzeugnisse an den Markt bringen wollen, sehr kompliziert.

4.3 Zielkontrolle Mehr als auf BDE gründende klassische Termin- bzw. Fertigungsfortschrittskontrolle wäre bei Industrie 4.0 daran zu denken, Muster der erreichten Zielkombinationen, z. B. dargestellt in einem Spinnwebdiagramm, automatisch zu ermitteln. Wir bezeichnen dies als „Zielkontrolle“ bzw. „Kontrolle der Zielerreichung“. Dies ist vor allem wichtig, wenn aufgrund von Schwankungen an den Absatz-, Beschaffungs- und Finanzmärkten die Zielgewichte variieren. Beispielsweise verliert in einer Niedrigstzinsphase das Ziel „geringe Kapitalbindung“ an Gewicht. In einem Zeitabschnitt besonders guter Konjunktur ist maximale Kapazitätsausnutzung vordringlich, damit möglichst wenige Kundenanfragen ablehnend beschieden werden müssen. Im Konjunkturtal dürfen umgekehrt Kunden nicht durch mangelnde Lieferpünktlichkeit enttäuscht werden. Ist wegen des Fachkräftemangels der Personalstand nur schwer aufrechtzuhalten, wird man den Automationsgrad zu erhöhen trachten. Auf diesem Feld sind noch Pionierarbeiten zu leisten. Ein Lösungsweg könnte über „Balanced Scorecards“ führen.

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Klassische Methoden der Nachkalkulation sind in der IIV an Industrie-4.0-Konzepte anzupassen, um die nun sehr viel variableren Auftragserfüllungsprozesse mit Kosten und auch Ertragsminderungen und Kapitalbindung zu bewerten und durch Mustervergleiche Verbesserungspotenziale zu identifizieren. Im Sinne der Integrierten Informationsverarbeitung ist die BDE um entsprechende Eingaben durch das Werkstattpersonal zu ergänzen. Diese Sammlung von Zwischenfällen ist zu Kontroll- bzw. Frühwarnungen zu verdichten und dem Management in geeigneter Form zu präsentieren. Da diese Informationen aber nicht genügend antizipiert werden können, stellt sich die Frage, ob zumindest in Konzernen oder auf anderen Verbundebenen, z. B. durch den Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau e. V. (VDMA), sog. Erfahrungs- oder Know-how-Datenbanken auch mit „schwachen Signalen“ (Fischer et al. 2015, insb. S. 506) eingerichtet werden können, die bei Investitionsplanungen und -rechnungen für neue Automationsprojekte von vornherein zu berücksichtigen sind und Lernprozesse einleiten. Vorbilder geben Risikozuschläge im Bauwesen ab (Mertens 2009).

4.4 Der digitale Zwilling als Hilfsmittel der Planung und Kontrolle In unseren Ausführungen ist angeklungen, welche wichtige Rolle Alternativrechnungen, unsichere Informationen, Wahrscheinlichkeiten und damit auch Simulationen in den Themenfeldern Industrie 4.0, IIV, Rechnungswesen und Controlling spielen (siehe auch Lass 2018, v. a. Abschn. 2.4), um die zugehörigen PuK-Systeme ihrerseits teilweise zu vernetzen und zu automatisieren. Für den Entwurf alternativer Produktvarianten und Fertigungsabläufe wird neuerdings das Konzept des „digitalen Zwillings“ vorgeschlagen. Man kann sich diesen als eine Form von Standardsoftware oder auch eine Methodenbank vorstellen: Ein Standardmodell bildet im Computer die Gegebenheiten der Fertigung ab, die längere Zeit stabil bleiben, so u. a. die Fertigungshallen mit den Standorten der Betriebsmittel, Zwischenlagern und Transportwegen, vergleichbar mit einem architektonischen Bauplan. In diesem Modell können variable Produktionsprogramme und Arbeitsabläufe simuliert werden, aber auch strukturelle Veränderungen, z. B. neue Werkzeugmaschinen und Roboter mit veränderten Kapazitäten, Störanfälligkeiten und Ausschussraten. Es ist denkbar, für die in diesem Abschnitt erwähnten Alternativrechnungen und Simulationen im Rahmen von PuK-Systemen des Fertigungssektors eine Art „integrierten digitalen Zwilling“ zu entwickeln, der sowohl für die Planungen und Kontrollen auf der ingenieurtechnischen als auch auf der betriebswirtschaftlichen Seite herangezogen werden kann.

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5 Industrie 4.0 in integrierten Standardprogrammen In Anbetracht der Komplexität von Systemen der IIV, die sich durch die Berücksichtigung von Industrie-4.0-Elementen noch erheblich steigern könnte, liegt es nahe, dass Hersteller von Standardprogrammen ihren Kunden den Übergang zu der neuen Technologie und der neuen Technik erleichtern können, indem sie diverse Zusätze zu ihren bisherigen Produkten anbieten. Dabei dürften sich hier und da Kompromisse nicht vermeiden lassen, denn die wenigsten Unternehmer werden bereit sein, die Investitionen in ihre jetzigen Systeme „abzuschreiben“. Eine mögliche Strategie zur Einführung von Industrie-4.0-Lösungen wollen wir am Beispiel der SAP SE skizzieren, da SAP unter den größeren Unternehmen den überragenden Marktanteil hat. Wir lehnen uns an die Darstellung von Otto Schell, Veronika Schmid-Lutz u. a. an (Schell et al. 2017). Ursprünglich hörte die „SAP-Welt“ bei einem Fertigungsauftrag auf. Innovative Prozesse in der Fertigung werden insbesondere über die SAP Manufacturing Execution Suite unterstützt. Zu ihr gehören die folgenden Teilsysteme: 1. SAP Manufacturing Execution Da bei Industrie 4.0 im Vergleich zu klassischen Systemen der Betriebs- und Prozessdatenerfassung über eine große Zahl von Sensoren sehr viel mehr Daten gesammelt werden können, wird der Vergleich der Istwerte mit den Vorgaben durch das sog. „ERP-System“ erleichtert. Man orientiert sich mehr als bisher am individuellen Produkt und entwickelt einen digitalen Zwilling. Gedacht ist auch daran, dass 3-D-Modelle aus dem CAD integriert werden. Mit dieser Hilfe werden die zahlreichen Daten interpretiert. Ein Ziel ist die zustandsabhängige vorbeugende Instandhaltung („Predictive Maintenance“, „Probleme erkennen, bevor sie entstehen“). Die Gestaltung des digitalen Zwillings kann evtl. schon mit der computergestützten Konstruktion und mit der teilautomatischen und in Zukunft vielleicht mit einer vollautomatischen Ableitung der Arbeitspläne aus dieser Konstruktion (CAPP = Computer Aided Process Planning) integriert werden. Die erfassten und interpretierten Daten mögen auch zur Produktverbesserung genutzt werden. Falls hierzu Daten mehrerer ähnlicher Industriebetriebe, welche ein ähnliches MES betreiben, auf einer Plattform gesammelt und einander gegenübergestellt werden, erkennt man Chancen, dass Softwareanbieter ein neues Geschäftsmodell realisieren oder auch ihren Kunden bei einer solchen Aktivität helfen. 2. SAP Manufacturing Integration and Intelligence (SAP MII) Hiermit wird es Kunden leichter gemacht, selbst entwickelte oder anderweitig beschaffte betriebs- oder branchenspezifisch orientierte Teilsysteme zu integrieren.

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3. SAP Plant Connectivity Dies ist der produktionstechnische Zweig der Unterstützung von Industrie 4.0. In diesem System soll „die Sprache der Maschinen gesprochen werden“. Dazu gehört, dass in standardisierter Form zwischen den Betriebsmitteln untereinander und zwischen den Betriebsmitteln und anderen Systemen automatisiert Daten ausgetauscht werden.

6 Fazit Will man den Begriff Industrie 4.0 ernst nehmen, so gibt es noch einiges zu tun, denn derzeit stehen wir noch am Anfang neuer theoretischer und experimenteller Untersuchungen bzw. Entwicklungen. Wenn es zu wirklich nutzenträchtigen Industrie-4.0-Systemen in größerer Breite kommen soll, müssen Fachleute der Betriebswirtschaft, des Operations Research, der Wirtschaftsinformatik, der Informatik und der Ingenieurwissenschaften aufholen. In der Breite sind viele Ansätze mit Potenzial vorhanden. Aber diese (z. B. nach Branchen) zu differenzieren, den speziellen Dispositions-, Planungs- und Kontrollfunktionen zuzuordnen und in Systeme der Integrierten Informationsverarbeitung einzubringen wird noch erhebliche, aber auch reizvolle Forschung und Entwicklung verlangen. Vor allem die in Echtzeit zur Verfügung stehenden Informationen und die sofortige (automatische) Reaktion machen den Unterschied aus.

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Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Peter Mertens,  arbeitet als emeritierter Professor für Wirtschaftsinformatik an der Universität Erlangen-Nürnberg. Er ist Autor zahlreicher betriebswirtschaftlicher und wirtschaftsinformatischer Fachpublikationen, u. a. zu integrierten IT-Anwendungen in Fertigungs- und Logistik-Unternehmen sowie zu Entscheidungs-Unterstützungs-Systemen. Dr. Dina Barbian,  forscht gemeinsam mit Peter Mertens an Themen zur betrieblichen Informationsverarbeitung, speziell zu Informationstechnik und Nachhaltigkeit. Sie lehrt an der Universität Erlangen-Nürnberg, an der TH Nürnberg und an der FOM Hochschule, u.a. auf den Gebieten IT, Industrie 4.0 und Nachhaltigkeit. Sie leitet den VDI/VDE-Arbeitskreis „Digitalisierung & Nachhaltigkeit“.

Industrie 4.0 – wie die Digitalisierung die Produktionskette revolutioniert Dieter Wegener

Deutschland hat den Anteil der Industrieproduktion an der Bruttowertschöpfung des Landes seit den 1990er-Jahren auf demselben Niveau (rund 25 %) gehalten, während dieser fast in der gesamten westlichen Welt – teils dramatisch (bis auf rund 10 %) – gesunken ist. Weder die Großindustrie noch erst recht die Masse der kleinen und mittelständischen Unternehmen („German Mittelstand“) haben sich von dem Trend anstecken lassen, das Heil der Wirtschaft in Dienstleistung und Finanzgeschäft statt in handfesten Produkten zu suchen. Weil die produzierende Industrie für das Funktionieren der Volkswirtschaft ein so zentraler Pfeiler ist, war dies einer der Hauptgründe dafür, dass Deutschland nahezu unbeschadet durch die weltweite Krise kam und heute so gut wie nie zuvor dasteht (Wegener 2014a; Obermaier 2017). Aber die Anforderungen der Märkte wachsen weiter. Was die Industrie heute kann, ist bald nicht mehr genug. Energie und andere Ressourcen müssen effizienter genutzt und langfristig noch viel effektiver geschont werden – im eigenen Interesse der Industrie sowie im Interesse der Zukunft der Umwelt und der Menschheit. Gleichzeitig verlangen die Verbraucher, dass ihnen Produkte immer schneller geliefert und in immer kürzeren Abständen Innovationen geboten werden. Die Variantenvielfalt und die Fülle an geforderter Funktionalität lassen die Komplexität der Produkte dabei unaufhörlich weiter ansteigen. Schließlich wird von den zunehmend kurzlebigen, komplexen Produkten – einschließlich der Produktionsanlagen – erwartet, dass diese sich höchst flexibel nutzen und einsetzen lassen. Diese wachsenden Anforderungen führen zum Einsatz von immer mehr Software in allen Arten von Produkten und Produktionsanlagen. Denn viele Funktionen sind nur softwaretechnisch zu realisieren. Außerdem sind softwaretechnische

D. Wegener (*)  Siemens AG, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_3

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Lösungen meist erheblich günstiger als mechanische bzw. mechatronische Ansätze (Wegener 2014a; Obermaier 2017). Diese zunehmende Digitalisierung der Wertschöpfungskette ist also von entscheidender Bedeutung für die zukünftige Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft, die im folgenden Abschn. 1 („Digitalisierung der Wirtschaft“) gesamtheitlich betrachtet wird. Die Digitalisierung von Produkten und Produktionen, auch „Industrie 4.0“ bzw. „Vierte industrielle Revolution“ genannt, wird in den nachfolgenden Abschn. 2 („Initiative Industrie 4.0“), Abschn. 3 („Standardisierung bei Industrie 4.0“) und Abschn. 4 („Industrie 4.0 wirkt in drei Dimensionen“) vertieft und mit Beispielen illustriert.

1 Digitalisierung der Wirtschaft Der Begriff „Industrie 4.0“ ist in Deutschland im Rahmen eines acatech-Forschungsprojektes in 2013 geprägt worden, steht aber mittlerweile für eine weit über die deutschen Grenzen reichende Initiative (Acatech et al. 2013). Im Kern bedeutet Industrie 4.0 die Digitalisierung der Fabriken zu einer „Smart ­Factory“ in der diskreten Industrie bzw. der Prozessanlagen zu einer „Smart Plant“ in der Prozessindustrie. Neben der Digitalisierung der Fabriken und Prozessanlagen spielt aber auch deren Vernetzung über das Internet eine entscheidende Rolle (Wegener 2013, 2014b, 2015a, b). Abb. 1 zeigt prinzipiell diese Vernetzung in der grünen Industrie-4.0-Wolke. Die OEM-Fabrik in der Mitte ist vernetzt mit Zulieferfabriken und Logistikpartnern. Die Vernetzung findet aber nicht nur bei Fabriken und Prozessanlagen statt, sondern auch in allen anderen Bereichen. Hier sind beispielhaft die Energiewirtschaft („Smart Grid“), die Mobilitätsbranche („Smart Mobility“) sowie die Vernetzung von gewerblichen

Abb. 1   Digitalisierung der Wirtschaft führt zu einer „Connected World“. (Quelle: ZVEI-Führungskreis 2017, © Bosch Rexroth AG)

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Immobilien („Smart Buildings“) und privaten Immobilien („Smart Homes“) dargestellt. Dazu kommen noch die Menschen, die sich auf unterschiedliche Weise miteinander vernetzen – einerseits mittels Smartphones, andererseits mittels „Wearables“, die auch medizinische Funktionen ermöglichen („Healthcare“). Die fünf Applikationsfelder der „Connected World“ sind in Abb. 2 schematisch zwischen dem „Internet der Dinge“ (IoT, Internet of Things) sowie dem „Internet der Dienste“ (IoS, Internet of Services) dargestellt. Das Konzept des Internet der Dinge geht davon aus, dass „alle“ Dinge, Maschinen, Apparate, Fahrzeuge und Menschen mit dem Internet verbunden sind oder werden. Ein solches mit dem Internet verbundenes Ding nennt man auch „cyber-physical system“ (Abkürzung CPS). Die daraus entstehenden Daten („Big Data“) werden dann in dem physikalisch identischen Internet der Dienste mit SW-Tools (auch „Apps“ genannt) ausgewertet und als „Smart Services“ (Datenmehrwertdienste) den Anwendern kostenlos bzw. gegen eine Gebühr zur Verfügung gestellt. Aus wirtschaftlicher Sicht führt die Digitalisierung der Wirtschaft zu zwei Effekten, die von entscheidender Bedeutung für eine Volkswirtschaft sind: a) Digitalisierung der analogen Wirtschaft b) Entstehung einer „Digitalökonomie“ durch das Einführen neuer Geschäftsmodelle auf Basis von Smart Services In der existierenden „Analogen Wirtschaft“ ist der Begriff der Wertschöpfung klar definiert und jedermann geläufig. Ein Beispiel für eine analoge Wertschöpfung ist das Fräsen eines Produktes aus einem Metallstück mittels einer Werkzeugmaschine. Die Digitalisierung der analogen Wirtschaft ermöglicht eine Steigerung der Produktivität der analogen Wertschöpfung. Das führt u. a zu schnelleren Durchlaufzeiten, mehr Effizienz und höherer

Abb. 2   Zwei Effekte bei der Digitalisierung der Wirtschaft – Industrie 4.0 ist ein Applikationspfad. (Quelle: ZVEI-Führungskreis 2017)

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Qualität. Diese Wertschöpfung bleibt aber trotz Digitalisierung analog und stellt einen wesentlichen Bestandteil unserer bestehenden Wirtschaft heute und auch in der Zukunft dar. Der Begriff der „Digitalen Wertschöpfung“ ist vielen Menschen nicht bekannt bzw. für sie schwer vorstellbar. So wie bei der analogen Wertschöpfung aus einem Stück Metall mittels einer Werkzeugmaschine ein reales, anfassbares Produkt entsteht, bedeutet die digitale Wertschöpfung die Auswertung von Rohdaten (entspricht Metallstück) mittels eines Softwaretools (entspricht Werkzeugmaschine) zu ausgewerteten Smart Data, die mittels eines Smart Service (entspricht Produkt) im Internet verkauft werden. Die gesamte digitale Wertschöpfung findet in Computern statt, ist damit virtuell und kann nicht „angefasst“ werden. Die Smart Services ermöglichen das Einführen von neuen Geschäftsmodellen auf Basis von ausgewerteten Daten der analogen Wirtschaft. Dies kann zu deutlichen Veränderungen in der etablierten Industrie führen, da bisher erfolgreiche Geschäftsmodelle gegen neue digitale substituiert werden. Aus diesem Grunde führen die Smart Services zu einer „Revolutionierung“ der Produktionskette. Hingegen verläuft die Digitalisierung der analogen Wirtschaft evolutionär (Wegener 2014b, 2015a, b). Zur Digitalisierung der analogen Wirtschaft gehört aber neben der Vernetzung noch ein weiterer Aspekt, der häufig zu wenig Beachtung findet, nämlich die Simulation. Unter Simulation versteht man die Modellierung eines Objektes mithilfe eines mathematisch physikalischen Modells, das in der Regel mittels eines Simulations-Software-Tools in der Praxis umgesetzt wird. Das „reale“ Objekt erhält also ein „virtuelles“ Abbild, das auch „Digitaler Zwilling“ („Digital Twin“) genannt wird. Die Kombination aus „realem“ Ding und „virtuellem“ Abbild wird als „cyber-physisches System (CPS)“ bezeichnet (Wegener 2014b, 2015a, b). Abb. 3 zeigt nun ein solches „cyber-physisches System“ am Beispiel einer Produk­ tionseinrichtung in einer Automobilfabrik. Vier Schweißroboter stellen den realen Teil des CPS dar. Der virtuelle Teil, also die Simulation des realen Teils, ist in Form des blauen Würfels dargestellt. Das digitale Modell enthält alle Informationen über Mechanik, Elektrik, Elektronik, Software, etc. und wird in jedem Abschnitt des Lebenszyklus vom Produktdesign, Produktionsplanung, Produktionsengineering bis zur Produktionsausführung und dem anschließenden Service erweitert und aktuell bereitgestellt (Wegener 2015b; VDI/VDE und GMA-Ausschuss 2013). Die in Abschn. 1 dargestellten zwei Effekte der Digitalisierung der Wirtschaft – a) Digitalisierung der analogen Wirtschaft und b) Entstehung einer „Digitalökonomie“ durch das Einführen neuer Geschäftsmodelle auf Basis von „Smart Services“ – werden in ihren Auswirkungen im Abschn. 4 („Industrie 4.0 wirkt in drei Dimensionen“) vertieft und an Beispielen illustriert: 1. Digitalisierung der Wertschöpfungskette zur Smart Factory bzw. Smart Plant (s. Abb. 11) 2. Digitalisierung des Produktes zum Smart Product (s. Abb. 12) 3. Einführen neuer Geschäftsmodelle auf Basis von Smart Services (s. Abb. 13)

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Abb. 3   Cyber-physisches System (CPS) mit realem und virtuellem Teil. (Quelle: ZVEI-Führungskreis 2017, © Siemens AG)

Wegen der großen Bedeutung von „Industrie 4.0“ für den Standort Deutschland hat die deutsche Industrie eine Initiative „Industrie 4.0“ gestartet, die im folgenden Abschn. 2 von organisatorischer und technischer Sicht vertieft wird. Im darauffolgenden Abschn. 3 wird der sehr wichtige Aspekt der Standardisierung bei Industrie 4.0 erläutert, der maßgeblich für den Erfolg dieser Initiative ist.

2 Initiative „Industrie 4.0“ Die acatech-Studie „Industrie 4.0“ hat die große Bedeutung dieses Themas für die deutsche Industrie klar herausgestellt. Die drei großen Industrieverbände ZVEI, VDMA und bitkom gründeten deshalb 2013 die sogenannte Verbändeplattform „Industrie 4.0“, um gemeinsam branchenübergreifend einen Lösungsansatz für ihre Mitgliedsunternehmen zu entwickeln. Aus der erfolgreichen Arbeit der Verbändeplattform heraus zeigte sich neben den technischen und wirtschaftlichen Dimensionen auch die politische Bedeutung für Deutschland. Deshalb wurde 2015 die Verbändeplattform in die politische „Plattform Industrie 4.0“ unter Leitung des BMWi und BMBF migriert. Abb. 4 zeigt deren Organisation. Die Organisation der „Plattform Industrie 4.0“ besteht neben einer Geschäftsstelle aus einem Lenkungskreis und einem Strategiekreis sowie fünf Arbeitsgruppen, in denen die inhaltliche Arbeit geleistet wird zu den Themen AG-1 „Referenzarchitektur, Standards und Normung“, AG-2 „Forschung und Innovation“, AG-3 „Sicherheit vernetzter Systeme“, AG-4 „Rechtliche Rahmenbedingungen“ und AG-5 „Arbeit, Aus-/Weiterbildung“. Aufgrund der besonders hohen Bedeutung des Themas für die deutsche Elektro- und Elektronikindustrie entschloss sich der ZVEI schon in 2013 – zeitgleich zur Gründung

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Abb. 4   Organisation der „Plattform Industrie 4.0“ und des „ZVEI-Führungskreis Industrie 4.0“. (Quelle: ZVEI-Führungskreis 2017)

der Verbändeplattform – den „ZVEI-Führungskreis Industrie 4.0“ zu gründen. Dieser erarbeitet in seinen Expertengremien konkrete Lösungsansätze für Industrie 4.0 unter besonderer Berücksichtigung der Interessen der Automatisierungsindustrie. In Abb. 4 erkennt man die Arbeitsweise des Führungskreises, der in spiegelbildlichen Expertengremien seine Lösungsansätze in die entsprechenden Expertengremien AG-1 bis AG-5 der „Plattform Industrie 4.0“ spiegelt (Wegener 2016, 2017a, b). In vielen Fällen basieren die Lösungsansätze der „Plattform Industrie 4.0“ auf den Vorschlägen der Expertengremien des „ZVEI-Führungskreises Industrie 4.0“. Abb. 5 zeigt eine stark vereinfachte Wertschöpfungskette (Produktentwicklung, Produktion, Service) und den prinzipiellen Aufbau einer Fabrik: • Shop-Floor: – Hier befinden sich die Maschinen und Anlagen, die von Facharbeitern bedient werden. – Hier befindet sich die OT (Operational Technology). – Hersteller von Shop-Floor-Produkten sind Mitgliedsunternehmen des ZVEI und/ oder VDMA. – Innovationen werden auf der Hannover-Messe vorgestellt. • Office-Floor: – Hier befinden sich die Computer und Server sowie Softwaretools, die von Ingenieuren und/oder IT-Experten bedient werden. – Hier befindet sich die IT (Information Technology). – Hersteller von Office-Floor-Produkten sind Mitgliedsunternehmen des bitkom. – Innovationen werden auf der CeBIT-Messe vorgestellt.

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Abb. 5   „Industrie 4.0“ bedeutet die Verschmelzung von Office-Floor und Shop-Floor. (Quelle: ZVEI-Führungskreis 2017, © Siemens AG)

Im Office-Floor werden die verschiedenen Geräte z. B. Drucker und Laptop mittels LAN-Kabel oder auch kabellos mittels WLAN („WiFi“) miteinander verbunden. Durch die im Office-Floor vorhandenen Standards besteht schon heute eine hohe Interoperabilität, die der Anwender durch „Plug & Play“ gerne anwendet und so auf das Lesen eines Handbuchs in der Regel verzichten kann. Im Shop-Floor werden die Maschinen und Geräte in einer automatisierten Anlage ebenfalls mit LAN-Kabeln miteinander verbunden, in manchen Fällen auch kabellos mittels WLAN (gemäß EN 300328). Die Kabel und Stecker der LAN-Kabel sind elektrisch gleich zwischen Shop-Floor und Office-Floor – lediglich die mechanische Ausführung ist im Shop-Floor wegen der höheren Belastung robuster. Jedoch ist heute die Interoperabilität zwischen den einzelnen Geräten im Shop-Floor noch gering, verursacht durch Hersteller- oder branchenspezifische Ausprägungen. Zur Realisierung von Industrie 4.0 ist es deshalb erforderlich, auch eine Interoperabilität zwischen den Geräten im Shop-Floor zu erzielen, also eine „Plug & Produce“-Fähigkeit. Zielstellung von Industrie 4.0 aus technologischer Sicht ist die Verschmelzung von Shop-Floor und Office-Floor, also von OT und IT. Hierzu bedarf es einer zweifachen Interoperabilität, die im Rahmen der Initiative in den Expertengremien zu erarbeiten ist: 1. Interoperabilität zwischen den einzelnen Geräten im Shop-Floor. 2. Interoperabilität zwischen Shop-Floor und Office-Floor. Um einen technologischen Lösungsansatz für diese Verschmelzung von Office-Floor und Shop-Floor erarbeiten zu können, hat der ZVEI-Führungskreis eine Industrie-4.0-­ Komponente definiert, die per definitionem einem Cyber-physischen System entspricht. Abb. 6 zeigt eine solche Industrie-4.0-Komponente im Shop-Floor mit Anschluss an

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Abb. 6   ZVEI-Führungskreis definiert Industrie-4.0-Komponenten für verschiedene Branchen. (Quelle: ZVEI-Führungskreis 2017, © Siemens AG)

den Office-Floor. Im Shop-Floor besteht eine hohe Branchenabhängigkeit der Produkte. So unterscheidet sich z. B. ein Temperatursensor in seiner technischen Ausprägung sehr stark bei Verwendung im Maschinenbau bzw. in der Chemischen Industrie. Diese Branchenunterschiede sind in entsprechenden Normen und Standards genauestens spezifiziert. Zusätzlich sind die technischen Ausprägungen der Produkte vom Use Case abhängig (Wegener 2016, 2017a, b). Abb. 7 zeigt den Aufbau einer Industrie-4.0-Komponente, die aus einem beliebigen Produkt (des Shop-Floors) und einer Verwaltungsschale besteht. Das Produkt kann ein einfacher Sensor, ein elektrischer Motor, eine Steuerung bis hin zu einer Maschine (z. B. Gasturbine) sein. Die Verwaltungsschale ist eine Art Konnektor, der den Anschluss dieses Produktes aus dem Shop-Floor in einer noch zu standardisierenden Art mit dem Office-Floor über eine Industrie-4.0-konforme Kommunikation ermöglichen soll. Das bedeutet, dass alle Industrie-4.0-Komponenten im Shop-Floor mit dem Office-Floor und auch untereinander kommunizieren können. Damit wäre die Zielstellung von der Initiative „Industrie 4.0“ bezüglich Interoperabilität erfüllt. Zur Konzipierung der Verwaltungsschale wird das sogenannte RAMI 4.0-Modell angewendet, also das Referenzarchitektur-Modell „Industrie 4.0“. Dieses Modell ist dreidimensional: 1) Lebenszyklus, 2) Hierarchie der Produkte sowie 3) Schichtenmodell gemäß OSI 7 für die Kommunikation. Das RAMI 4.0-Modell hilft, den Aufbau der Verwaltungsschale für die verschiedenen Anwendungsfälle systemisch sauber zu strukturieren. So erkennt man z. B. in Abb. 7 auf der rechten Seite den RAM- 4.0-Würfel mit den grün gekennzeichneten drei Schichten „OPC-UA“ für die OSI 7-Schichten 5, 6 und 7, die auf der Lebenszyklusachse die Produktionsphase abdecken. Hier zeichnet sich aus den Diskussionen in den Expertengremien schon ein industrietauglicher Ansatz für die Verwaltungsschale ab, der noch über Use Cases in der Praxis abzusichern ist.

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Abb. 7   Jede Industrie-4.0-Komponente wird auf Basis des RAMI 4.0 konzipiert. (Quelle: ZVEI-Führungskreis 2017)

Somit ergeben sich für eine Industrie-4.0-konforme Kommunikation zurzeit folgende Ansätze: (A) mit Kabel („wired“): Ethernet/TCP/IP+OPC-UA, (B) kabellos („wireless“): WiFi/TCP/IP+OPC-UA oder GSM/TCP/IP+OPC-UA oder 4G/TCP/IP+OPC-UA. Mit den in der Entwicklung befindlichen zukünftigen Technologien TSN (Time Sensitive Network) und 5G ergeben sich die folgenden Ansätze: (A+) mit Kabel („wired“):  T  SN+OPC-UA (B+) kabellos („wireless“):  5 G+OPC-UA Zurzeit wird in den Expertengremien mit Hochdruck an der Konkretisierung der Verwaltungsschale gearbeitet. Konkrete Beispiele werden in Use Cases auf technische Umsetzbarkeit geprüft. Die sich hieraus ergebenden Erkenntnisse sind die Basis zur Formulierung von technischen Standards, die die Voraussetzung zur erfolgreichen Umsetzung von Industrie 4.0 sind. Im folgenden Abschn. 3 werden die Standardisierung bei „Industrie 4.0“ und die damit verbundenen Herausforderungen erläutert.

3 Standardisierung bei Industrie 4.0 Bei der Standardisierung sind drei Fälle zu unterscheiden: 1. vollkonsensbasierte Standardisierung, auch Normung genannt, 2. konsortiale Standardisierung (umgangssprachlich vereinfacht „Standardisierung“ genannt, was häufig zu Verwechselungen führt), 3. „De-Facto“-Standardisierung durch Marktführer.

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In der analogen Wirtschaft ist die vollkonsensbasierte Standardisierung, also Normung, weit verbreitet. Abb. 8 zeigt die für die Normung zuständigen Organisationen. In Deutschland sind es DIN und DKE. In Europa sind es die drei sogenannten ESOs (­European Standardisation Organisation), also CEN, CENELEC und ETSI. International sind es ISO und IEC und für Telekommunikation die ITU. In der digitalen Wirtschaft, die sehr stark vom Internet geprägt ist, ist die vollkonsensbasierte Standardisierung (Normung) weniger verbreitet. Vielmehr bilden sich hier zu Standardisierungszwecken zahlreiche Konsortien, wie der sogenannte „Standardisierungszoo“ in Abb. 9 zeigt. Diese Konsortien, wie z. B. Bluetooth, M2M oder eCl@ss, formulieren weltweit gültige Standards unabhängig von den etablierten Normungsorganisationen wie z. B. DIN und DKE (Wegener 2016, 2017a, b). Eine aus deutscher Sicht erfolgreiche Standardisierung im Kontext von Industrie 4.0 kann unter diesen Rahmenbedingungen nur proaktiv, branchenübergreifend und unter Einbindung aller relevanten Kreise und aller in diesem Umfeld agierenden Standardisierungsorganisationen – ob konsensbasierend oder konsortial – erfolgen. Dazu muss die von DIN und DKE betriebene konsensbasierte Normung auf die weiteren internationalen Standardisierungsgremien der IT- und Internetwelt zugehen und so der Industrie eine Plattform zur Vertretung ihrer Interessen, auch gegenüber den dort dominierenden Foren und Konsortien, geben (Wegener 2016, 2017a, b). Zu diesem Zweck haben die Industrieverbände ZVEI, VDMA und bitkom zusammen mit DIN und DKE sowie der Plattform Industrie 4.0 zur Hannover Messe 2016 den „Standardization Council Industrie 4.0“ (SCI 4.0) ins Leben gerufen. Dieser Council ist strategisch an die Plattform Industrie 4.0 angebunden und setzt die dort erarbeitete

Abb. 8   In der analogen Wirtschaft ist die Normung (vollkonsensbasierte Standardisierung) weit verbreitet. (Quelle: ZVEI-Führungskreis 2017)

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Abb. 9   In der digitalen Wirtschaft überwiegt die konsortiale Standardisierung, dargestellt als Standardisierungszoo in den verschiedenen Applikationsfeldern. (Quelle: ZVEI-Führungskreis 2017)

und abgestimmte Industriestrategie zur Standardisierung im Umfeld der „Industrie 4.0“ organisatorisch um. Er ist aber grundsätzlich unabhängig und organisatorisch bei DKE angesiedelt. Das Council setzt sich aus durch die Verbände ZVEI, VDMA und bitkom benannten Industrievertreter, aus Vertretern der Normungsorganisationen DKE und DIN sowie aus Vertretern von Forschungseinrichtungen und Hochschulen zusammen. Die zentralen Aufgaben liegen in der Koordinierung und Initiierung neuer Standards zu „Industrie 4.0“ und in der abgestimmten Interessenvertretung gegenüber internationalen Konsortien der IT- und Internetwelt. Darüber hinaus organisiert das Council die deutsche Normungsroadmap „Industrie 4.0“ als zentrale Publikation der Normungsstrategie, Normungsbedarfe und der vorliegenden Ergebnisse. Normungsaufträge werden vom Council, getragen durch entsendete Experten, direkt an die zuständigen internationalen Organisationen oder Konsortien adressiert. Dort wird wie bisher auch die operative Normungs- und Standardisierungsarbeit durchgeführt. Das Zusammenwachsen von Bürokommunikation (Office-Floor, IT) und Produktionsebene (Shop-Floor, OT) mit gemeinsamen Standards wird so beschleunigt und im Sinne der deutschen Wirtschaft optimiert (Wegener 2016, 2017a, b). Das Standardization Council Industrie 4.0 unterstützt gleichzeitig die „Real-­ Implementierung“ von Industrie 4.0 in sogenannten Testbeds. Durch eine enge Zusammenarbeit mit dem zur Organisation von Testbed-Szenarien der deutschen ­ Wirtschaft gegründeten Verein „Labs Network Industrie 4.0“ (LNI 4.0) können neue Konzepte für „Industrie 4.0“-Lösungen direkt in der Praxis erprobt und validiert werden. Die Ergebnisse

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und Erkenntnisse fließen ihrerseits wieder direkt in die Normung bzw. Standardisierung ein. Dieser weltweit bislang einmalige Ansatz konzertierter Normung hat das Potenzial, als Blaupause für andere branchenübergreifende Technologiebereiche wie Elektromobilität oder IT-Sicherheit zu dienen. Wegen der großen Bedeutung von „Industrie 4.0“ für den Standort Deutschland hat die deutsche Industrie eine Initiative „Industrie 4.0“ gestartet, die im Abschn. 2 von organisatorischer und technischer Sicht vertieft wurde. In Abschn. 3 wurde der sehr wichtige Aspekt der Standardisierung bei Industrie 4.0 erläutert, der maßgeblich für den Erfolg dieser Initiative ist. Die in Abschn. 1 dargestellten zwei Effekte der Digitalisierung der Wirtschaft – (a) Digitalisierung der analogen Wirtschaft und (b) Entstehung einer „Digitalökonomie“ durch das Einführen neuer Geschäftsmodelle auf Basis von Smart Services – werden in ihren Auswirkungen im folgenden Abschn. 4 („Industrie 4.0 wirkt in drei Dimensionen“) vertieft und an Beispielen illustriert.

4 Industrie 4.0 wirkt in drei Dimensionen Aus Sicht eines Unternehmens wirkt Industrie 4.0 in drei Dimensionen (s. Abb. 10): 1. Digitalisierung der Wertschöpfungskette 2. Digitalisierung der Produkte 3. Einführung neuer Geschäftsmodelle auf Basis von Datenmehrwertdiensten

Abb. 10   Industrie 4.0 wirkt in drei Dimensionen. (Quelle: ZVEI-Führungskreis 2017, © PWC/ZVEI)

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Die Digitalisierung der Wertschöpfungskette führt zu Smart Factories in der diskreten Industrie und zu Smart Plants in der Prozessindustrie. Die Digitalisierung der Produkte führt zu Smart Products. Die Einführung neuer Geschäftsmodelle auf Basis von Datenmehrwertdiensten ergibt die sogenannten Smart Services (Wegener 2016, 2017a, b, c). Dimension 1: Smart Factory/Smart Plant Die Firma Siemens ist seit vielen Jahren sehr aktiv bei der Entwicklung von Produkten und Lösungen zur Digitalisierung und bietet seinen Kunden ein umfangreiches Produktund Lösungsportfolio an. Zur Digitalisierung der Wertschöpfungskette bietet Siemens die „Digital Enterprise“ an – ein umfassendes Lösungsangebot für die Digitale Transformation von Fabriken zu Smart Factories und von Prozessanlagen zu Smart Plants. Abb. 11 zeigt ein Beispiel aus der Automobilindustrie. Das Lösungsportfolio beinhaltet diverse Softwaretools für die Prozesskette vom Produktdesign über Produktionsplanung und Produktionsengineering bis hin zur Produktion. Die Durchgängigkeit der Daten zwischen den Nutzern und Lieferanten an verschiedenen Standorten wird über die Software „Teamcenter“ sichergestellt. Bei vielen Prozessschritten erlaubt die Simulation einen verbesserten Output bei reduziertem Engineeringaufwand (bis zu 30 % und mehr) sowie erhöhter Qualität bei gleichzeitiger vollständiger elektronischer Dokumentation. Komplexe Vorgänge können so handhabbar gemacht werden (Wegener 2016, 2017a, b). Bei der Firma Maserati, einem Tochterunternehmen des Fiat-Chrysler-AutomotiveKonzerns, konnte durch den Einsatz der Digital-Enterprise-Lösung von Siemens die Produktion um den Faktor 3 (!) erhöht werden bei gleichzeitiger Erhöhung der Komplexität durch mehr Varianten. Die Qualität konnte ebenfalls noch weiter gesteigert werden.

Abb. 11   Beispiel einer Smart Factory im Automobilbereich. (Quelle: © Siemens AG)

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Dimension 2: Smart Product Ein Beispiel für ein Smart Product zeigt Abb. 12. Die Werkzeugmaschine eines namhaften deutschen Herstellers ist mit einer SINUMERIK-Steuerung von Siemens ausgestattet. Diese reale Maschine wird normalerweise von einem Facharbeiter bedient, der für die Programmierung jedes neuen Auftrages die Maschine stoppen muss. Während dieser Programmierung, die einige Stunden dauern kann, bleibt die Maschine „unproduktiv“. Durch die Erweiterung der realen Maschine um eine „virtuelle Maschine“ (­digitaler Zwilling) kann die Produktivität durch Simulieren des Fertigungsverfahrens deutlich gesteigert werden. Während die reale Maschine das Werkstück gemäß Programmierung bearbeitet und damit produktiv ist, erstellt der Facharbeiter mittels der virtuellen Maschine auf seinem PC oder Laptop die Programmierung für das nächste Werkstück – in der Nähe der Werkzeugmaschine oder im Büro oder im Homeoffice. In diesem Fall beträgt die Produktivitätssteigerung 10 % im laufenden Betrieb und bis zu 80 % Zeiteinsparungen beim Aufstellen/Errichten der realen Maschine. Dieser Ansatz „Digitaler Zwilling“ kann vom Prinzip her in allen Bereichen und in jedem Teil der Wertschöpfungskette angewendet werden und bietet so in der Industrie das Potenzial zu erheblichen Produktivitätssteigerungen (Wegener 2016, 2017a, b). Dimension 3: Smart Services Smart Services sind Datenmehrwertdienste, die sich durch die Auswertung von Rohdaten aus den Dingen und Maschinen mittels Softwaretools (Apps) ergeben und dem Nutzer per Internet angeboten werden Neben der Datenakquisition aus den Dingen und Maschinen spielt die Auswertung der Rohdaten sowie das Zur-Verfügung-Stellen der

Abb. 12   Beispiel eines Smart Product im Bereich Werkzeugmaschine. (Quelle: © Siemens AG)

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Smart Services an den Nutzer eine entscheidende Rolle. Aus diesem Grunde hat sich die Firma Siemens entschieden, eine eigene cloudbasierte IoT-Plattform „MindSphere“ zu entwickeln (s. Abb. 13; Wegener 2016, 2017a, b, c). Diese Plattform ermöglicht mit „MindConnect“ eine Plug&Play-Anbindung von Siemens-Produkten sowie von Drittanbieterprodukten mit einer sicheren und verschlüsselten Datenkommunikation. Hierbei werden offene Standards wie z. B. OPC UA verwendet. „MindSphere“ unterstützt über eine offene Schnittstelle die Entwicklung kundenspezifischer Apps. Außerdem können über „MindApps“ beliebige Apps von OEMs, von Endkunden, von Partnern und natürlich auch von Siemens selbst appliziert werden. So können sich Nutzer von MindSphere ihre eigenen „Smart Services“ entwickeln und damit den Grundstein für ihre eigene digitale Wertschöpfung legen. Ein Anwender von MindSphere ist zum Beispiel die Firma „Gebr. Heller Maschinenfabrik GmbH“ – ein führender Anbieter von CNC-Bearbeitungszentren und flexiblen Fertigungssystemen. Neben der kompletten Automatisierungs- und Antriebstechnik ­verwendet „Gebr. Heller Maschinenfabrik GmbH“ die MindSphere-Plattform für das Condition Monitoring von Werkzeugmaschinen. Dieser Ansatz hat entscheidende Vorteile (Wegener 2017c): • • • •

weltweiter Zugriff auf die Daten (Connectivity über die Cloud), Erhöhung von Produktivität, Qualität und Verfügbarkeit beim Endkunden, neues Geschäftsmodell in der Zusammenarbeit mit den Endkunden, Angebot von Heller: eigene Condition-Monitoring-App „Heller Services Interface“.

Abb. 13   Siemens „MindSphere“ – das cloudbasierte, offene IoT-Betriebssystem als Plattform für Smart Services. (Quelle: © Siemens AG)

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Ein zweites Beispiel für eine MindSphere-Lösung ist bei der Calvatis GmbH zu finden, einem Hersteller von industriellen Reinigungsmaschinen und Reinigungsmitteln für die F&B-Branche, der MindSphere wie folgt anwendet (Wegener 2017c): • verbindet die Reinigungsmaschinen über MindConnect Nano in die Cloud, • visualisiert die Daten, • ermöglicht Performance-Management und Predictive Maintenance. Die Vorteile für die Calvatis GmbH sind: • erfüllt explizite Nachfrage der Endkunden, • ermöglicht neue digitale Services und Geschäftsmodelle, • Vision: Pay-per-Use-Geschäftsmodell. Ein drittes Beispiel für eine MindSphere-Lösung ist bei der „Fernwasserversorgung Franken (FWF)“ zu finden, die weite Teile Mittel- und Unterfrankens mit Trinkwasser versorgt. Die Wasserversorgungs-Infrastruktur besteht aus 52 Brunnen, 5 Wasserwerken und mehr als 35 Pumpwerken. Insgesamt erfolgt die Wasserversorgung für ca. 325.000 Menschen (Wegener 2017c). Die Siemens Smart-Water-Lösung • hilft, die Trinkwasserversorgung sicherzustellen, • optimiert Pumpenfahrpläne, d. h. Pumpen nutzen Strom zu Zeiten niedriger Preise und hohen Angebots. • unterstützt die Wasserindustrie bei der aktiven Teilnahme am Strommarkt. Insgesamt spart die FWF ca. 15 % Energie- und Betriebskosten durch den optimierten Pumpenbetrieb.

5 Fazit Die Digitalisierung der Wirtschaft wird enorme Auswirkungen auf die bestehende Industrie haben. Durch die Digitalisierung der analogen Wertschöpfung werden Fabriken zu Smart Factories und Prozessanlagen zu Smart Plants mit deutlich erhöhter Produktivität bei gleichzeitig verkürzten Engineeringzeiten und erhöhter Qualität. Zusätzlich ermöglicht die Digitalisierung die zunehmende Komplexität in den Produkten und Produktionsprozessen zu handhaben. Die zu erzielenden Fortschritte haben überwiegend evolutionären Charakter. Hingegen hat das Einführen von Smart Services, also Datenmehrwertdiensten auf Basis der Daten aus Dingen und Maschinen, das Potenzial einer revolutionären Veränderung. Grund dafür ist, dass die Smart Services neue datenbasierte Geschäftsmodelle ermöglichen und damit die erfolgreichen, schon etablierten Geschäftsmodelle der analogen Wirtschaft zumindest teilweise substituieren können.

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Es besteht kein Zweifel daran, dass die Digitalisierung der Wirtschaft erfolgen wird. Jedes Unternehmen wird früher oder später davon betroffen sein. Je nach Branche wird die Digitalisierung früher oder später einsetzen. Am besten ist es, wenn sich ein Unternehmen frühzeitig mit der Digitalisierung auseinandersetzt. Ein guter Anfang ist das Stellen von drei Fragen entlang der Struktur in Abb. 10: 1. Wie kann ich meine Wertschöpfungskette digitalisieren? 2. Welches meiner Produkte sollte digitalisiert werden? 3. Welche neuen datenbasierten Geschäftsmodelle kann ich meinen Kunden anbieten?

Literatur Acatech, Forschungsunion, & Arbeitskreis Industrie 4.0. (2013). Umsetzungsempfehlungen für das Zukunftsprojekt Industrie 4.0. Abschlussbericht des Arbeitskreises Industrie 4.0. Bundesministerium für Bildung und Forschung. https://www.bmbf.de/files/Umsetzungsempfehlungen_ Industrie4_0.pdf. Zugegriffen: 23. Jan. 2019. Obermaier, R. (2017). Industrie 4.0 als unternehmerische Gestaltungsaufgabe: Strategische und operative Handlungsfelder für Industriebetriebe. In R. Obermaier (Hrsg.), Industrie 4.0 als unternehmerische Gestaltungsaufgabe (S. 3–34). Wiesbaden: Gabler. VDI/VDE, & GMA-Ausschuss. (2013). Cyber physical systems: Chancen und Nutzen aus Sicht der Automation. VDI/VDE-Gesellschaft Mess- und Automatisierungstechnik. https://www.vdi. de/uploads/media/Stellungnahme_Cyber-Physical_Systems.pdf. Zugegriffen: 23. Jan. 2019. Wegener, D. (2013). Chancen und Herausforderungen für einen Global Player. VDI Zukunftskongreß Industrie 4.0, Düsseldorf. Wegener, D. (2014a). Industrie 4.0 – Chancen und Herausforderungen für einen Global Player. In T. Bauernhansl, M. ten Hompel, & B. Vogel-Heuser (Hrsg.), Industrie 4.0 in Produktion, Automatisierung und Logistik (S. 343–358). Wiesbaden: Vieweg. Wegener, D. (2014b). Industrie 4.0 – Neue Erkenntnisse. 2. Fachkongress „Industrie 4.0“, Amberg. Wegener, D. (2015a). Sensorik als Teil von Industrie 4.0. ZVEI-Sensorik-Kongress „Industrie 4.0“, Fulda. Wegener, D. (2015b). Industrie 4.0 geht jeden etwas an! 80. DIN-Jahrestagung. Berlin. Wegener, D. (2016). Industrie 4.0 – Stand der Dinge. ZVEI-Sensorik-Aktorik-Kongress „Industrie 4.0“, Darmstadt. Wegener, D. (2017a). Industrie 4.0 – Wie die Digitalisierung die Produktionskette revolutioniert. 3. INDIGO-Konferenz OTH-Amberg-Weiden, Amberg. Wegener, D. (2017b). Ausblick Industrie 4.0. 3. ZVEI-Sensorik-Aktorik-Kongress „Industrie 4.0“, Dresden. Wegener, D. (2017c). Industrie 4.0 – How digitalization revolutionizes the production chain. PWC/ WHU Colloqium about digital operations, Frankfurt.

Prof. Dr. Dieter Wegener ist leitender Angestellter der Siemens AG und Sprecher des ZVEI-Führungskreis Industrie 4.0. In dieser Rolle trägt er seit mehr als fünf Jahren zur Industrie 4.0-Initiative bei.

Industrie 4.0 im Mittelstand – Handlungspotenziale und Umsetzung Wolfgang Becker, Patrick Ulrich und Tim Botzkowski

1 Einführung Megatrends gewinnen zunehmend Einfluss sowohl auf das weltweite ­ wirtschaftliche ­Handeln als auch auf das Privatleben. Als eine der wichtigsten Veränderungen im Kontext des wirtschaftlichen Handelns in der näheren Zukunft wird die sogenannte vierte industrielle Revolution gesehen, die insbesondere in Deutschland gerne unter dem Sammelbegriff „Industrie 4.0“ diskutiert wird (Obermaier 2017). Auch wenn sich ­Politik, Wissenschaft und Praxis noch nicht endgültig über Definition, Operationalisierung und Implikation einig sind, lässt sich als Konsens dennoch festhalten, dass Industrie 4.0 an der mit der Digitalisierung verbundenen Veränderung von Produktions-, Informationsund Kommunikationsprozessen in Unternehmen sowie Austauschbeziehungen zwischen verschiedenen Partnern in Wertschöpfungsketten ansetzt. Als integrativer Bestandteil der Diskussion um Industrie 4.0 werden zudem Aspekte wie das Internet der Dinge, cyber-physische Systeme und Data Analytics angesehen (Ludwig et al. 2016). Industrie 4.0 stellt die vierte Stufe der industriellen Revolution dar und zeichnet sich im Vergleich zu den Vorstufen durch eine erhöhte Komplexität sowie Dynamik aus (Ludwig et al. 2016).

W. Becker (*)  Universität Bamberg, Bamberg, Deutschland E-Mail: [email protected] P. Ulrich  Hochschule Aalen – Technik und Wirtschaft, Aalen, Deutschland E-Mail: [email protected] T. Botzkowski  Talanx AG, Hannover, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_4

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Die überwiegend industrielle Prägung der deutschen Unternehmenslandschaft führt dazu, dass Industrie 4.0 nicht nur für Großunternehmen, sondern zunehmend auch für mittelständische Unternehmen an Relevanz gewinnt und somit konkreter Handlungsbedarf feststellbar ist (Ludwig et al. 2016). Ferner stellt sich in Anknüpfung an die skizzierte Situation die Frage, ob die Diskussion um Industrie 4.0 eher aktiv oder besser reaktiv aufgegriffen werden solle. Die empirische Studie von Löwer und Jeschke zeigt diesbezüglich bereits folgende Erkenntnisse auf (Löwer und Jeschke 2015): • Mittelständische Unternehmen haben die Bedeutung von Industrie 4.0 bereits erkannt, allerdings haben bisher kaum Unternehmen begonnen, Industrie 4.0-Projekte aktiv voranzutreiben; • Mittelständische Unternehmen gehen davon aus, dass Digitalisierung nicht nur die Produktion, sondern alle Unternehmensbereiche umfasst; • Die größten Chancen für mittelständische Unternehmen durch Industrie 4.0 sind eine höhere Produktivität, neue innovative Geschäftsmodelle und eine bessere Kontrolle der Wertschöpfungskette; • Als größte Herausforderungen für mittelständische Unternehmen identifiziert die Studie die Abhängigkeit von Funktionsverlässlichkeit, die Problematik der Schnittstellendefinitionen, die Datensicherheit und die Disponibilität von Fachwissen und Personal. Da mittelständische Geschäftsmodelle bisher eine sehr traditionelle Prägung aufweisen und die meisten Unternehmen des Mittelstands zwar Innovationsführer sind, sich jedoch nur selten in schlecht einschätzbare Umweltsituationen begeben, ergibt sich an dieser Stelle ein interessantes Spannungsfeld, das neben der Frage zur (Notwendigkeit der) Transformation von Geschäftsmodellen auch den Umgang des Mittelstandes mit dem Themenbereich des strategischen Managements tangiert. Bisher ist jedoch teils noch immer unklar, ob und inwieweit der Mittelstand von diesem Phänomen überhaupt betroffen ist und welche strategisch bedeutsamen Herausforderungen für die Unternehmensführung entstehen. Es fehlen Best Practices, Benchmarks und insbesondere wissenschaftlich gesicherte Zahlen. Um diesem Gap zu begegnen, wurde anhand einer empirischen Studie der derzeitige Status quo von Industrie 4.0 im Mittelstand ermittelt (Mayer 2013; weitere Ergebnisse zu dieser Thematik können der Publikation Industrie 4.0 im Mittelstand entnommen werden. Die hier vorliegenden Ergebnisse stellen einen Auszug aus einer umfassenderen Untersuchung dar. Ferner erfolgte eine Neuauswertung der erhobenen Daten).

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2 Untersuchungskonzeption und Stichprobe 2.1 Forschungsdesign Jede empirische Forschungsarbeit folgt prinzipiell einem logischen Aufbau, der zentrale Arbeitsschritte und eingesetzte Forschungsinstrumente der Untersuchung darlegt (Atteslander 2010). Dies wird in der Literatur als Forschungsdesign oder Untersuchungsanordnung bezeichnet (Schnell et al. 2005). Das Forschungsdesign beschreibt also die grundlegende Art und Weise, wie eine aufgeworfene Fragestellung (empirisch) untersucht werden soll. Dies beinhaltet unter anderem alle Entscheidungen, die beispielsweise die Stichprobenauswahl, die Wahl der Erhebungsmethoden und der Analysestrategien betreffen. Grundlegend existieren sechs empirische Forschungsdesigns, welche nach den Dimensionen „Untersuchungsziel“ und „Aussageart“ kategorisiert werden können. Das Untersuchungsziel kann einerseits auf das Erkunden bzw. das Entdecken (explorative Forschung) oder andererseits auf die Prüfung von Hypothesen (konfirmatorische Forschung) abzielen. Hinsichtlich der Aussageart können sowohl explorative als auch konfirmatorische Forschungen deskriptive, explikative und instrumentelle Aussagen anstreben (Fritz 1995). Da der Stand der Forschung zum Thema Industrie 4.0 im Mittelstand bis dato überschaubar ist, kann dies als wissenschaftliches Neuland angesehen werden. Aufgrund dieser Erkenntnis ist ein konfirmatorisches Untersuchungsziel auszuschließen (Ulrich 2011). Explorative Untersuchungen kommen also in einem relativ unerforschten Themengebiet zum Einsatz (Bortz und Döring 2015). Die Aussageart soll aufgrund der Novität der Fragestellung primär deskriptiver (beschreibender) Natur sein, weshalb das Forschungsdesign somit als explorativ-deskriptiv beschrieben werden kann. Eine deskriptiv-explorativ ausgelegte Forschung verfolgt zusammenfassend das Ziel, einen Untersuchungsgegenstand (Industrie 4.0 im Mittelstand bzw. einzelne Subaspekte) zu entdecken und zu beschreiben (Töpfer 2012). Die empirische Untersuchung hat nicht zum Ziel, Veränderungen im Zeitablauf zu berücksichtigen, jedoch sollen mehrere Unternehmen miteinander verglichen werden, weshalb die vergleichende Feldstudie als geeignete Forschungsform gewählt wird (Kubicek 1975).

2.2 Datenerhebung und Datenauswertung Da die Durchführung der Untersuchung mittels einer vergleichenden Feldstudie erfolgt, handelt es sich grundsätzlich um eine Primärforschung. Zur Datenerhebung im Rahmen der Primärforschung bieten sich grundsätzlich drei Methoden an: die Befragung; die Beobachtung und das Experiment. Zur Datenerhebung wurde die Befragung genutzt, die darüber hinaus auch die am weitesten verbreitete Form der Datenerhebung in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ist (Kosfeld et al. 2016). Eine Befragung kann grundsätzlich persönlich, schriftlich, telefonisch oder online erfolgen. Aus Wirtschaftlichkeitsgründen wurde sodann eine Onlinebefragung durchgeführt. Eine Onlinebefragung

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(Web-Survey) ist „eine internetbasierte Befragungsmethode, bei der ein Online-­ Fragebogen im Internet Browser ausgefüllt wird“ (Mayer 2013). Es existieren zahlreiche Softwaretools, um Onlinebefragungen zu erstellen, durchzuführen und auszuwerten (Berger-Grabner 2013). Die Onlinebefragung wurde operativ mittels eines Fragebogens durchgeführt, der sowohl geschlossene als auch offene Fragen enthielt. Zum Zweck der größtmöglichen Standardisierung wurden in der vorliegenden Studie mehrheitlich geschlossene Fragen sowohl in skalierter als auch in nicht skalierter Form formuliert. Einige wenige Fragen wurden als halb offene Fragen konzipiert, d. h. es erfolgte eine Kombination aus offenen und geschlossenen Antwortalternativen. Der Fragebogen ist wie folgt aufgebaut: Der erste Teil beschäftigt sich mit Rahmenbedingungen für Industrie 4.0 im Mittelstand. Im zweiten Teil werden Strategien und Geschäftsmodelle für Industrie 4.0 thematisiert, wohingegen Digitalisierung in der Wertschöpfungskette Bestandteil des dritten Teils ist. Der vierte Teil widmet sich der Rolle des Top-Managements im Rahmen von Industrie 4.0. Im fünften Teil werden Industrie 4.0 und Data Analytics diskutiert und im sechsten Teil wird Industrie 4.0 im Kontext von spezifischen Mittelstandscharakteristika betrachtet. Der letzte Teil untersucht Auswirkungen von Industrie 4.0 auf den Unternehmenserfolg. Der Fragebogen wurde in einem Pretest von insgesamt drei Probanden in persönlichen Gesprächen evaluiert. Zur Ermittlung von Kontaktdaten wurde mittels des Wirtschaftsinformationsdienstleisters NexisLexis Deutschland auf die Creditreform-Datenbank zugegriffen. Die Eingrenzung der Stichprobe erfolgte auf Grundlage von zwei Kriterien. Zum einen wurden nur Unternehmen berücksichtigt, die eine Mitarbeiteranzahl von bis zu 10.000 Mitarbeitern hatten. Zum anderen stellte die Zuordnung zum verarbeitenden Gewerbe das zweite Kriterium dar. Dies erfolgte auf Basis einer Klassifikation des Statistischen Bundesamtes. Gleichwohl haben auch Unternehmen, die nicht dem verarbeitenden Gewerbe zuzuordnen sind, an der Studie teilgenommen (dies ist dadurch erklärbar, dass bspw. der Link zur Umfrage weitergeleitet wurde). Insgesamt umfasst die um Duplikate bereinigte Stichprobe 19.942 Unternehmen, die elektronisch kontaktiert wurden. Die Onlineumfrage wurde mit der Software „EFS Survey“ der Questback GmbH durchgeführt. Der Link zur Onlineumfrage wurde den Unternehmen per E-Mail an die in der Creditreform-Datenbank hinterlegte E-Mailadresse zugesendet. Die Umfrage selbst erfolgte anonym. Aufgrund der nicht zufälligen Datenerhebung handelt es sich um eine nicht probabilistische Stichprobenauswahl, weshalb kein statistischer Anspruch auf Repräsentativität erhoben werden kann. Der Verzicht auf einen Repräsentativitätsanspruch hinsichtlich der Datenerhebung ist oftmals kennzeichnend für deskriptiv-­ explorativ ausgelegte Forschungen (Müller-Böling 1992). Die Befragung wurde im Zeitraum vom 10. November 2015 bis 10. Dezember 2015 durchgeführt. Die erste Kontaktaufnahme ist am 10. November erfolgt. Am 25. ­November wurden die Unternehmen mit einer Erinnerungs-E-Mail ein zweites Mal kontaktiert. Insgesamt haben 211 Unternehmen an der Studie teilgenommen. Zur Triangulation der gewonnen Erkenntnisse wurden darüber hinaus sechs Experteninterviews mit Vertretern aus Wissenschaft und Praxis geführt. Die Rücklaufquote, bezogen auf die 19.942 kontaktierten Unternehmen, betrug somit 1,06 %.

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Die Daten der 211 Fragebögen wurden mithilfe einer Excel-Tabellenkalkulation erfasst. Nach Abschluss der Dateneingabe wurden alle Angaben einer Plausibilitätskontrolle unterzogen, bei der die Daten um Fehleingaben und Werte bereinigt und unwahrscheinliche und unmögliche Wertkombinationen korrigiert wurden. Neben der angesprochenen Bereinigung wurde das Sample nochmals reduziert. Exkludiert wurden Unternehmen, die nicht dem verarbeitenden Gewerbe, Baugewerbe und Handel angehören. Ferner wurden Unternehmen exkludiert, die weniger als 30 Mitarbeiter beschäftigen und/oder weniger als 6. Mio. EUR Umsatz erwirtschaften. Dies führt dazu, dass letztlich 142 Probanden berücksichtigt werden. Zur Auswertung der geschlossenen und halbgeschlossenen Fragen des Fragebogens kommen verschiedene uni- und bivariate Auswertungsverfahren zur Anwendung. ­Während univariate Auswertungsverfahren nur eine Variable betrachten, für die sie eindimensionale Häufigkeitsverteilungen, Lage- sowie Streuparameter verwenden, versuchen bivariate Auswertungsverfahren Beziehungen zwischen zwei Variablen aufzudecken. Zur Auswertung der offenen Fragen erscheint eine inhaltsanalytische Vorgehensweise nach Mayring zweckmäßig (Mayring 2007). Generell ist im Rahmen der Analysemethodik der vorliegenden Studie noch auf folgende zwei Punkte hinzuweisen. Aufgrund fehlender Antworten zu einzelnen Fragen konnten nicht immer alle Datensätze bei allen verwendeten Auswertungsverfahren berücksichtigt werden. Angesichts der im Vorfeld bereits großzügig aussortierten und unvollständigen Fragebögen handelt es sich hierbei nur um wenige Fragebögen mit einer sehr geringen Anzahl an fehlenden Angaben. Zum zweiten ist aufbauend auf den analysierten Untersuchungsergebnissen bei der Interpretation der Untersuchungsergebnisse zu beachten, dass sich jene Probanden, die sich die Zeit und Mühe nehmen, einen Fragebogen zu beantworten und zu retournieren, von anderen Probanden in ihrem Antwortverhalten sowie ihrer Expertise zum Thema stark unterscheiden können. Es besteht aus diesem Grund immer die Gefahr einer möglichen Antwortverzerrung (Bias), weshalb ein diesbezüglicher systematischer Fehler in den Untersuchungsergebnissen nicht mit Gewissheit ausgeschlossen werden kann.

2.3 Charakterisierung der Probanden Die Charakteristika der ermittelten Stichprobe werden anhand folgender Merkmale der teilnehmenden Unternehmen und Befragten dargestellt: Rechtsform, Branche, Umsatz, Mitarbeiterzahl und die Zusammensetzung des Leitungsgremiums.

2.3.1 Rechtsform Die Befragten geben in einer geschlossenen Frage an, welche Rechtsform ihr Unternehmen hat. Die Auswertung verdeutlicht, dass über die Hälfte (62 %) der teilnehmenden Unternehmen als GmbH firmieren, gefolgt von GmbH & Co. KG mit 27 %. 8 % geben an, die Rechtsform der AG inne zu haben und 2 % die der KG. Sonstige Rechtsformen halten 1 % der Stichprobe.

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2.3.2 Branche Die Branchenzugehörigkeit wurde, wie im vorherigen Abschnitt dargelegt, einer Vorselektion unterzogen. Dieser Maßnahme folgend, befinden sich in der Stichprobe nur Unternehmen, die in einer der folgenden Branchen tätig sind: • Verarbeitendes Gewerbe/Bergbau/Energie/Wasser • Baugewerbe • Handel/Gastgewerbe/Verkehr Die Branchenverteilung ergibt sich wie folgt: 90 % sind der Branche verarbeitendes Gewerbe, Bergbau oder Energie/Wasser zuzuordnen, 6 % dem Baugewerbe und 4 % sind im Handel, Gastgewerbe, Verkehr tätig.

2.3.3 Umsatz Neben der Rechtsform und der Branchenzugehörigkeit wurden die Probanden gebeten, den jährlichen Umsatz des Unternehmens anzugeben. Der Großteil der Probanden (78 %) weist einen Umsatz von 6 bis weniger 60 Mio. EUR auf. Weitere 18 % konnten einen Umsatz von 60 bis weniger 600 Mio. EUR erwirtschaften und einen Umsatz von 600 Mio. EUR und mehr generieren 4 % der Probanden. 2.3.4 Mitarbeiterzahl Die Probanden wurden darüber hinaus gebeten, Angaben zur Anzahl der Mitarbeiter zu tätigen. 78 % der Unternehmen engagieren zwischen 30 und weniger als 300 Mitarbeiter. Weitere 18 % der Unternehmen geben an, zwischen 300 und weniger als 3000 Mitarbeiter einzusetzen. 4 % der Unternehmen zählen 3000 und mehr Mitarbeiter. 2.3.5 Zusammensetzung des Leitungsgremiums Die Probanden wurden gebeten anzugeben, wie das Leitungsgremium des Unternehmens zusammengesetzt ist. Grundlegend konnte zwischen den Kategorien „nur Eigentümer/ Gesellschafter“, „gemischt“ und „nur Manager“ gewählt werden. 54 % der Probanden geben an, dass das Leitungsgremium ausschließlich aus Eigentümer/Gesellschafter besteht. 28 % der Unternehmen weisen hingegen eine gemischte Zusammensetzung des Leitungsgremiums auf und bei 18 % der befragten Unternehmen besteht das Leitungsgremium ausschließlich aus Managern. 2.3.6 Zwischenfazit Die Stichprobe ist für den deutschen Mittelstand mit einer stark industriellen Prägung und den typischen Rechtsformen repräsentativ. Es dominieren jedoch kleinere Unternehmen im Vergleich zum „gehobenen“ Mittelstand, der in vielen Veröffentlichungen hervorgehoben wird.

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3 Empirische Erkenntnisse 3.1 Rahmenbedingungen Die Darlegung der Rahmenbedingungen für Industrie 4.0 bedingt zunächst eine Untersuchung des Verständnisses. Anschließend werden Thesen zu Industrie 4.0, die Bedeutung von Industrie 4.0 und die Vorbereitung auf die Umsetzung von Industrie 4.0 vorgestellt.

3.1.1 Verständnis Wie bereits mehrfach im vorliegenden Handbuch ersichtlich, werden mit Industrie 4.0 verschiedene Begriffe in Verbindung gebracht. Diese terminologische Vielfalt, die zweifelsohne auch zur Verwirrung führen kann, könnte dementsprechend gleichermaßen in der Unternehmenspraxis existieren. In diesem Zusammenhang wurden die Probanden gebeten anzugeben, inwieweit Industrie 4.0 mit unterschiedlichen Begriffen assoziiert wird (s. Abb. 1). Mit Industrie 4.0 verbinden die Probanden insbesondere digital vernetzte Systeme (sehr stark: 56 %; eher stark: 35 %) und intelligente und flexible Produktionsprozesse (sehr stark: 54 %; eher stark: 32 %). Überraschenderweise zeigt sich, dass insbesondere der Begriff „cyber-physische Systeme“ in der mittelständischen Unternehmenspraxis im Kontext von Industrie 4.0 seltener als erwartet verwendet wird (sehr stark: 27 %; eher stark: 29 %). Dies könnte mitunter daran liegen, dass sich mittelständische Unternehmen mit dem Begriff noch nicht vertraut gemacht haben oder diesen schlichtweg nicht kennen.

Abb. 1   Assoziationen mit Industrie 4.0. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Neben den Assoziationen mit Industrie 4.0 wurden den Probanden insgesamt vier Industrie 4.0-spezifische Aussagen vorgelegt. Die Probanden wurden gebeten anzugeben, inwieweit Sie den Aussagen zustimmen oder diese ablehnen (s. Abb. 2). Der ersten These „Industrie 4.0 ist ein Thema, mit dem sich unser Unternehmen in Zukunft verstärkt auseinandersetzen wird“ stimmen 37 % voll zu und 41 % eher zu. Der zweiten These „Aus Wettbewerbsgründen ist die Beschäftigung mit Industrie 4.0 in unserer Branche relevant“ stimmen 24 % voll zu und 33 % eher zu. Der dritten These „Wir benötigen zur Umsetzung von Industrie-4.0-Projekten die Unterstützung von externen Beratern“ stimmen 13 % voll zu und 38 % eher zu. Der vierten These „Der Zugang zu den erforderlichen Technologien ist für unser Unternehmen beschränkt“ stimmen 11 % voll zu und 27 % eher zu. Der fünften These „Wir haben noch keinen Überblick darüber, was Industrie 4.0 eigentlich genau ist“ stimmen 12 % voll zu und 20 % eher zu. Zusammenfassend zeigt sich, dass Industrie 4.0 für mittelständische Unternehmen ein Thema ist, mit dem sich die Unternehmen in Zukunft verstärkt auseinandersetzen werden. Ersichtlich wird jedoch auch, dass nur ca. die Hälfte der Probanden für die Umsetzung von Industrie-4.0-Projekten externe Berater zur Unterstützung heranziehen. An dieser Stelle könnte durchaus die Ansicht vertreten werden, dass insbesondere mittelständische Unternehmen, wenn möglich, externe Expertise in Anspruch nehmen sollen. Unter Berücksichtigung der vorherigen Ergebnisse hinsichtlich der Assoziationen mit Industrie 4.0 und der Tatsache, dass nur knapp über die Hälfte der Probanden den Begriff „cyber-physisches System“ überhaupt mit Industrie 4.0 verbindet, könnte von einem Wissens-Gap ausgegangen werden, der durchaus mittels externen Spezialisten behoben

Abb. 2   Thesen zu Industrie 4.0. (Quelle: Eigene Darstellung)

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werden könnte. Dieser Rückschluss kann darüber hinaus mit der letzten Aussage in ­Einklang gebracht werden, wonach die Mehrheit der Probanden angab, keinen Überblick darüber zu besitzen, was Industrie 4.0 überhaupt ist.

3.1.2 Bedeutung und Vorbereitung Um die Bedeutung von Industrie 4.0 im Mittelstand zu erforschen, wurden die Probanden gebeten anzugeben, welche Bedeutung Industrie 4.0 für ihr Unternehmen besitzt. Die Frage nach der Vorbereitung auf Industrie 4.0 ist geschlossen-skaliert (s. Abb. 3). Die empirischen Erkenntnisse zeigen, dass für lediglich 9 % der befragten Unternehmen Industrie 4.0 eine sehr hohe Bedeutung hat. 10 % geben an, dass Industrie 4.0 eine eher hohe Bedeutung besitzt und 17 % stufen die Bedeutung weder hoch noch niedrig ein. Für 24 % der Probanden hat Industrie 4.0 eine eher niedrige Bedeutung und für 16 % eine sehr niedrige Bedeutung. 6 % machten keine Angaben. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass gegenwärtig noch kein eindeutiges Bild existiert, welche Bedeutung Industrie 4.0 für mittelständische Unternehmen hat. Dies könnte mitunter auf die bestehenden Verständnisdefizite zurückzuführen sein, die bereits dargelegt worden sind. Darüber hinaus wäre es denkbar, dass mittelständische Unternehmen gegenwärtig die mit Industrie 4.0 einhergehenden Herausforderungen noch nicht zu spüren bekommen und daher häufig auch nur eine niedrige bis sehr niedrige Bedeutung für das eigene Unternehmen attestieren. Neben der aktuellen Bedeutung wurden die Probanden auch nach der zukünftigen Bedeutung von Industrie 4.0 befragt (s. Abb. 4). Die Frage nach der zukünftigen Bedeutung von Industrie 4.0 ist ebenfalls geschlossen-skaliert.

Abb. 3   Bedeutung von Industrie 4.0. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Abb. 4   Zukünftige Bedeutung von Industrie 4.0. (Quelle: Eigene Darstellung)

Die überwiegende Mehrheit der Probanden (66 %) gibt eine zunehmende Bedeutung von Industrie 4.0 an. 25 % gehen von einer gleichbleibenden Bedeutung aus und lediglich 1 % sieht eine abnehmende Bedeutung. 8 % machten keine Angaben. Die empirischen Angaben zur zukünftigen Bedeutung von Industrie 4.0 zeigen ein klareres Bild im Vergleich zur aktuellen Bedeutung. Die Probanden gehen mehrheitlich davon aus, dass Industrie 4.0 in Zukunft weiter an Bedeutung gewinnen wird. Die Probanden werden gebeten anzugeben, inwieweit das Unternehmen auf Industrie 4.0 vorbereitet ist (s. Abb. 5). Die Frage nach der Vorbereitung auf Industrie 4.0 ist geschlossen-skaliert. 34 % der befragten Probanden geben an, dass das Unternehmen eher gut auf Industrie 4.0 vorbereitet ist, während lediglich 4 % die Vorbereitung auf Industrie 4.0 als sehr gut bezeichnen. 30 % geben an, dass das Unternehmen weder gut noch schlecht auf Industrie 4.0 vorbereitet ist. Als eher schlecht bezeichnen 22 % der Probanden die Vorbereitung auf Industrie 4.0 und 6 % als sehr schlecht. 8 % machten keine Angabe zu dieser Frage. Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass die Vorbereitung auf Industrie 4.0 sehr heterogen eingestuft wird. Diese Heterogenität könnte bspw. auf die Unternehmensgröße und die damit einhergehende höhere finanzielle Ausstattung bei Unternehmen mit mehr Umsatz und mehr Mitarbeitenden zurückgehen. Ferner könnte die Einschätzung jedoch auch mit der Problematik von Eigen- und Fremdbild zusammenhängen. So ist es durchaus vorstellbar, dass sich die befragten Unternehmen objektiv betrachtet sowohl als zu gut als auch als zu schlecht vorbereitet einstufen. Vor dem Hintergrund der divergierenden Auffassung, was unter Industrie 4.0 zu verstehen ist, scheint dies gar nicht so abwegig zu sein.

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Abb. 5   Vorbereitung auf Industrie 4.0. (Quelle: Eigene Darstellung)

3.2 Strategie, Geschäftsmodell und Mittelstandsspezifika Zur Analyse von Strategien und Geschäftsmodellen für Industrie 4.0 ist zunächst die strategische Perspektive zu erörtern. Anschließend erfolgt eine Auseinandersetzung mit dem Geschäftsmodell. Abschließend werden Mittelstandsspezifika diskutiert.

3.2.1 Strategische Perspektive In einer geschlossenen Frage sollten die Probanden angeben, ob Industrie 4.0 von strategischer Bedeutung ist. Wie Abb. 6 verdeutlicht, gaben nur 65 % der Probanden an, dass Industrie 4.0 für sie von strategischer Bedeutung ist. 17 % widersprachen und gaben an, dass Industrie 4.0 kein Thema mit strategischer Bedeutung ist. 18 % machten diesbezüglich keine Angabe. 3.2.2 Geschäftsmodell und Industrie 4.0 Die Probanden wurden zunächst mittels einer geschlossen-skalierten Frage befragt, inwieweit sie in Zukunft ihr Geschäftsmodell aufgrund von Industrie 4.0 überdenken werden (s. Abb. 7). Von den 142 Probanden gaben 4 % an, dass das Geschäftsmodell aufgrund von Industrie 4.0 in Zukunft sehr stark überdacht wird. 24 % der Probanden geben an, dass das Geschäftsmodell aufgrund von Industrie 4.0 in Zukunft eher stark überdacht wird und „weder noch“ gaben 23 % an. 21 % werden das Geschäftsmodell aufgrund von Industrie 4.0 nur sehr schwach überdenken und 14 % gaben „sehr schwach“ an. 14 % machten keine Angaben.

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Abb. 6   Strategische Bedeutung von Industrie 4.0 [N = 142]. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 7   Zukünftiges Überdenken von Industrie 4.0. (Quelle: Eigene Darstellung)

Die Ergebnisse lassen die Vermutung zu, dass die Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die Geschäftsmodelle mittelständischer Unternehmen aktuell noch unterschätzt werden. Um diesbezüglich einen genaueren Einblick zu erhalten, wurden die Probanden gebeten, Angaben darüber zu tätigen, wie sich Industrie 4.0 auf die Elemente des Geschäftsmodells auswirken wird (Kiel et al. 2016). Wie Abb. 8 verdeutlicht, werden durch Industrie 4.0 insbesondere die Anzahl der Schlüsselaktivitäten (sehr stark: 23 %; eher stark: 48 %) beeinflusst. Danach folgen die

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Abb. 8   Industrie 4.0 und Geschäftsmodellelemente. (Quelle: Eigene Darstellung)

Zusammensetzung der Kostenstruktur (sehr stark: 9 %; eher stark: 53 %), die Gestaltung der Kundenbeziehungen (sehr stark: 13 %; eher stark: 43 %), das Nutzenversprechen für den Kunden (sehr stark: 18 %; eher stark: 41 %), die Anzahl der Schlüsselressourcen (sehr stark: 10 %; eher stark: 47 %) und die Anzahl der Schlüsselpartner (sehr stark: 6 %; eher stark: 47 %). Weniger durch Industrie 4.0 werden die Elemente Vertriebskanäle (sehr stark: 10 %; eher stark: 32 %), Anzahl der Kundensegmente (sehr stark: 8 %; eher stark: 32 %), Anzahl der Einnahmequellen (sehr stark: 5 %; eher stark: 21 %) und die Liquiditätssituation (sehr stark: 4 %; eher stark: 21 %) beeinflusst. Das Element Schlüsselaktivitäten erläutert die wichtigsten Tätigkeiten, Prozesse sowie Aktivitäten, die ein Unternehmen ausübt. Dabei handelt es sich um die wichtigsten Aktivitäten zur erfolgreichen Unternehmensführung. Mittelständische Unternehmen gehen, den empirischen Daten folgend, primär davon aus, dass bestehende Schlüsselaktivitäten beeinflusst werden können. Zweitens lassen die empirischen Daten den Rückschluss zu, dass Industrie 4.0 für mittelständische Unternehmen die Möglichkeit bietet, die Kostenstruktur zu beeinflussen. Dies könnte insbesondere auf die Kostenreduktion abzielen.

3.2.3 Mittelstandsspezifika Mit der Entwicklung von Industrie 4.0 sind für den deutschen Mittelstand zahlreiche Herausforderungen verbunden. Die Unternehmen wurden in diesem Zusammenhang abschließend mittels einer offenen Frage gebeten anzugeben, worin sie die größten Herausforderungen im Rahmen von Industrie 4.0 sehen (s. Abb. 9). Die Probanden sehen insbesondere in der Qualifizierung der Mitarbeiter (60 %), der Datensicherheit (56 %) und der Definition von Industriestandards (52 %) die größten

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Abb. 9   Herausforderungen für mittelständische Unternehmen. (Quelle: Eigene Darstellung)

Herausforderungen für den Mittelstand. Weitere Herausforderungen sind die vollständige Digitalisierung der Wertschöpfungsprozesse (44 %), die Umsetzung von Industrie4.0-Projekten (39 %), die Identifizierung von Industrie-4.0-Projekten (37 %) sowie der Datenschutz (37 %). Als geringere Herausforderung für mittelständische Unternehmen im Zusammenhang mit Industrie 4.0 wird Change Management (28 %), Digitalisierung des Produkt- und Serviceangebots (22 %), die Einführung neuer Geschäftsmodelle (22 %) sowie den Wertbeitrag zu ermitteln (22 %) angesehen.

3.3 Erfolgswirkung Die Ausführungen des vorherigen Kapitels lassen vermuten, dass Industrie 4.0 u. a. Einfluss auf den Unternehmenserfolg mittelständischer Unternehmen ausübt. Um mögliche Auswirkungen von Industrie 4.0 auf den Unternehmenserfolg zu erforschen, wird der Einfluss von Industrie 4.0 auf den Unternehmenserfolg sowie das benötigte Investitionsvolumen für die Umsetzung von Industrie 4.0 in ihren Unternehmen befragt.

3.3.1 Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg Mithilfe einer geschlossen-skalierten Frage wurde untersucht, ob Unternehmen einen Einfluss von Industrie 4.0 auf den Unternehmenserfolg erkennen können (s. Abb. 10). Über die Hälfte der Probanden sehen die Auswirkungen von Industrie 4.0 auf den Unternehmenserfolg als eher positiv oder sehr positiv an. Lediglich eine Minderheit von

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Abb. 10   Industrie 4.0 und Unternehmenserfolg. (Quelle: Eigene Darstellung)

2 % schätzen die Auswirkungen als negativ ein. 25 % der Befragten haben eine neutrale Sicht auf die Auswirkungen von Industrie 4.0 auf den Unternehmenserfolg. 22 % der Probanden machten keine Angaben. Die Ergebnisse lassen den Rückschluss zu, dass eine große Mehrheit der mittelständischen Unternehmen in Deutschland von einem positiven Einfluss von Industrie 4.0 auf den Unternehmenserfolg ausgeht. Gleichzeitig ist fast ein Drittel noch unsicher, ­welchen Effekt Industrie 4.0 auf den Unternehmenserfolg haben wird.

3.3.2 Investitionsvolumina in Industrie 4.0-Projekten Die Umsetzung von Industrie 4.0 im Unternehmen bedarf weitreichender Investitionen, weshalb die Probanden in einer offenen Frage mit Antwortmöglichkeiten befragt wurden, wie hoch das notwendige jährliche Investitionsvolumen – bezogen auf den Jahresumsatz – für die Umsetzung von Industrie 4.0 in deren jeweiligen Unternehmen geschätzt wird (s. Abb. 11). Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass die Mehrheit der Probanden das notwendige Investitionsvolumen auf 1 bis unter 5 % (38 %) bzw. auf 5 bis unter 10 % (20 %) des Umsatzes schätzt. 16 % sehen notwendige Investitionen in Höhe von unter 1 %, und lediglich 4 % der Unternehmen sehen die Notwendigkeit, über 10 % des Umsatzes in die Durchführung von Industrie 4.0 zu investieren. 23 % machten keine Angaben. Die Ergebnisse der Untersuchung zeigen, dass der Großteil der Umfrageteilnehmer verstärkt Investitionen in Industrie 4.0 für notwendig erachtet. Nichtsdestotrotz erscheinen die im Mittelstand getätigten Investitionsvolumina gemessen an der Relevanz von Industrie 4.0 noch vergleichsweise gering.

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Abb. 11   Investitionsvolumina in Industrie-4.0-Projekte. (Quelle: Eigene Darstellung)

3.4 Zwischenfazit Die Unternehmen der Stichprobe zeigen in der Selbsteinschätzung eine gute bis sehr gute Vorbereitung auf die Herausforderungen durch Industrie 4.0. Die Analyse zeigt jedoch, dass v. a. die Schwerpunkte, die Sichtweise auf Industrie 4.0 sowie die Auswirkungen von Industrie 4.0 auf das Geschäftsmodell nicht mit moderneren Sichtweisen kompatibel sind, wie sie in Großunternehmen angewandt werden. Hieraus ergibt sich ein spannendes, vielleicht aber auch gefährliches Szenario: Zwischen der Selbsteinschätzung der Relevanz von Industrie 4.0 im Mittelstand und den konkreten Potenzialen scheint es eine hohe Diskrepanz zu geben, die im positiven Fall zur Erfolgssteigerung genutzt werden könnte, im negativen Fall jedoch auch die Existenz der Unternehmen bedroht.

4 Handlungspotenziale Die vorherigen Ausführungen, insbesondere die empirischen Erkenntnisse, haben zum Ziel, den aktuellen Status quo von Industrie 4.0 im Mittelstand zu verdeutlichen. Hinsichtlich der jeweiligen Untersuchungsgegenstände sollen jeweils ein kurzes Fazit und Handlungspotenziale für die mittelständische Unternehmenspraxis die Erkenntnisse abrunden.

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4.1 Rahmenbedingungen Abschn. 3.1 verdeutlicht, dass in mittelständischen Unternehmen bis dato ein mehr oder weniger konfuses Bild hinsichtlich des Verständnisses von Industrie 4.0 herrscht. Der ansonsten omnipräsente Begriff „cyber-physische Systeme“ scheint im Mittelstand bis dato nur rudimentär angekommen zu sein. Eine Auseinandersetzung mit cyber-­physischen Systemen im Kontext von Industrie 4.0 sollte im Mittelstand jedoch unbedingt erfolgen. Weiterhin wurde in Abschn. 3.1 ersichtlich, dass Industrie 4.0 ein Thema ist, mit dem sich mittelständische Unternehmen in Zukunft verstärkt auseinandersetzen werden, gleichwohl divergiert die aktuelle Bedeutung von Industrie 4.0 für mittelständische Unternehmen (noch). Die empirischen Ergebnisse verdeutlichen darüber hinaus ein divergierendes Bild bzgl. der Vorbereitung auf Industrie 4.0. Wohingegen einige Mittelständler ihr Unternehmen bestens vorbereitet sehen, konstatieren zahlreiche Probanden nur eine eher geringfügige Vorbereitung. Handlungspotenziale Handlungspotenzial 1: Cyber-physische Systeme verstehen und Einsatzmöglichkeiten überprüfen Mittelständischen Unternehmen wird empfohlen, potenzielle Einsatzmöglichkeiten von cyber-physischen Systemen zu überprüfen. Pflaum und Papert (2015) zeigen bspw., dass mit dem Einsatz von CPS in Wertschöpfungsketten unterschiedliche Anwendungen denkbar sind wie bspw. • das Monitoring und die Fernwartung smarter Maschinen und Produktionsanlagen, • das Management smarter Werkzeuge, Behälter und anderer Assets, • die Steuerung des Zulaufs bei der Versorgung von Produktionsstätten, • die sensorische Überwachung und Steuerung von Umgebungsbedingungen in der ­Produktion und • das kennzahlenbasierte Monitoring von Produktionsprozessen. Die obigen Aspekte sind nur einige Beispiele aus dem umfassenden Spektrum möglicher Anwendungen, zeigen jedoch schon, dass CPS u. a. als Hebel zur Effizienzsteigerung genutzt werden kann. Handlungspotenzial 2: Readiness-Check Mittelständischen Unternehmen wird ferner empfohlen, einen objektiven ReadinessCheck hinsichtlich der Vorbereitung auf Industrie 4.0 durchzuführen. Dieser ReadinessCheck kann dabei anhand der Perspektiven Strategie, Struktur und Kultur erfolgen. ­Folgende Fragen könnten als Orientierung dienen:

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• Strategie: Ist Industrie 4.0 bereits Teil der Unternehmensstrategie oder existiert eine eigenständige Industrie-4.0-Strategie? • Struktur: Welche Ressourcen stehen zur Verfügung, um Industrie-4.0-Anwendungen wie bspw. CPS zu implementieren, und sind die dafür notwendigen Mitarbeiter vorhanden? • Kultur: Haben wir eine Innovationskultur bzw. sind stetige Innovationen Teil unserer Unternehmens-DNA?

4.2 Strategie, Geschäftsmodell und Mittelstandsspezifika Die empirischen Ergebnisse in Abschn. 3.2 zeigen, dass Industrie 4.0 überwiegend als strategisches Thema begriffen wird. Gleichwohl wird klar, dass dies jedoch nicht immer der Fall ist. Die Verortung von Industrie 4.0 als strategisches Thema ist jedoch essenziell, da dies die Grundlage dafür ist, dass Industrie 4.0 die notwendige Aufmerksamkeit der Unternehmensführung erfährt. Hinsichtlich der Veränderung des Geschäftsmodells durch Industrie 4.0 zeigt sich, dass dies vom Mittelstand sehr divergent wahrgenommen wird. Mittelständische Unternehmen laufen hier möglicherweise Gefahr, potenzielle Veränderungstendenzen zu unterschätzen. Grundsätzlich zeigen die Daten, dass mittelständische Unternehmen insbesondere einen Einfluss auf die Schlüsselaktivitäten konstatieren und die Elemente Einnahmequellen und Liquiditätssituation nach Ansicht der Probanden weniger stark von Industrie 4.0 betroffen sind. Abschließend konnten die Ausführungen in Abschn. 3.2 verdeutlichen, dass mittelständische Unternehmen vor verschiedensten Herausforderungen im Zusammenhang mit Industrie 4.0 stehen. Insbesondere zeigt sich jedoch, dass die Qualifizierung von Mitarbeitern, die Datensicherheit und die Definition von Industriestandards die wesentlichen Herausforderungen darstellen. Handlungspotenziale Handlungspotenzial 1: Aktuelles Geschäftsmodell analysieren und Status quo erheben Industrie 4.0 wird, so zeigen bereits erste empirische Studien, Geschäftsmodelle mittelständischer Unternehmen nachhaltig verändern. Um den zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden, wird daher empfohlen, zunächst das eigene Geschäftsmodell zu analysieren und den aktuellen Status quo zu erheben. Hierfür eignet sich bspw. das Business Model Canvas von Osterwalder und Pigneur (2011). Insbesondere die Visualisierung des eigenen Geschäftsmodells kann mittelständische Unternehmen in die Lage versetzen, Auswirkungen von Industrie 4.0 zu spezifizieren und darauf aufbauend zweckorientierte Maßnahmen abzuleiten. Derartige Überlegungen dürfen jedoch nicht die Ressourcenausstattung außer Acht lassen, da diese insbesondere in mittelständischen Unternehmen oftmals begrenzt ist und dadurch auch die umsetzbaren Maßnahmen determiniert sind.

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Handlungspotenzial 2: Externe Experten einbeziehen Die ggf. notwendige Geschäftsmodellinnovation aufgrund von Industrie 4.0 ist ein komplexes Vorhaben. Mittelständische Unternehmen attestieren, wie Abschn. 3.2 zeigt, dass insbesondere die Qualifizierung von Mitarbeitern eine enorme Herausforderung darstellt. Um den aufkommenden Herausforderungen insgesamt begegnen zu können, wird mittelständischen Unternehmen empfohlen, die Digitale Transformation nicht im „Alleingang“ vollziehen zu wollen. Externe Berater können dazu beitragen, Veränderungspotenziale objektiv zu evaluieren und dabei helfen, die mittelstandsspezifischen Hausforderungen im Zusammenhang mit Industrie 4.0 zu bewältigen.

4.3 Erfolgswirkung In Abschn. 3.3 wurde dann abschließend die Erfolgswirkung von Industrie 4.0 vorgestellt. Die Ergebnisse verdeutlichen, dass die Mehrheit der mittelständischen Unternehmen davon ausgeht, dass Industrie 4.0 positive Auswirkungen auf den Unternehmenserfolg besitzt. Nichtsdestotrotz wird auch ersichtlich, dass die Investitionsvolumina gemessen am Umsatz mehrheitlich weniger als 5 % betragen. Handlungspotenziale Handlungspotenzial 1: Erfolgswirkung von Industrie-4.0-Projekten ermitteln In Abschn. 3.3 wurde verdeutlicht, dass die überwiegende Mehrheit der mittelständischen Unternehmen einen eher positiven oder sogar einen sehr positiven Zusammenhang zwischen Industrie 4.0 und dem Unternehmenserfolg sehen. Dieser Erkenntnis folgend bedarf es, vor dem Hintergrund begrenzter Ressourcen, einer zweckorientierten Wirtschaftlichkeitsrechnung von Industrie-4.0-Projekten. Letztlich müssen mittelständische Unternehmen mit der Implementierung von Industrie-4.0-Anwendungen Wertschöpfung erzielen und diese sollte, im besten Fall, vorher ermittelt werden. Handlungspotenzial 2: Investitionsvolumina sukzessive anpassen Das Investitionsvolumen in Industrie-4.0-Projekte ist, wie Abschn. 3.1 verdeutlicht, in mittelständischen Unternehmen gegenwärtig überschaubar. Eine Mehrheit investiert aktuell nicht mehr als 5 % vom Umsatz. Die Investitionen sollten, sofern möglich, über die nächsten Jahre sukzessive angepasst werden, um die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten.

5 Fazit Der vorliegende Beitrag hat sich der Thematik der Bedeutung von Industrie 4.0 aus theoretischer wie empirischer Perspektive genähert. Das Problembewusstsein für Industrie 4.0 ist im Mittelstand bereits recht hoch, der Beitrag hat jedoch auch gezeigt, dass die Gefahr besteht, dass der Mittelstand aus technologischer wie strategischer Sicht nicht

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W. Becker et al.

alle Implikationen von Industrie 4.0 erkennt. Industrie 4.0 ist im Mittelstand leider noch nicht das Top-Thema auf der Agenda von Vorstand und Aufsichtsrat. Zudem ist das Verständnis von Industrie 4.0 verkürzt auf den Wandel von analogen zu digitalen Daten und bildet deswegen nicht die volle Bandbreite der Entwicklungen in Theorie und Praxis ab. Die Analyse der Veränderungen von Geschäftsmodellen zeigt zudem, dass nur wenige Unternehmen kombinieren können, was technisch möglich und zugleich betriebswirtschaftlich sinnvoll und ertragreich ist. In vielen Fällen konzentrieren sich Unternehmen auf technische oder technologische Veränderungen, ohne jedoch direkt einen ökonomischen Mehrwert daraus ableiten zu können. Andere Unternehmen wiederum versprechen sich von Industrie 4.0 erst gar keinen Mehrwert und beschäftigen sich deswegen auch nicht mit dem Thema – eine gefährliche Entwicklung. Der Beitrag konnte zwar theoretisch und auch empirisch die Sichtweise des Mittelstands beleuchten, in der Folge sollte jedoch in qualitativen Untersuchungen der genauen Handhabung von Industrie 4.0 im Mittelstand nachgegangen werden.

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Industrie 4.0 im Mittelstand – Handlungspotenziale und Umsetzung

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Professor Dr. Wolfgang Becker ist Inhaber des Lehrstuhls Betriebswirtschaftslehre, insbes. Unternehmensführung und Controlling an der Universität Bamberg. Aktuell beschäftigt er sich vorrangig mit Fragen des Value Based Managements und der Digitalisierung. Prof. Dr. habil. Patrick Ulrich hat die Professur für Unternehmensführung und -kontrolle, Studienbereich Internationale Betriebswirtschaft an der Hochschule Aalen – Technik und Wirtschaft. Dr. Tim Botzkowski  ist bei Talanx Deutschland AG in Hannover beschäftigt.

Cyber-physische Systeme zwischen rechtlichen Anforderungen und rechtskonformer Gestaltung Gerrit Hornung und Helmut Lurtz

1 Das Verhältnis technischer Innovationen zum Recht Recht und Technik bestimmen in hohem Maße sowohl die individuelle Lebenswirklichkeit des Einzelnen als auch die sozialen Entwicklungsbedingungen der Gesellschaft (zu diesem Verhältnis grundlegend Roßnagel 1993, S. 105 ff. et passim)1. Rechtliche und technische Innovationen verändern folglich auch die Entfaltungsmöglichkeiten der Menschen und die sozialen Prozesse, in denen sie sich bewegen. Industrie 4.02 ist weder die erste noch die letzte technische Innovation, die ­Rechtsfragen hervorruft. Als soziale Normen haben rechtliche Anforderungen die Funktion der „Steuerung“3 nicht rechtlicher Entwicklungen, unterliegen aber auch selbst einem fortlaufenden Entwicklungsdruck. Das Verhältnis technischer Innovationen zum Recht

1Der

Beitrag ist in Teilen eine aktualisierte und erweiterte Fassung von Hornung 2017a. weitere Erläuterungen zum Begriff der Industrie 4.0, den eingesetzten Technologien und den jeweiligen Branchen wird hier verzichtet; s. insoweit die übrigen Beiträge in diesem Band. 3Die Probleme einer solchen Steuerung werden insbesondere aus systemtheoretischer Perspektive immer wieder aufgezeigt, s. z. B. Luhmann 1989, S. 4 ff.; Luhmann 1991, S. 142 ff.; Willke 1984, S. 29 ff.; Teubner und Willke 1984, S. 4 ff.; Di Fabio 1991, S. 205. In der Rechtswissenschaft sind jedoch inzwischen eine Vielzahl von – gerade marktwirtschaftlich orientierten – Instrumenten entwickelt worden, die vielversprechende und teils erfolgreiche Methoden darstellen, diesen Schwierigkeiten zu begegnen, s. Roßnagel und Sanden 2007, S. 17 ff., 67 ff.; Eifert 2012, Rn. 110 ff. 2Auf

G. Hornung (*) · H. Lurtz (*)  Universität Kassel, FB 07, Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected] H. Lurtz E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_5

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G. Hornung und H. Lurtz

ist deshalb von Wechselwirkungen geprägt. Die rechtliche Analyse kann neue Technologien und Prozesse am Maßstab des geltenden Rechts untersuchen und so ihre rechtliche Zulässigkeit bewerten. Häufig wird diese Form der Rechtsanwendung jedoch zu spät kommen, weil die neuen Technologien bereits entwickelt und spezifiziert sind, Änderungen nur schwer durchführbar erscheinen und ein Verbot bei attraktiven Anwendungen angesichts des ökonomischen Drucks nur schwer durchsetzbar ist. Diese Probleme potenzieren sich in den grenzüberschreitenden Geschäftsprozessen des Internets als „körperlosem Sozialraum“ (Roßnagel 1997, S. 26), in dem vielfach unklare Rechtsanwendungsregeln herrschen und das von einem chronischen Vollzugsdefizit gekennzeichnet ist. Diese Ausgangssituation zwingt nicht dazu, den Regelungs- und Gestaltungsanspruch des Rechts aufzugeben; wohl aber benötigt er mit Blick auf rasche technische Innovationszyklen neue Implementationsstrategien. Will man das Dilemma der zu langen rechtlichen Reaktionszeiten vermeiden, so sind präventive und zukunftsgerichtete Ansätze erforderlich. Rechtswissenschaftler und -praktiker müssen den mühsamen Weg einer techniknahen Arbeit mit rechtlichen Normen und den hinter ihnen stehenden Regelungszielen gehen. Dazu müssen Juristen die Bereitschaft mitbringen (und dafür ausgebildet werden), sich in multidisziplinären Teams Technologien erläutern zu lassen, die sich noch im Forschungsund Entwicklungsprozess mit seinen Optionen und rekursiven Prozessen befinden. Sie müssen überdies auch normativ in die Zukunft blicken, also nicht nur geltendes, oftmals inadäquates Recht anwenden, sondern abstraktere, dauerhaftere Vorstellungen der rechtlichen Gesellschaftsregulierung zeitgemäß konkretisieren und so auch innovatives Recht schaffen (zu diesem Mechanismus auf grundrechtlicher Ebene ausführlich Hornung 2015a). Umgekehrt sind in dieser Weise arbeitende Juristen darauf angewiesen, bei Technikern, Ökonomen, Arbeitswissenschaftlern und Verantwortlichen in den Unternehmen ein grundlegendes Verständnis für die rechtlichen Problemlagen neuer Technologien hervorzurufen und die Bereitschaft zu stärken, rechtliche Anforderungen und Vorgaben nicht als lästige Hindernisse, sondern als „produktive Störungen“ zu verstehen. Nur so kann es gelingen, in einem Prozess der gegenseitigen Annäherung Gestaltungsvorschläge zu erarbeiten, die zugleich technik-, wirtschafts-, organisations- und rechtsadäquat sind.4

2 Datenhoheit als zentrales Rechtsproblem der Industrie 4.0 Ausgehend von der Prämisse, dass Daten die „Rohstoffe des 21. Jahrhunderts“ sind, hat sich eine rege – nicht nur rein juristische – Diskussion über die Zuweisung von Nutzungsrechten an maschinengenerierten Daten entwickelt (Ensthaler 2016, S. 3473 ff.; Wiebe

4S.

zu der Idee einer solchen „Allianz“ s. die Beiträge in Roßnagel (Hrsg.) 2001; zu Beispielen einer Umsetzung im Bereich des technischen Datenschutzes nach der Methode KORA (Konkretisierung rechtlicher Anforderungen) s. Roßnagel 2011, S. 41 ff. Ein Bewusstsein für die Notwendigkeit der genannten Kooperation ist inzwischen auch bei vielen Institutionen der Forschungsförderung vorhanden.

Cyber-physische Systeme zwischen rechtlichen Anforderungen …

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und Schur 2017, S. 461 ff.; Hornung und Hofmann 2017a; Denker et al. 2017). In einer vernetzten Fabrik entsteht eine Vielzahl solcher maschinengenerierter Daten. Diese können unter anderem zur Marktbeobachtung, zur Produktentwicklung sowie zur Optimierung sowohl der innerbetrieblichen Abläufe als auch der Kooperation über Betriebsgrenzen hinaus in Wertschöpfungsketten und -netzwerken genutzt werden. Hierbei ist ein Daten- und Informationsmarkt entstanden, auf dem Maschinenbetreiber und -hersteller sowie Serviceanbieter, die die Maschinen administrieren und warten, die anfallenden Maschinendaten mithilfe von Big-Data-Verfahren analysieren (Roßnagel et al. 2017; Zech 2015b). Die gewonnenen Erkenntnisse können dann sowohl den Maschinenbetreibern, als auch anderen Beteiligten der jeweiligen Wertschöpfungskette oder beliebigen Dritten kommerziell angeboten werden. Dies eröffnet Chancen für neue Geschäftsmodelle einzelner Akteure. Darüber hinaus wird es häufig unter übergeordneten Gesichtspunkten der Standortpolitik und des effektiven Ressourceneinsatzes sehr sinnvoll sein, Produktionsanlagen möglichst effizient zu nutzen. Die umfassende Vernetzung birgt jedoch auch einige Risiken. Neben der Gefahr der Anfälligkeit für Störungen und Manipulationen (z. B. BSI 2017, S. 12) können Maschinendaten einen ungewollt tiefen Einblick in Unternehmensinterna wie Konstruktionsdetails, angewandte Produktionsmethoden, Auftragslage oder erzielte Absätze bieten. Der Schutz sowie die Nutzungsmöglichkeit und damit auch der wirtschaftliche Wert der Daten werden dabei zu einem großen Teil dadurch determiniert, welchem Rechtsträger diese – faktisch und/oder rechtlich – zugeordnet werden können. Die Datenhoheit richtet sich also in zwei unterschiedliche Schutzrichtungen. Zum einen versucht sie in ihrer auf Abwehr gerichteten Funktion den Bestand, die Unverfälschtheit sowie die Vertraulichkeit der Daten zu gewährleisten. Zum anderen soll sie durch ihre Verwertungsfunktion dem Inhaber das Recht geben, Daten zu nutzen und – so die vielfache Hoffnung auf Exklusivität – andere hiervon auszuschließen (Hornung und Hofmann 2017a, S. 191 ff.). Gegenwärtig bestehen für die Zuweisung von „rohen“ Maschinendaten5 keine spezifischen gesetzlichen Vorschriften. Vielfach erfahren Maschinenbetreiber bzw. -hersteller dennoch für bestimmte Fallgestaltungen und Konstellationen durch allgemeine Vorschriften einen nicht unwesentlichen Schutz. Sofern sich Daten in der unmittelbaren Einflusssphäre des Maschinenherstellers bzw. -betreibers befinden, sind sie umfassend hinsichtlich ihrer Integrität sowie Vertraulichkeit gesichert. Hierbei entsteht der – insbesondere durch das Straf- und Deliktsrecht (§§ 202a, 303a StGB und § 823 Abs. 1 BGB) gewährleistete – Schutz allerdings lediglich in Bezug auf den Datenträger und die tatsächliche Verfügungsgewalt an den Daten; eine exklusive Zuweisung im Sinne eines Dateneigentums erfolgt nicht (Hornung und Hofmann 2017a, S. 193). Ein solches „Dateneigentumsrecht“ soll nach einigen Stimmen zur Gewährleistung der Verfügbarkeit

5Reine

Maschinendaten weisen in der Regel keinen Personenbezug auf, sodass das Datenschutzrecht nicht anwendbar ist. Zur dortigen Paralleldiskussion zum „Dateneigentum“ s. Hornung und Goeble 2015, S. 265 ff.; Specht und Rohmer 2016, S. 127 ff.).

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G. Hornung und H. Lurtz

der Daten und des Zugangs zu ihnen konstruiert werden; zumindest jedoch sollen Daten als Nutzungen eingestuft werden (Zech 2015a, S. 144 sowie die Nachweise in Denker et al. 2017, S. 85 ff.). Die Vertraulichkeit der in den Analyseergebnissen enthaltenen Informationen, also die Verhinderung des Abflusses von Know-how, wird insbesondere durch das Immaterialgüterrecht gesichert. Dies erfolgt vor allem über den Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen nach § 17 UWG. Berechtigt ist allerdings nur derjenige, der die Geheimhaltung der Daten – sei es vertraglich oder faktisch – kontrolliert (Wiebe 2016, S. 880; Dorner 2014, S. 623; Peschel und Rockstroh 2014, S. 574). Unerheblich ist es demgegenüber, über wen die Daten Informationen enthalten. Gelingt es also einem der Beteiligten, die erzeugten Daten vor anderen geheim zu halten, sind sie ihm auch nach § 17 UWG zugeordnet. Der Geheimnisschutz versagt jedoch, sofern die Kontrolle der Daten nicht gewährleistet werden kann, weil etwa der Maschinenbetreiber dem Hersteller nicht auf Augenhöhe begegnet und deshalb gezwungen ist, letzterem vertraglich einen entsprechenden Zugang einzuräumen. Die Verwertung von Rohdaten zu werthaltigen Informationen – meist durch einen spezialisierten Dienstleister – ruft naturgemäß das Interesse des Herstellers sowie des Betreibers der Maschinen hervor, an dem generierten Wissen beteiligt zu werden. Eine solche Teilhabe kann über den skizzierten Geheimnisschutz in Kombination mit vertraglichen Regelungen erreicht werden. Hierdurch wird allerdings keine eigenständige rechtliche Zuweisung, sondern nur eine gegen missbräuchliche Weitergabe abgesicherte faktische Nutzungsmöglichkeit bewirkt (Hornung und Hofmann 2017b, S. 7 f. m. w. N.) Ein darüber hinausgehendes Leistungsschutzrecht nach §§ 87a ff. UrhG, mit der Möglichkeit für einen Datenbankhersteller (im genannten Beispiel der Dienstleister), die Datenbank zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich wiederzugeben, versagt, da sich dieser Schutz lediglich auf die Datenbank und eben nicht auf das konkrete Datum bezieht. Der rechtliche Schutz folgt also weithin der faktischen Geheimhaltung des gewonnenen Wissens und sichert dieses zwar ab, endet jedoch mit der freiwilligen Offenbarung der Informationen gegenüber Dritten oder der Öffentlichkeit. Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Schwächen der jetzigen Regelungen einer „Datenhoheit“ werden seit einigen Jahren verschiedene Vorschläge zur Änderung des Rechtsrahmens diskutiert. So wird teilweise die Schaffung eines neuen Ausschließlichkeitsrechts an Daten gefordert, etwa durch Gewährung eines auf wenige Jahre beschränkten Leistungsschutzrechts an Messdaten für den verantwortlichen Datenerzeuger, dem zufolge er allein diese Daten gewerblich verwerten dürfte (z. B. Zech 2015a). Ein anderer Ansatz versucht die faktische Kontrolle durch Schaffung eines „Datenbesitzes“ zu erreichen (Specht 2016, S. 294; EU-Kommission 2017, S. 33 ff.).

3 Weitere Rechtsfragen im Überblick Im Folgenden soll ein Überblick zu weiteren wesentlichen Rechtsfragen gegeben ­werden, die durch die technischen Innovationen der Industrie 4.0 hervorgerufen werden. Die meisten der folgenden Punkte schließen an Diskussionen an, die in der

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­ echtswissenschaft in den l­etzten Jahren in teils erheblicher Ausdifferenzierung geführt R worden sind. Auch daran zeigt sich, dass viele einzelne Innovationen der Industrie 4.0 auf früheren Entwicklungen aufbauen.

3.1 Vertragsrecht und neue Vertragsmodelle Solange cyber-physische Systeme nur innerhalb einer Produktionsstätte oder innerhalb eines Unternehmens eingesetzt werden, handelt es sich im Wesentlichen um innerbetriebliche Organisationsfragen. Sobald diese Systeme jedoch in neue Wertschöpfungsketten und -netzwerke integriert werden, stellen sich neue rechtliche Herausforderungen. Cyber-physische Systeme erzeugen eine enorme Datenmenge, aus der Informationen über den Aufenthaltsort von Objekten, den Zustand von Fertigungssystemen, die Auslastung von Produktions- und Dienstleistungsstätten, die Kapazitäten von Lagerräumen und die Arbeitskraft von Personen synthetisiert werden können. Neue Geschäftsmodelle – wie die schon erwähnten spezialisierten Dienstleister zur Wartung und Steuerung vernetzter Maschinen – bauen auf der Nutzung dieser Informationen und damit auf ihre zumindest prinzipielle Verfügbarkeit auf. Eine solche intensive Kollaboration mit Kooperationspartnern entlang der verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette oder sogar mit Konkurrenten auf derselben Stufe wirft mindestens drei zentrale Gestaltungsfragen auf, die eng mit den erläuterten Fragen der Datenhoheit verbunden sind. Erstens werden sich Unternehmen nur in größerem Umfang an dem Leitbild integrierter Wertschöpfung beteiligen, wenn sie darauf vertrauen, dass ihre Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse entweder gewahrt bleiben oder nur gegen eine angemessene Gegenleistung offenbart werden. Dies ist schon für die Zusammenarbeit mit bisherigen Konkurrenten keine leichte Aufgabe. Diese verkompliziert sich jedoch weiter, weil mit den Betreibern von Plattformen und digitalen Marktplätzen neue Marktteilnehmer hinzutreten, deren Geschäftsmodelle nicht auf Informationstrennung, sondern auf Aggregation und Big-Data-Analysen angelegt sind (dazu aus rechtlicher Sicht z. B. die Beiträge in Hoeren 2014; zu den datenschutzrechtlichen Problemen z. B. Roßnagel et al. 2016; s. a. die Beiträge in Hoffmann-Riem 2018). Diese Vorstellung und Leitbilder wie die „transparente supply chain“ (z. B. New 2010, S. 76 ff.) müssen bei allen Verantwortlichen Besorgnis erregen, die legitimerweise etwas zu verbergen haben. Gesetzliche Regeln zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen (§ 4 Nr. 9 lit. c und § 17 UWG, § 85 GmbHG oder § 404 AktG), Datenbanken (§§ 87a ff. UrhG) oder Urheberrechten wirken regelmäßig nur punktuell (näher Hornung und Hofmann 2017a, S. 193 ff.) und sind vor allem ein zu grobes Raster für die Besonderheiten der Industrie 4.0. Dementsprechend besteht ein erhebliches Bedürfnis nach Musterklauseln für Verträge, auf deren Basis die betroffenen Unternehmen zusammenarbeiten können. Zweitens sind in solchen Verträgen Bestimmungen zur Gewinnverteilung und zu Haftungsfragen von erheblicher Bedeutung. Wenn auf der Basis der Daten, die bei den produzierenden Unternehmen entstehen, nunmehr andere Unternehmen neue

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G. Hornung und H. Lurtz

­ eschäftsmodelle entwickeln (beispielsweise durch ein vermehrtes „dynamic pricing“) G und Gewinne generieren, so stellt sich die Frage einer angemessenen Gewinnverteilung. Auch hierfür muss und kann der Gesetzgeber keine Vorgaben machen; die unter dem Schlagwort der „data ownership“ diskutierten Fragen (vgl. Ziff. #1.2#) werden maßgeblich durch Verträge zwischen den einzelnen Unternehmen entschieden werden. Drittens sind die Besonderheiten – insbesondere Zurechnungsfragen – der M2M-­ Kommunikation zu klären. Indem der Nutzer das System willentlich in Betrieb nimmt, werden autonome Erklärungen eines IT-Systems seinem Nutzer als eigene Erklärung zugerechnet. Bei deterministischen Systemen folgt dies bereits aus der Tatsache, dass sie lediglich die vordefinierten Anordnungen des Betreibers ausführen. Erklärungen autonomer Systeme werden aber ebenfalls dem Nutzer zugerechnet, da diese ebenfalls seiner Risikosphäre zuzuordnen sind (z. B. Sosnitza 2016, S. 766 f.; s. a. Hornung und Hofmann 2017b, S. 12 f. m. w. N. auch zu anderen Stimmen in der Literatur).

3.2 Haftungsrecht Nicht zu verhindern ist, dass die neuen Formen der Zusammenarbeit in neuen Geschäftsmodellen auch neue Schadensvorfälle erzeugen, für die sich haftungsrechtliche Fragen ergeben werden. Dies gilt gerade für innovative Dienstleistungen neuer Anbieter, die durch Big-Data-Analysen sinnvolle Leistungen erbringen können, obwohl ihnen an sich das Know-how zu den bisherigen Fertigungsprozessen in den einzelnen Wirtschaftssegmenten gerade fehlt. Werden die Ergebnisse derartiger Analysen wirtschaftlich genutzt, so können fehlerhaft eingespeiste Informationen sich zu Mängeln in Produkten und Dienstleistungen weiterfressen. Ähnliches gilt in integrierten Wertschöpfungsketten: Unzutreffende Informationen zur Auslastung von Maschinen können fehlerhafte Bestellund Logistikprozesse auslösen, die durch Kaskadeneffekte eine Vielzahl von anderen Beteiligten in ihren Betriebsabläufen behindern. Verträge sind auch hier zur Regulierung geeignet. Sie müssen allerdings zusätzlich zu hergebrachten Instrumenten wie Service Level Agreements (SLAs) oder Vorgaben zu Vorratshaltung und Lagerrisiken neue Wege erproben. Treten trotz der Präventionsbemühungen Schäden auf, so ist Vorsorge dafür zu treffen, die einzelnen Ursachen und ihre Verteilung feststellen zu können. Beides wird sich nur aufklären lassen, wenn es gelingt, die jeweiligen Schadensbeiträge rechtssicher zu dokumentieren. Hierbei könnte eine elektronisch signierte Dokumentation von Aktionen, Vorfällen oder Maschinenzuständen erhebliche Beweisvorteile bewirken. Die Neuregelungen für qualifizierte elektronische Signaturen und qualifizierte elektronische Siegel durch die eIDAS-VO und das deutsche Vertrauensdienstegesetz führen seit dem Jahre 2017 zu einem komplexen Geflecht aus europäischen und nationalen Beweisregelungen (Art. 25 Abs. 2 und Art. 35 Abs. 2 eIDAS-VO i. V. m. § 371a ZPO n. F.; Roßnagel 2016, 2018). Jedenfalls aber haben beide Instrumente erhebliche Beweiswirkungen und können auch in der Industrie 4.0 dem Verwender entsprechende Vorteile im Streitfall verschaffen.

Cyber-physische Systeme zwischen rechtlichen Anforderungen …

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Während in der klassischen industriellen Produktion aufgrund der zentralen Steuerung noch eindeutig nachvollziehbar war, auf wessen Entscheidungen die konkrete Ausgestaltung eines bestimmten Produkts zurückzuführen war, wird dies bei zunehmendem Einsatz selbstlernender und autonomer Systeme nur noch eingeschränkt möglich sein. Die in der Produktion mit cyber-physischen Systemen mehr und mehr verwendeten sog. (Software-)Agenten interagieren selbstständig mit der Umgebung und handeln mithin, ohne dass es einer zentralen Steuerung bedürfte. Dies hat wiederum zur Folge, dass das Verhalten dieser Systeme weder genau vorhergesagt, noch genau nachvollzogen werden kann. Durch diese teilweise sehr komplexen Wechselwirkungen der sich deterministisch chaotisch verhaltenden stochastischen Systeme (ten Hompel und Kerner 2015, S. 179) kann es zum einen vermehrt zu Schäden innerhalb der Wertschöpfungskette kommen und zum anderen können die Softwareagenten teilweise ungewollte rechtsgeschäftliche Erklärungen abgeben. Hierfür müssen in Zukunft Grundsätze zur angemessenen Verteilung der Haftungsrisiken festgelegt werden. Diese werden derzeit intensiv diskutiert (Nachweise bei Hornung und Hofmann 2017b, S. 11 f.), es fehlt aber bislang an konsensfähigen Lösungen. Zur Verbesserung des Haftungsrechts wird neben der Beschränkung der Anwendbarkeit des oftmals als hinderlich empfundenen AGB-Rechts im B2B-Bereich (Klindt et al. 2015 S. 78 f., 82; Plattform Industrie 4.0, S. 5 f.), teilweise die Anerkennung einer sog. „elektronischen Person“ als weitere Rechtsperson neben der natürlichen und juristischen Person gefordert, die eigenständig mit einer eigenen Haftungsmasse für ihre Handlungen verantwortlich sein soll (z. B. Beck 2013, S. 239; Schirmer 2016, S. 663 ff.; kritisch Hanisch 2014, S. 39 f.; Spindler 2016, S. 816). Auf der Ebene der Schadenskompensation stellen sich überdies versicherungsrechtliche Fragestellungen (zu den Problemen der Versicherung von IT-Schadensfällen Spindler und Koch 2010). Diese spielen insbesondere dann eine Rolle, wenn schwer kalkulierbare Risiken aufgefangen werden sollen oder die individuellen Verursachungsbeiträge trotz der eben genannten Instrumente nicht feststellbar sind.

3.3 Wettbewerbsrecht Als Folge der stetigen Vernetzung und Automatisierung und der daraus entstehenden Wertschöpfungsnetzwerke justieren Plattformen das bisherige wirtschaftspolitische Koordinatensystem neu (Hornung und Hofmann 2017b, S. 18 ff.). Sie stellen die notwendige Infrastruktur für die Vernetzung bereit und können darüber hinaus regulierend auf den Markt einwirken. Neben der Festsetzung von branchenspezifischen Standards, der Erteilung von Zertifizierungen – etwa hinsichtlich der Qualität einer Dienstleistung – können Plattformbetreiber auch Versicherungsmodelle oder sonstige Dienstleistungen anbieten. Dies eröffnet erhebliche Chancen für die beteiligten Akteure, kann jedoch zu einer Marktmacht führen, mittels derer die Plattformbetreiber Konzentrationstendenzen fördern sowie Preisstrategien beeinflussen können. Dies ruft wettbewerbsrechtlichen

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Klärungsbedarf hervor. Der deutsche Gesetzgeber hat auf diese Entwicklung durch die 9. Novelle des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) am 31.3.2017 reagiert (z. B. Esser und Höft 2017; Podszun und Schwalbe 2017). Diese enthält verschiedene Gesetzesanpassungen mit dem Ziel, vor dem Hintergrund der zunehmenden Digitalisierung der Wirtschaft eine wirksame Fusionskontrolle sowie den Schutz vor Missbrauch von Marktmacht sicherzustellen (BT-Drs. 18/10207, S. 38). So eröffnet § 18 Abs. 2a GWB, als Antwort auf plattformbasierte Geschäftsmodelle, die Anwendbarkeit des ­Wettbewerbsrechts auf Märkte ohne unmittelbaren Geldzufluss. Ob eine Reaktion auf europäischer Ebene erfolgen wird, ist derzeit noch nicht abzusehen. Vor diesem Hintergrund sind aus wettbewerbsrechtlicher Sicht insbesondere die Bedingungen für den Zugang zu Plattformen zu untersuchen. Gewisse Standards – wie etwa IT-sicherheitsrechtliche Mindestanforderungen – sind grundsätzlich begrüßenswert und können für eine vertrauensvolle und rechtssichere Interaktion sogar unabdingbar sein. Treten die Betreiber hier als „redliche Makler“ auf, bieten sich erhebliche Chancen einer Selbstregulierung der neuen, volatilen Branchen, für die staatliche Vorgaben vielfach ohnehin zu spät kommen würden. Schrauben die Intermediäre jedoch die Anforderungen zu hoch, so können Zugangsbarrieren entstehen, die bestehende Marktmacht perpetuieren und dadurch letztlich Innovationen behindern. So stuft das Bundeskartellamt „Plattformmärkte“ als besonders sensitiv ein, da auf diesen ein besonderes Risiko für das Entstehen einer marktbeherrschenden Stellung bestehe (Bundeskartellamt 2016, S. 48 ff.). Treffen sich etwa viele Unternehmen aus einer Branche auf nur einer Plattform, kann diese zu einer marktmächtigen Stellung gelangen. Würden bspw. Maschinenbetreiber oder -hersteller eines speziellen Wirtschaftsbereichs den Zugang zu ihren Rohdaten ausschließlich über eine einzige Plattform gewähren, so könnte dies dazu geeignet sein, den Wettbewerb in dem benachbarten, hierauf angewiesenen Markt der Datenanalyse auszuschließen oder auf bestimmte Akteure zu limitieren. Besonders problematisch ist dies bei vertikal integrierten Akteuren, wenn also ein Plattformbetreiber zugleich als Anbieter oder Nachfrager im Datenmarkt auftritt (dazu allgemein Frenz 2016; Dreyer und Haskamp 2017). Zum Teil werden staatliche Regulierungen hinsichtlich der Sicherung und Zuteilung von Daten sowie zur Schaffung von wirksamen Wettbewerbsstandards gefordert. Die Hürde eines in der Regel besonders hohen staatlichen Schutzniveaus könnten allerdings viele – insbesondere kleine und mittelständische Unternehmen – nur schwer bewältigen, was wiederum das Risiko von Monopolbildungen begünstigen würde. ­ Solche ­Überlegungen werden deshalb eher kritisch beurteilt (Frenz 2016, S. 673 ff.).

3.4 Datenschutzrecht Die datenschutzrechtlichen Fragen der Industrie 4.0 werden durch das Wirksamwerden der neuen europäischen Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) am 25.5.2018 nicht wesentlich verändert, zumal diese so gut wie keine technikspezifischen Vorgaben – und erst recht

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keine für cyber-physische Systeme in der produzierenden Industrie – enthält.6 Soweit sich die durch diese Systeme erzeugten Daten auf eine bestimmte oder bestimmbare natürliche Person beziehen (Art. 4 Nr. 1 DSGVO), ist auch das künftige Datenschutzrecht anwendbar. Dies wird typischerweise in zwei Richtungen der Fall sein, nämlich zum einen in Bezug auf Beschäftigte der Unternehmen und ihrer Kooperationspartner, zum anderen hinsichtlich der Kunden, soweit es sich um natürliche Personen handelt (Hofmann 2017). Das aus dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht abgeleitete Recht auf informationelle Selbstbestimmung schützt den „Einzelnen gegen unbegrenzte Erhebung, Speicherung, Verwendung und Weitergabe seiner persönlichen Daten“ und gewährleistet insofern seine Befugnis „grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen“ – so schon das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil (BVerfGE 65, 1, 43). Auf europäischer Ebene enthält Art. 8 der Charta der Grundrechte sogar ein explizites Recht jeder Person auf Schutz der sie betreffenden personenbezogenen Daten. Einfachgesetzliche Vorgaben für den privaten Bereich (Beschäftigten- und Kundendaten) enthalten insbesondere die Datenschutz-­ Grundverordnung sowie das (neue) Bundesdatenschutzgesetz. Letzteres macht von einer Reihe von Öffnungsklauseln der Verordnung Gebrauch. Für die Industrie 4.0 ist insbesondere Art. 88 DSGVO relevant, der nationale Regelungen zum Beschäftigtendatenschutz zulässt. Der Bundesgesetzgeber hat dies genutzt, um in § 26 BDSG im Wesentlichen den bisherigen § 32 BDSG a.F. zu übernehmen und an bestimmten ­Punkten (beispielsweise bei der Vorgabe einer Schriftform für die Freiwilligkeit einer Einwilligung im Beschäftigungsverhältnis sowie bei der Präzisierung von Kriterien für ihre Freiwilligkeit) fortzuschreiben. Die Auswirkungen des Einsatzes cyber-physischer Systeme auf die Verarbeitung von Kundendaten werden in der Rechtswissenschaft schon seit einigen Jahren unter den Stichworten des Internets der Dinge oder des Ubiquitous Computing thematisiert (ULD & HU 2006; Roßnagel 2007; Hansen und Thiel 2012). Demgegenüber steht die Analyse der innerbetrieblichen Auswirkungen noch am Anfang (z. B. Hofmann 2016; Hornung und Hofmann 2015, S. 165 ff.). In beiden Bereichen entstehen neue Probleme insbesondere durch die weitreichende Bildung umfassender Persönlichkeitsprofile (zur rechtlichen Bewertung derartiger Profile s. am Beispiel von Location Based Services Schnabel 2009). Wenn Produkte und Dienstleistungen möglichst exakt an die Bedürfnisse von Kunden angepasst und individualisiert werden sollen, müssen Anbieter möglichst viel über diese wissen. Dies gilt sowohl im Endkundenbereich als auch für andere Stationen des Herstellungsprozesses. Wenn Arbeitsleistungen spezifisch ausgestaltet und individualisiert bewertet werden sollen, so führt dies zu deutlich gesteigerten Datensammlungen über die Beschäftigten, ihre persönlichen Fertigkeiten, Aufenthaltsorte, Arbeitsschritte und Arbeitsunterbrechungen. Das hergebrachte Datenschutzrecht versucht, solchen Herausforderungen mit den Grundsätzen

6S.

zu den Hintergründen und den Einzelproblemen der Reform statt vieler Hornung 2013a.

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der Zweckbindung, der Erforderlichkeit und der Datensparsamkeit zu begegnen. Daran ändert auch die europäische Reform nichts, die diese Grundsätze in leicht modifizierter Form in Art. 5 DSGVO weiterhin vorgibt. Diese werden jedoch infrage gestellt, wenn der Zweck individualisierter Produkte und Arbeitsleistungen weitreichende Datensammlungen erforderlich macht und Big-Data-Analysen nicht auf einen sparsamen, sondern gerade auf einen möglichst umfassenden Umgang mit Daten und ihre dauerhafte Speicherung sowie Auswertung angelegt sind (z. B. Roßnagel 2013). Insofern sind neue Lösungskonzepte erforderlich, um die Persönlichkeitsrechte der Betroffenen angemessen zu wahren. Trotz der Probleme einer echten Anonymisierung in Big-Data-Datenbeständen ist beispielsweise zu fragen, ob der jeweilige Verarbeitungszweck nicht auch mit anonymisierten oder zumindest pseudonymisierten Daten erreicht werden kann. In diesem Fall ist der Personenbezug der Daten nach Maßgabe des Grundsatzes „privacy by design“ beziehungsweise der Idee der „privacy enhancing technologies“ (Borking 1998; 2001; Hansen 2003; mit Blick auf die aktuelle europäische Reform Hornung 2013b) zu vermeiden oder nachträglich zu entfernen. Konzepte der Datensparsamkeit müssen insofern zwar technisch und rechtlich fortentwickelt werden, behalten aber ihre Relevanz (Hornung 2017b). Datenschutzfreundliche Konzepte eines elektronischen Identitätsmanagements können dazu beitragen, Arbeitsabläufe zu optimieren, ohne die Betroffenen permanent elektronisch zu tracken.7 Die Implementierung effektiver Datenschutz- und Datensicherheitsmaßnahmen gehört nach Art. 25 und 32 DSGVO zu den Rechtspflichten der Unternehmen. Sie liegt zugleich in deren ureigenstem Interesse, weil so auch der Abfluss von Unternehmensdaten verhindert wird, die nicht vom Datenschutzrecht erfasst werden, für die Unternehmen aber von erheblicher Bedeutung sind (vgl. Ziff. #1.2# zu den weiteren Auswirkungen der neuen ­Datenschutz-Grundverordnung auf die Industrie 4.0 Hofmann 2017).

3.5 Arbeitsrecht Die Auswirkungen der Vernetzung und Digitalisierung erfassen – zusammengefasst unter dem Stichwort „Arbeiten 4.0“ (Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2017; Jürgens 2017) – auch das Arbeitsrecht. Neue Arbeitsformen wie die Plattformökonomie, „Economy on Demand“ oder „Crowdworking“ treten in der digitalen Arbeitswelt neben das „klassische“ Arbeitsverhältnis. Unternehmen schreiben nunmehr einzelne Arbeitsaufgaben auf Plattformen aus; der Anbietende der Arbeitskraft nimmt sodann die jeweilige Aufgabe an. Eine klassische Arbeitnehmerstellung liegt dabei mangels

7Verschiedene

Modelle des elektronischen Identitätsmanagements wurden in den letzten Jahren mit Blick auf das Cloud Computing im Projekt „SkIDentity“ erforscht, s. https://www.skidentity.de/ und die Beiträge in Kubach und Hühnlein (Hrsg.) 2014; aus rechtlicher Sicht z. B. Hornung 2015b; zu interdisziplinären Perspektiven s. die Beiträge in Hornung und Engemann (Hrsg.) 2016.

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Weisungsgebundenheit nicht mehr vor. Aufgrund der Digitalisierung und der Verbreitung mobiler Kommunikationsmittel verlagert sich zudem der Arbeitsort vermehrt über die Grenzen der Fabrik hinaus. Mobiles Arbeiten bzw. Telearbeit werden immer häufiger ermöglicht. Die Verbreitung der Nutzung privater mobiler Endgeräte zu betrieblichen Zwecken stellt die Unternehmen auch unter dem Stichwort „Bring-your-own-Device“ vor gewisse Herausforderungen (aus der vielfältigen Literatur etwa Monsch 2017). In den Fabrikhallen der Industrie 4.0 führen Roboter mittlerweile nicht mehr nur Befehle aus. Dank künstlicher Intelligenz sind sie nunmehr in der Lage, Arbeitsabläufe zu analysieren und zu optimieren. In den bisherigen Prototypen der „Mensch-Roboter-Teams“ (Wischmann 2015, S. 149 ff.) haben letztere zwar regelmäßig noch eine untergeordnete Funktion und dienen der gesteuerten Verbesserung der unterlegenen Fähigkeiten der Menschen. Schon heute bezieht sich dies aber nicht mehr nur auf rein physische Fähigkeiten, sondern auch auf solche zur Informationsverarbeitung. In diesem schleichenden Prozess könnten Roboter künftig von einfachen Kollegen zu „Vorgesetzten“ avancieren. Die Rollen von Mensch und Maschine als Weisungsgeber bzw. -empfänger würden dadurch vertauscht. Je nach dem Grad der Kontrolle über den Roboter (beispielsweise durch Dienstvorgesetzte) – oder umgekehrt dem Grad an Autonomie, mit dem dieser in konkreten Arbeitssituationen auch für den menschlichen Kollegen mitentscheidet – entstünden hierdurch weitgehend entpersonalisierte Arbeitsverhältnisse (Günther und Böglmüller 2017; Groß und Gressel 2016). Durch eine immer verzweigtere Vernetzung und Kooperation verschiedener Unternehmen werden klassische Betriebsstrukturen flexiblen und dezentralen Organisationsformen weichen (Hornung und Hofmann 2017b, S. 18 m. w. N.). Es entstehen neue Betriebsformen, welche nicht zuletzt zu einer Herausforderung für die Mitbestimmung der Arbeitnehmervertretungen führen können. Betriebsräte haben insbesondere mitzubestimmen, wenn es um Fragen der Ordnung des Betriebs und des Verhaltens der Arbeitnehmer geht (§ 87 Abs. 1 Nr. 1 BetrVG) und wenn technische Einrichtungen eingeführt und angewendet werden sollen, die dazu bestimmt sind, das Verhalten oder die Leistung der Arbeitnehmer zu überwachen (Nr. 6). Da die Rechtsprechung die Frage der „Bestimmung“ schon bei einer entsprechenden Eignung bejaht (ständige Rechtsprechung seit BAGE 27, 256), wird die Einführung von Arbeitsplatzassistenzsystemen oder anderen Verfahren, die auf eine Profilbildung angelegt sind, regelmäßig der Mitbestimmung unterfallen. Darin kann man einerseits eine unangemessene Ausweitung des Mitbestimmungsrechts auf praktisch alle Formen der Entscheidung über die Einführung und Organisation der Betriebsmittel sehen (z. B. Wisskirchen et al. 2017). Diese Entscheidungen obliegen an sich dem Arbeitgeber und unterliegen nicht der Mitbestimmung. Auf der anderen Seite ist die Ausweitung der Mitbestimmung auf die Einführung cyber-physischer Systeme nur die logische Folge der Tatsache, dass diese Systeme in einem bisher ungekannten Ausmaß personenbezogene Daten der Beschäftigten erheben und damit ein enormes Kontrollpotenzial mit sich bringen (Däubler et al. 2016, S. 1799). Dies spricht jedenfalls gegen substanzielle Änderungen des Mitbestimmungsrechts (hierzu umfassend Däubler 2015, S. 502 ff.). Bei den daraus

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folgenden Konflikten handelt es sich typischerweise sowohl um Rechts- als auch um Akzeptanzprobleme. Herausforderungen stellen sich daneben für die Arbeitsorganisation. Die effektive Implementierung von Konzepten des „Privacy by Design“ erfordert ein entsprechendes Bewusstsein („awareness“) für rechtliche Risiken bei den Beschäftigten, das durch Schulungen gefördert werden kann. Neben den regelmäßig nach Art. 37 DSGVO und § 38 BDSG rechtlich vorgeschriebenen Datenschutzbeauftragten wird kaum ein Betrieb in der Industrie 4.0 ohne einen IT-Sicherheitsbeauftragten auskommen. Auch die Zuständigkeit derartiger Beauftragter ist in Zeiten betriebsübergreifender Wertschöpfungsnetzwerke eine Herausforderung.

3.6 IT-Sicherheitsrecht Die stetig wachsende Anzahl unterschiedlichster Geräte unter Nutzung von oftmals uneinheitlichen Standards der Vernetzung bieten eine Vielzahl neuer Möglichkeiten für Angreifer, etwaige Sicherheitslücken zu finden und diese als Einfallstore auch für andere Netzwerke zu nutzen. Vorgaben für die Gestaltung der IT-Sicherheit in Unternehmen und für die Meldung von IT-Sicherheitsvorfällen werden derzeit vor allem für die Betreiber von kritischen Infrastrukturen diskutiert und von den Gesetzgebern auf unterschiedlichen Ebenen implementiert. Die Gefahren auch für die produzierende Industrie sind real: Mitte 2016 berichtete das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik unter anderem über einen erfolgreichen Angriff auf das interne Netzwerk eines deutschen Industriekonzerns (BSI 2017, S. 12) und bewertete die Gefährdungslage als weiterhin „auf hohem Niveau angespannt“ (BSI 2017, S. 75 ff.). Datenschutzorientierte Pflichten zur Meldung an die Betroffenen und die Datenschutzaufsichtsbehörden bestehen schon etwas länger. Sie griffen bisher, wenn bestimmte Datenkategorien Dritten unrechtmäßig zur Kenntnis gelangten und den Betroffenen entsprechende Nachteile drohten (§ 42a BDSG a. F., § 15a TMG und § 83a SGB X; im Bereich der Telekommunikation die teils inhaltlich abweichenden § 93 Abs. 3 in Verbindung mit § 109a TKG; z. B. Gabel 2009; Hornung 2010). Diese Beschränkung auf bestimmte Arten von Daten wird mit der Neuregelung in Art. 33, 34 DSGVO obsolet, weil diese alle personenbezogenen Daten erfasst (zur Neuregelung Gierschmann 2016). Stattdessen operieren die neuen Meldepflichten mit einem sog. risikobasierten Ansatz. Die Meldung der Schutzverletzung an die Aufsichtsbehörde ist nach Art. 33 Abs. 1 DSGVO nicht erforderlich, wenn diese voraussichtlich nicht zu einem Risiko für die Rechte und Freiheiten natürlicher Personen führt. Weiter einschränkend bestimmt Art. 34 Abs. 1 DSGVO, dass die unmittelbare Meldung an die betroffenen Personen nur dann erforderlich ist, wenn voraussichtlich ein „hohes Risiko für die persönlichen Rechte und Freiheiten natürlicher Personen“ besteht. Angesichts der künftig extrem erhöhten Bußgeldandrohungen (für eine Verletzung der Meldepflichten beträgt diese nach Art. 83

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Abs. 4 lit. a DSGVO bis zu 10 Mio. EUR oder bis zu 2 % des weltweiten Jahresumsatzes) ist den Verantwortlichen dennoch zu raten, im Zweifel lieber eine entsprechende M ­ eldung zu machen. Dies wird die praktische Relevanz der Meldepflichten nach der Grundverordnung maßgeblich erhöhen. Dennoch bleibt es bei der Einschränkung, dass diese sich nur auf personenbezogene Daten beziehen und eine eher individuelle, also auf den Betroffenen bezogene, Ausrichtung haben. Eine andere Stoßrichtung haben die Meldepflichten des am 25. Juli 2015 in Kraft getretenen IT-Sicherheitsgesetz (S. den Gesetzesentwurf, BT-Drs. 18/4096, sowie die Beschlussempfehlung des Innenausschusses, BT-Drs. 18/5121). Mit ihnen haben sich die Meldepflichten für Unternehmen erheblich verschärft (z. B. Roos 2014; Hornung 2015c; Hornung und Schindler 2017). Betreiber kritischer Infrastrukturen sind nach dem neuen § 8b Abs. 4 BSIG verpflichtet, erhebliche Störungen der Verfügbarkeit, Integrität, Authentizität und Vertraulichkeit ihrer informationstechnischen Systeme, Komponenten oder Prozesse, die zu einem Ausfall oder einer Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit der von ihnen betriebenen kritischen Infrastrukturen führen können oder bereits geführt haben, unverzüglich an das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik zu melden. § 8a BSIG enthält überdies nunmehr umfangreiche und potenziell kostenträchtige Pflichten zur Implementierung technischer und organisatorischer Vorkehrungen sowie zu deren regelmäßiger Auditierung. In einem teilweise parallelen Gesetzgebungsverfahren hat der europäische Gesetzgeber am 6. Juli 2016 die Richtlinie EU/2016/1148 über Maßnahmen zur Gewährleistung eines hohen gemeinsamen Sicherheitsniveaus von Netz- und Informationssystemen in der Union (NIS-Richtlinie) erlassen. Diese erfordert nunmehr einige Anpassungen des in Deutschland geltenden IT-Sicherheitsgesetzes (Voigt und Gehrmann 2016). Wie dieses Gesetz beschränkt sich auch die NIS-Richtlinie nicht auf Systeme zur Verarbeitung personenbezogener Daten; vielmehr soll ein umfassender Schutz von IT-Systemen, Komponenten und Prozessen als solche erarbeitet werden. Sie richtet sich an Betreiber wesentlicher Dienste (Art. 4 Ziff. 4 NIS-Richtlinie) und an Anbieter digitaler Dienste (Art. 4 Ziff. 6 NIS-Richtlinie), wobei diese zu einem wesentlichen Teil deckungsgleich mit den Betreibern kritischer Infrastrukturen i. S. d. § 2 Abs. 10 BSIG sind. Inwieweit diese neuen Vorgaben die Industrie 4.0 erfassen werden, hängt von der Definition der „kritischen Infrastrukturen“ ab. Die neue Legaldefinition ist hier sehr weitreichend und nennt in § 2 Abs. 10 BSIG „die durch die Rechtsverordnung nach § 10 Absatz 1 näher bestimmten Einrichtungen, Anlagen oder Teile davon in den Sektoren Energie, Informationstechnik und Telekommunikation, Transport und Verkehr, Gesundheit, Wasser, Ernährung sowie Finanz- und Versicherungswesen, die von hoher Bedeutung für das Funktionieren des Gemeinwesens sind und durch deren Ausfall oder Beeinträchtigung nachhaltig wirkende Versorgungsengpässe oder erhebliche Störungen der öffentlichen Sicherheit eintreten würden“. Das Bundesministerium des Inneren hat in der BSI-KritisV (zuletzt aktualisiert am 21.6.2017) für die einzelnen Sektoren jeweils Schwellenwerte festgelegt. Betrifft der Ausfall einer Anlage diese in der Verordnung

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f­estgesetzte Anzahl an Personen, so ist die Anlage als kritische Infrastruktur zu qualifizieren. Perspektivisch wird es in allen diesen Sektoren zum Einsatz von cyber-physischen Systemen kommen (Hornung und Hofmann 2017a, S. 206 ff.). Selbst wenn weite Teile der mittels cyber-physischer Systeme produzierenden Industrie selbst nicht unter die genannten Schwellenwerte fallen, dürften etliche Branchen mittelbar von den materiellrechtlichen Pflichten zur Einhaltung von IT-Sicherheitsvorgaben und den damit verbundenen Auditierungsverfahren betroffen sein. Wenn nämlich Betreiber kritischer Infrastrukturen verpflichtet sind, die Einhaltung der entsprechenden Maßnahmen nachvollziehbar gegenüber den Behörden zu dokumentieren, so werden sie die Dokumentationspflichten bei der Anschaffung von Systemen, aber auch von Einzelkomponenten an ihre Lieferanten „durchreichen“. In integrierten Wertschöpfungsketten werden sich überdies die schon erörterten Verantwortlichkeitsfragen auch hinsichtlich der Implementierungs- und Auditierungspflichten für die IT-Sicherheit sowie hinsichtlich der Erfüllung der Meldepflichten bei IT-Sicherheitsvorfällen stellen.

4 Internationale Regulierungsansätze Die Digitalisierung kennt vielfach keine Ländergrenzen und erfasst in Zeiten der Globalisierung alle Wirtschaftsräume weltweit. Das gilt insbesondere für die Einführung cyber-physischer Systeme in der produzierenden Industrie und der Logistik. Hier verfolgen praktisch alle Staaten ähnliche Pläne, die lediglich abweichend bezeichnet werden: Während im europäischen Kontext das „IoT“ bzw. die „Digitalisierung der europäischen Industrie“ und in den Vereinigten Staaten das „Industrial Internet of Things“ (IIot) das Pendant zur deutschen Industrie 4.0 bilden, versucht sich China mit dem Fünfjahresplan „China 2025“ zu einer der führenden Industrienationen zu transformieren (Bates 2017, S. 33 ff.; Stercken und Berger 2017, S. 45 ff.). Diese Entwicklung birgt ganz erhebliche Herausforderungen an das Recht, weil dieses nach wie vor überwiegend territorial an Nationalstaaten bzw. Staatenverbünde wie die Europäische Union gebunden ist, nationale Regulierungen aber vielfach immer weniger wirksam werden. In Zeiten der globalen Vernetzung von Menschen und Maschinen sind deshalb nicht nur europäische, sondern auch weltweite Initiativen und Rechtsetzungsvorhaben im Auge zu behalten. Eine vermeintlich überschaubare unternehmerische Entscheidung beispielsweise zur Produktion „intelligenter“ Alltagsgegenstände, die beim Endkunden im Smart Home permanent Daten erhebt und an das Unternehmen senden, muss bei deren Gebrauch in der EU oder in China anderen datenschutzrechtlichen Voraussetzungen genügen. Ändern sich diese Voraussetzungen – wie zuletzt durch die europäische Datenschutz-Grundverordnung – so ist dies bei der unternehmerischen Entscheidung zu berücksichtigen. Im Folgenden sollen die groben Strukturen der Regulierungsansätze der USA, der Volksrepublik China sowie der Europäischen Union skizziert werden.

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4.1 Regulierungsansätze der USA Bedingt durch die sehr ausgeprägte freie Marktwirtschaft verfolgen die USA – ihrer liberalen Geschichte bzw. Tradition entsprechend – einen eher zurückhaltenden Regulierungsstil und vertrauen stärker den Kräften des freien Wettbewerbs. Zahlreiche einzelne Projekte und Initiativen werden daher von privaten Unternehmen organisiert und von staatlicher Seite lediglich durch einzelne Behörden begleitet – eine einheitliche staatliche Koordination oder gar Regulierung des IIot fehlt (Otto und Kennedy 2017, S. 505). Aufgrund der wirtschaftlich mächtigen Ausgangsposition der USA und ihre Überlegenheit auf dem Gebiet der Internet- und Big-Data-basierten Geschäftsmodellen bewegen sich die meisten Innovationen auf diesen Feldern. Die Produktionsforschung spielt im Vergleich zu diesen Forschungsfeldern eine lediglich untergeordnete Rolle. Es deutet einiges darauf hin, dass disruptive Entwicklungen bis hin zum fundamentalen Paradigmenwechsel in der Produktion eher aus dem Ansatz der datengetriebenen Dienstleistungen entstehen werden (Gausemeier et al. 2016, S. 14 ff.). Dementsprechend sind auch staatliche Regulierungsansätze (bzw. der Verzicht darauf) aus diesem Bereich von enormer Bedeutung. Die US-Strategie sieht den Königsweg der Regelung des IIot in der Bestimmung von Standards, nicht verbindlichen Leitlinien, Best-practice-Vorgaben sowie dem Vertrauen auf die Selbstregulierung. Zahlreiche Bundesbehörden werden regulatorisch oder unterstützend in einzelnen Bereichen des IIot tätig; jedoch ohne eine allumfassende Strategie oder gegenseitige Abstimmung. So gibt die Federal Trade Commission (FTC), die insbesondere gegen Wettbewerbs- und Datensicherheitsverstöße vorgeht, regelmäßig Leitlinien heraus, die zwar rechtlich nicht bindend sind, jedoch Signalwirkung für Unternehmen haben („soft law“). Die Federal Communications Commission (FCC), mit der Hauptaufgabe der Regulierung der innerstaatlichen und internationalen drahtlosen Kommunikation, bezieht regelmäßig Stellung zu den aktuellen Themen des IIot, wie bspw. in ihrer Stellungnahme zum 5G-Netz (Federal Communications Commission 2016). Das National Institute of Standards and Technology (NIST) als Teil des Handelsministeriums der USA soll US-Unternehmen durch Standards und Leitlinien dabei helfen, IIot-Anwendungen bezüglich Sicherheit, Interoperabilität und Vertrauen zu fördern. Nicht zuletzt aufgrund dieser – jedenfalls aus europäischer Perspektive – unzureichenden bzw. uneinheitlichen Regulierungspraxis bot sich den US-Unternehmen als einziger Ausweg die Selbstregulierung in Form von selbst entwickelten Regeln und Leitlinien an, um den sich ständig ändernden Technologien im Bereich des IIot zu begegnen. Auch staatliche Behörden unterstützen diese Praxis. So erlaubte bspw. die FTC der US-Industrie eigene Privacy Practices zu entwickeln, um letztlich die Industrie selbst nach diesen Maßstäben zu beurteilen. Es entwickelten sich einige privat vorangetriebene Standards, Zertifizierungen und Leitlinien wie die IIot Cybersecurity Certification, Online Trust Alliance Internet of Things Framework, The Open Web Application Security Project oder Interoperability Standards (Otto und Kennedy 2017, S. 523). Insgesamt steht auch mittel- und langfristig

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nicht zu erwarten, dass sich die verschiedenen Regulierungsstrategien dies- und jenseits des Atlantiks annähern werden. Dies gilt nicht nur für das derzeit viel diskutierte Beispiel des Datenschutzrechts. Für die Wirtschaft bedeutet dies, dass sie bis auf weiteres mit den rechtlichen Unterschieden und den dadurch entstehenden erhöhten Transaktionskosten (auch im Bereich der Technikgestaltung) leben müssen.

4.2 Regulierungsansätze der Volksrepublik China Der Zehnjahres-Entwicklungsplan „China 2025“ sieht als Reaktion auf die deutsche Initiative der Industrie 4.0 die Transformation Chinas zu einer führenden Industrienation vor (Stercken und Berger 2017, S. 48). Während in den USA der Fokus der Bestrebungen auf dem Dienstleistungssektor liegt, versucht die Volksrepublik China vor allem den sekundären Sektor gemäß ihrem Ruf als „Werkbank der Welt“ zu entwickeln. Die chinesische Regierung führt und plant diese Entwicklung im Gegensatz zu den USA streng autokratisch und strategisch. Die Digitalisierung der Industrie durch die Integration von Informatisierung und Modernisierung der Fertigung ist dabei eines der entscheidenden Teile dieser Strategie. Insbesondere im Bereich des Advanced Manufacturing laufen unter Federführung und Leitung der Regierung zahlreiche Initiativen zur Verbesserung des Automatisierungsgrades (Gausemeier et al. 2016, S. 15 f.). Die chinesische Regierung gibt dabei detaillierte Ziele vor, wie etwa die Gründung von rund 40 Innovationszentren, oder ruft Initiativen aus, wie die Internet-Plus-Initiative, die eine digitale Ökonomie, basierend auf E-Commerce und Onlinedienste zu schaffen versucht. Diese Vorhaben werden dabei erheblich durch staatliche Fördermittel wie steuerliche und finanzielle Begünstigungen unterstützt. Zur Schaffung eines positiveren politischen und rechtlichen Klimas hat die Regierung versprochen, fairere und transparentere Investitionsbedingungen und Marktzugänge für ausländische Unternehmen und Inverstoren zu schaffen. So wurden bereits Negativlisten eingeführt, die Öffnung im Dienstleistungssektor ausgeweitet sowie das administrative Verfahren vereinfacht und zum Schutz des geistigen Eigentums Sondergerichte eingerichtet. Nichtsdestotrotz hegen viele ausländische Inverstoren erhebliche Zweifel am sicheren Schutz des geistigen Eigentums (Zhang 2016, S 182). Während es im chinesischen Recht kein einheitliches Datenschutzgesetz gibt und sich diesbezüglich die staatlichen Regulierungs- bzw. Entwicklungsbemühungen in Grenzen halten (Binding 2014), wurde ein neues „Cybersecurity-Gesetz“ mit einem darauf aufbauenden Maßnamenkatalog verabschiedet, das neben einigen Regelungen zum Datenschutz, insbesondere einen umfassenden Ansatz bezüglich der Informations- und Datensicherheit bietet (Kipker 2017). Ob sich aktuelle gesetzgeberische Bestrebungen für ein nationales chinesisches Internet perspektivisch als Hemmnis für deutsche und europäische Unternehmen entwickeln werden, bleibt abzuwarten. Zumindest ist erkennbar, dass der Staat in mehreren gesellschaftlichen Bereichen (z. B. auch beim vernetzten Automobil) das Ziel verfolgt, in China erhobene Sensordaten rechtsverbindlich (nur) in China zu speichern. Dies dürfte weltweit integrierte Wertschöpfungsnetzwerke ebenso behindern wie eine engere Bindung zu den Endkunden.

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4.3 Regulierungsansätze der EU Der europäische Ansatz zu einer „digitalen europäischen Industrie“ besteht im Wesentlichen aus einer Verbindung von einzelnen Legislativakten zu technischen und wirtschaftlichen Themenkomplexen im Bereich der Industrie 4.0 mit Verbraucherschutzfragen, nicht zuletzt um die Akzeptanz der Bürgerinnen und Bürger für die in vielen Fällen ­disruptiven Veränderungen zu befördern. Das Herzstück dieses Ansatzes bildet die „Europäische Strategie für einen digitalen Binnenmarkt“ (DSM-Strategie) der EU-Kommission (EU-Kommission 2015a) mit dem Ziel, einen einheitlichen europäischen Binnenmarkt im Bereich der Digitalwirtschaft zu schaffen. Die inhaltlichen Hauptpfeiler sind dabei ein besserer Zugang zu digitalen Waren und Dienstleistungen, die Förderung und Ausweitung der Infrastruktur für digitale Netze und innovative Dienste sowie die bestmögliche Ausschöpfung der Wachstumspotenziale der digitalen Wirtschaft (Schönau 2017, S. 481; EU-Kommission 2015a). Als rechtlichen Hebel nutzt die EU-Kommission eine Vielzahl an ­Einzelmaßnahmen, um regulatorisch auf die Entwicklung der europäischen Wirtschaft einzuwirken. Zum einen sieht der Plan der EU-Kommission unter dem Schlagwort der „Konnektivität“ die Ermöglichung der möglichst umfassenden Kommunikation der einzelnen Systeme des IoT durch Schaffung von umfangreichen interoperablen Protokollen, Schnittstellen und Anwendungen vor. Hierfür sollen eine umfassende Vernetzung, eine schnelle und gesicherte Internetanbindung sowohl der Industrie als auch der Bürgerinnen und Bürger sowie ein durchgehend gesichertes Funkspektrum gewährleistet werden (5G-Konnektivität). Ferner sollen digitale Innovationen in verschiedensten Bereichen – wie etwa „Intelligente Fabriken, vernetztes und autonomes Fahren oder Robotik – gefördert und offene Datenplattformen kreiert werden“ (EU-Kommission 2016a, S. 9 ff.). Darüber hinaus wird versucht, einen offenen und fairen Wettbewerb sowie einen Zugang der Unternehmen und Bürgerinnen und Bürger zu den Diensten und der Infrastruktur des IoT zu ermöglichen (EU-Kommission 2016b). Insbesondere die neuen technischen Möglichkeiten wie Cloud Computing oder Big Data und Geschäftsmodelle wie etwa Plattformen stellen die Kartellämter oftmals vor Herausforderungen (vgl. Ziff. #1.3.3#), die gelöst werden sollen. Im Bereich des Vertrags- und Haftungsrechts (vgl. Ziff. #1.3.1# und #1.3.2#) legt die EU-Kommission regelmäßig Vorschläge vor, die unter anderem versuchen, die Besonderheiten der Digitalisierung zu berücksichtigen (EU-Kommission 2015b, c). Insbesondere in diesem Themenkomplex bemüht sich die EU-Kommission auch ausdrücklich um eine Stärkung des Verbraucherschutzes, da ein hohes Verbraucherschutzniveau grundlegende Voraussetzung für die Erreichung eines echten digitalen Binnenmarktes sei (EU-Kommission 2015b, Erwägungsgrund 2). Die EU-Kommission setzt nunmehr auch verstärkt auf europäische Normen bzw. Standards als eine flexible Möglichkeit zur Steigerung des Qualitäts- und Sicherheitsniveaus, der Transparenz und Interoperabilität sowie zur Öffnung der Märkte für Unternehmen, insbesondere für KMU (EU-Kommission 2016c). Zur Gewährleistung von

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Vertrauen und Sicherheit wird auf modernisierte Datenschutz- und Datensicherheitsregelungen gesetzt (vgl. Ziff. #1.3.4# und Ziff. #1.3.6#). Nachdem die europäische Datenschutz-Grundverordnung am 25. Mai 2018 in Kraft getreten ist, konzentrieren sich die Aktivitäten derzeit auf die Verabschiedung einer ePrivacy-Verordnung als Nachfolgerin der ePrivacy-Richtlinie 2002/58. Die politischen Kontroversen betreffen dabei vielfach Fragen, die für die Industrie 4.0 nicht von sehr großer Relevanz sind (insbesondere im Bereich der Cookie-Regulierung). Dennoch steht zu erwarten, dass ein substanzieller Teil der vernetzten Infrastrukturen der Industrie 4.0 in den Anwendungsbereich der ePrivacy-­ Verordnung fallen werden, da sie personenbezogene Daten im Bereich der elektronischen ­Kommunikation verarbeiten. Zusammenfassend zeichnet sich die europäische Herangehensweise zur Digitalisierung der Industrie im Gegensatz zum Ansatz der USA – die weitestgehend dem freien Wettbewerb vertrauen – durch eine stärkere Regulierung und Koordinierung aus. Mit dem zwar durchaus strukturierten Ansatz der DSM-Strategie schafft die EU wiederum auch kein allumfassendes und beinahe lückenloses Regelungssystem wie in der Volksrepublik China. Nach dem europäischen Ansatz verbleibt vielmehr ein gesunder Wettbewerb zwischen verschiedenen Ansätzen und Initiativen, und eine voreilige und unkoordinierte Gesetzgebung wird vermieden. Es wird dennoch erheblicher Anstrengungen bedürfen, den europäischen Ansatz im globalen Wettbewerb durchzuhalten und nicht zwischen divergierenden internationalen Trends zerrieben zu werden.

5 Ausblick Die besondere Herausforderung der rechtlichen Analyse der Industrie 4.0 ist weniger durch völlig neuartige Rechtsfragen, sondern maßgeblich durch die Kumulation sehr vieler aktuell umstrittener Rechtsfragen bedingt. Cyber-physische Systeme erfassen durch die Vielzahl der Sensoren, die erheblichen Verarbeitungskapazitäten, die grundsätzlich umfassende Vernetzung und die Einbettung in organisatorische Netzwerke mit anderen Anbietern und Plattformbetreiber eine Vielzahl von Rechtsbereichen und die in diesen geführten spezialisierten rechtswissenschaftlichen Diskussionen. Wie bei den meisten wirtschaftlich-industriellen Veränderungsprozessen, handelt es sich auch hier um technisch-soziale Innovationen, die Auswirkungen auf die Zusammenarbeit der Menschen in der „intelligenten“ Fabrik, auf die Rollen und Selbstverständnisse der Beschäftigten, auf die Zusammenarbeit der Unternehmen entlang der Wertschöpfungsketten und auf Beziehungen zwischen Unternehmen und Kunden haben. Auch wenn viele Rechtsprobleme nicht neu sind und sich in anderen Bereichen der digitalen Transformation parallel stellen (etwa beim vernetzen Automobil oder im Smart Home), ist eine umfassende rechtliche Bewertung der Industrie 4.0 dennoch von teils erheblicher Komplexität. Die Rechtsfragen können technisch und ökonomisch sinnvolle Innovationen massiv behindern, wenn ihre Auswirkungen nicht von Beginn an in die Strategien der Entwicklung und Implementierung mit einbezogen werden. Industrie 4.0 ist in erheblichem

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Maße auf die Akzeptanz8 innerhalb und außerhalb der Unternehmen angewiesen, die ohne eine Adressierung der rechtlichen Probleme nicht zu erlangen sein wird. Gerade kleinere und mittlere Unternehmen werden mutmaßlich nicht nur vor den faktischen Aufwänden, sondern auch vor den rechtlichen Risiken zurückscheuen, wenn sie das Gefühl haben, dass diese nicht beherrschbar sind. Nicht umsonst ist in der Praxis bislang zu beobachten, dass viele Unternehmen ihre Systeme lieber selbst administrieren und so die dabei anfallenden Daten unter ihrer Kontrolle behalten – aber eben auf die Effizienzvorteile verzichten, die eine vergleichende Analyse durch spezialisierte Dienstleister bringen könnte. In vielen derartigen Bereichen wird es darauf ankommen, angemessene Vertragsklauseln zu gestalten, die sowohl innerhalb der Unternehmen als auch entlang der Wertschöpfungsketten und in den neu entstehenden Datenmarktplätzen die Zuständigkeiten, Datenflüsse, Verantwortlichkeiten und Haftungsfragen angemessen und für alle Beteiligten transparent regeln. Als zweite Herausforderung stellt sich das übergreifende Problem einer rechtsadäquaten technischen Gestaltung cyber-physischer Systeme, insbesondere im Bereich des Datenschutzrechts (vgl. Ziff. #1.3.4#). Erst wenn beide Mechanismen nicht greifen, Lücken offenbaren oder gesellschaftliche Ziele nicht effektiv erreichen, ist der Gesetzgeber aufgerufen, wie im Bereich des IT-Sicherheitsgesetzes und der NIS-Richtlinie übergeordnete und gesellschaftsorientierte Aspekte durch neue Normen spezifisch zu regeln. Wenn diese drei Bereiche der Vertrags-, Technik- und Gesetzesgestaltung als gemeinsame Herausforderung angenommen werden, könnte sich eine rechtsadäquate Industrie 4.0 als eine zukunftsträchtige Innovationsgeneration des Standorts Deutschland herausbilden.

Literatur Bates, J. (2017). Das Internet der Dinge im industriellen Kontext aus US-amerikanischer Sicht. In K. Lucks (Hrsg.), Praxishandbuch Industrie 4.0 (S. 33–45). Stuttgart: Schäffer-Poeschel. Beck, S. (2013). Über Sinn und Unsinn von Statusfragen – Zu Vor- und Nachteilen der Einführung einer elektronischen Person. In E. Hilgendorf & J.-P. Günther (Hrsg.), Robotik und Gesetzgebung (S. 239–263). Baden-Baden: Nomos. Binding, J. (2014). Grundzüge des Verbraucherdatenschutzrechts der VR China – Leitfaden für die Praxis. Zeitschrift für Datenschutz, 4, 327–336. Borking, J. J. (1998). Einsatz datenschutzfreundlicher Technologien in der Praxis. Datenschutz und Datensicherheit, 22, 636–640. Borking, J. J. (2001). Privacy-Enhancing Technologies (PET). Darf es ein Bitchen weniger sein? Datenschutz und Datensicherheit, 25, 607–615.

8Dies

wird derzeit z. B. im BMBF-Projekt MyCPS (Migrationsunterstützung für die Umsetzung menschzentrierter Cyber-Physical-Systems) untersucht, s. https://www.produktionsmanagement. iao.fraunhofer.de/de/forschungsprojekte/mycps.html.

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Prof. Dr. Gerrit Hornung,  LL.M., ist Professor für Öffentliches Recht, IT-Recht und Umweltrecht und Direktor am Wissenschaftlichen Zentrum für Informationstechnik-Gestaltung (ITeG) der Universität Kassel. Aktuelle Forschung zu den Rechtsfragen der Digitalisierung in Wirtschaft und Verwaltung mit Schwerpunkten in den Bereichen Industrie 4.0, E-Government und Datenschutz. Ass. jur. Helmut Lurtz  ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet für Öffentliches Recht, IT-Recht und Umweltrecht an der Universität Kassel. Aktuell untersucht er insbesondere die datenschutzrechtlichen Herausforderungen der digitalisierten Arbeitswelt.

Teil II Industrie 4.0 und Digitale Transformation in Produktion und Supply Chain Management

Digitalisierung in Einkauf und Supply Chain Management Ronald Bogaschewsky

1 Entwicklung und Bedeutung der Digitalisierung in Einkauf und SCM Die beschaffungsbezogenen Funktionen repräsentieren einerseits Nahtstellen z­wischen den internen Funktionen eines Unternehmens1 und andererseits zwischen dem Unternehmen und dem Beschaffungsmarkt bzw. den Anbietern, respektive den bereits ­kontrahierten Lieferanten. Dem strategischen Einkaufsmanagement2 kommt damit eine hervorgehobene Bedeutung zu, nicht zuletzt vor dem Hintergrund, dass in vielen Industrien wertmäßig rund zwei Drittel des Umsatzes für fremdbezogene Güter ausgegeben werden und teilweise über 80 % der Wertschöpfung von Lieferanten erbracht werden. Ohne effiziente, transparente, schnelle und regelkonforme operative Prozesse ist diese strategische Leistung nicht effektiv zu erbringen. Das Supply Chain Management3 fokussiert die Planung, Steuerung und Kontrolle der beschaffungsseitigen Wertkette und beinhaltet, je

1In

diesem Beitrag werden (privatwirtschaftliche) Unternehmen fokussiert, wobei sich die ­ usführungen in Teilen auf öffentliche Institutionen übertragen lassen. Für einen Überblick zum A Supply Chain Management im öffentlichen Sektor siehe Eßig und Witt (2009) und zum öffentlichen Einkauf Glock und Broens (2011). 2Für eine Aufarbeitung der historischen Literatur zum betrieblichen Einkauf siehe Bogaschewsky (2003a, S. 15 ff.) und für dessen aktuelle Aufgaben Lasch (2017). 3Teilweise findet auch der Begriff des Supply Network Management Verwendung, um die ­vernetzte Struktur der Wertkette zu betonen. Im Folgenden wird der stärker verbreitete Terminus Supply Chain Management verwendet, ohne damit reine „Kettenstrukturen“ zu meinen. R. Bogaschewsky ()  Universität Würzburg, Würzburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_6

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R. Bogaschewsky

nach Sichtweise, auch die internen Wertschöpfungsprozesse, die ­Versorgung der Kunden und gegebenenfalls die Rückführung von Gütern im Rahmen von geschlossenen Regelkreisen („closed loop“).4 Bei Betrachtung digitaler Lösungen für den Einkauf und das Supply Chain Management ist zwischen den „traditionellen“ materialwirtschaftlichen ERP-Funktionen5 bzw. MRP-Systemen6 und den „neueren“,7 zumeist internetbasierten Systemen8 zu differenzieren. Erstere adressieren typischerweise zu beschaffendes (direktes) Material, deren mengenmäßiger und zeitlicher Bedarf auf Grundlage des Produktionsplans stücklisten- oder prognosebasiert sowie unter Abgleich mit etwaig verfügbaren Lagerbeständen berechnet wird und für das gegebenenfalls im Anschluss „wirtschaftliche“ Bestellmengen berechnet werden. Erforderliche Bestellungen bzw. Abrufe werden vom System anschließend generiert und den jeweiligen Lieferanten übermittelt. Auch nachfolgende Prozessschritte wie die (auch automatische) Entgegennahme der Bestellbestätigung, die Auftrags- und Lieferstatusverfolgung, die Wareneingangsbuchung sowie der Eingang, die Prüfung und die Verbuchung der Lieferantenrechnungen sowie die Zahlungsanweisung können im Rahmen der entsprechenden ERP-Module unterstützt werden. Auf die Systeme kann heute oftmals über benutzungsfreundliche Schnittstellen bzw. Browser zugegriffen werden, die Webbrowsern ähneln. Zudem ­ bestehen in der Regel Datenschnittstellen zwischen den eingesetzten internetbasierten Tools und den ERP-Systemen, sodass die beiden Systemwelten hinsichtlich dieses technischen Kriteriums nicht scharf zu trennen sind. Im Folgenden wird der MRP-Bereich zur Unterstützung von Beschaffungsaufgaben nicht weiter betrachtet. Die weiteren Ausführungen fokussieren zunächst die IT-seitige Unterstützung durch Systeme, die auf der Internettechnologie basieren.

4Auf

eine Abgrenzung der Begriffe Einkauf, Materialwirtschaft, Beschaffungslogistik und Supply Chain Management (SCM) soll hier aus Platzgründen verzichtet werden, zumal die wissenschaftlichen Definitionen nicht einheitlich sind und die Zuschnitte der Aufgabenbereiche in der Praxis hiervon abweichen und sehr heterogen ausfallen. Zu einer strukturierten Differenzierung beschaffungsbezogener Begriffe siehe Bogaschewsky (2003a, S. 26 ff.). 5ERP steht für Enterprise Resource Planning. Siehe hierzu u. a. Gronau (2010); Kurbel (2013). 6MRP steht für Material Requirements Planning. MRP-Systeme decken die nachfolgend genannten Planungs- und Steuerungsfunktionen ab. Zu diesen Verfahren siehe u. a. Tempelmeier (1999). 7Diese sind allerdings bereits seit rund zwanzig Jahren existent. Siehe Bogaschewsky (1999). 8Als Internet-basiert werden historisch solche Tools verstanden, die auf dem Transmission Control Protocol/Internet Protocol (TCP/IP) basieren, welche wiederum die Regeln für den Datenaustausch zwischen Computer/-netzen definieren. Auf die jeweiligen Seiten im World Wide Web (WWW) oder auch auf nicht öffentliche Ressourcen wird mithilfe eines Internet-Browsers zugegriffen, wobei die jeweiligen Webseiten in der Hypertext Markup Language (HTML) hinterlegt sind. Siehe u. a. Bogaschewsky und Kracke (1999).

Digitalisierung in Einkauf und Supply Chain Management

141

Abb. 1   Die SCOPE-Specs. (Quelle: Bogaschewsky 2012)

E-Procurement-Systeme können nach ihrem operativen oder strategischen Charakter differenziert werden:9 • E-Tools für operative Beschaffungsprozesse – E-Katalog-basierte Beschaffungssysteme (Desktop Purchasing/Procurement Systeme) – Purchase-to-Pay (P2P)-Systeme (Order-to-Pay-Systeme) • E-Tools für strategische Beschaffungsprozesse – E-Ausschreibungssysteme (E-Sourcing/E-Tendering) – E-Auktionssysteme – E-SRM-Systeme (Supplier Relationship Management/Lieferantenmanagement) – E-SCM-Systeme – E-Kollaborationssysteme Ursprünglich im Fokus stand die Unterstützung der klassischen operativen und strategischen Prozesse im Beschaffungsbereich, wie in Abb. 1 verdeutlicht. Etwas später wurden Systeme entwickelt und implementiert, die die interne sowie externe Kommunikation und Kollaboration fokussieren.

9Vernachlässigt

werden hier (Enterprise) Social Networks für den Beschaffungsbereich, da diese bisher eher sporadisch konsequent zum Einsatz kommen. Zu diesem Systemtyp siehe Bogaschewsky und Müller (2012). Ausgespart werden ebenso Risikomanagementsysteme; siehe hierzu Bogaschewsky und Müller (2016b).

142

R. Bogaschewsky

Die in der Draufsicht linke Linse zeigt den strategischen Einkaufsprozess (Source-to-Control Cycle), wohingegen die rechte Seite den operativen Bestellprozess (Order-to-Pay Cycle) repräsentiert. Die Verbindung der beiden Prozesse wird über das Vertragsmanagement (Contract Management) gewährleistet.10 Das Gesamtsystem dient der permanenten Verbesserung und Weiterentwicklung (Enhance). SRM- und Kollaborationssysteme unterstützen primär strategische, SCM-Systeme teilweise strategische und schwerpunktmäßig operative Prozesse. Die überaus rasante Entwicklung dieser Systeme hat maßgeblich zur weiten ­Verbreitung des elektronischen Geschäftsverkehrs11 beigetragen, sodass dem Einkauf12 in den letzten zwei Jahrzehnten eindeutig die Rolle des Treibers einer grundlegenden, digital basierten Strukturänderung der Wirtschaft zuerkannt werden kann. Der Presse sind nicht selten euphorische und allgemein sehr optimistische Berichte zu Industrie 4.013 , zu den durch das (Industrielle) Internet der Dinge neu entstehenden (wirtschaftlichen) Möglichkeiten sowie zur Digitalisierung generell zu entnehmen. Es ist daher angebracht, den aktuellen Status des Einsatzes IT-basierter Systeme im Beschaffungsbereich zu betrachten, um die realistisch in der näheren und mittelfristigen Zukunft zu erwartenden Entwicklungen seriös abschätzen zu können.14

2 IT-basierte Systeme in Einkauf und SCM 2.1 E-Tools für operative Beschaffungsprozesse Die Anforderungen an operative Beschaffungsprozesse können wie folgt formuliert werden: • Verlässlichkeit: Es muss sichergestellt sein, dass die benötigten Materialien so bereitgestellt werden, wie sie hinsichtlich Menge, Qualität, Zeit und Ort spezifiziert ­wurden. Hierfür ist ein fehlerfreier und zeitgerechter operativer Beschaffungsprozess Voraussetzung.

10Auf die einzelnen Prozessschritte und den Ablauf wird in den folgenden Abschnitten näher eingegangen. 11Gemeint ist hier der Business-to-Business (B2B)-Bereich. 12Alle vom Autor durchgeführten – und hier im Folgenden zitierten – empirischen Studien hierzu zeigen eindeutig, dass der Einkauf in nahezu alle Fällen der (quasi alleinige) Initiator der Einführung der entsprechenden IT-Systeme war. 13Zu einer Begriffsdefinition und -abgrenzung siehe Smit et al. (2016, S. 20 ff.). 14Hier wird nicht näher auf technische Details und Herausforderungen eingegangen, sondern es sollen die generellen Systemtypen und die von diesen unterstützen Aufgabenbereiche und Prozesse betrachtet werden.

Digitalisierung in Einkauf und Supply Chain Management

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Abb. 2   Order-to-Pay-Prozess. (Quelle: Eigene Darstellung)

• Kosteneffizienz: Die Durchführung des Prozesses sollte unter Sicherstellung der Sachziele zu niedrigstmöglichen Kosten erfolgen. • Zeiteffizienz: Die Geschwindigkeit ist ein weiteres kritisches Leistungsmaß, da schnelle Transaktionen helfen, die Kosten zu senken, i. d. R. nicht nur in Bezug auf Personalkosten, sondern auch wegen geringerer – oder komplett vermiedener – Lagerbestände. • Transparenz: Für ein hohes Maß an Benutzungsfreundlichkeit, was als Akzeptanzkriterium zu sehen ist, sowie zur Sicherstellung der Kontrollierbarkeit und Steuerbarkeit muss der Prozess so transparent wie möglich für die Nutzer, die Systemverantwortlichen, die Controller und das Management sein. • Regelkonformität (Compliance): Prozesse müssen mit den übergeordneten Führungsregeln (Governance) und Vorschriften des Unternehmens konform gehen, um unerwünschte oder sogar illegale Beschaffungspraktiken zu vermeiden. • Kontrollierbarkeit: Nur gut dokumentierte Prozesse können kontrolliert, gesteuert (Controlling) und bei Bedarf verbessert werden. Die Abgrenzung von den im folgenden Abschnitt diskutierten ­Order-to-Pay-Systemen von IT-basierten Beschaffungssystemen, die auf elektronische Produktkataloge zurückgreifen, ist dadurch zu begründen, dass in der Praxis nach wie vor durchgängige Beschaffungsprozesse, die das Handling von Rechnungen und Zahlungen umfassen, deutlich weniger häufig vorzufinden sind, als reine Bestellsysteme. Aus Darstellungsgründen sei trotzdem zunächst der komplette Order-to-Pay-Prozess, wie in der Abb. 2 dargestellt, skizziert.

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2.1.1 E-Katalog-basierte Beschaffungssysteme Im ersten Schritt erfolgt die dezentrale Bedarfsanforderung durch den Bedarfsträger selbst.15 Bei nicht lagerhaltigen Artikeln entfällt die Prüfung des verfügbaren Lagerbestands (Schritt 2). Sind also mit den Lieferanten kurze Lieferzeiten (bspw. 1–2 Tage) vereinbart, wird häufig auf eine Lagerhaltung bis auf eventuelle, geringe „Handbestände“ verzichtet. Die Lieferantenauswahl im dritten Schritt erfolgt bei Kataloggütern simultan mit der Auswahl der Artikel bzw. dem Befüllen des virtuellen Warenkorbs. Da in den Systemen die Kostenstellendaten und verfügbaren Budgets des Bestellers hinterlegt sind, erfolgt die Genehmigung automatisch und nur bei Regelverstößen, wie der Überschreitung des Tages- oder Monatsbudgets, werden Eskalationsroutinen angestoßen, die gegebenenfalls ein manuelles Eingreifen erfordern (Schritt 4). Mit der Freigabe wird die Bestellung digital an den Lieferanten versendet (Schritt 5) und es erfolgt im ­sechsten Schritt, sofern gewünscht, automatisch eine Lieferstatusverfolgung. Die gelieferten ­Artikel werden oftmals und, sofern keine sicherheitsrelevanten Zugangsbeschränkungen dagegen sprechen, direkt an den Bedarfsträger ausgeliefert, der den Wareneingang bestätigt und etwaige mengenmäßige oder qualitative Abweichungen von der Bestellung im System vermerkt (Schritt 7). Mit dieser Wareneingangsbuchung wird oftmals der Zahlungs- oder, sofern so mit dem Lieferanten vereinbart, der Gutschriftprozess automatisch angestoßen (Schritt 8). Im Zweifelsfalle entfällt damit eine explizite Rechnungsstellung, -prüfung und -verbuchung. Dieser letzte Prozessschritt bzw. dessen IT-basierte integrierte Realisierung macht den Unterschied aus zwischen reinen (E-Katalog-basierten) ­Bestellsystemen und Order-to-Pay-Lösungen. Bei der Nutzung entsprechender E-Tools können die Prozesskosten auf circa zehn Euro pro Transaktion gesenkt werden, bei Nettobearbeitungszeiten von wenigen ­Minuten und Lieferzeiten von 1–2 Tagen. Gegenüber manuell geprägten Prozessen mit nur geringfügiger IT-Unterstützung liegen die Prozesskosten oftmals bei 200 EUR, bei Bearbeitungszeiten von mehreren Stunden und Durchlaufzeiten von mehreren Tagen. Hinsichtlich des aktuellen Einsatzes dieser Systeme in der Praxis kann festgestellt werden, dass die meisten Unternehmen diese heute für ihre Prozessabwicklung als „relevant“ ansehen und die entsprechenden Tools bei größeren Unternehmen (GU) bereits zu rund 90 % im ­Einsatz sind.16 Kleinere und mittelgroße Unternehmen (KMU) liegen hier im Mittel mit rund 70 % etwas zurück. Die Nutzungsquote, gemessen am Anteil möglicher an allen relevanten Transaktionen über diese Systeme, ist teilweise niedrig und insgesamt nicht stark ausgeprägt.

15Im Fokus steht hier indirektes Material, das insbesondere über elektronische Produktkataloge angeboten wird. Dabei handelt es sich u. a. um Güter für den operativen Betrieb (MRO-Güter: Maintenance, Repair, and Operations), einschließlich Standardartikel aus dem Büro-, Labor-, Hygiene-, Werkzeug- und Ersatzteilbereich. 16Die zitierten Daten beziehen sich auf die empirische Studie von Bogaschewsky und Müller (2016a), an der 181 Personen teilnahmen. Knapp 60 % davon waren Vertreter von Industrieunternehmen (45 % aus Unternehmen mit mehr als 2000 Mitarbeitern), 21,5 % aus dem Dienstleistungsbereich, 11 % aus öffentlichen Organisationen und 8,3 % aus dem Handel.

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30 % der größeren Unternehmen nutzen die Systeme für weniger als ein Viertel aller hierüber prinzipiell geeigneten Transaktionen; bei den KMU sind dies sogar knapp 37 %. Industrieunternehmen liegen hier mit 45,7 % deutlich gegenüber den Dienstleistern zurück. Nicht ­einmal ein Viertel der GU weisen Nutzungsquoten von mehr als 75 % auf, bei den KMU sind dies sogar weniger als 15 %. Auch hier sind die Dienstleister (25 %) im Durchschnitt weiter als die Industrie (15,7 %). Durchgängig wird in Zukunft eine intensivere Nutzung erwartet. Diese Ergebnisse zeigen deutlich auf, das die Nutzung E-Katalog-basierter Beschaffungssysteme im Mittel bei weitem nicht so fortgeschritten ist, wie dies allgemein angenommen wird. Dies gilt auch für die unten dargelegten anderen Systemtypen im Bereich Einkauf und SCM. Eine Orientierung für zukünftige Entwicklungen dürfte daher eher die relativ kleine Gruppe der sehr fortgeschrittenen Anwender bieten, wohingegen die zitierten Mittelwerte17 darauf hindeuten, dass die deutsche Wirtschaft insgesamt in Sachen Digitalisierung im fokussierten Themenfeld noch nicht sehr weit fortgeschritten ist. Als Hauptnutzen der Systeme werden die Senkung der Prozesskosten, die Erhöhung der Prozesstransparenz und der Compliance sowie die Steigerung der Prozessstabilität in Verbindung mit der Vermeidung bzw. Reduzierung von Fehlern angegeben. Die Prozesskostenersparnisse liegen im Mittel bei knapp 24 % und die Einstandspreisreduzierungen bei 6,6 %. Dass die Nutzungsquoten trotz dieser die Wirtschaftlichkeit der Systeme ­ausdrückenden Werte oftmals durchschnittlich sind, dürfte häufig an internen Gründen, ­insbesondere an der mangelnden Bereitschaft zur Zusammenarbeit zwischen Abteilungen sowie an einem Festhalten an tradierten Prozessen liegen, was die Notwendigkeit eines ausgeprägten Change Managements betont. Insbesondere KMU bezweifeln die Wirtschaftlichkeit einer solchen Lösung für Warengruppen mit wenigen Bestellungen pro Periode. Als weiterer Hinderungsgrund wird eine mangelnde Verfügbarkeit an Ressourcen für die Einführung der Systeme genannt. Angesichts neuer Lösungen am Markt, die einfache Schnittstellen zu einer Fülle von E-Katalogen bei gleichzeitig homogener Benutzungsoberfläche und standardisierten Prozessen anbieten, könnte dieser Problempunkt in Zukunft weniger von Bedeutung sein.

2.1.2 Purchase-to-Pay- bzw. Order-to-Pay-Systeme Wie bereits erwähnt, betonen die Order-to-Pay-Lösungen18 die durchgängige IT-Unterstützung des administrativen Beschaffungsprozesses unter Einschluss von Wareneingangsbuchung, Rechnungsempfang und -prüfung (E-Invoicing), Kreditorenbuchung und Zahlungsabwicklung (E-Payments).19 Der idealisierte komplette Prozess ist in der Abb. 3 verdeutlicht. Hier bestellt der Bedarfsträger dezentral über das Bestellsystem 17Die

in den Studien angegebenen Standardabweichungen geben hier etwas mehr Aufschluss. Begriff ‚Order‘ ist hier präziser, da es um administrative Abwicklungsprozesse und oftmals um Abrufe aus bestehenden Kontrakten geht, wohingegen der Terminus ‚Purchase‘ zumeist mit weiterreichenden Tätigkeiten, einschließlich der Kontrahierung von Lieferanten verbunden wird. 19In diesem Bereich weisen die hier nicht betrachteten Prozesse für ERP-gesteuertes (direktes) Material andere Charakteristika auf als die für Katalogmaterial. 18Der

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Abb. 3   Idealisierter, IT-basierter Order-to-Pay-Prozess. (Quelle: Eigene Darstellung)

und unter Zugriff auf einen elektronischen Produktkatalog einen Hammer. Die bereits oben skizzierten Prozessschritte werden durchlaufen, einschließlich der Rechnungs- und Zahlungsabwicklung. Der gestrichelte Pfeil bei der Freigabe der Bestellung repräsentiert die Eskalationsoption im Falle einer Regelverletzung. Der Stand der Nutzung in der Praxis hinsichtlich der IT-gestützten Rechnungs- und Zahlungsabwicklung kann wie folgt beschrieben werden:20 Hinsichtlich des Anteils der Bestellungen aus bestehenden Verträgen, die im Gutschriftverfahren abgerechnet werden, geben knapp 50 % „nicht relevant“ an. Von denen, die für sich diesbezüglich eine Relevanz sehen, ist die Quote derer, die entsprechende Lösungen noch nicht einsetzen, mit 25,9 % recht hoch. Dementsprechend nutzen nur etwa ein Viertel aller Antwortenden Gutschriftverfahren und dies in sehr geringem Umfang, wobei KMU hier weit hinter den GU zurückliegen. Bei der Implementierung vollständig IT-basierter Prozessschritte weist die „Rechnungsübermittlung“ seitens des Lieferanten und damit der Rechnungseingang mit 32,8 % den geringsten Wert auf, gefolgt vom Transfer der Rechnung in das eigene Abwicklungssystem mit 42,7 %. Eine Rechnungsprüfung, die Buchung der geprüften Rechnung und die Zahlungsanweisung führen um die Hälfte der Unternehmen automatisch im System durch. Ähnlich wie beim Einsatz von Katalogbestellungen sind die

20Die zitierten Daten beziehen sich auf die oben genannte Studie; vgl. Bogaschewsky und Müller (2016a).

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Nutzungsquoten recht gering und nur gut 5 % der Antwortenden können mit Anteilen von über 90 % an allen Rechnungen als „heavy user“ bezeichnet werden. In jedem Fall ist der Eingang elektronischer Rechnungen zumeist noch ein Engpass, denn zahlreiche Unternehmen digitalisieren eingehende Rechnungen und führen diese dann einem ­ elektronisch gestützten Prüfungs- und Buchungsprozess zu. Hier liegt die Quote der Intensivnutzer bei fast 15 %, für die Zahlungsprozesse bei gut 18 %. Diese ­Best-Practice-Werte dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass fast 60 % aller Antwortenden diese Schritte entweder für nicht automatisierungsrelevant halten oder ­bisher noch keine entsprechenden Systeme installiert haben. Hauptgründe für den elektronischen Rechnungs- und Zahlungsverkehr sind nach Ansicht der Antwortenden primär die Beschleunigung der Prozesse, die Vermeidung von Fehlbuchungen, die Prozesskostenersparnis und die vollständigere Rechnungsprüfung. Die erzielten Prozesskosteneinsparungen liegen bei rund 15 %, was attraktiv erscheint, sodass die noch mäßige Implementierungsrate von P2P-Lösungen bzw. deren niedriger Nutzungsgrad überraschen muss. Eine Ursache hierfür könnte sein, dass diese Systeme eine enge Abstimmung über Funktionsbereichsgrenzen hinweg erfordern, insbesondere in Hinsicht auf die Bereiche Einkauf und Buchhaltung/Finanzen. Ein gemeinsames Verständnis für integrierte und effiziente Prozesse sowie eine gute ­Kommunikationsund Kooperationsbasis sind daher Voraussetzung. Eine mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit seitens des Bereichs Finanzen/Buchhaltung wurde jedoch nur zu knapp 30 % als Hinderungsgrund genannt. In stärkerem Maße wurden dagegen unzureichende Fähigkeiten des aktuell installierten Softwaresystems und als dominanter Grund ­mangelnde Ressourcen für die Umsetzung genannt.

2.1.3 Best Practice bei der Digitalisierung operativer Beschaffungsprozesse Best-Practice-Unternehmen sind bei der Digitalisierung operativer Beschaffungsprozesse erheblich weiter fortgeschritten als der Durchschnitt.21 So sind bei ersteren bereits knapp 43 % der operativen Prozesse nahezu komplett automatisiert im Vergleich zu nur 14 % bei der befragten Gesamtgruppe (GG). Drei Viertel derer, die noch auf einem niedrigeren Digitalisierungslevel sind, weisen der Komplettautomatisierung eine „sehr starke“ Bedeutung für die zukünftige Umsetzung zu im Vergleich zu weniger als der Hälfte in der GG. Eine Auslagerung des operativen Einkaufs verneinen nur ein ­Drittel (GG: ~ 68 %). Die reibungslose Anbindung von Lieferanten zur Abwicklung von Bestellprozessen ist bereits zu gut 57 % vollzogen, in der Gesamtgruppe nur zu rund 15 %. ­Entsprechendes gilt hinsichtlich Rechnungs- und Zahlungsprozesse, dem flexiblen

21Bei

den nachfolgenden Vergleichswerten ist zu beachten, dass diese „Benchmarkgruppe“ mit sieben Unternehmen sehr klein ist. Rein statistisch gesehen sind diese Angaben daher fragwürdig, für Vergleichszwecke aber dennoch interessant. Zu der Studie siehe Bogaschewsky und Müller (2017).

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Zugriff auf eine Vielzahl alternativer E-Kataloge, dem Einsatz virtueller Assistenten und von automatischen Routinen zur Kontrolle der Prozesse. Noch nicht umgesetzte digitale Lösungen werden von dieser Gruppe für die Zukunft deutlich stärker erwartet als in der gesamten Gruppe der Befragten. Der Betrieb und die Weiterentwicklung der eingesetzten Systeme wird im Gegensatz zur Grundgesamtheit nicht als Kernkompetenz gesehen; eine Auslagerung an Dienstleister haben fast 43 % bereits vollzogen (GG: 6,5 %), und die Hälfte derer, die dies noch nicht vollzogen haben, hält dies für „wichtig“ oder „sehr wichtig“ (GG: 23,5 %). Über 28 % sehen operative Einkaufsprozesse nicht als wertschöpfend an, in der Gesamtgruppe sind dies lediglich gut 5 %; in Zukunft erwarten dies sogar ~ 60 % (GG: 42,6 %).

2.2 E-Tools für strategische Beschaffungsprozesse Obwohl auch im Source-to-Control Cycle acht Schritte dargestellt sind, kann hier nicht von einem streng sukzessiven Prozess gesprochen werden. Hinsichtlich der Prozessanforderungen können dieselben sechs Hauptaspekte genannt werden wie in Bezug auf den operativen Beschaffungsprozess. Ergänzt werden diese durch die geforderte Konformität mit den unternehmerischen Zielen und Strategien sowie um das ­ Ausschöpfen der vorhandenen Erfolgspotenziale an den Beschaffungsmärkten, ­respektive bei den Anbietern und kontrahierten Lieferanten (vgl. Abb. 4). Zur Unterstützung der Entwicklung von Einkaufsstrategien existieren zwar diverse (auch IT-basierte) Hilfsmittel, diese sind aber kaum als E-Tools in dem hier relevanten Sinn zu bezeichnen. Am ehesten kämen hierfür noch Dokumentenverzeichnisse (Repositories) und Enterprise Social Networks, über die die Strategien u. a. den Han­ delnden in den Bereichen Einkauf und SCM zur Kenntnis gebracht werden, infrage. Für die Beschaffungsmarktforschung werden im digitalen Bereich primär Internet-Suchmaschinen eingesetzt, aber auch Anbieterdatenbanken genutzt. In diesem Zusammenhang sind die Tools zur ­Ausgabenanalyse (Spend Analysis) zu nennen, die bei der Herstellung Abb. 4   Source-to-ControlProzess. (Quelle: Eigene Darstellung)

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von Transparenz helfen, welcher Teil eines Unternehmens von welchen Lieferanten zu welchen Konditionen welche Güter in welchen Mengen und Qualitäten bezieht, um dann anschließend Konsolidierungen, Bündelungen und Standardisierungen vornehmen zu können. Im Rahmen des Anbindungsprozesses neuer Lieferanten werden Einkaufshomepages und ähnliche ­Systeme mit Portalfunktion eingesetzt, die den Einkauf bei der strukturierten Überprüfung, Qualifikation und IT-seitigen Andockung von Lieferanten unterstützt (Schritte 3 und 4). Im R ­ ahmen der laufenden Zusammenarbeit werden Lieferanten regelmäßig oder laufend ­evaluiert und bei Bedarf weiter qualifiziert. Bei dauerhafter Nichterfüllung der Anforderungen erfolgt die kontrollierte Trennung von den betreffenden Lieferanten (Schritt 8). Diese drei Schritte werden von den unten näher beschriebenen Lieferantenmanagementsystemen unterstützt. Der strategische Sourcingprozess wird durch Ausschreibungstools (Schritt 5) sowie bei Bedarf durch Auktionstools unterstützt. Vertragliche Vereinbarungen (Schritt 6) werden in Vertragsmanagementsystemen verwaltet, die neben der Dokumentation auch Erinnerungsfunktionen bei nahendem Vertragsablauf u. Ä. bieten können.

2.2.1 E-Ausschreibungssysteme (E-Sourcing/E-Tendering) IT-basierte Ausschreibungssysteme dienen der strukturierten Vorbereitung von Anfragen an Lieferanten bzw. Aufforderungen an diese zur Abgabe von Angeboten. Durch die weitestgehend standardisierte und IT-basierte Vorgehensweise werden Sourcingprozesse vereinheitlicht und in transparenter Weise dokumentiert. Je nachdem, in welchem Maße Abweichungen vom Standardprozess softwareseitig toleriert werden, besteht ein mehr oder weniger strenger Zwang zur Einhaltung definierter Abläufe und Regeln, die die Transparenz fördern, die Compliance sicherstellen und auch ein Maverick Buying unterbinden helfen. Die schließlich digital vorliegende Ausschreibung kann dann auf digitalen Kanälen an die zu adressierenden Anbieter distribuiert werden, wobei der Grenzaufwand hierfür sehr gering ist, sodass bei Bedarf auch größere Adressatenkreise angesprochen werden können. Deren Kontaktdaten werden idealerweise den internen Lieferantenverzeichnissen entnommen bzw. können zusätzlich durch Internetsuchen und über weitere Quellen recherchiert werden. Die Antworten der Anbieter können dann über einen e­ inzigen Kanal wieder empfangen und bei entsprechender Konfiguration quasi direkt in das Sourcingtool importiert werden, wo entsprechende Routinen übersichtliche Vergleiche der ­eingegangenen Antworten erlauben. Je nach Fortschritt im Beschaffungsprozess kann es sich bei den an die Anbieter ­ausgesandten Anfragen um unterschiedliche Inhalte handeln: • Request for Information (RfI): Es werden allgemeine Eigenschaften wie technische Fähigkeiten, Kapazitäten, Referenzen, Zertifikate, Umsatz, finanzielles Standing etc. abgefragt, um zu entscheiden, ob der Anbieter für das Unternehmen interessant ist und in die Kandidatenliste für den weiteren Lieferantenauswahl- bzw. Sourcingprozess aufgenommen werden soll. Je nachdem, ob es sich um eine eher allgemeine Beschaffungsmarktforschung bzw. Anbieteranalyse handelt oder ein konkretes Beschaffungsprojekt den Prozess ausgelöst hat, kann der Detaillierungsgrad des RfI

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variieren. Insofern wird hier entweder Schritt 2 oder Schritt 5 des Source-to-Control Cycles unterstützt. • Request for Proposal (RfP): Bereits hinsichtlich ihrer Leistungsfähigkeit und Attraktivität analysierten und akzeptierten Anbietern wird eine Aufforderung zur Abgabe von Vorschlägen gesendet, die der Lösung eines konkreten Problems, bspw. einer Produktneuentwicklung, dienen. Hierbei kann es sich um Konzeptwettbewerbe handeln, aber es können auch bereits relativ konkrete Angebote eingefordert werden. Werden die Lieferanten nachfolgend enger in den Produktentwicklungsprozess des Unternehmens eingebunden, kann die weitere Interaktion unter Einsatz geeigneter Kollaborationstools erfolgen. • Request for Quotation (RfQ): Bestehende (für das Unternehmen zugelassene) Lieferanten werden zur Abgabe von Angeboten für ein konkretes, in der Regel h­ insichtlich technischer Aspekte, Mengen, Lieferzyklen etc. im Detail spezifiziertes Produkt aufgefordert. Bei Nutzung verbindlicher Dokumentenstrukturen und Einbindung von Prüfroutinen besteht die Möglichkeit, die Anbieter zu zwingen, ausschließlich vollständige und verbindliche Angebote abzugeben. Diese können bereits der ­finalen Auswahl des oder der für das jeweilige Produkt zu kontrahierenden Lieferanten dienen oder auch zunächst für eine Vorauswahl, auf dessen Basis noch weitere ­Verhandlungen von Preisen und Konditionen folgen. • Request for Bids (RfB): Diese Funktion kann, muss aber nicht, in ­Ausschreibungstools eingebunden sein. Anbieter werden aufgefordert, an einer elektronischen Auktion teilzunehmen und in dessen Verlauf verbindliche Angebote abzugeben. Übermittelt wird der konkrete, exakt spezifizierte Auktionsgegenstand sowie Durchführungszeitraum und Regeln der Auktion. Aus empirischer Sicht stellt sich die aktuelle Nutzung von Ausschreibungssystemen wie folgt dar:22 E-Sourcing-Systeme bewerten gut ein Viertel der Unternehmen für sich als nicht relevant, was primär auf KMU (37,4 %) zurückzuführen ist, wohingegen GU (12,2 %) diese Systeme offenbar als „Standard-Tool“ ansehen. Fast 35 % derer, die ein solches System für relevant halten, haben dieses aber noch nicht implementiert. Die Nutzungsquoten bei den im Einsatz befindlichen Tools sind im Mittel niedrig: deutlich über die Hälfte der Unternehmen nutzen die Systeme für weniger als ein Viertel des ­hierfür geeigneten Beschaffungsvolumens. Nur wenige sind hier Intensivnutzer, denn lediglich gut 16 % liegen über drei Viertel des möglichen Volumens. Interessanterweise gibt es hier nur geringfügige Unterschiede zwischen GU und KMU, wohingegen die Dienstleister wiederum höhere Nutzungsquoten aufweisen. Es wird allgemein eine steigende Nutzung erwartet.

22Die zitierten Daten beziehen sich auf die oben genannte Studie; vgl. Bogaschewsky und Müller (2016a).

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Die positiven Auswirkungen der Einführung von E-Sourcing-Tools sind im Durchschnitt lediglich auf mittlerem Niveau. Am höchsten (Bewertung „stark“) werden die Erhöhung von Prozesstransparenz und Compliance bewertet, gefolgt von der Erhöhung der Prozessstabilität in Verbindung mit der Vermeidung von Fehlern, der Senkung der Prozesskosten und der Einstandspreisreduzierung. Die durchschnittlichen Prozesskostenreduzierungen lagen bei 11,5 %, die mittleren Einstandspreissenkungen bei 8,2 %. Offenbar werden die Potenziale dieser Systeme nicht umfassend genutzt. Auch wenn die realisierten Erfolge nicht zwangsläufig auf alle Materialgruppen extrapoliert werden können, so liegt die Vermutung nahe, dass es eher interne als wirtschaftliche Gründe für die zögerliche Ausweitung des Einsatzes geben mag. Die mit der Einführung ­IT-basierter Ausschreibungssysteme einhergehende Standardisierung von Prozessen beinhaltet naturgemäß die Infragestellung bisheriger Vorgehensweisen und verlangt meistens eine prinzipielle Offenheit gegenüber neuen Anbietern. Mit solchen Veränderungen sind jedoch nicht immer alle Verantwortlichen einverstanden, sodass ein dezidiertes Change Management von hoher Bedeutung ist. Innerbetriebliche Widerstände wurden wenig überraschend – neben der mangelnden Qualifikation der Mitarbeiter – auch als Hinderungsgründe für die Einführung der Lösungen angegeben.

2.2.2 E-Auktionssysteme IT-basierte Auktionstools werden eingesetzt, um unterschiedliche Verhandlungsformen auf effiziente Weise abbilden und eine quasi beliebige Anzahl Anbieter simultan einbinden zu können. Im Einkauf werden sogenannte Reverse Auctions bzw. Einkaufsauktionen – im Gegensatz zu den Forward Auctions oder Verkaufsauktionen – eingesetzt, wobei es diverse Spielarten bei den Auktionsformen und möglichen Parametern gibt.23 In der Praxis spielen elektronische Auktionen insgesamt eher eine Nischenrolle, wobei einige Unternehmen sehr intensiv hiervon Gebrauch machen.24 Über die Hälfte der Antwortenden sieht E-Auktionen für sich als nicht relevant an; gut ein Fünftel ­nutzen solche noch nicht, obwohl sie dies für sich als relevant einordnen. Von den aktiven ­Nutzern decken über 60 % hiermit weniger als ein Zehntel des grundsätzlich infrage kommenden Beschaffungsvolumens ab – über ein Viertel der Nutzer liegen zwischen 10 % und 25 % des Potenzials und lediglich gut ein Zehntel zwischen 25 % und 50 %. Damit verbleiben lediglich sehr wenige Nutzer, die diese Form der Verhandlungsführung umfänglich nutzen. Die über E-Auctions erzielten Einsparungen werden im Mittel mit rund 10 % hinsichtlich der Prozesskosten und leicht höher bei den Einstandspreisen 23Diese sollen hier nicht weiter vertieft werden. Für einen Überblick siehe Milgrom (2004); Krishna (2009). 24Die zitierten Daten beziehen sich auf eine Studie aus dem Jahre 2015; vgl. Bogaschewsky und Müller (2015). Insgesamt nahmen 197 Personen an der Befragung teil, 67 % davon waren Vertreter von Industrieunternehmen, gut 20 % aus dem Dienstleistungsbereich, rund 7 % aus öffentlichen Organisationen und 5,6 % aus dem Handel. 45,7 % vertreten („größere“) Unternehmen mit mehr als 2000 Mitarbeitern.

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angegeben, wobei für letztere reflektiert werden muss, ob nicht ähnlich hohe Savings bei konventionellen, gut vorbereiteten Verhandlungen erzielbar gewesen wären. Dessen unbenommen wird die Senkung der Einstandskosten als Hauptgrund für den Einsatz von E-Auktionen angegeben, gefolgt von einer Erhöhung der Prozesstransparenz und der Compliance. Zwar wird eine leichte Zunahme des Einsatzes erwartet, allerdings ­dürften auch in Zukunft E-Auktionen insgesamt eine Nischenanwendung darstellen, wobei weiterhin einige Unternehmen diese Verhandlungsform intensiv nutzen dürften.

2.2.3 E-SRM-Systeme (Supplier Relationship Management/ Lieferantenmanagement) IT-basierte Systeme für das Lieferantenmanagement können als Voraussetzung für die effektive und effiziente Nutzung der weiteren E-Tools zur Unterstützung der strategischen Beschaffungsprozesse angesehen werden. Die Erstbeurteilung, Auditierung und gegebenenfalls Präqualifikation von Lieferanten bis zur Aufnahme dieser Anbieter in den Pool grundsätzlich akzeptierter Lieferanten wird systemseitig durch entsprechende Prozesskontrollen und Dokumentationen unterstützt. In der Regel folgt die Einstufung des Anbieters gemäß eines Klassifikationsschemas, das den Grad der Eignung bzw. der Bevorzugung bei Auftragsvergaben abbildet. Gemäß der erbrachten Performance werden die Lieferanten periodisch oder auch permanent nach einem festgelegten Schema, das zumeist Faktoren wie Preisattraktivität, Produktqualität, Liefertreue, Kommunikationsverhalten oder auch Innovationsfähigkeit beinhaltet, bewertet. Je nach Beurteilung wird die Klassifizierung des Lieferanten geändert, Verbesserungsmaßnahmen eingefordert oder gemeinsam entwickelt. Bei andauernder Nichterreichung der Sollleistung kann ein kontrollierter Phase-out des Lieferanten oder im Extremfall ein abrupter Abbruch der Geschäftsbeziehung erfolgen. E-SRM-Systeme25 unterstützen diese Prozesse durch entsprechende Routinen, Dokumentationen und Reports, sodass es den verantwort­ lichen Einkaufsmanagern jederzeit möglich ist, sich einen aktuellen Überblick über die ­relevanten Lieferanten zu verschaffen und die genannten Aufgaben über ein einziges IT-System in strukturierter und kontrollierter Weise adäquat zu erledigen. Die praktische Bedeutung von E-SRM-Systemen zeigen die folgenden empirischen Befunde:26 Nahezu ein Viertel der Befragten sehen diese Systeme für sich als nicht r­ elevant an. Etwas weniger als die Hälfte (45,7 %) setzen diese trotz erkannter Relevanz noch nicht ein, wobei viele Unternehmen in der Planungsphase für eine Implementierung sind. Unternehmen, die diese Systeme bereits einsetzen, tun dies recht konsequent und wollen die Nutzung weiter ausbauen. Gut 15 % beziehen bereits mehr als 90 % ihrer strategischen

25Die in der Praxis teilweise gebräuchliche Bezeichnung von Bestellsystemen als SRM-Systeme erscheint damit ungeeignet. 26Die zitierten Daten beziehen sich auf die oben genannte Studie; vgl. Bogaschewsky und Müller (2015).

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Lieferanten; über ein Fünftel zwischen 75 % und 90 % hierüber ein. Gut ein Viertel ­liegen noch unter 10 % und dürften sich daher noch in der Einführungsphase befinden. KMU können dabei hinsichtlich des Nutzungsstandes mit den GU mithalten. Angesichts der Tatsache, dass E-SRM-Systeme vor allem die Leistungsfähigkeit des s­trategischen Einkaufs verbessern helfen und andere Funktionsbereiche kaum involviert werden müssen, gibt es diesbezüglich auch die geringsten Hürden für eine konsequente Nutzung.

2.2.4 E-SCM-Systeme Unabhängig von den diversen existierenden Definitionen für den Terminus Supply Chain Management dürfte unbestritten sein, dass es hierbei zumeist um die Koordination von Güter-, Informations- und gegebenenfalls Finanzströmen in der Wertschöpfungskette geht. Dementsprechend dienen E-SCM-Systeme der IT-seitigen Unterstützung der mit diesen Strömen verbundenen Planungs- und Steuerungsaufgaben sowie dem Dokumenten- und Informationsaustausch zwischen den Beteiligten. Grundsätzlich kann dabei auch eine rein unternehmensinterne Betrachtung eingenommen werden, was allerdings in diesem Beitrag nicht erfolgen soll. Insofern sind der Leistungsstand dieser Systeme sowie deren Nutzungsgrad in der Praxis ein guter Indikator für die „E-Readiness“ der Wirtschaft, um weitergehende Konzepte wie Industrie 4.0 umsetzen zu können. Der aktuelle Einsatz von E-SCM-Systemen in der Praxis ist wie folgt zu sehen:27 Einen elektronischen Datenaustausch entlang der Supply Chain sehen 82,7 % der Befragten für ihr Unternehmen als relevant an, wobei sowohl GU mit über 90 % als auch KMU mit knapp 80 % dies in hohem Maße so sehen. Ein elektronischer Austausch erfolgt zu über 90 % mit Lieferanten und rund zur Hälfte mit logistischen Dienstleistern (LDL) sowie zu jeweils rund 40 % mit Zollbehörden und Finanzinstituten. Durchgehende elektronische Prozesse hinsichtlich selbst generierter Dokumente kommen zwischen gut 40 % bei Bestellungen/Abrufen und knapp einem Fünftel bei der Bedarfsvorschau zum Einsatz. Dabei setzen fast 40 % bisher keine elektronisch unterstützten Prozesse bei der Bedarfsvorschau ein, was insbesondere an den 43 % bei den KMU gegenüber den gut 30 % bei den GU liegt. Auch haben GU Bestellungen/Abrufe mit gut 53 % im Mittel deutlich ­häufiger vollständig integriert als KMU (~ 34 %). Für alle a­ nderen erfassten Anwendungskategorien liegen GU in ähnlicher Weise vor den KMU. Bei den Dokumenten, die von Dritten erstellt wurden, liegt die durchgehende elektronische Abwicklung jeweils d­ eutlich niedriger. So gibt es in ~ 55 % der Fälle keine elektronische Unterstützung hinsichtlich des Auftragsstatus beim Lieferanten. Am häufigsten fehlen Unternehmen, die keinen

27Die zitierten Daten beziehen sich auf eine Studie aus dem Jahre 2016. Insgesamt nahmen 181 Personen an der Befragung teil, davon knapp 60 % aus der Industrie, 21,5 % aus dem Dienstleistungsbereich, 6,5 % aus dem Handel und 11 % vertraten öffentliche Institutionen. 45,3 % der Teilnehmer kamen aus Unternehmen mit mehr als 2000 Mitarbeitern. Vgl. Bogaschewsky und Müller (2016b).

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elektronischen Austausch mit Partnern in der Supply Chain realisiert haben, die internen ­(technischen) Voraussetzungen hierfür. Damit scheint es insgesamt um die E-Readiness für Industrie 4.0 in der deutschen Wirtschaft nicht gut bestellt zu sein.28

2.2.5 E-Kollaborationssysteme Die ersten Ideen für E-Kollaborationssysteme und deren Nutzung liegen bereits rund zwei Jahrzehnte Jahre zurück (s. u. a. Bogaschewsky 2003b). Allerdings wurden diese zunächst Partnern sehr zurückhaltend von der Praxis aufgegriffen.29 Kollaboration zwischen ­ im engeren Sinne findet in Abgrenzung zur Abstimmung im Rahmen von SRM- und SCM-Systemen insbesondere in den Bereichen Forschung und Entwicklung, Wertanalyse, Fehler- bzw. Qualitätsmängelbehebung und Projektplanung und -durchführung statt. Die damit verbundenen Formen der Zusammenarbeit erfordern flexible IT-basierte Instrumente, die für mehr Effizienz bei gleichzeitiger Dokumentationsfunktion sorgen. Die aktuelle Bedeutung kollaborativer IT-Systeme in der Praxis ist wie folgt:30 Gut 60 % geben an, dass sie für das Qualitätsmanagement mit über 90 % ihrer Lieferanten noch per Telefon oder Fax kommunizieren; im Mittel erfolgt dies in gut drei Viertel der Fälle. Der Einsatz von E-Tools liegt hier lediglich bei rund 10 % und nur gut 5 % setzen einen per E-Tool gestützten strukturierten Prozess mit Erledigungskontrolle für mehr als 90 % der Lieferanten ein. Es ist daher nicht verwunderlich, dass über ein Drittel mit dem diesbezüglichen Stand der Digitalisierung unzufrieden und knapp 9 % sehr unzufrieden sind. Hinsichtlich erwarteter Entwicklungen in den nächsten drei Jahren sehen rund ein Fünftel keine Veränderungen, ein gutes Drittel haben erste Ideen, knapp ein Viertel grobe und nur ~ 14 % konkrete Pläne; nur gut 5 % setzen ihre Pläne bereits um. Eine Kollaboration mit Lieferanten wird in anderen Anwendungsbereichen im M ­ ittel nur in geringfügigem Ausmaß erwartet. Für Neuproduktentwicklungen zu knapp zwei D ­ ritteln in geringem Maße bzw. kaum und nur zu etwas über 10 % in größerem Umfang. Für Wertanalysen bei bestehenden Produkten wird dies lediglich in geringfügig höherem Maße erwartet. Bereits umgesetzt haben solche Tools bisher nicht einmal 2 % der Befragten. Für die grundsätzliche Zusammenarbeit über virtuelle Räume sind die Quoten etwas höher: Ein Drittel gehen hier von einer starken oder sehr starken Nutzung aus, aber auch über 40 % von einem lediglich geringfügigen Einsatz. Umgesetzt ist auch dies bisher kaum.

28Diese

Aussage steht der des RB Industry 4.0 Readiness Index entgegen, wo Deutschland nicht nur den ersten Platz im europäischen Vergleich einnimmt, sondern auch die Bewertung „hoch“ erhält. Allerdings werden dort nicht explizit die Bereichen Einkauf und SCM betrachtet. Siehe Blanchet et al. (2014, S. 16 f.). 29Siehe

hierzu auch die empirischen Studien von Bogaschewsky/Müller der Jahre 2006 bis 2009. Download unter: http://www.cfsm.de/studien/elektronische-beschaffung/. 30Die zitierten Daten beziehen sich auf eine Studie aus dem Jahre 2017; vgl. Bogaschewsky und Müller (2017). Die angegebenen Prozentzahlen zu zukünftigen Erwartungen beziehen sich auf alle, die diese Aspekte aktuell noch nicht realisiert bzw. entsprechende Lösungen implementiert haben.

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Diese Ergebnisse stehen in deutlichem Kontrast zu der von den Befragten angegebenen Bedeutung einer Kollaboration mit Lieferanten: Über die Hälfte sehen diese für die Zukunft als strategische Kernkompetenz und knapp 45 % als Kernelement der Industrie 4.0-Strategie. Ein weitgehend digital umgesetztes Agieren des strategischen Einkaufs auf den Beschaffungsmärkten wird noch nicht gesehen und man erwartet, dass dies weiterhin eine durch den Einkäufer ausgeführte Tätigkeit bleibt und die IT h­ ierfür lediglich Support bietet. Viele Antwortende sehen sich wandelnde Qualifikationsanforderungen und sagen zu gut 44 %, dass die geforderte Koordinations- und Kollaborationskompetenz die benötigte Prozesskompetenz klar dominieren wird; allerdings gehen ein Viertel der Befragten hiervon nicht aus.

2.2.6 Best Practice bei der Digitalisierung strategischer Beschaffungsprozesse Die hinsichtlich der Digitalisierung bereits weit fortgeschrittenen Unternehmen31 geben zu gut 28 % an, eine weitgehende Automatisierung von Ausschreibungsprozessen bereits erreicht zu haben, wohingegen das in der Gesamtgruppe kaum (2,2 %) der Fall ist. Jeweils ~ 40 % sehen dies für sich als „starke“ oder „sehr starke“ zukünftige Entwicklung (GG: 23 % und 6,8 %). Einzelne Unternehmen erreichen bereits eine sehr hohe Markttransparenz durch den Einsatz intelligenter Suchalgorithmen im Internet und von Datenanalyseverfahren (GG: 3,1 %) und mehrere Unternehmen der Benchmarkgruppe sehen dies als klaren Zukunftstrend; in der Gesamtgruppe sind dies nur ein Drittel. Einige weitere neue Anwendungsmöglichkeiten, werden bereits von einzelnen Unternehmen eingesetzt. So werden aufgrund der durch digitale Lösungen ermöglichten h­ öheren Markttransparenz verstärkte Spotkäufe anstelle von Rahmenverträgen eingesetzt (GG: 1,8 %), eine automatisierte Generierung von Sourcingstrategien realisiert (GG: 0,9 %) und Verhandlungen mit mehreren Lieferanten gleichzeitig sowie in B2B-Netzwerken ­automatisiert (GG: ~ 1 %). Zwei Befragte erwarten, dass IT-Lösungen strategische Einkäufer ersetzen werden (GG: 4,4 %), dabei sprechen nur wenige dem strategischen Einkauf ab, eine wertschöpfende Kernaktivität zu sein. Weitere, teilweise bereits umgesetzte und in der Best-Practice-Gruppe oftmals als wichtig erachtete Aufgabenbereiche sind eine Lieferantenbewertung in Realtime, ein umfassendes IT-basiertes Kontraktmanagement, die Identifizierung von Versorgungsrisiken mit intelligenten Routinen und fortschrittlicher Datenanalyse sowie die verstärkte Kommunikation, die Vor-Ort-Besuche bei potenziellen und bestehenden ­ Lieferanten öfter ersetzen wird. Die Gesamtgruppe ist hinsichtlich aller dieser Aspekte extrem zurückhaltend.

31Es sei erneut darauf verwiesen, dass die Vergleichsgruppe mit sieben Unternehmen sehr klein ist. Zu der Studie siehe Bogaschewsky und Müller (2017).

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3 Auswirkungen von Industrie 4.0 auf Einkauf und SCM Die Verbreitung und der Einsatz der meisten E-Tools im Beschaffungsbereich sind im Durchschnitt noch nicht sehr fortgeschritten. Lediglich bei E-Katalog-Systemen ist der Anwendungsstand etwas höher. Die zitierten Best-Practice-Anwender könnten hier den Weg für die zukünftige Entwicklung aufzeigen. Allerdings ist die Vorteilhaftigkeit der jeweiligen Anwendungskategorien von einer Vielzahl von Faktoren abhängig, wie Industriezugehörigkeit, Wertschöpfungstiefe, Stellung in der Wertkette, Art und Menge fremdbeschaffter Güter, Transaktionshäufigkeiten und letztlich der Beschaffungsstrategie, sodass zumindest kurz- bis mittelfristig nicht zwangsläufig davon auszugehen ist, dass alle Unternehmen den Weg der Best-Practice-Gruppe gehen. Grundsätzlich dürfte aber von einer zunehmenden IT-Unterstützung in den Prozessen und Aufgabengebieten des Einkaufs und SCM auszugehen sein. Aufgrund der damit in der Breite offenbar noch fehlenden E-Readiness für Industrie4.0-Anwendungen im Einkauf und dem Supply Chain Management, wenn man die oben angesprochenen Applikationsbereiche betrachtet, dürfte diesbezüglich in naher Zukunft nicht mit einem flächendeckenden Durchbruch von Industrie-4.0-Lösungen zu rechnen sein. Dagegen könnten Unternehmen, die bereits in den genannten Bereichen weit fortgeschritten sind, deutlich vor der Konkurrenz neue, digitale Anwendungsfelder aufgreifen und somit ihren Wettbewerbsvorsprung in dieser Hinsicht weiter ausbauen. Eigene empirische Untersuchungen32 bestätigen die Aussagen anderer Studien (s. u. a. Geissbauer et al. 2016; McKinsey Digital 2016; McKinsey Global Institute 2013, 2015; Purdy und Davarzani 2015; Smit et al. 2016) und spiegeln die oftmals fast euphorische Berichterstattung in den Medien dahingehend wider, dass zu knapp zwei ­Dritteln in hohem bis sehr hohem Ausmaß wesentliche Veränderungen im Unternehmen erwartet werden, wobei hier KMU stärkere Auswirkungen erwarten als GU. Allerdings ­werden diese zu gut 87 % erst in drei Jahren oder später – knapp 30 % geben hier mehr als fünf Jahre an – erwartet. Starke Veränderungen werden erwartet in Bezug auf einen verstärkten IT-Einsatz bei der Planung und Steuerung, hinsichtlich einer stärkeren Prozessautomatisierung, und als Folge wird eine verbesserte Transparenz und Kontrolle erwartet. Allerdings verfügen noch fast die Hälfte der Unternehmen über keine Industrie-4.0-Strategie, gut 38 % haben grobe Vorstellungen hierzu und nur 9 % bereits eine konkretisierte Strategie entwickelt. Nur gut 5 % geben an, eine sehr konkrete Strategie entwickelt zu haben. Der Anteil an KMU ohne Strategie ist mit fast 55 % deutlich höher als bei den GU (32,6 %), die zu 9,3 % angeben, eine sehr konkrete Strategie zu haben, KMU dagegen nur zu 3,3 %. Inhaltlich beziehen sich bereits vorhandene Strategien zu 70 % auf die Erhöhung von Produktivität und Effizienz bestehender Produktionen, 58,6 % wollen die Flexibilität existierender Fertigungen steigern und knapp 53 % den

32Die zitierten Daten beziehen sich auf die oben genannte Studie aus dem Jahre 2016; vgl. Bogaschewsky und Müller (2016b).

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Kundenservice im bestehenden Umfeld verbessern. Knapp 43 % trauen sich zu, mittels Industrie 4.0 neue Produkte zu entwickeln und neue Märkte zu erobern – zu etwa 37 % mit stärker kundenorientierten oder individualisierten Produkten. Nur 30 % wollen v­ öllig neue Geschäftsmodelle entwickeln, wobei dieser Wert ohne die Dienstleister (61,5 %) erheblich geringer ausfällt. Die Dienstleister weisen auch hinsichtlich der angegebenen Potenziale von Industrie 4.0 bei den kunden- und marktorientierten Kategorien deutlich höhere Werte auf als die Industrie. Hinsichtlich der Auswirkungen von Industrie 4.0 auf Einkauf und SCM, zeigt die Studie keine klar erkennbaren Schwerpunkte. Alle adressierten Anwendungsfelder ­ werden im Mittel mit „mäßig stark“ beurteilt, wobei keine deutlichen Unterschiede ­ ­zwischen GU und KMU vorliegen. Wenig überraschend werden kaum bereits im Einsatz befindliche, Industrie-4.0-bezogene Lösungen angegeben werden. Sofern man die folgenden Bereiche dazu zählen will, werden mit 11,4 % die Entwicklungszusammenarbeit mit Lieferanten an vorderster Stelle angegeben, gefolgt von Bedarfsvorhersagen (10,8 %) und der Produktionsplanung (7,6 %). Wiederum weisen GU hier teilweise deutlich höhere Werte auf als KMU. Eine wesentliche Ursache für diese niedrigen Werte kann sein, dass zusätzliche Ressourcen für Industrie-4.0-bezogene Entwicklungen und Aufgaben zu 58,3 % nicht zur Verfügung stehen. 16,7 % bewerten diese mit „zu wenig“ und nur 25 % mit „ausreichend“. Auch hier ist die Lage in KMU deutlich schlechter als in GU. Allem Hype um das Thema „(Industrial) Internet of Things“ und Industrie 4.0 zum Trotz, haben die Unternehmen und insbesondere deren Einkaufs- und SCM-Funktionen in der Breite hierzu kaum klare Strategien, geschweige denn in relevantem Umfang konkrete Anwendungen vorzuweisen. Zudem konzentrieren sich die erwarteten Aktivitäten auf mehr oder weniger evolutionäre Verbesserungen innerhalb bestehender Systeme, wohingegen disruptive Innovationen nur in Ausnahmefällen in der Vorstellungskraft der Befragten zu liegen scheinen.

4 Auswirkungen disruptiver Innovationen auf Einkauf und SCM Wie oben festgestellt wurde, muss der State-of-the-Art des Einsatzes moderner I­T-Instrumente in den Bereichen Einkauf und SCM im Mittel als bestenfalls ­ durchschnittlich entwickelt ­eingestuft werden. Damit sind sehr viele Unternehmen diesbezüglich weder IT-seitig noch prozessbezogen adäquat auf neue und innovative Formen der Digitalisierung bzw. hinsichtlich neuer Konzepte im Rahmen von Industrie-4.0-Strategien vorbereitet. Allerdings sind einige Best-Practice-Anwender den anderen Unternehmen zum Teil weit voraus. Es stellt sich aber auch die Frage, wie die Digitalisierung hier weiter voranschreiten wird. Neben den oben von den Befragten angegebenen, eher evolutionären Verbesserungen mithilfe digitaler Systeme, sind die möglichen Entwicklungen aufgrund von Innovationen zu beurteilen, die durch ihren disruptiven Charakter unter Umständen völlig neuartiger Konzepte und Vorgehensweisen im Bereich Einkauf und SCM bedürfen.

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Ein in diesem Zusammenhang gern herangezogenes Beispiel ist der 3-D-Druck, bei dem physische Objekte durch das Aufbringen von Schichten in einer druckerähnlichen Einrichtung erzeugt werden. Dieses auch Additive Manufacturing genannte Verfahren erlaubt die Herstellung von – im Rahmen der physikalischen Machbarkeit – nahezu beliebigen Teilegeometrien, wobei die Anwendungen aktuell noch primär auf Kunststoffbasis erfolgen, metallische Materialien aber zunehmend über das Teststadium ­hinaus realisiert werden. Die Auswirkungen auf Einkauf und SCM liegen auf der Hand, denn anstatt einer mehr oder weniger komplexen Wertschöpfungskette beschränkt sich die Produktion auf ein Ausdrucken im Gerät unter Verwendung eines Basismaterials ­(Kunststoff) und bei Nutzung einer digitalen Steuerungsanweisung für den Drucker, die wiederum über das Internet zur Verfügung gestellt werden kann. Insofern kommt man dem Ubiquitous Manufacturing näher, also der räumlich und zeitlich beliebigen ­Herstellung von Produkten. Bereits heute bilden sich industrielle Strukturen, die ­dieses Drucken als Dienstleistung anbieten, sodass die bedarfstragende Organisation nicht selbst über einen 3-D-Drucker und die erforderliche digitale Infrastruktur verfügen muss. Zwar ist die wirtschaftliche Anwendung noch eher auf selten benötigte Teile, die nicht lagerhaltig vorgehalten werden sollen bzw. wo dies nicht wirtschaftlich ist, beschränkt, jedoch erweitert sich der wirtschaftliche Anwendungsumfang sukzessive. An die Stelle von Bedarfsrechnungen, Bestelloptimierungen sowie Liefer- und Lagerplanungen treten damit digitale Prozesse und eine Herstellung on demand und just in time. Eine Materialdisposition im konventionellen Sinne wird damit überflüssig. Einkaufsseitig entfällt die Verhandlung traditioneller Liefer- und Leistungsverträge für physische ­ Produkte zugunsten der Kontrahierung einer digitalen Leistung, konkret der Übersendung der Druckanweisung (via Internet). Besondere Herausforderungen bestehen hierbei in den Bereichen des Daten- und Know-how-Schutzes sowie der Verfügungsrechte, ­insbesondere auch, falls die Druckleistung durch einen Dienstleister erbracht wird. Je nach benötigtem Grundstoff und dessen Verfügbarkeit, ist dieser eventuell zu beschaffen, was allerdings eher nur einer einstufigen Lieferbeziehung bedarf. Insofern entfallen quasi alle Aufgaben für ein Supply Chain Management. Weitergehende technische Entwicklungen wie ein 4-D-Druck, bei dem sich im 3-D-Druck hergestellte Objekte, eigenständig in einen neuen, erwünschten Zustand transformieren können33 oder Smart Materials, die ihre physikalischen Eigenschaften bedarfsorientiert zu ändern in der Lage sind, mögen zwar technisch interessant sein, scheinen jedoch zunächst keine über das oben Gesagte hinausgehenden Anforderungen an den Einkauf oder das SCM mit sich zu bringen, wenn man von den weiterreichenden, vertraglich zu regelnden Aspekten absieht. Deutliche Veränderungen für den Einkauf können im Bereich Beschaffungsmarktforschung und Risikomanagement erwartet werden. Ein bedarfsweises oder auch

33Solche Verfahren werden u. a. am Self-Assembly Lab des Massachusetts Institute of Technology (MIT) entwickelt. Siehe Mersch und Schulte (2017, S. 49).

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p­ ermanentes Durchsuchen des Internets nach Anbietern, die definierten Anforderungen genügen, ist technisch ebenso möglich, wie Recherchen nach Ereignissen, die die ­Versorgung des Unternehmens und seiner verteilten Bedarfsstellen gefährden ­können. Die umfangreichen intern und extern gesammelten Daten können heute durch geeignete Verfahren (Data Analytics) zweckorientiert ausgewertet w ­erden und im Idealfall den ­ Verantwortlichen in Einkauf und SCM jederzeit ein aktuelles S ­ ituationsbild zu 34 ausgewählten Fragestellungen geben. Die Kombination von quasi in ­ Realzeit gewonnenen, hochaktuellen Informationen mit mittel- und langfristig relevanten Daten vor dem Hintergrund der unternehmerischen Ziele und Strategien, die wiederum aufgrund der hohen Veränderungsdynamik unter Umständen immer wieder auf ihre ­ ­Vorteilhaftigkeit hin zu überprüfen sind, stellt das Einkaufs- und Supply Chain Management vor nicht unerhebliche Herausforderungen. Neben der technischen Infrastruktur sind hier vor allem entsprechende Managementkompetenzen gefordert, in einer solch komplexen Umwelt in bestmöglicher Weise zum Wohle des Unternehmens agieren zu können. Im Zusammenhang mit den erwähnten Kompetenzanforderungen ist zu k­ onstatieren, dass immer mehr und komplexere Planungs- und Steuerungsaufgaben softwareseitig durchgeführt werden können und dies nicht selten schneller, zuverlässiger und mit höherer Präzision als von Menschen. Es wird davon ausgegangen, dass mittels Künstlicher Intelligenz (Artificial Intelligence) zahlreiche Aufgaben in vielen Industrien und im Dienstleistungssektor automatisiert werden können (vgl. Brynjolfsson und ­McAfee 2011; McKinsey Global Institute 2013). In Verbindung mit den fortschreitenden Möglichkeiten der Robotik sowie im Machine Learning ergeben sich potenziell neue Strukturen für die Produktion von Gütern sowie die Supply Chain. Auf der Basis einer solchen digital angereicherten Systemstruktur („intelligent digital mesh“) sollen alle relevanten Objekte in ein Netzwerk digitaler Services eingebunden werden (vgl. Cearley et al. 2017). Eine Integration vertikaler Prozesse von der Produktentwicklung bis zu d­ essen Auslieferung beim Kunden sowie von horizontalen Abläufen von den Lieferanten bis zum Kunden ­sollen – zumindest ist dies eine Zukunftsvision – mittels realtimebasierter Planung und Exekution erfolgen (s. Geissbauer et al. 2016, S. 6). Es wäre vermessen zu glauben, dass sämtliche Aufgaben in den Bereichen ­Einkauf und SCM so anspruchsvoll wären, dass diese hiervon ausgenommen ­bleiben werden. Eher im Gegenteil dürften nahezu sämtliche operativ-administrativen Beschaffungsprozesse weitestgehend automatisierbar sein, zumal diesbezüglich die Umsetzung in einigen Unternehmen bereits weit fortgeschritten ist. Auch zahlreiche m ­ anuelle Tätigkeiten im Lager und im Transportwesen wurden schon automatisiert und diese ­ Entwicklung wird sich fortsetzen. Zudem sind sehr viele Dispositionsaufgaben automatisch abwickelbar, da hierfür eher einfache Regeln und Verfahren

34Zu den Möglichkeiten von Data Analytics siehe u. a. Kiron et al. (2014); McKinsey Global Institute (2016); Gronau et al. (2016).

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zum Einsatz kommen. Wie bereits oben angesprochen wurde, stehen weitergehende ­Teilautomatisierungen anspruchsvollerer Aufgaben bereits vor der Umsetzung. Aus diesem Grund verändern sich Kompetenzanforderungen in Richtung der Kombination von IT-seitigen Unterstützungsfunktionen und Koordinationsaufgaben, die vor allem Kommunikations- und Kollaborationsfähigkeiten erfordern. Ein wesentlicher Aufgabenbereich für Verantwortliche in Einkauf und SCM wird, wie bereits oben empirisch festgestellt, die Übernahme einer innovationsorientierten Koordinationsfunktion sowohl zwischen den relevanten internen Stellen als auch zwischen dem Unternehmen und den Partnern in der Supply Chain sein.35 Im Zusammenwirken mit den bereits angesprochenen Aspekten könnten als Kernelemente ein Supplier Innovation Management, die Digital Supply Chain Integration sowie ein Digital Category and Supplier Management identifiziert werden, die basierend auf dem zweckorientierten Einsatz von Big Data Analytics, digitalen Purchase-to-Pay-Systemen und einem strategisch verlinkten Leadership-Konzept eine digitale geprägte, agile Organisation bilden (s. ADL 2016). Diese sehr schlagwortartig anmutende Beschreibung fasst einige wesentliche E ­ ntwicklungen zusammen, die zukunftsweisend sein dürften. Deutlich wird in jedem Falle, dass die ­Einkaufs- und SCM-Organisation der Zukunft in hohem Maße flexibel sein und mit einer erheblichen Komplexität umgehen können muss. Dies ist ohne den intensiven, zweckgemäßen Einsatz digitaler Systeme nicht möglich, soll die Effektivität sichergestellt und in effizienter Weise erreicht werden.

5 Fazit und offene Forschungsfragen Es kann festgestellt werden, dass das Gros der Unternehmen bei der Einführung d­ igitaler Lösungen im Bereich Einkauf und SCM noch nicht so weit fortgeschritten ist, dass die Voraussetzungen erfüllt wären, um eine weitergehende Digitalisierung im Rahmen von Industrie-4.0-Konzepten zu unterstützen. Insofern sind sehr viele Unternehmen weit davon e­ ntfernt, hier in der Breite innovative Schritte zu tätigen. Die Best-Practice-Unternehmen dürften dagegen voraussichtlich ihren Entwicklungsfortschritt noch weiter ausbauen können, wenn digital basierte disruptive Innovationen umgesetzt werden. Insgesamt existiert damit eine klare Diskrepanz zwischen medialem Hype um Industrie 4.0 und dem ­Entwicklungsstand der Unternehmen in der Breite, wobei insbesondere beim Mittelstand diesbezüglich erheblicher Nachholbedarf besteht. Bei innovativen Anwendungen, die Einkauf und Supply Chain entweder gar nicht betreffen oder aber eine klare Komplexitätsreduzierung der Abläufe sowie gegebenenfalls vereinfachte Planungs- und Steuerungsroutinen mit sich bringen, steht der Umsetzung von entsprechenden Konzepten und Verfahrensweisen aber wenig entgegen. Allerdings ist ein

35Zu der Rolle strategischer Lieferantenpartnerschaften in diesen Zusammenhang siehe Teichgräber und Müller (2017).

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eindeutiger Trend hinsichtlich veränderter Kompetenzprofile in den beiden Bereichen zu konstatieren. Hier ist das professionelle Umgehen mit modernen Softwarelösungen und die Fähigkeit, diese bedarfsgerecht einzusetzen und zu i­ntegrieren, Basis für die wesentlichen zu übernehmenden Aufgaben. Diese sind primär in der Übernahme einer Koordinationsfunktion zwischen internen, an der Wertschöpfung beteiligten Stellen einerseits und den externen Lieferanten andererseits zu sehen, was sowohl technische Kenntnisse als auch eine ausgeprägte Kommunikationsfähigkeit erfordert. Insbesondere aus den neuen Möglichkeiten des Einsatzes digitaler Technologien ergeben sich Herausforderungen auch für Lehre und Forschung. Zunächst ist zu konstatieren, dass in vielen Unternehmen die Bedeutung der Koordinationsfunktion seitens der Funktion(en) Einkauf und Supply Chain Management zwischen der internen Forschungs- und ­Entwicklungsfunktion sowie den innovativen Anbietern stark an Bedeutung gewinnt. Dahingegen verlieren bisher wichtige Kompetenzen an Bedeutung, da die damit verbundenen Aufgaben immer stärker und umfassender durch IT-Systeme unterstützt werden. Da ­operative IT-basierte Beschaffungsprozesse bereits heute stark normiert sind und sich durch diese keine komparativen Wettbewerbsvorteile erlangen lassen, verliert die diesbezügliche Prozesskompetenz an Bedeutung. Ähnliche Entwicklungen zeichnen sich für strategische Aufgaben wie die datenbezogene Beschaffungsmarktforschung, Ausschreibungs- sowie Verhandlungsprozesse ab, da auch in diesen Bereichen innovative Softwaresysteme wesentliche Aufgaben – zumindest hinsichtlich der Entscheidungsvorbereitung – wahrnehmen werden. Auf die hieraus veränderten Anforderungsprofile muss reagiert werden, von der Ausbildung zum Fachkaufmann Einkauf bis hin zur universitären Lehre. Gleichsam resultieren aus diesen Entwicklungen neue Forschungsfelder. Zwar sind einige der informatikbezogenen Technologien, die heute im Umfeld der fortschreitenden Digitalisierung eingesetzt werden, keinesfalls neu, wie das Beispiel Artificial Intelligence zeigt. Andere Entwicklungslinien, wie beispielsweise die Blockchain-Technologie, müssen ihre Eignung für Anwendungen außerhalb von Kryptowährungen noch beweisen. Dies betrifft u. a. Sicherheits-, Verfügbarkeits- und Geschwindigkeitsfragen und auch Fragen der Effizienz angesichts der erheblichen Rechnerkapazitäten, die bei den Anwendungen zur Verfügung stehen müssen und mit denen ein extremer Energieeinsatz verbunden ist. Mindestens ebenso wichtig erscheint die noch bessere forschungsseitige Integration von fachlichen Herausforderungen, der Modellierung von entsprechenden Problemstellungen sowie deren Lösung unter Einsatz fortgeschrittener digitaler Technologien. Bisher sind diese „Welten“ noch zu häufig nur lose verknüpft. Anspruchsvolle OR-Modelle beziehen sich nicht selten noch auf Problemstellungen, die immer häufiger angesichts neuer Konzepte ihre Relevanz einbüßen. Das Augenmerk in der Forschung sollte daher (wieder) vermehrt darauf gelegt werden, ob nicht neue Konzepte einen größeren Erkenntnisfortschritt versprechen als marginale Verbesserungen komplexer Algorithmen oder kleinste Modellerweiterungen für Probleme, die sich eventuell in Zukunft kaum noch so stellen werden. Es sind aber auch interessante Kombinationen der Modellwelten denkbar, zum Beispiel von Losgrößenmodellen mit dezentralen, selbststeuernden Elementen, denn so wie der zentrale Planungs- und Steuerungsansatz allein

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in vielen Problemumgebungen seine Bedeutung verliert, werden rein dezentral-autonome Regelungsmechanismen nicht überall sinnvoll einsetzbar sein. Die betroffenen Problemstellungen reichen über die gesamte interne und externe Supply Chain. Hier eröffnet sich ein breites Forschungsfeld, genauso wie für die stärker einkaufsbezogenen Themen wie multidimensionale und gegebenenfalls autonome, agentenbasierte Verhandlungen oder auch für Fragen der Daten- und Prozessstandardisierung im Rahmen einer ­hochgradig digitalisierten Wirtschaft. Dass auch die Jurisprudenz hierzu ihren Beitrag zu l­eisten hat, versteht sich angesichts diverser offener Fragen hinsichtlich Datenschutz und ­Eigentumsrechten von selbst.

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Prof. Dr. Ronald Bogaschewsky ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre und Industriebetriebslehre an der Universität Würzburg. Seine Arbeitsschwerpunkte l­iegen in den Bereichen Einkauf und Supply Chain Management, Produktionswirtschaft sowie Nachhaltigkeit, insbesondere auch vor dem Hintergrund fortschreitender Digitalisierung.

Die Implikationen digitaler Technologien für die Supply Chain 4.0 Kai Hoberg, Moritz Petersen und Jakob Heinen

1 Einleitung Die digitale Transformation hat das Potenzial, die Supply Chains zu verändern wie selten zuvor. Eine Vielzahl neuer digitaler Technologien eröffnet kaum abzusehende Möglichkeiten für die Optimierung der Prozesse entlang der Wertschöpfungskette: Der 3-D-Druck erlaubt die kundenspezifische Produktion eines einzigartigen Produkts in Serienqualität, vernetzte Sensoren kontrollieren die Bestände in Regalen oder Kühlschränken samt voll automatisierter Nachbestellungen, und Big Data unterstützt Unternehmen, ihre Lieferfahrzeuge so durch den Verkehr zu führen, dass sie beim Kunden eintreffen, wenn dieser tatsächlich zu Hause ist. Unternehmen aller Branchen müssen die Chancen der Digitalisierung ganzheitlich betrachten und verstehen, wie sie ihre Supply Chain 4.0 realisieren können. Schon immer haben Unternehmen neue Technologien zum Vorteil ihrer Supply Chains genutzt. Der Schiffscontainer ist das wahrscheinlich erfolgreichste Beispiel für eine technische Revolution in der Logistik, die nicht nur die Prozesse in der Supply Chain deutlich verbesserte, sondern damit langfristig auch die globalen Handelsflüsse prägte (Levinson 2010). Das Internet als zweites Beispiel ermöglichte es Unternehmen, den Informationsfluss mit Kunden und Lieferanten zu verbessern und in Echtzeit auf Bestände

K. Hoberg (*) · M. Petersen · J. Heinen  Kühne Logistics University – KLU, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Petersen E-Mail: [email protected] J. Heinen E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_7

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und Kapazitäten von Partnern zuzugreifen. Händler wie Amazon (Amit und Zott 2012) oder Hersteller wie Li & Fung (Wind et al. 2009), die diese Möglichkeiten in ihren Geschäftsmodellen konsequent umgesetzt haben, gehören heute zu den Marktführern in ihren Branchen. Andererseits existieren auch Technologien, die hohe Erwartungen an die Optimierung von Supply Chains geweckt haben, diese bisher aber nur zum Teil erfüllen konnten. Besonders das Beispiel der Radio Frequency Identification (RFID) in der Konsumgüterindustrie zeigt, dass es gilt, den Mehrwert einer Technologie für alle Supply-Chain-Partner ganzheitlich zu betrachten (Gaukler und Seibert 2007; Hoberg und Herdmann 2017). Vor diesem Hintergrund ist es für Praxis und Wissenschaft besonders wichtig zu verstehen, welche Potenziale die neuen digitalen Technologien für Supply Chains wirklich bieten. Es ist zu unterscheiden, ob es sich um eine punktuelle Technologieinnovation in einem einzelnen Teilprozess wie Produktion, Lager oder Transport handelt, um eine Technologie, von der verschiedene Teilprozesse profitieren, oder um Technologien bzw. Technologiekombinationen, die es Unternehmen ermöglichen, ihre Supply Chain so zu verbessern, dass sie neue Geschäftsmodelle entwickeln und damit neue Kunden adressieren können. Zu häufig fokussieren sich Manager aber darauf, getrieben vom noch vorherrschenden Effizienzgedanken, einzelne Prozesse zu automatisieren und damit Kosten zu senken. Allerdings bieten viele Technologien schon heute auch das Potenzial, die Supply Chain viel stärker auf den Kunden auszurichten, flexibel auf Nachfrageentwicklungen zu reagieren und neue Märkte und Umsatzfelder zu erschließen. Bei der Erstellung dieses Kapitels haben uns drei Forschungsfragen geleitet: i) Welche neuen Technologien bieten Potenziale zur Optimierung der Supply Chain? ii) Durch welche Mechanismen können diese neuen Technologien in der Supply Chain einen Mehrwert liefern? iii) Wie können zukünftige Supply Chains 4.0 aussehen? Wir möchten unsere Antworten auf diese Fragen im Folgenden diskutieren. Dazu stellen wir zunächst acht Technologiecluster vor, die im Kontext der Supply Chain 4.0 einen erheblichen Einfluss haben werden. Im Weiteren diskutieren wir, wie diese Technologien einen Mehrwert für die Supply Chain liefern können. Dabei unterscheiden wir Mechanismen, die stärker auf die Effizienz wirken, von Mechanismen, die besonders auf die Steigerung des Umsatzes abzielen. Abschließend zeigen wir anhand zweier Fallbeispiele den Einsatz der neuen Technologien in Supply Chains für Haushaltsgeräte und beim Digitaldruck.

2 Digitale Technologien zur Optimierung von Supply Chains Eine Vielzahl an neuen Technologien verspricht eine Transformation der Supply Chain. Es ist folglich eine immer größere Herausforderung, diejenigen Technologien zu identifizieren, deren Potenzial sich in naher Zukunft entfalten kann. Sowohl wissenschaftliche Studien als auch praxisorientierte Analysen (z. B. DHL Trend Research 2016; Forger et al. 2017; Kersten et al. 2017; KPMG 2016; O’Marah und Chen 2016; Schmidt et al. 2015) dienen uns als Grundlage, das relevante Technologiespektrum zu analysieren und in acht

Die Implikationen digitaler Technologien für die Supply Chain 4.0

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Tab. 1  Übersicht der Technologiecluster. (Quelle: Eigene Darstellung) Technologiecluster Beschreibung

Beispiele

Robotik in der Intralogistik

Nutzung automatisierter Förderfahrzeuge und Regalsysteme für Einlagerung, Transport, Bereitstellung und Kommissionierung innerbetrieblicher Warenflüsse

Robotic Mobile Fulfillment Systems (RMFS), automatisierte Kommissionierungsanlagen

Autonome Transportmittel

Automatisierung von Transportfahrzeugen außerhalb der Intralogistik

Platooning, Autonome LKWs, Drohnen

Virtual Reality und Anwendung computergestützter Augmented Reality Erweiterungen der bestehenden Realität und Erschaffung neuer Welten zur Unterstützung logistischer Prozesse

Head-up Displays, Smart Glasses, Digital Twinning

Internet der Dinge und Sensorik

Einsatz von Sensoren und Kommunikationstechnologie zur eigenständigen Erfassung und Übertragung von Daten entlang der Supply Chain

Sensoren, Smart Devices

Supply Chain Analytics

Erfassung und Integration neuer Datenquellen sowie erweiterte Nutzung bestehender Datensätze durch den Einsatz leistungsfähiger Analysemethoden

Machine Learning, Predictive Analytics

Prozessautomatisierung

Automatisierung interner und unternehmensübergreifender Informationsprozesse und Warenflüsse

No-Touch Order Processing, Blockchain

Digitale Herstellverfahren

Direkte Herstellung von digitalen Original- Digitaldruck, entwürfen ohne die Verwendung von 3-D-Druck zusätzlichem Werkzeug und Rüstaufwand

Plattformen

Anwendung von Cloud-Technologie zur Vernetzung unterschiedlichster Akteure innerhalb der gesamten Wertschöpfungskette

Cloud-basierte Zusammenarbeit und Kommunikation, Crowdsourcing-Plattformen

Technologiecluster zusammenzufassen. Wir konzentrieren unsere Auswahl dabei, wie in Tab. 1 aufgeführt, auf Technologiecluster, die unseres Erachtens innerhalb der kommenden Jahre einen spezifischen Einfluss auf die Material-, Informations- und Finanzflüsse in Supply Chains haben werden.

2.1 Robotik in der Intralogistik Fahrerlose Transportsysteme und automatische Hochregallager gehören bereits seit den 1950er-Jahren zum festen Bestandteil der Intralogistik. Neben bekannten kran- und stapel-­ basierten Automatiklagern hat in den letzten Jahren vor allem die Industrierobotik mit sogenannten Robotic Mobile Fulfillment Systems (RMFS) die Lagerhaltung revolutioniert (Jan und Vis 2009). Amazon stellt sich dabei als ein Vorreiter in der Automatisierung

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im Lager dar. Nach dem Kauf des Herstellers Kiva Systems im Jahre 2012 hat Amazon heute bereits 80.000 RMFS im Einsatz, die bewegliche Regalsysteme samt der zu kommissionierenden Waren direkt zum Kommissionierer transportieren (Hofer 2017). Der Einsatz dieser RMFS minimiert die Laufwege der Kommissionierer und steigert somit deren Produktivität um bis zu 100 %. Darüber hinaus kann mit RMFS problemlos die Flexibilität der Durchlaufkapazität gesteigert werden, indem weitere Roboter dem Lagersystem hinzugefügt werden (Azadeh et al. 2017). Eine verbleibende Herausforderung ist die Kommissionierung selbst, also das Auffinden und Greifen des Artikels im Regal. Hier können Fortschritte bei der Robotik für die Kommissionierung von Artikeln mit beliebiger Form neue Ansätze bieten. Amazon greift dafür auch auf Forschungseinrichtungen zurück und veranstaltet regelmäßig die Amazon Picking Challenge, bei der Produkte unterschiedlichster Formen, Gewichte, Größen und Materialien gepickt werden müssen. Im Jahr 2016 gewann ein Team des TU Delft Robotic Institutes und des Herstellers Delft Robotics mit einem flexiblen Greifer, der sieben Freiheitsgrade besitzt und durch Software unterstützt anpassungsfähige Strategien für jeden Greifvorgang entwickelt (Slump 2016). Doch nicht nur im Onlinehandel erfährt die Robotik verstärkte Aufmerksamkeit, auch im stationären Lebensmittelhandel zeigt Edeka in Zusammenarbeit mit dem Intralogistikanbieter Witron auf, wie stark die Automatisierung bereits fortgeschritten ist. Im 2015 neu eröffneten Regionallager in Berbersdorf wird die komplette Sortimentstiefe von Trocken-, Tiefkühl- bis Frischeprodukten vollautomatisch kommissioniert. Dies umfasst rund 378.000 Handelseinheiten, die in filialgerechte Einzelbehälter gepackt werden (Witron 2014). Die Automatisierung steigert die Effizienz (auf bis zu 500 Picks pro Stunde) und löst ein zunehmendes Problem: In bestimmten Regionen Deutschlands ist es kaum mehr möglich, qualifiziertes Lagerpersonal zu finden (Semmann 2014). Wichtig ist im stationären Handel aber auch die letzte Etappe der Lieferkette, denn bis zur Hälfte der Logistikkosten entfallen auf die Logistik innerhalb der Supermärkte. Die automatisierte Kommissionierung im Regionallager ermöglicht auch die filialspezifische Vorsortierung der Artikel. Als Ergebnis wird also die Verräumung der Ware in den Filialen erleichtert, da die Ladeeinheiten bereits dem Regalbild entsprechen (Kümmerlen 2013).

2.2 Autonome Transportmittel Technologische Fortschritte in der Sensorik und Bildverarbeitung ermöglichen zukünftig auch die Automatisierung von Fahrzeugen, die sich außerhalb von gut kontrollierbaren Intralogistiksystemen autonom in ihrer Umwelt bewegen. Automatisierung bedeutet jedoch nicht zwingend auch die Abwesenheit eines Fahrers, da umfassende Assistenzsysteme, Teil-, Hoch- und Vollautomatisierung zu unterscheiden sind (Gasser et al. 2012). Nur bei Vollautomatisierung bewegt sich ein Fahrzeug tatsächlich vollständig autonom, d. h. es überwacht kein menschlicher Fahrer mehr das Verkehrsgeschehen, und das System übernimmt die volle Verantwortung für die Steuerung des Fahrzeugs. Für entsprechende Anwendungen müssen allerdings zentrale rechtliche und auch ethische

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Rahmenbedingungen geklärt sein, z. B. hinsichtlich der Haftung im Schadensfall und des Verhaltens des Fahrzeugs in Gefahrensituationen (Bousonville 2017). Im Straßengüterverkehr ist der autonome LKW eine angestrebte Vision, die eine verringerte Unfallgefahr, Kraftstoffeinsparungen und geringe Personalkosten verspricht. Die Kraftstoffeinsparungen werden vor allem durch eine optimierte Fahrweise und durch das sogenannte Platooning erwartet, bei dem eine Gruppe von LKW mit sehr geringen Abständen Windschatteneffekte nutzt (Bousonville 2017). Derzeit bereiten verschiedene Unternehmen wie Daimler erste Tests mit Flottenkunden auf öffentlichen Straßen vor – mit Abständen von nur 15 m zwischen den LKW. Das Platooning soll Kraftstoffeinsparungen von 4–5 % ermöglichen und die Fahrer auf langen Strecken entlasten (Jahn 2017). Trotzdem ist das Platooning nur eine Entwicklungsstufe hin zum vollautomatisierten LKW. Dieser könnte rund um die Uhr eingesetzt werden, ohne dass auf Lenk- und Ruhezeiten eines Fahrers Rücksicht genommen werden muss. Ein Zeichen in diese Richtung setzte Uber bereits im Oktober 2016. Damals fuhr zum ersten Mal ein vollautomatisierter LKW auf öffentlichen Straßen und lieferte 50.000 Dosen Bier über eine Strecke von 120 Meilen – allerdings nur auf eher komplexitätsarmen Schnellstraßen und mit einem Fahrer an Bord (Davies 2016). Ein zweites Einsatzfeld autonomer Fahrzeuge ist die letzte Meile. Insbesondere Luftund Bodendrohnen werden derzeit von vielen Paketdienstleistern erprobt – in großen Städten zur Auslieferung von Paketen per Lieferroboter, aber auch für Spezialaufgaben wie den Transport von Proben zwischen Klinik und Labor. Ob Drohnen besonders in Städten jedoch mittel- bis langfristig einen signifikanten Anteil der Sendungen ausliefern werden, ist umstritten. Aktuell werden Drohnen hauptsächlich als Ergänzung für staugefährdete oder ländliche Regionen erwartet und weniger als großskalige Substitution der klassischen Zustellungsmethoden (McKinnon 2016). Für die Paketzustellung in ländlichen Regionen testete z. B. UPS im Februar 2017 die Kombination aus einer Drohne und einem Auslieferungsfahrzeug. Nach Bedarf kann die Drohne vom Dach des modifizierten UPS-Lieferwagens aus Sendungen zu Kunden befördern, die nur über schmale Straßen zu erreichen sind oder die weit von einer ansonsten optimierten Route entfernt liegen (Perez und Kolodny 2017). Zuletzt sind autonome Fahrzeuge auch im maritimen Sektor von Bedeutung. Mehrere Schiffstechnikanbieter wie z. B. Rolls-Royce arbeiten an entsprechenden Lösungen. Sie erwarten Einsparungen von mehr als 20 % pro transportierter Tonne – durch weniger Unfälle auf See und die Verringerung der Personalkosten. Auch Wärtsilä führte kürzlich einen Testlauf durch und schickte ein Offshore-Versorgungsschiff durch schottische Küstengewässer – ferngesteuert aus 8000 km Entfernung (Reimann 2017).

2.3 Virtual Reality und Augmented Reality Seit Jahren beschäftigen sich Wissenschaft und Praxis mit der Entwicklung von Displays, die Informationen direkt in das Sichtfeld des Nutzers bringen. Als Augmented

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Reality wird die Kombination von realer und virtueller Welt bezeichnet, welche die Interaktion mit dem Benutzer in Echtzeit und die Überlagerung von realen Objekten mit virtuellen Objekten ermöglicht (Azuma 1997). Im militärischen Bereich existieren schon lange Anwendungen, bei denen Piloten wichtige Informationen im Helm bereitgestellt bekommen (Aukstakalnis 2016). Analog stehen bei immer mehr Premiumfahrzeugen sogenannte Head-up-Displays auf der Ausstattungsliste, die Angaben über Geschwindigkeit oder Navigation als Projektion in der Frontscheibe verfügbar machen. Der breiten Öffentlichkeit wurde Augmented Reality durch die Einführung des Google Glass im Jahr 2012 bekannt, die eine öffentliche Debatte über die Möglichkeiten und Auswirkungen der Technologien auf die Privatsphäre entfachte (Schlatt 2015). Inzwischen bieten Anbieter wie Ubimax, Vuzix oder Epson die Art von Smart Glasses ("head-mounted displays") an. Während Augmented Reality bereits in der Automobilindustrie, in der Flugzeugwartung und für medizinische Visualisierung Einsatzfelder findet, wird auch der Einsatz in logistischen Prozessen immer relevanter (Kersten et al. 2017). Eine besonders interessante Anwendung ist die sog. Pick-by-Vision-Kommissionierung. Das Display informiert dabei den Lagerarbeiter über den nächsten Artikel und gibt genaue Angaben zur Position und Stückzahl an. Die Bestätigung der Kommissionierung erfolgt durch eine integrierte Kamera, die den Barcode auf dem Produkt erfasst (Rushton et al. 2014). Vorteile solcher Systeme liegen klar auf der Hand: Der Blick des Anwenders muss nicht zwischen der eigentlichen Arbeitsaufgabe und dem Bildschirm wechseln. Außerdem hat der Anwender beide Hände frei, da kein Tablet oder Smartphone nötig ist. Schließlich kann die eingebaute Kamera das Umfeld genau erfassen, sodass jeweils nur aktuell relevante Informationen angezeigt werden und eine manuelle Bestätigung der Kommissionierung entfallen kann (Beck 2017). Eine mit Augmented Reality verwandte Technologie ist die Virtual Reality. Hier werden Datenbrillen eingesetzt, die das Blickfeld des Nutzers vollständig abdecken. Gerade in der Planung von Produktion und Logistik bestehen hier viele Möglichkeiten. So können beispielsweise sogenannte „Digital Twins“ bei der Planung, dem Entwurf und dem Bau einer Produktionsanlage unterstützen. Tests und Simulationen neuer Fertigungsprozesse können digital dargestellt und optimiert werden, bevor das erste physikalische Produkt die Fabrikhalle verlässt (Geissbauer et al. 2017). So können nicht nur Betriebskosten gesenkt werden, sondern bereits vorab die Qualität der Fertigungsprozesse verbessert und die Inbetriebnahme der Anlagen und somit die Einführung neuer Produkte beschleunigt werden (Parrott und Warshaw 2017). Virtual Reality in Kombination mit CA ("computer-aided") -Technologien, wird zusätzlich auch zur Unterstützung der Produktentwicklung genutzt. Zur Entwicklung der neuen Generation des Flugzeugmusters 777 wurde von Boeing ein dezidiertes Entwicklungsteam eingesetzt, um das gesamte Flugzeug virtuell zu entwerfen, zu modellieren und zu testen. Dieser Ansatz verspricht beispielsweise die Identifizierung von Überlagerungen und Passformproblemen, noch bevor teure physikalische Prototypen hergestellt werden, sowie die Verbesserung der Zusammenarbeit verschiedener Mitglieder inner- und außerhalb der Organisation (Marion et al. 2012).

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2.4 Internet der Dinge und Sensorik Die direkte Kommunikation zwischen Maschinen stellt ein weiteres Technologiecluster dar. Dabei spielen die sogenannten Smart Devices, d. h. Geräte mit integrierten Sensoren und Internetanbindung, eine besondere Rolle. Der IT-Ausrüster Cisco prognostiziert, dass bis zum Jahr 2020 über 50 Mrd. Geräte an das Internet angeschlossen sind. Dies entspricht weniger als 3 % der geschätzten Gesamtzahl potenziell zu verbindender Dinge (Wortmann und Flüchter 2015). Eines der vielversprechendsten Anwendungsgebiete des sogenannten Internets der Dinge (Internet of Things, IoT) ist das Logistik- und Supply Chain Management (Xu et al. 2014). Die Entwicklung immer leistungsfähigerer und kostengünstigerer elektronischer Bauteile ermöglicht es, smarte und vernetzte Devices zu bauen (Porter und Heppelmann 2015). Diese werden bereits heute vielfältig in Supply Chains eingesetzt (Frehe et al. 2014; Kückelhaus 2013). Sensoren erlauben es beispielsweise, Ortsinformationen zu erfassen, Umweltzustände zu erkennen oder Bestände zu messen. Ein Anwendungsfeld, das besonders von dieser Entwicklung profitiert, ist das smarte Transportmedium. Die Technologie zur Erfassung von Daten (z. B. Position, Temperatur, Luftfeuchtigkeit oder Erschütterungen) existiert bereits einige Jahre (Brett 2015). Aktuell werden immer mehr Kühlcontainer mit Sensoren ausgestattet, um Transparenz beim Transport temperaturempfindlicher Güter zu schaffen (van Marle 2016). Traxens vertreibt z. B. Sensorik zur Erfassung des Standorts von Schiffscontainern. DHL bietet einen Sensor an, der durch Messung des Lichteinfalls das unbefugte Öffnen von Sendungen protokolliert. Die Anbieter versprechen eine Monetisierung der Investitionen durch niedrigere Versicherungsprämien, steigende Marktanteile und das Angebot von Zusatzdienstleistungen. Beispielsweise erlaubt das Wissen über den aktuellen Containerstandort eine bessere Planung der folgenden Transportaktivitäten, Informationen über den Temperaturverlauf reduzieren das Risiko des Verderbs und Erschütterungssensoren ermöglichen die Identifikation von Schadensverursachern. Eine weitere Anwendung von Smart Devices ist die Unterstützung der Disintermediation, d. h. die direkte Interaktion zwischen Kunden und Herstellern unter Umgehung klassischer Intermediäre wie Zwischenhändler (Porter und Heppelmann 2014). Einige Hersteller haben bereits Sensoren in ihre Geräte integriert, die den Bestand an Verbrauchsmitteln am Point-of-Consumption erfassen und dem Kunden die Möglichkeit zur Nachbestellung bieten. Miele bietet beispielsweise Waschmaschinen mit integrierten Waschmittelbehältern an, die dem Kunden erlauben, den Füllstand per Smartphone zu verfolgen und vom Hersteller empfohlene Bestellvorschläge freizugeben. Hewlett-Packard bietet Kunden mit dem Smart-Ink-Programm ein Abonnement für eine monatliche Druckseitenzahl an und liefert verbrauchsbasiert Tintenpatronen nach (Hoberg 2017). Auf diese Weise kann eine hohe Warenverfügbarkeit beim Kunden sichergestellt werden.

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2.5 Supply Chain Analytics Daten haben stets eine zentrale Rolle für die Planung und den Betrieb von Supply Chains gespielt. Die Verfügbarkeit neuer, umfangreicher Datenquellen und leistungsfähiger Analysemethoden bietet heute die Möglichkeit, die Entscheidungsfindung in allen Aktivitäten entlang der Supply Chain zu verbessern (Alicke et al. 2016b; Waller und Fawcett 2013). Bei Supply Chain Analytics gilt es darum zum einen, vorhandene Datenbestände aus internen ERP-Systemen durch leistungsfähige Methoden wie z. B. Machine Learning, Random Forests oder Stochastic Dynamic Optimization besser zu nutzen. Zum anderen müssen neue Datenquellen wie z. B. Sensor-, Kunden- oder Verkehrsdaten für die Entscheidungsfindung integriert und berücksichtigt werden. So können neue Erkenntnisse gewonnen werden, die sowohl bei operativen als auch bei strategischen Entscheidungen des Supply Chain Managements zu wertvollen Verbesserungen führen. Allgemein unterschieden werden deskriptive Analysemethoden, die die Situation beschreiben, prädiktive Verfahren, die Prognosen bereitstellen, und präskriptive Ansätze, die Handlungsempfehlungen liefern (Souza 2014). Es existiert eine Vielzahl von Datenquellen, die für Supply Chain Analytics geeignet erscheinen. Alicke et al. (2016a) unterscheiden zwischen Daten von i) ERP-Systemen, ii) Barcode und RFID-Scans, iii) Sensoren und Kameras, iv) Archiven, v) Internet und vi) sozialen Netzwerken. In der Forschung existiert eine Vielzahl an Beispielen für Anwendungen bisher ungenutzter Datenquellen. Huang und Van Mieghem (2014) arbeiten mit Clickstream-Daten, um Kundenpräferenzen zu verstehen und die Bestandsführung im Unternehmen zu optimieren. Cui et al. (2018) untersuchen, wie Social-Media-Daten zur Verbesserung der täglichen Umsatzprognose verwendet werden können. Steinker et al. (2017) zeigen, wie sich unter Nutzung von Wetterprognosen die Mitarbeitereinsatzplanung in den Lagern des Onlinehändlers Zalando optimieren lässt. Analytische Methoden lassen sich in einer Vielzahl von Prozessen der Supply Chain nutzen (Alicke et al. 2016b). Typischerweise ist die Planung bereits heute ein stark datengetriebener Prozess und nutzt eine breite Palette von Methoden und Optimierungsverfahren. Durch die konsequente Nutzung neuer interner und externer Datenquellen besteht nun die Möglichkeit, die Nachfrage- und Angebotsgestaltung in Echtzeit zu realisieren. So nutzt Blue Yonder Predictive Analytics, um für einen großen deutschen Onlinehändler mit etwa 200 Einflussgrößen und 150 Mrd. Wahrscheinlichkeitsverteilungen die Prognosegenauigkeit von 130.000 Artikeln zu verbessern (Alicke et al. 2016b). Hierdurch können die Logistikkapazität und die Lagerbestände des Unternehmens besser geplant werden. Auch in produzierenden Unternehmen bieten sich Möglichkeiten, z. B. indem energieintensive Fertigungsprozesse so geplant werden, dass die Spitzenlast minimiert wird (Papier 2016) oder indem Sensordaten eine vorbeugende Instandhaltung ermöglichen. In der Logistik verhelfen Verkehrsinformationen zur Echtzeitsteuerung von Fahrzeugen (Ferrucci und Bock 2014). UPS nutzt beispielsweise das selbst entwickelte Orion-System (On-Road Integrated Optimization and Navigation System) zur Unterstützung der Routenplanung. Viele weitere Anwendungsmöglichkeiten für Supply Chain Analytics finden sich in den Prozessen vom Einkauf über die Lagerhaltung bis zum Point-of-Sale.

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2.6 Prozessautomatisierung Nach wie vor ist ein Großteil der Prozesse im Supply Chain Management von manuellen Tätigkeiten wie Dateneingaben oder wiederkehrenden Auswertungen gekennzeichnet. Manuelle Teilprozesse haben vier negative Konsequenzen: i) Sie verhindern Prozesstransparenz, ii) sie erzeugen hohe Kosten, iii) sie sind fehleranfällig und iv) sie lähmen den Prozessfluss. Repetitive Prozesse, bei denen größere Datenmengen verwendet oder erzeugt werden, bieten große Automatisierungspotenziale. Als Beispiel seien hier das Order Processing und das Sales & Operations Planning (S&OP) genannt. Die Vision des No-Touch Order Processing bedeutet die automatisierte Abwicklung einer Bestellung, ohne dass eine menschliche Intervention stattfindet. Im B2C-Bereich ist z. B. Amazon bereits nahe an dieser Vision, da die erste menschliche Aktivität häufig die Entnahme der Ware aus einem per Roboter herangefahrenen Regal ist (Hofer 2017). Folglich sind im Materialfluss nach wie vor manuelle Tätigkeiten enthalten, während der Informationsfluss automatisch verarbeitet und gelenkt wird. Solche Fortschritte in B2C-Bereichen mit hohen Bestellmengen und standardisierten Prozessen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Realität im B2B-Bereich häufig anders aussieht. Statt 4.0 findet sich hier oftmals Handarbeit: Studien zeigen, dass zahlreiche Bestellungen weiterhin manuell eingegeben, per Mail oder Fax übermittelt und auf Seite des Lieferanten wieder manuell in das System eingepflegt werden (Bogaschewsky und Müller 2017). Für das S&OP bieten Technologien wie künstliche Intelligenz und Machine Learning Potenziale, schneller und präziser zu planen und Abweichungen besser zu berücksichtigen. Traditionell wird das S&OP in bestimmten diskreten Abständen durchgeführt, z. B. monatlich. Kurzfristige Planabweichungen können auf diese Weise nicht systematisch identifiziert werden. Die Vision des Real-Time S&OP ermöglicht den permanenten Abgleich von Planwerten mit den tatsächlichen Daten. Größere Abweichungen werden so rechtzeitig erkannt. Durch Nutzung des maschinellen Lernens für den S&OP-Prozess ist es dann möglich, Abweichungsmuster zu erkennen und für die Planerstellung automatisiert zu berücksichtigen (Schoenherr und Speier-Pero 2015). Eine weitere Möglichkeit, unternehmensübergreifende Abwicklungsprozesse zu automatisieren, bietet die Blockchain. Eine Blockchain ist im Kern eine verteilte Datenbank für Transaktionen, deren Datensätze aufgrund kryptografischer Verfahren nachträglich nicht verändert werden können (Hackius und Petersen 2017). Der besondere Vorteil liegt darin begründet, dass Partner, die sich nicht vollständig vertrauen, keinen Intermediär benötigen, der Vertrauen sicherstellt (Tapscott und Tapscott 2016). Im Gegenteil, die Funktionsweise einer Blockchain macht Vertrauen obsolet. Einen Anteil daran haben auch sogenannte Smart Contracts. Diese können als programmierte Verträge verstanden werden, die durch bestimmte Ereignisse ausgelöst werden und z. B. automatisiert einen vorher festgelegten Zahlungsvorgang auslösen. Blockchain entstammt der Finanzwirtschaft, ist aber auch in Logistik und Supply Chain mit hohen Erwartungen belegt (­Petersen et  al. 2018). Große Potenziale werden vor allem im Zusammenhang mit dem Internet der Dinge gesehen, da Sensoren eine prädestinierte Datenquelle zum Speisen einer Blockchain darstellen. So ist z. B. denkbar, dass Zahlungen automatisch ausgelöst

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werden, sobald ein Ladungsträger am vereinbarten Zielort durch einen Sensor erfasst wird. Es überrascht also nicht, dass Supply Chain Finance als wichtige Anwendungsdomäne für Blockchain verstanden wird (Hofmann et al. 2017). Wie bei einigen anderen Technologien auch wird sich erst in den nächsten Jahren ein klares Bild ergeben, für welche Anwendungsfälle Blockchain tatsächlich einen Mehrwert bietet und sich durchsetzen kann (Iansiti und Lakhani 2017).

2.7 Digitale Herstellverfahren Digitale Herstellverfahren umfassen zahlreiche neue und bereits ältere Technologien. Im Kontext der Supply Chain 4.0 kommt besonders dem 3-D-Druck eine große Bedeutung zu. 3-D-Druck, auch Additive Manufacturing genannt, ermöglicht die Herstellung von digitalen Originalentwürfen (oder physikalischen Scans) ohne die Verwendung von zusätzlichem Werkzeug und Rüstaufwand (Gibson et al. 2015; Holmström et al. 2016). Während heutzutage in den meisten Produktionsprozessen subtraktiv gearbeitet wird (zum Beispiel wird durch Fräsen Material von einem Festkörper abgetragen), wird im 3-D-Druck in additiven Produktionsprozessen das Objekt schichtweise Ebene für Ebene neu erstellt. Obwohl die verwendbaren Materialien aktuell hauptsächlich auf Plastik, Metalle und Keramik beschränkt sind, geht die Entwicklung hin zu immer leistungsfähigeren Materialien. Auch Maschinen, die den gleichzeitigen Druck von unterschiedlichen Materialien ermöglichen, sind in der Entwicklung (Holweg 2015). Neben dem weit verbreiteten Anwendungsgebiet der werkzeuglosen Einzelteilfertigung im Rapid Prototyping hat der 3-D-Druck in den vergangenen Jahren auch Einzug in die industrielle Fertigung gehalten (Holweg et al. 2016). Mercedes-Benz produziert bereits heute nur in sehr geringer Stückzahl nachgefragte Kunststoff- und Metallserienteile per 3-D-Druck. Auf diese Weise können vor allem die kostenintensive Entwicklung und Anschaffung von Spezialwerkzeugen vermieden werden. Gleichzeitig kann kurzfristig auf Nachfrage reagiert und das Bauteil zeitnah zur Verfügung gestellt werden. Eine Bevorratung ist dann nicht mehr notwendig (Daimler AG 2017) oder kann in vielen Fällen deutlich reduziert werden (Heinen und Hoberg 2019). Am weitesten ist der industrielle 3-D-Druck in der kundenindividuellen Massenproduktion fortgeschritten. So wird im medizinischen Bereich neben Zahnersatz und Prothesen bereits die Mehrzahl an Hörgeräten mithilfe von 3-D-Druckern produziert. Innerhalb von weniger als zwei Jahren hat die Hörgerätebranche ihre Produktionsprozesse vollständig umgestellt: Während Hörgeräteschalen bisher per Abgussverfahren eines Abdrucks des Gehörgangs in Handarbeit geformt wurden, kann mittels digitaler Herstellverfahren ein Laserscanner den Abdruck optisch vermessen und in ein digitales Design umwandeln. Anschließend wird es modelliert und per 3-D-Drucker direkt gefertigt (Höhmann und Domke 2015). Die Hörschale, die kundenspezifisch an das Ohr jedes Patienten angepasst werden muss, ist somit ein Beispiel, wie ein digitales Design ohne weitere Werkzeuge in physikalische Objekte übertragen wird. Die Vorteile beschränken sich nicht

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nur auf den Prozessschritt selbst, sondern eröffnen auch Optimierungspotenziale entlang der gesamten Prozesskette. So ist die Fertigungsqualität einheitlich und präziser durch die exakte Arbeitsweise des 3-D-Druckers. Der Tragekomfort für den Kunden verbessert sich durch die Modellierung am Computer und der einfachere Prototypenbau beschleunigt die Produktentwicklung. Darüber hinaus erlaubt die digitale Bevorratung der kundenspezifischen Designs auch einen schnellstmöglichen Ersatz bei Verlust oder Reparatur (­Höhmann und Domke 2015).

2.8 Plattformen Cloud-basierte IT-Lösungen ermöglichen Unternehmen jederzeit und von jedem Standort aus, Daten und Dienstleistungen mit weiteren Teilnehmern der Supply Chain auszutauschen. Sie bieten damit die Voraussetzung, um gemeinsame Kooperationsplattformen zwischen unterschiedlichen Unternehmen entlang der Supply Chain zu entwickeln. Informationen können ohne aufwendige Integrationsszenarien kostengünstig und oftmals in Echtzeit ausgetauscht werden (van Bonn und Lastering 2014). Für die Transportindustrie kann diese Vernetzung sowohl Einsparungen als auch Wettbewerbsvorteile bedeuten: Beschleunigung der Einnahmenallokation, Disintermediation der Frachtmakler in der Transportkette und eine effizientere Nutzung von Gütern und Arbeitszeit stellen nur eine Auswahl an Nutzeffekten dar (Kok 2016). Crowd-Plattformen greifen dazu auf Cloud-Lösungen zurück, um Ressourcen (z. B. finanzielle, intellektuelle oder materielle) von Einzelpersonen kollektiv für traditionelle Geschäftsaktivitäten entlang der Wertschöpfung nutzbar zu machen (Carbone et al. 2017). Der zunächst nur aus der Personenbeförderung bekannte Dienstleister Uber bietet als Teil von Uber Freight Dienstleistungen an, die das ursprüngliche Konzept der Personenbeförderung auf den Logistikmarkt übertragen. Frachtaufträge können über die App des Dienstleisters direkt zwischen Versendern und einer Vielzahl an Fuhrunternehmen vermittelt werden, die darüber hinaus auch die Auftragsabwicklung und Zahlung ausführen (Uber Freight 2017). Neben dem Fernfrachtverkehr bietet Uber mit UberEATS und UberRUSH auch Plattformen für lokale Transportlösungen im Rahmen von Essenszustellungen und Lösungen für Same-Day-Delivery an (Carbone et al. 2017). Anwohner können entlang ihrer täglichen Wege Päckchen transportieren oder Lebensmittel abholen und diese an Empfänger in ihrer Nachbarschaft ausliefern. Auch DHL hat ein ähnliches Konzept bereits mit dem Service DHL MyWays getestet (DHL Trend Research 2016). Ermöglicht durch Cloud Computing gilt die internetgestützte Vernetzung von Objekten, Maschinen und Menschen als weitere Ausbaustufe des Technologieclusters (Emmrich et al. 2015). Initiiert von MAN Truck & Bus entsteht beispielsweise mit RIO eine herstellerübergreifende, offene und cloudbasierte Plattform für den Güterverkehr, die digitale Dienstleistungen der gesamten Logistikkette bündelt. So werden Daten aus unterschiedlichsten Bereichen wie Zugmaschine, Trailer, Aufbauten und Fahrer mit Daten zu Wetter und Verkehr kombiniert, um Handlungsempfehlungen zur Flottenadministration in Echtzeit zu

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ermöglichen. Dabei werden nicht nur Services direkt von RIO angeboten. Ein digitaler Marktplatz ermöglicht auch Drittanbietern, ihre Lösungen anzubieten. So werden z. B. Trailermanagement, Transportsteuerung sowie eine Onlinefrachtenbörse unter dem Dach der RIO-Plattform angeboten (RIO 2017). Der Kunde kann selbst entscheiden, welche der angebotenen Dienstleistungen er nutzen möchte und sein individuelles Paket zusammenstellen.

3 Wertschöpfungspotenziale digitaler Technologien in der Supply Chain Innovative Technologien bzw. deren Verknüpfung mit bestehenden Technologien sind das Herzstück der digitalen Transformation der Supply Chain. Entsprechend nehmen sie im Diskurs um die vierte industrielle Revolution eine zentrale Rolle ein. Zahlreiche wissenschaftliche Untersuchungen befassen sich mit der Frage, welche Unternehmen welche Technologien zu welchem Zeitpunkt einführen wollen und sollen. Außen vor gelassen wird häufig, welchen konkreten Vorteil sich die Unternehmen von der Adoption der technologischen Innovation versprechen. Vielfach scheint es so, als würde der Adoption selbst bereits ein Wert zugesprochen werden oder sie wird als so unausweichlich angesehen, dass die Ausweisung eines konkreten Mehrwerts nicht erforderlich erscheint. Manche technologische Initiative muss sich darum den Vorwurf des Selbstzwecks gefallen lassen (Syska und Lièvre 2016). Angesichts der in den vorangegangenen Abschnitten überblicksartig dargestellten Vielzahl technologischer Innovationen im Bereich Supply Chain und der notwendigen Investitionen müssen Unternehmen jedoch genau abwägen, welcher Technologiepfad den größten Mehrwert bieten kann. Ein Mehrwert wird auf oberster Ebene üblicherweise durch sinkende Kosten oder steigende Erlöse gemessen. Abb. 1 zeigt die Ergebnisse Verarbeitendes Gewerbe

Logistikdienstleister

20,1 %

Erlöse steigern 22,6 %

Kosten senken 17,6 %

Kosten senken & Erlöse steigern 39,6 %

Handel

14,5 %

Erlöse steigern 33,6 %

Kosten senken 34,2 %

Kosten senken & Erlöse steigern 17,8 %

25,5 %

Erlöse steigern 33,3 % Kosten senken 7,8 %

Kosten senken & Erlöse steigern 33,3 %

Abb. 1   Einschätzung des Mehrwerts der digitalen Transformation. (Quelle: in Anlehnung an Kersten et al. 2017)

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einer aktuellen Trendstudie zur Frage, welchen Mehrwert Unternehmen in der digitalen Transformation sehen (Kersten et al. 2017). Es wird deutlich, dass die Einschätzungen stark von der Branche abhängen. Im Schnitt sehen vier von fünf befragten Unternehmen einen Mehrwert bei den Kosten oder den Erlösen, rund ein Drittel sogar auf beiden Positionen. Eins von fünf Unternehmen erwartet dagegen keinen Mehrwert. Zur weiteren Differenzierung, wie die Anwendung neuer oder die Verknüpfung bestehender Technologien in Supply Chains wertschöpfend gestaltet werden kann, unterscheiden wir vier Wertschöpfungspotenziale (Hoberg und Alicke 2016): i) durch Optimierung der Prozesse, ii) durch Steigerung der Flexibilität, iii) durch Verwertung von Daten und iv) durch Verbesserung des Kundenerlebnisses. Abb. 2 gibt einen ersten Überblick der vier Wertschöpfungspotenziale. Nachfolgend werden sie näher beschrieben und durch Beispiele erläutert. Das erste Wertschöpfungspotenzial digitaler Technologien in der Supply Chain beinhaltet die weitere Optimierung von Prozessen, die häufig mit dem Ziel der Kostensenkung verbunden ist. Die Steigerung der Effizienz und Effektivität von Prozessen ist nach wie vor oft einer der wichtigsten Treiber für den Einsatz neuer Technologien. So erprobt DHL in Zusammenarbeit mit Locus Robotics den Einsatz von kollaborativen Robotern im Lagerbetrieb, die gemeinsam mit Lagerfachkräften die Kommissionierung von Medizinbekleidungsartikeln übernehmen (Forger 2017). Die autonome Transportlösung unterstützt die Mitarbeiter beispielsweise bei der schnellen Auffindung und dem Transport der Ware, die nun nicht mehr von Kommissionierern getragen oder mithilfe von Wagen geschoben werden muss (Deutsche Post DHL Group 2017).

Abb. 2   Wertschöpfungspotenziale digitaler Technologien. (Quelle: in Anlehnung an Hoberg und Alicke 2016)

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Das zweite Wertschöpfungspotenzial, welches der Einsatz digitaler Technologien in der Supply Chain bietet, ist die Steigerung der Flexibilität. Unternehmen werden z. B. in die Lage versetzt, kurzfristig und passend auf Maßnahmen des Wettbewerbs zu reagieren oder sich eröffnende neue Absatzmöglichkeiten zu nutzen. Auch das Angebot kann flexibler gestaltet werden, wenn z. B. selten verkaufte Produkte oder Ersatzteile für bereits ausgelaufene Produkte nicht mehr bevorratet werden müssen, sondern durch einen Kundenauftrag ausgelöst mittels additiver Herstellverfahren in Losgröße Eins produziert werden können. Digitale Technologien eröffnen auch das dritte Wertschöpfungspotenzial, das in der zielgerichteten Sammlung und Auswertung geschäftsrelevanter Daten liegt. Nicht zuletzt durch Fortschritte in der Sensorik stehen heute Daten in immer größeren Mengen zur Verfügung. Verkehrsdaten, Wetterinformationen und Daten zu alternativen Zustellpunkten ermöglichen z. B. eine optimierte Routenplanung, die Arbeitszeiten von Zustellern verringert und letztlich auch Kraftstoff spart. Auch ermöglicht die Auswertung bisher ungenutzter Datenmengen Herstellern tiefere Einblicke in die Nutzung ihrer Produkte. Rolls-Royce nutzt Betriebsdaten ihrer Flugzeugturbinen zur Optimierung der Instandhaltungszyklen und der weltweit verteilten Ersatzteilbestände. Auch die Umsetzung neuer Geschäftsmodelle wird durch eine bessere Datenverfügbarkeit ermöglicht. So verkaufen z. B. Triebwerkshersteller im Modell „Power by the Hour“ nicht das Triebwerk selbst, sondern eine Leistung, die in Abhängigkeit ihrer Nutzungsdauer abgerechnet wird. Ein in Literatur und Praxis vielfach übersehenes viertes Wertschöpfungspotenzial neuer Technologien liegt in der Verbesserung des Kundenerlebnisses durch digitale Technologien. Automatisierung, analytische Verfahren, Sensoren und die Verfügbarkeit und Auswertung neuer Datenquellen eröffnen vor allem im B2C-Bereich neue Möglichkeiten, das Kundenerlebnis angenehmer zu gestalten. Individualisierte Produkte sind z. B. mit sehr kurzer Vorlaufzeit zustellbar, und der Aufwand für den Einkauf der Dinge des täglichen Bedarfs wird deutlich verringert. So ist z. B. mittelfristig vorstellbar, dass Kunden individualisierte Kaffeekapseln per Knopfdruck direkt an der Kaffeemaschine bestellen und die Zustellung ohne weiteren Aufwand zu einem Zeitpunkt erfolgt, zu dem der Kunde tatsächlich zu Hause ist und die Bestellung in Empfang nehmen kann. Besonders dieses vierte Wertschöpfungspotenzial digitaler Technologien kann über die Optimierung des bestehenden Angebots hinaus auch die Grundlage für die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle bilden.

4 Fallbeispiele zum Einsatz digitaler Technologien in Supply Chain 4.0 Die neuen digitalen Technologien bieten das Potenzial, die etablierten Prozesse in Supply Chains erheblich zu verändern. In den beiden folgenden Abschnitten untersuchen wir die mögliche Wirkung von digitalen Technologien auf die Supply Chains zweier vertrauter Produkte: die Waschmaschine als ein Beispiel für ein elektrisches Haushaltsgerät und Bücher als Beispiel für ein weniger komplexes Konsumgut.

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4.1 Fallbeispiel Haushaltsgeräte Jährlich werden in Deutschland über 3 Millionen Waschmaschinen verkauft (ZVEI 2017). Zunächst scheint es, dass ein solch nachgefragtes und standardisiertes Produkt, welches immer noch vorwiegend über den konventionellen Fachhandel vertrieben wird, nur geringe Potenziale für den Einsatz digitaler Technologien aufweist. Wie in Abb. 3 dargestellt, zeigen wir im Folgenden jedoch auf, wie digitale Technologien ein vollständig neues Kundenerlebnis entlang der Supply Chain gestalten können (Hoberg und Alicke 2016). Jedes Kundenerlebnis beginnt mit der Phase der Lösungsfindung. Während in Deutschland heute elektrische Haushaltsgeräte fast ausschließlich als Standardkonfiguration verkauft werden, können flexible Fertigungsverfahren zukünftig eine Individualisierung des Produkts ermöglichen (Piller et al. 2004). Hierbei kann sich der Kunde entscheiden, die Maschine auf der Website des Herstellers auf seine spezifischen Anforderungen hin zu konfigurieren, z. B. hinsichtlich Größe, Ausstattung und Farben. Der chinesische Weißwarenhersteller Haier setzt bereits ein solches Modell ein und bietet dem Kunden zudem an, die Produktion in der transparenten Fabrik mit Webcams zu beobachten und somit „Zero-Distance-to-the-Customer“ zu erreichen (Campbell et al. 2015). Der Produktkonfigurator ermöglicht dabei nicht nur ein sofortiges Preisangebot, sondern auch ein zuverlässiges Lieferdatum auf Basis von Echtzeitproduktionsplänen und Kapazitäten. Heute erfolgt die Bestimmung des Lieferdatums häufig durch hinterlegte Standardwerte ohne einen Abgleich der wirklichen Verfügbarkeit von Komponenten oder Kapazitäten. Sollte der Konsument nicht bereit sein, auf ein freies Produktionszeitfenster zu warten, kann er ein ähnliches Modell kaufen, das bereits in einem Geschäft verfügbar ist. Die Website des Herstellers kann in diesem Fall relevante Modelle auf der Grundlage der Kundenpräferenzen vorschlagen und die Verfügbarkeit für zertifizierte Händler in der Nähe des Kunden anzeigen. Wenn sich der Konsument für eine Bestellung entscheidet, kann er anhand der aktuellen Transportkapazität bereits vorab das Lieferdatum (und die Lieferzeit) auswählen. Die Lieferzeit kann der Kunde jedoch noch bis kurz vor der Zustellung an seine Terminplanung anpassen, da die Routenführung des Lieferwagens laufend angepasst werden kann. Während bis heute in vielen Fällen bereits an diesem Punkt, nach der Auslieferung, das Kundenerlebnis vonseiten des Herstellers endet, stellen Nachverkaufsdienstleistungen eines der größten Potenziale dar, um das Kundenerlebnis zu verbessern und damit auch neue Umsatzfelder zu erschließen. Ist die Waschmaschine zu Hause installiert, kann der Kunde beispielsweise von neuen Waschmittelpatronen profitieren, die ein vergleichbares System wie Druckerpatronen auf Waschmaschinen übertragen. Der deutsche Premiumhersteller Miele bietet bereits eine intelligente Waschmaschine an, die das Waschmittel je nach Gewicht und Verschmutzungsgrad der Ladung automatisch dosiert. Der Füllstand der Patrone wird ständig überwacht und der Kunde auf seinem Smartphone vorbeugend benachrichtigt, wenn es an der Zeit ist, die Patrone zu wechseln. Per Knopfdruck löst der Kunde den Nachschubauftrag aus oder nutzt kundenspezifisch

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Abb. 3   Einsatz digitaler Technologien für die Supply Chain 4.0 einer Waschmaschine. (Quelle: in Anlehnung an Hoberg und Alicke 2016)

angebotene Aktionen des Herstellers. Die Kartusche wird dann aus Kundengesichtspunkten an jeden gewünschten Ort geliefert, einschließlich in den Kofferraum des Autos während der Arbeitszeit. Neben dem Waschmittelbestand überwacht die intelligente Waschmaschine auch ihren Betriebszustand und informiert den Kunden sowie den Hersteller über anormale Vibrationen oder einen Wasseraustritt. Für Wartungstermine kann der Servicetechniker vorab den Betriebszustand abfragen und eine Auswahl an Ersatzteilen mitbringen, die am ehesten benötigt werden. Wenn das Maschinenleben endet oder der Hersteller beschließt, die Maschine auslaufen zu lassen, kann er anhand der Informationen über den Maschinenstatus maßgeschneiderte Ersatzangebote anbieten, um damit ein neues Kundenerlebnis einzuleiten.

4.2 Fallbeispiel Digitaldruck Während Technologien wie der 3-D-Druck erst beginnen, ihr Potenzial zu entfalten, liefern verwandte Technologien anschauliche Anwendungsfälle, bei denen der Einsatz digitaler Technologien die Supply Chain revolutioniert hat. Die Transformation im Verlagswesen vom Offsetdruckverfahren zum Digitaldruck stellt dabei eine Blaupause dar, wie Möglichkeiten einer Print-on-Demand-Lösung genutzt werden können (siehe Abb. 4). Im Vergleich zur Waschmaschine ist in diesem Beispiel vor allem die Sicht des produzierenden Unternehmens von größter Bedeutung. Einer der führenden Verlage im Wissenschaftsbereich hat sich bereits frühzeitig entschieden, für eine Vielzahl seiner Bücher das weit verbreitete Offsetdruckverfahren durch den Digitaldruck zu ersetzen. Der Verlag hat sich dabei zu einem Pionier für eine Produktion entwickelt, die vollständig durch die Nachfrage gesteuert wird. Sämtliche

Die Implikationen digitaler Technologien für die Supply Chain 4.0 Digitalisierung Digitalisierung der Buchtitel Physische Lagerhaltung wird durch die digitale Kopie der Fachbücher ersetzt

Digitale Herstellverfahren & Plattformen

Verkaufsplanung Bedarfsprognose wird lediglich für die erste Auflage benötigt Nutzung historischer Daten und Vorbestellungen Supply Chain Analytics

Herstellung Digitaler Druck mit kleinsten Losgrößen Netzwerk aus dezentralen Druckcentern Automatisierte Drucksteuerung Prozessautomatisierung

181 Lieferung Kurze Lieferwege

Direkte Verfügbarkeit ohne Lagerhaltung

Supply Chain Analytics

Abb. 4   Einsatz digitaler Technologien für die Supply Chain 4.0 eines Druckerzeugnisses. (Quelle: Eigene Darstellung)

Bücher, die eine Auflage von weniger als 10.000 Exemplaren aufweisen, werden bis zur Losgröße Eins on-demand digital gedruckt. Dies entspricht nicht weniger als 90 % des gesamten Angebotsportfolios. Der Verlag kann mit der digitalen Fertigung ganz ähnliche Vorteile erzielen, die auch im 3-D-Druck von enormer Relevanz sind: Der Digitaldruck bietet durch sehr geringe Rüstkosten und vergleichsweise kurze Rüstzeiten im Vergleich zum Offsetdruck eine wirtschaftliche Alternative für kleinste Stückmengen. Dies ist vor allem für einen Wissenschaftsverlag von Vorteil, der sehr hochwertige Bücher vertreibt, die nur eine sehr spezifische und oft überschaubare Kundengruppe ansprechen und eine durchschnittliche Absatzmenge von weit unter 1000 Exemplaren besitzen. Gleichzeitig besteht, wie in vielen anderen Industrien auch, die Herausforderung, dass die Nachfrage sehr unsicher ist. Auch wenn sich die stückbezogenen Produktionskosten durch Einführung des Digitaldrucks deutlich erhöht haben, hat es der Verlag geschafft, durch die Digitalisierung der Wertschöpfungskette die Gesamtkosten drastisch zu reduzieren. Allein der ganzheitliche Fokus auf das Supply Chain Management ermöglichte eine starke Senkung der Lagerhaltungskosten sowie eine deutliche Verbesserung des Kundenerlebnisses. Der Verlag profitiert von einer Vielzahl der in Kapitel zwei vorgestellten Technologien. Zunächst wird Supply Chain Analytics eingesetzt, um den ersten Produktionslauf zu planen und die erste Auftragsmenge möglichst genau zu prognostizieren. Dabei werden nicht nur bereits getätigte Reservierungen berücksichtigt, sondern auch auf historische Bestellmengen vergangener Auflagen oder ähnlicher Fachbücher zurückgegriffen. Sollte sich bereits in diesem Schritt ein Auftragsvolumen von über 10.000 Stück andeuten, wird weiterhin auf das Offsetdruckverfahren gesetzt und die Skaleneffekte der deutlich günstigeren Produktionskosten ausgenutzt. Andernfalls wird auf ein weltweit verteiltes Produktionsnetzwerk zurückgegriffen, das sich stark von der bisherigen zentralisierten Supply Chain unterscheidet. Die digitale Herstellung ermöglicht eine Dezentralisierung der Produktion in kleinen Stückmengen, die deutlich näher an den Kunden rückt und Transportwege reduziert. Anstatt wie im Offsetdruckverfahren in wenigen zentralen Druckcentern Bücher in großen Auflagen zu drucken und einzulagern, anschließend

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Bestellungen zu konsolidieren und dann weltweit zu versenden, ermöglicht der Digitaldruck die Zusammenarbeit mit kleineren Druckcentern. Diese halten ein weltweites Netz an Druckkapazität vor und erzielen so eine vergleichbare oder sogar noch kürzere Lieferzeit als die der Massenproduktion. Je nach Region vergehen dabei weniger als 24 h von der Bestellung des Kunden bis zur Auslieferung für Softcoverbücher und maximal drei bis fünf Tage für Hardcoverbücher. Die Ergebnisse des Verlags sprechen für sich. So ließ sich nicht nur der Lagerbestand um mehr als 70 % reduzieren, sondern es können nun wieder Bücher auf Nachfrage verfügbar gemacht werden, die bereits seit Langem aufgrund mangelnder Nachfrage nicht mehr im Verlagsangebot standen. Die physische Lagerhaltung wird also durch einen digitalen Katalog an Büchern ersetzt. Aus Sicht des Kunden sind Titel nicht mehr vergriffen, sondern, sofern eine digitale Kopie vorliegt, jederzeit verfügbar. Während zuvor bis zu 30 % des Druckvolumens abgeschrieben werden musste, ermöglicht die Digitalisierung eine nahezu vollständige Reduzierung der Abschreibungen. Neben Supply Chain Analytics und digitalen Herstellverfahren ist eines der wichtigsten Bestandteile einer solchen Transformation die Kollaboration mit den externen Druckdienstleistern. Mussten zuvor Bücher transportiert werden, sendet der Verlag nun lediglich den digitalen Druckauftrag an den Partner, der den jeweiligen Auftrag fertigt und den Versand vorbereitet. In diesem Schritt spielt vor allem die Prozessautomatisierung eine wichtige Rolle, bei der die Auftragsverwaltung durch ein SAP-basiertes System gesteuert wird, in der die Durchlaufzeiten sämtlicher Drucker hinterlegt sind und in Echtzeit zur Verfügung stehen. So kann automatisiert ein passender Drucker mit der hinterlegten digitalen Datei des Titels angesteuert werden. Zusammenfassend hat erst das Zusammenspiel aus unterschiedlichen digitalen Technologien die Supply Chain optimiert und dabei sowohl den Nutzen für den Verlag als auch für den Kunden grundlegend verändert. Der Verlag hat trotz höherer Produktionskosten Einsparungen entlang der Supply Chain erzielt, die die Gesamtkosten der Wertschöpfung deutlich reduzieren und für Kunden sogar einen Mehrwert und damit mögliche neue Umsatzfelder bedeuten. Kunden profitieren nicht nur von den kurzen Lieferzeiten der Bücher, sondern können gleichzeitig auf eine deutlich erweiterte Auswahl verfügbarer Titel zurückgreifen, die andernfalls bereits längst aus dem Sortiment des Wissenschaftsverlags verschwunden waren.

5 Zusammenfassung und Ausblick Die Digitalisierung bietet eine Vielfalt an Potenzialen für die Weiterentwicklung von Supply Chains. Gleichzeitig erlauben diese Potenziale den Supply-Chain-Managern, ihre Relevanz aufs Neue zu verdeutlichen. In vielen Unternehmen wird das Supply Chain Management noch zu sehr auf eine Kostensenkungsfunktion reduziert und man übersieht die Möglichkeit, der Unternehmensentwicklung neue Impulse zu geben (Hoberg et al. 2015). Jedes Unternehmen muss eigene Schwerpunkte identifizieren, bei denen es die größten Potenziale der neuen Technologien sieht. Gleichzeitig fehlt es oft noch an Standards und etablierten

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Lösungen. Dies bringt gerade kleine und mittelständische Unternehmen in die schwierige Lage, ihre oft besonders knapp bemessenen Ressourcen richtig zuzuweisen. Demgegenüber steht eine Vielzahl von Tech-Start-ups im Bereich Supply Chain, die sich mit neuen Lösungen positionieren und um potenzielle Kunden werben. Am Beispiel von Supply Chain Analytics zeigen sich die Herausforderungen, vor denen eine Vielzahl von Unternehmen stehen (Alicke et al. 2016a). Zum einen fehlt es oft an der Vision zu sehen, wie sich Supply Chains durch den Einsatz von Big Data optimieren lassen. Insbesondere fehlt es den meisten Unternehmen an einem strukturierten Prozess, um Potenziale zu identifizieren und zu bewerten. Zum anderen mangelt es häufig an den technischen Fähigkeiten und Erfahrungen von Supply-Chain-Managern mit neuen digitalen Technologien. Während der Beruf generell als besonders funktionsübergreifend angesehen wird (Flöthmann und Hoberg 2017), mangelt es den Managern vermehrt an speziellen technischen Erfahrungen mit Datenanalysemethoden, wie sie besonders von Data Scientists verwendet werden. Aus diesem Grund besteht mehr denn je der Bedarf an der Zusammenarbeit in funktionsübergreifenden Teams mit Experten aus verschiedenen Bereichen, die eine gemeinsame Umsetzung erlauben. Bei der Umsetzung spielen dann vorwiegend die klassischen Fragestellungen der richtigen Organisationsstruktur, der Anreizsysteme und der Unternehmenskultur eine wichtige Rolle. Die Entwicklung der nächsten Jahre wird zeigen, welche Bereiche der Supply Chain am meisten von Veränderungen betroffen sind. Alle Prozesse von Planung und Einkauf über Produktion und Lagerung bis zum Verkauf und Transport bieten ein erhebliches Potenzial für den Einsatz neuer Technologien. Schon heute wird deutlich, wie sehr sich eine Supply Chain des Jahres 2025 von der im Jahr 2015 unterscheiden wird. Sie wird effizienter, kundenspezifischer, schneller und sicherer sein. Darüber hinaus werden sich die Teilnehmer in der Supply Chain deutlich verändern und deren Wertschöpfungsanteile sich merklich verschieben. Viele der Entwicklungen werden dabei sogar für den normalen Konsumenten sichtbar sein – ob durch gänzlich neue Geschäftsmodelle oder nur durch die pünktliche Lieferung der für ihn hergestellten Ware.

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Prof. Dr. Kai Hoberg ist Professor für Supply Chain und Operations Strategie und Department Head an der Kühne Logistics University. In seiner Forschung untersucht er insbesondere die Potenziale der Digitalisierung auf das Supply Chain Management unter Nutzung empirischer Daten. Dr. Moritz Petersen  ist Senior Researcher an der Kühne Logistics University sowie Habilitand an der Technischen Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Anwendung neuer Technologiekonzepte sowie im Bereich der Nachhaltigkeitsverbesserungen in Logistik und Supply Chain Management. Jakob Heinen  ist Doktorand im Bereich Supply Chain Management an der Kühne Logistics University in Hamburg. Im Rahmen seines Promotionsvorhabens untersucht er die Wirkung digitaler Produktionslösungen, wie beispielsweise 3-D-Druck, entlang globaler Wertschöpfungsketten.

Systematische Abschätzung von Wirtschaftlichkeitseffekten von Industrie-4.0-Investitionen mithilfe von Prozess- und Potenzialanalysen Robert Obermaier, Johann Hofmann und Victoria Wagenseil

1 Problemstellung Der Begriff „Industrie 4.0“ beschreibt eine durch (weitgehende) Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure charakterisierte industrielle Wertschöpfung (Obermaier 2016). Deren Zweck „ist die Verfügbarkeit aller relevanten Informationen in Echtzeit durch Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Instanzen sowie die Fähigkeit, aus den Daten den zu jedem Zeitpunkt optimalen Wertschöpfungsfluss abzuleiten. Durch die Verbindung von Menschen, Objekten und Systemen entstehen dynamische, echtzeitoptimierte und selbst organisierende, unternehmensübergreifende Wertschöpfungsnetzwerke, die sich nach unterschiedlichen Kriterien wie beispielsweise Kosten, Verfügbarkeit und Ressourcenverbrauch optimieren lassen“ (Plattform Industrie 4.0 2014). Das daraus zu erwartende Nutzenpotenzial ist jedoch ex ante nur schwer abschätzbar, sodass die Unternehmenspraxis angesichts nicht unerheblicher und teils mit hohen Risiken behafteter Investitionsvolumina an einer dezidierten Analyse der Wirtschaftlichkeitspotenziale von Industrie-4.0-Investitionen interessiert ist. Die Situation ähnelt ein wenig jener zurzeit des Computer Integrated Manufacturing (CIM). CIM-Projekte sollten neben diversen Automatisierungstechniken vor allem eine R. Obermaier (*)  Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] J. Hofmann  Maschinenfabrik Reinhausen GmbH, Regensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] V. Wagenseil  Maschinenfabrik Reinhausen GmbH, Regensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_8

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IT-Integration von betriebswirtschaftlichen Planungs- und Steuerungsaufgaben mit den primär technisch orientierten Aufgaben der Produktion leisten. Schon damals beschäftigte die Frage nach der Kosten-Nutzen-Relation von Investitionen in sog. CIM-Technologien neben den Produktionsexperten vor allem auch Controller in Theorie und Praxis (z. B. Kaplan 1986; Wildemann 1986; Horvath und Mayer 1988; Mertens und Schuhmann 1989; Zäpfel 1989). Damals herrschten zwei Sichtweisen vor: den einen ging es um quantitativ aufzuzeigende Kosteneinsparungen ganz im Sinne einer Rationalisierungsinvestition, den anderen ging es um die mit CIM-Investitionen verbundenen strategischen Wettbewerbsvorteile, die anstatt mit einer klassischen Investitionsrechnung eher mittels qualitativer Bewertungsinstrumente evaluiert werden sollten. Freilich war dieser konstruierte Gegensatz auch schon damals irreführend, da eine auf Prozesseffizienz abzielende Rationalisierungsinvestition ebenso strategische Wettbewerbsvorteile mit sich bringen kann. Und so bestehen damals wie heute Schwierigkeiten einer Quantifizierung und monetären Bewertung von zunächst womöglich einfachen qualitativ beschreibbaren Nutzendimensionen von Industrie-4.0-Investitionen. Ein Ausweichen auf rein qualitative Bewertungsmethoden erfüllt heute genauso wenig wie damals die Erwartungen des Managements, belastbare Einschätzungen über die Kosten-Nutzen-Relationen derartiger Investitionen zu erhalten; besteht doch unvermindert die Gefahr, qualitative Kriterien – die überdies nicht für die Planung und Kontrolle von Investitionsbudgets geeignet sind – in der Tendenz zu optimistisch zu bewerten. Hinzu kommen weitere gravierende Probleme auf dem Weg zu einem entsprechenden Instrumentarium: die allgemein hohe Komplexität betrieblicher Produktionsprozesse, die komplexe Wirkungslogik von Industrie-4.0-Technologien, die Schwierigkeiten ihrer kausalen Abbildung auf der Ebene finanzieller Größen und schließlich der stets unternehmensspezifische Charakter derartiger Investitionen. Erst wenn eine adäquate Beurteilung für Industrie-4.0-Technologien möglich ist, werden Unternehmen in einem nennenswerten Maß in derartige Technologien und deren (Weiter-)Entwicklung investieren. Allerdings liegen bislang kaum wissenschaftlich fundierte Instrumente und Methoden vor, mit denen Wirtschaftlichkeitsbeurteilungen im Anwendungsfeld Industrie 4.0 systematisch und möglichst generisch durchgeführt werden können.1 Damit ist die Problemstellung des vorliegenden Beitrags umrissen: Wie lassen sich methodisch gestützt die Wirtschaftlichkeitspotenziale von Industrie-4.0-Investitionen abschätzen? Dazu soll in einem ersten Schritt auf eine besondere Klasse von Industrie-4.0-Technologien abgestellt werden, nämlich sog. Manufacturing Execution Systeme (MES), denen die Rolle einer Basistechnologie mit dem Ziel einer vernetzten Fertigungssteuerung im Kontext von Industrie 4.0 zukommt. Daran anschließend soll aufgezeigt werden, wie mittels Prozess- und Potenzialanalysen strukturiert Wirtschaftlichkeitspotenziale identifiziert und bewertet werden können.

1Vgl.

dazu insbesondere die erstmalige Darstellung bei Obermaier et al. (2015), auf die sich die vorliegende Darstellung stützt.

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2 Manufacturing Execution Systeme als Industrie-4.0-Basistechnologie Das relevante Anwendungsfeld von Industrie-4.0-Investitionen ist grundsätzlich das Fertigungssystem eines Unternehmens. Dabei werden als wesentlicher Baustein sog. cyber-physische Produktionssysteme (CPPS) angesehen. Das sind nach Obermaier (2016) Systeme, die • mittels Sensoren Daten erfassen, mittels eingebetteter Software aufbereiten und mittels Aktoren auf reale Vorgänge einwirken, • über eine Dateninfrastruktur wie z. B. das Internet kommunizieren und • über Mensch-Maschine-Schnittstellen verfügen. Im Bereich der industriellen Fertigung sind sog. Manufacturing Execution Systeme (MES) der kritische Baustein zur Etablierung cyber-physischer Produktionssysteme, wenn sie als • interoperables, • echtzeitfähiges und • webfähiges Bindeglied zwischen dem ERP- oder dem PPS-System und der physischen Fertigung („shop floor“) fungieren und so die Vernetzung aller an der Fertigung beteiligten Akteure bewirken. Ein Fertigungssystem besteht in der Regel aus Maschinen, Mitarbeitern (z. B. Maschinenbediener, Werkzeugeinsteller, Programmierer) sowie Materialien, weiteren Ressourcen (wie z. B. Fertigungshilfsmittel) und Informationen, die zwischen den vorhandenen Maschinen, Mitarbeitern und deren Umgebung ausgetauscht werden. MES sollen Informationen liefern und die Produktionsabläufe vom Anlegen eines Auftrags über die Fertigungssteuerung bis hin zum fertigen Produkt möglichst effizient gestalten. Entsprechende MES können daher als Basistechnologie auf dem Weg zu einer digital vernetzten Fertigung angesehen werden.2 Zum Zwecke der im Rahmen von Industrie 4.0 angestrebten Vernetzung aller Akteure fungiert das MES dabei als zentrale Informationsdrehscheibe in der Fertigung: Die einzelnen Akteure melden ihre Anfragen dem MES, das die geforderten Informationen bei den entsprechenden Akteuren abfragt, diese Informationen gegebenenfalls verknüpft und das Ergebnis der anfragenden Stelle überträgt. Die dabei stattfindende Integration von Subsystemen der Fertigung verändert existierende Arbeitsabläufe und gewohnte Muster der Zusammenarbeit, der Informationsbeschaffung und des Datenaustauschs

2Zu einer detaillierteren Darstellung der Funktionsweise siehe Obermaier et al. (2010) sowie ­Kiener et al. (2018).

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sowie Kommunikationsstrukturen und stellt daher einen nicht unerheblichen Eingriff in das bestehende Fertigungssystem dar, dessen Auswirkungen im Rahmen einer Prozessanalyse zu modellieren sind. Die vorliegenden Ausführungen beziehen sich beispielhaft auf ein spezielles webbasiertes MES, das von der Maschinenfabrik Reinhausen entwickelt und implementiert wurde und auf Fertigungsunternehmen mit zerspanender Fertigung konzentriert ist. Dieses webbasierte MES begleitet den Auftragsprozess arbeitsstationsübergreifend und sichert einen durchgängigen Informationsfluss im sog. Fertigungshilfsmittelkreislauf. Die durch das MES unterstützten Prozesse betreffen daher vornehmlich die Arbeitsvorbereitung und hier konkret die Rüstprozesse der im Einsatz befindlichen Maschinen. Den verschiedenen Akteuren (Programmierer, Meister, Werkzeugeinsteller, Maschinenbediener, Lagerist, Qualitätssicherer, Instandhalter und Administrator) stellt das MES aufgabenbezogene, einfach zu bedienende Oberflächen zum Zweck der Entscheidungsunterstützung zur Verfügung. Abb. 1 liefert einen Überblick über wesentliche Akteure in der Fertigung. Dieser rollenspezifischen Aufteilung folgt insbesondere auch die im Weiteren darzustellende Wirtschaftlichkeitsanalyse. Aktiviert wird das MES, indem durch das Produktionsplanungssystem (PPS) der Auftrag für ein bestimmtes Werkstück gestartet wird. Das MES steuert und überwacht

Abb. 1   Integration der Akteure eines Fertigungssystems durch ein MES. (Quelle: Maschinenfabrik Reinhausen)

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daraufhin den vollständigen Fertigungshilfsmittelkreislauf auf Arbeitsgangebene: Programme, Werkzeuge, Spannmittel, Vorrichtungen, Mess- und Prüfmittel sowie alle dazu notwendigen Daten werden papierlos durch die Fertigung dirigiert.

3 Konzeption einer Prozess- und Potenzialanalyse zur Beurteilung von Industrie-4.0-Investitionen 3.1 Überblick Geschäftsprozesse sind allgemein die in einem Unternehmen zielgerichtet durchzuführenden Aktivitäten in ihrer sachlichen und zeitlichen Abfolge, welche durch die sie auslösenden bzw. durch sie ausgelösten Ereignisse verknüpft sind. Die Modellierung und Verbesserung von Geschäftsprozessen ist in Theorie und Praxis unter dem Stichwort Business Process Reengineering bekannt (Hammer und Champy 1993). Ebenso ist bekannt, dass Art und Weise der Aufbauorganisation maßgeblich über die mögliche Art des Ablaufs von Prozessen entscheidet. Dieser Sachverhalt ist im Kontext von Industrie 4.0 in besonderer Weise relevant: Die Struktur des Fertigungssystems beeinflusst maßgeblich die Fertigungsprozesse. Ausgangspunkt einer Abschätzung von Wirtschaftlichkeitspotenzialen einer MES-Investition sind folglich die Ist-Prozesse in der Fertigung. Dazu ist es nötig, dass zur Modellierung komplexer Fertigungssysteme und der dazugehörigen betrieblichen Abläufe Verfahren der Prozessanalyse und der Prozessmodellierung zum Einsatz kommen. Zum Zweck der Geschäftsprozessmodellierung haben sich in Theorie und Praxis u. a. Ereignisgesteuerte Prozessketten (EPK), die Unified Modeling Language (UML) und die Business Process Modeling and Notation (BPMN) bewährt (Gadatsch 2001; Staud 2001; Lindenbach und Göpfert 2012). Diese Modellierungsinstrumente sind gegenüber rein schriftlicher Dokumentation weitaus besser analysierbar. In der BPMN-Notation werden die Prozesse zudem nach Prozessbeteiligten (z. B. Akteure, Systeme, Module) in sog. Swim-Lanes strukturiert, was insbesondere die Anschaulichkeit komplexer Prozessstrukturen deutlich erhöht. An die Ist-Prozessmodellierung schließt sich die Soll-Prozessmodellierung an, die die Wirkungslogik der einzuführenden Industrie-4.0-Technologie, hier des MES, und entsprechende Prozessänderungen modellieren soll. Damit geht einher, dass auf Prozessebene ein Vorabvergleich von Ist- und Soll-Prozessen und damit eine Identifikation von Wirtschaftlichkeitspotenzialen auf Prozessebene möglich werden. Die vorgeschlagene rollen- bzw. akteursspezifische Prozess- und Potenzialanalyse zur Identifikation und Bewertung der durch den Einsatz eines MES erzielbaren Wirtschaftlichkeitspotenziale kann konkret in fünf Schritte unterteilt werden (vgl. Abb. 2). Diese sind Gegenstand der folgenden Ausführungen.

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Abb. 2   Modell zur Wirtschaftlichkeitsanalyse für Industrie-4.0Basistechnologien. (Quelle: Eigene Darstellung)

3.2 Prozessanalyse In Schritt 1 wird die Ist-Situation des bestehenden Fertigungssystems erfasst. Als Informationsquellen dienen in dieser Phase vor allem prozessbeteiligte Mitarbeiter, auf deren Arbeitsplatz, Systeme und Arbeitsabläufe die Einführung der neuen Technologie Auswirkungen haben kann. Als entsprechende „Akteure“ kommen grundsätzlich infrage (vgl. auch Abb. 1): • CAD-/CAM-Programmierung, • Werkstattorientierte Programmierung (WOP), • Schichtführer, • Lagerist, • Werkzeuglager, • Werkzeugeinsteller, • Maschinenpark,

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• Qualitätssicherung, • Produktionscontrolling, • Serviceabteilungen. Zur Erfassung des Ist-Zustands können etablierte Methoden der Mitarbeiterbefragung bzw. strukturierte Interviews eingesetzt werden. Nach der Aufnahme und Analyse der Ist-Situation mithilfe des Fragenkatalogs werden in Schritt 2 Anforderungen an das Soll-Konzept abgefragt. Durch die Erfassung der Anforderungen werden alle für das betrachtete Fertigungssystem relevanten Faktoren, die im Zuge einer Systemintegration berücksichtigt werden sollen, gesammelt. Beispielsweise können Fertigungsverantwortliche und -mitarbeiter gezielt Verbesserungswünsche einbringen, die u. U. bei der Konzeption des Lösungsvorschlags für die Implementierung der betrachteten MES-Technologie berücksichtigt werden können. Dies stellt sicher, dass der Umfang des Investitionsvorhabens und die Erwartungshaltung an den Funktionsumfang der potenziell zu implementierenden Technologie von Beginn an transparent sind und dokumentiert werden. In Schritt 3 wird der Soll-Prozess modelliert, der die Ergebnisse der Ist-Analyse (Schwachstellen und Verbesserungspotenziale) sowie die Soll-Anforderungen berücksichtigt, wobei insbesondere beschrieben werden muss, wie durch den Einsatz des zu bewertenden MES und bei Berücksichtigung der Ausgangssituation eine Integration des bestehenden Fertigungssystems erreicht werden kann. Es wird festgelegt, • welche Arbeitsabläufe automatisiert oder durch Entscheidungsunterstützungssysteme ergänzt werden, • welche Funktionalitäten der Industrie-4.0-Technologie diese Automatisierung bzw. Unterstützung gewährleisten, • welche systemtechnischen Voraussetzungen hierfür bereits vorhanden sind (z. B. notwendige Ablagestrukturen oder ausreichende Datenqualität) oder • wo an der vorhandenen Hard- und Softwareausstattung z. B. Änderungen oder Aktualisierungen notwendig sind, Daten gepflegt oder Strukturen angepasst werden müssen. Im Ergebnis wird pro Akteur (vgl. Abb. 1), d. h. Programmierung, Meister/Schichtführer, Lagerist, Werkzeuglager, Werkzeugeinsteller, Maschinenpark, Qualitätssicherung, Produktionscontrolling, Instandhaltung etc., jeweils ein Ist-Prozess (vgl. Abb. 3) und der entsprechende Soll-Prozess (vgl. Abb. 3) erzeugt. Die Soll-Ist-Vergleiche bilden in Schritt 4 die ex ante zu erwartenden Struktur- und Prozessveränderungen bei Einsatz eines MES im Fertigungssystem ab. Daraus lassen sich unmittelbar Schlussfolgerungen über Prozessvereinfachungen oder -automatisierungen ziehen. Zwar liefert bereits die Ist-Prozessmodellierung in der Regel erste Anhaltspunkte für Maßnahmen zur Prozessverbesserung, so erlaubt aber erst die Gegenüberstellung mit dem Soll-Prozess eine Identifikation der Wirtschaftlichkeitspotenziale durch das MES. Insbesondere können die modellierten Teilprozesse danach unterschieden werden, inwieweit

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Abb. 3   Prozessdarstellung eines Akteurs im Ist und im Soll (in BPMN-Notation). (Quelle: Eigene Darstellung)

sie ex post noch von a) manuellen, b) geistigen oder schon c) (teil-)automatisierten bzw. IT-gestützten Aktivitäten geprägt sein werden. Darauf aufbauend können im Rahmen der Potenzialanalyse unmittelbar durch das MES realisierbare Rationalisierungspotenziale in den Teilprozessen identifiziert ­werden. Neben dieser hier weiterverfolgten Variante („bottom-up“) können auch („top-down“) solche Performancekennzahlen der Fertigung bestimmt werden, von denen erwartet wird, dass sie durch das MES beeinflusst werden. Dazu gehören regelmäßig • Maschinenproduktivität, • Overall Equipment Efficiency (OEE), • Auslastung, • Effektivität, • Qualitätsrate, • Durchlaufzeit, • Termintreue, • Bestände. Diese Top-down-Sicht hilft insbesondere, die Gesamtschau über die Wirkungspotenziale des einzuführenden MES zu erhalten und so eine ganzheitliche Steuerung der Fertigungsprozesse zu ermöglichen. Allerdings gestaltet sich der empirische Nachweis entsprechender Wirkungen schwierig. Schließlich kann ein Investitionscontrolling für die laufende Planung und Kontrolle der angestrebten Performancewirkungen im Rahmen der Implementierung und danach zur Wirkungskontrolle etabliert werden. Während in der hier interessierenden Entscheidungsphase eine Prozess- und Potenzialanalyse über die Wirkungspotenziale eines

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MES Auskunft geben soll, kann im Rahmen eines laufenden Investitionscontrollings (einschließlich Abweichungsanalysen mit entsprechender Rückkopplung) sowohl in der Phase der Implementierung und Realisierung der angestrebten Performancepotenziale als auch einer abschließenden Erfolgskontrolle der angestrebten Wirkungen (ggf. mit weiteren Empfehlungen) weiterer Nutzen gestiftet werden (siehe Obermaier und Kirsch 2016).

3.3 Potenzialanalyse 3.3.1 Rollenlogik In der Potenzialanalyse (Schritt 5) sollen die erwarteten Wirkungsfaktoren jeweils inhaltlich beschrieben sowie Messgrößen für deren Quantifizierung und monetäre Bewertung und für deren qualitative Bewertung festgelegt werden. Dabei werden die auszuweisenden Wirkungspotenziale nach den am Fertigungsprozess beteiligten Akteuren („Rollen“) geordnet (vgl. Abb. 1). Je Akteur werden zunächst Ist-Daten des jeweiligen Teilbereichs der Fertigung dokumentiert. Dies erfolgt auf Grundlage eines strukturierten Fragebogens, in welchem relevante betriebswirtschaftliche (z. B. Anzahl der Mitarbeiter je Schicht, Arbeitstage pro Jahr, durchschnittlicher Stundensatz je Mitarbeiter) und technologische Rahmendaten (z. B. Art des Werkzeuglagersystems, Lagerentnahmeprozess etc.) erhoben werden, sofern sie nicht ohnehin schon Gegenstand der vorangegangenen Prozessanalyse waren. 3.3.2 Rollenspezifische Potenzialanalyse und Bewertungslogik Daran schließt sich die eigentliche rollen- bzw. akteurspezifische Potenzialanalyse an, die einem praktisch bewährten Berichtsformat folgt. Je Akteur sind in tabellarischer Form alle Wirkungspotenziale zu benennen, welche aus dem Einsatz des MES in der jeweiligen Rolle zum Tragen kommen können (vgl. Abb. 4). Die Wirkungspotenziale sind dabei jeweils in Ursache- und Wirkungszusammenhängen abzubilden, was für nachvollziehbare Argumentationsketten und Transparenz bei der Ableitung quantitativer und qualitativer Bewertungen sorgt. Die hierbei anzusetzenden Ursachenklassen entspringen der Funktionalität des jeweiligen MES und sind, unter Rückgriff auf die Soll-Prozessmodellierung und den Soll-Ist-Vergleich, rollen- und kontextspezifisch zu entwickeln. Die Darstellung jedes Ursache-Wirkungs-Paares wird dabei in der Potenzialanalyse (sowie in dem dazugehörigen Berichtsformat) konsequent in drei Analysesegmente unterschieden (vgl. die spaltenweise Struktur in Abb. 4): • „Ursache“ und inhaltliche „Erläuterung“, • „Quantitative Wirkung“ und • „Qualitative Wirkung“. Im ersten Analysesegment werden jene Funktionalitäten des MES aufgeführt, die ursächlich für konkrete Vorteile des Systems in dem zu bewertenden Unternehmen sind (z. B.

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Abb. 4   Rollenspezifische Potenzialanalyse. (Quelle: Eigene Darstellung)

„Vollständige Versorgung mit Werkzeugdaten“). Dabei handelt es sich im Kern um die Wirkungslogik des einzusetzenden MES, dessen Vereinfachungs- oder Automatisierungslogik aus den Soll-Ist-Vergleichen offenbar wurde. In der Spalte „Erläuterungen“ werden die mit den Ursachen verbundenen Wirkungspotenziale näher erklärt. Das zweite Analysesegment befasst sich mit den quantifizierbaren, d. h. messbaren und monetär bewertbaren Wirkungen je Ursache. Dabei wird zuerst beschrieben, wie sich die Wirkungspotenziale erklären („produktive Logik“) und mit welcher Bezugsgröße diese gemessen werden können (z. B. „Zeiteinsparung durch Entlastung des Bedieners beim Beladen (je Nettowerkzeug je Umrüstvorgang)“). Daran schließt sich jeweils der eigentliche Bewertungsvorgang an, der exemplarisch in drei Stufen dargestellt wird: 1. Es wird eine Zeiteinsparung pro Bezugsgrößeneinheit (beispielsweise „je Nettowerkzeug und Umrüstvorgang“ 0,5 min) ermittelt, die nach Einführung des MES im betrachteten Fertigungssystem erwartet wird. Hierbei handelt es sich um eine möglichst plausible Schätzung, die auf Basis von Erfahrungswerten aus der Praxis, Angaben aus dem Fragebogen zur Erfassung des Ist-Zustandes und Expertengesprächen mit Fertigungsverantwortlichen und -mitarbeitern ermittelt werden kann. 2. Die so ermittelte Zeiteinsparung je Bezugsgrößeneinheit wird mit der durchschnittlichen oder geplanten Menge dieser Einheiten pro Jahr (z. B. Anzahl Nettowerkzeuge je Umrüstvorgang pro Maschine) multipliziert. Somit ergeben sich je Ursachenkategorie erwartete Zeiteinsparungen pro Jahr durch den Einsatz des MES (in Abb. 4 z. B. 2581,4 h).

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3. Durch Multiplikation der „Zeiteinsparung pro Jahr“ mit den vorgegebenen Kostensätzen (z. B. Stundensatz Maschinenbediener, Stundensatz Maschine) ergibt sich ein monetär bewertetes Einsparpotenzial pro Wirkungspotenzial durch den Einsatz des MES (in Abb. 4 z. B. 35.560,57 EUR). Das dritte Analysesegment widmet sich qualitativen Wirkungspotenzialen, d. h. nicht oder nur schwer messbaren Wirkungen je Ursachenkategorie, die jedoch ganz entscheidend den Ablauf und die Qualität der bewerteten Fertigung verbessern können. Diese können in sechs qualitative Wirkungsklassen unterteilt werden: • Produktqualität, • Prozessqualität, • Termintreue, • Flexibilität, • Transparenz und • Standardisierung. Diese qualitativen Wirkungsklassen können als ebenso bedeutsam angesehen werden wie die quantitativ messbaren Wirkungspotenziale, da sie nach allgemeiner Erfahrung als wesentliche Erfolgstreiber für die Wettbewerbsfähigkeit und Kostensituation von Fertigungsunternehmen angesehen werden. Sie aufgrund ihrer schwierigen Quantifizierbarkeit nicht zu berücksichtigen, hieße demgegenüber, ihnen per se einen Wirkungswert von Null zuzuweisen, was im Grunde problematischer erscheint, als sich der Erfassungsproblematik zu stellen. In Interviews mit Fertigungsverantwortlichen und -mitarbeitern wird daher eine Beurteilung der Wichtigkeit einzelner qualitativer Wirkungen eingeholt und diese zu einer Nutzenbewertung pro Wirkungsklasse und Rolle verdichtet. Für den Fall, dass von keiner qualitativen Wirkung ausgegangen wird, wird ein Punktwert von 0 gesetzt. Andernfalls erfolgt die Bewertung anhand einer 5-stufigen Skala (1 steht für „geringe Bedeutung“; 5 steht für „hohe Bedeutung“), die zum Ausdruck bringt, wie wichtig die qualitativen Effekte einzelner Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge sind. Aus diesen Einzelurteilen kann pro Ursache-Wirkungs-Paar ein Punktwert pro Wirkungsklasse (gekennzeichnet durch einen Haken) ermittelt werden (vgl. Abb. 4).

3.3.3 Aggregation der rollenspezifischen Potenzialanalyse und Diskussion Je untersuchter Rolle werden die Bewertungen über die einzelnen Ursache-WirkungsZusammenhänge pro Wirkungsklasse (quantitative, monetär, qualitativ) zusammengefasst. Dadurch wird erkennbar, a) für welche qualitativen Wirkungspotenziale in den einzelnen Rollen im analysierten Fertigungssystem die bedeutendsten Effekte erwartet werden können. Ebenso werden die quantitativen Teilergebnisse aus den analysierten Ursache-Wirkungs-Beziehungen pro Rolle, b) als Zeitkapazitäten und c) als

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monetär bewertetes Wirtschaftlichkeitspotenzial (Einsparungen pro Jahr in Zeit- und Geldeinheiten) ausgewiesen. Schließlich können die Analysen je Rolle zu einer Gesamtbewertung je Wirkungsklasse (quantitativ, monetär, qualitativ) zusammengefasst werden (vgl. Abb. 5).

Abb. 5   Zusammenfassung der qualitativen und quantitativen Effekte. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Dabei ist zu erläutern, wie insbesondere die quantitativ gemessenen Wirtschaftlichkeitspotenziale interpretiert werden können. Einerseits kann die berechnete Zeiteinsparung grundsätzlich als zusätzlich gewonnene Kapazität (z. B. für zusätzliche Aufträge) genutzt werden. Dann würde der Einsatz der neuen Technologie zu einer Ergebnisverbesserung durch Kapazitätsausweitung beitragen. Andererseits könnte das ermittelte Einsparpotenzial auch einen entsprechenden Kapazitätsabbau nach sich ziehen. Zwischen diesen beiden Polen liegt eine Vielzahl weiterer möglicher Handlungsoptionen. Dabei ist freilich zu beachten, dass bei der Quantifizierung der einzelnen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge unter Umständen nur die Summe einer Vielzahl kleinteiliger Effekte betrachtet wird und das zeitliche und räumliche Auftreten einzelner Potenziale ohne zusätzliche Prozessveränderungen nicht ergebniswirksam genutzt werden kann. Zudem beruhen die ermittelten Einsparpotenziale auf einer Reihe mehr oder weniger subjektiver Annahmen über bestimmte Parameter der Fertigung. Diese könnten jedoch explizit zum Gegenstand einer Szenarioanalyse gemacht werden, wodurch explizit der in den Parametern enthaltenen Unsicherheit Rechnung getragen werden könnte. Denkbar wäre auch die Durchführung entsprechender Simulationsanalysen. Eine Zusammenfassung der qualitativen Effekte bringt zum Ausdruck, für welche Wirkungsklasse im analysierten Fertigungssystem die stärksten Potenziale erwartet werden. Allerdings ist die Aussagekraft der absoluten Werte eingeschränkt. Eine Verbesserung kann erreicht werden, falls die absoluten Werte im Rahmen eines Benchmarking in Relation bspw. zu anderen Systemen gesetzt werden können.

4 Fazit Mit dem vorgelegten Instrument einer Prozess- und Potenzialanalyse ist es möglich, Wirtschaftlichkeitspotenziale von Industrie-4.0-Investitionen qualitativ und quantitativ zu bewerten. Ausgehend von der genauen Analyse der Wirkungslogik eines Manufacturing Execution Systems wurde gezeigt, wie eine Prozessanalyse dabei hilft, Wirtschaftlichkeitspotenziale beim Einsatz derartiger Technologien aufzudecken. Der wesentliche Beitrag des vorgestellten Instrumentariums liegt in der Analyse der „produktiven Logik“ von Industrie-4.0-Investitionen, die sich nur durch eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Komplexität von Fertigungssystemen erschließen lässt. Daran anschließend wurde eine Potenzialanalyse entwickelt, die in der Lage ist, quantitative und qualitative Wirkungsklassen rollenspezifisch für ein Fertigungssystem zu identifizieren, zu messen und zu bewerten. Aus der Zusammenfassung der monetär bewerteten Wirtschaftlichkeitspotenziale lassen sich durch Vergleich mit den Investitionskosten entsprechender Technologien statische Kostenvergleichsrechnungen anstellen. Eine Weiterentwicklung zu dynamischen Vergleichsrechnungen ist möglich. Ebenso sind durch Einbezug von Szenario- oder Simulationsanalysen weitere Verfeinerungen denkbar.

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Literatur Gadatsch, A. (2001). Management von Geschäftsprozessen – Methoden und Werkzeuge für die IT-Praxis. Braunschweig: Vieweg. Hammer, M., & Champy, J. (1993). Reengineering the corporation – A manifesto for business revolution 1993. New York: HarperBusiness. Horvath, P., & Mayer, R. (1988). CIM-Wirtschaftlichkeit aus Controller-Sicht. CIM-Management, 4(4), 48–53. Kaplan, R. S. (1986). Must CIM be justified by faith alone? Harvard Business Review, M64(2), 87–95. Kiener, S., Maier-Scheubeck, N., Obermaier, R., & Weiß, M. (2018). Produktions-Management (11. Aufl.). München: Oldenbourg. Lindenbach, H., & Göpfert, J. (2012). Geschäftsprozessmodellierung mit BPMN 2.0: Business Process Model And Notation. München: Oldenbourg. Mertens, P., & Schuhmann, M. (1989). Versuche zur Abschätzung der Vorteilhaftigkeit von CIM-Realisierungen – Eine Bestandsaufnahme. In H. Warnecke (Hrsg.), Nutzen, Wirkungen, Kosten von CIM-Realisierungen (S. 233–268). Berlin: Springer. Obermaier, Robert. (2016). Industrie 4.0 als unternehmerische Gestaltungsaufgabe: Strategische und operative Handlungsfelder für Industriebetriebe. In R. Obermaier (Hrsg.), Industrie 4.0 als unternehmerische Gestaltungsaufgabe – Betriebswirtschaftliche, technische und rechtliche Herausforderungen (S. 3–34). Wiesbaden: Gabler. Obermaier, R., & Kirsch, V. (2016). Betriebswirtschaftliche Wirkungen digital vernetzter Fertigungssysteme – Eine Analyse des Einsatzes moderner Manufacturing Execution Systeme in der verarbeitenden Industrie. In R. Obermaier (Hrsg.), Industrie 4.0 als unternehmerische Gestaltungsaufgabe – Betriebswirtschaftliche, technische und rechtliche Herausforderungen (S. 191–217). Wiesbaden: Gabler. Obermaier, R., Hofmann, J., & Kellner, F. (2010). Web-basierte Fertigungssteuerung in der Praxis: Produktivitätssteigerungen mit dem Manufacturing Execution System MR-CM©. HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik, 47(272), 49–59. Obermaier, R., Hofmann, J., & Kirsch, V. (2015). Konzeption einer Prozess- und Potenzialanalyse zur Ex-ante-Beurteilung von Industrie 4.0-Investitionen – Zur Methodik einer Abschätzung von Wirtschaftlichkeitspotenzialen. Controlling – Zeitschrift für erfolgsorientierte Unternehmenssteuerung, 27(8/9), 485–492. Plattform Industrie 4.0. (2014). Industrie 4.0 – Whitepaper FuE-Themen 2014. Plattform Industrie 4.0. http://www.plattform-i40.de/sites/default/files/Whitepaper_Forschung. Zugegriffen: 1. Apr. 2015. Staud, J. (2001). Geschäftsprozessanalyse – Ereignisgesteuerte Prozessketten und objektorientierte Geschäftsprozessmodellierung für betriebswirtschaftliche Standardsoftware (2. Aufl.). Berlin: Springer. Wildemann, H. (1986). Strategische Investitionsplanung für neue Technologien in der Produktion. Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 56(1), 1–48. Zäpfel, G. (1989). Wirtschaftliche Rechtfertigung einer computerintegrierten Produktion (CIM). Zeitschrift für Betriebswirtschaft, 59(10), 40–55.

Prof. Dr. Robert Obermaier  ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Accounting und Controlling an der Universität Passau. Aktuell untersucht er insbesondere die Auswirkungen der Digitalisierung (Industrie 4.0) auf die Bereiche Controlling, Unternehmensbewertung, Produktion und Entscheidungstheorie.

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Dipl.Ing. (FH) Johann Hofmann  ist Founder and Venture Architect of ValueFacturing® in der Maschinenfabrik Reinhausen in Regensburg, Fach- & Co-Autor bei zahlreichen Zeitschriften und Fachbüchern und Digitalisierungsexperte seit über 25 Jahren. Zudem ist er Wegbereiter der digitalen Transformation und einer der gefragtesten Industrie-4.0-Experten Deutschlands. Victoria Wagenseil ist im Geschäftsbereich ValueFacturing® der Maschinenfabrik Reinhausen verantwortlich für die agile Planung und Steuerung, um die Anforderungen, die sich aus Digitalisierungsprojekten ergeben, zwischen Vertrieb, Kunden und Softwareentwicklung effizient und zielorientiert zu koordinieren.

Betriebswirtschaftliche Wirkungen digital vernetzter Fertigungssysteme – Eine Analyse des Einsatzes moderner Manufacturing-Execution-Systeme in der verarbeitenden Industrie Robert Obermaier und Victoria Wagenseil

1 Problemstellung Unter dem Stichwort „Industrie 4.0“ versammelt sich derzeit eine Fülle von Konzepten mit dem Ziel einer Vernetzung und integrierten Informationsverarbeitung industrieller Infrastruktur. Schon in den 1990er-Jahren wurde Ähnliches mit dem Konzept des Computer-Integrated Manufacturing (CIM) angedacht. Dabei wurde eine Integration von betriebswirtschaftlichen Planungs- und Steuerungsaufgaben mit den primär technisch orientierten Aufgaben der Produktion angestrebt (vgl. Scheer 1987; Becker 1992; Kiener et al. 2018). Während die betriebswirtschaftliche Produktionsplanung zumeist im Rahmen von etablierter ERP-Software weitgehend EDV-gestützt abläuft, existieren bislang kaum Anbindungen an die physische Fertigungssteuerung im sog. Shopfloor. Aus heutiger Sicht ist jedoch zu konstatieren, dass diese Vernetzung nur zu Teilen realisiert wurde. Während die (betriebswirtschaftliche) Produktionsplanung zumeist im Rahmen von etablierter ERP-Software weitgehend EDV-gestützt abläuft, existieren kaum Anbindungen weder an die physische Fertigungssteuerung im Shopfloor noch an die (technischen) Funktionen Konstruktion oder NC-Programmierung. Stattdessen finden sich in vielen Fertigungsbetrieben überwiegend informationstechnische Insellösungen. Damit aber bestehen Potenziale fort, um mit dem Übergang zu

R. Obermaier ()  Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] V. Wagenseil  Maschinenfabrik Reinhausen GmbH, Regensburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_9

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einem digital vernetzten Gesamtsystem eine engere Abstimmung von betriebswirtschaftlicher und technischer Informationsverarbeitung (nicht nur) im Fertigungssektor zu erreichen. Basistechnologie dieser Vernetzung stellen sog. Manufacturing-Execution-Systeme (MES) dar, die insbesondere eine Anbindung von Systemen der Produktionsplanung mit der physischen Produktion, dem Shopfloor, leisten sollen, aber ebenso die technischen Funktionen integrieren sollen. Der damit angestrebte Übergang zu einem digital vernetzten Gesamtsystem mit einer engeren Abstimmung von betriebswirtschaftlicher und technischer Informationsverarbeitung (nicht nur) im Fertigungssektor wird mit Erwartungen auf erhebliche Produktivitätspotenziale verbunden. Investitionen in derartige Systeme sind regelmäßig nicht unerheblich und daher begründungsbedürftig. Außerdem sind deren Wirkungen bislang weitgehend unerforscht. Der vorliegende Beitrag hat daher zum Ziel, zu klären, 1) welche produktionswirtschaftliche Neuerung den Kern der Vernetzungsvision von Industrie 4.0 ausmacht, was insbesondere a) unter einem digital vernetzten Fertigungssystem zu verstehen und b) wie es zu realisieren ist, um schließlich 2) zu analysieren, welche Wirtschaftlichkeitseffekte beim Übergang auf eine entsprechend digital vernetzte Fertigung zu erwarten sind.1 Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen wird auf eine im Grunde klassische experimentelle Anordnung zurückgegriffen. Am Beispiel eines realen Industriebetriebs wird im Rahmen eines Vorher-Nachher-Vergleichs jeweils eine detaillierte Prozessanalyse im Bereich der Fertigung vor und nach Implementierung eines digital vernetzenden Fertigungssteuerungssystems durchgeführt. Die dabei gewonnenen Ergebnisse lassen signifikante Produktivitätswirkungen erkennen, die die Wettbewerbsfähigkeit von Industriebetrieben entscheidend verbessern können und überdies zur Wirtschaftlichkeitsbeurteilung vor Einführung entsprechender Systeme genutzt werden können.

2 Die digital vernetzte Fabrik als Untersuchungsobjekt 2.1 Die CIM-Vision der digitalen Fabrik Im Bereich der Fertigung wurde der Ansatz einer integrierten Informationsverarbeitung früh mit dem Konzept des Computer Integrated Manufacturing (CIM) aufgegriffen. Darunter versteht man die integrierte Informationsverarbeitung aller mit der Leistungserstellung zusammenhängenden Bereiche, wobei zwischen den primär technischen Funktionen Konstruktion, Arbeitsplanung, NC-Programmierung und Instandhaltung sowie den primär betriebswirtschaftlichen Funktionen der Produktionsplanung und -steuerung (PPS) einschließlich Qualitätssicherung unterschieden wird (Scheer 1987; Becker 1992). Können diese beiden Stränge im Stadium der Planung noch getrennt

1Der

vorliegende Beitrag ist eine überarbeitete Fassung von Obermaier und Kirsch (2016).

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voneinander – sinnvollerweise aber unter Rückgriff auf integrierte Datenbanken (z. B. Stücklisten, Arbeitspläne, Betriebsmitteldaten) – durchlaufen werden, ist, sobald das Stadium der Planung abgeschlossen ist und die Steuerung der physischen Produktion beginnt, eine enge Verzahnung der nachfolgenden Steuerungsaufgaben erforderlich (Abb. 1). Die Realisierung dieser integrierten Informationsverarbeitung stellt besonders hohe Anforderungen an die Betriebsorganisation. Aus heutiger Sicht ist zu konstatieren, dass der theoretische Anspruch des CIM-Konzepts in der Praxis bislang nicht erreicht wurde. Nach wie vor finden sich informationstechnische Insellösungen in Industriebetrieben. Ein durchgängiger Datenfluss in der Fertigung scheitert zumeist an der Vielzahl und Vielfalt der beteiligten Kommunikationsschnittstellen. Im Extremfall kommuniziert jeder Akteur in einer Fertigung mithilfe von unterschiedlichen Schnittstellen mit jedem

Abb. 1   Integrierte Informationsverarbeitung nach dem CIM-Konzept. (Quelle: Kiener et al. 2018, in Anlehnung an Scheer 1987)

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anderen Akteur. Die Anzahl an Schnittstellen S einer dementsprechend bilateral stattfindenden Kommunikation zwischen n Akteuren, wie sie durch Insellösungen in der Fertigung auftreten, folgt logisch folgendem Zusammenhang:

S(n) = n(n − 1)

(1)

Dass die Vielzahl der so entstehenden Schnittstellen zwischen den beteiligten Akteuren Kommunikationsprobleme mit sich bringt, liegt auf der Hand. Je mehr Kommunikationen ablaufen bzw. je mehr Schnittstellen in einem Kommunikationsprozess auftreten, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit für auftretende Probleme. Zudem ist der Aufwand für die technische Definition und Dokumentation entsprechender Schnittstellen sowie für deren Implementierung und Pflege erheblich. Neben diesen Schnittstellenproblemen gibt es weitere Hindernisse für einen durchgängigen Datenfluss in der Fertigung. Beispielhaft sei der Bereich der Werkzeugvoreinstellung zur Veranschaulichung herausgegriffen. In vielen Betrieben ist bis dato die Weitergabe von Werkzeugvoreinstelldaten in elektronischer Form nur bedingt möglich. Die Weitergabe der Informationen zwischen den Maschinen erfolgt stattdessen in der Regel auf Papier und die generierten Werkzeugdaten müssen unter erheblichem Zeitaufwand manuell in die Maschinensteuerung der jeweiligen NC-Maschine übertragen werden. Die manuelle Erfassung der Daten zu Werkzeugbe- und -entladungen kann darüber hinaus zu Fehlern und Ungewissheiten über die tatsächliche Bestückung des Werkzeugmagazins der NC-Maschinen führen. Dies hat unmittelbar ungünstige Auswirkungen auf die Rüstzeiten der NC-Maschinen und den Bestand an vorkonfektionierten Werkzeugen sowie den hierfür erforderlichen vorzuhaltenden (und relativ teuren) Werkzeugkomponenten. Damit bestehen Potenziale, mit dem Übergang zu einem vernetzten Gesamtsystem eine engere Abstimmung von betriebswirtschaftlicher und technischer Informationsverarbeitung im Fertigungssektor zu erreichen, um so Produktivitätssteigerungen zu realisieren.

2.2 Die Industrie-4.0-Vision der digital vernetzten Fabrik Die dargestellten Schwierigkeiten mit der alten „Fabrik der Zukunft“ vom Schlage CIM stellen faktisch den Ausgangspunkt der unter dem Schlagwort Industrie 4.0 derzeit diskutierten Vision einer digital vernetzten neuen „Fabrik der Zukunft“ dar. Deren Kern bilden sog. cyber-physische Systeme (CPS), die a) mittels Sensoren Daten erfassen, mittels eingebetteter Software aufbereiten und mittels Aktoren auf reale Vorgänge einwirken, b) über eine Dateninfrastruktur, wie z. B. das Internet, kommunizieren und c) über MenschMaschine-Schnittstellen verfügen, mithin also Maschinen und Systeme über Internettechnologie vernetzen (Obermaier 2016). Im Bereich der Fertigung sind dabei sog. Manufacturing-Execution-Systeme (MES) der kritische Baustein zur Etablierung cyber-physischer Systeme, die als a) interoperables, b) echtzeitfähiges und c) webfähiges Bindeglied zwischen dem ERP- oder dem PPS-System und der physischen Fertigung (Shopfloor) fungieren und so die fehlende Vernetzung aller Akteure bewirken (Obermaier et al. 2010).

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Mit der informationstechnischen Vernetzung der am Fertigungsprozess beteiligten Akteure (v. a. ERP-System, PPS-System, CNC-Programmierung, Werkzeugverwaltung, Messgeräte, Werkzeuglagersystem, CNC-Maschinen, Qualitätssicherung) sollen Informationen bereitgestellt und Produktionsabläufe vom Anlegen eines Auftrags über die Fertigungssteuerung bis hin zum fertigen Produkt möglichst effizient gestaltet werden. Der Rückgriff auf aktuelle und exakte Daten soll eine schnelle Reaktion auf den Fertigungsablauf beeinflussende Bedingungen erlauben und zu verbesserten Fertigungsund Prozessabläufen führen. Zudem kann dabei von bislang mit proprietären Datenformaten parallel arbeitenden Insellösungen zu einem interoperablen, weil vernetzten, webbasierten und damit papierlosen MES übergegangen werden. Von ganz zentraler Bedeutung für die Vernetzung ist dabei die Rolle eines MES einerseits als Bindeglied zwischen dem PPS- oder ERP-System und der physischen Fertigung (vertikale Integration) und andererseits als Bindeglied zwischen den einzelnen den Fertigungsprozess ausführenden Akteuren (horizontale Integration; Abb. 2).

Abb. 2   Integration eines MES in die IT-Gesamtarchitektur eines Industriebetriebs. (Quelle: Obermaier et al. 2010)

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Im Rahmen der vertikalen Integration wird ein vom PPS-System ausgelöster Fertigungsauftrag durch das MES übernommen und auf Shopfloor-Ebene gesteuert, bis er abgeschlossen ist. Während das PPS-System Aufträge untereinander plant, koordiniert und terminiert (z. B. durch Vergabe von Start-/Endterminen), kommt dem MES eine Steuerungsaufgabe innerhalb der Abarbeitung der einzelnen Aufträge zu. Zudem werden sowohl Teilschritte als auch abgeschlossene Aufträge zurückgemeldet. Durch diese Rückmeldung wird erreicht, dass das PPS-System seine Auftragsplanung auf Echtzeitdaten aufbauen kann und nicht auf Grundlage geplanter Daten rechnen muss. So wird es möglich, dass das PPS-System Aufträge unter Berücksichtigung von aktuell im Bedarfszeitpunkt erhobenen Informationen vergibt (z. B. aktueller Prozessstatus, Maschinenkapazität oder Bestand der Werkzeugmagazine einzelner Maschinen). Beispielsweise kann mit einer Echtzeitabfrage der Werkzeugmagazine eines Bearbeitungszentrums festgestellt werden, welche Werkzeuge sich tatsächlich im Magazin befinden. Damit ist es möglich, ausschließlich die für den Auftrag zusätzlich benötigten Werkzeuge zu montieren, also solche, die sich noch nicht in einem Maschinenmagazin befinden (sog. Werkzeug-Nettobedarf). Ebenso können jene Werkzeuge abgerüstet werden, welche in absehbarer Zeit nicht benötigt werden. Wird es möglich, den insgesamt erforderlichen Bestand an Werkzeugkomponenten zu reduzieren, hat dies unmittelbare Auswirkungen auf die Kapitalbindungskosten des Unternehmens (reduzierter Werkzeugbestand, verringerte Größe von maschinennahen Werkzeugmagazinen, geringere Maschinenstellfläche). Im Rahmen der horizontalen Integration werden alle Akteure auf Shopfloor-Ebene durch das MES informationstechnisch vernetzt. Eine wesentliche Aufgabe liegt in der Bereitstellung der nötigen Schnittstellen, um eine Kommunikation zwischen den regelmäßig mit proprietären Datenformaten arbeitenden Maschinen zu ermöglichen. Durch die direkte Weitergabe der Maschinendaten werden Medienbrüche sowie zeitintensive und potenziell fehlerhafte manuelle Eingaben vermieden. So werden bei NC-Programmen über die Zeit hinweg nicht selten vielfache Änderungen vorgenommen, bis das gewünschte Qualitätsniveau erreicht ist. Werden diese Änderungen z. B. von den Fertigungsmitarbeitern direkt auf der Maschinensteuerung durchgeführt, ohne dass der verantwortliche NC-Programmierer darüber in Kenntnis gesetzt wird, führt dies aufgrund unzureichender Informationen bei der Werkzeugeinstellung zu einer Abnahme der Prozesssicherheit und zu einem Rückgang der Produktivität insbesondere bei Wiederholaufträgen. Auch führen unvollständige Einstellaufträge, oft auf Papier, zu Fehlern, Unklarheiten und Rückfragen. Darüber hinaus birgt eine manuelle Dateneingabe eine zusätzliche Fehlergefahr. Die informationstechnische Realisierung eines MES kann in der Logik einer ClientServer-Architektur erfolgen. Das MES fungiert dabei als zentrale Informationsdrehscheibe in der Fertigung: Die einzelnen Akteure melden ihre Anfragen dem MES, das die geforderten Informationen bei den entsprechenden Akteuren abfragt, diese I­ nformationen gegebenenfalls verknüpft und das Ergebnis der anfragenden Stelle überträgt. Zudem

Betriebswirtschaftliche Wirkungen digital …

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Abb. 3   Anzahl von Schnittstellen in Abhängigkeit von der Art der Kommunikation und der Anzahl der Akteure. (Quelle: Eigene Darstellung)

wird auf diese Weise die Anzahl der Kommunikationsschnittstellen der beteiligten Akteure einer Fertigung um ein Vielfaches reduziert werden, da diese nicht mehr jeweils bilateral, sondern zentral über das MES als „information hub“ erfolgt. Die Anzahl der Schnittstellen S einer zentralen Kommunikation beträgt dabei nur noch:

S(n) = 2n

(2)

Der Rückgang an Kommunikationsschnittstellen bei zentral gesteuerter gegenüber bilateraler Kommunikation (Abb. 3) hilft nicht nur, den Wartungsaufwand und die Fehleranfälligkeit der Datenübermittlung erheblich zu senken, sondern insbesondere, eine integrierte Informationsverarbeitung zu realisieren.

3 Betriebswirtschaftliche Wirkungen: Hypothesen Die Leistungsfähigkeit eines industriellen Fertigungssystems hat – folgt man der klassischen Logik der sog. S-Kurve – grundsätzliche technologisch bedingte Grenzen, die auch durch kontinuierliche Verbesserungen nicht ohne Weiteres überwunden werden können (Foster 1986). Demgegenüber sind sprunghafte Leistungsverbesserungen regelmäßig nur durch Investitionen in alternative, konkurrierende Fertigungssteuerungstechnologien möglich. Diese sprunghafte Leistungssteigerung stellt eine Diskontinuität dar, da sie mit dem Wechsel von einer Technologie A auf eine konkurrierende Technologie B und all den damit zusammenhängenden Veränderungsprozessen einhergeht (Abb. 4). Das dieser Untersuchung zugrundeliegende MES, das die in einer Fertigung beteiligten Akteure horizontal, vertikal, über das Internet und in Echtzeit integriert und somit sog. cyber-physische Systeme erzeugt, stellt gegenüber konventionellen ERP-/ PPS-Systemen eine alternative Technologie mit Diskontinuitätspotenzial dar. Die

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Abb. 4    S-Kurven alternativer Technologien und Diskontinuität. (Quelle: Eigene Darstellung)

Erwartung eines möglichen Sprungs auf eine leistungsfähigere Fertigungssteuerungstechnologie begründet sich vor allem aus der Etablierung cyber-physischer Systeme, die gegenüber konventionellen ERP-/PPS-Systemen nicht ausschließlich im Bereich der Planung, sondern vor allem auch im Bereich der Shopfloor-Steuerung wirksam sind. Dabei wird erwartet, dass ein webbasiertes, papierloses MES, das den Auftragsprozess arbeitsstationsübergreifend begleitet und einen durchgehenden Informationsfluss sichert, insbesondere durch die elektronische Weitergabe und Anreicherung auftragsrelevanter Daten zwischen den Arbeitsstationen Teilprozesse automatisiert, Medienbrüche bei der Informationsweitergabe vermeidet, Rüstzeiten verkürzt und Werkzeugbestände verringert (Obermaier et al. 2010). Es liegen der Arbeit daher folgende Hypothesen zugrunde: H1  Die Einführung eines MES führt zur Vermeidung nicht-wertschöpfender Teilprozesse in Teilbereichen der Fertigung. H2  Die Einführung eines MES führt zur Reduktion von Rüstzeiten in Teilbereichen der Fertigung. H3  Die Einführung eines MES führt zu einer Reduktion von Werkzeugbeständen in Teilbereichen der Fertigung. Die Überprüfung dieser Hypothesen ist Gegenstand des vorliegenden Beitrags.

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4 Methodik 4.1 Untersuchungsdesign Ausgangspunkt der Untersuchung ist eine reale Fertigung in einem Industriebetrieb, die wesentliche Elemente eines digital vernetzten Fertigungssystems im o. g. Sinne enthält, und deren Vorzustand, d. h. vor Einführung eines entsprechenden Systems, bekannt ist, um die Auswirkungen nach Einführung eines MES durch Vergleich mit dem Zustand der Fabrik vor der Implementierung beobachten zu können. Bei dem betrachteten Unternehmen handelt es sich um ein mittelständisches Maschinenbauunternehmen, das überwiegend Anlagen für die Verpackung von Arzneimitteln herstellt. Der untersuchte Fertigungsbereich umfasst ca. 160 Mitarbeiter und 20 CNC-Maschinen mit den Bearbeitungsschritten Fräsen, Drehen, Schleifen, Erodieren. Bei dem implementierten MES handelt es sich mit „MR-CM®“ um eine IT-Lösung der Maschinenfabrik Reinhausen, die auf die Anforderungen und Anwendungsfälle von Unternehmen mit zerspanender Fertigung ausgelegt ist und deren Funktionalität im Wesentlichen der in Abschn. 2.2. dargestellten Wirkungsweise entspricht (zu einer detaillierteren Darstellung der Funktionsweise siehe auch Obermaier et al. 2010). Der Ablauf der Untersuchung ist in Abb. 5 wiedergegeben. Vor Implementierung (t = −1) des MES wurden in allen relevanten Fertigungsbereichen (Akteure) Prozessanalysen durchgeführt, Kennzahlen (sog. KPIs) und geeignete Messpunkte definiert und Messmethoden festgelegt. Entsprechend wurden die entsprechenden Daten für den Vorherzustand erhoben und ausgewertet. Nach erfolgter Einführung des MES (t = 0) wurde die Prozessanalyse wiederholt (t = +1), Veränderungen dokumentiert, gemessen und ausgewertet. Methodisch ist das Design der Studie a) eine klassische experimentelle Anordnung mit gezielter Beobachtung („observation“) und Messung relevanter Zustände vor und nach Implementierung („treatment“) eines MES, b) als „case study“ zu klassifizieren, die auf einen konkreten Fall bezogen ist und c) als Feldstudie angelegt ist, da die Untersuchung in einem realen Industriebetrieb stattfindet (vgl. grundlegend zu weiteren möglichen experimentellen Anordnungen u. a. Obermaier und Müller 2008).

Abb. 5   Methodik der Prozessanalyse. (Quelle: Eigene Darstellung)

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4.2 Untersuchungsobjekt Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf Prozessanalysen von Fertigungsaufträgen des untersuchten Industriebetriebs, deren grundsätzliche Struktur in Abb. 6 dargestellt ist. Der Prozess der Durchführung eines Fertigungsauftrages für ein bestimmtes Werkstück beginnt mit der Anlage des Auftrages im ERP-System. Unter Berücksichtigung von Auftragsprioritäten und zur Verfügung stehender Kapazitäten wird der Fertigstellungstermin des Auftrages bestimmt und der entsprechende Startzeitpunkt für den Fertigungsauftrag ermittelt (Terminierung). Nach Auftragsfreigabe können im ERP-System unter Berücksichtigung der zugehörigen Arbeitspläne Auftragsreihenfolgen auf Arbeitsgangebene (z. B. NC-Programmierung, Fräsen, o. ä.) gebildet werden. Diese Abarbeitungslisten können einerseits über das ERP-System in der zentralen NC-Programmierung oder dezentral an einem Arbeitsplatz mit werkstattorientierter Programmierung (WOP) eingesehen werden. Bei Einsatz eines MES übernimmt dieses den Auftrag und startet einen Workflow im Shop­ floor-Bereich. Neben der NC-Programmerstellung müssen vor einem möglichen Auftragsstart auf den Bearbeitungsmaschinen im Shopfloor weitere Fertigungshilfsmittel bereitgestellt werden. Dies erfolgt zum einen durch die Werkzeugeinstellung (Werkzeuge), zum anderen durch Materialdisponenten (Werkstücke, Vorrichtungen) und schließlich vor Ort, d. h. am jeweiligen Arbeitsplatz durch die Maschinenbediener (Werkzeuge, Werkstücke, NC-Programm, Mess- und Prüfmittel) selbst. Im Anschluss an diese Rüstprozesse kann der eigentliche Bearbeitungsprozess an der Maschine starten. Fertiggestellte Teile werden mittels Selbstkontrolle durch den Maschinenbediener am Arbeitsplatz oder nach Stichprobenentnahmen von der Qualitätssicherung geprüft. Anschließend werden die produzierten und qualitativ als gut befundenen Werkstücke in ein Lager oder zur Weiterverarbeitung direkt in die Montage transportiert. Die einzelnen Schritte dieses schematischen Durchlaufs repräsentieren dabei bestimmte Akteure auf Shopfloor-Ebene, welche das MES horizontal integriert und mit Informationen versorgt sowie vertikal mit dem ERP-System verbindet (Tab. 1). Der Fokus der Prozessanalyse liegt im Weiteren auf einer Teilmenge der dargestellten Fertigungsprozessstruktur, nämlich der CAD/CAM-NC-Programmierung, WOP-NC-Programmierung, Werkzeugeinstellung (= Werkzeuglager inkl. Werkzeuge messen und einstellen) und dem Maschinenbediener (= Maschinenpark), d. h. den

Abb. 6   Ablaufstruktur eines Fertigungsauftrags. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Tab. 1  Prozessschritte eines Fertigungsauftrags und beteiligte Akteure. (Quelle: Eigene Darstellung) Prozessschritt Fertigungsauftrag

Akteur(e)

1. Freigabe Fertigungsauftrag

PPS/ERP-Fertigungssteuerung, Fertigungsmeister

2. NC-Programmerstellung

CAD/CAM-NC- bzw. WOP-NC-Programmierung

3. Bereitstellung Fertigungshilfsmittel

Werkzeuglager, Werkzeugvoreinstellung, Maschinenpark

4. Bearbeitung auf Maschine

Maschinenpark

5. Qualitätsprüfung

Maschinenpark, Qualitätssicherung

6. Lagerzugang oder Montage

PPS/ERP-Fertigungssteuerung, Meister

Schritten (2) bis (4) gem. Tab. 1, da – wie in den Hypothesen formuliert – bei den entsprechenden Akteuren ex ante ein maßgeblicher Einfluss durch die Einführung eines MES vermutet wird. Zur Überprüfung der Hypothesen wurden ex ante und ex post, d. h. vor und nach Einführung eines MES in der Fertigung des untersuchten Unternehmens, detaillierte Prozessanalysen bei den jeweiligen Akteuren (Werkzeugeinsteller, Maschinenbediener, CAD/CAM-NC-Programmierer, WOP-NC-Programmierer) durchgeführt und mittels Workflow-Diagrammen visualisiert.

5 Ergebnisse 5.1 Prozessanalyse 5.1.1 CAD/CAM-NC-Programmierer Die Hauptaufgabe der CAD/CAM-NC-Programmierung besteht darin, die mittels CAD-System erzeugten Konstruktionsdaten für ein Werkstück nach Import in das CAM-System in ein NC-Programm zu übersetzen, das der betreffenden Maschine bereitzustellen ist. Vereinfacht dargestellt, hat dieser Prozess folgende Struktur (Abb. 7). Der NC-Programmierer erhält über die Arbeitsvorbereitung oder aus dem ERP-­ System die Information, in welcher Reihenfolge Fertigungsaufträge abgearbeitet

Abb. 7   Vereinfachte Struktur des operativen Prozesses eines CAD/CAM-NC-Programmierers. (Quelle: Eigene Darstellung)

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­ erden müssen. Programmänderungs- bzw. -anpassungswünsche werden dem CAD/ w CAM-NC-Programmierer unmittelbar durch die Maschinenbediener mitgeteilt. Aus dem Arbeitsplan kann die Zeichnungsnummer des Werkstücks im CAD-System entnommen werden, sodass anschließend die Konstruktionsdaten in das CAM-Programmiersystem importiert werden können. Ausgehend von den Konstruktionsdaten werden die späteren Bearbeitungsschritte der NC-Maschine im NC-Programmcode schrittweise aufgebaut. Alternativ ruft der NC-Programmierer ein existierendes CAM-Projekt auf und führt Änderungen an den Bearbeitungsschritten entsprechend der geänderten Konstruktionsdaten oder der Aufforderung des Maschinenbedieners durch. Während der Programmierung werden die Werkzeuge, welche zur Durchführung der einzelnen Bearbeitungsschritte benötigt werden, unter Rückgriff auf eine zentrale Werkzeugdatenbank oder die Werkzeugbibliothek des Programmiersystems ausgewählt. Nach Abschluss der Programmierung wird durch den Einsatz eines sog. Postprozessors der extern und maschinenunabhängig programmierte Code in ein maschinenspezifisches Format konvertiert. Zudem kann vom Arbeitsplatz des NC-Programmierers aus mittels eines Simulationstools oder -programms das NC-Programm grafisch-dynamisch simuliert werden, bevor es für die Bearbeitung auf einer Maschine freigegeben wird. Schließlich muss das Programm sowie dazugehörige Rüstinformationen (z. B. Einrichteplan, Aufspannskizze, Werkzeugliste) für die Bearbeitung an der Maschine bereitgestellt werden. Dieser Teilprozess wurde im Rahmen dieser Untersuchung, ebenso wie die übrigen Akteure WOP-NC-Programmierung, Werkzeugeinstellung und Maschinenbediener, einer detaillierten Prozessanalyse unterzogen. Dabei ist neben der Darstellung aller Aktivitäten der operativen Prozessdurchführung auch eine qualitative Klassifikation nach Art der Aktivitäten vorgenommen worden. Es werden drei bzw. vier Klassen unterschieden: a) manuelle, b) geistige und c) (teil-)automatisierte bzw. IT-gestützte Aktivitäten, wobei nach Einführung des MES eine vierte Aktivitätsklasse einbezogen wird: jene Aktivitäten, die d) durch die Funktionalität des MES ermöglicht werden. Der aus dieser Analyse abgeleitete quantitative Befund lässt sich wie folgt zusammenfassen: insgesamt werden vor Implementierung des MES pro Programmierauftrag 30 einzeln abgrenzbare Aktivitäten durchgeführt. Davon sind 22 durch den Einsatz entsprechender IT-Systeme unterstützt, nur acht sind davon unabhängige geistige Aktivitäten der Mitarbeiter. Nach Implementierung des MES (ex post) wurde eine solche qualitative und quantitative Prozessanalyse erneut durchgeführt und der Istzustand des Sollzustandes erhoben. Insgesamt sind für den CAD/CAM-NC-Programmierer ex post 26 Prozessschritte zu unterscheiden. Weiterhin zeichnen sich 16 Aktivitäten durch IT-Unterstützung aus, fünf Aktivitäten werden durch das MES unterstützt und weitere fünf Aktivitäten können als geistige Aktivitäten der Mitarbeiter klassifiziert werden. Insgesamt wird die Anzahl der Prozessschritte um 13 % reduziert. Abb. 8 stellt diese Beobachtungen zusammenfassend dar. Neben dieser Prozessanalyse wurde auch der Frage nach qualitativen Verbesserungspotenzialen durch die Einführung des MES in dem untersuchten Teilbereich

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Abb. 8   Vorher-Nachher-Prozessanalyse der CAD/CAM-NC-Programmierung. (Quelle: Eigene Darstellung)

n­ achgegangen. Die mit der Veränderung des operativen Workflows erschließbaren Potenziale sind in Tab. 2 gegenübergestellt. Als maßgebliche Faktoren sind im Bereich der CAD/CAM-NC-Programmierung zu nennen: höhere Transparenz und intelligente Fehlervermeidung durch kontrollierte, automatisierte Workflows, Verfügbarkeit standardisierter, eindeutiger Informationen sowie die Vermeidung redundanter Datenhaltung.

5.1.2 WOP-NC-Programmierer An Maschinenarbeitsplätzen mit sog. werkstattorientierter Programmierung (WOP) werden zwei Kernaufgaben erfüllt. Das Tagesgeschäft der hier tätigen Maschinenbediener besteht einerseits aus der Programmierung unmittelbar auf der Maschinensteuerung einer CNC-Fertigungsanlage und andererseits aus der Bearbeitung des zugeschnittenen Rohmaterials mit den zuvor erstellten NC-Programmen. Vereinfacht lässt sich der operative Prozess an WOP-Maschinen folgendermaßen darstellen (Abb. 9). Der WOP-Programmierer entnimmt der Arbeitsvorratsliste, welches Werkstück als nächstes zu fertigen ist und bestückt die Maschine mit dem zugeschnittenen Rohmaterial inkl. der begleitenden Laufkarte und dazugehörigen Konstruktionszeichnung. Anschließend kann er mit der Erstellung des NC-Programms an der Steuerung der CNC-Maschine beginnen. Der Maschinenbediener sichtet die Konstruktionszeichnung und macht sich gedanklich einen Plan, wie das Rohteil gespannt werden soll und welche Werkzeuge im NC-Programm verwendet werden sollen. Die getroffene Auswahl sowie alle zum Fräsen oder Drehen der Kontur notwendigen sog. Verfahrbewegungen werden schließlich im NC-Programm dokumentiert. Wenn die Programmwerkzeugliste definiert ist, kann der

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Tab. 2  Qualitative Prozessveränderungen in der CAD/CAM-NC-Programmierung. (Quelle: Eigene Darstellung) Ex ante (Vorher)

Ex post (Nachher)

Fehlende Transparenz über von Maschinenbedienern gewünschte NC-Programmanpassungen oder -korrekturen. Mangelnde Verbindlichkeit in der Einhaltung und Kontrolle von Prozessrichtlinien im Änderungsverlauf von NC-Programmen Fehlende Dokumentation von Programmund Änderungshistorien und dadurch Gefahr repetitiver Fehlprogrammierungen Analysen der NC-Programmqualität sind nicht möglich, da entsprechende Daten nicht verfügbar sind

Durch erzwungene Rückübertragung von NC-Programmen und die Pflicht zur „Befüllung“ eines NC-Lebenslaufs entsteht Transparenz über Änderungswünsche. Diese werden zusätzlich anhand vordefinierter Kriterien in „eilige“ und „normale“ unterschieden, was zusätzlich Transparenz schafft Durch die automatisierte Initialisierung des NC-Lebenslaufs bei der erstmaligen Archivierung eines NC-Programms und die anschließende automatisiert kontrollierte Befüllung des Lebenslaufs werden Programme dokumentiert und die Einsatz- sowie Änderungshistorie transparent gemacht. Bereits erfolgte Programmierversuche können nachverfolgt und eine Wiederholung vermieden werden Auswertungen über die Qualität von NC-Programmen werden möglich

Fehlende Standards für die Programmbereitstellung führen zu parallelen Bereitstellungswegen und fehlender Archivierung von geänderten Programmen

Standardisierter Bereitstellungsworkflow über die NC-Verwaltung als einzig zulässige Alternative

Redundante Datenhaltung und -verwaltungsaufwände in drei Systemen parallel Fehlender Standard für Qualität, Umfang und Format der Werkzeugdaten (z. B. fehlende Stückliste, fehlende visuelle Information)

Reduktion der Datenhaltung und -verwaltung auf ein System. Verwendung eindeutiger Werkzeug-Ident-Nummern Standardisierte Erfassung von Werkzeugdaten. Automatisierte Warnung bei Verwendung von noch nicht in der Werkzeugdatenbank definierten Werkzeugen in NC-Programmen

Fehlender Standard für die Erzeugung der Programmwerkzeugliste. Daher teilweise automatisierte Erzeugung der Programmwerkzeugliste, teilweise manuelle Anlage notwendig In jedem Fall bei Anlage der Programmwerkzeugliste in NC-Verwaltung manuelle Werkzeugstatuskorrektur notwendig

Statische Programmwerkzeugliste muss nicht mehr abgelegt, der Werkzeugstatus nicht mehr manuell gepflegt werden Stattdessen dynamische, in Echtzeit abgefragte Werkzeugliste. Fehlervermeidung bei der Werkzeugstatuspflege und folglich Bereinigung des Arbeitsaufkommens an Folgearbeitsplätzen (Werkzeugeinstellung, Maschine)

WOP-Programmierer die Werkzeugeinstellung über bereitzustellende Werkzeuge informieren. Wenn alle zur Bearbeitung des Werkstücks notwendigen Informationen sowie Roh-, Hilfs- und Betriebsstoffe bereitgestellt sind, kann der Maschinenbediener mit dem Rüstvorgang an der Maschine fortfahren. Nach dem Bearbeitungsstart überwacht der WOP-Programmierer in seiner Funktion als Maschinenbediener die Bearbeitung

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Abb. 9   Vereinfachte Struktur des operativen Prozesses eines WOP-NC-Programmierers. (Quelle: Eigene Darstellung)

des Werkstücks auf der Maschine und greift gegebenenfalls korrigierend ein. Je nachdem, ob ein Werkstück in mehreren oder nur einer Aufspannung gefertigt wird, muss die Maschine während eines Fertigungsauftrags umgerüstet werden. Auch hängt es vom Einzelfall ab, ob qualitätssichernde Prüfungen dezentral durch den Maschinenbediener oder zentral in einer Qualitätsprüfung durchgeführt werden. Sind alle notwendigen Bearbeitungsschritte durchgeführt, kann die Maschine wieder abgerüstet und das Werkstück abtransportiert werden. Der Maschinenbediener hat schließlich das NC-Programm und relevante Rüstinformationen für Folgeaufträge zu dokumentieren. Auch der hier skizzierte Prozess wurde im Zuge der Vorher-Nachher-Betrachtung einer detaillierten Analyse unterzogen und eine Zuordnung der Aktivitäten in die o. g. Aktivitätsklassen (a) – (d) ex ante und ex post durchgeführt. Die quantitative Analyse des operativen Workflows an Arbeitsplätzen mit WOP zeigt, dass vor der Implementierung des betrachteten MES insgesamt 58 Prozessschritte durchlaufen werden. Davon sind 14 IT-unterstützt, neun sind rein manuelle Handgriffe, während 35 Aktivitäten überwiegend geistige Aktivitäten der Mitarbeiter darstellen. Ex post, d. h. nach Einführung des MES, reduziert sich der WOP-Prozess auf 42 Aktivitäten. Maßgeblich hierfür ist eine quantitative Reduktion notwendiger geistiger Aktivitäten der Mitarbeiter auf nur mehr 16 und im Bereich der manuell ausgeführten Arbeitsschritte (Reduktion von neun auf fünf). Eine allgemeine IT-Unterstützung bleibt für sechs Aktivitäten erhalten. 15 Aktivitäten werden durch das implementierte MES ausgeführt. In Summe kann somit eine Reduktion des Prozessumfangs um 28 % festgestellt werden (Abb. 10). Auch für den Bereich der werkstattorientierten Programmierung wurde die qualitative Prozessanalyse auf eine vergleichende Gegenüberstellung der maßgeblichen Verbesserungspotenziale durch die Systemeinführung ausgeweitet. In diesem Bereich können als qualitative Faktoren insbesondere standardisierte Abläufe, die Vermeidung von Medienbrüchen und die Online-Verfügbarkeit von Echtzeitinformationen genannt werden. Die vollständige Beurteilung dieses Bereichs ist in Tab. 3 wiedergegeben.

5.1.3 Werkzeugeinsteller Hauptaufgabe der Werkzeugeinsteller besteht darin, fertigungsauftragsbezogen Komplettwerkzeuge für die Bearbeitung von NC-Programmen an den Fertigungsanlagen bereitzustellen. Der Workflow eines Werkzeugeinstellers ist in Abb. 11 dargestellt:

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Abb. 10   Vorher-Nachher-Prozessanalyse Werkstattorientierte Programmierung (WOP). (Quelle: Eigene Darstellung)

Der Werkzeugeinsteller erhält Einstellaufträge für bereitzustellende Komplett- oder Ersatzwerkzeuge. Aus Werkzeuglisten zu diesen Einstellaufträgen geht hervor, welche Komplettwerkzeuge zur Bearbeitung eines Programms auf einer CNC-Bearbeitungsmaschine benötigt werden. Für die einzustellenden Komplettwerkzeuge müssen die zur Montage notwendigen Werkzeugelemente identifiziert werden. Sind diese identifiziert, müssen deren Lagerorte lokalisiert werden, um die Elemente für die Montage zu Komplettwerkzeugen auszulagern und zusammenzusammeln. Anschließend erfolgt die Montage und Vermessung der Komplettwerkzeuge mit einem Einstellgerät. Schließlich werden die eingestellten und vermessenen Komplettwerkzeuge zusammen mit den gemessenen Werkzeugdaten an den entsprechenden Bearbeitungsmaschinen bereitgestellt. Dieser hier nur skizzierte Teilprozess ist je nach technologischer Ausgangssituation in unterschiedlichem Ausmaß von a) manuellen, b) geistigen oder c) (teil-) automatisierten bzw. IT-gestützten Aktivitäten geprägt. Die Analyse dieses Teilprozesses einer zerspanenden Fertigung ergab ex ante, d. h. vor Implementierung des MES, dass pro Einstellauftrag insgesamt 25 voneinander abgrenzbare Teilprozessschritte durchlaufen werden müssen. Dabei werden zehn Aktivitäten von bereits vorhandenen IT-Werkzeugen unterstützt, bei sechs Aktivitäten steuert der Einsteller auf Basis individueller Überlegungen, während neun Aktivitäten als manuelle Tätigkeiten einzustufen sind. Nach Implementierung des MES (ex post) wurde erneut eine qualitative und quantitative Prozessanalyse durchgeführt. Nunmehr besteht der Prozess pro Einstellauftrag aus nur noch 15 Prozessschritten; zehn Teilaktivitäten sind durch den Einsatz des MES

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Tab. 3  Qualitative Prozessveränderungen im Bereich der Werkstattorientierten Programmierung (WOP). (Quelle: Eigene Darstellung) Ex ante (Vorher)

Ex post (Nachher)

Subjektive Entscheidungsfreiheit über Auftragszuteilung auf Maschinenebene unter Berücksichtigung nicht dokumentierter und nachvollziehbarer Entscheidungskriterien

Subjektive Entscheidungsfreiheit auf wenige verantwortliche Mitarbeiter eingeschränkt

Fehlende Richtlinien zur Einhaltung von Teilprozessreihenfolgen (z. B. Zeitpunkt der Werkzeugauswahl und Informationsweitergabe an Werkzeugeinstellung). Potenzielle Folge: Wartezeiten, Maschinenstillstände

Standardisierung des Workflows der Programmerstellung

Arbeitsvorratsliste aus dem ERP/PPS-System: Fertigungsaufträge mit fehlender Vorgängerrückmeldung können nicht bearbeitet werden. Keine eindeutige zeitliche Priorisierung. Fehlender Maschinenbezug

Arbeitsvorratsanzeige im MES: zwischengeschaltete Liste dient der Maschinenzuteilung und löst frühzeitige Werkzeugbereitstellung aus. Die resultierende Abarbeitungsliste kann ohne zeitaufwendige Prüfungen und Rückfragen verwendet werden. Sie ist bereinigt auf bearbeitbare Aufträge

Auswahl von Werkzeugen: Know-how-basiert, aus dem Gedächtnis, nach Rücksprache, auf Basis statischer Excel-Listen mit Standardwerkzeugen. Dabei kein Zugriff auf eindeutige, rückfragefreie Rüstanweisung. Grafische Darstellungen sind nur lückenhaft vorhanden

Auswahl von Werkzeugen unter Zugriff auf den kompletten in der Werkzeugdatenbank erfassten Werkzeugbestand des Unternehmens. Zugriff auf Werkzeuglisten aus ähnlichen Programmen und Importmöglichkeit. Grafische Unterstützung bei Werkzeugauswahl

Individuelle Verwaltung von selbsterstellten und verwendeten Programmen auf der Maschinensteuerung. Dadurch entsteht u. a. „Wildwuchs“ auf der Steuerung Fehlende Rücksicherung von auf der Maschine erstellten Programmen

Limitierung der auf einer Steuerung gespeicherten zulässigen NC-Programme. Durch Datenanreicherungslogik wird kontrolliert und verhindert, dass darüber hinausgehend Programme den Speicherplatz belegen Standardisierte Rücksicherung der NC-Programme nach jeder Verwendung durch erzwungene Rückübertragung. Dadurch Abbau von „Wildwuchs“ und Vermeidung von Programmverlusten beim Absturz der ­Steuerung

Individueller Aufbau des Programmkopfes

Automatisiert geführte Erstellung des NC-Rumpfprogramms (Programmkopf, Nullpunkte, Werkzeugaufrufe) nach der Werkzeugauswahl und Auslösen des Einstellauftrags

Nach der Werkzeugauswahl manueller Abgleich Beim Auslösen des Einstellauftrags erfolgt der mit dem Ladezustand der Maschine Brutto-Netto-Abgleich automatisiert, in Echtzeit und unter Berücksichtigung der Auftragsreihenfolge auf der Maschine (Fortsetzung)

222

R. Obermaier und V. Wagenseil

Tab. 3   (Fortsetzung) Ex ante (Vorher)

Ex post (Nachher)

Programmdokumentation: manuelle Anlage der Werkzeugliste in NC-Verwaltung Keine standardisierte und kontrollierte Verwendung eines NC-Lebenslaufs

Pflege von Werkzeuglisten entfällt. Werkzeuglisten werden automatisiert und tagesaktuell bei jeder Programmabfrage angezeigt Bei jeder Programmrücksendung wird die Befüllung des NC-Lebenslaufs erzwungen

entfallen. Sieben der verbleibenden Vorgänge werden durch das MES automatisiert abgewickelt, sechs Schritte sind weiterhin manuell, zwei Schritte erfordern weiterhin geistige Überlegungen des Werkzeugeinstellers. Insgesamt wird die Anzahl der Prozessschritte durch den Einsatz des MES um 40 % reduziert. Eine entsprechende Übersicht liefert Abb. 12.

Abb. 11   Vereinfachte Struktur des operativen Prozesses eines Werkzeugeinstellers. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 12   Vorher-Nachher-Prozessanalyse Werkzeugeinstellung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Betriebswirtschaftliche Wirkungen digital …

223

Neben diesen quantitativen Veränderungen bei dem untersuchten Teilprozess der Werkzeugeinstellung konnten nach der Einführung eines MES auch im Rahmen einer qualitativen Prozessanalyse weitere Erkenntnisse mit Blick auf Verbesserungspotenziale durch die Einführung des MES gewonnen werden. Diese beruhen insbesondere auf standardisierten Abläufen, lückenlosen Informationsflüssen und der Vermeidung potenzieller Fehlerquellen (Tab. 4).

5.1.4 Maschinenbediener Die Kernaufgaben der Maschinenbediener bestehen im Rüsten, der Bedienung und Überwachung von CNC-Fertigungsmaschinen (Abb. 13). Der Maschinenbediener wird über eine terminierte und priorisierte Arbeitsvorratsoder Abarbeitungsliste darüber informiert, welche Fertigungsaufträge er in Bearbeitung nehmen muss. Aus den Auftragspapieren erhält er die Information, welches NC-Programm für die Bearbeitung auf der CNC-Anlage notwendig ist, kann dieses in der NC-Verwaltung gezielt suchen und auf die Steuerung der Maschine übertragen. Des Weiteren prüft der Maschinenbediener, welche Werkzeuge er zur Bearbeitung eines Werkstücks rüsten muss und ob auch die Vorrichtung umgerüstet werden muss. Sind Werkzeuge zu beladen, werden diese von einem Werkzeugwagen mit bereitgestellten Werkzeugen entnommen und in das Werkzeugmagazin der CNC-Maschine eingesetzt. Daraufhin muss der Maschinenbediener dafür Sorge tragen, dass die Werkzeugdaten in der Steuerung aktualisiert werden. Schließlich ist das Werkstück selbst im Bearbeitungsraum der Maschine zu rüsten. Durch Start des NC-Bearbeitungsprogramms beginnt der Bearbeitungsprozess auf der Maschine. Währenddessen überwacht und kontrolliert der Maschinenbediener die Bearbeitungsschritte und -ergebnisse. Gegebenenfalls nimmt er Korrekturen am NC-Programm selbst vor oder hält Rücksprache mit der CAD/CAM-NC-Programmierung und lässt Änderungen dort durchführen (siehe dazu Abschn. 5.1.1 bzw. 5.1.2). Wenn die Bearbeitung des Werkstücks auf der CNC-Maschine abgeschlossen ist, rüstet der Maschinenbediener das fertige Teil ab und dokumentiert, falls notwendig, Änderungen am NC-Programm. Dieser Teilprozess des Maschinenbedieners an der CNC-Maschine besteht ex ante aus 42 Prozessschritten. Davon sind zwölf Aktivitäten durch Automatisierungs- und IT-Techniken unterstützt, elf Aktivitäten werden manuell ausgeführt und 19 Aktivitäten führt der Maschinenbediener nach eigenständigen Überlegungen durch. Ex post legt der Blick auf den Prozess des Maschinenbedieners mit nur noch 32 Prozessschritten eine Reduktion des Prozessumfangs von 24 % offen. Nach MES-­ Einführung lässt sich folgende Klassifizierung vornehmen: elf Prozessschritte sind nun durch das MES (teil-)automatisiert, sechs Prozessschritte sind manuelle Ausführungen und 15 Prozessschritte basieren auf dem Sachverstand des Mitarbeiters. Zusammenfassend sind die Ergebnisse in Abb. 14 dargestellt. Die inhaltlich festgestellten Wirkungspotenziale aus der MES-Implementierung im Bereich des Maschinenbedieners bestehen in standardisierten, automatisierten ­Workflows, der Vermeidung von Medienbrüchen und Kontrollmechanismen zur Vermeidung potenzieller Fehler. Eine Übersicht dazu ist Tab. 5 zu entnehmen.

224

R. Obermaier und V. Wagenseil

Tab. 4  Qualitative Prozessveränderungen bei der Werkzeugeinstellung. (Quelle: Eigene Darstellung) Ex ante (Vorher)

Ex post (Nachher)

Subjektive Entscheidungsspielräume der Mitarbeiter. Auf Erfahrungswerten basierende Prozessdurchführung (potenzieller Know-how-Verlust) Nicht hinreichend definierte und dokumentierte Prozessanweisungen (z. B. Rüstinformationen für Komplettwerkzeuge)

Subjektive Entscheidungsspielräume entfallen Datenanreicherungslogiken erzeugen eindeutige Prozessparameter und triggern die Prozessdurchführung teils automatisiert (z. B. automatisierte Erzeugung von Werkzeuglisten aus IST-Daten und Anzeige zugehöriger Rüstinformationen für Komplettwerkzeuge)

Standardisierung des Workflows Fehlende Richtlinien zur Einhaltung von Teilprozessreihenfolgen (z. B. exakter Zeit- Automatisierte Teilrückmeldungen und Transparenz über Bearbeitungsstatus punkt, um Teilrückmeldung an ERP/PPS zu setzen) Gefahr von Parallelaktivitäten Arbeitsvorratsliste aus dem ERP/PPS-System: Einstellaufträge mit fehlender Vorgängerrückmeldung können nicht bearbeitet werden. Keine eindeutige zeitliche Priorisierung. Teilweise fehlender Maschinenbezug

Arbeitsvorratsanzeige im MES: nur durchführbare Einstellaufträge. Einzuhaltende zeitliche Priorisierung. Maschinenbezug vorhanden

Werkzeuge sind mit Status versehen, der Auskunft darüber gibt, ob Werkzeuge bereits im Maschinenmagazin geladen, vor der Maschine in einem Schrank lagern oder einzustellen sind. Dieser Status ist statisch gesetzt. Eine Echtzeitauskunft über den Standort bzw. Lagerplatz von Werkzeugen fehlt

Der Stand- bzw. Lagerort von Werkzeugen wird im Rahmen der Brutto-Netto-Rechnung in Echtzeit erfasst und berücksichtigt die IST-Situation sowie den Auftragshorizont

Ersatzwerkzeugbestellungen werden nicht in den Auftragsvorrat aus dem ERP/ PPS-System eingelastet und führen zu Ad-hoc-Unterbrechungen. Rüstinformationen sind unzureichend

Ersatzwerkzeugbestellungen erfolgen online. Sie werden zeitlich priorisiert in den Arbeitsvorrat im MES eingeschleust. Die bestellten Werkzeuge sind eindeutig inkl. Stücklistenauflösung identifiziert

Werkzeugsuche basiert auf Erinnerungen und Vermutungen

Die Werkzeugsuche erfolgt online mittels Identifikationsnummer. Eine Information darüber, ob und wo ein fehlendes Werkzeug lokalisiert werden kann, ist möglich

Keine eindeutige, rückfragefreie Rüst­ anweisung für Komplettwerkzeuge vorhanden. Grafische Darstellungen von Komplettwerkzeugen sind lückenhaft dokumentiert

Die Montagegrafik des MES enthält alle zur Montage von Komplettwerkzeugen notwendigen Rüstinformationen inkl. einer grafischen Darstellung

Werkzeugdaten werden in Papierform weitergereicht und müssen manuell übertragen werden

Die Werkzeugdaten werden online übertragen

Betriebswirtschaftliche Wirkungen digital …

225

Abb. 13   Vereinfachte Struktur des operativen Prozesses eines Maschinenbedieners. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 14   Vorher-Nachher-Prozessanalyse Maschinenbediener. (Quelle: Eigene Darstellung)

5.2 Rüstzeiten 5.2.1 Werkzeugeinstellung Zur Untersuchung von Hypothese 2, die Einführung eines MES führe zur Reduktion von Rüstzeiten, wurden Messungen der Prozessdauer in der Werkzeugeinstellung vor und nach Einführung des MES durchgeführt. Hierzu wurde der Werkzeugeinsteller ex ante bei der Ausübung seiner Tätigkeit im Rahmen von 29 Einstellaufträgen beobachtet. Es erfolgte eine Zeitnahme vom Zeitpunkt des Bearbeitungsstarts eines Einstellauftrags bis zum letzten Ausdruck eines Werkzeugdatenetiketts für den jeweiligen Einstellauftrag. Insgesamt wurde bei dieser Vollerhebung die Rüstzeit für 72 Werkzeuge (Basis: 29 Einstellaufträge) ermittelt. Im Mittel belief sich die Rüstzeit auf 7,2 min pro Werkzeug. Im Nachherzustand wurde das Vergleichsergebnis aus Daten des MES gewonnen. Dabei wurden die Bereitstelldauern für ebenfalls 72 Werkzeuge ermittelt (Basis: 19 Einstellaufträge). Der definierte Startzeitpunkt für die Auftragsbearbeitung und der

226

R. Obermaier und V. Wagenseil

Tab. 5  Qualitative Prozessveränderungen aus Sicht des Maschinenbedieners. (Quelle: Eigene Darstellung) Ex ante (Vorher)

Ex post (Nachher)

Subjektive Entscheidungsfreiheit über ­Auftragszuteilung auf Maschinenebene unter Berücksichtigung nicht dokumentierter oder nachvollziehbarer Entscheidungskriterien

Subjektive Entscheidungsfreiheit auf wenige verantwortliche Mitarbeiter eingedämmt

Arbeitsvorratsliste aus dem ERP/PPS-System: Fertigungsaufträge mit fehlender Vorgängerrückmeldung können nicht bearbeitet werden. Keine eindeutige zeitliche Priorisierung. Teilweise fehlender Maschinenbezug

Arbeitsvorratsanzeige im MES: nur Fertigungsaufträge in Abarbeitungsreihenfolge aufgelistet, die bearbeitet werden können. Zeitaufwendige Prüfungen und Rückfragen entfallen

Fehlende Transparenz über Programmverwendungs- und Änderungshistorie und dadurch Gefahr repetitiver Fehlprogrammierungen oder wiederholter Programmanpassungen aufgrund fehlender Rücksicherung geänderter Programme Es gibt keinen NC-Lebenslauf, der über das NC-Programm informiert Programme werden auf der Steuerung in Eigenregie verwaltet und gesammelt. Es entsteht „Wildwuchs“ und die Gefahr des Verlustes von nicht rückgesicherten Programmen

Durch die schrittweise Erweiterung des NC-Lebenslaufs nach jeder Programmbestellung und -verwendung wird zugleich die NC-Programmqualität transparent Nach jeder Programmverwendung wird die Programmrückübertragung inkl. der Pflege des NC-Lebenslaufs automatisiert und kontrolliert. Programme werden somit dokumentiert und die Verwendungs- sowie Änderungshistorie transparent Kontrollmechanismus verhindert das Ansammeln von Programmen auf der Steuerung und erzwingt neben dem Rücksenden auch das Löschen nicht benötigter Programme

Fehlende Kontrollmöglichkeiten beim Zurücksenden von NC-Programmen. Im Wiederholfall Identifikation der aktuellen NC-Version durch Abgleich des Versionsstandes auf der Steuerung und in der NC-Verwaltung

Ein standardisierter, automatisierter Workflow mit Kontrollmechanismen stellt die Rücksendung und Bereitstellung der jeweils aktuellen Programmversion sicher Programme sind bis auf den Verwendungszeitpunkt nur an einem Speicherort vorhanden

Beim Rüsten eines Fertigungsauftrags erfolgt der Brutto-Netto-Abgleich manuell oder unter ­Rückgriff auf eine statische Werkzeugstatusauskunft Die Suche von Werkzeugen basiert auf Vermutungen. Schrankwerkzeuge müssen in den chaotisch organisierten Werkzeugschränken lokalisiert werden

Der Brutto-Netto-Abgleich erfolgt automatisiert. Es werden auftragsbezogen nur fehlende Werkzeuge durch die Werkzeugeinstellung am Arbeitsplatz ­bereitgestellt Falls Werkzeuge gesucht werden müssen, steht eine Online-Suchfunktion zur Verfügung, die den Standort von Komplett- und Elementwerkzeugen ermittelt

Durch Veränderungen in der Auftragsreihenfolge und mangelnde Transparenz wird eine frühzeitige Werkzeugbereitstellung erschwert. In der Folge übernimmt der Maschinenbediener Aufgaben des Werkzeugeinstellers

Der Werkzeugeinsteller ist zu 100 % Dienstleister für den Maschinenbediener. Durch eine zwischengeschaltete Auftragszuteilungsseite an den Maschinen werden fixierte Abarbeitungslisten erzeugt. Daraus leitet sich der Einstellauftragsvorrat inkl. Terminierung und Priorisierung ab (Fortsetzung)

Betriebswirtschaftliche Wirkungen digital …

227

Tab. 5   (Fortsetzung) Ex ante (Vorher)

Ex post (Nachher)

Bei der Ersatzwerkzeugbestellung entstehen Laufereien. Die Arbeitsanweisung an die Werkzeugeinstellung erfolgt nach individuellen Maßstäben, da definierte Standards fehlen. Dadurch werden vermeidbare Rückfragen und Wartezeiten verursacht Teilweise übernimmt auch hier der Maschinenbediener die Werkzeugeinstelltätigkeit

Die Ersatzwerkzeugbestellung und -bereitstellung: erfolgt über einen standardisierten, automatisierten Workflow von der Maschinensteuerung aus Das bereitzustellende Werkzeug ist eindeutig mit Stückliste definiert Auch für die Ersatzwerkzeugbereitstellung ist der Werkzeugeinsteller als „Dienstleister“ verantwortlich

Bei der Programmübertragung müssen NC-Teil- Bei der Programmübertragung werden alle programme einzeln gesucht und übertragen Teilspannungen automatisch mit übertragen werden Werkzeugbeladung: subjektive Entscheidungen (z. B. Platzwahl, Auswahl eines zu entladenden Werkzeugs), manuelle Dateneingabe und Datenkorrektur an der Steuerung, Werkzeugumladevorgänge möglich

Werkzeugbeladung wird durch Assistenzsystem unterstützt und automatisiert. Be- und Entladevorschläge berücksichtigen wichtige Entscheidungskriterien und Echtzeitinformationen (z. B. Beladesituation der Maschine, Auftragshorizont, Platzbedarf einzelner Werkzeuge) und beugen Umladevorgängen vor. Die Werkzeugdaten werden online übertragen. Die Korrektur von Daten wird überwacht

­ ndzeitpunkt, d. h. wann das letzte Werkzeug eines Auftrags vermessen wurde, sind E somit identisch mit dem Vorherzustand. Der Mittelwert der ex post gemessenen Rüstzeit beläuft sich allerdings auf 4,5 min pro Werkzeug, was einer Reduktion der Rüstzeit um 38 % entspricht (Abb. 15). Die gemessene Differenz der beiden Mittelwerte erwies sich als statistisch hoch signifikant (p-value 50.000

5 (7,2 %)

und Expertise zu prüfen. Der zweite Teil befasste sich mit den Industrie-4.0-induzierten Veränderungen einzelner Bausteine des Unternehmensgeschäftsmodells anhand des GMC. Die Interviews wurden audioaufgezeichnet und wörtlich transkribiert. So ergaben sich etwa 1100 Seiten Textmaterial, die mithilfe der qualitativen Inhaltsanalyse nach Miles und Huberman (1994) untersucht wurden. Innerhalb dieser Analyse der Interviewtranskripte wurden die Themenkategorien induktiv entwickelt (Kelley et al. 2009). Auf diese Weise wurde eine Beschränkung durch bestehende Hypothesen vermieden und das Aufkommen neuer Konzepte und Informationen gewährleistet (Graebner und Eisenhardt 2004). Eine an die Codierung aller Interviews anschließende Häufigkeitsanalyse nach Holsti (1968) ermöglicht eine Aussage, wie häufig sich die einzelnen Geschäftsmodellbausteine aufgrund von Industrie 4.0 in der Stichprobe änderten. Um diese Veränderungen zu verstehen, untersucht die vorliegende Studie darüber hinaus deren inhaltliche Ausprägungen und konkrete Ausgestaltung. Um verlässliche Daten während des gesamten Analysevorgehens zu gewährleisten, codierten die Autoren dieses Beitrags die Interviewaussagen unabhängig voneinander. Die darauffolgende Berechnung der Inter-Koder-Reliabilität nach Holsti (1969) ergab einen hohen Wert, der die Validität und Objektivität der Ergebnisse unterstreicht.

4 Empirische Ergebnisse Im Folgenden werden die Ergebnisse der vorliegenden Studie näher erläutert. Die Abb. 2 und 3 fassen die relativen Industrie-4.0-induzierten Änderungshäufigkeiten der einzelnen Geschäftsmodellbausteine in allen fünf untersuchten Industriebranchen zusammen. Dabei erfolgt sowohl eine branchenübergreifende als auch -differenzierte Darstellung der jeweiligen Geschäftsmodellveränderungen.

Geschäftsmodelle im Wandel durch Industrie 4.0

365

25%

Kundensegmente

35%

Kanäle

44%

Erlösmodell

60%

Schlüsselpartner

73%

Kostenstruktur

83%

Schlüsselaktivitäten

86%

Kundenbeziehungen

89%

Wertangebot

93%

Schlüsselressourcen 0%

10%

20%

30%

40%

50%

60%

70%

80%

90%

100%

Abb. 2   Branchenübergreifende Änderungshäufigkeiten durch Industrie 4.0. (Quelle: Eigene Darstellung)

Wie aus den Abbildungen ersichtlich ist, gehört das Wertangebot zu den Bausteinen mit den häufigsten Industrie-4.0-bedingten Änderungen (89 % der untersuchten Unternehmen). Innerhalb der durch Industrie 4.0 veränderten Wertangebote spielt das Angebot von Produktions- und Prozessoptimierungen an Kunden in allen betrachteten Branchen eine bedeutende Rolle. Ebenfalls branchenübergreifend gewinnen Datensammlung und -analyse als neue Dienstleistungsart an Bedeutung. So können durch die Sammlung und Verarbeitung von Daten zur Nachverfolgbarkeit sowie Überwachung der Produktionsprozesse neuartige Produkte, Dienstleistungen und hybride Leistungsbündel daraus angeboten werden. Auf diese Weise profitieren Kunden beispielsweise von vorausschauender Wartung, Cloud-Computing- und Augmented-Reality-Angeboten. Noch häufiger betroffen sind die Schlüsselressourcen des Geschäftsmodells, die in insgesamt 93 % der betrachteten Fälle eine Änderung durch Industrie 4.0 erfahren. Hinsichtlich der Änderung von Schlüsselressourcen berichten in allen Branchen jeweils mindestens die Hälfte der Unternehmen von notwendigen Anpassungen im Bereich Know-how und der Unternehmenskultur. Diese Aspekte bilden den Kern der Industrie-4.0-spezifischen Schlüsselressourcen. Eine besondere Bedeutung kommt hier der Akquise und Weiterentwicklung von notwendigen Mitarbeiterqualifikationen zu.

366

K.-I. Voigt et al. Wertangebot

Schlüsselaktivitäten

Schlüsselressourcen

Elektrotechnik

Elektrotechnik

Elektrotechnik

100 80 60 40 20 0

100 80 60 40 20 0

Medizintechnik

Maschinenund Anlagenbau

Automobilzulieferer

100 80 60 40 20 0

Medizintechnik

Maschinenund Anlagenbau

Automobilzulieferer

Medizintechnik

Maschinenund Anlagenbau

Automobilzulieferer

IKT

IKT

IKT

Schlüsselpartner

Kundensegmente

Kundenbeziehungen

Elektrotechnik

Elektrotechnik

Elektrotechnik

100 80 60 40 20 0

100 80 60 40 20 0

Medizintechnik

Maschinenund Anlagenbau

Automobilzulieferer

100 80 60 40 20 0

Medizintechnik

Maschinenund Anlagenbau

Automobilzulieferer

Medizintechnik

Maschinenund Anlagenbau

Automobilzulieferer

IKT

IKT

IKT

Kanäle

Kostenstruktur

Erlösmodell

Elektrotechnik

Elektrotechnik

Elektrotechnik

100 80 60 40 20 0

100 80 60 40 20 0

Medizintechnik

Maschinenund Anlagenbau

Automobilzulieferer

Maschinenund Anlagenbau

IKT

Branchenspezifische Änderungshäufigkeit

100 80 60 40 20 0

Medizintechnik

Automobilzulieferer IKT

Medizintechnik

Maschinenund Anlagenbau

Automobilzulieferer IKT

Branchenübergreifende Änderungshäufigkeit

Abb. 3   Branchenspezifische Änderungshäufigkeiten durch Industrie 4.0. (Quelle: Eigene Darstellung)

­ itarbeiter benötigen spezifisches Wissen in den Bereichen IT, Softwareentwicklung M und Datenanalyse sowie ein ausgeprägtes Markt- und Kundenverständnis, um sowohl den technologischen als auch ökonomischen Voraussetzungen von Industrie 4.0 gerecht zu werden. Zusammenfassend zeigen die empirischen Ergebnisse die besondere Bedeutung von Industrie-4.0-spezifischen Humanressourcen für eine zukunftsorientierte Gestaltung etablierter Geschäftsmodelle. Die Kundenbeziehungen unterliegen mit 86 % der dritthäufigsten Änderung durch Industrie 4.0. Besonders auffällig ist hier, dass branchenübergreifend eine Intensivierung der Kundenbeziehungen als bedeutendste Änderung angesehen wird. Dies ist jedoch nicht weiter verwunderlich, führt man sich die Änderungen des Wertangebots vor Augen. Nachdem das Angebot von Produktions- und Prozessverbesserungen innerhalb des Produktionssystems des Kunden ein entsprechend detailliertes Verständnis der Probleme und Bedürfnisse dieser Kunden erfordert, kommt langfristigen Beziehungen, die sich durch intensivere Kommunikation und Zusammenarbeit auszeichnen, eine steigende Bedeutung zu.

Geschäftsmodelle im Wandel durch Industrie 4.0

367

Bei näherer Betrachtung der Schlüsselaktivitäten zeigt sich, dass Industrie 4.0 in 83 % der befragten Unternehmen eine Änderung dieses Bausteins hervorruft. Neben dieser grundsätzlich hohen Auswirkung zeigt sich, dass sich insbesondere Aktivitäten mit unmittelbarem Produktionsbezug in allen betroffenen Unternehmen verändern. Produktionsaktivitäten beziehen sich dabei auf Standardisierung und Modularisierung, Individualisierung sowie auf die Anwendung von Simulationen. Erst durch diese Aktivitäten werden neue Wertangebote ermöglicht. Neben greifbaren, realen Produktionsaktivitäten werden immaterielle, virtuelle Aktivitäten, wie z. B. Simulationen, immer bedeutender. Dies wiederum unterstreicht die Verschmelzung der realen mit der virtuellen Welt als Kerneigenschaft von Industrie 4.0. Wirft man einen Blick auf die finanzielle Perspektive des Geschäftsmodells, so zeigt sich, dass die Kostenstruktur in 73 % aller Unternehmen einer Industrie-4.0-induzierten Veränderung unterliegt. Die häufigsten Änderungen beziehen sich dabei auf Kosten für die IT-Infrastruktur. Hierzu zählen beispielsweise höhere Ausgaben für IT-Hardware, -Software und Online-Plattformen. Obgleich die Schlüsselpartner als externe Perspektive des Geschäftsmodells nicht zu den am häufigsten veränderten Bausteinen gehören, zeigt sich dennoch, dass Anbieter von Industrie-4.0-spezifischer IT-Ausstattung für alle Unternehmen, unabhängig von deren Branchenzugehörigkeit, eine wichtige Rolle im Kontext von Industrie 4.0 spielen. Die verbleibenden drei Geschäftsmodellbausteine spielen derzeit eine noch eher untergeordnete Rolle. So befinden sich in allen Industriebranchen die Kanäle und Kundensegmente unter den drei am seltensten von einer Änderung betroffenen Bausteinen. Ähnliches gilt für das Erlösmodell, mit Ausnahme von Unternehmen aus dem IKT-Sektor, die dort eine vergleichsweise höhere Änderung durch Industrie 4.0 erfahren. Die Tab. 3 fasst alle branchenunabhängigen Geschäftsmodelländerungen durch Industrie 4.0 übersichtlich zusammen. Neben diesen nicht weniger wichtigen Auswirkungen von Industrie 4.0 auf Geschäftsmodelle von Unternehmen aller Branchen sind in dieser Studie industriespezifische Geschäftsmodelländerungen von besonderem Interesse. So zeigt sich für Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus, dass bezüglich der Kostenstruktur insbesondere Personalkosten bedeutend öfter von einer Änderung betroffen sind als in den weiteren vier Branchen. Zieht man alle Unternehmen heran, deren Kostenstruktur sich durch Industrie 4.0 verändert, sind hier in mehr als jedem vierten Unternehmen (28 %) entsprechende Effekte erkennbar, während in nur noch einer weiteren Branche überhaupt veränderte Personalkosten mit Industrie 4.0 einhergehen (und das auch nur in 12 % der entsprechenden Unternehmen). Unternehmen des Maschinen- und Anlagenbaus stehen somit besonders vor der Herausforderung steigender Kosten für hochqualifizierte Mitarbeiter. Bei näherer Betrachtung der Unternehmen aus dem Bereich Medizintechnik stellt man eine Besonderheit in den Schlüsselaktivitäten fest. Innerhalb dieses generell sehr häufig durch Industrie 4.0 veränderten Bausteins unterliegen Unternehmen dieser Branche überdurchschnittlich häufig (in 20 % der untersuchten Unternehmen) einer Änderung

368

K.-I. Voigt et al.

Tab. 3  Branchenübergreifende Änderungen von Geschäftsmodellbausteinen. IKT Informationsund Kommunikationstechnologie. (Quelle: Eigene Darstellung) Geschäftsmodell- Branchenübergreifende Gemeinsamkeiten baustein Wertangebot

• Ist in allen Branchen, außer bei den Automobilzulieferern, am häufigsten von Industrie 4.0 betroffen • Unterliegt in 100 % der Unternehmen aus der Medizintechnik, Elektrotechnik und IKT einer Änderung durch Industrie 4.0 • Produktions- und Prozessoptimierungen bei Kunden stellen eine bedeutende Änderung innerhalb des Wertangebots in allen fünf betrachteten Branchen dar • Innerhalb der Automobilzulieferer, Medizintechnik und IKT stellen Datengewinnung und -analyse weitere bedeutende Änderungen dar

Schlüsselressourcen

• Unterliegen in 100 % der Unternehmen aus der Medizintechnik, Elektrotechnik und des IKT-Sektors sowie in jeweils 87 % der Automobilzulieferer und Maschinen- und Anlagenbauer einer Änderung durch Industrie 4.0 • Innerhalb jeder Branche erfahren mindestens 50 % der Unternehmen, die einer Änderung dieses Bausteins unterliegen, veränderte Mitarbeiterqualifikationen

Kundenbeziehungen

• Unterliegen in jeweils mindestens 80 % der Unternehmen jeder Branche einer Änderung durch Industrie 4.0 •E  ine Intensivierung der Kundenbeziehungen stellt eine bedeutende Modifikation für alle Unternehmen dar

Schlüsselaktivitäten

• Unterliegen in 100 % der Unternehmen aus der Medizintechnik und des IKT-Sektors sowie in jeweils mindestens 74 % der Automobilzulieferer, Maschinen- und Anlagenbauer und Elektrotechnikunternehmen einer Änderung durch Industrie 4.0 • Insbesondere Aktivitäten mit direktem Produktionsbezug stellen bedeutende Änderungen durch Industrie 4.0 innerhalb aller Branchen dar

Kostenstruktur

• Mindestens 80 % der Automobilzulieferer, Medizintechnik- und Elektrotechnikunternehmen unterliegen einer Änderung dieses Bausteins • Unternehmen aus dem Maschinen- und Anlagenbau sind immerhin noch in 65 % der Fälle betroffen

Schlüsselpartner

• Nehmen hinsichtlich ihrer Änderungshäufigkeit eine mittlere Position in allen untersuchten Branchen ein • I nsbesondere IT-Anbieter spielen im Kontext von Industrie 4.0 für Unternehmen aus allen fünf Branchen eine wichtige Rolle

Kanäle

• Spielen in allen untersuchten Branchen nur eine untergeordnete Rolle • Befinden sich in allen Branchen unter den drei am seltensten durch Industrie 4.0 veränderten Bausteinen

Erlösmodell

• Ist in allen Branchen von geringer Bedeutung, wenn es um Änderungshäufigkeiten durch Industrie 4.0 geht • Befinden sich in allen Branchen, außer der IKT, unter den drei am seltensten durch Industrie 4.0 veränderten Bausteinen

Kundensegmente • Spielen in allen untersuchten Branchen nur eine untergeordnete Rolle • Befinden sich in allen Branchen unter den drei am seltensten durch Industrie 4.0 veränderten Bausteinen

Geschäftsmodelle im Wandel durch Industrie 4.0

369

von Logistikaktivitäten. Darüber hinaus erfahren Medizintechnikunternehmen ebenfalls verhältnismäßig oft (in 20 % der Fälle) lediglich kleinere Anpassungen ihrer bereits vorhandenen Schlüsselaktivitäten an die Anforderungen von Industrie 4.0. Unternehmen der Elektrotechnik offenbaren in ihren Schlüsselpartnern sowie der Kostenstruktur eine bemerkenswerte Unterscheidung zu anderen Branchen. Auch wenn die Partner, wie in den anderen Branchen auch, nur einer mittleren Änderungshäufigkeit unterliegen, lohnt sich ein genauerer Blick auf diesen Bereich. So zeigt sich, dass für jedes dritte Unternehmen dieser Branche, dessen Schlüsselpartner sich durch Industrie 4.0 verändern, Entwicklungspartner nun eine entscheidende Rolle spielen. In diesem Zusammenhang werden insbesondere Partnerschaften mit Forschungseinrichtungen wie Universitäten sowie mit Softwarehäusern genannt. Damit stehen auch die überdurchschnittlich häufigen Verschiebungen innerhalb der Kostenstruktur hin zu Partnerschaftskosten in Zusammenhang. Zusätzlich führt Industrie 4.0 bei den Elektrotechnikunternehmen verhältnismäßig oft zu höheren Dienstleistungsausgaben. Die Erstellung und Bereitstellung von Dienstleistungen erhöht die Kosten bei 37 % aller Unternehmen dieser Branche, deren Kostenstruktur von einer Änderung durch Industrie 4.0 betroffen ist. Auch Unternehmen des IKT-Sektors zeigen eine auffallende Abweichung zu anderen Branchen im Bereich der Kostenstruktur, da sich bei nur weniger als der Hälfte (43 %) der entsprechenden Unternehmen dieser Geschäftsmodellbereich durch Industrie 4.0 verändert. Entsprechend verändert sich dieser Baustein innerhalb der IKT-Branche am seltensten. Da generell kaum über entsprechende Änderungen der Kostenstruktur berichtet wurde, fehlen hierzu auch konkrete inhaltliche Aussagen bezüglich der Natur dieser Änderungen. Aus diesem Grund darf die ungewöhnlich geringe Änderungshäufigkeit der Kostenstruktur im Rahmen von Industrie-4.0-bezogenen Geschäftsmodelländerungen bezweifelt werden. Vielmehr erscheint es so, als wären sich die befragten Experten über die Auswirkungen von Industrie 4.0 auf die Kosten nicht im Klaren. Die Schlüsselpartner sind bezüglich der Änderungshäufigkeit bei IKT-Unternehmen überdurchschnittlich oft betroffen. Innerhalb entsprechender Änderungen berichten die interviewten Experten verhältnismäßig häufig von neuen Entwicklungspartnern, insbesondere im Bereich Softwaredesign und Maschinenkomponenten. Entsprechend stellt die Koordination von Wertschöpfungspartnern eine wichtige, neue Aufgabe innerhalb der Schlüsselaktivitäten für 50 % aller betroffenen Unternehmen dar. Diese spezielle Aufgabe besteht ausschließlich in der IKT-Branche, ebenso wie die Erweiterung der bestehenden Kundenbeziehungen um Beziehungen zu Kunden der eigenen Kunden, sog. Business-to-Business-to-Customer-Beziehungen“ (B2B2C). Zu guter Letzt zeichnen sich die Automobilzulieferer durch eine vergleichsweise geringere Bedeutung des Wertangebots im Sinn von Änderungshäufigkeiten aus. Während in den weiteren vier Branchen jeweils nahezu alle Unternehmen eine entsprechende Änderung verzeichnen, sind dies bei den Automobilzulieferern weniger als zwei Drittel (63 %). Eine weitere Auffälligkeit zeigt sich in dieser Branche bezüglich der Schlüsselaktivitäten. Betrachtet man dies näher, so stellt man fest, dass jedes dritte Unternehmen Aktivitäten im Bereich der Datenverarbeitung ändert. Dies stellt den (mit Abstand)

370

K.-I. Voigt et al.

höchsten Wert unter allen analysierten Branchen dar. In Bezug auf die Kostenstruktur der Automobilzulieferer ist augenfällig, dass fast jedes zweite (43 %) Unternehmen, dessen Kostenstruktur sich durch Industrie 4.0 verändert, entsprechende Auswirkungen bei den Produktionskosten feststellt. Interessanterweise profitieren hier fast alle Automobilzulieferer durch geringere Ausfallzeiten von einer Kostenreduktion, während sich lediglich ein einzelnes der befragten Unternehmen mit steigenden Produktionskosten konfrontiert sieht. Eine weitere Auffälligkeit dieser Branche besteht in den Kundenbeziehungen. Automobilzulieferer sind die einzigen Unternehmen, die von verbesserten Beziehungen berichten (in 20 % aller betroffenen Unternehmen), was auf neue, kundenorientierte Produkte und Dienstleistungen, erhöhte Transparenz sowie kürzere Reaktionszeiten auf veränderte Kundenwünsche zurückzuführen ist. Die Tab. 4 fasst die bedeutenden branchenspezifischen Geschäftsmodelländerungen durch Industrie 4.0 zusammen.

Tab. 4  Branchenspezifische Änderungen von Geschäftsmodellbausteinen. IKT Informations- und Kommunikationstechnologie; B2B2C Business-to-Business-to-Customer-Beziehungen. (Quelle: Eigene Darstellung) Branche

Branchenspezifische Änderungen von Geschäftsmodellbausteinen

Maschinen- und • Innerhalb der Änderungen der Kostenstruktur stellen erhöhte Kosten für Anlagenbau hochqualifizierte Mitarbeiter einen verhältnismäßig hohen Anteil dar Medizintechnik

• Unter den Unternehmen, deren Schlüsselaktivitäten einer Änderung durch Industrie 4.0 unterliegen, sind Logistikaktivitäten äußerst häufig betroffen • Darüber hinaus müssen Unternehmen dieser Branche verhältnismäßig häufig bestehende Schlüsselaktivitäten an Industrie 4.0 lediglich geringfügig anpassen

Elektrotechnik

• I nnerhalb der Anpassungen der Schlüsselpartner sind Entwicklungspartner verhältnismäßig oft betroffen • Im Zusammenhang mit den Schlüsselpartneränderungen stellen entsprechende Kosten eine bedeutende Änderung innerhalb der Kostenstruktur dar • I m Vergleich zu anderen Branchen sind Kosten für Dienstleistungen überdurchschnittlich häufig von Industrie 4.0 betroffen

IKT

• Die Schlüsselpartner werden durch Industrie 4.0 generell häufiger verändert als in anderen Branchen; innerhalb dieses Bausteins spielen darüber hinaus Entwicklungspartner eine entscheidende Rolle • Die hohe Bedeutung der Schlüsselpartner drückt sich auch in entsprechenden Koordinationsaktivitäten von Wertschöpfungspartnern aus • Im Bereich der Kundenbeziehungen erfährt ausschließlich diese Branche eine B2B2C-Erweiterung um Kunden der eigenen Kunden

Automobilzulieferer

• Das Wertangebot ist verhältnismäßig selten von einer Änderung durch Industrie 4.0 betroffen • Innerhalb der Änderungen der Schlüsselaktivitäten besitzen Datenverarbeitungsaktivitäten einen verhältnismäßig hohen Anteil • Unter den Unternehmen, deren Kostenstruktur durch Industrie 4.0 verändert wird, zeigen sich vergleichbar häufig Änderungen der Produktionskosten, zumeist Kostensenkungen • Im Vergleich zu anderen Branchen zeigen sich innerhalb der Kundenbeziehungen deutliche Verbesserungen

Geschäftsmodelle im Wandel durch Industrie 4.0

371

5 Diskussion 5.1 Interpretation der Kernergebnisse Wie im vorhergehenden Kapitel gezeigt wurde, bestehen einige interessante branchenspezifische Besonderheiten bezüglich der Änderungen von Geschäftsmodellen durch Industrie 4.0. Um dem Ziel dieses Beitrags zu entsprechen, branchenspezifische Unterschiede hinsichtlich des Einflusses von Industrie auf etablierte Geschäftsmodelle aufzuzeigen, werden die wichtigsten Besonderheiten der untersuchten Branchen im Folgenden diskutiert und vor dem Hintergrund des bestehenden Forschungsstands reflektiert. Der Maschinen- und Anlagenbau ist im Speziellen durch eine außergewöhnliche Steigerung der Personalkosten im Zuge von Industrie 4.0 gekennzeichnet. Dies lässt sich durch die bisherige Fokussierung der Branche auf ein eher hardwareorientiertes Geschäft zurückführen. So waren Unternehmen dieser Branche in der Vergangenheit primär mit der Entwicklung und Herstellung von physischen Anlagen und vergleichbaren Produkten beschäftigt, während sie sich im Kontext von Industrie 4.0 verstärkten Aktivitäten im Softwarebereich gegenübersehen. Im Zuge der fortschreitenden Digitalisierung, Vernetzung und Virtualisierung von Produktionsumfeldern ist auch zukünftig eine zunehmende Bedeutung dieser Aktivitäten zu erwarten. Folglich erscheint es notwendig, dass Maschinen- und Anlagenbauer ihr vorhandenes Personal entweder entsprechend aus- und weiterbilden oder aber Fachkräfte akquirieren, die das für Industrie 4.0 notwendige Know-how mitbringen. Beide Vorgehensweisen sind kostenintensiv, da Industrie 4.0 hochqualifizierte Fachkräfte erfordert, die spezielle IT-, Software- und Datenanalysekompetenzen besitzen (Geisberger und Broy 2012; Kaufmann 2015; ­Russwurm 2013). Diese Erkenntnis wird ebenso von Spath et al. (2013) unterstrichen, die in ihrer Forschungsarbeit auf die hohe Bedeutung der veränderten Mitarbeiterrolle von rein ausführenden und Maschinen bedienenden Arbeitern hin zu hochqualifizierten Problemlösern hinweisen. Betrachtet man die Elektrotechnik und den IKT-Sektor, so offenbart die vorliegende Untersuchung sowohl deren spezielle Bedeutung als Schlüsselpartner als auch der eigenen Schlüsselpartnerschaften sowie den damit zusammenhängenden Koordinationsund Transaktionsaufwand. Dabei spielen Entwicklungspartnerschaften eine zentrale Rolle für zukunftsfähige Geschäftsmodelle im Kontext von Industrie 4.0. Diese werden sich künftig zunehmend im Rahmen von Ökosystemen abspielen, die beispielsweise in Form von Plattformgeschäftsmodellen sämtliche an der Wertschöpfung beteiligte Akteure zusammenbringen und somit als entscheidender Wettbewerbsfaktor dienen (Kiel et al. 2017; Müller et al. 2018). Da Unternehmen aus dem Elektrotechnik- und dem ­IKT-Sektor zentrale Lieferanten von Industrie-4.0-fähigen Technologien und Komponenten für andere Branchen darstellen, bestätigen die Ergebnisse damit sowohl Dais (2014) als auch Porter und Heppelmann (2014), die die strategische Bedeutung von Schlüsselpartnern aus Branchen betonen, die den technologischen Kern von Industrie 4.0 repräsentieren. Aufgrund der engen und frühzeitigen Einbindung von Elektrotechnik- und

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IKT-Unternehmen in die Wertschöpfung dieser Kunden wandelt sich ihr Wertangebot zu stärkerer Individualisierung und erhöhter Variantenvielfalt. Insbesondere IKT-Unternehmen adressieren nun nicht mehr nur die eigenen Kunden, sondern vermehrt auch deren Kunden, was zu sog. B2B2C-Beziehungen führt (Burmeister et al. 2015), die im Rahmen von netzwerkartigen Wertschöpfungsökosystemen erleichtert werden. Aufgrund von Simulationsmöglichkeiten der Produktionsprozesse können hochindividualisierte Produkte zu den Kosten einer Serienfertigung hergestellt werden. Hinsichtlich der Automobilzuliefererbranche ist die vergleichsweise geringe Bedeutung neuer Wertangebote unübersehbar. Dies lässt sich dadurch begründen, dass die Automobilindustrie insgesamt bereits sehr effizienzorientiert agiert und Automobilzulieferer daher bereits viele der Vorteile, die mit Industrie 4.0 assoziiert werden (z. B. individualisierte Produkte und Dienstleistungen sowie Prozessoptimierungen), realisiert haben, noch bevor der Begriff Industrie 4.0 aufkam. Nichtsdestotrotz nutzen Automobilzulieferer Industrie-4.0-Technologien, z.  B. additive Fertigungsverfahren und Simulationen, um produktionsbezogene Kosten noch weiter zu senken. Dies bestätigt die Erkenntnisse von Bauernhansl (2014), der speziell Kostensenkungspotenziale in den Bereichen Komplexität, Instandhaltung, Lagerhaltung, Fertigung, Logistik und Qualität sieht. Des Weiteren zeigt die vorliegende Untersuchung, dass das Management und die Verarbeitung von Daten neuartige Schlüsselaktivitäten darstellen, da erst die zielgerichtete Sammlung und Analyse von z. B. Maschinenzustandsdaten eine vollständige Ausnutzung sämtlicher Potenziale von Industrie 4.0 ermöglichen. Trotz dieser Erkenntnis haben die Automobilzulieferer, wie auch alle anderen untersuchten Industriebranchen, nach wie vor enormen Aufholbedarf hinsichtlich der Datensicherheit. Entsprechende Maßnahmen sind zwingend erforderlich, um die industrielle Wertschöpfung vor Missbrauch, wie unberechtigtem Zugriff oder Datenmanipulation und -vernichtung zu schützen (Emmrich et al. 2015). Hier kann beispielsweise der Einsatz der Blockchain-Technologie, die bislang vorwiegend im Finanzsektor Anwendung findet, zukünftig auch in produktions- und logistiknahen Netzwerken einen wichtigen Beitrag zur sicheren Datenübertragung leisten (Wildemann 2017). Des Weiteren zeigt sich, dass sich Unternehmen aus der Medizintechnik v. a. darauf beschränken, ihre bisherigen Aktivitäten geringfügig an die Anforderungen von Industrie 4.0 anzupassen. Entsprechend sind Medizintechnikunternehmen im Vergleich zu anderen Branchen bisher mit eher leichten Geschäftsmodellentwicklungen durch Industrie 4.0 konfrontiert. Abschließend lässt sich mit Blick auf das verwendete GMC festhalten, dass das zunehmende Aufkommen von netzwerkartigen Wertschöpfungsökosystemen auch Ausdruck innerhalb des Modells finden sollte. Zielführend wäre beispielsweise eine Anpassung des Bausteins Schlüsselpartnerschaften, der in der aktuellen Form vorwiegend auf statische und langfristige Partnerschaften ausgerichtet ist. Da sich die zunehmend bedeutenden Ökosysteme durch dynamische Verbindungen von Wertschöpfungsakteuren auszeichnen, die abhängig vom jeweiligen Zweck ad hoc gebildet und wieder gelöst werden (Peltoniemi und Vuori 2004), empfiehlt sich eine entsprechende Berücksichtigung solcher kurzfristigen Beziehungen auf der infrastrukturellen Seite des GMC.

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5.2 Managementimplikationen Die Ergebnisse und Erkenntnisse der durchgeführten Studie bieten einige wichtige Handlungsempfehlungen für Unternehmen, die vor der Herausforderung stehen, ihre Geschäftsmodelle vor dem Hintergrund des Zukunftskonzepts Industrie 4.0 zu gestalten und zu innovieren: 1. Die veränderte Rolle der Mitarbeiter von rein ausführenden und bedienenden Arbeitern zu hochqualifizierten Problemlösern erfordert angemessene und effektive Personalentwicklungsaktivitäten. Unternehmen sollten daher Anstrengungen unternehmen, um eine interdisziplinäre Aus- und Weiterbildung in den Bereichen Wirtschaft, Ingenieurswesen, Informatik und Mathematik zu fördern, beispielsweise durch intensivere Zusammenarbeit mit Universitäten und weiteren Bildungseinrichtungen. Eine frühzeitige Einbindung in die Gestaltung von Lehrprogrammen dient der zielgerichteten Befähigung der Mitarbeiter für den Umgang mit Industrie 4.0. 2. Strategischen Schlüsselpartnern, z. B. IT-Anbietern, kommt eine steigende Bedeutung in vernetzten Wertschöpfungsketten zu, sodass diese verlässlich und sicher sein müssen. In diesem Zusammenhang ist es ebenso notwendig, Kunden als wichtige Entwicklungspartner und Co-Designer möglichst frühzeitig in die Wertschöpfung zu integrieren. 3. Unternehmen, die sich mit Industrie 4.0 beschäftigen, sind gut beraten, sich vermehrt um Datensicherheit zu kümmern, um ihre Produktionssysteme vor unberechtigtem Zugriff sowie Datenmanipulation und -zerstörung zu schützen. Darüber hinaus sollten sich Unternehmensverantwortliche der hohen Bedeutung und der Vorteile von Daten als strategische Ressource und Vermögensgegenstand bewusst sein. 4. Trotz der hohen Investitionen in technische Ausrüstung und moderne Technologien, die Industrie 4.0 erfordert, gehen damit vielfältige Kostensenkungspotenziale einher. Folglich sollten sich Entscheidungsträger von Investitionen in die technologische Zukunft nicht abschrecken lassen. Sie sollten vielmehr neue Einnahmequellen generieren, die durch innovative Produkte und Dienstleistungen ermöglicht werden, um die entsprechenden Investitionen zu kompensieren.

6 Fazit Diese Studie leistet durch eine differenzierte Betrachtung von fünf Industriebranchen einen wesentlichen theoretischen Beitrag zu Industrie-4.0-induzierten Geschäftsmodellauswirkungen. Neben branchenübergreifenden Gemeinsamkeiten wurden insbesondere einige branchenspezifische Unterschiede gezeigt: Maschinen- und Anlagenbauunternehmen erwarten primär veränderte Mitarbeiteranforderungen, Unternehmen der Elektrotechnik und des IKT-Sektors betonen die Bedeutung neuer strategischer Netzwerke aus externen Wertschöpfungspartnern und Automobilzulieferer fokussieren sich auf die durch Industrie 4.0 ermöglichten Kostensenkungen und Effizienzsteigerung.

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Wie jede wissenschaftliche Untersuchung, ist die vorliegende Studie selbstverständlich nicht frei von Limitationen. So sollten die Ergebnisse nicht leichtfertig und unreflektiert auf andere Branchen und Umfelder übertragen werden, da die untersuchten Unternehmen keine vollkommen repräsentative Stichprobe darstellen und auch nicht als solche missverstanden werden sollten. Dies gilt besonders für die teilweise sehr kleinen Stichproben bestimmter Branchen (z. B. der Medizintechnik). Aufgrund der gewissenhaften Stichprobenauswahl führender und innovativer Unternehmen, die bereits weitreichende Erfahrungen mit Industrie 4.0 vorweisen können, dienen die Erkenntnisse jedoch als wichtige Erkenntnisquelle der industriespezifischen Geschäftsmodellveränderungen im Kontext von Industrie 4.0. Dennoch sollte, beispielsweise durch groß angelegte quantitative Studien, eine Validierung der vorliegenden empirischen Ergebnisse vorgenommen werden. Entsprechende Stichproben könnten u. a. internationale Unternehmen befragen, um unterschiedliche kulturelle Hintergründe wie auch Sichtweisen von Industrie 4.0 zu berücksichtigen. Darüber hinaus sollten weitere Forschungsvorhaben unterschiedliche Unternehmensrollen sowie sich verschiebende Branchengrenzen innerhalb des Industrie-4.0-Ökosystems beleuchten. Dies gilt im Speziellen für Elektrotechnik- und IKT-Unternehmen, da Partnernetzwerke dort einen besonderen Stellenwert einnehmen.

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Prof. Dr. Kai-Ingo Voigt ist Inhaber des Lehrstuhls für Industrielles Management an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsinteressen umfassen Industrie 4.0, Digitale Transformation, Geschäftsmodellinnovationen, Technologie- und Innovationsmanagement, Technologiemarketing sowie organisationale Kreativität. Dr. Christian Arnold  ist Alumnus des Lehrstuhls für Industrielles Management an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Industrie 4.0, Digitale Transformation, Geschäftsmodellinnovationen sowie Technologie- und Innovationsmanagement. Dr. Daniel Kiel ist Alumnus des Lehrstuhls für Industrielles Management an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Industrie 4.0, Digitale Transformation, Nachhaltigkeit industrieller Wertschöpfung, Geschäftsmodellinnovationen sowie Technologie- und Innovationsmanagement. Prof. Dr. Julian M. Müller  ist Professor für Logistik und Operations Management an der Fachhochschule Salzburg. Die Forschungsschwerpunkte von Prof. Dr. Julian M. Müller umfassen Industrie 4.0 sowie Digitale Transformation mit Schwerpunkt Supply Chain Management, kleine und mittlere Unternehmen, Nachhaltigkeit sowie Geschäftsmodellinnovationen.

Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische Wirkungslogik und Anwendungsfälle in einer Industrie 4.0 Robert Obermaier und Philipp Mosch

1 Problemstellung Plattformen in verschiedenen Ausgestaltungen sind seit jeher wichtiger Bestandteil einer funktionierenden Wirtschaft. Märkte, Einkaufszentren oder auch Zeitungen dienen schon immer dazu, Verkäufer bzw. Werbetreibende auf der einen Seite und Kunden bzw. Leser auf der anderen Seite zusammenzubringen (Eisenmann et al. 2006, S. 92; ­Belleflamme und Peitz 2018, S. 1). Auch das dezentrale Produktionssystem der Weber im 18. und 19. Jahrhundert (mit dem Verleger als zentralem Akteur für die Verteilung von Rohstoffen und den Vertrieb der Webstoffe) oder Börsen, die seit Jahrhunderten existieren, können als frühe Plattformen angesehen werden (Gassmann et al. 2017, S. 334 f.). In jüngerer Zeit entwickelte sich jedoch, angeführt von den sog. GAFAM-Unternehmen (Google, Apple, Facebook, Amazon, Microsoft), ein neuer Plattformtypus. Durch den per Informationstechnologie möglich gemachten weitgehenden Verzicht auf die physische Infrastruktur entstanden digitale, auf Daten basierende Plattformen. Dies ging mit grundlegenden Veränderungen in den Wertschaffungslogiken einher: Das Wachstum einer digitalen Plattform kann mithilfe von Netzwerkeffekten schneller und kostengünstiger als bei nicht digitalen Plattformen erfolgen (Van Alstyne et al. 2016, S. 57). Durch datengetriebenes, effizientes Matching der Akteure untereinander können Transaktionskosten nahezu eliminiert, die Produktivität und Auslastung durch Güterteilung (Sharing) deutlich erhöht sowie die Entwicklung völlig neuer Geschäftsmodelle möglich gemacht werden

R. Obermaier (*) · P. Mosch  Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] P. Mosch E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_17

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380

R. Obermaier und P. Mosch

(Parker et al. 2016, S. 5; Evans und Gawer 2016, S. 4). Der erste Teil dieses Beitrags versucht, das ökonomische Potenzial digitaler Plattformen zu erklären. Dazu stehen folgende Fragen im Vordergrund: 1. Wie lassen sich bestehende digitale Plattformunternehmen strukturiert typisieren und klassifizieren? 2. Welche ökonomischen Wertschaffungslogiken verbergen sich hinter digitalen Plattformunternehmen? Viele der bekannten Plattformunternehmen fokussieren sich auf den Endkunden in einer Business-to-Consumer(B2C)- oder Consumer-to-Consumer(C2C)-Beziehung. Wichtige Akteure wie Airbnb, Uber oder Facebook wurden von europäischen Unternehmen zu spät in ihrer Bedeutung erkannt, was zu einer Dominanz amerikanischer und auch asiatischer Plattformen führte (Evans und Gawer 2016, S. 22). Die Wirkung von Plattformgeschäftsmodellen in der B2C-Umgebung ist gut analysiert (z. B. Eisenmann et al. 2009; Parker et al. 2016; Parker und Van Alstyne 2018). Im Kontext der Digitalisierung der Industrie richtet sich allerdings insbesondere in Industrieunternehmen der Fokus auf Business-toBusiness(B2B)-Beziehungen. Diese zweite Welle der Digitalisierung betrifft das Internet of Things (IoT) im industriellen Bereich, die sog. Industrie 4.0 oder auch Industrial Internet (Obermaier 2016, S. 3–34). Wissen über B2B-Plattformen ist essenziell, um diese zweite Welle der Digitalisierung beeinflussen und gestalten zu können (Rauen et al. 2018, S. 5). Der zweite Teil dieses Beitrags widmet sich daher folgenden Fragen: 3. Welche Typen von digitalen B2B-Plattformen im industriellen Kontext gibt es und wie sind diese ausgestaltet? 4. Welche Erkenntnisse von digitalen B2C-Plattformen lassen sich auf die B2B-Umgebung übertragen und welche nicht? Zunächst wird daher der Begriff der digitalen Plattform definiert, es werden Klassifizierungsansätze vorgestellt, die Wertschaffungslogiken von digitalen Plattformen erläutert und beschrieben, wie sich diese auf die Kapitalmarktbewertungen auswirken. Anschließend wird eine Einordnung verschiedener B2B-Plattformarten anhand praktischer Beispiele vorgenommen und es werden aktuelle Entwicklungstrends von Plattformen aufgezeigt. Das Fazit benennt Implikationen für die Praxis.

2 Zum Begriff Plattform Grundsätzlich lassen sich Plattformen als „[…] organizations that get two or more sides on board and enable direct interactions between them“ definieren (Hagiu und Wright 2015, S. 185). Sie fungieren als Intermediäre, stellen die erforderliche Infrastruktur bereit und ermöglichen unter vorgegebenen Regeln wertschaffende Interaktionen

Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische …

381

Tab. 1  Plattformakteure. (Quelle: Eigene Darstellung) Plattformakteur

Anbieter

Kunde

Betreiber

Enabler

Beispiel

Wohnungseigentümer, Fahrzeugeigentümer

Übernachtungsgast, Fahrgast

Airbnb, Uber

GPS, Internet

Kernaufgaben

Definition des Kundennutzens, Leistungserbringung

Auswahl der Plattform, Leistungsinanspruchnahme

Effizientes Matching zwischen Anbieter und Kunde, Infrastrukturbereitstellung

Technologiebereitstellung

z­wischen mindestens zwei Akteuren, i. d. R. Anbieter und Kunden (Gassmann et al. 2017, S. 334; Täuscher und Laudien 2017, S. 320; Parker et al. 2016, S. 5). Diese wertschaffenden Interaktionen beinhalten den Austausch von Informationen, Gütern oder Dienstleistungen und einem Zahlungsmittel (Parker et al. 2016, S. 36).1 Neben dem Anbieter und Kunden sind der Betreiber der Plattform und der Plattform-Enabler weitere wichtige Plattformakteure (Obermaier 2016, S. 29; Tab. 1). Aufgrund der verschiedenen Akteure werden Plattformen auch als zweiseitige oder mehrseitige Märkte bezeichnet (Rochet und Tirole 2003, S. 990 f.). Der Anbieter offeriert ein Produkt oder eine Dienstleistung auf der Plattform und definiert den zu befriedigenden Kundennutzen. Das angebotene Produkt oder die Dienstleistung fragt der Kunde nach, indem er auf der Plattform seiner Wahl nach den für ihn passenden Kriterien filtert und die Leistung beim Anbieter in Auftrag gibt. Diese beiden Akteure können auf der Plattform in einer B2C-, C2C-, C2B- oder B2B-Beziehung zueinander stehen (Tab. 2). Tab. 2  Interaktionsmöglichkeiten zwischen Plattformakteuren Anbieter und Kunde. B2B Bussiness-to-Business; B2C Business-to-Consumer; C2B Consumer-to-Business; C2C Consumer-to-Consumer. (Quelle: Eigene Darstellung) Kunde Anbieter

1Am

Privatperson

Unternehmen

Privatperson

C2C

C2B

Unternehmen

B2C

B2B

Beispiel des Fahrdiensts Uber sei dies verdeutlicht: Öffnet der potenzielle Kunde die App auf seinem Smartphone, so werden beispielsweise Verfügbarkeit und Standort der Fahrer übermittelt (Informationen). Finden Kunde und Fahrer zusammen, so kommt es zur Leistungserbringung in Form einer Fahrt von A nach B (Dienstleistung). Als Gegenleistung bezahlt der Kunde dem Fahrer eine Geldsumme, die sich anhand der gefahrenen Kilometer, Dauer, Ort und sonstige Zusatzleistungen bemisst (Zahlungsmittel).

382

R. Obermaier und P. Mosch

Innerhalb einer C2C-Plattform tritt eine Privatperson mit einer anderen Privatperson in Interaktion (Beispiel: Airbnb). Deutlich weniger häufig in der Praxis anzutreffen ist die Consumer-to-Business(C2B)-Plattform, in der Privatpersonen mit einem Unternehmen interagieren (Chen et al. 2008, S. 469). Durch das Internet ist allerdings auch diese Interaktionsform immer mehr anzutreffen, z. B. in Form von Open-InnovationPlattformen, auf denen Privatpersonen Ideen entwickeln, die von Unternehmen aufgegriffen und verwirklicht werden (Beispiel: Hyve). Auf einer B2C-Plattform tritt ein Unternehmen mit einer Privatperson in Verbindung (Beispiel: Amazon). B2B-Plattformen dienen der Verbindung von zwei Unternehmen (Beispiel: Alibaba). Der Betreiber der Plattform als weiterer Akteur ist für ein effizientes Matching zwischen Anbieter und Kunde verantwortlich. Plattform-Enabler unterstützen Anbieter, Kunden und Betreiber beispielsweise in technologischer Hinsicht, um die Interaktionen auf der Plattform überhaupt möglich zu machen. Finden die wertschaffenden Interaktionen zwischen den verschiedenen Akteuren auf einer internetbasierten Plattform statt, so sprechen wir von einer digitalen Plattform (Bakos 1998; S. 35, Parker et al. 2016, S. 5). Digitale Plattformen unterteilen wir dabei in zwei Untergruppen: 1) Digitale Plattformen im engeren Sinn haben den Austausch von Daten zum Geschäftszweck, ohne dass physische Komponenten einbezogen werden. Dies ist beispielsweise bei Datenmarktplätzen oder reinen Vernetzungsplattformen der Fall. Völlig digital sind jedoch die meisten Plattformen nicht. Oftmals werden die Daten mit physischen Elementen zu sog. Online-to-Offline(O2O)-Plattformen kombiniert.  2) Diese O2O-Plattformen werden als digitale Plattformen im weiteren Sinn definiert. Als Beispiele können Lyft und Uber für städtische Mobilität, Airbnb für Übernachtungsmöglichkeiten und Delivery Hero für Essenslieferungen dienen. Es werden Online-Interaktionsmöglichkeiten mit physischen Offline-Gütern (Fahrzeuge, Zimmer und Essen) in Verbindung gebracht. Charakteristisch ist, dass „all of these companies are working to productively (and eventually profitably) bring together the economics of bits with those of atoms“ (McAfee und Brynjolfsson 2017, S. 186).

3 Klassifikationsansätze für Plattformen 3.1 Ansatz von Evans und Gawer Zum besseren Verständnis von Plattformen soll ein Klassifikationsschema aufzeigen, welche unterschiedlichen Ausgestaltungsformen Plattformen annehmen können und wie Wert geschaffen wird. Einen ersten möglichen Ansatz stellen Evans und Gawer dar (Evans und Gawer 2016, S. 4–23). Insgesamt 176 Plattformunternehmen, die einen Marktwert größer als eine Milliarde US-Dollar aufweisen, werden in vier verschiedene grundlegende Plattformtypen

Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische …

383

Tab. 3  Plattformtypen. (In Anlehnung an Evans und Gawer 2016, S. 9) Plattformtyp

Merkmale

Beispiele

Transaktion

Intermediär für Austausch von Transaktionen

Airbnb, eBay, Uber, Paypal, Baidu, Tencent

Innovation

Basis für Innovationsgenerierung Dritter

Microsoft, SAP, Salesforce, Oracle, Intel

Integration

Transaktionsintermediär mit Drittentwicklergemeinde

Google, Apple, Amazon, Facebook, Alibaba

Investition

Strategische Investmentholding mehrerer Plattformen

Softbank, Naspers, Priceline, Rocket Internet

eingeordnet: Transaktionsplattformen, Innovationsplattformen, integrierte Plattformen und Investmentplattformen (Tab. 3). Transaktionsplattformen definieren sich als Technologie, Produkt oder Service, die den Austausch zwischen Nutzern bzw. Käufern und Anbietern möglich machen und fördern. Dies sind zum einen klassische Internetmarktplätze, zum anderen bekannte Beispiele der sog. Sharing-Ökonomie wie Uber, Airbnb oder Ebay. Die meisten Plattformunternehmen fokussieren genau eine Leistung, die effizient und komfortabel zwischen Anbieter und Kunde häufig in einer B2C- oder C2C-Beziehung ausgetauscht wird. Evans und Gawer ordnen dieser Kategorie etwa 90 % der untersuchten Plattformen zu. Innovationsplattformen stellen Technologien, Produkte oder Dienstleistungen dar, die als Basis für Dritte für die Entwicklung von komplementären Technologien, Produkten und Dienstleistungen dienen. Auf diesen Plattformen können Unternehmen ihre eigenen Dienste integrieren bzw. selbst entwickeln. Als Vertreter dieser Plattformart werden SAP, Microsoft, Intel, Oracle und Salesforce genannt. Diese Unternehmen bewegen sich im Gegensatz zu den Transaktionsplattformen hauptsächlich im B2B-Umfeld. Sie zeigen zudem, dass Innovationsplattformen zu einem hohen Anteil von bereits länger etablierten Unternehmen betrieben werden und es an Start-ups in dieser Kategorie vollständig mangelt. Komplexere Kundenbeziehungen und sehr heterogene Anforderungen der verschiedenen Unternehmenskunden verhindern, dass größtenteils standardisierte Leistungen angeboten werden und junge Unternehmen in den Markt eintreten können. Ein schnelles Wachstum als B2B-Plattform ist daher eine wesentlich größere Herausforderung als im B2C-Umfeld (Rauen et al. 2018, S. 5). Die integrierte Plattform ist eine Kombination aus einer Transaktions- und einer Innovationsplattform. Prominente Beispiele sind insbesondere die großen US-amerikanischen Technologieunternehmen wie Apple und Google. Fokus ist die Verbindung einer Plattform (z. B. AppStore, Google Play Store) mit einem Entwicklungsökosystem für Dritte. Im Gegensatz zu anderen Plattformtypen besitzen Unternehmen in dieser Kategorie oftmals eine physische Komponente. Apple und Google sind u. a. auch selbst Hardwarehersteller von Mobiltelefonen. Amazon und Alibaba verfügen über eine große logistische Infrastruktur. Des Weiteren konzentrieren sich diese Unternehmen nicht nur auf eine Plattform, sondern betreiben i. d. R. mehrere sich ergänzende Plattformen.

384

R. Obermaier und P. Mosch

Apple bietet beispielsweise u. a. den AppStore, ApplePay und Apple Music als Plattformprodukte an. Amazon stellt neben der E-Book-Plattform Amazon Kindle noch weitere wie die Sprachsteuerung Alexa und den Videostreamingdienst Prime Video seinen Kunden zur Verfügung. Integrierte Plattformen betten den Kunden dadurch in ein ganzes Ökosystem, um die Wechselkosten möglichst hoch zu halten und die Wertschöpfung überproportional zu steigern (Parker et al. 2016, S. 65). Investmentplattformen kennzeichnen Unternehmen, die eine Plattformstrategie verfolgen und als aktiver Investor in anderen Plattformunternehmen häufig in Form einer Holding agieren. Sie stellen sowohl Investition als auch Finanzierung sicher. Rocket Internet, Priceline oder Softbank sind Unternehmen, die in diese Kategorie fallen (Evans und Gawer 2016, S. 9). Rocket Internet hat z. B. seine verschiedenen Plattformunternehmen für eine bessere Steuerung in geografische Gruppen unterteilt und dient als Inkubator für neue Geschäftsideen. Investmentplattformen geben i. d. R. für alle Beteiligungen standardisierte Geschäftsprozesse und eine einheitliche IT-Infrastruktur vor, um eine schnelle Skalierung2 der einzelnen Plattformunternehmen zu ermöglichen und somit Risiken zu minimieren (Evans und Gawer 2016, S. 15). Im Rahmen dieses Beitrags werden wir auf diesen Plattformtyp nicht weiter eingehen. Aus der Betrachtung der ersten drei Plattformtypen wird ein dynamischer Entwicklungspfad offensichtlich. Fast alle Plattformunternehmen haben als Transaktionsplattform begonnen und sich im Zeitverlauf in Richtung einer integrierten Plattform weiterentwickelt. Amazon war z. B. in der Anfangszeit ein reiner Marktplatz für Bücher, erst nach und nach kamen weitere Produkte, Services, Dritthändler und damit auch weitere Plattformen hinzu. Google fokussierte sich anfangs auf eine effiziente Suchmaschine. Erst später kamen andere Plattformprodukte wie das Android-Betriebssystem mit einer großen Drittentwicklergemeinde hinzu. Ähnliches gilt für Innovationsplattformen, die sich ebenfalls zu integrierten Plattformen weiterentwickeln. Offensichtlich stellen eine effiziente Transaktionsabwicklung zusammen mit einer großen Entwicklergemeinde wichtige Erfolgsfaktoren einer Plattform dar (Evans und Gawer 2016, S. 21). Bevor allerdings eine Fortentwicklung hin zu einer integrierten Plattform stattfinden kann, ist eine erfolgreiche Marktetablierung als Transaktionsplattform notwendige Voraussetzung und lohnt daher eine detailliertere Betrachtung.

3.2 Ansatz von Täuscher und Laudien Das zweite Klassifikationsmodell basiert auf einer Studie von Täuscher und Laudien (2017), die sich im Speziellen mit Start-up-Unternehmen als Transaktionsplattform beschäftigt und sechs verschiedene Geschäftsmodellcluster herausgearbeitet haben 

2Mit

Skalierung bezeichnen wir das Wachstum einer digitalen Plattform beispielsweise in Form der Anzahl der Akteure.

Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische …

385

(Täuscher und Laudien 2017, S. 319–329). Sie haben hierfür aus anfänglich 14 Variablen fünf Attribute identifiziert, anhand derer sich alle untersuchten Plattformgeschäftsmodelle beschreiben lassen: Plattformtyp, Plattformteilnehmer, Leistungsversprechen, Transaktionsart sowie Erlösmodell (Abb. 1). Um die Cluster zu bilden, haben die Autoren zunächst zwei Attribute herausgegriffen, die eine besonders hohe Trennschärfe aufweisen: Art der Plattformteilnehmer und Transaktionsart. Die Art der Plattformteilnehmer wird in B2C, B2B und C2C unterschieden, die Transaktionsart in physische Produkte, Offline-Dienstleistungen, digitale Produkte und digitale Dienstleistungen (Täuscher und Laudien 2017, S. 324). Die Darstellung in Abb. 2 zeigt die Mittelpunkte der Clusteranalyse in einer Zwölf-Felder-Matrix anhand dieser beiden Attribute. Es ist eine klare Abgrenzung zwischen digitalen und physischen Produkten bzw. Dienstleistungen auf Plattformen möglich. Zwei Geschäftsmodellcluster (Abb. 2, 1–2) können den digitalen Plattformen im engeren Sinn, vier Cluster (Abb. 2, 3–6) den digitalen Plattformen im weiteren Sinn zugeordnet werden. Geschäftsmodelle von digitalen Plattformen im engeren Sinn Plattformen mit dem Geschäftsmodell Digitale Produkt-Community (Cluster 1) ergänzen das Produkt durch eine Community. Es handelt sich dabei um digitale Transaktionsgüter (z. B. Buchmanuskripte auf Selbstpublikationsplattformen), die hauptsächlich zwischen Privatpersonen (C2C) ausgetauscht werden. Die meisten Plattformen in diesem Cluster sind aufgrund der vereinfachten Reichweite digitaler Komponenten weltweit aktiv. Das Geschäftsmodell Online-Dienstleistungen (Cluster 2) bildet die größte Gruppe der untersuchten Plattformen. Es ermöglicht  den Austausch von Online-Dienstleistungen in B2C- und C2C-Beziehungen, wie beispielsweise Online-Sprachkurse oder Online-Anwaltsdienstleistungen, die häufig standardisiert sind. Zusätzliches Einkommen für die Anbieter und eine effiziente Suche der Kunden stellen das Wertangebot des Plattformbetreibers. Geschäftsmodelle von digitalen Plattformen im weiteren Sinn Plattformunternehmen fokussieren sich mit dem Geschäftsmodell Effiziente Produkt-Transaktion (Cluster 3) auf die effiziente und einfache Transaktion von physischen Produkten, mehrheitlich in Form von standardisierter und preisgünstiger Ware (z. B. Gebrauchtwagen). Hauptsächlich finden C2C-Transaktionen statt (67 %), ein Drittel wird zwischen Unternehmen (B2B) abgewickelt. Überwiegend Kommissions- und zu einem Viertel Abonnementgebühren auf der Verkäuferseite (z. B. für bessere Sichtbarkeit, Kundendatenzugang) sind für die Plattformumsätze verantwortlich. Das Geschäftsmodell Produkt-Liebhaber  (Cluster 4) beinhaltet Plattformunternehmen, die den Austausch von physischen Produkten zwischen Kunden und Unternehmen (B2C, C2C) mit einer emotionalen Wertkomponente kombinieren. Dies wird durch den Aufbau eines eigenen Plattformimages und einer Community realisiert, die Menschen mit der gleichen Affinität und Leidenschaft zusammenbringt (z. B.

Digitale Plattformen im engeren Sinne

C2C, B2B

B2C, C2C

Internet-basierte Plattform Internet-basierte Plattform

Internet-basierte und mobile Plattform

Internet-basierte und mobile Plattform

Internet-basierte und mobile Plattform

Online Dienstleistungen

Effiziente ProduktTransaktion

Produkt-Liebhaber

On-demand Offline Dienstleitungen

Peer-to-Peer Offline Dienstleistungen

Cluster 2

Cluster 3

Cluster 4

Cluster 5

Cluster 6

C2C

B2C

C2C, B2C

C2C

Internet-basierte Plattform

Digitale ProduktCommunity

Cluster 1

Offline Services

AirBnB (Vernetzung von Menschen, die private Unterkünfte anbieten, entdecken und buchen wollen)

Vermittlungsgebühr (Gebühren auf Nachfrager- und Anbieterseite), Abogebühr (Drittparteien)

HobbyDB (Wissensdaten-basis und Transaktions-plattform für Sammler-stücke)

Neuartige Services mit CommunityKomponente innerhalb und außerhalb einer digitalen Plattform

Vermittlungsgebühr; Gebühren auf Anbieterseite

Vermittlungsgebühr, StyleSeat (Vernetzung Abogebühr; von Schönheitssalons hauptsächlich Gebühren und Kunden) auf Anbieterseite

Physische Produkte

Wissensaustausch über Nischenprodukte innerhalb einer homogenen Community

Vermittlungsgebühr; Gebühren auf Anbieterund Nutzerseite

Große Servicevielfalt in Offline Services einer neuartigen Form

Physische Produkte

Online Services

Große Produktvielfalt

Neuartige OnlineServices mit SocialNetworking-Charakter

Beispiel

Sellfy (Nachbarschaftscommunity für das Teilen von langlebigen Gütern) iTalki (Vernetzung von Vermittlungsgebühr, Sprachenschülern mit Abogebühr; hauptsächlich Gebühren Lehrern für EinzelOnlineunterricht) auf Anbieterseite Vermittlungsgebühr, Abogebühr; Beepie (eBay für hauptsächlich Gebühren Gebrauchtautos auf Anbieterseite

Transaktionsart & -gut Erlösmodell

Bestandteil einer primär Digitale Produkte; nicht-kommerziellen physische Produkte Community

Leistungsversprechen

Abb. 1   Übersichtstabelle über die identifizierten Plattformgeschäftsmodellarten. (Quelle: In Anlehnung an Täuscher und Laudien 2017, S. 326)

Digitale Plattformen im weiteren Sinne

Plattformteilnehmer

Geschäftsmodellart Plattformtyp

Cluster

386 R. Obermaier und P. Mosch

387

Plattformteilnehmer

Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische …

Abb. 2   Clusterdarstellung anhand der Attribute Plattformteilnehmer und Transaktionsart. (Quelle: In Anlehnung an Täuscher und Laudien 2017, S. 324)

h­ andgemachte Designprodukte oder Sammlerstücke). Auch hier wird maßgeblich auf Kommissionsgebühren als Monetarisierungsoption zurückgegriffen. Transaktionsplattformen On-Demand-Offline-Dienstleistungen (Cluster 5) fokussieren sich auf Dienstleistungen, die offline erbracht werden. Zugehörig sind Plattformen, die eine Form von Termin- (Frisör, Autofahrten, touristische Aktivitäten) oder Kapazitätsmanagement (Versand, Bautätigkeit) in B2C-Beziehungen beinhalten. Die Plattformen bringen v. a. Effizienzvorteile für Anbieter und Kunden. Primär wird auf Kommissionsgebühren der Anbieterseite zurückgegriffen, Kunden nutzen die Plattform dagegen kostenlos. Bewertungen spielen zudem eine große Rolle in der Plattformsteuerung. Peer-to-Peer-Offline-Dienstleistungen auf Plattformen werden in Cluster 6 gebündelt. Die Interaktionen finden zwischen Privatpersonen (C2C) statt. Entweder werden eigene physische Ressourcen (Wohnung, Büroraum) oder Fähigkeiten und Zeit (Eventmanagement, Tiersitting) angeboten. Auch hier stehen Effizienzvorteile als Wertangebot im Vordergrund. Gegenseitige Bewertungen haben den Zweck, Vertrauen zwischen Anbieter und Kunde herzustellen. Vor allem Kommissionsgebühren sowohl von der Anbieter- als auch von der Kundenseite dienen der Umsatzgenerierung des Plattformbetreibers.

388

R. Obermaier und P. Mosch

Die Mehrheit aller untersuchten Plattformen sind als B2C- oder C2C-Plattform ausgestaltet (92 %), lediglich acht Unternehmen sind im B2B-Umfeld tätig. Einzig das Cluster 1 (Effiziente Produkt-Transaktionen) beinhaltet zu einem wesentlichen Anteil (36 %) auch B2B-Plattformen.3 Dies liegt zum größten Teil am Untersuchungsdesign der Studie, das Plattformunternehmen ausschließt, die eigene Inhalte auf der Plattform generieren oder standardisierte Marktplätze darstellen, wie z. B. Börsen. B2B-Plattformen scheinen also in vielen Fällen selbst als Anbieter auf der eigenen Plattform aufzutreten bzw. eher als etabliertes Unternehmen ausgestaltet zu sein. Den meisten Plattformen in der Studie liegen als Transaktionsart physische bzw. Offline-Produkte und -Services zugrunde. Es handelt sich also um Online-to-Offline-Plattformen (O2O), die digitale Plattformen im weiteren Sinn darstellen. Auf digitalen Plattformen im engeren Sinn (Cluster 1 und 2) finden v. a. Interaktionen zwischen Privatpersonen statt (C2C; Täuscher und Laudien 2017, S. 325; Abb. 1). Ein Grund ist die einfache Verfügbarkeit digitaler Daten zu jeder Zeit an jedem Ort der Erde. Dies macht einen Markteintritt für Privatpersonen sehr einfach möglich. C2C-Plattformen ergänzen ihr Wertangebot zudem häufig noch mit emotionalen und sozialen Komponenten wie den Aufbau einer Community, um z. B. die Kundenbindung zu stärken. Aufgrund der Ähnlichkeit zum Aufbau einer Drittentwicklergemeinde kann die Einbeziehung einer Community als emotionale Komponente bereits als erster Schritt in Richtung einer integrierten Plattform interpretiert werden. B2B-Plattformen sind dagegen bei digitalen Plattformen im engeren Sinn stark unterrepräsentiert. Sie fokussieren sich eher auf die Realisierung einer effizienten physischen Produkttransaktion (s. Cluster 3) als alleiniger Wertbeitrag und weniger auf eine emotionale Bindung zum Kunden durch den Aufbau einer Community. Dies zeigt, dass B2B-Plattformen beim Aufbau von digitalen Produkten und Dienstleistungen wie auch beim Aufbau einer Community noch am Anfang in der Plattformentwicklung stehen. Als Erlösmodell verfolgen 80 % der untersuchten Unternehmen die Erhebung von Kommissionen (Transaktionsgebühren), die in den meisten Fällen der Verkäuferseite belastet werden. Um die Plattform für Verkäufer attraktiv zu gestalten, werden Käufer mit kostenloser Nutzung gezielt umworben. Dies soll genügend Transaktionen zwischen Käufer und Verkäufer ermöglichen, denn nur so kann der Plattformbetreiber seine Einnahmen aus Kommissionsgebühren generieren. Maßnahmen, um möglichst schnell viele Teilnehmer auf die Plattform zu bekommen, spielen daher bei Transaktionsplattformen eine essenzielle Rolle. Abonnementgebühren werden häufig als Add-On für mehr Kundenreichweite oder Zusatzdienstleistungen erhoben.

3Cluster

4 und 5 weisen nur einen geringen Anteil von 8 % respektive 11 % von B2B-Plattformen auf. Die Cluster 2, 3 und 6 schließen gar keine B2B-Plattformen ein (Täuscher und Laudien 2017, S. 326).

Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische …

389

4 Ökonomische Wertschaffungslogiken von Plattformen 4.1 Externe Wertschöpfung Plattformen wie Uber, Facebook und Airbnb kreieren i. d. R. keine eigenen Inhalte. Sie spielen für eine effiziente Vermittlung zwischen den verschiedenen Akteuren lediglich eine infrastrukturgebende Rolle. Uber, the world’s largest taxi company, owns no vehicles. Facebook, the world’s most popular media owner, creates no content. Alibaba, the most valuable retailer, has no inventory. And Airbnb, the world’s largest accommodation provider, owns no real estate. Something interesting is happening (Goodwin 2015).

In traditionellen Märkten findet die Wertschöpfung in einem sog. Pipelinegeschäftsmodell über verschiedene Stufen (z. B. Beschaffung, Produktion, Vertrieb) statt (Porter 2004, S. 45 f.). In Plattformmärkten bzw. zweiseitigen oder mehrseitigen Märkten existieren dagegen keine eindeutigen Wertstromrichtungen. Anbieter, Kunde und die Plattform selbst stehen in einer komplexen Beziehung zueinander. Zwischen diesen Akteuren findet permanent und ohne definierte Reihenfolge ein Austausch verschiedener Werte und Ressourcen statt (Parker et al. 2016, S. 6). Insbesondere zwischen Anbieter, z. B. in Form von Drittentwicklern, und Kunden entstehen neue Innovationen und damit Wert. Sie benötigen für diese kein kapitalintensives Anlagevermögen wie Unternehmen mit traditioneller Wertschöpfung, sondern generieren sie durch die Beteiligung aller Plattformakteure und der Trennung von Eigentum und Wertschöpfung. Eine Skalierung ist somit deutlich schneller und einfacher als bei Unternehmen mit kapitalintensivem Anlagevermögen. Dies gilt insbesondere für die zuvor beschriebenen Transaktionsplattformen, die keine eigenen Inhalte auf Plattformen anbieten. Innovationsplattformen und integrierte Plattformen, die z. T. auch eigene Inhalte auf der Plattform anbieten, sind zusätzlich in hohem Maß von Drittparteien, wie z. B. Softwareentwicklern und Ideengebern abhängig. Für jede Plattform ist die Verlagerung des unternehmerischen Fokus von innen nach außen eine wesentliche Kennzeichnung (Kim et al. 2016, S. 44; Parker et al. 2016, S. 9, 33 und 69; Evans und Gawer 2016,S. 19 f.).

4.2 Daten als Austauschgut in einem mehrseitigen Markt Digitale Plattformen zeichnen sich dadurch aus, dass der ständige Austausch zwischen den Akteuren v. a. durch Informationsgüter in Form von Daten vollzogen wird. Informationsgüter haben in der digitalen Ökonomie drei wesentliche Eigenschaften: Sie weisen Grenzkosten nahe Null auf, sind perfekt replizierbar und jederzeit verfügbar. Sobald ein Informationsgut digital vorliegt, kann eine digitale Kopie mit Kosten nahe

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R. Obermaier und P. Mosch

Null erstellt werden.4 Die Vollkommenheit bezieht sich auf die perfekte Kopie, die digital erstellt werden kann und i. d. R. vollständig dem digitalen Original entspricht. Die dritte Eigenschaft, die sofortige Verfügbarkeit an nahezu jedem Ort der Erde, wird durch das Internet sichergestellt. Informationsgüter können also theoretisch immerwährend nahezu kostenlos und perfekt replizierbar konsumiert werden (McAfee und Brynjolfsson 2017, S. 135 f.). Die weitgehende Loslösung von der physischen Welt macht den Austausch zwischen den verschiedenen Plattformakteuren einfacher und damit eine Skalierung der Plattform deutlich schneller und kostengünstiger als in bisherigen nicht digitalen Plattformen (Van Alstyne et al. 2016, S. 57). Insbesondere Plattformen mit rein digitalen Produkten oder Dienstleistungen führen in eine „[…] era of nearly free goods and services“ (Rifkin 2014, S. 4). In einer effizienten Volkswirtschaft würden Kunden aufgrund der mit marginalen Grenzkosten möglichen, perfekten Vervielfältigung digitaler Produkte und Services lediglich die Grenzkosten bezahlen wollen. Würden allerdings nur noch die Grenzkosten nahe Null bezahlt werden, könnten Unternehmen nicht profitabel, geschweige denn auf Dauer existieren. Schließlich weisen diese Unternehmen hohe Fixkosten für die Entwicklung der ersten Einheit des digitalen Produkts oder Services auf. Als Beispiel kann hier das Softwareunternehmen Microsoft gelten, das als junges Unternehmen aufgrund der geringen Vervielfältigungskosten der Betriebssystemsoftware Windows große Schwierigkeiten hatte, Investoren den langfristigen Wert zu erklären (Gates 2018). Es ist daher in einer digitalen Ökonomie das Ziel, möglichst schnell eine dominante Marktposition bis hin zum Monopol aufzubauen, um eine Preissetzung über den Grenzkosten durchsetzen zu können (Rifkin 2014, S. 7).

4.3 Direkte und indirekte Netzwerkeffekte Um die monopolartige Stellung erreichen zu können, lassen die in komplexen und vielfachen Beziehungen stehenden Plattformakteure durch den ständigen Austausch von Informationsgütern sog. Netzwerkeffekte entstehen (Shapiro und Varian 1999). Ein wesentlicher Grund für die Entstehung von Monopolen in klassischen Industrien sind angebotsseitige Skaleneffekte (Economies of Scale; Bohr 1996): Eine Zunahme der Ausbringungsmenge pro Zeiteinheit lässt die Herstellkosten pro Stück abnehmen. Größenvorteile bedeuten Kostenvorteile und damit Wettbewerbsvorteile. In digitalen Plattformen bestärkt die weitgehende Abwesenheit von physischen Gütern den angebotsseitigen Skaleneffekt, da Kapazitätsgrenzen bei der Produktion von digitalen Gütern erst bei sehr hohen Nutzerzahlen entstehen können. Anfängliche Fixkosten durch Aufbau, Betrieb und Programmierung der Plattform und geringe variable Kosten lassen bei steigender Nutzeranzahl die Durchschnittskosten pro Nutzer deutlich sinken. Die Grenzkosten für

4Die

Kosten für die Speicherung sind als marginal anzusehen. Ein Gigabyte Speicher kostete im Jahr 2016 0,02 US-Dollar (McAfee und Brynjolfsson 2017, S. 136).

Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische …

391

jeden zusätzlichen Nutzer sind daher nach Erreichen einer kritischen Größe marginal und nahe Null (Stähler 2002, S. 197; McAfee und Brynjolfsson 2017, S. 137). Es ist daher vorrangiges Ziel einer jeden Plattform, diesen kritischen Punkt zu überschreiten, um erfolgreich im Wettbewerb bestehen zu können (Evans und Schmalensee 2010, S. 21). Als Transaktionsplattform lässt sich dieses Ziel mithilfe einer Fokussierung auf ein Produkt oder eine Dienstleistung erreichen. Der Beginn als Transaktionsplattform ist daher für viele neue Plattformen nur konsequent. Erst wenn eine erfolgreiche Marktetablierung stattgefunden hat, können nach und nach weitere Plattformprodukte oder auch externe Drittentwickler einbezogen werden. Der Haupttreiber für die erwähnten Netzwerkeffekte und das Erreichen einer dominanten Marktposition sind die nachfrageseitigen Skaleneffekte (Demand Economies of Scale). Hier können direkte Netzwerkeffekte und indirekte Netzwerkeffekte unterschieden werden. Bei direkten, nachfrageseitigen Netzwerkeffekten ist der Nutzen für jeden einzelnen Akteur in einem Plattformnetzwerk von der Anzahl bereits vorhandener Nutzer abhängig (Shapiro und Varian 1999, S. 174); sie beziehen sich nur auf eine Seite (z. B. Anbieter oder Kunden). Mit wachsender Anzahl an Telefonanschlüssen steigt z. B. der Nutzen für jeden einzelnen Telefonanschlussinhaber, da mehr und mehr Menschen erreicht werden können. Die Anzahl der Verbindungen zwischen n Netzwerkknoten, also Nutzern, steigt in quadratischer Form: n(n-1)= n2-n (Shapiro und Varian 1999, S. 184). Ein Netzwerk besitzt bei zwei Nutzern zwei unidirektionale Verbindungen, bei vier Nutzern sind es zwölf unidirektionale Verbindungen, bei acht Nutzern schon 56 usw. Diese als Metcalfe’s Law bekannt gewordene Wirkungslogik ist in Abb. 3 dargestellt. Als digitales Beispiel kann das soziale Netzwerk Facebook dienen. Je mehr Nutzer die Plattform aufweist, desto mehr Wert generiert sie für jeden einzelnen Teilnehmer, da sich dieser z. B. mit immer mehr Bekannten austauschen kann. Es gilt also das Prinzip: Je größer, desto besser bzw. wertvoller. Der Zusammenhang zwischen der linearen Kostenfunktion und der quadratischen Nutzenfunktion lässt sich wie in Abb. 4 gezeigt beschreiben (Gilder 1993).

2 Nutzer

4 Nutzer

8 Nutzer

Abb. 3   Netzwerkknoten im Sinn des Metcalfe’s Law. (Quelle: Eigene Darstellung)

392

R. Obermaier und P. Mosch V

Nutzen des Plattformbetreibers

Wert / Nutzen

Nutzen des Plattformnutzers

Kosten S

Break-Even / Kritische Masse

N Anzahl der Nutzer / Netzwerkknoten

Abb. 4   Kosten- und Nutzenfunktionen in Netzwerken. (Quelle: Eigene Darstellung)

Hohe Anfangsverluste während des Aufbaus einer Plattform sind kaum zu vermeiden und zwingen die Plattformunternehmen, den Break-Even (Schnittpunkt S) durch die Generierung einer kritischen Masse in möglichst kurzer Zeit zu erreichen (Thiele 2017, S. 1275). Neben der Menge an Akteuren ist insbesondere die Beteiligungsintensität der Akteure auf der Plattform entscheidend (Evans und Schmalensee 2010, S. 21). Es gilt also, neben der Quantität der Akteure auch die Qualität der Interaktionen gezielt zu steigern. Die Entwicklung über den Schnittpunkt S hinaus wirft jedoch Fragen auf. Es setzt nämlich voraus, dass jede Verbindung den gleichen Wert für den einzelnen Nutzer besitzt. Nur wenn diese Annahme zutrifft, ist ein Verlauf in Form von n2-n plausibel. Jedoch misst beispielsweise ein Facebook-Nutzer nicht jedem Mitglied des Netzwerks tatsächlich den gleichen Nutzen bei. Mit einigen wenigen wird sehr oft und intensiv kommuniziert, mit manchen weniger und mit den meisten gar nicht. Dies wirft unweigerlich die Frage auf, ob der Nutzen eines Mitglieds innerhalb eines Netzwerks tatsächlich quadratisch proportional von der Anzahl der Netzwerknutzer abhängt. Es gibt daher in der Literatur ernst zu nehmende Gegenthesen, die eher von einem logarithmierten Zusammenhang in Form von n log(n) ausgehen (Briscoe et al. 2006, S. 3). Sicherlich ist diese Sichtweise nicht frei von jeder kritischen Betrachtung, jedoch ist zumindest zu diskutieren, ob nicht die tatsächliche Nutzenfunktion des jeweiligen Nutzers ab einem bestimmten Punkt abflacht und nur noch marginal zunimmt. Für die digitalen Plattformbetreiber dagegen könnte eine quadratische Nutzenkurve durchaus zutreffen. In Zeiten von Big Data bringen mehr Nutzer mehr Daten auf die Plattform, und je mehr Daten, desto bessere Services und Produkte

Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische …

393

können angeboten werden und umso dominanter ist die Marktstellung. In Abb. 3 werden daher zwei verschiedene Nutzenkurven unterschieden: Eine im Sinn des Metcalfe’s Law in Form von n2-n für die Plattformbetreiber und die andere für den einzelnen Nutzer in Form einer logistischen S-Kurven-Funktion. Die Fläche zwischen den beiden Kurven ist ökonomisch als Rente des Plattformbetreibers zu interpretieren. Indirekte, nachfrageseitige Netzwerkeffekte betreffen mindestens zwei Seiten, also z. B. Anbieter und Kunden. Je mehr Anbieter beispielsweise auf Airbnb ihr eigenes Zuhause als Übernachtungsmöglichkeit zur Verfügung stellen, desto mehr potenzielle Gäste werden angezogen und umso mehr Wert wird insgesamt für alle Plattformakteure generiert. Dies steht im Gegensatz zu traditionellen ökonomischen Wirkungsweisen, in denen die erhöhte Verbreitung eines Guts i. d. R. eine Wertminderung des einzelnen Guts zur Folge hat (Zerdick et al. 2001, S. 158). Allerdings kann auch hier ab einem bestimmten Zeitpunkt von einem abnehmenden Nutzenzuwachs für einzelne Nutzer oder Anbieter ausgegangen werden. Beispielsweise sinken im Fall einer nicht steigenden Kundenanzahl die erwarteten Einnahmen der Anbieter für ein Gut auf der Plattform eBay, wenn ein zusätzlicher konkurrierender Anbieter für das gleiche Gut der Plattform beitritt. Es wird zwar ein höherer Nutzen auf der Kundenseite generiert (sinkende Preise durch höhere Konkurrenz zwischen den Anbietern), die Anbieter müssen dagegen einen geringeren Nutzen aufgrund der niedrigeren Einnahmen in Kauf nehmen (Belleflamme und Peitz 2018, S. 1). Als weiteres Beispiel dient die Plattform NES von Nintendo, auf der anfangs das Angebot an Applikationen so hoch war, dass ein Koordinationsproblem beim Kunden entstand. Nur eine Reduzierung der Applikationsvielfalt konnte in diesem Fall wieder zu einem höheren Kundennutzen führen (Casadesus-Masanell und Halaburda 2014, S. 281). Interessant ist die Kombination zwischen diesen beiden Effekten in einem digitalen Umfeld. Je mehr Nutzer auf der Nachfrageseite der Plattform agieren, desto geringer werden die Grenzkosten auf der Angebotsseite und umso mehr Anbieter werden angezogen. Das wiederum lässt die Plattform bzw. das angebotene Produkt wettbewerbsfähiger werden, was wiederum weitere Nutzer und Anbieter anzieht. Diese Wirkungslogik wird auch positives Feedback genannt: „Positive feedback makes the strong get stronger and the weak get weaker, leading to extreme outcomes“ (Shapiro und Varian 1999, S. 175). Positives Feedback führt unweigerlich zu einer Marktdominanz einzelner Plattformunternehmen (sog. Winner-takes-it-all-Markt). Google beispielsweise dominiert mit einem Marktanteil von etwa 80 % den weltweiten Markt von Suchmaschinen und digitaler Werbung, Amazon ist der bei Weitem größte E-Commerce-Handelsplatz, Facebook ist mit 76 % Marktanteil die weltgrößte Social-Media-Plattform (Net Marketshare 2018; Statcounter 2018). Digitale Plattformen belegen, dass Unternehmen eine solch dominante Marktstellung noch nie in so kurzer Zeit aufbauen konnten (Mahler 2018). Der positive Netzwerkeffekt kann sich jedoch auch rasch in das Gegenteil verkehren, wenn die Plattform z. B. durch einen neuen Wettbewerber an Attraktivität oder aufgrund von Managementfehler an Reputation verliert. Der Messengerdienst Whatsapp verdrängte z. B. innerhalb von nur drei Jahren die SMS als wichtigsten Kommunikationskanal zwischen

394

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mobilen Endgeräten (Statista 2018a). Auch Leistungsüberlastungen durch eine zu hohe Anzahl an Teilnehmern kann zu negativen Netzwerkeffekten führen (Thiele 2017, S. 1273). Je mehr Nutzer die Plattform verlassen, desto weniger attraktiv wird sie für Anbieter und Kunden, was wiederum dazu führt, dass noch mehr Anbieter und Kunden abwandern. Sobald sich diese Negativspirale in Gang gesetzt hat, lässt sie sich nur noch schwer aufhalten.

4.4 Initialisierungsproblem Bevor Netzwerkeffekte aufgebaut werden können, stellt sich die Frage nach dem rechtzeitigen Markteintritt in Plattformmärkte (z. B. Clement und Schreiber 2016; Walgenbach 2008; Shapiro und Varian 1999). Denn sog. First-Mover-Unternehmen können nach Erreichen der kritischen Masse häufig einen kaum mehr einzuholenden Wettbewerbsvorsprung aufbauen. Die First-Mover-Logik funktioniert jedoch nur, solange Kunden eine große Anbietervielfalt favorisieren und positive Erwartungen an zukünftige Anbieterapplikationen besitzen. Diese beiden Größen bestimmen die Stärke von indirekten Netzwerkeffekten. Sind sie gering, können neue Wettbewerber auch als Second-Mover schnell Marktanteile gewinnen (Zhu und Iansiti 2012, S. 90). Das Initialisierungsproblem besteht darin, erste Kunden auf eine Plattform zu bekommen, wenn z. B. noch keine Anbieter vorhanden sind, bzw. erste Anbieter zu akquirieren, wenn noch keine Kunden registriert sind (z. B. Caillaud und Jullien 2003; Evans und Schmalensee 2010). Ein Lösungsansatz besteht in der Subventionierung einer der beiden Seiten. Viele Unternehmen bieten die Dienstleistung für ausgewählte Akteure stark vergünstigt oder sogar kostenlos an und versuchen so, Neukunden bzw. Kunden von konkurrierenden Plattformen abzuwerben. Dies bestätigt auch die Studie von Täuscher und Laudien (2017), in der die kostenlose Nutzung der Kundenseite einen essenziellen Erfolgsfaktor von Transaktionsplattformen darstellt. Grundsätzlich lässt sich die Regel aufstellen: Die Akteursgruppe (Anbieter oder Kunde), die von der Anwesenheit der anderen Akteursgruppe stärker profitiert, wird mit höheren Preisaufschlägen belegt. Der Nutzen der einen Akteurs- für die andere Akteursgruppe bestimmt also den Preis (Armstrong 2006, S. 669). Als Beispiele seien hier Uber und das Essenslieferkonglomerat Delivery Hero genannt. Um Nutzer auf die Plattform zu bekommen, werden Gutscheine an potenzielle Kunden verschenkt, die auf der Plattform eingelöst werden können. Die Registrierungsbarrieren für neue Konsumenten werden dabei so gering wie möglich gehalten. Eine abgewandelte Strategie verfolgte PayPal. Jeder Neukunde erhielt bei der Anmeldung 10 US$. Diese Vorgehensweise führte zu einem exponentiellen Wachstum auf der Kundenseite (allerdings auch zu exponentiellen Kosten). Um auch Anbieter bzw. Händler auf die Paypal-Bezahlplattform zu bekommen, wurde diesen z. B. auf der eBay-Verkaufsplattform eine hohe Nachfrage nach einer PayPal-Bezahlmöglichkeit durch sog. Bot-Käufe, also automatisierte Softwareprogramme, suggeriert. Die Händler registrierten sich in

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der Folge verstärkt bei PayPal und boten den Bezahldienst tatsächlich an. Die positiven Feedbackschleifen wurden in Gang gesetzt (Parker et al. 2016, S. 81–83). Es gibt also verschiedene, teilweise auch kreative Lösungsansätze, um auf eine kritische Anzahl an Plattformakteuren zu kommen. Auch die Art der Gebührenerhebung spielt bei dem Initialisierungsproblem eine wichtige Rolle. Die meisten Transaktionsplattformen greifen statt auf fixe Abonnementgebühren auf Kommissionsgebühren zurück, die von Anbietern erhoben werden. Anbieter können also der Plattform beitreten, ohne dass bereits Kosten anfallen. Schließlich wird erst bei einer erfolgreichen Transaktion bezahlt. Die Lösung des Initialisierungsproblems kann also durch die Verwendung von Transaktionsgebühren vereinfacht werden (Armstrong 2006, S. 669).

4.5 Community-Kuratierung und -Steuerung Um negative Netzwerkeffekte zu vermeiden, liegt der Fokus jeder Plattform in der kontinuierlichen Pflege der Akteure. Diese Community-Kuratierung soll den Austausch zwischen den verschiedenen Akteuren fördern, Barrieren zwischen diesen abbauen und Interaktionen so effizient wie möglich machen. Vor allem in diesem Kontext gilt: Je mehr Nutzer bzw. Daten, desto besser. Die Algorithmen der Kuratierung werden mit mehr Daten immer genauer und können mit nur wenigen Nutzerinformationen individuell passende Angebote erstellen (Parker et al. 2016, S. 26 f.). Viele Plattformen prüfen daher schon bei der Registrierung die Vorlieben der eigenen Nutzer, um eine möglichst präzise Übereinstimmung zwischen Angebot und Nachfrage erzielen zu können. Apple Music fragt beispielsweise bei der erstmaligen Anmeldung u. a. nach verschiedenen Musikvorlieben, um dem Hörer passgenaue Musiktitel und Playlists vorschlagen zu können. Je schlechter dagegen die Kuratierung, desto größer wird das Rauschen, also der Anteil an nicht passenden Inhalten. Oftmals wird die Kuratierung auch durch ein Bewertungssystem für die Inhalte auf der Plattform unterstützt. So wird z. B. auf der Mitfahrgelegenheitsplattform Blablacar mithilfe verschiedener Bewertungsparameter (Fahrweise, individuelles Feedback etc.) Vertrauen für die Nutzer geschaffen, sodass diese bei einem fremden Fahrer ohne größere Bedenken einsteigen können sollen. Entsprechend kann sich auch der Fahrer ein Bild über seinen Mitfahrer machen. Neben der Community-Kuratierung gilt es, die auf der Plattform stattfindende Wertschaffung zu regeln und zu steuern. Dies bedeutet, transparent festzulegen wie Wert geschaffen, dieser gerecht auf alle beteiligten Akteure aufgeteilt und hierzu auftretende Konflikte schnell gelöst werden können. Wird eine Seite zu stark mit Gebühren belastet oder fühlt sich übervorteilt, so hat dies eine unmittelbar durchdringende Wirkung auf die Nutzer- bzw. Anbieteranzahl und damit auch auf die Generierung von Netzwerkeffekten (Parker et al. 2016, S. 158).

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4.6 Offenheit Ein wichtiger Bestandteil innerhalb der strategischen Entscheidung, eine Plattform aufzubauen und zu betreiben, liegt in der Festlegung des Offenheitsgrads auf der Plattform (Parker und Van Alstyne 2018, S. 3016). Dieser wird durch die Öffnung gegenüber Drittentwicklern oder weiteren Partnern und Wettbewerbern bestimmt. Dies betrifft v. a. Innovationsplattformen und integrierte Plattformen mit großer Drittentwicklergemeinde. Die Entscheidung über den Offenheitsgrad ist sehr komplex. Wird die Offenheit durch intensive Kontrollausübung zu stark eingeschränkt, können Drittentwickler von der Plattform verdrängt bzw. erst gar nicht auf die Plattform gebracht werden. Die Innovations- und Skalierungsfähigkeit würde deutlich eingeschränkt werden. Steht dagegen die Plattform frei von jeglicher Kontrolle allen potenziellen Akteuren offen, könnte dies zu einer starken Fragmentierung und Heterogenität führen, von der am Ende weder die Entwickler- noch die Nutzerseite profitieren würde. So kann auf der einen Seite durch eine Plattformöffnung die Generierung von Netzwerkeffekten durch einen besseren Zugang für Kunden und Anbieter/Entwickler unterstützt oder auch die Lock-in-Gefahr für Kunden stark verringert werden. Auf der anderen Seite steigert dies jedoch gleichzeitig den Wettbewerbsdruck durch geringere Wechselkosten und verringert so die Profitabilität (Eisenmann et al. 2009, S. 131). Als häufig genanntes Beispiel wird das Betriebssystem iOS und die zugehörige Plattform AppStore von Apple genannt. Zu Beginn übte Apple volle Kontrolle über die installierten Applikationen aus, um die Qualität auf der iOS-Plattform sicherzustellen. Erst durch unabhängige Drittentwickler, die es schafften, die Installationshürden von iOS zu umgehen und so eine enorme Vielfalt an Apps auf die iPhones brachten, öffnete Apple die eigene Plattform. Als Gegenbeispiel dient Google. Zu den Anfangszeiten des eigenen Betriebssystems Android hielt Google die Plattform für jegliche Entwickler und Partner offen, um eine schnelle Verbreitung zu unterstützen. Nach und nach wurden jedoch verschiedene Mechanismen etabliert, um mehr Kontrolle über die Plattform zu erhalten und eine zielgerichtete Steuerung durchsetzen zu können (Yoo et al. 2012, S. 1400 f.). Im Zusammenhang mit der Entscheidung über die Offenheit einer Plattform kommt dem Teilen von geistigem Eigentum der Entwicklergemeinde eine enorme Bedeutung zu. Kann das geistige Eigentum von Applikationsentwicklern zu früh durch den Plattformbetreiber bzw. anderen Entwicklern verwendet werden oder sind die Lizenzgebühren zu hoch angesetzt, würden Drittentwickler offene Standards5 vorziehen und nicht auf der Plattform aktiv werden. Es können also nur Drittentwickler akquiriert werden, wenn die Vorteile und damit der geschaffene Wert auf der Plattform größer ist als bei der

5Als

offene Standards werden Normen oder Vorgaben bezeichnet, die für jedermann und kostenlos verfügbar sind. Sie sind i. d. R. die Grundlage für Open-Source-Software und werden in demokratischen Prozessen durch die beteiligte Entwicklergemeinde festgelegt (Siegel und Soley 2008).

Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische …

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­ erwendung offener Standards (Parker und Van Alstyne 2018, S. 3015 f.). Es gilt also V festzulegen, wann Applikationen und deren geistiges Eigentum dem Plattformbetreiber und anderen Entwicklern zugängig gemacht werden. Boudreau (2007) zeigt, dass insbesondere in der frühen Phase der Innovationsgenerierung ein gewisser Grad an Kontrolle durch den Plattformbetreiber ausgeübt werden sollte. Eine gesteuerte Öffnung der Plattform und das Teilen von Innovationen und deren geistigem Eigentum können demnach die Umsätze und Profitabilität von Plattformen steigern (Parker und Van Alstyne 2018, S. 3025).

4.7 Ökosystemeinbettung Um eine stabile, offene und nachhaltige Community aufzubauen, versuchen Plattformunternehmen ihre Akteure (Kunden und Anbieter) in ein sog. Ökosystem einzubetten. Dadurch sollen Wechselkosten möglichst hochgehalten werden, um einen Lock-in-Effekt zu generieren und die Abwanderung zur Konkurrenz zu verhindern. Entscheidet sich beispielsweise ein Nutzer für die Spielekonsolenplattform Playstation von Sony, muss dieser die entsprechende Konsole und dazugehörige Spiele erwerben. Bei einem Wechsel zu einer alternativen Spielekonsole, wie der Xbox von Microsoft, müsste der Nutzer nochmals Aufwendungen für Konsole und Spiele aufbringen, da die beiden Konsolensysteme untereinander nicht kompatibel sind. Die ursprünglichen Ausgaben für die Playstation können bei einem Wechsel zur Xbox nicht oder nur z. T. rückgängig gemacht werden (Parker et al. 2016, S. 94; Dewenter und Rösch 2015, S. 28). Vor allem bei integrierten Plattformen spielt die Ökosystemeinbettung eine bedeutsame Rolle. Die iOS-Plattform von Apple animiert mithilfe der durchgehenden Kompatibilität die Nutzer dazu, ausschließlich Apple-Produkte zu kaufen. So soll ein geschlossenes System geschaffen werden, das einen Wechsel des Nutzers unwahrscheinlich macht (Kaumanns und Siegenheim 2012, S. 18). Amazon wählt einen etwas anderen Ansatz und schnürt mit dem Amazon-Prime-Ökosystem ein ganzes Bündel an Serviceangeboten für seine Nutzer. So können Amazon-Prime-Mitglieder gegen eine jährliche Gebühr sowohl kostenlosen und schnellen Versand als auch die On-Demand-Plattformen Amazon Prime Video, Amazon Music und Amazon Kindle ohne weitere Kosten nutzen. Bei anderen Plattformen, wie z. B. Facebook, bestehen dagegen Wechselkosten eher in immaterieller Form durch Gewöhnungseffekte, Lern- und Suchkosten, Loyalitätskosten, positive Bewertungen der Nutzer sowie vorherige Erfahrungswerte (Shapiro und Varian 1999, S. 117; Täuscher und Laudien 2017, S. 202). Der Lock-in-Effekt von Ökosystemen kann in Form einer Pfadabhängigkeit des Nutzers beschrieben werden (Abb. 5). Zu Anfang (Phase 1) kann der Nutzer noch zwischen verschiedenen Systemen wählen und testet – falls dies möglich ist – verschiedene Ökosysteme und damit Plattformen. Dieses sog. Multi-Homing beschreibt die gleichzeitige

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Abb. 5   Pfadabhängigkeit und Lock-in im Rahmen von Einbettung in Ökosysteme. (Quelle: In Anlehnung an Sydow et al. 2009, S. 692)

Nutzung mehrerer Plattformen. In Phase 2 erscheint es für den Nutzer nicht mehr effizient oder vorteilhaft, mehrere Plattformen zu nutzen, und er präferiert eine Plattform; die anderen Alternativen treten eher in den Hintergrund (Evans 2003, S. 198). Sobald sich der Nutzer in Phase 3 für eine Option entschieden hat, befindet er sich im sog. Lock-in, der nur noch einen Wechsel mit hohen Kosten in materieller (monetärer) oder immaterieller Form ermöglicht und letztendlich in einer Single-Homing-Situation, also der alleinigen Nutzung einer Plattform, mündet. Je nachdem, welche Akteursgruppe (Anbieter oder Kunde) Multi-Homing oder Single-Homing betreibt, hat dies Auswirkungen auf die Preissetzung des Plattformbetreibers. Kann eine Plattform beispielsweise exklusiven Zugang zu einer Locked-in-Single-Homing-Kundengruppe garantieren, kann der Plattformbetreiber die Multi-Homing-Anbieterseite mit deutlich höheren Gebühren belasten. Der Plattformbetreiber besitzt für die Single-Homing-Kundengruppe eine Monopolstellung in einer sog. Competitive-Bottleneck-Situation, die er gegenüber der Multi-Homing-Gruppe ausnutzen und somit höhere Einnahmen generieren kann (Armstrong 2006, S. 669). Diese Wirkungsweise hängt jedoch davon ab, ob die Kunden eine große Anbietervielfalt nachfragen (Hagiu 2009, S. 1013). Ist dies nicht der Fall, konkurrieren die Anbieter um jeden Kunden und der gegenteilige Fall zur Competitive-Bottleneck-Situation kann eintreten: Bei Betriebssystemen (Plattformbetreiber), wie z. B. Windows, verwenden die meisten Nutzer (Kunden) nur eines (Single-Homing), wohingegen Unternehmen, die Software für dieses Betriebssystem entwickeln (Anbieter), oftmals Software für mehrere Plattformen bereitstellen (Multi-Homing). Entgegen der Competitive-Bottleneck-Theorie wird in der Praxis den Softwareentwicklern und damit der Multi-Homing-Seite der Plattformzugang stark vergünstigt

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oder gar kostenlos zur Verfügung gestellt. Die Betriebssystemnutzer, also die Single-Homing-Seite, werden dagegen von den Plattformbetreibern stärker belastet (Evans und Schmalensee 2013, S. 16). Um also ein funktionierendes Plattformökosystem mit maximalem Nutzen durch eine effektive Preissetzung für den Plattformbetreiber zu schaffen, müssen v. a. die Nachfragebedürfnisse der einzelnen Akteure eingehend analysiert werden.

4.8 Zusammenführung Klassifikationsansätze und Wertschaffungslogik Nachdem wir die verschiedenen Wertschaffungslogiken detailliert vorgestellt haben, soll dieser Abschnitt eine Zusammenführung mit den in Abschn. 3 beschriebenen Klassifikationsansätzen vollziehen. Motivation ist dabei, die verschiedenen Plattformtypen und Plattformgeschäftsmodelle mit den jeweils wichtigsten Wertschaffungslogiken in Verbindung zu bringen (Tab. 4). Hier bestätigt sich der bereits angedeutete dynamische Plattformentwicklungspfad. Für Transaktionsplattformen als erste Plattformentwicklungsstufe haben v. a. die Überwindung der Henne-Ei-Problematik (Initialisierungsproblem) und der Aufbau von direkten und indirekten Netzwerkeffekten die höchste Priorität. Zwar weisen manche Geschäftsmodelle (Digitale Produkt-Community [Cluster 1] und Produkt-Liebhaber [Cluster 4]) bei Transaktionsplattformen bereits erste Community-Komponenten auf, jedoch wird erst mit der Weiterentwicklung hin zu einer integrierten Plattform die Community-Kuratierung und -Steuerung ein wesentlicher Bestandteil der Plattform. Drittentwicklergemeinden definieren auf integrierten Plattformen die Innovationsfähigkeit und damit die Wettbewerbsfähigkeit der Plattform. Die Festlegung des Offenheitsgrads sowie die Etablierung eines Plattformökosystems stellen weitere Wertschaffungslogiken dar, die im Zuge der Entwicklung hin zu einer integrierten Plattform essenzielle Komponenten abbilden. Innovationsplattformen entwickeln sich ebenfalls in Richtung einer integrierten Plattform. Die bereits vorhandene Community wird hierbei durch die Festlegung eines Transaktionsguts (Produkt oder Dienstleistung) ergänzt, das wiederum die Lösung des Initialisierungsproblems sowie den Aufbau direkter und indirekter Netzwerkeffekte notwendig macht (Abb. 6). Tab. 4  Dominante Wertschaffungslogiken der jeweiligen Plattformtypen. (Quelle: Eigene Darstellung) Plattformtypen

Dominante Wertschaffungslogiken

Transaktionsplattform

• Initialisierungsproblem • Direkte und indirekte Netzwerkeffekte

Innovationsplattform

• Community-Kuratierung und -Steuerung • Offenheit

Integrierte Plattform

• Community-Kuratierung und -Steuerung • Offenheit • Ökosystemeinbettung

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Abb. 6   Dynamischer Entwicklungspfad von Plattformen. (Quelle: Eigene Darstellung)

4.9 Plattformen und Marktwert Werden börsennotierte Unternehmen betrachtet, stellen digitale Plattformunternehmen bereits sieben der acht weltweit größten Unternehmen nach Marktkapitalisierung. Fünf Plattformen kommen dabei aus den USA (Apple, Amazon, Alphabet (Google), Microsoft und Facebook), zwei aus China (Alibaba und Tencent) (Forbes 2018, Stand Juli 2018). Die Dominanz von US-amerikanischen und mittlerweile auch chinesischen Plattformunternehmen ist offensichtlich und wird auch in der Studie von Evans und Gawer (2016) bestätigt (Tab. 5). Fast drei Viertel des globalen Marktwerts von Plattformunternehmen wird in Nordamerika generiert. Lediglich in Asien, hier insbesondere in China, entstehen neben den führenden amerikanischen Playern andere Plattformunternehmen wie Alibaba oder Tencent (WeChat), die v. a. in ihrem Heimatmarkt eine dominante Stellung innehaben und mittlerweile auch in andere Länder expandieren. Europäische Unternehmen spielen dagegen trotz intensiver Nutzung von Plattformdienstleistungen nur eine untergeordnete Rolle als Standort von Plattformunternehmen. Allerdings beginnt auch dort und insbesondere im von traditionellen Industrieunternehmen geprägten deutschen Markt eine Entwicklung, die zeigt, dass sich mittlerweile verschiedene Unternehmen mit dem Tab. 5  Alle Plattformunternehmen mit Marktwert über 1 Mrd. US$ aufgeteilt auf Regionen in Mrd. US-Dollar. (In Anlehnung an Evans und Gawer 2016, S. 10) Region

Marktwert (in Mrd. US-Dollar)

Anteil am Gesamtumfang (%)

Nordamerika

3123

72

Asien

930

22

Europa

181

4

Afrika und Lateinamerika

69

2

Gesamt

4303

100

Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische …

401

Themenkomplex der Plattformen beschäftigen. Börsennotierte Unternehmen wie SAP und Siemens, aber auch große nichtbörsennotierte Konzerne wie Bosch, Mittelständler wie die Maschinenfabrik Reinhausen und Start-ups wie FlixBus, Delivery Hero, Check24 oder Verivox sind mittlerweile im Plattformgeschäft erfolgreich und weiten dieses kontinuierlich aus. SAP und Siemens sind zwei der bekanntesten Plattformanbieter im B2B-Bereich weltweit und gleichzeitig die wertvollsten, börsennotierten deutschen Unternehmen (Thomson Reuters Eikon 2018, Stand Juli 2018). Eine unmittelbare Wirkung zwischen Plattformanbieter und Kapitalmarktbewertung lässt sich in diesem Fall aufgrund der Diversität der Unternehmen freilich nicht direkt herstellen, jedoch könnte ein indikativer Zusammenhang angenommen werden. Die Bewertungen befinden sich allerdings bei Weitem (noch) nicht in den gleichen Größenordnungen wie in den USA oder China. Unter Einbezug der Plattformtypen nach Evans und Gawer (2016) lässt sich zeigen, dass der durchschnittliche Marktwert der Transaktionsplattformen deutlich geringer als z. B. bei Innovationsplattformen und integrierten Plattformen ist (Abb. 7). Die Kreisgröße in Abb. 7 stellt die Höhe der finanziellen Bewertung des jeweiligen Unternehmens dar. Auffällig ist, dass Transaktionsplattformen häufig noch nicht börsennotiert sind, was ein Indiz für ein erst junges Unternehmen sein kann. Je älter das Unternehmen, desto geringer wird der Anteil an nicht-börsennotierten Plattformunternehmen. Bei Transaktionsplattformen ist aufgrund der kurzen Historie das Risiko eines Scheiterns noch eingepreist. Sie können aufgrund fehlender Komplementäre, wie z. B. einer Drittentwicklergemeinde, häufig noch keine nachhaltigen komparativen Vorteile aufbauen. Die geringe Kapitalmarktbewertung könnte dadurch erklärt werden. Innovationsplattformen

Abb. 7   Aufteilung der Plattformunternehmen mit über 1 Mrd. US$ Marktwert auf Plattformtyp. (Quelle: Evans und Gawer 2016, S. 16)

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weisen dagegen einen deutlich höheren durchschnittlichen Marktwert auf. Eine funktionierende Drittentwicklergemeinde wird von Investoren offensichtlich positiv bewertet. Plattformunternehmen mit dem durchschnittlich höchsten Marktwert gehören der Kategorie der integrierten Plattformen an. Die Kombination aus Transaktions- und Innovationsplattform wird von Investoren besonders erfolgversprechend eingeschätzt und zieht eine entsprechend hohe Bewertung nach sich. Der in Abb. 5 abgebildete dynamische Entwicklungspfad scheint sich auch in der Betrachtung der Kapitalmarktbewertungen zu bestätigen. Bis auf Microsoft (Innovationsplattform) und Tencent (Transaktionsplattform) lassen sich die größten Plattformunternehmen der Welt (Google, Apple, Facebook, Amazon, Alibaba) den integrierten Plattformen zuordnen. Viele dieser Unternehmen haben ein Ökosystem um die Plattformakteure etabliert, was einen Wechsel aufgrund der hohen Kosten nur noch sehr unwahrscheinlich macht. Dieser nachhaltige Wettbewerbsvorteil wird von den Investoren erkannt und positiv bewertet. Es ist daher nur konsequent, wenn der Kapitalmarkt diese hohen Bewertungen aufruft. Mittlerweile haben verschiedene Plattformunternehmen wie Google, Apple und Facebook den Beweis hoher Gewinnmargen und Cashflows bereits erbracht. Das dadurch zur Verfügung stehende Kapital kann zum einen für Investitionen in neue Technologien, Innovationen und Märkte, zum anderen in die Akquisition erfolgversprechender Start-ups verwendet werden. Somit kann die Gefahr durch neu entstehende Konkurrenz weiter minimiert werden. Die Marktdominanz und finanziellen Möglichkeiten von Plattformunternehmen werden daher weiter zunehmen.

5 Industrielle digitale Plattformen 5.1 Übersicht Aus der Beschreibung möglicher Klassifizierungsansätze und grundlegender Wertschaffungslogiken von Plattformgeschäftsmodellen wird deutlich, dass es verschiedene Erklärungsansätze für den Erfolg plattformbasierter Unternehmen – insbesondere im B2C-Umfeld – gibt. Es ist daher von ungemeinem Interesse, ob diese Erkenntnisse ebenfalls für B2B-Plattformen im Zusammenhang mit dem Themenkomplex Industrie 4.0 gelten und entsprechend übertragbar sind. Verschiedene Akteure versuchen im B2B-Umfeld plattformbasierte, digitale Geschäftsmodelle zu platzieren und zu etablieren. Der Markt ist noch relativ jung und stark fragmentiert, dominierende Marktteilnehmer haben sich noch nicht herausgebildet. Verschiedene Experten nehmen aufgrund der Heterogenität und Spezialisierung des verarbeitenden Sektors – insbesondere im deutschen Maschinenbau – an, dass das Marktpotenzial im Zweifel nicht die Dimensionen und den Stellenwert wie im B2C-Segment erreichen wird. Vor allem schwächere Netzwerkeffekte aufgrund der geringeren Anzahl an Akteuren sind hierbei Wachstumshemmnisse. Nichtsdestotrotz ist das grundsätzliche

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Innovations- und Marktpotenzial von Plattformen in der B2B-Branche unbestritten und bei Weitem noch nicht ausgeschöpft. Eine Konsolidierung auf wenige, große Anbieter in den nächsten Jahren ist zu erwarten (Rauen et al. 2018, S. 5). Die vielen verschiedenen Plattformunternehmen verfolgen dabei unterschiedliche Strategien und Plattformgestaltungsmöglichkeiten. Grundsätzlich lässt sich der Markt in drei verschiedene Akteursgruppen mit unterschiedlichen Stoßrichtungen einteilen. Die erste Akteursgruppe stellen digitale Plattform- und Technologieunternehmen aus dem B2C-/C2C-Umfeld dar, die das bereits vorhandene Plattformwissen nutzen und verstärkt in den B2B-Markt drängen. Airbnb hat sich beispielsweise das Ziel gesetzt, die Anzahl an Unternehmen, die ihre Geschäftsreisen über Airbnb buchen, deutlich zu erhöhen (Schlautmann 2018, S. 6 f.). Amazon ist mit Amazon Web Services (AWS) mittlerweile einer der weltweit größten Anbieter von Cloud-Lösungen für Unternehmen (Evans 2017). Daneben versuchen etablierte Industrieunternehmen wie Siemens und General Electric mit verschiedenen Ansätzen eigene Plattformen zu entwickeln und ihr Wissen über das Industriekundengeschäft auf das Plattformgeschäft zu übertragen. Als dritte Akteursgruppe können Start-ups identifiziert werden, die mit neuartigen und vorwiegend stark spezialisierten Ansätzen den Markt adressieren (z. B. WeWork). Es zeichnet sich folglich ein intensiver Verteilungskampf um Marktanteile bei B2B-Plattformen ab. Viele derzeit existierenden B2B-Plattformgeschäftsansätze haben gemein, dass sie sich v. a. auf Produkte und Services rund um den Themenkomplex Industrie 4.0 konzentrieren. Die von der Bundesregierung im Jahr 2011 ausgerufene Initiative Industrie 4.0 beinhaltet die Zielsetzung, die gesamte Wertschöpfungskette durch digitalisierte und automatisierte bzw. autonomisierte Prozessschritte effizienter zu gestalten (Kagermann et al. 2011, S. 2; Obermaier 2016, S. 8). So kann beispielsweise die Produktion durch Bereitstellung und Auswertung von umfangreichen Produktionsdaten und deren Analyse signifikant effizienter gestaltet werden. Der Fokus der Industrie-4.0-Initiative liegt damit primär auf digitalen Prozessinnovationen und deren Implementierung. Industrielle Technologieplattformen in Deutschland adressieren daher auch zunächst primär Prozessinnovationen beim jeweiligen Nutzer mithilfe von Vernetzungsmöglichkeiten zwischen den verschiedenen Produktionssystemen. Dies nutzen deutsche und europäische Industrieunternehmen aufgrund ihres vorhandenen Domänenwissens über Fertigungsprozesse oftmals als Einstiegspunkt in das Plattformgeschäft. Die amerikanischen Technologieunternehmen wählen häufig den Weg als Infrastrukturplattform, um im B2B-Umfeld eine gute Ausgangsposition zu erlangen. Hier können sie ihr Know-how im Bereich der Datenaggregation und -analyse einbringen. So versuchen beide Seiten, Wettbewerbsvorteile in ihren jeweiligen Kernkompetenzen zu generieren. Neben den soeben kurz beschriebenen Vernetzungs- und Infrastrukturplattformen, die meistens eher den ersten Schritt hin zu einer industriellen Plattform abbilden, stellen Internet-of-Things-Plattformen die nächste Entwicklungsstufe dar. Sie unterstützen ihre Nutzer nicht mehr nur in digitalen Prozessverbesserungen, sondern legen den Fokus auf die Entwicklung neuer Produktinnovationen bzw. Geschäftsmodelle. Es verlagert sich also der Kern des Plattformmehrwerts von Prozessinnovationen in Richtung von Produktinnovationen (Obermaier 2016, S. 29). Daneben existieren noch die klassischen digitalen Industriemarktplätze, die insbesondere zur Automatisierung der Beschaffung dienen.

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Tab. 6  Business-to-Business(B2B)-Plattformtypen (Quelle: Eigene Darstellung)

und

entsprechende

Beispielunternehmen.

B2B-Plattformtyp

Praxisbeispiele

Digitale Marktplätze

Amazon Business, SAP Ariba, Mercateo

Infrastrukturplattformen

Amazon Web Services, Microsoft Azure

Vernetzungsplattformen

Maschinenfabrik Reinhausen, Trumpf

Internet-of-Things-Plattformen

Siemens MindSphere GE Predix

Es lassen sich daher grundsätzlich vier Arten von digitalen Industrie- bzw. B2B-Plattformen unterscheiden (Tab.  6): Digitale Marktplätze, Infrastrukturplattformen, Vernetzungsplattformen und Internet-of-Things-Plattformen.

5.2 Digitale Marktplätze Digitale Marktplätze für industrielle Güter und Services sind der bereits am längsten bestehende Plattformtyp im B2B-Bereich. Viele sind schon seit einigen Jahren am Markt aktiv und dabei entweder als klassische unternehmenseigene Onlineshops wie beispielsweise bei dem Stahlhändler Klöckner & Co. und dem Maschinenbauer Heidelberger Druckmaschinen oder als reine Marktplätze ausgestaltet. Sie fokussieren sich auf die effiziente Vernetzung von Anbieter und Kunden und bieten i. d. R. keine eigenen Produkte an. Dem Einordnungsschema von Evans und Gawer (2016) und Täuscher und Laudien (2017) folgend, stellen sie klassische Transaktionsplattformen mit dem Geschäftsmodell Effiziente Produkt-Transaktion (Cluster 3) dar. Sie sorgen für einen effizienten, in vielen Teilen automatisierten Beschaffungsprozess beispielsweise für C-Teile wie Büromaterial und reduzieren damit die Komplexität in B2B-Geschäftsbeziehungen. Amazon Business, Mercateo, SAP Ariba oder der chinesische Alibaba B2B Marketplace sind bekannte Beispiele, die maßgeblich die Entwicklung des Online-Einkaufs für Unternehmen treiben. Forrester Research nimmt an, dass über die nächsten vier Jahre der Anteil der Unternehmen, die den Einkauf online abwickeln, von 38 % auf 55 % steigen wird (Forrester Research 2017). Das Marktpotenzial ist also trotz der ausgereiften Technologie und der vergleichsweise lang am Markt etablierten Akteure vorhanden. Um die Funktionsweise eines digitalen Marktplatzes im B2B-Umfeld zu veranschaulichen, sei beispielhaft das deutsche Unternehmen Mercateo herausgegriffen. Mercateo entwickelte sich in relativ kurzer Zeit in Europa zum Marktführer bei Einkaufsplattformen und gilt als einer der führenden Treiber der digitalen B2B-Marktplätze. Die offene Plattform ist eine reine Transaktionsplattform zwischen Käufer- und Verkäuferseite und stellt die eigene Neutralität zwischen den beteiligten Akteuren als besonders attraktiven Vorteil heraus. Unternehmen können auf der Plattform einen persönlichen B2B-Onlineshop einrichten lassen und markenindividuell gegenüber dem potenziellen

Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische …

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Käufer auftreten. Die niedrigen Zugangsgebühren und die Verwendung von Transaktionsgebühren sollen direkte und indirekte Netzwerkeffekte fördern. Um die kritische Masse zu erreichen, schließen digitale Marktplätze untereinander strategische Partnerschaften, wie dies z. B. bei Mercateo und SAP Ariba der Fall ist. Aufgrund der relativ einfachen Dienstleistung eines digitalen Marktplatzes in Form einer effizienten Transaktion und der damit einhergehenden erhöhten Verdrängungsgefahr durch Wettbewerber gilt es, möglichst schnell viele verschiedene Akteure auf die Plattform zu bekommen, um Netzwerkeffekte generieren und die kritische Masse schnell erreichen zu können. Die Überwindung des Initialisierungsproblems stellt bei diesem Plattformtyp also einen wesentlichen Erfolgsfaktor dar. Um die Verdrängungsgefahr durch Wettbewerber abzumildern, versuchen manche Marktplätze einen Lock-in-Effekt in Form einer vertikalen Erschließung der Wertschöpfungskette zu generieren, wie z. B. das Fulfillment-by-Amazon von Amazon Business. Hier wird die gesamte Logistik inklusive Versand an den Kunden von Amazon erbracht. Mercateo wiederum integriert beispielsweise die eigene Plattform direkt in die Beschaffungsprozesse des Kunden und senkt dadurch die Eintrittsbarrieren für die Käuferseite bzw. einen digitalen Vertrieb für die Verkäuferseite deutlich. Diese Strategie ist gut vergleichbar mit der Ökosystemeinbettung integrierter Plattformen im B2C-Umfeld. Je mehr Prozesse der Kunde an den Plattformbetreiber auslagert bzw. je tiefer der Plattformbetreiber in die Kundenprozesse integriert wird, desto größer ist die Abhängigkeit und damit der Lock-in-Effekt. Ein Wechsel zu einem Wettbewerber ist nur noch mit sehr hohen Kosten verbunden und wird damit nahezu unmöglich gemacht. Ein wesentlicher Unterschied zu B2C-Plattformen ist die schnellere Erreichung des Lockin-Effekts. Die weiteren Wirkungslogiken lassen sich aber grundsätzlich gut auf diesen B2B-Plattformtyp übertragen.

5.3 Infrastrukturplattformen Infrastrukturplattformen stellen oftmals die Basis für jegliche Art des Plattformbetriebs dar und gelten als Innovationsplattformen für andere Unternehmen. Sofern ein Plattformunternehmen nicht selbst die Infrastruktur aufbaut und betreibt, bieten Unternehmen wie Amazon Web Service (AWS), Microsoft mit dem Produkt Azure oder auch Google mit der Google Cloud Platform (GCP) Speicher auf Abruf in Form einer Cloud-Plattform als sog. Infrastructure-as-a-Service (IaaS) an. Sie stellen den Betrieb und die Sicherheit der Plattform sicher. Größenvorteile spielen in dem von US-amerikanischen Unternehmen dominierten Markt eine große Rolle. Je mehr Speicherkapazität in Form von Serverparks aufgebaut werden kann, desto geringer werden die Speicherkosten pro Gigabyte und die Wettbewerbsfähigkeit steigt. Die angebotsseitigen Skaleneffekte nehmen bei diesem Plattformtyp daher einen hohen Stellenwert ein. Amazon, Microsoft und Google, die laut dem Gartner Magic Quadrant die drei mit Abstand wichtigsten IaaS-Provider sind, liefern sich einen regelrechten Kampf um den Aufbau von Serverparks, um die angesprochenen Größenvorteile in möglichst kurzer Zeit zu erreichen (Herrmann 2018).

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Der Markt gilt mittlerweile als konsolidiert und mit wettbewerbsfähigen Unternehmen besetzt (Rauen et al. 2018, S. 11). Insbesondere Amazon hat mit der Gründung des Tochterunternehmens Amazon Web Services (AWS) bereits früh im Jahr 2006 erkannt, dass sich Cloud-Computing zu einem zukunftsträchtigen Markt entwickelt. Zunächst als Serverdienstleister für die eigene E-Commerce-Plattform gestartet, positionierte sich AWS im Gegensatz zu anderen Anbietern, wie z. B. Dropbox im B2C-Markt, zügig gezielt als B2B-Cloud-Anbieter. Mittlerweile ist AWS mit rund 17,5 Mrd. US$ Umsatz im Jahr 2017 seit einigen Jahren der weltweit größte Cloud-Anbieter mit einem Marktanteil von 59 % (Statista 2018b; RightScale 2017). Der Vorsprung durch einen frühen Markteintritt als sog. First-Mover ist hier kaum mehr aufzuholen. Amazon, Microsoft und Google haben gezielt den Kundenzugang als IaaS-Anbieter gewählt, um sich im Markt bei Industrieunternehmen zu platzieren und Zugriff auf Daten zu erhalten, die wiederum dazu dienen, ein passendes Serviceangebot zu generieren. Die IaaS-Provider entwickeln sich mittlerweile immer stärker in Richtung eines Platform-as-a-Service(PaaS)-Anbieters. Sie bieten also nicht mehr nur Speicherkapazität an, sondern auch die entsprechenden Analysetools und verschiedene digitale Services. Es findet also eine kontinuierliche Entwicklung hin zu einer IoT-Plattform statt, auf der sie ihre Analytics-Kenntnisse in ihrer vollen Breite anbieten und so ihre Wertschöpfungstiefe steigern können (Rauen et al. 2018, S. 18). Amazon versucht beispielsweise ein ganzheitliches Ökosystem zu schaffen, das die Wechselkosten für das jeweilige Unternehmen möglichst hoch hält. Neben den angebotsseitigen Skaleneffekten stellen in diesem Zusammenhang auch die nachfrageseitigen Skaleneffekte einen wichtigen Erfolgsfaktor dar. Amazon subventioniert die Nutzerseite mit einem kostenfreien Plattformzugang und bietet für die ersten zwölf Monate ausgewählte Services ohne Gebühr. Anschließend wird nutzungsabhängig (Pay-per-Use6) abgerechnet, wobei der Preis pro GB bei höherer Nutzung sinkt und somit Mengenrabatte gewährt werden. Für die Anbieterseite ist der Plattformzugang beschränkt und nur gegen eine Gebühr möglich. Diese Zugangshürde und eine entsprechende Kuratierung soll die Qualität der Entwicklergemeinde mithilfe von AWS-Zertifizierungen sicherstellen. Durch diese strukturierten Ansätze, wird die Initialisierungs- und Kuratierungsproblematik überwunden. Bei Microsoft und Google ist die Vorgehensweise ähnlich. Viele deutsche Industrieunternehmen nutzen bereits AWS oder Microsoft als IaaS-Provider und deren Tools, um ihre eigenen digitalen Services zu entwickeln. Reine IaaS-Provider wird es vermutlich mittelfristig kaum mehr geben. Der Markt für IaaS-Services durchläuft derzeit die nächste Entwicklungsstufe und wird sich zukünftig auf den Markt für IoT-Services als PaaS-Anbieter konzentrieren. Der dynamische

6Pay-per-Use

stellt ein nutzungsabhängiges Vergütungsmodell dar. Es wird hierfür ein Parameter bestimmt, z. B. Umfang der übertragenen Daten.

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­ ntwicklungspfad von Innovationsplattformen (z. B. IaaS-Provider) hin zu integrierten E Plattformen (z. B. PaaS-Provider) lässt sich also auch hier beobachten. Allerdings werden Amazon, Microsoft und Google deswegen nicht zu Hardwareherstellern. Die bei integrierten Plattformen oftmals vorhandene physische Komponente wird hier durch Analytics ersetzt.

5.4 Vernetzungsplattformen Vernetzungsplattformen sind rein technologische Transaktionsplattformen, die der Verbindung aller Akteure mithilfe von Daten dienen. Häufig sind diese in der Fertigung auf der Shop-Floor-Ebene aktiv. Die Ausstattung mit Sensorik an den Maschinen und Werkstücken ist hierfür essenziell. Das Ergebnis sind eingebettete cyber-physische Systeme (CPS), die mithilfe von Manufacturing Execution Systemen (MES) die Verknüpfung von der physischen mit der informationstechnischen Welt ermöglichen (Obermaier et al. 2019). Zwischen Mensch, Produkt und Maschine werden alle notwendigen Informationen ausgetauscht und auf sinnvolle Art und Weise miteinander verbunden (Broy und Geisberger 2011, S. 13). Insbesondere klassische Produktionsmaschinenbauunternehmen wie die Maschinenfabrik Reinhausen und Trumpf haben Vernetzungsplattformen wie das MR-CM bzw. TruConnect entwickelt und bieten diese in Verbindung mit den eigenen Maschinen an. Um die Wirkungsweise einer Vernetzungsplattform deutlich zu machen, wird das MR-CM beispielhaft erläutert. MR-CM ist ein webbasiertes MES und auf Unternehmen mit einer zerspanenden Fertigung ausgerichtet. Das MES stellt einen arbeitsstationsübergreifenden Informationsfluss hinsichtlich der Fertigungshilfsmittel sicher und begleitet den Auftragsprozess durchgehend. Das System fokussiert sich dabei auf die Arbeitsvorbereitung, hier insbesondere die Rüstprozesse, und stellt den verschiedenen menschlichen Akteuren Bedienoberflächen zur Entscheidungsunterstützung zur Verfügung. Das MR-CM überwacht letztendlich den gesamten Fertigungshilfsmittelkreislauf. Programme, Werkzeuge, Mess- und Prüfmittel sowie die damit verbundenen Daten werden papierlos durch die Produktion geleitet (Obermaier et al. 2019). Das Ziel der verschiedenen Vernetzungsplattformen ist das Manifestieren einer Smart Factory, also einer sich selbstständig organisierenden Produktion, die auch sehr kleine Losgrößen bis hin zur Losgröße 1 fertigen kann. Häufig findet die informationstechnische Verarbeitung der angefallenen Daten on-premise statt, also an der Maschine vor Ort. Eine Cloud-Anbindung ist häufig aus Datenschutzgründen entweder nicht gewünscht oder schlicht nicht notwendig bzw. (noch) zu langsam. Bei diesem sog. Edge-Computing ist der Prozessor direkt an der entsprechenden Maschine verbaut und ermöglicht somit eine echtzeitfähige Verarbeitung der Daten. Im Unterschied zu anderen Plattformen geht es hier also nicht darum, möglichst viele Transaktionen verschiedener Akteure auf der Plattform zu induzieren, sondern eine möglichst einfache und effiziente Verbindung über offene Schnittstellen zwischen verschiedenen Systemen hin zu einem funktionierenden Gesamtkomplex zu organisieren. Die klassischen Akteure einer Plattform in Form von

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Anbieter, Nutzer und Plattformbetreiber existieren so nicht. Meistens ist der Plattformbetreiber und Anbieter der Hersteller der Maschine in persona, der Nutzer wird durch den Fabrikbetreiber abgebildet. Ökonomische Wirkungslogiken spielen daher bei dieser Plattformart eine eher untergeordnete Rolle. Sie dienen vorrangig einer gemeinsamen technischen Basis für darauf aufbauende IoT-Plattformen. Den Zugang als Vernetzungsplattform zur komplexen Thematik der Plattformökonomie wählen i. d. R. mittelständische bis große deutsche Maschinenbauer. Fundiertes Ingenieursund Prozesswissen für die erfolgreiche Ausgestaltung ist bei diesem Plattformtyp eine wesentliche Voraussetzung. Hier spielt der sog. Digitale Zwilling eine gewichtige Rolle, der ein digitales Abbild z. B. einer Produktionsmaschine ist. Bei der Anwendung auf die gesamte Fertigung kann dies ein digitales Abbild einer ganzen Fabrik darstellen. So lassen sich verschiedene Prozesse, Maschinen und Softwarearten simulieren und aufeinander abstimmen, ohne aufwendige physische Testsysteme betreiben zu müssen. Entwicklungsund Produktionsanlaufzyklen können deutlich reduziert werden, Softwareupdates vor dem Go-Live ohne großen Aufwand in einer Simulationsumgebung getestet werden (Rauen et al. 2018, S. 7). Der Fokus liegt bei diesem Plattformtyp folglich sehr stark auf Prozessinnovationen und bietet ein vorwiegend effizienzgetriebenes Leistungsversprechen. Letztendlich stellen Vernetzungsplattformen digitale Plattformen im engeren Sinn dar, da auf diesen keine physischen Komponenten ausgetauscht werden. Vernetzungsplattformen sind mit Fokus auf technischer Vernetzung ausgestaltet und eher als Komplement hin zu einer erfolgreichen IoT-Plattform anzusehen. Sie sind zudem auf bestimmte Branchen spezialisiert. Der fehlende Fokus auf Produktinnovationen und die Entwicklung neuer Geschäftsmodelle unterscheidet diesen Plattformtyp von anderen. Klassische ökonomische Wertschaffungslogiken einer Plattform kommen hier kaum zur Anwendung.

5.5 Internet-of-Things-Plattformen IoT-Plattformen stellen eine Erweiterung und Kombination aus Vernetzungsplattformen, Infrastrukturplattformen und digitalen Marktplätzen dar. Sie decken ein wesentlich breiteres Aufgabenspektrum ab. Dies beginnt bei der Zurverfügungstellung der entsprechenden Infrastruktur, erstreckt sich über die standardisierte Vernetzung verschiedener Systeme und endet bei der Möglichkeit für Dritte, eigene Applikationen auf der Plattform zu entwickeln und auf einem Online-Marktplatz entsprechend anbieten zu können. IoT-Plattformen gestalten sich also als integrierte B2B-Plattformen, einer Kombination aus Transaktionsplattform (Digitaler Marktplatz) und Innovationsplattform (Vernetzungs- und Infrastrukturplattform). Daten werden möglichst effizient zwischen den Akteuren (i. d. R. Maschinen) ausgetauscht, Maschinen mit einem Entwicklerökosystem verbunden. Der Schwerpunkt ein jeder IoT-Plattform liegt insbesondere auf der Entwicklung neuer Applikationen und Geschäftsmodelle für die Anwender. Der Aufbau einer Entwicklergemeinde ist daher ein neuralgischer Punkt, der hinsichtlich des Erfolgs

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Tab. 7  Internet-of-Things(IoT)-Plattformtypen und entsprechende Beispielunternehmen. (Quelle: Eigene Darstellung) IoT-Plattformtyp

Praxisbeispiele

IoT-Plattformen mit Fokus auf Analytics

Amazon Web Services, Microsoft Azure

Branchenübergreifende IoT-Plattformen

Siemens MindSphere GE Predix

Branchenspezifische IoT-Plattformen

Adamos, ThyssenKrupp MAX, Axoom

IoT-Produktplattformen

Bosch IoT Suite

einer IoT-Plattform eine wesentliche Rolle spielt. Insgesamt zielt eine IoT-Plattform eher auf digitale Produkt- statt auf Prozessinnovationen ab, wie dies z. B. bei Vernetzungsplattformen der Fall ist. Grundsätzlich lassen sich IoT-Plattformen in vier Gruppen einteilen (Tab. 7): zum ersten in IoT-Plattformen mit Fokus auf Analytics, die die US-amerikanisch geprägten IaaS-Provider enthalten, zum zweiten in branchenübergreifende IoT-Plattformen großer Industrieunternehmen, zum dritten in branchenspezifische, häufig kooperativ organisierte IoT-Plattformen und zuletzt in IoT-Produktplattformen, die neben B2B-, auch B2C-Kunden adressieren. IoT-Plattformen mit Fokus auf Analytics sind deckungsgleich mit den IaaS-Providern, die sich immer stärker in die Richtung einer IoT-Plattform, also einem Platform-as-a-Service-Provider (PaaS) weiterentwickeln (vgl. Abschn.  5.3). Unter der klassischen Bezeichnung einer IoT-Plattform werden insbesondere etablierte Industrieunternehmen subsumiert. Prominente Beispiele hierfür sind Siemens mit der Plattform MindSphere und GE mit Predix. Beide Plattformen decken ein breites Spektrum an Leistungen ab, agieren branchenübergreifend und bedienen neben produzierenden Unternehmen auch andere Branchen. Sie sind i. d. R. für Nutzer offen gestaltete Plattformen und orientieren sich an einem nutzungsabhängigen Vergütungsmodell (Pay-per-Use). Ein Nutzer zahlt am Ende also nur das, was er auch tatsächlich nutzt. Bei Siemens MindSphere werden z. B. für die monatliche Abrechnung sog. MindSphereUnits (MSU) verwendet, die fixe Preise darstellen und pro Asset und genutzter Anwendung herangezogen werden. Die Summe der berechneten MSU hängt dabei von der Anzahl der Datenpunkte, dem Lesezyklus eines Datenpunkts und dem Datentyp des Datenpunkts ab. Die Erlösströme bemessen sich also nach der Datenmenge und der Anzahl der angeschlossenen Maschinen. Anbieter, z. B. Softwareentwickler, müssen sich zunächst registrieren und bezahlen eine Art Zugangsgebühr. Die gesamte Vorgehensweise gestaltet sich sehr ähnlich zu der von Infrastrukturplattformanbietern. Das strategische Interesse beider B2B-Plattformtypen ist also offensichtlich und zielt auf den gleichen Markt ab. Interessanterweise setzen IoT-Plattformanbieter jedoch selbst auf Infrastrukturanbieter. So verwendet Siemens MindSphere AWS und SAP Hana als Cloudbasis. GE setzt ebenfalls auf zwei der großen IaaS-Provider, zum einen auf AWS und zum anderen auf Microsoft Azure. Es scheint also selbst für große Industrieunternehmen kein strategisches Interesse am Aufbau und

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Betrieb einer Infrastrukturlösung zu geben. Die Größen- und dadurch Kostenvorteile durch angebotsseitige Skaleneffekte bei IaaS-Provider lassen isolierte, eigene Lösungen kaum mehr wettbewerbsfähig erscheinen. Vielmehr liegt der Fokus auf digitalen Services und entsprechenden Geschäftsmodellen. Die Differenzierung der IoT-Plattformen großer Industrieunternehmen liegt dabei insbesondere in dem umfangreichen Domainwissen von Siemens oder GE über industrielle Prozesse. AWS oder Microsoft können dies in dem Umfang nicht aufweisen und sind daher darauf angewiesen, mit beispielsweise Siemens MindSphere zusammenzuarbeiten. Ein in diesem Kontext häufig genanntes Anwendungsbeispiel für IoT-Plattformen ist der Service Predictive Maintenance. Hier werden Daten aus der Maschine extrahiert, strukturiert und analysiert, sodass bestimmte Warnsignale, die auf einen baldigen Ausfall hindeuten, bereits im Vorhinein erkannt werden. Eine Wartung kann schon vor dem Ausfall durchgeführt werden und kostenintensive Stillstandzeiten vermeiden. Ohne eine IoT-Plattform ist die Sammlung und Analyse von Daten nicht möglich. Die MAX-Plattform von ThyssenKrupp ist ein Beispiel für eine Plattform, die speziell für Predictive-Maintenance-Anwendungen auf ein Produkt – in diesem Fall Aufzüge – und den entsprechenden Service zugeschnitten wurde. Die Möglichkeit mit MAX Aufzugausfälle vorhersagen zu können, hilft dem Kunden, Ausfallzeiten deutlich zu reduzieren. Siemens hat sich neben dem Betrieb der MindSphere-Plattform mit der Gründung des Vereins MindSphere World e. V. einem ganzheitlichen Ansatz verschrieben. MindSphere World ist ein Netzwerk, in dem sich verschiedene MindSphere-Anwender vernetzen und miteinander austauschen können. Das Ziel ist die Schaffung eines Ökosystems, um die Verbreitung von MindSphere als offene IoT-Plattform zu fördern. Weitere Akteure wie Wissenschaft, Forschung und Lehre werden ebenfalls durch MindSphere World gezielt unterstützt. Der bewusst offene Ökosystemansatz mithilfe von Kooperationen mit verschiedenen Stakeholdern soll die Skalierung der IoT-Plattform und die dahinterstehenden Softwarelösungen möglich machen. Schließlich ist die Wertschaffung von Mind­ Sphere stark von externen Akteuren wie Softwareentwicklern und Hardwareanbietern abhängig. Nachfrageseitige Netzwerkeffekte spielen bei diesem Plattformtyp daher auch eine gewichtige Rolle. Je größer die Abhängigkeit von externer Wertschaffung, desto wichtiger ist die Generierung von Netzwerkeffekten. Auch wenn die Anzahl der Akteure im Vergleich zu einer B2C-/C2C-fokussierten Plattform i. d. R. deutlich geringer ist, so liegt der Fokus einer jeden IoT-Plattform ebenfalls auf der Pflege und Förderung der Community. Der Ökosystemansatz soll den Nutzer so einbetten, dass keine Lösungen von anderen Herstellern zum Wechsel oder Multi-Homing bewegen. Alles was der Anwender benötigt, wie Softwarelösungen, Support, Austausch mit anderen Anwendern und Beratung, erhält er im MindSphere-Ökosystem. Wechselkosten spielen v. a. im B2B-Kontext eine noch essenzielle Rolle, da der Lock-in durch die Abstimmung von technischen Standards, Prozessen und Mitarbeiterschulungen deutlich größer ist als im B2C-Umfeld. Noch stärker als bei digitalen Marktplätzen (vgl. Abschn. 5.2),

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­ erden Wechselkosten zielgerichtet immer weiter gesteigert, bis ein Wechsel nicht mehr w wirtschaftlich ist. Einen konzertierteren Ansatz als die großen Industrieunternehmen stellt die Adamos-Plattform dar. Hier kooperieren mittelständische und große Maschinenbauer wie DMG Mori, Zeiss, Dürr oder Homag, aber auch IT-Unternehmen wie die Software AG, um eine umfassende Plattform mit einheitlichen Standards aufzubauen und zu betreiben. Die Funktionsweise ist den Plattformen der großen Industrieunternehmen sehr ähnlich, adressiert jedoch etwas andere Kundenprofile. Adamos nimmt für sich in Anspruch, insbesondere kleineren und mittleren Unternehmen im Maschinenbau bei der Digitalisierung als Plattform zur Verfügung zu stehen. Für den sehr heterogenen deutschen Maschinenbau sind solche Ansätze wichtig, um die Wettbewerbsfähigkeit der Branche auch in Zukunft sicherzustellen. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass kein Lock-in-Effekt bei einzelnen Herstellern durch die Anbindung von Maschinen an die Adamos-Plattform entstehen kann, da sie durch standardisierte Schnittstellen austauschbar sind. Dies gilt natürlich nur für Unternehmen, die die technischen Standards der Adamos-Plattform in den eigenen Produkten einsetzen. Bosch verfolgt einen etwas anderen Ansatz und will nicht nur B2B-Kunden, z. B. als Fabrikausrüster mit Bosch Rexroth, sondern auch Endkunden in einem B2C-Umfeld mit Plattformlösungen bedienen. Küchengeräten und weißer Ware wird beispielsweise ein großes IoT-Marktpotenzial zugesprochen (McKinsey 2018; Statista 2018c). So ist bereits heute die Steuerung und Fehleranalyse der eigenen Haushaltsgeräte mit der Bosch-App HomeConnect möglich. Smart-Home-Steuerungen oder Smart-Farming-Anwendungen laufen über die PaaS-Lösung Bosch IoT Suite und ermöglichen ein intelligentes Energiemanagement oder höhere Ernteerträge. Dieser hybride Ansatz, der sowohl auf B2B- als auch auf B2C-Kundensegmente abzielt, stellt eine Besonderheit im Plattformwettbewerb dar. Der Aufbau einer PaaS-Lösung in Form einer IoT-Plattform wird aufgrund der Bedeutung für die digitale Transformation als essenzieller Erfolgsfaktor identifiziert. Durch die Einbindung von Kunden und externen Entwicklern kann schnell auf Trends mit innovativen Lösungen reagiert werden. Ohne den Schritt hin zu oder Partizipation auf einer Plattform wird die Wettbewerbsfähigkeit insbesondere von etablierten Unternehmen mittelfristig deutlich eingeschränkt (Sebastian et al. 2017, S. 198).

5.6 Entwicklungstrends Der dynamische Entwicklungspfad von Plattformen lässt sich auch auf industrielle Plattformen übertragen. Transaktionsplattformen, wie digitale Marktplätze oder Vernetzungsplattformen, entwickeln sich verstärkt in Richtung von integrierten IoT-Plattformen weiter. Auch Innovationsplattformen in Form von Infrastrukturplattformen haben das gleiche Ziel.

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Derzeitige Entwicklungen im B2C-Plattformmarkt lassen weitere Implikationen für B2B-Plattformbetreiber zu. Diese deuten sich wie folgt an (Goodwin 2018): The world’s largest taxi firm, Uber, is buying cars. The world’s most popular media company, Facebook, now commissions content. The world’s most valuable retailer is now Amazon, and has more than 350 stores. And the world’s largest hospitality provider, Airbnb, increasingly owns real estate. Things change.

Der bisherige Skalierungsvorteil von Uber, Airbnb, Lieferando und in Teilen Amazon als digitale Plattform ohne physische Assets stößt durch Regulierung und neue Wettbewerber an seine Grenzen. Interessanterweise beginnen digitale B2C-Plattformunternehmen damit, vertikal vorwärts zu integrieren und somit die Wertschöpfungskette zu erweitern. So unterzeichnete Uber z. B. einen Kaufvertrag für 24.000 Autos der Marke Volvo und wird somit in Zukunft auch physische Assets in Form von Autos besitzen. Dies ist notwendig geworden, um der potenziellen disruptiven Gefahr autonom fahrender Autos zu begegnen und hierzu selbst eine Technologie zu entwickeln und anzubieten. Airbnb baut mittlerweile z. B. in Florida aufgrund der Angebotsverknappung durch restriktivere gesetzliche Vorgaben für private Vermieter eigene Apartmentkomplexe. Lieferando bietet entgegen des bisherigen Geschäftsmodells seit einigen Monaten eine eigene Lieferflotte an, um Marktanteile gegenüber neuen Konkurrenten wie Deliveroo und Foodora verteidigen zu können. Deliveroo selbst geht noch einen Schritt weiter und betreibt sogar eigene Küchen. Das Unternehmen wird dadurch faktisch zu einem Gastronomieunternehmen. Auch Facebook wird zu einem Contentanbieter und plant für das Jahr 2018 Ausgaben für TV-Sendungen in Höhe von einer Milliarde. Amazon akquiriert für 14 Mrd. US$ die Biosupermarktkette Whole Foods; Alibaba bietet schon seit Beginn eigene Produkte auf der Plattform an und besitzt Filialen unter dem Namen Hema. Das bisher so digitale und leicht zu skalierende Geschäftsmodell wandelt sich allmählich, um nachhaltig wettbewerbsfähig zu bleiben (Rest 2018, S. 84–88). Die physischen Komponenten von integrativen Plattformen erfahren eine zunehmende Bedeutung. Die nächste Plattformgeneration wird folglich eine integrierte Plattform mit einem hohen Anteil an physischen Komponenten darstellen. B2C-Plattformen stoßen von der digitalen in die physische Welt vor, Industrieunternehmen dagegen mit IoT-Plattformen von der physischen in die digitale. Es sind zukünftig nicht mehr nur die Anbieter und Nutzer verantwortlich für die Inhalte und damit den Wert einer Plattform, sondern verstärkt die Plattformbetreiber selbst. Übertragen auf die B2B-Welt, verbindet beispielsweise Siemens nicht nur Maschinen anderer Hersteller mit dem eigenen Mind­ Sphere-Ökosystem, sondern insbesondere natürlich die eigenen Maschinen. Diese Logik kann für weitere Unternehmen, wie z. B. Bosch, Trumpf und GE, fortgeführt werden. Das umfassend vorhandene Domänenwissen und die traditionell hohe Wertschöpfungstiefe insbesondere der deutschen Industrieunternehmen könnten daher im industriellen B2B-Plattformgeschäft einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil darstellen.

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6 Fazit Der vorliegende Beitrag arbeitet vier wesentliche Punkte heraus. 1) Digitale Plattformen lassen sich grundsätzlich in Transaktions-, Innovations- und integrierte Plattformen klassifizieren. Transaktions- und Innovationsplattformen durchlaufen dabei hin zu einer integrierten Plattform einen dynamischen Entwicklungspfad. 2) Mit Blick auf die Wirkungslogiken einer Plattformökonomie gilt es bei Transaktionsplattformen insbesondere, das Initialisierungsproblem zu überwinden, um direkte und indirekte Netzwerkeffekte generieren zu können. Für Innovationsplattformen sind die Community-Steuerung und die Festlegung des Offenheitsgrads gegenüber Drittentwicklern wichtige Erfolgsfaktoren. Integrierte Plattformen vereinen die Wertschaffungslogiken von Transaktions- und Innovationsplattformen, um daraus ein Ökosystem für einen effektiven Kunden-Lock-in zu schaffen. 3) Es wird aufgezeigt, wo und bei welchem Plattformtypus starke Marktwertzuwächse zu verzeichnen sind und Investoren hohe Erwartungen hinsichtlich zukünftiger Cashflows haben. Konsistent mit dem Entwicklungspfad dominieren hier die integrierten Plattformen, denen die größten Plattformunternehmen zugeordnet werden können. 4) Es werden B2B-Plattformen typisiert und ihre praktische Ausgestaltung beschrieben. Trotz des differenziert zu betrachtenden Wettbewerbsumfelds lassen sich die Klassifikationsansätze und Wertschaffungslogiken auf das B2B-Umfeld gut übertragen. Etablierte Industrieunternehmen versuchen, in Form von IoT-Plattformen in Verbindung mit Vernetzungsplattformen Netzwerkeffekte mit einem ganzheitlichen Ökosystem zu verbinden. Infrastrukturplattformen der großen Internetunternehmen dagegen adressieren den B2B-Markt auf Basis erheblicher Datenanalysefähigkeiten. Für Manager im B2B-Umfeld ergeben sich verschiedene Implikationen. Es ist zu erwarten, dass Erfolg versprechende digitale Geschäftsmodelle ganz oder in Teilen Plattformausprägungen beinhalten werden. Integrierte IoT-Plattformen versprechen den Aufbau von Wettbewerbsvorteilen. Emotionale Komponenten zum Aufbau und Erhalt einer Community können auch im B2B-Umfeld ein essenzieller Plattformbestandteil sein, um Lock-in-Effekte zu erzeugen. Die gegenwärtige Entwicklung von Plattformen zeigt, dass physische Komponenten an Bedeutung zunehmen werden. Es erscheint als Widerspruch in sich, zu erwarten, dass Unternehmen isoliert erfolgreiche integrierte Plattformen entwickeln können, da erst die Partizipation externer Akteure den Wert und Erfolg einer Plattform ermöglicht. Auch die Winner-­takes-it-allWirkungslogik widerspricht der Hypothese, dass viele verschiedene Plattformen nebeneinander existieren werden. Inwiefern Plattformkooperationen Erfolg versprechende Modelle darstellen können, ist eine bislang ungeklärte Frage. Vor allem für kleine und mittlere Unternehmen ist der Aufbau eigener Plattformen kostenintensiv und kaum zu bewerkstelligen.

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Für die künftige Forschung erscheinen Entwicklungsstadien von IoT-Plattformen und der Zusammenhang von Plattformtypen und deren Kontextfaktoren mit der finanziellen Performance von besonderem Interesse.

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Digitale Plattformen – Klassifizierung, ökonomische …

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Prof. Dr. Robert Obermaier  ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Accounting und Controlling an der Universität Passau. Aktuell untersucht er insbesondere die Auswirkungen der Digitalisierung (Industrie 4.0) auf die Bereiche Controlling, Unternehmensbewertung, Produktion und Entscheidungstheorie. Philipp Mosch ist seit Anfang 2017 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Accounting und Controlling und Mitglied im Forschungsprojekt „Center for Digital Business Transformation“, das zusammen mit einem großen Automobilzulieferer durchgeführt wird. Die Forschungsschwerpunkte liegen in der Bewertung von digitalen Innovationen und der strukturierten Ausgestaltung von datengetriebenen Geschäftsmodellen.

Industrie 4.0 – einfach machen durch Open Innovation. Vorgehensweisen und praktische Erfahrungen zur Erarbeitung neuer digitaler Geschäftsmodelle Stefan Walter

1 Einführung Mit der Digitalisierung verschwindet bis zum Jahr 2025 gut die Hälfte der heutigen Fortune-500-Unternehmen. Diese These von Richard Foster von der Yale University gibt einen Eindruck von dem dramatischen Wandel, der hinter der Digitalisierung steckt (CNBC 2014). Unter Digitaler Transformation versteht man den grundlegenden Wandel von Unternehmen und ihrer Geschäftsmodelle, um in der durch Digitalisierung geprägten Ökonomie zu bestehen. Mit neuen fachlichen und technologischen Ansätzen, Methoden und Lösungen müssen Prozesse, Dienste und Produkte überarbeitet und angepasst werden, um den Anforderungen der digitalen Ökonomie zu begegnen, die Erwartungen der Kunden von heute zu erfüllen und von neuen Geschäftschancen zu profitieren. Als generische Disziplin steht die Digitalisierung im produktionsnahen Umfeld insbesondere für die Flexibilisierung von Produktionsprozessen, bessere Planung und auch für neue datengetriebene Geschäftsmodelle. Sie steht aber auch für eine sehr enge Verzahnung von Unternehmensstrategie und Fähigkeiten der IT, neue geschäftliche Szenarien schnell und trotzdem zukunftssicher umzusetzen. Nach August-Wilhelm Scheer (2016) verändert die Digitalisierung Unternehmen hinsichtlich verschiedener Gesichtspunkte. Dies beginnt mit der Produktentwicklung einerseits (grenzkostenarme Produkte und Dienstleistungen) und endet in der Etablierung von komplett neuen Unternehmungen als Plattformunternehmen. Die Abb. 1 zeigt die verschiedenen Handlungskategorien auf. S. Walter ()  MSG Systems AG, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_18

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S. Walter

Abb. 1   Handlungsfelder der Digitalisierung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Im Detail stehen folgende wirtschaftliche Treiber hinter diesen Handlungsfeldern: • Grenzkostenarme Produkte und Dienstleistungen: Mithilfe von 3D-Druckern können Teile vor Ort hergestellt werden. Ein Beispiel hierzu liefert Adidas, das mithilfe von 3D-Druckern individuelle Sportschuhe produziert (Adidas Group 2015). • Selbststeuerung: Die Produktionsanlagen können über entsprechende künstliche Intelligenz selbst entscheiden, welche Fertigungsaufträge sie wann annehmen. Dadurch entsteht eine sehr hohe Flexibilität in der Produktion. • Schwarm-/Communityeffekte: Mithilfe von Open Innovation können zukünftig neue Technologien schneller gemeinsam erprobt und in einen produktiven Einsatz überführt werden. • Smart Services: Die durch die digitale Integration gewonnenen Daten werden genutzt, um gezielt Dienstleistungen und digitale Geschäftsmodelle aufzusetzen (Beispiel: Digitaler Milchmarktplatz, s. Abschn. 3.4 Digitale Geschäftsmodelle). • Personalisierung: Die Produkte werden zielgerichtet auf die Kunden angepasst und können auch kundenindividuell gefertigt werden (Stichwort: Los-Größe 1). • Lean Organization: Im Rahmen der Digitalisierung sind schnellere und agilere Organisationsformen notwendig. Dies erfordert Transformationsprozesse in den Unternehmen. • Plattformunternehmen: Vermehrt nutzen Unternehmen das Wissen aus ihren Daten, um gezielt als Makler zwischen Lieferanten und Kunden teilzunehmen. Damit kommen sie näher an ihre Kunden heran und verstehen sie besser. Dies ermöglicht eine verbesserte Personalisierung und damit nachweislich höhere Erlöse. Es stellt sich die Frage, wie man bei der Digitalisierung des eigenen Geschäfts vorgehen soll. Sollte man hierfür zuerst eine Unternehmensstrategie definieren und im zweiten Schritt die dazugehörige IT-Infrastruktur und Bebauung planen oder mit einer unternehmensweiten

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IT-Plattform beginnen, um im Nachgang entsprechende Applikationen aufzusetzen. Doch wie verhält es sich hierbei mit der zukünftigen Unternehmensstrategie? Dieser Beitrag widmet sich diesen Fragestellungen und versucht anhand zweier unterschiedlicher Vorgehensweisen und praktischer Beispiele Lösungsansätze darzustellen.

1.1 Business Transformation im Zeitalter der Digitalisierung: Herausforderungen bei klassischen Top-downEntscheidungen Eine Digitalisierungsstrategie beruht auf drei Hauptpfeilern, die alle bewertet und in der Strategiedefinition berücksichtigt werden müssen, um eine nachhaltige Entwicklung zu gewährleisten. 1. Innovationsmanagement: Hierzu gehört insbesondere die Verbesserung der Innovationskraft. Diese fußt auf neuen Innovationen, getrieben durch neue Technologien und resultiert im Idealfall in datengesteuerten (neuen) Businessmodellen. Eine enge Zusammenarbeit von Fachexperten und Softwareingenieuren ist essenziell. 2. Technische Umsetzung: Wesentliche Bestandteile sind der Aufbau und die Erstellung industriespezifischer Anwendungsfälle. Sehr oft erfolgt dies unter der Nutzung von Inkubatoren und Technologielabs zur Bewertung der einzelnen Use Cases. Nach finaler Erprobung erfolgen eine IT-Architektur und -Systemintegration. 3. Business Transformation: Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen Fach- und IT-Wissen kombiniert mit der Notwendigkeit, schnell Ergebnisse liefern zu müssen, ergeben sich ein Kultur- und Organisationswandel und die Anpassung der organisatorischen Prozesse entlang der Wertschöpfungskette der digitalen Produkte. Diese zentralen Elemente gilt es zu verbinden und zu einer unternehmensspezifischen Digitalisierungsstrategie zu bündeln.

1.1.1 Warum bei einem traditionellen Vorgehen digitale Innovationen scheitern Sehr oft mündet die Festlegung dieser Digitalisierungsstrategie in klassischen Organisations- bzw. Strategieprojekten. Sie sind vom Top-Management initiiert und werden dann in die Organisation eingekippt. Allerdings sind diese Projekte sehr konzeptorientiert und auch langwierig. Resultate sind, wenn überhaupt, erst nach einem längeren Zeitraum von sechs Monaten sichtbar. Die Abb. 2 zeigt beispielhaft den Ablauf eines solchen Projekts. Das Projekt wird gemäß den üblichen Projektmethoden zentral von einem Team definiert und dann in einzelnen Schritten auf Basis von Lenkungskreissitzungen mit den einzelnen Sparten oder Werken abgestimmt.

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S. Walter

5

Sparte/Werk D

Sparte/Werk A 1

Projektteam

2

5

5

4

3

Sparte/Werk B

Sparte/Werk C

5 Abb. 2   Ablauf eines zentral gesteuerten Strategieprojekts. (Quelle: Eigene Darstellung)

Dies ist aus heutiger Sicht im Zeitalter von schnellen Ergebnissen nur schwer vermittelbar. Doch nicht nur der zeitliche Aspekt spielt eine tragende Rolle, auch ein entsprechendes Stakeholdermanagement ist notwendig. Denn die Gründe für das Scheitern digitaler Innovationen sind v. a. hausgemacht. Sie beginnen und enden in der Planungsphase und werden durch das Management verantwortet. Aufgrund der Tatsache, dass im Zeitalter der Digitalisierung die Informatikabteilung und Unternehmensstrategie unter der Rahmenbedingung eines noch nicht klar definierten zukünftigen Strategiebilds Hand in Hand operieren sollten, ergeben sich neue Anforderungen an die Organisationsformen (Abb. 3). Zentrales Element ist die Notwendigkeit eines gemeinsamen unternehmerischen Denkens der verschiedenen Beteiligten. Nur wenn alle Beteiligten eine gemeinsame Vision über ein neues Produkt oder eine Geschäftsstrategie verfolgen, sind die gewünschten schnellen Erfolge möglich. Hierzu ein konkretes Beispiel aus der Praxis. Als eigenständige Geschäftsbereiche verfolgen die jeweiligen Linien ihre jeweiligen strategischen Ziele. Die IT-Organisation sieht sich als Innovator und verfolgt neue Trends der Informatik, insbesondere bei der Durchführung von IT-Projekten. Es wurde vom Chief Information Officer (CIO) beschlossen, diese nach sog. agilen Methoden und gemäß dem Prinzip der Development Operations (DevOps) durchzuführen (Abb. 4). Das Ziel ist es, dass neue Anwendungen

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Abb. 3   Entrepreneurship ist das zentrale Bindeglied zwischen den Fachbereichen und der IT. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 4   Traditionelle Linienorganisation. Die IT-Abteilung verfolgt den Ansatz der Developmental Operations (DevOps). (Quelle: Moss-Bolanos 2016)

in sehr enger Abstimmung mit dem Fachbereich und der IT-Betriebsabteilung Schritt für Schritt umgesetzt werden und dabei auf lange Konzeptionsphasen verzichtet wird. Allerdings bedeutet dies nicht, dass der Fachbereich als Sparringspartner entsprechend intensiv eingebunden ist, denn nach wie vor soll das unternehmensweit gültige Vorgehensmodell genutzt werden. Dies bedingt, dass der Fachbereich seine Anforderungen zu Beginn in einem Anforderungsdokument umfassend beschreibt, das Projekt budgetiert und, wenn der Business Case stimmt, auch genehmigt. Das Problem dabei ist, dass der Fachbereich weder die Möglichkeiten der neuen Technologien einschätzen noch die notwendigen Anforderungen formulieren kann, da ihm hierzu zu wenige Erfahrungen vorliegen. Im Rahmen der Entscheidungsfindung sehen sich auch die einzelnen Bereiche als Stakeholder und müssen dementsprechend ihre Anforderungen einbringen. Aufgrund der unklaren Anforderungen gibt es keinen Business Case und somit kein Projekt und folglich auch keine Innovation. Die Konsequenz ist, dass das Unternehmen mit der Umsetzung wartet, bis die Idee nicht mehr innovativ ist. Damit geht wertvolle Zeit verloren, was man sich bei der heutigen Dynamik nicht mehr leisten kann.

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Doch der Hintergrund ist eigentlich ein anderer: Das Vorgehen, das hier angewendet wird, basiert auf der Annahme, dass ein durchaus erfolgreiches, bestehendes Geschäftsmodell aus der analogen Welt einfach in ein digitales Modell umgewandelt werden könne. Dies trifft leider meist nicht zu. Wie oben beschrieben, sind die wesentlichen Zielgruppen bei digitalen Produkten die Kunden, Mitarbeiter und Lieferanten. Sie wollen digitale Erlebnisse – sprich Emotion – in der Nutzung durch moderne Apps und Devices. Produkte und Dienste sind somit stark auf den wirklich erfahrbaren Kundennutzen und die neue Art des Kundenverhaltens ausgerichtet. Mit der konsequenten Einbindung kundennaher Technologien entstehen digitale Kundenerlebnisse. Somit benötigen wir für die Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle eine praxisorientierte Verschmelzung von Adoptions-, Diffusions- und Technikakzeptanzforschung sowie Usability- und Kommunikationspsychologie. Die Nutzer stehen somit im Mittelpunkt der digitalen Produkt- und Strategieentwicklung.

1.1.2 Der Top-down-Ansatz hat beim Ausrollen der Innovation im Konzern Vorteile Der oben beschriebene Ansatz, Innovationen über das Management in die Organisation einzusteuern, birgt aber nicht nur Nachteile. Ein wesentlicher Vorteil liegt in der Tatsache begründet, dass die erstellte Lösung bereits als fertiges Produkt bzw. Projekt breitflächig in den verschiedenen Konzernabteilungen angekommen ist. Je nach Vorgabe kann oder muss diese Lösung dann von den einzelnen Einheiten genutzt oder vertrieben werden. Aus einem Minimum Viable Product – einer Lösung mit Minimalfunktionalitäten, die schrittweise weiterentwickelt wird – ist eine finale Lösung geworden und für den Einsatz im Konzern geeignet wie auch akzeptiert.

1.2 Auswirkungen auf die IT-Abteilungen 1.2.1 Organisatorisch Bereits seit Jahren werden IT-Organisationen mit neuesten technologischen Trends überfrachtet. Sei es Cloud Computing, mobile Unternehmensanwendung, das Internet der Dinge oder künstliche Intelligenz. Tatsache ist, dass diese neuen Technologien bewertet und auf einen möglichen Einsatz in dem Unternehmen untersucht werden müssen. Von der Münchner Rück wurde Anfang 2017 eine deutschlandweite Untersuchung hinsichtlich der Potenziale moderner IT-Technologien durchgeführt (Abb. 5). Konkrete Umsetzungsmaßnahmen erfolgten insbesondere in den Themengebieten: • Predictive Analytics • Share economy

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• Location-based Services • Cybersecurity • Wearables • Telematics • Smart Home • Digital Health Services • Autonomous Robotics and Drones Diese Technologien sind vorhanden, sie können genutzt und implementiert werden. Und es kann auch davon ausgegangen werden, dass der Wettbewerb dies bereits tut. Allerdings benötigen IT-Organisationen hierfür entsprechende Freiräume und Kapazitäten. Tatsächlich bedeutet dies in der Praxis sehr häufig, dass Innovationen nebenbei generiert werden, da sie nicht direkt greifbar sind. Ein Teil der Wahrheit liegt darin begründet, dass die zentrale IT oft als Kostenblock und weniger als Innovator gesehen wird. Betrachtet man das Tagesgeschäft mancher Informatikbereiche, kommt man schnell zu dem Schluss, dass der Großteil der Zeit für Systembetrieb und -korrekturen wie auch für sehr umfangreiche langwierige Projekte in den Kernsystemen aufgewendet wird. Ein aktives IT-Controlling würde hier zumindest die notwendige Transparenz schaffen. Doch oft beschränkt sich dies auf die Auswertung von Projektzeiten – notwendige Schlüsse und Aktionen zur Abhilfe werden nicht gezogen.

Abb. 5   Der IT-Trend-Radar 2017, Münchner Rück

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Aus diesem Grund nutzen unsere Kunden aktiv den Druck der Digitalisierung, um auch die IT-Abteilungen zukunftsfähig zu gestalten. Sie wollen bewusst die starre Grenze zwischen den Projekt- bzw. Entwicklungsteams (also denjenigen, die die Systeme bauen) und den Betriebsbereichen (also denjenigen, die die Systeme im Nachgang betreiben und warten) aufbrechen. Denn damit sind sie vermehrt in der Lage, einzelne Applikationsverbünde an externe Partner zu vergeben. Hierbei muss es das Ziel sein, nicht nur einzelne Ressourcen einzukaufen und gegebenenfalls Projekte oder den Betrieb extern zu vergeben. Vielmehr steht die IT-Organisation vor dem Wandel in eine Organisation mit Managed Services. Die einzelnen Services wiederum sind für sich gesehen komplett eigenständige Teams mit Konzeptions-, Entwicklungs- und Betriebskompetenz. Dies ermöglicht das konkrete „Sourcen“ nicht nur von Köpfen und Projekten, sondern von Services eingebunden in die eigene IT-Organisation und auf Basis der Service Level Agreements der Unternehmung. Die Abb. 6 zeigt bildlich die notwendige Transition von einer liniengeführten IT-Organisation zu Managed Services. Man beachte insbesondere die hinzugefügten Kompetenzen für Digital Innovations.

1.2.2 Umfangreiches Know-how in Softwareengineering notwendig Als Microsofts CEO Satya Nadella 2015 visionär von der Transformation des klassischen Wirtschaftens in datengetriebene Unternehmungen sprach – „Every business will become a software business, build applications, use advanced analytics and provide Saas services“ (Saran 2015) – stieß er auf große Vorbehalte. Nicht nur die Dienstleistungsoder IT-Branche wurde angesprochen. Vielmehr sah er auch klassische Industriebereiche wie z. B. die Fertigungsindustrie davon betroffen. Bereits aus Abschn. 2.1 wissen wir, dass sich viele Elemente aus seiner Theorie bewahrheitet haben. Jetzt geht es an die Umsetzung, also an die Entwicklung von Software

Abb. 6   Die Transition von einer klassischen IT-Organisation zu Managed Services. (Quelle: Eigene Darstellung)

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und Algorithmen. Dies beinhaltet Funktionalitäten für Datenanalysen, z. B. der Kundensegmente, bis hin zum Konzipieren und Betreiben komplexer Infrastrukturen in der Cloud. Nehmen wir Netflix als Beispiel. Das Unternehmen feierte kürzlich sein 20-jähriges Bestehen und ist mittlerweile einer der größten Videostreamingdienste. Das Unternehmen begann allerdings mit klassischem DVD-Versand und änderte erst um 2010 sein Vertriebsmodell in Online-Streaming (Wikipedia 2019a). Diese Änderung hatte allerdings gravierende Auswirkungen auf die notwendige IT-Infrastruktur und das Softwareentwicklungs-Know-how. Es reicht nicht mehr aus, einen schlanken Online-Shop für DVDs zu betreiben. Vielmehr müssen die neuen Webanwendungen höchst skalierbar und flexibel konzipiert betrieben werden können, um die Last auf die IT-Infrastruktur, die mit einem Videostreaming einhergeht, auch abarbeiten zu können. Zwischen der Art und Weise, wie die Softwaresysteme in der alten Welt und der neuen Welt aufgebaut sind, bestehen größte Unterschiede. Sie sind heute weit komplexer zu entwickeln und zu betreuen. Eines ist allerdings ähnlich: Das Verständnis über das Sehverhalten der Konsumenten hat sich seit der Gründung des Unternehmens kontinuierlich weiterentwickelt. So gilt es, dieses Wissen in entsprechende Algorithmen in modernste Softwarearchitekturen zu übertragen und auch dort permanent zu optimieren. Denn auch hier gilt: Daten sind das moderne Öl der Digitalisierung. Die Transformation von Netflix war nur möglich mit der Erkenntnis, dass das Unternehmen nachhaltig Wissen im Umfeld Software Engineering, Cloud Computing und Data Mining aufbauen muss. Das Management hat erkannt, dass diese Kompetenzen ein zentrales Asset der Unternehmensstrategie sind. Hier gilt „make“ und nicht „buy“. Dies hat auch der Automobilzulieferer Bosch erkannt. Auf dem Kongress „Bosch Connected World 2017“ (Bosch 2017) zeigte das Unternehmen Produkte und Lösungen im Bereich Internet der Dinge, künstliche Intelligenz und Big Data. So können u. a. Prozesse und Verfahren in den Bereichen autonomes Fahren, Connected Agriculture, Smart Cities und Connected Logistics optimiert und neue Erlösquellen erzielt werden. Alle Lösungen basieren auf dem bestehenden fachlichen Erfahrungsschatz von Bosch. Neu ist allerdings auch hier das Wissen über den Entwurf und Bau komplexer Softwaresysteme und künstliche Intelligenz. Das Micro-Services-Paradigma ist ein neuer Architekturtreiber Die von Netflix und Bosch durchgeführten Anpassungen in ihrem Produkt- und Lösungskatalog waren nur möglich durch die Nutzung neuer Software- und Hardwaretechnologien. Cloud-Computing, schlanke kleine Softwaresysteme (Embedded Systems) und mobile Applikationen in unterschiedlichster Form haben sich etabliert und bilden die Grundlage moderner Softwarelösungen. Flankierend hierzu haben sich in den letzten Jahren Paradigmen und Projektvorgehensweisen entwickelt, die eine sinnvolle Nutzung dieser Technologien erst ermöglichen. Denn die besten Werkzeuge nutzen nichts, wenn sie nicht zielgerichtet eingesetzt werden.

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Zu diesen Paradigmen gehören insbesondere Micro Services. Bei einer Micro-ServiceArchitektur werden Anwendungen statt wie üblich als Monolith über lose-­gekoppelte fachlich-abgeschlossene funktionale Services zusammengesetzt. Die einzelnen Services einer Anwendung können insbesondere mit unterschiedlichen Technologien implementiert werden, einen individuellen und von anderen Services unabhängigen Entwicklungsund Release-Prozess durchlaufen und flexibel in Cloud-Umgebungen installiert werden. Micro Services erlauben eine sehr hohe Skalierbarkeit sowohl in der Entwicklung als auch im Betrieb (Performance). Auf diese Weise eignen sie sich sehr gut für eine Nutzung im Rahmen von Systemen mit schnellen Releasezyklen. Die Abb. 7 stellt die unterschiedlichen Charakteristika von Micro Services gegenüber klassischen IT-Systemen dar. Die einzelnen Services sind für sich komplett eigenständige Softwarekomponenten, die in beliebiger Form mehrfach gestartet und flexibel rauf- und runtergefahren werden können. In der Regel werden diese Services im Rahmen einer Cloud-Plattform genutzt, die wiederum selbst unterschiedliche Micro Services für die Unterstützung neuer digitalisierter Lösungen anbietet. Auf diese Weise können mit einem vergleichsweise niedrigen Aufwand schnell Ergebnisse erzielt werden. Dennoch sind die Lösungen aufgrund der Flexibilität und Elastizität der Plattformen und des Micro-Services-Paradigma für hochkomplexe Systeme geeignet. Die Abb. 8 zeigt eine Übersicht solcher Services anhand der Cloud-Plattform Microsoft Azure.

Abb. 7   Unterschiede in den Charakteristika zwischen IT-1.0 und -2.0-Systemen. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Abb. 8   Übersicht von Plattform-Services von Microsoft Azure. (Quelle: Devacron 2016)

DevOps DevOps steht für Development Operations und bezeichnet die Durchführung von Softwareentwicklungsprojekten und Sicherstellung des Betriebs durch das gleiche Team. Das Vorgehen ist gekennzeichnet durch eine hohe Agilität und sehr häufige Release-Zyklen. Insbesondere im Umfeld von Micro-Services-Architekturen in Kombination mit Cloud-Computing ist dieses Vorgehen vermehrt anzutreffen. Die Vorteile liegen hierbei insbesondere in sehr schnellen Ergebnissen und schnellem Kundenfeedback. Im Zeitalter von Digitalisierungsprojekten sind dies essenzielle Projekteigenschaften. Allerdings sind die IT-Abteilungen vieler Unternehmen hiermit nicht vertraut (s. Abschn. 2.1.1). In der Regel nutzen Unternehmen noch klassische sequenzielle Vorgehensweisen, die sie über Jahre implementiert haben. Dies hat zur Folge, dass aufgrund fehlender DevOps-Know-hows und -Kultur IT-Projekte in die Länge gezogen werden und nicht ihre Ziele erreichen. Aus diesem Grund werden neben dem technischen und methodischen Softwareengineeringwissen auch entsprechende DevOps-Erfahrungen als zentraler Erfolgsfaktor bei der Umsetzung von Digitalisierungsprojekten gesehen. Die Abb. 9 stellt die Unterschiede zwischen traditionellen IT-Projekten und DevOps dar. Die Besonderheit liegt insbesondere auch darin, dass das Team aus Fachexperten und IT-Spezialisten besteht. Wie in Abschn. 2.1.1 beschrieben, ist dies ein wesentlicher Erfolgsfaktor.

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Abb. 9   Unterschiede zwischen traditionellen IT-Projekt-Vorgehen und Developmental Operations (DevOps). (Quelle: Eigene Darstellung)

2 Vorgehensweisen In der Praxis wird oft die Erstellung eines neuen datengetriebenen Geschäftsmodells selbst zum erklärten Ziel. Netflix als DVD-Versandhaus mag dies aufgrund seiner klaren Unternehmensstrategie leicht gefallen sein. Einem mittelständischen Automobilzulieferer, der seine Teile als Sublieferant im Rahmen von Sourcing-Verträgen produziert und verkauft, fällt dies sicherlich schwerer. Insbesondere im Produktionsumfeld sind grundlegende, auf die Digitalisierung spezialisierte IT-technische Software- und Hardwareinfrastrukturen gefordert. Das Industrial Internet Consortium (IIC) hat hierfür eine Referenzarchitektur erstellt. Diese zu implementieren, würde allerdings ein Großprojekt erfordern (Abb. 10). Das IIC unterteilt hierbei die IT-Landschaft in drei verschiedene Schichten. Jeweils wird auf intelligente Systeme zurückgegriffen. Diese beinhalten in unterschiedlicher Art und Weise implementierte Algorithmen, um möglichst eigenständig Daten oder Nachrichten aufzubauen und Entscheidungen zu fällen. Besonders ausgeprägt sind diese Eigenschaften in der Edge Domain und Application Domain zu finden. Die einzelnen Domänen erfüllen hierbei insbesondere folgende Aufgaben: 1. Maschinennahe Steuerung – Bereitstellung von einzelnen Diensten für das Lesen von Quasi-Echtzeitdaten (z. B. Zustands- und Mengendaten) aus der Anlagensteuerung – Aggregation und Aufbereitung der Daten für Integrations- und Businessebene 2. Operative Tätigkeiten – Orchestrierung der Dienste für anlagenübergreifende Tätigkeiten – Administration und Monitoring der Kommunikation

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3. Datenintegration und -aufbereitung – Lesen, Transformieren und Aggregieren der technischen Daten in Entscheidungsunterstützung – Persistierung der Daten für Analysezwecke 4. Applikationen – Bereitstellung von übergreifender Applikationslogik – Regeln, statistische Analysen, künstliche Intelligenz, neuronale Netze 5. Business – Zusammenarbeit der internetfähigen Produktionsanlagen mit Business-Systemen wie Enterprise-Resource-Planning (ERP), Customer-Relationship-Management (CRM), Supply-Chain-Management (SCM), Supplier-Relationship-Management (SRM). Aus diesem Grund hat sich ein schrittweises Vorgehen bewährt, das als spätere Ausbaustufe ein digitales Geschäftsmodell hat. Im Folgenden wird anhand von Projektbeispielen beschrieben, wie ein solches Vorgehen aussehen könnte. Dieses Vorgehen wird in Abb. 11 dargestellt.

2.1 Stufe 1: Steigerung der Prozesseffizienz Der naheliegende und i. d. R. auch der einfachste Schritt ist die allgemeine Steigerung der Prozesseffizienz. Hierbei werden digitale Technologien genutzt, um beispielsweise Bearbeitungs- und Wartungsabläufe zu optimieren. Es geht somit um: • Reduzierung von Prozesslaufzeiten • Effizienteren Einsatz von Ressourcen

Abb. 10   Industrial Internet Reference Architecture. (Quelle: Industrial Internet Consortium 2015)

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• Kombination klassischer Automatisierungstechniken und künstlicher Intelligenz • Steigerung der Produktqualität Aber folgende Ziele stehen auch im Fokus: • Steigerung der Anlageneffektivität • Einhaltung von Qualitätssicherungs(QS)-Standards Hierbei ist es wichtig zu verstehen, dass es weniger die reinen mobilen Applikationen auf den Geräten sind, die den Effizienzhebel darstellen, sondern das Gesamtsystem mit einer entsprechenden Anbindung an die Back-end-Systeme. Dies lässt sich recht gut anhand von Abb. 12 erläutern. Die Grafik stellt das klassische Ebenenmodell der Produktion dar.

Potenzialen

Kooperationspartnern

Abb. 11   Die einzelnen Schritte zum digitalen Geschäftsmodell. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 12   Einordnung der digitalen Themen im klassischen Ebenenmodell. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Es zeigt, wie die verschiedenen Technologien die vertikale Integration nachhaltig erhöhen. Dies ist eine zwingende Voraussetzung zur Erreichung der oben genannten Ziele. Hierbei werden nahe der Anlagen über Sensoren oder moderne Devices, wie z. B. Smart Glasses, Sensordaten und Bilder aufgenommen bzw. registriert (Level 0 und 1) und gegebenenfalls eine künstliche Intelligenz eingesetzt, um konkrete Muster zu erkennen. Diese können für konkrete Aktionen in der Manufacturing-Execution-­ System(MES)- und Business(sprich SAP)-Ebene – eingesetzt werden. Das Ergebnis sind insbesondere schnellere Prozesse, aber auch verbesserte Daten. Dies erfolgt durch entsprechendes kurzfristiges und bewusstes Bearbeiten der Vorgänge. Es ist sozusagen ein Abfallprodukt der Komfortsteigerung für die Anwender in den technischen Bereichen. Aufbauend darauf lassen sich im zweiten Schritt diese Daten für eine Transparenzverbesserung nutzen.

2.1.1 Steigerung der Prozesseffizienz in der Instandhaltung Die Digitalisierung und das Internet der Dinge (IoT) eröffnen neue Möglichkeiten, Service- und Wartungsprozesse zu optimieren. Gerade für die erfolgreiche Umsetzung von Industrie 4.0 ist eine effiziente Instandhaltung unerlässlich. Allerdings sind die ­operativen Vorgänge in der Praxis noch sehr stark geprägt von manuellen Tätigkeiten, die z. T. noch auf Papier basieren. So werden Instandhaltungsaufträge z. T. elektronisch übermittelt und rückgemeldet. Allerdings findet eine stärkere Integration in die Problemlösung nicht statt. Hier haben sich in der Praxis einige Potenziale gezeigt, die in Abb. 13 dargestellt sind. Diese Effizienzsteigerungen lassen sich insbesondere in folgenden Themengebieten finden: 1. Automatische Statuserfassung von Anlagenkomponenten 2. Auswertung und Darstellung für Instandhaltungsplanung 3. Erstellung der Instandhaltungsaufträge für eine Anlage 4. Ausführung der Instandhaltungstätigkeit vor Ort 5. Austausch von Ersatzteilen 6. Auftragsabschluss

Abb. 13   Zu erwartende Ergebnisse einer Steigerung der Prozesseffizienz in der Instandhaltung. (Quelle: Walter 2017)

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Abb. 14   Je nach Teilprozess kommen verschiedene Technologien und Instrumente zum Einsatz. (Quelle: Eigene Darstellung)

Es hat sich herausgestellt, dass zu den einzelnen Themengebieten unterschiedliche Technologien genutzt werden können. Diese sind in Abb. 14 als Übersicht dargestellt. Wie oben beschrieben, ist eine vertikale Integration der verschiedenen Ebenen entscheidend für die Werthaftigkeit der Lösung. Aus diesem Grund kann nur die Kombination aus einer Integration der Back-end-Systeme (z. B. SAP EnterpriseResource-­Planning Plant Maintenance) mit den mobilen Technologien zum Ziel führen. msg hat dies in ihrem Produkt „Smart Maintenance“ entsprechend realisiert. Hierbei werden Cloud-Technologien genutzt, um Funktionalitäten und Daten mit modernen Geräten, wie z. B. Smart Glasses und Handschuhen, zu verbinden. Die Abb. 15 stellt die entsprechende Architektur dar.

2.1.2 Mensch-zu-Mensch-Kommunikation in der Produktion Bereits seit Jahren optimieren Unternehmen ihre horizontale Wertschöpfungskette in der Produktion, insbesondere auf der Ebene der Maschinen und Anlagen. Produktionsaufträge werden zu Beginn in SAP geplant und dann im MES als Detailaufträge ausgeplant. Ab dann kümmert sich dieses System um die Informationsverteilung an die einzelnen Maschinen. Bei manuellen Tätigkeiten, insbesondere in der Montage, gibt es allerdings regelmäßig Problemfelder, die durch Folgefehler vorhergehender Takte entstehen. Hier ist es notwendig, dass die Mitarbeiter oder Vorarbeiter kommunizieren. Sonst ergeben sich sehr teure, da mühsam zu korrigierende Qualitätsprobleme. Aus diesem Grund wurden Lösungen entwickelt, die mobile Geräte nutzen, um einerseits die Fehlererfassung und -bewertung zu optimieren und andererseits mithilfe von künstlicher Intelligenz und Heatmaps ein Frühwarnsystem für potenzielle Fehler aufzubauen. Die Tab. 1 zeigt, welche Kernelemente i. d. R. enthalten sind.

Industrie 4.0 – einfach machen durch Open Innovation … On Premise

Smart Maintenance Services (Cloud oder on-premise) JSON HTTP

Shop Floor SAP ERP - Plant A

Cross Plant Spare P. Mgmt1 Diagnose DB

NW BRF-Plus

(Push) Notification Service

Enterprise Apps / Mobile Solutions

OData

PM / MM

SAP ERP - Plant B

Route Planning1

OData-Services

OData-Services

Strategic Planning1

JSON HTTP

Mobile Plant Mgmt

Diagnostics

IoTService

Simulation Raspberry PI

Technical Predictive

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Smart Glove

Mobile Workforce Mgmt

Smart Glass App

SAP UI 5

Android

Abb. 15   msg Smart Maintenance Architektur. (Quelle: Eigene Darstellung)

Tab. 1  Kernfunktionen der Mensch-zu-Mensch-Kommunikation in der Produktion. (Quelle: Eigene Darstellung) Kernfunktion

Bestandteil

Steigerung der Prozesseffizienz

Das System steigert mithilfe aktiver Mitarbeiter-Mitarbeiter- und Maschine-Mitarbeiter-Kommunikation die Prozesseffizienz in der Montage nachhaltig

Knowledge Management

Die künstliche Intelligenz wird genutzt, um über semantische Suche auf technische Dokumente o. ä. zuzugreifen

Frühwarnsystem

Das System nutzt Knowledge Graphen, um Prozessrisiken früh zu erkennen und die Mitarbeiter rechtzeitig zu informieren

Digitaler Assistent für die Fertigung

Mithilfe von Amazon Alexa wird das System zum digitalen Assistenten. Es setzt auf dem gemeinsamen Knowledge Graphen auf

Die Abb. 16 zeigt Screenshots aus einer Lösung, die bei einem Automotive Original Equipment Manufacturer (OEM) umgesetzt wurde. Dort sind mobile Applikationen auf Basis von iOS mit Cloud-Datenbanken in Microsoft Azure kombiniert worden. Für das Frühwarnsystem sind entsprechende Logiken in Azure entwickelt worden.

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Abb. 16   Screenshots zu einer Lösung für Mensch-zu-Mensch-Kommunikation. (Quelle: Eigene Darstellung)

2.1.3 Intelligente Frühwarnsysteme und Qualitätsmanagement im Materialfluss Abläufe und Lagerhaltungskapazitäten für den Materialfluss in der Produktion zu optimieren, sind bereits seit Zeiten der Lean Production Ziele der Logistikplanung. Was die Abläufe im Umfeld der Serienproduktion betrifft, wurden bereits viele Fortschritte erzielt, die zu nachhaltigen Produktionssteigerungen führten. Auf der anderen Seite führten diese optimierten Prozesse zu einer sehr engen Verzahnung der einzelnen Prozessschritte. Ausnahmen im Ablauf aufgrund fehlerhafter Teile oder Falschbedienung bei den Anlagen kaskadierten sich am Ende zu größeren Qualitätsproblemen, wenn sie nicht frühzeitig als solche erkannt wurden. Einhergehend mit den hohen Anforderungen an Traceability vom Rohmaterial bis zum Endprodukt inklusive aufwendiger Dokumentation sind die Aufwände für die Mitarbeiter in solchen Situationen immens. Die Produktivität sinkt. Schließlich und endlich sind i. d. R. auch aufwendige Nachbesserungen notwendig. An dieser Stelle können intelligente Bilderkennungs- und Machine-Learning-Systeme helfen. Sie unterstützen bei einer frühzeitigen Erkennung beim Wareneingang und ermöglichen Hilfestellungen bei Problemfällen. Des Weiteren leiten sie automatisch Maßnahmen ein für Nachbesserungen und dokumentieren diese in SAP falls notwendig. Grundlage hierfür sind wiederum cloudbasierte Datenplattformen, die um Fehlerbilder und Wissensgraphen erweitert wurden. Darüber ist es möglich, an einer Stelle Wissen aus der Prozess- und Produktqualität strukturiert aufzubauen, die dann über

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offene Schnittstellen beliebigen Endgeräten und IT-Systemen zur Verfügung gestellt werden kann. Dies lässt sich an einem konkreten Beispiel verdeutlichen: Angenommen, in der automobilen Fahrzeugfertigung werden Räder für die Montage angeliefert. Diese Räder sind fertig montiert und einzelnen Produktionsaufträgen – sprich Fahrzeugbestellungen – zugeordnet. Aufgrund der verschiedenen Konfigurationsvarianten sind die Räder entsprechend personalisiert. In der Praxis treten nun Situationen auf, dass die Räder fehlerhaft sind bzw. vertauscht oder falsch angeliefert werden. Dies hat zur Folge, dass die Räder an das falsche Auto bzw. an die falsche Stelle montiert werden. Eine Bilderkennung, die mit dem MES verknüpft ist, kann hier Abhilfe schaffen. Die Abb. 17 zeigt in einem beispielhaften Prozess, wie die Bilderkennung genutzt wird, um die beschriebenen Falschlieferungen zu erkennen und entsprechende Qualitätsmanagementmeldungen für eine zeitnahe Korrektur in SAP anzulegen. Die App erkennt hierbei das konkrete Rad und prüft, ob hierfür ein Produktionsauftrag vorliegt. Die Abb. 18 zeigt Screenshots einer mobilen Applikation für einen positiven Fall (links) und einen negativen Fall (rechts). Wie einleitend beschrieben, stellt sich der Nutzen der Lösung allerdings erst in Kombination mit weiteren Elementen heraus, z. B. indem die Materialdaten mit Reklamationsquoten kombiniert in einer zentralen Datenbank abgelegt werden. Dies bietet die Möglichkeit, Zusammenhänge zu erkennen und intelligente Systeme darauf aufzusetzen,

Abb. 17   Beispielhafter Prozess für eine Wareneingangsprüfung mit Bilderkennung. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Abb. 18   Beispielhafte Screenshots für eine mobile Applikation beim Wareneingang zur Prüfung von Rädern. Links positiver Fall; rechts negativer Fall. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 19   Zentrale Datenobjekte und -flüsse im Umfeld Smart Parts Management. (Quelle: Eigene Darstellung)

die diese Zusammenhänge nutzen, um frühzeitig vor möglichen Problemfällen zu warnen. Schnittstellen zu den OEM-Produktionssystemen, zu den Einkaufssystemen und zu den Lieferanten sollten kontinuierlich aufgebaut werden. Die Abb. 19 zeigt beispielhaft die unterschiedlichen Systeme, deren Schnittstellen und Datenflüsse. Aus Sicht der IT-Bebauung sind in einer solchen Lösung verschiedene Komponenten eingesetzt. Je nach Zielszenario sind sie von Beginn an oder später notwendig. Zentrales Element ist eine Datenbank mit Künstliche-Intelligenz(KI)-System, die die Reklamationen, Fehlerbilder und Materialstammdaten beinhaltet. Das KI-System wird trainiert Maßnahmen einzuleiten, wenn über die verschiedenen Schnittstellen zu

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Abb. 20   Typische Architektur einer Smart-Parts-Management-Lösung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Nachbarsystemen entsprechende Ereignisse gemeldet werden. Dies können die oben beschriebene App beim Wareneingang oder Sensorinformationen aus der Produktionslinie sein. Des Weiteren gibt es Verbindungen zu den Bildern, die als Grundlage zur Bilderkennung genutzt werden. Diese Bildmerkmale sind z. B. in der Cloud abgelegt und mit den Materialinformationen verknüpft. So kann sich schrittweise eine Systemlandschaft ergeben, die auf Basis trainierter Maßnahmen Qualitätsmanagementprobleme umfassend optimieren kann (Abb. 20).

2.2 Stufe 2: Verbesserung der Transparenz 2.2.1 Transparenz setzt auf Prozessverbesserungsmaßnahmen auf Nachdem im ersten Schritt über neue Organisation, Technologien und Verfahren Produktionsprozesse schneller und effizienter gestaltet worden sind, können in einem nächsten Schritt die hierbei gewonnenen Daten genutzt werden, um Transparenz hinsichtlich Störungen, Engpässen oder Umweltbedingungen zu gewinnen. Dies ermöglicht insbesondere: • Eine noch präzisere Produktionsplanung abhängig von den Erfahrungen hinsichtlich Materialqualität, Mitarbeiter oder Prozessqualität • Eine Vorhersage hinsichtlich potenzieller Anlagenausfälle durch eine zustandsabhängige Instandhaltung mit Frühwarnsystem • Identifikation von Potenzialen zur Kostenoptimierung beispielsweise durch entsprechende Heatmaps, wo besondere Prozessstörungen aufgetreten sind (Abb. 21)

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Abb. 21   Beispielhafte Darstellung einer Heatmap mit Drill-down-Funktion. Diese Anwendung ermöglicht das flüssige Scrollen von einer globalen Weltkarte auf einzelne Länder und Werke. Die Anzahl der Fehler bzw. Störungen wird nach oben hin aggregiert. Sie basieren auf den Daten aus der Prozesseffizienz. (Quelle: Eigene Darstellung)

• Optimierung in der Teilelogistik durch aktuelle Übersicht über Verkehrsflüsse und Umweltbedingungen • Erhöhung der Anlageneffektivität Folgende Beispiele erläutern den Nutzen der Transparenzsteigerung.

2.2.2 Condition Monitoring und Blockchain – Überwachung der Traceability in der Lebensmittelbranche Insbesondere in der Lebensmittelbranche ist die lückenlose Dokumentation von Umgebungsinformationen und der Produktqualität eine zentrale Aufgabe der Hersteller wie des Handels. In der Praxis allerdings ist die Erhebung dieser sehr wohl berechtigten Daten mit hohem manuellem Aufwand verbunden. So muss z. B. beim Transport geprüft werden, ob für die einzelnen Nahrungsmittel die Kühlkette oder auch Transportzeiten eingehalten wurden. Des Weiteren müssen über eine entsprechende Dokumentation die Chargen- und Produktinformationen fälschungssicher abgelegt werden. Beides sind Themen, die sich über eine entsprechende digitalisierte Wertschöpfungskette optimieren lassen. Im ersten Fall bietet sich eine Cloud-Lösung an, die verschiedene Sensorinformationen wie z. B. Temperatur, Feuchte und Bewegungen registriert und im Rahmen eines Frühwarnsystems bereits den Handel wie die Hersteller über entsprechende Ausnahmen informiert. So kann z. B. beim Wareneingang eine entsprechende Lieferungscharge aussortiert werden, falls es zu den beschriebenen Situationen kommt. Im Folgenden wird eine Lösung dargestellt, die Sensoren in Kombination mit Produktcontainern nutzt, um die Nachvollziehbarkeit sicherzustellen (Abb. 22). Die Lösung läuft in der Cloud, die im Fall von Veränderungen der Umgebungswerte automatisch eine Nachricht von den Sensoren erhält. Die Sensoren werden für den Transport mit den Verpackungsmaterialien „verheiratet“ und, nachdem sie beim Kunden bzw. Handel angekommen sind, wieder entkoppelt. Danach werden die Sensoren im Rahmen eines Kreislaufsystems an den Lieferanten zurückgeschickt.

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Abb. 22   Condition Monitoring zur Überwachung von Umgebungsinformationen beim Transport in der Lebensmittelbranche. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 23   Übersicht buySecure. (Quelle: 3CS System 2019)

Ein weiteres Thema ist die Nutzung der Blockchain-Technologie, um die Produktoriginalität zu verifizieren. Ein zentraler Bestandteil ist hierbei eine direkte virtuelle Verbindung vom Produzenten zum Verbraucher über jedes einzelne vertriebene Produkt. Hierbei werden in einer zentralen Datenbank nicht änderbare Produktcodes abgelegt (Abb. 23), die vorab zwischen dem Produzenten und dem Verbraucher vereinbart werden. Damit wird sichergestellt, dass das Produkt, das er gekauft hat, genau die Eigenschaften besitzt, die ihm zugesichert wurden. Im Fall einer Reklamation kann er sich dann direkt an den Hersteller wenden.

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Auf diese Weise wird der Verbraucherschutz verbessert und eine direkte Kommunikation zwischen Hersteller und Verbraucher sichergestellt. Des Weiteren erhält der Hersteller detaillierte Informationen über das Kundenverhalten und kann sein Produkt marktgerecht optimieren. buySecure des italienischen Softwareanbieters 3csystem ist eine Software, die die Blockchain-Technologie unterstützt.

2.3 Stufe 3: Bereitstellung digitaler Produkte Frühwarnsystem in der Fertigung-as-a-Service Schritt drei bei der Entwicklung zu einem digitalen Unternehmen nutzt die gewonnen Transparenzinformationen, um ein Frühwarnsystem zu realisieren. Der entscheidende Aspekt hierbei ist die Nutzung dieser Informationen in Kombination mit dem Wissen des Unternehmens. Viele Unternehmen nutzen Data-Analysis-Technologien, um Korrelationen zwischen den verschiedensten Massendaten aus den Sensoren zu erkennen – ein berechtigter und auch valider Weg, allerdings sehr mühsam und mit hohem Aufwand verbunden. Man sucht die berühmte Nadel im Heuhaufen, ohne die Nadel im Detail zu kennen. Schneller kommt man zum Ziel, wenn schrittweise bereits bekannte Korrelationen genutzt werden, um daraus entsprechende Aktionen abzuleiten. Dieses Wissen allerdings sollte von Anfang an in einer strukturierten Weise abgelegt werden. Sehr oft werden hierfür beispielsweise Knowledge Graphen genutzt (Wikipedia 2019b). Ursprünglich von Google entwickelt, stellen sie eine einfache Art und Weise dar, Zusammenhänge in Datenstrukturen zu repräsentieren. Dies wird auch durch entsprechende Open Source Frameworks unterstützt. Die Korrelationen zwischen den einzelnen Wissensobjekten sind gewichtet. Diese Gewichtung wird durch regelmäßiges Erfassen neuer Zusammenhänge – eine Art ­Training – angepasst. Auch neue Wissensmerkmale können erfasst werden. Auf diese Weise entsteht schrittweise eine Art Expertensystem. Die Abb. 24 zeigt eine schematische Darstellung des Knowledge Graphen anhand folgender konkreter Merkmale: 1. Fehlerbilder, die im Rahmen des Fertigungsprozesses erfasst und dokumentiert wurden 2. Erfahrungen zu diesen Fehlerbildern aus anderen Werken 3. Ausbildungsstand der Mitarbeiter 4. Information, ob das Produkt eine Sonderanfertigung ist 5. Typische Komplexität des Fertigungsprozesses für das Produkt Jeder Fertigungsschritt durchläuft eine Überprüfung durch das Expertensystem. Wenn die Parameter innerhalb der gezeigten Fläche liegen, findet eine festgelegte Reaktion des Systems statt. Dies kann beispielsweise eine Information an die Vorarbeiter aber auch an Lieferanten, Kunden oder Maschinen sein. Daraus gewonnenes Wissen könnte man zudem extern weiteren Marktteilnehmern anbieten und darüber monetisieren.

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Abb. 24   Abstrakte Darstellung des Knowledge Graphen für eine konkrete Prozesssituation. (Quelle: Eigene Darstellung)

Wie beschrieben, sind entsprechende IT-Technologien bereits vorhanden und lassen sich mit geringem Aufwand geschützt in der Cloud bereitstellen. Dies könnte man als Software-as-a-Service-Lösung auch weiteren Marktteilnehmern zur Verfügung stellen. Kunden würden von dem Wissen profitieren und ihre Fertigungsprozesse effizienter gestalten. Das Unternehmen selbst wiederum erhält zusätzliche Wissensausprägungen, um das Expertensystem immer breiter aufzustellen. Über entsprechende Mieteinnahmen würde sich das Implementierungsprojekt selbstständig finanzieren.

2.4 Stufe 4: Digitale Geschäftsmodelle Als eine Weiterentwicklung der digitalen Produkte können digitale Geschäftsmodelle entstehen. Wesentlicher Erfolgsfaktor ist die ökonomische Skalierbarkeit des digitalen Produkts in eine Datenplattform. Im obigen Beispiel profitieren wie beschrieben die Kunden im Rahmen von Prozessverbesserungen. Bei jedem Fertigungsprozess eines Kunden wird eine Abfrage an die Plattform gestellt. Es bestehen somit einzelne Geschäftsbeziehungen zwischen den Kunden und dem Anbieter – eine Eins-zu-n-Beziehung. Eine direkte Beziehung zwischen den Kunden – natürlich über den Umweg der Plattform – besteht allerdings nicht. Diese Skalierung des Modells hängt somit von der Neugewinnung von Kunden ab, um sie an die Plattform zu binden. Spannender wäre es, wenn die Plattform sich zu einem Marktplatz zwischen den Fertigungsunternehmen und gegebenenfalls auch den Lieferanten weiterentwickeln

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könnte – ein Makler, der sein Wissen über Prozessoptimierungen nutzt, um den Materialfluss zwischen Lieferanten und Kunden zu optimieren. Eine Datenplattform mit m-zu-nBeziehungen ermöglicht hohe ökonomische Skalierbarkeit. Dies lässt sich gut an einem Beispiel aus der Milchwirtschaft erläutern (Abb. 25 und 26). In Zusammenarbeit mit Herstellern von intelligenten Melkständen kann ein digitaler Marktplatz für Rohmilchmengen (Landwirt) und Produktionskapazitäten (Molkerei) erstellt werden. Im Rahmen des Melkvorgangs wird die Milchqualität geprüft und u. a. auch der Milchfettanteil pro Melkvorgang und Kuh ermittelt. Diese Informationen werden in eine Datenplattform geladen, sodass die Tourenplanung der Molkerei entsprechend daran ausgerichtet werden kann. Somit ergibt sich die Möglichkeit einer sortenreinen Lieferung. Aufgrund von Rüstzeiten kann eine Molkerei nicht in beliebigem Maß unterschiedliche Milchprodukte fertigen. Wie in der Prozessindustrie üblich, müssen die Anlagen

Abb. 25   Neues Geschäftsmodell „Digitales Produktionsnetzwerk in der Milchwirtschaft“ – ­Schematische Darstellung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 26   Kleinchargen verursachen höheren Materialeinsatz und Kosten. (Quelle: Öttl 2017)

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z. B. regelmäßig gereinigt werden. Aus diesem Grund besitzen Molkereien gewisse volatile Produktionskapazitäten, die sehr stark vom Milchfettgehalt der Rohmilch abhängig sind. Im Gegensatz zum oben beschriebenen Szenario wird aktuell der Milchfettgehalt bei der Anlieferung der Rohmilch gemessen. Die Feinplanung erfolgt damit sehr spät, sodass zu große Mengen an Rohmilch mit dem „falschen“ Milchfettgehalt anderweitig verwertet werden, z. B. durch Verarbeitung zu Milchpulver oder in Partnermolkereien. Der Nachteil: Je kurzfristiger die Planung erfolgt, desto niedriger der zu erzielende Preis – die Milch hat nur eine begrenzte Lebensdauer. An dieser Stelle setzt der Marktplatz an. Der Marktplatzbetreiber, z. B. ein Molkereiverbund, könnte in Kooperation mit einem Melkstandhersteller auf der einen Seite die Rohmilchdaten von den Landwirten sammeln und auf der anderen Seite diese mit Produktionsplanungskapazitäten für die jeweiligen Produkte der Molkereien abgleichen. Der Verkaufspreis orientiert sich dann an den freien Kapazitäten der Molkereien, die wiederum eine perfekte Auslastung ihrer Produktionslinien haben. Der Marktplatz erhält entsprechende Margen, wodurch dieses Modell nicht über die Zahl der Kunden, sondern das gehandelte Milchvolumen skaliert. Ein neues Geschäftsmodell entsteht. Die Abb. 26 zeigt dies schematisch.

3 Design Thinking – Neue organisatorische Rahmenbedingungen sind notwendig 3.1 Neue Organisationsmodelle sind notwendig Geringe Innovationskraft und langsame Geschwindigkeiten des in Abschn. 4 aufgezeigten Top-down-Ansatzes leiten Unternehmen dazu, neue Organisationsformen zu suchen. Innovationslabore oder vergleichbare Konzepte sind deshalb groß in Mode. Das Ziel dieser Ausgründungen liegt sehr oft darin, neue Technologien zu evaluieren und anhand konkreter fachlicher Anforderungen erste Piloten, sog. Minimum Viable Products (MVP), umzusetzen. Eine reine Ausgründung in eine separate Gesellschaft oder auch eine andere Lokation wird allerdings nicht reichen. Denn die Erkenntnis, dass man einen bestimmten Use Case mit einer bestimmten Technologie sehr gut umsetzen kann, nützt wenig, wenn die Organisation nicht geeignet ist, die Lösung flächendeckend zu betreiben. Um dies zu verhindern, gibt es zwei wesentliche Rahmenbedingungen: 1. Die Organisationsformen müssen hinsichtlich einer engeren Kooperation zwischen Fachbereich und IT angepasst werden. Das Design-Thinking-Konzept bietet sich hierzu an, insbesondere in Kombination mit einer agilen Vorgehensweise. 2. Die IT-Abteilung muss sich weiterentwickeln von einer starren Linienorganisation in Richtung Dienstleister von Managed Services. Auf diese Weise können Lösungen, die durch die neuen Fach- bzw. IT-Spezialisten entwickelt werden, auch in eine IT-­ Landschaft integriert und betrieben werden.

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3.2 Design Thinking Design Thinking basiert auf der Annahme, dass Probleme besser gelöst werden können, wenn Menschen unterschiedlicher Disziplinen in einem die Kreativität fördernden Umfeld zusammenarbeiten, gemeinsam eine Fragestellung entwickeln, die Bedürfnisse und Motivationen von Menschen berücksichtigen und dann Konzepte entwickeln, die mehrfach geprüft werden. Das Verfahren orientiert sich an der Arbeit von Designern, die als eine Kombination aus Verstehen, Beobachtung, Ideenfindung, Verfeinerung, Ausführung und Lernen verstanden wird. Nach einem anderen Verständnis meint Design Thinking „any process that applies the methods of industrial designers to problems beyond how a product should look“ (Wikipedia 2019c). In Bezug auf Organisationsformen von Unternehmen bedeutet dies im Wesentlichen das Aufbrechen von Unternehmenslinien in einzelne, bereichsübergreifende funktionale Teams. Wie in Abb. 27 ersichtlich, werden einzelne Personen aus den jeweiligen Bereichen der Linienorganisation in einzelne Teams organisiert. In diesen Teams – in der Abb. 27 als Excellence Cluster bezeichnet – werden die Verantwortlichkeiten für digitale Produkte entlang den jeweiligen Domänen gebündelt. Gemeinsam berichten sie an ein Management Board. Personell bedienen sie sich einem gewissen Ressourcenpool aus den Linien. Dies bedeutet, dass die eigentliche Aufbauorganisation durchaus in ihrer aktuellen Form bestehen kann. Allerdings muss ein fließender Übergang zu den Teams möglich sein. Auf diese Weise entstehen schlagkräftige Teams, die in der bestehenden Organisation aufgesetzt werden können, eine hohe Flexibilität in Bezug auf Projekt- und Teamzugehörigkeit vorausgesetzt. In der Regel geht dies mit einer Trennung der fachlichen und disziplinarischen Verantwortung der Teamleiter einher.

Abb. 27   Aufteilung der einzelnen Linien in unterschiedliche Funktionsteams. (Quelle: Eigene Darstellung)

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3.2.1 Neue Vorgehensweisen sind notwendig Neben der organisatorischen Thematik ist es notwendig, mit der klassischen sequenziellen Projektvorgehensweise zu brechen. Die Zeiten sind vorbei, in denen es ein Jahr lang dauerte, ein Konzept zu schreiben. Die Anwender von heute wollen Ideen schnell und erlebbar haben. In der Praxis haben sich somit Vorgehensweisen bewährt, die auf der einen Seite schnelle Ergebnisse ermöglichen, aber auf der anderen Seite das Ziel haben, diese Lösungen auch in die Konzernorganisation fachlich und technologisch zu integrieren. Die msg nutzt an dieser Stelle ein mehrstufiges Vorgehen. Es beginnt mit einem Crowdsourcing zur Generierung von Ideen. Sehr oft erfolgt dies über entsprechende Open-Innovation-Plattformen. In einem nächsten Schritt werden diese Ideen strukturiert und das funktionale Team gebildet. In einem Innovation Lab entwickelt das Team das MVP. Nach der Entscheidung der Überführung des MVP in den Echtbetrieb wird das Produkt gemäß entsprechender Architekturrichtlinien entwickelt und am Ende für die Übergabe in die IT-Services-Organisation vorbereitet. Die Abb. 28 stellt die einzelnen Schritte nochmals in einer Übersicht dar. Die Ideenfindung in der Crowdsourcing-Phase orientiert sich hierbei an der Auswertung von Ideen und Konzepten für folgende Themen: 1. Trends und Insights für die Benutzer 2. IT-Technologietrends 3. Chancen für Wachstum Die Entwicklung des MVP erfolgt i. d. R. in einem agilen iterativen Prozess durch das Funktionsteam. Hier kommt insbesondere der Design-Thinking-Ansatz zum Tragen, in dem sehr viel Wert auf das Verstehen des Tagesgeschäfts des Anwenders Wert gelegt wird. Dies wird im Vorgehen in Abb. 29 veranschaulicht.

Abb. 28   Die Entwicklung eines digitalen Produkts mit Design Thinking erfolgt i. d. R. in drei Schritten. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Abb. 29   Design-Thinking-Ansatz bei der Entwicklung eines Minimum Viable Product bis zur Pilotierung. (Quelle: Eigene Darstellung)

Nach der Freigabe des MVP und der Finalisierung der Produktentwicklung erfolgt wiederum die Entscheidung über die entsprechende Produktreife der Lösung. In der Praxis bedeutet dies, dass die Funktionsteams, nachdem sie den Beweis erbracht haben, dass ihre Lösung in die Breite ausgerollt werden kann, einen Teil ihrer Verantwortung an die IT-Organisation abtreten (Abb. 30). Gemäß dem in Abschn. 2.1.1 beschriebenen DevOps-Ansatz ergeben sich gemischte Projekt- und Betriebsteams. Die Betriebsaufgaben werden durch den Übergang organisatorisch in der IT-Organisation als Managed Service eingebunden. Sie unterliegen damit einem globalen Service Management. Dieses Service Management ist verantwortlich für die Einhaltung aller Richtlinien der erbrachten IT-Applikationen und -Services. Hier kommt Punkt 2 von oben zum Tragen. Der Übergang kann deshalb nur erfolgen, wenn die IT-Organisation tatsächlich als Managed-Service-Organisation aufgestellt ist. Dies ist die zweite Grundvoraussetzung. In Bezug auf die Funktionsteams bedeutet dies, dass neben Softwareentwicklern und -beratern auch IT-Betriebsexperten in die Teams geholt werden. Diese sind für den Übergang in den Echtbetrieb und der „single point of contact“ ist für das IT-Service-­ Management verantwortlich.

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Abb. 30   Übergang vom Projekt in den Echtbetrieb. (Quelle: Eigene Darstellung)

3.2.2 Der Korridor der Architekturevolution Der prozessuale Übergang in den Echtbetrieb ist das eine. Die Digitalisierung kommt einher mit neuen Technologien und Know-how-Aufbau. Bestehende Systeme sind betroffen. Eine saubere Architektur der Systemlandschaft ist deshalb etwas anderes. Es stellt sich nun die Frage, wie man Agilität im Rahmen von neuen Applikationen mit einer durchaus starren, weil auf stabilen Betrieb optimierten Systemlandschaft zusammenbringt. Der Weg dorthin führt u. a. über die Einführung einer bimodalen IT. Hierunter versteht man die Trennung der IT-Systeme in Systeme der zwei Geschwindigkeiten: auf der einen Seite die Systeme für die hochoptimierten bestehenden Kernprozesse, auf der anderen Seite in Systeme für neue digitale Produkte. Beide Welten nutzen unterschiedliche Plattformen als Grundlage. Sehr oft wird SAP als Kernsystem für die Backend-Systeme, für neue Anwendungen werden dagegen moderne Cloud-Lösungen als Platform-as-a-Service genutzt. Diese bieten den Vorteil einer schnellen Entwicklung mit stabilen Schnittstellen zum Back-end. Ein zweiter Schritt liegt im Aufbau eines Korridors für die Architekturevolution. Das Unternehmen erstellt auf Basis seiner Geschäfts- und IT-Strategie in seiner IT-­ Landschaft eine entsprechende Geschäftsarchitektur mit entsprechenden Anwendungsservices und -komponenten. Diese sind erstmals losgelöst von technischen Plattformen und Entwicklungsumgebungen.

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Durch die Technologieunabhängigkeit kann diese Geschäftsarchitektur sehr gut auch auf Managementebene abgestimmt werden. Sie ist die Blaupause für die digitalen Systeme und Produkte in einer Ziellandschaft (Abb. 31), an der sich alle Projekte orientieren können. Sie ist der Ordnungsrahmen für die verschiedenen Systeme, an denen sich die funktionalen Teams orientieren sollten. Nachdem nun ein MVP von den Funktionsteams entwickelt wurde, ist es zwingend notwendig, zu prüfen, ob die Anwendung innerhalb des Korridors der Architekturevolution liegt – dies bedeutet, inwieweit die Lösung in die bestehende Landschaft passt und wie viel Aufwand in deren Sicherstellung gegenüber dem betriebswirtschaftlichen Nutzen investiert wird. Denn eine verbesserte Architekturqualität ist für den Anwender nicht sichtbar, für einen späteren Betrieb über die Serviceorganisation aber unerlässlich. Die Abb. 32 zeigt den Zusammenhang zwischen Architekturqualität und betriebswirtschaftlichem Nutzen.

Abb. 31   Vorgehensweise für die Erstellung einer Sollarchitektur. (Quelle: Engels et al. 2008)

Abb. 32   Der Zusammenhang zwischen Architekturqualität und betriebswirtschaftlichem Nutzen ergibt den Korridor der Architekturevolution. (Quelle: Eigene Darstellung)

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4 Fazit Dieser Beitrag eröffnete den Blick auf die neue digitale Welt der Fertigungsindustrie. Diese Welt ist gekennzeichnet von neuen Technologien und Anforderungen an die Organisation und Prozesse. Damit steigt für die Unternehmen die zu beherrschende Komplexität. Es ist nicht damit Genüge getan, neue Technologien auszuprobieren. Vielmehr sind eine unternehmerische Vision und ein Rahmen für eine IT-Bebauung notwendig, in dem die neuen Technologien ihren Wert für die Business Cases ausüben können. Der Business Case für die digitalen Prozesse rechnet sich nicht automatisch. Jedes Unternehmen muss diesen für sich ermitteln. Dies wird im ersten Schritt nicht ein komplett neues Geschäftsmodell sein. Vielmehr sollten Erfahrungen von der Steigerung der Prozesseffizienz über Transparenzverbesserung bis hin zu digitalen Datenmodellen gesammelt werden. Entlang dieser Evolutionskette können schnell die jeweiligen Business Cases positiv gerechnet werden, sei es durch längere Wartungszyklen, geringere Fehlerquoten, optimierten Materialfluss oder auch durch eine Monetisierung der gewonnenen Daten im Rahmen von Datenplattformen. Der Beitrag hat entsprechende Hinweise gegeben. Flankierend zu den notwendigen Erfahrungen über den Umgang mit den neuen Technologien sind organisatorische Anpassungen notwendig. So muss es gelingen, die Experten der verschiedenen Fachbereiche mit den Experten der IT-Organisation oder auch Start-ups in interdisziplinären Teams weiterzuentwickeln. Diese funktionalen Teams konsolidieren das Wissen und auch das unternehmerische Denken, einzelne Lösungen vom MVP bis zum produktiven Einsatz zu konzipieren und zu begleiten. Das Management muss entsprechende organisatorische und disziplinarische Freiheiten bereitstellen. Dies geht nicht von heute auf morgen. Es ist eine durch neue Technologien getriebene Marktveränderung, die das ganze Unternehmen betrifft. Vom Management über die Fachbereiche bis zur IT. Schrittweise kommen die Unternehmen zum Ziel. Der Wille des Top-Managements ist allerdings notwendig, um diesen Wechsel zu gestalten. Ansonsten werden die Unternehmen vom Markt gestaltet.

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Stefan Walter  leitet in der msg-Gruppe den Bereich Digital Platforms. Er ist verantwortlich für die Erarbeitung neuer digitaler Geschäftsmodelle u. a. zur Anwendung in Produktion und Logistik. Hierbei beschäftigt er sich bereits seit mehreren Jahren mit den Themen Internet of Things und Lean Production wie auch mit deren Nutzung in einem digitalen Umfeld.

Vermarktung von Produkt-ServiceSystemen in der Industrie 4.0: Grundlagen und zentrale Herausforderungen für die Preisbestimmung Dirk Totzek, Gloria Kinateder und Eva Kropp

1 Einleitung Im Business-to-Business (B2B)-Kontext bieten viele produzierende Unternehmen pro­ duktbegleitende Dienstleistungen an. Mit diesen Angeboten, die häufig als ProduktService-Systeme (PSS) bezeichnet werden (Baines et al. 2007; Goedkoop et al. 1999), versuchen Anbieter zusätzlichen Kundennutzen zu schaffen, sich vom Wettbewerb zu differenzieren und so den Unternehmenserfolg zu steigern (Antioco et al. 2008; Oliva und Kallenberg 2003; Vargo und Lusch 2004). Jedoch sind die grundsätzlichen Erfolgsauswirkungen dieser Strategie unklar, kontextabhängig und nicht immer positiv (z. B. Fang, Palmatier und Steenkamp 2008; Worm et al. 2017). Die erfolgreiche Vermarktung von PSS ist mit zahlreichen unternehmensinternen und -externen Herausforderungen verbunden (Zhang und Banerji 2017). Insbesondere stellt sich die Frage, ob Kunden den intendierten Mehrwert als solchen wahrnehmen und bereit sind, für produktbegleitende Dienstleistungen (mehr) zu bezahlen. Zudem ist unklar, wie Anbieter Preismodelle für PSS entwickeln und langfristig erfolgreich am Markt etablieren können (Feldmann et al. 2017; Hünerberg und Hüttmann 2003). Gemeinhin wird angenommen, dass durch die zunehmende Digitalisierung und das Internet der Dinge bzw. Internet of Things (IoT) gerade Unternehmen im Kontext der Industrie 4.0 neue Möglichkeiten entstehen, Produkte mit Dienstleistungen zu ­kombinieren D. Totzek () · G. Kinateder · E. Kropp  Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Kinateder E-Mail: [email protected] E. Kropp E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_19

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und produktbegleitend neue datenbasierte Dienstleistungen anzubieten (Fleisch et al. 2015). Diese Systeme bezeichnen wir im Folgenden als IoT-induzierte PSS. Sie gehören damit zu den cyber-physischen Systemen und kombinieren physische mit digitalen Komponenten. Ein zentraler Unterschied von IoT-induzierten zu klassischen PSS (z. B. eine Maschine und Wartungsdienstleistungen) besteht darin, dass die Erhebung und Nutzung von Daten sowie ein permanenter Datenaustausch zwischen Anbietern und Kunden Grundlage der produktbegleitenden Dienstleistung sind (Fleisch et al. 2015; Obermaier 2017). Die Entwicklung IoT-induzierter PSS ist im B2B-Kontext für Anbieter auch mit der Hoffnung verbunden, neue Erlösquellen zu erschließen und völlig neue Geschäftsmodelle am Markt zu etablieren, die langfristig Wettbewerbsfähigkeit und Unternehmenserfolg sichern (Obermaier 2017; Porter und Heppelmann 2014). Dies ist umso bedeutender, da es zunehmend schwieriger wird, Wettbewerbsvorteile mit dem reinen Produkt aufrechterhalten zu können. Zudem verändert die Digitalisierung viele industriell geprägte B2B-Branchen und bedroht in Teilen deren Fortbestehen (Kagermann 2015). Neben den technischen und rechtlichen Herausforderungen IoT-induzierter PSS ist daher die betriebswirtschaftliche Frage zentral, wie bislang industriell geprägte Anbieter diese erfolgreich vermarkten und ein langfristig erfolgreiches neues Geschäftsmodell etablieren können (Feldmann et al. 2017; Hünerberg und Hüttmann 2003). Aus Sicht der Unternehmenspraxis geht es um die konkreten Fragen, ob sich die positiven Erwartungen an die Industrie 4.0 im Hinblick auf Wachstum und Produktivitätszuwächse tatsächlich einstellen und welche Voraussetzungen hierfür in Marketing und Vertrieb geschaffen werden müssen. Dieser Beitrag hat zum Ziel, zentrale Herausforderungen der Vermarktung klassischer und IoT-induzierter PSS im Kontext der Industrie 4.0 zu beleuchten. Hierbei liegt der Schwerpunkt des Beitrags auf dem Preis als zentrale Entscheidungsvariable aus Anbieter- und Kundensicht. Das Preismanagement stellt Anbieter auf B2B-Märkten vor besondere Herausforderungen, insbesondere, wenn der Wert der Leistung für den Kunden, d. h. der Kundennutzen, die zentrale Bezugsgröße der Preisbestimmung ist (Homburg und Totzek 2011). Im Einzelnen behandeln wir in diesem Beitrag zwei Fragen: 1. Wie unterscheiden sich IoT-induzierte PSS von klassischen PSS? 2. Welche zentralen Herausforderungen bestehen bei der Preisbestimmung für PSS und IoT-induzierte PSS? Zunächst diskutieren wir diese Herausforderungen in Bezug auf PSS allgemein, um darauf aufbauend die Besonderheiten IoT-induzierter PSS im Kontext der Industrie 4.0 zu identifizieren. Hierbei betrachten wir insbesondere die Herausforderungen einer wertbasierten Preisbestimmung und der konkreten Preisfindung. Zunächst diskutieren wir in Kap. 2 die grundlegenden Charakteristika von PSS und IoT-induzierter PSS. In Kap. 3 diskutieren wir die Besonderheiten der Preisbestimmung im B2B-Kontext. In Kap. 4 erfolgt die Beschreibung zentraler Herausforderungen der Preisbestimmung für PSS und IoT-induzierte PSS. Im fünften und letzten Abschnitt fassen wir die zentralen Erkenntnisse zusammen und geben einen Ausblick.

Vermarktung von Produkt-Service-Systemen …

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2 Produkt-Service-Systeme 2.1 Grundlagen und begriffliche Abgrenzung Die Bündelung von Produkten und Dienstleistungen ist kein neues Thema. Insbesondere im industriellen Kontext wird diese spätestens seit den 1990er-Jahren diskutiert (z. B. Homburg und Garbe 1996; Vandermerwe und Rada 1988). Mit der Zeit entstanden in Forschung und Praxis zahlreiche verwandte Begrifflichkeiten und Konzepte, beispielsweise Bündel, hybride Bündel, industrielle Dienstleistungen, PSS und Solutions. Ein Produkt kann sehr allgemein als Bündel von Eigenschaften definiert werden, das Kundennutzen jedweder Art schafft. Dieser generische Produktbegriff schließt somit physische Produkte bzw. Sachgüter und Dienstleistungen ein (Homburg 2017, S. 557 f.). Ein Bündel bzw. Bundling beschreibt spezifischer den gemeinsamen Verkauf einzelner Produkte zu einem Preis (Stremersch und Tellis 2002, S. 55). Bei der Preisbündelung steht die Idee im Vordergrund, mehrere Produkte zu einem Bündel zusammenzufassen und das Bündel günstiger anzubieten als die einzelnen Produkte. Bei der Produktbündelung steht die Idee im Vordergrund, Produkte zu integrieren und dadurch einen Mehrwert für Kunden zu schaffen (Stremersch und Tellis 2002, S. 57). Ist mindestens eine der gebündelten Komponenten eine Dienstleistung, spricht man von PSS oder hybriden Angeboten (Meyer und Shankar 2016, S. 133; Mahut et al. 2017, S. 2102). Dieser Beitrag befasst sich im Folgenden mit PSS, die Dienstleistungen und physische Produkte zum Zweck der Mehrwertgenerierung für Kunden integrieren. Eine spezielle Form von PSS sind Solutions. Diese unterscheiden sich von PSS hinsichtlich des Grads der Kundenindividualisierung. Solutions sind zudem durch relationale Prozesse und Langfristigkeit gekennzeichnet (Tuli et al. 2007, S. 1 f.; Stremersch et al. 2001, S. 1). In diesem Beitrag behandeln wir, falls Solutions nicht explizit erwähnt werden, Solutions unter dem Begriff PSS. Zudem können PSS hinsichtlich der Art der produktbegleitenden Dienstleistung ausdifferenziert werden (Kowalkowski und Ulaga 2017; Ulaga und Reinartz 2011). Dabei können über zwei Dimensionen (Art des Nutzenversprechens und Dienstleistungsempfänger) vier Ausprägungen produktbegleitender Dienstleistungen unterschieden werden (Abb. 1). Ist das Wertversprechen der Dienstleistung auf den Output von Kunden (z. B. dessen eigene Leistung) ausgerichtet, spricht man von effizienzsteigernden Dienstleistungen. Eine andere Form ist die Übernahme von Kundenprozessen. Dabei übernehmen Anbieter nicht nur die Verantwortung für das PSS, sondern beispielsweise auch einen Teil der Produktions- oder Logistikprozesse. Soll durch die Dienstleistung sichergestellt werden, dass die Systeme funktionstüchtig bleiben, spricht man von Dienstleistungen, die auf den Produktlebenszyklus gerichtet sind. Zielen die Dienstleistungen darauf ab, die Prozesse beim Kunden zu optimieren, handelt es sich um prozessunterstützende Dienstleistungen (Kowalkowski und Ulaga 2017, S. 134).

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Abb. 1   Klassifizierung produktbegleitender Dienstleistungskomponenten. (Quelle: Kowalkowski und Ulaga 2017, S. 134)

2.2 Grundlegende Herausforderungen für die Vermarktung Unternehmen bieten PSS an, um sich in wettbewerbsintensiven Märkten von der Konkurrenz zu differenzieren (Antioco et al. 2008; Vargo und Lusch 2004). In der Unternehmenspraxis werden zahlreiche Positivbeispiele angeführt, wie IBM und General Electric (Obermaier 2017). Jedoch sind in der Vergangenheit auch große Unternehmen gescheitert, beispielsweise Initiativen von Boeing und Intel (Sawhney et al. 2004). Die grundlegenden Herausforderungen der Einführung und Vermarktung von PSS werden unter dem Schlagwort der „Servitization“ diskutiert. Hierbei bezeichnet Servitization den Transformationsprozess von einem produktzentrierten hin zu einem dienstleistungszentrierten Unternehmen (Baines et al. 2009; Vandermerwe und Rada 1988). Forschung und Praxis haben sich verstärkt mit den unternehmensinternen und -externen Herausforderungen der Servitization befasst. Zhang und Banerji (2017, S. 220 ff.) führen fünf zentrale Kategorien an, die auch im Kontext der Industrie 4.0 von zentraler Bedeutung sind: • Organisationsstruktur: Für eine erfolgreiche Transformation in ein dienstleistungszentriertes Unternehmen ist eine Veränderung der internen Strukturen notwendig. Neben dem Know-how in der Produktentwicklung sind für Anbieter nun die ­Service-

Vermarktung von Produkt-Service-Systemen …









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und Kundenorientierung der Mitarbeiter von zentraler Bedeutung (Oliva und Kallenberg 2003). Geschäftsmodell: Die Anpassung des Geschäftsmodells (Wertversprechen, Preissetzung, Kostenkalkulation, Ressourcen und Zusammenarbeit mit Kunden) ist eine Voraussetzung, um die Umstellung auf eine dienstleistungsorientierte Strategie erfolgreich zu vollziehen (Kindström und Kowalkowski 2014). Entwicklungsprozess: Der Produktentwicklungsprozess besteht in den meisten Fällen aus Ideenentwicklung, Ideenselektion, Erstellung eines Prototyps, Testen, Produktion und Kommerzialisierung (Cooper und Edgett 2003). Dieser Prozess ist für die Entwicklung von Dienstleistungen aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften (insbesondere Immaterialität, Integrativität und Verderblichkeit) nicht 1:1 umsetzbar (Parida et al. 2014). Kundenmanagement: Bei PSS und insbesondere bei Solutions ist die Einbindung der Kunden in den Entwicklungsprozess und die Dienstleistungserbringung zentral, d. h. eine Co-Creation der Leistung (Ng und Nudurupati 2010). Für den Erfolg des PSS ist es wichtig, dass die Mitarbeiter des Anbieters bei der Gestaltung des PSS effizient mit den Kunden zusammenarbeiten und dass B2B-Unternehmen insbesondere im Vertrieb über das notwendige Wissen und die notwendigen Fähigkeiten verfügen (Tukker 2015; Worm et al. 2017). Risikomanagement: Die Transformation des Geschäftsmodells ist sowohl finanziell als auch operativ ein Risiko für produktzentrierte Unternehmen. Beispielsweise zeigen Fang et al. (2008, S. 11), dass eine Dienstleistungstransformation erst dann gewinnbringend für Unternehmen ist, wenn 20–30 % des Umsatzes mit Dienstleistungen erwirtschaftet werden. Bei der Einführung von PSS besteht somit ein finanzielles Risiko, das Unternehmen in Kauf nehmen oder überwinden müssen.

Generell ist davon auszugehen, dass diese Herausforderungen auch für IoT-induzierte PSS bestehen, wenn nicht sogar von größerer Tragweite sind und somit den Transformationsprozess erschweren. Im folgenden Abschnitt gehen wir daher auf die Besonderheiten IoT-induzierter PSS ein. Diese sollen auch die Notwendigkeit der Änderung von Geschäftsmodellen und die besonderen Herausforderungen bei der Preisbestimmung unterstreichen.

2.3 Besonderheiten IoT-induzierter Produkt-Service-Systeme Das IoT verbindet Produkte über das Internet und erlaubt so deren Kommunikation untereinander (Weber und Weber 2010, S. 1). Dies hat große Auswirkungen im B2B-Kontext, die zunächst in der Automatisierung, industriellen Fertigung und Logistik sowie im Prozessmanagement und beim intelligenten Transport von Personen und Produkten sichtbar werden (Atzori et al. 2010, S. 2787).

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Die Digitalisierung physischer Produkte mithilfe des IoT erfolgt, indem diese durch Sensorik erweitert und an das Internet angeschlossen werden. Entsprechend werden Anbieter und Kunden im Hinblick auf ihre Infrastruktur umfassend vernetzt (Obermaier 2017). Mithilfe der Sensoren werden Daten gesammelt und ausgetauscht. Deren Analyse ermöglicht die Erstellung digitaler Dienstleistungen (Fleisch et al. 2015, S. 446), worunter wir im Folgenden Dienstleistungen verstehen, die durch die Digitalisierung ermöglicht werden oder rein digital sind. Hierbei wird angenommen, dass digitale Dienstleistungen bestehende Dienstleistungen verändern, spürbar verbessern oder ersetzen können oder komplett neue Angebote darstellen. So kann durch das IoT ein intelligentes PSS entstehen (Lerch und Gotsch 2015; Porter und Heppelmann 2014; Zancul et al. 2016), das wir als IoT-induziertes PSS bezeichnen. IoT-induzierte PSS weisen zwei Besonderheiten auf: 1) die Rolle der Datengenerierung, -übertragung und -analyse und 2) darauf aufbauende digitale Dienstleistungen, die in der digitalen oder der physischen Welt angeboten werden können. In Abb. 2 sind die Komponenten eines IoT-induzierten PSS denen eines klassischen PSS gegenübergestellt. Die Einführung IoT-induzierter PSS ist anbieter- und kundenseitig mit großen Erwartungen und Chancen, aber auch mit Risiken verbunden. Letztere resultieren insbesondere aus der höheren Komplexität der Systeme (Abb. 2). In Tab. 1 sind zentrale Chancen und Risiken aus Anbieter- und Kundenperspektive überblicksartig dargestellt. Als Chance wird für Anbieter die Datengenerierung und -übertragung gesehen, da sie dadurch Informationen über die Produktnutzung und den Produktverschleiß bei einem bestimmten Kunden oder im Idealfall für die gesamte installierte Basis erhalten. Bietet der Anbieter als Zulieferer einzelne Komponenten für ein Produkt an, erhält er im Idealfall auch Informationen über die Nutzung des Produkts und damit über die Kunden des Kunden. Diese Daten können genutzt werden, um bestehende Produkte und Dienstleistungen weiterzuentwickeln (Lerch und Gotsch 2015, S. 50). Zudem können Anbieter ihr Angebot um neue Dienstleistungen erweitern (Fleisch et al. 2015). Des Weiteren kann die Erbringung digitaler Dienstleistungen besser gesteuert werden als bei klassischen industriellen Dienstleistungen. Es ist typischerweise notwendig, in regelmäßigen Abständen eine Wartung von Maschinen vor Ort durchzuführen. Dennoch lassen sich ungeplante Reparaturen nicht vermeiden. Klassische Dienstleistungen können digital angereichert werden, um sie besser steuerbar, effizienter und effektiver zu machen. Als Beispiel ist das Condition Monitoring zu nennen. Beim Condition Monitoring wird der Zustand einer Maschine oder Komponente mithilfe von Sensoren überwacht, um Störungen früher zu erkennen (Lerch und Gotsch 2015). Zusätzlich ermöglicht eine Fernwartung, dass Schäden diagnostiziert und im Idealfall aus der Ferne behoben werden können. Noch einen Schritt weiter geht beispielsweise die neue digitale Dienstleistung Predictive Maintenance. Diese ermöglicht eine vorausschauende Wartung, da auf Basis von Echtzeitdaten vorhergesagt werden kann, wann eine Wartung bzw. Reparatur notwendig sein wird. Zudem kann in die Steuerung eingegriffen werden,

Vermarktung von Produkt-Service-Systemen …

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Abb. 2   Unterschied zwischen klassischen Produkt-Service-Systemen (PSS) und Internet-of-Things (IoT)-induzierten PSS

Tab. 1  Chancen und Risiken IoT-induzierter Produkt-Service-Systeme Chancen

Risiken

Anbieterseitig

• Datengenerierung und -übertragung • Verbesserung der Produktentwicklung • Angebot zusätzlicher Dienstleistungen • Bessere Steuerung der Dienstleistungserbringung • Geringere Kosten

• Geringere Kundenbindung • Kannibalisierungseffekte • Geringere oder unklare Nutzenwahrnehmung und Zahlungsbereitschaft der Kunden

Kundenseitig

• Höherer Nutzen • Geringere Kosten • Höhere Effizienz

• Datenschutzbedenken • Sicherheitsrisiken • Neuartigkeit der Dienstleistung und der Technologie • Funktionsfähigkeit und Zuverlässigkeit der neuen Dienstleistung • Geringerer Kontakt mit Anbietern

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um ­Wartungsintervalle zu verlängern und die Lebensdauer des Produkts zu erhöhen. Im Ergebnis kann der Anbieter zum Betreiber der Anlagen und Prozesse beim Kunden werden und idealerweise diese aus Kundensicht theoretisch vorteilhafteste und risikolose Leistungserbringung monetarisieren (Obermaier 2017). So kann auch der Kunde von der Nutzung digitaler Dienstleistungen profitieren, da ihm diese einen höheren Nutzen bieten (Fleisch et al. 2015, S. 447; Lerch und Gotsch 2015, S. 50). Dieser kann in geringerem Personaleinsatz, geringeren Kosten und höherer Effizienz liegen. So entstehen im skizzierten Beispiel im Idealfall keine unvorhergesehenen Ausfallzeiten mehr. Dennoch sehen sich Anbieter mit kundenseitigen Bedenken konfrontiert. Gemeinhin wird der Datenschutz als größtes Problem und als häufigster Grund für eine Ablehnung neuer digitaler Dienstleistungen durch Kunden identifiziert (Weber 2010; Kowatsch und Maass 2012; Paluch und Wünderlich 2016). Auch die Vermarktung der digitalen Dienstleistung ist aufgrund ihrer Neuartigkeit und der Neuartigkeit der ihr zugrunde liegenden Technologie unsicherheits- und risikobehaftet (Paluch und Wünderlich 2016). So kann beim Kunden Unsicherheit im Hinblick auf die Funktionsfähigkeit der Dienstleistung und die Zuverlässigkeit der Innovation bestehen, die mit einer niedrigeren Zahlungsbereitschaft einhergehen kann. Weitere Risiken können sich durch eine Veränderung der Anbieter-Kunden-Beziehung ergeben, da sich ein IoT-induziertes PSS auf die Intensität dieser Beziehung auswirken kann. Auf der einen Seite bringen Kunden eigene Ressourcen ein (z. B. ihre Daten), was zu einer Erhöhung der Bindung an den Anbieter führt. Auf der anderen Seite werden Prozesse automatisiert und somit der persönliche Kontakt zwischen Anbieter und Kunde verringert, was zu einem Rückgang der Beziehungsqualität und der Kundenbindung führen kann. Zudem kann durch die Einführung IoT-induzierter PSS ein bestehendes Geschäft kannibalisiert werden. Beispielsweise impliziert Predictive Maintenance, dass Kunden weniger Reparaturen und Ersatzteile benötigen und somit die Erlöse im After-Sales-Bereich sinken. Dies ist dann problematisch, wenn im After-Sales-Bereich der Großteil des Ertrags realisiert wird (Schröder 2011, S. 285 f.). Diese Kannibalisierungseffekte sind bei der Preisbestimmung für IoT-induzierte PSS zu berücksichtigen. Jedoch ist unklar, ob Kunden für IoT-induzierte PSS überhaupt eine (höhere) Zahlungsbereitschaft aufweisen. Zum einen kann diese durch die bereits skizzierten Adoptionsbarrieren gemindert werden. Zum anderen sind digitalisierte Dienstleistungen häufig weniger greifbar, sodass Kunden einen geringeren Nutzen wahrnehmen und eine geringere Zahlungsbereitschaft haben. So müssen Anbieter im Fall von Predictive Maintenance ihre Kunden überzeugen, für ausgebliebene Wartung statt für Wartung zu bezahlen. Schließlich können IoT-induzierte PSS für Anbieter mit Kostensenkungen verbunden sein, von denen auch die Kunden profitieren möchten. Diese Beispiele verdeutlichen die Komplexität der Preisbestimmung für IoT-induzierte PSS.

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3 Grundlagen der Preisbestimmung im B2B-Kontext 3.1 Besonderheiten der Preisbestimmung Die Ausführungen in Abschn. 2.3 haben verdeutlicht, dass die Monetarisierung des Mehrwerts für die Kunden die zentrale Herausforderung der Einführung und erfolgreichen Vermarktung IoT-induzierter PSS ist. Die Entwicklung eines entsprechenden Preismodells und die Preisbestimmung sind die zentralen Voraussetzungen hierfür. Die Preisbestimmung weist jedoch im B2B-Kontext einige Besonderheiten im Vergleich zu klassischen Konsumgütermärkten auf, die diesen Schritt erschweren (im Überblick Homburg und Totzek 2011; Tab. 2). Zunächst sind Einkaufsentscheidungen der Kunden im B2B-Kontext deutlich formalisierter und komplexer. Beispielsweise sind im Rahmen eines Buying Center mehrere Personen aus unterschiedlichen Funktionsbereichen an der Kaufentscheidung beteiligt. Diese können unterschiedliche Präferenzen bezüglich der Produkt- und Dienstleistungseigenschaften und unterschiedliches Fachwissen haben (Webster und Wind 1972). Gerade bei IoT-induzierten PSS sollte dies eine noch größere Herausforderung sein, wenn kundenseitig das notwendige technische Wissen nicht oder nur in einzelnen Funktionsbereichen vorhanden ist. Traditionell ist die Preisbestimmung für produktbegleitende (industrielle) Dienstleistungen oder PSS eine große Herausforderung (Bolton und Myers 2003, S. 108; Martens und Hilbert 2011, S. 87 f.). Zum einen erhöht sich die Komplexität der Preiskalkulation. Zum anderen erwarten Kunden häufig, dass zusätzliche Dienstleistungen ohne Aufpreis geleistet werden. Wurden produktbegleitende Dienstleistungen einmal kostenfrei geleistet, ist es schwierig, sie später gegen Entgelt anzubieten (Homburg et al. 2016). Ein weiterer Aspekt ist der hohe Grad der persönlichen Interaktion zwischen Anbietern und Kunden. Preiskalkulationen finden häufig im Rahmen persönlicher Preisverhandlungen statt (Voeth und Herbst 2009, 2015). Somit übernimmt der Vertrieb eine ­zentrale Rolle bei der Preisbestimmung und -durchsetzung (Frenzen et al. 2010; ­Homburg et al. 2016). Die Anforderungen an den Vertrieb insbesondere im Hinblick auf dessen Informationsgrundlage und das notwendige Fachwissen steigen mit der Komplexität ­ der PSS.

3.2 Bezugsgrößen der Preisbestimmung Die Preisbestimmung kann grundlegend auf drei Arten erfolgen und sich idealtypisch an den folgenden Bezugsgrößen orientieren: den Kosten, dem Wettbewerb und dem Kundennutzen (z. B. Simon und Fassnacht 2016). In der Unternehmenspraxis fließen alle drei Bezugsgrößen in die konkrete Preisbestimmung ein (Homburg und Totzek 2011).

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Tab. 2  Besonderheiten von B2B-Märkten und ausgewählte preispolitische Konsequenzen (Homburg und Totzek 2011, S. 17) Besonderheit

Erklärung

Ausgewählte preispolitische ­Konsequenzen

Abgeleiteter Charakter der Nachfrage

• Die Nachfrage des Abnehmers ist abhängig vom Bedarf seiner eigenen Kunden

• Die Zahlungsbereitschaft des Abnehmers ist abhängig von der Zahlungsbereitschaft und dem Bedarf seiner eigenen Kunden

Multipersonalität von Kauf- • Mehrere Personen aus unter- • Anbieter müssen systematische Buying-Center-Analysen entscheidungen schiedlichen Abteilungen sind an der Kaufentscheidung durchführen (z. B. in Bezug auf die Verteilung der Preisentbeteiligt (Buying Center) scheidungskompetenz) Hoher Formalisierungsgrad • Kunden formulieren klare von Kaufentscheidungen Anforderungen an die ­Leistung • Kunden entscheiden nach internen und externen ­Vergaberichtlinien (z. B. bei Ausschreibungen)

• Die einzelnen Leistungsanforderungen sollten nutzenorientiert bepreist werden • Anbieter benötigen Kenntnisse über die Mechanismen von Beschaffungsauktionen und ­Bietverfahren

Hoher Individualisierungsgrad

• Kundenindividuelle Preis•L  eistungen werden häufig kundenindividuell erstellt und kalkulationen sind komplex • Preisdifferenzierung sowie sind wenig standardisiert Rabatte und Boni für einzelne •P  rodukte werden häufig in Kunden spielen eine zentrale geringen Stückzahlen herRolle gestellt

Bedeutung industrieller Dienstleistungen

• Industrielle Dienstleistungen • Es besteht die Gefahr, dass die sind ein zentrales Element zur Dienstleistungen auf Druck des Kunden gar nicht oder zu gering Differenzierung vom Wettbepreist werden bewerb

Langfristigkeit von Geschäftsbeziehungen

• Aufgrund der Langlebigkeit vieler Produkte bzw. Investitionen sind Geschäftsbeziehungen auf B2B-­ Märkten zumeist langfristig orientiert

• Anbieter müssen bei der Preissetzung kurzfristige Gewinnmaximierung mit einer langfristigen, beziehungsorientierten Sichtweise in Einklang bringen

Hoher Grad der persönlichen Interaktion

• Geschäftsbeziehungen beruhen in hohem Maß auf persönlichen Beziehungen und Interaktionen zwischen Anbietern und Kunden

• Preisverhandlungen spielen eine zentrale Rolle • Die Schulung, Steuerung und Unterstützung der Vertriebsmitarbeiter im Hinblick auf ein effektives Benefit Selling sind von hoher preispolitischer Bedeutung (Fortsetzung)

Vermarktung von Produkt-Service-Systemen …

463

Tab. 2   (Fortsetzung) Besonderheit

Erklärung

Ausgewählte preispolitische ­Konsequenzen

Existenz verschiedener Geschäftstypen

• Geschäfte unterscheiden sich insbesondere hinsichtlich der Individualität der Leistung und des Beziehungscharakters

• Die Anforderungen an das Preismanagement und die optimalen Preismodelle sind je nach Geschäftstyp grundverschieden

Bei der kostenorientierten Preisbestimmung ergibt sich der Preis im einfachsten Fall durch einen prozentualen Aufschlag auf die Stückkosten. Die Stückkosten werden dabei auf Voll- oder Teilkostenbasis, die Aufschlagsätze i. d. R. firmen- oder branchenüblich kalkuliert (Simon und Fassnacht 2016, S. 195 f.). Bei personalintensiven Dienstleistungen bemessen sich die Preise häufig an den geleisteten Stunden (Kindström und Kowalkowski 2014). Aufgrund der einfachen Anwendung und der Verfügbarkeit der Daten ist diese Art der Preisbildung in der Praxis sehr beliebt und wird je nach Erhebung von bis zu 75 % der deutschen Unternehmen angewandt (Fabiani et al. 2005, S. 14; Homburg und Totzek 2011, S. 37). Jedoch birgt diese Methode die Gefahr nicht genutzter Preispotenziale, der Überschreitung von Nutzenschwellen und Preise oberhalb der Zahlungsbereitschaft der Kunden (Schröder 2011, S. 285). Bei der wettbewerbsorientierten Preisbestimmung orientieren sich Unternehmen primär an den Preisen der Konkurrenz. Dabei kann grundlegend zwischen einer Anpassungsstrategie (d. h. einer Preisfolgerschaft) und der Nischenstrategie unterschieden werden. Während erstere sich beispielsweise an den vom Marktführer gesetzten Preisen orientiert (Totzek 2011), ist die Nischenstrategie eine bewusste Differenzierung von den Wettbewerbspreisen (Simon und Fassnacht 2016, S. 197). Bei der wertbasierten Preisbestimmung ist der vom Kunden wahrgenommene Nutzen die zentrale Bezugsgröße. Theoretisch entspricht dieser der Zahlungsbereitschaft des Kunden und stellt somit den maximal erzielbaren Preis dar (Monroe 2003; Simon und Fassnacht 2016). Zur Bestimmung des wahrgenommenen Nutzens bzw. der Zahlungsbereitschaft können klassische Verfahren der Marktforschung zum Einsatz kommen (Bitran und Ferrer 2007; Homburg und Totzek 2011; Abschn. 3.3). Jedoch ist die wertbasierte Preisbestimmung im B2B-Kontext aufgrund der bereits skizzierten Besonderheiten (Tab. 2) und des notwendigen Verständnisses für Geschäftsmodelle der Kunden komplexer als für standardisierte Konsumgüter. Dies ist umso mehr für PSS der Fall. Bei PSS ist nicht nur der Nutzen der einzelnen Produkte und Dienstleistungen isoliert zu bestimmen, sondern der Gesamtnutzen, den das System dem Kunden stiftet (Macdonald et al. 2016, S. 98). Dieser kann sehr kundenindividuell sein. In der Literatur werden insbesondere zwei Konzepte zur Bestimmung des Kundennutzens beschrieben. Zum einen gibt es den wahrgenommenen Kundennutzen (Perceived Value; Johansson und Andersson 2012, S. 67). Dieser beschreibt die Zahlungsbereitschaft

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Abb. 3   Grundlegende Arten der wertbasierten Preisbestimmung. (Quelle: In Anlehnung an Hünerberg und Hüttmann 2003, S. 718)

eines Kunden hinsichtlich des Nutzens, den der Kunde einem Produkt oder einer Dienstleistung vor dem Kauf beimisst (Thompson und Coe 1997, S. 71). Kunden bewerten somit den Wert eines PSS, bevor sie es tatsächlich nutzen. Der wahrgenommene Kundennutzen bezieht sich somit auf ein für den Kunden hypothetisches Gut (Woodruff 1997, S. 141). Zum anderen gibt es den Value-in-Use, der definiert wird als alle vom Kunden wahrgenommene Konsequenzen eines PSS, die zur Erreichung der Ziele des Kunden beitragen. Somit ist der Value-in-Use der nach dem Kauf beigemessene Wert eines Guts. In diesem Fall sind Kunden stärker auf die Leistung des PSS fokussiert (Macdonald et al. 2016, S. 97; Woodruff 1997, S. 141). Dabei wird allen Beiträgen des PSS zur Erreichung der Ziele des Kunden ein Geldwert beigemessen. Dieser Wertbeitrag kann sich am Input oder am Output des Kunden orientieren, in Bezug auf den Input beispielsweise an der Nutzungszeit oder an der Anzahl der Nutzungseinheiten. Eine Output-Orientierung wiederum kann abhängig von der Leistung des PSS oder dem Unternehmenserfolg eines Kunden sein (Macdonald et al. 2016). Die Abb. 3 stellt die zentralen Ansätze zur wertbasierten Preisbestimmung für PSS im Überblick dar. Welche Art der Preisbestimmung bei PSS idealtypisch zugrunde gelegt werden sollte, ist abhängig von der Art der Leistung. Besonders bei individuell angepassten PSS ist ein hohes Maß an Intransparenz bei der Preisbestimmung unausweichlich. Hier wird der Vertrag über Leistung und Gegenleistung oftmals vor der eigentlichen Leistungserstellung geschlossen, was beim Kunden zu Unsicherheit führt. Es fehlen vergleichbare Wettbewerbsangebote. Unsicherheit über die eigene Preisobergrenze sowie die Preisuntergrenze des Anbieters und somit den Verhandlungsspielraum sind die Folge. Dies erschwert die Positionierung beider Vertragsparteien. Während Anbieter versuchen, eine möglichst hohe Preisuntergrenze zu signalisieren, versuchen Kunden eine möglichst geringe Preisobergrenze zu signalisieren. Um den Preisspielraum innerhalb dieses Preiskorridors zu quantifizieren, können Anbieter verschiedene Methoden zur konkreten Preisfindung anwenden (z. B. Rese 2011, S. 134 f.). Auf diese wird in Abschn. 3.3 näher eingegangen, wobei wir uns auf Methoden beschränken, die am Kundennutzen ansetzen.

Vermarktung von Produkt-Service-Systemen …

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3.3 Ausgewählte Methoden der Preisfindung Damit der konkrete Preis eines PSS die Zahlungsbereitschaft der Kunden nicht übersteigt, ist bei der Preisfindung grundsätzlich zentral, sich am ökonomischen Wert des angebotenen PSS für den Kunden zu orientieren (Klarmann et al. 2011, S. 161). Dabei können insbesondere der Value-in-Use und die Zahlungsbereitschaft der Kunden als Grundlage dienen. In Forschung und Praxis kommen hierfür verschiedene Methoden zum Einsatz. Hierbei beschränken sich die folgenden Ausführungen auf die Methoden, die nach unserer Einschätzung grundsätzlich für PSS zur Anwendung kommen können: Dies sind neben Verfahren zur Bestimmung des Value-in-Use ausgewählte Verfahren der standardisierten Preismarktforschung (z. B. Homburg und Totzek 2011, S. 25 ff., Klarmann et al. 2011; Simon und Fassnacht 2016; Wildner 2003). Diese Methoden der Preisfindung sind in unterschiedlichem Ausmaß mit Verzerrungsrisiken behaftet, d. h. die gewonnenen Informationen sind im Hinblick auf Kundennutzen und Zahlungsbereitschaft systematisch nach unten oder nach oben verzerrt (hierzu ausführlich Klarmann et al. 2011): 1. Je freier Kunden in der Angabe ihrer Zahlungsbereitschaft bzw. ihres Nutzens sind, desto höher ist das strategische Verzerrungsrisiko. Grund hierfür ist die Möglichkeit für Kunden, ihre Zahlungsbereitschaft bewusst niedrig anzugeben, um den tatsächlich zu zahlenden Preis in ihrem Sinn zu beeinflussen. 2. Je stärker sich die Preisfindung auf ein hypothetisches, d. h. noch nicht existierendes oder noch nicht eingeführtes PSS bezieht und die Abfrage für den Kunden keinen Kaufzwang nach sich zieht, desto stärker ist das hypothetische Verzerrungsrisiko. So ist es möglich, dass Kunden den Nutzen eines PSS zwar erkennen und entsprechend bewerten, die Zahlungsbereitschaft jedoch bei einer konkreten Kaufentscheidung geringer ist, da diese mit realen Investitionen verbunden ist. Standardisierte Verfahren der Preismarktforschung können im B2B-Kontext grundsätzlich nur eingeschränkt zur Anwendung kommen, da diese eine Mindestzahl an (potenziellen) Kunden und eine gewisse Standardisierung der Leistung voraussetzen. In der B2B-Praxis kommen insbesondere das Price-Sensitivity-Meter bzw. die Van-Westendorp-Methode und die Conjoint-Analyse zur Anwendung. Bei dem Price-Sensitivity-Meter wird die Leistung (potenziellen) Kunden vorgestellt. Standardisiert werden vier Fragen gestellt, für die Kunden ein Preisurteil angeben: 1. Nennen Sie einen Preis, der angemessen, aber noch günstig ist. 2. Nennen Sie einen Preis, der hoch, aber noch vertretbar ist. 3. Nennen Sie einen Betrag, ab dem der Preis zu hoch wird. 4. Nennen Sie einen Betrag, ab dem der Preis so niedrig ist, dass Zweifel an der Qualität der Leistung aufkommen.

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D. Totzek et al.

Im Anschluss wird die Verteilung der Antworten (Preise) zu den einzelnen Fragen jeweils kumuliert. Die vier entstehenden Kurven werden in einer Grafik dargestellt. Auf Grundlage der Grafik lassen sich vier Schnittpunkte der Kurven bestimmen: die Preisuntergrenze, die Preisobergrenze, der optimale Preispunkt und der Indifferenzpunkt. Somit wird bei dieser Methode nicht die maximale Zahlungsbereitschaft ermittelt, sondern ein für die Kunden akzeptabler Preisbereich (Klarmann et al. 2011). Im Rahmen der Conjoint-Analyse bewerten Kunden den Nutzen einer Leistung, die verschiedene Produktmerkmale mit unterschiedlichen Ausprägungen dieser Merkmale aufweist. Der Preis ist ein Merkmal, das jedoch nicht im Fokus der Betrachtung steht. Daher wird dieses Verfahren auch als indirekte Methode zur Bestimmung von Zahlungsbereitschaften angesehen (Homburg und Totzek 2011, S. 25 f.). Grundsätzlich kann zwischen der rating- und der auswahlbasierten C ­ onjoint-Analyse unterschieden werden. Bei der ratingbasierten Conjoint-Analyse werden zwei mögliche Produktprofile vorgelegt. Mithilfe einer mehrstufigen Bewertungsskala geben die ­Kunden an, welches der Produktprofile sie mit welcher Stärke präferieren. Durch die genauen Präferenzangaben, die sich durch die Analyse für die einzelnen Leistungsmerkmale ergeben, eröffnen sich zusätzliche Auswertungsmöglichkeiten, insbesondere im H ­ inblick auf die Wichtigkeit einzelner Leistungsmerkmale und die Zahlungsbereitschaft von ­Kunden für einzelne Leistungsmerkmale und alternative Produktprofile (Klarmann et al. 2011, S. 167; Miller et al. 2011). Bei der auswahlbasierten Conjoint-Analyse werden Kunden zwei oder mehrere Produktprofile vorgelegt. Anschließend werden die Kunden gebeten, das Leistungsbündel auszuwählen, das sie kaufen würden. Auch eine Entscheidung gegen alle Alternativen ist möglich. Aufgrund des geringeren Informationsgehalts können dabei i. d. R. nur wenige Produktmerkmale berücksichtigt werden (Klarmann et al. 2011, S. 167; Gensler 2003). Zur Bestimmung des Value-in-Use können Anbieter auf interne oder externe Daten oder Expertenurteile zurückgreifen. Grundsätzlich geht es um die Bestimmung der zusätzlichen Kosten und des zusätzlichen Nutzens der Leistung für den Kunden. Für eine möglichst präzise Ermittlung ist es wichtig, den Einfluss der Leistung auf relevante Input- und Output-Variablen des Kunden zu kennen, beispielsweise im Hinblick auf die Produktionsbedingungen (z. B. Energiebedarf bei Maschinennutzung, Wartungsintervalle und -aufwand). Da der Erfolg dieser Methode von der möglichst genauen Identifikation der einzelnen Kostenträger und Erlösquellen beim Kunden abhängt, ist die Kenntnis über Geschäftsmodelle der Kunden Voraussetzung hierfür (Klarmann et al. 2011, S. 162). Implizit wird bei der Bestimmung des Value-in-Use die Annahme getroffen, dass die Leistung dem Kunden einen spürbaren Mehrwert gegenüber der Konkurrenz oder der aktuell eingesetzten Lösung bietet, sodass sich ein positiver Value-in-Use ergibt. Gibt es hierfür keine hinreichenden Belege, ist das Kosten-Nutzen-Verhältnis dieser Methode kritisch zu bewerten. Intern können zur Bestimmung des Value-in-Use technische Experten (z. B. Ingenieure) oder auch Vertriebsmitarbeiter zum Einsatz kommen. Bei der externen

Vermarktung von Produkt-Service-Systemen …

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Bewertung von Klarmann, Miller und Hofstetter (2011) Verzerrungsrisiko

Eigene Bewertung

Angepasstheit an B2B-Spezifika

strategisch

hypothetisch

Value-in-Use (intern)

Prozesse

niedrig

mittel

Value-in-Use (extern)

mittel

niedrig

ф

Price-SensitivityMeter

sehr hoch

sehr hoch

ф

Ratingbasierte Conjoint-Analyse

mittel

hoch

Auswahlbasierte Conjoint-Analyse

mittel

mittel

Leistungen

Beziehungen

ф

Angepasstheit an IoTinduzierte PSS-Spezifika

ф

ф

ф ф ф

ф

Angepasstheit an PSSSpezifika

ф

ф

ф

Die Symbole verdeutlichen den Grad der Angepasstheit bzw. Eignung der Verfahren:

: keine,

ф

: geringe,

: mittlere,

: hohe,

: perfekte Angepasstheit bzw. Eignung.

Abb. 4   Eignung der Verfahren zur Bestimmung der Zahlungsbereitschaften im B2B-Kontext. (Quelle: In Anlehnung an Klarmann et al. 2011, S. 171)

Bestimmung des Value-in-Use wird auf kundenseitige Informationen zurückgegriffen, beispielsweise von Referenzkunden. So kann in Zusammenarbeit mit Referenzkunden eine größere Sicherheit in der Bewertung aller entstehenden Kosten- und Nutzenaspekte erreicht werden (Klarmann et al. 2011, S. 162). Die dargestellten Verfahren sind unterschiedlich stark von den skizzierten Verzerrungsrisiken betroffen. Grundsätzlich lenken Verfahren, bei denen Kunden direkt nach Preisurteilen gefragt werden, deren Aufmerksamkeit stärker auf den Preis, was das Verzerrungsrisiko erhöht (Abb. 4). Zudem ist die Anwendbarkeit der Verfahren kontextabhängig und hängt stark von der Komplexität der Leistung ab, was insbesondere für PSS gilt. Schließlich sind die Verfahren eher für inkrementelle als für radikale Innovationen anwendbar (Homburg und Totzek 2011, S. 26). Dies wirft für IoT-induzierte PSS zusätzliche Probleme auf.

4 Wertbasierte Preisbestimmung für Produkt-Service-Systeme In Kap. 2 wurden zentrale Herausforderungen der Vermarktung von PSS und die besonderen anbieter- und kundenseitigen Chancen und Risiken IoT-induzierter PSS beschrieben. In Kap. 3 haben wir das grundlegende Vorgehen bei der wertbasierten Preisbestimmung beschrieben und aufgezeigt, welche Preisfindungsmethoden zur Anwendung kommen können. Im Folgenden werden beide Aspekte zusammengeführt: Wir beschreiben, welche besonderen Herausforderungen sich bei der wert-

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basierten Preisbestimmung für PSS ergeben (Abschn. 4.1) und welche konkreten Preisfindungsmethoden für PSS und IoT-induzierte PSS zur Anwendung kommen können (Abschn. 4.2).

4.1 Zentrale Herausforderungen Die wertbasierte Preissetzung erscheint aus der Marketing- und Vertriebsperspektive insbesondere dann sinnvoll, wenn die Dienstleistungskomponenten des PSS auf den Output und damit den letztlich relevanten Nutzen des Kunden gerichtet sind (Rese 2011, S. 148; Kowalkowski und Ulaga 2017, S. 134). Dies gilt insbesondere für PSS, deren Dienstleistungsbestandteil effizienzsteigernde Dienstleistungen und Dienstleistungen zur Übernahme von Kundenprozessen sind (Abb. 1; Ulaga und Reinartz 2011, S. 16; Kowalkowski und Ulaga 2017, S. 134). Für beide Arten von PSS gibt es im Kontext der Industrie 4.0 eine Vielzahl an Beispielen: die intelligente Leistungssteuerung von Landwirtschaftsmaschinen (z. B. durch John Deere) sowie intelligente Windkraftanlagen (z. B. durch GE) stellen effizienzsteigernde Dienstleistungen dar (Porter und Heppelmann 2014). Für Dienstleistungen zur Übernahme von Kundenprozessen können intelligente Maschinenleistungssteuerungen (z. B. durch GE Aviation), automatisierte chemische Analyseplattformen (z. B. durch Thermo Fischer) und Fernwartungssysteme für medizinische Geräte (z. B. durch Sysmex) genannt werden (Iansiti und Lakhani 2014; Porter und Heppelmann 2015). Gleiches gilt für individuell auf Kundenbedürfnisse zugeschnittene Solutions (Ulaga und Reinartz 2011, S. 16). Dennoch gibt es zahlreiche Herausforderungen, die es bei der wertbasierten Preisbestimmung für IoT-induzierte PSS zu überwinden gilt. Es ist jedoch auch denkbar, dass einige dieser Herausforderungen durch die Industrie 4.0 gelöst werden können, wie wir im Folgenden ebenfalls skizzieren. So ist eine genaue Quantifizierung des Nutzens für den Kunden nur dann möglich, wenn zwischen beiden Parteien ausreichend Vertrauen besteht, notwendige Informationen insbesondere im Hinblick auf die Wertschöpfungsprozesse beim Kunden auszutauschen. Zu Beginn von Geschäftsbeziehungen ist dies nicht immer gegeben. Die wertbasierte Preisbestimmung wird somit erschwert und es ergeben sich lediglich Annäherungen an den wahren Wert eines PSS (Grönroos und Helle 2010, S. 364). Durch eine automatische Datengenerierung und -übermittlung und eine entsprechende technische Absicherung könnte dieses Problem behoben werden. Zudem nimmt mit steigender Individualität die Komplexität von PSS zu, was dazu führen kann, dass der Preis für jeden Kunden individuell bestimmt werden muss, was zeit- und kostenintensiv ist und nur für größere Kunden bzw. Projekte sinnvoll ist. Auch in diesem Fall kann die automatische Datenübermittlung hilfreich sein: Kundendaten können für eine größere Kundenbasis ausgewertet und zusätzlich um externe Daten angereichert werden. Dadurch können bessere Prognosemodelle entwickelt und die Preise für einzelne Kunden leichter berechnet werden.

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Hinzu kommt, dass der Nutzen vieler PSS von Kundenprozessen abhängt, auf die der Anbieter keinen Einfluss hat. Wird der Nutzen durch schlecht harmonierende Prozesse beeinträchtigt, resultiert daraus eine geringere Kundenzufriedenheit und Zahlungsbereitschaft. Ein denkbares Beispiel hierfür wäre die Zusammenarbeit von Anbieter und Kunde bei einem Lagersystem. Sind die Kundenprozesse schlecht organisiert, kann dies trotz gut organisierter Prozesse des Anbieters zu geringeren Lagerumschlagszahlen führen. Je nach Wahl des wertbasierten Preismodells (Abb. 3) kann dies den Gewinn des Anbieters in unterschiedlichem Ausmaß mindern (Macdonald et al. 2016, S. 105). Des Weiteren sind bei komplexen Kaufentscheidungen kundenseitig viele Personen in den Entscheidungsprozess eingebunden (Tab. 2). Je nach ihrer Funktion im Unternehmen bewerten Mitarbeiter PSS nach unterschiedlichen Kriterien und haben zudem unterschiedlichen Einfluss auf die Kaufentscheidung (Klarmann et al. 2011). Der Effekt der erbrachten Leistung auf den vom Kunden wahrgenommenen Nutzen wird folglich durch Faktoren beeinflusst, die die Stellung dieser Mitarbeiter im Unternehmen widerspiegeln. So können beispielsweise Produktionsleiter ihren Fokus auf andere Systemeigenschaften als Einkäufer legen. Die Bestimmung des Gesamtnutzens eines PSS wird somit beeinflusst durch die Perspektive hinsichtlich des befragten Mitarbeiters (Macdonald et al. 2016, S. 98). Zudem sind Mitarbeiter der operativen Ebene, die häufig den tatsächlichen Nutzenzuwachs durch ein System am besten einschätzen können, nicht Teil des Buying Centers. Die Einbindung aller relevanten Mitarbeiter des Kunden in die Preisbestimmung ist mit zusätzlichem Aufwand verbunden (Klarmann et al. 2011) und grundsätzlich abhängig von der Kooperationsbereitschaft des Kunden. Attraktiv ist ein wertbasierter Preis für Kunden, die unsicher hinsichtlich der Investitionsentscheidung sind. Die wertbasierte Preisbestimmung geht insbesondere dann mit einer Risikoreduktion einher, wenn sich der Preis an Output-Variablen des Kunden orientiert. Haben Anbieter belastbare Informationen über den Value-in-Use und übernehmen zudem das Risiko der Kunden für die Einhaltung der versprochenen Quoten, kann dies kundenseitig erheblich zur Unsicherheitsreduzierung beitragen (Hünerberg und Hüttmann 2003). Ein Risikotransfer kann grundlegend auf drei Arten erfolgen: Der Anbieter übernimmt das Risiko für die Qualität des Output, die Verfügbarkeit oder die Leistung des PSS. Hierbei kann er im weitestgehenden Fall als Betreiber beim Kunden vor Ort agieren. Alternativ kann der Anbieter eine Gewinnbeteiligung erhalten. Hierzu müssen Anbieter und Kunde die spezifischen Performance-Metriken festlegen, die durch das PSS erreicht werden sollen. Da die Kundenprozesse nicht gänzlich transparent sind, besteht hierbei das größte Risiko für Anbieter bei der Preisbestimmung. Auch dies könnte sich durch die Implementierung IoT-induzierter PSS und die damit verbundene Datengenerierung ändern. Ist der resultierende Preis (beispielsweise aufgrund von Risikoprämien) jedoch höher als der der Konkurrenz, erschwert dies die Entscheidung des Kunden für das PSS. Verzichtet der Anbieter auf die notwendige Risikoprämie, übernimmt er wirtschaftliches Risiko des Kunden. Nicht eingehaltene Outputs können Verluste verursachen, auf die der Anbieter keinen oder nur beschränkten Einfluss hat (Kowalkowski und Ulaga 2017, S. 136 f.).

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Sind die Dienstleistungskomponenten des PSS auf den Input des Kunden ausgerichtet (Abb. 1), ergibt sich ein differenziertes Bild. Prozessunterstützende Dienstleistungen werden in der Praxis häufig kostenbasiert auf Grundlage des Input des Anbieters bepreist (z. B. Arbeitszeit, Aufwand). Ein Grund hierfür ist die geringe Bereitschaft der Kunden, ein alternatives Preismodell zu akzeptieren (Kowalkowski und Ulaga 2017, S. 136 f.). Teilweise etabliert ist die wertbasierte Preisbestimmung für Dienstleistungen, die auf die Produktverfügbarkeit gerichtet sind. Ein gängiges Beispiel hierfür ist die Kopplung des Preises an die Verfügbarkeit einer Produktionsanlage statt der Abrechnung jeder Wartung im Fall eines Ausfalls. Die Sammlung umfassender Daten über die Produktnutzung ist für die erfolgreiche Umsetzung dieses Preismodells zentral. Ausfallhäufigkeiten und Wartungsbedarf können so besser prognostiziert werden. Zudem ist auch in diesem Fall ein gewisses Maß an Risikobereitschaft des Anbieters für die Implementierung eines wertbasierten Preismodells unumgänglich. Da es bei diesem Modell unüblich und schwer durchsetzbar ist, eine vollständige Risikoprämie zu berechnen, müssen anfängliche Verluste einkalkuliert werden, bis die Datengrundlage ausreichend ist, um Ausfallhäufigkeiten und Wartungsfrequenzen zuverlässig prognostizieren zu können. In diesem Fall bietet das IoT in der Zukunft große Chancen, wenn Anbieter Daten der gesamten installierten Basis kundenübergreifend auswerten können. Noch einen Schritt weiter können Anbieter bei effizienzsteigernden Dienstleistungen gehen. Hier kann ebenfalls der Output des Kunden als Grundlage der wertbasierten Preisbestimmung herangezogen werden (Abb. 3), wodurch das Risiko für den Anbieter durch die automatische Übermittlung von Effektivitätskennzahlen reduziert werden kann. Das wirtschaftliche Risiko für den Anbieter ist in diesem Fall geringer als im Fall der Übernahme von Kundenprozessen durch das PSS, da das wirtschaftliche Risiko des gesamten Teilprozesses beim Kunden verbleibt und nur das Risiko für das bereitgestellte System vom Anbieter getragen wird.

4.2 Eignung etablierter Preisfindungsmethoden Im Anschluss an die grundsätzliche Frage, wie der Preis für ein PSS wertbasiert bestimmt werden kann und welche Preismodelle zur Anwendung kommen können, ist der konkrete Preis festzulegen. In Abschn. 3.3 haben wir ausgewählte Verfahren der Preisfindung vorgestellt. Die Frage ist nun, wie deren Eignung für PSS und IoT-induzierte PSS zu bewerten ist. Hierzu bauen wir auf die Ausführungen von Klarmann et al. (2011) auf. Deren Bewertungsschema betrachtet die Eignung ausgewählter Preisfindungsmethoden unter Berücksichtigung der Charakteristika der Beschaffungsprozesse, beschafften Leistungen und Geschäftsbeziehungen auf B2B-Märkten (Abb.  4). Diese Kriterien bilden die Besonderheiten von PSS jedoch nicht vollständig ab. Daher nehmen wir eine differenzierte Bewertung für klassische und IoT-induzierte PSS vor.

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­ rundsätzlich ist a­nzumerken, dass zum jetzigen Zeitpunkt insgesamt wenig belastG bare und ­generalisierbare wissenschaftliche Erkenntnisse zur Anwendung und Validität bestimmter Preisfindungsmethoden für PSS vorliegen. Dies gilt umso mehr für IoT-­ induzierte PSS. Das Price-Sensitivity-Meter ist einfach anzuwenden, jedoch generell mit recht hohen Verzerrungsrisiken behaftet. Daher sollte es generell nicht isoliert zur Preisfindung eingesetzt werden. Für PSS erscheint das Price-Sensitivity-Meter kaum geeignet. Insbesondere ist die Dienstleistungskomponente für Kunden vor dem Kauf nur eingeschränkt beurteilbar. Des Weiteren ist dieses Verfahren überhaupt nur für sehr einfache, standardisierte und bereits am Markt etablierte PSS praktikabel. Erhält jeder Kunde jedoch ein individuell an das Unternehmen angepasstes PSS, ist eine Berechnung des Preisbereichs auf der Grundlage von kumulierten Kundenangaben nicht möglich. Schließlich sind sehr innovative Dienstleistungen, die im Rahmen IoT-induzierter PSS häufig im Fokus stehen, für eine globale Preisabfrage ungeeignet. Die Conjoint-Analyse und insbesondere die ratingbasierte Conjoint-Analyse zeigen allgemein eine mittlere bis gute Anpassung in Hinblick auf die Charakteristika der Beschaffungsprozesse, der beschafften Leistung und der Geschäftsbeziehung im B2B-Kontext. Durch die Möglichkeit der Abfrage der Zahlungsbereitschaft nicht nur für das Produkt, sondern auch für verschiedene Produktmerkmale, ist sie grundsätzlich auch für PSS geeignet, da sie sich aus verschiedenen Merkmalen zusammensetzen (z. B. der Preis, ein Produkt und verschiedene Dienstleistungskomponenten). Je komplexer jedoch das PSS ist und je individueller es an Kundenwünsche angepasst werden soll, desto geringer ist die Eignung der Conjoint-Analyse. Diese ist nur gegeben, wenn sich das PSS aus relativ standardisierten Modulen zusammensetzt und der Kunde das PSS im Sinn eines Baukastens individualisieren kann. Ein derartiger Baukasten kann für PSS von geringer Komplexität auch in einer auswahlbasierten Conjoint-Analyse evaluiert werden. Bei PSS und insbesondere bei Solutions soll Mehrwert durch das Zusammenspiel der Systemkomponenten entstehen (Abschn. 2.1). Der im Rahmen der Conjoint-Analyse ermittelte kumulierte Nutzen der einzelnen Systemkomponenten bzw. Merkmale spiegelt diesen kundenindividuellen Mehrwert jedoch nicht wider. Ebenfalls besteht ein gewisses Verzerrungsrisiko, wobei die auswahlbasierte Conjoint-Analyse die Realität von Kaufentscheidungen generell besser abbildet. Schließlich kann der Wert vieler Dienstleistungskomponenten von Kunden im Vorfeld nicht vollständig beurteilt werden, was insbesondere für IoT-induzierte PSS gelten und das Verzerrungsrisiko erhöhen sollte. Die Preisfindung über die Bestimmung des Value-in-Use wird den Charakteristika von B2B-Geschäftsbeziehungen von allen Methoden tendenziell am besten gerecht (Klarmann et al. 2011). Dies gilt insbesondere, wenn der Value-in-Use extern, d. h. mithilfe von Informationen der Kunden bestimmt wird. Durch eine enge Zusammenarbeit mit Referenzkunden kann der Anbieter Wissen über die Geschäftsmodelle von Kunden sowie über deren abgeleitete Nachfrage aufbauen und somit den Wert des PSS genauer bestimmen. In engen Geschäftsbeziehungen können Anbieter im Idealfall Einblick in sensible Kundendaten bekommen (Abschn. 3.2). In diesem Kontext kann auch der durch

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Solutions generierte Mehrwert beim Kunden ermittelt und bepreist werden. Je individueller jedoch die angebotenen PSS sind, desto weniger sind die Informationen auf andere Kunden übertragbar. Somit erhöht sich der Aufwand der Preisfindung für PSS spürbar und setzt die Kooperationsbereitschaft vieler einzelner Kunden voraus. Bei IoT-induzierten PSS sollten Anbieter auf eine bessere interne Datenbasis zurückgreifen können als bei klassischen PSS. Werden im Rahmen des Systems Daten in Echtzeit und für die gesamte installierte Basis generiert und analysiert, sollte die interne Value-inUse-Bestimmung nicht nur schneller und günstiger, sondern auch genauer sein. Dies setzt allerdings voraus, dass im Idealfall alle Kunden die notwendigen Daten an den Anbieter weitergeben und somit weniger Informationen von einzelnen Kunden erfragt werden müssen. Entsprechend können IoT-induzierte PSS Anbietern die Chance eröffnen, in stärkerem Ausmaß Verhaltensdaten in die Preisfindung einzubeziehen, als dies bisher im B2B-Kontext möglich war (Klarmann et al. 2011). Dies setzt jedoch entsprechende analytische Fähigkeiten und Erfahrung im Umgang mit Verhaltensdaten beim Anbieter voraus. Hier besteht im industriellen B2B-Bereich unserer Einschätzung nach großer Nachholbedarf.

5 Zusammenfassung und Ausblick Die zunehmende Bedeutung von PSS und insbesondere IoT-induzierter PSS für produzierende Unternehmen im Kontext der Industrie 4.0 ist unbestritten. Jedoch stellt die damit einhergehende Servitization viele industrielle Anbieter vor große Herausforderungen. Dieser Beitrag hatte zum Ziel, zentrale Herausforderungen für die Vermarktung klassischer und IoT-induzierter PSS im Kontext der Industrie 4.0 zu identifizieren. Hierbei standen die wertbasierte Preisbestimmung, entsprechende Preismodelle und die Eignung konkreter Preisfindungsmethoden im Fokus. Zunächst zeigt sich, dass der durch die Servitization ausgelöste Transformationsprozess von produkt- hin zu dienstleistungszentrierten Unternehmen mit großen unternehmensinternen und -externen Herausforderungen und zusätzlichem unternehmerischen Risiko verbunden ist. Zentrales Element ist hierbei die erfolgreiche Monetarisierung des durch PSS beim Kunden generierten Mehrwerts, d. h. die Entwicklung eines tragfähigen Geschäftsmodells. Unsere Ausführungen unterstreichen, dass eine wertbasierte Preisbestimmung am ehesten geeignet ist, den aus dem Zusammenspiel der Komponenten des PSS für den Kunden entstehenden Mehrwert abzubilden. Eine wettbewerbsorientierte oder kostenorientierte Preisbestimmung werden dieser Aufgabe nicht gerecht. Jedoch stellt sich unmittelbar die Frage, wie dieser Mehrwert zu bestimmen und zu monetarisieren ist. Eine zentrale Herausforderung der wertbasierten Preisbestimmung ist daher die Bestimmung des Kundennutzens bzw. der Zahlungsbereitschaft der Kunden für PSS. Etablierte Verfahren der Preismarktforschung, die im B2B-Kontext zur Anwendung kommen können, sind dabei unterschiedlich gut geeignet, die Spezifika von PSS und IoT-induzierten PSS abzubilden. Es zeigt sich, dass insbesondere die Conjoint-Analyse,

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die ein sehr etabliertes Verfahren der Preisfindung im B2B-Kontext ist, bei komplexen und individualisierten PSS nur eingeschränkt einsetzbar ist, um den spezifischen kundenindividuellen Mehrwert des Zusammenspiels der Systemkomponenten abzubilden. Sowohl die externe als auch die interne Bestimmung des Value-in-Use bieten die Möglichkeit, die Zahlungsbereitschaft der Kunden auszuschöpfen und den durch Systeme generierten Mehrwert zu monetarisieren. Auch wenn eine standardisierte Value-in-UseErmittlung für PSS nur eingeschränkt möglich ist, können Unternehmen zunächst durch einzelne Referenzprojekte mit Schlüsselkunden ihr Know-how für die Vermarktung von PSS und IoT-induzierten PSS ausbauen. So kann das bestehende Wissen auf weitere ­Kunden übertragen werden. Insbesondere sollte in Zukunft die interne Bestimmung des Value-in-Use bei IoT-induzierten PSS deutlich verbessert und erleichtert werden. Sofern Anbieter Echtzeitdaten der gesamten installierten Basis nutzen und Kundenbedenken in Bezug auf Datenschutz und -sicherheit überwinden können, können sie nicht nur innovative Mehrwertdienstleistungen anbieten, sondern diese auch besser bepreisen. Hierfür sind jedoch substanzielle Investitionen in das notwendige technische und analytische Wissen notwendig, das vielen traditionell industriell geprägten Anbietern momentan noch fehlt. Zudem stellt sich insbesondere bei Unternehmen, die die Industrie 4.0 primär als technische Herausforderung verstehen, insbesondere im Vertrieb die notwendigen Fähigkeiten für ein erfolgreiches Solution Selling zu entwickeln. Dies setzt entsprechende Schulungsmaßnahmen, jedoch insbesondere auch eine umfassende kulturelle Veränderung voraus. Allgemein bleibt jedoch zunächst die Frage zentral, wie IoT-induzierte PSS aus Sicht der Kunden wahrgenommen werden. Die bisherige Literatur beleuchtet überwiegend die Perspektive der Anbieter. So muss zunächst betrachtet werden, wann IoT-induzierte PSS grundsätzlich auf Kundenakzeptanz stoßen und welche Adoptionsbarrieren überwunden werden müssen. Erst in einem weiteren Schritt ist eine konkrete Preisbestimmung sinnvoll. Zudem bleibt die Frage bestehen, ob es für Anbieter nicht auch sinnvoll sein kann, die generierten Daten anderweitig einzusetzen, d. h. nicht im Rahmen des aktuellen Kerngeschäfts, sondern in neuen Geschäftsfeldern. Schließlich sind in Bezug auf die Vermarktung neben der Preisbestimmung die Frage der Preisdurchsetzung im Vertrieb sowie weitere Implementierungsfragen relevant, insbesondere im Hinblick auf die Bereitschaft und Fähigkeit des Vertriebs, Innovation Selling zu betreiben. Die Industrie 4.0 wird eine tiefgreifende Veränderung der Marketing- und Vertriebsaktivitäten von B2B-Unternehmen bewirken und die Anbieter-Kunden-Beziehungen verändern. Dienstleistungen werden weiter an Bedeutung gewinnen und zukünftig häufig den Kern des Wertversprechens für Kunden und des Geschäftsmodells von Anbietern darstellen (Rust und Huang 2014). Dies wird jedoch nicht zu vollkommen neuen Paradigmen führen, wie Unternehmen ihre Produkte und Dienstleistungen erfolgreich vermarkten können. Durch das IoT ändern sich nicht die grundlegenden ­Kundenbedürfnisse, sondern primär die Art und Weise, wie diese in Zukunft befriedigt werden (Ng und Wakenshaw 2017).

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Woodruff, R. B. (1997). Customer value: The next source of competitive advantage. Journal of the Academy of Marketing Science, 25(2), 139–153. Worm, S., Bharadwaj, S. G., Ulaga, W., & Reinartz, W. J. (2017). When and why do customer solutions pay off in business markets? Journal of the Academy of Marketing Science, 45(4), 490–512. Zancul, E. D. S., Takey, S. M., Barquet, A. P. B., Kuwabara, L. H., Cauchick Miguel, P. A., & Rozenfeld, H. (2016). Business process support for IoT based Product-Service Systems (PSS). Business Process Management Journal, 22(2), 305–323. Zhang, W., & Banerji, S. (2017). Challenges of servitization: A systematic literature review. ­Industrial Marketing Management, 65, 217–227.

Prof. Dr. Dirk Totzek  ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing und Services an der Universität Passau. Aktuell untersucht er insbesondere anbieterund kundenseitige Erfolgsfaktoren bei der Vermarktung von Produkt-Service-Systemen und die Auswirkungen der Digitalisierung auf das Preismanagement. Gloria Kinateder  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing und Services an der Universität Passau. Eva Kropp  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing und Services an der Universität Passau.

Datenfreigabe als Grundlage für erfolgreiche Smart Services im Businessto-Business-Kontext: Herausforderungen und erste Lösungsansätze Curd-Georg Eggert, Corinna Winkler und Jan H. Schumann

1 Motivation Industrie 4.0 ist eine neue Art der industriellen Wertschöpfung, die durch Kombination aus Digitalisierung und Automatisierung sowie der Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure gekennzeichnet ist (Obermaier 2017). Dies bedingt, dass sich nicht nur die Prozesse und Geschäftsmodelle verändern, sondern auch die Produkte der Unternehmen (Obermaier 2017). So verbauen Unternehmen zunehmend Sensoren in ihren Produkten (Rijsdijk et al. 2007), die es ihnen ermöglichen, Daten über ihre Produkte zu sammeln (Allmendinger und Lombreglia 2005). Traditionellen Produktherstellern bieten diese Daten und die aus deren Analyse gewonnenen Erkenntnisse potenziell die Möglichkeit, zu ihren physischen Produkten zusätzliche Dienstleistungen anzubieten (Schröder und Kotlarsky 2015). Unternehmen können mithilfe solcher datengetriebenen Geschäftsmodelle auf den stetig wachsenden Wettbewerbsdruck und die zunehmende Commoditization von physischen Gütern reagieren und neue Umsatzmöglichkeiten generieren (Opresnik und Taisch 2015). Im Business-to-Consumer(B2C)-Bereich ist die Datennutzung für die Bereitstellung neuer Services schon weit verbreitet (Wörner und Wixom 2015; Engelbrecht et al. 2016). Die hohe Akzeptanz und die starke Nutzung von Smartphones, Wearables und intelligenten Objekten im Smart-Home-Bereich erweckt den

C.-G. Eggert (*) · C. Winkler · J. H. Schumann  Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] C. Winkler E-Mail: [email protected] J. H. Schumann E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_20

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Anschein, dass Konsumenten im B2C-Bereich die bewusste oder unbewusste Datenfreigabe als unkritisch betrachten. Zwar steckt die Entwicklung und Anwendung datengetriebener Geschäftsmodelle im Business-to-Business(B2B)-Bereich noch weitgehend in den Kinderschuhen (BITKOM 2017), jedoch befassen sich auch hier über alle Branchen hinweg immer mehr Firmen mit entsprechenden Anwendungsgebieten (Gubbi et al. 2013). In der Regel basieren solche Geschäftsmodelle auf datengetriebenen Dienstleistungen. Ein typisches Beispiel einer datengetriebenen Dienstleistung im B2B-Bereich sind Smart Services. Unter einem Smart Service verstehen wir eine Dienstleistung, die über ein intelligentes Objekt erbracht wird, das Daten über seinen Zustand und die Umgebung in Echtzeit sammeln kann und sowohl eine kontinuierliche Kommunikation als auch interaktives Feedback ermöglicht (Allmendinger und Lombreglia 2005). In der Landwirtschaft analysieren beispielsweise am Traktor installierte intelligente Systeme den Zustand der Pflanzen und berechnen den optimalen Düngemitteleinsatz (Fröndhoff 2016). In der Logistikbranche werden Transportcontainer mit Sensoren ausgestattet, die u. a. Erschütterungen, Luftfeuchtigkeit und Temperaturschwankungen messen. Diese Daten ermöglichen es, die Transportwege und den Status von Materialien zu überwachen und gegebenenfalls schon vor der Lieferung Mängel festzustellen. Im Energie- oder Produktionssektor werden durch von den Sensoren erhobenen Daten der Zustand und die Nutzung von Maschinen analysiert, wodurch eine schnelle Reaktion auf etwaige Produktionsausfälle und proaktive Wartung ermöglicht werden (Grubic 2014). Der beschriebene Anwendungsfall wird als Predictive Maintenance bezeichnet (Lee 2001). Diese Beispiele zeigen, dass innovative Smart Services potenziell einen hohen Kundennutzen generieren können. Gleichzeitig machen die Anbieter solcher Dienstleistungen vielfach die Erfahrung, dass ihre Kunden im B2B-Bereich diesen Angeboten eher skeptisch gegenüberstehen. Unternehmen sind oftmals nicht gewillt, dem Serviceanbieter direkten Zugriff auf ihre Maschinen bzw. die dort erhobenen Daten zu erlauben (Maass und Varshney 2008; Paluch 2014; Riggins und Wamba 2015). Für die Anbieter stellt sich daher die Frage, welche Faktoren die Datenfreigabe für solche Smart Services im B2B-Bereich beeinflussen, um entsprechende Strategien ableiten zu können, die helfen, die Datenverfügbarkeit sicherzustellen. Trotz der Bedeutsamkeit dieser Fragestellung für die Verbreitung von Smart Services liefert die Forschung hierzu bislang nur unzureichende Antworten (Grubic 2014). Im B2C-Bereich gibt es bereits intensive und weitreichende Forschungsbemühungen, um die Datenfreigabeentscheidung von Endkonsumenten zu beschreiben und zu erklären (z. B. Dinev und Hart 2006; Gerlach et al. 2015; Krasnova et al. 2013). Dinev und Hart (2006) zeigen in ihrer Studie, dass die Konsumentenentscheidung zur Datenfreigabe als rationaler Prozess beschrieben werden kann, bei dem die damit verbundenen Vor- und Nachteile gegenübergestellt werden. Weitere Forschung beschäftigt sich mit der Datenfreigabe für Direktmarketingkampagnen. Studien in diesem Bereich zeigen, dass Privatsphärebedenken von Konsumenten negative Konsequenzen haben. Diese äußern sich beispielsweise dadurch, dass Konsumenten eine Webseite nicht mehr benutzen

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(Chellappa und Sin 2005; Sheehan und Hoy 1999; Wirtz und Lwin 2009) oder negatives Word-of-Mouth betreiben (Son und Kim 2008; Wirtz und Lwin 2009). Schumann et al. (2014) haben nachgewiesen, dass für Konsumenten bei der Datenfreigabe Reziprozität eine wichtige Rolle spielt. Informiert man Konsumenten, dass sie mit der Freigabe ihrer Daten indirekt den kostenlosen Zugriff auf den Inhalt finanzieren, so erhöht dies ihr Datenfreigabeverhalten. Diese Erkenntnisse aus dem B2C-Bereich lassen sich durch die Besonderheiten der industriellen Geschäftsbeziehungen jedoch nicht eins zu eins auf den B2B-Kontext übertragen. So sind im B2B-Kontext i. d. R. mehrere Personen in die Kaufentscheidung eingebunden (Turley und Kelly 1997). Auch sind die Entscheidungs- und Einkaufsprozesse i. d. R. komplexer, dauern länger und sind durch eine höhere Rationalität gekennzeichnet (Lilien und Grewal 2012; Lilien 2016; Oliveira und Roth 2012; Gummesson 2014). Im B2B-Bereich wiederum gibt es zwar bereits Forschungsbemühungen, die sich mit unterschiedlichen Arten von Datenflüssen zwischen Unternehmen befasst haben. Hierbei sind insbesondere die Anwendungsgebiete Supply Chain Collaboration (z. B. Cachon und Fisher 2000; Grets und Kasarda 1997) und Innovation Management (z. B. Hargadon 1998; Amara et al. 2009) zu nennen. Jedoch unterscheidet sich die Art und Weise, wie die Daten in diesen Anwendungsbereichen ausgetauscht werden, deutlich von der spezifischen Datenfreigabe im Kontext von Smart Services. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es daher, zunächst aufzuzeigen, dass sich der Datenaustausch im Kontext von Smart Services im B2B-Bereich grundlegend von diesen bisher praktizierten und untersuchten Formen des Datenaustauschs unterscheidet. Darauf aufbauend sollen dann die daraus resultierenden Herausforderungen dargestellt und mögliche Lösungsansätze aufgezeigt werden.

2 Smart Services erfordern eine neue Qualität des Datenaustauschs zwischen Unternehmen Wie eingangs bereits beschrieben, basieren Smart Services auf dem Einsatz von intelligenten Objekten, die Nutzungs- und Umgebungsdaten erheben und auf Basis dessen Kommunikation und Interaktion ermöglichen (Allmendinger und Lombreglia 2005). Neben dem Begriff Smart Services findet man in der Literatur auch eine Reihe an verwandten Begriffen, wie z. B. Remote Services (Schumann et al. 2012) oder Separate Services (Paluch und Blut 2013), die mehr oder weniger synonym verwendet werden. Eng damit verbunden sind häufig auch Begrifflichkeiten, die einen konkreten Anwendungsfall beschreiben, wie Remote Repair (Biehl et al. 2004), Remote Monitoring Systems (Wang et al. 2006), Condition Monitoring (Owen et al. 2009), Condition-based Maintenance (Rymaszewska et al. 2017) oder Predictive Maintenance (Grubic 2014). Smart Services bringen Anbietern – und damit verbunden auch ihren Kunden – potenziell eine Reihe an Vorteilen (Wünderlich et al. 2011; Schumann et al. 2012). Durch die Einführung von Sensoren und die hohe Konnektivität der Objekte können

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Anbieter neue Erkenntnisse über die installierte Maschinenflotte erwerben und dadurch mithilfe von Smart Services besseren und langfristigeren Kundenservice anbieten (Campbell et al. 2011). Ein klarer Vorteil liegt hier auch in der Ortsunabhängigkeit vom Standort der Maschinen. So kann der Serviceanbieter Reisekosten einsparen, indem das Servicepersonal des Kunden aus der Ferne unterstützt wird, kleinere Reparaturen über Updates behoben oder grundsätzlich Fehleinsätze vermieden werden (Reinartz und Ulaga 2008). Auch kann durch die Analyse der Daten im Voraus ein Serviceeinsatz effizienter geplant werden, was Zeit und Kosten einspart (Küssel et al. 2000; Lightfoot et al. 2013). Durch die Masse an erhobenen Daten und die kontinuierliche Einbindung des Kunden können Smart-Service-Anbieter zudem Erkenntnisse über die Nutzung der Maschine erlangen und in zukünftige Produkt- und Dienstleistungsentwicklungen einfließen lassen (Porter und Heppelmann 2014). Dadurch, dass Daten von Maschinen verschiedener Kunden mit unterschiedlichsten Standorten gesammelt werden, kann der Anbieter Vergleiche anstellen und Rückschlüsse über verschiedene Maschinen und Umgebungen ziehen (Jonsson und Holmström 2005). Laut Evans und Annunziata (2012) können Smart-Service-Anbieter durch diesen Wissensschatz ein großes Umsatzwachstum erzielen. Auch kann der Einsatz von Smart Services die AnbieterKunden-Beziehung verbessern (Küssel et al. 2000). Anbieter können durch das bessere Verständnis der Geschäftsprozesse des Kunden aktuelle oder zukünftige Kundenbedürfnisse besser erkennen und umsetzen. Grundsätzlich ermöglichen Smart Services durch die permanente Zustandsüberwachung und Konnektivität vorbeugendes statt reaktives Anbieterverhalten (Allmendinger und Lombreglia 2005). Darüber hinaus kann der Anbieter durch Smart Services seinen Cashflow stabilisieren, weil, anders als bei der einmaligen Großinvestition eines Produktkaufs, stetige und relativ genau kalkulierbare Geldströme erwirtschaftet werden (Johnson und Mena 2008). Alle diese Vorteile führen dazu, dass sich Smart-Service-Anbieter einen langfristigen Wettbewerbsvorteil gegenüber der Konkurrenz verschaffen und so der zunehmenden Commoditization der von ihnen erzeugten Sachgüter entgegenwirken können (Opresnik und Taisch 2015). Auch für die Kunden bieten Smart Services eine Reihe an Vorteilen. Diese Kundenvorteile entsprechen zum Teil den Vorteilen des Anbieters, gehen aber auch noch über diese hinaus. Beispielsweise erhalten Unternehmen Informationen zum aktuellen Zustand der verwendeten Maschinen und zu zukünftigen Fehlerwahrscheinlichkeiten (Jonsson et al. 2009). Aufgrund dieser Informationen können Maschinenausfälle reduziert und die Maschinenverfügbarkeit erhöht werden (Grubic 2014), was eine bessere Ausnutzung der Maschinenflotte zur Folge hat (Laine et al. 2010). Kosteneinsparungen angesichts der Antizipation schwerwiegender Maschinenschäden, unvorhergesehener Unterbrechungen in der Produktionslinie oder die Planungen von optimalen Wartungsfenstern sind weitere Vorteile für die Kunden von Smart Services (Rymaszewska et al. 2017). Auch erhält der Kunde durch die gesammelten Daten detaillierte Erkenntnisse über seine eigenen Geschäftsprozesse (Westergren 2011; Westergren und Holmström 2012). Insgesamt können die gesammelten Informationen und erzielten Erkenntnisse zu effizienteren und durchgängigen Prozessen führen (Wu et al. 2006; Wang et al. 2006; Westergren und Holmström 2012).

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So vielfältig die Vorteile für die Anbieter und Nutzer von Smart Services sind, so vielfältig sind auch die unterschiedlichen Umsetzungsmöglichkeiten von Smart Services. Im Folgenden werden wir nun darauf eingehen, wie Smart Services i. d. R. ablaufen. Dabei wollen wir bewusst eine detaillierte Beschreibung der Abläufe von Smart Services vermeiden, denn die Umsetzung variiert je nach Anwendungsgebiet und Unternehmen. Wir haben uns bei unserer Beschreibung am konkreten Anwendungsfall Predictive Maintenance orientiert, da diese Art von Smart Service bereits von vergleichsweise vielen Unternehmen angeboten wird und sie einen sehr typischen Anwendungsfall eines Smart Service darstellt. Grundvoraussetzung für Smart Services sind i. d. R. mit Sensoren ausgestattete intelligente physische Objekte (Allmendinger und Lombreglia 2005). Diese Sensoren messen und sammeln Daten, die in Bezug zur Nutzung des intelligenten Objekts oder zu dessen Umgebung stehen (Borgia 2014; Geisberger und Broy 2015). Welche Daten genau gesammelt werden, hängt vom jeweiligen Anwendungsfall ab. So werden beispielsweise bei Predictive Maintenance meist Temperatur, Druck oder Vibrationen von Maschinen erhoben (Owen et al. 2009). Die Datensammlung erfolgt häufig kontinuierlich und führt aufgrund zahlreicher installierter Sensoren und Messpunkte zu einer enormen Menge an Rohdaten (Neuhüttler et al. 2017). Diese Rohdaten werden oft in Echtzeit (Da Xu et al. 2014) und kontinuierlich (Grubic und Jennions 2017; Ardolino et al. 2017) über den digitalen Weg des Internets zum Serviceanbieter übermittelt. Beispielsweise werden die gesammelten Rohdaten automatisch auf Cloud-Speichermedien des Serviceanbieters gespeichert (Borgia 2014). Der Kunde hat somit während der Nutzung keine unmittelbare Kontrolle darüber, welche Daten wann an den Serviceanbieter geschickt werden. Auf Basis der gesammelten Daten kann der Serviceanbieter mithilfe intelligenter Algorithmen Analysen durchführen und für den Kunden wichtige Informationen aus der Datenmenge generieren (Grubic und Peppard 2016). Diese gewonnenen Erkenntnisse und Handlungsempfehlungen werden dann dem Kunden zurückgespielt. Anhand der allgemeinen Funktionsweise von Smart Services wird deutlich, dass ein unmittelbarer und dauerhafter Datenaustausch zwischen dem Serviceanbieter und dem Kunden besteht. Dieser stellt aber eine neue Art des Datenaustauschs dar, die es in der Vergangenheit noch nicht gab und die daher in der bisherigen Forschung auch noch nicht tiefergehend beschrieben wurde. Im folgenden Abschnitt wollen wir die Neuartigkeit des Datenaustauschs bei Smart Services anhand spezifischer Merkmale darstellen, indem wir ihn von anderen Datenaustauscharten abgrenzen. Für die Veranschaulichung der Merkmale und der Abgrenzung haben wir den Datenaustausch der zwei Anwendungsgebiete Supply Chain Collaboration (z. B. Cachon und Fisher 2000; Grets und Kasarda 1997) und Innovationsentwicklung (Hargadon 1998; Amara et al. 2009) gewählt, da es sich hierbei um weit verbreitete Anwendungsfälle aus dem B2B-Bereich handelt, bei denen der Datenaustausch eine zentrale Rolle spielt. Unter Supply Chain Collaboration verstehen wir, dass zwei oder mehrere unabhängige Unternehmen innerhalb der Wertschöpfungskette Handlungen gemeinsam planen und ausführen mit dem Ziel, einen größeren Erfolg zu erreichen, als wenn sie alleine agieren würden (Simatupang

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und Sridharan 2002). Dabei können sich die Supply-Chain-Aktivitäten daran orientieren, dass Daten zu Lagerbeständen, Produktionsplänen, Bedarfsprognosen und Lieferkapazitäten (Ding et al. 2011) ausgetauscht werden, um rechtzeitige Güterlieferungen und möglichst geringe Lagerbestände sicherzustellen (Kelle und Akbulut 2005). Die gemeinsame Zusammenarbeit für die Entwicklung neuer Dienstleistungen oder Produkte wird mit dem Begriff kollaborative Innovationsentwicklung beschrieben. Firmen entwickeln Innovationen i. d. R. nicht allein (Tether 2002; Tether und Tajar 2008) und können in diesen Fällen von der Integration externen und spezialisierten Wissens profitieren (Brusoni et al. 2001) und dadurch Innovationsperformance verbessern (Dhanaraj und Parkhe 2006). Der Einbezug von externem Wissen wird auch unter dem Begriff Open Innovation zusammengefasst (Chesbrough 2003). Die interorganisationale Kollaboration kann als Unterstützungstool und Ergänzung zur internen Innovationsentwicklung verstanden werden (Deeds und Rothaermel 2003; Hagedoorn und Duysters 2002). Diese Beispiele zeigen, dass Unternehmen auch in der Vergangenheit oft schon einen intensiven Datenaustausch mit Kunden und Partnern praktiziert haben und dass es zum Datenaustausch in diesen beiden Bereichen auch bereits umfangreiche Forschung gibt. Im Folgenden arbeiten wir nun jedoch die Merkmale heraus, die begründen, warum der Datenaustausch bei Smart Services neuartig ist, weswegen sich die bisherigen Forschungsergebnisse zum Datenaustausch im B2B-Bereich nur begrenzt übertragen lassen. Ein wesentliches Merkmal des Datenaustauschs bei Smart Services ist die Datenmenge, die zwischen den Unternehmen ausgetauscht wird (Abb. 1). Anders als bei Supply Chain Collaboration und Innovationsentwicklung werden bei Smart Services durch die kontinuierliche Sammlung detaillierter Informationen über die Maschinen große Datenmengen vom Kunden zum Anbieter geschickt. Diese Menge an Daten erfüllen die Charakteristika von Big Data (Ng und Wakenshaw 2017). Bei den zwei anderen angesprochenen Anwendungsgebieten werden nur vergleichsweise geringe Datenmengen ausgetauscht, weil die Unternehmen nur ausgewählte Daten, z. B. zu Lagerbeständen, oder spezifische Forschungsergebnisse übermitteln.

Smart Service Kunde

Smart Service Anbieter

Abb. 1   Merkmale des Datenaustauschs bei Smart Services. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Bei Smart Services findet der Datenaustausch zudem i. d. R. automatisiert statt. Beim Smart-Service-Datenaustausch werden die Daten kontinuierlich gesammelt und in Echtzeit übertragen. Das heißt, der Kunde hat keine Möglichkeit, die gesammelten Daten zu überprüfen, zu aggregieren oder abzuändern, bevor diese an den Serviceanbieter verschickt werden. Bei Supply Chain Collaboration und Innovationsentwicklung hingegen sind es die Unternehmen selbst, die entscheiden, ob und in welcher Form die Daten ihr Unternehmen verlassen und wem sie zur Verfügung gestellt werden. Ihnen steht es frei, ob sie die Daten in der aktuellen Form unverändert herausgeben oder aber noch abändern oder aggregieren wollen. Zudem erfolgt der Smart-Service-Datenaustausch über digitale Kommunikationskanäle. Die gewonnenen Daten werden mithilfe von Wireless Sensor Networks (Ziegeldorf et al. 2014) und des Internets übertragen. Die Kommunikation und der damit verbundene Datenaustausch erfolgen zudem häufig nur via Machine-toMachine-Kommunikation (Chen 2012). Anders ist es bei Supply Chain Collaboration und kollaborativer Innovationsentwicklung. Zwar können Unternehmen ihre Daten hier auch mit Enterprise-Resource-Planning(ERP)-Systemen bzw. Electronic Data Interchange (EDI) digital austauschen, jedoch ist dieser Austausch auch analog denkbar, wie z. B. über Face-to-Face-Meetings oder ausgedruckte Bestellformulare bzw. Lieferscheine. Bei Smart Services werden grundsätzlich Rohdaten von Sensoren gesammelt und an den Serviceanbieter gesendet. Eine Bearbeitung der Daten, z. B. in Form einer Datenaggregation, ist zum Zeitpunkt der Generierung und Übertragung nicht erfolgt, d. h. die Daten befinden sich noch immer in der Form, in der sie von den Sensoren gesammelt wurden. Erst nach der Analyse durch den Serviceanbieter kann dann von Informationen gesprochen werden, weil den Daten ein Sinn gegeben wird und Handlungsempfehlungen abgeleitet werden (Jagtap und Johnson 2011). Bei Supply Chain Collaboration hingegen werden keine Rohdaten ausgetauscht, sondern es werden Daten, z. B. zu Lagerbeständen, aggregiert und dann übertragen. Das heißt es wird dem anderen Unternehmen nicht jedes Mal mitgeteilt, dass ein weiteres Gut dem Lager hinzugefügt wurde. Erst am Schluss der Befüllung des Lagers werden die Daten zu den Lagerbeständen zusammengefasst und dann an das andere Unternehmen versendet. Hier kann nach Jagtap und Johnson (2011) schon von Information gesprochen werden, weil die Daten in einen Kontext gesetzt werden. Auch bei der Innovationsentwicklung spielt der Austausch von Daten und Informationen eine untergeordnete Rolle, denn der Fokus liegt hierbei auf dem Austausch von Wissen. Die Unternehmen, die bei der Entwicklung von Innovationen zusammenarbeiten, bevorzugen i. d. R. nicht die Weitergabe von einzelnen unbearbeiteten Daten, sondern die Aggregation von Informationen und damit von Wissen.

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3 Neue Herausforderungen durch die besondere Beschaffenheit des Datenaustauschs bei Smart Services Aufgrund der im vorigen Abschnitt genannten Merkmalsausprägungen beim Datenaustausch bei Smart Services ergeben sich neue Herausforderungen, die sich in Bedenken aufseiten der Kunden äußern und die es von Managern zu beachten gilt. Welche Herausforderungen dabei zu beachten sind, wurde durch erste Gespräche mit Experten aus der Praxis in Erfahrung gebracht. Basierend auf dem aktuellen Forschungsstand wurden diese zusätzlich um theoretische Überlegungen ergänzt. Das verwendete Kategorisierungsschema, das zur Gruppierung der Herausforderungen dient, ist theoretisch verankert in den Erkenntnissen des Privacy Calculus (Dinev und Hart 2006). Auch hier werden Kosten, wie in unserem Fall der Kontrollverlust durch die Datenfreigabe, den Nutzenpotenzialen gegenübergestellt. Da es sich bei Smart Services um eine Innovation handelt, haben wir uns mit dem Kategorisierungsschema auch an der Innovationsliteratur (z. B. Rogers 1988) orientiert, indem wir die Neuartigkeit des Angebots thematisieren.

3.1 Neuartigkeit des Angebots Die erste Herausforderung für die Akzeptanz von Smart Services ist, dass sich Unternehmen wenig unter Smart Services vorstellen können und diese als schwarze Magie bewerten (Grubic und Peppard 2016 S. 165). Vergleichsmöglichkeiten und Erfahrungswerte mit ähnlichen bereits verwendeten Services sind kaum vorhanden, weil der Datenaustausch in dieser Ausprägung neu ist. Unternehmen fehlt das Wissen bezüglich des genauen Ablaufs und der damit verbundenen Prozessschritte. Auch ist ihnen nicht verständlich, was sich genau hinter dem Datenaustausch verbirgt. Zwar können Serviceanbieter ihren Kunden erklären, dass Maschinendaten gesammelt und für die Vorhersage analysiert werden, jedoch bleibt die detaillierte Durchführung des Datenaustauschs und des darauf basierenden Smart Service intransparent. Folglich führen die Nichtgreifbarkeit des Smart Service sowie die Intransparenz des Datenaustauschs (Wünderlich et al. 2015) dazu, dass die Kunden bei ihrer Entscheidungsfindung ein starkes Gefühl der Unsicherheit in Bezug auf den potenziellen zukünftigen Nutzen wahrnehmen und gleichzeitig das Risiko einer Fehlentscheidung als sehr hoch einschätzen. Aufgrund der besonderen Art des Datenaustauschs zeigt sich auch, dass die Entscheidung über den Kauf eines Smart Service i. d. R. die Einbindung mehrerer Entscheidungsträger verschiedener Abteilungen erfordert. Die Entscheidungsträger können dabei je nach ihrer Funktion sehr unterschiedliche Gründe gegen die Einführung von Smart Services haben. Darüber hinaus fehlen den potenziellen Kunden oft die richtigen technischen Schnittstellen für Smart Services. Eine stabile und zuverlässige Infrastruktur stellt jedoch die Grundlage für Smart Services dar. Unternehmen müssen erst zusammen mit dem Smart Service Provider neue Schnittstellen schaffen und gegebenenfalls auch ihre Objekte und Infrastruktur auf den geforderten Stand bringen. Allein Zeit und Kosten für die Vorbereitung der Einführung von Smart Services können daher auf potenzielle Kunden abschreckend wirken.

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3.2 Nutzenabwägung Eine wichtige Herausforderung für Smart-Service-Anbieter ist es, den Kunden anhand von konkreten Prognosen aufzuzeigen, dass die Nutzenpotenziale von Smart Services die finanziellen und organisatorischen Kosten der Datenfreigabe rechtfertigen. Der Kundennutzen ist so entscheidend, weil er einen bedeutenden Grund für die Inanspruchnahme eines Smart Service darstellt (Grubic 2014). Unternehmen basieren ihre Entscheidung darauf, in welchem Verhältnis Kosten und Nutzen zueinander stehen, und erst wenn die Nutzenpotenziale größer sind als die Kosten, wird eine Investition in Smart Services in Betracht gezogen. Die Entscheidung über die Adoption eines Smart Service ist für die Entscheidungsträger beim Kunden i. d. R. mit einem sehr hohen Risiko und gleichzeitig aber nur mit langfristigem und unsicherem Nutzenpotenzial verbunden. Es fällt Unternehmen einerseits schwer, die sich durch die Nutzung von Smart Services ergebenden Vorteile vorzustellen oder in Zahlen zu beziffern. Darüber hinaus ist es auch für den Smart-Service-Anbieter schwierig, den Nutzen einer Technologie darzustellen, der auf die Verhinderung von negativen Ereignissen abzielt (Grubic und Peppard 2016). Deswegen ist eine reine Nennung der Vorteile durch die Inanspruchnahme von Smart Services ohne eine konkrete, faktenbasierte Quantifizierung der Nutzenpotenziale für die meisten Unternehmen nicht ausreichend. Auch gilt es zu beachten, dass die Entscheidung über Smart Services und die damit verbundene Datenfreigabe oft mehrere Personen im Unternehmen gemeinsam treffen und deshalb von einer erhöhten Rationalität der Entscheidung auszugehen ist. Dennoch werden B2B-Entscheidungen nicht vollkommen rational getroffen (Hill 1972), weil die Risikoaffinität, die Präferenzen und Eigeninteressen (Guth und Macmillan 1986) jedes einzelnen involvierten Individuums die letztliche Entscheidung beeinflussen. Die Unsicherheit bezüglich der Eintrittswahrscheinlichkeit und des Zeitpunkts potenzieller Vorteile durch die Einführung eines Smart Service birgt die Gefahr, einen negativen Einfluss auf die Karriere der Entscheidungsträger zu haben. Gerade wenn unklar ist, ob positive Entwicklungen durch eine Entscheidung für einen Smart Service schon so kurzfristig eintreten, dass sie noch direkt auf die Entscheidungsträger zurückgeführt werden und damit ihre Karriere unterstützen können, kann dies zu einer Entscheidungsverzögerung oder einem Abwehrverhalten führen, da in diesem Fall hohe unmittelbare Risiken unsicheren zukünftigen Gewinnen gegenüberstehen. Die Forschung zeigt, dass Personen grundsätzlich Verluste vermeiden wollen (Kahnemann und Tversky 2013). Deswegen ist es für potenzielle Smart-Service-Kunden nicht überzeugend genug, wenn die Anbieter nur unsichere, zukünftige Gewinne versprechen, die aber hohen Risiken gegenüberstehen. Zudem zeigt die Forschung, dass Unternehmen den Ruf von Anbietern in ihre Entscheidungsfindung einbeziehen (Brashear-Alejandro et al. 2014). Dabei versuchen potenzielle Kunden anhand des Rufs des Anbieters Rückschlüsse auf die Qualität der Dienstleistungserbringung zu ziehen, um so das Risiko eines Fehleinkaufs zu reduzieren (Hansen et al. 2008). Jedoch fällt es Unternehmen schwer, potenzielle

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Smart-Service-Anbieter zu beurteilen, weil sich der Ruf grundsätzlich auf die Kernkompetenz bezieht. Smart Services, wie Predictive Maintenance, erfordern aber neben Fähigkeiten im Maschinenbau auch IT-Kompetenzen, insbesondere hinsichtlich der Datensicherheit, weil es zusätzlich um den Transfer und die Analyse von Daten geht. Traditionellen Industriefirmen fehlt es aber i. d. R. noch an einer IT-bezogenen Reputation, was die Datenschutzbedenken der Kunden erhöhen kann. Deswegen haben Unternehmen Bedenken bezüglich ihrer Daten, wenn es darum geht, mit einem Smart-ServiceProvider, der aus einem traditionellen Industriebereich kommt, zusammenzuarbeiten.

3.3 Kontrollverlust und opportunistisches Verhalten Weitere Herausforderungen der Akzeptanz von Smart Services resultieren aus dem Kontrollverlust, den Unternehmen bei Smart Services befürchten (Ramachandran und Voleti 2004; Wünderlich et al. 2015). Grundsätzlich will der Kunde möglichst wenige Daten an andere Unternehmen weitergeben (Berry et al. 1994). Dies ist eine Schutzreaktion, um Geschäftsgeheimnisse und Wettbewerbsvorteile zu bewahren. Eine solche Schutzreaktion wird auch durch die Forschung zur Ressourcentheorie gestützt, die Daten als eine strategische Ressource des Unternehmens betrachtet (Barney 1991). Die für Smart Services benötigten Daten, z. B. die Zustandsdaten eines intelligenten Objekts, weisen eine hohe Sensibilität auf, weil sie in Bezug zum Kerngeschäft des Unternehmens stehen. Deswegen ist Datensicherheit ein Aspekt, den Unternehmen bei Smart Services als kritisch betrachten. Unternehmen befürchten, dass Dritte unberechtigt Zugriff auf die geschützten Daten erhalten oder der Serviceanbieter die Daten weitergibt (Paluch und Wünderlich 2016). Folglich könnten dadurch Dritte oder unautorisierte Unternehmen an unternehmensspezifisches Know-how gelangen. Berichte über Daten-Leakage oder über Industriespionage durch Cyberangriffe auf Großunternehmen verstärken diese Bedenken noch weiter. Auch befürchten potenzielle Kunden, dass ein Anbieter die Daten für eigene Zwecke nutzt, die so nicht vereinbart und abzusehen waren (Paluch und Wünderlich 2016). Beispielsweise kritisieren Unternehmen, dass der Smart-Service-Anbieter über eine große Datenmenge verfügt und anhand dieser in der Lage ist, Nutzungsprofile zu erstellen. So haben Unternehmen einerseits die Besorgnis, dass die Nutzungsprofile Rückschlüsse auf das unternehmensspezifische Know-how zulassen. Dadurch besteht die Möglichkeit für den Smart-Service-Anbieter, seine bisherige Wertschöpfung auf das Geschäftsfeld des Kunden auszuweiten und in der Folge als neuer Konkurrent auf dem Markt in Erscheinung zu treten. Darüber hinaus fürchten sie, dass die gewonnenen Daten und Nutzenprofile gegen sie verwendet werden könnten. Beispielsweise können Anbieter mit den über Smart Services gewonnenen Daten überprüfen, ob Maschinen ausschließlich im erlaubten Rahmen oder aber auch unsachgemäß genutzt wurden. Tritt bei dem Kunden später ein Problem auf, könnte der Anbieter die Überbelastung anhand der Daten nachweisen. Der Ausschluss von Haftungs- und Garantieansprüchen wäre die Folge.

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Zudem werden die Daten kontinuierlich und in Echtzeit an den Serviceanbieter übertragen und Unternehmen haben dadurch auch keine Möglichkeit mehr, diese vor der Übertragung noch zu prüfen oder abzuändern. Bei einem Smart Service wie Predictive Maintenance ist diese Art der Datenübertragung notwendig, um auf technische Defekte schnell reagieren zu können. Die kontinuierliche Übertragung und die daraus resultierenden Datenmengen führen auch dazu, dass Unternehmen den Überblick verlieren und sich durch die enorme Masse an Daten überwältigt fühlen. Sie sind sich nicht mehr im Klaren darüber, wann welche Daten in welchen Mengen gesammelt und übertragen werden. Auch können sie nicht sicher sein, dass der Serviceanbieter nicht mehr Daten sammelt als vereinbart. Zusätzlich können Unternehmen nicht kontrollieren, inwieweit die Daten nur für den vereinbarten Zweck der Dienstleistungserbringung verwendet werden. Die Tab. 1 fasst die identifizierten Bedenken und die damit verbundenen Herausforderungen noch mal stichpunktartig zusammen. Dieser Abschnitt hat gezeigt, dass durch die Besonderheiten des Datenaustauschs durch Smart Services auch ganz spezielle Herausforderungen entstehen.

Tab. 1  Herausforderungen und Bedenken bei Smart Services. (Quelle: Eigene Darstellung) Neuartigkeit

Nutzenabwägung

• Bezifferung des Nutzens • Kein Vergleich zu anderen schwierig ähnlichen Services aufgrund • Entscheidung bezügfehlender Erfahrungswerte lich Smart Services auch • Funktionsweise und Ablauf abhängig von individuellen des Smart Service unklar Präferenzen • Nichtgreifbarkeit des Smart • Fehlende Reputation bezügService lich IT und Smart Services • Intransparenz des Datenaustauschs • Unterschiedliche Meinungen unterschiedlicher Abteilungen • Fehlende technische Schnittstellen

Kontrollverlust und opportunistisches Verhalten • Unautorisierter Zugriff auf die Daten durch Dritte • Weitergabe der Daten durch Smart-Service-Anbieter • Ableitung von Nutzungsprofilen und Know-how durch Smart-Service-Anbieter • Übernahme des Kerngeschäfts des Kunden durch Smart-Service-Anbieter • Ausschluss von Garantieoder Haftungsansprüchen • Keine Prüfung und Bearbeitung der übermittelten Daten durch Kunde aufgrund Datenübertragung in Echtzeit • Verwendung der gesammelten Daten für nicht vereinbarte Zwecke • Sammlung zusätzlicher Daten ohne Einwilligung des Kunden

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4 Handlungsempfehlungen für die Lösung identifizierter Herausforderungen Im vorherigen Abschnitt wurden einige Herausforderungen aufgezeigt, die auf der besonderen Beschaffenheit des Datenaustauschs bei Smart Services beruhen. Der folgende Abschnitt soll mögliche Lösungsansätze und Handlungsempfehlungen geben, wie Manager mit den genannten Herausforderungen und Bedenken ihrer Kunden umgehen können, um die Akzeptanzrate von Smart Services zu steigern. Ebenso wie die Herausforderungen beruhen die aufgezeigten Lösungsansätze sowohl auf Erkenntnissen aus Gesprächen mit Experten aus der Praxis als auch auf theoretischen Überlegungen.

4.1 Mögliche Lösungsansätze zur Minderung der Herausforderung Neuartigkeit Eine mögliche Strategie, um die Neuartigkeit und Intransparenz der Smart Services zu vermindern, ist es, den Kunden möglichst früh in den Entwicklungsprozess zu integrieren. Dies lässt sich auch theoretisch mit dem Not-invented-here-Syndrome begründen. Das besagt, dass Mitarbeiter Innovationen, die von außerhalb ihres Unternehmens kommen, skeptisch gegenüberstehen (Katz und Allen 1985). Durch die Einbindung des Kunden in den Entwicklungsprozess kann dem entgegengewirkt und die Akzeptanz innerhalb des Unternehmens gesteigert werden. Der Smart Service kann durch die Kundenintegration an die exakten Bedürfnisse des Kunden angepasst werden und dementsprechend einen höheren Nutzen für den Kunden stiften. Überflüssige Komponenten des Smart Service können dadurch schneller identifiziert und ausgeschlossen werden. Auch sollte die Kundenintegration idealerweise iterativ ablaufen, sodass der Kunde die Anpassungen im Prozess mitverfolgen und mitgestalten und eine Fehlentwicklung vermieden werden kann. Durch diese Einbindung erhöht sich die Transparenz des Dienstleistungsprozesses für den Kunden. Kunden können somit deutlich besser nachvollziehen, warum welche Daten zu welchem Zeitpunkt benötigt werden. Eine weitere denkbare Strategie ist die Visualisierung des gesamten Prozesses, beispielsweise mit Prototypen. Dies ist einerseits vor der finalen Entwicklung denkbar. Auf diese Weise kann der Smart Service entsprechend der spezifischen Bedürfnisse des Kunden gestaltet werden und eventuell auftretende Probleme möglichst früh adressiert werden. Andererseits ermöglicht ein Prototyp auch die Visualisierung des fertig entwickelten Smart Service beim Kunden. So kann der Kunde besser nachvollziehen, welche Informationen aus den erhobenen Daten in welcher Form auf dem Bildschirm beim Anbieter erscheinen. Der Kunde kann den Ablauf der Dienstleistung durch die Visualisierung mithilfe eines Prototyps besser verstehen und mit bisher implementierten Anwendungen vergleichen.

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Ein wesentlicher Treiber für den Erfolg ist die Schaffung einer vertrauensvollen Basis zwischen den beteiligten Unternehmen, denn Vertrauen kann grundsätzlich als wesentliche Voraussetzung für jegliche Unternehmenskooperation angesehen werden (Coulter und Coulter 2003). In der Wissenschaft wurde auch gezeigt, dass diese Beziehungsarten gerade den Einkauf von innovativen Produkten positiv beeinflussen (Obal und Lancioni 2013). Der Kunde ist bei einem hohen Vertrauensniveau eher bereit, sich auf etwas Neues einzulassen. Es ist daher davon auszugehen, dass v. a. Kunden, zu denen bereits eine langfristige Geschäftsbeziehung besteht, eine höhere Akzeptanz für Smart Services haben sollten. Ferner erscheint es sinnvoll, dem Kunden zunächst eine zeitlich begrenzte kostenlose Testphase für den Smart Service zu gewähren (Rogers 2003). Auf diese Weise kann sich der Kunde selbst von den Vorteilen der Anwendung überzeugen und ist eher gewillt, seine Daten freizugeben. Dies ist nur möglich, falls die notwendige Infrastruktur beim Kunden bereits besteht und nicht zuvor teure Investitionen getätigt werden müssen. Sobald erste greifbare Ergebnisse vorliegen, sollte sich eine erhöhte Akzeptanz beim Kunden einstellen. Die Effektivität von kostenfreien Testversionen für Innovationen wurde bereits in früheren Studien bestätigt und als sinnvoll erachtet (Cusumano et al. 2015; Kindström 2010; Rogers 2003). Zudem ist es ratsam, bei den Einkaufsgesprächen sicherzustellen, dass sämtliche betroffenen Stakeholder aus dem Kundenbetrieb miteinbezogen werden. Naheliegend sind beispielsweise Vertreter aus der Einkaufsabteilung, der IT-Abteilung und dem betroffenen Produktionsbereich. Dieses Vorgehen ermöglicht eine direkte Adressierung von Bedenken aus den verschiedenen Bereichen und fördert die unternehmensweite Kenntnis und die Akzeptanz für den Smart Service beim Kunden. Letztlich sollte das Angebot des Smart Service an den Grad von Digitalisierung und Technologisierung des Kunden angepasst werden. Ein zu fortschrittlicher Smart Service mit hohen Anforderungen an die Infrastruktur kann den Kunden möglicherweise überfordern. Die Schnittstellen zur bestehenden technologischen Infrastruktur des Kunden sollten idealerweise schon vorhanden oder mit wenig Aufwand umsetzbar sein, um eine möglichst einfache Integration sicherzustellen. Notfalls sollte übergangsweise auf eine vereinfachte Smart-Service-Version mit weniger Funktionen zurückgegriffen werden.

4.2 Mögliche Lösungsansätze zur Minderung der Herausforderung Nutzenabwägung Bei geschäftlichen Entscheidungsprozessen spielt im Allgemeinen die Abwägung von Kosten und Nutzen eine entscheidende Rolle. Diese Herausforderung zu mindern, ist ein wesentlicher Punkt, um die Adoptionsrate von Smart Services zu erhöhen. Infolgedessen ist es ratsam, den Kundennutzen möglichst detailliert und idealerweise anhand konkreter Zahlen mit Nachweisen über beispielsweise Kosteneinsparungen zu belegen. Da die Entscheidung für die Einführung eines Smart Service mit einem sehr hohen kurzfristigen Risiko und gleichzeitig aber nur mit langfristigen und unsicheren Nutzenpotenzialen

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verbunden ist, sollten idealerweise bereits beim Verkaufsgespräch kurzfristige und dokumentierbare Vorteile aufgezeigt werden. Idealerweise sollten sich erste positive Effekte der Einführung bereits innerhalb kurzer Zeit abzeichnen und anhand konkreter Benchmarks nachweisbar sein, die beispielsweise den Abnutzungsgrad oder die Anzahl der Maschinenstillstände darstellen. Dies hilft den Entscheidungsträgern, beim Kunden ihre Entscheidung für den Smart Service zu begründen. Da Unternehmen Daten als Ressource ansehen und deshalb den Datenabfluss in ihrer Abwägung eventuell als Kosten bewerten, wäre es beispielsweise auch denkbar, die übermittelte Datenmenge vonseiten des Kunden so gering wie möglich zu halten. Wenn der Smart-Service-Anbieter von den analysierten Daten auch profitieren kann, z. B. für die eigene Produktoptimierung, wäre auch ein Entgegenkommen bei den Kosten denkbar. Zudem sollte berücksichtigt werden, dass es sich bei der kundenseitigen Risikowahrnehmung nicht um einen rationalen Prozess handelt (Thiesse 2007), weshalb zwischenmenschliche Maßnahmen von großer Bedeutung für den Erfolg eines Smart Service sind. So sollten auch individuelle Risikopräferenzen der Entscheider beim Kundenunternehmen berücksichtigt und adressiert werden. Eine weitere empfehlenswerte Strategie zur Senkung von Bedenken auf Kundenseite ist die Nennung von namhaften Referenzkunden und Zertifizierungen. Die Vorteilhaftigkeit von positiven Referenzen wurde bereits in der Wissenschaft gezeigt (Helm und Salminen 2010). Daher könnte es durchaus lohnenswert sein, den Referenzkunden den Smart Service relativ günstig zur Verfügung zu stellen und durch die Referenz schneller andere Unternehmen von den Vorteilen zu überzeugen. Dies dient als Orientierungshilfe für die Kunden und erhöht zu einem gewissen Grad den Konkurrenzdruck. Unternehmen können sehen, dass andere Unternehmen oder die Konkurrenz bereits Smart Services erfolgreich nutzen. Darüber hinaus ist eine Zusammenarbeit mit einem Unternehmen sinnvoll, das sich bereits eine positive Reputation in Bezug auf Datenauswertung und Digitalisierung erarbeitet hat. Damit wird aufgezeigt, dass die notwendige Kompetenz vorhanden ist.

4.3 Lösungsansätze zur Minderung der Herausforderung Kontrollverlust und opportunistisches Verhalten Letztlich wollen wir nun auch mögliche Handlungsempfehlungen aufzeigen, um dem Hemmnis Angst vor Kontrollverlust entgegenzuwirken. Dem Kunden sollte die Möglichkeit gegeben werden, die Datenübertragung jederzeit manuell unterbrechen zu können, beispielsweise mithilfe eines Hardwareschalters direkt an der jeweiligen Maschine (Paluch und Wünderlich 2016). Dies gibt den Kunden das Gefühl von höherer Kontrolle über den Prozess (Paluch und Wünderlich 2016). Eine weitere Variante ist das Eingrenzen der übertragenen Datenmenge anhand vordefinierter Regeln. So kann der Kunde festlegen, dass wirklich nur die notwendigen Daten zur Verfügung stehen und dies auch nur in dem spezifischen Zeitraum, in dem sie benötigt werden. Um den Bedenken

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gegenüber des Haftungsausschlusses oder der Angst vor Garantieausfällen vorzubeugen, sollten die juristischen Rahmenbedingungen durch vertragliche Vereinbarungen im Vorhinein geklärt sein. Potenzielle Vertragsinhalte können dabei der Verwendungszweck, der Zeitpunkt der Übermittlung, Speicherdauer der jeweiligen Daten o. ä. sein. Dies vermittelt ein Gefühl von Sicherheit sowohl beim Anbieter als auch beim Kunden. Ein weiterer möglicher Lösungsansatz ist die Eingrenzung der Personenzahl, die die Verbindung zwischen den Daten und dem konkreten Kunden herstellen kann. Beispielsweise können die Daten nur mit einer Kunden- oder Maschinennummer verknüpft sein und nur der Vertriebskontakt kann die Nummer als zugehörig zu einem gewissen Kundennamen zuordnen. Zu beachten gilt auch, dass ein Gleichgewicht zwischen dem Daten-Inflow und dem Daten-Outflow zwischen den beteiligten Unternehmen angestrebt wird. Dies bedeutet, dass für die hohe Anzahl an Rohdaten, die vom Kunden geliefert wird, eine entsprechende Analyse in Form von Qualität und Umfang durchgeführt wird. Die Menge der zurückfließenden Daten mag zwar im Vergleich zu den übermittelten Rohdaten geringer sein, jedoch handelt es sich dabei um wertvolle Informationen, aus denen Handlungsempfehlungen abgeleitet werden können. Im vorangegangen Kapitel haben wir mögliche Handlungsempfehlungen aufgezeigt, um den neuartigen Herausforderungen, die durch die Besonderheiten des Datenaustauschs für Smart Services entstehen, zu begegnen. Die Tab. 2 stellt einen zusammenfassenden Überblick der erarbeiteten Handlungsempfehlungen dar. Tab. 2  Handlungsempfehlungen zu Smart Services. (Quelle: Eigene Darstellung) Neuartigkeit

Nutzenabwägung

Kontrollverlust und opportunistisches Verhalten

• Integration des Kunden in die Entwicklung des Smart Service • Visualisierung der Abläufe anhand eines Prototypens • Vertrauensförderung durch langfristige und partnerschaftliche Kundenbeziehung • Frühestmögliche Identifizierung relevanter Stakeholder und Adressierung derer Bedenken • Anpassung des Smart Service an den Technologisierungsund Digitalisierungsgrad des Kunden

• Kundenspezifische Nennung und Berechnung der Vorteile durch Smart Services • Zwischenmenschliche Interaktion für individuelle Bedenken • Nennung und Beweis auch kurzfristiger Vorteile • Nutzung von Referenzkunden oder -projekten • Kooperation mit Unternehmen mit entsprechender Reputation im IT-Bereich

• Kundenseitiger Hardwareschalter zur Kontrolle der Datenübertragung • Implementierung vordefinierter Regeln zur Datensammlung und -übertragung • Festlegung vertraglicher Rahmenbedingungen bezüglich Smart Services und Datenaustausch • Anonymisierung der Daten • Beachtung des Gleichgewichts an Daten bezüglich Menge und Qualität

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Die genannten Handlungsempfehlungen zielen darauf ab, ein spezifisches Hemmnis zu vermindern. Eine Möglichkeit, um gleichzeitig mehrere Bedenken adressieren zu können, könnte es auch sein, das etablierte Geschäftsmodell umzustellen und statt dem Verkauf von Smart Services wie Predictive Maintenance ein leistungsbasiertes Modell einzuführen. In der Literatur wird diese Herangehensweise als Performance-based Contracting bezeichnet (Selviaridis und Wynstra 2015). Unter Performance-based Contracting verstehen wir, dass der Kunde statt dem Produkt vom Anbieter eine garantierte Leistung erwirbt. Damit steht der reine Verkauf einer Maschine nicht mehr im Vordergrund, sondern die Bereitstellung der Funktionalität der Maschine und die Abrechnung der durch den Kunden genutzten Leistung. Für den Kunden ist es wichtiger, dass seine Bedürfnisse befriedigt sind als der Besitz der Maschine (Ng und Nudurupati 2010). Ein bekanntes Beispiel aus der Praxis ist Power-by-the-hour von Rolls-Royce. Hierbei verkauft Rolls-Royce die geflogenen Stunden an den Kunden statt dem traditionellen Verkauf des Motors (Neely 2008). Dadurch kann die Haftungsproblematik umgangen werden, weil sämtliches Risiko diesbezüglich auf den Anbieter übergeht, der dafür verantwortlich ist, die vom Kunden geforderte Leistung zur Verfügung zu stellen (Glas und Essig 2008). Zudem erscheint es dem Kunden plausibler, dass die Nutzungsdaten bereitgestellt werden müssen, weil sie die Abrechnungsgrundlage bilden und der Anbieter auch für Reparaturen im Fall eines Maschinenausfalls verantwortlich ist (Mont 2001). Da die Maschine nicht mehr Eigentum des Kunden ist, könnte es auch sein, dass die Daten nicht mehr so stark als Eigentum des Kunden wahrgenommen werden. Doch die Herangehensweise über das Geschäftsmodell des Performance-based Contracting erfordert genauso wie der Verkauf von Smart Services die vorherige vertragliche Abstimmung des Datenaustauschs. Diesem Umstand ist es geschuldet, dass auch hier die bereits diskutierten Bedenken und Herausforderungen beim Kunden teilweise entstehen können. Ein weiterer allgemeiner Ansatz, der mehrere Bedenken gleichzeitig reduziert, könnte die Etablierung einer Kultur der Offenheit in Bezug auf den Austausch von Daten sein. Gemeint ist hier, dass sich auch der Smart-Service-Anbieter öffnet und nicht nur Daten vom Kunden sammelt, sondern diesem auch eigene Daten zurückspielt. Hierbei könnte es sich auch um Daten eines größeren Unternehmensnetzwerks handeln, in dem der Anbieter agiert. Während momentan viele Anbieter Daten sammeln und dabei selbst möglichst wenig preisgeben wollen, könnte es für die Unternehmen sinnvoller sein, in größeren Ökosystemen zu denken, in denen neben Geld und Sachgütern auch Daten ausgetauscht werden. Ähnlich wie bei gemeinsamer Innovationsentwicklung ist der Smart Service dann als Prozess der gemeinsamen Wertgenerierung durch Ressourcenintegration der beiden Firmen zu verstehen (Russo-Spena und Mele 2012). In diesem Fall sind die Ressourcen Daten und Informationen. Diese Denkweise und Offenheit entsprechen einer neuen Logik, die im Widerspruch zum eher protektionistischen IstZustand ist. Dementsprechend stehen viele Unternehmen diesem Ökosystemgedanken momentan noch mit großer Skepsis gegenüber. Aktuell fehlen oftmals noch die Kompetenzen innerhalb der Unternehmen, solch komplexe Geschäftsbeziehungen zu managen.

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5 Zusammenfassung und Ausblick Die Datenfreigabe ist eine zwingende Notwendigkeit für die Bereitstellung von Smart Services als konkretes Anwendungsgebiet von Industrie 4.0. Zusammenfassend können wir festhalten, dass Smart Services eine neue Qualität des Datenaustauschs erfordern, die sich von anderen Datentauscharten wie bei Supply Chain Collaboration und Innovation Management deutlich unterscheidet. Besonders hervorzuheben sind hierbei die erforderliche Kontinuität des Datenaustauschs und die Übertragung von Rohdaten in Echtzeit. Durch die Besonderheiten des Datenaustauschs bei Smart Services sind spezifische Kompetenzen bei Smart-Service-Anbietern erforderlich, um sich den daraus erwachsenden, neuartigen Herausforderungen zu stellen. Eine Vielzahl an Herausforderungen, die es zu überwinden gilt, haben wir in unserem Beitrag thematisiert. Anzuführen sind diesbezüglich die Neuartigkeit und Unbekanntheit von Smart Services, die Kosten-Nutzen-Abwägungen und die Angst vor Kontrollverlust. Zudem haben wir erste Lösungsansätze und Handlungsempfehlungen aufgrund von Erkenntnissen aus Gesprächen mit Praxisvertretern und theoretischen Überlegungen erarbeitet. Welche Charakteristika des Kunden sich auf die Wahrnehmung der Datenfreigabe im Kontext von Smart Services in besonderem Maß auswirken und welche Strategien sich am ehesten eignen, um die Hemmnisse der Kunden zu reduzieren, wird Gegenstand zukünftiger Forschung sein. Auch gilt es konkreter zu testen, welche Rolle Geschäftsmodelle in diesem Zusammenhang spielen. Durch die Dynamik der Industrie 4.0 werden traditionelle Geschäftsmodelle z. T. überholt und neue Geschäftsmodelle finden Einzug. Die bisherige Forschung liefert hier nur unzureichende Antworten und bedient sich hauptsächlich der Umfrageforschung. Hier könnte die weitere Forschung stattdessen experimentelle Designs einsetzen, um konkretere und validere Aussagen über die Auswirkungen unterschiedlicher Geschäftsmodelle auf das Datenfreigabeverhalten bei Smart Services zu erhalten und daraus Ansatzpunkte und Empfehlungen für die Gestaltung von Geschäftsmodellen in diesem Bereich ableiten zu können.

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Curd-Georg Eggert,  M.Sc., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand am Lehrstuhl für Marketing und Innovation an der Universität Passau. Corinna Winkler,  M.Sc., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Marketing und Innovation an der Universität Passau. Prof. Dr. Jan H. Schumann  ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Marketing und Innovation an der Universität Passau. Die aktuellen Forschungsinteressen von Prof. Dr. Schumann sind Online-Marketing, Technologie- & Innovationsmarketing, das Management von Kundenbeziehungen sowie Internationales Marketing.

Teil IV Industrie 4.0 und Digitale Transformation von IT, Innovation und Organisation

Künstliche Intelligenz: Strategische Herausforderungen für etablierte Unternehmen Justus Wolff, Andreas Keck, Andreas König, Lorenz Graf-Vlachy und Julia Menacher

1 Einleitung Ohne Zweifel ist das Phänomen der Industrie 4.0 für sich gesehen eine einschneidende Entwicklung in der globalen Wirtschaft (König und Graf-Vlachy 2017). Was die ­Industrie 4.0 allerdings zu einer besonders großen Herausforderung werden lässt, ist die Tatsache, dass gleichzeitig mit ihr zahlreiche weitere radikale und aus der Digitalisierung und Vernetzung entspringende Veränderungen einhergehen. Zusammen mit der ­Industrie 4.0 werden sie die ökomischen, politischen und sozialen Rahmenbedingungen unserer Gesellschaft entscheidend verändern. Von vielen Experten (beispielsweise Russell und Norvig 2009, Dopico et al. 2016) wird v. a. eine dieser Veränderungen im gleichen Wir danken Hendrike Werwigk für editorische Unterstützung bei der Erstellung dieses Beitrags. J. Wolff (*)  Syte Institute for Digital Health, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] A. König · L. Graf-Vlachy  Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] L. Graf-Vlachy E-Mail: [email protected] J. Menacher  LMU München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] A. Keck  Syte Institute for Digital Health, Hamburg, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_21

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J. Wolff et al.

Atemzug mit Industrie 4.0 genannt: Die künstliche Intelligenz (KI). In diesem Beitrag setzen wir das derzeit allgegenwärtige Thema der KI in einen betriebswirtschaftlichen Kontext und beleuchten zentrale mit der KI verbundene strategische Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für Unternehmen. In der Tat scheint es notwendig, sich im Kontext der Industrie 4.0 auch mit der sich in den vergangenen Jahren exponentiell entwickelnden Technologie der KI zu beschäftigen. Vor allem führt uns die KI vor Augen, dass wir uns, wenn wir die Industrie 4.0 betrachten, nicht nur auf die Schwierigkeiten beschränken können, die durch den Einzug digitaler Strukturen und Prozesse sowie die steigende Vernetzung entstehen. Vielmehr müssen wir uns bewusst werden, dass sich durch die KI die Rolle des Menschen in der Schaffung und Abschöpfung von ökonomischem Wert ganz grundlegend wandeln könnte (Furman 2016; McKinsey Global Institute 2017; Lindebaum et al., 2019). Insbesondere kann die fortschreitende Weiterentwicklung der KI dazu führen, dass Unternehmen bereits in naher Zukunft für zentrale Entscheidungen eine computerbasierte Unterstützung erhalten oder von der Entscheidungsfindung sogar vollumfänglich befreit werden. Dies lässt sich etwa bereits am Finanzmarkt beobachten, wo schon heute Portfolios von Anlegern automatisiert verwaltet und bei Veröffentlichung neuer Informationen angepasst werden, ohne dass die Anleger das Kapitalmarktgeschehen aktiv beobachten müssen (Chaboud et al. 2014; Kirilenko und Lo 2013). Unsere persönlichen Beobachtungen – genauso wie auch die wachsende Literatur zu diesem Thema (Dopico et al. 2016) – zeigen, dass diese und andere Veränderungen v. a. etablierte Unternehmen vor fundamentale Herausforderungen stellen. Drei Fragen stehen hierbei immer wieder im Vordergrund, denn ihre Beantwortung wird notwendig sein, um KI – und damit auch Industrie 4.0 – strategisch nutzen zu können und für den kommenden Ansturm neuer, digitalisierungszentrierter Spieler gewappnet zu sein: 1. Was ist KI? 2. Welche grundlegenden Anwendungsfelder und Entwicklungsphasen der KI gibt es? 3. Welche Herausforderungen bestehen für etablierte Unternehmen bei der Implementierung von KI und welche Handlungsempfehlungen ergeben sich? In diesem Beitrag adressieren wir diese Fragen. Unser Ziel ist es, einen ersten ­Überblick nicht nur hinsichtlich konzeptioneller, sondern v. a. auch unternehmerischer Fragen zu geben. Hierbei versuchen wir, die in unserem Autorenteam vereinten Erfahrungen aus wissenschaftlichen Studien sowie Beratungsprojekten mit zahlreichen Unternehmen zu nutzen, um möglichst konkrete Handlungsempfehlungen für Entscheidungsträger abzuleiten. Die Kernbeiträge dieses Kapitels bestehen in einem strukturierten Überblick zum Thema KI im Unternehmenskontext sowie einem generischen Drei-Phasen-Modell zur künftigen Entwicklung von KI als unerlässlichem Bestandteil zukünftig erfolgreicher Unternehmen. Im gesamten Beitrag diskutieren wir immer wieder konkrete Fallbeispiele, um Konzepte, Chancen, Risiken und Herangehensweisen möglichst praxisnah zu vermitteln. Viele dieser Beispiele sind aus dem Bereich der Gesundheitsindustrie ausgewählt worden, u. a. da dieses Segment seit Jahren die stärksten Mergers-and-Acquisitions (M&A)-Aktivitäten hinsichtlich der KI aufweist (CB Insights 2018).

Künstliche Intelligenz: Strategische Herausforderungen …

507

2 Definition und Entwicklung von künstlicher Intelligenz 2.1 Definition, Unterschiede zur traditionellen Software und allgemeine Entwicklung Was ist KI? Diese Frage wird in einer breiten und interdisziplinären akademischen Debatte diskutiert (Bostrom 2014; Kurzweil 2005; Russell und Norvig 1995; 2009; ­Tegmark 2017), die der Physiker Stephen Hawking als „the most important conversation of our time“ (Tegmark 2017) bezeichnet. Wie Russell und Norvig (2009) zusammenfassen, reichen die Definitionen der KI von einer Think-Humanly-Perspektive, also einem Verständnis von KI als „activities that we associate with human thinking, activities such as decision making, problem solving, [and] learning“ (Bellman 1978, S. 12) bis hin zu einem Think-Rationally-Ansatz, der KI als „computations that make it possible to perceive, reason, and act“ (Winston 1992, S. 5) betrachtet. Andere Konzepte assoziieren mit KI das „acting humanly“ im Sinn der Erfüllung von „functions that require intelligence when performed by people“ (Kurzweil 1990, S. 14) und „acting rationally“ als dem „design of intelligent agents“ (Poole et al. 1998, S. 1). Allerdings: Das eine kanonische Werk zur KI, ihrer Definition und Bedeutung für Organisationen liegt nicht vor. In unserem Beitrag verstehen wir daher KI sehr allgemein als die Fähigkeit von Maschinen, eigenständige Intelligenzleistungen zu erbringen, d. h. Entscheidungen zu treffen und Probleme zu bearbeiten und in diesem Rahmen menschliche Entscheidungsstrukturen, Problemlösungsansätze und Lernen nachzuahmen und mit Grundsätzen der Logik und des rationalen Handels zu verknüpfen (s. beispielsweise Russell und Norvig 2009, S. 1–5).1 Wie die oben genannten Konzeptualisierungen aufzeigen, liegt ein Kernmerkmal der KI darin, dass mit ihr versucht wird, menschliche kognitive – und in jüngster Zeit ­verstärkt auch emotionale – Strukturen und Prozesse der situativen Interpretation von Stimuli, der Entscheidungsfindung und des Lernens und Problemlösens nachzubilden. KI ermöglicht es Maschinen, Unmengen an Daten verschiedener Strukturen (beispielsweise Zahlen, Texte, Bilder, Geräusche) eigenständig zu erfassen, zu strukturieren, auszuwerten und zueinander in Beziehung zu setzen. KI kann in diesen Strukturen Muster und Zusammenhänge erkennen und daraus für verschiedene Zwecke und Informationsbedürfnisse zukünftige Entwicklungen auf Basis bestehender Beobachtungen antizipieren und gegebenenfalls darauf reagieren. Ein besonders beeindruckendes aktuelles KI-Beispiel ist die Software AlphaGo Zero von Alphabets Tochterunternehmen DeepMind, die mithilfe von KI übermenschliche 1Interessanterweise

erläutern bereits recht frühe Quellen die möglichen unternehmerischen Konsequenzen sowie die sozialen und ökonomischen Einflüsse von KI. Kurzweil (2005) beschreibt beispielsweise die unternehmerischen Implikationen intelligenter Maschinen und diskutiert Phänomene wie die Dezentralisierung, die Automatisierung sowie den Wandel hin zu einer virtuellen Realität. Russell und Norvig (2009) analysieren die Konsequenzen von KI für Unternehmen und ihre Mitarbeiter aus einer philosophischen Perspektive.

508

J. Wolff et al.

Fähigkeiten entwickelte. Der Algorithmus der Software basierte lediglich auf den Spielregeln eines Brettspiels, mithilfe dessen er nun gegen sich selbst spielte. Bereits nach wenigen Stunden verfügte die Software in diesem Brettspiel über eine Spielstärke, die nicht nur menschlichen Spielern, sondern auch den bisher besten Computerprogrammen überlegen ist (Silver et al. 2017). Die Software generierte hierfür zunächst ihre eigenen Trainingsdaten, extrahierte daraus die zum erfolgreichen Spiel notwendigen Muster und wendete sie auf bisher unbekannte Situationen, nämlich das Spiel gegen menschliche und Computergegner, an. Ein weiteres Beispiel für KI, das den Alltag des Menschen maßgeblich verändern könnte, sind intelligente maschinelle Anrufassistenten, wie etwa das zuletzt von Google vorgestellte sprachbasierte System Duplex, das eigenständig Terminvereinbarungen vornehmen kann. KI wie Duplex hat nicht nur das Potenzial, den Menschen durch Übernahme alltäglicher Aufgaben zu entlasten, sondern sie gestaltet auch die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine neu. KI ergänzt die eingeschränkte menschliche Verarbeitungskapazität weit mehr als die bisher eingesetzte traditionelle Software und unterscheidet sich von letzterer auch in Bezug auf den Input, den Prozess sowie den Output. Hinsichtlich des Inputs kann KI z. B. weit mehr Ausprägungen verarbeiten als nur alphanumerische Zeichen, nämlich jedwedes digital erfassbare Signal (beispielsweise Geräusche oder Berührungen). Darüber hinaus basiert der Auswertungsprozess nicht mehr ausschließlich auf vordefinierten Algorithmen, sondern umfasst etwa menschenähnliches Suchverhalten, logisches Schließen, maschinelles Lernen und Wissensstrukturierung und -darstellung. Zuletzt stellt auch der Output nicht mehr notwendigerweise eine Sequenz alphanumerischer Zeichen dar; stattdessen kann er beispielsweise in Form von schriftlicher oder tatsächlicher Sprache auftreten oder physikalische Objekte aktiv manipulieren und steuern. Auf diese Weise trägt KI beispielsweise im Gesundheitsbereich bereits heute u. a. dazu bei, die Ausbreitung von infektiösen Erkrankungen vorherzusagen (Guo et al. 2017), die Krebstherapie zu optimieren (Huang et al. 2017; Low et al. 2017) die Diagnostik zu verbessern, z. B. bei der Auswertung von Röntgenbildern in der Radiologie (Topol 2019). Die Abb. 1 zeigt, wie rasant die Entwicklung der KI in den vergangenen Jahren vorangeschritten ist und welchen paradigmatischen Wandel Experten von ihr erwarten. Unterhalb des Zeitstrahls sind Meilensteine dieser Entwicklung aufgeführt. Hierzu gehören z. B. der Turing-Test (in dem in einem Blindversuch jeweils ein Mensch und eine Maschine versuchen, den Tester davon zu überzeugen, dass sie ein denkender Mensch sind; Turing 1950); die ersten KI-Programme von Allen Newell und Herbert Simon – beispielsweise Logic Theorist und General Problem Solver, die Grundpfeiler der KI und ihrer Entwicklung darstellen (Simon und Newell 1971); die darauffolgenden, oft als erfolgreich und hoffnungsvoll beschriebenen Jahre der KI, in denen fortgeschrittene KI-Programme entwickelt wurden (z. B. das Lernen von Algebra und Sprachen durch Computer; Crevier 1993, S. 52–107; Moravec 1988, S. 9, Russell und Norvig 2009, S. 18–21) und die Forschung zur Informationsverarbeitung und zum menschlichen Problemlösen stark voranschritt (s. etwa Simon und Newell 1971, S. 148); sowie die Renaissance künstlicher neuronaler Netzwerke (d. h. mathematische Strukturen für die

1965

1985: Renaissance neuronaler Netzwerke

2016: „AlphaGo“ schlägt weltbesten Go-Spieler

Seit 1990: Ansatz der „Distributed AI“ und Auftrieb aller KI-Bereiche

1997: IBMs „DeepBlue“ schlägt Schachmeister

Abb. 1   Entwicklung künstlicher Intelligenz im Überblick. (Quelle: In Anlehnung an AITopics 2017)

1967: „Mac Hack“ schlägt menschlichen Schachspieler

1955-56: Erstes KIProgramm „Logic Theorist“

70er Jahre: Streit um starke vs. schwache KI

2017: Google stellt „AlphaGo Zero“ vor

2016

Künstliche Intelligenz

21. Jh.: Big Data und KIKommerzialisierung

1997

Menschliche Intelligenz

1980er

ANI

1975-85: Aufkommen von Expertensystemen (z.B. „MYCIN“)

1975

1965: Erster Chatbot „ELIZA“

1957-65: Entwicklung weiterer KI-Programme (z.B. „General Problem Solver“)

1956

1956: Begriffseinführung und erste KI-Konferenz

1950: Idee des TuringTests auf KI

1950

Theoretische Vorarbeiten zur KI und Überlegungen zur formalen Argumentation

Zentrale Ereignisse

Alte Griechen

Intelligenz

Künstliche Intelligenz

ASI Artificial Superintelligence

AGI Artificial General Intelligence

Zeit

Künstliche Intelligenz kann sich selbst verbessern

Möglichkeit der „technologischen Singularität“

ASI

ANI Artificial Narrow Intelligence

KI

Legende

AGI

Künstliche Intelligenz: Strategische Herausforderungen … 509

510

J. Wolff et al.

Nachbildung biologischer Nervenverbindungen; McCulloch und Pitts 1943; Anthony und Bartlett 2009). Oberhalb des Zeitstrahls ist die Intelligenzleistung der KI im ­Vergleich zum Menschen stilisiert angegeben. Aufgrund dieses Vergleichs lässt sich die Entwicklung der KI in drei Phasen einteilen: • Artificial Narrow Intelligence (ANI): In dieser Phase befinden wir uns heute. Sie ist dadurch gekennzeichnet, dass Maschinen zu außerordentlichen Leistungen fähig sind, die KI jedoch der Intelligenz des Menschen unterlegen ist. Vor allem ist KI noch auf spezielle Bereiche fokussiert und außerordentlich teuer. Beispielsweise konnte im Jahr 1996 der Computer Deep Blue von IBM den damals amtierenden Schachweltmeister Garri Kasparow schlagen, also eine ähnliche Rechenleistung wie das menschliche Gehirn erreichen. Jedoch war dieser Computer nur eingeschränkt für generelle Aufgabenstellungen brauchbar und benötigte zugleich besondere Ressourcen – u. a. wies er den Stromverbrauch eines Hochhauses auf (Kurzweil 2005, S. 260). • Artificial General Intelligence (AGI): In dieser zweiten Phase – sie wird auch häufig als „Strong AI“ oder „Full AI“ bezeichnet (Kurzweil 2005, S. 260) – werden u. a. durch Lern- und Planungsprozesse verschiedenste Aufgaben intelligent gelöst und es wird eine Art Gewissen aufseiten des Computers erwartet. Diese Phase tritt nach aktuellen Schätzungen von Experten ungefähr ab dem Jahr 2040 ein (Müller und Bostrom 2016). • Artificial Superintelligence (ASI): In dieser dritten Phase soll die sog. technologische Singularität erreicht werden, in der sich die KI selbst verbessern kann und der Intelligenz des Menschen systematisch überlegen ist. Dies betrifft u. a. kreative Bereiche, die Fähigkeit zur Problemlösung oder auch soziale Fähigkeiten. Die ASI beginnt nach unterschiedlichen Schätzungen in erster Form innerhalb der nächsten 30 Jahre nach Eintreten der AGI (Müller und Bostrom 2016).

2.2 Anwendungsvielfalt und Innovationspotenzial der künstlichen Intelligenz KI kommt in den verschiedensten Formen und in verschiedenen Branchen und Tätigkeitsfeldern zum Einsatz und ist bereits in zahlreichen innovativen Anwendungsformen implementiert. Besonders bekannt sind bereits automatisierte Kommunikationsanwendungen wie z. B. Amazons Alexa oder Apples Siri. Die Implementierung variiert jedoch stark je nach Einsatzgebiet (Stone et al. 2016, S. 4). Produktiv eingesetzt wird KI beispielsweise im Bereich des Data Mining. Möchten etwa Finanzinstitute die Stimmung von Tausenden von Anlegern am Finanzmarkt einschätzen, so können sie dies ohne maschinelle Unterstützung nicht unmittelbar realisieren. Mithilfe eines sog. Trainingssamples an Aussagen von Anlegern (z. B. in Internetforen) kann jedoch ein entsprechender Algorithmus angelernt werden. Dies beginnt damit, dass menschliche Kodierer dieses Sample händisch bearbeiten, also z. B. in positive, negative

Künstliche Intelligenz: Strategische Herausforderungen …

511

und neutrale Posts einteilen. Der Algorithmus kann dann so programmiert und trainiert werden, dass ein Zusammenhang zwischen dem Text einer Aussage – beispielsweise aus einzelnen Wörtern, Satzbausteinen und Satzzeichen – und der jeweiligen Klassifizierung erkannt wird. Auf dieser Basis können dann andere Aussagen automatisch klassifiziert werden.2 Darauf aufbauend können Algorithmen wiederum automatisierte Handlungsschritte einleiten und Transaktionsentscheidungen veranlassen. Auch die Medizin setzt verstärkt KI ein und kann bereits beachtliche Fortschritte verzeichnen. Beispielsweise wird inzwischen die medizinische Bildanalyse zunehmend mithilfe von KI automatisiert: Während noch vor wenigen Jahren meist als erster Schritt bestimmte Bildmerkmale (z. B. für einen Tumor) manuell identifiziert werden mussten, ist dies heutzutage ein Teil des automatisierten Lernprozesses (Erickson et al. 2017) – die KI übernimmt einen Teil der Arbeit der Radiologen. Dies bedeutet, dass die Wertschöpfungskette der gesamten Industrie der medizinischen Bildgebung verändert wird: Die Algorithmen werden wichtiger als die Hardware, medizintechnische Unternehmen können neue Services anbieten, Geschäftsmodelle revolutionieren und eine ganze Berufsgruppe muss sich neu orientieren. Ein anderes Beispiel liefern Deng et al. (2017), die ein sog. Deep Generative Adversarial Network in Kombination mit Audioaufnahmen von Kindern verwenden, um autistische Störungen mit größerer Sicherheit als bisherige Methoden zu identifizieren und damit früher und besser behandeln zu können. Ein drittes Beispiel ist, wie Yu et al. (2018) beschreiben, dass auf Basis von KI-gestütztem Monitoring und der Auswertung bestehender Patientenakten medizinische Ereignisse wie z. B. ein Schlaganfall antizipiert werden können und dadurch frühzeitig interveniert werden kann. Dies ermöglicht neue Formen der Therapie und der Zusammenarbeit zwischen Kostenträger (etwa einer Krankenkasse), Leistungserbringer (z. B. einem Krankenhaus) und Unternehmen der Pharma- und Medizintechnik-Branche. Ein weiteres innovatives Anwendungsbeispiel stellt der Bereich der Echtzeitübersetzung dar, der verstärkt auf KI zurückgreift. Unter anderem basieren Google Translator und Microsoft Bing auf Methoden der KI und versuchen, auf Basis verschiedener Faktoren wie etwa der Satzstellung und benachbarter Wörter, einen Text möglichst adäquat zu übersetzen. Ein besonders beachtenswertes Konzept verfolgt in diesem Zusammenhang das Start-up DeepL, das bislang unter dem Namen Linguee firmierte und den gleichnamigen Übersetzungsdienst anbietet. DeepL offeriert seine Dienstleistung auf Basis eines künstlichen neuronalen Netzwerks, das in gewissem Sinn dem Gehirn eines Menschen gleicht und sich aus über einer Milliarde von Menschen übersetzter Texte speist, die in den letzten zehn Jahren gesammelt wurden und nun für das maschinelle Lernen der Algorithmen verwendet werden. So können einzelne Wörter nicht nur voneinander losgelöst, sondern ganze Sätze im gemeinsamen Kontext übersetzt werden. Wie Stichprobentests 2Diese

Methode ist auch in der Finanzmarktforschung weit verbreitet. Beispielsweise untersuchten Antweiler und Frank (2004) 1000 Finanznachrichten nach Buy-, Sell-, und Hold-Signalen, klassifizierten diese und nutzten sie als Trainingsstichprobe zum Anlernen eines Naive-Bayes-Algorithmus. Dieser wurde anschließend verwendet, um über 1,5 Mio. Nachrichten zu klassifizieren.

512

J. Wolff et al.

zeigen, ermöglicht es der immense Korpus an geprüften Übersetzungen, bei der Auswahl der bestmöglichen Übersetzung überdurchschnittliche Ergebnisse zu erzielen (Pakalsi 2017; für weitere Beispiele s. Deloitte 2016; Stone et al. 2016, S. 14–17).

2.3 Ökonomische Auswirkungen der künstlichen Intelligenz Die wirtschaftliche Bedeutung der KI hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Dies manifestiert sich insbesondere in hohen Investitionsvolumina, einer großen Zahl an KI-Start-ups sowie dem überdurchschnittlichen Wachstum dieser Gründungen. Während etwa im Jahr 2011 nur 282 Mio. US$ in KI-Start-ups investiert wurden, wurde der Markt im Jahr 2016 bereits mit einem Investitionsvolumen von über 5 Mrd. US$ bedacht ­(Statista 2017). Auch im Jahr 2017 galt KI wieder als Start-up-Trend und es wurden zahlreiche Gründungen in Deutschland und weltweit beobachtet (Kind et al. 2017). Diese Zahlen legen nahe, dass KI einen disruptiven Einfluss auf verschiedene Industrien haben könnte. Bereits heute können sich KI-Start-ups schnell etablieren. Ein Beispiel ist das Start-up AICure, dessen Technologie in der Pharmaindustrie bereits für mehrere klinische Studien verwendet wird, um Patienten bei der Einnahme der richtigen Medikamente auf Basis von Gesichts- und Medikamentenerkennung zu unterstützen und damit die Einhaltung der Therapiemaßnahmen sicherzustellen. Der beobachtete schnelle Anstieg von KI-Gründungsaktivitäten lässt sich nicht nur mit der rasanten technischen Entwicklung, sondern auch mit den vergleichsweise niedrigen Erstinvestitionen und dem breiten Spektrum an Möglichkeiten im Bereich der KI begründen. Darüber hinaus verlangt die Implementierung von KI fast immer fundamentale organisatorische Veränderungen und einen Wandel im grundlegenden Verständnis von Wertschaffungsarchitekturen. Dies fällt etablierten Organisationen grundsätzlich schwer (König 2012; König et al. 2013). Insgesamt sehen sich etablierte Unternehmen durch die KI sowohl dem angestammten Wettbewerb als auch einer ganzen Anzahl junger, innovativer und hochflexibler Start-ups ausgesetzt (s. etwa Ransbotham et al. 2017).

3 Implementierung der künstlichen Intelligenz in etablierten Unternehmen Auf Basis dieses Verständnisses der Charakteristika von KI und der Vielfältigkeit ihrer Einsatzmöglichkeiten wollen wir nun die Frage beantworten, wie KI konkret in einem etablierten Unternehmen schrittweise implementiert werden kann und welche Auswirkungen diese Implementierung auf Unternehmen und Geschäftsmodelle hat. Wie oben beschrieben, befinden wir uns aktuell im Zeitalter der ANI, es werden also insbesondere fokussierte Aufgaben durch KI übernommen, wobei sich das Einsatzspektrum der KI schrittweise auch auf komplexere Aufgaben zu erstrecken beginnt. Je nach Geschäftsmodell und Branche kann sich der Einsatz der KI in Unternehmen

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h­ insichtlich des Inhalts, der Art der Implementierung, der Zielsetzung und der Breite an möglichen Einsatzfeldern stark unterscheiden. Im Bewusstsein der Tatsache, dass Prognosen zum Thema KI notorisch problematisch sind (Armstrong et al. 2014), wagen wir dennoch die Vorhersage, dass die Umsetzung in drei Phasen ablaufen wird, in denen jeweils neue Anwendungsformen schrittweise hinzukommen (Abb. 2): (1) Der Einsatz der KI in der Problemlösung, (2) der Einsatz der KI in der strategischen Entscheidungsfindung und (3) der Einsatz der KI als tatsächlicher strategischer Entscheider und Steuerer. (1) KI in der Problemlösung  In der ersten Phase wird KI punktuell zur Optimierung einzelner separierbarer Geschäftsprozesse eingesetzt werden. Insbesondere kann KI helfen, relativ einfache, aber für den Menschen aufwendige Informationen zusammenzutragen und auszuwerten und bietet damit eine wertvolle Unterstützung für strategische Entscheidungen. Für die Unternehmensführung sind etwa Kapazitäts-, Logistik- und Kostenplanungen sowie die Analyse von Bestellvorgängen relevant. Darüber hinaus unterstützt die KI auch administrative Tätigkeiten, z. B. die intelligente Verwaltung von Wartungen (etwa durch „predictive maintenance“, also Wartung nicht in fixen Intervallen, sondern basierend auf prognostizierten Ausfällen, s. beispielsweise Obermaier 2017) sowie eine effizientere Termin- und Raumplanung. In die Kategorie Problemlösung sind auch sog. Online-Chatbots einzuordnen, die bereits im Kundenservice zum Einsatz kommen und Kunden autonom in natürlicher Sprache z. B. Fragen zu Produkten und Dienstleistungen beantworten können. Außerdem können beispielsweise die Stimmung am Markt aus Internetposts oder Kundenbedürfnisse aus Kauf- und/oder Suchhistorien abgeleitet werden. Unternehmen wie Amazon oder Airbnb nutzen diese Möglichkeiten bereits intensiv. Amazon hat z. B. mit der Software DSSTNE (ausgesprochen ‚destiny‘) seine KI bereits 2016 für die Produktempfehlung der Öffentlichkeit als Open-Source-Software zur Verfügung gestellt, damit andere Unternehmen diese nutzen und potenziell sogar erweitern (Finley 2016). (2) KI in der strategischen Entscheidungsfindung In der zweiten Phase wird KI die einzelnen Aufgaben eigenständig bündeln und in der Lage sein, komplexere Problemstellungen zu lösen. Vor allem kann fortgeschrittene KI dabei helfen, eng miteinander verzahnte Geschäftsprozesse zu optimieren. Darüber hinaus wird KI in dieser Phase komplexe Informationen zusammentragen und analysieren können, die für den Menschen so nicht auswertbar wären. Beispielsweise kann KI den Ausbau bestimmter Geschäftsmodelle oder den Fokus auf bestimmte Märkte definieren. Dies kann auf Grundlage bestehender interner Controlling-Ergebnisse unter Hinzunahme externer Daten zu Marktentwicklungen wie etwa dem Marktumfeld der Zulieferer geschehen. Somit können bereits erste einfache unternehmerische Entscheidungen autonom getroffen werden. Grundsätzlich kann KI in dieser Phase etwa Preissetzungs- und Budgetentscheidungen übernehmen, gegebenenfalls sogar ganze Marketingkampagnen entwickeln. Beispielsweise

• Computerbasierte Preis- und Budgetentscheidungen • KI-basierte Marketingkampagnen • Automatisierter, individualisierter und reaktiver Kundenkontakt (bspw. über Spracherkennung) • Computer als Transaktionspartner in Kauf-, Verkaufs- und Verhandlungssituationen • Integrierte Controlling- und Accounting-Lösungen mit KIMonitoring und Anomalie- sowie Betrugserkennung

• Intelligente Kapazitäts-, Logistikund Kostenplanung • Administrativen Tätigkeiten (bspw. Verwaltung von Wartungen, Termin- und Raumplanung) • Einfache Kundeninteraktion (etwa durch Chat-Bots) • Unterstützung der Entwicklung von Produkten und Dienstleitungen (bspw. durch die Analyse der Kauf- und/oder Suchhistorie) • Strategische Planung (bspw. multiple Szenarien unter Berücksichtigung komplexer Umweltfaktoren)

Implementierungsbeispiele

„Steuerung“: Künstliche Intelligenz als Entscheider und Steuerer

• KI-basierte Identifikation und Antizipation von Trends durch intelligente Prognosemodelle • Interaktive, dynamische und KIgetriebene Wertschöpfungsketten • Computerbasierte und individualisierte Produktbündelung • Handlungsempfehlungen und autonome Entscheidungs- und Steuerungsprozesse über Unternehmensebenen und strukturen hinweg (bspw. bzgl. M&A, Make-or-Buy und Innovationen)

• Autonome Entscheidungen und Steuerungsprozesse • Ablösung des Menschen als zentralen Entscheidungsträger • Datenbasierte Handlungsempfehlungen • Dynamische automatisierte Verbesserungsprozesse

3

Abb. 2   Phasen, Anwendungsformen und Implementierungsbeispiele der künstlichen Intelligenz im Unternehmenskontext. (Quelle: Eigene Darstellung)

• Lösung komplexerer Problemstellungen • Optimierung gebündelter und verzahnter Geschäftsprozesse • Befriedigung komplexer Informationszwecke • Übernahme „einfacher“ Entscheidungen

„Entscheidungsfindung“: Künstliche Intelligenz als Basis der Unternehmensstrategie

• Optimierung einzelner separierbarer Geschäftsprozesse • Befriedigung simpler Informationszwecke • Entscheidungsunterstützung

„Problemlösung“: Optimierung einzelner Geschäftsprozesse durch künstliche Intelligenz

2

Anwendungsformen

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können KI-Systeme Marketingaufgaben erledigen, da sie auf Basis bestehender Daten mit Simulationen und Szenarioanalysen erfolgreichere Pricing-Entscheidungen treffen als menschliche Entscheider. Darüber hinaus kann KI durch automatisierten, individualisierten und reaktiven Kundenkontakt (beispielsweise über Spracherkennung) zur weiteren Unterstützung des Kundenservices eingesetzt werden. Zudem kann KI Entscheidungsträger als Transaktionspartner in Kauf-, Verkaufs- und Verhandlungssituationen unterstützen. (3) KI als tatsächlicher strategischer Entscheider und Steuerer  In der dritten Phase kommt die fortgeschrittenste Anwendungsform der KI zum Einsatz, die uns bisher bekannt ist. Während dieser Phase gewinnt die gesamte KI-Organisation des Unternehmens signifikant an Bedeutung, da Analyse und Steuerung durch KI in den Mittelpunkt rücken und die Qualität der Entscheidungen wesentlich mitbestimmen. Insbesondere wird KI Entscheidungen autonom fällen und damit den Menschen als zentralen Entscheidungsträger im Unternehmenskontext ergänzen und teilweise sogar ablösen. Handlungsempfehlungen entstehen nun fast ausschließlich datenbasiert und KI ermöglicht schnelle, dynamische und automatisierte Verbesserungsprozesse. Dies bedeutet letztlich, dass der Einbezug von KI in die strategische Entscheidungsfindung – trotz möglicher und angebrachter normativer Bedenken – eine conditio sine qua non für die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens werden könnte. Die Anwendungsfelder von KI in dieser dritten Phase sind noch umfassender als in der zweiten. So werden mithilfe von KI Trends nicht nur identifiziert und antizipiert, sondern auch dynamische KI-Entscheidungen für die Anpassung der Wertschöpfung vorgenommen. Somit werden KI-basierte Systeme Entscheidungen hinsichtlich der zentralen Dimensionen von Strategie (Hambrick und Frederikson 2001) treffen, einschließlich der Eroberung neuer Märkte durch Innovationen, der Gestaltung der Wertschöpfungskette (z. B. Make-or-Buy-Entscheidungen) sowie der Internationalisierung und Diversifikation des Geschäftsportfolios (z. B. durch M&A-Aktivitäten). Fallstudie: Mögliche Anwendungen der KI in der Versicherungsbranche

Wie sehen die drei Phasen der KI-Implementierung genau aus? Die Versicherungsbranche – insbesondere der Bereich der Krankenversicherungen – bietet besonders gute Beispiele. (1) KI in der Problemlösung – Risikosegmentierung Ein Versicherungsunternehmen könnte beispielsweise auf der Basis von KI präzisere Schätzungen der voraussichtlich entstehenden Risikogruppen und Kosten auf Basis der vergangenen Versicherungsleistungen vornehmen. Jede Schätzung sowie nachträglich identifizierte Abweichungen könnten die KI und damit die Kostenplanung der nächsten Periode dynamisch verbessern. Davon würden letztlich – und unter der Annahme eines sie schützenden regulatorischen und normativen institutionellen Rahmens – auch die Versicherten profitieren, da präventive Vorsorgemaßnahmen leichter möglich werden, die Patienten bereits bei der Diagnose konkrete Unterstützung erhalten können und der Therapieprozess optimiert werden kann.

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(2) KI in der strategischen Entscheidungsfindung – Behandlungsplanung Innerhalb der zweiten Phase könnte KI Informationsgrundlagen wie Krankheitspfade und Verhaltensmuster individueller Versicherungsnehmer oder relativ homogener Gruppen bündeln und entsprechende, auf die individuellen Bedürfnisse der Kunden abgestimmte, Maßnahmen vorschlagen. Beispielsweise können Versicherer mithilfe von KI automatisiert präventive und therapeutische Maßnahmen für chronisch erkrankte Patienten anbieten und die KI die Patienten kontinuierlich im Umgang mit ihrer Erkrankung unterstützen. Große internationale Versicherungsgruppen bereiten diese Behandlungsplanung und -unterstützung vor bzw. haben bereits erste entsprechende Dienste implementiert. (3) KI als tatsächlicher strategischer Entscheider und Steuerer – Konzipierung der Versicherungsleistungen Zuletzt könnten auf Basis deutlich größerer Datenmengen und entsprechender eigenständiger Priorisierungen der Inhalte (beispielsweise auf Basis von Vorerkrankungen, Verhaltensmustern, Progonosemodellen pro Risikogruppe, demografischen Daten, politischen Entwicklungen) die Versicherungsleistungen neu konzipiert werden. Die KI könnte dabei nicht nur die Inhalte vorschlagen, sondern auch die Versorgung für chronisch Kranke mit kontinuierlichem Monitoring sowie konkreten Handlungen steuern, z. B. mit direkter Medikamentenlieferung vor Eintritt eines Notfalls.

4 Kernherausforderungen und Handlungsempfehlungen Die Herausforderungen der KI sind substanziell. So schrieb jüngst Elon Musk, Visionär und Chief Executive Officer (CEO) von Tesla, in einem Kommentar auf der Plattform Edge.org (Strange 2014): The pace of progress in artificial intelligence (I’m not referring to narrow AI) is incredibly fast. Unless you have direct exposure to groups like Deepmind, you have no idea how fast.

In der Tat deutet viel darauf hin, dass KI beinahe alle Aspekte der unternehmerischen Tätigkeit beeinflussen wird. Kundenbedürfnisse können auf neuartige Weise erfasst und neue Angebote konzipiert werden; Strukturen und Prozesse der Wertschaffung verändern sich radikal durch den vermehrten Austausch und die flexiblere und genauere Analyse von Informationen; zudem entstehen vollkommen neue Möglichkeiten, sich im Wettbewerb zu positionieren, zu kooperieren und Wert abzuschöpfen. Vor diesem Hintergrund ist es nicht überraschend, dass laut Umfragen – und trotz aller Bedenken – die meisten Manager darauf hoffen, mit KI neue Geschäftsfelder erschließen zu können (Ransbotham et al. 2017). Allerdings stellen das breite Spektrum an Wertschöpfungspotenzialen, die rasante Entwicklung der KI sowie das vielfältige Repertoire an Implementierungsmöglichkeiten Unternehmen auch vor große Schwierigkeiten, die zahlreiche umfassende Entscheidungen auf der Ebene der Unternehmensführung notwendig machen. Wie in Tab. 1 zusammenfassend dargestellt, unterscheiden sich diese Herausforderungen von Phase zu Phase – und damit auch die sich ergebenden Handlungsempfehlungen.

1) Unternehmensweiter Datentransfer (­zwischen Regionen, Funktionen etc.) 2) Vertrauen durch den Aufbau von Kontrollmechanismen (Monitoring und Sicherheitsmechanismen) 3) Definition angepasster Aufgabenbereiche, um die KI vorzustellen und schrittweise ­aufzubauen 4) Trennung der KI und IT als Verantwortungsbereiche auf Vorstandsebene 5) Verantwortungsvolles Engagement im ­institutionellen Diskurs zu KI

• Kompatibilität der Aufgabenbereiche und Geschäftsprozesse für umfangreichen ­Datenzugriff • Effiziente Kommunikation und Koordination von Unternehmensentscheidungen • Internationaler Zugriff auf die Wertschöpfungskette (z. B. Produktions- vs. Administrationsfunktionen) • Management externer Stakeholder wie ­Kunden, Anlegern  etc. • Unklare und schwer vorhersehbare institutionelle (normative, rechtliche) Rahmenbedingungen

Phase 2 –Entscheidungsfindung: Künstliche Intelligenz als Basis der Unternehmensstrategie und Phase 3 – Steuerung: Künstliche Intelligenz als Entscheider und Steuerer

Handlungsempfehlungen 1) Dezidierte KI-Organisationseinheit mit fokussierten Zielen und Kompetenzen 2) Klare Make-or-Buy-Strategie mit entsprechender Unternehmensbewertungslogik für zu kaufende Firmen/Kooperationspartner 3) Förderung eines grundsätzlichen Verständnisses von Innovation und Offenheit – insbesondere gegenüber KI – sowie der strategischen Sensitivität im ganzen Unternehmen

Kernherausforderungen

Phase 1 – Problemlösung: Optimierung •K  osten-, planungs- und zeitintensive einzelner Geschäftsprozesse durch künstliche Umstellung Intelligenz •S  tarker Wettbewerb und Marktdruck, auch durch Start-ups •H  ohe Anforderungen bezüglich Datenverfügbarkeit, Rechnerleistungen und Speicherkapazitäten • Mangel an Wissen und Verständnis hinsichtlich KI-Voraussetzungen/-potenzialen • Fehlender strategischer Weitblick

Implementierungsphase

Tab. 1  Phasen, Kernherausforderungen und Handlungsempfehlungen beim Umgang mit künstlicher Intelligenz im Unternehmenskontext

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4.1 Herausforderungen und Handlungsempfehlungen für Phase 1 Obwohl die erste Phase mit vergleichsweise geringeren Konsequenzen einhergeht und während dieser Phase KI zunächst eher im Kontext einzelner Problemstellungen und Geschäftsprozesse implementiert wird, stellt sie etablierte Unternehmen bereits vor substanzielle Probleme. Während neue Unternehmen den Vorteil haben, dass sie ihre Prozesse und Strukturen bereits anhand der neuen Möglichkeiten im Bereich der KI ausrichten können, müssen etablierte Unternehmen oftmals große Umstrukturierungen vornehmen und technologische sowie unternehmerische Hürden überwinden. Diese Umstellungen benötigen oft substanzielle Investitionen und sind planungs- und zeitintensiv. Zusätzlich sehen sich etablierte Unternehmen in dieser Umschwungphase stets der Gefahr ausgesetzt, von kleineren und flexibleren Unternehmen oder Start-ups überholt zu werden. Eine besonders aufwendige Umstellung besteht in der Schaffung struktureller Grundlagen. So erfordert KI v. a. große Mengen geeigneter Daten (beispielsweise zur Mustererkennung). Darüber hinaus kann eine KI-Strategie nur implementiert werden, wenn das Unternehmen in betroffenen Bereichen bereits einen gewissen Digitalisierungsgrad ­vorweist und die Integration der notwendigen IT-Systeme erlaubt. Allerdings mangelt es vielen Unternehmen noch an grundlegendem notwendigen Wissen und Verständnis in Bezug auf KI-Voraussetzungen, KI-Einsatzmöglichkeiten sowie KI-Potenziale (Ransbotham et al. 2017). Dies gilt insbesondere auch für die Führungsetage, deren Erfahrungen und Kenntnisse sich in den wichtigen strategischen Entscheidungen des Unternehmens widerspiegeln (Hambrick und Mason 1984; Gerstner et al. 2013). Beispielsweise zeigt eine aktuelle Erhebung an der Universität Passau (König et al. 2018), dass nur ein sehr geringer Anteil der Top-Manager in großen und mittelständischen deutschen Unternehmen – z. B. nur 4 % der Vorstandsvorsitzenden – umfangreiche ausbildungs- und erfahrungsbedingte Kenntnisse in Informationstechnologie und Digitalisierung vorweisen. Die Studie legt zudem nahe, dass sich dieser Mangel an digitalisierungsbezogenem Wissen – selbst wenn man für Selektionseffekte, Branchenspezifika und andere Erklärungen kontrolliert – auch in einem Mangel an Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger auf Themen wie Digitalisierung und KI niederschlägt. Eine weitere Herausforderung ist die häufig fehlende strategische Sensitivität innerhalb etablierter Unternehmen (König und Graf-Vlachy 2017). Strategische Sensitivität schließt u. a. die Fähigkeit von Mitarbeitern ein, Wertschöpfungspotenziale von Innovationen und notwendige Implementierungsschritte eigenständig zu erkennen, adäquat zu bewerten und dann auch überzeugend dem Management gegenüber darzustellen. Dementsprechend lassen sich bereits erste Handlungsempfehlungen ableiten (angeordnet als Prozessreihenfolge). (1) Zielorientierte KI-Einheit aufbauen! Unternehmen, die bislang keine KI einsetzen, sollten in den Aufbau einer zielorientierten KI-Einheit sowie eine klare KI-Strategie investieren, um schnellstmöglich erste Einsatzmöglichkeiten und KI-Potenziale zu identifizieren. Diese KI-Einheit kann sowohl interner als auch – zumindest teilweise – externer

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Natur sein. Ihre Mitglieder müssen insbesondere über ein fundiertes Verständnis der KI-Potenziale und -kosten verfügen und die Planung und Integration einer expliziten KI-Strategie konsequent vorantreiben. Darüber hinaus verlangt die tatsächliche Umsetzung von KI ein breites Spektrum an fundierten IT-Kompetenzen aus verschiedenen Disziplinen. Des Weiteren sollte der Einsatz von KI bereits beim Strukturaufbau berücksichtigt werden, um zu vermeiden, dass bestehende Strukturen die Innovation hemmen. Bei bereits bestehenden Strukturen sollte präzise analysiert werden, an welcher Schnittstelle KI besonders relevant und umsetzbar ist und welche Strukturen gegebenenfalls angepasst werden müssen, um innovative Lösungen zu ermöglichen. So sollten etwa unternehmerische Zielgrößen nicht nur auf kurzfristige Umsatzziele, sondern auch auf Innovationsziele ausgerichtet werden (Christensen et al. 2008). Darüber hinaus sollte die KI-Einheit – ganz im Sinn der strukturellen Ambidexterität (O’Reilly und Tushman 2013) – direkt an den Vorstand berichten, um die bestmögliche Integration mit der Unternehmensstrategie zu erreichen. (2) Eine strukturierte Make-or-Buy-Entscheidungslogik durchsetzen! Neben dem Aufbau einer grundlegenden KI-Einheit sollten etablierte Unternehmen eine strukturierte Make-or-Buy-Entscheidungslogik etablieren, die auf die Optimierung des gesamten Geschäftsmodells und dessen Wertschöpfungskette ausgerichtet ist. So sollten etwa Akquisitionen oder Kooperationen in Betracht gezogen werden, wenn die interne Umsetzung mit höheren Kosten, kritischen Verzögerungen oder anderen kontextspezifischen und schwer überwindbaren Problemen einhergehen würde. Solche Entscheidungen gewinnen insbesondere aufgrund der oben beschriebenen, veränderten Industriedynamik und dem intensiveren Wettbewerb an Relevanz, da u. a. abgewogen werden muss, ob die unternehmensinterne Umsetzung dem Marktdruck kurzfristig gerecht werden kann. Dabei wird auch erfolgsentscheidend sein, ob das kaufende Unternehmen eine ausgereifte Bewertungssystematik für KI-Unternehmen besitzt. Dies ist v. a. vor dem Hintergrund relevant, dass die Unternehmensbewertung nur selten anhand von Bilanzwerten, sondern vorwiegend auf Grundlage einer Bewertung der Datenqualität und einer Analyse der KI-Systeme sowie der KI-spezifischen Teamqualifikation erfolgen muss (Wolff und Keck 2017).3 (3) Innovation, Offenheit und strategische Sensitivität fördern! Unternehmen sollten ein grundsätzliches Verständnis für KI sowie ein Leitbild der Innovation und Offenheit etablieren. Nur so können die nötigen Kernkompetenzen entwickelt werden, um das Potenzial der KI im konkreten Unternehmenskontext zu erkennen. Die Unternehmen sollten zudem ihren Mitarbeitern dynamische Unternehmensstrukturen mit flexiblerem Arbeitseinsatz sowie schrittweiser Ressourcenallokation bieten (beispielsweise durch Fortbildungen, projektgebundene Arbeit, virtuelle Teams, Teams aus Menschen und

3Eine Vorgehensweise

besteht sicherlich auch darin, mit KI-Start-ups im Rahmen innovativer Konzepte und Strukturen zusammenzuarbeiten. Ein besonders vielversprechender Ansatz ist beispielsweise der Venture-Clienting-Ansatz, der dem BMW Start-up Garage zugrunde liegt (Gimmy et al. 2017).

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Computern) und ihre KI-Strategie klar und offen kommunizieren. Schließlich müssen etablierte Unternehmen insbesondere in das Wissen und die strategische Sensitivität der Mitarbeiter investieren. Innovationen entstehen häufig an der Peripherie der Organisation, also an der Schnittstelle zwischen der Organisation und ihrer Umwelt. Sog. ­„boundary spanners“, die an dieser Schnittstelle tätig sind, können innovative Ideen aber nur entwickeln und im Unternehmen durchsetzen, wenn sie das notwendige strategische Verständnis haben und wenn sie die strategische Sprache sprechen, die ihre Innovationen für das Mittel- und Top-Management attraktiv macht.

4.2 Fortgeschrittener Einsatz künstlicher Intelligenz – Phasen 2 und 3 Nachdem die wesentlichen Investitionen zur Einführung der IT-basierten Systeme geleistet wurden, stellen sich bei der fortgeschrittenen Erschließung der KI-Potenziale zusätzliche Herausforderungen. Insbesondere müssen die verschiedenen Aufgabenbereiche und Geschäftsprozesse, die miteinander verzahnt sind, wechselseitigen Datenzugriff erlauben, um simultan bearbeitet und optimiert werden zu können. Dies bedeutet, dass die Verfügbarkeit, Eignung und Kompatibilität der Daten und Algorithmen sowie eine zielgerichtete Abstimmung und Interaktion innerhalb des Systems stets möglich sein müssen. Diese Herausforderungen sind nicht nur technischer Natur. Sie erfordern auch eine effektive und effiziente Kommunikation und Interaktion zwischen Abteilungen sowie Mitarbeitern. Dies bedeutet für Unternehmen, dass sie die gesamte Struktur von Unternehmensentscheidungen innerhalb der Funktionalitäten stärker verzahnen und aufeinander abstimmen müssen. Besonders relevant wird diese Herausforderung im Rahmen der dritten Phase der Implementierung von KI, in der der Austausch nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen verschiedenen Funktionen und Abteilungen, v. a. aber auch auf globaler Ebene erfolgen soll. Algorithmen können nur dann auf höchster Unternehmensebene Handlungsempfehlungen ableiten, wenn sie die Implikationen für das gesamte Unternehmen und die vollständige Wertschöpfungskette abschätzen können (z. B. Produktions- vs. Administrationsfunktionen). Um dies zu ermöglichen, muss ein unternehmensweiter flexibler Datenzugang und entsprechender Entscheidungsspielraum bestehen. Dies bedeutet eine besondere Herausforderung, v. a. für Unternehmen, die trotz großer Internationalität weniger global oder transnational aufgestellt sind (Bartlett und Goshal 1988; s. auch König et al. 2017). Darüber hinaus werden v. a. autonome Entscheidungen und Steuerungsprozesse, die den Menschen als zentralen Entscheidungsträger ergänzen, auf große gesellschaftliche Skepsis stoßen. KI hat sich in einer rasenden Geschwindigkeit entwickelt und wird dies weiter tun. Daher werden viele Mitarbeiter eine Adaptionszeit benötigen, um sich an weitreichende Innovationen zu gewöhnen. Darüber hinaus können Kunden – mit gutem Grund – Bedenken z. B. hinsichtlich des Datenschutzes aufwerfen und von Unternehmen abwandern, wodurch die Datenverfügbarkeit und damit die Möglichkeit, Algorithmen

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zu trainieren, eingeschränkt oder vernichtet werden kann. Die angebrachte tiefgehende gesellschaftliche Auseinandersetzung mit den sozialen und normativen Implikationen wird eine lange Zeit beanspruchen und Unternehmen müssen sich auf unsichere und unklare institutionelle Rahmenbedingungen vorbereiten. Auch Anleger eines Unternehmens könnten solchen Innovationen skeptisch gegenüberstehen. Aufgrund ihrer Outsider-Position können sie die Verlässlichkeit der Ergebnisse, die Transparenz des Prozesses sowie die Fundiertheit der KI-Entscheidungen nur schwer nachvollziehen und könnten diese entsprechend als problematisch oder auch minderwertig wahrnehmen. Wir leiten folgende – bereits heute anzudenkende aber wohlgemeint vorläufige – Handlungsempfehlungen für Unternehmen ab: (1) Den unternehmensweiten Datentransfer fördern!  Wir empfehlen Geschäftsprozesse und -strukturen am Ziel der KI-Implementierung auszurichten und aufeinander abzustimmen. Ohne einen steten Austausch zwischen Daten und Programmen und ohne Datenverfügbarkeit und technische Kompatibilität über Regionen, Funktionalitäten, Abteilungen und Unternehmensebenen hinweg kann eine fortgeschrittene Implementierung der KI nicht funktionieren. Dies bedeutet insbesondere die Schaffung einer effektiven und effizienten Basis für Kommunikation, Koordination und Interaktion sowie eines unternehmensweiten flexiblen IT-Systems. (2) Vertrauen durch Kontrolle der Ergebnisse schaffen! Die Kontrolle der KI ist von besonderer, u. a. auch gesellschaftlicher Relevanz. Dementsprechend sollten Multi-­ Level-Monitoring- und Sicherungsmechanismen bezüglich der KI-gesteuerten Prozesse etabliert werden. So können Mitarbeiter in der Zukunft mehr zum Monitoring der KI sowie der Lösung von Problemstellungen eingesetzt werden, für die die KI noch keine Lösungen bereitstellen kann. Neben ihrer Belegschaft müssen Unternehmen aber auch bei ihren Kunden, Anlegern und anderen Stakeholdern Vertrauen herstellen. Hier gilt es beispielsweise, das Reporting entsprechend auszuweiten oder auf andere Weise Transparenz zu schaffen. (3) Neue Verantwortungsbereiche definieren! Unternehmen müssen ihre Mitarbeiter davon überzeugen, dass Verantwortungsbereiche neu definiert werden, um die Vorteile der KI zu nutzen. Dies betrifft insbesondere die Definition der KI-Aufgabengebiete, das Monitoring der getroffenen Entscheidungen und Ergebnisse sowie eine umfangreiche Reportingstruktur (Datenquellen, Analysefaktoren etc.), um Entscheidungsprozesse nachzuverfolgen. (4) KI- und IT-Strukturen auf Vorstandsebene trennen!  Diese Handlungsempfehlung mag auf den ersten Blick verwundern und kontraintuitiv erscheinen. Allerdings wird durch sie zunächst deutlich, dass KI nicht einfach eine neue Funktionalitätskategorie in der IT darstellt. Die Verantwortung für KI sollte spätestens in der dritten Phase auf Vorstandsebene und oberhalb der IT-Verantwortung angesiedelt werden, um die gegebenenfalls schwer-

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wiegenden Entscheidungen in allen potenziellen Unternehmensstrukturen inklusive der IT fach- und zeitgerecht treffen zu können. Nur am Anfang wird die Integration von KI durch konkrete KI-Projekte mit kurzfristigen Zielen gesteuert werden und somit als kostengünstiger Grundstein fungieren, um den Anschluss im Markt nicht zu verlieren. Im weiteren Verlauf wird KI jedoch die Unternehmensstrukturen von Grund auf revolutionieren. (5) Sich verantwortungsvoll am institutionellen Diskurs beteiligen!  Der erfolgreiche und zugleich gesellschaftlich verantwortungsvolle Einsatz von KI wird besonders durch die Entwicklung des institutionellen Rahmens beeinflusst. Bereits jetzt, im Kontext von Themen wie der Netz- und Datenneutralität, sehen wir, wie komplex solche IT-bezogenen Diskussionen sind (z. B. Easley et al. 2018). KI wird normative Grundpfeiler unserer Gesellschaft noch stärker herausfordern. Unternehmen sind aufgefordert, die Implementierung von KI mit einer Teilnahme an diesem Diskurs zu verbinden.

5 Fazit und Ausblick Als zentraler Eckpfeiler der Industrie 4.0 hat KI in den letzten Jahren eine rasante Entwicklung erfahren und begonnen, die Unternehmenslandschaft einschneidend zu verändern. Wie wir in diesem Beitrag beschrieben haben, ist dies nicht nur darauf zurückzuführen, dass KI dazu in der Lage ist, signifikante Kostenersparnisse und entscheidende Qualitätsverbesserungen herbeizuführen, sondern auch darauf, dass KI ebenso mit neuen Wertschaffungsarchitekturen und Geschäftsmodellen einhergeht. Hinsichtlich der Zunahme digitaler Strukturen und Prozesse sowie insbesondere der steigenden Vernetzung als Kernentwicklung der Industrie 4.0 (Obermaier 2017), besitzt die KI eine beachtliche Hebelwirkung, die unsere gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, das unternehmerische Geschehen sowie die Rolle des Menschen als Teil der unternehmerischen Wertschöpfungskette grundlegend verändern könnte. Entscheidend für die Bewertung der KI aus unternehmerischer Sicht ist die Tatsache, dass es technisch gesehen immer einfacher wird, KI einzusetzen. Google bietet z. B. mit TensorFlow bereits heute eine Open-Source-Software an, mit der Modelle für KI-­Anwendungen relativ schnell entwickelt werden können (Abadi et al. 2016). Des Weiteren können Unternehmen auf Basis einer klaren KI-Strategie auch relativ einfach Freelancer – vermittelt durch Plattformen wie Gigster – einsetzen, beispielsweise um Pilotprojekte zu entwickeln. Vermutlich wird damit mittelfristig auch eine Kommoditisierung von KI-Technologien stattfinden. Zuletzt wird sich das Potenzial von KI in Zukunft möglicherweise durch den Einsatz von Quantencomputern noch weiter steigern, da diese substanzielle Steigerungen der Geschwindigkeit von maschinellem Lernen erwarten lassen (Russo et al. 2018). Die rasante Entwicklung der KI ermöglicht derzeit allein einen Zwischeneinblick. Dennoch haben wir in diesem Beitrag versucht, zumindest in groben Zügen eine wahrscheinliche zukünftige Entwicklung aufzuzeigen. KI wird vermutlich zunächst v. a. zur

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Lösung einzelner Problemstellungen eingesetzt werden (Phase 1), anschließend die Basis der Unternehmensstrategie darstellen (Phase 2) und daraufhin sogar autonome Entscheidungen und Steuerungsprozesse übernehmen (Phase 3). Da KI in den meisten etablierten Unternehmen bislang noch keine nennenswerte Beachtung findet, sind die Herausforderungen der ersten und zweiten Phase derzeit von besonderer Relevanz. Um langfristige Wettbewerbsnachteile zu vermeiden, sollten sich etablierte Unternehmen den Herausforderungen entsprechend der Phasen stellen. Hierzu können signifikante Investitionen nötig sein – die Alternative vom Markt abgehängt zu werden, ist allerdings verheerend. Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen überschaubaren KI-Einsatzes innerhalb der Unternehmen bleibt es abzuwarten, wie KI die ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen letztlich konkret verändern wird. Umso mehr bietet das Phänomen der KI ein weitreichendes Spektrum an relevanten Forschungsfeldern im Unternehmenskontext. Dies zeigen auch die zahlreichen jüngsten Aufrufe für Einreichungen in Sonderausgaben (Special Issues) zu KI-bezogenen Forschungsthemen durch führende wissenschaftliche Zeitschriften wie Academy of Management Discoveries, Long Range Planning, dem Journal of Business Economics und dem Global Strategy Journal. Unserer Ansicht nach ergeben sich Forschungsmöglichkeiten insbesondere mit Blick auf drei Bereiche: (1) Wie passen sich etablierte Unternehmen an KI an und wie nutzen sie diese um nachhaltige Wettbewerbsvorteile zu kreieren?  Die Organisationsforschung hat, begonnen mit den Studien von Josef Schumpeter, eine Vielzahl reichhaltiger Theorien entwickelt, die erklären, warum etablierte Organisationen häufig zu starr sind, um technologische Diskontinuitäten anzunehmen und zu kommerzialisieren (König 2009; König et al. 2013; Kammerlander et al. 2018). Allerdings ist die große Frage, ob sich hinsichtlich der KI nicht idiosynkratische und neuartige Adaptionsprozesse entwickeln. Sollte dies der Fall sein, müssten auch die Handlungsempfehlungen hinsichtlich der Reaktion auf diskontinuierlichen Wandel entsprechend angepasst werden. (2) Welche Konsequenzen hat KI für zentrale Dimensionen der Unternehmung, vor allem Organisation, Human Resources, Innovation, Führung und normative Verantwortung?  Beispielsweise könnte es sein, dass KI die bestehenden Berufsbilder im Unternehmen – von der Produktion bis hin zum Vertrieb – verändert. Welche Anforderungen müssen Mitarbeiter dementsprechend zukünftig erfüllen? Wie wird sich die Rolle des Managements in der KI-gesteuerten Organisation verändern? Ein weiterer, besonders interessanter Aspekt ist die Frage, wie die Interaktion zwischen Menschen und KI im Unternehmenskontext tatsächlich aussehen wird. Antworten diesbezüglich haben substanzielle Implikationen, v. a. hinsichtlich der Frage, wie ein KI-gesteuertes Unternehmen geführt und kontrolliert werden soll. Besonders anspruchsvolle Forschungsfragen ergeben sich auch aus den unternehmensethischen Implikationen der KI: Wie

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wirkt sich die zunehmende Verwendung von KI auf Cyber-Risiken aus? Wie können Kunden und andere Stakeholder Druck auf Unternehmen ausüben, damit Unternehmen den nachhaltigen sowie ethisch vertretbaren Einsatz von KI sicherstellen? (3) Welche spezifischen Implikationen hat KI für die Transformation einzelner Branchen?  Speziellere, angewandtere Forschung wird sich sicherlich mit den spezifischen Herausforderungen der KI aus der jeweiligen Perspektive der verschiedenen Branchen befassen. Dies lässt sich etwa am Beispiel der Gesundheitsbranche verdeutlichen, in der sich Fragen stellen wie z. B.: Wie können Krankenversicherungen mithilfe von KI-­ basierter Produktvermarktung neue Geschäftsmodelle erschaffen? Wie werden sich die traditionellen Berufsbilder von Radiologen, Pathologen oder Chirurgen vor dem Hintergrund des zunehmenden Einsatzes von KI in der medizinische Bildanalyse und Chirurgie verändern? Inwiefern werden sich die Schwerpunkte von Ärzten aufgrund von virtuellen Assistenten und KI-basierter Telemedizin verändern? Werden traditionelle Arztpraxen aufgrund der Möglichkeit KI-basierter Remote-Überwachung zukünftig obsolet? Wie kann die allgemeine Lebenserwartung dank KI-basierter Diagnostiksysteme signifikant gesteigert werden und wie beeinflusst dies unser gesamtes Gesundheitssystem? Diese und zahlreiche weitere branchenübergreifende und branchenspezifische Fragen im Bereich der KI werden die Gesellschaft, Praktiker und Wissenschaftler in den nächsten Jahren umfassend beschäftigen. Forschungsmethodisch appellieren wir für einen undogmatischen, interdisziplinären und multimethodischen Ansatz. Vor allem würden wir qualitative, induktive Fallstudien mit einem Fokus auf Prozesse statt allein auf varianzbasierte Phänomene befürworten, da nur sie ein Verständnis der zugrunde liegenden sozialen Mechanismen schaffen können. Die so erlangten Erkenntnisse könnten dann in Experimenten – im Feld und im Labor – sowie in größeren, systematisch-quantitativen Studien getestet werden. Gleichzeitig bieten sich aber auch viele Möglichkeiten für die rein deduktiv-konzeptionelle Forschung. Abschließend sei noch einmal hervorgehoben, dass kaum eine technologische Innovation der vergangenen Jahrzehnte weitreichendere soziale und politische Konsequenzen haben wird als die sich exponentiell entwickelnde KI. Wir sind überzeugt, dass Unternehmen eine große Verantwortung für die Gestaltung dieser Konsequenzen tragen. Die Grundsätze der demokratischen und solidarischen Gemeinschaft müssen gewahrt bzw. entsprechend geschützt werden. Darüber hinaus muss sichergestellt werden – und dies wird gegebenenfalls die größte Herausforderung sein – dass KI dem Menschen wohl gesonnen ist. Letztlich wird KI nur dann einen Mehrwert für die Gesellschaft haben, wenn Entscheidungsträger in allen Bereichen der Gesellschaft sich ihrer besonderen Rolle bei dieser Umwälzung bewusst werden. Dies gilt auch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der überwiegende Anteil der KI-Entwicklung zurzeit nicht in Europa stattfindet, der KI-Einsatz aber grenz- und kontinentüberschreitend sein wird.

Künstliche Intelligenz: Strategische Herausforderungen …

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Justus Wolff  ist Manager bei Syte – Strategy Institute for Digital Health. Er arbeitet seit mehreren Jahren global mit Versicherungen, Pharma und Medizintechnikunternehmen im Bereich Digital Health (u. a. Allianz, MetLife, Roche, Johnson & Johnson, Cochlea etc.) und publiziert in den USA und Deutschland zum Thema künstliche Intelligenz. Dr. Andreas Keck, Internist und Kardiologe, ist CEO bei Syte – Strategy Institute for Digital Health. Nach zehn Jahren ärztlicher, oberärztlicher und forschender klinischer Tätigkeit und anschließender Beratertätigkeit bei der Boston Consulting Group wechselte er zu Syte und verantwortet international die Bereiche Versicherung, Pharma und Medtech. Prof. Dr. Andreas König  ist Inhaber des Lehrstuhls für Strategisches Management, Innovation und Entrepreneurship an der Universität Passau. Seine Forschung untersucht u. a. die Anpassung etablierter Organisationen an diskontinuierlichem Wandel, v. a. im Kontext der Digitalisierung. Dr. Lorenz Graf-Vlachy  ist Akademischer Rat auf Zeit am Lehrstuhl für Strategie, Innovation und Entrepreneurship der Universität Passau. Er forscht zu Digitalisierung, strategischer Führung und organisationaler Kommunikation. Vor seiner akademischen Karriere war er Projektleiter bei der Boston Consulting Group und am World Economic Forum. Julia Menacher  ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung der Ludwig-Maximilians-Universität München und seit mehreren Jahren bei Syte – Strategy Institute for Digital Health tätig. Sie forscht v. a. in den Bereichen der Implikationen der Digitalisierung für Unternehmen sowie der Unternehmenspublizität.

Zur Bedeutung von Solows Paradoxon: Empirische Evidenz und ihre Übertragbarkeit auf Digitalisierungsinvestitionen in einer Industrie 4.0 Robert Obermaier und Stefan Schweikl

1 Problemstellung Die Industrie 4.0 verspricht Anwendern enormes Potenzial zur Steigerung der Prozesseffizienz sowie eine Erhöhung der Produktinnovationen (Obermaier 2017). Viele Unternehmen befürchten daher, ohne umfassende Investitionen in digitale Technologien den Anschluss zu verlieren und am Ende als Verlierer der digitalen Transformation zu gelten. Um dies zu vermeiden, wollen deutsche Industrieunternehmen beispielsweise bis 2020 jährlich rund 40 Mrd. EUR in Industrie 4.0-Anwendungen investieren (PwC 2014). Paradoxerweise ist die Industrie in Deutschland trotz ihrer Bemühungen um eine digitale Transformation kaum produktiver geworden. Tatsächlich sank das Wachstum der Arbeitsproduktivität je Erwerbstätigenstunde in Deutschland von durchschnittlich 1,55 % pro Jahr zwischen 1992 und 2010 auf durchschnittlich 1,10 % pro Jahr zwischen 2010 und 2018 (Statistisches Bundesamt 2018). Im Maschinenbausektor, einem Aushängeschild der deutschen Wirtschaft, war das Produktivitätswachstum zwischen 2011 und 2015 sogar negativ (Rammer et al. 2018). Ein ähnliches Bild zeichnet sich auch in anderen Industrienationen wie den USA ab, wo sich das Produktivitätswachstum von 2005 bis 2015 im Vergleich zur vorherigen Dekade signifikant verlangsamt hat (Syverson 2017). Brynjolfsson et al. (2017) sprechen in diesem Zusammenhang von einem modernen Produktivitätsparadoxon, da Unternehmen das Investitionsvolumen in hochangepriesene und disruptive Technologien wie künstlicher Intelligenz (KI) oder das

R. Obermaier (*) · S. Schweikl  Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] S. Schweikl E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_22

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R. Obermaier und S. Schweikl

Internet der Dinge (IoT) stetig erhöhen, aber dennoch kaum Produktivitätssteigerungen erzielen. Dabei ist das Phänomen nicht neu, sondern wurde in ähnlicher Form schon vor 30 Jahren intensiv diskutiert. Trotz des Beginns des Computerzeitalters stellte Robert M. Solow (1987, S. 36) fest, dass ein Nachlassen des Produktivitätswachstums in vielen Industrieländern feststellbar war: what everyone feels to have been a technological revolution, a drastic change in our productive lives, has been accompanied everywhere, including Japan, by a slowing down of productivity growth, not by a step up. You can see the computer age everywhere but in the productivity statistics.

Das als Solow-Paradoxon bekannt gewordene Produktivitätsparadoxon der Informationstechnologie (IT) löste in der Folge zahlreiche Studien aus, die sich mit den Auswirkungen von IT auf die Produktivität, die Profitabilität oder den Marktwert von Unternehmen befassten (siehe Brynjolfsson und Yang 1996; Schryen 2013). Trotz der hohen Anzahl an wissenschaftlichen Beiträgen stellt das Solow-Paradoxon aber weiterhin ein ungelöstes Rätsel dar. Während Brynjolfsson und Hitt (1996) das Solow-Paradoxon ab 1991 für verschwunden erklärten, stellen Acemoglu et al. (2014) fest, dass lediglich der IT-produzierende Sektor erhebliche Produktivitätssteigerungen durch IT erzielen konnte und bezeichnen daher die von Brynjolfsson und Hitt (1996) propagierte Lösung des Solows-Paradoxons als verfrüht. Ihrer Ansicht nach kann von einer IT-induzierten Produktivitätsrevolution keine Rede sein, da sich ein „race against the machine“ (Brynjolfsson und McAfee 2011) abgespielt habe, bei dem Industriebetriebe allenfalls in einem Kompensationswettlauf phasenweise Produktivitätsgewinne erzielen konnten. Die oft angepriesenen Produktivitätssteigerungen durch IT sind empirisch also nur bedingt nachweisbar. Obwohl der Ursprung des Solow-Paradoxons schon über drei Dekaden zurückliegt, wird dessen Ursache weiterhin intensiv diskutiert und die Relevanz der Thematik ist ungebrochen. Vor dem Hintergrund des aktuell viel diskutierten modernen Produktivitätsparadoxons (Acemoglu und Restrepo 2018a, b; Brynjolfsson et al. 2017, 2018; Crafts 2018) stellt sich zudem die Frage, ob Parallelen zwischen dem aktuellen Produktivitätsabschwung infolge der Adaption neuartiger, digitaler Technologien und dem damaligen Ausbleiben von Produktivitätssteigerungen bei der Einführung von Computern ­existieren. Der vorliegende Beitrag versucht daher basierend auf einer Analyse mikroökonomischer Studien zum Solow-Paradoxon Ursachen für dessen Entstehung zu identifizieren, diese in Bezug zu dem modernen Produktivitätsparadoxon zu setzen und somit die Frage zu beantworten: 

Welche Erkenntnisse können auf Grundlage einer Analyse mikroökonomischer Studien zum Solow-Paradoxon gewonnen werden und inwieweit können diese zur Erklärung des modernen Produktivitätsparadoxons beitragen?

Zur Bedeutung von Solows Paradoxon ...

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Der dadurch geschaffene wissenschaftliche Beitrag ist dreigeteilt: 1) wird die umfangreiche Literatur bezüglich des Solow-Paradoxons auf mikroökonomischer Ebene strukturiert, 2) werden durch die kritische Betrachtung der Literatur übergeordnete Erkenntnisbeiträge identifiziert und 3) darauf aufbauend mögliche Ursachen für das moderne Produktivitätsparadox aufgezeigt. Der verbleibende Teil der Arbeit ist wie folgt strukturiert: Zunächst wird die Rolle von IT im Produktionsprozess dargelegt, bevor im Anschluss das Vorgehen bei der systematischen Literatursuche erläutert wird. Die erhobenen Forschungsbeiträge werden dann strukturiert und die daraus abgeleiteten Erkenntnisse erörtert. Darauf aufbauend wird das moderne Produktivitätsparadoxon diskutiert. Abschließend werden Ansatzpunkte für zukünftige Forschung identifiziert.

2 Die Rolle von IT im Produktionsprozess Zu Beginn stellt sich die Frage, wieso eine Zunahme des IT-Kapitals überhaupt positive Produktivitätseffekte nach sich ziehen sollte. IT-Kapital ist dabei definiert als der Bestand an Hardware, Software und IT-Dienstleistungen (Dedrick et al. 2003). Produktivität wird regelmäßig durch die Arbeitsproduktivität gemessen, d. h. der Quotient aus Output (Produktionswert oder Wertschöpfung) und Arbeitseinsatz (meist Mitarbeiterstunden). Eine Erhöhung der Arbeitsproduktivität kann also sowohl inputseitig durch ein Absinken des Arbeitseinsatzes als auch outputseitig durch eine Erhöhung des Umsatzes erfolgen. Die Tab. 1 gibt einen Überblick über die verschiedenen Wirkungsmöglichkeiten von IT auf die Arbeitsproduktivität, die im Folgenden genauer betrachtet werden. Eine klassische Einsatzmöglichkeit von IT ist die Automatisierung von Arbeitsprozessen. Dieser Vorgang wird auch als Kapitalvertiefung bezeichnet und drückt aus, dass der Kapitaleinsatz relativ zum Arbeitseinsatz ansteigt (Dedrick et al. 2003). So werden beispielsweise routinemäßige Buchführungsaufgaben durch Computerprogramme

Tab. 1  Wirkungsmöglichkeiten von IT-Investitionen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität Wirkungsbereich

Wirkungsweise

Ziel

Inputseitig

Relative Reduzierung des Arbeitseinsatzes

Überproportionale Senkung Prozess des Arbeitseinsatzes im Verhältnis zum Umsatz

Outputseitig

Effizientere Zusammenarbeit von Arbeit und Kapital

Kostensenkung durch höhere Effizienz und Umsatzsteigerung durch Qualitätssicherung

Prozess

Preisaufschlag durch innovative Features/Produkte

Steigerung des Umsatzes

Produkt

Verbesserung

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statt von Buchhaltern erledigt. Dabei kommt es zu einer direkten Substitution von Arbeitseinsatz für den in diesem Fall relativ produktiveren Inputfaktor IT-Kapital, was zu einer Erhöhung der Kapitalintensität und letztlich zu einer Steigerung der Arbeitsproduktivität führt. IT verfügt zusätzlich über das Potenzial, den Informations- und Datenfluss in und zwischen Unternehmen oder Endkunden zu optimieren und dadurch Prozesse nicht nur inkrementell zu verbessern, sondern zu revolutionieren. Damit hat IT nicht nur direkte Auswirkungen auf die Arbeitsproduktivität, sondern weist eine duale Wirkungsweise auf, indem es auch als Katalysator für Restrukturierungsmaßnahmen in Unternehmen dienen kann. Dies ermöglicht Unternehmen, mit einem festgelegten Faktoreneinsatz und unveränderter Qualität der Inputs ein höheres Outputniveau zu erreichen (Dedrick et al. 2003). Unternehmen können hierzu bei gegebenem Input entweder die Quantität des Outputs erhöhen (z. B. durch Prozessinnovation) oder die Qualität des Outputs verbessern (z. B. durch Produktinnovation). Durch strukturelle Veränderungen lassen sich die eingesetzten Inputfaktoren effizienter kombinieren und so permanente Produktivitätssteigerungen erreichen. Führt beispielsweise ein Unternehmen ein Enterprise-Resource-Planning(ERP)-System ein, lässt sich dadurch eine Vielzahl an Geschäftsanwendungen und Betriebsdaten in einem System verarbeiten und speichern. Dementsprechend ist die Planung von Arbeitsabläufen über sämtliche Unternehmensebenen und -bereiche hinweg möglich. Um dieses Potenzial nutzbar zu machen, müssen Unternehmen aber bisherige Prozesse umstrukturieren und festgelegte Arbeitsabläufe neu definieren. In diesen Restrukturierungsmaßnahmen steckt die Erwartung, dass Produktionsfaktoren bestmöglich kombiniert werden können. Dieses Wissen ist allerdings weder messbar noch fassbar. Es ist immateriell und lässt sich nicht einfach als eigenständiger Inputfaktor abbilden. Vielmehr sorgt es dafür, bestehende Inputfaktoren effizienter zu kombinieren, was in einer Produktivitätssteigerung mündet (Dedrick et al. 2003). Andererseits kann durch den Einsatz von IT-Technologien im Produktionsprozess potenziell akkurater gearbeitet werden und so die Anzahl der defekten oder nicht den Qualitätsstandards genügenden Produkte gesenkt werden. Dementsprechend steigt die Qualität des Outputs und womöglich der Umsatz. Gleichzeitig können die Kosten sinken, da sich die Anzahl an Rückrufen sowie Reklamationen verringert und auch weniger Personal in diesen Bereichen benötigt wird. Überdies lassen sich IT-Investitionen dazu nutzen, Produkte oder Dienstleistungen mit digitalen Funktionen auszustatten oder sogar innovative digitale Produkte und Dienstleistungen auf den Markt zu bringen. Wenn die Abnehmer bereit sind, den durch digitale Zusatzleistungen oder Innovationen geschaffenen Mehrwert auch monetär zu vergüten und einen Preisaufschlag zu zahlen („innovation premium“), führt dies zu einer Umsatzsteigerung (Bresnahan et al. 2002). Ein Beispiel hierfür ist der im Jahr 2007 eingeführte E-Book-Reader Kindle, der es Benutzern ermöglicht, E-Books, Zeitungen sowie Zeitschriften herunterzuladen und direkt auf dem Gerät zu lesen. Dies hat den Vorteil, dass Nutzer jederzeit und an jedem Ort Zugriff auf ihre Inhalte haben, ohne diese physisch

Zur Bedeutung von Solows Paradoxon ...

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bei sich tragen zu müssen. Dieser Komfort stellt einen Mehrwert für den Kunden dar, der in einen Preisaufschlag münden kann. Die Option, solche digitalen Innovationen anzubieten, ist aber nicht für alle Unternehmen oder Industriezweige gleichermaßen realisierbar. Ein Hersteller von Beton- oder Gipsplatten etwa hat kaum die Möglichkeit, seine Produkte zu digitalisieren, wohingegen sich für Technologieunternehmen Chancen ergeben, durch digitale Innovationen in völlig neue Märkte vorzudringen.

3 Vorgehen bei der Literatursuche Nach Darlegung der Wirkungsweise von IT auf die Arbeitsproduktivität wird im Folgenden unter Zuhilfenahme der bestehenden Literatur das Solow-Paradoxon genauer betrachtet. Zur Identifizierung relevanter Literatur erfolgt ein systematischer Suchvorgang, der auf Webster und Watson (2002) sowie Tranfield et al. (2003) beruht. Die Recherche erfolgte in vier Stufen. Zuerst wurde auf Basis der Business-Source-PremierDatenbank mithilfe von Schlüsselwörtern nach geeigneten Beiträgen gesucht.1 Die Suche wurde dabei auf einen Zeitraum von 1987 bis 2017 und englischsprachige Beiträge begrenzt. Es sei angemerkt, dass einige Einschränkungen vorgenommen wurden, um eine vergleichbare Studienlage zu erhalten. Es wurden nur Studien mit monetär gemessenen oder geschätzten IT-Investitionen aufgenommen, nicht aber solche, die eine reine Messung der IT-Investition anhand der IT-Nutzung approximieren (z. B. Black und Lynch 2001; Brasini und Freo 2012), da Investition in IT und ihre Nutzung grundlegend verschiedene Variablen darstellen (s. hierzu auch Markus und Son 1995). Ebenso blieben Studien unberücksichtigt, die sich ausschließlich mit den Auswirkungen von IT-Investitionen auf Konsumentenrente, Lohn, Arbeitsmarkt, Profitabilität oder Marktwert beschäftigen (z. B. Mahmood und Mann 1993; Bharadwaj et al. 1999; Brynjolfsson et al. 2002). Zudem liegt der Fokus dieser Arbeit auf dem direkten Effekt von

1Folgende

Journale wurden für die Schlüsselwortsuche ausgewählt: Academy of Management Journal, American Economic Review, Brookings Papers on Economic Activity, Canadian Journal of Economics, Decision Support Systems, Econometrica, Economic Inquiry, Economic Journal, Economic Policy, Economica, Economics of Innovation & New Technology, Empirical Economics, German Economic Review, Information & Management, Industrial & Corporate Change, Information Systems Research, Journal of Applied Econometrics, Journal of Business, Journal of Econometrics, Journal of Economic Growth, Journal of Economic Literature, Journal of Economic Perspectives, Journal of Industrial Economics, Journal of Labor Economics, Journal of Management Information Systems, Journal of Productivity Analysis, Journal of Political Economy, Management Science, MIS Quarterly, Organization Science, Production & Operations Management, Quarterly Journal of Economics, RAND Journal of Economics, Review of Economic Studies, Review of Economics & Statistics, Review of Income and Wealth, Telecommunications Policy und Strategic Management Journal.

534

R. Obermaier und S. Schweikl

IT-Investitionen auf Produktivität. Studien, die eine Wirkung von IT über mediierende Variablen auf Produktivität untersuchen, sowie Studien, die nur intermediäre Variablen wie Effizienz betrachten, wurden daher nicht aufgenommen (z. B. Alpar und Kim 1990; Mitra und Chaya 1996; Lin und Shao 2006). Ebenso wurde die Auswahl auf empirische Studien mit Daten auf Unternehmensebene beschränkt, um die von Brynjolfsson (1993) diskutierte Redistributionsproblematik zu umgehen.2 Insgesamt wurden 714 Beiträge identifiziert. Die erhaltenen Studien wurden dann anhand ihrer Kurzzusammenfassung auf Eignung für den Literaturüberblick geprüft. Letztendlich verblieben 81 potenziell geeignete Beiträge, von denen nach vollständiger Durchsicht weitere 40 Beiträge auf Grundlage der zuvor aufgeführten Einschränkungen aussortiert wurden. Die durch die Schlüsselwortsuche erhaltenen Studien beliefen sich daher auf 41. Im zweiten Schritt wurde eine Rückwärtssuche durchgeführt und die Literaturverzeichnisse der vorliegenden Studien wurden systematisch nach relevanten Quellen durchsucht. Arbeitspapiere, Buch- oder Konferenzbeiträge fanden keine Berücksichtigung. Ausnahme bilden die Buchbeiträge von Strassmann (1990) sowie Loveman (1994), da beide Quellen das Forschungsgebiet nachhaltig geprägt haben. Dadurch wurden zehn weitere Studien identifiziert. Im dritten Schritt wurde dann eine Vorwärtssuche durchgeführt. Dabei wurden in der Datenbank Web of Science Beiträge auf ihre Eignung überprüft, die bisher gefundene Studien zitierten. So wurden zwölf weitere Studien ermittelt. Im vierten Schritt erfolgte eine Durchsicht der Literaturüberblicke von Brynjolfsson und Yang (1996), Dedrick et al. (2003) und Schryen (2013) sowie der Metaanalysen von Sabherwal und Jeyaraj (2015) und Polák (2017) nach relevanten Beiträgen, wodurch neun weitere Beiträge identifiziert wurden. Der finale Literaturüberblick beinhaltet dementsprechend insgesamt 72 Studien.

4 Implikationen der strukturierten Literaturanalyse Die Literaturanalyse macht unmittelbar deutlich, dass es bezüglich des Solow-Paradoxons unterschiedliche Forschungsergebnisse gibt (Tab. 2). Um die Ergebnisse der Studien besser beurteilen zu können, werden zu Beginn die Messproblematiken im aktuellen Forschungsfeld diskutiert. Im Anschluss findet eine Darlegung der Studien statt, die keinen signifikanten Effekt von IT-Investitionen auf die Produktivität nachweisen. Danach

2Basierend auf den genannten Einschränkungen wurde folgende Suchformel generiert: (computer OR IT investment OR IT expenses OR IT expenditure OR IT capital OR IT spending OR IT stock OR IT purchases OR information technology OR information technologies OR information and communication technology OR Information & communication technology OR information and communication technologies OR information & communication technologies OR ict) AND (productivity OR output OR value added).

Zur Bedeutung von Solows Paradoxon ...

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Tab. 2  Überblick der erhobenen Studien Autor

Stichprobenumfang; BetrachtungszeitDatenbasis der IT raum Variable

Region

Resultat

Strassmann (1990)

MPIT

USA

o

1977–1987

Weill (1992)

33 KMUs; EB

1982–1987

USA

o

Loveman (1994)

60 Geschäftseinheiten; MPIT

1978–1984

USA

o

Brynjolfsson und Hitt (1995)

~370 Unternehmen; 1988–1992 IDG

USA

+

Kwon und ­Stoneman (1995)

217 Unternehmen; CURDS

Großbritannien

+

1981–1990

Lichtenberg (1995)

IDG & IW

1988–1991

USA

+

Brynjolfsson und Hitt (1996)

367 Unternehmen; IDG

1987–1991

USA

+

Hitt und 370 Unternehmen; ­Brynjolfsson (1996) IDG

1988–1992

USA

+

Rai et al. (1996)

210 Unternehmen; IW

1994

USA

+

Barua und Lee (1997)

47 Geschäftseinheiten; MPIT

1978–1984

USA

+

Byrd und Marshall (1997)

350 Unternehmen; IDG

1990–1993

USA

o

Dewan und Min (1997)

~300 Unternehmen; 1988–1992 IDG

USA

+

Prattipati und ­Mensah (1997)

86 Unternehmen; CW

1994

USA

o

Rai et al. (1997)

197 Unternehmen; IW

1994

USA

+

Francalanci und Galal (1998)

52 Versicherungsunternehmen; LOMA

1986–1995

USA



Lehr und ­Lichtenberg (1998)

44 Bundesbehörden; 1987–1992 CII

USA

+

Tam (1998)

88 Unternehmen; ACD

1983–1991

Asien

o

Yorukoglu (1998)

380 Unternehmen; IDG

1987–1991

USA

+

Lee und Barua (1999)

60 Geschäftseinheiten; MPIT

1978–1984

USA

+

Lehr und ­Lichtenberg (1999)

500 Unternehmen; ES, & CII

1977–1993

USA

+ (Fortsetzung)

536

R. Obermaier und S. Schweikl

Tab. 2   (Fortsetzung) Autor

Stichprobenumfang; BetrachtungszeitDatenbasis der IT raum Variable

Region

Resultat

Licht und Moch (1999)

791 Betriebe; MIP-S 1996 und IDC

Deutschland

o

Devaraj und Kohli (2000)

8 Krankenhäuser; EB

USA

+

Lee und Menon (2000)

63 Krankenhausein- 1976–1994 heiten; WADOH

USA

o

Menon et al. (2000)

50 Krankenhäuser; WADOH

1976–1994

USA

+

Sircar et al. (2000)

624 Unternehmen; IDC

1988–1993

USA

+

Hu und Plant (2001) 160 Unternehmen; IW

1990–1995

USA

o

Bresnahan et al. (2002)

300 Unternehmen; CII

1987–1994

USA

+

Hitt et al. (2002)

350 Unternehmen; 1986–1998 CII & SAP America

USA

+

Kudyba und Diwan (2002)

IW

1995–1997

USA

+

Lee und Perry (2002)

Regierungsbehörden; CII

1990–1995

USA

+

Ross (2002)

51 Unternehmen; IW

1999

USA

+

Becchetti et al. (2003)

MCU

1995–1997

Italien

+

Brynjolfsson und Hitt (2003)

527 Unternehmen; CII & IDG

1987–1994

USA

+

Bertschek und Kaiser (2004)

411 Unternehmen; SSBS

2000

Deutschland

+

Doms et al. (2004)

AES

1992–1997

USA

+

Dunne et al. (2004)

ASM

1977 & 1992

USA

o

Ko und Osei-Bryson 63 Krankenhäuser; (2004) WADOH

1975–1994

USA

o

Osei-Bryson und Ko 370 Unternehmen; (2004) IDG

1988–1992

USA

o

Zhu (2004)

114 Unternehmen; CII

2001 & 2002

USA

+

Hempell (2005a)

1.122 Unternehmen; 1994–1999 MIP-S

Deutschland

+

3 Jahre (monatlich)

(Fortsetzung)

Zur Bedeutung von Solows Paradoxon ...

537

Tab. 2   (Fortsetzung) Autor

Stichprobenumfang; BetrachtungszeitDatenbasis der IT raum Variable

Region

Resultat

Hempell (2005b)

1.222 Unternehmen; 1994–1999 MIP-S

Deutschland

+

Huang (2005)

34 Banken; EB

1996–2003

Taiwan

+

Shu und Strassmann 12 Banken; EB (2005)

1989–1997

USA

+

Chowdhury (2006)

300 KMUs; EB

2000

Kenia & Tansania



Dewan et al. (2007)

500 Unternehmen; CII

1987–1994

USA

+

Gargallo-Castel und 1.225 Unternehmen; 1998 Galve-Górriz (2007) SBS

Spanien

+

Melville et al. (2007)

933 Unternehmen; CII

USA

+

Neirotti und ­Paolucci (2007)

30 Versicherungs1992–2001 unternehmen; ANIA

Italien

+

Giuri et al. (2008)

680 KMUs; MCU

1995–2003

Italien

+

Ko und Osei-Bryson 63 Krankenhäuser; (2008) WADOH

1976–1994

USA

o

Badescu und Garcés-Ayerbe (2009)

341 Unternehmen; ESI

1994–1998

Spanien

o

Menon et al. (2009)

Krankenhäuser; WADOH

1979–2006

USA

o

Sircar und Choi (2009)

IDC

1988–1993

USA

+

Wilson (2009)

1.651 Unternehmen; 1998 ACES

USA

+

Chwelos et al. (2010)

800 Unternehmen; CII

1987–1998

USA

+

Ramirez et al. (2010)

228 Firmen; CII

1996–1999

USA

+

Commander et al. (2011)

1.000 Unternehmen; 2001–2003 EB

Brasilien & Indien

+

Lee et al. (2011)

48 Unternehmen; MIIT

China

+

Bloom et al. (2012)

1.633 Unternehmen; 1999–2006 CEP & CiDB

Europa

+

Chang und ­Gurbaxani (2012)

386 Unternehmen; CII

USA

+

1987–1994

2005–2007

1987–1994

(Fortsetzung)

538

R. Obermaier und S. Schweikl

Tab. 2   (Fortsetzung) Autor

Stichprobenumfang; BetrachtungszeitDatenbasis der IT raum Variable

Region

Resultat

Tambe und Hitt (2012)

1.800 Unternehmen; 1987–2006 CITDB & JSW

USA

+

Tambe et al. (2012)

253 Unternehmen; CITDB & JSW

1999–2006

USA

+

Chang und ­Gurbaxani (2013)

CII

1987–1994

USA

+

Hall et al. (2013)

9.850 Unternehmen; 1995–2006 MCU

Italien

+

Castiglione und Infante (2014)

MCU

Italien

+

Liu et al. (2014)

1.114 Unternehmen; 1991 DGBAS

Taiwan

+

Tambe und Hitt (2014a)

CITDB & JSW

1987–2006

USA

+

Tambe und Hitt (2014b)

CII & IDG

1987–1994

USA

+

Luo und Bu (2016)

WBES

2007

Schwellenländer

+

Aboal und Tacsir (2017)

2.302 Unternehmen; 2004–2009 SIS & MIS

Uruguay

+

Huang et al. (2017)

1.165 Unternehmen; 1991 DGBAS

Taiwan

+

Kılıçaslan et al. (2017)

TURKSTAT

Türkei

+

1995–2006

2003–2012

Anmerkung: Resultat bezieht sich auf den direkten Zusammenhang zwischen IT und Produktivität. – negativer Zusammenhang; o kein signifikanter Effekt; + positiver Zusammenhang; Abkürzungen: ABI Annual Business Inquiry; ACES Annual Capital Expenditures Survey; ANIA Italian Association of Insurance Enterprises; ASM Annual Survey of Manufactures; ACD Asian Computer Directory; ADB Asian Development Bank; AES Asset and Expenditure Survey; CEP Center for Economic Performance Management survey; CURDS Centre for Urban and Regional Development Studies; CII Computer Intelligence Infocorp; CITDB Computer Intelligence Technology Database (früher CII); CW Computerworld; EB Eigenständige Befragung; ES Enterprise Survey; ESI Entrepreneurial Strategy Inquiry; CiDB European Ci Technology Database; DGBAS Industry, Commerce, and Service Census survey conducted by Directorate-General of Budget, Accounting and Statistics; IDC International Data Corporation; IDG International Data Group; IW InformationWeek; JSW Job Search website; LOMA Life Office Management Association; MPIT Management Productivity and Information Technology; MIP-S Mannheim Innovation Panel for the Service Sector; MIS Manufacturing Innovation Surveys; MCU Mediocredito Survey; MIIT Ministry of Industry and Information Technology; SBS Survey on Business Strategies; SSBS Service Sector Business Survey; SIS Service innovation surveys; TURKSTAT Turkish Statistical Institute; WADOH Washington State Department of Health; WBES World Bank’s Enterprise Surveys

Zur Bedeutung von Solows Paradoxon ...

539

erfolgt eine Analyse der Studien, die einen positiven Effekt finden. Abschließend werden noch relevante Phänomene betrachtet, wie die stellenweise starke Performancevariation von Unternehmen mit ähnlichen IT-Investitionen und die Zeitverzögerung zwischen IT-Investitionen und resultierenden Produktivitätseffekten.

4.1 Messproblematik verhindert eine belastbare Analyse des Solow-Paradoxons Zu Beginn sei darauf verwiesen, dass trotz der hohen Studienanzahl eine tatsächliche Lösung des Solow-Paradoxons aufgrund der diversen Messproblematiken in dem vorliegenden Forschungsfeld nur bedingt realisierbar scheint. Messprobleme der unabhängigen Variable Das offenkundigste, aber im Grunde am wenigsten diskutierte Problem besteht darin, die unabhängige Variable des interessierenden Zusammenhangs zu definieren und zu spezifizieren (s. auch Oz 2005; Schryen 2013). Der erste Schritt ist, zu klären, was eine IT-­ Investition überhaupt ist bzw. wie diese gemessen werden kann. Hitt und Brynjolfsson (1996, S. 127) beschreiben in ihrer Arbeit, wie IT-Investitionen idealerweise abgebildet werden sollten: Ideally, we wanted to incorporate all components that are considered IT into our measure. A broad definition could have included hardware expenses (computers, telecommunications, peripherals), software expenses (in-house or purchased), support costs, and also complementary organizational investments such as training or the costs of designing and implementing IT-enabled business processes.

Gleichzeitig geben sie aber an, dass eine solche Messung von IT-Investitionen aufgrund der unzureichenden Datenlage nicht möglich war. Dieses Problem trifft auf alle im Literaturüberblick aufgeführten Studien zu. Es gibt keine einzige Studie, die IT-­ Investitionen in ihrem vollen Ausmaß abbildet und misst. Sicherlich existiert eine gewisse Korrelation zwischen den meistens verwendeten Ausgaben für Hardware als Surrogat für IT-Investitionen und den ganzheitlichen Kosten. Nichtsdestoweniger herrscht in der Literatur dadurch ein systematischer Messfehler, der zu Phänomenen wie den enormen Überrenditen von IT führen kann. Das zentrale Problem von Studien zum Solow-­ Paradoxon scheint daher die Erhebung von akkuraten Daten zu IT-Investitionen zu sein. Dies ist im Zeitablauf besonders bedenklich, da vor einem Vierteljahrhundert die Ausgaben für Hardware u. U. noch ein akzeptables Äquivalent für IT-Investitionen darstellten, heutzutage jedoch die Ausgaben für Hardware oftmals nur noch einen Bruchteil der gesamten IT-Investitionen abbilden. Es ist dementsprechend zu erwarten, dass nicht etwa die Anzahl der Computer entscheidend ist, auch nicht, wie groß die gesamte Rechenleistung ist, sondern vielmehr die enthaltene Software und die Art und Weise, wie jene eingesetzt wird. Der immaterielle Charakter dieser beiden Komponenten macht die empirische Messung des eigentlich untersuchten Phänomens enorm schwer.

540

R. Obermaier und S. Schweikl

Ein Blick in die untersuchten Studien offenbart zudem, dass als unabhängige Variable z. B. „IT capital“, „IT intensity“, „IT purchases“, „IT spendings“ oder „IT stock“ Verwendung finden. Und selbst wenn Studien von derselben Größe wie beispielsweise IT-Intensität sprechen, kann es sein, dass diese deutlich abweichende Bestandteile beinhaltet und dementsprechend zu anderen Schlussfolgerungen führt. Die jüngste Studie von Acemoglu et al. (2014, S. 397) weist genau darauf hin: „Different measures of IT intensity thus appear to give different results“. Messprobleme der abhängigen Variable Aber damit nicht genug; auch der Output ist nicht immer eindeutig zu erfassen. Die Messung von Produktivität setzt voraus, dass sowohl die Output-Größe als auch die InputGröße adäquat messbar sind. Andernfalls können Verzerrungen sowohl nach oben als auch nach unten die Folge sein. Was die Output-Größe angeht, ist insbesondere die Deflationierung der Preise bedeutsam, um Realwerte miteinander vergleichen zu können. Schwieriger als die nötige Deflation ist die Herstellung von Vergleichbarkeit qualitativ unterschiedlicher Güter und Dienste. Führt beispielsweise verstärkter IT-Einsatz zu qualitativ besseren Produkten oder Dienstleistungen, deren realer Preis aber konstant bleibt, so würde der Effekt regelmäßig unterschätzt. Denn ganz zweifellos leisten neuere Autos, Computer oder Smartphones mehr als Vorgängerversionen, ohne zwangsläufig teurer zu sein. Aber auch die Branche spielt eine erhebliche Rolle. Im Dienstleistungssektor ist es vorstellbar, dass manche Serviceverbesserungen, die auf steigenden IT-Einsatz zurückzuführen sind, nicht oder nur schwer messbar sind und damit gerade in dieser Branche Produktivitätssteigerungen schwerer nachweisbar wären.

4.2 Gründe für das Ausbleiben messbarer Effekte Unabhängig von den Messproblematiken, von denen alle Studien betroffen sind, wird deutlich, dass frühe Studien überwiegend keinen signifikanten Zusammenhang zwischen Produktivität und IT feststellten und daher Solow in seiner Aussage bestätigen. Zu klären bleibt nun, worauf dies zurückzuführen ist. Methodische Schwächen und zu geringe Stichprobenumfänge der Beiträge Da kleinere Stichprobenumfänge tendenziell weniger signifikante Ergebnisse liefern, könnte dies ein Grund für das Ausbleiben von messbaren Effekten sein. Strassmann (1990) betrachtete 38 Einheiten, Weill (1992) 33 Ventilhersteller sowie Loveman (1994) 60 Geschäftseinheiten. Darüber hinaus waren die Daten zur Messung der ITInvestitionen in diesem Zeitraum oftmals ungenau, was der erschwerten Datenerfassung in Zeiten, in denen es noch wenig digitale Datenbanken gab, geschuldet war (Dedrick et al. 2003).

Zur Bedeutung von Solows Paradoxon ...

541

Barua und Lee (1997) sowie Lee und Barua (1999) widersprechen diesem Erklärungsansatz allerdings. Beide Studien analysierten, wie auch Loveman (1994), den Management-Productivity-and-Information-Technology(MPIT)-Datensatz. Barua und Lee (1997) fanden jedoch einen signifikant positiven Einfluss von IT-Investitionen auf die Produktivität bestimmter Geschäftseinheiten. Sie zeigen, dass das negative Ergebnis von Loveman (1994) auf die Wahl des Deflators zurückgeht, der für das IT-Kapital verwendet wurde. Darüber hinaus führten auch Modellierungsprobleme bei der Auswahl von Inputs für IT-Kapital, Nicht-IT-Kapital und Arbeit zu erheblichen Abweichungen bei den IT-Produktivitätsschätzern. Unter Berücksichtigung dieser Aspekte zeigen sie, dass Geschäftsbereiche großer Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes durch IT-Investitionen im Betrachtungszeitraum beträchtliche Produktivitätsgewinne erzielten. Lee und Barua (1999) machten unter Berücksichtigung verschiedener Verhaltensannahmen (Gewinnmaximierung, Kostenminimierung und stochastische Grenze), Funktionsformen (Cobb-Douglas und Translog), Methodiken (Panel und Pooling) sowie Kapitalisierungsmethoden deutlich, dass IT-Investitionen einen signifikant positiven Einfluss auf die Produktivität der betrachteten Geschäftseinheiten hatten. Der nicht nachweisbare Effekt von IT auf Produktivität zu Beginn der Forschungsbemühungen um das Solow-Paradoxon ist also womöglich nicht zwangsweise nur auf die zu geringen Stichprobenumfänge zurückzuführen, sondern auch auf methodische Unzulänglichkeiten. Lernkurveneffekte durch die Neuheit von IT Eine Alternativerklärung sind die abweichenden Betrachtungszeiträume der einzelnen Studien. Forschungsbeiträge, die einen nicht signifikanten oder negativen Zusammenhang zwischen IT-Investitionen und Produktivität aufzeigen, betrachten überwiegend einen Zeitraum vor den späten 1980ern (einen Zeitraum, den auch Solow selbst vor Augen hatte), Studien mit einem späteren Betrachtungszeitraum finden hingegen überwiegend einen signifikant positiven Zusammenhang zwischen IT und Produktivität. Ein Erklärungsansatz hierfür ist, dass aufgrund der Neuheit von IT in den 1970er- und 1980er-Jahren und der damit einhergehenden Komplexität die Unternehmen erst einige Zeit benötigten, bis sie die Technologie tatsächlich verstanden hatten und auch adäquat anwenden konnten. Yorukoglu (1998) zeigt, dass Unternehmen bei IT-Kapital weniger angesammeltes Fachwissen auf den Betrieb neuer IT-Technologien übertragen können. Danach steigt der Output um 2 %, wenn das IT-Kapital sich um ein Jahr länger im Unternehmen befindet, was auf Lernkurveneffekte hindeutet. Dieser verzögerte Effekt sollte besonders stark ausfallen, wenn eine völlig neue IT-Technologie mit bisher wenig existentem Know-how eingesetzt wird. Da damals IT im privaten Sektor noch nicht die heutige Omnipräsenz aufwies und die Verwendung von IT am Arbeitsplatz ein echtes Novum für viele Arbeitnehmer, aber auch Unternehmen darstellte, dürfte eine deutlich längere Lernphase nötig gewesen sein, bis Mitarbeiter vertraut im Umgang mit IT waren. Ebenso ergaben sich durch die Einführung von IT neue und komplexe Aufgabenfelder, was dazu führte, dass Arbeitnehmer Zeit benötigten, die neuen Qualifikationen und

542

R. Obermaier und S. Schweikl

Kompetenzen zu erwerben (Autor et al. 2003). Frühe Studien fanden womöglich keine Effekte, da Mitarbeiter wie auch Manager erst lernen mussten, mit der neuen Technologie umzugehen (Brynjolfsson 1993). Zu geringer Kapitalstock an IT und Kompensationseffekte Vieles spricht zudem dafür, dass zur Zeit der frühen Studien in den meisten Unternehmen zu wenig IT-Kapital vorhanden war, um tatsächlich entsprechenden Einfluss auf die Produktivität zu haben; v. a. da Computer erst effektiv zur internen Kommunikation nutzbar sind, wenn ein Großteil der Belegschaft über eine solche Technologie verfügt. Gerade bei der Einführung von Computern in Unternehmen waren diese noch relativ teuer und daher noch nicht in allen Unternehmensbereichen verbreitet. Im Jahr 1977 gaben nur 10 % der von Dunne et al. (2004) befragten Betriebe an, in Computer zu investieren. Im Jahr 1992 war diese Zahl auf mehr als 60 % angestiegen. Gaben in den 1980er-Jahren US-Unternehmen insgesamt eine 1 Mrd. US$ für IT aus, belief sich allein im Jahr 1992 die Gesamtinvestitionssumme auf 160 Mrd. US$ (Lee und Barua 1999). Die Auswirkungen des anfangs relativ kleinen IT-Kapitalstocks waren demnach womöglich einfach zu gering, um messbare Effekte zu erzielen. Erst als im Lauf der Jahre durch steigende Ausgaben für IT der Kapitalstock anwuchs, konnte das Potenzial von Computern und die damit einhergehenden Netzwerkeffekte freigesetzt werden bzw. erreichten die Investitionen Umfänge, die auch den Unternehmenserfolg signifikant beeinflussten (Brynjolfsson und Hitt 1998). Dewan und Min (1997) gehen auf ein weiteres zentrales Phänomen ein. Sie fanden heraus, dass IT-Kapital in allen Wirtschaftsbereichen ein Substitut für andere Kapitalformen darstellt. Dies deutet darauf hin, dass der langsame Anstieg der Arbeitsproduktivität möglicherweise auf die kompensierende Wirkung von weniger Nicht-IT-Kapital bei gleichzeitig mehr IT-Kapital pro Arbeitnehmer zurückzuführen sein könnte. IT als Allzwecktechnologie David (1990) führt in seiner Arbeit noch einen weiteren Erklärungsansatz an. Er argumentiert, dass es sich bei IT um eine sog. Allzwecktechnologie („general purpose technologies“) handelt. Damit eine Technologie als Allzwecktechnologie gilt, muss diese Bresnahan und Trajtenberg (1995) zufolge allgegenwärtig sein, sich im Lauf der Zeit verbessern und zu vielfältigen komplementären Innovationen führen. Die größten Produktivitätssteigerungen sind historisch mit jener Art von Technologien verbunden. Was im späten 18. Jahrhundert die Dampfmaschine und gegen Ende des 19. Jahrhunderts die Elektrizität war, sind seit Ende des 20. Jahrhunderts Informationstechnologien (Simon 1987). Es wäre also zu erwarten gewesen, dass mit der Einführung von Computern zeitnah auch ein Zuwachs an Produktivität stattgefunden hätte. Allzwecktechnologien führen jedoch nicht immer zu einem sofortigen Produktivitätswachstum (David 1990). Eine signifikante Produktivitätsverbesserung durch Elektromotoren war erst knapp 40 Jahre nach der Einführung in Fabriken spürbar. Der erste Einsatz war der Austausch von Dampfmaschinen durch gigantische Elektromotoren, ohne dass diese mit

Zur Bedeutung von Solows Paradoxon ...

543

einer Neugestaltung von Arbeitsprozessen einherging. Die großen Produktivitätsgewinne kamen erst, als das Fabriklayout nicht mehr durch die Platzierung eines zentralen Motors zur Stromversorgung bestimmt wurde. Stattdessen wurden die Maschinen so in der Fabrik angeordnet, dass sie der Logik des Arbeitsflusses entsprachen und von individuellen Elektromotoren angetrieben wurden (Brynjolfsson und Hitt 1998). Eine solche Verzögerung der Produktivitätssteigerung wäre auch eine möglich Erklärung, weshalb frühe Studien von IT-Investitionen keine Produktivitätssteigerung nachweisen konnten, da zu diesem frühen Zeitpunkt einfach die notwendigen Voraussetzungen noch nicht gegeben waren. Erst durch die Jahre später stattfindende Transformation von Arbeitsprozessen im Rahmen von IT-Investitionen wurden dann Produktivitätssteigerungen realisiert. Triplett (1999) warnt allerdings davor, von historischen Kontexten auf zukünftige Entwicklungen zu schließen. Vor allem die hohe Individualität der einzelnen Innovationen wie Dampfmaschine, Elektrizität oder Informationstechnologien und die daraus resultierenden heterogenen Anwendungsmöglichkeiten sowie Auswirkungen in Unternehmen seien zu beachten. Missmanagement Schließlich besteht auch die Möglichkeit, dass IT zu keinen Produktivitätssteigerungen führte, weil Manager nicht wussten, wie sie IT bestmöglich einsetzen sollten bzw. selbst Schwierigkeiten hatten, den Beitrag von IT zum Unternehmenserfolg zu erkennen und es dadurch keine Anhaltspunkte zur Optimierung der IT-Nutzung gab (Macdonald et al. 2000). Diese Problematik bei der Erfassung des Mehrwerts von IT-Investitionen hat womöglich auch dazu geführt, dass Manager auf Heuristiken oder persönlichen Einschätzungen zur Bestimmung des optimalen Niveaus an IT-Kapital zurückgriffen, statt rigorose Kosten-Nutzen-Analysen durchzuführen (Brynjolfsson 1993). Darüber hinaus wurden durch die Einführung von IT in Unternehmen z. T. etablierte Managementkonzepte obsolet (Macdonald et al. 2000). Beispielsweise galt in den 1960er- und 1970er-Jahren die Prämisse, stets alle verfügbaren Informationen zur Entscheidungsfindung heranzuziehen. Dies kann in einer durch IT geprägten Unternehmenswelt aber zu einer Informationsüberflutung („information overload“) führen und die Entscheidungsfindung dadurch erschweren statt zu verbessern (Brynjolfsson 1993). Das Produktivitätsparadoxon ist also potenziell auf eine Kombination aus unternehmerischen Versäumnissen bei der Evaluierung wie auch bei der Nutzung von IT-Investitionen zurückzuführen.

4.3 Eine Umkehr des Paradoxons: Das Aufkommen von IT-induzierten Produktivitätseffekten Studien mit einem Betrachtungszeitraum nach den späten 1980er-Jahren finden im Gegensatz dazu nicht nur nahezu durchweg einen positiven Zusammenhang zwischen IT-Investitionen und Produktivität, sondern IT-Investitionen erzielen überdies enorme

544

R. Obermaier und S. Schweikl

Überrenditen (z. B. Lichtenberg 1995; Brynjolfsson und Hitt 1996; Hitt und Brynjolfsson 1996; Lehr und Lichtenberg 1998; Lehr und Lichtenberg 1999; Tambe und Hitt 2012). Anderson et al. (2003) gehen sogar so weit zu sagen, dass „presenting a new paradox that is the reverse of the initial productivity paradox“ (S. 91). Es erscheint tatsächlich paradox, dass IT-Investitionen sich innerhalb weniger Jahre von einem Investment mit keinen oder gar negativen Effekten auf die Produktivität zu einer Anlage mit Überrenditen gewandelt haben sollen und jene über Jahrzehnte hinweg bestehen blieben. Zu geringe Mietpreise für IT Grundsätzlich sollten Unternehmen solange in IT investieren, bis das Grenzprodukt von IT den Grenzkosten entspricht. Übersteigt das Grenzprodukt die Grenzkosten, wird von einer Überrendite gesprochen. Die Grenzkosten werden dabei meist durch den Mietpreis (spiegelt wider, wie hoch die Miete eines Investitionsguts für eine Periode wäre) abgebildet. Daher muss ein hohes Grenzprodukt nicht zwangsweise auf Überrenditen hindeuten, sondern kann letztlich auch nur hohe Abschreibungsraten widerspiegeln. So liegt der Mietpreis für Computer im Vergleich zu anderen Kapitalanlagen beispielsweise deutlich höher, da aufgrund der stetigen Innovationen im IT-Bereich Hardware wie auch Software schneller obsolet werden und dadurch in immer kürzeren Zyklen ersetzt werden müssen (Cardona et al. 2013). Brynjolfsson und Hitt (1996) weisen selbst auf dieses Phänomen hin und deuten an, dass die angesetzten Mietpreise für IT-Kapital eventuell zu niedrig sind. Aber selbst wenn sie von einem konservativen Ansatz ausgehen und annehmen, dass Computerkapital innerhalb von drei Jahren vollständig abgeschrieben wird, erhalten sie immer noch ein Netto-Grenzprodukt von etwa 40 % für IT-Kapital. Zu niedrig angesetzte Mietpreise für IT allein können die starken Überrenditen also nicht erklären. Fehlende Berücksichtigung komplementärer Investitionen Daher bringen Brynjolfsson und Hitt (2000) einen weiteren Erklärungsansatz ein. In Studien werden IT-Investitionen meist isoliert betrachtet. Um IT-Investitionen erfolgreich zu implementieren, sind aber zusätzliche Investitionen nötig. Mitarbeiter müssen geschult werden, Beratungen werden zur Prozessrestrukturierung ins Unternehmen geholt, aber auch das Management muss Zeit investieren, um eine erfolgreiche Integration des Projekts voranzutreiben. Viele der untersuchten Studien bewerten IT-Investitionen allerdings ausschließlich an den Ausgaben für Hardware (z. B. Kwon und Stoneman 1995; Brynjolfsson und Hitt 2003; Chwelos et al. 2010). Einige versuchen Aufwendungen für Arbeit, Software oder Dienstleistungen einzubeziehen, schätzen diese aber meist nur sehr grob und nehmen keine tatsächliche Messung der Größen vor (z. B. Brynjolfsson und Hitt 1996; Hitt und Brynjolfsson 1996; Dewan und Min 1997). Die Kosten für ergänzende Investitionen wie Schulungen oder Beratungsleistungen werden in keiner einzigen Studie vollständig erfasst bzw. ihnen wird überhaupt nicht Rechnung getragen. Diese sog. Komplementärinvestitionen, die mit der initialen IT-Investition einhergehen, verursachen jedoch hohe

Zur Bedeutung von Solows Paradoxon ...

545

Kosten, die dadurch nicht erfasst werden. Die Erträge aus diesen Investitionen spiegeln sich in einem erhöhten Output wider. Würden diese Kosten auf der Input-Seite erfasst, könnten die Renditen deutlich moderater ausfallen. Es findet daher womöglich eine systematische Überschätzung der Beiträge von IT in der Literatur statt. Um die tatsächliche Rendite von IT-Investitionen zu erfassen, wäre es zwingend erforderlich, neben der eigentlichen Investition in IT auch die damit einhergehenden weiteren Ausgaben zu berücksichtigen, da diese oftmals sogar ein Vielfaches der eigentlichen Investition betragen (siehe Brynjolfsson et al. 2003). Risikoprämie für IT-Investitionen Dewan et al. (2007) gehen auf einen weiteren Ansatz zur Erklärung der Überrenditen von IT ein. Sie weisen darauf hin, dass Investitionen in IT einen wesentlich größeren Beitrag zum Gesamtunternehmensrisiko leisten als andere Kapitalformen. Um die Investition in IT daher zu rechtfertigen, müssen Unternehmen eine substanzielle Risikoprämie erhalten. Manager werden dementsprechend eine höhere Mindestrendite für IT-Investitionen ansetzen. Sie gehen davon aus, dass etwa 30 % der Überrendite von IT als Risikoprämie zu verstehen ist. Eine Außerachtlassung des Faktors Risiko könnte bei einer so riskanten Vermögensklasse wie IT daher in einer Überschätzung der Beiträge münden. Spillover-Effekte Eine weitere potenzielle Ursache für die Überrenditen von IT sind sog. Spillover-Effekte. Dies bedeutet, dass Wissen oder Know-how von einem Unternehmen auf ein anderes überschwappt. Zum Beispiel kann ein Unternehmen Spillover-Vorteile erhalten, wenn elektronisch Waren von Lieferanten gekauft werden. Dadurch erhält der Betrieb Einblicke in die Abläufe und den Aufbau der elektronischen Vertriebsaktivitäten. Dementsprechend wird Wissen über die Vertriebsabwicklung des Lieferanten gewonnen, das in das eigene System integriert werden kann. Dieser Wissenstransfer ist kostenlos und ein Nebenprodukt der eigentlichen Bestellung. Durch den kostenfreien Transfer von Wissen bezüglich IT erhalten Unternehmen also Vorteile, für die sie keine direkte Gegenleistung erbringen müssen. Dieser Mehrwert spiegelt sich dann in einer Überrendite wider (Chang und Gurbaxani 2012). Unter Einbezug der nicht rivalisierenden Eigenschaften von IT-bezogenem Wissenstransfer und der Tatsache, dass bei IT-Investitionen nicht nur die Technologie an sich, sondern oftmals erst das Wissen über die richtige Anwendung den eigentlichen Wertzuwachs darstellt, scheint IT besonders prädestiniert für Spillover-Effekte. Auf Unternehmensebene gab es bisher nur wenige Studien zu dieser Thematik, obwohl in den letzten Jahren das Forschungsinteresse deutlich zugenommen hat (Chang und Gurbaxani 2012; Tambe und Hitt 2014a, b; Marsh et al. 2017; Wu et al. 2018). Chang und Gurbaxani (2012) zeigen, dass die geschätzte Höhe der privaten IT-Renditen deutlich größer ist, wenn die Auswirkungen von IT-bezogenen Spillover-Effekten unberücksichtigt bleiben. Sie gehen folglich davon aus, dass die fehlende Berücksichtigung von Spillover-Effekten in der bisherigen Literatur eine mögliche

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R. Obermaier und S. Schweikl

Ursache für die Überrenditen von IT-Investitionen darstellt. Tambe und Hitt (2014b) stellen zudem fest, dass Unternehmen erhebliche Produktivitätsvorteile aus den IT-­ Investitionen anderer Unternehmen ziehen können, sofern sie IT-Arbeitskräfte von jenen anwerben. Den Beitrag zum Produktivitätswachstum beziffern sie auf etwa 20–30 % des Produktivitätswachstums, das durch eigene IT-Investitionen zustande gekommen ist. Obwohl schon in Studien vor über 20 Jahren Überrenditen für IT-Investitionen festgestellt wurden, konnte bis heute nicht deren Ursache geklärt werden. Dies ist wohl auf die nicht belastbare Datengrundlage zurückzuführen. Nur weil IT-Investitionen in mehreren Studien Überrenditen erzielten, kann also nicht davon ausgegangen werden, dass Manager seit Dekaden systematisch zu wenig in IT investieren, sondern dass die tatsächliche Rendite von IT-Investitionen bisher nur unzureichend abgebildet wurde.

4.4 Komplementäre Faktoren als Erklärungsansatz für die starke Streuung in den Datensätzen zum Solow-Paradoxon Ein weiteres Phänomen ist die oftmals starke Differenz in der Performance von Unternehmen mit ähnlichen IT-Ausgaben (z. B. Brynjolfsson und Hitt 1995, 1996; Ross 2002; Dunne et al. 2004). Wie schon dargelegt, gibt es in der betrachteten Literatur überwiegend einen positiven Effekt zwischen IT-Investitionen und Produktivität. Die Variation in den Ausgaben für IT hat also Einfluss auf die Performance von Unternehmen. IT-Investitionen sind aber eingebettet in ein größeres System, und der Erfolg der Investition ist daher auch abhängig von anderen Faktoren in Unternehmen wie auch in der Unternehmensumwelt. Hierbei ist zu bedenken, dass Unternehmen grundsätzlich heterogen sind. Sie verfügen über abweichende hierarchische Strukturen, unterschiedliche interne Prozessabläufe und divergierende Managementstile. Dementsprechend wirken Investitionen in IT in unterschiedlichen Unternehmen nicht identisch. Betrachtet man beispielsweise die von Brynjolfsson (2003) oder Brynjolfsson und Hitt (2000) angegebenen Streudiagramme, wird die starke Varianz der Datenpunkte um die Trendlinie deutlich. Es gibt also Unternehmen, die ein ähnliches Maß an Investitionen in IT aufweisen, aber deutlich abweichende Produktivitätssteigerungen daraus erzielen.

4.4.1 Die ressourcenbasierte Sichtweise als theoretische Grundlage der komplementären Faktoren zu IT Brynjolfsson und Hitt (1995) schätzten, dass unternehmensspezifische Effekte für etwa die Hälfte der von IT-Investitionen stammenden Produktivitätsvorteile verantwortlich sind. Die Quelle für den Vorteil von IT-Ausgaben ist also zweigeteilt: einerseits die unternehmensspezifischen Effekte, die es manchen Unternehmen ermöglichen, IT deutlich effektiver zu nutzen als andere, und andererseits die aufgrund unterschiedlicher Ausgaben für IT in den Unternehmen auftretenden Vorteile, die allen Unternehmen gemein sind.

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Die Theorie hinter den Auswirkungen von unternehmenseigenen Ressourcen auf die Performance von Unternehmen bildet eine ressourcenorientierte Sichtweise des Unternehmens (Wernerfelt 1984; Barney 1991). Diese hebt die heterogene Ressourcenausstattung von Unternehmen als Grundlage für Wettbewerbsvorteile hervor. Barney (1991) spezifizierte, unter welchen Bedingungen eine Ressource oder ein Ressourcenbündel zu einem Wettbewerbsvorteil führt. Ist eine Ressource selten und wertvoll, kann diese zu einem vorübergehenden Wettbewerbsvorteil führen. Wenn sie zusätzlich nicht imitierbar und nicht substituierbar ist, hat die Ressource sogar das Potenzial, die Quelle eines nachhaltigen Wettbewerbsvorteils zu sein. IT ist zwar meist wertvoll (z. B. ERP-Systeme senken die Kosten der Koordination wirtschaftlicher Aktivitäten), aber i. d. R. nicht selten. Proprietäre und vom Unternehmen selbst entwickelte IT mag zwar zumindest kurzfristig selten sein, da aber heutzutage nahezu jede benötigte Soft- oder Hardware einfach erworben werden kann, ist dies eher die Ausnahme (Clemons und Row 1991). Ebenso kann unternehmenseigene IT oftmals durch Arbeitsplatzmobilität oder Unternehmenskooperationen von Wettbewerbern imitiert oder zumindest substituiert werden (Clemons und Row 1991; Mata et al. 1995). Daher kann IT allein u. U. die Grundlage für einen kurzzeitigen Wettbewerbsvorteil sein, aber kaum die Basis für einen nachhaltigen Wettbewerbsvorteil bilden. Wenn IT jedoch mit anderen organisatorischen Ressourcen kombiniert wird, entsteht dadurch ein komplexes System, das aufgrund seiner hohen Individualität weder imitierbar noch substituierbar ist. Erst durch die innovative Kombination mit anderen organisatorischen Ressourcen, wie einer bestimmten Organisationsstruktur oder qualifizierten Arbeitskräften, kann IT die Quelle eines nachhaltigen Wettbewerbsvorteils sein (Clemons und Row 1991; Mata et al. 1995; Melville et al. 2004; Wade und Hulland 2004).

4.4.2 Komplementäre organisatorische Ressourcen Unter Zuhilfenahme der ressourcenorientierten Perspektive wurden verschiedene Ressourcen und Fähigkeiten identifiziert, die in Verbindung mit IT als potenzielle Quellen für unternehmensspezifische Wettbewerbsvorteile dienen können. Melville et al. (2004) unterscheiden dabei grundsätzlich zwischen IT-Ressourcen und komplementären organisatorischen Ressourcen. Ersteres beinhaltet dabei Aspekte wie IT-Infrastruktur oder humane IT-Ressourcen im Sinn von technischen Fähigkeiten des IT-Personals. Komplementäre Ressourcen sind hingegen nicht IT-bezogene physische Ressourcen, nicht IT-­bezogene Humanressourcen und organisatorische Ressourcen, die sich synergistisch mit IT verhalten wie der Bildungsgrad von Arbeitskräften, bestimmte Entscheidungsstrukturen oder Managementpraktiken. Die Implementation von IT-Projekten wird daher oft von erheblichen organisatorischen Veränderungen begleitet (Melville et al. 2004). Aktivitäten sind dann komplementär, wenn „doing (more of) any one of them increases the returns to doing (more of) the others“ (Milgrom und Roberts 1995, S. 181). Nach Milgrom und Roberts (1990, 1995) müssen mit der Einführung von Computern auch systematische Veränderungen der Organisationsstrukturen in Unternehmen stattfinden, um das Potenzial von Computern zur Produktivitätssteigerung freizusetzen. Aber auch

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das Humankapital muss durch Schulungen adäquat auf die Nutzung der neuen Technologie vorbereitet werden. Um erfolgreich zu sein, müssen Unternehmen IT also als Teil eines Clusters von organisatorischen Veränderungen einführen (Brynjolfsson und Hitt 2000). Bresnahan et al. (2002) haben beispielsweise gezeigt, dass ein höheres Maß an IT mit einer verstärkten Delegation von Befugnissen an Einzelpersonen und Teams sowie einem höheren Bildungsniveau und verbesserten Fähigkeiten der Arbeitnehmer verbunden ist. Zudem wurde in ihrer Arbeit deutlich, dass Unternehmen mit hoher dezentraler Organisationsstruktur und umfangreichen Investitionen in IT produktiver sind als Unternehmen, die hohe Werte in nur einem der beiden Bereiche aufwiesen. Commander et al. (2011) stellten fest, dass Unternehmen mit flacheren Hierarchiestrukturen ihr Informations-und-Kommunikationstechnologie(IKT)-Kapital produktiver einsetzten. Eine verbesserte Überwachung der Mitarbeiter sowie eine verstärkte Entscheidungsfindung des Managements aufgrund von aktuellen Informationen hatten jedoch keinen Einfluss auf die Auswirkungen von IKT auf die Produktivität. Tambe et al. (2012) betrachten ein Modell bestehend aus IT-Investitionen, einer dezentraleren Organisationsstruktur und einem externen Fokus (die Fähigkeit eines Unternehmens Veränderungen im externen Umfeld zu erkennen und darauf zu reagieren) des Unternehmens. Sie kommen dabei zur Erkenntnis, dass dezentrales Entscheidungsmanagement und externer Fokus Komplementäre zu IT bilden und in Kombination zu einer deutlich höheren Produktivität führen als wenn IT-Investment als einzige erklärende Variable betrachtet wird. Im Gegensatz dazu finden Bertschek und Kaiser (2004), dass organisatorische Veränderungen (Abflachung von Hierarchien, teamorientiertes Arbeiten) keinen signifikanten Einfluss auf die Produktionselastizitäten von IKT-Kapital hat. Neben organisatorischen Veränderungen sind auch die Zusammensetzung und das Bildungsniveau der Arbeitnehmer mögliche Komplemente zu IT-Investitionen. IT ist Arbeitskräften v. a. bei kognitiven und manuellen Routineaufgaben überlegen. Aus diesem Grund werden Computer und andere Maschinen für Vorgänge wie das Zusammensetzen von Teilen am Fließband oder einfache Buchhaltungstätigkeiten eingesetzt. Infolgedessen hat sich die Anzahl der Routineaufgaben vieler Arbeitnehmer verringert. Im Gegenzug hat der Umfang komplexer und anspruchsvoller Aufgaben am Arbeitsplatz zugenommen. Denn auch wenn Computer für die Durchführung von Routineaufgaben einen komparativen Vorteil gegenüber Arbeitskräften besitzen, können sie keine kreativen Lösungen für bisher unbekannte Problemstellungen identifizieren (Autor et al. 2003). Daher profitieren besonders hochqualifizierte Arbeitnehmer von IT, da jene mit dem veränderteren Schwerpunkt hin zu anspruchsvolleren Aufgabenfeldern besser zurechtkommen. Auf der anderen Seite erhöhen qualifizierte Arbeitskräfte die Produktivität von IT. Sie sind einerseits in der Lage, die von den Rechensystemen erzeugte Leistung adäquat zu nutzen und so das Potenzial der Technologie auszuschöpfen. Anderseits können auch die Schulungskosten minimiert werden, da qualifizierte Arbeitskräfte i. d. R. über ausgeprägtes analytisches Denken sowie Problemlösungsfähigkeiten verfügen und so schneller mit neuen Technologien zurechtkommen (Moshiri und Simpson 2011).

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Gargallo-Castel und Galve-Górriz (2007) führen die unterschiedliche Wirkung von IKT-Investitionen auf die Produktivität in spanischen Unternehmen, auf den Umfang an qualifizierten Arbeitskräften und eine proaktive Einstellung von Führungskräften zu IT zurück. Giuri et al. (2008) fanden hingegen heraus, dass für IKT-Kapital und qualifizierte Arbeitskräfte keine komplementäre Beziehung bestand. Darüber hinaus lassen ihre Ergebnisse vermuten, dass es keine vollständige Komplementarität zwischen IKT, Humankapital und organisatorischem Wandel für kleine und mittlere Unternehmen gibt und die Adaption aller drei Faktoren sogar negative Auswirkungen hat. Dies deutet darauf hin, dass es sich eher um Substitute als Komplemente handelt. Ein weiteres mögliches Komplement zu IT sind bestimmte Managementpraktiken bzw. die grundsätzliche Einstellung des Managements gegenüber IT (Dedrick et al. 2003). Investitionen in IT haben gerade in der heutigen Zeit oft sehr große Umfänge und unternehmensweite Auswirkungen. Da Manager einen guten Überblick über das komplette Unternehmen haben, sind diese am besten in der Lage zu erkennen, in welchen Bereichen Investitionen in IT sinnvoll erscheinen und wie diese adäquat nutzbar sind, um einen Mehrwert für das Unternehmen zu generieren. Darüber hinaus führt sichtbare Managementunterstützung zu einer positiveren Einstellung der Arbeitnehmer gegenüber der neuen Technologie, was wiederum zu deren schnellerer und reibungsloserer Adaption beiträgt. Das Management sollte also nicht nur den Kauf von IT beschließen, sondern auch die Implementation des IT-Investments betreuen und bei der Planung zur langfristigen Ausrichtung des Investments eine zentrale Rolle einnehmen (Thong et al. 1996). Weill (1992) zeigt, dass die Qualität des unternehmensweiten Managements und dessen Engagement für IT den Beitrag von IT-Investitionen zur Unternehmensleistung steigern. Die Studie von Bloom et al. (2012), die die Produktivitätsauswirkungen von IT zwischen in Europa ansässigen Unternehmen und multinationalen US-Konzernen mit Niederlassungen in Europa untersucht, kommt zum Ergebnis, dass amerikanische Unternehmen in Großbritannien und in der EU allgemein eine höhere IT-­Produktivität aufweisen als einheimische Firmen. Zurückzuführen ist dies auf ein aggressiveres Management in Bezug auf Personalangelegenheiten. In multinationalen US-Konzernen werden überdurchschnittlich leistende Arbeitnehmer schneller befördert oder erhalten zügiger einen Bonus. Im Gegenzug werden unterdurchschnittliche Arbeitnehmer schneller entlassen. Diese proaktivere Personalpolitik des Managements scheint synergistisch mit IT-Investitionen zu wirken.

4.4.3 Kontextfaktoren Neben den unternehmenseigene Ressourcen existieren aber auch noch unternehmensexterne Faktoren, welche Auswirkungen auf den Erfolg von IT-Investitionen haben (Dedrick et al. 2003; Schryen 2013). Unternehmen sind z. B. in unterschiedlichen Industrien und Märkten tätig und weisen verschiedene Marktpositionen auf. Dementsprechend sind sie unterschiedlichen Wettbewerbsbedingungen ausgesetzt. So existieren in bestimmten Industriezweigen wie in der Ölindustrie deutlich höhere Eintrittsbarrieren

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als im Bereich der Softwareentwicklung. Dies führt wiederum dazu, dass Unternehmen in Bereichen mit hohem Wettbewerbsdruck durch neue Unternehmen oder andere Wettbewerber einen höheren Anreiz haben, aus ihren Investitionen auch (frühzeitig) Erträge zu erzielen. Daher wäre zu erwarten, dass jene Firmen im Schnitt höhere Renditen auf ihre IT-Investitionen erhalten. So fanden Melville et al. (2007) heraus, dass Unternehmen in stark kompetitiven Industriezweigen besonders hohe Renditen von IT realisieren. Aber auch auf Länderebene gibt es Unterschiede. In Deutschland sind beispielsweise Arbeitnehmerschutzgesetze deutlich ausgeprägter und Gewerkschaften einflussreicher als in den USA, was dazu führt, dass es mit höherem Aufwand verbunden ist, unproduktive Arbeitnehmer zu kündigen. Hätte ein Unternehmen zudem die Möglichkeit, Humankapital durch IT-Kapital zu ersetzten und so die Produktivität zu steigern, wäre dies auch nicht ohne Weiteres realisierbar. Commander et al. (2011) beschäftigen sich mit den Auswirkungen des institutionellen und politischen Umfelds auf den Zusammenhang zwischen IKT-Kapitalinvestitionen und Produktivität in indischen und brasilianischen Firmen. Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass sowohl die schlechtere Qualität der Infrastruktur als auch Arbeitsmarktregulierungen (Pro-Arbeitnehmer) mit niedrigeren IKT-Kapitalintensitäten verbunden sind, während eine schlechtere Infrastruktur zusätzlich mit geringeren Erträgen für IKT-Investitionen einhergeht. Es darf auch nicht vernachlässigt werden, dass das Bildungsniveau eines Landes eine wichtige Rolle spielt. So finden Studien in Schwellen- und Entwicklungsländern wie Tansania und Kenia (Chowdhury 2006) oder Malaysia (Tam 1998) stellenweise sogar negative Effekte von IT-Investitionen auf die Produktivität, was potenziell auf einen Mangel an qualifizierten Arbeitskräften zurückgeführt werden kann (Chowdhury 2006).

4.4.4 Art der IT-Investition Ein weiterer in der Literatur zum Solow-Paradoxon stellenweise vernachlässigter Aspekt ist, dass nicht nur Unternehmen und ihre Umwelt heterogen sind, sondern auch die IT-Investitionen selbst. In nahezu allen Studien in diesem Bereich wird IT aber als ein einheitliches Gut betrachtet, das das Ziel hat, die Produktivität zu steigern (Schryen 2013). Aral und Weill (2007) merken an, dass bisher wenig darüber bekannt ist, wie verschiedene Arten von IT auf die Performance von Unternehmen wirken. Schon Weill (1992) zeigte, dass unterschiedliche Arten von IT auch abweichende Wirkungen haben. Er unterteilte IT-Investitionen in strategische, transaktionale (kostensenkende) und infrastrukturelle Investitionen. Dabei wurde deutlich, dass lediglich transaktionale IT-Investitionen die Performance signifikant positiv beeinflussen. Investitionen mit strategischer Ausrichtung hatten in den ersten Perioden sogar einen negativen Effekt auf die finanzielle Performance von Unternehmen. Dies erscheint vor dem Hintergrund, dass strategische Investitionen oftmals langfristig ausgerichtet sind, plausibel. Auch wird dadurch deutlich, dass je nach Art der IT-Investitionen zeitliche Verzögerungen zwischen Einführung der Technologie und Ertrag auftreten können.

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4.4.5 Modell der Einflussfaktoren auf den Zusammenhang zwischen IT-Investition und Produktivität Unternehmenseigene Ressourcen und Fähigkeiten, die Unternehmensumwelt oder gar die IT-Investition selbst können alle als Gründe für die abweichende Rendite von IT-­ Investitionen in verschiedenen Unternehmen herangezogen werden (Abb. 1). Wichtig für Unternehmen ist dabei v. a. die Frage, wie IT-Investitionen möglichst optimal eingesetzt werden, um so selbst zu einem positiven Ausreißer in den Daten zu werden. Dazu ist insbesondere das Verständnis des Zusammenhangs zwischen unternehmenseigenen Ressourcen und IT-Investitionen entscheidend. Die Tatsache, dass hochqualifizierte Arbeitnehmer und eine dezentralere Entscheidungsstruktur in mehreren Studien eine komplementäre Beziehung zu IT besitzen und so die Rendite von IT-Investitionen erhöhen, ist aber noch kein hinreichender Grund dafür, dass dies nun für jedes Unternehmen der Schlüssel zu mehr Produktivität ist. Angesichts der individuellen Merkmale eines Unternehmens mag für manche sogar eine zentralisierte Struktur mit niedrig qualifizierten Arbeitskräften synergistisch mit IT wirken und die beste Option darstellen. Beispielsweise dann, wenn primär in IT zur Umsetzung von Automatisierungsvorhaben investiert wird. Eine Antwort auf die Frage nach einem universell gültigen Bündel an komplementären Ressourcen zu IT wird man daher wohl vergebens suchen.

Komplementäre organisatorische Ressourcen ‡ Managementfähigkeiten ‡ Organisationsstruktur ‡ Bildungsniveau der Arbeitskräfte

Kontextfaktoren ‡ Wettbewerbscharakteristika ‡ Infrastruktur des Landes ‡ Politische Lage ‡ Gesetzliche Regelungen

IT-Investitionen

Produktivität

Art der IT-Investition ‡ ‡ ‡

Infrastrukturell Kostensenkend Strategisch

Abb. 1   Einflussfaktoren auf den Zusammenhang zwischen IT-Investitionen und Produktivität

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4.5 Zeitverzögerungen zwischen IT-Investitionen und Produktivitätseffekten Es ist grundsätzlich schwer vorhersehbar, wie lange es dauert, bis angestrebte Produktivitätseffekte durch IT-Investitionen eintreten. Nur vereinzelt finden sich Studien, die eine Zeitverzögerung zwischen abhängiger und unabhängiger Variable modellieren. Brynjolfsson und Hitt (2003) zeigen, dass die Computerinvestitionen nach einem Jahr einen Beitrag leisten, der ungefähr ihrem Faktoranteil entspricht. Dies bedeutet, dass Computer auf kurze Sicht zum Produktionswachstum, nicht aber zum Produktivitätswachstum beitragen. Über einen längeren Zeithorizont hinweg (zwischen drei und sieben Jahren) ist der Computereinsatz jedoch mit einem Output-Beitrag verbunden, der zwei- bis fünfmal so groß ist wie der kurzfristige Effekt, was einem substanziellen Beitrag zum langfristigen Produktivitätswachstum entspricht. Hitt et al. (2002) finden eine Abschwächung der Unternehmensperformance und der Arbeitsproduktivität kurz nach der Implementierung von ERP-Systemen. Die Finanzmärkte belohnen die Anwender von ERP-Systemen aber mit einer höheren Marktbewertung (gemessen an Tobins q). Der Markt antizipiert wohl, dass Investitionen in ERP-Systeme in Zukunft einen Mehrwert generieren und preist diese zukünftige Steigerung in den aktuellen Unternehmenswert ein. Dies deutet darauf hin, dass Studien, die keine entsprechenden Zeitverzögerungen berücksichtigen oder zukunftsorientierte Maße wie Tobins q verwenden, dazu neigen, den vollständigen Umfang des Effekts von IT-Investitionen nur unzureichend abzubilden und daher die tatsächliche Auswirkung zu unterschätzen. Querschnittsstudien scheinen daher ungeeignet, um die Auswirkungen von IT-Investitionen zu messen, da für die Verzögerungseffekte keinerlei Rechnung getragen werden kann. Grundsätzlich kann das verzögerte Auftreten von IT-Effekten mit S-Kurven erklärt werden. Dabei setzt eine überproportionale Performanceverbesserung einer Technologie erst nach einer gewissen Zeit ein, die auf Lernkurveneffekte zurückzuführen ist (Arrow 1962). Besonders ausgeprägt sind diese Verzögerungen bei Allzwecktechnologien, für die sich erst hinreichend viele produktive Anwendungsfälle finden lassen müssen. Aber auch bei generellen Technologiewechseln ist zu Beginn regelmäßig eine Diskontinuität zu beobachten, die die Produktivität zunächst negativ beeinflussen kann, bevor das angestammte Produktivitätsniveau erreicht ist. Ein besonderes Problem entsteht dann, wenn die Lernkurven von Technologien nicht ausgenutzt werden und zu schnell auf neue Technologien gewechselt wird, bevor deren volles Potenzial ausgeschöpft wurde. Triplett (1999, S. 315) verweist darauf, dass viele IT-Nutzer genau vor diesem Problem stehen: I used perhaps a quarter of the capacity of my old computer. Now I have a new one for which I use perhaps a tenth of its capacity. Where is the gain?

Oftmals ist es nämlich nicht die Technik, sondern der Mensch, der den Engpass im Produktionsprozess darstellt. Wenn das Management neue Technologien einführt, ohne dass Arbeitnehmer das Potenzial der bisherigen Technologie schon ausgeschöpft haben, stellt sich tatsächlich die Frage nach dem Mehrwert. Ebenso wird eine Steigerung der

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Investitionen ohne eine Beseitigung bestehender Engpässe im Unternehmen zu keiner Erhöhung der Produktivität führen, sondern ohne jegliche Wirkung bleiben. Letztendlich enden solche Investitionen nicht in erhöhter Produktivität, sondern in anhaltender Stagnation. In einer digitalen Wirtschaft, in der Anteilseigner immer mehr Investitionen in Digitalisierung fordern und Manager durch die Sorge, die neueste Technologierevolution zu verpassen, immer schneller Technologiewechsel durchführen, scheint ein Rückgang der Unternehmensperformance durch Missmanagement in Form von übermäßigen und überstürzten Investitionen als erhebliche Gefahr.

5 Diskussion des modernen Produktivitätsparadoxons Insgesamt zeigt die Literatur zum Solow-Paradox rein quantitativ ein starkes Übergewicht an Studien, die positive Produktivitätseffekte durch IT-Investitionen feststellen. Dies gilt insbesondere für solche, die einen Zeitraum zwischen 1988 und 2006 betrachten. Zumindest auf Basis der betrachteten Studien kann in diesem Zeitabschnitt tatsächlich von einem Verschwinden des Solow-Paradoxes gesprochen werden. Dennoch wurde aber deutlich, dass besonders zu Beginn des Computerzeitalters bis Ende der 1980er-Jahre Produktivitätssteigerungen durch IT ausblieben. Hierfür wurden Erklärungsansätze identifiziert, die im Folgenden vor dem Hintergrund des modernen Produktivitätsparadoxons diskutiert werden (Tab. 3). So haben Unternehmen, wie auch zu Beginn des Computerzeitalters, erst begonnen, in neuartige digitale Technologien wie KI, Blockchain oder Virtual Reality (VR) zu investieren. Daher ist der Kapitalstock womöglich noch zu niedrig, um messbare Effekte aufzuweisen. Die weltweiten Ausgaben für KI werden laut der International Data Tab. 3  Mögliche Ursachen für die Entstehung des Solow-Paradoxons, die im Rahmen des Literaturüberblicks ermittelt wurden (Quelle: Eigene Darstellung) Ursachen für das Solow-Paradoxon

Referenzen

Methodische Schwächen und zu geringe Stichprobenumfänge

Barua und Lee (1997), Lee und Barua (1999), Dedrick et al. (2003)

Zu geringer Kapitalstock

Brynjolfsson und Hitt (1998)

Lernkurveneffekte

Brynjolfsson (1993), Yorukoglu (1998)

Aufwendige Restrukturierungen bei der Einführung von IT

David (1990), Brynjolfsson und Hitt (1998)

Fehlen komplementärer Ressourcen zu IT

Clemons und Row (1991), Mata et al. (1995), Brynjolfsson und Hitt (2000), Melville et al. (2004), Wade und Hulland (2004)

Entstehen neuer und komplexer Aufgabenfelder Autor et al. (2003), Spitz-Oener (2006) Missmanagement

Brynjolfsson (1993), Macdonald et al. (2000)

Messproblematik

Brynjolfsson (1993), Brynjolfsson und Hitt (2000)

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­ orporation im Jahr 2018 z. B. etwa 19,1 Mrd. US$ erreichen (IDC 2018). Im Vergleich C dazu werden die globalen Ausgaben für IT im Jahr 2018 auf ungefähr 3,74 Billionen US$ geschätzt (Gartner 2018). Die Investitionen für KI entsprechen somit nur etwa einem Zweihundertstel der Ausgaben, die für IT getätigt werden und sind wohl einfach noch zu gering, um signifikante Auswirkungen zu haben. Ebenso sind viele Unternehmen in der Lernphase, was die Möglichkeiten betrifft, moderne Technologien rentabel einzusetzen, und investieren vorwiegend in die Forschung und Entwicklung (erhöhen also den Arbeitseinsatz), ohne dadurch schon Erträge zu erzielen. Während aktuell also eine inputseitig Erhöhung durch Investitionen in neue Arbeitskräfte und Kapital stattfindet, hat diese noch keinen Effekt auf der Outputseite (Brynjolfsson et al. 2017). Ein Technologiewechsel und die damit verbundene Lern- und Entwicklungsphase können daher zu einem Rückgang der Produktivität führen (Abb. 2). Neuere digitale Technologien besitzen das Potenzial, eine Allzwecktechnologie zu werden, sofern sie alle nötigen Kriterien erfüllen, also allgegenwärtig sind, sich im Lauf der Zeit verbessern und komplementäre Innovationen hervorbringen (Bresnahan und Trajtenberg 1995). Da es auch bei Computern fast zwei Dekaden gedauert hat, bis diese zu signifikantem Produktivitätswachstum geführt haben (Brynjolfsson und Hitt 1998), kann es auch bei neueren Technologien zu einem länger anhaltenden VerProduktivität

Industrie 4.0, KI, Blockchain, VR, IOT

Web 2.0, Soziale Medien, Digitale Plattformen, Smartphone, Cloud Computing

ERP-Systeme, Internet, Handys

Personal Computer Zeit 1975

1990

2005

2010

Abb. 2   Technologiewechsel im IT-Umfeld und damit verbundene S-Kurven als möglicher Grund für den Rückgang des Produktivitätswachstums

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zögerungseffekt zwischen Einführung und tatsächlich messbaren Ergebnissen kommen. Zurückzuführen ist dies auf (messbare) Investitionen in Arbeit und Kapital, um nicht messbare (immaterielle) Inputs zu erstellen, wie das Wissen bezüglich der adäquaten Prozessrestrukturierung oder die Fähigkeit, innovative Geschäftsmodelle auf Basis der disruptiven Technologie zu entwickeln. Da Unternehmen Investitionen tätigen, um nicht messbares, immaterielles Kapitalvermögen (z. B. Wissen) anzusammeln, welches erst später und der Höhe noch ungewisse Auswirkungen auf den Output haben wird, wird das Produktivitätswachstum zunächst unterschätzt. Sobald die immateriellen Kapitalbestände dann beginnen, auf den Output zu wirken, kommt es zu einer Überschätzung der Produktivität, da der dafür aufgewendete Input unterschätzt wird. Dies führt dazu, dass der Messfehler des Produktivitätswachstums in J-Kurven verläuft, da es bei der Einführung einer Allzwecktechnologie zunächst zu einer signifikanten Unterschätzung und in der Folge (womöglich mit jahrzehntelanger Verzögerung) zu einer deutlichen Überschätzung des Produktivitätswachstums kommt (Brynjolfsson et al. 2018). Wie die Analyse der Literatur gezeigt hat, sind zur Freisetzung des Produktivitätspotenzials einer Technologie nicht nur Investitionen in die Technologie selbst, sondern auch in komplementäre Ressourcen nötig. Naturgemäß existiert am Beginn eines Technologiewechsels ein akuter Mangel an gut ausgebildeten Experten in Bereichen wie künstlicher Intelligenz oder Cloud Computing. Einer Befragung zufolge gaben deutsche Industrieunternehmen an, dass der Fachkräftemangel die größte Barriere für die Erschließung der Potenziale von Industrie 4.0 darstellt (Oracle 2018). Diese Knappheit an hochqualifizierten Arbeitskräften ist freilich kein deutsches Phänomen, sondern auch in anderen Industriestaaten von hoher Bedeutung. So gab Tom Eck, Chief Technology Officer der Sparte Industrieplattformen bei IBM, z. B. an, dass „top-tier A.I. researchers are getting paid the salaries of NFL quarterbacks, which tells you the demand and the perceived value.” Acemoglu und Restrepo (2018a) gehen davon aus, dass einhergehend mit einem Anstieg der Automatisierung, z. B. durch KI-Anwendungen, gleichzeitig neue, arbeitsintensive Aufgabenfelder entstehen, in denen Arbeitskräfte einen komparativen Vorteil gegenüber digitalen Technologien haben. Dies führt dazu, dass Arbeitskräfte, die durch die Automatisierung verdrängt wurden, in neuen Tätigkeitsbereichen wieder eingegliedert werden und so der Verdrängungseffekt der Automatisierung teilweise ausgeglichen wird. Die Unvollkommenheiten des Arbeitsmarkts, aber auch Schwächen im Bildungssystem können diesen Prozess verlangsamen und die durch die Automatisierung entstehenden Produktivitätsgewinne abschwächen. Da Arbeitsplätze mit völlig neuen Qualifikationsanforderungen entstehen, kommt es zu einem Missverhältnis zwischen den Anforderungen der neuen Arbeitsfelder und den tatsächlich vorhandenen Qualifikationen bzw. den Kompetenzen von Arbeitnehmern. Der Arbeitsmarkt ist daher zu Beginn eines Technologiewechsels nicht in der Lage, die neu geschaffenen Aufgabenfelder mit dafür qualifizierten Arbeitskräften adäquat zu besetzen, wodurch ein Kampf um die wenigen Talente entsteht und eine Verlangsamung bzw. zeitliche Verzögerung des Produktivitätswachstums folgt.

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Es herrscht aber nicht nur ein Mangel an qualifizierten Mitarbeitern, es fehlen stellenweise auch die Managementfähigkeiten, um Digitalisierungsstrategien umzusetzen. Zum Beispiel stehen viele Unternehmen vor der Herausforderung der Monetarisierung digitaler Produkte und Dienstleistungen und der Entwicklung adäquater Geschäftsmodelle. Einer Studie von Kart et al. (2013) zufolge, bei der 720 IT- und Business-Führungskräfte befragt wurden, stellte für Unternehmen die Monetarisierung von Daten eine größere Herausforderung dar als die technische Machbarkeit der Datenanalyse. Durch vernetzte Systeme, Sensoren oder elektronischen Handel entstehen im Zuge der digitalen Transformation enorme Datenmengen für Industrie- wie auch Dienstleistungsunternehmen. Unternehmen investieren primär in das Sammeln, Speichern und Analysieren von Daten, um darauf aufbauend datengetriebene Geschäftsmodelle zu etablieren, die Werte für Unternehmen schaffen sollen (Hartmann et al. 2016). Wenn Manager oder Führungskräfte aber nicht in der Lage sind, die Daten letztendlich auch zu monetarisieren, dann findet eine Erhöhung der Investitionen statt, ohne dass sich der Output der Unternehmung erhöht. Das Ausbleiben von Produktivitätssteigerungen kann also auch darauf zurückzuführen sein, dass Unternehmen noch kein optimales Umfeld geschaffen haben, in die neuartige Technologien eingebunden werden können. Zudem können die Erwartungen gegenüber aktuell als innovativ und disruptiv geltenden Technologien überzogen sein. Gordon (2016) argumentiert beispielsweise, dass frühere Innovationen wie Dampfkraft, Verbrennungsmotor oder Elektrizität weitaus größere Auswirkungen gehabt hätten als aktuelle Computertechnologien und die primäre Produktivitätssteigerung durch die Digitalisierung bereits gegen Ende der 1990er- und frühen 2000er-Jahre realisiert wurde. Trotzdem erwarten Anteilseigener aber möglicherweise, dass Unternehmen bzw. Manager in neue Technologien investieren, da sie diese für revolutionär halten. Dies führt dann zu einem „overshooting“ bei Investitionen, welche letztendlich die Performance des Unternehmens nicht entsprechend steigern. Wang (2010) zeigt beispielsweise, dass Unternehmen, die in der Presse mit IT-Moden in Verbindung gebracht wurden, kurzfristig keine höhere Unternehmensperformance aufweisen, dafür aber einen besseren Ruf genießen und eine höhere Vergütung der Geschäftsleitung haben. Basierend auf den Ergebnissen der Studie wäre es für Manager sogar rational, Narrativen nach mehr Digitalisierung zu folgen, um ihre Vergütung so zu steigern, obwohl das Unternehmen durch diese Investitionen keine Performancesteigerungen erwarten kann. Ein weiterer Erklärungsansatz ist, dass zwar ein deutliches Produktivitätswachstum existiert, dies aber nicht gemessen wird. Byrne et al. (2016) und Syverson (2017) zeigen jedoch, dass Fehlmessungen nicht die primäre Erklärung für die Produktivitätsverlangsamung sind. Ebenso ist gerade der IT-produzierende Sektor, der grundsätzlich am stärksten von einer möglichen Messproblematik betroffen sein müsste, einer der wenigen, der deutlich produktiver wird (Acemoglu et al. 2014). Acemoglu und Restrepo (2018a, S. 14) kommen daher zu dem Schluss, dass „the productivity mismeasurement hypothesis [is] unlikely to account for all of the slowdown“.

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Es sei abschließend angemerkt, dass, obwohl aktuell auf Branchen- und Länderebene eine Verlangsamung des Produktivitätswachstums festzustellen ist, nicht zwangsweise auf die tatsächliche Existenz eines Produktivitätsparadoxons geschlossen werden kann. Die aktuellen Anwendungsfälle für viele neuartige Technologien machen womöglich nur einzelne Unternehmen produktiver, ohne dabei die Produktivität eines Industriezweigs oder der gesamten Wirtschaft zu steigern, da es lediglich zu einer Redistribution von Marktanteilen zwischen Unternehmen derselben Branche kommt. Gordon (2016) gibt dementsprechend an, dass die IT-Ausgaben von Unternehmen für Marketing in den letzten Jahren dreimal so stark gewachsen sind wie die IT-Ausgaben in anderen Bereichen. KI wird aktuell beispielsweise primär zur Optimierung des Targeted Advertising und der Preisgestaltung im Online-Handel eingesetzt. Dadurch mag zwar der Kundenstamm und der Umsatz einzelner Unternehmen steigen, aber ein Mehrwert für die gesamte Industrie wird nicht generiert, da dies auf Kosten (Verlust von Kunden) von Wettbewerbern erfolgt (Brynjolfsson et al. 2017). Dies kann aber natürlich auch dazu führen, dass Wettbewerber ebenfalls ihr IT-Budget für Marketingausgaben erhöhen, um die Marktanteile zurückzugewinnen, was zu einem Konkurrenzkampf führt, und so letztendlich kein Unternehmen produktiver wird (Gordon 2016).

6 Fazit Ausgehend von anhaltenden Zweifeln bezüglich der Produktivitätseffekte von IT-Investitionen wurden vorliegende empirische Studien zum sog. Solow-Paradoxon analysiert und insbesondere Ursachen für dessen Entstehung synthetisiert. Dabei wurde deutlich, dass die Studienlage zum Solow-Paradoxon zweigeteilt ist. Während Arbeiten mit einem Betrachtungszeitraum vor den späten 1980ern überwiegend keine signifikanten Effekte finden, weisen Studien mit einem späteren Betrachtungszeitraum überwiegend positive Effekte von IT-Investitionen auf die Produktivität nach. Ursächlich hierfür sind insbesondere Verzögerungen durch Lernkurveneffekte, Missmanagement in Form inadäquater IT-Nutzung und das Fehlen von zur IT-Investition komplementären Faktoren. Basierend auf diesen Erkenntnissen wurden dann Erklärungsansätze für den aktuellen Produktivitätsabschwung aufgezeigt. Zum einen müssen sich die im Licht von Industrie 4.0 diskutierten Technologien erst als fähig erweisen, als sog. Allzwecktechnologien Verbreitung zu finden, was eine Verzögerung von Produktivitätswirkungen wahrscheinlich werden lässt. Aber auch andere Erklärungsansätze wie der zu geringe Kapitalstock an neuartigen Technologien oder Lernkurveneffekte infolge des Technologiewechsels können ursächlich für derzeit eher schwache Produktivitätsentwicklungen sein. Schließlich werden auch Messprobleme angeführt. Deutlich zu kurz in der Diskussion kommen hingegen die Problematiken des IT-Missmanagements bzw. nur begrenzt vorhandener IT-Managementfähigkeiten. Hierzu wurden insbesondere zwei relevante Aspekte diskutiert: zum einen, dass Unternehmen noch

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nicht das richtige Umfeld für neuartige, digitale Technologien geschaffen haben und zum anderen, dass Manager (u. U. getrieben durch kurzfristige oder selektive IT-Moden) vorschnell, zu viele, die falschen oder unnötige Investitionen in digitale Technologien durchführen. Für die Praxis stellt sich damit einmal mehr die Notwendigkeit, den Investitionscharakter neuartiger Technologien zu erkennen: das künftige Potenzial ist ungewiss, aber auch von unternehmensspezifischen und Kontextfaktoren abhängig. Überoptimismus kann daher ebenso schädlich sein wie eine zu große Skepsis beim Einstieg in Industrie-4.0-Technologien. Mit Blick auf die Wissenschaft wurden zwei Forschungslücken deutlich: zum einen das Fehlen von Studien, die die Auswirkungen von IT-Investitionen auf die Produktivität in der jüngeren Vergangenheit auf Unternehmensebene analysieren, und zum anderen Studien, die die Produktivitätseffekte ausgewählter digitaler Technologien untersuchen.

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Prof. Dr. Robert Obermaier  ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Accounting und Controlling an der Universität Passau. Aktuell untersucht er insbesondere die Auswirkungen der Digitalisierung (Industrie 4.0) auf die Bereiche Controlling, Unternehmensbewertung, Produktion und Entscheidungstheorie. Stefan Schweikl  ist Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Accounting und Controlling der Universität Passau. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind die Wirkungen der Digitalisierung auf die Leistungsfähigkeit und den Wert von Unternehmen sowie die Herausforderungen der Digitalen Transformation.

Organisationaler Wandel und Mitarbeiterakzeptanz. Vorgehen und Handlungsempfehlungen André Ullrich, Gergana Vladova, Christof Thim und Norbert Gronau

1 Akzeptanz und Wandel – einleitende Betrachtung Die Akzeptanz von Anwendungssystemen wird seit Anfang der 1980er-Jahre untersucht, so z. B. in den Systemwissenschaften sowie der Wirtschaftsinformatik. Dabei wird ihr insbesondere bei der Einführung neuer Systeme eine hohe Bedeutung beigemessen, da der Erfolg von deren Diffusion wesentlich von der Einstellung der Mitarbeiter zu diesen Systemen abhängt. Als Folge wird gegenwärtig der Fokus theoretischer und praxisorientierter Untersuchungen v. a. im Fertigungsumfeld auf die Akzeptanz dieser Innovationen (bzw. Technologien) und den damit einhergehenden Wandel der Fertigungsbedingungen gelegt (acatech 2013). Gründe hierfür sind die zunehmende Digitalisierung in Produkten und Prozessen der Innovationsaktivitäten in der Fertigung (Rai und Patnayakuni 1996) sowie die beobachtbaren Unterschiede beim durch Nutzerakzeptanz bestimmten Übernahmeverhalten der Mitarbeiter in solchen Wandlungsprozessen (Klenow 1998). Ausgehend von Dillon (2001), Wiendieck (1992) und Vogelsang et al. (2013) wird Nutzerakzeptanz definiert als die nachweisliche Bereitschaft, in neuen Arbeitsprozessen zu arbeiten, neue und andersartige Arbeitsaufgaben

A. Ullrich () · G. Vladova · C. Thim · N. Gronau  Universität Potsdam, Potsdam, Deutschland E-Mail: [email protected] G. Vladova E-Mail: [email protected] C. Thim E-Mail: [email protected] N. Gronau E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_23

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auszuführen sowie eine Technologie für die Aufgaben zu nutzen, für die diese entwickelt wurde (Ullrich et al. 2017a, S. 97). Der Prozess der Verbreitung von Innovationen (Innovationsdiffusion) wird unmittelbar durch das Akzeptanzverhalten der Beteiligten beeinflusst (Rogers et al. 1971). Somit ist der Erfolg technologischer Innovationen hochgradig von der Wahrnehmung dieser abhängig. Relevant sind in diesem Kontext die Eignung einer Innovation, menschliche Anforderungen zu erfüllen, sowie die Eignung der Mitarbeiter, den Anforderungen der Technologie sowie der neuen Prozesse und Aufgaben gerecht zu werden. Dabei erweist sich im Kontext der gegenwärtigen Veränderungen bei der Implementierung cyber-physischer Systeme (CPS) ein integrierter Akzeptanz- und Begleitungsansatz als wichtig, sodass der technische Transformationsprozess unter Maximierung der Nutzerakzeptanz gestaltet werden kann.

1.1 Herausforderungen für Theorie und Praxis Das Verhältnis von Innovation, Akzeptanz und Wandel ist vielschichtig (Barnett 1953; Agarwal und Prasad 1997), wobei zwischen den Faktoren unterschiedliche Abhängigkeiten existieren: Innovation erfordert Akzeptanz und führt zu organisationalem Wandel; Akzeptanz unterstützt Wandlungsprozesse sowie Innovationsdiffusion; Wandel resultiert in neuen Innovationen und beeinflusst das Akzeptanzverhalten (Tushman und O’Reilly 2013). Dementsprechend bestimmt das Zusammenspiel dieser drei Faktoren die erfolgreiche Durchführung von Wandlungsprozessen. Der Wandel im Kontext von Industrie 4.0 ist angetrieben von Zukunftsvisionen und rapiden technologischen Entwicklungen sowie vom unternehmerischen Wunsch, eine starke Wettbewerbsposition zu belegen oder gar Vorreiter zu sein. Diese Transformation umfasst Veränderungen vorherrschender Strukturen, wie die Einführung flexibler und vernetzter Arten der Arbeit und Arbeitsorganisation, z. B. durch neue Formen der Beschäftigung, Entgrenzung von Arbeit und Freizeit oder die Nutzung mobiler Geräte und Assistenzsysteme, die sich auf die Arbeitsbedingungen auswirken. Damit einhergehend werden die Anforderungen an die Mitarbeiterqualifikationen vielseitiger und anspruchsvoller. Die Metamorphose zu Industrie-4.0-konformen Fabriken ist somit für alle Beteiligten mit Unsicherheiten verbunden, wobei sowohl kurz- als auch mittelund langfristige Ziele verfolgt werden. Übertragen wird dies auch auf die Mitarbeiter, die teilweise um ihren Job fürchten oder sich unvorbereitet für die Veränderungen und Herausforderungen sehen. Vor diesem Hintergrund besteht gegenwärtig großer Bedarf an anwendungsorientierten Konzepten und Modellen, insbesondere an geeigneten Ansätzen zur Begleitung von Transformationsprozessen unter der Prämisse der Akzeptanzmaximierung der Beteiligten und Betroffenen. Parallel zu den Anforderungen der Praxis ist ebenso eine theoretische Lücke vorhanden. Es existieren zwar theoretische Ansätze, die die Nutzerakzeptanz bei der Einführung neuer Technologien bestimmen (Davis 1986), jedoch wurden diese bis dato nicht in Bezug auf die Anforderungen von

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­ PS-Fabriken überprüft. Ein weiteres Defizit in der Akzeptanzforschung kann in der TatC sache gesehen werden, dass die meisten Arbeiten eine Erklärung der Akzeptanz fokussieren, das gestaltungsorientierte Ziel der Akzeptanzsteigerung dabei jedoch weitgehend vernachlässigen.

1.2 Die Industrie-4.0-Fabrik im Fokus Die vierte industrielle Revolution besitzt das Potenzial, fundamentalen Wandel in der industriellen Produktion hervorzurufen (acatech 2011). Durch die Digitalisierung in den Fabriken wird eine neue Ebene der Organisation (Gronau et al. 2010) und eine technologisch auf CPS und dem Internet der Dinge basierende Steuerung der Wertschöpfungskette über den gesamten Produktlebenszyklus kreiert. CPS als eingebettete softwareintensive Systeme in Produkten und Komponenten der Hochtechnologie sind mithilfe digitaler Netze verbunden, wobei ehemals geschlossene Systeme sich öffnen und mit anderen Systemen zu vernetzten Anwendungen verknüpft werden. Damit wird es möglich, weltweit verfügbare Daten und Dienste zu nutzen. Die reale Welt wird durch diese Systeme nahtlos mit der virtuellen Welt zu einem Internet der Dinge, Dienste und Daten verknüpft. CPS verfügen über multimodale Mensch-Maschine-Schnittstellen, wie z. B. Radio-Frequency Identification (RFID) zur Überwachung von Transportvorgängen. Dabei erfassen Sensoren physikalische Daten und wirken mithilfe von Aktoren auf physikalische Vorgänge ein (vgl. ten Hompel 2005, S. 16; Veigt 2013, S. 16). Auf der Basis der gespeicherten und ausgewerteten Daten interagieren die CPS mit der realen, physisch erfahrbaren Welt. Das Internet der Dinge kann als globale, internetbasierte Informationsarchitektur verstanden werden, die den Austausch von Gütern und Diensten unterstützt (Weber und Weber 2010). Die Integration unterschiedlicher Technologien und Kommunikationslösungen stellt dafür den wichtigsten begünstigenden Faktor dar (Atzori et al. 2010). Die Industrie-4.0-Fabrik ist ein soziotechnisches System mit dem Ziel der effizienten und effektiven Generierung von Output zur Befriedigung einer Marktnachfrage. Zu diesem Zweck werden integrierte Software, Sensoren, Aktoren, Kommunikatoren und Prozessoren sowie Maschinen und Informationssysteme verwendet, wobei Daten aufgezeichnet, analysiert und interpretiert werden. Diese Durchdringung mit Daten ermöglicht eine dezentrale und kontextadaptive Steuerung von Produktion und Logistik (Gronau et al. 2011), eine umfassende Nutzung von dezentral verfügbaren Sensorinformationen und die Absicherung von Entscheidungsalternativen mithilfe virtueller Modelle. Die Entitäten (Maschinen und Anlagen, Informationssysteme, Produkte, Menschen) organisieren sich (teil-)autonom zur effizienten Zielerreichung. Durch die initiierten Veränderungen werden insbesondere die Rollen und die Aufgaben der Mitarbeiter beeinflusst. Insbesondere für die Produktionsarbeiter gilt es, neue Rollen, Technologien und Aufgaben zu adaptieren. Die neuen Arbeitsbedingungen müssen Mitarbeiterflexibilität ermöglichen sowie Lernprozesse und Kreativität

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f­ördern. Weiterhin gilt es, gesundheitsförderliche Arbeitsstrukturen zu schaffen, die die Leistungsfähigkeit sowie die Einstellung der Mitarbeiter positiv beeinflussen. Dabei sind weiterhin die proaktive Partizipation des Betriebsrats sowie die der einzelnen Mitarbeiter im Transformationsprozess bei der Gestaltung dieses Handlungskontexts notwendig.

2 Wandlungsprozess, Akzeptanzmodelle und Innovationen Zur Beschreibung der Transformation von Fabriken zu Industrie-4.0-Fabriken und der damit einhergehenden Implementierung neuer Technologien, Aufgaben und Prozesse werden als Grundlage Definitionen und Konzepte von Akzeptanz, unternehmerischer Innovation und Wandel herangezogen. Darauf aufbauend wird durch Annäherung an die theoretische Relation ein spezifischer Rahmen für den Transformationsprozess generiert. Ulijn und Fayolle (2004) verstehen Innovationen als einen Gruppenprozess mit multidisziplinärem Charakter und beschränkter Kontrollierbarkeit, der zu neuen Produkten, Prozessen oder Diensten führt. Die Treiber der intraorganisationalen Diffusion von Innovationen sind im Wesentlichen außerhalb von Organisationen verortet. Diese können als Auslöser für Innovationen, die in Abhängigkeit von den spezifischen Rahmenbedingungen implementiert werden und zielgerichtet diffundieren, betrachtet werden. Vorhandene Literatur zur intraorganisationalen Diffusion bezieht sich meist auf lernbasierte Modelle (Battisti und Stoneman 2003). Mansfield (1963) entwickelte einen Ansatz, der auf Basis epidemischer Lernmodelle intraorganisationale Diffusion durch Unsicherheitsreduktion und Lernen erklärt. Er definiert intraorganisationale Diffusion als die (kritische) Menge, ab der eine Organisation beginnt, durch neu verwendete Techniken ältere zu substituieren. Zorn et al. (1999) definieren Wandel als jegliche Änderung oder Modifikation von organisationalen Strukturen oder Prozessen. Dabei sind Innovations- sowie Diffusionsprozesse oftmals der Ausgangspunkt für Wandlungsaktivitäten in einer Organisation, während die formalen Adoptions- und Implementationsprozesse Bestandteil des Wandlungsprozesses sind (Lewis 2011). Eine wesentliche Hilfe, um Akzeptanz zu steigern, leistet die Einbeziehung der betroffenen Mitarbeiter in den Prozess der Planung und Implementierung des Wandels, denn Akzeptanz setzt die positive Bereitschaft zur Adaption voraus (Wiendieck 1992). Essenziell für den Erfolg sind eine innere Überzeugung in Bezug auf eine erleichterte Zweckerfüllung sowie die Annahme, dass Innovationen und der damit verbundene Wandel in der Organisation positiv betrachtet werden. Basierend auf den vorherigen Ausführungen kann die Transformation einer bestehenden Fabrik in eine Industrie-4.0-Fabrik als ein interner, von internen oder externen Wandlungstreibern angestoßener Innovationsprozess dargestellt werden, der sich auf bestehende Prozesse sowie Rollenbilder und Aufgaben der Mitarbeiter auswirkt.

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2.1 Wandlungsprozess und Wandlungsmanagement Poole (2004) betont die Rolle des Menschen bei organisationalen Innovationen und Wandlungsprozessen und unterscheidet zwischen Theorien des Wandels und Theorien der Wandlung (vgl. Bennis 1966). Erstere verstehen organisationalen Wandel als Prozess und fokussieren die Wandlungsfaktoren, während letztere die Auswirkungen und das Management des Wandels ins Zentrum der Betrachtung stellen. Diese Unterscheidung impliziert die Rolle des Menschen als unabhängig davon, ob ihre Rollenbilder und Aufgaben sich durch geplante oder emergente Prozessmodifikationen verändern. Krüger (2002) definiert fünf Phasen des Wandlungsmanagements (Abb. 1): In Phase 1 werden durch Entscheidungsträger (unter möglicher Initiierung durch Mitarbeiter) der Wandlungsbedarf identifiziert und Wandlungsagenten bestimmt. Weiterhin erfolgen die Erarbeitung der strategischen Ziele sowie die Entwicklung eines Maßnahmenprogramms durch ein Wandlungsteam und Schlüsselpersonen. Phase 2 umfasst die Kommunikation des Wandlungskonzepts sowie das Kreieren und Sicherstellen von wandlungsfördernden Rahmenbedingungen. Diese sowie die nächsten zwei Phasen involvieren gleichermaßen Teilnehmer sowie Betroffene. In Phase 3 werden initiale Wandlungsprojekte implementiert sowie die Vorbereitungen für nachgelagerte Wandlungsprojekte getroffen. Anschließend erfolgt die Verstetigung der implementierten neuen Prozesse, Rollen und Aufgaben. Phase 5 beinhaltet die Evaluation der Wandlungsresultate, die Konservierung der Wandlungsbereitschaft und Wandlungsfähigkeit der Wandlungssub- sowie -objekte sowie die Weiterentwicklung der Strategie und der Rahmenbedingungen. Auf den ersten Blick entsteht der Eindruck, dass der geradlinig-vorausgerichtete Charakter dieses Modells einen möglichen Bottom-up-Wandel sowie die Gefahr des Scheiterns vernachlässigt. Jedoch wird diese Annahme dadurch relativiert, dass die Integration und Sensibilisierung der Mitarbeiter sowie die Möglichkeit, den Wandel durch Mitarbeiter auszulösen, berücksichtigt werden. Ein wichtiger Bestandteil dieses Phasenmodells ist die integrierte Unterteilung in Stages und Gates. Während der Stages-Phasen wird ein Prozess aktiv gelebt sowie Entscheidungen umgesetzt. Die Gates hingegen existieren zur Überprüfung und strategischen Ausrichtung. Vorherige Prozessphasen-Stages werden kritisch geprüft und Entscheidungen für die folgenden Phasen getroffen. Diese Struktur erlaubt es, in jeder Phase die aktuellen Handlungen und Maßnahmen u. U. entsprechend der gewonnenen Erkenntnisse aus den Vorphasen zu modifizieren.

Abb. 1   Wandlungsprozess nach Krüger. (Quelle: Krüger 2002)

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Krüger (2004) betont zwei wesentliche Dimensionen von Wandlungs- und Implementierungsmanagement. Die erste Dimension ist das Management von Wahrnehmungen und Überzeugungen, die zweite betrifft politisches und Machtmanagement. Im Kontext dieser Dimensionen können folgende vier Reaktionsformen involvierter Mitarbeiter identifiziert werden: 1. Gegner: negative Einstellung zum Wandel im Allgemeinen und negatives Verhalten zum konkreten Wandlungsvorhaben 2. Promotoren: positive Einstellung zum Wandel im Allgemeinen und positives Verhalten zum konkreten Wandlungsvorhaben 3. Versteckte Gegner: negative Einstellung zum Wandel im Allgemeinen, obwohl sie oberflächlich den Anschein machen, als ob sie das konkrete Wandlungsvorhaben unterstützen 4. Potenzielle Promotoren: positive Einstellung zum Wandel im Allgemeinen, jedoch negative Einstellung zum konkreten Wandlungsvorhaben Jede dieser vier Reaktionsformen zeichnet sich durch eine bestimmte Handlungsweise aus, aus der sich wiederum Empfehlungen für das Managementverhalten ableiten lassen. Im Kontext der Transformation zur Industrie-4.0-Fabrik liegt der Fokus auf den geplanten Wandlungsprozessen und deren Management. Der Transformationsprozess besitzt Projektcharakter und in diesem ist die Möglichkeit des Scheiterns in Form einer Abweichung bezüglich des intendierten Zielzustands immanent vorhanden. Darüber hinaus ist eine Unterscheidung zwischen Mitarbeitern und Managern, die aktiv den Wandlungsprozess bewältigen und die Rahmenbedingungen gestalten (Beteiligte), und Mitarbeitern, die die Änderungen akzeptieren und mit der neuen Situation umgehen müssen (Betroffene), hilfreich. Durch den Fokus auf die verschiedenen Rollen wird der Transformationsprozess als dualer Top-down-Ansatz mit integrierten Bottom-up-­ Anstößen verstanden, der relevante Wandlungs- und Innovationstreiber betont. Beispielsweise kann der Anstoß zur Änderung ebenso in Initiativen von betroffenen Mitarbeitern liegen, da diese durch den unmittelbaren Umgang mit Technologien, Werkzeugen oder Methoden oftmals viel sensibilisierter für konkrete Prozessverbesserungen sind. Transformativer Wandel im Kontext einer Fabrik ist allerdings nicht ohne Autorisierung der notwendigen Ressourcen durch das Management durchführbar. Zusammenfassend kann die Transformation als integrierter Ansatz mit initialem Anstoß zur Veränderung aus beiden Richtungen beschrieben werden.

2.2 Phasen des Akzeptanzprozesses Wesentlich bei organisationalem Wandel ist die Involvierung aller relevanten Beteiligten und betroffenen Mitarbeiter, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Das ausgelöste Reaktionsverhalten der Mitarbeiter kann als ein Prozess verstanden werden, bei dem die initiierten Änderungen schrittweise akzeptiert oder abgelehnt werden.

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Abb. 2   Akzeptanzprozess. (Quelle: Leao 2009)

Der individuelle Akzeptanzprozess (Abb. 2) vollzieht sich nach Leao (2009) über acht Phasen und wird idealerweise durch das Bewusstsein für die Notwendigkeit des Wandels initiiert. In der ersten Phase trifft das Management wichtige Entscheidungen und kommuniziert die entsprechenden Pläne den Mitarbeitern. In der Regel sind als Reaktionen der Mitarbeiter erst Überraschung und dann Ablehnung zu erwarten. Mögliche Gründe für die Ablehnung von Veränderungen im Produktionskontext können beispielsweise Rationalisierungsängste oder die Angst vor potenziellem Jobverlust sein. Über die Zeit gelangen die Mitarbeiter in die Phase der rationalen Akzeptanz, in der sie den Wandlungsbedarf anerkennen. In dieser Phase sind die Involvierten auf der Suche nach kurzfristigen Lösungen für die notwendige Anpassung an die Veränderungen. Die Phase der emotionalen Akzeptanz ist von Selbstreflexion geprägt. Die Realität wird schrittweise anerkannt und das eigene Verhalten wird hinterfragt, was von wesentlicher Bedeutung für den Erfolg oder Misserfolg der Akzeptanz für das Projekt ist: Wenn ungenutztes Potenzial kanalisiert und für die Aktivierung des geplanten Wandels genutzt wird, steigt das Akzeptanzniveau. Kennzeichnend für die folgende Phase ist das Versuchen und Testen des eigenen Verhaltens seitens der Mitarbeiter. Die Wandlungsziele werden analytisch und kritisch betrachtet und verglichen, was wiederum zur nächsten Phase des Bewusstseins führt. Die Bedeutung der Veränderung für die jeweiligen Betroffenen und für die Organisation wird deutlich. In der letzten Phase der Integration werden das eigene neue Verhalten und der entwickelte Umgang mit den neuen Umständen als selbstverständlich wahrgenommen.

2.3 Akzeptanzmodelle im Kontext von Innovationen Der individuelle Entscheidungsprozess eines Menschen zur Nutzung einer Innovation wird als Adoption bezeichnet (Rogers 2003). Bevor Menschen zu einer Entscheidung gelangen, wird ein Entscheidungsprozess (Abb. 3), der „innovation decision process“,

Abb. 3   Innovationsentscheidungsprozess. (Quelle: Rogers 2003)

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durchlaufen. In der ersten Phase dieses Prozesses – die Phase des Wissens – baut die Person, die sich mit der Innovation auseinandersetzen muss, Verständnis bezüglich deren Funktion auf. In der zweiten Phase der Beeinflussung entwickelt diese Person entsprechend eine positive oder negative Haltung gegenüber der Innovation. Die darauffolgende Phase ist geprägt durch die Meinungsbildung bezüglich der Innovation. Hier erfolgt die Entscheidung darüber, ob die Innovation angenommen, also adoptiert, oder abgelehnt wird. In der nachfolgenden Einführungsphase wird die Innovation von dieser Person in einem bestimmten Kontext zum ersten Mal angewendet. Das ist der Zeitpunkt, an dem eine Änderung des Verhaltens möglich ist. In der abschließenden Konfirmationsphase sucht die Person nach Informationen, die ihre Entscheidung bestätigen. Sollte es zu gegenläufigen Informationen kommen, kann dies zu einer Änderung der vorher getroffenen Entscheidung führen. Eines der meist angewandten und geprüften Modelle zur Messung der Technologieakzeptanz ist das Technologie-Akzeptanz-Modell (TAM; Davis 1986). Dieses wird als Ausgangspunkt für diverse Weiterentwicklungen genutzt. Die zwei bestimmenden Variablen für die Einstellung einer Person bezüglich einer Technologie und demzufolge für das Nutzerverhalten sind die wahrgenommene Nützlichkeit und die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit. Die subjektive Empfindung einer Person, ob die Anwendung einer bestimmten Technologie ihre individuelle Leistungsfähigkeit verbessert, wird durch die wahrgenommene Nützlichkeit repräsentiert. Die wahrgenommene Benutzerfreundlichkeit auf der anderen Seite beschreibt die Einschätzung einer Person bezüglich des Lernaufwands zur effizienten Verwendung einer Technologie. Diese zwei Variablen werden von einer Vielzahl weiterer, externer Variablen beeinflusst (Tab. 1). Darüber hinaus ist die Intention zur Nutzung abhängig von der Einstellung des Nutzers, die wiederum Resultat der wahrgenommenen Nützlichkeit und der wahrgenommenen Benutzerfreundlichkeit ist (Davis et al. 1989; King und He 2006). Ein weiteres Modell zur Erklärung der Akzeptanz ist das Task-Technology-Fit-Modell (TTFM). Schwerpunkte hier sind die Betrachtung der Kongruenz zwischen den Aufgaben und der Technik sowie das Ziel, die Einflussfaktoren für die Nutzereinstellung in diesem Kontext zu erklären. Der kritische Einflussfaktor ist das Aufgaben-Technologie-Fit. Dieses stellt die subjektive Einschätzung der Systemleistung dar. Die über die Akzeptanzeinstellung bestimmenden Variablen sind Aufgaben, Technologie und Individuum. Die Variable Aufgaben adressiert den Schwierigkeitsgrad und die Vielfältigkeit der Aufgaben, die Variable Technologie die Einflussfaktoren der Eigenschaften eines Informationssystems und die dritte Variable umfasst die dem Individuum inhärenten Eigenschaften (Goodhue und Thompson 1995). Aufbauend auf dem TTFM wurde die Theorie von Fit zwischen Individuum, Task und Technologie (FITT) erarbeitet (Ammenwerth et al. 2004). Dabei wird der Fokus mehr auf den einzelnen Menschen oder eine Gruppe von Menschen gelegt sowie die Technologie nicht nur als ein bestimmtes Werkzeug, sondern als Bündel von Werkzeugen und deren Zusammenspiel verstanden. Es geht darum, dass der Mitarbeiter eine Aufgabe mit den ihm zur Verfügung stehenden Werkzeugen effizient löst.

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Organisationaler Wandel und Mitarbeiterakzeptanz … Tab. 1  Einflussfaktoren auf die Mitarbeiterakzeptanz. (Quelle: Eigene Darstellung) TAM (Venkatesh und Davis 2000)

TTFM (Goodhue und ­Thompson 1995)

Freiwilligkeit

Beziehung Informationssystem Computersicherheit zu Benutzer

FITT (Ammenwerth et al. 2004)

Erfahrung

Sicherheit im Umgang mit der Software

Subjektive Norm

Arbeitskultur

Image

Benutzerfreundlichkeit

Einfachheit der Bedienung

Jobrelevanz

Datenqualität, Detaillierungsgrad

Stabilität und Performance der technischen Lösung

Ergebnisbeweisbarkeit

Produktionszeiten

Qualität und Umfang der angebotenen Funktionalität

Output-Qualität

Systemsicherheit

Performanz Verfügbarkeit und Mobilität der Rechnersysteme Ort und Zeit der ­Aufgabendurchführung Umfang und Komplexität der spezifischen Aufgaben Qualität der hinterlegten Standards

Im TAM, TTFM und FITT-Modell sind bereits einflussausübende Faktoren auf die Mitarbeiterakzeptanz identifiziert worden. Eine Auswahl relevanter Faktoren ist Tab. 1 zu entnehmen. Durch eine explizite Berücksichtigung dieser Faktoren, z. B. bei der Gestaltung von integrierten Interaktionstechnologien oder technischen Systemen, kann die Mitarbeiterakzeptanz hinsichtlich dieser erhöht werden. Die in diesem Kapitel vorgestellten Modelle liefern eine geeignete theoretische Grundlage für die Untersuchung von Veränderungen im Industrie-4.0-Kontext mit Fokus auf die Akzeptanz. Sie zeigen einerseits die Phasen des Wandlungs- sowie des Akzeptanzprozesses und berücksichtigen die individuelle Perspektive und den individuellen Veränderungsbedarf und -prozess. Andererseits erlauben sie es, auf die Besonderheiten der Akzeptanz von Innovationen einzugehen und zeigen Aspekte auf, die bei der Einführung neuer Technologien und Aufgaben hochrelevant sowie damit zu berücksichtigen sind. Offen bleibt jedoch, wie die Organisation gezielt den Wandlungsprozess steuern und sowohl Akzeptanz als auch Nutzung fördern kann. Hierzu sind komplexere Modelle notwendig, die die Interaktion zwischen der Organisation und den Mitarbeitern berücksichtigen (vgl. Thim 2017, S. 131 ff.). Auf Basis der skizzierten Modelle können der Transformationsprozess im organisationalen Kontext strukturiert und geeignete Abschnitte in diesem Prozess identifiziert werden, an denen die Akzeptanz kritisch

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überprüft und gefördert werden muss. Auf Grundlage der Akzeptanzmodelle können z. B. entsprechende Fragebögen entwickelt werden, mit denen die Mitarbeiterakzeptanz bestimmt werden kann.

2.4 Implikationen im Kontext der Transformation zur Industrie-4.0-Fabrik Um den Erfolg von Transformationsprozessen gewährleisten zu können, müssen mehrere damit verbundene Einflussgrößen berücksichtigt werden. Insbesondere im Kontext der Akzeptanz ist der Mensch der wesentliche Faktor. Die betroffenen Mitarbeiter werden mit neuen Strukturen, Aufgabenfeldern und Technologien konfrontiert, die nicht mehr vertraut und u. U. noch nicht völlig planbar sind. Dabei können bei beteiligten Mitarbeitern sub- oder objektiv wahrgenommene Barrieren oder Widerstände entstehen. Fehlende Zeit oder Ressourcen, fehlendes Bewusstsein für die Notwendigkeit der Veränderung, aber auch Autoritäts- oder Gruppendruck sind einige Beispiele hierfür. Zur Überwindung solcher Barrieren müssen diese zuerst erkannt und interpretiert werden. Anschließend können Sensibilisierungsmaßnahmen im Rahmen eines partizipativen Ansatzes ganzheitlicher Mitarbeitereinbindung eingesetzt werden. Partizipation als Prinzip nachhaltiger Unternehmensentwicklung ist die Einbindung und Beteiligung von Mitarbeitern an Entscheidungen, die sie selbst betreffen. Dabei geht Partizipation über das klassische einseitige Informieren hinaus. Die ganzheitliche Mitarbeitereinbindung umfasst auch den Austausch mit den Beteiligten in Form von Involvieren, formale Mitspracherechte durch Verhandeln sowie das Einbinden und das damit einhergehende Zugeständnis von Selbstbestimmung und Entscheidungskompetenz in übertragenen Verantwortungsbereichen (vgl. Erdmann 2000). Die Mitarbeiter agieren in den Rollen des Treibers und Ermöglichers (z. B. als Manager), als Begleiter, Beobachter oder Vermittler (z. B. Betriebsratsmitglied) sowie als von der Veränderung unmittelbar betroffene Beschäftigte. Sowohl individueller als auch kollektiver Akzeptanzprozess und die damit verbundenen Steuerungsmechanismen sind vor diesem Hintergrund sowohl von den mit dieser Rolle verknüpften als auch von den individuellen Eigenschaften der Beteiligten abhängig. Weiterhin gilt es, stets die Besonderheiten von Innovation und Wandel als dynamische Gruppenprozesse mit interdisziplinärem Charakter und beschränkter Kontrollierbarkeit zu berücksichtigen. Darüber hinaus sollten eine strategische Langzeitorientierung entwickelt sowie eine klare Prozessstruktur etabliert werden. Diese adressieren sowohl die Phasen der Einführung und Adoption als auch pragmatische Fragestellungen in Bezug auf alltägliche Aufgaben und Abläufe nach der Etablierung der neuen Praktiken in der Organisation. Für die Betroffenen radikaler Veränderungen bedeutet der Wandel ein Umdenken in Bezug auf deren technische, soziale und Entscheidungskompetenzen, bedingt durch die neuen technischen Rahmen. Weiterhin kann eine Vorreiterrolle der Organisation als zusätzlicher Druck empfunden werden und Unsicherheit auslösen. Dies wird durch noch

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immer fehlende Referenzbeispiele und Vergleichsmöglichkeiten verstärkt. Die Gefahr, dadurch in (subjektiv empfundene) individuelle Isolation zu geraten, steigt. Tatsächliches oder empfundenes Scheitern ist u. U. ebenso ein Hindernis für eine Akzeptanzhaltung zur Veränderung. Strukturen und Strategien gilt es laufend mitzugestalten. Ein kontinuierlicher Ist-Soll-Abgleich ist für das Aufdecken von Prozess- und Strukturdefiziten sowie fehlenden Kompetenzen notwendig und Qualifizierungsmaßnahmen müssen laufend angepasst werden. Positiv bei dieser Art des Wandels ist die Fokussierung der Maßnahmen und Bemühungen auf ein klares Ziel und auf den Veränderungsprozess. Diese zu gestalten, wird zur herausfordernden Metaaufgabe. Wichtig vor diesem Hintergrund ist bei der Gestaltung der Maßnahmen, genau dies in den Mittelpunkt zu stellen und betont die Entwicklung, und nicht lediglich die Etablierung neuer Prozesse, als Ziel zu proklamieren. Bei inkrementellen Transformationsprozessen besteht die Herausforderung darin, die auf Industrie-4.0-Inseln bezogenen Aufgaben von den anderen potenziell anfallenden Aufgaben dieser Mitarbeiter im Betrieb zu trennen und explizit zu fokussieren. Durch die Vermischung von alten und neuen Arbeitsfeldern entsteht die Gefahr, dass neue Konzepte nicht bewusst wahrgenommen werden. Damit fehlt womöglich Transparenz für den Vergleich und die Beurteilung der eigenen Leistung. Eine isolierte Einführung erlaubt es u. U. nicht, die ganze Industrie-4.0-relevante Breite der Funktionen der neuen technischen Entitäten aufzuzeigen und zu nutzen. Entscheidungsbezogene Veränderungen, bei denen den technischen Entitäten relevante Kompetenzen zugeschrieben werden, werden ebenso weitgehend außer Acht gelassen, da, bedingt durch Berücksichtigung der Verknüpfungen zu anderen Bereichen mit alten Strukturen, nicht alle entscheidungsrelevanten Situationen abgedeckt werden können. Ebenso erschwert der kontinuierliche Abgleich zwischen alt und neu in Problemsituationen die Akzeptanz der neuen Strukturen, bedingt durch psychologische Aspekte und das Vorziehen bekannter und erprobter Gegebenheiten, auch wenn die neuen Möglichkeiten mehr Vorteile mit sich bringen. Eine weitere Schlussfolgerung aus den vorgestellten Modellen bezüglich der Untersuchung der Akzeptanz ist die hohe Relevanz geeigneter organisationaler Rahmenbedingungen. Diese sollten es ermöglichen, dass alle vom Wandlungsprozess betroffenen Akteure bei dessen Gestaltung involviert sind. Die teilweise unterschiedlichen Interessen dieser Gruppen müssen berücksichtigt werden, um einen passenden Rahmen bezüglich der Innovations-, Wissensmanagement- und Wissenstransfer- sowie Veränderungskultur aufspannen zu können, der Hilfselemente wie extrinsische und intrinsische Mitarbeitermotivation, organisationales Lernen und Weiterbildung sowie rechtliche Problemstellungen beinhaltet. Entscheidend für die Gestaltung der Rahmenbedingungen des Veränderungsprozesses ist dessen starke visionäre Orientierung. Insbesondere im Kontext des Wissensmanagements und des Wissenstransfers ist in diesem Zusammenhang die neue erweiterte Rolle der technischen Entitäten von Bedeutung, die teilweise Aufgaben zur Entscheidungsfindung und selbstbestimmendes Handeln übernehmen und somit sowohl bestehende theoretische Konzepte vor eine Herausforderung stellen, als auch den gesamten Rahmen der zwischenmenschlichen Kommunikation verändern.

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Diese Zukunftsvisionen sind oftmals wenig fassbar und teilweise vage, sodass sie neben den positiven Erwartungen ebenso mit Ängsten verbunden sind. Vor diesem Hintergrund sollte der Veränderungsprozess ebenso Ansätze zum Umgang mit Mitarbeiterängsten und -unsicherheit implizieren sowie insbesondere eine gute Informationsmanagementstrategie. Die Entwicklung von Qualifikationskonzepten für betroffene Mitarbeiter stellt eine weitere Herausforderung dar. Die neuen Qualifikationen sollten maßgeschneidert entwickelt werden, sodass einerseits der Bezug zur bisherigen Rolle erhalten bleibt und andererseits die Veränderungen und neuen Aufgabenfelder berücksichtigt werden. Bei der Konzeptentwicklung sollten die unterschiedlichen Anforderungen an das Management und an die Mitarbeiter berücksichtigt werden. Diese müssen die jeweiligen Veränderungen bezüglich ihrer Aufgaben erkennen können. Bildungs- und Weiterbildungskonzepte müssen flexibler und umfangreicher werden, um die Mitarbeiter zur richtigen Zeit mit den notwendigen maßgeschnittenen Qualifikationen zu versorgen (Gronau et al. 2015). Bestehende Führungs-, Arbeitsorganisations- und Lernkonzepte können in diesem Zusammenhang nur als Grundlage dienen und müssen entsprechend angepasst und weiterentwickelt werden. Die neuen Konzepte werden relevante neue Rollenbilder (wie Ermöglicher, Vermittler und Unterstützer oder Systemregulierer) beinhalten. Das Management der Bedürfnisse der Mitarbeiter umfasst unter den neuen Bedingungen technische und Managementkompetenzen sowie IT-, Organisations-, Prozess- oder ­Interaktionskompetenzen. Zur Vermittlung dieser Kompetenzfacetten ist es aus Mitarbeitersicht akzeptanzförderlich, personalisierbare Lernumgebungen, prozessnahe Lernfabriken zur Sensibilisierung und zum Ausprobieren sowie intelligente Lernassistenten einzusetzen. Die Wichtigkeit des sozialen Lernens sowie der Entwicklung von Problemlösungskompetenzen steigt unter den neuen Bedingungen.

3 Vorgehen für organisationalen Wandel mit Fokus auf die Mitarbeiterakzeptanz Zur Begleitung des Wandels unter der Prämisse der Maximierung der Mitarbeiterakzeptanz wurde in Anlehnung an das Wandlungsmodell von Krüger (2002) ein Vorgehen zur Einbindung der Akzeptanzanalyse in den Veränderungsprozess (Abb. 4) entwickelt, wobei die dort als Grundlage hinterlegten Phasen des Transformationsprozesses übernommen wurden. Die Anwendung dieses Wandlungsmodells kann als pragmatisch und realitätsnah sowie als strategisch proaktiv bezeichnet werden. Es eignet sich somit für die Gestaltung des zu begleitenden Transformationsprozesses (vgl. Weinert et al. 2017). Ein skalierbares, unter Beteiligung von Forschung und Praxis entwickeltes Vorgehen für die Transformation ohne expliziten Fokus auf die Mitarbeiterakzeptanz, allerdings mit einer Vielzahl an unterschiedlichen unterstützenden Methoden und Ansätzen, ist bei Geleç (2017) beschrieben. Neben den Phasen werden auch alle

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Abb. 4   Phasenmodell und Beteiligte des organisationalen Wandels. (Quelle: Eigene Darstellung)

beteiligten Akteure mit deren unterschiedlichen Rollen detailliert dargestellt. Weiterhin wird auf eine Reihe notwendiger Tools sowie auf die Beteiligung prozessbegleitender Akteure und Maßnahmen verwiesen. Zwischen den definierten Phasen wurden in Anlehnung an das Stage-GateInnovationsmodell von Cooper (2008) Gates eingeführt. Diese Erweiterung ist vor dem Hintergrund der Notwendigkeit eines Reviews bereits durchgeführter Veränderungsmaßnahmen aus Sicht der betroffenen Akteure notwendig. Die Gates dienen entweder als Messpunkte (AM) der Nutzerakzeptanz von Produktionsmitarbeitern oder als Stimmungsbarometer (SB) zur kritischen Überprüfung des Akzeptanzniveaus als Vorbereitung zum nächsten Prozessabschnitt. Neben ihrem Nutzen als Überprüfungsmechanismen für die Akzeptanz dienen diese Gates ebenso als Ausgangspunkt für mögliche Modifikationen akzeptanzbeeinflussender Maßnahmen. Die einzelnen Phasen des Wandlungsprozesses werden wie folgt gestaltet: Während der ersten beiden Phasen der Initialisierung und Konzeption entwickelt ein intern gewähltes und im Idealfall akzeptiertes Industrie-4.0-Team gemeinsam mit dem Management die Wandlungsstrategien sowie ein entsprechendes Konzept, um die Fabrik zu gestalten sowie die Mitarbeiter durch den Transformationsprozess zu führen und für die neuen Rahmen- und Arbeitsbedingungen vorzubereiten. Die Wandlungsstrategien adressieren: 1) technologische, 2) organisationale und 3) personell-individuelle Veränderungen. Beispielhaft können angeführt werden: zu 1) Entwicklung oder Implementierung innovativer technologischer Lösungen oder Verfahren; zu 2) Entwicklung von Regeln unter Berücksichtigung der neuen Interdependenzen im Kontext des Wissenstransfers zwischen Menschen und Maschinen; und zu 3) Entwicklung neuer Kompetenzen und neuen Wissens bei den Mitarbeitern. Die Kommunikation in der Organisation und damit einhergehend die ersten Erfahrungen mit den neuen Rahmenbedingungen vollziehen sich in Phase 3. Somit beginnen nach dieser Phase sowie den jeweiligen folgenden Phasen der Realisierung und der Verstetigung das Monitoren sowie die Akzeptanzüberprüfung. Im Verlauf dieser Phasen werden neue Strategien komplett in die Praxis umgesetzt und gelebt.

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Tab. 2  Ausgestaltung der Phasen des Wandlungsprozesses. (Quelle: Eigene Darstellung) Initialisierung Aufgabe

Wandlungsbedarf feststellen, Wandlungsträger aktivieren

Aufgabenträger

Primär Management, jeder Mitarbeiter

Vorgehen und Methoden

Ad-hoc-Feststellung, SWOT-Analyse, Potsdam Change Capability Indication (Gronau und Weber 2009), Turbulenzanalyse, Vier-­StufenModell (WAMOPRO 2013) Rekrutierung von Schlüsselpersonen und Promotoren; ­Sensibilisierung

Ergebnis

Delta zwischen IST-SOLL-Zustand ist identifiziert und beschrieben Wandlungskoalition und Wandlungspromotorengruppe stehen fest

Konzeption Aufgabe

Festlegung der Wandlungsziele Entwicklung und Bewertung der Maßnahmenprogramme für den Transformationsprozess

Aufgabenträger

Wandlungskoalition unter Einbezug von Schlüsselpersonen

Vorgehen und Methoden

Workshops zur Zieldefinition Herunterbrechen der Ziele in Subziele und Entwicklung ­entsprechender Maßnahmen zur Erreichung der Ziele Bewertung der Maßnahmen durch Klassifikation oder analytischen Hierarchieprozess

Ergebnis

Beschriebene Vision des Transformationsprozesses und Zielzustands Definierte Maßnahmenprogramme

Mobilisierung Aufgabe

Wandlungskonzept kommunizieren, Betroffene auf den ­bevorstehenden Wandel einstellen Wandlungsbereitschaft schaffen Wandlungsfähigkeit schaffen

Aufgabenträger

Wandlungskoalition unter Einbezug von Schlüsselpersonen und Promotoren

Vorgehen und Methoden

Proaktive Kommunikation via Info-E-Mail, M ­ itarbeiterzeitschrift, Beratung, Poster, Workshops, Mitarbeiterversammlung zur ­Überwindung von Wissensbarrieren Sensibilisierung für die Notwendigkeit und die entstehenden ­Vorteile, Nutzung von Motivationsinstrumenten (intrinsische Anreize, ­extrinsische Anreize, Transparenz), Organisationsinstrumente (Projektorganisation, Promotoren, Partizipation, Begleitung) Nutzung von Informationsinstrumenten und Qualifizierungsinstrumenten (entsprechende Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen)

Ergebnis

Kommunikation des Change-Prozesses Positive Einstellung der Betroffenen bezüglich des bevorstehenden Wandels (Fortsetzung)

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Tab. 2   (Fortsetzung) Realisierung Aufgabe

Prioritäre Vorhaben durchführen Folgeprojekte durchführen

Aufgabenträger

Alle Betroffenen, Wandlungskoalition unter Einbezug von ­Schlüsselpersonen und Promotorengruppe

Vorgehen und Methoden

Operative Durchführung der Wandlungsmaßnahmen

Ergebnis Verstetigung

Erreichung des Transformationsprozesszielzustands

Aufgabe

Wandlungsergebnisse verankern Wandlungsbereitschaft und Wandlungsfähigkeit sichern

Aufgabenträger

Wandlungskoalition unter Einbezug von Schlüsselpersonen

Vorgehen und Methoden

Wandlungsziel in den Prozessen durch stetiges Potenzialaufdecken fixieren, Sensibilisierung durch Kommunikation und Handeln Lern- und Ergebnisplattformen schaffen

Ergebnis

Etablierung der Veränderungen

Eine detaillierte Beschreibung der Aufgaben, Aufgabenträger, Methoden und Ergebnisse der einzelnen Phasen ist Tab. 2 zu entnehmen. Es sind zwei Akzeptanzüberprüfungen sowie eine Abfrage der Einstellung innerhalb der Betroffenen vorgesehen: Das Stimmungsbarometer unmittelbar nach der Kommunikation des Wandlungsbedarfs, der Wandlungsstrategie und der entsprechenden Sensibilisierungsmaßnahmen dient dem Ziel, den Status quo abzufragen. Wesentliche Schwerpunkte bilden die Ist-Aufnahme zur Technologie (Bedienung, Wirksamkeit, tatsächliche Verwendung, offene Fragen), allgemeines und detailliertes Verständnis von Strategie und Konzept (Vision und Zielstellung, Leistungserwartungen) sowie Erwartungen im Kontext der veränderten Rahmenbedingungen (Aufgaben, Rollen, Qualifikationen) seitens der Mitarbeiter. Die Akzeptanzmesspunkte (AM) befinden sich jeweils nach den Phasen der Implementierung und der Verstetigung. Es werden die Technologieakzeptanz sowie die aktuellen wahrgenommenen Rahmenbedingungen abgefragt. Je nach Bedarf kann die letzte Akzeptanzüberprüfung in regelmäßigen Abständen wiederholt werden. Für das Stimmungsbarometer sowie die Akzeptanzmessung werden Daten mithilfe einer Fragebogenbefragung erhoben. Einzel- oder Gruppeninterviews mit allen involvierten Parteien sind darüber hinaus auch möglich. Eine übersichtliche Beschreibung der konkreten Inhalte ist in Tab. 3 dargestellt.

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A. Ullrich et al.

Tab. 3  Akzeptanzprüfungen. (Quelle: Eigene Darstellung) Stimmungsbarometer Aufgabe

Überprüfung des Erfolgs der Mobilisierungsmaßnahmen sowie Einholen des Stimmungsbilds der Betroffenen

Aufgabenträger

Wandlungskoalition

Methoden

Mitarbeiterbefragung (Fragebogen, Einzel- oder Gruppeninterviews)

Ergebnis

Einschätzung der Stimmung der Mitarbeiter bezüglich der bevorstehenden Veränderungen

Akzeptanztest 1 Aufgabe

Evaluation der Technologieakzeptanz nach Einführung neuer Technologien

Aufgabenträger

Wandlungskoalition

Methoden

Fragebogen (z. B. TAM (Venkatesh und Davis 2000), TTFM (Goodhue und Thompson 1995), TAM/TTFM (Dishaw und Strong 1999), Einzel- oder Gruppeninterviews

Ergebnis Akzeptanztest 2

Einschätzung der Technologieakzeptanz der Betroffenen

In gewissen Zeitabständen können weitere Akzeptanztests – analog zu Akzeptanztest 1 – durchgeführt werden, um Veränderungen und eventuellen Handlungsbedarf aufzudecken.

4 Handlungsempfehlungen aus drei Anwendungsfällen Die Entwicklung u. a. dieses Vorgehens wurde im Kontext von drei Anwendungsfällen durchgeführt, wobei der Schwerpunkt auf einer konstanten Berücksichtigung der Akzeptanz lag. Die gesammelten Erfahrungen wurden anwendungsfallbegleitend erfasst und diskutiert sowie reflektiert. Im Ergebnis wurden Handlungsempfehlungen formuliert (vgl. Ullrich et al. 2017c), die wesentliche Erkenntnisse für die Planung und Umsetzung des organisationalen Wandels hin zu einer Industrie-4.0-konformen Fabrik zusammenfassen. Diese Handlungsempfehlungen sind inhaltlich stark heterogen ausgeprägt. Einige dieser Handlungsempfehlungen mit besonderer Bedeutung für die Mitarbeiterakzeptanz werden nachfolgend vorgestellt.

4.1 Im Kontext der Transformationsplanung (Initialisierung und Konzeption) Bei der Planung der Transformation einer bestehenden in eine Industrie-4.0-Fabrik sollte der Wandel in einzelne Umsetzungsschritte unterteilt werden. Diese müssen für sich genommen nicht zwangsläufig große betriebliche Veränderungen realisieren, da sich diese aus der Summe der einzelnen Schritte ergeben. Um die einzelnen Schritte zu planen und zu realisieren, müssen diese somit nicht alle Aspekte von Mensch, Technik

Organisationaler Wandel und Mitarbeiterakzeptanz …

581

und Organisation gleichermaßen beinhalten, sondern können einzelne Aspekte fokussieren, um die Planungskomplexität zu begrenzen. Ebenso hilfreich ist eine zweckmäßig gewählte Unterteilung der Betrachtung, beispielsweise nach Fertigungs- oder Unternehmensbereichen. Wesentlich ist es jedoch, bei der Auswahl einer Alternative auch die für den einzelnen Schritt sekundären Aspekte bezogen auf die langfristige Zielstellung in die Bewertung mit einzubeziehen, eben um die langfristige Zielstellung nicht zu gefährden. Dabei hat sich bei der Planung die Prüfung des Alignment von Transformationsstrategie zu bestehenden Strategien bewährt. Demgemäß ist es vor Einführung einer Industrie-4.0-Strategie hilfreich, bestehende Unternehmensstrategien zu prüfen und eine Überprüfung von neuen Projekten basierend auf bestehenden Strukturen vorzunehmen (Königer und Dümmler 2017, S. 182). Darüber hinaus kann die Komplexität der Planungsaufgabe durch Strukturierung in Betrachtungsausschnitte reduziert werden, indem diese durch die Betrachtung von Ausschnitten handhabbarer wird (z. B. nach Fertigungsbereichen, Unternehmensbereichen, Aufgabenbereichen). Es gilt jedoch, durch kontinuierliches, iteratives Hinterfragen der Gesamtsicht den Blick aufs Ganze aufrechtzuerhalten (Weinert und Mose 2017, S. 198).

4.2 Im Kontext der Reflektion und Evaluation (SB und AM) Schon in der Planungsphase gilt es, eine Bewertung der verschiedenen infrage kommenden Implementierungsvarianten hinsichtlich deren Erfüllungsgrad bezüglich der vorab festgelegten, langfristigen Zielkriterien vorzunehmen. Dazu können u. a. unterschiedliche Reifegradmodelle zu Industrie 4.0 herangezogen werden. Es wird somit sichergestellt, dass einzelne, zur kurzfristigen Wiederherstellung oder Aufrechterhaltung der laufenden Produktion umgesetzte Maßnahmen trotzdem einen Entwicklungsbeitrag in Richtung der langfristigen Zielstellung darstellen bzw. eine Abweichung in einfacher Weise identifiziert werden kann. Auf der nicht technischen Seite sind zwei Aspekte zu betonen: einerseits die Bewertung des Erfolgs der eingesetzten Qualifizierungsmaßnahmen und andererseits die Einschätzung der Einstellung der Mitarbeiter hinsichtlich der Veränderungsmaßnahmen und damit einhergehend die Bewertung ihrer Akzeptanz. Letztendlich ist es wichtig, dass alle (geschäftskritischen) Umsetzungsaktivitäten kontinuierlich und systematisch erfasst und gemessen werden, damit der Fortschritt realistisch eingeschätzt und kritisch hinterfragt werden kann sowie eventuelle Modifikationsbedarfe identifiziert werden. Dies gilt auch für den operativen Betrieb bereits implementierter Lösungen. Im Sinn einer kontinuierlichen Verbesserung der Strukturen und Abläufe sollten relevante Informationen in jedem Bedarfsfall zur Verfügung stehen, um rechtzeitig Probleme zu identifizieren und reaktions- sowie handlungsfähig zu sein. Darüber hinaus ist es empfehlenswert, die Einflussfaktoren auf die Mitarbeiterakzeptanz (Tab. 1) bei Entwurf, Entwicklung und Ausgestaltung technologischer Lösungen zu berücksichtigen. Im Fallbeispiel des Lastmanagements für ein Transformatorenwerk

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A. Ullrich et al.

wurden diese Prinzipien im modellbasierten Cockpit so umgesetzt, dass damit eine flexible Datenversorgung für den Mitarbeiter realisiert werden kann (Knothe et al. 2017). Beispielsweise werden nur die relevanten Daten benutzerfreundlich derart bereitgestellt, dass Prozessverantwortlichkeit gelebt werden kann. Andererseits wissen leitende Ebenen zu jeder Zeit genau über den Gesamtstatus des Unternehmens und seiner einzelnen Aufträge Bescheid (Oertwig 2015). Weiterhin ist die Evaluation durchgeführter Maßnahmen ein bewährtes Mittel, um den Erfolg und Wirkungsgrad der Tätigkeiten zu bestimmen und daraus Handlungsbedarfe für Nachschulungen oder Akzeptanzmaßnahmen zu identifizieren. Die Evaluation der Maßnahmen sollte im Sinn kontinuierlicher Verbesserungsprozesse eine begleitende Maßnahme sein und somit durch Zwischenevaluationen ergänzt werden (Ullrich et al. 2017b, S. 68).

4.3 Im allgemeinen Kontext der Kommunikation und Partizipation: Für das Gelingen der Transformation hin zu intelligenten und vernetzten Fabriken ist es wichtig, frühzeitig alle Beteiligten in den Gestaltungs- und Umsetzungsprozess einzubinden. Insbesondere für den Aspekt der humanorientierten Arbeitsplatzgestaltung bietet es sich an, Mitarbeiter in die Planung einzubeziehen. Mit der aktiven Einbindung von betroffenen Mitarbeitern in Projektteams und dem Testen von Pilotanwendungen kann eine klassische Anforderungsanalyse erweitert werden. Abteilungen wie beispielsweise das Personal- und Change Management können diese Aktivitäten unterstützen und für die notwendige Kommunikation der Änderungen in die Breite sorgen. Damit ein neues System verwendet und gelebt wird, ist ein technisch einwandfreies System allein oftmals nicht ausreichend. Es hat sich als empfehlenswert erwiesen, bereits während der Planungsphase die Integration in bestehende Prozesse zu berücksichtigen und diese gegebenenfalls anzupassen (vgl. auch nachfolgend Ullrich et al. 2017b, S. 56 ff.). Dabei kann die Einbindung der beteiligten Mitarbeiter zu einem Thema wie beispielsweise Energietransparenz in einer Kick-off-Veranstaltung mit einem Ideenwettbewerb zu konkreten Prozess- und Technologieverbesserungen initiiert werden. Durch den testweisen Einsatz von Prototypen, mit denen die Mitarbeiter erste Erfahrungen sammeln konnten, wurde beispielsweise bei Festo in Scharnhausen praktisches Bewusstsein geschaffen. In Info-Mails und Workshops wurden den Mitarbeitern die bevorstehenden Veränderungen sowie insbesondere deren Nutzen aufgezeigt. Feedback wurde gesammelt, bewertet und resultierende Implikationen in weitere Maßnahmen integriert. Durch aktive Kommunikation und Partizipation wurde die Einstellung der Mitarbeiter in Bezug auf den Wandel nachhaltig positiv beeinflusst (Knothe et al. 2017). Darüber hinaus lassen sich zur Initiierung von Transformationsvorhaben die Beteiligten mithilfe eines Kurzvortrags in einem Workshop zum Nachdenken anregen. Hierbei bekommen sie Einblick in die Grundlagen und aktuelle Entwicklungen. Anschließend können die

Organisationaler Wandel und Mitarbeiterakzeptanz …

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Mitwirkenden in einer moderierten Übung ihre Einschätzungen zur Ausgangslage der jeweiligen Bereiche und eigene Ideen zum Thema einbringen. In einer abschließenden Diskussionsrunde können sich die Beteiligten über die Betrachtungsbereiche der Analyse abstimmen. Dabei ist es je nach Unternehmensgröße und Ausgangssituation sinnvoll, die Betrachtungsbereiche mit dem höchsten abgeleiteten Potenzial für die Analyse auszuwählen. Dies können sowohl direkte als auch indirekte Bereiche sein, wie z. B. Wareneingang, Fertigung, Montage, Intralogistik, Instandhaltung. Weiterhin ist es wichtig, Bereiche wie Personalwesen und Unternehmenskommunikation, aber auch Vertreter des Betriebsrats zeitnah einzubinden, falls diese nicht am Workshop teilgenommen haben (Geleç 2017, S. 40 ff.). Hinsichtlich der Qualifizierung hat es sich bewährt, ein Expertenteam „Qualifizierung“ zu etablieren, das als Ansprechpartner für Fragen und Hinweise der Mitarbeiter bezüglich der Qualifizierungsvorhaben auftritt sowie für deren Durchführung und entsprechende Sensibilisierungsmaßnahmen verantwortlich ist. Eine klare Zuordnung von Verantwortlichkeiten und Kompetenzen ist dabei hilfreich.

5 Zusammenfassung und Ausblick In diesem Beitrag wurden ein Vorgehen für den organisationalen Wandel sowie entsprechende Handlungsempfehlungen bezüglich der Akzeptanz der Mitarbeiter hinsichtlich der Einführung neuer Technologien und damit einhergehend neuer Aufgaben und Prozesse im Kontext Industrie 4.0 vorgestellt. Theoretische Grundlagen zu den Themen Akzeptanz, Wandel und Innovationen wurden herangezogen und relationiert. Auf dieser Basis wurde das Vorgehen zur Gestaltung und Unterstützung des Transformationsprozesses hin zur Industrie-4.0-Fabrik entwickelt. Dessen Struktur ist an Krügers (2002) Phasenmodells des Wandels angelehnt. Darüber hinaus wurden die Phasen des Akzeptanzprozessmodells von Leao (2009) sowie des Stage-Gates-Prozesses nach Cooper (2008) verwendet, um die relevanten Punkte (Stage Gates) zur Akzeptanzmessung im Wandlungsprozess zu identifizieren. Des Weiteren wurden Akzeptanzmodelle genutzt, um die relevanten Rollen der unterschiedlichen Beteiligten in jeder Prozessphase zu identifizieren und eine Grundlage zur Entwicklung von Instrumenten zur Akzeptanzerfassung zu bilden. Weiterführende anwendungsorientierte Forschung widmet sich zurzeit der konkreten Ausgestaltung der Methoden zur Akzeptanzmessung sowie dem Methodenportfolio der einzelnen Wandlungsphasen im Kontext der Industrie 4.0. Dies ist notwendig, da oftmals wesentliche, zugrunde liegende Paradigmen durch doch notwendige Kausalmodelle nicht erfasst werden können. Weiterhin ist die Untersuchung, Sammlung und Etablierung von Best Practices der Transformation hin zu Industrie-4.0-Fabriken eine fortwährende Aufgabe. Darüber hinaus gilt es in diesem Zusammenhang, wesentliche Einflussgrößen der Beeinflussung des Zielzustands einer Fabrik zu bestimmen, Wissenstransfer- sowie Aus- und Weiterbildungskonzepte zu entwickeln und Kompetenzprofile für einzelne

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A. Ullrich et al.

Rollenbilder zu erarbeiten. Vor dem Hintergrund der visionären Ausrichtung von Industrie 4.0 ist es empfehlenswert, einzelne große Umsetzungsschritte eher zuerst mit kleinen prototypischen Realisierungen zu verknüpfen. Der Grund ist, dass es häufig schwierig ist, diese vor der Umsetzung planerisch bis ins letzte Detail zu spezifizieren. Wenn nicht vom ersten Schritt in Richtung der Industrie 4.0 sofort ein bahnbrechender ganzheitlicher Erfolg erwartet wird, sondern dieser vielmehr bewusst als Beginn eines länger währenden Transformationsprozesses gesehen wird, kann der notwendige Paradigmenwechsel in all seinen Facetten gelebt werden und gelingen. Förderhinweis Diese Veröffentlichung wurde teilweise mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) im Rahmen der Sozial-ökologischen Forschung (Nachwuchsgruppenförderung) unter dem Förderkennzeichen 01UU1705B gefördert. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autoren.

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Dr. André Ullrich  arbeitet am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Prozesse und Systeme an der Universität Potsdam. Aktuelle Fokusse seiner wissenschaftlichen Arbeit sind nachhaltige Digitalisierung, deren Wirkung auf Unternehmensarchitekturen und das organisationale Wissensmanagement sowie Implikationen für die Mitarbeiter als auch Lernfabriken. Dr. Gergana Vladova  ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Prozesse und Systeme an der Universität Potsdam, und leitet die Forschungsgruppe „Bildung und Weiterbildung in der digitalen Gesellschaft“ am Weizenbaum-Institut in Berlin. Wissen, Lernen und berufliche Weiterbildung sind ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte. Weiterhin gehören dazu Themen wie Innovationsmanagement, Know-how und Produktschutz sowie menschliche und organisatorische Prozesse des Vergessens.

Organisationaler Wandel und Mitarbeiterakzeptanz …

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Dr. Christof Thim  arbeitet am Lehrstuhl für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Prozesse und Systeme an der Universität Potsdam. Er ist dort seit dem Abschluss seines Studiums in Wirtschaftsinformatik sowie Soziologie, Politik und Volkswirtschaftslehre als wissenschaftlicher Mitarbeiter beschäftigt. Er leitet die Forschungsgruppe „Digitale Prozesse“ mit den Schwerpunkten Prozessmanagement und Technologieeinführungen im Organisationskontext. Derzeit forscht er zu Lernen und Vergessen im Fabrikkontext. Prof. Dr.-Ing. habil. Norbert Gronau  ist Inhaber des Lehrstuhls für Wirtschaftsinformatik, insbesondere Prozesse und Systeme an der Universität Potsdam, sowie wissenschaftlicher Direktor des Forschungs- und Anwendungszentrums Industrie 4.0 und Leiter des Center for Enterprise Research. Seine Forschungsinteressen liegen in den Bereichen Gestaltung wandlungsfähiger Architekturen industrieller Informationssysteme, nachhaltiges betriebliches Wissensmanagement sowie industrielles Internet der Dinge.

Der Wandel der Arbeitswelt in einer Industrie 4.0 Rahild Neuburger

Digitalisierung und Vernetzung tangieren die Arbeitswelt in mehrfacher Weise: es verändern sich Arbeitsinhalte, Arbeitsstrukturen und Tätigkeiten, es wird neue Berufe geben, in der öffentlichen Diskussion wird häufig von Automatisierungseffekten gesprochen und es kommt zu neuen Formen der Arbeitsteilung – in Unternehmen, zwischen Unternehmen wie auch zwischen Mensch und Maschinen. Dies gilt insbesondere für die industrielle Welt, deren gegenwärtig zu beobachtende Veränderungen häufig unter dem Schlagwort Industrie 4.0 diskutiert werden, wodurch der Bezug zur vierten industriellen Revolution deutlich wird. Dass die Veränderungen auf die Arbeitswelt in und durch diese vierte industrielle Revolution ähnlich gravierend sind, wie es die Erfahrungen mit den früheren industriellen Revolutionen zeigen, steht wohl außer Zweifel. Umso wichtiger ist die Diskussion darüber, welche Entwicklungen und Veränderungen erkennbar sind und welche Herausforderungen sich hieraus ergeben, um rechtzeitig und fundiert über geeignete Maßnahmen diskutieren zu können. Das häufig in diesem Zusammenhang zu lesende Szenario, künstliche Intelligenz und Roboter würden gegenwärtige Arbeitsplätze in der Industrie gänzlich ersetzen, führt schnell zur Diskussion alternativer Finanzierungsmöglichkeiten wie z. B. das bedingungslose Grundeinkommen oder die Robotersteuer. Dies ist aber sicherlich nur eine zu diskutierende Perspektive – viel entscheidender erscheinen Fragen wie: • Welche Technologien bzw. technologischen Prinzipien charakterisieren zukünftig die Arbeitswelt einer Industrie 4.0? • Welche Implikationen hat dies für die zukünftige Arbeitswelt? • Welche Herausforderungen entstehen hierdurch insbesondere für Mitarbeiter und Führung; welche Kompetenzen und Skills sind zukünftig erforderlich? R. Neuburger (*)  LMU München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_24

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R. Neuburger

1 Ausgangspunkt: Vernetzung und Digitalisierung Aus der Historie wissen wir: Es waren immer technologische Entwicklungen, die die menschlichen Tätigkeitsschwerpunkte in der Produktion verändert haben (Abb. 1). Dies liegt nahe – wird das menschliche Handlungspotenzial ja gerade durch die jeweils vorherrschenden technischen Werkzeuge determiniert. So waren erhebliche Veränderungen der Arbeitswelt und der Arbeitsorganisation mit Beginn der ersten industriellen Revolution um das Jahr 1750 zu beobachten – Wasserkraft und Dampf ersetzten die Muskelkraft; das Zeitalter der Mechanisierung begann (vgl. hierzu auch Obermaier 2017). Eine Zentralisierung von Werkzeugen bzw. Maschinen in Fabriken – hier von Webstühlen in Verbindung mit Dampfmaschinen – führte zur Entstehung der industriellen Textilindustrie. In der Folge entstanden größere Zuliefererund Abnehmermärkte und -beziehungen wie auch klassische White-collar-Jobs in der Verwaltung von Fabriken. Diese Entwicklung führte zur Entstehung einer damals ganz neuartigen Form der Arbeitsorganisation mit erheblichen Produktivitätszuwächsen. Sie stellt ein wesentliches Charakteristikum der ersten industriellen Revolution dar. Die zweite industrielle Revolution hat in Pittsburg und Detroit um 1920/1930 mit dem Übergang zur Massenproduktion sowie der Einführung des Fließbands auf der Basis stark arbeitsteiliger Prozesse – auch bekannt unter Fordismus oder Taylorismus – begonnen. Die prinzipielle Arbeitsorganisation und Arbeitsteilung haben sich hier im Vergleich zur ersten Stufe der industriellen Revolution kaum geändert. Nach wie vor kamen Arbeiter in Fabriken zusammen, in denen die Produktionsprozesse – nun teilautomatisiert auf der

Abb. 1   Stufen der Industriellen Revolution. (Quelle: in Anlehnung an Forschungsunion 2012, S. 10)

Der Wandel der Arbeitswelt in einer Industrie 4.0

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Basis von Fließbändern – durchgeführt wurden. Steuerungs- und Organisationsarbeiten wurden wichtiger, sodass der Anteil der White-collar-Jobs in der Verwaltung stieg. Somit entwickelten sich die grundlegenden Arbeitsformen aus der ersten industriellen Revolution weiter, indem sie sich an die neuen technologischen Möglichkeiten anpassten. Die dritte industrielle Revolution führte zu einem verstärkten Einsatz von Elektronik und IT, wodurch sich Automatisierung und Produktionssteuerung nochmals effizienter gestalten ließen. Organisatorisch entstanden dadurch zwar neuartige Konzepte wie die Gruppenfertigung oder Fertigungssegmentierung; die grundlegenden Arbeitsstrukturen veränderten sich jedoch auch hier nur marginal. Begründet durch Digitalisierung, Vernetzung und Dematerialisierung wird heute von der vierten industriellen Revolution gesprochen. Sie tangiert die Produktionswelt in mehrfacher Hinsicht: Sie erlaubt eine neue Dimension an technologischer und organisatorischer Vernetzung, stellt neuartige Produktionstechnologien für die Durchführung von Produktionsprozessen zur Verfügung und verändert etablierte Geschäftsmodelle. Dies hat Implikationen, die in ihrer Wirkung mit den Folgen der ersten industriellen Revolution vergleichbar sind: Art und Form der Arbeitserbringung wie auch der Arbeitsteilung verändern sich z. T. gravierend. Im Unterschied zu den bisherigen industriellen Revolutionen handelt es sich diesmal nicht um einzelne Werkzeuge wie die berühmte Spinning Jenny als erste Spinnmaschine, den Pflug, den Webstuhl oder das Fließband, die die jeweiligen Veränderungen auslösten. Die exponentielle Leistungssteigerung neuer Technologien bei gleichzeitigem Kostenverfall lässt die kontinuierliche Entwicklung neuartiger Instrumente in einer Schnelligkeit zu, die es historisch bisher noch nicht gegeben hat. Somit lässt sich heute kaum absehen, welche technischen Mittel die Arbeitswelt einer Industrie 4.0 in 5, 10 oder 20 Jahren in welcher Weise beeinflussen werden. Statt sich auf zurzeit primär diskutierte Technologien zu fokussieren, macht es daher mehr Sinn, sich die grundlegenden technologisch geprägten Prinzipien vor Augen zu führen, die die zukünftige Arbeitswelt in einer Industrie 4.0 kennzeichnen werden: Vernetzung in ihren unterschiedlichen Facetten, automatisierte bzw. autonome Systeme und additive Fertigung. Diese tangieren die etablierte Produktionswelt direkt durch die Veränderung der Prozesse und Strukturen wie auch indirekt durch die Anpassung der Geschäftsmodelle. Charakterisierend für eine industrielle Arbeitswelt 4.0 ist zunächst die Vernetzung von Maschinen, Produktionsanlagen, Transportsystemen und Produkten. Zu nennen sind hier v. a. Internet of Things (IoT) sowie cyber-physische Systeme (vgl. z. B. Skilton und Hovsepian 2017). Sie ermöglichen v. a. die digitale Abbildung und ganzheitliche Steuerung industrieller Prozessketten, infolgedessen herkömmliche Produktionsstrukturen und -prozesse neu und anders organisiert werden können. Die zunehmende Vernetzung führt auch zur Herausbildung digitaler Plattformen, auf denen Anbieter von Produkten, Dienstleistungen oder Kompetenzen mit möglichen Nachfragern zusammenkommen (vgl. z. B. Parker et al. 2016; Engels et al. 2017; Mcafee und Brynjolfsson 2017). Diese Plattformen verfolgen unterschiedliche Ziele und

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R. Neuburger

entstehen innerhalb von Unternehmen wie auch zwischen Unternehmen bzw. zwischen Unternehmen und ihren Kunden.1 Gerade aus dem Business-to-Consumer(B2C)-Bereich sind hier z. B. Airbnb, Amazon, Uber, Ebay oder die App-Stores von Apple oder Google bekannt. Unternehmensextern stellen Plattformen v. a. eine Möglichkeit dar, im B2C-Geschäft die Kundenschnittstelle direkt als Intermediär zu besetzen oder – im Business-toBusiness(B2B)-Geschäft – allein oder im Verbund mit anderen Unternehmen den Mehrwert der angebotenen Produkte und Leistungen und damit auch den Kundennutzen zu erhöhen. Beispiele hierfür sind Europas größter herstellerunabhängiger Stahlhändler Klöckner & Co., der das Ziel verfolgt, eine konzernweite digitale Handelsplattform für alle seine Produkte aufzubauen (Diemer und Baums 2015), oder auch das Maschinenunternehmen Trumpf, das die Software-Plattform AXOOM anbietet, mit deren Hilfe Big-Data-Leistungen im Fabrik- und Maschinenumfeld erhoben und angeboten werden können (vgl. Picot et al. 2018, S. 345 f.). Unternehmensintern und -extern lassen sie sich einsetzen, um beispielsweise Innovationen zu fördern und Ideen zu generieren (vgl. Innovationsplattformen) oder auch – bei der Vergabe von Aufträgen oder der Zusammenstellung von Teams – das Matching von Anforderungen und Kompetenzen zu unterstützen bzw. zu realisieren. An späterer Stelle wird darauf zurückzukommen sein. Auch die gegenwärtig intensiv diskutierte Blockchain-Technologie basiert letztlich auf Vernetzung. Sie verändert die Produktionswelt erheblich, wenn es durch sie gelingt, industrielle Transaktionen und Prozesse zwischen intelligenten Maschinen und Betriebsmitteln sicher und ohne menschlichen Eingriff über eine Blockchain abzuwickeln. So wird es beispielsweise auf der Basis von Blockchain-Technologien möglich, dass durch IoT vernetzte Produktionsmittel, Transportsysteme und Produkte ihre jeweiligen Zustände austauschen, im Sinn einer optimalen Wertschöpfung spezifische Interaktionen aushandeln und die hierdurch resultierenden wertschöpfenden Tätigkeiten nachhaltig und transparent für alle beteiligten Akteure speichern. Denkbar sind auch Smart Contracts mit oder zwischen Produktionssystemen, deren Einhaltung in beiden Richtungen sichergestellt wird. Maschinen können ihre Dienstleistungen dann direkt mit ihrem Nutzer abrechnen und die Einnahmen entsprechend dezentral speichern (vgl. Fraunhofer-Gesellschaft 2017). Basierend auf künstlicher Intelligenz (KI) und Machine Learning existieren zudem vermehrt (kollaborative) Roboter sowie selbststeuernde Systeme, die einzelne industrielle Prozessschritte automatisiert unterstützen oder autonom durchführen können (vgl. z. B. Skilton und Hovsepian 2017). Entscheidend ist häufig, dass diese Systeme lernfähig sind und sich dadurch ständig weiterentwickeln. In der Folge können sie qualitativ und quantitativ mehr und mehr Tätigkeiten übernehmen, wodurch sich neue Fragen für die Organisation der Arbeitsteilung zwischen Mensch und automatisiertem System bzw. Roboter

1Vor

dem Hintergrund der zunehmenden Relevanz von Plattformen in der digitalen Welt wird häufig auch von Plattformökonomie gesprochen.

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in der Produktion ergeben. Welche Produktionsschritte übernimmt der Roboter, welche Produktionsschritte übernimmt der Mensch und wie erfolgen Interaktion und Steuerung dieses Zusammenwirkens? Dass sich gerade hier für die Arbeitswelt in einer zukünftigen Produktion erhebliche Auswirkungen abzeichnen, wird im nächsten Abschnitt diskutiert. Auch additive Fertigung wie insbesondere der 3D-Druck verändern etablierte Prozesse in der Produktion. Dies gilt insbesondere dann, wenn zum einen Technologie und Potenziale das Feld der Prototypentwicklung verlassen; zum anderen neue Rohstoffe zur Verfügung stehen, auf deren Basis bisher noch nicht druckbare Materialien dann in gleicher oder ähnlicher Qualität hergestellt werden können. Je mehr Materialien zukünftig durch 3D-Printing in vergleichbarer Qualität hergestellt werden können, desto mehr Potenziale eröffnen sich für Unternehmen, ihre Produktionsprozesse neu zu gestalten und einzelne Bauteile wieder selbst zu produzieren. So setzen beispielsweise Automobilunternehmen zunehmend 3D-Drucktechnologien ein, um additiv einzelne Bauteile zu produzieren (vgl. Nagel 2017). Voraussetzung für Vernetzung, den Einsatz selbststeuernder Systeme sowie additive Fertigung ist die Verfügbarkeit der erforderlichen (industriellen) Daten. Diese müssen erfasst und entsprechend analysiert bzw. ausgewertet werden – Themenfelder, die gegenwärtig intensiv im Zusammenhang mit Big Data mit den existierenden Methoden der Erfassung, der Analyse und der Vorhersage von Daten diskutiert werden (vgl. z. B. Fasel und Maier 2016; Picot et al. 2018). In Konsequenz all dieser Entwicklungen entsteht eine Industrie-4.0-Welt, in der mehr und mehr Prozesse, Maschinen, Produktionsmittel, Transportsysteme und Produkte auf der Basis entsprechender Systeme und Komponenten miteinander vernetzt sind. Intelligente Maschinen und Betriebsmittel erfassen Daten, tauschen sie untereinander aus, analysieren sie und steuern auf dieser Basis autonome Fertigungsschritte. Einzelne Produktionsprozesse können intelligent aufeinander reagieren, selbstständig Mitarbeiter informieren und in Entscheidungsprozesse einbeziehen; externe Wertschöpfungspartner und Ressourcen lassen sich problemorientiert integrieren. Diskutiert wird dies häufig auch als smarte Fabrik (Abb. 2). Vernetzung, autonome Systeme und additive Fertigung beeinflussen die industriellen Prozesse nicht nur – wie skizziert – direkt. Auch indirekt tangieren sie die Organisation und die Realisierung industrieller Produktionsprozesse, wenn Geschäftsmodelle und Strategien der Unternehmen weiterentwickelt oder neu ausgerichtet werden – wie dies an den oben schon angesprochenen Beispielen Klöckner und Trumpf deutlich wurde. Zu einer derartigen Transformation ihres Geschäftsmodells sind Unternehmen mehr und mehr gefordert, fragen ja gerade ihre Kunden, deren jeweilige Unternehmens-(B2B-) oder Lebenswelt (B2C-Bereich) ebenfalls stark durch digitale Technologien verändert wird, nach neuen Lösungen. Hierfür ihre bisherigen Geschäftsmodelle zu hinterfragen oder neu bzw. verändert zu definieren, wird für Unternehmen immer wichtiger. Sehen sie dies nicht selbst als Kernaufgabe der Zukunft, übernehmen möglicherweise andere, eventuell auch Branchenfremde, diese Rolle.

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Abb. 2   Vernetzte Fabriken in einer Industrie-4.0-Welt. (Quelle: acatech und Forschungsunion 2013, nach Hewlett Packard)

Gerade aber, wenn es darum geht, neue Services für Kunden anzubieten oder bisher primär physische Produktangebote kundenorientiert mit geeigneten Services zu verknüpfen, kommen Big-Data-Methoden – verknüpft mit Machine Learning und Sensorik – ins Spiel. Sie erlauben die Transformation klassischer Geschäftsmodelle zu digitalen, datenbasierten Geschäftsmodellen (vgl. Picot und Hopf 2014; Picot et al. 2018), indem sie diese ersetzen oder erweitern. Physische Produkte werden dabei mit intelligenten, datenbasierten Services verknüpft und neue, rein digitale Services bilden sich heraus. Im Zusammenhang hiermit wird mitunter auch von hybriden Produkten oder auch Smart Services gesprochen (vgl. acatech 2015a; Noll et al. 2016). All dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die existierenden Wertschöpfungsketten und -systeme, die die veränderten bzw. neuen Geschäftsmodelle realisieren. So muss beispielsweise ein Produzent klassischer Heizungssysteme zukünftig Sensorik- und Softwarepartner stärker in den Produktionsprozess integrieren, wenn die von ihm angebotene Heizung mit zusätzlichen Services wie Fernwartung oder Ausfallwarnung verknüpft werden soll. In der Folge entstehen branchenübergreifende Wertschöpfungsnetze. Sie lösen die in der ersten industriellen Revolution entstandenen und durch die weiteren industriellen Revolutionen optimierten, eher branchenbezogen organisierten Wertschöpfungsmodelle nach und nach ab. Dass all diese technologisch direkt oder indirekt bedingten Entwicklungen nicht ohne Auswirkungen auf die industrielle Arbeitswelt bleiben, steht außer Frage.

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2 Implikationen für die Arbeitswelt Insbesondere vier typische Charakteristika prägen die zukünftige Arbeitswelt einer Industrie 4.0: Modifizierte Arbeitswerkzeuge, Flexibilisierung von Ort und Zeit, veränderte Arbeitsteilung sowie die Automatisierung verschiedener Tätigkeiten.

2.1 Modifizierte Arbeitswerkzeuge Wie einführend schon skizziert, ändern sich zunächst Arbeitsgeräte und Tools in der industriellen Produktion. Klassische, eher analoge Werkzeuge werden zunehmend durch digitalisierte oder digitale Instrumente substituiert. Ein plastisches Beispiel hierfür ist der KFZ-Mechatroniker, der früher mit Schraubenschlüssel auf Fehlersuche gehen musste und heute digital unterstützte Diagnosegeräte nutzt, um die Fehlerstatistik aus dem Bordcomputer auszulesen (vgl. Sammet 2018). Ähnliche Beispiele sind der Einsatz von Tablets zur Steuerung und Kontrolle von Produktionsprozessen oder zur Wartung von Produktionsanlagen, der Einsatz von Drohnen zur Überwachung, die virtuelle Abbildung und Steuerung der Produktion in Echtzeit, der Einsatz von Virtual Reality zur Simulation realer Prozesse oder auch der Einsatz von Robotern, 3D-Druckern oder Automatisierungssystemen. Die Herausforderungen sind immens: Zum ersten muss der Einsatz all dieser (neuen) Technologien und Hilfsmittel in den zugrunde liegenden Produktionsprozessen ziel- und problemorientiert gestaltet werden; zum zweiten muss der souveräne Umgang mit ihnen erlernt werden und zum dritten ist es mit dem einmaligen Einsatz dieser Geräte nicht getan, die oben schon angesprochene Schnelligkeit der technologischen Entwicklungen erfordert eine kontinuierliche Offenheit und Bereitschaft, die Potenziale neuer Instrumente zu erkennen, sich mit ihnen auseinanderzusetzen und die Prozesse entsprechend anzupassen.

2.2 Flexibilisierung von Ort und Zeit Prinzipiell erlauben neue Technologien, Prozesse standort- und zeitunabhängig durchzuführen und zu steuern (vgl. Picot et al. 2008). In einer Industrie-4.0-Welt impliziert dies beispielsweise die standortunabhängige Steuerung und Durchführung von Produktionsprozessen per Laptop bzw. Tablet oder auch die Überwachung des aktuellen Zustands von Maschinen oder Produktionsprozessen per Fernwartung. Die digitalen Technologien lassen all dies prinzipiell zu. Entscheidend sind – neben der Notwendigkeit einer leistungsfähigen Infrastruktur als Basis – v. a. Fragen der Inhalte, Verantwortung und letztlich auch Haftung, die derartige flexible Arbeitsformen erlauben oder eben (noch) nicht zulassen. Gelingt die Verknüpfung dieser Potenziale digitaler Technologien mit neuartigen flexiblen Organisationsstrukturen, sind ganz neuartige Formen der Arbeit in Fabriken oder die Steuerung von Fabriken denkbar – Szenarien, die jetzt vielleicht

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noch eher Zukunftsmusik sind, zukünftig aber doch Relevanz haben könnten. Historisch betrachtet führt dies dazu, dass ein typisches Charakteristikum der ersten und zweiten industriellen Revolution revidiert wird: der Mensch muss sich nicht mehr in die Fabrik bewegen, um seine (Produktions-)Tätigkeiten durchführen zu können; die von ihm zu absolvierenden Tätigkeiten in der Fabrik kann er auch mobil abwickeln oder steuern. Gleiches gilt für Mitarbeiter in Verwaltungsfunktionen, die viele erforderliche administrative Tätigkeiten auch mobil abwickeln können. Im Vergleich zu mobilen Arbeitsformen in der Produktion ist dieser Aspekt weniger neu; er wird unter Schlagworten wie mobile Arbeit oder Homeoffice schon viele Jahre diskutiert.

2.3 Änderung der Arbeitsteilung Ein gemeinsames Merkmal lässt sich im Zusammenhang aller bisherigen industriellen Revolutionen erkennen: Die Art der Arbeitsteilung hat sich geändert. Dies lässt sich auch jetzt auf mehreren Ebenen beobachten: • Zwischen Unternehmen im Zuge der unternehmens- und branchenübergreifenden Vernetzung von Produktionsprozessen • Zwischen Menschen im Zuge neuartiger, flexibler Organisationsstrukturen wie z. B. agile Teams, Crowd Working oder virtuelle Unternehmen bzw. Teams • Zwischen Mensch und Maschine bzw. autonomen Systemen Je vernetzter Unternehmen zusammenarbeiten, je mehr datenbasierte Geschäftsmodelle entstehen und je mehr ehemals physische Produkte digitalisiert werden, desto wichtiger werden – wie oben schon kurz skizziert – Kooperationen mit branchenfremden Wertschöpfungspartnern. So erfordert beispielsweise die oben erwähnte Erstellung von hybriden Produkten oder Smart Services eine enge Zusammenarbeit mit denjenigen Kooperationspartnern, die die hierfür notwendigen technischen Komponenten (z. B. Sensoren oder Software) zur Realisierung zur Verfügung stellen. Gleichzeitig erleichtern digitale Technologien aber auch die Abwicklung existierender Kooperationen, da sie Kommunikations- und Koordinationsprozesse vereinfachen und medienbruchfrei gestalten lassen. Externe Kooperationspartner lassen sich dadurch einfacher in den Wertschöpfungsprozess integrieren. In der Folge lösen sich herkömmliche industrielle Strukturen auf; es entstehen Fabrikstrukturen, die eher als Systemhaus oder Plattform charakterisiert werden können. Wesentliches Kennzeichen ist die problem- und aufgabenorientierte Integration von Partnern in den Wertschöpfungsprozess (Abb. 3). Verstärkt zu beobachten sind dabei Formen der Coopetition. Sie entstehen dann, wenn Unternehmen an sich im Wettbewerb stehen, bei der Suche nach erforderlichen Ressourcen oder auch bei der Konfiguration geeigneter Kundenlösungen jedoch kooperativ zusammenarbeiten (vgl. Brandenburger und Nalebuff 1996). Aber auch die Zusammenarbeit innerhalb von Unternehmen ändert sich. An die Stelle der gerade für klassische Industrieunternehmen oft typischen hierarchischen Strukturen

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Abb. 3   Arbeitsteilung der Produktion im Wandel. (Quelle: Picot 2015a, in Anlehnung an acatech 2015a, b)

treten zum einen virtuelle und agile Teams, die standortverteilt und problemorientiert agieren. Klassische, meist fachbezogene Abteilungsgrenzen wie auch etablierte Informations- und Kommunikationsstrukturen wie z. B. der klassische Dienstweg verlieren dabei an Relevanz und lassen sich zunehmend durch fachübergreifende, vernetzte Formen der Zusammenarbeit und Interaktion ersetzen. Die schon oben skizzierte Möglichkeit, auf der Basis digitaler Technologien externe Kompetenzen flexibel einbeziehen zu können, erlaubt neue Formen des Out- und Crowdsourcing. Hier werden einzelne Aufgaben über Crowdsourcing-Plattformen einer Vielzahl von potenziellen Auftragnehmern zur Durchführung angeboten. Beispiele hierfür gibt es mittlerweile immer mehr. Sie reichen von der Vermittlung einzelner „microtasks“ (z. B. „clickworker“) über die Lösung komplexerer Probleme (z. B. „innocentive“ oder „innosabi“) bis hin zur Vermittlung komplexer On-demand-Services (z. B. „Upwork“ oder „myhammer“; vgl. Picot 2015b). In der Folge lassen sich verschiedene Arbeits- und Organisationsformen flexibel und modular in ein ganzheitliches Produktionskonzept integrieren. In der Literatur spricht man in diesem Zusammenhang von der sog. LEGO-Produktion (Abb. 4). Ein lokales Kernteam steuert und organisiert den gesamten Produktionsprozess auf der Basis unterschiedlicher organisatorischer Konzepte. Dadurch lassen sich verschiedene Aufgaben jeweils durch dasjenige Organisationsmodell durchführen, das sich für diese Art der Aufgabendurchführung als effizient erweist. Voraussetzung ist, dass die organisatorischen, technischen und personellen Schnittstellen so gestaltet sind, dass die zentrale Einbindung der dezentral abgewickelten Aufgaben möglich ist. Hierin liegt dann auch eine wesentliche Aufgabe des Kernteams. Auch an dieser Stelle wird deutlich: Sowohl inner- wie auch zwischenbetrieblich spielen Existenz und Einsatz von Plattformen eine entscheidende Rolle. Zwischenbetrieblich

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Abb. 4   LEGO-Produktion als neue Form der industriellen Arbeitsteilung. (Quelle: Picot 2015b; in Anlehnung an Dittberner 2015)

entwickeln sich – wie in Abb. 3 skizziert – durch Vernetzung und Flexibilisierung Fabriken zunehmend zu einer Art Plattform. Über diese Plattformen lassen sich dann nicht nur die Lieferanten, sondern auch Kunden verstärkt in den Produktionsprozess einbeziehen. Ausgestattet mit den erforderlichen 3D-Druckern oder weiteren NC-gestützten Werkzeugmaschinen wie auch den entsprechenden Daten könnte im Grunde jeder in der Lage sein, zu Hause oder in sog. Makerspaces und Fablabs die erforderlichen Komponenten zu produzieren. Erste Beispiele hierfür gibt es schon (Nagel 2017). So können sich z. B. die Kunden des von dem Start-up Sono Motors hergestellten Stromer Sion einzelne Ersatzteile selbst herstellen; die erforderlichen Daten werden vom Unternehmen lizenzfrei zur Verfügung gestellt. Zwei Tendenzen werden hier deutlich: Zum einen lösen sich die Grenzen zwischen Entwicklung, Herstellung und Nutzung von Produkten zunehmend auf. Zum anderen findet sich die v. a. aus dem Content-Bereich bekannte Rolle des Prosumers im Sinn eines gleichzeitigen Auftretens von Konsument und Produzent zunehmend auch in der industriellen Produktion. Ebenfalls unternehmensextern lassen sich – wie Abb. 4 verdeutlicht – Plattformen einsetzen, um einzelne Aufgabenpakete zu crowdsourcen – eine Entwicklung, die auch als crowdworking bezeichnet wird (vgl. z. B. Benner 2014; Vogl 2018). Unternehmensintern eingesetzt, lassen sich über Plattformen existierende Kompetenzen und Skills im Unternehmen problem- und aufgabenorientiert konfigurieren bzw. matchen. Voraussetzung ist die Erfassung und Analyse der erforderlichen Daten – ein Thema, das unter dem Schlagwort People Analytics zunehmend diskutiert wird. Durch derartige Plattformen entstehen einerseits neuartige Möglichkeiten für die Gestaltung der internen

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und externen Arbeitsteilung, da die verfügbaren Kompetenzen schneller und effizienter problem- und aufgabenorientiert konfiguriert werden können. Möglicherweise entstehen aber auch neuartige Konkurrenz- und Wettbewerbsstrukturen, die bisher eher weniger bekannt waren. So sehen sich unternehmensinterne Mitarbeiter nicht nur in Konkurrenz zu externen Crowdworkern, die bestimmte Tätigkeiten häufig kostengünstiger zur Verfügung stellen. Sie könnten sich auch in Konkurrenz zu internen Mitarbeitern und Kollegen sehen, wenn Kompetenzen zukünftig projekt- und problembezogen über eine Art Skill-Plattform konfiguriert werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn derartige Plattformen mit Tools zur gegenseitigen Bewertung verknüpft werden, wodurch die Transparenz über Kompetenzen und Leistungen noch höher wird. Diskutiert werden zudem auch Innovationsplattformen. Ziel ist hier die Entstehung innovativer Ideen, die Förderung des Austauschs vor und während der Ideenfindungsphase und/oder die Diskussion über näher zu verfolgende Ideen. Die Art der Arbeitsteilung ändert sich jedoch nicht nur zwischen Menschen; neue Formen der Kollaboration entstehen v. a. auch zwischen Mensch und Maschine sowie zwischen Maschine und Maschine. Das Spektrum der denkbaren Formen eines Zusammenwirkens ist groß: Es reicht von der Fremdsteuerung des Menschen durch Abbildung, Überwachung und Steuerung menschlicher Tätigkeiten auf der Basis von Sensoren und Vernetzung bis hin zu einer eher kollegialen Zusammenarbeit. Übernimmt der Roboter auf der einen Seite eher die Rolle des Chefs, der den Mitarbeiter an einer Art elektronischen Leine führt (vgl. Picot 2016), stellt er auf der anderen Seite eher den Kollegen dar, mit dem sich neuartige Formen der Interaktion und Zusammenarbeit zukünftig entwickeln werden. Zum Teil sind dies noch Zukunftsszenarien, da die meisten Roboter gegenwärtig noch eher in Käfigen abgetrennt von den übrigen Produktionsprozessen agieren. Zukünftig wird dies anders sein; mit Sensoren ausgestattete Roboter können immer besser mit Menschen zusammenarbeiten; selbstlernende Computerprogramme ermöglichen zudem, dass Roboter zunehmend selbstständige Aufgaben übernehmen können. Je mehr derartige Roboter und selbststeuernde Systeme zur Unterstützung und zur Abwicklung von Produktionsprozessen eingesetzt werden, desto wichtiger werden die Gestaltung der Interaktion und Zusammenarbeit der Systeme untereinander sowie der Systeme und Menschen. Dies betrifft zum einen die Frage, welche Tätigkeiten der Roboter bzw. das System übernehmen soll und welche Tätigkeiten der Mensch übernehmen kann und soll. Zum anderen stellt sich die Frage, wie die Interaktion und Zusammenarbeit zwischen beiden organisatorisch gestaltet werden kann und wer steuert – der Mensch oder der Roboter. Interessant wird dies insbesondere dann, wenn selbstlernende Roboter zum Einsatz kommen, die während der Interaktion vom Menschen den Ablauf bestimmter Tätigkeiten lernen sollen. Interaktion und Zusammenarbeit zwischen Mensch und (kollaborativem) Roboter stellen insbesondere an Führungskräfte neuartige Anforderungen. Möglicherweise müssen sie zukünftig mehr und mehr Teams aus Menschen und selbststeuernden Systemen bzw. Robotern führen und dabei auch entscheiden, welche Tätigkeiten von welchen

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Kompetenzen (Mensch oder Maschine) übernommen werden. Historisch betrachtet ist auch diese Entwicklung an sich nicht neu – so ging es in jeder industriellen Revolution letztlich um die Gestaltung der zukünftigen Zusammenarbeit und Kompetenzverteilung zwischen Mensch und Maschine. Neu ist jetzt vielleicht, dass automatisierte bzw. autonome Maschinen lernfähig sind und dadurch den Abwicklungs- und Interaktionsprozess ständig verbessern können. Die Zusammenarbeit mit autonomen, lernenden Systemen und Robotern stellt dadurch das schon lange existierende Zusammenwirken zwischen Mensch und Maschine auf eine neue Stufe. Bisher hatte der Mensch die weitgehende Kontrolle über diejenigen Maschinen, die er zur Unterstützung seiner Aktivitäten einsetzte. Zukünftig interagiert er mit Systemen, die ihn nicht nur unterstützen, sie lernen auch aus seinem Verhalten oder von anderen Robotern, verändern dadurch Interaktion und Durchführung und üben autonom die Kontrolle über ihre Prozesse aus. All dies stellt neuartige Herausforderungen an Umgang, Nutzung und Selbstverständnis, die erst erworben werden müssen. Zum anderen wirft es die Frage auf, wer – Mensch oder Roboter – kann und soll welche Kompetenzen in den Produktionsprozess einbringen, und wie verschiebt sich dies möglicherweise im Zuge neuer KI-Entwicklungen? Letztlich besteht die große Chance einer Industrie-4.0-geprägten Arbeitswelt darin, menschliche Intelligenz und menschliche Stärken sinnvoll mit Maschinenintelligenz und maschinellen Stärken so zu verknüpfen, dass der Mensch von Tätigkeiten, die mühsam und kräftezehrend sind oder die in schwierigen Arbeitsumgebungen stattfinden, entlastet wird. Gleichzeitig macht es wenig Sinn, den Roboter einzusetzen und möglicherweise in langandauernden Prozessen und unter Einbezug aller Eventualitäten zu programmieren, wenn der Mensch durch seine Intelligenz und Beurteilungskraft (noch) sehr viel schneller den Überblick gewinnt und die Situation beurteilen kann. Gelingt eine derartige Form der Arbeitsteilung, werden Strukturen entstehen, in denen Roboter die Abwicklung strukturierter und automatisierbarer Prozesse übernehmen. Gleichzeitig sind sie mit anderen Robotern vernetzt, um durchgängige Arbeitsprozesse realisieren zu können und zu lernen – entweder direkt durch die Abwicklung ihrer Prozesse oder aber indirekt durch die Vernetzung mit der Cloud, in der andere Roboter ihre Erfahrungen zur Verfügung stellen. Sind Problemorientierung, flexibles, kreatives Problemlösen oder schnelles Reagieren auf sich plötzlich verändernde Umstände gefragt, wird der Mensch in die Abwicklungsprozesse integriert.

2.4 Automatisierung Im letzten Abschnitt wurde schon deutlich: Neue Technologien lassen sich prinzipiell optional einsetzen – die menschliche Arbeit ersetzend oder ergänzend. Je mehr die Substituierung menschlicher Arbeit durch Industrie-4.0-Technologien erfolgt, desto stärker kommt es zu den gegenwärtig häufig diskutierten Automatisierungseffekten. Die Potenziale hierfür sind da – sind ja gerade in der Produktion eine Vielzahl von Prozessen standardisier- und damit automatisierbar. Wie viele Arbeitsplätze tatsächlich hiervon

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betroffen sind, wird in verschiedenen Studien unterschiedlich angegeben. Sie reichen von der häufig zitierten Oxford-Studie von Frey und Osborne (Frey und Osborne 2013), die von einem Automatisierungspotenzial in Höhe von 47 % ausgeht, eine OECD-Studie, die – bezogen auf 21 OECD-Länder – davon ausgeht, dass etwa 9 % der Jobs automatisiert werden (Arntz et al. 2016) sowie der McKinsey-Report aus dem Jahr 2017, nach dem bis zum Jahr 2030 etwa 400 bis 800 Mio. Jobs weltweit automatisiert werden können (vgl. McKinsey Global Institute 2017). So unterschiedlich die Studien sind, so verschieden sind auch die zugrunde gelegten Annahmen und Methoden, die häufig auch von den jetzigen Gegebenheiten ausgehen und vielleicht zu wenig berücksichtigen (können), welche neuen Jobs und Berufe v. a. durch innovative Geschäftsmodelle entstehen werden. Mehr oder weniger exakte Prognosen darüber zu stellen, wie viele Jobs tatsächlich automatisiert werden, ist daher schwierig.2 Anzunehmen ist jedoch, dass • in vielen Berufen einzelne oder mehrere Tätigkeiten automatisiert werden. Der Automatisierungsgrad dürfte sehr unterschiedlich sein – so liegt nach einer aktuellen MHP-Studie das Automatisierungsrisiko bei Monteuren bei etwa 86 %, bei technischen Sachbearbeitern in der Produktion bei etwa 94 % und bei Lagerarbeitern bei 57 %, während das Automatisierungsrisiko bei Projektleitern lediglich bei 1,4 % und bei Entwicklungs- und Produktionsingenieuren bei etwa 3,4 % liegt (vgl. MHP 2017); • durch digitale Technologien und die dadurch entstehenden innovativen Geschäftsmodelle eine Vielzahl neuer Jobs und Tätigkeiten entstehen wird, die bisher noch nicht bekannt sind. So hätte vor nicht allzu langer Zeit keiner daran gedacht, wie wichtig beispielsweise Data-Scientisten, Scrum-Master oder Cloud-Architekten werden – auch in der Produktion; • es auch zukünftig Tätigkeiten geben wird, bei denen der Mensch wohl besser sein wird als Maschinen. Zu nennen sind insbesondere Kreativität, Urteilsfähigkeit, soziale und kommunikative Skills oder auch die Kompetenz, sich auf sein Gegenüber in Verhandlungen und Kommunikationssituationen einzustellen. Historisch ist diese Entwicklung nicht unbedingt neu; jede technologische Innovation hat zu einer Substitution existierender Arbeitsplätze geführt – sowohl direkt wie auch indirekt. So hat die „Spinning Jenny“ zu einer Substitution der klassischen Spinner-Berufe geführt; die erstarkende Automobilindustrie hat nicht nur zu einem – naheliegenden – Wegfall des Jobs des Kutschers geführt. Auch der Anbau und der Verkauf von Weizen als Futtermittel für die Pferde waren nicht mehr in gleichem Maß erforderlich wie in der Vor-Automobil-Zeit, sodass auch in der Landwirtschaft Arbeitsplätze wegfielen. Mit vergleichbaren direkten und indirekten Konsequenzen der jetzigen Automatisierungswelle ist zu rechnen, wenn industrielle Prozesse sich zunehmend vernetzen und automatisiert werden. Herkömmliche Tätigkeiten werden weniger gebraucht bzw.

2Vgl.

hierzu auch die Gegenüberstellung mehrerer Studien in Winick (2018).

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verschwinden ganz; neuartige Tätigkeitsfelder und Berufe werden entstehen. Gleichzeitig ist erkennbar, dass sich das Tätigkeitsfeld ändern wird: Vormals ausführende Tätigkeiten wandeln sich mehr und mehr zu Steuerungs- und Überwachungstätigkeiten, deren Eingreifen nur noch erforderlich ist, wenn Störungen auftreten. Für die betroffenen Mitarbeiter bedeutet dies, dass sie v. a. sehr schnell reagieren müssen, um auftretende Probleme handhaben zu können. Der Anteil dieser Tätigkeiten steigt, je mehr Industrieprozesse automatisiert werden. Parallel steigt auch der Anteil derjenigen Tätigkeiten, die sich mit der Entwicklung, dem Einsatz und der Wartung der vernetzten Maschinen sowie den Automatisierungstechnologien befassen. Gerade im Zusammenhang mit KI, Machine Learning und automatisierten bzw. autonomen Systemen entstehen hier zukünftig viele neue Tätigkeiten und Jobs. Aktuelle Studien zeigen, dass sich – quantitativ betrachtet – Wegfall und Zuwachs an Tätigkeiten die Waage halten oder sogar mehr neue Jobs entstehen könnten als alte wegfallen. Erkennbar – und letztlich auch vor dem Hintergrund der Historie zu erwarten – ist auch, dass sich die Tätigkeiten generell wandeln; weg von eher manuellen, repetitiven Aktivitäten hin zu vermehrt nicht repetitiven, kognitiven Tätigkeiten. Dies liegt nahe, lassen sich ja gerade viele manuelle und repetitive Verhaltensweisen durch Roboter und automatisierte Systeme abbilden. Spannend wird, wie sich dieser Wandel weiterentwickeln wird: Wird es neue repetitive und manuelle Verrichtungen z. B. bei und durch die Nutzung der Roboter geben, die von Menschen auch zukünftig durchzuführen sind? Denn auch dies lehrt die Historie: Manuelle Aufgaben, wie z. B. das Pflügen, wurden durch Maschinen übernommen; andersartige manuelle Aufgaben wie z. B. die Wartung oder die Reparatur dieser Geräte wurden notwendig. Gleichzeitig stellt sich die Frage, ob die jetzt häufig dem Menschen zugeordneten kognitiven, geistig anspruchsvollen wie auch kommunikativen und emotional-empathischen Tätigkeiten zunehmend durch KI übernommen werden können und welche Nische für humane Arbeitskraft dann noch in der Produktionswelt bleibt? Je smarter die Fabriken werden und je mehr Roboter zum Einsatz kommen, desto stärker verlagert sich die menschliche Produktionsarbeit auf die Steuerung und Überwachung der Produktion oder auf ganz andere Aktivitäten außerhalb der Produktion. Doch – unabhängig, in welche Richtung sich Jobs und Tätigkeitsfelder zukünftig entwickeln werden – die hierfür erforderlichen Kompetenzen werden andere sein als die für die bisherigen Tätigkeiten (Zika et al. 2018).

3 Neue Anforderungen an Mitarbeiter und Führungskräfte Erforderlich sind – neben dem ohnehin erforderlichen spezifischen Fachwissen – zunächst Kompetenzen im Umgang mit den neuen Technologien. Dies ist unabhängig davon, welche Technologien konkret zum Einsatz kommen, ob IoT, cyber-physische Systeme, additive Fertigungsverfahren, Big-Data-Technologien, Augmented Reality – all diese Technologien und Konzepte sollten zumindest prinzipiell beherrscht, deren Einsatzmöglichkeiten verstanden und mit dem jeweiligen Fach- und Prozess-Know-how verknüpft

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werden können. Hier stellen sich an die Grundbildung in Medien- und MINT-Kompetenzen in Schulen; insbesondere aber auch an die Ausbildung, neuartige Anforderungen. Je mehr neue Technologien kontext- und problembezogen in Ausbildungsunternehmen eingesetzt werden, desto besser sind zukünftige Fachkräfte darauf vorbereitet. Gleichzeitig muss allen bewusst sein: die rasanten technologischen Entwicklungen erfordern v. a. auch die Kompetenz, sich jederzeit auf sich verändernde oder neue Technologien flexibel einzulassen und bereit zu sein, dazu zu lernen. Um zu verstehen, wie digitale Technologien Geschäftsmodelle ändern und welche Rolle hierbei v. a. Big-Data-Technologien spielen, sind zudem übergreifende Digitalisierungskompetenzen wie insbesondere das Verstehen einer vernetzten Industrie4.0-Welt, der Funktionsweise von Plattformen, der Transformation von Geschäftsmodellen wichtig. Ergänzend um grundlegende Kenntnisse in Big Data, wie z. B. Interpretation und Analyse von Daten, stellen sie eine wichtige Voraussetzung für das Agieren in einer Industrie-4.0-Arbeitswelt dar. Die oben angesprochenen flexiblen Arbeitsformen bedingen v. a. persönliche Kompetenzen wie Selbstverantwortung und Selbstmanagement sowie eine andere Form der Führungskultur, die Vertrauen und Ergebnisorientierung an die Stelle der klassischen Kontroll- und Präsenzkultur stellt. Setzen sich derartige Konzepte zunehmend durch, verstärken sie nochmals den Veränderungsdruck auf die klassisch-industriell geprägte, arbeitsteilig und eher hierarchisch geprägte Führungs- und Organisationskultur und führen letztlich auch dadurch zu einer Transformation der Arbeitswelt. Die unter Punkt 2 skizzierten neuartigen Formen der Zusammenarbeit erfordern insbesondere kooperative und soziale Kompetenzen. So stellen z. B. agile und virtuelle Teams neuartige Anforderungen an Teamfähigkeit, an Kommunikation, an Konfliktfähigkeit, aber auch an Führung und Steuerung. Dies gilt für agile Teams, die primär durch Selbstverantwortung ohne explizite Führung charakterisiert sind, in gleicher Weise wie für virtuelle Teams, die v. a. durch standortverteilte Führung geprägt sind – alles Anforderungen, die in der klassischen industriellen Arbeitswelt nicht unbedingt so stark gefordert wurden. Eine bisher weniger bekannte Interaktions- und Kooperationsfähigkeit wird durch die zukünftig zunehmend erforderliche Kooperation und Interaktion mit Robotern bzw. autonomen Systemen gefordert. Die Frage, wer welche Aufgaben übernimmt; wie Mensch und Maschinen miteinander agieren, wie mit einem Roboter interagiert wird und wie die Steuerung dieser Prozesse seitens der Führungskräfte erfolgt, stellt sich neu und erfordert veränderte Fähigkeiten. Hier sind Mitarbeiter und Führungskräfte gleichsam gefordert. Schließlich zeigen die skizzierten Automatisierungseffekte, dass automatisierbare, reproduzierbare Kompetenzen weniger wichtiger, weniger gut automatisierbare Fähigkeiten wie Beurteilungskraft, Empathie, Kreativität und Innovationsfähigkeit hingegen immer wichtiger werden. Den Erwerb dieser übergreifenden Metakompetenzen in allen Bildungssystemen zu fördern und zu unterstützen, ist eine wichtige Voraussetzung, um für die Arbeitswelt in einer Industrie 4.0 vorbereitet zu sein (MÜNCHNER KREIS 2016).

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Abb. 5   Erforderliche Kompetenzen in der Industrie 4.0. (Quelle: Picot 2015b)

Dies erfordert nicht nur die inhaltliche und methodische Anpassung und Ergänzung relevanter Schul- und Ausbildungssysteme. Notwendig ist v. a. auch die Öffnung existierender, hierarchischer Strukturen in Richtung kreativer Experimentierräume, um innovatives Denken und Kreativität zuzulassen. Dies gilt nicht nur für diejenigen, die sich an veränderte Arbeitsbedingungen in einer Industrie-4.0-Welt anpassen müssen. Dies gilt auch für diejenigen, die beispielsweise neue/veränderte Berufsbilder und hierfür angepasste Ausbildungsgänge entwickeln müssen. Zusammenfassend zeigt sich: Digitalisierung und Vernetzung sowie dadurch ausgelöste Veränderungen in der industriellen Arbeitswelt benötigen neuartige bzw. weiterentwickelte Kompetenzen auf unterschiedlichen Ebenen. Abb. 5 fasst die verschiedenen Kompetenzfelder nochmals zusammen. Letztlich gelten sie für alle: für Angestellte, Crowdworker, Freelancer und Führungskräfte wie auch letztlich für diejenigen, die die industrielle Arbeitswelt 4.0 gestalten und weiterentwickeln.

4 Ausblick Digitalisierung und Vernetzung verändern die durch die erste industrielle Revolution primär geprägte Organisation und Abwicklung industrieller Produktionsprozesse z. T. gravierend. An die Stelle stark arbeitsteiliger, hierarchisch organisierter Prozesse treten sowohl technologisch wie auch organisatorisch vernetzte Wertschöpfungsnetze oder -systeme. Deren Akteure sind nicht nur mit neuartigen, digitalen Technologien konfrontiert; sie müssen sich auch mit veränderten Formen der Zusammenarbeit sowie der Interaktion mit Menschen und Maschinen auseinandersetzen. Im Zuge dessen sind

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unterschiedliche Szenarien für die zukünftige Entwicklung von Arbeitsinhalt, Arbeitsteilung oder Aufgabenzuordnung in einer Industrie 4.0 denkbar (vgl. z. T. Picot 2016; Sattelberger 2018): • Selbstbestimmter Beschäftigter, Produktions- oder Projektleiter auf der Basis digitaler Technologien in Verknüpfung mit flexiblen, zeit- und ortsunabhängigen Arbeitsmodellen • „Feuerwehr“, d. h. Beobachter automatisierter bzw. autonomer Prozesse, um bei Problemen einzugreifen • Gestalter der zukünftigen Produktions- und Arbeitswelt durch Entwicklung, Programmierung und Anpassung vernetzter Systeme und datenbasierter Lösungen, ihres Einsatzes sowie durch Qualifikation der Roboter • Problemlöser  auf mehreren Ebenen (Kundenbeziehungen, Geschäftsmodelle, Produktionsprozesse, Interaktions-, Team- und Kooperationsprozesse etc.) • Ausführender in neu entstehenden Tätigkeitsfeldern, die z. T. bisher noch nicht bekannt oder absehbar sind und möglicherweise auch auf Technologien basieren, die noch nicht bekannt sind • Eher fremdgesteuerter Ausführender auf Basis einer Art elektronischen Leine, durch die die Abbildung, Überwachung und Steuerung menschlicher Tätigkeiten auf der Basis von Sensoren und vernetzten Systemen erfolgt • Crowdworker, der problemorientiert in Produktionsprozesse einbezogen wird • Automatisiert zugeordneter Mitarbeiter von Teams auf der Basis von internen Plattformen, People Analytics und veränderten Konkurrenzbedingungen unternehmensintern • Kollege von Robotern bzw. autonomen Systemen in Team- oder Produktionsprozessen Die Liste an Szenarien ließe sich sicherlich weiter fortführen. Durchaus auch, um das Szenario, dass es in der zukünftigen Arbeitswelt einer Industrie 4.0 gar keine Arbeitsplätze mehr gibt, da Roboter und autonome Systeme sämtliche anfallenden Tätigkeiten übernommen haben und auf der Basis von Blockchain Vereinbarungen getroffen werden, finanzielle Transaktionen durchgeführt werden und die zentralen Steuerungsprozesse erfolgen, sodass sich immer mehr Menschen gänzlich neu orientieren müssen. Letztlich verdeutlichen all diese und sicherlich weitere Szenarien nochmals, dass die Veränderungen möglicherweise einschneidend sind, da sie die aus der ersten industriellen Revolution bekannten Formen der Arbeitsorganisation stark verändern. Gleichzeitig wird deutlich, wie wichtig es ist, die Betroffenen auf diese Entwicklungen vorzubereiten. Denn – unabhängig davon, wie und in welcher Form die skizzierten Szenarien eintreten werden – die zukünftige Arbeitswelt einer Industrie 4.0 erfordert ein weiterentwickeltes Kompetenzprofil. Dies betrifft v. a. die Eigenschaften, in denen der Mensch (noch) stärker ist als autonome Systeme bzw. Maschinen wie insbesondere Kreativität, Innovationsfähigkeit, Empathie und Beurteilungsvermögen. Für ihre Stärkung sind existierende Aus- und Weiterbildungssysteme anzupassen und v. a. offener und vernetzter zu

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gestalten. Denn auch diese Strukturen sind noch zu stark auf die klassische, industrielle Arbeitswelt zugeschnitten. Dies gilt sicherlich auch für weitere Rahmenbedingungen wie z. B. Mitbestimmung, Rechnungslegung oder auch Fragen der Führungs- und Unternehmenskultur. Die durch die erste industrielle Revolution entstandenen institutionellen Strukturen prägen das Denken und Handeln in der vierten Revolution möglicherweise stärker als dies erforderlich oder auch sinnvoll erscheint. In der Folge werden manche Entwicklungen aus einer Perspektive beurteilt, die früher stimmig war, im Zeitalter der vierten industriellen Revolution vielleicht nicht mehr so passend erscheint. Hier ist v. a. die (interdisziplinäre) Forschung gefragt, sich zum einen auch weiterhin mit den auch hier skizzierten technisch-organisatorischen Fragen der zukünftigen Produktionsarbeit auseinanderzusetzen. Zum anderen ist aber möglichst aus einer pfadunabhängigen Perspektive zu thematisieren, wie es gelingen kann, existierende Strukturen und Regularien auf eine durch Industrie 4.0 geprägte Produktionswelt anzupassen und den Change zu einer digitalen Arbeits- und Produktionskultur mit veränderten Arbeitsprozessen, neuen Formen der Arbeitsteilung sowie veränderten Kompetenzen zu realisieren.

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Dr. Rahild Neuburger ist Akademische Oberrätin an der Fakultät für Betriebswirtschaft der LMU München. Näher beschäftigt sie sich mit Zukunft der Arbeit und Bildung in der digitalen Welt, neuartigen Organisations- und Führungskonzepten, Big Data und Change Management.

Bestimmung der digitalen Fitness in der produzierenden Industrie Roland Willmann

1 Problemstellung Auch in strukturschwachen Regionen gibt es Unternehmen der produzierenden Industrie, die aufgrund der Innovationskraft ihrer Mitarbeiter erfolgreich am Markt sind. Häufig können sich diese Unternehmen in Nischen behaupten. Jedoch haben diese oftmals kleinen oder mittleren Unternehmen (KMU) einen starken Nachholbedarf in Bezug auf die digitale Transformation. Die unterdurchschnittliche Digitalisierung hat Ursachen. So geben befragte Unternehmer der Region mangelndes Wissen über die Möglichkeiten zur Digitalisierung, mangelndes Umsetzungswissen, fehlende Ressourcen – personell oder finanziell – als Gründe dafür an, warum entsprechende Schritte bisher nicht gesetzt wurden. Als These wird davon ausgegangen, dass KMU in strukturschwachen Regionen im Allgemeinen vor diesen Herausforderungen zur Umsetzung einer digitalen Transformation stehen. Im Rahmen eines mehrjährigen Projekts, das Grundlage der vorliegenden Fallstudie ist, sollen folgende Fragen beantwortet und entsprechende Ziele erreicht werden: 1. Wie kann die digitale Transformation der produzierenden Industrie in einer strukturschwachen Region zur Unterstützung der regionalen Stärken umgesetzt werden? 2. Welches Vorgehensmodell unterstützt die digitale Transformation der einzelnen teilnehmenden Unternehmen? Ausgangspunkt ist ein ganzheitliches Vorgehensmodell, das zunächst die digitale Fitness der Unternehmen bestimmt, darauf aufbauend eine Strategie-Roadmap zur Erlangung R. Willmann ()  Treffen am Ossiacher See, Österreich E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_25

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der digitalen Fitness (Maßnahmen der unternehmerischen Gestaltung) und in der Folge eine Strategie-Roadmap für eine individuelle, digitale Transformation der einzelnen Unternehmen definiert. Synergien zwischen Unternehmen werden ergänzend als Grundlage unternehmensübergreifender (überbetrieblicher) Strategie-Roadmaps verwendet. Begleitet wird dieses Vorgehen von abgestimmten Qualifizierungsmaßnahmen für die Mitarbeiter der Unternehmen.

2 Vorgehen Im Wesentlichen kann das Vorgehen in die Phasen Akquisition, Standortbestimmung, Roadmap-Definition und Qualifizierung (Umsetzungsvorbereitung) und Roadmap-­ Umsetzung gegliedert werden (Abb. 1). Nicht zu vernachlässigen ist die Phase der Akquisition. Es gilt, jene regionalen produzierenden Unternehmen zu gewinnen, die sich in diesem mehrjährigen Transferprojekt aktiv einbringen wollen. Für die konkrete Fallstudie wurde ein regionales Förderprojekt aufgesetzt (Kärntner Wirtschaftsförderungsfonds 2017), das gemeinsame Qualifizierungsvorhaben, einschließlich darauf aufbauender Transferprojekte, auch finanziell unterstützt. Diesem Förderprojekt voran gingen verschiedene strukturierte Aktionen im Rahmen von Vereinen und Standesvertretungen der Industrie. Auch diese Aktionen werden zur Akquisitionsphase gezählt. Ziel dieser Aktionen ist die Sensibilisierung der Unternehmer für das Thema der digitalen Transformation. Die digitale Transformation dient keinem Selbstzweck! Daher ist die Bestimmung der Bedürfnisse der Unternehmer in der Region der Ausgangspunkt aller diesbezüglichen Überlegungen. Die Standortbestimmung erfolgte für das konkrete Beispiel mit über 20 repräsentativen Unternehmen der Region. Als Hilfsmittel dafür wurde ein Bewertungsbogen verwendet, der im Vorfeld entwickelt wurde. Dieser wird im Rahmen der nachfolgenden Abschnitte ebenso vorgestellt.

Abb. 1   Phasenmodell für das Vorgehen. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Die Umsetzungsvorbereitung gliedert sich in die Definition der Roadmaps für die einzelnen Unternehmen sowie die Definition einer unternehmensübergreifenden Roadmap. Darüber hinaus werden Qualifizierungsmaßnahmen angeboten, die, an die ermittelten Bedürfnisse der Unternehmen angepasst, die zentralen Themen der digitalen Transformation adressieren. Als diese zentralen Themen werden • die agile Gestaltung der Produktionssysteme und der Lieferkette, • die Nutzung von Informationen zur Unternehmenssteuerung aus gesammelten Betriebsdaten, • die Implementierung intelligenter und vernetzter Produktionsprozesse und Lieferketten, • die Entwicklung intelligenter und vernetzter Produkte sowie • die Implementierung digitaler Geschäftsmodelle betrachtet. Das Vorgehensmodell wurde im Rahmen einer Fallstudie mit etwa 20 involvierten Unternehmen des Bundeslands Kärnten in Österreich umgesetzt.

3 Die Bestimmung der Bedürfnisse Ein adäquater Ansatz zur Bestimmung der gemeinsamen Bedürfnisse mehrerer Unternehmen der Region ist ein moderierter Workshop bzw. eine Reihe solcher Workshops. In diesem Rahmen können die teilnehmenden Unternehmen reflektieren, warum bestimmte Maßnahmen in Richtung einer digitalen Transformation noch nicht stattgefunden haben. Oft sind die Ursachen in Enttäuschungen aufgrund mangelhaft durchgeführter Digitalisierungsprojekte in der Vergangenheit zu finden. Auch die fehlende Vision infolge fehlenden Wissens über die Möglichkeiten digitaler Technologien ist in diesem Zusammenhang eine Ursache. Dieser Mangel an Wissen ist häufig auch mit fehlender Kompetenz zur Projektumsetzung und der Skepsis über die Effektivität von Digitalisierungsprojekten gepaart. Digitalisierungsvorhaben müssen bei Unternehmen in einer strukturschwachen Region mit geringen Budgets auskommen und unmittelbar nutzenstiftend sein. Im Rahmen der Fallstudie wurden zwei Workshops durchgeführt, um die Bedürfnisse der regionalen Unternehmen zu ermitteln. Die zentralen drei Fragestellungen dieser Workshops waren: 1. Welche Themen sollen im Rahmen eines überbetrieblichen Erfahrungsaustauschs adressiert werden? 2. Welche Themen sollen im Rahmen von Qualifizierungsmaßnahmen adressiert ­werden? 3. Welche zentrale Herausforderung der digitalen Transformation soll mit primärem Fokus adressiert werden?

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Im Zusammenhang mit der Frage 1 wurden das Wissen über Förderprojekte, Best Practices, das Potenzial von digitalen Geschäftsmodellen und der Nutzbarkeit von Unternehmensdaten, Erfahrungen mit der innerbetrieblichen Kommunikation in Verbindung mit Digitalisierungsprojekten, die Anwendung der Simulation für die Optimierung von Produktionssystemen, Möglichkeiten der Steigerung der Fertigungseffizienz (Ausbeuten), Wissenstransfer über die Umsetzung von Digitalisierungsprojekten – bevorzugt auf der Basis einer nicht näher bestimmten Problemlösungsplattform – genannt. Die Beantwortung der Frage 2 hebt die Notwendigkeit hervor, systematisches Vorgehen und Methodenwissen zu schulen, mit dem Ziel, prozessübergreifendes Denken und die Nutzung von Prozesswissen bei der Formulierung von Anforderungen einer digitalen Transformation sicherzustellen. Ebenso sollen dadurch das Verständnis für den prozessübergreifenden Zusammenhang von Daten, die Fähigkeit zur Analyse dieser Daten und damit zur Optimierung von Prozessen und Produkten vermittelt werden. Darüber hinaus soll Wissen über den Status und die Einsetzbarkeit digitaler Technologien entlang der Automatisierungspyramide transferiert werden. Die Beantwortung der Frage 3 kann man unter dem Titel „Verbesserung der Wandlungsfähigkeit im Produktionssystem und entlang der Lieferkette“ zusammenfassen, also mit der Umsetzung von Maßnahmen zur Verbesserung der Fähigkeit der Unternehmen, sich an unvorhersehbare Veränderungen des Umfelds anzupassen. Am Beginn der digitalen Transformation steht also nicht die theoretische Vision des, durch digitale Technologien Machbaren, sondern das Auslösen von Begeisterung bei den eigentlich betroffenen Unternehmern. Zentral ist dabei deren Überzeugung von einer wirtschaftlichen Verbesserung gegenüber dem Status quo und einer mittelfristigen bis kurzfristigen Perspektive bei der Umsetzung der Vorhaben. Aus diesem Grund ist der erste Schritt eben die zuvor beschriebene Systematisierung und Dokumentation der Bedürfnisse dieser betroffenen Unternehmen der Region.

4 Die Standortbestimmung mithilfe von Bewertungswerkzeug Der Bestimmung der Bedürfnisse folgt die Bestimmung des aktuellen Status quo. Dem methodischen Vorgehen, wie es hier beschrieben wird, stehen zentrale Prinzipien zugrunde, die wie folgt formuliert werden: 1. Die Entwicklung geeigneter, organisatorischer Rahmenbedingungen im Unternehmen, die sich an dessen strategischer Ausrichtung orientieren, ist die Voraussetzung für dessen effektive digitale Transformation. 2. Digitale Technologien sind ausschließliche Werkzeuge zur Unterstützung dieser organisatorischen Rahmenbedingungen. 3. Die Implementierung der digitalen Technologien im Unternehmen erfolgt auf der Grundlage von wirtschaftlichen Betrachtungen.

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Aufgrund des ersten Prinzips wird die organisatorische Aufstellung eines Unternehmens in Bezug auf dessen primäre strategische Zielsetzung und jedenfalls auch in Bezug auf dessen Wandlungsfähigkeit (Agilität) betrachtet. Entsprechend dem zweiten Prinzip müssen digitale Technologien die primäre Zielsetzung im Unternehmen und dessen Agilität unterstützen. Das dritte Prinzip fordert die Finanzierbarkeit der einzelnen Maßnahmen entlang einer entsprechenden Zeitachse und auf der Basis von Einzelmaßnahmen, die für das jeweilige Unternehmen finanziell überschaubar sind. Unter Berücksichtigung dieser Prinzipien wurde zunächst ein Bewertungswerkzeug („digital assessment“) entwickelt, das in der Folge erläutert wird. In Zusammenarbeit mit 20 repräsentativen Unternehmen der Region wurde dieses Werkzeug angewandt. Die Ergebnisse und Erkenntnisse daraus werden ebenfalls in den nachfolgenden Abschnitten beschrieben. Das Bewertungswerkzeug ist das Kernstück der Initiative „digital fitness“. Diese Initiative hat das Ziel, zunächst die Erfüllung des ersten Prinzips sicherzustellen. Es soll durch diese Initiative also das organisatorische Umfeld in den Unternehmen geschaffen werden. Das Bewertungswerkzeug hat die Zielsetzung, folgende Aspekte festzustellen: • Potenzial für intelligente, vernetzte Produkte bzw. für intelligente, vernetzte Produktionsprozesse • Grad der Erfüllung der digitalen Fitness (erstes Prinzip) Die Entwicklung des Bewertungswerkzeugs erfolgte für die Potenzialbestimmung auf der Grundlage von Affenzeller et al. (2018) bzw. für die Bestimmung der digitalen Fitness auf der Grundlage der Arbeit von Grün (2016), die für den Zweck der Erfüllung der Zielsetzung erweitert und adaptiert wurden. Entsprechend der Abb. 2 gibt es bezüglich der digitalen Fitness und damit der Erfüllung des ersten  Prinzips drei zentrale Einflussgrößen auf das Design des Bewertungswerkzeugs. Dazu zählen das Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 (BITKOM e. V. et al. 2015, S. 41–46), das Wirkmodell der Wandlungsbefähiger von Heinen et al. (2008, S. 30) sowie die Betrachtung der individuellen Bedürfnisse jedes Unternehmens auf der Grundlage der Erhebungen von Kinkel und Maloca (2010, S. 2–4). Das Referenzarchitekturmodell Industrie 4.0 liefert den organisatorischen R ­ ahmen für die Einordnung technischer Lösungen entlang der Steuerungshierarchie eines Unternehmens („hierarchy levels“) bzw. entlang der Wertschöpfungskette („value stream“). Das Wirkmodell der Wandlungsbefähiger liefert seinerseits den organisatorischen Rahmen für Maßnahmen in Bezug auf die Agilität eines Unternehmens. Das Referenzarchitekturmodell und das Wirkmodell der Wandlungsbefähiger haben Berührungspunkte, indem die „hierarchy levels“ auf die Ebenen des Wirkmodells abgebildet werden können. Ebenso umfasst der Rezeptor Elemente des Wirkmodells, entsprechend Heinen et al. (2008), die Organisation, die Prozesse und die Ressourcen (Menschen, Maschinen) eines

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Abb. 2   Übersicht über die Einflussfaktoren auf das Bewertungswerkzeug bezüglich der Erfüllung der digitalen Fitness. (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 3   Rezeptoren und Ebene für die Steuerung von Produktionssystemen. (Quelle: Heinen et al. 2008, S. 23)

Produktionssystems (Abb. 3). Dementsprechend ist die Dimension „value stream“ des Referenzarchitekturmodells auch ein zentraler Teil des Rezeptors Elemente im Wirkmodell der Wandlungsbefähiger. Darüber hinaus verfolgen Unternehmen, abhängig von 1) der Komplexität ihrer Produkte und 2) dem Umfang einzelner Produktserien, abgrenzbare Strategien. Ebenso ist

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bekannt, dass sich die Organisation eines Produktionssystems nach diesen beiden Kriterien ausrichtet. Während Einzelstückfertiger (Typ 1 in Abb. 2: hohe Produktkomplexität mit Seriengröße 1) eher nach dem Verrichtungsprinzip und als Werkstattfertigung organisiert sind, wird das Produktionssystem bei Großserienfertigung (Typ 3: geringe Produktkomplexität mit Seriengröße von über über 100.000 Stück jährlich je Produktvariante) eher nach dem Prozessfolgeprinzip als Fließproduktion oder Fließinselproduktion organisiert sein. Dazwischen liegen Hersteller kleiner und mittlerer Seriengröße mit mittlerer bis hoher Produktkomplexität. Diese verfolgen primär eine der drei Strategien Qualitätsführerschaft (Typ 4), Differenzierung in einer Nische (Typ 5) oder innovative Produkte (Typ 2). Deren Produktionssysteme sind i. d. R. in Produktionsinseln oder als Werkstattfertigung organisiert. Abhängig von diesen jeweils als typisch anzunehmenden Organisationsformen der Produktionssysteme sind bestimmte Teile des Wirkmodells der Wandlungsbefähiger für ein Unternehmen von Bedeutung oder auch nicht. Im Zuge der Umsetzung des Bewertungswerkzeugs wurden für die zuvor angeführten Unternehmenstypen jeweils die drei Dimensionen des Wirkmodells in einer Bewertungsmatrix einander gegenübergestellt. Zu diesem Zweck wurden zunächst die Wandlungsbefähiger Universalität, Mobilität, Modularität, Kompatibilität und Skalierbarkeit für jeden Unternehmenstyp und unter der Annahme einer typischen Organisationsform des Produktionssystems gegeneinander abgewogen. Ebenso wurde durch eine Gegenüberstellung der strategischen Einflussgrößen (respektive Rezeptoren) und den Ebenen vorgegangen. Der Rezeptor Elemente wurde, wie zuvor erläutert, entsprechend den Abschnitten des „value stream“ im Referenzarchitekturmodell weiter detailliert. Die Ergebnisse aus diesen Bewertungsmatrizen wurden auf einer Skala von 0 bis 4 skaliert für die Unternehmenstypen zusammengefasst (Abb. 4).

Abb. 4   Wirkmodell für Wandlungsfähigkeit in Beziehung zur individuellen Strategie bezüglich Flexibilität oder Stabilität. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Für jedes Unternehmen ergibt sich daraus ein Grad der Bedeutung für jeden einzelnen Aspekt des Wirkmodells der Wandlungsbefähiger. Beispielsweise hat ein Einzelfertiger bezüglich der Umsetzung eines agilen Unternehmens insbesondere Handlungsbedarf im Bereich Universalität, Modularität und Skalierbarkeit des Produktentwicklungs- und des Fertigungsprozesses sowie des Produkts. Jene Ebenen, auf denen angesetzt werden soll, sind insbesondere die Arbeitsstation (respektive Fertigungsteams), die Module (respektive einzelne Individuen) und die Submodule (respektive Kompetenzen der einzelnen Individuen). Darüber hinaus werden im beschriebenen Bewertungswerkzeug folgende Bereiche im Unternehmen einer Untersuchung unterzogen, in denen die Digitalisierung in jeweils spezifischer Form ansetzen soll: • Produkt/Kunden • Produktionssystem • Markt/Wettbewerb • Lieferkette • Personalmanagement Für jeden dieser Bereiche umfasst das Bewertungswerkzeug zwischen etwa 10 und 30 Aussagen, die von den befragten Unternehmen mit Werten zwischen 0 (trifft überhaupt nicht zu), 1 (trifft eher nicht zu), 2 (teils teils), 3 (trifft eher zu) bis 4 (trifft vollständig zu) kommentiert werden. Jede dieser Aussagen ist so formuliert, dass dadurch ein bestimmter Teil der Wandlungsbefähiger, der strategischen Einflussgrößen oder der Ebenen entsprechend Abb. 4 adressiert werden. Abhängig vom Unternehmenstyp, der zuerst beantwortet wird, ergibt sich für jede Aussage ein Sollwert zu jeder Aussage. So wird der Aussage „Der Materialtransport zwischen den Fertigungsschritten ist automatisiert, wo es die effiziente Nutzung der menschlichen Arbeitskraft erfordert“ für Großserienhersteller ein höherer Sollwert zugewiesen als beispielsweise für Einzelstückproduzenten, da diese Aussage die Wandlungsbefähiger Mobilität und Kompatibilität, den Rezeptor Werkstückproduktion und die Ebenen Werk/Fabrik und Ebene/Bereich betreffen. Entsprechend Abb. 4 sind diese Wandlungsbefähiger, Rezeptoren und Ebenen für Großserienhersteller von größerer Bedeutung als für Einzelstückproduzenten. Aus der Gesamtmenge aller Aussagen und deren Sollwerten ergibt sich für jeden der fünf Bereiche ein Soll-Profil. Aus den Kommentaren der befragten Unternehmen zu jeder der Aussagen ergibt sich demgegenüber das jeweilige Ist-Profil. Die Abb. 5 zeigt dazu einen beispielhaften Ausschnitt des Fragebogens. Auf der Basis dieses Soll-Ist-Vergleichs wird der Grad der Erfüllung der digitalen Fitness über die fünf Bereiche Produkt/Kunden, Produktionssystem, Markt/Wettbewerb, Lieferkette und Personalmanagement festgestellt. Als zweiter Teil des Bewertungswerkzeugs wird das Potenzial bezüglich intelligenter, vernetzbarer Produkte bzw. eines intelligenten, vernetzbaren Produktionsprozesses ermittelt. Dazu wird vollständig die Methode von Affenzeller et al. (2018) in

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Abb. 5   Exemplarische Aussagen des Bewertungswerkzeugs und das Soll-Profil (punktiert) bzw. das Ist-Profil (strichliert). (Quelle: Eigene Darstellung)

Abb. 6   Potenzialanalyse bezüglich intelligenter, vernetzter Produkte bzw. intelligenter, vernetzter Produktion. (Quelle: Affenzeller et al. 2018)

das ­Werkzeug integriert (Potenzialanalyse). Mithilfe einer quantitativen Bewertung von sechs Aussagen zu jedem der zwei Aspekte kann ermittelt werden, mit welcher Priorität ein Unternehmen seinen Fokus auf das Produkt, den Produktionsprozess oder beides mit einer gewissen Priorisierung lenken soll (Abb. 6). Ebenso wurde ein Best-Practices-Katalog für jede Aussage des Bewertungswerkzeugs erstellt. Bei Abweichungen von mehr als zwei Punkten zwischen dem Soll-Wert und dem Ist-Wert einer bestimmten Aussage werden entweder Maßnahmen auf der Grundlage geeigneter Best Practices vermerkt oder es können konkrete kaufmännische, technische oder organisatorische Gründe für diese Abweichung durch das Unternehmen

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dargelegt werden. Die Potenzialanalyse unterstützt bei der Auswahl der Maßnahmen, die zur Schließung der Lücke zwischen dem jeweiligen Soll- und Ist-Wert einer Aussage umgesetzt werden sollen. Das Bewertungswerkzeug dient daher nicht einer Selbstbestimmung, sondern dient als Leitfaden für ein Bewertungsgespräch zwischen mehreren Repräsentanten des Unternehmens mit einem Experten. Der gesamte Zeitaufwand der Bewertung beläuft sich für ein Unternehmen auf ungefähr sechs Stunden und liefert signifikante Ergebnisse für die Planung der weiteren Maßnahmen. Dadurch bildet dieses Bewertungswerkzeug einen adäquaten Kompromiss zwischen der Genauigkeit der Ergebnisse und dem Zeitaufwand, der durch die Unternehmen investiert werden muss. Die so mit Repräsentanten des Unternehmens gemeinsam adressierten Maßnahmen werden thematisch gebündelt und als unternehmensspezifische Programme formuliert. Als abschließender Schritt werden diese Programme gemeinsam mit den Repräsentanten des Unternehmens mithilfe einer Bewertungsmatrix priorisiert. Dadurch entsteht eine chronologische Reihung jener Programme, auf die sich ein Unternehmen zur Erlangung der digitalen Fitness bzw. zur Umsetzung der digitalen Transformation fokussieren soll. Die Standortbestimmung mithilfe des zuvor beschriebenen Bewertungswerkzeugs gibt einen Überblick über die Bedürfnisse der Unternehmen im Zusammenhang mit der digitalen Transformation. Für jedes befragte Unternehmen ist anschließend dessen strategische Ausrichtung und damit dessen Kategorisierung bekannt. Ebenso liegt für jedes Unternehmen ein Bündel priorisierter Programme vor, die das Unternehmen vom Status quo zur digitalen Fitness und von dort weiter zur digitalen Transformation leiten.

5 Die Umsetzungsvorbereitung Auf diese Ausgangssituation aufbauend kann mit der Vorbereitung für die Umsetzung einer Projekt-Roadmap begonnen werden. Diese Vorbereitung umfasst zwei parallele Stränge von Maßnahmen. 1. Qualifizierung des operativen Managements der teilnehmenden Unternehmen bezüglich verschiedenster Themen der digitalen Transformation. 2. Erarbeiten von Projekt-Roadmaps mit einem maximalen Anteil synergetischer (überbetrieblicher) Maßnahmen für die teilnehmenden Unternehmen. Die Qualifizierungsmaßnahmen umfassen alle relevanten Themenbereiche der digitalen Transformation und dienen dazu, den Kenntnisstand des operativen Managements über Best Practices, Methoden und Trends zu erweitern. Als Ergebnis soll das operative Management in die Lage versetzt werden, Maßnahmen im jeweiligen Unternehmen zu veranlassen und die Zusammenhänge der Maßnahmen zu verstehen. Die Qualifizierungsmaßnahmen finden im Rahmen von monatlichen Workshops über den Zeitraum eines

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knappen halben Jahres statt und umfassen die folgenden fachlichen Bereiche in dieser Reihenfolge: • Umsetzung wandlungsfähiger (agiler), produzierender Unternehmen mit digitalen Technologien: Dieser Themenbereich folgt dem ersten Prinzip und vermittelt daher Methoden und Best Practices zur organisatorischen Verbesserung der Agilität, innerhalb der Produktionsprozesse und entlang der Supply Chain. • Die Digitalisierung von Unternehmensdaten und Informationsgewinnung vermittelt Methoden und Wissen über vorhandene digitale Technologien zur effizienten Digitalisierung von Unternehmensdaten, deren Vernetzung mit dem jeweils relevanten Prozesskontext und daraus Mechanismen zur Informationsgewinnung, die in der Folge zur Unternehmenssteuerung verwendet werden können. • Intelligente, vernetzte Produktionsprozesse vermitteln Wissen über vorhandene Technologien zur Automatisierung und Vernetzung von Produktionsprozessen (horizontale und vertikale Integration) bis auf die Ebene der Supply Chain. Dieser Themenbereich schließt auch Aspekte der Standardisierung mit ein und den Einfluss der digitalen Transformation auf den Beschaffungsprozess von Maschinen oder Anlagen. • Intelligente, vernetzte Produkte: In diesem Themenbereich wird Wissen über die Möglichkeiten und Einschränkungen digitaler Technologien vermittelt, die Produkte grundsätzlich intelligenter und vernetzbarer machen können. Dabei wird Wissen über den Technology-Stack von Sensoren und Aktuatoren bis zu cloudbasierten Lösungen für die Datenauswertung und Vernetzung im Internet of Things vermittelt. • Digitale Geschäftsmodelle bilden den abschließenden Themenbereich, der Wissen über die Anwendung von Methoden wie das Business Model Canvas (­Osterwalder und Pigneur 2011) und Best Practices vermittelt. Dadurch soll dem operativen Management in Verbindung mit dem vermittelten Wissen der vorangegangenen Ausbildungseinheiten die Fähigkeit zum Beschreiten völlig neuer Wege bei der Entwicklung digitaler Geschäftsmodelle vermittelt werden. Die begleitende Definition von Projekt-Roadmaps, die synergetisch für alle teilnehmenden Unternehmen nutzenstiftend sind, wird parallel zu den Qualifizierungseinheiten entwickelt. Als Grundlage für die Definition der relevanten Projektthemen werden die zuvor durchgeführten individuellen Bewertungen zum Status der digitalen Fitness herangezogen. Dazu werden die teilnehmenden Unternehmen auf der Basis sämtlicher der individuell abgestimmten Maßnahmen kategorisiert. Bereits im Rahmen der individuellen Bewertungsgespräche zeichneten sich, im Zuge der Fallstudie, deutliche Gemeinsamkeiten bei einzelnen Programmen zur Digitalisierung ab. Auch die primäre strategische Ausrichtung der Unternehmen wird für diese Kategorisierung berücksichtigt, um Spezifika bezüglich der Organisation der Produktionssysteme (Abb. 7) in der weiteren Planung zu berücksichtigen. Im Rahmen der beschriebenen Fallstudie stellte sich bei den teilnehmenden Unternehmen eine sehr starke Orientierung auf kleine bis

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Abb. 7   Unternehmenskategorisierung aufgrund der Bewertung im Rahmen der Fallstudie. (Quelle: Kinkel und Maloca 2010, S. 2 ff.)

­ ittlere Seriengrößen bei mittlerer bis hoher Produktkomplexität heraus. Konsequenterm weise liegt die primäre Strategie der teilnehmenden Unternehmen (bestätigt durch deren Angaben im Rahmen der Bewertung) entweder auf der stabilen Qualität der Produkte und Prozesse (Stabilitätsstrategie) oder der Differenzierung in Nischen oder Produktinnovationen auf Basis eines Grundprogramms (Flexibilitätsstrategie). Gemeinsam mit den teilnehmenden Unternehmen erfolgt auf der Basis von zunächst vorgeschlagenen Projektthemen (Problemstellungen, Projektziele) eine Abstimmung. Im Rahmen dieser Abstimmung werden jene Projekte, die die Bedürfnisse der meisten teilnehmenden Unternehmen abdecken, festgelegt, inhaltlich feinabgestimmt und die jeweiligen Unternehmen den Projekten zugeordnet. Die Anzahl der synergetischen Projekte richtet sich nach der verfügbaren Kapazität von Experten, die diese Projekte moderieren und fachlich begleiten. Im R ­ ahmen der beschriebenen Fallstudie wurden diese Projekte unter folgenden Fachtiteln ­zusammengefasst: • Webshop • Auftragsbearbeitung und Auftragsverfolgung • Materialwirtschaft • Manufacturing Execution System (MES) • Betriebsdatenerfassung und Steuerung von Fertigungszellen • Wissensmanagement

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Alle verbleibenden Themen aus der Phase der Standortbestimmung (Bestimmung der digitalen Fitness) werden als individuelle Projekte mit den jeweiligen Unternehmen im Rahmen ihrer individuellen, priorisierten Programme bearbeitet.

6 Zusammenfassung und nächste Schritte Schlussendlich wurde aus diesen überbetrieblichen gemeinsamen Projekten jedoch nur ein Projekt (Auswahl eines MES) umgesetzt. Die meisten Projekte wurden innerbetrieblich gestartet bzw. haben unterschiedliche zeitliche Einordnungen, wodurch eine gemeinsame Abwicklung von den Unternehmen nicht angestrebt wurde. Die innerbetrieblichen Projekte wurden in sehr unterschiedlichen Bereichen bearbeitet: Implementierung produktspezifischer Webshops, Automatisierung der Auftragsbearbeitung und -verfolgung, Untersuchung zur Transformation klassischer metallverarbeitender Herstellungsprozesse auf 3D-Druck, Verbesserung der Kommunikation zwischen Vertrieb und Fertigung zur Steigerung der Anlageneffektivität, Verbesserung des Lagerbestandsmanagements, um nur einige zu nennen. Es kann nach Abschluss der bisherigen Phasen Akquise, Standortbestimmung und Umsetzungsvorbereitung bereits ein klares Bild über den Status der beteiligten Unternehmen in Bezug auf deren digitale Fitness gezeichnet werden. Ebenso sind die individuellen Bedürfnisse klar abgegrenzt. Darüber hinaus wurden Projekte gestartet, die in synergetischer Form für mehrere teilnehmende Unternehmen gemeinsam gelöst werden können. Zur Verbesserung der Rate überbetrieblicher Projekte soll in zukünftigen Zyklen die ressourcenbezogene Bereitschaft der teilnehmenden Unternehmen im Rahmen der Umsetzungsvorbereitung verbessert werden. Diese Erkenntnis ist für die Phase der Umsetzung in zukünftigen Zyklen relevant und ist nicht nur unter dem Aspekt der Schonung der finanziellen Ressourcen der teilnehmenden Unternehmen von Bedeutung, sondern auch unter dem Aspekt der nachhaltigen Weiterentwicklung einer digitalen Roadmap für die gesamte Region. So soll die gemeinsame Abstimmung von Anforderungen zu einer abgestimmten Auswahl von Softwareprodukten führen, die von den teilnehmenden Unternehmen eingesetzt werden. Durch diese Fokussierung können sich regionale Interessensgruppen bilden (User Groups), die die Beschaffung von Standardsoftware effektiver gestalten, sich gegenseitig bei der Individualisierung (Customizing) von Standardsoftware abstimmen und gegebenenfalls gemeinsam solche Projekte durchführen. Auch der Austausch von Erfahrung und Best Practices zwischen den Unternehmen wird damit erleichtert und entsprechend vertieft. Gegebenenfalls kann auch der Einsatz von cloudbasierten Lösungen als Software as a Service (SaaS) dabei Berücksichtigung finden. Dadurch lassen sich die administrativen Kosten der Digitalisierung als bedarfsorientiertes Modell umsetzen sowie die Aufwände für Datenschutz und Datensicherheit insbesondere für KMU effektiver gestalten. Darüber hinaus bieten cloud-basierte Lösungen die Möglichkeit, individuell entwickelte Softwaremodule den anderen Unternehmen der Region anzubieten.

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R. Willmann

Die Ganzheitlichkeit dieser Möglichkeiten führt sinnvollerweise zu einer gemeinschaftlichen Abstimmung von Entwicklungszielen (regionale Roadmap für digitale Transformation), unter deren Dach die regionale, digitale Transformation von Unternehmen mit der wissenschaftlichen Begleitung der regionalen Hochschulen effektiv umgesetzt werden kann. Unter anderem zur Unterstützung einer zyklischen Wiederholung des beschriebenen Verfahrens wird derzeit gemeinsam mit den Vereinen und Interessensvertretern der regionalen Industrie sowie regionalen Forschungs- und Ausbildungseinrichtungen ein Programm zur digitalen Transformation entwickelt. Die Erkenntnisse des beschriebenen Verfahrens bilden eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung dieses Programms.

Literatur Affenzeller, P., Hartlieb, E., & Willmann, R. (2018). Industrie 4.0 – Evaluierung der Relevanz für Unternehmen mit physischen Angeboten. In P. Granig, E. Hartlieb, & B. Heiden (Hrsg.), Mit Innovationsmanagement zu Industrie 4.0 – Grundlagen, Strategien, Erfolgsfaktoren und Praxisbeispiele (S. 83–96). Wiesbaden: Gabler. BITKOM e. V., VDMA e. V., & ZVEI e. V. (2015). Umsetzungsstrategie Industrie 4.0 – Ergebnisbericht der Plattform Industrie 4.0. Bitkom. https://www.bitkom.org/sites/default/files/file/ import/150410-Umsetzungsstrategie-0.pdf. Zugegriffen: 28. Jan. 2019. Grün, R. (2016). Entwicklung eines Assessment Tools für Industrie 4.0. Bachelorarbeit – Betreuung durch Roland Willmann. Villach: Fachhochschule Kärnten. Heinen, T., Rimpau, C., & Wörn, A. (2008). Wandlungsfähigkeit als Ziel der Produktionsystemgestaltung. In P. Nyhuis, G. Reinhart, & E. Abele (Hrsg.), Wandlungsfähige Produktionssysteme – Heute die Industrie von morgen gestalten (S. 19–32). Garbsen: TEWISS. Kärntner Wirtschaftsförderungsfonds. (2017). Digitalisierung – Marktchancen erfolgreich nutzen – Lieferantenentwicklungsprogramm für Klein- und Mittelbetriebe im Bereich Digitalisierung. Kärntner Wirtschaftsförderungsfonds. https://www.kwf.at/wp-content/uploads/2017/08/ Programmdetails_LEP_2.pdf. Zugegriffen: 28. Jan. 2019. Kinkel, S., & Maloca, S. (2010). Flexibilitäts- und Stabilitätsstrategie in der deutschen Industrie. EconStore. https://www.econstor.eu/bitstream/10419/45028/1/647223287.pdf. Zugegriffen: 28. Jan. 2019. Osterwalder, A., & Pigneur, Y. (2011). Business Model Generation: Ein Handbuch für Visionäre, Spielveränderer und Herausforderer. Frankfurt a. M.: Campus.

FH-Prof. Dipl.-Ing. Dr. techn. Roland Willmann  ist Professor für Industrial Management an der Fachhochschule Kärnten. Er gestaltete führend mehrere Initiativen bezüglich der digitalen Transformation des regionalen produzierenden Gewerbes und der Industrie in Kärnten/Österreich. Darüber hinaus leitet er eine Forschungsgruppe zur Nutzung additiver Fertigungsverfahren in agilen, virtuellen Systemen für das Engineering von Produkten und deren Produktionsprozessen.

Survival of the Quickest – Agilität als organisationale Ressource in der digitalen Transformation Fabian Schrempf und Manfred Schwaiger

1 Einleitung Im Januar 2018 eröffnete Amazon.com den ersten Supermarkt ohne Kassen in Seattle. Die Vision hinter Amazon Go ist ein Supermarkt, in dem Kunden die Waren direkt in den Einkaufskorb legen und ohne Anstehen oder Zahlungsprozess das Geschäft wieder verlassen können. Laut Amazon erkennt eine „walk out technology“ automatisch, welche Produkte der Kunde aus den Regalen nimmt, und bucht den Betrag direkt vom AmazonKonto der Kunden ab. Darüber hinaus liefert der US-Händler mit seinem eigenen Lieferservice Amazon Fresh Lebensmittel in Deutschland bereits vor die Haustür (Der Spiegel 2018; Kläsgen und Mayr 2017).1 Amazon.com ist dabei nur eines unter vielen Beispielen, wie branchenfremde Unternehmen in eine Industrie eindringen und dabei etablierte Konzerne verdrängen bzw. Wettbewerbern Marktanteile streitig machen. Disruptive Veränderungen innerhalb einer Branche und eine kontinuierliche Bedrohung durch neue Marktteilnehmer, wie sie im erwähnten Fall von Amazon.com erkennbar werden, sind kein neuartiges Phänomen. Manager großer Konzerne mussten sich mit solchen Bedrohungen schon lange vor der Internetära beschäftigen (Christensen und Overdorf 2000). Allerdings tragen die Megatrends des 21. Jahrhunderts – Digitalisierung, Globalisierung,

1Weitere

Informationen auf www.amazon.com.

F. Schrempf (*)  München, Deutschland M. Schwaiger  LMU München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_26

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F. Schrempf und M. Schwaiger

verkürzte Produktlebenszyklen und eine generelle Deregulierung der Märkte – dazu bei, dass Grenzen zwischen Industrien auf beispiellose Art und Weise aufgeweicht werden (Doz und Kosonen 2008). Insbesondere durch die Digitalisierung werden etablierte und traditionelle Industrien häufig von jungen Technologieunternehmen angegriffen und sind in erheblichem Maß einer dynamischen Veränderung ausgesetzt (Nijssen und Paauwe 2012). Konzerne tun sich oftmals schwer, die bestehenden Geschäftsmodelle zu digitalisieren, oder verschlafen den Wandel schlichtweg. Dies belegt auch eine Studie der Boston Consulting Group: von 40 Familienunternehmen mit einem Umsatz von 100 Mio. bis 7 Mrd. € investieren 60 % nur 1,5 % des Umsatzes in die Digitalisierung. Unternehmen erkennen zwar die Notwendigkeit des digitalen Wandels, können diesen aber oftmals nicht umsetzen. Dabei ist es keineswegs so, dass das Management diesen Transformationsprozess nicht kommen sieht. Im Gegenteil: Großkonzerne verfügen über talentierte Manager und Spezialisten, erstklassige Expertise und die entsprechenden finanziellen Ressourcen (Christensen und Overdorf 2000), die ihnen eine verlässliche Markteinschätzung und die damit einhergehende zielgerichtete Auslotung von Chancen und Bedrohungen ermöglichen. Vielmehr haben etablierte Akteure oft Schwierigkeiten, sich an die wettbewerbsintensiven, dynamischen Umgebungen anzupassen und reagieren schlichtweg zu spät. Diese fehlende Flexibilität und Trägheit bietet technologieaffinen Unternehmen die Chance, Teile der Wertschöpfungskette neu zu besetzen – meist im Rahmen neuer digitaler, servicebasierter Geschäftsmodelle (Bruhn und Hadwich 2017). Diese Verlagerung, von einer Produktwertschöpfung hin zu einer Servicewertschöpfung bietet jungen Unternehmen einen schnellen, komfortablen Markteintritt, ohne Branchenerfahrung und -kenntnisse. So hat sich beispielsweise Flixbus innerhalb von fünf Jahren zu einem der größten Fernbusunternehmen in Europa entwickelt. Obwohl das Unternehmen in Deutschland 93 % Marktanteil hat, besitzt der Marktführer selbst nur einen einzigen Bus2. Weitere Beispiele in anderen Branchen belegen diesen Wandel: Spotify (Musikindustrie), Uber (Verkehrsunternehmen), Booking.com (Tourismus), Zalando/Amazon.com (Handel) oder die Alibaba Group (Handelsplattform). Die Frage liegt also auf der Hand: Warum tun sich etablierte Unternehmen trotz Wissensvorsprung und vorhandenen Ressourcen oft schwer, sich schnell an diese neuen Gegebenheiten anzupassen? Ein Grund dafür liegt in einem häufig empfundenen Trade-off: Viele Führungskräfte gehen davon aus, dass sie sich zwischen der dringend benötigten Schnelligkeit und Flexibilität innerhalb der Organisation einerseits und der Stabilität und Skalierbarkeit von festen Organisationsstrukturen und -prozessen andererseits entscheiden müssen (Aghina et al. 2015). Start-ups agieren bekanntlich sehr schnell und passen sich flexibel an neue Gegebenheiten an. Interessanterweise kämpfen aber auch junge Unternehmen damit, diese Dynamik aufrechtzuerhalten, sobald ein bestimmter Punkt in Bezug auf Größe und Wachstum erreicht ist. Große Konzerne werden in diesem Zusammenhang oft

2Weitere

Informationen auf www.flixbus.de.

Survival of the Quickest – Agilität als organisationale …

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als Tanker bezeichnet und sind von diesen Problemen relativ stärker betroffen. Sie sind oft bürokratisch, weil Regeln, Richtlinien und Hierarchieebenen entstehen, die letztendlich ihre Fähigkeit behindern, sich schnell zu verändern. Unternehmen, die lernen, beides zu beherrschen, d. h. einerseits stabil (planbar, zuverlässig und effizient) und andererseits dynamisch (schnell, flexibel und anpassungsfähig) zu sein, werden oft als agile Organisationen bezeichnet (Aghina et al. 2015). Das Konzept der organisationalen Agilität entwickelt sich Forschern wie Praktikern zufolge immer mehr zu einem Erfolgsfaktor für Unternehmen, der das Überleben in einer turbulenten und sich rasch ändernden Umwelt sicherstellt (Ganguly et al. 2009). Die meisten Manager haben zwar eine vage Vorstellung davon, was sich hinter dem Begriff Agilität verbirgt, aber oftmals fehlt es an einer präzisen Definition und einem tieferen Verständnis. Dies mag daran liegen, dass der Begriff verschiedene Ursprünge hat und in vielen Anwendungsgebieten, von der Soziologie über die Softwareentwicklung bis hin zur Fertigung, adaptiert wurde. Dennoch unterstreichen jüngst veröffentlichte Arbeiten aus verschiedenen Disziplinen innerhalb der Betriebswirtschaftslehre eine zunehmende Relevanz des Themas und die Notwendigkeit eines umfassenden Verständnisses der Komponenten organisationaler Agilität (z. B. Lee et al. 2015; Roberts und Grover 2011; Tallon und Pinsonneault 2011). Darüber hinaus haben Forscher verschiedene Vorteile für Unternehmen identifiziert, die durch organisationale Agilität erreicht werden. So können Organisationen effektiver und effizienter auf dynamische Marktveränderungen reagieren (Aravind Raj et al. 2013) und sind zudem in der Lage, internationale Wettbewerbsvorteile zu erzielen (Ganguly et al. 2009) sowie ihren Kunden zeitnah und kostengünstig innovative Produkte zu liefern (Swafford et al. 2006). Angesichts dessen liegt auf der Hand, dass Agilität kein Selbstzweck ist und Organisationen nicht nur in die Lage versetzt, schneller zu operieren – Agilität hat vielmehr einen positiven Einfluss auf die Unternehmensperformance (z. B. Cegarra-Navarro et al. 2016; Roberts und Grover 2011) und besitzt damit eine Eigenschaft, die klassischerweise von organisationalen Ressourcen verlangt wird. Viele Unternehmen streben nach Agilität und Akademiker versuchen, die Praktiker auf diesem Weg zu unterstützen (Aghina et al. 2015). In der Managementliteratur wird jedoch vielfach nur betont, wie man Schnelligkeit und Flexibilität erreichen kann, bzw. wird beschrieben, was Agilität für bestimmte Unternehmensfunktionen bedeutet. Auch Praktiker sind bis heute nur in der Lage, den Grad an Agilität mit mehr oder minder tauglichen Skalen zu messen und somit einen Status quo zu dokumentieren. Welche Schlüsselfaktoren für eine agile Ausrichtung eine Rolle spielen und wie Agilität unternehmensweit zielgerichtet eingesetzt werden kann, ist noch weitgehend ungeklärt. Dies verdeutlichen auch Roberts und Grover (2011, S. 584), die betonen, dass „das Ziel darin bestehen muss, besser zu verstehen, wie organisationale Agilität entwickelt und nutzbar gemacht werden kann“. Für Unternehmen heißt das, sich ändernde Kundenbedürfnisse frühzeitig zu erkennen und sich schnell an dynamische Umweltbedingungen anzupassen. Das bedeutet, dass organisationale Agilität nicht per Dekret und ad hoc implementiert werden kann, sondern als kontinuierlicher Transformationsprozess verstanden werden muss (Nijssen und Paauwe 2012).

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Tab. 1  Schlüsselwörter der Literaturrecherche. (Quelle: Eigene Darstellung) Schlüsselwörter Agility, organizational agility, strategic agility, corporate agility, ­flexibility, leanness, organizational ambidexterity, supply chain agility/flexibility, ­manufacturing agility/flexibility, IT agility/flexibility

Im Folgenden wird darauf eingegangen, welche Rolle Agilität als organisationale Ressource in der digitalen Transformation spielt. Zwei Forschungsfragen stehen in diesem Zusammenhang im Vordergrund: 1) Wie sieht das aktuelle Verständnis von organisationaler Agilität in der Literatur aus? 2) Welche Dimensionen und Treiber haben Einfluss auf organisationale Agilität? Diesen Fragen wird mithilfe einer Betrachtung unterschiedlicher Untersuchungsansätze, einer Übersicht über relevante Definitionen und einer Abgrenzung gegenüber verwandten Konstrukten begegnet (Abschn. 2.2 und 2.3). In einem zweiten Schritt wird anhand eines Treibermodells dargestellt, wie Agilität als strategische Ressource aufgebaut werden kann und welche Dimensionen diese Fähigkeit stärken bzw. schwächen (Abschn. 3.1 und 3.2).

2 Literaturübersicht zur Agilitätsforschung 2.1 Methodik Wir folgen einschlägigen Verfahren für die Auswahl der relevanten Literatur (s. beispielsweise Rosenthal 1995; Webster und Watson 2002), identifizieren somit Fachwissen über organisationale Agilität und konsolidieren die vorhandene Literatur in einem dreistufigen Verfeinerungsprozess: In einem ersten Schritt wurden referierte Beiträge aus Fachzeitschriften der Wirtschaftswissenschaften3 anhand von Schlüsselwörtern und Satzstrings ab dem Jahr 2000 in verschiedenen Datenbanken wie Science Direct, EBSCO und Google Scholar identifiziert (Tab. 1). In einem zweiten Schritt wurden diese Beiträge gesichtet und strukturiert, wodurch sie in bestehende Literaturströme eingeordnet und abgeglichen werden konnten. Schließlich wurden die Beiträge mit besonderem Fokus auf den Zweck der Studie und abgeleitete Schlussfolgerungen detailliert analysiert. Insgesamt 65 Beiträge über organisationale Agilität wurden so verwendet, um ein vertieftes Verständnis des Agilitätkonstrukts zu entwickeln. Dabei wurden die vorgestellten Definitionen untersucht und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede hervorgehoben. Ziel der Analyse war es dabei nicht, eine allumfassende Definition abzuleiten, sondern

3Das Ranking basiert auf dem deutschen VHB Jourqual Ranking (VHB-JOURQUAL3; VHB 2015).

Survival of the Quickest – Agilität als organisationale …

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vielmehr zu einem besseren Verständnis von Agilität in einem breiten organisationalen Kontext beizutragen. Darüber hinaus wurden Agilitätstreiber identifiziert, die in den entsprechenden Beiträgen behandelt und anhand von fünf Dimensionen klassifiziert wurden, die uns die Ableitung eines ganzheitlichen organisationalen Agilitätsmodells erlauben.

2.2 Begriffsabgrenzung Betrachtet man die Arbeiten zu Agilität im Zeitverlauf und beruft sich auf Veröffentlichungen des Iacocca Institute der Lehigh University, kann ein Vorläufer im Bereich der agilen Produktion („agile manufacturing“) verortet werden (Ganguly et al. 2009; ­Sharifi und Zhang 1996). Auf sich verändernde Marktumgebungen der zuvor herrschenden Massenproduktion, die durch niedrigere Stückkosten, standardisierte Preisgestaltung und oft einmalige Transaktionen an nicht segmentierten Kunden charakterisiert war, folgt ein mehrdimensionaler Wettbewerb mit Anforderungen an Variabilität, Dynamik sowie Individualität (Goldman et al. 1995). Es ist daher davon auszugehen, dass sich das heutige Verständnis von Agilität v. a. aus der Produktion heraus entwickelt hat. Dies wird noch deutlicher, wenn man zwei zugrunde liegende Prinzipien der agilen Produktion – nämlich Leanness und Flexibilität – näher betrachtet, die einen deutlich früheren Ursprung haben4. Lean Management kennzeichnete in der japanischen Automobilindustrie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine schlanke Produktion, wobei eine Verschiebung der Zielsetzung von reiner Tauglichkeit hin zu angestrebter Perfektion mit diesem Wandel einherging. Eine zunehmende Diversifikation erfolgt in der bestehenden Fertigung von großen Produktionsmengen aufgrund der Hochflexibilität und Vielseitigkeit von eingesetzten Arbeitskräften. Diese als Teams agierenden Arbeitskräfte treiben, unterstützt durch mehr Eigenverantwortung und zunehmend automatisierte Maschinen, Perfektion sowie eine geringere Fehleranfälligkeit voran (Womack et al. 1992). Folglich wird eine Vermeidung von „muda“ (Verschwendung) angestrebt (Agarwal et al. 2006), wobei sich Lean Management explizit auf die Minimierung von Verschwendung durch effiziente und effektive Produktionsprozesse konzentriert (­Conboy 2009). Agilität dagegen richtet den Blick nicht nur auf die Überschussreduktion, sie nimmt auch die Reaktionsfähigkeit auf Veränderungen ins Visier. Agilität kann in diesem Zusammenhang als ein Post-lean-Paradigma verstanden werden, das bekannte Lean-Prinzipien und -Praktiken einbezieht (Jain et al. 2008). Die Prinzipien der Einfachheit und Qualität werden beispielsweise durch beide Begrifflichkeiten umfasst (­Conboy und Fitzgerald 2004). Unter Berücksichtigung des gesamten Produktionsprozesses begründet eine veränderte, schlanke Produktion Herausforderungen im Management

4Für eine vertiefte Gegenüberstellung der Begrifflichkeiten empfehlen wir Conboy (2009); Fayezi et al. (2016) oder Ganguly et al. (2009).

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F. Schrempf und M. Schwaiger

auf den Ebenen Finanzierung, Personalmanagement und Koordination (Womack et al. 1992). Während das Lean Management also im Bezugsrahmen eines dynamischen Marktumfelds eine Antwort liefert, bedingt die unternehmerische Fähigkeit Agilität eine Beachtung des Wettbewerbsumfelds (Zobel 2005). Lean-Konzepte in ihrer engeren Auslegung sind daher nur dann eine geeignete Wahl, wenn die Nachfrage vorhersehbar und die Vielfalt der Kundenanforderungen relativ gering ist (Ganguly et al. 2009). Wenden wir uns nun der Flexibilität zu, die von Skeptikern bisweilen als Analogon zur Agilität missverstanden wird: Eine Zunahme der akademischen Auseinandersetzung mit dem Flexibilitätsbegriff ist seit Ende der 1960er-Jahre zu beobachten (Kaluza und Blecker 2005). Auf Basis ihrer Forschung schlussfolgern Sethi und Sethi (1990) in diesem Zusammenhang, dass Flexibilität ein komplexes, multidimensionales und schwer zu fassendes Konstrukt darstellt. Über 50 verschiedene Begrifflichkeiten und Klassifizierungen von Flexibilitätstypen finden sich in der („manufacturing“) Literatur wieder. Flexibilität wird dabei neben Kosten, Qualität, Zeit, Erzeugnisvielfalt und Service als strategischer Erfolgsfaktor eingeordnet (Kaluza und Blecker 2005). Trotz des Fehlens eines allgemeinen Verständnisses von Flexibilität – Günthner (2007) spricht in diesem Zusammenhang von Polymorphie, nachdem auch im 21. Jahrhundert noch keine eindeutige Definition hierfür vorliegt (Kaluza und Blecker 2005) – soll im Folgenden eine Abgrenzung der Flexibilität von der Agilität versucht werden. Eine Gruppierung von Autoren sieht Flexibilität als komplementäres Konstrukt (Baker 1996; Fayezi et al. 2016; Oliveira et al. 2012), als Agilitäts-Capability (Sharifi und Zhang 1996) oder als Vorläufer von Agilität („key antecedent“; Sharifi und Zhang 1999) an. Daneben finden sich Veröffentlichungen, die sich von der Annahme, Flexibilität sei eine Form der Agilität, abgrenzen und eine klare Unterscheidung beider Begrifflichkeiten vornehmen (Termer 2016). Laut Baker (1996) besteht ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Konzepten darin, dass Agilität einerseits mehr Gewicht auf höhere Hierarchieebenen (Geschäftsnetzwerke und Organisationsebenen) legt und gleichzeitig die Dimensionen Kosten, Zeit und Reichweite beeinflusst. Flexibilität hingegen konzentriert sich häufig auf die operative Ebene und befasst sich jeweils nur mit einer bzw. maximal zwei Dimension zu einem bestimmten Zeitpunkt (Oliveira et al. 2012). Dies steht auch in Einklang mit der Hervorhebung von Fayezi et al. (2016), dass (Supply-chain-)Agilität eine strategische Fähigkeit ist, um auf Unsicherheiten zu reagieren, während (Supply-chain-)Flexibilität eine operative Fähigkeit darstellt. Gemeinsam ist nach van Oosterhout (2010) beiden Konzepten vor dem Hintergrund dieser Kategorisierung die Wahrnehmung von Möglichkeiten, einer angemessen Reaktion auf sich bietende Chancen sowie das potenzielle Erfahrungslernen (ähnlich dazu Dove 2002; Sambamurthy et al. 2003 und Seo und La Paz 2008). Die Tab. 2 fasst diese Erkenntnisse in Anlehnung an Termer (2016) zusammen und zeigt Unterschiede sowie Gemeinsamkeiten der Begrifflichkeiten auf.

Survival of the Quickest – Agilität als organisationale …

629

Tab. 2  Abgrenzung der Begrifflichkeiten Agilität und Flexibilität. (Quelle: Eigene Darstellung in Anlehnung an Termer 2016; van Oosterhout 2010; Conboy 2009) Flexibilität

Agilität

Wandel

Nicht unbedingt andauernd

Andauernd

Unsicherheit

Erwartet/vorhersehbar

Unerwartet/unvorhersehbar

Verhalten

Reaktiv

Proaktiv

Ereignisbezogenheit

Ex post

Ex ante

Umgang mit Veränderungen

Reagieren auf Veränderungen

Initiieren von Veränderungen

Planungsgrundlage

Geplant, zeitlich festgelegt

Ungeplant, zeitlich nicht ­festgelegt

Ebene

Operativ

Strategisch

Unterschiedskriterien

Gemeinsamkeitskriterien Ursache

Unsicherheit, Wandel

Wahrnehmung

Interne Fähigkeiten

Lernen

Internes Lernen/ergänzt externes Lernen

Flexibilität kann also als eine geplante Reaktion auf erwartete Unsicherheiten verstanden werden, nicht aber auf ungewisse oder unvorhersehbare, externe Veränderungen (Ganguly et al. 2009). Einige Definitionen von organisationaler Agilität verknüpfen das Konzept der Flexibilität mit Geschwindigkeit (Agilität = Flexibilität + Geschwindigkeit; Ganguly et al. 2009; Sharifi und Zhang 1999). Agilität erweitert also nach häufiger Auffassung den Begriff der Flexibilität, da Flexibilität nur Veränderungen adressiert, die weitgehend vorhersehbar sind, sodass adäquate Reaktionen in die Prozesse und das IT-System einer Organisation eingebettet werden können (Barton und Court 2012). Zusammenfassend kann Agilität als „Flexibilität mit organisationaler Ausrichtung“ (Conboy 2009, S. 338) verstanden werden, die in der gesamten Organisation zur Anwendung kommt.

2.3 Verständnis von organisationaler Agilität Aus der vorangegangenen Diskussion lassen sich erste Implikationen für ein umfassendes Verständnis des Konstrukts der organisationalen Agilität ableiten. Zunächst lässt sich festhalten, dass Agilität und die damit verbundenen Konstrukte aus operativer Sicht umfassend untersucht wurden, insbesondere in den Bereichen Produktion und Fertigung. Darüber hinaus folgt aus der obenstehenden Abgrenzung, dass Agilität nicht losgelöst von der organisationalen Umgebung betrachtet werden kann, was u. a. Zobel (2005) in einer umfangreichen Wettbewerbsanalyse herausarbeitet. Dies zeigt auch die Verwendung von etablierten Begrifflichkeiten, wie etwa „supply chain agility“, die neben dem Unternehmen selbst weitere Komponenten der Wertschöpfungskette in

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F. Schrempf und M. Schwaiger

die Betrachtung mit einbezieht. „Supply chain agility“ kann demnach definiert werden als „[…] the capability of the firm, internally, and in conjunction with its key suppliers and customers, to adapt or respond in a speedy manner to market place changes […]“ (Braunscheidel und Suresh 2009, S. 121). Goldman et al. (1995) legen mit ihrer Definition von Agilität der Thematik eine Arbeitsdefinition zugrunde, die eine neue industrielle Ordnung ankündigt und für viele nachfolgende Werke als Grundlage dient. Demnach ist Agilität dynamisch und unbegrenzt und erfordert eine ständige Bereitschaft, sich mit Veränderungen auseinanderzusetzen. Darüber hinaus wird sie mit dem Konstrukt Aggressivität, Wachstumsorientierung sowie Kontextabhängigkeit verbunden (Goldman et al. 1995). Wir halten also fest, dass Agilität Praktiken und Prinzipien der Konzepte Leanness und Flexibilität (Ganguly et al. 2009) umfasst. Wie in Abschn. 2.2 aufgezeigt, sind die Begrifflichkeiten nicht immer trennscharf, jedoch lassen sich sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede aufzeigen. Unter Berücksichtigung der Konstrukte sowie deren Abgrenzung formuliert Conboy (2009, S. 340) seine Agilitätsdefinition; deutlich wird insbesondere die Ergänzung der Lean-Prinzipien hoher Qualität unter minimierten Ressourceneinsätzen: [..] to rapidly or inherently create change, proactively or reactively embrace change, and learn from change while contributing to perceived customer value (economy, quality, and simplicity), through its collective components and relationships with its environment.

Um ein ganzheitlicheres Verständnis der organisationalen Agilität zu erlangen, sollte das Konstrukt also nicht nur aus operativer, sondern auch aus einer strategischen bzw. organisationalen Perspektive betrachtet werden. Hierbei muss man sich den eingangs erwähnten Trade-off in Erinnerung rufen, der Manager vor die schwierige Aufgabe stellt, einen Kompromiss zwischen schneller Anpassung und Kontinuität zu finden. Genau das wäre aber wichtig, um Veränderungen zu adressieren und sich schnell an das Umfeld anzupassen (ein Aspekt, der in produktionswirtschaftlichen Betrachtungen übrigens oftmals nicht angesprochen wird). Betrachtet man das Agilitätskonstrukt aus einer strategischen Perspektive, finden sich Parallelen zwischen Agilität und organisationaler Ambidextrie (die primär in organisationswissenschaftlichen Arbeiten erforscht wird) mit Blick auf die getroffenen Annahmen wieder. Im Allgemeinen bezieht sich das Konzept der organisationalen Ambidextrie auf die Fähigkeit einer Organisation, zwei unterschiedliche Handlungen gleichzeitig zu verfolgen: „an organization’s ability to be aligned and efficient in its management of today’s business demands while simultaneously being adaptive to changes in the environment“ (Gibson und Birkinshaw 2004, S. 1). Demzufolge ist die Grundidee der Ambidextrie, dass Organisationen anpassungsfähig und proaktiv auf die sich verändernde Umgebung antworten, während sie gleichzeitig auf ihre aktuellen Abläufe ausgerichtet bleiben, um erfolgreich zu sein. Diese konkurrierenden

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und strategischen Handlungen variieren in verschiedenen Forschungsarbeiten (­Simsek et al. 2009): Suche und Stabilität („search and stability“); Flexibilität und Effizienz; Alignment und Anpassungsfähigkeit. Die Literatur offenbart, dass Autoren nicht genau zwischen den Konzepten Agilität und Ambidextrie unterscheiden und die Erkenntnisse aus den organisationswissenschaftlichen Arbeiten nutzen, um Agilität zu definieren oder zu ermöglichen (z. B. Simsek et al. 2009; Tallon und Pinsonneault 2011; Vinekar et al. 2006). Dies wird auch in der Arbeit von Sambamurthy et al. (2003) deutlich. Die Autoren nehmen für ihre Agilitätsdefinition beide Konzepte explizit auf, wobei die von March (1991) getroffenen Bedeutungsinhalte zugrunde gelegt werden: „agility encompasses the exploration and exploitation of opportunities for market arbitrage“ (Sambamurthy et al. 2003, S. 245). Die Bedeutung des Lernens sowie die neben der Reaktivität zu berücksichtigende Proaktivität einer passenden Wandelbegegnung finden zudem Beachtung in der Forschung von Seo und La Paz (2008), wodurch Parallelen beider Begrifflichkeiten deutlich werden. Ähnlich dazu sprechen die Autoren agilen Unternehmen die Fähigkeiten „perception“, „processing“, „responding“ und „aligning“ zu. Diese stellen sowohl das Bewusstsein für die interne als auch externe Unternehmensumgebung, deren Veränderung und der darauf wirkenden Einflüsse dar. Durch eine kontinuierliche Beobachtung der externen Umwelt und Filterung der auftauchenden Signale werden reaktiv und proaktiv passende Antworten unter Berücksichtigung von Effektivität und Effizienz ausgearbeitet. Als Resultat folgt ein vom Wandel abhängiges, neues Arrangement von Ressourcen, Prozessen, Zielen sowie neues Wissen zur Bewältigung von Veränderungen („learning“; Seo und La Paz 2008). Die Tab. 3 fasst ausgewählte Definitionen zusammen und gibt einen Überblick über das allgemeine Verständnis des Konstrukts. Insgesamt kann festgehalten werden, dass zwar weitgehend Einigkeit unter Wissenschaftlern über den Agilitätsbegriff im Hinblick auf charakteristische Eigenschaften besteht, es jedoch zu terminologischen Widersprüchen und Divergenzen in Abhängigkeit der getroffenen Annahmen kommt. Zusammenfassend bildet organisationale Agilität eine Fähigkeit („capability“) ab, die sowohl eine reaktive als auch proaktive Initiierung beinhaltet und somit quasi eine angemessene Antwort auf Veränderungen unter Berücksichtigung der Geschwindigkeit gibt. Veränderungen werden meist auf externe, unerwartete, vom Markt verursachte Umweltveränderungen (Cegarra-Navarro et al. 2016; Lin et al. 2006; Lu und Ramamurthy 2011; Sharifi und Zhang 1999) reduziert. Zudem legen einige Autoren eine aktive Stakeholderorientierung nahe, indem sie einen expliziten Fokus auf „customer based opportunities“ (Lin et al. 2006; Roberts und Grover 2011), „customer service maximization“ (Vázquez-Bustelo et al. 2007) und „key suppliers and customers“ (Blome et al. 2013; Braunscheidel und Suresh 2009) legen. Ohne Frage sind Unschärfen in den Definitionen zu beklagen, und eine klare Abgrenzung zu verwandten Begrifflichkeiten ist bis dato nur unzureichend erfolgt, was zu einer terminologischen Unschärfe innerhalb der verschiedenen Forschungsströme führt (Conboy 2009; Termer 2016).

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Tab. 3  Ausgewählte Definitionen von Agilität in der Literatur. (Quelle: Eigene Darstellung) Autoren

Definition

Goldman et al. (1995)

[…] a firm’s ability to cope with rapid, relentless, and uncertain changes and thrive in a competitive environment of continually and unpredictably changing opportunities

Sharifi und Zhang (1999)

The ability to cope with unexpected changes, to survive unprecedented threats of business environment, and to take advantage of changes as opportunities

Sambamurthy et al. (2003)

The ability to detect opportunities for innovation and seize those competitive market opportunities by assembling requisite assets, knowledge, and relationships with speed and surprise

Overby et al. (2006)

The ability of firms to sense environmental change and respond readily

Seo und LaPaz (2008)

[…] we define organizational agility as a set of processes that allows an organization to sense changes in the internal and external environment, respond efficiently and effectively in a timely and cost-effective manner, and learn from the experience to improve the competencies of the organization

Conboy (2009)

[…] to rapidly or inherently create change, proactively or reactively embrace change, and learn from change while contributing to perceived customer value (economy, quality, and simplicity), through its collective components and relationships with its environment

Tallon und Pinsonneault (2011) The ability to detect and respond to opportunities and threats with ease, speed, and dexterity

3 Konzeption eines Treibermodells zur Erklärung und Messung von Agilität Aus den bisherigen Ausführungen wird ersichtlich, dass eine Übereinstimmung (nur) hinsichtlich der Bedeutung von Agilität besteht: Aufgrund zunehmender Unsicherheiten und Unberechenbarkeiten durch die Globalisierung, Digitalisierung und eine rasant steigende Innovationsdichte benötigen Unternehmen die Fähigkeit, sich gewinnversprechend im Wettbewerb zu behaupten (Termer 2016). Mangels fehlender Erwerbsfähigkeit von außen muss Agilität unternehmensinternen Bestrebungen folgen und in-house entwickelt werden (Grover und Roberts 2012). Darüber hinaus muss ein unternehmensspezifisches Agilitätslevel angestrebt werden, das individuellen Rahmenbedingungen Rechnung trägt (Nijssen und Paauwe 2012). Dazu bedarf es mindestens eines Bewertungssystems für die Agilitätsmessung; hilfreich wäre zudem ein Treibermodell, das geeignete Handlungsempfehlungen abzuleiten erlaubt (Goldman et al. 1995). Ungeachtet der konstatierten Notwendigkeit einer Agilitätsmessung existiert aber bis dato nicht einmal eine einheitliche Messvorschrift – mutmaßlich bedingt durch die in der Literatur vorzufindenden

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erheblichen Unterschiede in Konzeption und Operationalisierung. Um also der Frage Was ist Agilität? zu begegnen und somit zu einem besseren Verständnis beizutragen, wird im Folgenden ein Treibermodell auf Grundlage bestehender Erkenntnisse aus der Literatur abgeleitet und durch Evidenzen aus einer qualitativen Studie (s. dazu Schrempf 2017) ergänzt.

3.1 Vorüberlegungen und Herangehensweise Auf Grundlage der vorangegangenen Literaturanalyse wird im weiteren Verlauf ein Treibermodell abgeleitet, wobei Treiber die Agilität beeinflussende und ermöglichende Variablen bezeichnen. Daher definiert die vorliegende Arbeit Treiber als Fähigkeiten („capabilities“) niedrigerer Ordnung, die in und zwischen Organisationen eingesetzt werden, um Agilität zu ermöglichen. Hierzu zählen nach Brusset (2015) und Grant (1996) physische, finanzielle, menschliche, technologische und organisationale Ressourcen, aber auch Managementprozesse, -verfahren, -systeme und -strukturen (Teece et al. 1997). Da eine reine Auflistung dieser Treiber einem Modell nur ungenügend Rechnung tragen würde, werden einzelne Treiber aus Gründen der Komplexitätsreduktion in übergeordneten, abstrakten Dimensionen zusammengefasst, wozu die Autoren auf bestehende Klassifizierungen innerhalb der Literatur zurückgreifen. In Abhängigkeit des jeweiligen Forschungsstroms unterscheiden sich diese Klassifizierungen oftmals oder betrachten nur einzelne Zusammenhänge, wie beispielsweise den Einfluss von IT/Technologie auf Agilität (z. B. Overby et al. 2006). Als organisationale Fähigkeit sollte Agilität möglichst das gesamte Unternehmen betreffen und abbilden. Sharifi und Zhang (1999) nennen in diesem Zusammenhang vier grundlegende Dimensionen: Organisation, Technology, People und Innovation. Diese Dimensionen finden sich auch bei anderen Autoren (Goldman et al. 1995; Yusuf et al. 1999) wieder und ermöglichen eine umfassende Integration der identifizierten Agilitätstreiber. Daher wird diese Klassifizierung im Rahmen der vorliegenden Arbeit adaptiert und unter Beachtung der Arbeiten von Nijssen und Paauwe (2012) sowie Vázquez-Bustelo et al. (2007) um das Wissensmanagement ergänzt. Aktuelle Veröffentlichungen unterstreichen, dass Agilität auch ein systematisches Wissensmanagement erfordert (Cegarra-Navarro et al. 2016; Vázquez-Bustelo et al. 2007). Wissen sollte aktiv generiert, gespeichert und den Mitarbeitern zugänglich gemacht werden (Jantunen 2005). Wissensmanagement unterstützt eine schnelle Reaktionsfähigkeit und Problemlösung und trägt dazu bei, dass Unternehmen agil reagieren können (Nijssen und Paauwe 2012; North 2017). Diese dynamisierende Funktion des Wissensmanagements kann in den identifizierten Dimensionen nicht abgebildet werden und begründet die Aufnahme als ergänzende Dimension in dem abgeleiteten Modell. Die Tab. 4 fasst die identifizierten Dimensionen von Agilität zusammen und verortet ausgewählte Arbeiten innerhalb dieser Dimensionen. Für eine ausführliche Begründung der jeweiligen Dimension wird auf die zitierten Arbeiten ­verwiesen.

634

F. Schrempf und M. Schwaiger

Tab. 4  Gegenüberstellung von Agilitätsdimensionen. (Quelle: Eigene Darstellung) Autor

Organisation Mensch/ Technologie Management

Goldman et al. (1995)

+

+

Sharifi und Zhang + (1999)

+

+

Vinodh und + ­Aravindraj (2012)

+

+

Chakravarty et al. (2013)

Innovation

Wissensmanagement

+

+

Nijssen und Paauwe (2012)

+

+

Vázquez-Bustelo et al. (2007)

+

+

+ +

+

Als Zwischenfazit kann festgehalten werden, dass eben diese identifizierten Dimensionen (auf Basis der Ergebnisse aus den entsprechenden Arbeiten) eine agile Ausrichtung ermöglichen. Im Folgenden wollen wir diesen fünf Dimensionen Treiber zuordnen, wozu wir die aus der Literatur gewinnbaren Hinweise mit den Erkenntnissen aus einer Reihe von Experteninterviews anreichern, die im Rahmen einer qualitativen Studie (s. dazu Schrempf 2017) gewonnen wurden. Die Stichprobe der Befragten setzt sich aus 15 Führungskräften und drei Unternehmensberatern zusammen. Die Interviews dauerten im Schnitt 40 min, Details können Tab. 5 entnommen werden.

3.2 Agilitätsdimensionen und Treiber Basierend auf den aus der Literatur entnommenen Dimensionen lässt sich das in Abb. 1 gezeigte Agilitätsmodell ableiten, dem nachfolgend relevante Treiber zugeordnet werden. Zuerst werden die identifizierten Treiber der jeweiligen Dimension anhand der einschlägigen Literatur diskutiert und anschließend durch ausgewählte Zitate aus den Interviews ergänzt. Abschließend werden Probleme sowie Lösungsansätze aus der qualitativen Studie für jeden Treiber tabellarisch zusammengefasst. Organisation spiegelt die erste Dimension des Agilitätsmodells wider. Allgemein kann das Bestreben festgehalten werden, die Organisationsstruktur an das schnelle Tempo der Umwelt anzupassen. Klassische hierarchische Strukturen einschließlich zentralisierter Kontrollinstanzen können in stabilen Umgebungen unterstützend wirken, sind aber ungeeignet, wenn Organisationen in der volatilen Geschäftswelt schnell reagieren müssen (Nold und Michel 2016). Dies steht im Einklang mit den Erkenntnissen verschiedener Autoren, denen zufolge Organisationen mit traditionellen, hierarchischen Strukturen einschließlich starker Führungs- und Kontrollinstanzen von Natur aus, also

Survival of the Quickest – Agilität als organisationale …

635

Tab. 5  Übersicht über die Befragungsteilnehmer. (Quelle: Eigene Darstellung) Nr.

Alter

Position

1

39

2

Abteilung

Industrie

Mitarbeiter

Cluster

Agilitäts-Coach Selbstständig & Berater

Consulting



Consulting

36

Teammanager

Private ­Insurance

Insurance

27.000

Unternehmen

3

k. A.

Manager

Controlling

Tele350.000 kommunikation (Mischkonzern)

Unternehmen

4

k. A.

Teammanager

Vertrieb

Automotive

350.000

Unternehmen

5

48

Abteilungsleiter Softwareentwicklung

Automotive 220.000 (Mischkonzern)

Unternehmen

6

k. A.

Manager

Online-­ Plattform

Automotive

282.000

Unternehmen

7

53

Berater

Aufsichtsrat

Teleshopping

1300

Unternehmen

8

33

Projektmanager Inhouse ­Consulting

Banking

129.000

Unternehmen

9

41

CEO

Innovation Lab

Consulting

80

Consulting

10

45

Group vice President

Marketing

Electronics

7800

Unternehmen

11

45

Teammanager

Shared Services Manufacturing 351.000 (Mischkonzern)

Unternehmen

12

k. A.

Business Development

Strategie

E-Commerce

100

Unternehmen

13

27

CEO



Logistik

13

Start-up

14

29

CEO



Mobility

16

Start-up

15

43

Vice-President

Produktentwicklung

Tele3841 kommunikation

Unternehmen

16

48

Head-department Manager

Digitalisierung

Facility Management

5200

Unternehmen

17

32

Lead Manager

Innovation Lab

Building

1534

Unternehmen

18

48

CEO



Consulting

20

Consulting

„inherently anti-change“ sind (Hugos 2009; Nijssen und Paauwe 2012). In großen und komplexen Unternehmen dauert es oft zu lange, bis das Management auf den obersten Hierarchieebenen Entscheidungen trifft. Außerdem sind im Entscheidungsprozess oft mehrere Ansprechpartner aus verschiedenen Abteilungen involviert, was eine effiziente Reaktion erschwert. Agilität erfordert daher flexible Strukturen und eine dezentrale Entscheidungskompetenz. Das Management muss eine Organisation aufbauen, die den Bedürfnissen der Menschen gerecht wird, ihre Kreativität und Unabhängigkeit fördert

636

F. Schrempf und M. Schwaiger

Abb. 1   Agilitätsbeeinflussende Dimensionen. (Quelle: Eigene Darstellung)

und ihr volles Potenzial ausschöpft (Nold und Michel 2016). Alles in allem spiegelt sich eine flexible, befähigende, schnelle Struktur zur Verteilung von Managementkompetenz in einem dezentralen Aufbau wider, wobei eine Veränderung der Organisationsstruktur wiederum dem Management obliegt (Goldman et al. 1995). Die Organisationsstrukturen klassischer Unternehmen sind eigentlich aus dem Militärischen abgeleitet. Es gibt Hierarchien, Stufen, Grade usw. […] das ist ein Militärmodell. […] diese gehören jetzt in dieser neuen eruptiven, digitalen, dynamischen Welt der Vergangenheit an. Das heißt, das Problem ist ganz einfach: die starre Organisationsform passt letztendlich nicht zu diesen dynamischen Umfeldern, Märkten, Entwicklungen, die wir erleben, die sehr schnell sind, die sehr kurzlebig sind, die teilweise sogar sprunghaft und erratisch und bisweilen auch schwer vorherzusehen sind (Interview 10, Group Vice President, männlich, 45 Jahre).

Basierend auf diesen Untersuchungsergebnissen und der vorangegangenen Diskussion lassen sich vier wesentliche Treiber für eine agile Unternehmensausrichtung ableiten, die sich auf die organisationale Infrastruktur (Organisation Dimension) beziehen: flexible Strukturen und Prozesse, flache Hierarchien und eine produktive Fehlerkultur. Die Tab. 6 zeigt hierzu identifizierte Probleme und mögliche Gegensteuerungsmaßnahmen. An die Organisation anschließend kann die Ebene der menschlichen Ressourcen herangezogen werden, wobei Befähigung, Motivation und Förderung Führungsaufgaben darstellen (Goldman et al. 1995). „Menschen […] sind wahrhaftig das wertvollste Kapital eines agilen Unternehmens“ (Goldman et al. 1995, S. 89). Die menschliche Dimension umfasst alle Maßnahmen zum Erhalt und zur Fortbildung bestehender sowie zur Rekrutierung zukünftiger Arbeitskräfte. Dazu gehören insbesondere Human-Ressource-Praktiken, die dazu beitragen, hoch qualifizierte, motivierte und eigenverantwortliche Mitarbeiter mit ausgeprägtem Teamgeist zu rekrutieren und weiterzuentwickeln (Vázquez-Bustelo et al. 2007). Im Einklang damit haben bereits frühere Studien den positiven Zusammenhang zwischen

Survival of the Quickest – Agilität als organisationale …

637

Tab. 6  Ergebnisse aus den Interviews: Strukturen, Hierarchie und Prozesse (Organisation). (Quelle: Eigene Darstellung) Treiber

Identifizierte Probleme

Handlungsempfehlungen

Struktur

• Starr und veraltet • Strukturen passen nicht mehr zum dynamischen Umfeld •Z  u viele Regeln und ­Verantwortungsbereiche • Isolierte Abteilungen (Silos)

2, 4, 7, 10, 13 • Temporäre Strukturen in Abhängigkeit von Aufgaben und Teams • Dynamisch und anpassungsfähig • Flexible und interdisziplinäre Teams • Orientierung an jungen Unternehmen (Start-ups)

Hierarchie

• Widersprüchliche Zuständigkeiten • Fehlkommunikation und Missverständnisse • Zu langsame Entscheidungsprozesse • Interdisziplinäre Zusammenarbeit schwierig

• Flache Hierarchien • Funktionelle und operative Themen sollten unabhängig von Hierarchiestufen behandelt werden • Kleine, auf Projektbasis zusammengestellte, selbstbestimmte Teams mit einem Projektverantwortlichen

Prozesse

• Schneller, transparenter und • Standardisierte und starre effizienter Prozesse führen zu Kreativitätsverlust und Einschränkung • Bessere Ausrichtung auf Kundenwünsche der Flexibilität • Anpassbare und flexible Prozesse

Kultur

• Kein Raum für eigenverantwortliches und selbstständiges Handeln • Angst vor Fehlern •K  ultur wird als nicht veränderbar empfunden

Interview

2, 7, 13, 16, 17

1, 2, 10

1, 5, 7, 8, 15, 16 • Unternehmerisches Denken fördern • Kreativität und Eigeninitiative fördern • Etablierung einer Fehlerkultur („trial and error“)

Mitarbeitern und organisationaler Agilität diskutiert (beispielsweise Dyer und Ericksen 2006; Nijssen und Paauwe 2012; Muduli 2013). Unter agiler Arbeiterschaft („agile workforce“) versteht Muduli (2013) Menschen mit einer breiten Vision und der Fähigkeit, mit Marktturbulenzen umzugehen, indem sie die Vorteile einer agilen Ausrichtung (dynamische Bedingungen wie abrupte Veränderungen von Kundenwünschen) erkennen und nutzen. Im Detail bedeutet das für Unternehmen, Teamarbeit zu fördern und einen Schwerpunkt auf Weiterbildungen sowie Schulungen zu legen, die Eigenschaften und Fähigkeiten von agilen Arbeitskräften fördern (Tab. 7). Technologie bezieht sich hauptsächlich auf die Integration eines fortschrittlichen Designs, innovativer Lösungen und eines leistungsfähigen Informationssystems (Vázquez-­ Bustelo et al. 2007). Organisationen sollen technologiebewusst handeln und als Pioniere in der

638

F. Schrempf und M. Schwaiger

Tab. 7  Ergebnisse aus den Interviews: Teamarbeit und Mitarbeiterförderung (Mensch). (Quelle: Eigene Darstellung) Treiber

Identifizierte Probleme

Handlungsempfehlungen Interview

Agile Arbeiterschaft

• Silodenken

• Funktionsübergreifende 1, 4, 5, 6, 10, 16, 17 Teams etablieren • Zusammenarbeit und Teamgeist fördern • Übertragung von Entscheidungsbefugnis auf die Mitarbeiter • Breite Auswahl an Weiterbildungsmöglichkeiten und Kompetenzschulungen • Interne Jobrotation

­ utzung aktueller Technologien agieren (Yusuf et al. 1999). Daher müssen Unternehmen N proaktiv nach Wegen suchen, wie sie sich Innovationen in den Bereichen Technologie und Informationstechnik (IT) zu eigen machen und die vorhandenen Ressourcen nutzen können, um neue Geschäftsfelder zu erschließen (Lu und Ramamurthy 2011). Verschiedene Autoren verweisen auf diese Fähigkeit durch eine informationstechnologische proaktive Haltung. Diese Haltung bringt zum Ausdruck, inwieweit eine Organisation mit neuen Technologien experimentiert sowie ein Klima fördert, das dabei unterstützt, neue Wege der Nutzung von (IT-) Technologie zu erproben (Lu und Ramamurthy 2011). Ferner sind IT und IT-Infrastrukturen wichtige Agilitätstreiber, die bei einer entsprechenden Gestaltung die Schaffung von Strukturen ermöglichen, die flexibel und anpassungsfähig an die volatile Umgebung sind (Breu et al. 2002; Tab. 8). Diese werden oftmals als IT-Kompetenzen und -Fähigkeiten in der Literatur zusammengefasst (z. B. Chakravarty et al. 2013; Liu et al. 2013; Sambamurthy et al. 2003). Agilität hat auch viel mit Technologie zu tun, also ich schreib nicht mehr auf Papier und ich drucke auch nichts mehr aus. […] Viele verschicken ja gar keine E-Mails mehr, sondern sind da auch schon bei irgendwelchen Messenger-Diensten […] wir im Haus nutzen auch Skype for Business, was halt teilweise einfach viel, viel schneller geht als jetzt irgendeine E-Mail zu schreiben. Also man braucht eine notwendige Ausstattung (Interview 8, Projektmanager, männlich, 33 Jahre). […] Extrem wichtig, es gibt kaum einen Prozess, der nicht mit IT unterstützt wird. Die Zeiten von Stift und Papier sind vorbei. Und dementsprechend ist eine gewisse Flexibilität und Agilität auch in der IT-Plattform einer der entscheidenden Erfolgsfaktoren […] (Interview 1, Consultant, männlich, 39 Jahre).

Eine weitere wesentliche Dimension wird als Innovation bezeichnet, deren Institutionalisierung eine der größten Herausforderungen für Unternehmen im 21. Jahrhundert

Survival of the Quickest – Agilität als organisationale …

639

Tab. 8  Ergebnisse aus den Interviews: IT-Infrastruktur und Fähigkeiten (Technologie). (Quelle: Eigene Darstellung) Handlungsempfehlungen

Interview

Agile IT• Veraltete Infrastruktur und Infrastruktur Systeme • Austausch von IT-Infrastruktur oftmals langwierig und kompliziert

Treiber

Identifizierte Probleme

• Hardware- und Softwarelösungen, die ein agiles Arbeiten ermöglichen • State-of-the-ArtTechnologie • Regelmäßige Updates und Investments • Kontinuierliche Weiterentwicklung von und Experimentieren mit neuen Lösungen

1, 2, 5, 8, 9, 10, 11

Agile ITFähigkeiten

• Integration von IT-Experten in die Projekte • IT als zentrale Schnittstelle etablieren • Kontinuierliche Weiterbildung

10, 14

• Oftmals isolierte IT-Abteilungen • Ablehnung von und Widerstand gegenüber (neuen) Technologien • Fehlende IT-Kompetenzen •K  ommunikations- und Schnittstellenprobleme mit der IT-Abteilung

d­ arstellt (Grantham et al. 2007). Um effizienter und effektiver als die Wettbewerber agieren zu können, muss die Organisation besser und schneller die Bedürfnisse der jeweiligen Zielmärkte und der Kunden antizipieren und adressieren können (Narver et al. 2004). Markt- und Innovationsorientierung sind daher wesentliche Bestandteile einer agilen Organisation, die sich gegenseitig ergänzen sollten (Hurley und Hult 1998). Dann Agilität im Bereich R&D, […], damit ich den drastischen Wandel am Markt auch abbilden kann (Interview 3, Leiter Controlling, männlich, k. A.). Andererseits ist bei uns jetzt auch dieser Gedanke, der Kunde steht viel mehr im Mittelpunkt. Alles auf den Kunden ausgerichtet, also diese Kundenzentrifizierung, was uns die Start-ups vorgemacht haben. Dass wir versuchen, viel stärker den Kunden in den Mittelpunkt zu stellen (Interview 8, Projektmanager, männlich, 33).

Verallgemeinernd gesprochen, kann eine Innovationsorientierung sowohl als ein Insideout-Prozess verstanden werden, der die internen Interessen und Fähigkeiten betont (z. B. FuE), als auch als ein Outside-in-Prozess, der die Kundenbedürfnisse berücksichtigt (Narver et al. 2004). Diese Eigenschaften werden im Rahmen der vorliegenden Arbeit unter dem Begriff proaktive Marktorientierung zusammengefasst. Dieser Treiber umfasst eine kontinuierliche Innovationsarbeit, die auf Basis von Marktbeobachtungen, Trends sowie Kundenwünschen stetig angepasst und weiterentwickelt wird (Tab. 9).

640

F. Schrempf und M. Schwaiger

Tab. 9  Ergebnisse aus den Interviews: Marktorientierung und unternehmerische Wachsamkeit (Innovation). (Quelle: Eigene Darstellung) Treiber

Identifizierte Probleme Handlungsempfehlungen

Proaktive Marktorientierung

• Administrative Prozesse behindern und bremsen Entwicklung • Entwicklungsprozess von der Idee bis zum Produkt oftmals zu langwierig • Ignoranz gegenüber Veränderungen

Unternehmerische Wachsamkeit

• Unternehmen haben • Spin-offs und externe 3, 5, 7, 8, 9, 11, 16, 18 Kollaborationen zu viele Vorschriften und können nicht frei • Inkrementelle Vorgehensweisen agieren • Mitarbeiter auf • Oftmals fehlende Bereitschaft, in Ideen externe, befristete Innovationsprozesse zu investieren aussenden • Betriebsblindheit

Interview

1, 3, 4, 8,13 • „Minimum viable product“ • Technology Scouting • Branchenübergreifendes Benchmarking • Starke Kundenorientierung

Zusätzlich ergaben die Interviews, dass Unternehmen verstärkt die Zusammenarbeit und den Austausch mit jungen Unternehmen (Start-ups) suchen und mit innovativen Arbeitsmethoden experimentieren. Sambamurthy et al. (2003) verweisen in diesem Zusammenhang auf eine unternehmerische Wachsamkeit („entrepreneurial alertness“), die als zusätzlicher Treiber in das Modell adaptiert wird. Da haben wir gemerkt, das passt jetzt in diesen traditionellen Automotive-Bereich nicht rein. Wir gründen einen Bereich E-Bikes aus, der dann, als eigene Einheit, agil und schnell auf dem Marktfeld agieren kann. Genauso gibt es die sogenannte [Name der Firma] Startup-Plattform, und diese Start-up-Plattform versucht ganz kreativ, ganz agil zu handeln, um quasi nicht von diesen ganzen Konzernregularien ständig eingegrenzt zu werden […] (­Interview 3, Leiter Controlling, männlich, k. A.).

Zuletzt stellt auch das Management von Wissen eine wichtige Dimension dar, die organisationale Agilität beeinflussen kann. Vermehrt widmen sich wissenschaftliche Arbeiten den Zusammenhängen zwischen Wissensgenerierung, -teilung, -nutzung und Agilität (Alavi et al. 2014; Cegarra-Navarro et al. 2016; Tallon und Pinsonneault 2011). Volatile und sich verändernde Umgebungen erfordern von Unternehmen ein schnelles und effizientes Management des eigenen Wissens, das sowohl internen Prozessen als auch externen Quellen entstammen kann (Cegarra-Navarro et al. 2016). In diesem Zusammenhang lässt sich der Wissensmanagementprozess in Wissensgenerierung und -anwendung unterteilen (Tab. 10). Der Prozess der Wissensgenerierung wurde in der Literatur durch unterschiedliche Begriffe wie Wissenstransfer, Wissenserwerb oder Wissensbildung

Survival of the Quickest – Agilität als organisationale …

641

Tab. 10  Ergebnisse aus den Interviews: Wissensgenerierung und -anwendung (Wissensmanagement). (Quelle: Eigene Darstellung) Treiber

Identifizierte Probleme

Agile Wissensgenerierung

• Halbwertszeit von Wis- • Aktiv unterschiedliche sen, insbesondere in der Stakeholdergruppen mit einbeziehen IT (Schnelllebigkeit) • Oftmals ohne Prozess, • Softwareunterstützung (z. B. Crowdsourcing) informell

Agile Wissensanwendung • Wissen ist oftmals outgesourced, z. B. bei Dienstleistern • Wissen ist vorhanden, aber keiner weiß wo • Mangelnde Dokumentation von Wissen

Handlungsempfehlungen Interview

• Wissen in-house verwerten und speichern • Mentoring • Zentrale Wissenszentren (Intranet)

12, 16

1, 2, 4, 7, 9, 12

beschrieben (einen detaillierten Überblick geben Martelo-Landroguez und Cegarra-­ Navarro 2014). Unter Wissensanwendung werden die Fähigkeit und die entsprechenden Werkzeuge sowie Prozesse zusammengefasst, die dabei unterstützen, das erlernte ­Wissen auf neue Erkenntnisse und Situationen anzuwenden und nutzbar zu machen (MarteloLandroguez und Cegarra-Navarro 2014). Auch in den Interviews wurde die Relevanz von Wissensmanagement in Bezug auf eine agile Organisation bestätigt. Einerseits erklärten die Befragten, dass es oft schwierig sei, auf Wissen zuzugreifen und die Mitarbeiter oft einfach nicht wüssten, wen sie fragen oder wo sie bestimmtes Wissen finden können (Interview Nr. 1, 13). In diesem Zusammenhang spielt der Wissensaustausch eine entscheidende Rolle, beispielsweise in Form einer zentralisierten Speicherplattform (Interview Nr. 13), oder, wie von einem Teilnehmer erläutert, in Form eines Mentoring-Programms, bei dem neue und v. a. junge Mitarbeiter einen leitenden Mitarbeiter zur Seite gestellt bekommen (Interview Nr. 14). Darüber hinaus nimmt die Halbwertszeit von Wissen aufgrund der sich schnell verändernden Umwelt immer weiter ab, daher müssen Unternehmen interne Wissenszentren aufbauen und externes Wissen strukturieren und aktiv speichern (Interview Nr. 7, 16). Die bisherigen Ausführungen in diesem Abschnitt helfen dabei, einer Konzeptualisierung und Operationalisierung von Agilität näherzukommen. Der Prozess ist aber solange nicht abgeschlossen, wie die bisweilen noch auf hoher Abstraktionsebene angesiedelten Subkonstrukte (wie z. B. agile Wissensgenerierung) nicht durch manifeste Variablen messbar gemacht sind. Diese Frage und die Klärung des Personenkreises („rater“), d. h. die zur Bewertung der manifesten Variablen herangezogenen Studienteilnehmer, stellen bis dato ungelöste Herausforderungen dar. Vorbereitende Arbeiten hierzu finden sich bei Schrempf (2017); eine Vertiefung würde den hier gesetzten Rahmen allerdings sprengen. Bei der Auswahl der in die Erörterung einbezogenen Beiträge wurden die wichtigsten und am stärksten richtungsweisenden Arbeiten zur Thematik aufgegriffen. Diese (durch häufige Zitierungen als grundlegend erkennbaren Erkenntnisse) wurden durch die Arbeiten

642

F. Schrempf und M. Schwaiger

Abb. 2   Konzeptionelles Agilitätsmodell mit Dimensionen und Treibern. (Quelle: Eigene Darstellung)

weiterer Autoren ergänzt, deren Forschung zum Verständnis von Agilität wesentlich beiträgt. Die hier gewählte Gruppierung in fünf Dimensionen folgt im Wesentlichen Sharifi und Zhang (1996, 1999), die mit ihren Publikationen vielzitierte Beiträge zu diesem Fachbereich lieferten und zudem den Einfluss diverser Treiber bzw. Items auf die Unternehmensagilität analysiert haben. Die Abb. 2 greift diese Dimensionen aus Abb. 1 auf und vervollständigt das Modell um die identifizierten Agilitätstreiber.

4 Fazit Als unstrittig wird erachtet, dass sich aktuell jede Organisation mit einer mehr oder minder ausgeprägten Dynamik in ihrem Umfeld konfrontiert sieht. Die Treiber hinter dieser Dynamik sind vielfältig. Jedoch erfordern alle, dass Organisationen mindestens ein gewisses Maß an organisationaler Agilität aufweisen, um einen Wettbewerbsvorteil erzielen und sich im turbulenten Umfeld verteidigen zu können. Aufgrund der Komplexität des Konstrukts Agilität und der unterschiedlichen Adaptionen der verschiedenen Forschungsbereiche müssen Erkenntnisse zur organisationalen Agilität weiter strukturiert und konsolidiert werden (Conboy 2009). Wir wollen hierzu einen Beitrag leisten, indem wir das aktuelle Verständnis von Agilität durch ausführliche Literaturanalyse vorantreiben. Die Konsolidierung von

Survival of the Quickest – Agilität als organisationale …

643

Definitionen und Begrifflichkeiten sowie die Abgrenzung zu verwandten Konstrukten legen nahe, dass Agilität als vielschichtige Fähigkeit behandelt werden sollte und nicht von außen erworben werden kann. Vielmehr erfordert Agilität einen kontinuierlichen Wandlungsprozess, bei dem Unternehmen die individuelle Balance zwischen schneller Anpassung und Kontinuität finden müssen. Sind die Probleme einer Messung unternehmerischer Agilität in zumindest akzeptabler Weise überwunden, stellt sich unmittelbar anschließend die Frage nach einer Steuerung, einer Verbesserung der Agilität. Zur Ableitung von Handlungsempfehlungen bietet sich ein Treibermodell an, dessen Parametrisierung eine Rangfolge möglicher Ansatzpunkte liefert, die Unternehmensspezifika in ausreichendem Maß Rechnung tragen. Der Stand der Forschung legt nahe, dass die Treiber anhand der in Abb. 2 verwendeten fünf Dimensionen klassifiziert werden sollten. In erster Linie soll auf Basis der gewonnenen Erkenntnisse ein ganzheitliches Treibermodell abgeleitet werden, das zum einen den Einfluss einzelner Dimensionen auf die organisationale Agilität aufzeigt und zum anderen eine empirische Agilitätsmessung ermöglicht. Zuerst gilt es, die keineswegs triviale Aufgabe der Messung und Erklärung von Agilität – d. h. die valide Operationalisierung der Treiber-Items sowie der Reflexionen von Agilität samt etwaiger damit verbundener Outcomes – zu lösen und die Frage der zuständigen „rater“ (also zur Bewertung der Items und Reflexionen geeigneter Personenkreise) zu klären. Anschließend wird sich in empirischen Studien zeigen müssen, ob ein umfassendes Agilitätsmodell neue und praktisch verwertbare Einsichten liefert, wie der unternehmerische Erfolg nachhaltig optimiert werden kann, und darüber hinaus, inwieweit solche Erkenntnisse über das hinausgehen, was die interessierte Community aus verwandten Studien, wie etwa den Arbeiten zu organisationaler Ambidextrie, Flexibilität, Lean-Management etc. bereits weiß. In diesem Zusammenhang bleibt es ferner interessant zu beobachten, inwieweit sich die Anforderungen für agile Wettbewerber zukünftig verändern. Es ist zu klären, ob überhaupt zeitlich stabile Regeln aufgestellt werden können oder ob nicht eine etwaige Ausrichtung an Forschungsergebnissen zur Agilität dazu führt, dass Wettbewerbsvorteile wegen zunehmend deckungsgleicher Aktivitäten der Wettbewerber eine höchst temporäre Erscheinung bleiben. Forscher, insbesondere aus den strategischen Managementdisziplinen, sind daher aufgerufen, das Agilitätskonzept im Rahmen von empirischen Tests und Case Studies zu untersuchen. Nur der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass auch regionale und kulturelle Unterschiede sowie Branchenspezifika wesentliche Moderatoren in einem Agilitätsmodell sein könnten. Zusammenfassend kann Agilität als dynamische Fähigkeit einer Organisation, sich schnell an Markt- und Umweltveränderungen anzupassen, verstanden werden (North 2017). Ein wesentlicher Treiber dieser Veränderungen ist die Digitalisierung. In vielen Fällen hat sie zu einer kompletten Neudefinition des Mix aus Kernkompetenzen und Kapazitäten geführt und zugleich althergebrachte Zugangsbarrieren beseitigt, sodass branchenfremde Unternehmen als Wettbewerber auftreten können (Doz und Kosonen 2008). Agilität wird in diesem Zusammenhang sowohl als strategischer als auch organisatorischer Erfolgsfaktor

644

F. Schrempf und M. Schwaiger

gesehen. Für Unternehmen jeder Art und Größe spielt die Veränderungs- und Wandlungsfähigkeit eine wesentliche Rolle, um wettbewerbsfähig zu bleiben. Bislang können Manager den Agilitätsstatus des Unternehmens subjektiv einschätzen bzw. z. T. auch messen, aber sie wissen oftmals nicht, wie sie Agilität initiieren und proaktiv managen können. Ein ganzheitliches Modell kann ihre Entscheidungsfindung und eine erfolgreiche Transformation von Geschäftsprozessen unterstützen, indem es zu einem tiefgreifendes Verständnis darüber führt, was Agilität und damit eine gesteigerte Leistungsfähigkeit des Unternehmens ermöglichen. Voraussetzung für die Erreichung dieses ambitionierten Ziels ist allerdings, dass die hier skizzierten Probleme – die im Übrigen für weite Teile der empirischen Erfolgsfaktorenforschung gelten – überwunden werden können. Erst dann werden sich belastbare Belege für die immer wieder postulierte Schlüsselfaktorenrolle der Agilität auf dem Weg zu einer schnellen Anpassung an Marktveränderungen für Agilität als eine Art Allzweckwaffe im Behauptungskampf gegen aggressive Start-ups (EYGM Limited 2013) erbringen lassen. Danksagung Teile dieses Beitrags wurden im Rahmen einer Projektstudie für den Master of Business Research (Ludwig-Maximilians-Universität München) sowie als wissenschaftlicher Beitrag unter dem Titel Deriving an Organizational Agility Model von Fabian Schrempf veröffentlicht und auf dem 13th EIASM Interdisciplinary Workshop On Intangibles, Intellectual Capital & Extra-Financial Information präsentiert. Zudem bedanken sich die Autoren bei den Bachelorstudenten Florian Haberler und Rebekka Stauber, die durch Ihre Abschlussarbeit am Institut für Marktorientierte Unternehmensführung diesen ­Beitrag unterstützt haben. Fabian Schrempf fungierte als Betreuer der jeweiligen Arbeit und unterstützte die Studenten bei der Erstellung und Spezifizierung der Forschungsfragen und des -designs. Zudem entwickelte er den qualitativen Fragebogen und stellte das Agilitätsmodell mit den entsprechenden Dimensionen zur Verfügung.

Literatur Agarwal, A., Shankar, R., & Tiwari, M. K. (2006). Modeling the metrics of lean, agile and leagile supply chain: An ANP-based approach. European Journal of Operational Research, 173(1), 211–225. Aghina, W., De Smet, A., & Weerda, K., (2015). Agility: It rhymes with stability. McKinsey Quarterly, S. 1–120. McKinsey. http://www.mckinsey.com/business-functions/organization/our-insights/agility-it-rhymes-with-stability. Zugegriffen: 10. Apr. 2018. Alavi, S., Abd. Wahab, D., Muhamad, N., & Arbab Shirani, B. (2014). Organic structure and organisational learning as the main antecedents of workforce agility. International Journal of Production Research, 52(21), 6273–6295. Aravind Raj, S., Sudheer, A., Vinodh, S., & Anand, G. (2013). A mathematical model to evaluate the role of agility enablers and criteria in a manufacturing environment. International Journal of Production Research, 51(19), 5971–5984. Baker, J. (1996). Agility and flexibility: What’s the difference? Cranfield school of management Working paper series, 5(1), 1–6.

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Dr. Fabian Schrempf war bis 2018 als wissenschaftlicher Mitarbeiter am IMM beschäftigt und widmete sich in seiner Dissertation u. a. der Messung und Erklärung von Agilität. Seit dem Abschluss seiner Promotion ist Herr Dr. Schrempf strategisch in den Bereichen Digitalisierung und Entrepreneurship in Europa und dem Silicon Valley tätig. Prof. Dr. Manfred Schwaiger ist Vorstand des Instituts für Marktorientierte Unternehmensführung (IMM) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In seiner Forschung befasst er sich aktuell mit dem Management immaterieller Wertgegenstände und den Auswirkungen von Big Data auf die Gesellschaft im Allgemeinen und Konsumenten im Speziellen.

Herausforderungen für das IT- Architekturmanagement im Zuge der Digitalisierung Stephan Wildner

1 Neue Aufgaben für das IT-Architekturmanagement Unter Architekturmanagement (oder Enterprise Architecture Management) versteht man die Analyse, Planung und (Um-)Gestaltung der IT-Landschaft von Organisationen entsprechend der Organisationsstrategie. Hintergrund solcher Tätigkeiten ist es, sämtliche an der Gestaltung einer IT-Landschaft beteiligten Akteure (Organisationsleitung, Fachbereiche, IT-Manager, Projektleiter, Architekten, Administratoren etc.) durch ein gemeinsames methodisches Vorgehen zusammenzubringen, um einerseits einzelne konkrete Veränderungen der IT-Landschaft (z. B. durch die Ablösung einer Applikation durch eine andere) erfolgreich umzusetzen und andererseits insgesamt eine IT-Landschaft zu schaffen und weiterzuentwickeln, die der strategischen Ausrichtung der Organisation dient (Dern 2006, S. 12–14). Aufgrund des Umfangs heutiger IT-Landschaft wird das Architekturmanagement oft durch spezielle Softwarewerkzeuge unterstützt (für eine Übersicht s. Gartner 2017). Aus den verschiedenen Datenquellen der einzelnen Akteure werden Informationen in diesen Softwarewerkzeugen zusammengetragen, wodurch ein integriertes Abbild der IT-­ Landschaft geschaffen wird. Damit lassen sich Redundanzen bei Architekturinformationen in einer Organisation vermeiden. Zugleich erlauben die Softwarewerkzeuge die Bildung von Sichten auf die IT-Landschaft, sodass jeder Akteur die für ihn individuell wichtigen Informationen über die IT-Landschaft erhält. Die Sammlung der Architekturinformationen in einem geeigneten Softwarewerkzeug umfasst mehrere Schritte:

S. Wildner (*)  Kassel, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_27

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S. Wildner

1. In der Regel wird mit der Abbildung der Informationssysteme begonnen, d. h. mit den Elementen der IT-Landschaft, die dem Endbenutzer Funktionalität für seine fachliche Tätigkeit zur Verfügung stellen. Dies umfasst die fachlichen Applikationen und ihre technischen Komponenten. 2. Anschließend werden die Applikationen in den Geschäftskontext eingebettet. Für diesen Zweck werden die Aufbauorganisation in Form von Organisationseinheiten und die Geschäftsfähigkeiten (auch Domänen oder Capabilities genannt) erfasst. Letztere beschreiben auf einer hohen Abstraktionsebene, was eine Organisation tun kann bzw. tun sollte. Mit der Zuordnung von Applikationen zu Organisationseinheiten und Geschäftsfähigkeiten ergibt sich ein Bild darüber, von wem welche Applikationen für welchen Zweck verwendet werden. 3. Die Beschreibung der Applikationen kann dann um den Informationskontext erweitert werden. Hier wird beschrieben, welche Austauschbeziehungen (d. h. Informationsflüsse oder Interfaces) zwischen den Applikationen bestehen und welche Daten darüber ausgetauscht werden. 4. Schließlich kann der technische Unterbau der Applikationen detailliert werden. Hier wird beschrieben, wo Applikationen installiert sind, auf welchen Geräten die Installationen durchgeführt wurden (seien es physische oder virtuelle Server oder mobile Endgeräte) und – sofern dies möglich ist – auch angegeben, an welchem Standort sich die Geräte befinden. Damit liegt ein grundlegendes Abbild der IT-Architekturen und der IT-Basisinfrastruktur einer Organisation vor, das dann Ausgangspunkt für verschiedene Analysen und schließlich die Planung von Soll-Architekturen ist (Abb. 1). Analysen können ad hoc erfolgen. Sinnvoll ist es aber, regelmäßig und anhand der Anforderungen des Geschäftsbetriebs die IT-Architektur zu überprüfen: Werden alle Organisationseinheiten bei ihren Tätigkeiten durch Informationssysteme unterstützt oder gibt es Lücken? Sind Informationssysteme für die Anwendungsfälle des Geschäftsbetriebs gerüstet oder müssten sie aktualisiert/ausgetauscht werden? Entsprechen Aufbau und verwendete Technologien den gemachten Vorgaben? Auf Basis der Analyseergebnisse werden Änderungen an den IT-Architekturen erarbeitet. Man erstellt sozusagen virtuell ein zukünftiges Bild der IT-Architekturen. Dies kann z. B. ein neues Informationssystem beinhalten, das ein bestehendes aktualisiert und dann aufzeigt, welche Schnittstellen zu anderen Systemen ersetzt/angepasst werden müssen, welche IT-Komponenten dafür notwendig sind etc. Bei der Erstellung der Soll-Architekturen sollen durchaus mehrere Szenarien parallel erstellt und miteinander verglichen werden (Vor- und Nachteile der Szenarien, z. B. hinsichtlich Zukunftsfähigkeit oder der entstehenden Kosten). Die Umsetzung des definierten Solls wird i. d. R. durch Projekte vorgenommen und führt zu einem neuen Ist-Zustand der IT-Architekturen. Um dies noch einmal hervorzuheben: Architekturmanagement wird explizit als Bindeglied von Geschäft und IT verstanden, das die Anforderungen des Geschäfts in

Herausforderungen für das IT- Architekturmanagement …

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Ist-Architektur erheben und abbilden

Ist-Architektur gemäß SollDefinition umbauen

Architektur analysieren

Soll-Architektur definieren Abb. 1   Vorgehen beim Architekturmanagement. (Quelle: Eigene Darstellung)

die richtigen IT-technischen Strukturen zu übersetzen vermag und zugleich – durch den obigen Analyseschritt – auch neue Ideen für das Geschäft aus IT-Sicht liefert. Im Idealfall ist es Teil eines strategischen Planungsansatzes, der Geschäfts- und IT-Strategie und ­Programm- und Projektportfoliomanagement beinhaltet. In einem seit mehreren Jahren beobachtbaren Prozess der Transformation von Unternehmen, der gemeinhin unter den Begriff der Digitalisierung gefasst wird, vollzieht sich eine immer umfassendere Ausstattung von Unternehmen mit Informationstechnik (IT). Dies erlaubt eine veränderte oder gänzlich neue Ausgestaltung von Geschäftsmodellen und Geschäftsprozessen (Wildner et al. 2017). Dabei wird nicht nur die sog. klassische IT ausgebaut, die eigene oder gemietete Rechen- und Speicherkapazitäten für Informationssysteme und die Ausstattung mit (mobilen) Endgeräten umfasst. Es kommt verstärkt IT in der Produktion und Logistik (Produktions-IT) und den Produkten selbst (Produkt-IT) hinzu. Über die Ausstattung mit Hardware hinaus nimmt damit auch die Anzahl der verwendeten Applikationen zu, wobei hier zunehmend Plattformen oder Dienste aus der Cloud genutzt werden. Gerade Produktions- und Produkt-IT sind für die im Rahmen der Digitalisierung ausgerufene Schaffung einer Industrie 4.0 bedeutsam. In dieser geht es ja gerade darum, möglichst viele an der industriellen Wertschöpfung beteiligte Akteure zu digitalisieren und zu vernetzen (Obermaier 2017, S. 8). Nur anhand eines Abbilds der IT-Architekturen und der Vorgabe von Leitlinien für die Architekturen lassen sich diese komplexen Systeme (die Systeme für Enterprise Resource Planning und Produktionsplanung und -steuerung

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S. Wildner

zusammenführen sollen) planen. Auch die durch die Vernetzung stark ansteigende Anzahl an Schnittstellen kann durch ein Architekturmanagement systematisch adressiert werden. Dies hat zwei miteinander in Beziehung stehende Auswirkungen auf den Aufgabenbereich des Architekturmanagements: • Es kommen neue Elemente hinzu, die als Bausteine der IT-Architekturen bzw. der IT-Basisinfrastruktur zu berücksichtigen sind. Nur mit der Einbeziehung dieser zusätzlichen Elemente kann eine integrierte Gesamtsicht auf die IT-Landschaft erhalten bleiben. Neue Elemente ergeben sich v. a. dann, wenn die Produktions- bzw. Produkt-IT architektonisch berücksichtigt werden soll. • Die Aufgaben des Architekturmanagements verändern sich. Mit den neu hinzukommenden Elementen erweitert sich der Umfang bestehender Aufgaben. Neue Aufgaben ergeben sich, wenn sich aufgrund gesetzlicher Vorgaben, wie z. B. der Datenschutz-Grundverordnung zur Neuregelung des Datenschutzes, Anforderungen an Reporting und Compliance ändern oder sich durch die verstärkte Cloud-Nutzung die Prinzipien verändern, nach denen langfristige IT-Architekturen festlegt werden. Diese Auswirkungen sind Thema des folgenden Beitrags. Ziel ist es, die Auswirkungen auf das Architekturmanagement genauer zu charakterisieren und Lösungsansätze aufzuzeigen. Die Lösungsansätze sollen – soweit vorhanden – anhand praktischer Fälle aufgezeigt werden. Jeder Fall ist in eine Fallbeschreibung gefasst, die eine anonymisierte Kurzbeschreibung des Unternehmens, die Ausgangssituation im Architekturmanagement und Lösungen bzw. Lösungsansätze beschreibt. Die hier angesprochenen Auswirkungen sind Erfahrungswerte aus der Beratungspraxis im Bereich des Architekturmanagements. Sie erheben folglich noch keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Dennoch zeigen sie auf, dass sich die Anforderungen an das Architekturmanagement und infolgedessen für die Fähigkeiten der Architekten, ihre Aufgaben und Prozesse im Wandel befinden. Dies ist für die methodische wie auch softwaretechnische Weiterentwicklung des Architekturmanagements von Bedeutung. Der vorliegende Beitrag versteht sich als Ansatz zur initialen Systematisierung der Auswirkungen, die sich aus der Digitalisierung ergeben.

2 Herausforderungen für das Architekturmanagement durch Cloud-Computing Cloud-Computing, d. h. die Nutzung der von Dritten bereitgestellten Rechen- und Speicherkapazität und Softwareumgebungen, wird zu den zentralen Elementen der Digitalisierung gezählt. Die Softwareumgebungen umfassen dabei verschiedene Abstraktionsebenen, von der Bereitstellung lediglich gemanagter Hardware über Laufzeitumgebungen für eigenentwickelte Software bis hin zur Bereitstellung fertiger und nur noch zu konfigurierender Software. Im Vergleich zu einem Betrieb im eigenen Rechenzentrum findet die

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Nutzung der angebotenen Dienste nach Bedarf statt (notwendige Ressourcen werden je nach Nachfrage erweitert oder reduziert) und wird ebenso abgerechnet (Repschläger et al. 2010, S. 6). Dies stellt das Architekturmanagement vor eine Reihe von Herausforderungen: • Ganz allgemein verändern sich damit die IT-Architekturen. Bei bestehenden Applikationen kann es zu einer Zunahme der Komplexität der Architekturen kommen, wenn für Applikationen hybride Modelle geschaffen werden, wobei sich ein Teil der Komponenten und Server noch in eigener Hand befindet und der andere Teil an den Service-Provider in die Cloud abgegeben wird. Gleiches gilt, wenn Applikationen nicht mehr monolithisch aufgebaut werden, sondern sich aus einer Vielzahl von (von verschiedenen Service-Providern stammenden) Diensten, z. B. in Form von Micro Services – d. h. eine bestimmte Funktionalität anbietende und individuell installierbare und ausführbare Module – zusammensetzen. Reduktionen der Komplexität ergeben sich, wenn Applikationen durch Software-as-a-Service-Angebote ersetzt werden. Architekten müssen auf solche Veränderungen vorbereitet sein. Sie müssen festlegen, auf welche Weise sie solcherlei Information erfassen und mit den anderen Architekturinformationen in Beziehung setzen. Außerdem muss sichergestellt sein, dass sie in die Entscheidungen, die zu solchen Veränderungen führen, einbezogen sind. Andernfalls bleiben gerade die durch technische Neuerung herbeigeführten Veränderungen der IT-Infrastrukturen bei Analyse und Planung unberücksichtigt. • Damit verändern sich auch die Fragestellungen des Architekturmanagements: Gegebenenfalls spielt die Hardware in der IT-Basisinfrastruktur zukünftig eine geringere Rolle, weil Cloud-Angebote zumeist ohnehin in virtualisierten Umgebungen betrieben werden. Viel wichtiger wird die Frage, welche Dienste man überhaupt in Anspruch nimmt und welche Umgebungen (Betriebssysteme, Laufzeitumgebungen) man nutzt, um einen Wildwuchs an verschiedenen Service-Providern und Komponenten zu vermeiden. Dieser würde zu schwerer handhabbaren IT-Architekturen führen und – durch die mehrfache Inanspruchnahme gleicher Dienste – auch mehr Kosten verursachen. • Neben dem klassischen IT-Betrieb bestellen und betreiben nun auch andere Abteilungen Cloud-Dienste und nehmen so Änderungen an der IT-Architektur vor (Herrmann 2016, S. 16). Hier ist das Architekturmanagement aufgefordert, die Änderungen nachzuhalten, um die Transparenz und damit die Planbarkeit der IT-Architektur nicht zu verlieren. Die grundsätzliche Herausforderung besteht darin, das Architekturmanagement in möglichst alle Prozesse und Entscheidungen über IT-Dienstleistungen einzubeziehen. Als Fallbeispiel dient hier ein Unternehmen der Automobilzulieferindustrie. Das Unternehmen betreibt schon seit Längerem ein Architekturmanagement und hat sich dem Einbezug des Cloud-Computings in das Architekturmanagement aus zwei Gründen gewidmet:

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• Abteilungen des Unternehmens sind im Rahmen von Projekten bereits mit Cloud-Computing aktiv, so sind z. B. neue Dienstleistungen auf der Basis cloudbasierter Applikationen in Entwicklung und erste Applikationen sollen in die Cloud umgezogen werden. In diese Aktivitäten ist das Architekturmanagement nicht von Anfang an eingebunden, sodass sich diese Aktivitäten noch nicht in der Abbildung der IT-Landschaft in dem für das Architekturmanagement genutzten Softwarewerkzeug niederschlagen. Folglich sind keine Analysen zur Cloud-Nutzung, z. B. hinsichtlich der entstehenden Kosten, möglich bzw. die Analysen bleiben unvollständig. • Außerdem besteht die Befürchtung, dass ohne den steuernden Einfluss des Architekturmanagements Cloud-Service-Provider und deren Cloud-Dienste unkontrolliert genutzt werden und eine zu vielfältige und schwer zu steuernde IT-Architektur entsteht. Zuerst ging es also darum, Transparenz über die IT-Architektur hinsichtlich der Cloud-Nutzung zu schaffen. Hierfür wurde ein Vorschlag für eine methodische und technische Machbarkeit erarbeitet. Der Vorschlag folgt drei Schritten: 1. Vorbereitung des Architekturwerkzeugs: Bei der Prüfung der Cloud-Nutzung zeigte sich, dass man aktuell v. a. virtuelle Server in der Cloud nutzte. Dabei kam zu großen Teilen Amazon Elastic Cloud Compute (Amazon EC2) zum Einsatz (Amazon 2018). Faktisch musste die IT-Infrastruktur im verwendeten Architekturmanagementsoftwarewerkzeug (Alfabet, Software AG) also um diese Geräte ergänzt werden. Das Werkzeug stellte modelltechnisch bereits ein Element zur Abbildung von Servern – das Gerät – zur Verfügung. Dies konnte genutzt werden. Für die Abbildung der EC2-Instanzen wurden lediglich weitere Ansichten im Werkzeug konfiguriert, um die für die Cloud-Instanzen spezifischen Informationen zu speichern und darzustellen (z. B. Instanz-ID, der Typ der Instanz oder der Standort des entsprechenden Rechenzentrums; siehe Abb. 2). 2. Anbindung der Datenquelle und das Architekturwerkzeug: Für den Abruf der Informationen aus der Cloud wurde eine eigene Softwarekomponente geschaffen. Diese empfängt über einen Aufruf des Application Programming Interfaces (API) des EC2-Diensts die festgelegten Informationen und speichert sie zwischen, bevor sie in regelmäßigen Abständen in das Architekturwerkzeug eingelesen werden. Das Werkzeug aktualisiert dabei bereits bestehende Instanzen und legt noch nicht vorhandene Instanzen an. 3. Integration der gelieferten Informationen: Die importierten Informationen mussten nun noch mit der im Architekturwerkzeug bereits bestehenden IT-Architektur verknüpft werden. Wichtig war hier v. a. die Zuordnung der Instanzen zu den Applikationen des Unternehmens, d. h. zu bestimmen, welche Applikationen auf welchen EC2-Instanzen installiert sind. Diese Zuordnung wurde mithilfe eines Workflows realisiert, der nach jedem Import auf nicht zugeordnete Instanzen prüft und entsprechende Mitarbeiter der für die IT-Infrastruktur zuständigen Abteilung informiert und sie in entsprechend konfigurierten Bildschirmmasken schrittweise durch die Eingabe der fehlenden Informationen leitet.

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Abb. 2   Darstellung einer Amazon-EC2-Instanz im Architekturwerkzeug Alfabet. (Quelle: Eigene Darstellung)

Erst mit dieser Zuordnung können sinnvoll Analysen durchgeführt werden: Welche Applikationen laufen in der Cloud? Sind Applikationen dabei, die personenbezogene Daten verarbeiten und deren Cloud-Einsatz gegebenenfalls zu überdenken ist? Welchen Anteil an Cloud-Installationen hat das Applikationsportfolio insgesamt? Die vorgestellten Schritte zur Einbindung der Informationen aus der Cloud wurden so konzipiert, dass weitere Anbieter von Cloud-Diensten (wie Microsoft Azure, Alibaba Cloud etc.) einfach durch Erweiterung der Konfigurationen der Werkzeuge ergänzt werden können. Der erarbeitete Vorschlag ist derzeit in Prüfung, erste Umsetzungen sind erfolgt. Diskutiert wird u. a., ob eine automatische Zuordnung von Instanzen zu Applikationen möglich ist, um die zeitaufwendige manuelle Eingabe abzulösen. Außerdem wurde bereits geprüft, dass auch Kosteninformationen über das Amazon-API abgerufen werden können, um die Kosten des Cloud-Einsatzes aggregiert im Architekturwerkzeug für Analysen zur Verfügung zu stellen. Anschließend ging es nun um die Frage, welche Architekturprinzipien und Vorgaben das Architekturmanagement bezüglich der Cloud-Nutzung formulieren sollte und wie diese in der Organisation durchgesetzt werden könnten. Der erste Teil dieser Frage bezieht sich auf verschiedene Aspekte der IT-Architektur: • Auswahl der Cloud-Service-Provider: Die in Anspruch zu nehmenden Cloud-­ServiceProvider sind zu definieren. Dies ist letztlich eine Sourcing-Entscheidung, d. h. abhängig von den funktionalen und nichtfunktionalen Anforderungen an die zu liefernden Cloud-Dienste, den angebotenen vertraglichen und preislichen Bedingungen der Provider und der eigenen Sourcing-Strategie (z. B. Single oder Multiple Sourcing) wird eine Anbieterauswahl durchgeführt. Diese Entscheidung ist durch das Unternehmen bereits getroffen worden. • Definition von Plattformen: Hier wurde festgelegt, welche IT-Komponenten auf den Cloud-Instanzen überhaupt genutzt werden dürfen. Das kann z. B. heißen, dass ein Applikationsserver auf Basis des Windows-Betriebssystems immer wie folgt definiert

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wird: Er enthält das Betriebssystem Windows Server 2012 R2, den Datenbankserver SQL Server 2012 und den Web-Server IIS 8.5. Solche Festlegungen sollen (auch aus Gründen des Lizenzmanagements) sicherstellen, dass auf den virtuellen Rechnern nicht willkürlich Systeme aufgesetzt und Software installiert wird. Diese hat das Unternehmen mit seiner IT-Infrastruktur-Abteilung besprochen und entsprechend im Architekturwerkzeug modelliert. • Vorgaben für Cloud-Instanzen: Von den Cloud-Service-Providern können über die bereitgestellten API umfangreiche Einstellungen für Cloud-Instanzen vorgenommen werden. Diese steuern den operativen Betrieb der Instanzen und sind für das Architekturmanagement in den meisten Fällen nicht von Interesse. Es würde daher wenig Sinn machen, diese im Architekturwerkzeug verfügbar zu machen und jeweils detailliert für neue Instanzen zu planen. Der Pflegeaufwand wäre enorm und stünde einem kaum nachvollziehbaren Nutzen gegenüber. Trotzdem können einige dieser Einstellungen aus Sicht der Planung der Architektur Sinn machen. Dies ist dann der Fall, wenn unternehmensweit eine Standardisierung geschaffen werden soll oder die Einstellungen Compliance-relevant sind. Die Einstellungen wurden entsprechend ausgewählt und im Architekturwerkzeug hinterlegt: So kann z. B. der Standort des Rechenzentrums von Bedeutung sein, wenn Applikationen personenbezogene Daten verarbeiten. In diesem Fall muss geprüft werden, ob der für eine Applikation ausgewählte Standort aus Sicht des Datenschutzes rechtens ist. Die architektonischen Festlegungen werden aktuell in einen IT-Service-Prozess eingebaut, der zur Beantragung von Serverkapazitäten für neue Applikationen genutzt wird. Neue Server werden unternehmensweit nur bereitgestellt, wenn der vorgegebene Prozess durchlaufen und von den IT-Verantwortlichen bewilligt wurde. Mit dem Einbau der Cloud-relevanten Informationen wird nun auch die Cloud-Nutzung im Unternehmen mit von dem Prozess abgedeckt. Der Serviceprozess wird über einen Workflow gesteuert, der im Architekturwerkzeug läuft und die gesammelten Informationen prüft und in textueller Form an den IT-Betrieb weiterreicht. Anfangs wurde sogar über eine noch stärkere Kopplung von Architekturwerkzeug und IT-Betrieb nachgedacht. Die Idee bestand darin, die Cloud-Instanz im Architekturwerkzeug vollständig zu definieren und diese direkt beim entsprechenden Cloud-Service-­ Provider zu instanziieren und zu starten. Diese Idee wurde aber noch nicht vollständig zu Ende gedacht. Gegebenenfalls wird sie erneut aufgegriffen und dazu genutzt, um die Daten strukturiert aus dem Architekturwerkzeug an ein Werkzeug für das IT-­ServiceManagement, wie z. B. ServiceNow, weiterzugeben und dabei vielleicht auch Rückkanäle über ein erfolgreiches Deployment einzurichten. Eine zumindest teilweise Automatisierung hätte u. a. auch den Vorteil, das größere Mengen von Architekturelementen als zuvor manuell geplant und gesteuert werden können.

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3 Einbeziehung der Produktions-IT ins Architekturmanagement Hauptaugenmerk des Architekturmanagements im Sinn der IT-Basisinfrastruktur und IT-Architektur (Dern 2006, S. 15–30) sind – wie anfangs kurz skizziert – klassische Anwendungssysteme, d. h. die für betriebliche Zwecke geplanten und realisierten Softwaresysteme, die in eigenen oder gemieteten Rechenzentren installiert sind und entsprechend ihres Funktionsumfangs Geschäftsprozesse einer Organisation umsetzen bzw. unterstützen. Durch die Digitalisierung, insbesondere die breite Verfügbarkeit von (immer kleiner werdenden) Hardwarekomponenten und Softwarebibliotheken bzw. -diensten, stehen für die Nutzung in Produktions- und Logistikprozessen und den Endprodukten immer mehr Geräte mit Rechenkapazität und Kommunikationsfähigkeit – sog. cyber-physische Systeme – zur Verfügung (Törngren et al. 2017, S. 4 ff.). Bestehende Geräte (z. B. Maschinen, Anlagen oder Fahrzeuge) werden mit neuen Fähigkeiten ausgestattet oder neue Geräte (z. B. 3D-Drucker, Logistikroboter) in die Unternehmensprozesse eingebunden. Neben der Verbindung von physischen Systemen mit Kommunikations- und Rechentechnik verweisen Törngren et al. (2017) in ihrer Definition auch auf „cross-cutting aspects“, worunter sie Beschränkungen für den Betrieb, legislative Vorgaben und organisatorische Verantwortlichkeiten für cyber-physische Systeme verstehen (Törngren et al. 2017, S. 5). Beschränkungen ergeben sich z. B. aus der Frage nach der Sicherheit cyber-physischer Systeme. Daraus folgen organisatorische Verantwortlichkeiten, die einen sicheren und dem gesetzlichen Rahmen entsprechenden Betrieb der Systeme sicherstellen sollen. Übertragen auf das Architekturmanagement bedeutet das, dass cyber-physische ­Systeme den gleichen Fragen zur Architektur unterliegen wie alle anderen Elemente der IT-­ Landschaft auch (s. dazu auch Verein Deutscher Ingenieure 2013, S. 3–8): • Wer ist verantwortlich für ein cyber-physisches System (oder gegebenenfalls bestimmte abgrenzbare Teile davon)? Aus praktischer Sicht zeigt sich immer wieder, dass nur klar vergebene Verantwortlichkeiten dafür sorgen, dass die Daten über ein Element der IT-Landschaft aktuell sind und somit eine sinnvolle Analyse und Planung erst möglich machen. • Welche Technologien bzw. Plattformen sollen auf den Systemen überhaupt zum Einsatz kommen (vgl. die Ausführungen zu Beginn von Abschn. 2)? Für die Interkonnektivität über Unternehmensgrenzen hinaus sind hier Standards bzw. Technologiestrategien mit Geschäftspartnern abzustimmen. • Die Lebenszyklen von Applikationen, ihren Komponenten und den cyber-physischen Systemen sind aufeinander abzustimmen. In heutigen IT-Architekturen arbeiten viele, ganz bestimmte Elemente zusammen, um die Funktionalität von Applikationen anzubieten. Das Ende des Supports vonseiten der Hersteller bzw. Dienstleister und die Kompatibilität mit Folgeversionen oder Ersatzprodukten führen zu umfangreichen Tätigkeiten, um Applikationen sowohl sicher (Versorgung mit Sicherheitspatches etc.)

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als auch zukunftsfähig zu machen. Diese Tätigkeiten können durch das Architekturmanagement taktisch geplant und gesteuert werden. • Das Positionspapier des Verein Deutscher Ingenieure (VDI) verweist außerdem darauf, dass sich durch die Digitalisierung die bisher streng hierarchisch aufgebaute Automatisierung von Produktionssystemen generell auflösen und sich zu einer dezentral vernetzten Architektur wandeln wird (Verein Deutscher Ingenieure 2013, S. 6); vgl. erneut die Ausführungen zu Beginn von Abschn. 2. Die Erfahrung aus der Unternehmenspraxis zeigt, dass Unternehmen meist noch mit der Abbildung ihrer klassischen IT-Landschaft befasst sind und Produktions-IT und ­Produkt-IT im Architekturmanagement noch keine Rolle spielen. Ein Grund dafür mag auch sein, dass die gängigen Softwarewerkzeuge für das Architekturmanagement dieses Thema bisher nur am Rande berücksichtigen. Meist liegt der Schwerpunkt der Abbildung der IT-Landschaft auf der fachlich-logischen Ebene, wo Applikationen und ihr Beitrag zum Unternehmen im Fokus stehen. Und wenn konkrete Instanzen von Applikationen, d. h. ihre Installationen auf bestimmten Servern, erfasst werden, dann bleibt die Menge der verwalteten Objekte meist noch in einem handhabbaren Rahmen. Erfasst man dagegen cyber-physische Systeme, kann der Umfang der zu betrachtenden Objekte und ihrer Beziehungen untereinander sehr schnell ansteigen. Dann wird eine sinnvolle Pflege und Planung schwierig und muss werkzeugseitig durch passende Strukturierungen (Kataloge oder Gruppierungen und Stereotypisierungen von Objekten) unterstützt werden. Ein gegenteiliges Beispiel zeigt sich bei einem Unternehmen der Wasserwirtschaft. Es betreibt eine Reihe von Anlagen, wie z. B. Kläranlagen oder Pumpwerke, die fernüberwacht und -gesteuert werden. Das Unternehmen befindet sich gerade in der Einführung eines werkzeuggestützten Architekturmanagements. Der Fokus liegt darauf, Informationen über die IT-Landschaft, die von den verschiedenen, in dem Unternehmen tätigen IT-Dienstleistern zugeliefert werden, zusammenzutragen und eine einheitliche Dokumentationsquelle für Applikationen zu schaffen. Initial ging es nur darum, die klassische IT abzubilden. Im Lauf der Diskussion der zu realisierenden Fragestellungen kam die Idee auf, auch die Anlagen in die Betrachtung einzubeziehen. Die Anlagen sind z. T. sehr umfangreiche Liegenschaften, an denen jeweils mehrere wassertechnische Anlagen gruppiert sind. Die Anlagen sind meistens auch mit Rechen- (sowohl Server im herkömmlichen Sinn als auch speicherprogrammierbare Steuerungen) und Kommunikationstechnik ausgestattet. Die Umsetzung erfolgt in vier Schritten: 1. Aufnahme der klassischen IT: Bei den bekannten Elementen der IT-Architektur kann auf die vorhandenen Softwarewerkzeuge des IT-Betriebs zurückgegriffen werden. Elemente wie Server und technische Komponenten werden aus diesen durch regelmäßige Abgleiche in das Architekturwerkzeug übernommen.

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2. Anpassungen des Architekturmodells: Während für die klassische IT keine Anpassung des Architekturwerkzeugs notwendig war, mussten vor der Aufnahme der Anlagen diese erst einmal modelltechnisch angelegt werden. Außerdem wurden spezifische Gruppierungen geschaffen, die es erlauben Anlagen hierarchisch zu ordnen. 3. Aufnahme der Produktions-IT: Informationen über die Anlagen werden durch das Unternehmen bis dato in mehreren Datenbanken durch eine eigene Abteilung gepflegt. Nach Sichtung der Datenbanken wurde festgelegt, welche Daten in das Architekturwerkzeug übernommen werden. Diese Übernahme erfolgt einmalig: Die alten Datenbanken werden abgelöst. Die Pflege erfolgt zukünftig ausschließlich über das Architekturwerkzeug. 4. Anpassung der grafischen Benutzeroberfläche: Abschließend wird das Architekturwerkzeug so angepasst, dass Nutzer aus den verschiedenen Abteilungen (IT, Anlagen-IT) ihre jeweils eigenen Sichten auf die IT-Architektur haben und diese gezielt pflegen können. Übergreifende Elemente, wie z. B. Applikationen, die auf ­Servern vor Ort in einer Anlage installiert sind, sind für beide Nutzergruppen sichtbar und können durch beide gepflegt werden. Mit dem beschriebenen Ansatz entsteht für das Unternehmen erstmalig ein integrierter Blick auf die IT-Landschaft, der verschiedene Datenquellen zusammenführt und nicht an der individuellen Teilsicht einzelner Verantwortungsbereiche endet. Dies hat für das Unternehmen zwei unmittelbare, konkrete Vorteile: Zum einen ergeben sich für das Management bessere Möglichkeiten für die Analyse, Planung und Steuerung der IT-Landschaft. So wird erstmals eine integrierte Planung des IT-Einsatzes möglich. Zum anderen wird das Unternehmen auskunftsfähig über seine IT-Landschaft. Anlagen der Wasserwirtschaft gelten unter gewissen Umständen als kritische Infrastruktur im Sinn der Verordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen nach dem Gesetz über die Errichtung des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI-Gesetz; BSI-KritisV) und müssen nach dem IT-Sicherheitsgesetz gemeldet werden.

4 Neue Aufgaben für das Architekturmanagement durch die Datenschutz-Grundverordnung Hier wird ein Aspekt aufgegriffen, der am Ende von Abschn. 3 bereits erwähnt wurde: die Frage nach Regularien und ihren Auswirkungen auf das Architekturmanagement. In der Beratungspraxis des Architekturmanagements nimmt das Reporting, d. h. die Konzeption von Berichten und ihre IT-technische Umsetzung in einem Architekturwerkzeug (entweder durch Konfiguration oder Programmierung) eine große Rolle ein. Regelmäßig bestehen Informationsbedarfe, die aus einem gut gepflegten und aktuellen Repository über die IT-Landschaft gespeist werden können.

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Dies gilt auch für gesetzliche Regelungen auf deutscher, europäischer oder internationaler Ebene. Unternehmen müssen ihre IT-Landschaft und ihr IT-Management den Regelungen anpassen und Rechenschaft darüber ablegen können. Beispiele sind u. a.: • Unternehmen unterliegen einem umfangreichen, transparenten Datenmanagement mit ausführlichen Auskunftspflichten (neue Datenschutz-Grundverordnung) • Unternehmen bestimmter Branchen sind – wie bereits erwähnt – zur Auskunft über ihre Infrastruktur verpflichtet, wenn diese als kritisch eingestuft wird (IT-Sicherheitsgesetz, BSI-KritisV) • Bestimmte Branchen unterliegen gegebenenfalls spezifischen Regelungen: Beispielsweise die Prinzipien für Risikodatensammlung und -reporting für sog. systemrelevante Banken des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht (BCBS239) Aktuell wird das Thema Datenschutz-Grundverordnung in der Beratungspraxis im Architekturmanagement diskutiert. Möglichkeiten für die Realisierungen sollen nicht anhand eines Fallbeispiels, sondern basierend auf den Überlegungen aus Wildner (2017a, b) ­vorgestellt werden. Die Datenschutz-Grundverordnung (Verordnung [EU] 2016/679) gilt für alle Organisationen, die innerhalb der Europäischen Union tätig sind. Sie gibt individuellen Nutzern umfangreiche Auskunftsrechte gegenüber den Organisationen über den Umgang mit den eigenen Daten und macht den Organisationen viele Vorgaben hinsichtlich ihres Datenmanagements: Zum Beispiel werden strengere Bedingungen dafür definiert, wie Nutzer ihre Einwilligung über die Verarbeitung personenbezogener Daten geben, Nutzer können die Datenverarbeitung einschränken und die Löschung ihrer Daten fordern, Maßnahmen wie Datenschutzfolgenabschätzungen oder die Benennung eines Datenschutzbeauftragten müssen ergriffen werden. Verstöße gegen die Verordnung sind mit empfindlichen Strafzahlungen belegt. Um die Einhaltung der Datenschutz-Grundverordnung sicherzustellen, müssen in einem Unternehmen folglich umfangreiche Informationen über alle datenbezogenen Aktivitäten erfasst, analysiert und zugänglich gemacht werden. Es ist nicht die Aufgabe des Architekturmanagements, diese Tätigkeiten zu übernehmen. Aber es kann diese Tätigkeiten unterstützen, weil es Ist- und Sollzustände der IT-Landschaft erfasst und damit eine Datenbasis bereitstellt, die bereits einen signifikanten Teil der notwendigen Informationen enthält: • Kataloge mit Kategorien von Geschäftsobjekten (Geschäftsdatentaxonomien) beschreiben, welche Daten durch die Applikationen eines Unternehmens überhaupt verarbeitet werden können. • Geschäftsobjekte werden Applikationen zugewiesen. Damit wird sichtbar, wo (sowohl innerhalb als auch außerhalb eines Unternehmens) durch welche konkrete Applikation Daten verarbeitet werden. Hier lässt sich auch ersehen, wie die Daten verarbeitet werden (werden sie erstellt, gelesen, aktualisiert, gelöscht).

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• Informationsflüsse (bzw. Schnittstellen) beschreiben schließlich, welche Applikationen welche Daten untereinander austauschen. • Applikationen sind auf Servern installiert. Server haben einen Standort, sodass zu sehen ist, in welchem Land eine Applikation läuft. Hieraus kann in Bezug zu den Geschäftsobjekten und ihrer Schutzwürdigkeit geprüft werden, ob z. B. eine Installation außerhalb der EU rechtlich zulässig ist oder nicht. Außerdem erlauben es einige Architekturwerkzeuge, weitere Eigenschaften für die obigen Objekte zu definieren und zu erfassen. Letztlich können damit bereits erste Versionen der von der Datenschutz-Grundverordnung in Art. 30 geforderten Verzeichnisse von Verarbeitungstätigkeiten erstellt werden. Für die Analyse des Ist-Zustands und Planungen für die Verbesserung des Datenmanagements bieten die Architekturwerkzeuge umfangreiche Auswertemöglichkeiten. Das Werkzeug Alfabet (Software AG) bietet beispielsweise u. a. folgende Sichten: • Informationsflussdiagramme: Sie stellen die Beziehungen zwischen Applikationen durch ihre Schnittstellen (Informationsflüsse) grafisch dar. • CRUD-Matrizen: Sie listen auf, welche Datenverarbeitungsaktivitäten eine Applikation für bestimmte Datenobjekte tätigt. CRUD ist die Abkürzung für die Aktivitäten „create“, „read“, „update“ und „delete“ (Abb. 3).

Abb. 3   Beispiel für die Create-Read-Update-Delete(CRUD)-Matrix einer Applikation in Alfabet. (Quelle: Eigene Darstellung)

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5 Fazit und Ausblick Aus den gerade betrachteten Themen und Fallbeispielen ist erkennbar, dass sich vor dem Hintergrund von Digitalisierung und Industrie 4.0 der Umfang des Architekturmanagements in Hinblick auf die Menge der betrachteten Elemente der IT-­Architekturen und die zu behandelnden Fragen erweitert, um ein zuverlässiges Gesamtbild der IT-Landschaft zu liefern und es zu analysieren und schließlich zu verändern. Damit ist auch eine größere Bedeutung des Architekturmanagements für Organisationen verbunden. Gerade wenn es gelingt, das Architekturmanagement in operative (­Support-)Prozesse zu integrieren (wie in Abschn. 2), entsteht eine größere Sichtbarkeit für seine Aktivitäten im Unternehmen. Verbesserungen bei Prozessen lassen sich noch am ehesten quantifizieren und gegenüber dem Management vertreten. Das ist von Vorteil für das Architekturmanagement, weil sich sein Nutzen oft nur schwer messen und somit argumentieren lässt (Hanschke 2012, S. 28–35). In den vorgestellten Fällen liegt der Fokus im operativen Architekturmanagement. Die Detailtiefe der Abbildung der IT-Landschaft in Softwarewerkzeugen für das Architekturmanagement ist daher hoch. Vor dem Hintergrund eines steigenden Pflegeaufwands bei höherer Granularität und der organisatorischen Aufgabenverteilung ist kritisch zu hinterfragen, wo das Architekturmanagement aufhört und der IT-Betrieb beginnt. Klar ist, dass Architekturwerkzeuge weder als Konfigurationsdatenbanken (CMDB) noch als Monitoring-Werkzeuge für die IT-Infrastruktur gedacht sind. Klar ist aber auch, dass in der Praxis aktuell viele Fragen aufkommen, die sich auf die Standardisierung und Konsolidierung von IT-Architekturen beziehen. Diese Fragen müssen architektonisch beantwortet und möglichst ohne Zeitverlust und Medienbrüche an den IT-Betrieb weitergegeben werden können. Daher erscheint es sinnvoll, eine engere Anbindung von Architekturwerkzeugen an Werkzeuge des IT-Service-Managements anzustreben. Schließlich sind die für das Architekturmanagement entwickelten Softwarewerkzeuge an die neuen Anforderungen anzupassen. Modelltechnisch können die hier skizzierten Fälle noch abgebildet werden. Bei weiteren ähnlichen Fragestellungen läuft man jedoch Gefahr, die Metamodelle der Werkzeuge zu überstrapazieren. Gegebenenfalls können eigene Objektklassen geschaffen werden, wichtig sind Möglichkeiten zur Strukturierung und Darstellung von Objekten.

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Herrmann, W. (2016). Wie Unternehmen den Cloud-Wildwuchs in den Griff bekommen. Computerwoche, 44–45, 16–17. Obermaier, R. (2017). Industrie 4.0 als unternehmerische Gestaltungsaufgabe: Strategische und operative Handlungsfelder für Industriebetriebe. In R. Obermaier (Hrsg.), Industrie 4.0 als unternehmerische Gestaltungsaufgabe (S. 3–34). Wiesbaden: Gabler. Repschläger, J., Pannicke, D., & Zarnekow, R. (2010). Cloud Computing: Definitionen, Geschäftsmodelle und Entwicklungspotentiale. HMD – Praxis der Wirtschaftsinformatik, 47(5), 6–15. Törngren, M., Asplund, F., Bensalem, S., McDermid, J., Passerone, R., Pfeifer, H., et al. (2017). Characterization, analysis, and recommendations for exploiting the opportunities of cyber-­ physical systems. In H. Song, D. B. Rawat, S. Jeschke, & C. Brecher (Hrsg.), Cyber-physical systems. Foundations, principles and applications (S. 3–14). London: Elsevier. Verein Deutscher Ingenieure. (2013). Cyber-Physical Systems: Chancen und Nutzen aus Sicht der Automation. VDI. https://www.vdi.de/uploads/media/Stellungnahme_Cyber-Physical_Systems. pdf. Zugegriffen: 13. Jan. 2018. Wildner, S. (2017a). Realize GDPR compliance with enterprise architecture management. CTI Consulting. https://cti.consulting/2017/05/23/realize-gdpr-compliance-with-enterprise-architecture-management/. Zugegriffen: 13. Jan. 2018. Wildner, S. (2017b). Three steps towards GDPR compliance. CTI Consulting. https://cti.consulting/2017/07/27/three-steps-towards-gdpr-compliance/. Zugegriffen: 13. Jan. 2018. Wildner, S., Koch, O., & Weber, U. (2017). Stand und Entwicklungspfade der Digitalen Transformation in Deutschland. In R. Obermaier (Hrsg.), Industrie 4.0 als unternehmerische Gestaltungsaufgabe (S. 85–96). Wiesbaden: Springer Gabler.

Dr. Stephan Wildner ist IT-Management-Berater und Projektmanager. Schwerpunkte seiner Beratungstätigkeit sind Enterprise Architecture Management und die Digitale Transformation von mittelständischen Unternehmen.

Erweiterung datenbasierter Wertschöpfungsketten um transferierbare Modelle Torben Schnuchel und Michael Granitzer

1 Einleitung Die Zukunftsvision der Fusion von industriellen Fertigungsprozessen und intelligenten cyberphysischen Systemen (Baheti und Gill 2011) stellt Unternehmen vor Herausforderungen einer ganz besonderen Kategorie. Die Grundlage hierfür bildet der enorme technologische Fortschritt im Bereich der Datenanalyse in den letzten Jahren, der nun in unterschiedliche Bereiche unseres Lebens Einzug hält. Längst haben sich Privatpersonen damit arrangiert, neben ihrer eigentlichen Identität noch eine digitale Kopie von sich zu pflegen, die maschinenlesbar ist und somit Gegenstand von automatisierten Analysen (meist zu Werbezwecken) ist. Die Integration von Datenwirtschaft in ein Unternehmen gestaltet sich jedoch sperriger, denn hier hat das Unternehmen als Dritter die Entscheidungsgewalt über Daten seiner Kunden, Geschäftspartner und die eigenen Geschäfts- und Fertigungsprozesse. In einer Studie (Markl et al. 2013) werden hierzu wirtschaftliche, juristische, personelle und technische Aspekte, die zur erfolgreichen Umsetzung einer Datenanalyse vonnöten sind, identifiziert. Sie stellen heraus, dass das Innovationspotenzial der Daten generell erkannt wird, jedoch Unklarheit darüber bestehe, welche Probleme mithilfe der Daten gelöst werden können bzw. welche Schritte nötig sind, um das Potenzial zu nutzen. Weiterhin wird betont, dass die Kooperation zwischen Unternehmen unabdingbare Grundlage für den Erfolg einer Datenanalysedtrategie sei. Es müssten sich sowohl Anbieter von Daten als auch diejenigen, die sich auf Datenanalyse spezialisiert haben, zusammenfinden, um T. Schnuchel () · M. Granitzer  Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Granitzer E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_28

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gemeinsam Ansatzpunkte für Strategien zu identifizieren, die wirtschaftlich sind und tatsächlich einen Mehrwert erzeugen. Gegenstand von Industrie 4.0 ist somit einerseits die Digitalisierung der Produktionsprozesse, die die maschinelle Überwachung von Anlagen und Mitarbeitern ermöglicht. Die Produktionsanlagen verändern sich von passiven Systemen, die von Menschen bedient werden, hin zu aktiven Teilnehmern in einem Netzwerk. Die Fertigung eines Unternehmens bekommt somit einen Internet-of-Things(IoT)-Charakter, bei dem Mensch und Maschine in einem gemeinsamen Ökosystem handeln und die Steuerungsverantwortung nun nicht mehr nur bei den Mitarbeitern liegt. Dies ermöglicht zugleich eine flexible und effiziente Produktion, da die Prozesssteuerung und Optimierung automatisiert und in Echtzeit erfolgen können. Andererseits hält künstliche Intelligenz Einzug in die Industrie, denn ebenso wie die Produktionsanlagen verändert sich auch das Produkt. Es ist stets verbunden mit einem Strom von Daten, der seine Herstellung, seinen Zustand im Einsatz sowie seine Historie aufzeichnet und wird ebenfalls zum Akteur in einem IoT-ähnlichen Umfeld, der in der Lage sein muss, mit anderen Akteuren – menschlicher oder maschineller Natur – zu kommunizieren. Aus der Kombination verschiedener Datenströme können außerdem neue Dienstleistungen entstehen. Beispielsweise könnte ein Automobilhersteller neben den im Fahrzeug aufgenommenen Daten auch Wetterdaten heranziehen, um den Zeitpunkt für den nächsten nötigen Service genauer vorherzusagen. Mit dem zunehmenden Grad der digitalen Vernetzung scheint das Angebot an Daten unerschöpflich zu sein, und somit kann die Illusion entstehen, dass mit ihnen nahezu jede Anwendung realisiert werden kann. Dies wäre zwar wünschenswert, ist aber nicht realistisch, denn der Umgang mit großen Datenmengen verschiedener Herkunft, Struktur und Qualität stellt besondere Ansprüche an den angeschlossenen Analyseprozess. Mehr ist (leider auch in Bezug auf Daten) nicht immer besser, da mit der Menge an Daten auch die Kosten steigen, die in der weiteren Verarbeitung anfallen. Weiterhin ist nicht garantiert, dass mehr Daten die Qualität der intelligenten Dienstleistung oder des Produkts verbessern, denn die Verfahren, die dahinter stehen, stellen kritische Anforderungen an die Beschaffenheit der Daten und verhalten sich u. U. instabil, wenn diese nicht erfüllt werden. Daten enthalten Information; diese Erkenntnis mag trivial erscheinen, beinhaltet aber Risiken, die bei der Verarbeitung berücksichtigt werden müssen. Ein Beispiel: Moderne PKW sind heutzutage mit verschiedensten Sensoren ausgestattet, um z. B. die Fahrsicherheit zu erhöhen. Diese Daten enthalten natürlich explizit Informationen über den Fahrzustand, aber auch implizit über den jeweiligen Fahrer. Anhand dieser Daten könnte beispielsweise unterschieden werden, wer den PKW momentan bewegt. Dieses Beispiel lässt sich auf den Anwendungsbereich Industrie 4.0 übertragen, denn die dort erzeugten Daten enthalten Informationen sowohl über die sie erzeugenden Objekte (Maschinen oder Produkte), aber auch – explizit oder implizit – über das sie erzeugende Unternehmen und seine Mitarbeiter. Werden Daten weitergegeben, so wird auch immer die

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Möglichkeit geschaffen, u. U. schützenswerte Informationen aus ihnen zu extrahieren. Mitunter kann dies ein Grund für Zurückhaltung bei Kollaborationen sein, könnten sie doch Nachteile im Wettbewerb mit sich bringen, die durch diesen ungewollten und nicht direkt kontrollierbaren Informationsfluss entstehen. Die Wahrung der Privatsphäre von Unternehmen beim Umgang mit kritischen Informationen muss somit gewährleistet werden, und dies kann ein schwieriges Unterfangen sein.

2 Gegenstand dieser Arbeit In diesem Beitrag betrachten wir das Spannungsfeld zwischen Innovationspotenzial auf der einen und eingeschränkten Datennutzungsfähigkeiten, charakterisiert durch die Privatheit von Daten bzw. technischer und methodischer Schwierigkeiten bei ihrer Verarbeitung, auf der anderen Seite. Als Lösungsansätze für diese Herausforderungen skizzieren wir zwei Mechanismen aus technischer Perspektive und ihre Implikationen für die datenbasierte Wertschöpfung: 1. Eine Transformation von Daten, die es ermöglicht, bestimmte, die Privatsphäre betreffende Informationen auszublenden. 2. Eine Erweiterung der rollenorientierten Datenwertschöpfungskette um transferierbare Modelle Wir beschreiben hierzu zunächst die Erschließungsprozesse von Daten unter Nutzung des Knowledge-Discovery-in-Databases(KDD)-Prozesses. Entlang dieses KDD-­ Prozesses, den man auch als Wertschöpfungsprozess von Daten verstehen kann, identifizieren wir verschiedene Rollen von an der Wertschöpfung beteiligten Akteuren. Ausgehend davon betrachten wir den Wert von Daten im Vergleich zu aggregierten Modellen und diskutieren, inwiefern der Transfer von Modellen zwischen Domänen, das sog. Transfer-Learning, einen wesentlichen Beitrag in der Wertschöpfung leisten könnte und dabei gleichzeitig Einschränkungen in Bezug auf Datennutzungsfähigkeiten zu reduziert.

3 Maschinelles Lernen Intelligente Produktionsprozesse und/oder Produkte zeichnen sich durch die Eigenschaft aus, dass sie ein nicht triviales Verhalten implementieren, das von ihren Nutzern als intelligent wahrgenommen wird. Dies kann z. B. bedeuten, dass sie zu einem gewissen Grad autonom arbeiten oder sich selbstständig auf unterschiedliche Gegebenheiten anpassen können. Hierzu müssen Systeme entworfen werden, die eine entsprechende Logik enthalten, um ebendiese Eigenschaft zu erfüllen. Sie müssen in der Lage sein, Muster in den Daten zu erkennen, die bestimmte Aktionen auslösen. Im Fall von autonomen

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Fahrzeugen könnte eine solche logische Regel z. B. lauten: „Wenn sich ein Passant in Fahrtrichtung befindet, leite die Notbremsung ein“. Der PKW muss also in der Lage sein, z. B. Kamerabilder zu analysieren, um Passagiere zu erkennen und zu beurteilen, ob diese gefährdet sind. Dieses intelligente Verhalten besitzt einen derart hohen Grad an Komplexität, dass es schwierig wird, ein solches System mit Logik umzusetzen, die menschlichen Ursprungs ist. Denn es ist für uns ein höchst schwieriges Unterfangen, exakt zu definieren, was genau ein Passant ist. Sind es Arme und Beine, die ihn ausmachen? Und falls ja, was genau ist ein Bein und was unterscheidet es von einer ­Straßenlaterne? Algorithmen, die in die Klasse des maschinellen Lernens fallen, verschieben die Lösung dieses Problems von der Notwendigkeit einer exakten Logik hin zur Bereitstellung von großen Mengen von Beispieldaten. Im vorher genannten Szenario würden diese Algorithmen viele Beispielbilder von Passanten, die jeweils als gefährlich oder nicht gefährlich markiert wurden, analysieren und ganz automatisch herausfinden, welche Eigenschaften ein Bild erfüllen muss, um die Notbremsung auszulösen. Sie müssen hierfür nicht einmal das Konzept Passant kennen, sondern bilden allein anhand der Beispiele eine interne Repräsentation, die bestmöglich dazu geeignet ist, die Entscheidung zu treffen, ob die Notbremsung eingeleitet werden muss oder nicht. Hierzu werden parametrisierte Modelle gebildet, deren Parameter in einem Lernprozess so angepasst werden, dass die Vorhersagegenauigkeit sich stetig verbessert. Es wird grob zwischen folgenden Lernverfahren unterschieden: • Supervised Learning Gegeben sind sowohl die Input-Daten als auch die gewünschten Output-Daten. Das Modell bildet eine (beliebig komplexe) Funktion von Input- zu Output-Daten ab. Ein gut trainiertes Modell gibt bei gegebenem Input einen Output aus, der möglichst ähnlich zum originalen Output ist. Das genannte Beispiel fällt in diese Kategorie, wobei der Input die Kamerabilder und der Output die Entscheidung Notbremsung oder keine Notbremsung ist. • Unsupervised Learning Das Modell findet charakteristische Eigenschaften der Input-Daten, um diese bestmöglich zu repräsentieren. Es geht hier um eine Repräsentation der Daten, die unabhängig vom Anwendungsfall ist. Ein Beispiel hierfür wäre die Kompression der Daten, also die Transformation der Daten in ein platzsparenderes Format mit der Bedingung, möglichst viel Information zu konservieren. • Reinforcement Learning Das Modell repräsentiert die Entscheidungen eines Agenten. Der Agent wird mit Input-Daten versorgt und produziert Output-Daten. Im Gegensatz zum Supervised Learning existiert keine direkte Zielvorgabe mithilfe eines vorgegebenen Output. Der Agent bekommt lediglich ein belohnendes Signal, das angibt, wie gut der Zustand seiner Umgebung ist, den er mit seinen Aktionen erreicht hat.

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4 Knowledge Discovery in Databases – Prozess Da in der Vision Industrie 4.0 nahezu jeder Prozess innerhalb eines Unternehmens Daten produziert und somit beobachtbar für Maschinen ist, muss man sich zwangsläufig auch mit der Frage beschäftigen, wie man aus diesen einen tatsächlichen Mehrwert generieren kann. Daten an sich haben keinen Wert; Es sind Informationen und Wissen, die aus ihnen gewonnen werden, die sie zum Gegenstand des Interesses werden lassen. Die Transformation von Daten hin zu nutzbarem Wissen erfolgt schrittweise und systematisch. KDD beschreibt solch einen systematischen Ansatz zur Modellierung des Umwandlungsprozesses von den Rohdaten hin zu Informationen, die Menschen und Unternehmen von Nutzen sind. Die hochdimensionalen Rohdaten werden entlang dieses Prozesses Schritt für Schritt kondensiert, bis sich aus ihnen eine interpretierbare Aussage ableiten lässt. Im Folgenden betrachten wir daher den KDD-Prozess von den Rohdaten hin zu nutzbarem Wissen genauer (Fayyad et al. 1996) und legen den Gewinn an Qualität und Wert der Daten entlang dieses Prozesses dar.

4.1 Domänenwissen aufbauen Um eine zielgerichtete Analyse zu ermöglichen, ist es notwendig, ein Verständnis für den Prozess, aus dem sie entstanden sind, zu entwickeln. Es muss also zuerst (Experten-) Wissen über den Anwendungsbereich eines spezifischen Problems aufgebaut werden. Ist nur ein Teil des KDD-Prozesses im Unternehmen internalisiert, sollte diesem Schritt besondere Beachtung zukommen, da es in diesem Fall auf Kooperationen angewiesen ist. Das Domänenwissen muss beim Partner gefestigt werden, damit ein gemeinsames Problemverständnis besteht.

4.2 Datenselektion In diesem Schritt werden die zu untersuchenden Daten spezifiziert und Zielvorgaben formuliert. Bei der Auswahl der Daten ist einerseits zu beachten, dass diese Vorgaben allein aus den gegebenen Daten ableitbar sind. Ist dies nicht der Fall, müssen zusätzliche Quellen herangezogen werden. Andererseits besteht die Gefahr, dass zu umfangreiche Daten die Kosten für die Analyse in die Höhe treiben und den geschaffenen Wert senken.

4.3 Datenbereinigung Da Rohdaten in verschiedener Qualität vorliegen können, ist es notwendig, diese vor einer Analyse zu bereinigen. Bei tabellarischen Daten muss beispielsweise entschieden werden, wie mit fehlenden oder falschen Werten umgegangen wird. Bei Sensordaten

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müssen Störquellen wie etwa Rauschen oder Signale, die durch eine Fehlfunktion verursacht wurden, herausgefiltert werden.

4.4 Datenprojektion Die Rohdaten werden in ihrer Dimension reduziert, sodass für die Zielsetzung wichtige Informationen erhalten bleiben, unwichtige aber herausgefiltert werden. Es werden Dimensionen entfernt oder die Daten werden in einen niedrigdimensionalen Raum transformiert (Pan et al. 2008).

4.5 Data-Mining-Methoden Ausgehend von der Zielsetzung werden passende Data-Mining-Methoden ausgewählt. Diese umfassen unter anderem Klassifizierung, Clustering, deskriptive Beschreibungen oder Regression.

4.6 Model Selection Verschiedene Data-Mining-Algorithmen werden explorativ analysiert. In diesem Schritt wird entschieden, welche Algorithmen und Modelle mit welchen Parametern geeignet sind, um eine zielführende Analyse betreiben zu können. Das Treffen einer guten Auswahl hängt allerdings von vielen Faktoren ab, die sich gegenseitig beeinflussen. Je nachdem, welchen Umfang die Daten haben, wie komplex sie sind und welche Qualität sie im bisherigen Verlauf des KDD-Prozesses erlangen konnten, haben die verschiedenen Methoden alle Stärken und Schwächen.

4.7 Anwendung Die im vorigen Schritt gewählten Modelle werden auf den vorbereiteten Datenbestand angewendet. Das Ergebnis dieses Prozessschritts ist eine erste Repräsentation des in den Daten enthaltenen Wissens.

4.8 Interpretation Die gefundenen Muster werden unter Zuhilfenahme von Visualisierungsmethoden interpretiert. Durch geeignete Evaluation wird festgestellt, welche Modelle gut für den Anwendungsfall geeignet sind. Unter Umständen wird in diesem Schritt eine weitere Iteration des Prozesses gestartet, indem zu einem der Schritte 1–7 gesprungen wird.

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4.9 Handeln Dieser Schritt fasst die Anwendung des durch den Prozess aufgebauten Wissens zusammen. Mögliche Anwendungen reichen von der reinen Dokumentation des Wissens zur direkten Anwendung der Modelle in einer realen Situation. Werden in diesem Schritt neue Erkenntnisse gesammelt oder wird deutlich, dass sich der Strom an Daten, auf denen gearbeitet wird, mit der Zeit ändert, muss auch hier eine neue Iteration des KDD-Prozesses angestoßen werden. Aus dem schematischen Ablauf des KDD Prozesses ist einfach erkennbar, dass dieser nie vollständig automatisierbar ist. Er muss stets durch Expertenwissen gelenkt werden und ist daher zeit- und arbeitsaufwendig. Weiterhin wird Input aus verschiedenen Disziplinen benötigt: Unter anderem werden Experten in den Bereichen maschinelles Lernen, Statistik, Datenbanken oder High-Performance Computing benötigt, um den Prozess vollumfänglich abzudecken.

5 Rollenorientierte Datenwertschöpfungskette Im Folgenden beschreiben wir eine Analyse bestehender Datenmarktplätze (Granitzer et al. 2013) und gliedern sie in den KDD-Prozess ein, um ein gesamtheitliches Bild vom Datenanalyseprozess und dessen Wertschöpfungspotenzial zu erhalten (Abb. 1). Beteiligte Akteure Konsumenten Konsumenten sind all diejenigen, die Daten oder Dienstleistungen von Anbietern beziehen. Dies können sowohl Endnutzer als auch andere Unternehmen sein, die daraufhin die Daten im Sinn des KDD-Prozesses weiterverarbeiten. Anbieter Ein Anbieter ist derjenige, der ein Datengut oder eine Dienstleistung zur Verfügung stellt. Er setzt also einen bestimmten Abschnitt des KDD-Prozesses um und bietet diese Dienstleitung anderen Akteuren an. Entwickler Entwickler stellen die Software zur Verfügung, die benötigt wird, um datenbasierte Dienstleistungen umzusetzen. Diese werden wiederum durch Anbieter angeboten und entweder Konsumenten oder weiteren Entwicklern zur Verfügung gestellt, die aus bereits bestehenden Dienstleistungen komplexere erstellen. Entwickler werden über den gesamten KDD-Prozess hinweg eingesetzt, um die für die jeweiligen Schritte nötige Software zu erstellen oder anzupassen.

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Abb. 1   Rollenorientierte Datenwertschöpfungskette. (Quelle: Eigene Darstellung)

Datenanalyst Ein Datenanalyst beschäftigt sich mit der Beschaffung, Organisation und Analyse von Daten aus potenziell verschiedenen heterogenen Datenquellen. Auch er wird in verschiedenen Bereichen des KDD-Prozesses benötigt, allerdings sind die Anforderungen in den verschiedenen Schritten stark unterschiedlich. Vermarkter Vermarkter sind Personen, Organisationen oder Firmen, die die geschaffenen Datenprodukte und Dienstleistungen bewerben. Die Vermarktung spielt sich in Bezug auf den KDD-Prozess nur im letzten Schritt, dem Handeln, ab. Datenqualität und -wert Die in (Granitzer et al. 2013) getroffene grundlegende Annahme über datenzentrierte Wertschöpfung ist, dass ein Wert niemals aus den Daten allein entsteht, sondern direkt an die Verarbeitung und Vermarktung dieser geknüpft ist. Basierend auf dieser Annahme wird in eine rollenorientierte Wertschöpfungskette für Daten modelliert, die sich an den zuvor identifizierten Akteuren orientiert (Abb. 1). Die Elemente der Wertschöpfungskette

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sind Datenprodukte oder Dienste, die auf Daten aufbauen. Der geschaffene Wert entsteht durch die mit diesen Diensten assoziierten Rollen. Im Folgenden beschreiben wir kurz die einzelnen Abschnitte dieser Wertschöpfungskette. Rohdaten Den Ausgangspunkt für die Kette bilden Rohdaten, die von zweierlei Herkunft sein können: Daten aus Beobachtungen werden durch Sensoren produziert, die einen realen Prozess beobachten. Die Daten werden hier also von einer nichtdigitalen Domäne in eine digitale überführt. Im Gegensatz hierzu stehen die Daten digitaler Herkunft. Hierbei handelt es sich eben um Daten, denen kein physikalischer, sondern ein virtueller Erzeugungsprozess zugrunde liegt. Darunter fallen z. B. Metadaten, die zur maschinenlesbaren Beschreibung von Ressourcen im Web erstellt werden. Datenakquise Dieser Schritt führt verschiedene Datenquellen zusammen, um einen „single point of access“ zu schaffen. Hierbei werden die Daten nur aggregiert und nicht etwa weiter aufbereitet. Ein Beispiel hierfür sind einfache Suchmaschinen, die den Zugang zu verschiedenen Datenquellen bieten. Datenintegration Im Gegensatz zur Datenakquise, die nur den Zugang zu verschiedenen Datenquellen bereitstellt, beschäftigt sich Datenintegration mit der Zusammenführung dieser Datenquellen zu einem konsistenten Datensatz. Hierfür ist es nötig, die verschiedenen Datenformate heterogener Quellen in ein einheitliches Schema zu überführen. Während die Datenakquise unabhängig von der Domäne ist, gibt es bei der Datenintegration oft einen Fokus auf eine spezielle Domäne. Die Vereinheitlichung der unterschiedlichen Datensätze einer Domäne bietet somit einen Zugangspunkt für Daten, die in einem speziellen Anwendungsgebiet von Interesse sind. Datenmanagement Jeder Prozess, der auf Daten aufbaut, benötigt ein gewisses Ausmaß an Datenmanagement. Dies kann jedoch in verschiedenen Ausprägungen umgesetzt werden. Die Möglichkeiten reichen von einfachen dateibasierten Lösungen über Datenbanksysteme bis hin zu Cloud-basierten Systemen. Ein gutes Datenmanagement ermöglicht es, Daten persistent zu speichern, einen Zugang bereitzustellen und verschiedene Versionen der Daten zu verwalten. In Big-Data-Anwendungen unterliegt dieser Bereich zusätzlichen Performanceanforderungen, die von der Masse an Daten sowie von der Anfragehäufigkeit abhängig sind.

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Analyseplattform Analysten verarbeiten die zugrunde liegenden Daten und extrahieren Informationen. Dies umfasst die Erstellung von Visualisierungen und Data-Mining-Modellen, auf denen dann weitere Dienstleistungen aufgebaut werden können. Die Technologien, die bei der Datenanalyse eingesetzt werden, sind vielfältig. Sie umfassen simple Datenbankoperationen oder statistische Analysen. Um den Datenmengen im Bereich Big Data Herr zu werden, werden nunmehr vorrangig Verfahren für verteilte Berechnung (beispielsweise Apache Hadoop) und Datenhaltung eingesetzt. Sie ermöglichen die Analyse großer Datenmengen überhaupt erst, da diese nun hochgradig parallelisiert ablaufen können. Eine weitere Entwicklung, die sowohl für die Wissenschaft als auch für die Wirtschaft große Möglichkeiten verspricht, sind Modelle, die sich maschineller Lernverfahren bedienen, da sie – wie zu Beginn beschrieben – in der Lage sind, am Beispiel zu lernen und es somit nicht mehr nötig ist, einen konkreten Lösungsweg für das jeweilige Problem anzugeben. Intelligente Services Sowie ein datengetriebener intelligenter Service bereitgestellt werden soll, ist das Wissen von Experten nötig. Es kann sich hierbei um Finanz-, Technologie-, Forschungsexperten sowie Berater und Forschungseinrichtungen handeln. Sie stellen ihr Domänenwissen zur Verfügung, um den datengetriebenen Informationsgewinn zu steuern. Hierbei verknüpfen sie ihre vorhandenen Erfahrungen mit Erkenntnissen, die aus den Daten gewonnen werden können, um neue Produkte zu entwickeln oder auf Märkten zu ­agieren.

6 Erweiterung mithilfe von Transfer Learning Motivation Die obige Betrachtung des KDD-Prozesses und der rollenorientierten Datenwertschöpfungskette stellt einen Soll-Ablauf dar, wenn es um die Extraktion von wertvollem Wissen aus Daten geht. Wir beschreiben nun kurz, welche Faktoren als Hemmnisse für den reibungslosen Ablauf dieser Prozesse auftreten können, denn an der Umsetzung der Vision Industrie 4.0 zerren entgegengesetzte Zugkräfte. Auf der einen Seite steht das Versprechen auf ein enormes Innovationspotenzial. Das Streben nach Produktinnovation, Serviceinnovation, Prozessinnovation und Organisationsinnovation ist ein treibender Faktor. Um dieses Potenzial nutzbar zu machen, ist aber auch eine Betrachtung der Hemmfaktoren wichtig, die der Innovation gegenüberstehen. Hier sind zum einen Probleme bei der technischen Machbarkeit zu nennen. Um mit ihren Daten zu wirtschaften, betreten die Industrieunternehmen zuerst einmal Neuland. Entsprechende Cloud-Lösungen sind zwar vorhanden, aber bieten u. U. nicht die benötigte Komplexität an Analysen an.

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Hinzu kommt außerdem, dass die Datenbasis, die aus der Datenselektion hervorgeht, Limitierungen unterliegt, die das Ableiten der intelligenten Modelle erschwert. Kleine und mittlere Unternehmen, die darum bemüht sind, intelligente Produktion, Produkte und Dienstleistungen einzuführen, werden abhängig vom Anwendungsfall nicht die nötige Menge an Daten besitzen, um Modelle zu erstellen, die zuverlässige Aussagen treffen. Daten anderer Unternehmen oder Datenmarktplätze zu integrieren, stellt hier zwar einen Ausweg dar, dieser ist aber in keinem Fall optimal. Jeder extern bezogene Datensatz durchläuft nun die komplette Wertschöpfungskette erneut bis zu dem Punkt, an dem die Daten integriert werden. Dies zieht erheblichen Aufwand nach sich und bietet keine Garantie, dass das Resultat verbessert wird. Viele komplexe Modelle (wie etwa neuronale Netze) werden in einem iterativen Verfahren auf die bestmöglichen Parameter eingestellt. Dieses Verfahren ist sehr aufwendig und nicht automatisierbar, da es sowohl von der Art, der Menge und der Qualität der Daten sowie dem jeweiligen Anwendungsfall abhängt. Als letzten Hemmfaktor möchten wir nennen, dass der Austausch von Daten immer auch Risiken für die Beteiligten birgt. Gibt eine Privatperson Daten über sich preis, wird sie für denjenigen, dem sie diese anvertraut, transparent. Im Kontext kooperierender Unternehmen stellt sich die Situation ähnlich dar. Die Daten über den Produktionsprozess beinhalten eben nicht nur für die Kooperation nützliche, sondern auch schützenswerte Informationen. Werden die Daten weitergegeben, werden ebenso diese Interna verbreitet. Rechtlich brisanter stellt sich die Situation dar, wenn intelligente Dienstleistungen mithilfe von Kundendaten realisiert werden sollen, da die Kunden einen rechtlichen Anspruch darauf haben, dass ihre Daten geschützt werden. Aufgrund dieser Hemmnisse kann die eingeführte rollenorientierte Datenwertschöpfungskette nicht ihr volles Potenzial entfalten und der Bereich Industrie 4.0 gerät gegenüber anderen Bereichen, wie z. B. dem Web, ins Hintertreffen.

7 Transferierbare Modelle Die Vision Industrie 4.0 beinhaltet mehr als den bloßen Austausch von Daten. Auch die bisherigen Analyseverfahren sollen verbessert werden und künstliche Intelligenz und Autonomie Einzug halten. Statt einer Kooperation von Unternehmen ausschließlich auf Datenebene wäre ein direkter Austausch von bereits aggregiertem Wissen und Verhaltensmustern zwischen den intelligenten Systemen weitaus effektiver. Man kann auch folgenden Vergleich bemühen: Ein Kind besitzt ab einem bestimmten Alter die Fähigkeit, nicht mehr nur durch eigene Erfahrungen zu lernen, sondern auch über die Vermittlung von Erfahrungen, z. B. durch Lehrer. Ebenso wie bei Kindern wäre dieser Lernprozess auch bei Maschinen denkbar. Ein intelligentes lernendes System könnte sein Wissen nicht nur aus Daten extrahieren, sondern direkt von bereits existierendem Wissen anderer intelligenter Systeme profitieren.

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Transfer Learning Das zuvor beschriebene Verhalten könnte beispielsweise durch ein Verfahren wie Transfer Learning umgesetzt werden. Im Gegensatz zu anderen Techniken des maschinellen Lernens, die sich der Frage widmen, wie Wissen aus Rohdaten generiert werden kann, beschäftigt sich Transfer Learning mit der Fragestellung, wie bereits trainierte Modelle als Beschleuniger für die Bildung neuer Modelle dienen können (Taylor und Stone 2009). Um die verschiedenen Ausprägungen von Transfer Learning zu beschreiben, definieren wir ausgehend von Pan und Yang (2010) zunächst einige Begriffe anhand folgender Beispielszenarios: Szenario A: Ein Taxiunternehmen sammelt Daten über seine Fahrzeugflotte. Diese Daten umfassen die Position des Fahrzeugs, welcher Mitarbeiter gerade fährt und wie viele Gäste im Fahrzeug mitfahren. Um die Reinigung von Fahrzeugen besser planen zu können, soll die Verschmutzung der Fahrzeuge modelliert werden. Szenario B: Außerdem plant das städtische Busunternehmen, die Auslastung ihrer Busse zu modellieren. Hierzu werden die Daten der Feedback-Funktion der eigenen BusApp ausgewertet. Es werden der Wochentag, die Uhrzeit und die Stimmung des Feedbacks (positiv/negativ) gesammelt. Feature-Domain Die Feature-Domain bezeichnet den mathematischen Raum, in dem die Input-Daten codiert werden. In Szenario A besteht dieser Raum aus den Dimensionen Position, Mitarbeiter und Anzahl Fahrgäste bzw. ihrer in Zahlen codierten Repräsentation. In Szenario B besteht die Feature-Domain entsprechend aus Wochentag, Uhrzeit und Stimmung. Task Der Task beschreibt die aus den Daten abzuleitende Eigenschaft oder Information. Im Szenario A ist dies der Verschmutzungsgrad eines Fahrzeugs zu einer bestimmten Zeit und in Szenario B die Anzahl der Fahrgäste in einer bestimmten Buslinie zu einer bestimmten Zeit. Ausgehend von Feature-Domain und Task lassen sich nun vier verschiedene Möglichkeiten von Transfer Learning ableiten. 1. Inductive Transfer Learning Die Tasks unterscheiden sich, die Feature-Domains sind aber identisch. Diese Art von Transfer Learning ist ähnlich zum sog. Multi-Task Learning, bei dem es um die gleichzeitige Modellierung verschiedener Tasks geht. Der Unterschied besteht hier in der unterschiedlichen Gewichtung der Tasks: Während beim Multi-Task die Vorhersagegenauigkeit auf allen Tasks optimiert werden soll, wird beim Transfer Learning nur die eines bestimmten Target-Tasks optimiert. Dies geschieht unter Zuhilfenahme eines oder mehrerer Source-Tasks, deren Genauigkeit nebensächlich ist.

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2. Transductive Transfer Learning Die Source- und Target-Tasks sind identisch, nur die Feature-Domains unterscheiden sich. Hierbei können sich die Domains sowohl in der Codierung der Daten als auch in der Verteilung der Daten unterscheiden. 3. Unsupervised Transfer Learning Es unterscheiden sich sowohl die Feature-Domains als auch die Tasks. Es sind also keine Output-Daten für den Target-Task vorhanden. 4. Machine Learning Sind sowohl die Feature-Domains als auch die Tasks identisch, so handelt es sich um ein maschinelles Lernproblem im klassischen Sinn, und es ist kein Transfer Learning notwendig. Die Daten vom Source-Task können direkt zur Modellierung des Target-Tasks genutzt werden, dies könnte jedoch aus verschiedenen Gründen nicht gewünscht sein, etwa aufgrund von a) zu großem Aufwand bei der (erneuten) Verarbeitung der Daten des Source-Tasks oder b) sensiblen Informationen, die in den Daten des Source-Tasks enthalten sind. In Abb. 2 wird der vorgeschlagene Modelltransfer verdeutlicht. Für die Tasks A und B werden Modelle gebildet. Beide Modelle bedienen sich dabei der Daten aus ihrer jeweiligen Domäne. Soll nun ein dritter Task C unter Zuhilfenahme der Tasks A und B umgesetzt werden, gibt es zwei mögliche Ansatzpunkte: 1. Die übliche Integration über die Kombination der Datenquellen (Abb. 2 roter Pfeil) bringt die zuvor beschriebenen Nachteile mit sich. Durch den Zugriff auf Rohdaten benötigt Task C Informationen aus dem kritischen Bereich.

Abb. 2   Modellintegration mithilfe von Transfer Learning. (Quelle: Eigene Darstellung)

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2. Durch den alternativen Weg über die Integration der Modelle (Abb. 2 grüner Pfeil) muss kein Zugriff auf den kritischen Bereich erfolgen. Das formalisierte Wissen aus den bereits existierenden Modellen A und B kann indirekt dazu genutzt werden, den Task C zu modellieren.

8 Privatheit Um die Einhaltung der Privatsphäre beim Übergang von innerhalb des kritischen Bereichs nach außen zu gewährleisten, werden zusätzliche Bedingungen an die Modelle gestellt, die während ihres Erstellungsprozesses berücksichtigt werden müssen. Um dies zu gewährleisten, muss vor (oder während) der Modellbildung eine Transformation der Daten stattfinden in der Art, dass bestimmte vorher definierte Informationen nicht mehr enthalten sind. Um beispielsweise Anonymität von Personen (etwa Mitarbeitern oder Endkunden, die ein intelligentes Produkt benutzen) zu gewährleisten, würde es bei tabellarischen Daten gegebenenfalls bereits ausreichen, bestimmte Attribute zu löschen, die Rückschlüsse auf die Person zulassen. Sind diese Attribute jedoch nicht explizit in Tabellenform, sondern implizit vorhanden (z. B. in einem Strom aus Sensordaten, die die Bewegung der Person aufnehmen und somit ihr individuelles Bewegungsmuster beinhalten, über das sie identifiziert werden könnte), müssen andere, komplexere Methoden angewendet werden. Um Privatheit zu garantieren, ist es also nötig, der eigentlichen Modellbildung einen Transformationsschritt vorzuschalten. Eine Möglichkeit wäre die Verwendung tiefer neuronaler Netze. Jede Schicht erstellt eine transformierte Version der Input-Daten in der Art, dass die Informationen dieser Transformation möglichst hilfreich bei der Bewältigung des Tasks sind. Eine Erweiterung des Tasks um eine zusätzliche Komponente – die Privatheit der Repräsentation zu optimieren (Cuzzocrea 2014; Mehmood et al. 2016) – wäre ein möglicher Ansatzpunkt, um sensible Informationen, die in den Daten enthalten sind, zu verbergen. Eine andere Sichtweise auf diesen Prozess wäre, dass der Zweck des KDD-Prozesses umgedreht wird. Er wird nun nicht mehr mit dem Ziel durchlaufen, Informationen zutage zu fördern, sondern sie zu verbergen.

9 Fazit Aus dem Bereich des maschinellen Lernens erwachsen derzeit enorme Potenziale für die Wirtschaft. Jede Umsetzung eines Tasks mithilfe dieser Methoden schafft ein weiteres Stück Intelligenz und es ist wichtig, zu verstehen und zu untersuchen, wie dieser Prozess so effizient wie möglich gestaltet werden kann. Eine Möglichkeit hierfür haben wir in dieser Arbeit vorgeschlagen. Die Umsetzung transferierbarer Modelle wäre ein erheblicher Gewinn für Unternehmen, da sie auf der einen Seite Wissen kapseln, das nicht neu extrahiert werden muss, und auf der anderen Seite die Möglichkeit

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b­ ieten, ­Informationen, die nicht Teil eines Produkts oder einer Dienstleistung sein sollen, innerhalb des Unternehmens zu halten. Hierzu müsste geklärt werden, welche Voraussetzungen für Feature-Domains und Tasks gegeben sein müssen, damit die Integration der Modelle möglich wird, und wie das Wissen, das in bereits fertig gelernten Modellen enthalten ist, verlustfrei und effizient genutzt werden kann, um neue Modelle zu ­verbessern. Zur Wahrung der Privatheit beim Umgang mit personenbezogenen Daten müsste untersucht werden, welche Modelle dazu geeignet sind, die die Privatsphäre erhaltende Transformation von Daten umzusetzen. Es wäre interessant zu untersuchen, welche Garantien man in Bezug auf Anonymität nach Anwendung der Transformation geben kann.

Literatur Baheti, R., Gill, H. (2011). Cyber-physical systems. T. Samad and A.M. Annaswamy, 2011. Cuzzocrea, A. (2014). Privacy and security of big data. In: Proceedings of the first international workshop on privacy and secuirty of big data. Fayyad, U., Piatetsky-Shapiro, G., & Padhraic Smyth, P. (1996). From data mining to knowledge discovery in databases. AI Magazine, 17(3), 37. Granitzer, M., Hollauf, M., Simon, N. (2013). Commercially empowered linked open data ecosystems in research D6.2. In: Report on data marketplace: Success factors, sustainability, trust and reputation. Markl, V., Hoeren, T., & Krcmar, H. (2013). Innovationspotenzialanalyse für die neuen Technologien für das Verwalten und Analysieren von großen Datenmengen (Big Data Management). Berlin: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. Mehmood, A., Matgunanathan, I., Xiang, Y., Hua, G., & Guo, S. (2016). Protection of big data privacy. IEEE Access, 4, 1821–1834. Mesnil, G., et al. (2011). Unsupervised and transfer learning challenge: A deep learning approach. In: UTLW’11 Proceedings of the 2011 International Conference on Unsupervised and Transfer Learning workshop, Washington. Pan, S., & Yang, Q. (2010). A survey on transfer learning. IEEE Transactions on Knowledge and Data Engineering, 22(10), 1345–1359. Pan, S., Kwok, J., Yang, Q. (2008). Transfer learning via dimensionality reduction. In: AAAI’08 Proceedings of the 23rd national conference on Artificial intelligence. Taylor, M. E., & Stone, P. (2009). Transfer learning for reinforcement learning domains: A survey. Journal of Machine Learning Research, 10, 1633–1685. Zhu, K. (2005). Information transparency hypothesis: Economic implications of electronic markets. In K. Tomak (Hrsg.), Advances in the economics of information systems (S. 15–42). Hershey: Idea Group. Torben Schnuchel ist Doktorand am Lehrstuhl für Data Science der Universität Passau. Er untersucht im Kontext von Industrie 4.0 Methoden zum Wissenstransfer zwischen Modellen des maschinellen Lernens. Prof. Dr. Michael Granitzer ist Inhaber des Lehrstuhls für Data Science an der Universität Passau. Er forscht im Bereich des angewandten maschinellen Lernens und der automatisierten Medienanalyse.

Teil V Industrie 4.0 und Digitale Transformation in Finanzwesen und Controlling

Industrie 4.0 – Auswirkungen auf Finanzierungsinstrumente und -prozesse sowie den Finanzleiter der Unternehmung Stephan Paul

1 Einleitung: Digitalisierung als Revolution Derzeit vollzieht sich ein realwirtschaftlicher Umbruch, der vielfach als revolutionär eingestuft wird. Durch den Einfluss der Digitalisierung verändern sich die Geschäftsmodelle, Produkte und Leistungen sowie v. a. die Prozesse in den Unternehmen so gravierend wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Autonom fahrende Autos, miteinander kommunizierende Maschinen, sich selbst steuernde cyber-physische Systeme, Smart Factory, Big Data und das Internet der Dinge sind nur einige der zentralen Schlagworte in diesem Zusammenhang. Als Sammelbegriff hierfür hat sich Industrie 4.0 etabliert. Damit ist die vierte industrielle Revolution nach der Einführung mechanischer Produktionsanlagen Ende des 18. Jahrhunderts, der Einführung arbeitsteiliger Massenproduktion mithilfe elektrischer Energie ab 1870 und dem Einsatz der Elektronik und IT zur weiteren Automatisierung der Produktion seit den 1970er-Jahren gemeint (zu dieser Entwicklung Obermaier 2017, S. 3). Diese Industrie 4.0 gilt als das Zukunftsthema der Wirtschaft. In der neuartigen Speedfactory von adidas zeigen sich exemplarisch zentrale, auch finanzierungsrelevante Elemente der Industrie 4.0 (ausführlich Vetter 2016, dort auch die nachfolgenden Zitate). Im mittelfränkischen Ansbach werden „innerhalb von nur etwa fünf Stunden aus Garn, vier verschiedenen Kunststoffkügelchen und einem Paar Schnürsenkel Laufschuhe produziert.“ Zuvor dauerte es etwa drei Monate ab der Bestellung, bis ein fertiger Turnschuh in Deutschland ankam. Statt Schuhe und Kleidung in Fernost zu produzieren, will adidas künftig wieder vor Ort beim Kunden, also auch in Deutschland fertigen – nach Bedarf und auf die Wünsche des Kunden zugeschnitten. Während die Herstellung von Sportartikeln bislang kaum automatisiert, v. a. in China, Vietnam S. Paul (*)  Ruhr-Universität Bochum, Bochum, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_29

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und Indonesien noch von Hand betrieben wird, arbeitet in Ansbach gleich ein halbes Dutzend Maschinen zusammen, um die Schuhe zu produzieren; auch der Einsatz von 3DDruckern soll künftig möglich sein. „Wir glauben, dass wir hier bessere Qualität produzieren können als in Fernost“, sagte der damalige Vorstandschef Hainer bei der Eröffnung der Speedfactory. Dabei wird die neue Fabrik nicht von adidas selbst betrieben, sondern vom bisherigen Zulieferer Oechsler, mit dem man gemeinsam die neuen Fertigungsanlagen entwickelt hat. Nach Einschätzung von adidas werden die Auswirkungen der neuen Produktionsmethode gewaltig sein: Lager für Turnschuhe sollen überflüssig werden, da vor Ort genau die Menge an Sneakern hergestellt werden kann, die auch tatsächlich verkauft wird. „Hainer träumt schon davon, dass die Kassen der großen Händlerketten tages- oder sogar stundengenau übermitteln, wie viele Exemplare eines Modells verkauft wurden und entsprechend beliefert werden.“ Zudem soll es direkt an die Läden angeschlossene Produktionsanlagen geben. Dann sind auch schneller verfügbare, personalisierte Modelle möglich, auf die man bislang wochen- oder monatelang hätte warten müssen: „Schuhe können an den eigenen Fuß angepasst, in den Wunschfarben oder mit eigenen Fotos bedruckt werden – alles innerhalb weniger Stunden oder maximal Tage.“ Dabei sollen die Schuhe „Made in Germany“ nicht teurer werden. Allerdings könnten Sneaker künftig wie Autos nur in einer Grundausstattung angeboten werden. Für Sonderausstattungen wie besondere Sohlen oder ausgefallene Designs müsse dann extra gezahlt werden, und Sonderangebote im Schlussverkauf werden wohl deutlich seltener, weil die Schuhe nur noch nach Bedarf produziert werden; ein Verramschen der alten Modelle sei dann nicht mehr notwendig, was sich für adidas bei der Gewinnmarge positiv bemerkbar machen würde. Die Digitalisierung wird insofern als disruptiv (Christensen 2011) bezeichnet, als Strukturen bestehender Märkte aufgebrochen, die bisherigen Anbieter und von ihnen eingesetzten Technologien infrage gestellt sowie vollständig neue Spielregeln für ganze Branchen definiert werden. Wenn die Formel „finance has to fit the business“ zutrifft, dann stehen mit der Disruption von Geschäftsmodellen und neuartigen Formen der Organisation und Steuerung von Wertschöpfungsketten auch die Finanzierungsinstrumente und -prozesse sowie die Anforderungen an den Finanzleiter im Rahmen der Unternehmensfinanzierung vor radikalen Veränderungen. Spiegelbildlich müssen sich die Kreditinstitute, die im bankdominierten deutschen Finanzsystem den Löwenanteil der externen Unternehmensfinanzierung bereitstellen, fragen, wie sie diesen Anforderungen gerecht werden können (zum Folgenden Paul 2016, 2017; Paul et al. 2017). Die folgenden Ausführungen setzen bei der Veränderung der realwirtschaftlichen Seite der Unternehmung an (Abschn. 2) und gehen dann zunächst auf die Instrumente der Finanzierung (Abschn. 3) ein. Gefragt wird, ob die Unternehmungen aufgrund der Tendenz zu Industrie 4.0 andere Finanzierungsformen, -laufzeiten und -volumina benötigen. Es folgen eine Betrachtung der Finanzierungsprozesse (Abschn. 4) sowie des sich verändernden Rollenbilds des Finanzleiters, bei großen Unternehmen als Chief Financial Officer (CFO) bezeichnet (Abschn. 5). Angesichts des Fokus dieses Buchs – die unternehmerische Gestaltungsaufgabe – nehmen die beiden letztgenannten Aspekte

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den größten Raum ein. Dabei soll geprüft werden, inwiefern sich die Funktionen und Aufgaben des Finanzleiters durch die Digitalisierung verändern und sich daher möglicherweise auch sein Kompetenzprofil verschieben wird. Ein kurzes Fazit (Abschn. 6) schließt den Beitrag ab.

2 Realwirtschaftliche Vernetzung und Supply Chain Finance Ein finanzierungsrelevantes Kernelement der Industrie 4.0 ist die mit der Digitalisierung verbundene umfassende Vernetzung von Personen, Dingen und Maschinen in Wertschöpfungsketten (zur Industrie 4.0 grundlegend BITKOM und Fraunhofer-Institut 2014; BMWi 2015; Agiplan 2015; Obermaier 2017, S. 3 ff.). In cyber-physische Systeme sind Geräte, Objekte, Produktionsanlagen, Logistikkomponenten usw. eingebettet, die kommunikations- und internetfähige Module enthalten, um mithilfe spezieller Sensorik ihre Umwelt erfassen, speichern und dadurch auf die physische Welt einwirken zu können. So kann etwa in der Digital Factory von Siemens in Ambach jedes Produktionsteil mithilfe eines Barcodes über seinen gesamten Lebenszyklus hinweg – also auch schon während seiner Erstellungsphase und nach seiner Verarbeitung – identifiziert und damit beobachtet werden. In vertikaler Hinsicht werden damit die betrieblichen Funktionalbereiche – von Forschung und Entwicklung über Einkauf und Fertigung bis zum Absatz – in der Unternehmung selbst stärker miteinander verzahnt. In Smart Factories kommunizieren Produkte, Transportmittel und Werkzeuge miteinander und handeln selbstständig die nächsten Produktionsschritte aus. Durch horizontale Vernetzung verändert sich das Zusammenspiel der Unternehmung sowohl mit Lieferanten oder anderen Kooperationspartnern als auch mit den Kunden. Im Automobilbereich beinhalten Smart Services nicht nur den vom Kunden im Internet bedienbaren Konfigurator für sein neues Fahrzeug, sondern umgekehrt auch die vom Auto ausgehenden Informationen über notwendige Servicearbeiten, Wartungs-, Mobilitäts- oder andere Dienstleistungsangebote. Die Digitalisierung erlaubt dann – wie am Beispiel adidas zu sehen – die Integration und Optimierung des Warenflusses vom Kunden über das eigene Unternehmen bis hin zum Lieferanten und zurück. Durch die Digitalisierung soll es somit möglich werden, individuelle Produkte zu den Kosten einer Massenfertigung zu entwickeln und herzustellen (Mass Customization bzw. Mass Personalization), wie in dem adidas-Beispiel für die kundenindividuelle Konfiguration von Sportschuhen angesprochen. Als Konsequenz dieser zunehmenden Vernetzung haben sich neue Formen der Finanzierung entlang der Wertschöpfungskette von Unternehmen herausgebildet (Supply Chain  bzw. Value Chain Finance). Abgestellt wird hierbei auf die stärkere Verzahnung von Lieferanten und Abnehmern auch im Rahmen der Finanzierung (Wuttke et al. 2013; Templar et al. 2016). Länger schon etabliert ist das traditionelle Factoring, bei dem ein Lieferant (Gläubiger) die Forderungen gegenüber seinen Abnehmern (Schuldnern) verkauft, um schneller Liquidität zu erhalten. Beim Reverse Factoring organisiert der Debitor, dass

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seine Lieferanten ihre ihm gegenüber bestehenden Forderungen an einen Factor verkaufen. Dabei bestätigt und garantiert er die von ihm geschuldeten Zahlungen im Rahmen eines abstrakten Schuldanerkenntnisses gegenüber dem Factor. Dadurch kann ein Abnehmer die Liquidität seines Lieferanten sicherstellen, was z. B. in der Automobilindustrie eine große Bedeutung besitzt. Zahlungsschwierigkeiten einer Partei in mehrstufigen Produktionsketten können aufgrund des Just-in-Time-Prinzips schnell zu einem Stillstand der Bänder führen. Im Rahmen des Finetrading verkaufen die teilnehmenden Lieferanten des die Transaktion veranlassenden Debitors ihre Waren – und nicht ihre Forderungen – an eine Zwischenhandelsgesellschaft (Finetrader) und werden bei Lieferung bezahlt. Dieser Intermediär verkauft die Waren an den Debitor weiter, wobei er hierbei an den wirtschaftlichen Bedürfnissen der Parteien ausgerichtete Zahlungsziele vereinbaren kann. Sowohl bei ReverseFactoring- als auch bei Finetrading-Transaktionen geht die Finanzierungsinitiative, -auswahl, -steuerung und -kontrolle vom Debitor als fokalem Unternehmen des Netzwerks aus. Seine Initiative ist indes nicht selbstlos: Die schnellere Bezahlung des Lieferanten kann zu einer Verbesserung der Einkaufskonditionen führen (Klüwer 2016).

3 Trend zur Projekt- statt Unternehmensfinanzierung Was bedeutet die Vernetzung der Realwirtschaft für das Finanzierungsangebot der Banken? Die Intensivierung der unternehmensübergreifenden Kooperationen von Wertschöpfungspartnern erschwert die Abgrenzung der Unternehmung und wirft die Frage auf, worauf sich ihre Bonitätseinschätzung beziehen soll. Die klassische Unternehmensfinanzierung wird nämlich immer mehr zu einer vom Gesamtunternehmen losgelösten Projektfinanzierung (zur Projektfinanzierung Böttcher und Blattner 2013), der Einzel- wandelt sich zum Value-Chain-Kredit. Größere Investitionen werden zunehmend im Netzwerk mehrerer Unternehmen getätigt (im Beispiel adidas und der Zulieferer Oechsler), deren Abhängigkeit von Konstanz und Qualität der Partner steigt. Für den Erfolg des Projekts und damit die Fähigkeit zur Zahlung der Kreditverpflichtungen ist damit nicht mehr nur ein einzelner Spieler, sondern das Geflecht der Beteiligten – mit z. T. unterschiedlichen Bonitäten – verantwortlich. Was zuvor als Sonderfall bei der Finanzierung großer Infrastrukturvorhaben in der Energieerzeugung oder bei Verkehrswegen galt, wird immer häufiger anzutreffen sein: Das Projektrating entkoppelt sich vom Unternehmensrating. Kreditinstitute werden daher künftig bei ihren Kunden ähnlich agieren wie der Regulator ihnen gegenüber: Prüft die Aufsicht seit der Finanzkrise immer stärker die Verflechtung der Institute untereinander, um systemische Risiken zu erkennen, müssen Banken im Rahmen der Bonitätsbeurteilung die Netzwerke ihrer Kunden genauer aufschlüsseln. Der erwartete Verlust eines Kredits („expected loss“) ergibt sich aber nicht nur aus der Ausfallwahrscheinlichkeit („probability of default“) des Kunden, sondern auch aus der Verlustquote („loss-given default“). Diese wird v. a. beeinflusst durch die Werthaltigkeit der Sicherheiten, die Kreditverträgen zumindest im Mittelstand vielfach noch zugrunde

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liegen. Hier führt Industrie 4.0 zu zwei Veränderungen: Zum einen werden die Unternehmensinvestitionen im Zuge der Digitalisierung weniger durch klassisches Anlagevermögen, sondern immer mehr durch immaterielle Assets wie insbesondere Software und Patente („intellectual property“), neue Geschäftsideen, Forschungsergebnisse, aber auch Betreuungs-, Pflege- und Ausbildungsaufwand usw. geprägt (Demmer und Kann 2016), die vielfach so unternehmensspezifisch sind, dass sich die Berechnung von Beleihungswerten und -grenzen kaum auf allgemein akzeptierte Marktpreise wie bei Rohstoffen, Fahrzeugen oder selbst Immobilien stützen kann. Nimmt man noch einmal das Beispiel adidas, dann werden die die Sportschuhe produzierenden 3D-Drucker sicherlich weniger als Sicherheiten dienen können, wohl aber die sie steuernde Software. Zum anderen führt der zuvor angesprochene Vernetzungstrend dazu, dass Stand-alone-Bewertungen von Teilen eines größeren Investitionsprojekts wenig tragfähig sind. Setzt sich der Trend zunehmender unternehmensinterner und -externer Vernetzung von Partnern und Projektschritten in Echtzeit fort, dann müsste zum einen der klassische Betriebsmittelkredit an Bedeutung verlieren. Auf den jeweiligen Kunden zugeschnittene Produkte und vom Zeitpunkt seiner Bestellung ausgehende Beschaffungsvorgänge in den Unternehmen sollten helfen, deren Lagerhaltung drastisch zu reduzieren und den Rabattverkauf nicht abgesetzter Produkte zu vermeiden (wie von adidas genannt). Zum anderen dürften die Volumina der notwendigen Investitionen über die Wertschöpfungskette hinweg und damit auch die für die beteiligten Unternehmen notwendigen Kreditbeträge („exposure at default“) aber steigen. Dies gilt insbesondere dann, wenn in globalen Konzernen – wie bei adidas – mehrere identische Fertigungen auf unterschiedlichen Kontinenten aufgebaut werden, die in Abhängigkeit von der Nachfrageentwicklung flexibel ausgelastet werden können. Dabei ist zu berücksichtigen, dass digitales Business ein Skalenbusiness ist, d. h. es kommt darauf an, schnell an Größe bzw. Nutzung zu gewinnen. Zudem ist zu erwarten, dass sich die Projektlaufzeiten speziell im Übergangsprozess zur Industrie 4.0 verlängern, da weitreichende strukturelle Veränderungen der (Beschaffungs-, Produktionsund Absatz-)Prozesse erfolgen. So setzt etwa adidas immer stärker auf die Produktion im Sportfachhandel. Derartig gravierende Modifikationen des Geschäftsmodells sind nur durch transformatorische Investitionen von entsprechender Dauer möglich. Höhere Beträge, längere Laufzeiten und das erhöhte Risiko bei Krediten für innovative Investitionsvorhaben bei schwerer bewertbaren Sicherheiten sind unter dem Blickwinkel der Regulatorik negative Einflussgrößen. Sie können dazu führen, dass Banken diese Engagements in ihren Rating-Systemen ähnlich einstufen müssen wie Kredite an Startups (Saam et al. 2016). Dies wäre dann gegenüber normalen Unternehmenskrediten mit erheblichen Mehrbelastungen in Form von Eigenkapitalanforderungen verbunden, sodass Banken eine Kreditvergabe noch sorgfältiger als bisher prüfen werden (zur Regulatorik Paul 2015). Aufseiten der Unternehmen gewinnt dadurch die Qualität der Kommunikation mit ihren Banken erheblich an Bedeutung. Hier hat speziell der Mittelstand in Deutschland deutlichen Nachholbedarf. Die vergleichsweise leichte Kreditverfügbarkeit der letzten

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Jahre hat die dort anzutreffenden Defizite eher noch verstärkt. Die wichtigste Hemmschwelle für mehr Transparenz sind noch immer Ängste der Unternehmer, der Konkurrenz zu viel Informationen preiszugeben, Banken eventuelle Abweichungen gegenüber den Planungen erklären zu müssen oder Dritten zu zeigen, wie erfolgreich man ist. Doch eine schlechte Finanzkommunikation hat zur Folge, dass sich die Anforderungen der Kapitalgeber an künftige Informationen und deren formale Aufbereitung drastisch erhöhen. In Zeiten erhöhter technologischer Unsicherheit muss für ein gutes Rating noch aktiver informiert werden. Dabei sollten v. a. die Veränderungen des Geschäftsmodells durch die Digitalisierung erläutert, unterschiedliche Zukunftsszenarien durchgespielt und wichtige Innovationen bei den Produkten und Prozessen des Unternehmens vorgestellt werden, um Banken die unternehmerische Sichtweise zu vermitteln. Auch dies wird immer mehr zu einer Aufgabe, die nicht mehr nur jedes einzelne Unternehmen, sondern stärker noch das Netzwerk bzw. die Wertschöpfungskette, in die es eingebunden ist, gemeinsam erfüllen muss. Regelmäßige, zuletzt 2016 für den deutschen Mittelstand erhobene, repräsentative Daten zeigen, dass sich die Zahl der Verfechter und Skeptiker der Finanzkommunikation ungefähr die Waage hält (Paul et al. 2017). Vor dem Hintergrund der erwähnten notwendigen Veränderungen der Geschäftsmodelle deutscher Unternehmen in der Industrie 4.0 informieren sowohl Verfechter als auch Skeptiker unzureichend über ihr Marktund Wettbewerbsumfeld. So machen nur 53 % der Verfechter und 25 % der Skeptiker Angaben zur Marktstrategie und zu Zukunftsperspektiven des Unternehmens. Die eigene Innovationstätigkeit ist ebenso nur bei weniger als der Hälfte (Verfechter 43 % und Skeptiker 20 %) der befragten Unternehmen Gegenstand der Finanzkommunikation. Nochmals geringer ist der Anteil der Unternehmen, die die Ergebnisse einer Konkurrenzanalyse an die Kapitalgeber übermitteln (Verfechter 17 % Skeptiker 6 %). Spiegelbildlich zu den erhöhten Transparenzanforderungen an die Unternehmen verändern sich Anforderungen an die Risikomanager der Kreditinstitute bei der Weiterentwicklung der Ratingverfahren sowie die Firmenkundenbetreuer der Banken. Erforderlich ist eine höhere Expertise mit Blick auf die digitalisierte Industriewelt. Neben klassischen Bankern müssen daher verstärkt auch Mitarbeiter gewonnen werden, die ihren Karriereweg zuvor außerhalb der Bankenwelt gegangen sind. Nur dann können die Firmenkundenbetreuer mit dem Unternehmer auf Augenhöhe kommunizieren und mithilfe umfassender Beratung einen Wettbewerbsvorteil gegenüber den auch bereits in der Unternehmensfinanzierung aktiven FinTechs erarbeiten. Die durch die Digitalisierung ausgelöste Industrie 4.0 bringt insofern radikale Umwälzungen für die Geschäftsmodelle nahezu aller Branchen mit sich. Der Finanzleiter einer Unternehmung muss diesen Umbruchprozess im Rahmen seiner Wertschaffungsfunktion mitgestalten. Da sich seine Anforderungen an das Finanzsystem verändern werden, müssen auch die Finanzintermediäre – in Deutschland v. a. die Kreditinstitute – ihr Kernprodukt mit gleicher Radikalität anpassen und als Kredit 4.0 individueller, flexibler, transparenter und damit zukunftsfähig machen (vgl. Paul et al. 2018).

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4 Auswirkungen auf Finanzierungsprozesse Mit Blick auf die prozessuale Ebene der Finanzierung sowie die Rolle des Finanzleiters liegt für Deutschland bislang nur eine, allerdings sehr aktuelle Studie vor, die vom Verfasser dieses Beitrags gemeinsam mit dem Arbeitskreis (AK) Finanzierung der Schmalenbach-Gesellschaft (2017) erarbeitet wurde, und auf die nun im Folgenden eingegangen werden soll. Der AK Finanzierung hat im Zeitraum von Februar bis März 2017 insgesamt elf (persönliche) leitfadengestützte Tiefeninterviews mit den Finanzleitern bzw. Leitern der Finanzabteilungen großer Konzerne in Deutschland geführt und anschließend nach dem Muster der Critical Incident Technique (CIT) strukturiert ausgewertet (zur CIT Flanagan 1954; Paul et al. 2011). Um der (kleinen) Stichprobe zumindest eine größtmögliche ökonomische Relevanz zu verleihen, wurden nur solche Unternehmen angesprochen, denen angesichts einer regelmäßigen Medienberichterstattung eine Vorreiterrolle im Bereich Digitalisierung bzw. Industrie 4.0 zugeschrieben wird. Basierend auf diesen Ergebnissen wird der Versuch unternommen, das zukünftige Rollenbild und Tätigkeitsspektrum von Finanzbereich und Finanzleiter im Zeichen der Digitalisierung zu skizzieren sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Qualifikations- und Anforderungsprofil abzuleiten. Zur Vereinfachung wird im Folgenden auf den CFO abgestellt, wohl wissend, dass diese Funktionsbezeichnung im (kleineren) Mittelstand weniger verbreitet ist. Hinsichtlich der Auswirkungen der Digitalisierung auf den Finanzbereich und die Rolle des CFO einer Unternehmung können in der bestehenden Literatur vier Argumentationslinien ausgemacht werden, die sich wie folgt kompakt zusammenfassen lassen (Farag et al. 2012; Karaian 2014; Rapp und Wullenkord 2014; Tulimieri und Banai 2010; Zorn 2004): Erstens wird argumentiert, dass der Finanzbereich aufgrund seiner historisch gewachsenen Bedeutung als Datensammelstelle in Zukunft zunehmend in die Verantwortung zur Sicherstellung einer effizienten Nutzung der mit der Digitalisierung verbundenen neuen Dimension der Datenverfügbarkeit (Big Data) genommen wird (Pfizenmayer 2016, S. 30; Freitag 2016, S. 58). Mit neuen Analyse- und Prognoseverfahren wird es voraussichtlich immer besser möglich sein, große Datenmengen in Echtzeit auszuwerten und zur Modellierung zukünftiger Umweltzustände aufzubereiten (Weißenberger 2017, S. 16) – im adidas-Beispiel etwa die Daten der Kunden, die sich im dezentralen Fachhandel ihre Schuhe individuell erstellen. Zweitens werden mit Big Data die Tätigkeitsfelder Risikomanagement, Governance und Compliance an Bedeutung gewinnen. Dies wird insbesondere mit dem erhöhten Risiko für das Entstehen von Datenlecks (Cyber-Sicherheit, Freitag 2016, S. 58; Knowledge@Wharton 2016, S. 1) sowie mit der zunehmenden Speicherung und Nutzung von (personenbezogenen) Daten, die aus den Geschäftsprozessen heraus generiert werden können (Freitag 2016, S. 57), begründet.

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Drittens wird prognostiziert, dass dem CFO vor dem Hintergrund der notwendigen Investitionen in neue Technologien im Kontext der Digitalisierung eine herausgehobene Stellung im Hinblick auf die Beurteilung von Investitionsbedarf und -vorteilhaftigkeit für die einzelnen Unternehmensbereiche zuteil wird (Fischer und Böckmann 2016, S. 60). Dabei könnten in Erwartung weit höherer Investitionsvolumina verstärkt quantitative und qualitative Analysen bezüglich geeigneter Finanzierungsinstrumente notwendig werden (Paul 2016, S. 16; Freitag 2016, S. 61). Viertens wird die Hypothese aufgestellt, dass die strategischen Aufgaben des CFO aufgrund der erodierenden Bedeutung klassischer Aufgabengebiete in Verbindung mit seiner zentralen Stellung als Entscheidungsträger bei Investitionsvorhaben in ihrem Umfang deutlich zunehmen werden (Hesse 2015, S. 25; Freitag 2016, S. 61). Dies bezieht sich auch auf die Vorreiterrolle, die der CFO bei der unternehmensweiten Implementierung von Industrie 4.0 einnehmen könnte (Ernst & Young 2016, S. 9). Um diesem Erkenntnisinteresse gerecht zu werden, wird auf einen qualitativen Forschungsansatz zur Generierung verbaler Daten zurückgegriffen. Strukturierte, leitfadengestützte Tiefeninterviews mit Experten aus Unternehmen eignen sich methodisch immer dann, wenn der Untersuchungsgegenstand thematisch eine Komplexität aufweist, die die Gewährung von zeitlichem und inhaltlichem Raum für Nachfragen und ergänzende Erläuterungen sinnvoll erscheinen lässt (Flick und Steinke 2008, S. 14; Kaiser 2014, S. 3; Bogner et al. 2014, S. 29). Grundsätzlich besteht bei der Mehrheit der Befragten kein Zweifel daran, dass die Digitalisierung gravierende Auswirkungen auf die Abläufe und Prozesse im Finanzbereich der Unternehmung haben wird. Als zentraler Treiber der Digitalisierung erweist sich zunächst die – mit dem Schlagwort Big Data zusammenzufassende und die erste Argumentationslinie der bestehenden Literatur widerspiegelnde – Zunahme von Datenquantität und -qualität. Begründet wird dies mit der Tatsache, dass durch die zunehmend mit Sensoren ausgestatteten und vernetzten Maschinen sowie durch den fortschreitenden Einsatz künstlicher Intelligenz insgesamt mehr Daten produziert werden. „Der CFO wird praktisch von Daten erschlagen“, bringt es der Vertreter eines Industriekonzerns auf den Punkt. Für den Finanzbereich bestehe aber die Chance, Effizienzsteigerungen bei vielen Analyse- und Planungshandlungen zu erzielen, wenn die bereits eingesetzten Mustererkennungsverfahren weiter optimiert werden können. Zwei Befragte stellen heraus, dass sich aufgrund der neuen Datenfülle v. a. auch Zukunftsszenarien im Rahmen der Unternehmensplanung schneller, leichter und präziser simulieren lassen. Zwei andere Vertreter der Praxis geben an, dass viele der neuen Datenpunkte grundsätzlich auch die Berechnung von Indikatoren zulassen, die früher nicht in dieser Form für Analyseund Planungshandlungen zur Verfügung standen. In diesem Zusammenhang fasst ein Befragter zusammen, dass sich die Datengrundlage für das Reporting gravierend verändert habe. Die traditionellen Daten des Rechnungswesens würden „fast nur noch im Sinne einer Pflichtaufgabe für die Kapitalmarktkommunikation verwendet. Intern aber erfolgen sämtliche Analysen gestützt auf geschäftseinheitenbezogenen Indikatoren“.

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Auf die Frage nach konkreten Beispielen für Effizienzsteigerungen durch Big Data herrschte unter den Befragten große Einigkeit darüber, dass sich auf Basis der durch die Maschinen bzw. Produkte neuerdings selbst generierten und gemeldeten Daten etwa für zukünftig erforderlich werdende Wartungs- und Reparaturprozesse sowohl die Liquiditätsdisposition als auch die Umsatzplanung optimieren lassen. Zum einen wird auf Grundlage der nun viel früher bekannten Wartungs- und Reparaturnotwendigkeiten eine präzisere Prognose von Ein- und Auszahlungen möglich, aus der sich die Vorhaltung eines geringeren Liquiditätspuffers ergeben kann. Der Vertreter eines Softwarekonzerns argumentiert weiterführend, dass die Notwendigkeit der Neu- und Weiterentwicklung von digitalen Geschäftsmodellen sowie die damit verbundene Unsicherheit jedoch auch die Vorhaltung einer höheren Liquiditätsreserve erfordern kann, um sicher zu sein, rasch transformative Investitionen durchführen zu können. Somit gibt es möglicherweise einen gegenläufigen Effekt. Für die Dimensionierung des Eigenkapitals als Unsicherheitspuffer müssten ceteris paribus analoge Effekte relevant sein. Zum anderen erlauben die genaueren Informationen über zukünftige Zahlungsströme eine ebenfalls höhere Prognosegüte bei der Schätzung zukünftiger Umsätze sowie der Rentabilität von Investitionsprojekten. Letzteres gilt insbesondere in Verknüpfung mit der nun weniger aufwendigen Möglichkeit des Simulierens verschiedener Stressszenarien sowie deren Konsequenzen, etwa in Bezug auf politische Ereignisse oder hinsichtlich der Auswirkungen von Megatrends. „Die Planungen erhalten dadurch einen härteren Verbindlichkeitsgrad“, schlussfolgert der Vertreter eines Automobilkonzerns. Weitere Anwendungsbeispiele finden sich im Bereich Governance und Compliance, insbesondere hinsichtlich der Eindämmung von Fehl- bzw. kriminellen Handlungen. Einerseits kann auf eine größere Zahl von Frühwarnindikatoren zurückgegriffen werden, andererseits müssen sich die Maßnahmen zur Aufdeckung von Betrugshandlungen nicht mehr nur auf Stichproben stützen, da sich mit neuen Methoden nun der gesamte Datenbestand auswerten lässt. Als Zwischenfazit bestätigen die Befragten, dass sich die Ausrichtung der Analyseund Planungstätigkeiten im Finanzbereich durch Big Data noch stärker von reaktivanalytisch zu proaktiv-prognostizierend verändert. Als wichtigstes Resultat steigt die Qualität von unternehmerischen Entscheidungen, da deren (potenzielle) Auswirkungen durch einen viel schnelleren Zugriff auf ein breiteres empirisches Fundament präziser erfasst werden können. Zwei Interviewpartner ergänzen vor dem Hintergrund dieses Zwischenfazits jedoch auch, dass mit dieser Entwicklung gleichsam (neue) Fragen des Datenschutzes zu klären sind und diese den Finanzbereich zukünftig stärker beschäftigen werden. Als zweiter Treiber von Veränderungen durch die Digitalisierung werden von den Befragten neue Softwareapplikationen angeführt, mit denen sich zahlreiche – bislang oftmals noch (teil-)manuell ausgeführte transaktionale Abläufe – stärker automatisieren lassen. Dabei handelt es sich oftmals um Anwendungen, die von innovativen Finanztechnologieunternehmen (FinTechs) bereitgestellt werden. Dem Vertreter eines Industriekonzerns zufolge geht die Entwicklung in der Ausgestaltung der IT-Infrastruktur daher

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derzeit weg von einem Monolith-Denken „SAP kann alles“ hin zu vielen individuellen Softwarelösungen, die dann allerdings miteinander verknüpft werden. Um die mit diesen Lösungen einhergehenden Effizienzpotenziale möglichst umfassend heben zu können, ist zunächst eine Standardisierung der Prozesse – und im Idealfall auch deren Harmonisierung über verschiedene Abteilungen hinweg – notwendig. Nur dann kann die dahinterliegende Arbeit auch tatsächlich von Computern bewältigt werden. Nach Meinung der Befragten ist dies am ehesten für die weniger komplexen Prozesse des Rechnungs- und Berichtswesens, des Zahlungsverkehrs und der Transaktionsabwicklung relevant, weshalb diese Bereiche von der Automatisierung am stärksten betroffen sein werden. Im Hinblick auf konkrete Anwendungsbeispiele wird von den Vertretern eines Automobil- und eines Industriekonzerns für den Bereich Zahlungsverkehr eine Software vorgestellt, die Bestell- und Zahlungsverkehrssysteme miteinander verknüpft. Eingehende Rechnungen werden maschinell – und mit einer Wahrscheinlichkeit von etwa 92–95 % ohne Fehler – einem Lieferantenkonto zugeordnet und im nächsten Schritt automatisch bezahlt. In dem Automobilkonzern läuft der Zahlungsverkehr auf Basis dieser Lösung mittlerweile komplett elektronisch ab. „Hier merkt man den größten Automatisierungsgewinn“, erklärt der Interviewpartner. Im Bereich der Transaktionsabwicklung werden der Mehrheit der Befragten zufolge inzwischen elektronische (Auktions-)Plattformen eingesetzt, die beispielsweise den kurzfristigen Geldhandel stark vereinfachen, transparenter gestalten und sämtliche Backoffice-Prozesse automatisieren. Der sonst manuell zu administrierende Aufwand (Reporting, Bestätigung der Transaktionen etc.) entfällt damit. Eine häufig genannte Anwendung ist die Software 360 T, die u. a. einen Marktplatz für den Fremdwährungs- und Geldhandel bereitstellt, auf dem Unternehmen jederzeit flexibel Angebote zum Handel von Währungen und zur Platzierung von Liquidität – auch unter Voreinstellung bestimmter Restriktionen, etwa hinsichtlich der Anbieter (z. B. Banken) – einholen können. Der Vertreter eines Logistikkonzerns gibt zu Protokoll, dass sich das strategische Asset Management durch derartige Plattformen stark verändern wird. Die dargestellten Entwicklungen in Richtung einer stärkeren Prozessautomatisierung haben nicht nur Implikationen für den Finanzbereich selbst, sondern auch für die Interaktion mit den Kapitalgebern. Zum einen kommt dem Finanzbereich drei Interviewpartnern zufolge eine stärkere Rolle im Rahmen der abteilungsübergreifenden Prozessentwicklung zu. „Das Finanzressort gibt immer stärker auch Anregungen für alle Arten von Prozessen. Die eigentlich auf Finanzen bezogene Fachfunktion wird damit immer mehr zum Gegengewicht für Produktion, Einkauf oder Vertrieb und schließlich auch zum Coach, Organisationsberater und Optimierer“, meint der Vertreter eines Automobilkonzerns. Der Repräsentant eines Softwarekonzerns konkretisiert, dass „der Finanzbereich nicht nur bei der Umsetzung und Ausführung bestehender Geschäftsmodelle oder Prozesse berät, sondern auch versucht, diese selbst zu entwickeln bzw. eingeführte Dinge aufzubrechen und zu verändern“. Dies hat auch zur Folge, dass der Finanzbereich „stärker an das Business heranrückt“ und nun auch viel stärker an der Entwicklung und Monetarisierung von Geschäftsmodellen beteiligt ist. So „steigt der Involvierungsgrad des Finanzbereichs“ in dem

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befragten Softwarekonzern schon in der Frühphase der Produktentwicklung oder der Kundenakquise erheblich an. Die gemeinsame Beratung des Kunden durch Industriebereich und Finanzbereich hat etwa bei Siemens deutlich an Bedeutung gewonnen (One-Stop Solution). Dadurch werde erstens die Chance erhöht, gerade komplexe Kundenaufträge überhaupt und zweitens in einer nicht zuletzt auch unter finanzwirtschaftlichen Gesichtspunkten handhabbaren Form zu erhalten (vom Produkt- zum Lösungsfokus). Dabei spiele auch eine Rolle, durch das strukturierende Consulting die Möglichkeiten des Kunden zu verbessern, Finanzmittel z. B. aus dem Bankenapparat zu erhalten. In Zeiten sich schnell wandelnder Geschäftsmodelle sei es von großer Bedeutung, dem Kunden Wege aufzuzeigen, stets den Geldanschluss zu behalten und dem Wettbewerbsdruck durch entsprechende Investitionen Stand halten zu können. Aus diesen Entwicklungen heraus werden sich letztlich sowohl Veränderungen bei den benötigten Mitarbeiterkapazitäten als auch bei den an das Personal sowie die Leitungsfunktion gestellten Anforderungs- und Qualifikationsprofilen ergeben, auf die nachfolgend noch ausführlicher einzugehen sein wird. Zum anderen sehen die Vertreter der Praxis aufgrund der neuen Softwareplattformen auch die Intermediationsfunktion der Banken bedroht: „Die Systeme sind meist multibankenfähig. […] Dadurch werden wir ein Stück weit unabhängiger von einzelnen Banken und können den Geldhandel flexibel organisieren“, berichtet der Vertreter eines Industriekonzerns. Dies gilt auch für den Zahlungsverkehr, prognostiziert der Vertreter eines Logistikkonzerns: „Für Payment-Prozesse brauche ich zukünftig keine Bank mehr. […] Die heutigen Revenues aus dem Payment werden bei Banken in Zukunft wegfallen, da wir immer unabhängiger von ihnen werden.“ Bei diesen Dienstleistungen „werden Banken als Intermediäre vollständig verzichtbar“, meint auch der Vertreter eines Softwarekonzerns und empfiehlt den Banken, ihren Fokus auf andere, zusätzliche Services zu legen, die dem Finanzleiter das Leben erleichterten (z. B. ergänzende Liquiditäts- und Szenarioanalysen auf Basis der der Bank zur Verfügung stehenden Kundendaten etc.). Somit ergeben sich auch im Hinblick auf die operative Durchführung einzelner Finanzierungsmaßnahmen Veränderungen, die auf neuen, softwaregestützten Automatisierungs- bzw. Plattformlösungen basieren. So bestehen die bereits beschriebenen, von FinTechs angebotenen Plattformen etwa auch für die Platzierung von längerfristigen Finanzierungsinstrumenten wie beispielsweise Anleihen. Über diese Plattformen kann direkt mit den Investoren kommuniziert und eine (z. B. geografische) Vorauswahl getroffen werden. „Entsprechende Lösungen existieren auch für den Kreditbereich, sodass auf diesem Wege bilaterale oder syndizierte Kredite eingeworben werden können“, erläutert der Vertreter eines Industriekonzerns. Dies führt im Finanzierungsbereich zu einer stärkeren Unabhängigkeit von einzelnen Banken. Wenn in Zukunft dann auch Business-to-Business(B2B)-Lösungen des Peer Lending marktfähig sind, würde dies dazu führen, „dass die Finanzierungskosten signifikant sinken. Bei einer Bank müssten für die Aufnahme und Abwicklung eines Kredits 25 Basispunkte gezahlt werden. Das ist bei den relevanten Volumina dann durchaus teuer. Da rechnet sich jede Art dieser Plattformen“, erklärt der Vertreter eines Logistikkonzerns.

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Vereinzelt äußerten die Befragten, dass sich neben den Softwarelösungen auch weitere (eher indirekte) Neuerungen durch die Digitalisierung auf der Finanzierungsseite ergeben können. Beispielsweise führte der Vertreter eines Chemiekonzerns an, dass man für Investitionsprojekte mit Bezug zur Digitalisierung bzw. Industrie 4.0 gegebenenfalls staatlich bereitgestellte Fördermittel in Anspruch nehmen kann. Der Vertreter eines Hochtechnologiekonzerns erklärt, dass sich durch die Sensorisierung und Vernetzung der eigenen Produkte am Standort des Kunden Daten darüber generieren lassen, wie intensiv dieser die Produkte tatsächlich nutzt. Dies bietet Ansatzpunkte zur Entwicklung neuer Pricing-Strukturen, Factoring- und Leasing-Angebote bis hin zu einer stundenbasierten Abrechnung der Produktnutzung. Darüber hinaus ist von zwei Befragten angemerkt worden, dass sich durch die Digitalisierung auch die Ausgestaltung und Durchführung von Kooperationen mit anderen Unternehmen verändern wird. Im Sinn der Spezialisierung könnten Kooperationen effizienter durchgeführt werden, da man Aufgaben besser verteilen kann, solange man sich in der gleichen Systemlogik befinde. Ein anderer Vertreter betont hingegen, dass die Digitalisierung Kooperationen grundsätzlich fördere, die Finanzierung von Kooperationsprojekten jedoch komplexer werde.

5 Rollenbild und Anforderungsprofil des Finanzleiters (CFO) Aus den beschriebenen Veränderungen, die die Digitalisierung für den Finanzbereich mit sich bringt, ergeben sich Implikationen für das Rollenbild, die Bedeutung und das qualifikatorische Anforderungsprofil des CFO sowie das ihn umgebende Team im Finanzbereich. Im Rahmen der Befragung war zunächst auf den CFO und die von ihm verkörperte Leitungsfunktion einzugehen. Diesbezüglich bestätigte der Großteil der Befragten, dass sich die Rolle des CFO vom „klassischen Oberbuchhalter der letzten 20 Jahre“ hin zu einem „Business-Partner“ entwickelt, der stärker als strategischer Wertarchitekt und nicht mehr nur als rein operativer bzw. administrativer Prozessoptimierer agiert. Der Vertreter eines Softwarekonzerns erläutert, dass der CFO „das Datengeflecht aus dem operativen Geschäft sehr viel stärker durchdringen und insofern eine sehr stark ausgeweitete Beraterrolle für den Rest des Vorstands einnimmt. Diese Beratung kann auf schneller verfügbaren und mit höherer Genauigkeit auswertbaren Daten basieren“. Dies trifft insbesondere auf die Beurteilung der Chancen und Risiken von Investitionen der Geschäftsbereiche im Hinblick auf die Digitalisierung zu. „Der CFO muss hier immer wieder die zentrale Innovationsfrage beantworten: Was bringen Neuerungen für die Wertsteigerung der Unternehmung?“, betont der Vertreter eines Automobilkonzerns. Der Vertreter eines Chemiekonzerns beschreibt die neue Rolle des CFO kurz mit dem Ausspruch: „The CFO leverages the digital options“. Gleichzeitig muss er „auch stärker als Chief Risk Manager auftreten, da die mit der Industrie 4.0 bzw. Digitalisierung verbundenen Risiken ganz andere sind, als die, die wir bisher gehabt haben. Das impliziert auch eine Ausweitung der Kompetenzen des CFO“, erläutert der Vertreter eines Logistikkonzerns. Verfestigen sich diese Veränderungen des Rollenverständnisses und entwickelt

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sich der CFO tatsächlich mehr und mehr zum Business-Partner der Unternehmung, birgt dies dem Vertreter des Softwarekonzerns zufolge auch Konfliktpotenzial: „Insbesondere kann der CFO in Konflikt mit dem in vielen Unternehmen bereits installierten Chief Digital oder Chief Information Officer geraten. Hier gibt es vielfach Schwierigkeiten in der Rollendefinition und -abgrenzung. Man muss hier aufpassen, von dem jeweiligen Gegenpart nicht an den Rand gedrängt zu werden.“ Das veränderte Rollenbild bringt den Befragten zufolge auch Verschiebungen in der Stellung und der relativen Bedeutung des CFO im Verhältnis zum CEO (Chief Executive Officer) mit sich. Die Praktiker bestätigen einen klaren Bedeutungszuwachs des CFO, der v. a. auf dessen stärkere Einbindung in Strategiethemen und die neue Rolle als Transformationsagent zurückgeführt wird, der das Geschäftsmodell der Unternehmung nicht nur mit-, sondern auch umgestaltet. „Der CFO ist mittlerweile zum Co-Piloten des CEO aufgestiegen. Er bewegt sich mit diesem auf Augenhöhe und bildet bei vielen Deals ein Tandem mit ihm“, formuliert der Vertreter eines Medienunternehmens und ergänzt, dass daher „in der internen Meinungsbildung kein großer Bedeutungsunterschied mehr zwischen CEO und CFO besteht. Unterschiede gibt es im Aufgabenbereich höchstens noch mit Blick auf die noch umfangreicheren kommunikativen Tätigkeiten des CEO“. Relativierend ist hinzuzufügen, dass der von vielen Befragten bestätigte Bedeutungszuwachs letztlich nur in den Unternehmungen erkenn- und spürbar ist, in denen der CFO nicht ohnehin schon eine sehr prominente Rolle innehat, etwa aufgrund einer historisch gewachsenen Organisationsstruktur inklusive möglicher Verantwortlichkeiten für Rechnungswesen, Controlling und die IT. Durch das neue Rollenbild des CFO und seinen Bedeutungszuwachs innerhalb der Unternehmung kann ein im Vergleich zum klassischen CFO abweichendes qualifikatorisches Anforderungsprofil abgeleitet bzw. geschärft werden. Drei Befragte rücken die zunehmend erforderliche IT-Kompetenz in den Vordergrund. „Das klassische Profil (Accounting-, Controlling-, Finanzenkompetenz) wird in Zukunft zur Abschätzung der Folgen der Technologie auf die Unternehmung nicht mehr ausreichend sein. Eine klare Ergänzung ist die IT-Kompetenz. Der CFO muss in abstrakten IT-Prozessen denken und wissen, wie sich verschiedene Aspekte in der IT-Struktur abbilden lassen“, erklärt der Vertreter eines Logistikkonzerns. Auch der Interviewpartner eines großen multinationalen Mischkonzerns bringt zum Ausdruck, dass der CFO „stärker IT-orientiert denken und dazu auch entsprechend IT-affin sein muss“. Neben dem IT-Verständnis müssen den Befragten zufolge v. a. auch die Team- und Kommunikationsfähigkeit als Leadership-Skills vermehrt ausgeprägt sein. Im weiteren Verlauf der Interviews wurden schließlich auch die Implikationen dieser Entwicklungen für das den CFO umgebende Team im Finanzbereich diskutiert. Dabei stellte sich als Ergebnis heraus, dass durch die Digitalisierung zukünftig damit zu rechnen ist, dass im Finanzbereich „grundsätzlich weniger, dafür aber höher qualifiziertes Personal“ benötigt wird. Der Grund für die zurückgehende Zahl der erforderlichen Mitarbeiterkapazitäten liegt in der durch die neuen Softwarelösungen bzw. den Einsatz künstlicher Intelligenz möglich werdenden Automatisierung zahlreicher Prozesse. Interne Studien

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einiger der befragten Konzerne ergeben, dass sich theoretisch allein dadurch Mitarbeiterkapazitäten im Bereich der Shared Service Center in einer Größenordnung von netto 25 bis 40 % einsparen ließen. Betroffen wären in einem solchen Szenario v. a. die für klassische, standardisierte und daher eher Accounting-nahen Tätigkeiten vorgehaltenen Ressourcen. Im Übrigen sah man durchaus eine Tendenz zur (geografischen) Reintegration der im Ausland ansässigen Shared Service Center. Die Verarbeitung massenhafter, standardisierter Transaktionen bedürfe kaum noch menschlicher Arbeitskraft, sodass internationale Lohnkostenunterschiede immer weniger relevant würden. Durch den höheren Automatisierungsgrad und den zunehmenden Einsatz von ITLösungen verändert sich das Anforderungsprofil der Mitarbeiter v. a. dahin gehend, dass „die Prozess- und Systemkontrolle immer mehr zum Kerngeschäft des Finanzbereichs wird“. Eng verwandt damit ist die Aussage der Befragten, dass auch analytische Fähigkeiten stärker als bisher zu einem wichtigen Qualifikationsmerkmal werden. Einerseits schließt dies die Fähigkeit zum Filtern und kritischen Hinterfragen der aus dem größeren Datenpool gewonnenen Informationen ein, was „für Finanzer eine vergleichsweise neue Herausforderung darstellt“, wie der Vertreter eines Medienkonzerns zu berichten weiß. Andererseits steigt auch die Fähigkeit zur Analyse und Interpretation der Daten sowie die Verknüpfung der entsprechenden Auswertungen mit anderen betrieblichen Funktionen und Aspekten der Geschäftsmodell(-weiter)-Entwicklung zu einer zentralen Kompetenzanforderung auf. Der Vertreter eines multinationalen Mischkonzerns erläutert, dass hierfür auch „statistisches Know-how wichtiger wird, da es häufig um Modelle geht, die mit den Daten arbeiten. Die muss man verstehen, aufbauen und vor allem adjustieren können“. Den zweiten Aspekt konkretisierend nennen die Befragten zwei Voraussetzungen für die Entwicklung der zukünftig benötigten analytischen Kompetenzen: Zum einen nennen die Befragten hier – ähnlich wie in Bezug auf den CFO selbst – eine hohe IT-Affinität sowie das Verständnis von den Abläufen und Prozessen in der IT-Infrastruktur. „Dies bedeutet jedoch nicht, dass jeder Mitarbeiter ein kleiner Programmierer sein muss“, erläutert der Vertreter eines Softwarekonzerns, „es darf jedoch keine zu große Hemmschwelle vor der Anwendung von IT-Lösungen bestehen.“ Ähnlich sieht dies der Vertreter eines Chemiekonzerns: „Das Technical Know-how wird forciert. Die Mitarbeiter müssen auf dem Laufenden sein im Hinblick auf die technologische Entwicklung und das Erkennen von Möglichkeiten zu deren Nutzung“. Zum anderen muss auch das grundsätzliche Verständnis für die Prozesse und die (Verästelungen der) verschiedenen Geschäftsmodelle der Unternehmung sowie ihrer Lieferanten und Kunden stärker ausgeprägt sein. Die Mitarbeiter des Finanzbereichs müssen daher nicht nur stärker kommerziell denken, sondern auch „über das notwendige Abstraktionsvermögen verfügen, Prozesse zu beschreiben, zu zerlegen und Optimierungspotenziale zu identifizieren“, so der Vertreter eines Automobilkonzerns. Durch die stärkere innerbetriebliche Vernetzung rücken demnach auch Querschnittskompetenzen in den Fokus, die insbesondere dann gebraucht werden, „wenn man die Prozesse über verschiedene Abteilungen hinweg standardisieren will“. Die Finanzabteilung könne mithilfe der Digitalisierung immer mehr zu einer integrativen Klammer über die Geschäftsbereiche eines Konzerns hinweg werden und dadurch dazu beitragen, einen eventuellen „conglomerate discount“ des Kapitalmarkts abzubauen.

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Neben diesen eher als fachlich einzustufenden Qualifikationsmerkmalen steht laut den Interviewpartnern auch eine Reihe von Soft Skills im Fokus. Die stärker auszuübende Rolle der (abteilungsübergreifenden) Prozessoptimierer setzt „ein ganz anderes Auftreten, Argumentations- und Verhandlungsgeschick sowie Konfliktmanagement“ voraus, meinen die Vertreter eines Software- und eines Medienkonzerns und charakterisieren hiermit neue Anforderungen an die Kommunikations-, Team- und Kontaktfähigkeit der Mitarbeiter. Im Hinblick auf die Rolle des Finanzbereichs als Transformationsagent, der die Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen und wertsteigernden Transformationsprozessen vorantreibt, kommt der Offenheit und Motivation der Mitarbeiter zur Erbringung von kreativen und innovativen Eigenleistungen ein höherer Stellenwert zu. Aus diesem Grund gehen einige der befragten Konzerne mehr und mehr dazu über, „dem Mitarbeiter ein agiles Arbeiten zu ermöglichen, und zwar wo und wann er will“, führt der Befragte eines Hochtechnologiekonzerns aus. Der Vertreter eines Logistikkonzerns ergänzt, dass die Organisation von Projektteams auf „eine mentale, intellektuelle und auch räumliche Flexibilität der Mitarbeiter“ setzen muss. Dies ist deshalb von Bedeutung, da die Unternehmen zukünftig noch stärker auf den kreativen Input der Mitarbeiter angewiesen sein werden. Daraus ergeben sich allerdings weitere Implikationen – nicht nur für die Organisation und die Kultur der Arbeitswelt, sondern auch für die Soft-Skills-Anforderungen an Führungskräfte.

6 Fazit „Finance has to fit the business“ – mit der durch die Digitalisierung getriebenen Industrie 4.0 verändert sich auch der Finanzbereich der Unternehmungen. Zum einen zeichnet sich auf der instrumentellen Ebene ein Trend von der klassischen Unternehmens- zur Projektfinanzierung ab, die immer stärker auf ein Geflecht mehrerer Partner und eher immaterielle Sicherheiten abgestellt ist. Der hierdurch erschwerten Bonitätsbewertung werden Unternehmen durch eine deutliche Ausweitung ihrer Finanzkommunikation begegnen müssen, wollen sie die zur Realisierung ihrer Industrie-4.0-Investitionen notwendigen Beträge am Finanzmarkt akquirieren. Zum anderen geht mit der Digitalisierung ein Bedeutungszuwachs des Finanzbereichs und seiner Leitungsfunktion innerhalb der Unternehmung einher. Neben der Zunahme der Datenquantität und -qualität (Big Data), die eine frühzeitigere und präzisere Modellierung von Zukunftsszenarien ermöglichen, liegt die Ursache hierfür v. a. im zunehmenden Einsatz der von neuen Anbietern im Bereich der Finanztechnologie (FinTechs) angebotenen Softwareplattformen, mit denen sich zahlreiche (transaktionale) Abläufe bzw. Prozesse einem höheren Automatisierungsgrad zuführen lassen. In der Gesamtbetrachtung wird der Finanzbereich dadurch in Zukunft anstelle der bislang eher reaktiv-analytischen eine stärker proaktiv-prognostizierende Haltung einnehmen, die zudem mit einer noch stärker geschäftsbereichs- und abteilungsübergreifend wahrzunehmenden Unterstützer-, Beraterund Verändererrolle von höherer (strategischer) Bedeutung verbunden ist. Will man diese Erkenntnisse zu einem neuen Rollenbild des CFO im Zeichen der Digitalisierung verdichten, kann zwischen drei miteinander verzahnten Funktionen unterschieden werden (Abb. 1):

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Abb. 1   Rollenbild des CFO im Zeichen der Digitalisierung. (Quelle: in Anlehnung an Diel 2017)

Erstens kann die Funktion des Business Steward definiert werden, unter der sich sämtliche klassischen Aufgaben und Funktionen des CFO zusammenfassen lassen. Die hier anzusiedelnden Prozesse, zu denen neben dem Asset- und Liquiditätsmanagement sowie entsprechendem Reporting beispielsweise auch die Sicherstellung der Einhaltung regulatorischer Rahmenwerke zählt, sind allerdings nun in einem solchen Maß automatisiert, dass die Rolle des Prozess- bzw. Systemkontrolleurs an dieser Stelle in den Vordergrund rückt und die Basis für weitere Funktionen darstellt. Zweitens dürfte sich der CFO und der von ihm geleitete Finanzbereich auf dieser Grundlage zukünftig stärker als Berater und Unterstützer aller Geschäftseinheiten und Abteilungen verstehen, sodass der CFO auch als Business Partner auftritt. Diese Rolle lässt sich v. a. aus der von der Unternehmenspraxis beschriebenen Entwicklung ableiten, die dem CFO ein größeres Set an strategischen Aufgaben zuweist. Letztere kann er auf Basis des ihm nun zugänglichen breiteren empirischen Fundaments bedienen (z. B. in Form der Durchführung umfangreicher Szenario- oder Echtzeitanalysen). Dies impliziert die Beratung und proaktive Unterstützung der Geschäftseinheiten zur Erreichung ihrer strategischen Ziele. Drittens kommt die Rolle des Transformationsagenten hinzu, dessen Aufgaben in der Optimierung und dabei mitunter auch radikalen Umgestaltung von (Finanz-)Prozessen zur Gewährleistung von effizienten und kooperativen Beziehungen zwischen Kunden, Lieferanten, Kapitalgebern und Regulatoren anzusiedeln sind. Diese Aktivitäten erfolgen stets mit der übergeordneten Zielrichtung, den Wert der Unternehmung nachhaltig zu steigern und schließen auch die aktive Unterstützung anderer Geschäftseinheiten bei der (Weiter-)Entwicklung von innovativen Geschäftsmodellen mit ein. Beispielsweise kann der Finanzbereich schon in einem frühen Stadium der Entwicklung von Innovationen für eine Beratung im Hinblick auf mögliche Varianten zur Monetarisierung und Finanzierung konsultiert werden. Das in Form dieses Dreiklangs skizzierte Rollenbild des CFO

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im Zeichen der Digitalisierung symbolisiert zudem die mit den neuen Funktionen einhergehende stärkere innerbetriebliche Vernetzung des Finanzbereichs. Die durch die Digitalisierung ermöglichte stärkere Prozessautomatisierung führt dazu, dass insgesamt weniger, dafür aber höher qualifiziertes Personal benötigt wird – auch im Finanzbereich. Die erforderlichen Qualifikationen zielen insbesondere auf eine ausgeprägtere IT-Kompetenz ab, die zwar keine detaillierten Programmierkenntnisse, wohl aber ein Denken in IT-Strukturen ermöglicht. Zudem steigen die Anforderungen an die analytischen Fähigkeiten aufgrund der zunehmenden plausibilisierenden Tätigkeiten auf dem Gebiet der System- und Prozesskontrolle sowie aufgrund des notwendigen Denkens in Geschäftsmodellen. Darüber hinaus verlangt die stärkere innerbetriebliche Vernetzung auch eine stärkere Ausprägung von Querschnittskompetenzen, vor allem im Sinn von Team- und Kommunikationsfähigkeiten (Soft Skills). Insgesamt ließen sich auf Basis der Interviews nur Tendenzaussagen ableiten. Der Forschungsbedarf mit Blick auf den Zusammenhang von Industrie 4.0 und Unternehmensfinanzierung bleibt unverändert hoch. Dabei gilt es v. a. Antworten auf die folgenden Fragen zu finden: • Bedingt die Finanzierung von Investitionen in die Digitalisierung eine Veränderung traditioneller Finanzierungsformen? Welche Eigenschaften müsste auf der Fremdkapitalseite ein Kredit 4.0 aufweisen – längere Laufzeiten, geringere Besicherung, höhere Flexibilität in der Inanspruchnahme? • Sofern sich die Finanzierungsbedarfe auf Unternehmensseite ändern: Behalten die etablierten Kreditinstitute ihre starke Marktstellung oder gewinnen alternative Finanzierungsanbieter an Gewicht? • Wird sich die Ausweitung von Rolle und Bedeutung des Finanzleiters über Großunternehmen hinaus auch in den breiten Mittelstand hinein fortsetzen? Wie lassen sich – gerade angesichts des demografischen Wandels – Führungskräfte für das Finanzressort gewinnen, die sowohl ein breites Verständnis von Geschäftsmodellen als auch Spezialkenntnisse im Finance- und IT-Bereich besitzen?

Literatur Agiplan (Hrsg.). (2015). Erschließen der Potenziale der Anwendung von „Industrie 4.0“ im Mittelstand, Studie im Auftrag des BMWi, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie. https:// www.bmwi.de/Redaktion/DE/Publikationen/Studien/erschliessen-der-potenziale-der-anwendung-von-industrie-4-0-im-mittelstand.pdf?__blob=publicationFile&v=5. Zugegriffen: 29. Jan. 2019. Arbeitskreis „Finanzierung“ der Schmalenbach-Gesellschaft. (2017). Implikationen der Digitalisierung für den Finanzbereich der Unternehmung und das Rollenbild des CFO. In S. Krause & B. Pellens (Hrsg.), Zeitschrift für betriebswirtschaftliche Forschung, Sonderheft 72/2017. Betriebswirtschaftliche Implikationen der digitalen Transformation, 265–282.

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Industrie 4.0 – Auswirkungen auf Finanzierungsinstrumente …

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Prof. Dr. Stephan Paul ist Inhaber des Lehrstuhls für Finanzierung und Kreditwirtschaft an der Ruhr-Universität Bochum. Aktuell untersucht er v. a. die Konsequenzen der Digitalisierung (Industrie 4.0) für die Unternehmensfinanzierung sowie die Auswirkungen der Regulierung des Bankensektors für die Kreditwirtschaft und ihre Kunden.

Controlling in der Echtzeit-Economy: Auswirkungen der digitalen Transformation auf die Unternehmenssteuerung Barbara E. Weißenberger und Kai A. Bauch

1 Einleitung: Die Probleme sind alt, die Lösungen neu Allein für Deutschland weist die amtliche Statistik rund 2,5 Mio. Unternehmen aus, die eine Bruttowertschöpfung von knapp 1,6 Bio. € erbringen.1 Dazu gehören große multinationale Konzerne mit mehreren Hunderttausend Mitarbeitern genauso wie Kleinstunternehmen, Traditionsunternehmen mit einer über 100-jährigen Firmengeschichte genauso wie Start-ups, die am Anfang der Umsetzung ihrer Geschäftsideen stehen. Ebenso vielfältig ist auch das Leistungsspektrum von Unternehmen. Ob mit Einzel- oder Massenproduktion, durch Handarbeit oder mit modernsten digitalen Fertigungstechnologien und, ganz gleich, ob es sich um die Herstellung von Sachgütern oder Dienstleistungen handelt: Es gibt vermutlich kaum einen materiell erzeugbaren Wunsch, den Unternehmen ihren Nachfragern nicht erfüllen können. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass Historiker von der heutigen Zeit als einer Epoche sprechen, die durch die allgegenwärtige und selbstverständliche Verfügbarkeit des wohl reichsten Güterangebots der Menschheitsgeschichte gekennzeichnet ist (Harari 2015, S. 10). Aber trotz dieser Diversität lassen sich gemeinsame betriebswirtschaftliche Gestaltungsprinzipien bei all diesen Unternehmen beobachten. Eines der hervorstechendsten Merkmale 1Statistisches

Jahrbuch 2016, Abschn. 20; es handelt sich um die Unternehmen aus produzierendem Gewerbe und Dienstleistungen, allerdings ohne Land-/Forstwirtschaft, öffentliche Verwaltungen, Schulen usw. Die Werte beziehen sich auf 2014.

B. E. Weißenberger (*) · K. A. Bauch  Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, Düsseldorf, Deutschland E-Mail: [email protected] K. A. Bauch E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_30

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B. E. Weißenberger und K. A. Bauch

ist die arbeitsteilige Leistungserstellung, die realisiert wird, wenn Unternehmen durch mehr als eine Person (Alleinunternehmer) konstituiert werden. Auf diese Weise können nämlich vergleichsweise einfach und schnell Spezialisierungsgewinne gehoben werden. Mit wachsender Unternehmensgröße erfasst die Arbeitsteilung auch die Ausübung von ­Leitungsund Entscheidungsrechten innerhalb der Unternehmensführung, die sowohl innerhalb der Geschäftsführung selbst, als auch auf weiteren Hierarchieebenen erfolgt. Mitarbeiter, die auf diesem Wege Weisungsrechte gegenüber anderen erhalten (Führungskräfte) bzw. denen Verfügungsrechte sowie zumindest Mitspracherechte bezüglich des Einsatzes anderer materieller bzw. immaterieller Ressourcen eingeräumt werden (Fachkräfte), bezeichnet man im weitesten Sinn als Manager (Steinmann und Schreyögg 2005, S. 6). Mit wachsender Aufteilung (Verdünnung) der Leitungs- und Entscheidungsrechte steigen allerdings gleichzeitig die Koordinationskosten, denn es muss sichergestellt werden, dass deren Ausübung einen möglichst hohen Beitrag zum angestrebten Unternehmenszweck bzw. daraus abgeleiteten Zielen leistet. Diese notwendige Koordination wird auch als Management Control bezeichnet und umfasst die ganzheitliche und bewusste Gestaltung des Steuerungsrahmens im Unternehmen (Malmi und Brown 2008, S. 290).2 Typische Koordinations- oder Steuerungsinstrumente („controls“) sind in diesem Zusammenhang formale Mechanismen wie Pläne und Budgets, Kennzahlen, Prozessanweisungen, Personaleinsatzpläne oder Verhaltenskodizes, aber auch informelle Instrumente, insbesondere bezüglich des kulturellen Umfelds wie Fairness, Vertrauen oder die Vorbildfunktion von Mitarbeitern auf höheren Hierarchieebenen („tone at the top“). Die konkrete praktische Umsetzung eines betriebswirtschaftlichen Steuerungsrahmens erweist sich als nicht trivial. Eine Vielzahl von Beispielen, angefangen von Unternehmensskandalen wie beispielsweise dem Abgasskandal bei Volkswagen, bei dem absichtlich falsche Schadstoffwerte in den entsprechenden Tests herbeigeführt wurden, oder Zinsmanipulationen bei der Deutschen Bank  bis hin zu regelmäßigen Nachrichten in der Wirtschaftspresse darüber, dass Unternehmen gesetzte Produktivitäts-, Gewinn- oder Nachhaltigkeitsziele aufgrund von Fehlentscheidungen nicht erreichen3, belegen, dass es sich bei

2Management

Control unterscheidet sich von Task Control dahin gehend, dass bei letzterer keinerlei Entscheidungsspielräume in der Ausgestaltung mehr offen stehen, sondern dass es nur noch darum geht, eine bestimmte Aufgabe vorschriftsmäßig abzuarbeiten. Der Unterschied zur Strategy Control besteht wiederum darin, dass dort Unternehmenszweck und -ziele gestaltbar sind, w ­ ährend sie im Fall von Management Control als gegeben angenommen werden (Merchant und Van der Stede 2017). Die in Deutschland insbesondere von Jürgen Weber bis Ende der 1990er-Jahre ­vertretene breite Sicht der koordinationsorientierten Controlling-Theorie deckt sich übrigens an vielen Stellen mit der internationalen Management Control Theory und den hier dargestellten Rahmenkonzepten (vgl. Weißenberger 2013). 3Statt vieler nehme man die Schwierigkeiten von RyanAir in der zweiten Jahreshälfte 2017, als aufgrund von Fehlern in der Personalplanung eine große Anzahl von Flügen gestrichen werden musste, fehlerhafte Investitionsentscheidungen bei Thyssenkrupp in Südamerika, die u. a. in 2013 zu Milliardenverlusten führten, oder auch die regelmäßigen Rückrufaktionen in der Automobilbranche.

Controlling in der Echtzeit-Economy: Auswirkungen der digitalen …

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der Umsetzung der erforderlichen funktionellen Mechanismen zur Verhaltenssteuerung von Menschen im organisationalen Kontext um einen für die Unternehmensexistenz letztlich kritischen Aufgabenbereich handelt (Siano et al. 2017, S. 30; Webley und Werner 2008, S. 406). Vor dem Hintergrund der digitalen Transformation stellt sich heute deshalb die Frage, ob und wie neue Informations- und Kommunikationstechnologien bis hin zum Einsatz künstlicher Intelligenz geeignet sind, um Management-Control-Probleme besser als bisher zu lösen. Der vorliegende Beitrag adressiert deshalb die folgenden Teilfragen: 1. Können neue digitale Technologien, insbesondere in Form von künstlicher Intelligenz, eingesetzt werden, um unternehmerische Entscheidungen zu automatisieren, sodass Management-Control-Probleme als solche vermieden werden können? 2. Wie können neue digitale Technologien darüber hinaus genutzt werden, um menschliches Entscheidungsverhalten besser als bisher im Sinn einer zielführenden Steuerung dezentraler Einheiten zu beeinflussen? Während es bei der ersten Frage also v. a. um die technischen Möglichkeiten und Grenzen digitaler Unterstützungssysteme zur unmittelbaren Problemlösung geht, behandelt die zweite Frage verstärkt die Steuerung des menschlichen Entscheidungsverhaltens und hat damit einen behavioristischen Fokus. Um beide Fragen zu adressieren, ist der vorliegende Beitrag wie folgt gegliedert: In Abschn. 2 wird zunächst das Object-of-Control-Framework von Merchant und Van der Stede (2017) vorgestellt, das die grundlegende Herangehensweise in der Verhaltenssteuerung bei Management-Control-Problemen systematisiert. Der Abschn. 3 gibt einen kurzen Überblick über die für die folgende Diskussion relevanten Merkmale digitaler Technologien, die in der Unternehmenssteuerung zum Einsatz kommen können. Der Abschn. 4 behandelt die erste Forschungsfrage, nämlich inwieweit unternehmerische Entscheidungen, die bisher von Managern getroffen wurden, an Predictive- bzw. Prescriptive-Analytics-Systeme übertragen werden können und sollten. Entlang des Object-of-Control-Frameworks adressiert Abschn. 5 dann die zweite Frage, nämlich wie digitale Technologien eine bessere Steuerung menschlicher Entscheider im Management sicherstellen können. Der Abschn. 6 schließt den Beitrag mit einer kurzen Zusammenfassung und einem Ausblick.

2 Grundlagen der Unternehmenssteuerung: Das Object-ofControl-Framework nach Merchant und Van der Stede Unternehmen sind nach einer Unterscheidung des amerikanischen Soziologien Charles H. Cooley sog. sekundäre soziale Gruppen, d. h. Zusammenschlüsse von Menschen, denen es nicht in erster Linie um die Befriedigung sozioemotionaler Bedürfnisse geht, sondern um die funktionale Erfüllung einer gemeinsamen Zwecksetzung durch Kooperation (Andersen und Taylor 2006, S. 141). Diese Zwecksetzung wird in der Unternehmenssatzung festgelegt, häufig durch eine Vision bildhaft als zukunftsbezogene

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Leitidee formuliert, über eine Mission oder ein Leitbild in einen allgemeinen Handlungsrahmen („belief systems“ und „boundary systems“; vgl. Simons 1995) überführt und in strategischen, taktischen sowie operativen Zielen konkretisiert, die es zu erreichen gilt. Aus diesen Zielen heraus lässt sich zunächst in einer idealisierten Sicht beschreiben, wie das gewünschte Verhalten der Mitarbeiter auf den verschiedenen Ebenen aussehen sollte – beispielsweise das Treffen nachhaltig erfolgreicher Investitions- oder Produktentscheidungen, die Einhaltung von Gesetzen und anderen regulatorischen Vorschriften oder ein positives Engagement gegenüber den Anforderungen einzelner Stakeholdergruppen im Sinn ethischen, fairen und verantwortlichen Handelns. Stellt man demgegenüber Abweichungen fest, wie sich die Mitarbeiter tatsächlich (beobachtet oder vermutet) verhalten, ergibt sich eine Steuerungslücke, die nach Merchant und Van der Stede (2017) auf drei verschiedene Ursachen zurückgeführt werden kann (Weber und Schäffer 2016, S. 50 f.): • Fehlendes Wissen („lack of direction“): Möglicherweise ist den Mitarbeitern nicht bekannt bzw. unklar, wie die tatsächlich gewünschte Verhaltensweise aussieht. • Fehlende Motivation („lack of motivation“): Die Mitarbeiter haben eigene Zielsetzungen, die sie umsetzen möchten und die ganz oder teilweise im Widerspruch zu den Zielen des Unternehmens stehen. • Fehlende Möglichkeiten („personal limitations“): Die Mitarbeiter können entweder kognitiv oder aufgrund fehlender Ressourcen das gewünschte Verhalten nicht realisieren. Liegt eines oder liegen mehrere dieser Defizite vor, besteht zunächst die Möglichkeit, die beobachtete Steuerungslücke durch ein Aufheben der Delegation zu lösen. Neben der offensichtlich einfachsten Lösung einer Zentralisierung bzw. Rückdelegation, die allerdings aus Kosten- bzw. Kapazitätsgründen häufig ausscheidet, ist eine weitere Option die Automatisierung der delegierten Aufgaben. Gerade bei Massenentscheidungen lässt sich dies beobachten, wenn beispielsweise im Versand- und Online-Handel die Zahlungskonditionen (Vorkasse oder Rechnung) auf der Basis eines standardisierten Kreditwürdigkeitsratings automatisiert getroffen werden, in das die bisherige Kundenhistorie, aber auch weitere Informationen wie beispielsweise Adressdaten oder sonstige demografische Informationen einfließen, um so den Vertrieb von einer Vielzahl an Einzelentscheidungen zu entlasten, für die häufig gar nicht hinreichende Personalkapazitäten bestehen. Ist eine derartige Automatisierung ebenfalls zu teuer bzw. nicht möglich oder sinnvoll, kann das Entscheidungsumfeld der jeweiligen Handlungsträger auch durch einen Steuerungsrahmen (Management-Control-System) beeinflusst werden, um bestehende Steuerungslücken so weit wie möglich zu reduzieren. Die hierbei verwendeten Steuerungsinstrumente unterscheiden Merchant und Van der Stede (2017) in drei Gruppen: • Ergebnissteuerung („results controls“): Hier wird dem Entscheidungsträger z. B. in Form von Budgets oder Kennzahlen eine Ergebnisvorgabe gemacht; es verbleibt dann Entscheidungsspielraum bei der Auswahl von Handlungsalternativen, mit denen dieses Ergebnis erreicht werden kann. Insbesondere dann, wenn der gewünschte Ergebnisbeitrag bekannt und beobachtbar ist, beispielsweise wenn es sich um ein

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finanzielles Ergebnis handelt, ist diese Form der Steuerung zielführend (vgl. hierzu auch Merchant 1982, S. 45). • Prozesssteuerung („action controls“): Dabei erhält der Entscheidungsträger beispielsweise über Prozesshandbücher, Checklisten oder Verhaltenskodizes Vorgaben über die abzuarbeitenden Problemlösungsschritte, nicht jedoch über das zu erreichende Ergebnis. Diese Form der Steuerung eignet sich insbesondere dann, wenn zwar das gewünschte Verhalten gut beschreibbar ist, das gewünschte Ergebnis jedoch kaum beobachtbar bzw. messbar ist, beispielsweise wenn es sich um Aufgaben in der Grundlagenforschung handelt. Auch wenn es v. a. auf die prozesskonforme Abarbeitung von Prozessschritten oder das Befolgen von Regelungen (Compliance) geht, z. B. bei der Erstellung von Finanzberichten, kommen sinnvollerweise häufig Instrumente der Prozesssteuerung zum Einsatz. • Soziale Steuerung („people controls“): Hier unterscheiden Merchant und Van der Stede (2017) zwei verschiedene Unterformen, nämlich die Steuerung einzelner Mitarbeiter („personnel controls“) z. B. durch Ausbildung, Weiterbildung oder die spezifische Gestaltung von Aufgabenfeldern („job rotation, job enrichment, job enlargement“) sowie die kulturelle Steuerung („cultural controls“) der Mitarbeiter als Gruppe durch die Vermittlung von ethischen Normen und Grundüberzeugungen oder durch gemeinsame Symbole, z. B. mithilfe von Verhaltenskodizes oder dem persönlichen Vorbild bzw. dem persönlichen Umgang zwischen Vorgesetzten und Mitarbeitern bzw. den Mitarbeitern untereinander. Je besser diese Steuerungsinstrumente auf die Steuerungslücke hin abgestimmt sind („management control as a package“; vgl. Malmi 2013), umso eher – so der grundlegende Gedanke – kann die Steuerungslücke als solche geschlossen werden (Göbel und Weißenberger 2016, 2017). Die Abb. 1 stellt die Ausführungen schematisch dar.

Abb. 1   Das Object-of-Control-Framework von Merchant/Van der Stede. (Quelle: Merchant und Van der Stede 2017)

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3 Vom traditionellen Reporting bis zur künstlichen Intelligenz: Digitale Technologien zur Unterstützung der Unternehmenssteuerung Seit rund 15 Jahren hat der Einsatz digitaler Technologien in den meisten menschlichen Lebensbereichen derart an Dynamik gewonnen, dass in Anlehnung an bedeutsame technologische Innovationen wie Mechanisierung, Elektrifizierung und Automatisierung heute von einer vierten industriellen Revolution (Industrie 4.0) gesprochen wird, die durch den Einsatz von cyber-physischen Systemen zur Vernetzung von Menschen und/oder Maschinen gekennzeichnet ist.4 Völlig neuartige Geschäftsmodelle (z. B. Plattformunternehmen wie Google, Amazon, Facebook oder AirBnB), Produktionstechnologien (z. B. 3D-Druck zur Erstellung von Prototypen oder Bauteilen im Rahmen additiver Produktionsverfahren, digitale Zwillinge zur Fernwartung oder Mobile Robotics-Anwendungen), Produkte (z. B. selbstfahrende Autos, Smartphones, Smart Home), Nutzungsformen (z. B. Sharing Economy oder die digitale Selbstvermessung durch Aktivitätstracker) sowie Datenverarbeitungs- und Problemlösungsalgorithmen (z. B. Hadoop zur Administration dezentral arbeitender Softwarepakete für die Analyse von Big Data, künstliche Intelligenz mithilfe neuronaler Netze und Deep-Learning-Algorithmen wie Watson von) führen zu tiefgreifenden Veränderungen nicht nur im Unternehmensumfeld, sondern auch in internen Geschäfts- und Steuerungsprozessen. Letztlich basieren diese Veränderungen auf vier verschiedenen Säulen, zwischen denen z. T. wechselseitige Interdependenzen bestehen, sodass sie einerseits Treiber der Entwicklungen, andererseits aber auch deren Ergebnis darstellen: • Big Data: Die Menge der weltweit erfassten und verfügbaren Daten wächst durch die digitalen Technologien exponentiell an. So wird vermutet, dass der weltweite Datenbestand, der in der Menschheitsgeschichte bis zum Jahr 2003 erzeugt worden ist, heute innerhalb von sieben Minuten anfällt. Für das Jahr 2020 wird der weltweite Datenbestand auf etwa 40 Zettabytes geschätzt, das entspricht dem 16-millionenfachen Datenbestand, der sich heute in allen US-amerikanischen Forschungsbibliotheken befindet (Jüngling 2013). Diese Daten sind nur zu einem kleinen Teil strukturiert, d. h. quantitativ und durch Metadaten hinreichend gut beschrieben, erfasst (Stahl und Staab 2017, S. 11 f.) – die überwiegende Mehrzahl aller Daten liegt unstrukturiert, d. h. in Text-, Bild- oder Filmformaten vor. Zudem sind diese Daten nicht zwingend Repräsentanzgrößen objektiv messbarer Sachverhalte, wie z. B. Wetterdaten oder Börsenkurse, sondern drücken häufig auch subjektive Meinungen, Einstellungen oder Gefühle, z. B. über Facebook-Posts, Tweets oder andere Nachrichten und Kommentare in sozialen Netzwerken aus.

4Vgl.

hierzu ausführlich den einführenden Beitrag von Obermaier im vorliegenden Sammelband

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• Hardware: Es werden zunehmend leistungsfähige Hardwarekomponenten, also Prozessoren, Speichermedien, Sensoren oder Datenleitungen entwickelt, die das Erfassen, Speichern, Analysieren oder auch Übertragen von Daten überhaupt erst ermöglichen. So werden beispielsweise für selbstfahrende Autos auf Level 4, d. h. wenn der Fahrer nur in ausgewählten Situationen zum Eingreifen aufgefordert wird, Prozessoren benötigt, die rund 30 Bio. Rechenoperationen in der Sekunde leisten können (Preuß 2017). • Software: Die Algorithmen, die im Zuge der digitalen Transformation zunehmend für Zwecke der Datenanalyse und -auswertung zum Einsatz kommen, weisen Merkmale künstlicher Intelligenz auf, d. h. sie sind in der Lage, komplexe Problemstellungen, die bisher lediglich durch menschliche Kreativität und Lösungskompetenzen bearbeitet werden konnten, eigenständig zu bearbeiten. Das besondere Merkmal künstlicher Intelligenz, besteht darin, dass nicht mehr – wie bei traditioneller Software – Lösungswege durch einen Programmierer vorgegeben werden, die dann in der Struktur der Programmalgorithmen abgebildet werden. Künstliche Intelligenz wird stattdessen in aller Regel mithilfe sog. neuronaler Netzwerke programmiert, die Informationen nicht mehr nach dem starren digitalen Null-Eins-Schema, sondern gewichtet nach Wahrscheinlichkeiten weitergeben, und so in der Lage sind, über als „deep learning“ bezeichnete Prozesse vergleichbar dem menschlichen Erfahrungslernen eigenständig Problemlösungsregeln aus richtig oder falsch erkannten Ergebnissen zu entwickeln. Die Konsequenz einer Problemlösung mithilfe solcher Algorithmen besteht allerdings darin, dass sie von außen kaum noch nachvollzogen werden können, sodass letztlich nicht mehr erkennbar ist, wie der konkrete Lösungsweg einer künstlichen Intelligenz z. B. bei der Erkennung von Bildern oder für das Auslösen eines Bremsvorgangs im selbstfahrenden Auto abläuft.5 Andererseits sind Systeme künstlicher Intelligenz heute bereits so leistungsfähig, dass sie nicht mehr nur in Strategiespielen wie Schach oder Go dem Menschen überlegen sind, sondern auch bei Spielen wie Poker, bei denen es zusätzlich auf Interaktion und Täuschung (Bluffen) ankommt. • Vernetzung: Die ausnahmslose Vernetzung unterschiedlichster Hardwarekomponenten für Zwecke des Datenaustauschs, aber auch für die Verbesserung von Rechenleistungen durch das Zusammenschalten mehrerer Rechner, wie es beispielsweise die im Rahmen von Systemen künstlicher Intelligenz vielfach angewendete Hadoop Open Source Software gestattet (Stahl und Staab 2017, S. 16). Durch den Einsatz digitaler Technologien können somit für die Unternehmenssteuerung heute völlig neue Systeme bereitgestellt werden (Abb. 2).

5Vor diesem Hintergrund sind beispielsweise auf neuronalen Netzen basierende Kreditratingverfahren im Zuge der Finanzmarktregulierung mithilfe von Basel II/Basel III aufgrund fehlender Transparenz der Ratingentscheidung nicht bzw. nur eingeschränkt zugelassen (vgl. Hartmann-Wendels et al. 2015, S. 444 ff.).

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Abb. 2   Digitale Technologien zur Unterstützung der Unternehmenssteuerung. (Quelle: leicht ­verändert übernommen aus Mehanna et al. 2016, S. 28)

Waren in der Frühzeit der elektronischen Datenverarbeitung seit den 1970er-Jahren zunächst Descriptive-Analytics-Systeme im Einsatz, die im Rahmen eines vergangenheitsorientierten Reportings einzelne Geschäftsprozesse und -Strukturen erfassten, wurde ab den 1980er-Jahren durch relationale Datenbanktechnologien und Online-Analytical-­ProcessingSysteme erstmals eine Analyse im Sinn von Diagnostic Analytics möglich, um Ursachen für beobachtete Sachverhalte – allerdings wiederum vergangenheitsorientiert – zu identifizieren. Mit immer leistungsfähigeren Technologien und sog. Real-Time-Analytics ist es heute möglich, ein Echtzeit-Monitoring zu betreiben. Aktuell werden komplexe und gleichzeitig äußerst leistungsfähige Systeme entwickelt, die zum einen künftige Entwicklungen mit hinreichender Güte prognostizieren sollen (Predictive Analytics) bzw. darauf aufbauend konkrete Entscheidungsvorschläge formulieren sollen (Prescriptive Analytics), um so die Steuerung zu entlasten bzw. zumindest teilweise von individuellem menschlichen Entscheidungsverhalten zu entkoppeln. Die Stärke dieser neuartigen Predictive- bzw. Prescriptive-Analytics-Systeme liegt in der Möglichkeit, sogar unstrukturierte Daten in Echtzeit zu analysieren; dabei können auch Verknüpfungen zwischen bislang nicht aufeinander bezogenen Daten hergestellt werden (Grönke und Heimel 2014, S. 125).

4 Möglichkeiten und Grenzen einer Übertragung unternehmerischer Entscheidung an Systeme künstlicher Intelligenz In dem Maß, in dem künstliche Intelligenz zur Führungsunterstützung genutzt wird, stellt sich die Frage, ob bzw. inwieweit dadurch menschliche Entscheidungsprozesse ersetzt werden können. Im Sinn des in Abschn. 2 vorgestellten Object-of-Control-Frameworks

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bedeutet dies, dass eine Steuerungslücke gar nicht erst entstehen kann, da die dafür konstitutive Delegation durch Automatisierung umgangen wird. Eine Diskussion um die Automatisierung zumindest von Teilbereichen der Unternehmenssteuerung wird im Kontext der digitalen Transformation bereits länger geführt. So wird in der Studie von Frey und Osborne (2017), die erstmals in 2013 veröffentlicht wurde, für insgesamt 702 Berufsfelder die Wahrscheinlichkeit geschätzt, dass diese aufgrund der Digitalisierung in den nächsten Jahrzehnten verschwinden werden. Frey und Osborne postulieren, dass insbesondere solche Tätigkeiten auch zukünftig von Menschen durchgeführt werden, bei denen kreative und soziale Intelligenz erforderlich sind. Vor diesem Hintergrund schätzen sie für Fach- und Führungskräfte („Managers, all other“) auf unterschiedlichen Hierarchieebenen eine vergleichsweise hohe Wahrscheinlichkeit von 75 % oder mehr, als Berufsbild auch im Zuge der Digitalisierung erhalten zu bleiben. Betrachtet man die Argumente, die mit dem Einsatz künstlicher Intelligenz verbunden werden, erstaunt dieses Urteil zunächst. Denn mit deren Hilfe können mehr und unterschiedlichere Daten nicht nur besser, sondern auch schneller und mit anspruchsvolleren Verfahren als bisher aggregiert und für Prognosen bzw. Entscheidungsempfehlungen genutzt werden. In dem Maß, in dem auf diese Weise Daten auch aus ganz unterschiedlichen Quellen analytisch kombiniert werden, steigt im Sinn der „wisdom of the crowds“ (Surowiecki 2005) außerdem deren Aussagekraft. So postuliert Simon bereits 1984 (S. 40), dass „[…] the response is not to try to squeeze more information out of the data by statistical means; it is instead to find techniques for observing the phenomena at a higher level of resolution. The corresponding strategy for economics is obvious: to secure new kinds of data at the micro level“. Die Qualität insbesondere automatisierter Prognosen wird einerseits durch Studien wie z. B. von Wu und Brynjolfsson (2015) belegt. Diese zeigen, dass bestimmte Suchanfragen auf Google im Sinn eines beobachtbaren Mikroverhaltens eng korrelieren mit entsprechenden Makrotrends (regionale Entwicklung von Immobilienpreisen und -­verkaufszahlen). Andererseits zeigen Lazer et al. (2014), dass das 2013 vorgestellte Instrument Google Flu Trends, das Suchanfragen als Prädiktoren für das Auftreten von Grippewellen nutzt, die Qualität von traditionellen Prognoseverfahren (insbesondere amtliche Meldungen aus Gesundheitsämtern und Laboren) bei Weitem nicht erreicht. Auch in anderen Bereichen, so z. B. in der Konfliktforschung, führt der Einsatz von Big Data bzw. Systemen künstlicher Intelligenz nicht zu besseren Vorhersagen (Cederman und Weidmann 2017). Vor diesem Hintergrund gibt es inzwischen eine Reihe von Argumenten, die ­Zweifel an der breiten Leistungsfähigkeit von Systemen künstlicher Intelligenz für eine automatisierte Unternehmenssteuerung aufkommen lassen (vgl. im Überblick Abb. 3). So sind für Steuerungsentscheidungen häufig Variablen relevant, die nicht unmittelbar beobachtbar sind (latente Variablen). Deren Konzeptualisierung ist methodisch häufig äußerst anspruchsvoll, um eine valide Messung zu erreichen: Eine geringe Konstruktvalidität kann nicht durch die Erhöhung der Menge der verwendeten Daten kompensiert werden („big data hubris“; vgl. Lazer et al. 2014, S. 1203). Analysen mit einer hohen Anzahl von unabhängigen Variablen in Relation zur Anzahl der abhängigen Größen

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Abb. 3   Vor- und Nachteile bei der Fundierung von unternehmerischen Entscheidungen mithilfe digitaler Technologien

führen zudem schnell zu einem „overfitting“, d. h. zu einer Vielzahl signifikanter Korrelationen, die jedoch keine Kausalitäten, sondern rein zufällige Zusammenhänge ausdrücken (Austin et al. 2006), die keinerlei Prognosekraft besitzen. Zudem hängt auch bei vergleichsweise einfachen und gut dokumentierten methodischen Fragestellungen und Datensätzen das Ergebnis sehr häufig von der konkreten Ausgestaltung methodischer Umsetzungsfragen bei der Anwendung statistischer Verfahren ab, wie z. B. die Wahl bestimmter Regressionsverfahren, die Eliminierung von Ausreißern usw., sodass die Resultate bei Anwendung konkurrierender Methoden widersprüchlich sein können (Silberzahn und Uhlmann 2015). Problematisch werden Prognosen darüber hinaus, wenn die Gesetzmäßigkeiten per se zwar bekannt sind, die konkrete Vorhersage aber chaostheoretischen Zusammenhängen unterliegt, d. h. selbst bei winzigsten Unschärfen in der Messung der Ausgangsbedingungen zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen führt. Zusätzliche Herausforderungen (Cederman und Weidman 2017) ergeben sich bei der Prognose bzw. Entscheidungsfindung aufgrund von Sozialgesetzen, da diese im Zeitablauf nicht zwingend stabil sind, weil sich Einstellungen, Normen, Wertvorstellungen oder kulturelle Symbole ändern, wie beispielsweise in der Abfolge der Generationen BabyBoomers, Y und Z (Parment 2013). Zudem beobachten wir gerade bei Sozialgesetzen eine Vielzahl von Interaktionen und Verhaltenswirkungen – so treten manche Prognosen schon allein deshalb (nicht) ein, weil allein ihre Bekanntgabe ein entsprechendes Verhalten bei den betroffenen Handlungsträgern auslöst („self-fulfilling prophecy vs. never-fulfilling ­prophecy“).

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All diese Probleme führen dazu, dass Systeme künstlicher Intelligenz auch in absehbarer Zeit lediglich dann für Prognosen bzw. Handlungsempfehlungen genutzt werden können, wenn es sich um vergleichsweise gut dokumentierte, im Vorhersagezeitraum stabile theoretische Zusammenhänge handelt, bei denen die mit einer falschen Entscheidung verbundenen Kosten geringer sind als der Nutzen, der durch das damit verbundene Lernen und der Verbesserung des Algorithmus erreicht wird. Einsatzfelder, in denen dies der Fall ist, umfassen beispielsweise kurzfristige Prognosen in allen Massengeschäften wie z. B. zur Wiederkaufrate bzw. Rücksendequote im Online-Handel, zur Risikoabschätzung bei Kleinkrediten oder zur Ausfallwahrscheinlichkeit eines Standardbauteils in einem verbreitet genutzten Produkt. Umgekehrt gilt, dass in dem Maß, in dem Prognose- und Entscheidungsprobleme zunehmend strategische Komponenten enthalten, weil sie für einen vergleichsweise langen Zeithorizont bindend sind, weil die damit verbundenen Sozialgesetze unscharf sind bzw. aktiv mitgestaltet werden können und/oder weil Entscheidungsfehler spürbare Auswirkungen auf das Gesamtgeschäft besitzen, auch nach heutigem Stand künstliche Intelligenz noch nicht geeignet ist, diese Aufgaben zu übernehmen. Damit bleibt als Zwischenfazit stehen, dass der Übertragung unternehmerischer Entscheidungen an digitale Technologien und der damit verbundenen Lösung von Management-Control-Problemen durch Automatisierung immer noch enge Grenzen ­ gesetzt sind.

5 Unterstützung der Entscheidungsfindung und -steuerung im Management durch digitale Technologien Dieses Fazit bedeutet jedoch nicht, dass es keine Möglichkeiten gibt, die Entscheidungsfindung und -steuerung im Management durch digitale Technologien zu unterstützen. Im Gegenteil: Für die Implementierung der jeweiligen Steuerungsinstrumente lassen sich eine Reihe grundlegender Anknüpfungspunkte identifizieren. In jedem Fall ist zu erwarten, dass die Erfassung und Nutzung von Echtzeitdaten in Rechnungswesen und Controlling sowohl für die finanzielle Abbildung von Geschäftsvorfällen als auch für die Verwendung nichtfinanzieller Daten die Bereitstellung und Arbeit mit Kennzahlen sowie die Steuerung von Arbeitsvorgängen nachhaltig verändern werden (Steiner und Welker 2016, S. 364). Diese Anknüpfungspunkte sind insbesondere aus einer verhaltenstheoretischen Perspektive zu betrachten, um das Auftreten von Entscheidungsfehlern oder -dysfunktionalitäten (Biases) nach Möglichkeit zu verhindern (Weißenberger und Bauch 2017). Menschliche Entscheidungsfehler entstehen zunächst aufgrund beschränkter Rationalität der Entscheidungsträger, die im Sinn des eingangs dargestellten Object-of-Control-Frameworks als fehlendes Wissen („personal limitations“) verstanden werden können. Psychologisch werden Entscheidungsfehler häufig mit der Dual-Process-Theorie begründet. Diese unterscheidet in der menschlichen Informationsverarbeitung und Entscheidungsfindung

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z­wischen zwei verschiedenen kognitiven Systemelementen (Evans 2003): Während das evolutionsgeschichtlich ältere System (häufig als System 1 bezeichnet) Entscheidungsprobleme v. a. auf Basis von einfachen Heuristiken löst und damit eine Vielzahl von Entscheidungen sehr schnell abarbeiten kann, ist das jüngere System (dementsprechend als System 2 bezeichnet) kognitiv-rational leistungsfähiger, aber dafür auch deutlich langsamer. Im Rahmen der verhaltensorientierten Entscheidungstheorie wurden inzwischen eine Vielzahl von Heuristiken identifiziert, die im Kontext des Systems 1 zu Abweichungen von einem optimalen bzw. logisch richtigen Entscheidungsergebnis führen (vgl. grundlegend Kahneman et al. 1982) und damit die in Abschn. 2 dargestellte Steuerungslücke vergrößern. Verstärkt wird dies durch den unreflektierten Einsatz digitaler Technologien in der Unternehmenssteuerung. So stellt z. B. bereits Miller (1956, S. 81 ff.) fest, dass Entscheider durchschnittlich nur sieben Informationen gleichzeitig verarbeiten können. Da durch breitere Datenverfügbarkeit digitaler Technologien jedoch eine deutlich größere Informationsbasis als bislang beherrscht werden muss und es zunehmend wichtig sein wird, hieraus schnell die relevanten Informationen zu ziehen, kann es verstärkt zur sog. Informationsüberlastung kommen, sodass der zunächst positive Zusammenhang zwischen der Informationsmenge und der Entscheidungsqualität im Sinn eines umgekehrt U-förmigen Verlaufs negativ wird (Keim et al. 2008, S. 2; Schick et al. 1990, S. 201). Eine weitere, der zunehmenden Informationsbasis geschuldete Gefahr besteht darin, dass Probleme einer selektiven Wahrnehmung verstärkt werden. Dies betrifft die Tendenz, aus einer gegebenen Informationsmenge speziell jene Informationen zu verwenden, die nicht zur bereits vorherrschenden Einstellung bzw. Entscheidung des Entscheiders in Konflikt stehen und damit kognitive Dissonanzen erzeugen könnten (Festinger 1957). So wird beispielsweise angenommen, dass Vorgesetzte bei der Erstellung einer Leistungsevaluation auf Basis einer Vielzahl verfügbarer Kennzahlen dazu tendieren, ihre visuelle Aufmerksamkeit auf diejenigen Kennzahlen zu legen, die den vorherigen Eindruck des Mitarbeiters stützen (Kramer und Maas 2016, S. 1 ff.; Kaplan et al. 2007, S. 87). Erklärungsansätze wie etwa das Motivated Reasoning suggerieren zudem, dass Entscheider ihren subjektiven Spielraum bei der Bewertung von Informationen ausnutzen, um Informationen dahin gehend zu interpretieren, dass ein vorher bestehender Eindruck gestützt wird (Kunda 1990, S. 480 ff.). Schließlich kann im Zuge des Einsatzes auf großer Datenmengen aufbauender digitaler Technologien verstärkt ein Problem der Kontrollillusion beobachtet werden (Beaubien 2012): Im Kontext von Big Data erscheinen Handlungsspielräume häufig deutlich umfangreicher als sie in Wirklichkeit tatsächlich sind, wodurch Entscheidern eine falsche Sicherheit suggeriert wird. Vor dem Hintergrund dieser kognitiven Verzerrungen und den daraus resultierenden Entscheidungsfehlern ist es dringend geboten, die Potenziale digitaler Technologien zu nutzen, die zu einer Reduzierung von Entscheidungsfehlern (Debiasing) führen können. Konkret bedeutet dies, dass einerseits digitale Technologien zur Bereitstellung von vorbereitenden Entscheidungshilfen genutzt werden (Ashton 1990, S. 149), um kognitive Beschränkungen aufzufangen. Die Beurteilung und endgültige Auswahl von Alternativen erfolgt aber weiterhin durch die verantwortliche Führungskraft, also den Menschen.

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Solche Entscheidungshilfen können in ganz unterschiedlicher Form ausgestaltet sein – angefangen von einfachen Checklisten bis hin zu komplexen computergestützten Anwendungen (Bonner 2008, S. 342). So können beispielsweise bei standardisierten, aber eben nicht automatisierbaren Problemsituationen digitale Warn- und Beratungshinweise eingesetzt werden (Meissner und Wulf 2014). Daneben können Systeme auf Basis künstlicher Intelligenz entscheidungsunterstützend Big Data nutzen, indem eine aktuelle Entscheidungssituation bzw. die dort entwickelten Szenarien und erwarteten Wirkungszusammenhänge in ihren zentralen Variablen mit vergangenen Entscheidungen verglichen und auf diese Weise validiert werden (Beaubien 2012, S. 59). Digitale Technologien werden zu einer Art Trainer oder aber elektronischer Kollege, der an wichtige Arbeitsschritte oder Entscheidungsregeln für ein systematisches Prozessvorgehen erinnert. Als positiver Nebeneffekt wird auf diese Weise zudem organisationales Wissen intertemporal gespeichert (Liew 2015, S. 40). Ein anderer Ansatzpunkt ist das Self-Service-Reporting (Lamprecht und Seifert 2015): Entscheider müssen sich nicht mehr auf durch die Hierarchie nach oben gereichte standardisierte Berichte verlassen, sondern können Informationen, z. B. über den Absatz von Produktgruppen oder die Produktivität von Standorten skaliert nach Mitarbeitergröße, individuell optisch aufbereitet sowie in Echtzeit selbst abrufen und gestalten, um auf diese Weise das gewünschte Informationsprofil zu realisieren (Schläfke et al. 2012, S. 113). Der Entscheider kann damit einer Informationsüberlastung selbst entgegenwirken. Zudem können durch die gezielte Bereitstellung von Grafiken anstelle von Textdaten oder Zahlentabellen ebenfalls Entscheidungsfehler reduzieren werden, weil die Informationen schneller verarbeitet werden können (Ohlert und Weißenberger 2015, S. 72). Die Gefahr beim Einsatz von Self-Service-Reporting besteht allerdings darin, dass ohne grundlegendes theoretisches Verständnis der dargestellten Daten und Analysen beispielsweise Scheinkorrelationen kausal interpretiert werden und die Nutzung von Echtzeitdaten zudem zu einer stärkeren Kurzfristorientierung führt (Weißenberger und Bauch 2017, S. 211 ff.). Auch zur Reduktion von Steuerungslücken aufgrund von fehlender Motivation („lack of motivation“) birgt der Einsatz digitaler Technologien Potenzial. So wird es gerade im Rahmen von Leistungsevaluationen durch das digitale Tracking von Aktivitäten ermöglicht, die Arbeits- und Entscheidungsschritte nachzuvollziehen, die ein Mitarbeiter durchgeführt hat, um zu einem bestimmten Ziel zu gelangen, z. B. durch die automatische Durchführung von bisher händisch durchgeführten Stundenabrechnungen für unterschiedliche Projekte. Damit wird nicht nur der Arbeitseinsatz anstelle des Ergebnisses besser gemessen und damit für den Mitarbeiter das Risiko einer Fehlbeurteilung durch zufallsbehaftete Messfehler bei der Erfassung und Bewertung von Arbeitsergebnissen, aber auch durch verzerrte subjektive Korrekturen durch den beurteilenden Vorgesetzten reduziert. Allerdings zeigen Brivot und Gendron (2011, S. 135 ff.), dass das Gefühl einer permanenten Überwachung Mitarbeiter zu unverhältnismäßiger Vorsicht bei der Bereitstellung von Informationen bewegen kann.

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Lenkt man den Blick weniger auf die Gründe, die zu einer Steuerungslücke führen, sondern auf die Steuerungsinstrumente, mit denen diese adressiert werden kann, werden weitere Ansatzpunkte für den Einsatz digitaler Technologien in der Unternehmenssteuerung offensichtlich. So eröffnen sich beispielsweise durch digitalen Technologien im Bereich Business Activity Monitoring, mit dem Aussagen über den aktuellen Stand von Geschäftsprozessen in Echtzeit bereitgestellt werden, umfassendere Möglichkeiten für den Einsatz von Maßnahmen der Prozesssteuerung und -überwachung („action controls“). Als formelle Kontrollmechanismen lenken sie das Verhalten von Mitarbeitern direkt (vgl. hierzu und im Folgenden Liew 2015, S. 38 ff.), ähnlich wie z. B. auch digitale Checklisten (Boritz und Timoshenko 2014, S. C1 ff.). Bei der Ergebnissteuerung („results controls“) durch Performance-Measurement-­ Systeme ist eine deutliche Erhöhung der Präzision der einzelnen Kennzahlen zu erwarten (Ask et al. 2016, S. 408). Dabei setzt eine Ergebnissteuerung nicht zwingend die Verwendung klassischer Finanzkennzahlen voraus (Malmi und Brown 2008, S. 291). Durch die zunehmende digitale Transformation ist zu vermuten, dass traditionelle ökonomischen Informationen zur Leistungsmessung, die bisher primär seitens der buchhalterischen Systeme im Rechnungswesen bereitgestellt wurden, immer stärker mit nichtfinanziellen bzw. unstrukturierten Daten angereichert werden können. Dieser Gedanke ist zwar nicht neu, denn die steigende Verwendung von nichtfinanziellen Kennzahlen zu Steuerungszwecken wurde bereits bei Performance-Measurement-Systemen wie der Balanced Scorecard propagiert, da diese einen deutlich stärkeren vorlaufenden Charakter haben als nachlaufende Finanzkennzahlen (Kaplan und Norton 1992, S. 71 ff.). In Bezug auf die digitale Weiterentwicklung von Performance-Measurement-Systemen gewinnt die Balanced Scorecard durch die neuen und vereinfachten Möglichkeiten der Sammlung nichtfinanzieller Daten und der integrierten Auswertung im Verbund von Finanzdaten weiter an Bedeutung. So können beispielsweise nicht nur komplett neuartige Kennzahlen bereitgestellt werden, die aus der Erfassung der Kundeninteraktion oder aus unstrukturierten Daten, wie z. B. ­Postings in sozialen Netzwerken, Foren oder Blogs abgeleitet werden, die mithilfe von Webcrawlern erfasst werden (Brown-Liburd et al. 2015, S. 452), sondern diese können auch z. B. in Verbindung mit bereits erfassten Finanz-, Prozess- oder Qualitätskennzahlen mit Cluster- oder Assoziationsanalysen ausgewertet werden. Der tatsächliche Arbeitseinsatz bzw. die Leistung eines Mitarbeiters kann auf diese Weise deutlich präziser beurteilt (und somit auch incentiviert) werden als mit den isolierten und häufig unkontrollierbaren Faktoren unterliegenden Finanzkennzahlen, da Informationen, die bislang ex ante gar nicht vertraglich vereinbar waren, in Leistungsevaluationen einfließen. In der stets ambivalenten Entscheidung zwischen (teil-) subjektiver und objektiver Leistungsmessung kann dies zu klar ausformulierten Anreizfunktionen führen und somit einerseits die Nachteile subjektiver Leistungsevaluationen (beispielsweise Einflüsse durch persönliche Sympathie/Antipathie) und andererseits auch

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die Nachteile objektiver Leistungsevaluationen (beispielsweise Anfälligkeit für externe Einflüsse, die gegen das Controllability-Prinzip verstoßen) eliminieren, was die Wahrnehmung der Fairness klassischer ergebnisbezogener Steuerungsinstrumente erhöht (Voußem et al. 2016, S. 32). Allerdings stellt sich in diesem Kontext auch die grundlegende Frage nach der Notwendigkeit ergebnisbezogener Steuerungsinstrumente. Denn wenn sämtliche Inputs messbar bzw. zur Grundlage einer Incentivierung gemacht werden können, wird die Ergebnissteuerung obsolet und sinnvollerweise durch eine inputbezogene Prozesssteuerung ersetzt. In diesem Zusammenhang lässt sich auch die Frage stellen, ob die bisher übliche finanzielle Ergebnismessung zu Steuerungszwecken heute vor dem Hintergrund, dass die Leistungserstellung in geistigen bzw. informationsverarbeitenden menschlichen Tätigkeiten nicht kontinuierlich wie am Fließband, sondern vielmehr sprunghaft stattfindet, noch angebracht ist. Durch neue Möglichkeiten, mithilfe digitaler Technologien den Input exakter zu messen, könnte somit gar eine komplett neuartige Form von Performance-Measurement-Systemen entstehen, die nicht mehr auf Ergebniskennzahlen, sondern vielmehr auf prozessbezogene Steuerung durch Verhaltensvorgaben bzw. dem Setzen eines kulturellen Kontexts basieren. Soziale Steuerungsinstrumente („people controls“), die gemäß dem Object-of-­ControlFramework die unmittelbar mitarbeiterbezogene, aber auch die kulturelle Steuerung einschließen, sind im Kontext der digitalen Transformation noch ein verhältnismäßig wenig untersuchter Bereich (Malmi und Brown 2008, S. 288). Allerdings stellt es eine besondere Herausforderung dar, Ansätze einer sozialen Steuerung vor dem Hintergrund des digitalen Wandels in der Unternehmung zu betrachten, da sowohl der Einfluss auf das kulturelle Klima und die einzelne Person als auch das Zusammenspiel mit den zuvor ausgeführten Veränderungen in den formellen Steuerungsmechanismen völlig neuartige Rahmenbedingungen induzieren. So vermutet etwa Liew (2015, S. 61), dass durch die Transparenz in allen Teilen der Organisation, die durch die neuartigen Technologien ermöglicht wird, auch ein erhöhter Gruppendruck (zu verstehen als ein Teil der „cultural controls“) entstehen kann. Nicht zuletzt können ganz neuartige Entscheidungsfehler in dem kulturellen Spannungsfeld Mensch/Maschine aufkommen. Auch diese Schnittstellenproblematik kann auf bisher unbekannte Weise die zielführende Ausgestaltung eines Steuerungsrahmens beeinflussen. Schließlich sind die Kosten eines auf digitalen Technologien aufbauenden Steuerungssystems nicht außer Acht zu lassen. Auf der einen Seite werden die langfristigen Kosten der Datensammlung und des Monitorings durch die wachsenden technischen Möglichkeiten annahmegemäß sinken. Auf der anderen Seite sind die zu erwartenden Erstaufwendungen der Implementierung einschließlich der Beschaffung des hierfür notwendigen Humankapitals nur der explizite Teil der Kosten. Die nur diffizil kalkulierbaren mittelbis langfristigen Auswirkungen auf Unternehmenskultur und Mitarbeiterzufriedenheit können implizite Kosten in nicht abschätzbarer Höhe verursachen.

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6 Zusammenfassung Der vorliegende Beitrag hat eine Vielzahl ausgewählter Bereiche aufgezeigt, in denen die gemeinsame Verwendung großer Datenmengen und analytischer Tools Chancen bietet, die betriebliche Entscheidungsfindung zu verbessern; denn regelmäßig stellt die Forschung fest, dass Entscheidungen auf der Basis von Big Data und Analytics jenen ohne derartige Grundlage überlegen sind (Klatt et al. 2011, S. 30 ff.). Dabei müssen die Forschungsergebnisse zur digitalen Transformation unter dem behavioristischen Blickwinkel der Fragestellungen aus dem Bereich der Management-Control-Forschung betrachtet werden. Es zeigt sich, dass die digitalen Technologien dazu beitragen können, bekannte Probleme der Steuerung effektiv zu adressieren. So kann bereits die Steuerungslücke, die durch das Auseinanderfallen von erwünschtem und tatsächlichem Verhalten entsteht, durch digitale Technologien vermieden werden. Es können technische Lösungen etabliert werden, die Mitarbeiter dort unterstützen, wo sie an ihre kognitiven Grenzen stoßen, indem nach einer technisch geleiteten Prozessstandardisierung digitale Technologien beispielsweise Informationen selbstständig problemorientiert filtern und darstellen. Daneben steigen die Möglichkeiten der Datensammlung durch Entwicklungen wie z. B. das Internet der Dinge rapide an; hierdurch kann eine umfassende Kontrolle von Mitarbeiterverhalten in Echtzeit gewährleistet werden. Schließlich erlauben beispielsweise selbstlernende Algorithmen im Feld künstlicher Intelligenz, geistige Arbeit zu automatisieren und dadurch in großem Maß auf Delegation zu verzichten und Prozesse somit ohne zusätzlichen Arbeitsaufwand zu zentralisieren. In Summe ist zwar einerseits nicht davon auszugehen, dass in näherer Zukunft das Auftreten von Steuerungsproblemen durch digitale Technologien verhindert wird; allerdings werden Steuerungsinstrumente mit dem Einsatz digitaler Technologien effektiver gestaltet werden können.

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Prof. Dr. Barbara E. Weißenberger ist Inhaberin des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Accounting, an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie Affiliate Professor of Accounting an der Bucerius Law School. Aktuell arbeitet sie im Feld Digitalisierung an Fragen der künstlichen Intelligenz zur Unterstützung von Controlling, Governance und Compliance. Darüber hinaus beschäftigt sie sich v. a. mit Fragen der verhaltensorientierten Unternehmenssteuerung. Kai A. Bauch, M.Sc. ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre, insbesondere Accounting, der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und promoviert zum Thema verhaltensorientiertes Controlling. Dabei beschäftigt er sich u. a. mit dem Einfluss neuer Technologien auf das menschliche Entscheidungsverhalten.

Controlling in einer Industrie 4.0 – Chancen und Herausforderungen für die Unternehmenssteuerung Robert Obermaier und Markus Grottke

1 Problemstellung Angesichts der mit Schlagworten wie Industrie 4.0, Big Data oder Digitalisierung umschriebenen Herausforderungen sehen sich Controller der Praxis wie Wissenschaftler des Controlling vor die Fragen gestellt: 1) welche Veränderungen bei der Steuerung von Unternehmen zu erwarten sind, 2) welchen Beitrag das Controlling angesichts derartiger Herausforderungen leisten kann, 3) welche Ansatzpunkte für eine konzeptionelle Weiterentwicklung des Controlling denkbar sind und schließlich, 4) welche Konsequenzen für Controller zu erwarten sind. Die Beantwortung dieser Fragen ist sowohl praktisch als auch wissenschaftlich relevant, weil es darum geht, inwieweit Controlling dazu beitragen kann, anstehende Probleme zu lösen, aber auch, inwieweit und in welcher Form dazu eine konzeptionelle, methodische oder organisationale Änderung des Controlling nötig bzw. zu erwarten ist.1

1Die

folgenden Ausführungen stellen eine überarbeitete und gekürzte Fassung von Obermaier und Grottke (2017) dar.

R. Obermaier (*)  Universität Passau, Passau, Deutschland E-Mail: [email protected] M. Grottke  AKAD University, Stuttgart, Deutschland E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_31

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R. Obermaier und M. Grottke

2 Konzeptioneller Kern des Controlling Controlling soll Unternehmen steuerbar machen, damit Manager Unternehmen steuern können (Simon et al. 1954). Die Unternehmensführung steht dabei vor zweierlei – keineswegs unabhängigen – Herausforderungen: denjenigen der Komplexität und Dynamik des Unternehmensumfelds zum einen und denjenigen der Komplexität und Differenziertheit der Unternehmung selbst zum anderen. Die klassische Reaktion wird im ersten Fall in der Adaption der Unternehmung auf geänderte Umfeldbedingungen und im zweiten Fall in der Koordination differenzierter Teilsysteme der Unternehmung gesehen (Horváth 1978, S. 194). Die eigentliche Herausforderung besteht bei Adaption wie Koordination allerdings darin, (u. U. diskontinuierlich auftretende) Umfeldänderungen oder Technologieentwicklungen nach Möglichkeit zu antizipieren, die Unternehmung daraufhin anzupassen und die Teilsysteme der Unternehmung gegebenenfalls neu zu differenzieren und aufeinander abzustimmen. Dabei kann die Anpassung der Teilsysteme eine Form der Adaption auf Umfeldänderungen sein, was im Grunde eine simultane Lösung des Adaptions- und Koordinationsproblems bedeuten würde. Hierbei gilt es zu beachten, dass die Eignung von Steuerungssystemen, wie sie Gegenstand des Controlling sind, von der Struktur einer Organisation abhängt, welche von Technologien und Umfeldbedingungen beeinflusst wird (Otley 1980). Umfeldänderungen (wie auch antizipierte Umfeldänderungen), wie sie z. B. im Kontext der digitalen Transformation diskutiert werden, erzeugen nicht nur für Unternehmen Steuerungsbedarfe, sondern ziehen stets auch Änderungen der Steuerungssysteme nach sich (Burns und Baldvinsdottir 2005, S. 739): „As structures change, the Finance function must change. We must align ourselves with those new structures. To do our job properly, we have to be aligned to the way our business is set up. So, if the business is changing, we have to restructure to fit that.“ Während im angelsächsischen Raum, aus dem sowohl der Begriff als auch die Funktion des Controlling stammen, eine empirisch-induktive Herangehensweise an den Wesenskern des Controlling vorherrscht, die das Controlling im Grunde an dem festmacht, was Controller tun, hat demgegenüber im deutschsprachigen Raum lange Zeit eine theoretisch-deduktive Herangehensweise überwogen. Sowohl der induktive Ansatz, der auf die Steuerung komplexer Systeme verweist, als auch der deduktive Ansatz, der im Kern die ergebniszielorientierte Koordination von Informationsversorgung sowie Planung und Kontrolle betont, lassen sich insbesondere mit der betriebswirtschaftlichen Systemtheorie (auch Kybernetik, Regelungstheorie bzw. Control Theory) als einem Kern des Controlling verbinden, wobei auffällt, wie wenig die allgemeine Controlling-­ Literatur (von vereinzelten Erwähnungen abgesehen) die Systemtheorie aufgreift, ganz abgesehen davon, dass schon die Bedeutung des Worts „to control“ den Bezug zu einer Theorie der Steuerung nahelegen würde, während diese sich z. B. in den funktionalen Bereichen wie Beschaffung, Produktion, Logistik oder Supply Chain Management deutlich größerer Beliebtheit erfreut (Ortega und Lin 2004).

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Der in der Systemtheorie verwendete Steuerungsbegriff bezieht sich dabei grundsätzlich auf zu etablierende Regelkreissysteme (Systembildung), die durch laufende Kontrolle von Ist- mit Vorgabewerten Optionen für Steuerungseingriffe des Managements liefern sollen (Systemkopplung). Folgende vier Schritte verdeutlichen das Regelungsprinzip (Abb. 1): 1. Der als sog. Regelgröße ständig zu erfassende Istzustand des zu steuernden Systems (Regelstrecke) wird (laufend, regelmäßig oder fallweise) über Sensoren gemessen und rückgemeldet (Rückkopplung; Feedback). 2. Zum Zweck der Kontrolle wird dieser Ist-Wert mit einem Vorgabewert (Soll-Wert) verglichen, der z. B. durch Planung bestimmt wird. 3. Ergibt dieser Soll-Ist-Vergleich eine Abweichung des Ist-Werts vom Vorgabewert, so ist eine Entscheidung über eine Maßnahme zur Beseitigung dieser Störung zu treffen (Regler). 4. Der Vollzug dieser Entscheidung erfolgt über eine sog. Stellgröße, die an einen Aktor (Stellwerk) übertragen wird. 5. Nach erfolgtem Steuerungseingriff wird im Rahmen der Kontrolle erneut der Istzustand gemessen und mit dem Vorgabewert verglichen. Voraussetzung für adäquate, d. h. zielorientierte Steuerungseingriffe ist eine Abweichungsanalyse, die in der Lage ist, Ursachen für die festgestellte Abweichung zu identifizieren, um mögliche Maßnahmen zur Korrektur (bzw. Vermeidung) von Abweichungen zu generieren. Das setzt Handlungswissen voraus, das entweder (regelbasiert) vorliegen oder fallweise generiert werden muss. Regelbasiertes Handlungswissen greift auf einen vorhandenen Theoriekatalog zurück, während zu generierendes Handlungswissen (empirisch

Abb. 1   Regelungsprinzip mit Rückkopplung. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Abb. 2   Regelungsprinzip mit Vorkopplung. (Quelle: Eigene Darstellung)

belastbare) Hypothesen erzeugt. Diese Form der Regelung setzt implizit eine gewisse Umfeldstabilität voraus, was bedeutet, dass auch die potenziellen Störgrößen nur in einem gewissen Umfang variieren.2 Zu beachten ist, dass sich der Regelungsvorgang stets nur nach der gemessenen und mithilfe eines Messinstruments wahrgenommenen Abweichung richtet. Dieser Umstand ist in den hier interessierenden betriebswirtschaftlichen (aber auch soziotechnischen) Systemen von Bedeutung, in denen Messergebnisse durch instrumentelle Mess- und mitunter subjektive Wahrnehmungsvorgänge gespeist werden. Zudem müssen die Stellmöglichkeiten realiter verfügbar, d. h. durchführbar, und die zeitliche Verzögerung zwischen Steuerungseingriff und Realisation auf der Regelstrecke sollte relativ gering sein. Offenkundig sind rückkoppelnde Regelkreise insofern vergangenheitsorientiert, als Eingriffe stets erst nach dem Einwirken einer Störgröße und der Feststellung einer Soll-Ist-Abweichung vorgenommen werden können. Grundsätzlich ist eine Rückkopplung als Regelungsprinzip zudem nur dann nützlich, wenn die zu steuernden Prozesse auf der Regelstrecke regelmäßig wiederkehrend ablaufen. Eine Überwindung der Vergangenheitsorientierung des Regelungsprinzips kann erreicht werden, indem nicht auf die Realisierung und Feststellung einer Abweichung gewartet, sondern statt dessen versucht wird, die Störgrößen, beispielsweise Ursachen, (direkt) zu erfassen bzw. antizipativ über Frühindikatoren zu prognostizieren. Das Steuerungsprinzip besteht in diesem Fall in einer sog. Vorkopplung („feed forward“) erwarteter Auswirkungen vorhandener oder potenzieller Störgrößen in Form von sog. Wird-Größen. Entsprechend basiert diese Form einer zukunftsorientierten Kontrolle in der Durchführung von Soll-Wird-Vergleichen (Abb. 2). In diesem Fall spaltet sich das

2Vgl.

Zünd (1978), S. 21, der von einer „begrenzt dynamischen Umwelt“ spricht

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Problem der Abweichungsanalyse in zwei Teile auf, demjenigen, in dem Soll und Wird verglichen wird, und demjenigen, in dem Wird und Ist verglichen wird. Ersterer dient der Steuerung des Unternehmens, letzterer der Verbesserung des Prognoseprozesses. Voraussetzung für wirksame antizipierende Steuerungseingriffe ist die Kenntnis und Erfassung möglicher Störgrößen (bzw. geeigneter Frühwarnindikatoren für diese) sowie deren erwartete Auswirkungen auf die Regelgröße (Wird-Werte). Sowohl die Prognose der Wird-Werte aus beobachteten Störgrößen oder Frühwarnindikatoren als auch die Generierung möglicher Maßnahmen zur Korrektur (bzw. Vermeidung) von erwarteten Abweichungen setzen zusätzlich ein Prognosemodell und – wie auch im Fall der Rückkopplung – Handlungswissen voraus, das entweder (regelbasiert) vorliegen oder fallweise generiert werden muss. Das setzt erneut implizit eine gewisse Umfeldstabilität und genügenden Vorlauf voraus, was bedeutet, dass die potenziellen Störgrößen nur in einem gewissen Umfang variieren und der antizipative Eingriff früh genug stattfinden kann.

3 Technologischer Kern einer Industrie 4.0 Unter dem Begriff Industrie 4.0 wird eine Form industrieller Wertschöpfung verstanden, die durch Digitalisierung, Automatisierung und Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure gekennzeichnet ist und auf Prozesse, Produkte und Geschäftsmodelle von Unternehmen einwirkt (Obermaier 2016a, S. 8). Den technologischen Kern dieser Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure bilden sog. cyber-physische Systeme (CPS), die a) mithilfe von Sensoren Daten erfassen, b) mithilfe eingebetteter Software aufbereiten und analysieren und c) mit Fähigkeit zur Entscheidungsunterstützung und Selbststeuerung (Regler) ausgestattet d) mithilfe von Aktoren auf reale Vorgänge einwirken, zudem e) über eine Dateninfrastruktur, wie z. B. das Internet, kommunizieren und f) über Mensch-Maschine-Schnittstellen verfügen und ihrerseits selbst mit anderen CPS zu einem Internet-of-Things (IoT) vernetzt werden können. Offenkundig sind auch damit die wesentlichen Elemente eines Regelkreises beschrieben, der damit – und dies ist eine wesentliche betriebswirtschaftliche Neuerung – auf die CPS ausgedehnt werden kann. Dezentral vernetzte CPS stellen autonome Teilsysteme dar, die eine Optimierung hinsichtlich vorzugebender Kriterien in ihren Systemgrenzen erlauben, dazu jedoch im Zusammenspiel (wie sog. vermaschte Regelkreise) aufeinander abgestimmt werden müssen, um ein vorgegebenes Oberziel zu erreichen (Obermaier 2016a, S. 12). Die damit verbundene Herausforderung besteht mithin in der Optimierung eines Gesamtsystems auf Basis von dezentralen, lokalen Optima. Diese ist theoretisch nur denkbar, wenn alle beteiligten Akteure ihren jeweiligen Zustand kennen und die Zielfunktion eindeutig bestimmt ist. Das Extrem einer völligen Dezentralisierung scheint dabei allerdings ebenso illusorisch, wie das früher verfolgte Extrem der Zentralisierung. Vielmehr wird die zentrale betriebswirtschaftliche Herausforderung sowohl für Theorie als auch Praxis in der Bestimmung des optimalen Dezentralisierungsgrads liegen (Obermaier 2016a, S. 21).

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Die im Kontext einer Industrie 4.0 am häufigsten thematisierten CPS-Technologien können grob in fünf Felder unterteilt werden: 1) Internet- und Kommunikationstechnologie, 2) Automatisierung, Fertigungstechnologie und Robotik, 3) Sensorik und Aktorik, 4) eingebettete Systeme, Analytik und Systemtechnik sowie 5) MenschMaschine-Schnittstellen. Damit erlauben CPS betriebswirtschaftlich neuartige Kombinationen der Elementarfaktoren Betriebsmittel, Werkstoffe und Mensch und damit die Veränderung betrieblicher Produktionsfunktionen. Zusätzlich kommt den CPS mit ihrer Fähigkeit zur Selbststeuerung eine Funktion als dispositiver Faktor zu, der in der Lage ist, im Sinn eines Regelkreises (teil-)autonom agieren zu können. Hier setzen Analysen zum Verständnis der Wirkungslogik und der Wirtschaftlichkeit von Investitionen in Industrie 4.0 im ­Allgemeinen und in CPS im Besonderen an.

4 Industrie 4.0 als Gegenstand des Controlling Die technologischen Möglichkeiten einer Industrie 4.0 stellen Unternehmen vor die Aufgabe, sich diese betriebswirtschaftlich nutzbar zu machen und die damit einhergehenden Herausforderungen zu bewältigen. Grundsätzlich können zwei Stoßrichtungen unterschieden werden: zum einen die Wertschöpfungsprozesse und zum anderen Produkte und Dienstleistungen (Abb. 3). Beide können Gegenstand von Digitalisierungs- und ­Vernetzungsinvestitionen sein. Damit eröffnet sich für das Controlling ein Handlungsraum, der sowohl den Digitalisierungs- und Vernetzungsgrad von Prozessen als auch von Produkten, Dienstleistungen und damit zusammenhängenden Geschäftsmodellen zum Gegenstand einer betriebswirtschaftlichen Evaluation macht und den damit verbundenen Innovations- und Transformationsprozess der Digitalisierung und Vernetzung von Unternehmen zu einer übergreifenden Controllingaufgabe werden lässt. Abb. 3   Industrie-4.0Transformationsmatrix. (Quelle: Eigene Darstellung)

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Nicht alles, was derzeit unter dem Stichwort Industrie 4.0 diskutiert wird, ist gänzlich neu. (Teil-)Automatisierungen und der Einsatz von Industrierobotern sind seit Langem bekannt (Scheer 1987). Was verstärkt Bedeutung erlangt, ist die Digitalisierung und Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure (Mensch, Maschine, Material) sowohl horizontal (auf der Ebene der Leistungserstellung) als auch vertikal (über die Ebenen der Produktionsplanung- und Steuerung) durch CPS sowie die sich daraus ergebenden betriebswirtschaftlichen Konsequenzen. Das Augenmerk des Controlling ist bei den Prozessen zunächst allgemein auf eine Steigerung der Prozesseffizienz durch zunehmende Digitalisierung und Vernetzung gerichtet. Daneben ist aber auch die Effektivität von Prozessen Gegenstand der Betrachtung. So können neben Verbesserungsinnovationen z. B. auch Produkt- oder Serviceinnovationen Ergebnis digital vernetzter Wertschöpfungsprozesse sein (Obermaier 2016a, S. 21 f.).

4.1 Controlling der digitalen Transformation: Prozesse Aus einer Befragung von 235 deutschen Industrieunternehmen, vorwiegend aus dem verarbeitenden Gewerbe sowie der Informations- und Kommunikationsindustrie, geht hervor, dass derzeit (2014) im Durchschnitt nur etwa 24 % der primären Aktivitäten (v. a. Beschaffung, Produktion, Logistik) bezogen auf die Wertschöpfungskette digital durchdrungen sind. Im Bereich der sekundären Aktivitäten (Absatz, Forschung und Entwicklung, Planung, Verwaltung) sind es etwa 20 %. Demgegenüber stehen die Erwartungen derselben Unternehmen, bis zum Jahr 2020 den Digitalisierungsgrad der primären auf 86 % und der sekundären Aktivitäten auf 80 % zu steigern (PwC 2014, S. 15). Damit wird, bezogen auf Abb. 3, sowohl ein Status quo als auch eine Vorgabegröße für Digitalisierung und Vernetzung von Wertschöpfungsprozessen von Industrieunternehmen beschrieben. Je nachdem, welchen Vorgabewert einzelne Unternehmen für sich wählen und welche konkreten Handlungsfelder bestimmt werden, kommt dem Controlling auf diesem Transformationspfad die Aufgabe zu, die jeweiligen Ist-Werte des Digitalisierungsgrads ausgewählter Unternehmensbereiche zu bestimmen, etwaige Abweichungen zu lokalisieren sowie den Transformationsprozess zu begleiten. Instrumentell steht das Controlling vor der Herausforderung, Wirtschaftlichkeitskalküle für digitale Prozessinnovationen zu entwickeln. Schwierigkeiten bestehen grundsätzlich darin, die Nutzenpotenziale belastbar abzuschätzen. Ein Ausweichen auf rein qualitative Bewertungsmethoden erfüllt jedoch selten die Erwartungen des Managements, belastbare Einschätzungen über die Kosten-Nutzen-Relationen derartiger Investitionen zu erhalten; besteht doch die Gefahr, qualitative Kriterien – die überdies nicht für die Planung und Kontrolle von Investitionsbudgets geeignet sind – in der Tendenz zu optimistisch zu bewerten, wenn diese eher Vor- als Nachteile auflisten oder deren nicht quantifiziertes Ausmaß gleichrangig neben quantifizierten Größen steht. Umgekehrt kann eine auf Prozesseffizienz abzielende Rationalisierungsinvestition auch strategische

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Wettbewerbsvorteile mit sich bringen. Und so stehen Controller unvermindert vor den Schwierigkeiten einer Quantifizierung und monetären Bewertung von Industrie-4.0Investitionen. Hinzu kommen weitere gravierende Probleme auf dem Weg zu einem entsprechenden Instrumentarium: die hohe Komplexität betrieblicher Produktionsprozesse, die komplexe Wirkungslogik von Industrie-4.0-Technologien, die Schwierigkeiten ihrer kausalen Abbildung auf der Ebene finanzieller Größen und schließlich der stets unternehmensspezifische Charakter derartiger Investitionen. Bislang liegen zudem nur einige wenige konkrete Berichte über den ex ante zu erwartenden oder ex post realisierten wirtschaftlichen Nutzen beim Einsatz digital vernetzter Wertschöpfungsprozesse vor. Obermaier und Kirsch (2016) haben mit ihrer Prozess- und Potenzialanalyse bereits mehrfach in der Praxis erprobte Investitionskalküle vorgelegt, die es Controllern ermöglichen, Wirtschaftlichkeitspotenziale von Industrie-4.0-Investitionen qualitativ und quantitativ zu bewerten. Basierend auf der detaillierten Analyse der Wirkungslogik digitaler Prozessinnovationen, die sich nur durch eine tiefgehende Auseinandersetzung mit der Komplexität von Fertigungssystemen erschließen lässt, findet im Rahmen der Prozessanalyse ein ex- ante Vergleich von Ist- und Soll-Prozessen und damit eine Identifikation von Wirtschaftlichkeitspotenzialen statt. Kern des Vergleichs ist eine Geschäftsprozessmodellierung, die die produktive Logik der Prozessinnovation erfasst und abbildet. Das Instrument der Potenzialanalyse versucht, quantitative und qualitative Wirkungsklassen von Prozessinnovationen akteursspezifisch für ein Fertigungssystem zu identifizieren, zu messen und zu bewerten. Miller und O’Leary (2005) haben herausgearbeitet, dass bei der Beurteilung von Technologieinnovationen in Unternehmen neben den üblichen, z. B. auf Divisionsebene, durchgeführten Investitionskalkülen auch die technologischen und betriebswirtschaftlichen Komplementaritäten der infrage stehenden Innovationen Gegenstand der Beurteilung sein sollten (Milgrom und Roberts 1995). Diese Einschätzung stützt sich auf die Überlegung, dass „the system of assets, rather than the individual investment decision, may often be the critical unit of analysis and decision for managers.“ (Miller und O’Leary 2005, S. 177). Als Controlling-Instrument schlagen sie hierzu eine sog. Technologie-Roadmap vor, die zur Sicherstellung der Vorteilhaftigkeit von Technologieinvestitionen eine Koordinationsfunktion übernimmt, „[which] sets out the shared expectations of the various groups that invest to design components, as to when these will be available, and how they will interoperate technically and economically, to achieve system-wide innovation“ (Miller und O’Leary 2005, S. 163). Ein solches Instrument adressiert das Problem, dass mit zunehmender ­Vernetzung Interdependenzen explodieren. Einen anderen Weg schlagen Grottke et al. (2016) ein. Sie modellieren den Einsatz von Sensoren aus Perspektive des Controlling als ein informationsökonomisches Problem. Eine Quantifizierung des Nutzens von Industrie-4.0-Technologie und -Datenanalyse muss insofern an der Monetarisierung von Entscheidungsverbesserungen ansetzen. Hier ist zu erwarten, dass zahlreiche Modellierungen von Informationswirkungen aus der Informationsökonomie, aber auch aus Optionspreis- und Realoptionspreistheorie ein neues, fruchtbares Anwendungsfeld finden. Die Herausforderung wird darin bestehen, die regelmäßig sehr

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komplizierten Ansätze auf eine Weise einzusetzen, die eine schnelle und auch durch Intuition gedeckte Anwendung der hierdurch vorgenommenen Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen Informationen und dadurch induzierten Entscheidungsverbesserungen erlaubt.

4.2 Controlling der digitalen Transformation: Produkte und Dienstleistungen Neben Prozessinnovationen stehen Produkte und mögliche (produktbegleitende) Dienstleistungen im Fokus der Digitalisierung und Vernetzung. Damit wird die nicht selten auf Produktion verengte Betrachtung von Industrie 4.0 erweitert: von intelligenten, vernetzten Produktionsprozessen hin zur Entwicklung von intelligenten und vernetzten Produkten.3 Die bereits zitierte Befragung deutscher Industrieunternehmen weist hinsichtlich des Produktportfolios aus, dass derzeit etwa 29 % der Unternehmen angeben, einen hohen Digitalisierungsgrad bei Produkten und Dienstleistungen zu haben. Die Erwartungen der Unternehmen sind, dass sich der Anteil mit hohem Digitalisierungsgrad bis zum Jahr 2020 im Durchschnitt auf rund 80 % erhöhen wird (PwC 2014, S. 27 f.). Auch diese Einschätzungen stellen sowohl einen Ist-Zustand als auch eine Zielgröße für die Digitalisierung und Vernetzung von Produkten und Dienstleistungen dar, für die ein unternehmensindividuelles Controlling dieses Transformationspfads die jeweiligen Ist-Werte des Digitalisierungsgrads im Produktportfolio bestimmen und etwaige Abweichungen lokalisieren kann.4 Intelligente, vernetzte Produkte bestehen grundsätzlich aus drei Kernelementen: den herkömmlichen physischen Komponenten, eingebetteten intelligenten (smarten) Komponenten und Vernetzungskomponenten. Physische Komponenten umfassen insbesondere die mechanischen und elektrischen Bauteile eines Produkts. Intelligente Komponenten umfassen Sensoren, Aktoren, Mikroprozessoren, Datenspeicher, Steuerungen und Software in einem eingebetteten System, und Vernetzungskomponenten umfassen Schnittstellen, Sende- und Empfangseinheiten für drahtgebundene oder drahtlose Kommunikation. Durch die Vernetzung von Produkten über das Internet können Daten ausgetauscht werden; aber v. a. werden die verbundenen physischen Objekte zusätzlich als Datenobjekte in einem Netzwerk repräsentiert; sie werden so ebenfalls zu CPS (Obermaier 2016a, S. 24). Instrumentell steht das Controlling hier zunächst ebenfalls vor der Herausforderung, Wirtschaftlichkeitskalküle für digitale Produkt- und Serviceinnovationen im Sinn von intelligenten, vernetzten Produkten und damit verbundenen, meist datengetriebenen Dienstleistungen und

3Vgl.

zur Aufladung von Produkten mit digitalen Dienstleistungen auch Fleisch et al. (2015), S. 448 dass auch generelle Softwaresysteme, wie z. B. ERP, hochindividuelle firmenspezifische Wirkungen haben, verweisen auch die Studien von Caglio (2003), S. 123; Quattrone und Hopper (2001), Scapens und Jazayeri (2003), S. 121.

4Darauf,

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damit verbundenen Geschäftsmodellen zu entwickeln. Als Strukturierungshilfe zur Beschreibung und systematischen Generierung von Geschäftsmodellen haben mittlerweile unzählige Autoren entsprechende Instrumente vorgeschlagen.5 Nach Teece (2010) ist ein Geschäftsmodell eine Managementhypothese hinsichtlich der Fragen a) was Kunden wollen, b) wie sie es wollen und c) was das Unternehmen tun kann, c1) diese Kundennachfrage bestmöglich zu bedienen, c2) dafür bezahlt zu werden und c3) einen Gewinn dabei zu machen. Das Controlling hat damit gegenüber der Prozessdigitalisierung und -vernetzung einen erweiterten Blickwinkel einzunehmen, der insbesondere die Kunden- und Marktperspektive mit aufnimmt und in der Lage ist, entsprechende Geschäftsmodellinnovationen zu evaluieren. Denn schon bei der (qualitativen und quantitativen) Bewertung der Wirtschaftlichkeitspotenziale von Prozessinnovationen hat es sich für das Controlling als unerlässlich gezeigt, dies mit einer detaillierten Analyse der Wirkungslogik digitaler Innovationen zu verbinden. Diese Analyse der Wirkungslogik beginnt bei digitalen Produkt- und Serviceinnovationen mit der Analyse des Kundenbedarfs über das Preis- und Leistungsbündel (Erlösmodell) bis hin zu den Wertschöpfungsprozessen (Kostenmodell). Ausgangspunkt digital vernetzter Produktinnovationen ist, dass Produkte, die mit dem Internet vernetzt und mit „smart components“ ausgestattet sind, gegenüber nicht vernetzten Geräten neuartige Funktionalitäten bieten können, wobei allgemein gilt, dass umso mehr Funktionalität generiert werden kann, je umfangreicher die Vernetzung angelegt ist. Porter und Heppelmann (2014) unterscheiden vier Funktionalitätsstufen vernetzter Produkte:  Überwachung, Steuerung, Optimierung und Autonomie. Diese, durch Vernetzung zusätzlicher Funktionalitäten, eröffnen Unternehmen die Möglichkeit, produktbegleitende Dienstleistungen (Smart Services) anzubieten, die darauf basieren, dass intelligente und vernetzte Produkte auch nach dem Verkauf eine Verbindung zum Hersteller halten können und so eine weitergehende Wertschöpfung ermöglichen, indem die Hersteller ihre Produkte über den gesamten Lebenszyklus begleiten und dem Nutzer laufend Zusatzdienste anbieten können. Eine damit einhergehende Herausforderung für das Controlling wird darin bestehen, den Prozess der digitalen Produktinnovation und der entsprechenden Geschäftsmodellinnovation systematisch zu begleiten. Auch hierfür ist eine nochmalige Erweiterung des Blickwinkels erforderlich, da es u. U. nicht nur um interne Entwicklungsprozesse, sondern um ein systematisch auf den Endkunden hin gerichtetes Serviceangebot bzw. die Transformation eines Produkts in eine Serviceleistung geht. Die Literatur unterscheidet hier u. a. reaktive und proaktive Innovationsprozesse (Burmeister et al. 2016, S. 136). Erstere sind z. B. durch konkrete technologische Möglichkeiten oder Kundennachfragen getrieben, während zweitere z. B. auf Frühwarnindikatoren, Trendanalysen, Kundenworkshops oder Expertenbefragungen beruhen können. Hierbei spielen insbesondere Konzepte wie Open Innovation eine Rolle, bei denen versucht wird, den Innovationsprozess durch eine Integration der Unternehmensumwelt (insbesondere bezüglich der

5Häufig

zitiert wird der sog. Business Model Canvas von Osterwalder und Pigneur (2010). Weitere Vorschläge stammen z. B. von Shafer et al. (2005), Casadesus-Masanell und Ricart (2010), Cavalcante et al. (2011), Gassmann et al. (2013), Fleisch et al. (2015).

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Kunden) zu öffnen (und zu beschleunigen) und auf dieser Basis neue Produkte und Dienstleistungen zu entwickeln (Chesbrough 2003). Als Kernprozesse gelten der Outside-in-Prozess, der das im Unternehmen vorhandene Wissen mit externem Wissen von Kunden, Lieferanten oder anderen Akteuren anreichert, sowie der Inside-out-Prozess, der die externe Vermarktung z. B. durch Lizenzierung fördern soll. Im übrigen ist die direkte Einbindung von Kunden und Geschäftspartnern in Wertschöpfungsprozesse nicht nur auf Innovationen beschränkt, sondern im Kontext des Supply Chain Management bereits seit Längerem Gegenstand zunehmend arbeitsteiliger Wertschöpfungsketten. Erste explorative Studien deuten zumindest darauf hin, dass Flexibilität, Offenheit und Marktbezug wichtige Aspekte erfolgreicher Geschäftsmodellinnovationsprozesse sind, es aber in der Praxis noch an entsprechend umfassender und strukturierter Herangehensweise mangelt (Burmeister et al. 2016, S. 138).

4.3 Controlling der digitalen Transformation: Performance und Performativität Die dargelegten Handlungsfelder weisen einen Transformationspfad hin zu einem digital vernetzten Unternehmen. Freilich ist digitale Vernetzung kein Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck. Die Erreichung des Zwecks, vom Controlling gemessen zu werden, die relevanten Handlungsfelder zu identifizieren und dabei an der Formulierung einer Digitalisierungsstrategie sowie an der damit zusammenhängenden Ideengenerierung und Bewertung mitzuwirken, gehört zu einem Controlling, das sich der Herausforderung einer Transformation in Richtung einer Industrie 4.0 stellt. Als Hilfsmittel, den Status quo und die Sollwerte dieser Transformation abzubilden und die damit verbundene Zielerreichung zu messen, kann die vorgestellte Industrie-4.0-­ Transformationsmatrix geeignet sein (Abb. 3). Damit ist es z. B. möglich, den aktuellen Digitalisierungs- und Vernetzungsgrad z. B. von strategischen Geschäftseinheiten hinsichtlich der Prozess- und der Produktperspektive (im Zeitablauf) abzutragen, mit einem angestrebten Zielwert zu vergleichen und den Transformationspfad über die Zeit hinweg zu verfolgen und gegebenenfalls zu steuern. Zudem sind relative Performancevergleiche mit ausgewählten Konkurrenten oder dem Branchendurchschnitt möglich. Auf diese Weise kann das Controlling seiner Scorecard-keeping- und Attention-directing-Funktion gerecht werden, was bedeutet, Problemfelder zu identifizieren, die einen Einsatz auch lohnen. Zur weiteren Interpretation der Matrix ist es hilfreich, die Abszisse als Erlöspotenzial aus digital vernetzten Produkt- und Serviceangeboten zu interpretieren, dem dazu eine Hypothese über eine kunden- und marktspezifische Wirkungslogik zugrunde liegen muss, und die Ordinate als Kostensenkungspotenzial zu verstehen, das aus den mit zunehmender Digitalisierung stammenden Produktivitätseffekten geschöpft wird. Wird in die Darstellung z. B. ein Benchmarking mit der Konkurrenz integriert, können daraus Indikationen über mögliche Wettbewerbsvorteile gewonnen werden.

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Ein Controlling, das sich der Begleitung des digitalen Wandels stellen soll, muss indes auch eine erweiterte Perspektive einnehmen, die über das bestehende Geschäftsmodell hinausreicht, dies im Grunde auch infrage stellt und nach neuen, besseren Lösungen sucht.6 Controlling in solch komplexen Umwelten steht vor einer paradox anmutenden Herausforderung: Wenn die Komplexität und Dynamik der durch die Unternehmensführung zu lösenden Probleme (ständig oder diskontinuierlich) zunimmt, dann stehen Unternehmen vor dem Dilemma, notwendigerweise Systeme der Informationsversorgung, Planung und Kontrolle entwickeln und einsetzen zu müssen, um der Komplexität Herr zu werden, während es angesichts der Umweltdynamik und allfälliger Diskontinuitäten zunehmend unwahrscheinlich wird, mit diesen Systemen den an das Unternehmen gestellten Anforderungen (z. B. hinsichtlich der Anpassungsfähigkeit) gerecht zu w ­ erden.7 Das Controlling muss sich dazu konzeptionell öffnen und exogene Entwicklungen (­Kunden, Konkurrenten, Markttrends etc.) und Frühwarnindikatoren einbeziehen, da die Änderungsdynamik die Planbarkeit reduziert und das Controlling über gewohnte Systemgrenzen hinaus nach relevanten Informationen suchen und sich von den gewohnten Koordinationsaufgaben mehr den Adaptionsproblemen zuwenden muss. Hierbei aber kann neues generalistisches Wissen entstehen, wie mit hoher Änderungsdynamik generell (effektiv und effizient) umgegangen werden kann. Die Controllingforschung hat jedoch durchaus schon intensiv untersucht, dass die Existenz von Controlling und der Einsatz verschiedener Instrumente kontextabhängige Auswirkungen auf die Performance haben können und dass demzufolge Controlling kontextabhängig zu gestalten ist. Dies ist klar abzugrenzen von explizit als Anreizsysteme intendierten Controllinginstrumenten, wie sie z. B. zum Zweck der Verhaltenssteuerung konzipiert sind. Wiewohl auch diese Instrumente hinsichtlich ihrer theoretisch intendierten und praktisch realisierten Wirkungen intensiv Gegenstand der Controllingforschung sind, geht es hier um einen erweiterten Begriff der Performativität, wonach grundsätzlich kein Instrument neutral ist, oder wie Latour (2009, S. 155) es formuliert: „Change the instruments and you will change the entire social theory that goes with them“. Demgegenüber steht die wohl (zu) lange vorherrschende, eher implizite These, dass Controllinginstrumente neutrale Werkzeuge (Kamera) sind. Vielmehr zeigt sich in einer Reihe von Studien, dass es viele, nicht explizit intendierte und vom jeweiligen Kontext abhängige Wirkungen von Controllinginstrumenten auf die operative Performance gibt.8 Diese gerade für den Bereich Industrie 4.0 relevanten Studien bewirken, dass die eingesetzten Instrumente gerade bei einem komplexen Umfeld unintendiert sowohl als Bremse oder Motor als auch als neutrale Abbildung wirken können. Grottke und Obermaier (2016) weisen beispielsweise darauf

6Hier

wird heute allgemein von Disruption gesprochen. Vgl. grundlegend Christensen (1997), wobei das allgemeine Begriffsverständnis weitaus uneinheitlicher ist 7Vgl. dazu bereits Szyperski (1974) sowie Zünd (1978) 8Vgl. z. B. die diesbezüglich sehr instruktiven Fallstudien von Sandelin (2008); Quattrone und Hopper (2001); Alcouffe et al. (2008); Christner und Strömsten (2015)

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hin, dass bei so komplexen Investitionen und Produkten, wie sie im Rahmen von Industrie 4.0 entstehen, der Interaktion zwischen verschiedenen Performancemaßen besondere Beachtung zu widmen ist. Sie zeigen, dass eine rein qualitativ, auf Basis von KostenNutzen-Erwägungen der betroffenen Arbeiterschaft, beurteilte Einführung eines Industrie4.0-Projekts sehr erfolgreich war, aber in Interaktion mit einem Controllinginstrument in der Folge zu Unwirtschaftlichkeit führte und damit zu einer Bremse wurde. Revellino und Mouritsen (2015) zeigen demgegenüber anhand eines datenbasierten Geschäftsmodells auf, wie kalkulative Praktiken performativ Innovationen hervorbringen können, indem die zunächst erhobenen Daten Ausgangspunkt für neue Geschäftsmodelle und damit eigenständige Motoren für Innovation werden. Diese Studien zeigen, wie Controlling, der sich im Moment massiv ändernde technologische Kontext und Controllingobjekte interagieren und insofern nicht separat voneinander betrachtet werden dürfen.

5 Controlling als Gegenstand einer Industrie 4.0 Auch das Controlling wird sich durch neue Technologien verändern, denn auch Controlling kann durch Digitalisierung und Vernetzung effizienter, effektiver und informativer gestaltet werden. Im Folgenden gehen wir den zu erwartenden Wirkungen in zwei Schritten nach. In einem ersten Schritt umreißen wir den heutigen Status quo des Controlling und markieren die weißen Flecken, die hier existieren. In einem zweiten Schritt zeichnen wir nach, welche Veränderungen sich für ein regelkreisbasiertes Controlling erwarten lassen.

5.1 Status quo des Controlling Der Blick in die Praxis des Controlling offenbart, dass nach wie vor Reportingaufgaben einen Großteil der Tätigkeit von Controllern ausmachen (Weber 2008). Je nach relevanter Performancegröße werden die entsprechenden Daten aus transaktionsbasierten ­Enterprise-Resource-Planning(ERP)-Systemen selektiert, konsolidiert und gegebenenfalls für das Reporting grafisch aufbereitet.9 Zum Standardrepertoire gehören heute zweifellos auch Abweichungsanalysen oder die mehr oder weniger automatisierte Signalisierung von Vorgabewertüberschreitungen. Ursachenanalysen identifizierter Abweichungen wurden zwar schon früh angedacht (Mertens et al. 1991, S. 51 f.). Diese verharren jedoch zumeist auf einer eher formal-logischen Ebene (z. B. Preis- und Verbrauchsabweichung), da die Datengrundlage aus den ERP-Systemen eine sachlogische Kausalanalyse und das Abstellen auf inhaltliche Ursachen im Grunde nicht ermöglicht. Dadurch verharrt der

9Zur

Frage der Auswirkungen der Wahl des Darstellungsformats auf die Entscheidungsgüte vgl. z. B. Obermaier et al. (2015) mit weiteren Nachweisen

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Erklärungsgehalt für Ursache-Wirkung-Zusammenhänge auf niedrigem Niveau und entwickelt kaum Prognosekraft. Weitergehende Analysen sowie diverse Sonderrechnungen, neben den regelmäßig wiederkehrenden, inhaltlich vordefinierten Berichten, stoßen nicht selten an zweierlei Kapazitätsgrenzen: Zum einen ist die Informationsbeschaffung mit hohem Arbeitsaufwand verbunden und zum anderen sind nur begrenzt Informationen in den ERP-Systemen verfügbar. Die Konsequenzen liegen auf der Hand: zeitaufwendige Datenkonsolidierung, für Sonderrechnungen mitunter erheblich verzögerte Bereitstellung und selektive Datenverfügbarkeit, die sich häufig in Zahlen aus ERP-Systemen erschöpft (was nicht selten dem Erfordernis, in Tabellenkalkulationsprogrammen verarbeitet werden zu können, entgegenkommt). Informationen jenseits von ERP-Systemen bleiben mangels Verfügbarkeit zumindest in standardisierter Form unbeachtet. Ad-hoc-Berichte wiederum sind stark von der Intuition der handelnden Personen getrieben. Gleiches gilt für Planungsroutinen oder Vertriebsschätzungen, die mehr aus einer zeitaufwendigen Datenbeschaffung und -konsolidierung denn der Anreicherung mit externen Datenquellen oder der Anwendung fortgeschrittener Prognosemodelle bestehen (Davenport 2013, S. 66). Grundsätzlich setzt die Etablierung von Regelkreisen die Fähigkeit zur (gegebenenfalls laufenden) Messung von interessierenden Ist-Zuständen, zur Abweichungsanalyse, zur Ursachenidentifikation bzw. Frühwarnindikation und schließlich zur Generierung relevanten (empirischen) Handlungswissens für eine gezielte, d. h. die Vorgabegrößen wirksam anstrebende Regelung voraus. Letztlich zeigt sich hier, dass Controlling außerhalb von formal-logischen Zusammenhängen fast ein einziger weißer Fleck ist: Weder haben sich hier Routinen etabliert, wie außerhalb der formallogischen Zusammenhänge die eigentlich in der Vergangenheit abgelaufenen Ursache-Wirkung-Beziehungen ermittelt werden, noch wie solches Wissen handlungsleitend genutzt werden kann.10 Nichts anderes gilt für den Einbezug der Zukunft zum Zweck des Controlling. Auch hier werden i. d. R. Zahlen basierend auf Mutmaßungen oder einfachsten Projektionsmechanismen geplant, ohne dass auf die eigentlichen Ursache-Wirkung-Beziehungen und deren Stabilität eingegangen werden kann. Das bis dato vorwiegend instrumentell ausgerichtete Controlling verfügt nur sehr selten über ausreichendes Handlungswissen dieser Art; weder in der Praxis noch in der Wissenschaft. Ein Grund hierfür mag sein, dass das Controlling i. d. R. bereits mit den formallogischen Zusammenhängen und der Interpretation allein des Zahlenmaterials hinreichend gefordert war. Ein aber wissenschaftlich noch bedeutsamerer Grund ist, dass das Controlling durch sein weitgehendes Ansetzen an finanziellen Größen zu weit von den

10Dies

bedeutet freilich nicht, dass nicht an zahlreichen Stellen versucht wurde, exakt diese ­ lecken zu adressieren. Im Gegenteil lassen sich hier einige auch elaborierte Ansätze nennen, F wie z. B. Ossadnik (2008); Ossadnik und Kaspar (2013). Es ist bislang nur nicht gelungen, entsprechendes Standardwissen zu etablieren. Vgl. auch Ittner und Larcker (2009)

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eigentlichen Ursache-Wirkung-Beziehungen entfernt ist, da es sich bei den finanziellen Größen ja um die Wirkungs- und gerade nicht die Ursachendimension handelt. Obgleich Konzepte wie die Balanced Scorecard mit ihren Strategy Maps explizit auf die Modellierung von Ursache-Wirkung-Zusammenhängen zwischen finanziellen und nichtfinanziellen Größen hinweisen, zeigen Studien, dass die Praxis nichtfinanzielle Performancegrößen nicht anhand kausaler Modelle wählt, sondern statt dessen auf Intuition oder Heuristiken vertraut (Ittner und Larcker 2009, S. 1236. mit weiteren Nachweisen). Aber selbst in den Fällen, in denen Unternehmen explizit hypothetische Kausalketten für die Performancemessung ihrer Geschäftsmodelle formulieren, unterbleibt zumeist deren valide empirische Überprüfung (Ittner und Larcker 2009, S. 1237). All dies ist nicht allein mangelndem Wollen, sondern mitunter der Datenverfügbarkeit sowie einem fehlenden empirisch-methodischen Apparat geschuldet. Das aber stellt für ein materiell gehaltvolles Controlling eine schwerwiegende definitorische Schnittlinie zwischen Geld und Gütern dar. Hinzu kommt eine für das Controlling typische Konzentration auf sog. sekundäre Koordinationsaufgaben; das sind jene innerhalb des Leitungssystems (v. a. der Koordination von Informationsversorgung mit Planung und Kontrolle; Horváth et al. 2015, S. 47). Steuerbarkeit im Sinn der vorgestellten Regelungstheorie kann indes nur wirksam gewährleistet werden, wenn Regelkreise nicht nur innerhalb des Leitungssystems etabliert, sondern im Sinn vermaschter Regelkreise auch auf das Leistungssystem ausgeweitet werden (sog. primäre Koordinationsaufgaben) und vice versa. Vermaschte Regelkreise zeichnen sich insbesondere dadurch aus, dass die Vorgabewerte des einen Regelkreises zu Regelgrößen eines anderen Regelkreises werden. Aber auch die Steuerung auf der Ebene des Leistungssystems (sog. primäre Koordinationsaufgabe) wird durch mangelnde Anbindung an das Leitungssystem erschwert. So läuft zwar z. B. die betriebswirtschaftliche Produktionsplanung zumeist im Rahmen von etablierter ERP-Software EDV-gestützt ab. Allerdings existieren bis heute kaum Anbindungen z. B. an die physische Fertigungssteuerung. Ein durchgängiger Datenfluss scheitert zudem meist an der Vielzahl und Vielfalt der beteiligten Kommunikationsschnittstellen. Im Extremfall kommuniziert jeder Akteur in einer Fertigung – mithilfe von unterschiedlichen Schnittstellen – mit jedem anderen Akteur (Obermaier et al. 2010). In der Konsequenz sind sowohl die Produkte als auch die Prozesse der Leistungserstellung von einer durchgängigen Digitalisierung und Vernetzung bis heute weitgehend unberührt. Wenn sich dies durch die dargelegten Möglichkeiten einer Industrie 4.0 ändert, die durch Digitalisierung, Automatisierung sowie Vernetzung aller an der Wertschöpfung beteiligten Akteure charakterisiert ist, dann wird sich auch das Controlling weiterentwickeln können. Denn die neuen technologischen Möglichkeiten ermöglichen es gerade, die oben angeführten weißen Flecken des gegenwärtigen Controlling zu adressieren. Wie also könnte ein Controlling aussehen, das die Möglichkeiten einer Industrie 4.0 ergreift? Und welche neuen Herausforderungen stellen sich dann?

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5.2 Systembildung durch echtzeitbasierte Steuerung Die im Rahmen von Industrie 4.0 diskutierten Konzepte und Technologien bieten beachtliche Möglichkeiten sowohl zur Etablierung echtzeitbasierter Regelkreissysteme in Unternehmen als auch zur Ermittlung und Analyse relevanter Daten zum besseren Verständnis von Ursache-Wirkung-Beziehungen, um darauf aufbauend effektive Regelungslogiken zu entwickeln. Grundlage hierfür bietet die Kombination von Industrie-4.0-Technologien mit den Produktionsfaktoren (v. a. Betriebsmittel, Werkstoffe und Mitarbeiter) sowie deren Vernetzung zu CPS. Die hierdurch möglichen konzeptionellen und methodischen Weiterentwicklungen des Controlling, insbesondere durch a) Datenerfassung zur (gegebenenfalls laufenden) Messung von interessierenden Ist-Zuständen, b) Vernetzung, c) Datenverarbeitung zur Abweichungsanalyse, Ursachenidentifikation bzw. Frühwarnindikation und d) die Etablierung von unterschiedlich gearteten Entscheidungsunterstützungssystemen zur Generierung relevanten (empirischen) Handlungswissens für eine gezielte, d. h. die Vorgabegrößen wirksam anstrebende Regelung, sind Gegenstand der nun folgenden ­Ausführungen. Die Datenerfassung soll ein digitales Echtzeitabbild aller anderen interessierenden Subsysteme eines Unternehmens liefern, für die eine regelkreisbasierte Steuerung angestrebt wird. Technologische Voraussetzung hierfür sind insbesondere vernetzte Akteure (Betriebsmittel, Werkstoffe, Mitarbeiter, Produkte etc.) und Sensoren sowie sonstige Messeinrichtungen. Durch diese vernetzte Datenerfassung wird es z. B. möglich, den Betriebszustand, die Funktionsfähigkeit und die Umgebung eines Systems über Sensoren und externe Datenquellen zu erfassen. Daneben stellt die Vernetzung aller relevanten Akteure eine weitere (technologische) Grundvoraussetzung aller weiteren Überlegungen dar. Sie basiert im allgemeinen auf unterschiedlichen Ausformungen von Internettechnologien und ermöglicht echtzeitfähige Datenerfassung und Datenaustausch. Im Bereich der Fertigung sind z. B. sog. Manufacturing Execution Systeme (MES) ein kritischer Baustein zur informationstechnischen Vernetzung der am Fertigungsprozess beteiligten Akteure. Damit sollen Informationen bereitgestellt und Produktionsabläufe vom Anlegen eines Auftrags, über die Fertigungssteuerung bis hin zum fertigen Produkt möglichst in Echtzeit verfolgt werden können. Der Rückgriff auf aktuelle und exakte Daten soll eine schnelle Reaktion auf den Fertigungsablauf beeinflussende Bedingungen erlauben und zu verbesserten Fertigungs- und Prozessabläufen führen (vgl. Obermaier et al. 2010; Obermaier und Kirsch 2015, 2016). Von ganz zentraler Bedeutung ist dabei im Rahmen der klassischen IT-Hierarchie eines Industriebetriebs auch die damit verbundene Integrationsfunktion zwischen Leitungs- und Leistungssystem. Im Rahmen der horizontalen Integration werden die Maschinen durch das MES auf Shop-floor-Ebene informationstechnisch vernetzt. Im Rahmen der vertikalen Integration übernimmt das MES die Aufgabe, als informationstechnisches Bindeglied zwischen dem Produktionsplanungs-und-Steuerungs(PPS)- (oder ERP-)System und der physischen Fertigung, d. h. den einzelnen Produktionsanlagen, die Fertigungsaufträge zu erfassen und so deren Planung und Steuerung zu unterstützen.

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Basierend auf den entstehenden Überwachungsdaten vernetzter Geräte und Systeme eröffnen sich unterschiedliche Funktionalitätsstufen: Ausgehend von der 1) Überwachung der Ist-Zustände definierter Größen mithilfe von Sensoren können 2) Steuerungseingriffe mithilfe von Aktoren erfolgen, die durch Soll-Ist-Vergleiche mithilfe intelligenter Monitoring- und Entscheidungsprozesse zum Zweck der 3) Optimierung bis hin zur 4) Selbststeuerung (Autonomie) genutzt werden können, die es erlauben, unter Einsatz von integrierter (oder durch Vernetzung verfügbarer) Software z. B. die Leistung, die Auslastung oder die Effizienz eines Systems zu steigern. So könnten z. B. Benutzer auf geänderte Betriebszustände oder erforderliche Wartungsmaßnahmen von Betriebsmitteln hingewiesen werden. Ein weiteres Beispiel aus dem Bereich der Fertigung ist die Generierung eines Entladevorschlags für das Werkzeugmagazin einer CNC-Maschine. Basierend auf den Ist-Zuständen der Werkzeugmagazine der betreffenden Maschinen wird der im PPS-System vorhandene Auftragsbestand je Maschine ermittelt. Daraus werden unter Rückgriff auf die entsprechenden CNC-Programme die erforderlichen Werkzeuge bestimmt. Für die innerhalb des Vorschauhorizonts nun nicht benötigten Werkzeuge wird ein Entladevorschlag bestimmt, wodurch der Bestand an komplett montierten Werkzeugen reduziert werden kann (Obermaier et al. 2010). Ein anderer häufig genannter Anwendungsfall ist die sog. vorbeugende Instandhaltung. Hier sollen durch den Einsatz sog. Predictive-Analytics-Techniken aus Daten laufend gemessener Aggregatszustände Muster erkannt werden, die Anomalien im Systemverhalten aufdecken und damit in der Logik eines Frühwarnsystems z. B. einen bevorstehenden Maschinenausfall vorhersagen, frühzeitige Wartungsmaßnahmen ergreifen und einem Ausfall damit vorbeugen. Auch das Supply Chain Event Management (SCEM) bietet ein gutes Beispiel für die Möglichkeit zur Steuerung mit echtzeitbasierten Regelkreisen, bei dem – basierend auf einer Echtzeitdarstellung und -verfolgung der Supply-Chain-Objekte (Auftrag, Sendung, Produkt, Bauteil, Fahrzeug etc.) – handlungsrelevante Ereignisse (Events) identifiziert werden, indem jeweils ein geplanter Status mit einem realisierten Status von SCEM-Objekten verglichen wird. Signifikante Statusabweichungen (d. h. solche nach Überschreiten einer Toleranzschwelle) führen zu Ereignisreaktionen: 1) unverzügliche Korrektur der Prozessdurchführung, 2) Änderung der Auftragsfolge vor Prozessdurchführung, 3) Änderung der bestehenden Planung oder 4) Änderung (der Rahmenbedingungen) künftiger Planungen. Für Routineprobleme ist eine automatisierte, regelbasierte Problemlösung denkbar, während für Nicht-Routineprobleme ein Entscheidungsvorschlag bezüglich vorzugebender Zielgrößen zu unterbreiten ist, der den Einbezug eines Entscheidungsträgers erfordert (Obermaier 2016b). Freilich wird die mithilfe echtzeitbasierter Systeme entstehende Masse an erhobenen Informationen aktuell in Unternehmen existierende Controlling-Abteilungen, aber auch EDV-Systeme überfordern, wenngleich bereits durch neue Technologien Abhilfe angeboten wird, indem diese dabei assistieren, wirkungsvolle Selektionsmechanismen anzuwenden. Zu denken ist einerseits an angebotsinduziert maschinell erzeugte Vorselektionen (beispielsweise indem künstliche Intelligenz für eine Datenselektion und Transformation in handlungsleitende Informationen sorgt), die zudem nach Bedeutung

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im Sinn von Eskalationsstufen kategorisiert werden. Zum anderen kommen auch im Wege einer Suchmaschine (analog zu einer Google-Abfrage oder in Form des Einsatzes von Systemen künstlicher Intelligenz, wie z. B. Watson von IBM), jeweils basierend auf einer konkreten Problemstellung, aus dem Datenmaterial selektierte Informationen zu potenziellen Ursache-Wirkung-Beziehungen. Unschwer lassen sich auf diesem Weg Weiterentwicklungen von Standardberichten und Ad-hoc-Berichterstattungen denken. Darüber hinaus lässt sich neben der Etablierung eines Echtzeitabbilds relevanter Größen des zu steuernden Systems eine Vielzahl weiterer Datennutzungen für Prognosezwecke denken, die auf der durch die Vernetzung aller relevanten Akteure anfallenden Daten beruhen, jedoch die Definition des jeweils relevanten Informationsbedarfs sowie den Aufbau entsprechender Informationsversorgungssysteme voraussetzen.

5.3 Systemkopplung durch evidenzbasierte Steuerung Voraussetzung einer echtzeitbasierten Steuerung mithilfe des Controlling ist es, wie dargestellt, Statusinformationen in Echtzeit zu erheben. Zudem ist eine Hinterlegung von Soll-Werten erforderlich, um etwaige Soll-Ist-Abweichungen zu ermitteln und gegebenenfalls entsprechende Maßnahmen im Sinn einer Regelkreislogik ergreifen zu können. Voraussetzung für adäquate Steuerungseingriffe ist eine Abweichungsanalyse, die in der Lage ist, Ursachen für die festgestellte Abweichung zu identifizieren, um mögliche Maßnahmen zur Korrektur (bzw. Vermeidung) von Abweichungen zu generieren. Hierfür ist regelbasiertes Handlungswissen erforderlich, das grundsätzlich auf einem belastbaren Theoriekatalog basiert oder empirisch zu generieren ist. Ersteres setzt implizit eine gewisse Umfeldstabilität und Erfahrungswerte im Sinn von geprüften Hypothesen voraus, was zudem erfordert, dass auch die potenziellen Störgrößen nur in einem gewissen Umfang variieren.11 Zweiteres setzt u. a. eine genügende Datenmenge, adäquate Analysemethoden und eine Umfeldstabilität derart voraus, dass die empirisch untersuchten Zusammenhänge auch eine gewisse Prognosekraft aufweisen. Freilich handelt es sich im Grunde um ein Henne-Ei-Problem, denn woher soll ein (empirisch gestützter) Theoriekatalog kommen, wenn nicht aus einer empirischen Überprüfung der Hypothesen. Diese Anforderungen offenbaren ein Paradoxon der Echtzeitsteuerung: Während Echtzeitverfügbarkeit von Daten die Datenmenge anschwellen lässt und eine Echtzeitsteuerung womöglich vorstellbar macht, setzt Steuerung aber voraus, dass hinreichend kausale Kenntnis über die Wirkung von Regelungseingriffen, zumindest jedoch eine Kenntnis über relativ stabile Zusammenhänge, besteht. Diese Kenntnis kann datenbasiert, aber nicht in Echtzeit verfügbar sein, wenn sie im Sinn von Forschung erhoben werden soll. Dann dauert es umso länger, je mehr Daten und Einflüsse womöglich ­vorherrschen.

11Vgl.

Zünd (1978), S. 21, der von einer „begrenzt dynamischen Umwelt“ spricht

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Die im Kontext der Industrie-4.0-Technologien vermehrt (um nicht zu sagen massiv) möglich werdenden Datensammlungen bieten dem Controlling jedoch beachtliche Möglichkeiten zur Entdeckung bzw. Überprüfung von Ursache-Wirkung-Systemen auf Basis statistischer Verfahren. Dieser Zweig wird derzeit unter dem Stichwort Big Data Analytics intensiv diskutiert. Inwieweit es gelingt, betriebswirtschaftlich verwendbare, d. h. hinreichend abgesicherte Zusammenhänge zu identifizieren, hängt von den Möglichkeiten der Datenerhebung und den angewendeten Untersuchungsmethoden ab. Damit kommt dem Controlling die bedeutsame Aufgabe zu, nicht nur bei der Formulierung hypothetischer Kausalketten für die Performancemessung mitzuwirken, sondern diese auch einer empirischen Prüfung zu unterziehen, was in der Praxis bislang meist unterbleibt (Ittner und Larcker 2009, S. 1237). Die Produktions- und Kostentheorie könnte z. B. auf diese Weise mit empirischem Gehalt gefüllt und wiederbelebt werden. So ließe sich beispielsweise das System der Kostenbestimmungsfaktoren von Kilger unternehmensindividuell ausmessen und zu einer empirisch fundierten Plankostenrechnung entwickeln, die Klarheit darüber verschafft, welche funktionalen Zusammenhänge für die Kostenentstehung tatsächlich verantwortlich sind (Kilger 1988, S. 136). Freilich steckt in der Vorstellung einer hypothesenfreien Aufdeckung von Ursache-Wirkung-Beziehungen mithilfe statistischer Verfahren auf Basis von Big Data ein immanentes Problem: Je mehr Daten vorliegen, umso mehr Zusammenhänge werden statistisch signifikant (Cohen 1990; Lin et al. 2013). Dann aber läuft die hypothesenfreie Datenanalyse in die Irre und wird noch nicht einmal einer Orientierungsfunktion gerecht. Damit wird offenbar, dass Daten an sich nichts aussagen und es stets eine gedankliche Konstruktion und nachfolgend empirische Validierung im Sinn eines funktionierenden Handlungswissens (und nicht nur statistischer Signifikanz) bedarf, um zu ermitteln, was die Daten aussagen könnten. Unterschiedliche Datenquellen so gegeneinanderzustellen, dass in einem Ausschlussverfahren sukzessive in die Irre führende Hypothesen ausgeschieden werden können, kann zu einer neuen Aufgabe des Controlling werden. Hinzu kommt, dass auch bei Vorliegen von sehr vielen Daten nicht gesichert ist, dass diese den jeweiligen methodenspezifischen Ansprüchen genügen, die erst feststehen, wenn klar ist, welche Hypothese mit welcher Methode getestet werden soll. Die hypothesenfreie Analyse würde demgegenüber statt einer gezielten Datensammlung zur gezielten Hypothesenprüfung, die Hypothesengenerierung selbst zur Hypothese aufgrund irgendwelcher, mehr oder minder zufällig vorhandener bzw. unsystematisch aufgelaufener Daten machen, die dann aber bei zunehmendem Datenvolumen in das obige Problem gerät, dass immer mehr Zusammenhänge statistisch signifikant werden können. Grundsätzlich ist ein kybernetisches System nur in begrenzt dynamischen Umwelten sinnvoll möglich. Dies hat aber nicht zwingend zur Folge, dass Controlling-Instrumente in dynamischen bzw. sehr unsicheren Welten keine positiven Wirkungen entfalten können. Erneut bietet sich auch dann, indes nunmehr aus anderen Gründen, an, Controlling dialektisch zu führen, indem die beständigen Änderungen in Umfeld und Unternehmen gegeneinander zum Zweck einer nicht mehr nur rein einseitig, sondern wechselseitig zu denkenden Adaption ausgespielt werden. Mit anderen Worten kann nicht mehr von

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einfachen, stabilen Ursache-Wirkung-Beziehungen ausgegangen werden, sondern es muss mitgedacht werden, dass auch die Ursachen potenziell veränderlich sind, sodass Sensitivitätsanalysen in Bezug auf latent vorhandene Ursachen und die Veränderungssensitivität von Ursachen durchzuführen und damit die Offenheit von potenziellen Entwicklungen der Umwelt wie auch die Beeinflussbarkeit dieser einzufangen sind. Überdies kann in extrem dynamischen Umwelten selten von repetitiven Situationen ausgegangen werden. Erhebliche und häufige Bedingungsänderungen sowie eine Vielzahl von Interdependenzen erschweren Prognosen, weswegen in der Praxis nicht selten situatives, intuitives Handeln dominiert. Stellt man die beiden Fälle begrenzt dynamischer und extrem dynamischer Umwelten gegenüber, wird es nützlich sein, korrespondierend zwischen den Ebenen der traditionellen Regelkreistheorie als eines Kerns und einer modifizierten Regelkreistheorie als einer weiteren Schicht des Controlling zu unterscheiden. Anschließen könnte sich eine solche Differenzierung an die bereits existierende zwischen operativen und strategisch ausgerichteten regelungsbasierten Controllingsystemen, wobei dem strategisch ausgerichteten System neben Koordinationsaufgaben (bei differenziertem, zu koppelndem System) noch deutlich stärker die Funktion einer Unterstützung bei Adaptionsproblemen (zur Anpassung des Systems an sich ändernde Bedingungen) oder bei Antizipation solcher im Rahmen der Etablierung von Frühwarnsystemen zukommt. Operativ ist dann auf eine Vermeidung von Störungen hin zu fokussieren, wie dies für jeweils weitgehend stabile Beziehungsgeflechte möglich ist. Ein kritischer Faktor in Bezug auf diese Entscheidung dürfte in diesem Zusammenhang auch sein, inwieweit bzw. mit welchem zeitlichen Aufwand es gelingt, die Ursachen oder Kostentreiber zu identifizieren und zu integrieren (Busco et al. 2013). Hier greifen traditionelle Regelkreissysteme mit ihren auf die Umwelt wie auf das Unternehmen gerichteten Informationsinstrumenten (und in Zukunft auch hinsichtlich der eingesetzten Selektionsmechanismen) immer schon auf geronnene Erfahrung zurück; sie greifen bereits an diejenigen Stellen, an denen erfahrungsgemäß interessante und handlungsinduzierende Abweichungen liegen könnten. Dadurch können auch signifikante Einsparpotenziale realisiert werden, weil z. B. Teilschritte der Datenerfassung automatisiert werden können. Anderes gilt im zweiten Fall strategischer oder auch finanzieller Zielgrößen (z. B. für den Fall einer Koordination von primärer und sekundärer Koordination). Regelkreissysteme müssen hier über in der Wirkung nicht eindeutige (d. h. sichere) Ursache-­ Wirkung- Beziehungen gesteuert werden, was die Etablierung von Kausalketten schwierig und die Reaktionsfähigkeit des Regelkreises mitunter träge macht – abgesehen davon, dass sich Wirkungshypothesen auch als falsch herausstellen können, so sie einer empirischen Prüfung unterzogen werden, und einer Revision bedürfen. Die strategische Orientierung stellt das Controlling zusätzlich vor die Herausforderung, neben Zusammenhängen zwischen Kennzahlen die Ursachendimension auch in den eher multidimensionalen Bereich einer Vielzahl (qualitativer) Indikatoren bis hin zu den explizit unscharf definierten schwachen Signalen auszudehnen (Ansoff 1976).

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Modifizierte, d. h. strategische Regelkreissysteme müssen darum anders vorgehen, indem sie sich dem Problem instabiler Umwelt- wie Unternehmensbedingungen stellen und damit wieder zum Ausgangspunkt der Frage nach möglichen Ursache-­WirkungKriterien zurückkehren und diese Frage bewusst offen halten, ohne vorschnell zu automatisieren oder reduzieren zu wollen. Deshalb werden auch Datensammlung und -analyse zunehmend als „critical elements in strategic measurement and control system effectiveness (Ittner und Larcker 2005, S. 87)“ gesehen, die die Trennlinie zwischen operativem und strategischem Controlling, traditioneller und modifizierter Regelkreistheorie markieren. Hierzu braucht es Datenspeicher, auf deren Basis dann intensiv geforscht werden kann, welche Möglichkeiten gegebenenfalls offenstehen. Hier wird der Irrglaube der hypothesenfreien Datenanalyse offenbar, der zuvor nur dadurch verdeckt wurde, dass Abweichungsanalysen Ergebnisse zeitigten, die implizite Hypothesen nicht offenzulegen erlaubten (Quattrone 2016, S. 119). Im Kern läuft ein solches datenanalytisches Controlling freilich darauf hinaus, verdichtet Wissenschaft zu betreiben. Das setzt aber instrumentell wie auch personell eine bedeutende Veränderung gegenüber dem Status quo des Controlling voraus. Damit findet das obige Paradoxon in der Echtzeitsteuerung eine zweifache Lösung. Sind die Zusammenhänge hinreichend stabil, wird Echtzeitsteuerung tendenziell möglich. Ist dies jedoch nicht der Fall, müssen zusätzliche durch Dialektik geprägte, wissenschaftlich herangehende Überlegungen in das Controlling Eingang finden, bei denen gerade der Mensch auch weiterhin eine herausragende Rolle spielen wird.

6 Die Rolle der Controller in einer Industrie 4.0 Mit den umrissenen Veränderungen des Controlling ändert sich selbstverständlich auch die Rolle des Controllers selbst. Zur Analyse der zu erwartenden Rolle des Controllers soll ein einfaches dynamisches Modell formuliert werden. Demnach findet sich die Rolle des Controllers zwischen den Anforderungen, die das Management (M) an die Ausgestaltung des Controlling durch Controller (C) zur Führungsunterstützung formuliert, und den technologischen Möglichkeiten (T), die zur Automatisierung dieser Führungsunterstützungsfunktion herangezogen werden können. Dieses MCT-Modell ist dialektisch, da einerseits sich ändernde Anforderungen des Managements, wie sich ändernde technische Möglichkeiten, zu Veränderungen der Controllerrolle führen können. Eingebettet ist dieses Sandwich-Modell u. a. in einen personalen und organisationalen Gestaltungsrahmen, der aber ebenfalls dynamisch ist, d. h. Änderungen über die Zeit unterworfen sein kann. Andererseits sind auch technologische Veränderungen und Anforderungen des Managements an die zu leistende Führungsunterstützung durch das Controlling nicht allein exogene Größen, sondern rückgekoppelt an die Informationen des Controlling. Damit wird auch die Controllerrolle dialektisch, als einerseits ein allein passives Residuum in einer Status-quo-Betrachtung, das sich aus der Aufteilung zwischen Management und Substitutionstechnologien ergibt, und als andererseits ein

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aktiver Auslöser von Wandel in einer dynamischen Betrachtung, der sowohl Managementanforderungen als auch den technologischen Wandel (was wird an Technologie wo im Unternehmen eingeführt) maßgeblich mitprägt. Die sich an dieses einfache Modell unmittelbar anknüpfende Frage ist nun, wie sich die quantitativen und qualitativen Anteile an der Steuerungsaufgabe des Managements zwischen den Managern, den Controllern und der Technologie (weiter) verschieben werden. Eine frühe Studie hierzu stammt von Henning und Moseley (1970), die insbesondere den qualitativen, aber auch quantitativen Aufgabenumfang sowie entsprechende Autoritätsgrade von Controllern in 25 mittelgroßen US-amerikanischen Unternehmen ermittelt haben. Dabei zeigt sich, dass die Aufgaben der Controller sich neben der zentralen Informationsbeschaffung v. a. auf die Informationsverwendung im Sinn von Planung und Kontrolle erstrecken. Insbesondere die ermittelten Autoritätsprofile belegen die Sandwichrolle des Controllers: Er verfügt selten über uneingeschränkte Autorität, sondern muss sie sich i. d. R. mit Managern teilen, die abschließende Entscheidung z. B. im Rahmen der Budgetierung treffen und somit die Grenzen der Controllerkompetenzen auf der einen Seite beschreiben. Auf der anderen Seite steht die eingesetzte Technologie, die die Controller bei ihrer Tätigkeit zwar grundsätzlich unterstützen, aber eben auch ersetzen kann. Zwei Entwicklungslinien der Vergangenheit dürften dabei relativ unstreitig sein: Zum einen hat sich der Aufgabenumfang der Controller über die Zeit sowohl qualitativ als auch quantitativ ausgeweitet; zum anderen hat die technologische Entwicklung ebenfalls große Teile insbesondere der Informationsversorgung übernommen. Als Anhaltspunkt des beschriebenen MCT-Modells diene die Abb. 4, eine rein schematische Darstellung dieser Entwicklung, wobei der in die Zukunft reichende Teil in zwei Szenarien abgebildet ist. Im ersten Szenario (Abb. 4, 2030a*) wird davon ausgegangen, dass die zur Verfügung stehende Technologie Teile der gegenwärtigen Controllerrolle zu absorbieren in der Lage sein wird und auch die Controller in einer eher passiven Rolle verharren, während im zweiten Szenario (Abb. 4, 2030b*) die Controller sich aktiv der anstehenden Veränderung

Abb. 4   Schematische Entwicklung der (quantitativen) Anteile an der Steuerungsaufgabe zwischen Managern, Controllern und Technologie (MCT-Modell). (Quelle: Eigene Darstellung)

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Tab. 1  Substitutionsrisiko ausgewählter Berufe. (Quelle: Frey und Osborne 2017) Rang

Automatisierungswahrscheinlichkeit

Bezeichnung

32

0,0065

Computer Systems Analysts

152

0,069

Financial Manager

182

0,13

Management Analysts

198

0,17

Financial Examiner

201

0,18

Public Relations Specialists

217

0,23

Financial Analyst

321

0,57

Cost Estimators

589

0,94

Accountants und Auditors

594

0,94

Budget Analysts

630

0,96

Compensation and Benefits Managers

671

0,98

Bookkeeping, Accounting and Auditing Clerk

677

0,98

Credit Analyst

693

0,99

New Accounts Clerks

695

0,99

Tax Preparers

stellen, die technologischen Möglichkeiten aktiv zur Veränderung ihrer eigenen Rolle zu nutzen. Diese Einschätzung, insbesondere die technologische Entwicklung und Absorptionskraft des ersten Szenarios betreffend, wird auch durch aktuelle Studien untermauert. So kommen z. B. Frey und Osborne (2017) in einer Studie für die USA zu der Einschätzung, dass fast jeder zweite Beschäftigte in den USA damit rechnen muss, dass sein Arbeitsplatz von Automatisierungssubstitution betroffen ist. In einem umfassenden Anhang sind unterschiedliche Berufsgruppen nach dem Substitutionsrisiko durch Automatisierbarkeit gereiht, dem folgende, den Aufgaben von Controllern recht nahekommende Tätigkeitsfelder, entnommen sind (Tab. 1). Frey und Osborne (2017) führen insbesondere aus, dass „algorithms for big data are already rapidly entering domains reliant upon storing or accessing information, making it equally intuitive that office and administrative support occupations will be subject to computerisation“.12 Damit ist allerdings, wie angedeutet, nur der Status quo umrissen, nicht aber, dass Controller ihr Aufgabenspektrum unter Beachtung sich ändernder Restriktionen verändern und sogar ausweiten können. Im zweiten Szenario deuten sich gerade hier weiterreichende Potenziale an.13 So gilt, dass auch von Controllern abhängt,

12Frey und Osborne (2017), S. 38. Bereits die Fallstudie von Scapens und Jazayeri (2003), S. 201, beobachtete eine solche Abnahme von Routinetätigkeiten nach Einführung eines ERP-Systems. 13Diese beruhen auf der Annahme, dass sich die von Weber (2011) postulierte Erfolgsgeschichte des Controllers, der sich immer neue Aufgabenbereiche erschließt, fortsetzen lässt.

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wie diese mit den neuen technologischen Möglichkeiten umgehen. Würde das Controlling seine bisherigen Aktivitäten beibehalten, ist von einem erheblichen Ausmaß potenzieller Automatisierung auszugehen, was die Bedeutung des Controllers in seiner Sandwichrolle vermutlich verringern würde. Eine Ausweitung bzw. Veränderung der Schwerpunkte in die oben beschriebenen Richtungen würde eine inhaltliche und methodische Aufwertung des Controllers bedeuten, aber auch eine erhöhte fachliche Anforderung an ihn stellen, v. a. was die betriebswirtschaftliche Anreicherung der mehr oder minder automatisch generierten Analysen und deren Interpretation darstellt. Zudem wird die Aufgabe und Fähigkeit zur Kommunikation bei Controllern korrespondierend wichtiger werden (Järvenpää 2007, S. 120–123). Davenport und Patil (2012) propagieren in diesem Zusammenhang den sog. Data Scientist als „The Sexiest Job of the 21st Century“, wobei deren Betätigungsfeld mehr in der Produkt- und Prozessinnovation gesehen wird als in derjenigen der Controller: „But the data scientists […] want to build things, not just give advice to a decision maker. […] their greatest opportunity to add value is not in creating reports or presentations for senior executives but in innovating with customer-facing products and processes“. Demzufolge wäre davon auszugehen, dass Data Scientists in der Entwicklung datenbasierter Geschäftsmodelle eine wichtige Rolle einnehmen werden, wobei die Rolle der Controller dabei und darüber hinaus noch offen ist. Zudem ist zu beachten, dass auch die Data Scientists in die Komplexitätsfalle laufen können, denn „[t]he challenges of accessing and structuring big data sometimes leave little time or energy for sophisticated analytics involving prediction or optimization. Yet if executives make it clear that simple reports are not enough, data scientists will devote more effort to advanced analytics“. Dieses Szenario gilt gleichermaßen für Controller. „The purpose of digitization is insight, not data“ ließe sich in Abwandlung eines berühmten Zitats des US-amerikanischen Mathematikers Richard Hamming formulieren.14 Nicht die Erzeugung oder Gewinnung von Daten sind Zweck der Digitalisierung, wohl auch nicht deren Verarbeitung, sondern das Generieren und Mehren von zweckorientiertem Wissen, d. h. entscheidungsrelevanter Information, stehen im Vordergrund. Digitalisierung braucht Menschen, die sie beherrschen und die nicht von der Digitalisierung beherrscht werden. Gerade der Controller hat hier gute Voraussetzungen. Er kann aufdecken, wenn Informationsaufbereitungen nicht hinreichend durchdacht sind. Controlling war immer Informationssammlung und kennt deshalb bereits das Problem von Zahlenfriedhöfen wie auch Ansätze, mit diesen informierend umzugehen und kann allein dadurch bereits auf Erfahrungen zurückgreifen, die es erlauben, Datenfriedhöfe zu vermeiden. Wenn permanenter Wandel und Unsicherheit erzeugt werden und zudem die Datenmasse explodiert, ist zudem zu erwarten, dass der Controller dem Manager nicht einfach in ebenso explodierender Anzahl Entscheidungsgrundlagen zukommen lässt. Vielmehr

14Bei Hamming (1962), S. 276 lautet es im Original: „The purpose of computing is insight, not numbers“.

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kann er u. U. zunehmend in dezentraler Funktion zum Submanager werden, der weniger herausfordernde Probleme bereits eigenständig löst, soweit diese nicht regelbasiert bereits automatisiert gelöst wurden, weil sie z. B. für eine künstliche Intelligenz (noch) zu unkonkret, mehrdeutig und darum zu komplex ausfallen.15 Vergangene Ergebnisse deuten hier auch darauf hin, dass die gestiegene Flexibilität, sofern es nicht zu Arbeitsteilung kommt, zu der Notwendigkeit einer intensiveren Zusammenarbeit und verstärkten Rückkoppelungen zwischen Controller und Management führen wird.16 Hinzu kommt, bei aller derzeit überschäumenden Technologieeuphorie, zuletzt auch eine bedeutsame mögliche Ausweitung des Aktionsradius von Controllern in Richtung eines rationalitätssichernden, methodenkritischen Nutzers von neuen Datenerfassungs-, -analyse, und Automatisierungstechniken, die keinesfalls fehlerfrei und unproblematisch sind. Controller hätten die Aufgabe, die auftretenden Probleme bei Ausfall bzw. Teilausfall von Technologie zu lösen bzw. die Wagniskosten für derartige Ausfälle kalkulierbar zu machen sowie die Grenzen der Informationen und die Anwendungsbedingungen der Methoden, die von den jeweiligen Systemen geliefert bzw. genutzt werden, auszudeuten. Gerade dort nach möglichen Problemen in Umfeld und Unternehmen zu suchen, wo das System nicht hinsieht oder die Informationen nicht durch den Selektionsmechanismus zu den Entscheidungsträgern übermittelt werden, wird eine zusätzliche Aufgabe der Zukunft sein. Schließlich gilt dies auch insbesondere hinsichtlich eines sich einstellenden Vertrauens in die maschinell erzeugten Ergebnisse und das Zurückschneiden dieser auf die validierbaren Aussagen gegenüber vorschnellen Generalisierungen. Aktuelle Studien zeigen, dass nicht nur solange keine Abweichungen auftreten, sondern bereits und gerade auch in den Fällen, in denen von Automaten völlig sinnlose Handlungsempfehlungen gegeben werden, Menschen versucht sind, völlig unbegründetes Vertrauen („overtrust“) aufzubauen (vgl. Robinette et al. 2016; Salem et al. 2015). Controllern käme somit eine Sicherungsfunktion zu, automatisch generierte Informationen oder Entscheidungen auf Plausibilität zu prüfen.

7 Fazit Neue technologische Möglichkeiten, die derzeit unter dem Schlagwort einer Industrie 4.0 diskutiert werden, bieten für Unternehmen eine Vielzahl betriebswirtschaftlicher Gestaltungsoptionen. Für das Controlling ergeben sich daraus Herausforderungen, mit diesen technologisch induzierten Änderungen umzugehen, aber auch Ansatzpunkte für eine Veränderung des Controlling und der Controller selbst. Im vorliegenden Beitrag wurde insbesondere dargelegt, wie sich das Controlling unter Nutzung der neuen technologischen Möglichkeiten stärker mit der Regelkreistheorie

15In

diese Richtung gehen die Ergebnisse der Interviewstudie von Hopper (1980), S. 401 f. deuten die Ergebnisse der Studie von Abernethy und Lillis (1995), S. 241 f.

16Dahin

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v­ erbinden lässt als dies bislang in Theorie und Praxis gesehen wird. Es wird aber nicht nur aufgezeigt, welche neuen Möglichkeiten, sondern auch, welche neuen Grenzen dies für das Controlling bedeuten kann. Die Möglichkeiten eines traditionellen regelungsbasierten Controlling zielen auf die Koordination des Leitungs- und Leistungssystems ab. Wenn Controlling Unternehmen im Sinn der Regelkreistheorie steuerbar machen soll, sind dem Management dazu 1) Informationen über den Ist-Zustand relevanter Größen zu liefern („scorecard keeping“), 2) Abweichungen von Vorgabewerten mitzuteilen („attention directing“) und 3) Hilfestellungen bei der Analyse und Beseitigung dieser Abweichungen zu gewähren („problem solving“; Simon et al. 1954). Dies setzt voraus, dass über zielgerichtete Eingriffe in das Leistungssystem dieses in den gewünschten Sollzustand überführt werden kann. Um die Ursachen von Abweichungen herauszufinden, sind Kenntnisse über das Ausmaß von Regelgrößen und deren Einflussfaktoren erforderlich. Denn Abweichungsursachen sind in einer Änderung dieser Einflussfaktoren zu suchen. Diese zu finden bedeutet, die Abweichung erklären zu können. Gefundene Erklärungen über die Wirkung von Einflussfaktoren auf Regelungsgrößen können auch zur Prognose genutzt werden. Erst wenn das Ausmaß einer Einflussgröße bekannt ist oder eine bestimmte Erwartung besteht, kann der Wert der Regelgröße prognostiziert werden. Angesichts der anspruchsvollen Bedingungen zum Einsatz von (betriebswirtschaftlichen) Regelkreissystemen verwundert es kaum, weshalb sich diese bislang allenfalls in funktional leichter beherrsch- und damit regelbaren Subsystemen (z. B. Lagerbestandsregelung) wiederfinden. Denn komplexere Umgebungen lassen sowohl hinsichtlich der Informationsversorgung als auch hinsichtlich der verfügbaren Prognosemodelle und Regelungslogiken die notwendigerweise erforderlichen Informationen im Sinn von praktisch verfügbarem, zweckorientiertem Wissen als auch im Sinn von wissenschaftlich gesichertem Zusammenhangswissen, d. h. Ursache-Wirkung-Zusammenhängen, vermissen. Hier offenbart das Controlling eher einen einzigen großen weißen Fleck, der durch weitere Forschungsbemühungen geschlossen werden kann. Im Grunde würde das Füllen dieser Lücken aber bedeuten, das Controlling – einer Phase voranschreitender Spezialisierung der Betriebswirtschaftslehre in gewisser Weise entgegengesetzt – zu einer umfassenden Theorie der Unternehmenssteuerung auszubauen. Fraglich ist, ob dieser Anspruch für das Controlling praktisch wie wissenschaftlich erreichbar ist. Dennoch wird die künftige Funktion und Rolle des Controlling v. a. davon abhängen, ob und wie es dazu beitragen kann, Unternehmen steuerbar zu machen bzw. zu halten, damit Manager auch angesichts sich wandelnder Herausforderungen und Technologien Unternehmen (erfolgreich) steuern können (Lambert und Pezet 2011, S. 10 f.). Dabei stellt sich zum einen die Herausforderung, das Controlling enger mit dem Leistungsbereich zu koppeln, während zum anderen ganz neue Datenquellen im Bereich der Leistungserstellung erschlossen werden können, um so ein regelkreisbasiertes Controlling ermöglichen zu können. Dieses wird sicher stärker als bisher automatisiert werden können, aber in praxi freilich als soziotechnisches System realisiert werden, in

Controlling in einer Industrie 4.0 – Chancen …

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dem der Mensch Verantwortungsträger bleibt. Welche Rolle der Controller zwischen den Anforderungen des Managements und den technologischen Möglichkeiten einnehmen kann, wird sich erweisen. Nicht zuletzt wird gerade dies jedoch auch davon abhängen, wie fruchtbar mit den neuen Herausforderungen in Wissenschaft und Praxis des Controlling umgegangen wird.

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Prof. Dr. Robert Obermaier  ist Inhaber des Lehrstuhls für Betriebswirtschaftslehre mit Schwerpunkt Accounting und Controlling an der Universität Passau. Aktuell untersucht er insbesondere die Auswirkungen der Digitalisierung (Industrie 4.0) auf die Bereiche Controlling, Unternehmensbewertung, Produktion und Entscheidungstheorie. Prof. Dr. Markus Grottke  ist Prorektor für Forschung und Innovation und Professor für Digital Business an der AKAD University in Stuttgart. Seine aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Wirkungen der Digitalisierung und der Digitalen Transformation, Digital Management & Leadership, Digitalisierung in Familienunternehmen.

Wirtschaftsprüfung im Zeitalter der Digitalisierung Benedikt Downar und Dominik Fischer

1 Einleitung Historisch betrachtet ist die Wirtschaftsprüfung1 nicht als Vorreiter für Innovationen bekannt (Alles 2015; Dai und Vasarhelyi 2016). Viel eher orientiert sich die Arbeit der Wirtschaftsprüfer an den bestehenden gesetzlichen und berufsständischen Vorschriften. Änderungen in der Arbeit der Wirtschaftsprüfer ergeben sich daher eher als Folge geänderter rechtlicher Anforderungen und weniger als Reaktion auf neue technische Möglichkeiten. Zu den zentralen Aufgaben der Wirtschaftsprüfer gehört die Durchführung von betriebswirtschaftlichen Prüfungen, wie die Jahresabschlussprüfung (§ 2 Abs. 1 WPO 2017). Im Zuge der vierten industriellen Revolution (Obermaier 2017) könnte sich diese Tätigkeit deutlich verändern. Als Folge der Digitalisierung und der Vernetzung von Prozessen werden Wirtschaftsprüfer zunehmend mit Themen wie Artificial Intelligence, Big Data, Cloud Computing und Audit Data Analytics konfrontiert. Zudem werden traditionelle Prüfungshandlungen, u. a. die stichprobenartige Auswertung von Belegen, durch die Menge an zu prüfenden Sachverhalten aufwendiger und verlieren an Aussagekraft (Ruhnke 2017).

1Zur

Vereinfachung wird im Folgenden nicht zwischen Wirtschaftsprüfern und Wirtschaftsprüferinnen differenziert.

B. Downar (*) · D. Fischer  Technische Universität München, München, Deutschland E-Mail: [email protected] D. Fischer E-Mail: [email protected] © Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 R. Obermaier (Hrsg.), Handbuch Industrie 4.0 und Digitale Transformation, https://doi.org/10.1007/978-3-658-24576-4_32

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B. Downar und D. Fischer

Der vorliegende Beitrag beschäftigt sich daher mit den Chancen und Risiken der Digitalisierung für die Wirtschaftsprüfung. Da bisher nur wenige praktische Anwendungsfälle existieren2, erfolgt insbesondere eine Analyse auf Basis der theoretischen Anwendungsmöglichkeiten. Der Beitrag befasst sich dabei sowohl mit dem eigentlichen Prüfungsprozess, den Möglichkeiten in anderen Tätigkeitsbereichen wie der Beratung, der Praxisorganisation, als auch mit der Bedeutung für die Berufsausbildung und den möglichen Effekten für die Marktstruktur. Ebenso wird diskutiert, wieso die Wirtschaftsprüfung besonders gefordert ist, Innovationen mit disruptivem Potenzial (Obermaier 2017) zu entwickeln und wie der Wandel beschleunigt werden könnte.

2 Der Prüfungsprozess im Spannungsfeld der Digitalisierung 2.1 Objekt, Ansatz und Durchführung der Abschlussprüfung Gemäß § 316 Abs. 1 Satz 1 HGB sind der Jahresabschluss und der Lagebericht von Kapitalgesellschaften, die mindestens zwei von drei Kriterien nach § 267 Abs. 1 HGB (Bilanzsumme, Arbeitnehmerzahl und Umsatzerlöse) in zwei aufeinanderfolgenden Geschäftsjahren erfüllen, durch einen Abschlussprüfer zu prüfen.3 Damit soll die Verlässlichkeit und Glaubhaftigkeit der bereitgestellten Informationen bestätigt bzw. erhöht werden (IDW PS 200 Tz. 8 2015). Die Abschlussprüfung trägt somit wesentlich zum Investorenschutz bei. Die Prüfungshandlungen sind dabei so auszulegen, dass Unrichtigkeiten und Verstöße mit einem wesentlichen Einfluss auf die Vermögens-, Finanz-, und Ertragslage aufgedeckt werden (§ 317 Abs. 1 HGB). Aus dieser Zielsetzung ergibt sich, dass die Abschlussprüfung keine Vollprüfung ist, sondern dem Grundsatz der Wirtschaftlichkeit folgt (IDW PS 200 Tz. 19 und 21). Die Prüfungstätigkeit ist so zu bemessen, dass mit hinreichender Sicherheit die Ordnungsmäßigkeit der Rechnungslegung beurteilt werden kann (Ewert und Wagenhofer 2015). Die Fokussierung auf wesentliche Fehler erfolgt dabei nach dem Konzept des risikoorientierten Prüfungsansatzes (Quick 1996; Brösel et al. 2015). Das Prüfungsrisiko ergibt sich dabei wie folgt: ..

..

Pr ufungsrisiko = Inharentes Risiko × Kontrollrisiko × Entdeckungsrisiko Inhärentes Risiko beschreibt die Fehlerwahrscheinlichkeit, die sich aus der Branche des zu prüfenden Unternehmens, den damit assoziierten Risiken sowie der ­Wahrscheinlichkeit

2Einen

bekannten Ansatz verfolgt PricewaterhouseCoopers (PwC) mit ihrem Produkt Halo (­Bartmann et al. 2018). 3Regelungen für bestimmte Personenhandelsgesellschaften nach § 3 PublG sowie die Prüfungspflicht für Konzernabschlüsse werden an dieser Stelle nicht vertieft. Die dargestellten Themen gelten für andere Abschlussprüfungen äquivalent.

Wirtschaftsprüfung im Zeitalter der Digitalisierung

755

einer bewussten Beeinflussung durch das Unternehmen ergibt. Kontrollrisiko bezeichnet das Risiko, dass wesentliche Fehler nicht durch interne Kontrollsysteme entdeckt beziehungsweise verhindert werden. Das Entdeckungsrisiko bezeichnet das Risiko, dass wesentliche Fehler durch die durchgeführten Prüfungshandlungen nicht aufgedeckt werden. Während inhärentes Risiko und Kontrollrisiko nicht direkt vom Wirtschaftsprüfer beeinflusst werden können, wird das Entdeckungsrisiko durch den Umfang der durchgeführten Prüfungshandlungen bestimmt (Ewert und Wagenhofer 2015). Prüfungshandlungen sind dabei so zu gestalten, dass ausreichende und angemessene Prüfungsnachweise erlangt werden (IDW PS 300 Tz. 6 2006). Diese Anforderungen beziehen sich dabei auf Quantität und Qualität der Nachweise. Hinsichtlich der Beurteilung der Qualität sind die inhaltliche Sachdienlichkeit sowie die Verlässlichkeit eines Nachweises zu beachten. Die Verlässlichkeit ergibt sich unter anderem aus der Art (z. B. Original vs. Kopie), der Herkunft (interner vs. externer Nachweis) und dem Bezug (z. B. durch Wirtschaftsprüfer oder Unternehmen beigebracht) der Prüfungsnachweise (IDW PS 300 Tz. 39). Nachweise sind dabei nicht auf interne Informationen des zu prüfenden Unternehmens beschränkt, auch Informationen von externen Quellen wie Banken oder Lieferanten können und sollen als Prüfungsnachweise berücksichtigt werden (IDW PS 302 n. F. 2014). Wie die einzelnen Prüfungsrisiken beurteilt bzw. gewichtet werden, liegt letztendlich im Ermessen des verantwortlichen Wirtschaftsprüfers. Aus Sicht der theoretischen Informatik lässt sich dieses Vorgehen auf ein meist regelbasiertes Vorgehen reduzieren. Einer Prüfungshandlung liegt dabei eine vordefinierte Regel zugrunde, die beispielsweise aus einem Prüfungsstandard abgeleitet wird. Sollte eine Auffälligkeit auftreten, kann so eine kausale Kette zu geltenden Vorschriften hergestellt und eine angemessene Reaktion daraus abgeleitet werden (Haas 2017). Dieses Vorgehen ist bereits heute in Form von digitalen Expertensystemen im Einsatz (Grosan und Abraham 2011). Bei der Risikoeinschätzung ist allerdings zu beachten, dass digitale Regelsysteme fundamental anders aufgebaut sind als menschliche Regelsysteme (Pomerol 1997). Entscheidungsmodelle im Bereich Deep Learning und Big Data entwickeln beispielsweise selbstständig Regelsysteme aus einer vordefinierten Lernmenge oder einer mathematischen Fitnessfunktion4. Beispielsweise liegt Bilderkennungssoftware eine Datenbank zugrunde, wobei zunächst jedes Bild von einem Menschen beschrieben wurde (zum Beispiel Zuordnung von Namen der abgebildeten Personen). Auch wenn die Software ein neu aufgenommenes Bild richtig erkennen kann, das heißt bereits bekannte Personen richtig identifiziert, handelt es sich dabei lediglich um ein mathematisches Zuordnungsverfahren. Um den risikoorientierten Prüfungsansatz in ein digitales System zu übertragen, müssten nicht nur die vorhandenen Prüfungsstandards und Gesetze in einen regelbasierten Algorithmus oder eine Datenbank transferiert werden, sondern auch der Handlungsspielraum und der Erfahrungsschatz der individuellen Wirtschaftsprüfer.

4Eine

Fitnessfunktion ist die Zielfunktion eines selbstlernenden Systems, das sich iterativ einem Funktionsoptimum annähert.

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2.2 Digitalisierung in der Abschlussprüfung heute Die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung der Abschlussprüfung ergibt sich aus der zunehmenden Digitalisierung der mandantenspezifischen Rechnungslegungssysteme und der Menge und Komplexität der zu prüfenden Sachverhalte. Beispielsweise nutzen Unternehmen immer häufiger standardisierte Enterprise-Resource-Planning(ERP)-Systeme (Goldshteyn et al. 2013). Diese Systeme erlauben einen strukturierten Datenabzug der Geschäftsvorfälle. Hieraus resultieren zahlreiche neue Möglichkeiten zur Analyse mandantenspezifischer Daten, die über den aktuellen Stand der IT-gestützten Prüfungstechniken hinausgehen (Ruhnke 2017; Goldshteyn et al. 2013). Bereits in den letzten Jahren wurden vom Institut der Wirtschaftsprüfer (IDW) verschiedene Normen erlassen, die Wirtschaftsprüfer im Umgang mit IT-Systemen unterstützen sollen und einen Rahmen für den Einsatz von Softwareprogrammen im Rahmen der Abschlussprüfung abstecken. Hierbei sind besonders IDW PS 330, IDW RS FAIT 1 und IDW PH 9.330.3 zu nennen. Diese Normen regeln die Pflichten im Rahmen der Prüfung von IT-Systemen sowie die Möglichkeiten zum Einsatz digitaler Datenanalysen zur Erlangung von Prüfungsnachweisen. Zu beachten ist aber, dass die Normen ihren Ursprung in den Jahren 2002 (IDW PS 330 2002; IDW RS FAIT 1 2002) beziehungsweise 2010 (IDW PH 9.330.3 2010) haben und folglich im Kontext ihrer Zeit zu sehen sind. Sofern die Buchführung unter Verwendung von IT-gestützten Rechnungslegungssystemen erfolgt, ist auch das hierzu verwendete System Gegenstand der Abschlussprüfung. Zielsetzung der IT-Systemprüfung nach IDW PS 330 ist, die Ordnungsmäßigkeit und die Sicherheit dieses Systems zu überprüfen und wesentliche inhärente IT-Fehlerrisiken zu identifizieren. Ordnungsmäßigkeit ist dabei, Bezug nehmend auf die Grundsätze ordnungsgemäßer Buchführung (GoB), anhand von sechs Kriterien definiert (IDW RS FAIT 1 Tz. 25–32): • Vollständigkeit: Alle Geschäftsvorfälle müssen lückenlos erfasst und Mehrfachbuchungen vermieden werden. • Richtigkeit: Die Sachverhalte müssen inhaltlich richtig und in Übereinstimmung mit den rechtlichen Vorgaben abgebildet werden. • Zeitgerechtheit: Die Sachverhalte sind unmittelbar nach Entstehung abzubilden und den korrekten Perioden zuzuordnen. • Ordnung: Die Darstellung der Geschäftsvorfälle in sachlicher (Kontenfunktion) und zeitlicher (Journalfunktion) Ordnung muss gewährleistet sein. • Nachvollziehbarkeit: Ein sachverständiger Dritter muss sich in angemessener Zeit einen Überblick über die Geschäftsvorfälle machen und die angewandten Buchführungs- und Rechnungslegungsverfahren nachvollziehen können. • Unveränderlichkeit: Es dürfen keine Änderungen durchgeführt werden, die den ursprünglichen Inhalt nicht mehr feststellbar machen. Änderungen an den Generierungs- und Steuerungsdaten sind zu dokumentieren.

Wirtschaftsprüfung im Zeitalter der Digitalisierung

757

Diese Kriterien richten sich an Unternehmen, die klassische ERP-Systeme, wie z. B. von SAP oder Oracle, nutzen. Hierbei ist allerdings zu beachten, dass diese Systeme in erster Linie von Menschen bedient und kontrolliert werden. Mittelfristig wäre es denkbar, Abteilungen komplett zu digitalisieren. Beispielsweise könnte in produzierenden Unternehmen der komplette Einkaufsprozess vollständig automatisiert ablaufen: Intelligente Systeme scannen dabei den aktuellen Rohstoffmarkt, ermitteln die zukünftige Absatzprognose und kaufen – autonom – zum optimalen Preis ein (Uygun und Ilie 2018). Aus Sicht der Wirtschaftsprüfer birgt dies neue Risiken für die ­Abschlussprüfung. Neben dem Risiko, dass Prozesse zur Übertragung von Sachverhalten gestört und verändert werden könnten, wäre auch denkbar, dass Dritte künstliche Intelligenzen zu ihren Gunsten manipulieren. Schon jetzt generieren Bots zwischen 6 und 7 Mrd. US$ Schaden pro Jahr durch das Aktivieren von digitalen Werbeanzeigen (WhiteOps & ANA 2017). Auch die bereits erwähnten Bilderkennungsdienste können so beeinflusst werden, dass kein sinnvolles Ergebnis mehr zu erwarten ist (Nguyen et al. 2015). Entsprechend sollte hinterfragt werden, ob die zuvor genannten Kriterien ausreichend sind oder nicht dahin gehend erweitert werden müssten, dass die digitalen Prozesse, die die Geschäftsvorfälle produzieren, selbst geprüft werden5 (Dai und Vasarhelyi 2016). Die Anforderung der Sicherheit gilt dann als gegeben, wenn ein Sicherheitskonzept implementiert wurde, dass die folgenden Anforderungen erfüllt (IDW RS FAIT 1 Tz. 23): • Vertraulichkeit: Von Dritten erlangte Daten werden nicht unberechtigt veröffentlicht oder weitergegeben. • Integrität: Daten, Infrastruktur und Anwendung stehen vollständig und richtig zur Verfügung und sind vor Manipulation geschützt. • Verfügbarkeit: Die ständige Verfügbarkeit der Infrastruktur, Anwendungen und Daten müssen gewährleistet sein. Für Ausfälle müssen Back-up-Verfahren bereitstehen und die Lesbarkeit der Buchführung möglich sein. • Autorisierung: Durch die Einrichtung von Zugriffsschutzmaßnahmen muss sichergestellt sein, dass nur autorisierte Personen Zugriff auf das System und auch nur Zugriffsrechte in klar definierten Grenzen haben. • Authentizität: Geschäftsvorfälle müssen eindeutig einem Verursacher zugeordnet werden können. • Verbindlichkeit: Transaktionen dürfen nicht abstreitbar sein und führen Rechtsfolgen bindend herbei.

5Darüber

hinaus ist zu erwarten, dass durch einen automatisierten Einkauf mehr Transaktionen in kürzerer Zeit getätigt werden können. Dies wird sich ebenfalls auf die Abschlussprüfung auswirken.

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Üblicherweise dokumentieren Unternehmen Geschäftsvorfälle durch digitale Belege und Papierbelege. In solch einer Situation hat ein Wirtschaftsprüfer wenige Probleme, oben genannte Kriterien zu überprüfen. Immer häufiger erfolgt die Dokumentation aber nur noch rein digital. Hier ist es schwieriger zu überprüfen, ob die Belege integer oder vertraulich sind. Spuren lassen sich in digitalen Datenbanken leichter verwischen als auf gedruckten Dokumenten. Daher muss sichergestellt sein, dass diese Datenbanken geltenden Sicherheitsstandards6 entsprechen (IDW PS 330). Darüber hinaus können bei der Digitalisierung von Papierbelegen Fehler entstehen, z. B. durch fehlerhafte Scanprogramme (Gerber 2013). Mit der Einführung von mehr und mehr vernetzten Systemen ist es allerdings insgesamt fraglich, ob die aktuelle IT-Systemprüfung überhaupt ausreichend ist. Zum Beispiel könnten Daten nicht mehr dediziert im Serverraum der Unternehmen liegen, sondern auf Cloud-Speichern von Drittanbietern verteilt werden (Dai und Vasarhelyi 2016). Es ist somit zu prüfen, inwieweit IT-Dienstleister die oben genannten Kriterien erfüllen können. Als Alternative zu den bisherigen Datenbanken könnte beispielsweise die Blockchain-Technologie zum Einsatz kommen (Richins et al. 2017). Alle Arten von Transaktionen werden dabei in einer zusammenhängenden und untereinander verknüpften Kette abgebildet, sodass Beeinflussungen nahezu ausgeschlossen sind. Auf diese Weise könnte das Prüfungsrisiko im Bereich der IT-Systeme reduziert werden. Neben der Prüfung mandantenspezifischer IT-Systeme kommen auch heute schon verschiedene IT-gestützte Prüfungstechniken aufseiten der Wirtschaftsprüfer zum Einsatz. Die Bereitstellung solcher Tools erfolgt dabei häufig durch standardisierte Prüfsoftware, wie z. B. ACL Analytics und Audicon IDEA7. Der Einsatz solcher Computer-Assisted Audit Tools (CAAT) ist auf allen Stufen des Prüfungsprozesses üblich.8 Hierbei ist allerdings zu beachten, dass IT-gestützte Datenanalysen, nach IDW PH 9.330.3 Tz. 5 und 18, allein nicht ausreichend sind, um ein hinreichendes Maß an Prüfungssicherheit zu erlangen. Die IT-gestützte Datenanalyse wird auch bereits aktuell als wichtig und nützlich angesehen. Der Großteil der Nutzer setzt die dedizierten CAAT aber primär für die Haupt- und Nebenbuchprüfung ein (PwC 2017), also zur Automatisierung und Ergänzung originärer Prüfungstätigkeiten. Die Begründung für die Beschränkung auf klassische Einsatzfelder liegt vermutlich darin, dass die in IDW PS 330 und IDW PH 9.330.3 exemplarisch angeführten Anwendungsfälle eher der Arbeitsorganisation (z. B. Projektplanungsanwendung, Präsentationsprogramme, Tabellenkalkulation), der Vorbereitung weiterer Prüfungshandlungen (z. B. die maschinelle Berechnung von

6Z.

B. ISO/IEC 27001. weitergehende Erläuterungen vgl. https://www.acl.com bzw. https://audicon.net 8Die Regelungen des Bundesdatenschutzgesetzes, insbesondere § 26 BDSG aufgrund von § 320 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 HGB, finden bei der Verwendung von IT-gestützten Prüfungstechniken keine Anwendung. 7Für

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­ tichproben) sowie den grundlegenden statistischen Auswertungen (Zeitreihen-, Trend-, S Abweichungs- und Strukturanalysen sowie Berechnungen, Auswertungen und Aufbereitungen) zuzuordnen sind. Eine Analyse von elf gängigen Softwarepaketen durch die Unternehmensberatung Roger Odenthal und Partner (2016) zeigt zudem, dass lediglich zwei der untersuchten Softwarepakete fortgeschrittene statistische Verfahren wie Korrelations- und Regressionsanalysen unterstützen. Darüber hinausgehende Verfahren, die dem Prüfer evidenzbasierte Entscheidungen auf der Grundlage intelligenter Datenanalysen liefern, gehören nicht zum Standardumfang. Insgesamt lässt sich also festhalten, dass sich der Einsatz von Prüfsoftware eher am Grundsatz der Wirtschaftlichkeit orientiert (Effizienzsteigerung) und weniger eine Ausreizung der technischen Potenziale angestrebt wird (Effektivitätssteigerung).

2.3 Potenziale für den Prüfungsprozess Ein gern verwendeter Begriff im Silicon Valley ist die Disruption. Eine Technologie mit disruptivem Potenzial beschreibt eine Innovation, die eine bestehende Technologie, bestehende Prozesse oder auch vollständige Dienstleistungen komplett verdrängt (Bower und Christensen 1995). Wie eine solche Disruption einen Weltkonzern beeinflussen kann, zeigt das Beispiel der Eastman Kodak Company (kurz: Kodak). Traditionelle Produkte wurden hier der Digitalfotografie vorgezogen und das Unternehmen schaufelte sich so letztendlich sein eigenes Grab (Munir 2012). Die im vorherigen Punkt geschilderten Normen zur IT-Unterstützung der Prüfungshandlungen zielen lediglich auf einen effizienteren Ablauf von traditionellen Prozessen ab. Es ist entsprechend zu hinterfragen, ob noch Wirtschaftsprüfer für den Prüfungsprozess gebraucht werden, wenn Unternehmen mehr und mehr intelligente(re) ERP-Systeme einsetzen. Daher ist naheliegend zu erwarten, dass der Berufsstand eigene Innovationen vorantreibt, um sich an die geänderten technischen Möglichkeiten anzupassen. Ein Hemmnis hierbei könnten, abgeleitet von Curtis und Schulman (2006), allerdings die teilweise restriktiven gesetzlichen Datenschutz- und Sicherheitsrichtlinien darstellen. Insbesondere resultiert aus der Pflicht zur Verschwiegenheit, dass Mandantendaten nur fallbezogen verwendet werden dürfen und somit nicht für die Entwicklung von neuen Verfahren dienen können. Wie Curtis und Schulman (2006) am Beispiel des Innovator’s Dilemma nach Christensen (1997) beschreiben, stellen erhöhte regulatorische Anforderungen eine Barriere für Innovationen mit disruptivem Potenzial dar (Abb. 1).9 Hierbei wird grundlegend zwischen Innovationen an etablierten Produkten („sustaining innovation“) und Innovationen mit disruptivem Potenzial unterschieden. „Sustaining innovations“ zielen darauf ab, bestehende Kundenwünsche durch Modifikation bestehender

9Curtis

und Schulman (2006) nutzen als Beispiel für stark regulierte Branchen das Gesundheitswesen.

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Abb. 1   Modifizierte Version des Innovator Dilemma von Christensen. (Quelle: Christensen 1997; nach Curtis und Schulman 2006)

Produkte weiterhin zu erfüllen. Innovationen mit disruptivem Potenzial zielen hingegen auf vollständig neue Produkte und Funktionen ab, die anfangs oft nur eine (exklusive) Minderheit bedienen. Dies liegt darin begründet, dass der Mehrwert dieser Innovation oft nicht sofort ersichtlich ist. Der Beförderungsdienst Uber und das Apple iPhone sind bekannte Fallbeispiele hierfür. Uber verdrängt in den Vereinigten Staaten den traditionellen Taximarkt und Apple hat mit dem iPhone den Mobilfunkmarkt revolutioniert.10 Curtis und Schulman (2006) betonen, dass in stark regulierten Branchen ein höherer Aufwand nötig ist, um die Marktreife und eine Produktzulassung zu erreichen. Außerdem ist es in diesen Branchen unwahrscheinlicher, dass Kunden Produkte nachfragen, die wesentlich mehr leisten als gesetzliche Vorschriften verlangen. Überträgt man das Beispiel von Curtis und Schulman (2006) auf die Wirtschaftsprüfung, so lässt sich der Innovationsmangel dadurch erklären, dass die hohen Anforderungen für die Abschlussprüfung die Etablierung neuer Technologien grundlegend erschwert. Darüber hinaus bestehen möglicherweise wenige Anreize für hohe Investitionsausgaben, da bereits heute der Wettbewerb um Mandate sehr hoch ist und entsprechend eine Finanzierung der Ausgaben über höhere Prüfungshonorare nur begrenzt möglich ist (Lückmann 2014). Mögliche neue Start-ups im Bereich der Wirtschaftsprüfung, die oft Vorreiter für disruptive Innovationen sind (Christensen 1997), werden durch diese Markteintrittsbarrieren zusätzlich ausgebremst. Von technologischer Seite betrachtet, sind die Potenziale für den Prüfungsprozess und somit auch für die zu prüfenden Unternehmen aber vielfältig und könnten sich auf alle Stufen des Prüfungsprozesses und auch weit über den klassischen Prüfungsprozess hin10Vgl.

diesbezüglich auch Obermaier (2017).

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aus erstrecken. Im Folgenden werden daher verschiedene mögliche Innovationen für die einzelnen Stufen des Prüfungsprozesses dargestellt.11

2.3.1 Auftragsannahme und Planung Im Rahmen der Auftragsannahme ist es für Wirtschaftsprüfer essenziell, mögliche Risiken, die mit einem neuen Mandat verbunden sein können, zu identifizieren. Um dieses Verständnis zu erlangen, kann eine Auswertung nicht nur interner, sondern auch externer Daten von großem Nutzen sein (Issa et al. 2016; No und Vasarhelyi 2017). Künstliche Intelligenzen12 können hierzu Informationen aus verschiedenen strukturierten und unstrukturierten Quellen, z. B. Twitter, Facebook, YouTube oder Bloomberg, neben Daten, die direkt durch das Unternehmen bereitgestellt werden, sammeln, aufbereiten und analysieren. Die Nutzung von internen und externen Daten beugt dabei möglichen Fehlurteilen aufgrund einer falschen Selbstdarstellung durch das Unternehmen vor. Durch die Anwendung von künstlichen neuronalen Netzen ist dabei keine Beschränkung auf Textdokumente notwendig, sondern es kann auch Bild, Ton- und Videomaterial systematisch analysiert werden. Deep Learning ermöglicht dabei nicht nur die Aufbereitung, sondern auch die zeitlich abhängige Verknüpfung der Daten (Richins et al. 2017). Beispielsweise könnten so Unternehmensinformationen über neue Produkte mit Produktrezensionen verknüpft werden, um Indikatoren über die Produktqualität abzuleiten. Hieraus lassen sich erste Indikationen über zum Beispiel den Bedarf an Garantierückstellungen ableiten. Ebenfalls kann durch eine explorative Recherche nach Themen, wie Betrug oder Manipulation das Prüfungsrisiko, ex ante besser eingeschätzt werden. Diese Tätigkeit wäre für menschliche Anwender kaum umsetzbar. Die reine Datenmenge könnte leicht zu einem Information Overload führen und der dafür notwendige Zeitaufwand wäre unrealistisch (Brown-Liburd et al. 2015). Ausgehend von den gesammelten Informationen und einer Ex-ante-Einschätzung des Prüfungsrisikos können auch bedarfsgerechtere Vertragsangebote, das heißt eine genauere Planung der Prüfungsdauer und Prüfungshonorare, unterbreitet werden. Vergleichsgrundlage wären dann nicht mehr nur Unternehmen vergleichbarer Größe und Branche, sondern auch Unternehmen mit einer vergleichbaren Ex-ante-Risikoeinschätzung, die bereits zuvor von der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft geprüft wurden (Issa et al. 2016). Dadurch ist es ebenfalls möglich, den Personalbedarf besser zu planen und Personalkapazitäten effizienter auf Projekte zu verteilen. Abschließend sei noch anzumerken, dass diese Systeme so gestaltet werden können, dass sich diese durch Datenströme13

11Da im Folgenden die Illustration möglicher Potenziale im Fokus steht, werden mögliche rechtliche Beschränkungen bewusst nicht thematisiert. 12Beispielsweise bietet IBM mit dem System Watson eine Plattform für solche Lösungen (Melendez 2016). 13Ein Datenstrom liefert kontinuierlich neue Daten, z. B. Überwachungskameras, die rund um die Uhr aktiviert sind.

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weiterentwickeln. Das bedeutet, dass sich die Qualität der Auswertung im Zeitablauf durch den immer weiter wachsenden Bestand an Daten, die bereits ausgewertet wurden, verbessert (Gaber et al. 2005). Dadurch lässt sich die Problematik von Wissensverlust reduzieren, wenn erfahrene Wirtschaftsprüfer eine Wirtschaftsprüfungsgesellschaft verlassen.14 Unter anderem kann die Wirtschaftsprüfungsgesellschaft so auch auf sich ändernde Umwelteinflüsse zeitnah reagieren.

2.3.2 Identifikation von Fehlerrisiken und interne Kontrollen Die Identifikation von Fehlerrisiken sowie die Analyse der internen Kontrollen können ebenfalls durch die Automatisierung von Prozessen und Big-Data-Technologien profitieren, stellen Wirtschaftsprüfer aber auch vor neue Herausforderungen. Durch die Digitalisierung rechnungslegungsbezogener Prozesse und der Speicherung von Daten in Clouds sind Fehlerrisiken zunehmend systematischer Natur und betreffen insbesondere das Thema Datenintegrität (Rega und Teipel 2016). Aufgrund von zum Beispiel Hackerangriffen hat das American Institute of Certified Public Accountants 2016 entsprechend einen Leitfaden zum Thema Cybersecurity veröffentlicht (AICPA 2016). Dieser Leitfaden soll Unternehmen beim Umgang mit solchen Risiken unterstützen und Hinweise zur Kommunikation möglicher Sicherheitsbrüche geben (No und Vasarhelyi 2017). Aufgrund der andauernden Gefahr von Sicherheitsbrüchen muss sich der Prozess der Risikoidentifikation notwendigerweise zu einem dauerhaften Überwachungsprozess entwickeln. Ansätze im Kontext der kontinuierlichen Prüfung („continuous auditing“) zielen daher darauf ab, Mechanismen zur Echtzeitüberwachung von rechnungslegungsrelevanten Prozessen zu etablieren (Kiesow und Thomas 2016; Issa et al. 2016). Dadurch könnten bereits unterjährig etwaige Probleme identifiziert und bis zur eigentlichen Abschlussprüfung gelöst werden. Wirtschaftsprüfer würden dann – wie in einer Kommandozentrale eines Kraftwerks – auf Warnsignale der Systeme achten und erst beim Eintreten entsprechender Auffälligkeiten aktiv werden (Dai und Vasarhelyi 2016).15 Lediglich auf außergewöhnliche Vorfälle im ansonsten transparenten Unternehmen zu reagieren, sog. Audit-by-Exception, verteilt den Prüfungsaufwand über das Jahr und reduziert somit den Personalbedarf an Wirtschaftsprüfern und Prüfungsassistenten für die eigentliche Abschlussprüfung (Vasarhelyi et al. 2010). Demnach würde in einem optimalen System ein Prüfer überhaupt nur dann aktiv werden, wenn eine Auffälligkeit sichtbar wird. Auf Basis der Anfälligkeit der verschiedenen Systeme lässt sich dann auch eine Priorisierung für spätere Prüfungshandlungen ableiten. Stichprobenprüfungen könnten dann stark reduziert auf maschinell identifizierte Risikogruppen angewandt und eine Abschlussprüfung größtenteils fließend durchgeführt

14Zur

Problematik des „brain drain“, vgl. Knechel et al. (2017). dieser Stelle sei angemerkt, dass diese Tätigkeit auch in das Aufgabengebiet der internen Revision fallen könnte. Der Bezug zur Wirtschaftsprüfung ergibt sich primär durch deren Fokus auf die Sicherstellung der Ordnungsmäßigkeit der Rechnungslegung. 15An

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werden. Dies setzt allerdings eine nahtlose Vernetzung zwischen Systemen der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft und denen der Mandanten voraus (Kiesow und Thomas 2016). Die Dokumentation des Verständnisses der rechnungslegungsrelevanten Prozesse und Kontrollen kann ebenfalls ressourcenschonend und somit effizienter gestaltet werden. Während klassischerweise vor Ort Besichtigungen durchgeführt werden, könnten hierfür auch Drohnen, Satellitenbilder oder Videos eingesetzt werden (Appelbaum und Nehmer 2017; Brown-Liburd und Vasarhelyi 2015). Aufgrund der geringen Größe und leichten Bedienbarkeit eignen sich Drohnen nicht nur zur mobilen Videoüberwachung in weitläufigen Außenarealen, sondern auch in engen Lagerhallen. Dadurch können auch schwer zugängliche Bereiche untersucht und mögliche Beschädigungen oder Fehlbestände leichter entdeckt werden. Darüber hinaus können, unter Verwendung von 3D-Technologie (z. B. Laserscanning), Lagerbestände genau dokumentiert werden, ohne diese explizit in Augenschein zu nehmen (PwC 2016). Kombiniert mit Artificial Intelligence ließen sich so vollautomatische Systeme zur Dokumentation und Überwachung von Prozessen etablieren. Beispielsweise können Videos von Lagerbeständen mit online verfügbaren Abbildungen von typischen Produkten eines Unternehmens abgeglichen werden, um mögliche Anomalien zu entdecken. Dies lässt sich in vielfältiger Weise auch auf andere Prozesse übertragen, die körperliche Anwesenheit von Mitarbeitern wäre somit nur noch in Ausnahmefällen nötig.

2.3.3 Prüferische Reaktion Die vielleicht zentralste Änderung könnte sich im Rahmen der eigentlichen prüferischen Reaktion ergeben. Wie bereits aufgezeigt, basiert die Abschlussprüfung auf dem risikoorientierten Prüfungsansatz und damit verbunden, oft, stichprobenartigen Prüfungen. Dieser Ansatz könnte einer Vollauswertung aller vorhandenen Sachverhalte und somit einem fundamentalen Paradigmenwechsel weichen (Brown-Liburd et al. 2015). Die möglichen Vorteile einer Voll- gegenüber einer Stichprobenauswertung liegen schon im Namen des Ansatzes begründet. Durch eine Vollauswertung aller Sachverhalte ließe sich, zumindest in der Theorie, die Qualität der Abschlussprüfung steigern (Kiesow und Thomas 2016)16. Um alle Transaktionsdaten eines Unternehmens effizient prüfen zu können, sind allerdings alternative Formen datenanalytischer Verfahren (Audit Data Analytics) notwendig. Beispielsweise zielen Data-Mining-Verfahren darauf ab, einen Datensatz, z. B. alle Buchungen auf ein bestimmtes Sachkonto, auf Muster und mögliche Auffälligkeiten zu untersuchen. Diese Verfahren sind keine neuen Errungenschaften, die nachfolgend dargestellten Potenziale im Kontext von Big Data allerdings schon. Insbesondere die Prüfung von strukturierten und unstrukturierten Daten schafft

16Ob

dies in Bezug auf mögliche Haftungsfragen vonseiten der Wirtschaftsprüfer überhaupt gewünscht ist, sei hier dahingestellt. Wir verweisen hierzu auf die Ausführungen am Ende des Abschnitts.

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verschiedenste neue Anwendungsmöglichkeiten (Hayashi 2014; Richins et al. 2017; IAASB/IFAC 2016). Im Bereich des Journal Entry Testing17 könnten die Buchungen und deren dazugehörige Belege automatisch abgeglichen werden. Um dies zu ermöglichen, existiert in Deutschland bereits eine Initiative zur Erweiterung des PDF-Formats, um strukturierte XML-Daten anzuhängen, die eine maschinelle Weiterverarbeitung wesentlich erleichtern.18 Auch hier wäre zu prüfen, ob die auf dem Dokument dargestellten Daten mit den versteckten Metadaten übereinstimmen. Trotzdem sind maschinelle Prüfsysteme nicht unfehlbar, sondern lassen sich durchaus beeinflussen (Nguyen et al. 2015).19 Somit wird es unerlässlich bleiben, künstliche Intelligenzen und deren Entscheidungen regelmäßig zu prüfen und zu hinterfragen. Ein weiteres Beispiel sind explorative Datenanalysen. Dabei werden mit statistischen Methoden ein oder mehrere Datensätze analysiert, um mögliche Zusammenhänge in der Datenstruktur aufzudecken. Die Besonderheit an diesen Verfahren ist, dass ex ante keine expliziten Hypothesen oder Muster definiert werden.20 Die Ergebnisse werden folglich auch nicht durch vorher gesetzte Annahmen beeinflusst und werden durch die Nutzung aller verfügbaren Daten auch nicht eingeschränkt (Hunton und Rose 2010; Ruhnke 2017). Primär limitierender Faktor ist hier die Rechenleistung der verwendeten Hardwarekomponenten. Allerdings bringen solche Vollauswertungen auch Risiken mit sich, die in der Natur der Daten und der Verfahren begründet sind. Im Gegensatz zu klassischen Prüfungsnachweisen liegen Risiken bei Big Data in der Verlässlichkeit, Herkunft, Vollständigkeit und Interpretationsfähigkeit der Daten. Zwar lässt sich durch die Auswertung digitaler Daten die Quantität verfügbarer Prüfungsnachweise erhöhen; ob diese Informationen in qualitativer Hinsicht einen positiven Mehrwert schaffen, muss zumindest kritisch betrachtet werden (Odenthal 2017; Zhang et al. 2015). Aufgrund der Masse an öffentlich verfügbaren Informationen, deren Herkunft und Qualität infrage zu stellen ist, stehen Wirtschaftsprüfer letztendlich wieder vor einem Selektionsproblem, da bei der Erhebung digitaler Daten bereits eine Abstraktion unternommen wird. Es kann nicht garantiert werden, dass ein digitaler Datensatz alle realen Prozesse im Unternehmen wahrheitsgemäß widerspiegeln kann. Weiterhin lässt sich die Verlässlichkeit der Informationen oft nicht nachprüfen, wenn Informationen anonym verbreitet werden oder die Informationen nicht repräsentativ sind. Entsprechend bleibt der Wahrheitsgehalt bestimmter Informationen

17Die

Prüfung des Hauptbuchs eines Unternehmens inklusive Prüfung ausgewählter Belege. ZUGFeRD (Zentraler User Guide des Forums elektronische Rechnung Deutschland) ist eine seit 2014 veröffentlichte Spezifikation zum Austausch elektronischer Rechnungen. 19Für ein Anwendungsbeispiel zur Anfälligkeit von Prüfsystemen am Beispiel eines künstlichen neuronalen Netzes zur Bilderkennung s. Nguyen et al. (2015). 20Im Gegensatz dazu werden konventionelle Prüfungshandlungen zur Bestätigung vorformulierter Erwartungen bzw. Hypothesen eingesetzt. 18Das

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zwangsläufig unklar. Weiterhin besteht das Risiko von widersprüchlichen oder nicht eindeutigen Aussagen. Eine binäre (richtig oder falsch) Einteilung würde somit erschwert werden. Für den Einsatz im Rahmen der Abschlussprüfung muss also zunächst geprüft werden, inwieweit solche Informationen überhaupt als Prüfungsnachweise geeignet sind. In Bezug auf die Anwendbarkeit von datenanalytischen Verfahren, wie zum Beispiel der Regressionsanalyse oder der automatischen Mustererkennung, besteht zudem ein Risiko von fehlerhaften Beurteilungen. Beispielsweise wird bei der Regressionsanalyse eine kausale Beziehung zwischen einer oder mehreren erklärenden Variable(n) und einer abhängigen Variablen unterstellt. Inwieweit sich komplexe Unternehmensstrukturen aber adäquat durch mathematische Gleichungen beschreiben lassen, mag durchaus kritisch betrachtet werden (vgl. Odenthal 2017). Bestenfalls erscheint eine grobe Approximation realistisch. Als Folge dessen kann es dazu kommen, dass Sachverhalte als auffällig oder fehlerhaft eingestuft werden, obwohl sie korrekt sind (hoher Alpha-Fehler), bzw. dass Sachverhalte als unauffällig oder korrekt eingestuft werden, obwohl sie fehlerhaft sind (hoher Beta-Fehler). Je nach Modellgüte ergibt sich also ein erheblicher Aufwand zur Validierung der Befunde und möglicherweise sogar ein höherer Aufwand als bei klassischen Stichprobenprüfungen (Ruhnke 2017; Yoon et al. 2015). Eine vergleichbare Problematik ergibt sich beim Thema Mustererkennung, unabhängig, ob explorativ oder zum Testen vorformulierter Hypothesen. Zwar wurden in der Literatur gewisse Zahlenmuster als Indikatoren für Auffälligkeiten etabliert (z. B. Benford’s Law), aber selbst diese Muster bieten bestenfalls Indikationen für mögliche Fehler. Durch die Einzigartigkeit unternehmerischer Transaktionen muss im Einzelfall quasi jede auffällige Transaktion validiert werden (Odenthal 2017).21 In Bezug auf Einzelfallprüfungen ergeben sich Vorteile durch die Digitalisierung und Vernetzung von Prozessen. Gerade in produzierenden Betrieben erlaubt dies eine Produkt- und Komponentennachverfolgung auf der Basis von Technologien wie Barcodes und RFID-Chips. Möchte ein Wirtschaftsprüfer beispielsweise einzelne Transaktionen nachprüfen, müsste er nicht mehr verschiedene Abteilungen konsultieren, sondern kann sich die Digitalisierung der unternehmensinternen Prozesse zunutze machen. Durch eine direkte Verknüpfung von Online-Shop und Lager kann der Eingang einer Bestellung und die Zuordnung zu einzelnen Produkten überprüft werden. Ausgehend von diesem Punkt lassen sich dann alle Bewegungen des Produkts innerhalb eines Unternehmens dokumentieren und der Warenausgang könnte sogar zusätzlich über Videokameras kontrolliert werden. Ebenfalls können RFID-Chips zur Kontrolle des Lagerbestands und zur Analyse von Warenbewegungen innerhalb des Unternehmens genutzt werden. Sollten diese Daten zusätzlich noch zentral abgelegt werden, können vorgefertigte Data-Mining-Modelle die Einzelfallprüfung unterstützen oder sogar ganz übernehmen (Vasarhelyi et al. 2015).

21Diese Problematik besteht ebenfalls bei modernen Methoden wie der Cluster-Analyse oder der Social-Network-Analyse.

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Eine weitere Möglichkeit für innovative Prüfungsansätze ergibt sich für die Kontrolle von Risiken auf Personenebene. Um risikobehaftete Mitarbeiter im Unternehmen zu identifizieren, kann eine Überprüfung des E-Mail-Verkehrs und der sozialen Medien durchgeführt werden. Hierzu sind zwei Methoden hervorzuheben: 1) Die Sentimentanalyse, auch Sentiment Detection oder Opinion Mining, ist ein Teilgebiet des NLP (Natural Language Processing), dass nach Stimmungsschwankungen in Textdaten sucht. Ausgehend vom E-Mail-Verkehr im Unternehmen können diese Methoden auf unzufriedene Mitarbeiter hinweisen, denen ein höheres Fehler- und Betrugsrisiko zuzurechnen ist. Nutzt man zudem Daten aus den sozialen Medien, lässt sich ebenfalls ableiten, welche Mitarbeiter ein positives oder negatives Bild an Empfänger außerhalb des Unternehmens weiterleiten. 2) Die Community Detection versucht anhand von Kommunikationsnetzen (z. B. aus XING oder Facebook) soziale Gruppen zu bilden, die in sich sehr stark vernetzt sind und gegenüber anderen Gruppen sehr schwach. Resultierende Klassifizierungen lassen sich in Bezug auf die Angestellten eines Unternehmens mit bestehenden Abteilungslisten abgleichen, um beispielsweise Angestellte zu ermitteln, die sehr stark mit Mitarbeitern aus anderen Abteilungen oder Unternehmen vernetzt sind. Solche Knotenpunkte können auf anomale Informationsflüsse hindeuten oder ein Hinweis für versteckte Prozesse sein (Pang und Lee 2008). Abschließend sei noch angemerkt, dass durch digitale Informationen und innovative Prüfungsmethoden zwar zahlreiche Potenziale bestehen, aber eine absolute Prüfungssicherheit wohl utopisch ist und bleibt. Mit genügend krimineller Energie werden sich neue Möglichkeiten finden lassen, um State-of-the-art-Systeme zu umgehen. Beispielsweise können Systeme zur Analyse des E-Mail-Verkehrs dadurch umgangen werden, dass Informationen nur verbal weitergegeben werden. Ebenso geben RFID-Codes auf Lagerkisten noch keine Sicherheit über den tatsächlichen Inhalt der Kisten. Die Expertise und der detektivische Spürsinn von Wirtschaftsprüfern werden folglich nicht zu ersetzen sein. Zudem ist es auch vorstellbar, dass künstliche Intelligenz missbraucht wird, um Unternehmensprozesse zu manipulieren. Bei einem möglichen Angriff könnte künstliche Intelligenz nach Schwachstellen in der IT-Infrastruktur eines Unternehmens suchen und hierbei Strategien22 entwickeln, an die bisher noch kein menschlicher Angreifer gedacht hat.

2.3.4 Auftragsbeendigung Auch die Berichterstattung über Prüfungsergebnisse könnte durch Digitalisierung weiterentwickelt werden. Dies betrifft sowohl die externe Berichterstattung in Form des Bestätigungsvermerks als auch die interne Berichterstattung in Form des Prüfungsberichts.23 In Bezug auf die externe Berichterstattung ist eine Abkehr von der Einteilung

23Für Erläuterungen zu den beiden Formen der Berichterstattung vgl. Ewert und Wagenhofer (2015). 22Dass künstliche Intelligenz (KI) dazu imstande ist, neue Strategien zu entwickeln, zeigen Silver et al. (2016) mithilfe einer KI zum Spiel Go.

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in uneingeschränkte und eingeschränkte bzw. versagte Bestätigungsvermerke hin zu einer kontinuierlichen Bewertungsskala denkbar. Die bisherige Bewertung führt bereits heute regelmäßig zu Fehlinterpretationen durch Abschlussadressaten (sog. Erwartungslücke; vgl. Velte 2017; Liggio 1974). Es wäre denkbar, dass der Bestätigungsvermerk – ähnlich einem Sicherheitszertifikat für Webseiten – bald einen tagesgenauen Sicherheits- und Prüfungsstandard angibt. Dies könnte auch die Aussagekraft der neu einzuführenden Berichterstattung zu wichtigen Prüfungssachverhalten (sog. Key Audit Matters) verbessern. Beispielsweise könnte für einzelne Prüfungsfelder angegeben werden, mit welcher Genauigkeit die zugrunde liegenden Sachverhalte geprüft wurden. Auf diese Weise könnte mehr Transparenz für Aktionäre und andere Stakeholder geschaffen werden. Zudem wäre so eine Abkehr von einer rein retrospektiven Abschlussprüfung möglich. In Bezug auf den Bestätigungsvermerk könnte dem Wirtschaftsprüfer, durch unterstützende Expertensysteme auf Basis von Cognitive Computing24 , zusätzliche Sicherheit gegeben werden. Diese Systeme können die gewonnenen Ergebnisse, mit dem Pool historischer Prüfungsergebnisse und auch Informationen zu nachträglich aufgedeckten Fehlern, z. B. im Rahmen von DPR/BaFin Enforcement-Verfahren25 , abgleichen, um so das Risiko möglicher Fehlurteile zu reduzieren. Hinsichtlich der internen Berichterstattung kann durch die Abschlussprüfung auch ein zusätzlicher Mehrwert für Unternehmen geschaffen werden. Bereits heute können über die IT-Systemprüfung nach IDW PS 330 Hinweise zum Ausbau der digitalen Infrastruktur gegeben werden. Durch Analysen der Prozessabläufe können zudem Potenziale zur Effizienzsteigerung aufgezeigt werden.26 Abschließend bleibt noch das Thema Dokumentation und Archivierung der Prüfungsdokumente zu klären. Eine zunehmend digitale Archivierung von Prüfungsunterlagen ist eine sicherlich naheliegende Erwartung, insbesondere da für Prüfungshandlungen regelmäßig auf Vorjahresunterlagen zurückgegriffen werden muss. Bei einer ausschließlich digitalen Aufbewahrung der Dokumente ergeben sich aber zusätzliche Sicherheitsanforderungen an die IT-Infrastruktur der Prüfungsgesellschaften sowie die Kompatibilität der IT-Systeme von Wirtschaftsprüfer und Mandant (Rega und Teipel 2016; Kiesow und Thomas 2016). In Bezug auf einen externen Datenzugriff muss die Sicherheit der Daten zu jeder Zeit gewährleistet sein. Entsprechend muss nicht nur die Sicherheit der

24Expertensystem

auf Basis von Cognitive Computing (vgl. IBM Watson in High 2012) verbessern die Recherche von domänenspezifischen Informationen. Im Cognitive Computing werden verschiedene Bereiche der KI gebündelt, darunter Deep Learning, Natural Language Processing und das dynamische Lernen. 25Für weitergehende Erläuterungen zum Enforcement der Rechnungslegung in Deutschland, vgl. Hitz et al. (2012). 26Wir verweisen auf Kap. 3 für weitergehende Ausführungen zu zusätzlichen Dienstleistungsmöglichkeiten im Zuge der Digitalisierung der Wirtschaftsprüfung.

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verwendeten (Cloud-)Speicher kritischer hinterfragt werden, sondern auch der physikalische Standort dieser Speicher. Etwaige Sicherheitsbrüche oder der Zugriff durch Serverbetreiber oder externe Institutionen27 führen nicht nur zu einem Verlust vertraulicher Daten, insbesondere wird das Vertrauensverhältnis zwischen Prüfer und geprüftem Unternehmen nachhaltig geschädigt (Zhang et al. 2015; Dai und Vasarhelyi 2016). Gerade bei der Abschlussprüfung spielt die Reputation des Prüfers und das Vertrauen zwischen beiden Seiten eine zentrale Rolle. Wird dieses Vertrauen durch Sicherheitsbedenken beeinträchtigt, kann dies zu einem Verlust von Mandaten und negativen wirtschaftlichen Folgen für Prüfer und Mandant führen.28

3 Mehrwert der Abschlussprüfung versus Unabhängigkeit des Prüfers Neben der Abschlussprüfung erbringen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften für Mandanten oft noch weitere Dienstleistungen wie Steuer-, Rechts- und andere Beratungsleistungen sowie sonstige Bestätigungsleistungen. Bei den vier größten Gesellschaften machten diese Leistungen im Jahr 2015 43,4 % und bei kleineren Gesellschaften 23,3 % der jährlichen Honorare aus (WPK 2015). Grundsätzlich können bestimmte Beratungsleistungen gut von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften erbracht werden, da diese durch die Abschlussprüfung bereits mit dem Unternehmen vertraut sind und angenommen werden kann, dass ihnen, durch ihre Berufspflichten (vgl. § 43 WPO), im Umgang mit sensiblen Daten mehr Vertrauen geschenkt wird als anderen externen Dienstleistern. Problematisch sind hier allerdings Gefährdungen der Unabhängigkeit, wenn beispielsweise selbst implementierte Kontrollsysteme geprüft werden sollen. Um die Qualität der Abschlussprüfung nicht zu beinträchtigen, sind daher die Art und der Umfang der zulässigen Nichtprüfungsleistungen, nach §§ 319 und 319a HGB, begrenzt beziehungsweise die gleichzeitige Prüfung und Beratung in bestimmten Fällen verboten. Im Zuge der Digitalisierung ergibt sich allerdings zusätzlicher Beratungsbedarf aufseiten der Unternehmen. Mit einer verstärkt digitalen Abschlussprüfung könnten Wirtschaftsprüfer dabei auch einen Mehrwert für Mandanten schaffen. Neben der IT-Systemprüfung, als Teil der Jahresabschlussprüfung, werden zudem projektbegleitende Prüfungen bei der Einführung von ERP-Systemen (IDW PS 850 2008), IT-Prüfungen außerhalb der Abschlussprüfung (IDW EPS 860 2017), Ausstellung von Softwarebescheinigungen (IDW PS 880), IT Due Diligence, Prüfung von Dienstleistern bei Outsourcing und Cloud Storage (IDW PS

27Exemplarisch

sei hier der US Patriot Act zu nennen, der amerikanischen Sicherheitsbehörden in bestimmten Fällen den Zugriff auf amerikanische Cloud-Speicher ausländischer Unternehmen ermöglicht. 28Zur Relevanz von Reputation im Bereich der Wirtschaftsprüfung, vgl. beispielhaft Weber et al. (2008)

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Abb. 2   Erweiterte Wertschöpfungskette in der Abschlussprüfung. (Quelle: Nach Kiesow und Thomas 2016)

951 n. F. 2013) oder auch Prüfungen an der Schnittstelle zum Steuerrecht (z. B. GDPdU und E-Bilanz) zunehmend relevanter (Rega und Teipel 2016). Hinzu kommen noch die Potenziale der digitalen Abschlussprüfung. Beispielsweise durch Analysen der IT-Infrastruktur oder die Überwachung von (rechnungslegungsbezogenen) Prozessen können Wirtschaftsprüfer Hinweise für mögliche Effizienzsteigerung aufzeigen (Kiesow und Thomas 2016; Dai und Vasarhelyi 2016). Hieraus ergibt sich dann aber ein möglicher Konflikt im Hinblick auf die Unabhängigkeit des Wirtschaftsprüfers. Da gerade Objekte, die der Wirtschaftsprüfer im Rahmen seiner beratenden Tätigkeit implementiert hat, Gegenstand der Abschlussprüfung wären, kann angenommen werden, dass darin enthaltene Fehler weniger wahrscheinlich aufgedeckt werden (Richter 1977). Aufgrund begrenzter Ressourcen dürfte die Vielzahl der aktuellen IT-Beratungsthemen für kleinere Prüfungsgesellschaften eine Herausforderung darstellen (Ruhnke 2017). Um trotzdem zusätzliche Beratungsleistungen anbieten zu können, ohne die Unabhängigkeit zu gefährden, ließen sich Intermediäre einsetzen, wie im folgenden Absatz geschildert wird. Die Wertschöpfungskette im Rahmen der Abschlussprüfung würde dabei um eine dritte Partei erweitert werden. Nach Kiesow und Thomas (2016) können sog. Informationsdienstleister eine fachliche Brücke zwischen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften und den zu prüfenden Unternehmen schlagen und vermeiden, dass sich jede Prüfungsgesellschaft selbst das teils sehr spezielle IT-Fachwissen aneignen muss. Das als Audit-as-a-Service benannte Modell (Abb. 2) beschreibt einen kontinuierlichen Prüfprozess, in dem Informationsdienstleister als Kompetenzträger für die technische Umsetzung der digitalen Mechanismen dienen. Der Großteil der Daten wird hier

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zwischen Informationsdienstleister und Unternehmen ausgetauscht und der Abschlussprüfer ermittelt dann durch kundenspezifische Abfragealgorithmen die benötigten Informationen. Hierbei soll auch aktiv die Kommunikation zwischen Unternehmen und Informationsdienstleister angestrebt werden, beispielsweise bei auftretenden Unregelmäßigkeiten als Informationsquelle für die interne Revision. Somit finanziert sich der Informationsdienstleister nicht nur aus Mitteln des Wirtschaftsprüfers, sondern mitunter auch direkt durch den jeweiligen Mandanten. Dieses Modell könnte mittelständischen Wirtschaftsprüfungsgesellschaften eine Chance geben, konkurrenzfähig zu bleiben, da nur für die Nutzung der Data-Analytics-Werkzeuge und Auswertungen bezahlt wird und keine hohen Investitionen getätigt werden müssen. Gleichzeitig bewahren sich Wirtschaftsprüfer die Unabhängigkeit, da Beratungsleistungen primär durch die Informationsintermediäre erbracht werden. Nichtsdestotrotz erfordert dies die Öffnung des Prüfungsmarkts für neue Akteure, da die Abschlussprüfung nur noch indirekt über den Informationsdienstleister erfolgt und nicht mehr direkt über das zu prüfende Unternehmen (Kiesow und Thomas 2016).

4 Praxisorganisation aufseiten der Wirtschaftsprüfer Historisch betrachtet ist die Arbeitsbelastung für Wirtschaftsprüfer zu Beginn des Kalenderjahres am höchsten, da dann die meisten Abschlussprüfungen durchzuführen sind (Rega und Teipel 2016). Hinzu kommen, insbesondere bei kapitalmarktorientierten Unternehmen, noch verkürzte Offenlegungsfristen, die die Dauer der Abschlussprüfung begrenzen (§ 325 Abs. 4 HGB). Da im Rest des Kalenderjahres weniger Pflichtprüfungen anfallen, ist die Arbeitsbelastung dort tendenziell niedriger. Somit ist auch der faktische Personalbedarf über das Jahr gesehen unterschiedlich hoch. Darüber hinaus ergibt sich ein erheblicher administrativer Aufwand durch verschiedene Dokumentationspflichten. Beispielhaft sei hier die Dokumentation von geleisteten Arbeitsstunden und Reisekosten zu nennen (Rega und Teipel 2016). Durch Continuous Auditing und Audit-by-Exception wird es höchstwahrscheinlich zu einer Entzerrung der Arbeitsbelastung und somit auch zu Änderungen in der Praxisorganisation kommen. Die bereits dargestellten automatisierten Überwachungsmechanismen werden voraussichtlich zu einer Reduzierung der Belastungsspitzen zum Jahresende bzw. Jahresanfang führen, da Vorprüfungen im bisherigen Umfang nicht mehr nötig sind (Byrnes et al. 2014).29 Für die Durchführung von Prüfungshandlungen im Rahmen der Abschlussprüfung ist ebenfalls von einem geringeren Arbeitsaufwand auszugehen, da standardisierte Prüfungshandlungen automatisiert erfolgen können (Rega und Teipel 2016; Vasarhelyi et al. 2015). Somit besteht aufseiten der Wirtschaftsprüfungsgesellschaften

29Vgl.

hierzu die Ausführungen in Abschn. 2.3 – Auftragsannahme und Planung.

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i­nsgesamt ein geringer Personalbedarf und damit ein geringer administrativer Aufwand für die Planung und Durchführung von Abschlussprüfungen. Außerhalb der üblichen Zeitfenster für Abschlussprüfungen ist allerdings eher von einem erhöhten Personalbedarf auszugehen. Durch permanente Überwachungssysteme wird der Personalbedarf stärker durch identifizierte Auffälligkeiten diktiert und liegt somit weniger in der direkten Kontrolle der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. Zudem besteht in solchen Situationen wenig Möglichkeit und Zeit zur Einarbeitung in die Besonderheiten des zu prüfenden Unternehmens. Hierdurch entsteht für die verantwortlichen Prüfer also eine zusätzliche Belastungssituation. Je nachdem bei wie vielen Mandaten zeitgleich Auffälligkeiten festgestellt werden, kann der Personalbedarf daher kurzfristig stark ansteigen. Dieses Phänomen könnte beispielsweise bei externen wirtschaftlichen Schocks auftreten. In solchen Fällen kann es zu Engpässen kommen, wenn die für das Mandat verantwortlichen Mitarbeiter und Teams an mehreren Stellen gleichzeitig benötigt werden. Dann wären eine Priorisierung und eine zeitliche Staffelung der Fälle notwendig. Ob die Digitalisierung also letztendlich zu einem geringeren Personalbedarf und einer besseren Praxisorganisation durch bessere Planbarkeit der Mandate führt, kann deshalb nicht eindeutig beantwortet werden.

5 Folgen der Digitalisierung für den Berufsstand Laut Jahresbericht 2016 der Wirtschaftsprüferkammer gab es zum 1. Januar 2017 14.392 bestellte Wirtschaftsprüfer in Deutschland. Im Verhältnis zu den Vorjahren ist die Anzahl der bestellten Wirtschaftsprüfer damit konstant geblieben (2016: 14.389; 2015: 14.407). Wird die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte betrachtet, ist aber eher eine rückläufige Attraktivität des Berufsstands der Wirtschaftsprüfer erkennbar (durchschnittliche Wachstumsrate 1995–2005: 4,36 % pro Jahr; durchschnittliche Wachstumsrate 2005– 2015: 1,64 % pro Jahr). Weiterhin zeichnet sich eine Verschiebung der demografischen Struktur ab. Während 2005 noch 43,22 % der Wirtschaftsprüfer jünger als 45 Jahre waren, liegt der Anteil dieser Altersgruppe aktuell bei nur noch 26,88 %.30 Ursächlich für diese Veränderungen sind das öffentliche Image des Berufsstands und die ungewissen Karrierechancen. Wirtschaftsprüfer werden in der Öffentlichkeit oft als langweilige Bürokraten und Erbsenzähler wahrgenommen. Dies führt zu einem geringeren Interesse am Berufsstand bei Berufseinsteigern (Bravidor und Loy 2017). Die Bestellung als Wirtschaftsprüfer setzt darüber hinaus, neben mehreren Jahren Berufserfahrung, auch den Abschluss eines mehrteiligen Examens voraus. Aufgrund der Komplexität der Themen und der zeitlichen Blockung, bestehen die Examen regelmäßig nur knapp 60 % der Teilnehmer (WPK 2018). Da dieses Examen einen wesentlichen Einfluss auf den langfristigen Werdegang

30Alle

Berechnungen auf Basis der öffentlich verfügbaren Jahresberichte der WPK (2019).

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hat, werden Berufseinsteiger oft zusätzlich abgeschreckt oder verlassen die Branche bei Nichtbestehen. Vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen mag ein Rückgang der Anzahl der Wirtschaftsprüfer wenig problematisch erscheinen. Allerdings besteht ein Risiko, dass der Rückgang des Personalbestands verstärkt bei jüngeren, aber möglicherweise technisch versierteren und aufgeschlosseneren Mitarbeitern erfolgt. Im Zuge der Digitalisierung ergeben sich verschiedene Anknüpfungspunkte um einen Imagewandel zu erreichen. Grundsätzlich ermöglicht die Digitalisierung ein flexibleres Arbeitsumfeld. Über entsprechende IT-Schnittstellen und cloudbasierte Speicher kann die Prüfungstätigkeit auch direkt aus dem Büro oder sogar von zu Hause aus erfolgen. Die regelmäßige Anwesenheit beim zu prüfenden Unternehmen ist somit nicht mehr zwingend erforderlich (Rega und Teipel 2016; Byrnes et al. 2014). Somit könnten, insbesondere für Berufseinsteiger die eher geografisch gebunden sind oder zumindest eine Tätigkeit mit flexiblen Arbeitsmöglichkeiten anstreben, neue Anreize geschaffen werden. Neben der räumlichen Flexibilität ergeben sich auch Möglichkeiten zur besseren Verteilung der Arbeitslast. Die beständige Kritik der über das Jahr ungleichen Arbeitsbelastung, insbesondere in der „busy season“, und die Kritik der oft repetitiven Tätigkeiten könnten durch Continuous Auditing und Audit-by-Exception adressiert werden (Rega und Teipel 2016). Dadurch könnten Arbeitszeiten besser geplant und die Work-Life-Balance verbessert werden. Diese wird auch zunehmend von Absolventen und Berufseinsteigern der Generation Y angestrebt (Zemke et al. 2000). Darüber hinaus werden Wirtschaftsprüfer mittelfristig kaum noch ohne ein gewisses Maß an IT-Kenntnissen, mit wachsendem Fokus auf die Datenanalyse, auskommen (Byrnes et al. 2014).31 Entsprechend ist es von Bedeutung, dieses Thema stärker im Rahmen der Berufsausbildung und der Karriereförderung in den Vordergrund zu rücken (Rega und Teipel 2016; Marten et al. 2017). Klassischerweise ist das Recruiting auf Absolventen aus den Bereichen BWL, Wirtschaftswissenschaften und Jura spezialisiert. Durch die Digitalisierung ergeben sich aber nun auch neue Tätigkeitsfelder, die den Beruf attraktiv für Absolventen aus MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik) machen. Die IT-Systemprüfung beispielsweise ist zwar heute schon integraler Bestandteil der Abschlussprüfung, in den nächsten Jahren wird dieser aber eine herausgehobene Bedeutung zukommen (Rega und Teipel 2016). Zudem gilt es datenanalytische Verfahren weiterzuentwickeln und diese auch an gesetzliche Vorgaben anzupassen (Alles 2015). Aktuell sind zahlreiche Wirtschaftsprüfungsgesellschaften bereits in Kooperation mit IT-Unternehmen zur Weiterentwicklung bestehender Prüfungstools. Beispielhaft sei hier die Zusammenarbeit von KPMG und IBM Watson zur

31Wir weisen darauf hin, dass IT-Kenntnisse eine Ergänzung zu den bisherigen fachlichen Anforderungen darstellen und diese nicht ersetzen (Data Analytics Working Group 2016; Ruhnke 2017).

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Entwicklung von KI-Prüfungstools zu nennen (Melendez 2016).32 Mittel- und langfristig besteht somit ein erhöhter Bedarf an Berufseinsteigern mit fundierten Kenntnissen in MINT-Fächern. Weiterhin bietet das Institut der Wirtschaftsprüfer e. V. (IDW) seit 2016 die Möglichkeit der Spezialisierung als IT-AuditorIDW. Die Zertifizierung ist dabei nicht nur auf Mitarbeiter von Wirtschaftsprüfungsgesellschaften beschränkt, sondern richtet sich explizit an externe Dienstleister die im Rahmen der IT-Systemprüfung tätig sind (IDW 2017). Insgesamt werden als Folge der Digitalisierung für Berufseinsteiger aus MINT-Fächern zusätzliche Anreize zum Berufseinstieg geschaffen. Abschließend ist noch anzumerken, dass durch die Digitalisierung auch neue Anreize für Berufseinsteiger aus den klassischen Fachdisziplinen geschaffen werden können. Die Zeitersparnis durch den Wegfall standardisierter und tendenziell monotoner Prüfungshandlungen schafft mehr Möglichkeiten, um sich intensiver mit komplexen Bilanzierungssachverhalten sowie der Auslegung von Bilanzierungswahlrechten und Ermessensspielräumen zu befassen. Somit kann die Tätigkeit auch für die Kernzielgruppe wieder attraktiver gestaltet werden.

6 Folgen der Digitalisierung für die Marktstruktur Viele der dargestellten Szenarien sind, aufgrund rechtlicher Einschränkungen, wohl eher mittel- als kurzfristig realisierbar. Was sich aber bereits andeutet, sind mögliche Folgen der Entwicklungen für die Marktstruktur. Gerade kleine und mittlere Wirtschaftsprüfungsgesellschaften werden, wegen fehlender technischer, personeller und wirtschaftlicher Ressourcen nur wenige Möglichkeiten haben, neue Trends voranzutreiben (Ruhnke 2017). Hieraus eine zunehmende Marktdominanz der Big-4-­Gesellschaften abzuleiten, erscheint aus verschiedenen Gründen trotzdem voreilig. Grundlegend muss hinterfragt werden, für welche zu prüfenden Unternehmen eine zunehmende Digitalisierung der Wirtschaftsprüfung überhaupt Relevanz hat. Stark technologisch aufgestellte Unternehmen, die auch bereits heute schon Technologien wie Blockchain etablieren, sind eine offensichtliche Zielgruppe. Für etwaige Veränderungen der Marktstruktur wird mitentscheidend sein, wie gut neue Prüfungsprozesse in die bestehenden ERP-Systeme der Unternehmen implementierbar sind. Dies ist in der Praxis mit erheblichen Herausforderungen verbunden (Kiesow und Thomas 2016). Eine PwC-Studie (PwC 2017) mit knapp 100 befragten Unternehmen (39 % börsennotiert) zeigt, dass mehrheitlich kein Ausbau oder Wechsel der ERP-Systeme geplant ist. Insoweit stehen Prüfungsgesellschaften also vor der Herausforderung, digitale Prüfungsprozesse an verschiedene IT-Infrastrukturen anzupassen. Ähnlich einer Branchenspezialisierung

32Vgl. M2 Presswire (2016) für einen Anwendungsfall bei PwC; vgl. Agnew (2016) für Anwendungsfälle bei EY und Deloitte.

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könnten Wirtschaftsprüfungsgesellschaften durch eine Spezialisierung auf bestimmte ERP-Systeme einen Wettbewerbsvorteil realisieren. Die Digitalisierung könnte darüber hinaus auch die Markteintrittsbarrieren für neue Akteure reduzieren und so den Markt kompetitiver gestalten. Theoretisch könnten hoch spezialisierte IT-Unternehmen, wie z. B. Google, bald auch Prüfungsleistungen anbieten (Ruhnke 2017).

7 Fazit Der Berufsstand der Wirtschaftsprüfer blickt, national und international, auf eine reiche und Jahrhunderte überspannende Geschichte zurück. Der Berufsstand hat dabei mehrfach unter Beweis gestellt, dass er sich an strukturelle Veränderungen anpassen kann (Markus 1996). Aufgrund der zunehmenden Bedeutung von Themen wie Artificial Intelligence, Big Data, Cloud Computing und Audit Data Analytics gibt der vorliegende Beitrag einen Überblick über mögliche Chancen und Risiken für die Wirtschaftsprüfung. Der Prüfungsprozess könnte prinzipiell auf allen Stufen von einer erhöhten Digitalisierung profitieren. Die möglichen Potenziale sind aber kritisch zu hinterfragen. Zwar ermöglichen automatisierte Vollauswertungen und Methoden aus dem Bereich der Audit Data Analytics die effiziente und umfangreiche Analyse unternehmensspezifischer Daten, allerdings resultiert hieraus nicht zwangsläufig ein höheres Maß an Prüfungssicherheit. Dies liegt vor allem darin begründet, dass automatisierte Auswertungen primär Anomalien aufdecken. Nicht jede Anomalie stellt aber notwendigerweise auch einen expliziten Fehler dar. Eine diskrete Einteilung von Anomalien in richtig oder falsch ist somit schwierig zu realisieren und erfordert zusätzliche Auswertungen. Die Eignung der vielfältigen Datenformate stellt zudem neue Anforderungen an Prüfungsnachweise. Durch eine starke Digitalisierung der Wirtschaftsprüfung ergeben sich auch Potenziale über den Prüfungsprozess hinaus. Dies liegt darin begründet, dass Fehlerrisiken in digitalen Systemen zunehmend systematischer Natur sind. Das Aufzeigen und Beheben etwaiger Schwachstellen, die im Rahmen der Abschlussprüfung aufgedeckt werden, wäre daher ein Mehrwert für die Mandanten. Aufgrund der nur begrenzt möglichen simultanen Prüfung und Beratung ist dies allerdings nur eingeschränkt möglich. Chancen und Risiken der Digitalisierung für Prüfungsgesellschaften und den Berufsstand werden besonders durch geänderte fachliche Anforderungen und den Personalbedarf determiniert. Durch die Nutzung bzw. Entwicklung datenanalytischer Verfahren und dem Rückgang tendenziell monotoner Prüfungshandlungen wird der Berufseinstieg nicht nur für Absolventen aus den klassischen Fachbereichen, sondern auch für Absolventen aus den MINT-Fächern, die verstärkt über IT-Kenntnisse verfügen, attraktiver. Die Folge der Automatisierung von Prüfungshandlungen ist jedoch ein insgesamt geringerer Personalbedarf. Darüber hinaus sind IT-Kenntnisse kein Ersatz für fundierte Kenntnisse im Bereich Rechnungslegung und Wirtschaftsprüfung, sondern eine notwendige Ergänzung dieser.

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Eine digitale Revolution in der Wirtschaftsprüfung hätte ebenfalls einen Einfluss auf die Markstruktur. Aufgrund der hohen Investitionskosten für die Entwicklung neuer Verfahren ergeben sich ressourcenbedingte Vorteile für größere Prüfungsgesellschaften. Fraglich ist allerdings, ob auch eine entsprechende Nachfrage aufseiten der Unternehmen besteht und ob neue Anwendungen auf die verschiedenen IT-Infrastrukturen angewendet werden können. Zudem könnten spezialisierte IT-Dienstleister eine neue Konkurrenzsituation schaffen, sollte die Abschlussprüfung keine Vorbehaltsaufgabe mehr bleiben. Welche der zahlreichen Entwicklungstrends sich letztendlich durchsetzen werden, bleibt abzuwarten. Menschliche Abschlussprüfer werden aufgrund ihrer Expertise und der Komplexität von Bilanzierungssachverhalten aber auch langfristig kaum zu ersetzen sein.

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Dr. Benedikt Downar  ist Habilitand am Lehrstuhl für Financial Accounting an der Technischen Universität München. Aktuell untersucht er insbesondere Fragestellungen aus dem Bereich der Rechnungslegungs- und Wirtschaftsprüfungsforschung. Dominik Fischer promoviert am Lehrstuhl für Financial Accounting an der Technischen Universität München. Momentan ist er beteiligt an der Entwicklung einer innovativen Lehrveranstaltung im Rahmen des Dachprojekts Digitaler Campus Bayern. Hier sollen zukünftige Betriebswirtschaftler Grundlagen der Big-Data-Analyse erlernen.