Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte. Französische Verfassungsgeschichte: Von der Mitte des neunten Jahrhunderts bis zur Revolution [Reprint 2019 ed.] 9783486738513, 9783486738506

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Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte. Französische Verfassungsgeschichte: Von der Mitte des neunten Jahrhunderts bis zur Revolution [Reprint 2019 ed.]
 9783486738513, 9783486738506

Table of contents :
VORWORT
NACHTRÄGE
INHALT
Einleitung
I. Periode. Die Zeit des Lehnswesens (843—1180)
1. Kapitel. Entstehung und Bedeutung des Lehnswesens
2. Kapitel. Der Adel und das adelige Lehen
3. Kapitel. Die nichtadeligen Klassen der Landbevölkerung
4. Kapitel. Recht und Gericht
5. Kapitel. Die Lehnsfürstentümer
6. Kapitel. Das Königtum
7. Kapitel. Die Kirche
8. Kapitel. Die Städte
II. Periode. Die Zeit der wachsenden Königsmacht (1180—1437).
1. Kapitel. Der König und seine Beamten
2. Kapitel. Organe der Politik und allgemeinen Staatsverwaltung
3. Kapitel. Recht und Gericht
4. Kapitel. Die Finanzverwaltung
5. Kapitel. Armee und Marine
6. Kapitel. Städte und Zünfte
7. Kapitel. Die Kirche. Die Juden
III. Periode. Die Zeit des absoluten Königtums. (1437—1789)
1. Kapitel. Der König, seine Minister und sein Kat
2. Kapitel. Die Parlamente
3. Kapitel. Die anderen Gerichte und das Recht
4. Kapitel. Die gesetzgebenden Gewalten, Reichs- und Provinzialversammlungen
5. Kapitel. Beamte der Provinzialverwaltung
6. Kapitel. Finanzen und Steuern
7. Kapitel. Armee und Marine
8. Kapitel. Die katholische Kirche
9. Kapitel. Die reformierte Kirche
10. Kapitel. Bevölkerung und Gemeinden in Stadt und Land
Verzeichnis der Autoren
Register

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HANDBUCH DER

MITTELALTERLICHEN UND NEUEREN GESCHICHTE HERAUSGEGEBEN VON

G . v. B E L O W

UND

F. MEINECKE

PROFESSOREN AN DER UNIVERSITÄT FREIBÜRG I.B.

A B T E I L U N G III V E R F A S S U N G , RECHT, ROBERT

WIRTSCHAFT

HOLTZMANN

FRANZÖSISCHE VERFASSUNGSGESCHICHTE VON DER MITTE DES NEUNTEN JAHRHUNDERTS BIS ZUR EEVOLUTION

MÜNCHEN UND BERLIN DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG 1910

FEANZ ö SI S CHE VERFASSUNGSGESCHICHTE VON DEE MITTE DES NEUNTEN JAHRHUNDERTS BIS ZUR REVOLUTION

VON

DR. R O B E R T HOLTZMANN PROFESSOR AN DER UNIVERSITÄT STRASSBURO i. E.

MÜNCHEN UND BERLIN VERLAG VON R. OLDENBOURG 1910

VORWORT. N i c h t ohne Bedenken habe ich mich an die Ausarbeitung des vorliegenden Werkes gemacht. Und wenn ich hervorhebe, daß mein Buch seit mehr als einem halben Jahrhundert die erste allgemeine französische Verfassungsgeschichte in deutscher Sprache ist, so geschieht das weniger aus freudigem Stolz als aus einer gewissen Beklommenheit. Daß sich unsere Anschauungen seit den Werken von Schaeffner und Warnkönig-Stein von Grund aus verändert haben, versteht sich ja von selbst. Doch auch ein Blick auf die französische Literatur wird die Schwierigkeit des Unternehmens bestätigen. Nicht als ob ich gering dächte von der scharfen Forschung und den vortrefflichen Büchern eines Flach, Glasson, Luchaire, Viollet, Esmein u. a. m. A b e r es ist gewiß, daß trotzdem noch viele Fragen aus allen Perioden der französischen Verfassungsgeschichte und insonderheit aus der neueren Zeit einer eingehenden Untersuchung und Durcharbeit harren. Sie alle in dem vorliegenden Abriß gelöst zu haben, wird niemand von mir verlangen. Ich habe vielmehr auch da, wo ich noch mehr zu sagen wüßte, mich in der Regel mit kurzer Zusammenfassung und Andeutung begnügt, in zahlreichen anderen Fällen freilich mich aus sachlichen Erwägungen und in angemessener Rücksicht auf die mir zu Gebote stehende Zeit von vornherein bescheiden müssen. Daß ich das Königtum und seine Institutionen in den Vordergrund gestellt habe, hat nicht nur innere, im Zweck dieses Buches liegende Gründe, sondern auch eine äußere Ursache, die den Stand der fremden und die Möglichkeit der eigenen Forschung betrifft. Denn hinsichtlich der Verfassung der französischen Lehnsfürstentümer ist der Spezialforschung noch ein sehr weites Feld gelassen, sodaß ich mich hier auf einige mehr allgemeine Bemerkungen beschränken mußte. Es ist sehr zu wünschen, daß man in dieser Hinsicht vor allem in Frankreich selbst mit Eifer und Verständnis ans Werk gehe und sich dabei die grundsätzliche Irrigkeit der zumeist üblichen Vermengung lehnsfürstlicher und seigneurialer Institutionen klar vor Augen halte. Das vorliegende Buch jedenfalls

VI

Vorwort.

will eine Verfassungsgeschichte Frankreichs und keine Verfassungsgeschichte der französischen Lehnsfürstentümer sein. Daß ich dagegen aus der Geschichte des weltlichen und des kirchlichen Rechts das wesentlichste mitaufgenommen habe, wird, wie ich hoffe, bei der Wichtigkeit des Gewohnheitsrechts im Mittelalter und der römischrechtlichen Theorien in der Neuzeit nicht beanstandet werden. — Auf die Beigabe von Anmerkungen habe ich nach einigem Schwanken diesmal ganz verzichtet, z. T. in der Erwägung, daß sie so wenig wie der Stand der Probleme einen einheitlichen Charakter tragen würden. Dafür aber habe ich mit Absicht die Literaturangaben recht ausführlich gestaltet und hier, wenn das nötig schien, auch ein kurzes Urteil angefügt oder auf eigene und fremde Rezensionen verwiesen. Jedes Werk ist allerdings grundsätzlich nur einmal angeführt worden, und es empfiehlt sich daher, auch die Angaben verwandter Kapitel, insonderheit bei den späteren Perioden diejenigen der entsprechenden Kapitel früherer Perioden mit zu berücksichtigen. Ich hoffe indes, die Benutzung der Literaturangaben durch das Autorenverzeichnis und durch die Hinweise auf die Literatur (L.) im Register erleichtert zu haben. Straßburg i. E., 3. Januar 1910.

Der Verfasser.

NACHTRÄGE. (Literatur, die während der Drucklegung erschienen ist.)

Zu S. 4, ZI. 8: Hauser, Bd. 2, 1909. » S. 4, ZI. 21 : Lavisse, Bd. 8, 2 [bis 1774], 1909. » S. 5, ZI. 26 v. u. (vor K. v. Kalckstein) : F. Lot u. L. Halphen, Le règne de Charles le Chauve (840 — 877), Bd. 1, 1909 (Biblioth. w. o. 175). — » S. 60, ZI. 7 (vor P. de Tonrtoulon): A. Gaudenzi, Lo svolgimento parallelo del diritto Longobardo e del diritto Romano a Ravenna, Memorie della r. accademia delle scienze dell' istituto di Bologna, Classe di scienze morali Ser. 1, Bd. 1, sezione di scienze giuridiche (1908). — » S. 104, ZI. 2 (vor Minderjährigkeit) : H. Schreuer, Uber altfranzösische Krönungsordnungen, 1909. — > S. 177, ZI. 2 f. Pirenne, Burgund, auch Jahrbuch f. Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Rcich 33 (1909). » S. 224, ZI. 5 v. u. (vor K. Müller): O. Martin, L'assemblée de Vincennes de 1329 et ses conséquences, 1909. > S. 232. A. Cartellieri, der mir in liebenswürdiger Weise einen Bogen des im Druck befindlichen 3. Bds. seines Philipp August zugehen läßt, weist daselbst S. 159 auch zu 1197 dio pares Frankreichs und als zu ihnen gehörig den Grafen v. Flandern nach. Nach Schreuer (s. o.) ist ferner die Nennung der pares in den Krönungsordnungen von 1223 und 1226 echt; obwohl die Zwölfzahl auch hier nicht vorkommt, wäre dann das Kollegium doch wohl schon zu 1223 als abgeschlossen anzunehmen. » S. 289, ZI. 20 v. u. (hinter den beiden Schriften von N. Valois): Ders., Le pape et concile (1418-1450), 2 Bde. 1909. » S. 335, ZI. 15 (vor Xavarra) : F. Saulnier, Le pari, de Bretagne, 1554—1790, 1. Teil, 1909. — » S. 372, ZI. 8 v. u. (vor Normandie) : Documents inédits relatifs aux Etats de Bretagne de 1491 à 1589, hsg. v. Ch. de Lalande de Calan, Bd. 1,1908 (Archives de Bretagne 15). —

INHALT Seite

Einleitung

1

I. Periode.

Die Zeit des Lehnswesens

&

(843—1180). 1. Kapitel. Entstehung; nnd Bedeutung des Lehnswesens 1. Allgemeines S. 7. — 2. Die Grundherrschaft S. 8. — 3. Benefizialver leihung und Kommendation S. 10. — 4. Staatliche Bedeutung und Erb lichkeit der Lehen S. 12. — 5. Aftervasallen. Feudale Hierarchie S. 15. 2. Kapitel. Der Adel und das adelige Lehen 18 1. Die .Lehnstreue und ihre Pflichten S. 18. — 2. Keallasten der Lehen S. 22. — 3. Formalitäten und Abstufungen beim Lehnsvertrag S. 25. — 4. Erbrecht der Söhne S. 27. — 5. Erbrecht der anderen Verwandten 5. 30. — 6. Minderjährigkeit und Vormundschaft S. 32. — 7. Abschließung des Stands. Adelige Allode S. 34. — 8. Ritterschaft, Titel und Stufen im Adel S. 36. 3. Kapitel. Die nlchtadellgen Klassen der Landbevölkerung 1. Die bürgerlich Freien S. 39. — 2. Die Hörigen S. 42. — 3. Die Knechte S. 48.

38

4. Kapitel. Recht and Gericht 49 1. Volksrecht und Kapitularien S. 50. — 2. Gewohnheitsrecht und römisches Recht S. 52. — 3. Die Gerichtsordnung im Lehnsstaate S. 55. — 4. Die hofrechtliche Gerichtsbarkeit S. 58. — 5. Die landrechtliche Gerichtsbarkeit S. 61. — 6. Das gerichtliche Verfahren lind der Rekurs an höhere Gerichte S. 62. 5. Kapitel. Die LehnsfUrstentUmer 1. Ursprung der Lehnsfürstentümer S. 64. — 2. Überblick über die Lehnsfürstentümer : a) Franzien S. 68; b) Champagne-Blois S. 71; c) Anjou 5. 73; d) Bretagne S. 75; e) Normandie S. 79; f) Flandern S. 81; g) Burgund S. 84; h) Aquitanien S. 86; i) Waskonien S. 9 1 ; k) Toulouse-Septimanien S. 92; 1) Spanische Mark S. 94. — 3. Festigung der lehnsfürstlichen Ordnung S. 95. — 4. Zentral- und Lokal Verwaltung S. 96. — 5. Der Umfang der lehnsfürstlichen Gewalt S. 99.

63

6 . Kapitel. Das Königtum 103 1. Erbrecht und Wahl im Frankenreich 843—887 S. 104. — 2. Der Zerfall des Frankenreichs und der Kampf zwischen Erbrecht und Wahl-

Inhalt.

IX S«lte

recht unter den letzten Karolingern 887—987 S. 107. — 3. Das Wahlkönigtum der Kapetinger und die Wiedererstarkung des Erbgedankens 987—1180 S. 111. — 4. Die Weihe S. 114. — 5. Absetzung S. 121. — 6. Minderjährigkeit und Regentschaft S. 122. — 7. Titel, Insignien, Königsgut S. 124. — 8. Umfang der königlichen Gewalt S. 125. — 9. Vertretung der Nation. Die curia regia S. 130. — 10. Die Beamten des Königs S. 133. — 11. Die königliche Gerichtsbarkeit S. 136. 7. Kapitel. Die Kirche 138 I.Kleriker und Weihen S. 139. — 2. Diözesen und Kirchenprovinzen. Kapitel S.. 140. — 3. Bischofswahl. Einfluß der weltlichen Gewalt. Regal- und Spolienrecht S. 142. — 4. Gewalt des Bischofs und des Erzbischofs. Primate S. 147. — 5. Gehilfen und Beamte des Bischofs. Pfarrer S. 149. — 6. Die Klöster S. 152. — 7. Kirchliche Benefizien, Patrone, Zehnten S. 156. — 8. Visitationen und Synoden S. 158. — 9. Das Kirchenrecht S. 160. — 10. Die geistliche Gerichtsbarkeit S. 162. — 11. Die kirchlichen Friedensordnungen S. 164. — 12. Die Stellung der Kirche im Lehnsstaat S. 166. 8. Kapitel. Die StUdte 1. Die Entstehung der Städte S. 170. — 2. Die Stadtverfassung S. 172.

168

II. Periode.

Die Zeit der wachsenden Königsmadit

. • . 176

(1180—1437). 1. Kapitel. Der König und seine Beamten 178 1. Titel, Erblichkeit und Weihe des Königs S. 178. — 2. Der Ausschluß der Frauen vom Thron S. 181. — 3. Minderjährigkeit und Regentschaft S. 187. — 4. Erwerbungen der Krone. Apanagen S. 191. — 5. Zusammensetzung und Teilung des Rats S. 195. — 6. Die Minister S. 198. — 7. Die Baillis und ihre Unterbeamten S. 201. — 8. Die Enquêteurs S. 205. 2. Kapitel. Organe der Politik und allgemeinen Staatsverwaltung . . . . 207 1. Der Staatsrat. Ursprung der Stände und der Notabein Versammlungen S. 207. — 2. Die Generalstände S. 211. — 3. Die Provinzialstände und die Notabelnversammlungen S. 215. — 4. Politische und administrative Tätigkeit des Parlaments und der Rechnungskammer S. 217. — 5. Die königliche Gesetzgebung S. 220. 8. Kapitel. Recht und Gericht 222 1. Das Gewohnheitsrecht S. 225. — 2. Das römischo Recht S. 228. — 3. Das gerichtliche Verfahren S. 230. — 4. Die Pairs und das Pairsgericht S. 231. — 5. Das Parlament S. 235. — 6. Hohe Gerichtshöfe in den Provinzen S. 239. — 7. Einschränkung der Gerichtsbarkeit der Lehnsfürsten und kleineren Seigneurs S. 241. — 8. Einschränkung der geistlichen Gerichtsbarkeit S. 244. — 9. Überblick über die weltlichen Gerichte und ihre Zuständigkeit S. 247. — 10. Der König und das Parlament. Neues Hofgericht S. 250. 4. Kapitel. Die Finanzverwaltung 253 1. Allgemeines über die Finanzen der öffentlichen Gewalten und des Königs S. 254. — 2. Die ordentlichen Kinnahmen des Königs S. 255. — 3. Die Entstehung der außerordentlichen Einnahmen des Königs S. 259. — 4. Übersicht über die außerordentlichen Einnahmen des Königs: a) Die Taille S. 263; b) Die Zölle S. 265; c) Die Aides S. 266; d) Die Salzsteuer 5. 267. — 5. Die Verwaltung der ordentlichen Einnahmen S. 268. — G. Die Verwaltung der außerordentlichen Einnahmen S. 270.

X

Inhalt. Seite

5. Kapitel. Armee and Marine 273 1. Lehnsrechtliches und landrechtliches Aufgebot. Söldner 8. 274. — 2. Offiziere S. 277. — 3. Die Flotte S. 278. 6. Kapitel. Städte und Zünfte . 279 1. Königtum und Städte. Änderung der Stadtverfassungen S. 280. — 2. Das Zunftwesen S. 283. — 3. Eingriffe des Staats in die Zunftordnung. Die freie Arbeit S. 287. 7. Kapitel. Die Kirche. Die Jaden 289 1. Diözesen, Kirchenprovinzen und Primate S. 289. — 2. Staatliche Rechte und Pflichten S. 290. — 3. Geistliche Gerichtsbarkeit. Kirchenrecht S. 292. — 4 Regal- und Spolienrecht S. 295. — 5. Kirchliche Zentralisation und päpstlicher Fiskalismus S. 298. — 6. Der Ursprung der gallikanischen Freiheiten S. 300. — 7. Juden und Lombarden S. 303.

HI. Periode.

Die Zeit des absoluten Königtums

. . . . 306

(1437—1789). 1. Kapitel. Der König, seine Minister und sein Kat 309 1. Titel und Formen S. 310. — 2. Minderjährigkeit und Regentschaft S. 313. — 3. Erwerbungen und Apanagen S. 316. — 4. Die königliche Gewalt S. 319. — 5. Die alten Staatsminister S. 324. — 6. Die neuen Staatsminister S. 326. — 7. Der Staatsrat und seine neuen Sektionen S. 331. 2. Kapitel. Die Parlamente 334 1. Die provinzialen Parlamente S. 335. — 2. Die innere Einrichtung der Parlamente S. 341. — 3. Die politischen Rechte der Parlamente und ihr Kampf mit der Krone bis 1715 S. 346. — 4. Die Parlamente im Kampf mit Ludwig XV. und Ludwig XVI. S. 352. 3. Kapitel. Die anderen Gerichte and das Recht 357 1. Die nichtköniglichen Gerichte S. 358. — 2. Die königlichen Land- und Spezialgerichte. Käuflichkeit der Ämter S. 359. — 3. Eingriffe des Königs in die Rechtsprechung S. 362. — 4. Das Recht S. 365. — 5. Die Rechtswissenschaft S. 368. — 6. Das gerichtliche Verfahren S. 371. 4. Kapitel. D : e gesetzgehenden Gewalten, Reichs- nnd ProvlnzlalYersammlungen : 372 1. Allgemeines über die gesetzgebenden Gewalten S. 373. — 2. Änderung in Zahl und Form der Generalstände S. 374. — 3. Kompetenzen und Bedeutung der Generalstände S. 378. — 4. Die Provinzialstände S. 383. — 5. Munizipalitäten und Provinzialversammlungen des 18. Jahrhunderts S. 386. — 6. Die Notabelnversammlungen S. 390. 6. Kapitel. Beamte der Provinzlalverwaltnng 394 1. Die Gouverneure S. 395. — 2. Die Entstehung der Intendanten S. 396. — 3. Kompetenz und Bedeutung der Intendanten S. 398. 6. Kapitel. Finanzen nnd Stenern . 402 1. Finanzen der öffentlichen Gewalten und ordentliche Einnahmen des Königs S 403. — 2. Allgemeines über die Steuern S. 405. — 3. Die Taille S. 407. — 4. Die (sogenannte) Kopfsteuer S. 409. — 5. Der Zwanzigste S. 411. — 6. Die Salzsteuer S. 416. — 7. Die Aides S. 419. — 8. Die Zölle S. 420. — 9. Die neuen indirekten Steuern S. 423. 7. Kapitel. Armee und Marine 425 1. Soldaten und Milizen S. 425. — 2. Offiziere S. 428. — 3. Militärische Gerichtsbarkeit S. 430. — 4. Die Flotte S. 431.

Inhalt.

XI Seite

8. Kapitel. Die katholische Kirche 434 1. Pragmatische Sanktion und Konkordat S. 434. — 2. Feststellung der Freiheiten der gallikanischen Kirche S. 438. — 3. Die Ausdehnung des Regalrechts S. 440. — 4. Streit mit dem Papst und Beschlüsse von 1682 über Regalrecht und gallikanischc Freiheiten S. 444. — 5. Ausgang des Streits mit dem Papst S. 448. — 6. Bistümer, Erzbistümer und Primate S. 452. — 7. Kirchenrecht und geistliche Gerichtsbarkeit S. 454. — 8. Kirchengut, Abgaben, Versammlungen der Geistlichkeit S. 457. 9. Kapitel. Die reformierte Kirche 460 1. Stellung des Staats gegenüber den Anfängen der Reformation S. 461. — 2. Die Ordnung der Hugenottenkirchc und das erste Toleranzedikt S. 464. — 3. Die Edikte der Religionskriege S. 467. — 4. Das Edikt von Nantes S. 472. — 5. Die Aufhebung des Ediktes von Nantes S. 476. — 6. Das Toleranzedikt Ludwigs X V I . S. 479. 10. Kapitel. Bevölkerung und Gemeinden in Stadt und Land 481 1. Der Adel S. 482. — 2. Lehen und Allodo S. 485. — 3. Freie und Hörige S. 487. — 4. Die wirtschaftlichen Klassen der Landbevölkerung S. 491. — 5. Städte und Landgemeinden S. 494. — 6. Stadtbevölkerung und Zunftwesen S. 498. V e r z e i c h n i s der Autoren

503

Register

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Eine französische Verfassungsgeschichte, welche die Zustände im Königreich Frankreich bis zu ihren Ursprüngen zurückverfolgen will, hätte naturgemäß mit der gallischen Zeit zu beginnen, um dann über die Jahrhunderte der römischen Herrschaft zu den Einrichtungen der Westgoten, Burgunder und Franken zu gelangen und schließlich die fränkische Gesamtmonarchie mit ihren zahlreichen Neuerscheinungen eingehend zu würdigen; aus ihr ist die nachfränkische, sogenannte französische Zeit unmittelbar hervorgewachsen. Es waren im wesentlichen Rücksichten äußerer Art, die den Verfasser davon abhielten, auch die früheren Perioden im Zusammenhang zur Darstellung zu bringen. Insonderheit galt es, die Eingliederung in das Handbuch, dem dieses Werk angehört, im Auge zu behalten, und hier sind die germanischen Einrichtungen und die Verfassung des Fränkischen Reiches einer anderen Feder vorbehalten. Das vorliegende Buch will daher mit dem Zeitpunkt einsetzen, wo sich die aus dem Fränkischen Reich hervorgegangenen Nationalstaaten dauernd voneinander geschieden haben, und nimmt auf frühere Zustände nur gelegentlich da Bezug, wo das zum Verständnis der späteren Verhältnisse erforderlich erschien. E s erhob sich nun freilich die weitere Frage nach der Epoche des Zerfalls der fränkischen Einheit. Und da ist eine präzise Antwort mit einem Staatsvertrag oder einer Jahreszahl gar nicht zu geben. E s gibt keine Geburtsstunde des französischen Reichs. Insonderheit wohnt dem Vertrag von Verdun (843), mit dem auch wir unser Thema äußerlich begrenzen, diese Bedeutung an sich gewiß nicht bei. Er schuf eine Teilung des fränkischen Staats, wie es deren viele vorher und noch einige nachher gegeben hat, und hat die ideelle Einheit des Ganzen weder aufheben wollen noch tatsächlich aufgehoben. Auch waren im einzelnen dabei keinerlei nationale Gesichtspunkte maßgebend gewesen. Man hätte dazu, selbst wenn man wollte, gar keine Möglichkeit gehabt, da es sich um eine Dreiteilung handelte; und wie wenig man an nationale Momente dachte, beweist allein die Tatsache, daß das deutsche Flandern zum Westreich geschlagen wurde — es gehörte infolgedessen das ganze Mittelalter hindurch zu Frankreich. Aber tatsächlich ist der Vertrag von Verdun für das werdende Frankreich doch von größter Bedeutung geworden, mehr noch als für Deutschland. Denn im Gegensatz zum Ostreich, das sich rasch über H o l t z m a n n , Französische Verfassungsgeschichte.

1

2

Einleitung.

die in Verdun Ludwig dem Deutschen zugesprochenen Grenzen erweiterte, hat Frankreich fast fünf Jahrhunderte lang in der Tat die Gestalt und Ausdehnung des Reiches Karls des Kahlen von 843 behalten. Zwar hat auch Karl der Kahle 870 und 875 einige Stücke des zu Verdun für Lothar I. geschaffenen Mittelreichs an sich gebracht, Teile von Lothringen (d. h. von dem Reich Lothars II.) und die Provence; aber diese Erwerbungen gingen bereits 879 wieder verloren. Und ebenso ephemer blieb der Gewinn Lothringens durch Karl den Einfältigen 911—925. Mit dem Reich Karls des Kahlen, von 843 haben wir es also zu tun, und schon diese Tatsache rechtfertigt den Beginn mit dem Vertrag von Verdun. Dazu kommen andere Erwägungen: die Wichtigkeit der Regierungszeit Karls des Kahlen für die- Schwächung der Zentralgewalt und die Ausbildung des Lehnswesens. Die Entwicklung im Westreich beginnt überhaupt in mancher Hinsicht sich merklich von der Entwicklung im Osten zu unterscheiden und bedarf der gesonderten Betrachtung. National» Gedanken kommen etwas später hinzu, um die Absonderung schließlich endgültig und vollkommen zu machen. Gewiß darf man sie noch bis ins 10. Jahrhundert nicht überschätzen. Aber deutlich erkennbar mischen sie sich doch seit 884 in die staatlichen Verhältnisse und Beziehungen; wir werden ihrer (in dem Kapitel über das Königtum unserer ersten Periode) bei der Regierung Kaiser Karls III. im Westreich und namentlich bei den Vorgängen nach seinem Tod (888) noch zu gedenken haben. Sie führten schon damals im Westreich, vorübergehend zu einem nichtkarolingischen, einheimischen König* tum. Eine weitere wichtige Etappe in dem Werden der selbständigen nationalen Staaten bildet sodann die Loslösung des Deutschen Reich» aus der Karolingerherrschaft im November 911. Zwar behielten auch in Zukunft beide Reiche den Namen regnum Francornm. Aber der Gedanke ihrer ideellen Einheit tritt seitdem fast ganz zurück, zeigt sich nur mehr gelegentlich, noch etwa ein Jahrhundert lang, bei Interventionen des stärkeren Ostreichs in die zerrütteten Zustände de» Westreichs (Otto I., Tlieophanu); die letzte Spur der Idee einer Zusammengehörigkeit der beiden Länder ist vielleicht eine am 6. August 1023 von König Robert dem Frommen von Frankreich und Kaiser Heinrich II. in dem alten Grenzort Ivois gemeinsam ausgestellte Urkunde für ein französisches Kloster; denn andere Zusammenkünfte führten einfach zu Verständigungen und Verträgen, wie sie auch sonst zwischen den Fürsten vorkamen. Seit dem 10. Jahrhundert kann man jedenfalls unbedenklich von einem abgeschlossenen französischen Reich sprechen, und zwar lange vor der Thronbesteigung der Kapetinger (987), die in dieser Hinsicht keinen Einschnitt bedeutet. Die Entwicklung der Verfassung im französischen Reich stellt eine fortlaufende, in sich durchaus zusammenhängende Kette dar. Und so sehr sich die Grundlagen der öffentlichen Gewalt tatsächlich gewandelt haben, so ist doch durch keinen legislatorischen Akt jemals prinzipiell an ihnen etwas geändert worden bis zur Revolution, und

Einleitung.

3

die Theoretiker des 18. Jahrhunderts zweifelten nicht daran, daß sie noch unter derselben Verfassung lebten, wie die Könige des Mittelalters und der fränkischen Zeit. Auch in dem Namen „Ancien régime", womit wir die letzten Jahrzehnte vor der Revolution (etwa die Regierungen Ludwigs XV. und Ludwigs XVI.) zu bezeichnen pflegen, liegt die Vorstellung miteingeschlossen, daß es sich hier um die alte Zeit schlechthin, um die im Grunde einheitliche Staatsverwaltung des französischen Königtums handle. In der Tat würde es manche Vorteile mit sich bringen, die Geschichte der französischen Institutionen in einheitlicher, durch keine chronologischen Abschnitte zerteilter Weise zur Darstellung zu bringen; die Kontinuität der Entwicklung von Karl dem Großen bis Ludwig XVI., vom Maifeld bis zu den Generalständen des Jahres 1789, vom fränkischen Hofgericht bis zu den übermächtigen Parlamenten der beiden letzten Könige, von den Missi dominici bis zu den Intendanten des 17. und 18. Jahrhunderts würde klar in die Augen springen. Aber freilich doch wohl etwas zum Schaden der historischen Einsicht in den außerordentlichen Wandel, den die Dinge im Lauf der Jahrhunderte tatsächlich dennoch genommen haben. Und so dürfte es besser sein, unter Betonung des zum Teil immer vorhandenen, zum Teil freilich auch erst später wieder angeknüpften Zusammenhangs mit der früheren Zeit unseren Stoff in drei große Perioden zu zerlegen, von denen die erste die Zeit der Entstehung und der unbestrittenen Herrschaft des Lehnswesens behandeln soll, die zweite den wechselvollen, aber schließlich doch erfolgreichen Kampf der Krone gegen die lehnsrechtlichen Einrichtungen, die dritte die Zeit des französischen Absolutismus — soweit von einem solchen (wenn auch prinzipiell durchaus nicht von einer Willkürherrschaft) gesprochen werden kann. Jede dieser Perioden umfaßt etwa drei Jahrhunderte; die Zahlen, die wir zu ihrer Begrenzung der politischen Geschichte entnehmen, sind dabei selbstverständlich nur approximativ zu verstehen. Literatur. B i b l i o g r a p h i e : J. Lelong, Biblioth. hist. de la France, hsg. v. [Ch. M.] Fevret de Fontette, 5 Bde. 1768—78. — G. Monod, Bibliogr. de l'hist. de France, 1888. — N a c h s c h l a g e w e r k e : Encyclopédie méthodique. Jurisprudence, lOBde. 1782—91. — [P. J. G.] Guyot, Répertoire universel et raisonné de jurisprudence, 2. A. 17 Bde. 1784—85. — A. Chéruel, Dictionnaire hist. des institutions, meurs et coutumes de la France, 2. A. 2 Bde. 1865. — L. Lalanne, Dictionnaire hist. de la France, 2. A. 1877. — La grande encyclopédie, 31 Bde. [1886—1903.] — F. v. Holtzendorff, Encyklopädie der Rechtswissenschaft, 6. A. hsg. v. J. Köhler, 2 Bde. 1904. W ö r t e r b ü c h e r : [Ch.] Du Cange, Glossarium mediae et infimae latinitatis, 3 Bde. 1678 ; hsg. v. L. Favre 10 Bde. 1883—87. — E. J. de Laurière, Glossaire du droit franç., 2 Bde. 1704. — U r k u n d e n l e h r e : A. Giry, Manuel de diplomatique, 1894. — M ü n z l e h r e : [F.] Leblanc, Traité hist. des monnaies de France, 1690. — H. Costes, Les institutions monétaires de la France, 1885. — A t l a n t e n : K. v. Spruner, Handatlas f. d. Gesch. des Mittelalters u. der Neueren Zeit, 3. A. v. Th. Menke, 1880. — A. Longnon, Atlas hist. de la France, I. partie (—1380), 1907 (mit Texte explicatif). 1*

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Einleitung. Q u e l l e n k u n d e : A. Franklin, Les sources de l'hist. de France, 1877. — U. Chevalier, Répertoire des sources hist. du moyen âge. Topo-Bibliogr., 2 Bde. 1894—1903 ; Bio-Bibliogr., n. A. 2 Bde. 1905—07. — G. Gavet, Sources de l'hist. des institutions et du droit franç., 1899. — H. Bresslau, Quellen u. Hilfsmittel zur Gesch. der romanischen Völker im Mittelalter, in G. Gröber, Grundriß der Roman. Philologie, 2, 3 (1901). — Les sources de l'hist. de France. I. partie, Des origines aux guerres d'Italie (1494), v. A. Molinier, 6 Bde. 1901—06; II. partie, Le XVI e sel. (1494-1610), v. H. Hauser, Bd. 1, 1906. — Q u e l l e n s a m m l u n g : Recueil des historiens des Gaules et de la France, begonnen v. M. Bouquet, 24 Bde. 1738—1904; Nouv. série, Documents financiers 1 Bd. 1899, Pouillés 4 Bde. 1903—04, Obituaires 2 Bde. 1902—06. — R e g e s t e n : [L. G.] de Bréquigny, Table chronol. des diplômes, chartes, titres et actes imprimés concernant l'hist. de France, fortges. v. (J. M.] Pardessus u. [E. R ] Laboulaye, 8 Bde. 1769—1876 [reicht bis 1314], — J. F. Böhmer, Regesta Karolorum, 1833. — O r d o n n a n z e n : Ordonnances des rois de France de la troisième race [betr. 1057—1514], 21 Bde. 1723—1849; Table zu Bd. 1—9, 1757. — [A. J. L.] Jourdan, Decrusy u. [F. A.] Isambert, Recueil gén. des anc. lois franç. depuis l'an 420 jusqu' à la ré vol. de 1789, 28 Bde. u. Table [1822—27], A l l g e m e i n e G e s c h i c h t e : E. Lavisse u. A. Rambaud, Hist. gén. du IV e siècle à nos jours, 12 Bde. 1893—1901. — E. Lavisse, Hist. de France depuis les origines jusqu' à la révol., Bd. 1—8, 1 [bis 1715] 1900—08. [Diese beiden Werke unter Mitarbeit zahlreicher anderer Gelehrten.] — S t a a t s b i l d u n g : L. A. Himly, Hist. de la formation territ. des états de l'Europe centrale, 2 Bde. 1876. — J. B. Paquier, Hist. de l'unité polit, et territ. de la France, 3 Bde. 1879—80. V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e : C. de Seyssel, La grant monarchie de France, 1519; vgl. P. Bourdon in Mélanges d'archéol. et d'hist. 28 (1908). — E. Pasquier, Les recherches de la France, 1560 u. o. — [H.] de Boulainvilliers, Hist. de l'anc. gouvernement de la France avec XIV lettres hist. sur les parlemens ou états gén., 3 Bde. 1727. — Ders. : État de la France, 3 Bde. 1727; 8 Bde. 1752. — [Ch. de] Montesquieu, De l'esprit des lois, 2 Bde. 1748 u. o. — [G. B.] de Mably, Observations sur l'hist. de France [bis 1328], 2 Bde. 1765 ; 3 Bde. 1823. — [C.] Fleury, Traité du droit public en France, 4 Bde. 1769; auch in d. Opuscules Bd. 2 (1780). — J. N. Moreau, Principes de morale polit, et du droit public ou Discours sur l'hist. de France [bis Ludwig IX.], 21 Bde. 1777—89. — [F. P. G.] Guizot, Essais sur l'hist. de France, 1823. — Ders. : Hist. de la civilisation en Europe, 1828 u. o. — Ders. : Hist. de la civilisation en France, 4 Bde. 1829—32 u. o. — [M. R.] de Lézardière, Théorie des lois polit, de la monarchie franç., n. A. 4 Bde. 1844. — W. Schaeffner, Gesch. der Rechtsverfassung Frankreichs, 4 Bde. 1845—50 ; 2. A. 1859. — L. A. Warnkönig u. L Stein, Französ. Staats- u. Rechtsgesch., 3 Bde. 1846—48. — C. Dareste de la Chavanne, Hist. de l'administration en France, 2 Bde. 1848. — A. Gasquet, Précis des institutions polit, et soc. de l'anc. France, 2 Bde. 1885. — E. Glasson, Hist. du droit et des institutions de la France, Bd. 1—8, 1887—1903. — P. Viollet, Droit public. Hist. des institutions polit, et admin. de la France [bis Ende d. Mittelalters], 3 Bde. 1890—1903. — A. Esmein, Cours élém. d'hist. du droit franç., 1892 ; 6. A. 1905. — E. Mayer, Deutsche u. französ. Verfassungsgesch. v. 9. bis z. 14. Jh., 2 Bde. 1899; vgl. K. Uhlirz in Hist. Vjschr. 2 (1899), P. Puntschart in Mitteil. d. Inst. f. österr. Geschf. 24 (1903). Ä m t e r : C. Fauchet, Origines des dignitez et magistrats en France, 1600 u. o. — Ch. Loyseau, Du droit des offices, in d. Oeuvres (1636 u. o ). — E. Girard u. J. Joly, Trois livres des offices de France, 2 Bde. 1638. — [P.] Anselme u. [H. C.] Du Fourny, Hist. généal. et chronol. de la maison royale de France, des pairs, grands-officiers de la couronne et de la maison du roy et des anc. barons du royaume, 3. A. 9 Bde. 1726—33. — [P. J. G.] Guyot u. [Ph. A.] Merlin, Traité des droits, fonctions, franchises, exemptions, prérogatives et privilèges annexés en France à chaque dignité, à chaque office et à chaque état, 4 Bde. 1786—88.

I. Periode.

Die Zeit des Lehnswesens (843—1180). Literatur. A l l g e m e i n e G e s c h i c h t e : E. A. Freeman, Western Europe in the eighth Century and onward, 1904. — W. B. Wenck, Das fränk. Reich nach dem Vertrage v. Verdun («43—861), 1851. — E. Dümmler, Gesch. des ostfränk. Reiches, 2. A. 3 Bde. 1887—88. — R. Poupardin, Le royaume de Provence sous les Carolingiens (855—933?), 1901 (Biblioth. de l'éc. des hautes études, Sciences philol. et hist., 131). — Ders., Le royaume de Bourgogne (888—1038), 1907 (ebd. 163). — G. de Manteyer, La Provence du premier au douzième sel., 1908 (Mémoires et documents, hsg. v. d. Soc. de l'éc. des chartes, 8). — K. v. Kalckstein, Gesch. des französ. Königtums unter den ersten Capetingern, Bd. 1, Der Kampf der Robertiner und Karolinger, 1877. — E. Favre, Eudes comte de Paris et roi de France, 1893 (Biblioth. w. o. 99). — A. Eckel, Charles le Simple, 1899 (ebd. 124). — AV. Lippert, Gesch. des westfränk. Reiches unter König Rudolf, Diss. 1885. — Ph. Lauer, Le règne de Louis IV. d'Outre-mer, 1900 (Biblioth. w. o. 127). — L. Halphen u. F. Lot, Recueil des actes de Lothaire et de Louis V. rois de France, 1908 (Chartes et diplômes relat. à l'hist. de France). — F. Lot, Les derniers Carolingiens. Lothaire, Louis V, Charles de Lorraine, 1891 (Biblioth. w. o. 87). — Ders., Études sur le règne de Hugues Capet et la fin du Xe sel., 1903 (ebd. 147). — Ch. Pfister, Études sur le règne de Robert le Pieux, 1885 (ebd. 64). — F. Soehnée, Catal. des actes d'Henri 1er roi de France, 1907 (ebd. 161). — M. Prou, Recueil des actes de Philippe 1er roi de France, 1908 (Chartes et diplômes w. o.). — A. Luchaire, Louis VI le Gros, Annales de sa vie et de son règne, 1890. — Ders., Études sur les actes de Louis VII, 1885. — R. Hirsch, Studien ?.. Gesch. König Ludwigs VII. von Frankreich, 1892. V e r f a s s u n g s g e s c h i c h t e : [L. G. Du Buat] Les origines ou l'anc. gouvernement de la France, de l'Italie et de l'Allemagne, 4 Bde. 1757; 3 Bde. 1783. — J. Flach, Les origines de l'anc. France, X® et Xle scls., 3 Bde. 1886—1904; vgl. A. Esmein in Nouv. rev. hist. de droit 10 (1886) u. 18 (1894), U. Stutz in Ztsch. der Savigny-Stiftg. f. Rechtsgesch. 26 (1905) Germ -Abt. — [P.] Imbart de la Tour, Questions d'hist. sociale et religieuse. Époque féodale, 1907. — K a r o l i n g e r : M. Thévenin, Textes relat. aux institutions privées et publiques aux époques mérov. et carol., 1887 (Coll. de textes 3). — J . M. Lehuërou, Hist. des institutions carol., 1843. — G. Waitz, Deutsche Verfassungsgesch.,

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I. Periode.

Die Zeit des Lehnswesens (843—1180).

2. A. Bd. 3—4, 1883 — 85. — H. Brunner, Deutsche Rechtsgesch., 2 Bde. 1387 bis 1892; Bd. 1, 2. A. 1906. — J. Fr. v. Schulte, Lehrbuch der Deutschen Reichsu. Rechtsgesch., 6. A. 1892. — R. Schroeder, Lehrbuch der Deutschen Rechtsgesch., 5. A. 1907. — [N. D.] Fustel de Coulanges, Hist. des institutions polit, de l'anc. France, 6 Bde. 1875 — 92; 2. A. 1900 ff. — [I.] Favé, L'empire des Francs, 1889. — A. Gengel, Die Gesch. des fränk. Reichs im besonderen Hinblick auf die Entstehung des Feudalismus, 1908. — K a p e t i n g e r : R. Rosières, Hist. de la soc. franç. au moyen âge (987—1483), 2. A. 2 Bde. 1882. — A. Luchaire, Manuel des institutions franç. période des Capétiens directs [987 bis 1328], 1892.

Die Periode, mit der wir unsere Darstellung beginnen, ist charakterisiert durch die Zersetzung aller staatlichen Einrichtungen durch das Lehnswesen. Die Entstehung dieser eigenartigen Erscheinung und die Zeit ihrer uneingeschränkten Herrschaft soll den Inhalt dieses Abschnitts bilden; mit dem Augenblick, wo Philipp August in zielbewußter Weise den Kampf gegen die lehnsrechtlichen Zustände beginnt, bricht er ab. So viel sei zur Erläuterung der Überschrift vorangeschickt. Denn es ist ja gewiß nicht so, als ob mit der Thronbesteigung Philipp Augusts die Zeit des Lehnswesens nun auf einmal zu Ende gewesen sei. In gewissem Sinne hat sie bis zur Revolution gedauert, aber doch in wesentlichen Punkten modifiziert. Die lehnsrechtlichen Einrichtungen sind also für den ganzen in diesem Buche behandelten Stoff von grundlegender Bedeutung.

1. Kapitel.

Entstehung und Bedeutung des Lehnswesens. Literatur.

G r u n d h e r r s c h a f t : E. R. Laboulayc, Hist. du droit de propriété foncière en Occident, 1839. — K. Lamprecht, Beiträgo zur Gesch. des französ. Wirtschaftslebens im 11. J h . , 1878 (Staats- u. sozialw. Forschgn., hsg. von G. Schmoller 1, 3). — K. Th. v. Inama-Sternegg, Die Ausbildung der großen Grundherrschaften in Deutschland während der Karolingerzeit, 1878 (ebd. 1, 1). — Ders., Deutsche Wirtschaftsgesch., 3 Bde. 1879—1901. — W. Sickel, Die Privatherrschaften im fränkischen Reiche, Westdeutsche Ztsch. f. Gesch. u. Kunst 15 u. 16 (1896 — 97). — W. Wittich, Die Frage der Freibauern, Ztsch. der Savigny-Stiftg. f. Rechtsgesch. 22 (1901) Germ.-Abt. — B e n e f i z i a l w e s e n u. K o m m e n d a t i o n : P. Roth, Gesch. des Benefizialwesens von den ältesten Zeiten bis ins 10. Jh., 1850. — Ders.: Feudalität u. Untertanenverband, 1863. — V. Ehrenberg, Commendation u. Huldigung nach fränk. Recht, 1877. — E. Garsonnet, Hist. des locations perpétuelles, 1879. — R. Wiart, Essai sur la precaria, These 1894. H e e r w e s e n : A. Baldamus, Das Heerwesen unter den späteren Karolingern, 1879 (Untersuchgn. z. Deutschen Staats- u. Rechtsgesch., hsg. von O. Gierke 4.) — I m m u n i t ä t : A. Prost, L'immunité, Nouv. rev. hist. de droit 6 (1882). — K a p i t u l a r v. Q u i e r z y : E. Bourgeois, Le capitulaire de Kiersy-sur-Oise, 1885. — Fustel de Coulanges, Nouv. recherches sur quelques problèmes d'hist., 1891. — E. Bourgeois in Études d'hist. du moyen âge dédiées à Gabriel Monod, 1896.

1. Kapitel.

Entstehung und Bedeutung des Lehnswesens.

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1. Allgemeines. Das L e h n s w e s e n (Feudalismus) ist keine nur der französischen Geschichte eigentümliche Erscheinung. Es ist, etwa gleichzeitig, im 9. und 10. Jahrhundert fast in allen Ländern des Reiches Karls des Großen und in einigen anstoßenden Gebieten (so den christlichen Staaten Spaniens) entstanden. Nach anderen Ländern Europas ist es dann erst später von hier aus importiert worden. Das Lehnswesen trug ursprünglich einen rein privatrechtlichen Charakter, brachte jedoch auch auf staatlichem Gebiet die weitesttragenden Veränderungen mit sich; die ganzen Einrichtungen in dem mächtigen Staat Karls des Großen hat es von Grund aus umgewandelt, zunächst sehr zum Schaden der staatlichen Gewalt und insonderheit der Macht der Krone. Karl der Große hat die drohende Gefahr schon kommen sehen und ihr durch mancherlei Reformen im Heer- und Gerichtswesen zu begegnen versucht. Es war vergeblich; der geschichtlichen Entwicklung konnte kein Einhalt geboten werden. Denn das ist das charakteristische: mit Naturnotwendigkeit drängte sich die neue Form des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens den christlichen Völkern in Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien auf, ohne daß sie durch irgendwelchen legislatorischen Akt eingeführt worden wäre, ja ohne daß auch- nur irgendwelche gegenseitige Verständigung dieser Völker stattgefunden hätte. Wir haben es also mit einer allgemeinen Erscheinung zu tun, die sich bei dem verhältnismäßig primitiven Zustand der noch jungen, den ungewohnten Anforderungen des fränkischen Weltreichs auf die Dauer nicht gewachsenen germanischen Völker von selbst einstellte. Ahnliche Vorgänge haben sich auch anderswo abgespielt. In Japan wurde mit der Rezeption der chinesischen Kultur seit dem Ende des 6. Jahrhunderts •der bisherige patriarchalische Zustand auf staatlichem Gebiet beseitigt und durch eine starke Zentralgewalt mit einem ausgebildeten Beamtenwesen ersetzt; die Japaner aber erwiesen sich für einen solchen Staat noch nicht reif, und die Folge war, daß eben aus der neuen Schöpfung nach einiger Zeit ein ausgesprochener Feudalstaat hervorwuchs, der erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, nach einer tausendjährigen Herrschaft, wieder beseitigt wurde. Dies ein Beispiel unter mehreren. Die Entstehung des Lehnswesens bedeutet also einen spontanen Prozeß, wie wir ähnliche allgemeine Erscheinungen im Leben der Völker auch sonst finden. Die großen sozialen Evolutionen sind nie künstlich hervorgerufen worden. Und will man «in Analogon aus einem ganz anderen Gebiet der menschlichen Kultur, so braucht man nur etwa an die Erscheinung der Lautverschiebung in den indogermanischen Sprachen zu denken. Derartige sehr interessante Vorgänge erinnern uns daran, daß die Geschichte des Menschengeschlechts es nicht mit einer toten Maschine zu tun hat, sondern mit einem lebendigen Organismus, dessen Lebensformen wir im Grunde mehr beobachten als wirklich erklären können. Zur Zeit des Lehnswesens sind für das politische Leben des Staates nur noch eine beschränkte Anzahl seiner Bewohner in Be-

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I. Periode. Die Zeit des Lehnewesene (843—1180).

tracht gekommen. Sie hoben sich aus der Masse der Bevölkerung deutlich heraus und bildeten somit einen n e u e n A d e l . Der alte germanische Geburtsadel war bei den Franken längst verschwunden; die Merowinger waren das letzte adelige Geschlecht gewesen. Die neue Aristokratie, die sich auf Grund eines großen Besitzes oder vornehmer Verrichtungen (wozu namentlich der Königsdienst gehörte) bereits in merowingischer Zeit allmählich zu bilden begonnen hatte, erhielt durch das Lehnswesen ihren Abschluß. Charakteristisch ist für diese neue, feudale Aristokratie, den Lehnsadel, zunächst zweierlei: erstens ihre wirtschaftliche Lage; alle Adligen sind Grundherrn. Und zweitens ein eigentümliches, den ganzen Stand durchziehendes Abhängigkeitsverhältnis, die Abhängigkeit der vassi von einem senior, so aber, daß dieser senior selbst wieder vassus eines noch höheren senior sein kann. Ein wirtschaftliches und ein politisch-militärisches Moment haben sich verbunden, wie denn diese Verbindung das ganze Lehnswesen kennzeichnet. Beide Merkmale haben wir hier einer Betrachtung zu unterziehen, wenn wir die lehnsrechtlichen Zustände wirklich verstehen wollen. 2. Die Grundherrscliaft. Im 10. Jahrhundert finden wir auf dem Boden des französischen (westfränkischen) Reichs fast ausschließlich die wirtschaftliche Form der Grundherrschaft. Unter einer Grundherrschaft verstehen wir einen ländlichen Betrieb, der nicht vom Eigentümer des Bodens (mit seiner Familie und seinen Knechten) sondern von Hintersassen gehandhabt wurde, zumeist von hörigen Leuten, grundholden Bauern, die dem Grundherrn gegenüber in einem bestimmten Rechtsverhältnis standen, das sie nicht nur zu einer Reihe von Abgaben und körperlichen Leistungen verpflichtete, sondern ihnen auch sonst in mancher Hinsicht den Charakter der Unfreiheit aufdrückte. Der Besitz der Grundherrn war viel zu ausgedehnt, als daß ihn e i n e r hätte bewirtschaften können: er wurde aber auch nicht etwa in Großbetrieb genommen, sondern unter Bauern,, in den meisten Fällen unter hörige Bauern, aufgeteilt und von ihnen in selbständiger Wirtschaft bestellt. Man bezeichnet diese Art des Betriebes als V i l l i k a t i o n . Höchstens einen kleinen Teil seines ganzen Besitzes nahm der Grundherr in eigene Wirtschaft; das ist die terra indominicata, das Herrenland, welches unter der Aufsicht des Herrn oder eines Verwalters von Knechten (ursprünglich völlig unfreien Leuten) bebaut wurde, und dessen Erträgnisse daher ganz dem Herrn zuflössen. Das Herrenland lag zumeist in der Nähe der Wohnung des Herrn oder seines Verwalters, und dieser Herrenhof bildete den wirtschaftlichen Mittelpunkt der ganzen Grundherrschaft; hierhin hatten auch die hörigen Bauern ihre Abgaben zu entrichten. Die gesamte Landbevölkerung zerfiel also in drei Hauptklassen: unfreie Knechte, hörige Bauern und adelige Grundherrn. Ein viertes Element, landrechtlich freie Leute, die daneben besonders in den sogenannten bürgerlichen Lehen als Bauern tätig waren, tritt anfangs noch ziemlich zurück.

1. Kapitel.

Entstehung und Bedeutung des Lehnswesens.

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Wir finden die Grundherrschaft zur Zeit der letzten Karolinger fast im ganzen Gebiet des ehemaligen Staates Karls des Großen und darüber hinaus. Es ist eine umstrittene Frage, w i e und w a n n dieser Zustand geworden ist. In Frankreich ist die Grundherrschaft in einigen Teilen des Landes, namentlich im Süden, gewiß alt, aus römischer Zeit überkommen. Bereits im römischen Reich war sie eine sehr verbreitete Art des wirtschaftlichen Betriebes; durch Kolonen (hörige, an die Scholle gebundene Bauern) und Sklaven ließen die Grundherrn ihren Boden bearbeiten. In den südlichen Teilen Galliens, wo sich im 5. Jahrhundert die W e s t g o t e n und die B u r g u n d e r niederließen, blieb die Grundherrschaft im allgemeinen erhalten. Die mehr friedliche Art der Auseinandersetzung zwischen den neuen und den alten Bewohnern, die Ansiedelung nach dem Einquartierungsrecht (hospitalitas), durch das die Germanen einen Teil des Bodens (als Grundherrn der bisher schon hörigen Bauern) in Besitz nahmen, die rasche Verschmelzung der beiden Elemente, all das zeitigte überhaupt ein Aufgehen der germanischen Eigenart in der römischen Kultur. Viel gewalttätiger und wesentlich anders war die f r ä n k i s c h e Eroberung im Norden Galliens. Die Franken haben die bisherige Bevölkerung vielfach gänzlich beseitigt, und ein römischer Grundbesitzer ist in diesen Gegenden erheblich seltener als im Süden. Die germanischen Einrichtungen sind bei den Franken viel reiner erhalten geblieben; die Verschmelzung ging langsamer vor sich, und das germanische Element behielt dabei eine stärkere Bedeutung. So ist es gewiß, daß für die Regelung der Besitzverhältnisse im Norden die germanischen Gewohnheiten ausschlaggebend waren, und viele Forscher glauben daher, in der merowingischen und noch in der früheren karolingischen Zeit habe es hier zahlreiche kleine Bauerngüter gegeben, das Eigentum der Freien, die den Grundstock der fränkischen Bevölkerung bildeten und ihre Güter selbst bewirtschafteten; im allgemeinen sei ein solches Gut gerade so groß gewesen, daß es von einer Familie bebaut werden konnte. Danach wäre also die Grundherrschaft in diesen Teilen des Reichs nicht ursprünglich gewesen, sondern erst allmählich entstanden, wenn die Entwicklung auch schon unter den Merowingern einsetzte. Es war naturgemäß, daß sich die Besitzverhältnisse im Laufe der Zeit änderten, daß die ursprüngliche Gleichheit allmählich immer mehr verschwand. Der Unterschied zwischen großen und kleinen Grundbesitzern wurde aber von weittragender Bedeutung. Jene waren die wirtschaftlich starken, die ihren Besitz noch weiter auszudehnen vermochten, durch Rodungen, Kauf und durch die Übernahme kleiner, verarmter Bauern, die sich mit ihrem Land ihnen auftrugen; denn die Kleinen konnten die staatlichen Lasten (den Heer- und Gerichtsdienst) auf die Dauer nicht tragen, verarmten mehr und mehr und griffen schließlich zu dem Auskunftsmittel, ihr Land einem der Großen aufzutragen, d. h. zu schenken, unter der Bedingung, daß sie es als Hörige (Hintersassen) ihres neuen Grundherrn weiterbebauen durften: die staatlichen

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I. Periode.

Die Zeit des Lehnswesens (843—1180).

Pflichten gingen so allmählich allein auf die Grundherrn über (deren es freilich wegen der Benefizialverleihungen eine große Zahl gab). So bewahrheitete sich auch hier das Wort: »Wer da hat, dem wird gegeben.« Die kleinen Güter wurden von den großen Herrschaften aufgesogen. — Das wird auch von denen nicht bestritten, die über das ursprüngliche Wesen des freien Besitzes eine andere Meinung haben. Man hat neuerdings die Ansicht vertreten, daß der wirtschaftliche Normalzustand bei den alten Germanen nicht das freie Bauerngut sondern bereits eine, wenn auch kleine Grandherrschaft gewesen sei. Dann hätte später nur mehr eine quantitative, keine das Wesen der Wirtschaft berührende Verschiebung stattzufinden brauchen; die Kleinen, welche in den sich bildenden großen Grundherrschaften aufgingen, wären vordem bereits kleine Grundherrn gewesen. Es ist hier nicht der Ort, diese die germanische Urgeschichte betreffende Frage näher zu erörtern. Das Resultat der Entwicklung war jedenfalls fast in allen Teilen des karolingischen Reichs die Großgrundherrschaft. 3. Benefizialverleihung und Kommendation. Die Grundherrn, die wirtschaftlich alle auf derselben Stufe stehen, wurden durch das Lehnsrecht untereinander in das merkwürdige f e u d a l e A b h ä n g i g k e i t s v e r h ä l t n i s gebracht, das die Stufenleiter vom König herab über die höheren Glieder der neuen Lehnsaristokratie bis herunter zu den kleinsten Rittern gebildet hat. Diese wichtigste und charakteristischste Einrichtung des Lehnsstaates ist allmählich entstanden, und zwar aus der Verbindung zweier, ursprünglich durchaus getrennter Institutionen, die es bereits zur Merowingerzeit gegeben hat, und die beide ein Abhängigkeitsverhältnis begründeten: aus den Benefizialverleihungen und der Kommendation. Die Vergebung von Land als B e n e f i z geht zurück auf eine, im römischen Reich übliche und von den Germanen übernommene Form der Landverleihung als Prekarie (precaria). Diese bedeutete in römischer Zeit ursprünglich eine Übertragung von Grundbesitz auf Herrengunst. Sie war zunächst jederzeit widerruflich, erhielt dann eine bestimmte Dauer (meist 5 Jahre), wofür der Beliehene dem Verleiher einen Zins entrichten mußte, und wurde schließlich lebenslänglich und manchmal sogar erblich, ein reiner Erbpachtvertrag nach den Regeln der Emphyteuse. Diese Art der Landverleihung war zur Zeit der Merowinger im Frankenreich sehr beliebt; namentlich die Kirche hat viele Prekarien vergeben, da nämlich die Schenkungen häufig unter der Bedingung erfolgt waren, daß der Geber sein Gut sofort wieder in Erbpacht zurückerhielt. Wer einem anderen eine Prekarie verleiht, erweist ihm ein beneßcium, und dieser Name ging dann von der Verleihung auf das verliehene Gut über. So sprach man von den Benefizialgütern im Gegensatz zum freien Eigengut, f ü r welches am Ende der Merowingerzeit der Name A l l o d i a l g u t (alodis, seit 940 auch alodium liberum, franc älleu) aufkam. Und völlig neu war, daß sich zu dem bisherigen rein dinglichen Rechtsverhältnis der

1. Kapitel.

Entstehung und Bedeutung des Lehnswesens.

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Gedanke einer gewissen persönlichen Abhängigkeit des Besitzers eines Benefiziums von dem Verleiher gesellte; die Idee eines gegenseitigen Treuverhältnisses entstand gleichfalls noch in merowingischer Zeit. Die Verletzung des Treuverhältnisses (das aber damals natürlich noch keine Pflicht zur Heeresiolge mit sich brachte) konnte den Verlust des Benefiziums nach sich ziehen. Ist der Gedanke der Abhängigkeit bei den Benefizialverleihungen erst allmählich hinzugekommen, so war er ursprünglich bei der Kommendation. Auch die commendatio trägt einen römischen Namen, die Sache selbst aber ist germanisch, hervorgewachsen aus der Gefolgschaft. Die Kommendation war ein auf Lebenszeit eingegangenes persönliches Verhältnis zu gegenseitigem Schutz; der Herrendienst spielte sich in dieser Gestalt ab, und besonders groß war natürlich die Zahl derer, die sich dem König kommendierten: sie bildeten die königliche Gefolgschaft (trustis regia oder dominica) und hießen in der Merowingerzeit Antrustionen. Der Akt, durch welchen sich ein Freier dem andern kommendierte, ging in Formalitäten vor sich, die sich später bei der Belehnung wiederfinden: derjenige, welcher sich kommendierte, legte seine Hände zusammengefaltet in die des anderen, leistete ihm einen Treueid (ßdelitas) und erhielt von ihm eine Gabe, die aber ursprünglich keineswegs in einem Grundstück und noch weniger in einem Benefizialgut zu bestehen brauchte. Und wie ein Teil der Formalitäten, so stammt auch eine Reihe der wichtigsten Namen, die später das Lehnswesen kennzeichnen, von diesem Institut; seit dem 8. Jahrhundert wurden hier nämlich Worte, die früher nur vereinzelt vorkamen, ganz regelmäßig gebraucht (während andere, wie trustis und Antrustionen abkamen): der, welcher sich kommendiert, wird vassiis (etwas später auch vassällus — das Wort ist wahrscheinlich keltischen Ursprungs) oder homo genannt, der andere ist sein senior (seigneur) oder dominus. Von größter Wichtigkeit war es, daß sich etwa seit dem Beginn der Karolingerzeit das Benefizialwesen und die Kommendation oder Vasallität immer regelmäßiger m i t e i n a n d e r v e r b a n d e n . Es wurde fast ganz allgemein Brauch, nur dem ein Benefiz zu verleihen, der zugleich die vasallitische Huldigung leistete; sogenannte »Lehen ohne Mannschaft« sind in der Karolingerzeit äußerst selten geworden. Etwas häufiger kam es noch vor, daß einem vassus von seinem senior kein Benefiz verliehen wurde. Die Regel aber war durchaus, daß der Empfänger eines Benefiziums die vasallitische Huldigung leistete, und daß der Vasall von seinem Seigneur ein Lehen erhielt. Damit begann das Lehnswesen im eigentlichen Sinn des Wortes. Der typische Ausdruck für das Benefizialgut wird feodum, feudum (fief) — das Wort ist wahrscheinlich germanischen Ursprungs, findet sich aber zuerst im südlichen Frankreich (feum, fevum, seit Anfang des 10. Jahrhunderts nachweisbar); wir sagen dafür L e h e n (müßten allerdings genauer adeliges Lehen sagen, zum Unterschied von den bürgerlichen und hörigen Lehen). Der Sinn der Verleihung eines Lehens

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ist die Ausstattung eines Vasallen, und daraus ergiebt sich zweierlei: 1. Das Lehen ist eine Grundherrschaft, da es dem Vasallen eine wirtschaftlich unabhängige Stellung, ein in der Unterstützung des Seigneurs aufgehendes Leben ermöglichen soll; das Lehen besteht also nicht nur aus Land sondern auch aus den nötigen Hintersassen, die es bebauen. 2. Die Verleihung des Lehens ist ursprünglich nicht erblich, ja nicht einmal immer lebenslänglich, sondern sie erfolgt für die Zeit, während welcher das vasallitische Band besteht, d. h. sie findet ein Ende beim Tod des Vasallen sowohl als bei demjenigen des Seigneurs. Erbliche Benefizialverleihungen waren in der Merowingerzeit nicht gerade die Regel gewesen aber vorgekommen; die Verbindung des Benefizialwesens mit der Vasallität hatte zunächst die Folge, daß diese Erblichkeit aufhörte. Natürlich: es war ja keineswegs ausgemacht, daß der Sohn eines vassus sich gleichfalls dem senior seines Vaters kommendieren wollte oder von diesem senior als vassus angenommen würde; mit dem Tod des Vaters fiel sein Lehen an den Seigneur zurück. Und ebenso war es, wenn der Seigneur starb; auch dann konnte es vorkommen, daß dessen Sohn einen Vasallen seines Vaters nicht wünschte oder auch von diesem Vasallen nicht der Kommendation gewürdigt wurde. 4. Staatliche Bedeutung und Erblichkeit der Lehen. Die Lehen waren also ursprünglich nicht erblich. Auch haben die Vasallitätsverbände den allgemeinen Untertanenverband zunächst noch keineswegs beseitigt. Die alten staatlichen Gewalten, Herzoge und Grafen, sind auch in den Kriegen Karls des Großen die gegebenen Anführer ihrer freien Mannschaft im Krieg. Aber es ist von großer Bedeutung, daß unter ihm bereits die Vasallen vielfach eine Sonderstellung einnehmen, insofern sie nicht mehr unter dem Inhaber der staatlichen Gewalt sondern unter ihrem Seigneur ins Feld ziehen. Die Grafen verloren so das Kommando über fremde Vasallen, und das fränkische Heer setzte sich aus zwei, ihrer Grundlage nach sehr verschiedenen Kategorien zusammen. Es zeigt dieses Doppelgesicht noch fast das ganze 9. Jahrhundert hindurch, aber doch so, daß schon sehr rasch die Vasallitätsverbände das Übergewicht über den allgemeinen Untertanenverband erlangten und diesen in der Folge immer mehr zurückdrängten. Das hing natürlich aufs engste mit dem Verschwinden des kleinen Grundbesitzes und dem Anschwellen der großen Grundherrschaften zusammen. Die kleinen Freien waren den staatlichen Lasten, von denen der Heeresdienst und daneben der Gerichtsdienst besonders empfindlich drückten (vgl.. S. 9), um so weniger gewachsen, als eben damals die alten, hauptsächlich zu Fuß dienenden Heere durch die neuen Reiterheere und ihre Taktik ersetzt wurden. Eines hat hier das andere bedingt und gefördert; der Dienst zu Pferd aber, auf den das ganze Heerwesen jetzt zugeschnitten wurde, war natürlich erheblich kostspieliger als der zu Fuß, zumal er auch in der Bewaffnung eine Änderung nach der schwereren, reicheren, kostspieligeren Seite mit sich brachte. Der Stand der kleinen freien Grundbesitzer

1. Kapitel. Entstehung und Bedeutung des Lehnswesens.

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verschwand fast vollständig; nur die Grundherrn zogen noch in den Krieg, da sie allein die Zeit und das Vermögen dazu besaßen. Die Unsicherheit des öffentlichen Friedens zur Zeit Karls des Kahlen und seiner Nachfolger, die häufigen, verheerenden Einfälle fremder Eroberer (Normannen, Sarazenen, Ungarn) auch in das westfränkische Reich verstärkten den Wunsch der Grundherrn nach einem Zusammenschluß, und dieser erfolgte eben in der Form der vasallitischen Verbände. Auf solche Art wurden zahllose Allode in Lehen verwandelt, södaß das freie Eigengut in einigen Gegenden Frankreichs (namentlich im Norden und Westen) schließlich fast völlig verschwand. Von einem Lehen, das der Seigneur nicht, wie das der eigentliche Sinn dieser Institution war, aus seinem Besitz dem Vasallen vergabt hatte, sondern das dieser bisher als freies Eigentum besessen hatte, sagt man: sein Besitzer hat es dem Seigneur »aufgetragen«, es ist ein aufgetragenes Lehen ( f i e f de reprise). Bald gehörten die meisten Grundherrn, sei es für ihren ganzen Besitz oder auch nur für einen Teil ihrer Güter, den vasallitischen Verbänden an und bildeten den neuen Adel, der sich in seiner militärischen Eigenschaft, da er zu Pferd diente, den Namen der R i t t e r (eqiätes, Chevaliers) beilegte. Das war das Ergebnis der Entwicklung des 9. Jahrhunderts. Und zwei andere, noch bedenklichere Erscheinungen konnte man damals gleichfalls schon beobachten, wenn sie auch erst im 10. Jahr-, hundert ganz allgemeine Verbreitung und eine auf dem Herkommen begründete rechtliche Gültigkeit gefunden haben. Das war die Anschauung, daß auch die staatlichen Amter mitverlehnt wurden, und der Grundsatz der Erblichkeit aller Lehen. Daß zugleich mit einem Benefiz allerhand damit zusammenhängende öffentliche Einkünfte (namentlich Zollrechte) mitverlehnt wurden, kam schon zur Zeit der ersten Karolinger vor; und nach derselben Richtung wirkte die Verleihung der I m m u n i t ä t , welche die fränkischen Könige in wachsendem Maß großen Grundherrn (insonderheit Kirchen) hatten zuteil werden lassen, und die darin bestand, daß sie den Besitz des Immunitätsherrn jeder Wirksamkeit der öffentlichen (königlichen) Beamten entzog und dadurch Veranlassung bot zu dem Aufkommen von privaten Beamten (Vögten u. dgl.), welche Recht sprachen, die Abgaben in Empfang nahmen (diejenigen für den Grundherrn und die für den König) und in jeder Hinsicht die Vertreter der staatlichen Autorität waren. Hier entstanden also Privatherrschaften, wenn sie auch im Namen des Königs und für diesen handelten; sie ruhten zumeist in den Händen königlicher Vasallen. Aber erst unter den Nachfolgern Karls des Großen bildete sich allmählich die Anschauung heraus, daß auch die ö f f e n t l i c h e n A m t e r (wie namentlich das Grafenamt) L e h e n seien oder doch mit den Lehen in nächster, untrennbarer Verbindung ständen. Diese Anschauung ist aus einer Begriffsverwechslung hervorgegangen, aus einem unrichtigen, aber immerhin begreiflichen Gedanken, als gehöre nämlich das Amt zu dem Benefiz, welches eigentlich vielmehr die Bezahlung des Beamten darstellte. Die Um-

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Wandlung zeigte sich zunächst darin, daß die ehemaligen Beamten die gerichtlichen Strafgelder, die sie bisher ganz oder teilweise dem König hatten abliefern müssen, für sich behielten; es scheint, daß schon Karl der Kahle kein Geld mehr von ihnen erhalten hat. Auch wurde beim Tod des Herrschers (Herrenfall) die Bestätigung der Beamten durch eine Wiederholung der Huldigung vom Lehnswesen herübergenommen; solche Bestätigung hat vielleicht schon Karl der Kahle, als er 837 einen Reichsteil erhielt, vorgenommen und ist nach ihm allgemein Brauch geworden. Die Wandlung brachte natürlich eine vollständige Umbildung des Amterbegriffs mit sich, die um so verhängnisvoller wurde, als sich gleichzeitig die Anschauung von der E r b l i c h k e i t d e r L e h e n festzusetzen begann. Wir sahen vorhin, daß die Lehen ursprünglich sowohl beim Tod des Verleihers als bei dem des Entlehers eingezogen wenden konnten. In ersterem Falle, beim Tod des Seigneurs, ist eine Einziehung des Lehens tatsächlich immer nur sehr selten vorgekommen; und auch wenn der Vasall starb, bahnte sich frühzeitig die Gewohnheit an, das Lehen, wenn nicht besondere Gründe dagegen sprachen, dem Sohn zu lassen. Das war aber zunächst lediglich Gewohnheit, die auf dem guten Willen des Seigneurs beruhte. Immerhin hielt man es auf Grund dieser Gewohnheit für billig, daß man beim Tod eines Vasallen seinem Sohn, sofern er die vasallitischen Pflichten zu leisten bereit war und sich noch kein Vergehen zuschulden hatte kommen lassen, das Lehen des Vaters nicht vorenthalte. Das ist der Zustand, wie er uns in dem Kapitular entgegentritt, das Kaiser Karl der Kahle am 14. Juni 877 zu Quierzy (Carisiacum) vor dem Antritt seines zweiten Römerzugs erließ. Wir sehen aus den Anordnungen, die er hier für die Dauer seiner Abwesenheit aus Frankreich traf, daß der Übergang der Grafschaften vom Vater auf den Sohn zwar noch nicht als rechtlich notwendig angesehen wurde, aber bereits eine dem Gefühl der Billigkeit entsprechende Gewohnheit geworden war; der Sohn konnte im allgemeinen des väterlichen Erbes sicher sein, während ein Anspruch von Seitenverwandten (im Falle ein Graf keinen Sohn hatte) zwar schon hie und da erhoben, aber von Karl noch ausdrücklich nicht anerkannt wurde. Das Kapitular beschäftigt sich hauptsächlich mit den Grafen; nebenbei aber spricht der Kaiser seine Zustimmung auch dazu aus, daß es mit seinen anderen Vasallen ebenso gehalten werde, und daß die übrigen Seigneurs des Reichs den gleichen Grundsätzen folgten. Die früher wohl geäußerte Ansicht, daß Karl durch das Kapitular von Quierzy die Erblichkeit der Lehen geschaffen oder doch rechtlich anerkannt und eingeführt habe, ist also irrig. Wie die ganzen feudalen Institutionen, so beruht auch die Erblichkeit der Lehen nicht auf einem legislatorischen Akt, sondern auf einer allmählichen Entwicklung. Die Bedeutung des Kapitulars besteht darin, daß es uns über ein Stadium dieser Entwicklung, die sonst in ihren Einzelheiten ziemlich im Dunkel liegt, helles Licht breitet. Es läßt uns in schon bestehende Verhältnisse blicken, wonach die Erblichkeit der Lehen in direkter Linie eine dem Gefühl

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E n t s t e h u n g und Bedeutung des Lehnswesens.

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der Billigkeit entsprechende Gewohnheit war. Daß diese Gewohnheit im westfränkischen Reich früher als im ostfränkischen allgemeine Verbreitung gefunden habe, ist oft behauptet, aber nie wirklich bewiesen worden, und man darf füglich bezweifeln, ob der Unterschied zwischen den beiden Teilreichen ein sehr großer gewesen ist. Jedenfalls galt die Erblichkeit der Lehen im westfränkischen Reich auch im Jahre 877 noch keineswegs als eine gesetzmäßige Notwendigkeit. Dazu ist es erst im Laufe des 10. Jahrhunderts gekommen, wozu bei den königlichen Lehen die Schwächung der Krone in den Thron Streitigkeiten zwischen Karolingern und Robertinern das ihre getan haben mag. Ja hie und da finden sich Spuren des alten Zustands noch länger; bis ins 12. Jahrhundert lassen sich, wenn auch nur ganz ausnahmsweise, Lehen nachweisen, die auf Lebenszeit vergabt aber nicht erblich waren. 5. Aftervasallen. Feudale Hierarchie. Ein Vasall konnte seinerseits wieder Vasallen haben, denen gegenüber er mithin Seigneur war. Wir finden solche Vasallen, die nach unten hin wieder Seigneurs waren, seit dem Beginn der Karolingerzeit; und da sich das Benefizialwesen eben damals immer regelmäßiger mit der Vasallität verband, bildete sich der Satz heraus, daß Lehengut vom Belehnten selbst wieder weiterverlehnt werden darf. Eine Zustimmung des ersten Seigneurs wurde bei einer solchen Weiterverlehnung nicht für notwendig erachtet, da nämlich seine Rechte nicht geschmälert wurden : die Lehnspflichten, die auf dem betreffenden Gut ruhten, leistete jetzt der neue Besitzer seinem Seigneur, und dieser konnte sich daher sogar mit verstärkter Macht in den Dienst s e i n e s Herrn, des ursprünglichen Eigentümers, stellen. Verlehnt ein Vasall ein Lehengut weiter, so entzieht er sich dadurch nicht seinen Lehnspflichten, im Gegenteil: er erhöht mit seiner eigenen Macht zugleich diejenige seines Seigneurs. Er bleibt Vasall, erhält aber nun seinerseits auch einen Vasallen, und dieser führt in seinem Verhältnis zu dem ersten Seigneur (der für ihn nicht direkt, aber doch als Seigneur seines Seigneurs in Betracht kommt) den Titel A f t e r v a s a l l (arrière-vassal, lat. subtenens selten); sein Gut geht natürlich von seinem senior (dem vassus des ersten) zu Lehen, es ist aber zugleich ein A f t e r l e h e n (arrière-fief) von dem ursprünglichen Eigentümer. Auch von Afterafterlehen wird zuweilen geredet, indem natürlich auch der Aftervasall das Lehen wieder weitergeben durfte Niemand hat seinen ganzen Besitz verlehnt. Denn ein Vasall zahlte seinem Seigneur keinerlei regelmäßige Abgaben, und dieser mußte daher zum allermindesten soviel Land in der Hand behalten, als zu seinem Unterhalt nötig war, d. h. soviel Hörige in seiner Grundherrschaft haben, daß deren Abgaben seine wirtschaftliche Unabhängigkeit sicherten. Bei Belehnungen schied also der Seigneur aus seinem Allodial- oder Benefizialbesitz nach Belieben Stücke aus. Es zeigte sich nun die Tendenz, ein solches einmal abgetrenntes Stück dauernd als ein g e s c h l o s s e n e s G a n z e s , als ein in sich zusammengehöriges,

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womöglich nicht mehr teilbares und veränderliches Lehen zu betrachten, auch wenn es später wieder an den Seigneur zurückfiel oder mit anderen Lehen desselben Vasallen verbunden wurde. Das war natürlich: es bildete ja eine wirtschaftliche Einheit, die man nicht ohne Grund auseinanderriß. Man könnte glauben, es hätte so in dem lehnsrechtlich umgestalteten fränkischen Reich eine ganze Anzahl oberster Seigneurs geben müssen, die an der Spitze einer mehr oder weniger großen Reihe von Vasallen und Aftervasallen selbst ohne Seigneur blieben. Dann wäre bei der wachsenden, schließlich alle staatlichen Einrichtungen überwuchernden Bedeutung des Lehnswesens die Einheit des Reichs stark bedroht gewesen. Dieser Gefahr gegenüber erwies sich jedoch der s t a a t l i c h e G e d a n k e als stark genug, um nach oben eine Zusammenfassung der feudalen Gewalten nach Maßgabe der lehnsrechtlichen Anschauungen zu ermöglichen. Niemals ist der staatliche Gedanke, der dem Königtum und den alten Ämtern innewohnte, durch das Lehnswesen wirklich völlig absorbiert worden; nie galt eine Grafschaft a u s s c h l i e ß l i c h als Lehen. Sondern neben den neuen lehnsrechtlichen Verhältnissen hielt sich auch das Bewußtsein der alten 1 and rechtlichen Ordnung, kraft deren es provinziale Gewalten gab, die ihre Spitze im Königtum hatten. Und wie die landrechtlichen Begriffe durch das Lehnsrecht stark beeinflußt wurden, so bildeten sie doch auch ihrerseits die lehnsrechtliche Ordnung insofern weiter aus, als sie auch die staatlichen Gewalten in der Provinz und an der Zentrale mit lehnsrechtlichen Befugnissen versahen und so dem ganzen System nach oben hin Abschluß verliehen. Einigen mächtigen Seigneurs gelang es, auf Grund ihrer alten staatlichen Amter eine mehr oder weniger große Anzahl anderer Seigneurs ihres alten Verwaltungsbezirkes wirklich in dauernder Botmässigkeit zu halten und dem lehnsrechtlichen Ausdruck durch das Vasallitätsverhältnis zu verleihen. Andere Seigneurs freilich wußten sich unabhängig von ihrem Grafen zu machen und selbst staatliche Befugnisse an sich zu reißen, wozu namentlich leicht die Immunität verhalf. Nach oben aber spitzten sich die lehnsrechtlichen Verbände noch weiter zu. Einige besonders mächtige Grafen oder Markgrafen schwangen sich zu Seigneurs einer ganzen Provinz auf, d. h. sie zwangen die umwohnenden obersten feudalen Herrn, auch wenn diese selbst im Besitz staatlicher Gewalt waren, zur Anerkennung ihrer Lehnshoheit, und sie nahmen wenigstens vielfach dann auch einen höheren, den herzoglichen Titel an. So wurden zahlreiche Seigneurs, die bisher keinen Seigneur über sich gehabt hatten, ihrerseits wieder Vasallen. Und an die oberste Stelle dieser ganzen Reihe trat schließlich der König, der auch die herzoglichen Gewalten und die anderen großen Herrn, die ohne Seigneur waren, noch einmal in der Anerkennung seiner Oberlehnshoheit zusammenfaßte. Die Herzogtümer und die kleineren staatlichen Gebilde waren also zunächst nach unten ebenso von feudalen Gewalten durchsetzt, als sie ihrerseits das Königtum einengten,

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Entstehung und Bedeutung des Lehnswesens.

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und es ist ihnen nur zum Teil gelungen, aus den Gebieten, deren Adel zu ihrem vasallitischen Verband gehörte, mit der Zeit so etwas wie einen einheitlichen Staat zu schaffen. Der König also ist nicht nur (landrechtlich) König, sondern zugleich auch (lehnsrechtlich) der oberste Lehnsherr in Frankreich, und verfolgt man, von einem kleinen Vasallen ausgehend, die Kette der Seigneurs nach oben, so langt man schließlich fast immer bei einem Lehnsfürsten und somit beim König als dem obersten Seigneur an. Dieses System wird mit einem glücklichen Ausdruck die f e u d a l e H i e r a r c h i e genannt. Wie der Papst in der römisch-katholischen Hierarchie die Spitze bildet, so gipfelt im König die feudale Hierarchie seines Reiches. »Kein Land ohne Seigneur« wurde der ausgesprochene Grundsatz des Lehnsstaates; der König trägt sein Reich von Gott zu Lehen, wie man in letzter Ausdehnung dieser Theorie gesagt hat. Die lehnsrechtliche Stellung als oberster Seigneur aber wurde für den König geraume Zeit lang die Hauptsache, da mit den alten landrechtlichen Befugnissen bei der Macht und Unabhängigkeit der erblich gewordenen großen Kronlehen nicht mehr viel zu machen war: das ist das charakteristische Zeichen des Königtums während der höchsten Ausbildung des Lehnsstaates. Auch für die lehnsrechtliche Stellung blieb freilich die große Frage, inwieweit sich der König auf seine Vasallen nun auch wirklich verlassen konnte. Die karolingischen Könige, deren Grundbesitz bei den vielen Benefizialverleihungen schließlich fast ganz zusammengeschmolzen war, vermochten das je länger je weniger und wurden daher das Spielzeug ihrer großen Vasallen. Die kapetingischen Herzoge von Franzien hatten schon eher wieder etwas reale Macht in die Wagschale zu legen. Jedenfalls trug der zentralistische Staatsgedanke den schwersten Schaden aus dem Sieg des Feudalismus davon. Die meisten und wichtigsten staatlichen Befugnisse sind an provinziale Gewalten oder noch kleinere Herrn übergegangen, während der König sich im wesentlichen mit der Stelle eines obersten Lehnsherrn begnügen mußte. Dadurch aber verlor er nicht nur die direkte Verbindung mit seinen Aftervasallen und den auf einer noch tieferen Stufe der feudalen Hierarchie stehenden Rittern, sondern es zerriß überhaupt der Zusammenhang zwischen ihm und dem größten Teil der Einwohner Frankreichs, der nichtadeligen Bevölkerung, soweit diese nicht zu dem eigenen, vorerst kleinen Lehnsstaat der Kapetinger in Franzien gehörten. So ist die ehedem einheitlich in der Hand des Königs stehende staatliche Gewalt über ganz Frankreich gewissermaßen zerschlagen worden in eine Unzahl kleiner Territorien, deren Herren die staatlichen Gerechtsame ausübten. Erst im 12. Jahrhundert beginnt die lange und mühevolle Arbeit der Krone, dieses Verhältnis wieder zu ändern und die Schranken, die ihr das Lehnsrecht gezogen hatte, allmählich zu durchbrechen.

H o l t z m a n n , Französische Verfassungsgeschichte.

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Die Zeit des Lehnswesens (843—1180).

2 . Kapitel.

Der Adel und das adelige Lehen. Literatur.

L e h e n u. S e i g n e u r i e : Assises de Jérusalem, hsg. v. Beugnot, 2 Bde1841 — 43. — G. Durantus, Spéculum judiciale, 1473 u. o. — Ch. Loyseau, Traicté des seigneuries 1609 ; auch in den Oeuvres (1636 u. o.). — [N.] Brüssel, Nouvel examen de l'usage général des fiefs en France pendant les Xle, Xlle, XIII e et XlVe sels., 2 Bde. 1727; 1750. — C. Pocquet de Livonnière, Traité des fiefs, 1729; 1756. — [P. J. G.] Guyot, Traité des fiefs, 5 Bde. 1738 — 51. — F. de Boutaric, Traité des droits seigneuriaux et des matières féodales, 1741 u. o. — J. Renauldon, Traité hist. et pratique des droits seigneuriaux, 1765. — P. L. Championnière, De la propriété des eaux courantes, ouvrage contenant l'exposé complet des institutions seigneuriales, 1846 ; vgl. H. L. Bordier, Des droits de justice et des droits de fief, Biblioth. de l'éc. des chartes 2. Ser., 4 (1847 f.). — E i n z e l h e i t e n : A. Beaudoin, Homme lige, Nouv. rev. hist. de droit 7, (1883). — H. Pirenne, Qu'est-ce qu'un homme lige?, Acad. royale de Belgique, Bulletins de la classe des lettres, 1909. — M. Planiol, L'assise au comte Geft'roi. Etude sur les successions féodales en Bretagne, Nouv. rev. hist. de droit 11 (1887). — L. Thiébault, Le privilège de masculinité et le droit d'ainesse en Lorraine et Barrois, 1904. — Saint-Sauveur, Etude hist. sur les droits de bail seigneurial et de rachat en Bretagne, 1904. — A l l o d e : E. Cliénon, Etude sur l'hist. des alleux en France, 1888. A d e l u n d R i t t e r t u m : G. A. do La Roque, Traité de la noblesse et de ses différentes espèces, 1678 ; 3. A. 1734. — J. B. de La Curnc de SaintePalaye, Mémoires sur l'anc. chevalerie, n. A. 3 Bde. 1781 ; deutsch v. J. L. Klüber, 3 Bde. 1786—91. — L. Gautier, La chevalerie, 1884. — P. Guilhiermoz, Un nouveau texte relatif à la noblesse maternelle en Champagne, Biblioth. de l'éc. des chartes 50 (1889). — Ders., Essai sur l'origine de la noblesse en France au moyen âge, 1902. — M. Breuil, De la particule dite nobiliaire, These 1903.

1. Die Lehnstreue und ihre Pflichten. Nach welchen Gesetzen war das eigenartige Abhängigkeitsverhältnis des Vasallen von seinem Seigneur eingerichtet? Es galt in der Hauptsache als ein durchaus p e r s ö n l i c h e s T r e u V e r h ä l t n i s . Diese Anschauung ist charakteristisch für den ganzen lehnsrechtlichen Zustand. Auf dem adeligen Lehen ruhen fast keine realen Lasten und namentlich keine regelmäßigen Abgaben; Verleiher und Entleiher sind aneinandergeknüpft durch das persönliche Band der schuldigen Treue. Daraus ergeben sich von selbst die wichtigsten gegenseitigen Verpflichtungen. Die Pflichten des Vasallen lassen sich kurz dahin zusammenfassen: er schuldet dem Seigneur consilium et auxilium, d. h. Unterstützung durch Rat und Tat. Beides zog bestimmte Verpflichtungen nach sich. Zunächst das consilium: Die Vasallen mußten, wenn der Seigneur das verlangte, an seinem Hof (seiner curia) zur Beratschlagung über gemeinsame Interessen erscheinen. Den R a t des Herrn bilden seine Vasallen, die pares (Pairs), wie sie im Gegensatz zum Seigneur auch genannt werden, da sie in lehnsrechtlicher Hinsicht auf der gleichen Stufe stehen. Eine der wichtigsten Gelegenheiten, bei denen die pares am Hof ihres Lehnsherrn zu erscheinen haben, ist die, wenn

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Der Adel und das adelige Lehen.

der Rat als lehnsrechtliches G e r i c h t über einen Vasallen zusammentritt. Der Rat des Seigneurs und das Gericht über seine Vasallen sind ursprünglich in der feudalen Zeit dasselbe: der Gerichtsdienst über die Vasallen gehört zu den Obliegenheiten des Rats, der in diesem Falle freilich selbst beschließende, d. h. richtende Gewalt besaß, wie das dem Recht des Vasallen, von seinen pares gerichtet zu werden, entsprach. In dem Gericht über einen Vasallen war der Seigneur der Vorsitzende, die pares die Beisitzer, Seigneur und pares die Richter. Der Pflicht des Vasallen, beim Gericht des Seigneurs als Beisitzer, Zeuge, Beklagter oder Kläger zu erscheinen, entspricht die Pflicht des Seigneurs, • an seinem Hof dem Vasallen ein Gericht zu bieten: der Adlige ist dem aus seinen pares gebildeten Gericht des Seigneurs unterworfen, darin liegt für ihn nicht nur eine Pflicht, sondern auch ein wichtiges Recht beschlossen. Eine zweite Gruppe vasallitischer Pflichten knüpft sich an das schuldige auxilium, die Unterstützung des Seigneurs durch die Tat. Dazu gehörte namentlich die Verpflichtung zum K r i e g s d i e n s t (hostisf service d'ost; speziell für das feudale Ritterheer auch cavalcata, cltevaucliee). Jeder Adlige konnte nämlich nach feudaler Anschauung jeden Adligen, durch den er sich gekränkt oder in seinem Recht verletzt glaubte, bekriegen. Nur der senior und der vassus durften, solange keiner von ihnen seine Lehnspflicht verletzt und damit das vasallitische Band zerrissen hatte, die Waffen nicht gegeneinander erheben; das hätte dem Begriff der Treue, die sie sich schuldeten, widersprochen. Sonst aber herrschte unter dem feudalen Adel ein allgemeines Fehderecht. Der Krieg war für den Adel ein Rechtsweg, der ihm neben der Klage vor dem zuständigen Gericht offen stand. Beständige Fehden waren die natürliche Folge dieser Anschauung, die die Zurückdrängung der staatlichen Gewalten durch den feudalen Gedanken besonders deutlich vor Augen führt. Man bezeichnete diese lehnsrechtlichen Fehden als »Privatkriege« (d. h. privatrechtliche Kriege) im Gegensatz zu den öffentlich-rechtlichen der staatlichen Gewalten (Lehnsfürsten und König). Aber auch die Privatkriege, die bei ihrer Häufigkeit eine überaus schwere Geißel für das Land bildeten, waren nicht etwa ungesetzlich, sondern nach anerkanntem feudalem Brauch ein erlaubtes Rechtsmittel des Adels. Es lebt etwas von altgermanischer Anschauung in diesen Zuständen. Wie einst in der Urzeit nach einem Totschlag die Sippe des Erschlagenen die Wahl hatte, ob sie Blutrache üben oder eine angemessene Buße entgegennehmen wollte, so stand jetzt dem Adligen, dem ein Unrecht geschah, ein kriegerischer und ein friedlicher Weg zur freien Verfügung (nur mußte der einmal beschrittene Weg in der gleichen Angelegenheit dann auch eingehalten werden); und wie dort der Sippe die Sühne obgelegen hatte, so finden wir auch hier in der Feudalzeit häufig die Verwandten (sogar bis zum siebenten Grad) zur Unterstützung der beiden streitenden Parteien verpflichtet. Die hauptsächlichste Hülfe aber fanden die kriegführenden Herrn an ihren Vasallen. Auf Verlangen des Seigneurs müssen all 2*

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seine Vasallen nicht nur in Person zum Kriegsdienst sich einfinden, sondern auch wieder ihrerseits ihre Vasallen aufbieten und so herab bis zu den kleinsten Rittern, die nur vassi, keine seniores sind; und dieses Aufgebot hat so lange auf eigene Kosten unter den W a f f e n zu bleiben, bis der K r i e g für das laufende Jahr odér überhaupt zu Ende ist. So lauteten wenigstens die ursprünglichen, ganz strengen Regeln, wie sie aus dem kriegerischen Charakter und Sinn der ganzen lehnsrechtlichen Zustände flössen. Es ist bezeichnend für die schreckliche Plage, die die beständigen Kriege mit sich brachten, daß sie selbst den Adel, der doch recht eigentlich zum Kriegführen da war, zu schwer bedrückten. Die Folge waren allerhand Milderungen, die aber keine allgemeine Geltung erlangten, sondern nach Ort und Person sich verschieden gestalteten. Da kam es vor, daß die Aftervasallen überhaupt vom Erscheinen entbunden wurden, oder daß ein Vasall nicht mit allen seinen Vasallen, sondern nur mit einer größeren oder kleineren Zahl von ihnen zu erscheinen brauchte. Da kam es vor, daß die Dauer der Kriege für die Vasallen überhaupt beschränkt wurde; am häufigsten wurde sie auf vierzig Tage im Jahr festgelegt, aber an anderen Orten kommen auch andere Normierungen der Zeit, für welche die Pflicht der Heeresfolge Geltung haben sollte, vor. Auch das war nicht ungewöhnlich, daß ein mächtiger Lehnsherr einem armen Ritter die Kosten für Bewaffnung und Unterhalt ganz oder teilweise ersetzte. Doch sind das alles spätere Beschränkungen des ursprünglichen Zustandes; vor dem 12. Jahrhundert wird man sie nicht häufig nachweisen können. Dann aber nahmen sie stark überhand, und später gab es Lehen, auf denen die volle militärische Pflicht nach Zeitdauer, Teilnehmerzahl, Bewaffnung und Unterhalt ruhte, fast nur mehr in der Normandie; sie hießen dort Panzerlehen (fief de haubert). Eine weitere Leistung, die für den Vasallen aus dem schuldigen auxUium entsprang, sind die aides féodales, d. h. außerordentliche Abgaben, die er in bestimmten Fällen zu entrichten hatte. Ordentliche Abgaben, eine regelmäßige Steuer, kennt das Lehnsrecht nicht; sie hätte dem persönlichen Charakter des Verhältnisses zwischen senior und vassus widersprochen. Aber in einigen außerordentlichen Fällen forderte die schuldige Treue Abgaben des Vasallen zu Gunsten seines Herrn. Es waren das nicht nur Fälle der Not sondern auch solche, bei denen der Vasall mehr seine Ehrerbietung und sein Interesse am Haus des Lehnsherrn zeigte. Zur Ausstattung des ältesten Sohnes und zu derjenigen der ältesten Tochter des Seigneurs hatte der Vasall eine Beisteuer zu entrichten, für den Sohn, wenn dieser Ritter wurde, für die Tochter, wenn sie heiratete. Dazu kam dann drittens ein Fall schwerster N o t : war der Lehnsherr in Gefangenschaft gefallen und gegen ein Lösegeld wieder zu befreien, so galt es als selbstverständliche Pflicht des Vasallen, zu diesem Lösegeld einen Beitrag zu zahlen. Und schließlich schuf die Zeit der Kreuzzüge noch eine vierte Gelegenheit. Entschloß sich ein Seigneur zur Teilnahme an

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Der Adel und das adelige Lehen.

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einem Kreuzzug, so mußten seine Vasallen ihn bei diesem kostspieligen Unternehmen unterstützen, die Pflicht der Heeresfolge hier also gewissermaßen abkaufen. Das sind die oft berufenen quatre cas, die vier Fälle, in denen das Lehnsrecht dem Seigneur gestattete, die Treue seines Vasallen zu einer finanziellen Unterstützung anzurufen. Die Pflichten, die dem senior gegen den vassus zufielen, lassen sich zusammenfassen in dem Worte S c h u t z . Darin hatte er die Treue zu betätigen, im Schutz, den er seinem Vasallen in jeder Bedrängnis angedeihen ließ. Namentlich hatte er ihn im Besitz des Lehens gegen alle Angriffe zu schützen und ihm ferner sein Gericht zur Verfügung zu stellen, als den Ort, wo der Vasall sein Recht finden konnte. Davon redeten wir schon : das Gericht, das über einen Adeligen zuständig war, war das seiner pares am Hof und unter dem Vorsitz des Seigneurs; an dieses Gericht knüpften sich gleicherweise Pflichten und Rechte für den Vasallen, wie für seinen Lehnsherrn. Zwischen senior und vasstts war überhaupt jeder feindliche Akt unmöglich, da er dem Gedanken der Treue widersprochen hätte. Keiner darf den anderen angreifen, beleidigen, ihm seine Frau oder Tochter verführen und was solche untreue, Ehre und Gut berührende Handlungen mehr waren. Verletzt der Seigneur oder der Vasall eine Pflicht gegen den andern Teil, bricht er mithin die schuldige Treue, so begeht er das Verbrechen der F e l o n i e . Auf Felonie aber stand als Strafe für den schuldigen Teil : Verlust des Lehens. Verletzte also der Vasall seine Pflicht, so verwirkte er damit sein Lehen : der Treubruch zerriß das Band, welches der Lehnsherr durch die Belehnung geknüpft hatte. Das Lehen fiel an den Seigneur zurück: die E i n z i e h u n g des Lehens (commissio oder commissum, forisfaetura ; la commise, forfaiture) war die Folge des Treubruchs. Verletzte hingegen der Seigneur seine Pflicht, so war der Vasall der seinigen ledig; er behielt sein Lehen, aber nicht als freies Eigentum, da das eine Schädigung des nächsthöheren, an der Pflichtverletzung unbeteiligten Seigneurs bedeutet hätte, sondern nunmehr als Lehen eben dieses höheren Herrn: der Vasall erhielt jetzt den Seigneur seines bisherigen Seigneurs als Seigneur, den Herrn also, dessen Aftervasall er bisher gewesen war; er rückte in der feudalen Stufenleiter um eine Stufe in die Höhe und näherte sich mithin um einen Grad dem König. In der Tat sollte dieser Grundsatz für die Krone reiche Frucht tragen. Als die Könige daran gingen, die Macht ihrer großen Vasallen zu brechen, da bot sich ihnen hier ein Mittel, dessen sie sich mehr als einmal bedienten: sie achteten auf die Klagen ihrer Aftervasallen. Wo einer dieser geringeren feudalen Herrn seinen Seigneur, einen der großen Lehnsträger der Krone, wegen Pflichtverletzung, namentlich (was besonders häufig vorkam) de defectu iuris, d. h. wegen Rechtsverweigerung (défaute de droit, déni de justice) verklagte, da schenkte der König ihm willig Gehör und nahm ihn aus dem Lehnsverband seines Vasallen in den eigenen auf.

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Die Zeit des Lehnswesens (843—1180).

Hier war er gern bereit, die feudalen Gesetze in ihrer ganzen Strenge gelten zu lassen. Sonst kommen auch in diesen Fällen Milderungen des oft harten Rechtes vor. Namentlich wenn der Vasall sich nur einer kleinen Pflichtverletzung schuldig gemacht hatte, dann begnügte sich der Lehnsherr wohl damit, seine Hand auf das Lehen zu legen und den Ertrag des Bodens einzuziehen, bis der Vasall seiner Pflicht nachkam oder die Strafe ausreichend schien. Auch das ist aber nicht eigentlich Lehnsrecht, sondern nur eine jener Milderungen, die in den Fällen, wo die feudalen Anforderungen sogar dem Adel zu rigoros schienen, von selbst Eingang fanden. 2. Reallasten der Lelien. Ganz gingen freilich die Beziehungen zwischen Seigneur und Vasall doch nicht in der persönlichen Treupflicht auf. Im Gegensatz zu der Kommendation hatten die Benefizialverleihungen, die andere Wurzel des Lehnswesens, einst ein mehr sachliches als persönliches Verhältnis geschaffen und dem Verleiher wichtige Rechte über das verliehene Gut gelassen, und auch davon finden sich im Lehnsrecht wenigstens noch Reste, die nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Es handelt sich um Befugnisse des Lehnsherrn, in denen sich einige Rudimente seines ursprünglichen Eigentumsrechtes am Lehen erhalten haben. Der Vasall besaß sein Lehen ja fast so gut wie zu Eigentum, aber doch eben nur fast, und streng juristisch gesprochen ist der Lehnsherr immer der wirkliche Eigentümer geblieben. Seine Rechte zeigten sich, auch wenn der Vasall keine Treupflicht verletzte, sobald das Lehen seinen Besitzer wechselte, also beim Tod des Vasallen (weniger beim Tod des Seigneurs) und bei einer Veräußerung des Lehens. Beim Tod des Vasallen sowohl als beim Tod des Lehnsherrn fand eine Erneuerung des homagium statt; der erbberechtigte, neue Vasall mußte dem alten Seigneur, der alte Vasall einem neuen Seigneur aufs neue die Huldigung leisten bei Strafe der Einziehung des, Lehens. Das war also der geringe Rest, der dem Lehnsherrn, nachdem das Prinzip von der Erblichkeit der Lehen durchgedrungen war, aus seinem einstigen Recht freier Verfügung geblieben war. Aber an diesen Rest knüpfte sich wenigstens in dem Fall, wo der Vasall gestorben war, für den Seigneur eine wichtige Einnahmequelle: der neue Vasall hatte ihm das relevium (relief, rachat) zu zahlen, eine Abgabe, die meistens das Einkommen des Lehens von einem Jahr darstellte. In einigen wenigen Gegenden mußte das relevium sogar beim Tod des Seigneurs vom Vasallen gezahlt werden (relief de toutes mains). Diese Abgabe des relevium, die, in Deutschland sehr selten, in Frankreich wie in England ein ziemlich wichtiges Recht des Seigneurs darstellt, gestattet einen Rückschluß auf einen früheren Zustand; denn sie stammt sichtlich aus einer Zeit, wo das Lehen rechtlich noch nicht erblich war, und wo es also galt, den Seigneur durch eine Gabe, eine Art Kaufsumme, günstig zu stimmen. Die Pflicht, das relevium zu zahlen, war für den Adel recht drückend. Sie wurde aber mit

2. Kapitel. Der Adel und das adelige Lehen.

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•der Zeit durch das Gewohnheitsrecht gemildert. In den meisten Gegenden verschwand sie allmählich im Fall der Erbschaft in direkter Aszendenz oder Deszendenz. Im 13. Jahrhundert braucht der Sohn für das Erbe seines Vaters fast nirgends mehr eine Abgabe zu zahlen; allein der französische Vexin (zwischen Oise, Seine und Epte) blieb dauernd bei dem alten Brauch. Sonst wurde relevium nur noch von kollateralen Erben (Seitenverwandten) gefordert und gezahlt. Es ist interessant zu sehen, wie die Rechte des Seigneurs beim Todfall nach und nach immer mehr beschränkt wurden. — War beim Tod eines Vasallen kein nachfolgeberechtigter Erbe vorhanden, so fiel das Lehen als erledigt an den Seigneur zurück : der eigentliche Eigentümer trat auf Grund des droit de réversion seine Rechte wieder in vollem Umfang an. Das ist der H e i m f a l l (la déshérence) des Lehens. Es war dem Vasallen zwar gestattet, sein Lehen weiter zu verlehnen — was er natürlich nur tat, wenn er selbst genug Eigen- oder Lehengut besaß —, nicht aber durfte er ursprünglich ein Lehen verkaufen oder verschenken. Das entsprach dem Sinn des Lehnsrechtes, da das persönliche Verhältnis zwischen Seigneur und Vasall durch eine Weiterbelehnung nicht berührt wurde, durch eine V e r ä u ß e r u n g (alienatio) aber aufgehoben worden wäre. Höchstens war es möglich, auf einem Umweg zum Ziel. zu kommen : der Vasall bat den Seigneur, das Lehen mit seiner Zustimmung einem anderen zu geben, und konnte sich dann, wenn der Seigneur einverstanden war, von diesem anderen auch bezahlen lassen. Ursprünglich schloß also eigentlich nicht der alte Vasall mit dem neuen den Handel, sondern der Seigneur ging auf Bitten des alten Vasallen mit dem neuen einen Vertrag ein. Tatsächlich kam das jedoch auf eine S c h e n k u n g oder (wenn der alte Vasall sich seine Fürbitte vom neuen bezahlen ließ) auf einen V e r k a u f des Lehens hinaus: das Lehen blieb Lehen desselben Seigneurs, wechselte aber seinen Besitzer. So bildete sich denn der Grundsatz: das Lehen kann durch den Vasallen veräußert werden, aber es ist bei Strafe der commissio dazu die Einwilligung des Lehnsherrn erforderlich. Das ist der Standpunkt, den etwa das 11. Jahrhundert in der Frage der Veräußerung einnahm. Indes war die Entwicklung damit noch keineswegs abgeschlossen. Der Seigneur ließ sich seine Einwilligung nämlich bezahlen; handelte es sich doch eigentlich um sein Eigentum, das da durch den Vasallen veräußert wurde. Dadurch erhielt das Ganze -aber etwas Geschäftsmäßiges; als Hauptsache galt bald der zu zahlende Preis, der die Einwilligung des Seigneurs mit sich ziehen mußte. So setzte sich allmählich die Meinung fest, daß Lehnsgut auch ohne vorherige Zustimmung des Herrn veräußert werden könne. Einen hübschen Einblick in das Werden dieser Anschauung gewähren die •Consuetudines feudorum, eine langobardische Rechtssammlung, die auf die Zustände in Frankreich (namentlich in Südfrankreich) in mancher Weise eingewirkt hat. Die Consuetudines feudorum enthalten (schon in.ihren älteren, um die Mitte des 12. Jahrhunderts aufgezeichneten

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Teilen) die Bestimmung, daß Lehnsgut mit Einwilligung des Lehnsherrn immer veräußert werden kann, ohne diese Einwilligung aber nur dann, wenn es sich um einen Teil, höchstens um die Hälfte des Lehens handelt ; nur bei den Mailändern konnte bereits das ganze Lehen veräußert (oder wenigstens in Erbpacht gegeben) werden. In Frankreich gewann im 13. Jahrhundert das Recht über die Veräußerung von Lehnsgut allgemein folgendes Ansehen : Der Vasall darf sein Lehnsgu't ganz oder teilweise auch ohne ausdrückliche Zustimmung des Seigneurs verschenken oder verkaufen. Doch erhält in beiden Fällen der Seigneur eine bestimmte Summe, nämlich bei Schenkung das relemum und bei Verkauf einen gewissen Bruchteil des Kaufpreises, meist ein Fünftel (le quint), zu dem sich manchmal noch ein weiteres Fünftel dieses Fünftels (le requint) hinzugesellt, sodaß sich im Falle, wo quint und requint gezahlt wird, die Summe, die der Seigneur erhält, auf 6/25 des Kaufpreises stellt. Das bedeutete also eine richtige Umsatzsteuer: an Stelle seiner einstigen freien Einwilligung hat der Seigneur im Lauf der Zeit daß Recht auf eine Abgabe erhalten. Derjenige, welcher das veräußerte Gut, sei es nun durch Schenkung oder Kauf, erworben hatte, trat in den Lehnsverband des Seigneurs ein. Doch blieb diesem im Fall des Kaufs ein Vorkaufsrecht (droit de retenue, retrait) gewahrt, indem er den Käufer gegen Rückerstattung der Kaufsumme zufriedenstellen und sich selbst in den Besitz des Lehens setzen durfte. Das war wenigstens noch ein Mittel für ihn, Leute, die er nicht wollte, aus dem Verband seiner Vasallen fernzuhalten. Man wird beachten, daß die Entstehung aller Abgaben, die der Seigneur erhielt, im Fall das Lehen seinen Besitzer wechselte (also des relevium, sei es nun bei Erbschaft oder Schenkung, sowie des quint und requint), ganz gleichartig ist: immer bildeten sie ursprünglich eine Bezahlung für sein Einverständnis (laudemium) zum Besitzwechsel. Daher erklärt sich auch der gemeinsame Name für sie: sie werden als lods et ventes zusammengefaßt. Im Fall ein Lehen auf Grund von Erbschaft, Schenkung oder Kauf seinen Besitzer wechselte, steht dem Seigneur le droit de lods et ventes zu, und nur bei Erbschaft in direkter Linie geriet dieses Recht allmählich außer Übung. — Die finanziellen Erträgnisse, die der Seigneur aus den Lehen seiner Vasallen zog, zerfallen sonach in zwei Gruppen: 1. les aides féodales en quatre cas, Abgaben, die in dem persönlichen Treuverhältnis zwischen Vasall und Seigneur ihren Ursprung hatten; und 2. les lods et ventes (d. h. relief, quint und requint), Reallasten, die auf dem Lehen ruhten und Reste der einst viel weitergehenden Eigentumsrechte des Herrn an dem vergabten Gut darstellen. Diese Erträgnisse waren für den Seigneur gewiß wichtig genug, aber es sei nochmals darauf hingewiesen, daß sie alle nur gelegentlich, in bestimmten Fällen gezahlt wurden, und daß keine regelmäßige Pacht oder Steuer dabei war. Eine solche widersprach den Anschauungen des Lehnswesens völlig: d e r A d e l i s t s t e u e r f r e i , das ist feudaler Grundsatz.

2. Kapitel.

Der Adel und das adelige Lehen.

3. Formalitäten und Abstufungen beim Lehnsvertrag.

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Die

F o r m a l i t ä t e n , unter denen der Lehnsvertrag (homagium) in der Zeit des ausgebildeten Feudalismus geschlossen ward, sind die Fortbildung von den Formalitäten der Kommendation (S. 11). Der Empfänger des Lehens vollzieht den Akt, indem er vor dem Verleiher ohne Waffen und entblößten Hauptes niederkniet und seine zusammengefalteten Hände in die Hände des anderen legt; dieser hebt ihn auf und küßt ihn auf den Mund — ein Zeichen des persönlichen Charakters, der dem zum Abschluß kommenden Vertrag eignet. Der Vasall leistet einen Treueid, der entweder allgemein gehalten ist oder auch einzelne Bedingungen besonders aufzählt; seine Stelle in dem ganzen Vorgang ist nicht immer die gleiche. Schließlich folgte die I n v e s t i t u r , die eigentliche Belehnung mit dem Land, die durch ein Symbol 'geschah : der Herr investierte seinen neuen Vasallen mit dem Lehen, indem er ihm als dessen Sinnbild ein äußeres Zeichen überreichte. Welchen Gegenstand der Herr bei der Investitur als Symbol wählte, das war sehr verschieden und richtete sich im allgemeinen nach der Art und Bedeutung des Lehens. Ein Rasenstück, eine Ackerscholle, ein Halm, ein Messer, ein Zweig, ein Reis, eine Gerte, ein Stock, ein Stab, ein Szepter, ein Handschuh, ein Hut, eine Fahne und andere Gegenstände dienten da als Sinnbild. Geistliche Herren (namentlich Bischöfe) wurden seit dem 10. Jahrhundert gewöhnlich mit Stab und Ring investiert, wogegen dann die Kirche im Investiturstreit Einspruch erhob, da Stab und Ring Zeichen der speziell geistlichen Gewalt seien. Schwere Verwicklungen mußten in den vasallitischen Verbänden dadurch entstehen, daß nach Lehnsrecht ein Vasall sehr wohl von mehreren Herren Lehen nehmen konnte. Ein solcher vassus, der bei verschiedenen Seignours zu Lehen ging, kam natürlich leicht in einen Streit der Pflichten, namentlich wenn sich zwei seiner Lehnsherrn bekriegten, und das machte Modifikationen der Lehnsverträge nötig. Da nämlich die Lehnsaristokratie durch Heiraten, Erbschaften, Schenkungen und Neubelehnungen mit der Zeit immer mannigfaltiger untereinander verknüpft wurde, nahmen solche Fälle, wo ein Vasall mehrere Seigneurs hatte, rasch zu; und so begann man denn im 11. Jahrhundert, zu unterscheiden zwischen einem homagium, welches in der alten Weise den Vasallen unbedingt an den Seigneur band, und einem solchen, bei welchem Klauseln in den Vertrag aufgenommen wurden, Vorbehalte, die ältere Rechte anderer Herrn betrafen. Jenes ist das homagium ligium (hommage lige), dieses das homagium simplex (auch

planum

oder ordinarium;

hommage simple, piain,

ordinaire).

Das

homagium ligium ist der eigentliche, alte, strenge Lehnsvertrag, der erst von der Zeit an, wo es häufiger vorkam, daß ein Lehnsvertrag mit Vorbehalt geschlossen wurde, im Gegensatz hierzu den Beinamen »ligisch« erhielt. Das Wort ligius (frühester Nachweis 1046) hängt vermutlich mit ledig, d. h. frei, zusammen; ein vassus ligius ist ein Vasall, der frei ist von allen Verbindlichkeiten gegen andere. E r hat dem Seigneur, dem er ligisch verbunden ist, in alter Weise die unbedingte

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Die Zeit des Lehnswesens (843—1180).

Treue gelobt. Nimmt dieser Vasall dann in der Folge noch von einem anderen Herrn ein Lehen, so kann er diesem nur das homagium simplex geben, d. h. er schwört ihm Treue vorbehaltlich der gegen den ersten Senior bereits eingegangenen Verpflichtung. Man kann nur bei e i n e m Seigneur vassus ligius sein, und zwar bei dem, von welchem man zuerst ein Lehen empfing; das ist wenigstens die ursprüngliche, dem Sinn des Begriffs entsprechende Regel. Im Lauf der Zeit hat man freilich diesen logischen Standpunkt verlassen: seit dem 12. Jahrhundert kommt es vor, daß ein Vasall mehreren Herrn ein homagium ligium leistet. Er tut das dann, indem er sich bei den späteren seine ligischen Verpflichtungen gegen die früheren vorbehält (salva oder excepta ligeitate domini A et domini B), also ein homagium ligium mit Vorbehalt leistet, was eigentlich ein Widersinn war. Aber dem Lehnsgeber brachte eine ligische Verpflichtung doch mehr als eine gewöhnliche. Seltsame neue Bestimmungen kommen da auf: der vassus ligius eines Seigneurs C, der sich bei seinem homagium ligium frühere ligische Verpflichtungen gegen A und B vorbehalten hat, muß, wenn beispielsweise A und C in Krieg geraten, beiden helfen, und zwar persönlich in Begleitung von einem oder mehreren Rittern dem A, wenn dieser den Krieg in eigener Person und in eigener Sache führt, gleichzeitig aber durch einen oder mehrere seiner Ritter auch dem C; wenn aber A nicht in eigener Sache sondern nur aus Freundschaft für einen anderen die WafEen gegen C erhebt, dann hat der vassus ligius in eigener Person dem letzteren beizustehen und dem ersteren nur einen oder mehrere Ritter zu schicken. Solche Bestimmungen waren ursprünglich natürlich nur mit Zustimmung des ersten Lehnsherrn, dessen Rechte ja geschmälert wurden, möglich; sie tragen aber überhaupt schon deutlich das Zeichen des Zerfalls der alten strengen Anschauungen an sich. Zugleich erkennen wir die Vorteile, welche solch ein zweites, drittes oder viertes homagium ligium dem Lehnsgeber gegenüber dem homagium simplex bot: nur bei jenem gab es überhaupt eine Unterstützung im Krieg gegen den ersten Seigneur, und es war zudem jedem vorher oder nachher geschlossenen homagium simplex überlegen. So bildete sich allmählich die Anschauung, daß es eine doppelte Treue gebe, eine stärkere, ligische, und eine geringere, gewöhnliche — ein den ursprünglichen lehnsrechtlichen Institutionen völlig fremder Gedanke. Ligische Treue wurde geleistet, wenn der Vasall den gewünschten Schutz durch einen der gesuchten großen Herrn nur unter dieser Bedingung erlangen konnte, oder wenn der Seigneur sie sich durch eine besonders reiche, lockende Schenkung erkaufte. Zu beachten ist jedoch, daß nicht homagium ligium sondern homagium simplex das eigentlich neue ist. Jenes ist einfach die Fortsetzung des alten Lehnsvertrags, und daher bewahren die Formalitäten beim homagium ligium auch die alte Strenge: der ligische Lehnsakt geht in der Weise des alten homagium vor sich. Anders, wenn nichtligische Treue geschworen wurde. Das homagium simplex schuf kein so starkes Band, und deshalb wurden in

2. Kapitel. Der Adel und das adelige Lehen.

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diesem Falle auch die Formalitäten beim Lehnsvertrag, wenigstens meistenteils, abgeschwächt, ohne daß darüber im Einzelnen sich allgemein gültige Regeln ausgebildet hätten. So kniete der Vasall bei homagium simplex meistens nicht nieder, sondern leistete stehend dem Senior die Huldigung, manchmal sogar ohne seine Hände in die des Herrn zu legen; auch gab es Gegenden, wo beim Treueid ein Unterschied gemacht wurde, indem der ligius ihn auf die Bibel, der vassus simplex ihn »ohne Buch« ablegte. Räte und andere Beamte der Lehnsfürsten und des Königs treten uns naturgemäß besonders häufig als ligische Vasallen entgegen; aber zu Unrecht hat man deshalb die ligii begrifflich mit ursprünglich unfreien Dienern und Räten der Fürsten, die in Deutschland als Ministerialen bezeichnet wurden, identifizieren wollen. Doch blieb das .Wort nicht auf den Adel beschränkt, sondern wurde auch von den Besitzern bürgerlicher und höriger Lehen, ja schließlich zur Bezeichnung eines einfachen sachlichen Rechtsverhältnisses (z. B. domits ligia) gebraucht. Da der Vasall durch ein homagium ligium stärker und verläßlicher als durch ein homagium simplex gebunden wurde, war es nicht ohne Bedeutung, daß es dem Königtum gelang, sich von den großen Lehnsfürsten des Reiches homagium ligium leisten zu lassen. Das Verhältnis dieser Großen des Reiches zur Krone ging ja in die frühesten Zeiten des Lehnswesens zurück, und die Könige hatten so gewissermaßen die ältesten Rechte an ihnen. Deshalb mußten die großen Lehnsträger den ligischen Charakter ihrer Verpflichtung gegenüber dem obersten Lehnsträger des Reichs anerkennen. Sie waren also rechtlich mit dem festesten Band, das diese auflösende Periode kannte, an die Krone geknüpft; und wenn sie sich geraume Zeit lang tatsächlich auch darüber hinweggesetzt haben, so haben die Könige schließlich doch auch aus dieser Tatsache Nutzen zu ziehen verstanden. 4. Erbrecht der Sühne. Im Lehnserbrecht ist zunächst charakteristisch, daß sich in den meisten Gegenden Frankreichs ein Vorrecht der E r s t g e b u r t oder genauer des ä l t e s t e n S o h n e s entwickelt hat. Ein solches Vorrecht ist dem römischen wie dem germanischen Recht ganz fremd. Denn nach römischem Recht teilten alle Kinder, nach altgermanischem alle Söhne zu gleichen Teilen. Erst das Lehnsrecht hat ein Vorrecht der männlichen Erstgeburt in Frankreich geschaffen, und zwar zunächst für die adeligen Lehen; doch kam später ähnliches dann in einigen Teilen des Landes auch beim bäuerlichen Besitz auf. Daß sich zugleich mit der Erblichkeit der Lehen das neue Prinzip von einem Vorrecht des ältesten Sohnes festsetzte, lag ganz einfach in der Natur der Sache. Wir sahen soeben, wie die Nachfolge des Sohnes im Lehen ursprünglich auf dem freien, sei es ausdrücklichen oder stillschweigenden Einverständnis des Seigneurs beruhte. Dieser aber hatte ein Interesse daran, daß das Lehen, welches er einem Vasallen gegeben hatte, nicht zerstückelt wurde; denn ihm kam es

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darauf an, daß seine Vasallen leistungsfähig blieben, und die kleinen Lehen waren im allgemeinen so ausgeteilt, daß sie für den Unterhalt e i n e s Mannes gut und reichlich dienen konnten, nicht aber für mehrere. Die Einwilligung des Seigneurs beim Tod eines Vasallen bezog sich also auf die Nachfolge e i n e s , und nicht mehrerer Erben. Ganz von selbst gelangte daher zugleich mit dem Prinzip von der Erblichkeit der Lehen dasjenige von dem Recht der Erstgeburt zur Geltung: auch in ihm steckt ein Rest von dem einstigen freien Verfügungsrecht der Herrn über die Lehen. Unteilbarkeit der Lehen, die eiue wirtschaftliche Einheit waren (S. 15 f.) und nicht zerstückelt werden sollten, und daher das Erbrecht des Erstgeborenen ist der Grundsatz, der dem Wesen des Feudalismus entspricht und zunächst allgemeine Geltung erlangte. Nur wenn ein Vasall mehrere Lehen hatte, womöglich gar von verschiedenen Seigneurs, war es die Regel, daß sie unter seine Söhne verteilt wurden (aber höchstens unter so viel, als Lehen vorhanden waren). Das aber kam später, bei den mannigfachen Verschiebungen durch Erbschaft oder Kauf, immer häufiger vor. Doch auch davon abgesehen, bildeten sich in vielen Teilen Frankreichs allmählich Rechte der jüngeren Söhne am Erbe ihres Vaters heraus. Die Entwicklung, die das Lehnswesen nahm, bewegte sich nun einmal in der Richtung, daß der Lehnsbesitz sich immer mehr dem Eigentum näherte, auch wenn dieses Ziel bis zur Revolution niemals ganz vollständig erreicht wurde. Die Rechte des Lehnsmannes an seinem Lehnsgut mehrten sich, während die des Lehnsherrn, des eigentlichen Eigentümers, sich verminderten: das zeigte sich u. a. darin, daß auch den jüngeren Söhnen ein Erbrecht am Lehnsgut zugebilligt wurde. Zwar nicht überall; in der Bretagne z. B. wurde 1185 das alleinige Erbrecht des ältesten Sohnes für alle adelige Lehen gesetzlich festgelegt. Und wo man davon abging, da geschah das in sehr verschiedener Weise. Eine vollkommene Gleichstellung der jüngeren Söhne findet sich selten; sie hatte sich in der Lombardei herausgebildet, zur Zeit als die Consuetudines feudorum aufgezeichnet wurden (12. Jahrhundert), und, wie so häufig, wirkte das italienische Beispiel auf Südfrankreicli ein. Wir finden hier in der Tat Gegenden mit vollständiger Teilbarkeit der Lehen unter alle Söhne. Aber das ist doch die Ausnahme. Meistens ist das Ergebnis der Entwicklung nur ein beschränktes Erbrecht der jüngeren Söhne, während dem ältesten große Vorrechte gewahrt bleiben. Den Hauptteil des Lehens erbt der älteste Sohn, nur kleine Bruchstücke gehen an die jüngern über. Im einzelnen sind die Bestimmungen darüber sehr verschieden; besonders häufig aber findet sich der Grundsatz, daß zwei Drittel des Lehens an den ältesten Sohn übergehen, während die anderen sich in den Rest zu teilen haben. Auch die rechtlichen Beziehungen der Söhne untereinander und zum Herrn des Lehens sind verschieden. Zwar wo unbeschränkte Teilbarkeit herrscht, da werden alle Söhne in gleicher Weise Lehnsleute des Lehnsherrn.

2. Kapitel. Der Adel und das adelige Lehen.

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Wo die jüngeren Söhne aber nur kleine Stücke erben, da kann auch eine andere, höchst eigenartige Ordnung eintreten. Es kommt freilich hier ebenfalls vor, daß alle Söhne richtige Vasallen des Lehnsherrn werden, ihr Erbe, sei es groß oder klein, von diesem zu Lehen nehmen. Anders gestalten sich die Dinge jedoch da, wo das seltsame Verhältnis Platz greift, welches man als paragium (parage) oder paraticum bezeichnet. Es besteht darin, daß nur der älteste Sohn, der den Hauptteil des Lehens erbte, dem Lehnsherrn die Huldigung leistet, er aber für das ganze Lehen; die jüngeren Söhne leisten überhaupt keinen Lehnseid, weder dem Herrn des Lehens noch ihrem Bruder, dem sie rechtlich nicht untergeordnet, sondern gleichgestellt sind: sie besitzen ihr Land nicht als homagium sondern als paragium. Im Prinzip wird hier also die Unteilbarkeit des Lehens dadurch, daß der älteste Sohn für das ganze huldigt, aufrechterhalten. Die Verständigung der Söhne untereinander ist mehr eine private Familienangelegenheit, und die Verbindlichkeiten, die das paragium ihnen gegenseitig auferlegt, weisen sie auf ein friedliches, brüderliches Einvernehmen an, bei dem der älteste Sohn eine gewisse Autorität über seine Geschwister behält. Diese eigenartige Beziehung hat Otto von Freising im Auge, wenn er es (1158) eine fast in allen Provinzen Galliens herrschende Sitte nennt, »daß immer auf den älteren Bruder und seine männlichen oder weiblichen Kinder die Vollkraft des väterlichen Erbes übergeht, während die übrigen auf jenen wie auf ihren Herrn schauen.« Das ganze Verhältnis, das sich rechtlich schwer fassen läßt, wurde natürlich noch verwickelter, wenn es unter den nächsten Generationen fortgesetzt wurde; erst wenn die Verwandtschaft nach kanonischem Recht aufhörte, bindende Kraft mit rechtlichen Wirkungen (Ehehindernis) zu besitzen, sollte auch das paragium zu Ende gehen: bei Verwandten im siebenten Grad wurde das paragium also durch ein homagium, das der Vertreter des jüngeren Zweiges dem des älteren leistete, ersetzt. Das Endergebnis war dann gleichfalls ein anderes als da, wo alle Söhne in gleicher Weise dem ersten Lehnsherrn gehuldigt hatten. Dieser bekam auch jetzt nicht mehrere Vasallen, sondern er behielt seinen einen, und die Nachkommen der jüngeren Söhne wurden seine Aftervasallen; wieder blieb die Einheit des Lehens im Prinzip gewahrt. — Paragien waren bei den Lehnsherrn, denen sie keine direkte Verbindung mit den jüngeren Söhnen und ihren Nachkommen gaben, nicht beliebt, und Philipp August hat sie zusammen mit dem Herzog von Burgund, den Grafen von Nevers, Boulogne und St. Pol und dem Herrn von Dampierre unter Zustimmung einiger kleinerer Lehnsfürsten im Jahre 1209 im Bereich des Kronguts sowie in den Ländern der genannten Lehnsfürsten verboten: künftig sollte bei Teilungen eines Lehens jeder Teilbesitzer direkt beim Lehnsherrn zu Lehen gehen. Aber wenn das einst sehr verbreitete System allmählich auch eingeschränkt wurde, so hat man es doch bis zur Revolution nicht ganz beseitigen können.

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5. Erbrecht der anderen Verwandten. Starb der Besitzer eines Lehens kinderlos, so folgten ihm, wenigstens zur Zeit, da die Erblichkeit der Lehen eine vollkommen ausgemachte Sache war, seine nächsten S e i t e n v e r w a n d t e n (Kollateralen). Doch galten nur die Deszendenten vom ersten Lehensempfänger für erbberechtigt, nicht etwa dessen Seitenverwandte und ihr Nachwuchs. Auch hat man später die Erbfähigkeit der Seitenverwandten etwas eingeschränkt (meist bis zum siebenten Grad). Es gibt bei Seitenverwandten gleichen Grades kein Vorrecht wie beim ältesten Sohn: sie erben zu gleichen Teilen. Daß die Lehnsstaaten und das Königtum unteilbar blieben oder wurden, war staatsrechtlicher Einfluß, auf diese nicht nur dem Lehnsrecht unterworfenen Gebilde. Eine weitere Frage erhob sich, wenn ein Erbberechtigter vor dem Tod des Erblassers gestorben war, aber Söhne hinterlassen hatte. Ihnen wurde in der Tat allmählich der Teil, den ihr Vater geerbt hätte, auch dann zugebilligt, wenn noch andere Verwandte gleichen Grades wie ihr verstorbener Vater (und mithin näheren Grades wie sie selbst) den Erblasser überlebten; aber das dauerte geraume Zeit und hat sich nicht schon mit der Erblichkeit oder auch nur mit der Teilbarkeit der Lehen eingebürgert. Dieses sogenannte R e p r ä s e n t a t i o n s r e c h t (droit de representation), durch welches jemand gewissermaßen als Vertreter seines verstorbenen Vaters zu einer Erbschaft zugelassen wird, war den Römern bekannt, während es sich bei den Franken (trotz eines Erlasses Childeberts II. v. J. 596) nicht allgemein einbürgern konnte und auch bei den Teilungen des karolingischen Reichs nicht in Anwendung kam. In Deutschland entschied 938 auf Anordnung Ottos I. ein Gottesurteil zugunsten des Repräsentationsrechts, in Frankreich geriet es hingegen überall, wo kein römisches Recht galt, so gut wie ganz in Vergessenheit, und auch dem französischen Lehnsrecht war es zunächst unbekannt. Erst seit dem 13. Jahrhundert breitet es sich dann im Gefolge des römischen Rechts auch auf lehnsrechtlichem Gebiet allmählich aus, ohne doch wirklich überall durchdringen zu können. U n e h e l i c h geborene Kinder (Bastarde) waren nach strengem Lehnsrecht (im Gegensatz zum alten, in den Lehnsfürstentümern noch lange nachwirkenden Landrecht) nicht erbberechtigt, eine Regel, von der im Lauf der Zeit zahlreiche Ausnahmen statuiert wurden: der Seigneur erteilte gegen eine Abgabe seine Einwilligung zur Nachfolge eines Bastards, er billigte oft auch ihm das Recht auf Weitervererbung zu, aber nur, wenn er direkte Nachkommen (Kinder) hatte. Diese Abgabe und die Einziehung des Lehens, im Falle der Bastard keine Kinder hat, machen das droit de bätardise des Seigneurs aus. Wie war es mit dem E r b r e c h t d e r F r a u e n ? Privatrechtlich standen sie in der alten fränkischen Zeit gegen die Männer weit zurück. Zwar bei den Westgoten war durch König Leovigild im 6. Jahrhundert den Schwestern volle Gleichberechtigung mit ihren Brüdern zugebilligt worden, nachdem sie schon vorher ansehnliche Rechte am

2. Kapitel. Der Adel und das adelige Lehen.

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Erbe der Eltern gehabt hatten. In den anderen germanischen Staaten aber galt eine sehr starke Bevorrechtung des männlichen Geschlechts, namentlich hinsichtlich der Immobilien. Insonderheit können auch nach der Lex Salica, dem alten Recht der salischen Franken, die Frauen keinen Grundbesitz erben. Jedoch im Falle keine Söhne da waren, hat schon König Chilperich I. (561—84) den Frauen ein Erbrecht auch am Boden zugebilligt. Da das Lehnsrecht von einem ausschließlichen Vorrecht des ältesten Sohnes ausging, mußten die Frauen natürlich zunächst ganz zurücktreten. Ob ein Lehen, wenn ein Besitzer keine Söhne aber Töchter hinterlassen hatte, auf eine Frau übergehen konnte, darüber waren die Ansichten zunächst geteilt. Es ist in dieser Hinsicht bereits im 10. Jahrhundert eine Bewegung zugunsten des Erbrechts der Frauen zu konstatieren, die dann später, als den jüngeren Söhnen ein mehr oder minder großes Erbrecht zugebilligt wurde, sich auch auf eine Gleichstellung der Töchter mit diesen jüngeren Söhnen richtete und mit erheblichen Erfolgen abschloß. Sind keine Söhne vorhanden, so erben die Töchter, und zwar meistens zu gleichen Teilen; ein Vorrecht der ältesten Tochter, entsprechend dem Vorrecht des ältesten Sohnes, findet sich nur selten. Sind Söhne vorhanden, so nehmen die Töchter an den Hechten der jüngeren Söhne in ihren verschiedenen Abstufungen teil. Fehlen direkte Nachkommen überhaupt, und wird das Erbe von Seitenverwandten angetreten, so kommt es noch im 13. Jahrhundert vor, daß Frauen hinter entferntere männliche Verwandte (eventuell sogar hinter ihre eigenen Söhne) zurücktreten müssen, während anderswo und später allgemein die Regel gilt, daß die Frauen durch Männer gleichen Verwandtschaftsgrades ausgeschlossen werden, Männern entfernteren Verwandtschaftsgrades aber vorgehen; die Schwester eines Verstorbenen erbt also nicht, wenn sie noch Brüder hat, während ihr das Erbe zufällt, wenn keine Brüder, sondern nur Vettern oder noch entferntere männliche Seitenverwandte da sind. Man hatte Grund, mit der Nachfolge der Frauen in den Lehen etwas vorsichtig zu sein, da eine Frau die vasallitischen Pflichten nicht erfüllen konnte. Aber da fand sich ein Ausweg: die Frauen ließen sich im Krieg und im Rat vertreten, und der gegebene Vertreter war natürlich ihr Gemahl. Der Seigneur war mithin an der Ehe seiner Vasallin stark interessiert, und daraus erklären sich die Rechte, die er hinsichtlich ihrer V e r h e i r a t u n g hat. Die Vasallin muß ihre Heirat wenigstens bis zu einem gewissen Grade nach den Wünschen des Lehnsherrn einrichten, wenn sie nicht des Lehens verlustig gehen will. Im einzelnen sind die Bestimmungen auch hier wieder verschieden. Entweder die Vasallin muß vor der Heirat die Einwilligung des Seigneurs einholen, oder dieser läßt ihr die Wahl zwischen einer Reihe namentlich genannter Ritter; oft wird ihm ausdrücklich das Recht zugebilligt, von seiner Vasallin das Eingehen einer Ehe verlangen zu dürfen, und häufig mußte ihm dann auch der Gemahl, der ihm die vasallitischen Pflichten schuldete, den Lehns-

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eid leisten. Übrigens kommt es auch vor, daß dem Seigneur ein ähnliches Recht der Zustimmung bei der Heirat seiner männlichen Vasallen zusteht; ein Interesse hatte er ja gewiß auch an deren Verehelichung, an ihren Schwägern und Nachkommen. In solchen Zustimmungsrechten des Lehnsherrn bei der Verheiratung seiner Vasallen darf man gleichfalls einen Rest seines einstigen freien Verfügungsrechts über das Lehen erblicken. Die Kirche hat sich diesen feudalen Anschauungen und Satzungen gegenüber mehrfach für die Unbeschränktheit des Eherechts ausgesprochen, so namentlich auf dem Konzil von Trient, das in seinen berühmten letzten Reformdekreten vom Herbst 1563 die Eingriffe in die Freiheit der Eheschließung verbot; trotzdem hielt sich der alte Brauch in vielen Gegenden bis zum Ende des Ancien regime.

6. Minderjährigkeit und Vormundschaft.

Auch ein anderer

Fall, in welchem der Vasall seine Pflichten gegen den Seigneur nicht persönlich erfüllte, wurde mit der Erblichkeit der Lehen aktuell: die M i n d e r j ä h r i g k e i t (Minorität). Ein Vasall, der noch ein Kind war, konnte weder seine eigenen Angelegenheiten verwalten noch dem Seigneur die schuldigen Obliegenheiten leisten. Ursprünglich, als dem Lehnsherrn noch die freie Verfügbarkeit übfcr die Lehen zustand, brauchte er beim Tod eines Vasallen dessen Sohn, sofern er ihm noch zu jung erschien, nicht zu belehnen. Oder aber, wenn ihm das unbillig dünkte, so zog er das Lehen vorläufig ein und verlieh es erst nach einigen Jahren dem inzwischen Herangewachsenen. Aus dieser naturgemäßen Sitte bildete sich zugleich mit der Erblichkeit der Lehen ganz von selbst der Brauch, daß, wenn der Erbe beim Tod seines Vaters noch zu jung war, der Seigneur das Lehen für ihn in vorläufige Verwahrung nahm: der Seigneur ist der V o r m u n d seiner minderjährigen Vasallen. Bis zur Volljährigkeit des Erben hat der Lehnsherr am Lehen das Recht der Nutznießung, wogegen er lediglich den Unterhalt und die Ausbildung des Heranwachsenden bestreiten muß. Dieses Vormundschaftsrecht, das sich ganz vorzüglich in den Lehen findet, geht auf das altgermanische mundium zurück und heißt ballium (bail, auch garde oder mainbournie — mundiburdium)] die älteste Form, wo der Seigneur der Vormund (bail oder baillistre, gardien, mainbour) ist, wird als bail seigneurial (oder bail royal da, wo der König Seigneur ist) bezeichnet. Aber auch liier verstärkten sich allmählich die Rechte der Familie. Die Vormundschaft ging auf einen Verwandten des minderjährigen Vasallen über (bail des ascendants bezw. des collatéraux). Jedoch zeigte sich manchmal ein Rest des ursprünglichen Zustands auch in diesem Falle darin, daß der Vormund dem Seigneur das relevium zahlen mußte : die Genehmigung des Lehnsherrn zum Übergang der Vormundschaft auf einen Verwandten des minderjährigen Vasallen ist erkauft worden. Vormund wurde nun im allgemeinen der nächsterbberechtigte volljährige Verwandte; doch durfte dieser das Amt ablehnen. Sein Recht blieb dasselbe: auch der Verwandte verwaltete das Lehen als ballium, d. h. ihm stand

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Der Adel und daa adelige Lehen.

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während der Dauer der Vormundschaft die Nutznießung zu. Andererseits gingen auch die Lehnspflichten auf ihn über, und er hatte dem Seigneur die Huldigung zu leisten. Eine Gefahr für das Lehen lag aber darin, daß der neue Vormund an sich nicht das gleiche Interesse wie der Lehnsherr am Lehen hatte, sondern seine Stellung vielfach in erster Linie zur eigenen Bereicherung benutzte. Daher wurde ihm jede tiefgreifende Änderung im Stand des Lehens (namentlich die Veräußerung) verboten. Auch kommt es vor, daß eine doppelte Vormundschaft bestellt wird (double bail), sodaß dem einen Vormund mehr die Person, dem anderen mehr der Besitz des Minderjährigen anvertraut ist, beide aber dazu da sind, sich gegenseitig zu beobachten. Wann die Minderjährigkeit endete, das zu entscheiden stand ursprünglich natürlich ganz im Belieben des Seigneurs. Der Grundsatz der Erblichkeit brachte es dann aber mit sich, daß eine Altersgrenze festgesetzt wurde, und zwar wählte man im Anschluß an privatrechtliche Gebräuche meist bei Männern das vollendete 21., bei Frauen das vollendete 15. Lebensjahr als Ende der Minderjährigkeit und der Vormundschaft. Auf privatrechtlichem Gebiet wurde seltsamerweise zwischen der adligen und der nichtadligen Bevölkerung unterschieden und für letztere eine niedrigere Altersgrenze anerkannt, wie sie mehr den Anschauungen der ältesten Zeit entsprach (nach der Lex Salica beginnt die Volljährigkeit mit 12 Jahren, nach der Lex Ribuaria, der Lex Burgundionum und der Lex Visigothorum mit 14 oder 15 Jahren): ein bürgerlicher Mann wurde mit 14 oder 15 Jahren, «ine bürgerliche Frau mit 12 Jahren volljährig; beim Adel aber galten in allen privatrechtlichen Dingen die gleichen Grenzen nur in einigen {östlichen) Gegenden, während sonst die Altersgrenze bei ihm auf 21 bezw. 15 Jahre heraufgeschraubt war: auf die gleichen Zahlen, die jetzt im Lehnsrecht an den meisten Orten zur Geltung gelangten. Beiläufig sei bemerkt, daß die privatrechtliche Vormundschaft für nicht lehnsrechtliche Verhältnisse (also beispielsweise für die Allode) «in wesentlich anderes Aussehen hatte; bei diesen galt das germanische ballium, bei jenen die römische tutela (tutelle, unrichtig manchmal auch •als garde bezeichnet), die sich dadurch unterscheidet, daß sie den Vormund nicht in den Genuß des Einkommens setzt, sondern von ihm die Verwaltung des Eigentums für den Minderjährigen, dem er später Rechnung abzulegen hat, verlangt. Diese tutela wird von einem Verwandten versehen, der meist unter Mitwirkung der Gemeinde zur Vormundschaft erhoben wird, und war natürlich lange nicht so gesucht wie ein ballium. Dem Lehnsrecht ist die tutela unbekannt, während anderweit das ballium selten vorkommt und nur an Orten, wo nicht römisches Recht sondern Gewohnheitsrecht galt. Es ist bezeichnend, daß das Lehnswesen in seinem Gegensatz gegen alle römischen Anschauungen von Staat und Recht die ihm entsprechende Form der Vormundschaft im ballium fand. Den Regeln über die Dauer der Vormundschaft liegt der Gedanke zugrunde, daß sie mit dem Eintritt der Pubertät enden soll. n o l t z m a n n , Französische Verfassungsgeschichte.

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Die Zeit des Lehnswesens (843—1180).

Da diese bei Frauen früher beginnt als bei Männern, bedürfen jene nur einer kürzeren Vormundschaft als diese. Damit hängt es dann auch ferner zusammen, daß bei Frauen die Vormundschaft durch ihre Verheiratung von selbst ein Ende nimmt. Andererseits gab es auch Gegenden, wo die einmal eingesetzte Vormundschaft über eine Frau bis zu deren Verheiratung dauerte, also eventuell überhaupt nicht endete. Doch verschwand dieser Brauch in der zweiten Hälfte des Mittelalters. Bei Männern scheint eine Heirat im Lehnswesen kein Ende der Vormundschaft mit sich gebracht zu haben — wieder im Gegensatz zum gewöhnlichen Privatrecht, wo jede Heirat die Emanzipation vom Vormund zur Folge hatte.

7. Abschließung des Stands.

Adelige Allode.

Das Lehns-

verhältnis begründete die Zugehörigkeit zur Lehnsaristokratie, zu dem neuen l e h n s r e c h t l i c h e n A d e l , der nach Verschwinden des alten germanischen Adels und der römischen Aristokratie sich herausbildete und bald allein die staatlichen Pflichten und Rechte trug, da er dank seiner wirtschaftlichen Stellung allein dazu in der Lage war. Was den neuen Adel ausmacht, ist die vasallitische Huldigung, geleistet einem anderen Adligen, d. h. einem Angehörigen der feudalen Hierarchie,, die ihre Spitze im König hat. Was sonst hinzukommt, Grundbesitz und der Dienst im Krieg oder bei Hof, rechtlich ist sekundärer Natur, obgleich es tatsächlich oft das wichtigste, die eigentliche Grundlage für die Erhebung in den Adel ist: wer z. B. in des Königs Dienst tritt, erhält eben deshalb von ihm (schon allein als Bezahlung) ein Lehen, aber ein adeliges Lehen, d. h. ein solches, bei dessen Empfang er die vasallitische Huldigung leistet: diese macht ihn zum Adligen. Auch am Grundbesitz haftet der Adel ursprünglich nicht, da jedes Lehen, wenn'es nur seinen Zweck erfüllte (d. h. eine Grundherrschaft darstellte) als adelig mit vasallitischer Huldigung vergeben werden konnte. Das ist erst mit der zunehmenden Abschließung des Standes nach außen anders geworden. Es erhellt ja aus dem Gesagten, daß der Lehnsadel kein geschlossener Körper war. Jeder Adlige konnte vielmehr ursprünglich in den Adel erheben, indem er sich die vasallitische Huldigung leisten ließ. Sogar unfreie Leute konnten dazu gelangen, wie die Ministerialen (S. 27), die sich dem Hofdienst bei den großen Lehnsfürsten widmeten, oder ein Kriegsknecht, der sich im Feld hervorgetan hatte und dafür von seinem Herrn mit einem adeligen Lehen begabt und somit zum Ritter erhoben wurde. Aber jeder vornehme Stand trägt die Tendenz nach einer Abschließung in sich. Sie empfing eine erst© wesentliche Förderung dadurch, daß der Adel zugleich mit den Lehen erblich wurde. Sogar die ursprünglich rein persönlichen Beamtentitel wurden allmählich Erbgut der Familien; seit der Mitte des 9. Jahrhunderts findet sich der Titel „comitissa" für die Witwe eines Grafen, seit dem Anfang des 10. Jahrhunderts können wir nachweisen, daß Söhne (später erst auch Töchter) bei Lebzeiten des Vaters, oder daß solche (jüngere) Kinder, die den Vater im Lehen gar nicht

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Der Adel und das adelige Lehen.

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beerbten, den väterlichen Titel (Graf, Baron usw.) führen: das äußere Zeichen dafür, daß sie die Standeszugehörigkeit von ihm erbten. Also die (männlichen und weiblichen) Nachkommen eins Adligen bleiben adelig, auch wenn die Frau des Adligen bürgerlicher Abkunft war; nur der Adel der Mutter vererbt nicht auf die Kinder (Ausnahmen davon finden sich in der Champagne, wo die Vererbung mütterlichen Adels in einigen Fällen nachgewiesen ist). Vollendet wurde die Abschließung des Standes dann aber dadurch, daß das Recht, in den Adel zu erheben, allmählich auf immer engere, höhere Kreise beschränkt wurde, bis es im 12. Jahrhundert nur noch den großen Kronvasallen, seit dem Ende des 13. allein dem König zustand. Der hat dieses Vorrecht, das ihm verblieb, als Geldquelle benutzt: der Erwerb eines adeligen Lehens durch Bürgerliche mußte vom König erlaubt werden (droit de franc-fief oder de nouveau acquêt), und als im 14. Jahrhundert der Erwerb eines adeligen Lehens zur Nobilitierung nicht mehr genügte, da gesellte sich dazu ein Recht des Königs, durch Adelsbrief in den Adelsstand zu erheben [droit d'anoblissement)-, beides wurde recht teuer verkauft. Ein unorganisches Glied in der feudalen Gesellschaft stellten die Eigentümer von A l l o d i a l g u t dar. Das freie Eigentum, einst die Grundlage des fränkischen Staates, wurde mit dem Anschwellen der Lehnsvergabungen seltener, die Ausnahme, ohne freilich ganz zu verschwinden. Wirtschaftlich zerfielen die Allode in Grundherrschaften und Bauerngüter, und nach diesem Gesichtspunkt hat man dann ihre Eigentümer, da man sie sonst im Lehnsstaat nicht unterzubringen wußte, aufgeteilt unter den lehnsrechtlichen Adel und die bürgerlich Freien. So schied man zwischen dem allen noble und dem alleu roturier. Jenes wurde wie das adelige Lehen als Grundherrschaft verwaltet, dieses entsprach den sogenannten bürgerlichen Lehen, die gleichfalls von ihren Besitzern bestellt wurden. Wer zu einem Allod noch ein adeliges Lehen empfing, rückte dadurch natürlich von selbst in die Reihen des lehnsrechtlichen Adels auf. Wer nur Allodialgut besaß, aber Grundherr war, wurde schon deshalb in den Adel eingeordnet, da der Titel Seigneur auch auf ihn überging, selbst wenn er keine adeligen Lehen ausgab (nämlich in seinen Beziehungen zu den von ihm begabten bürgerlichen oder hörigen Leuten, vgl. Kap. 3); der Name Seigneur aber galt (wie vassus) als dem neuen Adel eigentümlich. Adel und Grundherrschaft sind eine Zeitlang wirklich identisch geworden, bis die zunehmende Abschließung des adeligen Standes wieder zu einer naturgemäßen Trennung von der veränderlichen wirtschaftlichen Stellung führte. Natürlich lasteten auf den Alloden keinerlei lehnsrechtliche Verpflichtungen wie lods et ventes u. dgl. Da Allodium durch Vergabung jederzeit in Lehnsgut, nie aber Lehnsbesitz in allodiales Eigentum verwandelt werden konnte, ist es sehr erklärlich, daß die Allode immer seltener wurden. Wer nur Allode und keinerlei Benefizialgut besaß, war nur, kraft Landrecht, seinem Lehnsfürsten (und durch ihn dem König) zur Heeres3*

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folge verpflichtet, nach dem alten Grundsatz, daß jeder Freie den Kriegsdienst schuldet. Dieses staatsrechtliche Band wurde von den Lehnsfürsten gern zu dem Versuch benutzt, die Eigentümer von Alloden zur Anerkennung ihrer Lehnshoheit zu zwingen und somit die Allode in Lehen zu verwandeln. Andererseits kam es aber auch vor, daß die Allodialherrn dem König oder dem Lehnsfürsten die Heeresfolge verweigerten und sich mithin überhaupt von jeder Kriegspflicht entbunden hielten. Solche Versuche der Lehnsfürsten sowohl als der Allodialherrn waren historisch nicht gerechtfertigt, aber begreiflich bei einer Ordnung, in der das Lehnswesen die Hauptrolle spielte und aller Anschauungen beherrschte. Die Lehnsfürsten suchten Lehnsrecht nach dem Grundsatz »Kein Land ohne Seigneur« auf die Allode auszudehnen. Die Allodialherrn andererseits sahen im Krieg gern einen Zustand mit ausschließlich lehnsrechtlichen Folgen — nicht unbegreiflich, da ja das Lehnswesen vorzüglich auf den Krieg zugeschnitten war, durch die militärischen Anforderungen seine Ausdehnung und seine Formen gewonnen hatte, im Kriegswesen überhaupt einen guten Teil seines Sinnes barg. So entspann sich im Lehnsstaat ein ganz naturgemäßer Kampf um die Stellung, ja um die Existenzberechtigung und Fortdauer der Allode. Und das Ergebnis war nicht überall das gleiche. Im Süden und Osten des Reichs sind Allode in größerer Anzahl bestehen geblieben, im Norden und Westen finden wir sie in späterer Zeit nur noch recht vereinzelt. Dort haben sie sich vielfach gehalten unter dem Einfluß des römischen Rechts, das in Südfrankreich eine lebendige Kraft blieb und das freie Eigentum gut kannte, während es dem eigentlichen Lehnsrecht fremd blieb. Hier wurde es durch das Gewohnheitsrecht der Coutumcs manchmal ausdrücklich ausgeschlossen. So in der Landschaft Beauvaisis, wo nach Philipp von Beaumanoir Allodialbesitz überhaupt nicht geduldet war. Hundert Kilometer weiter westlich hat sich ein Allodialherr gehalten — zu Yvetot in der Normandie. Er nahm eine so exzeptionelle Stellung ein, daß man sie in der späteren Zeit gar nicht mehr recht begriff. Er konnte sich »König« nennen, und man stritt über das rechtliche Verhältnis, in dem er zum französischen König stand. Die Figur ist in der Literatur bekannt geworden durch Berangers Gedicht über den glücklichen, kleinen, lächerlichen roi d'Yvetot, der sein Land auf einem Esel durchritt, von jedem Faß Wein seiner Untertanen eine Kanne voll als Steuer eintrieb und keine Kriege führte.

8. Ritterschaft, Titel und Stufen im Adel. Der Adlige führt in seiner militärischen Eigenschaft den Namen miles oder R i t t e r (S. 13). Die Ritterschaft ist nichts anderes als der lehnsrechtliche Adel, betrachtet von der Seite seiner militärischen Verpflichtungen. Jeder Adlige trat in die Ritterschaft ein, ja auf dieses Rittertum wurde die ganze Erziehung des Adels zugeschnitten. Wenn der junge Adlige volljährig wird, so empfängt er den Ritterschlag als das Zeichen, daß nunmehr der Augenblick gekommen ist, wo er seine Standespflichten erfüllen kann. Die ritterlichen Sitten und Bräuche erhalten eine immer

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mehr ins einzelne gehende Ausbildung. Vor seiner Volljährigkeit leistet der junge Adlige als K n a p p e (Edelknecht, armiger, ecuyer) bei einem älteren Standesgenossen ritterliche Dienste (daher auch valet, damoiseau, donzel), erst der Ritterschlag erhebt ihn dann zum eigentlichen Ritter. Doch ist dieser Unterschied zwischen Knappe und Ritter, wie wir ihn in Frankreich seit dem 12. Jahrhundert finden, kein rechtlicher, sondern lediglich ein gesellschaftlicher. Große Ritterkampfspiele, die Tourniere, kommen um dieselbe Zeit auf. Wie das Wort, so stammt auch der Brauch aus Frankreich und hat hier immer seinen vorzüglichen Boden behalten. Anfangs keineswegs gefahrlos wurden die Tourniere erst in den letzten Jahrhunderten des Mittelalters zu einem harmlosen Spiel. Im Zeitalter der Kreuzzüge ist das christliche Rittertum eine internationale, Völker verbindende Macht geworden. Diese Epoche bedeutet seinen Höhepunkt, und ganz vornehmlich waren, wie bekannt, allzeit französische Ritter an dem Kampf gegen die Ungläubigen beteiligt: durch das französische Rittertum wurde Frankreich ein erstesmal an die Spitze der christlichen Völker gestellt. Andererseits haben die Kreuzzüge von der französischen Ritterschaft natürlich auch besonders viele Opfer gefordert; außerordentlich viele Lehen wurden während der Kreuzzüge in Frankreich erledigt, ein willkommener Anlaß zur Bereicherung für die Großen und namentlich für die Krone. Wie die ganze Lebensart der Adligen den gewaltigen Unterschied zwischen ihnen und den nichtadeligen Klassen der Bevölkerung hervortreten ließ, so auch im allgemeinen schon ihre W o h n u n g . Denn sie wohnten meist nicht in einem Dorf, unter ihren Hörigen, sondern auf einer wohlbefestigten Burg, wie ihnen, den Kriegern, das anstand. Und von diesen Burgen pflegten sie dann ihren Namen zu nehmen. Seit dem 12. Jahrhundert sind fast alle Namen adeliger Familien solche von einer Burg des Lehens, aus der Besitzung selbst genommene Bezeichnungen, wobei man sich nur vor der irrigen Ansicht zu hüten hat, als mache das Wörtchen »von« (de), welches den geographischen Namen mit dem der Person verbindet, den Adel aus, während es tatsächlich Ritter gibt, die sich ohne »von« nach einem Geschlechtsnamen nennen, und andererseits noch mehr Bürgerliche, die ihrem Namen ihr bürgerliches Lehen mit einem »von« anfügen. Bildete der Adel einerseits einen einheitlichen, sich einer bestimmten Summe von Rechten, Sitten und Anschauungen gleichmäßig erfreuenden Stand, so war es doch andererseits in der Natur der Verhältnisse begründet, daß sich innerhalb seiner verschiedene S t u f e n der Würde und des Ansehens bildeten. Zu groß waren die tatsächlichen Unterschiede des Besitzes, zu wichtig aber außerdem auch die lehnsfürstlichen (d. h. staatlichen) Rechte, die nur einem verhältnismäßig kleinen Teil des Adels zukamen, als daß sie nicht einen Unterschied der Würde und des Titels zur Folge gehabt hätten. Da nahmen zunächst viele Adlige, die sich durch die Größe ihres Besitzes und die Zahl ihrer Vasallen aus der Masse der übrigen heraushoben und

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eine größere Burg als die anderen hatten, von dieser den Titel castellanus, châtelain an. Noch reichere nannten sich baro, baron (die Etymologie dieses Wortes ist zweifelhaft, vielleicht hat es sich aus dem Lateinischen baronem, Troßknecht = kräftiger Mann entwickelt, keinesfalls aber hängt es mit par oder vir zusammen). Die Lehnsfürsten erfreuten sich zumeist ihrer besonderen lehnsfürstlichen Titel, deren Rang wieder abgestuft war, von oben nach unten: Herzog, Markgraf, Graf, Vizegraf. Unterhalb dieser Würdenträger unterschied man um 1200 noch vier weitere Kategorien: die Barone, die châtelains, die einfachen Ritter {chevaliers, offenbar der Typus und Grundstock der feudalen Gesellschaft) und zu unterst die Vavassoren (vavassores, vavasseurs, die niedrigsten Adligen, die nur ein kleines Lehen und keine Vasallen hatten). Zu beachten ist übrigens, daß die staatlichen Befugnisse bei der Bildung dieser Stufenleiter wohl oft tatsächlich in Betracht gekommen sind, aber keine prinzipiell entscheidende Bedeutung hatten. Denn wir werden unter den Lehnsfürsten auch Barone und einfache Seigneurs finden (wie andererseits die Vizegrafen nicht alle Lehnsfürsten wurden); und gar keine Rolle spielte bei dieser Würden- und Rangordnung die richterliche Kompetenz der sogenannten seigneurs justiciers (vgl. Kap. 4). Man unterschied danach später gelegentlich zwischen hohem und niederem Adel und rechnete zum ersteren die hohen Titelträger, im allgemeinen bis zu den Vizegrafen und Baronen. Doch ist darüber keine volle Einigkeit erzielt worden, und die Unterscheidung hatte in Frankreich überhaupt nicht die rechtliche Bedeutung wie anderswo. Am allerwenigsten wurde durch die ganze Stufenleiter die Einheit des Standes aufgehoben, was sich namentlich darin zeigte, daß in Frankreich jeder höhere Würdenträger von einem niedrigeren Adligen Lehen nehmen konnte, sogar der König.

3 . Kapitel.

Die nichtadeligen Klassen der Landbevölkerung. Literatur.

A l l g e m e i n e s : C. J. Perreciot, De l'état civil des personnes et de la condition des terres dans les Gaules depuis les temps celtiques jusqu'à la rédaction des coutumes, 2 Bde. 1786 ; 2. A. 5 Bde. 1790. — L. Delisle, Études sur la condition de la classe agricole et l'état de l'agriculture en Normandie au moyen âge, 1851. — H. Doniol, Hist. des classes rurales en France, 1857; 2. A. 1867. — Ders. : Serfs et vilains au moyen âge, 1900. — H. Sée, Les classes rurales et le régime domanial en France au moyen âge, 1901. — U n f r e i h e i t : F. I. Dunod de Charnage, Traité de la mainmorte et du retrait, 1733; 1760. — Le livre des serfs de Marmoutier, hsg. v. A. Salmon mit Vorw. (essai sur le servage en Touraine) v. Ch. L. Grandmaison, 1864 (Mémoires de la soc. archéol. de Touraine 16). — Lodge, Serfdom in the Pyrenees, Vierteljsch. f. Soc. u. Wirtschaftsgesch. 3 (1905).

3. Kapitel.

Die nicbtadeligen Klassen der Landbevölkerung.

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Die nichtadelige Bevölkerung Frankreichs — numerisch bei weitem die Mehrheit — gliedert sich in drei Klassen: die bürgerlich Freien, die Hörigen und die Knechte (wobei zu bemerken ist, daß das Wort »bürgerlich« hier, dem französischen roturier entsprechend, lediglich im Gegensatz zu »adelig« für die nicht zum Adel aufgestiegenen Freien gebraucht wird, ohne jede Beziehung zu einer Stadt). Hörige und Knechte sind unfrei; aber auch wer landrechtlich frei ist, braucht deshalb noch keineswegs wirtschaftlich unabhängig zu sein. Für das staatliche Leben kommen in der Zeit des ausgebildeten Lehnswesens alle drei Klassen insofern nicht in Betracht, als sie keinerlei Anteil an der Staatsverwaltung haben. Die Freien, aus denen einst Karl der Große seine Beamten genommen hatte, waren wohlhabende, begüterte Leute oder wurden es doch durch die königliche Munifizenz. Aus der Beamtenschaft und dem Großgrundbesitz hat sich der neue, lehnsrechtliche Adel entwickelt: er bildet recht eigentlich den Staat, und wer nicht zu ihm gehört, ist ohne politische Rechte. 1. Die bürgerlich Freien. Bürgerlich Freie (liberi, rustici, villani; hommes libres, roturiers, vilains) gibt es verschiedener Arten. Die wenigsten sind während der Zeit des ausgebildeten Lehnswesens wirklich unabhängig. Zwar ganz fehlen solche nicht: ein Bauer z. B., dem es gelungen war, sein freies Eigentum zu wahren, oder ein anderer Freier, der an einem Handelsplatz durch Handel seinen Unterhalt erwirbt. Wer nur ein keines Allod sein eigen nennt, das er selbst bebaut, gehört zur Klasse der bürgerlich Freien und ist auch wirtschaftlich unabhängig, sofern er niemandem zu irgend welchen Leistungen verpflichtet ist. Er besitzt ein sogenanntes bürgerliches Allodium (alleti roturier im Gegensatz zu dem als Grundherrschaft verwalteten allen noble). Viel häufiger jedoch als die bürgerlichen Allode sind die bürgerlichen Lehen: ihre Inhaber bilden während unserer Periode den Hauptbestandteil unter den bürgerlich Freien. Das bürgerliche Lehen (tenure roturière im Gegensatz zur tenure noble, dem fief) hat ein ganz anderes Aussehen und einen ganz anderen Sinn als das adelige Lehen. Dieses ist eine Grundherrschaft, jenes ein Bauerngut, das von seinem Inhaber, einem bürgerlich Freien, selbst bestellt wird. Das bürgerliche Lehen soll dem (immer adeligen) Lehnsherrn nicht einen Vasallen und somit eine erhöhte militärische Bedeutung verschaffen, sondern es dient der wirtschaftlichen Ausbeutung des Bodens. Hat z. B. einer der Grundherrn so viel Boden, daß er ihn mit seinen Hörigen nicht ganz bebauen kann, hat er also im Verhältnis mehr Land als Leute, so gibt er den Rest als bürgerliche Lehen zur Bebauung aus. Namentlich wenn es galt, Rodungen vorzunehmen, dann suchte der Grundherr Arbeitskräfte dadurch heranzuziehen, daß er die Rodungen nicht als hörigen Besitz sondern als bürgerliche Lehen vergab : vom Grundherrn während der Zeit des Rodens materiell unterstützt, konnte man sich so bürgerliche Lehen erarbeiten. Mancher Freie, der vielleicht durch die dauernden Erbteilungen oder aus anderen Gründen gerade am Verarmen war, fand

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auf solche Weise ein neues Feld für seine Tätigkeit. A u c h Freilassungen Höriger führten zumeist zur B e g r ü n d u n g bürgerlicher L e h e n : das bisher hörige L e h e n wurde in ein bürgerliches verwandelt. Der Besitzer eines bürgerlichen L e h e n s schuldet seinem Lehnsherrn eine regelmäßige A b g a b e (tallia, taillé) und körperliche Leistungen auf dem Herrenland ( F r o h n d e n , corvatae, corvées), dazu wenigstens sehr häufig noch die sogenannten B a n n g e r e c h t s a m e (banalités), d. h. die Verpflichtung, die Mühle, den Backofen und die K e l t e r des Herrn zu benutzen, wofür natürlich ein Entgelt zu entrichten war. Also ganz im Gegensatz zu dem abgabenfreien adeligen L e h e n . Bei diesem war das W e s e n des Kontraktes ein persönliches, beim bürgerlichen Lehen ist es ein sachliches, auf dem Reallasten ruhen. Die T a i l l e besteht in einer A b g a b e entweder von Geld oder von Feldfrüchten; in ersterem Falle wird die A b g a b e Zins (census, cens), das L e h e n ein Zinsgut (censiva, censive) genannt, in letzterem heißen A b gabe und Gut champart (campipars), terrage (terragium) oder ähnlich. W i r werden Taille, Frohnden und Banngerechtsame beim hörigen L e h e n wieder finden : sie begründen eine starke wirtschaftliche A b hängigkeit des landrechtlich freien Belehnten v o m Lehnsherrn. Allerdings waren Taille und F r o h n d e n der bürgerlichen Lehnsleute häufig nicht so drückend wie für die Hörigen. Stand bei diesen die H ö h e und der T e r m i n vielfach ganz im Belieben des Grundherrn (taille à merci), so war für die Freien die Taille in der Mehrzahl der F ä l l e ein für allemal normiert und jährlich n u r einmal zu zahlen (taille fixe) ; nicht selten ist sie sogar recht gering und bedeutet m e h r eine f o r m a l e A n e r k e n n u n g der Eigentumsrechte des Lehnsherrn als eine wirklich in Betracht kommende A b g a b e . Und auch hinsichtlich der F r o h n d e n war der Besitzer eines bürgerlichen L e h e n s vielfach besser gestellt als die H ö r i g e n , j a es konnte sein, daß er ganz v o n ihnen befreit war. A b e r darin beruht nicht der rechtliche Unterschied zwischen einem Hörigen und dem Besitzer eines bürgerlichen L e h e n s ; denn es k o m m t auch v o r , daß auf dem letzteren die Lasten in aller H ä r t e D e r rechtliche Vorruhen, während ersterer Erleichterungen genießt. zug, den der Besitzer eines bürgerlichen Lehens vor den Hörigen hat, und in dem seine Freiheit besteht, liegt vielmehr in seiner Freizügigkeit. Der Freie ist nicht an die Grundherrschaft g e b u n d e n , er darf sein L e h e n jederzeit verlassen (wenn er nur seinen Verpflichtungen nachkommt), er darf es zurückgeben oder (mit Z u s t i m m u n g des Lehnsherrn) veräußern, er unterliegt nicht den beschränkenden Bestimm u n g e n von forfuyance, formariage und mainmorte, in denen sich, wie wir gleich sehen werden, die Gebundenheit des Hörigen an die Grundherrschaft vornehmlich darstellte. Der K o n t r a k t war beim bürgerlichen L e h e n , ein freier, der jederzeit gelöst werden konnte, ganz i m Gegensatz zum hörigen Besitz. D a ß das Verhältnis beim bürgerlichen L e h e n trotz der F r o h n d e n als ein rein sachliches, die Freiheit d e r Person nicht berührendes angesehen wurde, zeigt sich auch darin, daß nur e i n e A b g a b e , die auf dem Besitz ruhende Taille, zu zahlen

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war, nicht eine zweite, die auf der Person des Hörigen ruhte, der Kopfzins. Materiell kam dessen Ausfall nicht sehr in Betracht, da er gering war, wohl aber begrifflich, da in ihm ein Moment der Unfreiheit ruhte. Der Besitzer eines bürgerlichen Lehens ist nur hinsichtlich seines Bodens, nicht hinsichtlich seiner Person verpflichtet; er leistet nur die auf dem Boden ruhenden Lasten (Taille, Frohnden), nicht den Kopfzins. Die bürgerlichen Lehen sind ebenfalls eine alte Einrichtung. Sie unterscheiden sich von den Benefizien dadurch, daß sie Bauerngüter und keine Grundherrschaften sind. Auch sie waren ursprünglich nicht erblich, sind das aber geworden zugleich mit den adeligen Lehen, ja rascher, da bei ihnen naturgemäß weniger Bedenken obwalteten. In ihnen herrscht dabei das Prinzip vollkommener und unbegrenzter Teilbarkeit ohne jedes Vorrecht der Erstgeburt oder des männlichen Geschlechts; ob ein Mann oder eine Frau die sachlichen Lasten trug, konnte dem Lehnsherrn natürlich ganz einerlei sein, und die Größe der Lehen erlaubte zunächst jedenfalls eine Teilung, wenn auch ein zu reichlicher Nachwuchs in mehreren Geschlechtern zweifellos zur Verarmung führen mußte. Natürlich wurden bei einer Teilung des Lehens auch die Lasten entsprechend geteilt, sodaß auf den einzelnen nun weniger entfiel; sie hafteten ja nicht an der Person sondern am Besitz. Im Falle einer Minderjährigkeit, die bei den Bürgerlichen früher als beim Adel zu Ende ging (S. 33), führte ein Verwandter die Vormundschaft (meist als bail, doch kommt double bail in den bürgerlichen Lehen nicht vor). Bei jedem Besitzwechsel, mochte er durch Erbschaft, durch Schenkung oder durch Verkauf verursacht sein, standen dem Lehnsherrn die gleichen finanziellen Rechte wie bei den adeligen Lehen zu (les lods et ventes). Sie waren in den Fällen, wo Taille und Frohnden leicht waren, die wichtigste Kompetenz, die der Lehnsherr an einem solchen Lehen hatte. Die Namen senior und vassus blieben- für den Adel reserviert. Daraus erklärt es sich, daß beim bürgerlichen Lehen zwar der Lehnsgeber gleichfalls Senior (Seigneur) genannt wird, nicht aber der Lehnsnehmer Vasall. Nur der Adlige kann die vasallitische Huldigung leisten und vasallitische Pflichten übernehmen, nur er gehört zu den unter dem senior stehenden pares; bei der Übertragung eines bürgerlichen Lehens fallen die an der Vasallität haftenden Formalitäten des eigentlichen homagium (d. h. des adeligen Lehnsvertrags), wie namentlich der Fidelitätseid fort, und es bleibt nur die Investitur mit dem Land. Danach erklärt es sich ferner, daß ein bürgerliches Lehen von seinem Inhaber weder ganz noch teilweise als Lehen weitergegeben werden darf. Das scheint zunächst aufzufallen, da ja auch Veräußerung des Lehens möglich ist. Aber während bei einer Veräußerung der bisherige (adelige) Seigneur diese Eigenschaft beibehält und nur der Inhaber des Lehens wechselt, würde bei einer Weitervergabung als bürgerliches Lehen der bisherige (bürgerliche) Inhaber in die Reihe der Seigneurs treten, und das widerspricht dem Begriff

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des Wortes senior, an dem der Adel haftet. Nur wer grundherrliche Allode oder ein adeliges Lehen besitzt, kann durch Vergabung eines (adeligen oder bürgerlichen) Lehens ein Seigneur werden. Der alte Grundsatz der fränkischen Zeit, daß alle Freien den K r i e g s d i e n s t (hostis, Service d'ost) schulden, galt im Prinzip auch jetzt noch. Und zwar fand er auf die Privatkriege ebenso seine Anwendung wie auf die öffentlich-rechtlichen. F ü r die letzteren kamen alle Freie in Betracht (auch diejenigen, welche keinen Grundherrn über sich hatten); für die ersteren natürlich nur die Besitzer bürgerlicher Lehen. Freilich war der Krieg vornehmlich ein adeliges Geschäft geworden, und die bürgerlich Freien'nahmen nur mehr in ganz untergeordnetem Maße daran teil (auch bei den staatlichen Kriegen unserer Periode). Am ehesten kamen sie noch bei der Verteidigung in Frage: wurde ein Seigneur angegriffen, so zog er nicht selten auch seine bürgerlichen Lehnsleute als Landwehr heran. Weniger und höchstens kurze Zeit pflegte man sie bei einem Angriffskrieg zu verwenden. Der Adlige konnte Krieg führen: für ihn arbeiteten ja abhängige Leute; dem Inhaber eines bürgerlichen Lehens sollte die nötige Zeit sein Land zu bestellen, gelassen werden. Deshalb war der Kriegsdienst durch Herkommen und rechtliche Satzungen für ihn in vieler und mannigfaltiger Weise eingeschränkt, oft auf wenige Tage im Jahr, Nicht nur Frauen und Kinder waren befreit, sondern auch jeder, der aus einem zureichenden Grund nicht abkommen konnte: es war nicht schwer, beurlaubt zu werden. Dennoch liegt rechtlich hier ein Unterschied von den Hörigen. Dem vorhin erwähnten Mehr an Rechten entspricht auf der anderen Seite eine P f l i c h t des Freien, die den Hörigen fremd ist, der Kriegsdienst, wenn er auch tatsächlich zur Zeit des Lehnswesehs ganz vorzüglich auf dem Adel ruht. (Die gelegentliche Heranziehung von Hörigen zur Verteidigung ihres Bodens galt nicht eigentlich als militärische Dienstleistung.) 2. Die Hörigen. Wie wir unter den Freien mannigfache Unterschiede gefunden haben, so gibt es deren noch mehr unter den u n f r e i e n Teilen der Bevölkerung, ja hier lassen sich, ursprünglich ganz deutlich, zwei Klassen sondern, deren rechtliche Lage nach altem Landrecht durchaus verschieden war, die freilich im Lauf des Mittelalters allmählich zu einer verschmolzen sind, wie denn auch die lateinische Bezeichnung servus für beide vorkommt, ' das sind die Hörigen und die Knechte. Die H ö r i g e n (servi, serfs) nehmen auch im französischen Lehnsstaat der Zahl nach die erste Stelle ein. Ihr Ursprung kann sehr verschiedenartig sein. Wir finden hier die Nachkommen der alten germanischen Liten wie diejenigen der römischen Kolonen, ferner freigelassene Knechte (liberti, colliberti, cuverts), die vom Herrn mit einem hörigen Gut begabt wurden, sowie heruntergekommene Freie, die ihr Land einem Grundherrn aufgetragen haben. Unterschiede, wie wir sie in den rechtlichen Verhältnissen der Hörigen noch erkennen können, mögen in dieser Verschiedenheit des Ursprungs ihre

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Erklärung finden. Der Hörige befindet sich in einer starken Abhängigkeit von seinem Grundherrn, die aber doch von Sklaverei weit verschieden ist. Der Besitz der Hörigen ist das hörige Lehen (tentire servile) ; der Grundherr trägt auch seinen hörigen Hintersassen gegenüber den Titel Seigneur. Hörige ohne Grundbesitz finden sich zuerst unter den Arbeitern und Handwerkern in den Städten und am Herrenhof. Der Hörige ist, wie der Besitzer eines bürgerlichen Lehens, dem Seigneur zu Abgaben und körperlichen Leistungen verpflichtet. Er zahlt aber nicht eine sondern zwei regelmäßige Abgaben: 1. die T a i l l e , die wir schon vom bürgerlichen Lehen her kennen, eine direkte Einkommensteuer, die vom Seigneur in ihrer Höhe häufig nach Gutdünken (als taille à merci) für die ganze Grundherrschaft festgesetzt und dann unter die Hörigen nach Maßgabe ihres Besitzes (also zu ungleichen Teilen) repartiert wurde; und 2. den K o p f z i n s (cavagium, capitagium, census capitis; chevage, cense serve), eine Kopfsteuer, die dem hörigen Stand eigentümlich war, nicht auf dem Besitz sondern auf der Person lastete und jährlich an einem bestimmten Datum bezahlt werden mußte. Der Kopfzins ist meistens gering und stellt also weniger eine Einnahmequelle des Seigneurs dar als eine von dem Steuerpflichtigen jährlich zu wiederholende Anerkennung seiner hörigen Eigenschaft, für die er charakteristisch ist. Beide Abgaben wurden in Geld oder in Naturalien geleistet; das letztere war natürlich das ursprüngliche. Dazu kamen dann die körperlichen Leistungen, F r o h n d e n , d. h. Arbeiten, die umsonst (nur gegen Beköstigung an den Frohntagen) von den Hörigen auf dem Herrenland vollbracht werden mußten und die meist eine bestimmte, im einzelnen sehr wechselnde Anzahl von Tagen umfaßten. Sehr häufig sind die Hörigen schließlich auch zu den uns gleichfalls schon bekannten B a n n g e r e c h t s a m e n verpflichtet. Wichtiger als der Kopfzins sind andere Charakteristika des hörigen Standes, nämlich die Beschränkungen hinsichtlich der Freizügigkeit, der Heirat und des Erbrechts oder die Gerechtsame, die der Seigneur aus den Begriffen forfuyance, formariage und mainmorte schöpft. Sie begründen eine starke Gebundenheit der Hörigen an den Seigneur, bestehen freilich nicht überall in gleicher Weise und in gleicher Stärke. Hier ist vielmehr der Punkt, wo wir von vornherein alte Unterschiede erkennen können, je nachdem nämlich die Rechte des Seigneurs mehr auf dem hörigen Besitz oder mehr auf der hörigen Person, mehr auf der eigentlichen Grundherrschaft oder auf der Leibherrschaft beruhen. In ersterem Falle ist der Hörige ein Grundhöriger oder G r u n d e i g e n e r (serf d'héritage, seitdem dem Hörigen ein Erbrecht zugebilligt wurde), die Hörigkeit ist dinglich (servitude réelle); in letzterem Falle ist der Hörige ein L e i b e i g e n e r (homo de corpore, serf de corps), die Hörigkeit persönlich (servitude personelle). Beide Begriffe sind ja vielfach ineinander übergegangen, aber der Unterschied ist doch noch häufig klar zu sehen. Er zeigt sich

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alsbald bei der Beschränkung der F r e i z ü g i g k e i t . Der Hörige ist an die Grundherrschaft (nicht eigentlich an die Scholle) gebunden; das foris fugere oder die forfuyance (das Verlassen der Grundherrschaft) ist ihm verboten. Die Folgen der forfuyance aber sind verschieden: der Grundeigene verliert seinen gesamten hörigen Besitz (das Lehen mit allen dazu gehörigen Mobilien), zerschneidet aber damit gleichzeitig das Band, das ihn an den Seigneur knüpfte, und gewinnt die persönliche Freiheit. Anders der Leibeigene. Er verliert nicht nur seinen Besitz, sondern bleibt auch in der Ferne hörig und seinem bisherigen Seigneur zum Kopfzins sowie zu den gelegentlichen Abgaben der Hörigen (formariage, mainmorte) verpflichtet. Ja es gab unter den Leibeigenen noch eine besonders schlecht gestellte Klasse, die liomines de prosecutione oder de sequela (serfs de corps et de suite oder de poursuite), bei denen das Verbot der forfuyance in voller Konsequenz festgehalten wurde; ihnen gegenüber hatte der Seigneur das Recht, sie durch die Gerichte requirieren zu lassen (droit de suite oder de poursuite), und es lag dann erst noch in seiner Hand, ob er ihnen das hörige Lehen, das sie verwirkt hatten, zurückgeben wollte. — Diese ursprünglichen Grundsätze wurden nun freilich auf die Dauer nicht überall in ihrer alten Strenge festgehalten. Der Weg, der zu Milderungen führte, ging über eine bezahlte Einwilligung des Seigneurs. Es versteht sich, daß mit einer freiwilligen Einwilligung des Seigneurs die forfuyance erlaubt war und nicht zur Güterkonfiskatien führte. Gegen angemessene Bezahlung war eine solche Einwilligung des Seigneurs im allgemeinen zu haben. Indem dieser sich aber dergestalt bezahlen ließ, erhielt der ganze Vorgang (genau wie bei den lods et ventes der adeligen und bürgerlichen Lehnsträger) etwas geschäftsmäßiges, und das endete schließlich vielerorts damit, daß dem Hörigen ein Recht auf Verlassen der Grundherrschaft gegen Zahlung einer bestimmten Abgabe (aber ohne weiteren Besitzverlust) zugebilligt wurde. Auf diese Abgabe ging der Name forfuyance nun gleichfalls über. Das Recht des Seigneurs auf sie (droit de forfuyance) war eine Entschädigung für den Verlust, den er erlitt. Denn ein Verlust war jeder derartige Verzug eines Hörigen für ihn, zum mindesten an Arbeitskraft, ganz abgesehen davon, daß jeder Hörige in der Ferne, auch wenn er die Hörigkeit beibehielt, nur mit einiger Mühe bei seinen Verpflichtungen gehalten werden konnte und häufig das Band, das ihn an seinen alten Seigneur knüpfte, ganz abzustreifen verstand. Die forfuyance mußte auch gezahlt werden, wenn der Hörige sich in die Grundherrschaft eines Vasallen seines bisherigen Seigneurs begab und hier ein neues höriges Lehen erwarb. Für die Hörigen aber war das beschränkte Recht auf Freizügigkeit (gegen Zahlung der forfuyance) besonders bei großem Kindersegen wertvoll; Söhne, für die der heimische Boden nicht ausreichte, mochten in der Fremde einen neuen Unterhalt suchen. Es versteht sich übrigens, daß das hörige Lehen niemals durch forfuyance der auf ihm ruhenden Lasten enthoben werden konnte. Auch der Grundeigene, der verzog, ent-

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Die nichtadeligen Klassen der Landbevölkerung.

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ging ihnen nur dann, wenn er keinen Anteil mehr an ihm hatte (sondern es z. B. in den Händen seiner Familie zurückließ). Nur in diesem Falle also konnte er durch Zahlung der forfayance die Lasten der Hörigkeit abschütteln; das ergab sich ja unmittelbar aus dem Begriff der Grundhörigkeit. — Nicht überall freilich hat die geschilderte Milderung in der Beschränkung der Freizügigkeit Platz gegriffen. In einigen Gegenden bestanden die alten Regeln in voller Strenge fort (also mit Konfiskation des gesamten Besitzes und eventuell mit Requisitionsrecht); an anderen Orten ließ man dem Verzogenen wenigstens seinen Mobiliarbesitz oder einen Teil davon, oder man hatte sonst einige ähnliche geringe Milderungen zugelassen. Weiteren Beschränkungen unterliegen die Hörigen im E h e r e c h t . Das ursprüngliche Lehnsrecht verbietet den hörigen Personen beiderlei Geschlechts das foris maritagium (le formariage), d. h. die Heirat mit jemandem außerhalb der hörigen Bevölkerung ihrer Seigneurie. Der Grund ist wiederum einleuchtend; er hängt eng mit dem Mangel der Freizügigkeit zusammen. Wer sich außerhalb der Seigneurie verheiratete, der konnte ihr leicht verloren gehen: bei Ehen zwischen Hörigen verschiedener Grundherrschaften fielen die Kinder zumeist dem Seigneur der Mutter zu, sodaß der andere Teil leer ausging; und wenn ein Höriger eine Freie ehelichte, so gab wenigstens das römische Recht den Nachkommen auch den Stand der Mutter, sodaß hier sogar Gefahr war, daß die Kinder einer solchen Ehe die Hörigkeit abschüttelten. In beiden Fällen wäre der Seigneur geschädigt worden, und daraus erklärt sich die weitere Entwicklung, die derjenigen bei der forfuyancc durchaus entspricht: formariage ist dem Hörigen anfangs verboten, nur gestattet mit Genehmigung des Seigneurs, die sich dieser bezahlen ließ, schließlich gegen die Zahlung einer bestimmten Summe ohne weiters möglich. Diese Summe, die der Seigneur im Falle der Verehelichung eines Hörigen außerhalb seiner Grundherrschaft empfing, erhielt dann gleichfalls den Namen formariage; die Schädigung, die der Seigneur erleidet, wird durch das ihm zustehende droit de formariage ausgeglichen. Freilich ist auch hier die Entwicklung nicht überall so weit gediehen; in einigen Gegenden blieb es dabei, daß der Seigneur bei formariage seine ausdrückliche Zustimmung geben mußte. Andererseits aber stand in dieser ganzen Frage das kirchliche Recht in schroffem Gegensatz zum weltlichen Recht. Denn die Hörigkeit gehört nicht zu den kanonischen Ehehindernissen, und die Kirche war also bereit, nicht nur ein maritagium sondern auch ein foris maritagium einzusegnen, ohne freilich den Hörigen vor den weltlichen Folgen eines solchen Schrittes schützen zu können. Nicht minder wichtig war die Beschränkung der Hörigen endlich im E r b r e c h t . Der Hörige hatte ursprünglich keinerlei Recht, seinen Besitz zu vererben oder gar zu veräußern, sondern bei seinem Tod fiel das Land an den Grundherrn zurück, der es nun nach Gutdünken wieder ausgeben konnte, sich dabei im allgemeinen ganz naturgemäß an die Nachkommen des Gestorbenen hielt, aber doch freie Hand

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Die Zeit des Lehnswesens (843—1180).

hatte und namentlich, im Falle daß mehrere Kinder vorhanden waren, eine Auswahl treffen konnte, um einer zu großen Zerstückelung der Güter vorzubeugen. Das war auch liier das Wichtigste und der eigentliche Grund für die Rechtsunfähigkeit der Hörigen. Der Grundherr behielt im Prinzip das Eigentumsrecht über seine ganze Grundherrschaft, wie er sie ja auch mit allen dazugehörigen Bauern ganz oder teilweise nach Belieben vergeben durfte. Der hörige Bauer war zwar in seinem Besitz geschützt, konnte aber ursprünglich seine ganze bewegliche und unbewegliche Habe weder vererben noch veräußern: er besaß sie »zur t o t e n H a n d « . Die tote Hand (maniis mortua, mainmorte) kann kein Testament schreiben, keinen Kaufvertrag, keine Schenkung unterzeichnen: daher der bildliche Ausdruck. Besonders geläufig ist er uns zur Bezeichnung der Kirchengüter. Was die Kirche besitzt, wird nicht vererbt, da die Kirche nicht stirbt, und soll auch im allgemeinen nach kanonischen Vorschriften nicht veräußert werden. Die Kirchengüter gehen also gleichfalls zur toten Hand, nur daß die Sache hier dadurch ein ganz anderes Aussehen gewinnt, daß der Grund für den Wegfall einer Vererbung die unbeschränkte Lebensdauer der Kirche ist: so muß die A m o r t i s a t i o n , d. h. die Hingabe von Gütern an die tote Hand, mit der Zeit eine schwere Gefahr für die Allgemeinheit werden. Gerade umgekehrt liegt der Fall, wenn ein Sterblicher seinen Besitz zur toten Hand hat: nicht die Entziehung der Güter für den öffentlichen Verkehr und eine Anhäufung der Besitzungen ist hier die Folge, sondern ihr regelmäßig wiederkehrender Heimfall. Dem Hörigen stand also eigentlich nur die lebenslängliche Nutznießung seines Gutes zu; starb er, so konnte sein Seigneur es nach dem Recht der toten Hand wieder an sich nehmen. Auch dieser Rechtszustand hat sich nun freilich im Lauf der Zeit zu Gunsten der Hörigen wesentlich gemildert. Es ging wiederum den bekannten Weg: der Grundherr ließ sich, wenn ein Höriger gestorben war, seine Einwilligung zur Nachfolge der Kinder bezahlen, und daraus entwickelte sich ein Erbrecht der direkten Nachkommen gegen eine Abgabe, oder wenigstens ein Erbrecht derjenigen Kinder, die mit dem Vater unter einem Dach, an demselben Herd, in einer sozialen Gemeinschaft (als pargoniers in „Kommunion") gelebt hatten, während solche Kinder, die einen eigenen Herd gegründet hatten, namentlich also auswärts verheiratete Töchter, meistens vom väterlichen Erbe ausgeschlossen blieben. So hat sich schon im 11. Jahrhundert ein Erbrecht der direkten Nachkommen herausgebildet, und man verschaffte mit der Zeit sogar solchen Töchtern, die sich verheirateten und das Haus des Vaters verließen, durch eine Fiktion die Möglichkeit, daran teilzunehmen: eine Tochter, die nur die Brautnacht im Haus des Vaters zubrachte, wahrte dadurch ihren Erbanspruch (droit de repret); den Kollateralen gegenüber blieb jedoch das Recht der toten Hand bestehen, sofern nicht auch von ihnen denjenigen, die im Haus des gestorbenen Haushaitungsvorstands als pargoniers gelebt hatten, später ein Erbrecht zugestanden wurde. Diese Herdgemeinschaften, die für Frankreich eigentümlich sind, haben sehr

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vielfach den Familiensinn und das Familienleben gehoben und gepflegt — vorausgesetzt, daß sie nicht zu Zänkereien zwischen den Weibern führten, die freilich auch gerade keine Seltenheit gewesen zu sein scheinen. Doch hielt auch dann der große materielle Vorteil, den die Einrichtung bot, im allgemeinen das Haus zusammen. In allen Fällen aber, wo den Hörigen ein Erbrecht zugebilligt wurde, erhielt der Seigneur aus dem Nachlaß eine Abgabe, z. B. einen Ochsen oder sonst ein Stück der beweglichen Habe. Diese Abgabe, auf die das Wort mainmorte ebenfalls überging, und die auch als mortaille (mortuarium, Todfall) oder meilleur catel (Besthaupt, Butteil) bezeichnet wird, ist also eine Art Erbschaftssteuer, die der Seigneur erhebt, und stellt nur den Rest eines einst erheblich weiter gehenden Rechtes dar, was nicht hindert, daß sie im Lauf der Zeit von den Hörigen als sehr drückend empfunden wurde, und daß ihre Abschaffung eine besonders populäre Forderung des Bauernstands war. Das Erbrecht der direkten Deszendenten hat überall Anerkennung gefunden. Seitdem bestand das droit de mainmorte des Seigneurs: bei Erbgang im Besthaupt, und andernfalls, wenn keine erbberechtigten Nachkommen unter den Kollateralen da waren (was sehr verschiedene Regelungen erfuhr), im Heimfall des hörigen Lehens mit aller dazu gehörigen beweglichen Habe. Damit diese letzte Seite des droit de mainmorte keine Schmälerung erführe, galt im allgemeinen die Bestimmung, daß der Hörige seinen Besitz nicht testamentarisch einem anderen vermachen dürfe als dem an sich rechtmäßigen Erben; wer der mainmorte unterlag, machte kein Testament: in dieser Hinsicht hat das Wort seinen ursprünglichen Sinn bis zum Schluß bewahrt. Im ganzen war das droit de mainmorte eines der wichtigsten Rechte, das den Seigneurs verblieben ist; die Hörigen wurden in ihrer Eigenschaft als ihm unterworfene Leute auch mainmortables oder mortaüldbles genannt (wie man ähnlich von taillaUes sprach, d. h. den Leuten, welche der Taille unterworfen waren). Man unterschied übrigens auch hier die mainmorte réelle der Grundeigenen von der mainmorte personelle der Leibeigenen; jene lastete nur auf dem hörigen Lehen, diese auf der Person, die auch nach Aufgabe des Lehens der mainm-orte weiter unterlag. Zur F r e i l a s s u n g (manumissio, affranchissement) eines Hörigen, die in unserer Zeit im allgemeinen durch schriftlichen Akt (per cartam) erfolgte, war im Prinzip die Zustimmung der ganzen feudalen Hierarchie über ihm nötig, also nicht nur die Einwilligung seines Grundherrn, sondern auch diejenige aller der Seigneurs, deren Vasall, Aftervasall usw. dieser Grundherr für das betreffende Lehen war. Das ist begreiflich, da ja der Wert des Lehens durch die Freilassung eines Hörigen geschädigt wurde. Doch wurde das Prinzip keineswegs immer in seiner ganzen Strenge durchgeführt, und es war jedenfalls in unserer Periode genug, wenn man bis zu dem Vertreter der staatlichen Gewalt (dem Lehnsfürsten) hinaufging. Der freigelassene Hörige behielt sein Gut zumeist als bürgerliches Lehen seines bisherigen

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Grundherrn, und er hatte seine Freilassung im allgemeinen teuer zu bezahlen. Als das Königtum kraft seiner wachsenden Macht in der zweiten Hälfte des Mittelalters das Recht der Freilassung zu einem Regal machte, wurde es eine der wichtigsten Einnahmequellen der Krone. 3. Die Knechte. Unterhalb der Hörigen befand sich ursprünglich noch ein ganz unfreier Stand, die Knechte oder Sklaven (servi im alten Sinn, serfs, esdaves). Genossen die Hörigen in ihrer Sphäre vollen privatrechtlichen Schutz, so waren die Knechte durchaus Eigentum ihres Herrn, der rechtlich mit ihnen nach Gutdünken verfahren konnte, ihnen gegenüber sogar Gewalt über Leben und Tod hatte. Nur wenn ein Fremder einen Sklaven tötete, so hatte er den Schaden, den er dadurch dem Herrn zufügte, zu ersetzen, d. h. dem Hern eine Buße zu zahlen. Der Knecht wurde wie ein Haustier behandelt; er konnte dementsprechend auch (zum Unterschied vom Hörigen) keinerlei Vermögen erwerben, wurde vom Herrn nach Relieben verheiratet usw. Solche Sklaven, Unfreie niedrigsten Grades, hat es schon bei den Römern wie bei den alten Germanen gegeben, und noch im 11. Jahrhundert finden wir deutlich ihre Nachkommen; auch hat sich der Stand durch Kriegsgefangene oder durch gänzlich heruntergekommene Schuldner wohl noch vermehrt. Und bei Ehen, in welchen der eine Teil Sklave war, folgten die Kinder nach strengem Recht der »ärgeren Hand.« Dennoch ist die eigentliche Knechtschaft allmählich und noch während der ersten Hälfte des Mittelalters verschwunden. Nicht die Sklaverei sondern die Hörigkeit ist der für die Feudalzeit charakteristische Rechtszustand der unteren Bevölkerungsschichten. An sich konnte der Knecht vom Herrn nach freiem Ermessen verwandt werden, und gewiß ist er besonders häufig zur Arbeit auf dem Herrenland herangezogen worden. Aber frühzeitig stellte-sich daneben der Brauch ein, den Knechten auch Land zur Selbstbewirtschaftung anzuweisen und von dessen Erträgnissen dann Abgaben zu erheben. Schon die Schilderung, welche Tacitus von der Lage der Unfreien bei den Germanen entwirft, läßt vermuten, daß die Knechte vielfach mit einem Gut ausgestattet wurden und hier gleich einem Hörigen wirtschafteten. Nicht anders verfuhr man in den großen Grundherrschaften zur fränkischen Zeit, wo für den Grundherrn bei seinem Uberfluß an Land jede bebauende Hand von Wert war. Auf solche Weise aber erlangten die Sklaven allmählich überhaupt eine Stellung, die der Lage der Hörigen ähnlich war. Auch ein gemeinsamer Name fand sich für sämtliche Hörige und Knechte einer Grundherrschaft: sie bilden die familia des Seigneurs. Hatte der Grundherr einen Knecht erst einmal mit der Bebauung eines gesonderten Landstücks betraut, so lag es in seinem eigenen Interesse, ihm die zur Bebauung nötige Kraft und Muße zu lassen, d. h. ihn zu anderen Arbeiten nicht übermäßig heranzuziehen; für das Herrenland standen ihm ja so wie so auch die Frohnden seiner Hörigen zu Gebote, und so vollzog sich

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auch in dieser Hinsicht allmählich der Ausgleich zwischen Hörigen und Knechten. Sehr bedeutend ist wohl der Prozentsatz der Sklaven nie gewesen, und so haben verschiedene Umstände zusammen dahin gewirkt, daß der vielverbreitete Stand der Hörigkeit den der Knechtschaft allmählich aufzehrte, beseitigte. Es wäre wünschenswert, daß wir im einzelnen über diesen Vorgang noch klarer sehen könnten. Jedenfalls aber entschwindet die Knechtschaft etwa im Laufe des 12. Jahrhunderts unseren Blicken, und wenn das Lehnswesen dem größeren Teil der Gesellschaft das Zeichen der Unfreiheit aufgedrückt hat, so spricht doch andererseits zu seinen Gunsten, daß eine wirkliche Sklaverei ihm fremd und zuwider ist, so sehr, daß es die schon bestehende sogar vernichtet hat.

4. Kapitel.

Recht und Gericht. Literatur.

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Die Zeit des Lehnswesens (843—1180).

alter, Bd. 1, 1891. — G. Pescatore, Die Glossen des Irnerius, 1888. — A. Rivier, L'université de Bologne et la première renaissance de la science juridique, Nouv. rev. hist. de droit 12 (1888). — H. Fitting, Die Anfänge der Rechtsschule zu Bologna, 1888. — Ders. : Questiones de iuris subtilitatibus des Irnerius, 1894. — Ders. : Summa codicis des Irnerius, 1894. — E. Besta, L'opera d'Irnerio, 2 Bde. 1896. — E. Meynial, Encore Irnerius, Nouv. rev. hist. de droit 21 (1897). — P. de Tourtoulon, Placentin. La vie et les œuvres, 1896. — L e h n s r e c h t : K. Lehmann, Die Entstehung der Libri feudorum, 1891. — Ders., Consuetudines feudorum (liber feudorum, ins feudale Longobardorum), Bd. 1, Compilatio antiqua, 1892. G e r i c h t s v e r f a s s u n g : J. Bacquet, Traité des droits de justice haute, moyenne et basse, in d. Oeuvres (1601 u. o.). — Ch. Loyseau, Discours de l'abus des justices de village, in d. Oeuvres (1636 u. o.). — J. P. Brewer, Gesch. der französ. Gerichtsverfassung, 2 Bde. 1835—37. — Fustel de Coulanges, Recherches sur quelques problèmes d'hist., 1885 (De l'organisation judiciaire dans le royaume des Francs). — L. Beauchet, Hist. de l'organisation judiciaire en France, époque franque, 1886. — V e r f a h r e n : A. v. Daniels, System u. Gesch. des französ. u. rheinischen Civilproceßrechtes, Bd. 1, 1849. — M. A. v. Bethmann-Hollweg, Der Civilprozeß des gemeinen Rechts, Bd. 4—6, Der germanisch-romanische Civilprozeß im Mittelalter, 1868—74. — M. Fournier, Essai sur l'hist. du droit d'appel, 1881.

Wir beschäftigen uns in diesem Kapitel mit Recht und Gericht soweit sie weltlichen Charakter tragen. Die geistliche Gerichtsbarkeit, die für bestimmte Gruppen von Personen und Vergehen galt, tatsächlich freilich vielfach mit der weltlichen in Konkurrenz und Konflikt trat, behalten wir dem Kapitel über die Kirche vor. 1. Volksrecht und Kapitularien. Die Frage nach Gültigkeit und Entwicklung des Privatrechts in Frankreich geht mehr eine Rechtsgeschichte an als eine Verfassungsgeschichte, kann aber aus mehreren Gründen doch nicht ganz umgangen werden. Daher mögen wenigstens einige Hauptzüge hier Platz finden. Die fränkische Zeit kannte ein doppeltes Recht: das alte V o l k s r e c h t , wie es in den Leges aufgezeichnet war, und zu seiner Ergänzung die K a p i t u l a r i e n , d. h. die königliche Gesetzgebung. Drei germanische Völker hatten sich im 5. Jahrhundert auf gallischem Boden niedergelassen, die Westgoten, die Burgunder und die Franken; die letzteren hatten ein verschiedenes Recht, je nachdem sie dem salischen oder dem ripuarischen Zweig ihres Volkes angehörten. Sonach gab es unter den Germanen im alten Gallien vier verschiedene Stammesrechte, die sogenannten leges barbarwum, die im 5. bis 8. Jahrhundert aufgezeichnet worden sind : die Lex Visigothorum,. die Lex Burgundionum (auch Lex Gundobada, loi Gambette), die Lex Salica und die Lex Ribiiaria. Sie blieben auch nach der Zusammenfassung aller Stämme im Frankenreich in Kraft, und zwar nach dem Grundsatz der Personalität des Rechts: ein Westgote wurde überall im fränkischen Reich nach westgotischem Recht behandelt, es kam (im Zivil- wie im Strafprozeß) auf die Herkunft des Beklagten, nicht auf das Land an, in dem der Streitfall spielte oder das Vergehen begangen war. Dieser Grundsatz der Personalität des Rechts ging sogar so weit, daß man für die alte gallo-römische Bevölkerung das römische

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Recht in Kraft ließ (im Zivilprozeß allerdings nur, wenn beide Parteien ihr angehörten); ja, die Westgoten und Burgunder haben zu diesem Zweck das römische Recht in besondere, auf die Praxis zugeschnittene, handliche Zusammenfassungen gegossen: das sind die leges Romanorum, in Gallien (im Gegensatz zu den leges barbarorum), nämlich die Lex Romana Visigothorum (oder Breviarium Alarici) und die Lex Romana Burgundionum (durch ein Mißverständnis auch Liber Papiani, le Papien genannt). — Im Gegensatz zu den Volksrechten (für die der Name leges reserviert blieb) galten die Verordnungen der merowingischen und karolingischen Könige, die K a p i t u l a r i e n (capitula, capitularía, der Name kommt von der Einteilung in Kapitel), soweit sie nicht nur Instruktionen für einzelne Beamte darstellten oder einen ausdrücklich eingeschränkten Charakter trugen, für den ganzen Umfang des Reichs. Auch die Kapitulariengesetzgebung liegt im wesentlichen noch vor der Zeit, mit der wir uns hier zu beschäftigen haben, und soll nur ganz kurz erwähnt werden. Die alte Einteilung der Kapitularien in capitula legibus addenda (Ergänzungen und Modifikationen des Volksrechts), capitida per se scribenda (einfache königliche Erlasse, eine Art von Kabinettsordern, zum Teil nur von vorübergehender Gültigkeit) und capitula missorum (Instruktionen der Königsboten) ist vielfach angegriffen worden, darf auch gewiß nicht übertrieben und zu streng gefaßt werden, hat aber unter dieser Voraussetzung doch innere Berechtigung und Wert. Außerdem gab es capitula ecclesiastica, in denen der König in seiner noch unter Karl dem Großen unbestrittenen Eigenschaft als Herr der fränkischen Kirche deren Angelegenheiten ordnete. Vielfach wurden die Kapitularien nach den großen Reichsversammlungen, die den Namen Maifeld führten, aber unter Ludwig dem Frommen in Verfall gerieten, und zwar teilweise mit deren Zustimmung erlassen; für die capitida legibus addenda galt diese Zustimmung sogar als erforderlich, da das Volksrecht nur mit Zustimmung des Volkes ergänzt oder abgeändert werden konnte. Im übrigen enthalten die Kapitularien, eben als Ergebnisse der Beratung einer Reichsversammlung, oft Materien der heterogensten Art: das unterscheidet sie von neueren Gesetzen. Die capitida ecclesiastica nahmen häufig Beschlüsse der Kirchensynoden auf. Eine private Sammlung von Kapitularien, welche der Abt Ansegis von Saint-Wandrille im Jahre 827 vollendet und in vier Büchern veröffentlicht hatte, wurde bei dem Mangel einer offiziellen Sammlung von Ludwig dem Frommen alsbald rezipiert und erlangte offiziellen Charakter. Als eine Ergänzung dieser Sammlung des Ansegis gibt sich die Sammlung des sogenannten Benedictus Levita, welche drei Bücher umfaßt, aber zum größten Teil Fälschungen enthält; sie steht in engem Zusammenhang mit den Pseudoisidorischen Dekretalen und dient ähnlichen kirchlichen Zwecken wie diese (es handelte sich insonderheit um die Ausdehnung der geistlichen Gerichtsbarkeit und die Erschwerung der Anklagen gegen Kleriker); der Verfertiger der Sammlung, der sich Benedictus Levita nennt und auf Veranlassung des Erzbischofs Otgar von Mainz (826 4*

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bis 847) sein Werk unternommen haben will, scheint mit Mainz in Wahrheit nichts zu tun zu haben, sondern ein Westfranke zu sein; die Veröffentlichung der Arbeit erfolgte um 850 in der Kirchenprovinz Reims, wo alle diese kirchlichen Fälschungen im Dienste des Erzbischofs Ebo damals ans Licht traten. Die falschen Kapitularien wurden in Westfranken alsbald rezipiert (Karl der Kahle zitiert sie bereits 14. Februar 857) und haben hier einen größeren Einfluß ausgeübt als in Ostfranken und Italien. — Die Gesetzgebung der Kapitularien hielt nach dem Vertrag von Verdun kaum noch ein halbes Jahrhundert an. Im Westreich haben wir Kapitularien von Karl dem Kahlen, Ludwig dem Stammler und Karlmann. Dann nahm die allgemeine Reichsgesetzgebung der Könige hier für fast drei Jahrhunderte ein Ende. 2. Gewohnheitsrecht und römisches Recht. Das Recht der Leges und der Kapitularien ist das Recht der fränkischen Zeit. Es ist im Laufe des 10. und 11. Jahrhunderts allmählich aus der Übung gekommen und durch ein anderes ersetzt worden, das aus ihm hervorgewachsen ist, viele seiner Elemente aufgenommen hat, aber außerordentlich große und mannigfaltige territoriale Verschiedenheiten aufweist und das Prinzip der Territorialität des Rechts än die Stelle des Grundsatzes der Personalität, nach dem die Leges gehandhabt worden waren, gesetzt hat. Dieses neue Recht der Feudalzeit war das Gew o h n h e i t s r e c h t (consuetudo, coustuma, costuma; la coutume).

D e r Rück-

gang des Staatsgedankens und der staatlichen Zentralgewalt, die Unbildung und Unkenntnis der meist ungelehrten Richter, die Schwierigkeit der Durchführung des Personalitätsprinzips, die mit der Vermischung der Stämme immer größer wurde, die neuen Fragen und Anforderungen, welche die Ausbildung des Lehnswesens mit sich brachte, — all das erklärt die große Wandlung, die in der Hauptsache (und insonderheit was das Verschwinden der Kapitularien anbetrifft) wohl schon im 10. Jahrhundert vor sich gegangen ist; nur einige Reste der Rechtsprechung nach den Gesetzen der Heimat des Beklagten finden sich noch im 11. Jahrhundert. Das Gewohnheitsrecht, das dafür Platz griff, schillerte zunächst (und noch während unserer ganzen Periode) in unzähligen Farben und Spielarten; es wechselte nicht nach Provinzen, sondern nach viel kleineren lokalen Verbänden: oft hatte ein Tal, eine Grundherrschaft, ein größerer Ort, ein Dorf sein eigenes Recht. Im Norden des Landes hat das Gewohnheitsrecht mehr germanische Bestandteile aufgenommen, während im Süden sich im allgemeinen das römische Recht durchsetzte, aber auch hier in lokaler Verschiedenheit und Umbildung und also in der Form des Gewohnheitsrechts. — Dieses Gewohnheitsrecht blieb zunächst ungeschrieben, und es war daher trotz des Prinzips der Territorialität, das nun nicht mehr verlassen wurde, für die Gerichte wie für die Parteien oft keine geringe Schwierigkeit, die geltende coutume festzustellen. Es geschah das, wenn Zweifel obwalteten, entweder durch die Anführung von Praecedenzfällen, für die namentlich im

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Süden (unter dem Einfluß des römischen Rechts) der Zeugenbeweis zugelassen wurde; oder aber das Gericht wählte, im Anschluß an einen fränkischen Brauch, ein Frageverfahren, die sogenannte inqidsitio per turbam (enquête par turbe), eine Art von Massenbefragung, bei welcher die Rechtsfrage (nicht etwa der Fall selbst) einer größeren Anzahl erfahrener Leute des Orts oder der Gegend unterbreitet und von diesen das Gewohnheitsrecht nach Beratung durch einstimmigen Beschluß festgestellt wurde (namentlich im Norden üblich und später manchmal durch eine zweite turba, die das gleiche Ergebnis haben mußte, ergänzt). Aufzeichnungen der lokalen Gewohnheitsrechte kommen erst seit dem Ende des 11. Jahrhunderts vor, im Anschluß an die beginnenden Stadtprivilegien, in die häufig das geltende Recht aufgenommen wurde (Stadtrechte). Eine neue Umbildung des Rechts begann, vielerorts wenigstens, im 12. Jahrhundert durch das Wiederaufleben des r ö m i s c h e n R e c h t s in seiner alten Gestalt, wie sie im 6. Jahrhundert niedergelegt worden war in den vier großen Rechtsbüchern Justinians, den Institutionen, den Digesten (Pandekten), den Konstitutionen (Codex constitutionum, 12 Bücher) und den Novellen. Das Studium des römischen Rechts war im Mittelalter wohl niemals völlig in Vergessenheit geraten, aber zu einer Hülfswissenschaft für andere Studien (z. B. das Kirchenrecht) geworden und dürfte geraume Zeit hindurch nur wenig und kursorisch und nicht nach den eigentlichen Quellen behandelt worden sein. Dann aber brachte die zweite Hälfte des 11. Jahrhunderts einen neuen Aufschwung dieses Studiums, und zwar anfangs etwa gleichzeitig in italienischen und französischen Schulen (Rom, Ravenna, Pavia, Lyon, Orléans), bis dann die Schule von Bologna durch die Wirksamkeit des großen Juristen Irnerius (eigentl. Werner, lehrte seit etwa 1090, zuletzt nachweisbar Dezember 1125) alle anderen in dieser Hinsicht weit überstrahlte und der Mittelpunkt für Unterricht und Ausbreitung des römischen Rechts in Westeuropa wurde. Die „Glossatoren", wie man die Schüler und Nachfolger des Irnerius nennt, da sie die Rechtsbücher Justinians, die sie unter der Bezeichnung Corpus iuris civilis zusammenfaßten, in Form von Glossen zu kommentieren pflegten, verbreiteten die neue Kenntnis und Auslegung des römischen Rechts von Bologna aus über die anderen Universitäten Italiens und der benachbarten Länder. Auch in Frankreich trat der Unterricht unter das Zeichen der Bologneser Schule und gelangte rasch zu hoher Blüte. Als der Engländer Giraldus Cambrensis, der 1176 zu Rechtsstudien nach Paris gekommen war, sich hier bald durch gelehrte Disputationen hervorzutun vermochte, brach einer der artistischen Lehrer daselbst, der früher in Bologna auch juristische Vorlesungen besucht hatte, in die Worte aus: „Es gibt unter der Sonne keine Wissenschaft, welche nicht, nach Paris verpflanzt, hier unvergleichlich und weit herrlicher als irgendwo anders blüht." Um die gleiche Zeit wirkte in Montpellier Placentinus, einer der berühmtesten ' Glossatoren ; er stammte aus Piacenza, war erst

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Professor in Bologna gewesen, hatte sich dann aber nach Montpellier begeben und hier eine Rechtsschule gegründet, wo er geraume Zeit hindurch (nur unterbrochen durch einen nochmaligen Aufenthalt in Italien) gelehrt und auch seine hauptsächlichsten Schriften verfaßt hat (die Summae, d. h. Lehrbücher, zum Codex, zu den Institutionen und zu den Très libri, d. h. den drei letzten Büchern des Codex, die bei den Glossatoren eine abgesonderte Behandlung erfuhren) ; in Montpellier ist er 1192 gestorben. Bald fühlte sich an den Universitäten die Theologie in ihrer Eigenschaft als Königin der Wissenschaften bedroht durch die Jurisprudenz, deren Studienbetrieb ihr in einer Hinsicht glich, sofern ja auch sie ein Buch, eine Autorität hatte, auf der sie beruhte, und die es auszulegen galt; aus anderen Gründen freilich sollte die Konkurrenz rasch zur Feindschaft werden. Das Studium des römischen Rechts blieb nicht auf den wissenschaftlichen Betrieb und die theoretische Gelehrsamkeit beschränkt sondern drängte alsbald auch in die Praxis. Daß der Schritt in die Praxis in der Tat folgte, war kein Wunder in einer Zeit, wo man auf gelehrte Richter wieder mehr Wert legte als vordem. Dazu aber trieb das neue Studium nicht nur an sich sondern auch deshalb, weil es den staatlichen Gewalten ein erwünschtes Mittel an die H a n d gab, die eigenen Machtmittel zu stärken, die fremden der Kirche und der kleineren Lehnsherrn zu schwächen ; wir werden darauf bei der Betrachtung der folgenden Periode zurückzukommen haben. Im Laufe des 12. Jahrhunderts fand also das römische Recht allmählich auch Eingang in die Praxis und begann, das bisher gebräuchliche Gewohnheitsrecht umzugestalten. Und zwar geschah das so, daß es im Süden, wo das römische Recht, wenn auch in verschwommener, verkümmerter und verderbter Gestalt, doch schon lange in Geltung gewesen war, n u n in seiner neuen, gereinigten Form sich fast überall durchsetzte (nur wenige, zumeist lokale coutumes blieben hier noch in Kraft) ; in Mittelfrankreich und im Norden gelang es ihm hingegen n u r , die Gewohnheitsrechte in mancher Hinsicht umzubilden und zu ergänzen, mußte sie aber im übrigen bestehen lassen. So schied sich ganz Frankreich in rechtlicher Hinsicht in zwei, bald scharf gesonderte Teile : die Länder des Gewohnheitsrechts [pays de coutumes, pays coutumiers) im Norden und die Länder des geschriebenen Rechts, d. h. des römischen Rechts (pays de droit écrit oder romain) im Süden. Die Linie, welche die beiden Teile scheidet, läuft von der Mündung der Charente nach dem Genfersee hinüber, buchtet aber zweimal nach Süden aus, sofern die Landschaft Angoumois und der größere Teil der Auvergne zu den Ländern des Gewohnheitsrechts gehören. Sie läßt also im Norden : Poitou mit Aunis und Angoumois, die Marche, den größeren Teil der Auvergne, Bourbonnais, Charolais und das Herzogtum Burgund; im Süden: die Saintonge, Périgord, Limousin, von der Auvergne die Gegend' von Aurillac und Saint-Flour (dazu enklaviert Clermont-Ferrand), Gévaudan, Velay, Lyonnais mit Forez und Beaujolais, sowie den Maçonnais. (Von den später erworbenen

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L ä n d e r n an der Ostgrenze blieben die Bresse, Dombes, Bugey, Valromey, Gex im Süden, die Franche-Comte im Norden, während das Elsaß eine Enklave mit römischem Recht bildete.) I m 13. J a h r h u n d e r t ist diese Trennung der Länder nach Gewohnheitsrecht und römischem Recht bereits eine ausgemachte Sache. Sie hat übrigens mit der großen sprachlichen Scheidung in die Länder der französischen Sprache oder Languedo'il im Norden und der provenzalischen Sprache oder Languedoc im Süden nichts zu tun und fällt auch keineswegs mit dieser zusammen (von den Ländern des Gewohnheitsrechts gehören Marche und die ganze Auvergne zum Sprachgebiet der Languedoc, von denjenigen-geschriebenen Rechts gehören die Saintonge, Lyonnais mit Beaujolais und der Mäconnais zur Languedoil; die östlichen Länder Bresse, Dombes, Bugey, Gex, der größere Teil von FrancheComte und Dauphine sowie Savoyen und die französische Schweiz bilden sprachlich eine besondere Übergangsgruppe, die francoprovenzalische). In einer Hinsicht mußte man freilich auch im Süden beim Gewohnheitsrecht bleiben: in den vielen Fragen, die das Lehnswesen mit sich brachte, und die man in den Rechtsbüchern Justinians natürlich vergebens nachgeschlagen hätte. Neben dem römischen Recht galten also die l e h n s r e c h t l i c h e n Bestimmungen auf Grund der Gewohnheit und der Praxis (Präcedenzfälle). Daß für das Lehnsrecht gerade im Süden die langobardischen Consuetudines (oder Libri) feudorum von großem Einfluß wurden, haben wir gelegentlich schon hervorgehoben (S. 23, 28). Sie stellen eine Sammlung von Vorschriften dar, für die das berühmte Lehnsgesetz Kaiser Konrads II. von 1037 den Ausgangspunkt bildete, die aber Teile sehr verschiedenen Alters enthält, eine beständige Umbildung und Erweiterung erfuhr und erst im 13. J a h r h u n d e r t abgeschlossen wurde (sie liegt heute in drei Rezensionen vor). Die Glossatoren in Italien, denen das römische Recht kein fertiges historisches Gebilde war, sondern ein lebender, sich weiter fortbildender Organismus (z. B. durch die Konstitutionen der deutschen Kaiser als der Nachfolger der alten römischen), nahmen d i e Consuetudines feudorum

sogar in das Corpus iuris civilis

auf

und

kommentierten auch sie durch Glossen. Dennoch haben in Südfrankreich die Consuetudines feudorum nur an einigen Orten eine vollgültige Gesetzeskraft, gleich den alten Teilen des Corpus iuris, erlangt (namentlich im Dauphine, der aber bis ins 14. J a h r h u n d e r t zum Königreich Burgund, d. h. seit 1032 zum Kaiserreich gehörte). 3. Die Gerichtsordnung im Lehnsstaate. In welchen Händen lag zur Zeit des ausgebildeten Lehnswesens in Frankreich die Gerichtsbarkeit? Man hat wohl gemeint: jeder Seigneur übte sie für seine Seigneurie, für den Umfang seiner Grundherrschaft aus (genauer: über seine adeligen, bürgerlichen und hörigen Lehnsleute, während die bürgerlichen und hörigen Lehnsleute seiner Vasallen wieder unter diesen standen). Die richterliche Gewalt, die einst im Staat Karls des Großen in der Hand des Königs geruht hatte, soll nach dieser

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Ansicht zugleich mit den übrigen staatlichen Befugnissen völlig auf die Grundherrschaften übergegangen sein, um aus diesen, aus dem Hofrecht der Grundherrn, neu zu erstehen. Diese sogenannte hofrechtliche Theorie ist jedoch durchaus unrichtig. Sie berücksichtigt nur die eine, die lehnsrechtliche Seite des merkwürdigen Gebildes, das aus dem Reich Karls des Großen geworden ist, und übersieht, daß daneben die alten staatlichen Gewalten, wenn auch vielfach umgeformt und verkümmert, doch niemals ganz verschwunden sind. Der Lehnsstaat zeigt in der Tat ein doppeltes Antlitz, wie das schon sein Name andeutet, ein lehnsrechtliches oder hofrechtliches (d. h. privatrechtliches) und ein staatsrechtliches oder besser allgemein landrechtliches (d. h. öffentlich-rechtliches). Allerdings ist der Staat durch das Lehnswesen, das allgemeine staatliche Landrecht durch das Lehnsrecht stark durchsetzt und überwuchert worden; aber dennoch müssen die beiden Teile auseinandergehalten werden : das zeigt gerade eine Betrachtung der gerichtlichen Ordnung des alten Frankreich. Denn beide haben ihre richterlichen Organe. Es gibt eine lehnsrechtliche (feudale) oder h o f r e c h t l i c h e G e r i c h t s b a r k e i t {justice féodale) und eine andere, die wir im Gegensatz zur hofrechtlichen als die l a n d r e c h t l i c h e G e r i c h t s b a r k e i t bezeichnen wollen. Jene hofrechtliche steht in der Tat jedem Seigneur für seine Seigneurie zu; diese, die landrechtliche Gerichtsbarkeit, hingegen nur einem Teil der Seigneurs, den sogenannten seigneurs justiciers, den „Gerichtsherrn", die über ein größeres oder kleineres, im allgemeinen jedoch eine ganze Anzahl von Grundherrschaften umfassendes Territorium richten. Die hofrechtliche Gerichtsbarkeit der Seigneurs bezieht sich nur auf einen bestimmt umschriebenen Kreis von Personen und Sachen, der den speziell lehnsrechtlichen Einrichtungen entspricht; sie ist ein Teil der grundherrschaftlichen (und leibherrschaftlichen) Befugnisse. Die landrechtliche Gerichtsbarkeit der seigneurs justiciers stellt dagegen die eigentlich staatliche Gerichtsherrschaft dar. Was die ganz klaren Verhältnisse den Forschern zumeist verdunkelt und auch in solche Darstellungen, die von der richtigen Erkenntnis ausgehen, vielfache Unklarheiten gebracht hat, das ist eine unglückliche, zu Verwechslungen Anlaß bietende Bezeichnung, die sich schon in den Quellen findet und aus diesen übernommen wurde. Die landrechtliche Gerichtsbarkeit der seigneurs justiciers wird nämlich im allgemeinen als justice seigneuriale, als die »seigneuriale Gerichtsbarkeit« bezeichnet. Der Name ist an sich ganz korrekt, wenn man sich nur darüber klar ist, daß dabei unter »Gerichtsbarkeit« an die Gerichtsbarkeit par excellence, d. h. an die staatlich -landrechtliche Gerichtsbarkeit gedacht wird; er bezeichnet somit diejenige staatlich - landrechtliche Gerichtsbarkeit, die von Seigneurs (genauer: von einigen unter den Seigneurs) ausgeübt wird, im Gegensatz zur lehnsfürstlichen und königlichen Gerichtsbarkeit. Es ist aber ohne weiteres verständlich, wie er zu tausend Mißverständnissen Anlaß bieten konnte, da man zunächst natürlich versucht ist, unter »seigneurialer

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Gerichtsbarkeit« einfach die Gerichtsbarkeit der Seigneurs zu verstehen und sie allen Seigneurs zuzuschreiben. Die Verwirrung wurde noch heilloser dadurch, daß nun auch die Worte »Seigneur« und »Seigneurie« manchmal in schillernder Bedeutung gebraucht wurden, bald für Grundherr und Grundherrschaft, bald für Gerichtsherr und Gerichtsherrschaft. Wir bleiben demgegenüber bei der alten Bedeutung der Worte. Seigneur ist der Grundherr in seinen Beziehungen zu seinen Vasallen, seinen bürgerlichen Lehnsleuten und seinen Hörigen; er übt über sie, oder in seiner Seigneurie, die lehns- oder hofrechtliche Gerichtsbarkeit aus. Ein Teil dieser Seigneurs hat aber außerdem eine örtlich und inhaltlich über die lehnsrechtliche Gerichtsbarkeit erheblich hinausgehende andere Gerichtsbarkeit; das sind die seigneurs justiciers (wir behalten den französischen Ausdruck bei, da er prägnanter ist als Gerichtsherr). Sie üben in einem Territorium (Distrikt, Gerichtsbezirk), der mit Grundherrschaften im Prinzip gar nichts zu tun hat, die landrechtliche Gerichtsbarkeit aus; den Ausdruck »seigneuriale Gerichtsbarkeit«, der dafür auch gebraucht wird (und somit in einen ganz schiefen Gegensatz zur »feudalen Gerichtsbarkeit« kommt), wollen wir der Klarheit wegen vermeiden. Es ist natürlich an sich nicht unmöglich, kommt aber nur selten vor, daß ein seigneur justicier die landrechtliche Gerichtsbarkeit nur für seine Grundherrschaft ausübt, daß also hofrechtliche und landrechtliche Gerichtsbarkeit ausnahmsweise einmal territorial zusammenfallen. Für die Erkenntnis des rechtlichen Zustandes ist eine solche, aus Gründen lokaler, persönlicher oder zufälliger Art hervorgegangene Erscheinung ohne Bedeutung. Die Zahl der landrechtlichen Gerichtsbezirke ist sehr groß : gleich einem vielmaschigen Netz spannen sie sich über ganz Frankreich. Dennoch ist es von dem gesamten lehnsrechtlichen Adel Frankreichs nur ein geringer Bruchteil, der solche landrechtliche, ehemals vom Staat ausgeübte Gerichtsbarkeit erworben hat und somit zu den seigneurs justiciers gehört. Die Sache liegt also so, daß die vordem einheitliche staatliche Gerichtsbarkeit im 9. und 10. Jahrhundert allerdings zerschlagen wurde, zerschlagen in eine große Zahl kleiner territorialer Gerichtsbezirke, daß es aber nicht die grundtyerrlichen Gewalten waren, die das Erbe des Königtums in dieser Hinsicht antraten, sondern nur eine Auswahl aus ihnen. Wie es zu dieser Auswahl gekommen ist, das ist im einzelnen schwer oder gar nicht zu sagen. Eine Anzahl richterlicher Gewalten hat ja unmittelbar das Immunitätswesen geschaffen, durch das ganze Bezirke von den königlichen Gerichten unabhängig gemacht wurden; namentlich haben viele geistliche Herrn auf diese Art weltliche Gerichtsbarkeit erworben. Gewiß handelt es sich im übrigen oft auch einfach um eine Machtfrage. Ein großer, starker Grundherr (namentlich ein Baron oder ein châtelain) konnte in der Zeit der staatlichen Schwäche und der allgemeinen Anarchie leicht die Gerichtsbarkeit über ein kleines Territorium an sich reißen; sie •verschaffte ihm nicht nur neue Macht, eine gewisse staatliche Gewalt,

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sondern vor allem auch nicht unerhebliche Einkünfte. In der Hauptsache aber werden es, wenigstens bei der sogenannten hohen Gerichtsbarkeit (S. 61), doch alte staatliche Amter gewesen sein, die in das Lehnswesen einbezogen, als Lehen vergeben oder betrachtet, die Grundlage für die Ausübung landrechtlicher Gerichtsbarkeit abgaben, also die Amter des comes, des vicecomes, des vicarius (viguier, voyer) oder noch kleinere davon abgezweigte Stellen richterlicher Art. Die alte karolingische Gerichtsverfassung hat sich , durch Delegation noch weiter nach unten verzweigt und in Verbindung mit dem Lehnswesen zu einer Selbständigkeit vieler unterer Glieder geführt. Daß diese selbständig werdenden Beamten Grundherrn waren, und zwar wieder zumeist reich begüterte Grundherrn, versteht sich von selbst, da die Bezahlung durch Grundverleihung erfolgte und die Beamtenschaft daher schon vordem mit dem Lehnswesen verknüpft war. Das Ergebnis war jedenfalls, daß alle Lehnsfürsten und Barone, die meisten châtelains und viele einfache Seigneurs landrechtliche Gerichtsbarkeit erwarben, die niedrigeren Würden allerdings zumeist nur die sogenannte niedere Gerichtsbarkeit. Im Prinzip muß aber festgehalten werden : die Gerichtsherrschaft der seigneurs justiciers steht auf einem anderen Boden wie Leib- und Grundherrschaft. Diese sind eine privatrechtliche Einrichtung, jene trägt staatlichen Charakter. Über die Gerichte der seigneurs justiciers traten mit der Ausbildung der Lehnsfürstentümer die Gerichte der L e h n s f ü r s t e n (die aus der Zahl der seigneurs justiciers hervorgingen), und an die Spitze des ganzen Organismus stellte sich allmählich die wieder erstarkende Macht des K ö n i g s . Außerdem lösten sich seit der Entstehung der Stadtverfassungen (die gegen Ende des 11. Jahrhunderts beginnt) selbständige s t ä d t i s c h e Gerichtsordnungen ab, welche eine spätere Theorie auf die gleiche Stufe wie die lehnsfürstlichen stellte, die aber in der Tat nach Ursprung und Wesen etwas ganz neues bedeuteten. Über die Lehnsfürsten, das Königtum und die Städte werden wir in den folgenden Kapiteln sprechen und dabei auch ihrer richterlichen Eigenschaften gedenken. Hier haben wir nur noch über Umfang, Einrichtung und Verfahren der hofrechtlichen und der landrechtlichen Gerichtsbarkeit zu handeln.

4. Die hofrechtliche Gerichtsbarkeit.

Die Fälle, in denen die

lehns- oder hofrechtliche Gerichtsbarkeit der Seigneurs zur Anwendung kam, zerfallen in zwei Gruppen. Bei der einen war der Grund für die Zuständigkeit des Seigneurs ein sachlicher, in den Lehnsvergabungen oder in den leibherrlichen Abhängigkeitsverhältnissen beruhender; diese Gruppe umfaßt die g r u n d h e r r l i c h e und die l e i b h e r r l i c h e G e r i c h t s b a r k e i t , die mithin iure materiae den Seigneurs zustand. Bei der anderen lag der Grund für die Zuständigkeit des Gerichtes am Hof des Seigneurs in der Person des Beklagten; diese Gruppe umfaßt die v a s a l l i t i s c h e G e r i c h t s b a r k e i t , die mithin iure personae (über die Vasallen) ausgeübt wurde.

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Die g r u n d h e r r l i c h e G e r i c h t s b a r k e i t (justice fonciere) betraf alle diejenigen Fälle, bei denen es sich um den Besitz eines adeligen, bürgerlichen oder hörigen Lehens oder um die daraus fließenden Rechte und Pflichten handelte. Alle mit dem Lehen und den auf ihm ruhenden Lasten zusammenhängenden Prozesse waren vor dem Gericht des Seigneurs, bei dem der Besitzer zu Lehen ging, zuständig. Also z. B . : die Anfechtung des Lehnsbesitzes, die Felonie, die Regelung der Erbschaft, die Zahlung der lods et ventes, der Taille, des Kopfzinses, der forfuycmce, des formariage, die Abgabe des Besthauptes und die Leistungen der Frohnen. Die grundherrliche Gerichtsbarkeit fand sonach sowohl gegen Adlige als gegen Freie und Hörige Anwendung, sofern sie nur ein Lehen besaßen. Ein Unterschied bestand freilich hinsichtlich der Zusammensetzung und Kompetenz des Gerichtshofes. Handelte es sich um einen Adligen, so trat dessen Recht, durch seine pares gerichtet zu werden, in Kraft. Der Gerichtshof mußte sich dann also aus anderen Vasallen des Seigneurs zusammensetzen, und diese hatten nicht nur beratende sondern beschließende Gewalt: die als Beisitzer fungierenden pares waren Richter, die das Urteil fanden, der Seigneur (oder ein Stellvertreter) führte nur den Vorsitz und sprach das Urteil, hatte aber im übrigen lediglich eine Stimme wie die anderen auch. Übrigens wurden nicht alle pares zusammengerufen, sondern es galt als Grundsatz, daß eine bestimmte Zahl, die zumeist nicht hoch gegriffen war (oft drei) genüge; ging Not an den Mann, so konnte der Seigneur auch einen oder den anderen von seinen eigenen pares (d. h. also von den Vasallen seines Seigneurs) zur Ergänzung heranziehen. Anders lagen die Dinge dagegen, wenn es sich um den Besitzer eines bürgerlichen oder hörigen Lehens handelte. Zwar waren auch in diesem Falle Beisitzer nötig, da es nach alter fränkischer Anschauung einen Urteilsspruch ohne einen Gerichtshof mit Beisitzern gar nicht gibt. E s stand aber dann im Belieben des Seigneurs, ob er auch jetzt einige von seinen Vasallen als Beisitzer (und Urteilsfinder) entbieten, oder ob er sich dazu anderer bürgerlicher Lehnsleute seiner Grundherrschaft bedienen wollte; in letzterem Falle aber hatten die Beisitzer nur beratende Stimme, der Seigneur war alleiniger Richter, nicht an ihre Meinung gebunden. Während den Freien jederzeit alle Rechtswege offen standen, "finden sich für die Hörigen manchmal gewisse Beschränkungen, wie namentlich die, daß sie gegen ihren Seigneur (seltener gegen Adlige oder gar gegen Freie) nicht klagen dürfen. — Es versteht sich übrigens, daß die grundherrliche Gerichtsbarkeit, da sie ein Teil der hofrechtlichen ist, nur solchen Grundherrn zusteht, die Lehen ausgegeben haben. Wir werden später eine andere Art der Verwaltung von Grundherrschaften kennen lernen, die Vergabung zu Pachtbesitz, und es ist möglich, daß es auch diese Art im früheren Mittelalter, wenn auch selten, gegeben hat. Dem Grundherrn, welcher Pachtgüter ausgab, stand keinerlei Gerichtsbarkeit über seine Pächter zu.

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D i e l e i b h e r r l i c h e G e r i c h t s b a r k e i t ist gewissermaßen nur ein Seitenstück zur grundherrlichen, deren Regeln auf sie entsprechende Anwendung finden mit der Maßgabe, daß es sich bei der leibherrlichen Gerichtsbarkeit um die Geltendmachung der speziell leibherrlichen Gerechtsame über die Leibeigenen handelte. Im allgemeinen fiel sie mit der grundherrlichen einfach zusammen, so lange nämlich der Leibeigene sein höriges Lehen in Besitz behielt. Sie erhielt aber eine eigene Bedeutung, wenn der Leibeigene sein Lehen aufgab, um anderswo einer anderen Beschäftigung nachzugehen (z. B. einem Handwerk in einer Stadt). Während der Grundeigene damit das Band der Hörigkeit durchschnitt, blieb der Leibeigene auch jetzt seinen hörigen Verpflichtungen und in den darauf bezüglichen Fragen der hofrechtlichen Gerichtsbarkeit seines Seigneurs unterworfen. Die Rechte, die der Seigneur. durch seine leibherrliche Gerichtsbarkeit gegen einen Leibeigenen, der die Seigneurie verlassen hatte, geltend machen konnte, betrafen also den jährlichen Kopfzins sowie beim Weggang die forfuyance, bei der Heirat das formariage, beim Tod die mainmorte. So war es wenigstens nach strengem Lehnsrecht. Freilich konnten diese Rechte oft tatsächlich nicht mehr geltend gemacht werden, oder man mußte sich an die landrechtlichen Gerichte wenden, die mit der Zeit ihre eigene Zuständigkeit in diesen Fällen durchzusetzen suchten, und zum Teil gingen sie schließlich ganz verloren. D i e v a s a l l i t i s c h e G e r i c h t s b a r k e i t bezog sich auf alle Prozesse, in denen- ein Adliger beklagt wurde, und fiel also gleichfalls häufig mit der grundherrlichen zusammen, sobald es sich nämlich um Fragen des Lehens oder der vasallitischen Pflichten handelte. Aber hier ward der Kreis sachlicher Beschränkung verlassen, sofern das Lehnsrecht den Anspruch erhob, daß auch alle anderen Fälle, in denen ein Adliger der Angeklagte war, vor das hofrechtliche Gericht gehörten; also z. B. Raub, Mord oder privatrechtliche Streitigkeiten, bei denen es sich um andere als lehnsrechtliche Beziehungen handelte. Dieser Anspruch, durch welchen den landrechtlichen Gerichten großer Abbruch geschah, sofern ihnen im Prinzip alle Prozesse gegen Adlige entzogen wurden, hat in der Zeit der Herrschaft des Lehnswesens in der Tat volle Anerkennung gefunden, und erst im 12. Jahrhundert ( begannen die landrechtlichen Gerichte unter dem Einfluß der sich neu durchsetzenden römisch-rechtlichen Anschauungen dagegen einen Kampf, um auch den Adel in Fragen, die das Lehnsrecht nichts angingen, der landrechtlichen Gerichtsbarkeit zu unterwerfen; dieser Kampf — wie man sieht, ein Kotnpetenzstreit — hat bald zu erheblichen Erfolgen geführt, deren Schlußergebnis wir in der nächsten Periode kennen lernen werden. Auch die vasallitische Gerichtsbarkeit wurde durch das Gericht der pares am Hof des Seigneurs ausgeübt in der gleichen Art, die wir bei der grundherrlichen Gerichtsbarkeit über Adlige kennen gelernt haben. Bei den Komplikationen des Lehnsverbands durch mehrseitige Belehnung wurde dem Seigneur, welchem homagium ligium geleistet war, natürlich der Vorzug vor dem

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homagium simplex (und im allgemeinen auch vor den späteren ligischen Verträgen) gegeben. 5. Die landrechtliche Gerichtsbarkeit. Alle Fälle, die nicht der hofrechtlichen Gerichtsbarkeit unterlagen, waren Sache der landrechtlichen Gerichtsbarkeit der seigneurs justiciers. Diese übten also eine doppelte Gerichtsbarkeit aus, die lehnsrechtliche in ihrer Seigneurie und die landrechtliche in ihrem Landgerichtsbezirk (districtus, détroit). Sie bedienten sich aber für beide desselben Gerichtshofes (curia, assisia, placitum), der also in der Form die Doppelgestalt hatte, die wir vorhin (S. 59) kennen lernten. Immerhin zeigte die landrechtliche Gerichtsbarkeit, die viel häufiger als die hofrechtliche in Tätigkeit treten mußte, bald die Tendenz einer mehr oder weniger festen Ordnung, und daraus erklärt es sich, daß die Berufung einiger pares zu diesem Zweck seltener wurde und in der Regel einige ständige Beisitzer aus dem Kreis der bürgerlichfreien Bevölkerung gewählt und (z. B. mit einem bürgerlichen Lehen) bezahlt wurden. Auch eine regelmäßige Stellvertretung des Gerichtsherrn wurde bald vielerorts Sitte; sie geschah durch einen seigneurialen Beamten, der sehr verschiedene Titel führen konnte (prévôt, bayle), und auf den die alleinige richterliche Qualität seines Herrn überging (die Beisitzer hatten nur beratende Stimme außer bei Rechtsprechung durch pares). Ein seigneur justicier kann auch mehrere Stellvertreter haben und somit an verschiedenen Orten seines Bezirks ein ständiges Gericht einrichten. Sehr charakteristisch für die große Zersplitterung der staatlichen Gewalt war es, daß häufig die landrechtliche Gerichtsbarkeit noch einmal in sich geteilt war und somit nicht einem sondern mehreren seigneurs justiciers zustand. Es ist das die Teilung in die sogenannte h o h e und n i e d e r e G e r i c h t s b a r k e i t , von denen also jene von dem einen, diese von einem anderen seigneur justicier ausgeübt werden konnte. Die Teilung geschah auf Grund der größeren oder geringeren Wichtigkeit der Prozesse, wobei man bei den Straffällen einfach nach der Höhe der als Buße vorgesehenen Strafe schied ; doch ist die Trennung niemals ganz genau, in einer alle Zweifel und Kompetenzstreitigkeiten ausschließenden Weise vorgenommen worden. Die h o h e G e r i c h t s b a r k e i t (iustitia oder iurisdictio magna, maior oder alta; haute justice) ist die Blutgerichtsbarkeit (iustitia sanguinis, ensis), indem sie diejenigen strafrechtlichen Fälle, auf welchen Leibesstrafen (Todesstrafe, Verstümmelung, auch schwere Züchtigung) standen, und diejenigen zivilrechtlichen Fälle, die zu einem gerichtlichen Zweikampf Anlaß geben konnten, umfaßte. Das waren also die schweren Verbrechen und die bedeutenderen Zivilsachen. Die anderen, weniger wichtigen Prozesse unterlagen der n i e d e r e n G e r i c h t s b a r k e i t (iustitia parva, minuta, bassa; basse justice). Die Bezirke der hohen und der niederen Gerichtsbarkeit brauchten sich keineswegs zu decken ; die letzteren waren oft kleiner als die ersteren, und häufig war der Herr niederer Gerichtsbarkeit ein Vasall des Herrn hoher Gerichtsbarkeit. Es versteht sich übrigens, daß die seigneurs justiciers durch-

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aus nicht auf der gleichen Stufe in der feudalen Hierarchie standen; vielmehr erstreckte sich die Befugnis landrechtlicher Gerichtsbarkeit hier weiter, dort weniger weit herab. Nur das kam nicht vor, daß dem Seigneur eines seignetir justicier keine oder eine mindere landrechtliche Gerichtsbarkeit zustand als diesem; denn die landrechtliche Gerichtsbarkeit galt (wie die alten Amter) als Lehen, das an einer Seigneurie haftete, und konnte natürlich nur von dem vergeben werden, der sie selbst besaß. 6. Das gerichtliche Verfahren und der Rekurs an höhere Gerichte. Das V e r f a h r e n vor all diesen Gerichten war noch durchaus primitiv und entsprach wenig unseren modernen Anschauungen. Eröffnet wurde es auch bei Straffällen zumeist nur auf Antrag einer Partei; eine Verfolgung von Amts wegen wurde lediglich bei schweren Verbrechen eingeleitet und auch dann gewöhnlich nur, wenn der Täter auf frischer Tat betroffen worden war. Es handelte sich daher beim gewöhnlichen Strafprozeß wie beim Zivilprozeß um einen Streitfall zwischen zwei Parteien, der auch durch einen Vergleich aus der Welt geschafft werden konnte. Die Beweislast lag im allgemeinen beim Kläger und wurde in alter Weise durch Eid und Eideshelfer geleistet, wogegen der Beklagte einen Reinigungseid und eine größere Anzahl von Eideshelfern stellen oder sich dem Gottesurteil der einseitigen, d. h. nur von der einen Partei, nämlich dem Beklagten, zu leistenden Ordalien (der Feuer- oder Wasserprobe) unterziehen konnte. Diese einseitigen Ordalien kamen besonders beim Verfahren gegen einen Hörigen zur Anwendung. Von ihnen ist zu unterscheiden das zweiseitige, d. h. beide Parteien in Anspruch nehmende Gottesurteil des gerichtlichen Zweikampfs (pugna), das gleichfalls in Brauch blieb und durch Herausforderung von seiten des Klägers oder des Beklagten (der dabei den Kläger des Meineids zieh) eingeleitet werden konnte. Der gerichtliche Zweikampf war besonders eine Sache des Adels, während die Hörigen ganz von ihm ausgeschlossen waren. Ein anderes zweiseitiges Gottesurteil war die Kreuzprobe (iudicium crucis), bei welcher die beiden Parteien sich mit wagrecht ausgestreckten Armen unter ein Kreuz stellten und derjenige verlor, der zuerst die Arme sinken ließ. Die S t r a f e n beim Strafprozeß bestanden in Leibesstrafen (Tod, Verstümmelung) und in Vermögensstrafen (Konfiskation, Buße, Schadenersatz), seltener in Gefängnis, Geißelung, Verbannung. Die Vermögensstrafen fielen, soweit es sich nicht um Schadenersatz handelte, dem Gerichtsherrn zu und bildeten für diesen eine (namentlich bei hoher Gerichtsbarkeit) reiche Einnahmequelle. Die hofrechtliche und die landrechtliche Gerichtsbarkeit richteten beide prinzipiell in erster und letzter Instanz. Die Berufung oder Appellation in unserem Sinne, d. h. der R e k u r s , der wegen Rechtsirrtums von einem Gericht an ein höheres genommen wird, ist der Periode, von der wir hier handeln, ebenso unbekannt wie der fränkischen Zeit. Dagegen hat sich aus dieser die Möglichkeit des Rekurses an ein höheres Gericht in zwei anderen Fällen erhalten: wegen Rechts-

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Die Lehnsfürstentümer.

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Verweigerung und wegen Rechtsfälschung (d. h. bewußter Ungerechtigkeit). In beiden Fällen trat an die Stelle des Gerichtshofs, vor dem der Kläger kein Recht gefunden zu haben behauptete, der Gerichtshof des in der feudalen Hierarchie nächst höheren Seigneurs (d. h. also des Seigneurs, dessen Vasall der der Rechtsverweigerung oder der Rechtsfälschung beschuldigte Seigneur für das betreffende Lehen oder die landrechtliche Gerichtsbarkeit war). Auf diese Weise konnte man dann, wenn die Klage auch gegen das höhere Gericht wiederholt werden mußte, schließlich bis zu den Gerichten der Lehnsfürsten, ja des Königs emporsteigen. Allerdings billigte die vom Lehnswesen durchsetzte Zeit die beiden Rechtswege nicht mehr jedermann gleichmäßig zu. Die „Urteilsschelte", d. h. den schweren Vorwurf der Rechtsfälschung, durfte im allgemeinen nur mehr der Adlige erheben, und sie führte in diesem Falle regelmäßig zum gerichtlichen Zweikampf, der vor dem höheren Gerichtshof zwischen dem Kläger und einem der Richter (pares) des beklagten (niedereren) Gerichtshofs zum Austrag kam. Den Hörigen hingegen war gelegentlich sogar die Klage wegen Rechtsverweigerung unmöglich; sie durften dann weder gegen ihren Seigneur (oben S. 59) noch gegen ihren seigneur justicier einen Prozeß anstrengen. Wurde der Prozeß wegen Rechtsverweigerung oder Rechtsfälschung vor dem höheren Gericht gewonnen, so war die Folge, daß der Kläger dauernd aus dem Gerichtsverband des niedrigeren in denjenigen des höheren Seigneurs übertrat. War der Kläger adelig, so galt zugleich auch das vasallitische Band zwischen ihm und seinem bisherigen Seigneur für gelöst, und er ging von diesem Augenblick an bei dem höheren Seigneur, vor dessen Gericht ihm sein Recht geworden war, zu Lehen. In diesem Falle hatte der Seigneur also einen Vasallen samt seinem Lehen verloren, ganz entsprechend der lehnsrechtlichen Folge einer Pflichtverletzung durch den Seigneur (S. 21). War der Kläger hingegen nicht adelig, so hatte der Seigneur nur die geringere finanzielle Einbuße einer seiner Gerichtsbarkeit unterworfenen Person zu beklagen. Wurde umgekehrt der Prozeß wegen Rechtsverweigerung oder Rechtsfälschung durch den Kläger verloren, so hatte das im allgemeinen keine weiteren rechtlichen Folgen. Diese Regeln haben sowohl die Lehnsfürsten als die Krone mit der Zeit für ihre Zwecke (die Schwächung der direkt unter ihnen stehenden Gewalten durch Beschützung der kleineren Vasallen) auszunutzen verstanden. 5. Kapitel.

Die Lelinsfürstentümer. Literatur. A l l g e m e i n e s : A. D. Altaserra, De dueibus et comitibus provincialibus Galliae libri très, 1643 ; ed. J. G. Ester 1731. — [P. X.J Brunet, Abrégé chronol. des grands fiefs de la couronne de France, 1759. — F. Lot, Fidèles ou vas-

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I. Periode.

Die Zeit des Lehnswesens (843—1180).

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1. Ursprung der LehnsfiirstentUmer. Während die richterliche Gewalt des Staates auf alle seigneurs justiciers übergegangen ist, haben sich seine anderen Befugnisse, insonderheit diejenigen auf dem Gebiet der Finanzen, des staatlichen Krieges und der inneren Verwaltung (Administration), nicht ganz so zersplittert. Wir finden sie in der Hand der L e h n s f ü r s t e n , die also eine Auswahl aus den seigneurs justiciers darstellen, ebenso wie diese selbst eine Auswahl aus den Seigneurs waren. Die staatliche Gewalt der Lehnsfürsten ist durch

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Die Lehnsfürstentümer.

das Lehnswesen mannigfach überwuchert und verdeckt worden — ähnlich der gerichtlichen Gewalt der seigneurs justiciers, die ihrerseits mit ihrer als verlehnt geltenden landrechtlichen Gerichtsbarkeit die stärkste Beschränkung der Lehnsfürsten darstellen. Und aus dieser Überwucherung erklärt es sich, daß die Franzosen für die Gesamtheit der Lehnsfürsten keine kurze und prägnante Bezeichnung haben, sondern sich mit allerhand mehr oder weniger treffenden Umschreibungen behelfen müssen (grands seigneurs, hauts barons, seigneurs supérieurs, souverains u. dgl.). Mit voller Deutlichkeit bezeichnet dagegen das Wort Lehnsfürst die Sache, um die es sich handelt: den Inhaber der staatlichen Gewalt zur Zeit und in den umgebildeten Formen des Lehnswesens. Die Grundlage für die lehnsfürstliche Gewalt bildeten, mehr noch als für die landrechtliche Gerichtsbarkeit, die alten karolingischen Ämter. Die weit überwiegende Mehrzahl der Lehnsfürsten besitzt ihre staatlichen Befugnisse als Erbe karolingischer Amter, die durch Verlehnung in das Lehnswesen aufgenommen worden waren und dalier, ganz wie die landrechtliche Gerichtsbarkeit, als Lehen betrachtet wurden. Die Gewalt des G r a f e n (comes, comte), die die Grundlage der Provinzialverwaltung im fränkischen Reich gebildet hatte, ist mithin auch die normale Grundlage für das Lelmsfürstentum geworden. Wie aber die selbständige Stellung dieser ehemaligen Beamten eigentlich eine Usurpation auf Kosten der Krone war, so kam es, wo sie selbst schwach waren, auch vor, daß noch kleinere Gewalten sich selbständig machten, d. h. zu Lehnsfürsten emporstiegen. Diese kleineren lehnsfürstlichen Gewalten konnten einen doppelten Ursprung haben; sie waren entweder Stellvertreter des Grafen gewesen, oder aber sie hatten auf Grund der landrechtlichen Gerichtsbarkeit, vielleicht verstärkt durch Immunitätsrechte, auch die anderen staatlichen Gerechtsame in ihrem Gerichtsbezirk oder auch noch darüber hinaus an sich gerissen. Das A m t eines Stellvertreters des Grafen war gleichfalls aus der fränkischen Zeit überkommen; es ist der V i z e g r a f (vicecomes, vicomte). Der Graf konnte einen Vizegrafen mit seiner Stellvertretung beauftragen, und er tat das meistens dann, wenn er mehrere Grafschaften hatte, für den Umfang von einer von ihnen. (Der vicecomes muß also wohl unterschieden werden vom vicarius; dieser ist ein einfacher Unterbeamter des Grafen für einen aus der alten Hundertschaft hervorgegangenen Bezirk der Grafschaft und trägt subalternen Charakter, jener ist der delegierte Stellvertreter des Grafen mit gräflichen Rechten und gehört dem vornehmeren Adel an). Mit der Kumulierung von Grafschaften, wie sie das Lehnswesen und die Erbschaften mit sich brachten, nahm auch die Zahl der Vizegrafen zu, und da ist die weitere Entwicklung dann gewöhnlich die gewesen, daß der Vizegraf die Abhängigkeit von seinem Grafen entweder ganz abschüttelte oder aber nur mehr in den Formen des Lehnswesens anerkannte, d. h. sein Amt als ein Lehen des Grafen führte, im übrigen aber so selbständig war wie dieser Vasall des H o l t z m a n n , Französische Verfassungsgeschichte.

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I. Teriode.

Die Zeit des Lehnswesens (843—1180).

Königs in seiner Grafschaft oder in dem Bezirk, den er in unmittelbarer Verwaltung behalten hatte. In beiden Fällen ist der Vizegraf zum Lehnsfürsten geworden. Und zwar haben die lehnsfürstlichen Vizegrafen des Nordens (z. B. in Anjou und Tours) im Laufe des 10. Jahrhunderts ihren alten Titel mit dem des Grafen vertauscht, während sie südlich der Loire ihn meistens beibehielten. Stützte sich der Vizegraf bei seinem Emporsteigen in die Reihe der Lehnsfürsten gleichfalls auf ein reguläres Amt, so bedeutete es in den Grundlagen etwas anderes, wenn auch ein einfacher seigneur justicier dasselbe erreichte. Hier handelte es sich in der Tat darum, daß ein mächtiger Grundherr mit Hülfe seiner persönlichen Lage und der Gewalt der Waffen sich zu einer staatlichen Stellung aufschwang, die derjenigen der Grafen analog war, obgleich er doch keinerlei gräfliches Amt, vielleicht auch nicht einmal eines der Unterämter besessen hatte. Daß auch solche Usurpationen bei den unsicheren Zuständen des 10. Jahrhunderts vorgekommen sind, wird nicht Wunder nehmen. Nur ist die Grundherrschaft, ja sogar die Gerichtsherrschaft niemals der rechtliche Boden der lehnsfürstlichen Gewalt gewesen, sondern sie hat höchstens die tatsächliche Macht gegeben zur Eroberung einer Stellung, wie sie die ehemaligen höheren Beamten genossen. Ein seigneur justicier, der Lehnsfürst wurde, aber keinen höheren Titel gewann, nannte sich Baron (S. 38) oder einfach Seigneur; Bezeichnungen wie viguier oder chätelain galten als geringer und wurden von keinem wirklichen Lehnsfürsten getragen. Das Lehnsfürstentum eines solchen Herrn wird natürlich als Baronie oder Seigneurie bezeichnet — ein Name, der freilich auch hier wieder (ähnlich wie in dem oben S. 56 f. besprochenen Fall) leicht zu Verwechslungen Anlaß geben kann; will man sich unmißverständlich ausdrücken, so muß man von lehnsfürstlicher Seigneurie und lehnsfürstlicher Baronie sprechen, da eine solche noch andere Seigneurieen, ja sogar Bezirke anderer seigneurs justiäers umfassen kann. Es versteht sich übrigens, daß auch ein lehnsfürstlicher Seigneur oder Baron in einem vasallitischen Verhältnis zu einem anderen Lehnsfürsten, z. B. zu einem Grafen, stehen konnte. In diesem Fall ist es dem lehnsfürstlichen Seigneur zwar gelungen, die staatliche Gewalt an sich zu bringen, aber der Graf hielt wenigstens in der Form des Lehnswesens noch seinen oberherrlichen Anspruch aufrecht; vielfach war der Seigneur auch eine Zeitlang tatsächlich ganz unabhängig und wurde erst mit der Erstarkung der größeren lehnsfürstlichen Gewalten im 11. und 12. Jahrhundert zu einer Anerkennung der Lehnshoheit des benachbarten Lehnsfürsten wenn nicht gar zu einem Verzicht auf seine außergerichtlichen staatlichen Befugnisse gezwungen. Es ergibt sich schon aus dem Gesagten, daß die Lehnsfürsten keineswegs etwa einfach die Kronvasallen sind. Nicht nur hatten die kapetingischen Könige in ihrem eigenen Lehnsfürstentum direkte Vasallen ohne lehnsfürstliche Rechte, sondern andererseits hatten auch die großen Kronvasallen, welche Lehnsfürsten waren, unter sich

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Die Lehnsfürstentümer.

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wieder andere Lehnsfürsten als Vasallen oder gar als Aftervasallen, sodaß man also auch bei ihnen unterscheiden muß zwischen ihrem eigenen Lehnsfürstentum, das gewissermaßen die Grundlage und der feste Kern ihrer Macht ist, und den Lehnsfürstentümern, über die ihnen nur die oberlehnsherrlichen Rechte zustehen. Das hat man namentlich im Auge zu behalten, wenn man nun darangeht, die größeren staatlichen Gewalten, die sich über die einfachen Grafen und die noch kleineren Lehnsfürsten stellten, zu betrachten; ihr Gebiet besteht aus ihrem eigenen Lehnsfürstentum und solchen anderen Lehnsfürstentümern, deren Lehnsfürsten ihre Vasallen (oder Aftervasallen) sind. Daß sich ein Graf über die benachbarten Lehnsfürsten erhob und eine dominierende Stellung über eine ganze Provinz (d. h. eine landschaftlich zusammengehörige Region des Königreichs) gewann, hatte nur selten seinen Ursprung in alten Amtern der fränkischen Zeit. Immerhin werden wir noch zu erwähnen haben, daß die großen lehnsfürstlichen Gewalten in Toulouse, Gothien und Barcelona auf den M a r k g r a f e n der von Karl dem Großen begründeten Spanischen Mark zurückgingen; und desgleichen wären hier zu nennen die alten S t a m m e s h e r z o g e in der Gascogne und in der Bretagne — die einzigen, die Karl der Große nicht beseitigt hat, und die sich auch in der Folge als ziemlich starke territoriale Gewalten hielten (der Herzog der Bretagne zugleich als Erbe der Bretonischen Mark). Anderer Art waren dagegen die g r o ß e n L e h n s f ü r s t e n , die in der zweiten Hälfte des 9. und im 10. Jahrhundert allmählich in die Höhe kamen und die anderen, kleineren Lehnsfürsten an tatsächlicher Macht überflügelten, einige von ihnen in Lehnsabhängigkeit hielten oder brachten und schließlich darangehen konnten, die staatlichen Befugnisse dieser Kleineren wieder einzuschränken oder auch ganz zu beseitigen. Dieses Aufkommen neuer herzoglicher oder herzogähnlicher Gewalten hatte im Westreich ähnliche Gründe wie im Ostreich: wir haben es da mit einem landschaftlichen Zusammenschluß der Territorien zu tun, wie er bei der Schwäche der Zentralgewalt ein Bedürfnis war, und wie er zum Teil durch die Errichtung karolingischer Unterkönigreiche (Aquitanien, Bayern) selbst gefördert wurde; alte missatische Gewalt, die Kumulierung von Grafschaften, namentlich aber der Kampf gegen äußere Feinde (wie besonders die Normannen), den an Stelle des versagenden Königtums ein angesehenes Geschlecht der Landschaft übernahm, führten zu der Begründung provinzialer Obergewalten. Im einzelnen waren die Wege und das Ergebnis verschieden. Insonderheit konnte die Kumulierung von Grafschaften noch auf königliche Übertragung im 9. Jahrhundert zurückgehen (Franzien, Burgund) oder auf andere Weise zustande kommen: durch Erbschaft, durch irgendwelche Art der Veräußerung, durch Gewalt. Das Ergebnis war jedenfalls, daß einige Grafen sich durch die Größe und Bedeutung ihrer Gebiete über die Masse der übrigen Lehnsfürsten erhoben, indem sie ihre Grafschaften vergrößerten, mit anderen Graf5*

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Die Zeit des Lehna wesena (843—1180).

schaften verbanden und noch andere Lehnsfürstentümer wenigstens in Lehnsabhängigkeit brachten. Ein solcher großer Graf, der über eine ganze Provinz direkt oder indirekt gebot, konnte dann mit oder ohne königliche Genehmigung, auf seine Macht und sein Ansehen gestützt, auch einen höheren Titel als den bisherigen annehmen und sich im Anschluß an jene alten fränkischen Gewalten gleichfalls M a r k g r a f (comes marchae, marchio, marchisus, marcltensis; marquis) oder H e r z o g (duxj nennen. Auch die zu einem reinen Ehrenamt gewordene Würde des P f a l z g r a f e n (comcspalatii) wurde von einigen großen Lehnsfürsten im Titel getragen. Diese höheren Titulaturen sind also hier nur eine sekundäre, sich an die tatsächliche Macht heftende Erscheinung, und es gibt auch Grafen, die ihren einfachen gräflichen Namen beibehalten, aber materiell in nichts ihren klangvoller sich gebenden Kollegen nachstehen. Die Namen Graf, Pfalzgraf, Markgraf und Herzog gehen daher auch vielfach ineinander über, sodaß derselbe Fürst bald den einen, bald den anderen Titel trägt. In öffentlichen Aktenstücken findet sich der herzogliche Titel verhältnismäßig selten, der markgräfliche nie. Doch ist auch der letztere während unserer Periode gern verwandt worden, wobei aber sein ursprünglicher Sinn noch insofern wirksam blieb, als nur solche Grafen, die in der Nähe der Grenze saßen (wie namentlich der Flandrer), sich ihn beilegten. Bezeichnend ist es außerdem, daß bereits seit der Mitte des 9. Jahrhunderts einige Lehnsfürsten auch die bis dahin dem König reservierte Bezeichnung dei gratia angenommen haben. Immer ist aber bei den provinzialen Gewalten zu unterscheiden zwischen ihrem eigenen Lehnsfürstentum und den nur in vasallitischer Abhängigkeit befindlichen anderen Lehnsfürstentümern; von der Größe jenes im Verhältnis zu diesen und von der Stärke, die dem vasallitischen Band verschafft werden konnte, hängt die tatsächliche Macht der provinzialen Gewalt ab. 2. Überblick über die Lehnsfiirstentiimer. Wir beginnen diesen Überblick mit dem Lehnsfürstentum des robertinisch-kapetingischen Hauses, das im Kampf mit den Karolingern das Königtum gewann, und schreiten nach Provinzen oder größeren Lehnsfürstentümern fort, indem wir bei jedem von ihnen auch die wichtigeren kleinen, in Lehnsabhängigkeit stehenden Lehnsfürstentümer erwähnen. a) Das Herzogtum F r a n z i e n (France, Ile de France) hat eine ganz exzeptionelle Entstehungsgeschichte, sofern nicht nur die Grafschaften, die das robertinische Haus besaß, sich vollkommen verschoben haben, sondern auch der herzogliche Titel hier ursprünglich etwas ganz anderes bedeutete, nämlich keine landschaftliche Gewalt, sondern eine Art Statthalterschaft über das ganze Königtum. Die Größe des Hauses nahm ihren Anfang nicht in dem späteren Franzien (das in der Hauptsache rechts der Seine lag) sondern in Neustrien (Transsequanien), d. h. dem Land zwischen Seine, Loire und Mayenne. Hier war der Stammvater des Geschlechts, Robert der Tapfere, der Sohn des Sachsen Witichin, wahrscheinlich zuerst Graf von Tours

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Die Lehnsfürstentümer.

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gewesen und hatte missatische Gewalt in Anjou, Touraine, Maine, Corbonnais und Sees empfangen (853). Später erhielt er auch die Grafschaften Anjou und Blois und 861 eine markgräfliche Gewalt über ganz Neustrien gegen Bretonen und Normannen. Als er 866 gegen die Normannen fiel, wurden seine beiden Söhne Odo und Robert wegen ihrer großen Jugend nicht mit den väterlichen Lehen begabt (die Erblichkeit der Lehen war damals noch keine ausgemachte Sache), sondern den größten Teil von ihnen empfing der Abt Hugo von St. Germain zu Auxerre, nämlich die Grafschaften Tours und Anjou mit der markgräflichen Stellung über ganz Neustrien. Er behielt sie bis zu seinem Tod (886), führte zahlreiche Kämpfe mit den Normannen, focht aber auch in anderen Teilen des Königreichs für die Krone, als deren ersten Minister man ihn unter Ludwig dem Stammler und seinen Söhnen bezeichnen kann. Von diesem Hugo sagte man zuerst, er habe den ducatus regni verwaltet, d. h. die Statthalterschaft über das Königreich an der Seite und im Auftrag des Königs (ursprünglich wohl kriegerisch gedacht, dux — Heerführer). Odo, der älteste Sohn Roberts des Tapferen, hatte nur die Allode des Vaters in Neustrien geerbt, wurde aber 883 Graf von Paris und konnte sich als solcher 885 — 887 bei der schweren Belagerung der Stadt durch die Normannen rühmlich hervortun. Als Lohn fielen ihm nach Hugos Tod 886 die Grafschaften Anjou und Tours mit der Markgrafschaft und dem ducatus regni, 888 gar die westfränkische Königskrone zu (f 898). Noch aber war das Gefühl mächtig, daß der König nicht zugleich Graf oder Markgraf (d. h. sein eigener Beamter) sein könne; deshalb übertrug er seine Grafschaften, die Markgrafschaft und den ducatus seinem Bruder Robert (888 — 923). Odo und Robert haben die .Grafschaft Paris um die Grafschaften Poissy, Chätrais, Melun, Etampes und Orleans vermehrt und legten den Schwerpunkt ihrer Gewalt in das Gebiet der Seine, während sie die entfernteren Grafschaften Anjou und Tours durch Vizegrafen verwalten ließen. Robert führte den Titel dux Franciae, der natürlich ursprünglich aus jenem ducatus regni abgeleitet war, bald aber ausschließlich für seine große lehnsfürstliche Gewalt verwendet und verstanden wurde. Bezeichnend für die Befestigung der lehnsfürstlichen Stellung und das Schwinden des Beamtencharakters überhaupt ist es, daß Robert auch nach seiner Königswahl (922, gegen Karl den Einfältigen) sein Herzogtum beibehielt. Andererseits mußte er aber auch am eigenen Leib erfahren, was diese Befestigung der lehnsfürstlichen Stellung bedeutete. Die Vizegrafen von Anjou und Tours nahmen (in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts) den gräflichen Titel an und fühlten sich bald nur mehr durch ein Lehnsband an den Herzog von Franzien gebunden; die markgräfliche Gewalt in Neustrien verfiel vollständig. Roberts Sohn, Hugo der Weiße oder der Große — den letzteren Beinamen führen übrigens im 10. und 11. Jahrhundert merkwürdigerweise alle Robertiner des Namens Hugo — erbte nur das Herzogtum (923—956). Er gewann allerdings durch Erbschaft das Herzogtum Burgund (den einen

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I. Periode.

Die Zeit dos Lehnswesens (843—1180).

Teil 936, den anderen 956) und ließ sich sogar Aquitanien von König Lothar übertragen (954); aber diese Belehnung konnte er niemals in einen Besitz verwandeln, und Burgund wurde bei seinem Tod wieder abgetrennt, indem es an seinen zweiten Sohn (Otto) überging. Der älteste Sohn Hugo Capet — wir behalten den Beinamen bei, obgleich er ursprünglich Hugo dem Weißen eignete — erbte somit wieder nur das Herzogtum Franzien (956—996), gewann jedoch 980 durch einen Handstreich den bis dahin flandrischen Hafenort Montreuil-surMer an der Mündung der Canche, eine kleine Enklave im Norden, durch ihre Lage von besonderer Wichtigkeit. Dagegen mußte er, nachdem er die Königskrone 987 dauernd mit seinem Hause verknüpft hatte, auf die alten lehnsfürstlichen Rechte seines Geschlechts über die Grafschaften Anjou und Tours gänzlich verzichten, auch die Grafschaft Melun sowie die von ihm erworbene Grafschaft Dreux aufs neue ausgeben ; dafür aber gewann er die Grafschaft Senlis sowie die etwa 20 Ortschaften aus dem Erbe der Karolinger (Kap. 6), von denen freilich nur die näher gelegenen (Compiègne, Verberie und einige kleinere) auf die Dauer gehalten wurden. Robert der Fromme hat die Grafschaften Dreux und Melun wiedererworben, nach langen Kämpfen auch das 1002 heimgefallene Herzogtum Burgund, das jedoch aufs neue an eine jüngere Linie des Königshauses ausgegeben wurde. Heinrich I. hat im Jahre 1055 die erledigte Grafschaft Sens eingezogen und mit dem Krongut verbunden. Ahnlich zog Philipp I. die an die Normandie grenzende Grafschaft Pontoise ein, d. h. den größeren Teil des französischen Vexin (mit Pontoise, Chaumont und Mantes), der durch die Epte vom normannischen Vexin getrennt wurde ; auch gewann derselbe König durch Vertrag die Grafschaft Gâtinais sowie vor allem im Jahre 1101 durch Kauf die Vizegrafschaft Bourges. Damit hatte das unmittelbar dem König gehörige Gebiet von Nord nach Süd eine Längenausdehnung von etwa 300 km gewonnen (bei einer Breite von 50—150 km). Doch saßen an vielen Orten (namentlich in den Grafschaften Paris und Châtrais) noch kleine lehnsfürstliehe Gewalten, wie die Grafen von Corbeil, die Herren von Montlhéry, die Herren von Chevreuse und zahlreiche andere Barone. Sie sämtlich, zumeist mit Gewalt, durch jahrzehntelange Kriege beseitigt zu haben, ist das Hauptverdienst Ludwigs VI., der damit das Herzogtum erst zu einem geschlossenen, einheitlichen Staat machte. Übrigens wurden auch von den noch geringeren Gewalten (seigneurs justiciers, châtelains) viele durch Ludwig VI. unschädlich gemacht. Andererseits gab der gleiche König vor seinem Tod 1137 einem seiner jüngeren Söhne, Robert, die Grafschaft Dreux, was als erstes Beispiel der Apanagierung eines Mitgliedes des Königshauses mit einem Lehnsfürstentum gelten kann (wenn man von der Wiederverleihung Burgunds absieht). Die Erwerbung des normannischen Vexin (mit Gisors und Étrépagny) durch Ludwig VII. 1151 hatte keinen Bestand; das Land ging bereits 1160 wieder verloren und bildete seitdem einen Gegenstand beständigen Streits zwischen Frankreich und England.

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Die Lehnsfürstentümer.

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Eine Feststellung der Lehnsfürstentümer, welche außer dem königlichen Lehnsfürstentum (der sogenannten Krondomäne) zum Herzogtum Franzien rechneten, ist nicht ganz leicht, da es oft unklar ist, ob der Lehnsfürst sich als Vasallen des Herzogs von Franzien oder als solchen des Königs fühlt. Immerhin wird man als dazugehörig betrachten dürfen: die kleine Grafschaft Meulan (zum französischen Vexin gehörig, seit dessen Erwerbung von königlichem Gebiet umschlossen), die Baronie Montmorency (die sich aus der Grafschaft Paris herausgeschält hat), weiter nach Norden die Grafschaften Chambly (Beaumont-sur-Oise), Beauvais (von der sich Clermont-en-Beauvaisis ablöste), Vendeuil (Breteuil), Noyon, Soissons, Valois (Crépy) und Dammartin (aus der Grafschaft Meaux) ; noch weiter nördlich in der Picardie, vom Kanal bis zu den Ardennen : die vereinigten Grafschaften Ponthieu und Vimeu, die vom Ponthieu gelöste Abtei St. Riquier, die Grafschaft Amiens und die von ihr abgezweigte Grafschaft Montdidier, die Abtei Corbie (gleichfalls aus der Grafschaft Amiens) sowie die Grafschaften Vermandois (St. Quentin) und Laon, aus der sich die Herrschaft Coucy-le-Chäteau schälte. Die Grafen von Amiens gewannen im 11. Jahrhundert Montdidier, Vendeuil und sogar Teile von Beauvais; ihr Land fiel dann an Vermandois und kam mit dieser Grafschaft um 1080 durch Heirat (vgl. unten S. 72) an einen Bruder Philipps I., Hugo, der durch seine Schwiegermutter (Adele von Crépy) auch den Valois erbte und so hier im Norden einen großen Lehnsstaat begründete, welcher am Ende unserer Periode in der Hand seiner Enkelin Elisabeth lag, der Gemahlin des Grafen Philipp von Flandern, der vergebens auf das reiche Erbe hoffte. Im Osten zählte zu Franzien die (von der Grafschaft Sens abgezweigte) Grafschaft Joigny, im Süden die aus Teilen der alten Grafschaft Bourges bestehenden Herrschaften Château-Gordon (Sancerre) und Bourbon (seit dem 11. Jahrhundert Grafschaften), im Westen die aus Teilen der Grafschaften Poissy, Madrie und Chartres gebildeten Herrschaften Montfort l'Amaury und Nogent-le-Roi sowie die Grafschaft Dreux. b) Die Grafschaften (Pfalzgrafschaften) C h a m p a g n e und Blois. Sehr gefährlich ist den Kapetingern während unserer Periode ein Haus geworden, das sich mächtige Lehnsfürstentümer sowohl im Osten als im Westen des Herzogtums Franzien erwarb und dieses somit in die Mitte nahm und zu erdrücken drohte. Dies Haus mochte um so bedenklicher scheinen, als es seinen Ursprung auf die Karolinger zurückführte. Pippin, ein Sohn des unglücklichen, 818 geblendeten Königs Bernhard von Italien und mithin ein Urenkel Karls des Großen, hatte von Ludwig dem Frommen die Grafschaft V e r m a n d o i s an der oberen Somme (mit St. Quentin, Harn, Péronne) erhalten. Von seinen drei Söhnen scheint der älteste (Bernhard) früh gestorben zu sein, während der zweite (Pippin) vermutlich Graf von Senlis wurde (diese Grafschaft fiel dann nach dem Aussterben seiner Linie an Hugo Capet). Den Vermandois erbte daher der jüngste, Heribert I., dessen Tochter Beatrix von Robert von Franzien (dem

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I. Periode. Die Zeit des Lehnswesens (843—1180).

nachmaligen König) zur Frau genommen wurde, und der ums Jahr 902 durch Mörderhand fiel. Sein Sohn und Nachfolger Heribert II. (f 943), ist der Begründer der Größe des Hauses; er erwarb, wohl in den 20er und 30er Jahren des 10. Jahrhunderts durch Erbschaft, Vertrag und Gewalt (wir können das im einzelnen nicht erkennen), einen großen Komplex weiter südlich gelegener Grafschaften, von der Aisne bis zur oberen Seine, das Kernland der späteren Champagne: T r o y e s , Provins, Morvois, Queudes, Vertus, Omois (Chäteau-Thierry), Tardenois, Orceois (Oulchy), M e a u x ; auch besaß er als Laienabt das reiche Kloster St. Medard zu Soissons. So war Heribert II. von Vermandois ( = I. von Troyes, Meaux etc.) zu einer erheblichen Rolle in der Geschichte befähigt; sein Verrat an Karl dem Einfältigen, den er 923—927 gefangen hielt, bis er sich mit dem Gegenkönig Rudolf überwarf, ist bekannt. Auch weitschauende Familienverbindungen hat er angeknüpft: seine Töchter Lietgart, Alix und Adele waren vermählt mit Theobald I. von Blois-Chartres, Arnulf I. von Flandern und Gottfried I. von Anjou. Wichtigkeit gewann namentlich die Ehe Theobalds mit Lietgart: sie hat den Grund gelegt zu der Vereinigung der westlich von Franzien gelegenen Länder mit den östlichen. Theobald I. der Ränkevolle (Thibaud le Tricheur) nahm um die Mitte des 10. Jahrhunderts eine mächtige Stellung im ehemaligen Neustrien ein als Graf von C h a r t r e s , Chäteaudun und B l o i s und Graf oder Vizegraf von Tours; die Lehnshoheit der Robertiner in diesen Gebieten erkannte er noch einigermaßen an. Im Osten teilten die Söhne Heriberts II., nachdem sie zwei Jahre lang das väterliche Erbe gemeinsam verwaltet hatten, 945 so, daß Adalbert die Grafschaft Vermandois, Robert südlich davon die großen neuerworbenen Länder, (in der Folge kurz Grafschaft Troyes oder Troyes-Meaux genannt), Heribert (»der Altere«) die Abtei St. Medard zu Soissons erhielt. Adalbert I. von Vermandois (f 987) und seine Nachkommen behielten die Grafschaft bis etwa 1080; dann brachte sie Adele, die Tochter des letzten Grafen dieses karolingischen Hauses mit Valois ihrem Gemahl Hugo zu, einem Bruder König Philipps I. (vgl. S. 71). Damit trat der Vermandois in enge Beziehung zu Franzien, während die Verbindung mit der Grafschaft Troyes gelöst war. In Troyes-Meaux kam nach dem Tod des Grafen Robert (f 967), nicht sofort sein Sohn, Heribert der Jüngere, sondern zunächst (vielleicht durch Gewalt) sein oben erwähnter Bruder Heribert II. der Altere zur Regierung. Und als dieser ums Jahr 983 ohne überlebenden Sohn starb, folgten seine beiden Neffen Heribert III. der Jüngere und Odo I. von Blois Chartres, der um 975 seinem Vater Theobald I. nachgefolgt war und die Lehnshoheit der Robertiner endgültig abgeschüttelt hat. König Lothar, der in Odo wohl eine Stütze gegen den nunmehr umklammerten Herzog von Franzien gewinnen wollte, hat die beiden mit Troyes-Meaux belehnt; noch gab es keine ganz feste Regelung der Erbfolge. Heribert III. (t um 995) und Odo I. (f 996) haben Troyes-Meaux nicht geteilt sondern gemeinsam verwaltet; im Falle die eine Linie aus-

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starb, sollte die andere erben. Dazu kam es, als Stephan, der Sohn Heriberts III. um 1023 starb. Nun erbte Odos I. Sohn Odo II. (996 bis 1037), der bereits an der Loire Chäteau-Gordon (Sancerre) erworben hatte und nunmehr alleiniger Herr in dem großen Besitz beider Linien wurde; seitdem war er an Macht dem kapetingischen König weit überlegen. Es ist bekannt, wie er mit allen seinen Nachbarn, nicht zum wenigsten mit den Königen Robert und Heinrich im Streit lag, wie er 1024 die italienische Krone, 1032—34 das Königreich Burgund (auf das er durch seine Mutter Anspruch hatte), 1037 das Herzogtum Lothringen gewinnen wollte. Unter ihm kommt der Namen C h a m p a g n e für den östlichen Teil seines Besitzes (Grafschaft Troyes etc., für die Grafschaft Meaux auch Brie) in Gebrauch. Bis 1152 blieben die Champagne und Blois-Chartres vereint, eine ständige Gefahr für das Königtum. Zwar ging im Westen 1044 Tours an den Grafen von Anjou verloren; aber im Osten wurde die Grenze allmählich bis an das Herzogtum Lothringen vorgeschoben unter Einbeziehung der Grafschaften Arcis-sur-Aube, Ramerupt (aus Arcis abgezweigt), Bar-sur-Seine (aus dem Lassois), Bar-sur-Aube (Barrois), Bassigny, Bologne und Vitry (besteht aus den ehemaligen Grafschaften Blaisois, Perthes, Changy, Atenois mit Teilen von Chälons und Reims). Lange hat man die jüngeren Söhne des Hauses anderweit versorgt, wie jenen Stephan (Bruder Theobalds IV.), der erst durch seine Gemahlin die Grafschaft Boulogne erwarb und schließlich sogar König von England wurde (1135 — 54), worauf er durch seine Mutter Anspruch hatte. In den Stammlanden des Hauses folgte erst 1152, nach dem Tod Theobalds IV., eine Teilung, indem der älteste Sohn, Heinrich I., die Champagne erbte (er liebte den Titel Pfalzgraf von Troyes), der zweite, Theobald V., die Grafschaft Blois-Chartres, während ein dritter, Stephan, mit der Grafschaft Sancerre abgefunden wurde. Lehnsgrafschaften der Champagne waren Brienne und (daraus hervorgegangen) Rosnay sowie im Norden Roucy (von Laon abgezweigt), Porcien, Omont (Rethel) und das ehemals lothringische Grandpre. Die von diesem Gebiet umschlossenen Grafschaften R e i m s und Chäl o n s unter ihren geistlichen Herrn erkannten hingegen die Lehnshoheit der Champagne nicht an. An Blois-Chartres schlössen sich im Nordwesten einige kleinere Lehnsstaaten an: die (den Westen der alten Grafschaft Dreux einnehmende) Seigneurie Thymerais (Chäteauneuf), die östliche Hälfte des Corbonnais (mit Nogent-le-Rotrou, ThironGardais) und die Baronie Perche-Gouet (der Westen der alten Grafschaft Chäteaudun). c) Die Grafschaft An j ou. Westlich von Blois-Chartres hat sich während unserer Periode ein anderes starkes Lehnsfürstentum ausgebildet, das hauptsächlich aus einer Verbindung der alten neustrischen Gaue Anjou (Angers), Touraine (Tours) und Maine (Le Mans) bestand und schließlich durch die Verbindung mit der Normandie und England besonders wichtig und gefährlich wurde. N e u s t r i e n (S. 68) war ja früh von besonderer Bedeutung als Stütze des Reiches und

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Grenzland gegen Bretonen und Normannen. Schon Karl der Kahle hatte hier 856 seinen Sohn Ludwig (den Stammler) als Herzog von Maine mit dem königlichen Titel für Neustrien eingesetzt; dann waren, nach Ludwigs Vertreibung (858), die Robertiner als Grafen von Tours und Anjou und Markgrafen von Neustrien in die Höhe gekommen. Wir sahen jedoch, wie im 10. Jahrhundert ihre markgräfliche Gewalt wieder zerfiel, wie ihre Vizegrafen zu Angers und Tours den gräflichen Titel annahmen und selbständig vom Herzogtum Franzien wurden. In Anjou war es der Vizegraf Fulko I. der Rote (886—941 oder 942), der zuerst sich Graf nannte. Doch haben er und seine beiden Nachfolger (Fulko II. der Gute und Gottfried I. Graurock) dem Herzog von Franzien die Lehnspflicht gewahrt. Erst Fulko III. Nerra (987 bis 1040) warf sie ab, um die gleiche Zeit, als Hugo Capet den Königsthron gewann, und wurde der eigentliche Gründer des angiovinischen Staates, auch durch Beseitigung zahlreicher feudaler Herrn seiner Grafschaft; im Süden eroberte er sogar aquitanisches Gebiet, die ehemalige Grafschaft Mauges und Teile von Thouars und Poitiers, während ihm seine Versuche auf Tours und Le Mans nicht gelangen. Sein Sohn Gottfried II. Martel (1040—60) hatte sich schon vor dem Tod des Vaters, halb durch Kauf und halb durch Gewalt, in den Besitz der Grafschaft Vendöme gesetzt; 1044 gelang auch die Eroberung von T o u r s (S. 73). Nach Jahrzehnten der Unruhe und schweren Erschütterungen, die sich namentlich an den Namen Fulkos IV. des Rauhen (Rechin) knüpfen, fand der Staat im 12. Jahrhundert zwei treffliche Neuordner in Fulko V. dem Jungen (1109 — 29) und Gottfried V. Plantegenet (1129—51), die den Landfrieden wiederherstellten, und unter denen sich die Verwaltung des Landes durch lehnsstaatliche Beamte konsolidierte. Glücklich hat es dieses Haus, das von nun an nach dem Beinamen Gottfrieds genannt wurde, auch verstanden, durch Heiraten an Macht zu gewinnen. Fulko V. (Gemahl der Sibylle von Maine) hat auf diesem Weg die lange begehrte (1063 bis 1089 mit der Normandie verbundene) Grafschaft Maine erworben (1110); Gottfried Plantegenet begründete 1129 durch seine Ehe mit der Kaiserinwitwe Mathilde, der Tochter Heinrichs I. von England und der Normandie, den Anspruch seines Hauses auf diese beiden Länder und focht ihn nach Heinrichs Tod (1135) in der Normandie nach langen Kämpfen mit dem Hause Blois-Chartres glücklich durch (1144 wurde er in Rouen zum Herzog gekrönt), während England zunächst an Stephan von Blois fiel; schließlich der Sohn Gottfrieds und Mathildens, Heinrich Kurzmantel, der dem Vater 1151 in Anjou und der Normandie folgte, erwarb 1152 durch seine Heirat mit Eleonore, der geschiedenen Gemahlin König Ludwigs VII., das Herzogtum Guyenne und verwirklichte 1154 auch seine Ansprüche auf England, was ihn zum mächtigsten Fürsten in Westeuropa erhob. Doch behielten die einzelnen Staaten: England, Normandie, Anjou (wozu Maine und die vorher erworbenen Länder gehörten) und Guyenne ihre selbständige Stellung, waren nur durch Personalunion verbunden.

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d) Das Herzogtum (Grafschaft) B r e t a g n e . Eine eigenartige Stellung nahm auf Grund ihrer nationalen Abgeschlossenheit die Bretagne ein, obgleich sie während unserer Periode dauernd zum Frankenreich zählte. Sie hat ihren Namen (Britannia, gelegentlich mit dem Zusatz minor oder cismarina) von den britischen (keltischen) Flüchtlingen, die sich seit der Mitte des 5. Jahrhunderts aus ihrer Heimat vor den Pikten, Skoten und Angelsachsen hierher gerettet hatten. Diese Bretonen, die im Gegensatz zu der allgemeinen Völkerverschmelzung im übrigen Gallien ihr Volkstum bis auf den heutigen Tag gewahrt haben, verstanden es Jahrhunderte lang, sogar politisch ihre nationale Selbständigkeit bis zu einem gewissen Grad zu behalten. Sie standen zwar im 6. Jahrhundert in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Chlodwig und seinen nächsten Nachfolgern, dasselbe war aber nie sehr fest, und mehr als einmal mußten die merovingischen Könige gegen die einheimischen Häuptlinge (Grafen, Machtiere) der Bretagne zu Feld ziehen; sie hatten keine Erfolge, und im 7. Jahrhundert hat sich das Band, welches die Bretagne an das Frankenreich knüpfte, ganz gelöst. Eine ziemlich große Anzahl von Grafschaften hat sich in der Bretagne herausgebildet: Porhoüt (Hauptstadt Josselin), Broerec (Vannes), Concarneau (Quimper, mit den gelegentlich auch selbständigen Untergrafschaften Cap-Caval, Cap-Sizun und Porzay), Pou-Caer (Carhaix, auch pagus Civitatis), Ach (um Brest), Daoudour (St. Pol-deLeon), Pou-Castel (um Morlaix), Treguier, Goello (Gouelou, westl. v. St. Brieux), Penthiövre (östl. davon), Pou-Dour (um Dinan), Pou-Alet (St. Malo), Racter (Dol). Häufig waren einzelne dieser Grafschaften miteinander verbunden, und der Graf von Vannes nahm vermöge seiner Macht im Krieg manchmal eine gewisse leitende Stelle ein. Aber eine Zentralgewalt fehlte durchaus. Die Grenze nach Osten lief von der Mündung des Couesnon in den Golf von St. Malo (Bai von Mont-St. Michel) nach dem unteren Meu, dann Meu und Vilaine abwärts zum Ozean; die östlich davon gelegenen Grafschaften Rennes und Nantes gehörten zum Frankenreich. Pippin und Karl der Große haben auch die Bretagne wieder ihrem Reich angegliedert, freilich ohne ihr national politisches Sonderdasein wirklich zerstören zu können. Sie mußten sich damit begnügen, das Land zur Anerkennung der fränkischen Oberhoheit, d. h. wieder nur zu einer ziemlich losen Abhängigkeit zu bringen. Sie zeigte sich äußerlich in der Zahlung eines Zinses, der wahrscheinlich auf den Zug Pippins gegen die Bretagne (753) zurückgeht, und durch dessen Verweigerung in der Folge mehr als einmal neue Aufstände und Kämpfe eingeleitet wurden. Karl der Große, von dem wir drei bretonische Kriege kennen (786, 799, 811), hat östlich von der eigentlichen Bretagne die B r e t o n i s c h e (Britannische) M a r k errichtet, eine Grenzmark also, die die Unterwerfung in die Wege leiten und sichern sollte, und deren Existenz allein schon beweist, daß die Bretagne kein gewöhnlicher Reichsteil war, sondern sich auch jetzt noch ziemlicher Selbständigkeit erfreute. Die Bretonische Mark bestand aus den Grafschaften Nantes und Rennes

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und war mit der Grafschaft Nantes verbunden (d. h. der Graf von Nantes war zugleich Markgraf der Bretonischen Mark). Der erste Markgraf, von dem wir Kunde haben, ist jener sagenberühmte Hruodland, der im Jahre 778 in den Pyrenäen bei dem Rückzug Karls aus Spanien, als die Basken die Nachhut des fränkischen Heeres überfielen, sein Ende fand. Der zweite ist Wido, der Führer des Feklzugs vom Jahre 799. Besonders bedenklich für den fränkischen Einfluß in der Bretagne war, daß sich zu Ende der Regierung. Karls des Großen, bald nach dem Zug von 811 und wohl als Antwort auf die andauernde Eroberungspolitik, das Land unter e i n e m nationalen Herrscher vereinigte und damit eine erhöhte Widerstandskraft erlangte. Morman, einer der bretonischen Häuptlinge, war es, der zuerst die Führung des ganzen Stammes an sich riß. Er legte sich sogar den Königstitel bei, verlor aber 818 gegen Ludwig den Frommen Schlacht und Leben. Jedoch nur einige Jahre darauf schwang sich abermals ein einheimischer Häuptling, Wihomarch, zu ähnlicher Stellung auf. Gegen ihn wandten sich die beiden Grafen der Bretonischen Mark 822 und Kaiser Ludwig der Fromme selbst 824; sein Königtum wurde von Ludwig nicht anerkannt, aber eine wirkliche Unterwerfung Wihomarchs und der anderen Häuptlinge in der Bretagne wollte auch diesmal nicht gelingen. Da griffen die Franken zu einem anderen Mittel: 825 wurde Wihomarch von Leuten des Markgrafen Lambert I. erschlagen. Doch auch so wurde die Einheit des Stammes nicht wieder zerstört: ein anderer Bretone, Nominoi, tritt seit etwa 826 als Herrscher des Landes hervor; er heißt zwar gelegentlich ausdrücklich Missus und Vasall des Kaisers, ist aber dennoch fast unabhängig, was sich auch darin zeigt, daß er nicht nur Herzog, sondern manchmal ebenfalls König genannt wird. Es fehlte denn auch in der Folge nie an Reibungen mit den Franken, und deren Aktionsfähigkeit wurde nach dem Tod Ludwigs des Frommen vollends geschwächt durch innere Streitigkeiten in der Bretonischen Mark. Lambert I. war schon 837 gestorben, seinem gleichnamigen Sohn aber wurde Amt und Stellung des Vaters vorenthalten. Lambert II. wagte jedoch den Versuch, sich mit Gewalt der Grafschaft Nantes und der Mark zu bemächtigen, und er trug kein Bedenken, sich zu diesem Zweck mit den Bretonen und sogar mit den Normannen in Verbindung zu setzen. Der Markgraf Reinald, ein treuer Anhänger Karls des Kahlen, der von diesem nach der Schlacht bei Fontenoy die erledigten Grafschaften Nantes (mit der Mark) und Poitou erhalten hatte, wurde von Lambert 843 erschlagen, Nantes selbst genommen und grausam verwüstet. Im Bund mit Nominoi behauptete sich nun Lambert II. in der Mark: kein Wunder, daß diese ihrem eigentlichen Zweck dadurch ganz entfremdet wurde und keine Gefahr für die Bretonen mehr bildete. Karl der Kahle mußte zu erheblichen Konzessionen schreiten, um seine gesunkene Autorität wenigstens etwas wiederherzustellen. Er tat dies zunächst 846 durch einen Vergleich mit Nominoi, dem er damals schon ein erstes Mal

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die Bretonische Mark überlassen zu haben scheint, und den er auf solche Weise natürlich von Lambert trennte. Lambert jedenfalls verlor die Mark, und das wenigstens hoffte Karl zu erreichen, dieses e i n e n Feindes ledig zu werden. Noininoi blieb Herzog, zwar ein Glied des Reiches, aber tatsächlich so gut wie unabhängig: in den folgenden Jahren (847—50) ging er daran, sich auch eine selbständige Landeskirche in der Bretagne (die bis dahin zur Kirchenprovinz Tours gehört hatte) mit einem eigenen Metropoliten in Dol zu schaffen, wobei der Abt Gonwoion von Redon eine hervorragende Rolle spielte. Die Hoffnung, die Unterstützung Roms dabei zu gewinnen, hat sich freilich nicht erfüllt; aber auch so nahm der Bischof von Dol in der zweiten Hälfte des 9. Jahrhunderts, auf seinen Herzog gestützt, den erzbischöflichen Titel an. Die Erzählung von einer Königskrönung Nominois ist unglaubwürdig. Dagegen fiel er 849 erobernd in die (östlich an Nantes grenzende) Grafschaft Anjou ein, deren sich Lambert nach seinem Sturz 846 mit Gewalt bemächtigt hatte, und veranlaßte dadurch eine neue Schwenkung König Karls, der den Vertrag mit Nominoi als gebrochen ansah. Karl gab Lambert die Mark zurück (849), sah sich aber freilich in der Hoffnung, jetzt in ihm ein williges Werkzeug gegen den unersättlichen Bretonenherzog zu finden, schwer getäuscht: Nominoi und Lambert schlössen aufs neue ein Bündnis miteinander; Lambert behielt die Mark, aber nunmehr als Fürst des bretonischen Reiches: er mochte sich nur auf solche Art wirklich sicher im Besitz seiner Herrschaft fühlen. Ein Kriegszug Karls gegen die beiden blieb erfolglos, und als Nominoi im Jahre 851 starb, folgte ihm sein Sohn Erispoi, welcher nach einem großen Sieg über den König noch im gleichen Jahre den Frieden 'von Angers erzwang, der für Erispoi sehr vorteilhaft, für Lambert vernichtend war: dieser hatte von der Feindschaft des Frankenkönigs mit den Bretonen gelebt und sah sich nun durch den Bund der beiden, wie vor fünf Jahren, preisgegeben. Karl billigte dem Herrscher der Bretagne Titel und Schmuck eines Königs zu und trat ihm nunmehr endgültig die Bretonische Mark samt einem Teil der Grafschaft Anjou (bis zur Mayenne) und dem Lande Rais oder Retz (südlich der Loiremündung) ab; Erispoi hingegen verstand sich zu einer Huldigung und noch einmal zur Anerkennung der Tributpflicht: die Zugehörigkeit der Bretagne zum Reich blieb so wenigstens bestehen, wenn auch die einzigartige Erscheinung eines Königs unter dem Frankenkönig schon allein ihre starke Sonderstellung kennzeichnete. Die staatlichen Befugnisse in der Bretagne lagen in der Tat ganz in der Hand der Stammesgewalten, in erster Linie also des Königs, neben dem es freilich immer noch eine Reihe ebenfalls erblicher Stammesgrafen gab. Der Frieden von Angers (851) bedeutete das Ende der Bretonischen Mark: gegründet als Gegengewicht gegen die Bretonen ist sie an deren König übergegangen. Lambert, der sich zum zweiten Male preisgegeben sah, wurde im Jahre darauf erschlagen. Was Karl der Große durch Waffen gesichert hatte, die Abhängigkeit der

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Bretagne, das glaubte sein Enkel durch einen Vertrag gewährleistet. Freilich ganz zufrieden fühlte Karl der Kahle sich dabei von vornherein nicht: das zeigte sich, als er sich bereits 852 auch von Erispois ehrgeizigem Vetter Salomo einen Treueid leisten ließ und ihm seinen Besitz (ein Drittel der Bretagne) als fränkisches Lehen verlieh. Durch Salomo hoffte er Erispoi im Schach halten zu können, sah sich allerdings einigermaßen enttäuscht, als Salomo 857 Erispoi ermordete und sich selbst zwar nicht König aber Herzog der Bretagne nannte. Denn nun fehlte das Gegengewicht und Salomo erkannte den fränkischen König zwar an, war aber gleichfalls so gut wie selbständig. Er hat die Bretagne noch um die Gaue Avranches und Cotentin (bestehend aus den alten Gauen Coutances und Valognes) vergrößert, und erst nach seinem Sturz 874 erlitt das bretonische Herzogtum eine große Schwächung, indem es ein Zankapfel zwischen den kleineren gräflichen Gewalten (namentlich Rennes und Vannes) wurde. Im Jahre 890 brachte jedoch die Normannennot eine Einigung, indem Alan »der Große« von Vannes und Nantes nach dem Tod seines Rivalen Judicheil von Rennes und nach einem glänzenden Sieg über die Normannen in der ganzen Bretagne als Herzog oder sogar als König anerkannt wurde. Alan der Große (f 907) und sein Enkel, Herzog Alan II. Barbetorte (f 952), erneuerten so die mächtige und ziemlich unabhängige Stellung der Bretonenfürsten; der letztere hat allerdings die 851 gewonnenen Teile der Grafschaft Anjou an Fulko I. sowie Avranches und Cotentin an die Normannen abtreten müssen, dafür aber südlich der Loire die aquitanischen Gaue Mauges, Tiffauges und Herbauges gewonnen. Nach seinem Tod begannen aufs neue innere Kämpfe, während gleichzeitig die Grafen von Anjou und von Blois sowie der Herzog der Normandie sich der Bretagne (des herzoglichen Titels und einzelner Grafschaften) zu bemächtigen suchten. Diese Versuche fremder Fürsten scheiterten schließlich an dem nationalen Widerstreben der Bretonen. Im Jahre 990 brachte Graf Conan von Rennes die Stadt Nantes in seine Gewalt und erneuerte das einheimische bretonische Herzogtum. Sein Haus blieb im Besitz desselben bis 1066. Allerdings ging Mauges an Anjou, Herbauges mit dem südlichen Teil von Tiffauges an Poitou verloren. Auch wurde die durch den Erwerb zahlreicher Grafschaften erstarkte herzogliche Gewalt dadurch geschwächt, daß sie an der Nordküste für jüngere Glieder des Hauses die Grafschaft Penthifevre (mit Goello und Trdguier, gelegentlich sogar mit noch anderen Landschaften) als mächtige Apanage ausgab. Andere Lehnsfürstentümer blieben die Grafschaften (oder Vizegrafschaften) Porhoet, Cornouaille (Concarneau und Pou-Caer) und Leon (Daoudour und Ach). Auf das Haus Rennes folgte 1066—1148 das mit ihm verschwägerte Haus der Grafen von Cornouaille, die aufs neue den Angriffen der inzwischen zum englischen Thron gelangten Herzöge der Normandie ausgesetzt waren. In der Tat kam es im 12. Jahrhundert zu einer allmählich enger werdenden Verbindung der Bretagne mit England. Herzog Conan III. (1112—48) war mit Mathilde, einer

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Tochter Heinrichs I. von England und der Normandie, vermählt, und 1113 verzichtete König Ludwig VI. von Frankreich wirklich auf die direkte Lehnshoheit über die Bretagne, die damit unter normannische Lehnsbarkeit kam. Aber das war nur der Anfang. Nach Conans Tod brachte seine Tochter Bertha das Herzogtum Bretagne erst ihrem zweiten Gemahl, dem Vizegrafen Odo von Porhoët (1148—56), und hierauf ihrem Sohn aus erster Ehe, dem Grafen Conan »dem Kleinen« von Penthièvre. Dieser Herzog Conan IV. mußte 1166 einen Vertrag mit dem übermächtigen Heinrich II. von England, der Normandie, Anjou und Guyenne schließen, wonach dessen dritter Sohn Gottfried (acht Jahre alt) mit Conans (noch jüngerer) Tochter Konstanze verlobt wurde und als Heiratsgut die Bretagne erhalten sollte: sie ging sofort in die Verwaltung des englischen Königs über und blieb hier während der »Regierung« Gottfrieds (f 1186) und seines unglücklichen Sohnes Arthur, der 1203 ermordet wurde. Die geringe Stellung dieser beiden zeigte sich auch darin, daß sie sich mit dem Titel »Graf der Bretagne« begnügten. Im übrigen war die Zentralgewalt seit der Vereinigung Cornouailles mit dem Herzogtum recht erheblich, obgleich ihr einige alte und neue Feudalherrschaften (Grafen von Penthièvre und Porhoët, Vizegrafen von Léon und Rohan, Seigneurs von Fougères, Vitré, Rais) durch ihre Unbotmäßigkeit dauernd viel zu schaffen machten. e) Das Herzogtum N o r m a n d i e . Das Land, welches Karl der Einfältige 911 im Vertrag von St. Clair-sur-Epte dem Normannenfürsten Rollo (Robert I.) als christliches Herzogtum abtrat, umfaßte nur die östliche Hälfte der späteren Normandie, mit dem Mittelpunkt Rouen, vermutlich die Gaue Rouen, Caux, Talou, normannischer Vexin, Evreux, und Lisieux. die die Normannen schon vorher in ihren tatsächlichen Besitz gebracht hatten. Die Erlaubnis, noch weitere Eroberungen nach Westen, bis in die Bretagne, machen zu dürfen, scheint aber von vornherein dazu gekommen zu sein. Jedenfalls haben schon Robert (f 933) und sein Sohn Wihelm Langschwert (f 942) auch die westlichen Grafschaften erobert: Sées (Séez), Hiémois (Exmes, das auch den alten Gau Otling-Sachsen umfaßte), Bayeux sowie die vorher bretonischen (S. 78) Gaue Avranches und Cotentin (Coutances und Valognes), ja sie haben gelegentlich sogar noch andere bretonische Grafen zur Huldigung gezwungen und zeitweilig schon damals die Grafschaft Maine besessen. Später (seit dem 11. Jahrhundert) kamen Angriffe auf den französischen Vexin hinzu. Ah all diesen Orten erzwangen die Normannen jedoch immer nur vorübergehende Erwerbungen. Der einzige länger dauernde Erfolg, der den Herzögen in Frankreich noch glückte, war im 11. Jahrhundert die Ausdehnung ihrer Lehnsherrschaft über den westlichen Teil des Corbonnais, wo sich die Grafschaft Mortagne und die Seigneurie Bellême (mit Herrschaft über Alençon und Domfront) gebildet hatten. Dagegen ist bekannt, daß Herzog Wilhelm der Eroberer (der 1063 auch wieder einmal Maine gewonnen hatte, vgl. S. 74) im Jahre 1066 das König-

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reich England (das ihm angeblich von dem kinderlosen König Eduard dem Bekenner zugesagt worden war) durch Personalunion mit der Normandie verband. Diese Verbindung wurde indes bereits bei seinem Tod (1087) wieder gelöst, indem nach dem Willen des Vaters sein ältester Sohn Robert Kurzbein die Normandie, sein zweiter Wilhelm England erbte, und es war ein Gewaltakt, daß zuerst König Wilhelm seinem Bruder Robert einige Teile der Normandie (Eu, Aumale), dann Wilhelms Nachfolger, König Heinrich 1. (der jüngste der Brüder), ihm auch den ganzen Rest seines Herzogtums wegnahm (1106). Vergebens versuchte Roberts Sohn Wilhelm Clito (f 1128), sein väterliches Erbe zurückzugewinnen. Aber beim Tod Heinrichs I. 1135 löste sich die Verbindung Englands mit der 'Normandie zum zweiten Mal, indem nach langem Streit zwischen Heinrichs Schwiegersohn Gottfried von Anjou und Heinrichs Neffen Stephan von Blois schließlich jener in der Normandie, dieser in England den Sieg gewann (S. 73, 74). Erst Gottfrieds Sohn, Heinrich, gelangte 1154 auch wieder auf den englischen Thron, und nun blieb die Normandie (wie Anjou) ein halbes Jahrhundert lang in Personalunion mit England vereint. Die Normandie nimmt in mehr als einer Hinsicht eine Sonderstellung unter den französischen Lehnsfürstentümern ein. Schon äußerlich fallen einige Bräuche auf, die sich aus heidnischer Zeit hier besonders lang erhalten haben, namentlich die Rechte der unehelichen Söhne, die den ehelichen kaum nachgesetzt wurden, sondern wie diese Grafschaften und Bistümer erhielten, ja im Herzogtum nachfolgen konnten. Vor allem aber hatte keiner der französischen Lehnsfürsten in seinem Lehnsfürstentum eine so starke, so wenig beschränkte Gewalt wie der Herzog der Normandie oder der »Herzog und Markgraf der Normannen«, wie er sich zu nennen liebte. Das hatte einen dreifachen Grund: 1. Es gab in der Normandie unter dem Herzog fast keine Lehnsfürsten; 2. alle landrechtlichen Gewalten waren zugunsten des Herzogtums stark beschränkt; 3. der Herzog blieb immer in unmittelbarer Verbindung mit seinen Aftervasallen. Was das erste anlangt, so waren fast alle Grafschaften in den unmittelbaren Besitz des Herzogs gekommen, der sie zu einem Einheitsstaat verband. Die Grafschaften, die bestehen blieben, gehörten zumeist der herzoglichen Familie, d. h. sie dienten zur Versorgung der jüngeren Söhne des Herzogs; das waren Eu, Arques (beide haben sich aus der alten Grafschaft Talou entwickelt), Evreux (vergrößert um Teile der alten Grafschaft Madrie) und Mortain (ein Teil der alten Grafschaft Avranches). Einer großen Selbständigkeit erfreuten sich nur die Grafschaft Mortagne (Perche) und die Seigneurie Belleme. Herr Robert von Belleme hat sich während der bewegten Regierung des wenig befähigten Herzogs Robert Kurzbein zum mächtigsten Mann im Herzogtum emporgeschwungen; bald darauf zerfiel freilich die Herrschaft seines Hauses (Belleme ging an die Grafschaft Perche über, Alenqon wurde eine besondere Grafschaft, Domfront kam an den Herzog). Andere lehnsfürstliche Baronien oder Seigneurien hat es hier nie gegeben.

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Auf dem Gebiet der Rechtsprechung blieb dem Herzog im ganzen Herzogtum die hohe Gerichtsbarkeit vorbehalten, so daß also die landrechtlichen Gerichte der Grafen und seigneurs justiciers (Vizegrafen) hier nur in den Fällen geringerer Wichtigkeit zuständig waren. Die Verbindung schließlich des Herzogs mit seinen Aftervasallen ist nie unterbrochen worden, was sich namentlich auf militärischem Gebiet zeigte, sofern der Herzog den ban et arriereban ausübte, d. h. nicht nur seine Vasallen sondern immer die gesamte Ritterschaft direkt zum Krieg aufrief. Auch blieb für den ganzen Adel die alte Form der Vormundschaft als bail ducal bestehen: der Herzog ist der Vormund aller minderjährigen Adligen des Landes. In kirchlicher Hinsicht stand ihm die Besetzung der Bistümer und ein weitgehender »Schutz« über alle Kirchen und Klöster des Herzogtums zu; wir werden aber sehen, daß ähnliche Befugnisse sich auch bei anderen Lehnsfürsten finden. Eine solche starke Zentralgewalt macht es begreiflich, daß der Landfrieden hier nur selten gestört worden ist, so daß später beachtenswerte Sagen von einer Art goldenen Zeitalters in der alten Normandie entstanden, wo es keinen Raub and keinen Diebstahl gegeben habe, wo niemand sein Haus zuschloß oder seinen Pflug über Nacht vom Feld nahm. Der Brauch der Privatkriege, wie er unter Herzog Robert Kurzbein auch in der Normandie einmal eingerissen ist, blieb hier immer eine Ausnahme. Daher war in der Normandie der Boden für eine moderne Staatsverwaltung, für eine Überwindung der feudalen Dezentralisation gegeben. Wir werden ihrer Fortbildung auf verschiedenen Gebieten (namentlich im Hofgericht und in der Finanzverwaltung) noch zu gedenken haben. Von hier erst haben die französischen Könige zahlreiche Einrichtungen für ihren neuen Beamtenstaat übernommen. Die Bedeutung der normannischen Staaten in England und Unteritalien liegt auf dem gleichen Gebiet. So sind die Normannen die Pfadfinder für die moderne Staatsidee im Gegensatz zu den feudalen Zuständen geworden. f) Die Grafschaft (Markgrafschaft) F l a n d e r n . Die kleine Grafschaft Flandern (Hauptstadt Brügge) hat bereits im 9. Jahrhundert eine außerordentliche Machtsteigerung erfahren durch die Vereinigung einer Reihe umliegender Grafschaften und durch die Übertragung einer markgräflichen Gewalt, die auch hier in erster Linie dem Kampf gegen die Normannen dienen sollte. Graf Balduin I. Eisenarm, der sich 863 mit Judith, der Tochter Karls des Kahlen, vermählte, erhielt von seinem Schwiegervater die Mark in diesem nördlichsten, zumeist germanischen Teil Westfrankens, zwischen der Scheide, der Canche und dem Meere, übertragen. Er und sein Sohn Balduin II. (8 unumschränkte« Königtum Ludwigs XIV., Progr. 1888. — Ders., Beitrage z. Gesch. der Politischen Ideen, 2 Tie. 1892—96. — R. Kosor, Die Epochen der absoluten Monarchie in der neueren Gesch., Hist. Ztsch. 61 (1889). — M. 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HI. Periode.

Die Zeit des absoluten Königtums (1437—1789).

gouvernement de Louis XIV. de 1683 à 1689, 1848. — G. F. Preuss, Wilhelm III. v. England u. das Haus AVittelsbach im Zeitalter d. spanischen Erbfolgefrage, 1. Halbbd. 1904. — [A.] de Tocqueville, Hist. philos, du règne de Louis XV., 2 Bde. [1846], 2. A. [1847]. — l)ers., Coup d'oeil sur le règne de Louis XVI., 2. A [1850]. — A. Jobez, La France sous Louis XV., 6 Bde. 1864-73. — Ders., La France sous Louis XVI., 3 Bde. 1877 — 93. — H. Carré, La France sous Louis XV., 1891. D a s A n c i e n r é g i m e : Ph. Sagnac, De la méthode dans l'étude des institutions de l'anc. rég., Rev. d'hist. moderne et contemporaine 6 (1904 f.) — J. A. Piganiol de La Force, Nouv. description géogr. et hist. de la France, 5 Bde. 1715; 15 Bde. 1751—53. — Montesquieu, Lettres persanes, 2 Bde. 1721 u. o. ; vgl. V/. Marcus, Die Darstellung der französ. Zustände in Montesquieu® Lettres persanes, 1902. — [C.] Fleury, Droit public de la France, hsg. v. J. B. Daragon, 3 Bde. 1769 (auch in d. Opuscules 4, 1781). — C. M. Raudot, La France avant la révol., 1841, 2 A. 1847. — H. v. Sybel, Gesch. der Revolutionszeit, Bd. 1, 1853, 4. A. 1877, wohlf. A. 1897. — A. de Tocqueville, L'anc. régime et la révol., 1857, 5. A. 1866 ( = Oeuvres complètes 4), deutsch v. A. Boscowitz, 1857; vgl. einige Kapitel einer Forts, in den Oeuv. compl. 8, 1865. — P. Boiteau, État de la France en 1789, 1861 ; 2. A. 1889. — H. Taine, Les origines de la France contemporaine, Bd. 1, L'anc. régime, 1875 u. o ; deutsch v. Katscher, 3. A. 1904. — A. Sorel, L'Europe et la révol. franç., Bd. 1, 1885. — A. Wahl, Studien z. Vorgescli. der Französ. Revol., 1901. — Ders., Yorgesch. der Französ. Revol., 2 Bde. 1905—07. — Th. Ludwig, Neue Forschgn. z. Vorgesch. der französ. Revol., Hist. Ztsch. 96 (1906). — H Glagau, Reformversuche u. Sturz des Absolutismus in Frankreich, 1908. — Ch. Normand, La bourgeoisie franç. a u XVIIIe sel., 1908.

Wenn wir das Königtum unserer letzten Periode als absolut bezeichnen, so folgen wir damit nicht nur dem allgemeinen Brauch der Historiker, sondern auch der Benennung und den Theorien des Ancien régime selbst. Freilich darf der Name nicht mißverstanden werden. Zunächst ist rechtlich keine Änderung an den mittelalterlichen Zuständen vorgenommen worden; niemals hat man den Absolutismus etwa durch einen legislatorischen Akt eingeführt, und die Staatsrechtslehrer unserer Periode fühlten sich daher veranlaßt, ihn als das System zu bezeichnen, das von jeher und durch alle Jahrhunderte hindurch in Frankreich geherrscht habe. Aber auch tatsächlich haben sich Reste der alten Feudalzeit bis zur Revolution erhalten. Kleine Lehnsfürstentümer und Apanagen, die landrechtliche Gerichtsbarkeit der seigneurs justiciers, ja allerhand lehnsrechtliche Gerechtsame hat es bis zum Ende des Ancien régime in der berühmten Nacht vom 4. zum 5. August 1789 gegeben. Man stellte die Theorie auf, daß all diese Herrn ihre Gewalt durch freiwillige Delegation von Seiten des Königtums erhalten hätten, und sprach dementsprechend dem König de iure die Macht zu, sie wieder an sich zu nehmen. Tatsächlich aber hat sich das Königtum damit begnügt, sie durch die Stärkung der Zentralverwaltung und ihrer Organe in den Provinzen für das staatliche Leben unschädlich zu machen ; im übrigen wurden die feudalen Gewalten nicht nur erhalten, sondern sorgsam gepflegt als ein an Würde reicher Adel, der sich in den Strahlen der königlichen Gunst sonnen durfte. Aber noch mehr. Auch der Theorie, daß der absolute König im letzten Ende nur der Vertreter seines Volkes sei, begegnen

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wir bis zum Schluß in manchen Anschauungen und Forderungen; sie ist im Prinzip vom König nie bestritten worden. Solchen tatsächlichen und theoretischen Einengungen der königlichen Gewalt steht nun freilich in praxi vielfach eine alles Maß überschreitende Allmacht des Königs gegenüber, die nach Willkür regiert und die alten Organe selbständig-staatlicher Verwaltung, wie namentlich die Stände und die Parlamente, gelegentlich gänzlich beseitigt. In diesem Nebeneinander und Durcheinander von Volkssouveränität, Königsabsolutismus, Feudalgewalten und Korporationsrechten beruht der Reiz der Verfassungsgeschichte des Ancien régime.

1. Kapitel.

Der König, seine Minister und sein Rat. Literatur. K r o n g u t , E r w e r b u n g e n : Art. Desjardins, De l'aliénation et de la prescription des biens do l'état, 1862. — P r o v e n c e : H. Bouche, La chorographie ou description de P. et l'hist. chronol. du mesmo pays, 2 Bde. 1664, n. A. 1736. — J. F. de Gaufridi, Hist. de P., 1694. — [J. P.] Papon, Hist. gén. de P., 4 Bde. 1777—86. — B r e t a g n e : A. Dupuy, Hist. de la réunion de la B. à la France, 2 Bde. 1880. — B r e s s e : Ch. Jarrin, La B. et le Bugey, 4 Bde. 1883 bis 1887. — E l s a ß : K. Jacob, Die Erwerbung des E. durch Frankreich im Westphäl. Frieden, 1897. — A. Overmann, Die Abtretung des E. a n Frankreich im Westfäl. Frieden, 1905 (auch Ztsch. f. d. Gesch. d. Oberrheins N. F. 19 u. 20, 1904 f.). — R. Reusa, L'Alsace au dix-septième sel., 2 Bde. 1897—98 (Biblioth. de l'éc. des hautes études, Sciences philol. et hist., 116 u. 120); vgl. A. Overmann, Ztsch. f. d. Gesch. des Oberrheins N. F. 13 u. 14 (1898 f.); Th. Ludwig, Hist. Ztsch. 81 u. 84 (1898, 1900). — Ch. Hoffmann, L'Alsace au XVIII® sei., 4 Bde. 1906 — 07 (Biblioth. de la Rev. d'Alsace 9 - 1 2 ) . — L o t h r i n g e n : A. Calmet, Hist. eccl. et civ. de Lorraine, 2. A. 7 Bde. 1745—57. — A. Digot, Hist. de Lorraine, 2. A. 6 Bde. 1879—80. — E. Bonvalot, Hist. du droit et des institutions do la Lorraine et des Trois Évêchés, 1895. — K. Kaufmann, Die Reunionskammer zu Metz, Jahrb. der Gesellsch. f. lothring. Gesch. u. A l t e r t u m s k . i l (1899), 1900. — H. Derichsweiler, Gesch. L.s., 2 Bde. 1901; vgl. Miisebeck, Hist. Vierteljsch. 7 (1904). — C o r s i c a : G. Cambiagi, Istoria del regno di C., 4 Bde. 1770—72. — P. Garelli, Les institutions démocratiques de la Corse jusqu'à la conquête franç., These 1905. — V e n a i s s i n : P. Charpenne, Hist. des réunions temporaires d'Avignon et du comtat V. à la France, 2 Bde. 1886. O r d o n n a n z e n : Ph. Bornier, Conférence des nouv. ordonnances de Louis XIV. avec celles de ses prédécesseurs, 1678, 3. A. 1729. — J . A. Sallé, Esprit des ordonn. de Louis XIV., 2 Bde. 1758. — Ders., Esprit des ordonn. de Louis XV., 3 Bde. 1752 ; 1759. — R. J. Valin, Commentaire sur l'ordonn. de la marine d u mois d'août 1681, n. A. 2 Bde. 1828—29. — F. Monnier, Le chancelier d'Aguesseau, 2. A. 1863. M i n i s t e r : [Ch. de Combauld, baron d'Auteuil] Hist. des ministres d'état, 1642. — A. Fauvelet du Toc, Hist. deB secrétaires d'estat, 1668. — [H.] de Luçay, Les secrétaires d'état depuis leur institution jusqu'à la mort de Louis XV., 1881. — G. Robertet, Les Robertet au XVI« sel. Registre de Florimont Robertet, 1888. — O. Hintze, Die Entstehung der modernen Staatsministerien, Hist. Ztsch. 100 (1908). — F i n a n z b e a m t e : Correspondance des contrôleurs gén. des finances avec les intendants des provinces, hsg. v. A. M. de Boislisle,

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3 Bde. 1874—88. — Ders., Semblançay et la surintendance des finances, Ännu. aire-bulletin de la soc. de l'hist. de France 18 (1881). — M. Marion, Machault d'Arnouville, étude sur l'hist. du contrôle gén. des finances de 1749 à 1754, 1*91. — R a t : N. Valois, Fragment d'un registre du grand conseil de Charles VII. (mars—juin 1455), Ann.-bull. w. o. 19 u. 20 (1882 f.). — Ders., Le conseil du roi et lo grand conseil pendant la première année du règne de Charles VIII., Biblioth. de l'éc. des chartes 43 u. 44 (1882 f.). — Ders., Inventaire des arrêts du conseil d'état (règne de Henri IV.), 2 Bde. 1886—93. — A. Dumas, Le conseil des prises sous l'anc. régime, Nouv. rev. hist. de droit 29 (1905).

I. Titel und Formen. Das Haupt des Staates ist der König, dessen Rechtstitel und Machtbefugnis sich in ununterbrochener Entwicklung seit der Karolingerzeit entfaltet hat, und der mithin ohne erhebliche legislatorische Veränderungen aus dem schwachen Oberhaupt des Lehnsstaates der mächtigste Fürst Europas geworden ist, ein Herrscher von fast unumschränkter Gewalt. Sein Titel ist^ar la grâce de Dieu roi de France, wozu seit der Thronbesteigung Heinrichs IV. aus dem Hause Bourbon Vendôme, das seit 1555 das Königreich Navarra besaß, wieder der Zusatz ei de Navarre kam (zu den lateinischen Formen S. 178 seit dem 17. Jahrhundert auch Oalliarim et Navarrae rex). Es wäre aber unrichtig, deshalb nur von einer Personalunion zwischen Frankreich und Navarra zu sprechen, da es keine besondere Gesetzgebung für Frankreich (ohne Gültigkeit für Navarra) gab. Der Titel, mit welchem der König angeredet wird, bleibt Sire und Majestät. Die Königin teilte den Titel ihres Gemahls (reine de France, seit 1589 et de Navarre). Der Thronfolger behielt den Titel Dauphin (dauphin de France, nicht de Navarre). Die übrigen ehelich geborenen Angehörigen des Königshauses sind die Prinzen (und Prinzessinnen) »von Geblüt« (princes und princesses du sang). Nur die Prinzen von Geblüt sind zur Thronfolge berechtigt; uneheliche Kinder dagegen auch dann nicht, wenn sie (aus Gründen der Apanagierung) legitimiert wutden. Ludwig XIV. hat allerdings im Jahre 1714 seine natürlichen und legitimierten Söhne (den Herzog, Ludwig August von Maine und den Grafen Ludwig Alexander von Toulouse) zu Prinzen von Geblüt erhoben und ihnen und ihren Nachkommen ein eventuelles Erbrecht auf die Krone (für den Fall, daß die ehelich geborenen Prinzen ausstürben) eingeräumt; aber bereits im Jahre 1715 ist dieser Erlaß unter der Regentschaft Philipps von Orleans wieder rückgängig gemacht worden, da im Fall des Erlöschens der Dynastie die Vergabung der Krone Sache der Nation sei und deren Grundrechte auch vom König nicht beschränkt werden dürften. — Für die näheren Verwandten des Königs kamen unter den Bourbonen noch andere Bezeichnungen auf. Seine ehelich geborenen Kinder, Enkel und Urenkel (beiderlei Geschlechts) sind die enfants de France, die sich untereinander mit monsieur und madame anreden. Monsieur ohne weiteren Zusatz bezeichnet den ältesten Bruder des Königs; Madame ohne Zusatz heißen die älteste verheiratete Tochter des Königs, diejenige des Dauphins sowie auch die Gemahlin Monsieurs; Mademoiselle nennt sich die nächste unverheiratete Verwandte des Königs.

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Die K r o n e v e r e r b t während unserer Periode nach den Prinzipien, die sich in der vorigen herausgebildet haben, d. h. auf den ältesten Sohn, oder, wenn ein solcher nicht vorhanden ist, auf den nächsten männlichen Verwandten des Königs. Nur einmal ist das bestritten worden, 1589 bei der Thronbesteigung Heinrichs IV., den eine große Partei im Reich nicht anerkannte, da sie den Grundsatz verfocht, daß ein Ketzer nicht König sein könne. Wir werden auf die Vorgänge, die sich daranschloßen, bei der Geschichte der Generalstände noch näher einzugehen haben; denn es galt im Prinzip als feststehend, daß, wenn überhaupt kein gesetzlicher Thronerbe mehr vorhanden sei, die Nation in den Generalständen die Krone durch Wahl zu vergeben habe. Heinrich IV. hat durch seinen Übertritt zum Katholizismus die Ansicht, daß der König katholisch sein müsse, sehr befestigt; immerhin aber ist darauf aufmerksam zu machen, daß er seine Regierung nicht etwa vom Tag seines Übertritts (1593) oder gar seiner Krönung (1594) an zählte, sondern vom Tod Heinrichs III. (1589), und daß also wenigstens ein Teil der Nation eine Zeitlang einen protestantischen König anerkannt hat. So lange ein erbberechtigter Thronfolger vorhanden ist, kann der Thron niemals vakant sein : durch den Tod des Königs wird sein Nachfolger sofort und eo ipso König. Das besagen die Sätze Le roi ne meurt jamais und Le roi est mort, vive le roi! Der Tod des Vorgängers, nicht etwa erst der Akt der Weihe macht den König. Nichtsdestoweniger wurde auch die W e i h e mit Salbung und Krönung und dem rudimentären Überbleibsel des einstigen Wahlaktes bis zum Ende des Ancien regime festgehalten. Sie fand statt, wie bisher, zumeist an einem Sonntag (Karl VIII. 30. Mai 1484, Ludwig XII. 27. Mai 1498, Heinrich III. 13. Febr. 1575, Heinrich IV. 27. Febr. 1594, Ludwig XIII. 17. Okt. 1610, Ludwig XIV. 7. Juni 1654, Ludwig XV. 25. Okt. 1722, Ludwig XVI. 11. Juni 1775) oder einem hohen Festtag (Christi Himmelfahrt: Karl IX. 15. Mai 1561, Mariae Himmelfahrt: Ludwig XI. 15. Aug. 1461), aber auch an einem geringeren Fest (Pauli Bekehrung: Franz I. Donnerstag d. 25. Jan. 1515, Heilige Anna: Heinrich II. Dienstag d. 26. Juli 1547) oder sogar an einem gewöhnlichen Wochentag (Franz II. Montag d. 18. Sept. 1559). Das Intervall zwischen Thronbesteigung und Weihe spielt noch anderthalb Jahrhunderte (bis einschließlich zur Weihe von 1610) etwa in den alten Grenzen, von 24 Tagen (1461, 1515) bis zu 5 Monaten (1561, 1610); Ausnahmen bilden da nur die Weihen von 1484 (9 Monate), 1575 (8^2 Monate, der König kam erst aus Polen) und vor allem 1594 (4% Jahre, der König war bis dahin im größeren Teil Frankreichs nicht anerkannt). Im 17. Jahrhundert erweitern sich die Abstände, zum Teil wohl deshalb, weil man keine allzu jungen Kinder krönen wollte. Ludwig XIV. wurde erst 1654, über 11 Jahre nach seiner Thronbesteigung, im Alter von 153/4 Jahren, gesalbt und gekrönt. Er war damals seit 1 3/4 Jahren großjährig; aber mit der Frage der Großjährigkeit hat das Datum der Krönung nichts zu tun. Denn die anderen minderjährigen Könige unserer Periode

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haben — nicht ganz dem früheren Brauch entsprechend (vgl. S. 189 f.) — schon vor ihrer Großjährigkeitserklärung und dem Antritt der wirklichen Regierung die Weihe empfangen: so, wie Karl IX. 1561 (mit nicht ganz 11 Jahren) und Ludwig XIII. 1610 (mit 9 Jahren), auch Ludwig XV. 1722 (mit 122/3 Jahren, 4 Monate vor seiner Großjährigkeit und dem Ende der Regentschaft); es waren 7 Jahre und fast 2 Monate seit seiner Thronbesteigung verflossen. Ludwig XVI. schließlich (der großjährig zum Thron kam) ließ sich nach 1 Jahr und 1 Monat weihen. Umsonst verlangten übrigens damals die Geister der Aufklärung, daß man von dieser »lächerlichen« und besonders kostspieligen Zeremonie Abstand nehme; nicht einmal der Vorschlag Turgots, sie in bescheidenerem Maßstab in Paris vor sich gehen zu lassen, fand Gehör. Bis zum Schluß wurde vielmehr auch in unserer Periode die Weihe fast immer in R e i m s durch den dortigen Erzbischof vollzogen. Nur aus besonderen Gründen fungierte dreimal ein anderer Kirchenfürst, einmal sogar an anderem Ort. 1575 hatte der designierte Erzbischof von Reims (Ludwig von Guise), dem es mehr um Titel und Einkommen als um die geistlichen Verrichtungen zu tun war, die Priesterweihe noch nicht empfangen, weshalb der Bischof von Metz (Ludwig von Lothringen) an seine Stelle trat; 1594 war Reims noch in den Händen der Liga, weshalb sich Heinrich IV. in Chartres durch den dortigen Bischof weihen ließ (wobei man bis auf die Krönung von 1108 zurückgehen mußte, um sich darauf berufen zu können, daß der Akt nicht an Reims und seinen Erzbischof geknüpft sei); 1610 wurde der Titular-Erzbischof von Reims (Kardinal Ludwig von Guise), der sich abermals nur mit den Dingen dieser Welt befaßte, durch den Erzbischof von Rouen (Kardinal Franz Joyeuse) vertreten. — An die' Weihe schloß sich in unserer Periode noch der feierliche Einzug des Gekrönten in P a r i s an, für den sich in ähnlicher Weise ein genaues Zeremoniell ausbildete. Die Weihe der K ö n i g i n behielt bis ins 17. Jahrhundert den aus der vorigen Periode bekannten, etwas ungeregelten Charakter. Sie fand zumeist in St. Denis statt, wurde in neuerer Zeit aber gewöhnlich durch einen dem Königshaus nahestehenden Kardinal vollzogen (1517 Claudia, gesalbt und gekrönt durch Kardinal Philipp von Luxemburg, Bischof von Le Mans; 1531 Eleonore von Osterreich durch Kardinal Ludwig von Bourbon, Bischof von Laon; 1549 Katharina von Medici durch denselben, der inzwischen Erzbischof von Sens geworden war; 1571 Elisabeth von Osterreich durch Kardinal Karl von Lothringen, Erzbischof von Reims; 1610 Maria von Medici durch Kardinal Franz Joyeuse, Erzbischof von Rouen). Mit der Weihe von 1610, die Maria von Medici bereits nur noch auf inständiges Bitten zur Stärkung ihrer Position als Regentin (während des beabsichtigten Feldzugs Heinrichs IV.) am Tag vor der Ermordung ihres Gemahls hatte erreichen können, nahmen die Krönungen der Königinnen im alten Frankreich ein tatsächliches Ende. Ludwig XIII., Ludwig XIV. und Ludwig XV. waren zur Zeit ihrer eigenen Weihe noch unvermählt und haben auch

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später ihre Gemahlinnen nicht krönen lassen. Vor der Weihe Ludwigs XVI. traten einige Stimmen dafür ein, auch die Königin Marie Antoinette zugleich mit ihrem Gemahl krönen zu lassen; doch unterblieb das auch diesmal. — Das Z e r e m o n i e l l bei den Weihen war durchaus das alte. Auch der Schwur, die Ketzerei auszurotten, wurde bei der Königsweihe bis zum Schlüsse geleistet, obgleich im Zeitalter der Aufklärung, 1775, stürmisch seine Abschaffung gefordert wurde. Nur eine Modifikation trat bei dieser letzten Krönung ein: jene Frage an die Anwesenden, ob sie den Gekrönten als König wollten, — der letzte Rest des ehemaligen Wahlrechts — wurde noch weiter abgeschwächt; zwei Pairs fragten: »Erkennt ihr jetzt Ludwig XVI. als König an?« worauf einige, damit beauftragte Teilnehmer erwiderten: »Ja, ja, wir erkennen ihn an.« 2. Minderjährigkeit und Regentschaft. Auch die Regeln über Minderjährigkeit und Regentschaft blieben im wesentlichen so, wie sie sich während der vorigen Periode herausgebildet hatten. Der König wird im 14. Lebensjahre g r o ß j ä h r i g (im Alter von 13 Jahren und einem Tag oder wenig später). Die Erklärung der Großjährigkeit geschieht in einem Lit de justice vor dem Parlament (zumeist vor dem Pariser, nur 1563 erfolgte sie zum großen Arger des Pariser Parlaments vor demjenigen von Rouen). Eine staatsrechtliche R e g e n t s c h a f t gibt es nur während der Minderjährigkeit eines Königs und während seiner Abwesenheit außer Landes. Zu einer Regentschaft wegen Minderjährigkeit des Königs kam es während unserer Periode viermal: unter Karl IX., Ludwig XIII., Ludwig XIV. und Ludwig XV. Zwar waren auch Karl VIII. und Franz II. bei ihrer Thronbesteigung noch so jung, daß zunächst Verwandte des Königshauses den tatsächlichen Einfluß im Staat an sich brachten: 1483 Anna von Beaujeu (die ältere Schwester Karls VIII.) und ihr Gemahl Peter, dem Ludwig XI. selbst die Fürsorge für seinen Sohn- anvertraut hatte, und 1559 die beiden Brüder Franz und Karl von Guise, mütterliche Oheime der Gemahlin Franz 1 II., Maria Stuart. Auch amtierte 1484 bis 1485 ein Regentschaftsrat (wie ähnlich schon zweimal unter Karl VI., S. 189 f.). Aber Karl VIII. zählte bei seiner Thronbesteigung 13 Jahre und 2 Monate, Franz II. gar 15 und ein halbes Jahr, beide waren großjährig, und eine staatsrechtliche Regentschaft hat es weder beim einen noch beim andern gegeben. Von Interesse ist dagegen ein Testament Ludwigs XII. vom Jahre 1505, in dem der König für den Fall seines Todes seine Gemahlin Anna von der Bretagne zur Regentin für den minderjährigen Thronfolger Franz I. (geb. 12. Sept. 1494) ernannte und ihr einen Regentschaftsrat zur Seite stellte. Da der König noch zehn Jahre lebte, hat das Testament keine praktische Geltung erlangt; aber es zeigt bereits, wie die im 14. Jahrhundert herrschende Tendenz, die Frauen von der Regentschaft auszuschließen (S. 189), im 16. Jahrhundert wieder verlassen wurde. Das trat vor aller Augen, als mit dem Tod Franz' II. (5. Dez. 1560) sein Bruder Karl IX. (geb. 27. Juni 1550) im Alter von 10'/ 2 Jahren den Thron

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bestieg und somit wirklich wieder einmal die Bestellung einer Regentschaft notwendig wurde. Zwei Personen erhoben damals Anspruch auf die Regentschaft: Katharina von Medici als Mutter und nächste Verwandte des jungen Königs und Anton von Bourbon, König von Navarra, als sein nächster männlicher Verwandter. Der Staatsrat regelte (21. Dez. 1560) mit Rücksicht darauf, daß die Frauen zwar vom Königtum aber nicht von der Regentschaft ausgeschlossen waren, die Frage so, daß den Hauptanteil an der Regentschaft Katharina erhielt, Anton nur eine gewisse Mitwirkung bei den militärischen Anforderungen: über die Angelegenheiten der Gouverneure in den Provinzen und der Kapitäne in den Festungen sollte Anton der Regentin berichten, und auf Grund seiner Berichte sollte Katharina dann nach Anhören des Staatsrats die nötigen Anordnungen treffen; in allen anderen Sachen war Katharina nur zum Befragen des Staatsrats verpflichtet'(aber nicht an seine Meinung gebunden). Alle Schreiben ergingen im Namen des Königs und mußten im Staatsrat verlesen werden; Antworten des Königs sollten von einem Schreiben der Mutter begleitet werden. Durch diese Anordnungen war der Anteil Katharinas an der Regentschaft so groß, daß der Tod Antons von Navarra (17. Nov. 1562) keine fühlbare Lücke hinterließ. Die Regentschaft dauerte bis zur Großjährifrkeitserklärung Karls IX. am 17. Aug. 1563; von da an ist der Einfluß Katharinas nur noch tatsächlicher, nicht mehr rechtlicher Art. — Im Jahre 1610 hatte Heinrich IV. schon vor seiner Ermordung für die Dauer seiner Abwesenheit auf dem beabsichtigten Feldzug gegen die Habsburger eine Regentschaft bestellt unter seiner Gemahlin Maria von Medici und einem Regentschaftsrat von 15 Mitgliedern. Am 14. Mai d. J. folgte seine Ermordung und die Thronbesteigung seines noch nicht 9 jährigen Sohnes Ludwig XIII. (geb. 27. Sept. 1601). Damit galt auch die von Heinrich IV. eingesetzte Regentschaft als erloschen, was Maria selbst dadurch anerkannte, daß sie hoch am gleichen Tag das Pariser Parlament durch den königlichen Generalprokurator ersuchen ließ, für die Bestellung einer Regentschaft zu sorgen. Das Parlament, dem damit eine wichtige Funktion eingeräumt wurde, zeigte sich dankbar und sprach sich für die Ernennung Marias aus; am folgenden Tage wurde diese Ernennung dann durch den königlichen Knaben in einem Lit de justice vollzogen und vom Parlament registriert. Die nächsten männlichen Agnaten, Heinrich II. von Conde (dessen Vater der älteste Vetter Heinrichs IV. gewesen war) und sein Oheim Karl von Soissons (ein jüngerer Vetter des Ermordeten), waren damit übergangen. Die Regentschaft dauerte bis zur Großjährigkeitserklärung Ludwigs XIII. am 2. Oktober 1614. Die Art, wie sie bestellt worden war, blieb insofern maßgebend für die Zukunft, als von nun an die Regentschaften durch ein Lit de justice des unmündigen Königs eingesetzt wurden, formell also durch dessen Befehl, tatsächlich durch Einigung der Königinmutter, die den jungen König in der Gewalt hatte, mit dem Parlament. Sogar letztwillige Verfügungen eines Königs über die Regentschaft nach seinem

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Tod galten nicht als bindend für die Regelung und sind denn auch tatsächlich in den beiden Fällen, die wir noch zu besprechen haben, umgestoßen oder doch wesentlich modifiziert worden. Die Rechtstheoretiker erfanden dafür einen besonderen Ausdruck; sie sagten, das Königtum sei nicht héréditaire sondern successive, d. h. der neue König erbe nicht einfach das Reich mit allen Anordnungen des Vorgängers, sondern er folge nur nach und sei mithin durch solche Anordnungen nicht gebunden. Sowohl Ludwig XIII. hat im April 1643 wie Ludwig XIV. am 2. August 1714 für die Regentschaft Sorge getragen; jener durch eine besondere »Deklaration« (Urkunde), die ordnungsgemäß vom Pariser Parlament registriert wurde (21. April 1643), dieser durch sein Testament. Beide haben einen Regentschaftsrat (von 7 bezw. 16 Mitgliedern) eingesetzt, der sich von allen früheren Körperschaften dieses Namens sehr wesentlich dadurch unterschied, daß er in den der königlichen Entscheidung unterliegenden Dingen nicht nur beraten sondern mit Stimmenmehrheit beschließen sollte, und der somit wirklich das oberste Organ der Regierung dargestellt hätte. Dem Regenten war nur der Vorsitz in diesem Rat zugedacht. Ludwig XIII. machte dabei übrigens auch von dem, sonst nur bei Abwesenheit eines Königs außer Landes besetzten Amt eines Gen e r a l s t a t t h a l t e r s Gebrauch, indem er seine Gemahlin Anna von Österreich als Regentin und seinen Bruder Gaston von Orleans als Generalstatthalter in Aussicht nahm, letzteres wohl hauptsächlich mit Rücksicht auf die militärischen Angelegenheiten, in denen die Befehle einer Frau leicht mißachtet wurden, aber mit der ausdrücklichen Festsetzung, daß der Generalstatthalter der Regentin wie dem Regentschaftsrat unterstellt sei (er wurde bezeichnet als lieutenant général du roi mineur dans toutes les provinces du royaume sous Vautorité de la reine régente et du conseil). Ludwig XIV., dessen Gemahlin Maria Theresia bereits gestorben war (die heimliche Ehe mit der Maintenon hatte staatsrechtlich keine Bedeutung), ernannte seinen Neffen, den Herzog Philipp II. von Orléans, zum Regenten. Beide Male haben es aber nach dem Tod der Könige (Ludwig XIII. f 14. Mai 1643, Ludwig XIV. f 1. Sept. 1715) die Règenten verstanden, mit Hilfe des Parlaments den Regentschaftsrat zu beseitigen und eine umumschränkte Regentschaft alten Stils (Anna mit Gaston als Generalleutnant zur Seite) anzutreten. Das geschah das erstemal durch ein Lit de justice, das Anna am 18. Mai 1643 mit ihrem noch nicht fünfjährigen Sohn abhielt, das zweitemal einfach durch Beschluß des Parlaments vom 2. Sept. 1715 auf Antrag Philipps von Orléans, der den Standpunkt vertrat, daß dem nächsten großjährigen Verwandten des Königs die Regentschaft überhaupt de iure gebühre, und daß der verstorbene König den rechtmäßigen Regenten weder übergehen noch beschränken dürfe, so wenig als er die Krone einem anderen als seinem rechtmäßigen Nachfolger vermachen könne. Das Parlament stimmte ihm bei als der berufene Wächter über die Grundgesetze des Reiches. Dieses angeblich uralte Grundgesetz, wonach der nächste (männliche

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oder weibliche) großjährige Verwandte eo ipso zur Regentschaft berufen sei, war durchaus neu, auch wenn tatsächlich die drei letzten Male die Königinmutter ßegentin gewesen war; noch 1643 hätte das königliche Kind in seinem Lit de justice zweifellos de iure auch einen, anderen Regenten bestellen können. Damals aber, wie 1715, trug, nach, einem Wort Rankes, »die Idee der durch das Recht der Geburt sich, fortpflanzenden Autorität über die durch letztwillige Verfügung eingesetzte Staatsgewalt den Sieg davon«. Übrigens wurde der Gedanke, daß im Prinzip nicht der Regent sondern der König regiere, außer in den lits de justice auch darin festgehalten, daß die Ordonnanzen formell vom König ausgestellt wurden. — Ludwig XIV. (geb. 5. Sept. 1638) wurde am 7. Sept. 1651, Ludwig XV. (geb. 15. Febr. 1710) am 22. Febr. 1723 großjährig; damit erreichten die Regentschaften ihr Ende. Auf einem ganz anderen Boden stehen die Regentschaften, welche der König für die Dauer seiner A b w e s e n h e i t außer Landes (namentlich auf Kriegszügen) bestellen konnte. Hier war ihm die Art der Regelung durchaus überlassen. Er konnte einen Regenten oder einen Generalstatthalter bestellen, seine Befugnisse nach Gutdünken umschreiben, ihm ein Ratskollegium zur Seite geben oder auch gar keinen Einzelnen an die Spitze des Staats stellen sondern auf andere Art für die Erledigung der Geschäfte sorgen. Auch der abwesende König blieb eben König, und die anderen hatten ihre Gewalt nur von ihm durch widerrufliche Übertragung erhalten. Als z. B. Karl VIII. 1494 nach Italien zog, ernannte er seinen Schwager Peter von Beaujeu zum Generalstatthalter des Königreichs. Größere Bedeutung hatte Luise von Savoyen, die Mutter Franz' I., die bis zu ihrem Tod (1531) während der Feldzüge ihres Sohnes Regentin war und besonders während der Gefangenschaft des Königs 1525—26 und beim Abschluß des Damenfriedens von Cambrai 1529 eine große Rolle spielte. Ein außergewöhnlicher Fall trat beim Tod Karls IX. 1574 ein: der neue König, Heinrich III., weilte außer Landes (in Polen). Mit Rücksicht darauf hatte Karl noch vor seinem Tod seine Mutter Katharina von Medici zur Regentin bis zur Ankunft seines Bruders ernannt, und Katharina übernahm dann auf ausdrückliches Bitten des Parlaments in der Tat noch einmal die Regentschaft des Reiches, bis ihr dritter Sohn nach drei Monaten den Boden Frankreichs betrat. Nicht minder außergewöhnlich war die Stellung, die der Herzog von Mayenne (Karl v. Guise) 1589—1595 im Auftrag der Liga, die den König Heinrich IV. liicht anerkannte, einnahm; auch er nannte sich Generalstatthalter und verwaltete das Reich (soweit es ihm gehorchte) anfangs im Namen des gefangenen Schattenkönigs Karl X., dann nach dessen Tod für seinen noch gar nicht vorhandenen, erst zu bestellenden Nachfolger (doch haben in den nichtmilitärischen Dingen die Generalstände und das Parlament damals tatsächlich den Ausschlag gegeben). 3. Erwerbungen und Apanagen. Nachdem Karl VII. durch die glückliche Beendigung der englischen Kriege seine Kronlande

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Der König, seine Minister und sein Rat.

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und den gesamten ehemaligen englischen Besitz (einschließlich der ganzen Guyenne) mit alleiniger Ausnahme von Calais und den Normannischen Inseln zurückerobert hatte, blieb die Krone mit Erfolg bemüht sich durch E r w e r b u n g e n ^ auf Kosten der Lehnsfürsten und des Auslands weiter auszudehnen. Ludwig XI. zog nach dem Tod Karls des Kühnen 1477 das Herzogtum Burgund ein samt den Grafschaften Mâcon, Auxerre, Bar-sur-Seine, Amiens, Ponthieu und Boulogne, die Herzog Philipp der Gute an sich gebracht hatte; die Versuche der Habsburger, dem französischen König das Herzogtum zu entreißen, wurden mit Erfolg zurückgewiesen, während in Flandern und Artois (ebenso wie in den deutschen Niederlanden und in der Franche-Comté) die Nachfolge Maximilians I. und seines Sohnes (Philipps des Schönen) schließlich anerkannt werden mußte. Im Jahre 1481 erbte Ludwig XI. die Grafschaft Provence, wodurch auch Anjou und Maine wieder mit der Krone vereinigt wurden; die Provence, die bis dahin zum Königreich Burgund gehört hatte, wurde ohne Widerspruch vom Imperium gelöst und zählte von da an zu Frankreich. Die Erwerbung der Bretagne, des letzten der großen Lehnsfürstentümer in Frankreich, wurde von Karl VIII. 1491 durch Vermählung mit der Herzogin Anna eingeleitet. Nach Karls Tod hat sich Anna 1499 mit Ludwig XII. vermählt ; beider Tochter Claudia brachte das Herzogtum 1514 an den künftigen König Franz I., der es 1532 dauernd mit dem Krongut verband. Ludwig XII. und Franz I. brachten außerdem ihre Apanagen (Orléans-Valois-Blois und Angoulême) wieder an die Krone, und Franz I. besetzte nach dem Verrat Karls von Bourbon 1523 auch dessen mächtig angewachsene Apanage (Bourbon, Combraille, Marche, Auvergne, Clermont en-Beau vaisis), die ihm 1527 durchs Parlament zugesprochen wurde. Eine Verkleinerung erfuhr Frankreich dadurch, daß die Lehnshoheit über Flandern mit dem Artois in den Friedensschlüssen von Madrid (1526) und Cambrai (1529) endgültig aufgegeben wurde (die Länder gingen damit an das Deutsche Reich über); auch die Besetzung Savoyens (1536—59) blieb vorübergehend. Heinrich II. zog 1548 die Markgrafschaft Saluzzo als heimgefallenes Lehen des Dauphiné ein und eroberte 1558 Calais. Die Besetzung der drei deutschen Reichsstädte Metz, Toul und Verdun 1552 sowie der gleichnamigen reichsunmittelbaren Bistümer (besser: bischöflichen Grafschaften) in den folgenden Jahrzehnten geschah im Namen des Deutschen Reichs, als dessen Vikar der französische König auftrat, und sollte den Reichsrechten keinen Eintrag tun. Heinrich IV. brachte als mütterliches Erbe eine Reihe kleiner französischer Lehnsfürstentümer (Béarn, Bigorre, Quatre-Vallées, Foix, Armagnac, Albret, Périgord, Limoges) sowie das Königreich Navarra an die Krone, während er seine väterliche Apanage, das Herzogtum Vendôme, 1598 seinem natürlichen (aber legitimierten) Sohn Caesar übermachte. Das Königreich Navarra, das bisher nicht zu Frankreich gehört hatte, bestand seit 1512 nur noch aus dem kleinen Teil nördlich der Pyrenäen (Nieder-Navarra), der nunmehr mit Frankreich vereinigt wurde (S.310). Neue Teile

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des Königreichs Burgund wurden 1601 erworben, indem Heinrich IV. vom Herzog Karl Emanuel von Savoyen die Länder Bresse, Gex und Bugey (mit Valromey) gegen Saluzzo (das schon seit 1588 von Savoyen besetzt war) eintauschte. Weitere Vergrößerungen Frankreichs brachte 1630 die Besetzung von Pinerolo, 1642 diejenige von Sédan und um die gleiche Zeit der Krieg gegen den Kaiser und Spanien, der im Westfälischen Frieden (1648) mit der förmlichen Abtretung der »Drei Bistümer« (Metz, Toul und Verdun, einschließlich der Städte) und mit der Erwerbung der habsburgischen Länder und Rechte im Elsaß, im Pyrenäischen Frieden (1659) mit der Abtretung fast des ganzen Artois und einiger Teile von Flandern, Hennegau und Luxemburg sowie der Grafschaften Roussillon, Conflans und der nördlichen Cerdagne an Frankreich endete. Es folgten in den Friedensschlüssen von Aachen (1668) und Nimwegen (1678) neue Erwerbungen in Flandern und dem Hennegau, zu Nimwegen außerdem die Abtretung des Restes vom Artois und diejenige von Cambrai und der FrancheComté an Frankreich (das aber einige Plätze in Flandern und dem Hennegau zurückgab); um dieselbe Zeit brachten die Réunionen die Annexion fast des ganzen Elsaß, die 1681 durch die Wegnahme von Straßburg abgeschlossen wurde. Das ebenfalls 1681 besetzte Casale wurde 1696 mit Pinerolo Savoyen wieder überlassen. Der Frieden von Utrecht (1713) schließlich (durch den abermals einige Erwerbungen in Flandern zurückgegeben werden mußten) brachte die Abtretung von Barcelonette durch Savoyen und die Bestätigung der Einziehung des Fürstentums Orange, das Ludwig XIV. 1702 besetzt hatte. In dem den Franzosen verbliebenen Teil von Flandern unterschied man Wallonisch Flandern (Hauptstadt Lille) und SeeFlandern (Cassel); die Hauptstadt des französischen Hennegau war Valenciennes, des französischen Luxemburg Diedenhofen. All diese Erwerbungen betrafen Gebiete, die bis dahin nicht zu Frankreich gehört hatten. Innerhalb der Grenzen des Königreichs fielen Vendôme 1712, Soissons 1734, Turenne 1738 und Aumale 1755 an die Krone. Im Jahre 1762 erwarb Ludwig XV. das kleine Fürstentum Dombes, das früher zum Königreich Burgund gehört hatte und im 15. Jahrhundert an das Haus Bourbon gefallen war; eingezogen 1523 war es schon damals vom französischen König besetzt, aber 1560 an einen bourbonischen Seitenzweig ausgegeben worden, der es seitdem unter französischem Schutz mit souveränen Rechten (Münze, Gericht, Steuern) beherrscht hatte, 1762 aber gegen einige neue französische Apanagen (Gisors u. a.) eintauschte (1781 wurde Dombes mit der Provinz Bresse vereinigt). Wichtiger waren die beiden letzten Vergrößerungen des Reichs: durch Erbschaft fielen 1766 die (seit 1431 vereinigten) Herzogtümer Lothringen und Bar, durch Kauf 1768 die bis dahin genuesische Insel Corsica an Frankreich. Im gleichen Jahr wurden auch Avignon und die Grafschaft Venaissin (diese war seit 1274, die Stadt seit 1348 päpstlich) von Frankreich besetzt, aber 1774 dem Papst zurückerstattet (wie ähnliche vorübergehende Okkupationen

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schon 1663—64 und 1688—89 stattgefunden hatten). Die seit dem 17. Jahrhundert gemachten Erwerbungen (insonderheit die im Elsaß und in Lothringen) waren unter völkerrechtlich festgelegten Bedingungen abgetreten worden, die diesen Ländern vielfach eine starke Sonderstellung (namentlich auf dem Gebiet der Steuern) gesichert haben; wir werden solcher Ausnahmebestimmungen in den folgenden Kapiteln mehrfach zu gedenken haben. Den starken Vergrößerungen des Kronguts steht auch jetzt der dauernd beibehaltene Brauch der A p a n a g i e r u n g vieler Prinzen von Geblüt gegenüber. Die Rechte der Apanagenfürsten wurden dabei freilich immer stärker eingeengt, sodaß den Inhabern nur mehr eine untergeordnete Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt sowie die (ordentlichen) lehnsfürstlichen Einnahmen (die manchmal sogar in eine Rente umgewandelt wurden) zustanden. Karl IX. hat in seiner Ordonnanz über die U n v e r ä u ß e r l i c h k e i t d e s K r o n g u t s (Febr. 1566) endgültig festgestellt, daß die Apanagen nur im Mannsstamm erblich sind. Nach dieser Ordonnanz gibt es lediglich zwei Fälle, in denen das Krongut ausgegeben werden darf: zur Apanagierung und zur Verpachtung, wenn das ein Krieg erfordert. In beiden Fällen wird das Land in der Theorie nicht wirklich vom Krongut getrennt, sondern nur auf Zeit in andere Verwaltung gegeben: das Krongut ist (ohne Einwilligung der Stände) unveräußerlich. Ein Lehnsfürstentum, das an die Krone fällt, verändert also seinen Rechtscharakter, und deshalb war zur Vereinigung mit dem Krongüt ein staatsrechtlicher Akt nötig: sie erfolgte (oft viele Jahre nach dem tatsächlichen Heimfall) durch eine königliche Ordonnanz, die vom Parlament registriert wurde (so die Bretagne 1532, die Länder Heinrichs IV. 1620 usw.). Die ausländischen Erwerbungen des 17. und 18. Jahrhunderts sind ihrer rechtlichen Sonderstellung wegen nicht mit dem Krongut vereinigt worden. 4. Die königliche Gewalt. Die Machtbefugnis der Krone, genannt die »Königliche Souveränität«, wird zu Beginn der Neuzeit zwar noch immer theoretisch im Auftrag und Namen des Volkes ausgeübt, aber schon unter Ludwig XII., Franz I. und Heinrich II. tatsächlich ohne Hemmnis, sodaß man ihre Regierung mit Recht einen praktischen A b s o l u t i s m u s genannt hat. Dann brachte die Zeit der Religionskriege einen Rückschlag, der seit der Bartholomäusnacht auch in theoretischen Kampfschriften seinen Ausdruck gefunden hat. Der reformierte Rechtslehrer Franz Hotman vertrat in seiner Franco-Oallia 1573 aufs schärfste den Begriff der Volkssouveränität, die er in den Generalständen verkörpert sah, und statuierte das Recht des bewaffneten Widerstands gegen jede tyrannische (sich über die Volkssouveränität hinwegsetzende) Gewalt. Ihm gegenüber verteidigte Jean Bodin in seinen berühmten Six Uwes de la rcpublique 1576 den königlichen Absolutismus. Aber Hotman wurde noch überboten, und zwar nicht nur von Reformierten sondern auch von katholisch' ligistischen Fanatikern. Von jenen verkündete namentlich Philipp

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von Mornay-Duplessis-Marly, der später den Beinamen des Papsts der Hugenotten erhalten hat, in einer Schrift, die unter dem Pseudonym Brutus erschien, nicht nur das Recht des bewaffneten Widerstands sondern auch dasjenige des Tyrannenmords (wie es schon einmal, nach der Ermordung Ludwigs von Orléans 1407, von dem Theologen Jean Petit in Frankreich vertreten worden war). Und ligistischerseits wurde die Ermordung Heinrichs III. 1589 in den überaus heftigen Schriften des Predigers Jean Boucher und des Bischofs Guillaume Rose mit ähnlichen Argumenten gerechtfertigt. Diese Kreise und ihre Gesinnungsgenossen in Schottland (der Protestant Buchanan) und in Spanien (der Jesuit Mariana) sind von dem Rechtsgelehrten Guillaume Barclay 1600 in einer Schrift, welche gegen sie für die Rechte der Krone eintritt, als »Monarchomachen« bezeichnet worden. Den Monarchomachen beruht das Königtum auf einem mit dem Volk über die Herrschaft geschlossenen Vertrag; wer diesen Vertrag bricht, ist kein König sondern ein Tyrann und vogelfrei. Im 17. Jahrhundert ist es mit dieser Lehre rasch bergab gegangen. Sie wurde verdrängt durch den theoretischen Absolutismus, dessen berühmtester Verteidiger Bossuet gewesen ist. Danach gründet sich die königliche Gewalt nicht auf einen vom Volke frei geschlossenen Vertrag, sondern auf göttliche Einsetzung und göttliches Recht; eine Empörung gegen den Gesalbten des Herrn ist unmöglich. Dennoch aber ist der französische Absolutismus in der Theorie kein Willkürregiment und der König nicht der Inbegriff des Staates gewesen. Der oft zitierte Satz L'état c'est moi ist nicht nur nicht ausgesprochen worden, sondern hat auch niemals den Stand der Dinge wirklich bezeichnet. Vielmehr ist es eine unbestrittene, auch von der Krone häufig ausgesprochene Theorie, daß der König seine Gewalt im letzten Ende im Namen und im Interesse der Nation ausübt. In diesem Sinne fließen Gesetz und Recht und alle Macht im Staat vom Volk. Daher ist der König auch zur Beobachtung und zum Schutz der sogenannten Grundgesetze der Monarchie verpflichtet (vgl. Kap. 2), die nie genau umschrieben doch eben auch in dem Gedanken wurzelten, daß das Königtum um des Staates willen und nicht etwa der Staat um des Königs willen vorhanden sei. Im absoluten Königtum ist der Wille def Nation verkörpert; der Absolutismus garantiert am besten die Interessen des Volks und die Grundlagen des Staats. Darüber hatte man sich im Prinzip verständigt. Erst in einigen weiteren — für die Theorie sekundären, für die Praxis um so wichtigeren — Fragen begannen sich die Geister zu scheiden: in den Fragen, wie weit die Rechte der Generalstände gingen, in denen der Wille der Nation gleichfalls zum Ausdruck k a m , und inwieweit die Parlamente befugt waren, den König bei der Ausübung seiner Pflicht zu beobachten und eventuell zu rektifizieren. Wir werden darauf im einzelnen noch zurückkommen. Im allgemeinen waren natürlich die Stände und die Parlamente geneigt, ihr Recht höher einzuschätzen als der König, der sich allein Gott verantwortlich fühlte. Fragt man nach dem tat-

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sächlichen Stand und Hergang, so findet man, daß sich die Auseinandersetzung der Gewalten in verschiedenen Phasen vollzog. Zuerst, bis zum Ende des 16. Jahrhunderts, trat der Anspruch der Parlamente noch mehr zurück, während die Stände zeitweilig eine große Gewalt ausübten, zwischendurch aber das Königtum (etwa unter Ludwig X I I . , Franz I. und Heinrich II.) ganz unumschränkt gebot, wie das selbst später, wenigstens in gleich unumstrittener Weise, kaum mehr der Fall war. Mit dem Aufhören der Generalstände im 17. Jahrhundert beginnen dann die Ansprüche der Parlamente, insonderheit des Pariser Parlaments, beständig zu wachsen. Das Pariser Parlament betrachtete sich seit Ludwig X I V . als den berufenen Hüter der Grundgesetze des Reichs und somit, wenigstens für gewisse Fälle, als eine Aufsichtsinstanz gegenüber dem König, den es 1722 sogar einmal nur als den »ersten und souveränen Beamten des Staats« charakterisiert. Ludwig X I V . und Ludwig X V . haben ihm diese usurpierte Rolle eines Wächters über die staatsrechtlichen Grundlagen des Reichs mit Konsequenz und Heftigkeit bestritten und ihrerseits die Parlamente erst in ihren Rechten verkürzt, schließlich sogar aufgehoben. Der Kampf brachte es mit sich, daß der Absolutismus dieser Könige von einer beständigen, immer heftiger werdenden Opposition begleitet war. Seitdem 1748 Montesquieus Esprit des lois erschienen war, pochte man mit neuem Nachdruck auf die Verfassung, die es auch in Frankreich gebe, und die es nicht zu verletzen sondern auszubauen gelte. Dann wurde 1762 gar durch Rousseaus Contrat social die Theorie von der Volkssouveränität und dem Gesellschaftsvertrag erneuert und gewaltig vertieft: das Buch ist eine furchtbare Waffe im Kampf gegen die Königssouveränität geworden. Unter Ludwig X V I . hat sich der königliche Absolutismus zum mindesten zeitweilig manche Beschränkung durch die wiedererstandenen Parlamente gefallen lassen, aber ohne daß die Fragen, um die es sich dabei handelte, jemals prinzipiell zum Austrag gebracht worden wären und der beständige Streit ein Ende genommen hätte. Daß schließlich die Wiederberufung der Generalstände durch Ludwig X V I . dem Absolutismus in Frankreich ein so rasches und schreckliches Ende brachte, daran trug dieser Absolutismus selbst schuld, und zwar eigentümlicherweise sowohl dadurch, daß er auf vielen Gebieten unumschränkt gewaltet hatte, als dadurch, daß er sich auf anderen — gezwungen oder nicht — tatsächlich Beschränkungen hatte gefallen lassen. Mit anderen Worten: sowohl durch das, was er tat, als durch das, was er nicht tat. Was er tat, das war das Festhalten an der unumschränkten Doktrin, wenigstens bei der Zentralverwaltung; nichts durch das Volk, höchstens königliche Gnadenbewilligungen, aber keine durch sich selbst berechtete Institutionen neben der Monarchie. Was er nicht tat, das war die Beseitigung der zahlreichen Privilegien feudaler und anderer Art auf dem Gebiet der Rechtspflege und der Finanzen; insonderheit die Steuerpriyilegien haben das ganze Finanzwesen der Monarchie zerrüttet, ihm den Stempel der Ungerechtigkeit aufgedrückt und es zu einer H o l t z m a n n , Französische Verfassungsgeschichte.

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i n n e r e n Unmöglichkeit g e m a c h t . So schied sich die B e v ö l k e r u n g in Privilegierte u n d Nichtprivilegierte. Beide h a t t e n zu klagen. Die Privilegierten, sonst v o m K ö n i g t u m sorgsam geschont, beschützt u n d gestärkt, ü b e r das F e s t h a l t e n am u n u m s c h r ä n k t e n Absolutismus u n d i h r e F e r n h a l t u n g von der beschließenden Gewalt, ü b e r die Einschränk u n g der R e c h t e des P a r l a m e n t s u n d das A u f h ö r e n der Generalstände ; d e n n in den S t ä n d e n wie in den P a r l a m e n t e n waren in erster Linie die Privilegierten vertreten. Die Nichtprivilegierten, d. h. die u n t e r e n Klassen der B e v ö l k e r u n g in Stadt u n d L a n d , klagten ü b e r i h r e schlechte Lage, die u n t e r demselben Absolutismus h e r r s c h e n d geworden w a r , ü b e r i h r e g e r i n g e n E i n k ü n f t e u n d h o h e n S t e u e r n ; ganz b e s o n d e r s verhängnisvoll ist f ü r sie die R e g i e r u n g Ludwigs X I V . geworden, der die wirtschaftlichen I n t e r e s s e n der Privilegierten gef ö r d e r t aber f ü r diejenigen der kleinen L e u t e keinerlei V e r s t ä n d n i s gezeigt h a t : in seiner Staatsverwaltung liegen die W u r z e l n der Revolution. So ist es g e k o m m e n , daß u n t e r L u d w i g X V I . zuerst die Privilegierten ü b e r das K ö n i g t u m t r i u m p h i e r t e n , sowohl i m K a m p f der P a r l a m e n t e u n d der Notabein gegen die K r o n e als in der Wiederb e r u f u n g der Generalstände, d a ß aber d a n n aus eben diesen S t ä n d e n in der v e r ä n d e r t e n Zeit ein W e r k z e u g in der H a n d der Nichtprivilegierten wurde, das den Absolutismus u n d alle Privilegien gleicherweise v o m Boden fegte. Die K r o n j u r i s t e n h a b e n die absolute Gewalt des K ö n i g s verschiedentlich auf eine feste F o r m e l gebracht. Seit 1450 findet sich in den königlichen Erlassen zur B e k r ä f t i g u n g die F o r m e l : Car tel est notre plaisir (oder hon plaisir), die freilich, u r s p r ü n g l i c h wenigstens, nicht m e h r besagen wollte als etwa: »Es h a t u n s gefallen, diese Ano r d n u n g zu treffen«. A u s d e m r ö m i s c h e n R e c h t w u r d e der Satz entn o m m e n : Qnod principi placuit, legis habet vigorem u n d auf den französischen K ö n i g b e z o g e n : Si vent le roi, si veut la loi. Alle in F r a n k reich w o h n e n d e n M e n s c h e n sind die U n t e r t a n e n (sujets) des K ö n i g s u n d n i e m a n d e s a n d e r e n U n t e r t a n e n . Alle öffentlichen Gewalten, die es außer d e m K ö n i g n o c h in F r a n k r e i c h g a b ( L e h n s f ü r s t e n , seigneurs justiciers), galten der n e u e n Staatstheorie n u r als Bevollmächtigte, die k r a f t königlicher Bewilligung i h r e Befugnisse a u s ü b e n d u r f t e n . Völlig u n a b h ä n g i g ist der K ö n i g v o m römisch-deutschen K a i s e r ; dieser v o n den Legisten geprägte Satz h a t t e ja schon lange (spätestens seit d e m 11. J a h r h u n d e r t ) tatsächliche Geltung. Völlig u n a b h ä n g i g ist der K ö n i g aber in allen weltlichen A n g e l e g e n h e i t e n a u c h v o m P a p s t ; das ist ein H a u p t s a t z der F r e i h e i t e n der gallikanischen K i r c h e geworden, ü b e r die wir a n i h r e m Ort n o c h h a n d e l n werden. A l l e r h a n d F r a g e n d e r Etikette ergaben sich freilich aus d e m i n t e r n a t i o n a l e n V e r k e h r mit Kaiser u n d Papst. H i e r i m i n t e r n a t i o n a l e n V e r k e h r e r k a n n t e der K ö n i g den P a p s t u n d d e n Kaiser in i h r e r E h r e n s t e l l u n g als H ä u p t e r der Christenheit a n u n d ließ ihren G e s a n d t e n den Vortritt vor den seinigen. Die F r a g e war, wer d a n n k a m , u n d da e r h o b F r a n k r e i c h den A n s p r u c h , der erste u n t e r den K ö n i g e n zu sein, stieß d a m i t

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freilich auf Widerspruch bei Spanien, das die gleiche Stellung verlangte, was zu zahlreichen Streitigkeiten zwischen französischen und spanischen Gesandten um den Vortritt Anlaß gab. Gleich den anderen europäischen Fürsten pflegte auch der König von Frankreich den neu gewählten Papst, den neu gewählten deutschen König sowie andere zum Thron gelangte souveräne Fürsten, mit denen er in diplomatischem Verkehr stand, zumeist durch eine besondere Gesandtschaft zu beglückwünschen. Dabei galt es aber namentlich beim Papst genau aufzupassen, daß bei der sorgsam vorher festgestellten Gratulationsrede nur Worte christlicher Ehrerbietung gebraucht wurden und nicht etwa irgendwelche, eine Unterwürfigkeit einschließende Wendung. Die Tätigkeit des Königs als des obersten Organes auf dem Gebiet der Gesetzgebung und der Staatsverwaltung tritt uns entgegen in den immer zahlreicher, zum Teil auch immer ausgedehnter werdenden O r d o n n a n z e n , die als für die Öffentlichkeit bestimmte königliche Erlasse zu den lettres patentes gehörten (vgl. Kap. 3). In den ersten beiden Jahrhunderten unserer Periode tragen die Ordonnanzen im wesentlichen noch immer (wie einst die Kapitularien) den alten Charakter von Verordnungen über die heterogensten Dinge; in buntem Wechsel berühren ihre einzelnen Punkte alle Gebiete der Staatsverwaltung, bemüht, das Ganze zu reformieren, wo nur immer ein Mißstand zu entdecken war. Ganz besonders tragen diesen Charakter natürlich die großen Ordonnanzen, die nach einer Tagung der Generalstände oder auch nach einer Notabeinversammlung erlassen wurden, um die hier zur Sprache gekommenen Beschwerden abzustellen (soweit der König wollte). Ein anderes Aussehen nehmen die großen Ordonnanzen unter Ludwig XIV. an, durch das Verdienst Colberts, der den König mit dem Ehrgeiz eines großen Gesetzgebers erfüllte und ihn veranlaßte, einzelne Materien der Staatsverwaltung durch einheitliche, nur diese Materie betreffende, aber sie erschöpfende Gesetze zu ordnen. Diese großen, systematisch angelegten Kodifikationen wurden jedesmal durch eine besondere Kommission sorgfältig vorbereitet. Dahin gehören die Ordonnanzen über das Verfahren im Zivil- und Strafprozeß von 1667 und 1670, von denen noch die Rede sein wird, ferner die Ordonnanzen über die Wasser- und Forstverwaltung von 1669, über den Handel zu Land von 1673, über den Handel zur See von 1681, über die Negersklaven in FranzösischAmerika von 1685 (der sogenannte Code noir) u. a. m. Unter Ludwig XV. hat der Kanzler d'Aguesseau gar den Plan gefaßt, alle französischen Gesetze einer Durchsicht zu unterziehen und sie dann in einem großen Gesetzbuch zu vereinigen. Dieser erst in der Gesetzgebung Napoleons verwirklichte Gedanke konnte damals noch nicht in die Tat umgesetzt werden. Aber er zeitigte immerhin eine Anzahl von neuen systematischen Ordonnanzen, namentlich über einige Materien des bürgerlichen Rechts, die zum Teil die Bestimmungen für die Länder des römischen Rechts und die Länder des Gewohnheitsrechts noch getrennt enthielten, zum anderen Teil aber sogar zum 21»

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erstenmal, freilich schüchtern genug, eine einheitliche Regelung für ganz Frankreich vornahmen. 5. Die alten Staatsminister. Das Streben der französischen Könige, die alten feudalen Einrichtungen äußerlich möglichst zu schonen, ihnen aber den besten Teil ihrer tatsächlichen Bedeutung zu nehmen, zeigt sich schon bei einer Betrachtung der Minister. Die alten, aus der fränkischen Zeit stammenden »Großoffiziere« der Krone behielten, soweit sie beibehalten wurden, nach außen eine glanzvolle und an äußeren Ehren reiche Stelle. Sie wurden lebenslänglich, d. h. unabsetzbar, und meist aus den vornehmen alten Adelsgeschlechtern gewählt. Sie verfügten ziemlich selbständig über die ihnen untergebenen Stellen. Und da sich auch bei diesen Amtern zweiten Grades gegen Ende des Mittelalters die Käuflichkeit einschlich, zogen die alten Minister daraus große finanzielle Einkünfte. Eben deshalb war das Königtum aber andererseits darauf bedacht, seine wirklichen und einflußreichen Diener anderswo, bei neuen Ministern, zu suchen. Das Amt des K ä m m e r e r s (chambrier), das seit dem 13. Jahrhundert bedeutungslos geworden war, wurde von Franz I. 1545 ganz abgeschafft. Ein notwendiges Erfordernis für das Königtum ist diese Beseitigung gewiß nicht gewesen. Sie erklärt sich wohl daraus, daß man nicht zwei Großkämmerer haben wollte. Denn jener ehemalige Unterbeamte und nachmalige Erbe des chambrier, der grand-chambellan, war unterdessen denselben Weg gegangen: das Amt ist im 15. Jahrhundert zu einem einfachen Ehren- und Titularamt geworden mit einem Beigeschmack an seine einstige fränkische Hausfunktion. Der grand-chambellan hat die Aufsicht über die königlichen Gewänder und Insignien; bei einer königlichen Sitzung im Parlament hat er den Ehrenplatz zu den Füßen des Monarchen. Auch der M u n d s c h e n k (bouteiller) nahm ein ähnliches Ende. Karl VII. hob das Amt im Jahre 1449 (zugleich mit demjenigen des Hofbäckermeisters) aus Sparsamkeitsrücksichten auf und beließ nur den Titel einer feudalen Familie als schmückenden aber inhaltlosen Besitz. An die Stelle des bouteiller trat zunächst ein grand-échanson, dessen Amt aber sehr rasch ebenfalls titular und ein erblicher Adelsbesitz wurde. Der Mundschenk hatte von jeher am wenigsten eine fest umschriebene Tätigkeit; bei der allmählich genauer werdenden Verteilung der Funktionen an die Minister konnte er einfach unter den Tisch fallen. Die Titel grand-bouteiller und grand-échanson blieben innerhalb der Feudalität bestehen bis zur Revolution. So war ja schon früher das Amt des P f a l z g r a f e n ein feudales Titularamt geworden; aber seit dem Verlust Flanderns war der letzte Pfalzgraf verschwunden. Eine große Rolle spielte dagegen lange Zeit der C o n n é t a b l e als Oberbefehlshaber der königlichen Armee im Felde. Wer die militärische Gewalt in Händen hat, kann selbst dem Staatsoberhaupt leicht gefährlich werden, obwohl unter Karl VII. die Ansätze zu einer Wählbarkeit des Amtes wieder verschwunden sind. Und in der Tat hat sich der Connétable, gleich seinem Vorgänger, dem Seneschall,

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mehr als einmal in bedrohlicher Weise gegen die Krone erhoben. So jener Graf Ludwig von St. Pol, den Ludwig XI. nach der unglücklichen Schlacht bei Montlhéry 1465 zum Connétable erheben mußte, der aber ein eifriger Parteigänger der Feudalpartei blieb und noch 1475 eine neue Liga gegen seinen König bilden wollte, von Karl dem Kühnen jedoch verraten wurde und im Dezember desselben Jahres sein Haupt verlor. So der berühmte Connétable Karl von Bourbon, der sich von Franz I. geschädigt glaubte und 1523 zu Kaiser Karl V. übertrat, sich von diesem sogar die Erhebung auf den französischen Thron versprechen ließ, daheim natürlich Stellung und Lehen verlor und vier Jahre darauf im fremden Dienst beim Sturm auf Rom fiel. Solche Ereignisse machen es begreiflich, daß das Königtum dieses Amt mit ernsten Bedenken betrachtete. Vakanzen desselben kamen seit dem 15. Jahrhundert vor, und im Januar 1627 wurde es von Ludwig XIII., unter dem Einfluß Richelieus und im Einverständnis mit der letzten Notabeinversammlung, völlig abgeschafft. Das kam natürlich wieder den Unterbeamten zugute, den Mars c h ä l l e n , die seitdem als die höchste Generalität in Frankreich direkt unter dem König standen. Bis zum Ende des Ancien régime hat nur einer der alten Minister wirkliche Bedeutung behalten: der K a n z l e r , der seit dem 16. Jahrhundert wieder vom König nach freiem Ermessen, ohne vorherige Wahl, ernannt wurde. In erster Linie ist der Kanzler Chef der königlichen Kanzlei mit ihren zahlreichen Notaren. Diese Tätigkeit findet ihren äußeren Ausdruck in der Bewachung des Staatssiegels, die dem Kanzler obliegt. Wir werden zwar sehen, daß der König auch seine Privatnotare (Sekretäre) hatte. 'Aber alle Urkunden, die zu ihrer Verbindlichkeit des Staatssiegels bedurften, gingen durch die Hände des Kanzlers : ein gewisser Einfluß desselben auf den Inhalt, eine Beteiligung bei der Abfassung der wichtigsten Erlasse, der Gesetzgebung und Reichsverwaltung ergab sich daraus von selbst. Auch hat es nicht an Versuchen der Kanzler gefehlt, die Siegelung eines Stückes, das nach ihrer Ansicht bedenklich oder inopportun war, zu verweigern. Heinrich III. hat in einem solchen Falle einmal sich das Siegel bringen lassen und die sofortige Besiegelung der Urkunde in seiner Gegenwart anbefohlen. Da mußte dann freilich der Widerspruch verstummen. Andere Mittel noch erwiesen sich gleich auf längere Zeit wirksam. Zwar absetzen konnte man den Kanzler nicht. Aber man konnte ihm das Siegel entziehen und es einem absetzbaren Beamten geringeren Grades übertragen, dem G r o ß s i e g e l b e w a h r e r . Schon einmal hatte ja, während eines ganzen Jahrhunderts, der Großsiegelverwahrer den Kanzler verdrängt. Jetzt kommt es, wenn auch immer nur vorübergehend, vor, daß ein Kanzler zwar Kanzler bleibt, aber seine wichtigste Funktion an einen (eigens zu diesem Zweck ernannten) Siegelbewahrer abtreten mußte. Heinrich II. hat durch Ordonnanz vom April 1551 dies Amt zur Stellvertretung des Kanzlers ausdrücklich vorgesehen. Hinsichtlich des Einflusses auf die Gesetz-

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III- Periode.

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gebung hat während der ersten Hälfte der selbständigen Regierung Ludwigs XIV. Colbert, der Generalkontrolleur der Finanzen (1660—83), den Kanzler überflügelt; nach Colberts Tod gelang es diesem, seine alte Stellung zurückzugewinnen. — Der Kanzler war zweitens das Haupt der gesamten Justizverwaltung. Doch darf diese Seite seiner Tätigkeit nicht überschätzt werden. Sie beschränkte sich im wesentlichen darauf, daß seiner Stimme im königlichen Rat in Gerichtssachen besonderes Gewicht beigelegt wurde, und daß er in den Parlamenten sowie im conseil privé (S. 333) den Vorsitz führen konnte. Er galt überhaupt als Vertreter des Königs, auch vor den Generalständen und den Notabeinversammlungen. Da der Kanzler der einzige von den alten Ministern blieb, der bis zur Revolution eine große Bedeutung behielt, ist es begreiflich, daß er zuletzt als der vornehmste und erste Beamte des Reiches galt. Neben diesen aus dem Frankenreich überkommenen Staatsämtern gab es noch eine große Reihe von H o f b e a m t e n , die keine staatliche Bedeutung hatten, aber meistens ebenfalls auf die alte Zeit zurückgingen. Die Hofbeamten bildeten das hospitium régis (hôtel du roi) und waren für persönliche Dienste der verschiedensten Art bestellt. Palast und Zimmer, Kleidung und Heizung, Küche und Keller, Stallung und Waffen, Jagd und Reisen, Wohltätigkeit und Gesundheit des Königs und noch manche andere Zweige der täglichen Lebensbedürfnisse machten ein zahlreiches Hofpersonal nötig. An dessen Spitze stand der grand maître d'hôtel du roi oder grand maître de France. Auch die Königin und die königlichen Prinzen, wenn sie herangewachsen waren, erhielten einen ähnlichen, meist recht kostspieligen Hofhalt eingerichtet? 6. Die neuen Staatsminister. Neue Staatsminister, die sogenannten S t a a t s s e k r e t ä r e , sind aus den Notaren, die mit dem speziellen Dienst beim König betraut waren, hervorgegangen; sie sind die eigentlichen Väter der heutigen Minister geworden. Aus der Zahl der dem Kanzler unterstellten Kanzleibeamten hat sich der König frühzeitig für seine privaten Bedürfnisse einige ausgewählt, die damit unter seinen direkten Befehl traten. Die Spuren solcher Beamten a secretis lassen sich bis ins 11. Jahrhundert zurückverfolgen. Mit der Zeit nahm die Scheidung feste Formen an. Im Jahre 1316 hatte Philipp V. im ganzen 30 Notare, von denen 3 als clercs du secret oder secrétaires du roi den speziellen Dienst beim König versahen. Die Zahl der Notare in der Kanzlei sowohl als der Sekretäre des Königs nahm rasch zu (im Jahre 1724 wurde die Zahl der königlichen Sekretäre auf 240 reduziert: es hatte unmittelbar vorher noch erheblich mehr gegeben). Unter die Sekretäre des Königs aufgenommen zu werden, bedeutete selbstverständlich eine Auszeichnung; im Jahre 1342 wurde sie von der Ablegung eines Examens abhängig gemacht. Der nahe Verkehr mit dem König erklärt es, daß einige der Sekretäre, obgleich ihre Stellung eigentlich eine untergeordnete war, durch ihre persönlichen Eigenschaften zu tatsächlichem Einfluß gelangen

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konnten, und besondere Bedeutung gewannen in dieser Hinsicht die Finanzsekretäre, d. h. diejenigen Sekretäre, welche (seit der Regierung Karls V.) speziell mit der Ausfertigung der finanziellen Schriftstücke betraut waren. Einer der Finanzsekretäre hat um die Wende des Mittelalters das Amt auf eine ganz besonders hohe Stufe gehoben: Florimond Robertet, der durch seine großen Fähigkeiten und seinen langen Dienst unter Karl VIII., Ludwig XII. und Franz I. großen Einfluß auf dem gesamten Gebiet der Staatsverwaltung erlangt hat, und der geradezu eine Schule bildete, in welcher Finanzsekretäre (darunter mehrere Mitglieder seiner Familie) herangezogen wurden. Seine Schüler konnten ihren Einfluß im Staat bereits als Tradition ansehen. Die Zahl der Finanzsekretäre wurde 1547 auf vier festgesetzt. Es hatte vorher mehr gegeben, und auch die Reduktion konnte die Bedeutung des Amtes nur erhöhen. An allen Zweigen der Staatsverwaltung beteiligten sich die vier Finanzsekretäre, mit Ausnahme seltsamerweise des Gebietes der Finanzen, welches doch ihre eigentliche Domäne gewesen wäre, für das aber eben damals eine neue Organisation geschaffen wurde (S. 328), und mit Ausnahme des Gebietes der Justiz, das im Kanzler und den obersten Gerichtshöfen seine Leitung fand. Ein neuer Titel, welcher dem so außerordentlich gewachsenen Einfluß der Finanzsekretäre entsprach, sollte nun auch nicht mehr fehlen. Schon 1547 werden sie als secrétaires des commandements et finances du roi bezeichnet, zehn Jahre später nennen sie sich secrétaires d'état et des finances du roi, und davon blieb dann unter Weglassung des zweiten Teiles der Titel Staatssekretär. Die Krone hat die wachsende Bedeutung der Staatssekretäre auf Kosten der, alten Großoffiziere gern gesehen und gefördert; in den Staatssekretären, die zumeist aus dem Bürgertum oder dem niederen Adel (namentlich der noblesse de rohe) genommen wurden und den Charakter privater Diener nie so ganz verloren haben, insonderheit immer absetzbar blieben, hat sie ein brauchbares Werkzeug der absoluten Monarchie gefunden. Ganz allmählich begann man auch, die Geschäfte der vier Staatssekretäre nach Ressorts zu teilen. Die Bereitschaft der Armee und die diplomatischen Verhandlungen mit dem Ausland erforderten zuerst eine einheitliche Leitung. Nach einigen vorbereitenden Schritten wurden 1589 (noch durch Heinrich III.) die Ministerien des Kriegs und der auswärtigen Angelegenheiten begründet. Zwei Staatssekretäre hatten sonach einen bestimmt umschriebenen Geschäftskreis. In die übrigen ihnen vorbehaltenen Geschäfte der Staatsverwaltung, insonderheit also in das Innere, den Kultus, die Marine, den Handel und die öffentlichen Arbeiten, teilten sich zunächst die beiden anderen Staatssekretäre. Eine weitere Ressortverteilung bahnte sich unter Richelieu an, indem der dritte Staatssekretär den Kultus, der vierte die Marine zu übernehmen pflegte, während die übrigen Zweige gemeinschaftlich, außerdem aber und ganz besonders auch durch den Generalkontrolleur der Finanzen versehen wurden. Eine ganz feste

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und letzte Abgrenzung hat hier bis zur Revolution nicht stattgefunden, obgleich man gewöhnlich von den vier Staatssekretären der Marine, des Kriegs, des »königlichen Hauses« (maison du roi) und der auswärtigen Angelegenheiten sprach. Eine Sonderstellung nahm, wie die Justiz, so auch die F i n a n z v e r w a l t u n g ein. Wir erinnern uns des Apparates, wie er sich am Ende der vorigen Periode herausgebildet hatte: vier trésoriers für die ordentlichen, vier Finanzgeneräle mit zwei receveurs généraux des aides für die außerordentlichen Finanzen; dazu in den Provinzen die receveurs du domaine auf der einen, die élus und grenetiers mit ihren receveurs des aides auf der anderen Seite. Die trésoriers und die Finanzgeneräle (mit den receveurs généraux des aides) bildeten die Zentralverwaltung. Nun begann aber unsere Periode damit, daß die Beajnten der Zentralverwaltung sich geographisch in das Land teilten, daß sie mithin höhere Beamte der P r o v i n z i a l v e r w a l t u n g wurden. Und außerdem setzte eine Vermehrung dieser höheren Beamten ein. Das bedingte dann die Einsetzung von neuen Zentralverwaltungsbeamten. Zunächst wurde die Zahl der receveurs généraux des aides gleichfalls auf vier erhöht und das ganze Reich in vier große Finanzdistrikte zerlegt, an deren Spitze je ein trésorier und ein Finangeneral mit einem receveur général des aides stand. Sie hießen charges (als Bezirke für die ordentlichen Abgaben) oder G e n e r a l i t ä t e n (als Bezirke für die außerordentlichen Steuern) und umfaßten: 1. das Land rechts der Seine und Yonne (L'Outre Seine-et-Yonne) mit der Hauptstadt Paris; 2. die Normandie mit der Hauptstadt Rouen; 3. die Languedoïl mit der Hauptstadt Tours; 4. die Languedoc mit der Hauptstadt Montpellier. Jeder dieser vier Distrikte zerfiel wieder in Bailliages für die ordentlichen, in élections für die außerordentlichen Abgaben. Das ist die Entwicklung, wie sie um die Mitte des 15. Jahrhunderts bereits abgeschlossen war. Franz I. machte das System noch komplizierter, indem er zwischen die Generalitäten (charges) und élections bzw. Bailliages noch eine weitere Einteilung einschob, die Generalrezepturen. Er ließ die vier Finanzgeneräle und die vier trésoriers bestehen, schuf aber im Jahre 1542 unter Beseitigung der vier receveurs généraux des aides sechzehn allgemeine receveurs généraux, Beamte also, die sowohl die außerordentlichen als auch die ordentlichen Abgaben einzukassieren hatten. Jeder Finanzgeneral und jeder trésorier hatte eine Anzahl receveurs généraux unter sich, die sich ihrerseits wieder in die betreffende Generalität oder charge teilten; in jeder der 16 Generalrezepturen nahm der receveur général die Einnahmen der receveurs des aides und der receveurs du domaine entgegen. Das war ein erster Schritt auf dem Wege zur Vereinigung der Verwaltungen der ordentlichen und der außerordentlichen Einnahmen. Erheblich weiter ging darin Heinrich II., wodurch das ganze System wesentlich vereinfacht wurde. Er vereinigte das Amt des trésorier mit dem des Finanzgenerals und vermehrte ihre Zahl bis zu derjenigen der Generalrezepturen, die er auf 17 erhöhte (1551). Die

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synonym gewordenen Namen Finanzgeneral und trésorier schwanken noch eine Zeitlang, bis der erstere den letzteren verdrängt; gleichzeitig verschwindet die Bezeichnung charge. Seit dem Jahre 1551 gibt es also 17 Generalitäten. An der Spitze der Generalität steht ein Finanzgeneral mit einem receveur général, beide sowohl für die ordentlichen wie für die außerordentlichen Einnahmen. Erst weiter nach unten blieb die Verwaltung geteilt nach Bailliages und élections. In der Folge haben sich die Generalitäten ständig weiter vermehrt bis 1768, wo sie durch die Erwerbung Corsicas die Zahl von 35 erreichten (vgl. die Namen im Kap. 5). Vermindert wurden sie 1781 durch die Aufhebung der Generalität Trévoux, 1787 durch diejenige der Generalität Pau-Bayonne. Beim Ausbruch der Revolution gab es mithin 33 Generalitäten, deren Größe übrigens recht verschieden war. — Unter dem Finanzgeneral standen noch eine Reihe von Unterbeamten, die nunmehr den Namen trésoriers généraux annahmen, und deren Zahl Heinrich III. von 5 auf 11 erhöhte. Derselbe König hat sie zu einem bureau des finances vereinigt, das den Finanzgeneral bei der Verwaltung und bei der Repartition der Taille unterstützte und Streitigkeiten in erster Instanz entschied. Den Vorsitz in einem solchen Finanzbureau führten anfangs abwechselnd die vier ältesten unter den Mitgliedern. Richelieu vermehrte indes im Mai 1635 deren Zahl um vier conseillers intendants, généraux et présidiens aux bureaux (les finances, die von nun an das Präsidium alternierend übernahmen. Die Bildung einer neuen Z e n t r a l b e h ö r d e f ü r d i e F i n a n z e n , welche durch die Lokalisierung der Generalitäten notwendig geworden war, geht auf Franz I. zurück. Er ernannte 1523 zwei F i n a n z i n t e n d a n t e n und einen receveur (oder trésorier) de l'épargne für die Zentralverwaltung der Finanzen. Doch auch dieses Personal vermehrte sich. Die Zahl der Finanzintendanten wuchs, und dem receveur de l'épargne wurden 1547 durch Heinrich II. zwei G e n e r a l k o n t r o l l e u r e an die Seite gestellt. Das machte eine nochmalige Zuspitzung des ganzen Apparates nötig. In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts kommt es vor, und in der ersten des 17. ist es die Regel, daß einer von den Finanzintendanten als O b e r f i n a n z i n t e n d a n t (superintendant, surintendant des finances) der Vorgesetzte der übrigen wurde (zuerst nachweisbar 1564); ihm wurden dann auch die Finanzgeneräle unterstellt. Das ist das Amt, welches Sully in den Jahren 1598—1611 mit so außerordentlichem Erfolg ausgefüllt hat. Von den beiden Generalkontrolleuren ist der eine frühzeitig verschwunden, während das Ansehen des anderen zunahm: er übernahm auch die Kontrolle der Finanzintendanten einschließlich des Oberfinanzintendanten und war im übrigen weder der Chef noch der Untergebene eines dieser Beamten. Eine letzte Änderung des Systems brachte dann der Sturz des Oberfinanzintendanten Fouquet im Jahre 1661. Ludwig XIV. entschloß sich nämlich nunmehr dieses Amt, das ihm zu mächtig schien, abzuschaffen. Er dachte anfangs daran, die Oberleitung der Finanzverwaltung mit Hilfe seines conseil des finances

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(S. 332) selbst in der Hand zu behalten. Tatsächlich aber übernahm sehr bald der fähigste Kopf des conseil des finances, nämlich der Generalkontrolleur Colbert, diese Rolle, und durch Colbert ist der Generalkontrolleur der Finanzen der Chef der gesamten Finanzverwaltung geworden; die Finanzintendanten sowohl als die Finanzgeneräle sind seine direkten Untergebenen. Und auf viele andere Zweige der Regierung, die mit den Finanzen zusammenhingen, hat der Generalkontrolleur gleichfalls Einfluß gewonnen, insonderheit auf die Geschäfte des Inneren, des Handels und der öffentlichen Arbeiten (vgl. S. 327). Das Personal der Finanzverwaltung wurde aus denselben Kreisen genommen wie die Staatssekretäre, und es versteht sich, daß die sämtlichen Finanzbeamten der Zentral- und Provinzialverwaltung absetzbar blieben. Sechs Minister hatte also das alte Frankreich im letzten Jahrhundert seines Bestehens: den Kanzler, den Generalkontrolleur der Finanzen und die vier Staatssekretäre. Diese sechs waren im Prinzip durchaus gleichberechtigt, ein jeder der Chef in seinem Ressort; das gemeinsame Oberhaupt war der König. Es gab aber Zeiten, wo die königliche Zentrale versagte, und wo infolgedessen auf andere Weise für die notwendige oberste Leitung und Einheit gesorgt werden mußte. Das geschah dann durch die Ernennung eines Prinzipal- oder P r e m i e r m i n i s t e r s , der also zu den sechs anderen Ministern noch hinzutrat. Er übernahm die führende Rolle, die Beaufsichtigung der gesamten Staatsmaschine sowie außerdem von den Materien, für die es noch keinen bestimmten Ressortminister gab, das, was er wollte. Die bekanntesten Premierminister sind Richelieu und Mazarin unter der schwachen Regierung Ludwigs XIII. und während' der Minderjährigkeit und der ersten volljährigen Regierungszeit Ludwigs XIV., ferner Maurepas in den ersten Jahren Ludwigs XVI. (1774—81). Der Wille des Premierministers ist, wenigstens in der Theorie, der Wille des Königs; es ist freilich bekannt, daß es in der Praxis oft umgekehrt war, daß namentlich Richelieu seinen Willen der Krone erst aufdrängen mußte. Von seiten der anderen Minister ist jedoch ein Widerstand gegen den Willen des Premierministers rechtlich und auf die Dauer nicht möglich. Es ist damit nicht gesagt, daß vom Premierminister auch tatsächlich immer die leitenden Gedanken der Politik ausgehen mußten: man denke an Maurepas und Turgot. Aber selbst Necker hat es erfahren müssen, daß eine Opposition gegen den Premierminister zum eigenen Sturz führte (1781). Da der hohe Adel, so sehr er am Hof in ungefährlicher Stellung geschätzt und mit Ehren überhäuft wurde, von den Ministerien,- insonderheit von den Amtern der Staatssekretäre und des Generalkontrolleurs, im allgemeinen fern gehalten wurde, ist es begreiflich, daß er nur auf die Gelegenheit wartete, einen Vorstoß gegen die neue Staatsverwaltung zu machen. Sie schien sich ihm beim Tod Ludwigs XIV. zu bieten: die Regentschaft Philipps von Orleans beginnt mit dem Versuch einer großen Reaktion, die namentlich unter dem

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Der König, seine Minister und sein Rat.

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Einfluß des Herzogs von Saint-Simon stand. Im Jahre 1715 wurden sechs R a t s k o l l e g i e n (conseils) geschaffen, für das Innere, das Auswärtige, den Krieg, die Marine, die Finanzen und die kirchlichen Angelegenheiten ; ein siebentes, für Handel und Fabriken, kam noch im selben Jahr dazu. Diese conseils sollten die Tätigkeit der Minister (mit Ausnahme des Kanzlers) übernehmen; die Staatssekretäre und der Generalkontrolleur wurden aller selbständigen Befugnisse entkleidet und zu einfachen Sekretären der neuen conseils herabgedrückt. Die conseils bestanden fast ausschließlich aus Vertretern des hohen Adels und aus Parlamentsräten ; nur in das Handelskollegium wurden auch Kaufleute zugelassen: auf diesem Gebiet hat der Adel offenbar selbst seine Unzulänglichkeit eingesehen. Der Versuch ist aber auch so kläglich gescheitert. Der hohe Adel, der politischen Tätigkeit entwöhnt, erwies sich überall als unfähig zur Bewältigung der ihm zugedachten Arbeit, die conseils erschöpften sich in kleinlichen Rangstreitigkeiten, und bereits im Jahre 1718 wurden die neuen Ratskollegien eines nach dem andern aufgehoben, der frühere Zustand wiederhergestellt.

7. Der Staatsrat und seine neuen Sektionen. Der Staatsrat (conseil, conseil d'état), wie wir ihn "in der vorigen Periode kennen gelernt haben, stellte neben dem König oder dem Premierminister die Einheit in der Staatsverwaltung her. Er ist eine oberste Verwaltungsbehörde für das ganze Königreich geworden. Seine jeweilige Zusammensetzung ist bis zum Ende des Ancien regime recht schwankend geblieben. Es lassen sich auch jetzt noch unterscheiden die Räte des Königs und die hohen Herrn, denen die Teilnahme am Rat rechtlich zustand. Die letzteren, zu denen die Pairs, Lehns- und Apanagenfürsten, ja überhaupt alle Prinzen von Geblüt gehörten, aber auch sonst viele Mitglieder des hohen Adels, die an dem Recht der königlichen Vasallen festhielten, insonderheit auch die einer staatlichen Tätigkeit entkleideten Großoffiziere, konnten nach Belieben erscheinen und stellten sonach ein wechselndes Kontingent dar. Aber auch die Räte waren durchaus kein einheitlicher und festumschriebener Körper. Da waren zunächst die Minister (einschließlich des Oberfinanzintendanten), die gleichfalls rechtlich an jeder Sitzung des Staatsrats teilnehmen durften, die aber im allgemeinen (d. h. wenn man auf ihr Erscheinen Wert legte) besonders befohlen wurden. Dann gab es die eigentlichen Räte, in großer Zahl, die auf Geheiß erschienen und keineswegs immer alle für alle Angelegenheiten berufen zu werden brauchten. Sie waren bezahlte, jederzeit absetzbare Beamte. Zu ihnen zählten in unserer Periode auch die maîtres des requêtes (de l'hôtel), die wie die Staatssekretäre aus den Sekretären des Königs hervorgegangen waren und im 15. Jahrhundert gleichfalls einen großen Einfluß bei der Krone hatten, dann aber allmählich gegenüber den neuen Ministern in den Hintergrund traten. Und schließlich gab es auch Titularräte (conseillers à brevet), angesehene Personen, die den Titel eines königlichen Rats, aber ohne Besoldung erhalten hatten.

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Sie unterschieden sich von unseren heutigen Titularräten anfangs sehr wesentlich dadurch, daß sie in der Tat an den Sitzungen des Staatsrates teilnehmen durften, wenn sie von dieser Fähigkeit auch nur verhältnismäßig selten Gebrauch gemacht haben. Die Geistlichkeit und der Adel wurden vielfach, wie mit anderen Titeln, so auch mit diesem bedacht, und die conseillers ä brevet bilden in ihren Mitgliedern und Rechten einen Übergang zwischen den eigentlichen Räten und der hohen Aristokratie, dessen Grenzen sich nach beiden Seiten hin (und namentlich nach der letzteren) manchmal verwischt haben. Erst 1673 wurde der Titel eines conseüler ä brevet ganz inhaltlos, indem seinen Inhabern die Fähigkeit, am Staatsrat teilzunehmen, entzogen wurde. Die Zusammensetzung des Rates hat dadurch an Festigkeit gewonnen. Die Geschäfte des Staatsrates, welche die gesamte innere und auswärtige Verwaltung und Leitung des Staates betrafen, waren außerordentlich ausgedehnt und von sehr verschiedener Art. Es ist daher begreiflich, daß abermals aus ihm verschiedene Sektionen für bestimmte Materien ausgeschieden wurden, indem nämlich einzelne Räte dauernd für die Behandlung bestimmter Verwaltungszweige berufen wurden. Diese Sektionen konnten daher 'auch viel früher eine feste Form annehmen als der eigentliche Staatsrat mit seinem schillernden Mitgliederbestand. Die Loslösung eines neuen Hofgerichtes haben wir schon kennen lernen. Es nahm unter Ludwig XI. den Namen grand conseil de justice an, auch kurz grand conseil, ein Name, der früher den ganzen Staatsrat bezeichnete, nun aber bald ausschließlich für diese richterliche Sektion verwandt wurde. Ebenso aber zweigte sich im 16. Jahrhundert dann auch eine neue Sektion für die Finanzen ab, das conseil des finances. Das ist sehr interessant zu sehen, wie die Entwicklung, welche im 13. Jahrhundert zu der Loslösung von Parlament und Rechnungskammer aus der curia geführt hatte, sich genau noch ein zweites Mal wiederholte; Parlament und Rechnungskammer waren zu selbständig geworden, und das Königtum mußte darauf bedacht sein, aufs neue Einfluß in ihren Verwaltungszweigen zu erlangen: das gelang ihm und führte zu der Bildung neuer Ratskörper. Im Jahre 1563 wurde das conseil des finances gesetzlich eingerichtet; nach dem Sturz Fouquets im Jahre 1661 erhielt es eine neue und feste Organisation. Ja auf dem Gebiet der Justiz wiederholte sich derselbe Vorgang sogar noch ein drittes Mal. Karl VIII. hat nämlich in einem Augenblick, da er die staatliche Ordnung über die königliche Willkür stellte, dem grand conseil, das bis dahin mit dem Hof ambulatorisch herumgewandelt war und eine wechselnde Zusammensetzung gehabt hatte, eine feste Organisation gegeben und es in eine seßhafte Behörde gleich dem Parlament verwandelt (2. August 1497); es sollte bestehen aus 17 ordentlichen Räten, Geistlichen und Laien, die ausdrücklich und ausschließlich hierzu bestellt wurden. Ludwig XII. hat diese Ordnung nochmals bestätigt (13. Juli 1498), die Zahl der Räte auf 20 erhöht und dem Gerichtshof auch einen eigenen

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Der König, seine Minister und sein Rat.

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Generalprokurator sowie zwei Sekretäre (von denen einer als greffier die Verhandlungen protokollieren sollte) gegeben. Eine solche Abschließung des grand conseil war indes der Ausdehnung der königlichen Gewalt nicht zuträglich. Anstatt eines Gerichtshofes, der aus abhängigen Dienern der Krone bestand, und bei dessen Zusammensetzung der König mit einiger Freiheit verfahren konnte, hatte man nun eine feste, bis zu einem gewissen Grad unabhängige Behörde, eine Art zweiten Parlaments, deren Mitglieder ihre Stellen allmählich, den Parlamenten entsprechend, in käuflichen und schließlich erblichen Besitz brachten und tatsächlich unabsetzbar wurden. Daraus erklärt es sich ohne weiteres, daß die folgenden Könige wichtige gerichtliche Fälle nun doch wieder ihren Räten im Hauptstaatsrat zuwiesen, nicht dem grand conseil, das vielmehr im allgemeinen mit gleichgültigeren Dingen beschäftigt wurde. Der König blieb eben doch der oberste Richter in Frankreich, und seine willkürlichen Übergriffe in die Organe der Justiz nahmen auch mit der Verwandlung des grand conseil in ein solches ordentliches Organ kein Ende. Daher konnte sich dann gegen Ausgang des 16. Jahrhunderts eine neue richterliche Sektion des Staatsrates bilden, auf welche die Bezeichnung

conseil

privé

(auch conseil

des parties)

überging,

und

die

als

Werkzeug der Krone nunmehr die eigentliche höchste Hofgerichtsbarkeit bildete. Freilich bestanden das grand conseil und das conseil privé nebeneinander bis zur Revolution. Aber das erstere genoß bei der Regierung selbst wenig Achtung mehr (weshalb es, früher in Kompetenzstreitigkeiten mit dem Parlament von der Krone kaum unterstützt, nach dem absolutistischen Staatsstreich Mäupeous 1771 das Los der Parlamente teilte und aufgehoben wurde, allerdings nur, um nach der Thronbesteigung Ludwigs XVI. 1774 wieder zu erstehen). Von wachsender Bedeutung wurde dagegen das conseil privé, wo der Kanzler im allgemeinen den Vorsitz führte, und dem eine Reihe der hervorragendsten Staatsräte sowie alle maîtres des requêtes (de l'hôtel) angehörten. Der nach Ausscheidung der richterlichen und finanziellen Sektionen übrig bleibende Teil des Rates teilte sich dann zu Beginn des 17. Jahrhunderts weiter in zwei große Gruppen, eine für die innere Politik, das conseil des dépêchés (in welchem die »Depeschen«, d. h. Berichte über die inneren Staatsangelegenheiten verlesen wurden), u n d e i n e für die auswärtige Politik, das conseil

d'état,

conseil d'en

haut

oder conseil des affaires étrangères. Jenes war das eigentliche Organ der Staatsverwaltung, dieses dasjenige der hohen Politik, d. h. das Organ für die Verhandlungen mit dem Ausland und für die Beschlüsse über Krieg und Frieden. Doch ist diese Scheidung keine strenge. Viele Räte und insonderheit die Minister nehmen bald an der einen bald an der anderen oder überhaupt dauernd an beiden Körperschaften teil. Auch versteht es sich, daß man zu ganz geheimen Fragen (namentlich der auswärtigen Politik) nur wenige, besonders erprobte und fähige Räte zuzog; eine solche beschränkte Ratsversammlung wird

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ID. Periode. Die Zeit des absoluten Königtums (1437—1789).

dann meist als conseil secret oder conseil étroit bezeichnet. Übrigens tauchen gelegentlich noch andere Sektionen auf, so ein conseil de la chancellerie (abgezweigt aus dem conseil privé für die Angelegenheiten der Druckereien und des Buchhandels), ein conseil du commerce (begründet 1700, von Brienne 1787 mit dem conseil des finances verbunden), ein conseil des prises (ursprünglich nur in Kriegszeiten, seit 1763 dauernd, dem conseil des finances angegliedert) u. a. m. Auch die Räte des Königs wurden zumeist aus der niederen Geistlichkeit, dem niederen Adel und dem Bürgertum genommen. Auf solche Kräfte sollte der absolute Staat gestellt werden, und im ganzen hat die Krone bei ihren Ministern und Räten in der Tat immer eine zuverlässige und dienstwillige Hilfe gefunden. Freilich verlangte das absolute Königtum eines Ludwig XIV. von diesen Dienern eine vollkommene Unterwerfung unter den königlichen Willen; aber es gewährte ihnen dann auch einen festen und dauerhaften Rückhalt gegen alle Opposition. Sybel sagt von Ludwig XIV. und seinem Verhältnis zu Colbert: »Es ist wahr, er behandelte den großen Minister oft rauh, wie einen Leibeigenen; immer aber unterstützte er ihn fast ein Menschenalter hindurch bei jedem schöpferischen Vorschlage, mit deren Reihe Colbert das moderne Frankreich gründete.« So mußte es in gleicher Weise verhängnisvoll werden, als das heruntergekommene Königtum eines Ludwig XV. weniger auf die Tüchtigkeit als auf die Geschmeidigkeit seiner Minister sah, und als das wohlmeinende aber schwache Königtum Ludwigs XVI. sich zwar wieder tüchtige Beamte erwählte, ihnen aber nicht mehr den nötigen Schutz gegen widerstreitende Kräfte verlieh. Es ist bekannt, wie die Entlassungen von Turgot 1776 und von Necker 1781 die Revolution beschleunigt haben. Der Sturz Calonnes im Jahre 1787 war, wie wir heute sagen können, noch weit verhängnisvoller als die Abdankung Neckers. Die zweite Entlassung Neckers aber gab 1789 geradezu das Signal zum Aufstand.

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Die Parlamente. Literatur.

A k t e n : N. Boerius, Decisiones in senatu Burdigalensium discussae ac promulgatae, 2 Bde. 1547 u. o. — Guido Papae, Decisiones Grationopolitanae, 1550 u. o. ; vgl. N. Chorier, La jurisprudence du celebre conseiller et jurisconsulte Guy Pape dans ses décisions, 1692. — J. Papon, Recueil d'arresta notables des cours souveraines de France, 1556, verm. A. 1648. — J. Lucius, Piacita summae apud Gallos curiae, -1559. — G. Le Maistre, Décisions notables, 1566 u. o. ; vgl. J. Hachez, Étude sur les décis. not. de G. Le Maistre, président du pari, de Paris au XVJ> sel., 1905. — A. Eobertus, Rerum iudicatarum curiae Parisiensis libri IV, 1599 u. o. — G. Louet u. J. Brodeau, Recueil de plusieurs notables arrests du pari, de Paris, n. A. 2 Bde. 1693. — B. de La

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Die Parlamente.

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1. Die provinzialen Parlamente. Neben dem Pariser Parlament haben wir bereits in der vorigen Periode in der Normandie, vorübergehend auch in der Languedoc und der Champagne oberste Gerichtshöfe gefunden. Die wachsende Geschäftslast, welche das Pariser Parlament nicht mehr allein zu bewältigen wußte, nötigte seit dem 15. Jahrhundert zur Errichtung neuer Parlamente in verschiedenen Provinzen. Sie ging freilich anfangs nicht ohne Widerstand des Pariser Parlaments vor sich, das in seiner Eigenschaft eines obersten Gerichtshofs des ganzen Königreichs geschmälert wurde; denn diese provinzialen Parlamente standen dem Pariser Parlament durchaus gleich, übernahmen dessen Geschäfte, soweit sie sich auf die betreffenden Provinzen bezogen. Auch die provinzialen Parlamente richteten in oberster Instanz, und es gab nicht etwa eine Appellation oder dergleichen von ihnen an das Pariser Parlament. Zum Teil wurden sie übrigens nicht neu geschaffen, sondern in Ländern, die an die Krone fielen, einfach übernommen : sie bilden dann nur die

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Fortsetzung der höchsten Gerichtshöfe, die in diesen Ländern bereits bestanden haben. Später sah man alle Parlamente allerdings als Abzweigungen vom Pariser Parlament an, was bereits im 16. Jahrhundert zu der (mit besonderem Eifer dann im 18. Jahrhundert verfochtenen) Theorie Anlaß gab, daß sie alle eine ideelle Einheit bildeten, ein unteilbares Organ, das nur verschiedene Sektionen oder »Klassen« besitze; ein Angriff gegen die Rechte e i n e s Parlaments fand daher später alle Parlamente auf dem Plan. Wir betrachten im folgenden die Errichtung beziehungsweise Übernahme der provinzialen Parlamente in chronologischer Reihenfolge, indem wir auch die Umwandlung des échiquier der Normandie in ein Parlament an ihrem Ort einfügen. 1. D i e L a n g u e d o c . Die Entwicklung begann mit der Errichtung eines neuen Parlaments für die Languedoc 1420 während der Not des englischen Krieges durch den Dauphin Karl (VII.), der damals, als er den Norden des Königreichs verlor, überhaupt an der Ordnung und Festigung des Südens arbeitete. Der Sitz des Parlaments war zunächst Toulouse; doch wurde es bereits 1425 nach Beziers verlegt und drei Jahre darauf noch einmal mit Karls Hauptparlament vereinigt, das während der englischen Herrschaft in Paris zu Poitiers tagte (das Parlament zu Paris stand auf der englischen Seite). Erst im Jahr 1443 wurde das Parlament der Languedoc aufs neue eingerichtet, und zwar nunmehr für die Dauer in Toulouse. 2. D e r D a u p h i n é . Die langsame und allmähliche Loslösung des Dauphiné vom Imperium brachte es mit sich, daß hier der von Humbert II. 1338 in St. Marcellin begründete und 1340 nach Grenoble verlegte oberste Gerichtshof noch über ein Jahrhundert in der alten Form fortbestand. Erst der Dauphin Ludwig (der nachmalige König Ludwig XI.) verwandelte ihn 1453 in ein Parlament, und Karl VII. hat das im Jahre 1455 bestätigt. Der Sitz blieb Grenoble. Eine Sammlung wichtiger Urteile dieses Parlaments aus dem 15. Jahrhundert veranstaltete Guy Pape, der seit 1440 ihm als Rat und später als Präsident angehörte und um 1476 gestorben ist. 3. D i e G u y e n n e . In Bordeaux hatten bereits die Engländer einen oberen Gerichtshof für die Guyenne (mit der Gascogne) errichtet und Karl VII. ließ ihn nach der ersten Eroberung der Stadt 1451 in der gleichen Form bestehen. Da Bordeaux indes schon im Jahre 1452 den Engländern wieder die Tore öffnete und 1453 (nach der Schlacht bei Castillon) noch einmal erobert werden mußte, verlor es nun zunächst diese Vergünstigung. Ludwig XI. jedoch verzieh der Stadt und errichtete 1462 in Bordeaux ein Parlament. Während der kurzen Jahre, in welchen Ludwigs Bruder Karl die Guyenne als Apanage hatte (1469—72), wurde das Parlament nach Poitiers verlegt: ein königliches Parlament kann nur in einer königlichen Stadt seinen Sitz haben. Als nach Karls Tod die Guyenne an die Krone zurückfiel, kehrte das Parlament nach Bordeaux zurück. Mit demjenigen

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Die Parlamente.

des Dauphiné hat es einen langen, niemals entschiedenen Streit geführt um den Ehrenvorrang, der sich nach dem Alter richtete. 4. D i e B o u r g o g n e . Auch im Herzogtum Burgund gab es schon vor der Vereinigung des Landes mit der Krone einen oberen Gerichtshof, dessen Errichtung auf Philipp den Kühnen zurückging, die grands jours de Bourgogne, die gelegentlich auch als Parlament von Burgund bezeichnet wurden. Sie tagten für den Hauptteil des Herzogtums in Beaune, für die Grafschaft Auxonne und die Länder links der Saône in St. Laurent de l'Ain (in gleicher Zusammensetzung), und die Versuche der Krone, die Anerkennung des Pariser Parlaments als Appellinstanz über den grands jours zu erzwingen, haben zu beständigen Konflikten zwischen den Herzögen und den Königen geführt. Als Ludwig XI. das Herzogtum einzog, verwandelte er die grands jours in ein Parlament (1477), das seinen Sitz zunächst in Beaune, seit 1489 dauernd in Dijon hatte. Das Zuständigkeitsgebiet des Parlaments wurde 1601 um Bresse, Gex, Bugey und Valromey, 1771 um Dombes erweitert. 5. D i e N o r m a n d i e . Der échiquier der Normandie, welcher 1499 durch Ludwig XII. eine neue Ordnung erhalten hatte und seitdem dauernd in Rouen tagte, wurde im Jahre 1515 durch Franz I. zum Parlament erhoben. Das bedeutete hier freilich kaum mehr etwas anderes als einen einfachen Wechsel des Namens (weshalb das Parlament der Normandie in der offiziellen Reihenfolge auch vor dem folgenden rangierte). 6. D i e P r o v e n c e . Als die Provence 1481 an die Krone fiel, blieb der bisherige oberste Gerichtshof der Grafen in Aix (grand sénéchaussée et conseil de Provence), dem zuletzt Ludwig III. im Jahre 1424 eine feste Ordnung gegeben hatte, zunächst nur in Gestalt eines einfachen Seneschalleigerichtes bestehen, also unter dem Pariser Parlament. Ludwig XII. aber hat den Gerichtshof der Provence im Jahre 1501 zum Parlament erhoben. Sein Sitz blieb Aix, wenn auch gelegentlich Tagungen an anderen Orten (Marseille, Brignoles) vorkommen. 7. D i e B r e t a g n e . Der Gerichtshof der Herzöge der Bretagne, die grands jours de Bretagne, hatte im Jahre 1485 durch Herzog Franz II. eine feste Organisation mit dem Sitz in Vannes und dem Namen Parlament erhalten. Diese Gründung bretonischer Selbständigkeit erkannten aber die französischen Könige, die seit der Vermählung Karls VIII. 1491 die Herren im Lande waren, nicht an. Sie ließen den Gerichtshof unter dem Titel grands jours (mit wechselndem Sitz) bestehen, aber als eine Instanz zweiten Grades, unter dem Pariser Parlament, also in ähnlicher Weise, wie sie es damals auch in der Provence hielten. Erst im Jahre 1554 erfolgte in der Bretagne durch Heinrich II. die Erhebung der grands jours zum Parlament mit der Bestimmung, daß nicht ganz die Hälfte der Räte (12 von 26) Bretonen sein sollten, und daß je eine Sitzung im Jahr in Rennes und eine in Nantes stattfinden solle. Die Rivalität der beiden H o l t z m a n n , Französische Verfassungsgeschichte.

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Städte führte zu vielen Streitereien, bis endlich im Jahre 1580 Rennes zum alleinigen Sitz des Parlaments der Bretagne erklärt wurde. 8. B é a r n u n d N a v a r r a . Seitdem das Königreich Navarra,. das 1479 dem Grafen von Béarn zugefallen war, im Jahre 1512 zum größeren Teil mit Aragonien vereinigt worden war, galt der Gerichtshof (conseil) des Grafen von Béarn in Pau zugleich für den geringen Rest von Navarra, der ihm noch verblieb (Nieder-Navarra). Er stand unter dem Parlament von Paris. Als aber Ludwig XIII. im Jahre 1620 Béarn und Navarra endgültig mit dem Krongut verband, erhob er den Gerichtshof zum Parlament, dessen Sitz Pau blieb. 9. D i e d r e i B i s t ü m e r . Da Metz, Toul und Verdun auch nach ihrer Besetzung 1552 Glieder des Deutschen Reiches blieben, war das oberste Gericht für sie zunächst nach wie vor das Reichskammergericht zu Speyer. Aber Heinrich IV. ging mit Erfolg darauf aus, den Zusammenhang der drei Bistümer mit dem Reich zu lösen ; er unterdrückte die Appellationen ans Kammergericht und begründete seinerseits einen oberen französischen Gerichtshof für die drei Bistümer (einschließlich der Städte) in Metz, den Ludwig XIII. im J a h r e 1633 zum Parlament erhob. Einsprüche des Kaisers blieben unberücksichtigt. 10. D i e F r a n c h e - C o m t é . Die alte Freigrafschaft Burgund war (zusammen mit Flandern) 1384 als deutsches Lehen an die jüngere kapetingische Linie im Herzogtum Burgund gekommen und besaß bereits im 14. Jahrhundert ein eigenes Parlament in Dôle (oder gelegentlich in Salins), das so gut wie unabhängig war, und das auch während der ersten, vorübergehenden französischen Okkupierung (1477—93) sowie darauf von den Habsburgern beibehalten wurde. Nachdem dann Ludwig XIV. im Jahre 1674 die Franche-Comté einschließlich der ehemaligen Reichsstadt Besançon erobert hatte, gab er 1676 dem Parlament eine neue, den anderen französischen Parlamenten entsprechende Ordnung und verlegte es nach Besançon. 11. F l a n d e r n , H e n n e g a u u n d C a m b r é s i s . Für die im Pyrenäischen und im Aachener Frieden (1659, 1668) an Frankreich abgetretenen Teile von Flandern und dem Hennegau wurde noch im Jahre 1668 durch Ludwig XIV. ein oberster Gerichtshof (conseil souverain) in Tournai errichtet. Von den Neuerwerbungen, die alsdann der Frieden von Nimwegen (1678) an der Nordgrenze brachte, wurden wiederum die zu Flandern und dem Hennegau gehörigen Städte, außerdem aber auch Cambrai mit seinem Gebiet der Zuständigkeit des Gerichtshofes von Tournai überwiesen. Da es von diesem von vornherein keine Appellationen ans Pariser Parlament gab, bedeutete es nur eine Titel Veränderung, daß er im Jahre 1686 zu einem Parlament erhoben wurde. Der Spanische Erbfolgekrieg brachte dem Ressort dieses Parlaments einige Schmälerungen, namentlich wurde Tournai selbst im Jahre 1709 von den Verbündeten erobert, worauf Ludwig das Parlament erst nach Cambrai, dann (1713) nach Douai verlegte.

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[12a.] D o m b e s . Das kleine Fürstentum Dombes hatte schon 1523 auf seinen Wunsch von Franz I. ein Parlament erhalten, das aber seinen Sitz außerhalb des Fürstentums (par territoire emprunté) in Lyon hatte und sich aus 8 Mitgliedern zusammensetzte, die zumeist außerdem in Lyon ein königliches Amt bekleideten. So übernahmen es 1560 die Fürsten aus dem Hause Bourbon; doch fanden schon 1583—1602 gelegentlich auch Sitzungen in Trévoux, der Hauptstadt des Landes, statt unter dem Namen von grands jours, und im Dezember 1696 wurde das Parlament ganz nach Trévoux verlegt. Ludwig XV. ließ es nach der Übernahme des Fürstentums 1762 noch einige Jahre bestehen, hob es aber 1771 auf. 12. L o t h r i n g e n . Als 1766 das Herzogtum Lothringen (mit Bar) an Frankreich fiel, erhob sich die Frage, ob es ein selbständiges Parlament erhalten solle, oder ob sich eine Vereinigung mit dem Metzer Parlament empfehle. Letzteres verlangte eine Ausdehnung seiner Zuständigkeit über ganz Lothringen, wie eine solche schon während der langen Okkupationen des Herzogtums durch Frankreich im 17. Jahrhundert (1634—59, 1670—97) erfolgt war. Man versuchte auch wirklich eine Vereinigung, freilich in umgekehrter Weise: im Jahre 1771 wurde das Metzer Parlament nach Nancy verlegt und mit dem dortigen obersten Gericht des Herzogtums vereinigt. Aber Ludwig XVI. kam bereits ein Jahr nach seiner Thronbesteigung von diesem Versuch zurück und stellte das Metzer Parlament für die drei Bistümer wieder her, beließ jedoch in Nancy das neue Parlament für Lothringen und Bar (1775); wir werden sehen wie dieser König auch sonst bestrebt war, gegenüber den einschneidenden Änderungen, die Ludwig XV. in den letzten Jahren seiner Regierung in der obersten Gerichtsverwaltung vornahm, die früheren Zustände wieder herzustellen. Dreizehn Parlamente zählte man also (mit dem Pariser) in den letzten Jahren des Ancien regime in Frankreich. Die Zahl der obersten Gerichtshöfe des Landes ist aber damit noch nicht erschöpft. Es wurden nämlich im 17. und 18. Jahrhundert in noch drei anderen neu erworbenen Provinzen ganz entsprechende oberste Gerichtshöfe eingesetzt, conseils souverains (oder supérieurs), denen nur der Name eines Parlamentes fehlte, die in der Sache aber in jeder Hinsicht den provinzialen Parlamenten entsprachen. Wir fanden bereits 1668—86 ein solches conseil souverain für französisch Flandern und Hennegau in Tournai. Die drei, deren wir jetzt noch zu gedenken haben, unterscheiden sich von ihm nur dadurch, daß sie — wie es scheint, mit Rücksicht auf die Wünsche der Bevölkerung, bei welcher der französische Titel nicht populär war — den Namen Parlament auch später nicht erhalten haben. 1. D a s E l s a ß . Nach der Erwerbung großer Teile des Elsaß im Westfälischen Frieden blieb die Gerichtsverfassung zunächst noch einige Jahre bestehen, nur daß die für die ehemals habsburgischen 22»

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Besitzungen zuständige Kammer im Jahre 1649 von Ensisheim nach Breisach verlegt wurde und außerdem mehr und mehr französische Räte in sich aufnehmen mußte. In den nichthabsburgischen Teilen blieben die kleinen landesfürstlichen Gerichte unverändert erhalten, und wer von ihnen an ein höheres Gericht appellieren wollte, der wandte sich nach wie vor an das Reichskammergericht in Speyer. Bald aber begann die französische Krone, wie sonst, so auch auf dem Gebiet der Gerichtsverwaltung planmäßig darauf auszugehen, das ganze Elsaß entgegen dem Wortlaut und Sinn des Münsterer Friedensinstruments an sich zu bringen. Im Jahre 1657 wurde die Breisacher Kammer wieder nach Ensisheim verlegt und zum conseil souverain für alle die Teile des Elsaß erhoben, in denen sich auf Grund der abgetretenen landvogteilichen und landgrafschaftlichen Rechte eine Souveränität des französischen Königs konstruieren ließ, d. h. für das ganze Elsaß mit Ausnahme von Straßburg. Es hat indessen noch eine Zeitlang gedauert, bis die französische Regierung ihre Absicht wirklich zur Durchführung bringen konnte. Fürs erste nahmen die Appellationen aus den früher habsburgischen Gebieten nach Speyer ihren tatsächlichen Fortgang, was französischerseits mit neuen Prozessen, Untersuchungen und Anfechtungen beantwortet wurde. Nach dem Tod Mazarins versuchte es Ludwig XIV. auf andere Weise. Im Jahre 1661 verwandelte er das conseil souverain in ein conseil provincial und unterstellte es dem Metzer Parlament. Dieses conseil provincial entsprach den Präsidialsitzen im inneren Frankreich (S. 361), sollte die Zuständigkeit im ganzen Elsaß behalten, aber keine oberste Behörde sein, sondern eine nochmalige Appellation nach Metz zulassen. Die Absicht scheint dabei gewesen zu sein, die Beziehungen des Elsaß zu Frankreich fester zu gestalten. Doch gelang auch auf diese Art keine wesentliche Änderung. Im Jahre 1674 wurde das conseil provincial noch einmal nach Breisach verlegt, und unmittelbar darauf begann nun ein ganz gewaltsames Vorgehen gegen die elsässischen Stände, welche eine Appellation nach Speyer statt nach Breisach und Metz zuließen. Damals erst, während des Krieges gegen die mit Holland verbündete Koalition, als Turenne und Condé im Elsaß standen, wurde der Widerstand gegen das französische Obertribunal wirklich gebrochen. Nach dem Frieden von Nimwegen konnte Ludwig daher zu dem alten System zurückkehren : das conseil provincial zu Breisach wurde 1679 wieder zu einem souveränen obersten Gerichtshof für das Elsaß erhoben, die Verbindung mit dem Metzer Parlament also gelöst, was doch wohl eine Konnivenz gegen die Bevölkerung sein sollte. Der Titel des neuen obersten Gerichtes lautete conseil souverain d'Alsace; zwei Jahre darauf machte der Raub Straßburgs ihn zur vollen Wahrheit. Der Sitz des conseil souverain wurde 1698, nachdem Byeisach im Frieden zu Ryswyk wieder herausgegeben hatte werden müssen, nach Kolmar verlegt. Der Generalprokurator des Königs führte an diesem Gerichtshof den Titel premier avocat général. •

2. Kapitel.

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2. R o u s s i l l o n . Nach der Abtretung Roussillons an Frankreich im Pyrenäischen Frieden wurde im Jahre 1660 der bisherige oberste spanische Gerichtshof der Grafschaft, der in Perpignan seinen Sitz hatte, in ein französisches conseil souverain umgewandelt. Zum Ressort dieses Gerichtshofes von Perpignan gehörten auch die Landschaft Conflans und der französische Teil der Cerdagne, die mit Roussillon an Frankreich gekommen waren. 3. C o r s i c a . Ludwig XV. hat durch Edikt vom Juni 1768 für Corsica ein conseil supérieur mit dem Sitz in Bastia errichtet. Es entsprach in seiner Zuständigkeit den beiden vorigen und galt insonderheit als Appellinstanz gegenüber den Landgerichten, die aus der genuesischen Zeit der Insel übernommen wurden.

2. Die innere Einrichtung der Parlamente. Die Organisation

des Pariser Parlaments bildete das Muster für diejenige der provinzialen Parlamente, so daß wir überall dieselben oder wenigstens so ziemlich dieselben Einrichtungen vorfinden. Erst die im 17. und 18. Jahrhundert errichteten Parlamente und obersten Gerichtshöfe wiesen da und dort einen etwas anderen, ihr fremdes Gepräge tragenden Bau auf. Wir beschäftigen uns im folgenden mit der Norm, wie sie am reinsten im Pariser und den älteren provinzialen Parlamenten ausgebildet war. Die Z u s a m m e n s e t z u n g des Parlaments entsprach der Form, wie sie sich während der vorigen Periode herausgebildet hatte. Zu den ständigen Räten (maîtres) konnten also nach freiem Ermessen nur noch die Pairs treten. Die Zahl der Räte war in den einzelnen Parlamenten natürlich verschieden; am größten in Paris, wo die von Philipp VI. festgesetzte numerische Stärke noch 1454 durch Karl VII. bestätigt, später freilich vielfach überschritten wurde. Was dem Pariser Parlament ein tatsächliches Übergewicht über die provinzialen verschaffte, war eben die Größe seines Sprengeis, der etwa ein Drittel des Königreichs umfaßte. Auch die P a i r s pflegten zunächst, wie bisher, so auch ferner nur vor dem Pariser Parlament zu erscheinen. Daß hierin aber kein prinzipieller Vorzug des letzteren lag, zeigte sich darin, daß im 18. Jahrhundert einige provinziale Parlamente mit Erfolg den Standpunkt vertraten, daß sie bei Straffällen, die an einem Ort ihres Bezirks begangen waren, auch gegen einen Pair zuständig seien d. h. durch Berufung der anderen Pairs zum Pairsgericht umgewandelt werden könnten. Die Zahl der weltlichen Pairs nahm übrigens auch während dieser Periode noch zu, sodaß es beim Ausbruch der Revolution 44 Pairs gab, nämlich die sechs alten geistlichen und nicht weniger als 38 weltliche. Die Würde eines Pairs wurde in reichem Maße teils an die apanagierten Herren teils an den hohen Adel des Reiches vergeben, und nur das Erlöschen vieler Pairien erklärt es, daß die Zahl im Jahre 1789 nicht noch viel größer war. Und je bescheidener die staatlichen Rechte dieser höchsten Lehnsaristokratie wurden, um so stolzer waren ihre Titel. Im Jahre 1506 wurde zum letzten Male einem Grafen (Soissons) die Würde eines Pairs verliehen; seitdem erfolgte das nur noch bei

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Die Zeit des absoluten Königtums (1437—1789).

Herzogen oder unter gleichzeitiger Erhebung des Beliehenen zum Herzog. Solche neuere Pairien sind beispielsweise : Guise (1528), Montmorency (1551), Mayenne (1573), Rohan (1603), Richelieu (1631), Choiseul (1665). Von den sechs alten weltlichen Pairien tauchen in unserer Periode vier gelegentlich als Apanagen auf: die Normandie, Guyenne, Burgund und Toulouse. Die beiden ersteren waren nacheinander im Besitz von Ludwigs XI. Bruder Karl (1465—69, 1469—72); nach der Normandie wurde auch Ludwigs XVI. zweiter Sohn Karl Ludwig (der nachmalige unglückliche König Ludwig XVII., der durch den Tod seines älteren Bruders 1789 zum Dauphin emporstieg) von seiner Geburt (1785) an genannt. Mit dem Titel eines Herzogs von Burgund und der damit verbundenen Pairswürde schmückte sich noch 1682—1712 Ludwig, der Enkel Ludwigs XIV. und Vater Ludwigs XV., jener treffliche Prinz, der trotz seiner Niederlage bei Oudenaarde die Hoffnung des Landes war, durch den Tod seines Vaters 1711 Dauphin wurde, aber bereits ein Jahr darauf gleichfalls starb. Den Titel eines Grafen von Toulouse schließlich erhielt Ludwigs XIV. (und der Frau von Montespan) natürlicher Sohn Ludwig Alexander, der sich als Admirai im Spanischen Erbfolgekrieg einen Namen gemacht hat. Auch einige andere von den älteren Pairien, wie Anjou, Bretagne, Orleans, Berry, boten noch später den jüngeren Mitgliedern des Königshauses den herzoglichen Titel und die Würde des Pairs. Natürliche Söhne wurden meistens nur zu Grafen erhoben; es fällt aber auf, daß auch die rechtmäßigen Brüder Ludwigs XVI. nur einen gräflichen Titel erhielten (Ludwig von der Provence, Karl von Artois). Den üblen Brauch der K ä u f l i c h k e i t der Ratsstellen suchten Karl VII. und seine nächsten Nachfolger, im Einverständnis mit den Ständen, aber dennoch ganz vergeblich, durch Ordonnanzen zu beseitigen; in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts verschaffte er sich vielmehr sogar bei den Baillis und Prévôts, bei den Leutnants der Baillis und bei allen Finanzbeamten der Krone in gleicher Weise Eingang. Bei dieser Lage der Dinge entschloß sich schließlich Franz I., das System für die eigene Kasse fruchtbar zu machen. Das wurde ihm dadurch möglich, daß es noch immer Fälle gab, in denen der Kçone die freie Verfügung über Ratsstellen gewahrt blieb. Die Käuflichkeit hatte sich im Falle der Resignation eines Parlamentsrates (oder Bailli, Prévôt usw.) zugunsten des Zurücktretenden eingeschlichen, und die Sache wurde allerdings bereits derart geschäftsmäßig betrieben, daß einzelnen Räten gelegentlich sogar die »survivance«, d.h. das Recht, daß auch seine Erben seine Stelle verkaufen dürften (und er mithin nicht zu resignieren brauchte, sondern ruhig bis zu seinem Tod sein Amt verwalten konnte), vom König als Gnadengeschenk verliehen wurde. Das war aber doch die Ausnahme. Und im Falle sonst einer dieser Beamten rasch und, ohne für seine Nachfolge gesorgt zu haben, gestorben war, sowie ferner, wenn es sich um neue Stellen handelte, nahm der König sein altes Ernennungsrecht wahr, und Franz I. scheute sich nicht, sich die Ernennungen solcher Art

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Die Parlamente.

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bezahlen zu lassen; im J a h r e 1522 hat er sogar eine besondere Behörde geschaffen, das bureau des parties casuelles, vor welchem diese •Geschäfte abgeschlossen wurden. Die Verkäufe bei ordnungsmäßigen Resignationen wurden anerkannt; aber es sollte nicht erlaubt sein, bei plötzlicher Krankheit die königliche Kasse durch eine überstürzte Resignation zu schädigen : daher die Bestimmung, welche um dieselbe Zeit aus dem Kirchenrecht herüber genommen wurde, daß die Resignation und der mit ihr verbundene Verkauf nur dann Gültigkeit haben solle, wenn sie mindestens vierzig Tage vor dem Tod des zurücktretenden Beamten erfolgt seien. Durch die Haltung, welche Franz I. und seine Nachfolger solchermaßen einnahmen, hat das Königtum nicht nur das moralische Recht verloren, gegen den Verkauf einer Stelle durch den resignierenden Vorgänger einzuschreiten, -sondern es hat auch selbst den letzten Anstoß dazu gegeben, den ganzen Handel zu regeln und zu legalisieren. Die Edikte Karls IX. und Heinrichs III. gegen die Käuflichkeit waren n u r mehr Worte um eines Scheins willen. Eben Karl IX. hat vielmehr dem bestehenden Brauch einen gesetzlichen Charakter verliehen, indem er auch die Zustimmung der Krone zu der erkauften Nachfolge bei einer Resignation von der Zahlung einer (ziemlich hohen) Summe an die •königliche Kasse abhängig machte (1567). Das war also das Ende des ehemaligen freien Ernennungsrechtes des Königs : eine erhebliche Preissteigerung bei den Resignationen und ein neues fiskalisches Recht des Königs, das droit de résignation, nach welchem ein Teil der Kaufsumme in die königliche Kasse floß. I m J a h r e 1597 beseitigte man dann endlich auch einen auf Anordnung Karls VIII. (1493) und Ludwigs X I I . (1498) eingeführten Eid, durch welchen bisher jedes neue Parlamentsmitglied hatte beschwören müssen, für seine Stelle nichts bezahlt und nichts versprochen zu haben : er war schon lange ein Meineid gewesen. Eine einheitliche Neuordnung erfuhr dann der ganze Modus bei der Vergabung der genannten königlichen Ämter im Dezember 1604 durch die sogenannte P a u l e t t e , eine auf Vorschlag des Sekretärs Karl Paulet durch einen Beschluß des königlichen Rats erlassene Verfügung, wonach alle königlichen Justiz- und Finanzbeamten sowie, im Falle ihres Todes vor der Resignation, die Erben ihre Stellen verkaufen durften und sogar nur das halbe droit de résignation abzugeben hatten, wofern diese Beamten jedes J a h r den sechzigsten Teil des Kaufwertes ihres Amtes einem Pächter bezahlten, der das Recht, diese Gelder sowie die aus dem droit de résignation gezogenen Summen zu empfangen, vom Staat pachtete und seinerseits jährlich eine hohe Pachtsumme an die königliche Kasse abführte. Durch die Paulette, die allgemein in Anwendung kam, fiel also nicht nur jene lästige Beschränkung mit den vierzig Tagen weg, sondern jeder Beamte erhielt die survivance zugesichert, und das droit de résignation wurde auf -die Hälfte reduziert. Das lohnte schon die jährliche Zahlung von 1 % Prozent des Kaufpreises. Denn offenbar standen sich alle Be-

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III. Periode.

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teiligten gut dabei. Die Beamten brauchten nicht mehr an eine vorzeitige Resignation zu denken: der Kaufwert des Amtes war ihnen erblich zugesichert. Der Pächter kam auf seine Kosten, wie sich schon daraus ergibt, daß Paulet das ganze System für sich selbst vorgeschlagen hat: er war der erste Pächter der jährlichen Abgaben. Und ein großes Geschäft machte schließlich auch der Fiskus : während der Amterverkauf im Jahre 1597 beispielsweise 150000 Livres eingebracht hatte, betrug die jährliche Pacht, welche Paulet bezahlte, nicht weniger als 900000 Livres, diejenige seines Nachfolgers sogar eine Million. Es versteht sich, daß die Pachtsumme, ebenso wie der Kaufpreis der Amter und wie die tatsächlichen Einnahmen, welche aus ihnen den Inhabern zuflössen, und welche die Zinsen des Kaufpreises immer weit überstiegen, beständig in die Höhe gingen. Die Paulette ist freilich niemals (durch Ordonnanz) zu einem dauernden Gesetz erhoben worden, sondern sie galt als königliche Gunsterweisung, die nach Gutdünken von der Krone auch wieder zurückgenommen werden könne, und es war ein beliebtes Mittel, einem widerspenstigen Parlament gegenüber mit ihrer Aufhebung zu drohen. D. h. also : rechtlich und prinzipiell ist die Käuflichkeit der Amter niemals eingeführt worden, sondern der König gab gnädig seine Einwilligung zu der Nachfolge des Käufers. Tatsächlich war, schon mit Rücksicht auf die finanzielle Lage der Krone, an eine Änderung nicht mehr zu denken. Die Paulette bestand bis zum Ende des Ancien régime, und erst in der Nachtsitzung des 4. August 1789 zerging auch der schmähliche Schacher, der so lange mit den Amtern des Staates getrieben worden war, vor dem neuen staatlichen Geist, der in den Ideen der Revolution nach seiner Verwirklichung rang. Denn ein schmählicher Schacher ist es doch gewesen, auch wenn es gewisse Bestimmungen gab, durch welche unwürdige Elemente von den Amtern ferngehalten werden sollten. Diese Bestimmungen bestanden darin, daß der Kandidat, der sich um ein Amt bewarb, mindestens 25 Jahre alt sein sollte, eine gewisse Vorbildung aufweisen mußte und zudem vor dem Parlament ein Examen abzulegen hatte; was die Vorbildung anlangt, so sollte sie für die Beamten der Justiz in dem Erwerb des Titels eines Lizenziaten oder Doktors der Rechte bestehen. In praxi hatte das aber nicht viel zu besagen. Einen akademischen Grad zu erwerben, war für Leute von Besitz keine Schwierigkeit. Zudem konnte man von den Bestimmungen über das Alter und die Vorbildung auch dispensiert werden. Und das Examen vor dem Parlament ist für die Kandidaten, welche rite durch den Vorgänger in Vorschlag gebracht wurden, zu einem reinen Schein geworden. Es versteht sich übrigens, daß zugleich mit der Käuflichkeit der Amter und mit der freien Verfügbarkeit der Beamten und ihrer Erben über die Stellen noch etwas anderes sich einstellte: die E r b l i c h k e i t . Daß der Sohn dem Vater im Amt nachfolgt, ist eine allgemeine Erscheinung, und gerade den Söhnen der zurücktretenden Beamten pflegten die Parlamente hinsichtlich der

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eben genannten Bestimmungen noch besondere Erleichterung zu gewähren. Die Tendenz der Erblichkeit tritt schon frühzeitig im Gefolge der werdenden Käuflichkeit auf und ist durch die Paulette natürlich wesentlich gestärkt worden. Doch haben wir es hier nur mit einer tatsächlichen, durch keinerlei schriftliche Anordnung bekräftigten Erscheinung zu tun; mit der Käuflichkeit der Amter ist die Erblichkeit von selbst gefallen. Die schweren Nachteile, welche die Käuflichkeit der Amter mit sich brachte, liegen auf der Hand; sie lassen sich im kleinen wie im großen verfolgen. Nur einer Wirkung sei gleich in diesem Zusammenhang . gedacht : des außerordentlichen Anwachsens der G e r i c h t s s p o r t e l n (épices). Diese Abgaben, die ursprünglich aus ziemlich unbedeutenden und freiwilligen Geschenken naturaler Art bestanden, wurden im 15. Jahrhundert obligatorisch und in Geld umgewandelt (S. 239), und ihre Höhe stieg mit der Käuflichkeit und den rasch wachsenden Preisen der Amter in starkem Grade. Hier hielten sich die Käufer schadlos. Der Kläger aber hatte auf solche Weise nicht nur seinen Anwalt, sondern auch seinen Richter zu bezahlen. Der einzige Vorteil, den die Käuflichkeit der Amter gegenüber den zahlreichen Schäden für die Rechtsprechung mit sich brachte, war die tatsächliche U n a b s e t z b a r k e i t der Richter. Wollte der König einen Richter absetzen, so hatte er ihm alle für sein Amt gemachten Aufwendungen zurückzuzahlen: eine Ausgabe, welche die Krone vermied. Das ist auch der Grund, weshalb der König eine Massendemission der Räte, wie sie in Zeiten politischer Konflikte vorkam, nicht annehmen durfte: mit der Annahme wäre (wenigstens nach Anschauung der Räte) die Verpflichtung verbunden gewesen, den Abtretenden ihre Auslagen wiederzuerstatten. Diese tatsächliche Unabsetzbarkeit der Richter hat den Parlamenten geradezu die große Unabhängigkeit, welche sie in der politischen Opposition des 17. und 18. Jahrhunderts bewiesen, ermöglicht. An anderem Ort war indes auch diese Folge der Käuflichkeit des Amtes weniger erfreulich: die Unabsetzbarkeit der königlichen Finanzbeamten gehört gewiß gleichfalls zu den bedenklichen Erscheinungen im Ancien régime. Die drei K a m m e r n des Pariser Parlaments (grand chambre, chambre des enquêtes, chambre des requêtes) wurden bei der Zunahme der Geschäfte allmählich vermehrt. Im 15. Jahrhundert wurde eine zweite chambre des enquêtes gegründet, der bald noch .mehr folgten: seit 1568 gab es deren fünf, aber 1756 wurde die Zahl auf drei reduziert. Von 1580—1771 gab es auch zwei chambres des requêtes (du palais). Ein Erzeugnis neuerer Zeit war eine besondere Abteilung für die Kriminalfälle nichtadliger Personen, die chambre de la tournélle. Wir wissen (S. 236), daß seit dem Ende des 14. Jahrhunderts f ü r schwerere Straffälle, in denen Geistliche als Richter weniger zu brauchen waren, eine besondere Kommission aus weltlichen Räten gebildet wurde. Sie tagte in einem Türmchen des Gerichtsgebäudes, der tour Saint-Louis oder tournélle, und wurde nach ihr genannt.

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Dieser Brauch wurde im 15. J a h r h u n d e r t allgemein und schließlich durch Franz I. zum Gesetz erhoben (1515) ; alle Kriminalprozesse sollten der chambre de la tournelle vorbehalten sein. Doch unterschied sich diese Kammer, ähnlich wie die chambre des vacations, von den drei anderen dauernd dadurch, daß sie nicht aus besonderen Räten bestand, sondern aus weltlichen Mitgliedern der anderen K a m m e r n (genauer: der grand chambre und der chambres des enquêtes) in wechselnder Zusammensetzung gebildet wurde ; auch behielt der Adel das Vorrecht, nicht vor die chambre de la tournelle sondern vor die grand chambre gestellt zu werden. Ganz entsprechende Einrichtungen wiesen dann auch die provinzialen Parlamente auf, wenigstens die älteren: eine grand chambre, eine oder mehrere chambres des enquêtes, eine chambre des requêtes sowie, aus weltlichen Mitgliedern der beiden ersten zusammengesetzt, eine Kriminalkammer, die auch hier den (gar nicht passenden) Namen chambre de la tournelle führte. Dazu kam dann noch überall eine chambre des vacations. Die Appellsachen wurden vor den Parlamenten nach Bailliages in bestimmter Reihenfolge vorgenommen, so daß jedes Bailliage seine Gerichtstage hatte. Wir sahen schon, daß die Gerichtsbarkeit des Königs, was den gewöhnlichen Gang der Geschäfte anlangte, so ganz auf das ihn vertretende oberste Gericht übergegangen w a r , daß der König vor ihm selbst als Partei auftreten konnte. Die Interessen des Königs wurden vor den höheren Gerichten durch die gens du roi vertreten, und hier wenigstens hat die Krone ihr Ernennungsrecht wiederhergestellt und dauernd festgehalten. Bei jedem Parlament (sowie auch bei den conseils souverains) hatte der König einen Generalprokurator und einen oder zwei Advokaten, die im Laufe des 15. und 16. Jahrhunderts den Titel von Generaladvokaten a n n a h m e n (im Gegensatz zu den Prokuratoren und Advokaten bei den Gerichten der Bailliages). Seit Karl VII. wurden die Vertreter des Königs (wenigstens im allgemeinen) wieder ganz frei durch die Krone ernannt, was übrigens nicht hinderte, daß der Generalprokurator zeitweilig eine sehr mächtige Persönlichkeit war, die Unabsetzbarkeit f ü r sich beanspruchte und der Krone gelegentlich unbequem wurde. 3. Die politischen Rechte der Parlamente und ihr Kampf mit der Krone bis 1715. Die politischen Rechte und Ansprüche der Parlamente haben sich in der neueren Zeit noch erheblich erweitert, und man k a n n mit F u g sagen, daß sie den Absolutismus der Krone, den sie mit Worten freilich immer anerkannten, bis zu einem gewissen Grade beschränkt haben. Das Königtum hat die Ansprüche der Parlamente zum Teil allerdings nicht anerkannt, was zu häufigen und gelegentlich recht heftigen Konflikten führte. Die Erweiterung ihrer Ansprüche bauten die Parlamente — und allen voran das Pariser Parlament, das immer das angesehenste und das tätigste war — auf ihre richterlichen Befugnisse : seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts finden wir durch die Parlamente wiederholt und konsequent den auf Grund der Theorie, daß der König nur der Vertreter des

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Volkes sei, in allmählicher Entwicklung gewonnenen Standpunkt vertreten, daß es Fundamental- oder G r u n d g e s e t z e der Monarchie (lois fondamentales du royaume, lois publiques de l'état, máximes de la France u. ähnl.) gebe, die auch der König nicht verändern dürfe, und daß es Recht und Pflicht der Parlamente als der obersten Gerichtshöfe des Reiches sei, über deren Aufrechterhaltung zu wachen. Diese Grundgesetze der Monarchie haben nach der Auffassung der Zeit von jeher zu Recht bestanden: sie sind so alt wie der Absolutismus selbst, der auch zu ihnen zählt, aber tatsächlich doch auch zugleich durch sie eingeschränkt wird. Was alles zu den Grundgesetzen gehöre, das haben die Parlamente nie erschöpfend und im Zusammenhang aufgezählt: eine solche Festlegung hätte zugleich eine Limitierung, eine Unterbindung weiterer Entwicklung bedeutet. Wir können die wichtigsten dennoch nennen. Zunächst galt als Grundgesetz die Erblichkeit der Krone im regierenden Königshaus; ihre richtige, nach der Primogenitur im Mannsstamm zu regelnde Ordnung beanspruchte das Parlament zu überwachen (während die Thronfolgefragen im 14. Jahrhundert durch Notabelnversammlungen geregelt worden waren). Man wußte nun allerdings sehr gut, daß Frankreich nicht immer ein Erbreich gewesen war, und wenn man die Theorien bis zu ihrer letzten Konsequenz verfolgt, kann man sogar sagen, daß es bis zum Ende des Ancien régime ein Wahlreich geblieben ist: die Theoretiker sind sich darüber einig, daß, wenn das Königshaus im Mannsstamm einmal erlöschen sollte, das Volk in den Generalständen zur freien Wahl eines neuen (erblichen) Königs berufen sei (S. 311). Auch das zählte zu den Grundgesetzen der Monarchie. Ebenso ferner die Unveräußerlichkeit des Kronguts, die schon zur Zeit der englischen Kriege als feststehendes und durch das Parlament zu hütendes Prinzip galt. Zu diesen älteren Grundsätzen kamen dann im Lauf der Zeit als weitere Grundgesetze hinzu: das Registrierungsrecht (droit d'enregistrement) der Parlamente, die Unverletzlichkeit des Privateigentums und der persönlichen Freiheit gegenüber rechtswidrigen Eingriffen, die Freiheiten der gallikanischen Kirche, ja schließlich sogar (seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts) die »natürlichen Rechte« der Bürger und der Nation, ein ganz vager Begriff, dessen sich aber die Parlamente als eines willkommenen Werkzeugs im Kampf gegen die königliche Allgewalt bedienten, und der eine Wurzel der Menschenrechte Lafayettes geworden ist. Die Theorie von der Existenz solcher Grundgesetze widersprach an sich nicht den Anschauungen des Absolutismus. Bereits Bodin hatte 1576 von ähnlichen Grundgesetzen des Reichs geredet, an die der König durch moralisches und göttliches Recht gebunden sei. Aber nur das eigene Gewissen sollte den König kontrollieren, nicht irgendwelche Instanz bei seinen Untertanen. Und in diesem Sinne haben auch Bossuet, Laben selbst Ludwig XIV. und Ludwig XV. die Existenz von Grundgesetzen der Monarchie anerkannt. Dahingegen bestritten diese Könige den Parlamenten durchaus das Recht, sich als die Hüter der

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Grundgesetze auszugeben. Deren Schutz und Beobachtung gehe vielmehr allein den König selbst an, der sich im allgemeinen an sie gebunden halte und gebunden halten müsse, da ja die Rechte der Nation mit den Gesetzen, die den königlichen Willen verkörperten, identisch seien. Höchstens in Ausnahmefällen, aus Gründen des Staatswohls, dürfe der König einmal von den Grundgesetzen abgehen. Die Parlamente aber hätten nur das Recht, durch ihre remontrance& die Stimme des Volkes vor den Thron zu bringen, ohne der königlichen Entscheidung auf die Dauer entgegentreten zu können. Dieser Grundsatz mußte zu großen Konflikten mit den Parlamenten führen. Noch Ludwig X V . hat ihn jedoch streng festgehalten, und erst Ludwig X V I . , dessen Regierung andererseits sogar das Recht auf Arbeit zu den natürlichen Rechten der Bürger zählte, hat den leidenschaftlich festgehaltenen Ansprüchen der Parlamente nicht mehr die alte Festigkeit entgegengesetzt: der Absolutismus war unsicher und schwankend geworden, sein Sturz konnte nicht mehr fern sein. Daß das Parlament die Aufsicht über die richtige Beobachtung des E r b r e c h t s bei einem Thronwechsel übernahm, ist mehr als einmal von Bedeutung geworden, zumal sich auch die Fragen über M i n d e r j ä h r i g k e i t und R e g e n t s c h a f t daran knüpften. Von der Mitwirkung des Pariser Parlaments bei der Bestellung einer Regentschaft haben wir schon gesprochen (S. 313 ff.). Zum ersten Male ist sie im Jahre 1574 in die Erscheinung getreten, mit Hilfe des Parlaments ist Maria von Medici 1610 Regentin geworden, sind die Verfügungen Ludwigs X I I I . und Ludwigs X I V . über die Regentschaft nach ihrem Tod umgestoßen worden, und das Ende war, daß 1715 sogar für die Regentschaften ganz allgemein ein rechtmäßiger Anspruch durch Geburt als Grundgesetz vom Parlament anerkannt und in Obhut genommen wurde. Die Erklärung der Großjährigkeit fand in unserer Periode vor einem Parlament statt. Auch galt es, darauf zu achten, daß während der Regentschaft dem jungen König kein Rechtsnachteil zugefügt wurde. Aus diesem Beaufsichtigungsrecht erwuchs aber weiter der Gedanke einer Art Nebenregierung des Parlaments in der Zeit, woder König nicht selbst die Zügel des Staates in der Hand hielt. Die Anfänge davon lassen sich schon während der minderjährigen Regierung Karls I X . beobachten. Als Kaiser Ferdinand I. im Januar 1563 einen Gesandten nach Paris schickte (um die Herausgabe der Bistümer Metz, Toul und Verdun zu fordern), gab er ihm zwei Schreiben mit, eins an Karl und eins ans Parlament; damit hatte er dessen Ansprüche freilich überschätzt, denn es schickte den Brief unerbrochen dem König zu. Ganz außerordentlich war aber die Tätigkeit, die das ligistische Parlament von Paris nach dem Tod Heinrichs I I I . ausübte, erst in Vertretung des gefangenen Schattenkönigs Karl X . (1589—90), den die Liga gegen Heinrich I V . ausrief, dann während der folgenden Jahre, da man einen neuen Gegenkönig suchte, bis zum Einzug Heinrichs I V . in Paris (1594). Damals hat das Pariser Parlament, in Gemeinschaft mit den Generalständen von 1593,

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durch seine arrêts de règlement das ligistische Frankreich beherrscht; es war das Organ, durch welches die Liga eine Zeitlang geradezu die königlichen Rechte zu usurpieren vermochte. Mit Entschiedenheit wandte es sich 1593 gegen den Gedanken, einen auswärtigen Fürsten auf den französischen Thron zu erheben, und trat damit gegen Spanien für die Wahl eines französischen Großen ein. Aber auch in Zeiten der ordnungsmäßigen Regierung eines volljährigen Königs hat das Parlament nicht selten eine wichtige staatliche Tätigkeit entfaltet. Wir finden nämlich seit Beginn des 15. Jahrhunderts, daß es bei S t a a t s v e r t r ä g e n mit auswärtigen Mächten 2ur Mitwirkung herangezogen wurde, und haben hier zugleich einen Vorzug des Pariser Parlaments festzustellen, den einzigen, welchen das Pariser Parlament vor den provinzialen Parlamenten auszeichnete : zu diplomatischen Funktionen wurde nur das Pariser Parlament herangezogen, und die Staatsverträge mit auswärtigen Mächten wurden durch das Pariser Parlament für das ganze Königreich registriert. Die Mitwirkung des Parlaments bei solchen Angelegenheiten erklärt sich ebenfalls aus seinen richterlichen Funktionen: es hatte darauf zu achten, daß die Rechte des Staates nicht verletzt wurden. Aber bei dieser ganzen Tätigkeit der Parlamente schimmert gar bald überhaupt der Gedanken durch, daß sie, zumal wenn keine Generalstände tagten, die Rechte und Interessen des Reiches und der Nation zu vertreten haben. So auch, wenn wir hören, daß in Fällen der höchsten Not das Parlament die Erhebung der S t e u e r n in die Hand zu nehmen habe (wie dies von dem ligistischen Parlament 1589—94 geschehen ist). Das Reich ist kein Privatbesitz des Königs, der mit diesem untergeht. Die Parlamente, allen voran das Pariser Parlament, haben sich den Hugenotten gegenüber als eifrige Verteidiger der katholischen Interessen gezeigt. So wenig man diese Haltung allein auf materielle Erwägungen zurückführen darf, so unrichtig wäre es doch, die letzteren ganz zu vergessen. Die Parlamentsmitglieder genossen eine Vergünstigung, die sie an die alte Kirche band: den I n d u l t . Der Indult ist eine päpstliche Gunster Weisung,, durch welche den Beamten des Parlaments unter Vermittelung des Königs geistliche Pfründen zuteil wurden, so zwar, daß die geistlichen Mitglieder selbst in den Genuß der Pfründe gelangten, die weltlichen einen anderen als Inhaber bezeichnen (d. h. die Pfründe verkaufen) konnten. Der Ursprung dieses Brauchs liegt noch ziemlich im Dunkel; jedenfalls aber bestand er etwa zu Beginn unserer Periode (Bulle Eugens IV. von 1434). Die praktisch wichtigsten, weil dauernd in Ausübung gebrachten politischen Fähigkeiten der Parlamente waren aber auch jetzt das Recht, durch sogenannte Verordnungsurteile (arrêts de règlement) bis zu einem gewissen Grade eigenmächtig an der Staatsverwaltung teilzunehmen, sowie das Recht der Registrierung (enregistrement) der königlichen Erlasse, mit dem die Befugnis, Vorstellungen (remontrances)

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zu erheben und deren Berücksichtigung zu verlangen, verbunden war. Diese Rechte eigneten allen Parlamenten (und conseils souverains) in gleicher Weise, jedem für sein Zuständigkeitsgebiet (und mithin keinem für das ganze Königreich). Daraus ergaben sich natürlich manche Ungleichmäßigkeiten. Die arrêts de règlement waren in den verschiedenen Provinzen verschieden, indem Verordnungen des einen Parlaments von einem anderen in anderer Gestalt oder auch gar nicht erlassen wurden. Und ebenso konnte ein königlicher Erlaß von einigen Parlamenten registriert, von anderen zurückgewiesen werden : es galt dann nur in den Gebieten der ersteren. Namentlich das droit d'enregistrement hat sich zu einer wahren Fessel des königlichen Absolutismus entwickelt. Bereits unter Ludwig XI. ist es zu häufigen Konflikten zwischen den Parlamenten (besonders dem Pariser Parlament) und der Krone gekommen, und mehrmals fand bei wichtigen Fällen der königliche Wille einen unbeugsamen Widerstand. Karl VIII. hat 1493 den Parlamenten das (tatsächlich schon seit langem ausgeübte) droit de remontrances ausdrücklich zugestehen müssen. .Wollte die Krone eine Registrierung erzwingen, so konnte sie verschiedene Wege einschlagen : sie konnte einen ausdrücklichen Befehl zur Registrierung (eine lettre de jussion) ans Parlament schicken oder eine königliche Sitzung (lit de justice) veranstalten, in der es keinen Widerstand gab, sie konnte schließlich die widerspenstigen Räte verbannen (wie z. B. 1631) oder gefangen setzen (1648) oder auch das ganz« Parlament aus der Hauptstadt verweisen (1589, 1753, 1787). Auf die Dauer ist man freilich mit all diesen Mitteln nicht ausgekommen. Gegen die lettres de jussion gab es protokollierte Proteste und neue remontrances, gegen ein Ut de justice am nächsten Tag feierliche Einsprüche im Parlament und öffentliche Kundgebungen in Paris, auf die Gewalt wurde mehr als einmal mit offener Gewalt geantwortet. Den Verweisungsbefehlen von 1589 kamen die ligistischen Räte einfach nicht nach, so daß man eine Zeitlang eine Art staatlichen Schismas hatte : ein ligistisches Parlament in Paris, ein royalistisches in Tours ; ligistische in Rouen, Dijon, Aix, Toulouse, und die entsprechenden royalistischen in Caen, Flavigny (später Semur), Pertuis (später Sisteron und Manosque), Carcassonne. Dabei war die Verlegung nicht erst'von Heinrich IV., den die Ligisten nicht anerkannten, sondern schon im Februar 1589 von Heinrich III. angeordnet worden. Andere Mittel, zu denen das Parlament im 18. Jahrhundert gelegentlich griff, waren der Streik, d. h. die zeitweilige Sistierung aller seiner richterlichen Geschäfte, oder gar die Massendemission, die der König nicht annehmen konnte, da er kein Geld hatte (S. 345). Wer in diesen Kämpfen siegte, das war im letzten Ende immer eine einfache Machtfrage. Ein Zustand, wie er recht charakteristisch für das Ancien regime war: auf der einen Seite der königliche Absolutismus, der zum mindesten in dem lit de justice ein unanfechtbares Rechtsmittel besaß, jeden Widerstand zu beugen; auf der anderen Seite die Ansprüche der Parlamente, von denen Ludwig XV. (Dez. 1770) sagte, sie würden

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in ihrer Konsequenz die legislatorische Gewalt des Königs auf ein Vorschlagsrecht beschränken, und die man mit zäher Ausdauer und immer neuen Einwendungen und Auswegen auch gegen den ausgesprochenen Willen der Krone zu verteidigen wußte. Im Kampf gegen die Parlamente suchte das absolute Königtum natürlich in erster Linie nach einem sicheren Mittel, um das droit d'enregistrement einzuschränken und unschädlich zu machen. Schon die Konflikte Richelieus mit dem Pariser Parlament, die 1631 über ein Edikt gegen die Anhänger Gastons von Orleans begannen und in der Folge durch den Versuch des Ministers, für die Münzvergehen eine besondere richterliche Kammer (die chambre de l'arsenal) zu schaffen, sowie (seit 1635) durch eine öftere Vermehrung der Zahl der Parlamentsmitglieder (zur Füllung der königlichen Kasse) genährt wurden, führten 1641 zu einem königlichen Edikt, durch welches dem Parlament verboten wurde, sich in Angelegenheiten der Staatsverwaltung (mit Ausnahme der Finanzen) zu mengen und auch in anderen Sachen öfter als einmal remontrances zu erheben (wofern nicht der König in einem der beiden Punkte das Gegenteil ausdrücklich gestatte). Während der Regentschaft Annas von Osterreich, die das Pariser Parlament zur Änderung des Testaments Ludwigs XIII. gebraucht hatte, haben die Parlamente indes ihre alte Stellung zurückgewonnen (obgleich Anna im Jahre 1645 durch ein lit de justice 19 Edikte auf einmal protokollieren ließ). Im Jahre 1648 schloß das Pariser Parlament mit den drei anderen obersten Gerichtshöfen der Hauptstadt (grand conseil und cours des comptes und des aides), gegen das ausdrückliche Verbot der .Regentin, durch ein arrêt d'union ein enges Bündnis (13. Mai), und die vier unterstellten die ganze Staatsverwaltung und insonderheit die ganze Steuermaschine ihrer Kontrolle, verboten auch ausdrücklich jede Vermehrung der Amter. Die Regierung wurde zur Anerkennung dieser Beschlüsse gezwungen. Eine Amtsaristokratie (altbürgerlichen Standes), die noblesse de rohe, schien die Herrschaft in Frankreich zu gewinnen: die folgenden Jahre der Fronde bedeuten den Höhepunkt ihrer Gewalt. Die Niederlage der Fronde brachte den Umschwung. An demselben Tag, an welchem Ludwig XIV. seinen Einzug in Paris hielt (21. Okt. 1652), mußte das Parlament daselbst eine Deklaration zu Protokoll nehmen, welche aufs neue die Staatsangelegenheiten sowie diesmal auch das ganze Gebiet der Finanzverwaltung seiner Beratung und Besprechung entzog. Und am 13. April 1655 hat der König dem Parlament zwar nicht das Wort L'état •c'est moi ins Gesicht geschleudert aber doch in außerordentlicher Form die erneute Beratung über Gegenstände, die bereits in einem lit de justice erledigt waren, zu verbieten gesucht. Der Hauptschlag fiel aber erst 1673. Damals verordnete Ludwig XIV., daß die Parlamente alle seine Erlasse sofort und ohne Änderung registrieren müßten ; remontrances sollten erst nachher erlaubt sein (in Paris binnen 8 Tagen, in den Provinzialparlamenten innerhalb 6 Wochen) und nur einmal, ohne daß der König gehalten wäre, auf sie hören. Es ist klar, daß durch

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die Einführung dieser sogenannten »vorläufigen« Registrierung (enregistrement préalable) dem ganzen Recht jede Bedeutung geraubt wurde, und es scheinen denn auch unter Ludwig XIV. nur noch ganz selten remontrances erhoben worden zu sein: die Jahre von 1673 bis 1715 bedeuten (da auch Generalstände und Notabelnversammlungen schon lange nicht mehr berufen wurden) den ersten Höhepunkt des französischen Absolutismus; jede Opposition war verstummt. Im Jahre 1715 aber, vierzehn Tage nach dem Tod des Königs, stellte der Regent Philipp von Orléans als Dank für die Unterstützung, die ihm das Pariser Parlament bei der Umstoßung des Testamentes Ludwigs XIV. geleistet hatte, das droit d'enregistrement und das droit de remontrances in altem Umfang wieder her. Es wurde auch in der Folge recht häufig gebraucht, so namentlich in dem großen Streit zwischen Jesuiten und Jansenisten, den das Königtum vergeblich durch Edikte zu dämpfen suchte, sowie außerdem aufs neue in Fragen der Besteuerung und der Finanzen, deren Beaufsichtigung das Parlament wieder an sich riß, und die besonders in der Not des Siebenjährigen . Krieges zu häufigem Eingreifen Veranlassung boten. In diesen Steuerkämpfen war sichtlich das englische Parlament das Vorbild für das französische: die Rechte des englischen Parlaments in Frankreich zu gewinnen, war ein Stachel, der, seitdem Montesquieu in seinem Esprit des lois (1748) die englische Verfassung als mustergültig hingestellt hatte, noch stärker anspornte als vorher. Im einzelnen mußte man freilich die Forderungen Montesquieus umbiegen. Denn der Wert der englischen Verfassung beruhte nach Montesquieu in der Dreiteilung der Gewalten zwischen der Exekutive (dem König), der Legislative (dem Parlament) und der richterlichen Gewalt; eben die beiden letzteren wollte aber das französische Parlament im Grunde in seiner Hand vereinigen. Es statuierte für Frankreich daher eine andere Dreiteilung: zwischen dem König, dem Parlament (die verschiedenen Parlamente galten ja als ideelle Einheit) und dem System der Gesetze — eine höchst unklare Sache, wobei das letztere teils unveränderlich sein (die Grundgesetze) teils aus dem Zusammenwirken der beiden ersteren hervorgehen sollte. 4. Die Parlamente im Kampf mit Ludwig XV. und Ludwig XYI. Der neuen Opposition der Parlamente gegenüber hat das Königtum Ludwigs XV. seinen absolutistischen Standpunkt nicht aufgegeben, vielmehr auf neue Mittel gesonnen, sie zum Schweigen zu bringen. Das Ergebnis sollte diesmal ein noch viel stärkerer und völlig unerwarteter Gewaltstreich sein. Freilich schon der Regent hat einmal an die Beseitigung der Parlamente gedacht. Es war die Zeit, da John Laws Staatsbank blühte und die königliche Kasse Geld in Fülle hatte (1719—20). Damals faßte man bei der Regierung den Gedanken, den Mitgliedern des Parlaments den Kaufpreis ihrer Amter zurückzuzahlen und eine völlige Neuorganisation im Gerichtswesen mit absetzbaren, keinerlei politische Befugnisse ausübenden Richtern einzuführen: ein Plan, dessentwegen Montesquieu den Schotten einen

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der größten Förderer des Despotismus nannte. E r brach zugleich mit der Lawschen Bank zusammen, und erst ein halbes Jahrhundert später schritt Ludwig X V . auf anderem Weg zu dem gleichen Ziel. Unerträglich schien ihm die Opposition der Parlamente geworden, die alle Erlasse, welche nicht registriert waren, für ungültig erklärten, gegen die Beamten, die solche Erlasse des Königs befolgten, • mit schweren Strafen einschritten, jede Vermehrung der Steuern bekämpften, die Verwendung der staatlichen Gelder zu kontrollieren verlangten und durch ihre arrêts de règlement Verfügungen erließen, die dem Willen des Königs manchmal stracks zuwider liefen ; konnte m a n es doch erleben, daß eine öffentlich angeschlagene Verfügung des königlichen Rates von den Mauern gerissen und ein arrêt des Parlaments an seine Stelle geklebt wurde. Kein Zweifel, die Ansprüche der Parlamente waren, gestützt auf die öffentliche Meinung, die in ihnen mit Recht das einzige Gegengewicht gegen ein absolutes Willkürregiment sah, gewaltig gestiegen. Aber Ludwig X V . war entschlossen, ein Ende zu machen. Beraten und getrieben wurde er dabei von seinem Kanzler Maupeou, der bei dieser Gelegenheit zugleich den Sieg über seinen Rivalen, den parlamentsfreundlichen Staatssekretär Choiseul davontrug. Im Dezember 1 7 7 0 legte Ludwig selbst dem Pariser Parlament ein Edikt vor, welches die Sätze aussprach, daß alle Macht im Staate vom König fließe, der der Repräsentant der Nation sei und nach eigener Verantwortung die Gesetze erlasse und auslege, daß die Parlamentsmitglieder hingegen nur Diener des Königs seien, seine Räte, denen zwar das Recht, remontrances zu erheben, nicht bestritten werden solle, die aber keinerlei Anspruch auf Beachtung ihrer Vorstellungen zu erheben hätten. Auf dieses lit de justice erwiderte das Parlament mit dem alten Mittel einer Massendemission. Sie hätte nur angenommen werden dürfen, wenn den Räten die Kaufpreise ihrer Stellen zurückgezahlt worden wären. Diesmal aber nahm der König darauf keine Rücksicht: am 20. J a n u a r 1771 wurde die Demission angenommen, die Stellen eingezogen, die R ä t e nach verschiedenen Orten verbannt; bereits drei Tage darauf wurde ein provisorischer neuer Gerichtshof aus Räten des Königs (und maîtres des requêtes de l'hôtel) gebildet, der den Namen Parlament behielt, und den man spöttisch das »Parlament Maupeouc nannte. Im April 1771 wurden grand conseil und cour des aides zu Paris als Verbündete des alten Pariser Parlaments gleichfalls beseitigt, und noch gegen E n d e des Jahres folgten auch die provinzialen Parlamente. Sie hatten als Anhänger der Theorie von der ideellen Einheit des französischen Parlaments, wie sie erst vor kurzem mit besonderem Eifer durch den Geschichtsforscher Charles Debrosses aufs neue verfochten, vom König aber schon damals ausdrücklich abgelehnt worden war, gegen die Aufhebung des Pariser Parlaments protestiert und teilten nun sein Schicksal. Das ehemalige große Gebiet des Pariser Parlaments wurde in sieben Teile zerlegt, indem auch in Arras, Châlons-sur-Marne, Blois, Poitiers, Clermont-Ferrand und Lyon Gerichtshöfe eingerichtet wurden, H o l t z m a n n , Französische Verfassungsgeschichte.

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sogenannte conseils supérieurs, die dem neuen Pariser Parlament gleichstanden und die gleiche Einrichtung wie dieses aufwiesen. An die Stelle der provinzialen Parlamente traten dann eben solche conseilssupérieurs; die alten conseils supérieurs zu Kolmar, Perpignan und Bastia blieben erhalten. Die neuen Gerichtshöfe setzten sich aus ergebenen Dienern der Krone zusammen, genossen zwar das droit d'enregistrement, aber in erheblich beschränktem Umfang (sie sollten ihre remontrances nicht wiederholen und nicht veröffentlichen). Von ihnen war keine Opposition mehr zu fürchten: die Jahre von 1771 bis 1774 bedeuten den zweiten, freilich nur kurzen Höhepunkt des französischen Absolutismus. Der »Staatsstreich Maupeous« barg zweifellos manchen gesunden Kern in sich. Es verdient besondere Hervorhebung, daß die Käuflichkeit der Amter und das bedenkliche System der Gerichtssporteln von den neuen Gerichtshöfen nicht übernommen werden sollte. Und ganz ohne Bundesgenossen blieb der König mit seiner staatlichen Theorie keineswegs. Sie sollte an sich keine Willkürherrschaft etablieren. Wir wiesen schon darauf hin, daß sogar die Krone von Grundgesetzen der Monarchie wußte und sie im allgemeinen anerkannte; nur glaubte sich Ludwig XV. selbst Manns genug, sie zu wahren. In diesem Gedanken traf sich das Königtum eben damals mit der neuen physiokratischen Schule, deren Lehre von der inneren Natur des Staates und seiner Organe durchaus auf einen aufgeklärten Absolutismus und auf die Gegnerschaft gegen die Ansprüche der Parlamente abgestimmt war. Der König befiehlt nicht, was ihm beliebt, sondern er spürt das Wesen des staatlichen Organismus auf und vermag daraus die Verwaltungsmaßregeln zu erkennen, die diesen Organismus erhalten oder wieder gesund machen können; er findet die Gesetze, aber er erfindet sie nicht : das ist physiokratische Anschauung. Wie aber, wenn der König diesem System, der von ihm selbst in der Theorie anerkannten Pflicht tatsächlich nicht entsprach? Wenn er tatsächlich kein auf die natürlichen Bedürfnisse des Staates, sondern ein auf die eigene Willkür gegründetes Regiment führte? Darauf hatten die Physiokraten im Grunde so wenig eine Antwort, wie einst Jean Bodin eine gehabt hätte, wenn er gefragt worden wäre, was denn mit einem über die Moral und das göttliche Recht sich hinwegsetzenden König zu geschehen habe. Eben das jedoch war es, worauf es der öffentlichen Meinung ankam. Und nicht zu Unrecht. Die Tage Bodins waren schon lange vorüber. Zwei Jahrhunderte regsten geistigen Lebens lagen dazwischen, und die Gedanken Montesquieus, Voltaires und Rousseaus rangen zum Licht, so oder so. Es versteht sich, daß die öffentliche Meinung in der Aufhebung der Parlamente nur die Beseitigung der letzten Schranke, die dem vollkommenen Absolutismus in Frankreich noch entgegenstand, erblicken konnte. Der Streich wurde um so verletzender empfunden, als er zu einer Zeit erfolgte, wo der Hof unter dem Einfluß der ungebildeten Dubarry in ein ganz klerikales und reaktionäres Fahrwasser geriet und sich

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dadurch vollends von den intellektuellen Kreisen des Landes trennte. Kein Wunder also, daß die Gewalttat vom Jahre 1771 die öffentliche Meinung in eine ungeheuere Erregung versetzte. Sie fand ihren Niederschlag in einer Flut von Flugschriften, die sich mit einer Kühnheit, die nicht mehr zu überbieten war, über die Verfassung des Staates und die natürlichen Rechte des Menschen, über die erschreckliche Diskrepanz zwischen der Idee und der Wirklichkeit aussprachen. Damals, als sie nicht mehr existierten, hatteli die Parlamente in der allgemeinen Wertschätzung den Höhepunkt erreicht. Am 12. November 1774, ein halbes Jahr nach seiner Thronbesteigung, hat Ludwig XVI. das alte Pariser Parlament (sowie das grand conseil und die cour des aides zu Paris) wiederhergestellt,

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seitigung der neuen Gerichte in seinem Sprengel, und noch im selben Jahre sind auch die provinzialen Parlamente neu erstanden; es sollten allerdings auch in Zukunft nur einmalige remontrances stattfinden, und die Massendemission ganz verboten sein. Turgot hatte die Wiederherstellung in dieser Form widerraten; er hatte stärkere Garantien gegen einen Mißbrauch der politischen Opposition gewünscht. In der Tat erwiesen sich die Einschränkungen als völlig ungenügend: die Parlamente setzten sich alsbald darüber hinweg und begannen das alte Spiel der Weigerung zu registrieren und der immer erneuten Einwände. Man hat die Opposition der Parlamente gegen die Regierung Ludwigs XVI. und die Reformpläne seiner Minister nicht immer richtig gewürdigt. Es handelte sich bei ihr weder um eine Interessengemeinschaft der Parlamente mit den beiden oberen, privilegierten Ständen (die noblesse de rohe in den Parlamenten zählte und gehörte zum dritten Stand) noch um persönliche Gehässigkeit, sondern um einen Kampf zwischen dem absoluten Königtum und der letzten Instanz, welche sich ihm entgegenstellen und die öffentliche Meinung zum Ausdruck bringen konnte. Man muß bedenken, daß Generalstände und Notabeinversammlungen seit den Zeiten Richelieus nicht mehr berufen worden waren. Es ist nicht wahr, daß die Parlamente prinzipielle Gegner der Reform gewesen seien. Aber sie waren Gegner der aufgezwungenen und zum Teil mit doktrinärem Radikalismus betriebenen Reform, deren fühlbare Härten sie mildern wollten. Die Parlamente waren Feinde eines jeden Absolutismus oder »Despotismus« (wie man im Anschluß an Montesquieu zu sagen liebte), also auch des aufgeklärten. Über den Gedanken: »Alles für das Volk, nichts durch das Volk« war die Zeit bereits hinaus: es genügte nicht mehr, die wirtschaftliche Freiheit zu erzwingen, wenn man die politische vorenthielt. Das zeigte namentlich die Geschichte Turgots, der über den Widerstand der Parlamente mehrmals triumphierte, ihnen aber schließlich doch erlag. Denn dieser wirklich große Mann — der bedeutendste Minister Ludwigs XVI. — verletzte eben durch den radikalen Doktrinarismus, den auch wir in seinen Reformen finden werden, sowie durch seine, den physiokratischen Ideen und dem Wesen des aufgeklärten Absolutismus entsprechende Art, alles mit 23»

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Hülfe der absoluten Machtvollkommenheit der Krone zu erzwingen. Necker, der im Gegensatz zu ihm eine verfassungsmäßige Beschränkung der Monarchie wollte, ist mit den Parlamenten besser ausgekommen, und erst die durch die Indiskretion eines Gegners im Jahre 1781 erfolgte Veröffentlichung einer geheimen Denkschrift, in welcher Necker die Parlamente des Eigennutzes, der Popularitätshascherei und der politischen Unfähigkeit zieh, führte auch die Parlamente in die Reihen seiner Gegner. Seine beiden ersten Nachfolger waren gleichfalls beim Parlament beliebt. Calonne war wieder Physiokrat und Absolutist. Als seine Finanzpläne beim Pariser Parlament auf heftigen Widerstand stießen, schlug er 1786 zugleich mit neuen großen Reformprojekten die Berufung einer Notabeinversammlung vor. Das war ein Streich gegen die Parlamente und die -öffentliche Meinung. Denn er glaubte, die Notabein würden als einfache Ratsversammlung zu allem, was man ihnen vorlegte, Ja und Amen sagen; worin er sich freilich täuschte. Brienne machte sich zusammen mit dem Großsiegelbewahrer Lamoignon im Mai 1788 sogar ganz offen an den Versuch, den Parlamenten ihre politische Macht zu nehmen: in einer königlichen Sitzung wurde das Recht der Registrierung einem neuen königlichen Rat (der cour pleniere) übertragen. Ganz deutlich zeigte sich so, worum es sich bei diesen Konflikten handelte. Aber noch einmal siegten die Parlamente, die alsbald nach dem Geschehenen mit einer großen Agitation dagegen einsetzten. Im August 1788 wurde zunächst die Errichtung der cour plentere suspendiert, dann Brienne entlassen und Necker wieder an die Spitze der Finanzen gestellt. Auch die Berufung der Generalstände, die die Parlamente schon mehrfach gefordert hatten (gewiß kein Zeichen egoistischen Eigennutzes!) und die vom König im November 1787 versprochen wurde, war jetzt auf den 1. Mai 1789 erfolgt. Man wollte sich von ihnen neue Steuern bewilligen lassen und sie über die wirtschaftlichen Reformen hören. An eine Beschränkung des Absolutismus hat noch Brienne nicht gedacht. Erst Necker faßte den Plan, die Generalstände zu einer dauernden Institution zu erheben und durch sie das Königtum nach englischem Vorbild zu beschränken. Die hochgehende Erregung, welche die Wahlen, der Zusammentritt der Generalstände, die Beratungen der Nationalversammlung dann brachten, hat die Popularität der Parlamente sehr rasch in den Hintergrund treten lassen, so daß sich kaum eine Stimme für sie erhob, als sie im November 1789 beseitigt wurden. Selbst die unangenehme Beigabe, daß man den Inhabern des Amtes eine Entschädigungssumme von 350 Millionen zu zahlen hatte, wurde in Kauf genommen. Man konnte diese politischen Gerichtshöfe nicht mehr brauchen in der neuen Zeit, und niemand wird sie heute für eine gesunde Einrichtung erklären wollen. Das hindert nicht, daß auch die Parlamente eine wirklich große Zeit gehabt haben, und daß ihre größte Zeit diejenige kurz vor ihrem Ende gewesen ist: die Jahre 1774—1787, wo sie der überkommenen Staatsform gegenüber die Lehren des neuen philosophischen und

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Die anderen Gerichte und das Recht.

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staatlichen Geistes in mannhaften Kämpfen vertreten und, nach Überwindung früherer Vorurteile (z. B. in ihrer Haltung gegenüber den Protestanten), in der Zeit eines wohlmeinenden aber bei der Schwäche des Königs beständig der Gefahr feudaler und ultramontaner Reaktion ausgesetzten Absolutismus allein der Freiheit eine Gasse offen gehalten haben. 3 . Kapitel.

Die anderen Gerichte und das Recht. Literatur.

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Die Zeit des absoluten Königtums (1437—1789).

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1. Die nichtköniglichen Gerichte.

Unterhalb des Pariser Par-

laments haben wir im Mittelalter eine ganze Reihe von Gerichten höheren und geringeren Grades gefunden : die Gerichte in den königlichen Bailliages, die Gerichte der königlichen Prévôts, die entsprechenden lehnsfürstlichen Gerichte, die landrechtlichen Gerichte der seigneurs justiciers, schließlich die g r u n d h e r r l i c h e G e r i c h t s b a r k e i t . Die letztere, um von unten zu beginnen, ist im 16. Jahrhundert so gut wie ganz verschwunden. An ihre Stelle traten die nächsten zuständigen landrechtlichen Gerichte, d . h . diejenigen Hex seigneurs justiciers oder (wo es solche nicht gab) die Prévôts und, wenn es sich um Adlige handelte, die Baillis. Diese Entwicklung ist unter dem Einfluß des römischen Rechts vor sich gegangen, das somit die letzte Erinnerung an die ehemalige hofrechtliche Gerichtsbarkeit tilgte ; nur in wenigen Gegenden haben sich einige Spuren der grundherrlichen Gerichtsbarkeit gehalten. Die l a n d r e c h t l i c h e n G e r i c h t e der seigneurs justiciers und der Lehnsfürsten blieben dagegen bestehen bis zum Ende des Ancien régime. Häufig genug haben freilich die Juristen und Theoretiker, die Räte und Minister der Krone zu einer gänzlichen Beseitigung dieser Gerichte geraten, um überall gleichmäßig die königlichen Gerichte auszubreiten und das komplizierte Durcheinander der mannigfaltigen Gerichtsbarkeiten zu beseitigen. Im 17. und 18. Jahrhundert zweifelte man eigentlich auch nicht daran, daß der König das dürfe und könne, wenn er wolle. Die Gerichte dieser Seigneurs und Lehnsfürsten galten als eine Bewilligung des Königs, die nach Gutdünken auch wieder rückgängig gemacht werden konnte. Im Prinzip war damit die Einheit aller Gerichtsbarkeit in Frankreich ausgesprochen (>< toute justice émane du roh). Viele Fälle wurden den seigneurialen Gerichten ja überhaupt entzogen (als cas royaux oder nach dem Präventionsrecht), und die anderen unterlagen den königlichen Berufungsinstanzen. Aber den letzten Schritt, die tatsächliche Beseitigung der seigneurialen Gerichtsbarkeit, hat die Krone nie gewagt. Zwar auf eines hat sie gesehen: sie verlangte, daß die Seigneurs, welche Gerichtsbarkeit ausübten, dazu gelehrte Richter einsetzten und bezahlten.

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Die alte patriarchale Art der Rechtsprechung durch den Gerichtsherrn selbst mit einigen Vasallen als Beisitzern verschwand damit (im 15. Jahrhundert): Pairs, hieß es, gibt es nur beim König. Der Seigneur hatte dann seinerseits einen Vertreter (Prokurator) bei seinem Gericht. Aber trotzdem waren die seigneurialen Gerichte meist herzlich schlecht, namentlich weil die Gerichtsherren bei der ihnen obliegenden etwas kostspieligen Verfolgung der Verbrecher es an der nötigen Energie fehlen ließen, die Prozesse möglichst rasch zu Ende führen wollten und den Verurteilten das Entkommen aus den Gefängnissen nicht gerade erschwerten. So blieben besonders die recht .zahlreichen Gerichte der seigneurs justiciéis in ihren verschiedenen Abstufungen nach niederer, mittlerer und hoher Gerichtsbarkeit, nach erster, zweiter und noch höherer Instanz ein wahrer Krebsschaden der gesamten Rechtspflege. Etwas besser stand es im allgemeinen mit den Gerichten der Lehnsfürsten, von denen die größeren Apanagenherren auch jetzt außer einem Hofgericht (den grands jours) häufig Landrichter nach Muster des Königs hatten (prévôts oder bayles, zum Teil auch darüber noch Baillis oder Seneschalle) ; es war nicht selten, daß diese Landrichter bei der Bildung einer Apanage einfach übernommen (und mithin aus königlichen Beamten zu lehnsfürstlichen) wurden, oder daß sie beim Heimfall der Apanage wieder in den königlichen Dienst traten. Die grands jours eines Lehnsfürsten werden manchmal als grands jours féodaux bezeichnet, im Gegensatz zu den grands jours royaux, worunter man Kommissionen verstand, die das Pariser Parlament gelegentlich nach den entfernteren Teilen seines Bezirks sandte (und die als Teile des Parlaments in oberster Instanz richteten). Zur Errichtung neuer grands jours war immer die königliche Genehmigung erforderlich. Bestehen blieben auch die S t a d t g e r i c h t e , die die Theorie als eine besondere Abart der lehnsfürstlichen Gerichte ansah. Ihre Kompetenzen wurden allerdings vielfach beschränkt, und im Jahre 1566 wollte die Ordonnanz von Moulins ihnen sogar die ganze Zivilgerichts. barkeit entziehen ; doch gelang es nicht, diese Verordnung überall zur Durchführung zu bringen (vgl. Kap. 10).

2. Die königlichen Land- und Spezialgerichte. Käuflichkeit d e r Ämter. Die untersten königlichen Landrichter sind die P r é v ô t s (und die ihnen entsprechenden Beamten mit anderen Namen). Sie haben ihre richterliche Funktion dauernd beibehalten, während sie alle anderen, die sie ehemals besaßen, bereits beim Beginn unserer Periode verloren hatten. Denn auch der letzte Rest ihrer administrativen Befugnisse beschränkte sich schließlich darauf, den Verordnungen der Baillis und anderer Beamten mit richterlichen Mitteln Geltung zu verschaffen. Das alte System, das Amt des Prévôts in Pacht auszugeben, ist erst allmählich ganz verschwunden und in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts durch das nur wenig bessere der Käuflichkeit des Amtes, das damit lebenslänglich wurde, ersetzt worden.

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HI. Periode.

Die Zeit des absoluten Königtums (1437—1789).

Über den Gerichten der Prévôts standen die Gerichte in d e n B a i l l i a g e s . Die Baillis freilich haben in ihnen nicht mehr gerichtet sondern im Laufe des 15. Jahrhunderts, wie schon vorher die finanziellen, so jetzt auch die richterlichen Funktionen völlig verloren. Jener lieutenant (auch juge mage, juge ordinaire genannt), den wir schon früher auf dem Weg zur richterlichen Nachfolge des Bailli fanden, übt seit dem Ende des 15. Jahrhunderts ausschließlich die Gerichtsbarkeit in den Bailliages aus und wird direkt vom König ernannt. Etwa um die gleiche Zeit begann in einigen Bailliages eine Erweiterung der richterlichen Ämter, die bald allgemein wurde. Wir finden, zwei lieutenants, einen lieutenant général und zu seiner Entlastung einen lieutenant particulier, dazu für Strafsachen beim Châtelet und an anderen Orten einen lieutenant criminel. Bereits 1522 wurde durch Franz I. in a l l e n Bailliages ein lieutenant criminel eingeführt; der oder die anderen Richter nahmen im Gegensatz zu ihm auch den Titel lieutenant civil an. Die Leutnants hatten ihren dauernden Sitz in der Hauptstadt des Bailliage. Zur Rechtsprechung gehört nach altfränkischer Anschauung nicht nur ein Richter, sondern auch ein Gerichtshof. Schon die Baillis hatten sich, als sie noch die Gerichtsbarkeit selbst ausübten, Beisitzer gewählt aus der Zahl der Geistlichen, der Adligen oder auch der vornehmeren Bürgerlichen ihres Bailliage, und bereits vor der Mitte des 14. Jahrhunderts können wir nachweisen, daß die Beisitzer gleichfalls vom König bezahlt wurden. Die assesseurs und conseillers (genauer conseillers jugeurs, später conseillers magistrats) der Leutnants waren seit dem 15. Jahrhundert rechtskundige Leute (vielfach Advokaten) und wurden von Franz I. zu ständigen Beamten erhoben. Und während ursprünglich der Richter allein das Urteil fällte, kam, schon im 15. Jahrhundert das kollegialische Verfahren auf, d. h. d i e Abstimmung des Gerichtshofs nach Stimmenmehrheit, die bald allein üblich wurde. Besonders wichtig und zahlreich waren die Beisitzer beim Châtelet. Schon 1327 gab es hier acht conseillers, die sich in conseillers auditeurs und conseillers examinateurs unterschieden ; ihre Zahl ist im Lauf der Zeit auf 64 gestiegen, die sich in 4 colonnes teilten. Anders bei den Prévôts. Sie haben erst im Jahre 1578 gleichfalls ihre Beisitzer (conseillers assesseurs de la prévôté) erhalten, und diese übten meist nur eine beratende Stimme aus (wenn es auch wünschenswert war, daß sie ihre Zustimmung zum Urteil gaben). Zwischen die gewöhnlichen Gerichte der Bailliages und die Parlamente hat Heinrich II. noch eine Zwischenstufe geschoben, die P r ä s i d i a l s i t z e (sièges présidiaux), indem er im Jan. 1552 einige der Bailliage-Gerichte zu diesem Rang erhob. Die Präsidialsitze sollten in weniger wichtigen Zivilfällen die oberste Appellinstanz sein, und hierfür also die Berufungen aus den benachbarten Bailliages entgegennehmen. Mit den Appellationen an die Parlamente war wieder einmal Unfug getrieben worden; da sollte die Neuordnung Abhilfe schaffen. Die Kompetenz der Präsidialsitze wurde später auch auf

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eine Reihe von Strafsachen (die cas présidiaux, insonderheit öffentliche Ruhestörung und Friedensbruch betreffend) ausgedehnt, ohne daß es da je zu einer ganz fest umschriebenen Ordnung gekommen wäre. Überhaupt sind über Fragen der Zuständigkeit und Einrichtung der Präsidialsitze im Lauf der Zeit sehr zahlreiche Verfügungen erlassen worden, die sich teils ergänzten teils aufhoben, und die jedenfalls zeigen, daß diese Institution in beständigem Fluß befindlich war. Im ganzen ist die Zahl sowohl als die Kompetenz allmählich erhöht worden. Ludwig XVI. dachte 1788, die Präsidialsitze gegen die Parlamente zu benutzen. Als er im Mai deren politische Rechte zerstören wollte (S. 356), hat er auch zugleich ihre richterlichen Befugnisse beschränkt. Zu diesem Zweck wurde eine Reihe neuer Präsidialsitze geschaffen, während zwischen sie und die Parlamente abermals eine neue Ordnung geschoben wurde, die Gerichte der grands bailliages mit weitgehenden Kompetenzen als oberste Instanz. Aber diese letzte Änderung konnte nur unvollkommen durchgeführt werden und sollte kein langes Leben haben. Den Präsidialsitzen entsprach in zwei im 17. Jahrhundert erworbenen Grenzländern ein anderer Gerichtshof, der den Titel conseil provincial führte. Ein erstes conseil provincial wurde in Arras nach der Eroberung der Stadt im August 1640 übernommen (Kaiser Karl V. hatte es im Jahre 1530 errichtet). Es war für den Artois zuständig und stand hinsichtlich der Appellationen in wichtigeren Fällen unter dem Pariser Parlament. Ein zweites conseil provincial war nur von vorübergehendem Bestand; es ist dasjenige, welches wir in den Jahren 1661—79 im Elsaß fanden (S. 340), und das unter dem Parlament von Metz stand, bis es wieder in einen souveränen Gerichtshof verwandelt wurde. Zu diesen ordentlichen Gerichtshöfen, die in den Parlamenten ihren Abschluß finden, kommt dann noch eine ganze Reihe außerordentlicher S p e z i a l g e r i c h t e , da, wie wir wissen, fast jede Behörde in Frankreich mit einer' Verwaltungsgerichtsbarkeit in eigener Sache (für die Streitigkeiten, die sich zwischen ihr und der Bevölkerung erhoben) begabt war. Die wichtigsten dieser Spezialgerichte gehörten der Finanz- und der Heeresverwaltung an, so namentlich die Gerichtsbarkeit der chambre des comptes, der chambre des monnaies und der chambre des aides sowie, unter der ersten, diejenige der bureaux des finances, unter der letzten, diejenige der élus, der grenetiers und der maîtres des ports et passages; so im Heer und der Marine die Gerichtsbarkeit des Connétable und des Admirais. Auf die Weiterentwicklung dieser Spezialgerichte werden wir zurückkommen und auch neue Spezialgerichte noch erwähnen (die Gerichtsbarkeit der Prévôts der Marschälle und der juges consuls, von denen namentlich die erstere tief in die bürgerlichen Verhältnisse eingrifE). Die sämtlichen königlichen und nichtköniglichen richterlichen Stellen in Frankreich wurden, ebenso wie die Amter der Finanzverwaltung, im 15. Jahrhundert nach Vorgang und Vorbild des Paria-

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ments k ä u f l i c h (S. 342). Und zwar in den Bailliages sowohl die Ämter der Baillis als diejenigen ihrer Leutnants. Ferner nahm das grand conseil, das ältere der beiden neuen Hofgerichte, bald ebenfalls an dieser allgemeinen Käuflichkeit teil. Die P a u l e t t e aber, welche auch den Erben eines im Dienst (oder unmittelbar nach seinem Rücktritt) gestorbenen Beamten den Verkauf seiner Stelle sicherte, galt nur für die königlichen Amter. Man drückte das kurz (und nicht ganz unmißverständlich) so aus, daß man sagte : die seigneurialen Richterstellen sind nur käuflich, die königlichen käuflich und erblich. — Die städtischen Magistraturen gehorchten anderen Gesetzen. Von einer Käuflichkeit im Sinn der staatlichen Amter kann bei ihnen nicht geredet werden. Eher bei einigen von ihnen von einer tatsächlichen Erblichkeit. 3. Eingriffe des Königs in die Rechtsprechung. Noch aber gab es eine Instanz, die über dem gesamten komplizierten Organismus der französischen Gerichtsordnung stand und sie beständig durch willkürliche Eingriffe regulierte, störte, aufhob : den König selbst. Wir kennen schon die Wiederbelebung des alten E v o k a t i o n s r e c h t e s , welche es dem König ermöglichte, jeden beliebigen Prozeß vor sein Forum zu ziehen. Der König, so erklärten seine Juristen, ist der Ursprung alles Rechtes und aller Gerichtsbarkeit. Er hat ihre Ausübung zwar für gewöhnlich seinen Gerichten und den Seigneurs übertragen, sich aber doch die Möglichkeit, wo er will, selbst Recht zu sprechen, zurückbehalten (justice retenue). Für die Art, auf welche er selbst Recht sprechen konnte, boten sich ihm drei Möglichkeiten: er verwies die betreffenden Fälle entweder vor seinen Rat, oder vor eine besondere, ad hoc gebildete Kommission, oder aber er entschied selbst, unmittelbar. Der Bildung zweier neuer richterlichen Sektionen im k ö n i g l i c h e n R a t , des grand conseil und des conseil privé, wurde oben (S. 332 f.) gedacht. Daß der König nach Gutdünken erst dem ersteren, dann dem letzteren gerichtliche Entscheidungen übertrug, hatte zwar beständige Protestationen der Parlamente zur Folge, blieb aber ein dauernder Brauch. Auch die sogenannten Appellationen von den Parlamenten an den königlichen Rat gründeten sich darauf. Denn es handelte sich bei ihnen nicht um ein Recht der Parteien (es gab keine wirkliche Berufung gegen souveräne Gerichtshöfe), sondern um die Anwendung des Evokationsrechtes durch den König auf Ansuchen der Parteien (das aber ebensogut abgelehnt oder durch Rückverweisung an das erste Gericht beschieden werden konnte). . Immerhin wurde der Rat zu einem Bericht über das Ansuchen aufgefordert, sodaß letzteres doch wenigstens auf diese Art zu einer Verhandlung kam. Auch Fälle, in denen zwei souveräne Gerichtshöfe die gleiche Angelegenheit verschieden beurteilt hatten, wurden vom König den neuen Hofgerichten überwiesen (sogenannte règlements de juges). Und schließlich sei hier noch des Privilegiums -»Committimus« gedacht, durch welches einzelne Personen für Lebenszeit das Vorrecht er-

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hielten, daß alle ihre Prozesse direkt vor einem bestimmten höheren Gerichtshof zuständig seien. Dieser Gerichtshof war entweder die chambre des requêtes (du palais) des Parlaments oder aber die Vereinigung der maîtres des requêtes de l'hôtel, d. h. der Mitglieder des Staatsrats, welche auch im conseil privé die Hauptrolle spielten. Eine solche Vergünstigung, deren Wurzel natürlich gleichfalls in der richterlichen Allgewalt des Königs ruhte, wurde durch ein königliches Schreiben erteilt, das von seinem Eingang den Namen lettre de committimus erhielt. Die Anfänge davon lassen sich bis in die Mitte des 14. Jahrhunderts zurückverfolgen; in ausgedehnterem Maße kam der Brauch aber erst während unserer Periode zur Anwendung. Minister, Räte, Sekretäre und Diener des Königs oder des königlichen Hauses, Mitglieder der souveränen Gerichtshöfe, insonderheit der Parlamente, sowie Angehörige geistlicher Korporationen waren die hauptsächlichsten Inhaber des Privilegiums Committimus. Der König konnte ferner zur Aburteilung eines beliebigen Falles eine besondere richterliche K o m m i s s i o n ernennen und diese Kommission beliebig zusammensetzen (z. B. aus Staatsräten, Sekretären, Parlamentsräten, Baillis, Leutnants usw.). Sogar die Ernennung nur e i n e s Kommissärs war möglich. Die Spuren einer solchen Rechtsprechung, von der im gründe doch auch die grands jours royaux (S. 359) nur eine Abzweigung waren, lassen sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Die commissions à juger (oder jugements par commissaires) wurden in unserer Periode mit besonderer Vorliebe bei politischen Prozessen angewandt und blieben für Angelegenheiten öffentlichen Interesses in Gebrauch, obgleich Heinrich III. in der Ordonnanz von Blois (1579) auf die Beschwerden, welche namentlich die Generalstände von 1576 — 77 erhoben hatten, die Beseitigung dieser Art von Rechtsprechung zugesagt hatte. Die Kommissionen wurden immer nur für einen bestimmten Fall gebildet; nach dem Urteilsspruch hörten sie auf zu bestehen. Schließlich aber griff der König gelegentlich auch in e i g e n e r P e r s o n , ohne jeden gerichtlichen Spruch, in die Rechtsprechung ein, und zwar geschah das entweder vermittelst eines offenen Kanzleischreibens oder durch einen geschlossenen Kabinettsbefehl. Der Unterschied in der Form beruht im Wesen der Sache. Die Briefe aus der Kanzlei waren offen (lettres patentes) und mit dem Staatssiegel versehen, da es sich hier um Schreiben handelte, welche für die Öffentlichkeit bestimmt waren und ordnungsmäßige Gunsterweisungen enthielten, wie sie zu allen Zeiten im Staat erforderlich waren und sind. Diese in das Gebiet der Rechtsprechung eingreifenden lettres patentes des Königs zerfielen in die sogenannten lettres de grâce und lettres de justice. Die Briefe aus dem Kabinett hingegen waren gefaltet und geschlossen (lettres closes), da sie geheim und nur für den Adressaten bestimmt waren. Sie enthielten außerordentliche Anordnungen, waren von einem Privatsekretär des Königs unterzeichnet und nur mit der

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persönlichen Petschaft (cachet) des K ö n i g s v e r s e h e n ; daher heißen sie auch lettres de cachet. Die lettres de gräce und die lettres de justice unterscheiden sich dadurch, daß jene in das Gebiet des Strafrechts, diese in das d e s Zivilrechts eingreifen, und sie führen ihre N a m e n dabei insofern z u Recht, als es sich nur bei den ersteren um einen wirklichen G n a d e n akt handelt, während die letzteren A u s n a h m e r e g e l n zur S i c h e r u n g eines wirklich gerechten Urteils statuieren wollten, das also, was w i r heute eine R e c h t s w o h l t a t nennen. Die Berechtigung zu beiden war von den Legisten aus dem römischen Recht, aus den Befugnissen des römischen Kaisers dem französischen K ö n i g vindiziert worden. E i n beschränktes Begnadigungsrecht hatten übrigens auch die Parlamente; es galt aber nur für bestimmte Fälle und wurde als freiwillig übertragene und jederzeit zu widerrufende Gunster Weisung des K ö n i g s angesehen. Bei den königlichen lettres de gräce konnte die A r t der Gnade sehr verschieden sein. Es konnte sich um volle, u m teilweise oder um strafumwandelnde B e g n a d i g u n g handeln; sie konnte einen einzelnen, mehrere und viele (Amnestie) treffen; sie konnte schon vor der Urteilsfällung stattfinden (Niederschlagung) oder erst nachträglich die durch die Strafe verursachten Rechtsunfähigkeiten wieder aufheben (Rehabilitation). Der häufige Gebrauch des Begnadigungsrechts gegenüber dem Adel hat gelegentlich zu lebhaften Beschwerden der Parlamente (welche die lettres patentes zu registrieren hatten) und der Generalstände geführt; sie blieben indes ohne dauernde Erfolge. Ein Gnadenakt, der regelmäßig und jedermann erwiesen wurde, und der daher eigentlich n u r mehr begrifflich unter das Begnadigungsrecht fiel, war die remissio (im engeren Sinne des Wortes); sie brachte eine Strafumwandlung im Falle eines fahrlässig oder im Zustand der Notwehr verübten Totschlags. Das alte R e c h t kannte keinen Unterschied zwischen Mord und Totschlag im heutigen technischen S i n n e : da griff der K ö n i g ein und milderte die Strenge des Gesetzes. Diese regelmäßig erteilte remissio bedeutete auf dem Gebiet des Strafrechts etwas ähnliches wie die lettres de justice auf dem Gebiet des Zivilrechts. Die lettres de justice erwiesen da, wo der strikte Buchstabe des Gesetzes gewalttätig und ungerecht zu werden drohte, eine Rechtswohltat, z. B. einen A u f s c h u b bei der Zahlung einer fälligen Schuld, wenn die rechtzeitige Z a h l u n g durch unverschuldete Ereignisse unmöglich gemacht worden war, oder die Ungültigkeit eines unter Vorspiegelung falscher Tatsachen erschlichenen Vertrags, oder die Ä n d e r u n g eines unter ganz anderen Umständen abgeschlossenen Vergleichs, oder sonst eine rechtliche A n o r d n u n g ex aequo. H e u t e sind derartige Rechtswoliltaten im Gesetz vorgesehen; früher trat auch in diesen Fällen der K ö n i g dafür ein, und zwar bei den gewöhnlichen, häufig sich wiederholenden F r a g e n nach ganz bestimmten, dauernd beobachteten Gesichtspunkten. W u r d e schon mit den lettres de gräce und gelegentlich auch mit den lettres de justice Mißbrauch getrieben, so stand es doch noch bei

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weitem schlimmer mit der Handhabung der berüchtigten lettres de cachet. Jene waren an sich eine nützliche und gerechtfertigte Einrichtung; diese dienten, soweit sie in die Rechtsprechung eingriffen {es gab auch noch andere lettres de cachet, z. B. die lettres de jttssion), lediglich einem absolutistischen Willkürregiment. Durch eine lettre de cachet konnte der König jede beliebige Person ohne irgendeinen Prozeß entweder in einem Staatsgefängnis festsetzen lassen oder vom Hof oder aus dem Lande verbannen. Diese Einrichtung ermöglichte es also, mißliebige Personen ohne den Skandal eines öffentlichen Prozesses zu entfernen, plötzlich verschwinden zu lassen. Sie bedeutete wohl den schlimmsten Eingriff in die ordnungsmäßige Justiz. Kam es doch sogar vor, daß der König den Ministern Blankette aushändigte, die sie dann nach eigenem Gutdünken, gegen wen sie wollten, als lettres de cachet verwenden konnten. Vergebens haben die Generalstände sowohl als die Parlamente gegen die Gefährdung der Freiheit und Sicherheit durch die lettres de cachet protestiert. Der Gegensatz zwischen der absolutistischen Idee und den neuen staatlichen Anschauungen, die in England im 17. Jahrhundert in der Petition of rights und der Habeaskorpusakte zum Sieg gelangten, tritt hier auf das schneidendste in die Erscheinung. So behielt also in Frankreich das Gerichtswesen jenes eigentümliche, charakteristische Gemisch von veralteten feudalen Gerechtsamen und einer maßlosen königlichen Allgewalt. Dazu kamen im einzelnen zahlreiche Ubelstände, wie namentlich die Käuflichkeit aller richterlichen Stellen. Über die Unsittliclikeit der bestehenden Zustände waren sich denn auch die vorrevolutionären Schriftsteller mit Recht einig. Aber die Beseitigung dieser unhaltbaren Ordnung ist erst das Verdienst der Revolution geworden. 4. Das Rccht. Brachte die vorige Periode eine private Aufzeichnung zahlreicher landschaftlicher G e w o h n h e i t s r e c h t e , so ist die letzte durch eine offizielle und allgemeine Redaktion der verschiedenen coiitumes charakterisiert. Mehrere Gründe machten es mit der Zeit denn doch dringend wünschenswert, einen offiziellen Text der coiitumes zu besitzen, insonderheit die entwickelte Appellgerichtsbarkeit, durch welche die höheren Gerichtshöfe häufig mit Fällen fremden Gewohnheitsrechtes beschäftigt wurden. Das gleiche praktische Bedürfnis erklärt es auch, daß die neuen, offiziellen coutumes nicht für kleine Landschaften, sondern — unter Verwischung unbedeutender Differenzen in den bestehenden Gewohnheitsrechten — gleich für größere Territorien, für Bailliages und ganze Provinzen aufgestellt wurden. Eben das war dann auch wohl ein Grund dafür, daß von jenen älteren privaten Aufzeichnungen nur zwei, die coutumieres der Normandie und der Bretagne, bei der offiziellen Redaktion einfach übernommen wurden. Wir sahen (S. 228), daß bei dem dringenden Bedürfnis solcher Buchungen schon zu. Beginn des 15. Jahrhunderts die Richter einiger Provinzen selbständig vorgegangen waren; noch 1450 folgte ebenso Berry. Dann aber griffen sowohl

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das Königtum als auch, dadurch veranlaßt, eine Reihe apanagierter Lehnsfürsten (wie die Herzöge und Grafen von Burgund, Bourbon. Auvergne, Marche, Anjou) ein und veranlaßten eine allgemeine Redaktion der coatumes in Frankreich. Karl VII. gab in der Ordonnanz von Montil-les-Tours 1454 dazu Befehl, und da es mit der Kodifizierung in den K r o n l ä n d e r n n u r langsam voranging, traf Karl V I I I . 1495 neue A n o r d n u n g e n und stellte genaue Regeln für das Verfahren auf, die nach dem Tod des ersten Präsidenten des Pariser Parlaments J o h a n n de La Vacquerie, dem anfangs die Oberleitung anvertraut war (t 1497), noch vereinfacht wurden. Die Buchung erfolgte durch h o h e Justizbeamte u n d wurde durch eine Kommission von acht Mitgliedern überwacht und revidiert, auch den Ständen der betreffenden Provinz (oder, wo es solche nicht gab, einer ähnlichen, ad hoc gebildeten Vertretung der Bevölkerung) nochmals vorgelegt; den Schluß bildete die Registrierung durch das Parlament. Aus dem 15. J a h r h u n d e r t ist namentlich die Redigierung des Gewohnheitsrechtes von Burgund durch Herzog Philipp den Guten, abgeschlossen 1459, zu notieren; sonst sind damals n u r wenige coatumes fertig geworden (u. a. 1461 Touraine, 1463 zweite Redaktion in Anjou, 1493 Bourbonnais). Die meisten sind, infolge der Reform Karls VIII., während der Regierung Ludwigs XII. aufgezeichnet worden (u. a. 1509 Orleans, 1510 Paris und Auvergne); doch auch f ü r den Rest des J a h r h u n d e r t s blieb manches zu tun übrig. Eine der wichtigsten coutumes, die es noch im Süden gab, diejenige von Bordeaux und Umgegend, wurde 1521 abgeschlossen; noch im gleichen J a h r e folgte Marche, 1534 der Nivernais usw. Bei der Buchung in der Bretagne 1539 und in d e r N o r m a n die 1577—83 begnügte m a n sich damit, die in diesen L ä n d e r n bereits in offiziellen Gebrauch genommenen älteren Sammlungen (die Tres ancienne coutume de Bretagne und den Grand coutumier de Normandie) mit geringen Umarbeitungen zu ü b e r n e h m e n . Gegen E n d e des 16. J a h r h u n d e r t s war m a n in der H a u p t s a c h e fertig; jedoch sind einzelne coutumes auch erst im Laufe des 17. und 18. J a h r h u n d e r t s , bis unmittelbar vor Ausbruch der Revolution, redigiert worden (zuletzt 1787 die der Markgrafschaft Hattonchätel in Lothringen). Übrigens war es mit einer einmaligen offiziellen Buchung keineswegs überall getan. I m Lauf der Zeit wurden vielfach Ergänzungen und Modifizierungen nötig, die seit der zweiten Hälfte des 16. J a h r h u n d e r t s auf dem gleichen Weg zu sogenannten »Reformationen« (d. h. verbesserten Neuausgaben) der coutumes f ü h r t e n , namentlich seitdem die Generalstände von 1576—77 den Wunsch nach solchen reformations der bereits gebuchten coutumes ausgesprochen hatten. Es gibt ziemlich viele von solchen, gleichfalls offiziellen, neuen oder reformierten coutumes (u. a. 1555 Sens, 1559 Touraine, 1562—75 Burgund, 1580 Paris und Bretagne, 1583 Orleans). Die W i r k u n g der offiziellen Kodifizierung der coutumes war mannigfaltiger Art. Die pays de coutumes hatten n u n m e h r auch ein geschriebenes Recht, dessen Text feststand und höchstens durch einen

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neuen gesetzgeberischen Akt (eine reformation) ergänzt oder verändert werden konnte. Die Möglichkeit einer stillschweigenden Fortentwicklung war zum mindesten sehr viel geringer geworden, und insonderheit hörte die weitere Umbildung durch das r ö m i s c h e R e c h t nunmehr auf; die letzte Beeinflussung durch dieses ist vielfach eben die offizielle Redaktion gewesen, bei der manche Juristen (wie besonders Peter Lizet, der von 1529—1550 erster Präsident des Pariser Parlaments war, bis er infolge seiner Feindschaft mit dem Kardinal von Lothringen gestürzt wurde) darauf ausgingen, das Gewohnheitsrecht nach Möglichkeit dem römischen Recht anzunähern. Dagegen begann nun eigentlich erst die Wissenschaft des Gewohnheitsrechts, seine Kommentierung nach Art des römischen ¡Rechts und des Kirchenrechts, aber weniger auf den Universitäten, wo es erst seit 1679 Gegenstand des Unterrichts wurde, als bei den Männern der Praxis, Richtern und Advokaten (vgl. S. 368 f.). Andererseits hatten die Kodifizierungen unverkennbar eine gewisse Uniformierung des Landrechts zur Folge. Hatte man auch kein allgemeines Landrecht geschaffen, so war es jetzt doch wenigstens in den einzelnen Provinzen einheitlich geworden, während früher auch innerhalb dieser Provinzen vielfach noch einzelne coutumes mit lokalen Unterschieden und Spielarten bestanden hatten. Was nicht offiziell redigiert war, hatte nunmehr keinerlei Geltung mehr. Für den Süden bedeutete das noch einmal eine Ausdehnung des römischen Rechts, sofern von den coutumes, die sich hier an einigen Orten erhalten hatten, nur die offiziell redigierten in Geltung blieben, die anderen hingegen im Laufe des 16. und 17. Jahrhunderts verschwanden. Es wäre ein Irrtum zu glauben, daß durch die offiziellen Kodifizierungen der coutumes alle S t r e i t f r a g e n über das bestehende Recht in den pays de coutumes unmöglich geworden wären. Einmal kam es auch jetzt vor, daß die Parteien behaupteten, einzelne kodifizierte Bestimmungen seien außer Gebrauch gekommen oder modifiziert worden; doch mußten sie dafür eine große Zahl von Präzedenzfällen aufweisen können. Außerdem aber waren die coutumes auch in ihrer gebuchten Gestalt vielfach lückenhaft. Ihre Bestimmungen bezogen sich in erster Linie auf die Fragen des Zivil- und des Lehnsrechts; das Strafrecht und die Fragen des gerichtlichen Verfahrens wurden im allgemeinen nicht ebenso ausführlich, manchmal nur in sehr geringem Maße berücksichtigt. Es bedurfte also, wo das Gewohnheitsrecht Lücken aufwies, einer Aushilfe, und die bot sich entweder in anderen coutumes (eines besonderen Ansehens erfreute sich da die coutume von Paris) oder im römischen Recht; welches der beiden Hilfsmittel einzutreten habe, darüber ist sich weder die Theorie noch die Praxis im alten Frankreich je einig geworden. Im ganzen blieb es also in Frankreich bis zur Revolution bei der Trennung in L ä n d e r d e s r ö m i s c h e n R e c h t s und in L ä n der des G e w o h n h e i t s r e c h t s . Jene lagen hauptsächlich im Süden, diese im Norden. Doch gab es da durch die Neuerwerbungen

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allerhand Modifizierungen; insonderheit gehörte das Elsaß zu den Ländern römischen Rechts. Von den 16 obersten Gerichtshöfen, die es bei Ausbruch der Revolution in Frankreich gab, hatten 6 (nämlich die Parlamente von der Bretagne, der Normandie, Flandern, den Drei Bistümern, Lothringen und der Franche-Comte) ausschließlich über Länder des Gewohnheitsrechts und 7 (nämlich die Parlamente von Bearn, der Languedoc, der Provence und dem Dauphine [bis 1771 auch Dombes] sowie die drei conseils souverains) ausschließlich über Länder des römischen Rechts zu urteilen. Die Gebiete der übrigen drei Parlamente waren geteilt, doch so, daß der größere Teil der Parlamente von Paris und Burgund gewohnheitsrechtlich war (zu den Ländern römischen Rechts gehörten dort nur die oben S. 54 genannten südlichen Teile der Auvergne, der Lyonnais mit Forez und Beaujolais und der Mäconnais, hier nur Bresse, Dombes, Bugey, Valromey und Gex), während das Parlament der Guyenne fast ganz (nämlich außer einem Zipfel bei St. Jean d'Angely in Aunis) in das Gebiet des römischen Rechts fiel. An Bemühungen freilich, ein einheitliches Recht in Frankreich zu schaffen, hat es nicht gefehlt, und in der Praxis hatten sie zweifellos sogar schließlich einige Erfolge, auch wenn im Prinzip an dem überkommenen Zustand nichts geändert wurde. Diese Bemühungen waren gelehrten Charakters; sie gingen von der Rechtswissenschaft aus. 5. Die Rechtswissenschaft. Die französische Rechtswissenschaft spaltete sich mit dem Aufkommen der wissenschaftlichen Behandlung des Gewohnheitsrechts zu Beginn des 16. Jahrhunderts in zwei Hauptarme, je nachdem die Juristen sich vornehmlich mit dem römischen Recht oder mit dem Gewohnheitsrecht befaßten; erst im 17. und 18. Jahrhundert sind beide Richtungen wieder mehr verschmolzen. Die größte Zeit der französischen Rechtswissenschaft vor der Revolution liegt indes im 16. Jahrhundert, und zwar für beide genannten Zweige. Zunächst gewann da die neue Wissenschaft vom Gewohnheitsrecht den Vorrang. Ihre drei Begründer in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts sind Nikolaus B o y e r (de Bohier, Boerius, 1469 bis 1539), der Professor in Bourges und (seit 1515) Parlamentspräsident in Bordeaux war und sich (seit 1508) mit dem Recht beider Gegenden beschäftigte, Bartholomäus von C h a s s e n e u x (Chassanaeus, 1480 bis 1541), der als Advokat in Autun einen vortrefflichen Kommentar zum Gewohnheitsrecht des Herzogtums Burgund veröffentlichte (1523) und als Präsident des Parlaments der Provence starb, sowie Karl D u M o u l i n (Molinaeus, 1500—1566), der umfassendste Geist von ihnen, der sich mit fast allen französischen coutumes beschäftigte (insonderheit niit der von Paris), sie zu einem einheitlichen Gewohnheitsrecht verschmelzen wollte und damit die Reihe der französischen Juristen, welche auf eine Vereinheitlichung des Rechtes hingearbeitet haben, eröffnete, der sich aber daneben auch mit dem Kirchenrecht (als Gallikaner) und mit dem römischen Recht (im wesentlichen noch als Bartolist) abgegeben hat. Die Wissenschaft vom römischen Recht

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stand um die gleiche Zeit noch immer in Abhängigkeit von Italien; nur zwei Vorläufer einer neuen Richtung traten auf : der französische Philologe Wilhelm B u d é (Budaeus, 1467—1540), prévôt' des marchands und königlicher Bibliothekar in Paris, der wegen seiner Annotationes zu den Pandekten (1508) hier zu nennen ist, und der italienische Jurist Andreas A l c i a t u s (1492—1550), der 1518—21 in Avignon und 1529—36 in Bourges lehrte und die Universität Bourges zum Mittelpunkt der neuen romanistischen Wissenschaft in Frankreich machte: hier wirkten u. a. Franz D u a r e n (Duarenus, 1509—1559), Franz B a u d o u i n (Balduinus, 1520—1573, als Calvinist später in Straßburg und Heidelberg), Jakob C u j a s (Cujacius, 1522—1590), das eigentliche Haupt der Schule, sowie die beiden Hugenotten Franz H o t m a n (Hotomanus, 1524—1590) und Hugo D o n e a u (Donellus, 1527—1591), die beide nach der Bartholomäusnacht fliehen mußten. Diese neue Schule des römischen Rechts, die in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts die Wissenschaft vom Gewohnheitsrecht überstrahlte und im Gegensatz zu ihr recht eigentlich an den Universitäten heimisch war, ein Kind der französischen Renaissance, das sich im Gewand klassischer Latinität gefiel, verfolgte den Zweck, gegenüber der unhistorischen Betrachtungsweise der Bartolisten den eigentlichen Sinn des römischen Rechts wieder aufzudecken und sein Wesen mit den Augen des Historikers zu betrachten. Es hing damit zusammen, daß die neue Richtung auf die derzeitige Praxis der Gerichtshöfe keineswegs den gleichen Einfluß erlangte wie die Wissenschaft vom Gewohnheitsrecht, so sehr sie diese auch an wissenschaftlichem Ruhm überflügelte. Übrigens gab es auch in der Wissenschaft vom Gewohnheitsrecht in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einige hervorragende Vertreter. So Bertrand d ' A r g e n t r é (Argentraeus, 1519 bis 1590), der eine Reihe von Werken über die coutumes der Bretagne schrieb (herausgegeben zum Teil erst von seinem Sohn Karl) ; ferner Guy C o q u i l l e Herr von Romenay (Guido Conchylius Romenaeus, 1523—1603), der die coutume des Nivernais kommentierte und auch Abhandlungen über das gesamte französische Gewohnheitsrecht schrieb, das er gleichfalls auf eine einheitliche Basis stellen wollte, und den wir außerdem beim Kirchenrecht noch einmal zu erwähnen haben werden (als Theoretiker der gallikanischen Freiheiten); so auch der Hauptvertreter des Gallikanismus, Peter P i t h o u (Petrus Pithoeus, 1539—96), der das Gewohnheitsrecht seiner Vaterstadt Troyes untersuchte; und schließlich René C h o p i n (Choppinus, 1537—1696), der über die coutumes von Anjou und Paris handelte und sich politisch als Anhänger der Liga im Kampf gegen Heinrich III. und Heinrich IV. betätigt hat. Das 17. Jahrhundert brachte der wissenschaftlichen Interpretation des Gewohnheitsrechtes wenig neue Gedanken mehr. Dagegen trat jetzt in den Vordergrund einmal ein Interesse an der Sammlung neuen Materials und sodann das Streben nach einer Vereinheitlichung des Rechts. Das Interesse an neuem Material betätigte sich in allerH o l t z m a n n , Französische Verfassungs geschieh te.

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hand neuen privaten Aufzeichnungen, so insonderheit in Sammlungen der zahlreichen, bisher nur mündlich umlaufenden gewohnheitsrechtlichen Sprichwörter und Maxime, in denen die Grundsätze der coutumes vielfach einen plastischen Niederschlag gefunden hatten. Der erste, der hierin (1608) voranging, war Anton L o i s e l (1536 —1617), Advokat am Pariser Parlament und Freund des Cujas; er hat bald noch einige Nachfolger gefunden, so 1614 Peter de L ' H o m m e a u Herrn von Verger und in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Nikolaus C a t h e r i n o t Herrn von Champroy (1628 —1688). Das Streben nach einer Vereinheitlichung des Rechts ging die von Du Moulin und Coquille gewiesenen Bahnen, indem man das Gemeinsame der coutumes hervorhob und durch prinzipielle Deduktionen noch weiter verstärkte, die Unterschiede dagegen verwischte und eine gewisse vorbildliche Grundform in der coutume von Paris erblickte. Die Gelehrten begannen damit, einige Fragen des Zivilrechts dergestalt auf einheitlicher Grundlage aufzubauen; in dieser Hinsicht wurden zu Beginn des 17. Jahrhunderts richtunggebend die Arbeiten von Karl L o y s e a u (1566—1627) über Grundrenten und Hypotheken. Unter Ludwig XIV. machte Wilhelm v o n L a m o i g n o n (1617—1677), erster Präsident des Pariser Parlaments, einen sehr ernstlichen Versuch, ein gemeinsames Recht für das ganze Gebiet seines Parlaments zu schaffen, ohne damit freilich zum Ziel zu gelangen. Man blieb zunächst bei der Behandlung einzelner Materien, worin sich der auch durch Kommentierung verschiedener coutumes bekannte Jurist Johann Maria R i c a r d (1622—1678) sowie, um die Wende des Jahrhunderts, Philipp R e n u s s o n (1632—1699) und Denis L e b r u n (f 1708) hervortaten. Im 18. Jahrhundert kam die Gesetzgebung des Kanzlers d ' A g u e s s e a u hinzu und hat für einige Punkte (zuerst 1731 für die Schenkungen) sogar ein gemeinsames Recht aller französischen Länder geschaffen; freilich nur für wenige. Aber für die pays de coutumes hat gleichzeitig Robert Joseph P o t h i e r (1699—1772) in zahlreichen Abhandlungen das ganze Zivilrecht bearbeitet und damit die Entwicklung zum Abschluß gebracht, soweit von einem solchen zur Zeit des Ancien regime überhaupt geredet werden kann. Indem nämlich die Werke dieser Gelehrten von den Gerichtshöfen in den Ländern des Gewohnheitsrechtes im allgemeinen zur Grundlage der Rechtsprechung gemacht wurden, bildete sich wenigstens für das Zivilrecht eine Art von gemeinem Landrecht (droit commun coutumier) heraus, dessen Herrschaft sich freilich mehr auf den Usus gründete, und das auch tatsächlich weder allgemein noch unbestritten galt. Man kann diesen Rechtszustand mit demjenigen vergleichen, der noch heute in England besteht; dem droit commun coutumier entspricht das englische common law. Fast völlig unberührt blieb durch die Arbeiten über das Ge wohnheitsrecht indes das Strafrecht. Schon deshalb, weil sich die coutumes mit dem Strafrecht viel weniger abgaben als mit den Fragen des Zivilrechts. Da aber in den Punkten, an welchen die coutumes

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versagten, wenigstens häufig das römische Recht eintrat, mußte diesem am ehesten die Aufgabe, ein gemeinsames Strafrecht zu schaffen, zufallen. Es hat sich ihr nicht ganz entzogen, aber sie wurde doch noch viel bescheidener gelöst als fürs Zivilrecht. Das Ansehen der Wissenschaft vom römischen Recht ist in den beiden letzten Jahrhunderten des Ancien regime wieder einigermaßen unter dasjenige ihrer Schwesterwissenschaft hinabgesunken. Brachte die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts noch zwei hervorragende Forscher in Denis G o d e f r o y (Dionysius Gothofredus, 1549—1622) und seinem Sohn Jakob (1587—1652), die als Calvinisten vornehmlich in Genf (Denis auch in Straßburg und Heidelberg) wirkten, so ist seitdem ein beständiger Niedergang festzustellen: Jakob de L a l a n d e (1622—1703), Johann D o m a t (1625—1695), der das römische Recht in französischer Sprache popularisierte, Claude de F e r r i è r e (1639—1715) mit seinem Sohn Claude Joseph (f 1748), der vorhin schon genannte P o t h i e r (1699 bis 1772), den wir wegen einer übersichtlichen Darstellung des Rechts der Pandekten auch hier aufzuführen haben, Heinrich H u l o t (1732 bis 1775) u. a. wären in dieser Reihe zu behandeln. Es war wohl mit eine Folge dieses Niedergangs, daß das gemeine Landrecht auf dem Gebiet des Strafrechts (das droit pénal commun), wie es vornehmlich in der Rechtsprechung der Parlamente niedergelegt wurde, wenig befriedigte und recht großen Verschiedenheiten Platz ließ, obgleich es sich angeblich über die Länder des Gewohnheitsrechtes ebenso erstreckte wie über die Länder des römischen Rechtes. Das war eine ganz allgemeine Klage des Ancien régime : die Unsicherheit im Strafrecht. Für das gleiche Verbrechen konnte man dort schwer, hier leicht bestraft werden. Ja sogar bei ein und demselben Gerichtshof war da gelegentlich eine große Willkür anzutreffen. Wußte doch niemand genau zu sagen, welche Strafen es eigentlich gebel Ein gleiches Recht haben die französischen Könige ihrem Land nicht zu geben vermocht; auch die Bemühungen des Kanzlers d'Aguesseau, der wenigstens den Plan dazu faßte, sind gescheitert. Erst ein größerer hat es geschaffen. Doch erwiesen sich bei der Herstellung des Code civil die Vorarbeiten, die im droit commun des 18. Jahrhunderts (insonderheit in den Schriften Pothiers) vorlagen, als recht fruchtbar. 6. Das gerichtliche "Verfahren. Besser war es, was die Einheitlichkeit anlangte, um das gerichtliche Verfahren bestellt, da hier das Königtum während unserer Periode mit einer Reihe von großen Ordonnanzen eingriff. Das neue, nichtöffentliche Verfahren mit Schriftbeweis und Untersuchung, wie es sich während der vorigen Periode für den Strafprozeß herausgebildet hatte, wurde durch Ordonnanzen von Ludwig XII. (1498) und Franz I. (1539) endgültig und gesetzlich eingeführt. Unter Ludwig XIV. wurden dann die Regeln für das Verfahren im Zivilprozeß 1667 und für das Verfahren im Strafprozeß 1670 durch sehr ausführliche, sorgfältig vorbereitete Ordonnanzen im einzelnen festgelegt. Außer Colbert, der den eigentlichen Anstoß auch für diese Gesetze des Königs gegeben hat, waren namentlich der Staats24*

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rat Heinrich Pussort (Colberts Oheim) und der obengenannte W i l h e l m v o n Lamoignon an der Redaktion beteiligt; vergeblich versuchte der letztgenannte die Härten des Strafverfahrens für den Angeklagten zu mildern. Die Ordonnanzen v o n 1667 und 1670, welche beide ihre wissenschaftlichen Kommentatoren gefunden haben, blieben von n u n an die Grundlage für das Gerichtsverfahren und wurden nur n o c h in Einzelheiten in der Folge modifiziert. In dieser Hinsicht verdient erwähnt zu werden, daß m a n sich endlich kurz vor der Revolution, unter d e m Druck der empörten öffentlichen Meinung, dazu entschloß, i m Strafprozeß auf das Mittel der Folter zu verzichten: unter d e m Ministerium Neckers wurde i m A u g u s t 1780 die question préparatoire, unter dem Ministerium Briennes im Mai 1788 auch die question préalable abgeschafft.

4 . Kapitel.

Die gesetzgebenden Gewalten, Beiclis- und Provinzialversammlungen. Literatur.

A l l g e m e i n e s : Ch. Casati, Principes gén. des lois. Essai hist. sur le pouvoir législatif en France, 1855. — Sieyès, Qu'eBt-ee que le tiers état?, mit Einl. v. F. Koppel, 1875. G e n e r a l s t ä n d e : Archives parlementaires de 1787 à 1860, hsg. v. J. Mavidal u. E. Laurent, 1. Serie, 1, 2. A. 1879 (Introduction). — P. Viollet, Élection des députés aux états gén. réunis à Tours en 1468 et en 1484, Biblioth. de l'éc. des chartes 6. Serie, 2 (1866). — Jehan Massolin, Journal des états gén. de France tenus à Tours en 1484, hsg. v. A. Bernier, 1835 (Coll. de doc. inédits sur l'hist. de Franco). — Procès-verbaux des états gén. de 1593, hsg. v. A. Bernard, 1842 (ebd.). — A. Brette, Iiecueil de documents relat. à la convocation des états gén. de 1789, 3 Bde. 1894—1904 (ebd.); vgl. Brette, Atlas des bailliages ou juridictions assimilées ayant formé l'unité électorale en 1789, 1904; Ph. Sagnac, La France en 1789 et les états gén., Rev. d'hist. moderne et contemporaine 6 (1904 f.). — Ph. Sagnac, Les cahiers de 1789 et leur valeur, ebd. 8 (1906 f.). — Ch. Hoffmann, Les élections aux états gén. (Oolmar-Belfort), Rev. d'Alsace 54—57 (1903—06). — Die Cahiers do doléances der einzelnen Bailliages •werden seit 1906 in der Coll. de doc. inédits sur l'hist. économique de la révol. franç. veröffentlicht. P r o v i n z i a l s t ä n d e : A. Taillandier, Notice sur les pays d'états, Annuaire hist. pour l'année 1852, 1851. — A. Grün, États prov. sous Louis XIV., 2. A. 1853. — R. Schmidt, Die französ. Provst. zur Zeit Ludwigs XIV., Diss. 1875. — S a i n t o n g e : L. Audiat, Les états prov. de S., 1870. B r e t a g n e : A. Du Bouëtiez de Kerorguen, Recherches sur les états de la B., la tenue de 1736, 2 Bde. 1875. — N o r m a n d i e : Cahiers des états de N., hsg. v. Ch. de Robillard do Beaurepaire (Soc. de l'hist. de N.), règne de Charles IX., 1891 ; règne de Henri III., 2 Bde. 1887—88; règne de Henri IV., 2 Bde. 1880—82; règnes de Louis XIII. et de Louis XIV., 3 Bde. 1876—78. — A r t o i s : F. G. Filon, Hist. des états d'A., 1861. — F r a n c h e - C o m t é : E. Clerc, Hist. des états gén. et des libertés publ. on F., 2 Bde. 1882. — P r o v e n c e : de Coriolis, Diss. sur les états de P., 1867. — L a n g u e d o c : P. Gachon, Les états de L. et l'édit de Béziers (1632), 1887.

4. Kapitel. Die gesetzgebenden Gewalten, Reichs- u. Provinzialversammlungen. 3 7 3 P r o v i n z i a l v e r s a m m l a n g e n L u d w i g s XVI.: Turgot, Oeuvres posthumes ou mémoire sur les administrations provinciales [hsg. v. P. S. Dupont de Nemours], 1787 ; auch in d. Oeuvres (1844) 2, 8. 502. — A. Wahl, Zur Gesch. v. Turgots Munizipalitätenentwurf, Annalen des Deutschen Reichs 1903. — L. de Lavergne, Les assemblées prov. sous Louis XVI., 1864. — H. Fromont, Essai sur l'administration de l'assemblée provinciale de la généralité d'Orléans (1787—1790), These 1907. N o t a b e I n : A. Wahl, Die Notabein Versammlung von 1787, 1899.— W. Struck, ebs., Hist. Vierteljsch. 8 (1905). — Protokoll der Vers. (S. 306).

1. Allgemeines Uber die gesetzgebenden Gewalten.

Die gesetz-

gebende Gewalt in Frankreich steht nach den Rechtstheoretikern unserer Periode im Prinzip allein beim König, der sie durch seine Ordonnanzen ausübt (S. 323). Allerdings ist tatsächlich auch hier wieder eine doppelte Einschränkung nötig. Einmal sofern die Lehnsfürsten ihr altes Recht der Gesetzgebung beibehielten, obgleich nur mehr kraft königlicher Delegation und in sehr beschränktem Maße; da alle wichtigeren Fragen (äußere Politik und Krieg, Steuern, schwere Verbrechen, kirchliche Angelegenheiten usw.) dem König reserviert waren oder wurden, bezog es sich nur noch auf rein administrative Verfügungen geringerer Tragweite und wurde damit zu einer Art höherer Polizeigewalt. Außerdem aber gab es eine Reihe königlicher Behörden, die den König bei der Staatsverwaltung und Gesetzgebung berieten, beeinflußten und zum Teil tatsächlich auch beschränkten. Da war zunächst der königliche Rat, insonderheit also das conseil d'état und das conseil des dépêches, die natürlich de facto oft von großem Einfluß waren, aber doch rechtlich über den Charakter beratender Körperschaften nie hinausgekommen sind. Da gab es dann zweitens auch jetzt jene Versammlungen, die ihrem ursprünglichen Wesen nach nur einen außerordentlichen, erweiterten königlichen Rat darstellten: die N o t a b e i n V e r s a m m l u n g e n und die G e n e r a l s t ä n d e , sowie entsprechende Versammlungen in einigen Provinzen. Den Notabein und den Ständen haftete schon eher der Begriff rechtlicher Fähigkeiten an, wiewohl man zu einer klaren Ordnung darüber auch in unserer Periode nicht gekommen ist. Insonderheit nahmen die Stände das Recht der Steuerbewilligung in Anspruch und sahen sich teilweise darin auch anerkannt. Am längsten und am hartnäckigsten haben schließlich die P a r l a m e n t e ihre politischen Rechte gegen den sich vollendenden Absolutismus verteidigt. Durch das Registrierungsrecht griffen sie unmittelbar in die königliche Gesetzgebung ein ; durch ihre arrêts de règlement nahmen sie selbst an der Staatsverwaltung teil. Allerdings haben die Könige in der neueren Zeit nicht a l l e ihre Erlasse dem Parlament unterbreitet. Rein administrative Verfügungen konnten sie vielmehr auch unmittelbar, als Kabinettsbefehle veröffentlichen. Wogegen dann das Parlament gelegentlich anderslautende arrêts de règlement erließ; es fühlte sich nur an die von ihm registrierten Erlasse gebunden. Und bei allen wichtigeren Verordnungen gesetzgeberischen und politischen Charakters, selbst bei den Gnadenakten

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des Königs, war die Notwendigkeit ihrer Registrierung anerkannt. Auf Grund dieser Befugnis haben die Parlamente auch das Steuerbewilligungsrecht in der Zeit, da es keine Generalstäude gab, in deren Vertretung für sich in Anspruch genommen. Den Kampf der Krone mit den Parlamenten und seinen wechselnden Erfolg haben wir an anderer Stelle schon kennen lernen ; beim Ausgang des Ancien régime standen die Parlamente jedenfalls ungebrochen da. Es erübrigt noch eine Betrachtung der Geschichte der Stände und der Notabelnversammlungen. 2. Änderung in Zahl und Form der Generalstände. Am Ausgang der vorigen Periode, in den notreichen Jahren des englischen Kriegs, sind die Stände außerordentlich h ä u f i g zusammengetreten, ohne daß man dabei streng zwischen General- und Provinzialständen unterscheiden könnte. Meist wurden größere Komplexe des Königreichs zu einer Versammlung entboten, während andere Teile gleichzeitig oder bald darauf anderswo tagten. Wir sahen, daß man namentlich zwei große Gruppen unterschied: die Ständeversammlungen der Languedoil und diejenigen der Languedoc (im weiteren, sprachlichen Sinn). Fast jährlich und oft mehrmals in einem Jahre wurden diese Stände berufen ; die Stände der Languedoil sind von 1423—1439 sechzehnmal zusammengetreten (einschließlich der Sitzung vom Herbst 1428 zu Chinon, an der auch fast der ganze Süden beteiligt war, und die eigentlich allein in diesen Jahren den Namen états généraux verdient). Zweck der Versammlungen war natürlich immer die Bewilligung von Kriegssteuern, die als außerordentliche Abgaben galten. Deshalb wurde es von großer Bedeutung, daß es Karl VII. gelang, alle außerordentlichen Abgaben, also Taille, aides und Salzsteuer (sowie die traites, die aber schon vorher zumeist vom König nach Gutdünken ausgeschrieben worden waren), auch nach 1439 Jahr für Jahr weiter zu erheben. Es ist nicht richtig, daß die Stände der Languedoil ihm dies Recht 1436 zu Poitiers für die aides und 1439 zu Orléans für die Taille ausdrücklich zugestanden haben; auch hat Karl noch 1440 eine allgemeine Ständeversammlung nach Bourges in Sachen der Steuern ausgeschrieben, sie aber dann freilich nicht abgehalten. Dennoch gelang es tatsächlich, die Steuern anstandslos weiter zu erheben —, wie es scheint, ohne erheblichen Widerstand; die lange Gewöhnung hat wohl das meiste dazu getan, daneben der Einfluß des römischen Rechts, das von den Räten des Königs mit Erfolg zugunsten der neu erstarkten Gewalt der Krone herangezogen wurde. Den Ständen der Languedoc blieb das Steuerbewilligungsrecht zwar im Prinzip auch nach 1439 gewahrt, aber doch nur, indem es tatsächlich lokal und inhaltlich bald stark beschnitten wurde. Lokal, sofern immer weniger Provinzen des Südens an den Ständeversammlungen der Languedoc teilnehmen durften, sodaß diese in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts wieder zu einfachen Provinzialständen der Languedoc (im engeren, landschaftlichen Sinn) zusammenschrumpften; und inhaltlich, sofern an der einmal feststehenden Höhe der Steuern tatsächlich nicht

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mehr gerüttelt werden konnte, nur bei neuen Erhöhungen eine wirkliche Entscheidung zu treffen war (freilich auch das wichtig genug, da in den Ländern der Languedoil und in den anderen Provinzen, denen das Recht der Bewilligung der drei alten Steuern verloren ging, die Krone alsbald auch deren Höhe willkürlich festsetzte). Daß dergestalt die Taille, die aides und die Satzsteuer als für immer bewilligt galten und im größeren Teil des Königreichs ganz in die Hand des Königs gegeben waren, hatte die natürliche Folge, daß die Generalstände seit 1440 erheblich s e l t e n e r als vorher einberufen wurden. Die Versammlungen der états généraux von da bis zur Revolution sind die folgenden: April 1468 zu Tours, Jan.—März 1484 zu Tours, Dez. 1560—Jan. 1561 zu Orléans, Aug. 1561 zu Pontoise (und Poissy, wo die Geistlichkeit tagte), Dez. 1576 — März 1577 zu Blois, Okt. 1588 —Jan. 1589 zu Blois, Jan. — Aug. 1593 zu Paris (von der Liga gegen Heinrich IV. berufen, von diesem nicht anerkannt), Okt. 1614—März 1615 zu Paris; die nächste wurde bekanntlich erst im Mai 1789 zu Versailles eröffnet. Die Generalstände haben im Lauf des 15. Jahrhunderts tiefgreifende Änderungen erfahren, durch die sie aus einer Versammlung der königlichen Vasallen eine wirkliche Reichsvertretung geworden sind. Zunächst durch die allgemeine Durchführung des W a h l s y s t e m s . Die Veränderung ging liier alle drei Stände an und bestand darin, daß Geistlichkeit und Adel nicht mehr persönlich geladen wurden, sondern nach Bailliages (die Geistlichkeit bis 1576 auch nach andern Distrikten) ihre Vertreter wählten, und daß von den Bürgerlichen nunmehr auch die Landbewohner regelmäßig sich an den Wahlen beteiligten. Beides bedeutete eine Ausdehnung des Wahlrechts über das ganze Königreich. Waren bisher im Prinzip nur die Lehnsfürsten und königlichen Vasallen berufen worden, so wählten nunmehr alle Geistlichen und alle Adligen des Landes nach gleichem Recht; Frauen und Minderjährige konnten, wofern sie dem Adel angehörten und im Besitz eines adeligen Lehns waren, zur Wahl einen Bevollmächtigten entsenden. Vertretungen waren ja schon immer möglich gewesen, und daraus scheint sich der neue Brauch der Wahl entwickelt zu haben. Die Bürgerlichen sind erst durch die Hinzuziehung der Wähler auf dem platten Lande zu einer wirklichen Vertretung des dritten Standes geworden. Es wählten dabei in der Stadt die ganze Einwohnerschaft und auf dem Land alle Bewohner, welche die Taille bezahlten, d. h. also gleichfalls so gut wie jedermann. Der alte Begriff der Hörigkeit hatte für die Wahlen keine Bedeutung mehr ; es handelte sich innerhalb der Stände im wesentlichen um gleiche und allgemeine Wahlen. — Diese Änderungen traten nicht mit einem Schlage sondern allmählich ein, und eine Zeitlang waren der alte und der neue Modus nebeneinander in Brauch, sofern wenigstens die großen und vornehmen Vasallen sowie die Erzbischöfe und Bischöfe noch persönliche Ladungen erhielten.

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Eine zweite Änderung betraf die territoriale A u s d e h n u n g der Wahlen über das ganze Königreich. Während ursprünglich die Lehnsstaaten im allgemeinen nur durch ihre Lehnsfürsten vertreten waren, ging nunmehr Hand in Hand mit dem Heimfall der großen Lehnsfürstentümer und mit dem Niedergang der Bedeutung der kleineren die Entwicklung dahin, die Generalstände wirklich zu einer gleichmäßigen Vertretung der gesamten Nation des Reiches umzugestalten. Die Stände von 1468 sahen die Vertreter aller den Engländern abgenommenen Länder unter sich, während das Herzogtum Burgund und einige kleinere Lehensfürstentümer diesmal aus politischen Gründen fehlten. Die Bretagne hat auch 1484 noch nicht an den Wahlen teilgenommen: auf dieser Versammlung aber war sie bereits das einzige Land, das unvertreten blieb, und da sie bald darauf an die Krone fiel, waren die Generalstände seit 1560 wirklich eine lückenlose, gleichmäßige Vertretung der gesamten französischen Nation. Der W a h l m o d u s war im einzelnen sowohl zeitlich als örtlich recht verschieden, und die mannigfaltigsten Variationen wären hier aufzuführen. Im allgemeinen aber bildete sich doch die Regel heraus, daß die Vertreter der beiden ersten Stände durch direkte Wahl bestellt wurden, während für den dritten Stand ein indirektes Wahlverfahren Platz griff, dessen Grund in der Schwierigkeit, die Städte und die Landbevölkerung in einen Wahlkörper zu vereinigen, gelegen zu haben scheint. Die Urwahlen fanden in den Städten und, auf dem Land, in den Pfarreien statt: jede Stadt und jede ländliche Pfarrei wählte ihre Wahlmänner, deren Zahl verschieden war. Nur ausnahmsweise durften einige größere Städte ihre Abgeordneten direkt (also unter Umgehung des Bailliage) wählen. Die Wahlmänner versammelten sich in der Hauptstadt des Bailliage zur Wahl der Abgeordneten, deren Zahl gleichfalls nach Größe und Bedeutung des Bailliage schwankte. Sehr kompliziert wurde die Sache dann aber dadurch, daß, wie bei den Wahlen der beiden ersten Stände, so auch bei den Abgeordnetenwahlen des dritten Standes Vertretungen möglich waren. Dadurch schoben sich vielfach zwischen die Urwahlen und die Abgeordnetenwahlen nochmals Vertreterwahlen. Die Wahlmänner von einigen benachbarten Pfarreien wählten aus ihrer Zahl zur" Verringerung der (von den Wählern zu tragenden) Reise- und Aufenthaltskosten oder aus anderen Gründen einen oder mehrere Vertreter, ähnlich in den Städten die Wahlmänner der Zünfte oder anderer Wahlkörper, häufig auch die Wahlmänner einer kleinen Stadt zusammen mit den Wahlmännern umliegender Pfarreien, und es scheint nicht einmal Klarheit und Einheitlichkeit über die Zahl der Stimmen, die solche Vertreter dann bei der Abgeordnetenwahl abgeben konnten, geherrscht zu haben. Der ganze Hergang bei einer solchen Wahl, die nun im einzelnen noch viele lokale Unterschiede aufwies, war zweifellos recht umständlich; einige singulare Absonderlichkeiten (wie daß 1614 in der Bretagne je zwei Stände die Abgeordneten des dritten wählten) machten ihn gelegentlich noch verwickelter,

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und es ist begreiflich, daß man im Jahre 1788, als man nach einer Pause von über anderthalb Jahrhunderten den alten Wahlmodus wieder ausfindig machen wollte, mit Erstaunen bemerkte, darüber keine rechte Klarheit gewinnen zu können ; man hatte sich die Sache viel zu gleichartig geregelt vorgestellt. Dennoch suchte ein Reglement vom 24. Jan. 1789 mit zahlreichen Zusatzbestimmungen die Wahlen möglichst im Anschluß an den alten Brauch zu ordnen. Es geschah in ziemlich komplizierter Weise; der demokratische Charakter des Wahlrechts geht aber deutlich daraus hervor: bei der Geistlichkeit hatte der Bischof, der Abt nur eine Stimme wie jeder Pfarrer, während den Kapiteln j e nach ihrer Größe mehrere Stimmen (den Klöstern nur eine) zugebilligt wurden; beim Adel hatte jeder Adlige, ob groß oder gering, alten oder neuen Adels, im Alter von 25 Jahren eine Stimme; beim dritten Stand ebenso jeder Steuerzahler im gleichen Alter (nur in den Städten fand auch diesmal vielfach eine andere Wahlordnung statt nach Zünften und ähnlichen Wahlkörpern, aus denen erst die Wahlmänner zur Wahl der Vertreter für die Abgeordnetenwahl im Bailliage hervorgingen). Die Z a h l d e r A b g e o r d n e t e n in den Generalständen war sehr verschieden. Sie hing nicht nur von der Zahl und Größe der vertretenen Provinzen sondern auch vom Willen des Königs und der Wähler, d. h. von der Wichtigkeit der Versammlung und vielen anderen Umständen ab. Im ganzen hat sie allmählich zugenommen. Im Jahre 1484 zählte man 284 Abgeordnete, 1576: 326, 1588: 411, 1614: 464. Doch finden sich auch Rückschläge, die dann einen besonderen Grund hatten. So versammelte man im August 1561, als die Stände bereits nach halbjähriger Unterbrechung wieder zusammentraten (und von einer Perodizität der Einrichtung die Rede war), nur 39 Abgeordnete, je einen von jedem Stand aus jedem der 13 Gouvernements; die Stände der Liga 1593, an denen sich naturgemäß nur ein Teil des Königreichs beteiligte, bestanden aus 128 Mitgliedern. Auch die Verteilung der Zahlen unter die drei Stände war (abgesehen von 1561) ungleichmäßig. A m stärksten war in der neueren Zeit der dritte Stand vertreten, am schwächsten der Adel. Die drei letzten Versammlungen des Ancien régime wiesen folgende Verteilung auf: (168«) 134 Geistliche, 96 Adlige, 181 dritter Stand ; (1593) 49 + 24 + 55; (1614) 140 + 132 + 192. Doch bedeutete diese Verschiedenheit natürlich für keinen Stand ein Übergewicht, da ja nicht nach Köpfen sondern nach Ständen abgestimmt wurde. Bei den Wahlen von 1789 erhielt (gemäß dem Beschluß des conseils vom 27. Dez. 1788) der dritte Stand so viel Stimmen als die beiden ersten zusammen, ohne daß über die Frage, ob nach Ständen oder nach Köpfen abgestimmt werden sollte, eine Entscheidung gefällt wurde ; die Gesamtzahl der Abgeordneten betrug über 1100 (nach Ständen 291 + 270 + 578). Der H e r g a n g b e i d e n S i t z u n g e n blieb im allgemeinen derselbe, gewann aber allmählich festere Gestalt und Regeln. Insonderheit fanden die eigentlichen Beratungen nach wie vor innerhalb der

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einzelnen Stände statt. Jeder Stand prüfte zunächst für sich die Vollmachten seiner Abgeordneten, wählte seinen Präsidenten und seine Sprecher (die später die Vota abgaben und die Beschwerden vortrugen). Dann folgte die gemeinsame Eröffnungssitzung, in der den Ständen die Anträge vorgelegt wurden, über sie wurde dann wieder nach Ständen gesondert beraten und innerhalb der Stände nach Verwaltungsbezirken (z. B. nach Bailliages oder nach Gouvernements, im ersten Stand auch nach Kirchenprovinzen) abgestimmt; jeder Bezirk hatte eine Stimme: so kam das Votum des Standes zusammen, und das Ergebnis der Verhandlungen war, daß schließlich in einer neuen gemeinsamen Sitzung die drei Vota der Stände abgegeben wurden. Ein Gesamtvotum mit eventueller Überstimmung eines Standes durch die beiden anderen wurde auch jetzt nicht festgestellt. Es schloß sich die Überreichung der Beschwerden an sowie gegebenenfalls die Stellung neuer Anträge. Auch von diesem regulären Gang der Verhandlungen kamen nun freilich Abweichungen vor, aber das waren Ausnahmen. Insonderheit bedeutete es eine Ausnahme, und zwar eigentlich eine Kompetenzüberschreitung, daß die Stände des Jahres 1484 nicht getrennt sondern gemeinsam berieten. Das war ein Zeichen des großen Macht- und Solidaritätsgefühls, das sie damals beseelte. 3. Kompetenzen und Bedeutung der Greneralstände. Über die stets etwas flüssige Frage der Kompetenzen der Stände muß zunächst auf das bei der vorigen Periode Gesagte verwiesen werden. Das Recht der B e w i l l i g u n g n e u e r S t e u e r n (also außerordentlicher Abgaben, die daher meist den Namen dons gratuits trugen) ist ihnen noch während des 15. Jahrhunderts nicht bestritten worden, wenn es auch, seitdem die bestehenden Steuern als dauernd bewilligt galten (S. 374), viel von seiner ehemaligen Wichtigkeit eingebüßt hatte. Die Krone konnte sich zunächst mit einer beständigen Erhöhung dieser bestehenden Steuern (namentlich der Taille) begnügen, und Ludwig XI., der darin besonders skrupellos war, tat sich etwas darauf zugute, seinen Ständen 1468 durch einen Finanzgeneral zu versichern, daß er sie nicht der Geldbewilligung wegen berufen habe. Unter seinem Nachfolger verlangten und erhielten die Stände von 1484 allerdings eine erhebliche Verminderung der Taille; das hinderte aber nicht, daß dasselbe Schauspiel einer willkürlichen und beständigen Erhöhung alsbald von neuem begann. Ja im 16. Jahrhundert haben Ludwig XII., Franz I. und Heinrich II. neue außerordentliche Abgaben erhoben, ohne jemals die Generalstände versammelt zu haben (die der Geschichtschreiber Sleidan um die Mitte des .16. Jahrhunderts bereits für abgeschafft hielt). Sie begnügten sich mit der Einwilligung von Notabelnversammlungen oder befragten überhaupt keine Vertretung. In Fällen der Not (d. h. des Kriegs) hat nach ihnen die Krone auch allein das Recht einer vorübergehenden Besteuerung. Aber nur darum handelte es sich; ein Recht, neue dauernde Steuern einzuführen, haben diese Könige weder für sich noch für die Notabein in An-

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spruch genommen: es blieb den Generalständen im Prinzip gewahrt. In den kostspieligen Jahren der Religionskriege in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts traten die états généraux in eine Epoche neuer, letzter Blüte, in der sie noch einmal ihren Finger auch auf den königlichen Finanzen hielten und zahlreiche Abstriche von den Wünschen Katharinas von Medici und Heinrichs III. machten. Die Verwaltung der Finanzen nahm ihre besondere Aufmerksamkeit in Anspruch, und es ist klar, daß man im Zusammenhang mit dem Steuerbewilligungsrecht auch die Finanz Verwaltung als zur Zuständigkeit der Stände gehörig ansah. Zahlreiche Reformen wurden verlangt, angebahnt, die wenigsten freilich schließlich ausgeführt. Dann folgte aufs neue der unbeschränkte Absolutismus : Heinrich IV. und, nach dem letzten Aufflackern der Generalstände 1614 (wo der dritte Stand bereits vergeblich auf größere Sparsamkeit drängte), die Verwaltung Richelieus; beide handelten nach den Prinzipien, die in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts befolgt worden waren. Auch sie aber haben prinzipiell das Steuerbewilligungsrecht der Generalstände nicht angezweifelt; Heinrich IV. hat sogar, als er im Jahre 1596 der Kosten des Spanischen Kriegs wegen eine Notabeinversammlung einberief, die Stände ausdrücklich als das eigentliche Organ zur Steuerbewilligung bezeichnet und ihre Einberufung zu gelegener Zeit in Aussicht gestellt. Freilich immer schärfer wurde in den langen Jahren ohne Generalstände (1615 —1789) die Diskrepanz zwischen Theorie und Praxis. Ludwig XIV. hat tatsächlich sogar eine ganze Reihe neuer und dauernder Steuern eingeführt, direkte wie indirekte, und dabei weder die Stände noch eine Notabelnversammlung befragt. Die Einführung neuer indirekter Steuern (wie des Tabakmonopols u. a.) scheint er in der Tat zu seiner königlichen Machtbefugnis gerechnet zu haben. Anders aber war es mit den neuen direkten Steuern (der Kopfsteuer und dem Zwanzigsten) ; sie wurden während des Kriegs und für den Krieg geschaffen und sind nur tatsächlich allmählich, ähnlich wie früher die Taille, dauernd geworden. Das war für den Steuerzahler gewiß ein geringer Unterschied ; für den Historiker ist er doch nicht ebenso irrelevant. Denn er zeigt, daß das alte Recht der Generalstände, wonach gesetzlich dauernde Steuern nur mit ihrer Einwilligung eingeführt werden konnten, noch nicht ganz erstorben war, und hat seinen deutlichen Anteil am Wiederzusammentritt der Generalstände im Jahre 1789 und dem Beginn der Revolution. Schon als 1782 eine der direkten Steuern (der Zwanzigste) wieder einmal erhöht wurde, ließ das Parlament der Franche-Comté den Ruf nach Generalständen ergehen. Er sollte bald noch lauter ertönen. Wir werden sehen, daß Ludwig XVI. im Sommer 1787 auf Grund der Entwürfe Calonnes und der Verhandlungen einer Notabelnversammlung daran ging, den schwer bedrohten Finanzen des Reichs eine neue, dauernde, gesetzliche Ordnung zu geben und im Zusammenhang damit zwei neue dauernde Steuern einzuführen, eine direkte (die subvention territoriale) und eine indirekte (die Stempelsteuer). Gegen

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diesen Versuch erhob das Pariser Parlament den lebhaftesten Widerstand und bezeichnete gerade den dauernden Charakter der neuen Steuern als besonders bedenklich : denn eine dauernde neue Steuer könne nur durch die Generalstände bewilligt werden. Das war in der Tat die alte Theorie. Und als es der Krone nicht gelang, der Opposition der Parlamente Herr zu werden, blieb nichts anderes übrig als die Wiederberufung der Generalstände. Ein anderes Recht der Stände betraf die Vorbringung von Bes c h w e r d e n . Es ist ihnen niemals genommen worden, kam freilich nur in Betracht, wenn man sich eben (aus anderen Gründen) zu einer Berufung der Stände entschlossen hatte; die Stände konnten nicht etwa wegen irgendwelcher Beschwerden ihre Berufung verlangen. Das Beschwerderecht brachte eine interessante und wichtige Neuerscheinung mit sich: die B e s c h w e r d e h e f t e (cahiers de doléances, meist kurz als cahiers bezeichnet). Sie kamen auf, als die Wahlen allgemein wurden, und sind zuerst 1468 (in der Languedoc vereinzelt schon früher) nachweisbar. Die Wähler ließen bei Gelegenheit der Wahl ihre Beschwerden durch Kommissare schriftlich aufsetzen, um sie dem Gewählten mitzugeben. Beim dritten Stand kam es, entsprechend den doppelten Wahlen, erst zur Aufstellung eines Beschwerdeheftes von jeder Stadt und jeder Landpfarrei, darauf zur Vereinigung dieser einzelnen Cahiers zu einem Gesamtcahier des Bailliage. Die verschiedenen Beschwerden der Cahiers wurden auf der Ständeversammlung dann von jedem Stand in einem neuen Heft zusammengeschrieben und diese drei Gesamtcahiers der Stände dem König überreicht mit der Bitte, darauf zu antworten oder die Beschwerden abzustellen. Der König war natürlich rechtlich nicht gezwungen, das zu tun, hat die Cahiers aber tatsächlich, um die Stände zufrieden zu stellen und seinen Forderungen gefügig zu machen, oft als Material für die Gesetzgebung benutzt; so in den großen Ordonnanzen von Tours 1493, von Orleans 1561, von Roussillon 1563, von Moulins 1566 und von Blois 1579. Auf diesem Wege haben also die Stände in praxi häufig eine Art von Initiativrecht erworben, das ihnen in der Theorie nicht zustand. Andererseits versteht es sich, daß die Stände auch nicht selten über geringe Berücksichtigung ihrer Wünsche zu klagen hatten. Mit dem Aufkommen der Beschwerdehefte scheint aber noch etwas anderes zusammenzuhängen: der Brauch, daß die Abgeordneten von ihren Wählern ein i m p e r a t i v e s M a n d a t erhielten. Bisher hatte die Krone dahingehende Versuche mit Erfolg vereitelt; jetzt aber, seitdem die Wähler ihrem Abgeordneten die Beschwerden, die er erheben sollte, vorschrieben, wurde es allgemein üblich, ihm bei gleicher Gelegenheit auch genaue Weisung über die Haltung zu geben, die er gegenüber der im königlichen Einberufungsschreiben genannten Fragen einzunehmen habe. Der Handel mit den Geldbewilligungen gegen die Abstellung der Beschwerden wurde damit bereits von den Wählern vorbereitet. Und die geldbedürftige Krone mußte das an-

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erkennen. Mehr als einmal ist es in der Folge vorgekommen, daß die Abgeordneten zur Einholung neuer Vollmachten nach Hause geschickt wurden (namentlich wenn der König neue Fragen vorbrachte, die im Berufungsschreiben nicht genannt waren). Dazu kam aber ferner auch in unserer Periode das Recht der Stände, bei wichtigen, die Zukunft der Nation betreffenden S t a a t s v e r t r ä g e n gehört zu werden. In dieser Hinsicht sind ihnen zwei, allerdings nur unter außergewöhnlichen Umständen in Betracht kommende Kompetenzen überhaupt niemals bestritten worden: die Veräußerung (insonderheit Abtretung) eines Teiles des Kronguts (einschließlich aller Apanagen) und eine anderweitige Regelung der Thronfolge als die nach gewöhnlichem Erbrecht vor sich gehende konnten nur unter ihrer Zustimmung erfolgen. Im ersteren Fall genügte die Einwilligung der Stände der betreffenden Provinz, wo es solche noch gab ; übrigens konnten die Stände selbst bei Apanagierungen gelegentlich das Wort ergreifen (wenigstens ließ sich Ludwig XI., im Kampf mit seinem Bruder um die Normandie, 1468 von seinen états généraux bezeugen, daß er eine so reiche Provinz wie die Normandie gar nicht vergeben dürfe). Im Falle einer Änderung der Thronfolge mußten unter allen Umständen die Generalstände angegangen werden. Das gleichfalls unbestrittene Recht der états généraux, im Falle kein erbberechigter Nachfolger mehr vorhanden war, durch freie Wahl einen neuen König zu bestellen, hing eng damit zusammen. Bekannt ist der Versuch einer Regelung der Thronfolge durch die Generalstände des Jahres 1593, welche der Herzog von Mayenne als das Haupt der Liga berufen hatte. Es galt den Ausschluß Heinrichs IV. vom Thron, da ein Ketzer nicht König sein könne, und die Erhebung eines neuen Königs, wobei drei Wege möglich waren und erwogen wurden. Man konnte 1. das Nachfolgerecht der nächsten weiblichen Verwandten, d. h. der Infantin Klara Isabella Eugenia (Tochter Philipps II. von Spanien und seiner dritten Gemahlin Elisabeth, der Tochter Heinrichs II.), anerkennen ; in diesem Falle hätten die Generalstände das sogenannte Salische Gesetz, wonach Frauen den französischen Thron nicht erben konnten, wieder umgestoßen (wie man ja auch glaubte, daß es seinerzeit mit Hilfe der Generalstände zur Anerkennung gebracht worden sei). Man konnte 2. dieselbe Infantin durch eine regelrechte Wahl auf den Thron erheben ; in diesem Fall hätte man das Salische Gesetz auf das Erbrecht, nicht aber auf die Thronfähigkeit an sich bezogen. Der Ausweg bot den Vorteil, daß man von der Infantin vor der Wahl die Verheiratung mit einem den Ständen genehmen Herrn verlangen konnte, stellte aber doch einen juristisch schwer zu rechtfertigenden Mittelweg zwischen der ersten und der dritten Möglichkeit dar, und die letztere gewann daher unter den Ständen selbst die meisten Anhänger: man konnte 3. einen beliebigen auswärtigen Fürsten (etwa den Erzherzog Ernst von Osterreich, dem Philipp II. seine Tochter geben wollte) oder einen beliebigen französischen Großen (etwa den Herzog von Mayenne) zum König wählen; für die Wahl eines Fran-

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zosen trat das Pariser Parlament ein (S. 349). Ob der Gewählte dann die Infantin heiratete (wie vielfach angenommen wurde), war rechtlich gleichgültig ; die Wahl hätte die freie Verfügung über den Thron, für den kein regierungsfähiger Nachfolger Hugo Capets vorhanden war, bedeutet, die Begründung einer neuen Dynastie, die sich dann immerhin mit den Kapetingern verschwägern mochte, wie diese selbst sich mit den Karolingern verschwägert hatten (S. 179). Heinrich IV» seinerseits erklärte natürlich die ganze Versammlung für ungesetzlich und alle ihre Teilnehmer für Majestäts verbrech er, da nur der König die Generalstände berufen könne. Er siegte, und so ist es nicht zur Königswahl gekommen, da der Standpunkt, daß noch ein erbberechtigter regierungsfähiger König vorhanden sei, schließlich die Oberhand gewann. Von anderen Kompetenzen der Stände darf nicht geredet werden, obgleich der König ihnen natürlich auch jetzt jede beliebige Frage vorlegen konnte. Insonderheit haben es die Generalstände trotz gelegentlicher Versuche niemals zu einer bestimmten P e r i o d i z i t ä t der Berufung gebracht, und das sollte ihnen verhängnisvoll werden, indem so dem absoluten Königtum die Möglichkeit gegeben wurde, sich ihrer tatsächlich zu entledigen auf dem sehr einfachen Wege der Nichtmehreinberufung. Die Generalstände sind niemals rechtlich abgeschafft, nur tatsächlich während langer Zeiträume nicht mehr berufen worden. Das hatte dann freilich jedesmal einen natürlichen Rückschlag zur Folge: auf die Zeit eines ständelosen Absolutismus folgte eine solche von starker Macht und großen Ansprüchen der Generalstände. So war es schon im 16. Jahrhundert: nach den ständelosen Jahren von 1484—1560 die letzte Blüte von 1560—1593, während welcher die Stände sich durchaus als die oberste Vertretung der Nation fühlten und sehr beträchtlich in die staatlichen Funktionen eingriffen. Damals wurden allerhand Versuche gemacht, die Kompetenzen der Stände zu e r w e i t e r n , und es ist charakteristisch für die Prätensionen der Aristokratie, daß namentlich die beiden ersten Stände darin vorangingen. Schon 1576 forderten sie, daß einmütige Beschlüsse aller drei Stände Gesetzeskraft erlangen sollten — ein ganz neues und unerhörtes Verlangen, dem sich erst 1588 auch der dritte Stand anschloß, ohne es doch zur Anerkennung bringen zu können. Es versteht sich übrigens, daß die Stände der Jahre 1560 bis 1593 sich auch mit den religiösen Fragen stark beschäftigten, und es ist bekannt, daß 1576 ein Abgeordneter des Vermandois, Jean Bodin, für die Duldung der Reformierten eintrat — derselbe Bodin, der eben erst den Absolutismus des Königs verteidigt hatte (S. 319; allerdings erwartete auch Bodin, daß der König aus Respekt vor den Grundgesetzen des Reiches bei der Erhebung neuer Steuern die Zustimmung der Stände einhole). Alles in allem war die tatsächliche Macht der états généraux damals jedenfalls recht erheblich. Mit der Rückkehr friedlicher Zustände und einer starken königlichen Gewalt gewannen die Dinge aber sofort wieder das frühere Aussehen,

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und es ist nicht zufällig, daß das Wiederaufleben der Generalstände zur Zeit der Religionskriege in der ligistischen, königfeindlichen Ver* Sammlung des Jahres 1593 ausmündete. Stoß und Gegenstoß wechselten hier miteinander ab. Und nicht anders ging es dann nach der letzten großen ständelosen Periode des französischen Absolutismus, nur daß der Gegenstoß des Jahres 1789 viel gewaltiger wurde, entsprechend der längeren Dauer der vorangegangenen Zeit ohne Generalstände und dem stärkeren Trieb der Mitarbeit an den staatlichen Aufgaben, den das französische Volk in der neuen Zeit empfand. Als Ludwig XIII. die états généraux, die seine Mutter 1614 im Kampf gegen die prinzliche Aristokratie ein letztes Mal berufen hatte,, am 24. März 1615 in ziemlich unfeierlicher und würdeloser Weise verabschiedete, da waren sie auf ein und drei Viertel Jahrhundert .geschlossen. Eine Zeitlang mochte das absolute Regiment ohne Generalstände einen festen Bestand haben; aber auf die Dauer — es kann kein Zweifel daran sein — hat das französische Königtum auf diesem Wege sich der Nation entfremdet und an seinem eigenen Untergang gearbeitet. In wachsendem Maße forderten im 18. Jahrhundert einsichtige Männer die Wiederherstellung der Generalstände; so, den anderen voran, Fénelon, den wir geradezu als den ersten Prediger der politischen Freiheit in dem absolutistischen Frankreich bezeichnen können, so Saint-Simon, Montesquieu und viele andere. Die Krone hat sich nicht dazu entschließen können und kam daher zu keiner Verständigung mit der rasch wachsenden Idee von den Rechten der Nation. Und als man endlich unter dem Ministerium Briennes im November 1787 in der größten Not und Verzweiflung wieder eine Versammlung der Generalstände ansagte und im August 1788 wirklich die Berufung ausgehen ließ, da war es schon zu spät geworden. In England hatte im 17. Jahrhundert eine nur elf Jahre lange Regierung ohne Volksvertretung (d. h. dort ohne Parlament) genügt zur Entfachung des revolutionären Geistes, wie er dann im kurzen und im langen Parlament hervorgetreten ist. Wer kann sich wundern, daß anderthalb Jahrhunderte später in Frankreich die Generalstände, als sie 1789 wirklich wieder zusammentraten, zu einem Feuer wurden, das über dem Königtum und dem ganzen Ancien régime zusammenschlug ? 4. Die Provinzialstände. Es gab noch in der ersten Hälfte des15. Jahrhunderts in den Lehnsfürstentümern sowohl als fast in allen königlichen Provinzen Provinzialstände, welche mit zunehmender Regelmäßigkeit zusammentraten, um in den Angelegenheiten der Provinz gehört zu werden, und zumeist auch, um sich mit der Regierung über außerordentliche Abgaben (dons gratuits) zu verständigen. Das Wahlsystem, welches im 15. Jahrhundert bei den Generalständen Platz griff, ist in die Provinzialstände nur teilweise gedrungen. Der Modus blieb hier noch viel verschiedenartiger; bei den beiden ersten Ständen war die Wahl häufig auch in Zukunft mit persönlichen Ladungen der dazu Berechtigten gemischt, der dritte Stand blieb meistens

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allein durch die Städte vertreten. Andererseits kamen gemeinsame Sitzungen der Stände hier häufiger vor als bei den états généraux; doch finden wir die Dreiteilung auch bei den Provinzialständen überall, mit Ausnahme von Béarn, wo Geistlichkeit und Adel nur einen Stand bildeten. Die Kompetenzen der Provinzialstände entsprachen, mutatis mutandis denjenigen der Generalstände. Es ist bekannt, daß Franz I. die Abtretung des Herzogtums Burgund, die er im Frieden von Madrid beschworen hatte, unter Berufung auf die mangelnde Zustimmung der Stände dieser Provinz ablehnte (1526); Vertreter der Provinz, die den König in Cognac aufsuchten, stellten sich durchaus auf seinen Standpunkt. Auch der Brauch der Beschwerdehefte ist bereits im 15. Jahrhundert bei den Provinzialständen in Aufnahme gekommen. Alle möglichen Fragen, die die Provinz angingen, namentlich sofern sie die Sicherheit des Verkehrs und den Wohlstand der Bewohner betrafen, sind vor den Ständen verhandelt worden. Ihre tatsächlich anerkannten Befugnisse waren in dieser Hinsicht sehr verschieden. Von den Ständen in den Lehnsfürstentümern erfreuten sich einer besonderen Stärke diejenigen des Herzogtums B u r g u n d , namentlich während der Regierung Philipps des Guten. In den königlichen Provinzen mußte es natürlich von besonderem Wert sein, wenn die Stände das Recht der Steuerbewilligung (sowohl bei neuen Abgaben als bei Erhöhung der bestehenden Steuern, vgl. S. 375) sowie die Repartition der Taille (die sonst durch die élus in den élections erfolgte) behielten. Man bezeichnete die Provinzen, denen das glückte, mit dem Namen pays d'états (im engeren Sinn, im Gegensatz zu den pays d'élections), wobei man sich aber bewußt bleiben muß, daß es ursprünglich außer den pays d'états auch noch andere Länder mit Provinzialständen gab (sie werden gelegentlich als pays d'états et d'élections bezeichnet). In den pays d'états waren die Stände besonders stark. Hier haben sie sich mit besonderer Heftigkeit gegen die Vermehrung der Steuern gewehrt, und im allgemeinen war die Verteilung der Taille so geregelt, daß die pays d'états im Verhältnis erheblich weniger zu zahlen hatten als die pays d'élections. Das Streben der Krone ging seit dem 15. Jahrhundert dahin, die Provinzialstände zu vermindern oder ihnen, soweit sie zur Steuerrepartition befugt waren, wenigstens dieses Recht zu nehmen und somit die pays d'états in pays d'élections zu verwandeln. In der zweiten Hälfte des 15. und der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts wurde tatsächlich eine große Reihe von Provinzialständen beseitigt. Namentlich die im Zentrum Frankreichs gelegenen Provinzen sowie Anjou und die Guyenne haben damals ihre Stände verloren, während das Recht der Steuerbewilligung (und der Repartition der Taille) von den alten königlichen Provinzen schließlich nur der Languedoc verblieb. Die Vereinheitlichung der Monarchie machte damit große Schritte vorwärts. Doch behielten die neuerdings mit der Krone vereinigten Länder ihre Stände mit Bewilligungs- und Repartitionsrecht bei. Naturgemäß waren die starken Stände in den pays d'états be-

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sonders zu erfolgreichem Widerstand gegen die Versuche der Krone befähigt. Am Ende des 16. Jahrhunderts gab es noch 14 pays d'états {Bretagne, Bourgogne, Dauphiné, Provence, Languedoc und 9 kleine Pyrenäenstaaten: Foix, Nébousan, Quatre-Vallées, Bigorre, Béarn, Marsan, Soûle, Nieder-Navarra, Labourdan) sowie 2 pays d'états et d'élections (Normandie, Auvergne); wie minderwertig die Rechte der letzteren in finanzieller Hinsicht waren, sollte sich alsbald zeigen, als die Stände der Normandie unter Heinrich IV. den Versuch machten, die Taille zu verringern: die königlichen Beamten zogen, angeblich »vorläufig«, die ganze geforderte Höhe ein, und im Jahre 1608 hörte der Widerstand der Stände auf. Die Provinzialstände, die sich so erhalten hatten, erreichten etwas, was den Generalständen nie geglückt ist: die P e r i o d i z i t ä t . Sie ist nicht durch einen Erlaß Gesetz geworden, sondern sie hat sich durch Übung im 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts eingebürgert: alle ein bis drei Jahre versammeln sich die Provinzialstände in den pays d'états (sowie in den pays d'états et d'élections). Das war eine wichtige Errungenschaft: sie hat es mit sich gebracht, daß die meisten Provinzialstände sich das ganze Ancien regime hindurch bis zur Revolution erhalten haben. Nur bei einigen gelang wirklich noch die B e s e i t i g u n g . Im Dauphiné wurden 1627 die élections eingeführt und die Stände zwar nicht abgeschafft, aber tatsächlich nicht mehr berufen. Ahnliche Versuche, die Ludwig XIII. (es ist fraglich, ob im Einverständnis mit dem in Italien weilenden Richelieu) 1629 in der Languedoc, 1630 in der Bourgogne und der Provence machte, führten jedoch nicht zum Ziel; angesichts der entschlossenen Haltung der Stände verzichtete der König, freilich erst nach bedeutenden Zahlungen, auf die Einführung der élections in diesen Provinzen {1631—32); nur die sehr ausgedehnten Rechte der Stände in der Languedoc wurden (in anderer Hinsicht) etwas beschnitten (Edikt von Beziers 1632). Die Stände in der Provence erfuhren 1639 eine Umbildung (wonach die beiden ersten Stände nur noch je zwei Vertreter in sie zu schicken hatten) und hießen seitdem die communautés du pays; ihre Rechte waren nicht sehr ausgedehnt (doch behielten sie die Repartition der Taille). Ludwig XIV. und Ludwig XV. hatten gelegentlich ähnliche Konflikte mit den pays d'états (namentlich beide mit der Languedoc), mußten sie aber schließlich doch gleichfalls bestehen lassen. Anders erging es den états ohne Repartitionsrecht. Die Stände der Normandie wurden nach dem Jahre 1666, diejenigen der Auvergne nach 1680 tatsächlich nicht mehr einberufen; man erkennt auch hieraus, wie die Stände allein da wirklich kräftig waren, wo es keine élections gab; andernfalls war es ein leichtes, ihnen das Schicksal der Generalstände, d. h. das tatsächliche Ende, zu bereiten. Die Erwerbungen Ludwigs XIV. brachten drei n e u e pays d'états: Wallonisch Flandern, Artois und Cambrésis, die schon vorher Stände besaßen und sie beibehielten. Auch im Hennegau waren Stände, aber der geringe Teil, der an Frankreich kam, hat sie tatsächlich H o l t z m a n n , Französische Verfassungsgeschichte.

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verloren, bis -es ihm über ein Jahrhundert später, im Jahre 1787,. unter besonders gearteten Verhältnissen gelang, sie wiederzuerwerben (S. 389). Die Franche-Comté, die in der burgundisch-spanischen Zeit Stände gehabt hatte, verlor sie bei der Einverleibung. Sonach gab es im letzten Jahrhundert des Ancien regime 16, ganz zum Schluß 17 pays d'états, gelegen an der Grenze, im Westen, Norden, Osten und Süden der Monarchie; die größte Bedeutung von ihnen hatten die Stände der Bretagne, der Bourgogne und der Languedoc. 5. Munizipalitäten und Provinzialversammlungen des 18. Jahrhunderts. Trotz aller Reibungen, die zwischen der Krone und den Provinzialständen stattfänden, ist es doch unverkennbar, daß auch das absolute Königtum sich den letzteren gegenüber nicht ebenso ablehnend verhielt wie gegenüber den Generalständen. Jene konnten nicht so gefährlich werden wie diese, und eine gewisse Mitwirkung der Bevölkerung hat schließlich für jedes Regiment seine gute Seite. Schon unter Ludwig XIV. gab es viele Reformer, die einer Ausdehnung der Provinzialstände über das ganze Reich das Wort redeten; lieh doch sogar Herzog Ludwig von Burgund (der Vater Ludwigs XV.) solchen Plänen seine Stimme. So ist es zu verstehen, daß die Regierung Ludwigs XVI. bei dem Gedanken der Heranziehung des Volkes zur Staatsverwaltung eben hier mit den Reformen einzusetzen begann. Ehe man sich zur Wiederberufung einer Notabelnversammlung des Reiches oder gar der Generalstände entschloß, machte man sich an eine Erneuerung der Provinzialversammlungen. Turgot freilich hatte viel weiter gehende Gedanken gehabt: das zeigt sein letztes großes Projekt, das, auf Gedanken des Marquis d'Argenson beruhend, uns leider nur in einer Denkschrift Duponts de Nemours erhalten ist, der zu den Mitarbeitern Turgots gehörte und im wesentlichen wohl seinen Intentionen folgte. Es handelte sich bei diesem kühnen Projekt um die Errichtung eines großen Systems von Körperschaften (»Munizipalitäten«) in den pays d'élections zur Selbstverwaltung des ganzen Landes : zu unterst die Munizipalitäten der Städte und Dörfer, gebildet aus Wahlen, die sich nach pbysiokratischer Weise an den Grundbesitz knüpfen sollten: in der Stadt war für jedes Grundstück im Werte von 18000 Livres, auf dem Land für jeden Grundbesitz von 600 Livres Einkommen eine Stimme vorgesehen, mit Teilstimmen für die Armeren, Pluralstimmen für die Reicheren; darüber sollten sich dann die Munizipalitäten der élections (oder Bailliages) erheben, zusammengesetzt aus je einem Vertreter der vorigen; darüber waren ebenso die Munizipalitäten der Provinzen vorgesehen, and zu oberst schließlich eine »Generalmunizipalität des Königreichs«, also ein Ausschuß aus den Provinzialmunizipalitäten, der sich während einer bestimmten Zeit im Jahr am königlichen Hof versammeln sollte (und zu dem auch die Minister gehören sollten). Allerdings war für diese Körperschaften in der Hauptsache nur eine beratende Stimme in Aussicht genommen; denn an dem absoluten Charakterder königlichen Gewalt zu rütteln, lag den physiokratischen Urhebern.

4. Kapitel. Die gesetzgebenden Gewalten, Reichs- n. Provinzialversammlungen.

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des Projektes fern. Immerhin aber sollte ihnen die Repartition der (von der Regierung festzustellenden) Steuern, sowie außerdem die Regelung der öffentlichen Arbeiten und des Armenwesens zufallen. I n den pays d'états wollte Turgot die Stände zunächst bestehen lassen, sie aber allmählich nach dem Vorbild der Munizipalitäten umformen. Turgots Sturz hat allen diesen weittragenden Gedanken zunächst ein Ende bereitet, und nur in viel bescheidenerem Maße ging zwei Jahre darauf N e c k e r daran, wenigstens die Institution der Provinzialstände wieder zu beleben. I m Jahre 1778 erhielt Berry, 1779 die Ober-Guyenne (mit der Hauptstadt Villefranche de Rouergue) ständisch gegliederte Provinzialversammlungen (assemblées provinciales), und auch im Bourbonnais und im Dauphiné wollte Necker ähnliche Ordnungen schaffen. Die neuen Provinzialversammlungen erhielten das Recht der Steuerrepartition und haben damit zur Beseitigung vieler Ungerechtigkeiten beigetragen; sonst wurde ihnen allerdings nur in unwesentlichen Dingen ein eigenes Entschließungsrecht zugebilligt. Auch gingen sie nicht aus allgemeinen Wahlen hervor, sondern wurden durch eigene Kooptation (bei periodischer Teilerneuerung) gebildet, wogegen freilich in ihrem eigenen Schoß eine lebhafte Bewegung einsetzte. Andererseits bedeutete es anfangs eine Stärkung ihrer Stellung, daß sie direkt mit dem Finanzministerium verkehren durften, unter Umgehung ihrer natürlichen Feinde, der Intendanten (Kap. 5), mit denen sie sofort in allerhand Konflikte gerieten; aber diese günstige Position wurde ihnen nach dem Sturz Neckers wieder genommen, indem Neckers Nachfolger (Joly de Fleury) ihnen auferlegte, sich bei allen ihren Eingaben der Vermittelung des Intendanten zu bedienen (1782) — womit dessen Überlegenheit anerkannt war. I n weit ergiebigerer Weise ging im Jahre 1787 C a l o n n e , der gleichfalls in Verbindung mit Dupont de Nemours stand, auf die Gedanken Turgots zurück, indem er seiner Notabeinversammlung zur Begründung einer gewissen Selbstverwaltung die Errichtung eines Systems von Gemeinde-, Distrikts- und Provinzialversammlungen in allen pays d'élections vorschlug. Eine bedeutende Verstümmelung des Turgotschen Entwurfs fällt allerdings sofort auf: was diesen erst gekrönt hatte, die »Generalmunizipalität des Königreichs«, fiel bei Calonne weg und wurde auch später nicht mehr in den Kreis der Erörterungen gezogen; eine sehr verhängnisvolle Verstümmelung, da, wenn überhaupt irgend etwas, so allein die Generalmunizipalität die Erneuerung der Generalstände hätte hintanhalten können. I m übrigen aber kam man diesmal wirklich zum Ziel; die' Notabein machten nur im einzelnen einige Abänderungsvorschläge, die zum Teil bei der Einführung der neuen Organisation im Juni 1787 berücksichtigt worden sind. Es wurde danach in den pays d'élections ein dreifach abgestuftes System von Organen der Selbstverwaltung eingeführt. Zu unterst die assemblées municipales der Stadt- und Landgemeinden, wobei man für erstere einfach die bestehenden Stadtverfassungen mit ihren assemblées genérales wählte, die man neu beleben zu können hoffte, 25*

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während man für letztere neue Versammlungen (Landmunizipalitäten) schuf, bestehend aus dem seigneur justicier oder dem königlichen Prévôt als Vorsitzendem, ferner dem Pfarrer und einer Reihe gewählter Mitglieder (4—10), von denen einer als Syndikus die Ausführung der Beschlüsse und die Verhandlungen mit anderen Behörden übernehmen sollte; das Wahlrecht (an dem der Seigneur und der Pfarrer nicht teilnahmen) war freilich ziemlich beschränkt, das aktive auf ein Mindestmaß von 10 Livres direkter Steuern, das passive auf ein solches von 30 Livres (während Calonne als echter Physiokrat sogar nur den Grundbesitz, und zwar bei einem Mindestmaß von 600 Livres jährlichen Einkommens, hatte zulassen wollen). Darüber erhoben sich dann die Versammlungen der Distrikte (assemblées de district, de département oder d'élection, da sie sich im allgemeinen an die élections anschlössen), bestehend aus 24 Mitgliedern; zu oberst kamen die Provinzialversammlungen (assemblées provincialesj aus 48 Mitgliedern. Für jede Provinz waren 12 Distrikte vorgesehen. Die Mitglieder der Distriktsversammlungen sollten (bei jährlichem Ausscheiden des vierten Teils von ihnen) durch die Stadt- und Landmunizipalitäten, diejenigen der Provinzialversammlungen ebenso durch die Distriktsversammlungen gewählt werden — eine Bestimmung, von der allerdings bei der Einführung aus übel angebrachter Vorsicht abgesehen wurde, sofern fürs erste Mal die Mitglieder einer Provinzialversammlung zur Hälfte durch den König, zur anderen Hälfte durch eigene Kooptation, die Mitglieder der Distriktsversammlungen zur Hälfte durch die Provinzialversammlung, zur anderen Hälfte durch eigene Kooptation ernannt werden und erst nach drei Jahren die jährlichen Teilerneuerungen durch Wahlen beginnen sollten. (Die Inkonsequenz und Torheit dieses Einführungsmodus, durch welchen die allzeit nur halb wagende und daher nichts gewinnende Regierung offenbarte, wie wenig Vertrauen sie in ihr eigenes Werk setzte, zeigte sich alsbald in der allgemeinen Mißstimmung, die er erweckte.) Die Abstimmungen erfolgten nach Köpfen; dabei waren aber in den Distrikts- und Provinzialversammlungen die Hälfte der Mitglieder dem dritten Stand, nur je ein Viertel den beiden ersten Ständen vorbehalten: für das Büxgertum ein sehr erheblicher Schritt vorwärts auf dem Wege zur Gleichberechtigung. Den Vorsitz allerdings sollte ein Mitglied der beiden ersten Stände führen, das vom König erstmalig frei, später aus einer präsentierten Vorschlagsliste ernannt wurde (während Calonne in allen Versammlungen, selbst in denen der Landgemeinden, auch bürgerliche Vorsitzende hatte zulassen wollen). Die Rechte und Aufgaben der Versammlungen bestanden vor allem in der Repartition und Erhebung aller direkten Steuern, sowohl der dem König zufließenden als der zu lokalen Zwecken der Provinz, des Bezirks, der Gemeinde erhobenen (von den betreffenden Versammlungen beschlossenen) Abgaben ; dazu kam das Recht, Beschwerden und Wünsche aller Art an das Ohr des Königs zu bringen. Die Krone behielt sich den Beschlüssen der Versammlungen gegenüber nur ein oberstes Aufsichts-

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und Kontrollrecht vor; auch sollten wirklich hohe Summen zu lokalen Bedürfnissen nur mit ihrer Genehmigung erhoben und verwendet werden dürfen. Demnach waren es recht erhebliche neue Rechte, die hier ausgeteilt wurden, namentlich da die Macht der Intendanten nach einigem Schwanken durch die endgültige Instruktion vom 17. November 1787 sehr stark beschnitten wurde: der Intendant wäre nach dieser Ordnung nicht viel mehr als der Büttel der Provinzialversammlung geworden. Zur Erledigung ihrer Arbeiten bildeten die Distrikts- und Provinzialversammlungen, die jährlich einige Wochen tagen sollten, eine Reihe von Ausschüssen (Bureaus), zur Ausführung ihrer Beschlüsse und für den Schriftverkehr ernannten sie zwei ständige Syndici; außerdem wurde für die Zeit, in der sie nicht tagten, von jeder von ihnen ein bureau intermédiaire von vier Mitgliedern (2 Bürgerliche, je ein Adliger und Geistlicher) bestellt, auf das die Rechte der Versammlung bis zur nächsten Tagung übergingen. Im Ganzen sollten 26 neue assemblées provinciales gebildet werden, so daß, mit den beiden Neckerschen, 28 Provinzen 1787 solche Provinzialversammlungen gehabt hätten, nämlich : Ile de France (Paris), Orléanais (Orléans), Touraine (Tours), Anjou (Angers), Maine (Le Mans), Niedere Normandie (Caen), Mittlere Normandie (Alençon), Obere Normandie (Rouen), Picardie-Boulonnais (Amiens), Hennegau (Valenciennes), Soissonais (Soissons), Champagne (Châlons), die drei Bistümer (Metz), Lothringen (Nancy), Elsaß (Straßburg), Franche-Comté (Besançon), Bourbonnais-Nivernais (Moulins), Berry (Bourges), Poitou (Poitiers), Aunis-Saintonge (La Rochelle), Limousin (Limoges), Auvergne (Clermont-Ferrand), Ober-Guyenne (Villefranche), Nieder-Guyenne (Bordeaux), Gascogne (Auch), Roussillon (Perpignan), Lyonnais (Lyon), Dauphiné (Grenoble). Die Bezirke hatte man auf Grund der Generalitäten gebildet, aber so, daß man einerseits die große Generalität von Tours in drei Provinzen (Touraine, Anjou, Maine) zerlegte, andererseits diejenigen Generalitäten, welche nur oder fast nur pays d'états enthielten (Bretagne, Flandern-Artois, Bourgogne, Toulouse, Montpellier, Aix), sowie auch Trévoux und Corsica (wegen ihrer Sonderstellung) fortließ. Denn die pays d'états sollten ihre Stände behalten. Es sind aber tatsächlich nicht alle Provinzialversammlungen ins Leben getreten, da einige Provinzen, die früher gleichfalls zu den pays d!'états gehört hatten, die neue Ordnung ablehnten und ihre Stände zurückforderten. Das waren: Hennegau, Franche-Comté, Aunis-Saintonge, Limousin, Nieder-Guyenne und Dauphiné. Der heftigen, z. T. durch die Parlamente unterstützten Opposition war die Regierung nicht gewachsen. Der Hennegau erhielt in der Tat seine Stände zurück, in den 5 anderen Provinzen konnte die neue Ordnung nicht verwirklicht werden. Sonach gab es in Frankreich beim Ausbruch der Revolution 17 Länder mit Ständen, 22 Provinzen mit Provinzialversammlungen (darunter Distriktsversammlungen und Munizipalitäten), sowie schließlich 6 Provinzen {einschließlich Corsica) und die kleinen Länder SeeFlandern, Bresse, Gex, Bugey, Valromey und Dombes ohne Vertretung.

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6. Die Notabelnversammlungen. Die Notabeinversammlungen haben lange noch neben den Ständen eine erhebliche Rolle gespielt, und zwar gerade in solchen Zeiten, wo man die états généraux möglichst selten einberief, aber doch nicht allen Konnex mit einer Vertretung der Bevölkerung verlieren wollte. Zwar die Provinzialnotabeln hörten im Laufe des 16. Jahrhunderts allmählich auf; in den pays d'états, wo die Provinzialstände eine regelmäßige Ordnung erhielten, waren sie überflüssig, und in den pays d'élections paßten sie nicht mehr in das beliebte System einer zentralisierten und zentralisierenden Verwaltung. Die Generalnotabeln aber wurden von den Königen des werdenden Absolutismus nicht selten versammelt, haben im 17. Jahrhundert die Generalstände noch um zwölf Jahre überlebt, schliefen dann freilich gleichfalls ein, um erst zwei Jahre vor den Ständen im 18. Jahrhundert wieder aufzuleben. In den zwischen 1484 und 1560 liegenden Jahren, in denen die Generalstände nicht berufen wurden, sind zu verschiedenen Malen Notabelnversammlungen zusammengetreten. Sie übernahmen durchaus die Aufgabe der Stände, dem König bei wichtigen Staatsaktionen als Vertreter der Nation eine moralische Stütze zu verleihen. So gleich die Notabein, welche Ludwig XII. im Mai 1506 zu Tours um sich versammelte, um bei dem Bruch mit den Habsburgern und der Verlobung seiner Tochter Claudia mit seinem Nachfolger Franz die Nation hinter sich zu haben; sie haben den König mit dem Titel »Vater des Volks« geschmückt. Besonders berühmt ist dann unter Franz I. die Notabeinversammlung geworden, welche der König im Dezember 1527 zu Paris versammelte, und durch die er sich noch einmal eine Zustimmung zum Bruch des Friedens von Madrid erteilen und neue außerordentliche Abgaben für den Krieg bewilligen ließ. So begannen also hier die Notabein für vorübergehende Ausgaben sogar das alte Geldbewilligungsrecht der Stände zu übernehmen. Heinrich II. und dann, nach der neuen letzten Blüte der Generalstände (1560—93), wieder Heinrich IV. haben nur einmal eine Notabelnversammlung abgehalten, jener im Jan. 1558 zu Paris, dieser von Nov. 1596 bis Jan. 1597 zu Rouen. Beide Versammlungen galten gewissermaßen als Vertretung der états généraux, deren Berufung den Königen bedenklich schien, und bewilligten abermals außerordentliche Abgaben für die spanischen Kriege. Immerhin aber wurde damals der Standpunkt vertreten, daß solche Vertretung etwas Außergewöhnliches sei und auch nur zu wirklich außerordentlichen Abgaben ihre Einwilligung geben könne ; die Bewilligung dauernder neuer Steuern galt prinzipiell als Sache der Generalstände. Im 17. Jahrhundert sind während der Regierung Ludwigs XIII. auf die letzten Generalstände (1614—15) noch einige Notabelnversammlungen gefolgt: im Dez. 1617 zu Rouen (mit Schluß im Jan. 1618 zu Paris) zur Beratung großer Reformen in der gesamten Staatsverwaltung, die aber nachher nicht zur Ausführung kamen; am 29. Sept. 1625 zu Fontainebleau, wo Richelieu sich in einer wichtigen Frage der auswärtigen Politik (den Veltliner

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Frieden betreffend) an eine stark erweiterte außerordentliche Ratssitzung wandte, die durchaus den Charakter von Notabein hatte; schließlich Dez. 1626 bis Febr. 1627 zu Paris, von Richelieu berufen, um einer Reform der königlichen. Finanzen (mit Geldbewilligungen zur Wiedereinlösung verschleuderter Domänen) zuzustimmen. 160 Jahre lang hat das absolute Königtum darauf auch die Notabein nicht mehr zusammentreten lassen. Es zerschnitt damit, und zweifellos zu seinem Schaden, auch das letzte lose Band, das es noch mit der Nation verknüpfte; denn die Parlamente, deren große politische Tätigkeit jetzt begann, waren im Grunde doch ihrem ganzen Wesen nach nicht geeignet, eine Vertretung des Volkes zu ersetzen. Erst als die innere Lage des Staates und die finanzielle Misère keinen anderen Ausweg m e h r zu bieten schien, entschloß sich Calonne (im August 1786) zur Wiederberufung einer Notabeinversammlung; man begann da, wo man aufgehört hatte, um freilich sehr bald auch den zweiten Schritt (Wiederberufung der Generalstände) machen zu müssen. Die Berufung der Notabein erfolgte am 29. Dez. 1786; die Versammlung tagte vom 22. Febr. bis zum 25. Mai 1787 in Versailles. Sie hat sich der großen, die Verwaltung des ganzen Reichs betreffenden Reformprojekte Calonnes mit Eifer und Hingebung und im allgemeinen auch ohne Voreingenommenheit angenommen und eine Reihe von Ergebnissen erzielt, deren wir anderen Orts gedacht oder zu gedenken haben. Daneben aber hat sie einen großen Sieg über die Regierung davongetragen und damit Platz gefaßt in der Reihe der Kräfte, die der Krone zur Zeit Ludwigs ^XVI. Schlag auf Schlag bis zum Untergang versetzt haben: Calonne, mit dem sich die Notabein überwarfen, wurde gestürzt (9. April) und (nach dem kurzen Zwischenregiment von Fourv. Lothringen« 312 f. 367. 464; Ludwig II. EB. v. Reims (1576-88) 312; Ludwig III. EB. v. Reims (1605—21) 312. Guyenne, H. 86. 90. 184. 191. 196. 204. 212. 231 ff. 264. 266. 278. 295. 317. 342. 418. 420 f. 432. 453. 470 ff. 476 f. (s.

Eduard, Heinrich II. v. England, Karl); Pari. 336 f. 368. 470 f. 474. 478 (L. 334 f.); Stände 384. — G.-Gascogne, Gouv. 396.432. — Nieder-G., Gen. 400 f.; Prov.-Vers. 389. — Ober-G.. Gen. 400; Prov. -Vers. 387.389. — Vgl. Aquitanien. Hadrian I. (772—95) 115. 161. Ham (Somme) 71. Handel 39. 170 ff. 283 f. 323. 327. 330 f. 334. 399. 484.498; L. 279 f. — Vgl. Getreidehandel, Kaufleute. Handelsgerichtsbarkeit 496; -kompagnien 498. Handwerk, Handwerker 43. 170 ff. 283 ff. 484. 493f. 498ff.; L. 169. 279f. 482. Hansa, Hanse 171. 283; L. 279. Häresie s. Kelzerei. Harlay, Franz v., EB. v. Paris (1671—95) 445 ff. Hftttonchätel (Meuse), Gl!. 366. haubert s. Panzerlehen. Hauptleute s. Kapitäne. Hausmaier 134. Hausminister 134. 328. haut passage 265. Heer, Heerwesen 12. 81. 128 f. 260.274 ff. 327. 361. 399. 425 ff. 473. 496; L. 6. 273 f. 425. — Chef des Heeres 134 f. 201 277. 324 f. Heerbann 129. 203. 275 ff. 425 f. 428. — Vgl. ban et arrifereban. Heidelberg 369. 371. Heimfall 23. 37. 46 f. 167. 256. 404. 486; L. 253. Heinrich I., Kg. v. Deutschland (919—36) 110; II. (1002—24), Ks. 2. 127; III. (1039-56), Ks. 82. 154. 179; VI. (1190 bis 97), Ks. 179. Heinrich I. Kg. v. England (1100—35) 74. 79 f.; H. (1154-89), auch G. v. Anjou, H. v. Guyenne u. Normandie, 74. 79 f. 90. 120; V. (1413-22) 184. 190 f. 215. 263 (L. 253); VI. (1422 - 7 1 ) 180. 189 f. 436 (L. 253). Heinrich I. Kg. V.Frankreich (1031-60) 70. 73. 84. 86. 103. 112 f. 123. 145 (L. 5), II. (1547—59) 311. 317. 319 f. 325. 328 f. 337. 360. 378. 390. 405.418. 420. 427. 441. 464 (L. 307); HI. (1574 bis 89) 311. 316. 320. 325. 327. 329. 343. 350. 363. 379. 396. 420. 423. 469. 472. 601 (L. 307. 372); IV. (1589 bis 1610) 310 ff. 314. 316 ff. 338. 348. 350. 375. 379. 381 f. 385. 390. 392. 396 f. 427 f. 432. 438. 442. 452. 471 ff. 482. 484.501 (L. 306f. 310.335.372.460.482).

Register. Heinrich I. v. Burgund (965-1002) 85. Heinrich I. v. Champagne (1162—81) 73. Hennegau, G. 82 f. 318. 408. 418. 421. 424 (s. Balduin) ; Prov.-Vers. 389 ; Stände 385. 389. — Gen. H.-Cambrésis 400; L. 394. — Gouv. u. Pari. s. Flandern. Herbauges, G. (Vendée) 78. 88. Herbergerecht (Prokuration),bischöfl. 147; lehnsfürstl. u. kgl. 101.256 f. 403 ff. 441. Herde, Herdgemeinschaft 46. 263. 273. 408; L 402. héréditaire 315. heribannum s. Heerbann. Heribert I. v. Vermandois if e. 902) 71. 107 ; II. v. Verm. = I. v. Champagne (f 943) 72. 85. 109 f. ; II. d. Ältere u. III. d. Jüngere v. Champ. 72. Hermann v. Hennegau (f 1051) 82. Herr b. Seigneur. — Herrenfall 14. 22; -hof 8. 283; -land 8. 40. 43. 48. 255. Herrenloses Gut 101. 256. 403 f. Herrschaft s. Seigneurie. Herzog, Herzogtum 12. 1«. 38. 67 ff. 193 f. 342. 473; L. 63 f. Hesdin (Pas-de-Calais), G. 82 f. Hiémois, G. (um Hièmesl s. Kxmes. Hierarchie, feudale 17. Hinkmar EB. v. Reims (845—82i 106. 116 ff. 161; L. 103. Hintersassen 8 f. 12; vgl. Hörige. Hof (curia), kgl. 131 ff. 196 ff. 331 ff. 468. 470 f. 473. 482 ; lehnsfürstl. 96 ff. 208 f.; seigneurialer 18 f. 61. — Vgl. Rat. Hofämter 135. 324. 326. 328. Hofgericht, kgl. 3. 128. 131 f. 136 f. (s. ' grands jours, Parlament) ; neues 217. 251 f. 332 (s. grand-conseil de justice, Rat [conseil privé]). — lehnsfürstl. 102. 250 (s. échiquier, grands jours). Hofrechtliche Theorie 56. 283. — Vgl. Gerichtsbarkeit, homagium 22. 25 ff. ; s. Huldigung, homme, homo 11 (s. Vasallen); homines de corpore s. Leibeigene; de prosecutionc (sequela) 44; homme vivant et mourant 167. Honorius HI. (1216—27) 230. 294. Hörige 8 f. 39 ff. 55 ff. 129. 136. 170.173. 275.375.403.425. 483.486ff.; L.38. 481. Hormisdas (514—23) 119. hospitalitas 9; hospitium s. hôtel, hostis 19; s. Kriegspflicht, hôtel du roi 252. 326. Hotman (Hotomanus), Franz 319. 369; L. 307. 357. Houdan (Seine-et-Oise) 476. Hrnodland (f 778) 76.

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Hugenotten 465; s. Kirche, reformierte. Hugo Capet, Kg. (987—96) 70. 72. 90. U l f . 117. 119. 125; L 6. Hugo, Kg. (f 1025) 112. 123. Hugo v. Amiénois-Vermandois -Valois (c. 1080—1102) 71 f. Hugo v. Burgund (d. Schwarze, 936 bis 52) 85. Hugo v. Burgund (Sohn Roberts I.) 114. Hugo v. Franzien (d. Weiße oder Große, 923-56) 69 f. 85. 110. Hugo v. Lothringen (SohnLotharsH.) 105. Hugo v. Neustrien, Abt (f 886) 69. Hugo d. Weiße, Kardinal (f c. 1099) 165. Huldigung, vasalliüsche 11. 14. 22. 25 ff. 29. 34. 41. 105. 143. 153. 172. 184. 195. 269. 280. 296. 486 (L. 6); einfache u. ligische 25 ff. 60 f. 184 (L. 18). Hulot, Heinrich 371. Hülst (Niederlande, Zeeland) 82. Humbert II. Dauphin (1334—49, f 1355) 192. 336. Humfrid v. Septimanien 93. Hunald v. Aquitanien 87. Hundertster Pfennig 424. île de France 266. 416. 419. 421. 476; Gen. 400; Gonv. 396; Prov.-Vers. 389. — Vgl. Franzien. lmmo v. Périgord 91. Immunität 13. 16. 57. 151. 153. 166; L. 6. . Imperatives Mandat 212. 380. imposition foraine s. traite foraine, impôt territorial s. Territorialsteuer. Indult 349. Industrie s. Fabriken, Gewerbe. Infanterie 275 f. 426 ff. Innocenz n . (1130—43) 118; III. (1198 bis 1216) 140. 294. 297; IV. (1243 bis 54) 292; XI. (1676-89) 445 ff. ; XII. (1691—1700) 450 (L. 434). Innungen s. Zünfte, inqaisitio, -tores s. enquête, -teurs. Inquisition 231. 247. 292 ff. 464; L. 289Insignien, kgl. 125. 324. Inspekteure 397. institutio s. Einsetzung. Institutionen 53 f. Intendanten 3. 387. 389. 394 ff. 407 ff, 479. 496 ff. ; L. 309.394. — Vgl. Finanzintendanten. Intendanzen 400 f. 431. Internationaler Verkehr 322 f. Inthronisation 143. 153. Investitur 25. 41. 143 ff. 153; L. 138. Irnerius 53 ; L. 50.

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Register.

Isabella v. Bayern, Kgn. 197. Isabella v. Frankreich, Kgn. v. England 183. Isabella v. Hennegau, Kgn. 83.121. 179. Isidor B. v. Sevilla (c. 600-636) 161. Isidoras Mercator 161. l8soire (Puy-de-Dôme) 470 f. lsaoudun (Indre), Herrsch. 89. Italien 73. 84. 90. 105 ff. 115 f. 160. 165. 171. 174. 204. 228 f. 278 f. 293. 305. 316. 369. 501. iudex maior s. lieutenant, richterl. iudices in partibus 445 f. iurati s. Geschworene, iurisdictio, iustitia s. Gerichtsbarkeit ; pacis 166 ; sanguinis 61. Ivo B. v. Chartres (1090—1116) 120. 127. 161. 165; L. 138 f. Ivois, heute Carignan (Ardennen) 2. 127. Jacobi, Petrus 229; L. 223. Jansenisten 352. 444. Jargeau (Loiret) 475. Jarnac (Charente) 476. Jesuiten 320. 352. 4441. 449 f. 452. Johann YHI. (872—82) 116«.; XXII. (1316—34) 289 f. 299. 454. Johann ohne Land, Kg. v. England (1199—1216) 191. 231 ; L. 224. Johann I. Kg. v. Frankreich (1316) 182 ; H. d. Gute (1350—64) 180. 190. 192. 194. 214 f. 221 f. 260. 262. 265. 267. 275. 277. 287. 305. Johann v. Angoulême (1407—67) 195. Johann v. Bedford (f 1435) 190. Johann v. Berry (1360—1416) 194. Johann v. Frankreich (f 1226) 193. Johann Tristan v. Valois (1269—70) 194. Johann v. Vienne (f 1396) 279. Johanna v. Bourbon, Kgn. 189. Johanna v. Evreux, Kgn. 183 f. Johanna v. Navarra-Champagne (f 1305), Kgn. 178. 182. 186. 234. Johanna v. Navarra-Evreux (f 1349) 181 ff. 187. 234. Johanna I. v. Neapel (1343—82) 186. Joigny (Yonne), G. 71. 86. Joly de Fleury, Jean François 387. 413. Josselin (Morbihan) 75. 476. Joyeuse, Franz, EB. v. Rouen (1605 bis 15), Kardinal 312. Juden 128. 244. 246. 258. 303 ff. 404. 461. 480; L. 289. Judicheil v. Bretagne (f890) 78. Judith, T. Karls d. Kahlen 81. juge consul 361. 496. 500; mage, ordinaire s. lieutenant, richterl.

jugements par commissaires 363. Julius II. (1503—13) 437. jurats, jurés s. Geschworene, j ustice s. Gerichtsbarkeit (basse=niedere, foncière = grundherrl., haute = hohe, moyenne = mittlere); prévôtale 431 ; retenue 362. — justice des aides 272 ; s. chambre des aides. Justinian 53. Juvénal des Urains, Johann, EB. v. Reims (1449-73) 436. Kabinettsbefehle 363. 373. Kaffeemonopol 424. Kaiser, Kaisertum 105 f. 115 f. 119 f. 125. 196 f. 322 f. Kämmerer (chambrier), klösterl. 153 ; kgl. 134. 200.324; lehensfürstl. 98.101 f. — Erzkämmerer 120. — Vgl. chambellans. Kammern der Kirchenprovinzen 459 ; desEdikts 471. 473 f. 478 (L. 460) ; drittgeteilte 471. 474; halbgeteilte 470 f. 473 f. 478. — Vgl. chambre. Kanonessammlungen 160 f. 294 f. 454 ; L. 139. 289. Kanoniker 141 f. Kanonisches Recht 455 ; vgl. Kirchenrecht. Kanzlei, kgl. 107. 133. 363. (vgl. Beurkundungen, Kanzler) ; päpstl. (Taxen) 299 f. 435. Kanzler, kgl. 133. 135. 199 f. 235. 238. 325 f. 330 f. 333 (L. 104. 178); lehnsfürstl. 98. 102. Kapelle 152; kgl. 133. Kapetinger 68 ff. 382 ; Thronbesteigung 2. 17. 70. U l f . Kapitäne (Hauptleute) 277 f. 314. 425 f. 428 f. 474; Seekap. 279. 432 f. Kapitel 141 f. 149 f. 154. 157 f. 447; 8 . Generalkapitel. Kapitulare 175. 495. Kapitularien 50 ff. 160; L. 49. Kaplan 152. Karl Martell (f 741) 93. Karl I. d. Große (768—814), Ks. 7. f.l. 67. 75 f. 87.91.94.115. 124 f. 161.232; II. d. Kahle (840—77), Ks. 13 f. 52. 74. 76 ff. 81. 87. 105 f. 115 ff. 121 ff. 144 (L. VII); III. v. Ostfranken (876 bis 87, f 888), Ks. 107. 115. 121 f.; IV. v. Deutschland (1346—78), Ks. 193 ; V. (1519—58), Ks. 325. 361. 452. 463. Karl m . d. Einfältige, Kg. v. Frankreich (893—929) 2. 72. 79. 84. 104. 107 ff. 119. 123 ff. (L. 5); IV. d. Schöne (1322 bis 28) 180. 182 f. 194. 234 (L. 176); V. (1364—80) 180. 189 f. 192 ff. 200.

Register. -214 f. 217. 2*22. 238. 246. 262. 265. 268. 270. 273. 277 f. 327. (L. 176. 224. 279); VI. (1380-1422) 180.184. 189 ff. 195. 197. 208. 215. 217. 222. 228. 238. 287. 297. 302. 304. (L. 176. 254) ; VII.