Handbuch der preussischen Geschichte: Das 17. und 18. Jahrhundert und grosse Themen der Geschichte Preussens [Band 1] 9783110140910

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Handbuch der preussischen Geschichte: Das 17. und 18. Jahrhundert und grosse Themen der Geschichte Preussens [Band 1]
 9783110140910

Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
A. Einführung in das Gesamtwerk
Bibliographie
§ 1 Vorwissenschaftliche Historiographien
§ 2 Verwissenschaftlichung im Historismus
§ 3 Staats-Strukturgeschichte und historische Staatswissenschaft
§ 4 Pluralismen zur Zeit des Kaiserreichs
§ 5 Krisen und Konjunkturen der Zwischenkriegszeit
§ 6 Instrumentalisierung – Internationalisierung – Modernisierung. Historiographie zur preußischen Geschichte seit 1945
B. Epochen der preußischen Geschichte
Bibliographie
§ 1 Brandenburg-Preußen um 1600: Struktur – Dynastie – Konfession
§ 2 Die Krise des 17. Jahrhunderts in Brandenburg-Preußen
§ 3 Der Staat des Großen Kurfürsten
§ 4 Europa und die Politik Brandenburg-Preußens 1648 –1688
§ 5 Preußen und die Königskrone
§ 6 Friedrich Wilhelm I. und die politischen Strukturen Brandenburg-Preußens (bis 1740)
§ 7 Der Merkantilismus in Brandenburg-Preußen bis 1740
§ 8 Kolonisation, Land und Herrschaftspraxis im preußischen Absolutismus
§ 9 Preußen und Europa unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts
§ 10 Preußen und die europäische Mächtepolitik vom Siebenjährigen Krieg bis zum Fürstenbund
§ 11 Zur Praxis des „aufgeklärten Absolutismus“ in Brandenburg-Preußen
§ 12 Preußen in der Zeit der Revolutionen
§ 13 1797 – 1806. Strukturwandel und Vorreformen
§ 14 Im Sturm der Politik
C. Große Themen der preußischen Geschichte
I. Preußen und Westeuropa
Bibliographie
§ 1 Die Anfänge der Beziehungen Brandenburgs und Preußens zu Westeuropa
§ 2 Die Zeit des Großen Kurfürsten
§ 3 Brandenburg-Preußen und Westeuropa von 1688 bis 1740
§ 4 Preußen und Westeuropa in friderizianischer Zeit
§ 5 Preußen, Franzçsische Revolution und napoleonische Zeit
§ 6 Preußen und Westeuropa von 1815 bis 1850
§ 7 Preußen und Westeuropa zwischen Revolution und Julikrise
§ 8 Schlußbemerkung
II. Brandenburg-Preußen und das Alte Reich ca. 1650–1806
Bibliographie
§ 1 Das Thema „Brandenburg-Preußen und das Alte Reich“ als Problem der Forschung. Historiographische Scheidung und strukturelle Verzahnung
§ 2 Der Kurfürst von Brandenburg und der Westfälische Friede
§ 3 Kurfürst Friedrich Wilhelm als Reichspolitiker
§ 4 Das Alte Reich, das Königreich Preußen und die Kriege um 1700
§ 5 Die Krise des Reichsverfassungssystems um 1720
§ 6 Friedrich II. und die Etablierung Preußens als Subsystem des Alten Reiches
§ 7 Das Ende vom Alten Reich und vom Alten Preußen
III. Berlin als brandenburgisch-preußische Residenz und Hauptstadt Preußens und des Reiches
Bibliographie
§ 1 Vorbemerkung
§ 2 Vorstufen und Herausbildung der Residenz Berlin/Cölln bis zum Ausgang des Mittelalters
§ 3 Herrschaftszentrum der hohenzollernschen Renaissancefürsten
§ 4 Hauptstadt und barocke Residenzlandschaft im absolutistisch regierten Brandenburg-Preußen
§ 5 Das klassische Berlin in einer verdichteten Residenzlandschaft
§ 6 Die Hauptstadt Preußens in der konstitutionellen Monarchie
§ 7 Preußische und Deutsche Hauptstadt im Kaiserreich
§ 8 Hauptstadt des Freistaates Preußen in der ersten deutschen Republik
§ 9 Reichshauptstadt im Nationalsozialismus
§ 10 Epilog
IV. Minoritäten in Preußen: Die Hugenotten als Beispiel
Bibliographie
§ 1 Zur Vorgeschichte in Frankreich
§ 2 Das Edikt von Potsdam
§ 3 Die Französischen Kolonien in Brandenburg-Preußen (1685–1809)
§ 4 Die Hugenotten in der Wirtschaft Brandenburg-Preußens
§ 5 Die Hugenotten im kulturellen Leben ihres Aufnahmelandes
§ 6 Identität und Akkulturation
Backmatter

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HANDBUCH DER PREUSSISCHEN GESCHICHTE Band I



HISTORISCHE KOMMISSION ZU BERLIN

HANDBUCH DER PREUSSISCHEN GESCHICHTE Band I

Walter de Gruyter · Berlin · New York

HANDBUCH DER PREUSSISCHEN GESCHICHTE Herausgegeben von

Wolfgang Neugebauer unter Mitarbeit von Frank Kleinehagenbrock

Band I Das 17. und 18. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens Mit Beiträgen von Ursula Fuhrich-Grubert · Frank Kleinehagenbrock Ilja Mieck · Wolfgang Neugebauer · Wolfgang Ribbe

Walter de Gruyter · Berlin · New York

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-014091-0 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2009 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Rudolf Hübler, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen

Inhalt Wolfgang Neugebauer Der erste Band des Handbuchs der Preußischen Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . XIII

A. Einfîhrung in das Gesamtwerk Preußen in der Historiographie. Epochen und Forschungsprobleme der Preußischen Geschichte Von Wolfgang Neugebauer Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

§ 1 Vorwissenschaftliche Historiographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

I. Traditionen der Regionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 II. Dynastische Mythen und frîhe Staatsgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

§ 2 Verwissenschaftlichung im Historismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 § 3 Staats-Strukturgeschichte und historische Staatswissenschaft . . . . . . . . 38

I. Strukturgeschichtliche Anfnge der preußischen Historiographie . . . . . . . 38 II. Der Schmoller-Komplex . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 III. Otto Hintze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49

§ 4 Pluralismen zur Zeit des Kaiserreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 § 5 Krisen und Konjunkturen der Zwischenkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . 60 § 6 Instrumentalisierung – Internationalisierung – Modernisierung. Historiographie zur preußischen Geschichte seit 1945 . . . . . . . . . . . . . 75

I. Untergang und „Abrechnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 II. Bundesrepublik und historiographische Westintegration . . . . . . . . . . . . . 79 III. Preußen als Forschungsthema in der DDR und in Polen . . . . . . . . . . . . 99

VI

Inhalt

B. Epochen der preußischen Geschichte Brandenburg-Preußen in der Frîhen Neuzeit. Politik und Staatsbildung im 17. und 18. Jahrhundert Von Wolfgang Neugebauer Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113

§1

Brandenburg-Preußen um 1600: Struktur – Dynastie – Konfession 121

§2

Die Krise des 17. Jahrhunderts in Brandenburg-Preußen . . . . . . . . . 145

§3

Der Staat des Großen Kurfîrsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178

§4

Europa und die Politik Brandenburg-Preußens 1648 – 1688 . . . . . . 210

§5

Preußen und die Kçnigskrone . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227

§6

Friedrich Wilhelm I. und die politischen Strukturen BrandenburgPreußens (bis 1740) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245

§7

Der Merkantilismus in Brandenburg-Preußen bis 1740 . . . . . . . . . . 285

§8

Kolonisation, Land und Herrschaftspraxis im preußischen Absolutismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297

§9

Preußen und Europa unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 314

§ 10 Preußen und die europische Mchtepolitik vom Siebenjhrigen Krieg bis zum Fîrstenbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 333 § 11 Zur Praxis des „aufgeklrten Absolutismus“ in Brandenburg-Preußen 345 § 12 Preußen in der Zeit der Revolutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 § 13 1797 – 1806. Strukturwandel und Vorreformen . . . . . . . . . . . . . . . . 385 § 14 Im Sturm der Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 401

Inhalt

VII

C. Große Themen der preußischen Geschichte I. Preußen und Westeuropa Von Ilja Mieck Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411

§ 1 Die Anfnge der Beziehungen Brandenburgs und Preußens zu Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 447 I.

Voraussetzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Zwang der Geographie: Mittellage und Zersplitterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Ein methodisches Problem: „Deutschland“ vor 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Prmissen der brandenburgpreußischen Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Grundstrukturen des Wirtschaftsund Kulturtransfers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Frîhe Kontakte zu Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Erste Brîckenschlge im Sptmittelalter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Brandenburg, Preußen und Westeuropa im 16. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das Kurfîrstentum Brandenburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Das Herzogtum Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

449

449 453 460 464 465 465

469 469 478 § 2 Die Zeit des Großen Kurfîrsten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 I. Brandenburg und Westeuropa bis zum Frieden von Oliva . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 490 1. Das niederlndische Vorbild: Kommerz und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 491 2. Politische Fîhlungnahme zu Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 497 II. Handelsbeziehungen und Reisekontakte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 1. Warenaustausch und Handelsstruktur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 501 2. Die Errichtung franzçsischer Konsulate im Ostseeraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 504 3. Franzçsische Handelsvertrge mit anderen Staaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 505 4. Brandenburg und die „Compagnie du Nord“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 506 5. Reisen nach Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 507 III. Mit den Niederlanden gegen Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 510 IV. An der Seite Frankreichs (1679 – 1685) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 513 1. Politik und Wirtschaft: Enttuschungen und Subsidien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 514 2. Kooperation und Konkurrenz im kolonialen Bereich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519

VIII

Inhalt

3.

Beginnende Neuorientierung (West- und Mitteleuropa) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Das Edikt von Potsdam – eine europische Entscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Konfession und Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der erneute Kurswechsel Brandenburgs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Ein Transfer besonderer Art: Die Hugenotten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VI. Festigung des neuen Kurses (1685 – 1688) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

523 524 524 525 528 534

§ 3 Brandenburg-Preußen und Westeuropa von 1688 bis 1740 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 536 I. Die Einheit der Epoche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Brandenburg-Preußen und die neue Westeuropa-Konstellation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die neue Parole: „London und Amsterdam“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Pflzische Krieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Kçnigswîrde und Spanischer Erbfolgekrieg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . IV. Die Liquidierung der Kolonialpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V. Friedrich Wilhelm und Westeuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Niederlande: Fîrstliches Reiseziel und Vorbild . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Frankreich und Vorpommern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Projekt der preußischenglischen Doppelheirat und der Streit um Jîlich-Berg (bis 1733) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Das Fiasko der WesteuropaPolitik Friedrich Wilhelms I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Preußisch-westeuropische Kontakte anderer Art (Kultur, Handel, „Peuplierung“, Gewerbe) . . . . . . . . .

536 537

538 541 547 554 557 559 561 564 566

567 § 4 Preußen und Westeuropa in friderizianischer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . 576 I. „Westliche“ Prgungen des Kronprinzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 578 II. Der westeuropische Faktor in der Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 1. Die Allianz mit Frankreich: „Travailler pour le roi de Prusse“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 583 2. Von 1748 bis zum Umschwung der Bîndnisse (1756) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 588 3. Preußen und Westeuropa im „Neuen System“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 594 III. Preußen und die Geisteswelt: Der frankophile Kçnig . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 600 1. Aufklrung, Literatur und Wissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 601 2. Bildende Kînste, Architektur und Musik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607 IV. Andere Einflîsse und Wirtschaftsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 612 1. Staatsverwaltung und Regierungspraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 613

Inhalt

2. 3. 4. 5. 6.

Das Heerwesen: Ein Transfer in Ost-West-Richtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kulturelle Kontakte mit Großbritannien und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Westeuropische Impulse im Gewerbebereich . . . . . . . . . . . . . . . . Andere Kontakte zu Westeuropa (Niederlande und Spanien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Preußisch-westeuropische Handelsbeziehungen . . . . . . . . . . . . . .

IX 616 618 626 629 631

§ 5 Preußen, Franzçsische Revolution und napoleonische Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 644 I.

II. III.

IV. V. VI.

Grundstrukturen der Westpolitik unter Friedrich Wilhelm II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das Erbe Friedrichs im westeuropischen Bîndnissystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Preußen und die ersten vier Koalitionskriege (1792 – 1807) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Preußens Ausstieg aus der Ersten Koalition (1795) . . . . . . . . . . . . 2. Friedrich Wilhelm III. und die zunehmende Isolierung Preußens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Krieg gegen England und Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die preußisch-westeuropischen Beziehungen auf dem Tiefpunkt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neue Konstellation: An der Seite Englands gegen Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Brîckenschlge anderer Art: Modernisierung und Handel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

644 647 659 660 664 668 672 679 680

§ 6 Preußen und Westeuropa von 1815 bis 1850 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 694 I.

Grundzîge der preußisch-westeuropischen Beziehungen vom Wiener Kongreß bis zum Ende der Revolution (1814 – 1850) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Preußen und die westeuropischen Mchte bei den Verhandlungen in Paris und Wien 1814/15 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Preußen als Besatzungsmacht, die Anfnge der Botschafterkonferenzen und der Kongreßdiplomatie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die zwanziger Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Julirevolution, Belgien und der Rhein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Vormrz und Revolutionszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Westeuropas Hilfe bei der Industrialisierung Preußens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anwerbung von Westeuropern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Preußische Westeuropa-Reisende von 1814 bis 1845 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . III. Preußisch-westeuropische Handels- und Kulturbeziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Beziehungen im Geld- und Warenhandel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Westeuropa und der Deutsche Zollverein . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

696 696 702 707 710 720 725 726 729 733 733 740

X

Inhalt

3.

Preußisch-westeuropischer Kulturtransfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 751

§ 7 Preußen und Westeuropa zwischen Revolution und Julikrise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 762 I.

Politische Beziehungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Persigny-Missionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Krimkrieg und Neuenburg-Streit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Zunehmende Distanzierung Preußens von den politischen Traditionen Westeuropas seit 1857 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Regierungswechsel und antiwestliche Tendenzen . . . . . . . . . . . b) Die Krçnung Wilhelms I. (1861) und Westeuropa . . . . . . . . . c) Verfassungskonflikt, Abdankungsdebatte und die Berufung Bismarcks: Der konservative Ruck und die Abkehr von den politischen Traditionen Westeuropas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Die Festigung der antiwestlichen Tendenzen seit September 1862 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Bismarcks Westeuropapolitik (1863 – 1870) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Das Ende preußischer Außenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Beziehungen anderer Art . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Kultureller Austausch, Freund- und Feindbilder . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Preußen und die Weltausstellungen vor 1870 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Wirtschaftsfragen: Kapitalverflechtung, Zollverein, Preußisch-franzçsischer Handelsvertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Verkehrsprobleme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

762 763 765

772 772 775

778 790 795 809 812 812 820

831 839 § 8 Schlußbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 847

II. Brandenburg-Preußen und das Alte Reich ca. 1650 – 1806 Von Frank Kleinehagenbrock Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 854

§ 1 Das Thema „Brandenburg-Preußen und das Alte Reich“ als Problem der Forschung. Historiographische Scheidung und strukturelle Verzahnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 869 § 2 Der Kurfîrst von Brandenburg und der Westflische Friede . . . . . . . 897 § 3 Kurfîrst Friedrich Wilhelm als Reichspolitiker . . . . . . . . . . . . . . . . . 904 § 4 Das Alte Reich, das Kçnigreich Preußen und die Kriege um 1700 . . 908 § 5 Die Krise des Reichsverfassungssystems um 1720 . . . . . . . . . . . . . . . 915

Inhalt

XI

§ 6 Friedrich II. und die Etablierung Preußens als Subsystem des Alten Reiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 918 § 7 Das Ende vom Alten Reich und vom Alten Preußen . . . . . . . . . . . . . 927

III. Berlin als brandenburgisch-preußische Residenz und Hauptstadt Preußens und des Reiches Von Wolfgang Ribbe Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

933

§1

Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 944

§2

Vorstufen und Herausbildung der Residenz Berlin/Cçlln bis zum Ausgang des Mittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 948

§3

Herrschaftszentrum der hohenzollernschen Renaissancefîrsten . . . 964

§4

Hauptstadt und barocke Residenzlandschaft im absolutistisch regierten Brandenburg-Preußen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 980

§5

Das klassische Berlin in einer verdichteten Residenzlandschaft . . . 1015

§6

Die Hauptstadt Preußens in der konstitutionellen Monarchie . . . . 1033

§7

Preußische und Deutsche Hauptstadt im Kaiserreich . . . . . . . . . . . 1049

§8

Hauptstadt des Freistaates Preußen in der ersten deutschen Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1073

§9

Reichshauptstadt im Nationalsozialismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1086

§ 10 Epilog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1117

IV. Minoritten in Preußen: Die Hugenotten als Beispiel Von Ursula Fuhrich-Grubert Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1125

§ 1 Zur Vorgeschichte in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1149 § 2 Das Edikt von Potsdam . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1160

XII

Inhalt

§ 3 Die Franzçsischen Kolonien in Brandenburg-Preußen (1685 – 1809) 1167 § 4 Die Hugenotten in der Wirtschaft Brandenburg-Preußens . . . . . . . 1179 § 5 Die Hugenotten im kulturellen Leben ihres Aufnahmelandes . . . . . 1189 § 6 Identitt und Akkulturation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1209 Anhang. Aufbau der Verwaltung der Franzçsischen Kolonie(n) und Kirche(n) sowie des „franzçsischen“ Justizwesens in BrandenburgPreußen um 1750 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1223 Zusammenstellung der Schulen, Erziehungsanstalten und allgemeinen karitativen Einrichtungen der Berliner Franzçsischen Kirche (chronologisch) 1224

Register (Paul William, Frank Kleinehagenbrock) Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1225 Ortsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1245 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1261

Der erste Band des Handbuchs der Preußischen Geschichte Wolfgang Neugebauer Am Anfang von Handbuchprojekten stehen bisweilen Illusionen, ohne die diese Werke wohl gar nicht zustande kommen wîrden. So auch in diesem Fall: Im Umfeld des „Preußenjahres“ 1981 kam in der Historischen Kommission zu Berlin die Idee auf, ein Handbuch zur preußischen Geschichte, und zwar eines in einem Bande, vorzulegen. Mit einer Konzeption, die Otto Bîsch vorgeschlagen hatte, sollte es in wenigen Jahren entstehen. Damals schien es so, als wîrde, angestoßen durch çffentliches Interesse und mediale Verwertung, die preußische Geschichte îberhaupt von der Wissenschaft wieder intensiver betrieben werden. Freilich: Der Ertrag des „Preußenjahres“ selbst blieb, wie sehr bald festgestellt wurde, in wissenschaftlicher Hinsicht recht begrenzt,1 und nachhaltige Effekte etwa zur Strkung der universitren und außeruniversitren Forschungspotentiale hat es auf dem Felde preußischer Studien denn doch nicht gegeben.2 Das schloß in der Folgezeit einzelne Leistungen auf diesem Arbeits1

2

Vgl. den vorzîglichen Forschungsbericht von Hellmut Seier, Region, Modernisierung und Deutschlandpolitik. Die „Preußenwelle“ in landesgeschichtlicher Sicht, in: Hessisches Jahrbuch fîr Landesgeschichte, 33 (1983), S. 347–401, bes. S. 347, S. 353, S. 356 ff., S. 362 („Die Summe ist nicht berauschend“); vgl. zum Hintergrund Edgar Wolfrum, Die Preußen-Renaissance: Geschichtspolitik im deutsch-deutschen Konflikt, in: Martin Sabrow (Hg.), Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR (= Geschichtswissenschaft und Geschichtskultur im 20. Jahrhundert, Bd. 1), Leipzig 1997, S. 145–166, hier S. 145 f.; rasches Abebben des Interesses nach 1981: Frank-Lothar Kroll, Sehnsîchte nach Preußen? Preußenbild und Preußendiskurs nach 1945, in: Ders., Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates, Paderborn u. a. 2001, S. 241–251, hier S. 246 (zu 1981), S. 249; Barbara Vogel, Literaturbericht. Das alte Preußen in der modernen Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft, 11 (1985), S. 377–396, hier S. 377 (nichts Neues durch die „Preußenrenaissance“); ebda. zu den Studien von Mittenzwei, Schissler und Vetter; und schließlich drastisch Klaus Zernack, Preußen – Polen – Rußland. Betrachtungen am Ende des „Preußenjahres“, in: Jahrbuch fîr die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands, 31 (1982), S. 106–125, hier S. 117 („in Ost und West doch ein in diesem Umfang unerwartetes Ausmaß an Konventionalitt“ und „borussischer Traditionalitt“). Aus der um 1977/1980 rasch angeschobenen wissenschaftlichen Aktivitt vgl. Otto Bîsch (Hg.), Das Preußenbild in der Geschichte. Protokoll eines Symposions (= Verçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 50. Forschungen zur Preußischen Geschichte), Berlin/New York 1981, dazu treffend-kritisch H. Seier, Re-

XIV

Wolfgang Neugebauer

gebiet gewiß nicht aus. Aber die Lage insgesamt war dadurch bestimmt, daß das Handbuch der Preußischen Geschichte gerade in einer Zeit geschrieben wurde, in der die der Arbeit zugrunde liegenden Forschungskapazitten ab- und nicht aufgebaut worden sind. ˜ber Grînde und bisweilen gut versteckte Hintergrînde ist hier noch nicht zu handeln. Aber das steht doch fest: Die Beseitigung der einschlgigen Lehrstîhle und derjenigen Professuren, die sich ganz oder teilweise preußischen Themen gewidmet hatten, traf auf erstaunlich wenig Widerstand aus diesem Forschungsfelde selbst. Die Arbeit am Handbuch der Preußischen Geschichte wurde also unter gnzlich anderen Bedingungen geleistet, als etwa die großen, vergleichbaren Projekte im deutschen Sîden,3 von den opulenten, beneidenswerten Verhltnissen im benachbarten Ausland, z. B. in Polen oder in §sterreich, ganz zu schweigen. Sehr bald wurde in der Arbeit am Handbuch der Preußischen Geschichte deutlich, daß – auch – bei diesem Kompendium die ursprînglichen Raumvorgaben gesprengt werden mußten. Die Erweiterung des Werkes auf insgesamt drei Bnde vernderte freilich die Gesamtanlage nicht: Neben chronologische Abschnitte, die die politische und die Staatsentwicklung der Hauptepochen darbieten sollten, wurden „große Themen“ der preußischen Geschichte gestellt. Gewisse, wenn auch begrenzte ˜berschneidungen waren damit unvermeidlich. Es stellte sich freilich heraus, daß gerade darin auch durchaus Vorteile liegen kçnnen, werden doch so zentrale Fragen der historischen Genese Preußens aus

3

gion … (s. Anm. 1), S. 367 („Streng genommen wird îber das ,Preußenbild in der Geschichte‘ sehr wenig gesagt“, mehr îber die damalige Sicht im Westen); sowohl historiographische Dokumentation als auch eine Zusammenstellung mit dem Ziel, einen Behelf zum ˜berblick in systematischer Hinsicht îber wesentliche Entwicklungsfelder preußischer Geschichte zu liefern, die von O. Bîsch initiierte Publikation: Otto Bîsch / Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Geschichte 1648–1947. Eine Anthologie, 3 Bde. (= Verçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 52/1–3), Berlin/New York 1981, darin als Hilfsmittel zu dieser Zeit: Wolfgang Neugebauer, Auswahlbibliographie zur preußischen Geschichte, a. a. O., Bd. 3, S. 1677–1764, mit den wichtigsten Produkten des Jahres 1980/81; noch immer anregend: Rudolf von Thadden, Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates, Mînchen 1981, etwa S. 10 ff.; aus der damaligen Produktion sei ferner exemplarisch genannt: Hans-Jîrgen Puhle / Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rîckblick (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft, Bd. 6), Gçttingen 1980, besonders die Beitrge von Horst Mçller, Rudolf von Thadden, Barbara Vogel, Hans-Peter Ullmann; mit sehr guter Einleitung: Dirk Blasius (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 111. Geschichte), Kçnigstein/Ts. 1980, bes. S. 9–46, zur neueren Debatte S. 13 ff. – im îbrigen eine interessant zusammengestellte Anthologie. Mit vergleichenden Blicken auf deutsche und außerdeutsch-europische Handbuchwerke: Wolfgang Neugebauer, Forschung und Synthese. Das Handbuch der bayerischen Geschichte im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext, in: Zeitschrift fîr bayerische Landesgeschichte, 70 (2007), Heft 1, S. 11–32.

Der erste Band des Handbuchs der Preußischen Geschichte

XV

zum Teil recht verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Im vorliegenden Band bestand damit die Gelegenheit, etwa auf Themenfeldern der Wirtschafts-, zumal der Agrargeschichte oder auch der militrischen Strukturen im Alten Preußen ergnzende Akzente aus neueren Forschungsertrgen zu setzen. Als mit dem îberraschenden Tode Otto Bîschs im Mrz 1994 der neue Herausgeber von der Historischen Kommission und ihrem damaligen Vorsitzenden Wolfram Fischer beauftragt wurde, den Versuch zu unternehmen, dieses Projekt fortzufîhren und abzuschließen, waren also wesentliche konzeptionelle Entscheidungen zur Struktur und zum Autorenstamm des Handbuchs der Preußischen Geschichte schon festgelegt. Die Spielrume zur weiteren Gestaltung dieses Vorhabens waren zudem dadurch begrenzt, daß im Jahre 1992 als erster Teil des Gesamtwerkes der zweite, mittlere Band erschienen war,4 der die bis dahin erarbeiteten Manuskripte zum Druck brachte. Immerhin waren thematische Erweiterungen mçglich, so vor allem wesentliche Ergnzungen zum europischen Umfeld Preußens in Frîher Neuzeit und Moderne. Aber wie bereits angedeutet: Die Arbeit am dritten und jetzt vorgelegten ersten Band stand insofern unter sehr schwierigen Vorzeichen, als die personellen und sachlichen Grundlagen dieses Forschungsfeldes mehr und mehr wegbrachen, also auch Alternativen in den meisten Themenfeldern nicht mehr existierten. Das Handbuch der Preußischen Geschichte, nicht untypisch fîr Vorhaben dieser Grçßenordnung in einem Zeitraum von mehr als eineinhalb Jahrzehnten erschienen,5 kçnnte fast als ein Handbuch gelten, das zur Unzeit geschrieben wurde. Das alles besttigt, daß das Handbuch der Preußischen Geschichte unter gnzlich anderen Bedingungen entstehen mußte, als die bekannten – und fîr das preußische Handbuch vorbildhaften6 – Werke zur europischen Geschichte 4 5

6

Otto Bîsch (Hg.), Handbuch der preußischen Geschichte, Bd. 2: Das 19. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/New York 1992, mit Beitrgen von Ilja Mieck, Wolfgang Neugebauer, Hagen Schulze, Wilhelm Treue und Klaus Zernack. Das Handbuch der Europischen Geschichte basierte auf einem „Konzept … aus den frîhen fînfziger Jahren“, der letzte erschienene Band aus den spten 1980ern; vgl. das „Vorwort des Verlages“, in: Theodor Schieder (Hg.), Handbuch der Europischen Geschichte, Bd. 2, Stuttgart 1987, S. VII; vgl. als weiteres Beispiel noch Anm. 7, und außerdem die vergleichenden Passagen bei W. Neugebauer, Forschung … (s. Anm. 3), S. 23–30 (mit Lit.). In den Diskussionen der frîhen 1980er Jahren spielte vor allem der dem 17. und 18. Jahrhundert gewidmete Band des in Anm. 5 genannten Werkes als Vorbild eine große Rolle, nicht zuletzt wegen des berîhmten Beitrages von Gerhard Oestreich: Fritz Wagner (Hg.), Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklrung (= Handbuch der Europischen Geschichte, Bd. 4), Stuttgart 1968, darin Gerhard Oestreich, Das Reich – Habsburgische Monarchie – Brandenburg-Preußen von 1648 bis 1803, S. 378–475; freilich wurden in den Bnden dieses Werkes die epochenîbergreifenden Artikel (hier: Fritz Wagner, Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufkl-

XVI

Wolfgang Neugebauer

oder (um ein deutsches Exempel zu benennen) der „Spindler“, der auf einer ungemein reichen und in bayerischer Staatskontinuitt allseits gepflegten (Landes-) Geschichtswissenschaft aufbauen konnte. Dieses Werk kann aus historischer und wissenschaftlicher Sicht als ein typologisches Gegenbeispiel zum preußischen Pendant gelten. Der Verlust der politischen Kontinuitt Preußens seit 1932/1947 korrespondierte mit dem Wegbrechen historiographischer Fundamente. ˜ber Jahrzehnte war die wissenschaftliche Arbeit auf die Bundesrepublik, auf die DDR und – nicht zu vergessen – auf Polen7 verteilt; hinzu traten bisweilen Forschungsbeitrge aus transatlantischen Historiographien. Aber die endogenen Fundamente von Forschung und Lehre, damit auch der Rekrutierung von qualifiziertem, fîr große Forschungsthemen kompetentem Nachwuchs schwanden. Mit um so grçßerem Dank ist die Mitarbeit auch solcher Autoren zu begrîßen, die hier die Summe jahrzehntelanger Forschungen gezogen und sich der mîhsamen Arbeit unterzogen haben, die – bisweilen monographienstark – weitgespannten Themenfelder aus detaillierter Sachkenntnis und mit zum Teil dezidierten Standpunkten zu bearbeiten. Dieses Handbuch ist von Anfang an so konzipiert worden, daß mit einem Grundkonsens methodologischer Homogenitt doch recht unterschiedliche Bewertungen verbunden werden konnten, Positionen, die von jedem Autor allein verantwortet werden. In dem nun vorliegenden ersten Band des Handbuchs der Preußischen Geschichte werden vor allem westeuropische und reichsgeschichtliche Akzente gesetzt. In den Bnden II und III waren die Verzahnungen Preußens mit der çstlichen, vor allem mit den polnischen Nachbarn und mit Rußland dargetan worden,8 unter fruchtbarer Anwendung spezifisch ostmitteleuropischer Forschungspotentiale und Fragestellungen. Hier hat Ilja Mieck nun sehr engagiert

7

8

rung. Die Einheit der Epoche, S. 1–163) mit Staaten- beziehungsweise Regionenkapiteln verschiedener Autoren kombiniert, whrend beim Handbuch der Preußischen Geschichte Sachmaterien mit (europisch-) beziehungsgeschichtlichen Beitrgen verbunden werden, die in der Regel epochenîbergreifend angelegt sind. – Die Beziehungen Brandenburg-Preußens zu den Habsburgern beziehungsweise zum Heiligen Rçmischen Reich deutscher Nation sind teils im Epochenkapitel selbst, teils in dem Beitrag von Frank Kleinehagenbrock behandelt worden, so daß eine gesonderte Darstellung des Verhltnisses Brandenburg-Preußens zum katholischen Sîden nicht sinnvoll erschien. Nach intensiver internationaler Diskussion und langfristiger Vorbereitung liegt vor: Bogdan Wachowiak (Hg.), Dzieje Brandenburgii-Prus na progu czasûw nowoz˙ytnych (1500–1701), Poznan´ 2001, zur Zeit seit 1618: S. 315 ff.; das Gesamtwerk ist auf vier Bnde angelegt; englischsprachige Ertrge verzeichnet bei Christopher Clark, Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia, 1600–1947, London 2006 (auch dt. 2007). Vorzîglich Klaus Zernack, Polen in der Geschichte Preußens, in: O. Bîsch (Hg.), Handbuch … (s. Anm. 4), Bd. 2, S. 377–448; sodann Martin Schulze Wessel, Die Epochen der russisch-preußischen Beziehungen, in: Wolfgang Neugebauer (Hg.), Handbuch der Preußischen Geschichte, Bd. 3, Berlin/New York 2001, S. 713–787.

Der erste Band des Handbuchs der Preußischen Geschichte

XVII

den westeuropischen Kontrapunkt gesetzt und – weit zurîckgreifend in vormoderne Epochen – sowohl franzçsische, als auch niederlndische und englische beziehungsweise großbritannische Einflîsse auf Brandenburg und Preußen akzentuiert. Er hat die diplomatisch-mchtepolitischen Konstellationen referiert, unter Einschluß von Fremd- und Feindbildern, vielleicht auch westeuropischer Normen. Die kînftige Forschung wird diese Probleme weiter diskutieren und auch die Frage, ob nicht gerade das Phnomen Preußen nur sehr bedingt solchen westlichen Normen entsprach und entsprechen konnte, lag doch z. B. gerade die namensgebende Staats-Region vor 1867/71 in ostmitteleuropischen Rumen und außerhalb der deutschen Grenzen. Preußen in seiner spezifisch mittel- und ostmitteleuropischen Fundierung entzog sich in seinen besten Zeiten nicht nur der nationalen (oder gar nationalistischen) Simplifikation, sondern zugleich der einfachen Zuordnung zum westeuropischen Entwicklungstyp. Dies ist lngst nicht mehr nur eine Erkenntnis derjenigen Ostmitteleuropahistoriographie,9 die sich preußischen Themen geçffnet hat und 9

Zu nennen sind hier vor allen Dingen die Beitrge von Klaus Zernack, vgl. seine Sammlungen: Preußen – Deutschland – Polen. Aufstze zur Geschichte der deutschpolnischen Beziehungen, hg. von Wolfram Fischer und Michael G. Mîller (= Historische Forschungen, Bd. 44), (1. Aufl.) Berlin 1991, darin insbesondere die Studie von Klaus Zernack, Preußen als Problem der osteuropischen Geschichte, S. 87–104, bes. S. 92 ff.; Ders., Nordosteuropa. Skizzen und Beitrge zu einer Geschichte der Ostseelnder, Lîneburg 1993, darin programmatisch: Von Stolbowo nach Nystad …, S. 105–131, bes. S. 122 ff.; methodisch: Ders., Das Jahrtausend deutsch-polnischer Beziehungsgeschichte als geschichtswissenschaftliches Problemfeld und Forschungsaufgabe, in: Wolfgang H. Fritze / Klaus Zernack (Hg.), Grundfragen der geschichtlichen Beziehungen zwischen Deutschen, Polaben und Polen. Referate und Diskussionsbeitrge aus zwei wissenschaftlichen Tagungen (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 18. Publikationen zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, Bd. 1), Berlin 1976, S. 3–46, bes. S. 18–24, S. 39 ff.; und das von Klaus Zernack herausgegebene Fragment von Werner Conze, Ostmitteleuropa. Von der Sptantike bis zum 18. Jahrhundert, Mînchen (1992), bes. S. 182–188 u. ç.; als Klassiker der polnischen Historiographie vgl. Oskar Halecki, Grenzraum des Abendlandes. Eine Geschichte Ostmitteleuropas, (dt.:) Salzburg (1956), S. 252–259; Matthias Weber (Hg.), Preußen und Ostmitteleuropa. Geschehensgeschichte und Verstehensgeschichte (= Schriften des Bundesinstituts fîr Kultur und Geschichte der Deutschen im çstlichen Europa, Bd. 21), Mînchen 2003, im einleitenden Beitrag von Matthias Weber, Preußen und Ostmitteleuropa, S. 11–32, bes. S. 17 ff.; Ders. (Hg.), Deutschlands Osten – Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde (= Mitteleuropa – Osteuropa, Bd. 2), Frankfurt am Main 2001, bes. die Beitrge des 1. Teils zu „kulturelle(n) und historische(n) Wechselwirkungen“. Hinzuweisen ist auf die außerordentlich fruchtbare germanistische Produktion von Klaus Garber, soeben seine Studie: Schwellenzeit. Das untergegangene alte Kçnigsberg um 1800, in: Brbel Holtz / Wolfgang Neugebauer (Hg.), Kennen Sie Preußen – wirklich? Das Zentrum „Preußen-Berlin“ stellt sich vor. Im Auftrage der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2009, S. 31–58 (Lit.); vgl. Anm. 10.

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Wolfgang Neugebauer

erkennt, daß diese ihrerseits spezifische Probleme und Erkenntnisse zugleich nutzbar machen, wenn auf die ungemein starken ostmitteleuropischen Verankerungen der preußischen Geschichte, und das nicht nur in der Frîhen Neuzeit, hingewiesen wird.10 Das Handbuch der Preußischen Geschichte mag gerade diese preußisch-europische und zugleich durchaus auch aktuelle Diskussion inspirieren. Die îbernationale Prgung Preußens in seiner weit gespannten Lage vom Niederrhein bis an die Grenzen der baltischen Landesstaaten und mit seiner altgewachsenen, ja traditionalen und vormodern multiethnischen Struktur11 macht dieses historische Phnomen in heutiger Zeit unerwartet aktuell. In seiner Offenheit entzieht es sich nationalistischer Vereinnahmung und zugleich der Unterordnung unter ex post gesetzte Normen. Die Rolle der Minoritten wird im vorliegenden Bande am Beispiel der Hugenotten dokumentiert, gleichsam stellvertretend fîr andere Minderheiten, die von der Forschung in den letzten Jahrzehnten breit diskutiert worden sind. Der Beitrag von Ursula Fuhrich-Grubert fîgt sich auch in seinem exemplarischen Charakter glîcklich in den spezifisch-westeuropischen Schwerpunkt dieses Handbuchteiles ein. Zugleich bietet er ein Beispiel fîr die ethnischpluralen Traditionen des preußischen Staates und seiner Regionen, geprgt von westlichen und von çstlichen Bevçlkerungselementen gleichermaßen – man denke fîr das 19. und 20. Jahrhundert nur an die Polen im Ruhrgebiet.12 10 Fallstudie: Wolfgang Neugebauer, Zwischen Preußen und Rußland. Rußland, Ostpreußen und die Stnde im Siebenjhrigen Krieg, in: Eckhart Hellmuth / Immo Meenken / Michael Trauth (Hg.), Zeitenwende? Preußen um 1800, Stuttgart-Bad Cannstatt 1999 (2000), S. 43–76; vgl. Wolfgang Neugebauer, Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von den alten Stnden zum Konstitutionalismus (= Quellen und Studien zur Geschichte des çstlichen Europa, hg. vom Verband der Osteuropahistoriker, Bd. 36), Stuttgart 1992; zum spteren 19. Jahrhundert vgl. zunchst die Beobachtungen bei Wolfgang Neugebauer, Funktion und Deutung des „Kaiserpalais“. Zur Residenzstruktur Preußens in der Zeit Wilhelms I., in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge, 18 (2008), S. 67–95, hier S. 91. 11 Vgl. die Studien „zur Bevçlkerungs-, Sprachen- und Siedlungsgeschichte“ vor allem Ostpreußens bei Kurt Forstreuter, Wirkungen des Preußenlandes. Vierzig Beitrge (= Studien zur Geschichte Preußens, Bd. 33), (Kçln/Berlin 1981), S. 270–382, bes.: Die Anfnge der Sprachstatistik in Preußen und ihre Ergebnisse zur Litauerfrage, S. 312–333, vgl. noch S. 361 ff.; Jîrgen Hensel, Sprachen, in: Wolfgang Scharfe (Hg.), Administrativ-Statistischer Atlas vom Preußischen Staate … Neudruck mit einer Einfîhrung und Erluterungstexten zu den 22 Atlaskarten (= Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin. Reihe: „Kartenwerk zur Preußischen Geschichte“, Lfg. 3), Berlin 1990, S. 151–163 (Lit.); Leszek Belzyt, Sprachliche Minderheiten im preußischen Staat 1815–1914. Die preußische Sprachenstatistik in Bearbeitung und Kommentar (= Quellen zur Geschichte und Landeskunde Ostmitteleuropas, Bd. 3), Marburg 1998, S. 16–36. 12 Z. B. Wolfgang Neugebauer, Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Otto Bîsch (Hg.), Handbuch … (s. Anm. 4), Bd. 2, S. 605–798, hier

Der erste Band des Handbuchs der Preußischen Geschichte

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Westeuropisches und Ostmitteleuropisches lagen in Preußen und seinen Regionen stets im Gemenge. Der chronologische Schwerpunkt des ersten Bandes liegt in den Jahrhunderten der Frîhen Neuzeit, auf den spezifischen Phnomenen in der Epoche vor- oder frîhmoderner Staatsbildung unter den Vorzeichen von gespaltenen Loyalitten und der Konkurrenz der Konfessionen. Die Lage der çstlichen Staatsregionen in beziehungsweise in der Nachbarschaft der krisengeschîttelten und doch reformbereiten polnischen Adelsrepublik zeigt manche Parallelen zur – von der lteren Forschung drastisch unterschtzten – Rolle des Heiligen Rçmischen Reichs deutscher Nation fîr Brandenburg(-Preußen) und seine mittleren und westlichen Teile vor 1806. Der frîhneuzeitliche Schwerpunkt dieses Bandes kommt neben dem chronologischen Teil aus der Feder des Herausgebers und dem, neueren Forschungsakzenten verpflichteten Abschnitt von Frank Kleinehagenbrock zur Stellung Brandenburg-Preußens zum Alten Reichs ferner in den entsprechenden Partien der Beitrge von Ilja Mieck und Wolfgang Ribbe zum Ausdruck. Letzterer bringt einen umfnglichen Abschnitt, der die spezifische Residenzenstruktur Preußens am Beispiel des Zentralraums Berlin thematisieren soll, ein Forschungsschwerpunkt, der in den letzten Jahren in Monographien und Tagungsbnden zu neuen Ertrgen gefîhrt hat.13 Wolfgang Ribbe ist besonders zu danken, daß er seinen Beitrag von der Frîhzeit bis in die Epoche des Nationalsozialismus gefîhrt hat. Das Thema „Preußen und der Nationalsozialismus“ generell, dem sich zu Beginn der Handbucharbeit

S. 744 f., mit weiterer Lit.; Hans-Ulrich Wehler, Die Polen im Ruhrgebiet bis 1918, zuerst 1961, wieder in Ders. (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Bd. 10. Geschichte), (4. Aufl.) Kçln (1973), S. 437–455, S. 550–562. 13 Vgl. mit weiterer Lit. Wolfgang Neugebauer, Residenz – Verwaltung – Reprsentation. Das Berliner Schloß und seine historischen Funktionen vom 15.–20. Jahrhundert (= Kleine Schriftenreihe der Historischen Kommission zu Berlin, Heft 1), Potsdam 1999; Helmut Engel / Jçrg Haspel / Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichtswerkstatt Spree-Insel. Historische Topographie – Stadtarchologie – Stadtentwicklung (= Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin), Potsdam (1998), darin Wolfgang Neugebauer, Die Berliner Spree-Insel im preußischen Residenzengefîge. Das 18. Jahrhundert, S. 99–114; Wolfgang Ribbe (Hg.), Schloß und Schloßbezirk in der Mitte Berlins. Das Zentrum der Stadt als politischer und gesellschaftlicher Ort (= Publikationen der Historischen Kommission zu Berlin), Berlin (2005), vor allem die Beitrge von Winfried Schich, Guido Hinterkeuser, Wolfgang Neugebauer, Horst Mçller und Martin Kohlrausch; vgl. noch Hans Wilderotter, Alltag der Macht. Berlin Wilhelmstraße, (Berlin 1998), bes. S. 153 ff.; vgl. auch informativ Dorothea Zçbl, Das periphere Zentrum. Ort und Entwicklung der Bundes- und Reichsbehçrden im GroßBerliner Stadtraum 1866/67–1914 (= Brandenburgische Historische Studien, Bd. 10), Potsdam (2001), S. 146–174.

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Manfred Schlenke annehmen wollte,14 ist – trotz gelegentlicher medialer Verwertung – nach wie vor ein Desiderat der Quellenforschung. Otto Bîsch wollte es îbernehmen, dem Gesamtwerk eine Einleitung voranzustellen. Schon in den Diskussionen der Autorenkonferenzen der achtziger Jahre wurde deutlich, daß dieser Handbuchteil historiographisch angelegt werden sollte. Dieser Aufgabe hatte sich nun der neue Herausgeber zu unterziehen. Dabei war an dem strikt wissenschaftsgeschichtlich-historiographischen Auftrag festzuhalten. Auch die Wissenschaftsgeschichte des Preußenthemas ist noch nicht geschrieben, und sie wird auch nicht so geschrieben werden kçnnen, daß – wie es ja immer gerne geschieht – aus der Distanz von Jahrzehnten oder Jahrhunderten solche Aussagen in spitzer Auswahl kompiliert werden, die aus der Sicht der heutigen Leser Kuriosittswert besitzen. Das Thema Preußen15 bedarf intensiverer Forschungen, und erst die Ertrge langwieriger Aktenstudien erklren manches, was sonst ganz unverstndlich bleiben muß. Der Abschnitt îber „Preußen in der Historiographie“ kann also nur einen ersten Abriß bieten und nur an ganz wenigen Stellen auch Fundamente neuer archivalischer Forschungen erkennbar werden lassen. Der Typus des Handbuchbeitrages erzwang dabei die Konzentration auf die Prsentation des Forschungsstandes. Die populre, außerwissenschaftliche, polemische oder affirmative Preußensicht blieb dabei also ausgeschlossen. Wie groß die Differenz der Wahrnehmung Preußens in der literarischen Welt einerseits, und etwa bei den preußischen „Untertanen“ andererseits gewesen ist, konnte an anderer Stelle gezeigt werden. Es hat lange, es hat Jahrhunderte gedauert, bis sich bei den spteren „Preußen“ der Bezug auf den Gesamtstaat bewußtseinsprgend îber andere, ltere, etwa Regionalidentitten schob,16 Identitten, fîr die die Gemeinsamkeiten mit benachbarten europischen Regionen außerhalb des „Staates“ wichtiger waren als die zunchst ja nur postulierte Zugehçrigkeit zu einem Gesamtstaat, der jetzt „Preußen“ hieß. Bekanntlich sprach noch das Titelblatt der preußischen Gesetzsammlung 14 Vgl. noch Manfred Schlenke, Nationalsozialismus und Preußen/Preußentum. Bericht îber ein Forschungsprojekt, in: O. Bîsch (Hg.), Das Preußenbild … (s. Anm. 2), S. 247–264, bes. S. 254 ff. 15 Vgl. z. B. Wolfgang Neugebauer (Hg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts (= Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge, Beiheft 8), Berlin 2006 – mit den dort gegebenen Belegen und Verweisen. 16 Dazu Wolfgang Neugebauer, Zur Geschichte des preußischen Untertanen – besonders im 18. Jahrhundert, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, Neue Folge, 13 (2003), S. 141–161; vgl. noch Ders., Staatliche Einheit und politischer Regionalismus. Das Problem der Integration in der brandenburg-preußischen Geschichte bis zum Jahre 1740, in: Wilhelm Brauneder (Hg.), Staatliche Vereinigung: Fçrdernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte. Tagung der Vereinigung fîr Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 13.3.–15.3.1995 (= Beihefte zu „Der Staat“, Heft 12), Berlin 1998, S. 49–87, hier S. 68 ff.

Der erste Band des Handbuchs der Preußischen Geschichte

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bis zum Jahre 1806 im vormodernen Plural von den „Kçniglichen Preußischen Staaten“. Die Selbst- und die Fremdwahrnehmung Preußens, zumal in zunehmend politisch aufgeladenen Populr-Stereotypen, bleibt jenseits vorliegender Einzelstudien ein fruchtbares Ttigkeitsfeld kînftiger kulturwissenschaftlicher Forschung. Dabei ist freilich mehr als bislang îblich zu unterscheiden, was an Wahrnehmungen nur vermutet, aus heutiger Sicht also doch eher unterstellt wird, und was tatschlich und quellensicher als Wahrnehmung bei Menschen vergangener, untergegangener Kulturen nachgewiesen werden kann. Auch fîr solche Fragestellungen bieten die îberlieferten Quellenmassen der preußischen Archive reiches Material. So mag dieses Handbuch zugleich Bilanz und Neubeginn historischer Forschungen auf preußischem Felde markieren, ein Arbeitsgebiet, daß erstaunliches Interesse auch außerhalb deutscher Grenzen und jenseits unseres Kontinents findet.17 Um so mehr ist der Autorin und den Autoren dieses Bandes zu danken, daß sie es mit ihrem Einsatz – und trotz mancher Widrigkeiten! – ermçglicht haben, diese Arbeit abzuschließen. Das Handbuch der Preußischen Geschichte ist also kein Torso geblieben, es konnte unter Anpassung an das heute Machbare abgeschlossen werden. Als eine sprechende Kuriositt mag es empfunden werden, daß die Hlfte dieses ersten Bandes im Freistaat Bayern geschrieben worden ist. Nachdem die Forschungsstelle der Historischen Kommission zu Berlin vor mehr als zehn Jahren geschlossen wurde, war es ein glîcklicher Umstand, daß nun die Infrastruktur des Lehrstuhls fîr Neuere Geschichte an der Julius-Maximilians-Universitt Wîrzburg zur Verfîgung stand, um diesen Band in wissenschaftlicher wie in technischer Hinsicht zu ermçglichen. Mein Assistent, Herr Dr. Frank Kleinehagenbrock, hat nach dem Ausfall anderer Autoren einen bedeutenden Beitrag selbst verfaßt, und er hat zudem wichtige redaktionelle Arbeit îbernommen. Seinem Anteil am Zustandekommen dieses Bandes und damit zum Abschluß des Handbuchprojektes insgesamt ist auf dem Titelblatt Rechnung getragen worden. Frau Ramona Endres hat – einmal mehr – oft Unmçgliches ermçglicht und ohne erkennbare Erschçpfungserscheinungen bis zum Schluße durchgehalten. Herr Paul William unterstîtzte die Registerarbeiten in bewhrter Weise. An redaktionellen Arbeiten und dem Lesen der Korrekturen waren Herr David Amthor, Herr Alexander Bagus, Herr Sebastian Hartstang, Frau Anna Henig, Herr Florian Raab, Frau Julia Raffler, Herr Mike Sopp, Herr Michael Storch und nicht zuletzt Frau Anna Zander beteiligt. Ihnen allen, die diese Last neben vielem Sonstigen gestemmt haben, sei herzlich gedankt. Auch nachdem die Zitierweise18 – wie schon beim Band III (2001) – vereinfacht worden war, ging das, was von dem Lehrstuhl fîr das Handbuchprojekt geleistet werden mußte, bis hart an das Limit des Zu17 Wie Anm. 7. 18 Zur Zitierweise vgl. Bd. III dieses Handbuches, im Vorwort S. 11.

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mutbaren. Die Stiftung Seehandlung hat die Bnde I und III finanziell unterstîtzt. Ihr und dem Verlag Walter de Gruyter ist besonders zu danken. Der Verlag hat auch in Zeiten, in denen dem Handbuch von wissenschaftlicher Seite Gefahren drohten, das Projekt nicht nur unterstîtzt, sondern entscheidend gestîtzt. Und so zeigen die Quellen, daß das Haus Walter de Gruyter – mit seinen Vorgngerverlagen ja selbst ein Stîck preußischer Kultur- und Wissenschaftsgeschichte – an diesem Werk weit strker beteiligt ist, als dies erwartet werden durfte. Es war Otto Hintze, der im Jahre 1900 dem Wunsch nach einem Handbuch der Preußischen Geschichte Ausdruck gegeben hat.19 Es hat mehr als hundert Jahre gedauert, bis dieses Ziel erreicht werden konnte, unter Bedingungen, die hier geschildert worden sind. Vielleicht kommen ja fîr preußische Forschungen auch wieder einmal bessere Zeiten. Erreicht wurde das Mçgliche. Wir haben uns bemîht.

19 Otto Hintze in seiner berîhmten Rezension der „Preußischen Geschichte“ des Kçnigsberger Ordinarius Hans Prutz, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 13 (1900), S. 276–280, hier S. 276.

A. Einfîhrung in das Gesamtwerk

Preußen in der Historiographie Epochen und Forschungsprobleme der Preußischen Geschichte Von Wolfgang Neugebauer Bibliographie Bibliographische Hilfsmittel: Eine Bibliographie zur preußischen Geschichte existiert nicht. Zum Stand der frîhen 1980er Jahre: Wolfgang Neugebauer, Auswahlbibliographie zur preußischen Geschichte, in: Otto Bîsch / Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Geschichte 1648 – 1947. Eine Anthologie, 3 (= VerçffHistKommBerlin, 52/3), Berlin/New York 1981, S. 1677 – 1764, bes. S. 1693 – 1702; (Gerd Heinrich), Brandenburg-Preußen, in: Dahlmann-Waitz. Quellenkunde der deutschen Geschichte. Bibliographie der Quellen und der Literatur zur deutschen Geschichte, Lfg. 56, Stuttgart 101987, vgl. ferner in Bd. 7, Stuttgart 1992, Abschnitt 314/ 315; Karl Kletke, Die Quellenschriftsteller zur Geschichte des Preußischen Staats, nach ihrem Inhalt und Werth dargestellt, Berlin 1858 (noch nicht ersetzt); Ders., Urkunden-Repertorium fîr die Geschichte des Preußischen Staats, Berlin 1861; vgl. ergnzend Carl Kletke, Literatur îber das Finanzwesen des Preußischen Staats (= Literatur îber das Finanzwesen des Deutschen Reichs und der deutschen Bundesstaaten, 2), Berlin 31876; Heinrich Jilek / Herbert Rister / Hellmuth Weiss (Bearb.), Bîcherkunde Ostdeutschlands und des Deutschtums in Ostmitteleuropa (= Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, 8), Kçln/Graz 1963; fîr die polnische Forschung: Bogdan Wachowiak (Red.), Dzieje Brandenburgii i Prus w historiografii, Warzawa/Poznan´ 1989; als Handbuch: Ders., Dzieje Brandenburgii-Prus na progu czasûw nowoz˙ytnych (1500 – 1701) (= Historia Prus, 1), Poznan´ 2001; Hans-Joachim Schreckenbach (Bearb.), Bibliographie zur Geschichte der Mark Brandenburg, 1 (= Verçffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam, 8), Weimar 1970; Tl. 5, bearb. von Helmut Schçnfeld / Hans-Joachim Schreckenbach (= Verçffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam, 20), Weimar 1986; Ernst Wermke, Bibliographie der Geschichte von Ost- und Westpreußen bis 1929, bearb. im Auftrag der Historischen Kommission fîr ost- und westpreußische Landesforschung. ND der Ausgabe 1933 mit ergnzendem Nachtrag, Aalen 1962; zu Epochen und Personen s. noch: Horst Dewitz, Auswahlbibliographie, in: Ingrid Mittenzwei / Karl-Heinz Noack (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte vor 1789 (= Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut fîr Geschichte, Studienbibliothek DDR – Geschichtswissenschaft, 2), Berlin 1983, S. 341 – 350; und Horst Dewitz, Auswahlbibliographie, in: Gustav Seeber / Karl-Heinz Noack (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte nach 1789 (= Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut fîr Geschichte. Studienbibliothek DDR-Geschichtswissenschaft, 3), Berlin 1983, S. 317 – 353; Gabriele Jochums (Bearb.), Friedrich Wilhelm I. Schrifttum von 1688 bis 2005 (=

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Verçffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Arbeitsberichte, 6), Berlin 2005; Herzeleide Henning / Eckart Henning (Bearb.), Bibliographie Friedrich der Grosse 1786 – 1986. Das Schrifttum des deutschen Sprachraums und der ˜bersetzungen aus Fremdsprachen, Berlin/New York 1988; Karl Erich Born (Hg.), Bismarck-Bibliographie. Quellen und Literatur zur Geschichte Bismarcks und seiner Zeit, bearb. v. Willy Hertel, Kçln/Berlin 1966; umfangreiche und gut ausgewhlte bibliographische Angaben bei Hans-Christof Kraus, Kultur, Bildung und Wissenschaft im 19. Jahrhundert (= Enzyklopdie deutscher Geschichte, 82), Mînchen 2008; Frank-Lothar Kroll, Kultur, Bildung und Wissenschaft im 20. Jahrhundert (= Enzyklopdie deutscher Geschichte, 65), Mînchen 2003. Ausgewhlte Gesamtdarstellungen (in chronologischer Folge): (Caspar Abel), Preußische und Brandenburgische Staats-Historie, Leipzig/Stendal (1)1710; Carl Friedrich Pauli, Allgemeine preußische Staats-Geschichte samt aller dazu gehçrigen Kçnigreichs. Churfîrstenthums, Herzogthîmer, Fîrstenthîmer, Graf- und Herrschaften aus bewhrten Schriftstellern und Urkunden bis auf gegenwrtige Regierung, 8 Bde., Halle 1760 – 1769; Ludwig von Baczko, Geschichte Preußens, 6 Bde., Kçnigsberg 1792 – 1800 (mit kritischen Akzenten aus altpreußischer Perspektive); Leopold Ranke, Neun Bîcher Preußischer Geschichte, 3 Bde., Berlin 1847/48; Leopold von Ranke, Zwçlf Bîcher Preußischer Geschichte (= Gesamt-Ausgabe der Deutschen Akademie. Leopold von Ranke’s Werke), 1 – 3, Mînchen 1930; Johann Gustav Droysen, Geschichte der Preußischen Politik, 14 Bde. in 5 Teilen, Leipzig 1855 – 1886; vgl. Horst Walter Blanke (Hg.), Johann Gustav Droysen. Historik. Supplement: Droysen-Bibliographie, Stuttgart/Bad Cannstatt 2008, S. 51, S. 84; Wilhelm Fix, Die Territorialgeschichte des preußischen Staates im Anschluß an zwçlf historische Karten, Berlin 31884 (Hilfsmittel); Hans Prutz, Preußische Geschichte, 4 Bde., Stuttgart 1900 – 1902; vgl. dazu die Rez. von Otto Hintze, in: ForschBrandPrG 13 (1900), S. 276 – 289, 14 (1901), S. 322 – 325, 16 (1903), S. 304 – 306, vgl. auch 27 (1914), S. 617; Max Maurenbrecher, Die Hohenzollern-Legende. Kulturbilder aus der preußischen Geschichte vom 12. bis zum 20. Jahrhundert, 2 Bde., Berlin (Verlag Buchhandlung Vorwrts) (1906) (Auftragswerk der SPD: S. V f.); Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fînfhundert Jahre vaterlndischer Geschichte, Berlin 1915; Max Braubach, Der Aufstieg Brandenburg-Preußens, Freiburg im Breisgau 1933, dazu die Rez. von Carl Hinrichs, in: ForschBrandPrG 48 (1936), S. 420 – 426; (Richard Dietrich [Hg.]), Preußen. Epochen und Probleme seiner Geschichte, Berlin 1964; Ders., Kleine Geschichte Preußens, Berlin 1966; Gerhard Oestreich, Das Reich – Habsburgische Monarchie – Brandenburg-Preußen von 1648 bis 1803, in: Fritz Wagner (Hg.), Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklrung (= Handbuch der europischen Geschichte, 4), Stuttgart 1968, S. 378 – 475; Gînter Vogler, Preußen. Von den Anfngen bis zur Reichsgrîndung, Berlin 41975 (marxistisch-leninistischer Leitfaden aus der DDR); Gerd Heinrich, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt am Main/Berlin/Wien (2)1984 (konservativ); Ingrid Mittenzwei, Brandenburg-Preußen 1648 – 1789. Das Zeitalter des Absolutismus in Text und Bild, Berlin beziehungsweise Kçln 1987 (flexiblere DDR-Position); Stanislaw Salmonowicz, Preußen. Geschichte von Staat und Gesellschaft (= Martin-Opitz-Bibliothek. Schriften, 2), Herne 1995 [Orig.: Prusy. Dzieje pan´stwa i społeczen´stwa, Poznan´ 1987]; Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern, 1: Anfnge, Landesstaat und monarchische Autokratie, Stuttgart/Berlin/Kçln 1996; 2: Dynastie im skularen Wandel. Von 1740 bis in das 20. Jahrhundert, Stuttgart 2003; Philip G. Dwyer (Hg.), The Rise of Prussia, Harlow 2000; Ders. (Hg.), Modern Prussian History 1830 – 1947. Harlow

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2001; Frank-Lothar Kroll, Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates, Paderborn u. a. 2001; Michel Kerautret, Histoire de la Prusse, Paris 2005; Wolfgang Neugebauer, Die Geschichte Preußens. Von den Anfngen bis 1947, Mînchen/ Zîrich 32007; Christopher Clark, Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600 – 1947, Mînchen 2007 [Orig.: Iron Kingdom. The Rise and Downfall of Prussia, 1600 – 1947, London u. a. 2006]; Frank-Lothar Kroll, Die Hohenzollern, Mînchen 2008; ergnzend in systematischer Anordnung: Rudolf von Thadden, Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates, Mînchen 1981; weitere Gesamtdarstellungen in Auswahl verzeichnet bei W. Neugebauer, Auswahlbibliographie (s. unter Bibliographische Hilfsmittel), S. 1687 – 1689. Aufsatzsammlungen und Anthologien mit historiographischen Beitrgen: (Peter Bachmann / Inge Knoth [Hg.]), Preußen. Legende und Wirklichkeit, Berlin 1985; Dirk Blasius (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 111), Kçnigstein im Taunus 1980 (mit guter Einteilung des Herausgebers S. 9 – 46); Rîdiger vom Bruch, Gelehrtenpolitik, Sozialwissenschaften und akademische Diskurse in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Bjçrn Hofmeister / Hans-Christoph Lies, Stuttgart 2006; Rîdiger vom Bruch / Rainer A. Mîller (Hg.), Historikerlexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart, Mînchen 22002; Otto Bîsch (Hg.), Das Preußenbild in der Geschichte. Protokoll eines Symposions (= VerçffHistKommBerlin, 50. Forschungen zur Geschichte Preußens), Berlin/New York 1981; Ders. / Michael Erbe (Hg.), Otto Hintze und die moderne Geschichtswissenschaft. Ein Tagungsbericht (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 38), Berlin 1983; O. Bîsch / W. Neugebauer, s. o., 1; Walter Bussmann, Wandel und Kontinuitt in Politik und Geschichte. Ausgewhlte Aufstze zum 60. Geburtstag, hg. v. Werner Pçls, Boppard am Rhein 1973; Lothar Dralle (Hg.), Preußen – Deutschland – Polen im Urteil polnischer Historiker. Eine Anthologie. Mit einem Vorwort von Klaus Zernack, 1 (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 37), Berlin (1983) (mehr nicht ersch.); Johann Gustav Droysen, Abhandlungen. Zur neueren Geschichte, Leipzig 1876; Heinz Duchhardt (Hg.), Nationale Geschichtskulturen – Bilanz, Ausstrahlung, Europabezogenheit. Beitrge des internationalen Symposions in der Akademie der Wissenschaften und Literatur, Mainz, vom 30. September bis 2. Oktober 2004 (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Jg. 2006, 4), Mainz/Stuttgart 2006; Max Duncker, Abhandlungen aus der Neueren Geschichte, Leipzig 1887; Michael Erbe (Hg.), Berlinische Lebensbilder. Geisteswissenschaftler (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 60), Berlin 1989; Karl Dietrich Erdmann (Hg.), Preußen. Seine Wirkung auf die deutsche Geschichte, Stuttgart 1985; Lothar Gall (Hg.), Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945 (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 42), Kçln/ Berlin 1971; Dietrich Gerhard, Gesammelte Aufstze (= Verçffentlichungen des Max-Planck-Instituts fîr Geschichte, 54), Gçttingen 1977; Hans Hallmann (Hg.), Revision des Bismarckbildes. Die Diskussion der deutschen Fachhistoriker 1945 – 1955 (= Wege der Forschung, 285), Darmstadt 1972; Notker Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988; Fritz Hartung, Staatsbildende Krfte der Neuzeit. Gesammelte Aufstze, Berlin (1961); Reimer Hansen / Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persçnlichkeiten und Institutionen (= VerçffHistKommBerlin, 82), Berlin/New York 1992; Carl Hinrichs, Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hg. v. Gerhard Oestreich (= VerçffHistKommBerlin beim Friedrich-Meinecke-In-

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stitut der Freien Universitt Berlin, 10), Berlin 1964; Otto Hintze, Historische und Politische Aufstze, 4 Bde., Berlin 1908; Ders., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, 2., erw. Aufl., Gçttingen 1964; Hans Hîrter / Hans Woller (Hg.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte fîr Zeitgeschichte, 90), Mînchen 2005; Bernhart Jhnig (Hg.), 75 Jahre Historische Kommission fîr ost- und westpreußische Landesforschung. Forschungsrîckblick und Forschungswînsche (= Tagungsberichte der Historischen Kommission fîr ost- und westpreußische Landesforschung, 13), Lîneburg 1999; Ders. / Jîrgen Kloosterhuis, Preußens erstes Provinzialarchiv. Zur Erinnerung an die Grîndung des Staatsarchivs Kçnigsberg vor 200 Jahren. … (= Tagungsberichte der Historischen Kommission fîr ost- und westpreußische Landesforschung, 20), Marburg 2006; Jîrgen Kloosterhuis (Hg.), Archivarbeit fîr Preußen. Symposion der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz aus Anlaß der 400. Wiederkehr der Begrîndung seiner archivischen Tradition (= Verçffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Arbeitsberichte, 2), Berlin 2000; Wolfgang Kîttler / Jçrn Rîsen / Ernst Schulin (Hg.), Geschichtsdiskurs, 5 Bde., Frankfurt am Main 1993 – 1999; Christiane Liermann / Gustavo Corni / Frank-Lothar Kroll (Hg.), Italien und Preußen. Dialog der Historiographien (= Reihe der Villa Vigoni, 18), Tîbingen 2005; Friedrich Meinecke, Zur Geschichte der Geschichtsschreibung, hg. von Eberhard Kessel (= Friedrich Meinecke, Werke, 7), Mînchen 1968; I. Mittenzwei / K.-H. Noack, s. o., 1; Horst Mçller, Aufklrung und Demokratie. Historische Studien zur politischen Vernunft, hg. v. Andreas Wirsching, Mînchen 2003; Klaus Neitmann (Hg.), Im Dienste von Verwaltung, Archivwissenschaft und brandenburgischer Landesgeschichte. 50 Jahre Brandenburgisches Landeshauptarchiv. Beitrge der Festveranstaltung vom 23. Juni 1999 (= Quellen, Findbîcher und Inventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 8), Frankfurt am Main 2000; Wolfgang Neugebauer / Ralf Prçve (Hg.), Agrarische Verfassung und politische Struktur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte Preußens 1700 – 1918 (= Innovationen, 7), Berlin 1998; Wolfgang Neugebauer (Hg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts (= ForschBrandPrG NF, Beiheft 8), Berlin (2006); Gerhard Oestreich, Strukturprobleme der frîhen Neuzeit. Ausgewhlte Aufstze, hg. v. Brigitta Oestreich, Berlin 1980; Jan M. Piskorski (Hg.), Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung im Spannungsfeld von Wissenschaft und Politik. Disziplinen im Vergleich (= Deutsche Ostforschung und polnische Westforschung, 1), Osnabrîck/Poznan´ 2002; Hans Rosenberg, Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozialund Wirtschaftsgeschichte (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 31), Gçttingen 1978; Hans-Jîrgen Puhle / Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rîckblick (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 6), Gçttingen 1980; Gustav Schmoller, Charakterbilder, Mînchen/Leipzig 1913; Pierangelo Schiera / Friedrich Tenbruck (Hg.), Gustav Schmoller in seiner Zeit: Die Entstehung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien (= Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, Beitrge 5), Bologna/Berlin 1989; G. Seeber / K.-H. Noack, s. o., 1; Heinrich von Sybel, Vortrge und Abhandlungen. Mit einer biographischen Einleitung von C. Varrentrapp (= Historische Bibliothek, 3), Mînchen/ Leipzig 1897; Wolfgang Treue / Karlfried Grînder (Hg.), Berlinische Lebensbilder. Wissenschaftspolitik in Berlin. Minister, Beamte, Ratgeber (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 60), Berlin 1987; Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, 9 Bde., Gçttingen 1971 – 1982; Ders., Preußen

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ist wieder chic … Politik und Polemik in zwanzig Essays (= Edition Suhrkamp, 1152), Frankfurt am Main 1983; Klaus Zernack, Preußen – Deutschland – Polen. Aufstze zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, hg. v. Wolfram Fischer und Michael G. Mîller (= Historische Forschungen, 44), Berlin 1991.

§ 1 Vorwissenschaftliche Historiographien I. Traditionen der Regionen Die Regionalitt des spteren preußischen Staates spiegelt sich in den Landestraditionen seiner frîhen Historiographien: In der erst Ordens- und dann der Landeschronistik im spteren Herzogtum Preußen an Weichsel, Pregel und Memel,1 einer Geschichtsschreibung, die sich vom Orden und seinen Traditionen emanzipierte, wird einer dieser bis in die Neuzeit wirkenden Traditionsstrnge erkennbar. Peter von Dusburgs „Chronik des Preußenlandes“2 hatte durchaus eine politische Tendenz, indem er, ganz auf den Orden und nicht auf die Geschichte des Landes fixiert, mit seinen Mitteln den „Heidenkrieg des Ordens“ rechtfertigte.3 In der Chronistik Danzigs, wie sie im 15. Jahrhundert blîhte, sind dann

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Vgl. Hartmut Boockmann, Die Geschichtsschreibung des Deutschen Ordens. Gattungsfragen und „Gebrauchssituationen“, in: Hans Patze (Hg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein im spten Mittelalter (= Vortrge und Forschungen, 31), Sigmaringen 1987, S. 447 – 469, hier S. 448; Udo Arnold, Studien zur preußischen Historiographie des 16. Jahrhunderts, Bonn 1967, S. 34, mit Verweis auf Lucas David; und auch Helmut Bauer, Peter von Dusburg und die Geschichtsschreibung des deutschen Ordens im 14. Jahrhundert in Preußen, phil. Diss. Frankfurt am Main 1935, S. 11; und Jçrg Hackmann, Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht. Landeshistorie als beziehungsgeschichtliches Problem (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, 3), Wiesbaden 1996, 27 f., mit der polnischen Literatur. Peter von Dusburg, Chronik des Preußenlandes, îbersetzt und erlutert von Klaus Scholz / Dieter Wojtecki (= Ausgewhlte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters, 25), Darmstadt 1984, darin die Einleitung, S. 7 zum Autor, zur Entstehungsgeschichte: S. 1 f., S. 8, Quellenbasis: S. 14 – 16. Hans Patze, Mzene der Landesgeschichtsschreibung im spten Mittelalter, in: Ders. (Hg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein … (s. Anm. 1), S. 331 – 370, hier S. 350 – 356, bes. S. 351; zur Quellenbasis H. Bauer, Dusburg … (s. Anm. 1), S. 19, Tendenzen: S. 19 f., S. 31, S. 49 – 52; zur Kritik vgl. noch Max Toeppen, Geschichte der Preussischen Historiographie von P. von Dusburg bis auf K. Schîtz …, Berlin 1855, S. 4, zu anderen Ordenschroniken: S. 55 – 87; und U. Arnold, Studien … (s. Anm. 1), S. 15 – 18, S. 20 – 26 u. ç., zum Folgenden S. 29 – 31; und Ders., Geschichtsschreibung im Preußenland bis zum Ausgang des 16. Jahrhunderts, in: JbGMitteldtld 19 (1970), S. 74 – 126, hier S. 84, S. 91; Walther Hubatsch, Zur

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sowohl antipolnische als auch ordenskritische Positionen beschrieben worden. Nun trat das Land an die Stelle der Ordensidee. Der „Krakauer Intellektuelle“ Jan Długosz schrieb im Sinne der „humanistischen Rhetorik“ und vor dem Hintergrund eigener politisch-diplomatischer Praxis4 zwar zur polnischen Geschichte, aber doch mit Blick auf den altpreußischen Nachbarn. Unter dem ersten preußischen Herzog Albrecht ist die Geschichtsschreibung durchaus gefçrdert worden.5 Gymnasialprofessoren, landesherrliche und stdtische Amtstrger, insbesondere Stadtschreiber, Ratsangehçrige und Geistliche traten im Herzogtum und im kçniglich-polnischen Preußen whrend des 16. und 17. Jahrhunderts hervor.6 Die hofnahe Chronistik und Landeshistoriographie bemîhte sich im çstlichen Preußen schon seit dem 16. Jahrhundert um Quellenbezug und Traditionskritik.7 So fllt auf, daß der Ordensstaat (auch) in der 4

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altpreußischen Chronistik des 16. Jahrhunderts, in: Archivalische Zeitschrift 50/51 (1955), S. 429 – 462, hier S. 440. Brigitte Kîrbis, Johannes Długosz als Geschichtsschreiber, in: H. Patze (Hg.), Geschichtsschreibung und Geschichtsbewußtsein … (s. Anm. 1), S. 483 – 496, hier S. 483, S. 486 – 490; H. Boockmann, Geschichtsschreibung … (s. Anm. 1), S. 459; und Udo Arnold, Landesbeschreibungen Preußens, in: Hans-Bernd Harder (Hg.), Landesbeschreibungen Mitteleuropas vom 15. bis 17. Jahrhundert. Vortrge der 2. internationalen Tagung des „Slawenkomitees“ im Herder-Institut Marburg an der Lahn (= Schriften des Komitees der Bundesrepublik Deutschland zur Fçrderung der Slawischen Studien, 5), Kçln/Wien 1983, S. 79 – 123, hier S. 86 f., S. 93 f., S. 96; vgl. auch Jan DŁugosz, Banderia Prutenorum, hg. v. Karol Gûrski, Warszawa 1958, zum Werk S. 17 – 29. U. Arnold, Studien … (s. Anm. 1), S. 34; Lucad David: Walther Hubatsch, Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Deutschordens-Hochmeister und Herzog in Preußen 1490 – 1568 (= Studien zur Geschichte Preußens, 8), Heidelberg 1960, S. 280. Jerzy Serczyk, Die bîrgerliche Geschichtsschreibung der großen Stdte des kçniglichen Preußen als interne Kommunikation des stdtischen Machtapparats, in: Marian Biskup / Klaus Zernack (Hg.), Schichtung und Entwicklung der Gesellschaft in Polen und Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Parallelen, Verknîpfungen, Vergleiche (= VjschrSozialWirtschG, Beihefte, 74), Wiesbaden 1983, S. 192 – 195, hier S. 194; lteres Standardwerk: Franz X. von Wegele, Geschichte der Deutschen Historiographie seit dem Auftreten des Humanismus (= Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit, 20), Mînchen/Leipzig 1885, S. 313 – 318, S. 431; zu Lucas David, Caspar Schîtz, zu Hennenberger und Hartknoch zuletzt im ˜berblick: Ernst Opgenoorth, Stationen der Geschichtsschreibung des Preußenlandes von Peter von Dusburg bis zu Hartmut Boockmann, in: Bernhart Jhnig (Hg.), 75 Jahre Historische Kommission fîr Ost- und Westpreußische Landesforschung. Forschungsrîckblick und Forschungswînsche (= Tagungsberichte der Historischen Kommission fîr ost- und westpreußische Landesforschung, 13), Lîneburg 1999, S. 113 – 137, hier S. 122 f. So J. Hackmann, Ostpreußen … (s. Anm. 1), S. 31 f. mit Anm. 21; M. Toeppen, Historiographie … (s. Anm. 3), S. 134, S. 138, S. 142 u. ç., S. 222 – 262; zum Folgenden Wolfgang Wippermann, Der Ordensstaat als Ideologie. Das Bild des Deutschen Ordens in der deutschen Geschichtsschreibung und Publizistik (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 24), Berlin 1979, S. 75 – 80, Zitat: S. 75.

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deutschen Geschichtsschreibung in Preußen whrend des 16., 17. und 18. Jahrhunderts „îberwiegend negativ beurteilt worden“ ist (Wippermann). ˜ber Caspar Schîtz und den Thorner Professor Christoph Hartknoch, îber den Danziger Gottfried Lengnich bis hin zum Kçnigsberger Ludwig von Baczko im spten 18. Jahrhundert reicht diejenige historiographische Tradition, die Selbstndigkeit des Landes beziehungsweise die stdtische Autonomie in Polen oder gegenîber den Hohenzollern im Herzogtum beziehungsweise Kçnigreich historiographisch zu belegen. Deshalb gewannen stndische Quellen und Themen seit dem 16. Jahrhundert und bis in die Zeit um 1800, als Landestradition und Aufklrungsdenken die Historiographie inspirierten, im çstlichen Preußen ein besonderes Gewicht.8 In der großen Geschichte Preußens, die Ludwig von Baczko in sechs Bnden vorlegte, zeigt sich ein ganz erstaunliches absolutismuskritisches Potential. Einiges spricht dafîr, daß die ltere brandenburgische Landeshistorie das Niveau derjenigen im spteren West- und Ostpreußen nicht erreichte.9 Studierte 8

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Vgl. schon M(ax) Toeppen, Vorrede, in: Ders. (Hg.), Acten der Stndetage Preussens unter der Herrschaft des Deutschen Ordens, 1, Leipzig 1878, S. VI; J. Hackmann, Ostpreußen … (s. Anm. 1), S. 35 ff., S. 41 ff., zum Telos Lengnichs: S. 46 (gegen polnische Ansprîche und solche des Heiligen Rçmischen Reichs); die wichtige historiographische Einleitung bei Hartmut Boockmann, Ostpreußen und Westpreußen (= Deutsche Geschichte im Osten Europas), (Berlin 1992), S. 31 ff.; zu Lengnich: WŁodziemierz Zientara, Gottfried Lengnich. Ein Danziger Historiker in der Zeit der Aufklrung, 2 Tle., Torun´ 1995/96, zu seiner Geschichte des kçniglich-polnischen Preußen: 2, S. 5 – 28, S. 27: „Danziger Standpunkt“; und Walther Hubatsch, Die Entwicklung der Landesgeschichte in Altpreußen, in: Georg Droege u. a. (Hg.), Landschaft und Geschichte. Festschrift fîr Franz Petri zu seinem 65. Geburtstag am 22. Februar 1968, Bonn 1970, S. 285 – 298, hier S. 286; positive Sicht Baczkos (der eine neuere Studie verdiente!) bei Max Toeppen, Geschichte Masurens. Ein Beitrag zur preußischen Landes- und Kulturgeschichte. Nach gedruckten und ungedruckten Quellen dargestellt, Danzig 1870, 2. ND Aalen 1979, S. 409 f.; kritisches Potential: z. B. Ludwig von Baczko, Geschichte Preußens, 6, Kçnigsberg 1800, S. 304, S. 387, S. 391 (Kritik am Militrsystem Friedrich Wilhelms I.), ømterkauf: S. 393 u. ç.; dem negativen Urteil von Erich Maschke, Johannes Voigt als Geschichtsschreiber Altpreußens, in: Altpreußische Forschungen 5 (1928), S. 93 – 135, hier S. 133 f., kann ich mich nicht anschließen. Baczkos großes Werk, gekennzeichnet von vorkritischer Stoffbeherrschung, bleibt als gesamtstaatsdistanzierte Historiographie aus (ost)preußischen Traditionen in hohem Maße bemerkenswert; vgl. auch Theodor Schieder in Anm. 267 (zu Lengnich). Vgl. zur mittelalterlichen Historiographie der Mark Brandenburg Wolfgang Ribbe, Peter Hafftiz als Historiograph. Edition einer Vorrede zum Microchronicon Marchicum, in: Gerd Heinrich / Werner Vogel (Hg.), Brandenburgische Jahrhunderte. Festgabe fîr Johannes Schultze (= VerçffVGBrandenb, 35), Berlin 1971, S. 91 – 114, hier S. 91, zu den Ursachen der historiographischen Rîckstndigkeit, zum Folgenden S. 91 f. (Streben nach der „Gunst des Landesherrn“), mit Verweis auf Jobst, Garcaeus, Entzelt, Leuthinger, Angelus und Hafftiz, S. 92: „sie legten den Grundstein zur neueren Hi-

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Personen, nicht nur Juristen und Theologen, darunter dann natîrlich auch Schulmnner, schrieben hier ohne ein Stimulans, wie es die im Osten 1525 gebrochene Ordenstradition ganz offenbar gewesen ist. In der Mark dominierte das Motiv, die gelehrte und sammelnde Arbeit durch die Gunst der Dynastie fçrdern zu lassen. Die Suche nach dem Wissenschaftsmzen hat eine jahrhundertelange Tradition und die Verbindung von Geschichtsschreibung und politischer Stellungnahme auch. Schon im frîhen 15. Jahrhundert, als die frnkischen Hohenzollern im deutschen Nordosten Fuß zu fassen begannen, hat Engelbert von Wusterwitz nach „theologischen und juristischen Studien“10 eine in Fragmenten îberlieferte chronikalische Arbeit geleistet, in der er – im Sinne einer Festigung des Landfriedens – die landesherrliche Partei gegen diejenige des Adels ergriff.11 Bis in das 18. Jahrhundert hinein dominierte hier die an der Dynastie orientierte Landesgeschichtsschreibung, spter ganz wesentlich getragen von stdtischen Chronisten, Geistlichen, Schulmnnern und Gelehrten aus dem Umfeld der jungen Universitt zu Frankfurt an der Oder.12 Ihre Produkte, z. T. im 16. Jahrhundert gedruckt, besitzen fîr intensivere Studien zur frîhneuzeitlichen Landesgeschichte der Mark Brandenburg noch heute partielle Bedeutung. Da, wo diese Schriften von Wunderzeichen berichten und den annalistischen Ablauf legendenhaft anreichern, bieten sie heute interessantes storiographie der Mark Brandenburg“; F. X. v. Wegele, Historiographie … (s. Anm. 6), S. 435. 10 Felix Priebatsch, Geistiges Leben in der Mark Brandenburg am Ende des Mittelalters, in: ForschBrandPrG 12 (1899), S. 325 – 409, hier S. 387. 11 Wolfgang Ribbe, Quellen und Historiographie zur mittelalterlichen Geschichte der Mark Brandenburg, in: SchrrVGBerlin, 61, Berlin 1977, S. 3 – 81, hier S. 16; vgl. insbesondere Ders., Die Aufzeichnungen des Engelbert Wusterwitz. ˜berlieferung, Edition und Interpretation einer sptmittelalterlichen Quelle zur Geschichte der Mark Brandenburg (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 12), Berlin 1973, zur Person S. 5 – 11, Beispiel S. 131 (zu 1412); immer noch nicht ersetzt zur frîhen brandenburgischen Historiographie die Sammlung von Adolph Friedrich Riedel, Novus Codex diplomaticus Brandenburgensis … 4. Hauptteil: Sammlung der ˜berreste alter Brandenburgischer Geschichtsschreibung, 1. und einziger, Berlin 1862, darin die „Vorrede“ S. V-XXXI. 12 H(ermann) Pieper, Creusings Mrkische Chronik, in: Brandenburgia 6 (1897/98), S. 241 – 250, hier S. 249 f. (Sabinus, Jobst, Reineccius, Garcaeus); „jîngere Generation“: Leuthinger, Angelus, Hafftiz, sie schrieben „fîr das große Publikum“, vielfach ohne Originalitt; nîtzlich ferner: Werner Heegewaldt, Die Anfnge der berlinischen Historiographie im 18. Jahrhundert, Wiss. Hausarbeit zur ersten Wissenschaftlichen Staatsprîfung fîr das Amt des Studienrates, Berlin 1990, S. 12; vgl. auch Kurt Hucke, Andreas Engel und Nikolaus Leuthinger. Zwei mrkische Chronisten des 16. Jahrhunderts, in: Oberbarnimer Kreiskalender 19 (1930), S. 119 – 123, hier S. 120; Hermann Pieper, Der mrkische Chronist Andreas Engel (Angelus) aus Strausberg, 1 (= Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht der Zweiten Stdtischen Realschule zu Berlin, Ostern 1902), Berlin 1902, S. 1 – 29, hier S. 11 f., S. 17 f., seine Annalen: S. 20, S. 22.

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Material zu einer frîhneuzeitlichen Mentalittsgeschichte, so bei Angelus zum Krisenbewußtsein in der Mark Brandenburg um 1600.13 Einen neuen Aufschwung nahm die (Landes-)Geschichte im Brandenburgischen seit dem frîhen 18. Jahrhundert, im Falle des Professors Johann Christoph Bekmann, dessen große historische Beschreibung der Mark Brandenburg postum 1751/53 und fragmentarisch publiziert worden ist, vom Landesherrn unterstîtzt. Sie war eine Auftragsarbeit des ersten preußischen Kçnigs, und Bekmann erhielt außer dem Archivzugang auch amtliche Hilfe bei der Materialbeschaffung.14 Gleichwohl trat bei ihm das dynastische Motiv gegenîber der Landesgeschichte zurîck. Neben die Tradition der „dynastischgenealogischen Territorialgeschichte“, etwa die große, materialreiche „Geschichte der Churmark Brandenburg“ des Lychener Pfarrers Samuel Buchholtz15 und die (Urkunden-)Sammlungen von Privatgelehrten wie z. B. Philipp Wilhelm Gercken,16 trat, zumal zu Ende des Jahrhunderts, die juristisch-kamera13 Andreas Angelus, Annales Marchiae …, Frankfurt an der Oder 1598, z. B. S. 378, S. 384, S. 399 u. ç.; vgl. den Hafftiz-Text gedruckt bei W. Ribbe, Peter Hafftiz … (s. Anm. 9), S. 110 f. 14 Johann Christoph Bekmann, Historische Beschreibung der Chur und Mark Brandenburg …, hg. v. Bernhard Ludwig Bekmann, 1. Tl., Berlin 1751, zu den lteren mrkischen Geschichtsschreibern S. 297 – 344; ferner aus der Lit. G. Fredrich (Hg.), J. Chr. Bekmann (1641 – 1717), Beschreibung der Stadt Cîstrin (= Kçnigliches Gymnasium zu Cîstrin. Schuljahr 1913 – 1914. XXXXVI), Cîstrin 1914, S. 28 – 30; Gottfried Wentz, Die Anfnge einer Geschichtsschreibung des Bistums Brandenburg, in: ForschBrandPrG 39 (1927), S. 28 – 50, hier S. 35 – 37, S. 42, mit Lebenslauf und Verweis auf solche Werke Bekmanns, die hier nicht einschlgig sind; W. Ribbe, Quellen … (s. Anm. 11), S. 32 f.; mit weiteren Literaturangaben Reinhold Specht, Zur Historiographie Anhalts im 18. Jahrhundert, in: Sachsen und Anhalt 6 (1930), S. 257 – 305, hier S. 265 – 283, bes. S. 282; schließlich Reinhold Koser, Umschau auf dem Gebiet der brandenburgisch-preußischen Geschichtsforschung, in: ForschBrandPrG 1 (1888), S. 1 – 56, hier S. 3. 15 Gerd Heinrich, Historiographie der Bîrokratie. Studien zu den Anfngen historischlandeskundlicher Forschung in Brandenburg-Preußen (1788 – 1837), in: Ders. / Werner Vogel (Hg.), Brandenburgische Jahrhunderte … (s. Anm. 9), S. 161 – 188, Zitat: S. 182; zum Folgenden Samuel Buchholtz, Versuch einer Geschichte der Churmark Brandenburg von der ersten Erscheinung der deutschen Sennonen an bis auf jezige Zeiten, 6 Tle., Berlin 1765 – 1775, die beiden letzten Bnde auch unter dem Titel: Neueste Preußisch-Brandenburgische Geschichte …, hg. v. Johann Friedrich Heynatz, etwa: 1, Berlin 1775 (zur Regierungszeit Friedrich Wilhelms I.); in 1 (1765) die interessante „Einleitung in die Geschichte der Churmark Brandenburg. Oder Topographische Beschreibung derselben“, S. 1 – 80; dazu Johannes Schultze, Die Mark Brandenburg, 1, Berlin 1961, S. 9 („erste vollstndige brandenburgische Landesgeschichte“); Mangel der Kritik und starkes Gewicht der politischen Geschichte betont bei F. X. v. Wegele, Historiographie … (s. Anm. 6), S. 944. 16 Gottfried Wentz, Philipp Wilhelm Gercken, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, 3, Magdeburg 1928, S. 24, S. 45, hier S. 24, Genauigkeit: S. 29, Codex diplomaticus: S. 39 f.; (Johann Friedrich) Danneil, Das Salzwedelsche Urkunden-Archiv, in: All-

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listische Schule einer Historiographie aus dem Sozialnexus der Bîrokratie. Fîr dieses Phnomen, dasjenige der geschichtsschreibenden Beamten, Offiziere und Schulmnner, stehen exemplarisch August Heinrich Borgstede, der Zeitschriftenherausgeber Friedrich Ludwig Joseph Fischbach, Friedrich Wilhelm August Bratring und der gelehrte Schulrektor und Oberkonsistorialrat Anton Friedrich Bîsching.17 Im 19. Jahrhundert erlebte dieser Typus mit Magnus Friedrich von Bassewitz eine spte Blîte. Diese Autoren spielen zu einem guten Teil schon hinîber auf das Gebiet der gesamtstaatlichen Geschichte und Staatsbeschreibung seit der Zeit der Aufklrung. Sie sind jedenfalls kein brandenburgisches Spezialphnomen. In Pommern, wo nach klçsterlicher Annalistik und stdtischer Chronistik mit Johannes Bugenhagen im frîhen 16. Jahrhundert die Landesgeschichte des Gesamtterritoriums aufblîhte, hat in Humanismus und Renaissance der Herzog starken und initiierenden Anteil an der Historiographie genommen. Bugenhagen und Thomas Kantzow hatten Zugang zu gutem Material; Kantzow war selbst in der herzoglichen Kanzlei zu Stettin ttig. In der Mitte des 17. Jahrhunderts hat der Schulmann Johannes Micraelius die Geschichte Pommerns seit den Germanen geschildert, mit wertvollen Nachrichten aus der Epoche des Dreißigjhrigen Krieges.18 Im spten 18. Jahrhundert wird der Verfasser der großen Beschreibung Pommerns, der Konsistorialrat Ludwig Wilhelm Brîggemann, dem gemeines Archiv fîr die Geschichtskunde des Preußischen Staats 14 (1834), S. 132 – 139, hier S. 132; W. Heegewaldt, Anfnge … (s. Anm. 12), S. 30 f.; vgl. auch Georg Gottfried Kîster, zu ihm etwa J. Schultze, Brandenburg … (s. Anm. 15), 1, S. 9; und sehr anerkennend F. X. v. Wegele, Historiographie … (s. Anm. 6), S. 715; seltenstes lteres Schrifttum verzeichnet bei Georg Gottfried Kîster, Bibliotheca Historica Brandenburgica …, Breslau 1743, und Nachtrge; dieses Werk ist fîr die Arbeit an lteren Themen zur preußischen Geschichte auch heute noch von großer praktischer Bedeutung. 17 Zusammenfassend G. Heinrich, Historiographie … (s. Anm. 15), S. 163, S. 165 – 167; Nachrichten aus dem Leben des Herrn geheimen Ober-Finanzraths Borgstede, in: Denkwîrdigkeiten und Tagesgeschichte der Mark Brandenburg 3 (1797), S. 113 f. (S. 114: „Mitglied der çkonomischen Gesellschaft in Potsdam“); Wolfgang Neugebauer, Anton Friedrich Bîsching 1724 – 1793, in: JbBrandenbLdG 58 (2007), S. 84 – 101, hier S. 91, S. 98 f.; nîtzlich: Valentin Heinrich Schmidt / Gebhard Mehring (Hg.), Neuestes gelehrtes Berlin, oder literarische Nachrichten von jetztlebenden Berlinischen Schriftstellern und Schriftstellerinnen, 2 Tle., Berlin 1795, ND Leipzig 1973, etwa S. 60 f., S. 118 u. ç. 18 Rembert Unterstell, Klio in Pommern. Die Geschichte der pommerschen Historiographie 1815 bis 1945 (= Mitteldeutsche Forschungen, 113), Kçln/Weimar/Wien 1996, S. 8 – 10; Roderich Schmidt, Die „Pomerania“ als Typ territorialer Geschichtsdarstellung und Landesbeschreibung des 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts (BugenhagenKantzow-Lubinus), in: H. B. Harder (Hg.), Landesbeschreibungen … (s. Anm. 4), S. 49 – 71, hier S. 49, S. 56; J(osef) Deutsch, Pommersche Geschichtsschreibung bis zum Dreißigjhrigen Krieg …, in: Pommersche Jahrbîcher 23 (1926), S. 1 – 36, hier S. 20, S. 22 f., Micraelius: S. 34 f.

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Kontext von Historiographie und Bîrokratie zugerechnet,19 wiewohl bei ihm die Landeskunde entschieden dominiert. Im Magdeburgischen hat der Jurist, Kriegs- und Domnenrat Johann Christoph Dreyhaupt20 mit seiner Beschreibung des Saalkreises (1749/50 beziehungsweise 1755) in vorkritischer Zeit ein voluminçses Kompendium geliefert, das auch fîr die neueste Forschung und fîr moderne Fragestellungen ein materialbasiertes Grundlagenwerk zur mitteldeutschen Region des preußischen Staates bleibt. II. Dynastische Mythen und frîhe Staatsgeschichte Um 1700, als die brandenburg-preußische Diplomatie auf die Standeserhebung der Kçnigskrone hinarbeitete, war der Gesamtstaat in historiographischer Hinsicht insofern schlecht gerîstet, als fîr Alter und Wîrde der Dynastie nicht eigentlich kçnigsgleiche Qualitt behauptet werden konnte. Nicht daß die Hohenzollern keine Traditionen besessen htten. Vielleicht besaßen sie sogar zu viele, wie die Dezentralitt ihrer Grablegen zeigen wîrde. Nachdem die – auch von der Hohenzollerndynastie behauptete Rîckfîhrung der Familientradition auf antike Wurzeln oder der Anschluß an das (angeblich) rçmische Haus der Colonna nicht mehr zu halten gewesen war – entstand ein historiographisches Legitimationsdefizit. Nicht die mythenschwangere Vorgeschichte kçniglicher Geschlechter ganz im Osten des Gesamtstaats wurde nun genutzt; vielmehr wurde in Berlin auf eine im Ursprung schwbische, dort im 16. Jahrhundert konstruierte Hauslegende zurîckgegriffen, nach der ein zur Zeit Karls d. Gr. lebender Graf Thassilo als Stammvater aller Hohenzollern zu gelten habe.21 Im spten 16. Jahrhundert scheint diese Tradition am Hofe zu Cçlln an der Spree 19 Vgl. G. Heinrich, Historiographie … (s. Anm. 15), S. 169. 20 Erich Neuss, Johann Christoph von Dreyhaupt, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, 5, Magdeburg 1930, S. 103 – 120, bes. S. 110 ff. zum Wert des Werkes; Hanns Freydank, Dreyhaupt, Johann Christoph, in: NDB, 4, Berlin 1959, S. 123 f. 21 Zum gesamten Komplex Wolfgang Neugebauer, Das historische Argument um 1701. Politik und Geschichtspolitik, in: Johannes Kunisch (Hg.), Dreihundert Jahre Preußische Kçnigskrçnung. Eine Tagungsdokumentation (= ForschBrandPrG NF, Beiheft 6), Berlin (2002), S. 27 – 48 (zu den Grablegen: S. 29); Rudolf Freiherr von Stillfried / Traugott Maercker, Hohenzollerische Forschungen, 1, Berlin 1847, S. 2 – 10, auch zur „politischen Tendenz“ der lteren Hohenzollern-Genealogien; zu den (ost-)preußischen Traditionen und Mythen vgl. immer noch Theodor Schieder, Die preußische Kçnigskrçnung von 1701 in der politischen Ideengeschichte, zuerst 1935, wieder in: Ders., Begegnungen mit der Geschichte, Gçttingen (1962), S. 183 – 209, hier S. 287 – 294, und S. 198 – 200; vgl. Karin Friedrich, The Other Prussia. Royal Prussia, Poland and Liberty 1569 – 1772, Cambridge 2000, S. 159 – 166. – Die (ost)preußischen Traditionen wurden in der (gesamt)staatlichen Geschichtspolitik um 1700 aber gerade nicht rezipiert und genutzt.

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schon einmal bekannt gewesen,22 aber nicht genutzt, sondern wieder in Vergessenheit geraten zu sein. Aber bei den frnkischen Hohenzollern hatte der Thassilo-Mythos im 17. Jahrhundert Fuß gefaßt. Der Bayreuther Hof- und Hospitalprediger Johann Wolfgang Rentsch verfaßte, und zwar auf markgrflichen Befehl, ein genealogisch-historisches Geschichtswerk îber „Aufwachsund Abstammung auch Helden-Geschichte und Groß-Thaten“ des Gesamthauses „Brandenburg“23 ; in ihm wurde Thassilo – wenn auch mit Vorsicht – als Ahnherr reklamiert. In Berlin ist dann, nicht zufllig alsbald nach der Krçnung, nmlich im Jahre 1703, in einer prominenten Buchdruckerei und in prchtiger Ausstattung das Werk des schwbischen Professors und wîrttembergischen Rats Johann Ulrich Pregitzer erschienen, mit dem nun auch fîr die brandenburgpreußische Hohenzollerntradition der Thassilomythos amtlich propagiert und fîr das folgende Jahrhundert verankert worden ist. Damit wurde den Hohenzollern die Abstammung aus „Kçniglichem Frnkischen Geblît“ vindiziert und mit Karl d. Gr. verknîpft. Auch der aufgeklrteste Preußenkçnig hat an Thassilos Historizitt fest geglaubt.24 Im Vergleich zu anderen europischen Staaten und Herrschaften ist am brandenburgischen (-preußischen) Hof erst sehr spt, nach der Mitte des 17. Jahrhunderts, die Position eines bestallten Historiographen geschaffen worden.25 Aber Johann Hîbner, Joachim Pastorius oder Martin Schoockius haben, trotz des ihnen gewhrten Archivzuganges, das Erwartete nicht geleistet. Die brandenburgischen Geheimen Rte haben freilich beim Umgang mit hofhistorio22 Vgl. Rainer-Maria Kiel, Die Hauschronik der Grafen von Zollern. Eine Prachthandschrift im Bestand der Kanzleibibliothek Bayreuth. Beschreibung, Geschichte, Wirkung, in: ArchGObFrank 68 (1988), S. 121 – 148, hier S. 123 – 125, S. 134, S. 140 f., Rentsch: S. 144 f., Pregitzer: S. 146 f. 23 Johann Wolfgang Rentsch, Brandenburgischer Ceder-Hain …, Bayreuth 1682, bes. S. 47, S. 269 – 271; vgl. G. G. Kîster, Bibliotheca … (s. Anm. 16), S. 318; positives Urteil bei Karl Kletke, Die Quellenschriftsteller zur Geschichte des preußischen Staats, nach ihrem Inhalt und Werth dargestellt, Berlin 1858, S. 40 – 42. 24 W. Neugebauer, Argument … (s. Anm. 21), S. 41 – 46, Friedrich II.: S. 47; zu Pregitzer jetzt Stefan Benz, Zwischen Tradition und Kritik. Katholische Geschichtsschreibung im barocken Heiligen Rçmischen Reich (= Historische Studien, 473), Husum 2003, S. 393 – 395; G. G. Kîster, Bibliotheca … (s. Anm. 16), S. 320, zur wîrttembergischen Genealogie S. 909. 25 Dazu meinen, in einem Tagungsband, herausgegeben von Markus Vçlkel, erscheinenden Aufsatz: Staatshistoriographen und Staatshistoriographie in Brandenburg und Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts (betrifft die frîhe Neuzeit); und die ltere, mehr kompilative, aber werthaltige Studie von Ernst Fischer, Die offizielle brandenburgische Geschichtsschreibung zur Zeit Friedrich Wilhelms, des großen Kurfîrsten (1640 – 1688). Nach den Akten des geheimen Staatsarchivs dargestellt, in: ZPreussGLdKde 15 (1878), S. 377 – 430, zu Johann Hîbner als erstem Historiographen: S. 379 – 387; vgl. schon F. X. v. Wegele, Historiographie … (s. Anm. 6), S. 707; zum Vergleich S. Benz, Tradition … (s. Anm. 24), S. 282 f.

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graphischen Produkten auch eine große Unsicherheit und Unerfahrenheit gezeigt, Indiz fîr eine (kultur-)politische Versptungslage Brandenburg-Preußens, die nicht auf dieses Gebiet der „Staats“-Ttigkeit beschrnkt ist.26 Die große historiographische Ausnahme, Samuel von Pufendorf, besttigt diese Regel. Noch in den letzten Monaten des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm berufen, hat Pufendorf die Akten des Archivs in liberaler Weise zur Verfîgung gestellt bekommen.27 Das Werk Pufendorfs, „De rebus gestis Friderici Wilhelmi Magni, electoris brandenburgici“,28 stellt nicht eine Biographie, sondern ein lange Zeit gîltiges Stîck frîhneuzeitlicher Zeitgeschichte dar. Ausschließlich nach den Berliner Akten (nicht nach den ihm bekannten schwedischen) wird die brandenburg-preußische Politik geschildert, und zwar ganz aus der Interessenperspektive des Auftraggebers, unter starker Konzentration auf die auswrtigen Verhltnisse. Die Stnde werden nur insoweit betrachtet, als dies fîr die Außenpolitik relevant gewesen ist. Auch die Handelspolitik wird nur recht marginal beachtet. Mehr die Motive als die Ereignisse selbst interessierten Pufendorf, freilich in weiten europischen Kontexten und ohne einzelne Persçnlichkeiten erkennbar werden zu lassen. Die Quellenbenutzung geschah noch in vorkritischer Weise, ohne etwa den Wert verschiedener Vorlagen zu unterscheiden und zu diskutieren.29 26 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Preußen als Kulturstaat, in: ForschBrandPrG NF 17 (2007), S. 161 – 179. 27 Vgl. W. Neugebauer, Staatshistoriographen … (s. Anm. 25), mit weiterer Lit; nach wie vor bedeutend: Johann Gustav Droysen, Zur Kritik Pufendorfs, zuerst 1864, wieder in: Ders., Abhandlungen zur neueren Geschichte, Leipzig 1876, S. 309 – 386, hier S. 316 – 318; E. Fischer, Geschichtsschreibung … (s. Anm. 25), S. 419 f.; dazu (und zu Forschungsdesideraten) Detlef Dçring, Pufendorf-Studien. Beitrge zur Biographie Samuel Pufendorfs und zu seiner Entwicklung als Historiker und theologischer Schriftsteller (= Historische Forschungen, 49), Berlin 1992, S. 36 f., Quellenbasis: S. 144; Horst Denzer, Pufendorfs Naturrechtslehre und der brandenburgische Staat, in: Hans Thieme (Hg.), Humanismus und Naturrecht in Brandenburg-Preußen. Ein Tagungsbericht (= VerçffHistKommBerlin, 48), Berlin/New York 1979, S. 62 – 75, hier S. 68 – 70; und schließlich Detlef Dçring, Samuel von Pufendorf als Verfasser politischer Gutachten und Streitschriften. Ein Beitrag zur Bibliographie der Werke Pufendorfs, in: ZHF 19 (1992), S. 189 – 232, hier S. 222 – 227; Hans Rçdding, Pufendorf als Historiker und Politiker in den „Commentarii de rebus gestis Friderici Tertii“ (= Historische Studien, 2), Halle an der Saale 1912, S. 6. 28 Berlin 1695; hier benutzt in der bei Rîdiger erschienenen Auflage: 2 Bde. Berlin 1733, z. B. zur Souvernittsfrage: 1, S. 452 ff.; vgl. noch Samuelis de Pufendorf, De rebus gestis Friderici Tertii electoris brandenburgici post primi Borussiae regis commentariorum libri tres … ex autographo auctoris, Berlin 1784 (mit der Praefatio unpag., von E. F. von Hertzberg). 29 Vgl. J. G. Droysen, Zur Kritik … (s. Anm. 27), S. 324 – 326, S. 335 – 339, S. 349 f., S. 371, S. 373, S. 387 f. u. ç.; vgl. F. X. v. Wegele, Historiographie … (s. Anm. 6), S. 515 – 520, S. 522.

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Von dem großen Naturrechtler und Historiker war aber damit eine Leistung vollbracht worden, die freilich von den Zeitgenossen nicht mit Begeisterung aufgenommen worden ist. Wenige Jahre nach dem Erscheinen des Werkes soll angeregt worden sein, daß „die ausgegebenen Exemplare Pufendorfs zurîckgekauft und das ganz Werk aus der Welt geschafft“ werden mçge.30 Die Publikation von Staatsgeheimnissen und vertraulichen Vorgngen der hohen Politik fîhrte zu Beschwerden fremder Hçfe. Eine deutsche ˜bersetzung ist nicht mehr gedruckt worden. Der von Erdmann Uhse publizierte Extrakt kann dafîr nicht gelten.31 Im 17. Jahrhundert haben die amtlichen (Staats-)Historiographen ansonsten auch nicht annhernd Bedeutendes geleistet; seit der Zeit Friedrich Wilhelms I. wurde diese Funktion fîr Jahrzehnte vakant gelassen.32 Der große KirchenHistoriker und Pietist Gottfried Arnold, Verfasser der „Kirchen- und Ketzerhistorie“, erhielt die Wîrde des brandenburgischen Historiographen, um ihn im Thîringischen, in unbequemer theologischer Umgebung, mit wirksamem brandenburgischen Schutz zu versehen; als kurbrandenburgischer Pfarrer hat er keine brandenburg-preußische Historiographenleistungen erbracht. Dies galt mutatis mutandis bis in die Zeiten Niebuhrs. Die neuere Forschung neigt generell dazu, schon die historiographischen Produkte des 18. Jahrhunderts als erstes Stadium wissenschaftlicher Geschichtsbefassung zu verstehen.33 Diejenige Geschichtsschreibung, die sich in vorkritisch-kompilatorischem Zugriff der preußisch-brandenburgischen Gesamtstaatsgeschichte zuwandte, blieb noch einige Zeit hinter diesen Maßstben zurîck. Schon 1710 wurde die erste „Preußische und Brandenburgische Staats30 J. G. Droysen, Zur Kritik … (s. Anm. 27), S. 313, S. 375 f.; Publikation geheimer Instruktionen: H. Rçdding, Pufendorf … (s. Anm. 27), S. 6; zum Folgenden: F. X. v. Wegele, Historiographie … (s. Anm. 6), S. 510 f. 31 (Erdmann Uhse), Friedrich Wilhelms des Grossen / Chur=Fîrstens zu Brandenburg Leben und Thaten, Berlin/Frankfurt (1710), in der unpag. Zuschrift „An den Leser“ der Hinweis auf Pufendorf und die Hochschtzung seines Werkes (Bl. 2 v); vgl. J. G. Droysen, Zur Kritik … (s. Anm. 27), S. 321; H. Rçdding, Pufendorf … (s. Anm. 27), S. 5; wichtig die leider ungedruckte Schrift von Helga Fiechtner, Die §ffnung des Preußischen Geheimen Staatsarchivs fîr die wissenschaftliche Forschung im 19. Jahrhundert, Abschlußarbeit fîr die Staatsprîfung zum Diplomarchivar am Institut fîr Archivwissenschaft in Potsdam 1958 (Masch.), S. 3. 32 Dazu und zum Folgenden Wolfgang Neugebauer, Die preußischen Staatshistoriographen des 19. und 20. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.), Das Thema „Preußen“ in Wissenschaft- und Wissenschaftspolitik des 19. und 20. Jahrhunderts (= ForschBrandPrG NF, Beiheft 8), Berlin (2006), S. 17 – 60, hier S. 25 – 30, auch u. a. zu Paul von Gundling, Ernst Wilhelm Cuhn, Friedrich Ancillon, Johannes von Mîller und Barthold Georg Niebuhr, worauf hier nur verwiesen werden kann. 33 Exemplarisch: Wolfgang Hardtwig, Die Verwissenschaftlichung der Geschichtsschreibung zwischen Aufklrung und Historismus, zuerst 1982, wieder in: Ders., Geschichtskultur und Wissenschaft, Mînchen 1990, S. 58 – 91, hier S. 58, S. 80 f., S. 84 f.

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Historie“ von dem Theologen und Osterburger Schulrektor Caspar Abel34 publiziert, chronologisch und nach den „Lndern“ gegliedert, die nach 1700 zum Gesamtstaat gehçrten, eine fleißige Kompilation eines Mannes fernab hçfischer und gelehrter Zentren. Ganz hnlich ist îber das in Halle seit 1760 in acht starken Quartbnden erschienene Werk des Professors Carl Friedrich Pauli geurteilt worden, der nun freilich als Jurist und Geschichtslehrer die spezifische Universitts-Konstellation von Jus und Historie auf das preußische Themenfeld îbertrug.35 Ausgehend von der Entwicklung der Mark Brandenburg und konzentriert auf die politische Geschichte, wird neben dem dynastischen Leitaspekt der preußisch-brandenburgische Regionalismus historiographisch aufgenommen, indem die Geschichte der zum Gesamtstaat gekommenen Gebiete mit geschrieben wird.36 Ein breites Material wurde, und zwar durchaus mit einzelnen interessanten Beobachtungen zusammengetragen, nach Sammlungen wie dem „Theatrum Europaeum“ und den amtlichen Publikanda. Ein reichspatriotischer Unterton verknîpft die preußische Entwicklung mit der des Heiligen Rçmischen Reiches.37 Reinhold Koser hat freilich gut einhundert Jahre spter Pauli bei allem „Sammlerfleiß“ doch „Mangel an Kritik“ vorgeworfen.38 In der Tat hat der Kçnigsberg-Hallenser Gelehrte wohl selbst gesehen, daß gerade fîr die Schilderung der inneren Verhltnisse Preußens zu neuen Einsichten nur durch Zugang zu den „Urkunden“ gelangt werden kçnnte,39 der ihm ja nicht gewhrt worden war. Die großen Darstellungen des 18. Jahrhunderts zur

34 2 Tle., Leipzig/Stendal 11710; eine neue, stark erweiterte Edition: Leipzig/Gardelegen 1735; zum Autor und seinen Publikationen: Johann Georg Meusel, Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen Schriftsteller, 1, Leipzig 1802, S. 6 – 10; Johannes Schultze, Abel, Caspar, in: NDB, 1, Berlin 1953, S. 12 (Literatur); Marga Heyne, Das dichterische Schrifttum der Mark Brandenburg bis 1700. Eine Bîcherkunde (= Brandenburgische Jahrbîcher, 13), Berlin 1939, S. 97; K. Kletke, Quellenschriftsteller … (s. Anm. 23), S. 333; und gute Beobachtungen bei F. X. v. Wegele, Historiographie … (s. Anm. 6), S. 714 f. 35 Carl Friedrich Pauli, Allgemeine preußische Staats=Geschichte samt aller dazu gehçrigen Kçnigsreichs, Churfîrstentums, Herzogthîmer, Fîrstenthîmer, Graf und Herrschaften aus bewhrten Schriftstellern und Urkunden bis auf gegenwrtige Regierung, 8 Bde., Halle 1760 – 1769; zu ihm J. G. Meusel, Lexikon … (s. Anm. 34), 10, S. 297 f.; (?) Lehnerdt, in: Altpreußische Biographie, 2, Lfg. 1 – 3, Kçnigsberg 1942 – 1944, ND Marburg an der Lahn 1969, S. 492; J. Hackmann, Ostpreußen … (s. Anm. 1), S. 51; o. Vf., Pauli, Karl Friedrich, in: ADB, 25, Leipzig 1887, S. 790. 36 C. F. Pauli, Staats-Geschichte … (s. Anm. 35), 1, Vorrede (unpag.), zum Begriff der „Staats“-Geschichte, S. 3, S. 6 f. 37 Z. B. a.a.O., 8, Halle 1769, S. 57, S. 164, S. 176; vgl. S. 43 der Absatz: „Preussen sorget vor das Beste des teutschen Reichs“. 38 R. Koser, Umschau … (s. Anm. 14), S. 2 f. 39 Vgl. C. F. Pauli, Staats-Geschichte … (s. Anm. 35), 8, zur Zeit Friedrich Wilhelms I., hier die unpag. Vorrede.

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brandenburgischen und zur preußischen Geschichte, Buchholtz und Pauli, haben in ihrer Zeit wohl nur „wenig Leser“40 gefunden. Die zeitgençssischen Schriften îber Friedrich Wilhelm I. waren Kompilationen auf der Basis etwa von Zeitungsmaterial, wohl angereichert durch persçnliche Beobachtungen der Autoren.41 Der Zugang zum Archiv war im 18. Jahrhundert nicht vçllig ausgeschlossen, aber doch, wie bei Pufendorf, von amtlicher Stellung oder guten Beziehungen abhngig.42 Hier liegt der spezifische Konnex von Historiographie und Bîrokratie in der Epoche der archivischen Arkanpraxis. Der Verleger und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai z. B. konnte fîr seine Schriften îber Berlin und Potsdam das Archiv benutzen, und zwar dank der Genehmigung des Ministers Ewald Friedrich Graf von Hertzberg.43 Dieser hatte zunchst als „Hilfsarbeiter im Geheimen Kabinettsarchiv“ die Aufgabe, fîr die historischen Arbeiten Friedrichs II. durch Aktenauszîge zuzuarbeiten. In Editionen, Staatsschriften und Akademieabhandlungen war Hertzberg selbst auf geschichtlichem Felde ttig.44 Der Kçnig stand also, trotz der Aufklrungspostulate konsequenten Zweifelns an îberkommenen Traditionen, selbst nicht auf quellenkritischer Basis; er ließ sich zu von ihm benannten Themenkomplexen Berichte erstellen, die ihrerseits auf den Akten der 40 (Adolf Friedrich) Riedel, Jahresbericht fîr 1843, in: Mrkische Forschungen 2 (1843), S. 203 – 209, hier S. 205; zu Buchhol(t)z s. Anm. 15. 41 Vgl. (zu Faßmann) mit Verweis auf weitere Literatur Stephan Skalweit, Friedrich Wilhelm I. und die preußische Historie, in: JbGMitteldtld 6 (1957), S. 107 – 131, hier S. 108 f.; vgl. mit Verweis auf die Schriften Faßmanns Wolfgang Neugebauer, Das preußische Kabinett in Potsdam. Eine verfassungsgeschichtliche Studie zur fîrstlichen Zentralsphre in der Zeit des Absolutismus, in: JbBrandenbLdG 44 (1993), S. 69 – 115, hier S. 102; vgl. zu Pçllnitz z. B. F. X. v. Wegele, Historiographie … (s. Anm. 6), S. 961 (Literatur). 42 Vgl. z. B. Carl Wilhelm Cosmar, Geschichte des Kçniglich-Preußischen Geheimen Staats- und Kabinettsarchivs bis 1806. Mit ergnzenden Materialien hg. v. Meta Kohnke (= Verçffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 32), Kçln/ Weimar/Wien 1993, S. 64 f. (Bekmann, Gercken, Nicolai, Anton Baltasar Kçnig, dazu um 1800 Historiographen: Cuhn, Johannes von Mîller). 43 Grundlegend: Horst Mçller, Aufklrung in Preußen. Der Verleger, Publizist und Geschichtsschreiber Friedrich Nicolai (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 15), Berlin 1974, S. 323 ff., S. 562 ff. (zu Friedrich II.); Horst Mçller, Friedrich Nicolai als Historiker, zuerst 1975, wieder in: Ders., Aufklrung und Demokratie. Historische Studien zur politischen Vernunft, hg. v. Andreas Wirsching, Mînchen 2003, S. 13 – 42, hier S. 14 – 19, kritische Methode: S. 20. 44 Vgl. C. W. Cosmar, Staats- und Kabinettsarchiv … (s. Anm. 42), S. 93 f.; Stephan Skalweit, Hertzberg, v., in: NDB, 8, Berlin 1969, S. 715 – 717, hier S. 716; vgl. oben Anm. 28; angeblich hat Hertzberg auch Pauli Informationen gegeben, vgl. J. G. Droysen, Zur Kritik … (s. Anm. 27), S. 338 (mit einer Stelle, die der Nachprîfung nicht standhlt); bereits gut informiert Peter Florenz Weddigen, Fragmente zu dem Leben des Grafen von Hertzberg, Bremen 1796, S. 32 ff., zu seinen Staatsschriften: S. 40 f., weiter S. 70 – 84.

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Departements und des Archivs fußten.45 So wurde das Material zusammengetragen, das er in seinen historischen Werken, unter vorbildhafter Einwirkung Voltaires, im Sinne „politisch-militrische[r] Ereignisgeschichte“ und einer „breitgefcherten Strukturgeschichte“46 miteinander verband. Verfassung, Finanzverhltnisse, Heer und Religionen werden geschildert unter primrem Interesse an ihrer Bedeutung fîr den Staat und sein Machtpotential. Nach dem Tode des Kçnigs waren es durchaus nicht allein auslndische Autoren wie Mirabeau, die Friedrich d. Gr. und seinen Staat bei aller Bewunderung durchaus kritisch diskutierten.47 Lange bevor die professionelle Fachhistorie des hohen 19. Jahrhunderts auf neuer Quellenbasis das alte Preußen erforschte und durchaus streitig diskutierte, haben historisch-politische Autoren aus der preußischen Amtstrgerschicht des spten 18. und frîhen 19. Jahrhunderts die Fundamente Preußens im Ancien r¤gime literarisch in Frage gestellt.48 45 Von der neuesten Literatur oft ignoriert, und doch nach wie vor materialmßig wichtig: Max Posner, Zur literarischen Thtigkeit Friedrichs des Großen. Erçrterungen und Actenstîcke, in: Miscellaneen zur Geschichte Friedrichs des Großen, hg. auf Veranlassung und Unterstîtzung der Kçniglich Preußischen Archivverwaltung, Berlin 1878, S. 205 – 490, hier z. B. S. 208, S. 210, S. 227 f.; in besonderen Fllen, wie bei den Untersuchungsakten des Jahres 1730, hat der Kçnig diese selbst eingesehen: Jîrgen Kloosterhuis, Katte, Ordre und Kriegsartikel. Aktenanalytische und militrhistorische Aspekte einer „facheusen“ Geschichte, Berlin 2006, S. 24. 46 So Ulrich Muhlack, Geschichtswissenschaft im Humanismus und in der Aufklrung. Die Vorgeschichte des Historismus, Mînchen 1991, S. 265 ff., mit besonderem Hinweis auf Friedrichs d. Gr. „M¤moires pour servir a l’histoire de la maison de Brandenbourg“, (in: Johann David Erdmann Preuß [Hg.], Oeuvres de Fr¤d¤ric le Grand, 1, Berlin 1846, S. 1 – 246; die historischen Werke in 1 – 7, Berlin 1846 – 1857); vgl. noch Theodor Schieder, Friedrich der Große. Ein Kçnigtum der Widersprîche, Frankfurt am Main/ Berlin/Wien 1983, S. 365 – 370, S. 373; aus der lteren Literatur Wilhelm Wiegand, Die Vorreden Friedrichs des Grossen zur Histoire de mon temps, Straßburg 1874, S. 13 ff.; Heinrich Disselnkçtter, Beitrge zur Kritik der Histoire de mon temps Friedrichs des Großen (= Historische Studien, 14), Leipzig 1885, Vorbilder: S. 2; s. jetzt Michael Rohrschneider, Friedrich der Große als Historiograph des Hauses Brandenburg …, in: ForschBrandPrG NF 17 (2007), S. 97 – 121, bes. S. 106 – 110. 47 Z. B. Stephan Skalweit, Frankreich und Friedrich der Große. Der Aufstieg Preußens in der çffentlichen Meinung des „ancien r¤gime“ (= BonnHistForsch, 1), Bonn 1952, S. 177 f., S. 180 – 187; zur zeitgençssischen Literatur vgl. noch immer Reinhold Koser, Geschichte Friedrichs des Großen, 4, 4. und 5. Aufl., Stuttgart/Berlin 1914, S. 119 – 123, S. 126 ff. 48 Vgl. G. Heinrich, Historiographie der Bîrokratie … (s. Anm. 15), S. 167 f., S. 183; vgl. zu den Berliner Friedrich-Schriften gleich nach 1786: W. Neugebauer, Bîsching … (s. Anm. 17), S. 98; zu Adam Mîller vgl. T. Schieder, Friedrich … (s. Anm. 46), S. 485; Frank-Lothar Kroll, Friedrich der Große als Gestalt der europischen Geschichtskultur, in: Brunhilde Wehinger (Hg.), Geist und Macht. Friedrich der Große im Kontext der europischen Kulturgeschichte, Berlin 2005, S. 185 – 198, hier S. 187 (Adam Mîller); zu Friedrich von Cçlln bleibt grundlegend Johannes Ziekursch,

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§ 2 Verwissenschaftlichung im Historismus Es wre ein Irrtum zu glauben, daß mit Wilhelm von Humboldt und der Berliner Universittsgrîndung des Jahres 1810 das moderne Prinzip von Forschung und Lehre sofort an den Universitten eingezogen wre und die Entwicklung der Disziplinen sogleich bestimmt htte.49 Auch die Verwissenschaftlichung des Preußenthemas erfolgte erst nach und nach, mit mancherlei ˜bergangserscheinungen von der Anekdotenhistoriographie50 zur systematischen Erschließung der ˜berlieferung, zunchst aber noch ohne Zugriff auf die staatlichen Archivbestnde. Zu nennen sind hier Friedrich Fçrster, dem in der øra Karl Albert von Kamptz‘ der Weg in eine Universittsposition versperrt worden war und der u. a. îber Friedrich Wilhelm I. aus Nachlssen wichtiges Material publizierte,51 oder Karl Friedrich Klçden,52 Autodidakt und seit 1824 Leiter der Berliner Gewerbeschule, in deren Programmen er bemerkenswerte Studien zur Wirtschaftsgeschichte des Oderraumes publizierte.53 Adolf Friedrich Riedel, wiewohl spter Staatshistoriograph, hatte seinen Schwerpunkt in der brandenburgischen Landesgeschichte.54 Karl Heinrich Siegfried Rçdenbeck55 und Johann David Erdmann Preuß begannen als private Sammler friderizia49 50 51

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Friedrich von Cçlln und der Tugendbund, in: HistVjschr 12 (1909), S. 38 – 76, hier S. 65 f., S. 69. Vgl. Wolfgang Neugebauer, Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Otto Bîsch (Hg.), Handbuch der preußischen Geschichte, 2, Berlin/ New York 1992, S. 605 – 798, hier S. 689 – 696. So R. Koser, Umschau … (s. Anm. 14), S. 36 ff. Ernst Fçrster, Friedrich Christoph Fçrster, in: ADB, 7, Leipzig 1878, S. 185 – 189, hier S. 187 ff.; vgl. Franz Rîhl (Hg.), Briefe und Aktenstîcke zur Geschichte Preußens unter Friedrich Wilhelm III. vorzugsweise aus dem Nachlaß von F. A. von Stgemann (= Publication des Vereins fîr die Geschichte von Ost- und Westpreußen), Leipzig 1900, S. 244 Anm. 1; und Eckart Jander, Untersuchungen zur Theorie und Praxis der deutschen historischen Biographie im neunzehnten Jahrhundert, phil. Diss. Freiburg im Breisgau 1965, S. 84 f. W(illy) Hoppe, Karl Friedrich Klçden, der Mensch und der mrkische Historiker, (Separatausgabe:) Berlin 1926, S. 5, S. 11 – 15 (scharfe Ablehnung von Schriften Klçdens durch Ranke), S. 19 – 23; (Max) Jhns, Klçden, in: ADB, 16, Leipzig 1882, S. 203 – 208, hier S. 204 – 207, mit Aufzhlung seiner Schriften, S. 208: „Autodidakt“. K(arl) F(riedrich) Klçden, Beitrge zur Geschichte des Oderhandels …, 8 Stîcke, Berlin (1845)-1852. Wolfgang Ribbe, Archivare als brandenburgische Landeshistoriker. Drei Lebensbilder aus drei Generationen, in: JbBrandenbLdG 55 (2004), S. 100 – 121, hier S. 102 – 107; Ders., Quellen … (s. Anm. 11), S. 40 – 42 (mit Kritik am „Codex“); nach wie vor wichtig: F(riedrich) Holtze, Adolf Friedrich Riedel, in: ZPreussGLdKde 9 (1872), S. 629 – 639, bes. S. 630 f., S. 636 zu seiner Sptschrift zum brandenburgischen Staatshaushalt; W. Neugebauer, Staatshistoriographen … (s. Anm. 32), S. 47 (fîr Geschichte der Mark Brandenburg). Materialreich Ernst Graf zu Lippe-Weißenfeld, Rçdenbeck und Preuß, in: Mrkische Forschungen 20 (1887), S. 30 – 39, Rçdenbeck: S. 30 – 33.

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nischen Materials; ersterer blieb historisch produzierender Privatier. Preuß, eigentlich Lehrer am Medizinisch-Chirurgischen Friedrich-Wilhelm-Institut mit dem Titel eines Professors, publizierte seit den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts zahlreiche, heute als Material noch unverzichtbare Werke zu Friedrich dem Großen und regte jene Werkausgabe an,56 die, wiewohl durchaus nicht zuverlssig, noch heute benutzt wird. Unter den Historikern vom Fach galt Preuß nicht als ihresgleichen. Aus Preuß schçpfte Franz Kugler fîr seine, schon mit nationaleren Untertçnen argumentierende populre Friedrich-Biographie. Die preußischen Staatshistoriographen haben bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts andere als preußische Themen in das Zentrum ihrer Arbeit gerîckt, ohne daß dies irgend Anstoß erregt htte.57 Die erste große professionelle Gesamtdarstellung, die zur preußischen Geschichte im 19. Jahrhundert vorgelegt wurde, kam nicht aus Berlin oder Kçnigsberg, sondern aus Schlesien. Eigentlich in der mittelalterlichen Kaisergeschichte zu Hause, hat der Breslauer Professor und Archivar Gustav Adolf Harald Stenzel (1792 – 1854) auf sich allein gestellt und unter ungînstigen Arbeitsbedingungen, fernab von den Berliner Sammlungen, neben Darstellungen und Editionen zur schlesischen Geschichte auch eine schließlich fînfbndige Darstellung Preußens vorgelegt,58 die als Beispiel fîr historiographischen Vormrzliberalismus gilt.59 Er hat in Breslau ungedrucktes Material benutzen kçnnen, wußte aber, daß er in seinem PreußenWerk noch nicht vçllig Neues bieten konnte. Der liberale Grundzug kommt darin zum Ausdruck, daß Stenzel den deutschen Charakter Preußens schon sehr betont, ein Gesichtspunkt, der in der Geschichtsschreibung damals noch durchaus nicht selbstverstndlich war.

56 Aug(ust) Potthast, Professor J.D.E. Preuß, in: ZPreussGLdKde 6 (1869), S. 200 – 212, Beruf: S. 202, Werke: S. 203 f., S. 206; zu den Oeuvres vgl. oben Anm. 46; vgl. R. Koser, Umschau … (s. Anm. 14), S. 38 f.; vgl. Karl Erich Born, Der Wandel des Friedrich-Bildes in Deutschland whrend des 19. Jahrhunderts, phil. Diss. Kçln 1953, S. 38, S. 68 f. (ohne nationale Teleologie); E. Gf. Lippe-Weißenfeld, Rçdenbeck … (s. Anm. 55), S. 36 f.; F. L. Kroll, Friedrich … (s. Anm. 48), S. 190. 57 Vgl. W. Neugebauer, Staatshistoriographen … (s. Anm. 32), S. 32 – 39. 58 In der bekannten, von Heeren und Ukert hg. Reihe: G(ustav) A(dolf) H(arald) Stenzel, Geschichte des preußischen Staats, 5 Tle. (= Geschichte der europischen Staaten), Hamburg 1830 – 1854, 1 fîhrt bis 1640, 5 reicht bis 1763; zu anderen, mit den Werken von Stenzel und dann Ranke nicht entfernt konkurrierenden frîhen Gesamtdarstellungen (Eberty, von Cosel, Pierson, und der ˜berblick Friedrich Voigts) s. R. Koser, Umschau … (s. Anm. 14), S. 21 59 Zur Person bleibt grundlegend Karl Gustav Wilhelm Stenzel, Gustav Adolf Harald Stenzels Leben, Gotha 1897, zur preußischen Geschichte: S. 180 – 192, folgendes: S. 191 f., und G. A. H. Stenzel, Geschichte … (s. Anm. 58), 1, S. VII f., S. 79; Felix Rachfahl, Gustav Adolf Harald Stenzel, in: ForschBrandPrG 11 (1898), S. 1 – 31, hier S. 23 – 26.

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Insofern fîhrte die defizitre Quellenbasis und ein frîhes nationales beziehungsweise liberales Telos bei Stenzel dazu, daß dieses Werk, mochte es auch nach 1830 zunchst allen Vorlufern îberlegen sein, mit dem Auftreten Leopold von Rankes (1795 – 1886) rasch veraltete. Bekanntlich hat der preußische Themenkomplex bei Ranke durchaus nicht am Anfang seiner wissenschaftlichen Arbeit gestanden. Gerade der Verzicht auf datierte frîhliberale Teleologie60 macht ihn auch nach mehr als einhundertundfînfzig Jahren interessant, manchmal gar aktuell. Jedenfalls hat Ranke – in wissenschaftlicher Beziehung – Stenzels Preußenwerk sofort bei Erscheinen deplaciert. Ranke hatte schon in seinem Essay îber „die großen Mchte“ Preußen seinen Ort im politischen System Europas zugewiesen, nicht gegen §sterreich, sondern in „freie[r] und fest begrîndete[r] Vereinigung dieser beiden Mchte“ zur Wahrnehmung der Interessen „Deutschland[s]“ „gegen das Ausland“.61 Als „deutsch-protestantisch“62 bestimmte Ranke den Staats-Charakter Preußens unter den europischen Mchten, denen er – ganz im Sinne des Historismus – jeweils spezifische Individual-Qualitten zugeschrieben hat. Mit der Ernennung Leopold Rankes zum „Historiographen des Preußischen Staats“, also erst im Jahre 1841,63 wurde amtlicherseits der Versuch unternommen, seine europischen Energien auch auf preußische Themenfelder zu lenken. Fîr Ranke war Preußen denn auch – in spezifisch vornationaler und vorrevolutionrer Weise – zu allererst eine europische Macht.64 Ranke erlitt das Gelehrtenschicksal, daß das breite Publikum zum Zeitpunkt des Erscheinens eines Werkes, hier der „Neun Bîcher Preußischer Geschichte“,65 gerade 1847/ 60 Statt anderer Stephan Skalweit, Das Problem von Recht und Macht und das historiographische Bild Friedrichs des Großen, zuerst 1951, wieder in: Ders., Gestalten und Probleme der frîhen Neuzeit. Ausgewhlte Aufstze (= Historische Forschungen, 32), Berlin 1987, S. 155 – 172, hier S. 157 f. 61 Leopold (von) Ranke, Die großen Mchte, zuerst 1833, wieder in: Ders., Abhandlungen und Versuche, 1. Sammlung (= Smmtliche Werke, 24), Leipzig 21877, S. 1 – 40, hier S. 26; aus der Literatur Siegfried Baur, Versuch îber die Historik des jungen Ranke (= Historische Forschungen, 62), Berlin 1998, S. 125 ff., S. 156. 62 L. v. Ranke, Mchte … (s. Anm. 61), S. 28. 63 Mit Nachweisen W. Neugebauer, Staatshistoriographen … (s. Anm. 32), S. 42 – 46. 64 Leopold von Ranke, Genesis des Preußischen Staates. Vier Bîcher Preußischer Geschichte, Leipzig 1874, S. X; vgl. dazu Otto Diether, Leopold von Ranke als Politiker. Historisch-psychologische Studie îber das Verhltnis des reinen Historikers zur praktischen Politik, Leipzig 1911, S. 312, S. 315 f.; und Hans-Christof Kraus, Ranke als Zeitgenosse. Seine Arbeiten zur Geschichte Friedrich Wilhelms IV., in: Historische Mitteilungen der Ranke-Gesellschaft 14 (2001), S. 38 – 50, hier S. 45; Justus Hashagen, Rankes Hinwendung zu Preußen, in: ForschBrandPrG 48 (1936), S. 391 – 395, hier S. 394. 65 Leopold Ranke, Neun Bîcher Preußischer Geschichte, 1 – 3, Berlin 1847 – 1848, mit der interessanten Bemerkung zur Zeit Friedrich Wilhelms I.: „In Bezug auf die innere

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48 nicht durch die Tatsache beeindruckt war, daß erstmals aus preußischen und westeuropischen Archivalien fîr eine, wenn auch in der Epoche Friedrichs d. Gr. den Schwerpunkt setzende, Gesamtdarstellung geschçpft wurde und – dank der Historiographenstellung – auch geschçpft werden konnte.66 Vielmehr mißfiel dem breiten Publikum der politische Standpunkt, also die Zeitgeistdistanz zum liberal-nationalen Zeitgeschmack. Die positive Sicht vom Landadel, dessen staatsbildende Rolle Ranke fîr das 15. und 16. Jahrhundert beschrieb, das „fîrstlich-stndische Regiment“, von dem Ranke – 1847 – spricht, schon dies machte Rankes Werk, zumal zum Zeitpunkt des Erscheinens, vordergrîndig unmodern und nicht beliebt.67 „An einer im nationalen Sinne politischen Geschichtsschreibung oder gar an der Verherrlichung des preußischdeutschen Machtstaates hinderten ihn die auf Universalitt angelegten religiçsen Bindungen seines Denkens.“68 Nach der kîhlen Aufnahme der „Neun Bîcher“ im gebildeten Publikum69 hat Ranke bekanntlich preußische Themen lange Zeit ruhen lassen, vielleicht sogar gemieden. Erst in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts hat sich Ranke, wohl auch unter dem Einfluß des Hofes, der preußischen Geschichte wieder zugewandt, nicht nur mit der auf zwçlf Bîcher erweiterten preußischen Geschichte,70 in Nuancierungen zum Thema nach fînfundzwanzig Jahren.71

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Verwaltung habe ich kînftigen Forschern noch eine reiche Ernte îbrig gelassen“ (1, S. VIII, in der „Vorrede“). L. Ranke, Neun Bîcher … (s. Anm. 65), 1, S. VIII, S. X-XII, zur Archivbasis; S. Skalweit, Problem … (s. Anm. 60), S. 93 f.; R. Koser, Umschau … (s. Anm. 14), S. 6 f.; pariser Quellenfund: Hans F. Helmolt, Leopold von Rankes Leben und Wirken. Nach den Quellen dargestellt, Leipzig 1921, S. 90, S. 96; J. Hashagen, Hinwendung … (s. Anm. 64), S. 392; O. Diether, Ranke … (s. Anm. 64), S. 309 f. L. Ranke, Neun Bîcher … (s. Anm. 65), S. 24 – 26, zum 15. und 16. Jahrhundert; vgl. weiteres bei Georg Kîntzel, Einleitung des Herausgebers, in: Leopold von Ranke, Zwçlf Bîcher preußischer Geschichte, 1 (= Gesamt-Ausgabe der deutschen Akademie), Mînchen 1930, S. V-CLII, hier S. XXI f. So allgemein zu Ranke Helmut Berding, Leopold von Ranke, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, 1, Gçttingen (1971), S. 7 – 24, hier S. 19 f.; vgl. auch sehr gut Stephan Skalweit, Ranke und Bismarck, in: HZ 176 (1953), S. 277 – 290, hier S. 282 f. Zur kîhlen Aufnahme und negativen Rezensionen 1847/48, denen schon 1849 positivere Stimmen folgten, s. Siegfried Baur, Die Freirume der Historie. Anmerkungen zu Aufstieg und Fall der Historisch-politischen Zeitschrift Rankes, in: Ulrich Muhlack (Hg.), Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert (= Wissenskultur und gesellschaftlicher Wandel, 5), Berlin 2003, S. 61 – 85, hier S. 79 – 83; H. F. Helmolt, Rankes Leben … (s. Anm. 66), S. 159, S. 192 Anm. 167; K. E. Born, Wandel … (s. Anm. 56), S. 73 f.; und wichtig G. Kîntzel, Einleitung … (s. Anm. 67), S. VII f., S. LXXXII f. Vgl. Anm. 67; Leopold von Ranke, Zwçlf Bîcher preußischer Geschichte, 3 Bde. (= Smmtliche Werke, 25 – 29), Leipzig 1874.

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Seine Forschungen zum Fîrstenbund, zu den Revolutionskriegen und zu Hardenberg, îber Person und Umfeld Friedrich Wilhelms IV., verweisen auf Rankes Preußenschwerpunkt nach 1870, in der vorletzten Phase seiner Produktion.72 Das, was Ranke den liberalen Zeitgenossen entfremdete, macht ihn noch heute geradezu lesenswert, die Distanz zu lauten Aktualisierungen im fortschrittsnaiv-nationalteleologischen Sinne, wie sie das Werk von Rankes Berliner Antipoden (seit 1859) Johann Gustav Droysen kennzeichnen.73 Der dreizehn Jahre jîngere Droysen ist aufgewachsen in der Luft der Befreiungskriege, einer nationaleren und tendenziell liberaleren Umgebung. Aus ihr erwuchs jene Sicht vom spezifisch deutschen Beruf, der deutschen Mission „Preußens“, und zwar schon seit dem Mittelalter, die in Droysens „Geschichte der preußischen Politik“ und îberhaupt in der kleindeutsch-nationalen Schule propagiert wurde.74 Schon in seiner Kieler Zeit hat der gebîrtige Pommer Droysen (1808 – 1884), eigentlich in der griechischen Geschichte zu Hause, den Weg zu seinem preußischen Schwerpunkt beschritten, in Vorlesungen îber die Freiheitskriege, seiner York-Biographie bis hin zu den ersten Bnden seines Preußenwerks, die noch in seiner Jenenser Zeit erschienen.75 Es kann nach den Befunden der neuesten Forschung kein Zweifel sein, daß Droysen den Topos vom deutschen 71 Zu den Unterschieden zwischen den neun und den zwçlf Bîchern vgl. G. Kîntzel, Einleitung … (s. Anm. 67), S. LXXII-LXXIV; Kîntzel auch zu Tendenzen Rankes, z. B. XLII f. (˜bergehen der brandenburg-franzçsischen Bîndnisse 1665/1667); „Beugung der Quellenaussage“ zum Testament von 1752: S. LXIX. 72 Zusammenfassend J. Hashagen, Rankes Wendung … (s. Anm. 64), S. 393; O. Diether, Ranke … (s. Anm. 64), S. 582 – 595. 73 Zum gespannten Verhltnis Rankes zu Droysen vgl. statt anderer Gunter Berg, Leopold von Ranke als akademischer Lehrer. Studien zu seinen Vorlesungen und seinem Geschichtsdenken (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 9), Gçttingen 1968, S. 43 – 45. 74 Wolfgang Hardtwig, Von Preußens Aufgabe in Deutschland zu Deutschlands Aufgabe in der Welt. Liberalismus und borussianisches Geschichtsbild zwischen Revolution und Imperialismus, in: HZ 231 (1980), S. 265 – 324, hier S. 265 f., S. 270, S. 273 ff., S. 285 ff.; K. E. Born, Wandel … (s. Anm. 56), S. 101 f.; Werner Conze, Das Kaiserreich von 1871 als gegenwrtige Vergangenheit im Generationswandel der deutschen Geschichtsschreibung, zuerst 1979, wieder in: Ders., Gesellschaft – Staat – Nation. Gesammelte Aufstze, hg. v. Ulrich Engelhardt / Reinhart Koselleck / Wolfgang Schieder (= Industrielle Welt, 52), Stuttgart 1992, S. 44 – 65, hier S. 47 f.; und Friedrich Jaeger / Jçrn Rîsen, Geschichte des Historismus. Eine Einfîhrung, Mînchen 1992, S. 86 – 88. 75 Zu diesen Werken alles weitere bei Wilfried Nippel, Johann Gustav Droysen. Ein Leben zwischen Wissenschaft und Politik, (Mînchen) 2008, S. 7 f., S. 12, S. 47, S. 54, York: S. 177 – 186; Max Duncker, Johann Gustav Droysen, in: PreußJbb 54 (1884), S. 134 – 167, bes. S. 149 – 156, zur Kieler Zeit; zum noch in Kiel begonnenen „York“ s. Robert Southard, Droysen and The Prussian School of History, Lexington 1995, S. 207 – 211.

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Beruf Preußens lange vor seiner Rîckberufung nach Berlin geprgt hatte.76 Die Plne zu seiner „Geschichte der preußischen Politik“ entstanden, wie Felix Gilbert77 argumentiert hat, vielleicht schon 1840/47, ein Werk, dessen erster Band 1855 herausgekommen ist. Auf die außen-politischen Entwicklungen ist Droysens Darstellung konzentriert, wenn auch nicht beschrnkt.78 Das Telos einer vierhundertjhrigen Geschichte dieses „Staates“, der die „geschichtliche Notwendigkeit“ verkçrpert habe, dem „nationalen Leben“ Ausdruck zu geben und der darin seinen „Beruf“ erfîlle, bestimmt die Perspektive.79 Die Rîckprojektion dieser Kategorien bis in vormoderne Jahrhunderte hat Kritik und Spott in Masse provoziert, doch sollte – mit Koselleck – bedacht werden, daß die nationalteleologische Deutung durch Droysen zur Zeit ihrer Entstehung „alles andere als eine Vergçtterung des preußischen Staates“ gewesen ist, sondern als ein politischer Appell angesichts einer politischen Praxis des preußischen Staats wirken sollte, der noch im 19. Jahrhundert jahrzehntelang gerade dieser deutschen Mission gerade nicht nachkam.80 ˜ber die Einseitigkeit und – fîr die 76 W. Nippel, Droysen … (s. Anm. 75), S. 54 (zu 1843 in Kiel). 77 Felix Gilbert, Johann Gustav Droysen und die preußisch-deutsche Frage (= HZ, Beiheft 20), Mînchen/Berlin 1931, S. 50, S. 125 ff.; mit kîrzerem Vorlauf (1850) rechnet W. Nippel, Droysen … (s. Anm. 75), S. 216 ff.; zu den frîhen, auf jîngere Epochen bezogene Planungen; Stephan Paetrow, Die Produktivitt der Provinz. Zur Entstehung von Droysens Historik und Preußischer Politik, in: Lutz Niethammer (Hg.), Philosophische Fakultt. Historisches Institut. Droysen-Vorlesungen … (= Jenaer Universittsreden, 18), Jena 2005, S. 201 – 227, hier S. 220 – 223, S. 225. 78 Johann Gustav Droysen, Geschichte der Preußischen Politik, 1. Teil: Die Grîndung, Berlin 1855, mit dem berîhmten Vorwort S. III-VI; mit (veralteten) Passagen zur mittelalterlichen Kolonisation, zu den brandenburgischen Verwaltungs-, Stdte- und Stndeverhltnissen: S. 30 – 97; Angaben zu den vierzehn bis 1886 erschienen, z. T. in verschiedenen Auflagen vorgelegten Bnden bei Horst Walter Blanke (Hg.), Johann Gustav Droysen. Historik, Supplement: Droysen-Bibliographie, Stuttgart/Bad Cannstatt, S. 51, S. 56, S. 59 – 84. 79 J. G. Droysen, Geschichte … (s. Anm. 78), 1, Leipzig 21868, S. 3 f. („Die Aufgabe“); vgl. weiter F. Gilbert, Droysen … (s. Anm. 77), S. 127 – 129; Jçrn Rîsen, Johann Gustav Droysen, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, 1, Gçttingen 1971, S. 7 – 23, hier S. 11; Gînter Birtsch, Die Nation als sittliche Idee. Der Nationalstaatsbegriff in Geschichtsschreibung und politischer Gedankenwelt Johann Gustav Droysens (= Kçlner Historische Abhandlungen, 10), Kçln/Graz 1964, S. 242 – 245; R. Southard, Droysen … (s. Anm. 75), S. 207 f.; schon Friedrich Meinecke, Weltbîrgertum und Nationalstaat, hg. v. Hans Herzfeld (= Friedrich Meinecke. Werke, 5), Mînchen 1962, S. 391. 80 Wichtig Reinhart Koselleck, Zur Rezeption der preußischen Reformen in der Historiographie. Droysen, Treitschke, Mehring, in: Ders. / Heinrich Lutz / Jçrn Rîsen (Hg.), Formen der Geschichtsschreibung (= Beitrge zur Historik, 4), Mînchen 1982, S. 245 – 265, hier S. 250, S. 252 (Zitat); S. Paetrow, Produktivitt … (s. Anm. 77), S. 224 f.; zum Torso des letzten, bis zur Westminsterkonvention fîhrenden Bandes das Vorwort von G. Droysen zu J. G. Droysen, Geschichte … (s. Anm. 78), 5 Tle., 4, Leipzig 1886, S. V f.

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behandelte Zeit, also bis 1756: – îber die Unangemessenheit der Droysenschen Interpretation besteht heute kein Zweifel. Auch hatte er seinem materialgewichtigen Werk ausschließlich deutsche und vornehmlich preußische Archivalien zugrunde gelegt. Leopold von Ranke hatte schon die ersten Teile der Droysenschen Darstellung scharf abgelehnt.81 Auch in den Reichsgrîndungsjahren im engeren Sinne hat Droysen, so einflußreich er zu Zeiten war, nie allein dieses Forschungsfeld beherrscht. Droysens politischer Historismus82 ist schon von einflußreichen Zeitgenossen deutlich kritisiert und gerade von Schîlern Droysens selbst relativiert und sehr bald – in intensiver Quellenerschließung – falsifiziert worden. Bernhard Erdmannsdçrffer und dann auch Reinhold Koser sind hier zu nennen.83 Fîr die frîhen brandenburgischen Hohenzollern des 15. Jahrhunderts hat alsbald Erich Brandenburg die Behauptung Droysens, Friedrich I. habe schon eine „deutsch-nationale Politik“ betrieben, zurîckgewiesen.84

81 G. Berg, Ranke … (s. Anm. 73), S. 44; G. Kîntzel, Einleitung … (s. Anm. 67), S. CVI Anm. 1; vgl. auch kritisch Alfred Dove, Johann Gustav Droysen, zuerst 1878, hier nach dem Druck in Ders., Ausgewhlte Schriftchen vornehmlich historischen Inhalts, Leipzig 1898, S. 369 – 383, hier S. 378 f.; vgl. schon Ders., Johann Gustav Droysen: Geschichte der preußischen Politik, in: ZPreussGLdKde 6 (1869), S. 125 – 133, hier S. 131 – 133, zum 15. Jahrhundert und zur Behandlung der Reformation. 82 J. Rîsen, Droysen … (s. Anm. 79), S. 8; vgl. auch W. Nippel, Droysen … (s. Anm. 75), S. 322 f., S. 330 (Forderung der Parteilichkeit); zur politischen Wandlung Droysens in seinen letzten beiden Jahrzehnten („radikale Abkehr vom politischen Liberalismus“) s. Utz Haltern, Geschichte und Bîrgertum. Droysen – Sybel – Treitschke, in: HZ 259 (1994), S. 59 – 107, hier S. 71. 83 Otto Hintze, Johann Gustav Droysen, zuerst 1904, wieder in: Ders., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, 2., erw. Aufl., hg. v. Gerhard Oestreich, Gçttingen (1964), S. 453 – 499, hier S. 485, S. 488 f., der bei Droysen fîr die Zeit nach 1688 eine Reduktion auf die Außenpolitik konstatiert; die Verwaltung werde nur „gestreift“; zu B. Erdmannsdçrffer z. B. Eberhard Gothein, Bernhard Erdmannsdçrffer. Ein Gedenkblatt, in: PreussJbb 104 (1901), S. 15 – 22, hier S. 15 f., S. 18, zum Buch îber Waldeck, das „bereits eine Revision der Droysen’schen Auffassung“ gebracht habe: S. 17; Dietrich Schfer, Bernhard Erdmannsdçrffer, in: HZ 87 (1901), S. 56 – 66, hier S. 61; plastisch Friedrich Meinecke, Erlebtes, in: Ders., Autobiographische Schriften, hg. v. Eberhard Kessel (= Friedrich Meinecke, Werke, 8), Stuttgart 1969, S. 71; Beispiel: Bernhard Erdmannsdçrffer, Deutsche Geschichte vom Westflischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrichs des Großen 1648 – 1740, 1, Berlin 1892, S. 681 Anm. 1, S. 728. 84 Erich Brandenburg, Kçnig Sigmund und Kurfîrst Friedrich I. von Brandenburg. Ein Beitrag zur Geschichte des Deutschen Reiches im fînfzehnten Jahrhundert, Berlin 1891, S. 2, S. 13 f., S. 21, S. 27, S. 79, S. 3: gegen A. F. Riedel; G. Kîntzel, Einleitung … (s. Anm. 67), S. CXIII.

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Droysen hat weniger durch sein – so er selbst 1866 – „langweilige[s] opus“85 als dadurch fortgewirkt, daß er weitere (Quellen-)forschungen anregte und organisierte. Es hat ja bis in die 1880er Jahre gedauert, bis an der Berliner Universitt Dissertationen zur preußischen Geschichte îblich wurden,86 ein Material, das wie die analoge Produktion anderer, preußischer und außerpreußischer Universitten, fîr die heutige Arbeit nach wie vor unverzichtbar ist. Droysen hat durch den Widerspruch, den er provozierte, durchaus anregende Impulse fîr die weitere Forschung gegeben. Vor allen Dingen hat er aber dadurch die Entwicklung dieses Themenfeldes gefçrdert, daß er, kurz nach seiner Berufung an die Berliner Friedrich-Wilhelms-Universitt, die schließlich auf 23 Bnde anwachsende Edition der „Urkunden und Actenstîcke zur Geschichte des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg“ begrînden konnte, die seit 1864 erschien und trotz der in der Anfangszeit noch nicht voll entwickelten Editionstechnik auch heute noch zu den „großen Akteneditionen“ (Repgen) zum 17. Jahrhundert gezhlt wird.87 Nicht nur durch das nationalteleologische Motiv des Droysenschen „Borussianismus“, unterlegt mit einem axiomatischen Fortschrittsbegriff, war seine preußische Politikgeschichte in hohem Maße „datiert“; mit dem Fortschreiten der editorischen Materialerschließung veraltete das darstellende Materialkompendium Droysens um so mehr und um so rascher. So hat letztendlich Droysen als prominenter Vertreter der im eigentlichen Wortsinne „borussischen“ Schule durch editionsstrategische Weichenstellungen und – damit zusammenhngend – durch seine Schîler zur raschen ˜berwindung seiner polithistoriographischen Prmissen selbst beigetragen. Diese waren freilich nicht nur auf dem Arbeitsgebiet der preußischen Geschichte im engeren Sinne um und nach 1870/71 verbreitet, sondern auch bei prominenten Vertretern der damaligen Zeitgeschichte, die deutsche Geschichte erforschten und 85 Droysen an Duncker, 25. Mrz 1866, in: Rudolf Hîbner, Johann Gustav Droysen. Briefwechsel (= Deutsche Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts, 26), 2, Berlin/Leipzig 1929, S. 867. 86 Max Lenz, Das historische Seminar, in: Ders., Geschichte der Kçniglichen Friedrich Wilhelms-Universitt zu Berlin, 3, Halle an der Saale 1910, S. 247 – 260, hier S. 260. 87 Konrad Repgen, Akteneditionen zur deutschen Geschichte des spten 16. und des 17. Jahrhunderts. Leistungen und Aufgaben, in: Lothar Gall / Rudolf Schieffer (Hg.), Quelleneditionen und kein Ende? Symposium der Monumente Germaniae Historica und der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Mînchen 22./23. Mai 1998 (= HZ, Beiheft NF, 28), Mînchen 1999, S. 37 – 79, hier S. 47 f.; ˜bersicht bei Winfried Becker (Bearb.), Dreißigjhriger Krieg und Zeitalter Ludwigs XIV. (1618 – 1715) (= Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, 2), Darmstadt 1995, S. 33 f., S. 90; vgl. noch R. Koser, Umschau … (s. Anm. 14), S. 14, S. 33; R. Haym, Das Leben Max Dunckers, Berlin 1891, S. 430 f., zur (Vor-)Geschichte der Urkunden und Aktenstîcke – diese Titel auch zum Folgenden.

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schrieben, dabei freilich Preußen im 19. Jahrhundert entschieden in den Mittelpunkt rîckten und perspektivisch privilegierten. Heinrich von Sybel (1817 – 1895), nach dem Urteil von Hellmut Seier nicht auf eine Stufe mit Ranke oder Jacob Burckhardt zu stellen,88 hat in den Jahrzehnten der Reichsgrîndungszeit publizistisch und wissenschaftspolitisch großen Einfluß ausgeîbt und gehçrt zur Fîhrungsgruppe der „kleindeutsch-preußischen“ Historiker des spteren 19. Jahrhunderts. Geboren 1817 in Dîsseldorf, war er aus „großbîrgerlich-aristokratischem Milieu“ (Dotterweich) hervorgegangen. Im Unterschied zu seinem Lehrer Ranke stellte Sybel schon frîh die Forderung auf, Geschichtswissenschaft mîsse eine entschieden kmpferische Disziplin sein; „cum ira et studio“ wolle er sie betreiben.89 Sein Weg hat ihn îber Marburg und Mînchen nach Bonn und schließlich nach Berlin gefîhrt. Noch in Mînchen hat er 1859 die „Historische Zeitschrift“ begrîndet. Gegen „Feudalismus, Ultramontanismus und Radikalismus“90 hat der Rheinpreuße frîh Stellung bezogen. Die Revolutionserfahrung der Jahre 1848/ 49 gab ihm den Impuls, die Geschichte der Revolutionszeit im ausgehenden 18. Jahrhundert zu erforschen und zu beschreiben, um der herrschenden Verherrlichung der „Ideen von 1789“ entgegenzutreten. Rund dreißig Jahre hat er an diesem seit 1853 erscheinenden fînfbndigen Werk gearbeitet.91 Von Ranke hat Sybel die Interdependenz von Innen- und Außenpolitik gelernt. Er schilderte europische Politik bis 1801 aus „antiçsterreichischen“ und propreußischnationalen Standpunkten heraus,92 auch z. B. bei der Beurteilung der Teilungen Polens. Aus dem Verfall des alten Staates leitete Sybel die Notwendigkeit politischer Reformen ab, eine ausgesprochene Mahnung an die „Reaktion“ der 1850er Jahre. Die sozialgeschichtlichen Faktoren hat er auf breiter Quellenbasis 88 Helmut Seier, Heinrich von Sybel, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, 2, Gçttingen 1971, S. 24 – 36, hier S. 24; folgendes: Volker Dotterweich, Heinrich von Sybel. Geschichtswissenschaft in politischer Absicht (1817 – 1861) (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der bayerischen Akademie der Wissenschaften, 16), Gçttingen 1978, S. 187, ferner S. 19 – 25, S. 54; vgl. ferner Helmut Seier, Die Staatsidee Heinrich von Sybels in den Wandlungen der Reichsgrîndungszeit 1862/71 (= Historische Studien, 383), Lîbeck/Hamburg 1961, S. 9 ff.; schließlich Walter Bussmann, Heinrich von Sybel (1817 – 1895), in: Bonner Gelehrte. Beitrge zur Geschichte der Wissenschaften in Bonn. Geschichtswissenschaften, Bonn 1968, S. 93 – 103, hier S. 93 f. 89 Z. B. H. Seier, Staatsidee … (s. Anm. 88), S. 10; V. Dotterweich, Sybel … (s. Anm. 88), S. 42 f. 90 So W. Bussmann, Sybel … (s. Anm. 88), S. 94; ebenso H. Seier, Sybel … (s. Anm. 88), S. 26. 91 Erich Marcks, Heinrich von Sybel, zuerst 1895, wieder in: Ders., Mnner und Zeiten. Aufstze und Reden zur neueren Geschichte, 1, Leipzig 1911, S. 255 – 274, hier S. 258; V. Dotterweich, Sybel … (s. Anm. 88), S. 214. 92 V. Dotterweich, Sybel … (s. Anm. 88), S. 199, S. 208 – 213; U. Haltern, Geschichte … (s. Anm. 82), S. 84 f.

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in die Betrachtung einbezogen. Die „Revolutionszeit“ gilt als Sybels bedeutendstes Werk. Der „antifeudale“ und antilegitimistische Standpunkt kennzeichnete Sybel auch dann, wenn er den Weg Preußens vor und nach 1866 betrachte.93 In seinem Alterswerk îber „Die Begrîndung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I.“, das seit 1889 in sieben Bnden erschien,94 wollte Sybel beweisen, „daß das preußisch-deutsche Einigungswerk […] dem gemßigt liberalen Staatsideal des Konstitutionalismus entsprach“. So wurde Bismarck, dem Sybel im Verfassungskonflikt oppositionell gegenîber gestanden hatte, letztlich zum „Vollstrecker des liberalen Erbes“.95 Sybels Werk, die erste Gesamtdarstellung zur Vorgeschichte der Reichsgrîndung, stîtzte sich auf die preußischen Staatsakten, und ganz offen hat er sich zu seinen „preußischen und nationalliberalen ˜berzeugungen“ bekannt, die ihn dabei geleitet haben.96 Hinzu kam ein quasi offiziçser Charakter der Darstellung, nicht nur durch die Genehmigung Bismarcks, die preußischen Staatsakten zu benutzten, sondern auch dadurch, daß, als ihm nach dem Sturz Bismarcks diese archivalische Basis nicht mehr zur Verfîgung stand, Sybel von Bismarck Informationen erbat und erhielt, mit denen eine Einflußnahme etwa bei der Darstellung der Emser Vorgnge des Jahres 1870 verbunden war.97 Dies hatte freilich zur Folge, daß Sybels Werk 93 Z. B. Heinrich von Sybel, Das neue Deutschland und Frankreich, in: Ders., Vortrge und Aufstze, Berlin 1874, S. 277 – 302, hier S. 297. 94 Heinrich von Sybel, Die Begrîndung des Deutschen Reiches durch Wilhelm I., 1 – 5, Vornehmlich nach den preußischen Staatsacten, 1 – 7, 1. (beziehungsweise 5.) Aufl. Mînchen/Leipzig 1889 – 1895, vgl. 1, S. XII. 95 So Elisabeth Fehrenbach, Die Reichsgrîndung in der deutschen Geschichtsschreibung, in: Theodor Schieder / Ernst Deuerlein (Hg.), Reichsgrîndung 1870/71. Tatsachen, Kontoversen, Interpretationen, Stuttgart 1970, S. 259 – 290, Zitat: S. 263. 96 Vorwort zur 1. Aufl. bei H. v. Sybel, Begrîndung … (s. Anm. 94), 1, S. XI (in der 4., rev. Aufl.); zur kleindeutschen Teleologie z. B. S. 22 f. (freilich in Distanz zu Positionen Droysens!). 97 Vgl. schon Conrad Varrentrapp, Biographische Einleitung, in: Heinrich von Sybel, Vortrge und Abhandlungen (= Historische Bibliothek, 3), Mînchen/Leipzig 1897, S. 1 – 156, hier S. 148 f.; und E. Marcks, Sybel … (s. Anm. 91), S. 271 – 273; wichtig R(udolf) Morsey, Geschichtsschreibung und amtliche Zensur, in: HZ 184 (1957), S. 555 – 572, hier S. 561, S. 567 – 572; und zentral nach neuen Quellen Werner Pçls, Bismarck und Sybels „Begrîndung des deutschen Reiches durch Wilhelm I.“, zuerst 1976, wieder in: Ders., Studien zur Bismarckzeit. Aufsatzsammlung zum 60. Geburtstag, hg. v. Gînther Grînthal / Klaus Erich Pollmann, Hildesheim/Zîrich/ New York 1986, S. 120 – 141, hier S. 121 f., S. 125 f., S. 129 ff. und passim, S. 136: „in einzelnen Passagen des Buches stammt der Text beinahe wçrtlich von Bismarck“; Wolfgang J. Mommsen, Objektivitt und Parteilichkeit im historiographischen Werk Sybels und Treitschkes, in: Reinhart Koselleck / Wolfgang J. Mommsen / Jçrn Rîsen (Hg.), Objektivitt und Parteilichkeit in der Geschichtswissenschaft (= Beitrge zur Historik, 1), Mînchen 1977, S. 134 – 158, hier S. 145.

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bald nach 1900 als veraltet galt.98 Die europischen und die gesellschaftlichen Faktoren kamen beim spten Sybel entschieden zu kurz. Mit Sybels Tod 1895 und mit demjenigen Heinrich von Treitschkes im Folgejahr trat die borussische Schule der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung ab, letztere die „nationalliberale[n] Realisten kleindeutscher Observanz“.99 Wie Sybel hat auch Heinrich von Treitschke (1834 – 1896) das Rankesche Objektivittspostulat nicht nur verletzt, sondern rundweg abgelehnt. Aus heutiger Sicht mag Treitschke als typischer Vertreter der deutschen Historiographie der Reichsgrîndungszeit erscheinen, der „die gesamte deutsche Geschichte nach dem preußisch-protestantischen und çsterreichisch-katholischen Gegensatz“100 ordnete, mit entschiedener Parteinahme des gebîrtigen Sachsen fîr die preußische Option. Mit ganzen 28 Jahren hatte Treitschke im Jahre 1862 den Essay îber „Das deutsche Ordensland Preußen“ verfaßt, in dem er die Rolle Preußens fîr die deutsche Einheitsbewegung aus mittelalterlichen Wurzeln ableiten wollte.101 Das preußische Telos in seiner seit 1879 erscheinenden fînfbndigen „Deutschen Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert“ ist oft beschrieben und schon von Zeitgenossen heftig kritisiert worden.102 Der Weg zur Reichsgrîndung war fîr Treitschke, der freilich den mittelstaatlichen Kulturpotentialen durchaus Gerechtigkeit zuteil werden ließ, grundstzlich identisch mit der Politik des preußischen Staates. Dies schloß Kritik, etwa an den Karlsbader Beschlîssen und an der Beteiligung Preußens daran, nicht aus, sondern ein. Gerade das hat dem spteren Staatshistoriographen allerhçchsten Ortes massive 98 Helmut Seier, Bismarck und die Anfnge des Kaiserreichs im Urteil der deutschen Historiographie vor 1914, in: Johannes Kunisch (Hg.), Bismarck und seine Zeit (= ForschBrandPrG NF, 1), Berlin 1992, S. 359 – 395, hier S. 370 f., S. 375 f., S. 391. 99 W. J. Mommsen, Objektivitt … (s. Anm. 97), S. 134, zum Folgenden S. 136, S. 148; vgl. gegen Mommsen Jens Nordalm, Der gegngelte Held. „Heroenkult“ im 19. Jahrhundert am Beispiel Thomas Carlyles und Heinrich von Treitschkes, in: HZ 276 (2003), S. 647 – 675, hier S. 675. 100 So R. Koselleck, Rezeption … (s. Anm. 80), S. 257. 101 Heinrich von Treitschke, Das deutsche Ordensland Preußen, zuerst 1962, in: Ders., Historische und politische Aufstze, 2, Leipzig 61903, S. 1 – 76, hier S. 74; Dieter Hertz-Eichenrode, Heinrich von Teitschke und das deutsch-polnische Verhltnis. Einige Bemerkungen, ausgehend vom Aufsatz „Das deutsche Ordensland Preußen“ (1862), in: JbMitteldtld 41 (1993), S. 45 – 89, bes. S. 46 f., S. 51; J. Hackmann, Ostpreußen … (s. Anm. 1), S. 105. 102 Vgl. z. B. Ulrich Langer, Heinrich von Treitschke. Politische Biographie eines deutschen Nationalisten, Dîsseldorf 1998, S. 358, S. 360; vgl. schon Gustav Schmoller, Gedchtnisrede auf Heinrich von Sybel und Heinrich von Treitschke (gehalten in der Leibnizsitzung der Akademie der Wissenschaften in Berlin am 2. Juli 1896), in: ForschBrandPrG 9 (1896), S. 357 – 394, hier S. 377 f., S. 383; E. Fehrenbach, Reichsgrîndung … (s. Anm. 95), S. 263; Walter Bussmann, Treitschke. Sein Weltund Geschichtsbild (= GçttBausteineGWiss, 3/4), Gçttingen/Zîrich 21981, S. 113 – 115, S. 234 f.

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Verstimmungen eingetragen, vor allem wegen der Kritik an den Hohenzollern der 1840er Jahre.103 Das, was in spterer Zeit bisweilen einsinnig als Preußenapologetik galt, wurde also im Preußen der wilhelminischen Zeit sehr viel differenzierter wahrgenommen. Auch darf nicht îbersehen werden, daß Treitschke ein umfangreiches archivalisches Material (erstmals) genutzt und verarbeitet hat. Treitschke, noch nicht preußischer Beamter, hat noch im Frîhjahr 1870 die Genehmigung durch Otto von Bismarck erhalten, die Akten des Geheimen Staatsarchivs zu benutzen.104 Die Wiener Akten, d. h. die çsterreichischen Gesandtenberichte der Zeit nach 1815, blieben Treitschke verschlossen, dessen antiçsterreichische „Gehssigkeit“ dort Anstoß erregte. Gleichwohl bleibt das bis zu den „Vorboten“ der Revolution von 1848 fîhrende Werk eine hochparteiische Forscherleistung, die durch die in es eingegangenen Quellenmassen seinen Wert fîr den kritischen Nutzer noch nicht verloren hat, wenn er auch etwa die Geschichte des Deutschen Bundes dezidiert und offen „nur vom preußischen Standpunkt aus betrachtet“105 hat. Die wissenschaftlichen Reaktionen auf diese, durchaus nicht mehr engpolitikhistorische, sondern durchaus auch kultur- und wirtschaftsgeschichtlich ausgreifenden und im Publikum weit verbreiteten Werke waren alles andere als einheitlich und positiv. Seine „Deutsche Geschichte“ trug Treitschke – nach den Feststellungen von Walter Bußmann – „viel Feindschaft ein“.106

103 Nach den Akten des Zivilkabinetts: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. HA, Rep. 89, Nr. 19814; vgl. zu den betreffenden Passagen U. Langer, Treitschke … (s. Anm. 102), S. 370 f. 104 Hans Goldschmidt, Treitschke, Bismarck und die „Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert“, in: PreussJbb 237 (1934), S. 226 – 249, hier S. 228, S. 237; W. J. Mommsen, Objektivitt … (s. Anm. 97), S. 146, S. 157 (abgewogen); vgl. H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, 3, Leipzig 71913, S. V; „Vorboten“: 5, S. 702 – 742; vgl. damit Andreas Biefang, Der Streit um Treitschkes „Deutsche Geschichte“ 1882/85. Zur Spaltung des Nationalliberalismus und der Etablierung eines nationalkonservativen Geschichtsbildes, in: HZ 262 (1996), S. 391 – 422, hier S. 394 f.; Wien: Ludwig Bittner, Einleitung. Die geschichtliche Entwicklung des archivalischen Besitzstandes und der Einrichtung des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, in: Ders. (Hg.), Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs aufgebaut auf der Geschichte des Archivs und seiner Bestnde, 1, Wien 1936, S. 7*-202*, hier S. 186 f.*. 105 H. v. Treitschke, Deutsche Geschichte … (s. Anm. 104), 3, 7. Aufl., S. VI. 106 W. Bussmann, Treitschke … (s. Anm. 102), S. 236; U. Langer, Treitschke … (s. Anm. 102), S. 301, S. 361 – 371; und treffend W. J. Mommsen, Objektivitt … (s. Anm. 97), S. 146; A. Biefang, Streit … (s. Anm. 104), S. 397 – 404, 409 f. (wenig positive Reaktionen): Beispiel Hermann Baumgarten, Treitschkes Deutsche Geschichte, Straßburg 31883, S. V, S. IX, Wiener Archive: S. 3 ff., propreußische Parteilichkeit: S. 6, S. 8.

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Mit dem Tod Sybels und Treitschkes zur Mitte der neunziger Jahre „verblaßte die Autoritt der kleindeutsch-borussischen Schule“,107 die gleichermaßen getragen war von Archivbasis und politischer Teleologie der Reichsgrîndungskmpfe. Freilich: Die Parteilichkeit war in den Jahrzehnten um 1870/71 nicht allein das Signum einer historiographischen Fraktion. Sehen wir hier von populren und bloß publizistischen Stereotypen ab, wie sie im katholischen Sîddeutschland wohl erst im spten Vormrz aufgekommen sind.108 Der Kampf gegen die „Kleindeutschen Geschichtsbaumeister“,109 wie er von dem großdeutschen Welfen Onno Klopp,110 seit 1866 von §sterreich, von Wien aus gefîhrt worden ist, war nicht weniger prsentistisch unterlegt als die Historiographie der kleindeutschen „Borussen“. Fîr Klopp verkçrperte das Habsburgerreich des 16. und 17. Jahrhunderts schlechterdings das politisch-historische Ideal, whrend er Preußen und zumal Friedrich d. Gr. in einen Gegensatz, auch einen stetigen Interessengegensatz zu Deutschland stellte. Hier wurde dem nationalteleologischen Zugang, der bei aller perspektivischen Verzerrung gewichtige Impulse fîr die Forschung – und damit ja letztlich fîr die Selbstîberwindung prsentistischer Prmissen – gesetzt hatte, eine nicht weniger aktualistische Negativteleologie entgegenstellt, die aber wissenschaftlich wesentlich weniger fruchtbar wurde. Der „Friderizianismus“ auch nach Friedrich II. sei, so Klopp, schlechterdings „Streben nach Eroberung“ ohne (moralische) Grenzen, 107 H. Seier, Bismarck … (s. Anm. 98), S. 365, auch S. 375: mit Sybels Reichsgrîndungswerk ging die „kleindeutsche Parteihistorie“ zuende. 108 Wichtige Beobachtungen bei Max Spindler, Die Regierungszeit Ludwigs I. (1825 – 1848), in: Bayerische Geschichte im 19. und 20. Jahrhundert 1800 – 1970, 1. Teilband (= Handbuch der bayerischen Geschichte, 4), Mînchen 1978, S. 89 – 223, hier S. 160, S. 195 f., S. 199 (u. a.: Gçrres); vgl. Walter Bussmann, Vom Hl. Rçmischen Reich deutscher Nation zur Grîndung des Deutschen Reiches, in: Ders. (Hg.), Europa von der Franzçsischen Revolution zu den nationalstaatlichen Bewegungen des 19. Jahrhunderts (= Handbuch der europischen Geschichte, 5), Stuttgart 1981, S. 404 – 615, hier S. 591 (zum sîddeutschen Preußen-Stereotyp: Zentralismus und Militrherrschaft). 109 Onno Klopp, Kleindeutsche Geschichtsbaumeister, Freiburg im Breisgau 1863, schon im Vorwort S. III ff. zu Sybels politischen Unfreundlichkeiten. 110 Georg Schnath, Klopp, Onno, in: NDB, 12, Berlin 1980, S. 115 f., auch zur Konversion zum Katholizismus (1873); Lorenz Matzinger, Onno Klopp (1822 – 1903). Leben und Werk (= Abhandlungen und Vortrge zur Geschichte Ostfrieslands, 72), Aurich 1993, S. 37, folgendes: S. 85 – 88; zum Folgenden ferner Karl-Heinz Noack, Das Bild Friedrichs II. im bîrgerlich-junkerlichen Geschichtsdenken whrend des Kampfes um die Reichseinigung, in: Horst Bastel / Ernst Engelberg (Hg.), Die großpreußisch-militrische Reichsgrîndung 1871. Voraussetzungen und Folgen, 1 (= Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Schriften des Zentralinstituts fîr Geschichte, Reihe I: Allgemeine und deutsche Geschichte, 36/A), Berlin 1971, S. 202 – 232, hier S. 225; Wiard v. Klopp, Onno Klopp. Leben und Wirken, hg. v. Franz Schnabel, Mînchen 1950, S. 88 ff.

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sei stete Aggression und Tuschung mit immer zerstçrerischer Tendenz.111 Preußens Mission konnte somit keine nationale sein; an Preußen sei vielmehr – 1814 – die „Herstellung des Kaiserthums“ gescheitert.112 Die Politik Friedrichs sei rechtsverachtend und „verrtherisch“113 gewesen; der „Fridericianismus“ wirkte im 19. Jahrhundert fort. „Der militrische Absolutismus“ aber mache nach wie vor „das Wesen des Staats der Hohenzollern“ aus. Anders als noch ein Halbjahrhundert zuvor differenzierten sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts polare Positionen und Interpretationen zur preußischen Geschichte heraus. Dies gilt fîr den mitteleuropischen Raum, aber es gilt auch fîr Westeuropa. Die kritisch-moralisierende Sicht Macaulays auf Friedrich II. und das alte Preußen îberhaupt114 war das whiggistische Pendant zur borussischen Parteihistorie in Deutschland. Macaulay stand – auf dem Material von Johann David Erdmann Preuß aufbauend – Thomas Carlyle gegenîber, der in England eine geradezu (gçttliche) Geschichts-Mission Friedrichs d. Gr. propagierte.115 Die negative Sicht der franzçsischen Historiographie auf das Preußen des 18. Jahrhunderts ist erst ein Reflex auf die Niederlage von 1871.116 111 Onno Klopp, Der Kçnig Friedrich II. von Preußen und seine Politik, Schaffhausen 2 1867, S. 541, S. 548, S. 551. 112 O. Klopp, Kçnig … (s. Anm. 111), S. 550. 113 O. Klopp, Geschichtsbaumeister … (s. Anm. 109), S. 58; das Folgende: Ders., Kçnig … (s. Anm. 111), S. 552. 114 Siehe jetzt Hans-Christof Kraus, Politische Historie – Macaulay und einige seiner deutschen Zeitgenossen, in: Ulrich Muhlack (Hg.), Historisierung und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland im 19. Jahrhundert, Berlin 2003, S. 31 – 48, zur englischen Literatur S. 33 Anm. 5, hier S. 34 f. mit Hinweis auf die Abwehr Hussers, S. 42; Lord Macaulay, Essays, hg. v. Egon Friedell, darin S. 157 – 249, vgl. zur Zeit vor 1740 kritisch S. 162 f.; Thomas Babington Macaulay, Frederic the Great, zuerst 1842, wieder in: Ders., Critical and Historical Essays, 2, London/New York 1907, ND 1951, S. 119 – 186; vgl. dazu ferner Manfred Schlenke, Das absolutistische Preußen in der englischen Geschichtsschreibung von 1945 bis 1955. Ein Literaturbericht, in: AKG 39 (1957), S. 112 – 129, hier S. 127; S. Skalweit, Problem … (s. Anm. 60), S. 163 f.; zur Rîckverlagerung politischer Kriterien des 19. Jahrhunderts in die Geschichte am Beispiel Macaulays: Otto Krauske, Macaulay und Carlyle, in: HZ 102 (1908), S. 31 – 56, hier S. 38 f., S. 42 f., Preußen: S. 43. 115 Zu Preuß s. o. bei Anm. 56; zu Carlyle vgl. jîngst J. Nordalm, Held … (s. Anm. 99), S. 657; O. Krauske, Macaulay … (s. Anm. 114), S. 43 f., S. 53 (auch zur Differenz zu Ranke); R. Koser, Umschau … (s. Anm. 14), S. 39, zur Quellenbasis; Thomas A. Fischer, Thomas Carlyle. Eine Geschichte seines Lebens. Mit Benutzung der neuesten Quellen sowie handschriftlicher und mîndlicher Mitteilungen, Leipzig 21903, S. 117; deutsche Ausgabe: Thomas Carlyle, Geschichte Friedrichs des Zweiten genannt der Große, hg. v. Georg Dittrich, 6 Bde., Meersburg 1928, das Nachwort: 6, S. 486 – 495. 116 S. Skalweit, Problem … (s. Anm. 60), S. 164 f. (de Broglie), positiv zu Lavisse: S. 165.

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Die politische Geschichte der nachreichsgrîndungszeitlichen Periode ging dann auf Distanz zur lauten Teleologie. Dies galt – auf einer niederen Ebene – auch fîr Versuche, nun aus dem Osten, etwa von der Universitt Kçnigsberg aus die „provinzielle Legende“ spezifisch altpreußischer Wurzeln in die Gesamtstaatsgeschichte zu implementieren. Diesen Vorwurf hat Otto Hintze dem Kçnigsberger Ordinarius Hans Prutz gemacht, der seit dem Jahre 1900 eine „Preußische Geschichte“ in vier Bnden erscheinen ließ.117 Dagegen hat gleich bei Erscheinen der Berliner Gelehrte Einspruch erhoben und eine – schon um 1900 als veraltet wahrgenommene – Dominanz der Politikgeschichte konstatiert, die modernere Forschungsrichtungen ignoriere. Hintzes Einsprîche haben freilich nicht verhindern kçnnen, daß die teleologische Interpretation einer durchgehenden Traditionslinie vom Ordensstaat bis zur klassischen preußischen Staatsgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts in der (polnischen und z. T. der) deutschen Historiographie bisweilen wiederkehrte, wie z. B. bei Walther Hubatsch nach 1945.118 Um 1900 wuchs also auch unter denjenigen Historikern, die politische Prozesse in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellten, die Distanz zu Erklrungsanstzen der kleindeutsch-borussischen Parteihistoriographie. Dies fîhrte zunchst zu einer partiellen Verstrkung rankischer Traditionen. Ob freilich der Terminus einer „Rankerenaissance“ fîr diese Strçmung in der (deutschen) Historiographie um 1900 zutreffend ist und wer dazu gezhlt werden kann, ist in der neuesten Forschung umstritten.119 Gerade der Bismarck-Biograph und 117 Hans Prutz, Preußische Geschichte, 4 Bde., Stuttgart 1900 – 1902, mit dem bemerkenswerten ˜berblick zu den „Hauptrichtungen der preußischen Geschichte“ (1, S. 1 – 22) und – ganz modern! – den „Legenden in der preußischen Geschichte“ (S. 23 – 37); dazu die Rez. von Otto Hintze, in: ForschBrandPrG 13 (1900), S. 276 – 280, bes. S. 277 und S. 279 f.; zu 3: ForschBrandPrG 14 (1901), S. 322 – 325; vgl. auch Otto Hintze, in: ForschBrandPrG 27 (1914), S. 617; zu Prutz vgl. z. B. noch J. Hackmann, Ostpreußen und Westpreußen … (s. Anm. 1), S. 121. 118 Klassisch: Walther Hubatsch, Kreuzritterstaat und Hohenzollernmonarchie. Zur Frage der Fortdauer des deutschen Ordens in Preußen, in: (Werner Conze [Hg.]), Deutschland und Europa. Historische Studien zur Vçlker- und Staatenordnung des Abendlandes. (Festschrift fîr Hans Rothfels), Dîsseldorf (1951), S. 179 – 199, hier S. 186 – 188, S. 199 (1701: Anknîpfung an den Ordensstaat) – statt anderer Publikationen Hubatschs zu dieser (sehr zweifelhaften) These; vgl. dazu H. Boockmann, Ostpreußen … (s. Anm. 8), S. 60; gegen Hubatsch (und Schieder): Gerhard Oestreich, Fundamente preußischer Geistesgeschichte, zuerst 1970, wieder in: Ders., Strukturprobleme der frîhen Neuzeit. Ausgewhlte Aufstze, hg. v. Brigitta Oestreich, Berlin 1980, S. 275 – 297, hier S. 281 f. 119 Jens Nordalm, Historismus und moderne Welt. Erich Marcks (1861 – 1938) in der deutschen Geschichtswissenschaft (= Historische Forschungen, 76), Berlin 2003, S. 124 – 131 (auch zur Kritik an der Begriffsprgung Srbiks); vgl. (schon vorher umstritten) Hans-Heinz Krill, Die Rankerenaissance. Max Lenz und Erich Marcks. Ein Beitrag zum historisch-politischen Denken in Deutschland 1880 – 1935 (= Verçff-

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Verfasser einer noch heute nicht ersetzten Biographie Wilhelms I., Erich Marcks (1861 – 1938)120 hat freilich auch modernere wissenschaftliche Strçmungen rezipiert, lßt sich also auf die Tradition Rankes allein nicht reduzieren. Zudem haben die sogenannten Neorankianer, etwa der frîhe Bismarck-Biograph Max Lenz (1850 – 1932), sich doch strker an der Nation orientiert als Leopold von Ranke aus seiner vormrzlichen Fundamentierung.121 Wenn Erich Marcks von „Wilhelm I.“, nicht von „Wilhelm dem Großen“ sprach, lag schon darin eine vorsichtige Distanzierung von der amtlichen Stilisierung dieses altpreußischen Monarchen durch seinen reichsdeutschen Enkel. Das alles verweist auf wissenschaftliche Autonomien und Differenzierungen, die erst die innovativen Entwicklungen erklren und erkennen lassen und die quer liegen zu beliebten Pauschalisierungen îber ltere historiographische Epochen. Eine zentrale Bedingung fîr die Entwicklung des Forschungsgebietes der preußischen Historie bestand natîrlich im Zugang zu den (staatlichen) Archiven. In den 1830er Jahren hatte es ja zu den spezifischen Arbeitsbedingungen etwa von Johann David Erdmann Preuß oder denjenigen seines Freundes Rçdenbeck gehçrt, aus ihren privaten Sammlungen zu schçpfen,122 in einer Zeit, in der wichtiges archivalisches beziehungsweise autographisches Material in den Handel gelangt und privat zu erwerben war. Noch lange galten auch fîr wissenschaftliche Benutzer der staatlichen Archive starke Restriktionen und Unkalkulierbarkeiten.123 Selbst der 1842 auf Empfehlung Rankes zum

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HistKommBerlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universitt Berlin, 3), Berlin 1962, bes. S. 82 ff.; vgl. noch F. Jaeger / J. Rîsen, Historismus … (s. Anm. 74), S. 92 ff.; vgl. zuletzt Ulrich Muhlack, „Rankerenaissance“ und „historiographische Modernitt“. Die Wiederentdeckung des Historikers Erich Marcks, in: HZ 279 (2004), S. 677 – 688, hier bes. S. 678 f., zu Nordalms Kritik an dem Begriff: S. 680 f. Vgl. von ihm exemplarisch: Kaiser Wilhelm I., hg. v. Karl Pagel, Berlin 1943, darin S. 373 – 388: „Zur Geschichte des Werkes“; E. Fehrenbach, Reichsgrîndung … (s. Anm. 95), S. 271 f. (zu Erich Marcks und Max Lenz); Arnold Oskar Meyer, Erich Marcks, in: ForschBrandPrG 51 (1939), S. 168 – 172, hier S. 169 (Ranke als Vorbild), S. 172 f. (nicht „Wilhelm der Große“!), zum Bismarck-Fragment: S. 174 f.; und Karl Sthlin, Erich Marcks zum Gedchtnis, in: HZ 160 (1939), S. 496 – 533, hier S. 505. Vgl. U. Muhlack, Rankerenaissance … (s. Anm. 119), S. 682, S. 685 f.; gegen Krill: J. Nordalm, Historismus … (s. Anm. 119), S. 9, S. 127 – 130, S. 178, S. 181 f., auch gegen die Parallelisierung von Erich Marcks und Max Lenz; dazu ferner Christoph Cornelissen, Gerhard Ritter. Geschichtswissenschaft und Politik im 20. Jahrhundert (= Schriften des Bundesarchivs, 58), Dîsseldorf 2001, S. 49 f.; zu Max Lenz schließlich noch Rîdiger vom Bruch, Max Lenz, in: NDB, 14, Berlin 1985, S. 231 f.; E. Fehrenbach, Reichsgrîndung … (s. Anm. 95), S. 269 f., und H. Seier, Bismarck … (s. Anm. 98), S. 378 – 382. R. Koser, Umschau … (s. Anm. 14), S. 6. Alles Nhere bei (Louis) Gollmert, Die Preußischen Archive …, in: Archiv fîr Landeskunde der Preußischen Monarchie 4 (1856), S. 113 – 163, hier S. 124 f.; Johanna Weiser, Geschichte der preußischen Archivverwaltung und ihrer Leiter. Von den Anfngen unter Staatskanzler von Hardenberg bis zur Auflçsung im Jahre 1945 (= Ver-

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Direktor der Kçniglichen Bibliothek ernannte Georg Heinrich Pertz hat zunchst einige Schwierigkeiten zu îberwinden gehabt, um fîr seine kompilatorischen Werke îber den Freiherrn vom Stein und îber Gneisenau derartige Probleme zu îberwinden. Er mußte zusagen, aus den ihm seit 1848 zugnglichen Archivbestnden „nichts Unpassendes“ zu publizieren.124 Erst in der frîhen Bismarck-Zeit125 begann die Blîte des Geheimen Staatsarchivs und der Staatsarchive im preußischen Staate insgesamt als wissenschaftliche Institutionen und unter Historikern als Direktoren. Von 1867 bis 1874 war es der nationalliberale Historiker Max Duncker (1811 – 1886),126 unter dem das Geheime Staatsarchiv nach Umzug in das „Lagerhaus“ in der Berliner Klosterstraße und durch die Vereinigung mit den wichtigsten Verwaltungsakten des 18. Jahrhunderts die Voraussetzungen schuf,127 die schließlich unter Dunckers Nachfolger, nmlich Heinrich von Sybel, das Archiv zu einer wissenschafts-

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çffentlichungen aus den Archiven preußischer Kulturbesitz, 7), Kçln/Weimar/Wien 2000, S. 25 – 28, S. 41, auch zu den prominenten Benutzern der Mitte des 19. Jahrhunderts; Paul Kehr, Ein Jahrhundert preußischer Archivverwaltung …, in: Archivalische Zeitschrift 3. Folge, 2, 35 (1925), S. 3 – 21, hier S. 8 f. Aus der Literatur besonders Hans-Christof Kraus, Quelleneditor und Monumentalbiograph. Georg Heinrich Pertz und seine Forschungen zur preußischen Zeitgeschichte, in: Jîrgen Kloosterhuis (Hg.), Archivarbeit fîr Preußen. Symposion der Preußischen Historischen Kommission und des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz aus Anlaß der 400. Wiederkehr der Begrîndung seiner archivischen Tradition (= Verçffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Arbeitsbericht, 2), Berlin 2000, S. 319 – 347, hier S. 323 – 338 (Stein); H. Fiechtner, §ffnung … (s. Anm. 31), S. 21 (Zitat). Zum Ergreifen Bismarcks vgl. Gerhard Zimmermann, Hardenbergs Versuch einer Reform der preußischen Archivverwaltung und deren weitere Entwicklung bis 1933, in: Jahrbuch der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, 1966, Kçln/Berlin 1967, S. 69 – 87, hier S. 81. Max Duncker hat neben seinen althistorischen Hauptwerken auch materialreiche Einzelstudien zur preußischen Geschichte vorgelegt, vgl. seine Sammlungen: Aus der Zeit Friedrichs des Großen und Friedrich Wilhelms III. Abhandlungen zur preußischen Geschichte, Leipzig 1876; und Ders., Abhandlungen aus der Neueren Geschichte, Leipzig 1887 (unpag.: Vorwort Heinrich von Treitschkes); zu Duncker als Staatshistoriograph Nheres bei W. Neugebauer, Die preußischen Staatshistoriographen … (s. Anm. 32), S. 50 f. Zur Duncker-Zeit fîr das Geheime Staatsarchiv: Jîrgen Kloosterhuis, Edition – Integration – Legitimation. Politische Implikationen der archivischen Entwicklung in Preußen, 1803 bis 1924, in: W. Neugebauer (Hg.), Das Thema „Preußen“ … (s. Anm. 32), S. 83 – 113, hier S. 95 – 98, auch zur Beziehung Dunckers zum Kronprinzen; J. Weiser, Geschichte … (s. Anm. 123), S. 46, u. a. zu dem Engagement Dunckers fîr Editionen; die Benutzungsbedingungen unter Duncker nur „geringfîgig verbessert“, weiter S. 48, S. 52 – 54; vgl. damit P. Kehr, Jahrhundert … (s. Anm. 123), S. 13, und R. Koser, Umschau … (s. Anm. 14), S. 16; starke Betonung der archivischen Ttigkeit Dunckers bei R. Haym, Duncker … (s. Anm. 87), S. 423 f., der Sybels Ttigkeit in die Kontinuitt der Amtszeit Dunckers rîcken will.

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strategischen Zentralstelle machten. Der Direktor des Geheimen Staatsarchivs war zugleich den anderen Staatsarchiven in den Provinzen îbergeordnet, und er fungierte als Archivreferent des Staatsministeriums. Ganz im Sinne Bismarcks hat Sybel die wissenschaftliche Archivbenutzung erleichtert und Restriktionen abgebaut, freilich einen Onno Klopp nicht zugelassen. – Vor allen Dingen aber wurde das Archiv selbst zu einem Ort wissenschaftlicher Produktion und Publikation beziehungsweise zu einem Zentrum organisierter und koordinierter Quelleneditionen.128 Sybel hat ja auch den jungen Friedrich Meinecke (1862 – 1954) dazu angeregt, die große Biographie îber den Kriegsminister Hermann von Boyen zu schreiben. Unter Sybel sind bedeutende Historiker wie Meinecke, Max Lehmann oder Reinhold Koser aus dem Archivdienst hervorgegangen.129 – In dieser Zeit ist unter der øgide Sybels mit der Editionsserie der „Publicationen aus den K. Preußischen Staatsarchiven“ (seit 1878) begonnen worden, wichtiges Material aus staatlichen Bestnden zu publizieren.130 Bis zum Ende der Monarchie sind in dieser Serie neunzig Bnde erschienen. Hermann Heimpel hat in diesem Zusammenhang von der „Großform deutscher Archivausschçpfung“ gesprochen. Als Beispiel sei auf die schließlich auf sieben Bnde angewachsene Edition der Geheimen Rats-Protokolle verwiesen, die Otto Meinardus bis 1919 vorlegte. Duncker hat noch als Archivdirektor zusammen mit Droysen große politikgeschichtliche Editionen ange128 J. Kloosterhuis, Edition … (s. Anm. 127), S. 99 f.; J. Weiser, Geschichte … (s. Anm. 123), S. 47, S. 65 f., zum Folgenden S. 69; Eckart Henning, 50 Jahre Geheimes Staatsarchiv in Berlin/Dahlem – 100 Jahre seit seiner Vereinigung mit dem Ministerialarchiv, in: JbBrandenbLdG 25 (1974), S. 154 – 174, hier S. 158; Bismarck: Abschrift des Immediatberichts vom 28. Okt. 1875, GStAPK, I. HA, Rep. 89, Nr. 19891. 129 Nheres bei Stefan Meineke, Friedrich Meinecke. Persçnlichkeit und politisches Denken bis zum Ende des Ersten Weltkrieges (= VerçffHistKommBerlin, 90), Berlin/ New York 1995, hier S. 91 – 93, S. 101; Hans-Christof Kraus, Preußen als Lebensthema Friedrich Meineckes – Geschichtsschreibung und politische Reflexion, in: W. Neugebauer (Hg.), Das Thema Preußen … (s. Anm. 32), S. 269 – 304, hier S. 281 f.; P. Kehr, Ein Jahrhundert … (s. Anm. 123), S. 16. 130 Vgl. Reinhold Koser, ˜ber den gegenwrtigen Stand der archivalischen Forschung in Preußen (= Mittheilungen der K. Preußischen Archivverwaltung, 1), Leipzig 1900, S. 7, zu den Publikationen der Akademie: S. 13 f.; zuerst: Max Lehmann (Hg.), Preußen und die katholische Kirche seit 1640. Nach den Acten des Geheimen Staatsarchives (= PubllPreussStaatsarch, 1), Leipzig 1878, darin der „Prospect“ Sybels S. V-X; zum Streit um Lehmanns Edition z. B. Hermann Heimpel, ˜ber Organisationsformen historischer Forschung in Deutschland, zuerst 1959, wieder in: Beitrge zur Organisation der historischen Forschung in Deutschland aus Anlaß des 25jhrigen Bestehens der Historischen Kommission zu Berlin am 3. Februar 1984, Berlin/New York 1984, S. 47 – 136, hier S. 73, zur Archivpublikation îberhaupt S. 70 – 73, Zitat: S. 70. Unter Sybel sind 60 Bnde erschienen. Meinardus: Nachweis bei W. Becker (Bearb.), Krieg … (s. Anm. 87), S. 34; K. Wutke, Otto Meinardus. Ein Lebensbild …, in: ZVGSchles 53 (1919), S. 1 – 28, hier S. 11.

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regt, die dann freilich nicht unter der Firma des Archivs, sondern als Editionen der Akademie der Wissenschaften erschienen. Die politische Korrespondenz Friedrichs d. Gr. und die auf drei Bnde angewachsene Staatsschriftenedition sind so entstanden.131 Im Ausland wurde sehr wohl bemerkt, daß im Zuge der Erschließung und der Edition der Quellen es die preußische Geschichtswissenschaft selbst gewesen ist, die die Legende von der universalen Grçße Friedrichs II. korrigierte und sich z. B. den Ergebnissen der çsterreichischen Historiker annherte.132 War mit der Werkausgabe Friedrichs des Großen, die Johann David Erdmann Preuß veranstaltet hatte, ja das „letzte vorwissenschaftliche Stadium der preußischen Historie“133 markiert, so leiteten die seit den 1870er Jahren erscheinenden Akademie- und Archiveditionen ein neues wissenschaftliches Stadium der preußischen Historie ein.

§ 3 Staats-Strukturgeschichte und historische Staatswissenschaft I. Strukturgeschichtliche Anfnge der preußischen Historiographie Auch Vertreter einer politikgeschichtlichen Preußenhistoriographie, wie sie in der Mitte des 19. Jahrhunderts dominierte, haben sich der Einsicht nicht verschlossen, daß die Erforschung der politischen Geschichte, der Staatenkonflikte und Ereignisverlufe, ein vollstndiges Bild doch nicht bieten kçnne.134 Aber es wre doch eine Verzeichnung der wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung des Preußenthemas, wenn der gepflegten Legende gefolgt wîrde, nach der erst im ausgehenden 19. Jahrhundert, in den Jahren der einsetzenden Staatsintervention auf dem Gebiet der Sozialpolitik, auch die Strukturen in der preußischen Geschichte als Arbeitsgebiet entdeckt worden wren. August Meitzen (1822 – 131 Vgl. mit weiteren Hinweisen Wolfgang Neugebauer, Zum schwierigen Verhltnis von Geschichts-, Staats- und Wirtschaftswissenschaften am Beispiel der Acta Borussica, in: Jîrgen Kocka (Hg.), Die Kçniglich Preußische Akademie der Wissenschaften im Kaiserreich (= Interdisziplinre Arbeitsgruppen, Forschungsberichte, 7), (Berlin 1999), S. 235 – 275, hier S. 238 f.; vgl. Klaus Mîller (Bearb.), Absolutismus und Zeitalter der Franzçsischen Revolution (1715 – 1815) (= Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, 3), Darmstadt 1982, S. 36, S. 100 f. 132 Vgl. mit Verweis auf die PC Alfred Ritter von Arneth, Aus meinem Leben, 2, Stuttgart 1893, S. 284; undifferenziert und deshalb irrefîhrend Karl-Heinz Noack, Der soziale Aspekt der Hohenzollernlegende bei Gustav Schmoller, in: Horst Barthel u. a. (Hg.), Evolution und Revolution in der Weltgeschichte. Ernst Engelberg zum 65. Geburtstag, 1, Berlin 1976, S. 327 – 343, hier S. 341. 133 Vgl. oben bei Anm. 56; das Zitat (zu J. D. E. Preuß): S. Skalweit, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 41), S. 111. 134 U. Haltern, Geschichte und Bîrgertum … (s. Anm. 82), S. 73 (zu Droysen 1853).

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1910), Verwaltungsmann und Gelehrter,135 hat sich seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts mit den agrarischen Strukturen in Preußen beschftigt; 1863 legte er seine Edition Schlesischer Dorfurkunden vor. Die Erforschung von Flurkarten als Quelle fîr die Entwicklung von Siedlungsstrukturen seit dem hohen Mittelalter nahm sptere kulturgeschichtliche Methoden vorweg. Georg Friedrich Knapp (1842 – 1926) hat sich dann, auch in Auseinandersetzung mit den Forschungen Meitzens, seit 1874 als Professor fîr Nationalçkonomie und Statistik mit der Agrarsozialgeschichte Preußens und seiner Landschaften im 18. und 19. Jahrhundert befaßt und zahlreiche (Schîler-)Arbeiten dazu angeregt.136 In Vorlesungen hatte er sich schon in den frîhen 1870er Jahren mit den „Arbeiterbewegungen befaßt“; nun forschte er selbst îber die lndliche „Arbeiterfrage“ und deren historische Ursachen. „Die Geschichte der Bauernbefreiung ist die Geschichte der sozialen Frage des 18. Jahrhunderts“,137 so hat Knapp sein Werk eingeleitet, das auch fîr eine sptere Forschung, die seiner zentralen These nicht mehr folgen kann, wichtig blieb und wichtig bleibt. Die frîhen strukturgeschichtlichen Forschungen zur preußischen Geschichte, wie sie in der zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts in thematischer Breite entgegentreten, waren also durchaus nicht auf die Staats- und Rechtsgeschichte beschrnkt und sie wurden nicht primr von Historikern im engeren 135 Zu den biographischen Einzelheiten vgl. Hartmut Harnisch, August Meitzen und seine Bedeutung fîr die Agrar- und Siedlungsgeschichte, in: Jahrbuch fîr Wirtschaftsgeschichte 1975, 1, S. 17 – 119, hier S. 99 – 102 auch zum amtlich angeregten „Bodenwerk“ und zur Begrîndung der „Siedlungsforschung“; vgl. noch Georg Friedrich Knapp, Siedlung und Agrarwesen nach A. Meitzen, in Ders., Grundherrschaft und Rittergut. Vortrge nebst biographischen Beilagen, Leipzig 1897, S. 101 – 120, hier S. 103; vgl. noch das unpag. Vorwort bei August Meitzen, Der Boden und die landwirthschaftlichen Verhltnisse des preußischen Staates nach dem Gebietsumfange von 1866, 1, Berlin 1868, zur Geschichte der landwirtschaftlichen Statistik: S. 1 – 16. 136 Vgl. Hartmut Harnisch, Georg Friedrich Knapp. Agrargeschichtsforschung und sozialpolitisches Engagement im Deutschen Kaiserreich, in: Jahrbuch fîr Wirtschaftsgeschichte, 1993, 1, S. 95 – 132, zur Biographie: S. 97 – 102, auch zur Freundschaft mit Gustav Schmoller; Archivforschungen und Unterstîtzung durch Sybel: Georg Friedrich Knapp, Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den lteren Theilen Preußens, 2. Aufl. mit einem Vorwort von Carl Johannes Fuchs, Mînchen/ Leipzig 1927, S. XIV; vgl. noch Heinrich Kaak, Die Gutsherrschaft. Theoriegeschichtliche Untersuchungen zum Agrarwesen im ostelbischen Raum (= VerçffHistKommBerlin, 79), Berlin/New York 1991, S. 64 – 80, Knapp und der Verein fîr Sozialpolitik: S. 83 – 85. 137 G. F. Knapp, Bauernbefreiung … (s. Anm. 136), 1, S. XIII; zur Kritik an Knapps Thesen außer H. Harnisch, Knapp … (s. Anm. 136), S. 118 ff., bes. S. 123; („lndliche Arbeiterklasse“ durch die Reformen des frîhen 19. Jahrhunderts); Dietrich Saalfeld, Zur Frage des buerlichen Landverlustes im Zusammenhang mit den preußischen Agrarreformen, in: ZAgrargAgrarsoziol 11 (1963), S. 163 – 171, bes. S. 163, S. 170 f. („Die Ansicht Knapps …, daß die Kleinstellenbesitzer zu besitzlosen Landarbeitern geworden sind, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten“.)

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Sinne inauguriert. Der Berliner Schulmann Siegfried Isaacsohn (1845 – 1882) hatte zwar in den spten 1860er Jahren bei Ranke, Droysen und Mommsen studiert, blieb aber trotz seines Hauptwerkes, der „Geschichte des preußischen Beamtenthums“ (3 Bde., 1874 – 1884) stets Gymnasiallehrer im sozial wenig exklusiven Berliner Osten und ausgesprochener Außenseiter in der historischen Zunft.138 Dies gilt auch, wenn auch in abgeschwchtem Maße, fîr diejenigen, aus der Rechtsgeschichte kommenden Autoren, die sich mit der brandenburgpreußischen Rechtsverfassung in mehrbndigen, noch heute benutzten Kompendien beschftigt haben, wie Ernst von Meier (1837 – 1911), Adolf Stçlzel (1831 – 1919) oder Conrad Bornhak (1861 – 1944).139 Um 1886/1890 lag jedenfalls schon ein stattliches Forschungspotential zu politischen und (agrar)sozialen Strukturen Preußens in seiner Geschichte vor, eine kritische Masse, die dann nach Droysen und Ranke einen Paradigmenwechsel in der Beschftigung mit der Geschichte dieses Staates eingeleitet hat.

138 Zu ihm vor allem Daniel S. Nadav, Siegfried Isaacsohn – Historiker des preußischen Beamtentums, in: JbGMitteldtld 37 (1988), S. 59 – 92 (mit Schriftenverzeichnis), hier bes. S. 63 f., S. 67, S. 66: Abkehr von der Dynastie- und Kriegsgeschichte; zu Isaacsohns Band zu den brandenburgischen Stnden im Rahmen der UA: S. 77 f. (mit Ungenauigkeiten); in S(iegfried) Isaacsohn, Geschichte des Preußischen Beamtenthums vom Anfang des 15. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, 3, Berlin 1884 (ND Aalen 1962), ein biographisches Vorwort des mit ihm befreundeten Harry Bresslau, S. V-VII; Archivzugang: 1, S. VI und 2, S. VII; zu diesem Werk vgl. Hans Rosenberg, Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 31), Gçttingen 1978, S. 266. 139 Zum Ganzen s. Wolfgang Neugebauer, Die Anfnge strukturgeschichtlicher Erforschung der preußischen Historie, in: Ders. / Ralf Prçve (Hg.), Agrarische Verfassung und politische Struktur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte Preußens 1700 – 1918 (= Innovationen, 7), Berlin 1998, S. 383 – 429, hier S. 417 – 427; W. Neugebauer, Staatshistoriographen … (s. Anm. 32), S. 54 f.; jeweils mit weiterer Literatur zu den Genannten; zu Conrad Bornhak jîngst noch Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900 – 1970 (= Ordnungssysteme, 7), Mînchen 2005, S. 230; zu Bornhaks Werk „Preußische Staats- und Rechtsgeschichte“ (Berlin 1903) die Rezension von Otto Hintze, in: ForschBrandPrG 18 (1905), S. 288 – 306, bes. die Kritik S. 288 f. zur „Geschichte des preußischen Verwaltungsrechts“; schließlich noch zum Historiographen des Kammergerichts, Holtze, Paul Torge, Friedrich Holtze zum Gedchtnis, in: MittVGBerlin 46 (1929), S. 149 – 151, zu seinen Werken S. 150.

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II. Der Schmoller-Komplex Wird die Entwicklung der preußischen Historiographie mit derjenigen Bayerns140 oder §sterreichs verglichen, so wird offenbar, daß die preußischen Forschungen im spteren 19. Jahrhundert durch einen spezifischen Innovationsimpuls geprgt worden sind, der freilich nicht eigentlich aus der professionellen Geschichtswissenschaft im engeren Sinne gekommen ist. Es war Gustav Schmoller, der in der Mitte der achtziger Jahre darauf hinwies, daß der Editionsstand „gerade fîr die Zeit von 1600 – 1800 am wenigsten ausreichend“ wre,141 also frîhe Versuche zu Gesamtdarstellungen der preußischen Verwaltungsgeschichte schon deshalb problematisch seien, weil die erforderlichen Grundlagen noch nicht existierten. Mit der §ffnung der Archive fîr die historischen Wissenschaften und deren professionelle Bearbeitung wurden, nach der Epoche Rankes und Droysens, neue Einsichten in die staatsbildenden Prozesse vor allem in der Neuzeit am preußischen Beispiel mçglich. Gustav (von) Schmoller (1838 – 1917) gilt als Vertreter der jîngeren historischen Schule der Nationalçkonomie und als prominentes Beispiel des Historismus142 außerhalb der eigentlichen Geschichtswissenschaft. Der gebîrtige Schwabe, der mit Eleganz und Intriganz eine Gelehrtenkarriere an den Universitten Halle an der Saale, Straßburg im Elsaß und endlich (seit 1882) in

140 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Forschung und Synthese. Das Handbuch der bayerischen Geschichte im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext, in: ZBayerLdG 70 (2007), S. 11 – 32, hier S. 12 f. 141 Die Rezension Schmollers zu Conrad Bornhaks Werk zum preußischen Verwaltungsrecht, in: Jahrbuch fîr Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 10 (1886), S. 570 – 576, wieder in: Ders., Kleine Schriften zur Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, hg. v. Wolfram Fiedler / Rolf Karl, 4 (= Opuscula oeconomica, 1), Leipzig 1886, S. 181 – 187, Zitat: S. 183. 142 Karl-Heinrich Kaufhold, Gustav von Schmoller (1838 – 1917) als Historiker, Wirtschafts- und Sozialpolitiker und Nationalçkonom, in: VjschrSozialWirtschG 75 (1988), S. 217 – 252, hier S. 237, mit hier nicht zu referierenden Einzelheiten, Theoriebezug: S. 238 f., und Werner Plumpe, Gustav Schmoller und der Institutionalismus. Zur Bedeutung der historischen Schule der Nationalçkonomie fîr die moderne Wirtschaftsgeschichtsschreibung, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 25 – 275, hier S. 262 – 265; Rîdiger vom Bruch, Nationalçkonomie zwischen Wissenschaft und çffentlicher Meinung im Spiegel Gustav Schmollers, in: Pierangelo Schiera / Friedrich Tenbruck (Hg.), Gustav Schmoller in seiner Zeit: die Entstehung der Sozialwissenschaften in Deutschland und Italien (= Jahrbuch des italienisch-deutschen historischen Instituts in Trient, 5), Bologna/Berlin 1989, S. 153 – 180, hier S. 165 f.; Schmoller und die Staatswissenschaften: David F. Lindenfeld, The Practical Imagination. The German Sciences of State in the Nineteenth Century, Chicago/London 1997, S. 233 – 242.

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Berlin betrieb,143 hatte schon seit den sechziger Jahren intensive Archivforschungen am preußischen Beispiel aufgenommen, und zwar als empirische Basis fîr eine sptere nationalçkonomische Systembildung. Insofern wurde Preußen zum Paradigma fîr im Ansatz staatswissenschaftliche und insbesondere nationalçkonomische Forschungen, die im Erkenntnisziel îber das preußische Themenfeld weit hinauswiesen.144 Sein sozialpolitisches Engagement im von ihm mitbegrîndeten „Verein fîr Sozialpolitik“ hatten ihm frîh den Ruf eines „Kathedersozialisten“ eingebracht. Allerdings, so ist mit guten Grînden gefordert worden, sollte „Schmollers wissenschaftliches Programm […] strker, als es in der Literatur vielfach geschieht, von seinem sozialpolitischen Wirkungswillen, also von seiner Etikettierung als ,Kathedersozialist‘ abgegrenzt werden.“145 In der sozialteleologischen These von der jahrhundertealten sozialen Mission der Hohenzollern, bei der Dynastie und Beamtenapparat als neutrale Instanzen den Klassenegoismus zurîckgedrngt htten,146 ging seine wissenschaftliche Ttigkeit nicht auf. In seinen frîhesten Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung und des „Beamtenstands“ unter Friedrich Wilhelm I. hat sich Schmoller mit Droysen auseinandergesetzt und die Notwendigkeit, die politikgeschichtliche Forschung derart zu ergnzen, propagiert. Um 1870 hat der damals in Halle ttige Staatswissenschaftler vor allem die Struktur des preußischen Beamtentums in – fîr die damalige Zeit – bemerkenswerter Weise beleuchtet; er hat dabei etwa das Verhltnis des Adels zum bîrgerlichen Element zum Thema gemacht, auch „Nepotismus“ und – wie man es heute nennen wîrde – Klientelstrukturen im preußischen Staat des 18. Jahrhunderts aufgezeigt,147 ferner die Phnomene des 143 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Die „Schmoller-Connection“. Acta Borussica, wissenschaftlicher Großbetrieb im Kaiserreich und das Beziehungsgeflecht Gustav Schmollers, in: J. Kloosterhuis (Hg.), Archivarbeit … (s. Anm. 124), S. 261 – 301, hier S. 264 – 270, S. 276 f. zum Aufstieg Schmollers (mit weiterer Literatur). 144 Z. B. Rîdiger vom Bruch, Gustav Schmoller, in: Notker Hammerstein (Hg.), Deutsche Geschichtswissenschaft um 1900, Stuttgart 1988, S. 219 – 238, hier S. 231; zum Folgenden (Verein fîr Sozialpolitik) jetzt Erik Grimmer-Solem, The Rise of Historical Economics and Social Reform in Germany 1864 – 1894, Oxford 2003, S. 171 – 207; Carl Brinkmann, Gustav Schmoller und die Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 1937, S. 86 – 101. 145 So R. vom Bruch, Nationalçkonomie … (s. Anm. 142), S. 155. 146 Mit Nachweis der einschlgigen Schmoller-Texte: W. Neugebauer, Schmoller-Connection … (s. Anm. 143), S. 270 f. 147 Zuerst: Gustav Schmoller, Die innere Verwaltung des preußischen Staates unter Friedrich Wilhelm I., in: PreußJbb 25 (1869), S. 575 – 591, 26 (1870), S. 1 – 16, hier bes. S. 577 f. (Ranke und Droysen fîr die „Verwaltungszustnde“ unzureichend), S. 583: Stnde als „Klique privilegirter Personen“, S. 4: Zurîckdrngung der Adelsmacht; sodann Ders., Der preußische Beamtenstand unter Friedrich Wilhelm I., in: PreußJbb 26 (1870), S. 148 – 177, S. 253 – 270, S. 538 – 555, S. 149, S. 162, S. 169 zur neuerschlossenen Aktenbasis; Adel und Bîrgertum: etwa S. 155 f., S. 162 ff.

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„Stellenkaufs“. Daß Beamtentum und Offizierskorps unter diesem Monarchen schon „zu einer Art herrschender Klasse“ geworden waren,148 die im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts degenerierte Erscheinungen aufwies, das waren zu dieser Zeit gewiß beachtenswerte Befunde. In den Quellenforschungen der 1860er Jahre und 1870er Jahre, die zunchst in oft monographienstarken Aufstzen ihren Niederschlag fanden,149 liegt sein eigentliches darstellendes Oeuvre zur preußischen Geschichte begrîndet. Seine lange verfolgte Absicht blieb unausgefîhrt, eine Monographie îber Friedrich Wilhelm I. zu schreiben, fîr dessen Erkenntnis und Verstndnis Schmoller freilich die Bahn gebrochen hat. Die Interessen an der (europischen) Komparatistik, etwa auf dem Felde des von ihm zum großen Thema gemachten „Merkantilismus“, ließen ihn nun eine andere Lçsung fîr die preußischen Forschungsaufgaben suchen. Mit seiner Berufung an die Friedrich-Wilhelms-Universitt zu Berlin im Jahre 1882 intensivierten sich nicht zufllig Schmollers preußische Studien, auch solche zur Handels-, Verkehrs- und Wirtschaftpolitik der frîhen Neuzeit.150 Diese Forschungen und in langjhriger Arbeit angelegten Quellensammlungen boten den Grundstock fîr die Edition der „Acta Borussica“, die, seit 1892 erscheinend, fîr eine moderne Staats-, Struktur- und Wirt148 G. Schmoller, Beamtenstand … (s. Anm. 147), S. 551, folgendes: S. 553. 149 Wichtige Teilsammlungen: Gustav Schmoller, Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, ND Hildesheim/New York 1974, mit dem wichtigen programmatischen Vorwort S. V-X; Ders., Deutsches Stadtwesen in lterer Zeit, Bonn 1922, ND Aalen 1964, S. 231 – 428; und jetzt G. Schmoller, Kleine Schriften … (s. Anm. 141), hier 1, Leipzig 1985, mit den Studien zur preußischen (Verwaltungs- und) Wirtschaftsgeschichte 1680 – 1786, die wegen ihrer Materialfîlle und Aktenbasis von Bedeutung bleiben; vgl. zusammenfassend: Fritz Hartung, Gustav von Schmoller und die preußische Geschichtsschreibung, zuerst 1938, wieder in: Ders., Staatsbildende Krfte der Neuzeit. Gesammelte Aufstze, Berlin (1961), S. 470 – 496, hier S. 477 f., Stdtethema: S. 481 – 483; S. Skalweit, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 41), S. 117 f., zum Folgenden S. 119 f.; und Otto Hintze, Gustav Schmoller. Ein Gedenkblatt, zuerst 1919, wieder in: Ders., Soziologie und Geschichte. Gesammelte Abhandlungen zur Soziologie, Politik und Theorie der Geschichte, hg. v. Gerhard Oestreich, 2., erw. Aufl., Gçttingen 1964, S. 519 – 543, hier S. 535 f.; Merkantilismus: August Skalweit, Gustav von Schmoller und der Merkantilismus, in: Arthur Spiethoff (Hg.), Gustav von Schmoller und die deutsche geschichtliche Volkswirtschaftslehre. Festgabe zur hundertsten Wiederkehr seines Geburtstages, 24. Juni 1938, Berlin 1938, S. 303 – 319, hier S. 303 – 305, S. 308. 150 Vgl. Anm. 149; aus der Literatur: Otto Hintze, Gustav von Schmoller, in: DtBiogrJb ˜berleitungsband 2 (1928), S. 124 – 134, hier S. 128 f., mit guten Beobachtungen; S. Skalweit, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 41), S. 118; zum Folgenden Otto Hintze, Gedchtnisrede auf Gustav von Schmoller (= AbhhAkad.Berlin, 1918), Berlin 1918, S. 7 f.

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schaftsgeschichte des Alten Preußen neue und bis heute unverzichtbare Grundlagen schuf.151 Schmoller hatte sich lange Jahre mit dem Gedanken getragen, „eine Verwaltungs-, Finanz- und Wirtschaftsgeschichte […] Preußens îberhaupt im 18. Jahrhundert zu schreiben“, aber er mußte um 1900 „einsehen, daß so umfangreich, wie ich die Vorarbeiten und Archivstudien angelegt hatte, mein ganzes Leben entfernt nicht ausreichen wîrde, um sie zu vollenden. Außer den zerstreut da und dort publizierten liegen noch viel grçßere Vorstudien und Sammlungen unpubliziert, teilweise in noch nicht abgeschlossener Art in meinen Schrnken, und noch ist nur der kleinere Teil dieser Vorarbeiten gethan […] Mein Eintritt in die Akademie fîhrte zu dem großen Unternehmen der Acta Borussica, in denen die archivalischen Vorarbeiten, die ich selbst nicht vollenden kann, einen besseren Abschluß finden.“152 – Im Hintergrund dieses, zunchst mehr an als in der Akademie der Wissenschaften betriebenen wissenschaftlichen Großprojektes, von dem Schmoller rechtzeitig bemerkt hatte, daß es – gleichsam unabsehbar – die Krfte eines einzelnen îbersteigen mußte, stand der große Mann der Wissenschaftspolitik im preußischen Kulturstaat der Kaiserzeit: Friedrich Althoff.153 Diese Konstellation fîhrte dazu, daß die Acta Borussica vorzîglich finanziell ausgestattet wurden und – gut getarnt – zu einem wissenschaftsstrategischen Faktor fîr Geschichts- und Staatswissenschaften in Preußen, Deutschland, ja darîber hinaus geworden sind.154

151 Mit der Literatur: W. Neugebauer, Zum schwierigen Verhltnis … (s. Anm. 131), passim; und Ders., Gustav Schmoller, Otto Hintze und die Arbeit an den Acta Borussica, in: JbBrandenbLdG 48 (1997), S. 152 – 202 (mit Quellenanhang), jeweils mit den werkgeschichtlichen Zusammenhngen, die hier nicht erneut aufzunehmen sind. 152 So G. Schmoller, Umrisse … (s. Anm. 149), S. V (1898); Schmoller ebd. zu seiner Entscheidung, die eigene Kraft auf den „Grundriß der Allgemeinen Volkswirtschaftslehre“ (2 Bde., Leipzig 1900/1904, u. ç.) zu konzentrieren. Zur Literatur vgl. oben Anm. 151; Otto Hintze, Gustav Schmoller als Historiker, zuerst 1908, wieder in: Ders., Historische und Politische Aufstze, 4, Berlin o. J., S. 183 – 191, hier S. 190. 153 W. Neugebauer, Zum schwierigen Verhltnis … (s. Anm. 131), S. 259 f.; Hintergrînde: Nicholas W. Balabkins, Not by Theory alone … The Economics of Gustav von Schmoller and Its Legacy to America (= Volkswirtschaftliche Schriften, 382), Berlin 1988, S. 35 f. 154 W. Neugebauer, Schmoller-Connection … (s. Anm. 143), S. 284 – 291, und passim; zur interdisziplinren Stellung und Aufgabe der Edition siehe Gustav Schmoller, in: Nachrichten îber die Acta Borussica. Denkmler der preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hg. v. der Akademie der Wissenschaften, Berlin 1908, S. 8: die Acta Borussica seien „in erster Linie fîr die Forscher, fîr die Staats-, Verwaltungs- und Volkswirtschaftslehrer, fîr die Rechts- und Wirtschaftshistoriker bestimmt“. Ebd. zu Darstellungen von Schmoller und Hintze im Rahmen dieses Werkes. Vgl. Anm. 155; ˜berblick îber die Edition: K. Mîller (Bearb.), Absolutismus … (s. Anm. 131), S. 57, S. 79 f.

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Das Editions- und Darstellungswerk der Acta Borussica mit seinen mehr als drei Dutzend Bnden zur Verwaltungsorganisation, Zoll- und Steuerpolitik, zur Mînz- und Getreidehandelspolitik, zur Seiden- und schließlich zur Wollindustrie war also von der Anlage her durchaus nicht (allein) als neue Quellengrundlage fîr die historischen Forschungen am preußischen Fall angelegt. Schmoller ließ in europischen, durchaus nicht allein in preußischen Archiven das Material erheben, das dann beziehungsgeschichtlichen und komparatistischen Zwecken zugute kam.155 Von Anfang an hatte Schmoller ja „vergleichende Studien“156 intendiert; die preußischen Forschungen hatten insofern an sich nur dienenden und exemplarischen Charakter. Aus den Mitarbeitern der Acta gingen denn auch Vertreter der Volkswirtschaftslehre und Historiker hervor, die, wie z. B. Otto Krauske in Gçttingen und Kçnigsberg,157 sich weiterhin der preußischen Historie verpflichtet fîhlten. Die Acta Borussica mit ihrer bis in den Ersten Weltkrieg hinein opulenten finanziellen Basis wurden zum Zentrum eines netzwerkgleichen Wissenschaftskombinates, zu dem ganz wesentlich die von Schmoller noch in seinen Straßburger Tagen zusammen mit Staatswissenschaftlern wie Georg Friedrich Knapp gegrîndeten „Staats- und sozialwissenschaftlichen Forschungen“158 gehçrten. Diese, bis in den Weltkrieg herein erscheinende, interdisziplinr angelegte Reihe wurde bisweilen aus Mitteln der Acta Borussica alimentiert.159 An die Stelle der vom „Verein fîr Geschichte der Mark Brandenburg“ 1841 bis 1887 in unregelmßigen Abstnden herausgegebenen „Mrkischen Forschungen“ und der schon 1883 eingegangenen „Zeitschrift fîr Preußische Geschichte und Landeskunde“ (20 Bde., seit 1864) setzte Schmoller seit 1888 die „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte“, die am Ende 155 Mit den Belegen W. Neugebauer, Schmoller, Hintze … (s. Anm. 151), S. 165 ff. 156 G. Schmoller, Umrisse … (s. Anm. 149), S. VI; Gustav Schmoller, Ueber Behçrdenorganisation, Amtswesen und Beamtenthum im Allgemeinen und speciell in Deutschland und Preußen bis zum Jahre 1713, in: Acta Borussica. Denkmler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hg. v. der Kçniglichen Akademie der Wissenschaften. [Reihe:] Die Behçrdenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, 1, Berlin 1894, S. (1)-(143); zur Komparatistik Schmollers vgl. ferner Gerhard Oestreich, Die Fachhistorie und die Anfnge der sozialgeschichtlichen Forschung in Deutschland, zuerst 1969, wieder in: Ders., Strukturprobleme … (s. Anm. 118), S. 57 – 95, hier S. 73 f.; C. Brinkmann, Schmoller … (s. Anm. 144), S. 107. 157 Mit der Spezialliteratur W. Neugebauer, Schmoller-Connection … (s. Anm. 143), S. 300 f. 158 Z. B. O. Hintze, Gustav von Schmoller … (s. Anm. 150), S. 127; C. Brinkmann, Schmoller … (s. Anm. 144), S. 112. 159 Beispiel: Robert Bergmann, Geschichte der ostpreußischen Stnde und Steuern von 1688 bis 1704 (= StaatsSozialWissForsch, 19, 1. Heft), Leipzig 1901, S. V („Vorbemerkung“); auch die „Jahresberichte der Geschichtswissenschaft“ wurden zeitweise aus Acta-Borussica-Mitteln unterstîtzt.

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des zweiten Weltkrieges zum Erliegen kamen, aber in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts von der Preußischen Historischen Kommission wiederbelebt werden konnten.160 Die „FBPG“ wurden schließlich von den Acta Borussica finanziert und zum wesentlichen Organ der Schmoller-Richtung, und das sowohl im Aufsatz-, als auch in dem noch heute lesenswerten und materialreichen Rezensionsteil, der allerdings bisweilen auch den Charakter eines Kampforgans annehmen konnte. Die Auseinandersetzung zwischen dem Acta-BorussicaMitarbeiter Martin Hass (1883 – 1911) und dem schlesischen Preußen-Kritiker Johannes Ziekursch (s. u.) zeigt dies auf exemplarische Weise.161 Es kennzeichnet die Bedeutung dieser Zeitschrift und zugleich das wissenschaftliche Gewicht des Preußenthemas im ausgehenden 19. Jahrhundert îberhaupt, daß die Verantwortlichen der „Historischen Zeitschrift“ diese Schmollersche Zeitschriftengrîndung als gefhrliche Konkurrenz angesehen und behandelt haben.162 Die Jahre nach 1898, als Otto Hintze die Zeitschrift leitete, markieren ihre große Epoche. Neben den „Forschungen“ gewann seit 1897 fîr zwei Jahrzehnte das von Paul Seidel begrîndete „Hohenzollern-Jahrbuch“ wissenschaftliche Bedeutung.163 Mit seinem Wissenschaftsimperium war Schmoller in der Lage, auf den Arbeitsfeldern der Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte Preußens, vor allem im 17. und 18. Jahrhundert den Forschungen innovative Impulse zu geben, letztlich in der Tat erfolgreich îber die eigentliche preußische Geschichte weit hinaus. Zu den Historikern der politischen Geschichte wie Max Lenz und Hans Delbrîck stand er in einem nicht spannungsfreien Verhltnis, zumal er als Staatswissenschaftler und Volkswirtschaftslehrer Einfluß auch auf die Entwicklung der Geschichtswissenschaft, in Berlin, in Preußen und darîber hinaus genommen hat. Der 1837 in der Zeit Adolf Friedrich Riedels gegrîndete „Verein fîr Geschichte der Mark Brandenburg“ wuchs unter Schmollers Leitung weit îber das Niveau der in diesen Jahrzehnten auch in den preußischen Pro160 Zu den Vorlufern vgl. R. Koser, Umschau … (s. Anm. 14), S. 11; W. Ribbe, Quellen … (s. Anm. 11), S. 54 mit Anm. 203; und vorlufig zum Komplex Gerd Heinrich, Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Rîckblick auf einen Thesaurus, in: ForschBrandPrG NF 1 (1991), S. 5 – 13, hier S. 6 f., auch zur politischen Stellung der Zeitschrift fîr Preußische Geschichte; und (materialreich) Friedrich Holtze, Friedrich Wilhelm Holtze, in: ForschBrandPrG 21 (1908), S. 337 – 371, hier S. 351. 161 W. Neugebauer, Schmoller-Connection … (s. Anm. 143), S. 289 f.; und Wolfgang Neugebauer, Martin Hass (1883 – 1911, in: Herold-Jahrbuch NF 3 (1998), S. 53 – 71, hier S. 66; zu J. Ziekursch vgl. unten Anm. 190. 162 Theodor Schieder, Die deutsche Geschichtswissenschaft im Spiegel der Historischen Zeitschrift, in: HZ 189 (1959), S. 1 – 104, hier S. 18. 163 Arnold Hildebrand, Paul Seidel, in: Der Kunstwanderer 11 (1929), S. 172 – 175, hier S. 174 f.; Ders., Seidel, Paul, Dr. jur., Professor, in: DtBiogrJb 11 (1929), S. 286 – 288, hier S. 286 (Direktor des Hohenzollern-Museums).

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vinzen blîhenden landesgeschichtlichen Vereine hinaus. Als exklusives Gelehrtenkollegium gewann er das Format einer preußischen Historischen Kommission.164 Freilich haben auch andere historische Vereine in den Provinzen und Landschaften Preußens, zumeist ausgestattet mit gut gefîhrten Fachzeitschriften, Bedeutsames zur Allgemeingeschichte des Staates beigetragen.165 Aber im Zentrum des Staates und des Deutschen Reiches regierte die preußische Geschichte îber Jahrzehnte Gustav Schmoller, und der Einfluß seines Netzwerkes blieb nicht auf seinen Forschungskern, die (ltere) StaatsStrukturgeschichte beschrnkt. Der Nachfolger Heinrich von Sybels, Reinhold Koser (1852 – 1914), wurde 1896/99 zum Direktor des Geheimen Staatsarchivs in Berlin und zum (General-)Direktor der preußischen Staatsarchive berufen,166 ein Verbîndeter Schmollers in verschiedener Beziehung, wiewohl Koser in seiner gelehrten Produktion der politischen Geschichte verpflichtet blieb. 164 Vgl. F. Hartung, Schmoller … (s. Anm. 149), S. 492 f.; W. Ribbe, Quellen … (s. Anm. 11), S. 53 f.; und Gerd Heinrich, Brandenburgische Landesgeschichte und preußische Staatsgeschichte. Universitten, Hochschulen, Archive, Historische Gesellschaften und Vereine, in: Reiner Hansen / Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichtswissenschaft in Berlin im 19. und 20. Jahrhundert. Persçnlichkeiten und Institutionen (= VerçffHistKommBerlin, 82), Berlin/New York 1992, S. 323 – 363, hier S. 344; ˜bersicht îber die Vereine in Preußen bei R. Koser, Stand … (s. Anm. 130), S. 14 – 19; vgl. noch Klaus Neitmann, Geschichtsvereine und Historische Kommissionen als Organisationsformen der Landesgeschichtsforschung, dargestellt am Beispiel der preußischen Provinz Brandenburg, in: W. Neugebauer (Hg.), Das Thema Preußen … (s. Anm. 32), S. 115 – 181, hier S. 126 f., zur Entwicklung des Vereins fîr Geschichte der Mark Brandenburg im 20. Jahrhundert. 165 Beispiele vgl. Koser in Anm. 164; vgl. R. Unterstell, Klio in Pommern … (s. Anm. 18), S. 24, Zsur 1914/18: S. 106 f., S. 137 f., S. 185 ff. (Martin Wehrmann); Wolfang Kessler (Hg.), Zeitschrift des Vereins fîr Geschichte (und Altertum) Schlesiens 1855 – 1943. Schlesische Geschichtsbltter 1909 – 1943. Gesamtinhaltsverzeichnis (= Schlesische Kulturpflege, 1), Hannover 1984, zum Verein S. V f., Zeitschrift: S. VIII f., Colmar Grînhagen um polnische und bçhmische Autoren bemîht: S. XII; Hermann Markgraf, Der Verein fîr Geschichte und Alterthum Schlesiens in den ersten 50 Jahren seines Bestehens, Breslau 1896, S. 15 – 20, S. 28 ff. (Wilhelm Wattenbach), zu C. Grînhagen: S. 30, S. 33, S. 36 – 49; H. Heimpel, Organisationsformen … (s. Anm. 130), S. 130; Hermann Heimpel, Geschichtsvereine einst und jetzt …, Gçttingen 1963, S. 27. 166 J. Kloosterhuis, Edition … (s. Anm. 127), S. 104; J. Weiser, Geschichte … (s. Anm. 123), S. 71, S. 75 und P. Kehr, Ein Jahrhundert … (s. Anm. 123), S. 18, auch zu Hintergrînden bei Kosers Berufung; G(ustav) B(erthold) Volz, Koser, Reinhold, in: HohenzJb 18 (1914), S. 166 – 173, hier S. 166; Eckart Henning, Der erste Generaldirektor der Preußischen Staatsarchive Reinhold Koser, in: Neue Forschungen zur Brandenburg-Preußischen Geschichte, 1, hg. v. Friedrich Benninghoven / C¤cile Lowenthal-Hensel, Kçln/Wien 1979, S. 259 – 293, hier S. 259, S. 272 f.; und Ludwig Biewer, Reinhold Koser, in: Michael Erbe (Hg.), Berlinische Lebensbilder. Geisteswissenschaftler (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 60), Berlin 1989, S. 253 – 268, hier S. 261 f.

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Man hat argumentiert, Reinhold Koser sei „zufrieden mit den Ruhme“ gewesen, „der Geschichtsschreiber Friedrichs des Großen zu sein“.167 Er hat die erste umfngliche, wissenschaftliche Standards erfîllende und die archivalische ˜berlieferung ausschçpfende Gesamtdarstellung Friedrichs des Großen vorgelegt, mehr als eine Biographie, sondern îber das Persçnliche hinaus ein Werk îber den Herrscher und den Staat in der Epoche des „Absolutismus“.168 Der Koser oft nachgesagte nîchterne Realismus dmmte nationale Wertungen zurîck. Sein vierbndiges Werk hat fîr die preußische Geschichte des 18. Jahrhunderts die Tradition Droysens rasch und nachhaltig îberwunden, so daß sie bei insgesamt unaufdringlichen Tendenzen der Entstehungszeit durch ihre quellenfundierte, durchaus kritikfhige Sachlichkeit bis zum heutigen Tage die Grundlage fîr alle spteren Bemîhungen um diesen schwierigen Monarchen gelegt hat. Koser hatte in jungen Jahren nicht zuletzt durch die Mitarbeit an der „Politischen Correspondenz“ eine nie wieder erreichte Quellenkenntnis erworben. Nicht eine Politik mit dem Ziel der nationalen Einheit, sondern – ganz wie §sterreich – eine Dominanz machtpolitischer, auch dynastischer Interessen, d. h. die vornationalen Realitten bestimmten nun das Bild, in das spezifische Strukturdefizite des (preußischen) „Absolutismus“ sehr wohl einbezogen wurden. Eine ganze Serie grundlegender Spezialstudien zur Finanzpolitik, zur preußischen Bevçlkerungsstruktur im 18. Jahrhundert, aber auch zum Verhltnis Preußens gegenîber dem Heiligen Rçmischen Reich hat Koser vorgelegt;169 auch sie sind bis heute unverzichtbar fîr jede weiterfîhrende Beschftigung. – Kosers „Geschichte der brandenburg-preußischen Politik“ blieb ein

167 So sein Nachfolger in der Archivdirektion P. Kehr, Ein Jahrhundert … (s. Anm. 123), S. 19. 168 Die maßgebliche Ausgabe: Reinhold Koser, Geschichte Friedrichs des Großen, 4 Bde., 4. und 5. Aufl., Stuttgart/Berlin 1912 – 1914, Absolutismus: 3, S. 553, mit kritischer Bilanz (insofern unverstndlich das Urteil bei Peter-Michael Hahn, Friedrich der Große und die deutsche Nation. Geschichte als politisches Argument, Stuttgart 2007, S. 73); vgl. dazu W. Nippel, Droysen … (s. Anm. 75), S. 306; zum Folgenden s. Walter Bussmann, Friedrich der Große im Wandel des europischen Urteils, zuerst 1951, wieder in: Ders., Wandel und Kontinuitt in Politik und Geschichte. Ausgewhlte Aufstze zum 60. Geburtstag, hg. v. Werner Pçls, Boppard am Rhein 1973, S. 255 – 288, hier S. 262 f. (gemßigt-nationale Sicht Kosers); Stephan Skalweit, Reinhold Koser, in: Bonner Gelehrte … (s. Anm. 88), S. 272 – 277, hier S. 276; L. Biewer, Koser … (s. Anm. 166), S. 265 f.; Otto Hintze, Reinhold Koser. Ein Nachruf, in: HZ 114 (1915), S. 65 – 87, hier S. 76 f., Bruch mit der „nationalpolitischen, reichspatriotischen Tendenz“ Droysens: S. 79; S. Skalweit, Problem … (s. Anm. 60), S. 166 – jeweils auch zum Folgenden. 169 Vgl. Melle Klinkenborg, Reinhold Koser. Ein Nachruf, in: ForschBrandPrG 28 (1915), S. 285 – 310, hier S. 293, weitere Editionen: S. 294, und die Bibliographie S. 304 – 310.

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Torso, dessen erster Band 1913, ein Jahr vor seinem Tode erschien,170 ein Werk, das thematisch an Droysen anknîpfte, aber auf breiterer Quellenbasis, wie sie nicht zuletzt die wissenschaftlichen Editionen bis dahin geschaffen hatten. So war Koser – nach dem Urteil des ihm nahestehenden Otto Hintze – ein Gelehrter, der vollendete, was vor ihm begonnen worden war, gewiß kein Epigone, selbstndig in der Erhellung wichtiger Einzelfragen, aber doch ein Historiker, „der freilich keine neuen Ziele gewiesen und keine neuen Bahnen gebrochen hat“.171 III. Otto Hintze In ihren besten Zeiten und produktivsten Vertretern war preußische Geschichtsforschung immer sehr viel mehr als die Basis bloßer Preußenhistoriographie. Otto Hintze, dessen Werk vor allem nach 1945 große internationale Aufmerksamkeit gefunden hat, war immer mehr als ein bloßer „Preußenhistoriker“. Am Ende seines von Tragiken îberschatteten Lebens hat er sich die Frage gestellt, ob er nicht entschieden zuviel Energie in die preußischen Quellenforschungen investiert habe. Fîr Hintze war das preußische Exempel deshalb fîr weitergehende Fragestellungen ein besonders geeignetes Studienobjekt, weil „gerade beim preußischen Staat die Bedingtheit der inneren Einrichtungen durch die Aufgaben, die aus der politischen Weltlage entspringen, besonders deutlich und greifbar“ hervortrete. Dennoch wollte Hintze, wie er bei seiner Wahl in die Preußische Akademie der Wissenschaften erklrte, „die preußische Geschichte nicht als mein eigentliches wissenschaftliches Fach bezeichnen, wie sie auch nicht den Gegenstand meines Lehrauftrags an der Universitt bildet; es entsprang mehr einem ußern Anlaß und Anforderungen, denen ich mich nicht entziehen zu dîrfen glaubte, als dem eigentlichen Plan meiner wissenschaftlichen Lebensaufgabe“, wenn er damals die – bis heute – beste Gesamtdarstellung zur preußischen Geschichte auf der Basis jahrzehntelanger Archiverfahrungen schrieb.172 170 Reinhold Koser, Geschichte der brandenburgischen Politik bis zum Westflischen Frieden von 1648 (= Geschichte der brandenburg-preußischen Politik, 1), Stuttgart/ Berlin 21913, etwa im Vorwort S. VII („Hauspolitik“), ebd. zur Diskussion der franzçsischen Historiographie; zu diesem Werk die wichtige Rezension von Otto Hintze, in: ForschBrandPrG 27 (1913), S. 613 – 624, hier S. 617, zum dynastischen Faktor (Verweis auf Lavisse); M. Klinkenborg, Koser … (s. Anm. 169), S. 294 f.; und O. Hintze, Koser … (s. Anm. 168), S. 80 f. 171 Letztes Zitat: O. Hintze, R. Koser … (s. Anm. 168), S. 86 f. 172 Otto Hintze, Antrittsrede in der Preußischen Akademie der Wissenschaften (1914), in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfas-

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Otto Hintze ist, gleichsam sozialtypologisch betrachtet, ein wissenschaftlicher Aufsteiger, zu erklren aus den bildungsaristokratischen Strukturen preußischer Kulturstaatlichkeit in ihrer klassischen Epoche. Aus der pommerschen Provinz und einer niederen Beamtenfamilie stammend, hat er nach medivistischer Promotion und staatswissenschaftlichem Zweitstudium seinen Weg zu einem Berliner Lehrstuhl im Beziehungsgeflecht Gustav Schmollers und Friedrich Althoffs gemacht, den er bereits im Alter eines gereiften Studenten kennenlernte.173 Hintze hat, von Hause aus ohne Vermçgen, sich im Dienste der Acta Borussica hochgearbeitet, in deren Reihen er grundlegende Monographien zur preußischen Staatsgeschichte des 18. Jahrhunderts publizierte.174 Freilich hatte Otto Hintze schon frîh ein sehr viel weiteres Lebensprogramm vor Augen, wie er bei seiner Habilitation im Jahre 1895 bekannte, Plne, die eine vergleichende Verfassungsgeschichte der neueren Staatenwelt in den Mittelpunkt stellten.175 Gerade diese Verbindung preußischer Forschungen auf der Grundlage gesicherter historisch-methodischer Schulung mit vergleichenden Fragestellungen erklrt es, daß er seinem eigentlichen Lehrer Gustav Schmoller letztlich îberlegen war.176 Hintze sah schrfer als der historische Nationalçkonom bei seinen preußischen Forschungen die europischen, ja letztlich die weltgeschichtlichen Bedingungen der preußischen Geschichte. Im Grunde war Hintze schon dadurch universeller und er entging der Gefahr einer preußisch-endogenen Verengung bei der Suche nach den Kausalitten in der preußischen Historie.

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sungsgeschichte, 3., erw. Aufl., hg. v. Gerhard Oestreich, Gçttingen (1970), S. 563 – 566, hier S. 564. Mit Nachweis der einschlgigen Literatur und neuerer Archivalienfunde Wolfgang Neugebauer, Die wissenschaftlichen Anfnge Otto Hintzes, in: ZSRG.Germ 115 (1998), S. 540 – 551; und W. Neugebauer, Schmoller, Hintze … (s. Anm. 151), passim; und Wolfgang Neugebauer, Otto Hintze (1861 – 1940), in: Michael Frçhlich (Hg.), Das Kaiserreich. Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt 2001, S. 286 – 298, hier S. 287 – 290; vgl. ferner G. Oestreich, Fachhistorie … (s. Anm. 155), S. 68 – 70, S. 74; und Brigitta Oestreich, Otto Hintze, in: M. Erbe (Hg.), Geisteswissenschaftler … (s. Anm. 166), S. 287 – 309, hier S. 287 – 292. Besonders: Otto Hintze, Einleitende Darstellung der Behçrdenorganisation und allgemeinen Verwaltung Preußens beim Regierungsantritt Friedrichs II. (= Acta Borusscia … die Behçrdenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, 6, 1.), Berlin 1901, zur Typologie von „Territorialstaat“ und „Großstaat“: S. 5 – 7. Nach den Akten Wolfgang Neugebauer, Otto Hintze und seine Konzeption der „Allgemeinen Verfassungsgeschichte der neueren Staaten“, zuerst in: ZHF 20 (1993), erweitert in: Otto Hintze, Allgemeine Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte der neueren Staaten. Fragmente, 1, hg. v. Giuseppe Di Costanzo / Michael Erbe / Wolfgang Neugebauer (= Palomar Athenaeum, 17), Neapel 1998, S. 35 – 83, Zitat: S. 39 diese Studie auch zum Folgenden. Vgl. auch S. Skalweit, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 41), S. 120 – 122.

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Schon frîh – und durchaus nicht erst in den 1920er und 1930er Jahren – hat sich Hintze mit den konzeptionellen und theoretischen Angeboten der systematischeren Nachbarwissenschaften beschftigt und so bewirkt, daß die preußischen Forschungen in ihren besten Zeiten von diesen Disziplinen profitierten und in die allgemeine Wissenschaft produktiv ein- und zurîckwirkten. Seine Forschungen zur (Staats)-Struktur Brandenburgs beziehungsweise Preußens seit dem 16. Jahrhundert und bis weit in das 19. Jahrhundert, zum preußischen Adel und zur Landesorganisation von der unteren, kommunalen bis zur Gesamtstaatsebene, die Studien zu Kalvinismus und zum Kirchenregiment in Preußen gehçren auch nach hundert Jahren zur Standardliteratur,177 und das auch da, wo heute andere Lçsungen prferiert werden. – Mit „gemischten Gefîhlen“ hat Hintze, wie er brieflich ußerte, – dann im Vorfeld des Hohenzollernjubilums von 1915 die Aufgabe îbernommen, die große Gesamtdarstellung der brandenburg-preußischen Geschichte zu schreiben, von der er 1914 sprach178 und in die er die Summe seiner Quellenerkenntnisse aus fast drei Jahrzehnten der Forschung einbrachte.179 Es lag in dem allerhçchsten Auftrag und im Ansatz der preußischen Forschungen, daß dabei die Politik, auch die Wirtschaftspolitik und diejenige auf dem Gebiete der sozialen Strukturen im Vordergrund stand, mit einem Schwerpunkt auf den frîhneuzeitlichen Jahrhunderten, whrend nicht eine Reformzsur um 1810, sondern etwa die Einheit der Epoche von 1788 bis 1840 gesehen wurde.180 In dem Werk, dessen Manuskript schon bei Kriegsausbruch 1914 fertig vorlag, wird der deutsche 177 Vgl. Anm. 152; vor allem die postumen Sammlungen: Otto Hintze, Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens, hg. v. Gerhard Oestreich, Gçttingen 21967; mit der Einfîhrung von Gerhard Oestreich, Otto Hintze und die Verfassungsgeschichte, S. 7*-31*, bes. S. 16 f.*; vgl. unten Anm. 385; und die dem vorausgehende Ausgabe Otto Hintze, Geist und Epochen der preußischen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, hg. v. Fritz Hartung (= Gesammelte Abhandlungen, 3), Leipzig 1943, mit dem „Vorwort des Herausgebers“ S. 5 – 8. 178 Vgl. oben bei Anm. 172. 179 Zur Vorgeschichte des Werkes vgl. Gînter Vogler, Otto Hintze (1861 bis 1940), in: Berliner Historiker. Die neuere deutsche Geschichte in Forschung und Lehre an der Berliner Universitt (= Beitrge zur Geschichte der Humboldt-Universitt zu Berlin, 13), Berlin 1985, S. 34 – 52, hier S. 41 ff.; Heinrich Otto Meisner, Otto Hintze, Lebenswerk (27. August 1861 – 25. April 1940), in: HZ 164 (1941), S. 66 – 90, hier S. 69 f.; und nach zugeliefertem Material Otto Bîsch, Das Preußenbild in Otto Hintzes „Die Hohenzollern und ihr Werk“, in: Ders. / Michael Erbe (Hg.), Otto Hintze und die moderne Geschichtswissenschaft. Ein Tagungsbericht (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 38), Berlin 1983, S. 25 – 42, hier S. 27, S. 30 – 34. 180 Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fînfhundert Jahre vaterlndischer Geschichte, Berlin 41915, zuletzt: S. 402 – 515; vgl. O. Bîsch, Preußenbild … (s. Anm. 179), S. 34 f.

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Aspekt der brandenburg-preußischen Geschichte etwas zu stark akzentuiert, wiewohl Hintze bei der Herausbildung des „Typus des ostelbischen Junkers“ im 16. Jahrhundert strukturelle Einflîsse Ostmitteleuropas erkannte.181 Die preußische Geschichte war Hintze der historische Beweis dafîr, daß der Parlamentarismus nicht der einzige Entwicklungsweg in der neueren Geschichte sei. Fîr Preußen und fîr Deutschland mit ihrer „gefhrdete[n] Mittellage“ hielt Hintze – nicht erst 1914/15 – den westeuropisch-parlamentarischen Weg der „Regierungsverfassung“ nicht fîr gangbar. „Jedes Volk muß sich vernînftigerweise mit der inneren Struktur seines Staatswesens den ußeren Bedingungen anpassen“, und deshalb sei die „monarchisch-militrische“ Verfassung, „die in der Hauptsache ein Werk der Hohenzollern ist“, eine historische Notwendigkeit.182 Vielleicht wird der dynastische Faktor von Hintze 1915 zu stark betont – dies kann ja nicht erstaunen.183 Wiewohl nach den Mitteilungen von Friedrich Schmidt-Ott es kultusministerielle Eingriffe in Hintzes Werk gegeben hat,184 haben doch auch dezidiert kritische Rezensenten wie der (links-)liberale Johannes Ziekursch testiert, daß Hintzes Darstellung „sich frei von jeder patriotischen Schçnfrberei, politischer Rîcksichtnahme und dynastischer Schmeichelei“ halte [Ziekursch, 1916].185 Hintze habe „nicht bloß jede ußere Schçnfrberei unterlassen, er ist auch von der, wie man wohl sagen darf, borussischen Richtung scharf abgerîckt“. Politisch hatte Hintze schon vor 1914/ 18 den Wandel nicht nur kommen gesehen, sondern eine Wahlrechtsreform in Preußen fîr schlechterdings „unumgnglich“ erklrt.186 181 O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 180), S. 83 – 85, S. 91 (zum 15. Jahrhundert), S. 110 (16. Jh.). 182 O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 180), S. VI f. 183 Vgl. damit Wolfgang Neugbauer, Staatliche Einheit und politischer Regionalismus. Das Problem der Integration in der brandenburg-preußischen Geschichte bis zum Jahre 1740, in: Wilhelm Brauneder (Hg.), Staatliche Vereinigung: Fordernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte … (= Beihefte zu „Der Staat“, 12), Berlin 1998, S. 49 – 87. 184 Friedrich Schmidt-Ott, Erlebtes und Erstrebtes 1860 – 1950, Wiesbaden 1952, S. 50; freilich haben Nachforschungen in den Kultusministerialakten dazu keinen nheren Aufschluß erbracht. 185 So in fîr das Jahr des Erscheinens in bemerkenswerter Diktion: (Johannes) Ziekursch, (Rezension zu Otto Hintze), in: HZ 116 (1916), S. 288 – 293, hier S. 289, folgendes Zitat S. 290; S. 291 Kritik an der zu starken Brandenburg-Zentrierung der Darstellung Hintzes; zur Stellungnahme Mehrings vgl. G. Vogler, Hintze … (s. Anm. 179), S. 42 f. 186 Otto Hintze, Die schwedische Verfassung und das Problem der konstitutionellen Regierung, in: ZPol 6 (1913), S. 483 – 497, hier S. 489, zu Preußen; zur Haltung im Ersten Weltkrieg: Jîrgen Kocka, Otto Hintze und Max Weber. Anstze zum Vergleich, in: Wolfgang J. Mommsen / Wolfgang Schwentker (Hg.), Max Weber und seine Zeitgenossen (= Verçffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts London, 21), Gçttingen (1988), S. 403 – 416, hier S. 406.

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Otto Hintzes Lebenswerk zur preußischen Geschichte markiert den Hçhepunkt und vorlufigen Abschluß der klassischen Epoche moderner preußischer Historiographie im frîhen 20. Jahrhundert. Mag auch der „staatliche“ Faktor, den die staatswissenschaftlich inspirierte Forschung in den Mittelpunkt des Interesses rîckte, dabei zu stark akzentuiert und die relative Autonomie gesellschaftlicher und çkonomischer Kausalitten unterschtzt worden sein: Die um Schmollers Wissenschafts-Imperium und insbesondere um die Acta Borussica herum organisierte Forschung gilt zu Recht als bemerkenswerter Impuls „strukturgeschichtlicher“ Forschung, herausgewachsen aus der preußischen Historiographie.187

§ 4 Pluralismen zur Zeit des Kaiserreichs Die Historiographie zur Zeit des Kaiserreichs, die sich mit preußischen Themen beschftigte, war gekennzeichnet durch ein erstaunliches Maß von Pluralismus. In Berlin standen sich die Schmoller-Schule und diejenigen Wissenschaftler gegenîber, die – in mehr oder weniger deutlicher Orientierung an der RankeRezeption – die Fragestellungen und Methoden der politischen Geschichte prferierten.188 Auch diese Gruppe war alles andere als (etwa in politischer Hinsicht) homogen. Das preußische Kultusministerium hat nur sehr selten – man denke an Hintzes „Hohenzollern“ – in die geschichtswissenschaftlichen Produktionen eingegriffen; von einer irgend systematischen Lenkung kann nicht die Rede sein.189 Das Kultusministerium hat vielmehr auch auf geschichtswissenschaftlichem Felde eine universitre Schwerpunktpolitik betrieben. Das heißt, daß nicht zufllig in Berlin Gustav (von) Schmoller und Max Lenz, aber in Breslau der eher linksliberale Johannes Ziekursch (1876 – 1945) Wirkungsmçglichkeiten erhielten.190 Dessen großes Werk zur schlesischen Agrar187 Vgl. in diesem Sinne Theodor Schieder, Otto Hintze und die moderne Geschichtswissenschaft, in: HZ 239 (1984), S. 615 – 620, hier S. 615, der freilich Hintze zugleich als „Ahnherrn der sozialgeschichtlich orientierten Geschichtswissenschaft von heute“ bezeichnet, was fîr die allgemeine Geschichte zutreffen mag, fîr die preußische Historie freilich leider einer strkeren Differenzierung und Relativierung bedîrfte. 188 Vgl. oben in § 2 und § 3, II. 189 Vgl. oben Anm. 184; und Jîrgen Mirow, Das alte Preußen im deutschen Geschichtsbild seit der Reichsgrîndung (= Historische Forschungen, 18), phil. Diss. Hamburg 1980, Berlin 1981, S. 76 (Anm. 121: Eingriffe in die Marwitz-Edition F. Meusels); dazu und zum Folgenden: Wolfgang Neugebauer, Wissenschaftsautonomie und universitre Geschichtswissenschaft im Preußen des 19. Jahrhunderts, erscheint in einem von Rîdiger vom Bruch hg. Tagungsband des Historischen Kollegs in Mînchen. 190 Vgl. oben Anm. 161; Ziekursch: Hans Schleier, Johannes Ziekursch, in: Jahrbuch fîr Geschichte 3 (1969), S. 137 – 196, hier S. 137 f. (Ziekursch gegen „reaktionre Geschichtslegenden“), Studium in Mînchen: S. 139, Schlesische Geschichte: S. 148 ff.,

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geschichte ist – dicht im Material und originell in den Fragestellungen – auch nach fast hundert Jahren unersetzt, heute rezipiert in der deutschen und der polnischen Geschichtswissenschaft. Die kritische Analyse der altpreußischen Strukturen (am schlesischen Beispiel) ließ ihn nach den Ursachen des preußischen Zusammenbruchs von 1806/7 fragen. Darin traf sich Ziekursch mit Max Lehmann (1845 – 1929),191 dessen Schriften zur preußischen Reformzeit, v. a. seine Arbeiten îber den Freiherrn vom Stein, zu langanhaltenden Historikerkontroversen vor und nach 1914/18 Anlaß boten. Dabei ging es zentral um die Frage, in welchem Maße die preußischen Reformen von franzçsischen Vorbildern, also letztlich von der Franzçsischen Revolution abhngig gewesen sind.192 Der (links-)liberale „Preußenfresser“ Max Lehmann (A. Naud¤), bei dem die bisherige Forschung freilich einen massiven Antisemitismus îbersehen hat,193 hatte schon in den spten achtziger Jahren, im zweiten Band seiner Scharnhorst-Biographie,194 eine dezidiert preußenkritische Wende genommen. Fîr ihn war nicht – wie fîr Schmoller – das alte Preußen, dasjenige Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs II., der Anfang des modernen Staats. Das „alte Preußen“, ein – schon recht gut gesehen – „Aggregat von Provinzen und Provinzensplittern“,195 wurde fîr Lehmann vielmehr durch strukturelle Mngel geprgt, durch die Einflußlosigkeit des Bîrgertums, die „Vormundschaft […] des Militrs“ u. a. m., womit

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S. 157 f.; besonders: Johannes Ziekusch, Hundert Jahre schlesische Agrargeschichte. Vom Hubertusburger Frieden bis zum Abschluß der Bauernbefreiung (= Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte, 20), Breslau 1915, Gutswirtschaft und Gîterhandel: S. 9 – 12 u. ç.; Karl-Georg Faber, Johannes Ziekursch, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, 3, Gçttingen 1972, S. 109 – 123, bes. S. 111 f., S. 115, S. 119 f. Vgl. H. Schleier, Ziekursch … (s. Anm. 190), S. 150, S. 155, S. 169 u. ç. Aus der Literatur îber Max Lehmann: Waltraut Reichel, Studien zur Wandlung von Max Lehmanns preußisch-deutschem Geschichtsbild (= GçttBausteineGWiss, 34), Gçttingen u. a. 1963, zunchst positive Sicht auf das Preußen F. d. Gr.: S. 22 – 24, S. 101 Anm. 26: gegen Onno Klopp, Umschlag der Position durch Arbeit an der Scharnhorst-Biographie: S. 33 – 40; Gînter Vogler, Max Lehmann, in: Joachim Streisand (Hg.) Die bîrgerliche deutsche Geschichtsschreibung von der Reichseinigung von oben bis zur Befreiung Deutschlands vom Faschismus (= Studien îber die deutsche Geschichtswissenschaft, 2), Berlin 1965, S. 57 – 95, bes. S. 58 f. (Bruch mit Sybel 1893), Scharnhorst: S. 62 – 68, S. 75 – 79: Stein; und die Autobiographie: Max Lehmann, in: Siegfried Steinberg (Hg.), Die Geschichtswissenschaft der Gegenwart in Selbstdarstellungen, (1), Leipzig 1925, S. 207 – 232, bes. S. 216 f., S. 220 (Scharnhorst). In der Korrespondenz mit Friedrich Althoff: GStAPK, VI. HA, NL Althoff B Nr. 110, 2 (1890 aus Marburg, gegen Harry Bresslau). Vgl. die Literatur in Anm. 192; Max Lehmann, Scharnhorst, 2, Leipzig 1887, etwa S. 83 ff., und zu den Strafpraktiken im 18. Jh.: S. 100 ff. In dem (auch separat publizierten) Kapitel: „Das alte Preußen“: Max Lehmann, Freiherr vom Stein, 2, Leipzig 1903, S. 11 – 63, Zitat: S. 12, folgendes: S. 28, S. 31, S. 63 (Zitat).

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wichtige Argumente der kritischen Sozialgeschichte seit den 1950er Jahren vorweggenommen worden sind. Fîr Lehmann war denn auch der Zusammenbruch dieses „alten“ Preußen nicht „lediglich […] die Folge eines militrischen Ereignisses“. Lehmanns frîh entwickelte These, daß es franzçsische Einflîsse gewesen sind, die die preußischen Reformen seit 1807, etwa die Stdteordnung, geprgt htten,196 lçste in seiner Zeit eine heftige Historikerkontroverse aus. Besonders Ernst von Meier197 hat gegen die îberspitzten und in „grandioser Einseitigkeit“198 vorgetragenen Thesen mit großem Erfolg Einspruch erhoben, jedenfalls soweit es um den Freiherrn vom Stein ging.199 Auch bei Max Lehmann wirkten politische Antriebe auf die Wissenschaftsproduktion, als er die großen, in der negativ-teleologischen Grundaussage verfehlten, aber als große Gesamtdarstellungen zur preußischen (Struktur-)Geschichte der Sattelepoche um 1800 weiterhin wichtigen Werke schrieb. Fîr Lehmann wurde Stein, so ist spter geurteilt worden, zur „Idealfigur des modernen demokratischen Denkens“.200 Lehmanns Argumentation zielte gegen – so sah er es – autokratische Strukturen des Kaiserreichs. Jedenfalls war es durchaus ein Wissenschaftspolitikum, um 1900 die Epochenbedeutung des Jahres 1806 allzu sehr zu akzentuieren.201 Der Lust an der wissenschaftlichen 196 Etwa: Max Lehmann, Der Ursprung der Stdteordnung von 1808, in: PreußJbb 93 (1898), S. 471 – 514, hier S. 509 f. 197 Zu Ernst von Meier, der in der preußischen Gelehrtenwelt seiner Zeit auch gesellschaftlich eine große Rolle spielte, mit weiterer Literatur Joachim Rîckert, Meier, Ernst von, in: NDB, 16, Berlin 1990, S. 647 – 649. 198 So W. Reichel, Studien … (s. Anm. 192), S. 69, Einzelheiten: S. 69 – 72. 199 So selbst aus marxistischer Sicht Heinrich Scheel, Vorwort des Herausgebers, in: Ders. (Hg.), Das Reformministerium Stein: Akten zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte aus den Jahren 1807/08, bearb. v. Doris Schmidt (= Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Schriften des Instituts fîr Geschichte, Reihe I, 31/A), Berlin 1966, S. VII-XX, hier S. XIV. Zu M. Lehmann: „Der Nachweis Ernst von Meiers, daß Lehmanns These im Hinblick auf Stein der historischen Kritik nicht standhielt, war îberzeugend“; vgl. Paul Nolte, Staatsbildung als Gesellschaftsreform. Politische Reformen in Preußen und den sîddeutschen Staaten 1800 – 1820 (= Historische Studien, 2), Frankfurt/New York 1990, S. 218 Anm. 27 (mit Verweis auf Koser); vgl. z. B. Ernst von Meier, Franzçsische Einflîsse auf die Staats- und Rechtsentwicklung Preußens im XIX. Jahrhundert, 2: Preußen und die franzçsische Revolution, Leipzig 1908, S. V-VII, zugleich gegen das Bild von der Stagnation des preußischen Staates (!) vor der Reform; Friedrich Thimme, Einleitung, in: Ernst von Meier, Die Reform der Verwaltungsorganisation unter Stein und Hardenberg, Mînchen/Leipzig 21912, S. XIII-XXXIII, hier S. XXVI; aus den zeitgençssischen Rezensionen nur Otto Hintze, in: ForschBrandPrG 21 (1908), S. 313 – 326, bes. S. 324. 200 Georg Winter, Das Bild des Freiherrn vom Stein im Jahre 1931. Ein Literaturbericht, in: ForschBrandPrG 44 (1932), S. 385 – 408, hier S. 390. 201 Hans Schleier, Hans Delbrîck. Ein politischer Historiker zwischen Preußenlegende, amtlicher Militrgeschichtsschreibung und historischer Realitt, in: Gustav Seeber (Hg.), Gestalten der Bismarckzeit, (1), Berlin 1978, S. 378 – 403, hier S. 393.

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Provokation auf preußischem Forschungsfelde hat Lehmann jedenfalls nachgegeben, als er in der Mitte der 1890er Jahre eine Kriegsschulddebatte auslçste, die die Ursprînge des Siebenjhrigen Krieges seit 1756 betraf. Lehmann, in jîngeren Jahren Geheimer Staatsarchivar in Berlin, machte rîcksichtslosen Gebrauch von seinem, auch bei anderen Gelegenheiten ge- und vielleicht mißbrauchten exklusiven Quellenzugang, v. a. zu den damals noch unpublizierten „politischen Testamenten“ Friedrichs des Großen.202 Gegen den – so Lehmann – „Friedrich der Orthodoxie“ erhob er den Vorwurf, im Jahre 1756 eine „Offensive“ durchgefîhrt zu haben, und zwar zur „Eroberung von Westpreußen und Sachsen“. Zwei Offensiven, eine preußische und eine çsterreichische, seien 1756 aufeinander getroffen. Lehmann verfolgte – dies sei hier nur angedeutet – freilich nicht nur wissenschaftliche Ziele bei seinem Frontalangriff auf die etablierte Friedrich-Forschung, v. a. aber auf den mit Gustav Schmoller eng verbundenen, zuletzt Marburger Historiker Albert Naud¤.203 Dieser „fast ausschließlich zwischen preußischen Historikern gefîhrte Disput“ (Schieder) fîhrte zu dem von Lehmann bewußt herbeigefîhrten physischen Zusammenbruch Naud¤s und nach weiteren intensiven Quellenforschungen204 zunchst zu dem Befund, daß Lehmanns Deutung der intimen Testamentsaussagen Friedrichs doch recht problematisch sei. Lehmann konnte sich mit seiner These nicht durchsetzten;205 seine Quellenausdeutung erschien unangemessen. – Die Aus202 Max Lehmann, Friedrich der Große und der Ursprung des siebenjhrigen Krieges, Leipzig 1894, S. VII, S. 85; gute Zusammenfassung bei Rîdiger vom Bruch, Lehmann, Max, Historiker, in: NDB, 14, Berlin (1985), S. 88 – 90, hier S. 89; W. Reichel, Studien … (s. Anm. 192), S. 73 f., S. 76 – 84, S. 172 – 184; und Friedrich Meinecke, Max Lehmann, in: Ders., Preußen und Deutschland im 19. Und 20. Jahrhundert. Historische und politische Aufstze, Mînchen/Berlin 1918, S. 436 – 438, mit Skepsis gegenîber der Position Lehmanns. 203 Vgl. Erich Marcks, Naud¤, Albert, in: ADB, 52, Leipzig 1906, S. 592 – 597, hier S. 596 f.; Horst Naud¤, Naud¤, in: Deutsches Geschlechterbuch 150 (1969), S. 337 – 362, hier S. 352 f.: Gustav Schmoller, Zum Andenken an Albert Naud¤, in: ForschBrandPrG 9 (1896), S. V-XVIII, hier S. XI-XIII; und schließlich T. Schieder, Geschichtswissenschaft … (s. Anm. 162), S. 38 – 43, S. 52; aus der Kontroversliteratur: Albert Naud¤, Beitrge zur Entstehungsgeschichte des Siebenjhrigen Krieges, 2 Tle., Leipzig 1895/96, zur Frage der Rîstungen etwa 1, S. 30 ff., 2, S. 120 f. 204 Als zentrales Produkt: Gustav Berthold Volz / Georg Kîntzel (Hg.), Preußische und §sterreichische Acten zur Vorgeschichte des Siebenjhrigen Krieges (= PubllPreussStaatsarch, 74), Leipzig 1899, mit der (Lehmann passim diskutierenden) Einleitung S. III-CLXIX, bes. S. XXXVIII; kenntnisreich: Gustav Berthold Volz, Reinhold Koser als Geschichtsschreiber Friedrichs des Großen, in: HohenzJb 18 (1914), S. 166 – 173, hier S. 171 f. – abwgend. 205 Zur Lehmann-Naud¤-Kontroverse und der weiteren Forschungsentwicklung sehr gut Winfried Baumgart, Der Ausbruch des Siebenjhrigen Krieges. Zum gegenwrtigen Forschungsstand, in: Militrgeschichtliche Mitteilungen 11 (1972), S. 157 – 165, hier S. 157 f., zur weiteren Diskussion S. 158.

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einandersetzung îber die Kriegsschuldfrage von 1756 litt damals freilich îberhaupt – was ein Reinhold Koser schon frîh ahnte206 – an einer preußischçsterreichischen Verengung, die den Faktor Rußlands und den weiten (europischen) Kontext dieses Großkonfliktes unterschtzte. Auf der Basis kurz vor dem Ersten Weltkrieg publizierter, aber nicht mehr rezipierter russischer Quelleneditionen haben in den frîhen fînfziger Jahren des 20. Jahrhunderts dann etwa gleichzeitig deutsche und englische Historiker den Nachweis gefîhrt, daß die Ursachen dieses Weltkrieges nicht so sehr im çsterreichisch-preußischen Gegensatz als in der russischen (Vorfeld-)Politik zu suchen sind.207 Damit sind die Streitpunkte der lteren Kontroverse eher aus dem Zentrum der Debatte208 gerîckt, zugunsten einer weiteren, mindestens europischeren Perspektive. In den spten Jahren des 19. Jahrhunderts fochten nur wenige Historiker auf der Seite Max Lehmanns, darunter der Historiker und langjhrige Herausgeber der „Preußischen Jahrbîcher“, Hans Delbrîck.209 Als Angehçriger der „einflußreiche[n] und weitverzweigte[n] Familie der Delbrîcks“210 und Schîler Heinrich von Sybels hatte er sich nach Dienst am liberalkonservativen 206 Reinhold Koser, Neue Verçffentlichungen zur Vorgeschichte des Siebenjhrigen Krieges, in: HZ 77 (1896), S. 1 – 39, hier S. 6; und bes. Ders., Umschau … (s. Anm. 14), S. 15. 207 Mit Nachweis der Titel von Herbert Butterfield und Walther Mediger: W. Baumgart, Ausbruch … (s. Anm. 205), S. 157 f., dort auch zu Braubachs, die diplomatische „Revolution“ von 1756 relativierenden Forschungen; Stephan Skalweit, Preußen als historisches Problem, in: JbGMitteldtld 3 (1954), S. 189 – 210, hier S. 196 f.; aus spezifisch osteuropahistorischer Perspektive hat freilich der Siebenjhrige Krieg keine Epochenbedeutung, so (gegen Johannes Kunisch) Klaus Zernack, Das preußische Kçnigtum und die polnische Republik im europischen Mchtesystem des 18. Jahrhunderts (1701 – 1763), in: JbGMitteldtld 30 (1981), S. 4 – 20, hier S. 14 f.; aus der neuesten Spezialforschung zur lteren Kontroverse bes. Lothar Schilling, Wie revolutionr war die diplomatische Revolution? ˜berlegungen zum Zsurcharakter des Bîndniswechsels von 1756, in: ForschBrandPrG NF 6 (1996), S. 163 – 202, hier S. 164 mit Anm. 6. 208 Zuletzt wurde die reichsgeschichtliche Problematik des Jahres 1756 betont von Johannes Burkhardt, Sachsen-Polen und die ppstliche Diplomatie im Siebenjhrigen Krieg, in: Sachsen und Polen zwischen 1697 und 1765. Beitrge der wissenschaftlichen Konferenz vom 26. bis 28. Juni 1997 in Dresden (= Saxonia, 4/5), (Dresden) 1998, S. 176 – 189, der hervorhebt, daß beim Kriegsausbruch Sachsen der antipreußischen Koalition noch nicht angehçrt habe, bes. S. 178, Annexion Sachsens als preußisches Ziel: S. 188. 209 H. Schleier, Delbrîck … (s. Anm. 201), S. 392 f. (mit falscher historiographischer Einordnung der Debatte im Sinne der lteren Nationalteleologie); die Autobiographie: Max Lehmann … (s. Anm. 192), S. 222 f.; wichtig Anneliese Thimme, Hans Gottlieb Leopold [Debrîck], in: NDB, 3, Berlin 1957, S. 577 f.; Peter Rassow, Hans Delbrîck als Historiker und Politiker, zuerst 1948, wieder in: Ders., Die geschichtliche Einheit des Abendlandes. Reden und Aufstze, Kçln/Graz 1960, S. 428 – 441, hier S. 430 f., auch zu seinen parlamentarischen Funktionen. 210 So treffend H. Schleier, Delbrîck … (s. Anm. 201), S. 379.

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Kronprinzenhof seit den 1870er Jahren der Militrgeschichte zugewandt. Im „Strategiestreit“, in der mit großer Heftigkeit gefîhrten Kontroverse um den Grundcharakter der friderizianischen Kriegsfîhrung, hat Delbrîck, in seiner Karriere gestîtzt von Kreisen des Hofes,211 eine Kontroverse mit der amtlichen Militrgeschichtsschreibung des Großen Generalstabes ausgefochten, und zwar sehr erfolgreich.212 Die akademische Geschichtswissenschaft in Preußen war durchaus pluralistisch fraktioniert, natîrlich auf der Bandbreite des konstitutionellen Grundkonsenses. Das Kultusministerium scheint diesen Pluralismus durchaus gefçrdert zu haben.213 Am Rande der akademischen Hierarchie stand der liberale Martin Philippson, dessen dreibndiges Werk îber den Großen Kurfîrsten noch heute einigen Wert besitzt.214 Jenseits der Konsensgrenze blieben sozialdemokratische beziehungsweise sozialistische Anstze zu einer Preußenhistoriographie im Kaiserreich. Auch diese Beitrge folgten einer – gleichsam negativen – Teleologie, sie hatten hochpolitische Impulse, blieben freilich in der Basis abhngig von einer Forschung, die nun interpretatorisch gewendet wurde. Im Extrem ging es um die ausgesprochene sozialistische Strategie, durch die Zerstçrung der „preußischen Legende“ Preußen selbst zu beseitigen.215 Franz Mehring (1846 – 1919) hat das in seinen Schriften in radikaler und strikt marxistischer Methode betrieben, vor allem in seiner „Lessing-Legende“ und in kleineren Schriften, die den jeweils aktuellen Geschichtsforschungen folgten, ohne ganz auf der Hçhe der Diskussionen zu sein. Er blieb negativ fixiert auf die Historiographie, die er bekmpfte,216 das alles mit einem ausgesprochen 211 Z. B. Charles E. McClelland, Berlin Historians and German Politics, in: Journal of Contemporary History 8 (1973), S. 3 – 33, hier S. 8 Anm. 9. 212 Sven Lange, Hans Delbrîck und der „Strategiestreit“. Kriegsfîhrung und Kriegsgeschichte in der Kontroverse 1879 – 1914 (= Einzelschriften zur Militrgeschichte, 40), Freiburg im Breisgau 1995, S. 84 – 89, S. 98 ff., S. 124; nach Delbrîck habe Friedrich II. die Schlacht gemieden und die eigenen Armee aus strukturellen Grînden geschont. Damit wurde er durch Delbrîck von der Kriegsfîhrung des modernen 19. Jahrhunderts (Moltke) unterschieden; H. Schleier, Delbrîck … (s. Anm. 201), S. 380 – 383, und die Literatur S. 398; und P. Rassow, Delbrîck … (s. Anm. 209), S. 436. 213 Mit archivalischem Material W. Neugebauer, Wissenschaftsautonomie … (s. Anm. 189). 214 Vgl. zu liberalen Außenseitern nach 1871 Hans Schleier, Linksliberale Kritik an der reaktionren Preußenlegende zwischen 1871 und 1933, in: ZGWiss 18 (1970), S. 1047 – 1053, hier S. 1048 f., auch zu M. Lehmann; J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 59 f.; Ernst G. Lowenthal, Juden in Preußen. Biographisches Verzeichnis. Ein reprsentativer Querschnitt, (Berlin 1981), S. 179. 215 So mit Verweis auf Engels und Mehring H. Schleier, Preußenlegende … (s. Anm. 214), S. 1047; vgl. zum ganzen J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 95 f. 216 Franz Mehring, Die Lessing-Legende (= Gesammelte Schriften, 9), Berlin (Ost) 1975, bes. S. 80 – 152; vgl. auch die Passagen in: Ders., Historische Aufstze zur preußisch-

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„praxisbezogene[n] Akzent […], den man als klassenpdagogisch bezeichnen kann“.217 Reinhart Koselleck sprach, bezogen auf Mehrings Darstellung der preußischen Reformzeit, spitz von einem „umgestîlpten Treitschke“.218 Hintze hat gleichwohl mit verhaltenem und souvernem Respekt von Mehrings „Lessinglegende“ geurteilt, in ihr wîrden „auf gute Literaturkenntnis basierte, aber maßlos îbertriebene und tendenziçs zugespitzte Ausfîhrungen îber Friedrich d. Gr.“ geboten,219 und er hat auch die umfassende, quasi parteiamtliche Gesamtdarstellung der preußischen Geschichte zur Kenntnis genommen, die 1906 im Verlag des „Vorwrts“ in zwei stattlichen Bnden erschienen ist. Weniger einseitig als Mehring und flexibler in der Anwendung der Konzeptionen, wie sie der historische Materialismus bot,220 hat Max Maurenbrecher (1876 – 1930) mit seinem Werk îber „Die Hohenzollern-Legende“ gewissermaßen einen Anti-Schmoller vorgelegt, dessen Archiveditionen schon um 1905 die Basis boten, um nun gegen die Ursprungsintentionen der Acta-Borusscia-Schule Antriebe des „Klassenkampfs“ in der preußischen Geschichte im marxistischen Sinne leitmotivisch aufzuzeigen.221 „So schafft die Schmollersche

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deutschen Geschichte, Berlin (21946), S. 31 – 59 („Der brandenburg-preußische Staat“), mit der klassischen Formierung des marxistischen Bildes vom Preußen des 18. Jahrhunderts; ferner die Bnde „Zur preußischen Geschichte“ in der lteren Gesamtausgabe: Franz Mehring, Gesammelte Schriften und Aufstze in Einzelausgaben, 3 und 4, (Berlin 1930). Helga Grebing / Monika Kramme, Franz Mehring, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, 5, Gçttingen (1972), S. 73 – 94, hier S. 87, zur „LessingLegende“ S. 75 f.; Josef Schleifstein, Franz Mehring. Sein marxistisches Schaffen (= Schriftenreihe des Instituts fîr deutsche Geschichte an der Karl-Marx-Universitt Leipzig, 5), Berlin 1959, S. 160, S. 164 ff., nach dem (S. 163 – freilich ohne Beleg!) Mehring die (preußischen) Archive verschlossen geblieben seien; R. Koselleck, Rezeption … (s. Anm. 80), S. 259 – 263 zu Mehrings Sicht der Reformzeit (S. 260: „keine neuen Tatsachen“, aber „neue Beurteilungen“, mit Kritik an „Borussophilen“); J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 96 f. R. Koselleck, Rezeption … (s. Anm. 80), S. 260. So: Otto Hintze, Zur Agrarpolitik Friedrichs des Großen, in: ForschBrandPrG 10 (1898), S. 275 – 309, hier S. 291 Anm. 2. Vgl. deshalb das Urteil in der DDR-çffiziçsen Historiographiegeschichte von Heinz Kathe, Die Hohenzollern-Legende, Berlin 1973, S. 94 f. („unzureichende Anwendung der Grundthesen des historischen Materialismus“, u. a. der „Theorie des Klassenkampfes“); zu Maurenbrecher Peter Domann, Sozialdemokratie und Kaisertum unter Wilhelm II. Die Auseinandersetzung der Partei mit dem monarchischen System, seinem gesellschafts- und verfassungspolitischen Voraussetzungen (= Frankfurter Historische Abhandlungen, 3), Wiesbaden 1974, S. 146 – 150; und Gangolf Hîbinger, Max [Maurenbrecher], in: NDB, 16, Berlin 1990, S. 434 f., mit dem Erscheinungsdatum des Werkes: 1905; Rezeption Maurenbrechers bei Otto Hintze, Die Hohenzollern und der Adel, zuerst 1914, wieder in: Ders., Regierung und Verwaltung … (s. Anm. 177), S. 30 – 55, hier S. 30, zum „Junkertum“ in der sozialdemokratischen Geschichtssicht. Max Maurenbrecher, Die Hohenzollern-Legende. Kulturbilder aus der preußischen Geschichte vom 12. bis zum 20. Jahrhundert, 2 Bde., Berlin (1906), S. 3 f. zur „erst(en)

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Schule zum erstenmale Einsicht in die wirtschaftlichen Grînde des Wachsens und Wesens des preußischen Staates; aber sie selbst kann die Rosen nicht pflîcken, die sie gepflanzt hat: sie sucht ja nur die Idee vom sozialen Kçnigtum und diese rîckt durch jede weitere Aktenpublikation in immer nebelhaftere Ferne.“ Otto Hintze hat 1914 die Einseitigkeit Maurenbrechers, insbesondere im Hinblick auf die Rolle der „Junker“, kritisiert und diskutiert. Freilich solle „nicht geleugnet werden, daß nicht jeder Zug in diesem Bilde falsch ist und daß auch wohl ein berechtigter Kern in dieser Auffassung steckt“.222 Und so erweist ein Blick auf Maurenbrecher und Mehring nicht nur ein erstaunlich breites Spektrum in der wissenschaftlichen (und halbwissenschaftlichen) Beschftigung mit der preußischen Geschichte schon vor 1914. Zugleich wird deutlich, daß eine Diskussion auch îber weite politische und weltanschauliche Distanzen damals durchaus nicht ausgeschlossen war.

§ 5 Krisen und Konjunkturen der Zwischenkriegszeit Nach dem Jahre 1918 verlor das Thema „Preußen“ an wissenschaftspolitischem Gewicht und an politischer Unterstîtzung. Gustav Schmoller war 1917 gestorben, und viele von denen, die vor 1914 mit hoffnungsvollen Erstlingsschriften die Generation nach Hintze erkennbar werden ließen, sind seit Langemarck nicht mehr zurîckgekehrt. Krieg und Nachkriegszeit zerstçrten materielle Grundlagen der preußischen Forschungen. Im Hintergrund ist zu beachten, daß die Substanzverluste des Bildungsbîrgertums, zumindest relative Statusverluste wissenschaftsaristokratischer Eliten und die generelle „Not der deutschen Wissenschaft und der geistigen Arbeiter“223 die Arbeits- und Refinanzierungsbedingungen der Forschungen auch auf preußischen Arbeitsfeldern massiv beeintrchtigten. Otto Hintze hat aus seiner Akademieposition heraus – und mit der Unterstîtzung von Max Planck! – darum gerungen, die Acta Borussica îber alle Zusammenbrîche, politische, finanzielle und persçnliche, hinwegzuretten.224 Er Hohenzollernlegende“ im Sinne Sybels, Droysens und Treitschkes und zur neuen „Hohenzollern-Legende“ und der These von der „soziale(n) Ttigkeit der Hohenzollern“, ausdrîcklich gegen Schmoller: S. 14, S. 22; Sicht Friedrich Wilhelms I. als Fçrderer des Neuen und mit Wirkung auf den Kapitalismus: 2, S. 401 ff. 222 O. Hintze, Adel … (s. Anm. 220), S. 30, zu Maurenbrecher. 223 Zum allgemeinen Zeithintergrund bleibt mit beeindruckendem Material wichtig: Georg Schreiber, Die Not der deutschen Wissenschaft und der geistigen Arbeiter. Geschehnisse und Gedanken zur Kulturpolitik des Deutschen Reiches, Leipzig 1923, etwa S. 9 – 11, S. 16 ff., S. 23, zur „Proletarisierung des Gelehrten“ S. 43 – 49 u. ç. 224 Vgl. den aus dem Berliner Akademiearchiv zitierten und nachgewiesenen Bericht Hintzes vom (22.) Dezember 1922 bei Wolfgang Neugebauer, Das Ende der alten Acta Borussica, in: Rîdiger vom Bruch / Eckart Henning (Hg.), Wissenschaftsfçrdernde

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hat auf die Notwendigkeit hingewiesen, die Traditionen der preußischen Forschungen nicht abreißen zu lassen, zumal der „praktische Wert“ der Acta Borussica ja auch darin bestehe, „durch Zerstçrung von Illusionen und Parteilegenden die Verstndigung îber unsere Vergangenheit und damit zugleich auch die Einsicht in die Notwendigkeiten der Gegenwart zu befçrdern“ (Dez. 1922). Dies schien u. a. durch den Verlust der personellen Forschungskontinuitt massiv gefhrdet. Nicht mehr auf der alten Basis und ohne die bis 1914/20 reiche Beiproduktion von Monographien und Aufsatzstudien konnten die Acta Borussica, gewissermaßen im Notbetrieb, noch fîr knapp zwei Jahrzehnte fortgefîhrt werden. Der junge Carl Hinrichs hat sich nach der Promotion an den Acta Borussica mit seinen Forschungen zur Wollindustrie die wissenschaftlichen Sporen erworben und so zu seinem Lebensthema, der Epoche Friedrich Wilhelms I. und des Pietismus, gefunden.225 Andere Themenfelder rîckten in den Mittelpunkt der historischen Forschungen in Deutschland, zumal fîr eine jîngere Historikergeneration, die sich mit dem Weimarer Staate zumeist bestenfalls abfand. Andere Themen, solche des 19. Jahrhunderts und der Zeitgeschichte gewannen an Aufmerksamkeit; freilich hatten bei den Verantwortlichen der Acta Borussica oder auch bei denjenigen des Geheimen Staatsarchivs schon vor dem Kriegsausbruch Plne an Gewicht gewonnen, nun auch das (frîhe) 19. Jahrhundert systematischer zu bearbeiten. Schon im Weltkrieg hatte Paul Fridolin Kehr fîr das neue KaiserWilhelm-Institut fîr Deutsche Geschichte die Korrespondenz Wilhelms I. zu einem der Schwerpunktobjekte gemacht, wenngleich die tatschliche Ausbeute, die vor der Wirtschaftskrise noch zur Publikation gelangte, mit fînf von Johannes Schultze herausgegebenen Bnden îberschaubar blieb.226 Gegen die (publizistische) Forderung, wie sie dann seit 1918 laut wurde, die preußische Geschichte mîsse einer Revision unterzogen werden, standen personelle und programmatische Kontinuitten, die Hintze ja auch als wînschenswert beInstitutionen im Deutschland des 20. Jahrhunderts … (= Dahlemer Archivgesprche, 5), Berlin 1999, S. 40 – 56; und Wolfgang Neugebauer, Zur preußischen Geschichtswissenschaft zwischen den Weltkriegen am Beispiel der Acta Borussica, in: JbBrandenbLdG 50 (1999), S. 169 – 196, hier S. 176 f.; beide Aufstze passim zu diesem Paragraphen. 225 Vgl. Anm. 224; zu Hinrichs noch S. Skalweit, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 41), S. 124 f.; Gerhard Oestreich, Gedchtnisrede fîr Carl Hinrichs, in: JbGMitteldtld 11 (1962/1963), S. 1 – 12, hier S. 3 f.; und Ders., Carl Hinrichs, in: HZ 196 (1963), S. 249 – 251, hier S. 249 f.; unten Anm. 262. 226 Mit allen Nachweisen: Wolfgang Neugebauer, Das Kaiser-Wilhelm-Institut fîr Deutsche Geschichte im Zeitalter der Weltkriege, in: HJb 113 (1993), S. 60 – 97, hier S. 79, S. 88 f.; Ders., Die Grîndungskonstellation des Kaiser-Wilhelm-Instituts fîr Deutsche Geschichte und dessen Arbeit bis 1945. Zum Problem historischer „Großforschung“ in Deutschland, in: Bernhard vom Brocke / Hubert Laiko (Hg.), Die Kaiser-Wilhelm-/Max-Planck-Gesellschaft und ihre Institute. Studien zu ihrer Geschichte: Das Harnack-Prinzip, Berlin/New York 1996, S. 445 – 468, hier S. 458 f.

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zeichnet hatte. „Die deutsche Niederlage im Jahre 1918 bedeutet keine Wende in der Geschichte des Friedrichbildes. Die panegyrische wird ebenso wie die polemische Literatur fortgesetzt.“227 Zunchst verlagerten sich also die Themenschwerpunkte; mit der intensiv betriebenen Kriegsschulddebatte zum Ersten Weltkrieg wurde ein Forschungsobjekt zentral, das allenfalls noch Berîhrungszonen mit der preußischen Geschichte besaß.228 Die intensivierte Beschftigung mit der historischen Gestalt Bismarcks229 gewann nicht zufllig nach Versailles an Gewicht. In den Krisen des neuen Staates erreichte der Bezug auf Bismarck und sein Werk geradezu neue teleologische Qualitt.230 Die eben erschlossenen Quellenmassen zur großen europischen Politik und speziell zu Person und Epoche Bismarcks,231 hier vor allem die „Friedrichsruher Ausgabe“, boten und bieten die Basis fîr alle kînftigen Forschungen, auch wenn sich nach einem knappen Jahrhundert die editorische Basis zu erweitern beginnt. In den zwanziger Jahren war es der „deutsche“ Bismarck und der „deutsche“ Freiherr vom Stein, die das Interesse der Forschung fesselten. Die kleindeutsche Lçsung schien der einzige, wenn auch gewaltsame Weg in seiner Zeit, auch fîr einen (konservativen) Liberalen wie Hermann Oncken. Der deutsche Beruf Preußens, nun seit der Zeit der Befreiungskriege, war bei Meinecke, Marcks und Oncken Konsens. Der Bezugspunkt aber war nicht ein preußischer, sondern der Weg zum deutschen Machtstaat.232 Wird von dem noch recht einflußlosen Gegenstimmen aus dem Ausland, etwa der des „großdeutschen“ Grazer Historikers Raimund Friedrich Kaindl 227 So W. Bussmann, Friedrich … (s. Anm. 168), S. 279. 228 Vgl. Wolfgang Jger, Historische Forschung und politische Kultur in Deutschland. Die Debatte 1914 – 1980 îber den Ausbruch des Ersten Weltkrieges (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 61), Gçttingen 1984, S. 68 – 88. 229 Zum differenzierten wissenschaftlichen Bild Bismarcks vor 1914 (in Absetzung zur „populren“ Publizistik!) vgl. Hans-Gînter Zmarzlik, Das Bismarckbild der Deutschen – gestern und heute, Freiburg (1965), S. 16, mit Verweis auf Erich Marcks, Max Lenz, Hermann Oncken, Hans Delbrîck und Friedrich Meinecke. 230 Mit C. Cornelissen, Gerhard Ritter … (s. Anm. 121), S. 279, auch – beide aus §sterreich – zur „großdeutschen Position“ (Kaindl) und Srbiks „gesamtdeutschen Geschichtsauffassung“; Bernd Faulenbach, Ideologie des deutschen Weges. Die deutsche Geschichte in der Historiographie zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, Mînchen (1980), S. 152 zum Folgenden S. 157. 231 Vgl. Michael Stîrmer, Bismarck-Mythos und Historie (= Aus Politik und Zeitgeschichte, B 3/1971), (Bonn) 1971, S. 25; und zur archivgeschichtlichen Entwicklung Rudolf Morsey, Die oberste Reichsverwaltung unter Bismarck 1867 – 1890 (= Neue Mînstersche Beitrge zur Geschichtsforschung, 3), Mînster 1957, S. 4 Anm. 13; zur Friedrichsruher Ausgabe siehe C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 507, zur Vorgeschichte siehe S. 510 f. Anm. 110, Anm. 111. 232 B. Faulenbach, Ideologie … (s. Anm. 230), S. 69, vgl. auch S. 46 f., Kaindl: S. 69, zur Differenz zwischen den Positionen Kaindls und Srbiks S. 344, Anm. 215.

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abgesehen,233 war es der ja schon vor 1914/18 provokative Johannes Ziekursch, der seit 1927 von der jungen Universitt Kçln aus234 eine „politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreichs“ vorlegte, in der er auf politische und strukturelle Defizite der Bismarckschen Lçsung des Reichsgrîndungsproblems hinwies.235 Nach 1918 wuchs die Einsicht in die mit dem Ausgang der Entscheidung von 1866/71 verbundenen kînftigen Belastungen, die freilich schon ein Erich Brandenburg in seine vergleichsweise nîchterne Betrachtung im Ansatz durchaus einbezogen hatte.236 Diese Sicht wurde von dem um einiges konservativeren Bismarck-Spezialisten Wilhelm Mommsen (1892 – 1966) an prominentem Ort als „wînschenswerte Ergnzung der bisherigen Darstellungen“ durchaus begrîßt, auch weil sie zwar die „Verteilung von Licht und Schatten“ verndere, aber doch einen Bruch mit der bisherigen Historiographie vermeide. Provokativ wirkte freilich Ziekurschs These, daß schon in der Reichsgrîndung der Keim zum Reichsuntergang angelegt gewesen sei. Ziekurschs Behauptung, daß das zweite Reich von Anfang an „dem Geist der Zeit entgegen“ gestanden,237 und daß es quer zum „demokratischen“ Zeitgeist gelegen habe, ja daß 233 Zuletzt: Alexander Pinwinkler, Raimund Friedrich Kaindl (1866 – 1930). Geschichte und Volkskunde im Spannungsfeld zwischen Wissenschaft und Politik, in: Karel Hruza (Hg.), §sterreichische Historiker 1900 – 1945. Lebenslufe und Karrieren in §sterreich, Deutschland und der Tschechoslowakei in wissenschaftlichen Portraits, Wien/Kçln/Weimar (2008), S. 125 – 154, hier S. 144 f., auch zur programmatischen Differenz zwischen Srbik und Kaindl; vgl. noch J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 146 f.; und B. Faulenbach, Ideologie … (s. Anm. 230), S. 70, S. 72; Hauke Focko Fooken, Raimund Friedrich Kaindl als Erforscher der Deutschen in den Karpatenlndern und Reprsentant großdeutscher Geschichtsschreibung (= Hamburger Beitrge zur Geschichte der Deutschen im europischen Osten, 3), Lîneburg 1996, bes. S. 25 – 43. 234 Vgl. Anm. 190; mit interessanten politischen Hintergrînden: Hans-Ulrich Wehler, Zur Lage der Geschichtswissenschaft in der Bundesrepublik 1949 – 1979, in: Ders., Historische Sozialwissenschaft und Geschichtsschreibung. Studien zu Aufgaben und Traditionen deutscher Geschichtswissenschaft, Gçttingen 1980, S. 13 – 41, S. 299 – 317, hier S. 16, auch zu Ziekursch‘ Geschichte des Kaiserreichs. 235 Johannes Ziekursch, Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreichs, 1 – 3, Frankfurt am Main 1925 – 1930, hier etwa 1, S. 182. 236 Vgl. dazu die interessante Rezension des ersten Ziekurschen Bandes von Wilhelm Mommsen, in: HZ 134 (1926), S. 578 – 584, hier S. 578 f.; vgl. aber Winfried Schulze, Deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945 (= HZ, Beiheft 10), Mînchen 1989, S. 210. 237 J. Ziekursch, Politische Geschichte … (s. Anm. 235), 1, S. 3; zum Folgenden W. Mommsen, Rezension … (s. Anm. 236), S. 580 – 582; dagegen hatte E. Brandenburg die Reichsgrîndung eng auf 1848 bezogen, vgl. Erich Brandenburg, Die Reichsgrîndung, 2, 2., verb. Auflage Leipzig (1922), S. 451; vgl. noch H. Schleier, Ziekursch … (s. Anm. 190), S. 137, S. 175 – 179; M. Stîrmer, Bismarck-Mythos … (s. Anm. 231), S. 25, und Werner Conze, Das Kaiserreich von 1871 als gegenwrtige Vergangenheit im Generationswandel der deutschen Geschichtsschreibung, zuerst 1979, wieder in:

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damit das Kaiserreich von Anfang an den „Keim des Untergangs“ (Mommsen) in sich getragen htte, erweckte Aufmerksamkeit und Abwehr zugleich. Vieles, auch der Topos von Bismarcks Reichsgrîndung als einer „Revolution von oben“ wurde schon in der Mitte der zwanziger Jahre in der Geschichtswissenschaft diskutiert. Die Debatte insgesamt und das dominante Bismarck-Bild bestimmten solche Stimmen allerdings nicht, Positionen, denen akademisch Randstndige wie Veit Valentin (1885 – 1947) oder – etwas spter – Eckart Kehr (1902 – 1933) an die Seite gestellt worden sind.238 Die außerakademisch-literarische Geschichtsrevision239 und -instrumentalisierung, die nicht auf einen politischen Flîgel beschrnkt war, hat freilich die wissenschaftliche Entwicklung in produktiver Weise nicht befruchtet. Es dominierte entschieden die Abwehr der professionellen Historiographie gegen die „Historische Belletristik“, die als ein zeittypisches Phnomen des politischen Kampfes um die Staatsform gesehen und prinzipiell abgelehnt worden ist. Damit ging sodann einher ein Protest der akademischen Preußenhistoriographie gegen den Zugriff politischer Parteien auf

Ders., Gesellschaft – Staat – Nation. Gesammelte Aufstze, hg. v. Ulrich Engelhardt / Reinhart Koselleck / Wolfgang Schieder (= Industrielle Welt, 52), (Stuttgart 1992), S. 44 – 65, zu Ziekursch S. 52 f.; zur Gesamtdarstellung des Kaiserreichs aus der Feder von Fritz Hartung S. 52 (ausgewogen, nicht apologetisch). 238 Vgl. H. Schleier, Linksliberale Kritik … (s. Anm. 214), S. 1051 f.; zu Valentins Revolutionsgeschichte vgl. E. Fehrenbach, Reichsgrîndung … (s. Anm. 95), S. 275; Valentins Revolutionsgeschichte als Auftragsarbeit des Reichsinnenministeriums aus dem Jahre 1923: Bernh. Poll, Vom Schicksal der deutschen Heeresakten und der amtlichen Kriegsgeschichtsschreibung, in: Der Archivar 6 (1953), Nr. 2, Sp. 65 – 76, hier Sp. 67 Anm. 3. 239 Zu diesem Komplex von Oswald Spengler bis Emil Ludwig und Werner Hegemann vgl. J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 147, S. 151 – 156 (Jungkonservative); Frank Lothar Kroll, Utopie als Ideologie – Geschichtsdenken und politisches Handeln im Dritten Reich, Paderborn (1998), S. 287 (Spengler); Jîrgen Elvert, „Konservative Revolution“ – Nationalsozialismus – Widerstand. Preußenbilder in dreifach gebrochener Perspektive, in: Christiane Liermann / Gustavo Corni / FrankLothar Kroll (Hg.), Italien und Preußen. Dialog der Historiographen, Tîbingen 2005, S. 281 – 302, hier S. 290 – 293, Moeller van den Bruck: S. 288 f.; aus der umfnglichen Literatur zu Spengler sei exemplarisch verwiesen auf Hans-Christof Kraus, Oswald Spengler (1880 – 1936), in: Michael Frçhlich (Hg.), Die Weimarer Republik. Portrait einer Epoche in Biographien, Darmstadt 2002, S. 233 – 243, hier S. 237 – jeweils mit Nachweis der Titel; Gustav Berthold Volz, Rezension zu Werner Hegemann: Fridericus, in: ForschBrandPrG 39 (1927), S. 154 – 162, bes. S. 154 f. („politische Tendenzschrift“ gegen den „monarchischen Gedanken“), in Anlehnung an die großdeutsche Sicht; zu Hegemanns zentralem Vorwurf gegen Friedrich II., eine antideutsche Politik betrieben zu haben, vgl. Heinz Dieter Kittsteiner, Werner Hegemann als Historiker, in: B. Wehinger, Geist und Macht … (s. Anm. 48), S. 157 – 183, hier S. 170.

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preußische Themen zum Zwecke tagespolitischer Agitation durch prsentistische Reduktionen.240 Dagegen hatte es, und auch das haben die Trger der wissenschaftlichen Traditionen sehr genau beobachtet,241 die historiographische Arbeit zunehmend schwerer, wenn sie sich behaupten wollte. Ihr Einfluß und die Auflagenzahlen ihrer Produktionen gingen – auch angesichts der Verarmung vor allem bildungsbîrgerlicher Kuferschichten242 – immer mehr zurîck, ganz im Unterschied zur historischen Populrliteratur. Erst recht hatten es editorische Großunternehmen schwerer denn je. Nur mit Unterstîtzung der 1927/28 neu gegrîndeten „Historischen Reichskommission“, zunchst geleitet von dem letzten „Historiographen der Brandenburgischen Geschichte“ Friedrich Meinecke,243 ist es gelungen, mit der Edition zur „auswrtigen Politik Preußens 1858 – 1871“ Neuland der Quellenforschung zu erschließen, und zwar aus europischen Archiven.244 240 Vgl. die Schrift des Hintze-Schîlers Heinrich Otto Meisner, Preußisch-deutsche Geschichts- und Staatsauffassung im Wandel der Zeiten, Mînchen/Berlin 1931, S. 4 f., und passim (zuerst: ForschBrandPrG 43 [1930], S. 252 – 289); die Beitrge zu Emil Ludwig, Werner Hegemann und Herbert Eulenberg in: Historische Belletristik. Ein kritischer Literaturbericht, hg. v. der Schriftleitung der Historischen Zeitschrift, Mînchen/Berlin 21929, darin vom Staatsarchivar und Acta-Borussica-Mitarbeiter Ernst Posner die Rezension zu Hegemann, S. 20 – 30, bes. S. 20, S. 23 f. (Reichsfeindschaft und Hochverrat Friedrichs, Schwchung des Deutschtums), aber S. 29: „H.s Verdammungsurteil îber Kçnig Friedrich ist nicht unerwartet gekommen. Es stellt sich, recht betrachtet, als der Gegenstoß gegen Verflschungstendenzen der jîngsten Zeit dar, mit denen die Forschung nichts gemein hat.“ Ebd. zum Mißbrauch der Geschichte durch „die politischen Parteien“, die „Stein zum Demokraten stempeln, Friedrich d. Gr. deutschnationale Politik treiben lassen“, was darauf verweist, daß der Ge- und Mißbrauch der preußischen Geschichte offenbar um 1930 nicht auf eine Seite beschrnkt war; zu E. Posner vgl. W. Neugebauer, Geschichtswissenschaft zwischen den Weltkriegen … (s. Anm. 224), S. 181 f. – Zur publizistischen Diskussion auf damals zeithistorischem Felde vgl. B. Faulenbach, Ideologie … (s. Anm. 230), S. 44 (Erich Brandenburg). 241 Außer H. O. Meisner … (wie Anm. 240); etwa W. Mommsen, Rezension … (s. Anm. 236), S. 579. 242 Dies zeigen die Korrespondenzen des KWJ fîr deutsche Geschichte um 1930 mit großer Deutlichkeit, vgl. knapp W. Neugebauer, Grîndungskonstellation … (s. Anm. 226), S. 466 f. 243 Vgl. W. Neugebauer, Staatshistoriographen … (s. Anm. 32), S. 58; letzter preußischer Historiograph war Erich Marcks, ebd. 244 Walter Goetz, Die Historische Reichskommission von 1928, in: Johannes Spçrl (Hg.), Zwischen Wissenschaft und Politik. Festschrift fîr Georg Schreiber. Im Auftrag der Gçrres-Gesellschaft, Mînchen/Freiburg 1953, S. 540 – 548, hier S. 542 – 545, Auflçsung 1935: S. 547; H. Heimpel, Organisationsformen … (s. Anm. 130), S. 97 – 99; Hans Schleier, Die bîrgerliche deutsche Geschichtsschreibung der Weimarer Republik … (= Akademie der Wissenschaften der DDR. Schriften des Zentralinstituts fîr Geschichte, 40), Berlin 1975, S. 137 f.; und zur Historischen Reichskommission noch

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Damit verlagerten sich – wie schon mit den Bismarck-Forschungen – die Gewichte entschieden in das 19. Jahrhundert,245 und dies gilt auch fîr die wichtigsten Historikerkontroversen. Es war die Deutung des Freiherrn vom Stein,246 die nun erregte. Stein wurde von einer Seite als Vormann der Demokratie, von der anderen, vom Schîler des konservativen Adalbert Wahl, Erich Botzenhart, zum Reprsentanten eines europischen Konservativismus stilisiert. Gerhard Ritter (1888 – 1967), selbst Schîler des Liberalen und Lassalle-Biographen Hermann Oncken, hatte in jahrelanger Quellenarbeit die ja schon nach Max Lehmanns Werk247 kontroverse Thematik in außerordentlich fruchtbarer Weise wieder aufgenommen und zum Stein-Jubilumsjahr 1931248 seine zweibndige Biographie Steins vorgelegt. Dabei stellte er erneut die Frage nach den Ursprîngen der Reformkonzeptionen nach 1806 und fand sie – statt in dem Vorbild der Franzçsischen Revolution – im „ritterlichen Selbstgefîhl des Reichsadligen, in den stndischen Traditionen des alten Reiches“, ergnzt durch englische Vorbilder und Steins westflischen Verwaltungserfahrungen.249

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Helmut Heiber, Walter Frank und sein Reichsinstitut fîr Geschichte des neuen Deutschlands (= Quellen und Darstellungen zur Zeitgeschichte, 13), Stuttgart 1966, S. 133 – 141; soeben ergnzend erschienen: Winfried Baumgart (Hg.), Die auswrtige Politik Preußens 1858 – 1871. Diplomatische Aktenstîcke, 2. Abt., 7, aufgrund der Vorarbeiten von Wolfgang Steglich (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 36), Berlin (2008), mit dem Vorwort von Winfried Baumgart S. 5 – 10. Zur Arbeitsteilung mit den „Deutschen Geschichtsquellen des 19. Jahrhunderts“, d. h. mit der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, vgl. (Erich) Marcks, Aufgaben und Ttigkeit der Preußischen Kommission, in: Sitzungsberichte der Kçniglich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1925, S. XXXI-XXXVII, hier S. XXXIV f.; und Hermann Oncken, Aufgaben und Ttigkeit der Preußischen Kommission, in: a.a.O., 1935, S. XLVII-LIII, hier S. LII. Vgl. schon Ernst Posners Bemerkung oben in Anm. 240; zur Stein-Literatur der Weimarer Jahre bis 1931 vgl. B. Faulenbach, Ideologie … (s. Anm. 230), S. 141 – 152, S. 372 f. Anm. 115 – 125, zu Friedrich Thimme, Ernst Mîsebeck, Erich Botzenhart u. a. m.; C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 215 Anm. 199. Vgl. oben bei und mit Anm. 199. Zu den Beitrgen von Hans Rothfels, Willy Andreas, Friedrich Meinecke und Fritz Hartung vgl. zusammenfassend B. Faulenbach, Ideologie … (s. Anm. 230), S. 148, S. 376 Anm. 172. Gerhard Ritter, Stein. Eine politische Biographie, 2 Bde., Stuttgart/Berlin 1931, hier 2, S. 334 f., mit Betonung der Distanz zum (franzçsischen) Ideal der Volkssouvernitt; vgl. Michael Matthiesen, Gerhard Ritter. Studien zu Leben und Werk bis 1933, 2 (= Deutsche Hochschulschriften, 451), Egelsbach/Kçln/New York (1993), S. 791, S. 793, S. 849, S. 930 ff.; zur Kritik Ritters an Lehmann wichtig Klaus Schwabe, Zur Einfîhrung. Gerhard Ritter – Werk und Person, in: Ders. / Rolf Reichardt (Hg.), Gerhard Ritter. Ein politischer Historiker in seinen Briefen (= Schriften des Bundesarchivs, 33), Boppard am Rhein (1984), S. 1 – 170, hier S. 31 – 33, S. 39 (Verwurzelung im 18. Jahrhundert); Schwabe zur Sicht Ritters, fîr den franzçsischen Einflîsse eine

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Die Forscherleistung Ritters, dessen Resultate freilich im Klima der frîhen 1930er Jahre sehrwohl auch politisch ausgedeutet wurden, war ganz wesentlich auf der Basis neu erschlossener archivalischer Quellen – îber die Vorgnger weit hinausfîhrend – ermçglicht worden. Die Fachhistorie im engeren Sinne hat Ritters Leistung durchaus kritisch gewîrdigt.250 Ritter, der îber die Aufnahme seines Werkes in einer breiteren §ffentlichkeit wenig erfreut war, geriet zudem in eine heftige Kontroverse mit dem an der Technischen Hochschule Karlsruhe lehrenden Franz Schnabel (1887 – 1966), der, gleichfalls 1931, und zwar auf Aufforderung des preußischen Kultusministeriums einen kleinen Abriß îber den Reichsfreiherrn vorgelegt hatte und seinerseits nun Stein fîr die Ideale der Weimarer Republik reklamierte (Faulenbach).251 Er tat dies freilich ohne neue Quellen und „nicht auf der Hçhe der neueren Forschung“.252 Ritters Werk blieb und bleibt gîltig, heute flankiert durch die neuere sozialwissenschaftliche Beitrge kritisch diskutierende Biographie Heinz Duchhardts.253 Gerhard Ritter in Freiburg, Schnabel in Karlsruhe – Hans Rothfels in Kçnigsberg: Die Forschungslandschaft zur preußischen Geschichte wurde dezen250

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untergeordnete Bedeutung besaßen; schließlich C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 210, S. 216. Vgl. M. Matthiesen, Ritter … (s. Anm. 249), 2, S. 1049 – 1105; vgl. Thomas Hertfelder, Franz Schnabel und die deutsche Geschichtswissenschaft, 1 (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 60), Gçttingen (1998), S. 384 mit Anm. 280; politische Motive: B. Faulenbach, Ideologie … (s. Anm. 230), S. 151 f. T. Hertfelder, Schnabel … (s. Anm. 250), 1, S. 361 f. mit Anm. 378, auch zur Fçrderung durch den Reichsinnenminster, der auch die „Leitlinien der Interpretation“ vorgibt!; vgl. C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 210; verhîllt angedeutet: Franz Schnabel, Freiherr vom Stein, Leipzig/Berlin (1931), Vorwort S. III („ußere Anregung“); Telos: B. Faulenbach, Ideologie … (s. Anm. 230), S. 149: Stein als „Antizipator des modernen liberaldemokratischen Freiheitsideals“. So T. Hertfelder, Schnabel … (s. Anm. 250), 1, S. 377 („berechtigter Kern“), zu Angriffen Schnabels auf Friedrich Meinecke: S. 353, zum Ganzen S. 346 – 348, S. 356 – 360 (Aktualisierungen), S. 360 Anm. 173: kein ungedrucktes Material, Konfrontation Schnabel-Ritter: S. 372 – 383; parteiisch: Heinrich Lutz, Einleitung, in: Franz Schnabel, Abhandlungen und Vortrge 1914 – 1965, hg. in Verbindung mit Erich Angermann / Friedrich Hermann Schubert / Eberhard Weis, v. Heinrich Lutz, Freiburg/Basel/Wien 1970, S. X-XXIV, hier S. XVI: Schnabel „gegen das konservativ-autoritre Bild Steins“ von Ritter, die „liberalsoziale“ Interpretation Schnabels; G. Winter, Stein … (s. Anm. 200), S. 386 ff. (abgewogen); C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 218 – 222, S. 224 Anm. 230; Lothar Gall, Franz Schnabel (1887 – 1966), in: ZGORh 116 (1968), S. 427 – 439, hier S. 435; Heinz Duchhardt, „… weil (…) Stein die Sonne war, um welche all die anderen kreisten“. Das Stein-Bild im Wandel der Zeiten (= Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, 2004, Nr. 2), Mainz/Stuttgart 2004, S. 14 f. Vgl. Anm. 252; hier: Heinz Duchhardt, Stein. Eine Biographie, Mînster 2007, S. 445, S. 449 (gegen Barbara Vogel und Hans-Ulrich Wehler); neue Quellenbasis: S. 3, S. 5 f., („Reform von oben“).

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traler in der Weimarer Zeit, nicht mehr um einen Berliner Kern konzentriert wie in den Jahrzehnten Gustav Schmollers. Die gezielte wissenschaftspolitische Fçrderung der „Grenzlanduniversitt“ Kçnigsberg durch die Kultusverwaltung der Weimarer Demokratie spielt dabei eine erhebliche Rolle.254 Es waren wissenschaftlich produktive Impulse, die Rothfels, Gelehrter aus jîdischer Familie und 1914 Frontoffizier, zunchst der Bismarck-Forschung zuwandte. Aufbauend auf Arbeiten zu Bismarcks Bîndnispolitik und Sozialpolitik und auf der Erkenntnis, daß entgegen der tradierten nationalliberalen Forschung fîr Bismarck das Prinzip des Staates stets vor dem der Nation rangierte, arbeitete Rothfels um 1930 von Kçnigsberg aus heraus, daß Bismarck in Ostmitteleuropa gerade keine irgend deutschtumszentrierte Außenpolitik betrieben htte. Die germanisierende Offensive Bismarcks diesseits der Grenzen hat Rothfels allerdings ganz entschieden unterschtzt und unterbelichtet. Die Schockwirkung seiner Interpretation gegenîber der nationalliberalen Bismarck-Orthodoxie255 basierte auf der Relativierung des Nationalprinzips in Bismarcks Politik an der „autonomen Ostseite des Reiches“, zugleich eine Korrektur an Friedrich Meineckes Thesen in dessen Werk „Weltbîrgertum und Nationalstaat“.256 Gegen Meineckes, zu stark vom westeuropischen Nationalstaatsbegriff bestimmten Ansatz wurde Bismarck in den Forschungen des gewiß persçnlich nationalkonservativen Kçnigsberger Ordinarius seinerseits konser254 Hintergrînde: Wolfgang Neugebauer, Wissenschaftskonkurrenz und politische Mission. Beziehungsgeschichtliche Konstellationen der Kçnigsberger Geisteswissenschaften in der Zeit der Weimarer Republik, in: Bernhart Jhnig / Georg Michels (Hg.), Das Preußenland als Forschungsaufgabe. Eine europische Region in ihren geschichtlichen Bezîgen. Festschrift fîr Udo Arnold zum 60. Geburtstag … (= Einzelschriften der Historischen Kommission fîr ost- und westpreußische Landesforschung, 20), Lîneburg 2000, S. 741 – 759. 255 Werner Conze, Hans Rothfels, in: HZ 237 (1983), S. 311 – 360, hier S. 321 – 327; Wolfgang J. Mommsen, German Historiography during the Weimarer Republik and the Emigr¤ Historians, in: Hartmut Lehmann / James J. Sheehan (Hg.), An Interrupted Past. German-speaking Refugee Historians in the United States after 1933 (= Publications of the German Historical Institute Washington, D.C.), Washington 1991, S. 32 – 66, hier S. 50; zum Vortrag Rothfels auf dem Gçttinger Historikertag 1932 zuletzt Jan Eckel, Hans Rothfels. Eine intellektuelle Biographie im 20. Jahrhundert (= Moderne Zeit, 10), Gçttingen 2005, S. 156 f., vgl. auch S. 146 ff. 256 Hans Rothfels, Bismarck und die Nationalittenfragen des Ostens, in: HZ 147 (1933), S. 89 – 103, hier S. 89 f.; hnlich Hans Rothfels, Ostraum, Preußentum und Reichsgedanke. Historische Abhandlungen, Vortrge und Reden, Leipzig 1935, S. 68, S. 70, S. 83 ff, S. 87 f.; und Hans Rothfels, Bismarck und der Osten. Eine Studie zum Problem des deutschen Nationalstaats, Leipzig 1934, S. 6 f., S. 71 zur Aktualitt des Themas; mit weiteren Angaben zu Quellen und Literatur vgl. Wolfgang Neugebauer, Hans Rothfels und Ostmitteleuropa, in: Johannes Hîrter / Hans Woller (Hg.), Hans Rothfels und die deutsche Zeitgeschichte (= Schriftenreihe der Vierteljahrshefte fîr Zeitgeschichte, 90), Mînchen 2005, S. 39 – 61, hier S. 44 ff.

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vativer und etatistischer, aber eben weniger national. Die „Revision des Bismarck-Bildes“, „die von den neuerschlossenen Quellen der Friedrichsruher Ausgabe ausgegangen ist“, wird mit dem Namen Rothfels‘, in gewissem Maße auch mit Erich Marcks und Otto Becker verknîpft.257 Freilich hat die Bismarck-Biographie Arnold Oskar Meyers noch 1944 gezeigt, wie stark und lange die lteren Traditionen der Bismarckforschung und -deutung fortlebten. Rothfels hat in Kçnigsberg bis 1934/35 einen Schîlerkreis formiert, der in intensiven Quellenforschungen Grundprobleme der ostpreußischen und ostmitteleuropischen Geschichte, vor allem kulturelle, stndische und korporative Phnomene in den Mittelpunkt der Arbeit rîckte.258 Rothfels‘ letzte deutsche Publikation vor der Emigration galt ja in diesem Sinne der Epoche Friedrich Wilhelms IV. und Theodor von Schçns. Alle diese Forschungen hatten einen (indirekten) Gegenwartsbezug, entnahmen Energie aus den gefhrlichen Lagen Ostdeutschlands und Ostmitteleuropas in der Zwischenkriegszeit, und zwar mit dem Ziel, nach korporativen Lçsungen fîr die spezifischen Nationalittenstrukturen dieses Raumes zu suchen. Damit verbunden waren komparatistische Interessen. Auch derartige Anstze hat die nationalsozialistische Universittspolitik zunichte gemacht. „Aktenpublikationen“ hatten im Dritten Reich ohnehin schlechte Konjunktur. Weltanschauungshistorie schien gelehrte Aktenarbeit und gar editorische Produktion îberflîssig zu machen.259 Die Acta Borussica, die nach 1933 und bis zum Zweiten Weltkrieg ihren Notbetrieb aufrecht erhalten konnten, haben schon entlassenen jîdischen Gelehrten noch fîr einige Zeit Beschftigung bieten kçnnen, gedeckt vom Vorsitzenden der Preußischen Kommission der Akademie der Wissenschaften, und das war der bei den Nationalsozialisten alles andere als wohlgelittene, nmlich liberal-bîrgerliche Hermann Oncken.260 Otto Hintze galt als „jîdisch versippt“ und legte seine Mitgliedschaft in der Akademie im Dezember 1938 nieder. Die (Zwangs-)Versetzung von Carl Hinrichs von Berlin nach Kçnigsberg, von wo aus er im 257 So T. Schieder, Geschichtswissenschaft … (s. Anm. 162), S. 61 f.; vgl. H.-G. Zmarzlik, Bismarckbild … (s. Anm. 229), S. 22; Arnold Oskar Meyer, Bismarck. Der Mensch und der Staatsmann, Leipzig (1)1944; vgl. unten Anm. 271. 258 Vgl. meine in Anm. 256 zit. Studie; sodann mit allen Einzelnachweisen und unter Auswertung des Nachlasses Rothfels im Bundesarchiv Koblenz: Wolfgang Neugebauer, Hans Rothfels‘ Weg zur vergleichenden Geschichte Ostmitteleuropas, besonders im ˜bergang von frîher Neuzeit zur Moderne, in: Berliner Jahrbuch fîr osteuropische Geschichte, 1996/1: Osteuropische Geschichte in vergleichender Sicht, Berlin 1996, S. 333 – 378. 259 Vgl. die Ausfîhrungen Walter Franks, zitiert bei Hagen Schulze, Walter Frank, in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Deutsche Historiker, 7, Gçttingen 1980, S. 69 – 81, hier S. 71. 260 W. Neugebauer, Geschichtswissenschaft zwischen den Weltkriegen … (s. Anm. 224), S. 190 – 195; vgl. noch J. Weiser, Geschichte … (s. Anm. 123), S. 123.

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Sommer 1944 noch vor dem Untergang der Ostseemetropole nach Halle an der Saale gehen konnte,261 fîhrte dazu, daß das lange vorbereitete Projekt einer Biographie Friedrich Wilhelms I., auf der Basis intensiver Aktenkenntnis des Acta-Borussica-Mitarbeiters und langjhrigen Staatsarchivars, doch ein Torso blieb.262 Die Instrumentalisierung – auch – der preußischen Geschichte vom Tag von Potsdam bis nach Kolberg ist bekannt und intensiv beschrieben worden.263 Aber der propagandistischen Ausbeutung einer preußischen Geschichte, die im wesentlichen dem Literaturstand der ersten Hlfte oder der Mitte des 19. Jahrhunderts folgte und die realistische Historiographie von Ranke bis Hintze ignorierte,264 begleitete denn nach 1933 keinerlei wissenschaftspolitische Schwerpunktsetzung. Walter Frank, der fîhrende Geschichtsfunktionr des Nationalsozialismus in den dreißiger Jahren, hegte starke Vorbehalte gegen

261 Vgl. oben Anm. 225; G. Oestreich, Carl Hinrichs … (s. Anm. 225), S. 250. 262 Zum Plan „einer großen Biographie Friedrich Wilhelms I.“ schon Carl Hinrichs, Zur Einfîhrung. Momente des Konflikts zwischen Kçnig Friedrich Wilhelm I. von Preußen und Kronprinz Friedrich, in: Ders., Der Kronprinzenprozeß. Friedrich und Katte, Hamburg (1936), S. 5 – 20, hier S. 20; Ders., Friedrich Wilhelm I. Kçnig in Preußen. Eine Biographie. Jugend und Aufstieg, Hamburg (21943), darin bereits das auf sptere Forschungen von Hinrichs verweisende Kapitel: „Die Begegnung mit der Reformbewegung des Pietismus“, S. 559 – 599, S. 707, wo „eine umfassende Monographie îber die Rolle des Pietismus“ angekîndigt wird; zum Friedrich-Wilhelm-Thema ergnzend aus der Nachkriegsproduktion: Carl Hinrichs, Preussen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hg. v. Gerhard Oestreich (= VerçffHistKommBerlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universitt Berlin, 10), Berlin 1964, S. 91 – 160; zur Monographie îber die Wollindustrie im Rahmen der Acta Borussica als Keimzelle dieser Studien: G. Oestreich, Gedchtnisrede … (s. Anm. 225), S. 4 f., auch zur archivalischen Fundierung; Hinrichs als Nachfolger Meineckes in Berlin: S. 8. 263 Aus der reichen Literatur: Frank-Lothar Kroll, Preußenbild und Preußenforschung im Dritten Reich, in: W. Neugebauer (Hg.), Das Thema Preußen … (s. Anm. 32), S. 305 – 327, hier S. 305, der feststellt, daß das Thema Preußen keinen „prominenten Platz“ im historischen Denken der Nationalsozialisten eingenommen habe, S. 326: „eintauschbare Versatzgrçßen“, S. 327: untergeordnete Stellung in der Geschichtspolitik der Zeit; differenziert auch J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 206 f., Tag von Potsdam: S. 204; Werner Freitag, Nationale Mythen und kirchliches Heil. Der „Tag von Potsdam“, in: WestfForsch 41 (1991), S. 379 – 430, hier S. 389 – 394, S. 396 – 403 u. ç., Medien: S. 389 f.; Manfred Schlenke, Das „preußische Beispiel“ in Propaganda und Politik des Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zur Wochenzeitung „Das Parlament“, Nr. B 27 (1968), (Bonn) 1968, S. 15 – 23, hier S. 20 f., Tag von Potsdam: S. 17 f.; F. L. Kroll, Utopie … (s. Anm. 239), S. 283 – 285, Austauschbarkeit historischer Bezîge: S. 243 f. 264 Vorzîglich: Konrad Barthel, Friedrich der Große in Hitlers Geschichtsbild (= Frankfurter Historische Vortrge, 5), Wiesbaden 1977, S. 6 – 8, andere historische Bezîge als Preußen: S. 15, S. 19, S. 26 f.

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preußische Themen.265 Die Edition zur auswrtigen Politik der Bismarckzeit wurde zwar îbernommen und weitergefîhrt vom „Reichsinstitut fîr Geschichte des neuen Deutschlands“, in dessen Arbeitsprogramm Projekte mit Preußenbezug ansonsten aber eine ausgesprochen marginale Rolle besaßen.266 Die Grînde dafîr lagen tiefer, sie lagen im Prinzipiellen. Wenn Geschichte nicht mehr vom Staat aus, sondern vom „Volk“ her betrachtet werden sollte,267 wenn zudem in der Forschungsliteratur nach 1933 ein z. T. ausgesprochen adelsfeindlicher Zug bemerkbar wurde, wenn den Dynastien im nationalsozialistischen Geschichtsbild im Prinzip ein negatives Testat zuteil wurde, dann ergaben sich themenimmanente Distanzen zu Preußen als einem Forschungsobjekt. Eine nationalsozialistische „Meistererzhlung“ der preußischen Historie hat es nicht gegeben, und Max Braubachs Synthese zum „Aufstieg BrandenburgPreußens 1640 bis 1815“ aus dem Jahre 1933 war dies nun gerade nicht. Sie 265 So jedenfalls J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 188; H. Heiber, Frank … (s. Anm. 244), S. 499. 266 Vgl. oben Anm. 244; und H. Heiber, Frank … (s. Anm. 244), S. 563 – 565, auch zu einem (nicht preußenthematischen) Projekt Erich Botzenharts, der 1931 bis 1937 die erste, noch siebenbndige Stein-Edition besorgte, vgl. Nachweis bei Wolfram Siemann (Bearb.), Restauration, Liberalismus und nationale Bewegung (1815 – 1870). Akten, Urkunden und persçnliche Quellen (= Quellenkunde zur deutschen Geschichte der Neuzeit von 1500 bis zur Gegenwart, 4), Darmstadt 1982, S. 108. 267 Mit weiterer Literatur: Wolfgang J. Mommsen, „Gestîrzte Denkmler“? Die „Flle“ Aubin, Conze, Erdmann und Schieder, in: Jîrgen Elvert / Susanne Krauss (Hg.), Historische Debatten und Kontroversen im 19. und 20. Jahrhundert. Jubilumstagung der Ranke-Gesellschaft in Essen, 2001 (= Historische Mitteilungen im Auftrage der Ranke-Gesellschaft, 46), (Wiesbaden/Stuttgart 2003), S. 96 – 109, hier S. 97 – 99; das Folgende: J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 186, vgl. noch S. 197; und – aus intimer Kenntnis der Materie – Gînther Franz, Das Geschichtsbild des Nationalsozialismus und die deutsche Geschichtswissenschaft, in: Oswald Hauser (Hg.), Geschichte und Geschichtsbewußtsein. 19 Vortrge der Ranke Gesellschaft, Gçttingen/ Zîrich (1981), S. 91 – 111, hier S. 97 f., S. 100; im Schnittbereich zur Volksgeschichte, Geistes- und politischer Geschichte: Theodor Schieder, Deutscher Geist und stndische Freiheit im Weichsellande. Politische Ideen und politisches Schrifttum in Westpreußen von der Lubliner Union bis zu den polnischen Teilungen. (1569 – 1772/93) (= Einzelschriften der Historischen Kommission fîr ost- und westpreußische Landesforschung, 8), Kçnigsberg i.P. 1940, zu Gottfried Lengnich S. 134 – 172; Schieders Werk hat sehr unterschiedliche Beurteilungen erfahren, als „bahnbrechend“ fîr „die Geschichtsschreibung der beiden Teile Preußens als ein Forschungsobjekt“ Jerzy Serczyk, Die bîrgerliche Geschichtsschreibung der großen Stdte des Kçniglichen Preußen als interne Kommunikation des stdtischen Machtapparats, in: Marian Biskup / Klaus Zernack (Hg.), Schichtung und Entwicklung der Gesellschaft in Polen und Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. Parallelen, Verknîpfungen, Vergleiche (= VjschrSozialWirtschG, Beihefte, 74), Wiesbaden 1983, S. 192 – 195, hier S. 192; zu Schieders politischer Position um 1940 abgewogen (und mit Verweis auf die Kontroversliteratur) W. J. Mommsen, „Gestîrzte Denkmler“ … (s. Anm. 267), S. 102 – 104.

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verfiel allerdings der Kritik der Acta-Borussica-Rezensenten in Person des jungen Carl Hinrichs.268 Spielten dabei Aversionen aus preußisch-protestantischem Standpunkt gegen eine (durchaus nicht preußenfeindliche) rheinisch-katholisch unterlegte Zusammenfassung des gewachsenen Forschungsstandes eine Rolle, so haben sich konservative Historiker nach 1933 durchaus nicht gescheut, gegen systemnahe Positionen Stellung zu nehmen. Fritz Hartung, der 1923 als eher konservativer Neuzeithistoriker an die Universitt Berlin berufen worden war und der mitten im Kriege, im Jahre 1942, sich von der Vereinnahmung Friedrich Wilhelms I. fîr den „nationalsozialistischen Staat“ distanzierte,269 hat gleich nach der Machtergreifung in einer aufsehenerregenden Kontroverse die Geschichts-Interpretation Carl Schmitts zurîckgewiesen. Dabei ging es um Genese und Charakter des preußisch-deutschen Konstitutionalismus im 19. Jahrhundert, ein Thema, das ja mit etwas vernderten Fronten seit den sechziger und siebziger Jahren wiederkehrte.270 268 Max Braubach, Der Aufstieg Brandenburg-Preußens 1640 bis 1815, Freiburg im Breisgau 1933; dazu die kritische Rezension von Carl Hinrichs, in: ForschBrandPrG 48 (1936), S. 420 – 426, S. 421: „Braubachs Preußenfremdheit ist wohl mehr rheinischliberal bedingt“; und die folgende Kontroverse in: ForschBrandPrG 49 (1937), S. 225 – 234, dort S. 229 zum gegen Hinrichs erhobenen Vorwurf, daß „es sich bei meiner Kritik … um die Kritik eines Borussomanen und antiquierten Kleindeutschen an einer modernen ,gesamtdeutschen‘ Auffassung handel(e)“; zum gegen den (rheinischen Katholiken) Braubach erhobenen Vorwurf rheinisch-liberaler Preußenfeindlichkeit vgl. Johannes Spçrl, Max Braubach, in: HistJb 95 (1975), S. 170 – 187, hier S. 175 f. – Nicht in diese Kategorie gehçrt Otto Weber-Krohse, Sieben Preußen als Bahnbrecher des deutschen Gedankens, Berlin 1942; zum Autor Hermann Kownatzki, Weber-Krohse, Otto, in: Altpreußische Biographie, 2, Lfg. 7, Marburg an der Lahn 1967, S. 778. 269 Fritz Hartung, Kçnig Friedrich Wilhelm I., der Begrînder des preußischen Staates (= Preußische Akademie der Wissenschaften. Vortrge und Schriften, 11), Berlin 1942, S. 4: „Auch unsere Zeit hat ein solches Gesamtbild noch nicht geschaffen, obwohl sie den alten Preußengeist Friedrich Wilhelms I., den Gedanken der Hingabe des einzelnen an die Gemeinschaft, wieder zu Ehren gebracht hat und in der autoritren Staatsfîhrung unmittelbar an die Tradition Friedrich Wilhelms anzuknîpfen scheint. Es gibt wohl einige Schriften, die das Werk des Kçnigs gerade unter diesem Gesichtspunkt seiner inneren Verwandtschaft mit dem nationalsozialistischen Staat darstellen. Aber indem sie fast im Stile einer lngst îberlebten hçfischen Historiographie nur die erfreulichen Seiten seines Wirkens behandeln und îber die unleugbaren Schattenseiten scheu hinweghuschen, bleiben sie uns die Hauptsache schuldig, das volle Bild der eigenartigen und knorrigen Persçnlichkeit dieses Kçnigs, der eben nicht bloß ein tîchtiger Drillmeister seiner Soldaten und ein sparsamer Haushalter in Hof und Staat gewesen ist, sondern ein Mensch voll îberschumender Kraft und stîrmischer Leidenschaftlichkeit und damit drîckend und schwer auf der eigenen Familie und dem ganzen Volke gelastet hat.“ 270 Alles weitere in der aus Aktenstudien hervorgegangenen Arbeit von Hans-Christof Kraus, Soldatenstaat oder Verfassungsstaat? Zur Kontroverse zwischen Carl Schmitt und Fritz Hartung îber den preußisch-deutschen Konstitutionalismus (1934/35), in: JbGMitteldtld 45 (1999), S. 275 – 310, bes. S. 285, mit der weiteren Literatur; Ausgangspunkt: Carl Schmitt, Staatsgefîge und Zusammenbruch des Zweiten Reiches.

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Die nationalsozialistische Wissenschaftspolitik blieb jedenfalls im ganzen am preußischen Forschungsgebiet eigentîmlich desinteressiert. Bismarck hatte, so ist festgestellt worden, als Mythos im Nationalsozialismus „ausgedient“,271 jîngere preußisch-deutsche Exempel schieden als Vorbild aus, aber auch die Friedrich-Literatur aus den Jahren des Dritten Reichs besttigt den Befund. Walter Elzes272 Buch „Friedrich der Große – Geistige Welt, Schicksal, Taten“, zuerst 1936 als kalendertagshistoriographischer Beitrag zum 150. Todestag des Kçnigs vorgelegt, mochte politisch genehm sein, stieß in der Fachwelt aber auf professionelle Abwehr. Denn der Berliner Militrhistoriker konnte mit der These, schon Friedrich habe im Siebenjhrigen Kriege eine „deutsche Einigungsschlacht“ – mit letztlicher Stoßrichtung gegen Frankreich – schlagen wollen, der quellenkritischen Prîfung nicht standhalten.273 Jochen Kleppers Bîcher îber Friedrich Wilhelm I., ohne wissenschaftliche Ambitionen, und doch auf einige Archivarbeit gestîtzt, haben bei ihrem Erscheinen durchaus freundliche Reaktionen in nationalsozialistischen Organen bis hin zum „Vçlkischen Beobachter“ ausgelçst, was zeigt, daß damit durchaus kein sicheres Indiz fîr die Zuordnung von literarischen Produkten in Diktaturen gegeben ist, wie das Ende Jochen Kleppers ja zur Genîge zeigt.274 Auch

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Der Sieg des Bîrgers îber den Soldaten (= Der deutsche Staat der Gegenwart, 6), Hamburg 1934, bes. S. 7 – 36; ferner Dirk Blasius, Carl Schmitt und der „Heereskonflikt“ im Dritten Reich 1934, in: HZ 281 (2005), S. 659 – 682, hier S. 671. So Edgar Wolfrum, Geschichte als Politikum – Geschichtspolitik. Internationale Forschungen zum 19. und 20. Jahrhundert, in: Neue Politische Literatur 41 (1996), S. 376 – 401, hier S. 380; vgl. auch K. Barthel, Friedrich … (s. Anm. 264), S. 32 – 35; zu A. O. Meyer, s. oben Anm. 257, und mit Literatur B(ernd) F(aulenbach), Meyer, Arnold Oskar (1877 – 1944), in: Rîdiger vom Bruch / Rainer A. Mîller (Hg.), Historikerlexikon. Von der Antike bis zur Gegenwart, Mînchen (2)2002, S. 221 f.: „In der NS-Zeit bemîhte sich M., Bismarcks Leistungen in die Traditionslinie des Dritten Reiches einzuordnen“. Dagegen ist als in dieser Hinsicht unverdchtige Quelle zu vergleichen Heinrich Scheel, Vor den Schranken des Reichskriegsgerichts. Mein Weg in den Widerstand, Berlin 1993, S. 184 f., S. 189 ff., S. 194 f., S. 217 u. ç. Mit der Angabe der NSDAP-Zugehçrigkeit Elzes: Ursula Wolf, Litteris et Patriae. Das Janusgesicht der Historie (= Frankfurter Historische Abhandlungen, 37), Stuttgart 1996, S. 370 f., (S. 368 f. zu Ulrich Crmers Neoborussismus, der freilich ebenso wie Rudolf Craemers Werk: Der Kampf um die Volksordnung. Von der preußischen Sozialpolitik zum deutschen Sozialismus, Hamburg [1933], allenfalls randstndig blieb). Erschienen: Berlin 1936, hier bes. S. 104 – 111; dazu kritisch Gustav Berthold Volz, in: ForschBrandPrG 49 (1937), S. 186 – 191, bes. S. 188 ff.; vgl. zur Sache auch Gerhard Ritter, Staatskunst und Kriegshandwerk. Das Problem des „Militarismus“ in Deutschland, 1, Mînchen 41970, S. 336 f.; dagegen Lob aus dem Umkreis Walter Franks: U. Wolf, Litteris … (s. Anm. 272), S. 371 Anm. 112; vgl. auch F. L. Kroll, Preußenbild … (s. Anm. 263), S. 318 f. (Elze, Werner Frauendienst, Carl Hinrichs 1940). Aus Quellen und Literatur: Jochen Klepper, ˜berwindung. Tagebîcher und Aufzeichnungen aus dem Kriege, Stuttgart 1958, S. 231 – 235: „Die Entstehung und die Grundlagen meiner drei Bîcher îber Friedrich Wilhelm I.“, bes. S. 232 f. (Kontakt zu

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der Friedrich-Essay, den Gerhard Ritter erstmals 1936 publizierte, hatte dieses Schicksal.275 Spter, nach 1945, ist Ritter von George Peabody Gooch deshalb kritisiert worden, weil er die Darstellung in der Tradition Rankes zu positiv habe ausfallen lassen. Eine etwa gar archivgestîtzte Forschungsleistung wie sein Werk îber den Freiherrn vom Stein ist der „Friedrich“ nicht gewesen.276 Fîr Ritter war diese Schrift sehr bewußt ein Stîck Distanzierung von prsentistischen Vereinnahmungen der preußischen Geschichte, und der Rezensent in der Historischen Zeitschrift bilanzierte denn auch im Jahre 1940, Ritters Friedrich halte sich „abseits von nationaler Verherrlichung oder gehssiger Entstellung“. Das Alte Preußen Friedrichs des Großen war fîr Ritter durchaus nicht durch schrankenlose Fîrstenherrschaft bestimmt, die Politik vielmehr durch Rationalitt gemßigt, auch durch Rechtsstaatlichkeit und Toleranz. Noch in der zweiten Auflage von 1942277 hat sich der Freiburger Gelehrte îber den „Militarismus“ geußert, îber den die kleindeutsche Geschichtsschreibung allzu rasch hinweggegangen wre; der Tag von Potsdam wird bei Ritter erwhnt und wenig spter die Distanz der Zeitalter hervorgehoben, die Parallelisierungen (im Sinne der Gegenwart) verbiete. Bekanntlich hat Ritter den Zusammenbruch des Reiches in der Haft, zeitweilig im Konzentrationslager Ravensbrîck, erlebt.278 Der eigentliche

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Carl Hinrichs – der nach dem Kriege von der Arbeit mit Klepper mîndlich berichtet hat); Hans-Christof Kraus, Innere Emigration und preußische Idee. Das Beispiel Jochen Klepper, in: Patrick Bahners / Gerd Roellecke (Hg.), Preußische Stile. Ein Staat als Kunststîck, Stuttgart 2001, S. 447 – 466, S. 554 f., S. 452 ff.: „Kçnigslegende als Kçnigsmystik“; und Gerd Heinrich, Jochen Klepper und die preußische Geschichte, in: ForschBrandPrG NF 4 (1994), S. 237 – 255, bes. S. 240, Aufnahme in der §ffentlichkeit: S. 245. C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 502, zur Entstehung des Buches: S. 269 f., zu Gooch: S. 271. So îbereinstimmend K. Schwabe, Einfîhrung … (s. Anm. 249), S. 39 f.; und C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 272: „Protest“ gegen den Tag von Potsdam; S. Skalweit, Problem … (s. Anm. 60), S. 169; und – durchaus kritisch – die Rezension von Gerhard Oestreich, in: HZ 161 (1940), 3, S. 597 – 600, Zitat: S. 598. Gerhard Ritter, Friedrich der Große. Ein historisches Profil, Leipzig 1942, hier S. 270, und dort ferner: „Staatsraison ist nicht einfach Kampf- und Kriegsrson“, vgl. auch S. 260 f.; vgl. F. L. Kroll, Preußenbild … (s. Anm. 263), S. 320 f.; bei Ritter, a. a. O. S. 10 f.: zum „Tag von Potsdam“, zur Verpflichtung der Tradition, und schließlich: „Und indem wir zugleich den unendlichen Abstand erkennen, der die Aufgaben unserer Zeit von denen der Vergangenheit trennt, werden wir geschîtzt davor, uns voreilig fîr unsere Leistungen und unsere Fehler auf die fernen Ahnen zu berufen“. Deshalb nicht îberzeugend: Volker R. Berghahn, Militarismus. Die Geschichte einer internationalen Debatte, Hamburg u. a. 1986, S. 68. K. Schwabe, Einfîhrung … (s. Anm. 249), S. 10 f.; vgl. C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 364 f.; wichtig: Annelise Thimme, Geprgt von der Geschichte. Eine Außenseiterin, in: Hartmut Lehmann / Otto Gerhard Oexle (Hg.), Erinnerungs-

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Friedrich-Biograph aus der Zeit des Dritten Reiches, Arnold Berney, der nach langjhrigen Vorarbeiten, nicht zuletzt in Archiven Berlins und in Paris, 1934 seine „Entwicklungsgeschichte“ Friedrichs d. Gr. vorlegte,279 in der er die Persçnlichkeitsgenese des Monarchen in den Mittelpunkt stellte, mußte Deutschland verlassen. Das Werk wurde von der NSDAP „indiziert“ (Matthiesen). Berney ist 1943 in Palstina gestorben.280

§ 6 Instrumentalisierung – Internationalisierung – Modernisierung. Historiographie zur preußischen Geschichte seit 1945 I. Untergang und „Abrechnung“ Der Untergang der preußischen Staatlichkeit mit dem letzten Akt im Februar 1947 und die historiographischen Katastrophen, sptestens seit 1933, hngen eng miteinander zusammen. Otto Hintze war im April 1940 im Kriegsberlin verstorben. Historiker, die sich mit preußischen Themen befaßt hatten oder kînftig beschftigen wîrden, waren in die Emigration gezwungen worden. Dies hat die Nachkriegshistoriographie auf diesem Themenfeld îber Jahrzehnte geformt und in ihrem kritischen Profil geschrft. Wenn die westdeutsche Preußenhistoriographie lange Zeit von den Ertrgen der durch Gustav Schmoller und Otto Hintze geprgten Epoche gelebt hat (D. Blasius),281 so hatte dies ganz wesentlich auch Grînde, die sich aus der kriegsbedingten Quellenlage ergaben. Die Archivîberlieferung dieses nun endgîltig, und zwar „in seiner gesamten sozialen, wirtschaftlichen und bevçlkerungsmßigen Struktur“282 untergegangenen Staates war zerrissen. Die militrischen 279

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stîcke. Wege in die Vergangenheit. Rudolf Vierhaus zum 75. Geburtstag gewidmet, Wien/Kçln/Weimar 1997, S. 153 – 223, hier S. 180 f. Arnold Berney, Friedrich der Große. Entwicklungsgeschichte eines Staatsmannes, Tîbingen 1934, zur Entstehungsgeschichte S. V, ferner S. III, S. 4 u. ç.; zum wissenschaftlichen Werdegang, der Habilitationsschrift îber Friedrich I. (bei Gerhard Ritter, Georg von Below u. a.) und dem Friedrich II.-Buch: Heinz Duchhardt, Arnold Berney (1897 – 1943). Das Schicksal eines jîdischen Historikers (= Mînstersche Historische Forschungen, 4), Kçln/Weimar/Wien 1998, bes. S. 43, S. 50 f., S. 59, S. 65, S. 71 – 80; Michael Matthiesen, Verlorene Identitt. Der Historiker Arnold Berney und seine Freiburger Kollegen 1923 – 1938, Gçttingen 1998, S. 38 – 42, S. 47, S. 62, Verdrngung Berneys im Dritten Reich: S. 44. M. Matthiesen, Identitt … (s. Anm. 279), S. 77; Emigration: H. Duchhardt, Berney … (s. Anm. 279), S. 92 – 103; geringe Rezeption Berneys: S. Skalweit, Problem … (s. Anm. 60), S. 168 f. So Dirk Blasius, Einleitung. Preußen in der deutschen Geschichte, in: Ders. (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 111), Kçnigstein im Taunus 1980, S. 9 – 46, hier S. 16. S. Skalweit, Preußen … (s. Anm. 207), hier S. 190.

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Quellen waren, soweit sie zuletzt im Heeresarchiv in Potsdam lagerten, zum allergrçßten Teil im Bombenkrieg vernichtet worden. Die wichtigsten Bestnde der landesherrlichen Kollegien, von Regierung und Verwaltung waren gerettet, aber auslagerungsbedingt nicht oder – in der DDR – nur sehr beschrnkt zugnglich. Die in Berlin-Dahlem liegenden oder nach 1945 dorthin verbrachten Provenienzen erlaubten durchaus Aktenarbeit, freilich nur zu bestimmten Themenfeldern. Die Trennung der ˜berlieferung in den Bestnden zweier deutscher Staaten und nicht zuletzt Polens283 hat die Forschung bis zu Beginn der neunziger Jahre zumindest stark erschwert, teilweise auch verhindert. Darin lag eine historiographische Zsur mit begrîndet. Zunchst war Preußen freilich gar nicht Objekt intensivierter wissenschaftlicher Reflexion, sondern – recht vordergrîndig – Instrument einer „antifaschistische[n] Umerziehung“ (Mittenzwei / Noack). Dabei wurden Stereotypen aus der Zeit vor 1945 in einer „Abrechnungs“-Literatur gleichsam wiederverwendet, die zunchst in Ost und West in aufflliger Parallelisierung der Argumentationsfîhrung Preußen beziehungsweise das „Preußentum“ zum Thema machte,284 etwa in der SBZ das zuerst 1945 in Mexiko erschienene Buch 283 Zu den archiv- und bestandsgeschichtlichen Einzelheiten vgl. Walter Nissen, Das Schicksal der ausgelagerten Bestnde des Preußischen Geheimen Staatsarchivs und des Brandenburgisch-Preußischen Hausarchivs und ihr heutiger Zustand, in: ArchivalZ 45 (1954), S. 139 – 150, hier S. 140 – 142, Heeresarchiv: S. 144, Merseburg: S. 145; B. Poll, Schicksal … (s. Anm. 238), Sp. 73 f.; vgl. damit Uwe Lçbel, Neue Forschungsmçglichkeiten zur preußisch-deutschen Heeresgeschichte. Zur Rîckgabe von Akten des Potsdamer Heeresarchivs durch die Sowjetunion, in: MGM 51 (1992), S. 143 – 149, hier S. 143 f., vgl. S. 146 (wohl nicht alles zurîckgekehrt); zur Rettung ostpreußischer Archivalien: H. Boockmann, Ostpreußen und Westpreußen … (s. Anm. 8), S. 64, S. 67; wichtig: Krystyna Cybulska / Maria Tarnowska, Zasûb wojewûdzkiego archiwum pan´stwowego w Olsztynie. Informator, Olsztyn 1982, S. 19 – 88 (teilweise Verzeichnung der damals im Wojewodschaftsarchiv Olsztyn/Altenstein liegenden Bestnde); CzesŁaw Biernat (Bearb.), Staatsarchiv Danzig – Wegweiser durch die Bestnde bis zum Jahr 1945, (deutsche Ausgabe:) Mînchen 2000, bes. S. 47 – 50; RadosŁaw Gazinski u. a. (Bearb.), Staatsarchiv Stettin – Wegweiser durch die Bestnde bis zum Jahr 1945, Mînchen 2004, zur Bestandsgeschichte S. 29 ff.; Ros´cisŁaw Z˙erelik / Andrze Deren´ (Bearb.), Staatsarchiv Breslau – Wegweiser durch die Bestnde bis zum Jahr 1945, Mînchen 1996, Verluste 1945: S. 32; zu den Berliner Bestnden: Joachim Lehmann, Von Staßfurt und Schçnebeck nach Merseburg. Nachkriegsschicksale eines deutschen Archivs, in: Jîrgen Kloosterhuis (Hg.), Aus der Arbeit des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (= Verçffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Arbeitsberichte, 1), Berlin 1996, S. 131 – 154, Verluste: S. 131 f. (bes. Hausarchiv), zeitweise Verbringung in die Sowjetunion: S. 135 ff., S. 152, Merseburg: S. 146 – 152; E. Henning, 50 Jahre … (s. Anm. 128), S. 166, S. 169 f. 284 So ausdrîcklich die instruktive Einleitung von Ingrid Mittenzwei / Karl-Heinz Noack, Einleitung. Das absolutistische Preußen in der DDR-Geschichtswissenschaft, in: Dies. (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte vor 1789 (= Studienbibliothek

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îber den „Irrweg einer Nation“ von Alexander Abusch,285 der das „Preußentum“ unter den Leitstzen „Gen Ostland wollen wir reiten“, „Der Staat der Junker“ und – drittens – „Preußen gegen Deutschland“ abhandelte. Wilhelm Rçpke286, nach 1933 in der Emigration und nach 1945 im Umfeld Ludwig Erhards wirkend, berief sich in der westdeutschen Entsprechung dieser Argumentation, wenn er vom „preußische[n] Geschichtsstrom“ sprach, als Gewhrsmnner gleichzeitig auf Onno Klopp und auf Franz Mehring.287 Der Rîckgriff auf die antiborussische (und eher forschungsschwache) Teleologie des 19. Jahrhunderts unter Ignorierung der Forschungssubstanz vergangener Epochen bestimmte das Bild, zunchst noch nicht Debatten. Siegfried August Kaehler hat dann recht bald von konservativerer Basis aus darauf aufmerksam gemacht, daß die nationalsozialistische Konstruktion einer Traditionslinie vom friderizianischen Preußen îber Bismarck zu Hitler nach 1945 nur mit negativer Umkehrung dupliziert werde.288 Friedrich Meineckes Schrift îber „Die deutsche Katastrophe“ reagierte schon 1946 auf diese erste Welle der „Abrechnungsliteratur“, und zwar in durchaus kritischer, aber weiterfîhrender und tieferer Weise. Meinecke faßte seine Reflexionen in eine dichotomische Interpretation der preußischen Entwicklung seit dem frîhen 18. Jahrhundert. „Im preußischen Staate lebten seit Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen zwei Seelen, eine kulturfhige und eine kulturwidrige.“289 Seit der Zeit des zweiten preußischen Kçnigs hatte ein „Militarismus“ das „ganze bîrgerliche Leben“ geprgt, und dies mit sehr langfristigen Wirkungen, habe doch nach den Reformen im frîhen 19. Jahrhundert die „kulturwidrige îber die kulturfhige Seele des preußischen Staates“

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DDR-Geschichtswissenschaft. Forschungswege – Bilanz – Aufgaben, 2), Berlin (1983), S. 11 – 51, hier S. 12 – 16, mit weiterem zeitgençssischen Schrifttum, S. 16 „Miseretheorie“ nach Engels; ebd. zu Niekisch, S. 19: „Geschichtspublizistik“; Peter Meyers, Friedrich II. von Preußen – „Militrischer Despot“ oder „der Große“? Zum Wandel des Friedrich-Bildes in der Historiographie der DDR, in: Alexander Fischer / Gînther Heydemann (Hg.), Geschichtswissenschaft in der DDR, 2 (= GDF, 25/II), Berlin 1990, S. 331 – 366, hier S. 333 (Marx, Engels, Mehring, Abusch, Niekisch). Alexander Abusch, Der Irrweg einer Nation. Ein Beitrag zum Verstndnis deutscher Geschichte, (1.–20. Tausend) Berlin 1946, S. 30 – 62; vgl. z. B. P. Meyers, Friedrich II. … (s. Anm. 284), S. 334. Wilhelm Rçpke, Die deutsche Frage, Erlenbach/Zîrich (1945), S. 170 f.; zu ihm mit Literatur Karl Husser, Rçpke, Wilhelm, in: DBE, 8, Mînchen 1998 (2001), S. 356. Vgl. oben bei Anm. 109 – 113, Anm. 217. Siegfried A(ugust) Kaehler, Neuere Geschichtslegenden und ihre Widerlegung, zuerst 1948, wieder in: Ders., Studien zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Aufstze und Vortrge, hg. v. Walter Bussmann, Gçttingen (1961), S. 306 – 335, hier S. 328; und Alexander Fischer, Der Weg zur Gleichschaltung der sowjetzonalen Geschichtswissenschaft 1945 – 1949, in: VjhefteZG 10 (1962), S. 149 – 177, hier S. 168 f. Friedrich Meinecke, Die deutsche Katastrophe. Betrachtungen und Erinnerungen, (benutzt in der) 2. Aufl., Wiesbaden 1946, Zitat S. 23 f., mit Hinweis auf das Jahr 1819.

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gesiegt mit, so Meinecke, Kontinuitten bis zum Dritten Reich. Die breite Diskussion von „Militarismus und Hitlerismus“ in der linearen Entwicklung von Friedrich Wilhelm I. îber Roon und Reichswehr bis in das Dritte Reich,290 ließ schon die spter zentrale Frage nach dem preußisch-deutschen Sonderweg in der neueren Geschichte anklingen. Gleichwohl: Der mehr politisch-instrumentale Charakter der Abrechnungsliteratur, (nicht nur) in der kommunistischen Variante mit einer spezifisch antibîrgerlichen Stoßrichtung versehen, hat wenige Jahre spter eine Gegenposition provoziert. Gerhard Ritter hat die Traditionsstrnge zur Vorkriegshistoriographie sehr bewußt gewahrt und restauriert. Auch er diskutierte die Frage nach den Kontinuitten vom Preußen des 18. Jahrhunderts bis zum Nationalsozialismus, kam aber zu einem vçllig anderem, nmlich negativen Resultat.291 Ritter akzentuierte die qualitativen Unterschiede zwischen Preußen und dem Nationalsozialismus, auch zwischen frîher Neuzeit und Moderne. In den Jahren um 1950 hat in Westdeutschland die Geschichtswissenschaft Ritter mehrheitlich beigepflichtet; zu den prominenten Opponenten Ritters gehçrte (mit außenpolitischer Argumentation) Ludwig Dehio (1888 – 1963). Es war eine wertungszentrierte Historiographie,292 die in den fînfziger Jahren aus den politischen Impulsen der unmittelbaren Nachkriegszeit Energien bezog. Walther Hubatsch (1915 – 1984) hat noch in der Mitte der fînfziger Jahre ganz direkt auf diese Debatte rekurriert, in scharfen Wendungen gegen Dehio.293 Hans Joachim Schoeps (1909 – 1980) programmatischer Vortrag îber „Die Ehre Preußens“ versuchte ein axiomatisch gesetztes „wirkliches Preußen“ der Anklageliteratur entgegenzustellen.294 Wie bei dieser war es mehr der ge290 F. Meinecke, Katastrophe … (s. Anm. 289), bes. S. 64 – 78 („Militarismus und Hitlerismus“), ferner S. 154 – 157; zu dieser Schrift H. C. Kraus, Meinecke … (s. Anm. 129), S. 297 f.; W. Schulze, Geschichtswissenschaft … (s. Anm. 235), S. 50 ff.; Werner Conze, Die deutsche Geschichtswissenschaft seit 1945. Bedingungen und Ergebnisse, zuerst 1977, wieder in: Ders., Gesellschaft – Staat – Nation … (s. Anm. 237), S. 21 – 43, hier S. 23; zur Kritik aus der SBZ an Meineckes Buch s. H. Fischer, Weg … (s. Anm. 288), S. 166 f. 291 Gerhard Ritter, Europa und die deutsche Frage. Betrachtungen îber die geschichtliche Eigenart des deutschen Staatsdenkens, Mînchen (1948), S. 24, S. 29, vgl. auch S. 32; vgl. auch S. Skalweit, Preußen … (s. Anm. 207), S. 190 – 192 (Vergleich Meinecke – Ritter); zur Anklageliteratur vgl. ferner J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 231 f., Ritter: S. 233 ff., auch zum Widerspruch Ludwig Dehios, S. 255 ff. (Publizistik). 292 Gut gesehen von D. Blasius, Einleitung … (s. Anm. 281), S. 15. 293 Walther Hubatsch, Das Problem der Staatsrson bei Friedrich dem Großen, Gçttingen/Berlin/Frankfurt (1956), S. 27, S. 31, S. 41 Anm. 39; J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 239 – 245; allerdings hat sich Richard Dietrich von dieser Richtung stets abgesetzt und absetzen wollen; Mirow auch zum Folgenden. 294 Hans Joachim Schoeps, Die Ehre Peußens, Stuttgart 1951, wieder in: Ders., ˜b’ immer Treu und Redlichkeit. Preußen in Geschichte und Gegenwart, Dîsseldorf 1978,

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sinnungshistoriographische Impetus als – zu dieser Zeit ohnehin nur sehr punktuell mçgliche – eigene Forschungsbefunde, die die Argumentationen trugen. Schoeps‘ Forschungen zur Zeit Friedrich Wilhelms IV. und zum Kreis um die Brîder Gerlach gaben einen wichtigen Einzelimpuls, nun hinein in die Forschung. Vielleicht haben die primr gesinnungshistoriographischen, die „Ehre“ Preußens und des „Preußentums“ in den Mittelpunkt rîckenden (Kampf)Schriften aller Seiten ungewollt die weitere Entwicklung des Themenfeldes als wissenschaftliches Arbeitsgebiet mehr behindert und belastet. Die Geschichte Preußens entnahm aus dem Ende Preußens zunchst eher fragwîrdige Impulse. II. Bundesrepublik und historiographische Westintegration Auf den ersten Blick mag es so scheinen, als htten nach 1945 im westlichen Deutschland die historiographischen Kontinuitten îberwogen. Freilich waren die Indizien fîr Diskontinuitten und Brîche in der Tradition der preußenthematischen Historiographie nach 1918 und bis 1945 doch recht erheblich. In der Zeit des Nationalsozialismus waren historiographische Traditionen der preußischen Geschichte gestçrt, ja zerstçrt worden.295 Carl Hinrichs296 konnte nach 1945 seine Karriere fortsetzten. Er tat dies freilich ganz wesentlich auf den Feldern der Reformationsgeschichte und der Historiographie des 19. Jahrhunderts. Gewiß: Die Debatte um die Revision des deutschen Geschichtsbildes im allgemeinen, wie sie nach 1945/49 gefîhrt worden ist, betraf auch Themen der preußischen Geschichte. Aber „die historische Forschung widmete sich dem Thema ,Preußen‘ whrend der 1950er Jahre nur vereinzelt“.297 Die Publikation S. 43 – 83, hier S. 47, zur Zeit Friedrich Wilhelms IV., die ihm vertraut war, S. 60 – 66 mit guten Beobachtungen; zur ersten Auflage die Rezension von Fritz Hartung, in: HZ 174 (1952), S. 597 – 599 (ablehnend), S. 598: mangelnde Quellenbasis und îbersehene „Modernisierung“ (!) im 19. Jahrhundert; Forschungsschwerpunkt des Verfassers: Hans Joachim Schoeps, Das andere Preußen, Stuttgart 11952, bes. Teil 1: „Die konservative Rechtsstaatsidee in Preußen“, S. 9 – 142; zum Verstndnis von Schoeps nîtzlich Frank-Lothar Kroll, Hans-Joachim Schoeps (1909 – 1980), in: Frnkische Lebensbilder 16 (1996), S. 287 – 306, hier S. 298 f., jîdisches Schicksal: S. 280, S. 293 ff.; Ders., Geistesgeschichte in interdisziplinrer Sicht. Der Historiker HansJoachim Schoeps, in: Helmut Neuhaus (Hg.), Geschichtswissenschaft in Erlangen (= Erlanger Studien zur Geschichte, 6), Erlangen/Jena 2000, S. 315 – 340, hier S. 331 f. 295 Vgl. die Studien in Anm. 224. 296 Vgl. oben Anm. 262; postum und in Zusammenfassung zuvor verstreuter Texte: Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiçs-soziale Reformbewegung, Gçttingen 1971, hier S. XI f. 297 So Frank-Lothar Kroll, Sehnsîchte nach Preußen? Preußenbild und Preußendiskurs nach 1945, in: Ders., Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates, Pader-

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von Manuskripten, die auf lteren, vor 1945 noch mçglichen (Archiv-)Forschungen aufbauten, konnte dies noch eine zeitlang notdîrftig verdecken. Ja, in den historiographischen Kmpfen um und nach 1945, die mit dem Kampftopos der Restauration nur unzureichend erfaßt und beschrieben werden kçnnen, war die Entpreußung der Historie ein dezidiertes wissenschaftspolitisches Programm.298 Thematisch und personell knîpfte die Diskussion um die Deutung Bismarcks an die Debatten unmittelbar vor der nationalsozialistischen Machtergreifung an.299 Die kritisch-liberale Bismarck-Interpretation Erich Eycks stieß auf die konservativere Abwehr sowohl von Hans Rothfels – noch aus der Emigration – und von Franz Schnabel,300 die ihrerseits alsbald Antipoden in einer Auseinandersetzung um das „Bismarckbild“ im Nachkriegsdeutschland geworden sind. Dies wurde zu einer Debatte nicht zuletzt um die Alternativen oder Notwendigkeiten auf dem Wege zum Zweiten Reich. Schon die kritischen Fragen Schnabels wirkten um 1950 als Provokation, ohne daß der Heftigkeit der Diskussion eine Intensivierung der Quellenforschungen gefolgt wre. Rothfels betonte auch nach 1945 die Distanz Bismarcks zu den zerstçrenden Potentialen des Nationalismus, Ritter die friedenspolitische Dimension seiner Diplomatie.301 In methodischer Hinsicht blieb die Debatte freilich in jeder

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born u. a. 2001, S. 241 – 251, hier S. 244, mit Hinweis auf W. Hubatsch als Sonderfall; vgl. auch S. 243. W. Schulze, Geschichtswissenschaft nach 1945 … (s. Anm. 235), S. 211 f., S. 217 – 219, S. 222, mit interessanten, noch nicht ganz ausgeleuchteten geschichtspolitischen Details; Ders., „Das Mainzer Paradoxon“. Die deutsche Geschichtswissenschaft der Nachkriegszeit und die Grîndung des Instituts fîr europische Geschichte, in: Ders. / Corine Defrance, Die Grîndung des Instituts fîr Europische Geschichte Mainz (= VerçffInstEurG, Abt. abendlndische Religionsgeschichte, Abt. Universalgeschichte, 36), Mainz 1992, S. 7 – 53, hier S. 19 – 24 (Mainz als Organisation gegen G. Ritter und die Majoritt im Historikerverband), und sehr deutlich S. 30. Vgl. zur neuen Interpretation von Rothfels oben Anm. 256. Lothar Gall, Einleitung, in: Ders. (Hg.), Das Bismarck-Problem in der Geschichtsschreibung nach 1945 (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 42), Kçln/Berlin (1971), S. 9 – 24, hier S. 14 – 16, zu Schnabels Position ferner S. 16 – 18; Hans Hallmann, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Revision des Bismarckbildes. Die Diskussion der deutschen Fachhistoriker 1945 – 1955 (= Wege der Forschung, 285), Darmstadt 1972, S. VII-XVIII, hier S. XV f.; zu Eycks „sptliberaler Generalabrechnung“ s. M. Stîrmer, Bismarck-Mythos … (s. Anm. 231), S. 5 f.; und Walter Bussmann, Wandel und Kontinuitt der Bismarck-Wertung, zuerst 1955, wieder in: Ders., Wandel und Kontinuitt in Politik und Geschichte. Angewhlte Aufstze zum 60. Geburtstag, hg. v. Werner Pçls, Boppard am Rhein (1973), S. 305 – 315, hier S. 313. Nîtzliche Auswahl der Texte in den Anm. 300 genannten Anthologien; aus der Lit.: W. Schulze, Geschichtswissenschaft nach 1945 … (s. Anm. 235), S. 223 – 226; zur Auseinandersetzung zwischen F. Schnabel und G. Ritter; H. U. Wehler, Lage … (s. Anm. 234), S. 19; C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 507 – 509, S. 513, Kritik Ritters an Eyck: S. 514 – 518.

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Hinsicht traditionell. Denn auch die Bismarck-Kritik griff auf ltere Argumente zurîck, die schon zeitgençssischen Auseinandersetzungen entstammten. Darauf hat Walter Bußmann (1914 – 1993) mit Nachdruck hingewiesen,302 dessen Epochenkonzeption schon inhaltlich offener die liberalen und nationalen Krfte, auch diejenigen Sîddeutschlands in realistischer Weise einschloß.303 Der kritisch-sozialwissenschaftliche Kontrapunkt wurde erst zwei Jahrzehnte spter gesetzt. Um 1950 waren es zunchst große Personen, vor allen Dingen Fîhrergestalten der preußisch-deutschen Geschichte, die (nach wie vor) faszinierten, vor allen Dingen die Person Scharnhorsts und der fast gleichzeitig von Eberhard Kessel (geb. 1907) und Rudolf Stadelmann (1902 – 1949) monographisch behandelte Moltke.304 Vorsichtig wurden aus der Kontinuittsdiskussion, die sich an Personenreihen zwischen Luther und Hitler anknîpfen ließ, Fragen nach den mçglichen Spezifika der preußischen (beziehungsweise preußisch-deutschen) Historie abgeleitet. Insoweit gehen in der Tat „Sonderwegsdeutungen“ bis in die 1940er Jahre zurîck.305 Die Frage nach der Rolle des „Militarismus“, seinen historischen Wurzeln und spten Folgen, wurde in den fînfziger Jahren zum Anlaß einer vertieften Diskussion îber die Spezifika der preußischen Entwicklungen. Gerhard Ritter hatte im Kriege begonnen, dieses Thema zu bearbeiten. Als noch die wichtigsten Archive in Berlin und Potsdam erhalten und zugnglich waren, hatte der Freiburger Ordinarius wichtiges, heute z. T. verlorenes Material erhoben. Fîr Ritter handelte es sich bei der Frage des „Militarismus“ um diejenige auch dem „rechten Verhltnis von Staatskunst und Kriegstechnik. Militarismus ist die ˜bersteigerung und ˜berschtzung des Soldatentums, durch die 302 W. Bussmann, Wandel … (s. Anm. 300), S. 305. 303 Walter Bussmann, Das Zeitalter Bismarcks, 3. Aufl. Konstanz o. J., etwa S. 52 ff.; L. Gall, Einleitung … (s. Anm. 300), S. 22; und Gînther Grînthal, Walter Bußmann 14.1.1914 – 20.4.1993, in: HZ 258 (1994), S. 867 – 876, S. 872: „… jenseits von Apologie und Anklage“; Horst Mçller, Walter Bußmann zum Gedenken, in: VjhefteZG 41 (1993), S. 495 – 502, hier S. 499. 304 So S. Skalweit, Preußen … (s. Anm. 207), S. 201 ff.; mit den Nachweisen: Eberhard Kessel, Moltke, Stuttgart 1957, Quellen: S. 765 f. 305 Vgl. Thomas Welskopp, Identitt ex negativo. Der „deutsche Sonderweg“ als Metaerzhlung in der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft der siebziger und achtziger Jahre, in: Konrad H. Jarausch / Martin Sabrow (Hg.), Die historische Meistererzhlung. Deutungen der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Gçttingen (2002), S. 109 – 139, S. 112; vgl. mit Hinweis auf Rudolf Stadelmann E. Fehrenbach, Die Reichsgrîndung … (s. Anm. 95), S. 286; zum Folgenden z. B. Hans Herzfeld, Zur neueren Literatur îber das Heeresproblem in der deutschen Geschichte, in: VjhefteZG 4 (1956), S. 361 – 386, hier S. 261 f. (mit Verweis auf Wheeler-Bennett und Gordon Craig); vgl. John W. Wheeler-Bennett, Die Nemesis der Macht. Die deutsche Armee in der Politik 1918 – 1945, Dîsseldorf 1954, S. 13, S. 26 ff. u. ç.

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jenes Verhltnis ungesund wird“. Das Problem war letztlich fîr ihn „ein politisch-historisches, kein soziologisches“. Aufgrund dieser Setzung war fîr Ritter der Militarismus zuallererst ein sptes Phnomen, eines aus der Epoche von Bismarcks Epigonen.306 Von zwei Seiten aus wurde Ritters, bis 1968 auf vier Bnde angewachsenes Werk, in grundstzlicher Weise angefochten. Wenn Ritter schon aus dem Fehlen einer „kmpferischen Gesinnung“ schloß, daß es unter Friedrich Wilhelm I. keinen Militarismus in Preußen gegeben habe, so zeige – nach Ludwig Dehio – dies sehr deutlich eine „Verengung des Begriffs Militarismus“, und dies gelte erst recht fîr die Zeit nach 1740.307 Dehios Kritik blieb aber im Kern politikgeschichtlich basiert, ohne schon die Frage der sozialen Dimension des „Militarismus“ zu stellen. Fîr Dehio gab es eine, aus dem 18. in das 20. Jahrhundert fîhrende Kontinuitt einer „militrischen Staatsraison“ fortgesetzter politischer Offensive und Aggression. Damit war in neuem Gewande die Frage nach den Kontinuitten in und aus der preußischen Geschichte bis hin zum Nationalsozialismus gestellt. Alsbald wurde freilich offenbar, daß die (primr) politikgeschichtliche Dimension in Ritters erstem Bande eine Reduktion des Problems bedeutete. Hans Herzfeld (1892 – 1982) hat diesen Einwand in der Mitte der 1950er Jahre in die Diskussion eingebracht.308 Ritter wîrde, so sein Argument, durch „seine Fragestellung nicht mit gleicher Schrfe und Aufmerksamkeit dem Problem der sozialen Prvalenz militrischer Haltung und militrischen Einflusses in der inneren Geschichte Preußens“ nachgehen. Dabei verwies Herzfeld auf die damals noch ungedruckte Dissertation Otto Bîschs, die – aus Grînden, die im Per306 Zur Entstehung des Werkes: Gerhard Ritter, Staatskunst … (s. Anm. 273), S. 9 f., Abschluß des ersten Bandes bis 1944: S. 11, folgendes: S. 13, S. 23, S. 312, vgl. (letztes Zitat) S. 399; C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 568, S. 571, S. 579, zum Titel S. 581, Kontakte zu Beck und Goerdeler zum Thema: S. 575; vgl. zur Definition schon G. Ritter, Europa … (s. Anm. 291), S. 25, S. 28, S. 575; K. Schwabe / R. Reichardt (Hg.), Ritter Briefe … (s. Anm. 249), S. 361 f. Anm. 1; V. Berghahn, Militarismus … (s. Anm. 277), S. 74; kritisch auch K. Schwabe, Einfîhrung … (s. Anm. 249), S. 128 f.; vgl. schon die aus einem Vortrag auf dem Historikertag 1953 hervorgegangene Schrift: Gerhard Ritter, Das Problem des Militarismus in Deutschland (= Schriftenreihe der Bundeszentrale fîr Heimatdienst, 3), Bonn 31955, S. 3 ff., zur politikgeschichtlichen Fîllung des Begriffs. 307 Ludwig Dehio, Um den deutschen Militarismus. Bemerkungen zu G. Ritters Buch „Staatskunst und Staatsraison [!]. Das Problem des ,Militarismus‘ in Deutschland“, zuerst 1955, wieder in: Volker R. Berghahn (Hg.), Militarismus (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 83), Kçln 1975, S. 218 – 235, Kritik an Ritters MilitarismusDefinition: S. 220, Zitat: S. 224; weiter S. 228 – 232; zu Dehio jetzt Thomas Beckers, Abkehr von Preußen. Ludwig Dehio und die deutsche Geschichtswissenschaft nach 1945, (Aichach 2001), S. 57 f., mit weiteren Differenzierungen; K. Schwabe, Einleitung … (s. Anm. 249), S. 132; C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 390 – 392, S. 584 – 586. 308 H. Herzfeld, Zur neueren Literatur … (s. Anm. 305), S. 366 f., Zitat: S. 567.

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sçnlichen lagen – erst Jahre spter verçffentlicht worden ist.309 Herzfeld ging schon recht weit, wenn er Ritters Militarismusbegriff als „fragwîrdig“ bezeichnete.310 Dabei war die Problemstellung, welche sozialen Wirkungen der „Militarismus“ in Preußen gehabt hatte, alles andere als neu. Schon Otto Hintze hatte diese Frage ja gestellt.311 Im zweiten Band von „Staatskunst und Kriegshandwerk“ hat Gerhard Ritter dann auf methodisch sehr viel breiterer Basis die soziale Militarisierung in Preußen und Europa in seine Analyse einbezogen,312 was bisweilen îbersehen worden ist und die marxistische Kritik aus der DDR 309 Otto Bîsch, Militrsystem und Sozialleben im Alten Preußen 1713 – 1807. Die Anfnge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft. Mit einer Einfîhrung von Hans Herzfeld (= VerçffHistKommBerlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universitt Berlin, 7), Berlin 1962, Verweis auf Rosenberg: S. XII; Bîschs Thesen sind von der Forschung nach 1989 kritisch îberprîft und in zentralen Punkten der Argumentation falsifiziert worden: gegen einen direkten Zusammenhang von gutsherrschaftlicher Agrarverfassung und altpreußischem Militrsystem der Beitrag von Hartmut Harnisch, Preußisches Kantonsystem und lndliche Gesellschaft. Das Beispiel der mittleren Kammerdepartements, in: Bernhard R. Kroener / Ralf Prçve (Hg.), Krieg und Frieden. Militr und Gesellschaft in der Frîhen Neuzeit, Paderborn u. a. 1996, S. 137 – 165, S. 164 f., und zu Bîsch S. 140, S. 146 – 148; Jîrgen Kloosterhuis, Bauern, Bîrger und Soldaten: Grundzîge der Sozialisation des Militrsystems im preußischen Westfalen, 1713 – 1803, in: Ders., Bauern, Bîrger und Soldaten. Quellen zur Sozialisation des Militrsystems im preußischen Westfalen 1713 – 1803 (= Verçffentlichungen der Staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe C, 29), Mînster 1992, S. VII-XXXII, hier S. XI f.; Frank Gçse, Zwischen Garnison und Rittergut. Aspekte der Verknîpfung von Adelsforschung und Militrgeschichte am Beispiel Brandenburg-Preußens, in: Ralf Prçve (Hg.), Klio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer modernen Militrgeschichte der Frîhen Neuzeit, Kçln/Weimar/Wien 1997, S. 109 – 142, hier S. 121 – 127; zu Bîsch die Rezension von Horst Stuke, in: HZ 198 (1964), S. 389 – 393, mit dem wichtigen Einwand, daß zum einen bei Bîsch jeder Vergleich fehle, zum Anderen die (wirkungsgeschichtlich angelegte) These, daß hier die „Anfnge“ der sozialen Militarisierung betrachtet wîrden, gnzlich unbewiesen bliebe; S. 390: keine neue Fakten gegenîber der lteren Literatur; Erbe Max Lehmanns bei Bîsch: Wolfram Fischer, Neue Verçffentlichungen zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Neuzeit, in: BllDtLdG 99 (1963), S. 297 – 315, hier S. 301 f. (bemerkenswert!); Francis L. Carsten, in: The English Historical Review 79 (1964), S. 611: „There is nothing fundamentally new or suprising“ bei Bîsch; dann die strategische Neubewertung Bîschs z. B. bei H. U. Wehler, Lage … (s. Anm. 234), S. 19. 310 H. Herzfeld, Neuere Literatur … (s. Anm. 305), S. 368. 311 Z. B. in seiner Rezension des Werkes von Conrad Bornhak, so Otto Hintze, in: ForschBrandPrG 18 (1905), S. 289; aus der Literatur: J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 238. 312 G. Ritter, Staatskunst … (s. Anm. 273), 2, Mînchen 31973, (zuerst 1960), S. 117 – 131: „Die Militarisierung des deutschen Bîrgertums“, Kritik am „verschwommenen und viel mißbrauchten Begriff“ des Militarismus: S. 118, aber S. 119: „Militarisierung“ in Preußen des 18. Jahrhunderts; vgl. C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 594, S. 596.

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nicht abmilderte.313 Aber im ganzen wird auch die Weiterentwicklung von Ritters Begriff des Militarismus als Indiz dafîr gewertet werden kçnnen, daß seit den fînfziger Jahren des 20. Jahrhunderts die Bereitschaft zum historiographischen Realismus gegenîber einer gesinnungshistoriographischen Literatur tendenziell zunahm. Die – langsam wachsende – Bereitschaft zur Rezeption internationaler Beitrge hing damit zusammen. Carl Hinrichs hat gleich bei Erscheinen Gordon Craigs Werk îber „The Politics of the Prussian Army“314 auf die Differenz zu Ritter aufmerksam gemacht. Craig betonte die Modernisierungsdefizite im Politischen, die Rolle der preußischen Armee als Hemmschuh bei der „Demokratisierung“, und er sah darin Kontinuittslinien in Richtung auf das Dritte Reich, auch in einem sozialgeschichtlichen Sinne. Nicht erst nach 1945 wurden auslndische Beitrge zur preußischen Geschichte sehr wohl beachtet. Die Produktion zunchst der europischen Nachbarn, um 1900 vor allem die franzçsischen Forschungen zur lteren preußischen Geschichte aus der Feder von Ernest Lavisse und Albert Waddington, wurde von fachhistorischer Sicht, etwa von Reinhold Koser und Otto Hintze sehr wohl wahrgenommen und – ungeachtet sehr differenter politischer Standpunkte – respektvoll rezipiert.315 Nach 1945 wurde der Dialog durch die kriegspropagandistische Ausnutzung der preußischen Geschichte auf beiden Seiten zunchst gewiß nicht erleichtert,316 aber die englischsprachige Fachdis313 Z. B. Hannelore Lehmann, Zum Wandel des Absolutismusbegriffs in der Historiographie der BRD, in: ZGWiss 22 (1974), S. 5 – 27, hier S. 12; vgl. zur lteren Kritik Ernst Engelsbergs C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 585 f.; V. Berghahn, Militarismus … (s. Anm. 277), S. 76 f. (Engelberg); zum Folgenden J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 246 – 253, mit unglîcklichen Gruppenbildungen (S. 246 f. Anm. 75). 314 Gordon A. Craig, The Politics of the Prussian Army, 1640 – 1945, zuerst 1955, korrigierte Neuauflage: London/Oxford/New York 1964, zur Rolle der Armee in der deutschen (!) Geschichte S. XIII-XX; deutsche Auflage: Gordon A. Craig, Die preußisch-deutsche Armee 1640 – 1945, Staat im Staate, Dîsseldorf 1960; dazu 1956 Carl Hinrichs, Preußen als historisches Problem. Zur heutigen Auffassung Friedrich Wilhelms I., in: Ders., Preußen … (s. Anm. 262), S. 15 – 39, hier zu Craig S. 18 – 21, mit Kritik an Ritter. 315 Vgl. z. B. Gustav Schmoller, Charakterbilder, Mînchen/Leipzig 1913, S. 3 Anm. 1, S. 15 (Lavisse als „franzçsischer Chauvinist“); zu Lavisse lobend das Vortragsreferat von Reinhold Koser, in: MittVGBerlin 4 (1887), S. 5 f.; vgl. S. Skalweit, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 41), S. 122 f.; zu Albert Waddington besonders die Rezension von Otto Hintze, in: ForschBrandPrG 26 (1913), S. 304 – 308, etwa die respektgetragenen øußerungen S. 304 f. 316 Beispiele von alliierter Seite: Robert Ergang, The Potsdam Fîhrer. Frederick William I. Father of Prussian Militarism, New York 1941, 1933 als Preußen-Restauration: S. 5 f.; vgl. S. Skalweit, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 41), S. 129 Anm. 43; S. D. Stirk, The Prussian Spirit. A Survey of German Literature and Politics 1914 – 1940, London

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kussion bot nach 1945 ein sehr viel differenzierteres Bild, als die hufiger beachteten Produkte rein politischer Absicht. Diese Differenzierungen wurden ebenso diskutiert und rezipiert,317 wie die an den Methoden der Annales orientierte Monographie von Henri Brunschwig zum Preußen um 1800 und dem (politischen) Mentalittswandel einige Beachtung, freilich keine Nachfolge fand.318 Wird nach innovativen Impulsen in der wissenschaftlichen Epoche des ersten Nachkriegsjahrzehnts gefragt, so wird wohl nicht in erster Linie auf die letzten aufsatzstarken Studien Fritz Hartungs zur preußischen Verwaltung im 19. Jahrhundert hinzuweisen sein. Hartung hatte aber gleich nach 1945 versucht, in der Akademie der Wissenschaften an die preußischen Traditionen der Hintze-Zeit anzuknîpfen; eine Edition der jîngeren Staatsministerialprotokolle ist schon damals von ihm vorgeschlagen worden.319 Kleinere Beitrge zur Ge(1941), mit interessanten Passagen zur englischen „çffentlichen Meinung“ îber Preußen: S. 13 – 21, zur „Legend of Frederick the Great“ S. 106 – 125, – ein ja bis in jîngste Zeiten immer wieder gerne aufgenommenes Thema, S. 148 – 232 „Prussia and the Third Empire, 1933 – 40“; zu Mnnern der preußischen Reformzeit, „some of them are more in advance than others and few approach the ideal type of Hitler“: Eugene Newton Anderson, Nationalism and the Cultural Crisis in Prussia, 1806 – 1815, New York 1939, S. 6. – Wohl alle diese Autoren besaßen einen Migrationshintergrund. – Zu Francis L. Carsten, Hajo Holborn und dessen Schîler Walter M. Simon siehe summarisch Walther Hubatsch, Preußen als internationales Forschungsproblem, in: GWU 13 (1962), S. 71 – 86, hier S. 75 f.; weiteres (G. P. Gooch) siehe S. Skalweit, Preußen … (s. Anm. 207), S. 193 f. – ohne vordergrîndige Linienfîhrung Friedrichs II. zum Nationalsozialismus, aber zur „Bedenkenlosigkeit seiner Machtpolitik“. 317 Mit Nachweis des britischen Schrifttums nach 1945: Manfred Schlenke, Das absolutistische Preußen in der englischen Geschichtsschreibung von 1945 bis 1955. Ein Literaturbericht, in: ArchKulturG 39 (1957), S. 112 – 129, bes. S. 112 – 122, S. 129; zu Reinhold A. Dorwart positiv S. Skalweit, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 41), S. 150 mit Anm. 44. 318 Zuerst franzçsisch 1947, nicht immer glîckliche deutsche ˜bersetzung: Henri Brunschwig, Gesellschaft und Romantik in Preußen im 18. Jahrhundert. Die Krise des preußischen Staates am Ende des 18. Jahrhunderts und die Entstehung der romantischen Mentalitt, dt.: Frankfurt/Berlin/Wien (1976), mit nicht durchweg gelungener Beweisfîhrung (vgl. S. 290 f., Interpretation ohne Nachweise: S. 372 ff., S. 376); vgl. S. Skalweit, Preußen … (s. Anm. 207), S. 198 – 200; D. Blasius, Einleitung … (s. Anm. 281), S. 12 f. 319 Brbel Holtz, Das Thema Preußen in Wissenschaft und Wissenschaftspolitik der DDR, in: W. Neugebauer (Hg.), Das Thema „Preußen“ … (s. Anm. 32), S. 329 – 354, hier S. 334 (1948), weiteres und spteres S. 341 f.; Peter Th. Walther, Fritz Hartung und die Umgestaltung der historischen Forschung an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, in: Martin Sabrow / Peter Th. Walther (Hg.), Historische Forschung und sozialistische Diktatur. Beitrge zur Geschichtswissenschaft der DDR (= Beitrge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung, 13), Leipzig 1995, S. 59 – 73, hier S. 63 f. (1945: Plne zur Weiterfîhrung von Politischer Korrespondenz und Acta Borussica).

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schichte der preußischen Verwaltung, besonders îber das preußische Beamtentum des 19. und 20. Jahrhunderts haben sozialgeschichtliche Dimensionen doch nur vorsichtig einbezogen und Hintzes Niveau letztlich nicht erreicht.320 Selbst den innovativen Forschungen Gerhard Oestreichs zur „Niederlndischen Bewegung“ im Brandenburg-Preußen der Frîhneuzeit stand Hartung skeptisch gegenîber.321 Oestreich entwickelte aus seinen Lipsius-Studien, bei denen der stoizistische Moralbegriff der „Constantia“ und die um 1600 entwickelte Forderung nach Gehorsam als politische Tugend große Bedeutung gewann, sodann jenes Konzept der „Sozialdisziplinierung“, das seit den spten 1960er Jahren in der internationalen Frîhneuzeithistoriographie zu einem Schlîsselthema geworden ist. Oestreich ergnzte damit ltere, institutionengeschichtliche Zugnge zum frîhmodernen Staat durch die Dimension eines politisch-mentalen Verhaltenswandels, durchaus nicht nur im Sinne einseitig gefaßter Untertanendisziplinierung, sondern als geradezu anthropologisch relevante Vernderung, die alle Schichten und Stnde erfaßte und notwendige Voraussetzungen fîr die politische Moderne schuf.322 320 Originaldruck: Fritz Hartung, Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung, 3: Zur Geschichte des Beamtentums im 19. und 20. Jahrhundert (= Abhandlungen der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, 1945/46, Philosophische-historische Klasse Nr. 8), Berlin 1948, mit Verweis auf Schmoller: S. 3; vgl. Fritz Hartung, Staatsbildende Krfte der Neuzeit. Gesammelte Aufstze, Berlin (1961), etwa S. 414 – 430; spte Jahre Hartungs: Werner Schochow, Ein Historiker in der Zeit. Versuch îber Fritz Hartung (1883 – 1967), in: JbGMitteldtld 32 (1983), S. 219 – 250, hier S. 234 – 243; sozialgeschichtliche Dimension betont bei Gerhard Oestreich, Fritz Hartung als Verfassungshistoriker (1883 – 1967), zuerst 1968, wieder in: Ders., Strukturprobleme der Frîhen Neuzeit. Ausgewhlte Aufstze, hg. v. Brigitta Oestreich, Berlin (1980), S. 34 – 56, hier S. 46; wichtige und weniger gelungene Fallstudien zur preußischen Verwaltungsgeschichte in der von Walther Hubatsch seit 1958 hg. Reihe: Studien zur Geschichte Preußens; vgl. Iselin Gundermann, Walther Hubatsch, in: Neue Forschungen zur Brandenburg-Preußischen Geschichte 7 (1987), S. 385 – 394, hier S. 388; abgewogen (Hubatsch sehr kenntnisreich, aber zu sehr wertend): D. Blasius, Einleitung … (s. Anm. 281), S. 15; Veraltungstendenz: H. Boockmann, Ost- und Westpreußen … (s. Anm. 8), S. 71, dort auch scharf zum Hermann Aubin der Nachkriegszeit. 321 E. Grothe, Zwischen Geschichte … (s. Anm. 139), S. 398 Anm. 428. 322 Die spt publizierte Habilitationsschrift: Gerhard Oestreich, Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius, hg. v. Nicolette Mout (1547 – 1606) (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 38), Gçttingen 1989, S. 171, S. 182 f., S. 192, und in der Einleitung der Herausgeberin S. 23 f.; G. Oestreich, Fundamente … (s. Anm. 118), S. 283 – 286; Ders., Politischer Neustoizismus und Niederlndische Bewegung in Europa und besonders in Brandenburg-Preußen, zuerst 1965, wieder in: Ders., Geist und Gestalt des frîhmodernen Staates. Ausgewhlte Aufstze, Berlin (1969), S. 101 – 156, hier S. 113 ff. („Constantia“), S. 139 – 156; und dort Ders., Strukturprobleme des europischen Absolutismus, S. 179 – 197, bes. S. 187 – 195 (Sozialdisziplinierung); Peter Baumgart,

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Es hat gedauert, bis die Anregung Oestreichs, der in den 1930er Jahren mit einer behçrdengeschichtlichen Studie zur brandenburg-preußischen Staatsstruktur im 17. Jahrhundert promoviert wurde, nun die Grenzen des Absolutismus zum Programm erhob und in die Forschungen zu preußischen Themen Eingang fand.323 In den sechziger Jahren waren es zunchst ganz wesentlich Publikationen von Historikern, die nach 1933 in die Emigration gezwungen worden waren, die wesentliche Anstçße gaben und auf die die traditionelleren Richtungen der noch aktiven preußenbezogenen Historiographie im ganzen recht hilflos reagierten. – Die Dissertation Otto Bîschs zur „sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft“ war ja ganz wesentlich von Hans Rosenberg angeregt worden, als dieser gleich nach Begrîndung der Freien Universitt fîr eine kurze, aber sehr einflußreiche Zeit in Berlin gelehrt hatte.324 Von den Meinecke-Schîlern, die nach 1933 in die USA gegangen waren, Hajo Holborn und Felix Gilbert, Dietrich Gerhard und Hans Baron, haben Hans Rothfels und Hans Rosenberg325 (1904 – 1988) auf sehr verschiedene Weise Preußen zu einem ihrer Arbeits- und Argumentationsschwerpunkte gemacht; schon deshalb ist davor zu warnen, die „Refugee Historians“ als eine undifferenzierte Einheit zu betrachten. Der in den dreißiger Jahren îber die Niederlande ins englische Exil gezwungene Francis L. Carsten (1911 – 1998) publizierte 1954 sein Werk îber „The Origins of Prussia“,326 in dem er von strukturellen

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Gerhard Oestreich zum Gedchtnis, in: Neue Forschungen zur Brandenburgisch-Preußischen Geschichte 1 (1979), S. 355 – 360, hier S. 358 f. (Grenzen des Absolutismus); die inzwischen reichhaltige Literatur zum Komplex der „Sozialdisziplinierung“ in der allgemeinen Geschichte kann hier nicht nachgewiesen werden. G. Oestreich, Strukturprobleme … (s. Anm. 322), S. 183; danach Peter Baumgart, Epochen der preußischen Monarchie im 18. Jahrhundert, in: Otto Bîsch (Hg.), Das Preußenbild in der Geschichte. Protokoll eines Symposions (= VerçffHistKommBerlin, 50), Berlin/New York 1981, S. 65 – 96, hier S. 75; Peter Baumgart, Wie absolut war der preußische Absolutismus?, in: Manfred Schlenke (Hg.), Preußen. Beitrge zu einer politischen Kultur (= Preußen. Versuch einer Bilanz, 2), Berlin 1981, S. 89 – 105, hier S. 93; Dissertation: Gerhard Oestreich, Der brandenburg-preußische Geheime Rat vom Regierungsantritt des Großen Kurfîrsten bis zur Neuordnung im Jahre 1651. Eine behçrdengeschichtliche Studie (= Berliner Studien zur neueren Geschichte, 1), Wîrzburg-Aumîhle 1937, S. 2: aus der Schule Fritz Hartungs. Wie Otto Bîsch in Gesprchen wiederholt geschildert hat; vgl. O. Bîsch, Militrsystem … (s. Anm. 309), S. XII; auch H.-U. Wehler, Lage … (s. Anm. 234), S. 19. Gerhard A. Ritter, Hans Rosenberg 1904 – 1988, in: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989), S. 282 – 302, hier S. 292; und die Beitrge von Wolfgang J. Mommsen / Michael H. Kater / Hanna Schissler (zu Rosenberg), in: Hartmut Lehmann / James J. Sheehan (Hg.), An Interrupted Past. German Speaking Refugee Historians in the United States After 1933 (= Publications of the German Historical Institute Washington, D.C.), Washington D.C. u. a. (1991). F(rancis) L(udwig) Carsten, The Origins of Prussia, Oxford 1954, (Neuauflage 1968) [Dt. u. d. T.: Die Entstehung Preußens, Kçln/Berlin 1968], S. 150 f., S. 157 u. ç.; dazu Gerd Heinrich, Forschungen zur Geschichte der Mark Brandenburg. Ein Literatur-

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Grundlagen seit der hochmittelalterlichen Siedlungsphase ausging, die Stellung der Stdte und die dominante Position des Adels in den wichtigsten Staatsregionen in den Mittelpunkt rîckte, aber doch letztlich die außenpolitischen Konstellationen – besonders den Nordischen Krieg 1655 bis 1660 – fîr den Umschlag der inneren Krfteverhltnisse urschlich machte. Die Stellung der Stnde bis zum „Sieg des Großen Kurfîrsten“ hat Carsten, der immer dazu neigte, die zentral-europischen Stnde im Lichte des englischen Parlamentarismus zu betrachten, besonders interessiert; er ist aber vielleicht doch einem zu konventionellen Konzept von Absolutismus gefolgt.327 Jedenfalls stieß Carsten nicht nur bei traditionelleren deutschen Kollegen, sondern auch bei Hans Rosenberg auf Vorbehalte,328 der mit seinem Buch „Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660 – 1815“329 einen ganz entschieden sozialgeschichtlich-kritischen Impuls setzte. Geboren 1904, promoviert bei Friedrich Meinecke in Berlin, habilitiert – gegen Widerstnde – bei Ziekursch in Kçln, beschftigte er sich schon vor seiner Emigration mit der Frage, wie die Differenz der preußischen und der westeuropischen Entwicklung – zunchst im 19. Jahrhundert – zu erklren sei.330 Seine Kritik, diejenige des schon in jungen Jahren „îberzeugten linksli-

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bericht îber die Jahre 1941 – 1956, in: JbGMitteldtld 9/10 (1961), S. 325 – 409, hier S. 346 – 348; vgl. auch Francis L. Carsten, Princes and Parliaments in Germany. From the Fifteenth to the Eighteenth Century, Oxford 1959, S. 318 – 340. F. L. Carsten, Entstehung … (s. Anm. 326), S. 214 f., S. 218 f., aber S. 201 (Kleve); zur Kritik auch Gerd Heinrich, „Ihre Gesichtspunkte leben fort“. Kontinuitten und Traditionslinien in der lteren Geschichte Brandenburg-Preußens, in: Hans Rothe (Hg.), Die historische Wirkung der çstlichen Regionen des Reiches …, Kçln/Weimar/ Wien 1992, S. 89 – 115, hier S. 111; aus den Rezensionen vgl. Walther Hubatsch, in: HZ 169 (1955), S. 121 – 123, auch zur archivalischen Basis (Kçnigsberger Akten), zur Analyse des Adels S. 123; aus der Literatur: Volker R. Berghahn, Francis Carsten: Politics and History in Two Cultures, in: Ders. / Martin Kitchen (Hg.), Germany in the Age of Total War, London-Totowa/New Jersey (1981), S. 7 – 22, praktische Studien seit den spten 1930er Jahren: S. 9 – 12; zu Rezensionen (Hubatsch) S. 21 Anm. 4, Anm. 6; Volker (R.) Berghahn, Francis L. Carsten, 1911 – 1998, in: Geschichte und Gesellschaft 25 (1999), S. 504 – 510, S. 505 (aus „gutsituierte(r), jîdische(r) Familie“), Preußenthema: S. 506 f. William W. Hagen, Descent of the „Sonderweg“. Hans Rosenbergs History of OldRegime-Prussia, in: Central European History 24 (1991), S. 24 – 50, hier S. 33 Anm. 19. 1. Aufl.: Cambridge/Mass. 1958, dort S. 229 – 238 das in der spteren Auflage fortgefallene „Postscript“, indem er die Kontinuitten in das Dritte Reich kritisch diskutierte (S. 231); Taschenbuchausgabe: Boston 1966 (danach hier zitiert). Aus der Literatur: Hans-Ulrich Wehler, Vorwort, in: Ders. (Hg.), Sozialgeschichte Heute. Festschrift fîr Hans Rosenberg zum 70. Geburtstag (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 11), Gçttingen 1974, S. 9 – 21, hier S. 9 f. zur Arbeit îber Rudolf Haym, S. 10 f. zur Dokumentation îber die nationalpolitische Publizistik in der Reichsgrîndungszeit; biographische Details bei Heinrich August Winkler, Ein Erneuerer der Geschichtswissenschaft. Hans Rosenberg 1904 – 1988, in: HZ 248 (1989),

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beralen Demokraten“ (G. A. Ritter), an den preußischen Traditionen betrieb er in entschlossener konzeptioneller Erweiterung des wissenschaftlichen Instrumentariums um sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Dimensionen. So wie er in seinen frîhen Studien îber Rudolf Haym den „Borussismus“ des 19. Jahrhunderts zum sozial- und ideengeschichtlichen Thema gemacht hatte, so wandte er sich in den USA seit den dreißiger Jahren der „preußisch-deutschen Sozialgeschichte“ am Beispiel von Bîrokratie und Landadel zu, Studien, die bereits als Beitrge zur spteren Sonderwegsdiskussion angesehen werden.331 Rosenberg selbst hat geschildert, wie er whrend des Zweiten Weltkrieges den Entschluß faßte, „eine umfassende Sozialgeschichte der vorindustriellen preußisch-deutschen Herrschaftseliten in Angriff zu nehmen“. Dabei „sollten Kontinuitt und Wandel der kollektiven Wesenszîge, Interessen, Mentalitt, funktionale Rollen und Verhaltensweisen dieser strategisch platzierten Sozialgruppen einer kritischen ˜berprîfung unterworfen werden“.332 Fîr Rosenberg handelte es sich um eine gefhrliche historische Konstante, die er analysierte: „die autoritre Herrschaftstrias des ostdeutschen Großgrundbesitzertums, der preußischen Staatsbîrokratie und des von adligem Standesgeist erfîllten Offizierskorps“, dominant bis in die Zeit des Industriekapitalismus und der „Massengesellschaft“. „Diese Trias“ habe „zu guter Letzt doch, sozusagen als Inkarnation historischer Vorbelastungen, zum Ruin der Weimarer Republik entscheidend beigetragen und beim ˜bergang zum nationalsozialistischen Gewaltsystem und seiner Befestigung sich hervorgetan“.333 Freilich ist darauf hingewiesen worden, daß Rosenberg die Jahre 1914 bis 1933 im Detail nie analysiert habe.334 Die – so der Autor selbst – „kmpferischpolemischen Untertçne“ allein kçnnen aber nicht erklren, wieso Rosenbergs Ansatz, die preußische Bîrokratie unter dem Leitaspekt sozialer und politischer Gruppen beziehungsweise Gruppeninteressen zu analysieren und damit Kol-

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S. 529 – 555, hier S. 537 f. (Emigration 1933, zunchst nach London, dann in die USA); erste Fassung der Studie zum Aufstieg der Junker 1943/44: S. 541 Anm. 9, indirekter Bezug zur Sonderwegsthese in den Frîhschriften: S. 534 f.; Gerhard A. Ritter, Hans Rosenberg 1904 – 1988, in: Geschichte und Gesellschaft 15 (1989), S. 282 – 302, Einfluß Meineckes in jungen Jahren: S. 282 f., frîhe Kritik am Bismarckreich: S. 284, hier auch das folgende Zitat; weiter S. 286. H.-U. Wehler, Vorwort … (s. Anm. 330), S. 14 f.; zu den Arbeitsbedingungen der Emigration: Hans Rosenberg, Rîckblick auf ein Historikerleben zwischen zwei Kulturen, in: Ders., Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 31), Gçttingen 1978, S. 11 – 23, hier S. 16 f. H. Rosenberg, Rîckblick … (s. Anm. 331), S. 19, auch zum Folgenden. Ebd. So W. W. Hagen, Descent … (s. Anm. 328), S. 44 f., gleichfalls zu mangelnden Differenzierungen; folgendes Zitat: H. Rosenberg, Rîckblick … (s. Anm. 331), S. 21; vgl. aber unten Anm. 338.

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lektive zum Untersuchungsgegenstand zu machen,335 (zunchst) auf so wenig Resonanz stieß. Rosenberg fragte nach preußisch-deutschen Sonderwegen im europischen Vergleich. Es war eine scharfe Wendung gegen eine Tradition konservativer Gesinnungshistoriographie, zumal einer solchen, die den tradierten Kanon des Wissens nur immer wiederholte, freilich ohne neue Archivmaterialien und ohne neue Fragestellungen, theorieabstinent und ganz wesentlich – bestenfalls – auf der Basis des Forschungsstandes zur Zeit der Acta-Borusscia-Schule.336 In dieser Situation, durchaus nicht auf die sechziger und siebziger Jahre beschrnkt, entfalteten Bîcher wie dasjenige Rosenbergs ihre langfristige Wirkung. Die beste Rezension zum Bîrokratie-Buch Rosenbergs, aus tiefer Kenntnis der Materie geschrieben, konnte Gerhard Oestreich erst 1965 publizieren,337 und in ihr hat er die Parallelisierung der Jahrhunderte ebenso wie die Rîckîbertragung der alles andere als îberzeugenden Kategorie vom „Herrenmenschen“ ins 18. Jahrhundert kritisiert und vor einem neuen „Mythos der ewigen Autokratie“ gewarnt. – Rosenberg hat seine Forschungen und seine Argumentationslinie dann spter in das 19. Jahrhundert hinein fortgefîhrt, er hat sich in einer berîhmten Aufsatzstudie mit Anpassungsstrategien der „Rittergutsbesitzerklasse“ vor allem bis 1918 beschftigt338 und schließlich in Anlehnung an natio335 Z. B. H. Rosenberg, Bureaucracy … (s. Anm. 329), S. VII f., S. 22, S. 173 (2. Hlfte 18. Jh.: „the Prussian bureaucratic nobilitity, in moving against the absolute monarch“); Rezension: Hans Herzfeld / Wilhelm Berges, Bîrokratie, Aristokratie und Autokratie in Preußen. Das Werk von Hans Rosenberg, in: JbGMitteldtld 11 (1962/63), S. 282 – 296, hier S. 288 f. mit Kritik an der Kontinuittsthese bis in das 20. Jahrhundert; zum Bîrokratiebuch G. A. Ritter, Rosenberg … (s. Anm. 325), S. 294 f. (auch zur Rezeption von Otto Hintze, Gustav Schmoller und Max Weber), nach dem das Buch im englischsprachigen Ausland positiv aufgenommen, aber auch in der DDR kaum beachtet worden sei; scharfe Kritik an dem Werk bei W. W. Hagen, Descent … (s. Anm. 328), S. 47 f.; mit kritischen Annotationen auch H. A. Winkler, Rosenberg … (s. Anm. 330), S. 542. 336 Vgl. H. Herzfeld / W. Berges, Bîrokratie … (s. Anm. 335), S. 283. 337 Gerhard Oestreich, Rezension zu Hans Rosenberg, Bureaucracy, in: VjschrSozialWirtschG 52 (1965), S. 276 – 289, bes. S. 277 f.; „Herrenmenschen“: H. Rosenberg, Bureaucracy … (s. Anm. 329), S. 55, S. 142; man vergleiche damit die bei Hans Rosenberg erarbeitete Dissertation von Hubert C. Johnson, Frederick the Great and His Officials, New Haven/London 1975, hier S. 4. 338 Hans Rosenberg, Die Pseudodemokratisierung der Rittergutsbesitzerklasse, zuerst 1958, wieder in: Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Moderne deutsche Sozialgeschichte (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 10), Kçln (41973), S. 287 – 308, S. 519 – 523, bes. S. 287 f., S. 292, Ausblick in die Zeit nach 1918: S. 304 – 308; zum Folgenden (Werk îber die „Große Depression“) G. A. Ritter, Rosenberg … (s. Anm. 330), S. 298, auch zur Kritik; vgl. noch H.-U. Wehler, Vorwort … (s. Anm. 330), S. 20 („theoretische und empirische Schwierigkeiten, die Rosenberg îbrigens als erster eingerumt htte“); und Gerhard A. Ritter, The New Social History in the Federal Republic of Germany, London 1991, S. 22; zur kritischen Diskussion von Rosenbergs Studien zum 19. Jahr-

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nalçkonomische Theorieangebote den Wandel von Politik und kollektiven Haltungen in der spten Reichsgrîndungszeit untersucht. Nicht zum ersten Mal wurde ja die preußische Geschichte zum politischen Instrument, nun im Sinne einer antiborussischen Negativteleologie, als indirekter Beitrag zur Frage nach Ursachen eines – freilich strittigen339 – deutschen Sonderwegs. In der erregter werdenden politischen Kultur der 1960er Jahre wurden alte historiographische Traditionen angefochten und neue gestiftet, so die ostentative Erhebung Eckart Kehrs zum Referenzautor einer neuen – politisch „emanzipatorischen“ – Sozialgeschichte340 und eines „Primats der Innenpolitik“. Freilich: Die Strukturgeschichte als neuer und sehr fruchtbarer Ansatz war ja lter. In der Sache geht ihre Tradition in die zweite Hlfte des 19. Jahrhunderts zurîck,341 und schon vor der kritisch-liberalen Sozialgeschichte in der KehrRosenbergschen Traditionslinie hatte Werner Conze nicht nur mit diesem Begriff experimentiert,342 sondern auch bereits sehr offen insbesondere soziologische

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hundert die aus der Schule von Jîrgen Kocka hervorgegangene Studie von Hartwin Spenkuch, Das preußische Herrenhaus. Adel und Bîrgertum in der Ersten Kammer des Landtages 1854 – 1918 (= Beitrge zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, 110), Dîsseldorf 1998, S. 178 f. Kritik an der Sonderwegsthese etwa bei Reinhart Koselleck, Lernen aus der Geschichte Preußens?, in: GWU 35 (1984), S. 822 – 836, hier S. 832 f.; aus der Literatur vgl. ferner Horst Mçller, Einfîhrung, in: Deutscher Sonderweg – Mythos oder Realitt? (= Kolloquien des Instituts fîr Zeitgeschichte), Mînchen/Wien 1982, S. 9 – 15, zur Kritik S. 10 ff.; zur Genese der Diskussion vgl. noch T. Welskopp, Identitt ex negativo … (s. Anm. 305), hier S. 116 ff., auch zum Faktor Preußen in dieser Debatte; vgl. B. Faulenbach, Ideologie … (s. Anm. 230), passim. Eckart Kehr, Der Primat der Innenpolitik. Gesammelte Aufstze zur preußischdeutschen Sozialgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, hg. v. Hans-Ulrich Wehler (= VerçffHistKommBerlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universitt Berlin, 19), 2., durchges. Aufl., Berlin 1970, darin die Einleitung von Hans-Ulrich Wehler, S. 1 – 29, bes. S. 26, S. 28, auch zur Weber-Rezeption durch Kehr; Konflikt mit Gerhard Ritter: C. Cornelissen, Ritter … (s. Anm. 121), S. 172, S. 212 f., S. 218 ff., auch zur Schîlerschaft Kehrs von Meinecke; zur Strategie der Kehr-Rezeption in den 1960ern sehr deutlich H.-U. Wehler, Lage … (s. Anm. 234), S. 28 f.; und T. Welskopp, Identitt … (s. Anm. 305), S. 119 f.; zu den Grenzen der Forschungsfundamente Kehrs sehr eindeutig Wolfgang J. Mommsen, Die Geschichtswissenschaft jenseits des Historismus, Dîsseldorf (21972), S. 21 (Kehr mit Ausnahme seines Schlachtflottenbuches „îber Ideologiekritik an der bisherigen Geschichtsschreibung nicht wesentlich hinausgekommen“). Vgl. W. Neugebauer, Strukturgeschichtliche Erforschung … (s. Anm. 139). Besonders: Werner Conze, Die Strukturgeschichte des technisch-industriellen Zeitalters als Aufgabe von Forschung und Unterricht (= Arbeitsgemeinschaft fîr Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen, 66), Kçln/Opladen (1957), S. 19 – 22, S. 26; zum Begriff der Strukturgeschichte in den 1950er Jahren: Werner Conze, Die Grîndung des Arbeitskreises fîr moderne Sozialgeschichte, zuerst 1979, wieder in: Ders., Gesellschaft … (s. Anm. 237), S. 95 – 105, hier S. 96 f.; die Traditionen benannt bei

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Theorieangebote rezipiert. Werner Conze, der selbst îber die Bauernbefreiung arbeitete, hat Reinhart Kosellecks großes Buch îber Verwaltung und soziale Bewegung in Reformzeit und Vormrz inspiriert.343 Auf die Traditionen Otto Hintzes und der Acta-Borussica-Schule einerseits, auf die Anregungen Hans Rosenbergs andererseits hat sich Koselleck berufen, als er das Verhltnis von Beamtenstaat und „entfesselter“ gesellschaftlicher Bewegung untersuchte, einer „Bewegung, die sich langsam ihrer Steuerung entzog“, als die „soziale Frage zur Verfassungsfrage aufrîckte“.344 Die Methode Kosellecks war eine sozialgeschichtliche, auf die Erforschung „îberindividuelle[r] Zusammenhnge“ angelegt; dabei spielten fîr ihn – spterhin Mitherausgeber der „Geschichtlichen Grundbegriffe“ – die Methoden der Begriffsgeschichte als einer „Variante der Dems., Sozialgeschichte, in: H.-U. Wehler (Hg.), Sozialgeschichte … (s. Anm. 337), S. 19 – 26, hier S. 19; aus der Literatur G. A. Ritter, New Social History … (s. Anm. 338), S. 19; und exemplarisch: Wolfgang Schieder, Sozialgeschichte zwischen Soziologie und Geschichte. Das wissenschaftliche Lebenswerk Werner Conzes, in: Geschichte und Gesellschaft 13 (1987), S. 244 – 266, hier S. 255, Anregungen Otto Brunners: S. 248, Rezeption amerikanischer Soziologie durch Conze: S. 254 f., Abrîcken vom Begriff „Strukturgeschichte“: S. 256; H.-U. Wehler, Lage … (s. Anm. 234), S. 21, mit Bezug auf die franzçsische Annales-Schule; zu den Unterschieden (Conze wollte mit „Strukturgeschichte“ die Ergnzung politischer und Geistesgeschichte, nicht deren Verdrngung) sehr deutlich Reinhart Koselleck, Werner Conze. Tradition und Innovation, in: HZ 245 (1987), S. 529 – 543, hier S. 537. 343 So W. Schieder, Sozialgeschichte … (s. Anm. 342), S. 260, und Willibald Steinmetz, Nachruf auf Reinhart Koselleck (1923 – 2006), in: Geschichte und Gesellschaft 32 (2006), S. 412 – 432, hier S. 412, S. 415 (Koselleck ab 1956 Assistent bei Conze); Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848 (= Industrielle Welt, 7), Stuttgart 21975 (zuerst 1967), zum Folgenden: S. 16. 344 R. Koselleck, Preußen … (s. Anm. 343), S. 14, das Folgende: S. 17; zu Kosellecks stark von der Sicht der Verwaltung selbst geprgter Perspektive vgl. die Rezension von Jîrgen Kocka, in: VjschrSozialWirtschG 57 (1970), S. 121 – 125, hier S. 124 und zu Defiziten: nicht untersucht sei die „Bedingtheit des Verwaltungshandelns durch Konjunkturverlauf, çkonomische Krisen etc.“ – ein Einwand, der auch fîr die kînftige Forschung programmatischen Wert besitz. Ebd. zur verzerrenden Verwaltungsperspektive; Jîrgen Kocka, Preußischer Staat und Modernisierung im Vormrz. Marxistisch-leninistische Interpretationen und ihre Probleme, zuerst 1974, wieder in: Barbara Vogel (Hg.), Preußische Reformen 1807 – 1820 (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 96), Kçnigstein im Taunus 1980, S. 49 – 65, hier S. 49 f.; Vorwurf des Etatismus gegen Koselleck in der DDR-Rezension von Helmut Bleiber, in: ZGWiss 19 (1971), S. 112 – 115, hier S. 113 und die Konklusio S. 114: „Es ist offensichtlich – der Staat der westdeutschen Monopolbourgeoisie wußte, was er bei der Neubesetzung des Lehrstuhls fîr neuere Geschichte der Heidelberger Universitt honorierte.“ Zur Kritik vgl. R. Koselleck, Preußen … (s. Anm. 343), (S. 4 f.); zu diesem Werk aus der Literatur ferner Christian Meier, Gedenkrede auf Reinhart Koselleck, in: Neithard Bulst / Willibald Steinmetz (Hg.), Reinhart Koselleck 1923 – 2006. Reden zur Gedenkfeier am 24. Mai 2006 (= Bielefelder Universittsgesprche und Vortrge, 9), Bielefeld 2007, S. 7 – 34, hier S. 16.

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Sozialgeschichte“ zur Analyse îberpersçnlicher Entwicklungen eine ganz wesentliche Rolle. Wenn Koselleck freilich den preußischen Militarismus in die europische Normalitt des 18. und 19. Jahrhunderts stellte,345 so argumentierte er – mutig – außerhalb des Mainstreams seiner Zeit. Die liberal-„kritische“ Sozialgeschichte und historische Sozialwissenschaft hat die preußische Geschichte mit behandelt. Hans-Ulrich Wehlers Buch îber „Das Deutsche Kaiserreich“,346 erstmals 1973 erschienen, stellte „geradezu paradigmatisch“ den Sonderwegsansatz zur Diskussion (Welskopp). Das Kaiserreich von 1871 als „großpreußische Grîndung“,347 – mit Johannes Ziekursch – als gegen den „Zeitgeist“ gestellt interpretiert, wurde zum Objekt einer sozial- und strukturgeschichtlichen Analyse, bei der ein Bismarck nun in seiner Position und Funktion in der „preußischdeutschen Machthierarchie“ untersucht wurde.348 Strittig war dabei, inwieweit nicht – nur mit umgekehrter Argumentation – nun ein teleologischer Antiborussismus fîr die Epoche des Nationalstaats die Rolle Preußens zugleich isolierte und îberhçhte.349 Diese von Hans Rosenberg inspirierten Studien der Historischen Sozialwissenschaft in den 1970er Jahren haben die von Opponenten kritisierten (emanzipationsteleologischen) Einseitigkeiten (Nipperdey) verbunden mit der Fhigkeit, ihre Resultate anschlußfhig zu machen fîr große, skulare Fragestellungen und epochale Grundprobleme, wie etwa dasjenige der Modernisie345 So R. Koselleck, Lernen … (s. Anm. 339), S. 833. 346 Hans-Ulrich Wehler, Das deutsche Kaiserreich 1871 – 1918, benutzt in der 3., durchges. Aufl., Gçttingen 1977, zum Kaiserreich als „Großpreußen“ S. 16; aus der Literatur in Auswahl T. Welskopp, Identitt … (s. Anm. 305), S. 125; aus der Kontroversliteratur Thomas Nipperdey, Wehlers „Kaiserreich“. Eine kritische Auseinandersetzung, zuerst 1975, wieder in: Ders., Gesellschaft, Kultur, Theorie. Gesammelte Aufstze zur neueren Geschichte (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 18), Gçttingen 1976, S. 360 – 389, bes. S. 364 (Vorwurf des „Treitschke redivivus“). Zur Kontinuittsfrage S. 365 – 371, zur Sozialimperialismus-Theorie: S. 373, Kehr-Rezeption: S. 374; weiter S. 379; vgl. noch Gînther Grînthal, Parlamentarismus in Preußen 1848/49 – 1857/58. Preußischer Konstitutionalismus – Parlament und Regierung in der Reaktionsra (= Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Dîsseldorf (1982), S. 11 f. – aus der Schule von Walter Bußmann. 347 Pointiert: Hans-Ulrich Wehler, Preußen ist wieder chic … Der Obrigkeitsstaat im Goldrhmchen, in: Ders., Preußen ist wieder chic … Politik und Polemik in zwanzig Essays, Frankfurt am Main 1993, S. 11 – 18, hier S. 16 (in Polemik gegen Sebastian Haffner). 348 Hans-Ulrich Wehler, Bismarck und der Imperialismus, Mînchen 41976, S. 180 ff., Zitat: S. 180. 349 T. Nipperdey, Kaiserreich … (s. Anm. 346), S. 375, S. 378 f.; vgl. auch die Kritik von W. Conze, Kaiserreich … (s. Anm. 237), S. 60 f., auch zu Wehlers Angriff auf die Studien von Helmut Bçhme; S. 62: Wehler „provozierend einseitig“; BonapartismusDiskussion: M. Stîrmer, Bismarck-Mythos … (s. Anm. 231), S. 7.

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rungsfhigkeit politischer und sozialer Strukturen im 19. Jahrhundert.350 Die von Wehler angestoßene Diskussion um die „Grîndungskonstellation“ des Kaiserreichs, die durch die Strategie gekennzeichnet war, eine çkonomische, ohne eine politische und soziale „Modernisierung“ zu initiieren, fîhrte zur Rezeption sozialwissenschaftlicher Konzeptionen, insbesondere solcher modernisierungstheoretischer Art auch fîr Studien zur preußischen Geschichte im engeren Sinne. Diese Studien351 haben vor allem den anregenden Effekt besessen, Theorien der systematischen Nachbarwissenschaften fîr Probleme der preußischen Historie fruchtbar zu machen,352 wenngleich die darin gebotenen Chancen, die preußische Geschichte – durchaus im Sinne Hintzes – fîr weitgreifende Fragestellungen anschlußfhig zu machen, allenfalls ansatzweise ausgenutzt worden sind. So stand eine Intensivierung der Theoriearbeit (bisweilen zulasten der Empirie aus eigener Quellenforschung) nicht immer in Proportion zu tatschlich neuen Erkenntnissen.353 Die preußischen Reformen wurden insbesondere unter modernisierungstheoretischen Fragestellungen neu untersucht,354 freilich mit dem Nebeneffekt eines eigentîmlichen Neoetatismus. 350 Vgl. noch Michael Stîrmer, Das zerbrochene Haus – Preußen als Problem der Forschung, in: Militrgeschichtliche Mitteilungen 10 (1971), S. 175 – 195, hier S. 181 – 188 („Studien zur Sozialgeschichte“), S. 182 f. zu Rosenberg, S. 183 zu den agrarhistorischen Forschungen von Friedrich Wilhelm Henning: „Was der Arbeit fehlt, ist der abschließende Versuch, die Ergebnisse in einen grçßeren Zusammenhang zu stellen und damit ihre sozialgeschichtliche Bedeutung zu erhellen“; das Folgende: H.-U. Wehler, Kaiserreich … (s. Anm. 346), S. 17, S. 19; und Bernd Faulenbach, „Deutscher Sonderweg“. Zur Geschichte und Problematik einer zentralen Kategorie des deutschen geschichtlichen Bewußtseins, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 33/81 (1981), S. 3 – 21, hier S. 16. 351 Vor allem Barbara Vogel, Allgemeine Gewerbefreiheit. Die Reformpolitik des preußischen Staatskanzlers Hardenberg (1810 – 1820) (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 57), Gçttingen 1983, bes. der Teil: „Reformpolitik und Modernisierung“, S. 19 – 132, zu Konzeption und Theorien etwa S. 25 f., Modernisierungstheorien : S. 28 f., S. 31 u. ç.; dagegen kritisch Elisabeth Fehrenbach, Rezension, in: HZ 239 (1984), S. 698 f.; Hanna Schissler, Preußische Agrargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763 bis 1847 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 33), Gçttingen 1978, darin S. 19 – 49, und S. 204 – 212: „Theoretische Probleme einer Untersuchung von gesellschaftlichem Wandel“, Fragestellungen: S. 47. 352 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von den alten Stnden zum Konstitutionalismus (= Quellen und Studien zur Geschichte des çstlichen Europa, 36), Stuttgart 1992, S. 1 – 27, und passim. 353 Vgl. Frank-Michael Kuhlemann, Modernisierung und Disziplinierung. Sozialgeschichte des preußischen Volksschulwesens 1794 – 1872 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 96), Gçttingen 1992, bes. S. 11 – 51, S. 355 – 368; dazu die Rezension von Wolfgang Neugebauer, in: ForschBrandPrG NF 4 (1994), S. 273 – 275. 354 Zusammenfassend B. Vogel, Einleitung. Die preußischen Reformen als Gegenstand und Problem der Forschung, in: Dies. (Hg.), Reformen … (s. Anm. 344), S. 1 – 27, hier

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Zugespitzt formuliert ließe sich sagen: Theorieîberhang und Theoriedefizit, bisweilen auch Theorieverweigerung liefen parallel bis in die Neunziger Jahre, und manchmal wurden in westdeutschen Forschungsberichten nicht einmal wichtige englischsprachige Beitrge rezipiert.355 Freilich stagnierte auch die Quellenerschließung, was auf editorischem Felde in der Bundesrepublik ganz wesentlich daran lag, daß die Probleme der archivischen Teilung nach 1945 eine Fortfîhrung der lteren Arbeitstraditionen letztlich unmçglich machten. Immerhin haben Walther Hubatsch und seine Mitarbeiter mit der neuen und erweiterten Ausgabe der Dokumente des Freiherrn vom Stein einen Teil des einschlgigen Archivmaterials erschlossen; kleinere Editionen lieferten Beitrge zur Geschichte Preußens im spten 18. Jahrhundert.356 Freilich htten die im Westen verfîgbaren Archivbestnde, und zwar nicht nur diejenigen der preußischen Westprovinzen, eine intensivere Quellenforschung vor 1989 durchaus ermçglicht. Theorieverweigerung und Archivabstinenz, verbunden mit kalendertagshistoriographischen Fixierungen zu bestimmten Ereignisjahren verstrkten die Gefahr preußenhistorischer Stagnation. Die Anstze der „Gesellschaftsgeschichte“ waren nicht darauf gerichtet, „Handlungen einzelner Akteure“ in den Mittelpunkt des Interesses zu rîcken.357 Die theoriegeleitete Analyse wurde der Erzhlung entgegengesetzt.358 Die Biographie hatte seit den spteren sechziger Jahren fîr einige Zeit schlechte Kon-

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S. 5 f., S. 9: gegen „Unterschtzung des Staates“, S. 17: „bîrokratische Revolution“; vgl. Anm. 352; zu (staatlichen) „Modernisierungsaufgaben“ in den preußischen Reformen zusammenfassend Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1, Mînchen (1987), S. 401 – 405; P. Nolte, Staatsbildung … (s. Anm. 199), S. 25 ff.; B. Vogel, Gewerbefreiheit … (s. Anm. 351), S. 16 f.: Ansatz „von oben“, S. 14: Diskussion von Kosellecks These: Wirtschaftsreform nur bei Verzicht auf Reprsentation, ferner S. 202 – 204, S. 223 f.; Barbara Vogel, Literaturbericht: Das alte Preußen in der modernen Geschichtswissenschaft, in: Geschichte und Gesellschaft 11 (1985), S. 377 – 396, Modernisierungstheorien : S. 378 f., kritisch zu Schissler: S. 396. So ohne Hans Rosenberg und die Werke von Peter Paret zu Yorck und Clausewitz zu erwhnen: Walther Hubatsch, Die Stein-Hardenbergschen Reformen (= Ertrge der Forschung, 65), 2., unvernderte Aufl., Darmstadt 1989; vgl. die wichtige neue Einordnung Yorcks bei Peter Paret, Yorck and the Era of Prussian Reform 1807 – 1815, Princeton/New Jersey 1966, bes. S. 224 („dritte Gruppe“). Dazu (auch zur Edition von Hubatsch und Ingeburg Charlotte Bussenius zu Neuostpreußen und Sîdpreußen sowie zu den Svarez-Vortrgen) Walther Hubatsch, Preußen als internationales Forschungsproblem, in: GWU 13 (1962), S. 71 – 86, S. 73 f., auch zu Publikationen aus „Randgebieten“, womit die von Hans-Joachim Schoeps edierten Gerlach-Quellen gemeint waren. So B. Vogel, Literaturbericht … (s. Anm. 354), S. 380, auch zum Interpretationsrahmen in der DDR: „bîrgerliche Revolution“. Zur allgemeinen (nicht spezifisch preußenhistoriographischen) Diskussion um 1980 vgl. die Beitrge (etwa von Hans-Ulrich Wehler und Golo Mann) in dem Bande von Jîrgen Kocka / Thomas Nipperdey (Hg.), Theorie und Erzhlung in der Geschichte (= Beitrge zur Historik, 5), Mînchen 1979.

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junktur. Lothar Gall hat das Recht der Strukturgeschichte, zumal auf den Feldern der Wirtschafts- und Sozialgeschichte durchaus nicht bestritten, wohl aber in eine „Synthese […] von Persçnlichkeit und Werk Bismarcks“ integrieren wollen,359 er hat in der Strukturgeschichte neue Gefahren der Vereinseitigung gesehen und dagegen das Recht der biographischen Methode reklamiert.360 In seiner 1980 erschienenen Bismarck-Biographie hat Lothar Gall, anders als seine literarischen Vorgnger auf diesem Felde, auch den Blick auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und auf die Opponenten Bismarcks, etwa auf den organisierten Liberalismus und die Parteien gerichtet.361 Damit hat Gall, wie betont worden ist, durchaus kompatibel mit Rosenberg, Wehler und Helmut Bçhme, einer ˜berhçhung Bismarcks vorgebeugt.362 Gegen diejenigen Interpretationen (seit Ziekursch), die die Reichsgrîndung kritisierten, weil sie „gegen den Geist der Zeit“ durchgesetzt worden sei, hat Gall freilich von einem durchaus liberalen Standpunkt aus Verwahrung eingelegt, zumal die Ordnung von 1871 „recht genau die Wînsche und Erwartungen einer breiten Mehrheit des deutschen Bîrgertums“ erfîllt habe,363 wiewohl er die inneren Spannungen des Reichs und die daraus resultierenden Belastungen thematisierte. Aber anders als Wehler reduzierte Gall das Zweite Reich nicht auf die Formel von einem „Großpreußen“.364 Otto Pflanze nahm ganz ausdrîcklich in seinen Studien zu Person und „Herrschaftstechnik Bismarcks“ Stellung gegen die neueren „Sozi359 Vgl. L. Gall, Einleitung … (s. Anm. 300), S. 23 f., mit Verweis u. a. auf Hans Rosenberg, Hans-Ulrich Wehler und Helmut Bçhme. 360 L. Gall, Einleitung … (s. Anm. 300), S. 10 f. 361 Z. B. Lothar Gall, Bismarck. Der weiße Revolutionr, Frankfurt am Main/Berlin/ Wien 1980, etwa S. 261, S. 578 f., S. 581 ff. 362 Jîrgen Kocka, Bismarck-Biographien, in: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), S. 572 – 581, hier S. 573. 363 L. Gall, Bismarck … (s. Anm. 361), S. 260; gegen die „Bonapartismus“-Interpretation: S. 182; vgl. damit B. Faulenbach, Sonderweg … (s. Anm. 350), S. 18, der den Gegensatz von Galls Werk zur jîngeren Sozialgeschichte betont; vgl. ferner die vorzîgliche Abhandlung von Hellmut Seier, Region, Modernisierung und Deutschlandpolitik. Die „Preußenwelle“ in landesgeschichtlicher Sicht, in: HessJbLdG 33 (1983), S. 347 – 401, hier S. 388 f., (S. 391 zu Andreas Hillgrubers kurz vorher erschienener Bismarck-Skizze); zum Folgenden kritisch J. Kocka, Bismarck-Biographien … (s. Anm. 362), S. 575 f., Kocka zum Vergleich von Gall, und Fritz Stern, Gold und Eisen. Bismarck und sein Bankier Bleichrçder, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1978; Gustav Seeber, Rezension zu Gall, in: ZGWiss 34 (1986), S. 256 – 258, bes. S. 256 f.; Andreas Hillgruber, Zu Lothar Galls Bismarck-Biographie, in: Das historisch-politische Buch 28 (1980), S. 321. 364 Lothar Gall, Bismarcks Preußen, das Reich und Europa, in: HZ 234 (1982), S. 317 – 336, hier S. 325 f., Mediatisierung Preußens: S. 327; vgl. dagegen Hans-Ulrich Wehler, Galls „Bismarck“ – Vorzîge, Grenzen und Rezeption einer Biographie, zuerst 1981, wieder in: Ders., Preußen ist wieder chic … (s. Anm. 347), S. 87 – 98, hier S. 97 Anm. 9.

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alwissenschaften“, zu den Modellen von „Negativer Integration“, „Bonapartismus“ und „Sozialimperialismus“.365 – Die Rîckkehr der großen Person in die wissenschaftliche Diskussion auf preußischen Feldern ist dann fîr die ltere preußische Geschichte durch das wichtige Friedrich-Buch Theodor Schieders angezeigt worden. Es ersetzt in stofflicher Hinsicht die Grundlagenwerke Reinhold Kosers366 nicht, fîgt vielmehr auf der Basis des klassischen (Editions)Materials und durch Rîckgriff auf zeitgençssische Drucke eine Folge eher locker komponierter Essays zusammen, die freilich – und das unterschied Schieder von der Masse der chronisch redundanten Friedrich-Literatur – immer wieder durch frappierende Einsichten und weiterfîhrende Thesen besticht.367 Schieders Bemîhen, Individuum und Strukturen zu vermitteln, ist auch in seinen Beitrgen zur preußischen Geschichte offenbar.368 Eine jîngere Historikergeneration hat dann seit der Mitte der achtziger Jahre mit biographischen 365 Vgl. oben Anm. 348; hier: Otto Pflanze, Bismarcks Herrschaftstechnik als Problem der gegenwrtigen Historiographie, in: HZ 234 (1982), S. 561 – 599, hier S. 562 f. und passim mit der Kontroversliteratur; dagegen schroff Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 3, Mînchen (1995), S. 1373, S. 368 vorsichtig distanziert zur Bonapartismus-Konzeption; vgl. T. Welskopp, Identitt … (s. Anm. 305), S. 128; informativ: Hellmut Seier, Bismarck und der „Strom der Zeit“. Drei neue Biographien und ein Tagungsband, in: HZ 256 (1993), S. 689 – 709, hier S. 700 – 704, auch zum dreibndigen Hauptwerk Pflanzes; zuerst Otto Pflanze, Bismarck and the Development of Germany. The Period of Unification, 1815 – 1871, Princeton/New Jersey 1963; aus der deutschen (Neu-)Auflage Ders., Bismarck. Der Reichskanzler, Mînchen 1998, fîr die Zeit ab 1875. 366 Vgl. oben bei Anm. 168. 367 Theodor Schieder, Friedrich der Große. Ein Kçnigtum der Widersprîche, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983, etwa zur altpreußischen Hofstruktur S. 16 f.; zum Folgenden etwa S. 73 – 101, zur Kategorie der historischen Grçße die (in Variationen mehrfach gedruckte) Studie S. 473 – 491; vgl. aus den Rezensionen: Volker Sellin beziehungsweise Ingrid Mittenzwei, in: Geschichte und Gesellschaft 12 (1986), S. 93 – 105; vgl. damit – hervorgegangen im Zusammenhang mit Forschungen zum dynastischen Fîrstenstaat und zum dynastischen Faktor in der Mchtepolitik – Johannes Kunisch, Friedrich der Große. Der Kçnig und seine Zeit, (Mînchen 2004); vgl. auch oben Anm. 207; Ders. (Hg.), Der dynastische Fîrstenstaat. Zur Bedeutung der Sukzessionsordnungen fîr die Entstehung des frîhmodernen Staates (= Historische Forschungen, 21), Berlin (1982), darin vom Hg. S. 49 – 80; vgl. noch speziell: Ders., Das Mirakel des Hauses Brandenburg. Studien zum Verhltnis von Kabinettspolitik und Kriegsfîhrung im Zeitalter des Siebenjhrigen Krieges, Mînchen/Wien 1978, bes. S. 17 ff.; und dazu K. Zernack, Das preußische Kçnigtum … (s. Anm. 207), hier S. 14 f., S. 20 – zur Frage der Zsurqualitt des Siebenjhrigen Krieges. 368 So Lothar Gall, Theodor Schieder 1908 – 1984, in: HZ 241 (1985), S. 1 – 25, hier S. 9, S. 13, S. 20 f. (Friedrichbuch); zum Interesse Schieders an preußischen Themen seit seiner Beschftigung mit der Krçnung von 1701 in der Mitte der 1930er Jahre: Wolfgang J. Mommsen, Vom Beruf des Historikers in einer Zeit beschleunigten Wandels. Theodor Schieders historiographisches Werk, in: VjhefteZG 33 (1985), S. 387 – 405, hier S. 391, S. 402 f.

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Zugngen zur politischen Welt des vornationalen Preußen in der Zeit Friedrich Wilhelms IV. wichtige Resultate zur modernen Konservativismusforschung erbracht (Frank-Lothar Kroll; Hans-Christof Kraus). Erst die Biographik der jîngsten Zeit machte diesen ebenso schwierigen wie faszinierenden Monarchen der geschichtswissenschaftlichen Analyse zugnglich.369 Gerhard Oestreich hat zuletzt in zwei biographischen Skizzen zu brandenburg-preußischen Monarchen seine Programme zu einer erneuerten Frîhneuzeitforschung, insbesondere zu Grundproblemen des frîhmodernen Staates fruchtbar gemacht.370 Die Rezeption von Oestreichs Periodisierungsvorschlgen hat im Zusammenspiel mit der Stndeforschung Impulse gesetzt, die freilich in der Folgezeit nicht entschlossen genug in intensivierter Quellenforschung zu monographischer Vertiefung genutzt worden sind.371 Wichtige Arbeiten zur Sozial- und Wirtschaftsgeschichte um 1800 und in den modernen Epochen verdanken Anregungen der Nationalçkonomie.372 369 Aus der Schule Andreas Hillgrubers, aber auch den Fragestellungen von Hans-Joachim Schoeps verpflichtet: Frank-Lothar Kroll, Friedrich Wilhelm IV. und das Staatsdenken der deutschen Romantik (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 72), Berlin 1990, bes. S. 3, S. 5 ff., Romantik: S. 29 ff., S. 67 („Einheitlichkeit und Geschlossenheit“ der Verfassungskonzeption), S. 101 ff. u. ç.; Hans-Christof Kraus, Ernst Ludwig von Gerlach. Politisches Denken und Handeln eines preußischen Altkonservativen (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 53), 2 Bde., Gçttingen 1994, etwa 1, S. 13, S. 15 f., S. 18 f. u. ç., S. 29, S. 165 – 173 und passim; Ders., Altkonservativismus und Kritik der Moderne, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften in Gçttingen 1994, Gçttingen o. J., S. 59 – 62; zur Sache ferner die vorzîgliche Biographie von David E. Baclay, Anarchie und guter Wille. Friedrich Wilhelm IV. und die preußische Monarchie, deutsche Ausgabe, (Berlin 1995), bes. S. 112 – 119, nationale Frage: S. 272 – 286, S. 398 – 406; vgl. Gînther Grînthal oben in Anm. 346; wichtige und quellengesttigte Studien Gînther Grînthals zur preußischen Verfassungs- und Parlamentsgeschichte nach 1848 und bis in die „øra Manteuffel“ jetzt vereinigt in seinem Bande: Verfassung und Verfassungswandel, Ausgewhlte Abhandlungen, hg. v. FrankLothar Kroll u. a. (= Historische Forschungen, 78), Berlin 2003. 370 Gerhard Oestreich, Friedrich Wilhelm I. Preußischer Absolutismus, Merkantilismus, Militarismus (= Persçnlichkeit und Geschichte, 96/97), Gçttingen u. a. 1977, etwa S. 71 – 80; Ders., Friedrich Wilhelm, der Große Kurfîrst (= Persçnlichkeit und Geschichte, 65), Gçttingen u. a. 1971, bes. S. 84 ff. (zum europischen Absolutismus); vgl. noch mit anregenden Beobachtungen und geringer Systematik: Ernst Opgenoorth, Friedrich Wilhelm. Der Große Kurfîrst von Brandenburg, 2 Bde., Gçttingen u. a. 1971 – 1978. 371 Peter Baumgart / Jîrgen Schmdeke (Hg.), Stndetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Ergebnisse einer internationalen Fachtagung (= VerçffHistKommBerlin, 55), Berlin/New York 1983, der Band ist G. Oestreich gewidmet; vgl. noch W. Neugebauer, Wandel … (s. Anm. 352), S. 1 – 27. 372 Wesentliche Beitrge von Karl Heinrich Kaufhold, Das Gewerbe in Preußen um 1800 (= Gçttinger Beitrge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 2), Gçttingen 1978, Fragestellung: S. 8 ff.; vgl. auch aus dem Industrialisierungsschwerpunkt, der um 1970

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Hingegen sind Ereignisse, wie das von politischer Seite und ohne neue Forschungssubstanzen fîr 1981 ausgerufene „Preußenjahr“, abgesehen von einigen originellen oder konventionellen ˜berblicken,373 wissenschaftlich ohne Effekt geblieben. Mediale Inszenierungen traten mehr und mehr an die Stelle substanzieller wissenschaftlicher Entdeckungen. Unabhngig davon wurde um 1980 die Erforschung des demokratischen Preußen seit 1919 (Horst Mçller / Hagen Schulze) zu einem innovativen Beitrag zeithistorischer Forschung. Bis in die Zeit der „Wende“ um 1990 blieb zudem die archivische Teilung eine schwere Belastung fîr jede innovative Quellenforschung. Die Wiederbegrîndung der altehrwîrdigen „Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte“ durch die Preußische Historische Kommission mochte als programmatisches Signal verstanden werden. Sie werden heute in Zusammenarbeit mit dem Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz herausgegeben, das auf diesem Forschungsfelde seine alte Bedeutung zurîckgewonnen hat. III. Preußen als Forschungsthema in der DDR und in Polen Die Geschichtswissenschaft in der DDR konnte bis 1989 unter strategisch gînstigen Bedingungen produzieren. Die wichtigsten Quellenbestnde zur preußischen Geschichte lagen auf ihrem Territorium, und zwar in den Archiven in von Wolfram Fischer an der Historischen Kommission zu Berlin betrieben worden ist: Otto Bîsch, Industrialisierung und Gewerbe im Raum Berlin/Brandenburg 1800 – 1850 … (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 9), Berlin 1971, bes. S. 3 – 11; Theoriediskussion und Empiriereferat: Otto Bîsch, Industrialisierung und Geschichtswissenschaft. Ein Beitrag zur Thematik und Methodologie der historischen Industrialisierungsforschung, Berlin (1969). 373 Ersteres: Rudolf von Thadden, Fragen an Preußen. Zur Geschichte eines aufgehobenen Staates, Mînchen (1981), Anlaß: S. 9; letzteres: Gerd Heinrich, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt am Main/Berlin/Wien (21984), passim die Betonung von Hof und Dynastie; beste Gesamtdarstellung zuvor: Richard Dietrich, Kleine Geschichte Preußens, Berlin (1966), mit interessanten Blicken auf die frîhe brandenburg-schsische Konkurrenz (S. 26 – 63 u. ç.); Preußen in der Weimarer Republik: vor allem Horst Mçller, Parlamentarismus in Preußen 1919 – 1932 (= Handbuch der Geschichte des deutschen Parlamentarismus), Dîsseldorf 1985; Hagen Schulze, Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 21977, jeweils mit Nachweis der lteren Literatur (Georg Kotowski, Hans-Peter Ehni, u. a. m.); vgl. noch H. Seier, Region … (s. Anm. 363), S. 351 f., zum essayistischen Ertrag (Haffner): S. 353 ff. „Schnellschîsse“ um 1980, S. 362: „Die Summe ist nicht berauschend“; hnlich B. Vogel, Literaturbericht … (s. Anm. 354), S. 377; und Klaus Zernack, Preußen – Polen – Rußland. Betrachtungen am Ende des „Preußen-Jahres“, in: JbGMitteldtld 31 (1981), S. 106 – 125, hier S. 117 („in Ost und West doch ein in diesem Umfang unerwartetes Ausmaß an Konventionalitt“).

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Merseburg und in Potsdam.374 Die Benutzung dieser Bestnde fîr Historiker aus der alten Bundesrepublik oder gar aus West-Berlin war hingegen problematisch oder gar unmçglich. In der DDR der fînfziger Jahre war die Forschung auf Feldern der preußischen Geschichte auch nach ersten vorsichtigen Distanzierungen von Vorstellungen von einer ewigen deutschen „Misere“ von einer prinzipiell negativen Wertung der Rolle Preußens bestimmt. Nichtmarxistische Historiker, die nach 1949 fîr eine Zeit lang noch quantitativ stark vertreten waren,375 wurden marginalisiert oder eliminiert, zur Flucht gedrngt, bisweilen auch in den Suizid. „Seit den fînfziger Jahren hatte die Abteilung Propaganda und Wissenschaft des ZK der SED jeglicher Autonomie der Forschung und Lehre ein Ende gesetzt.“376 Die Verankerung des Marxismus als verbindlicher Grundlehre bedeutete fîr Themen der preußischen Historie, daß die Vorgaben der „Klassiker“ und diejenigen von Franz Mehring377 fîr lange Zeit quasi kanonische Bedeutung besaßen.378 Mit der „Entstalinisierung“ in den spten fînfziger Jahren ergaben sich Chancen zu einer ersten, noch sehr vorsichtigen Revision bisheriger Dogmen.379 Freilich war es schon in der Frîhzeit der DDR durchaus mçglich, in unbefangener Weise die preußischen Reformen und Fîhrer aus der Zeit der Befreiungskriege zu behandeln, was wohl auch aus der preußisch-russischen Bîndniskonstellation von 1813 zu erklren ist.380

374 Vgl. oben bei Anm. 283; J. Mittenzwei / K.-H.-Noack, Einleitung … (s. Anm. 284), S. 21. 375 Vgl. A. Fischer, Der Weg … (s. Anm. 288), S. 156 – 158; J. Mirow, Das alte Preußen … (s. Anm. 189), S. 297 – 305; W. Schulze, Geschichtswissenschaft … (s. Anm. 235), S. 186; wichtig: Martin Sabrow, Das Diktat des Konsenses. Geschichtswissenschaft in der DDR 1949 – 1969 (= Ordnungssysteme, 8), Mînchen 2001, S. 81 – 87. 376 Mit weiteren Details Edgar Wolfrum, Die Preußen-Renaissance: Geschichtspolitik im deutsch-deutschen Konflikt, in: Martin Sabrow (Hg.), Verwaltete Vergangenheit. Geschichtskultur und Herrschaftslegitimation in der DDR, Leipzig 1997, S. 145 – 166, hier S. 151. 377 Vgl. oben bei Anm. 216/217. 378 H. Alexander Krauss, Die Rolle Preußens in der DDR-Historiographie. Zur Thematisierung und Interpretation der preußischen Geschichte durch die ostdeutsche Geschichtswissenschaft (= Europische Hochschulschriften, Reihe III, 544), Frankfurt am Main 1993, S. 27 f., S. 31 f. 379 Vgl. Jîrgen Kocka, Zur jîngeren marxistischen Sozialgeschichte. Eine kritische Analyse unter besonderer Berîcksichtigung sozialgeschichtlicher Anstze in der DDR, in: Peter Christian Ludz (Hg.), Soziologie und Sozialgeschichte. Aspekte und Probleme (= Kçlner Zeitschrift fîr Soziologie und Sozialpsychologie, Sonderheft 16), Opladen 1972, S. 491 – 514, hier S. 498. 380 Vgl. B. Holtz, Thema … (s. Anm. 319), S. 336 f.; E. Wolfrum, Preußen – Renaissance … (s. Anm. 376), S. 160 f.

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Politische Lenkung und Wissenschaftsplanung im Sinne von Schwerpunktbildungen spielten zusammen; frîhe wirtschaftsgeschichtliche Ertrge wie die kritische, aus den Quellen gearbeitete Monographie von Horst Krîger îber die preußischen Manufakturen in der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts waren langfristig wertvolle Nebenertrge aus der eigentlich geschichtspolitischaktuellen Arbeit in der Mitte der fînfziger Jahre, gleichsam verbindliche Lehrbîcher fîr den marxistischen Universittsbetrieb zu erstellen.381 Die neuere Forschung hat nun gezeigt, daß – anders als kurzfristige Phasenmodelle aus der DDR und die spekulative Einordnung bestimmter wissenschaftlicher Produkte aus Sicht der Bundesrepublik – die Forschungen zur preußischen Geschichte in der DDR von lngerfristigen Entwicklungen bestimmt worden sind; der „Rat fîr Geschichte“, parteiamtliches Lenkungsorgan seit den spten 1960er Jahren, hat sich ja mit Preußen nie zentral befaßt. Die Institutsgrîndungen der spten fînfziger Jahre, vor allen Dingen dasjenige Jîrgen Kuczynskis an der Akademie der Wissenschaften, haben bei aller offiziellen „Linientreue“ bemerkenswerte und durchaus nicht nur konformistische Resultate erarbeitet, und zwar von den sechziger bis in die achtziger Jahre. Dies war mçglich, weil „geduldete Spielrume“ (Holtz) genutzt werden konnten, die wissenschaftliche „Eigendynamik“ ermçglichten.382 Die 1985/1990 erschienene Bismarck-Biographie Ernst Engelbergs, des langjhrigen Prsidenten des Nationalkomitees der Historiker der DDR,383 381 Horst Krîger, Zur Geschichte der Manufakturen und der Manufakturarbeiter in Preußen. Die mittleren Provinzen in der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts (= Schriftenreihe des Instituts fîr allgemeine Geschichte an der Humboldt-Universitt Berlin, 3), Berlin 1958, S. 9 f.; vgl. B. Holtz, Thema … (s. Anm. 319), S. 317, zu den Studien von Eichholtz S. 342 f., Forschungsplne: S. 344 ff.; Hintergrînde bei M. Sabrow, Diktat … (s. Anm. 375), S. 183 – 201, zur umstrittenen Sicht auf Preußen S. 202; W. Conze, Geschichtswissenschaft … (s. Anm. 290), S. 28. 382 Hintergrînde in den Aktenforschungen von B. Holtz, Thema … (s. Anm. 319), S. 331, S. 346 f., S. 350; vgl. auch Jan Herman Brinks, Die DDR-Geschichtswissenschaft auf dem Weg zur deutschen Einheit. Luther, Friedrich II. und Bismarck als Paradigmen politischen Wandels (= Campus Forschung, 685), Frankfurt/New York (1992), S. 290, S. 294 – auch zum Folgenden; interessant ferner Jîrgen Kuczynski, „Ein linientreuer Dissident“. Memoiren 1945 – 1989, Berlin/Weimar 1994, S. 91 – 93 (auch zu Gegenstzen in der Gelehrtenschaft der DDR), S. 153 (keine Fçrderung zur Wirtschaftsgeschichte durch die Partei), S. 155, Niedergang in den 1970er Jahren: S. 156 – 159, mit lehrreichen Bezîgen. 383 Vgl. J. Kuczynski wie Anm. 382; Lothar Mertens, Lexikon der DDR-Historiker. Biographien und Bibliographien zu den Geschichtswissenschaftlern der Deutschen Demokratischen Republik, Mînchen 2006, S. 200 f.; vor allem: Ernst Engelberg, Bismarck. Urpreuße und Reichsgrînder, Berlin 1985, bes. S. 759 f. (mit Verweis auf Marx), ebd. „Bonapartismus“; dazu B. Holtz, Thema … (s. Anm. 319), S. 343 f., auch zum Folgenden, mit Verweis auf die Arbeiten von Helmut Bleiber, Hans-Heinrich Mîller u. a. m.; Siegfried Lokatis, Einwirkungen des Verlagssystems auf die Ge-

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wurde mißverstanden, wenn sie allein oder zu sehr auf die politische Lage beim Zeitpunkt ihres Erscheinens bezogen worden ist. Tatschlich geht ihre Entstehung bis in Planungen der mittleren sechziger Jahre zurîck. Schon zu dieser Zeit, seit 1960, traten in der Planung fîr die Akademieforschung preußische Themen in den Vordergrund. Engelberg subsumierte die Bismarck-Interpretation unter die auf Friedrich Engels zurîckgehende Formel von Bismarck als „kçniglich preußischem Revolutionr“.384 Die Debatte um politischen und gesellschaftlichen Wandel im 19. Jahrhundert als „Revolution von oben“ gehçrt in den gleichen Kontext. Der Rîckgriff auf diesen, freilich schon sehr viel lteren Topos385 ermçglichte es schließlich, die preußischen Reformen mit der marxistischen Revolutionstheorie in ˜bereinstimmung zu bringen beziehungsweise zu halten.386 schichtswissenschaftliche Forschung der DDR, in: M. Sabrow / P. Th. Walther (Hg.), Historische Forschung und sozialistische Diktatur … (s. Anm. 319), S. 180 – 192, hier S. 181; Konventionalitt Engelbergs: H. Seier, Bismarck … (s. Anm. 365), S. 691 f., S. 694 – 699, zu beiden Bnden; zum thematischen Kontext Peter Alter, Bismarck in der Geschichtsschreibung der DDR, in: A. Fischer / G. Heydemann (Hg.), Geschichtswissenschaft … (s. Anm. 284), S. 655 – 669, hier S. 656 – 659, S. 664 – 666; und exemplarisch Christoph Studt, Bismarck und kein Ende … Neue Literatur zur Person und Politik Otto von Bismarcks, in: Francia 19/3 (1992), S. 151 – 164, hier S. 152, organisiertes Medienereignis: S. 151, S. 164. 384 Mit Nachweisen P. Alter, Bismarck … (s. Anm. 383), S. 359; J. H. Brinks, DDRGeschichtswissenschaft … (s. Anm. 382), S. 281 f. 385 Vgl. etwa zum Absolutismus als einer „Revolution von oben“: Otto Hintze, Geist und Epochen der preußischen Geschichte, zuerst 1903, wieder in: Ders., Regierung und Verwaltung … (s. Anm. 177), S. 1 – 29, hier S. 11; und zur Reform nach 1806 bei Heinrich Otto Meisner, Zur neueren Geschichte des preußischen Kabinetts, in: ForschBrandPrG 36 (1924), S. 39 – 66, hier S. 40; zu Engelberg in diesem Sinne vgl. C. Studt, Bismarck … (s. Anm. 383), S. 153; ebd. S. 154 f. zu Engelbergs fîr eine marxistische Arbeit auffllig „verstndnisvolle(n), ja fast liebevolle(n) Annherung an Bismarck“. Ebd. zur „Renaissance des Nationalen“ und zur „weitschweifige(n) und alles in allem Bekanntes aufs neue detailliert darstellende(n) Erzhlung“ in Engelbergs „Bismarck“, aber „kaum neue Erkenntnisse“, und das trotz Archivzugang. 386 Vgl. z. B. Ernst Engelberg, Die preußische Reformzeit in ihren Struktur- und Entwicklungszusammenhngen, zuerst 1976, wieder in: Ders., Theorie, Empirie und Methode in der Geschichtswissenschaft. Gesammelte Aufstze, hg. v. Wolfgang Kîttler / Gustav Seeber, Lizenzausgabe: Vaduz/Liechtenstein 1980, S. 197 – 211, hier S. 199, S. 201 („Beginn der Revolution von oben“); vgl. zur weiteren Diskussion J. Kocka, Preußischer Staat … (s. Anm. 344), S. 54, S. 56 (auch zu Lenins These vom „preußischen Weg“); Gustav Seeber, Preußen seit 1789 in der Geschichtsschreibung der DDR, in: Ders. / Karl-Heinz Noack (Hg.), Preußen von der deutschen Geschichte nach 1789 (= Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut fîr Geschichte Studienbibliothek DDR-Geschichtswissenschaft, 3), Berlin 1983, S. 11 – 48, hier S. 27; und wiederum mit Bezug auf Friedrich Engels, Ernst Engelberg, Die historische Dimension der preußischen Reformen in der Epoche der sozialen Revolution (1789 – 1871), in: (Heinrich Scheel [Hg.]), Preußische Reformen – Wirkungen und Grenzen. Aus Anlaß des 150. Todestages des Freiherrn von und zum Stein, Berlin 1982,

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Die planwirtschaftliche Schwerpunktbildung (auch) auf dem Felde der Wissenschaften hatte die Folge, daß bestimmte klassische Themen, wie etwa die staatlichen Strukturen in der frîhen Neuzeit und die eigentliche Außenpolitik bis auf wenige Ausnahmen387 unbearbeitet blieben, andere Felder, wie etwa die fîr die preußische Geschichte der Frîhneuzeit und der Moderne in der Tat besonders wichtige Agrargeschichte aber îber Jahrzehnte mit großer Intensitt und in konzentrierter Aktenforschung gefçrdert worden sind. Die Namen von Hartmut Harnisch und Hans Heinrich Mîller, schließlich derjenige der Historiker-Archivarin Lieselott Enders (gest. 2009) sind hier zu nennen.388 Neben dem Institut fîr Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften war die Universitt Rostock389 ein Zentrum der Agrargeschichte in der DDR. Freilich darf dabei nicht vergessen werden, daß die Agrargeschichtsschreibung îber lange Zeit auch eine sehr politische Mission zu erfîllen hatte, nmlich die – so nannte man sie: – „Bodenreform“ zu legitimieren,390 d. h. die „Beseitigung“ der Rittergutsbesitzer im Herrschaftsbereich der SBZ. Wieder wurde ein politischer Argumentationskomplex zum Antrieb fîr Forschung, die in ihren wissenschaftlichen Resultaten îber die politische Mission weit hinauswies. Hatte die ltere deutsche Agrargeschichte ihre zentralen Interessengebiete in der „Agrarverfassungsgeschichte“, so traten nun gesellschaftliche Dynamik und Konflikte in den Mittelpunkt der Arbeit. Zu Recht besaß die Agrargeschichte der DDR in ihren quellengestîtzten Schwerpunkten einen guten und sogar internationalen Ruf; ihre Publikationen sind fîr die preußische Geschichte nach wie vor wichtig. In der Aktenforschung waren schon frîh Tendenzen der Ent-

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S. 44 – 53, hier S. 48 f.; und in diesem Band Helmut Bleiber, Zu den inneren Voraussetzungen und zur Bewertung der preußischen Reformen, S. 156 – 159, hier S. 156 (in Auseinandersetzung mit Walter Schmidt und Helmut Bock). So die bei Heinrich Otto Meisner entstandene Studie von Meta Kohnke zum Kabinettsministerium, von der nur ein Extrakt publiziert worden ist: Das preußische Kabinettsministerium. Ein Beitrag zur Geschichte des Staatsapparates im Sptfeudalismus, in: Jahrbuch fîr Geschichte des Feudalismus 2 (1978), S. 313 – 356, bes. S. 318 ff. Zunchst J. Kocka, Marxistische Sozialgeschichte … (s. Anm. 379), S. 509 Anm. 26; vgl. Wolfgang Neugebauer, Das alte Preußen. Aspekte der neuesten Forschung, in: Historisches Jahrbuch 122 (2002), S. 463 – 482. Herausgegeben von der Universitt Rostock, Sektion Geschichte: Agrarhistorische Forschungen in der DDR 1980 – 1990. Analysen und Berichte zur Agrargeschichtsschreibung des Feudalismus und des Kapitalismus (= Agrargeschichte, 22), Rostock 1990, mit einem Forschungsbericht u. a. von Ilona Buchsteiner und Gerhard Heitz. Wolfram Fischer / Frank Zschaler, Wirtschafts- und Sozialgeschichte, in: Jîrgen Kocka / Renate Mayntz (Hg.), Wissenschaft und Wiedervereinigung. Disziplinen im Umbruch (= Interdisziplinre Arbeitsgruppen. Forschungsberichte, 6), Berlin 1998, S. 361 – 434, hier S. 369, S. 372, „Bodenreform“: S. 394 f.; drastisches Beispiel: Hans Heinrich Mîller, Mrkische Landwirtschaft vor den Agrarreformen von 1807. Entwicklungstendenzen des Ackerbaues in der zweiten Hlfte des 18. Jahrhunderts (= Verçffentlichungen des Bezirksheimatmuseums Potsdam, 13), Potsdam 1967, S. 5, eine in der wissenschaftlichen Substanz freilich sehr wertvolle Studie.

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dogmatisierung erkennbar, in Publikationen, die sich freilich primr an die Fachçffentlichkeit wandten, wenn etwa fîr das spte 18. Jahrhundert Agrarmodernisierungen auf Adelsgîtern festgestellt wurden,391 die das Klischee von der Stagnation vor dem Eingreifen der großen Reformmnner krftig revidierten. Zugleich wuchs das Bewußtsein, daß die „herrschenden Klassen“ in die Analyse einbezogen werden mußten. Sptestens seit den siebziger Jahren wurde darangegangen, den Adel der mittleren preußischen Provinzen, d. h. der Mark Brandenburg und Pommerns zu analysieren,392 in Quellenforschungen, die îber die Schwelle von 1989/90 hinaus noch in jîngster Zeit zu beeindruckenden Resultaten gefîhrt haben. Jan Peters hat in den neunziger Jahren diese ursprînglich agrar- und adelsgeschichtlichen Studien durch volkskundlich-kulturgeschichtliche Methoden angereichert und in interdisziplinrer Arbeit an der Universitt Potsdam weitergefîhrt.393 Kurz vor dem Untergang der DDR wurde

391 Vgl. W. Neugebauer, Das alte Preußen … (s. Anm. 388), passim; Beispiel: Hans Heinrich Mîller, Der agrarische Fortschritt und die Bauern in Brandenburg vor den Reformen von 1807, zuerst 1964, wieder in: Hartmut Harnisch / Gerhard Heitz (Hg.), Deutsche Agrargeschichte des Sptfeudalismus (= Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut fîr Geschichte: Studienbibliothek DDR-Geschichtswissenschaft, 6), Berlin 1986, S. 186 – 212, hier S. 191 ff.; vgl. dazu Peter Meyers, Friedrich II. von Preußen … (s. Anm. 284), S. 331 – 366, hier S. 338, S. 361; Barbara Vogel, Das alte Preußen in der Geschichtswissenschaft der DDR. Zum Wandel des Preußenbildes in der DDR, in: a.a.O., S. 425 – 451, hier S. 432, zu Harnisch S. 452 f.; zur relativen Modernitt Preußens im 19. Jahrhundert (lt. H. Bleiber): D. Blasius, Einleitung … (s. Anm. 281), S. 21; Beispiel: Hartmut Harnisch, Kapitalistische Agrarreform und Industrielle Revolution. Agrarhistorische Untersuchungen îber das ostelbische Preußen zwischen Sptfeudalismus und bîrgerlich-demokratischer Revolution von 1848/49 unter besonderer Berîcksichtigung der Provinz Brandenburg (= Verçffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam, 19), Weimar 1984, S. 52 f., S. 55 und passim. 392 Vgl. Helmut Bleiber, Staat und bîrgerliche Umwlzung in Deutschland. Zum Charakter besonders des preußischen Staates in der ersten Hlfte des 19. Jahrhunderts, zuerst 1976, wieder in: G. Seeber / K.-H. Noack (Hg.), Preußen … (s. Anm. 386), S. 82 – 115, hier S. 84; und G. Seeber, Preußen … (s. Anm. 386), S. 32, S. 43; P. Meyers, Friedrich II. … (s. Anm. 391), S. 345. 393 Z. B. Jan Peters, Gutsherrschaftsgeschichte in historisch-anthropologischer Perspektive, in: Ders. (Hg.), Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frîhneuzeitlicher Agrargesellschaften (= HZ, Beihefte, 18), Mînchen 1995, S. 3 – 21, bes.: „Konfliktgemeinschaft“ (S. 16 – 18); die von Jan Peters hg. Reihe: Potsdamer Studien zur Geschichte der lndlichen Gesellschaft, 1 – 4, Kçln/ Weimar/Wien 2001 – 2003; und Ders., Mrkische Lebenswelten. Gesellschaftsgeschichte der Herrschaft Plattenburg-Wilsnack, Prignitz 1500 – 1800 (= Verçffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 53), Berlin 2007, Quellenbasis: S. 777, zum von Saldernschen Besitz; einige der Anstze wieder aufgegriffen bei Heinz Reif (Hg.), Elitenwandel in der Moderne, 1 ff., Berlin 2000 ff.

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mit Blick auf die internationale Absolutismus-Diskussion die Erforschung der Landstnde und des (Manufaktur-)Bîrgertums zum Programm erhoben.394 Jede Bilanzierung der (Archiv-)Forschungen in der DDR muß von diesen, im Westen nur von den Fachspezialisten verfolgten Schwerpunkten ausgehen. Die Reduktion auf grçßere Gesamtdarstellungen und ˜berblicke, die in speziellen Verlagen erschienen und im Sinne offen deklarierter Geschichts-„Propaganda“ fîr eine weitere §ffentlichkeit bestimmt waren, verzerrt ganz entschieden das Bild. Die Fixierung auf mediale Ereignisse hat die Einsicht in die Langfristigkeit der Entwicklung und die relative Autonomie der Forschung unter der sozialistischen Diktatur verstellt. Es geht also tatschlich nicht primr um Akzentverlagerungen der Preußen-Bewertung im Takte von Parteitagsbeschlîssen und im Gleichschritt mit Anpassungsbedîrfnissen an politische Großwetterlagen, wenn etwa um 1980 in der preußischen Geschichte neben „reaktionren“ auch „progressive Elemente“ anerkannt wurden.395 Der „Mangel an rechts- und staatshistorischen Forschungen“396 zur preußischen Geschichte wurde nun offen beklagt. Das Thema Preußen wurde in der spten DDR also breiter erforscht, in ganz offenbar sehr viel strkerer Unabhngigkeit von Vorgaben marxistischer Klassiker und Leitautoren. Neu war um 1980 die zur „Abrechnungsliteratur“ um 1950 im Widerspruch stehende Differenzierung, nach der es nun „keine geradlinige oder gar zwangslufige Entwicklung vom absolutistischen Preußen des 18. Jahrhunderts zur Hitlerdiktatur“ gegeben habe; „das Preußentum [!] kulminierte nicht im deutschen Faschismus“.397 Die Reduktion der Rolle Preußens in der Geschichtswissenschaft (und Geschichtspolitik) der spten DDR im Sinne neuer und aktueller Funktionen eines erweiterten Traditionsverstndnisses des sozialistischen Staates greift zu kurz, auch wenn sie sich auch auf die amtliche Selbstdarstellung der Ge-

394 I. Mittenzwei / K.-H. Noack, Einleitung … (s. Anm. 284), S. 43 f., S. 47 ff., (S. 41 f.: Parteitagsbeschlîsse der SED!). 395 Siehe den Leit-Aufsatz: Horst Bartel / Ingrid Mittenzwei / Walter Schmidt, Preußen und die deutsche Geschichte, zuerst in: Einheit 34 (1979), S. 637 – 646, wieder in: J. Mittenzwei / K.-H. Noack (Hg.), Preußen … (s. Anm. 284), S. 53 – 66, hier S. 53 f., S. 56; J. H. Brinks, DDR-Geschichtswissenschaft … (s. Anm. 384), S. 264 f., S. 271 f. (Distanzierung von Mehring). 396 G. Seeber, Preußen … (s. Anm. 386), S. 45; zum ganzen Komplex um 1980 auch der aufschlußreiche Beitrag von Helmut Meier / Walter Schmidt, Literaturbericht. Arbeiten zur Geschichte Preußens, in: Jahrbuch fîr Regionalgeschichte 10 (1983), S. 228 – 237, hier S. 228 f. 397 I. Mittenzwei / K.-H. Noack, Einleitung … (s. Anm. 284), S. 15; vgl. auch Ulrich Neuhusser-Wespy, Die SED und die Historie. Die Etablierung der marxistisch-leninistischen Geschichtswissenschaft der DDR in den fînfziger und sechziger Jahren, Bonn 1996, S. 25.

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schichtswissenschaft der DDR berufen kann.398 Die Eigendynamik einer sehr viel langfristiger entstandenen Forschung fîhrte zu vorsichtiger Emanzipation, freilich immer auf marxistischer Grundlage. Die zuletzt sprunghaft anwachsende Biographik, außer auf Engelberg sei exemplarisch auf die Friedrich-Biographie Ingrid Mittenzweis und die Arbeiten Karl-Heinz Bçrners verwiesen, fîgt sich in diesen Befund ein.399 Die vergleichsweise dogmatisch-marxistische ˜berblicksdarstellung von Gînter Vogler und Klaus Vetter galt schon sehr bald nach Erscheinen unter Fachleuten der DDR als îberholt: ihr Negativbild vom „Militrdespotismus“ wurde in den achtziger Jahren als Abschluß einer lngst vergangenen historiographischen „Periode“ (Mittenzwei / Noack) deklariert.400 – Wichtiger aber als die Frage, ob das Gesamtbild Preußens positiver gewertet wird oder Friedrich II. in differenzierterem Lichte erschien, ist die Beobachtung, daß seit den sechziger Jahren – vielleicht auch im Schutze der Akademie und unter den sehr spezifischen Bedingungen wirtschaftsgeschichtlicher Forschung am Institut Kuczynskis401 – Wandlungspotentiale der Strukturen im preußi-

398 Zur Erbe-Tradition-Konzeption am preußischen Beispiel siehe (mit bezeichnendem Titel) Klaus Vetter, Preußen und das Preußentum in der deutschen Geschichte (= Historiker-Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik), Berlin 1985, S. 4 f.; H. A. Krauss, Rolle … (s. Anm. 378), S. 100 f.; I. Mittenzwei / K.-H. Noack, Einleitung … (s. Anm. 284), S. 11 f.; „Eigendynamik“ der Forschung betont bei B. Holtz, Thema … (s. Anm. 319), S. 351 f. 399 H. Duchhardt, Stein-Bild … (s. Anm. 252), S. 22 f., zum Stein-Jubilum 1981, dem freilich eine intensive Editionsarbeit seit den 1950er Jahren voraufgegangen war; vgl. oben Anm. 199; Biographik: H. Meier / W. Schmidt, Literaturbericht … (s. Anm. 396), S. 235 f.; Peter Alter, Bismarck in der Geschichtsschreibung der DDR, in: A. Fischer / G. Heydemann (Hg.), Geschichtswissenschaft … (s. Anm. 284), S. 655 – 669, hier S. 663 f. (Literatur); H. A. Krauss, Rolle … (s. Anm. 378), S. 121 – 124, auch zu biographischen Sammelwerken. 400 Gînter Vogler / Klaus Vetter, Preußen. Von den Anfngen bis zur Reichsgrîndung, Berlin 41975, passim mit Schlgen gegen bundesrepublikanische Autoren, die im Literaturverzeichnis gar nicht nachgewiesen werden (und wohl nur Teilen der Leser zugnglich waren); I. Mittenzwei / K.-H. Noack, Einleitung … (s. Anm. 284), S. 40 f., mit Benennung kînftiger Forschungsaufgaben; Kritik auch bei H. Meier / W. Schmidt, Literaturbericht … (s. Anm. 396), S. 231 f., die Defizite bei Vogler und Vetter u. a. in der Darstellung „geistig-kultureller Prozesse“ feststellen; zur Genese des Bandes vgl. Klaus Vetter, Preußen und das reaktionre Preußentum in der deutschen Geschichte, in: ZGWiss 18 (1970), S. 529 – 533; mit G. Seeber, Preußen … (s. Anm. 386), S. 39 f.; aus den Rezensionen vgl. Gerhard Oestreich, in: HZ 217 (1973), S. 175 – 177, mit Kritik am Fehlen europischer Perspektiven und Ignorierung englischsprachiger Literatur (S. 175 f.); vgl. dann schon differenzierter und unter Verwendung breiteren und nachgewiesenen Materials: Ingrid Mittenzwei / Erika Herzfeld, Brandenburg-Preußen 1648 bis 1789. Das Zeitalter des Absolutismus in Wort und Bild, Berlin (beziehungsweise Kçln) 1987. 401 Vgl. Anm. 382 und Anm. 388.

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schen Staat und seinen Regionen erkannt worden sind,402 und schließlich wurde auch dem Staat und seinen Fîhrungsschichten eine „relative Selbstndigkeit“ gegenîber sozialçkonomischen Basisstrukturen konzediert. Dies ließ freilich von bundesrepublikanischer Seite die Kritik zu, daß die konkrete Verknîpfung wirtschaftlicher Verhltnisse mit politischen Entscheidungen von der Forschung in der DDR mehr vorausgesetzt, als empirisch untersucht werde.403 Das wachsende Interesse an Themen der preußischen Geschichte hat in Polen nicht nur Aufmerksamkeit, sondern auch – wie Mittenzweis Biographie Friedrichs II. – „viele Bedenken“ hervorgerufen.404 Dabei hat die Historiographie in der DDR sich in der Regel auf diejenigen Regionen Preußens konzentriert, wenn nicht – mit Ausnahmen – gar beschrnkt, die nun zum Staatsgebiet der DDR gehçrten. In der polnischen Historiographie wurde „die Geschichte Preußens fast ausschließlich in ihrem Bezug auf die eigene Geschichte“405 betrachtet. Darin liegt eine Gefahr begrîndet, weitere europische Dimensionen auszublenden. Neben der – ganz in der Kontinuitt zur Neuzeit bis in das Dritte Reich gesehenen – Geschichte des deutschen Ordens waren es Bismarck und natîrlich Friedrich „der Große“, die schon im 19. Jahrhundert, etwa durch Szymon Askenazy, Bearbeitung fanden.406 Nach 1945 hat dann Władysław Konopczyn´ski 402 Zur um einiges starreren Haltung Mittenzweis vgl. J. H. Brinks, DDR-Geschichtswissenschaft … (s. Anm. 382), S. 265 – 274, S. 275: wenig Neues; B. Vogel, DDR … (s. Anm. 391), S. 439 f. – Vielleicht hat auch die bundesrepublikanische Fixierung auf Verçffentlichungen wie diejenigen Mittenzweis den tieferen Blick auf Forschungsentwicklungen in der DDR verstellt. 403 J. Kocka, Marxistische Sozialgeschichte … (s. Anm. 379), S. 499, weiter S. 501; Ders., Preußischer Staat … (s. Anm. 344), S. 50 f., S. 52 zum Verhltnis von preußischem Staat und Industrialisierung, S. 55 („leider meist weggelassene Analyse des Willensbildungsprozesses“). 404 StanisŁaw Salmonowicz, Stand und Bedîrfnisse der Forschungen zur Geschichte des preußischen Staates von 1701 – 1871, in: Polnische Weststudien 5 (1986), S. 119 – 144; zum Folgenden wiederum B. Vogel, DDR … (s. Anm. 391), S. 439; Jîrgen Kmmerer, Friedrich der Große im geteilten Deutschland. Zwei neue Friedrich-Biographien im Vergleich, in: JbGMitteldtld 33 (1984), S. 158 – 173, hier S. 162; nîtzlicher Abriß (nicht speziell zum Preußenkomplex): Andrzej Grabski, Zarys historii historiografii polskiej, Poznan´ 2000, zu Askenazy S. 136, S. 143 f. u. ç. 405 Roland Gehrke, Das „ruberische Monstrum“. Preußen in der polnischen Historiographie des 19. und frîhen 20. Jahrhunderts, in: W. Neugebauer (Hg.), Das Thema Preußen … (s. Anm. 32), S. 205 – 229, hier S. 213 ff.; vgl. jîngst (und mit weiteren Epochendifferenzierungen) Klaus Zernack, Auf dem Weg zu einer Synthese der Geschichte Preußens. ˜ber einige polnische Beitrge nach dem Zweiten Weltkrieg, in: JbBrandenbLdG 59 (2008), S. 194 – 208, hier S. 195, S. 197 („Polonozentrismus“). 406 Vgl. Anm. 404; Klaus Zernack, Preußen als Problem der osteuropischen Geschichte, zuerst 1965, wieder in: Ders., Preußen – Deutschland – Polen. Aufstze zur Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen, hg. v. Wolfram Fischer / Michael G. Mîller (= Historische Forschungen, 44), Berlin 1991, S. 87 – 104, hier S. 87; Hanna Labrenz,

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die Polenpolitik Friedrichs II. untersucht.407 Die „Kînstlichkeit“ des preußischen Staates, der nichtdeutsche Charakter seiner Kerngebiete, sein – so Jûzef Feldman – antislavischer Charakter, das alles gehçrt zu den Topoi der polnischen Historiographie.408 Friedrich, den auch Konopczyn´ski freilich „den Großen“ nennt, wird allein als der Zerstçrer polnischer Staatlichkeit gesehen. Seit der Mitte der fînfziger Jahre war die polnische Historiographie wesentlich weniger marxistisch-leninistisch geprgt als die der DDR.409 Außer der preußischen Geschichte des Thorner Rechtshistorikers Stanisław Salmonowicz, die die Ertrge der polnischen Forschungen wohl doch nicht recht zur Geltung kommen lßt,410 wird nun – seit den sechziger Jahren vorbereitet und in DDR und Bundesrepublik mit Fachkollegen diskutiert – von Bogdan Wachowiak ein Handbuch der preußischen Geschichte herausgegeben, dessen bisher vorliegender erster Band bis 1701 fîhrt.411 Wichtig ist die reiche und schon zu handbuchartigen Zusammenfassungen gediehene Literatur zu denjenigen, çstlich der Oder gelegenen Regionen, die frîher zu Preußen gehçrten und deren

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Das Bild Preußens in der polnischen Geschichtsschreibung (= Historische Forschungen, 16), Rheinfelden 1986, S. 90 – 101; zu Feldman S. 103 – 105, auch zur konfessionellen Konnotation. WŁadysŁaw Konopczyn´ski, Fryderyk Wielki a Polska, (= Prace Institutu Zachodniego, 9), Poznan´ 1947, zur Teilungspolitik S. 165 – 183; zu Konopczynski und der Warschauer Historikerschule vgl. Jerzy Centkowski, Hauptrichtungen der polnischen Historiographie im 20. Jahrhundert, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Nationale Geschichtskulturen – Bilanz, Ausstrahlung, Europabezogenheit …, Mainz/Stuttgart 2006, S. 241 – 261, hier S. 244, S. 246, zur nationaldemokratischen Ausrichtung; H. Labrenz, Bild … (s. Anm. 406), S. 134 f.; und anlßlich der (populren) polnischsprachigen FriedrichBiographie von Stanisław Salmonowicz die Rezension von Klaus Zernack, in: JbGMitteldtld 35 (1986), S. 368 – 372, bes. S. 368 f. Jûzef Feldman, Polen und Preußen. Versuch einer Synthese, zuerst 1924, wieder in: Lothar Dralle (Hg.), Preußen – Deutschland – Polen im Urteil polnischer Historiker. Eine Anthologie, 1 (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 37), Berlin 1983, S. 45 – 60, hier S. 49, vgl. S. 52 f.; vgl. R. Gehrke, Monstrum … (s. Anm. 405), S. 216 ff., Ostpreußen als Staats-Zelle: S. 220; vgl. auch Jûzef Feldman, Das polnisch-deutsche Problem in der Geschichte, dt. Ausgabe: Marburg/Lahn 1961 [Original: Problem polsko-niemiecki w dziejach, Katowice 1946], bes. S. 63 f. (Polen und Preußen). Klaus Zernack, Nation – Unabhngigkeit – Weltoffenheit. Zur polnischen Geschichtswissenschaft im 20. Jahrhundert, in: H. Duchhardt (Hg.), Geschichtskulturen … (s. Anm. 407), S. 263 – 278, hier S. 272; auch J. Kocka, Marxistische Sozialgeschichte … (s. Anm. 379), S. 505, S. 512 Anm. 62. StanisŁaw Salmonowicz, Prusy. Dzieje pan´stwa i społeczen´stwa, Poznan´ 1987, nicht sehr glîckliche deutsche ˜bersetzung: Preußen. Geschichte von Staat und Gesellschaft (= Martin-Opitz-Bibliothek, 2), Herne 1995; dazu die Rez. von Wolfgang Neugebauer, in: HZ 265 (1997), S. 421 f. Vf. hat 1987 an einer solchen Diskussion in Berlin teilgenommen; vgl. K. Vetter, Preußen … (s. Anm. 400), S. 530; jetzt: Bogdan Wachowick, Dzieje BrandenburgiiPrus na progu nowoz˙ytnych (1500 – 1701) (= Historia Prus, 1), Poznan´ 2001.

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„Erforschung“ – zumindest zu einem erheblichen Teil – heute „zu einer Domne der polnischen Geschichtswissenschaft geworden ist“.412 „Man kann sagen, daß der politischen Annexion des preußischen Ostens eine historiographische Eroberung durch die polnische Landesgeschichte (Regionalgeschichte der Westgebiete) gefolgt ist.“413 Um so notwendiger ist es heute und kînftig, die Forschungen zur preußischen Geschichte mit denjenigen europischen Nachbarn zusammen in – und sei es streitiger – Kooperation zu betreiben, die mit Teilen Preußens auch historiographische Aufgaben, wenn nicht Traditionen îbernommen haben.

412 Klaus Zernack, Preußens Ende und die ostdeutsche Geschichte (= Vortrge im GeorgEckart-Institut), Braunschweig 1989, S. 5, vgl. auch S. 13; in diesem Sinne auch Udo Arnold, Ostdeutsche Landesforschung im letzten Vierteljahrhundert – das Beispiel Ostund Westpreußen, in: Werner Buchholz / Gînter Mangelsdorf (Hg.), Land am Meer. Pommern im Spiegel seiner Geschichte …, Kçln/Weimar/Wien 1995, S. 41 – 62, hier S. 43. 413 So: K. Zernack, Nation … (s. Anm. 409), S. 273; îber die regionale Handbuchliteratur der polnischen Forschung im typologischen Vergleich: Wolfgang Neugebauer, Forschung und Synthese. Das Handbuch der bayerischen Geschichte im wissenschaftsgeschichtlichen Kontext, in: ZBayerLdG 705 (2007), S. 11 – 32, zur Historia Pomorza: S. 31; vgl. noch Withold Jakûbczyk (Red.), Dzieje Wielkopolski, 2: Lata 1793 – 1918, Poznan´ 1973, programmatisch: S. 9 f.

B. Epochen der preußischen Geschichte

Brandenburg-Preußen in der Frîhen Neuzeit Politik und Staatsbildung im 17. und 18. Jahrhundert Von Wolfgang Neugebauer Bibliographie Anmerkung: Zu Bibliographien zur Preußischen Geschichte vgl. oben unter A, zur historiographischen „Einfîhrung in das Gesamtwerk“, bei 1; dort ferner unter 2 die auch fîr die frîhneuzeitlichen Jahrhunderte einschlgigen Gesamtdarstellungen. Ferner sei verwiesen auf die Literaturangaben von Klaus Zernack, Wilhelm Treue und Wolfgang Neugebauer in zweiten Bande, sowie die Bibliographien von Manfred Messerschmidt, Rudolf von Thadden und Martin Schulze Wessel im dritten Bande dieses Handbuches. Zeitschriften (in chronologischer Ordnung): Allgemeines Archiv fîr die Geschichtskunde des Preußischen Staates, 1 – 18, Berlin 1830 – 1835 (hg. von Leopold von Ledebur, fortgesetzt als: Neues Allgemeines Archiv fîr die Geschichtskunde des Preußischen Staates, 3 Bde., Berlin/Posen/Bromberg 1836); Mrkische Forschungen, hg. von dem Vereine fîr Geschichte der Mark Brandenburg, 1 – 20, Berlin 1841 – 1887 (erschienen in unregelmßigen Abstnden); Zeitschrift fîr Preußische Geschichte und Landeskunde, 1 – 20, 1864 – 1883; Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 1 – 55 (1888 – 1944), Neue Folge: 1 ff., (1991 ff.); Hohenzollern-Jahrbuch. Forschungen und Abbildungen zur Geschichte der Hohenzollern in Brandenburg-Preußen, 1 – 20 (1897 – 1916); Altpreußische Forschungen, 1 – 20 (1924 – 1943), auch als Nachdruck: Hamburg 1989; Mitteilungen des Vereins fîr die Geschichte Ost- und Westpreußens, 1 – 19 (1926 – 1944); Jahrbuch fîr brandenburgische Landesgeschichte 1 ff. (1950 ff.); Jahrbuch fîr die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 1 ff. (1952 ff.), (1 als: Jahrbuch fîr Geschichte des deutschen Ostens); Jahrbuch fîr Regionalgeschichte 1 ff. (1965 ff.); Jahrbuch fîr Geschichte des Feudalismus 1 – 14 (1977 – 1990). Editionen: Christian Otto Mylius (Hg.), Corpus Constitutionum Marchicarum …, 6 Tle., Berlin/Halle (1737 – 1751); (Dass.), Continuatio, Tl. 1 – 4, Berlin/Halle (1744 – 1751); (Dass.), Supplementa …, Berlin/Halle (1751); Novum Corpus Constitutionum Prussico-Brandenburgensium praecipue Marchicarum …, 12 Bde., Berlin (1753/56)1822, (dazu jeweils Repertorien und Register); Georg Grube (Hg.), Corpus Constitutionum Prutenicarum, Oder Kçnigliche Preußische Reichs-Ordnungen …, 3 Tle., Kçnigsberg 1721; J. J. Scotti (Hg.), Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem Herzogthum Cleve und in der Grafschaft Mark îber Gegenstnde der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind …, 5 Tle., Dîsseldorf 1826; Melle Klinkenborg (Hg.), Acta Brandenburgica. Brandenburgische Regierungsakten seit der Begrîndung des Geheimen Rates, 1 – 4, 1. Halbband (= Verçffentlichungen der Historischen Kommission fîr die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, 3), Berlin 1927 – 1930; Theodor von Moerner (Bearb.),

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Kurbrandenburgs Staatsvertrge von 1601 bis 1700. Nach den Originalen des Kçnigl. Geh. Staatsarchivs, Berlin 1867, ND (Berlin 1965); Bernhard Erdmannsdçrffer u. a. (Hg.), Urkunden und Actenstîcke zur Geschichte der Kurfîrsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 23 Bde., Berlin 1864 – 1930; Otto Meinardus (Hg.), Protokolle und Relationen des Brandenburgischen Geheimen Rathes aus der Zeit des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm, 7 Bde. (= PubllPreussStaatsarch, 41, 54, 55, 66, 80, 89, 91), Leipzig 1889 – 1919 (auch ND Osnabrîck 1965 – 1976, fîr die Jahre von 1640 bis 1666); Victor Loewe (Hg.), Preußens Staatsvertrge aus der Regierungszeit Kçnig Friedrichs I. (= PubllPreussStaatsarch, 92), Leipzig 1923; Ders. (Hg.), Preußens Staatsvertrge aus der Regierungszeit Kçnig Friedrich Wilhelms I. (= PubllPreussStaatsarch, 87), Leipzig 1913, ND Osnabrîck 1966; Rudolph Stadelmann, Friedrich Wilhelm I. in seiner Thtigkeit fîr die Landescultur Preußens (= PubllPreussStaatsarch, 2), Leipzig 1878, ND Osnabrîck 1965; Ders., Preußens Kçnige in ihrer Thtigkeit fîr die Landescultur, 2.–4. Tl. (= PubllPreussStaatsarch, 11, 25, 30), Leipzig 1882 – 1887 (dazu die kritische Stellungnahme von Wilhelm Naud¤, in: ForschBrandPrG 15 [1902], S. 1 – 32); Acta Borussica. Denkmler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hg. von der (Kçniglichen) Akademie der Wissenschaften, bearb. von Gustav Schmoller / Otto Hintze u. a., Berlin (beziehungsweise Hamburg/Berlin), 41 Bde., 1892 – 1982, versch. Reihen (auch Nachdrucke: Frankfurt am Main 1986/87); Wolfgang Neugebauer (Hg.), Schule und Absolutismus in Preußen. Akten zum preußischen Elementarschulwesen bis 1806 (= VerçffHistKommBerlin, 83, Quellenwerke, 8), Berlin/New York 1992; Politische Correspondenz Friedrichs des Großen (hg. von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, bearb. von Reinhold Koser / Albert Naud¤ u. a.), 1 – 47, Berlin (beziehungsweise Leipzig, Oldenburg, Kçln, Weimar, Wien) 1879 – 2003 (noch nicht abgeschlossen); Gustav Berthold Volz (Hg.), Die Werke Friedrichs des Großen. In deutscher ˜bersetzung, 10 Bde., Berlin 1913/14; Richard Dietrich (Bearb.), Die politischen Testamente der Hohenzollern (= Verçffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 20), Kçln/Wien 1986; Jîrgen Kloosterhuis (Bearb.), Bauern, Bîrger und Soldaten. Quellen zur Sozialisation des Militrsystems im preußischen Westfalen 1713 – 1803. Regesten (= Verçffentlichungen der staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe C, 29), Mînster 1992; Ders. (Bearb.), Legendre „lange Kerls“. Quellen zur Regimentskultur der Kçnigsgrenadiere Friedrich Wilhelms I. 1713 – 1740, Berlin 2003; Auswahlausgaben: Wilhelm Altmann (Hg.), Ausgewhlte Urkunden zur Brandenburgisch-Preußischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Zum Handgebrauch zunchst fîr Historiker, 1, Berlin 21914; Peter Baumgart (Hg.), Erscheinungsformen des preußischen Absolutismus. Verfassung und Verwaltung (= Historische Texte Neuzeit), Germering 1966. Epochenspezifische ˜berblicke (nach dem Datum des Erscheinens): Bernhard Erdmannsdçrffer, Deutsche Geschichte vom Westflischen Frieden bis zum Regierungsantritt Friedrich’s des Großen 1648 – 1740, 2 Bde. (= Allgemeine Geschichte in Einzeldarstellungen, 3. Abt., 7. Tl.), Berlin 1892/93 (u. ç.); vgl. damit H(ans) von Zwiedineck-Sîdenhorst, Deutsche Geschichte im Zeitraum der Grîndung des preußischen Kçnigtums (= Bibliothek Deutscher Geschichte), 2 Bde., Stuttgart 1890 – 1894; Max Immich, Geschichte des europischen Staatensystems 1660 – 1789 (= Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. II), Mînchen/Berlin 1905, ND Darmstadt 1967; Georg Kîntzel, Die drei großen Hohenzollern, in: Erich Marcks / Karl Alexander von Mîller (Hg.), Meister der Politik. Eine weltgeschichtliche Reihe von Bildnissen, 2, Stuttgart/Berlin 1923, S. 391 – 551 (auch

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separat); Max Braubach, Der Aufstieg Brandenburg-Preußens 1640 – 1815, Freiburg im Breisgau 1933; Fritz Hartung, Neuzeit. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Franzçsischen Revolution 1789 (= Handbuch fîr den Geschichtslehrer, 5, 1. Hlfte), Wien 1937, ND Darmstadt 1965; Gerhard Oestreich, Das Reich – Habsburgische Monarchie – Brandenburg-Preußen von 1648 bis 1803, in: Fritz Wagner (Hg.), Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklrung (= Handbuch der europischen Geschichte, 4), Stuttgart 1968, S. 378 – 475; Gerhard Oestreich, Verfassungsgeschichte vom Ende des Mittelalters bis zum Ende des alten Reiches (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 9. Aufl., [Taschenbuchausgabe], 11), Stuttgart 1970 u. ç.; Rudolf Vierhaus, Deutschland im Zeitalter des Absolutismus (1648 – 1763) (= Deutsche Geschichte, 9), Gçttingen 1978; Ders., Staaten und Stnde. Vom Westflischen bis zum Hubertusburger Frieden 1648 – 1763 (= Propylen Geschichte Deutschlands, 5), Berlin 1984; Michael Erbe, Deutsche Geschichte 1713 – 1790. Dualismus und Aufgeklrter Absolutismus, Stuttgart u. a. 1985; Ingrid Mittenzwei / Erika Herzfeld, Brandenburg-Preußen 1648 bis 1789. Das Zeitalter des Absolutismus in Text und Bild, Berlin (Ost) 1987, Lizenzausgabe Kçln 1987; Heinz Schilling, Hçfe und Allianzen. Deutschland 1648 – 1763 (= Siedler Deutsche Geschichte), Berlin 1989; Horst Mçller, Fîrstenstaat oder Bîrgernation. Deutschland 1763 – 1815, Berlin 1989, Taschenbuchausgabe Berlin 1998; Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600 – 1715 (= Die Neue Deutsche Geschichte, 5), Mînchen 1991; Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763 – 1848, Oxford 1994; Ernst Opgenoorth (Hg.), Handbuch der Geschichte Ostund Westpreußens. Im Auftrag der Historischen Kommission fîr ost- und westpreußische Landesforschung, Teil II/1, Lîneburg (1994), Teil II/2, (= Einzelschriften der Historischen Kommission fîr ost- und westpreußische Landesforschung, 10), Lîneburg (1996); Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern, 1: Anfnge, Landesstaat und Monarchische Autokratie bis 1740, Stuttgart/Berlin/Kçln (1996); Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700 – 1785 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, 4), Paderborn u. a. 1997; Heinz Schilling, Die neue Zeit. Vom Christenheitseuropa zum Europa der Staaten. 1250 bis 1750 (= Siedler Geschichte Europas), Berlin 1999; Heinz Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus, 3., îberarb. Aufl. (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 11), Mînchen 1998, erw. unter dem Titel: Barock und Aufklrung (= Oldenbourg Grundriß der Geschichte, 11), Mînchen 2007; Ernst Hinrichs, Fîrsten und Mchte. Zum Problem des europischen Absolutismus, Gçttingen (2000); Wolfgang Neugebauer, Zentralprovinz im Absolutismus. Brandenburg im 17. und 18. Jahrhundert (= Bibliothek der Brandenburgischen und Preußischen Geschichte. Brandenburgische Geschichte in Einzeldarstellungen, 4), Berlin 2001; Heinz Duchhardt, Europa am Vorabend der Moderne 1650 – 1800 (= Handbuch der Geschichte Europas, 6), Stuttgart 2003; Walter Demel, Reich, Reformen und sozialer Wandel 1763 – 1806 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., 12), Stuttgart 2005; Johannes Burkhardt, Vollendung und Neuorientierung des frîhmodernen Reiches 1648 – 1763 (= Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte, 10. Aufl., 11), Stuttgart 2006; Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559 – 1660 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, 2), Paderborn u. a. 2007. Biographische Literatur: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Preußens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., Mînchen (2000) u. ç.; Ernst Daniel Martin Kirchner, Die Churfîrstinnen und Kçniginnen auf dem Throne der Hohenzollern, im

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Wolfgang Neugebauer

Zusammenhange mit ihren Familien- und Zeit-Verhltnissen; aus den Quellen bearbeitet, 3 Tle., Berlin 1866; Friedrich Wilhelm Prinz von Preussen (Hg.), Preußens Kçnige, Gîtersloh/Wien 1971; Peter Mast, Die Hohenzollern in Lebensbildern, Graz/ Wien/Kçln 1988; Georg Schuster / Friedrich Wagner, Jugend und Erziehung der Kurfîrsten von Brandenburg und Kçnige von Preußen, 1 (= Monumenta Germaniae Paedagogica, 34), Berlin 1906; Walther Hubatsch, Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Deutschordens-Hochmeister und Herzog in Preußen 1490 – 1568 (= Studien zur Geschichte Preußens, 8), Heidelberg 1960; Ulrich Stutz, Kurfîrst Johann Sigismund von Brandenburg und das Reformationsrecht (= Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1922 I), (Berlin 1922); Ulrich Kober, Eine Karriere im Krieg. Graf Adam von Schwarzenberg und die kurbrandenburgische Politik von 1619 bis 1641 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 24), Berlin 2004 (dazu die Rez. von Wolfgang Neugebauer, in: HZ 281 [2005], S. 181 f.); Karl Spannagel, Konrad von Burgsdorff. Ein brandenburgischer Kriegs- und Staatsmann aus der Zeit der Kurfîrsten Georg Wilhelm und Friedrich Wilhelm (= Quellen und Forschungen zur Geschichte des Hauses Hohenzollern, Reihe III, 5), Berlin 1903; Martin Philippson, Der Große Kurfîrst Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 3 Tle., Berlin 1897 – 1903; Albert Waddington, Le Grand Electeur Fr¤d¤ric Guillaume de Brandenbourg. Sa politique ext¤rieure 1640 – 1688, 2 Bde., Paris 1905 – 1908 (dazu die Rezension von Karl Spannagel, in: ForschBrandPrG 19 [1906], S. 589 – 591 – sehr positiv); Ernst Opgenoorth, Friedrich Wilhelm. Der Große Kurfîrst von Brandenburg. Eine politische Biographie, 2 Tle., Gçttingen/Frankfurt/ Zîrich 1971 – 1978 (vgl. dazu die Rezension von Richard Dietrich, in: JbGMitteldtld 23 [1974], S. 303 – 307); Gerhard Oestreich, Friedrich Wilhelm, der Große Kurfîrst (= Persçnlichkeit und Geschichte, 65), Gçttingen/Zîrich/Frankfurt 1971; Derek McKay, The Great Elector, Harlow 2001; Max Hein, Otto von Schwerin. Der Oberprsident des Großen Kurfîrsten, Kçnigsberg in Preußen. 1929; Ders., Johann von Hoverbeck. Ein Diplomatenleben aus der Zeit des Großen Kurfîrsten, Kçnigsberg in Preußen 1925; Kurd Wolffgang von Schçning, Des General-Feldmarschalls Hans Adam von Schçning auf Tamsel Leben und Kriegsthaten namentlich sein Zug mit achttausend Brandenburgern gegen die Tîrken. Ein Beitrag zur Erkennung der Zeitverhltnisse in den kurbrandenburgischen und kurschsischen Landen whrend der 2ten Hlfte des 17ten Jahrhunderts, Berlin 1837; Hermann Dalton, Daniel Ernst Jablonski. Eine preußische Hofpredigergestalt in Berlin vor zweihundert Jahren, Berlin 1903; Linda Frey / Marsha Frey, Frederick I. The Man and His Time (= East European Monographs, 166), Boulder/New York 1984, dt. Ausgabe: Friedrich I. Preußens erster Kçnig, (Graz/Wien/Kçln 1984), dazu die Rez. von Wolfgang Neugebauer, in: HZ 244 (1987), S. 437 f.; Franz Horn, Friedrich der Dritte, Kurfîrst von Brandenburg, Erster Kçnig von Preußen, Berlin 1816; Karl Freiherr von Ledebur, Kçnig Friedrich I. von Preußen. Beitrge zur Geschichte seines Hofes sowie der Wissenschaften, Kînste und Staatsverwaltung seiner Zeit, Leipzig 1878; Sophie Charlotte und ihr Schloß. Ein Musenhof des Barock in Brandenburg-Preußen, hg. v. der Generaldirektion der Stiftung Preußische Schlçsser und Grten Berlin-Brandenburg, Mînchen/London/New York (1999); Rolf Thomas Senn, Sophie Charlotte von Preußen, Weimar 2000; K(ohra) Ghayegh-Pisheh, Sophie Charlotte von Preußen. Eine Kçnigin und ihre Zeit, Stuttgart 2000; Gustav Kramer, August Hermann Francke. Ein Lebensbild, 2 Tle., Halle an der Saale 1880 – 1882; Erich Beyreuther, August Hermann Francke und die Anfnge der çkumenischen Bewegung, Leipzig 1957; Ders., August Hermann Francke. Zeuge des lebendigen Gottes, Berlin 21960; Kurd Wolffgang von Schçning, Des General-Feldmarschalls Dubislav Gneomar von

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Natzmer auf Gannewitz Leben und Kriegsthaten …, Berlin 1838; Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Der Alte Dessauer. Fîrst Leopold von Anhalt-Dessau. Eine Studie seines Lebens und Wirkens, Potsdam (1936); K(arl) Linnebach, Kçnig Friedrich Wilhelm I. und Fîrst Leopold I. von Anhalt-Dessau (= Erzieher des Preußischen Heeres, 2), Berlin 21908; Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Der Baumeister des preußischen Staates. Leben und Wirken des Soldatenkçnigs Friedrich Wilhelms I., Jena (1934); Carl Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. Kçnig in Preußen. Eine Biographie. Jugend und Aufstieg, Hamburg (21943); Fritz Hartung, Kçnig Friedrich Wilhelm I., der Begrînder des preußischen Staates (= Preußische Akademie der Wissenschaften. Vortrge und Schriften, 11), Berlin 1942; Gerhard Oestreich, Friedrich Wilhelm I. Preußischer Absolutismus, Merkantilismus, Militarismus (= Persçnlichkeit und Geschichte, 96/97), Gçttingen/Zîrich/Frankfurt (1977); Reinhold Koser, Friedrich der Große als Kronprinz, Stuttgart 1886; Ernest Lavisse, Die Jugend Friedrichs des Großen 1712 – 1740. Mit einer Einfîhrung von Gustav Berthold Volz, 6.–10. Tausend, Berlin (1919); J(ohann) D(avid) E(rdmann) Preuss, Friedrich der Große. Eine Lebensgeschichte, 4 Bde., Berlin 1832 – 1834; Reinhold Koser, Geschichte Friedrichs des Großen, 4. und 5. Aufl., 4 Bde., Stuttgart/Berlin 1912 – 1914; Gerhard Ritter, Friedrich der Große. Ein historisches Profil, Heidelberg 31954 (Rezension der 1. Aufl. durch Gerhard Oestreich, in: HZ 161 [1941], S. 597 – 600); Arnold Berney, Friedrich der Große. Entwicklungsgeschichte eines Staatsmannes, Tîbingen 1934; Ingrid Mittenzwei, Friedrich II. von Preußen. Eine Biographie, Berlin (Ost) 21980, Lizenzausgabe Kçln 1980; Theodor Schieder, Friedrich der Große. Ein Kçnigtum der Widersprîche, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983 (dazu die Rezension von Volker Sellin, in: Geschichte und Gesellschaft 12 [1986], S. 93 – 105); Karl Otmar von Aretin, Friedrich der Große. Grçße und Grenzen des Preußenkçnigs, Freiburg 1985 u. ç.; Oswald Hauser (Hg.), Friedrich der Große in seiner Zeit (= Neue Forschungen zur Brandenburg-Preußischen Geschichte, 8), Kçln/ Wien 1987; Johannes Kunisch (Hg.), Persçnlichkeiten im Umkreis Friedrichs des Großen (= Neue Forschungen zur Brandenburg-Preußischen Geschichte, 9), Kçln/ Wien 1988; Ders., Friedrich der Große. Der Kçnig und seine Zeit, Mînchen 2004; (Ruthild Deus [Hg.]), Elisabeth Christine Kçnigin von Preußen. Zum Gedenken, Berlin 1997; Friedrich Wilhelm M. von Hahnke, Elisabeth Christine, Kçnigin von Preußen, Gemahlin Friedrichs des Großen, Berlin 1848; Eva Ziebura, Prinz Heinrich von Preußen. Preußische Kçpfe, Berlin 1999; C(ester) V. Easum, Prinz Heinrich von Preußen. Bruder Friedrichs des Großen, (dt.:) Gçttingen/Berlin/Frankfurt am Main (1958); Wilhelm Moritz Pantenius, Der Prinz von Preußen, August Wilhelm, als Politiker (= Historische Studien, 108), Berlin 1913, ND Vaduz 1965; Friedrich Baron de la Motte Fouqu¤, Lebensbeschreibung des Kçnigl. Preuß. Generals der Infanterie Heinrich August Baron de la Motte Fouqu¤. Verfaßt von seinem Enkel, Berlin 1824, ND Buchholz/Sprçtze 2007; Georg Winter, Hans Joachim von Zieten. Eine Biographie, 2 Bde., Leipzig 1886; A. von Janson, Hans Karl von Winterfeldt, des Großen Kçnigs Generalstabschef, Berlin 1913; Ludwig Mollwo, Hans Carl von Winterfeldt. Ein General Friedrichs des Großen (= HistBibl, 9), Mînchen/Leipzig 1899; Peter Mainka, Karl Abraham von Zedlitz und Leipe (1731 – 1793). Ein schlesischer Adliger in Diensten Friedrichs II. und Friedrich Wilhelms II. von Preußen (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 8), Berlin 1995; Erich Joachim, Johann Friedrich von Domhardt. Ein Beitrag zur Geschichte von Ost- und Westpreußen unter Friedrich dem Großen, Berlin 1899; Brigitte Meier, Friedrich Wilhelm II. Kçnig von Preußen (1744 – 1797). Ein Leben zwischen Rokoko und Revolution, Regensburg 2007; W. M. Freiherr von Bissing,

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Friedrich Wilhelm II. Kçnig von Preußen. Ein Lebensbild, Berlin 1967; (Christoph Martin Vogtherr / Susanne Evers [Red.]), Friedrich Wilhelm II. und die Kînste. Preußens Weg zum Klassizismus, o.O. 1997; Adolf Stçlzel, Carl Gottlieb Svarez. Ein Zeitbild aus der zweiten Hlfte des achtzehnten Jahrhunderts, Berlin 1885; Rolf Straubel, Carl August von Struensee. Preußische Wirtschafts- und Finanzpolitik im ministeriellen Krftespiel (1786 – 1804/06) (= Bibliothek der Brandenburgischen und Preußischen Geschichte), Potsdam 1999; Thomas Stamm-Kuhlmann, Kçnig in Preußens großer Zeit. Friedrich Wilhelm III., der Melancholiker auf dem Thron, Berlin 1992; Olaf Jessen, „Preußens Napoleon“? Ernst von Rîchel 1754 – 1823. Krieg im Zeitalter der Vernunft, Paderborn 2007; Joh(ann) Gust(av) Droysen, Das Leben des Feldmarschalls Grafen York von Wartenburg, 3 Bde., 2., unvernderte Aufl., Berlin 1851/52; Friedrich Meinecke, Das Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boyen, 1, Stuttgart 1896; Wolfgang von Unger, Blîcher, 1: Von 1742 bis 1811, Berlin 1907; Peter Paret, Yorck and The Era Of Prussian Reform 1807 – 1815, Princeton/New Jersey 1966; Heinz Duchhardt, Stein. Eine Biographie, Mînster 2007. Politische Struktur und Staatsbildung; a) Ausgewhlte Aufsatzsammlungen: Otto Hintze, Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens, 2., durchges. Aufl., hg. und eingel. von Gerhard Oestreich (= Gesammelte Abhandlungen, 3), Gçttingen 1967; Gustav Schmoller, Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, ND Hildesheim/ New York 1974; Beitrge zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. Festschrift zu Gustav Schmollers 70. Geburtstag, hg. vom Verein fîr Geschichte der Mark Brandenburg, Leipzig 1908; Reinhold Koser, Zur preußischen und deutschen Geschichte. Aufstze und Vortrge, Stuttgart/Berlin 1921; Carl Hinrichs, Preußen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hg. von Gerhard Oestreich (= VerçffHistKommBerlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universitt Berlin 10), Berlin 1964; Fritz Hartung, Staatsbildende Krfte der Neuzeit. Gesammelte Aufstze, Berlin 1961; (Richard Dietrich [Hg.]), Preußen. Epochen und Probleme seiner Geschichte, Berlin 1964; Gerhard Oestreich, Geist und Gestalt des frîhmodernen Staates – Ausgewhlte Aufstze, Berlin 1969; Ders., Strukturprobleme der frîhen Neuzeit. Ausgewhlte Aufstze, hg. von Brigitta Oestreich, Berlin 1980; Eberhard Schmidt, Beitrge zur Geschichte des preußischen Rechtsstaates (= Schriften zur Verfassungsgeschichte, 32), Berlin 1980; Hans Rosenberg, Machteliten und Wirtschaftskonjunkturen. Studien zur neueren deutschen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 31), Gçttingen 1978; Hans-Jîrgen Puhle / Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rîckblick (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 6), Gçttingen 1980; Dirk Blasius (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, Geschichte, 111), Kçnigstein im Taunus 1980; Barbara Vogel (Hg.), Preußische Reformen 1807 – 1820 (= Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 96), Kçnigstein im Taunus 1980; Peter Baumgart / Jîrgen Schmdeke (Hg.), Stndetum und Staatsbildung in Brandenburg-Preußen. Ergebnisse einer internationalen Fachtagung (= VerçffHistKommBerlin, 55. Forschungen zur preußischen Geschichte), Berlin/New York 1983; F(rancis) L. Carsten, Essays in German History, London/Ronceverte (1985); Oswald Hauser (Hg.), Preußen, Europa und das Reich (= Neue Forschungen zur BrandenburgPreußischen Geschichte, 7), Kçln/Wien 1987; Gerd Heinrich (Hg.), Ein sonderbares Licht in Teutschland. Beitrge zur Geschichte des Großen Kurfîrsten von Brandenburg

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(1640 – 1688) (= ZHF, 8), Berlin 1990; Wolfgang Neugebauer / Ralf Prçve (Hg.), Agrarische Verfassung und politische Struktur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte Preußens 1700 – 1918 (= Innovationen, 7), Berlin (1998); Michael Kaiser / Michael Rohrschneider (Hg.), Membra unius capitis. Studien zu Herrschaftsauffassungen und Regierungspraxis in Kurbrandenburg (1640 – 1688) (= ForschBrandPrG NF, Beiheft 7), Berlin (2005). b) Monographien: øltere, nur noch mit Vorsicht zu benutzende ˜berblicke zum Thema insgesamt: Gustav Schmoller, Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte, Berlin 1921; Conrad Bornhak, Preußische Staats- und Rechtsgeschichte, Berlin 1903, ND Mînchen 1979 (dazu die Rezension von Otto Hintze, in: ForschBrandPrG 18 [1905], S. 288 – 306); Eberhard Schmidt, Rechtsentwicklung in Preußen. Mit einem Nachwort zum unvernderten Neudruck, Darmstadt 1961 (zuerst: Berlin 21929); Emil Wolff, Grundriß der preußisch-deutschen sozialpolitischen und Volkswirtschaftsgeschichte von 1640 bis zur Gegenwart, 3., verm. Aufl., Berlin 1909 (dazu die Rezension von Otto Hintze, in: ForschBrandPrG 12 [1899], S. 603 – 605); Friedrich Giese, Preußische Rechtsgeschichte. ˜bersicht îber die Rechtsentwicklung der Preußischen Monarchie und ihrer Landesteile. Ein Lehrbuch fîr Studierende, Berlin/Leipzig 1920. – Monographien zu zentralen Aspekten der Staatsgeschichte Brandenburg-Preußens in der Frîhen Neuzeit: Siegfried Isaacsohn, Geschichte des preußischen Beamtentums vom Ausgang des 15. Jahrhunderts bis auf die Gegenwart, 3 Bde., Berlin 1874 – 1884, ND Aalen 1962; Conrad Bornhak, Geschichte des Preußischen Verwaltungsrechts. In drei Bnden, Berlin 1884 – 1886; Adolf Stçlzel, Brandenburg-Preußens Rechtsverwaltung und Rechtsverfassung, dargestellt im Wirken seiner Landesfîrsten und obersten Justizbeamten, 2 Bde., Berlin 1888 (auch als ND); Ders., Fînfzehn Vertrge aus der Brandenburg-Preußischen Rechts- und Staatsgeschichte, Berlin 1889; Friedrich Holtze, Geschichte des Kammergerichts in Brandenburg-Preußen, 4 Tle. (= Beitrge zur Brandenburg-Preußischen Rechtsgeschichte, 1, 2, 5, 6), Berlin 1890 – 1904; Ders., 500 Jahre Geschichte des Kammergerichts. Festschrift zur Feier seines Einzuges in das neue Heim am Kleistpark, Berlin 1913; Alexander Horn, Die Verwaltung Ostpreußens seit der Skularisation 1525 – 1875. Beitrge zur deutschen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Kçnigsberg 1890; Georg Conrad, Geschichte der Kçnigsberger Obergerichte. Mit Benutzung amtlicher Quellen (= Publikation des Vereins fîr die Geschichte von Ost- und Westpreußen), Leipzig 1907; Max Br, Die Behçrdenverfassung in Westpreußen seit der Ordenszeit, Danzig 1912, ND: Sonderschriften des Vereins fîr Familienforschung in Ost- und Westpreußen e.V., Nr. 62, Hamburg 1989; Hanns Gringmuth, Die Behçrdenverfassung im Herzogtum Magdeburg. Ihre Entwicklung und Eingliederung in den brandenburgischpreußischen Staat, phil. Diss. Halle-Wittenberg, Halle (Saale) 1934; Ursula Lçffler, Dçrfliche Amtstrger im Staatswerdungsprozeß der Frîhen Neuzeit. Die Vermittlung von Herrschaft auf dem Lande im Herzogtum Magdeburg, 17. und 18. Jahrhundert (= Herrschaft und soziale Systeme in der Frîhen Neuzeit, 8), Mînster 2005; Hans Nordsiek, Das preußische Fîrstentum Minden zur Zeit Friedrichs des Großen, Minden 1986; Karl Spannagel, Minden und Ravensberg unter brandenburgisch-preußischer Herrschaft von 1648 bis 1719, Hannover/Leipzig 1894; H(ermann) Tîmpel (Hg.), Minden-Ravensberg unter der Herrschaft der Hohenzollern. Festschrift zur Erinnerung an die dreihundertjhrige Zugehçrigkeit der Grafschaft Ravensberg zum brandenburgisch-preußischen Staate, Bielefeld/Leipzig 1909; E(duard) Schoneweg (Hg.), Minden-Ravensberg. Ein Heimatbuch, Bielefeld/Leipzig 1929; Volker Seresse, Politische Normen in Kleve-Mark whrend des 17. Jahrhunderts. Argumentationsge-

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Wolfgang Neugebauer

schichtliche und herrschaftstheoretische Zugnge zur politischen Kultur der frîhen Neuzeit (= Frîhneuzeit-Forschungen, 12), Epfendorf/Neckar 2005; Klaus Flink, Kleve im 17. Jahrhundert. Studien und Quellen, 3, mit einem Beitrag von Gerd Heinrich, Kleve 1980; Hans Helfritz, Geschichte der Preußischen Heeresverwaltung, Berlin 1938; F(rancis) L. Carsten, Princes and Parliaments In Germany From the Fifteenth to the Eighteenth Century, Oxford 1959; George Adalbert von Mîlverstedt, Die ltere Verfassung der Landstnde in der Mark Brandenburg vornmlich im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin 1858; Francis L. Carsten, Die Entstehung Preußens, dt.: Kçln/Berlin 1968; Wolfgang Neugebauer, Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von den alten Stnden zum Konstitutionalismus (= Quellen und Studien zur Geschichte des çstlichen Europa, 36), Stuttgart 1992; Ludwig Tîmpel, Die Entstehung des brandenburgisch-preußischen Einheitsstaates im Zeitalter des Absolutismus (1609 – 1806) (= UntersDtStaatsRG, 124), Breslau 1915, ND Aalen 1965; Adolph Friedrich Riedel, Der Brandenburgisch-Preußische Staatshaushalt in den beiden letzten Jahrhunderten, Ausfîhrung eines in der Kçnigl. Akademie der Wissenschaften am 6. April 1865 gehaltenen Vortrages, Berlin 1866; Franz Schneider, Geschichte der formellen Staatswirtschaft von Brandenburg-Preußen (= Schriften der Forschungsstelle fîr Staats- und Kommunalwirtschaft e.V. in Wiesbaden, NF), Berlin (1952); Max Hanke / Hermann Degner, Geschichte der amtlichen Kartographie Brandenburg-Preußens bis zum Ausgang der Friderizianischen Zeit (= Geographische Abhandlungen, 3. Reihe, 7), Stuttgart 1935; Wolfgang Scharfe, Abriß der Kartographie Brandenburgs 1771 – 1821 (= VerçffHistKommBerlin, 35), Berlin/New York 1972; Carl Wilhelm Cosmar, Geschichte des Kçniglich-Preußischen Geheimen Staats- und Kabinettsarchivs bis 1806. Mit ergnzenden Materialien hg. und eingel. von Meta Kohnke (= Verçffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 32), Kçln/Weimar/Wien 1993; Ulrike Mîller-Weil, Absolutismus und Außenpolitik in Preußen. Ein Beitrag zur Strukturgeschichte des preußischen Absolutismus (= Frankfurter Historische Abhandlungen, 34), Stuttgart 1992; Carl Hinrichs, Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiçs-soziale Reformbewegung, Gçttingen (1971); Wolfgang Neugebauer, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preußen (= VerçffHistKommBerlin, 62), Berlin/ New York 1985; Rolf Straubel, Beamte und Personalpolitik im altpreußischen Staat. Soziale Rekrutierung, Karriereverlufe, Entscheidungsprozesse (1763/86 – 1806) (= Bibliothek der Brandenburgischen und Preußischen Geschichte), Potsdam 1998; Henning von Bonin, Der Adel in der hçheren Beamtenschaft der preußischen Monarchie, 1794 – 1806. Ein Beitrag zur Sozialstruktur des preußischen Staates vor den Reformen, phil. Diss. Gçttingen (Masch.) 1961; Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848 (= Industrielle Welt, 7), 2. ber. Aufl., Stuttgart 1975.

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§ 1 Brandenburg-Preußen um 1600: Struktur – Dynastie – Konfession Spteren Beobachtern des 20. Jahrhunderts schien es so, als seien die deutschen Staaten am Ende der monarchischen Zeit lediglich „Zufallsbildungen rein dynastischer Hauspolitik“.1 Natîrlich kann auch eine geschichtswissenschaftliche Betrachtung, die die Anregungen moderner strukturgeschichtlicher Methoden, wie sie seit dem 19. Jahrhundert entwickelt wurden, als produktiv erkennt,2 am Faktor der Dynastie nicht vorîbergehen. Die neuere Forschung hat die Funktion von Dynastien, Dynasten und Hçfen denn auch – und zwar international – wieder, ja geradezu neu entdeckt und widmet sich diesem Gegenstand mit elaborierten Methoden. Im Falle Brandenburg-Preußens war es gewiß zunchst einmal eine dynastische Konstellation, die Preußen zu Brandenburg fîhrte. Freilich kann diese Entwicklung nicht einfach aus derjenigen des brandenburgischen Landesstaats des 16. Jahrhunderts3 abgeleitet werden. Ungeachtet der Tatsache, daß Brandenburg und die brandenburgischen Kurfîrsten zum politischen Trger der weiteren Entwicklung wurden, Brandenburg also Preußen „erbte“ und nicht umgekehrt, darf doch auch nicht der Fehler gemacht werden, die brandenburgpreußische Geschichte um und nach 1600 gleichsam als eine „großbrandenburgische“ zu schreiben. Dies wre ebenso falsch, wie das entgegengesetzte Extrem, das gleichfalls eine lange, gerade in diesem Jahrhundert stark belebte Tradition besitzt, nmlich im Ordensstaat in Preußen die eigentliche Wurzel aller spteren Entwicklungen sehen zu wollen. Scheinbar kann sich diese Sicht auf die Tatsache berufen, daß doch das alte Herzogtum Preußen, das sptere 1

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Siehe die Denkschrift des Staatssekretrs des Inneren Hugo Preuß, 3. Januar 1919, zum Entwurf der Reichsverfassung, in: Karl Wippermann / Friedrich Purlitz (Hg.), Deutscher Geschichtskalender. Sachlich geordnete Zusammenstellung der wichtigsten Vorgnge im In- und Ausland, Leipzig (1919), S. 15 – 31, hier S. 17; dazu Georg Kotowski, Preußen und die Weimarer Republik, in: Richard Dietrich (Hg.), Preußen. Epochen und Probleme seiner Geschichte, Berlin 1964, S. 145 – 169, S. 175 – 177, hier S. 153; Willibald Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, Mînchen 2 1964, S. 57, S. 60 ff.; Detlef Lehnert, Verfassungsdemokratie als Bîrgergenossenschaft. Politisches Denken, §ffentliches Recht und Geschichtsdeutungen bei Hugo Preuß – Beitrge zur demokratischen Institutionenlehre in Deutschland, Baden-Baden 1998, S. 164 ff. Wolfgang Neugebauer, Die Anfnge strukturgeschichtlicher Erforschung der preußischen Historie, in: Ders. / Ralf Prçve (Hg.), Agrarische Verfassung und politische Struktur. Studien zur Gesellschaftsgeschichte Preußens 1700 – 1918 (= Innovationen, 7), Berlin 1998, S. 383 – 429. Wolfgang Neugebauer, Zentralprovinz im Absolutismus. Brandenburg im 17. und 18. Jahrhundert (= Bibliothek der Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 5), Berlin 2001, zum 15. und 16. Jhd. S. 13 – 40.

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Ostpreußen, seit dem 17. Jahrhundert zum Trger von Souvernitt und Krone wurde. Man hat auch den Versuch unternommen, Parallelen von Ordensstaat und preußischem Staat in der Neuzeit aufzuzeigen, etwa die Ordensregeln mit Verwaltungsnormen des preußischen Absolutismus in eine vage Beziehung zu setzen.4 Eine Kausalbeziehung vom Ordensstaat zum System der altpreußischen Monarchie des (17. und) 18. Jahrhunderts ist jedoch nicht nachgewiesen worden, und die Zsur von 1525, die Skularisation des preußischen Ordensstaates steht jeder Kontinuittskonstruktion als starkes Argument entgegen. Und doch mîssen wir einen kurzen Blick auf das Herzogtum Preußen des 16. Jahrhunderts werfen. Das dynastische Moment spielt natîrlich fîr das Zustandekommen der brandenburg-preußischen Lnderunion eine große Rolle, aber wir werden gleich sehen, daß dabei das Gesamthaus der frnkisch-brandenburgischen Hohenzollern ins Auge gefaßt werden muß, will man îber der Kategorie des bloß Zuflligen das Systematische einer Politik nicht îbersehen, die îber die mitteleuropischen Grenzen sehr bewußt hinausgegangen ist. Diese 4

Vgl. generell Wolfgang Neugebauer, Das historische Verhltnis der Mark zu Brandenburg-Preußen. Eine Skizze, in: Lieselott Enders / Klaus Neitmann (Hg.), Brandenburgische Landesgeschichte heute (= Brandenburgische Historische Studien, 4), Potsdam 1999, S. 177 – 196; grundstzlich: O(tto) H(intze), Rezension zu: Hans Prutz: Preußische Geschichte, 1 und 2 …, in: ForschBrandPrG 13 (1900), S. 276 – 280, hier S. 276 f.; vgl. Hans Prutz, Preußische Geschichte, 1: Die Entstehung Brandenburg-Preußens (von den ersten Anfngen bis 1655), Stuttgart 1900, zum Deutschen Orden S. 38 ff., zur lteren mrkischen Geschichte S. 110 ff.; vgl. auch O. Hintze in seiner Rezension ForschBrandPrG 28 (1914), S. 617. Zu Prutz und zu frîhen Varianten dieser Sicht vgl. Jçrg Hackmann, Ostpreußen und Westpreußen in deutscher und polnischer Sicht. Landeshistorie als beziehungsgeschichtliches Problem (= Deutsches Historisches Institut Warschau. Quellen und Studien, 3), Wiesbaden 1996, S. 102, S. 121; als frîhes Beispiel ließe sich ergnzen: Friedrich Samuel Bock, Einleitung in den Staat von Preußen, die er in besonderen academischen Lehrstunden zum Grunde ausfîhrlicher Erzhlungen leget, Berlin 1749, S. 8 ff., S. 28 ff., zu 1525 – 1701: S. 58 – 84; preußische Traditionen: Walther Hubatsch, Kreuzritterstaat und Hohenzollernmonarchie. Zur Frage der Fortdauer des Deutschen Ordens in Preußen, in: Werner Conze (Hg.), Deutschland und Europa. Historische Studien zur Vçlker- und Staatenordnung des Abendlandes, Dîsseldorf 1951, S. 179 – 199, bes. S. 179, S. 186 f., S. 199; Ders., Deutscher Orden und Preußentum, in: Ders., Eckpfeiler Europas. Probleme des Preußenlandes in geschichtlicher Sicht, Heidelberg 1953, S. 54 – 76, bes. S. 57, S. 60 f., S. 69, S. 76 – mit nicht immer îberzeugenden Parallelisierungen îber die Jahrhunderte hinweg; zu Rothfels vgl. Hartmut Boockmann, Deutsche Geschichte im Osten Europas. Ostpreußen und Westpreußen, Berlin 1992, S. 60; und die Auseinandersetzungen bei Wolfgang Neugebauer, Hans Rothfels Weg zur vergleichenden Geschichte Ostmitteleuropas, besonders im ˜bergang von frîher Neuzeit zur Moderne, in: Berliner Jahrbuch fîr osteuropische Geschichte, Jg. 1996, Tl. 1, (Berlin 1996), S. 333 – 378, hier S. 361 f., mit Belegen; brandenburgische Tradition: vgl. statt anderer Nachweise die Hintze-Stellen oben, und besonders seine Rezension zu Reinhold Koser, Geschichte der brandenburgisch-preußischen Politik, 1, Stuttgart/Berlin 1913, in: ForschBrandPrG 27 (1914), S. 613 – 624, hier S. 617, S. 621.

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politische Systematik und ihre dann brandenburg-preußischen Folgen haben Wurzeln, die nun nicht in Brandenburg liegen. Als der Deutsche Ordensstaat in Preußen sich lngst in einer tiefen, ja in der Tat existenziellen Krise befand, wurde als Nachfolger eines Ordens-Hochmeisters aus schsischem Hause der frnkische Hohenzoller Albrecht von Brandenburg-Ansbach 1511 gewhlt, eine, so Hubatsch, sehr religiçse, nicht eigentlich „starke, aber eine lebhafte Persçnlichkeit“, wie man gesagt hat. Fîr diese Nachfolge hatte es eine fçrderliche Rolle gespielt, daß Albrecht mit den Kçnigshusern von Polen und Ungarn verwandt war. Seit dem zweiten Thorner Frieden (1466) war das Ordenspreußen Polen „inkorporiert“ (Boockmann). Auch die Zustimmung der preußischen Stnde wird ausdrîcklich bezeugt.5 Schon um einiges vor dem spektakulren Schritt zur Skularisation des Ordensstaats im Jahre 1525 sind deutliche Verweltlichungstendenzen auszumachen,6 doch brachte hier im Osten die Reformation eine vergleichsweise tiefe Zsur. Albrecht hat Martin Luther 1523 in Wittenberg aufgesucht und hat sich von dem Reformator, der auf die Skularisation des Ordensstaats drngte, beraten lassen. Unterdessen breitete sich die Reformation in den Landschaften von Weichsel, Pregel und Memel auch ohnehin aus, so daß der Akt der Skularisation des Ordensstaats zum weltlichen Herzogtum aus der Sicht des neuen Erbherren eine prventive Funktion besaß.7 Freilich blieb das Herzogtum Preußen nun in den polnischen Staatsverband, jetzt im Lehnsverhltnis eingebunden, was als Element der Kontinuitt nicht îbersehen werden kann, und auch in der ømterstruktur trat kein eigentlicher Bruch ein; aus Komturen wurden Amtshauptleute, und sie, durchweg aus dem Adel des Landes, fîhrten die Administration îber das Jahr 1525 hin fort.8 Fîr 5

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Walther Hubatsch, Albrecht von Brandenburg-Ansbach. Deutschordens-Hochmeister und Herzog in Preußen 1490 – 1568 (= Studien zur Geschichte Preußens, 8), Heidelberg 1960, S. 14 – 26, S. 282; Paul Tschackert, Herzog Albrecht von Preußen als reformatorische Persçnlichkeit, Halle 1894, S. 8; Reinhard Seyboth, Die Markgraftîmer Ansbach und Kulmbach unter der Regierung Markgraf Friedrichs des ølteren (1486 – 1515) (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 24), Gçttingen 1985, S. 400 f.; H. Boockmann, Ostpreußen … (s. Anm. 4), S. 219; Stephan Dolezel, Das preußisch-polnische Lehnsverhltnis unter Herzog Albrecht von Preußen (1525 – 1568) (= Studien zur Geschichte Preußens, 14), Kçln/Berlin 1967, S. 16. W. Hubatsch, Albrecht … (s. Anm. 5), S. 55 ff.; Kurt Forstreuter, Die Hofordnungen der letzten Hochmeister in Preußen, in: Prussia 29 (1931), S. 223 – 231, hier S. 224. W. Hubatsch, Albrecht … (s. Anm. 5), S. 111, S. 114, S. 119, S. 121 – 124; Skularisation: S. Dolezel, Lehnsverhltnis … (s. Anm. 5), S. 18 ff.; P. Tschackert, Herzog Albrecht … (s. Anm. 5), S. 13 – 19, S. 21 f., S. 29 ff.; H. Boockmann, Ostpreußen … (s. Anm. 4), S. 222 f., S. 243 f. Lehnshoheit Polens: Stephan Dolezel / Heidrun Dolezel (Bearb.), Die Staatsvertrge des Herzogtums Preußen, 1: Polen und Litauen. Vertrge und Belehnungsurkun-

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die Herrschaftsrealitt der Preußen im 16. Jahrhundert, die in den „Hauptmtern“, eigentlich Kreisen,9 also Herrschaftskontinuitt îber die Zsur der Skularisation erlebten, ist dies ebenso von erheblicher praktischer Bedeutung gewesen. Zudem konnte aus dem Herzogtum in Rechtsauseinandersetzungen an die polnischen Appellationsinstanzen gegangen werden. Vergeblich hat der Herzog im 16. Jahrhundert diesen Rechtszug, der in der Tat hohe politische Risiken fîr ihn bot, zu beseitigen gesucht.10 Das waren sehr praktische Differenzen zur moderneren Souvernitt. Lediglich auf der Ebene der Kçnigsberger Zentrale im alten Ordensschloß am Pregel scheint – soweit die sehr dîrftige Quellenlage ein sicheres Urteil zulßt – ein Neuanfang gemacht worden zu sein. Hatte der Hochmeister mit einem „Beirat“ von „fînf obersten Ordensgebietigern, Großkomtur, Marschall, Oberstspittler, Obersttrappier und Treßler“ regiert, so wurde nun die sogenannte Oberratsstube11 geschaffen, die dann bis in die Zeit des „Absolutismus“, ja mit Vernderungen bis in die Zeit um 1800 bestanden hat. Allerdings waren die Oberrte nicht irgendwelche monarchischen „Beamte“, sondern wurden nach festen Regeln aus den (adligen) Amtstrgern Preußens berufen. Das war, wie es 1542 in den Quellen heißt, die „gantze Regierung“ des Landes. Der Herzog war angewiesen auf seine Einnahmen aus den (Haupt-) ømtern, vom lndlichen Grundzins, aus mancherlei den 1525 – 1657/58 (= Verçffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, 4), Kçln/Berlin 1971, S. 12 – 30, hier S. 20 (Krakauer Friede, 8. 4. 1525), S. 39 – 44: „Belehnungsurkunde“, bes. S. 42 f.; P. Tschackert, Herzog … (s. Anm. 5), S. 23 f.; S. Dolezel, Lehnsverhltnis … (s. Anm. 5), S. 15 f., S. 22 – 24; vgl. damit H. Boockmann, Ostpreußen … (s. Anm. 4), S. 236; ømterkontinuitt: Helmuth Freiwald, Markgraf Albrecht von Ansbach-Kulmbach und seine landstndische Politik als Deutschordens-Hochmeister und Herzog in Preußen whrend der Entscheidungsjahre (= Die Plassenburg, 15), Kulmbach 1961, S. 21, S. 25, (Zustimmung der Stnde: S. 119 ff.); W. Hubatsch, Eckpfeiler … (s. Anm. 4), S. 67 f.; Christian Krollmann, Das Herzogtum Preußen 1525 – 1640, in: Deutsche Staatenbildung und deutsche Kultur im Preußenlande, hg. vom Landeshauptmann der Provinz Ostpreußen, Kçnigsberg 1931, S. 165 – 191, hier S. 166. 9 Otto Hintze, Die Wurzeln der Kreisverfassung in den Lndern des nordçstlichen Deutschland, zuerst 1923, wieder in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hg. von Gerhard Oestreich, mit einer Einleitung von Fritz Hartung, Gçttingen 31970, S. 168 – 215, hier S. 192 f. 10 W. Hubatsch, Albrecht … (s. Anm. 5), S. 198. 11 Felix Arndt, Die Oberrte in Preußen 1525 – 1640, phil. Diss. Kçnigsberg, Elbing 1911, S. 2 f. (Ordensorganisation), Entstehung bis 1542: S. 7 – 11, 1542: S. 13 ff.; nîtzlich: Kurtz-gefaßte Historie der Preußischen Regierung, in: Erleutertes Preußen Oder Auserlesene Anmerkungen ueber verschiedene Zur Preußischen … Historie … gehçrende Dinge, 1, Kçnigsberg 1724, S. 81 – 113, bes. S. 81 ff.; Privilegia der Stnde des Hertzogthums Preussen, darauff das Landt fundieret und bis itzo beruhen, Braunsberg 1616, Bl. 53 v. (1542, „gantze Regierung“); W. Hubatsch, Albrecht … (s. Anm. 5), S. 192 f.; auch Heinrich Otto Meisner, Staats- und Regierungsformen und Deutschland seit dem 16. Jahrhundert (= Libelli, 199), Darmstadt 21958, S. 229.

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Regalien (Mîhlen, Fischerei, Bernstein), aus den Forsten und den Gerichtsgebîhren.12 Insofern blieb er auf die Unterstîtzung, insbesondere auf die Bewilligung seiner Landstnde angewiesen. Auch fîr sie „stellte das Jahr 1525 … keine entscheidende Zsur dar“.13 Die Entwicklung ihrer Organe erfolgte kontinuierlich, wobei – nach Otto Hintze – „das polnische Vorbild stark eingewirkt hat“.14 øhnlich wie in Kurbrandenburg in der Mitte des 16. Jahrhunderts,15 ist das Verhltnis von Herzog und Stnden nicht von einem konfrontativen „Dualismus“, sondern von Kooperation geprgt gewesen, und diese Konstellation wurde durch den [Samlndischen] Bauernaufstand des Jahres 1525 eher noch verstrkt.16 Auch in Ostpreußen hat das 16. Jahrhundert die Ausprgung gutsherrschaftlicher Strukturen begînstigt, doch blieb hier, wo der Deutsche Ritterorden das Aufkommen eines starken Landesadels lange Zeit zu verhindern gesucht hatte, der fîrstliche Anteil an der landwirtschaftlichen Nutzflche ungewçhnlich groß, d. h. der meiste Boden Ostpreußens wurde von „Hintersassen des Landesherrn bewirtschaftet“ (Henning). Im groben Durchschnitt und unter Nivellierung sehr bedeutender landschaftlicher Unterschiede kann – nach Zahlen des 17. Jahrhunderts – davon ausgegangen werden, daß im Herzogtum Preußen sich rund zwei Drittel des Bodens im Eigenbesitz des Landesherrn (unter verschiedener Rechtsqualitt) befanden, whrend der Adel und nichtadlige Landbesitzer, ferner Schulzen und Stdte îber das îbrige Drittel verfîgten.17 Allerdings saß der Adel mit sehr kompakten Besitzungen im 12 W. Hubatsch, Albrecht … (s. Anm. 5), S. 188 f. 13 Udo Arnold, Stndeherrschaft und Stndekonflikte im Herzogtum Preußen, in: Peter Baumgart / Jîrgen Schmdeke (Hg.), Stndetum und Staatsbildung in BrandenburgPreußen. Ergebnisse einer internationalen Fachtagung (= VerçffHistKommBerlin, 55. Forschungen zur Preußischen Geschichte), Berlin/New York 1983, S. 80 – 107, hier S. 81; und wiederum W. Hubatsch, Albrecht … (s. Anm. 5), S. 186 f. 14 O. Hintze, Kreisverfassung … (s. Anm. 9), S. 193, mit den organisatorischen Details; vgl. die Querschnittsdarstellung unten zum 17. Jahrhundert, § 3. 15 W. Neugebauer, Zentralprovinz … (s. Anm. 3), S. 20 ff. 16 Gînther Franz, Der deutsche Bauernkrieg, Darmstadt 71965, S. 276 ff., mit der einschlgigen Spezialliteratur S. 276 Anm. 1; H. Boockmann, Ostpreußen … (s. Anm. 4), S. 244. 17 Wilhelm Guddat, Die Entstehung und Entwicklung der privaten Grundherrschaften in den ømtern Brandenburg und Balga (Ostpreußen) (= Wissenschaftliche Beitrge zur Geschichte und Landeskunde Ost-Mitteleuropas, 96), Marburg a. d. Lahn 1975, S. 9 ff., S. 419 – 428; Christof Dipper, Die Bauernbefreiung in Deutschland 1790 – 1850 (= Kohlhammer-Urban-Taschenbîcher, 298), Stuttgart u. a. 1980, S. 57; FriedrichWilhelm Henning, Dienste und Abgaben der Bauern im 18. Jahrhundert (= Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, 21), Stuttgart 1969, das Zitat S. 8; Robert Bergmann, Geschichte der ostpreußischen Stnde und Steuern von 1688 bis 1704 (= StaatsSocialwissForsch, 19, Heft 1. Der ganzen Reihe 82.), Leipzig 1901, S. 130; Heide Wunder, Aspekte der Gutsherrschaft im Herzogtum und Kçnigreich Preußen im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Das Beispiel Dohna, in: Jan Peters (Hg.),

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westlichen „Oberland“ und mit zahlreichem Kleinbesitz im zentralen Ostpreußen landschaftlich konzentriert und recht massiert, was seine organisatorische Strke gefçrdert hat.18 Im preußisch-litauischen Distrikt haben nur 8,5 Prozent des Landes „adligen Grundherrschaften“ unterstanden. In der Mark Brandenburg des 16. Jahrhunderts war der Adelsbesitz ungleich kompakter vertreten, wenngleich auch dort in regionaler Differenzierung. Man schtzt, daß dort rund drei Fînftel aller Orte in adligem Besitz gewesen sind.19 Schon daraus geht, gleichsam exemplarisch, hervor, daß Brandenburg und (Ost-)Preußen bei mancherlei Parallelen doch auch erheblichen Eigencharakter besessen haben; îber dem Begriff „Ostelbien“ und seinen Erkenntniswert ließe sich deshalb trefflich streiten, er suggeriert eine Einheitlichkeit, die gerade den frîhneuzeitlichen Verhltnissen nicht entspricht. Die Entwicklung partizipativer Strukturen auf landstndischer Basis ist andererseits eine gemeineuropische Erscheinung; allerdings kam es in Ostpreußen mit der „Regimentsnotul“ des Jahres 1542 zu einer Art Landesgrundgesetz, in dem die politische Organisation des Herzogtums kodifiziert worden ist. Diese Regimentsnotul war mit den Stnden fçrmlich vereinbart worden.20 Zu den zentralen Punkten, die die Gutsherrschaftsgesellschaften im europischen Vergleich, Berlin 1997, S. 225 – 250, bes. S. 228 – 232, S. 249; Heide Wunder, Siedlung und Bevçlkerung im Ordensstaat, Herzogtum und Kçnigreich Preußen (13.–18. Jahrhundert), in: Hans Rothe (Hg.), Ostdeutsche Geschichts- und Kulturlandschaften, 2: Ostpreußen (= Studien zum Deutschtum im Osten, 19/II), Kçln/Wien 1987, S. 67 – 98, hier S. 89, zum preußischlitauischen Gebiet. 18 Wolfgang Neugebauer, Politischer Wandel im Osten. Ost- und Westpreußen von den alten Stnden zum Konstitutionalismus (= Quellen und Studien zur Geschichte des çstlichen Mitteleuropa, 36), Stuttgart 1992, S. 43 – 51, mit der dortigen Literatur. 19 Gerd Heinrich, Der Adel in Brandenburg-Preußen, in: Hellmuth Rçssler (Hg.), Deutscher Adel 1555 – 1740. Bîdinger Vortrge 1964 (= Schriften zur Problematik der deutschen Fîhrungsschichten in der Neuzeit, 2), Darmstadt 1965, S. 259 – 314, hier S. 266 f. 20 Druck: Privilegia der Stnde … (s. Anm. 11), Bl. 51r-56v; vgl. die Lit. in Anm. 11; dazu Heinz Immekeppel, Das Herzogtum Preußen von 1603 bis 1618 (= Studien zur Geschichte Preußens, 24), Kçln/Berlin 1975, S. 11; E(rnst) Wichert, Die politischen Stnde Preußens, ihre Bildung und Entwicklung bis zum Ausgange des sechzehnten Jahrhunderts, in: Altpreußische Monatsschrift 5 (1868), S. 213 – 242, S. 419 – 464, hier S. 433; Kurt Breysig, Allgemeine Einleitung. Die Entwicklung des preußischen Stndetums von seinen Anfngen bis zum Regierungsantritt Friedrich Wilhelms, in: Ders. (Hg.), Urkunden und Actenstîcke zur Geschichte des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Stndische Verhandlungen, 3.: Preußen, 1. (= Urkunden und Actenstîcke zur Geschichte des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 15), Berlin 1894, S. 1 – 222, hier S. 25; A(lexander) Horn, Die Verwaltung Ostpreußens seit der Scularisation 1552 – 1875. Beitrge zur deutschen Rechts-, Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte, Kçnigsberg 1890, S. 91 f.; W. Hubatsch, Albrecht … (s. Anm. 5), S. 205 f.; aus der polnischen Lit. vgl. Janusz MaŁŁek, Ustawa o rza˛dzie (Regimentsnottel) Prus Ksia˛z˙e˛cych z roku 1542. Studium z dziejûw przemian spo-

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Stnde in den Verhandlungen mit dem Landesherrn anstrebten, gehçrte auch in Preußen die strkere Bindung der buerlichen Hintersassen (Gesindezwang, Schollenbindung, Erbuntertnigkeit).21 Auch in Preußen war der Adel der „Nutznießer der Skularisation“, und die finanzstarken Stnde wurden vom Herzog insbesondere dann gebraucht, wenn fîr außenpolitische Operationen besondere Bewilligungen finanzieller Mittel schlechterdings bençtigt wurden. Insofern hatte der Herzog auch in hochpolitischen Aktionen auf die preußischen Stnde Rîcksicht zu nehmen.22 Vor allem besaßen sie ein fçrmliches Regentschaftsrecht in dem Falle, daß der Herzog nicht im Lande war oder auch nach dessen Tod bis zur Ankunft eines Nachfolgers; bis dahin sollte den Herren Oberrten die „gantze Regierung sampt Landen vnd Leuten befolen sein“.23 Der Versuch des alternden Herzogs, in den sechziger Jahren des 16. Jahrhunderts, die Nachfolgeordnung fîr sich zu verndern, fîhrte nach wachsenden Verstimmungen zwischen ihm und den Stnden in religiçsen Fragen (Osiandersche Auseinandersetzung) im Jahre 1566/ 67 zur Intervention der polnischen Krone im Herzogtum Preußen zugunsten der Stnde und zur spektakulren Hinrichtung von drei herzoglichen Rten.24 Fortan war der Einfluß der Stnde auch in der Außenpolitik des Herzogtums bedeutend; sie besaßen das fçrmliche Recht zur Appellation an den polnischen Kçnig.25 Nach dem Tode Albrechts, der einen regierungsunfhigen Sohn hinterließ, haben die adligen Oberrte eine Selbstregierung des Landes praktiziert.

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łecznych i politycznych w lennie Pruskim (= Roczniki towarzystwa naukowego w Toruniu, 12 [1967], Heft 2), Torun´ 1967, S. 115 – 148. Norbert Ommler, Die Landstnde im Herzogtum Preußen 1543 – 1561, phil. Diss. Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universitt zu Bonn, Bonn 1967, S. 222 f. C. Krollmann, Herzogtum … (s. Anm. 8), S. 166, S. 172, S. 174 f.; W. Hubatsch, Albrecht … (s. Anm. 5), S. 274. Im Druck von 1616, in den Privilegien der Stnde … (s. Anm. 11), Bl. 53v; E. Wichert, Stnde … (s. Anm. 20), S. 434; H. Boockmann, Ostpreußen … (s. Anm. 4), S. 253. Iselin Gundermann, Kurfîrst Joachim II. von Brandenburg und Herzog Albrecht von Preußen, in: Eckart Henning / Wolfgang Neugebauer (Hg.), Dona Brandenburgica. Festschrift fîr Werner Vogel zum 60. Geburtstag (= JbBrandenbLdg, 41), Berlin 1990, S. 141 – 164, hier S. 160; Helmut Freiwald, Herzog und Stnde, in: Iselin Gundermann (Bearb.), Albrecht von Brandenburg-Ansbach und die Kultur seiner Zeit. Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum Bonn 16.–25. August 1968, Dîsseldorf o. J., S. 13 – 18, hier S. 14 – 16; S. Dolezel, Lehnsverhltnis … (s. Anm. 5), S. 153 f., S. 165 – 176; W. Hubatsch, Albrecht … (s. Anm. 5), S. 210 – 217, S. 243. S. Dolezel, Lehnsverhltnis … (s. Anm. 5), S. 183; Jîrgen Petersohn, Fîrstenmacht und Stndetum in Preußen whrend der Regierung Herzog Georg Friedrichs 1578 – 1603 (= Marburger Ostforschungen, 20), Wîrzburg 1963, S. 178 f.; Max Toeppen, Zur Geschichte der stndischen Verhltnisse in Preussen. (Besonders nach den Landtagsacten), in: Historisches Taschenbuch NF 8 (1847), S. 301 – 492, hier S. 487; H. Immekeppel, Herzogtum … (s. Anm. 20), S. 17.

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In diesen Jahren enger Anlehnung der preußischen Stnde an Polen, wobei sie immer bestrebt waren, eine direkte polnische Herrschaft in Preußen zu verhindern und die Eigenrechte des Landes zu wahren,26 tritt ein Typ stndischer Landesautonomie entgegen, in dem nationale Kategorien ganz offenbar von untergeordneter Bedeutung waren. Stnde, hohenzollernscher Herzog und polnische Krone stellten ein Krftedreieck dar, in dem die ostmitteleuropische Libertaskultur stndische Spielrume maximierte und die des Landesherrn drastisch reduzierte. Allerdings darf dieses Verhltnis nicht als ein statisches dargestellt werden. Die Faktoren konnten ihr politisches Gewicht durchaus verndern, und so gewann der Landesherr, nicht der erkrankte Herzog Albrecht Friedrich, wohl aber sein Vormund aus frnkischem Hohenzollernhause, Georg Friedrich von Brandenburg-Ansbach, wieder erheblich an Gewicht; im selben Umfang verloren es – auf Zeit – die Stnde.27 Auch spter haben die preußischen Stnde mit dem Instrument direkter Kontakte zu Polen ihre Politik gestîtzt, auch noch im 17. Jahrhundert.28 Die Hohenzollern aus brandenburgischem Hause haben erst vergleichsweise spt Interesse an Preußen und den Vettern im Osten gezeigt beziehungsweise entwickelt. Joachim I. hat sich zu Albrecht auffllig auf Distanz gehalten, sowohl vor 1525 als auch danach; er hat den Schritt der Skularisierung nicht gebilligt. Erst unter Joachim II., d. h. seit 1535 hat sich das Verhltnis Kur26 N. Ommler, Landstnde … (s. Anm. 21), S. 227; J. Petersohn, Fîrstenmacht und Stndetum … (s. Anm. 25), S. 178 f.; zum 16. und 17. Jahrhundert vgl. auch Ernst Opgenoorth, Friedrich Wilhelm der Große Kurfîrst von Brandenburg. Eine politische Biographie, 1, Gçttingen/Frankfurt/Zîrich 1971, S. 62. 27 Gînther Schuhmann, Die Markgrafen von Brandenburg-Ansbach. Eine Bilddokumentation zur Geschichte der Hohenzollern in Franken (= JbHVMittelfrk, 90), Ansbach 1980, S. 94; Max Hein, Preußische Hofordnungen des 16. Jahrhunderts, in: Altpreußische Forschungen 2 (1925), S. 52 – 68, hier S. 55 f.; Reinhard Seyboth, Markgraf Georg Friedrich d. ø. von Brandenburg-Ansbach (1556 – 1603) als Reichsfîrst, in: ZBayerLdG 53 (1990), S. 659 – 679, hier S. 667; Ders., Georg Friedrich d. ø., Markgraf von Brandenburg-Ansbach-Kulmbach, Herzog in Preußen (1553 – 1603), in: Frnkische Lebensbilder, 14, Neustadt an der Aisch 1991, S. 84 – 104, hier S. 94 ff.; Jîrgen Petersohn, Staatskunst und Politik des Markgrafen Georg Friedrich von Brandenburg-Ansbach und -Bayreuth 1539 – 1603, in: ZBayerLdG 24 (1961), S. 229 – 276, bes. S. 246 – 252, S. 257 f.; Ders., Fîrstenmacht … (s. Anm. 25), S. 20 – 34, S. 51 ff., S. 74 ff., S. 139, S. 154 u. ç. 28 H. Immekeppel, Herzogtum … (s. Anm. 20), S. 43 ff.; Horst Wischçfer, Die ostpreußischen Stnde im letzten Jahrzehnt vor dem Regierungsantritt des Großen Kurfîrsten (= GçttBausteineGwiss, 29), Gçttingen/Berlin/Frankfurt 1958, S. 76 – 85, S. 137 ff., S 157 ff.; E. Wichert, Die politischen Stnde … (s. Anm. 20), S. 442, S. 449 f.; und Max Toeppen, Die preussischen Landtage whrend der Regentschaft der brandenburgischen Kurfîrsten Joachim Friedrich und Johann Sigismund 1603 – 1619. Nach den Landtagsacten dargestellt. Zweite Abteilung (= Beilage zum Programm des Kçnigl. Gymnasii zu Elbing … 1892), Elbing 1892, S. 50 – 54.

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brandenburgs zum Herzog in Preußen dann verbessert, und der preußische Herzog war ganz wesentlich daran beteiligt, als der brandenburgische Kurfîrst daranging, durch die Heirat einer polnischen Prinzessin die Verbindungen Kurbrandenburgs zu Polen zu intensivieren. Die brandenburgischen Planungen mit Blick auf Polen gingen noch sehr viel weiter, ohne daß ihnen Erfolg beschieden gewesen wre,29 alles dies Ausdruck einer ostmitteleuropischen Perspektive, die die Politik Preußens und Brandenburgs nun in dieselbe Richtung wies. Im Jahre 1563 hat dann Joachim II. die „Mitbelehnung“ mit dem Herzogtum Preußen erreicht, erster Schritt zu einer nicht nur diplomatischen, sondern auch zu einer (lehnsrechtlichen) Verknîpfung beider Landesstaaten, die dann auszubauen war. Wir mîssen die einzelnen Schritte hier nicht im Detail verfolgen, etwa die erneuerte Mitbelehnung im Jahre 1569 und 1589. Welche Bedeutung man diesen Akten in Berlin beimaß, geht daraus hervor, daß anlßlich der Mitbelehnung von 1569 in Berlin-Cçlln ein prchtiges Fest organisiert wurde, bei dem, wie die Quellen festhalten, ostentativ der schwarze Adler gezeigt wurde.30 Nach dem Tode des Franken Georg Friedrich 1603 ging die Fîhrung der Vormundschaft îber den regierungsuntîchtigen Herzog auf die brandenburgischen Kurfîrsten îber, und in eben diesen ersten Jahren des 17. Jahrhunderts haben die preußischen Stnde wieder drastisch an Einfluß gewonnen. „Der Adel als strkster Stand wurde praktisch Herr im Lande, der 29 Otto Hintze, Die Hohenzollern und ihr Werk. Fînfhundert Jahre vaterlndischer Geschichte, Berlin 41915, S. 117, S. 121; Gerd Heinrich, „Mit Harpffen, Paucken, Zimbeln und Schellen“. Martin Luther, die Kirchenreform und die LandeskirchenHerrschaft in der Mark Brandenburg, in den Herzogtîmern Pommerns und in Preußen, in: Hans-Dietrich Loock (Hg.), „Gott kumm mir zu hilf“. Martin Luther in der Zeitenwende. Berliner Forschungen und Beitrge zur Reformationsgeschichte. Hg. im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft fîr Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte und der Historischen Gesellschaft zu Berlin, ggr. 1871, Berlin 1984, S. 27 – 57, hier S. 48; I. Gundermann, Kurfîrst Joachim II. … (s. Anm. 24), S. 156, Heiratsplan: S. 141 – 144; Dies., Kirchenregiment und Verkîndigung im Jahrhundert der Reformation (1517 – 1598), in: Gerd Heinrich (Hg.), Tausend Jahre Kirche in Berlin-Brandenburg, Berlin 1999, S. 146 – 241, hier S. 155; W. Hubatsch, Herzog Albrecht … (s. Anm. 5), S. 230 – 232. 30 H. Immekeppel, Herzogtum … (s. Anm. 20), S. 19 f., S. 22; W. Hubatsch, Herzog Albrecht … (s. Anm. 5), S. 232 f.; 1566 Eventualhuldigung der preußischen Stnde fîr den brandenburgischen Kurfîrsten: S. 182 f.; Hermann von Caemmerer (Hg.), Die Testamente der Kurfîrsten von Brandenburg und der beiden ersten Kçnige von Preußen (= Verçffentlichungen des Vereins fîr Geschichte der Mark Brandenburg), Mînchen/ Berlin 1915, S. 80*; S. Dolezel / H. Dolezel, Vertrge … (s. Anm. 8), S. 73 – 76, und die Texte S. 77 – 88; Fest: I. Gundermann, Kurfîrst Joachim II. … (s. Anm. 24), S. 162; zu den preußischen Huldigungen vgl. aus der polnischen Literatur: Maria Bogucka, Die preußische Huldigung (= Panorama der polnischen Geschichte. Fakten und Mythen), Warszawa 1986, bes. S. 119 – 168; Zygmunt Wojciechowski, Hołd Pruski i inne studia historyczne, Poznan´ 1946, S. 141 – 151.

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Herrschaft verblieben nur noch Nominalrechte“. Es kam, wie Udo Arnold formuliert hat, zum „totalen Tiefpunkt landesherrlicher Gewalt zu Beginn des 17. Jahrhunderts“. Erst der Pendelumschlag unter dem Großen Kurfîrsten machte dieser politischen Wechsellage dann ein Ende, in einer Zeit, in der die polnische Adelsrepublik – dies darf dabei nicht vergessen werden – sich in einer evidenten Schwcheperiode befand.31 Mit dem Tod des letzten frnkisch-hohenzollerischen Herzogs im Jahre 1618 wurde die brandenburg-preußische Personal-Union endgîltig festgestellt. Wir haben mit dieser Betrachtung nun Einblick gewonnen in Landesstruktur und dynastische Konstellation im Herzogtum Preußen bis und um 1600. Mit guten Argumenten hat die frnkische Spezialforschung der letzten Zeit darauf hingewiesen, daß es ganz wesentlich die frnkischen Hohenzollern gewesen sind, die durch ihre weit ausgreifende dynastische Politik diejenige Konstellation herbeigefîhrt haben, die nun innerhalb weniger Jahre Brandenburg, Preußen und Gebiete im Westen Deutschlands – wenn auch ohne territoriale Verbindung – zunchst unter einem Herrscher zusammenbrachte. Sie, die frnkischen Markgrafen, haben die Ostpolitik aufgebaut, die – nach dem Aussterben der lteren frnkischen Linie im Jahre 1603 – von den brandenburgkurfîrstlichen Hohenzollern gleichsam nur îbernommen worden ist. Die frnkischen Hohenzollern haben nicht nur mit dem preußischen Engagement sowohl den engeren sîddeutschen, als auch den Rahmen des Heiligen Rçmischen Reiches îberschritten; frîher hatten sie auch Verbindungen nach Bçhmen, ja nach Ungarn aufgebaut, waren mit den dortigen Kçnigen verwandt, und sie besaßen zeitweilig erhebliche Gebiete in Ungarn, Schlesien und Kroatien.32 Dies ist von der lteren, allzu brandenburg-zentrierten Historiographie nicht angemessen berîcksichtigt worden. Aber ganz abgesehen davon, daß damit exemplarisch die Rolle der Dynastie als ein politischer Faktor, der einzelne 31 U. Arnold, Stndeherrschaft … (s. Anm. 12), S. 99 f., auch sehr îberzeugend zu dem bis dahin existierenden „Krftedreieck Oberlehnsherr-Herzog-Stnde“; ˜bertragung der Vormundschaft auf den brandenburgischen Kurfîrsten: S. Dolezel / H. Dolezel, Vertrge … (s. Anm. 8), S. 107 f., (11. 3. 1605); Belehnung 1611: S. 133 – 136; nîtzlich auch nach wie vor Carl Wilhelm von Lancizolle, Geschichte der Bildung des preußischen Staates, 1. Tl., 1. Abt., Berlin/Stettin 1828, S. 466 – 481. 32 J. Peterson, Staatskunst … (s. Anm. 27), S. 254 ff.; wichtig ferner R. Seyboth, Die Markgraftîmer … (s. Anm. 5), S. 402 – 405; Ders., Die Hohenzollern in Franken und Brandenburg an der Wende der Neuzeit, in: Roderich Schmidt (Hg.), Bayreuth und die Hohenzollern vom ausgehenden Mittelalter bis zum Ende des Alten Reiches. Jahrestagung des Wissenschaftlichen Arbeitskreises fîr Mitteldeutschland 10.–12. Mai 1989 in Bayreuth …, Ebsdorfergrund 1992, S. 9 – 31, hier S. 26 f.; Hans-Jçrg Herold, Markgraf Joachim Ernst von Brandenburg-Ansbach als Reichsfîrst. (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 10), Gçttingen 1973, S. 2.

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Landesstaaten transzendierte, erkennbar wird, ergibt sich daraus auch noch eine andere Perspektive. Gewiß hatten die brandenburgischen Hohenzollern im 15. und 16. Jahrhundert bisweilen îber die Grenze geschaut, aber doch eine im ganzen sehr vorsichtig-friedliche, wenig aktive Politik im Reich und in Europa betrieben.33 Auf die neuen politischen Konjunkturen, die nun sehr bald und in dramatischer Weise die brandenburgische Politik in die Krisen Europas im frîhen 17. Jahrhundert berîhrten, waren eben die brandenburgischen Herren wenig vorbereitet, als sie das politische Erbe der frnkischen Vettern antraten. Zu diesem Erbe zhlte eben nicht nur Preußen, sondern auch die ganz neuartige Territorialpolitik am Niederrhein.34 1598/99 waren die betreffenden Ansprîche auf die brandenburgischen Hohenzollern îbertragen worden. Noch mochte es recht unsicher sein, ob diese Gebiete weit im Osten und weit im Westen auf Dauer wîrden gesichert werden kçnnen, und zudem war um 1600 die schsische Konkurrenz nicht nur nah, sondern auch in mancherlei Hinsicht deutlich îberlegen. Die Heirat des Prinzen Johann Sigismund, als brandenburgischer Kurfîrst 1608 bis 1620 (1699 a. St.), mit der Herzogin Anna von Preußen befestigte nicht allein die brandenburgischen Aussichten nach Osten. Anna war mit den Herzçgen von Jîlich, Kleve und Berg verwandt, die am Niederrhein mit reichem Territorialbesitz ausgestattet waren. Johann Sigismunds Vater (Kurfîrst Joachim Friedrich), verstrkte diese Verbindung, indem er 1603 Annas Schwester, Eleonore von Preußen ehelichte. Freilich stieß Kurbrandenburg im Westen auf gefhrliche Konkurrenzen, die die Politik bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts hinein beschftigen sollten. Pfalz-Neuburg, Zweibrîcken und auch Kursachsen machten ebenfalls Rechte an diesen begehrten Gebieten geltend, die durch den abzusehenden Todfall der Herzçge von Jîlich-Kleve-Berg alsbald vakant wîrden. In Wien gab es Plne, diese Landschaften einer kaiserlichen Verwaltung zu unterstellen. Die Nhe dieser Territorien in unmittelbarer Nachbarschaft zum spanisch-niederlndischen Konfliktraum brachte es mit sich, daß diese Aussichten eine hohe politische Brisanz besaßen, eben eine der europischen Politik und ihres Konfliktpotentials am Rande des großen Krieges.35 33 Wolfgang Neugebauer, Die Hohenzollern, 1: Anfnge, Landesstaat und monarchische Autokratie bis 1740 (= Urban-Taschenbîcher, 573), Stuttgart u. a. 1996, S. 95 f. und die Lit. S. 234 f. 34 J. Petersohn, Staatskunst … (s. Anm. 27), S. 270, S. 275: Geraer Hausvertrag; Reinhold Koser, Geschichte der brandenburgischen Politik bis zum Westflischen Frieden von 1648, Stuttgart/Berlin 21913, S. 317 f., S. 337 f., folgendes: S. 351 – 353. 35 Aus den ˜berblickswerken zu diesen Schlîsselvorgngen frîher brandenburg-preußischer Geschichte vgl. außer O. Hintze, Die Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 139 ff.; Julius Grossmann u. a., Genealogie des Gesamthauses Hohenzollern. Nach den Quellen bearbeitet und hg., Berlin 1905, S. 28 und S. 117; Richard Dietrich, Kleine

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1609 starb der letzte Herzog von Jîlich-Kleve-Berg. Zu den kurschsischen Ansprîchen kam das Verhalten des Kaisers, dessen Truppen am Niederrhein intervenierten.36 In Kleve, Jîlich und anderen kleineren dazugehçrigen Territorien hat Brandenburg auf zeittypische Weise bereits Besitz ergriffen, und zwar durch rechtssymbolische Handlungen.37 Im Dortmunder Rezeß hatten sich dann Brandenburg und Pfalz-Neuburg in der Sukzessionsfrage verglichen, jedenfalls „biß zur fernen gutlichen oder rechtlichen Austragh“, und zwar zur gemeinsamen Wahrnehmung der Rechte.38 Die Internationalisierung des Konfliktes war damit nicht zu verhindern, da um die strategisch wichtigen Gebiete und nicht zuletzt um die Festung Jîlich, in der sich schon kaiserliche Truppen festgesetzt hatten, die Auseinandersetzung auszubrechen drohte, in die nun auch die konfessionellen Parteiungen verflochten waren. Schließlich ging es um die Rheinlinie, d. h. um die Passage spanischer Truppen zu den Kampfrumen in den Niederlanden. Zunchst hat nur ein gnzlich externes Ereignis, die Ermordung Heinrichs IV. von Frankreich, 1610 etwas zur temporren Reduktion des Sprengpotentials beigetragen. Im Vertrag von Xanten vom 12. November 1614 haben dann die Dortmunder Partner, der Pfalzgraf bei Rhein und der brandenburgische Kurfîrst, es „unternommen/eine Vergleichung interims Weise oder provisionaliter“ vorzunehmen. Die Vermittlung und „Intervention“ Frankreichs und Englands im Vorfeld dieses Schrittes belegt einmal mehr die europische Dimension.39 Unter Vorbehalt spterer „Erçrterung der HauptSach“ sollte es unter dem Titel einer gemeinsamen Verwaltung zu einer Auf-

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Geschichte Preußens, Berlin 1966, S. 22; speziell: Paul Hassel, Die Anfnge der brandenburgischen Politik in den Rheinlanden, in: ZPreuGLdkde 9 (1872), S. 321 – 360, bes. S. 344 – 359; R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 305; nîtzlich auch noch Friedrich Meinecke, Das Stralendorffsche Gutachten und der Jîlicher Erbfolgestreit, zuerst phil. Diss. Berlin, Potsdam 1886, wieder in: Ders., Brandenburg – Preußen – Deutschland. Kleine Schriften zur Geschichte und Politik, hg. von Eberhard Kessel (= Friedrich Meinecke, Werke, 9), Stuttgart 1979, S. 3 – 59, hier S. 12 f. Johann Gustav Droysen, Geschichte der Preußischen Politik, 2. Tl., 2. Abt., Leipzig 2 1870, S. 419; R. Dietrich, Preußen … (s. Anm. 35), S. 24. R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 351 ff., Internationalisierung des Konfliktes: S. 355 – 358; (E.) Bammel, Zur Geschichte der Preußischen Verwaltung im Regierungsbezirk Dîsseldorf, in: Festschrift zur Einweihung des neuen Regierungs-Gebudes, Dîsseldorf, 19. Oktober 1911, (Dîsseldorf 1911), S. 5 – 75, hier S. 9. Gottfried Lorenz (Hg.), Quellen zur Vorgeschichte und zu den Anfngen des Dreißigjhrigen Krieges (= Ausgewhlte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, 19), Darmstadt 1991, S. 81 – 85, Nr. 8a, 31. Mai/10. Juni 1609, hier S. 84 f.; Theodor von Moerner, Kurbrandenburgs Staatsvertrge von 1601 bis 1700. Nach den Originalen des Kçnigl. Geh. Staats-Archivs, Berlin 1967, Nachdruck Berlin 1965, S. 63 ff. Vergleich von Xanten: G. Lorenz (Hg.), Quellen … (s. Anm. 38), S. 178 – 185, bes. S. 179 f., S. 184 Nr. 25; T. v. Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 67 – 71; aus der Lit. außer O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 158 – 162; R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 356 ff., S. 368; E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 26), 1, S. 66 f.; E. Bammel, Verwaltung … (s. Anm. 37), S. 10.

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teilung des Landes kommen. Die brandenburgische Politik hatte angesichts eines vollstndigen Mangels zureichender militrischer Rîstung aber eine hçchst „klgliche“ (Hintze) Rolle gespielt, so daß es nicht gelang, die ganze Erbschaft zu sichern. Der – letztlich vergebliche – Kampf um den bedeutenden verlorenen Teil sollte noch die preußische Politik unter Friedrich Wilhelm I. bestimmen. Brandenburg îbernahm unter diesen Bedingungen zunchst Kleve, Mark, Ravenstein und Ravensberg, doch befanden sich spanische Truppen, spterhin hollndische im Lande. Das reiche Gebiet, mitten vom Rhein durchflossen, mit starkem lutherischen und kalvinistischen, aber auch einem nicht unbedeutenden katholischen Element, war auch fîr den Handel von großer Bedeutung, weniger durch eigenes Gewerbe.40 Die endgîltige Regelung der territorialen Verhltnisse blieb dem Erbvergleich mit Pfalz-Neuburg vom September 1666 vorbehalten, und dabei ist das Gebiet von Ravenstein gegen eine Kompensationszahlung Pfalz-Neuburg zugesprochen worden.41 Nach innen hatten diese in der Tat dramatischen politischen Konjunkturen bereits Wirkungen gezeitigt, bevor sie eigentlich eingetreten waren. Die Begrîndung des Geheimen Rates als oberstes brandenburgisches politisches Organ ist mit ausdrîcklicher Berufung auf die neuen Aufgaben und Qualitten der Politik geschehen; expressis verbis wurde dabei – an erster Stelle – auf die „Preussische“ und die „Gulische“ Frage angespielt. Ohne die Vorbilder im einzelnen genau zu benennen, wird doch in der Geheimen Ratsordnung davon gesprochen, daß dieses Gremium „nach Exempell anderer wohlbestellten Politien und Regimenten“ seine beratende Funktion wahrnehmen sollte, zumal in diesen „Sachen … uns und unserem churfîrstlichen Hauße so hoch viel gelegen“.42 Neun Personen, Adlige und Bîrgerliche, wurden zu Geheimen Rten berufen; daneben fîhrte der Kurfîrst weiter die Geschfte auch aus seiner Kammer, mit Hilfe seiner „kammersecretarien“. Die geistlichen Sachen gehçrten auch fernerhin vor das Konsistorium. Der Geheime Rat sollte von Anfang an nicht nur die politischen, d. h. die außenpolitischen Materien behandeln, auch „Polizei“- und Kommerziensachen, Kriegs- und Festungsangelegenheiten 40 Ebda.; Curt Jany, Geschichte der Kçniglich Preußischen Armee bis zum Jahre 1807, 1: Von den Anfngen bis 1740, Berlin 1928, S. 63, S. 66; um 1640: E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 26), 1, S. 67 f. 41 T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 288 – 294; Ernst Opgenoorth, Friedrich Wilhelm der Große Kurfîrst von Brandenburg. Eine politische Biographie, 2, Gçttingen/Frankfurt/Zîrich 1978, S. 85 – 88; Georg Kîntzel, Die drei großen Hohenzollern, in: Erich Marcks / Karl Alexander von Mîller (Hg.), Meister der Politik. Eine weltgeschichtliche Reihe von Bildnissen (2), Stuttgart/Berlin 21923, S. 391 – 551, hier S. 433. 42 Melle Klinkenborg (Hg.), Acta Brandenburgica. Brandenburgische Regierungsacten seit der Begrîndung des Geheimen Rates, 1: 1604 – 1605 (= Verçffentlichungen der Historischen Kommission fîr die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, 3), Berlin 1927, Nr. 40, S. 91 – 96, Zitat: S. 91 f.

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gehçrten vor sein Forum, letztere in Kooperation mit dem Obersten. Der Kurfîrst nahm nicht an den Ratssitzungen teil. Im Rat galt das Majorittsprinzip, doch sollten strittige Fragen vor den Monarchen gebracht werden. Dessen Kammer behielt ein starkes Eigengewicht neben dem Geheimen Rat.43 Zudem hat der Rat anfangs eine erhebliche Instabilitt besessen und ist bald in institutionelle Krisen geraten. Immerhin war nunmehr – erstmals – ein „Collegium formatum“ vorhanden.44 Zweimal in der Woche tagte er „auf der Ratsstube“. Auch die Entwicklung eines stndigen diplomatischen Apparates ist um 1600 ganz wesentlich durch die Erwerbungen, zumal diejenigen am Niederrhein gefçrdert worden. Zur Wahrnehmung der Interessen wurde nunmehr ein permanenter Vertreter Kurbrandenburgs bei den Vereinigten Niederlanden berufen; Analoges gilt wegen Preußen in Polen. Es war dann auch kein Zufall, daß gerade seit 1631 ein stndiger diplomatischer Reprsentant in Schweden, seit 1646 auch einer in Paris existierte.45 Die wachsenden außenpolitischen Anforderungen, die Brandenburg-Preußen in die europischen Konfliktherde invol43 M. Klinkenborg (Hg.), Acta Brandenburgica … (s. Anm. 42), 1, S. 95 f., Verfahren: S. 93 f.; Martin Schulz, Geschichte des brandenburgischen Geheimen Ratskollegiums in den Jahren 1604 – 1608 (= HistStud, 276), Berlin 1935, ND Vaduz 1965, S. 15 – 18, und vergleichend S. 6 – 13; dazu Gerhard Oestreich, Der brandenburg-preußische Geheime Rat vom Regierungsantritt des Großen Kurfîrsten bis zu der Neuordnung im Jahre 1651. Eine behçrdengeschichtliche Studie (= Berliner Studien zur neueren Geschichte, 1), Wîrzburg-Aumîhle 1937, S. 4 ff.; Melle Klinkenborg, Ratsstube und Kanzlei in Brandenburg im 16. Jahrhundert, in: ForschBrandPrG 26 (1913), S. 413 – 428, bes. S. 418 f.; vergleichend: Kurt Dîlfer, Studien zur Organisation des fîrstlichen Regierungssystems in der obersten Zentralsphre im 17. und 18. Jahrhundert, in: Archivar und Historiker. Studien zur Archiv- und Geschichtswissenschaft. Zum 65. Geburtstag von Heinrich Otto Meisner, hg. von der Staatlichen Archivverwaltung im Staatssekretariat fîr Innere Angelegenheiten (= Nr. 7 der Schriftenreihe der Staatlichen Archivverwaltung), Berlin 1956, S. 237 – 253, hier S. 243; Gerhard Oestreich, Das persçnliche Regiment der deutschen Fîrsten am Beginn der Neuzeit, zuerst 1935, wieder in: Ders., Geist und Gestalt des frîhmodernen Staates. Ausgewhlte Aufstze, Berlin 1969, S. 201 – 234, hier S. 227 f. 44 Wichtig: Heinrich Otto Meisner, Die monarchische Regierungsform in Brandenburg-Preußen, in: Richard Dietrich / Gerhard Oestreich (Hg.), Forschungen zu Staat und Verfassung. Festgabe fîr Fritz Hartung, Berlin 1958, S. 219 – 245, hier S. 223 ff.; nach wie vor unverzichtbar (auch fîr das prosopographische Material) Carl Wilhelm Cosmar / C. A. L. Klaproth, Der Kçnigl. Preußische und Churfîrst. Brandenburgische Wirklich Geheime Staats-Rath an seinem zweihundertjhrigen Stiftungstage den 5ten Januar 1805 …, Berlin 1805, S. 91, S. 119 f. 45 Otto Krauske, Die Entwicklung der stndigen Diplomatie vom fînfzehnten Jahrhundert bis zu den Beschlîssen von 1815 und 1818 (= StaatsSocialwissForsch, 5, Heft 3, der ganzen Reihe 22), Leipzig 1885, S. 129 f., S. 136 f.; wichtig nach wie vor Else Jagenburg, Die Diplomatie Brandenburgs zur Zeit des Großen Kurfîrsten, phil. Diss. Bonn, Wîrzburg 1936, vor 1640: S. 1 – 3.

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vierten, bewirkten die Weiterentwicklung des Staatsorganismus, und zwar nach außen und nach innen. Gerhard Oestreich hat dann davon gesprochen, daß mit der Begrîndung des Geheimen Rates im Jahre 1604 die „erste offizielle Trennung zwischen Hofund Staatsverwaltung“ eingetreten sei. Nunmehr, so Oestreich, seien Hofbeamte nicht mehr Staatsbeamte gewesen.46 Freilich muß man auch berîcksichtigen, daß damit noch nicht jener moderne Amtstrgertypus etwa generell durchgedrungen wre, der ausschließlich „staatsloyal“ seine „çffentlichen“ Aufgaben wahrgenommen htte. Gerade in den Amtsstellen, die fîr die materielle Seite der landesherrlichen Funktionen zustndig waren, gibt es auffllige Verflechtungen mit Berliner Kaufmannsfamilien, die spezifisch vor-moderne Charakteristika „staatlicher“ Organe vor Augen treten lassen. In der „Amtskammer“, verantwortlich fîr die Verwaltung der fîrstlichen Domnenmter und der industriellen Betriebe (Hammerwerke, Salpetersiedereien) tritt dieser Amtstrgertyp entgegen, auch nachdem dieses Organ seit 1615 festere kollegialische Formen angenommen hatte.47 Die Amtskammer hatte aus den ømtern die Einnahmen der landwirtschaftlichen Produktion zu erheben, etwa diejenigen aus dem Verkauf von Vieh und Wolle, wichtiger Rohstoff in der ressourcenarmen Mark Brandenburg. Hinzu kamen die Dienst-, die Straf- und die Abzugsgelder u.a.m.48 Die „Doppelstellung als Kaufmann und Beamter“ (Papritz/ Rachel/Wallich) ist gerade auf diesem Gebiet des inneren Regiments besonders verbreitet gewesen,49 aber Angehçrige von Berliner Großkaufmannsfamilien 46 G. Oestreich, Geheime Rat … (s. Anm. 43), S. 26. 47 Kurt Breysig, Geschichte der brandenburgischen Finanzen in der Zeit von 1640 bis 1697. Darstellung und Akten, 1: Die Centralstellen der Kammerverwaltung. Die Amtskammer, das Kassenwesen und die Domnen der Kurmark (= Urkunden und Aktenstîcke zur Geschichte der inneren Politik des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 1, Tl. 1), Leipzig 1895, S. 153 f., auch zur langen Entwicklung bis zur Ausprgung der Institution; Druck der Amtskammerordnung (von 1615): S. 619 – 628, Nr. 58; dazu Martin Hass, ˜ber die Verwaltung der Amts- und Kammersachen unter Joachim II. und Johann Georg, in: ForschBrandPrG 19 (1906), S. 227 – 239, bes. S. 227 ff. 48 K. Breysig, Geschichte … (s. Anm. 48), S. 226. 49 Hugo Rachel / Johannes Papritz / Paul Wallich, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, 1: Bis zum Ende des dreißigjhrigen Krieges (= VerçffVGBrandenb), Berlin 1934, S. 326 ff. (Zitat: S. 327), ferner S. 366 ff.; und grundstzlich Hugo Rachel / Paul Wallich, Berliner Großkaufleute und Kapitalisten, 2: Die Zeit des Merkantilismus 1648 – 1806, neu hg., ergnzt und bibliographisch erweitert von Johannes Schultze / Henry C. Wallich / Gerd Heinrich (= VerçffVGBrandenb), Berlin 1967, S. 104; wichtig fîr die ganze Epoche Eberhard Faden, Berlin im Dreißigjhrigen Kriege (= Berlinische Bîcher, 1), Berlin 1927, S. 105, S. 108, sowie Herman von Petersdorff, Beitrge zur Wirtschafts-, Steuer- und Heeresgeschichte der Mark Brandenburg im dreißigjhrigen Kriege, in: ForschBrandPrG 2 (1889), S. 1 – 73, hier S. 35.

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finden wir auch unter den Geheimen Sekretren und in den bald entstehenden militrischen Organen. Amtskammerrte wurden im Dienst Teilhaber von Handelshusern. Von eben den großen Berliner Kaufmannsfamilien aber liehen die Kurfîrsten um 1600 in erheblichem Umfange, um ihre finanziellen Probleme zu îberbrîcken. Die Dynasten pflegten mit ihren bîrgerlichen Glubigern îbrigens intensiven persçnlichen Umgang,50 sie gehçrten also ohne Zweifel zur hofnahen Residenzgesellschaft. Ihr Zugang zu einflußreichen ømtern lßt Gewicht und Einfluß im Umfeld des Kurfîrsten erahnen. Noch lange, bis in das 18. Jahrhundert hinein, ist diese Funktions- und Interessenverflechtung nachzuweisen.51 Man wird davon ausgehen kçnnen, daß diese Doppelfunktionen auch fîr die Vermittlung von Informationen große Bedeutung besessen haben. Eine funktionale Parallele ist in der „Doppelstellung“ als fîrstlicher Amtstrger und als Vertreter der Stnde, beides in einer Person, zu erkennen.52 Noch der Große Kurfîrst hat von eigenen Rten und von Generlen Gelder geliehen, er freilich nicht mehr von Berliner Kaufleuten. Die Selbstergnzung etwa des Amtskammerpersonals aus den jeweiligen Amtstrgerfamilien, das „Protektionswesen“ (Breysig) gehçrt zu den vormodernen Charakteristika des brandenburgischen (-preußischen) Organbaus im frîhen und hohen 17. Jahrhundert.53 Fîr die geistliche Instanz, und das heißt fîr das im 16. Jahrhundert begrîndete Konsistorium, gilt – mutatis mutandis – das gleiche. Nur der unmittelbar nach dem Konfessionswechsel des Kurfîrsten zum Kalvinismus fîr kurze Zeit bestehende „Kirchenrat“ konnte als Novitt gelten.54 Es ist nun eine interessante und in der Forschung intensiv behandelte Frage, ob schon unter Kurfîrst Joachim Friedrich (1598 – 1608) der Einfluß des Kalvinismus auf die brandenburg-preußische Geschichte einsetzt. Joachim 50 H. Rachel / J. Papritz / P. Wallich, Großkaufleute … (s. Anm. 49), 1, S. 373. 51 A. a. O., … (s. Anm. 49), 2, S. 13 f., S. 17, Kraut: S. 134 – 184. 52 Spezifisch fîr die brandenburgischen Verhltnisse vgl. Helmuth Croon, Die kurmrkischen Landstnde 1571 – 1616 (= Brandenburgische Stndeakten, 1; Verçffentlichungen der Historischen Kommission fîr die Provinz Brandenburg und die Hauptstadt Berlin, 9,1), Berlin 1938, S. 3. 53 H. Rachel / P. Wallich, Großkaufleute … (s. Anm. 49), 2, S. 102 ff.; L(eopold) Frhr. v. Ledebur, Gallerie bemerkenswerter Personen des von Burgsdorfschen Geschlechts aus dem 16. und 17. Jahrhundert, in: Mrkische Forschungen 14 (1878), S. 87 – 98, hier S. 96; K. Breysig, Geschichte … (s. Anm. 47), S. 179 f. 54 Otto Hintze, Die Epochen des evangelischen Kirchenregiments in Preußen, zuerst 1906, wieder in: Ders., Regierung und Verwaltung. Gesammelte Abhandlungen zur Staats-, Rechts- und Sozialgeschichte Preußens, hg. von Gerhard Oestreich, Gçttingen 21967, S. 56 – 96, hier S. 77 f.; Bodo Nischan, Prince, People and Confession. The Second Reformation in Brandenburg, Philadelphia (1994), S. 111, S. 121 f.; wichtig nach wie vor Heinrich von Mîhler, Geschichte der evangelischen Kirchenverfassung in der Mark Brandenburg, Weimar 1846, S. 128 ff.; Wolfgang Neugebauer, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit in Brandenburg-Preussen (= VHKB, 62), Berlin/New York 1985, S. 73 – 79.

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Friedrich hatte bereits, bevor er in der Mark Brandenburg zur Regierung kam, als „Administrator“ das Erzbistum Magdeburg regiert, und zwar fîr immerhin 30 Jahre. Darin kommt beispielhaft das politische Programm Brandenburgs im 16. Jahrhundert, sich in Richtung der Stiftslande in Mitteldeutschland und zumal an der mittleren Elbe auszudehnen, zum Ausdruck, nur hatte man es hier (noch) nicht mit Erb-, sondern mit geistlichen Wahlgebieten zu tun.55 In der Tat sollte nach 1650/80 die Politik, in den Landschaften an der mittleren Elbe festen Fuß zu fassen, zu dauernden Resultaten fîhren. Um 1600 sind zunchst einmal mancherlei Erfahrungen und geschultes Personal aus dem Magdeburgischen nach Nordosten transferiert und implantiert worden, aber Joachim Friedrich selbst mußte die unmittelbare Herrschaft im Erzstift noch aufgeben; immerhin gelang es ihm, mit seinem Sohn Markgraf Christian Wilhelm das Gebiet fîr drei Jahrzehnte der Dynastie in einem weiteren Sinne zu sichern.56 ˜ber den Magdeburger Hof zu Halle an der Saale hatte Joachim Friedrich bereits in engen Beziehungen zum kurpflzischen Hof gestanden,57 als dieser im Heiligen Rçmischen Reich zum Exponenten einer aktivistischen Politik aus kalvinistischem Impuls zu werden begann. Noch unter Joachim Friedrich hat fîr kurze Zeit Ott-Heinrich von Bylandt, Herr auf Rheydt und Prembt Einfluß auf die junge brandenburg-preußische Politik genommen, ein Mann, dem Otto Hintze in dem Kontext von „Kalvinismus und Staatsrson“ im Brandenburg-Preußen dieser Zeit eine prominente Rolle zugewiesen hat. Rheydt sei geradezu der „Apostel des politischen Kalvinismus und der niederlndisch-franzçsischen Staatsraison im Kampfe gegen das rçmischspanische Prinzip“ gewesen, der „erste moderne Staatsmann in der brandenburgischen Geschichte“.58 Rheydt habe bereits den „Großstaat“ im Auge gehabt. 55 O. Hintze, Die Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 150 f.; R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 328; Wolfgang Neugebauer, Die Stnde in Magdeburg, Halberstadt und Minden im 17. und 18. Jahrhundert, in: P. Baumgart (Hg.), Stndetum … (s. Anm. 13), S. 170 – 207, hier S. 171 ff.; nach wie vor mit wichtigem Material Johann Christoph von Dreyhaupt, Pagus Neletici et Nudzici, Oder Ausfîhrliche diplomatisch-historische Beschreibung des … Saal-Creyses, 1, Halle 21755, S. 296 ff. 56 J. Grossmann, u. a., Genealogie … (s. Anm. 35), S. 27. 57 S. Anm. 55; Zur Pfalz vgl. Albrecht P. Luttenberger, Kurfîrsten, Kaiser und Reich. Politische Fîhrung und Friedenssicherung unter Ferdinand I. und Maximilian II. (= VerçffInstEurG, 149. Beitrge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reichs, 12), Mainz 1994, S. 171, S. 176 ff., u. ç.; vgl. die Rezension des Vf.: ZRG, germ. Abt. Nr. 114 (1997), S. 555. 58 Otto Hintze, Kalvinismus und Staatsrson in Brandenburg zu Beginn des 17. Jahrhunderts, zuerst 1931, wieder in: Ders., Regierung und Verwaltung … (s. Anm. 54), S. 255 – 312, bes. S. 283 f., zur Person S. 284 ff.; vgl. auch R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 334 f.; dagegen Melle Klinkenborg, Zur Entstehung der Geheimen Ratsordnung vom 13. Dezember 1604, in: ForschBrandPrG 39 (1927), S. 215 – 228, bes. S. 215 ff.; Bestallung vom 1. Januar 1606: M. Klinkenborg (Hg.), Acta … (s. Anm. 42), 2, Berlin 1928, S. 1 – 3, Nr. 691; vgl. 1, S. 149 ff., Nr. 68.

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Gegen die These, daß Ott-Heinrich von Rheydt auch im neubegrîndeten Geheimen Rat eine prominente Rolle gespielt habe, wurden allerdings schon frîh Einwnde erhoben, und Rheydt ist auch schon 1608 – und zwar in den Niederlanden – verstorben. Mag dieser, also sehr teleologisch eingeordnete Staatsmann als Kalvinist auch eine scharfe antihabsburgische Linie verfochten haben, so hat doch der Kurfîrst zusammen mit seinem Kanzler Lçben eine sehr bedchtig-vorsichtige Politik betrieben, und die Anregung zur Grîndung eines Geheimen Rates ging vermutlich auf frnkisch-hohenzollernsche Impulse, nicht aber auf solche aus der Pfalz zurîck.59 Diese sowohl sachlich als auch historiographisch interessanten Vorgnge zeigen bereits auf, daß die Forschung seit langem, ja seit mehr als hundert Jahren intensiv die Frage nach der politischen Bedeutung und der Vorgeschichte des kurfîrstlichen Konfessionswechsels hin zum Kalvinismus diskutiert. Damit wird der Person Kurfîrst Johann Sigismunds, der von 1608 bis 1620 (n. St.) regierte, geradezu eine konstitutive Rolle fîr die preußische Geschichte îberhaupt zugeschrieben. Betrachten wir zunchst Person und Sachverhalt. Kurfîrst Joachim Friedrich, der den Reformierten verschiedentlich entgegengekommen war, hatte seinen Sohn Johann Sigismund zunchst auf die Akademie in Straßburg und dann auf die Heidelberger Universitt geschickt. Dort hatte er noch als Kurprinz Kontakt zum Kalvinismus gewonnen und Beziehungen eben zum Pfalzgrafen bei Rhein aufgenommen; dies ist in der Tat bedeutsam fîr die inneren, religiçsen Wandlungen Johann Sigismunds.60 Diese pflzischen Kontakte traten in der hohen Politik 1605 insofern in eine neue Phase, als der pflzische und der brandenburgische Kurfîrst vertraglich die gemeinsame Vertretung territorialer Ansprîche verabredeten und mit den Niederlanden ein abgestimmtes Vorgehen bei der „Sicherung [der] jîlichschen Lande“ festlegten.61 Zum politischen Instrumentarium der Zeit gehçrte es, dieses politische Bîndnis durch eine Hei-

59 M. Klinkenborg, Zur Entstehung … (s. Anm. 58), S. 216 ff., auch zum Sturz Rheydts 1606; Melle Klinkenborg, Das Stralendorffsche Gutachten und die antikaiserliche Politik Brandenburg-Preußens, in: ForschBrandPrG 41 (1928), S. 229 – 247, hier S. 245; Geh. Rat.: vgl. J. Petersohn, Staatskunst … (s. Anm. 27), S. 239 f., mit weiterer Lit.; vgl. Heinrich Muth, Der pflzische Kalvinismus und die brandenburgische Geheimratsordnung von 1604, in: Zeitschrift fîr die Geschichte des Oberrheins 107 (1959), S. 400 – 467, hier S. 442 f., S. 446. 60 Walter Delius, Der Konfessionswechsel des brandenburgischen Kurfîrsten Johann Sigismund. Eine Berliner Weihnachtsîberraschung am Anfang des 17. Jahrhunderts, in: Jahrbuch fîr Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 50 (1977), S. 125 – 129, bes. S. 125 f. 61 M. Klinkenborg (Hg.), Acta Brandenburgica … (s. Anm. 42), 1, S. 227 ff., Nr. 123, ferner S. 295 f. (Zitat), Nr. 233, vom 15./25. April 1605; Heirat: S. 225 ff., Nr. 122.

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ratsverbindung beider Huser noch zu stabilisieren, zur nheren „Befreundung unndt Verbîndung beeder Heußer Pfalz p. unndt Brandenburgk p.“.62 Ein puritanischer Asket ist Johann Sigismund aber nicht gewesen. Er liebte durchaus die Genîsse des Lebens, und das mit gesundheitlichen Folgen. Er hatte strkere kînstlerische Neigungen, die wohl bedeutender waren als seine politischen Fhigkeiten. Seine religiçsen Interessen und Aktivitten gingen nicht parallel zu politischem Elan und kraftvollen Perspektiven.63 Neben ihm stand die außerordentlich selbstndige und selbstbewußte Gemahlin, jene Anna von Preußen, immer eine entschiedene Lutheranerin. Sie ist es gewesen, die die Erbansprîche auf die westlichen Gebiete mit in die Ehe und an Kurbrandenburg brachte, und dieser Umstand gab ihr großen Einfluß am Hof und auf die Politik. Denn sie beanspruchte, gegebenenfalls îber die jîlichschen Gebiete allein disponieren zu kçnnen. In erheblichen Spannungen hat sie mit Johann Sigismund gelebt und einen eigenen, ganz unkontrollierten Schriftverkehr etwa mit dem Kaiserhause gefîhrt, als es um nichts anderes als um die jîlichsche Erbfolge ging. Die Konfessionsfrage, die nun offen aufbrach, hat zur Entfremdung des kurfîrstlichen Paares weiter beigetragen.64 Dynastinnen mit eigenem politischen Gewicht und Programm haben neben den mnnlichen Herrschern immer eine gewichtige Rolle zu spielen vermocht. Es konnte also nicht einmal darum gehen, ob nun der ganze Hof zum Kalvinismus îbertreten wîrde, als Johann Sigismund trotz seiner „geistige(n) Schwerflligkeit und Unlust zu den Geschften“,65 auch offen zum neuen Glauben konvertierte. Am Hof blieb in der Herrscherfamilie eine starke Partei lutherisch. Daneben bestand diejenige Fraktion, die schon seit einiger Zeit dem „Kryptokalvinismus“ zuzurechnen war und die nun offen hervortrat. Nicht allein die Frage, welche Motive fîr den kurfîrstlichen Konfessionswechsel 1613 entscheidend waren, steht im Raume, sondern auch diejenige, warum Johann Sigismund erst jetzt zu diesem Entschluß gekommen ist. Neben Rîcksichten, die er als Prinz zu nehmen hatte, standen nach 1608 solche hinsichtlich des Kaiserhauses; auch war nicht abzusehen, welche Folgen sich etwa einstellen wîrden, 62 M. Klinkenborg (Hg.), Acta Brandenburgica … (s. Anm. 42), 1, S. 225; zum Hintergrund etwa O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 148, S. 150, S. 155 f. 63 Th(eodor) Hirsch, Artikel: Johann Sigismund, Kurfîrst von Brandenburg, in: ADB 14 (1881), S. 169 – 175, hier S. 169 f.; Johannes Schultze, Die Mark Brandenburg, 4: Von der Reformation bis zum Westflischen Frieden (1535 – 1648), Berlin 1964, S. 175 f.; O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 157 f., und dessen Rezension in den ForschBrandPrG 27 (1914), S. 622, zu dem Werk von Koser. 64 O. Hintze, ebda., vor allem aber Toni Saring, Kurfîrstin Anna (von Preußen), in: ForschBrandPrG 53 (1941), S. 248 – 295, hier S. 248 – 253, S. 257 ff., S. 264, S. 275 f.; Anton Chroust, Aktenstîcke zur brandenburgischen Geschichte unter Kurfîrst Johann Sigismund, in: ForschBrandPrG 9 (1896), S. 1 – 21, S. 14 f.; T. Hirsch, Johann Sigismund … (s. Anm. 63), S. 172. 65 O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 157.

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wenn es darum ging, die Ansprîche auf das Herzogtum Preußen mit seinen starken und dezidiert lutherischen Landstnden durchzusetzen.66 Die Lage wurde im Osten ganz ohne Zweifel um einiges komplizierter und bot fîr polnische Interventionen neuerlichen Anlaß. Der Kurfîrst verfîgte allein îber eine Minderheit im preußischen Adel, zumal unter den „Herren“. Dabei konnten sich die brandenburgischen Hohenzollern bereits im frîhen 17. Jahrhundert insbesondere auf die Dohnas stîtzen, die, zum Kalvinismus îbergetreten, nun freilich im Gegensatz zur lutherischen Umgebung im Lande leben mußten.67 Spter sind dieser Gruppe auch die Dçnhoffs, Hoverbecks, Schwerins und Borckes, die Fincke und Podewils zuzurechnen,68 Namen, die ebenso wie die Truchseß zu Waldburg in engen, zum Teil ministeriellen Beziehungen zur Dynastie stehen sollten in den kommenden Jahrhunderten. Ganz sicher ist es also richtig, daß die Konfessionsfrage weit îber den kirchengeschichtlichen Bereich hinaus Bedeutung hatte. Sie spielte in den politischen, den außenpolitischen und den integrationspolitischen Bereich hinein, als nun Johann Sigismund zusammen mit mehreren Geheimen Rten und einigen Verwandten zu Weihnachten 1613 das Abendmahl nach reformiertem Ritus nahm. Im folgenden Jahre (1614) erschien dann als rechtfertigende Begrîndung die Confessio Sigismundi.69 Freilich stand dem Kurfîrsten nach dem gîltigen Recht des Heiligen Rçmischen Reiches kein Reformationsrecht zu, mit dem er etwa darauf htte dringen kçnnen, daß seine Untertanen dem Konfessionswechsel folgten. Zudem war die organisierte Opposition im Lande, etwa diejenige der gerade in dieser Zeit einflußreichen Stnde, entschlossen und ohne Neigung zu Kompromissen. In Berlin kam es anlßlich der Entfernung von 66 Kryptokalvinismus: O. Hintze, Kalvinismus … (s. Anm. 58), S. 267; Anton Chroust, Abraham von Dohna. Sein Leben und sein Gedicht auf den Reichstag von 1613, Mînchen 1896, S. 105 ff. 67 A. Chroust, Dohna … (s. Anm. 66), S. 30 ff., S. 60 f., S. 102 – 104, S. 107; G. Heinrich, Adel … (s. Anm. 19), S. 287 f.; O. Hintze, Kalvinismus … (s. Anm. 58), S. 274 ff. 68 Walther Hubatsch, Geschichte der evangelischen Kirche Ostpreußens, 1, Gçttingen 1968, S. 138; Edith Spiro, Die Gravamina der Ostpreußischen Stnde auf den Huldigungslandtagen des 18. Jahrhunderts, phil. Diss. Breslau 1929, S. 15 Anm. 30; T. Hirsch, Johann Sigismund … (s. Anm. 63), S. 175. 69 Mit weiterer Literatur s. Rudolf von Thadden, Die Fortsetzung des „Reformationswerkes“ in Brandenburg-Preußen, in: Heinz Schilling (Hg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – das Problem der „Zweiten Reformation“. Wissenschaftliches Symposion des Vereins fîr Reformationsgeschichte 1985 (= Schriften des Vereins fîr Reformationsgeschichte, 195), Gîtersloh 1986, S. 233 – 250, bes. S. 233 – 235; B. Nischan, Prince … (s. Anm. 54), S. 91 ff.; R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 369 f.; Manfred Rudersdorf / Anton Schindling, Kurbrandenburg, in: Anton Schindling / Walter Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500 – 1650, 2, Mînster 1990, S. 34 – 66, bes. S. 50 f., S. 54 ff.

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Bildschmuck aus dem Dom zum Tumult des Jahres 1615; in verschiedenen Stdten gab es ˜bergriffe auf Kalvinisten.70 Es war mit den Mitteln des Landesstaats um 1600 aussichtslos, gegen diese Widerstnde den Versuch zu unternehmen, die zweite Reformation im Lande allgemein durchzusetzen. Das was der Kurfîrst versuchen konnte, war, die konfessionelle Polemik im Lande zu dmpfen. Man wird also nicht von dem Beginn einer preußischen Toleranzpolitik sprechen dîrfen, die nach 1613 zu beobachten war, zumal der Kurfîrst da, wo er es sich glaubte erlauben zu kçnnen, sehr wohl Druck zum Konfessionswechsel anzusetzen versuchte, etwa auf hohe Amtstrger. Fîr Ratsstellen sind im 17. Jahrhundert stets Reformierte bevorzugt worden.71 Die Hofprediger konnte der Kurfîrst natîrlich selbst bestimmen, und an der Universitt Frankfurt an der Oder gewann gleichfalls die neue Lehre Eingang. Aber generell blieb der Widerstand im Lande dominant; so mußte der Kurfîrst den Stnden 1615 die freie Religionsausîbung nach der Augsburger Konfession zusagen. Auch auf den Dçrfern mit kurfîrstlichem Kirchenpatronat durften reformierte Pfarrer nicht aufgedrngt werden. Wie Rudolf von Thadden resîmierte, hat in Brandenburg eine zweite Reformation nicht stattgefunden. Sie blieb im wesentlichen auf den Hof und dessen unmittelbare Umgebung beschrnkt. Dazu zhlte in einem funktionalen Sinne auch die eben begrîndete Fîrstenschule, das Joachimsthalsche Gymnasium. Außerhalb der Mark hatte der Kurfîrst schon vorher die bestehenden konfessionellen Zustnde garantieren mîssen.72 Der 70 Nach wie vor grundlegend: Ulrich Stutz, Kurfîrst Johann Sigismund von Brandenburg und das Reformationsrecht (= Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften 1922, II), Berlin 1922, S. 29, S. 31; zusammenfassend A. Schindling / M. Rudersdorf, Kurbrandenburg … (s. Anm. 69), S. 55 ff.; Berliner Tumult: Eberhard Faden, Der Berliner Tumult von 1615, in: JbBrandenbLdG 5 (1954), S. 27 – 45, bes. S. 32 f.; Ders., Berlin … (s. Anm. 49), S. 137 f.; A. Chroust, Aktenstîcke … (s. Anm. 64), S. 11, S. 18 ff. 71 U. Stutz, Johann Sigismund … (s. Anm. 70), S. 32; R. von Thadden, Reformationswerk … (s. Anm. 69), S. 236; folgendes: Bodo Nischan, Kontinuitt und Wandel im Zeitalter des Konfessionalismus. Die zweite Reformation in Brandenburg, in: Jahrbuch fîr Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 58 (1991), S. 87 – 133, bes. S. 123, S. 125 – 132; zu den Arbeiten Nischans ist zu vergleichen: Heinz Schilling, Nochmals „Zweite Reformation“ in Deutschland. Der Fall Brandenburg im mehrperspektivischer Sicht von Konfessionalisierungsforschung, historischer Anthropologie und Kunstgeschichte, in: ZHF 23 (1996), S. 501 – 524, hier S. 504, zur Sache S. 508 – 512; B. Nischan, Prince … (s. Anm. 54), S. 128 ff.; vgl. auch E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 26), 1, S. 71. 72 R. von Thadden, Reformationswerk … (s. Anm. 69), S. 235 f., S. 240 f., S. 244; wichtige ltere Quellenkompilation: Christian Otto Mylius (Hg.), Corpus Constitutionum Marchicarum …, 6 Tle., Berlin/Halle (1737)-1751, hier (Tl.) 6,1, Sp. 260 (5. Februar 1615); E. Faden, Berlin … (s. Anm. 49), S. 137; U. Stutz, Johann Sigismund … (s. Anm. 70), S. 12, S. 37; wichtig auch H. Croon, Landstnde … (s. Anm. 52), S. 188 ff., S. 193 ff.; zu anderen Regionen des Gesamtstaats vgl. Gerd

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Kalvinismus blieb selbst in der Mark Brandenburg eine „elitre Minderheitenreligion der Dynastie“ (Rudersdorf/Schindling), eine, wie Ulrich Stutz klassisch formulierte, ausgesprochene „Hof- und Beamtenreligion“.73 Freilich hatte der Konfessionswechsel nicht nur einen innen-, sondern auch einen außen- und territorialpolitischen Aspekt, und wer den persçnlichen Wandlungsprozeß Johann Sigismunds seit seinen pflzischen Erlebnissen im Jahre 160474 nicht berîcksichtigte, kçnnte glauben, daß der Kurfîrst versucht habe, durch den Anschluß an den Kalvinismus seine Interessen in den neuen Gebieten wenigstens im Westen zu fçrdern. War der Schritt des Jahres 1613 nicht geeignet, das gerade fîr die niederrheinischen Gebiete so wichtige Verhltnis zu den Niederlanden zu verbessern? Allerdings hat schon 1913 Reinhold Koser zu bedenken gegeben, daß „alles, was wir von der Persçnlichkeit Johann Sigismunds wissen, die Annahme nicht wohl zulasse“, „daß dem einzigen starken Entschlusse seines Lebens kalte Berechnung zugrunde gelegen haben soll. Er war kein politischer Kopf“, vielmehr „weich“ und „unentschieden“.75 Die pflzischen Kontakte, die §ffnung der brandenburgischen Politik zur westlichen Welt im frîhen 17. Jahrhundert – eine solche hatte es freilich auch um 1520 schon gegeben76 –, alles das setzt schon vor 1613 verstrkt ein. Allerdings war der ˜bertritt gerade den territorialpolitischen Interessen nicht îberall nîtzlich; in Preußen, wir hçrten es, wurde die brandenburgische Partei gerade eher geschwcht, und auch im Westen erwuchsen neue politische Kosten.77

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Heinrich, Geschichte Preußens. Staat und Dynastie, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 2 1984, S. 71; Hofprediger: Das Standardwerk von Rudolf von Thadden, Die brandenburgisch-preußischen Hofprediger im 17. und 18. Jahrhundert. Ein Beitrag zur Geschichte der absolutistischen Staatsgesellschaft in Brandenburg-Preußen (= ArbbKG, 32), Berlin 1959, bes. S. 9 ff. M. Rudersdorf / A. Schindling, Kurbrandenburg … (s. Anm. 69), S. 60; U. Stutz, Johann Sigismund … (s. Anm. 70), S. 37; vgl. aber die Thesen von B. Nischan (in Anm. 69 und 71). T. Hirsch, Johann Sigismund … (s. Anm. 63), S. 170; ferner R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 375 f. R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 369 f.; vgl. weiter S. 372 ff., S. 375: Der Konfessionswechsel Johann Sigismunds „erscheint nicht als berechnende Handlung zur Herbeifîhrung oder Sicherung politischen Gewinns, nicht als der erste Schritt auf einer neuen politischen Bahn, sondern als letztes Glied einer allmhlich und im Stillen vorgeschrittenen inneren Entwicklung“; man vgl. Hans-Joachim Beeskow, Der Konfessionswechsel des brandenburgischen Kurfîrsten Johann Sigismund im Jahre 1613, in: Herbergen der Christenheit 1983/84. Jahrbuch fîr deutsche Kirchengeschichte 14 (1983/84), S. 7 – 18, hier S. 9; zu den Motiven vgl. aus der neueren Lit. B. Nischan; Prince … (s. Anm. 54), S. 94 ff. W. Neugebauer, Hohenzollern … (s. Anm. 33), 1, S. 79 f. R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 384; M. Rudersdorf / A. Schindling, Kurbrandenburg … (s. Anm. 69), S. 53 f.

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Nach 1613 ist jedenfalls von einer signifikant aktiveren Politik Brandenburgs beziehungsweise Brandenburg-Preußens nicht zu sprechen,78 dies ist der empirische Befund, den wir in der Zeit des großen Krieges besttigt finden werden. Dagegen steht die Stilisierung des Konfessionswechsels in der preußischen Historiographie, zumal in der Phase der nationalteleologischen Interpretation zur Zeit des eigentlichen geschichtswissenschaftlichen Borussismus, d. h. durch Johann Gustav Droysen in seiner „Geschichte der Preußischen Politik“ um 1870. Er hat gegen die Realitten Johann Sigismund zu einem mutigen, politische Gefahren nicht scheuenden Manne werden lassen, er schilderte ihn als einen, der nach innen und außen îberlegen und zielsicher in den Kmpfen gestanden habe. „Johann Sigismund scheute diese Gefahren nicht mehr. Was auch die fromme Indignation seiner Stnde und seiner orthodoxen Nachbarn ihm bereiten mochte, nun ruhigen Gewissens erwartete er, was Gott ihm verhnge. […] Denn dies sein neues Bekenntniß war nicht bloß kirchlicher Natur. Es war eine andere, grçßere, lebensreichere Weltanschauung, fîr die er sich damit entschied. Es war der Entschluß zum Vorwrts, den er damit bekannte; derselbe, in dem die Niederlande sich befreit, sich an die Spitze des fortschreitenden Lebens im Abendlande gestellt hatten; derselbe, in welchem das Haus der Oranier einen Ruhm erworben hatte, vor dem der der stolzen Habsburger erblich, den Ruhm des kîhnsten, uneigennîtzigsten, unermîdlichen Kampfes um die hçchsten sittlichen Gîter, den Ruhm, frei an der Spitze eines freien Volkes zu stehen. Was Johann Sigismund that, war nur ein Anfang; es war ein Saamenkorn, und furchtbare Wetter sollten noch durchlitten werden, ehe sein Frîhling kam.“79 Auf dieser Linie hat Otto Hintze fast im Stile religionssoziologischer Erklrungen den Kalvinismus als die „Brîcke“ bezeichnet, „îber welche die westeuropische Staatsrson ihren Einzug in Brandenburg gehalten hat“,80 so wie unter dem Großen Kurfîrsten der „heroische Hauch des westeuropischen Kalvinismus“ gewirkt habe. Machtpolitik und Kalvinismus gehçrten zusammen. Dagegen hat die ideen- und geistesgeschichtliche Forschung seitdem geltend gemacht, daß die aktivistischen Anstze um 1600/13 weit îberschtzt wîrden und daß die Gleichsetzung von Luthertum und territorial-landesstaatlicher Inaktivitt und des Kalvinismus mit politischer Aktivitt zumal in der preußischen 78 R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 376 (gegen Droysen), weiter S. 391, S. 406, u. ç.; vgl. J. Schultze, Brandenburg … (s. Anm. 63), 4, S. 184 f.; vgl. aber die Rezension von Otto Hintze, in: ForschBrandPrG 27 (1914), S. 622. 79 J. G. Droysen, Politik … (s. Anm. 36), 2,2, S. 436. 80 O. Hintze, Kalvinismus … (s. Anm. 58), S. 311, S. 291; vgl. schon 1903 im selben Sinne, Otto Hintze, Geist und Epochen der preußischen Geschichte, wieder in: Ders., Regierung und Verwaltung … (s. Anm. 54), S. 1 – 29, hier S. 4, S. 7, Großer Kurfîrst: S. 9, folgendes S. 12.

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Geschichte nicht zu halten sei.81 Damit ist aber nicht gesagt, daß westeuropische Einflîsse in der brandenburg-preußischen Geschichte des 17. Jahrhunderts irrelevant gewesen seien. Die spezifische Verbindung von Westlichem und §stlichem in der Geschichte Brandenburg-Preußens kommt insbesondere in der „Niederlndischen Bewegung“ und ihrer Rezeption zum Ausdruck. Der, wie Gerhard Oestreich es formuliert hat, „Geist des niederlndischen Spthumanismus“ ist insbesondere îber den politischen Philosophen Justus Lipsius vermittelt worden, der kurz nach 1600 am Berliner Hofe gelesen worden ist; seine Schriften sind in Brandenburg-Preußen gedruckt worden. Spter trat das Naturrecht eines Hugo Grotius hinzu. Der Disziplinbegriff der oranischen Heeresreform wird in diesen Zusammenhang gestellt. Nachweisbar haben vor allem hohe preußische Amtstrger der zweiten Hlfte des 17. Jahrhunderts an der Universitt Leiden studiert und Kontakt zu diesem Gedankengut gehalten. Der Neustoizismus hat vor dem Kalvinismus auf die Fîhrungsschichten im Osten eingewirkt, und in den Jahren 1634 – 1638 hat dann der sptere Große Kurfîrst niederlndische Impulse erfahren; er hat auch Leiden selbst erlebt, wenngleich die Quellen îber diese Einflîsse keinen konkreten Aufschluß geben.82 An der Frankfurter Universitt zeigt der gedruckte Bibliothekskatalog von 1676 eine ungewçhnlich reiche Sammlung der Werke des Justus Lipsius.83 Dies waren langfristige Wirkungen, Wirkungen der europischen Geistesund Bildungsgeschichte, und nur schwer sind sie mit den Quellen sicher zu fassen. Um 1600 setzen diese Strçmungen ein, und sie wirkten eher auf lange Dauer. Um 1613/18 hatten sie Brandenburg-Preußen noch nicht modernisiert. Mit der ˜berlast territorialer Neuerwerbungen, nur durch die Person schwacher

81 Gerhard Oestreich, Calvinismus, Neustoizismus und Preußentum, in: JbGMitteldtld 5 (1956), S. 157 – 181, hier S. 158 f.; Ders., Fundamente preußischer Geistesgeschichte. Religion und Weltanschauung in Brandenburg im 17. Jahrhundert, zuerst 1970, wieder in: Ders., Strukturprobleme der frîhen Neuzeit. Ausgewhlte Aufstze, hg. von Brigitta Oestreich, Berlin 1980, S. 275 – 297, hier S. 285; vgl. schon die wichtige Rezension von Dems., in: ForschBrandPrG 48 (1936), S. 210; vgl. damit O. Hintze, Kalvinismus … (s. Anm. 58), S. 260, S. 263, S. 266. 82 G. Oestreich, Calvinismus … (s. Anm. 81), S. 163 – 170, S. 172, S. 176 f.; Ders., Fundamente … (s. Anm. 81), S. 283 – 286; Ders., Antiker Geist und moderner Staat bei Justus Lipsius (1547 – 1606). Der Neustoizismus als politische Bewegung, hg. von Nicolette Mout (= Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, 38), Gçttingen 1989, S. 192 f.; Ders., Politischer Neustoizismus und Niederlndische Bewegung in Europa und besonders in Brandenburg-Preußen, zuerst 1964, wieder in: Ders., Geist und Gestalt des frîhmodernen Staates – Ausgewhlte Aufstze, Berlin 1969, S. 101 – 156, hier S. 103, S. 113 ff., S. 118, S. 124 und bes. S. 139 – 156. 83 Johann Christoph Becmann, Memoranda Francofurtana Notitia Universitatis …, Frankfurt an der Oder 1676, S. 280 f. (Lipsius), S. 212 (Grotius).

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Monarchen mit dem brandenburgischen Zentrum verbunden und im Innern ungefestigt, trat dieser Staat in die Jahrzehnte der europischen Krisen.

§ 2 Die Krise des 17. Jahrhunderts in Brandenburg-Preußen Schon den Zeitgenossen des frîhen 17. Jahrhunderts trat der enge Bezug von Innen- und Außenpolitik deutlich vor Augen. Die Rîstungen im Angesicht der zunehmend schroffer werdenden konfessionellen Konfrontation im Heiligen Rçmischen Reich und darîber hinaus wirkten auf die Territorialstaaten zurîck. Seit sich 1608 beziehungsweise 1609 evangelische Union und katholische Liga gebildet hatten, standen sich zwei „Militrblçcke unversçhnlich gegenîber“.84 Sofort ergaben sich fîr die brandenburg(-preußische) Politik ernste Probleme, nicht nur deshalb, weil die Rîstung an sich im brandenburgischen Landesstaat ebenso rîckstndig war, wie etwa die Ausprgung der zivilen Institutionen; man denke an die vergleichsweise spte Begrîndung des Geheimen Rates nach dem Vorbild von Territorien, die lngst so weit waren. Wollte Kurbrandenburg der protestantischen Union beitreten, so mußte es außer zu finanziellen Leistungen an dieses Bîndnis auch dazu in der Lage sein, seine Kriegsorganisation zu reformieren, es mußte ein Defensionswerk (nach pflzischem Muster) schaffen, sich jedenfalls dazu verpflichten; politische Rîcksichten, und zwar solche auf Kursachsen, traten hindernd und verlangsamend hinzu. Bevor er 1610 mit zweijhriger Verzçgerung der Union beitrat, hatte der Kurfîrst sich an die Stnde gewandt; diese aber wiesen gerade hinsichtlich der Territorialexpektanzen im Westen entschieden auf den Weg der gîtlichen Einigung.85 Auch sonst haben sie von teuren politischen oder gar gewaltsamen Aktionen abgeraten, haben – ganz im Sinne des lteren Stndepazifismus – dringend empfohlen, Frieden zu halten und die Gesetze des Heiligen Rçmischen Reiches zu beachten, wie sie îbrigens in der Kurmark auch erklrten, an der preußischen Sache gnzlich uninteressiert zu sein. Kriege, das wußten und das fîrchteten sie, waren riskant und auf jeden Fall teuer. Wenn der Kurfîrst gleichwohl die Aktivitt suche, etwa in Preußen, dann solle er das aus seinen 84 Vgl. Heinz Schilling, Aufbruch und Krise. Deutschland 1517 – 1648 (= Siedler Deutsche Geschichte), Berlin 1988, S. 402. 85 H.-J. Herold, Markgraf Joachim Ernst … (s. Anm. 32), S. 73, S. 79, S. 128 – 131; E. Faden, Berlin … (s. Anm. 49), S. 138 f.; R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 378 ff.; Fritz Wolff, Corpus Evangelicorum und Corpus Catholicorum auf dem Westflischen Friedenskongreß. Die Einfîhrung der konfessionellen Stndeverbindungen in die Reichsverfassung (= Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte, 2), Mînster 1966, S. 38; J. Schultze, Brandenburg … (s. Anm. 63), S. 182; H. Croon, Landstnde … (s. Anm. 52), S. 154 f.

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eigenen Geldern finanzieren. Zu Bewilligungen wollten sich adlige und stdtische Landeseliten nicht verstehen.86 Wenn aber îberhaupt Bewilligungen ausgesprochen wurden, so immer nur in sehr begrenzter Hçhe und auf kurze Fristen. Auf keinen Fall sollten sich aus diesen Bewilligungen dauernde Einnahmen fîr den Kurfîrsten ergeben, der 1617 mit zwei Millionen Talern in nach den Maßstben der Zeit ganz erheblicher Verschuldung stand.87 Kurz vor Ausbruch des großen Krieges betrug die Kreditbelastung des Landesherrn fast zehn Jahreseinnahmen aus der Mark. Unter diesen Umstnden nun sollte die Militrverfassung Brandenburgs ganz besonderen Anforderungen ausgesetzt werden. Das, was der Kurfîrst im Bedarfsfalle aufbieten konnte, war auch um 1600 das Lehnsaufgebot der Ritterschaft und das „Fußvolk“ der Stdte. Auch fîr das auf dem Lehnsrecht beruhende Aufgebot waren bisweilen vorherige Verhandlungen erforderlich. „Musterungen“ sollten den Zustand der bewaffneten Potentiale zeigen, auch dessen Ausrîstung. Dabei ist es, wie um 1610 wohl erinnerlich war, dann auch vorgekommen, daß das Resultat nicht eben îberzeugte, d. h., daß „kleine schwache Klepper, oder auch Kutscher, Vçgete, Fischer und dergleichen schlimb und unversucht Lumpengesinde, die ihrer viel wie bei den vorigen Musterungen geschehen, und statt guther starker hengste und versuchter ehrlicher reißiger Knechte mit zur Stelle“88 waren, deren potentieller Kampfwert nur gering sein konnte. Jeder rîstete sich selbst aus, die von Adel konnten Stellvertreter stellen. Landschaftliche Rossdienstverzeichnisse legten die Grundlagen fîr die Durchfîhrung der Aufgebote. In den Stdten waren grundstzlich alle angesessenen Bîrger pflichtig, das Haus wurde als militrische Einheit betrachtet, und die Rîstung gehçrte zum Inventar der Huser. In der Praxis wurde der „Ausschuß“ berufen, d. h. eine Auswahl, etwa der vierte oder jeder zehnte Mann, ganz nach 86 H. Croon, Landstnde … (s. Anm. 52), S. 42, S. 104 f., S. 118, S. 120; Eduard Clausnitzer, Die mrkischen Stnde unter Johann Sigismund, phil. Diss. Leipzig 1895, S. 49 f.; R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 328 f.; M. Klinkenborg (Hg.), Acta Brandenburgica … (s. Anm. 42), 1, S. 380 ff., Nr. 339 und 341, u. ç. 87 Kurt Breysig, Der brandenburgische Staatshaushalt in der zweiten Hlfte des siebzehnten Jahrhunderts, in: JbGesetzgebungVerwalt 16 (1892), S. 1 – 42, S. 449 – 526, hier S. 464; H. Croon, Landstnde … (s. Anm. 52), S. 166, S. 197 f.; und wiederum R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 371, S. 377 f. 88 Die Quellenstelle bei Philipp Wilhelm Gercken (Hg.), Diplomataria veteris Marchiae Brandenburgensis, 1, Salzwedel 1765, S. 715 (kurfîrstliches Reskript vom 24. Februar 1610), insgesamt S. 711 – 716; C. von Eickstedt, Beitrge zu einem neueren Landbuch der Marken Brandenburg. Prlaten, Ritter, Stdte, Lehnschulzen oder Rossdienst und Lehnwahr, Magdeburg 1840, S. 99 – 127; ferner C. Jany, Armee … (s. Anm. 49), S. 4 – 9; wichtige Fallstudie: Paul Schwartz, Die Neumark whrend des dreißigjhrigen Krieges, 2 Tle. (= Schriften des Vereins fîr Geschichte der Neumark. Geschichte der Neumark in Einzeldarstellungen), Landsberg a. W. 1899/1902, hier Teil 1, S. 11 – 15.

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Bedarf. Auch fîr die Stdte waren freilich die Verfallserscheinungen in der bisherigen militrischen Ordnung nur allzu deutlich geworden,89 mochte man sich auch der Rîckstndigkeit angesichts der fortgeschrittenen Waffen- und Kriegstechnik in Brandenburg nicht bewußt sein. Rund 4.000 Mann wurden in den Rollen als stdtisches Fußvolk vorgesehen, hinzu kamen genau 1.073 und Dreiviertel Ritterpferde, die – also ganz unterschiedlich – ausgerîstet mit Mann und Waffen zu stellen waren.90 Die Offiziere wurden zu Beginn des Dreißigjhrigen Krieges in Brandenburg von der Ritterschaft ausgewhlt und von ihr auch besoldet.91 Zwar war schon im 15. Jahrhundert dazu geschritten worden, bei Bedarf zustzlich Sçldner in den Dienst zu nehmen, aber dieses Verfahren war mit außerordentlichen Aufwendungen verbunden und nur dann durchzufîhren, wenn die Stnde – ganz entgegen ihrer Neigung – zu Bewilligungen fîr diesen Zweck zu bringen waren. Nach der kurzen Frist, fîr die diese Bewilligung ausgesprochen worden war, mußte die Truppe wieder abgedankt werden. Im großen Kriege konnte freilich dann, wenn auf Zeit, etwa 1635/38, zwei Fußregimenter auf der Basis stndischer Bewilligungen zusammengebracht wurden, der Eindruck entstehen, als handelte es sich um „der Stnde eigene Truppen“.92 Aber der Versuch, im Angesicht der kommenden Dinge, vor 1620, nach dem Vorbild anderer Territorien93 die Landesverteidigung zu reformieren, d. h. systematischer zu gestalten, etwa eine modernere landmilizfçrmige Einrichtung zu schaffen, ist an der dagegen opponierenden Mehrheit der kurmrkischen Stnde gescheitert. Brandenburg blieb insofern ausgerechnet auf militrischem Gebiete hinter den Entwicklungen zurîck,94 und das, obwohl die Bedrohungslage – wie 89 C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 12 – 16; Ders., Die Anfnge der alten Armee, 1 (= Urkundliche Beitrge und Forschungen zur Geschichte des Preußischen Heeres, 1), Berlin 1901, S. 3 ff.; Carl Ganzel, Die Bevçlkerung Perlebergs im 30jhrigen Krieg, in: ForschBrandPrG 50 (1938), S. 311 – 330, bes. S. 312. 90 Curt Jany, Lehndienst und Landfolge unter dem Großen Kurfîrsten, in: ForschBrandPrG 8 (1895), S. 419 – 467, hier S. 420, S. 422 f.; Ders., Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 9 ff. 91 S. Johannes Schultze, Die Prignitz. Aus der Geschichte einer mrkischen Landschaft (= Mitteldeutsche Forschungen, 8), Kçln/Graz 1956, S. 189; ferner C. Jany, Anfnge … (s. Anm. 89), S. 5, folgendes S. 13 und S. 35 ff.; Friedrich Meinecke, Reformplne fîr die brandenburgische Wehrverfassung zu Anfang des siebzehnten Jahrhunderts, in: ForschBrandPrG 1 (1888), S. 425 – 450, hier S. 438. 92 Otto Meinardus, Schwarzenberg und die brandenburgische Kriegsfîhrung in den Jahren 1638 – 1640, in: ForschBrandPrG 12 (1899), S. 411 – 463, das Quellenzitat S. 418. 93 Gerhard Oestreich, Zur Heeresverfassung der deutschen Territorien von 1500 bis 1800. Ein Versuch vergleichender Betrachtung, zuerst 1958, wieder in: Ders., Geist … (s. Anm. 82), S. 290 – 310, bes. S. 297 – 302. 94 F. Meinecke, Reformplne … (s. Anm. 91), S. 443 f., S. 448 ff.; C. Jany, Lehndienst … (s. Anm. 90), S. 425 f.; Johannes Schultze, Das mrkische Landesaufgebot, in: Erich Kittel (Hg.), Mrkisches Soldatentum (= Brandenburgische Jahrbîcher, 2), Potsdam/

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sich bald zeigen sollte – gerade fîr die Landschaften an Elbe und Oder besonders eklatant sein sollte. Hingegen ist es im Herzogtum Preußen um 1600 noch rechtzeitig gelungen, die „Landesdefension“ zu reorganisieren. Hier waren die alten kreishnlichen „Hauptmter“ der Rîckhalt der territorialen Verteidigungsorganisation. Whrend in der Mark buerliche Aufgebote – wohl aus Grînden, die in der Ausprgung gutsherrschaftlicher Strukturen zu suchen sind – außer ˜bung kamen, sind im Herzogtum Preußen die frîhen Rekrutierungen immer schon auf sehr viel breiterer sozialer Basis angelegt gewesen. Hier wurde bis in das 17. Jahrhundert ein „Ausschuß“ von Stdten und Dçrfern, diese auf Bauernpferden, berufen, in den polnischen Gegenden in ˜bersetzung „Wibranzen“ genannt, ohne daß eine genaue Festlegung zu Zahl und Zeit îblich gewesen wre. Hinzu traten Dienstpflichtige, die mit dem mrkischen Lehnsaufgebot verglichen worden sind. Das buerliche Element in der (ost)preußischen Wehrverfassung war vor allem auf dem – wie wir schon hçrten – dort besonders massiven landesherrlichen, zumal dem Domnenland zu finden.95 Der Adel spielte auf diesem Felde eine eher untergeordnete Rolle. Wenn auch die Wirkungen nur temporre gewesen sind, so ist doch – auch hier gegen stndische Opposition – ganz im Osten an einem fçrmlichen „Defensionswerke“ gearbeitet worden. Zeughuser wurden geschaffen und Waffen gekauft, die Bestellung der Offiziere wurde verbessert, fîr die Verproviantierung Sorge getragen und auch an militrische Exerzitien dieser bewaffneten „Zivilisten“ wurde gedacht. Es war in der Tat ein Kalvinist, der Burggraf Fabian zu Dohna, ein Mann militrischer Erfahrung in Frankreich, den Niederlanden und auch in Rußland, der die Arbeit an dem Defensionswerk leitete; die Notwendigkeit dazu hatte sich aus dem nahen schwedisch-polnischen Konflikt ergeben, der schon nach 1600 preußisches Gebiet berîhrte. Allerdings stießen diese frîhen militrischen Reformen aus westeuropischen Impulsen im çstlichen Preußen auf die harte Opposition nicht nur der Adelsstnde, sondern auch Polens;96 eine nachhaltige Strkung etwa Brandenburg-Preußens insgesamt ist davon noch nicht ausgegangen. Der Kurfîrst in Berlin-Cçlln verfîgte allein îber eine kleine Trabanten-Truppe, d. h. eine Leibgarde, die îbrigens seit 1615/20 bereits blaue Uniformen getragen hat. Hinzu kamen die zahlenmßig nicht sehr bedeutenden

Berlin 1936, S. 73 – 80, hier S. 76; Ders., Brandenburg … (s. Anm. 63), 4, S. 196 f.; und C. Jany, Anfnge … (s. Anm. 89), S. 6 f. 95 C. Jany, Anfnge … (s. Anm. 89), S. 8 – 12; Ders., Lehndienst … (s. Anm. 90), S. 433 ff., und Ders., Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 23 – 30. 96 H. Immekeppel, Herzogtum … (s. Anm. 20), S. 55 – 57; wichtig: Ullrich Marwitz, Staatsrson und Landesdefension. Untersuchungen zum Kriegswesen des Herzogtums Preußen 1640 – 1655 (= Militrgeschichtliche Studien, 31), Boppard am Rhein 1984, S. 18 f.; C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 26 ff.; Hans G. Schmidt, Fabian von Dohna (= HallAbhhNeuerG, 34), Halle a. S. 1897, S. 188 ff.

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Mannschaften in den Festungen Kîstrin, Peitz, Spandau und Driesen.97 Das war nicht viel, schon gar nicht genug fîr die kommenden Krisen. Es ist umstritten, ob es Krisenzeichen, nicht solche im engeren militrischpolitischen Sinne, schon vor dem Kriegsausbruch gegeben hat und ob auch Brandenburg-Preußen dafîr ein Beispiel ist. Schuldendruck und nachlassende Geldwertstabilitt schufen im Brandenburg des frîhen 17. Jahrhunderts bereits sehr ernste Probleme, und gerade seit 1618 fîhrten die Folgen von Mînzverschlechterung, Scheinkonjunktur und çkonomischen Verfallserscheinungen zu stdtischen Unruhen.98 Ob man um 1600 in Brandenburg schon von einer çkonomischen Krise sprechen kann, ist unlngst bestritten worden;99 immerhin ist die Verschuldungslage sowohl vom Kurfîrst als auch beim Adel nicht zu leugnen, und die Konjunktur hatte sich um 1600 deutlich abgeschwcht. Mißernten traten hinzu. Auf dem Lande hat die Armut am Ende des 16. Jahrhunderts, vor allem aber im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts zugenommen. Bettler und vagierende Landsknechte, herrenloses Gesindel aller Art wurden zum Problem.100 Die Krisenstimmung, gefçrdert durch klimatische 97 August Wilhelm Prinz von Preussen, Die Entwicklung der Kommissariats-Behoerden in Brandenburg-Preussen bis zum Regierungs-Antritt Friedrich Wilhelms I., Rechtsund staatswiss. Diss. Straßburg 1908, S. 8; C. Jany, Anfnge … (s. Anm. 89), S. 19, S. 24 – 28, S. 46, S. 80, u. ç. 98 Fritz Redlich, Die deutsche Inflation des frîhen Siebzehnten Jahrhunderts in der zeitgençssischen Literatur: Die Kipper und Wipper (= Forschungen zur internationalen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 6), Kçln/Wien 1972, S. 55 – 58, S. 62; H. Rachel / J. Papritz / P. Wallich, Berliner Großkaufleute … (s. Anm. 49), 1, S. 381 f.; Wilhelm Zahn, Die Altmark im dreißigjhrigen Kriege, Halle a. S. 1904, S. 2; E. Faden, Berlin … (s. Anm. 49), S. 148 – 155, S. 292 f. 99 William W. Hagen, Seventeenth-Century Crisis in Brandenburg: The Thirty Years’ War, The Destabilization of Serfdom, and the Rise of Absolutism, in: The American Historical Review 94 (1989), S. 302 – 335, hier S. 313 f. 100 Peter-Michael Hahn, Adel und Landesherrschaft in der Mark Brandenburg im spten Mittelalter und der frîhen Neuzeit, in: JbBrandenbLdG 38 (1987), S. 43 – 57, bes. S. 56, S. 63; wichtig jetzt insbesondere die landesgeschichtlichen Quellenforschungen von Lieselott Endres, Die Uckermark. Geschichte einer kurmrkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert (= Verçffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs Potsdam, 28), Weimar 1992, S. 302 – 305; Dies., Produktivkraftentwicklung und Marktverhalten. Die Agrarproduzenten der Uckermark im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch fîr Wirtschaftsgeschichte, Jg. 1990, Teil 3, S. 81 – 105, hier S. 81; dies., Entwicklungsetappen der Gutsherrschaft vom Ende des 15. bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts, untersucht am Beispiel der Uckermark, in: Jahrbuch fîr Geschichte des Feudalismus 12 (1988), S. 119 – 166, hier S. 159; neuerdings Dies., Die Prignitz. Geschichte einer kurmrkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert (= Verçffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 38), Potsdam 2000, S. 369 – 373, u. ç.; Dies., Das Renaissanceschloß Freyenstein und sein Architekt, in: JbBrandenbLdG 43 (1992), S. 56 – 67, bes. S. 64 ff.; Klaus Schwarz, General Hans Georg von Arnim und die Berliner Handelshuser Weiler und Essenbrîcher im Drei-

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Verschlechterungen, lßt sich sogar in geistlichen Texten um 1600 nachweisen, in denen kommende Untergnge prophezeit wurden.101 Objektive Befunde und subjektive Krisen-Stimmungen wirkten also zusammen, Wahrnehmungen, denen Zeittypisches anhaftet. Dabei schien es zunchst so, als wîrden die Lnder des Kurfîrsten-Herzogs von unmittelbaren Einwirkungen der europischen Kriege um 1620 verschont bleiben. Kurfîrst Johann Sigismund hatte, gesundheitlich schwer angeschlagen, Ende 1619 noch bei Lebzeiten abgedankt und die Regierung seinem Sohn Georg Wilhelm îbergeben.102 Dieser neue Kurfîrst hat die alles andere als aktive Politik dieser Jahre, wie sie das gnzlich îberforderte Brandenburg-Preußen trieb, fortgesetzt, jene „kîmmerliche Verlegenheitspolitik“, von der Reinhold Koser gesprochen hat. „Unberîhrt von verwandschaftlichen und von konfessionellen Rîcksichten“ hat Georg Wilhelm zunchst eine Neutralittspolitik zwischen den Parteien durchzuhalten gesucht. Als sich die protestantische Union nach der Niederlage der Bçhmen 1620 in der Schlacht am Weißen Berg auflçste, hatte sich Kurbrandenburg schon seit Jahren nicht mehr aktiv an diesem Bîndnis beteiligt.103 Auf der einen Seite war Georg Wilhelm mit dem neuen bçhmischen Kçnig aus pflzischem Hause verschwgert und 1620 war es – îbrigens auf Initiative der lutherischen Kurfîrstin-Mutter Anna (von) Preußen – auch noch zu einer Heiratsverbindung zwischen dem brandenburgischen Herrscherhaus und der schwedischen Dynastie gekommen. Ausgerechnet die Schwester des Kurfîrsten Georg Wilhelms wurde von Gustav Adolf von Schweden geheiratet, ohne daß darauf der regierende Brandenburger htte Einfluß ausîben kçnnen. Die hçchst selbstndige Politik der Anna von Preußen hatte Georg Wilhelm, der sich 1620 in Kçnigsberg aufhielt, vçllig îberrascht und brachte angesichts der schwedischpolnischen Auseinandersetzung natîrlich Komplikationen im Verhltnis zum ßigjhrigen Kriege, in: JbGMitteldtld 12 (1963), S. 78 – 102, bes. S. 83; Landarmut: schon Fritz Kaphahn, Die wirtschaftlichen Folgen des 30jhrigen Krieges fîr die Altmark. Ein Beitrag zur Geschichte des Zusammenbruchs der deutschen Volkswirtschaft in der ersten Hlfte des 17. Jahrhunderts, phil. Diss. Leipzig 1911, S. 29 f.; M. Klinkenborg (Hg.), Acta Brandenburgica … (s. Anm. 42), 2, S. 180 (1606). 101 Hartmut Lehmann, Frçmmigkeitsgeschichtliche Auswirkungen der „Kleinen Eiszeit“, in: Wolfgang Schieder (Hg.), Volksreligiositt in der modernen Sozialgeschichte (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 11), Gçttingen 1986, S. 31 – 50, mit Verweis auf brandenburgisches Material S. 30 – 37; Andreas Ritner, Altmrkisches GeschichtBuch …, Neue Aufl., in: Georg Gottfried Kîster, Antiquitates Tangermundenses …, Berlin 1729, S. 21. 102 O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 163 ff.; H. von Caemmerer, Testamente … (s. Anm. 30), S. 408 – 414; Eduard Clausnitzer, Aus der Regierungszeit des Kurfîrsten Johann Sigismund von Brandenburg. Zur 300jhrigen Wiederkehr seines Regierungsantritts am 18. Juli 1608, in: HohenzJb 11 (1907), S. 170 – 174, hier S. 174. 103 R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 391, S. 394, S. 406; Fritz Schroer, Das Havelland im Dreißigjhrigen Krieg. Ein Beitrag zur Geschichte der Mark Brandenburg, hg. von Gerd Heinrich (= Mitteldeutsche Forschungen, 37), Kçln/Graz 1966, S. 6.

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Kçnig von Polen als Lehnsherrn in Preußen. Allerdings hat die brandenburgpreußische Gemahlin Gustav Adolfs keine politische Rolle gespielt.104 Der Vorgang ist in zweierlei Hinsicht bemerkenswert. Zum einen natîrlich deshalb, weil in ihm schlagend die ungemeine Schwche des zweiten kalvinistischen Kurfîrsten von Brandenburg und nunmehrigen preußischen Herrschers zum Ausdruck kommt. Kçrperlich schon frîh zerrîttet, fehlte ihm auch nahezu jede persçnliche Voraussetzung fîr eine entschiedenere Politik. Entgegen heroisierender Bilddarstellung war Georg Wilhelm seit 1620 zu wohlberittener Feldherrnpose schon physisch gar nicht in der Lage. Zur Fortbewegung, etwa wenn er von Berlin-Cçlln aus rasch in die sichere Festung Peitz entwich, mußte er sich der Snfte bedienen. Der oft kriegsbedingt notwendige Ortswechsel verschlimmerte das Siechtum,105 das alles waren ideale Voraussetzungen fîr das Aufkommen starker, premierministergleicher Amtstrger in dieser Krisen- und Katastrophenzeit. Zum anderen ist der Heiratsfall von 1620 aber auch deshalb signifikant, weil um 1620 erstmals intensivere Kontakte zwischen BrandenburgPreußen und jener Ostseemacht entstanden,106 Kontakte, die dann fîr mehr als ein Jahrhundert in ein konfliktreiches Neben-, ja Gegeneinander von Brandenburg-Preußen und Schweden einmîndeten. In Preußen sollten zuerst die Einwirkungen der schwedischen Ostsee- und Polenpolitik evident werden, aber in der Mark Brandenburg sind schon um 1620 die ersten Zeichen des „teutschen Krieges“ erschienen, der freilich stets ein europischer war. Zunchst handelte es sich dabei um Durchmrsche fremder Truppen, 1620 und wieder 1623. Immer dann, wenn die akute Gefahr behoben schien, wurden die Geworbenen rasch wieder abgedankt, und die Berliner Garnison von gerademal zwei Leibkompanien, d. h. 350 Mann und 152 Pferden, schien den Ratsmnnern der Residenzstadt schon viel zu viel, so daß es im fînften Jahr des Krieges zur Reduktion auf 70 Mann gekommen ist.107 Daß bayerische Truppen in den westlichen Exposituren, in der Grafschaft Mark und in Ravensberg, standen, schien unvermeidlich. Die brandenburgischen Stnde 104 E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 26), 1, S. 45; Gînter Barudio, Gustav Adolf der Große. Eine politische Biographie, Frankfurt am Main 21985, S. 212 f., S. 220 ff.; O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 163, S. 166; Fritz Arnheim, Gustav Adolfs Gemahlin Maria Eleonora von Brandenburg (geb. 21. November 1599, gest. 28. Mrz 1655). Eine biographische Skizze, 2: Die Jahre der Ehe, in: HohenzJb 8 (1904), S. 175 – 213, hier S. 184. 105 Otto Meinardus, Protokolle und Relationen des Brandenburgischen Geheimen Rathes aus der Zeit des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm, 1 (= PubllPreussStaatsarch, 41), Leipzig 1889 (auch als ND Osnabrîck 1966), hier die Einleitung: S. XIX f. (diese Edition insgesamt 7 Bde.: Leipzig 1889 – 1919); J. Schultze, Brandenburg … (s. Anm. 63), 4, S. 202 ff.; G. Heinrich, Preußen … (s. Anm. 72), S. 79 f. 106 R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 380 ff., S. 388. 107 F. Schroer, Havelland … (s. Anm. 103), S. 6 ff., S. 14 f.; E. Faden, Berlin … (s. Anm. 49), S. 143, S. 148, S. 152 ff.

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hielten an der Linie der „unbewaffneten Neutralitt“ (Isaacsohn) auch dann noch fest, als nun in der Mitte der zwanziger Jahre bei vorrîckenden kaiserlichen Truppen die Mark Brandenburg fîr rund eineinhalb Jahrzehnte zum Kriegs- und Besatzungsschauplatz wurde.108 Das war 1626, ein unterschtztes Epochenjahr der brandenburg-preußischen Geschichte, auch derjenigen seiner politischen Strukturen. Betrachten wir zunchst die politische und militrische Ausgangslage. Nach der Niederlage des dnisch-protestantischen Heeres bei Lutter am Barenberge rîckten massive kaiserliche Truppen zunchst in die Altmark ein und errichteten dort ihr Kontributionssystem. Gleichzeitig standen in den nçrdlichen Gebieten der Mark weiterhin dnische Truppen, und in der Neumark Kosaken. Das Herzogtum Preußen wurde Kriegsschauplatz, ebenfalls 1626, als im schwedisch-polnischen Krieg die Truppen Gustav Adolfs die preußische Ostseelinie okkupierten und das Weichselgebiet, ferner die Seebeziehungsweise Festungsorte Pillau und Memel nahmen respektive blockierten und hohe Abgaben erhoben. Bis 1635 blieben die fremden Truppen im Land; die Defension hatte gegen das îberlegene Heer des Feindes eklatant versagt. Erst nach Abschluß des Stuhmsdorfer Vertrages zogen die Schweden im Jahre 1635 aus Preußen ab. Bis dahin hatte der Feind das çstliche Preußen grîndlich ausgeplîndert. Immerhin gelang es das Schlimmste, mit dem man in Brandenburg durchaus gerechnet hatte, zu verhindern, nmlich das Herzogtum Preußen ganz zu verlieren.109 108 R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 396 f., S. 402 ff. (auch zum Folgenden); Siegfried Isaacsohn (Hg.), Urkunden und Actenstîcke zur Geschichte des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg. Stndische Verhandlungen, 2: Mark-Brandenburg (= Urkunden und Actenstîcke zur Geschichte des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 10), Berlin 1880, S. 29 (diese Serie als Edition fortan zit.: UA); zur Zsur von 1626/27 am brandenburgischen Beispiel immer noch unverzichtbar: J. Gebauer, Kurbrandenburg in der Krisis des Jahres 1627 (= HallAbhhNeuerG, 33), Halle 1896, bes. S. 41 ff. 109 Klaus Richard Bçhme, Die schwedische Besetzung des Weichseldeltas 1626 – 1636 (= Beihefte zum Jahrbuch der Albertus-Universitt Kçnigsberg/Pr., 22), Wîrzburg 1963, bes. S. 17 – 43, S. 73 f.; nach wie vor ist fîr die Geschichte Preußens im 17. und 18. Jahrhundert unverzichtbar das quellengestîtzte (insgesamt sechsbndige) Werk von Ludwig von Baczko, Geschichte Preußens, hier: 5, Kçnigsberg 1798, S. 79 f., S. 82; Ernst Opgenoorth, Die Lande Preußen in ihren Beziehungen untereinander und mit anderen Mchten, in: Ders. (Hg.), Handbuch der Geschichte Ost- und Westpreußens. Im Auftrag der Historischen Kommission fîr ost- und westpreußische Landesforschung, (II/1) (= Einzelschriften der Historischen Kommission fîr ost- und westpreußische Landesforschung, 10), Lîneburg (1994), S. 13 – 22, hier S. 19; H. Boockmann, Ostpreußen … (s. Anm. 4), S. 283; aus der lteren Lit. bleiben nîtzlich: Hans Prutz, Preußische Geschichte 1, Stuttgart 1900, S. 343; R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 433; und die wichtige Einleitung von B(ernhard) Erdmannsdçrffer in dem von ihm hg. Band: Urkunden und Actenstîcke zur Geschichte des Kurfîrsten Friedrich

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Die gleichzeitige Verwicklung Preußens und Brandenburgs in die kriegerischen Konjunkturen Europas seit 1626/27 hatte fîr das Kernland der Dynastie die fatale Nebenwirkung, daß die Mark bis auf wenige Reste von den durch stndische Bewilligungsgelder angeworbenen Truppen entblçßt worden ist. Der Kurfîrst verließ das Land, begleitet von einem Teil seiner Rte. Als Georg Wilhelm im Jahre 1630 in die Mark zurîckkehrte, wurde er von 400 Mann eskortiert. Diese Vorgnge zeigen exemplarisch, daß es auch seit 1626 nicht annhernd gelungen war, ein militrisches Potential bereitzustellen, das der Vielfalt der Konfliktzonen entsprach, in die die brandenburg-preußischen Territorien verwickelt worden waren. Die Mark Brandenburg aber lag strategisch, und das heißt, auch sie war in besonderem Maße bedroht. Zum einen wurde sie im Westen durch die Elbe von einer wichtigen Kommunikationslinie durchzogen; zum anderen sollten aus Nordosten, von der Ostseekîste her, in Kîrze die schwedischen Truppen auf dem Wege zur mitteleuropischen Intervention die Mark Brandenburg als Interessenzone betrachten. Zunchst war es Wallensteins Heer, das (anfangs noch in guter Disziplin) die zentralen brandenburgischen Gebiete besetzte und in Quartierbezirke gliederte, also eine eigene, nicht an die brandenburgischen Kreise angelehnte Landesorganisation schuf.110 Der letzte Rest eines Versuches, durch das viel zu kleine, veraltete und schlecht bewaffnete Lehnsaufgebot und verstrkt durch das stdtische Fußvolk, brandenburgischerseits Widerstand zu leisten, ist 1627 klglich gescheitert; die Mannschaft wurde von kaiserlichen Truppen, unter Wallensteins øgide, technisch, taktisch und quantitativ îberlegen, zersprengt beziehungsweise gefangengenommen. Noch standen auch Dnen im Lande.111 Die Lage war verzweifelt, die Mark und ihre politische Fîhrung standen hilf- und schutzlos da. In dieser Situation zwischen den europischen Lagern und Fronten waren um 1630 in der Mark noch hçchstens 800 oder 900 Mann brandenburgischer Truppe vorhanden. In den Jahren zuvor war die Mark Wilhelm von Brandenburg, Politische Verhandlungen, 1 (= Urkunden und Actenstîcke zur Geschichte des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 1), Berlin 1864, S. 3, S. 10 – 12. 110 C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), S. 51 ff.; J. Schultze, Prignitz … (s. Anm. 91), S. 190 – 195; Otto Hintze, Der Ursprung des preußischen Landratsamts in der Mark Brandenburg, zuerst 1915, wieder in: Ders., Regierung und Verwaltung … (s. Anm. 54), S. 164 – 203, hier S. 180, und Ders., Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 169 f.; J. Schultze, Brandenburg … (s. Anm. 63), 4, S. 218 Anm. 39; auch fîr die brandenburg-preußische Geschichte sind jetzt wichtig: Josef Pancˇek u. a. (Red.), Documenta Bohemica Bellum Tricennale Illustrantia, 3, Prag 1976, S. 194 f., S. 201 und in 4, Prag 1974, S. 245 (Nr. 601); O. Liebchen, Der Zug der Mansfelder durch die Mark Brandenburg und der Brand von Nauen 1626, in: Brandenburgia 47 (1938), S. 1 – 11, hier S. 2 – 5; W. Zahn, Altmark … (s. Anm. 98), S. 20 – 25. 111 C. Jany, Lehndienst … (s. Anm. 90), S. 430 f.; F. Schroer, Havelland … (s. Anm. 103), S. 31 ff., S. 37 f., S. 136 f.

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wiederholt von Verbnden unterschiedlicher Lager durchzogen und heimgesucht worden.112 Die Lasten, auch diejenigen durch die kaiserlichen Truppen, waren fîr das Land schon in der zweiten Hlfte der zwanziger Jahre katastrophal. In dieser Situation blieb dem kalvinistischen Monarchen wenig anderes îbrig, als sich im Jahre 1627 durch eine Konvention auf die kaiserlich-katholische Seite zu stellen. Unter den Geheimen Rten, die auch in der Folgezeit in politische Parteiungen gespalten waren, verloren zunchst diejenigen an Einfluß, die seit dem Ausbruch der bçhmischen Krise konsequent gegen die katholische Liga gestanden hatten. Nach dem Scheitern der Neutralittspolitik und -partei gewann unter den neuen Bedingungen der große Mann der brandenburgpreußischen Politik in dieser Zeit an durchschlagendem Einfluß, der Mann, der in der Außenpolitik strikt kaiserlich orientiert113 war und in der inneren Politik, ja in Bezug auf die politischen Strukturen des Staates, erstaunlich moderne Zîge aufwies, der Graf Adam zu Schwarzenberg. Der Anschluß an den Kaiser hat aber nicht etwa die Folge gehabt, daß Wallensteins Truppen nun die Mark geschont htten. Auch als Bîndnispartner wurde Brandenburg von der kaiserlichen Soldateska brutal ausgeplîndert.114 Mit dem kaiserlich-brandenburgischen Bîndnis war ein Umschwung der inneren Krfteverhltnisse, derjenigen im Geheimen Rat und in den wesentlichen Fîhrungspositionen der brandenburgischen Politik, einhergegangen. Nun, nachdem feststand, daß der Anschluß an den Kaiser keine Erleichterung fîr das 112 Karl Spannagel, Konrad von Burgsdorff. Ein brandenburgischer Staatsmann aus der Zeit des Kurfîrsten Georg Wilhelm und Friedrich Wilhelm (= Quellen und Untersuchungen zur Geschichte des Hauses Hohenzollern, 5), Berlin 1903, S. 13 f.; niedrigere Zahlen bei Martin Lezius, „Zweierlei Tuch“ in der Mark, in: Erich Kittel (Hg.), Mrkisches Soldatentum (= Brandenburgische Jahrbîcher, 2), Berlin 1936, S. 130 – 137, hier S. 130; R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 413 f., S. 417. 113 Neben der lteren Arbeit von J. W. C. Cosmar, Beitrge zur Untersuchung der gegen den kurbrandenburgischen Geheimen Rath Grafen Adam zu Schwarzenberg erhobenen Beschuldigungen. Zur Berichtigung der Geschichte unserer Kurfîrsten George Wilhelm und Friedrich Wilhelm, Berlin 1828, S. 45 f., S. 53; jetzt insbesondere zur politischen Geschichte dieser Zeit aus intensiven Aktenstudien: Ulrich Kober, Eine Karriere im Krieg. Graf Adam zu Schwarzenberg und die kurbrandenburgische Politik von 1619 bis 1641 (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 24), Berlin 2004, dazu die Rezension von Wolfgang Neugebauer, in: HZ 281 (2005), S. 181 f.; ferner J. Gebauer, Kurbrandenburg … (s. Anm. 108), S. 24 – 115; und G. Oestreich, Geheimer Rat … (s. Anm. 43), S. 9, S. 11 f.; aus der allgemeinen Literatur vgl. Geoffrey Parker, Der Dreißigjhrige Krieg, Darmstadt 21987, S. 192 f.; H. Prutz, Preußen … (s. Anm. 4), 1, S. 341 f. 114 F. Schroer, Havelland … (s. Anm. 103), S. 40 – 54; J. Schultze, Brandenburg … (s. Anm. 63), 4, S. 222 – 225, S. 232; E. Faden, Berlin … (s. Anm. 49), S. 168 – 176; wichtig: Gerhard Oestreich, Kurt Bertram von Pfuel. Leben und Ideenwelt eines brandenburgischen Staatsmannes und Wehrpolitikers, in: ForschBrandPrG 50 (1938), S. 201 – 249, hier S. 207.

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Land gebracht hatte, kam es im Geheimen Rat zu einem neuerlichen Wechsel, als die Krfteverhltnisse im Reich und speziell im brandenburg-pommerschen Nordosten die Lage vernderten. Schon mit dem Restitutionsedikt des Jahres 1629 wurde katholischerseits auch Anspruch auf brandenburgisches Bistumsgebiet, zumal auf dasjenige der Stifter Brandenburg und Havelberg erhoben. Der Kaiser begann Pfrînden im Brandenburgischen selbstndig zu vergeben, markantes Beispiel fîr das Auftreten der kaiserlichen Macht im Heiligen Reich auf dem Hçhepunkt des Einflußes Ferdinands II. Gegen das Restitutionsedikt im Allgemeinen und dessen Anwendung im Brandenburgischen insbesondere hat die brandenburgische Politik massiv Stellung bezogen, auch z. B. auf dem Regensburger Kurfîrstentag des Jahres 1630.115 Die Abkehr vom bisherigen Bîndnis wurde endgîltig unabweisbar, als nun Gustav Adolf in Deutschland intervenierte und 1631 mit vielfach îberlegener Truppenmacht im Erbgebiet Kurfîrst Georg Wilhelms erschien. Eine nur wenige Jahre spter publizierte Darstellung des schwedischen Historiographen Chemnitz hat ganz unverblîmt und offenbar nach guten Quellen geschildert, wie Gustav Adolf 1631 nach Berlin gezogen ist, wie er erst mit dem wieder anwesenden Kurfîrsten in einem kleinen Wald bei Treptow verhandelt hat und wenig spter – aller verwandschaftlicher Beziehungen ungeachtet – von Spandau aus vor die Residenz „Berlin vnd Cçln“ zog, mit Unheil, Blutvergießen und Plînderung drohte und seine Armee „in Schlachtordnung“ aufstellte. Die „Stîcke“ wurden „auf die Residentz (ge-)plantzt“, also offenbar auf das kurfîrstliche Schloß gerichtet. Die Wirkung nicht nur auf den Kurfîrsten, sondern auch auf die „Frawenzimmer“ am brandenburgischen Hofe, die bei den Verhandlungen eine Rolle gespielt haben, war dann durchschlagend. Das Ergebnis war ein Vergleich, in dem Kurbrandenburg dem Schwedenkçnig hinsichtlich der Durchmarschrechte, der Festungen Kîstrin und Spandau und bezîglich brandenburgischer Kontributionszahlungen weit entgegengekommen ist.116 Zuvor hatten schwedische 115 Druck des Restitutionsediktes vom 16. Mrz 1629 bei Michael Caspar Londorp, Der Rçmischen Kayserlichen Majestt Und Deß Heiligen Rçmischen Reichs Geist- und Weltlicher Stnde/Chur- und Fîrsten/Grafen/Herren und Stdte Acta Publica …, 3., Frankfurt am Main 1668, S. 1048 – 1055; Johannes Gebauer, Das evangelische Hochstift Brandenburg und die Restitutionsplne Kaiser Ferdinands II., in: 29. und 30. Jahres-Bericht des Historischen Vereins zu Brandenburg a. d. H., Brandenburg a. d. H. 1898, S. 39 – 51, bes. S. 40 – 44, S. 46, S. 49 – 51; Johannes H. Gebauer, Kurbrandenburg und das Restitutionsedikt von 1629 (= Hallesche Abhandlungen zur Neueren Geschichte, 38), Halle 1899, S. 63; F. Wolff, Corpus … (s. Anm. 85), S. 42; vgl. auch Leopold von Ranke, Geschichte Wallensteins, 6. durchges. Aufl. Leipzig 1910, S. 250 ff.; schließlich die klassische Studie von Fritz Dickmann, Der Westflische Frieden, Mînster 31972, S. 528 zu S. 63; G. Oestreich, Pfuel … (s. Anm. 114), S. 207; R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 422 – 428. 116 Bogislaff Philip von Chemnitz, Kçniglichen Schwedischen In Teutschland gefîhrten Krieg Erster Theil …, Stettin 1648, S. 143, S. 170; ausfîhrlicher bei W. Neugebauer,

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Truppen auf eklatante Weise Frankfurt an der Oder genommen, die kaiserlichen Truppen îberwunden und die Stadt grausam ausgeplîndert.117 Die „brandenburgische Kriegsmacht“ war in diesem Jahr auf 1.600 Mann gebracht worden, das Festungspersonal mit eingerechnet, ein Potential, mit dem in der Tat nichts auszurichten war gegen die europische Macht aus dem Norden, die zudem auf das nahe Pommern seine Interessen auszurichten begann. Brandenburg war fîr knapp ein halbes Jahrzehnt im schwedischen Bîndnis und im schwedischen Griff. Vertragsgemß durfte der Kurfîrst nur eine bestimmte Truppenzahl im eigenen Lande werben.118 Mit dem ˜bergang in das schwedische Lager ist um 1630 in Brandenburg – auf Zeit – „die kalvinistischantikaiserliche Partei … zum Siege gelangt“.119 Diese mußte sich nun ihrerseits in den Diskussionen des Geheimen Rats vorhalten lassen, daß Schweden das (doch im Bîndnis befindliche) Land mißhandele und aussauge, so daß îber eine Wiederannherung an den Kaiser 1634 diskutiert worden ist,120 eine Entscheidung, die nach Schwedens Niederlage in der Schlacht bei Nçrdlingen in eben diesem Jahre dann praktisch anstand. Die immer massiver vorgetragenen Ansprîche Schwedens auf Pommern verschrften den Gegensatz zu Brandenburg. Der Beitritt des Kurstaates zum Prager Frieden des Jahres 1635 lag in der Logik dieser Entwicklung.121

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Hohenzollern … (s. Anm. 33), 1, S. 144; T. v. Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 105 – 108; auch dazu F. Schroer, Havelland … (s. Anm. 103), S. 52. Felix Plage, Die Einnahme der Stadt Frankfurt an der Oder durch Gustav Adolph, Kçnig von Schweden am 3. April 1631 (= Schriften zur Geschichte der Haupt- und Handelsstadt Frankfurt a. d. Oder, 2), Frankfurt a. d. Oder 1931, S. 23 – 32; G. Parker, Krieg … (s. Anm. 113), S. 204; G. Barudio, Gustav Adolf … (s. Anm. 104), S. 502; Ders., Der Teutsche Krieg 1618 – 1648, Frankfurt am Main 1985, S. 349; und speziell Johannes Kretzschmar, Die Allianzverhandlungen Gustav Adolfs mit Kurbrandenburg im Mai und Juni 1631, in: ForschBrandPrG 17 (1904), S. 341 – 382, bes. S. 341, S. 343, S. 348 – 353, S. 369 f., S. 378 ff., u. ç. J. Kretzschmar, Allianzverhandlungen … (s. Anm. 117), S. 379. G. Oestreich, Pfuel … (s. Anm. 114), S. 206. Geheimes Rats-Protokoll vom 29. Januar/8. Februar 1634, gedruckt bei Georg Irmer, Die Verhandlungen Schwedens und seiner Verbîndeten mit Wallenstein und dem Kaiser von 1631 bis 1634, 3. (= PubllPreussStaatsarch, 76), Leipzig 1891, S. 229 – 239, bes. S. 230 ff. Druck bei (Johann Jacob Schmauss / Christian von Senckenberg), Neue und vollstndigere Sammlung der Reichs-Abschiede … 3, Frankfurt am Main 1747, S. 534 – 548 (20./30. Mai 1635), bes. S. 541 f.; F. Schroer, Havelland … (s. Anm. 103), S. 76 f.; s. auch T. v. Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 113 – 121; einschlgig ferner Dieter Albrecht, Die Kriegs- und Friedensziele der deutschen Reichsstnde, in: Konrad Repgen (Hg.), Krieg und Politik 1618 – 1648. Europische Probleme und Perspektiven (= Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 8), Mînchen 1988, S. 241 – 273, hier S. 247 f.; O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 1, S. LXXIII f.; Ders., Schwarzenberg … (s. Anm. 92), S. 412.

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Es ist deutlich, daß Kurbrandenburg beziehungsweise Brandenburg-Preußen zu einer Politik aus eigenem Programm und Kurs nicht in der Lage war. Ausgeplîndert von Freund und Feind, gab es dem jeweils nchsten Drucke nach, und die Wechsel der innerbrandenburgischen Parteiungen und Gruppierungen, die die Regierung und die Politik bestimmten, folgte dem Wechsel der Mchtekonstellation. Damit wird vor 1640 ein Charakteristikum brandenburgpreußischer Politik erkennbar, das in der Zeit des Großen Kurfîrsten erneut entgegentreten wird, nicht aber ein Spezifikum seiner Regierungsfîhrung im europischen Gravitationsfeld der grçßeren Mchte gewesen ist. Auch die Interdependenz von ußerer (Bîndnis-)Konstellation und innerbrandenburgischer Fraktionsdominanz ist vor und nach 1640 gegeben gewesen. Sie war zugleich Resultat struktureller und ressourcenmßiger Defizite des Brandenburg-Preußens, dem alle Voraussetzungen und Mittel fîr einen eigenstndigeren Kurs in derjenigen europischen Politik fehlten, in die es seit 1609/18 latent, und seit 1626 dramatisch gestellt worden war. Mit dem Prager Frieden von 1635 war nun der Wiederanschluß an das kaiserliche und kurschsische Lager vollzogen. Brandenburg wurden seine Ansprîche an Pommern besttigt, und dies war ein wesentliches Motiv fîr den brandenburgischen Schritt in das katholisch-reichische Lager, der aber mit schweren Klauseln verknîpft war. Der Prager Frieden sah ja generell vor, daß das „Volck“ aller beteiligten Reichsstnde in die „Pflicht“ des Kaisers genommen werden sollte, nur die Besatzung von Festungen ausgenommen. Ferner bestimmte der Prager Friedensschluß, daß aus allen beteiligten Truppenkçrpern ein „der Rçmischen Kays. Majest. und deß H. Rçmischen Reichs Kriegs Heer“ gebildet werden solle; dieses stand zu einem Teil unter schsischem, zum anderen Teil unter direkten kaiserlichem Kommando; mit diesem Reichsheer sollte gegen all diejenigen nach 1635 vorgegangen werden, die sich diesem Versuch einer Friedensstiftung durch die katholischreichisch-schsische Partei (ohne die Exzesse einer Restitutionspolitik) widersetzen wîrden. Die brandenburgischen Truppen sind in der Tat zu wesentlichen Teilen schsischem Kommando unterstellt worden;122 allerdings drngten gerade jetzt die Stnde auf weitere Reduktionen. Freilich hat sich Schweden eben in das Prager System nicht einbinden lassen. War Brandenburg bis dahin im wesentlichen – eine Ausnahme ist Frankfurt 1631 – Durchmarsch-, Aufmarsch- und Requisitionsgebiet gewesen, so wurde es nun direkt in die Kmpfte verwickelt und – mehr noch – in der Folge vom Feind besetzt. Allerdings hatten auch Sachsen und Kaiserliche das Gebiet ihres Verbîndeten wie Feindesland behandelt. Die Schlacht bei Witt122 J. J. Schmauss / C. von Senckenberg, Reichs-Abschiede … (s. Anm. 121), 3, S. 544 f.; brandenburgische Umsetzung: O. Meinardus, Schwarzenberg … (s. Anm. 92), S. 412 ff.; Ders., Protokolle … (s. Anm. 105), 2, S. XI; T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 123 f., Nr. 60.

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stock am 24. September 1636 als entscheidender Sieg der Schweden war fîr Brandenburg ein politisches wie militrisches Desaster. Der Kurfîrst flîchtete erst in die Festung Peitz, wo er hilflos und abgeschlossen saß, und 1638 ganz nach Kçnigsberg. Die folgenden fînf Jahre waren die hrteste Zeit fîr Land und Menschen, durchzogen und ausgesogen von den verschiedenen Kriegsparteien und von den brandenburgischen Soldaten auch.123 Wichtiger als die militrischen und politischen Details dieser Jahre ist nun aber das Faktum, daß es der schon erwhnte Graf Schwarzenberg gewesen ist, der nicht nur den Beitritt zum Prager Frieden betrieben hat, sondern der nun auch erneut die politische Fîhrung nach außen und nach innen îbernahm. Es war ganz wesentlich dieser Katholik, der gegen die Mehrheit der Geheimen Rte Brandenburg-Preußen im antischwedischen Lager hielt und der zugleich die konkurrierenden Ansprîche auf Pommern gegen die Ostseemacht verfocht.124 Die Person Schwarzenbergs war immer umstritten, und dabei spielten konfessionelle Aversionen in der preußisch-protestantischen Historiographie keine geringe Rolle. Daß er in zeittypischer Weise in seiner Position auch eigene materielle Interessen im Auge gehabt hat, kann bei den Usancen dieser Zeit ernstlich nicht verwundern; die schroffe Behauptung in der lteren Historiographie, Schwarzenberg habe auf den Untergang des brandenburg-preußischen Staates hingearbeitet, er habe den finanziellen Zusammenbruch herbeifîhren und dann einen „Staatsstreich“ (Bonin) versuchen wollen, geht entschieden zu weit. Hingegen zeigen neuere tschechische Quelleneditionen, daß Schwarzenberg bei aller Entschlossenheit die kaiserliche Koalition zu fçrdern, doch ganz entschieden fîr die Interessen des brandenburgischen Landes und fîr dessen Schonung auch gegenîber Ferdinand II. eingetreten ist.125 Vor 1630 und noch 123 Lothar Hçbelt, Wittstock und die Folgen. Vom Prager Frieden zur Wende des Krieges, in: Museum des Dreißigjhrigen Krieges Wittstock, Dosse, o. O. (1998), S. 58 – 66, bes. S. 63 ff.; K. Spannagel, Burgsdorff … (s. Anm. 112), S. 88; Hof.: E. Faden, Berlin … (s. Anm. 49), S. 208; J. Pancˇek u. a. (Red.), Documenta Bohemica … (s. Anm. 110), 6, S. 139, Nr. 341, Nr. 373, S. 149, u. ç.; P. Schwartz, Die Neumark … (s. Anm. 88), 2, S. 1 – 47, S. 55 ff.; F. Schroer, Havelland … (s. Anm. 103), S. 85 – 96. 124 O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 1, S. LXX, 2, S. XXXII f.; F. Dickmann, Westflischer Frieden … (s. Anm. 115), S. 108. 125 Zur Person: R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 377, S. 388 f., S. 408 f., S. 460 – 473; J. Schultze, Brandenburg … (s. Anm. 63), 4, S. 262 – 273; schroff: H. v. Petersdorff, Beitrge … (s. Anm. 49), S. 3; trotz veralteter Elemente ist zu vgl. Burkhard von Bonin, Der kurbrandenburgische Kriegsrat (1630 – 1641), in: ForschBrandPrG 25 (1913), S. 51 – 89, etwa S. 59 Anm. 3, S. 62; vgl. aber J. Pancˇek u. a. (Red.), Documenta Bohemica … (s. Anm. 110), 4, S. 120, Nr. 234, S. 277, Nr. 234; vgl. auch zum historiographischen Hintergrund Otto Meinardus, Die Legende vom Grafen Schwarzenberg, in: PrJbb. 86 (1896), S. 1 – 58, bes. S. 1 – 4, S. 28 f., S. 58; und Ders., Protokolle … (s. Anm. 105), 2, S. XVI; ferner passim die neue Studie von U. Kober, Karriere … (s. Anm. 113) und die dort genannte Rezension des Vf.

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mehr nach 1635 hatte er wesentlichen, ja zuletzt îberragenden Einfluß auf den schwachen Monarchen.126 Schon als einziger Reichsgraf am brandenburgischen Hof kam ihm eine Sonderstellung zu, und auch sptere Flle belegen, daß Reichs-Grafen in hohen Amtstrgerfunktionen Brandenburgs sowohl exponiert als auch isoliert, jedenfalls aber vom Personal aus den einheimischen Adels- und Bîrgerfamilien (resp. bisweilen Funktionsdynastien) mit Distanz betrachtet worden sind. Schwarzenberg stammte wie der Kalvinist Rheydt aus den neubrandenburgischen Westgebieten; von 1638 bis 1641 war er fçrmlich kurfîrstlicher Statthalter in der Mark. „Gegen die reformierten Rte hatte“ der Katholik Schwarzenberg, wie Fritz Dickmann feststellte, „die aktive Teilnahme Brandenburgs am Krieg gegen Schweden und die Aufstellung einer dem Kaiser verpflichteten Feldarmee“ durchzusetzen versucht, das alles immer zugleich zur Wahrung der Ansprîche Brandenburgs auf Pommern.127 In den ersten Jahrzehnten nach dem Konfessionswechsel von 1613 geht die Gleichung von Kalvinismus mit aktivistischer Staatsraison und Luthertum beziehungsweise Katholizismus mit politischer Passivitt nicht auf. Mindestens ebenso wichtig ist nun aber die Beobachtung, daß unter diesem markanten und umstrittenen Mann der außenpolitische Druck auf Brandenburg-Preußen zu signifikanten Vernderungen im Innern des Staates fîhrte. Der mchtepolitische Strukturdruck von außen trieb die innere Staatsbildung voran. Lange vor den Jahrzehnten des Großen Kurfîrsten, die allenfalls als frîhe absolutistische Phase der preußischen Geschichte bezeichnet werden kçnnen, setzen unter Schwarzenberg Entwicklungen ein, die der Kurfîrst Friedrich Wilhelm nach 1640 zunchst gerade nicht aufgegriffen und fortgesetzt hat. Es ist Schwarzenberg gewesen, den man deshalb auch als „Vorarbeiter des brandenburgisch-preußischen Einheitsstaates“ und geradezu als „Gegner des Feudalismus“ dargestellt und vielleicht auch wiederum stilisiert hat.128 Auf jeden Fall haben die brandenburgischen Landstnde, die ebenso wie die Geheimen Rte gegen jede militrische Rîstung und Selbstbehauptung politischer Ansprîche gegenîber Schweden optiert hatten, bereits in dieser Zeit einmal wesentlichen Einfluß verloren. Um 1635 wurden Kriegssteuern, die „Kontributionen“ auch ohne stndische Bewilligung erhoben. Nun wurden auch Truppenwerbungen ohne stndische Genehmigung durchgefîhrt, was die Opposition gegen 126 J. W. C. Cosmar, Beitrge … (s. Anm. 113), S. 355, S. 362 und die Verteidigung Schwarzenbergs, S. 397 – 434, bes. S. 411; O. Meinardus, Legende … (s. Anm. 125), S. 29 f., S. 35. 127 Schon J. W. C. Cosmar, Beitrge … (s. Anm. 113), S. 160; Fritz Hartung, Der preußische Staat und seine westlichen Provinzen, zuerst 1953/54, wieder in: Ders., Staatsbildende Krfte der Neuzeit. Gesammelte Aufstze, Berlin 1961, S. 414 – 430, hier S. 410 f.; F. Dickmann, Frieden … (s. Anm. 115), S. 108; U. Kober, Karriere … (s. Anm. 113), S. 358 ff. 128 O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 2, S. XXXIII und XXXIX.

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Schwarzenberg nur weiter anstachelte, ein Widerstand, der auch in Aktionen manifest geworden ist. Im Lande dominierte ganz ohne Zweifel eine eher proschwedische Stimmung, und Schwarzenberg selbst war sich dessen sehr bewußt.129 Auf ihn war es zurîckzufîhren, daß Georg Wilhelm die lteren Reverse, nach denen in allen wichtigen Landesangelegenheiten die Stnde vorher zu fragen waren, nicht – wie îblich – konfirmiert hatte. Auch die fîr die sptere stdtische Steuerverfassung konstitutive Abgabe der Akzise und einer „Nahrungssteuer“, also indirekter Verbrauchssteuern, sind schon von Schwarzenberg angedacht, dann aber nicht mehr von ihm eingefîhrt worden.130 Auf der Regierungsebene hat Schwarzenberg nicht mit dem alten Geheimen Rat, in dem er keine zuverlssige Stîtze besaß, regiert, sondern ein neues, sehr stark durch militrische Funktionen geprgtes Organ geschaffen. So wie unter dem Großen Kurfîrsten und seinen Nachfolgern der Geheime Rat auf Dauer wesentlicher Funktionen entkleidet wurde, die dann von einer moderneren Behçrden- und Amtstrgerschicht îbernommen worden sind, so ist schon – wenn auch nur auf Zeit – ein ganz paralleler Vorgang vor 1640 zu beobachten. Schwarzenberg hat die traditionelle Ratsschicht in Berlin-Cçlln beiseite geschoben, zunchst dadurch, daß er die Militrsachen mit dem Kurfîrsten in der Regel allein erledigte, was man als eine „Art Militrkabinettsregierung“ bezeichnet hat.131 Die Geheimen Rte haben gerade die (natîrlich besonders bedeutsamen) Militaria schließlich gar nicht mehr bearbeitet. In den Jahren 1630/ 31 ist ein besonderer Kriegsrat begrîndet worden, der dann mehr und mehr als das eigentliche Regierungsorgan Schwarzenbergs entwickelt worden ist. Mit ihm hat der mchtige Mann die fîhrenden Kçpfe der brandenburg-preußischen Amtseliten (Gçtze, Pfuel, Leuchtmar) verdrngt. Der Kriegsrat hat rasch an Kompetenzen gewonnen, schließlich auch – was sehr bedeutsam ist – die 129 O. Meinardus, Legende … (s. Anm. 125), S. 44 – 46; Ders., Schwarzenberg … (s. Anm. 92), S. 418, S. 446 f.; G. Barudio, Teutscher Krieg … (s. Anm. 117), S. 525; Friedrich Holtze, Geschichte der Mark Brandenburg (= Tîbinger Studien fîr Schwbische und Deutsche Rechtsgeschichte, 3), Tîbingen 1912, S. 75; E. Faden, Berlin … (s. Anm. 49), S. 207, S. 220; UA, 1, S. 397 Anm. 1; O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 1, S. XXXV f., 2, S. VIII-XXXIII. 130 J. W. C. Cosmar, Beitrge … (s. Anm. 113), S. 351, S. 355 ff.; O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 2, S. VII, S. XXVI Anm. 1. 131 B. von Bonin, Kriegsrat … (s. Anm. 125), S. 53; zum Kriegsrat vgl. jetzt die Interpretation bei U. Kober, Karriere … (s. Anm. 113), S. 361 f.; allerdings mag die Intention bei der Neugrîndung noch nicht auf kînftige Entwicklungen ausgegangen sein; das schließt aber nicht aus, daß die Wirkung denn doch auf Tendenzen der zweiten Jahrhunderthlfte verweist. Ganz gewiß gab es unter Georg Wilhelm und Schwarzenberg keinen prinzipiellen Absolutismus. Auch war Schwarzenberg natîrlich kein „Militrdiktator“ (S. 379). Derartige argumentationstaktische Vergrçberungen versperren die tiefere Einsicht in die Spezifika der Entwicklungen vor 1640, die aber fîr das Urteil îber die Verschiebungen nach 1640 erforderlich sind.

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„Kontrolle der Kriegskommissare“ im Lande. Damit hatte er grundstzlich direkten Zugriff auf Funktionstrger vor Ort. Der Kriegsrat hat bis zum Jahre 1641 bestanden, schließlich hatte er auch die Steuer-, d. h. die Kontributionsangelegenheiten an sich gebracht.132 Die Abdrngung der bisherigen Landesorgane, die Akquisition rasch ausgeweiteter Kompetenzen und die anfngliche Konzentration dieser neuen Organe auf die Militrsachen werden wir in der zweiten Hlfte des 17. und dann im 18. Jahrhundert in der preußischen Kommissariats-Verwaltung noch einmal als fîr die preußische Verwaltung charakteristische Erscheinung beobachten. Daß es Anstze zu einer derartigen Entwicklung unter dem alles andere als „absolutistischen“ Kurfîrsten Georg Wilhelm, und zwar unter der øgide Schwarzenbergs gegeben hat, ist fîr das Verhltnis von Persçnlichkeiten und Strukturentwicklung in der brandenburgpreußischen Geschichte ungemein signifikant. Die erste Phase einer Strukturverschiebung hin zum „absolutistischen“ Profil, zu dem durchaus auch die frîhen Kommissariate und die Einfîhrung einer Kontribution seit 1626 zhlen, verweist auf europische Faktoren als Movens der brandenburg-preußischen Geschichte. Unter dem hohen Außendruck seit 1626 und besonders seit 1635 mußte sich die politische Struktur in Brandenburg-Preußen wandeln, um dem Existenzkampf zu genîgen. Daß diese Entwicklung vor dem Großen Kurfîrsten Friedrich Wilhelm einen Vorlauf hatte, zeigt die Bedeutung des mchtepolitischen Strukturdrucks fîr die brandenburg-preußische Entwicklung auf, die in ihrer Wirkung îber singulre Monarchenentscheidungen sehr wohl hinausgehen konnte. Die ersten Anfnge absolutistischer Staatsbildung gehçren in Brandenburg-Preußen in die Zeit seit 1626.133 Unter dem neuen Herrn, dem gerade zwanzig Jahre alten Kurfîrsten Friedrich Wilhelm, ist Schwarzenberg, wenn auch mit reduzierten Kompetenzen, im Amt geblieben. Bevor er 1641 starb, wurde freilich der Geheime Rat wieder

132 B. von Bonin, Kriegsrat … (s. Anm. 125), S. 56 – 58, S. 62, S. 64 – 66; C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 94; das Grîndungsdatum nach G. Oestreich, Pfuel … (s. Anm. 114), S. 210, weiter S. 212, S. 214; Friedrich Wolters, Geschichte der brandenburgischen Finanzen in der Zeit von 1640 – 1697. Darstellung und Akten, 2: Die Zentralverwaltung des Heeres und der Steuern (= Urkunden und Aktenstîcke zur Geschichte der inneren Politik des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, [Tl.] 1, 2), Mînchen/Leipzig 1915, S. 24 – 64; A. W. Prinz von Preussen, Kommissariatsbehçrden … (s. Anm. 97), S. 26 – 29, S. 51; G. Oestreich, Geheimer Rat … (s. Anm. 43), S. 13 ff.; und die wichtige Arbeit von Wilhelm Kalbe, Beitrge zur brandenburgisch-preußischen Geschichte beim Regierungsantritt des Grossen Kurfîrsten, phil. Diss. Gçttingen 1902, S. 3 f., S. 12. 133 Zur Frage der absolutistischen Anfnge unter Schwarzenberg vgl. schon E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 26), 1, S. 82, zu Schwarzenberg abwgend S. 80 – 89; zu den Steuern seit 1626 vorlufig W. W. Hagen, Crisis … (s. Anm. 99), S. 316.

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restituiert, und der junge Kurfîrst lenkte zunchst in die alten Bahnen zurîck.134 Er hat nicht an die modernen Anstze der Schwarzenberg-Zeit angeknîpft; die alten Amtseliten konnten ihre Macht ebenso wie die Landstnde restaurieren.135 Als Kurfîrst Georg Wilhelm 46 Jahre alt fern im sicheren Kçnigsberg am 1. Dezember 1640 gestorben war, hatte er einen Nachfolger hinterlassen, der zwar einiges erfahren und in (West-)Europa schon gesehen hatte, aber nicht eigentlich vorbereitet die Aufgabe der Regierungsfîhrung îbernahm. In seinem politischen Testament von 1667 hat der Kurfîrst die Situation geschildert, in der er zum Jahreswechsel 1640/41 das schwere Amt antrat. Wenig Informationen habe er von seinem Vater îber den „Staadt“ „hinterlassen“ bekommen. Andernfalls „were mir meine Regirung im anfange nicht so schwer geworden“.136 Die unzureichende Einfîhrung in die Probleme und Verhltnisse Brandenburg-Preußens hat Friedrich Wilhelm offenbar auch Schwarzenberg angelastet, habe dieser doch „alles in solcher Geheimb practiciret und getrieben, daß Ich, da Ich doch bei Meinem Herrn Vater christmilder Gedchtniß gewesen, so wenig als die Rthe darvon einige Wissenschaft erlangen kçnnen … Wre Ich bei Meines Herrn Vatern christmilder Gedchtniß Lebezeiten mit ad consilia, wie Ichs wohl begehret habe, auch von andern gebîhrend ist erinnert worden, gezogen, so wîrde ich schon in vielen Sachen mehre Wissenschaft haben.“ Die Arkanpraxis war, wenn sie nicht durch gezielte Prinzenerziehung durchbrochen wurde, immer eine Belastung fîr den Staat in der Phase dynastischer ˜bergnge. Aufgewachsen im altmrkischen Jagdschlçsschen Letzlingen und dann im festungssicheren Kîstrin, war das Verhltnis Friedrich Wilhelms zum Vater nie ein sonderlich gutes gewesen. Wichtiger erscheinen die pflzischkalvinistischen Einflîsse, vermittelt schon durch die Mutter Elisabeth Charlotte von der Pfalz. ˜ber sie war Friedrich Wilhelm mit Wilhelm I. von Oranien verwandt. Westliche Einflîsse auf den jungen Prinzen sind auch durch seinen Erzieher Johann Friedrich von Kalkum (gen. Leuchtmar) ausgegangen, der aus dem rheinischen Berg stammte; reformierte Prediger haben in Kîstrin den Religionsunterricht erteilt, wie denn îberhaupt die Religiositt fîr Friedrich Wilhelm nie unterschtzt werden darf. Unterrichtet im Lateinischen und im 134 W. Kalbe, Beitrge … (s. Anm. 132), S. 69 ff., S. 75 f.; UA, 1, S. 402; Otto Meinardus, Neue Beitrge zur Geschichte des Großen Kurfîrsten, in: ForschBrandPrG 17 (1904), S. 21 – 67, bes. S. 41 ff., S. 48, S. 63, S. 65; dazu ders., Protokolle … (s. Anm. 105), 1, S. LIX f.; und G. Oestreich, Geheimer Rat … (s. Anm. 43), S. 47. 135 F. Wolters, Finanzen … (s. Anm. 132), S. 135. 136 Georg Kîntzel / Martin Hass (Hg.), Die politischen Testamente der Hohenzollern nebst ergnzenden Aktenstîcken, 1, 2., erw. Aufl., Leipzig/Berlin 1919, S. 68; folgendes Zitat: Friedrich Wilhelm an den Kaiser, 17. August 1641, O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 1, S. 335 f., Nr. 387; vgl. O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 177.

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Franzçsischen, frîh auch in der polnischen Sprache prpariert, hat er eine solide Grundausstattung erhalten und eine sehr flîssig-geîbte Hand geschrieben. Das Niederlndische hat der junge Prinz „wahrscheinlich erst spter“ (Opgenoorth) gelernt. Bekannt, ja geradezu legendenhaft umrankt ist jene mehrjhrige Bildungsreise Friedrich Wilhelms, die ihn, der bisher die Kriegswirren erst in den tiefen altmrkischen Wldern und dann in der Oderfestung verbringen mußte, nun in die nordwesteuropische Welt der Vereinigten Niederlande fîhrte; in seinem vierzehnten bis achtzehnten Lebensjahr ist er dort gewesen, hat in diesen prgsamen Jugendjahren auch die Universitt Leiden erlebt, er hat in den Niederlanden, so wird gesagt, die modern-disziplinierte Kriegskunst erfahren. Wenngleich die Quellenlage zu einiger Vorsicht Anlaß gibt, unmittelbare Wirkungen niederlndischer Vorbilder auf den spteren Großen Kurfîrsten allzu leicht zu konstruieren, so werden gleichwohl bestimmte Regierungsmaßnahmen nach 1640 in diesen Kontext gestellt, wie die Fçrderung des Handels, der Kanalbau, die Niederlndersiedlung in der Mark oder auch die Kolonialprojekte seiner spten Jahre.137 In der persçnlichen Umgebung Friedrich Wilhelms sind nach 1640 Einflîsse des niederlndischen Neustoizismus durchaus bezeugt.138 Seit 1638 hat er sich dann in Kçnigsberg aufgehalten, hier hat er die Regierung angetreten und ist erst im Frîhjahr 1643 zur Huldigung in die Mark gekommen, ohne daß er dort dauernd seine Residenz eingerichtet htte. Vielmehr ist er nach neuerlichem Aufenthalt in Preußen seit 1646 lange Jahre im Westen, zumal in Kleve gewesen, um von dort aus den westflischen Friedensverhandlungen nher zu sein und dabei die Ansprîche auf Pommern massiv verfechten zu kçnnen.139 In der Mark hat der neue Herr zunchst der 137 E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 26), 1, S. 20 – 25, Niederlande: S. 29 – 43, S. 50; G. Kîntzel, Hohenzollern … (s. Anm. 41), S. 407; (Bernhard) Erdmannsdçrffer, Artikel: v. Calcum …, in: ADB, 3, Leipzig 1876, S. 692 f.; Martin Philippson, Der Große Kurfîrst. Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 1, Berlin 1897, S. 7 f.; neben der Biographie von Opgenoorth bleibt wichtig der brillante Abriß von Gerhard Oestreich, Friedrich Wilhelm, der Große Kurfîrst, Gçttingen/Zîrich/Frankfurt 1971, S. 16 – 19; vorsichtig zu den niederlndischen Einflîssen auf den Kurfîrsten: Martin Lackner, Die Kirchenpolitik des Großen Kurfîrsten (= Untersuchungen zur Kirchengeschichte, 8), Witten 1973, S. 65. 138 E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 26), 1, S. 53. 139 O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 1, S. 584, S. 618 – 624 (Nr. 701); 1645 in Preußen: 2, S. CVI; K. Spannagel, Burgsdorff … (s. Anm. 112), S. 220; zur brandenburgischen Kongreßdiplomatie (und ihrer Organisation) s. jetzt die bei Heinz Schilling entstandene Studie von Konstantin Winkel, Kurbrandenburg bei den Beratungen der Reichsstnde auf dem Westflischen Friedenskongreß (1645/46). Die Auseinandersetzungen um die Teilnahme der Reichsstnde an den Friedensverhandlungen und um ihren Beratungsmodus, Magisterarbeit Humboldt-Universitt zu Berlin 2009, bes. S. 43 – 54.

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Forderung der Stnde und dem Votum seiner Rte nachgegeben und die schwache Kriegsmacht weiter reduziert. Ohne formellen Abschluß ist es doch zu einem faktischen Waffenstillstand mit Schweden gekommen, dessen Truppen aber weiterhin im Lande standen. Die Zeit der Durchzîge, auch solche von kaiserlichen Truppen, war noch nicht vorîber,140 aber eine strkere Unabhngigkeit zwischen den politischen Lagern schien in der Endphase des großen Krieges immerhin mçglich zu sein und wurde unter Friedrich Wilhelm praktiziert. In der Mitte der vierziger Jahre sah man am Kaiserhof Brandenburg als neutral an, wußte aber sehr wohl von der dortigen Bereitschaft, auch mit den Schweden zu gehen.141 Freilich stand die Frage nach dem Besitz Pommerns, nachdem die dortigen Herzçge 1637 ausgestorben waren, das Land aber unter schwedischer Herrschaft lebte, zwischen den beiden protestantischen Staaten, die nun zu Nachbarn wurden. In den Westflischen Verhandlungen hat Friedrich Wilhelm alles daran gesetzt, wenigstens einen großen Teil Pommerns zu erhalten, vor allem aber Stettin. Fîr die an Schweden fallenden Teile verlangte Friedrich Wilhelm Kompensationen. Dabei forderte er insbesondere die bisherigen Bistîmer Halberstadt, Minden, Hildesheim, Osnabrîck und Bremen, dazu zahlreiche Anwartschaften, u. a. auf das Erzbistum Magdeburg. Gerade das Ziel, die Oder vollstndig unter brandenburgische Kontrolle und damit einen freien Seezugang zu bekommen, hat Friedrich Wilhelm 1648 nicht erreicht. Das hat ihn in der Tat lebenslang umgetrieben und blieb eine Konstante seines praktisch-politischen Denkens.142 Im Ergebnis fielen direkt in Folge des Friedensschlusses Hinterpommern ohne die Odermîndung, ferner die Bistîmer Halberstadt und Minden an Kurbrandenburg. Sodann sollte das bedeutende mittelelbische Magdeburger Erzstiftsgebiet nach dem Tode des regierenden Administrators aus wettinischem Hause an Brandenburg fallen. Die Bedeutung dieses mitteldeutschen Territorialgewinns an der Elblinie hat Friedrich Wilhelm, fixiert auf den Seezugang seiner mittleren Provinzen, nie zureichend ermessen. Fîr den Verlust in Pommern, auf das Kurbrandenburg 140 T. v. Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 128 – 131; vgl. O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 2, S. XXIV f., S. LXII-LXXI, und in 5, S. XX-XXXVI; Wolfgang Neugebauer, Brandenburg im absolutistischen Staat. Das 17. und 18. Jahrhundert, in: Ingo Materna / Wolfgang Ribbe (Hg.), Brandenburgische Geschichte, Berlin 1995, S. 291 – 394, hier S. 302 f.; wichtig ferner Rainer Wohlfeil, Kriegsverlauf 1635 bis 1642 – Bevçlkerungsverluste der brandenburgischen Stdte zwischen 1625 und 1652/53 (Der Dreißigjhrige Krieg II) (= Historischer Handatlas von Brandenburg und Berlin, 50), o. O. 1976, (S. 1v). 141 J. Pancˇek, u. a. (Red.), Documenta Bohemica … (s. Anm. 110), hier 7, S. 161, Nr. 473, S. 175 f., Nr. 512, zu 1644/45. 142 F. Dickmann, Frieden … (s. Anm. 115), S. 216 ff., S. 307 – 324, vgl. S. 102, S. 108 ff.; O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 3, S. 542 ff., S. 344; Friedrich Richard Brandstetter, Kurbrandenburgische Unionsbestrebungen 1647/48. Ein Beitrag zur Geschichte des Westflischen Friedens, phil. Diss. Leipzig 1898, S. 5 ff.

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gewiß gute Rechtstitel und Ansprîche besaß, gewann er ein nahes und reiches, dazu verkehrsgînstig und strategisch gelegenes Gebiet, dessen dauernder Erwerb seit 1666/80 den kurschsischen Konkurrenten die einzig noch mçgliche mitteldeutsche Entwicklungsrichtung nahm.143 Insofern kçnnen die territorialen Bestimmungen des Westflischen Friedens in ihrer Bedeutung fîr die brandenburg-preußische Geschichte nicht hoch genug geschtzt werden. Waren die hohenzollernschen Gebiete nach dem Territorialerwerb zum Jahrhundertbeginn bereits hinsichtlich der Flche „auf den zweiten Platz im Reiche hinter den Habsburgern vorgerîckt“144 so wurde der Kurfîrst seit 1648 auf ein Gebiet verwiesen, das in ganz besonderem Maße mit dem Heiligen Rçmischen Reich verklammert war. Brandenburg-Preußen wuchs aus dem ostmitteleuropischen Kolonial- nach Altdeutschland hinein. Und noch in einem zweiten Hauptpunkt hatte der Westflische Frieden fîr Brandenburg hohe reichspolitische Bedeutung. Außer der Territorialfrage war die brandenburgische Diplomatie vor allem daran interessiert, die Gleichberechtigung der Reformierten im Reich durchzusetzen – man erinnere sich an die Frage des Reformationsrechts um 1613/14. Tatschlich wurden die Reformierten nun in die Bestimmungen des Religionsfriedens mit einbezogen.145 Insofern zeigt der formelle Abschluß jener Phase brandenburg-preußischer Geschichte, die wir um 1650 ansetzen kçnnen, mancherlei Kontinuitten in der politischen Programmatik îber vordergrîndige Zsuren, wie etwa das Jahr 1640, hinweg. Trotz gnzlich unzureichender Rîstung hatte BrandenburgPreußen am Ende des Großen Krieges eine erstaunliche territoriale Konsolidierung erreicht. øußerlich stand der Staat da mit guten Optionen fîr die kînftige Entwicklung. Die Kompensation der inneren Folgen der Kriege und Krisen aber sollte mehr als ein Jahrhundert in Anspruch nehmen.

143 Gut gesehen bei R. Dietrich, Preußen … (s. Anm. 35), S. 34 f.; K. Spannagel, Burgsdorff … (s. Anm. 112), S. 300 f.; G. Oestreich, Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 38; wichtig auch R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 496 – 502, S. 508; die Quelle z. B. bei Konrad Mîller (Bearb.), Instrumenta Pacis Westphalicae. Die Westflischen Friedensvertrge 1648. Vollstndiger lateinischer Text mit ˜bersetzung der wichtigeren Teile und Regesten (= Quellen zur neueren Geschichte, 12/13), Bern 21966, S. 55 ff., S. 142 ff.; ferner die Quellen bei UA, 4, S. 703 ff., S. 733 ff.; und Sven Lundkvist, Die schwedischen Kriegs- und Friedensziele 1632 – 1648, in: K. Repgen (Hg.), Krieg und Politik … (s. Anm. 121), S. 219 – 240, hier S. 228 ff., S. 238; Wolfgang Neugebauer, Teutscher Krieg und große Politik – Das Ende der Selbstndigkeit Magdeburgs 1631 – 1680, in: Matthias Puhle / Peter Petsch (Hg.), Magdeburg. Die Geschichte der Stadt 805 – 2005, Dçssel 2005, S. 425 – 450, bes. S. 434 – 442. 144 E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 26), 1, S. 60. 145 F. Dickmann, Frieden … (s. Anm. 115), S. 372, S. 376, S. 458, S. 464 f.; U. Stutz, Johann Sigismund … (s. Anm. 70), S. 24 f.; und D. Albrecht, Kriegs- und Friedensziele … (s. Anm. 121), S. 244, S. 253.

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Die Krisenerscheinungen des 17. Jahrhunderts, die Brandenburg in der Gestalt des Dreißigjhrigen Krieges erfaßten, hatten tiefgreifende strukturelle Wandlungsprozesse zur Folge. Das Herzogtum Preußen hatte nach dem Zusammenbruch der Defension in den zwanziger Jahren und nach dem Stuhmsdorfer Vertrag von 1635 zwar Jahre der Ruhe erlebt, und Kçnigsberg blîhte in dieser Zeit geradezu auf, auch kulturell, wie man an der Entwicklung der Universitt in der Zeit des Krieges ablesen kann. Kçnigsbergs Sicherheit in der Distanz zum Kriegsgeschehen machte den Ort attraktiv. An der Weichsel und am Pregel florierten whrend der 30jhrigen Kriegszeit die Kornmrkte in Danzig, in Thorn und wieder in Kçnigsberg.146 Allerdings ist das sîdliche beziehungsweise sîdçstliche Ostpreußen in der zweiten Hlfte der fînfziger Jahre, im ersten Nordischen Kriege dann in Mitleidenschaft gezogen worden. Vor allem der Tatareneinfall von 1656/57 hat dort in Teilen des Landes zu schweren Verwîstungen gefîhrt, besonders im Sîdosten des Herzogtums, wo die Verheerungen nahezu vollstndig gewesen sind. Teile der ˜berlebenden sind verschleppt und weit entfernt von ihrer Heimat quasi als Sklaven verkauft worden. Die mangelnde Bestellung der øcker, Hungersnot und – damit korrespondierend – die Pest, ließen die Sterblichkeit sprunghaft anwachsen.147 Insofern hatte nun auch den intakten Teil des Gesamtstaates ein Schlag getroffen, doch hatte die Mark fîr mehr als eineinhalb Jahrzehnte mit der potentiellen oder der realen Katastrophe zu leben gehabt. Die bisweilen vorgetragenen Argumentationsversuche, nach denen der Dreißigjhrige Krieg doch sehr viel weniger wirkliche Schden, vielmehr eher eine Umschichtung und verstrkte Binnenwanderung (Steinberg) bewirkt habe und die Verlustberichte auf legendenhafte ˜bertreibungen zurîckzufîhren sind,148 lassen sich am 146 Fritz Gause, Die Geschichte der Stadt Kçnigsberg in Preußen, 1 (= Ostmitteleuropa in Vergangenheit und Gegenwart, 10/I), Kçln/Graz 1965, S. 454 ff.; und G. Heinrich, Preußen … (s. Anm. 72), S. 88; Gînther Franz, Der Dreißigjhrige Krieg und das deutsche Volk (= Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, 7), Stuttgart/New York 4 1979, S. 7. 147 (Karl Heinrich) Hagen, Preußens Schicksale whrend der Schwedenkriege, in: Beitrge zur Kunde Preußens 1 (1818), S. 106 – 153, bes. S. 125 – 133, S. 136 ff., S. 145; (Erdmann Uhse), Friedrich Wilhelms des Grossen/Chur-Fîrstens zu Brandenburg Leben und Thaten, Berlin/Frankfurt 1710, S. 326 ff.; Bruno Schumacher, Geschichte Ost- und Westpreußens, Wîrzburg 61977, S. 172. 148 Dazu vgl. die verschiedenen Arbeiten von Sigfrid Henry Steinberg, Der Dreissigjhrige Krieg: Eine neue Interpretation, zuerst 1947, wieder in: Hans Ulrich Rudolf (Hg.), Der Dreißigjhrige Krieg. Perspektiven und Strukturen (= Wege der Forschung, 451), Darmstadt 1977, S. 51 – 67, hier S. 60 ff., bes. S. 64; vgl. dazu Hans-Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 1, Mînchen 1987, S. 54 und Anm. 18 S. 560; Georg Schmidt, Der Dreißigjhrige Krieg, Mînchen 1995, S. 8, S. 88 f. mit treffender Diskussion; ebenso Gerhard Schormann, Der Dreißigjhrige Krieg, Gçttingen 1985, S. 112 ff.

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brandenburgischen Exempel schlîssig widerlegen. Richtig und heute unbestritten ist, daß es nicht primr direkte Kriegsfolgen gewesen sind, d. h. die Schlachten, Plînderungen und eigentlichen Morde durch die kmpfende oder streifende Truppe, die zum Bevçlkerungsrîckgang fîhrten. Die starke regionale Mobilitt, d. h. (temporre) Fluchtbewegungen der Landbevçlkerung in die Stdte, bisweilen wohl auch in die Wlder und im Osten Brandenburgs nach Polen, kam hinzu. „Fîr die gesamte Mark wird man … mit einem Verlust von etwa 50 Prozent der Bevçlkerung zu rechnen haben.“149 Unlngst wurden die Verluste in den ungeschîtzteren Landstdten auf bis zu 80 Prozent beziffert; in Berlin wird, wiewohl nicht unmittelbar von Kampfhandlungen berîhrt, von etwa 40 Prozent Bevçlkerungsrîckgang berichtet.150 Das sind wohl eher maximale Zahlen, jedenfalls was das stdtische Element außerhalb der Residenz betrifft, doch dîrfte ein nachhaltiger Verlust von um die 50 Prozent auf jeden Fall gesichert sein. Die Pest, vor allem die der letzten brandenburgischen Kriegsjahre 1638 – 1641, hat in der Mittelmark große Verluste gefordert. Besonders stark waren die Schden in der Prignitz, der Uckermark und auf dem Barnim. Um 1650 waren im Nordosten Brandenburgs nur 10 Prozent aller buerlichen Hofstellen besetzt. Die Landreiterberichte des Jahres 1652 geben einen sehr detaillierten Einblick in die dçrflichen Zustnde; verglichen mit den Daten unmittelbar vor dem Kriegsbeginn im Lande ergibt sich ein gesichertes Bild, das jedenfalls in den Grçßenordnungen keinem Zweifel unterliegen kann. Ebenso ist es belegt, daß kriegsbedingt wîstgefallene Hçfe auf dem Lande erst im 18. Jahrhundert wieder vollstndig besetzt worden sind. Die Landreiterberichte spiegeln aber nicht einmal den maximalen Schadensstand wider, denn bis dahin war in einem Jahrzehnt relativer Ruhe schon eine deutliche Erholung durch eine Rîck- und auch Einwanderung im Lande erfolgt, im Nordwesten îbrigens mit einigem Zuzug aus dem holsteinischen Raum.151 Noch strker als 149 Generell G. Franz, Dreißigjhrige Krieg … (s. Anm. 146), S. 5 und S. 23 f. (Zitat). 150 So jetzt W. W. Hagen, Crisis … (s. Anm. 99), S. 314; anders Peter-Michael Hahn, Stdtewesen, in: Hermann Heckmann (Hg.), Brandenburg. Historische Landeskunde Mitteldeutschlands, Wîrzburg 1988, S. 97 – 119, bes. S. 108; vgl. F. Kaphahn, Wirtschaftliche Folgen … (s. Anm. 100), S. 82; Pest: E. Faden, Berlin … (s. Anm. 49), S. 161, S. 179 f., S. 207 f., S. 231 f. 151 Siehe die instruktive Karte: Bevçlkerungsverluste der brandenburgischen Stdte zwischen 1625 und 1652/53, bearb. von Rainer Wohlfeil, (= Historischer Handatlas von Brandenburg und Berlin, Abt. VIII), Berlin/New York 1976; ferner das Beiheft von R. Wohlfeil, Kriegsverlauf … (s. Anm. 140), S. 1 v., 2 r., 3 r.; Lieselott Enders, Bauer und Feudalherr in der Mark Brandenburg vom 13. bis 18. Jahrhundert. Forschungsprobleme und -ergebnisse einer flchendeckenden Untersuchung am Beispiel der Uckermark, in: JWG, Jg. 1991, 2, S. 9 – 20, bes. S. 16; Dies., Uckermark … (s. Anm. 100), S. 384; Beispiel: Erich Kittel, Die Erbhçfe und Gîter des Barnim 1608/ 53. Verzeichnisse der Lehnsleute, Bauern, Kossten und Knechte. Hg. im Auftrage des Vereins fîr Geschichte der Mark Brandenburg, mit Unterstîtzung des Kreises Nie-

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die Mark Brandenburg waren die pommerschen Landschaften verheert worden. Diese Gebiete gehçren zu den am hrtesten betroffenen Regionen, was direkte und mittelbare Kriegsverluste anbetrifft. Vor allem Magdeburg, etwas weniger Kleve und die Grafschaft Mark wiesen gleichfalls erhebliche Schden auf. Aber die quantitativen Verluste stellen gewiß nur die eine Seite derjenigen Kriegs- und Krisenfolgen dar, die ganz wesentlich zu den Bedingungen gezhlt werden mîssen, unter denen der frîhe Absolutismus in Brandenburg-Preußen erwachsen ist. Die regionale Mobilitt, Wanderungs- und Flucht-, d. h. Ausweichreaktionen vor allem der lndlichen Bevçlkerung verweisen auf eine zustzliche, d. h. eine tiefere Dimension. Denn dadurch zerbrachen Bindungen und Loyalitten, die bis zur Zeit des Krieges stabilisierend gewirkt hatten. Diese Aussage gilt selbst dann, wenn die interregionale Mobilitt im Kriege den îberregionalen Zuzug îberwog,152 wiewohl auch dieser nicht unterschtzt werden sollte. Die Entwurzelung, das Herausreißen der Menschen aus den kleinen, lokalgebundenen Welten, das war das eine. Das andere war die lebendige Erfahrung, daß der adlige Herr in existenziellen Situationen keinen Schutz geboten hatte, beziehungsweise hatte bieten kçnnen. Die drastische Schwchung, bisweilen der fçrmliche Zusammenbruch der landadligen Autoritt und damit auch der Sozialdisziplin war eine weitere wesentliche Folge. Auch der adlige Besitzer hat in manchen Landschaften nach 1648 rasch gewechselt, und bîrgerliche Herren ergriffen die Chance, Rittergîter an sich zu bringen. Diese Personen hatten mit der Zeit gute Aussichten, durch Nobilitierung in die lndliche Herrenschicht hineinzuwachsen.153 Zunchst aber hatte der Besitzwechsel auf den Rittergîtern destabilisierende Folgen. War die Herstellung des Rittergutsbesitzers fragil geworden, so gilt dies gleichfalls in auffallendem Maße fîr die im dçrflichen Nexus ganz wesentliche Position des derbarnim und der Landesbauernschaft Kurmark, Bernburg 1937, S. XXX-XXXIV; Johannes Schultze, Die Prignitz und ihre Bevçlkerung nach dem dreißigjhrigen Kriege. Auf Grund des Landesvisitationsprotokolls von 1652 bearbeitet (= Verçffentlichung des Heimatvereins Perleberg), Perleberg 1928, passim, z. B. S. 4 ff.; außerbrandenburgische Gebiete: G. Franz, Dreißigjhrige Krieg … (s. Anm. 146), S. 8, S. 24 f., zu den mittleren Gebieten S. 19 ff.; G. Heinrich, Preußen … (s. Anm. 72), S. 87 f.; aus der allgemeinen Lit. Miroslav Hroch / Josef Petrnˇ, Das 17. Jahrhundert – Krise der Feudalgesellschaft? (= Historische Perspektiven, 17), Hamburg 1981, S. 94, und Manfred Vasold, Die deutschen Bevçlkerungsverluste whrend des Dreißigjhrigen Krieges, in: ZBayerLdG 56 (1993), S. 147 – 160, hier S. 151, S. 153 ff. 152 O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 2, S. CXX f.; G. Franz, Dreißigjhrige Krieg … (s. Anm. 146), S. 94 – 99; Hartmut Harnisch, Die Herrschaft Boitzenburg. Untersuchungen zur Entwicklung der sozialçkonomischen Struktur lndlicher Gebiete in der Mark Brandenburg vom 14. bis zum 19. Jahrhundert (= Verçffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam, 6), Weimar 1968, S. 110 ff., vgl. auch die inhaltsreiche Rezension von Willy Hoppe, in: ForschBrandPrG 38 (1926), S. 455 f. 153 W. W. Hagen, Crisis … (s. Anm. 99), S. 315; L. Enders, Uckermark … (s. Anm. 100), S. 342 f., S. 372, S. 381 f.

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Pfarrers oder des Oberpfarrers in den geistlichen Inspektionsbezirken. Bis in die sechziger Jahre haben die Geistlichen verschiedener Landschaften ihre drastischen Erfahrungen mit der zerbrochenen Sozialdisziplin und der gnzlich mangelnden Kirchenzucht auf die Langzeitwirkungen des großen Krieges zurîckgefîhrt.154 Zu den mentalittsgeschichtlichen Folgen des Krieges gehçrte nicht zuletzt das, was man als eine Traumatisierung der Bevçlkerung bezeichnen kçnnte. Gewiß hat die Volksmagie schon – oder auch noch – im 16. und frîhen 17. Jahrhundert eine große Rolle gespielt, die deviante Religiositt ist gerade im Hexen- und Hexerwesen dieser Zeit gut zu fassen. Es gibt Indizien, daß diese speziellen Phnomene um 1650 eher abklingen, auch ein Stîck weit entkriminalisiert worden sind.155 Daneben stehen Beobachtungen, daß gerade durch die psychischen Folgen des Krieges, offenbar unter dem Druck und der Notwendigkeit, grausam Erlebtes zu verarbeiten, in religiçser Hinsicht die „Heydnische Sicherheit“156 der Menschen zunahm, wobei das Beiwort „heidnisch“ wohl ernst zu nehmen ist. Denn nicht nur von Gottlosigkeit, sondern auch vom „Mißbrauch der Zauberey und vieler andern Wahrsagereyen“ wird um 1640 in den Quellen berichtet und damit die „gantz niedergelegte Kirchenzucht“ in Verbindung gebracht. In den Chroniken werden blutige Kriegsereignisse in unmittelbarem Konnex mit Wundererscheinungen beschrieben; auf dem Lande blîhten volksmagische Praktiken und in den Stdten Sektenbewegungen. Mit der Auflçsung von Sozialmoral und Kirchenzucht ging ein den Zeitgenossen sehr aufflliges Luxusverhalten einher, das im Widerspruch zur allgemeinen Not stehen mochte und diese Not noch verstrkte.157 Ostentatives 154 W. Neugebauer, Absolutistischer Staat … (s. Anm. 54), S. 240 – 246, und Hugo Landwehr, Die Kirchenpolitik Friedrich Wilhelms, des Großen Kurfîrsten. Auf Grund archivalischer Quellen, Berlin 1894, S. 178 – 183; Hermann Werdermann, Pfarrerstand und Pfarramt im Zeitalter der Orthodoxie in der Mark Brandenburg (= Studien zur Geschichte des evangelischen Pfarrerstandes, 1), Berlin 1929, S. 73. 155 Vgl. Lieselott Enders, Weise Frauen – bçse Zauberinnen. Hexenverfolgung in der Prignitz im 16. und 17. Jahrhundert, in: JbBrandenbLdG 49 (1998), S. 19 – 37, die Befunde S. 30 ff.; und Jan Peters, Hexerei vor Ort. Erfahrungen und Deutungen in einer Kleingesellschaft der Prignitz. Saldernherrschaft Plassenburg-Wilsnack (1550 – 1700), in: A. a. O., S. 38 – 74, bes. S. 47, S. 64 – 69. 156 Als illustrative Quelle: Hans Georgens von dem Borne, Politische und Geistliche Berathschlagungen, ˜ber den gegenwrtigen betrîbten und kîmmerlichen Zustand der Chur- und Marck Brandenburg … Zu Franckfurt an der Oder … 1641. …, Neuauflage Berlin 1719, S. 5, folgendes Zitat S. 13, ferner S. 15, S. 20 f., S. 52 f.; Wunderglaube usw.: vgl. W. Neugebauer, Brandenburg … (s. Anm. 140), S. 308 ff.; ferner E. Faden, Berlin … (s. Anm. 49), S. 190. 157 M. Philippson, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), 1, S. 29; Hugo Landwehr, Das Kirchenregiment des Großen Kurfîrsten, in: ForschBrandPrG 2 (1889), S. 600 – 610, hier S. 604 f.; (Hans Georg von dem Borne), Staats-Bedenken eines gottesfîrchtigen und einsichtsvollen Ministers, îber den Verfall der Gottes-Furcht, den îbertriebenen Luxus und das allgemeine moralische Verderben in den brandenburgischen Landen, dem

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Luxus- und Reprsentationsverhalten in den Stdten und auf dem Lande demonstrierte Ansprîche auf Status und Autonomie, es tradierte Standesgrenzen, die doch auch dem Konsum gezogen waren, sie wurden damit tendenziell zur Disposition gestellt. Die Obrigkeiten haben diese Gefahr sehr genau erkannt. Besonders deutlich wurde der Grad, in dem tradierte Ordnungen erschîttert worden waren, in evidenten Erscheinungen buerlicher Widerstndigkeit. Schon um 1630 hatte sich – zunchst passiver – Widerstand geregt, war es zu Akten der Steuerverweigerung unter der brandenburgischen Landbevçlkerung gekommen. Zehn Jahre spter kçnnen wir in bestimmten Landschaften eine buerliche Selbstorganisation zunchst zum Zwecke quasi-militrischer Eigenhilfe erkennen. Bauern schlossen sich zusammen, gaben sich Anfîhrer und waren sehr wohl in der Lage, selbst strkere fremde Militrkontingente erfolgreich anzugreifen und von ihren Gegenden durch Abschreckung fernzuhalten. Die Landbevçlkerung war, angesichts des gnzlichen Versagens der landesfîrstlichen Defension, in erstaunlichem Maße fhig, durch militrische Selbstorganisation die Interessen in die eigene Hand zu nehmen und auch mit feindlichen Offizieren selbstndig in Verhandlungen einzutreten. Bis in die fînfziger Jahre des 17. Jahrhunderts hat in Teilen der Mark Brandenburg eine solche buerliche Selbstorganisation bestanden, die anfangs mit Zustimmung der Ritterschaft den Landfrieden schîtzen wollte, dann aber zunehmend auf Bedenken unter den organisierten Stnden stieß. Denn die Widerstndigkeit konnte sich sehr wohl auch gegen die eigenen Herren wenden, und in der Tat kam es nun dazu, daß die Bauern wie noch eben den Kaiserlichen oder den Schweden nun den stndischen beziehungsweise den kurfîrstlichen Offizianten gegenîbertraten und Ungehorsam îbten, etwa gegen die Forderung von Frondiensten oder auch bei wachsendem kurfîrstlichem Steuerdruck. Von Bauernaufstnden ist in diesem Kontext in den Quellen die Rede, und dagegen ist dann im Jahre 1656 kurfîrstliches Militr eingesetzt worden.158 In diesem weiteren Kontext von Kriegsfolgen ist nun die Politik von Landadel und organisierten Stnden zu sehen, die in den Jahrhunderten zuvor schon verschrfte Bindung der lndlichen Untertanen an Boden und Herrschaft noch weiter zu intensivieren und auch mit rechtlichen Instrumenten zu maximieren. Hinzu kamen demographische und konjunkturelle Belastungen fîr die Churfîrsten Friedrich Wilhelm auf Befehl, nicht lange nach dem Antritt seiner Regierung am 1ten Januar 1641 îbergeben, in: Historisches Portefeuille, Jg. 1, 1 (1782), S. 117 – 127, hier S. 117 – 120, S. 124 f. 158 F. Schroer, Havelland … (s. Anm. 103), S. 44; W. Zahn, Altmark … (s. Anm. 98), S. 47, S. 51 – 54; F. Kaphahn, Wirtschaftliche Folgen … (s. Anm. 100), S. 83 f.; Ludwig Gçtze, Urkundliche Geschichte der Stadt Stendal, Stendal 21929, S. 473 f.; J. Schultze, Prignitz … (s. Anm. 91), S. 201 – 204; O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 5, S. 145, Nr. 125, und Werner Vogel (Hg.), Prignitz-Kataster 1686 – 1687 (= Mitteldeutsche Forschungen, 82), Kçln/Wien 1985, S. 2; W. W. Hagen, Crisis … (s. Anm. 99), S. 317 f.

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Gutsherrschaften, die zu den direkten Schden aus den Kriegszeiten nun auch noch mit der geringen inneren Nachfrage zu kmpfen hatten, was zur Mitte des 17. Jahrhunderts die Wirtschaften belastete. Dies bedingte eher niedrige Preise fîr Agrarprodukte, und whrend insofern die Ertrge aus den, zum Teil mit hohen Kosten retablierten Gutskomplexen angesichts der Marktlage begrenzt blieben, steigerte die demographische Komponente die Betriebskosten. Denn der Bevçlkerungsrîckgang fîhrte auf dem Lande zum Mangel an Gesinde und wer noch da war, konnte um so mehr an Lohn fordern. Der Adel reagierte zum einen dadurch, daß er wîst liegendes Bauernland zum Gutsareal schlug, zum anderen aber dadurch, daß er auch da, wo bisher kein Gesindezwangdienst îblich gewesen war, nun danach strebte, diese Praxis einzufîhren. Die derart rentabler gemachten Gutswirtschaften konnten, zumal bei gînstiger Verkehrslage, dann in der Tat den Export ihrer Produkte steigern, wenngleich die europische, d. h. vor allem die westeuropische Getreidekonjunktur erst um die Wende zum 18. Jahrhundert wieder nachhaltig angesprungen ist.159 Bei aller Differenzierung der Lehrmeinungen, was den Phasenverlauf bei der Entstehung der Gutsherrschaften im Allgemeinen und in Brandenburg-Preußen im Besonderen anbelangt, so besteht doch Einigkeit darin, daß die europische Marktstruktur, die west-ostmitteleuropische Arbeitsteilung zur Ausprgung der Agrarverfassung ganz wesentlich beigetragen hat. Die brandenburg-preußischen Territorien waren integraler Bestandteil dieser Arbeitsteilung gewesen, bei der der Fernhandel auf dem Wasserweg die wirtschaftliche Entwicklung in West-, zumal Nordwesteuropa dadurch ganz wesentlich unterstîtzte, daß bei abnehmender Eigenversorgung im Westen die Zufuhr an Lebensmitteln aus dem ostmitteleuropischen Raum stattfinden konnte. Die Marktproduktion aber fçrderte den Trend zur Vergrçßerung der Gutsbetriebe und – was die Arbeitskrfte anbetraf – zur Sicherung der Rentabilitt durch den Betrieb mit Frondiensten. Seit 1540/ 72 war es dem Adel unter bestimmten Bedingungen auch erlaubt, Bauern auszukaufen und ihren Boden dem Gutsland zuzuschlagen, d. h. den Eigenbetrieb flchenmßig zu erweitern. Die Ausdehnung der Dienstpflicht, auch etwa auf die Untertanenkinder, lag gleichfalls in dieser Entwicklung begrîndet.160 159 Speziell: F. Kaphahn, Wirtschaftliche Folgen … (s. Anm. 100), S. 86, S. 98; O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 4, S. 388 ff., Nr. 346; Niels Steensgaard, The Seventeenth-century Crisis, zuerst 1970, wieder in: Geoffrey Parker / Lesley M. Smith (Hg.), The General Crisis of the Seventeenth Century, London 21985, S. 26 – 56, bes. S. 35 f.; Hartmut Harnisch, Probleme einer Periodisierung und regionalen Typisierung der Gutsherrschaft im mitteleuropischen Raum, in: Jahrbuch fîr Geschichte des Feudalismus 10 (1986), S. 251 – 274, hier S. 253. 160 Hartmut Harnisch, Die Gutsherrschaft. Forschungsgeschichte, Entwicklungszusammenhnge und Strukturelemente, in: Jahrbuch fîr Geschichte des Feudalismus 9 (1985), S. 189 – 240, hier S. 223 – 226, S. 233 – 236, mit der These, daß das schon ursprînglich schlechte buerliche Besitzrecht die weitere Entwicklung begînstigt habe; vgl. Ders.,

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Der Dreißigjhrige Krieg und der durch ihn befçrderte Menschenmangel hat nun diese Entwicklung beschleunigt und verschrft; da, wo Bauernstellen kriegsbedingt verlassen worden waren, konnte der Gutsherr daran denken, dieses Land dem Eigenbetrieb zuzuschlagen. Zugleich mußte das Interesse sich verstrken, die verbliebene lndliche Bevçlkerung an das Gutsland zu binden und zugleich die Naturaldienste der Untertanen zu steigern.161 Insofern fielen die geschilderten Auflçsungserscheinungen der lndlichen Sozialdisziplin in Folge des Krieges zusammen mit langfristigen Entwicklungen gutsherrschaftlicher und gutswirtschaftlicher Strukturen in Brandenburg und in anderen Regionen Ostmitteleuropas. Artikuliert wurde dies kurz nach dem eingetretenen Frieden von den brandenburgischen Landstnden, als sie bei den Verhandlungen des Jahres 1652 îber den „Mutwill“ der Untertanen Klage fîhrten. „Sonderlich aber unterstehen sich die Pauern mit denen man bei diesem Kriegeswesen in die Gelegenheit gesehen und sie nicht so strikte zu ihrer Gebîhr in Leistung der vçlligen Dienste und Abstattung der Pachte und Maltern angehalten hat, damit sie die schwere Contributiones und Unpflichten desto besser erleiden mçchten“, sich auch nun im Frieden dieser Abgaben zu entziehen. Deshalb haben die stndischen Deputierten in aller Form „gebeten, daß denen vom Adel noch ferner freistehen mçge, da gnîgsame Ursachen vorhanden, einen mutwilligen, ungehorsamen Pauern zu relegiren, auch nach Die Gutsherrschaft in Brandenburg. Ergebnisse und Probleme, zuerst 1969, wieder in: Ingrid Mittenzwei / Karl-Heinz Noack (Hg.), Preußen in der deutschen Geschichte vor 1789 (= Akademie der Wissenschaften der DDR. Zentralinstitut fîr Geschichte, Studienbibliothek DDR-Geschichtswissenschaft, 2), Berlin 1983, S. 67 – 101, hier S. 68, S. 70 – 74, S. 86; Ders., Probleme … (s. Anm. 159), S. 268; vgl. damit Lieselott Enders, Entwicklungsetappen der Gutsherrschaft vom Ende des 15. bis zum Beginn des 17. Jahrhundert, untersucht am Beispiel der Uckermark, in: Jahrbuch fîr Geschichte des Feudalismus 12 (1988), S. 119 – 166, hier S. 126 f., S. 131 f., scharf gegen Harnisch: S. 165 mit Anm. 23; nach wie vor einschlgig als lterer westlicher Klassiker Francis L. Carsten, Die Entstehung Preußens, deutsche Ausgabe: Kçln/ Berlin 1968, S. 123, S. 128, S. 130; Wilhelm Abel, Agrarkrisen und Agrarkonjunktur. Eine Geschichte der Land- und Ernhrungswirtschaft Mitteleuropas seit dem hohen Mittelalter, Hamburg/Berlin 31978, S. 110, und Friedrich Lîtge, Geschichte der deutschen Agrarverfassung vom frîhen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert (= Deutsche Agrargeschichte, 3), Stuttgart 21967, S. 133; aus der neueren internationalen Literatur sei exemplarisch fîr die europischen Zusammenhnge verwiesen auf die Studien von Maria Bogucka, Baltic Commerce and Urban Society, 1500 – 1700. Gdan´sk/Danzig and its Polish Context, Aldeshot 2003, z. B. S. IV/ 14 f. – Zu den speziellen agrarrechtlichen Konsequenzen vgl. als Klassiker Friedrich Grossmann, ˜ber die gutsherrlich-buerlichen Rechtsverhltnisse in der Mark Brandenburg vom 16. bis 18. Jahrhundert (= StaatsSocialwissForsch, 9, Heft 4, der ganzen Reihe 40), Leipzig 1890, S. 11, S. 13 – 16, S. 20 f., S. 27 ff., u. ç. 161 L. Enders, Produktivkraftentwicklung … (s. Anm. 100), S. 82; H. Harnisch, Probleme … (s. Anm. 159), S. 255 f., S. 260 ff.; W. W. Hagen, Crisis … (s. Anm. 99), S. 309 ff.; G. Franz, Dreißigjhriger Krieg … (s. Anm. 146), S. 126.

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billiger Taxa und Landesgebrauch auszukaufen und Pauergîter an sich zu bringen. Wo aber die Leibeigenschaft im Gebrauche, muss dem Adel billig frei verbleiben, mit den Pauergîtern allerdinge nach seinem Gefallen zu gebahren“.162 In der spezifischen politischen Situation hat der Kurfîrst diese Positionen akzeptiert, und so wurde, auf der Basis der Entwicklungen seit dem spteren 15. Jahrhundert nun doch ein entscheidendes Stîck darîber hinausgehend, im Landtagsrezeß von 1653 der entscheidende Passus so formuliert. Danach sollte die „Leibeigenschafft“ da, wo sie „introduciret“ war, bestehen bleiben. Kînftig hatte der Bauer die positive Beweislast zu tragen, daß er nicht leibeigen sei.163 Allerdings hat das Kammergericht nachweislich in steter Rechtssprechung sowohl vor und nach 1650 und auch im 18. Jahrhundert gegen die Versuche von Adligen, die Leibeigenschaft durchzusetzen, einen durchaus wirksamen Rechtsschutz gewhrt.164 Es steht fest, daß der Rechtsbegriff der Leibeigenschaft im brandenburgpreußischen Staat nur landschaftlich, nicht aber generell verbreitet war. Zudem hat er sich in der Praxis nur in einzelnen Fllen bis zu der Schrfe gesteigert, daß Bauern von dem Boden, auf dem sie saßen, weg verkauft worden sind. Insofern ist die Leibeigenschaft in Pommern sehr viel schrfer ausgeprgt gewesen als in Brandenburg, wo darunter im frîhen 18. Jahrhundert eine buerliche Existenz unter bestimmten gewiß belastenden Bedingungen verstanden worden ist. Dazu zhlte ein ungînstiges Besitzrecht, so daß die Bauerngîter und ihre Ausstattung nicht vererbt werden konnten. Leibeigene galten zwar als „freye Leuthe“, hatten aber ihre Kinder, insbesondere wenn sie nicht auf den buerlichen Wirtschaften 162 UA, 10, S. 238 f., und die Verhandlungen S. 272 f. 163 C. O. Mylius (Hg.), Corpus … (s. Anm. 72), 6. Tl., 1. Abt., Sp. 425 – 466, Nr. 118, hier Sp. 438; dazu Francis L. Carsten, Die Entstehung des Junkertums, in: Richard Dietrich (Hg.), Preussen. Epochen und Probleme seiner Geschichte, Berlin 1964, S. 57 – 76, S. 171 – 173, hier S. 73 – 75; Francis L. Carsten, Geschichte der preußischen Junker, Frankfurt am Main 1988, S. 34 f.; Ders., Entstehung … (s. Anm. 160), S. 155 – 157; vgl. F. Grossmann, Rechtsverhltnisse … (s. Anm. 160), S. 68 – 71; Wolfgang Neugebauer, Die Leibeigenschaft in der Mark Brandenburg. Eine Enquete in der Kurmark des Jahres 1718, in: Friedrich beck / Klaus Neitmann (Hg.), Brandenburgische Landesgeschichte und Archivwissenschaft. Festschrift fîr Lieselott Enders zum 70. Geburtstag (= Verçffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 34), Weimar 1997, S. 225 – 241. 164 L. Enders, Uckermark … (s. Anm. 100), S. 336 f., S. 345 f.; H. Croon, Landstnde … (s. Anm. 52), S. 18; L. Enders, Entwicklungsetappen … (s. Anm. 160), S. 124, S. 135 f., S. 160, S. 164; Hartmut Harnisch, Rechtsqualitt des Bauernlandes und Gutsherrschaft. Probleme und Materialien einer vergleichenden und retrospektiven Auswertung von statistischen Massendaten aus dem 18. Jahrhundert und der Zeit der kapitalistischen Agrarreformen fîr die Agrar- und Siedlungsgeschichte, in: Jahrbuch fîr Geschichte des Feudalismus 3 (1979), S. 311 – 363, hier S. 331 f.; vgl. dazu grundstzlich Michael North, Die Entstehung der Gutswirtschaft im sîdlichen Ostseeraum, in: ZHF 26 (1999), S. 43 – 59, hier S. 50.

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selbst bençtigt wurden, der Herrschaft zu einem bestimmten Lohn zum Dienst auf drei Jahre anzubieten. Wollten die Betreffenden unter eine andere Herrschaft treten, so hatten sie ein – nicht sehr hohes – Loskaufgeld und fîr ihre Habseligkeiten einen „Abschoß“ zu leisten. Die Zahl der Tage, an denen auf dem Herrenland zu dienen war, ist îberdurchschnittlich hoch gewesen – auf Rittergîtern dem des Herrn, auf Domnenmtern auf dem Feldteil des Amtes zu erbringen. Zum Teil mußte im Falle des Wegzuges ein Nachfolger gestellt werden. Leibeigenschaft hieß also in diesen brandenburgischen Gebieten eine „bedingte Schollenpflichtigkeit“ (C. Schmidt), die sich in der Nachbarschaft zu den pommerschen Landschaften zur „unbedingten Schollenpflichtigkeit“ steigern konnte, aber doch von der russischen Form des freien „Handels mit Leibeigenen“ deutlich zu unterscheiden ist.165 Wenn auch in Pommern die Leibeigenschaft besonders deutlich ausgeprgt war und dort schon im frîhen 17. Jahrhundert „ungemessene Frondienste“ verlangt werden konnten, so ist auch hier die Entwicklung in Folge des Dreißigjhrigen Krieges beschleunigt und verschrft worden.166 Abgesehen davon, daß auch in denjenigen brandenburgischen Gebieten, in denen die Leibeigenschaft in vergleichsweise schroffer Form praktiziert worden ist, schon bald, d. h. schon in der zweiten Hlfte des 17. Jahrhunderts durch auffllige Betonung der „persçnlichen Freiheit“ diese Form der Untertnigkeit in Anstzen unterhçhlt wurde,167 so lag doch in der Konstellation nach 1648/53 schon der Keim ihrer allmhlichen ˜berwindung. Denn wenngleich zunchst das Interesse des Adels, die verbliebenen Hintersassen in strkere Abhngigkeit zu bringen, dominierte und zum Revers-Text von 1653 fîhrte, so bewirkte andererseits eben die demographische Kata165 Vgl. W. Neugebauer, Leibeigenschaft … (s. Anm. 163), bes. S. 238; Komparatistik: Christoph Schmidt, Leibeigenschaft im Ostseeraum. Versuch einer Typologie, Kçln/ Weimar/Wien 1997, S. 131 f., zum „Handel mit Leibeigenen“: S. 134 f. 166 Oskar Eggert, Die Maßnahmen der preußischen Regierung zur Bauernbefreiung in Pommern (= Verçffentlichungen der Historischen Kommission fîr Pommern, 9), Kçln/ Graz 1965, S. 2, S. 36 f.; Gînther Franz (Hg.), Quellen zur Geschichte des deutschen Bauernstandes in der Neuzeit (= Ausgewhlte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, 11), Darmstadt 21976, S. 108 f., Nr. 47; vgl. L. Enders, Entwicklungsetappen … (s. Anm. 160), S. 160 f., S. 163, und die bedeutende Studie der Verfasserin: Lieselott Enders, Die Landgemeinde in Brandenburg. Grundzîge ihrer Funktion und Wirkungsweise vom 13. bis zum 18. Jahrhundert, in: BllDtLdG 129 (1993), S. 195 – 256, hier S. 197; F. Grossmann, Rechtsverhltnisse … (s. Anm. 160), S. 31 f.; Hans Goldschmidt, Die Grundbesitzverteilung in der Mark Brandenburg und in Hinterpommern vom Beginn des dreißigjhrigen Krieges bis zur Gegenwart, Berlin 1910, S. 60 f. 167 So fîr die siebziger und achtziger Jahre des 17. Jahrhunderts Lieselott Enders, Bauern und Feudalherrschaft der Uckermark im absolutistischen Staat, in: Jahrbuch fîr Geschichte des Feudalismus 13 (1989), S. 247 – 283, hier S. 269; Dies., Bauern und Feudalherr … (s. Anm. 151), S. 16 f.; Dies., Uckermark … (s. Anm. 100), S. 503, und W. W. Hagen, Crisis … (s. Anm. 99), S. 315.

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strophenlage dieser Zeit, daß „Aufbauwillige“, die wîste Hofstellen îbernahmen, sich dabei vorteilhafte Bedingungen und einen guten Status erhandeln konnten. Mit dem Bevçlkerungsanstieg im 18. Jahrhundert verloren schließlich die Bestimmungen des 17. Jahrhunderts ihren Motivhintergrund. Die Erbuntertnigkeit beziehungsweise ihre verschrfte Form, die Leibeigenschaft, fîgt sich in eine weitere ostmitteleuropische Raumtypologie ein. Der „sîdbaltische Typ“ (Harnisch), gekennzeichnet durch einen hohen Anteil von gutsherrlichem Eigenland, hohe Dienste und schlechtes buerliches (Laß)Recht, reichte bis in die mittleren Provinzen Brandenburg-Preußens hinein.168 Freilich ist gerade die Zuordnung der çstlichen preußischen Gebiete schwierig. In Westpreußen, vor 1772 also dem Preußen kçniglich polnischen Anteils, waren die Bauern in bedeutenden Teilen des Landes in guter Rechtsstellung, ja „vielfach freie Leute“.169 In Ostpreußen herrschte die „Schollenpflichtigkeit“ vor, d. h. die Gutsangehçrigen galten als Zubehçr, sie standen in einem „Untertnigkeitsverhltnis zu ihrem Patrimonialherrn“, der auch hier Polizeigewalt und Gerichtsbarkeit besaß und diese bis weit in das ausgehende 18. Jahrhundert selbstndig ausîben durfte. Aber abgesehen davon, daß es im Osten mit den Kçlmern und Freien eine auch quantitativ bedeutende Gruppe nichtadliger Landbewohner gab, die die gutsherrschaftlichen Strukturen gleichsam auflockerten und durchbrachen, sind die Landschaften mit Erbuntertnigkeit gerade in Ostpreußen nicht mit dem ganzen Land beziehungsweise der Provinz gleichzusetzen. Sie waren auf Teile der Gebiete beschrnkt, in denen der Adel massiv saß,170 whrend ja in Ostpreußen der Anteil der landwirtschaftlichen 168 Interessanter und gewiß mutiger Versuch: H. Harnisch, Probleme … (s. Anm. 159), S. 272 f. 169 Marie Rumler, Die Bestrebungen zur Befreiung der Privatbauern in Preußen 1797 – 1806, 2, in: ForschBrandPrG 33 (1921), S. 327 – 367, hier S. 340, S. 348; Hans-Jîrgen Bçmelburg, Zwischen polnischer Stndegesellschaft und preußischem Obrigkeitsstaat. Vom Kçniglichen Preußen zu Westpreußen (1756 – 1806) (= Schriften des Bundesinstituts fîr ostdeutsche Kultur und Geschichte, 5), Mînchen 1995, S. 409 f. 170 Robert Stein, Die Umwandlung der Agrarverfassung Ostpreußens durch die Reform des neunzehnten Jahrhunderts, 1: Die lndliche Verfassung Ostpreußens am Ende des achtzehnten Jahrhunderts (= Schriften des Kçniglichen Instituts fîr ostdeutsche Wirtschaft an der Universitt Kçnigsberg, 5), Jena 1918, S. 191 ff.; nîtzlich auch M(ax) Toeppen, Historisch-comparative Geographie von Preussen. Nach den Quellen, namentlich auch archivalischen dargestellt, Gotha 1858, S. 389 f.; W. Guddat, Grundherrschaften … (s. Anm. 17), S. 22 – 25; M. Rumler, Bestrebungen … (s. Anm. 169), S. 346 f.; Karl Bçhme, Gutsherrlich-buerliche Verhltnisse in Ostpreußen whrend der Reformzeit von 1770 bis 1830. Gefertigt nach Akten des Gutsarchivs zu Angerapp und Gr.-Steinort (= StaatsSocialwissForsch, 20, Heft 3, der ganzen Reihe 90), Leipzig 1902, S. 53; Friedrich-Wilhelm Henning, Herrschaft und Bauernuntertnigkeit. Beitrge zur Geschichte der Herrschaftsverhltnisse in den lndlichen Bereichen Ostpreußens und des Fîrstentums Paderborn vor 1800 (= Beihefte zum Jahrbuch der Albertus-Universitt Kçnigsberg/Pr., 25), Wîrzburg 1964, S. 97 – 106, und die Karte

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Nutzflche, der dem Landesherrn resp. der Domnenadministration unterstand, mit rund zwei Dritteln dominierte.171 Zwar hat es im çstlichsten Preußen zur Mitte des 18. Jahrhunderts den Versuch gegeben, Untertanen als Leibeigene einzeln und von ihrer Scholle weg zu verkaufen, doch ist dies vom Kçnig, zu dieser Zeit schon Friedrich der Große, und von der Justiz des Landes als unerlaubt gerîgt worden. Gerade diese Praxis htte dem Prinzip der Schollenbindung ja widersprochen.172 Eine eigentliche Leibeigenschaft hat es in Ostpreußen nicht gegeben.173 Ostmitteleuropische Langzeit-Entwicklungen und – in den mittleren Provinzen – die verschrfenden Folgen des Dreißigjhrigen Krieges formten diejenige agrarsoziale Struktur, die in den wichtigsten preußischen Gebieten durch die Gutsherrschaft charakterisiert wird. Freilich haben wir schon bald zum Trend auch Gegentrends erkennen kçnnen,174 und diese haben sich nach 1700 dann rasch verstrkt. Gerade in denjenigen Maßnahmen zum Wiederaufbau, die seit den vierziger Jahren des 17. Jahrhunderts von der landesherrlichen Seite ausgingen, ist freilich ein starkes Element der Dynamik enthalten gewesen, das sich gegen die Entwicklung zu Erbuntertnigkeit oder gar „Leibeigenschaft“ auswirken mußte. Die Siedlungspolitik, d. h. die frîhe Kolonisation zur Kompensation von Kriegs-Schden und zum Ausgleich von Entwicklungsdefiziten war ja nur unter der Bedingung praktikabel, daß man denjenigen, die man ins Land zog, gute, ja besonders gute Konditionen anbot. Dies gilt schon fîr die brandenburgische Niederlnderkolonisation seit 1647/48, die

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S. 108, S. 111; nîtzlich auch der Artikel von Friedrich Wilhelm Henning, Leibeigenschaft, in: Handwçrterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, 2, Berlin (1978), Sp. 1761 – 1772, hier Sp. 1768 f. R. Bergmann, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 17), S. 130 f. (1688); genauer F. W. Henning, Dienste … (s. Anm. 17), S. 8; Arthur Kern, Beitrge zur Agrargeschichte Ostpreußens, in: ForschBrandPrG 14 (1901), S. 151 – 258, hier S. 173, S. 183; James Leonhard Roth, The East Prussian „Domnenpchter“ in the Eighteenth Century: A Study of Collective Social Mobility, Ph. Diss. Berkeley, University of California 1979, S. 12 f. Vgl. G. Franz (Hg.), Bauernstand in der Neuzeit … (s. Anm. 166), S. 213 f., Nr. 105; dazu Hans Plehn, Zur Geschichte der Agrarverfassung von Ost- und Westpreußen, in: ForschBrandPrG 17 (1904), S. 383 – 466, 18 (1905), S. 61 – 122, hier in 17, S. 436; A. Kern, Beitrge … (s. Anm. 171), S. 163 f.; F.-W. Henning, Herrschaft … (s. Anm. 170), S. 149 f. August Skalweit, Die ostpreußische Domnenverwaltung unter Friedrich Wilhelm I. und das Retablissement Litauens (= StaatsSozialwissForsch, 25, Heft 3, der ganzen Reihe 118.), Leipzig 1906, S. 205; vgl. R. Stein, Umwandlung … (s. Anm. 170), S. 74 ff. Grundstzlich Lieselott Enders, Emanzipation der Agrargesellschaft im 18. Jahrhundert – Trends und Gegentrends in der Mark Brandenburg, in: Jan Peters (Hg.), Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften, ˜ber Resistenz- und Herrschaftsverhalten in lndlichen Sozialgebilden der Frîhen Neuzeit, Gçttingen 1995, S. 404 – 433, hier S. 405 ff., S. 408 – 412.

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freilich in einer oft feindlichen Umgebung keine bedeutenden Dauerwirkungen zeigte.175 Es gilt auch fîr die sptere Hugenottensiedlung, ferner fîr die Fçrderung von Wallonen und Pflzern, dann fîr die Ansiedlung von Schweizern. Sofern, etwa die Hugenotten, nicht am Hof, jedenfalls in der Residenz ihr Unterkommen suchten und dort gewiß das Wirtschafts- und Kulturniveau fçrderten, haben sie auf dem Lande, wenn sie sich dort zu halten vermochten, eine Gruppe besonderen Rechts und von gehobenem Sozialstatus heimisch werden lassen, die als – wenn man so will: positiver – Fremdkçrper wirkte.176 In einem weiteren Sinne war auch dies eine indirekte Langzeitfolge politischer Krisenkompensation nach dem großen Kriege.

175 Vgl. den Beitrag von Ursula Fuhrich-Grubert in diesem Bande; hier: Meta Kohnke, Das Edikt von Potsdam. Zu seiner Entstehung, Verbreitung und ˜berlieferung, in: Jahrbuch fîr Geschichte des Feudalismus 9 (1985), S. 241 – 275, hier S. 241, S. 248; Niederlnder: O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 2, S. CXXV f., S. CXXXI; vor allem K. Breysig, Finanzen … (s. Anm. 47), S. 194, S. 248 ff., S. 253 – 260, S. 263 f., u. ç.; (Otto Glaser), Die Niederlnder in der brandenburg-preußischen Kulturarbeit, Berlin 1939, S. 27 ff.; vgl. jetzt den als Produkt eines Ausstellungsprojektes entstandenen Band von Horst Lademacher (Hg.), Onder den Oranje boom. Textband. Dynastie in der Republik. Das Haus Oranien-Nassau als Vermittler niederlndischer Kultur in deutschen Territorien im 17. und 18. Jahrhundert, Mînchen 1999, vor allem die Beitrge von Gerhard Oestreich, Klaus Vetter und bes. Diete M. Oudesluijs, Wirtschaft und Technik in Brandenburg-Preußen, S. 385 – 398, hier S. 388 – 392, S. 396. 176 Gustav Schmoller, Die preußische Einwanderung und lndliche Kolonisation des 17. und 18. Jahrhunderts, zuerst 1886, wieder in: Ders., Umrisse und Untersuchungen zur Verfassungs-, Verwaltungs- und Wirtschaftsgeschichte besonders des Preußischen Staates im 17. und 18. Jahrhundert, Leipzig 1898, ND Hildesheim/New York 1974, S. 562 – 627, hier S. 582; Margarete Pick, Die franzçsischen Kolonien in der Uckermark (= Arbeiten des Uckermrkischen Museums- und Geschichtsvereins zu Prenzlau, 13), Prenzlau 1935, S. 8 – 13, S. 15, S. 29 ff.; Ed(uard) Muret, Geschichte der Franzçsischen Kolonie in Brandenburg-Preußen, unter besonderer Berîcksichtigung der Berliner Gemeinde. Aus Veranlassung der Zweihundertjhrigen Jubelfeier am 29. Oktober 1885 …, Berlin 1885, S. 13 – 19, S. 51 ff.; K. Breysig, Finanzen … (s. Anm. 47), S. 361 ff.; M. Kohnke, Edikt … (s. Anm. 175), S. 266 f.; zur Schweizer-Kolonisation bringt einiges Neues die Tîbinger Habilitationsschrift von Matthias Asche, Neusiedler im verheerten Land. Kriegsfolgenbewltigung, Migrationssteuerung und Konfessionspolitik im Zeichen des Landeswiederaufbaus. Die Mark Brandenburg nach den Kriegen des 17. Jahrhunderts, Mînster 2006, zu den nçrdlichen Teilen der Kurmark, etwa S. 461 ff.; (auch zu den Schweizern) nach wie vor auf Grund des schon frîh verwendeten Archivmaterials unverzichtbar Max Beheim-Schwarzbach, Hohenzollernsche Colonisationen. Ein Beitrag zu der Geschichte des preußischen Staates und der Colonisation des çstlichen Deutschlands, Leipzig 1874, S. 140 ff.

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§ 3 Der Staat des Großen Kurfîrsten In den Jahren und Jahrzehnten nach dem Dreißigjhrigen Kriege hatten die Trger der Lokalherrschaft, indem sie die Sozialdisziplin und Kirchenzucht restabilisierten, ihre Positionen, Instrumente und Handlungsspielrume ausgebaut. Man kann darin durchaus eine Verstrkung nichtabsolutistischer Verfassungselemente im frîhmodernen Staat erkennen, wie er nun in der Zeit des Großen Kurfîrsten zu entstehen begann. Der Staat des Kurfîrsten aber war zunchst wenig mehr als eine politische Einheit durch Personalunion, d. h. konstituiert durch den gemeinsamen Herrscher, der gleichzeitig im Brandenburgischen Kurfîrst, in Pommern, Preußen, in Kleve Herzog und z. B. in Minden und Halberstadt Fîrst war. In der riskanten und angespannten Lage um 1640 war es zwar zu einem gewissen Ressourcentransfer zwischen Preußen und Brandenburg gekommen; man mag darin erste Anfnge gesamtstaatlicher Wirkungszusammenhnge erkennen. Damals wurden Naturallieferungen und auch Geldmittel aus dem Herzogtum Preußen mit seinen noch intakten Geldquellen auch fîr brandenburgische Bedîrfnisse, nicht zuletzt solche von Hof und frîhem Militr, in die mittleren Gebiete gefîhrt. Preußen war zu diesem Zeitpunkt auch in finanzpolitischer Hinsicht das einzig funktionsfhige Gebiet des Hohenzollern, nur aus ihm konnten Mittel abgezweigt und umgelenkt werden. An Widerstnden aus den Lndern Friedrich Wilhelms hat es gegen diese Maßnahmen nicht gefehlt.177 Die je verschiedenen Landesregierungen und nicht zuletzt die adligen Stnde haben einer gesamtstaatlichen Politik prinzipiell ablehnend gegenîbergestanden. Jedes Land des Herrschers vertrat seine eigenen Interessen. In den Stndeakten der einzelnen Gebiete, die fîr das 17. Jahrhundert in großer Fîlle erhalten sind, finden sich nur sehr wenige Bezîge zu anderen Territorien des Staates – Territorien und Lnder, noch nicht „Provinzen“. Die westliche Exposition, d. h. Kleve, das westflische Mark, Ravensberg und Minden standen in der zweiten Hlfte des 17. Jahrhunderts auch unter sich noch in keiner nheren Verbindung.178 177 Mit weiteren Nachweisen Wolfgang Neugebauer, Das historische Verhltnis der Mark zu Brandenburg-Preußen. Eine Skizze, in: Lieselott Enders / Klaus Neitmann (Hg.), Brandenburgische Landesgeschichte heute (= Brandenburgische Historische Studien, 4), Potsdam 1999, S. 177 – 196, hier S. 180 ff. und passim; wichtig Max Hein, Leistungen Preußens fîr den Gesamtstaat im ersten Jahrzehnt des Großen Kurfîrsten, in: Altpreußische Forschungen 1 (1924), S. 57 – 80, hier S. 58 – 65; Julius Triebel, Die Finanzverwaltung des Herzogtums Preussen von 1640 – 1646 (= Materialien und Forschungen zur Wirtschafts- und Verwaltungsgeschichte von Ost- und Westpreußen, 1), Leipzig 1897, S. 1, S. 10, S. 39, S. 71, S. 109, S. 125; U. Marwitz, Staatsrson … (s. Anm. 96), S. 35. 178 Otto Hçtzsch, Stnde und Verwaltung von Cleve und Mark in der Zeit von 1666 bis 1697 (= Urkunden und Aktenstîcke zur Geschichte der inneren Politik des Kurfîrsten

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Die organisierten Landstnde haben nach 1640 zunchst ihre Position zu festigen vermocht; auch in dieser Hinsicht hat Friedrich Wilhelm anfangs eine eher traditionelle, jedenfalls nicht „absolutistische“ Politik betrieben, ja er hat die Stnde sogar zu Fragen der Außenpolitik gehçrt, was alles darauf hinweist, daß es zumindest damals eine Parallelitt der Interessen von Fîrst und Stnden gegeben hat, wiewohl es um die Frage finanzieller Bewilligungen auch zu Spannungen gekommen ist. Die sptere Warnung Friedrich Wilhelms, ausgesprochen in seinem „politischen Testament“ von 1667, nicht zu viele Landtage zu halten, weil dies die „Autoritet“ des Monarchen untergrabe und „weil Die Stende alzeitt was suchen, so der Herschaft ahn Ihrer hocheitt nachteillig ist“, darf îber die stndische Politik dieses Monarchen gerade in dem ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft nicht hinwegtuschen.179 So wie jedes Land im werdenden Gesamtstaat Brandenburg-Preußen seine spezifischen Strukturen, Observanzen und Rechtstraditionen, gerade auch auf religiçsem Gebiete, besaß, so standen auch die Landtage und îberhaupt die landstndischen Institutionen der Territorien unverbunden nebeneinander. Wer waren nun aber diese (organisierten, politischen) Stnde, von denen wir schon wiederholt hçrten? In der Kurmark hatten ursprînglich drei Kurien existiert, zum einen die Prlaten, Grafen und Herren, zum zweiten die ritterschaftliche Kurie und drittens die Stdte. Die beiden ersten wurden auch als die „Oberstnde“ bezeichnet und haben als kaum noch geschiedene Einheit agiert, zumal in Folge der Reformation die Prlaten stark reduziert worden waren. Erhalten blieben immerhin in der stndischen Organisation die Stifter Brandenburg und Havelberg, das Kloster Heiligengrabe in der Prignitz und zwei brandenburgische Komture des Johanniterordens. Im dritten Stand waren nur Immediatstdte mit landstndischen Rechten vertreten, also Stdte, die keinem Mediatherrn, sei es ein Adliger oder ein landesherrliches Domnenamt, unterstanden. Stdte wurden in aller Regel von Ratsmnnern vertreten, die aber nur instruktionsgebunden, nicht aber mit freiem Mandat agierten. Nach Verlesung der kurfîrstlichen Proposition tagten die Kurien getrennt und geheim. Schriftlicher Verkehr war die Regel. Die Abstimmung zwischen den Kurien konnte aber auch mîndlich erfolgen.180 Jeder angesessene Adlige beziehungsweise Besitzer adliger Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 2), Leipzig 1908, S. 352 f. mit Anm. 2; K. Breysig, Finanzen … (s. Anm. 47), S. 1. 179 E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 26), 1, S. 12; Ders., Stnde im Spannungsfeld zwischen Brandenburg-Preußen, Pfalz-Neuburg und den niederlndischen Generalstaaten. Cleve-Mark und Jîlich-Berg im Vergleich, in: P. Baumgart (Hg.), Stndetum … (s. Anm. 13), S. 243 – 262, hier S. 250; W. Kalbe, Beitrge … (s. Anm. 132), S. 71, S. 94; O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 2, S. LXIII, S. LXVIII f.; S. Isaacsohn, in: UA, 10, S. 35, S. 181 ff., S. 188 ff.; 1667: G. Kîntzel / M. Hass, Testamente … (s. Anm. 136), 1, 2. Aufl., S. 63. 180 H. Croon, Landstnde … (s. Anm. 52), S. 1 – 6; zusammenfassend Peter Baumgart, Zur Geschichte der kurmrkischen Stnde im 17. und 18. Jahrhundert, in: Dietrich

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Gîter war landtagsfhig, doch waren eigentliche Landtage in Brandenburg immer selten, die Abstnde zwischen ihnen betrugen Jahrzehnte. Daß seit der Mitte des 17. Jahrhunderts keine (Plenar-)Landtage mehr berufen wurden, sollte nicht îberwertet werden. Zum einem konnten Ausschîsse an der Spitze der landstndischen Selbstorganisation sehr wohl die Funktion von Landtagen îbernehmen, und bisweilen sind Landtage nur anfangs von allen interessierten Inhabern des Standschaftsrechts besucht worden, whrend sodann der Landtag als Ausschußtag fortgesetzt wurde. Dieses Faktum lßt die Differenz zwischen dem stndischen Leben in seiner großen Zeit bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts und der Zeit der Stnde im Absolutismus als sehr viel geringer erscheinen als man gemeinhin meint. Zudem gewann das stndische Leben in den Kreisen und Landschaften an Bedeutung, hier wurde z. B. der Große Ausschuß gewhlt, der sehr wohl auch zu Steuerbewilligungen berechtigt war; dessen Sitzungen waren auch kostengînstiger und zudem effektiver als große Landtage, bei denen, etwa 1602, angeblich weit mehr als tausend Teilnehmer in Berlin erschienen und sich dort auch unterhalten mußten.181 Um 1600 wurden rund 1.000 „Junker“ in der Kurmark gezhlt, der einflußreichste Stand, d. h. derjenige der Inhaber der nach 1650 krftig gefestigten Herrengewalt im Lande. Deshalb ist es zutreffend, die Stnde schließlich als die „Gesamtheit aller Ortsobrigkeiten“ anzusehen.182 Sie waren es letztlich, die die Organisation der Stnde trugen und denen Hintersassen die Steuern aufzubringen hatten, die bewilligt wurden. Die Organisation der Stnde reichte jedoch viel weiter und Gerhard (Hg.), Stndische Vertretungen in Europa im 17. und 18. Jahrhundert (= Verçffentlichungen des Max-Planck-Instituts fîr Geschichte, 27, Studies Presented to the International Commission for the History of Representative and Parliamentary Institutions, 37), Gçttingen 21974, S. 131 – 161, hier S. 138 ff. 181 S. Isaacsohn, in: UA, 10, S. 14 – 16, S. 47 ff., S. 174 – 178; Peter-Michael Hahn, Landesstaat und Stndetum im Kurfîrstentum Brandenburg whrend des 16. und 17. Jahrhunderts, in: P. Baumgart (Hg.), Stndetum … (s. Anm. 13), S. 41 – 79, hier S. 71 Anm. 31; Gînter Vogler, Absolutistisches Regiment und stndische Verfassung in Brandenburg-Preußen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Heiner Timmermann (Hg.), Die Bildung des frîhmodernen Staates – Stnde und Konfessionen (= Forum Politik, 6), Saarbrîcken-Scheidt 1989, S. 209 – 232, hier S. 210 f.; aus intensiver Kenntnis des stndischen Archivs und deshalb nach wie vor fîr diese Materie unverzichtbar: G(eorge) A(dalbert) von Mîlverstedt, Die ltere Verfassung der Landstnde in der Mark Brandenburg vornmlich im 16. und 17. Jahrhundert, Berlin 1858, S. 30 – 58; G. Heinrich, Adel … (s. Anm. 19), S. 278 f. (mit anderen Zahlen); vgl. Bernhard Landmesser, Die Stnde der Kurmark Brandenburg unter Joachim II. (1535 – 1571), rechts- und staatswiss. Diss. Kiel, Borna/Leipzig 1929, S. 52 ff. (Ausschîsse); H. Croon, Landstnde … (s. Anm. 52), S. 8 ff.; fîr die Materie grundlegend die Studie des HintzeMitarbeiters Martin Hass, Die kurmrkischen Stnde im letzten Drittel des sechzehnten Jahrhunderts (= VerçffVGBrandenb), Mînchen/Leipzig 1913, S. 9 f., S. 17 – 44; zum Zsurcharakter von 1653 vgl. P. Baumgart, Kurmrkische Stnde … (s. Anm. 180), S. 143 f. 182 M. Hass, Stnde … (s. Anm. 181), S. 9 (um 1600).

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tiefer als nur zu Kreis- und Landtagen beziehungsweise zu den gewhlten Ausschîssen. Diese standen an der Spitze einer eigenen Landesorganisation, fîr die man den Begriff der Verwaltung vielleicht schon seit dem 16. Jahrhundert wagen darf. Im Stnde-, d. h. im Landschaftshaus, hatte sie ihr Zentrum, hier wurden die diversen Kassen und die Registratur gefîhrt, hier hatte das stndische Kreditsystem seinen Sitz. Von hier aus wurde das stndische Personal im Lande angeleitet, die Kassierer, die Gegenschreiber, die Einnehmer und Exekutoren.183 Mochten die Stnde auch in der Tat kein geregeltes Mitspracherecht in Sachen der Landesgesetzgebung besitzen, so hatten sie doch auch auf diesem Felde Mçglichkeiten der Einflußnahme, so etwa wenn sie um 1650 Vorlagen erarbeiteten, die dann im Geheimen Rat mit den Stnden beraten wurden. Mit dem ersten Jahrzehnt des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm ging gewiß eine Phase stndischen Lebens zuende, die durch einen Bedeutungsgewinn nichtabsolutistischer Faktoren in der brandenburgischen Politik gekennzeichnet war. Der Landtag von 1652/53, der nur anfangs ein eigentlicher Vollandtag gewesen ist und auf dem es zu der zitierten Verschrfung der die „Leibeigenschaft“ betreffenden Bestimmungen kam,184 bildet eine relative Zsur in der politischen Strukturgeschichte Brandenburg-Preußens. Die außenpolitische Lage tritt an dieser Stelle in ihrer innenpolitischen und strukturverndernden Wirkung plastisch vor Augen. Zum einen ging es um die Bemîhung des Kurfîrsten, zur Sicherung seiner hinterpommerschen Neuerwerbung Steuern, d. h. die Kontribution, bewilligt zu bekommen. Zugleich schwang aber bei diesem Petitum um Bewilligungen zum Zwecke militrischer Rîstungen auch die Erinnerung an die Hilflosigkeit im Dreißigjhrigen Kriege mit, da wie der Kurfîrst den Geheimen Rten in Erinnerung rief, „noch unvergessen, in was elendem Zustande diese Lande in annis 1637, 38, 39 und 40 sich befunden, also gar, daß ohn Entsetzen 183 Exemplarisch M. Hass, Stnde … (s. Anm. 181), S. 227 – 297; B. Landmesser, Die Stnde … (s. Anm. 181), S. 67 – 74, S. 238 – 260; wichtige Einblicke ergab die Beschftigung mit der reichen neumrkischen stndischen Archivîberlieferung, vgl. Wolfgang Neugebauer, Die neumrkischen Stnde im Lichte ihrer Ttigkeit, in: Margot Beck / Wolfgang Neugebauer, Neumrkische Stnde (Rep. 23 B) (= Quellen, Findbîcher und Inventare des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 9), Frankfurt am Main u. a. 2000, S. XVII-LXXIX, hier S. XXIV ff., S. XLVIII ff., und passim; vgl. auch Gustav Schmoller, Die Epochen der preußischen Finanzpolitik bis zur Grîndung des deutschen Reiches, zuerst 1877, wieder in: Ders., Umrisse und Untersuchungen … (s. Anm. 176), S. 104 – 246, hier S. 135; vgl. auch S. Isaacsohn, in: UA, 10, S. 11 f.; zur Entwicklung im 17. und 18. Jahrhundert siehe auch die Vortragsnotiz von Melle Klinkenborg in den ForschBrandPrG 27 (1914), Sitzungsberichte S. 11 f.; zu den stndischen Einwirkungsmçglichkeiten der Landstnde vgl. treffend G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 30 f., dessen Gesamtdarstellung aus frîhen Quellenstudien viele Beobachtungen enthlt, die auch heute noch die Forschung vor Regressionen bewahren kçnnen. 184 S. Anm. 162/163; Verlauf: S. Isaacsohn, in: UA, 10, S. 174 – 178.

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und Grauen bald nicht daran zu gedenken stînde“.185 Etwas Militr mîsse auch dann, wenn keine Kmpfe drohten, bereitstehen. Zumal „etwas Reuterei“, so Friedrich Wilhelm aus Kleve im Mrz 1652, „mîßte des Landes eigenen Sicherheit halber beibehalten werden“. Das klang bereits nach dem Prinzip eines kleinen miles perpetuus, d. h. des stehenden Heeres. Die Besttigung der Privilegien und die Ausweitung vor allem im Bereich des lndlichen Sozialrechts und der Privilegien der Stadtmagistrate war der Preis dafîr, daß die Stnde trotz aller Bedenken gegen militrische Rîstungen nun auf sechs Jahre eine Bewilligung aussprachen. Insgesamt wurden 530.000 Taler zugestanden.186 Freilich ist die Entwicklung îber den Rezeß von 1653 in seinen finanziellen, resp. militrpolitischen Teilen rasch hinweggegangen. Die Stnde haben die Bewilligung bald erweitert, und der Kurfîrst ist dann seinerseits îber die zugestandene Grenze hinausgegangen und hat weitere Steuern im Krieg ohne Bewilligung erhoben,187 bisweilen auch mit militrischer Exekutionsgewalt eingetrieben. Dies wîrde „postulante necessitate“ geschehen, so ist den protestierenden Stnden gegenîber argumentiert worden, und wieder wurde daran erinnert, „was in annis 36, 37 und 38 bis 39 aus dringender Noth geschehen mîssen“.188 Allerdings ist es unrichtig, aus diesen in den Zeiten des ersten Nordischen Krieges ergriffenen Zwangsmaßnahmen auf die Ausschaltung der Stnde zu schließen, zumal in den kurfîrstlichen Quellen etwa vom Jahre 1659 wieder von einem „ausgeschriebenen Landtag“ die Rede ist, auf dem Friedrich Wilhelm îbrigens gegenîber den stndischen Beschwerden grundstzlich „so viel immer mçglich, gndigste Verordnung ergehen lassen“ wollte.189 Fîr die politischen Verhltnisse, wie sie sich nun in Brandenburg-Preußen ausbildeten, ist noch wichtiger, daß sich 1662 die brandenburgischen Stnde zu einer zeitlich nicht begrenzten Bewilligung bereitgefunden haben – îbrigens nachdem ihnen „bei der uns gn. gestatteten Audienz gewahr werden mîssen, daß E. Ch. D. sich îber unsre gehors[amste] Proposition in etwas alteriret“ 185 UA, 10, S. 223 ff.; O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 4, S. 508 (Zitat), Nr. 414, das Folgende S. 511. 186 UA, 10, S. 274 f.; Wilhelm Altmann (Hg.), Ausgewhlte Urkunden zur Brandenburgisch-Preussischen Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte. Zum Handgebrauch zunchst fîr Historiker, 1, Berlin 21914, S. 81 – 111, bes. S. 110, Nr. 36 (1653); Christoph Fîrbringer, Necessitas und libertas. Staatsbildung und Landstnde im 17. Jahrhundert in Brandenburg (= Erlanger historische Studien, 10), Frankfurt am Main/Bern/New York (1985), S. 149 – 166; F. L. Carsten, Entstehung … (s. Anm. 160), S. 155 ff.; Ders., Junker … (s. Anm. 163), S. 34 f.; F. Holtze, Brandenburg … (s. Anm. 129), S. 74 f.; und E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 26), 1, S. 260. 187 K. Breysig, Staatshaushalt … (s. Anm. 87), S. 452 – 454; UA, 10, S. 303 f. 188 O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 5, S. 93, Nr. 75. 189 O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 6, S. 3, Nr. 2, Geheimratsprotokoll vom 1./10. Dezember 1659.

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hatten.190 Friedrich Wilhelm hat also in die entscheidenden Verhandlungen dieses Jahres sehr persçnlich und durchaus wirkungsvoll eingegriffen. Fortan wurden, und zwar ausdrîcklich fîr den Unterhalt von Soldaten auch in Friedenszeiten, monatlich 20.000 Taler bewilligt. Und doch hat auch dieser Schritt, der natîrlich dem Kurfîrsten durch stetige Steuereinkînfte eine gute Position verschaffte, die Stnde nicht etwa ausgeschaltet. In den 1660er Jahren haben sie fîr einige Zeit das brandenburgische Mînzwesen, d. h. die Prgung und Geldausgabe in den Hnden gehabt und selbst betrieben.191 Wiederholt haben sie sich in den kommenden Jahrzehnten gegen unbewilligte Steuern verwahrt. Unter Kurfîrst Friedrich III., kurz vor 1700, sind stndische Bewilligungen fçrmlich erfolgt, und zwar solche Summen, die îber den einmal zugestandenen Grundbetrag als Extraordinarium hinausgingen. Hier hat noch Jahrzehnte nach 1653/62 ein Steuerbewilligungsrecht der Stnde existiert, und diese haben auch die Art und Weise der Aufbringung bestimmen und in der Hand behalten kçnnen. Nach 1700 haben kurfîrstliche „Behçrden“ bei den Stnden, d. h. der Landschaft Kredite aufgenommen.192 Wir halten fest: Das Verhltnis von Staat und Stnden war nach 1653 durchaus nicht ein fîr allemal entschieden. Dies gilt nicht nur fîr die mittleren Provinzen. In der Mark Brandenburg und auch in Pommern war von einer Teilnahme von Bauern in der stndischen Partizipationsorganisation keine Rede.193 Aber im Herzogtum Preußen war das Prinzip adelsstndischer Exklusivitt (angereichert allenfalls durch Vertreter der stdtischen Ratsoligarchien) weniger deutlich ausgeprgt. Gewiß waren auch im Herzogtum Preußen die Ritter und die Herren die eigentlich tonangebenden Elemente in der Landes- und Stndeorganisation. Aber in den Kreisen (hier ja Hauptmter genannt) haben nichtadlige Landbesitzer bis zum Ende des 17. Jahrhunderts und dann verstrkt im ausgehenden 18. Jahrhundert durchaus eine Mçglichkeit der Artikulation besessen. Es handelt sich dabei vor allem um die nach dem Kulmischen Recht benannten Kçlmer, die zusammen mit den Freien ein erbliches Besitz- und Nutzungsrecht an ihren Gîtern besaßen. Im çstlichen Preußen gab es also zwischen den Bauern 190 UA, 10, S. 503 (6./16. Januar 1662), Bewilligung: S. 488 – 508; K. Breysig, Staatshaushalt … (s. Anm. 87), S. 455 ff.; F. Wolters, Finanzen … (s. Anm. 132), S. 293. 191 F(riedrich) Freiherr von Schroetter, Die Berliner Mînzprgung der mrkischen Stnde, in: ForschBrandPrG 31 (1919), S. 401 – 409, hier S. 401 – 404, S. 408; A. W. Prinz von Preußen, Kommissariatsbehçrden … (s. Anm. 97), S. 14; Friedrich Freiherr von Schroetter, Das Mînzwesen Brandenburgs whrend der Geltung des Mînzfußes von Zinna und Leipzig, in: HohenzJb 11 (1907), S. 63 – 74, hier S. 64. 192 UA, 10, S. 485 ff.; 1696: Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Rep. 23 A, B 60; Karl Freiherr von Ledebur, Kçnig Friedrich I. von Preußen. Beitrge zur Geschichte seines Hofes, sowie der Wissenschaften, Kînste und Staatsverwaltung seiner Zeit, Leipzig 1878, S. 467 f.; Carl Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. Kçnig in Preußen. Eine Biographie. Jugend und Aufstieg, Hamburg 21943, S. 439. 193 Vergleichend M. Hass, Stnde … (s. Anm. 181), S. 8 f.

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und dem Adel eine Schicht mit politischen Berechtigungen, was dem Adel hier einiges von seiner Exklusivitt nahm.194 Nach Zahlen des 18. Jahrhunderts besaß diese Gruppe in Ostpreußen „fast ein Fînftel des gesamten landwirtschaftlich genutzten Bodens“, sie umfaßte mit Familienangehçrigen „rund 12 Prozent der gesamten lndlichen Bevçlkerung“.195 Diese Gruppe also konnte zunchst unangefochten bis in die 1680er Jahre an den Amtstagen teilnehmen und dort stndische Aktivrechte wahrnehmen, indem sie an der Deputiertenwahl zum Landtag mitwirken. Diese „Landboten“ aus den Hauptmtern mußten freilich aus dem Adel genommen werden, doch an der Erteilung der Instruktion waren die Kçlmer, Freien, Schulzen etc. in spezifischer Weise beteiligt. Die ostpreußischen Landtage waren also keine Plenarversammlungen aller Inhaber von Standschaftsrechten, sondern stets Deputiertenlandtage, bestehend aus der Kurie des Herrenstandes und der „Landrte“, zweitens der Kurie von Ritterschaft und (sonstigem) Adel und drittens der Stdte; unter diesen hatten die drei Kçnigsberger Stdte das entscheidende Gewicht.196 Auch im Herzogtum Preußen waren die stndischen Vertreter nicht Inhaber eines freien Mandats; vielmehr kam die Spezifik stndischer Partizipation vormoderner Prgung darin zum Ausdruck, daß die Landboten zumeist an Instruktionen ihres Wahlkçrpers, also ihres Standes beziehungsweise ihres besonderen Hauptamtes gebunden waren. 194 W. Neugebauer, Politischer Wandel … (s. Anm. 18), S. 40 ff., S. 93 ff.; wichtig August Freiherr von Haxthausen, Die lndliche Verfassung in den Provinzen Ost- und Westpreußen, Abt. 1 und 2 (= Die lndliche Verfassung in den Provinzen der preußischen Monarchie, 1), Kçnigsberg 1839, S. 185 ff., S. 192 – 198, S. 204 f.; R. Stein, Umwandlung … (s. Anm. 170), 1, S. 69, S. 136 ff., S. 155 ff.; A. Kern, Beitrge … (s. Anm. 171), S. 181 ff. 195 Gerhard Czybulka, Die Lage der lndlichen Klassen Ostdeutschlands im 18. Jahrhundert (= Beitrge zum Geschichtsunterricht, 15), Braunschweig 1949, S. 59; Hanna Schissler, Preußische Agrargesellschaft im Wandel. Wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Transformationsprozesse von 1763 bis 1847 (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft, 33), Gçttingen 1978, S. 81; stndische Teilhabe: W. Neugebauer, Politischer Wandel … (s. Anm. 18); Herbert Helbig, Ordenstaat, Herzogtum Preußen und preußische Monarchie, in: R. Dietrich (Hg.), Preußen … (s. Anm. 163), S. 1 – 30, hier S. 22; F. L. Carsten, Entstehung … (s. Anm. 160), S. 168; wichtig Martin Spahn (Hg.), Urkunden und Actenstîcke zur Geschichte des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, 16, Teil 2: Stndische Verhandlungen III (Preussen, 2, Tl. 2), (= Urkunden und Actenstîcke zur Geschichte des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg 16/II), Berlin 1899, S. 473, S. 527, S. 553, S. 598, S. 959 ff., S. 969, S. 986, S. 1001; R. Bergmann, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 17), S. 38 – 41; und Hugo Rachel, Der Grosse Kurfîrst und die ostpreußischen Stnde 1640 – 1688 (= StaatsSozialwissForsch, 24, Heft 1, der ganzen Reihe 111. Heft), Leipzig 1905 (auch als Nachdruck: Bad Feilnbach 1990), S. 131. 196 Klassisch H. Rachel, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 195), S. 69 – 86, S. 123 – 127, Instruktion: S. 113 – 123; R. Bergmann, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 17), S. 66 – 91; A. Horn, Verwaltung Ostpreußens … (s. Anm. 20), S. 127, S. 136 – 141.

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In der ungewçhnlichen sozialen Breite der altpreußischen Partizipation kann eine auffllige Parallele zu ostmitteleuropischen Verfassungsstrukturen erkannt werden; man denke an die Verhltnisse in Polen oder auch an die Strke des ungarischen Komitatsadels bis in das 19. Jahrhundert hinein.197 Dies sind gewiß Parallelen, die ostpreußischen „Landboten“ und die Struktur des DeputiertenLandtages erinnern zudem an polnische Analogien.198 Auch im 17. Jahrhundert hat der polnische Oberlehnsherr stndische Positionen im Herzogtum Preußen gestîtzt, bisweilen auch mit Intervention gedroht. Geheime Verbindungen zwischen den preußischen Stnden und dem polnischen Reichstag hat es auch noch um 1670 gegeben. Unstrittig besaßen sie dieses Recht bis zum Vertrag von Wehlau beziehungsweise Oliva 1657/60, so wie auch die klevischen Stnde im Westen das Recht zur Hilfe aus dem „Ausland“ besaßen.199 Der Kçnigsberger Schçppenmeister Hieronymus Roth, einer der Trger des nun anbrechenden Gefechtes um die Rechte des Landes, war vom polnischen Kçnig geadelt worden.200 Als der Kurfîrst um 1660 daran ging, das çstliche Preußen unter dem Prtext der „Souvernitt“ aus den ostmitteleuropischen Libertastraditionen wenigstens ein Stîck weit herauszulçsen,201 kam es zu dem spektakulren 197 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Standschaft als Verfassungsproblem. Die historischen Grundlagen stndischer Partizipation in ostmitteleuropischen Regionen. Mit einem Geleitwort von Klaus Zernack, Goldbach 1995, passim; vgl. ferner Wolfgang Neugebauer, Raumtypologie und Stndeverfassung. Betrachtungen zur vergleichenden Verfassungsgeschichte am ostmitteleuropischen Beispiel, in: Joachim Bahlcke, u. a. (Hg.), Stndefreiheit und Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa. ˜bernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur vom 16.–18. Jahrhundert (= Forschungen zur Geschichte und Kultur des çstlichen Mitteleuropa), Leipzig 1996, S. 283 – 310; zu den an frîhere Traditionen anknîpfenden Verhltnissen im spteren 18. Jahrhundert vgl. nach Akten Wolfgang Neugebauer, Zur Geschichte des preußischen Untertanen – besonders im 18. Jahrhundert, in: ForschBrandPrG NF 13 (2003), S. 141 – 161, hier S. 157 ff. 198 Otto Hintze, Staat und Gesellschaft unter dem ersten Kçnig, zuerst 1900, wieder in: Ders., Regierung und Verwaltung … (s. Anm. 54), S. 313 – 418, hier S. 324 f.; das Folgende: H. Rachel, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 195), S. 16 ff., S. 23 ff., S. 39; materialreich: WŁadysŁaw Czaplin´ski, Polska a Prusy i Brandenburgia za Władysława IV (= Prace Wrocławskiego Towarzystwa Naukowego, Seria A, Nr. 6), Wrocław 1947, S. 81 ff. 199 Eduard Hubrich, Zur Entstehung der preußischen Staatseinheit, in: ForschBrandPrG 20 (1907), S. 347 – 427, hier S. 349; Ludwig von Baczko, Geschichte Preußens, 6, Kçnigsberg 1800, S. 214; Otto Nugel, Der Schçppenmeister Hieronymus Roth, in: ForschBrandPrG 14 (1901), S. 393 – 479, hier S. 404 – 410. 200 O. Nugel, Roth … (s. Anm. 199), S. 402 f. 201 Gut gesehen bei Klaus Zernack, Polen in der Geschichte Preußens, in: Otto Bîsch (Hg.), Handbuch der preussischen Geschichte, 2: Das 19. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens, Berlin/New York 1992, S. 377 – 338, hier S. 414; Wolfgang Neugebauer, Staatliche Einheit und politischer Regionalismus. Das Problem der Integration in der brandenburg-preußischen Geschichte bis zum Jahre 1740,

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Eklat auf dem „Langen Landtag“ von 1661 bis 1663202 mit der Verhaftung Roths und manch dramatischer Szene. Dabei haben die ostpreußischen Stnde im Kampf um die Landesfreiheiten mit sehr modernen Argumenten gefochten, haben mit naturrechtlichen Theorien, auch mit der Vertragslehre ihrer Zeit gearbeitet und sich auf Hugo Grotius berufen, bemerkenswert fîr das europische Bildungsniveau der ostpreußischen Stndepolitiker in der Zeit des Konfliktes mit dem Kurfîrsten-Herzog.203 Allerdings dîrfen diese Ereignisse ebenso wenig wie die Entfîhrung und Hinrichtung (1672) des Christian Ludwig von Kalckstein, der auf eigene Faust seine guten polnischen Familienverbindungen gegen den hohenzollernschen Landesherrn zu verwenden suchte,204 darîber hinwegtuschen, daß derartige Gewaltmaßnahmen fîr das stndisch-fîrstliche Verhltnis eher untypisch waren, auch in den in dieser Hinsicht besonders sensiblen Außenposten des Gesamtstaates. Zu Recht hebt Ernst in: Wilhelm Brauneder (Hg.), Staatliche Vereinigung: Fçrdernde und hemmende Elemente in der deutschen Geschichte. Tagung der Vereinigung fîr Verfassungsgeschichte in Hofgeismar vom 13.3.–15. 3. 1995 (= Beihefte zu „Der Staat“, 12), Berlin (1998), S. 49 – 87, hier S. 70; S. und H. Dolezel, Staatsvertrge … (s. Anm. 8), S. 182 – 192, bes. S. 186 f., Bromberg: S. 197 – 206; vgl. schon Carl Friedrich Pauli, Allgemeine preußische Staats-Geschichte des dazu gehçrigen Kçnigreichs, Churfîrstenthums und aller Herzogthîmer, Fîrstenthîmer, Graf- und Herrschaften aus bewhrten Schriftstellern und Urkunden bis auf gegenwrtige Regierung, 5, Halle 1764, S. 78 ff.; schließlich T. v. Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 239 – 251. 202 Zur Quellenlage vgl. Janusz MaŁŁek, Eine andersartige Lçsung. Absolutistischer Staatsstreich in Preussen im Jahre 1663, in: Parliaments, Estates and Representation, 10, Nr. 2 (1990), S. 177 – 187, hier S. 178 ff., Verlauf: S. 182 ff.; Ernst Opgenoorth, „Nervus rerum“. Die Auseinandersetzungen mit den Stnden um die Staatsfinanzierung, in: Gerd Heinrich (Hg.), Ein sonderbares Licht in Teutschland. Beitrge zur Geschichte des Großen Kurfîrsten von Brandenburg (1640 – 1688) (= ZHF, Beiheft 8), Berlin 1990, S. 99 – 111, bes. S. 103 f.; Ders., Herzog Friedrich Wilhelm? Das Herzogtum Preussen unter dem Großen Kurfîrsten, in: Udo Arnold (Hg.), Preußen und Berlin. Beziehungen zwischen Provinz und Hauptstadt (= Schriftenreihe Nordost-Archiv, 22. Tagungsberichte der Historischen Kommission fîr ost- und westpreußische Landesforschung, 2), Lîneburg 1981, S. 83 – 97, hier S. 89 ff.; Ders., Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 27 – 36; wichtig noch F. L. Carsten, Preußen … (s. Anm. 160), S. 172 ff., und H. Rachel, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 195), S. 25 – 36; Emil Richard Mertens, Der Oberprsident Otto von Schwerin auf dem Großen Landtage in Ostpreußen (1661/1662), phil. Diss. Halle/Wittenberg 1914, S. 37 ff., S. 56 – 59, S. 68; L. v. Baczko, Preußen … (s. Anm. 199), 5, S. 311 – 351, mit wichtigem Material. 203 H. Rachel, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 195), S. 13. 204 Josef Paczkowski, Der Große Kurfîrst und Christian Ludwig von Kalckstein, in: ForschBrandPrG 2 (1889), S. 407 – 513, und 3 (1890), S. 419 – 463, hier im 1. Teil, S. 411 – 513, bes. S. 412 ff., S. 453 – 496 (Polen), und passim; George Adalbert von Mîlverstedt (Bearb.), Urkundenbuch zur Geschichte und Genealogie des Geschlechts von Kalckstein. Im Auftrage der Familie bearbeitet, Magdeburg 1906, S. 192 ff.; E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 115 ff., und schließlich G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 59.

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Opgenoorth den Kompromißcharakter der Stndepolitik des Kurfîrsten-Herzogs hervor. Bei aller Betonung des fîrstlichen Primats habe auch Friedrich Wilhelm doch grundstzlich die îberkommene politische Ordnung akzeptiert, auch gegenîber den organisierten Stnden. Lediglich in der Außenpolitik habe er den Primat beansprucht, und deshalb ergab sich in Bezug auf Heeresausbau und die dafîr erforderlichen Mittel ein sensibler Bereich. Soweit die Stnde auf diesem Gebiet zum Kompromiß bereit waren, konnten sie Gestaltungsspielrume und politische Teilhabe sehr wohl nutzen.205 Am Ende des langen ostpreußischen Landtages stand der Kompromiß, kodifiziert in der Assekuration vom Mrz und im Abschied vom Mai des Jahres 1663.206 Auch nach diesem Jahre „bestanden die stndischen Rechte wie vorher weiter“ (Rachel), und obwohl in der neuerlichen Kriegslage der siebziger Jahre unbewilligte Steuern ausgeschrieben wurden, haben Landtage noch vierzig Jahre lang nach 1663 stattgefunden. Der „Landkasten“ als Zentrum der stndischen Finanzorganisation hat bis in das frîhe 18. Jahrhundert, bis in die Anfangszeit Friedrich Wilhelms I. bestanden. Wie es scheint, haben die Stnde selbst in der zweiten Hlfte des 17. Jahrhunderts das Interesse am traditionellen Instrument der Landtage ein Stîck weit verloren, zumal das Bewilligungsrecht seine alte Bedeutung nicht mehr besaß.207 Der brandenburgische Rezeß von 1653, die ostpreußischen Grundgesetze von 1663 und der Rezeß fîr Kleve aus dem Jahre 1660 gehçren typologisch zusammen.208 Seit 1660 unterhielten die Stnde von Kleve-Mark keine eigenen auswrtigen Beziehungen mehr, wie sie sie frîher etwa nach Den Haag oder Wien gepflegt hatten.209 Im Westen, wo es zwar durchaus massivere adlige Besitzungen, aber keine gutsherrschaftliche Bindung der Bauern gab, vielmehr Freie und Eigenbehçrige auf Erbentagen, nicht aber auf den Landtagen erschienen, hat es unter dem Großen Kurfîrsten gleichfalls einen Eklat gegeben. 205 E. Opgenoorth, Herzog … (s. Anm. 202), S. 84 f.; Ders., Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 21. 206 Druck bei L. v. Baczko, Preußen … (s. Anm. 199), 5, S. 489 – 496, der Abschied vom 1. Mai: S. 497 – 503; (Johannes Voigt), Geschichtliche Notizen îber den HerrenStand, die Assecurations-Akte und das Donativ. Fîr den Preussischen Landtag, welcher am 5. September 1840 erçffnet wird, Kçnigsberg 1840, S. 40; E. Opgenoorth, Herzog … (s. Anm. 202), S. 90 f.; das folgende Zitat bei H. Rachel, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 195), S. 39. 207 W. Neugebauer, Politischer Wandel … (s. Anm. 18), S. 59; L. v. Baczko, Preußen … (s. Anm. 199), 5, S. 429 ff., S. 439 ff., und in 6, S. 179 ff., S. 316 ff.; nach wie vor sehr wertvoll die aus Akten geschçpfte Darstellung von Johannes Voigt, Darstellung der stndischen Verhltnisse Ost-Preußens, vorzîglich der neuesten Zeit, Kçnigsberg 1822, S. 20 ff.; R. Bergmann, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 17), S. 43, S. 92 ff., S. 181 f.; O. Hintze, Erster Kçnig … (s. Anm. 198), S. 327 f. 208 P. Baumgart, Kurmrkische Stnde … (s. Anm. 180), S. 136. 209 O. Hçtzsch, Stnde und Verwaltung … (s. Anm. 178), S. XIV.

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Das war die Verhaftung eines stndischen Gesandtschaftsmitgliedes, des Herrn von Wilich zu Winnenthal, als dieser gerade von einer Mission an den Kaiserhof zurîckkehren wollte, wo man Beschwerden gegen den Landesherrn und seine Steuern erhoben hatte; dieser Konflikt erfîllte die Jahre 1654/56. Auch hier, wo freilich eine Partei unter den Stnden schon frîh auf Seiten des Hohenzollern stand, hat der Rezeß von 1660/61 maximale stndische Positionen nicht wiederholt, aber das Steuerbewilligungsrecht und die Wahrung des Indigenatsrechts sehr wohl besttigt.210 Mit dieser Ausstattung erreichten sie das 18. Jahrhundert. Unter dem Großen Kurfîrsten ist eine wachsende Bereitschaft der Stnde, den Monarchen sogar zu unterstîtzen, in Kleve und Mark festzustellen, zumal sie sich an Themen der hohen Politik wenig interessiert zeigten. Umgekehrt hat der Kurfîrst zwar immer mehr Entscheidungen nach Berlin (Potsdam) gezogen, aber seinerseits auf die Wahrung stndischer Rechte, auch und gerade des Bewilligungsrechts geachtet. Dies gilt auch fîr seinen Nachfolger nach 1688.211 Weder hat es eine geschlossene Stndeopposition in den verschiedenen Territorien gegeben,212 noch eine Solidaritt zwischen den Oppositionsgruppen mehrerer Landschaften. In Pommern, dessen Stndestrukturen mit denen Brandenburgs starke øhnlichkeiten aufweisen213 und wo wir auf eine besonders dichte Adelslandschaft stoßen, ist es 1654 zu einer Verbesserung stndischer Positionen gekommen. Auseinandersetzungen gab es hier nach 1660 wegen der Stellung der Kalvinisten; im Ganzen war die Linie des Monarchen auf bemerkenswerte Schonung der landschaftlich-stndischen Traditionen einge-

210 E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 1, S. 271 – 277; F. L. Carsten, Preußen … (s. Anm. 150), S. 186 – 198; Quelle: Johann Josef Scotti (Hg.), Sammlung der Gesetze und Verordnungen, welche in dem Herzogthum Cleve und in der Grafschaft Mark îber Gegenstnde der Landeshoheit, Verfassung, Verwaltung und Rechtspflege ergangen sind, vom Jahr 1418 bis zum Eintritt der kçniglich preußischen Regierung im Jahre 1816. Im Auftrage des kçniglich preußischen hohen Staats-Ministeriums zusammengetragen, 1, Dîsseldorf 1826, S. 337 (Rezeß vom 14. August 1660 – Indigenat); E. Opgenoorth, Stnde im Spannungsfeld … (s. Anm. 178), S. 247, S. 252 f.; E. Bammel, Dîsseldorf … (s. Anm. 37), S. 10; Ludwig Tîmpel, Die Entstehung des brandenburgisch-preußischen Einheitsstaates im Zeitalter des Absolutismus (1609 – 1806) (= Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Alte Folge, 124), Breslau 1915, ND Aalen 1965, S. 39, S. 54; F. Hartung, Westliche Provinzen … (s. Anm. 127), S. 419. 211 O. Hçtzsch, Stnde und Verwaltung … (s. Anm. 178), S. 343, S. 345, S. 350 f. 212 Georg Kîntzel, ˜ber Stndetum und Fîrstentum, vornehmlich Preußens, im 17. Jahrhundert, in: Beitrge zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. Festschrift zu Gustav Schmollers 70. Geburtstag, hg. vom Verein fîr Geschichte der Mark Brandenburg, Leipzig 1908, S. 101 – 152, hier S. 147; P. Baumgart, Kurmrkische Stnde … (s. Anm. 180), S. 135. 213 M. Hass, Stnde … (s. Anm. 181), S. 9.

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stellt.214 Allerdings hatte der Westflische Frieden ausdrîcklich festgesetzt, daß Kurbrandenburg in denjenigen Gebieten, die in Folge des Westflischen Friedens anfielen, die Rechte der Stnde und Untertanen unangetastet lassen mußte.215 In der Tat sind sowohl Halberstadt und Minden als vormalige Fîrstbistîmer und nunmehrige Fîrstentîmer sehr vorsichtig in den brandenburg-preußischen Staatsverband eingefîgt worden, nur, daß die Domkapitel nicht mehr als erster kooperativer Teil der Landesherrschaft, sondern als erster Landstand erhalten blieben. Auch hier war der Konsens das Prinzip staatlicher Integration, wobei der Landesherr seinen Einfluß in der Steuerverwaltung ausbaute, ohne im 17. Jahrhundert die Stnde daraus zu verdrngen. Hier wie auch im Erzstift (und seit 1680 Herzogtum) Magdeburg waren die Germania-sacraTraditionen im 17. und im 18. Jahrhundert dadurch lebendig, daß Prlaten den ersten Landstand bildeten. An Stelle der Landtage hat auch hier eine differenzierte und mit dem Land vernetzte Ausschussorganisation bestanden. Neue Steuern wurden nach Verhandlungen mit den Stnden in den Jahren 1685/86 eingefîhrt, die auch (seit 1692) im Magdeburger Obersteuerdirektorium Sitz und Stimme, ja das Mandat hatten, dort deshalb zu wirken, weil der Kurfîrst auf keinen Fall die Stnde aus den Landes-„Negotien“ ausschließen wollte.216 214 Gerd Heinrich, Stndische Korporation und absolutistische Landesherrschaft in Preußisch-Hinterpommern und Schwedisch-Vorpommern (1637 – 1816), in: P. Baumgart (Hg.), Stndetum … (s. Anm. 13), S. 155 – 169, bes. S. 156 f., S. 159 ff.; Ders., Adel … (s. Anm. 19), S. 294 ff.; Martin Wehrmann, Geschichte von Pommern (= Allgemeine Staatengeschichte, 3. Abt., 5. Werk), 2, Gotha (1)1906, S. 160 f.; Organisationsdetails bei O. Hintze, Erster Kçnig … (s. Anm. 198), S. 352 f. 215 IPO, Art X, § 16, Art. XI, § 11, bei K. Mîller (Hg.), Instrumenta Pacis … (s. Anm. 143), S. 142 f.; Anton Schindling, Die Anfnge des Immerwhrenden Reichstags zu Regensburg. Stndevertretung und Staatskunst nach dem Westflischen Frieden (= VerçffInstEurG, Abt. Universalgeschichte, 143. Beitrge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reichs, 11), Mainz 1991, S. 28; Ders., Kurbrandenburg im System des Reiches whrend der zweiten Hlfte des 17. Jahrhunderts. Eine Problemskizze, in: Oswald Hauser (Hg.), Preußen, Europa und das Reich (= NFBPG, 7), Kçln/Wien 1987, S. 33 – 46, hier S. 41 f. 216 W. Neugebauer, Magdeburg, Halberstadt, Minden … (s. Anm. 55), S. 171 – 182, und die Materialien S. 191 – 201; Karl Spannagel, Minden und Ravensberg unter brandenburgisch-preußischer Herrschaft von 1648 bis 1719, Hannover-Leipzig 1894, S. 19 ff.; Harald Bielfeld, Geschichte des magdeburgischen Steuerwesens von der Reformationszeit bis ins achtzehnte Jahrhundert. Nebst Aktenstîcken und statistischen Aufstellungen (= StaatsSocialwissForsch, 8, Heft 1, der ganzen Reihe 32.), Leipzig 1888, S. 124 f., S. 136 ff.; Hanns Gringmuth, Die Behçrdenorganisation im Herzogtum Magdeburg. Ihre Entwicklung und Eingliederung in den brandenburgisch-preußischen Staat, phil. Diss. Halle/Wittenberg 1934, S. 23 f., S. 29; F. Wolters, Brandenburgische Finanzen … (s. Anm. 132), S. 184; und mit wichtigen Materialen Wilhelm Anton Klewiz, Steuerverfassung im Herzogthum Magdeburg. Aus çffentlichen Quellen, 2 Bde., Posen 1795, hier 2, S. 28 – 42.

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Gerade der Magdeburger Fall aus den letzten Jahren des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm und dem ersten Jahrzehnt seines Nachfolgers zeigt schlagend, daß von einem grundstzlichen Absolutismus selbst nach vier Jahrzehnten politischer Erfahrung allenfalls mit Einschrnkungen die Rede sein kann. Die eklatanten Konflikte um Wilich, Roth und Kalckstein sind die Ausnahmen, nicht die Regel und schon gar nicht das Ende der Stnde in BrandenburgPreußen gewesen. Die Bedeutung des fîrstlich-stndischen Konsenses im 17. (und 18. Jahrhundert), und zwar îber scheinbare Brîche und laute Vorflle hinweg, beweist, daß das Nichtabsolutistische im Absolutismus auch und gerade in Brandenburg-Preußen nicht unterschtzt werden darf. Andererseits ist es unerlßlich, die politischen Strukturen des preußischen Frîhabsolutismus eingehend ins Auge zu fassen. Die wiederholte Mahnung des Kurfîrsten, daß Brandenburg-Preußen nie wieder in eine Lage kommen dîrfe, wie sie vor 1640 bestanden hatte,217 macht beispielhaft deutlich, daß die innere „Organbildung“ (Schmoller)218 letztlich als Resultat des hohen Außendrucks zu erklren ist, unter dem der Staat seit dem frîhen 17. Jahrhundert stand. Die Entwicklung von politischer Struktur und Verwaltungsorganisation ließe sich durchaus im dualistischen Wechsel von außen- beziehungsweise mchtepolitischen Druck und inneren Vernderungen beschreiben, so wie wir das schon fîr die Jahre des Dreißigjhrigen Krieges, zumal seit 1626 und in der Zeit des Grafen Schwarzenberg geschildert haben.219 In den 1650er Jahren hat der erste Nordische Krieg wesentliche Impulse zur inneren Festigung Brandenburg-Preußens freigesetzt,220 eine Entwicklung, die ebenso in der Entstehung des preußischen Heeres wie im Verfassungsaufbau verfolgt werden kann und muß. Wenn wir soeben festgestellt haben, daß im ganzen 17. Jahrhundert die Territorien Brandenburg-Preußens in stndischer Hinsicht nie eine Einheit geworden, vielmehr ein Verband von traditionsgeprgten politischen Individualitten geblieben sind, so gilt dies zunchst auch noch fîr die Struktur der landesfîrstlichen Herrschaft. Nichts deutete in den ersten Jahren seit dem Regierungsantritt des Großen Kurfîrsten darauf hin, daß sich daran etwas ndern wîrde. So wie Friedrich Wilhelm gegenîber den Landstnden an vor-absolutistische Traditionen (wenn man will: denjenigen der Vor-Schwarzenberg-Zeit) anknîpfte, so auch hinsichtlich der Organisation der eigenen Regierungsfîhrung. Der Kurfîrst Friedrich Wilhelm regierte zunchst ganz wesentlich mit und aus seinem Rat, d. h. dem 1604 begrîndeten und unter Schwarzenberg verfallenen Geheimen Rat. Dies war, wie die Quellen beweisen, auch im Interesse der 217 218 219 220

Wie oben Anm. 185 und Anm. 188. G. Schmoller, Finanzpolitik … (s. Anm. 183), S. 240. Vgl. oben bei Anm. 109 – 136. Schon K. Breysig, Staatshaushalt … (s. Anm. 87), S. 524 f.

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Stnde, die gleich 1641 die „Wiederergnzung des Geheimen Raths“221 verlangten und damit ganz offenbar ihre Interessen in der unmittelbaren Umgebung des Herrschers gut vertreten glaubten. Damit ist zugleich evident, daß die politisch organisierten Stnde sogar auf die Art und Weise, wie der Kurfîrst regierte und wie Entscheidungen in seinem unmittelbaren Umfeld vorbereitet wurden, Einfluß genommen haben. Ganz in ihrem Sinne lautete die Kurfîrstliche Resolution vom 31. Mrz 1641: „Hiernchst wollen Ihre Ch. D., allermaßen Sie allbereit damit einen Anfang gemacht, Ihren geheimbten Rath und andere Collegia mit qualifizierten Personen hinwiederum besetzen, welche Recht und Billigheit, auch des Landes Bestes in schuldige Obacht halten sollen, also dass sich die Stnde weiters zu beschweren nicht Ursach haben werden.“222 Zu den in den Geheimen Rath zurîckberufenen Personen gehçrten Angehçrige des brandenburgischen Adels wie der von Winterfeldt, aber auch der Kanzler von Gçtze, nach dessen Tod diese Stelle îbrigens nicht wieder besetzt worden ist. Daneben bestanden die aus der Phase des Landesstaats bekannten Einrichtungen der Justiz (Kammergericht), das Konsistorium und die Amtskammer fîr die landesherrlichen Domanialeinkînfte. Der Geheime Rat hatte seine Ratsstube im fîrstlichen Schloß. Er war zunchst eine brandenburgische Einrichtung, aber in der Mitte des 17. Jahrhunderts îbernahm er nun auch zunehmend gesamtstaatliche Funktionen, beriet und resolvierte auch zu den Interna außerbrandenburgischer Gebiete des Kurfîrsten. War Friedrich Wilhelm nicht in Berlin-Cçlln, so wurde er von einem Teil seiner Rte begleitet, die die wichtigsten Sachen bearbeiteten, whrend die daheimgebliebenen Kollegen die brandenburgischen Materien besorgten. War Friedrich Wilhelm an der Spree, so wurden alle Vorgnge im Rat bearbeitet, und wenn der Monarch selbst in der Ratssitzung anwesend war, so machte er persçnlich „den Schluß“. Eine feste Geschftsordnung und Verteilung gab es zunchst nicht, und natîrlich war der Monarch an das Votum der Rte nicht eigentlich gebunden.223 Nur in seiner frîhen Regierungszeit hat Friedrich Wilhelm an den Diskussionen selbst aktiv teilgenommen, spter aber hat er den Rat gleichsam als kollektives Informations- und Meinungszentrum benutzt, in dem er – bei wachsendem Gewicht persçnlicher Regierungsfîhrung – seine 221 O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 2, S. LXIII, und Ders., in 1, S. LXXX ff.; vgl. G. Oestreich, Geheimer Rat … (s. Anm. 43), S. 41. 222 UA, 10, S. 95; das Folgende bei O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 1, S. VIII, und die Quelle S. 64 f., Nr. 63; O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 190; R. Koser, Politik … (s. Anm. 34), S. 478; Samuelis de Pufendorf, De rebus gestis Friderici Wilhelmi Magni, electoris brandenburgici, commentariorum libri novendecim, (benutzt in der Ausgabe:) Leipzig/Berlin 1733, hier 1, S. 3. 223 G. Oestreich, Geheimer Rat … (s. Anm. 43), S. 46 ff., S. 50 – 54, zum Verfahren: S. 34 ff. (Zitat); O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 1, in der Einleitung S. LXXXIV f.

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eigene Entscheidung still vorbereitete. Auch bei langen Tagesordnungen war Friedrich Wilhelm anwesend, und er hat eine erhebliche Kenntnis der Details besessen, ohne in diese jedoch permanent einzugreifen, jedenfalls nicht in schriftlich nachweisbarer Form.224 Mit der Geheimen-Rats-Ordnung vom 4. Dezember 1651225 ist erstmals eine Geschftsverteilung im Sinne einer Schaffung von Departements durchgefîhrt worden. Teils nach Sachbetreffen, teils aber nach den Territorien des Gesamtstaates sollte regiert und verwaltet werden. Insgesamt 18 Departements gab es, nur reichte das Personal fîr diese Gliederung nicht aus; sie hat sich in der Praxis denn auch nicht bewhrt. Unabhngig davon sind klevische und preußische Angelegenheiten im Geheimen Rat auch nicht bereits ab 1651 bearbeitet worden. Dies ist erst seit 1654/55 der Fall gewesen.226 Wichtiger ist die Ratsordnung als Quelle fîr die Art der Entscheidungsfindung und fîr den Beratungsgang, und dieser Teil ist auch langfristig von Bedeutung geblieben. Schon die Frage, wer die einlaufenden Schriftstîcke, etwa Fîrstenbriefe, amtliche Berichte oder Bittschriften von Untertanen, erçffnete, d. h. wer davon als erster am Zentrum der politischen Macht Kenntnis erhielt, war natîrlich von sehr erheblicher Bedeutung. Diese (vor-)entscheidende Ttigkeit hat sich Friedrich Wilhelm bezeichnenderweise selbst reserviert. Um also „Unrichtigkeiten“ bei der Bearbeitung zu verhindern, „wollen Wir die einkommende Posten in Unserem Cabinet [!] erçffnen, einem oder andern Unserer Rthe zu Uns fordern und dann einem jeden, was zu seiner Expedition gehçret, einhndigen lassen“. Der jeweilige Referent îbernahm sofort die Bearbeitung und hatte in pleno den Vortrag. Es galt das Kollegialprinzip und der Grundsatz der Entscheidung nach Stimmenmehrheit. Der Kurfîrst behielt sich vor, entweder sofort selbst „oder hernach ingeheimb den Schluß [zu] machen“. War der Monarch im Rat anwesend, so hatte der jeweilige Referent in der Sache „das Directorium im Reden und Schreiben“.227 Zwçlf Geheime Rte hat es zu dieser Zeit gegeben, neun von ihnen htten theoretisch in Berlin arbeiten kçnnen, die anderen drei fungierten damals in besonderen Positionen außerhalb der Residenz. Ansonsten stand nur 224 G. Oestreich, Geheimer Rat … (s. Anm. 43), S. 31 f., auch zum Folgenden; ferner E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 26), 1, S. 36; vgl. Bernhard Erdmannsdçrffer, Graf Georg Friedrich von Waldeck. Ein preußischer Staatsmann im siebzehnten Jahrhundert, Berlin 1869, S. 75; vgl. Johann Gustav Droysen, Zur Kritik Pufendorfs, zuerst 1864, wieder in: Ders., Abhandlungen. Zur neueren Geschichte, Leipzig 1876, S. 309 – 386, hier S. 326. 225 Druck: O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 4, S. 394 – 398, Nr. 351; dazu G. Oestreich, Geheimer Rat … (s. Anm. 43), S. 107 – 115; K. Breysig, Finanzen … (s. Anm. 47), S. 19; vgl. C. W. Cosmar / C. A. L. Klaproth, Geheimer Staatsrat … (s. Anm. 44), S. 202 f. 226 L. Tîmpel, Einheitsstaat … (s. Anm. 210), S. 76 f., S. 79 ff. 227 O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 4, S. 394 f.; G. Oestreich, Geheimer Rat … (s. Anm. 43), S. 103 ff.

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noch subalternes Personal, etwa Sekretre, zur Verfîgung – das war der ganze Apparat. Das Kollegialprinzip wurde damit ein Stîck weit rationalisiert, jenes Prinzip, das in der preußischen Regierungs- und Verwaltungsorganisation bis zu den Reformen zumal des Staatskanzlers Hardenberg ganz entscheidend dominierte. Solange jeder Amtstrger beziehungsweise Minister in das Kolloquium eingebunden und dem Majorittsprinzip unterworfen war, solange war es zumindest schwer, gleichsam als Premier eine îberragende Stellung – so wie einst Schwarzenberg – zu erlangen. Der Große Kurfîrst war aber „der erste, und man muß hinzufîgen, der einzige konsequente, Vertreter einer echten Ratsregierung im Hohenzollernstaat“. Zuletzt hat er 1688, zwei Tage vor seinem Tod, an einer Sitzung teilgenommen. Natîrlich hat sich Friedrich Wilhelm, bei aller Betonung der eigenen Entscheidungshoheit, in Anwesenheit hochrangiger Diskutanten auch mancherlei Einflußnahmen ausgesetzt.228 Dies ist wichtig festzuhalten, obwohl 1651 erstmals der Begriff des Kabinetts entgegentritt, der im 18. Jahrhundert dann einen ganz anderen Typus monarchisch-autokratischer Regierungsfîhrung bezeichnet, bei der sich die Kçnige den Einflîssen kollegialischer Einbindung gerade nicht mehr aussetzten. In dem sogenannten politischen Testament von 1667 hat er seinem Nachfolger seine Herrschaftstechnik genau beschrieben: „Im Radt horet fleißig zu“, man mache sich Notizen, nehme nochmals die Protokolle der Sitzungen zur Hand, aber man „concludire“ gerade die wichtigen Sachen dort nicht; „lasset nochmals einen oder den andern geheimen Radt, vndt einen Secretarium zu Euch kommen, vberleget nochmals alle Votta, So da gefîhret worden sein, vndt resolviret darauff“.229 Die Kammer des Fîrsten, nun modern „Kabinett“ genannt, konnte also noch von Geheimen Rten betreten werden. Rats- und Kammerregiment sind hier kombiniert, der Monarch hat sich noch nicht aus dem persçnlichen Kontakt mit einflußreichen und zum Teil auch sozial hochgestellten Amtstrgern gelçst. Zur Herrschaftstechnik gehçrte fîr Friedrich Wilhelm integral die Personalpolitik, die nun auch in die Rekrutierungsmechanismen brandenburg-preußischer Fîhrungsschichten in der zweiten Hlfte des 17. Jahrhunderts Einblick gewhrt. Besondere Sorgfalt gerade in dieser Hinsicht hat Friedrich Wilhelm gefordert. Die geeigneten Personen fîr Ratspositionen sollten im In- und Ausland gesucht werden, primr unter Angehçrigen der reformierten Konfession. Sehr bewußt wurde darauf geachtet, daß diese ministergleichen Amtstrger in Abhngigkeit vom Monarchen standen. Einen îberragenden Mann, wie es unter dem Vorgnger der Graf Schwarzenberg gewesen war, sollte es auf keinen 228 H. O. Meisner, Monarchische Regierungsform … (s. Anm. 44), S. 226. 229 G. Kîntzel / M. Hass (Hg.), Politische Testamente … (s. Anm. 136), 1, S. 49 f.; vgl. auch die Interpretation bei H. O. Meisner, Monarchische Regierungsform … (s. Anm. 44), S. 227.

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Fall mehr geben. „Nur huttet Euch, das Ihr einen diener alleine, nicht zu gros machet vndt ihme alle autoritet alleine lasset“ – Es sollte „keine favoritten“ geben, diese seien nur zum Schaden des Herren, sie „steigen entlich auch dem herren selbsten vber das haubt“. Zudem kçnnten sich die Familien solcher îberragender Mnner „im lande … leicht einen anhang machen“, was wiederum zum Zusammenschluß von Gegenparteien fîhre, „vndt ist diesses furnehmlich in Preussen woll zu beobachten“.230 Tatschlich war im ersten Jahrzehnt des Kurfîrsten mit dem Militr und Oberkammerherrn von Burgsdorff ein mrkischer Adliger von besonderem Einfluß, neben dem Kanzler von Gçtze (bis Dezember 1650). Burgsdorffs Sturz war ganz wesentlich das Werk der Kurfîrstin, wie îberhaupt die Monarchinnen stets potentielle Rivalinnen allzu mchtiger Minister gewesen sind. In diese Stelle rîckte freilich zunchst mit dem Grafen Waldeck derjenige Mann ein, unter dessen øgide die Ratsordnung von 1651 entstanden ist. Sein Sturz ist gleichfalls von der Kurfîrstin ganz wesentlich mitbetrieben worden. Waldecks Abgang im Jahre 1658 steht aber bereits im Vorzeichen einer außenpolitischen Umorientierung, derjenigen eines sich anbahnenden Anschlusses an den Kaiser, whrend Waldeck – selbst ein kleiner regierender Herr – eine Politik der Distanz zur Hofburg vertreten hatte, also ein „Auslnder“ war mit – ganz wie Schwarzenberg – großen Integrationsproblemen innerhalb der brandenburg-preußischen Eliten. Sein Nachfolger, der Kalvinist Otto von Schwerin, wurde 1658 Oberprsident des Geheimen Rates, d. h. titelmßig erster Minister, doch hat er angesichts immer deutlicherer autokratischer Neigungen des Monarchen einen durchgreifenden, îberragenden politischen Einfluß nicht besessen. Fortan fîhrte ein nachhaltiger außenpolitischer Kurswechsel des Kurfîrsten auch zu einem Wechsel der primren Ratgeber, so etwa – um noch zwei einflußreiche Rte zu erwhnen – im Jahre 1680, beim Anschluß an Frankreich, weg von Franz von Meinders hin zu dem geistesund religionsgeschichtlich ungemein interessanten Paul von Fuchs, ein Mann des modernen Naturrechts, bîrgerlicher Herkunft.231 230 G. Kîntzel / M. Hass (Hg.), Politische Testamente … (s. Anm. 136), 1, S. 48 f. 231 O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 182 f., S. 189 f., S. 198 ff.; K. Spannagel, Burgsdorff … (s. Anm. 112), passim, bes. S. 220 f.; zu Waldeck nach wie vor die Monographie von B. Erdmannsdçrffer, Waldeck … (s. Anm. 224), bes. S. 51 – 54; vgl. Gerhard Menk, Georg Friedrich von Waldeck (1620 – 1692) (= Waldecksche Historische Hefte, 3), (Arolsen 1992), S. 21 ff.; Ernst Opgenoorth, „Auslnder“ in Brandenburg-Preussen. Als leitende Beamte und Offiziere 1604 – 1871 (= Beihefte zum Jahrbuch der Albertus-Universitt Kçnigsberg/Pr., 28), Wîrzburg 1967, S. 32 – 38; sehr gut G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 37, S. 40 ff., S. 59 f., S. 80, S. 102; Max Hein, Otto von Schwerin. Der Oberprsident des Großen Kurfîrsten, Kçnigsberg in Preußen 1929, S. 123; F. Von Salpius, Paul von Fuchs, ein brandenburgisch-preußischer Staatsmann vor zweihundert Jahren, Leipzig 1877, S. 128 ff.; Kalvinisten: schon G(ustav) Schmoller, Einleitung. Ueber Behçrdenorganisation, Amtswesen und Beamtenthum im Allgemeinen und speciell in Deutschland und

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Um 1640 hatte der brandenburgische Adel im Rat noch entscheidend dominiert. Nimmt man die 74 Geheimen Rte unter dem Kurfîrsten Friedrich Wilhelm, so kamen noch 20 aus Brandenburg, aus Preußen 24, aus Pommern neun, aus den anderen Gebieten nur einer, hingegen „20 aus dem Reich und dem Ausland“. Nur ein Achtel war bîrgerlicher Herkunft, ein Anteil, der sich nach 1688 weiter marginalisieren sollte, um nach 1713 dann zunchst auf ein Sechstel anzusteigen.232 Parteiungen, zumal zwischen einheimischem Adel und fremden Elementen, sind an der Tagesordnung gewesen, Rangunterschiede zwischen bîrgerlichen und adligen Rten waren evident.233 Sptestens seit etwa 1660 hatten aber die einheimischen Brandenburger den Zugang zu den eigentlichen Entscheidungsstellen verloren. Auch in diesem Sinne verstrkten sich seit etwa 1660 die gesamtstaatlichen Strukturen. Der Geheime Rat hat bis zum frîhen 19. Jahrhundert bestanden, und auch der Nachfolger des Großen Kurfîrsten, Friedrich III./I., hat noch im Rat regiert. Seine „Vermahnung“ an den Kronprinzen, nie einen Mann zu mchtig im Staate werden zu lassen, hat er freilich selbst nicht beherzigt. „Indehm mir solches leyder selber mit meinem gewesenen Oberpresidenten so gegangen ist“, so hat er seine Mahnung begrîndet und davor gewarnt, einem Minister zu viel Vertrauen zu schenken.234 Er spielte dabei auf seinen vormaligen prinzlichen Informator und zuletzt Oberprsidenten Eberhard Danckelman235 an, der im

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Preußen bis zum Jahre 1713, in: Acta Borussica. Denkmler der Preußischen Staatsverwaltung im 18. Jahrhundert, hg. von der Kçniglichen Akademie der Wissenschaften, Reihe: Die Behçrdenorganisation und die allgemeine Staatsverwaltung Preußens im 18. Jahrhundert, 1, bearb. von G(ustav) Schmoller und O(tto) Krauske, Berlin 1894, S. 13 – 143, hier S. (130) – diese Edition zitiert: A. B., die Reihe der Behçrdenorganisation: A. B. B., mit Bandangabe; zum Konfessionsmotiv dann auch PeterMichael Hahn, Calvinismus und Staatsbildung: Brandenburg-Preußen im 17. Jahrhundert, in: Meinrad Schaab (Hg.), Territorialstaat und Calvinismus (= Verçffentlichungen der Kommission fîr geschichtliche Landeskunde in Baden-Wîrttemberg, Reihe B, 127), Stuttgart 1993, S. 239 – 269, hier S. 254 ff. Auch G. Heinrich, Adel … (s. Anm. 19), S. 299 f.; vgl. G. Oestreich, Geheimer Rat … (s. Anm. 43), S. 16 – 25; abweichende Zahlen bei Dems., Fundamente … (s. Anm. 81), S. 276. Eilhart Eilers, Friedrich von Jena. Ein Beitrag zur politischen Geschichte des großen Kurfîrsten, phil. Diss. Leipzig 1935, S. 94 f.; Gerd Heinrich, Amtstrgerschaft und Geistlichkeit. Zur Problematik der sekundren Fîhrungsschichten in BrandenburgPreußen 1450 – 1786, in: Gînther Franz (Hg.), Beamtentum und Pfarrerstand 1400 – 1800. Bîdinger Vortrge 1967 (= Deutsche Fîhrungsschichten in der Neuzeit, 5), Limburg an der Lahn 1972, S. 179 – 238, hier S. 200 f.; P. M. Hahn, Landesstaat und Stndetum … (s. Anm. 181), S. 65; O. Meinardus, Protokolle … (wie Anm. 105), 5, S. 72 – 76, Nr. 49. G. Kîntzel / M. Hass (Hg.), Testamente … (s. Anm. 136), 1, S. 86 f. (1698). Johannes Schultze, Eberhard Danckelman, zuerst 1933, wieder in: Ders., Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte. Ausgewhlte Aufstze. Mit einem Vorwort von Wilhelm Berges (= VerçffHistKommBerlin beim Friedrich-

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Vorjahre dieser øußerung, 1698, gestîrzt worden war. Seit 1688 hatte Danckelman die so wichtige Geschftsverteilung in der Hand. Als ein Bîrgerlicher, geboren im damals oranischen Lingen, hat er die fçrmliche Stellung eines Premierministers nicht erstrebt, weil er wußte, daß ihm diese exponierte Position umso mehr Feinde am Hofe schaffen wîrde. Auch so war seine Stellung stark genug, und es ist ihm gelungen, buchstblich sechs Brîder in einflußreichen ømtern zu platzieren. Gestîrzt ist Danckelman zum einen deshalb, weil er die ehrgeizige Statuspolitik seines noch kurfîrstlichen Herrn nicht ausreichend unterstîtzt hat; dann aber ist auch in diesem Falle die gefhrliche Gegnerschaft der Herrscherin, die aus hannoverschem Hause stammende Sophie Charlotte, in politischer Hinsicht tçdlich gewesen. Die Isolation des bîrgerlich geborenen Premiers, der noch etwas von dem nîchternen politischen Stil des Großen Kurfîrsten bis zur Jahrhundertschwelle tradiert hatte, nun aber in feindlich-altadliger Hofumgebung wirkte, war der sozialgeschichtliche Hintergrund seines spektakulren Falles.236 Diese und die daraus resultierende Neigung Friedrichs III., bei formaler Regierungsfîhrung aus den Ratsgremien faktisch einzelnen Premiers Einfluß einzurumen, fîhrte dann zum Aufstieg des Reichsgrafen Kolbe von Wartenberg,237 der als Oberkmmerer, Oberstallmeister, Generaldirektor der Domnen usw. aus den Hofmtern heraus regierte und dabei – ganz ungewçhnlich – von aller Verantwortlichkeit freigestellt worden ist. Er gehçrte nicht dem Geheimen Rat an, was schon auf den verfallenden Einfluß dieses Gremiums ein gewisses Licht wirft. Zu Wartenbergs engerem FîhMeinecke-Institut der Freien Universitt Berlin, 13), Berlin 1964, S. 214 – 230, passim, bes. S. 216, S. 218 ff.; (Anton Balthasar Kçnig), Versuch einer Historischen Schilderung der Hauptvernderungen, der Religion, Sitten, Gewohnheiten, Kînste, Wissenschaften etc. der Residenzstadt Berlin seit den ltesten Zeiten, bis zum Jahre 1786, 3, Berlin 1795, S. 6, S. 51 ff. (auch als Nachdruck); Kurt Breysig, Der Prozess gegen Eberhard Danckelman. Ein Beitrag zur brandenburgischen Verwaltungsgeschichte (= StaatsSozialwissForsch, 8, Heft 4, der ganzen Reihe 35.), Leipzig 1889, S. 21 – 25, S. 29 f., S. 33 – 37; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 21; Linda und Marsha Frey, Frederick I: The Man and His Times (= East European Monographs, 166), New York 1984, S. 74 – 80; Quelle: R(einhold) Koser, Kurfîrstin Sophie Charlotte und Eberhard von Danckelman, in: Mrkische Forschungen 20 (1887), S. 225 – 233, hier S. 225 f. 236 Peter Baumgart, Die preußische Kçnigskrçnung von 1701, das Reich und die europische Politik, in: O. Hauser (Hg.), Preußen … (s. Anm. 215), S. 65 – 86, hier S. 67 f. (auch zu Danckelmans Sturz). 237 Nîtzlich noch immer (in Ermangelung einer zureichenden Biographie) Franz Horn, Friedrich der Dritte, Kurfîrst von Brandenburg, Erster Kçnig in Preußen, Berlin 1816, S. 225 ff., zur Person S. 114 ff.; A. B. Kçnig, Versuch … (s. Anm. 235), 3, S. 269 – 272; H. O. Meisner, Staats- und Regierungsformen … (s. Anm. 11), S. 237; O. Hintze, Erster Kçnig … (s. Anm. 198), S. 364 – 368; Carl von Noorden, Europische Geschichte im achtzehnten Jahrhundert, 1. Abt., 2, Dîsseldorf 1874, S. 44 ff.; Arnold Berney, Kçnig Friedrich I. und das Haus Habsburg (1701 – 1707), Mînchen/Berlin 1927, S. 8.

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rungskreis gehçrte bezeichnenderweise der gleichfalls zum reichsunmittelbaren Adel gehçrende Graf Wittgenstein, der das Oberdirektorium îber die Domnen fîhrte. Nicht nur die außenpolitischen Materien waren dem Rat de facto entzogen.238 Freilich hat Friedrich III./I. sein politisches Gewicht auch gegenîber den Premiers durchzusetzen gewußt. Je mehr der Geheime Rat seine alte Zentralstellung einbîßte, um so strker trat ein anderes, ein moderneres Instrumentarium an seine Stelle, das die verschiedenen Lnder des Kurfîrsten-Herzogs strukturell zu verklammern begann. So wie die Stnde der einzelnen Lnder unter dem Monarchen unverbunden nebeneinander gestanden hatten, jedes Territorium mit je spezifischer Tradition, Recht und Organisation, so war die jeweilige Regierungsverfassung in jedem Land verschieden und ohne institutionelle Verbindung mit den anderen Teilen des Gesamtstaates. Auch die Amtskammer, nach einem weit in das 16. Jahrhundert zurîckreichenden Entstehungsprozeß 1615 kollegial verfaßt, war ja eine kurmrkische Einrichtung. In allen grundstzlichen Fragen mußte sie die Entscheidung des Kurfîrsten einholen.239 Als im Jahre 1689 eine gesamtstaatliche Hofkammer installiert wurde, war fîr diesen Bereich landesfîrstlicher Administration eine Oberaufsicht îber den provinzialen Kammern geschaffen worden. Unter dem Hofkammerprsidenten von Knyphausen ist es gelungen, die Einkînfte der Kammerverwaltung um 84 Prozent zu steigern.240 Die Bedeutung dieser Reformen kann nur dann gewîrdigt werden, wenn das Gewicht der landesherrlichen Domneneinkînfte in der Finanzierung des Staatshaushaltes insgesamt berîcksichtigt wird. Um 1688 wird dabei mit einem Drittel am Finanzvolumen gerechnet, um 1800 noch mit 25 Prozent.241 Das waren gewiß bemerkenswerte Anteile an der Staatsfinanzierung aus landesherrlichen Guts- und Grundherrschaften, aber noch wichtiger wurden die steuerfçrmigen Einnahmen und die Organe, die sie erhoben. Der Aufbau der neuen, und wenn man will, moderneren Amtstrgerhierarchie ist auf das engste mit dem Aufkommen des Stehenden Heeres in Brandenburg-Preußen verbunden. Diejenige Staatsstruktur, die nun die Territorien verband, ist nicht aus den traditionalen Rats- und Kammergremien erwachsen, die so wie der Ge238 K. Frhr. von Ledebur, Kçnig Friedrich I. … (s. Anm. 192), S. 441 – 448, S. 450, S. 457; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 96 f.; Walther Koch, Hof und Regierungsverfassung Kçnig Friedrichs I. von Preußen (1697 – 1710) (= UntersDtStaatsRG, Alte Folge, 136), Breslau 1926, ND Aalen 1991, S. 136 ff., S. 170 ff. 239 Martin Hass, ˜ber die Verwaltung der Amts- und Kammersachen unter Joachim II. und Johann Georg, in: ForschBrandPrG 19 (1906), S. 227 – 230, hier S. 227 f.; K. Breysig, Finanzen … (s. Anm. 47), S. 12 – 15, S. 184 f. 240 K. Breysig, Finanzen … (s. Anm. 47), S. 110 ff., S. 118 f., S. 142 f.; Amtskammerinstruktion: S. 412, S. 414 f.; L. Tîmpel, Einheitsstaat … (s. Anm. 210), S. 109 – 115. 241 Karl Heinrich Kaufhold, Preußische Staatswirtschaft – Konzept und Realitt – 1640 – 1806, in: JWG 2 (1994), S. 33 – 70, hier S. 36 f.

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heime Rat in der ersten Hlfte des 17. Jahrhunderts als territoriale Landesregierungen fungierten und z. T. – wie die ostpreußischen Oberrte – noch aus Zeiten herstammten, bevor die brandenburgischen Herrscher diese Territorien îbernommen hatten. Die vier Oberrte in Kçnigsberg haben noch um 1700 sehr selbstndig regiert, sie standen zwischen Fîrst und Landstnden, wie sie sich auch bisweilen darauf expressis verbis berufen haben, doch nicht nur dem Fîrsten, sondern auch der Landesverfassung gegenîber verpflichtet zu sein.242 Auch in Kleve, wo dann eine besondere Amtskammer geschaffen wurde, hat die Landesregierung eine stark stndische Prgung besessen.243 In Pommern, wo sich wichtige Adelsfamilien rasch mit dem brandenburgischen Herren arrangierten, wurde nach der Besitzergreifung eine neue Regierungsstruktur eingerichtet, die Landesprivilegien wurden aber zugleich konfirmiert. Der Landrentmeister stand hier unter Berliner Obçdienz, wie auch die finanzielle Anbindung an die kurfîrstlichen Organe in Pommern eine enge gewesen ist.244 Freilich haben gerade in Pommern die Stnde bis in das 18. Jahrhundert hinein in der Steuerverwaltung des Landes Einfluß nehmen kçnnen.245 Die Kriegskommissariatshierarchie ist es gewesen, die sich im 17. Jahrhundert gleichsam îber die verschiedenen Landesorganisationen und -strukturen gelegt hat und der Kern der neuen gesamtstaatlichen Verwaltung und Amtstrgerschicht geworden ist. Sie ist ursprînglich aus der Heeresverwaltung hervorgegangen, die Kriegskommissare waren z. B. militrischen Kontingenten als kurfîrstliche Amtstrger beigegeben worden. Daneben tritt der Kommissar 246 als Kreiskommissar entgegen, zustndig fîr die Organisation von Truppendurchmrschen, fîr die Einquartierung und fîr die Versorgung, und dazu zhlte ganz wesentlich die Aufbringung der fîr die militrischen Bedîrfnisse bestimmten

242 Vgl. oben Anm. 11; R. Bergmann, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 17), S. 7 ff.; H. Rachel, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 195), S. 55 f., S. 58. 243 O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 2, S. XCVI f.; E. Bammel, Dîsseldorf … (s. Anm. 37), S. 12 ff.; L. Tîmpel, Einheitsstaat … (s. Anm. 210), S. 39; Wolfgang Neugebauer, Zur neueren Deutung der preußischen Verwaltung im 17. und 18. Jahrhundert in vergleichender Sicht, zuerst 1977, erw. in: Otto Bîsch / Wolfgang Neugebauer (Hg.), Moderne Preußische Geschichte 1648 – 1947. Eine Anthologie, 2 (= VerçffHistKommBerlin, 52/2), Berlin/New York 1981, S. 540 – 597, hier S. 544. 244 F. Wolters, Finanzen … (s. Anm. 132), S. 174 f.; Martin Wehrmann, Geschichte von Pommern (Bd. 2), Gotha 21921, S. 169 ff., S. 186, S. 204; Gerd heinrich, Staatsdienst und Rittergut. Die Geschichte der Familie von Dewitz in Brandenburg, Mecklenburg und Pommern. Mit einem Vorwort von Fritz-Jîrgen von Dewitz, Bonn 1990, S. 96. 245 G. Heinrich, Dewitz … (s. Anm. 244), S. 113. 246 Kurt Breysig, Die Organisation der brandenburgischen Kommissariate in der Zeit von 1660 bis 1697, in: ForschBrandPrG 5 (1892), S. 135 – 156, hier S. 135 f.; A. W. Prinz von Preußen, Kommissariatsbehçrden … (s. Anm. 97), S. 24 ff.

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Steuer, d. h. die Kontribution.247 Im 17. Jahrhundert und auch noch im frîhen 18. Jahrhundert248 konnten Kommissare durchaus aus den Funktionstrgern der Stnde genommen, beziehungsweise von ihnen vorgeschlagen werden, ein Indiz dafîr, daß in einer lngeren ersten Phase kommissarisches und stndisches Element miteinander in Verbindung stehen konnten. Aber das Wesentliche bestand darin, daß der Kommissar, der vom Landesherrn beauftragt wurde, diese Commissio entweder auf eine bestimmte Zeit, oder aber doch auf Widerruf erhielt. Der Amtsauftrag war umgrenzt, die Vollmacht definiert und widerrufbar und insofern in nuce das Element einer Hierarchie vorhanden, mit dem der Landesherr bis in die einzelne Landschaft beziehungsweise den Kreis hinuntergreifen konnte. Vielleicht war – zumal auf lngere Sicht – das hierarchische Element wichtiger als die bisweilen îberbetonte anti-stndische Qualitt des Kriegs-Kommissars. Indem sie im Kreis die Steueraufbringung oder bei den Regimentern die Einhaltung der dem Landesherrn gegenîber eingegangenen Verpflichtungen (Kapitulation) îberwachten, indem sie auch vom Kurfîrsten eine Besoldung empfingen, war die Entwicklung dahin angelegt, nunmehr ihren Amtsbereich auszuweiten, sie nicht nur fîr die Aufbringung der Kontribution sorgen, sondern sie nun auch die Pflege der Steuerquellen îbernehmen zu lassen. In den Jahren nach 1626/27, als der Krieg Brandenburg-Preußen erreichte, hat die Ausbreitung des Kommissariatsinstituts wesentliche Fortschritte gemacht, also lange vor der Zeit des Großen Kurfîrsten, unter dem dann die Entwicklung fortgesetzt wurde, besonders unter dem Problemdruck des ersten Nordischen Krieges in der zweiten Hlfte der 1650er Jahre. Seitdem gab es permanente Generalkriegskommissare fîr die gesamte Organisation, unter ihnen provinziale (Ober)Kommissare und darunter die Kommissare auf kommunaler, respektive Kreisebene.249 Die Entwicklung in den einzelnen Territorien ist nicht gleichmßig verlaufen, die Kollegialisierung und der Ausbau mit zugeordnetem Personal hat je verschiedene Fortschritte gemacht, und besonders im Herzogtum Preußen haben die Stnde dagegen heftig opponiert. ˜berhaupt fllt auf, daß die kommissarische Organisation in den Außenprovinzen, in denen es ja zu den vergleichsweise hrtesten, wenn auch nur temporren Kon247 K. Breysig, Staatshaushalt … (s. Anm. 87), S. 462, S. 465 f.; H. v. Petersdorff, Beitrge … (s. Anm. 49), S. 37 – 40. 248 W. Neugebauer, Staatliche Einheit … (s. Anm. 201), S. 80 f. 249 Realtypisch: Otto Hintze, Der Commissarius und seine Bedeutung in der allgemeinen Verwaltungsgeschichte, zuerst 1910, wieder in: Ders., Staat und Verfassung. Gesammelte Abhandlungen zur allgemeinen Verfassungsgeschichte, hg. von Gerhard Oestreich, mit einer Einleitung von Fritz Hartung, Gçttingen 31970, S. 242 – 274, hier S. 242 – 247; K. Breysig, Organisation … (s. Anm. 246), S. 137 ff., provinziale Entwicklungen: S. 139 – 144; F. Wolters, Finanzen … (s. Anm. 132), S. 16 ff., S. 49; C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 55; J. Schultze, Prignitz … (s. Anm. 91), S. 192 ff., S. 222 f.

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flikten kam, besonders frîh ausgeprgt wurde; dies gilt auch fîr die Tendenz zum kollegialen Ausbau der Kommissariate in Kleve und in Ostpreußen. In der Kurmark hat es ein besonderes Kriegskommissariat nicht gegeben; hier hat das Generalkriegskommissariat direkt das zentrale Land des Gesamtstaates verwaltet.250 Fîr die Kurmark lßt sich denn auch frîher als in anderen Regionen des Staates von einer Provinz sprechen. Umso bemerkenswerter ist das Faktum, daß seit 1669 stets Nichtbrandenburger an der Spitze des Generalkriegskommissariats gestanden haben, zunchst der Bielefelder Franz von Meinders. „Alle fînf Leiter des Generalkriegskommissariats im 17. Jahrhundert hatten studiert, darunter der Begrînder von Platen u. a. an den niederlndischen Universitten Leiden und Groningen.“251 Damit stand die Kurmark direkt unter der gesamtstaatlichen Spitze derjenigen Instanz, die – bei automatischer Durchbrechung des Indigenats – hier und im Gesamtstaat immer mehr Kompetenzen an sich zog (und dem Geheimen Rat entzog). Die Oberkommissare beziehungsweise die „provinzialen Kommissariatsbehçrden“, wie sie auch z. B. in Pommern und der Neumark bestanden, nahmen faktisch die Aufgaben der Finanz- und der Kriegsministerialverwaltung wahr. Bald, schon in den sechziger Jahren des 17. Jahrhunderts wurden weite Teile der Polizeiverwaltung und der Handelspolitik zum Aufgabenbereich der Kommissariatshierarchie gezogen. Weit îber das ursprînglich militrische Arbeitsgebiet hinaus, war der Generalkriegskommissar fîr die Wirtschaftspolitik nun auch im zivilen Felde zustndig, was natîrlich zu Kompetenzkonflikten mit anderen Instanzen fîhren mußte; Siedlungs- und Zunftpolitik hat der Generalkriegskommissar gleichfalls reklamiert, der bei wachsendem Umfang militrischer und nichtmilitrischer Materien den Arbeitsstab auszubauen strebte.252 Im frîhen 18. Jahrhundert definierte die „Instruktion vor alle und jede Kriegsund Steuerkommissarien“ vom Mrz 1712 den Aufgabenbereich dieser Amtstrger im Staate, darunter nun auch die Aufsicht îber die Bebauung noch wîster Stellen in den Stdten, das Decken von Dchern mit Ziegeln und nicht mit Stroh oder Schindeln, d. h. die Feuerpolizei; ferner gehçrte zu ihrem Ttig250 F. Wolters, Finanzen … (s. Anm. 132), S. 106 – 109, S. 200 f., S. 203, vgl. S. 171 ff.; K. Breysig, Organisation … (s. Anm. 246), S. 144 (auch zur Kurmark); A. W. Prinz von Preußen, Kommissariatsbehçrden … (s. Anm. 97), S. 38. 251 F. Wolters, Finanzen … (s. Anm. 132), S. 96 – 99, S. 105; Zitat: G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 86. 252 F. Wolters, Finanzen … (s. Anm. 132), S. 87 f., S. 91 – 94; wichtig noch Arthur Strecker, Franz von Meinders. Ein brandenburgisch-preußischer Staatsmann im siebzehnten Jahrhundert (= StaatsSocialwissForsch, 11, Heft 4, der ganzen Reihe 49.), Leipzig 1892, S. 56 f.; F. L. Carsten, Preußen … (s. Anm. 160), S. 209 ff.; A. W. Prinz von Preußen, Kommissariatsbehçrden … (s. Anm. 97), S. 30 – 34; das Folgende: C. O. Mylius, Corpus … (s. Anm. 72), Tl. 3, 1. Abt., Sp. 287 – 296, Nr. 101; 1719: 5, Tl. 4. 1. Abt., Sp. 209 ff., Nr. 24.

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keitsfeld das Brauereiwesen, die Gewerke, Maße und Gewicht, also die Marktpolizei. Daneben standen die ursprînglichen Funktionen der Kriegskommissare bei der Aushebung von Rekruten oder der Einquartierung des Militrs. 1719 wird ihnen aufgegeben auch „die Medicinal Edicte zur Observantz zu bringen“. Der Kriegskommissar war lngst zur wichtigsten zivilen Kameral- und Finanzstelle des preußischen Staates geworden.253 Dies war ein Spezifikum der Staatsbildung Brandenburg-Preußens. Nicht nur die Erhebung der Steuern gehçrte zum Aufgabenfeld der Kommissare, sondern auch dafîr zu sorgen, daß diese Steuern krftig flossen, und deshalb war der Titel eines „Steuerrates“ fîr die Kommissare auf der untersten stdtischen Ebene seit 1685 nur richtig und konsequent. Diese Entwicklung stand in enger Verbindung mit der Einfîhrung der Akzise als wichtigster stdtischer (Verbrauchs-)Steuer. Deren Einfîhrung fîr knapp eineinhalb Jahrhunderte hatte große Bedeutung nicht nur fîr die Finanzpolitik, sondern letztlich fîr die Staatsstruktur per se. In mehreren Anlufen seit 1641 ist ihre Erhebung versucht worden, doch ist dies in der Mark und in Preußen endgîltig erst seit 1680 geschehen, îbrigens vergleichsweise spt, wie ein Blick auf andere Staaten des 17. Jahrhunderts zeigen wîrde.254 In Brandenburg-Preußen wurde die Akzise als stdtische Verbrauchs-, Gewerbe-, Umsatz- und Vermçgenssteuer eingefîhrt; sie wurde an den Stadtmauern eingezogen. Die Steuerkommissare, durchweg bîrgerlicher Herkunft, beaufsichtigten die Akzisebeamten, zumal nachdem diese Steuer nicht mehr in stdtischer Eigenregie, sondern als staatliche Abgabe erhoben wurde. Es versteht sich, daß damit die Stdte ganz wesentlich an kommunaler Autonomie verloren, in der Mark und analog in anderen (mittleren und çstlichen) Provinzen, in denen die Akzise gleichfalls nach und nach Einzug hielt. Die Steuerrte oder Commissarii locorum hatten ganze Stdtekreise mit sechs bis fînfzehn Stdten zu beaufsichtigen.255 Indem die Akzise als stdtische Steuer verbindlich gemacht wurde, wurde die Trennung von Stadt und Land vollendet, die fîr das Alte Preußen ein Charakteristikum war und erhebliche Konsequenzen etwa fîr die Gewerbestruktur besessen hatte. 253 F. Wolters, Finanzen … (s. Anm. 132), S. 159. 254 Willi A. Boelcke, „Die sanftmîtige Accise“. Zur Bedeutung und Problematik der „indirekten Verbrauchsbesteuerung“ in der Finanzwirtschaft der deutschen Territorialstaaten whrend der frîhen Neuzeit, in: JbGMitteldtld 21 (1972), S. 93 – 139, hier S. 111 – 113; G. Schmoller, Finanzpolitik … (s. Anm. 183), S. 152; F. Wolters, Finanzen … (s. Anm. 132), S. 159 – 164; Gustav von Schmoller, Das Stdtewesen unter Friedrich Wilhelm I., zuerst 1871 – 1874, wieder in: Ders., Deutsches Stdtewesen in lterer Zeit, Bonn 1922, ND Aalen 1964, S. 231 – 428, hier S. 257 f., S. 320; K. Breysig, Staatshaushalt … (s. Anm. 87), S. 480 – 486. 255 A. W. Prinz von Preussen, Kommissariatsbehçrden … (s. Anm. 97), S. 73 f.; G. Schmoller, Stdtewesen … (s. Anm. 254), S. 259, S. 342, S. 379, S. 382, S. 399 f., S. 403; E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 281 ff.

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Zugleich wurden nun aber die Stdte von den Stnden separiert,256 denn die Akzise als eine in Permanenz von den Stdten erhobene Steuer entzog sich fortan der Bewilligung durch die Land- beziehungsweise Ausschußtage. Dies gilt fîr Brandenburg und etwa fîr das Herzogtum Preußen gleichermaßen. Hier bedeutete dies, daß nach der Einfîhrung der Akzise die stdtischen Anteile am Steueraufkommen des Landes nicht mehr an den Landkasten, sondern an die Kriegskammer, d. h. das Kommissariat gezahlt wurden. Die Folge war eben die Separation der Stdte von den îbrigen Stnden.257 Aus der Sicht des Kurfîrsten waren die Zustnde in den Stdten dringend reformbedîrftig. „An Untergang der Stdte, die Rthe, die in Stdten, selber schuldig sein, wegen der îblen Verwaltung, welche weltkundig ist“, so lautete eine eigenhndige Marginalie Friedrich Wilhelms auf einer Eingabe der brandenburgischen Stnde vom Jahre 1666.258 Bis dahin hatte sich die Autonomie der Stdte, zumal diejenige der Rte in den Stdten, sehr wohl behaupten kçnnen und z. T. noch gefestigt. Die Ratsgremien, oligarchisch geprgt, ergnzten sich durch Kooptation, und zwar in der Regel auf Lebenszeit. Auch da, wo im 17. Jahrhundert die Bîrgerschaft noch oder wieder in der stdtischen Politik Einfluß nahm, haben doch die Ratsgremien den Primat besessen.259 In Berlin hat der Landesherr sein dort seit zwei Jahrhunderten ausgeprgtes ˜bergewicht bewahren kçnnen, aber auch hier hat es neben dem vom Kurfîrsten besttigten Rat im 17. Jahrhundert „Verordnete der Gemeine“ gegeben, wenngleich diese nur schwache Befugnisse besaßen. In anderen Stdten hat es bisweilen seitens des Rats die Bitte an den Kurfîrsten gegeben, die Ratswahlen zu besttigen.260 Aber es ist doch unverkennbar, daß sich unter dem Großen Kurfîrsten die Eingriffe in einzelne Stdte verstrkten. Untersuchungskommissionen sind daran gegangen, hier und da das stdtische Schuldenwesen zu 256 F. L. Carsten, Entstehung … (s. Anm. 160), S. 162 f.; Francis L. Carsten, Die deutschen Landstnde und der Aufstieg der Fîrsten, zuerst 1960, wieder in: Heinz Rausch (Hg.), Die geschichtlichen Grundlagen der modernen Volksvertretung. Die Entwicklung von den mittelalterlichen Korporationen zu den modernen Parlamenten, 2 (= Wege der Forschung, 469), Darmstadt 1974, S. 315 – 340, hier S. 334; und Francis L. Carsten, Die Ursachen des Niedergangs der deutschen Landstnde, in: HZ 192 (1961), S. 273 – 281, bes. S. 277; P.-M. Hahn, Landesstaat … (s. Anm. 181), S. 45 f. 257 H. Rachel, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 195), S. 284 – 296, und R. Bergmann, Ostpreußische Stnde … (s. Anm. 17), S. 5, S. 172; L. von Baczko, Preußen … (s. Anm. 199), 6, S. 405. 258 UA, 10, S. 391 und S. 393 f. (kurfl. Resolution, dat. Kleve, 5. Juli 1666). 259 G. Schmoller, Stdtewesen … (s. Anm. 254), S. 300 – 314; Ilse Barleben, Die Entwicklung der stdtischen Selbstverwaltung im Herzogtum Kleve whrend der Reform Friedrich Wilhelms I., phil. Diss. Bonn 1931, S. 21 – 24; vgl. F. Schrçer, Havelland … (s. Anm. 103), S. 147 – 151; L. Enders, Uckermark … (s. Anm. 100), S. 368 – 371. 260 E. Faden, Berlin … (s. Anm. 49), S. 41 f., S. 46, S. 50 – 53; O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 4, S. 25, Nr. 16 (Brandenburg a. H.).

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untersuchen und dann auch neu zu ordnen; in der Neustadt Brandenburg wurde vom Landesherrn 1685 ein Rathusliches Reglement eingefîhrt, eine Art Stadtordnung, wobei allerdings die – schon bei der Stndepolitik des Monarchen sichtbare – grundstzliche Linie erkennbar wurde, zwar im finanziellen und wirtschaftlichen Bereich einzugreifen, insgesamt jedoch mit „mçglichster Schonung des Hergebrachten“ (Grase) zu verfahren.261 Im spten 17. Jahrhundert ist dann der Einfluß des Landesherrn bisweilen auch auf Stellenbesetzungen in den Stdten intensiviert worden; die Ausdehnung der Befugnisse, die die Commissarii locorum besaßen, gehçrt in diesen Kontext. In Kleve und der Grafschaft Mark hat es zwar gleichfalls Anlufe gegeben, die stdtische Verfassung und ihre Finanzfîhrung in den 1680er Jahren zu îberprîfen und zu reformieren, aber der Kurfîrst ist in hçchst bezeichnender Weise vor allem Widerstand, zumal dem der klevischen Stdte, rasch zurîckgewichen. Die begonnene Revision der stdtischen Rechnungen, die in Berlin durchgefîhrt werden sollte, wurde abgebrochen, und 1687 hat Friedrich Wilhelm dann in auffallend konzilianter Weise entschieden. „Der Ausgang war ein Sieg der Stdte.“262 Auch in die Wirtschaft im Westen mit seiner vergleichsweise entwickelten Eisenindustrie hat der Monarch „nur ganz vereinzelt regulierend eingegriffen“,263 aber eine gînstige Handelskonjunktur und Einwanderungsentwicklung kam diesen Gebieten zugute; der Bergbau wurde im preußischen Westen nur çrtlich betrieben. Whrend in Ravensberg Handel und Gewerbe eine gînstige Entwicklung nahmen, kann dies fîr das westflische Minden nicht behauptet werden – Indiz dafîr, daß wir in dieser Zeit von einer gesamtstaatlichen Wirtschaftsentwicklung nicht ohne weiteres sprechen kçnnen. Wenn man îberhaupt schon fîr die Zeit des Großen Kurfîrsten von einer „Gewer261 Beispiele: F. W. G. Sachse, Geschichte der Stadt Frankfurt an der Oder nebst topographisch-statistischen Bemerkungen îber dieselbe und Beschreibung ihrer vorzîglichsten Merkwîrdigkeiten, Frankfurt an der Oder 1830, S. 96 f.; Emil Schwartz, Das uckermrkische Quartalsgericht, in: Heimatkalender fîr den Kreis Prenzlau, Jg. 11 (1936), S. 101 – 112, Jg. 12 (1937), S. 49 – 63, hier Tl. 1, S. 111; Ernst Grase, Beitrge zur Verwaltungsgeschichte von Alt- und Neustadt Brandenburg im 17. und 18. Jahrhundert, phil. Diss. Kçnigsberg, Brandenburg an der Havel 1911, S. 59 – 66, hier S. 76 f.; Otto Tschirch, Geschichte der Chur- und Hauptstadt Brandenburg (Havel). Verfaßt im Auftrage des Oberbîrgermeisters, 2, Brandenburg (Havel) 31941, S. 75, S. 78, S. 81 f., S. 99; Wilhelm Polthier, Geschichte der Stadt Wittstock, Berlin 1933, S. 110 f., S. 145 f.; allgemein O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 293; G. Schmoller, Stdtewesen … (s. Anm. 254), S. 251, S. 264; Otto Vanselow, Zur Geschichte der pommerschen Stdte unter der Regierung Friedrich Wilhelms I., phil. Diss. Heidelberg, Stettin 1903, S. 19. 262 O. Hçtzsch, Stnde und Verwaltung … (s. Anm. 178), S. 168, S. 766 – 773, Zitat S. 772. 263 G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 88 f.; M. Philippson, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), hier 3, Berlin 1903, S. 94.

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bepolitik“ reden will, so konzentrierte sie sich ganz entschieden auf den brandenburgischen Kernraum, Schwerpunkt auch der stdtischen und lndlichen Einwanderung. Seit etwa 1678 wurden „grçßere Unternehmungen in Berlin … angelegt“, darunter insbesondere Wollmanufakturen und Zuckersiedereien, auch eine Tabakfabrik. Es fllt dabei auf, daß Beamte die Trger solcher Unternehmungen waren, whrend sich die Berliner Kaufleute dabei gerade nicht engagierten. Auch die Anfnge gefçrderter Seidenfabriken datieren schon aus der spten Regierungszeit des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm. Allerdings hatte gerade die Textilindustrie erheblich unter auswrtiger Konkurrenz zu leiden. In der Summe fllt der etatistische Zug dieser ersten manufakturmßigen Aufschwungsphase auf, deutlich an den Residenzraum um Berlin gebunden. Die Anfnge der Manufaktur- und Gewerbepolitik lassen bereits die Zentrierung auf die mittleren Gebiete erkennen, die im 18. Jahrhundert noch deutlicher ausgeprgt wurde. Schon im spten 17. Jahrhundert ging die Fçrderung im HavelSpree-Gebiet als Wirtschaftsraum zu Lasten der anderen Territorien des Gesamtstaates (P. M. Hahn).264 Die mittleren Provinzen, bedingt auch Magdeburg, begannen zu einem Wirtschaftsraum zu verschmelzen. Man hat gerade in der Manufakturpolitik des Großen Kurfîrsten auch hollndische Einflîsse und Vorbilder erkennen zu kçnnen geglaubt.265 Gewiß sind westeuropische Impulse, zumal nach dem Potsdamer Edikt von 1685 solche aus Frankreich, vorhanden gewesen, wie zuvor solche aus den Niederlanden. Die Einrichtung von Kommerzienkollegien stellte den Versuch dar, auch institutionell die junge Merkantilpolitik zu unterstîtzen; dabei gab es bezeichnenderweise personelle Verflechtungen mit dem Generalkriegskommissariat. Vor allem die Fçrderung des Handels sollte durch diese Institutionen betrieben werden.266 Die Kolonialprojekte Friedrich Wilhelms sind der wohl 264 G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 88 f.; das Zitat bei H. Rachel / P. Wallich, Großkaufleute … (s. Anm. 49), 2, S. 109, weiter S. 109 f., S. 112; Werner Martin, Manufakturbauten im Berliner Raum seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert (= Die Bauwerke und Kunstdenkmler von Berlin, Beiheft 18), Berlin 1989, S. 16 – 20; Otto Uhlitz, Die Grîndung Friedrichhagens, in: Der Br von Berlin. Jahrbuch des Vereins fîr die Geschichte Berlins 32 (1983), S. 33 – 66, hier S. 33; Acta Borussica … , Reihe: Die Preußische Seidenindustrie im 18. Jahrhundert und ihre Begrîndung durch Friedrich den Großen, 1, Berlin 1892, ND Frankfurt am Main 1986/87, S. 3 – 6; M. Philippson, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137/263), 3, S. 92 f., und P.-M. Hahn, Stdtewesen … (s. Anm. 150), S. 108 f.; vgl. O. Hintze, Erster Kçnig … (s. Anm. 198), S. 350 f. 265 Hugo Rachel, Der Merkantilismus in Brandenburg-Preußen, in: ForschBrandPrG 40 (1927), S. 221 – 266, hier S. 223; zur Niederlnderkolonisation vgl. oben bei Anm. 175. 266 Hugo Rachel, Das Berliner Wirtschaftsleben im Zeitalter des Frîhkapitalismus (= Berlinische Bîcher, 3), Berlin 1931, S. 107; Ders. / P. Wallich, Großkaufleute … (s. Anm. 49), 2, S. 192 f.; nach wie vor wichtig O(tto) Meinardus, Beitrge zur Geschichte der Handelspolitik des Großen Kurfîrsten, in: HZ 66 (1891), S. 444 – 495, hier

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prominenteste Ausdruck dieses Strebens, in zeittypischer Weise die materiellen und zugleich die politischen Fundamente des Staates zu erweitern. Damit einher ging der Versuch, diese, vor allem die Guineapolitik, durch den Aufbau einer brandenburgischen Marine abzusichern.267 Die maritime Politik wurde einerseits von Emden, andererseits von Kçnigsberg und Pillau aus betrieben, aber eine nachhaltige Wirkung auf die inneren Strukturen, çkonomischen Potentiale und militrischen Mçglichkeiten ist davon nicht ausgegangen. Hingegen verweist schon das Faktum, daß es die Kriegskommissare gewesen sind, die in Brandenburg-Preußen das Rîckgrat der moderneren ømterhierarchie gebildet haben, auf die weit îber den militrischen Sektor hinausreichende Rolle und Wirkung des Stehenden Heeres fîr die Staatsentwicklung. In den Garnisonen hatte der Kommandant erheblichen Einfluß auf Stadtverwaltung und Wirtschaftsleben. Nach der anfnglichen Reduktion des Militrs, und zwar nach Bitten der Stnde (1641) auf ganze 2.000 Mann,268 hat der Kurfîrst 1644 neu gerîstet, îbrigens unter Diskussion schwedischer Vorbilder; zu einer nachhaltigen Verstrkung ist es damals nur insofern gekommen, als Garnisonen, insbesondere die Mannschaften in den Festungen aufgestockt worden sind. Mehr als 3.000 Mann dîrften die Truppen des jungen Friedrich Wilhelm um 1645/46 nicht gezhlt haben, und geplant waren insgesamt ganze 7.800 Mann, so daß bestritten worden ist, ob man îberhaupt schon von da, von 1644 ab, die Entstehung des Stehenden Heeres in Brandenburg-Preußen datieren sollte. Die Werbungen von 1644 sind aus Geldern, die dem Kurfîrsten aus dem Herzogtum Preußen zustanden, d. h. aus Schatullgeldern, bezahlt worden. Die Anregungen zur ersten Truppen-Werbung, die unter Friedrich Wilhelm durchgefîhrt wurde, ging von dem damaligen Berater, Konrad von Burgsdorff, aus. Noch bestanden in jedem Territorium, wie in der Landes- und Stndeverfassung ja auch, besondere Einrichtungen und Traditionen fîr den Kriegsbeziehungsweise Verteidigungsfall. Erst langsam hat sich darîber das neue Stehende Heer geschoben, als eine gesamtstaatliche Institution; insofern war die S. 445 – 448, S. 476 – 485; H. Rachel, Merkantilismus … (s. Anm. 265), S. 226. Neue Aktenfunde illustrieren jurisdiktionelle Funktionen der Kommerzienkollegien. 267 Nach wie vor dafîr unverzichtbar Richard Schîck, Brandenburg-Preußens KolonialPolitik unter dem Großen Kurfîrsten und seinen Nachfolgern (1647 – 1721) Bd. 1, Leipzig 1889, passim, Groß-Friedrichsburg: S. 165; Ulrich van der Heyden, Rote Adler an Afrikas Kîste. Die brandenburgisch-preußische Kolonie Großfriedrichsburg an der westafrikanischen Kîste, (Berlin 1993), S. 20 – 37; M. Philippson, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 157), 1, S. 438 ff., 2, S. 208 f., 3, S. 219 ff.; O. Glaser, Niederlnder … (s. Anm. 175), S. 37 – 52; siehe ferner Carl Brinkmann, Handel und Gewerbe, in: Ernst Friedel / Robert Mielke (Hg.), Landeskunde der Provinz Brandenburg, 2, Berlin (1910), S. 344 – 390, hier S. 359. 268 B. von Bonin, Kriegsrat … (s. Anm. 125), S. 88; Otto Meinardus, Neue Beitrge zur Geschichte des Großen Kurfîrsten, in: ForschBrandPrG 17 (1904), S. 21 – 67, hier S. 27 f.

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Frage des Dislokationsrechts der Truppe von großer politischer Bedeutung. Um 1618 besaß der damalige Kurfîrst, allein zur persçnlichen Bedeckung des Monarchen und des Schlosses zu Cçlln an der Spree, nur die kleine Trabantengarde. Auf Rîstungen waren jedes Mal Abrîstungen gefolgt, und auch die Verstrkung der 1640er Jahre wurde alsbald durch neuerliche Reduktionen abgelçst. Die Strke der Truppe im Jahre 1653 lag unter derjenigen Brandenburg-Preußens von 1630, so daß deshalb mit einigem Recht diskutiert worden ist, ob îberhaupt das Jahr 1644 als Geburtsjahr der preußischen Armee angesehen werden dîrfe, oder ob nicht erst die Werbungen aus der Mitte der 1650er Jahre, im Vorfeld und im Zusammenhang mit dem ersten Nordischen Krieg, als Terminus a quo anzusehen sind.269 Dieser Streit ist Ausdruck der alles andere als konsequent-linearen Entwicklung des militrischen Potentials, und auch in der Militrverfassung blieben traditionelle Elemente neben dem kleinen Stehenden Heer noch lange erhalten, denn auch in den sechziger und siebziger Jahren des 17. Jahrhunderts sind das Lehnsaufgebot und (sogar buerliche) Milizen zum Landesschutz in Brandenburg und in Preußen aufgeboten worden.270 Um 1656 waren îber 20.000 Mann geworbener Truppe beisammen, doch fand nach dem Nordischen Krieg eine erneute drastische Reduktion statt; ohne die Garnisonen berechnet man fîr 1667 noch 8.200 Mann. Auch dabei waren stndische Bitten ein Motiv. In den siebziger Jahren ist die brandenburg-preußische Armee auf 45.000 Mann gebracht worden, aber schon 1679 wurde erst auf 27.000, dann 1680 auf 25.000 Mann reduziert. Am Ende der Regierungszeit Friedrich Wilhelms waren 29.908 Mann im brandenburg-preußischen Staat unter den Fahnen.271 Auf kriegs- und krisenbedingte Werbungen folgten bei Eintritt des 269 C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 98 – 104; Ders., Lehndienst … , in: ForschBrandPrG 8 (1895), S. 419 – 467, hier S. 444 f.; Gelder: O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 2, S. LXXXI f.; Burgsdorff: G. Kîntzel, Hohenzollern … (s. Anm. 41), S. 418; gegen das Datum 1644: Curt Jany, Der Anfang des Stehendes Heeres in Brandenburg, in: ForschBrandPrG 51 (1939), S. 178 – 180, bes. S. 179, gegen Meinardus und Oestreich; vgl. O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 2, S. XCI-XCIX, auch zu den verschiedenen territorialen Defensionen; G. Oestreich, Pfuel … (s. Anm. 114), S. 231; Ders., Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), hier S. 5, S. 35 ff.; F. Wolters, Finanzen … (s. Anm. 132), S. 70. 270 J. Schultze, Landesaufgebot … (s. Anm. 90), S. 76 ff.; O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 6, S. 402 f., Nr. 345, S. 811, Nr. 740; C. Jany, Lehndienst, in: ForschBrandPrG 10 … (s. Anm. 90), S. 5 – 14, S. 20 ff. 271 Zu den Zahlen vor allem C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 194, S. 274, S. 301; Ders., Der Anfang … (s. Anm. 269), S. 180; vgl. auch Ders., Anfnge … (s. Anm. 89), 1, S. 84 – 89; und Ders., Die alte Armee von 1655 bis 1740. (Formation und Strke) (= Urkundliche Beitrge und Forschungen zur Geschichte des Preußischen Heeres, 7), Berlin 1905, hier S. 1; man vergleiche die Zahlen bei F. L. Carsten, Preußen … (s. Anm. 160), S. 217 f., und (nach wie vor zu konsultieren) Gustav Schmoller, Die Entstehung des preußischen Heeres von 1640 bis 1740, zuerst 1877, wieder in: Ders., Umrisse … (s. Anm. 176), S. 246 – 288, hier S. 262, S. 264; Reduktionen 1660/61: M.

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Friedens also stets starke Reduktionen, so 1697 um nicht weniger als zwei Drittel, so daß Max Lehmann – in einiger Zu- und ˜berspitzung – sagen konnte, es habe ein Stehendes Heer erst unter Kçnig Friedrich Wilhelm I. gegeben. Unter ihm, nach 1713 sei erstmals auch in Friedenszeiten das Heer vermehrt worden.272 Das sind die Quantitten und ihre Interpretationen. Mindestens ebenso wichtig sind die strukturellen Wandlungen innerhalb der Truppe, die durch angeworbene Sçldner nun auf Permanenz gestellt worden ist; der Anteil derjenigen Regimenter, die durch Aushebung oder durch Aufgebot gebildet worden sind, trat unter dem Großen Kurfîrsten deutlich zurîck. Die ostpreußischen Wibranzen hatten sich in den spten siebziger Jahren nicht mehr als brauchbar erwiesen, so daß der Landesherr diese Einrichtung eingehen ließ.273 Allerdings bedeutete der Aufbau eines miles perpetuus nicht automatisch die Entstehung einer kurfîrstlichen Armee, d. h. einer, die tatschlich allein unter seiner Obçdienz gestanden htte – sonst htte es ja auch letztlich nicht der Kommissare des Monarchen bei den Regimentern bedurft, von denen wir soeben bei den Anfngen des Kriegskommissariats hçrten. Nicht nur, daß die Obristen traditionell auch gegenîber dem Kurfîrsten eine sehr selbstndige Haltung einnahmen; gleich bei Regierungsantritt haben dreizehn der hçchsten Offiziere eine hçhere Besoldung zu erpressen versucht und gedroht, sie wîrden im Falle der Ablehnung ihrer Forderung zum Kaiser îbergehen. Der Kommandant von Spandau, ein von Rochow, hatte mit der Sprengung der Festung gedroht; wenig spter ist Rochow zu den kaiserlichen Truppen gewechselt. Derartige Phnomene hat es mehr als einmal gegeben, der ˜bertritt eines hohen Offiziers zu einem politischen Rivalen des Landesherrn war durchaus ein Instrument bei Auseinandersetzungen innerhalb der militrischen und Hofgesellschaft, und das auch noch um 1700.274

Philippson, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 157), 2, S. 208 (nach ihm maximal 4.500 Mann prsent). 272 Max Lehmann, Werbung, Wehrpflicht und Beurlaubung im Heere Friedrich Wilhelms I., zuerst 1891, wieder in: Ders., Historische Aufstze und Reden, Leipzig 1911, S. 135 – 157, S. 355 – 367, hier S. 152; Robert Frhr. von Schrçtter, Die Ergnzung des preußischen Heeres unter dem ersten Kçnige, in: ForschBrandPrG 23 (1910), S. 403 – 467, hier S. 412 (zu 1697). 273 Curt Jany, Die Kantonverfassung Friedrich Wilhelms I., in: ForschBrandPrG 38 (1926), S. 225 – 272, hier S. 225 f.; Ders., Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 315 f., S. 318. 274 F. Schroer, Havelland … (s. Anm. 103), S. 97 f., S. 101 f., S. 104; um 1700: Paul Haake, Generalfeldmarschall Hans Adam von Schçning, in: Studien und Versuche zur neueren Geschichte. Max Lenz gewidmet von Freunden und Schîlern, Berlin 1910, S. 89 – 206, hier S. 132 f., S. 144 ff.; zum ganzen Komplex vgl. Fritz Redlich, The German Military Enterpriser and his Work Force. A study in European economic and social history (= VSWG Beihefte, 48), hier 2, Wiesbaden 1965, S. 154.

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Die Selbstndigkeit der Offiziere hatte sehr konkrete Hintergrînde. Sie waren zunchst ja die Inhaber ihrer Regimenter, Militrunternehmer des Kondottiere-Typs, die mit dem Landesherrn durch „Kapitulationen“, d. h. durch Vertrge, verbunden waren. Dies bot ihnen die Mçglichkeit, mit Verweis auf den Inhalt ebendieser Kapitulationen, Befehle zu verweigern. Der Landesherr, auch nach 1640 in der Rolle eines „Glubigers“ seiner Offiziere, konnte diese nur schwer disziplinieren. Die Regimentsinhaber verfîgten îber die Offizierschargen ihrer Truppe und waren so in der Lage, Klientelnetze zu bilden und zu unterhalten. Die Truppenteile wurden wie lebenslange „Dienstlehen“ angesehen und betrieben; im Rang eines Regimentschefs waren durchaus Vermçgen zu erwerben.275 Die langsame Unterordnung und (partielle) Disziplinierung des Offizierskorps war die Politik des Kurfîrsten, um aus der Armee in seinem Land tatschlich seine Armee zu machen. Noch in der Mitte der 1660er Jahre waren die Obersten bei der Ernennung ihrer Offiziere selbstndig, seit 1673 mußte der Kurfîrst bei Offiziersbestellungen wenigstens informiert werden, auch wenn der Regimentskommandeur sie selbst bestimmte. Unter Friedrich III. ist dann fîr neue Regimenter die Anstellung der Offiziere durch den Monarchen erfolgt, aus Kapitulationen wurden Offizierspatente. Die Durchsetzung des Anciennittsprinzips bei militrischen Befçrderungen reduzierte die Willkîr und Autonomie der intermediren Gewalten in der Armee. Die selbstndige Entlassung der Offiziere durch die Obersten wurde eingeschrnkt. Disziplin gegenîber dem Monarchen wurde betont; die Militrgesetzgebung war dafîr das wesentliche Instrument; die Mçglichkeit, Gouverneursstellen, eintrgliche Amtshauptmannschaften und auch geistliche Pfrînden zu verleihen, bot motivationsstrkende Unterstîtzungen. Das Recht des Kurfîrsten, jedes Regiment nach Belieben zu mustern, war ebenso ein wichtiger Schritt. Aber das vçllig unbeschrnkte monarchische Recht zur Bestellung der Offiziere datiert erst aus der Zeit nach 1713.276 Allerdings wurde die Selb275 Schon sehr gut gesehen bei G. Schmoller, Heer … (s. Anm. 271), S. 261 ff.; vgl. dann auch Peter-Michael Hahn, Aristokratisierung und Professionalisierung. Der Aufstieg der Obristen zu einer militrischen und hçfischen Elite in Brandenburg-Preußen von 1650 – 1725, in: ForschBrandPrG NF 1 (1991), S. 161 – 208, hier S. 172, S. 174 ff., Zitat: S. 176; C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 309 – 331; in Ermangelung einer zureichenden neueren Biographie noch immer Wolfgang von Unger, Feldmarschall Derfflinger. Dem Dragoner-Regiment Freiherr von Derfflinger gewidmet (= Sonderabdruck aus dem Militr-Wochenblatt, Beiheft 7 und 8), Berlin 1897, S. 14, S. 120; vgl. noch (George Adalbert von Mîlverstedt), Vom General Christoph v. Kannenberg, in: Einundzwanzigster Jahresbericht des Altmrkischen Vereins fîr vaterlndische Geschichte und Industrie zu Salzwedel. Abteilung fîr Geschichte, 1., Magdeburg 1888, S. 33 – 56, hier S. 43 – 45. 276 G. Schmoller, Heer … (s. Anm. 271), S. 264, S. 266 f.; Robert Freiherr von Schrçtter, Das preußische Offizierskorps unter dem ersten Kçnige von Preußen, in: ForschBrandPrG 26 (1913), S. 429 – 495, 27 (1914), S. 97 – 167, hier im 1. Teil,

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stndigkeit der Inhaber von Kontingenten nur geschwcht, nicht aber gnzlich beseitigt. Die Kompanie war um (und nach 1700) eine Wirtschaftseinheit, zugleich eine Einkommensquelle fîr den Kommandeur, so wie das Regiment fîr den Obersten. „So wurden Regimenter und Kompanien zu Wertobjekten, die auch unter Umstnden kuflich erworben oder weitergegeben werden konnten“ (v. Schrçtter).277 Bei Infanterie und Kavallerie hat schon im 17. Jahrhundert der Adel das ˜bergewicht in den Offizierschargen besessen, bei der Artillerie waren die Offiziersstellen eine Domne der Bîrgerlichen. Unter Friedrich III. haben nichtadlige Offiziere, wohl auch aus Grînden des Ersatzbedarfs, gute Aufstiegs-, d. h. auch Nobilitierungschancen besessen. Unter den 1.030 Offizieren, die im Jahre 1688 gezhlt wurden, betrug der Anteil der Hugenotten mit mindestens 300 ein gutes Viertel; er lag 1707 bei 20 und 1713 noch bei 12 Prozent.278 Damit war wohl auch ein weiteres Instrument vorhanden, das Offizierskorps durch das Element der Immigranten, die ganz von der Gnade der politischen Fîhrung abhingen, zu disziplinieren. Die Missachtung des Indigenatsrechts fîr Offiziersstellen unter Friedrich III./I. gehçrte dazu. Die Armee wurde zu einem wichtigen Element bei der Ausprgung derjenigen politischen Strukturen, die den Weg von der Personal- zur Realunion bis 1700 kennzeichnen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß dabei die Entscheidung des Monarchen, zumal Friedrich Wilhelms, die wesentlichen Weichen gestellt hat, d. h. eines Herrschers, von dessen 48 Regierungsjahren 19 Kriegsjahre waren. Stand Brandenburg um 1640 in militrischer Hinsicht weit hinter Bayern oder Hessen zurîck, so war um 1688 seine Feldarmee im Heiligen Reich die strkste nach derjenigen des Kaisers und etwa so groß wie diejenige Dnemarks.279 Daß aber die Verlufe nicht linear gewesen sind, daß starke Traditionsbestnde vorabsolutistischer Elemente sich erstaunlich lange gehalten haben, daß also die Strukturen langer Dauer auch auf dem militrischen Gebiet zu finden sind, das haben wir gesehen – und diese Feststellung gilt nicht nur fîr die Jahre um 1700.

S. 430 f., S. 433 f., und im zweiten Teil, S. 146; vgl. G. Heinrich, Preußen … (s. Anm. 72), S. 112; Felix Priebatsch, Geschichte des Preußischen Offizierskorps, Breslau 1919, S. 9. 277 R. Frhr. von Schrçtter, Offizierskorps … (s. Anm. 276), Tl. 1, S. 456 ff., S. 466 f., S. 477 – 495, das Zitat S. 494. 278 R. Frhr. von Schrçtter, Offizierskorps … (s. Anm. 276), 2, S. 98 – 100, S. 104, S. 106, S. 133, Frage des Indigenats: S. 106 f.; C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 313; E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 119. 279 E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 336 f.; Kriegsjahre: G. Kîntzel, Hohenzollern … (s. Anm. 41), S. 410.

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§ 4 Europa und die Politik Brandenburg-Preußens 1648 – 1688 Der Westflische Frieden des Jahres 1648280 mit seinen konfessionellen, reichsrechtlichen und territorialen Bestimmungen besaß große Bedeutung fîr die Politik Brandenburgs beziehungsweise Brandenburg-Preußens in den folgenden Jahrzehnten. Wir hatten gesehen, daß die territorialen Kompensationen fîr die nur teilweise realisierten kurbrandenburgischen Ansprîche auf Pommern ein erhebliches Entwicklungspotential fîr die nhere und weitere Zukunft bargen. Vor allem die Aussichten auf die mittelelbischen Stiftstnde Magdeburgs und das alsbald in Besitz genommene nahe Halberstadter Territorium verlegten dem gefhrlich nahen kurschsischen Konkurrenten den Weg nach Nordwesten. ˜ber mehr als ein Jahrhundert war es eine offene Frage gewesen, ob es Kurbrandenburg gelingen wîrde, diese Entwicklungsrichtung des in materieller und sicherlich auch kultureller Hinsicht îberlegenen wettinischen Rivalen zu blockieren. Mit den Bestimmungen des Westflischen Friedens wurde die Frage erkennbar beantwortet, und 1666/1680 hat Kurbrandenburg endgîltig um Magdeburg und Halle an der Saale Fuß gefaßt.281 In Berlin-Cçlln scheint aber um 1650 das Ausmaß der damit eingetretenen diplomatisch-strategischen Vorentscheidungen kaum zutreffend erkannt worden zu sein, und es wîrde sich lohnen, die ein halbes Jahrhundert spter eingetretene schsischpolnische Union mit ihren Belastungen und Chancen fîr die ostmitteleuropischen Konstellationen unter diesen Vorzeichen nher zu interpretieren. Fîr die unmittelbaren politischen Optionen der brandenburg-preußischen Politik im Reich und in Europa nach dem Westflischen Friedensschluß war nicht nur die Frage der Odermîndung und des noch nicht realisierten Teiles der pommerschen Erbschaft von primrer Bedeutung; die Frage, ob doch noch der Seezugang der mittleren Gebiete des Hohenzollernstaates und ganz besonders der Erwerb Stettins realisiert werden kçnne, îberschattete immer wieder die außenpolitischen Kalkulationen in der Zeit des Großen Kurfîrsten. Indem Schweden also einen besonders wertvollen, çkonomisch und strategisch wichtigen Teil Pommerns in den Hnden behielt, konnte es nicht nur – in Restbestnden bis in das 19. Jahrhundert – einen gefhrlichen Brîckenkopf im Nordosten des Heiligen Rçmischen Reiches jederzeit aktivieren und instrumentalisieren. Diese Garantiemacht des Westflischen Friedens, eine Potenz des europischen Mchtesystems fîr rund sieben Jahrzehnte,282 wurde oben280 Vgl. oben Anm. 115, und bei Anm. 141 – 145. 281 W. Neugebauer, Magdeburg, Halberstadt, Minden … (s. Anm. 55), S. 177; Heinz Duchhardt, Altes Reich und europische Staatenwelt (= Enzyklopdie deutscher Geschichte, 4), Mînchen 1990, S. 12; vgl. oben Anm. 143. 282 Heinz Duchhardt, Das Zeitalter des Absolutismus (= Oldenbourg Grundriß der Geschichte, 11), Mînchen 1989, S. 86, Mînchen 31998, S. 88; Klaus Zernack, Das

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drein zum unmittelbaren und gefhrlichen Nachbarn der mittleren Territorien Brandenburg-Preußens. Und in der Tat war selbst die unmittelbare Konfrontation zwischen Brandenburg und Schweden mit dem Friedensschluß des Oktobers 1648 noch nicht vçllig beendet. Da waren zum einen die Rîck- und Durchzîge schwedischer Kontingente, die fîr die Mark und fîr Berlin-Cçlln auch in den nchsten Jahren noch eine unmittelbare Bedrohung darstellten. Bis 1650 hatte man die Schweden im Land, und sie waren zum Abzug erst bereit, als sogenannte „Satisfaktionsgelder“ aus dem daniederliegenden Land gezahlt worden waren. Deshalb konnte im westflischen Minden die Besitzergreifung durch Kurbrandenburg gleichfalls erst 1650 geschehen, und aus dem nun kurbrandenburgischen Teil Pommerns zog die Ostseemacht erst 1653 ab.283 Freilich hat Schweden noch sehr viel lnger Einfluß auf die hinterpommerschen Hfen genommen und bei den Hafenabgaben, den Lizentgebîhren, ein Mitspracherecht ausgeîbt.284 Der zweite Brennpunkt des politischen Geschehens blieb um 1650 – aus der Sicht der brandenburgischen Diplomatie – der Niederrhein. Dort haben die Rivalitten mit den katholisch gewordenen Pflzern (Neuburg) auch nach dem Westflischen Frieden angehalten und wenig spter zu einem klglich gescheiterten Versuch des Großen Kurfîrsten gefîhrt, mit Gewalt die niederrheinischen Ansprîche auf das begehrenswerte jîlich-bergische Gebiet durchzusetzen. Aber der Einmarsch des Kurfîrsten fîhrte nicht nur zu einem spektakulren Schritt der Klevischen Landstnde, die sich demonstrativ gegen das Vorgehen ihres Landesherrn aussprachen, sondern auch zu großer Erregung im Heiligen Rçmischen Reich. Die Kmpfe, die am Niederrhein ganz ohne Zweifel durch den brandenburgischen Kurfîrsten vom Zaune gebrochen worden waren, schienen den eben gewonnenen Frieden in Mitteleuropa sogleich aufs neue zu gefhrden. Die militrische Aktion und die sich daraus ergebenden Kampfhandlungen hat Friedrich Wilhelm rasch abbrechen mîssen, und zugleich war diese Offensive des Jahres 1651 fîr ihn eine schwere moralische und diplopreußische Kçnigtum und die polnische Republik im europischen Mchtesystem des 18. Jahrhunderts (1701 – 1763), in JbGMitteldtld 30 (1981), S. 4 – 20, hier S. 8; Walter Platzhoff, Geschichte des europischen Staatensystems 1559 – 1660 (= Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. 2), Mînchen/Berlin 1928, S. 226. 283 B. Erdmannsdçrffer, Waldeck … (s. Anm. 224), S. 113; O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 4, S. 296, Nr. 257, 5, S. XXXVI f., S. LII; C. Jany, Anfnge … (s. Anm. 89), S. 96 f. 284 Aus intensiven Quellenforschungen schçpfend, und deshalb von bleibendem Wert: Gustav Schmoller, Studien îber die wirthschaftliche Politik Friedrichs des Großen und Preußens îberhaupt von 1680 – 1786, Erste Serie I-VII. Sonderabdruck aus dem Jahrbuch fîr Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirthschaft im Deutschen Reich, 8 (1884), S. 386.

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matische Niederlage. Es war mehr als ein Fehler des noch immer jugendlichtastenden Landesherrn, der seine politischen und militrischen Mçglichkeiten ganz falsch taxiert hatte.285 Sehr deutlich wurde zugleich, daß auch – oder gerade – nach dem Westflischen Frieden Politik nicht ohne Rîcksicht auf das Heilige Rçmische Reich und sein soeben kodifiziertes System getrieben werden konnte. Vor allem durfte die Haltung des Kaisers nicht aus den politischen Kalkulationen herausgelassen werden.286 Die Forschung und die ltere borussische Geschichtsschreibung hat die Bedeutung und Lebenswirklichkeit des Heiligen Rçmischen Reiches nach 1648 im allgemeinen und auch die Bedeutung des Heiligen Reiches fîr die brandenburg-preußische Politik im besonderen lange Zeit unterschtzt; aber die Bedingungen brandenburg-preußischer Politik im 17. und 18. Jahrhundert unterschieden sich noch lange von denjenigen, in denen souverne Staaten in der Zeit des Nationalstaats Macht- oder Realpolitik getrieben haben. Brandenburg und seine Nebengebiete im Heiligen Rçmischen Reich und das Herzogtum Preußen unter polnischer Lehnshoheit standen noch nicht als souverne politische Einheiten anderen gleichberechtigt gegenîber. Brandenburg-Preußen war gleich zweifach in Systeme gestufter Loyalitten eingebunden, die (noch) nicht mit der Kategorie der Souvernitt zu definieren waren. Insofern fîhrt schon das Mißgeschick von 1650/51 auf die Bedeutung von Kaiser und Reich als Bedingungsfaktoren brandenburgischer Politik in der Frîhen Neuzeit. Die Haltung des Kaisers war nicht nur am Niederrhein von großer praktischer Bedeutung fîr die Realisierung der territorialen Aspirationen. Auch dann, wenn es darum ging, die Schweden endlich aus Pommern herauszudrngen, war der Kaiser, war die Reichspolitik im Spiele, bedurfte es also der Rîcksicht auf die Hofburg in Wien, denn nur von dort aus konnte die Belehnung mit den Neuerwerbungen erfolgen. Gewiß war der Kurfîrst von Brandenburg kein „Gefolgsmann“ des Habsburgers,287 und Friedrich Wilhelm hat in den fînfziger Jahren unter der øgide des Geheimen Rates Georg Friedrich von Waldeck gleichsam die „Fîhrung der Reichstagsopposition“ (Kîntzel) îbernommen. Dieses politische Programm 285 B. Erdmannsdçrffer, Waldeck … (s. Anm. 224), S. 26 – 34; G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 40; O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 4, S. XLIII-LVI. 286 Anton Schindling, Der Große Kurfîrst und das Reich, in: G. Heinrich (Hg.), Sonderbares Licht … (s. Anm. 202), S. 59 – 74, hier S. 61. 287 A. Schindling, wie Anm. 286; zu Waldeck B. Erdmannsdçrffer, Waldeck … (s. Anm. 224), S. 152 ff., das Zitat S. 153, ferner S. 178 – 188, S. 255 – 267, S. 293 f., S. 297; T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 183 ff.; G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 48 f.; G. Kîntzel, Hohenzollern … (s. Anm. 41), S. 425; zur Bedeutung der Geschichte des Alten Reiches fîr die preußische Geschichte siehe jetzt umfassend Frank Kleinehagenbrock mit seinem Beitrag in diesem Band.

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fand in der gegen den Kaiser gerichteten „Unionspolitik“ Ausdruck, die nicht zufllig um 1870, in der unmittelbaren Vorphase der deutschen Reichsgrîndung große historiographische Aufmerksamkeit gefunden hat. Schon in der Zeit Waldecks schien ein „deutsche(r) Fîrstenbund unter preußischer (!) Fîhrung“ (Erdmannsdçrffer) angestrebt worden zu sein, und in der Tat hat Waldeck versucht, eine Union der protestantischen Reichsterritorien zusammenzubringen und damit unter brandenburgischer Fîhrung ein Gegengewicht zum Kaiser zu bilden. An Kursachsen und Kurpfalz, Bremen, Verden (Schweden) und Braunschweig, an Hessen und Mecklenburg war da zu denken; sie alle sollten ihre Politik auf dem Reichstag und in den Reichskreisen abstimmen. Aber auch darin, wie schon in der mehr peinlichen Aktion um Jîlich und Berg, kam ein gutes Stîck ˜berschtzung der eigenen Mçglichkeiten und eine Fehleinschtzung des brandenburgischen Gewichts zum Ausdruck. Sicher war auch die Verstimmung in der Umgebung des Kurfîrsten darîber mit im Spiel, daß der Kaiser die klevische Stndeopposition noch unterstîtzte. Der Unionsplan scheitere, nur Vertrge defensiven Charakters mit den braunschweig-lîneburgischen Herzçgen aus welfischem Hause kamen 1654 zustande, ferner eine politische Annherung an Hessen-Kassel. Bemerkenswert an der Unionspolitik seit 1653 ist aber, daß sich die brandenburgische Politik dabei nun konsequent auf die Basis des Westflischen Friedens stellte. Die Episode der Waldeckschen Unionspolitik darf jedenfalls nicht die Tatsache îbersehen lassen, daß der Kurfîrst – und auch seine nchsten Nachfolger – das Heilige Rçmische Reich als wesentliche Bedingung brandenburgischer(-preußischer) Politik respektierten, daß sie sich bei aller temporrer Verstimmung îber Habsburg dann gleichwohl zweimal, 1653 und 1658 bereit gefunden haben, als Kurfîrsten habsburgischen Kandidaten ihre Stimme zu geben. Insofern haben die brandenburgisch-preußischen Hohenzollern auch in einer Zeit, in der sie den Versuch zur Grîndung einer eigenen Partei im Reiche unternahmen, das Haus Habsburg gestîtzt, d. h. gerade in den Jahren, in denen sich die Kaiser nach dem Westflischen Frieden zunchst in einer Schwcheperiode befanden und ihre Rîckkehr ins Reich vorbereiteten.288 Gewiß hat die „hastige Impulsivitt“ des Großen Kurfîrsten289 auch auf die reichspolitischen Konstellationen Auswirkungen gehabt, aber in der Grundlinie ist er – entgegen den Interpretationen, nach denen der Kurfîrst den Bestand des Reiches bewußt gefhrdet htte – zumindest reichsloyal gewesen. Dem ersten Rheinbund unter franzçsischer 288 Adolf Schultz, Die Beziehungen des grossen Kurfîrsten zum Kaiser von der Wahl Leopolds I. bis zum Jahre 1673, phil. Diss. Kiel 1896, S. 7 – 19; Emil Walter, Die Politik der Hohenzollern bei den deutschen Kaiserwahlen. Im Zusammenhange dargestellt, Berlin 1879, S. 164 – 189; A. Schindling, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 286), S. 60 – und zum Folgenden S. 66 f.–S. 73; G. Kîntzel, Hohenzollern … (s. Anm. 41), S. 425. 289 O. Hçtzsch, Stnde und Verwaltung … (s. Anm. 178), S. XVII.

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Fîhrung ist Friedrich Wilhelm erst in dessen letzter Phase, d. h. in der Mitte der sechziger Jahre des 17. Jahrhunderts beigetreten, wiewohl gerade dieses Bîndnis bei allen reichspolitischen Motivationen eine antihabsburgische Spitze besaß.290 Jedenfalls hat sich Kurbrandenburg fortan auf die Grundlage des Friedens von Mînster und Osnabrîck gestellt und nur in der pommerschen Frage eine Modifikation erstrebt. Im Reich hat Brandenburg sich an Assoziationen nur wenig beteiligt. Schon der Vorteil, bei zweiseitigen Vertrgen rascher einen Bîndniswechsel durchfîhren zu kçnnen, sprach gegen die Teilnahme an komplexeren Bîndnissen, was freilich auch zu einer gewissen Sonderstellung Kurbrandenburgs unter den Reichsstnden beigetragen hat.291 Mit den Gebietsgewinnen von beziehungsweise nach 1648 ist, so kann man argumentieren, Brandenburg sogar eher tiefer in das Heilige Rçmische Reich hineingewachsen, nahm es doch nun etwa fîr das Fîrstentum Minden das Stimmrecht im niederrheinisch-westflischen Reichskreis und Fîrstenratsstimmen z. B. fîr Pommern wahr;292 spter, nach 1680, hat es auch fîr Magdeburg eine weitere Stimme auf dem Reichstag und das Mitdirektorium im niederschsischen Kreis besessen. Auf den Kreistagen der Reichskreisorganisation sind etwa Fragen der Verteidigung oder auch solche der Mînzpolitik beraten worden.293 Im oberschsischen Kreis hat einerseits die Rivalitt zu Kursachsen, andererseits diejenige zu Schweden, das wegen Pommern vertreten war, die Funktionsfhigkeit beeintrchtigt und dann um 1700 zum Erliegen gebracht.294 Die Kreise waren aber auch insofern von politischer 290 A. Schindling, Kurbrandenburg im System des Reiches … (s. Anm. 215), S. 38; vgl. Fritz Hartung, Neuzeit. Von der Mitte des 17. Jahrhunderts bis zur Franzçsischen Revolution 1789 (= Handbuch fîr den Geschichtslehrer, 5), Wien 1937, S. 34 ff., und O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 222; Ernst Opgenoorth, Der Große Kurfîrst, das Reich und die europischen Mchte, in: O. Hauser (Hg.), Preußen, Europa … (s. Anm. 215), S. 19 – 31, bes. S. 23, S. 26; vgl. August Siemsen, Kurbrandenburgs Anteil an den kaiserlichen Wahl-Kapitulationen von 1689 bis 1742 (= Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, 3, Heft 3), Weimar 1909, S. 3. 291 A. Schindling, Kurbrandenburg im System des Reiches … (s. Anm. 290), S. 38. 292 Walter Isaacson, Geschichte des niederrheinisch-westflischen Kreises von 1643 – 1667, phil. Diss. Bonn, Dinslaken 1933, S. 21; Johann Gustav Droysen, Der Staat des Großen Kurfîrsten (= Geschichte der Preußischen Politik, 3. Tl., 3. Abt.), Leipzig 2 1872, S. 472; A. Schindling, Kurfîrst und das Reich … (s. Anm. 286), S. 61 f.; B. Erdmannsdçrffer, Waldeck … (s. Anm. 224), S. 169 ff.; destruktive Haltung Brandenburgs: Rudolf Endres, Franken zwischen den Großmchten 1648 – 1806, in: Max Spindler (Hg.), Handbuch der bayerischen Geschichte, 3/I, Mînchen 21979, S. 231 – 248, hier S. 239 Anm. 2. 293 O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 5, S. 173 f., Nr. 156, ferner S. 197 f., 7, S. 89, Nr. 154 u. ç. 294 O. Meinardus, Protokolle … , 4, S. 189, 7, S. 237; Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise in der Verfassung des alten Reiches und ihr Eigenleben (1500 – 1806),

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Bedeutung, als in ihnen das Prsentationsrecht zu den Assessorenstellen am Reichskammergericht wahrgenommen wurde.295 Wenn auch aus der Kurmark selbst nach den Bestimmungen der Goldenen Bulle von 1356 nicht an Gerichtsinstanzen des Heiligen Reiches appelliert werden konnte,296 war doch Kurbrandenburg fîr seine verschiedenen Gebiete im Heiligen Rçmischen Reich sehr wohl berechtigt, fîr die Stellen am Reichskammergericht bei eintretenden Vakanzen Personal zu benennen, d. h. zu prsentieren, auch îbrigens fîr die Mark Brandenburg selbst. Im oberschsischen, im niederschsischen und im niederrheinisch-westflischen Reichskreis war der Große Kurfîrst also in der Lage, sich dieses Instrumentes zu bedienen, und er hat davon in der zweiten Hlfte des 17. Jahrhunderts mehrmals Gebrauch gemacht.297 Obwohl im 18. Jahrhundert die Politik der Herrscher dahin ging, die Einflîsse der Reichsgerichtsbarkeit auf den Staat mçglichst abzuschwchen und schließlich zur Mitte des 18. Jahrhunderts ganz zu beseitigen (Appellationsprivilegien 1746/50), hat doch der Appellationsweg aus dem brandenburgischen Lnderverband an die Reichsgerichte, d. h. an Reichskammergericht oder Reichshofrat, durchaus Bedeutung besessen, noch lange auch eine durchaus politische. Es war ja durchaus mçglich, daß ein Untertan den Kurfîrsten etwa in finanziellen Konflikten dort verklagen konnte,298 und ebenso haben Korporationen, auch solche mit stndischer Qualitt, bei Bedarf zu dieser Waffe gegriffen. Die Weiterungen, auch solche politischer Dimensionen im europischen Reichsverband, waren jedenfalls unkalkulierbar genug, um den Kurfîrsten bisweilen in

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Darmstadt 1989, S. 112, S. 119 ff., S. 126, S. 128 – 132; ergnzend wichtig A. Berney, Friedrich I. … (s. Anm. 237), S. 250 – 252; neuerdings zum Thema Thomas Nicklas, Der oberschsische Reichskreis – Konturen eines vergessenen Zirkels, in: JbGMitteldtld 47 (2001), S. 1 – 21, bes. S. 2 ff., S. 19 ff.; Ders., Macht oder Recht. Frîhneuzeitliche Politik im Oberschsischen Reichskreis, Stuttgart 2002, bes. S. 284 ff., und S. 297 – 330, in specie S. 326 – 329. W. Dotzauer, Reichskreise … (s. Anm. 294), S. 126. Kurt Perels, Die allgemeinen Appellationsprivilegien fîr Brandenburg-Preußen (= Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, 3, Heft 1), Weimar 1908, S. 24. Sigrid Jahns, Brandenburg-Preussen im System der Reichskammergerichts-Prsentationen 1648 – 1806, in: Hermann Weber (Hg.), Politische Ordnung und soziale Krfte im Alten Reich (= VerçffInstEurG, Abt. Universalgeschichte, Beiheft 6. Beitrge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reichs, [Nr.] 2), Wiesbaden 1980, S. 169 – 202, bes. S. 170, S. 173 – 177, S. 183 – 185, S. 192, jeweils mit der lteren Lit.; vgl. zustzlich Christian Rau, Abhandlung von den Prsentationen des Oberschsischen Kraises zu den Aßeßoratsstellen bey dem Kaiserlichen Reichs-Kammergericht, Regensburg 1782, S. 72 f. Beispiel: O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 6, S. 306, S. 328 f. (ein von Bîlow); zum Ganzen mit weiterer Lit. W. Neugebauer, Magdeburg, Halberstadt, Minden … (s. Anm. 55), S. 183 – 186 und Anm. 108 – 126 auf S. 202 – 204.

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einem sehr frîhen Stadium der Auseinandersetzungen zum Nachgeben wenn nicht zu zwingen, so doch zu bewegen. Das Heilige Rçmische Reich – das kçnnen wir bei starkem Forschungsbedarf fîr den brandenburgischen Faktor doch jetzt schon feststellen – besaß nicht nur Lebenskraft und Lebenswirklichkeit in der Zeit des Großen Kurfîrsten. Es wirkte in den Herrschaftsbereich Friedrich Wilhelms nachdrîcklich hinein und Brandenburg hat im politischen Kampf sehr wohl die Dimension der reichischen Traditionen und Institutionen beachtet und geachtet. Und es kam noch ein weiterer Faktor entscheidend hinzu. So sehr der Kurfîrst im Vorfeld von Mînster und Osnabrîck ganz wesentlich daran beteiligt gewesen war, daß fortan die Reformierten im Reich mit gleichen Rechten wie Katholiken und Lutheraner behandelt wurden, so spielte die Konfessionsfrage auch weiterhin eine nicht zu unterschtzende Rolle in der Reichspolitik Friedrich Wilhelms, ja er nahm, wie Heinz Duchhardt es treffend formuliert hat, die „Rolle des Protektors des Protestantismus im Reich und in Europa“299 wahr. In diesem Punkt durften sich die Herrscher auch mit den brandenburgischen Stnden eins wissen, die ausdrîcklich die kurfîrstliche Politik der „Defendirung der Libertt deß Teutschen Vaterlandes, und conservation der wahren Evangelischen Religion und des gemeinen Bestens“ unterstîtzten.300 Die Stellung Brandenburgs im Heiligen Reich als Protektor des Protestantismus hat sich nach dem ˜bertritt Augusts des Starken zum Katholizismus im Jahre 1697 verstrkt. Wenngleich Kursachsen formell die Fîhrung der Protestanten am Reichstag, d. h. das Directorium des Corpus Evangelicorum, behielt, hat doch Kurbrandenburg nunmehr „die faktische Fîhrung des Corpus Evangelicorum“ in Regensburg îbernommen und fortan aktiver noch gehandhabt.301 Damit wurde eine Entwicklung fortgefîhrt, die in den fînfziger Jahren des 17. Jahrhunderts bereits erkennbar wurde.302 Gleichwohl: Brandenburg war weitab davon, im Sinne des spteren preußisch-çsterreichischen Dualismus etwa schon unter dem Großen Kurfîrsten in einem prinzipiellen Gegensatz zum Kaiser zu stehen. Die perspektivische Rîckîbertragung des deutschen Dualismus in das 17. Jahrhundert ist ein un299 Vgl. oben bei Anm. 142 – 145, zur Rolle des Kalvinismus in den Verhandlungen bis 1648; hier: Heinz Duchhardt, Protestantisches Kaisertum und altes Reich. Die Diskussion îber die Konfession des Kaisers in Politik, Publizistik und Staatsrecht (= VerçffInstEurG, 87, Abt. Universalgeschichte. Beitrge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches, [Nr.] 1), Wiesbaden 1977, S. 227. 300 So am 22. Oktober 1696, Brandenburgisches Landeshauptarchiv Potsdam, Pr. Br. Rep. 23 A, Akte B 60. 301 A. Schindling, Kurbrandenburg im System … (s. Anm. 290), S. 38 (mit Lit.); H. von Mîhler, Kirchenverfassung … (s. Anm. 54), S. 193; F. Wolff, Corpus evangelicorum … (s. Anm. 85), S. 95, S. 184 Anm. 15. 302 F. Wolff, Corpus evangelicorum … (s. Anm. 85), S. 185.

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haltbarer Anachronismus.303 Brandenburg war trotz seines Gebietsgewinns auch nach 1648 nicht mehr als eine nordostdeutsche Regionalmacht, im europischen Maßstab „vorerst eine nachgeordnete Potenz“ (Schindling). Noch stand durchaus nicht fest, daß Brandenburg-Preußen etwa Bayern, das noch eben im Dreißigjhrigen Krieg eine wichtige und zu Zeiten entscheidende Rolle gespielt hatte, îberflîgeln wîrde. Die Konkurrenten in Kursachsen und den welfischen Gebieten westlich der Mark Brandenburg waren nach 1648 gleichauf, ja kulturell und materiell in einer um einiges vorteilhafteren Lage.304 Kurbrandenburg zwischen Schweden und dem Kaiser, im Innern durch die Katastrophe der letzten Jahrzehnte grîndlich geschwcht, befand sich in einer alles andere als gînstigen strategischen Position. Wir besitzen eine eigenhndige Niederschrift des jungen Kurfîrsten aus der Schlußphase des Krieges, in der er die Lage grundstzlich reflektierte, und darin kommt sehr viel mehr als nur eine temporre Situationsbeschreibung zum Ausdruck. „Wan man betrachtet Wie meine landen gelegen, auf einer seitten ist die Chrohn Schweden(,) auff der anderen der Kayser, und sitze gleichsahm mitten zwissen Ihnen innen, undt erwahrte, was Sie mitt mir anfangen oder thun Wollen, ob Sie mir das meinige lassen, oder nehmen Wollen, eine parti zu Wehlen ist gefehrlich Wegen der gefahr die hieraus entstehen konte.“305 Der Versuch, durch eine Heiratsverbindung Friedrich Wilhelms mit der schwedischen Kçnigsfamilie die Brisanz der Konstellation etwas zu entschrfen und dabei vielleicht auch die Pommernfrage zu lçsen, war an Widerstnden der anderen Seite nach jahrelangen Bemîhungen gescheitert. Erst danach ist die Ehe Friedrich Wilhelms mit der Oranierin Luise Henriette zustande gekommen, einer Enkelin Wilhelms von Oranien und Urenkelin des Admirals Coligny.306 Darin ist gewiß eine Verstrkung nordwesteuropischer Optionen und Einflîsse der „niederlndischen Bewegung“ auszumachen. Mit Schweden hatte man aber nicht nur als pommerschem Nachbarn und als Mitstand im Heiligen Rçmischen Reich und im oberschsischen Reichskreis zu tun; natîrlicherweise stieß die brandenburg-preußische Politik auf diese Ostseemacht in existenziellen Fragen des Herzogtums Preußen zwischen 303 Richtig H. Duchhardt, Absolutismus … (s. Anm. 282), S. 87 f. (1. Aufl.), und A. Schindling, Kurbrandenburg im System … (s. Anm. 290), S. 45. 304 Vgl. schon F. Hartung, Neuzeit … (s. Anm. 290), S. 32 f., S. 59. 305 UA, 4, S. 553. 306 Toni Saring, Luise Henriette, Kurfîrstin von Brandenburg 1627 – 1667. Die Gemahlin des Großen Kurfîrsten, Gçttingen (1939), S. 19 ff., S. 52 ff.; K. Spannagel, Burgsdorff … (s. Anm. 112), S. 236, S. 238; M. Lackner, Kirchenpolitik … (s. Anm. 137), S. 68 f.; auch O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 184; speziell: Richard Armstedt, Der schwedische Heiratsplan des Grossen Kurfîrsten. Beilage zum Programm des Altstdtischen Gymnasiums zu Kçnigsberg in Preußen Ostern 1896, Kçnigsberg in Preußen (1896), S. 11 ff.

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Weichsel und Memel. Die schwedisch-polnischen Spannungen trieben seit 1654 auf einen gewaltsamen Austrag zu. Bei Konfrontationen in diesem Raum war jederzeit das Herzogtum Preußen als polnisches Lehnsgebiet und angesichts seiner strategischen Lage involviert gewesen und im îbelsten Falle selbst Kampfgebiet geworden. Andererseits war Brandenburg-Preußen im Vorfeld des Konfliktes durchaus ein interessanter potentieller Bîndnispartner, was sich in Verhandlungen des Jahres 1655 in einiger Konzessionsbereitschaft seitens der Schweden zu erkennen gegeben hatte. Schon frîh, d. h. schon Anfang 1655 ist dabei am brandenburgischen Hof der Plan entworfen worden, diese Konstellation dazu zu benutzen, das Herzogtum Preußen aus der nun zwei Jahrhunderte, seit der spten Ordenszeit whrenden Abhngigkeit von Polen herauszulçsen. Es ging um nichts anderes als um die preußische Souvernitt. 307 Um diesem Ziel nher zu kommen, hat sich Brandenburg-Preußen zunchst ins Bîndnis mit Schweden begeben, doch bei zunehmenden militrischen Erfolgen des schwedischen Heeres 1655/56 begann sich bereits das fragile Krfteverhltnis zu ungunsten des brandenburgischen Juniorpartners zu verschieben, so daß zunchst einmal die polnische Lehnsherrschaft îber Preußen nur durch die schwedische abgelçst worden ist. Erst der Sieg des neuen brandenburgischen Heeres im Verband mit dem schwedischen bei Warschau im Juli 1656 ließ das Gewicht, das der Staat des Großen Kurfîrsten gewonnen hatte, nun zur vollen Wirkung kommen. Knapp neuntausend brandenburgische Soldaten hat der Kurfîrst Friedrich Wilhelm vor Warschau selbst gefîhrt, im wesentlichen die Infanterie und die Artillerie wurden von den Brandenburgern, die Kavallerie wurde von den Schweden gestellt. Aber entschieden war der Krieg mit dieser Schlacht noch keineswegs, die strategische Wirkung der Warschauer Schlacht war eher gering. Je mehr sich in Folge des von den Schweden nicht ausgenutzten Sieges bei Warschau deren Lage verschlechterte, und das tat sie noch im Laufe des Jahres 1656, um so wertvoller wurde der brandenburg-preußische Bîndnisgenosse. Das war die Konstellation, in der zunchst (Vertrag von Labiau, 10./ 20. November 1656) Schweden dem Kurfîrsten-Herzog die Souvernitt îber Preußen konzedierte.308 Das schwedisch-brandenburgische Bîndnis ist dadurch 307 B. Erdmannsdçrffer, Waldeck … (s. Anm. 224), S. 306, S. 310 f.; Johannes Kunisch, Kurfîrst Friedrich Wilhelm und die Großen Mchte, in: G. Heinrich (Hg.), Sonderbares Licht … (s. Anm. 202), S. 9 – 32, hier S. 15 f. 308 H. Boockmann, Ost- und Westpreußen … (s. Anm. 4), S. 285; Warschau: Johann Gustav Droysen, Die Schlacht von Warschau 1656. Des IV. Bandes der Abhandlungen der philologisch-historischen Classe der Kçnigl. Schsischen Gesellschaft der Wissenschaften No. IV, Leipzig 1863, S. 373 – 388, zu den beteiligten Krften; Kontext: Ekkardt Opitz, §sterreich und Brandenburg im Schwedisch-Polnischen Krieg 1655 – 1660. Vorbereitung und Durchfîhrung der Feldzîge nach Dnemark und Pommern (= Militrgeschichtliche Studien, 10), Boppard am Rhein 1969, S. 20 – 37; E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 26), 1, S. 336 – 341; G. Kîntzel, Hohenzollern … (s.

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freilich nicht stabilisiert worden, zumal sich durch das Eingreifen von Schwedens Feind Dnemark die Lage zu ungunsten Schwedens verschob. Die Technik des raschen Bîndniswechsels, die der Kurfîrst ja beherrschte, fîhrte ihn mit kaiserlicher Vermittlung rasch auf die andere Seite. Im Vertrag von WehlauBromberg309 aus dem Jahre 1657 wurde das Honorar fîr Brandenburgs Wendigkeit beglichen: Polen erkannte die Souvernitt Preußens nun seinerseits an, ein Schritt, der bereits die Lçsung des Jahres 1660 prformierte. Die polnischen Bevollmchtigten sagten die Entlassung aus dem Lehnsverhltnis zu. Die mnnlichen Nachkommen der kurfîrstlichen Hohenzollernlinie sollten fortan das Herzogtum Preußen „iure supremi dominii cum summa atque absoluta potestate“ besitzen, doch sollten im Falle des Aussterbens des kurfîrstlichen Zweiges der Dynastie ltere polnische Rechte wieder aufleben. Ausdrîcklich wurden in diesem Vertragswerk die Rechte der preußischen Landstnde garantiert. Das war zunchst hinsichtlich Preußens das Maximum, das die brandenburgische Diplomatie aus der gînstigen Situation von 1656/57 herauszuholen vermochte. Kleinere territoriale Abrundungen im Osten und Sîden Pommerns, d. h. Lauenburg und Bîlow, sowie als Pfandbesitz Draheim, kamen hinzu. Der Kurfîrst hat noch versucht, auch seine pommerschen Ziele in dieser Zeit gînstiger Konjunkturen zu erreichen. Der Abzug der Schweden, ihr Engagement in Dnemark – das schien die Situation zu sein, auf die man brandenburgischerseits nur gewartet hatte. Also wurde nun das Schwedische Pommern angegriffen.310 Aber die Eroberung Stettins sollte nicht gelingen, und alle weiteren militrischen Leistungen beim Zug nach Holstein, Schleswig und Jîtland haben nichts genutzt, als erstmals die Drohung franzçsischer Intervention zugunsten Schwedens dazu zwang, die pommerschen Eroberungen des jîngsten Feldzuges wieder aufzugeben. Was blieb, das war die Souvernitt îber Preußen, Anm. 41), S. 427; B. Erdmannsdçrffer, Waldeck … (s. Anm. 224), S. 402; Labiau: T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 211 ff.; zum Ganzen in europischen Zusammenhngen nordischer Kriege seit dem 16. Jh. Robert I. Frost, The Nothern Wars. War, State and Society in Northeastern Euorpe, 1558 – 1721, Harlow 2000, S. 169 – 186, auch zur Schlacht von Warschau; Heinz Schilling, Konfessionalisierung und Staatsinteressen. Internationale Beziehungen 1559 – 1660 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, 2), Paderborn 2007, S. 560 f., mit weiteren Einzelheiten (Vertrag von Kçnigsbergs, 17. Januar 1656), und zur Schlacht von Warschau. 309 Vgl. oben Anm. 201; T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 220 ff., und der Druck bei S. und H. Dolezel, Vertrge … (s. Anm. 8), S. 182 – 192, Zitat S. 186 f., deutsch bei K. F. Pauli, Staatsgeschichte … (s. Anm. 201), 5, S. 78 ff.; die Ratifikation zu Bromberg (6. November 1657) bei Dolezel a.a.O., S. 197 – 206. 310 Feldzug 1959: C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 142; Hermann Klaje, Des Großen Kurfîrsten Stîrme auf Greifswald im Jahre 1659, in: Pommersche Jahrbîcher 10 (1909), S. 75 – 148, bes. S. 109 ff.

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auf der Basis der Vertrge von 1656/57.311 Damit wurden freilich auch die Einschrnkungen, wie wir sie zitierten, mit dem Frieden von Oliva 1660 nicht ausgerumt. Die Souvernitt galt nur fîr direkte mnnliche Nachkommen des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm, und im Falle eines Aussterbens fiel das Herzogtum an Polen zurîck. Die Untertanen in Preußen waren entsprechend zu vereidigen, „und beim Thronwechsel mußte polnischerseits festgestellt werden, ob der neue Herrscher denn tatschlich in direkter Linie vom Kurfîrsten Friedrich Wilhelm abstamme“. Das war die juristische Lage bis 1772.312 „Die damit stabilisierte hçchste Herrschaftsgewalt besaß jedoch nicht die Bedeutung einer auch außenpolitischen oder vçlkerrechtlichen ,Souvernitt‘“, so hat Hans Roos den Sachverhalt scharf zusammengefaßt. „Die Republik [Polen] hatte nach wie vor die Befugnis, Heeresfolge zu verlangen, die ihr whrend der Regierungszeit des Kurfîrsten auch regelmßig geleistet wurde. Ferner behielt sie sich das Recht des Heimfalls dieses herzoglichen Preußen an die polnische Krone vor, ein Recht, das durch eine spezielle Huldigung des Herzogs und seiner Stnde vor polnischen Kommissaren bekrftigt werden mußte. Friedrich Wilhelm … legte diesen Huldigungseid, das ,homagium eventuale‘, in der Tat auch 1663 ab, und ebenso sein Nachfolger Friedrich III. (1690). Nach den Vertrgen wurden beide Anteile Preußens“ – also das Herzogtum Preußen (Ostpreußen) und das noch kçniglich polnische, sptere Westpreußen – „als eine vçlkerrechtliche Einheit betrachtet. Insofern ging aus dem Wortlaut der Vertrge keineswegs eindeutig hervor, ob die Lehnshoheit der polnischen Krone formell wirklich aufgelçst worden war oder ob sie nur ihres materiellen Inhalts entleert worden war“. Erst in Folge der ersten Teilung Polens von 1772, d. h. im Vertrag vom 18. September 1773 sind die letzten lehnsrechtlichen Vorbehalte beseitigt und ist „die volle außenpolitische Souvernitt“ hergestellt worden. Jedenfalls haben die brandenburg-preußischen Herrscher noch sehr lange die Souvernitt îber das Herzogtum Preußens als ungesichert angesehen, der Große Kurfîrst nachweisbar noch in den 1670er Jahren,313 wobei wir an dieser Stelle nur die 311 J. Kunisch, Kurfîrst Friedrich Wilhelm … (s. Anm. 307), S. 16 ff.; G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 51; G. Kîntzel, Hohenzollern … (s. Anm. 41), S. 427 f.; T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 239 – 251, Nr. 129 a., bes. S. 246, S. 250; nîtzlich noch Karl Friese, ˜ber den usseren Gang der Verhandlungen beim Frieden von Oliva, phil. Diss. Kiel 1890, S. 57; zum kçniglich (polnischen) Preußen und den Vorgngen von 1657 vgl. Karin Friedrich, The Other Prussia. Royal Prussia, Poland and Liberty, 1659 – 1772, Cambridge 2000, S. 150 f. 312 H. Boockmann, Ost- und Westpreußen … (s. Anm. 4), S. 302; folgendes Hans Roos, Polen von 1668 bis 1795, in: Fritz Wagner (Hg.), Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklrung (= Handbuch der europischen Geschichte, 4), Stuttgart 1968, S. 690 – 752, hier S. 693, 1773: S. 747 (Zitat); Jçrg K. Hoensch, Geschichte Polens, Stuttgart 21990, S. 165. 313 Alexander Koller, Die Vermittlung des Friedens von Vossem (1673) durch den jîlich-bergischen Vizekanzler Stratmann. Pfalz-Neuburg, Frankreich und Brandenburg

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Frage aufwerfen, nicht aber beantworten kçnnen, ob mit dem ja recht rigiden Souvernittsbegriffs Bodins und des 17. Jahrhunderts313a die Vorgnge von 1656/57/60 im vollem Umfang zu fassen sind. Angesichts der alles andere als schon entschiedenen Situation um Preußen haben sich die Herrscher nach außen und nach innen, wenn es irgend ging, pragmatisch verhalten, und so den polnischen Einfluß weiter zu vermindern gesucht. Noch Kçnig Friedrich Wilhelm I. hat sich 1722 in seiner „Instruckcion wie sich mein Successor von der Kron Preussen nach mein toht zu richten hat“ mit intimen Ratschlgen und Weisungen dazu geußert. „Wen(n) mein Successor sich in Preussen wierdt huldigen lassen“, so mîsse er das unbedingt „heimlich“ tun, jedenfalls es so mit den (Außen-) Ministern vorbereiten. Dies mîsse dann „in der geschwindigkeit“ geschehen „das Kein Polnischer Magnat dabey erscheine und die hulidgung so abgehe als wie ich bin gehuldiget worden[,] sondern ist ein Polnischer Magnaht dabey ist eine schlimme consequance das werdet Ihr im archiff finden[,] laßet aufsuchen die huldigung von mein Vatter und grohsvatter da werdet Ihr sehen was das vor eine importance ist und nicht eine ceremonie ist. In Preussen ist auch ein großer adell der gravenstandt der considerabelste ist[,] auf die finckische und Donaische familie mus mein Successor ein wachsahmes auge hahben sonsten sie mit mein Successor mit Regiren werden und die beide fammilien die alte Preussische Polnische Privilegia noch im hertzen hehgen das seit versichert“.314 Insofern blieben, und das war den preußischen Kçnigen auch im ganzen 18. Jahrhundert hindurch bewußt, ostmitteleuropische Faktoren im çstlichen Teil der Monarchie durchaus ein Element der politischen Kultur. Die „Souvernitts“-Lçsung von 1660 war nur in einer sehr spezifischen gesamteuropischen Lage mçglich gewesen, eine, in der das noch kleine Gewicht Brandenburg-Preußens die Waagschale in gînstiger Stunde zu bewegen vermochte. Zur Gunst der Situation gehçrte freilich auch, was in der preußischen Historiographie nicht berîcksichtigt zu werden gepflegt wird, daß Polen, das im 16. Jahrhundert eine große Zeit erlebt hatte und vom Dreißigjhrigen Krieg nicht zentral betroffen worden war, nach 1648 dann allerdings in eine Phase innerer und ußerer Erschîtterungen eintrat;315 nur so scheint der Erfolg des Großen Kurfîrsten um 1660 letztlich erklrt werden zu kçnnen. Nach 1660 trat Politik und Strukturbildung in Brandenburg-Preußen zunchst in eine Phase zwischen dem Frieden von Aachen und der Reichskriegserklrung an Ludwig XIV. (1668 – 1674) (= Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte, 22), Mînster 1995, S. 82. 313a Helmut Quaritsch, Staat und Souvernitt, 1: Die Grundlagen, Frankfurt am Main 1970, S. 266 ff. 314 G. Kîntzel / M. Hass (Hg.), Testamente … (s. Anm. 136), 1, S. 102 f. 315 J. K. Hoensch, Polen … (s. Anm. 312), S. 143 ff., S. 151 (Liberum veto); und Oskar Halecki, Geschichte Polens, Frankfurt am Main 1963, S. 135.

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der Konsolidierung ein – man erinnere sich an den Aufbau der Kommissariatshierarchie in Folge des ersten nordischen Krieges bis Oliva. Die Strategie mçglicher Konfliktvermeidung und –begrenzung,316 die Brandenburg-Preußen im Jahrzehnt nach dem Frieden von Oliva prinzipiell verfolgte, schloß allerdings nicht aus, daß Friedrich Wilhelm zunchst mit dem Gedanken gespielt hat, nun seinerseits die polnische Wahlkrone zu erwerben. Friedrich Wilhelm scheint dafîr sogar bereit gewesen zu sein, auf die eben gewonnene „Souvernitt“ îber das Herzogtum Preußen zugunsten Polens wieder zu verzichten – ein Umstand, der fîr die Frage von Bedeutung ist, wie linear die brandenburg-preußische Staatspolitik eigentlich angelegt gewesen sei. Wichtiger als die Frage der Souvernitt im Herzogtum war fîr den Monarchen diejenige des Konfessionswechsels, der allerdings fîr eine aktive dynastische Politik der Hohenzollern in Polen unvermeidlich geworden wre, von politischen Risiken einer solchen brandenburg-preußisch-polnischen ˜berlast-Konstruktion einmal abgesehen.317 Zunchst hat Kurbrandenburg nach 1660 in Distanz zu Frankreich und in enger Anlehnung an die Hofburg gestanden und versucht, das Reich gegen fremde Einwirkungen absichern zu helfen. Der Beitritt Kurbrandenburgs zum Rheinbund, von dem wir im Kontext der Reichspolitik des Kurfîrsten schon hçrten, steht im Zusammenhang mit einer Annherung Brandenburgs an Frankreich. Acht Vertrge sind zwischen 1664 und 1686 von Frankreich und Kurbrandenburg geschlossen worden, numerisches Indiz fîr den politischen Stil – wir dîrfen tatschlich sagen: – des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm, der zumal auf dem Felde der Außen- und der Reichspolitik sehr persçnlich fîhrte und selber die wesentlichen Entscheidungen fllte. Zu einer festen Bindung an Frankreich ist es nicht gekommen, schon die Grundlinie franzçsischer Ostexpansion stand einer lngeren und stabileren Beziehung entgegen. An dieser Stelle kommt es auf das Grundmuster bîndnispolitisch „hektischer Kurzatmigkeit“ an, durch die die Politik Friedrich Wilhelms gekennzeichnet ist.318 Auch weiterhin gingen außenpolitische Parteinahmen mit z. T. heftigen Parteikmpfen am brandenburgischen Hof einher. Und ein weiteres Motiv bran316 So E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 82 f. 317 K. Zernack, Polen … (s. Anm. 201), S. 416; Ludwig Petry, Das Verhltnis der schlesischen Piasten zur Reformation und zu den Hohenzollern, zuerst 1976, wieder in: Ders., Dem Osten zugewandt. Gesammelte Aufstze zur schlesischen und ostdeutschen Geschichte. Festgabe zum fînfundsiebzigsten Geburtstag (= Quellen und Darstellungen zur schlesischen Geschichte, 22), Sigmaringen 1983, S. 293 – 301, hier S. 298; E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 16 f., und 1, S. 57 – auch zum Folgenden. 318 E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 73 – 75, S. 79, S. 82; Ders., Kurfîrst und das Reich … (s. Anm. 290), S. 27; ferner noch erhellend G. Kîntzel, Hohenzollern … (s. Anm. 41), S. 435 f.; „hektische Kurzatmigkeit“ des Großen Kurfîrsten: J. Kunisch, Kurfîrst Friedrich Wilhelm … (s. Anm. 307), S. 22 f.; O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 223 – 225.

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denburgischer Politik tritt wiederholt entgegen: Gemeint ist die Bedeutung der Subsidien, d. h. der Geldzahlungen durch auswrtige Staaten an Kurbrandenburg, deren Gewicht auch den fremden Mchten nicht verborgen geblieben ist. Die außenpolitische Sprunghaftigkeit und das hohe Maß von bîndnispolitischem Pragmatismus war also wohl nicht zuletzt der Tatsache geschuldet, daß in den Jahren und Jahrzehnten, in denen der Aufbau von Stehendem Heer und modernerer Administration gerade erst angelaufen war, die Ressourcen fîr eine eigenstndigere und stetigere politische Strategie nicht ausreichten, brandenburg-preußische Mchtepolitik an vorstrategisch-taktische Methoden gebunden blieb. Es waren dies die Jahre und Jahrzehnte, die im Innern durch Strukturaufbau und Krisenkompensation charakterisiert worden sind. Bei den Bîndniswechseln der frîhen 1670er Jahre ist das Subsidienmotiv als ein wesentliches nicht zu îbersehen. Dabei konnte jede Entscheidung im politischen Krftefeld des Ostens Wirkungen im Westen haben und umgekehrt; dies hatten die Jahre bis 1660 bereits eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Zunchst ging es um die Frage, wie sich Brandenburg-Preußen angesichts des bedrohlichen niederlndisch-franzçsischen Konfliktes stellen sollte. Das Defensiv-Bîndnis mit den Vereinigten Niederlanden, das Friedrich Wilhelm am 26. April/6. Mai 1672 abschloß, hatte den Subsidienzahlungen an Kurbrandenburg breiten Raum gewidmet.319 Das Bîndnis hat den Zusammenbruch der Niederlande im Kampf gegen die Franzosen nicht verhindern kçnnen. Auch beim brandenburgisch-franzçsischen Abschluß des Friedens von Vossem im folgenden Jahr spielte das Subsidienmotiv ganz wesentlich hinein, und am kurfîrstlichen Hof kam es 1673 wiederum zu einer „Neuverteilung der Krfte“. Seitens der franzçsischen Verhandlungsfîhrer ist denn auch auf den pikanten Punkt des Geldes mit Nachdruck hingewiesen worden, daß doch der brandenburgische Kurfîrst fîr die Aufrechterhaltung der jungen Armee auf fremde, nun also franzçsische Subsidien angewiesen wre.320 Ebenso hat der Kaiser im Jahre darauf den neuerlichen Wechsel Friedrich Wilhelms in das antifranzçsische Lager – zusammen mit Spanien und den Generalstaaten – mit Geld, genau mit 200.000 Talern honoriert, und dafîr stellte der Kurfîrst mit 16.000 Mann 319 T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 359 ff., Nr. 205, bes. S. 360 f.; vgl. O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 225 f.; E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 230. 320 T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 373 ff., Nr. 212; J. Kunisch, Kurfîrst Friedrich Wilhelm … (s. Anm. 307), S. 25; jetzt A. Koller, Vossem … (s. Anm. 313), S. 26, S. 87, weiter zu Subsidien S. 113, Inhalt: S. 133 ff., S. 146 Anm. 3, Zitat S. 146, vgl. auch S. 140; ltere Spezialstudie: Karl Erhard Ross, Die Politik des Grossen Kurfîrsten whrend des Krieges gegen Frankreich 1672 – 75 mit besonderer Berîcksichtigung des Separatfriedens von Vossem vom 6. Juni 1673 und des Zuges nach dem Elsass im Herbst 1674, phil. Diss. Jena 1903, S. 20 – 27.

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einen nicht unerheblichen Teil seiner Truppen zur Verfîgung.321 Auch am Reichstag hat Kurbrandenburg zu dieser Zeit gegen Frankreich Position bezogen. Brandenburg und sehr persçnlich der Kurfîrst selbst haben nun im Westen gegen Frankreich, dessen Truppen die Pfalz verwîsteten, Stellung genommen, der Kurfîrst hat bei dem folgenden – wenn auch nicht sehr glîcklich verlaufenen – Feldzug die Truppen selbst befehligt.322 In dieser angespannten Situation kam es zum (neuerlichen) franzçsisch-schwedischen Bîndnis und zum berîhmten Einfall der benachbarten Schweden mit Truppen in die Mark Brandenburg seit Dezember 1674. Nach einigem Zçgern, wohl um sich der Bîndnispartner zu versichern, ist der Kurfîrst dann mit rund 15.000 Mann aufgebrochen, mit einem Teil, wohl rd. 6.000 Mann, hat Friedrich Wilhelm – wiederum persçnlich kommandierend – das Gefecht von Fehrbellin und Hakenberg gefîhrt, im wesentlichen Kavallerie und zwçlf Geschîtze, mit denen es gelang, die Schweden zum – allerdings sehr wohl geordneten – Rîckzug zu zwingen.323 Vernichtet war der Gegner nicht, aber es war der erste selbstndige Sieg, ein großer Prestigegewinn ganz ohne Zweifel. Nach dem Gefecht bei Fehrbellin taucht die Bezeichnung „Großer Kurfîrst“ in den Quellen auf, und wie es scheint, zuerst in einem Volkslied aus dem Elsaß.324 Was folgte, das war der neuerliche Griff Brandenburgs nach dem schwedischen Teil Pommerns, schon nachdem der Reichstag in Regensburg den Reichskrieg gegen Schweden beschlossen hatte; die Kmpfe um Pommern fîllten die Jahre 1675 bis 1678, auch Stettin und schließlich sogar Rîgen fielen in die Hand der Brandenburger; den Einfall der Schweden von Livland aus nach Preußen hinein und der berîhmte Winterfeldzug vom Anfang 1679 bot 321 C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 223; A. Schindling, Immerwhrender Reichstag … (s. Anm. 215), S. 189. 322 G. Oestreich, Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 74 f. 323 C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 229 – 244, Fehrbellin und Rathenow: S. 240 – 244; Von Witzleben / (Paul) Hassel, Fehrbellin. 18. Juni 1675. Zum 200jhrigen Gedenktage, Berlin 1875, bes. S. 75 ff.; vgl. noch M. Philippson, Kurfîrst … (s. Anm. 137), 2, S. 337, S. 339, S. 341 – 359; O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 233 – 236 (auch zum Folgenden); aus der speziellen Lit. noch H. von Gansauge, Veranlassung und Geschichte des Krieges in der Mark Brandenburg im Jahre 1675. Nach Archivalien des Geheimen Staatsarchivs zu Berlin so wie nach anderen Urkunden bearbeitet … , Berlin 1834, S. 26 – 80; Peter Kiehm, Zu den Feldzîgen des brandenburgischen Kurfîrsten Friedrich Wilhelm in Vorpommern 1675 – 1679, in: Jahrbuch fîr Regionalgeschichte 15/II (1988), S. 108 – 115, hier S. 111 ff. 324 Ferdinand Meyer, Ein illustriertes Flugblatt auf die Schlacht bei Fehrbellin, in: Brandenburgia, Jg. 1 (1893), S. 172 – 177, hier S. 172; Carl Hinrichs, Der Große Kurfîrst 1620 – 1688, zuerst 1956, wieder in: Ders., Preussen als historisches Problem. Gesammelte Abhandlungen, hg. von Gerhard Oestreich (= VerçffHistKommBerlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universitt Berlin, 10), Berlin 1964, S. 227 – 252, hier S. 245 f.; W. von Unger, Defflinger … (s. Anm. 275), S. 70 – 75, S. 77.

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einen neuerlichen Hçhepunkt der Kmpfe, die aus der Sicht der brandenburgischen Politik letztlich um das pommersche Erbe gefîhrt wurden. Auch der Winterfeldzug – mit dem berîhmten Ritt von Kavallerieverbnden îber das tief zugefrorene Kurische Haff – gehçrt zu den geradezu legendenumwobenen Vorgngen aus der Regierungszeit des Monarchen, der den neuerlichen Sieg als sehr persçnlichen Erfolg ansehen durfte.325 Ohne Zweifel war Friedrich Wilhelm ein Mann von großer militrischer Leistungs- und Leitungskraft. Wenn er gleichwohl mit Ausnahme eines kleinen Gebietsstreifens rechts der Oder seine Eroberungen wiederum verlor, so deshalb, weil îber die drohende Vernderung des Krfteverhltnisses im sîdlichen Ostseeraum nicht auf den Schlachtfeldern Brandenburg-Preußens, sondern andernorts entschieden wurde. Auch htte die gnzliche Verdrngung Schwedens aus dem oberschsischen Reichskreis eine Vernderung des 1648 gebundenen Krfteverhltnisses im Heiligen Rçmischen Reich bedeutet. Wie im Vorfeld von Oliva 1660 hatte Frankreich eine Neuordnung der Bîndnisse in die Wege geleitet, sich mit den Niederlanden und Spanien verglichen und verlangte nunmehr von Brandenburg den Verzicht auf die Eroberungen seit 1675. Diese Lçsung vermochte Brandenburg-Preußen bei Strafe gefhrlicher Isolation in Europa nicht zu verhindern, sie wurde kodifiziert im Frieden von St. Germain en Laye zwischen Frankreich, Schweden und Brandenburg vom 29. Juni 1679. Noch im selben Jahre hat Kurbrandenburg – besonders markantes Exempel seiner Flexibilitt in politicis – mit Frankreich ein Subsidienbîndnis geschlossen. Die Erbitterung des Kurfîrsten îber den Akt von St. Germain hat ihn daran nicht gehindert, sie richtete sich primr gegen den Kaiser als bisherigen Verbîndeten, der Brandenburg fallengelassen hatte. 1681 ist eine fçrmliche Allianz auf zehn Jahre kontrahiert worden. Brandenburg wollte sich sogar verpflichten, einem franzçsischen Kandidaten bei der nchsten Kaiserwahl die Stimme zu geben. Die Kurstimme Brandenburgs war durchaus Kapital in der europischen Politik.326 Es kann also gar kein Zweifel daran bestehen, daß der Große Kurfîrst, der sich bei Gelegenheit in der publizistischen Begleitung seiner Aktionen sehr gezielt deutscher Argumente bedient hat,327 in den ent325 O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 235 – 238; August Riese, Friedrich Wilhelm’s des Großen Churfîrsten Winterfeldzug in Preußen und Samogitien gegen die Schweden im Jahre 1678/79. Ein Beitrag zur brandenburgischen Kriegsgeschichte, Berlin 1864, S. 75 ff.; T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 407 – 412, Nr. 237, bes. S. 409; J. G. Droysen, Staat … (s. Anm. 292), 3/III, S. 436 – 453. 326 Max Immich, Geschichte des europischen Staatensystems 1660 – 1789 (= Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte, Abt. II), Mînchen/Berlin 1905, ND Darmstadt 1967, S. 95 f.; P. Kiehm, Feldzîge … (s. Anm. 323), S. 114 f., und G. Oestreich, Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 76 ff. 327 Zur Verfassungsfrage vgl. M. Hein, Schwerin … (s. Anm. 231), S. 398 Anm. 53; vgl. O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 197; G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s.

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scheidenden Jahren der franzçsischen Reunionspolitik im Bîndnis mit Frankreich stand,328 was jeder nationalborussischen Interpretation im Sinne der Reichsgrîndungszeit den Boden entzieht. Auch fîr die franzçsische Konstellation der frîhen 1680er Jahre muß freilich die Subsidienbedîrftigkeit Brandenburg-Preußens in Rechnung gestellt werden. Otto Hintze hat schonungslos davon gesprochen, daß der Große Kurfîrst nach 1679 angesichts der alljhrlichen Zahlungen geradezu als „Pensionr Ludwigs XIV.“ anzusehen sei.329 Die Einsicht, daß auch im Bîndnis mit Frankreich – und das in einer Zeit spektakulrer Annexionen (Straßburg i. E.) – die Ziele in Pommern nicht erreicht werden wîrden, hat dann zur ersten Ernîchterung gefîhrt. Aber es darf auch das konfessionelle Moment nicht îbersehen werden. Die auf ihren Hçhepunkt zustrebende Intoleranzpolitik Ludwigs XIV., die Bitten von Hugenottenvertretern, der Kurfîrst mçge doch beim franzçsischen Kçnig in ihrem Interesse intervenieren, gehçrte ebenfalls zu den entscheidungsleitenden Faktoren. Auch in der Reichspolitik waren sie von Bedeutung.330 Der Sieg des Kaisers îber die Osmanen im Jahre 1683 spielte ebenfalls in die Wandlungen der Krftefelder hinein; îberhaupt hatte die kaiserliche Macht im Reiche gute Jahre. Das Edikt von Potsdam vom Jahre 1685 hatte nicht nur eine innenpolitische, immigrationstaktische Bedeutung, es war zugleich Ausdruck einer endgîltigen Abkehr vom franzçsischen Bîndnis, das politisch und territorial in Berlin, Cçlln und Potsdam enttuscht hatte. Schon frîh war Mißtrauen gewachsen.331 Der

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Anm. 137), S. 78; zur politischen Publizistik Kurbrandenburgs seit den spten 1650er Jahren vgl. jetzt Martin Wrede, Der Kaiser, das Reich und der deutsche Norden. Die publizistische Auseinandersetzung mit Schweden im Nordischen und im Hollndischen Krieg, in: Roland G. Asch / Wulf Eckart Voss / Martin Wrede (Hg.), Frieden und Krieg in der Frîhen Neuzeit. Die europische Saatenordnung und die außereuropische Welt, Mînchen 2001, S. 349 – 373, hier S. 353 ff., S. 362 ff. und passim. Wie Anm. 326 und 327; A. Strecker, Meinders … (s. Anm. 252), S. 90 ff.; Melle Klinkenborg, Das Strahlendorffsche Gutachten und die antikaiserliche Politik in Brandenburg-Preußen, in: ForschBrandPrG 41 (1928), S. 229 – 247, hier S. 235; E. Eilers, Friedrich von Jena … (s. Anm. 233), S. 164 – 171; T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 418 ff.; H. Duchhardt, Protestantisches Kaisertum … (s. Anm. 299), S. 223; A. Schindling, Immerwhrender Reichstag … (s. Anm. 215), S. 208, S. 221; scharfe Kritik bei Karl Otmar Freiherr von Aretin, Das Alte Reich 1648 – 1806, 1: Fçderalistische oder hierarchische Ordnung (1648 – 1684), Stuttgart 1993, S. 282 – 285, S. 287 f., auch zur brandenburgischen Haltung gegenîber den Initiativen der frîhen 1680er Jahre zur Reform der Reichskriegsverfassung. O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 239, das Folgende S. 242 ff., S. 247 ff. Axel Gotthard, Der „Große Kurfîrst“ und das Kurkolleg, in: ForschBrandPrG NF 6 (1996), S. 1 – 54, hier S. 17; A. Koller, Vossem … (s. Anm. 313), S. 13, S. 31, S. 35 Anm. 111. E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 204 – 209, S. 212, S. 214 f.; M. Kohnke, Edikt von Potsdam … (s. Anm. 175), S. 245, S. 249 f., S. 266; vgl. J. Kunisch, Kurfîrst Friedrich Wilhelm … (s. Anm. 307), S. 28; M. Immich, Staatensystem … (s. Anm. 326), S. 124.

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Bîndniswechsel des Jahres 1686 – der letzte des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm – brachte dann fîr mehr als zwei Jahrzehnte Stetigkeit in die Politik BrandenburgPreußens im Reich und in Europa. Indem damit 1686 eine Phase einsetzt, die schon auf die Krçnungskonstellation von 1700/1701 direkt hinfîhrt, lßt sich mit umso mehr Argumenten die These vertreten, daß der Große Kurfîrst auch diesen Vorgang ganz wesentlich eingeleitet hat, ja einleiten mußte. Denn lange vor 1700 oder vor 1688 war – in der Symbolsprache der Zeit – das brandenburg-preußische Statusdefizit zum neuen Problem geworden, ein Problem europischer Politik.

§ 5 Preußen und die Kçnigskrone Die Regierungszeit des Großen Kurfîrsten Friedrich Wilhelms markiert gewiß eine wesentliche Epoche der brandenburg-preußischen Geschichte, ohne die die weitere Entwicklung bis und nach 1700/1701 nicht erklrt werden kann. Gleichwohl wre es ein Fehler, diese Entwicklung und diejenige im 17. Jahrhundert îberhaupt allzu linear darzustellen. Wir haben bei der Betrachtung der inneren Politik des Großen Kurfîrsten gesehen, daß er nicht etwa nach 1640 sofort und konsequent eine Politik absolutistischer Strukturvernderung von Regierungssystem und Verwaltungsformen betrieben hat, und auch in seiner spteren Regierungszeit, in den 1680er Jahren gibt es auffllige Indizien dafîr, daß er – ungeachtet der in seinem politischem Testament niedergelegten Generalmaximen – eine Politik eher gemßigter Staatsintegration verfolgte.332 Etwa die Art und Weise, wie nach 1680 das Herzogtum Magdeburg unter großer Schonung der dortigen Landstnde in den Gesamtstaat eingefîgt wurde, ist eine auffllige und sprechende Erscheinung, und auch sonst gibt es Exempel, daß manche Amtstrger absolutistischer dachten als der absolutistische KurfîrstenHerzog.333 Bei aller Energie, bei allem Ehrgeiz und Arbeitsamkeit dieses auch durch seine „stattliche Erscheinung“ auf die Zeitgenossen eindruckgebietenden Mannes, der zu Cholerik, Hektik, auch Unbestndigkeit und Jhzorn neigte, hat er doch immer zwischen spontanem Ausbruch und kîhler Berechnung geschwankt.334 Und so sind auch Regierungsmaximen und dynastische Politik von einer eigentîmlichen Mittellage zwischen Modernitt und erstaunlicher Traditionalitt gekennzeichnet. Die Rechte der Stnde hat er nie grundstzlich be332 Vgl. oben bei Anm. 216. 333 E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 341 – 344. 334 O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 201; G. Kîntzel, Hohenzollern … (s. Anm. 41), S. 449, und G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 10 f.; Hans Prutz, Aus des Grossen Kurfîrsten letzten Jahren. Zur Geschichte seines Hauses und Hofes, seiner Regierung und Politik, Berlin 1897, S. 157.

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stritten, und so war es sehr richtig, wenn Otto Hintze an diesem Monarchen einen „patrimonialen Zug“ als Charakteristikum heraushob,335 was schon einer strikt modernistischen Betrachtung und gar einer entsprechenden Idealisierung entgegensteht. Nicht das moderne Naturrecht, dessen sich seine stndischen Opponenten bisweilen bedienten, war seine Richtschnur, sondern eine tiefe kalvinistische Religiositt. In seinem eigenhndigen politischen Testament ist denn auch an prominenter Stelle vom gçttlichen Auftrag die Rede, der fîr den Herrscher leitend sein mîsse. In der Außenpolitik wurden diese Ratschlge mit der Stellung Brandenburgs im Heiligen Rçmischen Reich begrîndet und der Schutz der Evangelischen sowie der „Teutschen freiheitt“ dem Nachfolger sehr nachdrîcklich ans Herz gelegt,336 so daß Fritz Hartung mit großer Nîchternheit davon sprechen konnte, in dieser intimen Quelle habe noch der „Geist des kleinstaatlichen deutschen Territorialfîrstentums“ Einfluß gehabt. Außer dem Streben danach, insbesondere im Ostseeraum „gute conditiones fîr Euch vndt Eureren Staadt“ zu erstreben, war es das wesentliche politische Motiv, zu verhindern, daß „Ewere Lande Das theaterum sein wurden, Darauff man die tragedi Spillen“, d. h. Kriege austragen werde, was den Monarchen stets umtrieb. Er hatte ja entsprechende Erfahrungen gemacht. Der patrimoniale Zug in der Politik des Großen Kurfîrsten wird besonders deutlich, wenn auf ein sehr eigentîmlich-traditionelles Motiv in seiner Politik hingewiesen wird, das nicht nur zeitweilig, sondern wiederholt alle die Resultate gefhrdet hat, die auf dem Weg zur relativen Staatseinheit und zu einiger politischer Bedeutung im 17. Jahrhundert erreicht worden waren. Immer dann, wenn in der dynastischen, d. h. der Hauspolitik der Hohenzollern zwischen dem gesamtstaatlichen Zusammenhalt und dem Versorgungsmotiv fîr nachgeborene Prinzen zu entscheiden war, hat Friedrich Wilhelm sehr ernsthaft und in verschiedenen Varianten an Landesteilungen gedacht. Im politischen Testament von 1667 hatte er allein davor gewarnt, die Kurmark und Magdeburg in Teilungsoperationen mit einzubeziehen.337 In der Disposition des Jahres 1664 war die Abtrennung insbesondere des eben gewonnenen Fîrstentums Halberstadt fîr den damals zweitltesten lebenden Sohn des Kurfîrsten vorgesehen worden, und zwar, wie es ausdrîcklich hieß, „mit allen Pertinentien, fîrstlicher Landeshoheit, Lndern und Leuten, Jure Sessionis et Voti auf Reichs- und Kreis335 O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 201 f.; und das Vortragsreferat von Otto Hintze zum politischen Testament des Großen Kurfîrsten von 1667 in den ForschBrandPrG 16 (1903), Sitzungsberichte S. 76 – 79. 336 G. Kîntzel / M. Hass (Hg.), Testamente … (s. Anm. 136), 1, S. 42 – 51, das Folgende: S. 52; Fritz Hartung, Die politischen Testamente der Hohenzollern, zuerst 1913, erweitert in Ders., Volk und Staat in der deutschen Geschichte. Gesammelte Abhandlungen, Leipzig 1940, S. 112 – 148, hier S. 117; E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 25/41), 1, S. 54 ff., 2, S. 71 ff., S. 343, S. 345. 337 G. Kîntzel / M. Hass (Hg.), Testamente … (s. Anm. 136), 1, S. 56 f.

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tagen … Gerichten, Lehnschaften, Rechten und Gerechtigkeiten, in specie auch der Lehnherrschaft und Jure Superiorittis“.338 Das ging sehr weit, wenngleich dem Bîndnisrecht noch Einschrnkungen unterliegen sollte. Wiederholt hat der Kurfîrst derartige Dispositionen wechselnden Inhalts niedergelegt, wobei der Grad der Teilung resp. der Selbstndigkeit der zu schaffenden hohenzollernschen Nebenlinien stark differierte. Es fllt aber auf, daß nicht etwa der Grad der vorgesehenen Autonomie abzutrennender Territorien soweit abgenommen htte, daß politische Gefahren ausgeschlossen gewesen wren. Das kurfîrstliche Testament vom 29. Januar beziehungsweise 8. Februar 1680 sah vor, daß mehrere jîngere Prinzen (aus der ersten und zweiten Ehe des Kurfîrsten) nicht nur „Ein- und Auskînfte“ aus dem Fîrstentum Minden, dem Fîrstentum Halberstadt, der Grafschaft Ravensberg und einigen kleineren Herrschaften zugewiesen erhielten. Die Prinzen sollten in ihren Gebieten ihre „Residenz“ nehmen, und es sollte die „Regierung in Ihrem Namen gefîhret“ werden, nur sollte nichts unternommen werden, was dem kurfîrstlichen Hause schade. Diejenigen Hohenzollern, die in Minden und Halberstadt herrschen wîrden, sollten auch das entsprechende Votum auf den Reichstagen fîhren, doch wîrde es vom kurfîrstlichen Gesandten abgegeben werden, auch sollte das Votum immer „conform“ mit dem brandenburgischen sein. Diese Konstruktion war kompliziert, recht unîbersichtlich und gewiß nicht ohne Risiko fîr Entwicklungen der Zukunft, wenn auch der lteste Sohn und Kurfîrst sowohl „die Superioritt als Landesfolge, contribution und derselbigen Ausschreibung, das Recht Bîndnisse zu machen oder Jus foederum, das Recht anderen den Durchzug zu verstatten, die Einquartierung der Soldaten und das Jus praesidii“ behalten sollte.339 War damit auch der Teilungsschnitt weniger tief, als dies bei frîheren Dispositionen der Fall gewesen war, so zeichneten sich die Bestimmungen von 1680/1686 doch dadurch aus, daß grçßere Gebietsteile des Gesamtstaates betroffen waren. Im Widerstreit von dynastischem Versorgungsmotiv und Staatseinheit obsiegte beim Kurfîrsten Friedrich Wilhelm in erstaunlichem Maße die traditionelle Teilungspolitik. Die Quellenlage lßt îber dieses eklatante Faktum, das jeder allzu linearen Interpretation derjenigen Politik, die der Große Kurfîrst trieb, den Boden entzieht, keinen Zweifel zu – 338 H. von Caemmerer (Hg.), Testamente … (s. Anm. 30), der Text S. 199 – 209, das Zitat S. 202. 339 H. von Caemmerer (Hg.), Testamente … (s. Anm. 30), S. 249 – 261, bes. S. 250 ff., und S. 273 mit Anm. A, S. 249 (zu 1686); aus der Lit.: L. Tîmpel, Einheitsstaat … (s. Anm. 210), S. 18 – 28; Hans Hallmann, Die letztwillige Verfîgung des Hauses Brandenburg 1415 – 1749, in: ForschBrandPrG 37 (1925), S. 1 – 30, hier S. 19 f., 1680: S. 22; vgl. schon Bernhard Erdmannsdçrffer, Das Testament des grossen Kurfîrsten, in: PreussJbb 18 (1867), S. 429 – 441, hier S. 434 f., S. 437 f.; Hermann Schulze (Hg.), Die Hausgesetze der regierenden deutschen Fîrstenhuser (Bd. 3), Jena 1883, S. 578 ff.; E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 317 f.

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deutlicher Beleg fîr jene „ltere patrimoniale Staatsauffassung“ dieses Monarchen, von der auch Gerhard Oestreich gesprochen hat.340 Ja, es gibt hinreichende Informationen dazu, daß der Kurfîrst Friedrich Wilhelm in einem heftigen persçnlichen Konflikt mit seinem Nachfolger kurz vor dem Tode ernsthaft mit dem Gedanken umgegangen ist, nun auch das Herzogtum Preußen an den Prinzen Philipp (aus der zweiten Ehe Friedrich Wilhelms) auszutun.341 Dazu ist es nach Versçhnung und dem Tod des Kurfîrsten dann doch nicht gekommen, aber die Gefahren waren nicht unerheblich. Friedrich III., dessen Bild in der Geschichte allzu lange von dem großen Vorgnger und dem bedeutenden Nachfolger sowie davon bestimmt gewesen ist, daß Friedrich der Große ihm çffentlich ein wenig schmeichelhaftes Zeugnis ausgestellt hat,342 bewies auch darin bemerkenswerte Weitsicht, daß er alles unternommen hat, um die Dispositionen von 1680/86 anzufechten. Mochten die Sicherungen in der Testamtenskonstruktion gegen einen sofortigen Zerfall der Territorien auch betrchtlich scheinen, so war doch die langfristige Dynamik der vorgesehenen Dezentralisierung durch prinzliche Nebenlinien nicht gut zu kalkulieren. Die Politik Friedrichs, die letztlich erst solche Gefahren fîr die Staatseinheit beseitigte, war mehr als nur brandenburgische Hauspolitik, sie war bereits untrennbar mit den europischen Konstellationen verbunden, die seit 1686 Brandenburg-Preußen an die Seite des Kaisers gebracht hatten. Friedrich III. war schon als Kurprinz ein entschiedener Exponent der kaiserlichen Partei bei Hofe gewesen, und die Hofburg hat den neuen Herrn denn auch unterstîtzt, als er darum kmpfte, das Erbe gnzlich ungeteilt zu bewahren.343 Im Ergebnis wurden durch den Erbvergleich des Jahres 1692 die Geschwister des Kurfîrsten 340 G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 97. 341 Hans Prutz, Zur Geschichte des Konfliktes zwischen dem Großen Kurfîrsten und dem Kronprinzen Friedrich, 1687, in: ForschBrandPrG 11 (1898), S. 530 – 540, hier S. 530 – 532, S. 536; Ders., Letzte Jahre … (s. Anm. 334), S. 218; so auch G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 97. 342 (Johann David Erdmann Preuß [Hg.]), Oeuvres de Fr¤d¤ric le Grand, Tom. 1, Berlin 1846, S. 122 ff.; Gustav Berthold Volz (Hg.), Die Werke Friedrichs des Großen. In deutscher ˜bersetzung, 1: Denkwîrdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg, Berlin 1913, hier S. 95 – 119, bes. S. 117 ff.; richtig G. Heinrich, Preußen … (s. Anm. 72), S. 127 ff., S. 142; Heinz Duchhardt, Die preußische Kçnigskrçnung von 1701. Ein europisches Modell?, in: Ders. (Hg.), Herrscherweihe und Kçnigskrçnung im frîhneuzeitlichen Europa (= Schriften der Mainzer Philosophischen Fakulttsgesellschaft, 8), Wiesbaden 1983, S. 82 – 95, hier S. 83 f. 343 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 14; und der Versuch einer Neuinterpretation unter besonderer Berîcksichtigung neuer Aktenbefunde zur herrscherlichen Aktivitt Friedrichs III./I. schon seit seiner Kurprinzenzeit bei Wolfgang Neugebauer, Friedrich III./I. (1688 – 1713), in: Frank-Lothar Kroll (Hg.), Preussens Herrscher. Von den ersten Hohenzollern bis Wilhelm II., Mînchen 2000, S. 113 – 133, S. 324 – 327.

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durch bessere Apanagen abgefunden, woraufhin sie auf ihre Rechte aus dem Testament verzichteten. Die Markgrafschaft Schwedt, die ohne Hoheitsrechte fîr knapp ein Jahrhundert unter einer prinzlichen Nebenlinie bestanden hat, verdankte diesem Kompromiß ihr Entstehen.344 „Seit dieser Zeit ist der Versuch, Nachgeborene mit untergeordneten Hoheitsrechten îber Land und Leute auszustatten, nie wieder gemacht worden.“345 Friedrich III. hat in seiner „Vermahnung“ an den Nachfolger, den spteren Friedrich Wilhelm I., mit großem Nachdruck bestimmt, daß es fortan keinerlei Landesteilungen geben dîrfe; nur die frnkischen Hohenzollerngebiete sollten auch weiterhin separat bleiben.346 Im „Fideicommißstatut“ des Jahres 1710 hat er dem auch in rechtsfester Form Nachdruck gegeben und das Unverußerlichkeitsgebot auch auf die territorialen Neuerwerbungen ausgedehnt. Friedrich Wilhelm I. hat auf dieser Basis 1713 (Edikt vom 13. August) fortgebaut und347 die „Inalienabilitt“ fîr alle Lnder der brandenburgischen Regentenlinie statuiert. Fîr Friedrich III. spielte – er hat es in diesem Kontext 1698 deutlich ausgesprochen – die „grendeur des hauses“348 eine große programmatische Rolle, aber man darf diese Maxime nicht individualpsychologisch verengt interpretieren. Sie war ein politisches Programm, und zwar ein sinnvolles und ein notwendiges. Es hat seine Regierungszeit ganz wesentlich bestimmt. Als Friedrich Wilhelm am 9. Mai 1688 starb, ist Friedrich III. – trotz aller persçnlicher Differenzen mit dem Vater und dem schwierigen Verhltnis zu seiner Stiefmutter – gut vorbereitet zur Regierung gelangt. Geboren 1657 und von frîher Kindheit an kçrperlich geschdigt, war Friedrich freilich nicht von Anfang an zum Regenten Brandenburg-Preußens bestimmt gewesen; vor ihm stand der, soweit wir sehen kçnnen, charakterlich bemerkenswerte Kurprinz 344 H. von Caemmerer (Hg.), Testamente … (s. Anm. 30), S. 4* und der Druck S. 308 f.; E(rnst) Berner, Die Hausverfassung der Hohenzollern, in: HZ 52 (1884), S. 78 – 121, hier S. 90; Johannes Schultze, Die Mark Brandenburg, 5: Von 1648 bis zu ihrer Auflçsung und dem Ende ihrer Institutionen, Berlin (1969), S. 57 f.; T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 789 – 792, Nr. 22; unter Ankîndigung einer „grçßeren Untersuchung“: Udo Geiseler, „Daß ich nicht allein der Vater, sondern auch sein Kçnig und Herr sey.“ – Die Beziehungen der Markgrafen von Brandenburg-Schwedt zu den Hohenzollernkçnigen im 18. Jahrhundert, in: Peter Michael Hahn / Hellmut Lorenz (Hg.), Pracht und Herrlichkeit …, Potsdam 1998, S. 45 – 93, hier S. 48 Anm. 16, S. 50 – 52, S. 61 – 63 u. ç. 345 H. Schulze, Hausgesetze … (s. Anm. 339), 3, S. 581. 346 H. von Caemmerer (Hg.), Testamente … (s. Anm. 30), S. 424; G. Kîntzel / M. Hass (Hg.), Testamente … (s. Anm. 136), 1, S. 79 f.; 1710: H. von Caemmerer a. a. O., S. 436 – 444. 347 H. Schulze, Hausgesetze … (s. Anm. 339), 3, S. 737 ff.; dazu E. Berner, Hausverfassung … (s. Anm. 344), S. 94; L. Tîmpel, Einheitsstaat … (s. Anm. 210), S. 30 – 36, und H. von Caemmerer (Hg.), Testamente … (s. Anm. 30), S. 5* f. 348 G. Kîntzel / M. Hass (Hg.), Testamente … (s. Anm. 136), 1, S. 81.

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Karl Emil, der frîh starb, und zwar whrend eines Feldzuges gegen die Franzosen im Jahre 1674. Immerhin hatte Friedrich, was fîr nachgeborene Prinzen des Hauses beziehungsweise solche aus Nebenlinien nicht ungewçhnlich war, zu dieser Zeit schon in Abwesenheit des Kurfîrsten als Statthalter in der Mark amtiert. Bei dieser Gelegenheit hatte er einen Schaupfennig mit seiner persçnlichen Devise prgen lassen, einer, der spter in der Geschichte des Staates, vielleicht auch im Mythos, Berîhmtheit erlangen sollte: Suum cuique. Schon in prinzlichen Tagen zeigte sich sein starkes Interesse am Zeremoniell, an hçfischem Leben, sehr viel weniger freilich an den Dingen des Militrs. Ohne Zweifel war er seiner (zweiten) Gemahlin Sophie Charlotte von Hannover, die er 1684 heiratete, intellektuell unterlegen.349 Man hat daran gezweifelt, daß Friedrich ein eigenes Programm besessen habe, und in der Tat spricht vieles dafîr, die Zsur des Jahres 1688 nicht allzu sehr zu betonen. Dies gilt fîr die Entwicklungen von Staatsorganisation und Militrverfassung ebenso wie fîr Brandenburg-Preußens Stellung in der europischen Politik. Die Anlehnung an den Kaiser, die 1686 die Phase brandenburgischer Bîndniswechsel im Stile bisweilen hektischer Kurzatmigkeit beendet hatte, blieb fîr Jahrzehnte zwar nicht Programm, wohl aber eine vergleichsweise verlßliche350 Konstante brandenburg-preußischer Politik im Reich und in Europa. Auch dem Großen Kurfîrsten hatte ja, wie Heinz Duchhardt formulierte, „der eigentlich große zukunftsweisende Zug“ in der Außenpolitik durchaus gefehlt.351 Das Defensivbîndnis mit dem Kaiser, das am 22. Mrz 1686, und zwar sogleich auf zwanzig Jahre, abgeschlossen worden war, hatte gegenseitige Hilfe festgelegt; „falls eine revolutio generalis der sachen in Europa zu befîchten“ war, sollte Brandenburg zur Stellung von 8.000 Mann eigener Truppen verpflichtet sein, wobei wiederum das schon aus den Jahren und Jahrzehnten zuvor wohlvertraute Subsidienmotiv eingeflochten worden ist. Ein Hindernis, das die Politik zwischen Brandenburg und dem Kaiser zuletzt sehr stark belastet hatte, waren brandenburgische Rechtsansprîche auf schlesische Gebiete, auf Jgerndorf, Liegnitz, Brieg, Wohlau und Beuthen gewesen, Ansprîche, die sich aus verschiedenen Traditionen herleiteten. Natîrlich waren 349 Wichtig E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 319 – 323, auch zur Frage eines „Programms“ Friedrichs; W. Koch, Hof- und Regierungsverfassung … (s. Anm. 238), S. 3 f.; vgl. noch Ferdinand Hirsch, Die Erziehung der ltesten Sçhne des Großen Kurfîrsten, in: ForschBrandPrG 7 (1894), S. 141 – 171, hier S. 161; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 15 f.; die Devise von 1673 bei Christian Heinrich Gîtther, Leben und Thaten Herrn Friedrichs des Ersten, Kçniges in Preußen, Markgrafen zu Brandenburg, des Heil. Rçm. Reiches Erzkmmerers und Churfîrsten ec. Aus bewhrten Urkunden, sonderlich aus Mînzen und Schaustîcken in einer chronologischen Ordnung abgefasset, Breslau 1750, S. 7 f. 350 Vgl. H. Duchhardt, Absolutismus … (s. Anm. 282), S. 87 f. (1. Aufl.). 351 H. Duchhardt, Altes Reich … (s. Anm. 281), S. 78 f.

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damit existenzielle Interessen des Hauses Habsburg in Schlesien als Nebenland der bçhmischen Krone betroffen. Der Kompromiß, der im Vertrag von 1686 selbst gefunden worden war, sah nun vor, daß Brandenburg unter Verzicht auf diese Ansprîche, den Kreis Schwiebus, nçrdlich Schlesiens gelegen, ganz in der Nachbarschaft brandenburgischen Territoriums, erhalten sollte.352 Schwiebus war eine Enklave an brandenburgischem Gebiet und ohne Territorialverbindung zu den habsburgischen Lndern. In einem geheimen Revers hatte sich aber der Kurprinz Friedrich – hinter dem Rîcken des Vaters und in kontrrem Gegensatz zur brandenburgischen Politik ! – verpflichtet, sofort nach seinem Regierungsantritt dieses Gebiet an den Habsburger zurîckzugeben, wofîr wiederum Kompensationen in Aussicht gestellt wurden.353 Friedrich III. hat in der Tat Ende 1694 die Rîckgabe vertraglich in die Wege geleitet, die zu Anfang des Jahres 1695 vollzogen wurde. Dieser politisch und auch hauspolitisch erstaunliche Vorgang gehçrt gleichsam zu den Hintergrînden des brandenburgischen Verhltnisses zum Kaiserhaus im Vorfeld der aktiven Kronpolitik. Denn als leitendes Motiv war fîr den Prinzen Friedrich wohl nicht zentral, daß er selbst zunchst einmal fîr seinen kleinen Verrat mit 10.000 Dukaten motiviert wurde, sondern vielmehr, daß er schon in dieser frîhen Zeit vor dem eigenen Regierungsantritt das Verhltnis zum Hause Habsburg intensivieren wollte, zumal er der kaiserlichen Unterstîtzung bedîrfte, wenn er mit Erfolg die Teilungsdispositionen des Vaters anfechten wollte.354 Im Kontext der Schwiebuser Frage und der brandenburgischen Unterstîtzung fîr die habsburgische Politik im alten Reich (Wahl Josephs I.) ist dann die noch ferne Perspektive auf Ostfriesland gefestigt worden,355 auch dies in Fortsetzung der Politik seines Vaters. Diese Aussichten auf 352 T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 750 – 759, Nr. 15, bes. S. 754 ff., S. 757; Vergleich wegen Schwiebus: S. 759 – 762, vgl. S. 481 – 586, S. 489 f.; O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 249 f.; C. Hinrichs, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 324), S. 251. 353 T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 750, Nr. 14 (28. Febr. 1686); 1694: S. 798, Nr. 23; M. und L. Frey, Frederick … (s. Anm. 235), S. 41 – 44; H. Schulze, Hausgesetze … (s. Anm. 339), 3, S. 581; H. Prutz, Letzte Jahre … (s. Anm. 334), S. 201; Friedrich-Wilhelm Henning, Rahmenbedingungen und Grundzîge der Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands von 1815 bis 1945, in: Gerd Heinrich / Friedrich-Wilhelm Henning / Kurt G. A. Jeserich (Hg.), Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands 1815 – 1945. Organisation – Aufgaben – Leistungen der Verwaltung, Stuttgart/Berlin/Kçln 1992, S. 1 – 83, hier S. 5; Jgerndorfer Ansprîche: E. Opgenoorth, Kurfîrst … (s. Anm. 41), 2, S. 224; A. Siemsen, Kurbrandenburgs Anteil … (s. Anm. 290), S. 7. 354 S. Anm. 353. 355 A. Siemsen, Kurbrandenburgs Anteil … (s. Anm. 290), S. 10 ff.; Johann Gustav Droysen, Friedrich I. Kçnig von Preußen (= Geschichte der Preußischen Politik, 4. Tl., 1), Leipzig 21872, S. 94, S. 99; O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 250; Vorgeschichte: Ferdinand Hirsch, Der Große Kurfîrst und Ostfriesland (1681 – 1688)

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Territorialerwerb ganz im Nordwesten – und wieder ohne jede Landbrîcke zum îbrigen Staatsgebiet – ist dann erst nach fînf Jahrzehnten und nach dem Aussterben der dortigen Fîrstendynastie in der Zeit Friedrichs des Großen realisiert worden.356 Zu Beginn der neunziger Jahre des siebzehnten Jahrhunderts war bereits in ersten Anfngen diejenige Politik eingeleitet worden, die nun unmittelbar auf das Hauptziel Friedrichs III./I. abgestellt war: natîrlich die Kronpolitik im eigenen Sinne beziehungsweise nach 1700/01 auf das Streben nach Anerkennung der neuen hierarchischen Qualitt. Wenn man gesagt hat, der Erzieher aus prinzlichen Tagen und nunmehrige Geheime Rat Eberhard Danckelman,357 der der Kronpolitik distanziert-ablehnend gegenîberstand, habe îber das Schwellenjahr 1688 hinaus fîr Kontinuitt in der brandenburg-preußischen Politik gesorgt, so ist dies sicher richtig, zumal er persçnlich, aus dem Nordwesten stammend, entschieden den Niederlanden zuneigte und sich damit in Distanz zu Frankreich hielt; 1689 stand Brandenburg fest im antifranzçsischen Bîndnis und kmpfte am Rhein gegen Ludwig XIV. 358 Die finanziellen Lasten einer dynastischen Standeserhçhung schienen, wenn nicht untragbar, so doch unkalkulierbar. ˜ber die kurzfristigen Kontinuitten der Danckelman-Zeit, getragen gleichsam vom nîchternen Realismus dieses Mannes, gab es aber lnger tragende Kontinuitten, solche von Jahrzehnten, und sie fîhren noch einmal zurîck zum System des Westflischen Friedens im Reich und in Europa. Die Zeremonial-Handbîcher, die das empirische Material politischer Formensprache europischer Hçfe in der zweiten Hlfte des 17. Jahrhunderts dicht dokumentieren, zeigen auf den ersten Blick zahlreiche Rangkonflikte, in die sich die Diplomaten des Großen Kurfîrsten unablssig verwickelt sahen. Seit der Mitte des Jahrhunderts konnte Kurbrandenburg auf der Basis des im Westflischen Frieden verbîrgten Bîndnisrechts Politik im Reich und in Europa betreiben, und seit 1660 bot die „Souvernitt“, die im Herzogtum Preußen postuliert und fundamentiert worden war, neue Chancen, freilich auch neue Probleme. Denn wenn Friedrich als Herzog in Preußen oder als Kurfîrst im Reich beanspruchte, mit Kçnigen gleich behandelt und ihnen gleichgestellt zu werden, so war es eher eine gefhrliche Niederlage, wenn dies im politischen Alltag nicht gelang. Das „zeremonielle Zeichensystem“ (Stollberg-Rilinger) (= Abhandlungen und Vortrge zur Geschichte Ostfrieslands, 18), Aurich 1914, zu 1688 S. 80 ff. 356 Vgl. unten bei Anm. 711. 357 Vgl. oben Anm. 235. 358 J. Schultze, Danckelman … (s. Anm. 235), S. 221; Johannes Kunisch, Funktion und Ausbau der kurfîrstlich-kçniglichen Residenzen in Brandenburg-Preußen im Zeitalter des Absolutismus, in: ForschBrandPrG NF 3 (1993), S. 167 – 192, bes. S. 178; 1689: O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 258.

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spiegelt in hochdifferenzierter Form politische Ansprîche wider und auch, ob sie in der europischen Staaten- und Mchtewelt denn akzeptiert wurden, ob also – negativenfalls – in stiller und doch gefhrlicher Weise politische Positionen und Qualitten schon in Friedenszeiten umstritten waren. Insofern war es z. B. ein ernstes Problem, daß es dem Großen Kurfîrsten nur sehr selten gelungen ist, an seinem Hof Gesandte ersten Ranges zu empfangen, und dies wurde vor allem nach 1660 eher die Ausnahme. Im Hintergrund stand, daß brandenburgische Gesandte ihrerseits im zeremonialen Verkehr nach einem „folgenschweren Przedenzfall“ in rangmindernder Weise traktiert wurden. Damit war der Kurfîrst gleichsam ins diplomatische Abseits geraten – eine riskante Belastung brandenburg-preußischer Politik, da damit nichts anderes in Frage stand, als Gleichrangigkeit und souverne Qualitt.359 Seit etwa 1680 setzten dann in der Politik Kurbrandenburgs im Heiligen Rçmischen Reich Bestrebungen ein, mit großem Aufwand den Rang zu betonen; es ging um den „Kampf der Kurfîrsten fîr die kçnigsgleiche Behandlung“ im Heiligen Reich.360 Auch am Reichstag spielten zeremonielle Fragen eine große Rolle, gewissermaßen als Formensprache der Macht. Dies alles sind Entwicklungen, die schon unter dem Großen Kurfîrsten einsetzen, doch hat erst Friedrich III. daraus gewissermaßen die Konsequenz gezogen, auf dem Felde von Status und Reprsentation nun seinerseits in die Offensive zu gehen. Freilich hatte sich um 1690 die Lage noch einmal zugespitzt, hatte die Frage nach dem Rang und seiner Akzeptanz vielleicht gar eine neue Qualitt angenommen. Denn das politische Gewicht, das Brandenburg-Preußen in den Jahrzehnten zuvor durch den staatsbildenden Aufbau vor Verwaltung und Armee gewonnen hatte, schien außenpolitisch dann entwertet zu werden, wenn etwa dem rettendem Eingreifen brandenburgischer Truppen im Kampf um Holland (gegen Frankreich) doch alsbald die diplomatische Degradierung folgte. Gewiß war die Subsidienbedîrftigkeit ein weiterer wesentlicher Faktor, der in den 1690er Jahren die Akzeptanz Brandenburg-Preußens unter den Mchten labilisierte. „Brandenburg, das im Interesse Europas selbstndig in den Krieg eingetreten war, begann diplomatisch von den mchtigeren Verbîndeten îberspielt und zu einer Auxiliarmacht herabgedrîckt zu werden. Seine schlechten Finanzen zwangen es, die Einheitlichkeit seiner Armee, die ihm allein politische Erfolge htte verbîrgen kçnnen, in einzelne Hilfskorps zu zersplittern und gegen Subsidien an 359 So 1996 W. Neugebauer, Hohenzollern … (s. Anm. 33), 1, S. 185 (nach einer Sammlung von Lînig, s. S. 239); im Detail Barbara Stollberg-Rilinger, Hçfische §ffentlichkeit. Zur zeremoniellen Selbstdarstellung des brandenburgischen Hofes vor dem europischen Publikum, in: ForschBrandPrG NF 7 (1997), S. 145 – 176, passim, bes. S. 150 – 159, S. 165 – 170, S. 172 f.; Heinz Duchhardt, Anspruch und Architektur: Das Beispiel Berlin, in: ForschBrandPrG NF 1 (1991), S. 31 – 52, hier S. 33; K. O. Frhr. von Aretin, Altes Reich … (s. Anm. 328), 1, S. 57. 360 A. Gotthard, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 330), S. 25 f.

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verschiedene Mchte zu vermieten“, was etwa einen einheitlichen Oberbefehl îber die verschiedenen brandenburgischen Kontingente ausschloß.361 Obwohl sich die brandenburg-preußischen Truppen im Kampf gegen die Franzosen bis 1697 durchaus bewhrt hatten, wurde Kurbrandenburg bei den Friedensverhandlungen zu Rijswijk362 als selbstndiger Verhandlungspart nicht zugelassen, ein Vorfall der schlagend bewies, daß man auf beides nicht verzichten durfte: auf tatschliche Macht und auf anerkannten Rang, und beides hing zusammen. Obendrein stellte sich dann auch noch sehr die Frage, ob denn wenigstens die brandenburgischen Subsidienansprîche tatschlich wîrden realisiert werden kçnnen. Es kann also gar keine Frage sein – und die neuere Forschung hat darin endgîltig Klarheit geschaffen363 – daß fîr Brandenburg-Preußen in jeder Hinsicht auf dem Felde der Statuspolitik Handlungsbedarf bestand. Zudem waren andere europische Dynastien ihrerseits dabei, ihre Position durch Rangerhçhungen qualitativer Art zu optimieren, was den Druck auf den Hohenzollern noch verstrkte. Man hat von einer „allgemeine(n) ,Monarchisierung’ Europas“ am Ende des 17. Jahrhunderts gesprochen364 und dabei auf die seit 1692 bestehenden Aussichten der welfisch-hannoveranischen Nachbarn abgehoben, in absehbarer Zeit die englische Kçnigskrone zu erlangen. Alsbald, seit 1697, hatte ausgerechnet der kurschsische Konkurrent im protestantischen Deutschland unter Hintanstellung konfessioneller Skrupel die polnische Wahlkrone gewonnen, und dies waren nur die geographisch nchsten, durchaus aber nicht die einzigen Beispiele dafîr, daß Landesherren innerhalb und auch außerhalb des Heiligen Reiches das Ranggefîge in Bewegung brachten. Auch Bayern arbeitete an kçniglichen Wîrden, der Kurfîrst aus wittelsbachischem Hause hat um 1700 auf die spanische Krone gehofft.365 Zudem hatte das Haus Habsburg durch den Erfolg gegen die Osmanen an Einfluß im Reich und in 361 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 17 f. 362 B. Stollberg-Rilinger, Hçfische §ffentlichkeit … (s. Anm. 359), S. 169 f.; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), hier S. 121; O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 258. Zum Frieden von Rijswijk aus der neueren Lit. Werner Buchholz, Zwischen Glanz und Ohnmacht. Schweden als Vermittler des Friedens von Rijswijk, in: Heinz Duchhardt (Hg.), Der Friede von Rijswijk 1697 (= VerçffInstEurG, Abt. Universalgeschichte, Beiheft 47), Mainz 1998, S. 219 – 255, bes. S. 243 ff. 363 Vgl. Anm. 359/360. 364 H. Duchhardt, Kçnigskrçnung … (s. Anm. 342), S. 82, das Folgende S. 82 f.; Carl Hinrichs, Kçnig Friedrich I. von Preußen. Die geistige und politische Bedeutung seiner Regierung, zuerst 1944, wieder in: Ders., Preußen … (s. Anm. 324), S. 253 – 271, hier S. 258 f.; vgl. noch Peter Baumgart, Die preußische Kçnigskrçnung von 1701, das Reich und die europische Politik, in: O. Hauser (Hg.), Preußen … (s. Anm. 215), S. 65 – 86, hier S. 69 f. 365 Eduard Ichon, Die Verhandlungen îber die Anerkennung der preussischen Kçnigswîrde am Reichstage zu Regensburg (1701), phil. Diss. Heidelberg 1907, S. 32.

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Europa ganz wesentlich gewonnen. Das war die Lage in den neunziger Jahren, das Umfeld, in das sich der aufstrebende brandenburg-preußische Staat gestellt sah. Seit 1692 ist zunchst am Hof des brandenburgischen Kurfîrsten îber den Erwerb der kçniglichen Wîrde nachgedacht worden. Friedrich III. hatte seine Minister aufgefordert, zu den Aussichten einer solchen Politik Stellung zu nehmen, war aber dabei auf erhebliche Reserven gestoßen. Gegen ihren Rat hatte er 1693 erstmals gegenîber der Hofburg in der Sache vorgefîhlt. Die endgîltige Rîckgabe des Kreises Schwiebus steht im Kontext dieser Demarche.366 Erst unter der vernderten innen- und außenpolitischen Konstellation um 1700 gab es jedoch Aussicht auf Erfolg. Im Innern war nach dem Sturz Eberhard von Danckelmans der Graf von Wartenberg gefolgt, der nun zusammen mit dem Geheimen Rat (und spteren Minister) Ilgen ganz wesentlich die Kronpolitik Friedrichs III. zum Erfolg gebracht hat.367 Die außenpolitische Lage um das Jahr 1700 war nun fîr das Haus Habsburg vom Aufbrechen einer Krisenlage bestimmt, die mit der spanischen Erbfolgefrage die traditionellen Interessen dieser Dynastie an dieser sîdwesteuropischen Krone betraf. Angesichts der konkurrierenden Interessen Frankreichs ging es um das europische Mchtegefîge in neuer Gestalt. In dieser Situation mußte die Hofburg an einer stabilen Allianz mit dem brandenburg-preußischen Bundesgenossen besonders interessiert sein. Nach einigem Schwanken darîber, wie die Krone fîr Friedrich III. gleichsam fundiert werden sollte, wurde entschieden, die neue Wîrde auf das „souverne“ Herzogtum Preußen zu stîtzen, wodurch, da es außerhalb des deutschen Reichsverbandes lag, reichsrechtliche Komplikationen minimiert wurden. Aber ebenso, wie schon die herzoglich-preußische „Souvernitt“ in der europischen Umgebung dem Problem der Akzeptanz begegnet war, schienen die nun gar bei einer preußischen Krone zu erwartenden Friktionen um ihre Anerkennung nur dann ausgerumt werden zu kçnnen, wenn zunchst einmal die Zustimmung der Hofburg eingeholt wîrde. Die Verhandlungen, die 1699 in das akute Stadium eintraten, drehten sich insbesondere um die Frage, ob die Mitwirkung des Kaisers eine „Kreation“ der Krone sei oder aber eine „Agnoszierung“, ob also damit gesagt sei, daß letztlich die neue Krone durch den Kaiser (mit) geschaffen worden oder nur von ihm anerkannt worden sei. Die Kompromißformel, daß Friedrich III. „nicht gemeinet“ sei, die Krone ohne kaiser366 Alfred Francis Pribram, §sterreich und Brandenburg 1688 – 1700, Prag/Leipzig 1885, S. 123 – 126; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 120; ferner Horst Carl, „Und das Teutsche Reich selbsten sitzet gantz stille darzu …“, Das Reich und die preußische Kçnigskrçnung, in: Heide Barmeyer (Hg.), Die preußische Kçnigskrçnung und Rangerhçhung in deutscher und europischer Sicht, Frankfurt am Main 2002, S. 43 – 61, bes. S. 49 ff., S. 55 – 58. 367 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 100, S. 120, S. 137; M. und L. Frey, Frederick … (s. Anm. 235), S. 58 ff.

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liche Zustimmung zu îbernehmen, war ein situationsbedingter Erfolg der brandenburgischen Diplomatie im Vorfeld von Spanischem Erbfolgekrieg und Großem Nordischen Krieg.368 Im Krontraktat vom 16. November 1700 wurde das Resultat niedergelegt.369 Unter Verweis auf das Bîndnis von 1686, dessen wesentliche Bestimmungen nur erneuert wurden, gab der Kaiser seine Zustimmung zur Annahme der Wîrde eines „Kçnigs in Preußen“. Damit waren Interpretationen, wonach dieser Titel auch Ansprîche auf den polnischen Teil Preußens einschlçsse, an sich angeschlossen. Ausdrîcklich wurde auf die spanische Sukzessionsfrage Bezug genommen. Brandenburg erneuerte also die Verpflichtung zur Stellung von 8.000 Mann gegen Subsidien. Nur der Verzicht auf finanzielle Forderungen, die in den letzten Jahren fîr Brandenburg-Preußen aus Subsidienvertrgen angefallen waren, konnte als neue Last und eigentlicher Preis fîr die Zustimmung Wiens gerechnet werden. Die sich abzeichnende Bîndniskonstellation hatte zudem die sofortige Anerkennung der preußischen Krone durch England und Holland und auch die der katholischen Reichsstnde zur Folge. Die wichtigsten Staaten haben sich dem bis 1713 angeschlossen, Polen erst 1764 und die Kurie im Jahre 1787.370 Zunchst fielen eigentliche finanzielle Lasten im Innern an. Die Vorbereitung zu den Kçnigsfeierlichkeiten sind lange vor Abschluß des Krontraktats 368 Heinz Duchhardt, Das preußische Kçnigtum von 1701 und der Kaiser, in: Ders. / Manfred Schlenke (Hg.), Festschrift fîr Eberhard Kessel zum 75. Geburtstag, Mînchen 1982, S. 89 – 101, hier S. 94 – 97; Ders., Protestantisches Kaisertum … (s. Anm. 299), S. 242 f.; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 137 – 145; Christine Roll, Die preußische Kçnigserhebung im politischen Kalkîl der Wiener Hofburg, in: Johannes Kunisch (Hg.), Dreihundert Jahre Preußische Kçnigskrçnung. Eine Tagungsdokumentation (= ForschBrandPrG, Beiheft 6), Berlin 2002, S. 189 – 227, bes. S. 202, S. 207 ff. (Nordischer Krieg), und Max Plassmann, Der Preis der Krone. Preußische Truppen im Spanischen Erbfolgekrieg, in: Ebda. S. 229 – 258, bes. S. 232, zum Krontraktat; aus der neueren Produktion ferner der Band von H. Barmeyer (Hg.), Die preußische Rangerhçhung, insbes. den Aufsatz von H. Carl, „Und das Teutsche Reich“ … (s. Anm. 366), S. 43 – 61, bes. S. 49 ff., S. 55 – 58. 369 Druck bei T. von Moerner, Staatsvertrge … (s. Anm. 38), S. 810 – 823, Nr. 26 (S. 814: „ … nicht gemeinet“); A. Berney, Friedrich I. … (s. Anm. 237), S. 3 f.; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 145 f.; A. F. Pribram, §sterreich und Brandenburg … (s. Anm. 366), S. 161 – 201, bes. S. 195 ff.; Klaus-Ludwig Feckl, Preußen im Spanischen Erbfolgekrieg (= Europische Hochschulschriften, Reihe III., 123), Frankfurt am Main/Bern/Cirencester 1979, S. 32 f., S. 36 f., S. 50; E. Ichon, Verhandlungen … (s. Anm. 365), S. 11; und P. Baumgart, Preußische Kçnigskrçnung … (s. Anm. 364), S. 73 ff., S. 83 ff. 370 C. Hinrichs, Friedrich … (s. Anm. 354), S. 268; Walter Friedensburg, Die rçmische Kurie und die Annahme der preußischen Kçnigswîrde durch Kurfîrst Friedrich III. von Brandenburg (1701), in: HZ 87 (1901), S. 407 – 432, hier S. 427; H. Schulze (Hg.), Hausgesetze … (s. Anm. 339), 3, S. 588; anders: E. F. von Herzberg, Historische Nachricht von dem ehemals von den Ppsten bestrittenen, nunmehr aber anerkannten Preußischen Kçnigstitel, in: BerlinMschr 8 (1786), S. 101 – 110, hier S. 107.

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aufgenommen worden. Von den kurmrkischen Stnden waren vorab 100.000 Taler dazu bewilligt worden; eine weitere, ein mehrfaches betragende Kronsteuer wurde erhoben. In der offiziçsen Darstellung der Krçnungsfeierlichkeiten in Kçnigsberg und in Berlin, verfaßt vom Oberzeremonienmeister von Besser und gedruckt im Schloß zu Cçlln an der Spree im Jahre 1702, wurde der Aufwand genau beschrieben und dabei etwa mitgeteilt, daß bei der Reise des ganzen Hofes samt militrischer Begleitung von Berlin-Cçlln nach Kçnigsberg nicht weniger als 30.000 Vorspannpferde bençtigt worden seien. Bei der Vorbereitung der Feierlichkeiten, bei denen am 17. Januar 1701 der hçchste preußische Orden, der Schwarze-Adler-Orden, gestiftet wurde, hat der Kurfîrst-Kçnig selbst intensiv mitgewirkt. Der Orden, der sehr bewußt in der zeittypischen Form kçniglicher Hoforden gestiftet wurde, nahm die Devise der Prinzenzeit, d. h. das „Suum cuique“ als nun kçniglichen Wahlspruch wieder auf. Auch das gehçrte zur Formen- und Symbolsprache der Zeit, daß am 18. Januar in sehr moderner Weise Selbst-Krçnung und Salbung rumlich getrennt im Kçnigsberger Schloß vollzogen wurden. Die beiden Konsekratoren, die in der Schloßkirche den Salbungsakt vorzunehmen hatten, waren zwei zu diesem Zwecke eigens zu Bischçfen ernannte Theologen, ein Lutheraner und ein Reformierter. Aber der Monarch und Sophie Charlotte betraten die Kirche bereits mit der Krone auf den Huptern, angetan mit kçniglichem Ornat. Skandinavische Vorbilder, solche aus Dnemark und aus dem Schweden des aktiv-aggressiven Karls XII., haben dafîr als Vorbilder gedient, so daß îber die primre Bedeutung der Selbstkrçnung kein Zweifel bestehen konnte.371 Eben deshalb sei der Kçnig bereits mit allen Insignien der Herrschaft zum Altar geschritten „weilen Seine Majestt die dadurch angedeutete Kçnigliche Wîrde / vermittelst der Salbung nicht erst erlangen: sondern nur kund machen und besttigen / oder vielmehr und eintzig und allein von GOTt dem HErrn an371 (Johann von Besser), Preußische Krçnungs-Geschichte/ oder Verlauf der Ceremonien/ Mit welchen Der Allerdurchlauchtigste/ Großmchtigste Fîrst und Herr/ Herr Friderich der Dritte/ Marggraf und Churfîrst zu Brandenburg/ Die Kçnigliche Wîrde Des von Ihm gestifteten Kçnigreichs Preussen angenommen/ Und Sich und Seine Gemahlin/ Die Allerdurchlauchtigste Fîrstin und Frau/ Frau Sophie Charlotte/ Aus dem Churhause Braunschweig/ den 18. Januarii des 1701. Jahres Durch die Salbung als Kçnig und Kçnigin einweihen lassen … , Cçlln an der Spree/ Druckts Ulrich Liebpert/Kçnigl. HofBuchdr. 1702 (benutzt in dieser 1. Aufl.) S. 5 f., Adlerorden: S. 9 f., Selbstkrçnung: S. 20 ff., Prozession und Salbung: S. 25 – 48; C. H. Gîtther, Friedrich der Erste … (s. Anm. 349), S. 128 (1750); aus der Lit. L(ouis) Schneider, Das Buch vom Schwarzen Adler-Orden, Berlin 1870, S. 3, S. 8 – 23; P. Baumgart, Kçnigskrçnung … (s. Anm. 364), S. 75 f., zum 18. Januar: S. 77 f.; Ders., Der deutsche Hof der Barockzeit als politische Institution, in: August Buck u. a. (Hg.), Europische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, 1 (= Wolfenbîtteler Arbeiten zur Barockforschung, 8), Hamburg 1981, S. 25 – 43, hier S. 32; H. Duchhardt, Kçnigskrçnung … (s. Anm. 342), S. 85 – 90.

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nehmen wollten“. So hat im Jahr darauf der Herr von Besser den spektakulren Aktus interpretiert.372 In derselben Quelle wurde der Bezug zu Herzog Albrecht als erstem weltlichem Herrn Preußens hergestellt. Indem in dieser hofnahen Quelle ausdrîcklich festgestellt wurde, daß Albrecht Preußen „von dem beschwerlichen, ja unanstndlichem Joche der Ordens-Brîder … befreyet“ habe, war jede positive Bezugnahme der neuen preußischen Monarchie zum Ordensstaat vor 1525 definitiv ausgeschlossen.373 Damit war das Problem des Statusdefizits behoben, dasjenige der noch unzureichenden Machtbasis jedoch nicht. Es hat dann auch nicht an spçttischen Kommentierungen, etwa durch den englischen Kçnig gefehlt.374 Die folgenden Jahre standen unter dem Vorzeichen der Doppellast von europischem Kriegsengagement und der Notwendigkeit, die neue Majestt der hçfischen Gesellschaft ad oculos zu demonstrieren, notwendig auch deshalb, weil hinhaltender Widerstand in verdeckter Form durchaus noch eine Weile whrte. Ausgerechnet in Wien hat man nach 1701 in diesem Sinne das Zeremoniell und seine differenzierten Mçglichkeiten noch eine Zeitlang genutzt, indem etwa der Titel „Majestt“ vorenthalten wurde.375 Friedrich I., wie er sich nun nannte, hat gleichwohl in Vertragstreue zur antifranzçsischen Allianz gestanden, was nicht ausschloß, daß unterdessen zwischen Preußen und Frankreich Verhandlungen îber die Anerkennung der Krone gepflogen wurden, die freilich durch Ludwig XIV. erst 1713 erfolgte.376 Das, was den faktischen Status des neuen Kçnigreichs im ersten Jahrzehnt nach der Selbstkrçnung sehr nachhaltig beeintrchtigte, das waren die sich aus der Doppellast von Kronreprsentation und Kriegsbedarf ergebenden finanziellen Probleme, die in Europa mehr und mehr bekannt wurden und auf den Kurswert Friedrichs I. als Alliierten drîckten. Um seine Truppenstrke aufrechterhalten zu kçnnen und damit auch sein politisches Gewicht, mußte Preußen seine Armee gleichsam gegen Subsidien vermieten; die zugesagten Subsidiengelder flossen zudem nur sehr unzuverlssig, und hohe Summen, die Habsburg schuldete, d. h. rund 900.000 Taler, sind tatschlich nie gezahlt worden. Das steigerte eher die Abhngigkeit, in der sich Preußen befand. Im 372 J. von Besser, Krçnungs-Geschichte … (s. Anm. 371), S. 38, dnisches Vorbild: S. 39 Anm.! 373 J. von Besser, Krçnungs-Geschichte … (s. Anm. 371), „Zuschrift“, unpag; wichtig nach wie vor Theodor Schieder, Die preußische Kçnigskrçnung von 1701 in der politischen Ideengeschichte, zuerst 1935, wieder in: Ders., Begegnungen mit der Geschichte, Gçttingen 1962, S. 183 – 209, S. 287 – 294, hier S. 206 f. 374 C. von Noorden, Europische Geschichte … (s. Anm. 237), hier: 1. Abt., 1, Dîsseldorf 1870, S. 228. 375 A. Berney, Friedrich I. … (s. Anm. 237), S. 42 ff. 376 E. Ichon, Verhandlungen … (s. Anm. 365), S. 48; A. Berney, Friedrich I. … (s. Anm. 237), S. 106 f.

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April des Jahres 1701 betrug die preußische Truppenstrke rund 26.500 Mann. Im Verlaufe des Krieges hat sich die Abhngigkeit Preußens von der Allianz, zumal von England, immer mehr verstrkt, so daß es trotz allem militrischen Engagements im Belgischen und in Oberitalien (Sieg bei Turin, 1706), immer schwieriger wurde, auch eigene politische Interessen, zumal solche territorialer Natur, mit Aussicht auf Erfolg zu vertreten. Marlborough, der englische Feldherr, hat sich des Arguments, die Preußen seien angesichts ihrer finanziellen Abhngigkeit politisch ja nicht mehr handlungsfhig, rîcksichtslos bedient. Im Jahre 1708/9 mußte Preußen weitere gut 8.000 Mann den Niederlanden fîr Geld îberlassen; Drohungen, die preußischen Truppen bei mangelnder Rîcksicht auf preußische Interessen, zurîckzuziehen, konnten die Alliierten getrost ignorieren. Preußen war de facto noch kein gleichberechtigter Partner, und so sind preußische Offiziere zu entscheidenden militrischen Beratungen nicht mehr hinzugezogen worden. Die Zahl der tatschlich gestellten Truppen hat die im Krontraktat festgestellte Quote bei weitem îberschritten;377 fîr ein aktives Engagement im Osten, in den polnisch-schsisch-russisch-schwedischen Auseinandersetzungen standen selbstndige preußische Potentiale nicht mehr zur Verfîgung, obwohl es preußischerseits Plne gab, in den Konjunkturen des Großen Nordischen Krieges nach dem polnischen Preußen, dem spteren Westpreußen als dem fehlenden Verbindungsstîck zwischen den mittleren Provinzen und dem eigentlichen, çstlichen Preußen zu greifen.378 Die Krfte reichten freilich nicht einmal aus, Durchmrsche der nordischen Kriegsparteien durch brandenburg-preußisches Gebiet zu verhindern. Im territorialen Ergebnis des ersten Jahrzehnts politischer Aktivitt des preußischen Kçnigreichs kamen – unter verschiedenen rechtlichen Titeln – bis 1713 Lingen, Moers (auf das man 1712 per Handstreich zugegriffen hatte), Geldern und das Schweizer Neuch’tel (1701) hinzu, Geldern in Folge des Friedens von Utrecht mit Vertrag vom 2. April 1713. Bei den anderen Gebieten standen Erb-Ansprîche im Hintergrund, die sich aus der ersten, der oranischen Ehe des Großen Kurfîrsten herleiteten. Tecklenburg kam durch Kauf dazu.379 In der Summe machten alle 377 A. Berney, Friedrich I. … (s. Anm. 237), S. 13, S. 20, S. 44, dazu die Rezension von G(eorg) Schnath, in: ForschBrandPrG 40 (1927), S. 390; Rîckstnde der von den Verbîndeten zu zahlenden Subsidien: C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 171 ff., ferner S. 179 – 194, S. 300, S. 332 ff., S. 356 ff., S. 389, S. 417 – eine moderne Untersuchung dieses Komplexes auf archivalischer Grundlage ist erwînscht; vgl. auch F. Hartung, Neuzeit … (s. Anm. 290), S. 119. 378 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 237 f., S. 303, S. 373, S. 418; vgl. damit A. Berney, Friedrich I. … (s. Anm. 237), S. 90 ff., S. 104 f.; Erich Hassinger, Brandenburg-Preußen, Rußland und Schweden 1700 – 1713 (= Verçffentlichungen des Osteuropa-Instituts Mînchen, 2), Mînchen 1953, S. 155 ff. 379 C. Hinrichs, Friedrich I. … (s. Anm. 364), S. 271; Ders., Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 300; M. und L. Frey, Frederick … (s. Anm. 235), S. 201; C. von

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diese Gebiete im Westen zusammen mit den seit hundert Jahren angefallenen Territorien von Kleve, der Grafschaft Mark, Minden und Ravensberg, rund 812 Prozent der Gesamtflche des Staates aus,380 doch die wirtschaftliche Bedeutung dieser Landschaften mit Rheinhandel und einiger Leinenproduktion war sicher um einiges grçßer. Die mchtepolitische Konstellation hatte sich fîr Preußen bis 1713 also immerhin insofern gefestigt, als bis zum Frieden von Utrecht die Frage nach der formalen Anerkennung der neuen Krone als im wesentlichen gelçst angesehen werden durfte. Die nur begrenzte Mçglichkeit, den neuen Status zur Geltung zu bringen, resultierte also aus dem geschilderten faktisch geminderten Rang als Auxiliarmacht und dieser wiederum aus der Finanzlage, die ein Resultat extremer Doppellast war. Auch angesichts des Kriegsbedarfs wre es nach Krontraktat und Krçnungsaktus wohl gnzlich ausgeschlossen, ja ein schwerer Fehler gewesen, die Entwicklung des Hofes, der schon in den neunziger Jahren wachsende Finanzanteile absorbiert hatte,381 nun abzubrechen. Der Hof zu BerlinCçlln hatte gerade um und nach 1700 eine politische Demonstrationsfunktion zu erfîllen. Die Baupolitik in der Residenzstadt und in der Residenzlandschaft, fîr die die verfîgbaren Ressourcen des Staates in den mittelmrkischen Residenzenraum gezogen wurden, hatte eine kînstlerische Blîte zur Folge, vor allem eine der Baukunst.382 Der Zusammenhang von Baupolitik, zumal am Schloß zu Berlin, und der politischen Lage nach dem Kronerwerb ist bisweilen offen ausgesprochen worden.383 Der Zeughausbau, Charlottenburg und zahlreiche

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Noorden, Europische Geschichte … (s. Anm. 237), 1, S. 228 f., 2, S. 529 f.; Victor Loewe (Hg.), Preussens Staatsvertrge aus der Regierungszeit Kçnig Friedrich Wilhelms I. (= Publikationen aus den K. Preußischen Staatsvertrgen, 87), Leipzig 1913, ND Osnabrîck 1966, hier S. 1 – 8; jetzt vorzîglich Heinz Duchhardt, Balance of Power und Pentarchie. Internationale Beziehungen 1700 – 1785 (= Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, 4), Paderborn u. a. 1997, S. 155; O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 273 f.; als ˜berblickskompendium fîr die territorialen Vernderungen nach wie vor nîtzlich Wilhelm Fix, Die Territorialgeschichte des preußischen Staates im Anschluß an zwçlf historische Karten, Berlin 31884, S. 142 ff. (oranische Erbschaft); K. L. Feckl, Spanischer Erbfolgekrieg … (s. Anm. 269), S. 86 – 99. G. Heinrich, Preußen … (s. Anm. 72), S. 68. C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 156 ff. H. Duchhardt, Anspruch … (s. Anm. 359), S. 36 f., S. 51 f.; J. Kunisch, Residenzen … (s. Anm. 358), S. 177 ff. Vgl. die Quellenmitteilungen bei Wolfgang Neugebauer, Residenz – Verwaltung – Reprsentation. Das Berliner Schloß und seine historischen Funktionen vom 15. bis 20. Jahrhundert (= Kleine Schriftenreihe der Historischen Kommission zu Berlin, 1), Potsdam 1999, S. 33; Albert Geyer, Geschichte des Schlosses zu Berlin, 2: Vom Kçnigsschloß zum Schloß des Kaisers (1698 – 1918), bearb. von Sepp-Gustav Grçschel. Aus dem Nachlaß hg. mit einer Einfîhrung von Jîrgen Julier, Berlin 21993, S. 111; vgl. 1: Die kurfîrstliche Zeit bis zum Jahre 1698. Mit einer Einfîhrung von Jîrgen Julier, ND der Ausgabe Berlin 1936, S. 65 – 81, zur Zeit des Großen Kurfîrsten;

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Lusthuser der Umgebung gehçren in diesen Zusammenhang. Potsdam wurde in der spten Regierungszeit des Großen Kurfîrsten zur bevorzugt genutzten Nebenresidenz. Auf der Basis einer Entwicklung, die seit etwa 1680 in ein neues Stadium trat, wurde der Hof fîr kurze Zeit auf ein europisches Niveau gebracht. So wie das Zeremoniell in der Politik, so spielte die hçfische Reprsentation,384 der Luxus als Indiz çkonomisch-kultureller Potenzen, die Rolle eines Signalsystems, das von auswrtigen Beobachtern wie ein Meßinstrument abgelesen wurde. Zwischen 1688 und 1697 wurden die Hofkosten verdoppelt.385 Die Baukunst Schlîters und Eosanders386 war „Staatsbaukunst“,387 unverzichtbares Instrument der Politik, versteinerte Macht, Programm und Anspruch. Reprsentative Schloßhçfe, imposante Treppenhuser, die dem Besucher Raum, Proportion, Maß und Hierarchie vor Augen stellten, Zimmerfluchten, durch die dem Audienzsuchenden ein gleichsam physischer Eindruck vom Rang des Monarchen gegeben wurde – auch dies war praktische Politik. Kirchenbau und Akademiegrîndungen sind gleichfalls Instrumente des Residenzausbaus gewe-

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Residenzlandschaft: Wolfgang Neugebauer, Potsdam-Berlin. Zur Behçrdentopographie des preußischen Absolutismus, in: Bernhard R. Kroener (Hg.), Potsdam. Staat, Armee, Residenz in der preußisch-deutschen Militrgeschichte, unter Mitarbeit von Heiger Ostertag, Frankfurt am Main/Berlin 1993, S. 273 – 296 (mit der weiteren Lit.). M. und L. Frey, Frederick … (s. Anm. 235), S. 52 f. K. Breysig, Staatshaushalt … (s. Anm. 87), S. 40. Hellmut Lorenz, Tradition oder „Moderne“? ˜berlegungen zur barocken Residenzlandschaft Berlin-Brandenburg, in: ForschBrandPrG 8 (1998), S. 1 – 23, hier S. 6 f.; zu Schlîter jetzt Guido Hinterkeuser, Das Berliner Schloss. Der Umbau durch Andreas Schlîter, Berlin 2003, zum Umbau seit 1698 – 99 im politischen Kontext S. 111 – 115; aus der lteren kunstgeschichtlichen Lit. vgl. Cornelius Gurlitt, Andreas Schlîter, Berlin 1891, S. 47 f. (1694), S. 144 f., und passim; Heinz Ladendorf, Der Bildhauer und Baumeister Andreas Schlîter. Beitrge zu seiner Biographie und zur Berliner Kunstgeschichte seiner Zeit (= Forschungen zur deutschen Kunstgeschichte, 2), Berlin 1935, S. 68 ff.; Helmut Bçrsch-Supan, Die Kunst in Brandenburg-Preußen. Ihre Geschichte von der Renaissance bis zum Biedermeier dargestellt am Kunstbesitz der Berliner Schlçsser (= Verwaltung der Staatlichen Schlçsser und Grten), Berlin 1980, S. 56 ff.; A. Geyer, Schloß … (s. Anm. 383), 2, S. 2 – 6; ferner Hans Mîller, Die kçnigliche Akademie der Kînste zu Berlin 1696 bis 1896, 1.: Von der Begrîndung durch Friedrich III. von Brandenburg bis zur Wiederherstellung durch Friedrich Wilhelm II. von Preussen, Berlin 1896, S. 85. Unlngst erschien der aus der Zusammenarbeit von Historikern und Kunsthistorikern entstandene Tagungsberichtsband: Wolfgang Ribbe (Hg.), Schloß und Schloßbezirk in der Mitte Berlins. Das Zentrum der Stadt als politischer und gesellschaftlicher Ort (= PubllHistKommBerlin), Berlin 2005 (zum 18. Jahrhundert die Beitrge von Guido Hinterkeuser, Wolfgang Neugebauer und Horst Mçller). So schon sehr treffend und mancherlei moderne Neuentdeckungen vorwegnehmend C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 154 f. (1941/43).

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sen;388 die Akademie der Wissenschaften verdankt ganz wesentlich dem Zusammenspiel von Sophie Charlotte und Leibniz ihre Entstehung. Freilich war mit der Universittsgrîndung von Halle an der Saale ein weiteres geistig-kulturelles Zentrum im Staat entstanden, das zu Zeiten in Preußen das ˜bergewicht îber andere geistige Mittelpunkte zu gewinnen schien, jedenfalls nach 1713. Mit Leibniz in Berlin und Thomasius in Halle hatte die Frîhaufklrung in Brandenburg-Preußen Fuß gefaßt. Samuel von Pufendorf wurde als Historiograph an den Hof gezogen und verfaßte auf der Basis des Archivs sein Werk îber den Großen Kurfîrsten. Die Integrationswirkung389 der Kçnigskrone bedîrfte einer eingehenden empirischen Begrîndung resp. ˜berprîfung. Dazu gehçrt auch die Wirkung auf kulturelle Eliten im Staate, aber auch die Ausstrahlungskraft auf die Adelslandschaften in den verschiedenen Teilen der Monarchie ist noch zu klren. Immerhin sind Zweifel daran vorgebracht worden, ob sich der alte, landsssige Adel so ohne weiteres in den Bann eines Hofes schlagen ließ, dessen – so Schieder – Kînstlichkeit im Lande auch einen Isolationseffekt besessen haben kçnnte. Konfessionelle Differenzen zwischen zumeist lutherischem Adel und kalvinistischem Hof sind gewiß in Rechnung zu stellen.390 Dagegen steht die Attraktivitt der Hofgesellschaft als Nachrichten- und Kreditzentrum, als eines, an dem Chancen und Karrieren vergeben wurden. Auch und gerade rund drei Jahrhunderte nach der preußischen Kçnigskrçnung stellen sich noch viele Fragen fîr die kînftige Forschung. 388 Vgl. noch immer das aus intensiver Materialkenntnis entstandene (Jubilums-)Werk von Adolf (von) Harnack, Geschichte der Kçniglich Preussischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Im Auftrage der Akademie bearbeitet, 1, 1. Hlfte, Berlin 1900, S. 38 f., S. 48 ff., S. 68 f. (nicht nachweisbar, „daß Friedrich die Akademie bereits im Hinblick auf die Kçnigskrone gegrîndet hat“), u. ç.; H. Mîller, Akademie der Kînste … (s. Anm. 386), S. 1 – 9; G. Oestreich, Fundamente … (s. Anm. 81), S. 291; Eduard Winter, Frîhaufklrung. Der Kampf gegen den Konfessionalismus in Mittelund Osteuropa und die deutsch-slavische Begegnung. Zum 250. Todestag von G. W. Leibniz im November 1966 (= Beitrge zur Geschichte des religiçsen und wissenschaftlichen Denkens, 6), Berlin 1966, S. 75 f.; und zu Halle an der Saale Wolfgang Neugebauer, Das Bildungswesen in Preußen seit der Mitte des 17. Jahrhunderts, in: O. Bîsch (Hg.), Handbuch der Preußischen Geschichte … (s. Anm. 201), 2, S. 605 – 798, hier S. 623 ff.; J. Schultze, Brandenburg … (s. Anm. 344), 5, S. 55 – 61. 389 W. Neugebauer, Integration … (s. Anm. 201), S. 75 ff.; vgl. noch E. Hubrich, Staatseinheit … (s. Anm. 199), S. 353 – 361. 390 Theodor Schieder, Friedrich der Große. Ein Kçnigtum der Widersprîche, Frankfurt am Main/Berlin/Wien 1983, S. 16 f.; auch Peter-Michael Hahn, Fîrstliche Territorialhoheit und lokale Adelsgewalt. Die herrschaftliche Durchdringung des lndlichen Raumes zwischen Elbe und Aller (1300 – 1700) (= VerçffHistKommBerlin, 72), Berlin/ New York 1989, S. 377 f.; anders P. Baumgart, Der deutsche Hof … (s. Anm. 371), S. 37.

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§ 6 Friedrich Wilhelm I. und die politischen Strukturen Brandenburg-Preußens (bis 1740) Man kann mit gutem Recht darîber streiten, ob das Jahr 1701 oder das Jahr 1713 eine Zsur in der brandenburg-preußischen Geschichte darstellt.391 Denn wenn es auch richtig ist, daß mit dem Erwerb der Krone 1700/1701 zunchst politische Optionen der europischen Mchtepolitik gewahrt beziehungsweise neue Spielrume souverner Entwicklung in langer Frist erçffnet worden sind, so war doch die unmittelbar strukturbildende Wirkung nach innen wohl nur gering. Gewiß, alle Territorien des brandenburgischen Hohenzollern hießen nun kçniglich preußische, und die kurbrandenburgische Amtskammer an der Spree publizierte – um nur dieses Beispiel zu nennen – in großen und kleinen Angelegenheiten ihre Resolutionen als kçniglich preußische Amtskammer der Kurmark. Freilich war die Praxis, gleichsam den ranghçchsten Titel auf alle Territorien der Dynastie zu îbertragen, so neu nun auch nicht. Schon vor dem Jahre 1700 hat es eine gewissermaßen nominelle Klammer zwischen den Gebieten gegeben, indem eben der brandenburgische Name auch außerhalb der Mark, ja sogar außerhalb der Grenzen des Heiligen Rçmischen Reiches Anwendung fand. So wurde z. B. in Kçnigsberg im Jahre 1685 ein „Kurfîrstlich Brandenburgisches Revidirtes Land-Recht / Des Hertzogthumbs Preußen“392 herausgebracht, ein, wenn man so will, amtliches Werk, das nur in Ostpreußen galt und doch den nominellen Bezug zum Gesamtstaat schon im Titel deutlich erkennen lßt. Wenn also mit dem Jahre 1701 fîr die innere, die strukturelle Einheit Brandenburg-Preußens direkt nicht allzu viel Neues erreicht worden ist, so wre bei der Suche nach zsurhaften Daten natîrlich an den Regierungswechsel von 1713 zu denken, an den Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I. In der Tat hat man von diesem Jahr als dem eines „Systemwechsels des Absolutismus“ in Brandenburg-Preußen gesprochen,393 und damit zugleich neben das Datum von 1700/1701 ein strukturell bedeutendes gestellt.

391 Zur Frage der Periodisierung vgl. Otto Hintze, Geist und Epochen der preußischen Geschichte, zuerst 1903, wieder in: Ders., Regierung und Verwaltung … (s. Anm. 54), S. 1 – 29, hier S. 13 – 18; Peter Baumgart, Epochen der preußischen Monarchie im 18. Jahrhundert, in: Otto Bîsch (Hg.), Das Preussenbild in der Geschichte. Protokoll eines Symposions (= VerçffHistKommBerlin, 50: Forschungen zur Preußischen Geschichte), Berlin/New York 1981, S. 65 – 96, hier S. 68 ff. 392 W. Neugebauer, Verhltnis … (s. Anm. 4), S. 182 f.; Churfîrstlich Brandenburgisches Revidirtes Land-Recht/ Des Hertzogthumbs Preußen … Kçnigsberg/ Gedruckt bey Friedrich Reusners/ Churfîrstl. und Acad. Buchdruckers Erben 1685, (in Folio), dabei unpag. das Publikationsreskript, datiert Freienwalde, 17./27. August 1685. 393 P. Baumgart, Epochen … (s. Anm. 391), S. 70.

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Friedrich Wilhelm I. kann in seiner strukturformenden, vielleicht sogar strukturbildenden Bedeutung fîr den preußischen Staat und durch die Wirkungen sodann auf die europische Geschichte nicht îberschtzt werden. Wenn Friedrich II., der Große, gleich 1740/41 in der Lage war, die Konjunkturen der europischen Politik aggressiv und offensiv zu nutzen und Preußen auf den Weg zu europischer Bedeutung zu bringen, so lagen die Kausalitten fîr diese Weichenstellungen tiefer, d. h. sie lagen in der Zeit Friedrich Wilhelms I. Dessen Sohn, konnte sofort auf diejenigen Instrumente zugreifen, die ihm im Mai 1740 vererbt worden waren. Damit gewinnt die Zeit Friedrich Wilhelms I. als formative Phase der preußischen Geschichte eine besondere Bedeutung. Wir mîssen uns der Person und der strukturellen Wirkungen dieses Herrschers deshalb intensiv annehmen, eines Mannes, dessen Bedeutung erst von der staatswissenschaftlichen Schule der Historiker und Nationalçkonomen der Acta Borussica richtig erkannt und intensiv erforscht worden ist. Wohl bei keinem anderen der preußischen Monarchen ist es so wichtig und erhellend, die Persçnlichkeitsstruktur mit in die Betrachtung einzubeziehen. Durch die intensiven Quellenforschungen von Carl Hinrichs394 sind wir in der Lage, dazu Zuverlssiges mitteilen zu kçnnen. Politische, kulturelle und religiçse Konstellationen und Erfahrungen haben den jungen Prinzen frîh geprgt, der denn auch schon vor seinem eigentlichen Regierungsantritt im Frîhjahr 1713 in die Geschicke des Staates einzugreifen begann. Insofern ist auch das Jahr 1713 nur ein Datum in einer lngeren, sich îber mehrere Jahre erstreckenden Entwicklung, die schon unter dem prgenden Vorzeichen dieses Monarchen steht. Friedrich Wilhelm I. wurde am 14. August 1688 im Berliner Schloß geboren; ein lterer Bruder war vorher gestorben; auch dieser Monarch war also nicht eigentlich ein Erstgeborener, wie wir es ja auch fîr Friedrich III./I. gesehen haben.395 Die Mutter war jene kulturell und intellektuell bedeutende Sophie Charlotte aus welfischem Hause, die dann z. B. bei der Akademiegrîndung um 1700 auch in die allgemeine Staatsentwicklung eingegriffen hat und die – etwa in Opposition zum Oberprsidenten Eberhard Danckelman396 – auch eigene 394 Vor allem die monumentale Jugendgeschichte: C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192). 395 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 7 f.; zu korrigieren durch E. Berner u. a., Genealogie … (s. Anm. 35), S. 36 f.; nach hannçverschen Quellen siehe Georg Schnath, Geschichte Hannovers im Zeitalter der neunten Kur und der englischen Sukzession 1674 – 1714. Im Anschluß an Adolf Kçchers unvollendete „Geschichte von Hannover und Braunschweig 1648 – 1714“ (PubllPreussStaatsarch, 20 und 63) (= VerçffHistKommHannover, Oldenburg, Braunschweig, Schaumburg-Lippe und Bremen, 18), 1, Hildesheim/Leipzig 1938, S. 428. 396 Zum Sturz Danckelmans siehe oben bei Anm. 235/236, Anm. 367; Sophie Charlotte: Otto Krauske, Kçnigin Sophie Charlotte. Geboren 20./30. Oktober 1668. Gestorben 1. Februar 1705, in: HohenzJb 4 (1900), S. 110 – 126, hier S. 110 ff.; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 9, S. 11 – 13, S. 19.

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(Haus-)Politik zu treiben wußte, wobei sie mit niemand anderem als mit Leibniz eng kooperierte. Die brandenburg-hannoversche Rivalitt war unter Friedrich I. und dann unter seinem Sohn am Hof an Spree und Havel prsent. Der junge Friedrich Wilhelm ist lngere Zeit, um 1690, in Hannover aufgewachsen,397 dann hat man sich am brandenburgischen Hof um seine Erziehung bemîht. Dies war in der Tat keine ganz leichte Aufgabe. Bestimmte Charakterzîge und Persçnlichkeitsmerkmale, die in seiner spten Kronprinzen- und sodann in seiner Regierungszeit îberindividuell bedeutsam geworden sind, lassen sich benennen.398 Da ist zuerst eine tiefe, zunchst kalvinistische Religiositt, eine die ihn schon frîh geradezu qulerisch erfaßte. Die „Prdestinationsangst“ (Carl Hinrichs), d. h. diejenige, nicht erwhlt zu sein, ist bereits sehr frîh zu erkennen, und sie setzte Energien frei, die auf Staat und Hof zu wirken begannen. Der antihçfische Affekt seiner religiçs unterstîtzten Emotionalitt richtete sich zunchst gegen die intellektuell-freigeistige, wohl auch frivole Umgebung Sophie Charlottes. Das starke Interesse an allem Militrischen, durchaus nicht selbstverstndlich fîr einen Hohenzollern um 1700, gehçrt gleichfalls zu den frîhen Charakteristika. In demonstrativem Kontrast zur Ausgaben- und Reprsentationspolitik des jungen brandenburg-preußischen Hofes hat Friedrich Wilhelm alsbald die Rechenhaftigkeit seiner Lebensfîhrung betont, was wiederum eigenen frîhen militrischen Experimenten zugute gekommen ist. In jungen Jahren in die Arbeit der preußischen Ratsgremien, im Geheimen Rat und im Kriegsrat Friedrichs I. eingefîhrt, hat er in Berlin und sodann in seiner Herrschaft Wusterhausen im zweiten Lebensjahrzehnt Regierungs- und Verwaltungserfahrung auf eigene Faust gesammelt, in der îberschaubaren administrativen Einheit eines kleinen Amtes. Hier hat er unmittelbare Einblicke in die Domnenpraxis gewonnen, hat auf dem Lande das

397 Ebda; G. Schnath, Geschichte Hannovers … (s. Anm. 395), 1, S. 507. 398 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 55 ff., das Zitat S. 57; antihçfische Haltung: S. 58 ff., S. 92 f., Ratsarbeit: S. 96 f.; Wolfgang Neugebauer, Herrschaft, Regierung, Verwaltung in Brandenburg-Preußen um 1700, in: Preussen 2001. Preußen 1701. Eine europische Geschichte. Essays, hg. vom Deutschen Historischen Museum und der Stiftung Preußische Schlçsser und Grten Berlin-Brandenburg … (Berlin 2001), S. 91 – 100, hier S. 97 ff. – nach der gut erhaltenen Archivîberlieferung; zu den Militaria außer C. Hinrichs a. a. O., S. 40 f.; C. Jany; Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 534 f.; Gerhard Oestreich, Friedrich Wilhelm I. Preußischer Absolutismus, Merkantilismus, Militarismus (= Persçnlichkeit und Geschichte, 96/97), Gçttingen/Zîrich/Frankfurt 1977, S. 17 ff., S. 25 f.; Karl Heinrich Siegfried Rçdenbeck (Hg.), Beitrge zur Bereicherung und Erluterung der Lebensbeschreibungen Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen, Kçnige von Preußen, nebst einem Anhang … 1, Berlin 1836, S. 132 ff., und der Abriß von Carl Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. Kçnig von Preußen, zuerst 1938, wieder in: Ders., Preußen … (s. Anm. 324), S. 40 – 72, hier S. 46 f.

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Wirtschaften gelernt und Anstze eines Regierungsstiles monarchischer Autokratie entwickelt, die er als Kçnig auf den Staat îbertragen hat.399 Das waren die Erfahrungen und frîhen Prgungen in Brandenburg-Preußen, und „ußere“ Erfahrungen traten hinzu. Zuerst sind da zwei hollndische Bildungsreisen zu erwhnen,400 sodann seine unmittelbaren Erfahrungen im Kampf gegen Ludwig XIV. Die Schlachten im Westen (Malplaquet 1709), die Erlebnisse im verbîndeten Heerlager ließen ihm die fragile Stellung des neuen Kçnigreichs im europischen Mchtegefîge plastisch vor Augen treten; es wird berichtet, daß die abflligen Bemerkungen, die der Kronprinz beim Kriegsrat îber die finanziellen Mçglichkeiten Preußens, ein eigenes Heer zu unterhalten, hçren mußte, ganz wesentlich dazu beitrugen, bei dem kînftigen preußischen Kçnig strukturpolitische Entscheidungen reifen zu lassen.401 Und schließlich traten die Erfahrungen zweier Amtszeiten als Statthalter (fîr den abwesenden Kçnig) hinzu, erst 1708 und dann erneut im Jahre 1711. Hilf- und machtlos mußte der Prinz in der Mittelmark zusehen, wie fremde Truppen durch das Land zogen, ohne daß irgendein Widerstand geleistet werden konnte. Damals standen in ganz Preußen von der Memel bis zur Elbe außer Invaliden und etwas Landmiliz nur zwei Infanteriebataillone, eine Dragonerkompanie und etwas Festungsvolk, in der Mark Brandenburg dazu noch zwei Regimenter Kavallerie und wenige kleinere Einheiten, mit denen an Widerstand nicht zu denken war; die preußischen Truppen aus dem Westen zum Schutz des eigenen Landes zurîckzurufen, war angesichts der Subsidienabhngigkeiten in der Tat unmçglich. Die Lektion der Hilflosigkeit, der Ohnmacht, und zwar in einer existenziellen Situation und angesichts mannigfaltiger ˜bergriffe durch schsische und russische Truppen nicht weit von der Residenzstadt hat tief gewirkt. Es ist deshalb kein Zufall, daß Friedrich Wilhelm noch als Prinz in die Staatsgeschfte eingegriffen hat, und deshalb ist es angebracht, die Betrachtung nicht allzu sehr auf das Jahr 1713 als ein singulres Epochendatum zu redu399 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., Jugend … (s. Anm. 192), S. 74, S. 342 – 345, S. 422 ff.; wichtig: Meta Kohnke, Das preußische Kabinettsministerium. Ein Beitrag zur Geschichte des Staatsapparates im Sptfeudalismus, in: Jahrbuch fîr Geschichte des Feudalismus 2 (1978), S. 313 – 356, hier S. 316 f.; G. Oestreich, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 298), S. 27 ff. 400 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., Jugend … (s. Anm. 192), S. 79 – 85, S. 88, S. 104 – 108. 401 Julius Haeckel, Die Potsdamer Riesengarde (1713 – 1740). 200jhriges Gedenkblatt zur Geschichte des Ersten Garderegiments zu Fuß und der Stadt Potsdam, Potsdam 1913, S. 93 f., Anlage 2; allgemein der Aufsatz von C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm … (s. Anm. 398), S. 42; und dessen Monographie von 1941/43, C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., Jugend … (s. Anm. 192), S. 370, S. 389 – 412, zu den Statthalterschaften: S. 338, S. 341, S. 511 ff., S. 529 – 543; G. Oestreich, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 398), S. 30, S. 41; L. Enders, Uckermark … (s. Anm. 100), S. 448.

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zieren, sondern die Zeit Friedrichs III./I. in der Kontinuitt402 der Entwicklung vor 1688 und nach 1713 zu sehen und dabei die Jahre 1710/11 bis 1713 als eine bereits strukturformende ˜bergangsphase zu erkennen. Auch dies wirft auf das Verhltnis mçglicher personaler Faktoren in ihrer Wirkung auf die preußische Geschichte ein helles Licht, zeigt sich doch dabei eine gewisse Unabhngigkeit personaler Spielrume von der dynastischen Spitzenposition in spezifischen Konstellationen. Dazu gehçrte nun ganz wesentlich, daß noch unter Friedrich I. die Position der Premierminister beseitigt worden ist. Nach dem Sturz Eberhard Danckelmans war der Reichsgraf Kolbe von Wartenberg rasch an dessen Stelle getreten, seit etwa 1702 besaß Wartenberg eine îberragende Position. Unter seiner øgide flossen von den veranschlagten rund vier Millionen Talern an Staatseinkînften etwa die Hlfte in die Militrausgaben, 150.000 Taler wurden fîr die Zivilbesoldungen bençtigt, whrend der Rest, also die (knappe) andere Hlfte fîr den Unterhalt des Hofes bençtigt wurde. Allerdings gingen die veranschlagten Summen nicht in der erwarteten Hçhe ein, und fîr das Fehlende wurden Anleihen aufgenommen. Nach Wartenbergs Sturz beginnt um 1710/11 „eine Zeit der Reformen die unmittelbar zu Friedrich Wilhelm I. hinîberfîhrten, der schon jetzt als Kronprinz ihr mehr oder weniger offener Patron und Antreiber war“ (Carl Hinrichs). Dabei sind ihm die frîh erworbenen administrativen Kenntnisse zugute gekommen, und in der Militrverwaltung der spten Jahre des ersten Kçnigs hat bereits faktisch der Kronprinz dominiert, der auch an Wartenbergs Sturz wesentlich beteiligt war.403 Er hat noch 1712 den weiteren Ausbau des Generalkriegskommissariats zu einer kollegialen Behçrde durchgesetzt und dabei mit dem jîngeren Grumbkow demjenigen Mann zur Bestallung verholfen, auf den er sich whrend seiner ganzen Regierungszeit in wichtigen Fragen von Politik, Militr und Staatsorganisation – wenn auch nicht ohne Vorsicht – gestîtzt hat.404 Schon seit 1705 hat der Kronprinz unmittelbar eingegriffen, als es um die weitere Vereinheitlichung bei den verschiedenen Truppenteilen ging, etwa in Fragen der Uniformierung, bei der Ausstattung mit Waffen und Munition, um auch auf diesem Felde die Freirume der Kompa402 Kontinuitten: s. O. Hintze, Erster Kçnig … (s. Anm. 198), S. 412. Vgl. auch W. Neugebauer, Friedrich III./I. … (s. Anm. 343), passim. 403 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., Jugend … (s. Anm. 192), S. 90, S. 129, S. 150 – 168, S. 464 – 476, zur Finanzlage 1710 S. 437 f., das Zitat S. 491 f.; zum Sturz Wartenbergs vgl. W. Koch, Hof- und Regierungsverfassung … (s. Anm. 238), S. 125 ff.; O. Hintze, Erster Kçnig … (s. Anm. 198), S. 368 f. 404 Reinhold August Dorwart, The Administrative Reforms of Frederick William I of Prussia, Westport, Connecticut 21971, S. 138 – 144; A. B. B. (s. Anm. 231), 1, S. 176 ff., S. 184 ff., Nr. 60 und 61; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., Jugend … (s. Anm. 192), S. 520, S. 609 – 617, S. 706, zur Armee S. 287, S. 364; F. Frhr. von Schroetter, Offizierskorps … (s. Anm. 276), 1, S. 442; M. und L. Frey, Frederick III./ I. … (s. Anm. 235), S. 90; auch G. Kîntzel, Hohenzollern … (s. Anm. 41), S. 468.

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nieinhaber zu reduzieren. In der Armee war die tatschliche Position des Kronprinzen in allen sie betreffenden Angelegenheiten bald bekannt, und so haben sich Regimentschefs vor 1713 bei anstehenden Vernderungen beim Kronprinzen rîckversichert, der auch schon bei Befçrderungen wesentlichen Einfluß besessen hat.405 Noch in einer anderen, nach 1713 wichtigen Beziehung sind Weichen in der Kronprinzenzeit Friedrich Wilhelms gestellt worden. Die tiefe Religiositt Friedrich Wilhelms, von der wir sprachen, war keine einer dogmatisch engen Variante kalvinistischer Frçmmigkeit. Gerade von der Lehre der Gnadenwahl hat er sich alsbald gelçst. Das wird zu berîcksichtigen sein, wenn seine noch in Prinzentagen zustande gekommene Beziehung zum halleschen Pietismus verstanden werden soll. Jedenfalls war lngst diejenige konfessionspolitische406 Generallinie aufgegeben worden, die unter dem Großen Kurfîrsten nicht nur in einer prinzipiellen Bevorzugung kalvinistischer Amtstrger, sondern auch in bisweilen kirchenkampfartigen Konfrontationen zwischen orthodoxen Lutheranern und Kalvinisten zum Ausdruck, ja zum Ausbruch gekommen war, diese eine in der Tat „verschwindend kleine … Minoritt“.407 Der Große Kurfîrst hatte diese Gruppe massiv gefçrdert,408 aber auch nach der Aufnahme von „mindestens“ 9.000, vielleicht (îber) 10.000 Hugenotten409 hatte sich an den 405 F. Frhr. von Schroetter, Offizierskorps … (s. Anm. 276), Tl. 1, S. 436 f. 406 Mit weiterer Lit. der Beitrag von Rudolf von Thadden, Die Geschichte der Kirchen und Konfessionen, in: Wolfgang Neugebauer (Hg.), Handbuch der Preussischen Geschichte, 3: Vom Kaiserreich zum 20. Jahrhundert und Große Themen der Geschichte Preußens (= HistKommBerlin), Berlin/New York 2001, S. 547 – 711, hier S. 570 ff. 407 P.-M. Hahn, Calvinismus … (s. Anm. 231), S. 250, Amtstrger: S. 254 f.; und schon G. Oestreich, Großer Kurfîrst … (s. Anm. 137), S. 64 f.; R. von Thadden, Hofprediger … (s. Anm. 72), S. 96 („reformierte Honoratiorenkirche“). 408 Hugo Landwehr, Die kirchlichen Zustnde der Mark unter dem Großen Kurfîrsten, in: ForschBrandPrG 1 (1888), S. 181 – 224, hier S. 199 ff., S. 224; Ders., Kirchenregiment … (s. Anm. 157), S. 606 mit Anm. 2; Ders., Kirchenpolitik … (s. Anm. 154), S. 191 – 215, S. 225, S. 236 – 241; Hans-Joachim Beeskow, Zur Vorgeschichte des Edikts von Potsdam 1685. Bemerkungen zur Kirchenpolitik des brandenburgischen Kurfîrsten Friedrich Wilhelm, in: JbBrandenbLdG 35 (1984), S. 53 – 62, bes. S. 58 – 61; M. Lackner, Kirchenpolitik … (s. Anm. 137), S. 119 – 142. 409 Stefi Jersch-Wenzel, Juden und „Franzosen“ in der Wirtschaft des Raumes Berlin/ Brandenburg zur Zeit des Merkantilismus (= EinzelverçffHistKommBerlin, 23. Publikationen zur Geschichte der Industrialisierung), Berlin 1978, S. 29; 20.000 laut Meta Kohnke, Zur Vorgeschichte, Entstehung und Bedeutung des Edikts von Potsdam, in: Hans-Joachim Giersberg (Red.), Das Edikt von Potsdam 1685. Die franzçsische Einwanderung in Brandenburg-Preußen und ihre Auswirkungen auf Kunst, Kultur und Wissenschaft. Ausstellung der Staatlichen Schlçsser und Grten Potsdam-Sanssouci in Zusammenarbeit mit dem Zentralen Staatsarchiv Merseburg und dem Staatsarchiv Potsdam, Potsdam-Sanssouci 1985, S. 7 – 13, hier S. 10; ebenso Gerd Heinrich, Toleranz als Staatsrson. Ursachen und Wirkungen des Potsdamer Ediktes (1685), in:

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Grçßenverhltnissen wenig gendert. Wichtiger war das Faktum, daß in Brandenburg-Preußen nun das Zentrum der pietistischen Aktivittstheologie und damit einer (zunchst universal ausgerichteten) Reformbewegung des Pietismus heimisch wurde. Mit ihr hat Friedrich Wilhelm I. das Bîndnis geschlossen. Damit war ein wichtiger Schritt hin zur Befestigung des konfessionellen Konsenses getan worden, denn der reformierte Monarch fçrderte hier eine Bewegung, die in der lutherischen Kirche ihre Ursprînge besaß. Freilich, entstanden war diese Bewegung nicht in Preußen. Sie war mit lteren theologischen Wurzeln als eine religiçse, ja mentale Antwort auf die Krisenerlebnisse des Dreißigjhrigen Krieges erwachsen. Die Zeitkritik verband sich mit derjenigen an der orthodox-lutherischen Kirche; gefordert wurde eine neue, eine wirkliche Reformation, die die verderbenbringende Sînde vertilgen solle. Kirche und Schule wurden als Instrumente dieser neuen Reform propagiert. Der Lehrstand – das war die Geistlichkeit – galt als der „Grund des Verderbens“; der Griff nach der Jugend war derjenige Weg, îber den die Zukunft gewonnen werden sollte.410 Vertiefte, verinnerlichte, erlebte Religiositt, aber nicht in frommer Selbstbetrachtung, sondern in praktischer Reformttigkeit in der Welt, d. h. die Praxis pietatis, das waren die Prinzipien und Parolen einer Bewegung, die natîrlich da, wo die lutherische Orthodoxie starke Positionen besaß, auf heftigen Widerstand, ja auf Verfolgung treffen mußte. Es war eine sozialreformerische Strçmung, die ganz wesentlich nun in Preußen Fuß faßte. War der nach Berlin berufene Philipp Jakob Spener eher dem kontemplativen Theologentypus zu-

Wilhelm Treue (Hg.), Geschichte als Aufgabe. Festschrift fîr Otto Bîsch zu seinem 60. Geburtstag, Berlin 1988, S. 29 – 54, hier S. 40 f.; zum Thema zuletzt Manuela Bçhm / Jens Hseler / Robert Violet (Hg.), Hugenotten zwischen Migration und Integration. Neue Forschungen zum Refuge in Berlin und Brandenburg, Berlin 2005, besonders die Studien von Robert Violet, Emilie Coque und Frederic Hartweg. 410 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., Jugend … (s. Anm. 192), S. 560; Ders., Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiçs-soziale Reformbewegung, Gçttingen 1971, S. 9, S. 47, S. 54; Klaus Deppermann, Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. (I.), Gçttingen 1961, S. 177; Peter Baumgart, Zinzendorf als Wegbereiter historischen Denkens (= HistStud, 381), Lîbeck/Hamburg 1960, S. 11 f., S. 35 f.; August Hermann Francke, Schrift îber eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts. Der Große Aufsatz. Mit einer quellenkundlichen Einleitung hg. von Otto Podczeck (= Abhandlungen der Schsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-historische Klasse, 53, Heft 3), Berlin 1962, S. 71, S. 73, S. 76; Peter Menck, Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nchsten. Begrîndung und Intention der Pdagogik August Hermann Franckes (= Aneignung und Begegnung), Wuppertal/Ratingen/Dîsseldorf 1969, S. 22 f.

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zuordnen,411 so hat August Herrmann Francke412 mit seinen Anstalten im preußisch-magdeburgischen Halle an der Saale nicht als origineller theologischer Kopf, sondern als pdagogisch-çkonomischer Praktiker gewirkt. Aus kleinsten Anfngen seit 1695413 hat Francke aus Spendenmitteln und mit virtuosem wirtschaftlichem Geschick einen Anstaltskomplex geschaffen, dessen Zentrum bald das berîhmte Waisenhaus wurde. Landesherrliche Privilegien sollten diese Anstalten fçrdern. Mancherlei personelle und funktionale Verbindungen koordinierten die Ttigkeit an Universitt und Franckischen Anstalten, die 1698 einige Hundert, 1707 schon îber 1.000 und im Todes-Jahr Franckes 1727 rund 2.300 Zçglinge beiderlei Geschlechts umfaßte.414 Ein ungemein praktischer, utilitaristischer Grundzug415 charakterisierte alle Aktivitten August Herrmann Franckes und des Pietismus hallescher Prgung, der freilich in dem Umfang universalistische Horizonte verlor, wie er sich ins Bîndnis mit dem brandenburg-preußischen Staat begab. An Protektion aus Berlin, zumal aus zukunftsoffenen Hofkreisen hatte es nicht gefehlt, und sie war auch dringend erforderlich gewesen angesichts der nicht eben freundlichen Umgebung im Herzogtum Magdeburg mit seinen lutherisch-orthodoxen Stnden.416 Entscheidend wurde aber nun der Umstand, daß Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1711 fîr den Pietismus gewonnen wurde, und zwar auf eine Weise, die ganz auf seinen Charakter und seine politischen Prferenzen abgestellt war. 411 ølteres Standardwerk: Paul Grînberg, Philipp Jakob Spener Bd. 1, Gçttingen 1893, S. 327 ff. Aus der reichen neueren Lit. vgl. Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfnge des Pietismus (= BeitrrHistTheol, 42), Tîbingen 21986, zur Praxis S. 226 ff., Theologie: S. 324 ff.; und jîngst: Hoffnung besserer Zeiten. Philipp Jakob Spener (1635 – 1705) und die Geschichte des Pietismus. Jahresausstellung der Franckeschen Stiftungen in Zusammenarbeit mit dem Interdisziplinren Zentrum fîr Pietismusforschung der Martin-Luther-Universitt Halle-Wittenberg vom 29. Mai bis 23. Oktober 2005 (= Kataloge der Franckeschen Stiftung, 15), Halle (2005), darin insbes. Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener, S. 19 – 26, Reformprogramm: S. 23 ff. 412 Gustav Kramer, August Hermann Francke, 2 Bde., Halle an der Saale 1880 – 1882, hier 1, S. 223 – 240, 2, S. 403 – 458; Erich Beyreuther, August Hermann Francke. Zeuge des lebendigen Gottes, Berlin 21960, bes. S. 213. 413 G. Kramer, Francke … (s. Anm. 412), 1, S. 164 – 169; Wolf Oschlies, Die Arbeitsund Berufspdagogik August Hermann Franckes (1663 – 1727). Schule und Leben im Menschenbild des Hauptvertreters des Halleschen Pietismus (= Arbeiten zur Geschichte des Pietismus, 6), Witten 1969, S. 16 – 22; K. Deppermann, Pietismus … (s. Anm. 410), S. 76, S. 87 – 90, S. 166; C. Hinrichs, Preußentum und Pietismus … (s. Anm. 410), S. 26 – 28, S. 58, S. 221; Spenden: S. 21; E. Beyreuther, Francke … (s. Anm. 412), S. 183 – 194. 414 G. Kramer, Francke … (s. Anm. 412), 2, S. 10, S. 486. 415 Vgl. auch Adolf (von) Harnack, Das geistige und wissenschaftliche Leben in Brandenburg-Preußen um das Jahr 1700, in: HohenzJb 4 (1900), S. 170 – 191, hier S. 184. 416 Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, I. Hauptabteilung, Rep. 52, Nr. 130, dieses Archiv zit.: GStAPK.

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Die Vertreter des Pietismus am Berliner Hof haben einen hohen Militr, der das Vertrauen des Prinzen besaß, d. h. den General von Natzmer, als einen der ihren vorgeschickt. Natzmer hat sich in einem Gesprch mit dem jungen Herrn, in dem es um die „pietisten“ ging, fîr diese verbîrgt und Bedenken zu zerstreuen gesucht. Alsbald setzten unmittelbare Kontakte zwischen Friedrich Wilhelm und August Hermann Francke ein, die dann zu einer dauernden Verbindung zwischen Potsdam-Berlin und Halle fîhren sollten, die auch nach dem Tode des lteren Francke andauerte und gleichsam zu einer Institution im preußischen Staat geworden ist.417 Die Universitt Halle, damals die modernste in Mitteleuropa, wurde zu der Staatsuniversitt insbesondere fîr die Theologenausbildung in Preußen, gefolgt – mit Abstand – von Kçnigsberg. Die Weichen waren also gleich mehrfach gestellt, als der Regierungswechsel des Februars 1713 Preußens spezifischen Sonderweg unumkehrbar machte. Es ist zuvor geschildert worden, daß die Entfaltung des Hofes vor und erst recht nach 1701 schlechterdings unabdingbar gewesen ist, von dem politisch notwendigen Schritt der Standeserhçhung auf keinen Fall zu trennen. Eine Reduktion des Hofes direkt nach 1701, unter der krisenschwangeren Doppellast von europischen Kriegen und Krondemonstration, htte die politischen Erfolge von Krontraktat und Krçnungsakt wohl auf das Schwerste gefhrdet. Denn Macht, Rang und Magnifizenz mußten demonstriert werden,418 und es wre sehr riskant gewesen, diese Notwendigkeit alsbald zu ignorieren. Ganz 417 Zum Privileg Friedrich Wilhelms I. vgl. C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., Jugend … (s. Anm. 192), S. 559, S. 583 – 596; Ders., Preußentum und Pietismus … (s. Anm. 410), S. 95 – 109; zu einer Scharnierperson von Hofgesellschaft und Hallenser Anstaltszentrum vgl. jetzt Peter Schicketanz, Carl Hildebrand von Canstein. Leben und Denken in Quellendarstellungen (= Hallesche Forschungen, 8), Halle/Tîbingen 2002, hier S. 9; hochinteressante Quellen vorzîglich ediert und erschlossen bei Peter Schicketanz (Hg.), Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke (= Texte zur Geschichte des Pietismus, Abt. 3, 1), Berlin/New York 1972, S. 459 – 463; vgl. GStA PK, I. HA, Rep. 96 B, Nr. 3 (Kabinettsordre an den jîngeren Francke, 20. April 1730, u. a. Stîcke); aus der Lit. noch K. Deppermann, Pietismus … (s. Anm. 410), S. 165 – 169; Otto Hintze, Einleitende Darstellung der Behçrdenorganisation und der allgemeinen Verwaltung in Preußen beim Regierungsantritt Friedrichs II. (= Acta Borussica … Behçrdenorganisation, 6, 1. Hlfte), Berlin 1901 (auch als ND Frankfurt am Main 1986/87), S. 53 f.; Pietismus und Hof in der Zeit Friedrich Wilhelms I.: Bogdan Krieger (Hg.), Sieben Tage am Hofe Friedrich Wilhelm I. Tagebuch des Professors J. A. Freylinghausen îber seinen Aufenthalt in Wusterhausen vom 4.–10. September 1727, Berlin 1900, S. 18 ff., und passim; danach Jochen Klepper (Hg.), Der Soldatenkçnig und die Stillen im Lande. Begegnungen Friedrich Wilhelms I. mit August Hermann Francke, August Gotthold Francke, Johann Anastasius Freylinghausen, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, Berlin/Steglitz 1938, S. 21 – 38, u. ç. 418 Gut gesehen bei M. und L. Frey, Frederick I. … (s. Anm. 235), S. 52 f.; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., Jugend … (s. Anm. 192), S. 47 – 51, S. 154 f.

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offen hatte Friedrich III./I. denn auch vom Berliner Schloßbau als einer „Necessitt“ gesprochen. Aber das „Ausbluten und Verçden der Provinzen“ zugunsten der Residenzlandschaft um Berlin,419 d. h. nicht nur der Residenz im engeren Sinne, sondern auch zugunsten des Kranzes von etwa zwei Dutzend Schlçssern und Lusthusern in der nheren und weiteren Umgebung, hatte krisenhafte Folgen, die um 1710 nicht mehr zu îbersehen waren. Friedrich III./ I. hatte die vielen kleinen Residenzorte in der Mittelmark in unaufhçrlicher Reiseunruhe besucht und benutzt; nun, eine Woche nach dem Regierungsantritt des neuen Herrn, wußten Informanten aus Berlin ins Ausland zu berichten, „die kleinen Lustschlçsser sollen verkauft oder verarrendiret werden“, auch, wie man hinzufîgte, um Personalkosten zu sparen. Zugleich ging die Kunde um, daß das in den Nebenresidenzen vorhandene Silber, also Schmuck, Geschirr, Gert und anderes mehr, vermînzt werden solle.420 Der Wechsel des Politikstiles wurde auch daran abgelesen, daß fortan neben Berlin nur noch Wusterhausen, Potsdam, Charlottenburg, Oranienburg und Kçpenick unterhalten werden sollten, wobei eine weitere Reduktion in der Praxis eintrat. Der bisherige Hofstaat wurde drastisch verkleinert – whrend gleichzeitig neue Regimenter aufgestellt wurden –, bestimmte Hofchargen wurden entlassen. Ein verndertes Rangreglement sorgte alsbald in Europa fîr Aufmerksamkeit; an die Stelle des Oberkmmerers rîckte nun – ganz im Sinne der militrischen Prferenzen des neuen Kçnigs – der Generalfeldmarschall. Die Minister blieben, soweit sie die politischen Stîrme um 1710 îberlebt hatten, im Amt. Auf ihre Fachkenntnisse war nicht gut zu verzichten. Das kînstlerische Personal am Hof wurde zum großen 419 Zitat: C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 166; Residenzlandschaft: W. Neugebauer, Potsdam-Berlin … (s. Anm. 383), passim; ferner Wolfgang Neugebauer, Staatsverwaltung, Manufaktur und Garnison. Die polyfunktionale Residenzlandschaft von Berlin-Potsdam-Wusterhausen zur Zeit Friedrich Wilhelms I., in: ForschBrandPrG 7 (1997), S. 233 – 257, bes. S. 234 ff.; zum Kontext vgl. Wolfgang Ribbe, Die Anfnge Charlottenburgs in der Residenzlandschaft um Berlin, in: Ders. (Hg.), Von der Residenz zur City. 275 Jahre Charlottenburg, Berlin 1980, S. 11 – 38, hier S. 20 ff., S. 24; Gerd Heinrich, Festung, Flîchtlingsstadt und Fîrstenresidenz. Zur Entwicklung und Raumfunktion brandenburgisch-preußischer Neustdte im 17. und 18. Jahrhundert, in: Abhandlungen aus der Pdagogischen Hochschule Berlin, 1: Aus Erziehungs-, Sozial- und Geisteswissenschaften, hg. von Walter Heistermann, Berlin 1974, S. 137 – 177, hier S. 146 ff.; H. Lorenz, Tradition … (s. Anm. 386), S. 2, S. 5 – 8; „Necessitt“: W. Neugebauer, Friedrich III. … (s. Anm. 343), S. 113; siehe auch P. Baumgart, Der deutsche Hof … (s. Anm. 371), S. 27; vgl. Johannes Kunisch, Hofkultur und hçfische Gesellschaft in Brandenburg-Preußen im Zeitalter des Absolutismus, in: A. Buck, u. a. (Hg.), Europische Hofkultur … (s. Anm. 371), 3, S. 735 – 744, hier S. 737 ff. 420 Otto Krauske, Aus einer geschriebenen Berliner Zeitung vom Jahre 1713, in: SchrrVGBerlin 30, Berlin 1893, S. 97 – 129, hier S. 107; vgl. Carl Hinrichs, Der Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I., zuerst 1956, wieder in: Ders., Preußen … (s. Anm. 324), S. 90 – 137, hier S. 114, S. 120 f.

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Teil abgedankt, die Festkultur drastisch reduziert.421 Die çkonomischen Folgen fîr die Residenzstadt waren wohl dramatisch. Noch 1713 ist das alles nicht nur von den Betroffenen, sondern auch im Ausland mit großer Aufmerksamkeit beobachtet worden. Zeitschriften, wie die (wohl in Leipzig erscheinende) „Europische Fama“, spezialisiert auf die Ausdeutung der Symbolsprache der hçfischen Gesellschaft, wußten sofort dem lesenden Publikum nicht nur von der Reduktion der Residenzlandschaft zu berichten, sondern auch davon, daß „viele unnçthige Bediente abgeschafft“ worden seien, whrend Friedrich Wilhelm „am meisten vor seine Militz“ sorge, die er – auch das wußte dieses Organ bereits – auf 50.000 Mann bringen wolle; und das, obwohl – bisher – „der Kçnigl. Preußische Hoff vor einen der prchtigsten paßiret“ habe, was auch auf kostbare Gebude und kçstliche Sammlungen zugetroffen htte.422 Was er am Hof spare, das wende er unmittelbar an den Ausbau der Armee, „alle andere Divertiments sind ihm ein Greuel, welches die beyden Kçnigl. Garte(n) zu Berlin und Oranienburg schon erfahren: Aus deren ersterem ein Waffen-Platz zum Exerciren der Soldaten, aus dem andern aber ein gemeiner Obst-Garten, gemacht werden mîssen. Wie stark“, rsoniert diese Zeitschrift weiter im Jahr 1714, „sich eigentlich seine Armee belauffe, ist unbekannt, iedoch gibt sie allen Benachbarten eine große Ombrage [Argwohn], und an was Orten diese emploiret werden mçchte, da dçrffte es kurtze Arbeit setzen. Weilen Ihre Majestt gantz anders gesittet, als Dero Vorfahren, und im Regiments-Wesen große Reformen gemacht, so hat es allerhand Redens und Schreibens davon gesetzet“. Von Reformen ist also schon sehr bald auch in der §ffentlichkeit die Rede gewesen, doch hieße es die Mçglichkeiten des Ausbrechens aus der zeittypischen Formensprache politischen Verkehrs grîndlich mißzuverstehen, wollte man sich Preußen nach 1713 als Staat ohne Hof vorstellen. Der diplomatische Verkehr, etwa bei Empfngen von Gesandten, ließ sich ohne politische Komplikationen nicht aus den andernorts îblichen Formen, verbunden mit dem entsprechenden Aufwand hçfischer Ausstattung, herauslçsen. Schon ein Ortswechsel von Berlin nach Charlottenburg mußte bei dem betroffenen Diplomaten die Besorgnis auslçsen, ob damit nicht etwa eine Verkîrzung seines Ranges oder gar der Magnifizens seines Auftraggebers verbunden sein solle oder dies von politischen 421 C. Hinrichs, Regierungsantritt … (s. Anm. 420), S. 101 – 105, S. 107, S. 109 ff., S. 114; G. Oestreich, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 398), S. 44 ff.; Rudolph Stadelmann, Friedrich Wilhelm I. in seiner Thtigkeit fîr die Landescultur Preussens (= PubllPreussStaatsarch, 2), Leipzig 1878, ND Osnabrîck 1965, S. 24; (A. B. Kçnig), Versuch einer Historischen Schilderung … (s. Anm. 235), hier: 4. Tl., 1, Berlin 1796 (auch als ND Berlin 1991), S. 8 – 10; J. Kunisch, Residenzen … (s. Anm. 358), S. 181, und P. Baumgart, Der deutsche Hof … (s. Anm. 371), S. 30. 422 Interessante zeitgençssische Quelle: Die Europische FAMA, Welche den gegenwrtigen Zustand der vornehmsten Hçfe entdecket, Der 142. Theil, (Leipzig) 1713, S. 798, folgendes Zitat: 157. Tl., (Leipzig) 1714, S. 39.

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Konkurrenten spter einmal so gedeutet werden kçnnte. Erst recht mußte bei einem Besuch auswrtiger Fîrsten gezeigt werden, daß Preußen in der Lage war, bei hçfischen und kulturellen Ausdrucksmitteln mitzuhalten. An die Stelle permanenten trat fallweiser Prunk, dessen Aufwand unter strenger Kontrolle einer rechenhaften Hofçkonomie stand. Friedrich Wilhelm I., der aber durchaus auch eine kînstlerische Ader besaß und sich selbst ja auch malend versuchte, kontrollierte hçchstpersçnlich den Aufwand dieses okkasionellen Prunks. Aufwendiges Silbergert und -geschirr im Berliner Schloß, z. T. angefertigt von sîddeutschen Silberschmieden, wurde zum Staatsschatz gerechnet, es wurde bei Monarchenbesuchen benutzt, war aber im Kriegs- und Krisenfall auch geeignet, kurzerhand in die Mînze geschickt zu werden, wie es denn nach 1740 auch geschehen ist. Man darf in dieser Praxis eine eigentîmliche Rationalisierung des politisch-kulturellen Strukturelementes „Hof“ erkennen, nicht einen radikalen Bruch mit dem Stil der hçfischen Gesellschaft im Europa der Barockkultur. Es handelte sich um eine dringend erforderliche modernisierende Anpassung politisch-kultureller Praktiken an die begrenzten Ressourcen Brandenburg-Preußens. Das ist ein Beispiel fîr die entschlossene Radikalitt Friedrich Wilhelms I., mit der dieser Monarch innenpolitischer Arbeitsaskese aus religiçsem Impuls vorhandene Strukturen nicht vçllig neu schuf oder zerbrach – sondern formte.423 Und diese Beobachtung (beziehungsweise diese Formel) gilt auch in einem sehr viel weiteren Sinne, ja sie kennzeichnet îberhaupt das Verhltnis dieser Herrscherperson zu den politischen (und sozialen) Strukturen BrandenburgPreußens bis 1740. Wenn wir aber die Strukturformung Brandenburg-Preußens in der Zeit von 1713 bis 1740 beschreiben wollen, mîssen wir zunchst betrachten, wie Friedrich Wilhelm I. praktisch regiert hat, mit welchem Apparat, vielleicht auch welchen Techniken. Damit tritt ein Stîck Herrschaftsalltag monarchischer Autokratie ins Blickfeld, der in manchem vergleichbar war etwa mit den Verhltnissen im alten §sterreich,424 in Preußen aber signifikant zugespitzt, ja radikalisiert. Wer sich mit dem preußischen Absolutismus und den Autokraten beschftigt, d. h. mit denjenigen, die Preußen im 18. Jahrhundert geprgt und damit auch allgemeine Geschichte geschrieben haben, der muß sich mit ihrer 423 W. Neugebauer, Staatsverwaltung … (s. Anm. 419), S. 255 ff., und passim; Wolfgang Neugebauer, Hof und politisches System in Brandenburg-Preußen: Das achtzehnte Jahrhundert, in: JbGMitteldtld 46 (2000), S. 139 – 169, hier S. 143 – 151; J. Kunisch, Hofkultur … (s. Anm. 419), S. 740; Friedrich Mielke, Potsdamer Baukunst. Das klassische Potsdam, Frankfurt am Main/Berlin 21991, S. 22; A. B. Kçnig, Versuch … (s. Anm. 235/421), Tl. 4/1, S. 335, Tl. 4/2, S. 106 – 108. 424 Wolfgang Neugebauer, Monarchisches Kabinett und Geheimer Rat. Vergleichende Betrachtungen zur frîhneuzeitlichen Verfassungsgeschichte in §sterreich, Kursachsen und Preußen, in: Der Staat 33 (1994), S. 511 – 535.

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Regierungs- und Herrschaftsweise vertraut machen. Es handelt sich um die Regierung aus dem Kabinett. 425 Auch deshalb war es erforderlich, einen Blick auf die formative Bedeutung der Kronprinzenzeit und auf Wusterhausen zu werfen, weil Friedrich Wilhelm I. dort bereits Techniken erprobt und entwickelt sowie mancherlei Personal herangezogen hatte, das er nun in den Dienst des Gesamtstaates stellte. Dort auf dem Teltow hatte Friedrich Wilhelm zur Fîhrung der Amts-Regierung den îblichen Behçrdenschriftwechsel im Kleinen nachgeahmt, dabei aber an die Stelle îblicher Herrscherreskripte mit Titulatur und kalligraphisch aufwendigen Kurialen eine Form knapper Verfîgungen im Resolutionsstil eingefîhrt, wobei er sich an die monarchischen Handschreiben und Briefe anlehnte. So gingen etwa an den Wusterhausener Amtmann kurze, ganz rasch zu fertigende Dekrete auf kleineren (Quart-) Blttern und unter Verzicht auf jede Verzierung. Dafîr brauchte man keine schwerfllige Kanzlei; das prinzliche Privatsekretariat konnte diese Verfîgungen in kîrzester Zeit anfertigen und dem Herrn vorlegen, der sie vollzog, ohne etwa irgend einen Amtstrger vorher zu befragen oder das Stîck zur Mitunterzeichnung vorzulegen. Der sptere Minister Ehrenreich Bogislav von Creutz taucht in diesem Zusammenhang frîh beim kînftigen Monarchen auf, wiewohl er zunchst als Militrjurist diente. Auch die sptere Praxis, auf schriftliche Berichte durch knappe Resolutionen, durch Marginaldekrete zu entscheiden, ist schon in dieser Probezeit monarchischer Regierungsformen entwickelt worden.426 Nach 1713 ist dann diese „Privatkanzlei“ Friedrich Wilhelms in sein „Kabinett“ umgewandelt worden.427 Die lteste nachweisbare Kabinettsordre, mit der nun jener Typ unpetentiçs-unzeremonialer Handschreiben auch in der gesamtstaatlichen Regierungsweise Eingang fand, stammt aus der Zeit gut einen Monat nach dem Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I., und zwar vom 1. April 1713.428 Eine Grîndungsurkunde fîr diese Institution, die zunchst bis in die Stein-Hardenbergische Zeit und in neuer 425 Wolfgang Neugebauer, Das preußische Kabinett in Potsdam. Eine verfassungsgeschichtliche Studie zur fîrstlichen Zentralsphre in der Zeit des Absolutismus, in: Ders., Potsdam-Brandenburg-Preussen. Beitrge der Landesgeschichtlichen Vereinigung fîr die Mark Brandenburg zur Tausendjahrfeier der Stadt Potsdam (= JbBrandenbLdG, 44), Berlin 1993, S. 69 – 115, passim; vgl. oben Anm. 424. 426 Zu Wusterhausen vgl. oben bei Anm. 399; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 192), S. 74, S. 104, S. 214 f., S. 342 ff. 427 So M. Kohnke, Kabinettsministerium … (s. Anm. 399), S. 316 f.; Carl Hinrichs (Hg.), Der allgegenwrtige Kçnig. Friedrich der Große im Kabinett und auf Inspektionsreisen, nach teils unverçffentlichten Quellen, Berlin 1940, S. 71. 428 Melle Klinkenborg, Die Stellung des Kçniglichen Kabinetts in der preußischen Behçrdenorganisation, in: HohenzJb 19 (1915), S. 47 – 51, bes. S. 49 ff. und das Faksimile S. 50; Max Lehmann, Der Ursprung des preußischen Kabinetts, zuerst 1889, wieder in: Ders., Historische Aufstze und Reden, Leipzig 1911, S. 153 – 157, S. 367 – 369, hier S. 153 ff.

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Form bis 1918 bestanden hat, gab es nicht. Die Regierung aus dem Kabinett ist ein Produkt der Herrschaftspraxis, aber diese ist bereits in der frîhen Zeit dieses Kçnigs nachzuweisen. Die Ausstattung dieser „Institution“, nicht eigentlich einer Behçrde, war in Preußen whrend des 18. Jahrhunderts stets nur rudimentr, was freilich auch Flexibilitt zur Folge hatte. Ein Kabinettssekretr stand ganz am Anfang, wenngleich eine vorsichtige personelle Ausweitung alsbald einsetzte, und ein Mann aus dem Kabinettspersonal konnte den Herrscher, etwa wenn er das Land inspizierend bereiste, jederzeit begleiten. Bisweilen zeigen die Ausfertigungen auf den ersten Blick, daß sie rasch und improvisiert niedergeschrieben worden sind, in großer Eile, und ab und zu ist auch erkennbar, daß mit der autokratischen, aus dem tradierten Beratungsgang der schwerflligen Kollegien gelçsten Form der Entscheidung auch inhaltlich die sehr persçnliche Handschrift dieses Herrschers verbunden war. Anfangs hat Friedrich Wilhelm I. noch neben der Regierung aus seinem Kabinett auch diejenige aus den nun îber hundert Jahre alten Ratsgremien fortgefîhrt, d. h. er hat noch an den Sitzungen jenes altehrwîrdigen Geheimen Rates teilgenommen, der ja kurz nach 1600 geschaffen worden war, als eben Kurbrandenburg anfing, in die grçßeren europischen Zusammenhnge einzutreten. Sehr wohl hat sich Friedrich Wilhelm I. im Rat aber nicht gefîhlt, und dies hatte Grînde struktureller Signifikanz. Denn in diesem Rat sah sich der Monarch seinen hohen Ministern und Amtschefs gegenîber, diese nahmen durchaus nicht nur Weisungen entgegen, sondern sie formulierten auch ihre Positionen; diese waren aber durchaus nicht immer mit derjenigen des Monarchen identisch. Diese Ratssitzungen waren also (noch) nicht rein formale Versammlungen, sondern in ihnen wurde diskutiert. Dabei konnte es passieren, daß ausgerechnet Friedrich Wilhelm I. mit der Forderung konfrontiert wurde, doch die Truppen zu reduzieren und die Mittel anderen Zwecken zuzuwenden.429 Die Steigerung der monarchischen Autokratie zum preußischen Typus der Regierung aus der (relativen) Abgeschiedenheit seines hçchstpersçnlichen Arbeitszimmers, eben seines „Kabinetts“, hatte also zunchst einmal das gesteigerte Distanzbedîrfnis des Autokraten vom hochabsolutistischen Schlage zur Grundlage; eine gewisse Unsicherheit Friedrich Wilhelms I. hinsichtlich seiner Wirkung bei mîndlichen Konfrontationen mag als persçnliches Moment hinzugetreten sein, jedenfalls glaubte er offenbar, in allen Angelegenheiten der 429 Carl Hinrichs, Die preußische Zentralverwaltung in den Anfngen Friedrich Wilhelms I., zuerst 1958, wieder in: Ders., Preußen … (s. Anm. 324), S. 138 – 160, hier S. 148 – 151, S. 157 f.; H. O. Meisner, Die monarchische Regierungsform … (s. Anm. 44), S. 230 ff.; W. Neugebauer, Das preußische Kabinett … (s. Anm. 425), S. 76 ff.; Heinrich Otto Meisner, Zur neueren Geschichte des preußischen Kabinetts, in: ForschBrandPrG 36 (1924), S. 39 – 66, hier S. 39.

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Innen-, Finanz- und der Militrpolitik sich besser allein auf den schriftlichen Verkehr mit seinen Ministern und Prsidenten stîtzen zu sollen; das sicherte Informationen und minimierte doch Versuche zudringlicherer Einflußnahme. Indem sich der Monarch also aus den Sitzungen der ordinren Kollegen zurîckzog, whlte er zunehmend zugleich andere Residenzorte als seine kleine Wohnung im Berliner Schloßkomplex. Potsdam und Wusterhausen traten in jahreszeitlicher Konzentration als Residenzorte hervor, in Anknîpfung an Traditionen, die sich (sptestens) seit der Zeit Kurfîrst Friedrich Wilhelms aufzeigen lassen.430 Die rumliche Distanzierung des hochabsolutistischen Monarchen von seiner Hauptresidenzstadt mit ihren dortigen Kollegien und der Amtstrgergesellschaft ist allerdings im Prinzip kein brandenburg-preußisches Spezifikum, ja man hat in dieser Hinsicht geradezu von einem „Gesetz des Absolutismus“ gesprochen.431 Die gesuchte Ferne des Monarchen von der Hauptstadt ist als solche ja auch etwa in Versailles, mit Schçnbrunn (nach 1740), in Ludwigsburg und anderen Orten zu beobachten,432 allerdings wîrde eine genauere, vergleichende Analyse beweisen, daß in Preußen unter Friedrich Wilhelm und dann unter Friedrich dem Großen dieser Schritt insofern ein sehr viel radikalerer gewesen ist, als hier die rumliche und funktionale Distanzierung des Monarchen von der Landesverwaltung und ihrem Apparat mit zugespitzter Konsequenz erfolgte.433 In Potsdam gab es keine Palais preußischer Minister. Wenn der Kçnig îberhaupt Minister persçnlich empfing, so handelte es sich um diejenigen des Departments der auswrtigen Affren. Auf diesem Felde fîhlte sich Friedrich Wilhelm I. ganz besonders unsicher, hier bedurfte er – zumal angesichts seiner undiplomatischen Impulsivitt – besonders dringend intensiver Begleitung. Wenn er aber nun mit Ministern zusammen traf, dann – und das war herrschaftspraktisch sehr wohl von Bedeutung – nicht in deren Amtsrumen oder in der Geheimen Ratsstube. Nach der ˜bergangszeit der Anfangsjahre wurden sie vom 430 W. Neugebauer, Das preußische Kabinett … (s. Anm. 425), S. 78 ff., S. 100 ff.; Ders., Potsdam-Berlin … (s. Anm. 383), S. 278 ff. und die Belege S. 290 ff. 431 C. Hinrichs, Zentralverwaltung … (s. Anm. 429), S. 147. 432 Fritz Wagner, Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklrung. Die Einheit der Epochen, in: Ders. (Hg.), Europa im Zeitalter des Absolutismus und der Aufklrung (= Handbuch der europischen Geschichte, 4), Stuttgart 1968, S. 1 – 163, hier S. 113; H. Duchhardt, Absolutismus … (s. Anm. 282), S. 51 (1. Aufl.); Hannelore Lehmann, Potsdam-Versailles. Zum Problem der hauptstadtnahen Residenzstadt, in: Historiker-Gesellschaft der Deutschen Demokratischen Republik. Wissenschaftliche Mitteilungen 1988, 3, S. 17 – 26, hier S. 19 f.; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., Jugend … (s. Anm. 192), S. 155. 433 S. Anm. 430 und die komparatistischen Passagen bei W. Neugebauer, Monarchisches Kabinett und Geheimer Rat … (s. Anm. 424), S. 515 – 523; Ders., Staatsverwaltung … (s. Anm. 419), S. 252 – 257.

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Kçnig zur Einzelaudienz empfangen und zwar in seinen Zimmern.434 Die Außenminister trugen wohl auch deshalb den – missverstndlichen – Titel von Kabinettsministern, weil sie noch vergleichsweise hufig in das Arbeitszimmer beziehungsweise spter in den Audienzraum vorgelassen wurden. Fîr die Kollegen der inneren oder der Justizdepartments war dies stets die große Ausnahme. Nur jeweils im Juni wurde zwischen dem Kçnig und den Herren vom Finanzund Kameralfach eine große Hauptkonferenz gehalten, in der es um die Grundzîge der Finanzpolitik ging. Diese „Ministerrevue“, wie der leicht spçttische Name dann lautete, ist als Praxis auch von den Nachfolgern Friedrich Wilhelms I. beibehalten worden. Zur Distanz des Kabinetts zu den politischen Zentral- und Provinzialorganen in Berlin trug nicht wenig dazu bei, daß das Kabinettspersonal, das bis zum Ende des 18. Jahrhunderts formal korrekt den Sekretrstitel trug – sieht man von der ganz frîhen Zeit Friedrich Wilhelms I. einmal ab – nur aus Bîrgerlichen bestand. Der Aufstieg aus dem Konzipientendienst im Kabinett etwa gar in Ministerrnge wurde zunchst selten und nach 1740 gnzlich unîblich.435 Unter den Kabinettssekretren und dem alsbald, besonders nach 1740 hinzukommenden Hilfspersonal u. a. fîr Dechiffrierttigkeiten sei beispielhaft der wohl typischste und gewiß sehr einflußreiche Kabinettssekretr August Friedrich Eichel436 hervorgehoben. Er war 1698 in Berlin geboren worden, und zwar als Sohn eines schlichten Feldwebels, hatte aber in Halle an der Saale studiert, und zwar die Jurisprudenz. Seit 1730 war er als Kabinettssekretr in 434 Hermann Hîffer, Die Kabinettsregierung in Preußen und Johann Wilhelm Lombard. Ein Beitrag zur Geschichte des preußischen Staates vornehmlich in den Jahren 1797 bis 1810, Leipzig 1891, S. 47 f.; W. Neugebauer, Das preußische Kabinett … (s. Anm. 425), S. 102; Reinhold Koser, Die Grîndung des Auswrtigen Amtes durch Kçnig Friedrich Wilhelm I. im Jahre 1728, zuerst 1889, wieder in: Ders., Zur preußischen und deutschen Geschichte, Stuttgart/Berlin 1921, S. 64 – 109, hier S. 103 f.; Ministerrevue: W. Neugebauer, Potsdam-Berlin … (s. Anm. 383), S. 285; Otto Hintze, Der preußische Militr- und Beamtenstaat im 18. Jahrhundert, zuerst 1908, wieder in: Ders., Regierung und Verwaltung … (s. Anm. 54), S. 419 – 428, hier S. 425. 435 W. Neugebauer, Das preußische Kabinett … (s. Anm. 425), S. 79 – 100; Hermann Hîffer, Die Beamten des lteren preußischen Kabinetts von 1713 – 1808, in: ForschBrandPrG 5 (1892), S. 157 – 190, hier S. 159 – 182; C. Hinrichs, Zentralverwaltung … (s. Anm. 429), S. 151 ff.; Stand um 1740: O. Hintze, Einleitende Darstellung … (s. Anm. 417), S. 63 ff.; und Hans Rosenberg, Bureaucracy, Aristocracy and Autocracy. The Prussian Experience 1660 – 1815, Boston 21966, S. 68, S. 149. 436 Johannes Schultze, August Friedrich Eichel, in: Mitteldeutsche Lebensbilder, 5, Magdeburg (1930), S. 86 – 102, bes. S. 86 – 89, S. 93 – 98 und passim; dazu Ders., Die Herkunft August Friedrich Eichels, in: ForschBrandPrG 46 (1934), S. 194 f.; W. Neugebauer, Das preußische Kabinett … (s. Anm. 425), S. 85 – 91; Johann David Erdmann Preuß, Friedrich der Große. Eine Lebensgeschichte, 1, Berlin 1832, S. 350; Reinhold Koser (Bearb.), Preußische Staatsschriften aus der Regierungszeit Kçnig Friedrichs II., 1, Berlin 1877, S. 479 f., S. 570.

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unmittelbarer Umgebung des Kçnigs ttig, und dies fîr knapp drei Jahrzehnte auch unter Friedrich dem Großen. Der Sekretr, dem manche im dienstlichen Schriftwechsel zur Sicherheit das Adelsprdikat beilegten, weil man sich kaum vorstellen konnte, daß ein Mann dieses Einflusses ein Nichtadliger war, besaß wie manche seiner Vorgnger und Nachfolger erheblichen Einfluß. Denn wenn er auch weiterhin eigenhndig nach kurzer mîndlicher Weisung des Kçnigs oder nach einer knappen, marginalen Notiz des Monarchen auf einem Aktenstîck die ausgehenden Kabinettsordern437 oder die internen Register (Minîten) niederschrieb, so besaß er doch aus seinem tglichen Umgang mit dem Monarchen in Potsdam, in Wusterhausen oder – selten – in Berlin auch evident große Chancen zur Einwirkung auf die Entscheidungen. Deshalb war er, der sich etwa Kontaktversuchen auswrtiger Diplomaten strikt entzog, durchaus geachtet, aber nicht beliebt. Aus den Hnden der Kabinettssekretre empfingen die adligen Minister die kçniglichen Bescheide, und manche bedeutsame Aktion wurde durch ein Bîndnis von Minister und Kabinettssekretr erst mçglich gemacht.438 Die Distanz des Kabinetts, sowohl in rumlicher als auch in sozialer und in funktionaler Hinsicht, schuf fîr jedermann, fîr Minister und fîr einfache Untertanen eine Grundkonstellation der Unkalkulierbarkeit. Das hieß freilich auch, daß hohe Amtstrger nie sicher sein konnten, daß nicht einfache Untertanen oder auch kollektive Bauerngemeinden direkt und unter Umgehung der Kollegien im Schloß und anderswo die Sache vor die Monarchen brachten. Aus der Sicht des Kçnigs war die tatschlich praktizierte Zugnglichkeit fîr die Untertanen, sei es in der Residenz oder auf Reisen, ein wichtiges Herrschaftsmittel, erhielt er doch auf diesem Wege Informationen, die ihm auf dem Instanzenweg nicht zugnglich gemacht wurden. Fîr Jahrzehnte war dieses Element monarchischer Unmittelbarkeit ein Signum des altpreußischen Staatsalltags, wie auch die Akten, etwa solche aus einzelnen Bauerndçrfern des 18. Jahrhunderts zeigen. Es ist zu vermuten, daß mancher Mythos spterer Zeiten aus diesen Erfahrungen gespeist worden ist. Man rechnet die Zahl der Kabinettsordern beziehungsweise Kabinettsdekreten, d. h. (in aller Regel439) eigen437 Martin Hass, ˜ber Aktenwesen und den Kanzleistil im alten Preußen, in: ForschBrandPrG 22 (1909), S. 521 – 575, hier S. 534 f.; Heinrich Otto Meisner, Aktenkunde. Ein Handbuch fîr Archivbenutzer mit besonderer Berîcksichtigung Brandenburg-Preußens, Berlin 1935, S. 86 f., S. 131, S. 163; Ders., Archivalienkunde vom 16. Jahrhundert bis 1918, Gçttingen 1969, S. 136, S. 144, S. 150 – 161; Jîrgen Kloosterhuis, Kabinetts-Minîten, in: Klaus Dettmer (Hg.), „Es wchst zusammen, was zusammengehçrt“. Beitrge zum wissenschaftlichen Kolloquium zu Ehren von Jîrgen Wetzel am 25. November 2003 im Landesarchiv Berlin (= Schriftenreihe des Landesarchivs Berlin, 7), Berlin 2004, S. 25 – 62, bes. S. 28 ff. – zum Geschftsgang; zu den Minîten S. 36 ff. 438 Vgl. allgemein H. Hîffer, Beamten … (s. Anm. 435), S. 157 ff. 439 Zu den gesundheitlich bedingten Ausnahmen unter Friedrich II. vgl. W. Neugebauer, Preußisches Kabinett … (s. Anm. 425), S. 77.

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hndig unterzeichneter und von keinem Minister etwa kontrasignierter Weisungen der preußischen Kçnige im 18. Jahrhundert seit 1713 auf mehrere hunderttausend. Allein die Produktion des preußischen Kabinetts im Jahre 1806, und zwar vom Januar bis zum September, beluft sich nach Aussage der Register auf 5.994 Stîcke.440 Kabinettsorder konnten durchaus auch allgemeinerere Weisungen, solche îber den Einzelfall hinaus und solche mit Gesetzeskraft sein, d. h. „normative Kabinettsordern“, die der Herrscher in kîrzester Frist, innerhalb weniger Stunden fertigen und ins Land gehen lassen konnte. ˜ber die materielle Ausstattung des Kabinetts unter Friedrich Wilhelm I. ist wenig bekannt; immerhin lassen sich seit etwa 1730 – einem Zeitraum, der uns noch einmal begegnen wird – auch Anfnge einer ressortmßigen Gliederung der Zustndigkeiten und Arbeitsgebiete unter dem Kabinettspersonal erkennen, das tglich mehrere Stunden mit dem Monarchen – und zwar seit dem frîhesten Morgen – zu arbeiten hatte, wobei natîrlich auch beratende Funktionen in die Praxis eingeflossen sind. Die Kabinettssekretre, das kçnnen wir sagen, besaßen in Potsdam eigene Huser; schon unter Friedrich Wilhelm I. hatte diese Institution also hier und nicht in Berlin ihren Schwerpunkt. In ihren Husern haben im 18. Jahrhundert die Herren des Kabinetts die eigentliche Schreibarbeit erledigt und dort auch die Akten, sofern sie nicht beim Kçnig im (Stadt)Schloß bençtigt wurden, aufbewahrt. Das Kabinett als Ort war das Schreib- und Arbeitszimmer des preußischen Kçnigs.441 Es versteht sich von selbst, daß in dieser Praxis maximierter Autokratie auch ihre Grenzen lagen. Einen „allgegenwrtigen Kçnig“ hat es im 18. Jahrhundert nie gegeben, auch nicht unter den vergleichsweise îberschaubaren Verhltnissen bis 1740 bei freilich weit verstreutem Staatsgebiet. Die maximale ˜bertragungsgeschwindigkeit von Informationen und zugleich von Personen war abhngig von Wetter und Wegeverhltnissen und von der Qualitt der verfîgbaren Kurierpferde. An geordneter Aktenfîhrung hat es beim Kabinett und in Berlin noch lange gefehlt,442 um so dringender waren Techniken der unbîrokratischen Informationsbeschaffung, wozu auch das Supplikenwesen, eben die Praxis von 440 Zahlen: Walther Hubatsch, Friedrich der Große und die preußische Verwaltung (= Studien zur Geschichte Preußens, 18), Kçln/Berlin 1973, S. 223; 1806: Gerhard Ritter, Stein. Eine politische Biographie (1), Stuttgart/Berlin 1931, S. 488 Anm. 29. 441 W. Neugebauer, Das preußische Kabinett … (s. Anm. 425), S. 83 ff., Ausstattung: S. 100 – 115; vgl. Friedrich Fçrster, Friedrich Wilhelm I. Kçnig von Preussen, 1, Potsdam 1834, S. 193 – 196; Gustav Schmoller, Die innere Verwaltung des preußischen Staates unter Friedrich Wilhelm I., in: PreussJbb 25 (1869), S. 575 – 591, hier S. 589. 442 Vgl. Wolfgang Neugebauer, Schloß und Staatsverwaltung im Hochbarock/Absolutismus, in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Schloß und Schloßbezirk in der Mitte Berlins. Das Zentrum der Stadt als politischer und gesellschaftlicher Ort (= PubllHistKommBerlin), Berlin 2005, S. 75 – 88, hier S. 87, u. ç.

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direkt an den Kçnig gesandten Bittschriften oder auch die Tradition, mit Untertanen direkt den Kontakt zu suchen, gehçrte. Unter Friedrich Wilhelm I. und unter seinem Sohn war es fîr Untertanen auf dem Lande immerhin eine Mçglichkeit, Konflikte im çstlichen Krftegefîge, seien es solche mit der Herrschaft oder etwa mit dem Pfarrer, dadurch zu beeinflussen, daß man den Weg zum Kçnig – schriftlich oder unmittelbar – beschritt. Die Bittschriftenpraxis der Untertanen lßt gewisse Regelhaftigkeiten, ganz offenbar relativ erfolgversprechende, in der Praxis ausgebildete Techniken erkennen, mit denen man den Kontakt zum Monarchen herzustellen verstand, um so – ohne zensierende Kontrolle durch Amtsverkehr oder Ministerwînsche – Informationen an den Kçnig gelangen zu lassen. Die Akten bergen Exempel aus dieser Praxis. Sie bot selbstverstndlich keinerlei rechtliche Gewhr, schon gar nicht Ansprîche, aber es war ein Instrument fîr die vielen kleinen lokalen „Konfliktgemeinschaften“ – eines zum Nutzen von Herrscher und Untertanen.443 Zur potentiellen Unmittelbarkeit autokratischer Herrschaft im Preußen des Hochabsolutismus trug die inspizierende Reisepraxis der beiden großen Kçnige nicht wenig bei. Die Revuereisen Friedrich Wilhelms I. hatten noch „kein planmßiges System“;444 in Ostpreußen ist er 1721, 1722, 1726, 1728, 1731, 1736 und 1739 gewesen, und dies bei wachsenden kçrperlichen Leiden. In der Regel wollte er die Provinzen alle drei Jahre persçnlich bereisen. Unter Friedrich II. ist dann auch diese Praxis weiter entwickelt und, wenn man so will, rationalisiert worden, wobei sich eine bestimmte Reihenfolge der betroffenen Provinzen herausbildete. Die Begleitung des Monarchen war stets eine kleine; ein Mann des Kabinetts, etwa Eichel, war immer beim Kçnig, von îberall aus konnten die Ordern in die Monarchie geschickt werden. An den Orten, an 443 W. Neugebauer, Neuere Deutung … (s. Anm. 243), S. 565 – 578; zur preußischen Supplikenpraxis mit weiterer Lit. W. Neugebauer, Das preußische Kabinett … (s. Anm. 425), S. 102 – 104; Ders., Potsdam-Berlin … (s Anm. 383), S. 285 f.; jetzt fîr das ausgehende 18. Jahrhundert Birgit Rehse, Die Supplikations- und Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen. Eine Untersuchung am Beispiel der Kurmark unter Friedrich Wilhelm II. (1786 – 1797) (= Quellen und Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte, 35), Berlin 2008, S. 84 – 94, S. 129 ff. und passim; zur Kategorie der „Erreichbarkeit und Zugnglichkeit als Herrschertugend“ an westlichem Material Illustrationen bei Michael Kaiser, Nhe und Distanz. Beobachtungen zum Verhltnis zwischen den Landstnden von Kleve und Mark und ihrem Landesherrn im 17. Jahrhundert, in: Westflische Forschungen 53 (2003), S. 71 – 108, hier S. 72, vgl. S. 96, S. 101 – in einem weiteren Sinne. 444 Ernst Pfeiffer, Die Revuereisen Friedrichs des Grossen, besonders die Schlesischen nach 1763 und der Zustand Schlesiens von 1763 – 1786 (= HistStud, 44), Berlin 1904, ND Vaduz 1965, S. 18, weiter S. 19 – 39, S. 44 ff. und passim; Ostpreußen: R. Stadelmann, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 421), S. 142; G. Heinrich, Preußen … (s. Anm. 72), S. 153; C. Hinrichs, Zentralverwaltung … (s. Anm. 429), S. 157; Ders., Allgegenwrtiger Kçnig … (s. Anm. 427), S. 126, S. 128, S. 131, S. 134 f., S. 138, S. 210 – 233 und passim.

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denen die Pferde, der Vorspann gewechselt zu werden pflegte, konnten sich dann die Supplikanten auf dem Lande versammeln, die dann auch ins Gesprch gezogen wurden. Der Kçnig wohnte bevorzugt bei Kaufleuten, was wiederum der Informationsbeschaffung diente. Das alles waren auch „massenwirksame“ Herrschaftstechniken, im deutlichen Kontrast zur (Selbst-)Isolation anderer Herrscher zu dieser Zeit. Die mentalittsgeschichtlichen Folgen der stilisierten Untertanennhe des Kçnigs, die im Berlin unter Friedrich Wilhelm I. bisweilen als etwas Bedrîckendes empfunden worden zu sein scheint, darf nicht îbersehen werden.445 Das alles war nicht nur Praxis, und schon gar nicht war es Zufall. Bereits Friedrich Wilhelm I. hat in seinem politischen Testament von 1722, in dem er die Grundstze seiner Regierungsfîhrung seinem Sukzessor in eigenhndiger Niederschrift ans Herz legte, zur umfassenden und persçnlichen Herrschaftsfîhrung aufgefordert: „den(n) ein Regente der mit honneur in die weldt Regiren will mus seine affehren alles selber tuhn, also sein die Regenten zur arbeit erkohren und nicht zum flascken faullen weiberlehben“, und er ließ sofort – und sehr bezeichnend fîr die in alles hineinwirkende persçnliche Frçmmigkeit dieses Monarchen – die religiçse Begrîndung folgen. Gott habe den Kçnig „auf den trohn gesetzet nicht zu faullentzen sondern zu arbeitten und seine Lender wohll zu Regieren“.446 Er selbst, so schrieb er bei gleichem Anlaß, habe von seinen „bedinte(n) wenig assistentz geha(b)t“, sei aber „von Ihnen … directe und indirecte conterkarriert worden“. Der „Kçnnig in Preussen“ mîsse einer sein, „der selber alles Regiret und sich nicht durch die Ministr¤s sich leßet bey der Nahse fîhren“. Vor allem Finanzen und Armee mîßten alleinige Sache des Herrschers sein. Dies alles zeigt erneut Distanzen, Distanzen des Kçnigs zu seinen „Bedienten“, als die er – in hçchst typischer Diktion – seine hçchsten Amtstrger ansah. Der preußische Absolutismus ist also – hinsichtlich der unmittelbaren Praxis monarchischer Herrschaft und ihrer Ausîbung – dadurch gekennzeichnet, daß die bedeutenden Monarchen des 18. Jahrhunderts die persçnliche Regierungsfîhrung zu erzwingen suchten. Sie taten dies in einer im europischen Maßstab 445 Norbert Conrads, Politischer Mentalittswandel von oben. Friedrichs II. Weg vom Gewinn Schlesiens zur Gewinnung der Schlesier, in: Peter Baumgart (Hg.), Kontinuitt und Wandel. Schlesien zwischen §sterreich und Preußen. Ergebnisse eines Symposiums in Wîrzburg vom 29. bis 31. Oktober 1987 (= Schlesische Forschungen, 4), Sigmaringen 1990, S. 219 – 236, hier S. 229 ff.; Peter Baumgart, Schlesien als preußische Provinz zwischen Annexion, Reform und Revolution (1741 – 1848), in: G. Heinrich / F.-W. Henning / K. G. A. Jeserich (Hg.), Verwaltungsgeschichte Ostdeutschlands … (s. Anm. 353), S. 833 – 872, hier S. 847; A. B. Kçnig, Versuch einer Schilderung … (s. Anm. 235), 4, 1, S. 117. 446 G. Kîntzel / M. Hass, Testamente … (s. Anm. 136), 1, S. 97; folgendes Zitat S. 119, S. 99.

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wenn nicht einzigartigen, so doch seltenen Zuspitzung und Radikalitt. Freilich war der preußische Staat nach 1713 zwar an Flche in Mitteleuropa gewiß bedeutend, aber in allen Provinzen oder Lndern lebten zusammen genau 1.613.587 Einwohner, eine Zahl, die die demographischen Katastrophen der jîngsten Vergangenheit, nmlich die in (Ost-)Preußen widerspiegelt. Im Jahre 1740 wurden – also noch ohne Schlesien – auf demselben Gebiet nun 2.256.500 Zivileinwohner gezhlt,447 was alles die relative ˜berschaubarkeit der Staatsverhltnisse unter Friedrich Wilhelm I. anzeigen mag. Dies muß berîcksichtigt werden, wenn verstanden werden soll, wie die Klammerfunktion von Monarch und Kabinett – mit den ja angezeigten Einschrnkungen – doch immerhin funktionieren konnte, wenngleich nur unter Monarchen von hoher Arbeitskapazitt und dem ausgesprochenen Entschluß, diese Kapazitten auch einzusetzen. Das ging freilich einher mit einem Stil monarchischer Regierungsfîhrung, die sich vom Zeittyp der hçfischen Gesellschaft mit großer Entschlossenheit absetzte. Unter Friedrich Wilhelm I. ist dies geschehen, und unter seiner Regierung wurden diejenigen politischen und administrativen Strukturen herausgebildet, die bis zu den preußischen Reformen im frîhen 19. Jahrhundert in den Grundzîgen unverndert blieben. Sie kennzeichnen die preußischen Staatsstrukturen im Ancien r¤gime und mîssen uns hier daher zunchst beschftigen. Zurecht hat man darauf hingewiesen, daß es das Generalkriegskommissariat war, das die Kontinuitt monarchischer Politik îber die Zeit Friedrichs III./I. hin gewhrleistet hat.448 Die Kriegskommissare hatten sich ja seit den Tagen des Dreißigjhrigen und des Nordischen Krieges als neue Amtstrgerhierarchie entwickelt, und zwar in der zweiten Hlfte des 17. Jahrhunderts parallel zum Stehenden Heer. Um 1700 hatte dieser Prozeß mit tiefgreifenden Auswirkungen auf die Ziviladministration ausgehend von der Kurmark auch die anderen Lnder des Kurfîrsten-Kçnigs erfaßt, wobei das brandenburgische Vorbild im Sinne von Strukturîbertragungen auch außerhalb der mittleren Kernprovinz nachgewirkt hat.449 Die Instanzen der Kommissare hatten lngst wesentliche Kernmaterien an sich gezogen, die im 17. Jahrhundert noch im Geheimen Rat versammelt und vereinigt waren. Wenn, wie wir sahen, Friedrich Wilhelm I. anfnglich noch im Geheimen Rat erschienen war und Praktiken der Regierung aus dem Rat neben denjenigen aus dem Kabinett fîr eine gewisse Zeit beibehalten hat,450 so hat doch dieses alte kollegiale Zentralorgan des brandenburg447 Otto Behre, Geschichte der Statistik in Brandenburg-Preussen bis zur Grîndung des Kçniglichen Statistischen Bureaus, Berlin 1905, ND Vaduz/Liechtenstein 1979, S. 198. 448 H. Rachel, Merkantilismus … (s. Anm. 265), S. 230. 449 F. Wolters, Finanzen … (s. Anm. 132), S. 146 – 151; W. Neugebauer, Verhltnis … (s. Anm. 4), S. 189 – 192. 450 Heinrich Otto Meisner, Verfassung, Verwaltung, Regierung in neuerer Zeit (= Sitzungsberichte der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Klasse fîr Phi-

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preußischen Staates alsbald weiter an Bedeutung verloren. Der Schwerpunkt gerade derjenigen Sachmaterien, die fîr den brandenburg-preußischen Militrund Kameralstaat von vitaler Bedeutung waren, verlagerte sich in die speziellen Ressorts, eben die der Kommissariats- und der Kammerverwaltung. Nur noch fîr kurze Zeit im 18. Jahrhundert haben die Chefs dieser Organe noch wichtige Angelegenheiten im Geheimen Rat vorgetragen.451 Der Dualismus von Kommissariats- und Kammeradministration stellte zunchst einen schweren Konstruktionsfehler der preußischen Staatsorganisation dar. Die Kriegskommissariatshierarchie hatte es vor allem mit den steuerfçrmigen Einnahmen zu tun, insbesondere mit der lndlichen Kontribution und der stdtischen Akzise,452 whrend die Kammerverwaltung fîr Domnen und landesherrliche Schatullgîter und die daraus zu ziehenden Einnahmen die Verantwortung trug. Diese Materien waren seit 1713 unter dem Dach des Generalfinanzdirektoriums vereinigt, das an die Stelle der lteren und in der wartenbergschen Zeit neu-, vielleicht auch desorganisierten Hofkammer- beziehungsweise Oberdomnenverwaltung trat. Das Generalfinanzdirektorium wurde zugleich mit der Verwaltung der landesherrlichen Regalien von Post, Forsten, ferner z. B. Berg- und Hîttensachen sowie der Salzadministration betraut. Unter ihm standen ebenso die Amtskammern in den Provinzen wie die kollegial ausgebauten Kommissariate unter dem eben, 1712, neu organisierten Generalkriegskommissariat. Der hohe fiskalische Effizienzdruck, den Friedrich Wilhelm I. – bisweilen mit brachialen Methoden – auf seine Amtstrger auszuîben pflegte, die dadurch gesteigerte Konkurrenz zwischen Kommissariatsverwaltung einerseits sowie Kammer- und Regalverwaltung andererseits453 fîhrte nicht nur zu einer heftigen Rivalitt zwischen den beiden Kameral- und Finanzorganisationen, sondern zu offenen Konflikten. In ihnen kamen auch unterschiedliche Priorittensetzungen der inneren Entwicklung Preußens insofern zum Ausdruck, als das Generalkriegskommissariat eher auf Manufakturfçrderung und merkantilistische Protektionsprinzipien, die Kameralverwaltung des Generalfinanzdirektoriums jedoch auf Agrarfçrderung und eine freihndlerische Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte ausgerichtet war. In diesen Konflikten, in denen also ganz unterschiedliche Programme preußischer Strukturpolitik zum Ausdruck kamen, nahm die Kammeradministration, wie es losophie, Geschichte, Staats-, Rechts- und Wirtschaftswissenschaften, Jg. 1962, Nr. 1), Berlin 1962, S. 41 Anm. 146; zum Folgenden L. Tîmpel, Einheitsstaat … (s. Anm. 210), S. 96 f.; C. Hinrichs, Zentralverwaltung … (s. Anm. 429), S. 148 f.; R. A. Dorwart, Reforms … (s. Anm. 404), S. 39. 451 Vgl. auch O. Hintze, Erster Kçnig … (s. Anm. 198), S. 369 ff. 452 Vgl. oben bei Anm. 254. 453 O. Hintze, Erster Kçnig … (s. Anm. 198), S. 371 – 374, zum Generalkriegskommissariat um 1700: S. 375, zum Folgenden S. 377 f.; C. Hinrichs, Zentralverwaltung … (s. Anm. 429), S. 143; A. B. B., 1, S. 363 ff., Nr. 123 (Generalfinanzdirektorium).

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scheint, zudem auf Seiten der Landstnde Partei, wie sie auch die Interessen von Gutsbesitzern und Domnenpchtern fçrderte. Die Konflikte und Reibungen, die bis hin zu Prozessen zwischen beiden Instanzen fîhrten, haben sich îber Jahre hingezogen, in denen der Ausgleich, auch derjenige zwischen den verschiedenen Finanzinteressen nicht gelang und so der çkonomische Effekt des Gesamtstaates eher gefhrdet als gefçrdert wurde.454 Die im 17. Jahrhundert erwachsenen und 1712/13 kollegialisch ausgebauten staatlichen Verwaltungsstrukturen drohten unter dem hohen Effizienzdruck, unter den Friedrich Wilhelm I. seit 1713 den Apparat setzte, disfunktional zu werden. Dies hat Friedrich Wilhelm I., der, wie die Akten beweisen, mit diesen Behçrden permanent und eng zusammenarbeitete, 1722 erkannt, und er hat zur Jahreswende 1722/23 daraus impulsive Konsequenzen gezogen. Gewiß hat sich Friedrich Wilhelm auch dabei beraten lassen, u. a. von dem befreundeten Fîrsten Leopold zu Anhalt-Dessau. Der Chef des Generalkriegskommissariats, ein Proteg¤ Friedrich Wilhelms I., Grumbkow, hatte freilich gegen diejenige Lçsung opponiert, die nun vom Kçnig herbeigefîhrt, man mag auch sagen, herbeigezwungen worden ist.455 In der Abgeschiedenheit eines kleinen Jagdschlosses in der Schorfheide hat Friedrich Wilhelm I. eigenhndig die umfangreiche Instruktion jener Behçrde fast buchstark zu Papier gebracht, die schließlich bis zum Zusammenbruch des alten Preußen die oberste Kameralund Finanzbehçrde sein sollte: das General-, Ober-, Finanz-, Krieges- und Domnendirektorium, kurz das Generaldirektorium genannt. Formaliter wurden beide Kollegien, also Generalkommissariat und Generalfinanzdirektorium, miteinander vereinigt. Die einzelnen Departements der neuen Zentralbehçrde wurden aus beiden Vorgngerkollegien gleichsam zusammengemischt und so der Zwang zu einer rationaleren Kooperation organisiert,456 in diesem, wie man unlngst formuliert hat, „kombinierte(n) Minis454 Hans Haussherr, Verwaltungseinheit und Ressorttrennung. Vom Ende des 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Berlin 1953, S. 6 f.; R. A. Dorwart, Reforms … (s. Anm. 404), S. 161 ff., S. 168; O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 289; Wilhelm Stolze, Zur Geschichte der Grîndung des Generaldirektoriums, in: ForschBrandPrG 21 (1908), S. 225 – 237, bes. S. 226 ff., S. 230 f., und A. B. B., 3, S. 401 Anm. 1. 455 A. B. B., 3, S. 535 f.; V(ictor) Loewe, Zur Grîndungsgeschichte des General-Direktoriums, in: ForschBrandPrG 13 (1900), S. 242 – 246, hier S. 243 f.; zur Entstehung der Instruktion vgl. Ernst Friedlnder, Kçnig Friedrich Wilhelms I. Entwurf zu der Instruktion fîr das General-Direktorium und Kçnig Friedrichs II. Anmerkungen dazu, in: ZPreussGLdkde 17 (1880), S. 353 – 397, hier S. 353 f.; A. B. B., 3, S. 537 – 575; H. Haussherr, Verwaltungseinheit … (s. Anm. 454), S. 9; und Bruno Reuter, Kçnig Friedrich Wilhelm I. und das General-Directorium, in: ZPreussGLdkde 12 (1875), S. 724 – 749, bes. S. 727 ff. 456 So H. Haussherr, Verwaltungseinheit … (s. Anm. 454), S. 16 ff.; neue Erkentnnisee jetzt bei Jîrgen Kloosterhuis, Einleitung. Modernes Zentralverwaltungssystem im

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terium fîr Finanzen, Inneres, Handel und Gewerbe, Bergbau- und Hîttenwesen, Domnen und Forsten sowie fîr die Militrçkonomie“.457 Allerdings gab es einen ganz wesentlichen Unterschied zur rationalen Gliederung der zentralen Verwaltungsordnung, wie sie dann seit den 1780er Jahren zuerst in England und danach in Kontinentaleuropa Einzug hielt und bis zum heutigen Tage in reinen Ressortministerien entgegentritt, die es in Preußen dann seit den Tagen des Freiherrn vom Stein, d. h. seit dem Jahre 1808 gegeben hat. Im Unterschied dazu war der Grad der Staatsbildung im Preußen Friedrich Wilhelms I. daran abzulesen, daß vier der fînf zunchst geschaffenen Departements des Generaldirektoriums noch das Regional- mit dem Real- oder Sachprinzip kombinierten. Das heißt, daß die einzelnen Minister fîr mehrere Provinzen insgesamt zustndig waren, in Berlin residierende Provinzchefs hçherer Art, und daß ihnen dann zustzlich einige wenige ausgewhlte Materien îbertragen wurden, die sie nun fîr den Gesamtstaat zu besorgen hatten. In dieser eigentîmlichen, in der deutschen Staatenwelt dieser Zeit nicht nur einmal begegnenden458 Gliederungslogik kommt schlagend zum Ausdruck, wie stark die Regionalismen auch nach Jahrzehnten absolutistischer Gesamtstaatsbildung geblieben waren. Immerhin wurden die Minister, die aus beiden Vorgngerorganen rekrutiert worden sind, zur gemeinsamen Arbeit verpflichtet, d. h. sie sollten ihre Angelegenheiten, wie es ausdrîcklich in der Instruktion vom Dezember 1722 hieß, „collegialiter, nicht aber in den [das heißt: ihren, W. N.] Husern, wie bisher, tractiren“.459 Damit wird nicht nur ein Schlaglicht darauf geworfen, daß fîhrende Amtstrger die Verwaltung des Staates gleichsam aus ihren Berliner Stadtpalais heraus betrieben, nicht aus – damals in Berlin noch nicht existiepreußischen ancien R¤gime. Grundzîge der Behçrdengeschichte des Generaldirektoriums, in: Ders. (Bearb.), Bestandsgruppen-Analyse Generaldirektorium (= Verçffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz. Arbeitsberichte 9), Berlin 2008, S. IX-XXIX, bes. S. XVI f.; zum Generaldirektorium auch Meta Kohnke, Zur Geschichte des Generaldirektorums 1712/22 – 1808, in: Jîrgen Kloosterhuis (Hg.), Aus der Arbeit des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz (= Verçffentlichungen aus den Archiven Preußischer Kulturbesitz, Arbeitsberichte 1), Berlin 1996, S. 47 – 73, hier S. 54 f.; Johannes Schellakowski, Die Instruktion Kçnig Friedrich Wilhelms I. von Preußen fîr das „General-Ober-Finanz-, Krieges und Domnen-Direktorium“ aus dem Jahre 1723, in: Eberhard Laux / Karl Teppe (Hg.), Der neuzeitliche Staat und seine Verwaltung. Beitrge zur Entwicklungsgeschichte seit 1700. Im Auftrage der Freiherrvom-Stein-Gesellschaft (= Nassauer Gesprche der Freiherr-vom-Stein-Gesellschaft, 5), Stuttgart 1998, S. 13 – 33, hier S. 17, S. 21 ff. 457 M. Kohnke, Generaldirektorium … (s. Anm. 456), S. 55; W. Hubatsch, Friedrich der Große … (s. Anm. 440), S. 27; die Instruktion: A. B. B., 3, S. 575 – 651, Nr. 280, die Departements: S. 580 ff.; O. Hintze, Die Entstehung der modernen Staatsministerien. Eine vergleichende Studie, zuerst 1908, wieder in: Ders., Staat und Verfassung … (s. Anm. 249), S. 275 – 320, S. 298 ff., Vergleich: S. 290, S. 305 – 320. 458 W. Neugebauer, Neuere Deutung … (s. Anm. 243), S. 582. 459 A. B. B., 3, S. 582.

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renden – Zweckbauten mit systematischer Trennung von staatlichen Herrschaftsmitteln und „privater“ Lebensfîhrung. Beide Bereiche blieben auch nach 1723 noch auf einige Zeit verzahnt, und man mag in der Amtsfîhrung aus den Ministerhusern und aus den Wohnungen anderer Rte und hçherer Amtstrger ein weiteres Indiz fîr Traditionalitten im preußischen Verwaltungsalltag in der Zeit des preußischen Hochabsolutismus erkennen; man denke nur an die großen Probleme mit der Amtsverschwiegenheit in all den Fllen, in denen die Arbeiten in den „Husern“ der Amtstrger, die auch zahlreiches eigenes Hauspersonal beschftigten, durchgefîhrt wurden. Immerhin verlagerte das Prinzip der Kollegialitt die eigentliche Entscheidungsfindung dann doch in die Amtsrume des Generaldirektoriums; sie lagen im neuerbauten Westflîgel des Schlosses, rechts vom sog. Eosanderportal.460 Dort im Sitzungszimmer des Kollegiums, an dessen mehrmals in der Woche stattfindenden Plenarsitzungen aller Minister und geheimen Finanzrte („Geheime Finanz-, Krieges- und Domnenrte“), der Kçnige aber selbst nicht teilnahm, dort also fielen die Entscheidungen nach Vortrag des Referenten mit Mehrheitsbeschluß. Auch dies sicherte die exponierte Entscheidungsposition des Monarchen, auf daß also kein Minister oder Beamter allzu mchtig werden konnte; er blieb stets eingebunden in das Kollegium und konnte ggf. auch îberstimmt werden. Dieses Kollegialprinzip ist also von großer Herrschaftssignifikanz in Preußen, zumal in der ersten Hlfte des 18. Jahrhunderts.461 Ein fînftes Departement fîr die Justizangelegenheiten der Kammeralverwaltung hat bis 1739 bestanden. Nur nominell war der Kçnig der Chef des Generaldirektoriums; sein Stuhl am langen Sitzungstisch im Schloß blieb leer. Allabendlich sollten die Berichte des Generaldirektoriums samt Protokollen an den Kçnig gesandt werden, der aus seinem Kabinett ggf. schriftlich beschied. Unterhalb der Berliner Zentrale wurden sodann im Jahre 1723 in den Landschaften und Regionen die jeweiligen Kommissariate und Amtskammern zu Kriegs- und Domnenkammern vereinigt. Die kurmrkische Kammer, die ihre Rume gleichfalls im Berliner Schloß besaß, hat dabei das Vorbild fîr die Organisation in den anderen „Provinzen“ abgegeben,462 was nun zeigt, daß zumindest in formaler Hinsicht mit der 460 W. Neugebauer, Schloß und Staatsverwaltung … (s. Anm. 442). 461 H. Rosenberg, Bureaucracy … (s. Anm. 435), S. 96; C. Hinrichs, Zentralverwaltung … (s. Anm. 429), S. 149; und Fritz Hartung, Studien zur Geschichte der preußischen Verwaltung, zuerst 1942 – 1948, wieder in: Ders., Staatsbildende Krfte … (s. Anm. 127), S. 178 – 344, hier S. 194; das Folgende: A. B. B., 3, S. 645. 462 A. B. B., 3, S. 681 – 723, Nr. 295, bes. S. 714, ferner S. 723 f., Nr. 296; O. Hintze, Einleitende Darstellung … (s. Anm. 417), S. 341 – 345; Bruno Reuter, Zur Geschichte der Kriegs- und Domnen-Kammern (= Schriften des Vereins fîr die Geschichte Berlins, 29), Berlin 1892, S. 107 – 116, bes. S. 110 – 112; Wilhelm Stolze, Die Grîndung des Generaldirektoriums durch Friedrich Wilhelm I., in: Festschrift zu Gustav Schmollers 70. Geburtstag. Beitrge zur brandenburgischen und preußischen Ge-

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Verwaltungsreform der Jahre 1722/23 ein weiterer Schritt zur Vereinheitlichung der staatlichen Strukturen gegangen worden ist. Um 1739/40 gab es neun solcher Kammern in Preußen. Von einem Einheitsstaat kann aber fîr diesen Staat des 18. Jahrhunderts zu keiner Zeit gesprochen werden. Das Generaldirektorium war ohne Zweifel die bedeutendste innere Verwaltungsinstanz des preußischen Staates, und es spricht fîr sich, daß man in §sterreich unmittelbar nach der gegen Preußen erlittenen Niederlage in den 1740er Jahren eben die preußische Verwaltungsorganisation und insbesondere das Generaldirektorium zum Vorbild genommen und nachgeahmt hat.463 Dessen große Bedeutung kam auch darin zum Ausdruck, daß ihm die berîhmte Oberrechenkammer, als Generalrechenkammer um 1714 begrîndet, unterstellt worden ist und diese somit auch einiges an selbstndigen Kontrollkompetenzen gegenîber der Zentralverwaltung verlor. Die Oberrechenkammer war gleichfalls, wenn auch nur bis 1745, im Berliner Schloß untergebracht.464 Hier lagerten auch seit den Zeiten Friedrich Wilhelms I. die monetren Staatsreserven, d. h. die in Fssern verpackten Bargeldbestnde, im Keller unter der kçniglichen Wohnung. Man wird also sagen kçnnen, daß der Schloßkomplex auf der Berliner Spreeinsel nicht nur administratives Zentrum des Staates gewesen ist, sondern zugleich eines der grçßten Edelmetalldepots465 in Mitteleuropa. Denn seit Friedrich Wilhelm I. und bis in die Zeiten der Revolutionskriege in den 1790er Jahren hatte Preußen trotz kriegerischer und ziviler Aufwendungen verschiedenster Art eine wohl ziemlich singulre Schatzbildung mçglich gemacht, und dies trotz der bekannten ungînstigen naturrumlichen Bedingungen. 1740 waren im sog. alten und im neuen Tresor mit wohl îber 10 Millionen Talern rund eineinhalb Jahreseinnahmen des gesamten Staates als bare Rîcklage vorhanden,466 was sicherlich auch ein Indiz dafîr ist, daß die unter diesem

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schichte, hg. vom Verein fîr Geschichte der Mark Brandenburg, Leipzig 1908, S. 49 – 64, hier S. 52 – 60; W. Hubatsch, Friedrich der Große … (s. Anm. 440), S. 28. Z. B. Friedrich Walter, Preußen und die çsterreichische Erneuerung von 1749, in: MI§G 51 (1938), S. 415 – 429, bes. S. 424; zusammenfassend Peter Baumgart, Friedrich Wilhelm Graf Haugwitz, Schlesien und die çsterreichische Staatsreform von 1749, in: ForschBrandPrG NF 5 (1995), S. 59 – 74, hier S. 64. A. A. B., 4, 1. Hlfte, S. 28 – 36, Nr. 18; H. Haussherr, Verwaltungseinheit … (s. Anm. 454), S. 18 – 21; W. Neugebauer, Neuere Deutung … (s. Anm. 243), S. 575 ff.; Theodor von Dithfurth, Zur Geschichte der Kçniglich Preußischen Ober-Rechnungskammer, Berlin 1909, S. 25. Wie Anm. 460. Bestand 1740: Reinhold Koser, Die preußischen Finanzen von 1763 bis 1786, in: ForschBrandPrG 16 (1903), S. 445 – 476, hier S. 474; vgl. damit Gustav Schmoller, Preußische Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzgeschichte Berlin 1921, S. 80, S. 112; etwas geringere Zahlen bei Friedrich-Wilhelm Henning, Die preußische Thesaurierungspolitik im 18. Jahrhundert, zuerst 1974, wieder in: Ders., Studien zur Wirtschaftsund Sozialgeschichte Mittel- und Ostdeutschlands (= Verçffentlichungen der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universitt Dortmund, Reihe A, Nr. 42), Dort-

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Monarchen reformierte Verwaltung durchaus Effizienz besessen hat. Der Kçnig, der fîr seinen eigenen Hofbedarf nur noch jhrlich 52.000 Taler zuließ, hat zudem in diesen Jahren eine umfassende Entschuldungspolitik betrieben; bis 1723 waren bereits alle auf Domnen lastenden finanziellen Verbindlichkeiten abgelçst worden. Die Steuertarife sind unter Friedrich Wilhelm festgesetzt und dann nicht weiter erhçht worden, was man bei der Erklrung und Beurteilung der preußischen Finanzphnomene in Rechnung zu stellen und zu bedenken hat. 1786 betrug der Staatsschatz dann rund 54 Millionen Taler. Das Akziseaufkommen pro Einwohner hatte sich zwischen 1740 und 1772 aber nur von durchschnittlich vier auf nunmehr fînf Taler erhçht; die Kontribution blieb îber Jahrzehnte prinzipiell unverndert.467 Gewiß kann man aus der Sicht neuerer çkonomischer Theorien die Frage stellen, ob damit nicht dem (inneren) Wirtschaftskreislauf wertvolle Zahlungsmittel und Kaufkraftkapazitten entzogen und aus politischen Grînden gleichsam stillgelegt worden sind. Dahinter standen freilich – nach den Erfahrungen der Jahre vor 1713 – sehr bewußte politische Entscheidungen. Jedenfalls steht fest, daß die Subsidienabhngigkeit, die die brandenburg-preußische Politik unter dem Großen Kurfîrsten und dem ersten Kçnig so nachhaltig charakterisiert und belastet hatte, nunmehr nach 1713 ein signifikantes Ende fand.468 Und so kçnnte man argumentieren, daß in materieller Hinsicht Brandenburg-Preußen nicht eigentlich um 1660 oder 1701 einen wesentlichen Schritt hin zur faktischen politischen Souvernitt gemacht hat: Dies ist in sehr stiller und unaufflliger Weise erst unter Friedrich Wilhelm I. erreicht worden. Damit wird zugleich bewiesen, daß die administrativen Reformen im Preußen dieser Jahre und Jahrzehnte weit îber die scheinbar im Vordergrund stehenden organisatorischen Vernderungen hinaus eine unmittelbar politische Wirkung besaßen, eine die man wohl ohne ˜bertreibung als eine Maximierung der Verwaltungseffizienz im Rahmen des unter den damaligen Bedingungen Mçglichen ansehen darf, d. h. unter den Bedingungen einer nur begrenzt mobilisierbaren stndischen Gesellschaft in der Epoche des Ancien r¤gime. Es ist gewiß berechtigt, bei der Analyse des inneren Organbaus Brandenburg-Preußens die Kameralhierarchie, wie sie im Generaldirektorium ihre kollegiale Spitze besaß, in das Zentrum der Betrachtung zu rîcken. Aber der mund 1985, S. 119 – 136, hier S. 122 f.; O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 298 f.; C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I., Jugend … (s. Anm. 192), S. 437. 467 Franz Schneider, Geschichte der formellen Staatswirtschaft von Brandenburg-Preußen (= Schriften der Forschungsstelle fîr Staats- und Kommunalwirtschaft e.V. in Wiesbaden), Berlin 1952, S. 118; das Vortragsreferat von Gustav Schmoller, in: ForschBrandPrG 5 (1892), Sitzungsberichte S. 611; Ders., Verfassungs-Verwaltungs-Finanzgeschichte … (s. Anm. 466), S. 103 f. 468 C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 625; O. Hintze, Geist und Epochen … (s. Anm. 391), S. 16.

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Geheime Rat wurde ja nicht aufgelçst, er bestand, nach Ausgliederung anderer wichtiger Aufgaben in besondere Amtsstellen weiter. Zu den Instanzen, die nun eigene Aufgaben wahrnahmen, gehçrte zu allererst das Departement der Auswrtigen Affren, das sich seit der Zeit um 1700 und im frîhen 18. Jahrhundert herausgebildet hat. Das Jahr 1728 brachte bei der Entstehung des auswrtigen Ressorts beziehungsweise des „Kabinettsministeriums“ nur den Abschluß einer sehr viel lngeren Entwicklung. Die Instruktion vom 8. Dezember dieses Jahres war, um mit Peter Baumgart zu formulieren, „nicht Grîndungsurkunde sondern Reorganisationsstatut“.469 Sie steht fîr dieses gleichfalls kollegialisch aufgebaute Ministerialorgan also nicht am Anfang, es steht am Ende der Entwicklung; Behçrden werden nicht eigentlich neu gegrîndet, sie erwachsen aus der Praxis von Jahrzehnten, und der Monarch formt diese politischen Strukturen mehr als daß er sie eigentlich „schafft“. Dies gilt erst recht fîr die – wenn wir so sagen dîrfen – Restinstanzen des alten Geheimen Rates,470 bei dem allein noch die Justiz und die geistlichen Angelegenheiten, d. h. die Kirchen- und die Schulsachen verblieben. Das Geistliche Departement ist gleichfalls nicht eigentlich „begrîndet worden“, es resultierte aus der Entwicklung hin zu Spezialinstanzen und wird in den Akten zur Mitte der dreißiger Jahre dann erstmals erwhnt.471 Der Minister des geistlichen Departements hatte zugleich Leitungsfunktionen im alten, seit dem 16. Jahrhundert existierenden kurmrkischen Konsistorium inne; ebenso stand er îber den z. T. sehr alten Konsistorien in den verschiedenen Lndern der Monarchie und leitete das seit 1713 fîr die Reformierten ttige Kirchendirektorium. Fîr die lutherischen Kirchen- und Schulangelegenheiten wurde dann 1750 als gesamtstaatliches Kollegium das Oberkonsistorium in Berlin geschaffen, das zugleich fîr die Kurmark speziell zustndig war, nicht jedoch fîr Schlesien.472 Diese Kollegien sind deshalb besonders erwhnenswert, weil unter ihren Amtstrgern, d. h. Geistlichen und Juristen, sich die theologischen und anderen geistig-kulturellen Strçmungen der Zeit besonders deutlich nachweisen lassen. Zunchst haben in den Berliner 469 Vgl. schon O. Hintze, Erster Kçnig … (s. Anm. 198), S. 370; dann Peter Baumgart, Zur Grîndungsgeschichte des Auswrtigen Amtes in Preußen (1713 – 1728), in: JbGMitteldtld 7 (1958), S. 229 – 248, bes. S. 247; vgl. M. Kohnke, Kabinettsministerium … (s. Anm. 399), S. 318 f., S. 324 – 327; und der Druck in A. B. B., 4, 2. Hlfte, S. 397 ff., Nr. 242; vgl. damit R. Koser, Grîndung … (s. Anm. 434), S. 64 – 109, bes. S. 71. 470 O. Hintze, Staatsministerien … (s. Anm. 457), S. 298; C. Hinrichs, Zentralverwaltung … (s. Anm. 429), S. 148, S. 151; L. Tîmpel, Einheitsstaat … (s. Anm. 210), S. 237. 471 W. Neugebauer, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit … (s. Anm. 54), S. 84 ff.; Ernst Mîsebeck, Das Preußische Kultusministerium vor hundert Jahren, Stuttgart/ Berlin 1918, S. 5; O. Hintze, Einleitende Darstellung … (s. Anm. 417), S. 134 – 140. 472 W. Neugebauer, Absolutistischer Staat und Schulwirklichkeit … (s. Anm. 54), S. 96 ff.; O. Hintze, Einleitende Darstellung … (s. Anm. 417), S. 139.

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Kollegien des geistlichen Faches ganz entschieden Pietisten dominiert, darunter auch solche Geistliche, die etwa zum Hallenser August Hermann Francke noch selbst in einem persçnlichen Verhltnis gestanden hatten. Philipp Jakob Spener, das geistige Haupt der Richtung, hatte nach seiner ˜bersiedlung nach Berlin in den 1690er Jahren auch sogleich Sitz und Stimme im Konsistorium erhalten.473 Die pietistische Prgung haben diese Kollegien noch auffllig lange bewahren kçnnen, bis weit in die Regierungszeit Friedrichs des Großen hinein, der diese Richtung persçnlich intensivierter und individualisierter Glubigkeit doch eigentlich gar nicht mochte. Gleichwohl haben die Pietisten noch îber zwei Jahrzehnte nach dem Tode Friedrich Wilhelms I. dessen Grundlinie auf dem Gebiet des landesherrlichen Kirchen- und Schulregiments fortsetzen kçnnen; dieser Monarch hat Religionsfragen mit Theologen seines Vertrauens oft sehr direkt beraten und bearbeitet, immer wieder im Kabinetts-Schriftwechsel mit den fîhrenden Aktivittspietisten in Halle an der Saale selbst. Die Pietisten haben bis in die sechziger Jahre des 18. Jahrhunderts insbesondere in Schulsachen den Ton angegeben. Erst auffllig spt haben dann Theologen und Pdagogen der Aufklrung den pietistischen Amtstrgertypus im geistlichen Fach in Brandenburg-Preußen und besonders in Berlin abgelçst.474 Um 1788/1790 galt dann das Oberkonsistorium des preußischen Staates als ausgesprochener „Hort der Aufklrung“. Das sind lange Linien geistesgeschichtlicher Konjunkturen, die beweisen, daß Prgungen aus der Zeit Friedrich Wilhelms I. bis weit in die Regierungszeit desjenigen Monarchen fortgewirkt haben, der sich doch der Aufklrung verpflichtet fîhlte. Wir haben es dabei im letztgenannten Bereich durchweg mit 473 Karl Themel, Die Mitglieder und die Leitung des Berliner Konsistoriums vom Regierungsantritt des Kurfîrsten Johann Sigismund 1608 bis zur Aufhebung des Kçniglichen Preussischen Oberkonsistoriums 1809, in: Jahrbuch fîr Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte 41 (1966), S. 52 – 111, hier S. 74, S. 81, S. 84, S. 87 f., S. 95; Ph. Georg von Reinbeck, Leben und Wirken des Dr. Th. Johann Gustav Reinbeck …, Stuttgart 1842, S. 36 f.; C. Hinrichs, Preußentum und Pietismus … (s. Anm. 410), S. 411; wichtig nach wie vor Walter Wendland, Siebenhundert Jahre Kirchengeschichte Berlins (= Berlinische Forschungen, 3), Berlin/Leipzig 1930, S. 62 f., S. 131. 474 W. Wendland, Siebenhundert Jahre … (s. Anm. 473), S. 147 f.; Wolfgang Neugebauer, Anton Friedrich Bîsching 1724 – 1793, in: JbBrandenbLdG 58 (2007), S. 84 – 101, hier S. 95 f.; das folgende Zitat bei Paul Schwartz, Die beiden Opfer des Preußischen Religionsediktes vom 9. Juli 1788, J. E. Schulz in Gielsdorf und K. W. Brumbey in Berlin, in: JbBrandenbKG 27 (1932), S. 102 – 155, 28 (1933), S. 96 – 127, hier Tl. 1, S. 105; Ders., Der erste Kulturkampf in Preußen um Kirche und Schule (1788 – 1798) (= Monumenta Germaniae Paedagogica, 58), Berlin 1925, S. 19 ff.; Horst Mçller, Wie aufgeklrt war Preußen?, in: Hans-Jîrgen Puhle / Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Preußen im Rîckblick (= Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 6), Gçttingen 1980, S. 176 – 201, hier S. 184; und Ernst Kaeber, Geistige Strçmungen in Berlin zur Zeit Friedrichs des Großen, in: ForschBrandPrG 54 (1943), S. 257 – 303, hier S. 271 – 275.

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bîrgerlichen Amtstrgern zu tun. Diese haben in den Kollegien fîr Kirchen-, Schul- und Armensachen stets dominiert. Unter Friedrich Wilhelm I. war es aber durchaus mçglich, als Bîrgerlicher in hohe, ja in Ministerrnge aufzusteigen, wo dann die Nobilitierung erfolgte. Auf der Ebene der Rte, d. h. der Charge direkt unterhalb der ministerialen Chefs, îberwogen sowohl im Generalfinanzdirektorium als auch im Kommissariat die Bîrgerlichen; nach 1723 arbeiteten in der Kurmrkischen Kriegs- und Domnenkammer 18 bîrgerliche neben vier adeligen Rten. Im Generaldirektorium hielten sich auf der Ebene der Geheimen Finanzrte Adlige und Nichtadlige mit neun zu acht die Waage, whrend im Kammergericht die Nobilitt zu zwei Dritteln entschieden dominierte.475 Von einer systematischen Ausbildung des Personals war noch nicht die Rede, praktische Erfahrungen, etwa auf der Ebene von Domnenmtern ersetzten in der Karriere durchaus noch das Universittsstudium. Seit Friedrich Wilhelm I. hatten ehemalige Offiziere gute Chancen zum Einstieg in die zivile Verwaltungskarriere. Es ist oft behauptet worden, daß damit auch militrische Verhaltensweisen in den Staatsalltag der Untertanen Einzug gehalten htten, was auch fîr die Zeit nach 1740 geschildert worden ist.476 Ob damit allerdings auch die Subordination der Amtstrger unter den monarchischen Willen nachhaltig gestrkt wurde, bleibt noch zu îberprîfen. Sicher ist, daß zumal Friedrich Wilhelm I. Korruptionsphnomenen mit großer Hrte entgegengetreten ist. Die Drohung gegenîber (zumal hohen) Beamten mit dem Tode war unter ihm keine leere Geste.477 Mehr als eine Reduktion von Korruption war schwerlich zu erzwingen, und mochte auch das Organisationstalent des Kçnigs 1723 eine auf lange Frist funktionsfhige Struktur geformt haben, so hat es doch noch auf einige Zeit Parteiungen und untergrîndige Kmpfe entlang der alten Streitlinien von Kommissariats- und Domnenverwaltung gegeben.478 Heiratskreise unter hohen Amtstrgern, vielfache Verschwgerungen und Familienkonnexio475 Gustav Schmoller, Der preußische Beamtenstand unter Friedrich Wilhelm I., in: PreussJbb 26 (1870), S. 148 – 172, S. 253 – 270, S. 538 – 555, hier S. 162 f., diese Studie jetzt auch in Ders., Kleine Schriften zur Wirtschaftsgeschichte, Wirtschaftstheorie und Wirtschaftspolitik, hg. von Wolfram Fiedler und Rolf Karl (= Opuscula oeconomica, 1), Leipzig 1987, S. 1 – 63; vgl. dazu auch Friedrich von Oppeln-Bronikowski, Der Baumeister des preußischen Staats. Leben und Wirken des Soldatenkçnigs Friedrich Wilhelms I., Jena (1934), S. 195 f.; W. Hubatsch, Friedrich der Große … (s. Anm. 440), S. 30 f.; und A. Kamp, Friedrich Wilhelm I. und das preußische Beamtentum, in: ForschBrandPrG 30 (1917), S. 31 – 53, hier S. 32. 476 Die Lit. in Anm. 475, insbes. A. Kamp, Friedrich Wilhelm I. … (wie Anm. 475), S. 39 f.; R. A. Dorwart, Reforms … (s. Anm. 404), S. 194; Walter L. Dorn, The Prussian Bureaucracy in the Eighteenth Century, in: Political Science Quarterly 46 (1931), S. 403 – 423, 47 (1932), S. 75 – 94, S. 259 – 273, hier Tl. 2, S. 268 ff.; Hubert C. Johnson, Frederick the Great and His Officials, New Haven/London 1975, S. 49 f. 477 W. Neugebauer, Deutung … (s. Anm. 243), S. 566. 478 B. Reuter, Kriegs- und Domnenkammern … (s. Anm. 462), S. 113 f.

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nen, die insbesondere im Auswrtgen Departement ungewçhnlich weit verbreitet waren, sind seit langem bekannt.479 Analoges gilt fîr die Verhltnisse in einer ganzen Reihe von Provinzen, etwa fîr das Herzogtum Magdeburg, wo es – mit Otto Hintze zu sprechen – geradezu zur „familienmßige(n) Fortpflanzung des Beamtenstandes und seiner Tradition“ gekommen ist.480 Um derartige Klientelbeziehungen zu durchbrechen, hatte Friedrich Wilhelm I. alsbald den Plan gefaßt und als Grundsatz formuliert, daß Kriegs- und Domnenrte in den provinzialen Kammern alle drei Jahre in eine andere Provinz versetzt werden sollten,481 und auch sein Sohn hat sich dieses Instruments, wenn auch mit geringerer Systematik, zu bedienen gesucht, und zwar gegenîber den – durchweg adligen – Kammerprsidenten. Aber die Realitt sah doch im ganzen anders aus. Der gezielte Personalaustausch ist fîr die Kçnigsberger Kammer praktiziert worden, in anderen parallelen Kollegien aber war dies nicht durchzusetzen, und das hieß nichts anderes, als daß hier alte Familien des Landes im Kçniglichen Amt auch gegen den prinzipiellen Willen des Herrschers sich zu behaupten verstanden.482 Insofern sind die Grenzen des Absolutismus sogar in der Amtsstruktur des Alten Preußen nicht zu îbersehen. Vorstellungen von moderner Bîrokratie, etwa mit regulierten Laufbahnen, rationalisiertem Dienstrecht und systematisierter Ausbildung gehen fîr diese Zeit auch in Preußen noch gnzlich an der Realitt vorbei; Traditionalitten blieben auch unter Friedrich Wilhelm I. untergrîndig sehr wohl lebendig, und zwar sogar im Kernbereich des staatlichen Apparates. Und auch die bloßen Quantitten geben einen Eindruck davon, wie weit der Staatsalltag des 18. Jahrhunderts noch von der Welt der modernen Bîrokratie mit ihren großen und anonymen Apparaten entfernt war. Das schon mehrfach erwhnte Generaldirektorium, von dem aus ja der ganze preußische Kameral-, Militr- und Finanzstaat verwaltet werden sollte, umfaßte im Jahre 1740 fînf Minister, neunzehn Geheime Finanzrte, dazu 45 Subalternbeamte, also alles in allem – sozusagen vom Minister bis zum Boten – ganze 69 Mann.483 479 Reinhold Koser, Vom Berliner Hofe um 1750, in: HohenzJb 7 (1903), S. 1 – 37, hier S. 14. 480 O. Hintze, Einleitende Darstellung … (s. Anm. 417), S. 407. 481 A. B. B., 4, 2. Hlfte, S. 331, Nr. 208; das Folgende H. C. Johnson, Frederick … (s. Anm. 476), S. 52 f. 482 W. Neugebauer, Integration … (s. Anm. 201), S. 81 f.; Gustav Schmoller, Studien îber die wirthschaftliche Politik Friedrichs des Großen und Preußens îberhaupt von 1680 – 1786, zuerst in: JbGesetzgebungVerwalt 8 (1884), S. 1 – 61, S. 345 – 421, S. 999 – 1091, 10 (1886), S. 1 – 45, S. 327 – 373, S. 675 – 727, 11 (1887), S. 1 – 58, S. 789 – 883, hier in 10 (1886), S. 37 ff.; auch in Ders., Kleine Schriften … (s. Anm. 475), 1, Leipzig 1985, S. 465 – 999. 483 H. C. Johnson, Frederick … (s. Anm. 476), S. 283; zu 1746 GStA PK II. HA, Abt. 3, Gen. Dep., Tit. IV, Nr. 4; sptere Quantitten: J. Kloosterhuis, Einleitung … (s. Anm. 456), S. XVI.

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Schwerlich war damit eine allgegenwrtige Administration zu gewhrleisten. Immerhin mag um so mehr der finanzielle Effekt, wie er unter Friedrich Wilhelm I. eintrat, erstaunen. Im spteren 18. Jahrhundert ist die Zahl der Amtstrger in der Haupt- und Residenzstadt dadurch auf – 1786 – vielleicht gute 400 Mann angestiegen, so daß neben dem Generaldirektorium weitere Spezialkollegien fîr besondere Aufgaben entstanden waren. Unterhalb von Generaldirektorium und provinzialen Kammern blieben die Steuerrte, die wir im 17. Jahrhundert als Commissarii locorum aus der Kriegskommissariatshierarchie erwachsen sahen, das wesentliche Element staatlicher Aufsichtsfîhrung îber die Stdte beziehungsweise Stdtekreise. Seit 1713 wurden sie auch in den westlichen und çstlichen Außenprovinzen eingesetzt, zusammen mit der Einfîhrung der stdtischen Steuer, der Akzise, und in Verbindung mit Interventionen in die stdtische Autonomie.484 Denn zumindest war damit ein massiver Eingriff in die stdtische Steuer- und Finanzverfassung in den verschiedenen Lndern Friedrich Wilhelms I. verbunden. Der Kriegs- und Steuerkommissar, wie er in der Instruktion vom Mai des Jahres 1712 genannt wurde, hatte die Pflicht, in seinem Amtsdistrikt zu wohnen. Er hatte die Kassen einer jeden Stadt in seinem Sprengel zu untersuchen, die Einnehmer, Visitatoren und Torschreiber zu îberwachen, und darîber hinaus hatte er die Aufgabe, die Entwicklung der Stdte zu befçrdern, d. h. er hatte die Aufsicht îber Handel und Verkehr, îber die Sicherheit, zumal die Feuerpolizei; er sollte auch die Zînfte im Auge behalten und fîr den Wiederaufbau noch immer wîster Stellen in den Stdten sorgen.485 Alsbald, d. h. 1719, erging der Befehl, daß die Steuerrte auch die „Medivinal Edicte zur Observantz zu bringen“ htten. Besonders seit 1723 hatten die Steuerrte einer intensiven Berichtspflicht zu genîgen.486 Allerdings kam es bei allen Eingriffen, d. h. in jeweils einzelnen Stdten doch nicht zu einer fçrmlichen Aufhebung der kom-

484 Die einzelnen provinzbezogenen Daten bei L. Tîmpel, Einheitsstaat … (s. Anm. 210), S. 126 f.; F. Schneider, Staatswirtschaft … (s. Anm. 467), S. 76; E. Bammel, Dîsseldorf … (s. Anm. 37), S. 31; G. Schmoller, Finanzpolitik … (s. Anm. 183), S. 153. 485 A. B. B., 1, S. 201 ff., Nr. 63; C. O. Mylius; Corpus … (s. Anm. 72), 5, Tl. 4, Abt. 1, Sp. 209, Nr. 24; vgl. Bruno Gloger, Der Potsdamer Steuerrat. Studien zur brandenburgisch-preußischen Lokalverwaltung des Ancien r¤gime, phil. Diss. Humboldt-Universitt Berlin 1957 (Masch.), S. 11. 486 B. Gloger, Steuerrat … (s. Anm. 485), S. 69; O. Hintze, Einleitende Darstellung … (s. Anm. 417), S. 343; Berthold Schulze, Die Reform der Verwaltungsbezirke in Brandenburg und Pommern 1809 – 1818. Mit Unterstîtzung der Historischen Kommission fîr die Provinz Pommern (= Einzelschriften der Historischen Kommission fîr die Provinz Brandenburg und die Reichshauptstadt Berlin, 3), Berlin 1931, S. 121 und die Karte S. 2.

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munalen „Ratsverfassung“.487 Gegen die allzu etatistische Sicht der lteren Forschung, die wohl den absolutistischen Staatszugriff in die Stdte hinein etwas îberschtzte, sehen wir heute, daß die kommunale Autonomie, zumal unter Friedrich Wilhelm, gewiß geschwcht worden ist, daß auch der Grad staatlicher Aufsicht gesteigert wurde. Rathusliche Reglements, Stadtverfassungen im kleinen, wurden aus kçniglicher Vollmacht heraus erlassen, aber nicht staatsweit und einheitlich, wie dann im 19. Jahrhundert, sondern fîr jeden Ort besonders. Die Tendenz ging in Richtung auf eine deutliche Reduktion des Personals, das in den Stdten das – oligarchische – Regiment fîhrte. Die periodischen Ratswechsel wurden abgeschafft, aber es blieb prinzipiell beim Grundsatz der Selbstergnzung durch Kooptation. Fîr die ˜bernahme des Amtes wurde die Erteilung der kçniglichen Besttigung gefordert, wobei das juristische Element unter dem Magistratspersonal im Vormarsch war. Allerdings muß man auch berîcksichtigen, daß die Rathuslichen Reglements durchaus nicht durchweg Neues dekretierten, daß sie vielmehr die bestehende Praxis îber weite Strecken nur kodifizierten. Immerhin kam es da, wo mehrere selbstndige Stadtgemeinden nebeneinander existierten, zu Zusammenlegungen, wie schon 1709 im Falle Berlins.488 In Pommern scheint der landesherrliche Zugriff auf die stdtische Autonomie schon um einiges schwcher gewesen zu sein als in der Mark Brandenburg; in Pommern blieben Bîrgervertretungen von einiger Bedeutung erhalten und haben sich nach 1740 noch spîrbar belebt. Daß ganz im Westen, im Herzogtum Kleve zunchst der Versuch unternommen wurde, stdtische Wahlrechte zu beseitigen, dann aber Friedrich Wilhelm I. sich auf die Forderung des Besttigungsrechts zurîckzog, verweist erneut auf Grenzen des Absolutismus in der Herrschaftspraxis, und das auch in existenziellen Bereichen. In Kleve, das ist nachgewiesen worden, blieb îber alle formellen Eingriffe hinweg doch die Herrschaft der „Magistratsfamilien“ ungebrochen; mit der Praxis eines sehr wohl wirksamen „Vorschlagsrechts“ war in den Stdten auch recht gut zu leben. Derartige Beispiele ließen sich vermehren und wîrden dann um so mehr beweisen, daß von einer staatseinheitlichen Stdtepolitik und kommunalen Verfassungsstruktur sogar unter diesem absolutistischen Monarchen nicht die Rede 487 Das betont Kurt Schrader, Die Verwaltung Berlins von der Residenzstadt des Kurfîrsten Friedrich Wilhelm bis zur Reichshauptstadt …, phil. Diss. Humboldt-Universitt Berlin 1963, (Masch.), S. 49 – bezogen auf den ganzen Staat. 488 Gerd Heinrich, Staatsaufsicht und Stadtfreiheit in Brandenburg-Preussen unter dem Absolutismus (1660 – 1806), in: Wilhelm Rausch (Hg.), Die Stdte Mitteleuropas im 17. und 18. Jahrhundert (= Beitrge zur Geschichte der Stdte Mitteleuropas, 5), Linz an der Donau 1981, S. 155 – 172, bes. S. 155 – 163; Ders., Festung … (s. Anm. 419), S. 163; wichtig: Wilhelm Gundlach, Friedrich Wilhelm I. und die Bestellung der stdtischen Beamten. Ein Beitrag zur Geschichte der preußischen Verwaltung (= Bausteine zur preußischen Geschichte, NF 1), Jena 1906, S. 4 ff., S. 74 Anm. 13; O. Hintze, Einleitende Darstellung … (s. Anm. 417), S. 362.

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sein kann. Unter Friedrich dem Großen sind in den alten Staatsprovinzen die Freiheiten der Stdte weiter ausgeweitet worden; Wahlrechte wurden auch da, wo sie vor 1740 eher eingeschrnkt wurden, wieder respektiert. Die 42 Steuerrte in Preußen (ohne Schlesien), die unter Friedrich II. gezhlt wurden, waren zum großen Teil bîrgerliche Amtstrger. Schon ihre Gesamtzahl lßt es berechtigt erscheinen, vor ihrer ˜berschtzung im Herrschaftsalltag zu warnen.489 Fîr die Zeit Friedrich Wilhelms I. kam aber ein weiteres Moment hinzu, das seinen praktischen Absolutismus auf stdtischem Boden krftig reduzierte. Denn unter ihm hat die temporre Praxis in den Stdten Einzug gehalten, stdtische Stellen gleichsam durch den Kçnig zu verkaufen, indem der Anwrter eine entsprechende Summe an die kçnigliche Rekrutenkasse zahlte. Dies galt etwa fîr Bîrgermeisterstellen und auch fîr die Position von Akziseeinnehmern. Nach 1740 hat dieses Verfahren langsam aufgehçrt. Die Gefahr, korruptive Erscheinungen auf diesem Wege zu steigern, war evident und auch das Faktum, daß sich damit der Monarch eines guten Stîckes potentieller personalpolitischer Einflußwege auf diesem Felde wieder begab.490 Das Phnomen des ømterkaufs, das in anderen europischen Staaten – man denke nur an das Frankreich des Ancien r¤gime – eine so große und verhngnisvolle Rolle spielte, war in Preußen vor allem auf die Zeit Friedrich Wilhelms I. und auf sehr genau umgrenzte Bereiche beschrnkt. Außer den stdtischen Funktionen waren hier vor allen Gerichtsstellen betroffen.491 Es kann also zusammenfassend gesagt werden, daß auch da, wo der kçnigliche Zugriff noch relativ unmittelbar und stark sein konnte, Friedrich Wilhelm eher eine strukturformende Effektivierung bewirkt hat. Wie sehr er dabei auf das angewiesen war, was in den Jahrzehnten zuvor in BrandenburgPreußen gewachsen war, ist allenthalten deutlich. Indem er Vorhandenes formte, 489 O. Vanselow, Pommersche Stdte … (s. Anm. 261), S. 24, S. 26 f., S. 29 ff.; I. Barleben, Selbstverwaltung im Herzogtum Kleve … (s. Anm. 259), S. 42 – 47; treffend schon Carl Wilhelm von Lancizolle, Grundzîge der Geschichte des deutschen Stdtewesens mit besonderer Rîcksicht auf die preußischen Staaten, Berlin/Stettin 1829, S. 98 – 103; W. Neugebauer, Politischer Wandel … (s. Anm. 18), S. 131 ff.; H. C. Johnson, Frederick … (s. Anm. 476), S. 63 f.; A. B. B., 9, S. 559 ff., Nr. 308. 490 W. Gundlach, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 488), S. 10 ff., S. 15 – 20, S. 23, S. 77 Anm. 42 und passim. 491 O. Hintze, Einleitende Darstellung … (s. Anm. 417), S. 333; Horst Mçller, ømterkuflichkeit in Brandenburg-Preußen im 17. und 18. Jahrhundert, in: Klaus Malettke (Hg.), ømterkuflichkeit. Aspekte sozialer Mobilitt im europischen Vergleich (17. und 18. Jahrhundert). Internationales Colloquium in Berlin (1.–3. November 1978) … (= Einzelverçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, 26), Berlin 1980, S. 156 – 176, hier S. 157, S. 161 f.; vgl. allgemein Martin Gçhring, Die ømterkuflichkeit im Ancien r¤gime (= Historische Studien, 346), Berlin 1938 – zum franzçsischen Vergleichsfall vom 16. bis zum 18. Jahrhundert.

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nur selten aber Neues aus wilder Wurzel schuf, respektierte er durchaus auch Traditionen. Neben der modernen Kommissariatsverwaltung, die in die Generaldirektoriums- und Kammerveradministration eingegangen war, bestanden die alten traditionalen territorialen Regierungskollegien fort, und zwar als Gerichts- und Konsistorialstellen. Sie wurden nicht etwa beseitigt, sondern so auf fîr den Militr- und Finanzstaat eher sekundre Felder abgedrngt, wie wir es auf der Zentralebene beim Geheimen Rat geschildert haben.492 Auf dem platten Land blieben halbstndische Amtstrger, die Landrte, das wichtigste Instrument des monarchischen Regiments – aber wir werden bei der nheren Betrachtung ihrer stndischen Seite dann erkennen, daß hier die Grenzen des Absolutismus dem Amt gleichsam inhrent waren. Der einzelne Landrat war ja immer zugleich Amtstrger im Staat und Vertrauensmann der Stnde des jeweiligen Kreises, wenngleich Friedrich Wilhelm des çfteren das Wahlrecht beziehungsweise dasjenige der Landratsprsentation nicht anerkannt hat. Das Landratsinstitut wurde, von der Mark Brandenburg ausgehend, dann unter Friedrich Wilhelm I. auf andere Provinzen îbertragen, ein Prozeß, der bis 1740 wesentliche Fortschritte machte, aber erst in den fînfziger Jahren zum Abschluß gebracht wurde. Er ging einher mit der Einrichtung neuer Verwaltungs-Kreise als administrativ-stndische Grundeinheiten des platten Landes. In Pommern gingen der neuen Landesgliederung Verhandlungen mit den Stnden voraus. In einigen Fllen wurden die Kreise so geschnitten, daß sie mit dem Besitz großer Adelsfamilien identisch waren; hier war es denn nur logisch, daß das Landratsamt gewissermaßen erblich in der Hand der betreffenden Familien lag. øltere Traditionen der Landesgliederungen blieben gleichsam unter der Patina einer neuen, monarchischen Verwaltungsgliederung erhalten, die also keinen revolutionren Bruch mit lteren Herrschaftstraditionen bewirkt hat beziehungsweise bewirken wollte. Der Landrat leitete die Kontributionsverwaltung, weiterhin z. B. auch die Marsch- und Polizeisachen, was îbrigens zeigt, daß er in der Tradition der Kreiskommissare des 17. Jahrhunderts stand.493 Es ist eine auffllige Tatsache, daß dieser in das 17. Jahrhundert verweisende Traditionsbestand sogar auf demjenigen Feld staatlich-monarchischer Ttigkeit recht stark gewesen ist, auf dem Friedrich Wilhelm I. in geradezu sprichwçrt492 O. Hintze, Erster Kçnig … (s. Anm. 198), S. 318 f., S. 323, S. 340, S. 348 f., u. ç.; W. Neugebauer, Absolutistischer Staat … (s. Anm. 54), S. 88 ff. 493 O. Hintze, Landratsamt … (s. Anm. 110), hier S. 190 – 194, S. 201 ff.; L. Tîmpel, Einheitsstaat … (s. Anm. 210), S. 132 ff., S. 161 ff.; Klaus Vetter, Kurmrkischer Adel und preussische Reformen (= Verçffentlichungen des Staatsarchivs Potsdam, 15), Weimar 1979, S. 82 – 85; Ders., Zusammensetzung, Funktion und politische Bedeutung der kurmrkischen Kreistage im 18. Jahrhundert, in: Jahrbuch fîr Geschichte des Feudalismus 3 (1979), S. 393 – 415, hier S. 396 f.; G. Vogler, Absolutistisches Regiment … (s. Anm. 181), S. 216; Pommern: G. Heinrich, Dewitz … (s. Anm. 244), S. 111; B. Schulze, Verwaltungsbezirke … (s. Anm. 486), S. 6 f., ferner S. 1 ff.

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licher Weise ein exeptionelles Interesse an den Tag legte, natîrlich auf dem Gebiet des Militrs, fîr das rund fînf der sieben Millionen Taler jhrlicher Staatseinnahmen vor 1740 ausgegeben wurden.494 Zwar wurde unter dem neuen Kçnig nun das traditionelle Milizsystem – bis auf unbedeutende stdtische Reste – aufgehoben.495 In Brandenburg wurde die bloße Verwendung des Wortes „Miliz“ bei Strafe verboten. Nicht auf die sofortige Heeresvermehrung um immerhin 9.000 Mann im Jahre 1713 kommt es an, sondern darauf, wie Friedrich Wilhelm aus in der Praxis entwickelten lteren Anstzen heraus dasjenige Militrsystem geformt hat, das dann auch auf dem Gebiet der Heeresorganisation als preußischer Typus bis zur Militrreform eines Scharnhorst und eines Boyen Bestand gehabt hat. Da war zunchst die Praxis der Enrollierung, mit der die potentielle Mannschaft eben bei der alten Miliz listenmßig erfaßt worden war. Diese ˜bung ist in der Mark und im Herzogtum Preußen im 17. Jahrhundert und um 1700 îblich gewesen.496 Das Heer des Großen Kurfîrsten war noch ganz durch „Werbungen“ zusammengebracht worden. Freilich waren aus dem Inland schon damals Klagen îber gewaltttige ˜bergriffe laut geworden. Werbung fand in den Territorien des Hohenzollern und im Ausland statt. Zur besseren Ordnung und Organisation der einheimischen Rekrutierung wurden seit den 1690er Jahren „Werbebezirke“ geschaffen. „Damit ist das Territorialsystem zur Ergnzung des Stehenden Heeres“ eingefîhrt gewesen; „hierauf fußend konnte Friedrich Wilhelm I. spter die Kantoneinteilung des Staates einrichten.“497 Territorialsystem und Enrollierung waren also bereits prinzipiell bekannt; in den 1720er Jahren haben dann auch regulre Regimenter begonnen, ihre potentielle, d. h. fîr die sptere Indienststellung vorgesehene Mannschaft zu enrollieren. Ferner ist das – stndische – Prinzip der Exemtion schon vor 1713 bekannt gewesen; Personen, die das Privileg des Bîrgerrechts besaßen, ferner auf dem Lande „Possesionierte“ und einige andere Personengruppen mehr, galten als von der Werbung freigestellt. Alsbald nach dem Regierungsantritt wurden auch die gesuchten Wollarbeiter als werbungsfrei erklrt, seit 1740 hatte ganz Berlin, andere Stdte und bestimmte Gebiete dieses be494 G. Schmoller, Verfassungs-, Verwaltungs-, Finanzgeschichte … (s. Anm. 466), S. 112; O. Hintze, Hohenzollern … (s. Anm. 29), S. 299. 495 G. Schmoller, Entstehung des preußischen Heeres … (s. Anm. 271), S. 276; C. Jany, Lehndienst … (s. Anm. 90), S. 29 f.; J. Schulze, Landesaufgebot … (s. Anm. 94), S. 80; Reste: vgl. die Vortragsnotiz von (E.) Schnackenburg, in: ForschBrandPrG 9 (1896), Sitzungsberichte S. 588 f.: Vermehrung: C. Hinrichs, Regierungsantritt … (s. Anm. 420), S. 130. 496 O. Meinardus, Protokolle … (s. Anm. 105), 5, S. 259 f., Nr. 222; R. Frhr. von Schroetter, Ergnzung … (s. Anm. 272), S. 429, das Folgende S. 403 – 406, S. 457; H. von Gansauge, Das brandenburgisch-preußische Kriegswesen um die Jahre 1440, 1640 und 1740, Berlin/Posen/Bromberg 1839, S. 93 ff. 497 So jedenfalls R. Frhr. von Schroetter, Ergnzung … (s. Anm. 272), S. 407.

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gehrte Vorrecht, wie auch (seit 1769) alle Arbeiter an Glashîtten sowie Eisenund Kupferhmmern. Und schließlich war bereits um 1700 die Mçglichkeit, Soldaten auf Zeit zu beurlauben – und damit die Lçhnung einzusparen – ausgebildet.498 Alle diese Instrumente dienten dazu, im ressourcenarmen Preußen eine mçglichst zahlreiche und schlagkrftige Truppe mit den beschrnkten materiellen Mçglichkeiten im Staat und seinen Regionen in Einklang zu bringen.499 Diese Aufgabe wurde angesichts der quantitativen Ausweitung nach 1713 um so dringender. Die îbergroße Last, die auf dem Lande und auf dem einzelnen Soldaten ruhte, suchte in anfangs erschreckend hohen Desertionszahlen und in mancherlei lndlichen Widerstandsaktionen gegen die Rekrutierungsmaßnahmen ein Ventil. Objektive Grenzen wurden dann sichtbar, wenn die zur Fahne gepressten Mnner als Arbeitskrfte auf dem Lande fehlten oder wenn sie aus Furcht, zur Waffe zu mîssen, das Land verließen. Es kam also darauf an, den gewissermaßen îberschießenden, kontraproduktiven Druck, der von der Rekrutierungspraxis, zumal in ihrer gewaltsamen Variante, ausging, abzubauen, d. h. gleichsam die wilde Werbekonkurrenz zwischen den Regimentern zu beenden. Die Systematisierung der bisherigen Praxis mit den Charakteristika von Territorialsystem, Enrollierung, zeitweiser Beurlaubung und sozialer Exemtion ist dann durch den Kçnig in mehreren Ordern beziehungsweise Dekreten des Jahres 1733 erfolgt, d. h. noch nicht in einem umfassend kodifizierenden Kantonreglement. Die Regimenter erhielten feste Werbebezirke fîr die eigene Ergnzung zugewiesen; in der Mark Brandenburg kamen auf ein Infanterieregiment 5.000, auf ein Kavallerieregiment 1.800 Feuerstellen, doch variierten die Zahlen von Provinz zu Provinz. Die Artillerie ergnzte sich aus den Stdten. Daneben blieb die Auslandswerbung bestehen; um 1740 machten Nichtpreußen rund ein Drittel der Soldaten aus; spter ist diese Rate noch gesteigert worden.500 Der Militrdienst war in der Regel lebenslang, allenfalls 498 C. Jany, Kantonverfassung … (s. Anm. 273), S. 225, S. 227 ff., S. 238 ff.; Ders., Armee … (s. Anm. 40), S. 358; Eugen von Frauenholz, Das Heerwesen in der Zeit des Absolutismus (= Entwicklungsgeschichte des deutschen Heerwesens, 4), Mînchen 1940, S. 20; F. Wolters, Finanzen … (s. Anm. 132), S. 120; Exemtion: R. Frhr. von Schroetter, Ergnzung … (s. Anm. 272), S. 456 f., Beurlaubung: S. 420; Kurt Hinze, Die Arbeiterfrage zu Beginn des modernen Kapitalismus in Brandenburg-Preussen 1685 – 1806. Bibliographisch verbesserte, mit einem Registeranhang versehene zweite Auflage, mit einer Einfîhrung von Otto Bîsch (= Verçffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin beim Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universitt Berlin, 9, ND 1), Berlin 1963, S. 221 ff.; Hartmut Harnisch, Preußisches Kantonsystem und lndliche Gesellschaft. Das Beispiel der mittleren Kammerdepartements, in: Bernhard R. Kroener / Ralf Prçve (Hg.), Krieg und Frieden. Militr und Gesellschaft in der Frîhen Neuzeit, Paderborn u. a. (1996), S. 137 – 165, S. 142 f. 499 C. Jany, Lehndienst … (s. Anm. 90), in: ForschBrandPrG 8, S. 444. 500 Ders., Kantonverfassung … (s. Anm. 273), S. 229, S. 234 f., S. 238 – 245; H. von Gansauge, Kriegswesen … (s. Anm. 496), S. 232 – 239; E. von Frauenholz, Heer-

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verkîrzt durch Invaliditt, aber nach der ein- bis zweijhrigen Rekrutenzeit auf wenige Monate im Jahr beschrnkt. Nach 1792 wurde die Dienstzeit auf maximal 20 Jahre reduziert.501 Die vom Lande gezogenen Rekruten standen also dort als Arbeitskrfte weiterhin zur Verfîgung und Soldaten aus Stdten konnten dorthin als „Freiwchter“ beurlaubt werden und sich in der Urlaubszeit etwa als Handwerker verdingen. Angesichts der Vorzîge großer Leute bei der Kampf- und Waffentechnik dieser Zeit spielte die Kçrperhçhe bei der tatschlichen Auswahl der jungen Leute aus dem Nachwuchs des Kantons eine ganz wesentliche Rolle. Die soziale Hrte des altpreußischen Militrsystems mit seinen drakonischen Strafen bei Desertionen wurde somit graduell gemildert, freilich doch nur gemildert; der auffllige Rîckgang der Desertionen ist dafîr ein Indiz.502 Die Verzahnung von Militr und zivilem Lebensalltag, sinnfllig im System der Beurlaubungen, schuf freilich permanente Alltagsprobleme. Die Regel, daß die Soldaten ins Bîrgerquartier gelegt wurden, schuf fîr die Betroffenen oft harte Friktionen, zumal die Militrgerichtsbarkeit fîr den Soldaten etwa im stdtischen Leben auch Privilegiencharakter annehmen konnte. In den Garnisonstdten war die Position des Kommandeurs zentral, bis hin zur Festsetzung der Lebensmittelpreise und der Ordnung der stdtischen Polizeiangelegenheiten.503 Erst recht war die Stellung des Offiziers in der Truppe schlechterdings îberragend. „˜berhaupt muss der gemeine Soldat vor dem Officiere mehr Furcht als vor dem Feinde haben“, so hat Friedrich der Große kurz nach dem Ende des Siebenjhrigen Krieges im Mai 1763 formuliert und postuliert.504 Auch darin

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wesen … (s. Anm. 498), 4, S. 243 – 249; Erwin Dette, Friedrich der Große und sein Heer, Gçttingen 1914, S. 8 – 19; Hans Helfritz, Geschichte der Preußischen Heeresverwaltung, Berlin 1938, S. 151, S. 156 f., S. 165 ff.; Otto Bîsch, Militrsystem und Sozialleben im Alten Preußen 1713 – 1807. Die Anfnge der sozialen Militarisierung der preußisch-deutschen Gesellschaft. Mit einer Einfîhrung von Hans Herzfeld (= Verçffentlichungen der Berliner Historischen Kommission beim Friedrich-MeineckeInstitut der Freien Universitt Berlin, 7), Berlin 1962, S. 13, S. 15, S. 17 – 20; Auslnderanteil: Curt Jany, Der Siebenjhrige Krieg, Ein Schlusswort zum Generalstabswerk, in: ForschBrandPrG 35 (1923), S. 161 – 192, hier S. 187. C. Jany, Kantonverfassung … (s. Anm. 273), S. 249, S. 251 – 263; M. Lehmann, Werbung … (s. Anm. 272), S. 138 ff., S. 144, S. 146 f.; H. von Gansauge, Kriegswesen … (s. Anm. 496), S. 96 – 100; C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 679 – 700. H. Harnisch, Kantonsystem … (s. Anm. 498), S. 142; C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 684 Anm. 133. Otto Bîsch, Garnisonen und Garnisonsorte 1640 – 1806 (= Historischer Handatlas von Brandenburg und Berlin, Lfg. 17), Beiheft, (Berlin 1966); unpag.: (Anonym), Was waren wir, was sind wir, was wird aus uns werden? Freimîthig beantwortet von einem Preußen, in: Minerva. Ein Journal historischen und politischen Inhalts, Heft Oktober 1810, S. 104 – 146, hier S. 134 f.; A. B. B., 6, 2. Teil, S. 74. (Adalbert) von Taysen, Friedrich der Grosse. Militrische Schriften (= Militrische Klassiker des In- und Auslandes, 1), Dresden 1891, S. 576.

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blieben Traditionen noch lebendig, daß der Kompaniechef Reste des Militrunternehmers lterer Zeiten weitertrug. Die Kompanie als kleiner Wirtschaftsbetrieb und als Finanzeinheit, dessen Chef der Inhaber war, der, wenn der Kompaniekommandeur wechselte, seinem Vorgnger die Waffen der Kompanie abkaufen mußte – das war ein Charakteristikum sehr vormoderner Verhltnisse und Traditionen, die sich auch noch in der Zeit Friedrich Wilhelms I. bewahrt hatten,505 wiederum mit manchen zeitgençssischen europischen Parallelen. Die Exemtionen, Sçhne von Adel, von Offizieren, vermçgender Bîrgern und Bauern betreffend, gehçren gleichfalls zu den vormodernen Charakteristika, die das altpreußische Heer, das um 1740 rund 76.000 Mann zhlte, von den modernen Armeen der allgemeinen Wehrpflicht unterscheidet. Vielleicht wird man aber zu den Traditionsbestnden in der Zeit Friedrich Wilhelms I. auch patriarchalische Elemente zu rechnen haben, etwa wenn Offiziere, die ganz evident vom Pietismus beeinflußt worden waren, sich um das Seelenheil der Soldaten oder um dasjenige der Soldatenkinder bemîhten. Das Potsdamer Militrwaisenhaus, entstanden auf Initiative Friedrich Wilhelms I. nach dem direkten Vorbild Halles, war nur das prominenteste Element dieser Komponente des preußischen Militrs in der Zeit dieses von seiner Religiositt angetriebenen Aktivittsmonarchen.506 Wie die Akten zeigen, war das keine Legende. Aber ohne Zweifel wurde die preußische Armee alsbald fast zum Mythos, in Preußen und bei seinen Gegnern, und daran hat sich bis zur Gegenwart eigentlich erstaunlich wenig gendert. Preußisches Militr oder gar Militarismus werden auf mçgliche soziale Grundlagen und ihre lngerfristigen Folgen îberprîft. Trotz schwerer Quellenverluste des Jahres 1945 fîr diesen Kernbereich preußischer Strukturgeschichte, kommt die Forschung îberraschenderweise auf diesem Sektor in jîngerer Zeit besonders gut voran. Manche Legende, auch solche im Gewande einer kritischen Sozialgeschichte aus den letzten sechs Jahrzehnten wird an den Quellen nunmehr revidiert – und hlt nicht stand. Vor allem mîssen wir nach den Resultaten der neuesten Forschung allzu einfache Erklrungen aufgeben, nach denen die Agrarstruktur, besonders die Gutsherr505 R. Frhr. von Schrçtter, Offizierskorps … (s. Anm. 276), ForschBrandPrG 26, S. 494 ff.; C. Jany, Kantonverfassung … (s. Anm. 273), S. 246 f., das Folgende S. 245, S. 264; O. Bîsch, Militrsystem … (s. Anm. 500), S. 113 – 134, S. 140. 506 Wolfgang Neugebauer, Truppenchef und Schule im Alten Preußen. Das preußische Garnison- und Regimentsschulwesen vor 1806, besonders in der Mark Brandenburg, in: Eckart Henning / Werner Vogel (Hg.), Festschrift der Landesgeschichtlichen Vereinigung fîr die Mark Brandenburg zu ihrem hundertjhrigen Bestehen 1884 – 1894, Berlin 1984, S. 227 – 263, hier S. 231 f., S. 239, S. 248, u. ç.; Geschichte des Kçniglichen Potsdamschen Militrwaisenhauses von seiner Entstehung bis auf die jetzige Zeit. Herausgegeben zur hundertjhrigen Stiftungsfeier der Anstalt im November 1824, Berlin/Posen 1824, ND Naufahrn/Percha 1984, S. 3 – 76; C. Hinrichs, Preußentum und Pietismus … (s. Anm. 410), S. 166 f.; C. Jany, Armee … (s. Anm. 40), 1, S. 721.

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schaft zu den wesentlichen Voraussetzungen der spezifischen Strukturprgung vom Typ der Kantonverfassung Friedrich Wilhelms I. – und damit auch seines Nachfolgers – gehçrt habe. Daß das Kantonsystem an Rhein und Weser nur kurze Zeit bestanden hat oder stark modifiziert wurde, kann nicht mehr auf die grundherrschaftliche Agrarstruktur zurîckgefîhrt werden.507 Wir sehen heute, daß das Kantonsystem sowohl auf dem Gebiet der Guts- als auch der Grundherrschaft mçglich und lebensfhig war. Neuerdings werden gerade den Thesen von der allseitigen Militarisierung des alten Preußen gewichtige Argumente entgegengehalten; die Personalidentitt von Gutsherr und Offizier ist mit empirischen Grînden angezweifelt worden.508 Allenfalls hat der Gutsbetrieb fîr den zahlreichen kleinen Adel, der in die Offiziersstellen einrîckte, eine materielle Basis geboten. Aber jede Kontinuittstheorie von den Zeiten Friedrich Wilhelms I. bis in das 19., ja 20. Jahrhundert mîßte erst den Beweis erbringen, daß die vormoderne Heeresverfassung um 1740 in wesentlichen Elementen die Zeit der Heeresreform nach 1808/14 îberstanden htte, die doch mit den Prinzipien von Kantonsystem und Auslandswerbung samt Exemptionen brach. Wir haben in Staatsorganisation, Verwaltung und Heeresverfassung immer wieder starke Traditionalitten bilanziert, die auf die spezifischen Bedingungen des 18. Jahrhunderts verweisen. Friedrich Wilhelm I. hat unter diesen Voraussetzungen auf zivilem und auf militrischen Gebiet nicht eigentlich Strukturen neu geschaffen, wohl aber geformt und zu ungewçhnlicher Effizienz bei geringen materiellen Voraussetzungen gesteigert. Dieses Fazit ergibt sich aus unserer Betrachtung dieses Kçnigs unter der Fragestellung von Strukturen und Persçnlichkeit in der Geschichte. 507 Jîrgen Kloosterhuis, Bauern, Bîrger und Soldaten: Grundzîge der Sozialisation des Militrsystems im preußischen Westfalen, 1713 – 1803, in: Ders. (Bearb.), Bauern, Bîrger und Soldaten. Quellen zur Sozialisation des Militrsystems im preußischen Westfalen 1713 – 1803 (= Verçffentlichungen der Staatlichen Archive des Landes Nordrhein-Westfalen, Reihe C, 29), S. VII-XXXII, hier S. XI f., S. XVI f.; vgl. Ders., Zwischen Aufruhr und Akzeptanz. Die Ausformung und Einbettung des Kantonsystems in die Wirtschafts- und Sozialstruktur des preußischen Westfalen, in: B. R. Kroener / R. Prçve (Hg.), Krieg und Frieden … (s. Anm. 498), S. 167 – 190, hier S. 175 ff.; anders noch O. Bîsch, Militrsystem … (s. Anm. 500), S. 48 ff.; vgl. Peter Burschel, Von Prîgel und hçherer Kultur. ˜ber eine Quellensammlung zur Sozialgeschichte des preußischen Militrs, in: ForschBrandPrG NF 3 (1993), S. 251 – 254, hier S. 252 (zu den Forschungen von Kloosterhuis). 508 H. Harnisch, Kantonsystem … (s. Anm. 498), S. 140, S. 146 f., S. 164 f.; Frank Gçse, Zwischen Garnison und Rittergut. Aspekte der Verknîpfung von Adelsforschung mit Militrgeschichte am Beispiel Brandenburg-Preußens, in: Ralf Prçve (Hg.), Klio in Uniform? Probleme und Perspektiven einer modernen Militrgeschichte der Frîhen Neuzeit, Kçln/Weimar/Wien 1997, S. 109 – 142, hier S. 121 ff.; Peter H. Wilson, Social Militarization in Eighteenth-Century Germany, in: German History 18 (2000), S. 1 – 39, hier S. 4 f., S. 21 – 33.

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§ 7 Der Merkantilismus in Brandenburg-Preußen bis 1740 Diese Problemstellung lßt sich gleichfalls auf denjenigen Bereich der sowohl gesellschaftlichen als auch staatlichen Existenz Brandenburg-Preußens in Anwendung bringen, den man im allgemeinen als Merkantilismus zu bezeichnen pflegt. Dieser Begriff, so ließe sich zeigen, ist ja als Epochenbegriff gerade am preußischen Beispiel geprgt worden, doch ist davor zu warnen, den Merkantilismus im allgemeinen und denjenigen in Preußen im besonderen allzu schematisch in einen linearen Phasenverlauf von Fortschritten einzufîgen,509 jedenfalls nicht ungeprîft. Gewiß konnte die staatliche Wirtschaftspolitik im 18. Jahrhundert an die Manufakturentwicklung des spten 17. Jahrhunderts anknîpfen, sowohl was die Manufakturpolitik anging, als auch etwa im Hinblick auf die Siedlungspolitik, und es ist unverkennbar, daß die Ansiedlung der Hugenotten im spten 17. Jahrhundert einen temporren Schub in der Wirtschaftsentwicklung der mittleren Provinzen zur Folge hatte.510 Die Importierung von hochqualitativen und von Luxusgewerben korrespondierte mit der Entwicklung einer hçfischen Gesellschaft in den beiden Jahrzehnten vor und nach 1700, in denen mit Absatz und Nachfrage noch am ehesten zu rechnen war, wenngleich es die neuen Branchen in Brandenburg-Preußen nie ganz leicht gehabt haben. Der Regierungsantritt Friedrich Wilhelms I., dessen zsurhafte Bedeutung auf den Gebieten der politischen Strukturen (soeben) untersucht worden ist, bedeutete in dieser Hinsicht fîr die çkonomischen, zumal fîr die Nachfrageverhltnisse einen tiefen Schnitt. Denn die Umstellung von ostentativer Dauerreprsentation aus der Zeit der Kronpolitik Friedrichs I. auf die Praktik fallweisen Prunks, wie wir ihn schon fîr Friedrich Wilhelm I. geschildert haben, hatte ja nicht nur Folgen fîr Hofgesellschaft und Staatsfinanz. Gerade im Berliner Raum war damit eine tiefe wirtschaftsgeschichtliche Zsur 509 Aus der Lit. als Klassiker Gustav Schmoller, Das Merkantilsystem in seiner historischen Bedeutung: stdtische, territoriale und staatliche Wirtschaftspolitik, zuerst 1884, wieder in: Ders., Umrisse … (s. Anm. 176), S. 1 – 60, bes. S. 42 ff.; vgl. damit grundstzlich Walter Eucken, Die Grundlagen der Nationalçkonomie (= Enzyklopdie der Rechts- und Staatswissenschaften), Berlin/Heidelberg/New York 81965, S. 45, S. 248 ff.; Fritz Blaich, Die Epoche des Merkantilismus (= Wissenschaftliche Paperbacks, 3), Wiesbaden 1973, S. 1 – 10, Preußen: S. 170 ff. – jeweils mit Lit.; Ingomar Bog, Der Merkantilismus in Deutschland, zuerst 1961, wieder in: Ders., Wirtschaften in geschichtlichen Ordnungen, Idstein 1986, S. 40 – 57, bes. S. 42 ff.; zuletzt spezieller Burkhard Nolte, Merkantilismus und Staatsrson in Preußen. Absicht, Praxis und Wirkung der Zollpolitik Friedrichs II. in Schlesien und in westflischen Provinzen (1740 – 1786) (= Materialien und Studien zur Ostmitteleuropa-Forschung, 10), Marburg 2004, S. 8 ff. 510 Vgl. oben bei Anm. 176 und 409 und S. Jersch-Wenzel, Juden und „Franzosen“ … (s. Anm. 409), S. 69 – 87, bes. S. 73 f., S. 80 ff.

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verbunden, eine, die fîr den preußischen Merkantilismus und die Staatswirtschaft im 18. Jahrhundert große Signifikanz besitzt. Die Reduktion des Hofes mit dem Herrscherwechsel des Jahres 1713, die z. T. drastische Reduzierung der Beamtengehlter u.a.m., bei gleichzeitiger Ausweitung der Armeeausgaben hatten wirtschaftsstrukturelle Folgen.511 Ohne Widerspruch aus der Berliner Amtstrgerhierarchie ist dieser Schritt nicht abgegangen; es war der Proteg¤ des neuen Monarchen, der Minister Grumbkow, der in einer Immediatsupplik Friedrich Wilhelms I. vor der Radikalitt der Maßnahmen warnte, indem er die Verhltnisse bisher, den Verbrauch und seine wirtschaftlich stimulierenden Folgen, die Anziehungskraft auf auswrtige Besucher, auch den Wert hçfischen Kunstkonsums hervorhob. Der reiche Hofstaat habe die Staatseinnahmen aus der Akzise angehoben und fîr Auftrge an das Handwerk gesorgt, damit auch die „Circulation des Geldes“ befçrdert. Diese Quelle sei nun „verstopfet“, und deshalb bestînde nun die ernste Gefahr, daß die Steuereinnahmen des Staates zurîckgingen. Aus der unmittelbaren Umgebung des Monarchen wurde also die Alternative zu dessen ersten Regierungsmaximen programmatisch formuliert: Der Hofstaat solle nicht verkleinert, er solle vergrçßert werden, die Kînstler solle man halten, die Bauttigkeit in der Residenz dîrfe nicht eingeschrnkt werden. Solche Demarchen hatten keine Chancen, und es ist belegbar, daß sich Friedrich Wilhelm I. sehr wohl bewußt war, daß er das Ruder hart herumwarf; wir sehen schon, daß er damit also sehr persçnlich und unmittelbar wirksam die staatlichen Wirtschaftsstrukturen prgte. Vielleicht war dies auf keinem Gebiete so deutlich und so nachhaltig wie auf dem çkonomischen. Aus der Distanz eines Vierteljahrhunderts hat er selbst den strukturprgenden Umbruch am Beispiel Berlins przis beschrieben. Es sei ja „bekannt, daß die Stadt Berlin zu einer Hofhaltung angeleget ist, die aber anno 1713 abgeschaffet worden; also S. K. M. auf andere Mittel gedacht, diese Stadt zu souteniren und in specie der Armuth Unterhalt zu schaffen, da dann kein ander Mittel dazu gewesen, als die Soutenirung der Manufacturen und die Errichtung des Lagerhauses, daraus sehr viele Leute ihren Verdienst bekommen. Denn weil alle Mundirungstîcher der Armee hier gemachet werden mîssen, so hat die Armuth durch Wollkmmen und Spinnen und dergleichen ihren Unterhalt dabei gefunden, welches auch viele Jahre so geschehen.“512

511 C. Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 198), 1938, S. 40 f.; W. Neugebauer, Berlin-Potsdam-Wusterhausen … (s. Anm. 419), S. 237 ff.; H. Rachel / P. Wallich, Berliner Großkaufleute … (s. Anm. 49), 2, S. 211; Grumbkows Immediateingabe: A. B. B., 1, S. 461 – 474, Nr. 159 (28. Mai 1713). 512 A. B. B., 5, 2. Hlfte, S. 541 f., Nr. 321 (28. August 1738), auch mit scharfer Kritik an der Aufweichung dieser Wirtschaftsprinzipien.

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Das, was also zunchst eintrat, war eine bewußt in Kauf genommene Wirtschaftskrise im Residenzraum der mittleren Provinzen; Firmenzusammenbrîche, Verminderung von Handel und Kredit, wohl auch ein mehrjhriger Bevçlkerungsrîckgang gehçrten zu den Folgen.513 Daß zugleich die çstlichsten Gebiete des Staates sich in einer – wohl in der Tat – dramatischen Wirtschaftslage befanden, wird noch zu schildern sein. Mit der Begrîndung des Lagerhauses, der der Monarch also eine sehr strategische Bedeutung zumaß, wurden die Gegenmaßnahmen eingeleitet, die also in unmittelbarem Konnex mit dem Ausbau der preußischen Armee gestanden haben. Bei dieser Umstellung von Luxusproduktion auf Heeresbedarf, und zwar mit – in heutigen Begriffen – arbeitsmarktpolitischen Absichten, hat sich Friedrich Wilhelm zunchst des Wissens und wohl auch der finanziellen Mçglichkeiten des Ministers Kraut(t) bedient, der ja vor 1713 an der Finanzierung des Hofbedarfs – und auch des Schlossbaus – vorzîglich verdient hatte. Die Grîndung dieses Zentralbetriebes fîr das „Heeresbekleidungswesens“ ist nach 1713/14 abgeschlossen worden, 1715 konnte die Produktion in der Berliner Klosterstraße aufgenommen werden. Die Herstellung von Wollstoffen konnte dabei auf sichere Massenabnahme rechnen, denn anfangs wurden dem Soldaten alle zwei Jahre, seit 1724 sogar jhrlich eine neue Uniform gegeben. Im Jahre 1716 war das Lagerhaus bereit, die „erste vollstndige Heereslieferung“ zu stellen.514 Die Kapazitt dieses Großbetriebes, der 1738 die nach den Maßstben der Zeit horrende Zahl von 4.730 Arbeitern beschftigte, war bald groß genug, um auch fîr die Zivilnachfrage zu produzieren. Im Jahre 1718 konnte – ganz den Grundstzen merkantiler §konomie entsprechend – der Gebrauch feiner auslndischer Tuche verboten werden, im folgenden Jahr erging der Erlaß, daß alle auswrtigen Textilien ausgesperrt werden sollten; fîr feinere Tuche erhielt das Berliner Lagerhaus unter Friedrich Wilhelm I. sogar ein fçrmliches Monopol. Nach dem Tode Krautts ist das Lagerhaus als Staatsbetrieb fortgefîhrt worden, und zwar unter der Regie des Potsdamer Militrwaisenhauses. Auch darin kam die Verknîpfung von Wollindustrie und Militrleben zum Ausdruck, daß mit dem Lagerhaus Arbeitsmçglichkeiten fîr das mit dem Stehenden Heer erwachsende 513 H. Rachel / P. Wallich, Berliner Großkaufleute … (s. Anm. 49), 2, S. 211; Helga Schultz, Berlin 1650 – 1800. Sozialgeschichte einer Residenz. Mit einem Beitrag von Jîrgen Wilke, Berlin 1987, S. 97 f.; Felix Escher, Die brandenburgisch-preußische Residenz und Hauptstadt Berlin im 17. und 18. Jahrhundert, in: Wolfgang Ribbe (Hg.), Geschichte Berlins, 1: Von der Frîhgeschichte bis zur Industrialisierung, Mînchen 1987, S. 343 – 403, hier S. 382. 514 Carl Hinrichs, Das Kçnigliche Lagerhaus in Berlin, in: ForschBrandPrG 44 (1932), S. 46 – 69, bes. S. 47 – 53, das Zitat S. 53; Ders., Die Wollindustrie in Preußen unter Friedrich Wilhelm I. (= Acta Borussica …), Berlin 1933, auch als Nachdruck mit einer Einleitung von Stefi Jersch-Wenzel, Frankfurt am Main 1986/87, S. 139 ff.; Arbeiter: K. Hinze, Arbeiterfrage … (s. Anm. 498), S. 233.

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Militrproletariat, d. h. fîr Soldatenfrauen und -kinder, entstanden. Denn zur zentralen Komponente dieser Wollmanufaktur mit Weberei, Frberei und Appretur kam die dezentrale der Heimarbeit; 1740 wurden 800 Spinner gezhlt, die im Lande fîr das Lagerhaus arbeiteten, im Jahre 1774 waren dies schon 1.500.515 Daß gerade die Wollindustrie ein, wenn nicht das Zentrum der staatlichen Wirtschaftspolitik geworden ist, hatte nicht zuletzt den Grund, daß in dem ressourcenarmen Staat mit der Wolle einer der wenigen Rohstoffe zur Verfîgung stand. Es lag daher ganz in der praktischen Logik des preußischen Merkantilismus, daß, nachdem die Verarbeitungskapazitten in den ersten Jahren Friedrich Wilhelms entwickelt worden waren, die Ausfuhr von Rohwolle allgemein verboten worden ist. Dieser Befehl mußte allerdings mehrmals wiederholt werden; 1723 wurde das Wollausfuhrverbot aus Kurmark, Magdeburg und Halberstadt und das Gebot, den Rohstoff dem Berliner Lagerhaus anzubieten, mit der Androhung der Todesstrafe bei Zuwiderhandeln bekrftigt,516 wenngleich diese wohl nie vollstreckt worden ist. Die Wiederholungen der Wollausfîhrverbote weisen – auch in diesem speziellen Falle – eher darauf hin, daß immer wieder Bedarf bestand, diese Verfîgungen in Erinnerung zu rufen. An Widerstnden hat es also nicht gefehlt, auch nicht an solchen gegen das Lagerhaus, zumal die monopolistische Struktur den privaten (Textil-)Unternehmern und den Stdten ein Stein des Anstoßes gewesen sein mußte. Gleichwohl hat das Lagerhaus Absatzkrisen und Regierungswechsel, wie den von 1740, îberstanden und hat in wechselnder Trgerschaft bis in das 19. Jahrhundert produziert, wenn auch im ausgehenden 18. Jahrhundert schon mit deutlichem Rîckgang.517 Um 1785 sind noch einmal Maxima der Umstze zu bilanzieren. 515 C. Hinrichs, Lagerhaus … (s. Anm. 514), S. 55 ff.; H. Rachel, Berliner Wirtschaftsleben … (s. Anm. 266), S. 122 f.; H. Rachel / P. Wallich, Berliner Großkaufleute … (s. Anm. 49), 2, S. 166 – 184; Harald Reissig, Das Berliner Lagerhaus 1713 – 1816. Zum Einfluß von Regierung und Wirtschaft auf die Entwicklung einer altpreußischen Staatsmanufaktur, in: JbGMitteldtld 29 (1980), S. 68 – 95, hier S. 89. 516 H. Rachel / P. Wallich, Großkaufleute … (s. Anm. 49), 2, S. 172; R. Stadelmann, Friedrich Wilhelm I. … (s. Anm. 421), S. 338 – 341; C. O. Mylius, Corpus … (s. Anm. 72), 5. Tl., 2. Abt., 4. Kap., Sp. 353 – 356, Nr. 80; H(ugo) Rachel, Die Handels-, Zoll- und Akzisepolitik Preußens 1713 – 1740 (= Acta Borussica …) Die einzelnen Gebiete der Verwaltung. Handels-, Zoll- und Akzisepolitik, 2, 2. Hlfte), Berlin 1922, ND Frankfurt am Main 1986/87, S. 47 – 50; C. Hinrichs, Lagerhaus … (s. Anm. 514), S. 54; Ders., Wollindustrie … (s. Anm. 514), S. 58 ff.; (Helga Schultz), Residenzstadt im Sptfeudalismus, in: Ingo Materna u. a., Geschichte Berlins von den Anfngen bis 1945, Berlin 1987, S. 155 – 290, hier S. 241 ff.; noch immer nîtzlich: Moritz Meyer, Die Handwerkerpolitik Kçnig Friedrich Wilhelms I. (1713 – 1740) (= Geschichte der Preussischen Handwerkerpolitik. Nach amtlichen Quellen, 2), Minden i. W. 1888, S. 12. 517 H. Rachel / P. Wallich, Großkaufleute … (s. Anm. 49), 2, S. 184; Widerstnde: A. B. B., 6, 2. Hlfte, S. 74; Ingrid mittenzwei, Friedrich II. von Preußen. Eine Bio-

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Das fîr Jahrzehnte bestehende faktische Inlandsmonopol fîr feine Tuche korrespondierte – zumal nach 1740 – mit mangelnder Konkurrenzfhigkeit im europischen Maßstab. Das schloß allerdings nicht aus, daß in der Zeit Friedrich Wilhelms I. die Textilproduktion auch dazu eingesetzt worden ist, um das merkantilistische Motiv, Fertigwaren zu exportieren, zu fçrdern. Dabei spielten außenpolitische Motive eine erhebliche Rolle, als es in der Mitte der zwanziger Jahre des 18. Jahrhunderts gelang, entsprechende Handelsverbindungen nach Rußland zu knîpfen. Der privilegierte Zusammenschluß mehrerer Berliner Handelshuser, zu denen dann weitere im Lande traten, schuf die Basis der Russischen Kompanie, die îber das eben zu Preußen gekommene Stettin Militrstoffe nach Rußland lieferte. Der Export wurde preußischerseits zollpolitisch massiv gefçrdert. Die Verschlechterung der diplomatischen Beziehungen zu Rußland in den 1730er Jahren einerseits und die îberlegene englische Konkurrenz im Ostseehandel andererseits machten der Russischen Kompanie, fîr die auch außerhalb der Mark Brandenburg gearbeitet werden sollte, noch zu Zeiten Friedrich Wilhelms I. ein Ende. Sie ist nach Kîndigung der Handelsbeziehungen durch Rußland in Folge der Aufhebung des Privilegs nach 1737/38 zum Erliegen gekommen.518 Die Tuch- und Wollindustrie als (ein) Leitgewerbe im preußischen Staat des 18. Jahrhunderts hatte also in Berlin ihr Zentrum, und von hier aus wurde die gesamtstaatliche Wirtschaftspolitik organisiert, wobei die mittleren Provinzen zu einer besonderen Wirtschaftseinheit zusammenzuwachsen begannen.519 Diese Zentralittsstruktur im Gesamtstaat trat bei der Entwicklung der preußischen Rîstungsindustrie besonders markant hervor. War um 1713 eine solche graphie, Kçln 21980, S. 37; Entwicklung im 18. Jahrhundert: H. Reissig, Lagerhaus … (s. Anm. 515), S. 68 – 85, die Grafik S. 75, zuletzt S. 83; Historische Nachricht, von den Haupt-Manufacturen der Tîcher, Hîthe, Strîmpfe und andrer wollenen Waaren in der Churmark, in: Historische politisch-geographisch-statistisch- und militrische Beytrge, die Kçniglich-Preußische und benachbarte Staaten betreffend, 1, Berlin (1781), S. 185 – 210, hier S. 202 ff. 518 Gustav Schmoller, Die russische Compagnie in Berlin. 1724 – 1738. Ein Beitrag zur Geschichte der brandenburgischen Tuchindustrie und des preuß. Exports im 18. Jahrhundert, zuerst 1883, wieder in: Ders., Umrisse … (s. Anm. 176), S. 457