Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte: Englische Verfassungsgeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Victoria [Reprint 2019 ed.] 9783486741766, 9783486741759

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Handbuch der mittelalterlichen und neueren Geschichte: Englische Verfassungsgeschichte bis zum Regierungsantritt der Königin Victoria [Reprint 2019 ed.]
 9783486741766, 9783486741759

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsübersicht
I. Abschnitt. Der Feudalstaat
§ 1. Das anglo-normannische Reich
§ 2. Die Wurzeln des Feudalismus in England
§ 3. Die Ständegliederung
§ 4. Der König und sein Rat
§ 5. Die Zentralverwaltung
§ 6. Die Lokalverwaltung unter den angelsächsischen Königen
§ 7. Fortsetzung: Die Lokalverwaltung der Normannen-könige und ersten Plantagenets
§ 8. Die Städte
§ 9. Die Rechtspflege
§ 10. Das Heerwesen
§ 11. Die Finanzverwaltung
§ 12. Die angelsächsische und anglo-normannische Eigenkirche
II. Abschnitt. Der Ständestaat
§ 13. Aufstieg und Verfall des Ständestaates
§ 14. Die Umbildung des englischen Feudalrechts zum Common Law und dessen Vorrangstellung
§ 15. Die Stände
§ 16. Der König
§ 17. Das Parlament
§ 18. Die Zentralverwaltung
§ 19. Der Staatsdienst
§ 20. Die Lokalverwaltung
§ 21. Die Städte
§ 22. Die Rechtspflege
§ 23. Das Heerwesen
§ 24. Die Finanzverwaltung
§ 25. Die Entwicklung der englischen Staatskirche
III. Abschnitt. Der Kamp! der absoluten und konstitutionellen Monarchie um die Vorherrschaft
§ 26. Vom absoluten zum konstitutionellen Regime
§ 27. Römisches Recht und Common Law im Kampf um die Vorherrschaft
§ 28. Die Stande
§ 29. Der König
§ 30. Das Parlament
§ 31. Die Zentralverwaltung
§ 32. (Fortsetzung.) Die Entstehung der Kollegialverfassung in den Zentralstellen
§ 33. Das Ministerkabinett
§ 34. Staatliche Mittelbehörden und Staatsdienst
§ 35. Die Lokalverwaltung
§ 36. Die Justizverwaltung
§ 37. Die Armee und Flotte
§ 38. Die Finanzverwaltung
§ 39. Staat und Kirche
IV. Abschnitt. Die parlamentarische Monarchie
§ 40. Die Entwicklung der Parlamentsherrschaft und die Freiheitsrechte
§ 41. Die Konventionairegeln als Unterlagen des Verfassungsbaues
§ 42. Stände und Parteien
§ 43. Der König
§ 44. Das Parlament
§ 45. Das Ministerkabinett
§ 46. Die Zentralverwaltung
§ 47. Der Staatsdienst
§ 48. Die Lokalverwaltung
§ 49. Die Justizverwaltung
§ 50. Die Finanzverwaltung
§ 51. Die Heeresverwaltung
§ 52. Staat und Kirche. (Das sog. „establishment".)
Sachregister

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HANDBÜCH DER

MITTELALTERLICHEN UND NEUEREN GESCHICHTE HERAUSGEGEBEN VON

G.y.BELOW

UND

F. MEINECKE

PROFESSOREN AN DER UNIVERSITÄT FREIBURG I.B.

A B T E I L U N G III V E R F A S S U N G , RECHT,

WIRTSCHAFT

JULIUS HATSCHEK

ENGLISCHE VERFASSUNGSGESCHICHTE BIS ZUM REGIERUNGSANTRITT DER KÖNIGIN VICTORIA

MÜNCHEN UND BERLIN DRUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOURG 1813

ENGLISCHE VERFASSUNGSGESCHICHTE BIS ZUM

REGIERUNGSANTRITT DER KÖNIGIN VICTORIA

VON

JULIUS HATSCHEK P R O F E S S O R AN D E R U N I V E R S I T Ä T GÖTTINGEN

MÜNCHEN UND BERLIN DKUCK UND VERLAG VON R. OLDENBOUKG 1013

Alle Rechte, auch das der Übersetzung vorbehalten. Copyright 1913 by EL Oldenbovg, Kflnehen und Berlin.

R O B E R T PILOTY IX FREUNDSCHAFTLICHER ERGEBENHEIT

Vorwort.

V

or mehr als dreißig Jahren ist Gneists englische Verfassungsgeschichte erschienen, als Krönung eines Lebenswerkes im In- und Auslande verehrt. Die Höhe der Gneistschen Darstellung war durch die Tatsache bedingt, daß er, der das schwache Pflänzchen der heimischen Verfassung sorgfältig beobachtet und gehegt hatte, mit kundigem Blicke auch in der englischen Verfassungsgeschichte institutionelle Zusammenhänge aufdeckte, die selbst den Engländern bis dahin verborgen geblieben waren. Freilich war mit diesem Vorzug auch eine gewisse Einseitigkeit des Werturteils verbunden, mit welchem Gneist an den Gegenstand herantrat. Seine Darstellung hatte zum Mittelpunkte die Frage: »Wie erreichte England sein Selfgovernment ?«, und um diesen Mittelpunkt mußten sich alle Verfassungsinstitute gruppieren lassen. Neuere Forschung, insbesondere die von Maitland, Vinogradoff und Liebermann, zeigt zunächst für frühmittelalterliche Verhältnisse, daß objektivere Maßstäbe des Werturteils durch Vergleichung paralleler Institutionen der deutschen und französischen Rechtsgeschichte gewonnen werden können. Dieser Weg ist auch in der folgenden Darstellung beschritten worden. Zu diesem Zwecke mußten die wichtigsten Ergebnisse der deutschen und französischen Verfassungs-, Verwaltungsund Kirchenrechtsgeschichte vergleichend herangezogen werden. Dies und die große Masse des seit Gneists Buch neuerschlossenen englischen Quellenmaterials machen die Aufgabe so umfassend, daß der Verfasser der folgenden Darstellung sich wohl bewußt ist, damit nur einen ersten Versuch des Gesamtbildes liefern zu können, und die Uberzeugung hat, daß zu der nahezu zwei Dezennien dauernden Beschäftigung mit dem Gegenstand füglich noch ebensoviel Zeit hätte hinzukommen müssen, um wahrscheinlich selbst dann nicht das zu erreichen, was ihm als Ideal einer englischen Verfassungsgeschichte vorschwebt. Immerhin entschloß

VIII

Vorwort.

er sich schon jetzt zur Veröffentlichung. Denn seit Gneists Buch ist keine Darstellung des Gegenstands in deutscher Sprache erschienen. Auch glaubt Verfasser im folgenden manches bieten zu können, was sich in englischen Büchern über den Gegenstand nicht findet. Zum Schlüsse sei allen gedankt, die das Gedeihen des Werkes durch ihren Rat unterstützt haben, vor allem Herrn Geheimrat P i e t s c h m a n n , dem leitenden Direktor der hiesigen Universitätsbibliothek, der die Wünsche des Verfassers bei Beschaffung des englischen Quellenmaterials in besonders liebenswürdiger Weise berücksichtigt hat, und Herrn Dr. Frank Fischer, Assistenten am Grimmschen Wörterbuch, der die Korrektur der Druckbogen freundlich besorgt hat. G ö t t i n g e n , Pfingsten 1913. J . Hatschelr

Inhaltsübersicht. Seite

I. A b s c h n i t t : D e r F e u d a l s t a a t § 1. Das anglo-normannische Reich § 2. Die Wurzeln des Feudalismus in England § 3. Die Ständegliederung § 4. Der König und sein R a t § 5. Die Zentralverwaltung § 6. Die Lokalverwaltung unter den angelsächsischen Königen . § 7. (Fortsetzung): Die Lokalverwaltung unter den Normannenkönigen und ersten Plantagenets § 8. Die Städte § 9. Die Rechtspflege § 10. Das Heerwesen § 11. Die Finanzverwaltung §12. Die angelsächsische und anglonormannische Eigenkirche . .

93—104 104—116 116—128 128—135 135—147 147—168

II. A b s c h n i t t :

168—325

Der S t ä n d e s t a a t

§13. §14.

Aufstieg und Verfall des Ständestaats Die Umbildung des Feudalrechts zum Common Law und dessen Vorrangstellung § 1 5 . Die Stände § 1 6 . Der König § 1 7 . Das Parlament §18. Die Zentralverwaltung § 19. Der Staatedienst §20. Die Lokalverwaltung §21. Die Städte § 22. Die Rechtspflege § 23. Das Heerwesen § 2 4 . Die Finanzverwaltung §25. Die Entwicklung der englischen Staatskirche III. A b s c h n i t t : D e r K a m p f d e r a b s o l u t e n u n d k o n s t i t u t i o n e l l e n M o n a r c h i e um d i e V o r h e r r s c h a f t §26. §27. § 28. § 29. § 30. §31. §32.

Vom absoluten zum konstitutionellen Regime (1485—1714). Römisches Recht und CommonLaw im Kampf um die Vorherrschaft Die Stände Der König Das Parlament Die Zentralverwaltung (Fortsetzung.) Die Entstehung der Kollegialverfassung in den Zentralstellen I*

1—168 1—26 26—38 38—56 56—75 75—85 85—93

168—179 179—190 190—197 197—207 207—233 233—246 246—254 254—265 265—274 274—289 289—291 291—308 308—325 325—563 325—346 346—351 351—363 363—389 389—407 407—433 433—450

X

Inhaltsübersicht. Seit«

§ 33. Das Ministerkabinett 450—462 $34. Staatliche Mittelbehörden und Staatsdienst 462—472 §35. Die Lokalverwaltung 472—499 § 36. Die Justizverwaltung 499—515 § 37. Armee und Flotte 515—530 § 38. Die Finanzverwaltung 530—549 § 39. Staat und Kirche 549—563 I.V. A b s c h n i t t : D a s p a r l a m e n t a r i s c h e K ö n i g t u m 563—755 § 40. Die Entwicklung der Parlamentsherrschaft und die Freiheitsrechte 563—581 §41. Die Konventionairegeln als Unterlagen des Verfassungsbaues. 581—586 § 42. Stände und Parteien 586—604 § 43. Der König 604—621 § 44. Das Parlament 621—643 § 45. Das Ministerkabinett 643—660 § 46. Die Zentralverwaltung 660—674 §47. Der Staatsdienst 674—681 § 48. Die Lokalverwaltung 681—706 §49. Die Justizverwaltung 706—715 § 50. Die Finanzverwaltung 715—734 §51. Die Heeresverwaltung 734—744 §52. Staat und Kirchc (das sog. »establishmcnt«) 744—755

I. Abschnitt.

Der Feudalstaat. § 1. Da» anglo-normannische Reich. Literatur. C o l l i n g w o o d and Y o r k P o w e l l , Scandinavian Britain 1908. — E l t o n , Origins of English History, 2. ed., 1890. — F r e e m a n E. A., Norman Conquest of England, 4 Bde., 1867. — Derselbe, History of William Rufus. — G n e i s t , Engl. Verfassungsgeschichte S. 1 — 182. (Die Darstellung der angelsächsischen Zeit, S. 1 — 95, ist durch die neuere Forschung vollständig überholt.) — G r e e n J. R., Making of England. — Derselbe, The Conquest of England. — H a v e r f i e l d , The Romanisation of Roman Britain (Proceedings of the Brit. Academy II, 1906), 2. ed., 1912. — Political History of England, ed. Hunt and Poole, Bd. I u. II. — History of England, ed. Omar, Bd. I u. II. — M o m m s e n , Rom. Geschichte Bd. 5. — M a i 11 a n d ,• Domesday Book and beyond, 1897 insbes. § 8 des I. Essay. — P l u m m e r , Life of King Alfred 1901. — R a m s a y J. H., The foundations of England I., II., 1898. - R o u n d J. H., Feudal England 1895 (Neudruck 1909). — S k e n e , Celtic Scotland, 1. Bd., 1876. — S t e e n s t r u p , Normannerne, 4 Bde., 1876—82. — S t u b b s , Constitutional History I 2 . — V i n o g r a d o f f , Growth of the Manor 1905. Book I, ch. I, II ; Book II, ch.-1. — Über die Heimat und Siedelung der Angelsachsen insbes. : B r e m e r , Ethnographie der germ. Stämme in P a u l s Grundriß 2 III, 849—60, H o o p s , Waldbäume und Kulturpflanzen im germ. Altertum, StraQburg 1905, 14. Kapitel S. 566 bis 589; R. J o r d a n , Eigentümlichkeiten des angl. Wortschatzes, 1906 (in Hoops, Anglistische Forschungen, Heftl7); Derselbe, Die Heimat der Angelsachsen, Verh.der Baseler Philol.-Vers. 1907, S. 138 ff.; C h a d w i c k , The origin of the English Nation (dazu die Besprechung von S t e v e n s o n in E. H. R. ( = The English Historical Review, ed. Poole), Bd. 23, p. 330 ff. und H o o p s in dem von ihm herausgeg. Reallexikon der germanischen Altertumskunde 1911, S. 87 ff., wo auch eine sehr übersichtliche Zusammenfassung der bisherigen Forschungsergebnisse) ; L. S c h m i d t , Allgemeine Geschichte der germanischen Völker 1909, S. 158 ff.; W i n d i s c h , Das keltische Britannien 1912 (auch in Abhandig. der Kgl. sächs. Ges. d. W., Philol.-hist. Klasse, Bd. XXIX, Nr. 6, insbes. Kap. V—XIV). — Über die Magna Charta und ihre Entstehungsgeschichte: A d a m s G. B., American Historical Review V, 643 ff.; Derselbe, The origin of the English Constitution 1912, ch. V f f . ; P a u l i , Engl. Geschichte, Bd. 3, S. 383—487; B é m o n t , Chartes des libertés Anglaises, Paris 1892, Introduction p. V I I - L X X V I ; M e K e c h n i e , Magna Charta, 1905 (dazu V i n o g r a d o f f in Law Quarterly Review 1905, S. 250 ff.) ; K. N o r g a t e , John Lackland 1902, S. 210-287. H ä t s c h e l t , Engl. Verfassungsgeschichte.

1

2

I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

I. Das Reich der Angelsachsen (449—1066).

»Anno ab incarnatione Domini quadrigentesimo quadragesimo nono . . . Tunc Anglorum sive Saxonum gens invitata a rege praefato (sc. Vortigerno), in Brittaniam tribus longis navibus advehitur . . . Advenerunt autem de tribus Germaniae populis fortioribus, id est Saxonibus, Anglis, Jutis.« So berichtet Beda (Historia ecclesiastica Gentis Anglorum I, 15). Auf Einladung des Britenkönigs Wortigern zum Schutze gegen die ihn bedrängenden Pikten und Skoten sollen 4491) die drei germanischen Stämme der Sachsen-, Angeln und Jüten vom Festland* herübergekommen sein und das Land erobert haben. Durch die neuere Forschung ist dies auch als richtig festgestellt. Die Eroberung beginnt wohl mit einer Ansiedelung der Jüten unter ihren Führern Hengist und Hors, die sich auf der Insel Tanet und der Ostküste von Kent festsetzen. Sie und die Angeln, die sich nördlich der Themse ansiedeln, kommen direkt von den Stammsitzen in Jütland und Schleswig. Die Sachsen, welche den Süden der Insel bis nördlich der Themse besetzen, kommen nicht direkt von ihren Stammsitzen (am rechten Elbeufer), sondern vom litus Saxonicum, der gallisch-flandrischen Nordküste von der Scheide bis zur Normandie und Bretagne, wohin sie auf ihren Raubfahrten (vom 3.—5. Jahrhundert) gedrungen waren. Auf diesen Freibeuterzügen werden sie wohl auch die Küsten des Inselreichs heimgesucht haben. Seit jder Mitte des 5. Jahrhunderts werden diese vorübergehenden Einfälle zu dauernden Niederlassungen. Die römische Herrschaft, die sie nach dem Abzug der römischen Legionen (407) ablösen, hat keine tiefgehenden Wirkungen auf die ihr unterworfenen keltischen Eingeborenen zurückgelassen. Der Vergleich mit dem vollständig romanisierten Gallien und Spanien zeigt dies deutlich. Niemals wurde England wie jene römischen Provinzen ein romanisches Land mit einer das Lateinische als Verkehrssprache gebrauchenden Bevölkerung. Bedeutende Uberreste römischer Kultur sind in England nicht aufgefunden worden. Gegenstände und Inschriften, die uns aus der Römerzeit Englands erhalten sind, tragen durchaus militärischen Charakter. Selbst das römische Straßensystem, das den Handel und Verkehr beförderte, diente in erster Linie strategischen Zwecken. Die 33 städtischen Niederlassungen der Römer waren weit davon entfernt, ein wirkliches städtisches Leben wie in Gallien oder Spanien zu entfalten, und erhoben sich wohl kaum über das sie umgebende platte Land. Es waren koloniale Stationen, nichts mehr. Das Raffinement römischer Einrichtungen war bloß die äußere Tünche, wie überall, wo Kolonialbesitz mit primitiver Kultur ausgebeutet werden soll, von den Ausbeutern Gegenstände heimischen Komforts und Luxus herbeigetragen werden, um bequemer im Kolonialland zu leben, ohne 1 ) Nach brit. Quellen im Jahre 428. Dazu: R. T h u r n e y s e n in Kolbings Englische Studien XXII, S. 163 —179, ferner A n s c o m b e in Zeitschr. f. kelt. Philologie, III. Bd., S. 442 ff. und R. L o t h in der Revue Celtique X X I I , S. 94.

§ 1.

3

Das anglo-normannische Reich.

jedoch den Kern der eingeborenen Bevölkerung irgendwie — ausgenommen vielleicht in den Städten 1 ) — zu berühren. Man denke z. B. an die modernen Siedelungen der englischen Minenbesitzer in Transvaal und Britisch-Zentralafrika! Wohl erstreckte sich scheinbar die Römerherrschaft bis zum Hadrianischen Wall zwischen der Mündung des Tyneflusses und dem Solway - Meerbusen. Aber in Wirklichkeit war nur Kent, Sussex, Gloustershire und Lincolnshire von Römern stark besiedelt, die sog. »Midlandregion« aber weist nur schwache Spuren solcher Besiedelung auf, und mitten in dem stark romanisierten Zentrum Kent-Sussex lag ein ausgedehnter Waldkomplex, der »Weald« (sog. Andredesweald2), eine Urwildnis bis in das Mittelalter hinein. Jenseits des Hadrianischen Walles lag das Land, das nach dem Tode des Septimius Severus kaledonischen Stämmen überlassen war. Ein Teil dieses Gebiets (der westliche) bildete das Reich der »Straecled Wealas« und umfaßte in seinem südlichen Teile die heutigen Grafschaften Cumberland, Westmoreland und vielleicht auch den Norden von Lancashire. Dieses Land sowie Wales, Devonshire und Cornwall blieb aber keltisch. Wie auch nach der Römerzeit die keltische Völkerwoge hoch ging, beweist am besten die Tatsache, daß selbst im 5. und 6. Jahrhundert, gerade zu der Zeit, als die germanischen Siedler eindrangen, keltische Stämme von Britannien aus nach der französischen Bretagne Eroberungszüge unternahmen, daß sie in diesen Distrikten die römische Kultur vollständig überwanden und dem Lande den eigentümlich keltischen Charakter bis auf den heutigen Tag gegeben. Das zeigt, wie zäh die keltische Volksindividualität gewesen und wie sehr gerade sie der römischen Herrschaft in Britannien kräftigen Widerstand entgegengesetzt haben mußte. Mit den germanischen Siedelungen in Britannien änderte sich diese Widerstandskraft des keltischen Elementes vollständig. Es war nicht mehr eine dünne überkultivierte Bevölkerungsschicht, die auf einer primitiven Kultur wie das öl auf dem Wasser schwamm, sondern zwei primitive >) Die früher von VV r i g h t (The Celt, the Roman, the Saxon, 4. ed. 1885) und W i n k e l m a n n (Geschichte der Angelsachsen 1883) vertretene Ansicht, wonach eine weitgehende Assimilation der keltischen Bevölkerung mit der römischen Garnison in bezug auf Sprache und Kultur stattgefunden habe, ist nunmehr durch J. L o t h : Les mots latins dans les langues brittoniques, Paris 1892, (insbes. p. 59) endgültig widerlegt. Auch P o g a t s c h e r , der in seiner grundlegenden Arbeit: Zur Lautlehre der griechischen, lateinischen und romanischen Lehnworte 1888 (in Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germ. Völker, Heft Nr. 64) jene alte Ansicht vertreten, hat sie nunmehr (s. Englische Studien, herausgeg. von Kolbing XIX [1894], S. 329) aufgegeben. Schwerlich ist ihm zuzugeben, daß sich wenigstens in den Städten eine keltische, latinisierte und christianisierte Bevölkerung auch nach dem Abzug der römischen Legionen erhalten hat, die eine Art von Kulturausgleich vollzogen, »natürlich nicht zwischen römischer und brittanischer Kultur, wohl aber zwischen der Kultur der romanisierten und der nicht romanisierten Briten« (Englische Studien a . a . O . , S. 345.) Auch Windisch a. a. O. S. 20 spricht nur von einem » A n f a n g der Romanisierung« durch Agricola. *) Siehe A. S. Chronicle, ed. Plummer (a. 893) und dazu Plummers Kommentar II, S. 106. 1*

4

I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

Kulturen stießen aufeinander, und das keltische E l e m e n t unterlag, allerdings nach harten Kämpfen. So erhielt England jene germanischen Einrichtungen, welche die Grundlagen des englischen Staatswesens und seiner vorbildlichen Eigenschaften geworden sind. Die F o r m der nationalen Organisation, welche die Angelsachsen zur Zeit ihrer Ansiedelung auf englischem B o d e n hatten, war die der S t a m m e s v e r b ä n d e . Die oberste Gewalt h a t t e die Versammlung aller freien Stammesgenossen, die i m Kriegsfalle auch das Volk in Waffen, die »fyrd«, darstellten. Zwischen d e m S t a m m und der ebenfalls genossenschaftlich organisierten Dorfgenossenschaft, der Markgemeinde, stand die (sog. ältere, nicht territorialisierte) H u n d e r t s c h a f t m i t militärischen und Verwaltungsfunktionen. Als Militärverband stellte die Hundertschaft eine Vereinigung der v o n den Lokalverbänden gestellten Krieger dar. In ihrer Verwaltungstätigkeit h a t t e sie alle minder wichtigen Angelegenheiten zu erledigen, welche nicht vor die S t a m m e s v e r s a m m lung gehörten. Der rechtliche Schutz wurde nur in unvollkommener Weise v o n Stammes- und Hundertschaftsversammlung gewährt. Er ward aber durch die auf agnatischer Grundlage ruhende Sippe ergänzt, die dem ihr Angehörigen Schutz gegen jeden Widersacher gewährte. Die Dorfgenossenschaft hing mit der Sippe wesentlich zusammen, deren Einfluß jene ganz beherrschte. Die Ansiedelung auf englischem Boden ging v o n Sippen aus, und der siedlerische S t a m m war n u n selbst eine Vereinigung v o n Sippen 1 ), denn er erhielt sich seinen N a m e n *) Dieser herrschenden Meinung hat ein kühner, aber tiefdringender Forscher, Edwin Chadwick, eine andere Theorie über die verfassungsrechtlichen Zustände der angelsächsischen Urzeit entgegengestellt (siehe seine Bücher: Studies on AngloSaxon Institutions, Cambridge 1905 und The Origin of the English Nation 1907). Zunächst hegt er gegen die Existenz einer nationalen Stammesversammlung Zweifel, weil wir keinen urkundlichen Nachweis hierfür besässen. Die umfassendste Volksversammlung ist das sclrgemöt, die Grafschaftsversammlung, aber diesem hätte keine legislative Gewalt, noch viel weniger die Entscheidung über Krieg und Frieden zugestanden. Chadwick bestreitet ferner die Existenz der Hundertschaft als Bestandteil der angelsächsischen Lokalverwaltung vor der Zeit König Alfreds, also vor dem 10. Jahrhundert; der Sippe weist Chadwick in angelsächsischer Zeit keine öffentlich-rechtliche Funktion zu und verweist auf den Sprachgebrauch, wonach die »provincia« mit »m£g£« übersetzt wurde und letzteres gleichbedeutend mit Sippe und Nation war. Seine eigene Theorie geht dahin, daß alles auf persönlichen Gefolgschaftsverhältnissen aufgebaut war. An der Spitze des Staatswesens stand der König und sein Hof in der Provinzial- und Lokalverwaltung. Die ealdormen und gerefas, Thane des Königs, die gleich den Domänenverwaltern (gerefas) anderer Großgrundbesitzer fungierten. Auch die militärische Organisation, die fyrd, baut er nicht auf die allgemeine Volkswehrpflicht, sondern bloß auf die Gefolgschaft auf. Diese mit Fleiß und Geist vertretene Theorie hat als wesentliche Stütze nur den »Beowulf« und widerspricht allzusehr den Verhältnissen bei den übrigen germanischen Stämmen (vgl. darüber insbes.: P. Roth, Geschichte des Benefizialwesens S. 43 ff. und passim), als daß man sie für glaubhaft, geschweige denn für plausibel ansehen könnte. Man halte sich auch vor Augen, wie sehr die gesamte angelsächsische Poesie alles im Lichte der Gefolgschaft ansieht und wie wenig daher der Beowulf als eine einwandfreie Quelle für eine Verfassungsbetrachtung angesehen werden kann. Auch für die ehelichen Beziehungen zwischen Mann und Frau verwendet die Poesie dem Gefolgschaftsverhältnisse entnommene Termino-

} 1.

Das anglo-normannische Reich.

5

»maeg])« (— tribus, jElfrics Grammatik 11) bis ins 11. Jahrhundert, während bei den Nordleuten das den Stammesverband bezeichnende »fylki« soviel wie »Kriegerschar« bedeutet 1 ). Jedenfalls waren die staatlichen Abhängigkeitsverhältnisse in dieser primitiven Entwicklungsstufe auf dem reinen Personalitätsprinzip aufgebaut, und das bedeutendste Problem der angelsächsischen Verfassungszeit ist, wie sich dieses Personalitätsprinzip in das Territorialprinzip staatlichen Zusammenlebens gewandelt hat. Jenes ist nicht etwa bloß die Tatsache, daß ursprünglich der Stammgenosse ohne Rücksicht auf Territorialgrenzen nach seinen Stammrechten beurteilt wurde, sondern daß allen Staatsinstituten die Beziehung zum Territorium, die uns Modernen so notwendig scheint, vollkommen fehlte. Der freie Mann ohne Rücksicht auf seinen Besitz ist das vollberechtigte Mitglied der souveränen Volksversammlung; das Heer ist das Volk in Waffen, der innere Frieden ist der Volksfrieden, d. h. vom Volke garantiert, die Gerichte sind Volksgerichte, das Eigentum an Grund und Boden ist Volkseigentum, an denen der vollberechtigte Freie seinen Anteil hat, ohne dazu in die Beziehung eines Individualeigentümers zu gelangen. Die Lokalverbände sind aufgebaut auf den persönlichen Beziehungen der Verwandtschaft und der Kriegsgenossenschaft ohne Beziehung zum Territorium. Das Territorialprinzip, das in der Zeit König Alfreds (regiert 871—901) erreicht ist, bedeutet das intensive Inbeziehungsetzen des Territoriums zu den politischen Institutionen. Das Grundeigentum wird die Unterlage aller öffentlich-rechtlichen Beziehungen. Der Minderbegüterte gerät in ein Abhängigkeitsverhältnis zu dem. großen Grundbesitzer, dessen Land er bebaut. Ihm muß er Gerichts- und Heerfolge leisten. Der König als der oberste Grundeigentümer wird oberster Gerichtsherr und Befehlshaber. Diese letzte Konsequenz zieht allerdings erst der Normannenstaat. Das kräftigste Mittel, das zur Wandlung des Personalitätsprinzips in das Territorialprinzip führen mußte, war die Konsolidation der angelsächsischen Heptarchie (sieben Königreiche) in das einheitliche Königreich. Dieser Konsolidationsprozeß selbst war wesentlich befördert durch das einheitliche Walten der Kirche 2 ), die sich ganz in den Dienst der werdenden Staatsidee stellte, durch die natürliche Auslese im Kampf der größeren und kleineren Königreiche innerhalb der angelsächsischen Stammesgemeinschaft, die zu einem Verschwinden der schwächeren und zu einer Vorherrschaft der stärkeren führte, schließlogie. Siehe Roeder, Die Familie bei den T Angelsachsen (in Morsbachs Studien zur engl. Philologie IV) 1899, S. 116. Vergleiche auch hierzu die Verwendung von »satelles« für das Verhältnis von Ehemann und Ehefrau bei Gregor v. Tours, Hist. Franc. I, 2 u. 44, ein Ausdruck, der aber auch für das Gefolgschaftsverhältnis gebraucht wird. (Siehe Ducange-Henschel s. v. satelles Nr. 1.) Wer würde aber, darauf gestützt, die juristische Konstruktion der Ehe als Gefolgschaftsverhältnis wagen? *) Siehe Taranger, Udsigt over den Norske Rets Historie II, 1 (1904) p. 11 und 42 mit Berufung auf Falk og Torp Etym. ordbog s. v. folk. 2 ) Darüber handelt anschaulich Kerslake in den Transactions of the Bristol and Gloucestershire Archaeological Society Bd. III (1879), S. 1 0 6 - 1 6 7 .

6

I. Abschnitt

Der Feudalstaat.

lieh durch Etablierung einer Konkurrenzherrschaft, der Dänenherrschaft auf britischem Boden, die zur Einführung des Benefizialwesens in England nach fränkischem Muster führte. Nur die zwei letzten Punkte bedürfen hier eingehender Erörterung, der erste findet weiter unten in der inneren Verfassungsgeschichte (§12) eine ausführliche Behandlung. Der Prozeß der natürlichen Auslese, der sich an den angelsächsischen Königreichen vollzog, bedeutet ein Verschwinden der schwachen, ein Hervortreten der starken Stämme. Das allmähliche Verschwinden der ersteren ist besonders markant. Abgesehen von den Königreichen der Heptärchie (Wessex, Sussex, Essex, Kent, Ostangeln, Mercia, Northumbria) finden wir in Mercia noch im 7. Jahrhundert unter Oberhoheit von Mercia Könige der Hwiccas, der Mittelangeln und Lindesse. Kent umfaßte im 8. Jahrhundert zwei Königreiche (Ost- und Westkent), eine Teilung, die wohl älteren Grundlinien aus der Zeit vor seiner Unifikation unter yEthelbert (560—616) folgte. Unter der Herrschaft von Wessex befinden sich ein »König« von Surrey (Mabmesb. G. P. lib. II). Unter Führung der westsächsischen Könige Cynegils und Cwichelm kämpften nicht weniger als fünf andere »Könige« 626 gegen den northumbrischen König Edwin. Nach dem Tode von Cenwalh 672 wird Wessex unter ealdormen oder »Könige« aufgeteilt, bis es 13 Jahre später durch Ceadwalla geeinigt wird. 755 wird Hampshire von Wessex angetrennt und dem durch den Usurpator Cynewulf verdrängten Könige Sigebert als »Königreich« überwiesen. (Chron. Sax. Anno D. 755.) Die Insel Wight soll nach Beda (IV, 16) ursprünglich einen eigenen König besessen haben. Für Ostangeln bezeugt poetische Überlieferung das Vorhandensein mehrerer Könige. Northumbria war beinahe ständig in zwei Königreiche: Berenicia und Deira, aufgeteilt, und an den keltischen Grenzen von Wessex hat es auch unter Wessexscher Oberhoheit stehende keltische »Reiche« (z. B. »Dunsaete«) gegeben. Mit dem Augenblicke, wo diese Könige die Herrschaft eines Mächtigen zu erdulden hatten, sanken sie in die bescheidene Rolle von Unterkönigen (subreguli, ealdormen) herab, um ganz auszusterben, wenn die Kraft des Oberherrn ungebrochen sich erhielt. Dem Schwinden der kleinen entspricht ein Hervortreten der großen Königreiche, das sich mitunter zu einer Art von Hegemonie des einen oder anderen Königreichs der Heptärchie auswächst. Die äußere, in der Überlieferung genannte Formel hierfür ist die Eigenschaft des Bretwalda (in der Sachsenchronik »Bryten-wealda«), die dem König des führenden Reiches zugesprochen wird. Beda erwähnt sieben solcher Führer: ^Elli von Sussex, Ceaulin von Wessex, .'Ethelbert von Kent, Redwald von Ostangeln, Edwin, Oswald und Oswy von Northumbria. Den Ausdruck »Bryten-wealda« für die genannten sieben Könige finden wir in dem Chron. Saxon. von 827. Die Chronik nennt bei dieser Gelegenheit auch den einen achten: Ecgbert von Wessex. Die hegemonische Leitung, aufgebaut auf einem ähnlichen Nexus wie die Gefolgschaft des Königs, ist rein persönlich, hat keine Beziehung auf Terri-

§ 1.

Das anglo-normannische Reich.

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torialverhältnisse und ist kein L e h e n s n e x u s . Doch möchte (mit Windisch a. a. 0 . S. 63) anzunehmen sein, daß die Bretwaldan ein Seitenstück waren zu der noch zur Zeit der Angelsachsenherrschaft bestehenden Sitte der Briten, in Zeiten der Not sich unter einem gemeinsamen Führer zusammenzutun, dem Könige von Britannien. Bretwalda wäre ein solchem Könige gegenüber von angelsächsischer Seite geführter Konkurrenztitel. In diesen und ähnlichen Fällen hestand die Oberhoheit nur in Tributempfang 1 ) und Empfang von Geiseln, jeder Stamm blieb unter seinem Könige. Das Vorhandensein von Bretwaldan ebnete den Weg der kommenden Einheit unter Absorption aller sieben Königreiche durch Wessex. yElfred (871—901) regiert noch über Mercia nach dem alten »System« durch einen Unterkönig, auch sonst findet es sich unter den Nachfolgern noch häufig, ja es ist in Gestalt der großen ealdormen unter yEthelred dem Ratlosen (978—1016) und unter Edward dem Bekenner (1042—1066) eine schwere Gefahr des angelsächsischen Reiches. Nur sind die «aldormen (earls) nach Art der neufränkischen (karolingischen) comites nicht mehr Stammesherzoge wie früher, sondern königliche Beamte. Seit jElfred äußert sich auch die Vereinheitlichung der königlichen Gewalt in dem königlichen Titel. Asser, eine der besten Quellen aus Alfreds Zeit, schreibt in seiner Dedikation: »Domino meo . . . omnium Brittaniae insulae Christianorum rectori.« Alfreds Sohn Edward der Ältere (901 —924) führt in den Urkunden aus seiner Zeit den Titel: »rex Angul-Saxonum«, yEthelstan (924—940) den Titel »rex Anglorum acque totius Bryttaniae curagulus« ( = »curam agere«). Nach dessen Zeit seit Eadgar (959—975) heißt es kurz: »rex Anglorum«2), wodurch die Stammesreste im königlichen Titel ganz ausgemerzt sind. In der Tat hatte auch die Konsolidation des Königreichs unter Eadgar (f 975), der Northumbrien unterwarf und Angelsachsen und Dänen unter seinem Zepter vereinigte, ihren Höhepunkt erreicht. II. Die Etablierung der Dänenherrschaft.

Die Dänenherrschaft in England hatte bis zu ihrer vollständigen Entwicklung dieselben Stadien durchgemacht wie die der Angelsachsen. Aus ursprünglichen Freibeuterzügen werden im Laufe der Zeit dauernde Ansiedelungen und aus diesen schließlich Eroberungen des ganzen Reiches. Chronologisch vollzog sich dieser geschichtliche Prozeß in *) Ähnliches behauptet für die Bretwaldan Corbett in den Transactions of Royal Historical Society (1900), XIV, p. 207, und bezeichnet das alte Dokument mit Namen »Tribal Hidage« (abgedruckt in Birch, Cartularium I, 414) als solche Tributrolle aus der Zeit des Northumbrerkönigs Edwin. *) Siehe über die Titelfrage die vorzüglichen Aufsätze von Stevenson in seiner Ausgabe des Asser 1904, S. 147 ff. Über die Gründe, weshalb der Namen Angli (Engle) den des Kompositums »Angelsachsen« oder den Ausdruck »Sachsen« (so namentlich von den Kelten verwendet) in den Hintergrund drängt, s. Hoops in seinem Reallexikon S. 89 ff. Sie hatten im 7. und 8. Jahrhundert politisch entschieden das Übergewicht und entwickelten zuerst eine Nationalliteratur.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

folgenden Abschnitten: Freibeuterzüge von 790—851; Ansiedelungen von 851—867; Eroberung von 980—1016. Der Einfluß dänischer Staatsinstitutionen auf das angelsächsische Gemeinwesen konnte kein so bedeutender sein, wie er zuweilen (Steenstrupl) angenommen wird, und zwar aus doppelten Gründen: Zunächst ist der Tatsache zu gedenken, daß vor der eigentlichen Eroberung 200 Jahre intermittierender Kämpfe vorangehen. War der Kampf vorüber, so fügten sich die Dänen bis zum Ausbruche des neuen Kampfes vollständig in die schon vorhandene Kultur ein, zumal ihre Einwanderung niemals eine Einwanderung in Massen, keine Volkswanderung war. Sodann waren trotz der Namensverschiedenheit im einzelnen die Rechtsinstitutionen der Dänen denen der Angelsachsen sehr nahe verwandt. Einen bleibenden Markstein hat aber die Dänenherrschaft in der Entwicklung der angelsächsischen Verfassungsinstitute hinterlassen: die endgültige Umbildung des Personalitätsprinzips der Staatsinstitutionen in das Territorialprinzip. Freilich dies alles, ohne vielleicht selbst zu Hause das Territorialprinzip ausgebildet zu haben! An folgenden Punkten mögen wir dies sehen. Schon der Friede, den ./Elfred mit dem Könige der Dänen, Guthrum, nach der Schlacht bei Wedmore (878) abschloß und der die sog. Watlingstraße (Waetlingastrffit) als die Landesgrenze zwischen dem angelsächsischen und dänischen Herrschaftsgebiet vorsieht, unterwirft den Stammesfremden den heimischen Territorialgesetzen, die in dem betreffenden angelsächsischen oder dänischen Staatsgebiete herrschen, und läßt für eine Behandlung nach Stammesrecht keinen Raum: ein Satz jenes Vertrags lautet 1 ) (S. 5): »Und wir alle beschlossen an dem Tage, da man die Eide schwor, daß weder ein Höriger noch ein Freier ohne Erlaubnis zu dem Heere gehen solle, noch einer von ihnen zu uns. Wenn es aber geschieht, daß einer von ihnen, weil er es nötig hat, mit uns Handel treiben will, oder wir mit ihnen, über Vieh oder Gut, so ist das zu gestatten in der Weise, daß man Geiseln stelle zum Pfände des Friedens und zum Zeugnis, daß man wisse, daß man reinen Rücken habe.« Noch deutlicher geht das Territorialprinzip aus der geographischen Verschiebung des Umfangs der sog. Denalagu2) hervor. In der Zeit Edwards des Älteren umfaßte Guthrums Königreich das Land östlich vom Lea und der Watlingstraße, dazu noch Yorkshire, Nottinghamshire, Derbyshire, Leistershire und Lincolnshire. Dies im 10. Jahrhundert. Im darauffolgenden hören wir von 16 Grafschaften 8 ). Es sind dies nämlich außer den genannten noch Huntingdonshire, Northampton, Cambridgeshire, Norfolk, Suffolk, Essex, Bedfordshire, Hert*) Übersetzung in Liebermanns Gesetzen I, 129. 2 ) Chadwick, Studies 198 ff. Über die schillernde Bedeutung der Denalagu (»Recht« und »geographischer Rechtsbezirk «, so das Übergangsstadium vom Personal- zum Territorialitätsprinzip markierend) siehe Steenstrup a. a. O. IV, § 5 u. § 6, und Liebermann, Sachglossar »Denalagu« 1. 3 ) Leges Edwardi Confessoris § 30 und 33. Will. Malm. Gesta Regium II, 165.

§ 1.

Das anglo-normannische Reich.

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fordshire, Middlesex, Buckinghamshire und Rutland. Daß man die Denalagu und ihr Herrschaftsgebiet zur Zeit Cnuts so nach Grafschaftsgrenzen fixieren konnte, ist ein deutliches Zeichen der Vorherrschaft des Territorialprinzips. Sodann prägte sich aber dieses Territorialprinzip in der Ausgestaltung. der Shireverfassung nach dem sog. Burgsystem 1 ) aus. Dies ist das Ausschneiden größerer Distrikte um eine befestigte Stadt als Verwaltungsmittelpunkt. Daß hierbei dänisches Vorbild maßgebend war, wird mit Recht angenommen. Die gleichfalls seit dem 10. Jahrhundert eintretende Territorialisierung der bisher bloß persönlichen Verbände, der Hundert- und Zehentschaft (teofing) ist vielleicht ebenfalls darauf zurückzuführen. Hier ist die dänische Verwaltungsorganisation nicht direkt vorbildlich, obwohl auch dies von manchen (z. B. Chadwick) angenommen wird. Der Anstoß geht aber sicherlich von der Däneninvasion aus. Es wurde ähnlich wie im Frankenreich gegen die Araber, so hier gegen die Dänen 2 ), Reiterei3) nötig. Sie ist, wie im Frankenreich, nur durch ausgiebige Verwendung von Benefizial- und Leiheverhältnissen erreichbar, und diese wird hier wie dort vorwiegend aus Säkularisation und nur t e i l w e i s e r Restitution resp. Division 4 ) des Kirchengutes bestritten. Um nun die ') Siehe darüber noch weiter unten § 8. Die Burgherstellung freilich ist ein alter Bestandteil der trinoda necessitas und Jahrhunderte älter als iElfred. Siehe Liebermann, Sachglossar »Burg« 5 c. a ) Über deren Verwendung der Reiterei Steenstrup, Normannerne I, 358. 3 ) Dies zeigt auch die lex equitandi des Bischofs Oswald von Worcester, deren Darlegung vielleicht als eine Entschuldigungsschrift (Kemble, Einleitung zum 1. Bde. des Codex Diplom, p. X X X V , Andr. Menung Maitland 305 Anm.) dem Könige vorgelegt wurde, wodurch Oswald die Dilapidation von Kirchengut rechtfertigen wollte. *) F ü r die fränkischen Verhältnisse Brunner, D. R G. II, 228: Allgemeine Restitutionen von Kirchengut unter Edgar und Edwy, C. D. II, p. 217, 314, 338. Bezeichnend ist die Art, wie Malmesbury die Säkularisation von Kirchengut durch .flSlfred erzählt. (Gesta pontificum p. 191: »Elfredi tempore regis, c u m b a r b a rica ubique Dani discursarent p e t u l a n t i a , edifitia loci ad solum complanata. Tum rex malorum preventus consiliis, terras, quaecunque appendices essent, in suos suorumque usus redegit.« Im Anschlüsse an diese Stellen h a t daher schon der alte Lingard, History and antiquities of the Anglo Saxon Church I 2 , p. 254 1 folgende Vermutung ausgesprochen: »From these and many other instances, I am led to suspect, b u t have no direct proof, t h a t after the year 800 our kings adopted the practice of the continental sovereigns, who often seized the lands of the church and gave them as fiefs to individuals.« Sollte vielleicht der direkte Beweis, den Lingard vermißt, nicht etwa in C. D. II, Nr. 262 gegeben sein: hier liegt offenbar Restitution mit gleichzeitiger precaria verbo regis vor (über die fränkische precaria verbo regis Brunner a. a. O. II, 250). Maitland hat diese Tatsache übersehen, denn sonst würde er in Domesday Book a. a. O. 259 nicht behaupten: »Of all the phenomena of feudalism none seems more essential than seignorial justice. In times gone by English lawyers and historians have been apt to treat it lightly and to concentrate their attention to an military tenure. . . . But when compared with seignorial justice, military tenure is a superficial matter. . . .« Mit Erlaub habe ich keine Veranlassung, von der Brunnerschen Ansicht abzuweichen, die Grundherrschaft und Benefizialwesen g l e i c h m ä ß i g als Wurzeln des Feudalismus ansieht.

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I. Abschnitt.

Der FeudalstaaL

so gewonnenen Dienste für Heereszwecke ev. ihre Ablösbarkeit durch Geld und Steuern (Danegeld!) werten zu können, ist eine Rohschätzung nach 100 und 10 Hufenverbänden unentbehrlich 1 ). Diese schafft die territoriale Grundlage für die alten Personalverbände. Freilich hat diese Territorialisierung der alten Genossenschaftsverbände, welche man mit Recht als die Wurzeln germanischer Freiheit, mit Unrecht aber als die Quelle des englischen Selfgovernments der späteren Zeit aufzufassen geneigt war, zunächst den Zerfall des angelsächsischen Reichs zur Folge: die eigentliche Frucht der germanischen Institutionen fiel erst folgenden Generationen in den Schoß, die durch die harte Zucht der Normannenkönige gegangen waren. Denn dieser primitive Staat hatte zunächst keine Ahnung, was er mit jenen provinziellen und lokalen Zentrifugalkräften anfangen sollte. Die Territorialisierung der Genossenverbände erzeugte, wie natürlich, einen provinziellen und lokalen Partikularismus 2 ), der die Staatsmaschine beinahe zum Stillstand zwang, dies namentlich dann, wenn schwache Könige herrschten, wie dies namentlich nach Eadgars Tode (975) jEthelred II. der Ratlose (978—1016) und Edward der Bekenner (1042—1066) waren. Die dazwischen liegende Regierung Edmunds Ironside (1016) und Cnuts (1016—1035) konnten den Verfall des angelsächsischen Reichs nicht aufhalten. Die Regierung des ersteren war übrigens auch zu kurz, und der letztere sah wohl in der Beseitigung des Provinzialismus das Hauptproblem seiner Regierung, aber die Methode war eine verfehlte: ich meine die Einrichtung der großen eorldömas. Wenn sie wirklich — was hier bezweifelt werden mag8) — fränkischem Vorbilde entsprungen, so erlag sie, wie das fränkische Vorbild, dem beginnenden Feudalismus, der ebenfalls auf fränkischem Vorbild fußt und neue soziale Kräfte und juristische Institute auf den Plan bringt, denen das angelsächsische Reich noch weniger gewachsen war als der Territorialisierung der Lokalverbände. *) Hier trifft wohl auch zu, was Dopsch, Die Wirtschaftsentwicklung der Karolingerzeit I (1912), S. 318 sagt: »Naturgemäß mußte aber gerade die Ausbildung der Grundherrschaften und besonders die Auflegung von Zins und Dienst innerhalb derselben bestimmten Maße, eine feste Einteilung notwendig machen.« Er meint damit zunächst nur die Ausbildung der neueren Hufeneinheit (der sog. fiktiven Hufe). Man wird aber seine Bemerkung für England so verallgemeinern müssen, wie oben im Texte geschehen. *) Sehr deutlich spiegelt diesen Partikularismus eine Urkunde aus der Zeit ¿Ethelreds (997) wieder. Siehe Earle Land Charters p. 218 und Freeman H. of the Norman Conquest I, 448: Da waren als witan versammelt »ealle da degnas Je thaer widan gegaederode waeron ge of west sexan, ge of myrceon, ge of denon«. ') Stubbs I 2 , p. 221 behauptet dies. Aber das Vorbild war nicht sonderlich verlockend. Zwar Konrad II. behandelte die Herzoge als königliche Beamte, aber er war vorsichtig genug, durch Anerkennung der Erblichkeit der Lehen im kleinen Laienadel ein Gegengewicht gegen jene zu schaffen und seine Vorgänger von Konrad I. an sahen in der Niederhaltung dieses neuen Stammesherzogtums das Hauptproblem ihrer inneren Reichspolitik. Siehe Waitz, D. V G. V«, S. 64 ff. und Hauck, K G. III«, 8 ff., 544.

§ 1.

Das anglo-normannische Reich.

Ii

Der beginnende Feudalismus beschleunigte nun den Verfall des Reichs. Die großen earls wußten durch Erblichkeit und Verwandtenbeziehungen unter Cnuts Nachfolgern (Harald, Hardecnut, letzterer C n u t s Sohn, und Edward der Bekenner) die Herrschaft vollends a n sich zu reißen. Eine Anarchie brach los, gegen welche Wilhelm der Eroberer kein schweres Spiel hatte. Die Schlacht von Hastings (1066) besiegelte das Schicksal der alten Staatsinstitutionen in dem Sinne, d a ß an Stelle des provinziellen Territorialismus straffe Zentralisation eintrat. Der Feudalismus und seine sozialen Triebkräfte bestanden •schon in dem angelsächsischen Staat und waren u n a u f h a l t s a m ; nun sollten sie wenigstens eine starke Staatsherrschaft stützen. Das war das Hauptproblem der ersten Normannenkönige. Es erfolgte nunmehr die Etablierung eines zentralisierten Feudalstaates. III. Die Etablierung des Feudalstaates. Es wäre nach dem Vorausgehenden ein Irrtum, zu glauben, daß erst die Normannenkönige den Feudalstaat in England eingerichtet hätten. Was sie taten, war nur eine Vereinfachung seiner Maschine, eine straffere Zentralisation derselben. Jene Maschine selbst bestand schon lange vorher, in Gang gebracht durch soziale und wirtschaftliche Triebkräfte, welche das Wesen der alten Genossenschafts- und Gauverbände und ihrer Volksgerichte ganz in den Hintergrund und sich an deren Stelle drängten. 1 ) Diese neuen Faktoren, insbesondere die Bildung von großen Latifundien, etablierten, wie noch gezeigt werden soll (§ 2), die Gutsherrschaft (manerium) und die sog. Gerichtsi m m u n i t ä t (söcn and sacu) der Großgrundbesitzer. Diese waren neben dem militärischen Zwecken dienenden Benefizialwesen die Keime der Feudalität. Und n u n rangen im Anfange des 11. Jahrhunderts zwei Rechtsordnungen um ihre Existenz: die alte, verfallende, derGenossenund Gauverbände und die neue, kräftig aufkommende, des Feudalismus. Auf dem Gebiete der Heeresorganisation finden wir die neue Form der Hingabe von Grund und Boden an die Gefolgsleute (gesij>as) gegen die Verpflichtung zum Heeresdienste. Nicht nur der König war es, der so Krieger sich verpflichtete, sondern diese Verpflichtung wurde auch von den großen Latifundieneigentümern geschätzt, und namentlich die kirchlichen Großgrundbesitzer wälzten auf diese Weise einen Teil ihrer Heereslast auf die Schultern ihrer Untergebenen. Der comitatus des Tacitus findet sich schon seit den frühesten Zeiten als germanische Staatseinrichtung. Während er aber ursprünglich nur eine Leibgarde des Gefolgsherrn war, wurde er nunmehr seit Bildung der großen 1 ) Was Englands Benefizialwesen o h n e die Normannen geworden wäre, ergibt sich am besten aus dem Vergleiche mit den zeitgenössischen altnorwegischen Rechtsverhältnissen: eine Benefizialvasallität mit Hilfe der veizla ( = beneficium), aber kein Feudalwesen. Siehe Ebbe Hertzberg, Len og veizla (in Germ. Abhandig. zum 70. Geburtstag Konr. Maurers 1893), bes. S. 330 und M. H. Lie, Lensprincipet i Norden (Bilag til Tidskrift for Retsvidenskab 1907, lste hefte) § 3.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

Latifundien und seit Übernahme des fränkischen Benefizialwesens der erste Ansatz des Feudalismus, die allgemein verbreitete Form des Heeresdienstes (sog. jüngere Schicht der Gefolgschaft) 1 ). Die Kriegerkaste erhält nun eine selbständige, von dem gemeinen freien Volk unterschiedlich privilegierte Bedeutung. Daneben erhalten sich noch Überreste der alten Form, des allgemeinen Heerbannes, durch den die Mitglieder des Genossenverbandes auf geboten wurden, die sog. fyrd. Freilich im 11. Jahrhundert ist sie in den meisten angelsächsischen Provinzen verschwunden. Aber im Norden und Osten, der von Dänen vorwiegend besiedelt ist, besteht sie noch. Hier ruht sie noch immer auf den Schultern der freien Leute, die unter ihrem Drucke schwer seufzen. Ähnlich liegt die Sache im Bereiche der Gerichtsorganisation. Die Landaristokratie der Thane (der abgeschichteten Gefolgsleute) macht sich in den alten Volksgerichten immer breiter und führt außerdem dazu, daß die Gerichtsimmunität, die sie für ihre Hörigen beanspruchen, die alte Volksgerichtsbarkeit zu einem Institut ohne Inhalt degradiert. Nur der dänische Nordosten findet in den sog. socmen noch die alten Mitglieder des Heerbanns, die auch als freie Gerichtsfolger fungieren. Im angelsächsischen Südwesten ist aber selbst diese Klasse schon beinahe vollständig in die Kategorie der Hörigen hinabgesunken. In der Steuerverwaltung übernimmt der Großgrundbesitzer, der landrica, immer mehr die Verantwortlichkeit für die Steuerbelastung des geld, der Grundsteuer, die schwer auf dem freien Manne, dem ceorl, lastet und ihn immer tiefer in wirtschaftliche Abhängigkeit vom Latifundienbesitzer bringt. Die Verantwortlichkeit für seine Leistung, die öffentliche Funktion der Steuererhebung, die dem Großgrundbesitzer, dem Eigentümer des steuerfreien Sallands (»inland«) zukommt, macht sich auch nach der Richtung geltend, daß er die Grenzen zwischen seinem »inland« und dem »waraiand« der ihm zur Steuerhebung überwiesenen Freien nicht mehr unterscheidet, sondern auch dieses als s e i n e n Grundbesitz, verliehen an Hörige, betrachtet. Je kräftiger dieser wirtschaftliche Prozeß einsetzt, desto tiefer sinkt die soziale Klasse der freien Leute, der ceorls, desto schwächer wird aber auch ihre Teilnahme im öffentlichen Leben der Genossenverbände. Deshalb kann der angelsächsische Staat nicht die Selbsttätigkeit dieser Kommunalverbände nutzen, um auf diese Weise den mit ihrer Territorialisierung hervortretenden Lokalismus und Provinzialismus zu bändigen. Am allerwenigsten war der Feudalismus das geeignete Mittel hierzu, denn er setzte an die Stelle der Konförderation von Kommunalverbänden bestenfalls die Konförderation der großen Feudalbesitzer. Das Chaos, die staatliche Anarchie, die dadurch hervorgerufen worden war, wußten Wilhelm der Eroberer und seine Nachfolger wenigstens dadurch zu beseitigen, daß sie die neue Macht, die Brunner, Forschungen zur Geschichte des deutschen und französischen Rechts 1894, S. 84.

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Das anglo-normannischc Reich.

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neue Wirtschafts- und Rechtsordnung, wie sie der Feudalismus darstellte, eindämmten und für die Zwecke des einheitlichen Staatsgedankens nutzbar machten, da es mit Hilfe der alten Kommunalverbände nicht mehr weiterging. Die Wirksamkeit dieser letzteren hörte damit nicht ganz auf. Sie trat nur während der Feudalstaatzeit in den Hintergrund, um in der Zeit der Plantagenets in den Dienst des Staatsgedankens zu treten. Wilhelms des Eroberers Werk in der Umbildung des angelsächsischen Staatswesens (1066—1087) ging nach zwei Richtungen. Auf der einen Seite war es sein Bestreben, den nach oben zugestutzten Kegel, den die angelsächsische Staatsgesellschaft mit ihren feudalen Anfängen bildete, in eine scharf zugespitzte Pyramide umzugestalten *). Auf der anderen Seite versuchte er die Hemmung der Zentrifugalkräfte, die jedem Feudalsystem eigen sind. Wilhelm der Eroberer war der erste europäische Monarch, der sich der Woge des Feudalismus entgegenstemmte, um sie zu bändigen. Die Mittel, die er hierbei verwandte, waren mannigfacher Art. Zunächst sucht er Angelsachsen und Normannen, angelsächsische Rechtsgebräuche und normannische Rechtsinstitute im Gleichgewicht zu erhalten. Schon in der Art, wie er sein Anrecht auf England und seine Titel zur Krone Edwards des Bekenners geltend machte, zeigt sich diese Tendenz ganz deutlich. Den Angelsachsen gegenüber berief er sich auf das Recht, das ihm die Eroberung und der Sieg von Hastings verliehen hatte. Die Normannen dagegen verwies er auf seine Erbeinsetzung durch Edward den Bekenner, auf seine Wahl durch die angelsächsischen Witan, besser jenes Rumpfparlament, das nach der Schlacht von Hastings als solche Witan zusammengerafft war. — Und eine ähnliche Absicht verband er auch mit der Verschmelzung angelsächsischer und normannischer Rechtsinstitute. Roger von Hoveden 2 ) berichtet uns, wie er im vierten Regierungsjahre zwölf Angelsachsen in jeder Grafschaft unter Eid über die alten Gewohnheiten und Rechtsbräuche des Landes befragen ließ3). — Wir haben oben angedeutet, wie sehr die alte, auf dem freien Genossenschaftssystem aufgebaute Selbstverwaltung schon seit der Zeit Cnuts durch den immer mehr aufkommenden feudalen Herrenverband verdrängt wurde. Wilhelm suchte die Reste der alten Selbstverwaltung zu erhalten und sie als Gegengewicht gegen die Feudaltendenzen in der Lokalverwaltung auszunutzen. Er erhielt so die alte Grafschaftsversammlung (scirgemöt), die alte ») Siehe. § 2. ') Chronica II, 218. *) Die Angabe der Leges Eduardi Confessoris (Prolog), »daß Wilhelm I. die Laga Eadwardi proklamiert habe, wie sie durch Weistum Geschworener des enlischen Volkes festgestellt worden sei«, ist erdichtet. Siehe Liebermann, Sachglossär »Gesetz« 18 f.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

fyrd oder die Miliz aller freien Männer. Wie wichtig gerade diese Verbindung zwischen Feudalismus und Lokalverwaltung für die Zukunft Englands wurde, geht am besten aus dem Vergleiche mit der Normandie hervor 1 ), wo sie fehlte. Hier haben die Normannenherzoge ihre Bureaukratie (die viscounts) eingeführt, welche alsbald feudalisiert wurde. Die Viscounts, die auf den Burgen saßen und von da au» die herzoglichen Rechte über das sie umgebende platte Land administrierten, trugen den Doppelcharakter von Feudalbaronen und Bureaukraten an sich. Unter einem starken Herzoge, wie Heinrich II., waren sie bloß Bureaukraten, unter einem schwachen, wie unter Johann, bloß Feudalbarone. Dieser Aufbau der Staatsverwaltung auf dem Feudalismus war insofern gefährlich, als letzterer von dem Bodenbesitz abhängig war, der selbst Gegenstand der Kapitalbildung und der kommerziellen Beweglichkeit wurde. Er fiel mühelos demjenigen in die Arme, welcher finanziell mehr bot, und das war im Kampfe Johanns und Philipp Augusts von Frankreich der letztere. Bezeichnend war es doch, daß einige der größten normannischen Feudalbarone von Johann die Erlaubnis erbaten, mit ihrem Leib dem König von Frankreich zu dienen, während sie in »ihren Herzen« treu bleiben wollten. (Histoire de ducs de Normandie, ed. Michel 1840, p.99.) Dies konnte nur in einem Lande geschehen, das von einer hohen Feudalbaronie regiert wurde, welche durch eine große Kluft von dem niederen Rittertum und den Städten getrennt, das Land beherrschte und mit dem Volke in der Lokalverwaltung keine Fühlung hatte. Die Normandie war ein großartiger Experimentierboden für Versuche in der Verwaltungszentralisation, die man dann in England mit Erfolg wiederholte, aber eine bleibende Staatsherrschaft wie in England konnte dort nicht etabliert werden, weil der Feudalismus allein ohne Hilfe einer Lokalverwaltung regierte. Für die letztere fehlten aber hier jegliche Vorbedingungen und ließen sich nicht erzeugen. War Wilhelms Geist stets auf die Erhaltung des Alten gerichtet, wo es den destruktiven Tendenzen des Feudalismus hinderlich sein konnte, so war er umgekehrt bestrebt, alles Angelsächsische, das die üblen Tendenzen des Feudalismus besonders fördern konnte, auszumerzen. Die alten Grafschaften (eorldömas), die besonders aus der Zeit Cnuts herstammten, wurden bis zum Schluß der Normanneneroberung wenigstens teilweise beseitigt 2 ), neue zwar geschaffen, aber auf eine ganz andere Basis gestellt. Sie konnten sich weder an Größe des Territoriums noch Unabhängigkeit von der Zentralgewalt mit den Siehe darüber die Herrschaft in der Normandie, Powicke in E. H. R. 21, p. 625 ff., 22, p. 15 ff. 2 ) Freilich ganz ist es nicht geglückt, die kompakten Grundbesitzmassen, die in den Händen angelsächsischer Grundherren so gefährlich gewesen waren, ganz verschwinden zu machen, schon deshalb nicht, weil gewöhnlich ein normannischer Großer in alles Eigen seines angelsächsischen Vorgängers sukzedierte. Siehe dazu Round in Victoria, History of the Counties of E . Hampshire I, 277 und Stenton ebendort, Derbyshire I, 305.

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Das anglo-normannische Reich.

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alten angelsächsischen Eorldomas messen. An die Spitze der Grafschaften wurden nicht etwa, wie in der Zeit der Angelsachsen, mächtige Grundherren gesetzt, die als Grafen die ganze Grafschaft als Lehen betrachteten und nach kontinentalem Muster von der Staatsgewalt abfielen, sondern Beamte des Königs, deren reiner Amtscharakter durch den Titel vice-comes schon angedeutet wurde: stellvertretender Graf, aber nicht Graf! Der anglo-normannische Graf hatte kein Amt mehr, sondern war bloß der Träger eines Ehrentitels, dem als Rest seiner Vergangenheit noch in der Zeit des Dialogus de Scaccario, also im 12. Jahrhundert, ein Drittel der Grafschaftsgefälle gezahlt wurden. Der so seiner ehemaligen Macht entkleidete Graf wurde aber noch mehr eingeschränkt. Es wurde ihm unmöglich gemacht, einen gar zu großen Grundbesitz in d e r Grafschaft zu erwerben, deren Namen er in seinem Titel führte. f Wilhelm erreichte dies dadurch,' daß er bei Belehnung seiner Anhänger mit Grund und Boden ihnen solchen in den verschiedensten Grafschaften schenkte, niemals einen Grundbesitz in einer Grafschaft zu ungeheurer Größe anwachsen ließ. Dadurch verhinderte er die Konsolidierung großer Latifundien, welche als Machtmittel gegen die Krone verwendet werden konnten. Kurzsichtige Nachfolger, die letzten Plantagenets, gaben diese Politik der großen Monarchen auf, um so die Stärkung der eigenen Hausmacht herbeizuführen, indem sie die Königssöhne und deren Deszendenz geschlossen großen Grundbesitz anhäufen ließen. Die Rosenkriege waren das Resultat solch verblendeter Handlungsweise, die dem großen Eroberer vollständig fern lag. Neben jenem großen politischen Prinzip wurden noch kleinere Mittel verwendet, um die großen Feudalbarone nicht allmächtig werden zu lassen. Das Fehderecht, das Recht der Münzprägung, das Recht, Burgen zu bauen, wurde genau umschrieben. Die Ausbildung der großen Grundbesitzer zu Patrimonialgerichtsherren über die Hintersassen und ihre Lehnsgerichtsbarkeit über die Vasallen konnte natürlich nicht verhindert werden, da sie aus der Angelsachsenzeit übernommen waren und ihre Beseitigung den Stillstand des Staats bedeutet hätte. Aber die Ausbildung von Lehensoberhöfen (courts of honour) wurde von Wilhelm dem Eroberer nach Kräften zurückgehalten, bis ihnen die Ausbildung der königlichen Gerichtsbarkeit seit Heinrich II. fast ganz das Lebenslicht ausblies. Schließlich war es eine politische Tat ersten Ranges, daß Wilhelm kurz vor seinem Tode in der großen Versammlung der- Lehensbarone und aller Grundeigentümer, w e s V a s a l l e n s i e a u c h i m m e r w a r e n (Chronic. Sax.: »paer him comon to his witan and ealle f>a landsittende m e n . . . whaeron ]>aes rhannes men f>e hi waeron«), u. a. zu Salisbury schon im Jahre 10861) sich von jedem grundbesitzenden Freien des Reiches den Treueid leisten ließ. Damit war zwar äußerlich nur ein Präzedenzfall aus der angelsächsichen Zeit (der Treueid, den *) Die Sachsenchronik verzeichnet infolge eines Schreibfehlers »1085«. Plummer in seiner Ausgabe I, 216 1 .

Siehe

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

die Freien Eadmund um 940 —946 leisten mußten) 1 ) befolgt, aber diese alte Form erhielt unter den veränderten Umständen eine veränderte Bedeutung, indem sie nicht bloß die Bestärkung des Treuverhältnisses zwischen Herrn und Gefolgsmann (resp. Vasallen) bedeutete, sondern das alte unmittelbare Band zwischen König und Untertanen wieder in Erinnerung bringen sollte, das über die Köpfe der dazwischenliegenden Lehensherren hinweg wirksam werden konnte und wirksam wurde 2 ). Alle Grundeigentümer, »wes Vasallen sie auch immer waren«, waren in erster Linie Vasallen des Königs, und der öffentliche Friede war Königsfriede. Zum König als dem obersten Lehensherrn blickten diese in Zeiten der Not. Jener Treueid zu Salisbury war nicht bloß Lehenseid, sondern Untertaneneid, der erste in der englischen Verfassungsgeschichte. Dieses Gemisch von Lehensverhältnis und Untertanenschaft, wie es sich im oath of allegiance (so heißt noch heute der Untertaneneid) darstellt, hat der englischen Staatsbürgerschaft ihr eigentümliches Gepräge auch heute noch erhalten 3 ). Unter Heinrich I. (1100—1135) wurde das Werk des Eroberers wieder fortgeführt 4 ). Die große Maschine zur Kontrolle nicht bloß der Finanzverwaltung des Reiches, sondern auch der Lokalverwaltung wurde neu organisiert: der exchequer, jene Abteilung des königlichen Lehenshofs (der curia regis), welche in England vielleicht schon vom Eroberer eingeführt worden war. Die im exchequer geübte Kontrolle fand ihre Ergänzung in dem System der reisenden Königsbeamten (der von der curia regis in die Provinz entsandten Mitglieder), die auf ihren Reisen (eyre) an Ort und Stelle die Finanzgebahrung der Sheriffs kontrollierten, bei der Gelegenheit aber auch Mißstände der Lokalverwaltung wahrnahmen, insbesondere den Servilismus der Sheriffs gegenüber den Feudalbaronen verhindern und deren übermächtiges Auftreten zügeln konnten. Den Höhepunkt in dem System der Eindämmung des Feudalismus bildet die Regierung Heinrichs II. (1154—1189). Vor allem reformierte er das Gerichtswesen Englands, d. h. er gab ihm eigentlich Formen, die es Jahrhunderte nachher noch an sich trug, und dessen Spuren selbst heute* in der englischen Gerichtsorganisation sich vorfinden. Curia regis und exchequer wurden reformiert, das Institut der reisenden Richter aus einem außergewöhnlichen8) ein ständiger Bestandteil des *) Bei Liebermann I, 190: Edm. III, § 1 : »Imprimis ut omnes jurent in nomine Dei, . . . fidelitatem Eadmundo regi, sicut homo debet esse fidelis domino suo, sine omni controversia et seductione, in manifesto, et in amando quod amabit, nolendo, quod nolet.« *) Siehe über die ähnliche Struktur des Untertanenverhältnisses im zeitgenössischen Frankreich Luchaire, Histoire des Institutions Monarchiques de la France 1891», I, 51 ff. ») Siehe mein engl. Staatsrecht I, S. 216 ff. 4 ) Die dazwischen liegende Regierung seines Vorgängers Wilhelm Rufus (1087—1100) war für die englische Verfassungsentwicklung ebenso unfruchtbar, wie die von Heinrichs Nachfolger, Stephan von Blois (1135—1154). ') Es ist jedenfalls in der Normandie schon unter Heinrich I. nachweisbar. Haskins in E. H. R. 24, p. 219 f.

§ 1.

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Das anglo-normannische Reich.

ganzen Mechanismus einer geordneten Rechtspflege. Vor allem war es aber die Einführung des sog. writ-Prozesses, welche hier in Betracht kommt. Mit Hilfe der brevia, d. i. der königlichen Gerichtsbefehle, konnte nicht bloß jede Streitsache vor dem lokalen Lehensgericht, das der Lehensbaron eingerichtet hatte, zum Stillstand gebracht und nach London an die curia regis gezogen werden, sondern es wurde, allerdings erst später (durch die Praxis des 13. Jahrhunderts) zum Grundsatz erhoben, daß keine Klage um liegendes Gut (auch im Lehensgericht der großen Lehensbarone) ohne königliches Breve eingeleitet werden konnte. Jede einzelne Klage hatte damals ihr eigenes »breve«, und ein neues »breve« gewähren, war ein neues Klagerecht gewähren. Dadurch wurde die Gerichtsbarkeit den Feudalbaronen immer mehr entzogen und in die Hände der königlichen Richter gelegt. Gewährung der königlichen Gerichtsbarkeit war, ausgenommen für Kronvasallen 1 ), ein Artikel, den man kaufen konnte. Es war darin nicht etwa Korruption zu erblicken, sondern die Sicherung der damals in England besten Form der Justizpflege. Neben der Einführung des writProzesses wirkte die Einführung der Jury in Prozesse um liegendes Gut, wodurch der Privatfehde der Barone untereinander Halt geboten wurde, und die Reform der Kriminalgerichtsbarkeit in der Assize von Clarendon von 1166, welche die J u r y für Kriminalfälle einführte und alle wichtigeren Delikte ausschließlich der königlichen Gerichtsbarkeit vorbehielt, nach der gleichen Richtung. Außer durch die Reform des Gerichtswesens sucht Heinrich II. auch durch die Reform des Heerwesens sich von der Mitwirkung der Feudalbarone an der Staatsverwaltung zu befreien. Die Assize of Arms von 1181 legte jedem freien Engländer die Verpflichtung auf, sich auf eigene Kosten kriegsmäßig auszurüsten. Die Maßregel war der Versuch, die alte angelsächsische fyrd, die Volksmiliz, wieder zu beleben. Diese Maßregel erhält ihre besondere Bedeutung, wenn man damit die Tatsache vergleicht, daß 15 Jahre zuvor Heinrich II. eine neue Untersuchung hatte anstellen lassen, wieviel Lehensdienst jeder der Kronvasallen zu leisten hätte (sog. Chartae von 1166), wodurch die Verpflichtung hierzu auf das Höchstmaß hinaufgeschraubt wurde, in der Folge 2 ) aber die Möglichkeit zuließ, den Lehensdienst im Einzelfall durch Geld abzulösen (sog. scutagium), wenn dies die K r o n e (nicht der Vasall!) wünschte. Das zeigt genügend das Streben Heinrichs II., das Heerwesen von der Basis des Lehenswesens loszulösen. In der Lokalverwaltung wurde der häufige Wechsel der Sheriffs, die man in ihrer Grafschaft nicht warm werden ließ, eine ständige Einrichtung und die Reform der Gerichtsorganisation, die Zentralisierung des Gerichtswesens in der curia regis trug auch das Ihrige dazu x ) Bei Streitigkeiten dieser untereinander war schon nach älterem Rechte (Liebermann, Gesetze I, 524) unbedingt das Königsgericht zuständig. *) Wenngleich auch niemals in der Höhe von 1166: Siehe Baldwin J. F., The Scutage and Knight-Service in England, Chicago 1897, p. 67.

H a t s c h e k , Kogl. Verfassungsgeschichte.

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Der Feudalstaat.

bei, den Sheriff immer mehr zu einem Agenten der Zentralregierung denn zu einem selbständigen Machthaber werden zu lassen. Die Lokalverwaltung war nunmehr der Krone nicht mehr gefährlich. Kautelen zum Schutz der Untertanen aber fehlten noch immer. Erst die Folgezeit nahm sich ihrer wirksam an. Nicht nur das Feudalwesen, sondern auch die Kirche wollte Heinrich II. unter die Staatsgewalt beugen. Das schien aber in einem Zeitalter, in welchem die Welt voll von gregorianischen Ideen war, unerreichbar. In dem Kampfe zwischen dem König und Thomas Becket, Erzbischof von Canterbury, der darob entstand, verblutete Becket, das Königtum gab scheinbar nach, um die Eigenkirche im Endeffekt dennoch zu erhalten und dadurch das spätere Staatskirchentum des Mittelalters und der Neuzeit vorzubereiten. Die straffe Unterordnung des Feudalwesens unter die Königsgewalt, die Einordnung des Feudalismus in das Staatswesen hatte aber auch die Kehrseite, daß sie den großen Feudalbaronen die Last des Königtums infolge hoher Abgabeforderungen schier unerträglich machte, ohne die kleinen Vasallen vor der Willkür und Bedrückung durch die großen wirksam zu schützen. Die Unzufriedenheit beider Klassen, vermehrt um den Widerstand der Städte und der Kirche, der schon unter Heinrich II. und Richard I. (1189—1199) begonnen hatte, schwoll unter Johann (1199—1216) derart an, daß sie zur Revolution und zur Magna Charta (gegeben zu Runnymede am 19. Juni 1215) führte. Die Einzelheiten dieses Kampfes sind für die Verfassungsgeschichte weniger interessant als die Hervorhebung der Gründe, welche dahin führten. Sie lassen sich unter drei Gesichtspunkte bringen. Vor allem waren es die unglücklichen Kriege mit Frankreich (1199—1206), die den Verlust der Normandie herbeiführten, sodann die schmachvolle Art der Unterwerfung des Königtums unter das Papsttum, welche die Barone und das englische Volk zum Widerstande herausforderten — Johann hatte 1213 sein Reich als Lehen aus den Händen des Papstes Innozenz III. bzw. dessen Legaten Pandulf entgegengenommen — schließlich die übermäßig hohe Belastung der Feudalherren mit Schildgeldern (scutagia). Eine eigene Untersuchung wurde 1212 vorgenommen (sog. Inquest of Service), eine Neukatastrierung der zu leistenden Lehensdienstpflichten, welche, von den Baronen als ungerecht und willkürlich empfunden, nur eine Verbesserung der Steuerschraube bedeutete und den Ingrimm der Barone noch mehr steigerte. Wie sehr sie drückte, geht daraus hervor, daß während nach der Praxis aus der Zeit vor Johann das Maximum des Schildgelds pro Ritterlehen 20 sh. betrug, es im allgemeinen unter Johann auf 2 marcae stieg, um 1213 sogar auf 3 marcae emporzuschnellen.1) Schließlich war es auch die willkürliche Handhabung der von Heinrich II. errichteten Machtvollkommenheit der königlichen und der Sheriffsgerichtsbarkeit, welche Anlaß zur Empörung gegen den König bot. ») Siehe Norgate, John Lackland 1902, p. 123 Note 1.

§. 1.

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Die große Charte der englischen Freiheiten ist ein Dokument, das äußerlich der Form von königlichen Vergabungen liegenden Guts nahekommt, da diese Form ein besonders starkes Gewicht der Unverbrüchlichkeit hatte, innerlich aber stellt es einen Vertrag zwischen dem Könige und seinen Baronen dar 1 ). So sagt auch Art. 63 der Urkunde: »Juratum est ex parte nostra quam ex parte baronum... « und Art. 11 : »Concessimus omnibus libris hominibus regni nostri, pro n o b i s e t h a e r e d i b u s n o s t r i s i n perpetuum, omnes libertates subscriptas, habendas et tenendas, e i s e t h a e r e d i b u s s u i s , d e n o b i s e t h a e r e d i b u s n o s t r i s. « Die Gruppierung des Inhalts wird durch die Tatsache bestimmt, daß das Prototyp der Magna Charta in den älteren Freibriefen Heinrichs I. von 11002) und Stephans von 1136 (sog. Oxford Charter) zu suchen ist, welche sich in ihrer Anlage an den seit den Tagen Eadgars stereotypisierten angelsächsischen Krönungseid anlehnten. Die Form desselben ist uns heute so erhalten, wie ihn seinerzeit Dunstan dem Könige ¿Ethelred Redless zelebriert hat, und enthält namentlich drei Versprechen 3 ): Frieden für die Kirche und das Volk, Unterdrückung jeder Gewalttätigkeit, Gerechtigkeit und Gnade in jeglichem Urteil. Daran schloß sich auch die Magna Charta in der Gruppierung ihrer Normen an, mit einigen durch den Feudalismus gebotenen Abweichungen. Zu einer richtigen Würdigung dieser Verfassungsurkunde und ihrer Bestimmung gelangt man aber nur, wenn man diese, sowie sie den einzelnen Klassen der Bevölkerung nutzen sollten, zusammenstellt. 1. Den Feudalbaronen brachte sie die Abstellung der schwersten Mißbräuche, welche der König bei Ausübung seiner Lehensgerechtsame (bes. in bezug auf relevia: Art. 2; Lehensvormundschaft über Minderjährige und Frauen: Art. 3, 4, 5, 8; Lehensteuern: Art. 12, 14 etc.) ausgeübt hatte. Auch wurden Garantien gegen Mißbrauch der königlichen Gerichtsbarkeit auf Kosten der lehensrechtlichen der Lehensbarone geschaffen. Eine der wichtigsten war der Satz (Art. 39) : » Nullui über homo capiatur, vel imprisonetur, aut disaisiatur, aut utlagetur, aut exuletur, aut alio modo destruatur, . . . . nisi per legale judicium parium suorum vel per legem terrae. « Danach war nur den d e m L e h e n s r e c h t e 4 ) unterworfenen Personen zugesichert, daß sie ') Vinogradoff bringt sie mit den französischen «établissements« in Parallele. Law Quarterly Review (1905), p. 253. ') Dieser Freibrief war allerdings äußerlich nicht in der Form einer Charta gestaltet, sondern ging in Form von Writs an die Grafschaftsgerichte. Siehe Liebermann, Sachglossar »breve« 4, wo dazu als Beleg Eadmer's Hist. Nov. III, 119 zitiert wird. 3 ) Memorials of St. Dunstan. (Roll Series) p. 355. 4 ) Siehe dazu G. B. Adams, The Origin a. a. O. p. 262 ff., wo auch eine Übersicht über die verschiedenen Interpretationsversuche. Siehe ferner Mc Kechnie a. a. O. zu Art. 39 ; Pike, History of the House of Lords, ch. X. ; Vernon Harcourt, His Grace the Steward and Trial of Peers 1907, ch. VII, VIII. Vergleiche übrigens diesen Art. 39 mit dem Satz der Constitutio Konrads II. von 1037 (Mon. G. L. Sec. IV, I, 90): Nullus m i l e s . . . . sine certa et convicta culpa suum beneficium perdat, nisi secundum constitutionem antecessorum nostrorum et Judicium parium suorum«, worauf schon Stubbs I a , 578 1 aufmerksam machte. 2*

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nur von den Genossen ihrer Lehenskurie u n d gemäß dem Lehensrechte ihrer Kurie abgeurteilt werden sollten. 2. Der Kirche brachte sie die allgemeine Zusicherung der Freiheit. Eine Detaillierung ihrer Freiheitsrechte in der Magna Charta selbst schien deshalb weniger geboten, weil wenige Monate vor ihrem Zustandekommen am 21. November 1214 eine besondere Charte für die Kirche ergangen war, welche am 15. Januar 1215 vom Könige erneute Bestätigung erfahren hatte. 3. Die Vasallen der großen Feudalherren mußten natürlich auch ihren Teil bekommen, denn nur durch ihre Hilfe war das einheitliche Vorgehen gegen die Krone möglich geworden. Die großen Barone fügten deshalb die Schutzbestimmungen ihrer Vasallen ein, trotzdem es auf ihre eigenen Kosten geschah. So wurde den Vasallen im Art. 15 versprochen, daß sie von ihren Lehensherrn nicht öfters zu Lehensabgaben herangezogen werden dürften als die Barone von der Krone. Und Art. 60 sagte ihnen alle Bräuche und alle Freiheiten von seiten ihrer Lehensherren zu, welche die Krone im Verhältnis zu den unmittelbar von ihr abhängigen Lehensbaronen zu beobachten versprochen hatte. Freilich die vage Formel legte der Opferwilligkeit und dem Patriotismus der Feudalbarone keine allzuharte Prüfung auf. 4. Auch den Kaufleuten und Handeltreibenden wurden Privilegien zugesichert, aber sie waren nur ein schwaches Entgelt für die den Baronen geleisteten Dienste. Auch wurde noch manches, was in dem ersten Entwurf, den Articles of the Barons (capitula quae barones petunt), ihnen konzediert war, bei der endgültigen Redaktion der Magna Charta abgezwackt. Zwar war eine allgemeine Zusicherung der städtischen, übrigens vorher um schweres Geld erkauften Freiheiten gegeben, aber es darf auch nicht übersehen werden, daß der Krone das Recht verblieb, die willkürlich auferlegten Zwangsabgaben, tallagia (im Gegensatze zu den freiwillig gewährten, lehensrechtlichen Unterstützungen, sog. auxilia), von London und den übrigen Städten zu erheben, sowie sie das von der Bevölkerung der Krondomänen immer tun durfte, während jenes Recht für die Vasallen der Krone durch c. 14 der Magna Charta aufgehoben wurde. 5. Am schlechtesten fuhr die Hauptmasse des englischen Volkes, die Hörigen (villains). Denn daß sie unter den sehr oft genannten und geschützten Freien gemeint wären, wie das Coke in seinem Kommentar zu c. 39 der Magna Charta behauptet, ist entschieden abzulehnen. Der typische liber homo der Magna Charta ist der Lehensbaron und der Ritter (knight), mitunter der freie Grundbesitzer oder freie Bürger, am wenigsten aber der Leibeigene. Zugunsten des freien Mannes gelten teilweise auch die Schutznormen gegen Justizmißbrauch, die zugunsten der Feudalbaronie aufgestellt sind (Art. 17 ff.). Vereinzelt finden sich auch in der Magna Charta besondere Bestimmungen zu seinem Schutze, so z. B. in c. 20, die, daß er nicht durch allzu strenge Bußen um sein notwendiges Lebensauskommen, Existenzminimum [contenementum

§ 1.

Das anglo-normannische Reich.

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= lat. Übertragung des norm.-französischen »contenance« 1 )] gebracht werden soll, wenn es sich um ein geringfügiges Delikt handelt. Auch für den Hörigen (villanus) findet sich daselbst die Sonderschutznorm, daß er unter der gleichen Voraussetzung nicht um den Ertrag seiner Aussaat kommen soll [»et villanus . . . amercietur salvo waynagio 2 ) suo«.] Aber dieser wirtschaftliche Schutz ließ letzteren nichtsdestoweniger politisch schutzlos. Man schützte ihn wirtschaftlich, weil man ihn wirtschaftlich brauchte. Aber die Nebeneinanderstellung von Hörigen und Dingen, das Verbot, sie bei Gütern, die in vormundschaftlicher Obhut standen, zu devastieren, wie es c. 4 der Charte ausspricht (»et hoc sine destructione et vasto hominum et rerum«) zeigt deutlich, wie die Freiheitsurkunde den Leibeigenen nur als »villein regardant« d. i. in der feudalrechtlichen Terminologie als Gutsinventar behandelte. Aus dieser Betrachtung der Detailbestimmungen ergibt sich, daß die vielgepriesene Magna Charta keineswegs den Character einer Garantie der englischen Freiheitsrechte an sich trägt, einen Character, den ihr vornehmlich das 17. Jahrhundert und die damaligen Juristen, insbesondere Coke, angedichtet haben, sondern eine zunächst im Interesse der Feudaloligarchie verfaßte Urkunde ist, die notgedrungen auch anderen Bevölkerungsklassen, aber nur in zweiter Linie, zugute kam. Zur Sicherung der Freiheiten oder, wie es in der damaligen Rechtsterminologie hieß, als »forma securitatis ad observandum pacem et libertates« (§ 49 der Articles of the Barons), wurde folgende Maschinerie eingerichtet. Die Barone sollten — so bestimmte es c. 61 der Magna Charta — 25 aus ihrer Mitte wählen, die über die Wahrung der verbrieften Freiheiten zu wachen hatten und sich durch Kooptation ergänzten. Ein Subkomitee der 25, nämlich 4 Barone, sollte als Mittler zwischen den sich beschwert fühlenden Untertanen und dem König in der Art fungieren, daß es die Beschwerden entgegennahm und zur Kenntnis des Königs oder seines Justiciars (des obersten Ministers) brachte. Falls die oben genannten 4 diese zur Kenntnis des Königs gebracht hätten und ihrem Begehr nicht innerhalb 40 Tagen ohne weitere Prüfung entsprochen wäre, so sollten dann die »25« im Verein mit der Gesamtbaronie 3 ) des Reiches Hand an das Königsgut legen und es so ») Für diese Interpretation siehe J. Tait in E. H. R. X X V I I , 925 ff. waynagium = norm.-franz. gagnage. Siehe Tait a. a. O. 722 ff. (mit Berufung auf Godefroy s. v. gagnage). 3 ) Die Magna Charta spricht von »communa« regni. Dem Sprachgebrauch der damaligen Zeit entsprach die Bedeutung einer Konföderation von Menschen zu einem bestimmten Zwecke, insbes. zum bewaffneten Widerstand ( = conjuratio). Daneben wurde auch »communa« für kommunale Organisation eines Lokalverbandes gebraucht. Siehe darüber insbes.: Round, Geoffrey de Mandeville 1892, p. 116 f., 357, 373. Im z e i t g e n ö s s i s c h e n Frankreich scheint nach Luchaire a. a. O. II, 173 4 nur die zweite Bedeutung üblich zu sein; für Deutschland eine eigentümliche Verschmelzung beider Bedeutungen: conjuratio = beschworener Friedensbrief = erste Erzeugnisse städtischer Autonomie: siehe v. Amira, Grundriß S. 79. Cber die Verwendung des Ausdrucks »communa« für das englische Unterhaus siehe weiter unten § 17.

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lange sequestrieren, sowie in jeglicher Art den König bedrängen, bis die verlangte und nach ihrer Meinung genügende Abhilfe gewährt würde. Die Person des Königs, seine Frau und Kinder sollten aber auf jeden Fall unverletzlich sein. Dies Widerstandsrecht ist nichts anderes als die lehensrechtliche »diffidentia«, die Aufkündigung der Vasallität, ehe man feindliches Handeln gegen den Lehensherrn unternimmt 1 ). So ist die Magna Charta als Reaktion gegen die Vollkraft des Königtums hauptsächlich zugunsten der Aristokratie aufzufassen. Die Legende von dem Bollwerk der staatsbürgerlichen Freiheiten, welches die Magna Charta darstellen soll, ist in sie erst durch die Revolution des 17. Jahrhunderts hineingetragen worden 2 ). Wie wenig sie als solches ursprünglich gedacht war, ergibt der oben skizzierte Inhalt und das Urteil der Zeitgenossen über sie. Ein zeitgenössischer Bericht über ihr Zustandekommen, wahrscheinlich unmittelbar vor der Abfassung der Articuli Baronum von einem Agenten Philipp Augusts von Frankreich erstattet®), beginnt mit den bezeichnenden Worten: »Haec est carta regis Henrici per quam barones querunt libertates, et hec consequentia concedit rex Johannes.« Es folgen dann nur die wichtigsten Konzessionen an die Barone, wie sie die Magna Charta später aufnimmt. Auch andere zeitgenössische Quellen, insbesondere die Histoire des ducs de Normandie et des rois d'Angleterre (p. 145 f., 149 f.) und die Histoire de Guillaume de Maréchal (ed. Paul Meyer für Soc. de l'Histoire de France II, p. 177 f.) bezeichnen die Magna Charta nur als Mittel der Barone zur Erreichung ihrer »Freiheiten« (franchises). Charakteristisch heißt es in der erstgenannten Quelle : »Sie (die Barone) wollten nur, daß er das ihnen Zugesagte halte, was sie aber selbst vorher ihren Leuten versprochen, das beabsichtigten sie nicht zu halten« (p. 151: »II voloient que il moult bien lor tenist chou que en covent lor avoit; mais chou que il avoient en covent à lor homes avant ne voloient-il tenir«), und in der zweitgenannten: »Da kamen die Barone zum König wegen ihrer Freiheiten« (»Que Ii baron por lor franchises vindrent al rei. . . «). Freilich darf man nicht so weit gehen, daß man die Magna Charta als ein Hemmnis der künftigen Verfassungsentwicklung bezeichnet. Denn sie zuerst hat das Problem der Verfassungsgarantien (in ihrem Art. 61) gestellt, sodann war sie es, die zuerst der Auffassung Raum schuf, daß es auch verbindliches Recht für die obersten Staatsorgane in jedem Staate geben müsse4). ») Siehe Waitz, D. VG. VI*, S. 96 2 , 100«. 2 ) Siehe darüber weiter unten III. Abschnitt. *) Siehe darüber Round in E. H. R. VIII, p. 288 ff. Mc Kechnie p. 569 f. und Petit-Du taillis a. a. O. p. 116 ff. und über den Charakter der Magna Charta p. 1 2 7 - 1 4 5 . *) Dies mit Nachdruck hervorgehoben zu haben ist das Verdienst von G. B. Adams a. a. O. ch. VI gegenüber E. Jenks in Independent Review (1904), IV, 260 ff., der die Magna Charta als Hemmnis der englischen Verfassungsentwicklung ansieht. Gleichwohl muß aber die Hauptthese von Adams, daß der englische Feudalismus der Kern und das Leitmotiv der englischen Verfassungsentwicklung auch seit der Magna Charta geworden ist, abgelehnt werden. Schon die auf die Magna

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Das anglo-normannische Reich.

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Was zunächst die Frage der Verfassungsgarantien anlangt, so war die Schwierigkeit vorhanden, das Errungene gegen Verletzung zu sichern. Das Mittel des feudalrechtlichen Widerstandsrechts, das die Magna Charta gewährte, war ein im juristischen Sinne unbeholfenes und kam nur noch einmal 1263 in dem Baronenkrieg zur Anwendung. Die andern Mittel aber, die die Magna Charta selbst schon zur Geltung gebracht (der Erlaß der Urkunde in feierlicher Form, die Wahl von Beamten, die das Recht des Königs kannten und beobachten sollten [c. 45], schließlich eine Versammlung der Untertanen zur Kontrolle der Beamten, ohne deren Zustimmung keine neuen Abgaben auferlegt werden sollten, [c. 12 u. 14]), wurden später zur Anwendung gebracht, mit wechelndem Erfolge. Das Experimentieren auf diesem Gebiete fing mit dem Regierungsantritt Heinrichs III. (1216—1272) an und endete schließlich damit, daß das commune concilium der Magna Charta als Parlament Edwards I. auf der Bildfläche erschien und sich als dauernder Bestandteil der englischen Verfassung erhielt. Die Regierung Heinrichs III. beginnt zunächst mit dem ersten Mittel. Die Magna Charta wird 1216 und dann in der Folge von neuem erlassen oder neu bestätigt. Solche Neuerlasse der Charta datieren aus den Jahren 1216, 1217 und 1225. Die Neubestätigungen (sog. confirmationes chartarum) beginnen mit dem Jahre 1237 und dauern bis in die Zeit Edwards III. Gerade diese große Zahl der Neuerlasse und Bestätigungen zeigt die Untauglichkeit dieses Mittels, die noch dadurch verstärkt wurde, daß schon der erste Neuerlaß von 1216 infolge der Notstandsverhältnisse des Staates (der Kronprinz von Frankreich ,von den rebellischen Baronen Englands berufen, war noch im Lande, Krieg und Aufruhr wühlte damals das Land auf) wichtige Kautelen der ersten Magna Charta weggelassen hatte, so insbesondere die Bestimmung, wonach zur Bewilligung von Feudalabgaben, außer den althergebrachten drei (bei Erteilung des Ritterschlags an den erstgeborenen Königssohn, Verheiratung der Königstochter, Lösegeld für den in Gefangenschaft geratenen König), die Zustimmung des sog. commune consilium notwendig war (c. 12). Das commune consilium, die Versammlung der Feudalbarone, war durch c. 14 der Magna Charta von 1215 dem König zur Pflicht gemacht. Auch dieser Artikel der Magna Charta verschwand bei der Neuedition von 1216, desgleichen die Vorschrift (c. 45), nach welcher nur Beamte, welche das Recht kannten und beobachten wollten, bestellt werden durften. Der König resp. der für ihn eingesetzte Regent, William Marshall, Earl of Pembroke, hatte freie Hand, um bei nächster Gelegenheit sich wieder neue Konzessionen von der Baronenschaft abringen zu lassen1). Und wenn die Folgezeit Charta folgende Etappe der Repräsentation p f l i c h t der Kommunalverbände im Parlamente laßt sich nicht aus dem Feudalrecht ableiten. Siehe darüber weiter unter § 17. ') So folgte schon der Neuzusicherung der Magna Charta, die am 23. Sept. 1217 auf einem Baronentag zu Merton gewährt wurde, eine zweite Neuzusicherung am 6. November 1217 und der Erlaß einer »Charta de libertatibus forestae« auf-

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zu jenen von der Magna Charta Johanns geschaffenen Verfassungsgarantien zurückkehren mußte, so war dies nur eine Folge des unausgesetzten mittelalterlichen Paktierens zwischen König und Ständen und zeigt die Macht der sozialen Tatsachen, denen selbst die verschlagene, hinterhältige und an Ausflüchten reiche Regierungskunst eines Heinrichs III. nicht ausweichen konnte. Mochte aber auch der Inhalt dieses Paktes wechseln, das Bedürfnis, daß ein solcher bestand und immer neu bestätigt wurde, zeigt, daß die Vorstellung im Werden begriffen ist, welche ein Staats g e s e t z 1 ) mit verbindlicher Wirkung auch für den Monarchen fordert. Das Problem der Ministerverantwortlichkeit, dessen Embryo schon im oben angeführten c. 45 der Magna Charta von 1215 gegeben war, reifte während der Zeit der Minderjährigkeit Heinrichs vollständig aus, um selbst dann, als der König Alleinregierer geworden (1227) nicht wieder aufgegeben zu werden. Die Forderungen der Parlamente von 1244, 1248 und 1258 (darüber gleich weiter unten) nach vom Parlamente gewählten obersten Ministern bewegen sich auf dieser Linie2). In der zweiten Hälfte der Regierung Heinrichs III. wird die Kontrollmaschinerie der Magna Charta wieder zu Ehren gebracht, allerdings in modifizierter Gestalt. Die Entrüstung der Barone gegen die unverantwortlichen Ratgeber des Königs, die Proven$alen und Günstlinge aus Poitou (Landsleute der Frau resp. "Mutter des Königs) führt unter Montforts Leitung zuletzt zum Baronenkrieg (1260—1272). Vorher ließ sich der König zunächst die sog. Provisions of Oxford abnötigen, d. h. in dem am 11. Juni 1258 zu Oxford versammelten Parlament (sog. einem Baronentag in der Kathedrale zu St. Paul (London). In dieser Neuzusicherung wird den Großen des Reichs gegen die Gewährung eines Fünfzehnten »die Konzession gemacht«, daß die Burgen, die in dem Baronenkriege gegen Johann aufgerichtet worden waren, nicht zerstört zu werden brauchten, wie es Art. 47 der ersten Neuzusicherung am 23. September 1217 angeordnet hatte. Siehe darüber H. J. Lawlor in E. H. R. 22, p. 514 ff; dagegen aber Powicke in E. H. R. 23, p. 232ff., der die Echtheit der zweiten Neuzusicherung bestreitet. Im Baronenkriege unter Heinrich III. spielen die Burgen zum letzten Male in der englischen Verfassungsgeschichte eine bedeutende Rolle. Unter Edward I. sind sie nur staatliche Befestigungen gegen Wales und Schottland (siehe Lowe-Pulling, Dictionary of English History 1910, p. 233 f. mit reicher Literaturangabe). Während in England seit der Zeit die Königsgewalt den Burgenbau monopolisiert, beginnt in Deutschland derselbe in die Hände des Landesherrn und Städte zu geraten. Siehe darüber A. Coulin, Befestigungshoheit und Befestigungsrecht, Leipzig 1911. ') So fassen denn schon die Richter in der Zeit Heinrichs III. die Magna Charta nicht mehr als bloßen V e r t r a g , sondern als G e s e t z auf. S. Bracton's Note Book ed. Maitland III, p. 243 (Rechtsfall Nr. 1227): »omnes dixerunt quod nunquam viderunt talem causam, nec constabat eis, nec scierunt si aliquid contineretur in carta libertatum de hujus modi casu, . . . . nec in jure scripto (röm. Recht!) aliquem talem casum viderunt.« Auf diesen Rechtsfall macht G. B. Adams a. a. O. p. 289" aufmerksam. ') Einen hübschen Ausdruck dieser Wünsche findet man in einem politischen Gedicht, das unmittelbar nach der Schlacht von Lewes (1264) geschrieben wurde (Wright, Political Songs, Camden Society), p. 112 f., Vers 805 ff.: »Nam communitati / Est ne fiant miseri duces dignitatis / Regiae, sed optimi et electi viri, / Atque probatissimi qui possint inquiri.«

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Das anglo-normannische Reich.

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»insane parliamentum«) übertrug der König die provisorische Regierungs- und verfassunggebende Gewalt einem Ausschuß von 24 Baronen, die zur Hälfte von ihm, zur andern Hälfte von der Baronenschaft gewählt wurden. Die Verfassung, welche diese »provisio facta apud Oxoniam« gab, war streng oligarchisch, insbesondere war sie nach dem Prinzip gedacht, durch eine Reihe von Baronenausschüssen die gesamte Staatsgewalt in den Händen der Baronie zu erhalten und die Funktion des Parlaments ( = Baronenversammlung), das allerdings dreimal im Jahre zusammenberufen werden sollte, dadurch auszuschalten, daß ständige Ausschüsse seine beratende Tätigkeit übernahmen. Dem König sollte in der Regierung ein ständiger Ausschuß von 15 Baronen zur Seite stehen. Dieser Ausschuß sollte mit einem andern, bestehend aus 12 Baronen, während jeder Parlamentstagung, aber auch in der Zwischenzeit, um der Baronenschaft die Kosten zu sparen (»pur esparnier le cust del commun«) zusammentreten und über das gemeinsame Wohl des Reiches beratschlagen. Ein anderer Ausschuß von 24 Baronen sollte die Verhandlungen wegen der zu bewilligenden Feudalsteuern (aids) führen, während der konstituierende Ausschuß von 24 die Reform im Kirchenwesen durchzuführen hatte. Die beiden letztgenannten Ausschüsse waren nur als provisorische Einrichtungen gedacht. Wie die übrigens jährlich wechselnden und dem Parlament verantwortlichen Minister des Reiches bestellt wurden, wird uns von dem Chronisten (Annales Burton 438 ff.), der Hauptquelle unserer Kenntnisse der damaligen Verhältnisse, und auch von Math. Parisiensis nicht verraten. Wahrscheinlich wird die Auswahl in die Hände des Parlaments 1 ) gelegt worden sein. Tritt schon in dieser Ausschuß vorherrschaft der oligarchische Charakter der neuen Verfassung deutlich hervor, so wird er in unsern Augen noch wesentlich durch die Tatsache erhöht, daß die gewählten Barone in mehreren Ausschüssen gleichzeitig saßen. Es war deshalb von der höchsten Bedeutung, daß der Führer der ganzen Bewegung, Simon von Montfort, eine breitere Interessenvertretung, die an der Ministerkontrolle teilnehmen sollte, wünschte und während der revolutionären Bewegung im Jahre 1265 durchführte 2 ). Er sah richtig voraus, daß die kleinen Verbesserungen, die die Provisions von Westminster (Oktober 1259) an der Verfassung von 1258 vornahmen, zu geringfügig waren, um die Ritterschaft dauernd für die Reform zu gewinnen. Die »Bachelaria Angliae« mußte auf andere Art befriedigt werden, um die nötige Resistenz des Parlaments gegenüber dem König und seinen Ratgebern zu sichern. Als er deshalb um jene Zeit die Zügel der Regierung in den Händen hatte, berief er nach Westminster außer den ihm freundlich gesinnten Teil der Baronenschaft l ) So Bémont, Montfort 1884, p. 163; A. A. Stubbs II 2 , 80. Siehe aber den Quellenbeleg für unsere Meinung Bémont a. a. O. 191. *) Die Auffassung von Bémont, Simon de Montfort, Comte de Leicester: sa vie et son rôle politique en France et en Angleterre, Paris 1884, p. 231, daß der Montfortsche Plan von 1265 die oligarchische Verfassung von 1258 ruhig weiter bestehen lassen wollte, ist unhaltbar. Siehe Prothro, E. H. R. vol. I, p. 163.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

noch Vertreter der Grafschaften und Städte, und zwar je zweijAbgeordnete von jedem dieser Kommunalverbände, welche dann auch Nvirklich usanimentraten (20. Januar 1265). Es war dies nur ein rasch auftauchender und ebenso rasch verschwindender Meteor im englischen Verfassungsleben. Denn für die Ideen Simons von Montfort war der englische Staat noch nicht reif. Erst derjenige, der ihn auf dem Schlachtfelde von Evesham (4. August 1265) besiegte, Edward, der Kronprinz, sollte dann als König den Plan Simons fortführen und die bisher unbeschränkte monarchische Gewalt durch eine ständische Volksvertretung wirksam beschränken. Bis dahin aber schlummerten alle diese Projekte, denn das Schlachtfeld von Evesham war das Grab Simons von Montfort und seiner großzügigen Idee. Es ist m. E. sehr wahrscheinlich, daß er auf den Gedanken der Kommunenvertreter durch kirchliches Vorbild gebracht wurde. Im »Sang von Evesham« (herausg. von Maitland, E. H. R. 1896, p. 317) wird darauf hingewiesen, daß Montfort sich in allen seinen Maßnahmen an Robert Grosseteste, Bischof von Lincoln, gehalten habe (»Fert Robertus, Simon credit «). Auch sonst steht fest, daß dem Earl eine Denkschrift Grossetestes über den Unterschied von König und Tyrannen vorlag. Monumenta Franciscana (R. S.) I, 110. Siehe auch F. S. Stevenson, R. Grosseteste, London 1899, p. 273. Woher hatte aber Grosseteste seine Repräsentativideen? Diese Frage wird, soweit man sehen kann, von niemandem beantwortet. M. E. nach sind es die Franziskaner, mit denen Grosseteste intimere Beziehungen verknüpften, und die seit 1239 sowohl ihr Generalkapitel als auch später ihre Provinzialkapitel auf repräsentativer Basis eingerichtet hatten. So sagt Holzapfel, Handbuch der Geschichte des Franziskanerordens 1909, S. 185: »Der Orden hatte jetzt statt der früheren absolutistischen eine konstitutionelle Regierung bekommen, und zwar, genau besehen, die rein parlamentarische...... Wie weit allerdings diese ä u ß e r e Form der inneren englischen Grundlage bedurfte, um zur Repräsentatividee des englischen Unterhauses zu führen, darüber weiter unten § 17.

§^2. Die Wurzeln des Feudalismus in England. Literatur. ad I. M a i t l a n d , Domesday book and beyond, p. 66—79 u. 293—318. — P. & M. I», 30 ff. — M a u r e r in der Krit. Überschau I, 104 ff. - S t u b b s , Const. History I, 269—287. — L o d g e H. C. in Essays in Anglo-Saxon Law, Boston 1876, Nr. II. ad II. v. A m i r a , Recht, in Pauls Grundriß der germ. Philologie (1900), III 1 , S. 149ff. - M a i t l a n d a. a. O. p. 8 0 - 1 0 7 , 2 2 6 - 2 4 4 , 2 4 4 - 2 5 8 u. 258 — 292. B r u n n e r , Zur Rechtsgeschichte der röm. und germ. Urkunde, Berlin 1880, I, S. 149 bis 208. - V i n o g r a d o i f , E. H. R. VIII, 1893, p. 1 —17. - Derselbe in Mélanges Fitting (1908) II, 501—522. ad III. M a i t l a n d a . a . O . p. 1 0 7 - 1 2 8 , 1 2 9 - 1 5 0 und 3 1 8 - 3 4 0 . N a s s e E., Über die mittelalterliche Feldgemeinschaft... in England 1869. — V i n o g r a d o f f , Growth of the Manor 1905 (grundlegende Widerlegung der Theorie

§ 2.

Die Wurzeln des Feudalismus in England.

27

von Seebohm, The English Village Community, London 1890*, welche die Existenz der Markgenossenschaft in England leugnet). — V i n o g r a d o f f , E. Society in the X I . cent., London 1908, p. 305 ff. — P e t i t - D u t a i l l i s , Studies and Notes supplementary to Stubbs Const. History, Manchester 1908, p. 1 — 28. — R o u n d i n E . H. R. X V , 3 9 3 - 3 0 2 . — W e b e r M . , Der Streit um den Charakter der altgermanischen Sozialverfassung, in Conrads Jahrb. 3. F., 28. Bd., S. 464cund man ist. E r ist entweder ein sixhyndman, wenn sein Wergeid 600 westsächsische Schillinge, ein twelfhyndman, wenn sein Wergeid doppelt so hoch ist. Der westsächsische ceorl heißt twihynde, er hat nur ein Wergeid von 2 0 0 Schilling 1 ). Der Unterschied zwischen sixhyndman und twelfhyndman begegnet uns schon seit der Zeit König Ines (also seit dem Ausgange des 7. Jahrhunderts). In den Gesetzen iElfreds ist er sehr häufig. Freilich wird nirgends deutlich genug gesagt, welcher Klasse der Bevölkerung die sixhyndmen angehören. Nur an einer Stelle der Gesetze Ines (cap. 24) heißt es: Ein Welscher, wenn er fünf Hiden besitzt, der ist 600 Schilling Wergeid wert (»Wealh, gif he hafad v hida, he bid syxhynde«.) Aber die sixhynde bloß mit den Welschen, der unterworfenen keltischen Bevölkerung, zu identifizieren 2 ), geht nicht gut an, weil der wealh, der Welsche, in den Gradationen der Bevölkerung für die Zwecke des Wergeides und der Bußen außer oder neben der Dreiteilung der freien Bevölkerung in twihynde, sixhynde und twelfhynde niemals besonders genannt, der sixhynde aber regelmäßig in ihr eingeschlossen ist. Diese Tatsache in Verbindung mit der andern, daß die Zahl der welschen Grundeigentümer geringer war als die Zahl der angelsächsischen Bauern, schließt es aus, die sixhyndman-Klasse m i t den Welschen, die 5 Hiden Eigentum besitzen, zu identifizieren. Wahrscheinlich wird der welsche Grundeigentümer mit einer bestimmten Klasse der englischen Bevölkerung rangiert haben, ähnlich wie der welsche Reiter in des Königs Dienst. Waren deshalb die sixhynde keineswegs nur Welsche, so bleibt nur die Erklärung aus anderen Bevölkerungsschichten, und die neuesten Forschungen 3 ) weisen mit annähernder Wahrscheinlichkeit darauf hin, daß die Sixhyndethane, nicht Königsthane waren, sondern einen Bischof oder andern Oberherrn als den König hatten. Die Steigerung des Wergeides der Königsthane findet auch auf dem Kontinent bei den Franken ihre Parallele. Sodann werden die Söhne und Verwandten der Thane, auch solche, welche keinen eigenen Grundbesitz halten, als sixhynde zu betrachten sein. In dieser Periode, am Abschlüsse dfer angelsächsischen Kolonisation, also etwa im 9. J a h r hundert, verschwinden auch die Läten 4 ). Ihren Platz nimmt vollständig der Welsche, der wealh, ein. Wie der Läte, zeigt auch er Rangstufen (z. B . Ine 32, 33). Die Proportion zwischen twelfhynde und twihynde = 6 : 1 ist zweimal so hoch als das Verhältnis der höchsten Klasse zur untersten Klasse der Freien in Kent. Hier ist sie 3 : 1 ; doch hängt dies mit der Tatsache zusammen, daß die Kenter eine Goldwährung nach merovingischem Muster hatten, während die uns erhaltene westsächsische Wergeidzahl auf dem westsächsischen Schilling und der Silberwährung fußt. Über ähnlichen Wechsel der Wergeidziffern auf dem Kontinent siehe Vinogradoff, Ztschr. f. Rechtsgesch. (germ. Abtlg.) Bd. 23, S. 136 ff. Die Deutung, die Rhamm a. a. O. S. 111 ff., kentischen Gesetzen gibt, um seine These nachzuweisen, daß die Proportion von 6 : 1 schon vom Kontinent mitgebracht worden ist, kann ich nicht mitmachen. *) So wieder neuestens Liebermann Sachglossar »Sechshunderter« 5. ») Vinogradoff, Growth, p. 126, und Chadwick, p. 93 ff. 4 ) Über ihr Verschwinden in Friesland, siehe His, Strafrecht der Friesen, S. 48.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

II. Die Ständegliederung nach der Däneneroberung. Zunächst greift eine bedeutsame Vereinfachung Platz, die Klasse der sixhynde verschwindet im allgemeinen, ausgenommen die Grafschaften des westlichen Mittellandes, namentlich im ehemaligen Mercia, wo sie als radchenistres, radmanni, neben den Thanen im Domesday erwähnt werden. Das Verschwinden der sixhynde hängt also mit dem großen Umbildungsprozeß im militärischen Sinne zusammen, den die Däneneroberung im Gefolge hatte. E s tritt nämlich der Kriegerstand schärfer an Bedeutung hervor. Der einfache dänische Krieger, der bisher nur vollfreier Erbbauer gewesen, wird nunmehr mit einem kleinen Adelshof ausgestattet 1 ) und dem englischen Königsthan, der freie englische Bauer, ceorl, dem dänischen Freigelassenen im Wergeide gleichgestellt. (Alfreds und Guthrums Friede, S. 2 2 ). In der Folgezeit scheint diese Anmaßung der Dänen noch schärfer hervorgetreten zu sein. In dem »Nordleute 3 )-Recht«, dessen Entstehung Liebermann zwischen 920 bis 954 sieht, finden wir den dänischen Krieger (höldr oder, wie er in dem Rechte selbst genannt wird, »hold«) mit einem Wergeid von 4000 Tremissen ausgestattet; der englische Priester und Than hat bloß ein Wergeid von 2000 Tremissen (oder in der Schillingsrechnung von Wessex: 2000 :1200 Schilling), während das Wergeid eines Gemeinfreien 266 Tremissen (resp. 200 Schilling nach MercierRecht) ist (c. 4, 5, 6 der NorJ)leoda laga). Alles scheint sich nur zur Frage zuzuspitzen: Wer ist Krieger, wer ist Bauer? Wer ist twelfhynde, wer twihynde ? Cnut ist ganz deutlich in dieser Hinsicht, und es läuft auch bei ihm alles auf diesen Gegensatz hinaus. So beginnt er sein Gesetz von 1020 (Liebermann I, 273): § 1: »König Cnut grüßt seine Erzbischöfe und seine Suffraganbischöfe und Thurkil, Herzog von Ostanglien, und alle seine Grafen, und sein ganzes Volk — von 1200 und 200 Schilling Wergeid, Geistliche und Laien — in England freundlich (,ealne his {jeodscype, twelfhynde / twyhynde, gehadode / laewede, on Englalande freondlice')«. Die Zuspitzung dieses Gegensatzes war nicht bloß durch das schärfere Hervortreten der Kriegerklasse geboten. Eine Erhöhung des Wergeides der dänischen Krieger war auch durch die Auflösung des Sippenverbandes, die sich schon seit Eadmunds Zeiten wahrnehmbar vollzog, von selbst gegeben. Sie war als Abschreckungsmaßregel gedacht, namentlich im Grenzgebiet der beiden Nationen 4 ). Beide Momente M Brunner, D. R G . I", S. 349 f. s ) Siehe Rhamm, Großhöfe der Germanen 710. 3 ) Die Nordleute sind nach Liebermann I, 459 Angloskandinaven in Nordengland. Vinogradoff, Growth, p. 131, identifiziert sie mit den Bewohnern des von Halfdan gegründeten Königreichs York. *) Uber die kontinentale Parallele im Lande der Chamaver im Verhältnis der Franken gegenüber Friesen und Sachsen siehe Vinogradoff, Ztschr. f. RG. (Germ. Abtlg.) X X I I I , S. 172. Uber Verstärkung der Sicherheit im Grenzgebiete durch Erhöhung des Wergeides ebendort. So auch Liebermann, Archiv f. neuere Sprachen 102, S. 278 »Verhältnis der Dunssete, Walliser in Hereford, zu den Angelsachsen«.

5 3.

Die Standegliederung.

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trugen nun zunächst dazu bei, die Ständegliederung der Angelsachsen zu vereinfachen. Der sixhynde verschwindet, die obige Begrüßungsformel Cnuts kennt ihn nicht mehr. Mit derZeit aber bricht die alte Differenzierungstendenz, wie sie mit fortschreitender Kolonisation verbunden ist, wieder mächtig hervor. Die wichtige ökonomische Tatsache, die Vorläuferin der Feudalisierung, ich meine die Entstehung des Gutshofs und der gutsherrlichen Gewalt, kurz die Manorialisierung, tritt zutage. Zwei Rechtsdenkmäler aus dem Beginn des 11. Jahrhunderts, also aus der Zeit vor der Normanneneroberung, sind vorzüglich geeignet, uns über die Standesverhältnisse im damaligen England zu informieren. Es sind dies die Schrift »Rectitudines singularum personarum«, die nach Liebermann zwischen 960—1060, nach Vinogradoff um 1025, abgefaßt worden ist, und das Bruchstück »Ge|>ync|)o: Über den Ehrenrang«, kompiliert zwischen 1029—1060. Danach sind folgende Stände zu unterscheiden: 1. Zu oberst steht der Hochadel, der aus Bischöfen und eorlas besteht. Der eorl des 10. und 11. Jahrhunderts hat außer dem Namen nichts mit den eorlas der kentischen Gesetze gemeinsam. Er ist eine Amtswürde, die zwar den Abkömmlingen des eorl adelige Herkunft gibt, die aber selbst für gewöhnlich nicht vererbt werden kann. (Über Ausnahmen in der letzten Zeit der angelsächsischen Herrschaft siehe weiter unten § 6.) Diesen Adel konnte jeder Than erwerben, indem «r die Würde eines eorl erhielt. So sagt der »Ehrenrang«, § 5 : »Und wenn ein Thegn emporstieg (,ge|>eah'), daß er zum Grafen wurde (J>aet he wearct to eorle), dann genoß er fortan Grafenberechtigung. « Die Vorrechte und Privilegien des Grafen waren mannigfacher Art. Die Buße, die dem eorl für den Bruch seines Friedens (borg) oder seiner Schutzgewalt (mund) zu zahlen war, betrug 2 Pfund (96 westsächsischer Schillinge), während der gewöhnliche Adlige bloß 30 bis 36 Schillinge erhielt, der König aber 5 Pfund, der Erzbischof 3 Pfund verlangen konnte (Cnut II, 58,2). In ähnlicher Weise wurde das Fechten in Gegenwart des Grafen, •das Eindringen in sein Haus (burgbryce) strenger gestraft als das gleiche Vergehen gegen andere gewöhnliche Adlige. Das Wergeid eines Grafen wird wohl zweimal so groß als das eines gewöhnlichen Adligen gewesen sein (Chadwick, Studies, 167 f.), während es im Norden Englands sogar 4 mal so groß war als das eines Than (8000 : 4000 Tremissen, Nor|)leoda laga, § 3 und 5). Die Funktionen des eorl oder, wie er in derZeit vor Eadgar hieß 1 ), des ealdorman, waren teils militärische, teils gouvernementale. Wir werden sie noch unten (im § 6 über die Lokalverwaltung) näher kennen iernen. l ) Siehe Bosworth - Toller Supplement s.v. »eorl* p. 191: A. S. Chron. 966: •Ösläc fing tö ealdordöme a. a. O. 963: Ösläc ealdorman; jedoch 975: Ösläc sA msera eorl.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

2. Unter dem Stande des eorl stand die Königs-Thanschaft. Dieser Stand der Adelstand ¿ai'eMxi'v hatte auch sein bevorzugtes Wergeid (gewöhnlich 1200 westsächsische Schillinge) und seine besondern Bußen. Er konnte durch seinen Eid den Eid von 6 ceorlas aufwiegen. Seine rechtliche Stellung beschreiben zutreffend die leges Henrici 64, 2 b 1 ) : »thaini iusiurandum contravalet iusiurandum sex villanorum; et si occideretur, plene vindicaretur in sex villanis, et si emendaretur, eius weregyldum est sex villanorum weregyldum«. Die Eigenschaft eines Thans wurde im 10. Jahrhundert vererbt. Sie konnte aber auch aus eigener Kraft erworben werden. So findet sich in der »gersednes2)« fürs Dunsaete-Land (Liebermann I, 377): die Formel »sy he degenboren, sy he ceorlboren«. Und in den Leges Henrici (68, 3), die zwar aus dem 12. Jahrhundert stammen, aber ältere Rechtsverhältnisse aus dem 10. und 11. Jahrhundert (Cnut I, 6a und 6, 2a) schildern: »si tarnen (presbyter) occidatur . . . . secundum natale suum reddatur: si de thainis natus est thaini wera reddatur, si de villanis similiter coniectetur.« Die Thanschaft konnte aber auch erworben werden, und das ist die Ursache3) des Fortschritts, den die hier betrachtete Entwicklungsperiode gegenüber der vorhergehenden aufweist: die große Verbreitung der Thane gegenüber ihrer früher geringeren Zahl. Die Thanschaft war schon etwa seit Bedas Zeit abgeschichtet, während sie ursprünglich ein bloß persönliches Gefolgschaftsverhältnis zwischen dem Than und dem König dargestellt hatte. Der König bot Land für den Eintritt eine» Mannes in des Königs Gefolge (ministerium)4). Nun aber im 10. Jahrhundert gewinnt der Titel Than eine ungewöhnlich rasche Verbreitung. Dies kommt daher, weil das Benefizialwesen nach fränkischem Muster eindringt (siehe oben § 1). Nunmehr gilt der Rechtssatz (Ehrenrang, § 2; bei Liebermann I, 457): »Und wenn ein Gemeinfreier (so) emporkam, daß er völlig 5 Hiden eigenen Landes hatte,. . . und ein besonderes Amt in des Königs Halle, dann genoß er hinfort Thegnberechtigung.« Ähnlich sagte schon das Nordleute-Recht 6 ) § 9 (Liebermann I, S. 461): »Und wenn ein gemeinfreier Mann emporkommt, daß er 5 Hiden Landes zum königlichen Fernheer besitzt (t>aet he haebbe V hida landes to cynges utware) und erschlagen wird, werde er mit 2000 Tremissen6) entgolten.« Wenn der Sohn eines Gemeinfreien 1 ) Eine Quellenstelle aus dem 12. Jahrhundert, die aber schon auf eine ältere aus dem 10. Jahrhundert (ä{> 1. Liebermann Gesetze I. 464) zurückgeht. Siehe Chadwick, Studies, 78. 2 ) Deren Abfassung Liebermann in die Zeit zwischen 926—1000 setzt. 3 ) Dies die Theorie von Maurer, Krit. Überschau III, 388 ff. und Stubbs I, 173, die neuerdings, aber mit wenig haltbaren Argumenten von A. G. Little in der Gnglish Historical Review IV, 727 ff. angefochten wird. *) Z. B. Beda, Vita Abb. 1. Chron. Sax. 755: Cyneheard der iEtheling bietet, nachdem er König Cynewulf getötet, dessen Thanes »feos and landes« nach ihrer eigenen Wahl an, wenn sie ihm die Königswürde Ubertrügen. ') Zwischen 920—954 entstanden. •) D. i. nach demselben Rechte § 5, das Wergeid des Thans.

§ 3.

Die Ständegliederung.

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und dessen Sohn das gleiche Quantum Landes erreichen, dann bleibe die Thaneigenschaft dauernd in der Familie (§11 desselben Rechts). Über die Pflichten eines Thans sagen die »Rectitudines« (§ 1, bei Liebermann I, 444): »Thegnrecht und -pflicht ist, daß er seines Urkundenrechts 1 ) genieße und von seinem Lande drei Dinge leiste: Landwehrheerfahrt (fyrdfaereld), Festungsherstellung (burhbote) und Brückenwerk (brycgeweorc).« Das Ausmaß seiner Dienstpflicht in der fyrd ist durch seinen Grundbesitz von mindestens 5 Hufen bestimmt. Außer diesen militärischen Pflichten, die noch bei »vielen Landgütern auf königlichen Befehl« (»to cyniges gebanne«) detaillierter sind, hat er die wichtige Funktion eines königlichen Beraters unter den witan, der Landesversammlung. Hier tritt er meist unter dem Namen comes, minister 2 ) auf, wobei vielleicht unter dem letzten Namen nur der unverheiratete Gefolgsmann, der noch nicht abgeschichtet ist, verstanden wird 3 ). Nicht bloß der König hatte Thane, auch jeder Große (z. B. Bischof) konnte solche haben. Sie hießen dann Thane mittlerer Güte oder sog. medeman ]>egnas, im Gegensatze zu den Königsthanen, welche als »cyninges [jegnas«, »f>e him nyhste syndan« bezeichnet werden (Cnut II, 71, 1 u. 2). 8. Unter den Thanen stehen in der Rangstufe der Rectitudines die Gemeinfreien, aber sie hat bereits der Manorialisierungsprozeß ergriffen, denn sie heißen nun geneat und gebür. Der Unterschied zwischen diesen beiden Klassen liegt darin, daß der geneat 4 ), ein freier Mann, dem Gutsherrn nur zu Renten und Reiterdiensten verpflichtet war, während der gebür als colonus auf Herrnland saß, vom Gutsherrn mitunter auch eine gutsbäuerliche Inventarausrüstung, in Ackergeräten, Samen, Vieh bestehend, erhielt, dafür aber gemessene Dienste auf dem *) Das ist sein böcland. ) Chadwick, Studies 318 ff. 3 ) Chadwick a. a. O. 341. Er ist frei und heißt auch hagosteald, so im Gedicht »Höllenfahrt Christi« 21. Siehe auch ähnlich in Frankreich Guilhermoz a. a. O. p. 111. Aber auch der u n f r e i e grundbesitzlose Hofdiener heißt hagosteald, z. B. in dem Gedicht Be manna wyrdum 92: hier wird vom Falken gesagt, daß er würde »to hagostealdes honda gelsbred«, d. h. abgerichtet auf die Hand des hagosteald. Diese Beschäftigung mit Falkenabrichtung ist an und für sich eine niedrige. Aber wir haben noch eine andere Quellenstelle, welche diese »accipitres-Falkwarte« mit den »pueri qui ducunt canes« zusammenstellt. Die pueri sind gewiß unfrei, daher auch die Falkwarte (siehe C. D. II, Nr. 258). Man kann also m. E. der Ansicht von Brunner, D. RG. I 2 , 189" — wenigstens für die angelsächsischen Verhältnisse— nicht beitreten, daß alle hagostealdas f r e i waren. Es sind freie u n d unfreie Elemente jn dieser Klasse, wie eben auch in der Thanschaft. Das alte Rechtsinstitut der Gefolgschaft wurde in bezug auf manche Rechtsätze, sowohl auf Freie wie auch auf Hörige anwendbar. Ich verweise auf Guilhermoz a.a.O. p. 120, ohne natürlich seine Theorie von der primären Unfreiheit der Gefolgschaft zu teilen. Unter denselben Gesichtspunkt fällt die Sondererbfolge des Heergewätes bei Freien und Unfreien. (Siehe Klatt, in den Deutschrechtlichen Beiträgen von Beyerle II, S. 211.) 2

*) = »Genosse« an der Dorfgemeinschaft. »Bauer« 3c.

Siehe Liebermann, Sachglossar

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

Gutshof zu leisten hatte. Unter beiden steht der Kötter, der cotsetla 1 ), der keinen spannfähigen Ackerbesitz hat, wie der geneat und gebür (nämlich V4 Hufe), aber auch kein gafol, keinen Bodenzins zahlt, sondern Tageswerk auf dem Gutshof leistet. Der gebur steckt schon mit einem Fuße in der Hörigkeit, denn die »Rectitudines« (4, 3) sagen: »Wenn ihn der Tod trifft, halte sich sein Herr an das, was er hinterläßt.« Aber noch immer trennt den gebür und Kötter eine Kluft von dem Knechte (esne). Die Dienste des gebür waren »gemessene« d. h. er hat zwei Tage wöchentlich das ganze Jahr hindurch zu arbeiten, drei Tage aber im Frühling und Herbst. Die Wahl der Arbeit, für die er herangezogen wird, steht beim gutsherrlichen Vogt. Außerdem hat er Pflugarbeit der verschiedensten Art zu tun, einen Acker jede Woche im Herbst, dann drei Acker des Gutshofs jährlich als sein Pachtpflügen (gafolyrf)) zu bestellen und die Saat hierzu aus Eigenem zu stellen, drei Acker als »Geheißarbeit« (tö benyrjie) und zwei Acker als Entgelt für Heumachen (tö gaersyr|>e). Aber diese Arbeit ist genau bestimmt, wenngleich sie nach Gutshöfen variiert, dort leichter, dort schwerer ist. Der gutsherrliche Brauch bestimmt es. Der gebür ist ein freier Mann, wenngleich ihn die Rectitudines, anders als den geneat und Kötter, nicht als solchen bezeichnen. Seine Abhängigkeit ist nur eine ökonomische, aber eines Tages wird er sich in Position eines Leibeigenen finden, wenn kein Richter, insbesondere kein königlicher Richter über ihn wacht, sondern der Gutsherr seine richterliche Instanz wird. Es ist der Tag, da gutsherrliche Gewalt und Immunität in eins verschmelzen, der Tag, an dem die Feudalisierung vollendet ist. Auch die Kötter haben gemessene Frondienste, und zwar monatlich, das Jahr hindurch der Gutsherrschaft zu leisten: in der Erntezeit drei Tage wöchentlich, anderwärts sogar täglich (Liebermann, Sachglossar »Kötter« 7). 4. Unter den gebüras und Köttern stehen dann die leibeigenen Knechte 2 ), die meist aus dem Sklavenstande (J>eow) hervorgehen. III. Die Stände des Feudalstaates.

Die Normanneneroberung führte ähnlich wie die Däneneroberung eine Vereinfachung der Ständegliederung herbei, und zwar in doppelter Richtung: einmal brachte sie die Zwittergebilde der älteren Formen der Landvergabung in die relativ einfachem Besitzformen der feudalen Rechtsterminologie, sodann stürzte sie die zahlreichen wirtschaftlichen ') Daß diese nicht etwa wie Wittich (Die Grundherrschaft in Nordwestdeutschland, 1896) fürNordwestdeutschland annimmt, aus der wirtschaftlichen Vernichtung der halbfreien Laten und ihrer Aufsaugung durch die Meierhöfe, sondern aus der Übervölkerung der alten Dorfgenossenschaften entstanden sind, welche im Gefolge von den festen Ackermaßen und des Hidensystems sich ergab, und daß die überzähligen Familienmitglieder als Kötter auf dem Grund und Boden von dem Grundherrn angesetzt wurden, weist K. Rhamm a. a. O. S. 74 ff., 142 ff. auch für England nach. *) Liebermann, Sachglossar »Bauer« 7 e und »Unfrei« l f f .

§ 3.

Die Ständegliederung.

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Abhängigkeitsverhältnisse, die die Domesday Book bei Schilderung der angelsächsischen gutsbäuerlichen Verhältnisse aufweist, in einen Topf: Die früheren rechtlich freien, aber wirtschaftlich abhängigen Klassen der geneatas, gebüras, der cotsetlan, der bordarii (Häusler, die größeren Grundbesitz als bloß die Kossäten besaßen, aber dennoch nicht zur vollen Anteilnahme an der Feldherrschaft befähigt waren 1 ), wurden nun auch rechtlich unfrei, sog. villani, Gutshörige 2 ). So erhält denn die Gliederung der Bevölkerung des Feudalstaats ihre Doppelteilung: in Freie und Unfreie. Di^ erstem waren allein die Lehensfähigen, die letztern, die villani, die gutshörigen Bauern. Das anglonormannische Recht des Feudalstaats kennt keine Rangstufen innerhalb der feudalen Gesellschaft, infolgedessen ist die Ständebildung nur rudimentär in dieser Zeit entwickelt. Grundlegend war der Unterschied zwischen Freien und Unfreien, aber nicht etwa, um Rangoder Standesprivilegien danach zu bestimmen, sondern um die Rechtsverhältnisse am Grund und Boden danach zu klassifizieren. Unter diesen Umständen gewinnt der römischrechtliche Begriff status alsbald eine Färbung, welche ihn zu einem sachenrechtlichen Begriff (estate!) macht. Noch Bracton scheidet scharf zwischen status libertatis und servitutis, aber später wird status nur in Verbindung mit dem Grundbesitz in der englischen Rechtsterminologie verwendet. Wir hören von einem status in feodo tantum (estate in fee simple), einem status ad vitam tantum (estate for life), also von Grundbesitzformen, wo wir zunächst Formen der persönlichen Rang- und Freiheitsrechte erwarten würden, wie es die römischrechtliche Herkunft des Terminus verlangt. Wenngleich der Freie als solcher der typische Repräsentant des Rechtssystems und der feudalen Grundbesitzverhältnisse ist, so können wir doch allmählich innerhalb dieser Klasse zwei Rangstufen sich herausbilden sehen. Ich betone: es sind nur Keime einer künftigen Klassenoder Ständebildung. Denn es fehlen noch die vollwirksamen Privilegien und Klassenvorrechte. Aber diese sind schon im Werden begriffen. Diese beiden embryonalen Ständegruppen unter den Freien sind der Stand der Grafen und Barone und der Stand der Ritter. Von diesen wollen wir zunächst handeln, ehe wir auf die Rechtsverhältnisse der unfreien Bevölkerung (der villeins) eingehen. 1. D i e G r a f e n u n d B a r o n e . Der starke Wille des Normannenkönigs duldete keinen andern Adel als den, den er selbst schuf oder anerkannte. Der Lehensbesitz entscheidet zunächst allein über politische Rechte und politische Pflichten, und in dieser Hinsicht sind alle Vasallen, ob sie direkte Vasallen des Königs sind oder nicht, einander politisch gleich. Baron bezeichnet damals entweder nur den alten angelsächsichen Than oder alle Vasallen des Königs, schließlich im 11. und 12. Jahrhundert auch die Aftervasallen 3 ). Die Barone haben nur die Rechte, die das LehensSiehe Vinogradoff, Growth 338 ff. *) Pollock and Maitland, History of the B. Law I, 391 ff. 3 ) Liebermann, Sachglossar »Adel«, Ziff. 6a.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

recht ihnen gibt, und nur die Pflichten, die ihnen das Lehensrecht auferlegt, und wie weit das Lehensrecht nach beiden Richtungen geht, hängt von der Form des Grundbesitzes ab. Das »noble Blut« spielt keine besondere Rolle. Die besondern Vorzüge und Privilegien der Grafen und Barone waren deshalb sehr gering. Da gab es z. B. einige wenige Prozeßregeln, welche diese Klasse von den übrigen Freien unterschied. Die Vorladung vor Gericht mußte einem Grafen einen Monat, dem Baron drei Wochen vorher zugestellt werden, während diese Frist für den freien Mann bloß 14 Tage betrug. Der Baron besaß zu Bractons Zeit, also im 13. Jahrhundert, in gewissem Sinne die Freiheit von zivilprozessualem Arrest; aber für eine Zeit, die noch tief in der Naturalwirtschaft steckt und in der die Geldwirtschaft sich kaum zu regen begonnen, bedeutet dies sehr wenig. Der Vasall des Königs durfte nicht exkommuniziert werden, aber dies war eher ein Privileg des Königs als des tenens in capite. Freilich ein Privileg war schon in Umrissen da, welches die Barone und Grafen vor allen andern Freien hervorheben sollte. Die Magna Charta bestimmt in Art. 20: »Comites et barones non amercientur nisi per pares suos, et non nisi secundum modum delicti.« Geldbußen sollten über Barone und Grafen nur von Ihresgleichen verhängt werdein und nur entsprechend dem Grade des Delikts. Die nachfolgende Praxis, wie sie Bracton (folio 116b) bezeugt, verstand dies nur so, daß die Barone des Exchequer, also königliche Beamte, die Barone im Sinne der Bestimmung seien und daß sie oder der König erst im Rat oder Parlament die Verhängung der Geldbuße vornehmen (»et hoc per barones de scacario vel coram ipso rege1)). Aber die Barone nahmen noch mehr in Anspruch, sie wollten im Anschlüsse an die Bestimmung der Magna Charte (c.39: Nullus liber homo capiatur, vel imprisonetur, aut disseisiatur, aut utlagetur, aut exuletur, aut aliquo modo destruatur nisi per legale judicium parium suorum vel per legem terrae) für sich das Privileg besitzen, nur von ihresgleichen in Zivil- und Kriminalsachen abgeurteilt zu werden. Zunächst lehnte auch die königliche Staatspraxis dies ab, und als im Jahre 1233 Richard Earl Marshall vor Gericht gestellt wurde und als Verräter abgeurteilt werden sollte, protestierten die Barone dagegen in einer Versammlung zu Gloucester am 14. August. Ungeachtet dessen behandelte Heinrich III. den Grafen Richard und seine Freunde als rechtlos und verteilte ihr Land an seine Günstlinge »absque judicio curiae suae et parium suorum«, wie Mathaeus Parisiensis (Chron. Maj. III, 247 f.) berichtet. Faktisch ging wohl ein Urteil 2 ) des Im einzelnen war die Praxis die folgende (siehe V. Harcourt, E. H. R. vol. X X I I , p. 732 ff.). Die von den reisenden Richtern aufgenommene Strafliste wurde an die Barone des Exchequer gesandt. Name und Delikt war besonders angegeben, der Betrag der Strafsumme fehlte. Diesen bestimmten dann bei leichten Delikten die Barone des Exchequer, bei schwereren der König im Rate oder im Parlament. Bemerkenswert ist, daß sie, wie Harcourt nachweist, damals nicht fix waren, sondern meistens »ad voluntatem regis« verhängt wurden. ') Ein Moment, das Math. Parisiensis nicht erwähnt.

§ 3.

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Die Ständegfiederung.

Königsgerichts vor der Verurteilung voraus. Am darauffolgenden 9. Oktober versuchten die Barone dieses Urteil umzustoßen, eben aus dem Grunde, daß es ohne Judicium parium gefällt worden sei. Da tritt der Justiciarius Heinrichs III., Peter des Roches, auf und verteidigt den König mit den Worten, es gebe in England keine pares wie im Königreich Frankreich, und der König könne alle Verräter jeglichen Ranges durch seine Richter verurteilen lassen (Math. Parisiensis III, .251 f.). Die Barone konnten in der Folge ihre Privilegierung nach dieser Richtung nur für die Kriminalgerichtsbarkeit aufrechthalten, aber dies gehört schon der Periode des Ständestaats an. In unserer Periode berichtet zwar Bracton (fol. 119), daß sie, wenn die Anklage auf Felonie oder Hochverrat, also auf ein schweres Verbrechen, ging, nur von ihresgleichen, also nur von Baronen und Grafen, abgeurteilt werden dürften, aber es liegt ihm fern, dies mit einem Privileg zu begründen. Nur weil der König nicht zugleich Ankläger und Richter in einer Person {nämlich durch seine Richter) sein dürfte, sonst könnte sein Urteil durch Begehrlichkeit nach Güterkonfiskation getrübt sein. Unter Edward I. beginnt die Frage nach dem Judicium parium der Großen wichtiger zu werden. Trotzdem wir deshalb in unserer Periode von Ständen nicht gut reden können, da die Ständeprivilegien im großen und ganzen fehlen, wird doch schon allmählich seit Heinrichs II. Tagen eine Demarkationslinie innerhalb der Barones 1 ) gezogen. Die Königsvasallen zerfallen nämlich in Barones majores und minores (Dialogus de Scaccario: »baronias scilicet majores seu minores«) 2 ). In der Magna Charta erhalten die Barones majores das Privileg, jeder für sich zum commune consilium, zur Lehenskurie des Königs geladen zu werden, die Barones minores hingegen im allgemeinen (in generali) durch die Sheriffs der Grafschaften, in denen sie, die Barones minores, wohnen, geladen (Art. 14). Trotz alledem blieb die Grenze zwischen beiden flüssig, bis dann der Ständestaat die ersteren zur Peerage gestaltete, die letzteren zur Ritterschaft machte und sie zu den Commons, dem dritten Stande, schlug. 2. Die Ritter (milites) standen unter den großen Baronen. In dieser Klasse stecken die unfreien Thane der Großen aus der angelsächsischen Zeit: die Ministerialen (der homo tainus im Gegensatz zu dem francus tainus der Domesdaybook. Siehe Vinogradoff, English Society a. a. 0 . 404 und 414 f. Auch Round, King's Serjeants a. a. 0 . 12 f.) In der Zeit Heinrichs III. sind sie mit den freien milites in eins verschmolzen ') D a ß der Ausdruck »Baron« im 11. und 12. Jahrhundert nicht bloB auf die t e n e n t e s in capite, die Kronvasallen, beschrankt war, zeigt Tait, Mediaeval Manchester and the beginnings of Lancashire 1904, p. 182 ff. 2 ) Der Ausdruck principes regni für die, welche dem Könige ratend zur Seite stehen, findet sich seit d e m 12. Jahrhundert in England nicht mehr, auch nicht in dem Sinne, d a ß sie die E r s t e n im Reiche seien, wie dies in Deutschland der Fall war (Ficker, V o m Reichsfürstenstand, I. Bd., IV. Abschn.). Umgekehrt hat der englische Baronenbegriff auf die frühe Verwendung dieses Ausdrucks im W e s t e n D e u t s c h l a n d s eingewirkt: Ficker a. a. O. I, 36. H a t s c h e k, Engl. Verfassungsgesehichtc.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

(§ 19)1). Das Recht legt den milites gewisse Pflichten auf, aber von einer Ritterschaft als Stand hören wir in dieser Periode wenig. In der Rechtspflege, bei Bildung von Jurygruppen werden sie verwendet. In der Zahl von 4 oder 12 treten sie nicht selten als Vertreter ihrer Grafschaften auf. Für bestimmte Prozeßarten (Eigentumsprozesse) können nur Ritter, nicht andere Freie, verwendet werden. Um eine Besitzfrage zu entscheiden, sind liberi homines als Geschworene gut genug, für das Verdikt über die Eigentumsfrage bedarf es der Ritter. Sie werden als besonders vertrauenswürdige Personen in der Administration und Justizverwaltung betrachtet, aber wir hören nichts von dem angelsächsischen, recht eigentümlichen Satze, daß ein f>egn mit seinem Eide sechs Gemeinfreie aufwiege. Wie wenig die Ritter als in sich geschlossener Stand angesehen werden, geht am besten aus der Tatsache hervor, daß wir in unserer Zeitperiode ebensowenig wie in der folgenden von einem Rechtssatz lesen, daß Rittergüter nur von Ritterbürtigen besessen werden können. Noch weniger hören wir von einem Satze, dem wir auf dem Kontinent begegnen, daß nur Ritter, Barone oder nur der Ritter ein gutsherrliches Gericht, eine Patrimonialgerichtsbarkeit, besitzen darf. Zu den Freien zählt natürlich auch der Klerus. Aber er ist kein besonderer Stand. Der hohe Klerus geht in der großen Baronie auf, der niedere im Stande der Freien, ohne besondere Standesprivilegien, ausgenommen das sog. beneficium cleri, das sich aber erst nach der Zeit des berühmten Streits zwischen Heinrich II. und Thomas Becket, also erst im 13. Jahrhundert, namentlich erst seit Heinrich III. zu entwickeln beginnt. Es besteht darin, daß, wenn ein Kleriker eines schweren Verbrechens angeklagt ist, das Urteil und die Strafe nur vom geistlichen Gericht vollzogen werden darf. Die Beamten des Bischofs kommen vor Gericht und nehmen den Angeklagten für das geistliche Gericht in Anspruch. In der Zeit zwischen Bracton und Britton wird es zur Pflicht des Richters, ex officio die Qualität des Angeklagten zu prüfen und ihn, wenn er wirklich als Kleriker befunden wird, an das Bischofsgericht auszuliefern. Wir sehen, es ist ein Standesprivileg, aber eines, das noch nicht einen eigenen Stand herauszubilden vermag. Später, da der Klerus als Stand neben den beiden anderen weltlichen Ständen der Peerage und den Commons sich fühlt, wird dies Standesprivileg von ') Zur Zeit der leges Edwardi (erste Hälfte des 12. Jahrhunderts) sind sie noch unfrei (siehe Leges Edwardi Confessoris § 21). Der »miles suus« des baro ist zweifellos unfrei. Er steht in der »Freibürgschaft« (in friborgo) seines Herrn, was Bracton zutreffend nicht bloß (wie Liebermann, Sachglossar »Ritter« 3) auf Verbürgung, sondern auch auf Zusammenleben im Haushalt (manupastus) bezieht (f. 124b). Auch im Frankreich des 12. Jahrhunderts, dessen Rechtsterminologie in dieser Zeit für englische Rechtsverhältnisse maßgebend ist, bezeichnet »miles noster« den unfreien Ritter; siehe Guilhermoz a. a. O. 345. Vielleicht sind auch die sog. »eigenen Ritter« der Dienstmannen in Süddeutschland eine passende Parallele. Über diese Zallinger, Ministeriales und Milites 1878, S. 5 ff. und Ficker, Vom Reichsfürstenstande II, 1, S. 225 f. Zur Zeit Brittons (1,181) ist keine Rede davon, daß »milites« im manupastus ihrer Herren sind. Morris, The Frankpledge System, 1900, p. 74.

§ 3.

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Die Ständegliederung.

Bedeutung. In unserer Periode geht der Klerus in den Freien auf. Dies besiegelt auch die Magna Charta im c. 22 : »Nullus clericus amercietur de laico tenemento suo, nisi secundum modum aliorum predictorum, et non secundum quantitatem beneficii sui ecclesiastici«. Also der Kleriker soll niemals an seinem geistlichen Benefizium, sondern nur an seinem weltlichen Vermögen oder, wenn er dem hohen Klerus angehört, an seiner Baronie, aber nur wie die alii predicti, und diese sind nach c. 20 und c. 21 die liberi homines und die comités und barones, büßen. 3. Die übrigen freien Leute. Es gibt Freie, die in keinem Lehensnexus stehen. Hierher gehören zunächst die Städter mit der ihnen eigentümlichen Form des Grundeigentums, der sog. burgage. Auf dem platten Lande sind es aber namentlich die Freien, deren Grundeigentum die Form der sog. socage 1 ) hat. Sie sind Personen, die ihren Grund und Boden zu freier Erbleihe besitzen und hierfür gewöhnlich einen Rekognitionszins bezahlen, der mitunter gering ist. Namentlich ist dieser in gewissen Kolonisationsstädten (siehe über diese §8, II) sehr niedrig 2 ). Es handelt sich hierbei um richtige »Gründerleihen« 3 ). Nun entsteht die Frage: Sind diese Leihen plötzlich im 12. und 13. Jahrhundert entstanden oder waren sie schon früher vorhanden ? Man kennt wohl die socmen aus der Domesdaybook, aber jeder Freie, der eine socage im oben bezeichneten Sinne innehat, hätte mit Verachtung — wie Maitland treffend sagt — das Ansinnen von sich gewiesen, sich als socman bezeichnen zu lassen. Denn im 13. Jahrhundert sind socmen Leute, die gegenüber den Gutsherrn nur in der Abhängigkeit von Immunitätsleuten stehen und ihre Stellung meist der Unterstützung an Viehinventar und Bodenbesitz seitens des Immunitätsherrn danken, ohne daß eine ausdrückliche urkundliche Vergebung von. Grund und Boden nachweisbar wäre (Vinogradoff, Villainage 198). Ihre Abhängigkeit ist nicht wirtschaftlicher Natur wie beim gutshörigen Bauer, sondern rein jurisdiktioneller Art. Sie besitzen ihren Grund und Boden zu hofrechtlicher Erbleihe und unterstehen dem Immunitätsgericht ihres Lords. Mitunter sind sie mit Ackerbaudiensten belastet, aber diese sind sehr geringfügig und jedenfalls gemessen. Überdies sind sie in ihrer Stellung regelmäßig auch ihrem Immunitätsherrn gegenüber durch die ordentlichen Gerichte des Reiches geschützt. Wir sehen, eine Kluft trennt im 13. Jahrhundert die Inhaber einer socage von den socmen. ') Pollock and Maitland, History 1,218, halten dafür, daß die burgage nur eine besondere Spezialität der socage ist. Desgleichen Vinogradoff, Growth p. 357. Die gegenteilige Meinung, wonach burgage eine besondere Besitzform neben der socage ist, vertritt H. Littleton, Treatise of Tenures, ed. 1841, II, S. 162. Sie wird auch durch Art. 37 der Magna Charta gestützt: Si aliquis teneat de nobis per feodi [irman, vel per sokagium, vel per burgagium. F ü r uns erledigt sich die Frage durch die Erkenntnis, daß es sich in beiden Fällen um freie Erbleihe handelt. s ) Beispiele bei Bateson, E. H. R. XV, 73 ff., 302 ff., 496 ff. 3 ) ü b e r den niedrigen Zins bei »Gründerleihen« in Deutschland siehe Rietschel in Ztschr. f. RG. (G. A.) X X I I (1901), S. 189 und Anhang über Freizinse (Erfurt). 4»

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

Und dennoch war es nicht immer so1). Grundlegende neue Forschungen 2 ), welche für Deutschland nachweisen, daß die freien Erbleihen des 12. und 13. Jahrhunderts auf die älteren Leiheformen (die precaria) des fränkischen Rechts zurückgehen, helfen uns auch für England den richtigen Zusammenhang erkennen. — In der Domesdaybook ist nämlich von einer Kluft zwischen den socmen und den liberi homines, die in freier Erbleihe Grund und Boden innehaben, keine Rede. Nicht bloß, daß quellenmäßig bezeugt ist, wie man freie Leute durch Vergewaltigung zu socmen herabdrückt 3 ). Die sochemanni sind in der Domesdaybook und wohl in angelsächsischer Zeit freie, selbst den Ackerbau bearbeitende Bauern, die ihr Bauerngut, das unter der Gutsherrschaft steht, nicht veräußern dürfen. (Liebermann, Sachglossar »socman« 1.) Aber es gibt auch liberi homines, die ihr Gut unter gleichen Verhältnissen nicht veräußern dürfen 4 ). Ferner gibt es sochemanni, die ohne jede Besitzabhängigkeit einfach bloß jurisdiktionell von einem Immunitätsherrn abhängen 6 ). Sie deswegen unfrei zu nennen, wäre unzulässig. Schließlich gibt es, namentlich im Süden, kleine Grundbesitzer, alodiarii'), die entweder vollständig frei veräußerliches Eigentum haben oder nur durch ein Vorkaufsrecht des Grundherrn beschränkt sind. Daneben kommen aber auch alodiarii vor, die nicht von dem Gutshof ihres Grundherrn allein oder mit ihrem Gut sich losmachen dürfen 7 ), und zwar auf einem und demselben Gutshof 8 ) alodiarii dieser und der erstgenannten Art. Ist es da allzukühn, einen Teil dieser südländischen alodiarii, die ihrem wirtschaftlichen Wesen nach den nordöstlichen sochemanni9) gleichkommen (Rhamm a. a. 0 . 689), als ') Das erkennen auch Pollock und Maitland I 2 , 394 ff., ohne aber einen Grund angeben zu können. 2 ) Insbes. S. Rietschel, Die Entstehung der freien Erbleihe, Ztschr. f. RG. (Germ. Abt.) XXII, S. 201 ff. und Derselbe, Landleihen, Hofrecht und Immunität, Mitt. des Inst. f. österr. Gesch. XXVII. Bd. ') 8. Rhamm a. a. 0- 682 f. und die von ihm dort zit. Stelle der Domesdaybook. 4 ) Siehe die Belege bei Maitland, Domesday a. a. O. p. 73 f. s ) Den Nachweis hierfür erbringt F. M. Stenton, Types of Manorial Structure in the Northern Danelaw (in Vinogradoff, Oxford Studies in Social and Legal History, Bd. II, 1910). •) Siehe Vinogradoff, English Society a. a. O. 411 — 413. ') Sehr bezeichnend D . B . I, 52b: Has hidas (nämlich 3%) tenuerunt VII alodiarij de episcopo nec poterant recedere alio vel ab illo. ") Siehe die von Vinogradoff a. a. O. zitierte Stelle des D. B. II, 397b: »In Widmundes tuna VI liberi homines . . . . de sexto qui vocatur Birctricus, nescit hundredum si potuit terram suam vendere vel non tempore Regis Eduardi sed testatur quod viderunt eum jurare quod non poterat dare vendere terram suain ab antecessore Ricardi.« ') Daß diese Erbleihe innehabenden Zinsleute so häufig im dänischen Nordosten vorkommen, erklärt sich daraus, daß hier die Streulage königlicher und grundherrlicher Domänen besonders charakteristisch ist, während im Süden das geschlossene Latifundium vorherrscht. Auch im Frankenreich entwickelte sich Zinsland in gewissen Gegenden unter ähnlichen Voraussetzungen, wo Königsgut viel-

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Die Standegliederung.

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Personen anzusehen, die ihr Gut zu freier E r b 1 e i h e besitzen, während ihre nordöstlichen Standesgenossen schon mit einem Fuß in der Hörigkeit stecken, da sie schon von dem Hofrecht und der Immunitätsgerichtsbarkeit 1 ) erfaßt sind ? Soweit die freie Erbleihe auf dem Lande. In der Stadt treffen wir Besitzer von »hagae«, Wohnstellen, welche vom Könige2) oder von einem Großen innegehabt werden, für welche ein Zins (gablum) zu zahlen ist, und welche mitunter vererblich sind3). Auch hier haben wir es mit freier Erbleihe zu tun, die zweifellos — den Beleg hierfür geben die alten angelsächsischen Urkunden — aus der Vitalleihe entstanden sind. Im 12. und 13. Jahrhundert finden wir neben der socage noch eine andere Form der Erbleihe, nämlich die Kategorie der sog. Eigentümer in »feodi firma« (in fee-farm). Auch sie sind Freie. Der Grund und Boden, den sie zu eigen haben, wird ihnen verliehen gegen bestimmte Renten und Abgaben und nicht, wie bei den Lehen, gegen Leistung von militärischen Diensten. Gegen die Inhaber einer socage, denen sie juristisch sehr nahe verwandt sind, heben sie sich dadurch ab, daß sie nicht A c k e r b a u fach in Streulage mit geistlichem sich befand, und wo freie Grundeigner innerhalb desselben ansässig wurden, welche »von ihrem Eigengut an die Kirche Traditionen vornahmen, wie sie auch Splisser vom Fiskalgut inne haben konnten.« Dopsch a. a. O. 177. 1 ) Der Einwand, den Rhamm a. a. O. 694 gegen die Auffassung der sochemanni, als jurisdiktioneil einem Privaten unterworfen, erhebt, daß nämlich nicht ein durchlaufender Grundsatz zu ersehen sei, weshalb ein Lord Gerichtsbarkeit über'ei n z e 1 n e Freie hat, über andere nicht, oder, um es präzise zu sagen, warum hier Gerichtszugehörigkeit ohne territoriales Substrat vorkommt, erledigt sich mit dem Hinweis auf die nordischen Rechtsverhältnisse, denen rein persönliche, nicht territorialisierte Herrschaftsbeziehungen eigentümlich sind. Ich erinnere nur an die Herrschaftsbefugnisse der isländischen Goden, die jeder territorialen Grundlage entbehren. Siehe v. Amira, Grundriß S. 154, Maurer, Vorlesungen über altnordische Rechtsgeschichte IV (1909), S. 217 f., 237 f., 250, 257. Mochten die einem Goden untergebenen noch so zerstreut wohnen, ein Teil seiner Dingleute muß ihm immer zum Alldinge folgen. Auch bei unseren sochemanni ist die Pflicht, als Gerichtshelfer zu fungieren, die hervorstechendste. Siehe Liebermann, Sachglossar »socman«1 und die dort zit. D. B.-Stelle: I, 193b. 2 ) Sehr instruktiv die Rechtsverhältnisse an den königl. hagae in Wallingford D. B. I, 56. Daselbst hatte der König Edward 276 hagae, die ein gablum (Rekognitionszins) zahlten. Unter Wilhelm fehlen 13, darunter die eines gewissen Nigellus »unam de Henrico per h a e r e d i t a t e m Soarding«, während eine andere vom Könige einem Münzer gegeben ist »quamdiu facit monetam«. Auch Große verleihen »hagae« zu Erbleihe, D. B. I, 30. In der Stadt Guildeford »altera domus est, quam tenet praepositus episcopi Bajocensis de Manerio Bronlei De hoc dicunt homines de comitatu quod non habet ibi a I i a m rectit u d i n e m , nisi quod quandam viduam cujus domus erat accepit praepositus villae.« s ) Siehe z. B. C. D. II, p. 150; III, p. 52, 213, 217 und Nr. 679. Insbes. interessant die Fälle, in denen früheres Isenland (einfache Prekarie oder Vitalleihe) umgewandelt wird in böcland (terra testamentalis für drei Leiber) und zwar an h a g a e in Städten.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

dienste zu leisten haben. Die Rente heißt firma 1 ). Seit Edward I. verschwindet jeder Unterschied zwischen fee-farm und socage, und es bleibt nur die letztere zurück. Der Unterschied war niemals im juristischen Wesen bedingt und für die Zeit fortschreitender Geldwirtschaft sinnlos. 4. Die villeins 2) oder die große Masse der Unfreien. In diese Kategorie hatte die Normanneneroberung alle Gutshörigen der ausgehenden angelsächsischen Zeit, mochten sie Freie oder Unfreie früher gewesen sein, gestürzt. Hier fand der f>eow, der angelsächsische Sklave, seinen Platz neben dem angelsächsischen ceorl, dem späteren geneat, hier wurden die gebüras, die Zinsbauern, untergebracht, ferner die Kötter und die bordarii (die Häusler). Alle diese Klassen waren jetzt nur villeins, d. h. unfreie Gutshörige. Freilich, mit diesen Unfreien hat es seine eigene Bewandtnis. Zunächst ist der villein jedermann gegenüber frei, nur seinem Gutsherrn gegenüber unfrei. Für seine Handlungen ist er strafrechtlich verantwortlich, und ordentliche Strafgerichte des Landes kümmern sich um den Unterschied, ob gutshörig oder nicht, wenig. In Zivilstreitigkeiten kann der Gutshörige sein Recht gegen jeden andern als seinen Gutsherrn verfolgen, und umgekehrt kann der Gutshörige vor den ordentlichen Gerichten selbst mittels der Grundbesitz- und Eigentumsklagen belangt werden, wenn nicht der Gutsherr eintritt und sagt: Dies ist mein Gutshöriger. Mit der Zeit schiebt sich eine •zweite Auffassung ein, welche allerdings die ursprünglich bloß relative Unfreiheit des Gutshörigen intensiver gestaltet. Der Gutsherr beginnt mit der Zeit das Eigentum seines Hörigen als sein eigenes Gut zu betrachten. Zwar gewinnt auf diese Weise der Gutshörige die Möglichkeit, außenstehenden Gläubigern durch die Einwendung zu begegnen, sein pfändbares Gut gehöre nicht ihm, aber andererseits sinkt er um so tiefer in das Hörigkeitsverhältnis. Klagen, Zivilklagen gegen den Gutsherrn, wenn von •dem Hörigen angebracht, werden a limine zurückgewiesen3) wenn der Gutsherr die exceptio villenagii erhebt. Des Gutshörigen Leib und Leben wird aber von dem Strafrecht des Landes auch dem Gutsherrn gegenüber geschützt. Freilich, bis hart an diese Grenze beginnt in späterer Zeit die Gewalt des Gutsherrn zu reichen. Wenn er ihnen nur nicht das Leben nimmt oder sie schwer verletzt! Im übrigen kann er mit ihnen tun und machen, was er will. Denn nun macht sich die Auffassung geltend, 1 ) Eine gesetzliche Grenze für die Höhe der Rente bestand nicht. Man mißverstand ein Gesetz (Statute of Gloucester), da man glaubte, die Rente dürfte höchstens 14 des jährlichen Ertrags ausmachen. Pollock and Maitland I, 274 Note. Jenes Gesetz (6 Bd. I c. 4) ist auch vielleicht der Hebel für den Übergang von socagium in »feodifirma« geworden. P. & M. I 2 , 293. 2 ) Siehe zu folgendem: Vinogradoff, Villeinage in England; Essays in Mediaeval History, 1892. Pollock and Maitland I, 395 ff. Vinogradoff, Growth of the Manor p. 343 ff. 3 ) Während noch in der angelsächsischen Zeit die Dorfbauern vom Staate den Polizeibefehl gegen Viehhehlerei auch zuungunsten der Gutsherrschaft erhalten, IV, Bg. 13,1. Siehe Liebermann, Sachglossar »Bauer« 8 b.

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Die Ständegliederung.

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daß sie auch mit ihrem Körper, nicht bloß mit ihrer Arbeitskraft dem Gutsherrn zugehören. Er kann sie verkaufen, wie man Arbeitsvieh verkauft, er kann ihnen selbst das Recht 1 ) verkaufen, sich vom Gutshof fernzuhalten und anderswo Arbeit zu suchen. Freilich gilt dies nur von den wirklich Unfreien, nicht von den Freien, die unfreie Grundstücke des Gutshofs innehaben. Aber mit der Zeit verwischt sich auch diese Grenze. Der Gutshörige hatte außer den ungemessenen Frondiensten für den Gutshof noch eine Reihe von Lasten zu tragen. Zunächst mußte er das sog. merchetum leisten, eine Abgabe bei Verheiratung seiner Tochter. Denn der Gutsherr verlor dadurch eine Arbeitskraft. In bemerkenswerter Verbindung damit erwähnen die Quellen auch eine Abgabe, welche dem Gutsherrn bei jeglichem Verkauf eines Kalbes oder einer Mähre zu zahlen war. Dem Gutsherrn steht das Recht auf relevium und heriot zu. Ersteres bedeutet die Abgabe, die der Gutsherr bei jedem Besitzwechsel einfordern konnte, letzteres die Abgabe (sog. Besthaupt!), die bei jedem Todesfall eines Gutshörigen von seinem Vermögen geleistet werden mußte 2 ). Der Gutsherr konnte nach seiner Willkür den Gutshörigen besteuern. Dienste als gutsherrlicher Beamter, als Gutsverwalter, Meier (reeve) konnten dem Gutshörigen auferlegt werden. Trotz dieser Fülle von Lasten, trotz dieser theoretischen Rechtlosigkeit war der Gutshörige faktisch von der Gewohnheit und Praxis des Gutshofs, der sog. manorial custom, gegenüber dem Gutsherrn geschützt. Er konnte sich seines Grundbesitzes ungestört erfreuen, die Forderungen des Gutshofes waren nur theoretisch ungemessen, faktisch durch das Herkommen bestimmt. Der Gutshörige konnte, durch den Brauch des Guts geschützt, mit Dritten Rechtsgeschäfte abschließen, kaufen und verkaufen, konnte doch »keine Urkunde machen«3). Ja selbst mit seinem Gutsherrn konnte er durch Rechtsgeschäft in Verbindung treten, trotzdem nominell alles Vermögen des Gutshörigen seinem Gutsherrn gehörte 4 ). In dem gutsherrlichen Patrimonialgericht (dem court leet oder manorial court) konnte er Besitzklagen und Eigentumsklagen gegen seinesgleichen erheben. Die Gutshörigen waren nach common law rechtlos, aber nach der consuetudo des Gutshofs, nach dem Hofbrauch, geschützt, auch in ihrer Position gegenüber dem Gutsherrn. Durch Rechtssatz besteht auch vielleicht schon seit dem 12. Jahrhundert, jedenfalls aber seit dem 13. Jahrhundert der Leihzwang für den Guts*) Denn dies besitzt der Hörige an und für sich nicht. Insbesondere darf er jetzt nicht, am sich den Frondiensten zu entziehen, auswandern und eine Schutzherrschaft aufsuchen. Siehe Liebermann, Sachglossar »Bauer« 10 d. *) Hierher gehört, wie im Text erwähnt, auch die Abgabe, merchet genannt, welche dem Gutsherrn für die Erlaubnis zur Verheiratung der gutshörigen Tochter ge zahlt werden mußte, und die legerwita, mit welcher (siehe schon leges Henrici 81, 3) der Gutshörige den unehelichen Beischlaf büßen mußte, den seine Tochter gestattete. s ) Liebermann, Sachglossar »Bauer« 11. 4 ) Nach späterem Recht allerdings nicht mehr. P. & M. I, 401.

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Der Feudalstaat.

herrn. »Bauerland muß Bauerland bleiben«1), d. h. der Gutsherr darf den Bauern nicht austreiben, solange dieser die richtige Fron leistet (Bracton I, 2). Eine wichtige Rolle spielen im Laufe der Zeit die Kennzeichen der Gutshörigkeit. Ungemessenheit der Dienste ist das nächste; daneben aber auch die Frage der Geburt, ferner die Frage, ob man eine der bekannten Abgaben leiste, merchetum oder heriot u. a. m. In letzter Linie ist es das Leisten von Ackerarbeit, welche die Gutshörigkeit andeutet. Neben den villeins finden sich in den Quellen des Mittelalters die sog. villein socmen. Dies ist eine Kategorie von Gutshörigen, die früher auf königlichen Domänengütern gesessen haben und später in Privathände gekommen sind. Manche von ihnen werden einst freie Erbpächter gewesen sein (s. oben). Aus ihrer früheren Zeit, da sie den Königsgerichten unterworfen waren, haben sie sich eine gewisse prozessuale Privilegierung erhalten, die auch nach ihrem Übergang in den gutsherrlichen Verband Privater anerkannt wird 2 ). Zwar die großen Besitzund Eigentumsklagen stehen ihnen gegen ihren Gutsherrn nicht zu, aber sie können beim Könige Rechtshilfe suchen, wenn der Gutsherr sie bedrängt. Ihr Hilfsmittel ist das sog. kleine writ of right oder das writ of monstraverunt. Für die übrigen villeins gab es außerhalb des gutsherrlichen Gerichts kein Heil, die villein socmen konnten an den König appellieren. Sie sind villeins infolge ihrer gutsbäuerlichen Dienste und ihrer Zugehörigkeit zum Gutshof, aber socmen, insofern sie eine Sondergerichtsbarkeit in Anspruch nehmen können, und diese Sondergerichtsbarkeit ist hier merkwürdiger-, aber erklärlicherweise*) die ordentliche Gerichtsbarkeit der Gerichte des Königs. Mit der Zeit verwischt sich auch hier der Unterschied: Auch die villein socmen wurden am Schlüsse des 14. Jahrhunderts nur als villeins angesehen.

§ 4. Der KQnig und sein Bat Literatur. A l l e n John, Inquiry into the rise and progress of the royal prerogative. London 1830, 2. Aufl. 1849. - v . A m i r a , Grundriß S. 143 ff. - B a r l e y Alfred, The succession to the English crown. London 1879. — C h a d w i c k , Studies on AngloSaxon Institutions, Cambridge 1905, p. 308—366. — G n e i s t , Engl. Verfassungsgeschichte § 2 u. 15. — H a l l H., The King's peace, im Antiquary X V I I I 1 8 5 ff. — K e m b l e , Die Sachsen in England (deutsch von Brandes) 1,110 ff.; II, 1 ff. —106,154 ff. — L e g g L . G. W., English Coronation Records. Westminster 1901. — L i e b e r m a n n , Sachglossar: »König«, »Königsdienst«, »Königsfriede«, »Königsschutz«, »Königswahl«, »Gesetz«. — M a c K e c h n i e , Magna Charta 1905, p. 275—301. — ') Brunner, Leihzwang in deutscher Agrargeschichte, S. 6, zitiert von Liebermann, Sachglossar »Bauer« 10 b. 2 ) Es erinnert ihre Stellung sehr an die fiscalini in Deutschland. Siehe dazu Waitz, D. VG. V 8 , S. 225 ff. 3 ) Auch im fränkischen Recht blieb die sog. hohe Gerichtsbarkeit dem Grafen auch über Fiskalinen nach der Veräußerung des Kronguts: siehe Dopsch a. a. O. S. 144.

§ 4. Der König und sein Rat.

57

M a i t l a n d , Constitutional History, p. 54—75. — M a s k e l l , Monumenta Ritualia ecclesiae Anglicanae. Oxford 1883, II. Bd. - P. & M. I 2 , 5 1 1 - 5 2 6 . R o u n d , The Kings Serjeants and Officers of State, 1911, ch. VI. — S c h ü c k i n g Walter, Der Regierungsantritt I. (1899), S. 176 ff. — S t u b b s , Constitutional History I 8 , p. 193 ff., 385 ff., 512 ff., 553 f., 601 ff. - T a y l o r , The Glory of royalty. London 1820. — V i n o g r a d o f f , Roman Law in Mediaeval Europe, 1909, p. 9 0 - 9 3 .

I. König und witan. 1.

Die Angelsachsen werden ursprünglich, wie die andern germanischen Volksstämme, neben dem Könige eine Landesgemeinde besessen haben. Darauf deutet der Ausdruck mae]>el hin, der in alter Zeit die Volksversammlung 1 ) ist und sich auch in der Poesie 2 ) in derselben Bedeutung vorfindet. In historischer Zeit finden wir nur eine Versammlung der Vornehmsten, der principes, des Landes. Diese Versammlung der Großen des Landes ist das witenagemöt oder der R a t der witan. Betreffs des Zusammentretens dieser Versammlung haben wir keine näheren Nachrichten. Ob sie ähnlich wie im fränkischen Reich zweimal des Jahres, März bzw. Mai und im Herbst zusammentraten oder mehrmals, können wir mit Bestimmtheit nicht angeben. Doch finden wir in einigen Urkunden den Herbst als den Zeitpunkt ihrer Ausstellung angegeben, woraus wir wohl entnehmen können, daß eine Herbstversammlung ebenfalls als regelmäßig zu betrachten ist. Allerdings werden außer den regelmäßigen Versammlungen wohl außergewöhnliche nach Bedarf zusammengetreten sein. Die Mitglieder der Versammlung waren die weisen Männer, die sapientes oder angelsächsisch die »witan«, außer dem Könige, der, zuweilen von seiner Frau und seinen Söhnen begleitet, hier auftritt. Dazu kommen die Bischöfe des Königreichs, die ealdormen der Grafschaften oder Provinzen und schließlich die ministri, das sind die T h a n e ; sie entsprechen, wie wir wissen, den antrustiones und vassi des fränkischen Königshofs. Die Zahl der ealdormen 3 ) wird in den älteren Zeiten größer gewesen sein als in den späteren, namentlich seit dem 10. Jahrhundert. Im Durchschnitt wird man wohl sagen müssen, daß die Zahl von 5, 6 oder 7 ealdormen nicht oft überschritten worden ist. Kommen noch dazu etwa 7 Bischöfe, 2 Erzbischöfe und etwa 15 Thane. Während die Zahl der ealdormen gegen Ausgang der angelsächsischen Herrschaft abnimmt, zeigt, entsprechend der zunehmenden Latifundienbildung, die Zahl der Thane am Ausgang des angelsächsischen Reiches eine bedeutende Zunahme gegenüber der Vergangenheit. Die Formen der Tätigkeit der witan sind R a t und Zustimmung 4 ). Die Art, in welcher verhandelt wurde, deutet Beda an (Historia ecclesiastica I I , 13), indem er dar>) Siehe Brunner, D. R. I 2 , S. 176. 2 ) Andr. 2194 (ed. Thorpe Analecta 1098) Beornes cömon maefelhegende . . . J 4 waes tö [>äm Dingstede {>eod gesamnod. *) Siehe darüber neuestens Chadwick a. a. O. S. 171. 4 ) Beides in den Quellen als synonym zu betrachten. Siehe Liebermann, Sachglossar »Gesetz« 15 d. Nicht beizupflichten ist daher v. Amira, wenn er Grundriß S. 147 die ags. Gesetzgebung ausschließlich Sache des Königs sein läßt.

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I. Abschnitt. Der Feudalstaat.

stellt, daß der König die witan jeden einzeln um seine Meinung gefragt und dann endgültig selbst entschieden hat. Natürlich wird dieses Verfahren gewechselt haben, je nachdem ein schwacher oder ein starker Monarch regierte. Unter einem JEthelred II. oder Edward dem Bekenner wird wohl die voluntas regis sehr gering gewesen sein. Zu den Hauptaufgaben der witan gehört zunächst die Gesetzgebung. Die Gesetze Wihtraeds, Ines, yElfreds »werden mit Rat und Zustimmung«, die vEthelstans, Edmunds, Eadgars »mit Rat der witan« erlassen. jEthelred und seine witan erlassen die Verordnungen zu Woodstock. Cnut hingegen erläßt seine Gesetze zu Winchester mit Rat der witan. Nicht bloß die weltliche sondern auch die geistliche Gesetzgebung fällt in die Kompetenz der witan, was bei der damaligen innigen Verbindung von Kirche und Staat wohl begreiflich ist. So ist die geistliche Gesetzgebung Ines, vElfreds, yEthelreds und Cnuts mit Rat der witan erlassen. Die Bischöfe besaßen übrigens innerhalb der Versammlung sowohl durch ihre Zahl als durch ihr Ansehen die Möglichkeit, ihren an und für sich schon gewichtigen Einfluß im kirchenfreundlichen Sinne geltend zu machen. Die Gesetze wurden den Grafschaften durch königliche missi gewöhnlich übermittelt (III vEthelstan 1), woran die spätere Entwicklung selbst der Plantagenets anknüpft. Eine der bedeutendsten Funktionen| der witan ist ihre Tätigkeit und Assistenz bei der Umwandlung von folcland in böcland. Wir haben oben dargetan, daß nach den Prinzipien des alten angelsächsischen Rechts Grundeigentum, das eigentlich durch das Recht der Sippe beschränkt war, umgewandelt werden konnte in Privateigentum des einzelnen, in böcland, daß aber diese Umwandlung nur durch einen Akt der Legislatur erfolgen konnte. Dies geht so weit, daß Eigentumsübertragungen nicht bloß durch die Urkunde bekräftigt wurden, sondern daß der Besitz der Urkunde eine Vermutung des Eigentums begründet. Urkunden werden gestohlen, zurückgehalten, gefälscht, nur um solche Vermutungen zu begründen. Die Ausstellung einer böc, die so ein Sonderrecht des Individuums gegenüber den andern Untertanen begründet, bedurfte deshalb eines legislativen Akts 1 ). Wenn A dem B Grundeigentum als Schenkung überlassen wollte, dann erscheint der König mit seinen witan und verwandelt dieses Grundeigentum zunächst in böcland, damit dann der Eigentümer das Recht habe, »tö gifanne and tö syllanne a>r daege and aefter daege, sibban of)e fremdan |>ier him leofost wiere«. Selbst wenn der König, trotzdem er der oberste Faktor bei der Schaffung von böcland war, sich selbst solches zuschreiben wollte, bedurfte er auch eines solchen legislativen Akts, und er war auch in der Folgezeit an die böc und die darin getroffene ausdrückliche Bestimmung gebunden, eben weil es sich um einen legislativen Akt handelte. Er konnte von diesen Bestimmungen nicht aus eigener Macht dispensieren. Der legislative Charakter der Schaffung von böcland wird'durch die Formel deutlich gekennzeichnet, die nicht bloß den Befehl des ') Siehe Vinogradoff, Growth 246 Anm. 21.

§ 4.

Der König und sein Rat.

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Königs, sondern auch die Zustimmung der witan ausdrücklich erwähnt. Sie lautet z. B. (Thorpe, Diplomatarium, p. 124): »Deshalb gebe ich . . . . mit Rat und Zustimmung (»mid gef>eahte, mid gef)afonge«) meiner Bischöfe und ealdormen . . . . und aller meiner ausgezeichneten Reichswitan . . . .« Dies deutet klar darauf hin, daß es sich nicht bloß, wie Stubbs u. a. bisher annahmen, um die Erreichung der Öffentlichkeit und Sicherheit durch die Zustimmung der witan handelte, sondern um einen konstitutiven Rechtsakt. Die witan hatten aber auch richterliche Funktionen; in dieser Eigenschaft waren sie entweder Gerichtshof letzter Instanz oder sie sprachen Recht zwischen Parteien, die nur der königlichen Gerichtsbarkeit unterworfen waren. Zivil- und Strafrechtsfälle kamen vor ihr Forum. So verurteilten z. B. die witan von Northumbria Wilfrid zu einer Freiheitsstrafe und zum Exil, dies schon im 7. Jahrhundert. Beispiele, in denen die witan die Beschuldigten zum Verlust ihrer Ländereien verurteilten und diese Ländereien dem Könige zuweisen, kommen auch nicht selten vor. Die Vorstellung von dieser Kriminalgerichtsbarkeit der witan hat sich im Volksbewußtsein derart befestigt, daß selbst noch in der Normannenzeit um 1124 der angelsächsische Chronist den Gerichtshof des Justiciars als »gewitene mot« bezeichnet. Außer den angeführten Funktionen haben die witan das Recht, den König in bezug auf die Auferlegung außergewöhnlicher Steuern zu beraten. Die Tributleistungen an die Dänen werden so z. B. 991 und später unter Zustimmung oder durch Beschluß der witan auferlegt. Aber nur außerordentliche Steuern kamen so in den Bereich der witan, die gewöhnlichen Abgaben an den König, das gafol und die Naturalleistungen, die zur Erhaltung des königlichen Hofstaates dienten, waren durch Gewohnheitsrecht vorgeschrieben. Ob die witan auch berufen waren, die ealdormen und den König zu wählen, ist neuestens sehr in Zweifel gezogen worden. Die-ältere Theorie (Kemble, Freeman und Stubbs) nimmt an, daß solche Wahl den witan zustand; neuestens ist diese Theorie von Chadwick angefochten worden. Betreffs der ealdormen führt Chadwick aus, daß das Zeugnis von Tacitus in bezug auf die Volkswahl der principes nicht wesentlich ausschlaggebend sei, da es ja nicht für alle germanischen Volksstämme gleichmäßige Geltung beanspruchen könne, und daß es sehr zweifelhaft sei, ob er von den politischen Einrichtungen der Engländer genauere Kenntnis gehabt hätte. Nach Chadwick ist der ealdorman bestellt und absetzbar vom Könige. So wird denn auch der ealdorman in Alfreds Zeiten als cyninges ealdorman bezeichnet, aber schon zu Ines Zeit wird er unter Umständen vom König seiner Gerichtsbarkeit entkleidet (Ine 36, 1). Neben diesen vom König bestellten ealdormen wird es auch erbliche ealdormen gegeben haben, Mitglieder der Königsfamilie, die als subreguli nach dem Tode ihrem königlichen Vater in der Herrschaft folgten, wenngleich sie selbst einem Oberkönig untergeordnet waren. Jedenfalls ist königliche Ernennung in der Zeit Cnuts vorherrschend. Seine Jarls waren entschieden Königsbeamte.

60

I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

Betreffs des Königs hingegen wird man 1 ) an der Wahl festhalten müssen. Die Quellen sprechen ausdrücklich von einer Wahl durch die Großen (geistliche und weltliche)2). Neben dem Wahlprinzip läuft konkurrent schon in früher Zeit8) das Erbrecht des Königsgeschlechts (sog. Geblütsrecht 4 ), das sich in der Zeit der Heptarchie zu einem wahren Erbrecht der einzelnen Königskinder auswächst; dies tritt namentlich in der öfteren Teilung des Reichs zutage, die Privatrechtserbfolge wird auf das Reich angewendet. Nach der Vereinigung der Heptarchie seit Ecgbert kommen Teilungen nur ausnahmsweise vor und unter ganz exzeptionellen Umständen. So wird yEthelstans Sohn Ecgbert 8 ) zu Lebzeiten seines Vaters König von Kent, von seinem Vater eingesetzt. Und Eadgarwird auf Verlangen der witan von Mercia König dieser Landschaft, die von Eadwig, seinem in Wessex regierenden Bruder, nichts wissen wollte. Aber in der Hauptsache folgt seit dem Ende der Heptarchie der jüngere Bruder dem älteren, und der Onkel schließt gewöhnlich als ältester Vatermage die Neffen (Söhne des letzten Throninhabers) aus. Wir haben also hier im Prinzip nur das Geblütsrecht anerkannt: die Wahl gebunden an das Königsgeschlecht, aber kein Erbrecht als Individualsukzession der einzelnen Nachkommen. Letzteres gilt zweifellos für das Privatvermögen des Königs, und hier kommt das sonst geltende Privatrecht zur Anwendung 4 ). Die Voraussetzung der Legitimität spielt für die Thronfolge bei den Angelsachsen keine Rolle, auch in der Folgezeit unter den Normannenkönigen nicht7), wenngleich die Kirche darauf gerichtete Versuche machte8). Die Vormundschaft für den minderjährigen König kommt entweder der Königin-Mutter") oder den Großen des Reiches zu10). Sie ist aber für gewöhnlich nicht nötig, da der älteste Vatermage M Gegen Chadwick a. a. O. •) Die Teilnahme des Volkes, wie sie die Quellen dann dort erwähnen, bezeichnet Liebermann, Sachglossar S. 557 (allerdings ohne Angabe von Gründen) als klerikale Fiktion. Wenn man einerseits erwägt, daß die Kirche in der fränkischdeutschen Rechtsentwicklung die Tendenz verfolgt, das beginnende Erbprinzip durch die Forderung der Volkswahl abzuschwächen (siehe Krüger, Grundsätze und Anschauungen bei den Erhebungen der deutschen Könige 911—1056, in Gierkes Untersuchungen, Heft 110 (1911) S. 9 ff.) und dann das unzweifelhaft zuverlässige Zeugnis über die Synode von Celchyth (787) (bei Haddan u. Stubbs III, 453) in Betracht zieht: »ut in ordinatione regum nullus permittat pravorum praevalere assensum: sed legitime reges a sacerdotibus et senioribus procreati. . .«, so wird man dem zustimmen. 5 ) Ähnlich in Frankreich. Brunner, D. RG. II, 29. 4 ) Gierke im Anhang zu oben zitierter Schrift von Krüger. ') Wohl zu unterscheiden von seinem gleichnamigen Neffen und König von Wessex. Siehe Oman, England befor the Conquest, 1910, p. 396. •) Siehe das Testament Alfreds, Chart. Sax. ed. Birch II, Nr. 553. ') Siehe Liebermann, Sachglossar »Bastard«. 8 ) Synode von 787 c. 12. Siehe Haddan und Stubbs III, p. 453. Vergleiche dazu für ähnliche frühfränkische u. a. Verhältnisse auf dem Kontinent v. Minnigerode, Ebenburt und Echtheit 1912 (Beyerles deutschrechtliche Beiträge V I I I , 1), S. 19ff. •) Malmesbury, G. R. I, 181 »ut ipsa potius sub ejus nomine imperitaret«. 10 ) Für Northumbria: Eddi Vita Wilfridi c. 60 (Berthfrithus) »secundus a rege* leitet auch die Versöhnungssynode, durch welche Wilfrith wieder rehabilitiert wird.

$ 4.

Der König und sein Rat.

61

König wird und dem unmündigen Königssohn vorgeht. Der kinderlose König kann seinem Reich ein Mitglied des König9geschlechts zum Erben einsetzen. Im Frankenreich war die Form dieser Vergabung von Todes wegen die Adoption 1 ). Ebenso bei den Angelsachsen. So heißt es, Edward der Bekenner habe Eadgar, den Schwiegersohn Edmunds II., adoptiert: »nutrivit pro filio, et quia heredem putabat eum facere, nominavit ,adeling'« (Leges Edwardi Confessoris 35, 1 b u. 1 c). 2.

Der König der Angelsachsen ist zwar nicht die Quelle des Rechts wie der spätere Normannenkönig, denn die Rechtspflege wird vorwiegend durch Volksgerichte besorgt, er ist aber der Beschützer und Wahrer des öffentlichen Friedens und aus diesem Gunde zu guter Gesetzgebung und zur Veränderung der schlechten verpflichtet 2 ). Er ist der oberste Kriegsführer, die Beamten des Reichs sind seine Beamten, die Sheriffs seine Verwalter, die Bischöfe und die ealdormen ebenfalls. Zu seinen Privilegien, zu seinen Funktionen gehört vor allem die Erhaltung des Volksfriedens und des Königsfriedens 3 ). In der durch historische Quelle bezeugten Zeit finden wir bereits den Dualismus von Volksfrieden und Königsfrieden, ein Zeichen für das langsame aber sichere Anwachsen der monarchischen Gewalt 4 ). Daß aber auch bei den Angelsachsen ursprünglich bloß der Volksfrieden vorgeherrscht hat, ergibt sich einmal aus der Tatsache, daß noch spät der Königschutz nur die höchste Art jener Klasse von Schutz ist, deren geringere Arten Kirche, Prälaten, Adel und Gemeinfreie verleihen können 6 ), sodann daß der gemeinrechtliche Schutz als Reflex des Landfriedens mit freierer Schutzbuße den Königsbeamten (Sheriff, Amtsperson) n i c h t zukommt 8 ), ein Zeichen, daß der Landfriede bestand, ehe noch Königsbeamte vorhanden waren. Seit dem 10. Jahrhundert ändert sich das Bild, der Friede, auch der Landfriede, wird vom König gewährleistet, Volksfrieden und Königsfrieden fließen ineinander. Ist schon der Königsfrieden in der Zeit des Dualismus von Königsfrieden und Volksfrieden der stärkere, weil er die Schöpfung des Starken, der Volksfrieden die Schöpfung des Schwachen ist (Sickel), so erlangt er seit der Däneninvasion insofern intensivere Bedeutung, als jetzt noch der sog. Handfrieden (handgrif») hinzukommt, d. i. der durch Bewegung der Hand des Friedenschützers oder durch seine mündlichen Befehle gewirkte Frieden, der (im Gegensatze zum Königsfrieden) nur vom Könige (nicht auch von seinen ») Brunner, D. RG. II, 25. ) Homilie Wulfstans 274, zit. bei Liebermann, Sachglossar »Gesetz« 16 c. Freilich hat nicht er ausschließlich die Gesetzesinitiative, sie kommt auch den Witan zu. Liebermann a. a. O. 15 d. 3 ) Siehe dazu namentlich Liebermann, Sachglossar »Frieden«, »Schutz«, •Königsfrieden«, »Handfrieden«. *) Siehe W. Sickel in den Mitteilungen des Instituts f. östl. Geschichtsforschung, Erg.-Bd. I, S. 37. ') Liebermann, Sachglossar »Königsschutz« 1 b A. •) Liebermann, Sachglossar »Schutz« 16. s

82

I. Abschnitt. Der Feudalstaat

Beamten) ausgeht und immer nur s t r a f r e c h t l i c h gebüßt werden kann. In der Normannenzeit ist die Monopolstellung des Königsfriedens vollendet: Jede Klage wegen Friedensbruches ist solche »de pace regia infracta«. Das Verhältnis zwischen König und Untertanen hat auch seit Alfred eine Wandlung erfahren. Es kommt in dem Untertanenverhältnis die besondere Abhängigkeit des Schutzbefohlenen von seinem Lord, dem hläford, dem mundbora, zum Ausdruck, die früher nur im Verhältnis zwischen König und seinen Beamten vorausgesetzte amicitia (Huld) dehnt sich auf alle Unterthanen aus 1 ). So fordert Edward der Ältere in seinen Gesetzen die witan zur Aufrechterhaltung des öffentlichen Fliedens mit folgenden Worten auf: »Die Untertanen sind dem Könige zur fidelitas, wie früher bloß die Beamten und Gefolgsleute, verpflichtet... Er fragte sie nun, wer sich zu dieser Besserung bekehren möchte und zu der Gefährtenschaft, wo er sei, gehören, und was er liebe, lieben, und was er meide, meiden wolle, sowohl zur See wie zu Lande« 2 ). Gab der König seinen Untertanen nunmehr seit ¿Elfred erhöhten Schutz, war das Abhängigkeitsverhältnis zwischen ihm und den Untertanen nun ein intensiveres geworden, so mußte es auf der andern Seite auch durch besondere Strafsanktionen geschützt werden. Und so finden wir denn auch bei vElfred schon das erste Strafgesetz gegen Hochverrat 3 ). Wenn jemand dem Leben des Königs nachstellt durch sich oder durch Beherbergung Verbannter oder der Mannen eines von ihnen, sei er des Verlustes seines Lebens und alles dessen, was er besitzt, schuldig. Der König hat außer seinen Regierungsattributen noch besondere Ehrenrechte und finanzielle Vorrechte, Königsdomäne ist von Staatsdomänen unterschieden 4 ), nicht aber Königsfinanzen von Staatsfinanzen. Zu den Ehrenrechten gehörte u. a. der rechtliche Vorzug, den die Königsthane genießen, das königliche Wergeid. Dasselbe betrug nach dem Mercier-Recht 7200 Schilling, nach dem Nordländer Recht 15 000 Trimessen; außerdem mußte sein Leben dem Volke in gleicher Höhe gebüßt werden, das war die cyneböt. Ein besonderes Vorrecht des Königs war auch die Weihe, die er durch die K r ö n u n g u n d S a l b u n g zum Könige erhielt. Es ist fraglich und wird wohl immer fraglich bleiben, ob die Salbung zum Könige dem alten Testament entnommen ist oder ob sie von den Briten entlehnt ist8), bei denen sie nach Gildas (Historia GIXX) vorgekommen ist. Die Wirkung der Krönungs- und Salbungszeremonie war in der damaligen Auffassung die der Verewigung jener geistigen 1 ) Über die analoge Entwicklung im fränkischen Recht Brunner, D. RG II, 58 u. 63 und Luchaire, Histoire des Institutions Monarchiques 1891, I, p. 56 f. s ) II Edward 1,1 s. Übersetzung von Liebermann I, 143. ') JElfred § 4, Liebermann I, 51. 4 ) Liebermann, Sachglossar »Königsdomäne« 4. Ähnlich vielleicht im fränkischen Reich. Siehe Dopsch a. a. O. 150. Doch nicht das übrige Vermögen; hier ist die Identifizierung von Staats- und Königsvermögen schon für das 9. Jahrhundert anzunehmen: Bedas (1,15) Worte: » p u b l i c a aedificia et privata« übersetzt der angelsächsische Dolmetsch: » C y n e l i c o getimbro and änlipie«. 5 ) Siehe dafür auch Brunner, D. RG. II, 19".

§ 4. Der König und sein Rai.

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Gaben in dem königlichen Haupte, um die das Volk bat. Doch ist keine Veranlassung für die Annahme, daß ein spiritueller Charakter oder ein besonders geistlicher oder kirchlicher Vorzug durch diese Zeremonie bewirkt werden sollte. Der beste Beleg dafür ist die Leichtigkeit, mit der gekrönte Häupter damals ihrer Königswürde beraubt werden konnten. Und noch eins: wären Krönung und Salbung damals wirklich danach angetan gewesen, den Charakter indelebilis eines Gehorsam gebietenden Königs zu schaffen, so wäre eins überflüssig gewesen, der Untertaneneid, der bei jeder Königskrönung vom Volk geleistet wurde, und die -Annahme dieses Untertaneneids durch den König. Diese Zeremonie ebenso wie die Erhebung auf den Königsstuhl durch die Großen 1 ) und die Überreichung der königl. Insignien 2 ) (einschließlich des Helms) ist jedenfalls älter als die Salbung. Diese hat bei den Angelsachsen keine staatsrechtliche Bedeutung. Das ergibt sich einmal aus der Tatsache, daß man ungekrönt und ungesalbt die Regierung antreten kann und erst viel später gekrönt wird 3 ), sodann aus dem Umstände, daß die Krönung durch den Erzbischof auch sonst bei festlichen Gelegenheiten, Versammlungen der Großen etc., stattfand und daß der Erzbischof d i e s e Krönung zur Strafe des Königs für eine Zeitlang aussetzen kann 4 ). Krönung und Salbung sind als Bestandteile des Regierungsantritts von der Kirche aufoktroyiert. In den Augen der Kirche waren sie wesentliche Voraussetzung für die Ausübung königl. Befugnisse 5 ), aber nach dem Staatsrecht der Angelsachsen keineswegs. Die Krönung erfolgte gewöhnlich zu Kingston a. d. Themse 6 ). Der Krönungseid, den der König leistet, lautet seit Eadgar's Zeit 7 ): »Im Namen der Dreieinigkeit. Drei Dinge verspreche ich dem christlichen Volk, meinen Untertanen. Erstens, daß ich der Kirche Gottes und dem gesamten christlichen Volk meines Reiches treuen Frieden halten will. Zweitens, daß ich allen Raub und alle Ungerechtigkeit gegen Männer aller Stände verbiete. Drittens, daß ich verspreche und mich verpflichte zu Gerechtigkeit und zu Gnade in allen Urteilen, wie der gerechte und gnadenreiche Gott in seiner immerwährenden Milde uns allen vergebe«. Bei seiner Wiedererhebung auf den königlichen Thron schwört yEthelred 1014 auch noch, dem Willen des Volkes immer gemäß zu handeln 8 ). Damit schafft er den Präzedenzfall für die Formel des mittelalterlichen Krönungseides. Als Korrelat des Das sog. »ahefan td cinestöle« siehe Chron. Sax. 795. Malm. G. R. I, p. 14 (§10). ») Wie in Frankreich: Brunner, D. RG. II, 21. s ) Dies berichtet Malmesbury, Gesta Regum lib. II, §160 von Eadgar: »illud constat, quod a sextodecimo aetatis anno, quo rex constitutus est, usque ad tricesimum sine regio insigni regnaverit. Tunc . . . . Bathoniae coronatus est.« ') Dunstans Memorials, ed. Stubbs, p. 112. ') jElfric, Homilie I, 212. •) Die Königin hat bei den Angelsachsen im 9. und 10. Jahrhundert weder Titel noch königlichen Sitz. Das Krönungsritual um 1000 erwähnt jedoch auch die Krönung der Königin (Stevenson in seiner Ausgabe des Asser p. 201 f.; Liebermann in Sachglossar »Königin«, S. 550). 7 ) Memorials of S. Dunstans § 155; übers, durch Liebermann I, p. 215. 8 ) Flor. Wigorn, anno 1014.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

Königseides leistete das Volk den Untertaneneid. Wir finden ihn zuerst in den Gesetzen Eadmunds, also auch schon nach derZeit, da das Königstum den bedeutsamen Wandel vom Volkskönigstum in das oberherrliche Königstum durchgemacht hat. So heißt es inden Gesetzen Eadmunds III. §1, also um 943—46 etwa: »Imprimis ut omnes iurent in nomine Domini, pro quo sanctum illud sanctum est, fidelitatem Eadmundo regi, sicut homo debet esse fidelis domino suo, sine omni controversia et seductione, in manifesto, in occulto, et in amando quod amabit, nolendo quod nolet«. Es hängt dies mit der oben erwähnten Erweiterung des Begriffs der königl. Huld zusammen. Freilich dieser Eid war nur geleistet unter der Bedingung, daß der König als Oberherr auch das halte, was er versprochen hatte. Der König hatte auch finanzielle Vorrechte, und diese bestanden in Ausstattung mit Grund und Boden. Es gehört dazu entweder sein Privateigentum, das königliche böcland, oder aber das Grundeigentum, das zur Ausstattung der königlichen Amtswürde diente, umfassend die königlichen Paläste und die königlichen Landgüter (die Königsdomäne, die unter besonderem Rechtsschutz steht 1 ). Dies letztere Eigentum, das zur Ausstattung der königlichen Würde diente, konnte ohne Zustimmung der Witan nicht veräußert werden. Außerdem gehörten zu den Einkünfterf des Königs das Recht auf gewisse Erträgnisse der Gerichte 8 ), das Recht auf strafgerichtlich verwirktes Grundeigentum, das Recht auf feorm, das ist auf die Beköstigung seiner Person und seiner Gefolgschaft auf königlichen Reisen, die Erträgnisse von dem, was das Meer als Wrack ans Ufer geworfen, von den gefundenen Schätzen der Minen und Salzwerke, Zollregal3) und Marktzölle4), der Anspruch auf heriot, das ist auf bestimmte Abgabe beim Todesfall eines Gefolgsmannes und anderes mehr. Das Münzrecht wird wohl erst seit der Zeit yEthelstans (II. /Eth. 14) Regal, jedenfalls nicht früher 6 ). Vor jener Zeit werden bloß die Erzbischöfe und der König dieses Recht geübt haben. yEthelred spricht deutlich den Regalcharakter der Münze aus (II /Eth.8,1). >) Liebermann, Sachglossar »Königsdomäne«. 2 ) Einschließlich des Begnadigungsrechts. 3 ) Siehe Liebermann, Sachglossar »Zollabgabe« 5 b. *) Bin Marktregal wird es in der Angelsachsenzeit noch nicht gegeben haben, sondern nur das Vorstadium eines solchen, das Vorrecht, Marktzölle zu erheben. Siehe über ahnliche Verhaltnisse im frankischen Reich Rietschel, Markt und Stadt 1897, S. 10 ff. Für ein angelsächsisches Marktregal tritt Kemble a. a. O. II, 61 f. ein, dem v. Inama-Sternegg in Pauls Grundriß III 2 , S. 41 und neuestens, wie es scheint, auch Liebermann, Sachglossar »Markt« 2 folgt. Die von Kemble angeführten Urkunden sprechen nur von Marktzöllen. Die einzige Urkunde, die auf ein Marktregal hindeuten könnte, C. D. II, Nr.280 ist eine Fälschung. Die von Kemble nicht angeführte Urkunde Thorpe Dipl. 137 stellt die königl. Herrschaftsrechte »o&öe on ceapstowe oööe on straete«, also die Marktgefalle und die auf Straßen erhobenen Zölle nebeneinander und deutet darauf hin, daß, ahnlich wie mitunter in Frankreich (Rietschel a. a. O. S. 18), das Marktzollregal auf das dem König an Straßen zustehende -ausschließliche Nutzungsrecht zurückgeht. (Siehe auch Maitland, Domesdaybook 195.) Die »Gesetze«, auf welche Liebermann verweist, und die eineil Markt als »königlich« bezeichnen, gehören der Normannenzeit an. 6 ) Keary Poole, Catalogue of E. Coins 1887, I. p. X X X I .

§ 4.

65

Der König und sein R a t .

II. König und curia regis. 1.

Der Normannenkönig ist ein feudalistischer König. Die Grundlage des Untertanenverhältnisses ist der Lehensvertrag, der nur unter der Voraussetzung von der einen Seite gehalten wird, daß er von der andern nicht verletzt wird 1 ), und nicht das Territorium 2 ), sondern der Lehnseid macht den Untertanen. Der König des Feudalstaates ist in gewisser Richtung durch seinen Lehnshof, die curia regis, beschränkt (so schon 1200 bezeugt, cf. Liebermann, Gesetze I, 6 3 5 h ~ k ) . Vielleicht dürfte hierbei die Vorstellung mitgewirkt haben, daß die curia regis die angelsächsischen »witan« fortsetze (Liebermann, Sachglossar »Adel« 29). Das Recht auf den Thron ist kein erbliches. Der Grundsatz ist vielmehr der, daß zwar die Krone einer bestimmten Dynastie eignet, daß aber die Gesamtheit der Lehnsvasallen, insbesondere die großen feudalen Herren in ihrer Gesamtheit als Vertreter der Nation ein Wahlrecht haben. Wilhelm der Eroberer nimmt wohl den Thron als Erbe Edwards des Bekenners in Anspruch, trotzdem bemüht er sich bald nach der Schlacht von Hastings, die Zustimmung seiner Witan zu finden. Auch seine Söhne haben keinen Erbtitel, vermöge dessen sie auf den Thron gelangen. Wilhelm Rufus schließt seinen Bruder Robert von der Thronfolge aus, aber dies kann er nur, nachdem er verschwenderische Versprechungen an die Großen des Reichs gemacht hat. Heinrich I. schließt Robert aus, aber auch er muß sich der zustimmenden Wahl eines Häufleins von Baronen vergewissern, den Krönungseid leisten wie iEthelred und durch eine Freiheitscharte die Gunst seiner Wähler erkaufen, ehe er gewählt wird. Diese Charte von 1100 beginnt mit den bezeichnenden W o r t e n : »Sciatis me Dei misericordia et c o m m u n i c o n s i l i o b a r o n u m totius regni Angliae ejusdem regni regem coronatum esse.« Nach dem Tode Heinrichs bemächtigte sich Stephan von Blois der Krone und schloß die rechtmäßige Erbin Heinrichs, die Kaiserin Mathilde, von der Erbfolge 3 ) aus. Auch dies konnte nur geschehen um den Preis großer Versprechungen bei seiner Krönung

. *) Über die Ordnung der conventiones als Grundlage des Rechtsverhältnisses zwischen König und Untertanen Rounds Mandeville 176. Beispiele: R. of Gloucester leistet nur bedingten Lehenseid. William Malmesbury, Hist. N. 541. Andere Beispiele bei Adams a . a . O . p. 189 f. Über analoge Auffassung in F r a n k r e i c h : Luchaire II, 42 f. 2 ) Die Bewohner von E x e t e r , deren Widerstand Stephan gebrochen, bitten ihn um Gnade (1136). Gesta Stephani, p. 2 7 : »Illos nam in regiam majestatem (d.i. der Sache Mathildens) jurasse nec nisi in fidelitatem domini sui a r m a moveri.« Ähnliche Nachsicht gewährt Heinrich I. 1102 den Mannen des Bellesme bei Arundel. Siehe R a m s a y , Foundations II, 355. Ähnliche Rechtsauffassung: Frankreich, Luchaire II, 26. 3 ) Daß diese weibliche Erbfolge nach damaligem Feudalrecht durch Vermittlung eines Ehemannes (by courtesy) möglich war, siehe Round, Mandeville, p. 33, Anmerkung.

H a t s c h e k , E n g l . Verfassungsgeschichte.

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I. Abschnitt. Der Feudalstaat.

namentlich an den Klerus1) und um den Preis einer Freiheitscharte, die 1136 erlassen wurde. Weil also das Geblütsrecht noch nicht in eine erbrechtlich Individualsukzession umgewandelt war, findet sich auch in England, wie im zeitgenössischen Frankreich 2 ), Deutschland 3 ), die designatio heredis bei Lebzeiten des Vaters. Wie wenig auch in der Folgezeit der Gedanke eines Erbkönigtums hervortritt, geht am besten daraus hervor, daß selbst noch Johann der Auffassung seiner rechtlichen Stellung begegnen konnte, daß er nicht einem erblichen Titel, sondern nur der Wahl der Barone seine Krone danke. Matthäus Parisiensis, ein Zeitgenosse, legt dementsprechend in den Mund des Erzbischofs von Canterbury eine Rede, die vor der Krönung Johanns gehalten sein soll. In dieser Rede heißt es4): »Noverit discretio vestra quod nullus praevia ratione alii succedere habet in regnum, nisi ab universitate regni unanimiter invocata Sancti Spiritus gratia electus, et secundum morum suorum eminentiam praeelectus . . . ut sie qui cunctos in regno supereminet strenuitate, omnibus praesit et potestate et regimine. Verum si quis ex Stirpe regis defuneti aliis praepolleret, pronius et promptius in electionem ejus est consentiendum.« Aus dieser Stelle geht deutlich hervor, daß niemand die Krone auf Grund eines Erbrechttitels fordern könne, daß Verwandtschaft mit dem letzten König wohl ein gewisses Vorzugsrecht einräume, aber auch nichts weiter, daß der eigentliche Titel zur Krone nur durch Wahl gewonnen werde. Ob Hubert Walter wirklich diese Rede gehalten hat, ist gleichgültig, genug, daß Matthäus Parisiensis sie ihm in den Mund legt, woraus deutlich hervorgeht, daß es wirklich die Auffassung der damaligen Zeit war. Es besteht also die Rechtsauffasusng der angelsächsischen Zeit weiter. — Daß auch die Normannen einen Erbrechtstitel nicht anerkennen konnten, am allerwenigsten einen Erbrechtstitel zugunsten des Erstgeborenen, darf nicht wundernehmen, da nicht einmal für das Lehnsrecht 5 ), geschweige denn für das in den ersten Rudimenten befindliche common law der Grundsatz der Primogenitur anerkannt war. Noch Glanvilla, am Ausgange des 12. Jahrhunderts, läßt in seinem Tractatus de legibus die Frage für Freisassengüter vollständig offen, während er sie für liegendes Gut, das zu militärischem Dienst verpflichtet, bejaht 8 ). — War somit die Lehnsnachfolge nicht durch die Primogeniturordnung gebunden, so konnte man dies um so weniger für die Thronfolge

Man vergleiche den Beginn der Oxforder Charta von 1136: »Ego Stephanus dei gratia assensu cleri et populi in regem Anglorum electus«. mit der Steigerung dieses Gedankens um 1141: Malmesbury, Gesta R. p. 746: Ventilata est hodierna die causa secreto coram majori parte cleri Angliae, ad cujus jus potissimum spectat prineipem eligere. *) Luchaire I, 78 Note. ») Waitz, D. VG. VI». 171 ff. •) Siehe Stubbs, Select Charters, S. 271. ®) Auch nicht im zeitgenössischen Frankreich Luchaire I, p. 67. «) P. & M. II», 268 f.

§ 4.

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Der König und sein Rat.

erwarten, die ja auch von der damaligen Zeit als Nachfolge in ein Lehnsgut aufgefaßt wurde 1 ). Heinrich III. kommt nach dem Tode seines Vaters Johann als Knabe von 9 Jahren auf den Thron. Nun tritt der Wendepunkt der Auffassung ein. Nun beginnen auch die Zeitgenossen die Monarchie als Erbmonarchie aufzufassen. Edward I. beginnt demnach auch seine Herrschaft vom Todestage seines Vaters zu datieren und nicht vom Tage der Krönung, wie es die früheren Monarchen getan hatten 2 ). Die nachfolgende Zeit bestärkt, wie wir sehen werden, diese Tendenz, denn durch 200 Jahre seit dem Regierungsantritt Heinrichs III. hat der englische König regelmäßig einen Leibeserben, den er dem Parlament bei Lebzeiten noch als Nachfolger präsentieren kann. Allerdings erhält sich auch noch in der Folgezeit der Grundsatz, daß dieser Erbe eben präsentiert werden muß (die alte designatio heredis), ehe er König wird. Auch der Normannenkönig muß 'gekrönt und gesalbt werden wie der König der Angelsachsen. Nun finden im Sinne erstarkter Klerikalisierung der Wahl Abweichungen statt. Schon das Krönungszeremoniell, das unter iEthelred üblich war, läßt durch die Voranstellung der Salbung gleich nach den Versprechungen des Königs und der Akklamation des Volkes diese Klerikalisierungstendenz hervortreten, ähnlich wie in der altfränkischen Krönungsformel 3 ). Aber gleich nach der Salbung folgen die Ubergabe der altgermanischen Throninsignien, Überreichung von Ring und Schwert, dann die Krönung, Überreichung des Zepters, Stabs und die Inthronisation. — Das stellt noch eine nicht allzu starke klerikalisierte Krönungsordnung dar, wenn man sie mit dem Pontifikale Ecgberts vergleicht, das in seiner Reihenfolge: Salbung — Zepter — galea wohl mit Recht als »Abklatsch der Zeremonien der Bischofsweihe: Salbung — Stab — Ring (Evangelium) — Mitra« bezeichnet worden ist 4 ). Nun nach den englischen Ordines dringen seit dein 12. Jahrhundert einerseits die Elemente der Bischofsweihe in das Krönungsritual (Anlegung der Spangen, des Mantels). Die Zeremonie erhält eine merkwürdige Ähnlichkeit mit der Bischofsweihe 6 ). Andrerseits dringen gleichzeitig auch Elemente des damaligen Ritterideals in das Krönungsritual: Anlegung der goldenen Sporen, Umgürtung mit dem Schwerte, wozu seit dem Liber Regalis des 14. JahrDeshalb findet sich (analog dem Privatrecht: P. u. M. II 2 , 309) damals das Beispruchsrecht des Thronerben bei wichtigen Staatsakten: z. B. 1172 (Versöhnung Heinrichs II. mit der Kirche, Diceto I, 351; Ben. of Peterborough I, 32) bei Abtretung von Castellen, B. of Peterb. I, 41, bei der königlichen Bestätigung der Wahl eines Erzbischofs, Gervase I, 318—321, bei Annahme der Provisionen von Oxford: B6mont, S. de Montfort 174. а ) Ebenso im zeitgenössischen Frankreich (Philipp III.). Siehe Schreuer S. 95 in der in nächster Note angeführten Schrift. *) Siehe Schreuer, Der rechtliche Grundgedanke der französischen Krönungsordnung, Weimar 1911, S. 18. 4 ) Schreuer a. a. O. S. 16. б ) Siehe Hope, »The King's Coronation Ornaments«: The Ancestor (1902), Nr. 1 u. 2, und Schreuer a. a. O. S. 18. 5*

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

hunderts der Ritterschild und die Oblation des Schwertes auf den Altar hinzutritt 1 ). Im Mittelpunkt der Krönungszeremonie steht aber jetzt die Salbung, welche nunmehr seit dem 12. Jahrhundert, ähnlich wie ii Deutschland schon seit dem 10. und in Frankreich seit dem 14. Jahr hundert 2 ), ein die Kreation durch das Volk resp. die Großen sakrd vollendender Akt ist. In dem Krönungsritual des 12. Jahrhunderls findet sich zum ersten Male3): »Unguantur manus istae de oleo sanctificato unde uncti sunt reges et prophetae et sicut unxit Samuel Davii in regem, u t s i s b e n e d i c t u s et constitutus rex in regno istc. super populum istum quem dominus deus tuus dedit tibi ad regendun et gubernandum 4 ).« Auch die Inthronisation, ehemals ein durchaus staatsrechtlicher Akt, das »ahefan tö eynestöle«, ist nunmehr durchaus klerikalisiert. Sie erfolgt nach dem Krönungsritual des 12. Jahrhunderts ausschließlich durch die Bischöfe5). Erst in'der folgenden Periode seit dem 14. Jahihundert drängen sich auch die Großen heran und beteiligen sich ai dem kirchlichen Akt der Inthronisation. Überreste der alten germanischen Auffassung der Krone uni Krönung sind trotzdem noch da und dort wahrzunehmen. Als Besitzergreifung des Reichs wird noch die Besitzergreifung des Staatsschatzes in Winchester aufgefaßt, weil sich darunter auch die Krone des Reichs befindet 8 ). Auch die sog. curiae coronatae7), das feierliche Tragei der Krone zu Ostern, Pfingsten und Weihnachten auf großen Versammlungen, worin mit Recht eine Demonstration des Besitzes an Krore und Reich erblickt wird8), findet sich noch bis in die Zeit Heinrichs II. Seit der Zeit verliert sie sich, da der Einfluß der Kirche steigt. Geschwunden ist jedenfalls die germanische Ubergabe der Throninsignien als ein weltlicher Akt der Thronnachfolge9). Will ein Könij zu Lebzeiten seinen Sohn als Nachfolger einsetzen, so bedarf es dtr kirchlichen Krönung. Das kommt deutlich in der Tatsache zum Auidruck, daß Heinrich II. selbst während des Konflikts mit der Kirch} M Round a. a. O. S. 347 ff. 2 ) Siehe über Deutschland und Frankreich Schreuer a. a. O. S. 86 ff. 3 ) Legg, English Coronation Records 1901, p. 32. ') Die Krönungsordnung jEthelreds (bei Legg a. a. O. S. 17) hat nur eine bideutungslose, den kirchlichen Charakter der Salbung hervorhebende Forme: »Christe perunge hunc regem in regimen unde unxisti sacerdotes, reges et prophetai. ac mártires, qui per fidem vicerunt regna . . . Tua sacratissima unetio super capit ejus defluat atque ad interiora descendat. et cordis illius intima penetret.« 6 ) Legg a. a. O. S. 36: »Coronatus autem osculetur episcopos. a quibus post ducatur honorifice ad regale solium choro cantante y m n u m . •) Ordericus Vitalis S. 783; noch Richard I. handelt so. Gervase of Canteibury I, 4, 5, 7. Diceto II, 6, 7. Hoveden III, 8. 7 ) Wie sie auch in Deutschland Waitz, D. VG. V I 2 , 228 und für Frankreioi Luchaire I, 73. 8 ) Siehe darüber Schreuer a. a. O. S. 59. 9 ) Wie sie noch bei den Angelsachsen üblich war, z. B. Malmesbury, Gesti Regum I, 510: »Excessit (Aethelbert) anno post aeeeptam fidem primo it vicésimo, Edbaldo filio regni tradens insignia.«

§ 4.

Der König und sein Rat.

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1170 seinen Sohn zum König krönen lassen möchte. Da Becket, der Erzbischof von Cknterbury, dem der Papst einige Jahre vorher 1 ) das Privileg verliehen hat, den Akt vorzunehmen, damals im Exil weilt, versucht der König sein Glück beim Erzbischof von York. Trotz des päpstlichen Verbots nimmt dieser die Krönung vor, wird aber zur Strafe dafür exkommuniziert. jEthelreds Krönungseid wird in ungefähr gleicher Form vom Eroberer und dann von Wilhelm Rufus geleistet. Heinrichs I. Krönungseid ist inhaltlich genau derselbe, den ^Ethelred geleistet hat. Richard, Johann, Heinrich III. leisten einen Krönungseid, der den allgemeinen Frieden zu bewahren verspricht, Ehrfurcht der Kirche und dem Klerus zusichert und gleiches Recht dem Volke und schließlich verspricht, alle üblen Gesetze und Gewohnheiten zu vernichten und die guten aufrechtzuerhalten. Eine Phrase kehrt in diesen Eiden gewöhnlich wieder. Es wird die Aufrechterhaltung der Gesetze versprochen »quas vulgus elegerit«— »les quiels la communauté de vostre roiaume aura esleu.« Vor der Krönung ist der König nur feudalrechtlicher Oberherr, dominus, nach der Krönung rex 2 ). Die Regentschaft führt für den minderjährigen oder abwesenden König die Königin-Mutter, mitunter ein Regentschaftsrat. Die Königin übt aber auch zuweilen bei Lebzeiten ihres Ehegemahls selbständige Regierungsbefugnisse aus, weshalb Heinrich II. seine Frau als Staatsgefangene behandeln mußte, um dies zu verhindern 3 ). Die B e f u g n i s s e d e s N o r m a n n e n k ö n i g s sind ungleich größer als die seiner angelsächsischen Vorgänger. Insbesondere erreicht die Ausbildung der königlichen Regalrechte, die, wie wir sahen, bei den Angelsachsen nur in Ansätzen vorhanden sind, jetzt ihre Vervollkommnung, namentlich seit die auch in der Domesday Book hervortretende Rechtsauffassung zutage tritt, daß der König der Eigentümer des gesamten Bodeneigentums sei, namentlich desjenigen, das von keinen Feudalherrn abhängig 4 ), und daß jedes Stück Bodens wenigstens im ersten Glied der lehensherrlichen Hierarchie vom Könige zu Lehen besessen wird. In bezug auf die Gesetzgebung ist der König keineswegs an die Zustimmung der curia regis gebunden, und auch die Zustimmung der curia regis zur neuen Steuerauflage ist nicht unbedingt nötig. Auch ist er nunmehr Quelle des Rechts und darum, wie schon Bracton im 13. Jahrhundert ausführt, vor den eigenen Gerichten nicht verantwortlich 5 ). Wenn der König das Recht bricht, dann gibt es nur ein Mittel, Siehe über diesen Vorfall und die Krönung von Heinrichs Sohn Legg a. a. O. 43 f. 2 ) Hardy, Arcliaeologia X V I I I , p. 110 und Round, Mandeville p. 70. 3 ) S. Ramsay, The Angevin Empire 210; über ähnliche Selbständigkeit der Königin in Frankreich zu der Zeit: Luchaire I, p. 147ff. ') Belege bei Liebermann, Sachglossar »König« S. 548. 6 ) Dieses ist allerdings schon eine Steigerung über den Standpunkt des Lehensrechtes hinaus, welches eine Verantwortlichkeit des Lehensherrn vor der eigenen Lehenskurie anerkannte. So Adams a. a. O. p. 94 ff. in berechtigter Abwehr der gegenteiligen Meinung von Pollock und Maitland. Die Vorschrift der Leges Henrici S

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I. Abschnitt.

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nämlich die Petition, daß er das Unrecht gut mache. Trotz dieser erhabenen Stellung, die der König einnimmt, ist er nicht über dem Recht, sondern unter dem Recht. Bracton sagt dies ausdrücklich de legibus Angliae I. 38 (Ed. Rolls Series): »Der König steht unter niemand, ausgenommen unter Gott und dem Recht. Der König macht das Recht, der König ist aber auch gebunden, dem Rechte zu gehorchen, wenngleich für den Fall, daß er es bricht, seine Strafe Gott überlassen werden muß.« Hierin scheint ein Widerspruch zu liegen: der König unter dem Recht, der König, der das Recht schafft: dann ist er eben nicht unter dem Recht. Wir müssen uns nun zur Lösung dieses Widerspruchs in die Zeit Bractons zurückdenken. Recht ist für ihn das Gewohnheitsrecht, daß der König allerdings durch Eröffnung neuer Rechtsmittel (brevia-writs) verändern kann, über das er sich aber nicht hinwegsetzen kann, weil es in der Hauptsache nicht von ihm, nicht einmal von Gott geschaffen, sondern durch gemeinschaftliche Übung und Gewohnheit gesetzt ist. 2.

Dem Normannenkönig steht beratend zur Seite seine Lehnskurie, die curia regis, das ward nun später das magnum consilium. Sie besteht aus den Lehnsvasallen des Königs, die unmittelbar von ihm ein Lehen haben, den tenentes in capite. Aber diese sind im damaligen England sehr zahlreich. Es waren dies nicht etwa wenige Herrscher und Eigentümer großer Provinzen, wie im zeitgenössischen Frankreich, sondern außer den großen Lehnsbaronen noch die zahlreichen Ritter, welche vielleicht bloß ein Rittergut zu Lehen vom König hatten. Es waren dies Männer, die durchaus nicht immer sehr reich und sehr machtvoll waren. Daß alle diese wirklich zur Lehnskurie des Königs gekommen wären, ist wegen ihrer großen Zahl unwahrscheinlich. Theoretisch bestand allerdings für den König das Recht 1 ), seine Vasallen zum Erscheinen in der curia zu zwingen, aber er wird darauf, daß sie alle vollzählig erschienen, nur selten Gewicht gelegt haben, da es ihm ja nur darauf ankam, die einflußreichsten und mächtigsten seiner Vasallen zu sehen und sie unter seinen Augen zu haben. Und die kleinen Vasallen werden sich auch nicht sonderlich um den Vorzug beworben haben, wirklich in der Lehnskurie zu erscheinen, denn in der damaligen Zeit wird wohl die Reise dahin nicht zu den Annehmlichkeiten gehört und der Aufenthalt daselbst jedenfalls eine Last bedeutet haben, der man gern auswich. Wir müssen uns also vor Augen halten, daß die Lehnskurie in der Zeit der Normannenkönige eine durchaus nicht in sich abgeschlossene Einheit auf feudaler Grundlage war und daß nicht genau gesagt werden kann, wer wirklich zur Lehnskurie erschien oder § 32, Ziffer 2, wonach der Mann über seinen Herrn (ligius) nicht als Urteilsfinder zu Gericht sitzen soll, bezieht sich nur auf das königliche Lokalgericht (Grafschaftsgericht), nicht auf die Lehenskurie. *) Aber nicht die Pflicht: analog im zeitgenössischen Frankreich: Luchaire I, 274. Für deutsche Territorien Below, Die landständische Verfassung in Jülich und Berg I, 69; sonst Waitz, D. VG. VI», 430 ff.

$ 4.

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geladen wurde. Erst zur Zeit der Magna Charta hören wir (Artikel 14), d a ß die großen Barone, die Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte, die Grafen und die barones majores jeder einzeln (sigillatim) durch Königsbriefe geladen wurden. Das übrige Gros der tenentes in capite wurde en masse durch die Sheriffs der Grafschaften, in denen sie wohnten, eingeladen 1 ). Auch sollten diese Einladungen mindestens 40 Tage vor dem Zusammentritt erfolgen, und es mußte die Einladung außer der Angabe des Ortes noch den Grund der Einladung enthalten. Die Magna Charta bezeichnet nach der Richtung hin nur eine Entwicklung, die schon in der Zeit Heinrichs II. erwähnt wird, nämlich die Unterscheidung zwischen barones majores und minores 2 ). Scharf wird diese Grenze natürlich nie zu ziehen gewesen sein, aber immerhin wird man sagen können, daß zu den barones majores diejenigen gehören, die in der Regel ihre Feudalabgaben direkt an den königlichen Schatz (exchequer) zahlten und nicht wie die kleineren durch den Sheriff; daß die mit einem großen Gefolge beim Lehnsherrn erscheinen, mit ihrem eigenen Banner, während die kleineren Barone im Aufgebot des Sheriffs mittun, daß sie für ihre Baronie beim Lehnsfall dem Könige ein relevium von 100 Pfund entrichten, während die die kleineren bloß 100 Schilling zahlen, u. a. m. Die Art, wie die Lehnskurie tagte, wird für die Zeit des Eroberers und seiner Söhne so gewesen sein, wie sie der sächsische Chronist bezeugt. Er sagt: (Chron. sax. 1087): »Dreimal trug er seine Krone jedes Jahr, so oft er in England war. Zu Ostern trug er sie zu Winchester, zu Pfingsten zuWestminster, und da waren um ihn alle herum die mächtigen Männer von England, die Erzbischöfe und Bischöfe, die Äbte und Grafen, die Thane und die Ritter.« Die curia regis wird den König beraten und zu den wichtigsten Staatsgeschäften auch zugestimmt haben. Aber beides war kaum mehr als bloße Formalität. Die Gesetzgebung war zunächst meist Sache des Königs. Allerdings gibt es einige wenige gesetzgeberische Akte, die mit Zustimmung und Rat der Großen ergangen sind. So ergeht z. B. jene Königsverordnung, welche die Bischöfe von den weltlichen Gerichten ausscheidet und ihnen eine eigene Gerichtsbarkeit zuerkennt, mit Rat der Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte und aller Vornehmen des Königreichs. Selbst Heinrich III. erwähnt diese Zustimmung nach dem Königssieg bei Evesham, also im Zeitpunkt der größten Demütigung der Parlamentspartei, bei der Erlassung des großen Statute vonMarlborough 1267. Es heißt darin, daß es erlassen sei, convocatis discretioribus regni tarn majoribus quam minoribus. Auch die zeitgenössischen Juristen dieser Periode Glanvilla und Bracton stellen den Satz auf, daß zum Erlassen neuer Gesetze die Zustimmung der Großen des Reichs nötig sei. Glanvilla liebäugelt zwar ein wenig mit dem Satze, der dem römischen Recht Es hängt diese Unterscheidung vielleicht mit der im Frankenreich bestehenden Unterscheidung, daß zum Heerbann die Senioren gehören, die übrigen durch die Grafen aufgeboten werden. Brunner, D. RG. II, 211 f. Die Lehenskurie geht wohl in ihrem Kern auf die Heeresversammlung zurück. *) Dialogus de scaccario II, X. D. (s. Oxfordedition 1902, p. 134).

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

entlehnt war: »sed et quod principi placuit legis habet vigorem.« Aber er verlangt das consilium procerum dennoch für jedes neue Gesetz. In seinem Tractus de legibus Angliae (Prologus) sagt er: »Leges namque Anglieanas, licet non scriptas, leges appellari non videtur absurdum (cum hoc ipsum lex fit ,quod principi placet, legis habet vigorem') e a s s c i l i c e t , q u a s s u p e r d u b i i s in c o n s i l i o d e f i n i e n d i s , procerum quidem consitio, et principis occidente authoritate, constat esse promulgatas.« Bracton geht einen Schritt weiter; er zitiert zwar den römischen Satz, aber er unterschiebt ihm eine neue Bedeutung. Das Recht hat den König gemacht, er regiert kraft dieses Rechts, und dieses Recht setzt seinen Willensschlüssen (placita principis) Schranken (Bracton a. a. 0 . I. 38). Zwischen Glanvilla und Bracton liegt aber das Wirken eines Simon von Montfort. Trotz der Ansicht dieser Theoretiker war die Praxiskeineswegs von der Anschauung durchdrungen : die wichtigsten Gesetze sind ohne Zustimmung der curia regis, des magnum consilium erlassen worden. Und dieses selbst in der ersten Regierungszeit Edwards I. und auch dann in der Folgezeit. Der Satz, daß die Zustimmung des Parlaments zur Gesetzgebung nötig war, kommt erst im Ständestaat, und zwar in der zweiten Hälfte desselben seit dem 14. Jahrhundert, genauer seit Edward III. auf. In derZeit der Normannenkönige wird ja die Zustimmung der curia regis erwähnt, sie ist aber nicht de jure notwendig. Schließlich war dieser Satz für die damalige Zeit auch kein großes Bedürfnis. Das Gewohnheitsrecht herrschte im großen und ganzen vor, und wollte der König eine Änderung in dem Gewohnheitsrecht eintreten lassen, so erließ er eben ein neues breve: dieses änderte das Recht ab, ohne daß deswegen viel Aufhebens gemacht worden wäre. Bracton selbst führt aus, daß der König neue brevia erlassen kann, neue Formeln für die Anstellung von Klagen. Eigentlich meint er, müßte solches neue writ die Zustimmung der Großen des Landes finden, namentlich wenn es sich um Grund und. Boden handelt, denn Grund und Boden ist der Gegenstand feudaler Gerichtsbarkeit. Dennoch wird die Zustimmung der Magnaten für gegeben erachtet, wenn sie nicht ausdrücklich der Erlassung des writs widersprechen. Erst mit der Zeit beginnen die Barone die Notwendigkeit einzusehen, daß dieser Gewalt des Königs, neue brevia zu erlassen, Schranken gesetzt werden müssen. Erst in Edwards I. Zeit finden wir den Grundsatz aufgestellt, daß neue writs nicht ohne Zustimmung des Parlaments erlassen werden dürften. Seit dem Statutum von WestVereinzelt wird auch hier der Grundsatz vertreten, daß Gesetze, die für die Zukunft binden sollen, nur mit Zustimmung der Großen zu erlassen waren. So sagt anläßlich eines praktischen Falles Chron. Mon. de Bello (Christ. Soc.) p. 66: »Nam abbas ratione usus praemeditata, regem Henricum pro libitu antiqua patriae jura mutare in diebus suis posse testificatus est, sed non nisi communi baronum regni consensu in posterum ratum fore.« Vielleicht läßt sich auch aus dieser Stelle schließen, daß die Gesetze zur Zeit der Normannenkönige nur für die Regierungszeit eines Monarchen galten. Jedenfalls aber war in der angelsächsischen Zeit dies nicht der Fall. v. Amira in Pauls Grundriß S. 97 1 . Siehe auch Liebermann, Sachglossar »Gesetz« 22 c.

§ 4.

Der König und sein Rat.

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minster (II) von 1285 wird die Zulassung neuer brevia nur auf Ausnahmefälle beschränkt, in der Regel aber in schwierigen und wichtigeren Fällen die Zustimmung des Parlaments verlangt 1 ). Ebensowenig wie es das Bedürfnis jener Zeit war, die neue Gesetzgebung nur unter Zustimmung des Parlaments zu erlassen, ebensowenig sah jene Zeit zunächst die Notwendigkeit der Zustimmung der curia regis und des magnum consilium zur Auferlegung von Steuern ein. Der König hatte ja in der ersten Hälfte unserer Periode alles, was er brauchte. Die Magna Charta hatte ihn zwar in bezug auf die Auferlegung neuer scutagia und auxilia an die Zustimmung des magnum consilium gebunden, aber die drei regelmäßigen Auxilien, nämlich die Feudalabgabe zur Auslösung des Königs, wenn er in Gefangenschaft war, bei Ritterschlagung seines Sohnes und bei Verheiratung seiner Tochter, durfte er ohne Zustimmung des magnum consilium beziehen (Artikel 12.). Der König hatte eine Menge feudalrechtlicher Gebühren lind Einkünfte, z. B. aus Vormundschaften bei Verheiratung der Töchter seiner Vasallen. Er hatte ansehnliche Einkünfte aus dem Betriebe der königlichen Rechtspflege, die einen guten Marktwert hatte. Die Städte mußten ihre Privilegien und Vorrechte um schweres Geld erkaufen. Hintergehung gegen das Königsgebot und Pardon für diese Umgehung mußte erkauft werden. Viel konnte der König als Eigenkirchenherr der Kirche abpressen. Der König hatte endlich das Recht, alle Insassen auf den königlichen Domänen nach Willkür mittels der tallagia zu besteuern, und dieser Besteuerung unterlagen die größeren Städte, London mit eingeschlossen, selbst nach der Magna Charta. Der König hatte schließlich eine Reihe alter und hergebrachter Zölle (antiquae et rectae consuetudines), die selbst die Magna Charta anerkannte und die von den Kaufleuten erhoben wurden. All dies füllte die königliche Tasche, ohne daß außergewöhnliche Feudalabgaben und andere Steuern vom König gefordert zu werden brauchten. Unter diesen Umständen konnte sich keine Theorie entwickeln, welche die Zustimmung des magnum consilium als notwendige Form der Steuergesetze verlangt hätte. Heinrich II. nimmt eine scutagium oder carucagium, ohne daß der Chronist erzählt, daß die Zustimmung seiner curia regis vorausgegangen wäre. Die lehnsrechtliche Theorie beschränkt sich nun darauf, zu verlangen, daß das, was von einem Lehnsvasallen außer den rechtlich gebotenen Feudalgaben verlangt werde, nur kraft des guten Willens geleistet wird. Die Zustimmung, die bei neuen Feudalabgaben verlangt wird, ist demnach wesentlich die Zustimmung eines einzelnen Steuerzahlers und nicht die einer Nationalversammlung. Die Bindung an eine Minorität und Majorität, welche als wesentliches Resultat einer Kollektivzustimmung durch eine Nationalversammlung angesehen werden könnte, war damals vom Standpunkt des Lehnsrechts aus nicht notwendig. Wenn demnach da und dort Opposition gegen eine Besteuerung auftritt, wie z. B. die Opposition Beckets im Siehe im nächsten Abschnitt § 14.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

Jahre 1163 und die Opposition Hughs, Bischofs von Lincoln 1198 1 ), so ist dies bloß Opposition des steuerzahlenden Individuums, nicht aber politische Opposition einer nationalen Versammlung. Freilich sollte sich das mit der Zeit ändern. Heinrich II. lernte von Frankreich die Besteuerung des beweglichen Vermögens 2 ). Im Jahre 1188 wird der Saladin-Zehnt erhoben, der der erste Versuch einer Besteuerung des beweglichen Vermögens ist. Heinrich erlangte damals von dem magnum consilium einen Zehnt zur Bewerkstelligung eines Kreuzzuges, daher der Name. Die Einschätzung in diesem Falle mußte erst geschaffen werden, und zwar durch Vereinbarung der Steuerzahler und der königlichen Beamten. Die Jury im Nachbärverbande war das geeignete Mittel, um diese Zustimmung herbeizuführen, und wurde auch von Heinrich II. verwendet. Ähnlich wurde im Jahre 1198 die Einschätzung zu einer Grundsteuer, die von dem Pflugland der carucata als Einheit der Pfluglandes erhoben wurde und die das ältere Danegeld ersetzen sollte, vorgenommen. In dieser Nachbarjury war aber das Prinzip der Repräsentation schon voll ausgebildet, wie wir das noch unten näher ausführen wollen. Besteuerung und Repräsentationsgedanken berührten sich also jetzt zum erstenmal, um dann eine dauernde Verschmelzung einzugehen in der Folge. Was anfangs im Grafschaftsgericht geschieht, vollzieht sich alsbald in der großen Nationalversammlung. Johann beruft am 7. November 1213 nach Oxford von jeder Grafschaft 4 legales homines ad consulendum nobiscum de negociis regni nostri« 3 ). Jedenfalls kommt nunmehr der Gedanke auf, daß, wenn man über neue Steuern, namentlich Steuern von beweglichem Vermögen mit den Grafschaftsangehörigen verhandeln will, man sie am besten in der Weise faßt, daß sie zu Hebegesprächen entweder in das Grafschaftsgericht oder in die große Nationalversammlung eingeladen werden 4 ). Aus dem Gedanken eines solchen Gesprächszwecks ist der Ausdruck »parliamentum « entstanden, den wir in der Zeit zwischen 1254 und 1265 bereits vorfinden. E r ersetzt um die Zeit den Ausdruck colloquium. Simon von Montfort stirbt für den Gedanken eines solchen parliamentum, das auch die Grafschaftsangehörigen und die Stadtbewohner zur Ergänzung der curia regis, des magnum consilium, hinzieht. Ein stärkerer Wille als Montfort wird, wie wir noch sehen werden, diesen Gedanken zur dauernden Wirklichkeit gestalten. Siehe aber dazu Round, E. H. R . VII, 304 ff., der nachweist, daß es Hugli nur darauf ankam, die Verpflichtung zur Leistung des Militärdienstes außerhalb der Grenzen Englands für das Kirchenvermögen zu negieren, der aber keineswegs im Sinne gehabt haben soll, politische Opposition gegen unzulässige Besteuerung zu erheben. *) Siehe darüber weiter unten. s ) Ob das Konsilium zu St. Albans aus demselben Jahre ähnlich eingerichtet war, muß nunmehr nach den Ausführungen Davis, E . H. R . X X , 290, bezweifelt werden. Siehe aber auch dazu Turner a. a. O. X X I , 298. *) Ähnlich im zeitgenössischen Frankreich: Luchaire I, 169 Anm. Formel für die Einberufung der Versammlung von Etampes 1147: »ut pariter eligerent, quod pariter tolerarent«.

| 5.

§ 5.

Die Zentralverwaltung.

Die

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Die englische Zentralverwaltung ist aus der Hofverwaltung des Königs herausgewachsen. Die Struktur dieser zeigt vier Entwicklungsphasen, die der allmählichen Konsolidation des Reiches entsprechen. 1. Bis zur Vereinigung der angelsächsischen Heptarchie unter Führung des Königreichs Wessex finden wir an den einzelnen Königshöfen nur einen Typus von eigentlichen Hofbeamten, der zu Verwaltungszwecken verwendet wurde 1 ). Er hat mehr den Charakter eines Guts*) Natürlich ist die königliche Hofhaltung viel umfassender. Sie u m f a ß t nicht nur die Mitglieder der königlichen Familie, sondern berührte Adel, Ealdormen, Thane, Gefolgsadel, Boten, Vögte, Beamte u. a. (Siehe Liebermann, Sachglossar »Königshof« S. 553.) Aber innerhalb derselben unterschied man zwischen dem intimen Zirkel (a secretis) und den Angehörigen des weiteren Zirkels, die nicht selten f ü r die Zwecke der Staatsverwaltung in die Provinz entsendet wurden. Ähnlich im Frankenreich, siehe Guilhermoz a . a . O . p. 112 f., Noten 24, 25 und angeblich nach fränkischem Vorbilde auch in Norwegen, siehe A. Bugge, Vesterlandenes Indflydelse paa Nordboernes ydre Kultur, 1905, p. 71 f. Dagegen hält Amira, Nordgerm. Obligationenrecht II, 30 angels. Vorbild f ü r Norwegen maßgebend. Dafür spricht, daß das nord. Wort hir}> ein Lehnwort aus dem Ags. ist. Siehe v. Schwerin, Gött. Gel. Anzeigen 1909, S. 821 und F r a n k Fischer, Die Lehnwörter des Altwestnordischen 1909 (Palaestra Nr. 85) S. 21.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

hofbeamten, denn die königlichen Domänen können bei der Kleinheit des Territoriums von der Umgebung des Königs selbst geleitet werden. Dieser einzige Hofbeamte ist der praefectus regis oder gerefa. So heißt es in den Gesetzen Ines 73 (Liebermann I, 121): »Wenn es (das Verbrechen des Entflohenen) ein (schon) eine Nacht alter Diebstahl ist, dann sollen die, die ihn (handhaft) gefaßt hatten, diese Schuld (der Unachtsamkeit) büßen, wie sie gegenüber dem König und seinem Amtmann (gerefa) ausmachen können«. Der König übte, wie wir sehen, die Gerichtsbarkeit gewöhnlich in Person aus (s. z. B. Gesetz vEthelberts von Kent c. 2). Der Amtmann unterstützt ihn hierbei, ist aber hauptsächlich als Gutsverwalter höchster Ordnung gemeint. Seine hauptsächlichsten Geschäfte sind fiskalischer Natur, mitunter aber wird er auch als Gesandter über See geschickt. So sandte der König Redfrid von Kent seinen Amtmann (praefectus) über See, um Theodor von Tharsus, den nachmaligen Erzbischof von Canterbury, nach England zu begleiten (Beda IV, 1). Aber auch als Militärbefehlshaber wird der Präfekt verwendet. (Historians of York Roll Series I, 51/52, 54, in dem Leben Wilfrids von Eddi und Beda V, 24.) In der späteren Zeit, gegen Ende des 8. Jahrhunderts, begegnen uns z. B. in Wessex zwei Präfekten (C. D. Nr. 158), unter Ecgbert sogar vier bis fünf (C. D. Nr. 1031, 1033, 1035—1037, 1039). Je mehr sich aber Wessex ausdehnt, desto weniger ist die Leitung der königlichen Domänen von der Zentrale aus möglich. Die Bedeutung des praefectus beginnt von dem Augenblick zu schwinden, und nach Einrichtung des Grafschaftssystems im 9. Jahrhundert wird das Amt des gerefa in die einzelnen Grafschaften verlegt, wo der königliche Beamte nun scirgerefa wird. Aber auch sonst ist die Lokalisation des gerefa nötig. Wir finden den gerefa als Vorsteher von Städten und Burgen. In den Quellen des 8. Jahrhunderts wird auch ein heahgerefa genannt. Er ist wahrscheinlich eine Nachahmung des karolingischen Markgrafen und findet sich meistens in jenen Grenzgebieten, die namentlich gegen die Dänen zu befestigen waren, also in Northumbrien 1 ). 2. Nach der Konsolidation der Heptarchie und später, namentlich unter yEthelstan, wird die königliche Hofverwaltung nach kontinentalem, insbesondere karolingischem Muster organisiert. Das kontinentale Vorbild ergab sich aus der Tatsache von selbst, daß England damals intimere Beziehungen zum Kontinent anknüpfte. Es beginnt die Politik der Alliancen auf dem Wege der Heiraten. Unter yEthelstan sind vier seiner Schwestern auf dem Kontinent verheiratet, und zwar an Otto den Großen, Hugo, den Vater Hugo Capets, Ludwig den Blinden, König der Provence, und Karl den Einfältigen, König von Westfrancien. Diesen intimeren Beziehungen mit dem Kontinent entsprach die Nachahmung kontinentaler Hofeinrichtungen in dieser Zeit, und so haben wir ') Larson a. a. O. p. 116.

§ 5.

Die Zentralverwallung.

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am Ausgang des 10. Jahrhunderts folgende drei Hofbeamte, die namentlich fränkischem Vorbild entsprechen, zu verzeichnen 1 ). a) Der hraegeljjegn oder cubicularius oder camerarius in den angelsächsischen Quellen genannte, ist wohl mit der Oberverwaltung des königlichen Vermögens und mit der unmittelbaren Anordnung des königlichen Haushalts betraut. In dieser Eigenschaft ist er der anerkannte Vorstand der vorhin (unter 1.) erwähnten königlichen Landvögte (cyninges tüngerefan). Die erste Erwähnung seiner finden wir in einer Urkunde aus der Zeit jElfreds um 892, wo er als thesaurarius auftritt (s. Kemble C. D. Nr. 320), unter Eadgar 963 »camerario meo, vocitato ^thelsige« (Birch C. S. Nr. 1221). Unter Eadred heißt er hraglfiegn. b) Der dapifer ist der Truchseß des fränkischen Reiches, er ist der Haushofmeister. Seine Hauptfunktion ist die Oberaufsicht über alles das, was zur Bedienung der königlichen Tafel gehört. Angelsächsisch heißt er disc{>egn. Einmal tritt er in den Quellen als major domus auf, bei Florentinus Wigornensis (um 1040). Doch hat er zweifellos nicht die große Bedeutung des fränkischen major domus, jedenfalls ist es auch hier sehr zweifelhaft, ob diese Würde mit einem bestimmten Amte verbunden war. Der König war im angelsächsischen Reich sein eigener major domus. c) Der Mundschenk, pincerna, hatte nicht nur seine persönlichen Dienste an der königlichen Tafel und die Aufsicht über die königlichen Keller zu führen, sondern wird auch andere Verwaltungsgeschäfte zu erledigen gehabt haben, die heute nicht festzustellen sind. Das Amt war mit Adeligen von der vornehmsten Geburt 2 ) besetzt, von dem größten 3 ) Einfluß und gehörte zu den höchsten Würden 4 ). d) Der horsfjegn, strator regis, entspricht dem fränkischen marescalcus, doch ist er bis in die Zeit Cnuts ein untergeordneter Hofbeamter. So glich die angelsächsische Hofhaltung im großen und ganzen der karolingischen, nur mit folgenden Unterschieden: Der König war sein eigener major domus, der angelsächsische Marschall war nur ein Hofbeamter niederer Ordnung und der fränkische comes palatii fehlte am angelsächsischen Hof. Eine königliche capella wird es wohl auch am angelsächsischen Hof gegeben haben 5 ), doch war sie noch keineswegs ') Am ausführlichsten findet sich die Hofhaltung eines angelsächsischen Königs in dem Testament Eadreds von 955 (Birch C. S. III, Nr. 912) beschrieben: »And selcan gesettan discpegne, and gesettan hrseglpene, and gesettan biriele hund eahtating mancusa goldis . . . . And selcan gesettan stigweard ( = Steward, seneschal).« 2 ) Siehe Asser c. 2 und den Kommentar von Stevenson dazu p. 163 f. 3 ) Wilhelm von Malmesbury, G. R. I, 156: »Erat ille pincerna regis, et p e r h o c ad persuadenda quae excogitasset accommodus.« 4 ) Er wird deshalb wohl nur bei festlichen Gelegenheiten den Schenkdienst selbst ausgeübt haben: Malmesbury a. a. O. (von demselben weiter erzählend): »Itaque cum forte die sollempni vinum p r o p i n a r e t . . . . « 5 ) Die Niederlegung von Privaturkunden im königlichen Archiv wird bezeichnet als »aet {jaes cinges haligdome« a. 997. Early Land Charters, p. 218, worauf Liebermann, Sachglossar »Archiv« l a verweist. Ebendort ein anderer Beleg aus dem Jahre 1053: »jubente rege, in ejus c a p e l l a . . . remansit«.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

zur königlichen Kanzlei geworden, wie wir noch weiter unten sehen werden. Außer diesen Hofbeamten sind eine Reihe von Thanen als Vermittler der Zentral- und Lokalverwaltung tätig. Die Hauptmasse der Verwaltung vollzieht sich eben, und das ist ja der Krebsschaden des angelsächsischen Reiches geworden, nicht in der Zentrale, sondern in den Grafschaften und Hundertschaften. 4. Die Däneninvasion bringt ein neues Hofamt auf, das ist der sog. steallere, der nur entfernt mit dem lateinischen stabularius zusammenhängt. Der dänische stallari hat im 13. Jahrhundert folgende Befugnisse: Er war Sprecher für den König bei feierlichen Anlässen, er handelte als oberster Richter in Streitigkeiten der Hofbediensteten, er versorgte ferner die königliche Hofhaltung mit Pferden und andern Transportmitteln für die königlichen Reisen. Man nimmt im allgemeinen an (s. Larson a. a. 0 . p. 150), daß auch zur Zeit Cnuts diese Aufgaben dem nordischen stallari oblagen1). In England scheint er bloß die Befugnis des obersten Armeekommandos gehabt zu haben. (Hist. Eliens. 216: yEsgarus quidam stallere, latine dux dicitur.) Die eigentlichen Obliegenheiten eines Stallmeisters hatte der uns schon aus der Zeit yElfreds bekannte strator regius oder horsjjegn zu besorgen. 5. Unter Edward dem Bekenner werden die angelsächsischen Hofämter normannisiert (s. Round, E. H. R. XIX, p. 90 f.). Der horsfjegn heißt nun Marschall. In der Domesday Book finden wir den Ausdruck stallre identisch mit dapifer, was dem normannischen seneschal entsprochen haben dürfte. Wir finden in der Domesday Book für die Zeit Edwards angegeben den chamberlain, das ist den angelsächsischen camerarius, und wir finden schließlich in einer Urkunde zum erstenmal einen chanceler mit Namen Rengebold (C. D. IV, 229). Wir kommen nun zu der Frage, hat es im angelsächsischen Reich eine Kanzlei nach fränkischem Muster gegeben ? Vor der Zeit Edwards des Bekenners wohl kaum. Dies hängt mit dem angelsächsischen Brauch zusammen, den Schreiber der Urkunde nicht im Urkundentexte zu nennen, und mit der Tatsache, daß die Königsurkunde bei den Angelsachsen vor der Privaturkunde keine besondere privilegierte Bedeutung hatte. Die Privaturkunde schließt die Königsurkunde in sich (Brunner, Z. Rechtsgeschichte a. a. 0 . 159; O. Redlich in dem weiter unten angeführten Werke S. 44). Das auf schriftlichem Wege von der Zentrale aus geleistete Verwaltungswerk, sofern charters (bec) oder brevia auszustellen waren, wurde teils von einem Hofbeamten, dem königlichen Priester (cynings preost), geleistet, der wohl eine Reihe von Klerikern unter sich hatte, meist aber wird wohl die Ausstellung solcher Urkunden nicht am königlichen Hof, sondern von Klerikern desjenigen Bezirks ausgestellt worden sein, wo das betreffende zu vergabende Grundstück *) Vielleicht kann diese Behauptung durch die Tatsache gestützt werden, daß altnord. stallari Lehnwort aus der angelsächsischen Sprache ist. Siehe Frank Fischer a. a. O. S. 51.

$ 5.

Die Zentralverwaltung.

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gelegen war 1 ). Diese fertigten den Entwurf der Urkunde an, der dann die offizielle Authentifikation durch den König, die Großen des Reiches und andere hervorragende Zeugen erhielt. So finden wir z. B. eine Urkunde Eadgars (aus 975) (C. D. Nr. 590), daß der König einem seiner Thane (ministro meo) eine Anzahl von Parzellen Grund und Bodens überträgt, und zum Schlüsse heißt es dann: »Acta est autem haec praefata donatio in celebri monasterio, quod dicitur Glestingaburuh, teste omni illa congregatione, sed et aliis multis nobilibus quorum nomina subposita esse videntur.« Mitunter geht aus der Urkunde selbst hervor, daß der Schreiber der Urkunde nicht am Hofe des Königs wohnte (s. Larson, p. 143, Anm. 35, der C. D. Nr. 95 als Beleg zitiert: Alda des Königs Gefährte (gefera ~ Gefolgsmann) schrieb dies. Siehe aber ferner C. D. Nr. 1166: »Ego Dunstanus abbas indignus cartulam, inde imperante domino meo rege Eadredo, composui, et propriis digitis meis perscripsi.« Dunstan war damals Abt von Gladstonbury, also jedenfalls nicht ein Hofbeamter des Königs. Siehe auch C. D. Nr. 534: »Ego Wulfsie episcopus hanc chartulam . . . . perscribere iussi.) Erst unter Edward dem Bekenner wird nach dem Vorbild der normannischen Herrschaft so etwas wie eine ständige Kanzlei eingerichtet worden sein. Als Beweis hierfür muß die Tatsache gelten 2 ), daß die Königsurkunden der normannischen Könige sehr häufig ganz im Stile der alten englischen Urkunden abgefaßt sind. Wo sich so ein ständiger Stil, der dann später vorbildlich wird, ausgebildet hat, muß man zweifellos Träger dieses Stils voraussetzen, welche wohl die alten angelsächsischen Schreiber in dem Bureau waren, das man damals unter Edward dem Bekenner als königliche Kanzlei ansah. Es wird wohl ohne Zweifel anzunehmen sein, daß Wilhelm der Eroberer eine Reihe dieser angelsächsischen Schreiber aus der Zeit Edwards des Bekenners in seine Kanzlei (capella) übernahm. Mit Wilhelm dem Eroberer ziehen vollends die normannischen Hofämter in die englische Verwaltung ein. Wir finden einen seneschal, auch comes palatii genannt, als obersten Hofbeamten, einen pincerna, einen constable und einen chamberlain. Für die Zeit Heinrichs I. gibt die constitutio domus regis (entstanden um 1135)3) außer den eben angeführten Hofämtern noch den Kanzler u. a. an. Mit der Zeit werden diese Haupthofämter erblich. Unter Heinrichs II. Regierung ist der Steward oder seneschal schon high steward und sein Amt erblich im Hause Leicester, das Amt des constables steht erblich den Nachkommen des Miles von Hereford, das des chamberlains in der Familie der Vere, und das Amt des pincerna in der Familie der Albini. Diese erblichen Ämter werden in Wirklichkeit aber seit Heinrich I. durch andere fortSiehe dazu Hall p. 177 und O. Redlich, Die Privaturkunden des Mittelalters 1911, S. 46 (in diesem Handbuch IV. Abtlg. III. Teil der Urkundenlehre). s ) Siehe Stevenson, E . H. R . XI, p. 731 ff. 8 ) Siehe Groß, Sources, p. 318.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

während tätige Beamte 1 ) ersetzt, deren Amt nicht erblich ist und in der ersten Hälfte unserer Periode käuflich ist. Auch das Amt des Kanzlers war damals für Lebenszeit verliehen und käuflich. Es ist dann unter Stephan wahrscheinlich, daß die neuen Ämter mit den Fähigsten besetzt wurden. Diese neuen drei Ämter, die in den Vordergrund treten, sind der justiciarius, dessen Amt nicht selten mit dem des Seneschalls verbunden 2 ) wurde an Stelle des letzteren 3 ), der thesaurarius an Stelle des chamberlains und der Marschall an Stelle des constables. Diese drei Ämter treten nunmehr in den Vordergrund. Zuerst nimmt unser Interesse der Justitiar in Anspruch. Anfangs unter Wilhelm dem Eroberer finden wir justiciarii als Stellvertreter in seiner Abwesenheit. Immer sind es zwei oder mehrere, die als justiciarii fungieren. Es ist wenigstens durch Forschungen für die Normandie 4 ) wahrscheinlich gemacht, daß sie schon damals auch als oberste Richter des Landes zu judizieren hatten, allerdings ob mit Ausschluß aller andern Hofbeamten, bleibt fraglich. Unter Wilhelm Rufus beginnt das Amt ständig zu werden und schließt die Leitung der gesamten Justiz- und Finanzverwaltung des Königreichs in sich. Unter diesem Monarchen ist es Ranulf Flambard, der dem Amte besondere Wichtigkeit verleiht. Er wird als placitator et totius regni exactor (s. Flor. Wig. um 1099 und 1100) bezeichnet, was auf eine Verbindung der richterlichen Funktion und der obersten Finanzleitung hindeutet. Unter Heinrich I. ist es Roger von Salisbury, der dieses Amt innehat, nachdem er zuvor Kanzler gewesen. Er ist aber der erste, der den Titel capitalis justiciarius führt. Aber noch immer läßt sich nicht sagen, daß er allein ausschließlich oberster Justitiar gewesen wäre, denn außer ihm werden um die gleiche Zeit noch andere Hofbeamte als justiciarii, sogar als capitales justiciarii bezeichnet. Erst in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts gibt es bloß einen capitalis justiciarius oder justiciarius Angliae, nämlich seit Heinrich II. Daß dieses Amt den alten Steward oder Seneschall ersetzte, ist nun natürlich. Wie in der Normandie wurde auch in England dieses letztere Amt erblich. Aber während die Normandie, wo der Herzog immer zu Hause war, mit einem solchen Erbamt in der obersten Verwaltungsstelle wohl auskommen konnte, mußte in dem viel größeren England, in dem der Monarch oft nicht im Lande war, ein Beamter aufkommen, der die wichtigen öffentlichen Geschäfte, den fortwährenden Wandel derselben *) Uber die ähnliche Entwicklung im zeitgenössischen Frankreich: Luchaire, Institutions monarchiques de la France I, p. 195. *) Neuestens vertritt Harcourt, a . a . O . p. 52 ff., die Ansicht, daß der justitiarius in keinem Zusammenhang mit der Hofhaltung des Königs gestanden habe. Diese Ansicht bezweifelt Round, a. a. O. p. 71. 3 ) Das Amt kam jedoch seit der Mitte des 13. Jahrhunderts, insbesondere seit Simon von Montfort wieder zu großen Ehren (vielleicht war französisches Vorbild maßgebend, trotzdem es in Frankreich damals schon längst in Vergessenheit geraten war) und wurde seit dem Ausgang des 14. Jahrhunderts in eine besondere Gerichtsbarkeit umgestaltet. Siehe über diese Entwicklung Harcourt, a. a. O., ch. IV—VI. 4 ) Siehe Haskins in E. H. R. 24 (1909), p. 213 ff.

§ 5.

81

Die ZentraJverwaltung.

aus der nächsten Nähe beobachten mußte. Auch trug sehr dazu bei die Scheu der Normannenkönige und der ersten Könige aus dem Hause Anjou gegen ein Erblichwerden der Gerichtsbarkeit. Dazu war der Justitiar, der vermöge seiner Qualität als Geistlicher keine Familienbande festigen konnte, wohl die geeignete Person. E r wurde so der Stellvertreter des Königs in allen seinen Funktionen; der Stellvertreter in seiner Abwesenheit, sein oberster Beamter, wenn er im Reiche weilte, sein Premier in der Staatsverwaltung. Unter Heinrich I I I . erreichte das Amt in Hubert de Burgh den Zenith. Um so tiefer ist sein Fall 1232, und seit der Zeit wird der Justitiar durch den Kanzler ersetzt, der in unserer Zeit, also bis zur zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts, gewissermaßen der oberste Kanzleidirektor des Reiches ist. Des Kanzlers Bedeutung tritt erst in der nächsten Periode in den Vordergrund, da er zum Haupt eines besonderen Gerichtshofes gemacht wird. Sie wird aber schon in unserer Periode dadurch vorbereitet, daß das früher lebenslängliche und käufliche Amt seit Heinrichs I I I . Selbstherrschaft (insbes. seit 1238) in ein nicht lebenslängliches, auf Gehalt (nicht auf Sportein allein) gewiesenes verwandelt wird 1 ). Ähnlich wie das Amt des justiciarius allmählich von seiner Zweiheit zur Einheit und zur Konsolidation seiner Befugnisse sich erhob, so wird es wohl mit dem Amt des Constables und Marschalls gewesen sein. Wahrscheinlich aus einem Kompromiß der Einrichtungen, die Wilhelm der Eroberer in England vorfand, wird der Marschall Edwards des Bekenners neben dem Constable Wilhelm des Eroberers erhalten worden sein mit ungefähr gleichen Funktionen. Aber es gab außer diesen beiden noch Träger von Ämtern gleichen Namens, ähnlich wie es mehrere Justitiare gab. Erst langsam wird durch eine Selektion aus den mehreren Constables ein High Constable, aus den mehreren Marschallen ein einziger Marschall. Der Constable hatte die Funktion eines obersten Quartiermeisters für die Armee und den Hof. Der thesaurarius 2 ) ersetzt mit der Zeit den Chamberlain, obgleich dieser als Finanzbeamter auch noch in der Normannenzeit auftritt. E r ist aber mehr oberster Rechnungsbeamter denn Schatzmeister; dieses Amt erfüllt bloß der thesaurarius. Dafür hat er aber bedeutende *) Dadurch wird namentlich die juristische Verantwortlichkeit angebahnt. Siehe L. B. Dibben in E . H. R . X X V I I (1912), p. 39 ff. s ) Der hordere der angels. Zeit ist ein niederer B e a m t e r , ein Gutsverwalter, der auf königlichen Domänen ebenso wie auf denen der Großen vorkommt. Alle diese Domänenverwalter unterstehen nicht dem hrä-lpegn. Die königliche Domänenverwaltung ist stark dezentralisiert. Mitunter sogar läßt sich lokale Selbständigkeit der königlichen Pfalzen, ähnlich wie in Frankreich der königlichen Domänen (siehe Dopsch a. a. O. 147 f.), annehmen. Unter Eadred gab es sogar in den verschiedenen Pfalzen angesetzte (gesettan) Kämmerer, Mundschenke, Truchsesse (discpegnas) und zwar mehrere in jeder Klasse. Siehe Eadreds Testament, Chart. Sax. I I I , Nr. 912. Daraus läßt sich natürlich keine negative Instanz g e g e n das fränkische Vorbild (in derZeit des Eadred zeitlich vorausgehenden iEthelstan) herleiten, wie dies Poole a. a. O. p. 24 f. tut. E r übersieht den technischen Ausdruck » g e s e t t a n « = angesetzte. Der von der Bischofskirche an der »plebs« angesetzte und vom Bischof abhängige Kleriker heißt »ceastersetna preost«, C. D. Nr. 1073. H a t s c h e k , E n g l . Verfassungsgeschichte.

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I. Abschnitt. Der Feudalstaat.

richterliche Funktionen unter dem justiciarius. All die genannten Beamten haben richterliche Funktionen, die sie in der curia regis, in dem exchequer, ausüben. Ihre richterliche Funktion erstreckt sich nicht bloß im allgemeinen auf die Rechtsuchenden, sondern auch auf Streitigkeiten und Delikte, welche sich innerhalb ihrer Verwaltungsbureaus ereignen. Neben den genannten Hofbeamten und ebenfalls zur königlichen Hofhaltung gehörig befindet sich die sog. dominica capella, von der vorläufig nur so viel bekannt ist, daß sie namentlich in der Zeit der ersten Normannenkriege außer Seelsorgefunktionen auch die einer gewissen administrativen 1 ) Tätigkeit hat (s. E. H. R. XIV, p. 423; Victoria County History of Hampshire I, 430, 536, und E. H. R. 24, p. 226). II. Die angelsächsische Zeit zeigt keine Zusammenfassung der obersten Hofbeamten in einen gemeinsamen Kronrat des Monarchen, wohl aber finden wir diesen gleich im Beginn der Normannenherrschaft. Wir finden nämlich in dieser Zeit schon eine aula regis oder curia regis, die allerdings mit dem magnum consilium eng verwachsen ist, aber doch da und dort deutlich wahrnehmbar sich von dem magnum consilium abhebt. Diese aula regis setzt sich zusammen aus dem Justiciarius, dem Kanzler, dem Thesaurarius, dem Lord Steward, dem Chamberlain, dem Earl, dem Marschall und dem Constable, auch aus andern Personen, welche der König ausdrücklich hierzu ernennt. In späterer Zeit kommen noch der Kontrolleur des königlichen Haushalts, ferner der Kanzler des scaccarium (Rechnungshofs), die obersten Reichsrichter und andere Beamte hinzu. Diese aula regis vereinigt in sich oberste richterliche, gesetzgeberische und verwaltende Funktionen. Dies ist natürlich, denn wie sich in dem König alle die genannten Funktionen um diese Zeit vereinigen, so mußte dies auch in seinen ausführenden Beamten sich wiederholen, welche die aula regis repräsentierten. Die Machtvollkommenheit war ebenso groß und undefinierbar wie die des Monarchen. Mit der Zeit entwickelt sich diese aula regis zu einer Reihe anderer oberster Zentralbehörden, oder richtiger, von ihr spalten sich eine Reihe oberster Zentralbehörden ab. Gründe hierzu sind in ihrer Zusammensetzung selbst gegeben. Vom ersten Beginn an hatten die einzelnen Beamten der aula regis bestimmte Funktionen zu erfüllen; wir wissen dies vom Constable, vom Marschall, vom Chamberlain, vom Justiciarius und andern. Alle Verwaltungs- und Gerichtsgeschäfte, die vor die aula regis kamen, mußten natürlich am Schlüsse dem König zur Endentscheidung vorgelegt werden, und umgekehrt wies der König die an ihn kommenden Sachen den einzelnen Beamten in der aula regis zu. So finden wir d e shalb, daß Fragen der Finanzverwaltung vom Könige gleich von Anfang an einer Abteilung der curia regis zugewiesen wurden. Diese Abteilung, ') Dies geht am besten aus der Tatsache hervor, daß sie nach der constitutio domus regis zwei Lastpferde zu ihrer Verfügung hat. Siehe Poole a. a. O. 96, 99.

§ 5.

83

Die Zentralverwaltung.

die mitunter als Gerichtshof im »scaccarium« tagte 1 ), war ein Ausschuß der aula regis, der sich mit Fragen der Finanzverwaltung zu befassen hatte, dann Rechtsstreitigkeiten, die sich auf die Erhebung der Einnahme bezogen, zu entscheiden hatte, schließlich auch mit einfachen Privatstreitigkeiten sich beschäftigte. Ansätze zu einem Schatzamt finden sich schon in angelsächsischer Zeit. In der Normannenzeit besteht ein thesaurus (königl. Schatzamt) zu W i n c h e s t e r , dem alsbald unter Heinrich I. ein Rechnungshof (scaccarium) zu W e s t rainster2) aufgesetzt und hinzugefügt wird. Bis zum Verlust 3 ) der kontinentalen Besitzungen Englands blieben thesaurus und scaccarium räumlich getrennt. Nur mußten die Akten zu jeder offiziellen Tagung des scaccarium (namentlich Ostern und Michaelis) von Winchester nach Westminster gebracht werden und dann arbeitete die recepta thesauri (unterer exchequer, scaccarium inferius Dialogus I, p. 61) neben dem eigentlichen scaccarium (scacc. superius Dialogus I, 66). Als Gerichtshof spaltet sich das scaccarium erst im 13. Jahrhundert vollständig ab (s. unten § 22, II). Von der Zeit Heinrichs II. bis in die ersten Regierungsjahre Edwards I. werden auch die andern obersten Gerichtshöfe des Reichs von der aula regis sich abgespalten haben, worüber noch unten (im § 22) zu handeln sein wird. Diese Abspaltung der richterlichen Behörden von der aula regis brachte schon eine gewisse Konzentration und Konsolidation in diese selbst hinein. Sie lernte sich ') So finden wir schon in einer Urkunde v o r 1118 einen königlichen Befehl: »Mando tibi ut facias plenum rectum abbate . . . . et nisi feceris b a r o n e s m e i d e s c a c c a r i o faciant fieri, ne audiam clamorem inde pro penuria recti«, zit. bei Poole a. a. O. p. 39 4 f. 2 ) Wieviel angelsächsische Organisation in dem scaccarium der Normannen enthalten, ist noch nicht sichergestellt. Neuerdings stellten Hughes, Crump und Johnson in ihrer Ausgabe des Dialogus, p. 13—42, die Theorie auf, daß das Schatzamt, der sog. fiscus, die Pachtgelder, welche der Sheriff zahlte, firma comitatus und die Art der Zahlung (in den ersten Jahren nach der Normanneneroberung) angelsächsischen Ursprungs, hingegen die Form der Rechnungslegung und die Einrichtung des scaccarium als Rechnungshof normannischen Ursprungs seien. Diese Theorie wird von Petit-Dutaillis, Studies, p. 45—51, sorgfältig untersucht und abgelehnt. Gegenüber der Auffassung von Madox, Gneist, Engl. Verwaltungsrecht I, 201 und Brunner, Schwurgerichte 150, welche die Entstehung des scaccarium in der Normandie für die ursprüngliche halten, sucht Poole a. a. O. ch. III die Entstehung auf englischem Boden zur Zeit der Normannenkönige und die spätere Verpflanzung der Einrichtung auf normannischen Boden zu erweisen. Für die herrschende Meinung läßt sich nunmehr geltend machen, daß bereits unter Heinrich I. das Vorhandensein eines scaccarium in der Normandie bezeugt ist, wodurch die Kluft zwischen der ersten Nennung der Einrichtung hüben und drüben (in England vor 1118, in der Normandie vor 1130) wesentlich kleiner geworden ist. Das Vorhandensein des scaccarium zur Zeit Heinrichs I. in der Normandie hat nun endgültig Round (E. H. R. XIV, p. 425) nachgewiesen gegenüber Stubbs, der Heinrich II. als Schöpfer annahm (I 2 , § 134). Eine von Round aufgeführte Urkunde aus der Zeit v o r 1130 zeigt dies: »Et ibi positus fuit Serlo in misericordia regis per Judicium baronum de scaccario quia excoluerat terram illam super saisinam Bernardi, quam ante placitum istud disrationaverat, per judicium episcopi Luxoviensis et Roberti de Haia et multorum aliorum ad s c a c c a r i u m.« 3 ) Siehe Round in »Antiquary« XVI (1887), p. 10 ff. 6*

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

im Gegensatz zu den ordentlichen Reichsgerichten bewegen, namentlich zur Zeit der Minderjährigkeit Heinrichs III. und in der Folgezeit1). Schon ihre Zusammensetzung weicht erheblich von der früheren Zeit ab. Während früher die großen Barone überwogen, treten sie jetzt gegenüber Rittern und Klerikern zurück 4 ). Richter und Barone des exchequer, also Berufsbeamte, spielen darin die Hauptrolle. Sie erhält jetzt auch einen besonderen Namen 3 ). Vermittlung zwischen König und widerspenstigen Baronen 4 ), Verhandlungen mit auswärtigen Staaten, Kontrolle des exchequer, Ausübung eigenkirchlicher Befugnisse des Herrschers, Kontrolle der reisenden Richter und der Reichsgerichte gehören in ihre Kompetenz. Der letztere Punkt bedarf namentlich der näheren Erklärung. Wenn die ordentlichen Gerichte nicht in der Lage waren, Recht zu geben, entweder weil ein zu mächtiger Großer einer armen Partei gegenüberstand, oder weil die Normen des common law nicht ausreichend waren, da konnte sich die beschwerte Partei an den König und seinen Rat wenden. Der König wird wahrscheinlich zunächst mit dem Justiciarius, später mit dem Kanzler sich über die betreffende Entscheidung unterhalten haben. Schließlich ist es der Kanzler allein, der diese Billigkeitsgerichtsbarkeit, übrigens ein Ausfluß der auch im Frankenreich bekannten Königsgerichtsbarkeit, zu üben hat. In der Zeit Johanns ist (P. u. M., History of E. Law I, 172 ff.) die königliche Kanzlei mit dieser wichtigen Befugnis jedenfalls ausgerüstet. Die Hofbeamten, welche man im scaccarium seit seiner Selbständigkeit nicht mehr nötig hat, stehen ihr zur Verfügung, insbesondere unterstehen ihr die große Menge von Klerikern, die früher die königliche Hofkapelle, offenbar nach fränkischem Muster6), gebildet haben. Ein besonderes Zeichen ihrer Bedeutung ist, daß die Kanzlei nun nicht mehr mit dem Hof herumwandert, sondern nunmehr eine fixen Amtssitz erhält. Die Kleriker, welche zum Bureau gehören, bewohnen immer besondere Häuser (Hall Studies, p.220). Aber immer bleibt noch in dieser Periode die Verbindung zwischen Kanzler und aula regis erhalten. Die aula regis, nun consilium regis, bedurfte seiner Hilfe, wenn es sich darum handelte, das große Siegel Vergebungsurkunden über Grund und Boden beizudrücken, oder wenn es galt, neue writs zur Eröffnung von Prozessen zu gewähren. Auch der König mußte ihn nach der Abschaffung des justiciarius capitalis') in allen wichtigen Verwaltungsangelegenheiten befragen. ') Siehe darüber und zum folgenden Baldwin a. a. O. p. 28 ff. Trotzdem will Poole durch eine kombinationsreiche, aber nicht genügend überzeugende Argumentation die Priorität England wahren. 2 ) Ähnlich im zeitgenössischen Frankreich Luchaire a. a. O. I, 203. *) Im Jahre 1217 begegnet der Ausdruck »familiare consilium«, daneben »secretum consilium« sehr oft technisch gekürzt: consilium regis oder bloß consilium. 4 ) Ähnlich im zeitgenössischen Frankreich: Luchaire a. a. O. I, 201. 6 ) Über dieses insbes.: Lüders im Archiv f. Urkundenforschung II, S. 1—78. •) Über eine ähnliche Konkurrenz zwischen Kanzler und Seneschall in Frankreich zu dieser Zeit: Luchaire a. a. O. 1, p. 192.

§ 6.

Die Lokalverwaltung unter den ags. Königen.

85

Wie die Abspaltung der common law-Gerichte von der curia regis in unserer Periode erfolgt, wird noch weiter unten ( § 2 2 ) zu zeigen sein. Sie verleiht dem R a t des Gerichtshofs des Königs (curia regis), wie wir eben sahen, eine erhöhte, weil konzentrierte Bedeutung. Auf der anderen Seite weitet sich das magnum consilium zum Parlament am Ausgang unserer Verfassungsperiode aus. Anfangs unterscheidet sich der ständige R a t , die aula regis, von dem magnum consilium gar nicht. Der König konnte jeden Staatsakt in seinem ständigen R a t der obersten Staatsbeamten oder aber in seiner großen Lehnskurie vollziehen. Mit der Zeit ändert sich das. Das magnum consilium wird um die »Commune« verstärkt, wird ein parliamentum, und nun beginnt sich natürlich von diesem der ständige R a t der obersten Staatsbeamten, das consilium regis, scharf abzuheben, ohne sich aber ganz von ihm zu sondern.

§ 6. Die Lokalverwaltnng anter den angelsächsischen Königen. Literatur. A d a m s H. in Essays in Anglo-Saxon law, Boston 1876, p. 1 ff. — v. A m i r a, Grundriß S. 71 ff. und S. 121 ff. - B r u n n e r , D. R G. I 2 u. 16. - C h a d w i c k , Studies 239—307. — C o r b e t t i n Transactions of the Royal Historical Society N. S. X I V , p. 187 ff. — H a t s c h e k , Die Selbstverwaltung in politischer und juristischer Bedeutung, 1896, S. 177 ff. — K e m b l e , Sachsen II, 1 0 6 - 2 3 0 . — L i e b e r m a n n , über die Leges Edwardi Confessoris, 1896, p. 73 ff. und Sachglossar »Genossenschaft, Grafschaft, Hundertschaft, Zehnerschaft«. — v. L u s c h i n i , Kultur der Gegenwart II, S. 220 ff. — M a i t l a n d , Domesdaybook a. a. O. passim u. bes. p. 451 — 457. — M a u r e r , Krit. V . - J . I, S. 75 ff. — P. u. M. P bk. II, ch. I I I . - R i e t s c h e 1 in der Zeitschrift f. R.-G. (Germ. Abteilung) X X V I I I , S. 342 ff. (Dazu v. S c h w e r i n , Ztschr. f. R.-G. X X I X , S. 261 ff.) R o u n d , Feudal England (Neudruck), 1909, p. 91 ff. — v. S c h w e r i n , Die altgermanische Hundertschaft, 1907 (in Gierkes U. z. D. R G., 90. Heft). Dazu R i e t s c h e l i n Ztschr. f. R G. (Germ. Abt.) X X X , S. 193 ff. - S t e e n s t r u p , Normannerne IV, p. 73 —94. — S t u b b s , Const. History I 2 ,. p. 88 —131. — V i n o g r a d o f f , Growth 138 ff. — Derselbe, English Society, 90 ff. — Für die Freibürgschaft: außer der oben angeführten Schrift von Liebermann besonders M o r r i s , The Frankpledge System, 1910 (Harvard Historical Studies X I V ) . — Für die Sippe: v. A m i r a , Grundriß S. 155 ff. S e e b o h m , Tribal Custom in Anglo-Saxon Law, 1902. Fr. R o e d e r , Die Familie bei den Angelsachsen, 1899 (in Morsbachs Studien zur engl. Philologie, IV).

I. A l l g e m e i n e

Entwicklung.

Die Besiedelung Englands durch die Angelsachsen wird wohl nach germanischer Art durch Genossenschaftsverbände erfolgt sein: zu oberst der S t a m m (mii'g])) und unter ihm die Hundertschaften, persönliche Verbände von 100 Kriegern. Von der mä'gj) (vElfrics Grammatik = tribus), die im Sinne von Stammesverband seit der angelsächsischen Besiedelung territoriale Bedeutung gewonnen hat, sind die ihr eingegliederten Sippen (ebenfalls mä>gj)e genannt) zu unterscheiden. Sie sind soziale Organisationen, die bis zum 10. Jahrhundert wichtige Rechtsfunktionen haben.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

So wird in dem Gesetze iEthelstans (II, § 2) die m&g{> verpflichtet, jedes landlose Mitglied bei einem Herrn (hläford) unterzubringen und »ihn für das ordentliche Gericht seßhaft zu machen« {»f»set mon beode öaere maegj>e, ctaet he hine to folcryhte gehamette«) 1 ) In den Gesetzen der Könige Hlothsere und Eadric (um 640—664) ist (§ 6) ausgesprochen, daß man dem vaterlosen Waisen aus dem Kreise der Vatersmagen einen willigen Schützer gebe, der ihm sein Vermögen wahre, bis er selbst zehn Winter alt sei. Nach Ine, § 38, müssen auch dem vaterlosen Waisen die Verwandten das Stammgut behüten, bis er volljährig ist. Alle diese Vorschriften schließen, um durchführbar zu sein, eine gewisse Organisation der mjegJ> in sich. Ihre Hauptfunktion ist aber bis in das 10. und 11. Jahrhundert die Kollektivverantwortlichkeit für jede Missetat ihres Mitglieds und ihr Anteil an dem Wergeid, der ihr für die Verletzung eines ihrer Glieder gezahlt wird. •— Sie sorgt, so gut sie es kann, für die Bewahrung des Friedens unter und gegenüber ihren Genossen, bis sie dann durch weltliche Gesetzgebung, die hier unter dem Einflüsse der Kirche steht, in ihrer Bedeutung zurückgedrängt wird, um durch Schutzgilden und Zwangsbürgschaft ersetzt zu werden. Die Hundertschaft, ursprünglich ein Personen verein von 100 Kriegern, wird seit dem 10. Jahrhundert ein Hundert-Hufenverband und dadurch Territorialbezirk. Ob dieses schon bis in Bedas Zeiten oder sogar noch viel früher, bis in die Zeit der ersten Besiedelung, zurückverfolgt werden kann 2 ), scheint sehr zweifelhaft. Wenn z. B. noch in •einer der Glossen des wohl vor dem 9. Jahrhundert, also mindestens ein halbes Jahrhundert vor der Zeit Eadgars, entstandenen Durhamer Rituals der lateinische Satz: »centurio qui C. milibus preest« angelsächsisch wiedergegeben wird: »hundrajj mon latwu se {>e hunteantigum cempum fore is«3) und in der wohl mindestens um 100 Jahre jüngeren 4 ) Interlinearglosse zum Matthäusevangelium (ebenfalls dem Norden, Northumbrien, angehörend 5 ), aber vielleicht an dieser Stelle gerade westsächsische Vorlagen kopierend) das lateinische »accessit ad eum centurio« angelsächsisch durch die Worte: »da geneahlcehte hym an hundredes ealdor« (ed. Kemble 8, 5) sich wiedergegeben findet, wird der Schluß vielleicht nicht abzulehnen sein, daß in der Zeit vom 9. zum 10. Jahrhundert das Amt des hundredes ealdor entstanden *) So wird von dem Ubersetzer der Bedaschen Kirchengeschichte: provincia occidentalium Saxonum, Buch III, 7 mit »seo mäg{> West-Seaxna« wiedergegeben. Siehe auch andere Belege bei Bosworth-Toller, Dictionary s. v. mä'gj). 2 ) Das ist die sog. Hufentheorie, der sich für England neuestens Corbett, Chadwick und Vinogradoff angeschlossen haben. Eine modifizierte Hufentheorie gibt Rietschel. Die letztere muß entschieden abgelehnt werden, da sie sich über die seit Beda und dessen angelsächsische Übersetzer geläufige Bedeutung: familia = hiw (htwisc) = h l d : also Hufe = Wirtschaftseinheit einer Familie hinwegsetzt. 3 ) ed. Stevenson (Surtees Society) p. 193. 4 ) Nämlich 9. Jahrh. »mon« statt »man«. Siehe Sievers, angelsächsische ß r a m m a t i k 2. Aufl., § 65. 6 ) Siehe Brandl, Gesch. der engl. Literatur I, 1115 f.

§ 6.

Die Lokalverwaltung unter den ags. Königen.

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ist und damit der Territorialbezirk, der dieser Amtsperson untersteht 1 ). Der von der herrschenden Meinung (Maitland, Round) für diese Umbildung zum Territorialbezirk angegebenen Grund ist die Däneninvasion und die damit verbundene Notwendigkeit, in den Höfen die für Heeres- und Besteuerungszwecke (Dänengeld) erforderliche Einheit (»ad waram et ad geldum«) zu finden. Unter dem territorialen Hufenhundert wird wohl aus gleichen Gründen der Zehn-Hufenverband entstanden sein, der in der Dorfschaft sein soziales Substrat findet. Freilich werden diese 100-Hiden- und 10-Hidenverbände im Lauf der Zeit da und dort bloße rechnerische Fiktionen geworden sein 2 ), ebenso wie ein Stadtviertel nicht notwendig stets der vierte Teil einer Stadt bleiben muß. Aber immer bleibt die Tatsache, daß ein großer Teil der Domesday - Hundertschaften auch rechnerisch die 100 Hidenzahl aufweist. Durch das Hereinbrechen des Feudalismus, durch das Einschieben der Gutshöfe in den Hundertschaftsverband wird die Hundertschaft als Verband von 100 Hufen für Fiskal- und Heereszwecke erhalten. Aber sie ist nicht mehr selbsttätig, sondern für sie besorgen die großen Gutsherren ihre ehemaligen Funktionen. Die Hundertschaft wird sehr häufig grundherrliche Immunität und dadurch ein bloßer Verwaltungsbezirk seit dem 10. Jahrhundert 3 ). Uber ihr tritt die Grafschaft als höherer Verwaltungsbezirk ein, um die Kräfte des Volks gegen die Feinde zusammenzufassen. Unter ihr verliert infolge der Verbreitung des Gutshofsystems die Dorfgenossenschaft ihre Bedeutung, wenngleich sie noch eine kleine untergeordnete Gerichtsfunktion zur Schlichtung gutsbäuerlicher Verhältnisse beibehält 4 ). In den Quellen findet sich schon seit dem Gesetze Ines der 10-Hidenverband, der die Dorfschaft als Steuerträger darstellt. Letztere bildet aber seit dem 10. Jahrhundert die soziale Grundlage für die Zehentschaft, welche die Funktionen der Sippe, die Verbürgung der Genossen, übernimmt, freilich vollwirksam erst wird, seitdem sie sich mit der Zwangsbürgschaft, der frithborh, der Verbürgung auf Gegenseitigkeit, verbindet, was jedenfalls seit 1087 erfolgt. Indem aber diese frithborh die allgemeine Form wird, wodurch öffentlich-rechtliche Pflichten erfüllt werden, bewirkt sie eine Neubelebung der alten Genossenverbände, die beinahe zu Verwaltungsbezirken degradiert waren, wie die Hundertschaft und Zehentschaft, *) Z. B. Eadgars Hundertschaftsverordnung §2, 4 u. 5. Siehe auch den interessanten Urkundenbeleg für das Fehlen der Hundertschaft im westsächsischen Cornwall im 8. Jahrhundert: Crawford Charters, ed. Napier & Stevenson, p. 43 f. 4 ) jElfric glossiert daher (Gl. 96) centurias mit »Getalu vel h e a p a s vel hundredu«. Diese in solchen Ausnahmefällen vorhandene Identifizierung Hundertschaft mit unbestimmten (vielleicht Hiden ? = ) Haufen (wobei getalu sehr an das in jElfreds Gesetzen genannte boldgetael erinnert, Liebermann 11,1. S. 26) ist der allein berechtigte Kern der sog. Mengentheorie, aber in dieser Gestalt etwas durchaus Selbstverständliches. Siehe auch Vinogradoff, E. Society, p. 100 ff. 3 ) Siehe z. B. III Edg. 7, 1. 4 ) Siehe Liebermann a. a. O. S. 78.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

oder nur Verwaltungsbezirk waren, wie die Grafschaft. Sie macht aus ihnen öffentliche Pflichtgenossenschaften. Das sind keine selbsttätigen, aktiven Genossenschaften wie die alten zur Zeit der Besiedelung, sondern Lastengemeinschaften, passive Verbände, aber immerhin Verbände. So die Grafschaft, so die Hundertschaft, so die Zehentschaft, welche ganz an Stelle der Dorfgenossenschaft in den Staatsorganismus tritt. Durch diese öffentlichen Pflichtgenossenschaften wird in England der Feudalismus überwunden. Sie allein bilden die Grundlage des vielgerühmten englischen Selfgovernment. Doch nun müssen wir diesen Umbildungsprozeß im einzelnen verfolgen. II. Die Grafschaft (sclr).

Der Ursprung der englischen Grafschaften läßt sich keineswegs auf eine einheitliche Formel zurückführen. Die Grafschaften der Denalagu und die Mercischen Grafschaften, ferner Sussex und Kent, schließlich die westsächsischen Grafschaften, bilden bezüglich der Entstehung je eine Gruppe für sich. Die Grafschaften der Denalagu und die mercischen Grafschaften werden unter dem Einfluß der Däneninvasion nach dem sog. Burgsystem organisiert 1 ). Die Dänen pflegten schon Verteidigungsburgen einzurichten und dachten, das sie umgebende platte Land in ein Abhängigkeitsverhältnis zur Burg zu bringen. Naturalleistungen mußten nach der Burg gebracht werden, Verteidigungskräfte für die Burg wurden aus der Umgebung des platten Landes gestellt2). Ganz in der gleichen Weise errichtete Edward der Ältere 3 ) und seine Schwester /Ethelfled, Beherrscherin von Mercien, Burgen, namentlich Gegenburgen gegen die dänischen, und die Umgebung des platten Landes bildet in dieser Gegend je eine Shire. In Kent und vielleicht auch in Sussex dienen königliche Gutshöfe ähnlichen Zwecken wie die oben angeführten Burgen. Um sie herum werden Distrikte des platten Landes angelegt4). Die westsächsischen Grafschaften hingegen verdanken ihr Entstehen der Tatsache, daß Wessex zum Teil aus alten Halbkönigreichen entstanden ist, und daß nach altem Wessexschen Staatsrecht es üblich war, das Reich unter mehrere Königssöhne aufzuteilen, welche nach Art von Halbkönigen unter der Oberhoheit eines älteren Bruders oder des Vaters standen. Dieses Wessexsche Grafschaftssystem erfuhr wohl seit der Zeit Edwards des Älteren insofern eine Änderung, als mehrere solcher Grafschaften ') Allerdings soll die definitive Territorialisierung der mercischen Grafschaften nicht vor dem Jahre 1000 stattgefunden haben. Siehe Taylor in Bristol and Gl. Arch. Society X X I (1898), p. 32 ff. *) Siehe dazu Steenstrup IV, § Daß diese Burgen (burh) nur eingezäunte Plätze oder mit Mauerwerk verteidigte Städte waren, also zum Schutze der Nachbarschaftsbevölkerung dienten, und mit den normannischen Burgen (motte), die eine Feudalform mit lehensuntergebener Besatzung voraussetzten, nichts zu tun hatten, weist jetzt gegenüber der alten Theorie von Clark überzeugend nach: E. S. Armitage, The Early Norman Castles of the British Isles, London 1912, ch. I—V. 3 ) Vielleicht auch schon .Alfred. Siehe Armitage a. a. O. p. 14 f. 4 ) Ein kontinentales Seitenstück hierzu wäre die fränkische curtis regia in ihrer Bedeutung neben »urbs«. Siehe Rübel, Die Franken, ihr Eroberungs- und Siedelungssystem in deutschen Volkslanden, 1904, S. 24 f.

§ 6.

Die Lokalverwaltung unter den ags. Königen.

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zu Earldoms zusammengelegt wurden. Die Zusammenlegung dürfte eine ähnliche Bedeutung für VVessex gehabt haben wie die karolingische Grafschaftsverfassung und die Einrichtung missatischer Sprengel, um das alta Stammherzogtum zu ersetzen, resp. ganz zu beseitigen. Auch die westsächsischen Ealdormen, die Vorsteher der alten Grafschaften, entsprechen Stammherzögen. Sie müssen der besseren und kraftvolleren Hand der Eorls seit dem 10. Jahrhundert weichen. Die Eorls sind schon in der Denalagu und in Mercien seit der dänischen Invasion Vorsteher der Grafschaften, die nach dem Burgsystem angelegt werden. Daß sie ihr Vorbild in den dänischen Jarls haben, ist bekannt. Diese dürften wohl auf fränkisches Vorbild zurückgehen 1 ). Bei der Zusammenlegung der alten westsächsischen Grafschaften wird der Gedanke eine Rolle gespielt haben, ein Earldom womöglich in einer Diözese zusammenzufassen 2 ). Nun steht aber fest, daß unter Edward dem Älteren eine Neueinteilung der Diözesen stattgefunden hat 3 ). Es ist nicht unwahrscheinlich, daß bei dieser Division von geistlichem Gut eine ähnliche Abtrennung und Ausstattung der Grafschaften stattgefunden hat, wie sie im zeitgenössischen Frankenreich zweifellos erfolgt ist 4 ). Die hier gegebene Erklärung für die Neuumlegung der westsächsischen Grafschaften seit Edward dem Älteren scheint plausibler als die von Chadwick versuchte Erklärung, wonach das Burgsystem auch auf Wessex ausgedehnt sein soll, derart jedoch, daß von der Gerichtsgewalt des Burgdistrikts die des Stadtbezirks gewissermassen durch eine Art von Subtraktion abgezogen worden sein soll5). Eins steht für alle Grafschaften Englands im 10. Jahrhundert fest, sie sind gleich den Kentischen Grafschaften nur staatliche Verwaltungsbezirke. Allerdings übte man auch eine gewisse Gerichtsbarkeit, aber die Hauptmasse der Streitigkeiten wurde in den Hundertschaftsgerichten erledigt 6 ). Dem Grafschaftsgericht präsidiert der Ealdorman und der Bischof. Später, als nämlich Wessex und mehrere Grafschaften unter ein Earldom fallen, tritt der Scirgerefa als Vorsitzender des Grafschaftsgerichts neben dem Bischof auf. Geistliche und weltliche Gerichtsbarkeit ist in der angelsächsischen Zeit nicht voneinander geschieden. Aufgabe des Bischofs ist insbesondere, den Gedanken der Milde zur Geltung zu bringen 7 ). Insbesondere steht ihm bei gewissen Delikten das Recht zu, die Art des Strafvollzuges zu bestimmen 8 ). Außer der Funktion der Daß die nordischen Jarls auf fränkischen Einfluß zurückzuführen sind, hat Alexander Bugge, Vesterlandenes Indflydelse paa Nordboernes ydre Kultur, Christiania 1905, S. 117 f., wahrscheinlich gemacht. J ) Je 2 Earldoms sind im Flächeninhalt mit 2 Diözesen zu identifizieren. Siehe darüber Chadwick a. a. O. p. 196. ") Siehe Hill, Engl. Dioceses 1905, p. 203 f. 4 ) Siehe Pöschl, Bischofsgut und Mensa I, S. 130 ff. ') Siehe dagegen auch Stevenson in E. H. R. X X I I I . S. 349. •) Darauf deutet insbesondere auch II Cnut. 17,1; 18. 7 ) Siehe Rintelen in: Hist. Aufsätze für Karl Zeumer a. a. O. S. 559. Siehe auch dazu Abos Erzählung der Leidensgeschichte des heiligen Edmund in Corolla S a u d i Eadmundi, ed. M. Hervey. London 1907, § X V I . 8 ) II Cnut. 56, 1: Liebermann, Sachglossar »Bischof« 9 1.

I. Abschnitt.

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Der Feudalstaat.

Grafschaftsversammlung als Gericht hat sie noch den Charakter einer Repräsentativversammlung mit den Befugnissen außerstreitiger Gerichtsbarkeit, z. B. Mitwirkung bei Vergabungen, sowie der Erklärung des in jeder Grafschaft verschiedenen Gewohnheitsrechts 1 ). Sonst aber ist die Grafschaft, wie wir sagten, im 10. Jahrhundert nur Verwaltungsbezirk wie der karolingische comitatus. III. Die Hundertschaft (hundred), Zehentschaft (teoj>ung) und „Freibürgschaft". Die Hundertschaft ist am Ausgange des 10. Jahrhunderts ein persönlicher Verband auf territorialer Grundlage, der zwar noch Spuren des alten genossenschaftlichen Zusammenhanges aufweist, dem aber durch die Herausbildung der großen Immunitätsbezirke der landrican die alte Selbständigkeit genommen ist. Geblieben ist ihm noch eine gewisse Rechtsprechung im Hundertschaftsgericht, auch dient er als Grundlage der Steuereinschätzung und Lastenverteilung (insbes. auch für die Aufbringung von Schiffen) und wird für Polizeizwecke verwendet. Es soll nämlich die Hundertschaft mit den Hundertschaftsvorstehern (hundredesman) und den Zehentschaftsvorstehern (teo|>ingmen) den Dieb verfolgen (Eadgar I, 2.). Im großen ganzen ist die Hundertschaft am Ende des 10. Jahrh u n d e r t s durch ihre Zurückdrängung seitens der großen Immunitätsbezirke mehr Verwaltungsbezirk als Genossenverband. Aber sie trägt im Gegensatz zu jenen Keime künftiger Entwicklung und Selbsttätigkeit in sich, die sie zum öffentlich-rechtlichen Kommunalverband in den folgenden Perioden machen. Wir werden sehen, wie die Hundertschaft, die sich wieder zum selbsttätigen Kommunalverband ausbildet, in das Grafschaftssystem eindringt und diesem den Stempel ihrer eigenen Qualität aufdrückt. Schon in unserer Periode deuten Spuren auf dieses Eindringen der Hundertschaft. Die sächsische Chronik des Jahres 1008 berichtet, daß je drei Hundertschaften ein Schiff und je zehn Hiden ein Boot (sceg|)) auf königl. Gebot hin (»bebead se cyng«) ausrüsten sollten 2 ). Aus einer gleichzeitigen Urkunde erfahren wir aber, daß Schiffe ganzer Grafschaften geschenkt wurden, um ihre Bürde zu erleichtern 3 ). Es liegt nun der Gedanke nahe, daß die Ausrüstungslast eine Grafschaftslast war, die nach Hundertschaften aufgebracht wurde. Die Zehentschaft (teof>ung) ist eine Polizeiorganisation 4 ), zum Unterschiede von dem alten 10-Hufenverband, der wohl als Basis der *) Siehe Vinogradoff, Engl. Society p. 91 f. ) Die Chronik sagt allerdings nur: »Her bebead se cyng J>aet man sceolde ofer eall Angelcynn scipa feostlice wircean. faet is J>onne (of prym hund hidum) of hidan aenne scegö.« Der Emendation eines »scip« vor dem »and« steht nur im Wege (siehe Plummers ed. II, 185), daß der »scegf« nur Vao eines Schiffes sein soll. Aber die Tatsache, daß je »drei Hundertschaften« ein Schiff aufbringen, wird noch durch Urkunden bewiesen. Siehe diese insbes.: C. D. Nr. 514, zitiert bei Plummer a. a. O. 3 ) Siehe die Urkunde (Testament des Erzbischofs jElfric) C. D. Nr. 716. *) Z. B. VI, As. 4, II Cn. 20. 2

§ 6.

Die Lokalverwaltung unter den ags. Königen.

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Besteuerung, aber auch für die Zwecke der Eideshilfe 1 ) dient. Sie ist zunächst kein Genossenverband, wie die Hundertschaft war. Nur die Dorfschaft, ihre soziale Grundlage, ist ein solcher. Das ändert sich mit Beginn der Normannenzeit, als die Freipflege (frankpledge) mit ihm verknüpft wird. Bald erhielt jener nämlich noch eine andere Funktion, die zwangsweise Friedensverbürgung. Während in ältester Zeit die Verbürgung für das Wohlverhalten eines Individuums durch die Sippengenossenschaft erfolgte, traten an deren Statt seit ihrer Auflösung andere Rechtsformen. Auch die alten, die Funktion der Sippe unterstützenden Rechtsinstitute, das Erfordernis der Ansässigkeit und die Pflicht zur Anzeige bei gewissen Delikten, z.B. Diebstahl (sieheLiebermann, Sachglossar »Ansässigkeit« 2, »Anzeige« 4 u. 14), werden wohl am Ausgange des 10. Jahrhunderts nicht mehr genügt haben. Man kommt auf andere Rechtsformen. Entweder ist der Herr von Natur aus der notwendige Bürge seines Untergebenen oder eine Gruppe von 10 Freien, die Zehentschaft 2 ) (teofjung) tritt etwa seit Cnut an Stelle der Sippe für die Zwecke der Verbürgung, oder man wählt sich für einen bestimmten Rechtsstreit einen Bürgen, oder schließlich mehrere Personen tun sich zu einer Eidgenossenschaft oder Schwurbrüderschaft 3 ) zusammen. Daneben wird der Wettvertrag dazu verwendet, das öffentlich-rechtliche Wohlverhalten von Personen durch andere zu verbürgen, insbesondere die Erfüllung öffentlicher Rechtspflichten 4 ). Die Bürgschaft ist nicht immer gegenseitig, nicht zwangsweise, nicht territorial begrenzt. Dies wird sie erst durch Verschmelzung mit der Zwangsverbürgung der in ihr befindlichen Personen. Diese Verschmelzung ist bereits um 1087 vollendet 5 ). Das Bedeutsame der Normannenpolitik in unserer Frage ist, daß sie an Stelle der gewählten Bürgschaft der teoöung oder an Stelle der vertragsmäßig eingegangenen Wette für das Wohlverhalten von Personen, die gegenseitige Z w a n g s h a f t u n g der Zehentgenossen für das Siehe Liebermann in »Historische Aufsätze für K. Zeumer« 1910, S. 5 f. und Sachglossar »Zehn-Hufen«. 2 ) Vielleicht entspricht der ags. Zehenschaft in dieser Verbürgungs- und Polizeifunktion die altfriesische »fliute«. Man vgl. die von His, Strafrecht der Friesen 68" mitgeteilte Quellenstelle mit Leges Edwardi Conf. 20, 3 ff. s ) Über die Londoner Friedensgilde zur Zeit iEthelstans siehe Liebermann in Mélanges Fitting 1909, II, 77. *) Siehe darüber Hazeltine, Geschichte des englischen Pfandrechts, in Gierkes Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Heft 92, S. 99 f. s ) Der Name »Freipflege« für eine Zwangsbürgschaft erinnert an »lucus a non lucendo«. Wie Liebermann, Über die Leges Edw. Conf. S. 29 dies sprachlich erklärt, hat der Verfasser der Leges Edwardi Confessoris die wirklich »freie Bürgschaft« der angelsächsischen Zeit, freoborh ( = francpledge), mit friborh wiedergegeben, dadurch aber nicht zum Ausdruck gebracht, daß das Institut zu seiner Zeit natürlich etwas ganz anderes war. Daß sich friborh so rasch für »freoborh« einschleichen konnte, wird nach Liebermann damit zu erklären sein, daß man gleichzeitig an fri[)borh ( = zwangsweise Friedensverbürgung) dachte und »der Franzose die aspirierte Dentalis in fril> nicht hörte«.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

Wohlverhalten ihrer Mitglieder eintreten läßt. In den nördlichen Grafschaften und in Wales ist die Freipflege nicht zu finden. Sind sie doch bis in die Zeit Heinrichs II., ja sogar Edwards I., außerhalb des Herrschaftsbereichs der englischen Könige. Jedenfalls ist die tenmantale im Norden keine Freipflege, sondern ein Ackermaß (.= 10 mantales = 10 tofts, Morris a. a. O. S. 52). Im 12. Jahrhundert laufen Zehentschaft und friborh in den Quellen noch durcheinander, aber ein Unterschied zwischen persönlicher Zehentschaft und territorialer Zehentschaft ist gegeben. In der »Great Roll of the Pipe« für das 26. Reg.-Jahr Heinrichs II. 1179/80 (Pipe Roll Society) findet sich »die frankpledge des Walter, Sohnes des Robert« (p. 6, cf. p. 5), »Hunfrey de Bosco und seine Zehentschaft« (p. 281), »Männer ohne Bürgschaft und Zehentschaft« (p. 40). Auch Ansätze zum geographischen Gebrauch der Zehentschaft finden sich: z. B. »die Zehentschaft von Hellcumba« (p. 121). Daneben kommen auch isolierte frithborghs außerhalb von Gutshöfen, Städten und Dörfern vor 1 ). Die Anknüpfung der Friedensbürgschaft (z. B. Great Roll a. a. 0 . p. 52: »Die Männer der frithborh von Bressebure«) an die schon bestehenden Territorialbezirke verändert nun den Charakter der letzteren vollständig. Die Zwangsvereinigungen der Friedensbürgschaft sind jetzt der Mittelpunkt der rechtlichen Beziehungen in Hundert- und Zehentschaft und vermögen wegen ihrer Anpassungsfähigkeit an die verschiedensten Polizeizwecke eine Menge Zweckbeziehungen im Nachbarkreise durch die gegenseitige, rechtlich normierte Haftung zusammenzuhalten. Diese Zweckbeziehungen erhalten nun, weil sie durch die Friedensbürgschaft gesichert werden, deren eigentümliche Struktur: Kollektivhaftung und Kollektivpflicht der »friborghe« nebst Einzelpflicht des ihr Eingegliederten. Hier haben wir den Grundtypus der künftigen passiv öffentlich-rechtlichen Verbände in England. Die Hundert- und Zehentschaften, welche nur Lastengemeinschaften und Verwaltungsbezirke waren, bilden sich zu Verbänden um, ohne irgendein genossenschaftliches Gesamtrecht, ohne ein subjektives Recht auf Ausübung staatlichen Imperiums. Ursprünglich nur für die Zwecke der Sicherheitspolizei gedacht, dehnt die Freibürgschaft ihr System auch auf andere mit der Sicherheitspolizei damals verbundene Administrativzwecke aus, die unter dem Namen der trinoda necessitas zusammengefaßt werden. Es sind dies Burgenbau, Brückenherstellung, Heeresdienst. Lasteten diese Pflichten des Grundbesitzers bis zur Einführung der Freibürgschaft bloß auf Grund und Boden, ebenso wie dies im Frankenreich der Fall war, so erhalten sie jetzt eine ganz andere Struktur. Zur Einzelpflicht des Grundbesitzers tritt die Kollektivpflicht der friborh, und seit der Verschmelzung derselben mit den Territorialbezirken der Zehentschaft die Kollektivpflicht dieser letzteren. Erwägt man, daß nun eine Fülle administrativer Zweckbeziehungen die uns bekannte Struktur der

') Siehe W. Hudson, Einleitung zum X. Bande der Sussex Record Societv, p. XXI f.

§ 7. Die Lokalverwaltung der Normannenkönige u. ersten Planlagenets.

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Friedensbürgschaft annehmen 1 ), so ergibt sich das Bild eines passiv öffentlich-rechtlichen Verbandes, eines Lastenverbandes.

§ 7. Fortsetzung: Die Lokalverwaltung der Normaiinenkönige und ersten Plantagenets. I. Grafschaft. 1. D e r S h e r i f f u n d d i e C o r o n a t o r e s . Aus der angelsächsischen Zeit haben die ¡S'ormannenkönige den »earl« und den scirgerefa als Vorsteher der Grafschaft übernommen. Der letztere ist jetzt der Mittelpunkt der Grafschaftsverwaltung (der norm, vicecomes). Die normannischen »earls« entsprechen ungefähr den Stammespfalzgrafen der deutschen Reichsverfassung zur Zeit der Ottonen 2 ). Sie sind häufig erbliche Amtsträger. Wir finden sie namentlich in den nördlichen Grafschaften und in den Grenzgrafschaften die an Wales stoßen. Dem ,earl' wird mitunter die Sheriffwürde erblich verliehen, oder es wird neben ihm einem anderen die Sheriffwürde ebenfalls erblich verliehen. In der Zeit nach Heinrich III. wird der »earl« ganz beiseite geschoben, indem sein Name einen bloßen Ehrentitel bezeichnet. Der Sheriff gewinnt den Platz, den der »earl« früher einnahm. Ihm liegt die Leitung der Gerichts-, Militär- und Finanzverwaltung der Grafschaft ob. Der König bestellt den Sheriff, wenn dessen Würde nicht etwa erblich geworden war, wovor sich die Könige nach Wilhelm dem Eroberer wegen der damit verbundenen Gefahr wohl hüteten. Trotz der Bestellung durch den König und trotz seiner Qualität als königlicher Beamter ist der Sheriff Teil des Gemeinwillens der Grafschaft, der in dieser Periode zur Entstehung und Ausbildung kommt. Insbesondere geht dies für die Gerichtsverwaltung aus Glanvilla, tractatus de legibus 1.1, c. 30 hervor. Hier ist von den schlechten summonitores (Vorlader der Parteien) für das Grafschaftsgericht die Rede; es heißt: »Si in comitatu hoc (nämlich die summonitio) eis (den summonitores) injunxerit (sc. vicecomes) . . . illi (sc. summonitores) in misericordia remanebunt, quia comitatui in hoc contradicere non possunt.« Für die Finanzverwaltung wird dieselbe Tatsache durch das Bestehen der firma und durch dialogus de scaccario II, c. XII bestätigt. Die Tätigkeit des (vi') So z. B.: Die Haftung der friborh für den ihr anvertrauten, aber entflohenen Verbrecher (Strafgeld: Leges Edwardi Conf. 20, 4). Im übrigen siehe weiter im Text. 2 ) Über diese Brunner, D. R G. II, 112. Daß die nördlichen Pfalzgrafschaften schon auf die angelsächsische Zeit zurückgehen, behauptet W. Page in der Archaeologia LI, 1, p. 143 ff. Über die normannischen »earls« Round, Geoffrey of Mandeville, p. 267 ff. Ihr »tertius denarius« geht zweifellos auf fränkisches Vorbild zurück. Der Feudalisierungsprozeß hat aber auch diese Amtseinkünfte schon ergriffen. Denn nicht jeder Graf hat ipso jure auch den »tertius denarius«. Dieser ist mitunter auf einem Gutshof radiziert. Sodann gibt es auch einen »tertius denarius« v o n den gesamten städtischen Einkünften. Auch der Sheriff erhält mitunter den »tertius denarius«. Round a. a. O. 287 ff.

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Der Feudalstaat.

cecomes) Sheriff in unserer Periode ist namentlich in der Gerichtsverwaltung eine große, durch nichts — namentlich nicht durch das spätere Institut der reisenden Richter — geschmälert. Erst unter Heinrich II. dringen diese in die Wirkungssphäre des vicecomes ein und schränken sie bedeutend ein. Unter Heinrich II. geben wiederholte Nachforschungen, insbesondere das sog. Inquest of the Sheriffs (1170), Veranlassung zur Unzufriedenheit mit der Amtsführung dieser hohen Grafschaftsfunktionäre. Man ist bemüht, andere Beamten zur Kontrolle des Sheriffs zu schaffen und diesen einen Teil seiner Verwaltungstätigkeit abzunehmen. Die Beamten, die damit wahrscheinlich schon vor 1194 betraut werden, sind die coronatores 1 ), später coroners genannt. Es handelt sich hierbei nicht um eine Neuschöpfung. Schon zur Zeit Heinrichs I. finden wir gelegentlich Richter, welche eine besondere Funktion haben, nämlich die der Krone reservierten Streitsachen abzuurteilen, insbesondere den der Krone vorbehaltenen Gerichtsbann zu üben. Die sog. Gesetze König Heinrichs I. führen eine ganze Liste aller der Fälle an, welche den königlichen Gerichtsbann bilden. Und so wurden denn die besonderen Richter für die der Krone vorbehaltenen Streitfälle unter Heinrich II. wieder ins Leben gerufen, nachdem sie unter Stephan verschwunden waren. Nunmehr war allerdings ein Vorbehalt für den königlichen Gerichtsbann nicht mehr nötig, nunmehr gab es nur einen Gerichtsbann, nämlich den königlichen, aber zur Kontrolle des Sheriffs ließen sich die alten Richter wieder brauchen. Der coronator konnte als Richter eine J u r y vor sich zitieren, die die Anklage erhob. Außerdem hatte er in den der Krone besonders vorbehaltenen Fällen vorläufig die Parteien zu hören und Protokoll über die Kriminalfälle zu führen, um dies später dem Sheriff oder dem reisenden Richter vorzulegen. Dieses »Halten« (placita tenere) der der Krone besonders vorbehaltenen Gerichtsstreitigkeiten ist die Hauptbeschäftigung der coronatores in der Zeit Richards I. und ist in der Kommission für die reisenden Richter des Jahres 1194 bezeugt. Bis zur Magna Charta vom Jahre 1215 hatte der coronator richterliche Funktion. Der Artikel 24 der Magna Charta verbot aber dem Sheriff sowohl wie dem coronator die placita coronae. Der Sheriff blieb für die Folge Richter in geringen Fällen der Kriminalgerichtsbarkeit und in Fällen der Zivilgerichtsbarkeit. Die richterliche Tätigkeit des coronator hörte auch nicht ganz auf. Seit dem 13. Jahrhundert ist aber der coronator hauptsächlich mit der Funktion betraut, Untersuchungen bei plötzlichen Todesfällen oder Körperverletzungen vorzunehmen und die ersten Schritte der Untersuchung in gewissen Kriminalfällen zu führen, nämlich in denjenigen, wo nicht die Jury die Anklage erhebt, sondern wo die Privatklage (der sog. appeal) zugelassen ist. Der coronator konnte auch als Stellvertreter des Sheriffs dessen Zivilgerichtsbarkeit üben, er konnte auch den sog.

*) Charles Gross, Select Coroners Rolls Publications of the Seiden Society, vol. IX. Introduction X I I I — X L I V . Siehe aber dazu auch Maitland in E. H. R. VIII, 758 ff.

§ 7. Die Lokalverwallung derXormannenkönige u. ersten Plantagenets.

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Sheriffstourn, die niedere Kriminal- und Polizeigerichtsbarkeit des Sheriffs, ausüben. Besonders wichtig aber wurde mit derZeit die Verwaltungstätigkeit des coronator. In dieser seiner Eigenschaft war er königlicher Beamter zur Unterstützung und Aushilfe des Sheriffs. In jeder Grafschaft wurden zwei bis vier Ritter von der Grafschaftsversammlung gewählt, welche als coronatores gewissermaßen dem aus der hohen Aristokratie genommenen Sheriff das Gegengewicht halten sollten, zumal da es auch vorkam, daß ein Sheriff gleich mehrere Grafschaften zu verwalten hatte. Daß der coronator als Gegengewicht gegen den Sheriff gemeint war, geht daraus hervor, daß er bald nach seiner Einrichtung auch die Immunitätsgerichtsbarkeit der großen Grundherren im Auftrage des Königs kontrollierte. Der Sheriff drohte dem ständischen Einflüsse zu erliegen. Der coronator trat deshalb auf diesem Gebiet für ihn ein. Auch der Wille des coronator gilt als Gemeinwille der Grafschaft. Die Grafschaft haftet für ihn, »da sie sein Wähler und Vorgesetzter ist« (»ut elector et superior«. Rechtsfall aus der Zeit Ed. III.: Coke 2 Inst. 175 nebst anderem Falle zitiert bei Groß a. a. 0 . XXVII 5 ). 2. D i e Z u s a m m e n s e t z u n g d e s G r a f s c h a f t s g e r i c h t s 1 ) . Aus welchen Personen ist wohl das Grafschaftsgericht zusammengesetzt ? Das ergibt das an den Sheriff gerichtete königl. Einberufungsschreiben (Stubbs S. Ch. p. 385 f.), wenn die Grafschaft zu einer Vollversammlung vor den reisenden Richter zusammengerufen wurde. Geladen wurden die geistlichen Würdenträger, die Ritter, die Freien (libere tenentes), die Bewohner der auf königlichen Domänen wohnenden Dorfgenossen, die sich durch vier freie Männer vertreten lassen, und die Städte, welche durch zwölf Bürger vertreten erscheinen. Die einem Lord Untertanen Städte und Dörfer wurden speziell geladen durch Vermittlung ihrer Grundherren. Er kann sich durch sie vertreten lassen, und zwar der geistliche ebenso wie der weltliche. Sein Erscheinen hörte im 13. Jahrhundert auf. Für ihn erscheint der Steward (sein Ökonom) und vier Dorfbewohner. Das Statute of Merton (1236) erlaubt jedem freien Grundbesitzer sich vertreten zu lassen, aber schon nach den Leges Henrici I. (§ 7, 7) durfte er sich durch den Schulzen, den Priester und vier angesehene Personen seiner Dorfschaft (villa) vertreten lassen. Im gewöhnlichen Grafschaftsgericht, dem der Sheriff präsidierte, werden wohl die Stadtvertreter gefehlt haben. Das Erscheinen im Grafschaftsgericht ist Erfüllung einer öffentlichen Pflicht, die man sectam facere nennt. Diese öffentliche Pflicht, die sog. secta, lastet in unserer Periode auf dem Grundbesitze. So finden wir im 13. Jahrhundert in den Rotuli Hundredorum II, p. 483: »Will, de la Gave tenet duas virgatas terrae de Abbe. Et facit sectam *) Siehe dazu Maitland, E. H. R. III, 417 ff., dem aber die wichtige Funktion, welche die Freibürgschaft zur Durchsetzung der auf Grundbesitz ruhenden Verpflichtung spielt, entgangen ist. Das ist aber für die Entstehung des Repräsentativgedankens in Grafschaft und Reich, wie wir noch sehen werden (s. § 17) die Hauptsache.

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comitatus Canterbr. et hundredae pro una v i r g a t a « . . . . »Et pro alia virgata terrae reddit Abbi V (solidos) per annum et sectam curiae de Brouhton bis per annum.« Aber das Merkwürdige ist, daß nicht etwa alle freeholders (Grundbesitzer der Grafschaft) gerichtsfolgepflichtig sind, sondern nur einzelne von ihnen. Der eine oder andere erfüllt die Sectapflicht, für seine Dorfschaft oder, wenn er ein Grundstück zu Lehen hat, für den Lehensherrn, sofern dieser nicht Immunitätsherr und deshalb von der Gerichtsfolge zum Grafschafts- oder Hundertschaftsgericht ausgenommen ist: So heißt es Rot. Hundredorum II, 488: »dominus Simon de Mora tenet unam virgatam terrae de eodem comite et facit sectam ad comitatum et hundredam pro comite et pro tota villata.« Der so Verpflichtete heißt mitunter a t t o r n a t u s feoffatus. Diese Belastung des Grundbesitzes mit der Pflicht im Grafschaftsresp. Hundertschaftsgericht zu erscheinen, bestand wohl schon seit der angelsächsischen Zeit. Jetzt wird sie durch ein neues Institut gesichert. Wie nämlich beinahe jede öffentliche Pflicht durch das System der frankpledge (Freibürgschaft) in dieser Epoche wirksamen Nachdruck erhält und durch dasselbe realisiert wird, so wird auch die Erfüllung der Sectapflicht mit der frankpledge in Verbindung gebracht. Zunächst beginnt die Verbindung zwischen Freibürgschaft und Sectapflicht für die Zwecke des Hundertschaftsgerichts. In unserer Periode finden sich allerdings nur noch Spuren dieses Zusammenhanges, aber sie sind vorhanden 1 ). So heißt es in den Rotulis Hundredorum II, p. 97: »de sectis antiquis. Dicunt quod . . . . Et idem Walterus removit villanos, de Scipwase in forinsec(us) et feofavit liberus de eadem in qua terra quidam tithemangi solebant sequi ad hundredam forinsecus praedictum et est secta ejusdem tethingae subtracta.« In den Civil Pleas (Select Civil Pleas [1200—1203] vol. I, p. 43, ed. Seiden Society) heißt es: »jurata venit recognoscere quas sectas manerium de Aldeham Abbatis de Westm'. debeat ad hundredum Sti Albani«. Die jurata sagt nun, daß sie gesehen, wie der ballivus der Hundertschaft im manerium des Abts von Westminster die Listen für den visus franci plegii aufgenommen. Daher geht das Urteil zugunsten des Abts von St. Alban. Schon in der Zeit Heinrichs II. hat sich dieser Zusammenhang von Sectapflicht und frankpledge derart verwischt, daß nur eine Kollektivverantwortlichkeit der Hundert- und Zehentschaft (der villa, villata), im Grafschaftsgericht zu erscheinen, vorhanden ist. Wie die Sectapflicht, so wird auch die Pflicht des Beklagten, vor Gericht zu erscheinen, durch die frankpledge realisiert. Bei Madox, »Exchequer« (p. 385 Note) heißt es: »fridborga de Caldemot debent 1 marcam, quia non habuerunt ad rectum homines de fridborga sua.« *) Ja mitunter haben sie sich sogar bis ins 17. Jahrhundert erhalten. Z. B. der Borsholder des Manor of Chart, siehe Archaeologia Cantiana II, p. 85 fl.

§7. Die Lokalverwaltung der Normannenkönige u. ersten Plantagenets.

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Auch für das Grafschaftsgericht wird wohl die Sectapflicht ursprünglich durch Freibürgschaft gesichert gewesen sein 1 ). Wir werden m. E. nicht fehlgehen, wenn wir die Verbindung von frankpledge und Sectapflicht schon Wilhelm dem Eroberer zuschreiben. Diese Verbindung von Sectapflicht und frankpledge hat nun eine wichtige Folge. Als die assisa und jurata als Beweismittel dauernd eingeführt waren, wurde auch die Pflicht, als Geschworener vor den reisenden Richtern zu erscheinen, durch frankpledge realisiert. Der Zusammenhang der Geschworenenpflicht mit der frankpledge ist heute übrigens allgemein anerkannt 2 ). 3. D i e R e c h t s p r e c h u n g . Durch die Verbindung von Sectapflicht und frankpledge ist für den Gemeinwillen der Grafschaft im Grafschaftsgerichte in eigentümlicher Weise vorgesorgt worden. Dadurch nämlich repräsentiert das Grafschal'tsgericht den Gemeinwillen der Grafschaft, daß jeder freie Grafschaftsangehürige ebenso wie jeder der Grafschaft eingegliederte Verband als im Grafschaftsgericht anwesend gedacht, und zwar juristisch gedacht wurde. So finden wir die Tatsache erklärlich, daß schon unter Heinrich II. die ganze Grafschaft »pro falso judicio« gestraft wird. Pipe Roll 17, Henr. II (vol. 16) 1, p. 15: »Id(em) vicecomes reddit compotum de C. II. solidis VIII. denariis de comitatus misericordia de Dorsetta pro falso judicio« — Wir können diesen Gedanken, daß das Grafschaftsgericht als Gemeinwille der Grafschaft aufgefaßt wird, gewissermaßen in seinem Werden beobachten. Als Gradmesser hierüber soll uns die Verbindung von Sectapflicht und frankpledge dienen. Die Pipe Roll 31, Henr. I. enthält noch keine Strafe »pro falso judicio« der Grafschaft. Doch wird der comitatus schon pro forisfactione 3 ) gestraft. Pipe Roll 31, Henr. I., p. 2: ». . . . ed idem (sc. vicecomes) debet pro forisfactione comitatus.« Die ersten Strafen pro falso judicio finden wir erst unter Heinrich II., aber auch hier noch sehr spärlich. Das erklärt sich daraus, daß der Zusammenhang von Sectapflicht und frankpledge, wie er durch die ersten Normannenkönige eingeführt worden ist, allmählich ins VolksFreilich haben wir dafür nur einen Quellenbeleg, daß ursprünglich auch die Freien kraft des Frankpledgesystems zum Erscheinen im Grafschaftsgericht gezwungen wurden. Es ist dies die von P. u. M. I 2 , 547 6 zitierte N o t e aus einem Bractonmanuskript des 14. Jahrhunderts, wonach an der Haftung der Grafschaft »pro falso judicio« des Grafschaftsgerichts teilnehmen bloß die »liberi homines«, nicht die »disenarii« (d. i. in der frankpledge befindliche). Also wird es wohl eine Zeit vorher gegeben haben, wo diese letzteren als disenarii dennoch an der Haftung teilnahmen. Da wir ferner wissen, daß erst seit Beginn des 13. Jahrhunderts die Freipflege Freie nicht mehr zu umfassen pflegte, so liegt der Schluß nahe, daß ursprünglich hinter allen Freien, sofern es auf die Erfüllung der Urteils- und Sectapflicht ankam, die »disena«, »douzaine« = frankpledge gestanden haben mag. 2 ) Siehe statt all. Brunner, Entstehung der Schwurgerichte 467. 3 ) Forisfactio = Missetat, siehe Liebermann, Wörterbuch zu den Ges. d. Angelsachsen: »forisfacere «. H a t s c h e k . Engl. Verfassungsgeschichte.

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bewußtsein und in die Rechtssprache eindringt. Das aus dieser Verbindung fließende Resultat, daß das Judicium den Gemeinwillen der Grafschaft darstellte, braucht Zeit. Die Hundertschaft, die Reste alter Genossenschaftstätigkeit bewahrt hat, wird viel häufiger pro falso judicio in dieser Periode gestraft als die Grafschaft. In den Schatzrollen Heinrichs II. kann man das Verhältnis der Strafen, die einer Hundertschaft »pro falso judicio« auferlegt werden, im Vergleich zu den Strafen der Grafschaft aus dem gleichen Grunde in Zahlen wie 10: 1 ausdrücken. Die Grafschaft in unserer Periode ist noch immer staatlicher Verwaltungsbezirk, aber es beginnt sich schon in ihr eine Art von Gemeinwillen zu regen. Das Eindringen der Jury als Beweismittel im Grafschaftsgericht, wie es in unserer Periode schon erfolgt, befördert die Wandlung zum Kommunalverband. Die Jury im englischen Recht knüpft nach ihrer Einführung durch die Normannenkönige an die schon vorhandene Kommunalverfassung an. Diese Tatsache kommt nun juristisch in der Weise zum Ausdruck, daß die Pflicht, als Geschworener zu erscheinen, eben als Modifikation der Sectapflicht betrachtet wird und ebenso wie diese ihre Realisierung durch die Verbindung mit der frankpledge findet. Anders nämlich als im normannischen Recht wird die Jury gerade in ihren ersten Anwendungsfällen aus den schon im Grafschaftsgericht erschienenen freeholders genommen. Dieses Hinübergleiten der Sectapflicht in die Pflicht, als Geschworener zu erscheinen, prägt sich deutlich in den ersten Quellenzeugnissen, die wir für das erste Auftreten der Jury in England haben aus. Ein hierher gehöriger Rechtsfall, der unter den Historiographen der damaligen Zeit als contentio inter Gundulfum et Pichot bekannt ist, wird von Palgrave 1 ) mitgeteilt: Gundulfus von Rochester besitzt Land, welches von der Krone ansprüchig gemacht wird. Die Grafschaft ist im Grafschaftsgericht vor Odo, Bischof von Bayeux, als königlichem Justitiar, versammelt. Sie gibt ihr Gemeindezeugnis zugunsten der Krone ab. Odo, der Justitiar, mißtraut dem. Es werden sodann aus den versammelten Grafschaftsangehörigen die juratores genommen, und diese entscheiden ebenfalls zugunsten der Krone. Ein anderer Rechtsfall aus der ersten Zeit der Jury in England (Palgrave Rice und Progress II, p. 178): »Willielmus Rex Angliae Lanfranco et alliis salutem. mando vobis et praeeipio, ut iterum faciatis congregari omnes scyras, quae interfuerunt: quibus in unum congregatis eligantur plures de illis . . qui sciunt quomodo terrae jacebant. . . et jurando testantur . . .« Man vergleiche damit nun gleichzeitig das Recht der Normandie 2 ). Hier werden die juratores schon vor der Verhandlung bestimmt; die Geschworenenpflicht ist nicht Modifikation der Sectapflicht. Für das englische Recht ergibt sich dagegen aus den oben angeführten Rechtsfällen das Gegenteil. Auch Glanvilla im »Tractatus de legibus« 1 II, c. 10—17, teilt mit, daß die Geschworenen für gewöhnlich durch vier Grafschaftsritter in 1

) Rise and Progress I, 253. ) Z. B. Rechtsfall bei Brunner, Entstehung der Schwurgerichte S. 266.

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§ 7. Die Lokalverwaltung der Normannenkönige u. ersten Plantagenets.

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pleno comitatu ausgewählt werden. Dieser Zusammenhang der Geschworenen und Sectapflicht und dieser beiden mit der frankpledge ergibt, daß das veredictum der Geschworenen im Grafschaftsgericht als Gemeinwille der Grafschaft galt. Allerdings braucht auch dieser Gedanke Zeit zu seiner Entwicklung gerade so wie der Gedanke, daß das Judicium des Grafschaftsgerichts Gemeinwille der Grafschaft ist. Wir können sein Wachsen deutlich beobachten. Noch in einem Rechtsfall aus dem Beginn des 13. Jahrhunderts (Select Pleas of the Crown Nr. 62)') heißt es: Die Geschworenen der Grafschaft haben in ihrem Verdikt, die Grafschaft und die coronatores in ihrem Urteil die falsche Behauptung vertreten: »quod N. N. non fuit utlagatus.« »Et X I I . juratores dicunt in veredicto suo, ut scriptum eorum testatur et ore dicunt, quod non fuit utlagatus. It ideo ad judicium de juratoribus. Comitatus et coronatores recordantur, quod non fuit utlagatus et rotuli coronatorum et rotulus vicecomitis testantur, quod fuit utlagatus. Et ideo judicium de comitatu et coronatoribus.« Hier sehen wir demnach veredictum der Geschworenen und Urteil der Grafschaft bzw. deren Gemeinwille noch getrennt. Aber es gibt schon Spuren, selbst in unserer Periode, daß das veredictum als Gemeinwille der Grafschaft gelten kann. Die Hundertschaft wird für das veredictum ihrer Geschworenen gestraft. Das veredictum der Hundertschaftsgeschworenen gilt als Gemeinwillen der Hundertschaft. In einem Rechtsfall, der schon in die nächste Periode hineinreicht, wird nun unsere Behauptung, daß das veredictum der Geschworenen den Gemeinwillen bzw. einen Teil des Gemeinwillens der Grafschaft, der im judicium des Grafschaftsgerichts zum Ausdruck kommt, darstelle, vollinhaltlich bestätigt. In den Three early of Assize Rolls 2 ), p. 195, heißt es: »Praeceptum fuit vicecomiti, quod assumptis secum custodibus placitorum coronae et cet . . . in pleno comitatu faceret loquelam, quae fuit in eodem comitatu per breve domini Regis inter X et Y, quem clamabat (X) ut nativum suum, unde idem (Y) queritur falsum sibi factum fuisse judicium in eodem comitatu . . .« Die Grafschaft soll sich hier vor dem König wegen eines judicium falsum verantworten, sie soll mit Unrecht über einen das Urteil, er sei der »nativus« eines anderen, gefällt haben. Nun geht aus Glanvilla hervor, daß die Frage, ob einer »nativus« eines andern sei, durch die J u r y im Grafschaftsgericht beantwortet wurde, worauf erst das judicium des comitatus erfolgte. In unserm Rechtsfall muß — wie wir sehen — die Grafschaft auch das veredictum der Geschworenen als Teil ihres Gemeinwillens mitverantworten. Mit der Tatsache, daß das veredictum der Geschworenen gleichfalls als Teil des Gemeinwillens der Grafschaft, gleich dem judicium, aufgefaßt wird, ist nun die Möglichkeit dafür gegeben, daß in der folgenden Periode sich ein Gemeinzweck der Grafschaft bildet; denn dadurch, daß die Jury für die verschiedenartigen Verwaltungs') Ed. Seiden Society und ähnliche Fälle Nr. 21, 47, 75. 2 ) Of the County of Northumberland ed. Surtees Society 1891. 7»

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zwecke verwendet wird, ist eine Form gegeben, in der sich der Gemeinwille der Grafschaft in einer großen Zahl von Anwendungsfällen äußern kann. Das macht eben der Gemeinzweck, wie wir weiter unten sehen werden. Im französisch-normannischen Rechte liegen die Sachen ganz anders. Die frankpledge fehlt, denn sie ist ein spezifisch englisches Rechtsinstitut. Die Urteilsfinder werden im normannischen Rechte einfach durch den ballivus bestellt und in seiner Willkür steht es, wie viele genommen werden. Eine Anknüpfung der Sectapflicht an den Kommunalverband wie in England fehlt hier natürlich. Denn in der Normandie gibt es keine solchen selbsttätigen Kommunalverbände, die der englischen Hundertschaft und villata entsprechen. Daher ist auch nach normannischem Rechte die »patria« nicht für den »defectus« des Beklagten, d. h. für sein schuldbares Ausbleiben vom Grafschaftsgericht verantwortlich wie nach englischem Rechte. Daher ist im normannischen Rechte die Einstimmigkeit der Geschworenen nicht erforderlich, wohl aber nach englischem Rechte. Daher wird auch die normannische balliva (visconte) nie Kommunalverband, sie bleibt immer nur staatlicher Verwaltungsbezirk. Anders die englische Grafschaft. Diese wird Kommunalverband, und die Ansätze hierzu sind im vorausgehenden dargestellt worden. Man könnte mit Recht den Ausspruch Gneists, daß die Gemeindeverfassung der Angelsachsen Anteil habe an der Ausbildung der Jury, in sein Gegenteil verwandeln und sagen, die Jury habe Teil an der Ausbildung bzw. Fortbildung der englischen Gemeindeverfassung. 4. D i e A u s h e b u n g d e r L a n d m i l i z . W a t c h and ward, d. h. Verfolgung des Übeltäters und Verteidigung des Landes gegen bewaffnete Feinde, gelten schon in der angelsächsischen Zeit als Bestandteil der sog. trinoda necessitas, d. h. als alte Kommunallast. An diese knüpfen die Normannenkönige und schon Wilhelm der Eroberer an: »ut omnis liber homo foedere et sacramento affirmet, quod infra et extra Angliam Wilhelmo regi fideles esse volunt, terras et honores illius omni fidelitate cum eo servare et ante eum coram inimicis defendere 1 )«. Wie die Sectapflicht, so ist auch die Wehrpflicht unter die Gewähr der frankpledge gestellt. Beleg dafür ist vor allem der Parallelismus, mit dem vielleicht 2 ) schon Wilhelm der Eroberer einerseits die frankpledge, anderseits, wie wir eben gesehen haben, die Wehrpflicht durch einen allgemeinen Untertaneneid sichert und demnach die Pflicht, einer frankpledge anzugehören und die Wehrpflicht aus der Untertanenpflicht ableitet. Stubbs, Select Charters, p. 83. ) Bezeugt ist die Leistung eines Untertaneneides bei Eintritt in die frankpledge erst durch Rechtsquellen des 13. Jahrhunderts (siehe Morris a. a. O. 130). Gleichzeitig mußte er den Eid leisten, weder Dieb noch Diebeshehler zu sein. Dieser letztere Eid geht vielleicht schon auf Cnut zurück. Bezeichnend ist aber, daß Bracton seine Ableistung schon in die Zeit Edwards des Bekenners setzt (fol. 124 b), was doch jedenfalls auf ein sehr hohes Alter der b e i d e n Eidesformen hindeutet. 2

§ 7. Die Lokalverwaltung der Normannenkönige u. ersten Plantagenets.

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Sodann wird in der Assize of Arms (1181) neben der Wehrpflicht jedes über laicus (Freien), der über eine jährliche Grundrente von 16 marcae verfügt (Art.2), in dem folgenden Art. 3 die Bestimmung aufgenommen: »Item omnes burgenses et tota communa liberorum hominum habeant wambais et capellet ferri et lanceam« Es wird also auch die Kollektivpflicht der »communa« angeordnet. Was unter einer solchen »communa« zu verstehen sei, erklärt ein Militärprojekt aus der Zeit Johanns 1 ). In jedem comitatus werden für die »communa« desselben Hauptconstabeln angestellt. Ebenso in jeder Hundertschaft, in jeder villa ein oder mehrere Constabeln. Mehrere Dörfer bekommen ebenfalls einen solchen. Der Bericht über dieses Militärprojekt setzt dann fort: »eodem modo in burgis ubi prius communa non fuerat« . . . sollen ebenfalls Constabeln angestellt werden. Unter der »communa« jenes Art. 3 der Assize of Arms sind demnach die schon bestehenden Kommünalverbände, insbesondere die Hundertschaft, der burgus, die civitas zu verstehen. Die Kollektivpflicht dieser Kommunalverbände neben der Wehrpflicht des einzelnen würde nun vollständig in der Luft hängen, wenn wir nicht annehmen, daß auch die allgemeine Wehrpflicht jedes über laicus ursprünglich durch frankpledge gesichert war. Endlich die Tatsache, daß allerdings erst in der folgenden Periode das Erheben des uthesium (Gerüfte) durch die frankpledge gesetzlich gesichert erscheint, veranlaßt notwendig den Rückschluß, daß die damit innig verknüpfte Landesverteidigung (watch and ward) ebenfalls durch sie realisiert wurde, zumal die darauf bezugnehmende Bestimmung des ersten Winchesterstatuts durchaus nicht etwas Neues einführte, sondern alte Pflichten von neuem einschärfte. Das Aufgebot der Grafschaft (posse comitatus), welches sonach durch frankpledge zusammengehalten wird, stellt die ganze Grafschaft in Waffen dar. Im Aufgebot der Grafschaft stellt sich ihr Gemeinwille für die Zwecke der Landesverteidigung dar, so daß englische Chronikschreiber unserer Periode von einem »exercitus Eboracensis sciriae« sprechen können (Benedict Pet. Gesta Henrici I, 65). 5. D i e S t e u e r b e w i l l i g u n g u n d S t e u e r e i n s c h ä t z u n g . Im 12. und 13. Jahrhundert ist die Rechtsvorstellung vorhanden, daß die Grafschaft für das Dänengeld, die allgemeinen Steuern (communes assisae) 2 ) kollektiv verantwortlich sei und diese Kollektivpflicht durch den Sheriff erfülle: So sagt der Dialogus de scaccario II, 12 A: »Et nota, quod in omnibus compotis de placitis et conventionibus singuli per se respondebunt, ut scilicet onus debiti, si non satisfecerit, vel absolutionem si universum solverit, suo nomine suscipiant, exceptis communibus assisis et Danegeldis et murdris; de his enim vicecomes compotum reddit.« Woher nun diese Kollektivpflicht? Gervase of Cant. Ghronicle II, p. 96 f. ') Darunter fallen auch Kollektivstrafen (amerciamenta) Siehe Hughes Dial. de Scaccario p. 190.

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Auch hier finden wir zunächst die Leistung der Polizeistrafe (amercia menta 1 ), der Steuern 2 ), welche die Grafschaften treffen, durch Kollektivverantwortlichkeit gesichert. Bei der allgemeinen Steuer hatten es die Steuerkommissäre in der Hand, ob sie zum Besten des Königs die Last den Grafschaften im ganzen (in communi) oder jedem einzelnen Grafschaftsangehörigen auferlegen wollten 8 ). Und die Kollektivverantwortlichkeit hat in der Freipflege ihren Grund. Denn wir finden im 13. Jahrhundert F r e i p f l e g e b e z i r k e , w e l c h e n a c h w e i s b a r w e d e r D ö r f e r n o c h K i r c h e n s p i e l e s i n d , für die Steuern (Subsidien) kollektiv verantwortlich gemacht 4 ). Im Laufe der Zeit wird die Grafschaftsversammlung der Ort, wo die Dörfer durch ihre Vertreter die Steuerbewilligung und -einschätzung vornehmen, ganz so, wie in der nächsten Periode das Parlament für die Entgegennahme der Steuerbewilligungen der Grafschaftsvertreter der geeignete Platz wurde. Dadurch entsteht jetzt der Gemeinwille der Grafschaft für Steuerzwecke, wie er in der nächsten Periode als Gemeinwille der Reichskommune im Parlament gegeben erscheint. Ein eigentümliches Ubergangsstadium stellt die Steuerbewilligung des Jahres 1237 dar. Da erscheinen vor dem Großen Rat des Königs die Großen, Ritter und Freien, um für sich und für ihre »villani« (pro se et suis villanis) eine Steuerbewilligung (auxilium) zu gewähren 5 ). II. Die Hundertschaft. Sie ist in unserer Periode schon ein vollentwickelter Kommunalverband, der allerdings keine Rechte, aber um so mehr Pflichten hat. Die Hundertschaft ist eine Lasten- oder Pflichtgenossenschaft. Für die ihr auferlegten Pflichten müssen ihre Mitglieder kollektiv aufkommen. Ihre Pflicht, durch Vertreter als Jury vor den reisenden Richtern 6 ) im Grafschaftsgericht zu erscheinen, haben wir schon oben kennen gelernt. Dazu kommt ihre subsidiäre Kollektivhaftung für jeden Totschlag innerhalb ihrer Grenzen, falls der Missetäter von ihr nicht aufgebracht wurde und die Sippe des Erschlagenen dessen englische *) Z. B. Madox, firma burgi, p. 59 Note c. ») Z. B. Madox, History of the Exchequer (1769) I, p. 586 Note x. s ) Madox, History a. a. O. I, 741 Note i : »separatim per capita vel in communi prout ad commodum nostrum«. ') Siehe die Beispiele in der Subsidienrolle der Grafschaft Sussex aus den Jahren 1296, 1327, 1332 in der Ausgabe von Hudson: Sussex Record Society X (1909), p. X X I X ff. ») Stubbs, Select. Charters 366. *) Siehe eine interessante Juryliste für die reisenden Richter im Grafschaftsgericht von Gloucester (1258) in Transactions of the Bristol and Gl. Arch. Society X (1886), p. 293. Daraus ergibt sich, daß je 12 gewählte Vertreter jeder Hundertschaft erscheinen, die als Jury dienen und »electores« heißen. An ihrer Spitze steht ein »capitalis serviens«, der mitunter als Juryman einspringt, aber auch Amtscharakter besitzt. Er ist vollständig dem capitalis plegius der Zehentschaft oder frtborh zu parallelisieren.

§7. Die Lokalverwaltung der Normannenkönige u. ersten Plantagenets.

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Staatsbürgerschaft (Englishry) nicht nachgewiesen hatte. 1 ) Die Hundertschaft haftete für Räuberei, die innerhalb ihres Territoriums verübt wurde, wo der Räuber auch nicht gestellt war. So nach dem Winchesterstatut von 1285. Die wichtigste Funktion der Hundertschaft ist das Rechtsprechen im Hundertschaftsgericht, das wir bereits eben kennen gelernt haben. Ein Rechtszug an das Grafschaftsgericht ist nicht vorhanden. An der Spitze der Hundertschaft steht der baillivus, der das untergebene Organ des Sheriffs ist, von dem er auch die königlichen Gefälle der Hundertschaft gepachtet hat. Der wichtigste Teil der hundertschaftlichen Verwaltungstätigkeit spielte sich seit derAssize of Clarendon im sog. turnus vicecomitis ab, dem Gericht, das der Sheriff zweimal jährlich (zu Ostern und um Michaelis) in der Hundertschaft abhielt und wo er durch 12 Hundertschaftsgeschworene und je 4 Repräsentanten jeder Dorfgemeinde innerhalb der Hundertschaft die Räuber, Mörder und Diebe erforschen, sowie den visus franci plegii innerhalb der Hundertschaft, aber auch für die Bezirke der großen Immunitätsherrn abhalten sollte (»quod pax nostra teneatur et quod tethinga integra sit«). Der Versammlung der Hundertschafts- und Dorfgemeinde-Vertreter legte der Sheriff eine Liste, die sog. »articuli« des »visus franci plegii« vor. Sie hatten hauptsächlich folgendes zum Gegenstand: 1. festzustellen, ob das FrankpledgeSystem innerhalb der Hundertschaft prompt funktioniere, 2. um Anschuldigungen wegen schwerer Verbrechen entgegenzunehmen, damit der Sheriff die Verdächtigen verhafte und vor die reisenden Richter stelle, 3. um alle Anschuldigungen kleinerer Missetaten und Polizeidelikte entgegenzunehmen und abzuurteilen. Unter dieser letzten Rubrik spielte sich die Hauptfunktion der Hundertschaft, nämlich die Polizeiverwaltung ab. Wenn die Verfolgung von Übeltätern, das sog. uthesium zu Unrecht erhoben worden, wenn der Wasserlauf von Flüssen gestört oder Wege unrechtmäßig gesperrt waren, so kam dies im turnus vicecomitis ebenso zur Sprache wie kleine Balgereien und Schlägereien. Die Vertreter der Dorfgemeinden erstatten die Anzeigen, und die Hundertschaftsgeschworenen konnten diese Anzeigen als unbegründet zurückweisen, oder auch, sofern jene lückenhaft waren, ergänzen. Die Bußen, die der Sheriff hierbei verhängte, wurden durch zwei besonders hierfür eingeschworene Mitglieder des Gerichts fixiert (sog. »afforare«). Die Hundertschaft gehörte nicht selten einem Lord, mitunter sogar dem Könige, als Immunitätsherrn. So wird von den Quellen berichtet, 2 ) Die primäre Haftung trägt in der Regel das Dorf oder das manerium, erst wenn diese leistungsunfähig sind, tritt die Haftung der Hundertschaft ein (sog. murdrum). Liebermann, Sachglossar »murdrum« l l e . Daß ursprünglich die Zehentschaft (wohl in ihrer normannischen Ausgestaltung als gegenseitige Zwangsbürgschaft) für das murdrum herangezogen worden: Liebermann a. a. O. 5 d. In einem Bractonmanuskript (Note) aus dem XIV. Jahrhundert (P. u. M. I*, 5475) wird gesagt »soli custumarii et non liberi homines« zahlten das murdrum. Kurz zuvor werden »custumarii« mit »disenarii« identifiziert.

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Der Feudalstaat.

daß im Jahre 1255 von den 39 Hundertschaften der Grafschaft Wiltshire der König 16% Hundertschaften und den Rest die übrigen Magnaten besessen hätten. Im Jahre 1320 berichten Männer von Devonshire im Parlament (Rot. Pari. I, 381), daß alle Hundertschaften dieser Grafschaft den Großgrundherren gehörten. Die Hundertschaft galt als res incorporalis, die man beliebig verkaufen konnte, als nutzbare Sache, denn wer eine Hundertschaft hatte, war von der Gerichtsbarkeit des Sheriffs, dem turnus vicecomitis, befreit und bezog, indem er Recht sprach, selbst die Gerichtsgefälle. War die Hundertschaft noch »res«, so war sie eben nicht Person, am allerwenigsten juristische Person oder selbsttätiger Kommunalverband. Sie war ein passiver Kommunalverband, eine Lastenverteilungsgenossenschaft, eine Pflichtgenossenschaft.

§ 8. Die Städte. Literatur. M a d o x , Firma Burgi, London 1726. — Collectanea topographica et genealogica, ed. J. G. Nichols, 8 vols., London 1834—1843. — C 1 a r k G. T., The castles of England in Cambrian Arch. Association, Archaelogia Cambrensis, 4. Serie, XII, p. 1 — 16, 109—125, 177—186, London 1881. — F r e e m a n n E. A., English towns and districts, London 1883. — G n e i s t , Englische Verfassungsgeschichte S. 83, 143, 282. — S t u b b s I s , 99 ff., 438-462, 667-676. — M a i 11 a n d , Township and borough, Cambridge 1898. — H e g e l , Städte und Gilden der germ. Völker im Mittelalter, Leipzig 1891, I. Bd., S. 13-120, 441-457. - B o y l e J. R., The Early History of the Town and Port of Hedon, in the E. Riding of the County of York, Hull and York 1895. — Records of the Borough of Leicester I (1103—1317), ed. Bateson. — M a i 11 a n d , Domesday Book and beyond 1897, p. 172 ff. Dazu T a i t in E. H. R. XII, p. 772 ff. — B a l l a r d , Domesday Boroughs 1905 (übertreibende Weiterführung Maitlandscher Gedanken) insbes. ch. II. Dagegen B a t e s o n in E. H. R. XX, p. 146 ff. Fortführung der Kontroverse in E. H. R. XXI, p. 699 ff. u. 709 ff. — B a t e s o n , Mediaeval England, 1903, p. 124 ff.; Borough Customs (Seiden Society XVIII und XXI), ed. Bateson I (1904) Introd. p. XII ff. ; II (1906), insbes. Einleitung p. XIV ff. — P e t i t - D u t a i l l i s , Studies and Notes Supplementary to Stubbs Constitutional History (Publication of the University of Manchester, Historical Series Nr. VII), Manchester 1908, p. 67—90. — Außerdem Ausführungen über einzelne Städte in den zahlreichen Bänden der Victoria County History. Zur Geschichte der Gilde und ihres Zusammenhangs mit der Stadtverfassung: B r e n t a n o s Einleitung zu J. T. Smith, English Gilds, in Early English Text Society, London 1870. Ch. G r o s s , The gild merchant, a contribution to Br. municipal history, 2 vols., Oxford 1890; grundlegend für das oben zit. Werk von H e g e l . — A. D ö r e n , Untersuchungen zur Geschichte der Kaufmannsgilden des Mittelalters, Leipzig 1893 (insbes. § 13: Die Gilden in England). Siehe schließlich zu dem ganzen Paragraphen noch die bei § 21 des folgenden Abschnittes angeführte Literatur. I. In der angelsächsischen Zeit.

Über den Ursprung der englischen Städte existieren in England beinahe ebenso viele Theorien wie für die deutschen Städte. Es gibt hier eine Landgemeindetheorie (vertreten von Stubbs im Anschluß an die bekannten Forschungen von G. L. v. Maurer), wonach die Stadt einfach ihren Ursprung der Fortentwicklung der Landgemeindeverfassung

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Die Städte.

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dankt, sogar eine Markttheorie (vertreten von Bateson), eine romanistische Theorie (die Städte eine Fortsetzung der römischen Kastelle und Städte, namentlich »ceoster« als Wortendung dieser Städtenamen; Theorie vertreten von Wright and Coote, The Romans of Britain 1878). Vollständig abgelehnt wird gegenwärtig die sog. Gildentheorie (vertreten von Hegel a. a. 0 . und Groß I, a. a. 0.). Am besten begründet scheint meines Erachtens die sog. Garnisontheorie von Maitland. Seine Forschungen tun dar, daß wir den Ursprung der meisten 1 ) angelsächsischen Städte in der Befestigung als burh zu betrachten haben. In der DomesdayBook finden wir nämlich vor der Beschreibung jeder Grafschaft eine Menschenagglomeration herausgehoben, die gewissermaßen die Hauptstadt der betreffenden Grafschaft ist. Sie besteht aus Grundstücken, die im Gegensatz zu den Grundstücken in anderen villae, Dorfschaften, eine heterogene Zusammensetzung haben, d. h. die in bezug auf ihr Lehensverhältnis nicht dem Könige noch einem andern Lehensherrn zugehören. Vielmehr gehören die Grundstücke in einer solchen Menschenagglomeration verschiedenen Herren. So finden wir in Oxford, wie es die Domesday Book beschreibt I, 154, mehrere Häuser, die dem Könige gehören, dann 7 Häuser, die dem Erzbischof von Canterbury gehören, 9 Häuser des Bischofs von Winchester, 18 des Bischofs von Bayeux, 30 des Bischofs von Lincoln usw. Diese Häuser, hagae genannt, sind von Leuten bewohnt, welche bestimmte Pflichten zu erfüllen haben. Ihre Hauptpflicht ist die Befestigung der Stadt, den Burgwall für ihre Lehnsherren instand zu halten. Wenn Ländereien an die Kirche oder an andere Große verliehen werden, so ist gewöhnlich schon in angelsächsischer Zeit die Immunität nicht ausgedehnt auf die trinoda necessitas, insbesondere nicht auf den Burgbau (burhböt). Diese burhböt und die Verpflichtung hierzu unterscheidet die älteste angelsächsische Stadt von der Dorfschaft 2 ). Dazu kommt noch, daß *) Ich sage der m e i s t e n , nicht aller, denn es wird auch eine Reihe von Städten gegeben haben, welche einem Handelsprivileg ihren Ursprung danken, andere wieder werden irgendwie einen Zusammenhang mit der römischen Kolonisation bewahrt haben. Gegen die allzugroße Verallgemeinerung dient folgende Erwägung: Die burh als Bezeichnung der Stadt kommt vor den dänischen Invasionen, auf die Maitland seine Burgenbautheorie stützt, vor. Z. B. nennt, wie Tait a. a. O. p. 774 ausführt, JSlfred in seiner Übersetzung des Orosius Rom eine »burh«. Das Wort hat eine weite Bedeutung, und nichts spricht dafür, daß es ausschließlich zur Bezeichnung von Burgbefestigungen verwendet worden ist. burh wird häufig mit port identifiziert, woraus hervorgeht, daß der Handel keine geringe Rolle in der englischen Stadtentwicklung gespielt hat. Neben der Burgbautheorie hat also die Markttheorie in England ihre berechtigte Bedeutung für die Geschichte der Stadt. Das leugnet aber auch Maitland keineswegs. Nur Ballard tut dies, was die berechtigte Kritik von M. Bateson X X , 146 ff. herausgefordert hat. *) Ich möchte allerdings nicht mit Maitland den »burhgeat setl« des sog. »Ehrenrangs« Liebermann I, 457 zum Beweise dafür heranziehen, daß der Than zum Burgenbau verpflichtet war. Die Stelle läßt sich besser erklären, wenn »setl« von »burhgeat« geschieden wird, burhgeat ist soviel wie »burgtor«, ein Symbol der Gerichtsbarkeit, weil, wie neuestens (von Bateson, Borough Customs II, 1906, p. XVI Note 1) nachgewiesen, das grundherrliche Gericht in der Nähe des Burgtors abgehalten wurde. Zur ganzen Kontroverse siehe Petit-Dutaillis, p. 39 ff. Vgl. auch jElfrics Homilien, ed. Thorpe I, 48: » S e t l ge{iafenad d e m an«.

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Der Feudalstaat.

die burh als befestigter Ort des Königs zunächst einen besonderen Königsfrieden genießt. Wer den Königsfrieden bricht, zahlt eine besondere Strafe. Der Königsfriede erstreckt sich auch weit über die eigentliche königliche Befestigung (burhgeat) hinaus. So sagen die leges Henrici caput 16: »Des Königs Friede soll sich erstrecken von seinem burhgeat, wo er sitzt, nach allen vier Weltrichtungen, nämlich 3 furlong, 3 acres breit, 9 Fuß, 9 Hand breit, 9 Gerstenkörner«1). Zum Schutze des Königsfriedens fungierte anfangs das scirgemot, das Grafschaftsgericht derjenigen Grafschaft, für welche die Befestigung in der Burg gegeben war. Später ist es ein selbständiges burhgemöt, namentlich seit Eadgar III, 5 (s. auch Cnut II, 18). Aus einer besonderen Befestigung ist demnach die angelsächsische Stadt herausgewachsen, und diese Burgbefestigung in Verbindung mit dem besonderen Königsfrieden und dem Burggericht unterscheidet die Stadt von der gewöhnlichen Dorfschaft. Die Stadt hat eine Stellung wie die Hundertschaft, und dem Hundertschaftsgericht entspricht das Stadtgericht 2 ). Später kommt noch ein anderes Unterscheidungsmerkmal der Stadt hinzu, nämlich die Errichtung von Märkten. Des Königs Burg genießt einen besonderen Frieden, deshalb ist sie auch der geeignetste Ort, um innerhalb ihrer Wälle in Sicherheit zu kaufen und zu verkaufen. Die Burg wird auch Marktplatz (ceapstöw). In ihr wohnen zu dürfen, ist ein besonderes Privilegium, wenn man nicht Bürger der Stadt ist. Daher haben gewisse Großgrundbesitzer der Nachbarschaft das Recht, solche Häuser mit ihren Hörigen zu besetzen, die dann als mercatores der städtischen Handelsprivilegien teilhaftig werden (s. Bateson a. a. 0 . und E. H. R. XV, 149 ff., und Records of the Borough of Leicester 1103—1327, p. 1 ff.). Die Burg erlangt auch das Recht, besondere Münzen zu schlagen. So heißt es schon in den Gesetzen ^Ethelstans II, 14: »Und niemand münze außer in einer Stadt« (»nan mon ne mynetige buton port«). Die verschiedenen Renten und Abgaben an den König sind natürlich zunächst von den Stadtbewohnern an den Sheriff der Grafschaft zu zahlen. Später nehmen die Einwohner die Gefälle selbst in Pacht vom Sheriff. Sie erwirken dann schließlich auch von ihm die Erlaubnis, daß einer unter ihnen ihr Führer, ihr Leiter, der reeve, für sie und in ihrem Namen das Geld an den Sheriff entrichtet. Die Verfassung der angelsächsischen Stadt ist im großen und ganzen primitiv. Da ist ein Stadtgericht, bestehend aus allen freien Bürgern oder portmen, das ursprünglich dreimal im Jahr, später wöchentlich tagt. Die Pflicht, als Richter im Stadtgericht zu erscheinen, lastet auf bestimmtem Grundbesitz. Das »hüsting« oder das »Hausding« ist der Versammlungsort, d. i. ein Gericht, das nicht auf freiem Felde3) tagt, sondern in einem Haus. In diesem Stadtgericht assistieren ständige Parallelen aus andern germ. Rechten bei Brunner, D. RG. II, 46. ) Eine andere Ansicht, von Ballard, Domesday Boroughs p. 53 f., ruht auf schwachen Füßen; siehe Bateson XX, p. 146 ff. 3 ) Daß diese Tagungsart in England damals die übliche war, zeigt G. L. Gomme, Primitive folk-moots, or open-air assemblies in England, London 1880. 2

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Die Städte.

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Zeugen, die lagamen oder judices, gewöhnlich in der Zahl von 12. Die Selbsttätigkeit dieses Gemeinwesens ist in der angelsächsischen Zeit eigentlich keine große, es sind ja bloß Pflichten zu erfüllen, die auf dem Grundbesitz lasten. Es ist eine passive Gemeinschaft, ein passiver Verband, der erst Selbsttätigkeit gewinnt, als er ein Interesse bekommt, nicht mehr vom Sheriff und der Grafschaftsverwaltung geleitet zu werden. Zu diesem Zweck erkauft er sich vom König in der Normannenzeit und namentlich in der Zeit der ersten Plantagenats Freiheitsurkunden, «hartae. Damit betreten wir den Boden einer neuen Entwicklung. II. Die Zeit der Normannenkönige und der ersten Plantagenets. Der Stadtbegriff ist nunmehr von seiner Vagheit befreit und ein Komplex von Rechten, welche der borough vom Könige mittels Charte übertragen werden. Der juristische Stadtbegriff ist allerdings noch nicht persona ficta, aber immerhin ein Bündel von delegierten Regalien. Über das Subjekt dieser Rechte denkt man damals nicht viel nach, man ist froh, daß man sie hat. Ehe wir im folgenden die einzelnen Regalien kennen lernen, müssen wir feststellen, daß wie in der angelsächsischen Periode auch in der hier betrachteten die Städte noch immer ein heterogenes Konglomerat von Besitzverhältnissen darstellen. Noch immer hat der König seinen Grund und Boden, daneben die Großen, aber in dieser Periode ist doch schon eine gewisse Mediatisierung dieser Besitzkonglomerate zugunsten des Königs eingetreten. Die Großen, die früher neben der königlichen Gerichtsbarkeit ihre Immunitätsgerichtsbarkeit ausgeübt hatten, werden von der königlichen Gerichtsbarkeit verdrängt und bloß mit Renten von den Hausbesitzern abgefertigt; das liegt zunächst an der oben bewiesenen Tatsache, daß es sich hierbei oft um Erbleihe- oder gewöhnliche Leiheverhältnisse handelte (siehe oben § 3). Die königliche Gerichtsbarkeit herrscht bald in der Stadt vor. Der städtische Grund und Boden wird terra regis. In der großen Mehrzahl sind also die Städte königlich, entweder deshalb, weil sie von vornherein auf der terra regis entstanden sind, oder weil der König die Gerichtsbarkeit der andern Immunitätsherren im Stadtweichbild verdrängt hat. Daneben gibt es allerdings grundherrliche Mediatsstädte, und es ist ein nicht unbeträchtlicher Teil der englischen Städte, der von dem Großgrundherrn abhängt, deshalb, weil die eine oder andere Stadt eben aus dem Gutshof oder einer gutsuntertänigen Dorfschaft durch den Gutsherrn, den großen Grundeigentümer, mittels Charte auch zur Stadt befördert oder gleich direkt als Stadt gegründet worden ist, namentlich im sog. Kolonisationsland 1 ). Wir wollen zunächst die königlichen Städte näher ins Auge fassen und die ihnen zustehenden, vom Könige delegierten Befugnisse. 1. Zunächst war es das Recht einer besonderen Gerichtsbarkeit, losgelöst von der Hundertschaftsgerichtsbarkeit, ihr an Bedeutung l ) Ein Beispiel hierfür ist Manchester, siehe Tait, Mediaeval Manchester in the beginning of Lancashire, London 1904, insbesondere S. 42 ff.

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Der Feudalstaat.

gleichkommend. Man kann in dieser Hinsicht anknüpfen an das burhgemöt der angelsächsischen Zeit, nur daß diesem jetzt intensivere Befugnisse zukommen. Eine Klausel, die sich sehr häufig in den städtischen Freiheitsurkunden findet, ist, daß die Bürgerschaft es nicht nötig habe, Recht zu nehmen außerhalb der Wälle der Stadt, es würde sich denn um liegendes Gut handeln, welches außerhalb ihrer Mauern liegt. Eine andere Klausel ist die, daß wenn eine Schuld innerhalb der Stadtmauern kontrahiert wird, die Gerichtsbarkeit darüber dem Stadtgericht zugehört. Nicht selten bekommt das Stadtgericht die Befugnis, ein prozessuales Verfahren zu beobachten, das von dem der königlichen Gerichtsbarkeit abweicht. In dieser Befugnis kann zweierlei liegen: es kann das Recht inbegriffen sein, von allen Neuerungen des königlichen Gerichtsverfahrens, und deren waren unter Heinrich II. und seinen Nachfolgern keine kleine Zahl, verschont zu bleiben. Darin liegt eine gewisse Rückständigkeit, die aber der Stadt durch ihre Freiheitscharte garantiert ist. Ein Beispiel hierfür ist die Ausschließung des Zweikampfes als Beweismittel im Stadtgericht oder die Ausschließung der Jury im Stadtgericht. Ja, das letztere zeigt ganz deutlich die egoistische Rückständigkeit, mit der die Städte ihre Gerichtsbarkeit verwalteten. Vergessen sei aber nicht, daß es manchmal auch der König selbst war, der den Ausschluß dieses kostbaren königlichen Privilegiums, der Jury, einer für ihn einträglichen Marktware, wünschte. Der Umfang der Zivilgerichtsbarkeit, welche den Stadtgemeinden überlassen war, ging mitunter so weit, daß sie eigenartige Besitzklagen entwickeln konnten. Freilich sehr weit dürfte diese Eigenart doch nicht vorgedrungen sein, denn einerseits konnte immer die Appellation an die königlichen Gerichte gehen, und sodann bedeutete gewöhnlich das Privilegium der eigenen Gerichtsbarkeit nur eine Exemption vom Hundertschaftsgericht, dagegen gewöhnlich nicht vom Grafschaftsgericht. Die Kriminalgerichtsbarkeit reichte höchstens bis zur Befugnis des infangthief und utfangthief, d. h. bis zur Bestrafung von Verbrechern, die auf frischer Tat betroffen waren. Im übrigen mußten die Städte, wie andere Hundertschaften, vor den königlichen reisenden Richtern, den judices itinerantes, erscheinen, und es war für sie Privilegierung genug, wenn sie 12 ihrer eigenen Leute nach Art der Hundertschaften als Vertreter vor jene Richter entsenden konnten und nicht dem von ihnen sicherlich als Übel empfundenen Anklagewesen durch Nichtbürger, die zufällig in ihren Stadtmauern sich aufhielten, ausgesetzt waren. Manche bedeutende Stadt hatte auch ein eigenes Recht erlangt, königliche Schreiben selbst ohne Vermittlung des Sheriffs oder seiner Beamten zu beantworten, einen sog. return of writs. Die eigene Gerichtsbarkeit war auch eine Vorbedingung der Entwicklung eines besonderen Stadtrechts, sowohl eines besonderen Mobiliargüterrechts, als auch eines besonderen Obligationen- oder Handelsrechts 1 ). Nicht immer war diese Besonderheit ein Fortschritt gegenüber *) Einer der frühesten Traktate über Handelsrecht (aus dem Jahre 1300,') betitelt »Lex Mercatoria, quae, quando, ubi, inter quos et de quibus sit« in 21 Kapiteln, fand sich in Bristol (abgedruckt in The Little Red Book of Bristol, ed. b v

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dem von dem Königsgericht gehandhabten Rechte, mitunter aber doch. Auf solcher städtischen Gewohnheit beruht z. B. der sog. retrait lignager, das Vorkaufsrecht von Verwandten innerhalb von Jahr und Tag. Gegenüber dem common law, wie es Glanvilla traktiert und wonach die Zustimmung des Erben absolut zur Veräußerung von städtischem Grundeigentum nötig war, bedeutete dies einen Fortschritt. Glanvilla schreibt zur Zeit Heinrichs II. Gegenüber dem gemeinen Rechte, wie es Bracton unter Heinrich III. darstellt, bedeutet aber der retrait lignager einen Rückschritt, denn nach Bracton ist die Zustimmung der Erben überhaupt nicht nötig. Eine andere städtische Sondergewohnheit ist der burgus anglicus, d. i. das Erbrecht des jüngsten Sohnes an Stelle des ältesten. Es gilt aber auch mitunter die entgegengesetzte Bestimmung, daß der älteste Sohn in das liegende Gut nachfolgt: burgus franciscus 1 ). Sonderbestimmungen über Mitgift, Erbschaft u. dgl., welche sich von den Bestimmungen des common law unterscheiden, finden sich ebenfalls. Eine nicht seltene Stadtgewohnheit ist die freie Testierfähigkeit über unbewegliches Vermögen (z. B. in Hedon, s. Boyle a. a. 0 . p. CXXIII). Eine andere städtische Sondergewohnheit ist der Grundsatz, daß ein Leibeigener, der Jahr und Tag innerhalb der Stadtmauer weilt, frei ist. Städtischer Handel und Wandel bedingt überhaupt eine gewisse Freiheit von Rechtsformalitäten, und das Stadtgericht ist das wirksamste Feld für die Ausbildung solcher Handelsgewohnheiten. 2. Die Stadt besitzt Handelsprivilegien. Unter diesen Privilegien steht voran das Recht der Stadt auf einen eigenen Markt. Seit dem 15. Jahrhundert galt ein Marktgericht als notwendiges Zubehör des städtischen Markts 2 ). Mit dem Markt stand zuweilen ein vom König verliehenes Bannrecht in Verbindung, das die Nachbarschaft zwang, innerhalb der Stadt zu kaufen und zu verkaufen. Dieses vom König verliehene Bannrecht war aber eine sehr einträgliche Einnahmequelle, denn die so in die Stadt gezwungene ländliche Nachbarschaft war genötigt, städtische Abgaben zu zahlen. Ein Handelsprivilegium bestand aber auch unigekehrt darin, daß die Stadtbewohner vom König das Recht erhielten, in jeder andern englischen Stadt, ja auch jenseits des Kanals, in den königlichen Besitzungen in Frankreich und den französischen Städten, die unter der Botmäßigkeit des englischen Königs standen, frei zu sein von allen städtischen Abgaben und Octrois. 3. Ein bedeutendes Privilegium war die sog. firma burgi, d. i. die Befugnis der Stadt, die königlichen Gefälle in eigene Regie zu nehmen und dem Könige eine fixe Jahressumme hierfür zu entrichten. Der Name kommt daher, daß die Stadt eine Pachtung dieser königlichen Fr. B. Bickley, London und Bristol 1900). K a p i t e l l des Traktats lautet: »Quo modo lex mercatoria differì a lege communi«; Kapitel 2: »De plegiis ad prosequendum et praeeeptis ad attachiandum. « 1 ) Siehe Bateson a. a. O. II, 130 (für Nottingham). Der jüngere Sohn erhält da die Renten, auf die der Vater Anspruch hatte. *) Siehe Gross, Select Cases on the Law Merchant (1908), Seiden Society X X I I I , Introd. p. X V I I I .

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Der Feudalstaat.

Gefälle vornahm oder, was nicht selten vorkam, eine Pachtung f ü r ewige Zeiten, was in den damaligen Rechtsbüchern feefarm oder feodifirma hieß. Es ist ein besonders hervorstechender Charakterzug der mittelalterlichen Rechtsstellung, daß sie Rechte, Renten u. dgl., wenn sie mit liegendem Gut zusammenhängen, selbst als unbewegliche Güter, als res incorporales auffaßt. Was war nun vom König der Stadt überantwortet ? Die Gefälle. Worin bestanden sie ? Hauptsächlich in städtischen Octrois, in den Gerichtsgefällen und dann noch in besonderen Grund- und Bodenrenten. Ein besonderes Besteuerungsrecht außer den landläufigen städtischen Abgaben, den tolls, gab es nicht, wie wir noch sehen werden. Dem König stand aber das Recht zu, außer den verpachteten Gefällen nach wie vor tallagia von den Städten zu erheben, liegendes Gut, wenn es erbliches war, mittels des Heimfallsrechts an sich zu ziehen 1 ) und dergleichen mehr. 4. Die Städte erhielten durch ihre Freiheitsurkunden das Recht, eigene Beamte zu wählen. Schon unter Heinrich I. erlangen die Londoner das Recht, einen Sheriff und einen obersten Richter aus ihrer Mitte zu wählen. Nach und nach erlangten dieses Recht auch andere Städte. Insbesondere erhielten sie auch das Recht, ihre bailivi, ihre Stadtvorsteher, zu wählen. Die Empfindung, daß letztere auf diese Weise eigene Beamte der Stadt werden, ist anfangs nicht vorhanden, denn diese Beamten sind zunächst königliche Beamte, welche für den König das städtische Gefälle erheben. Wenn aber die Stadt die firma burgi erlangt, dann wendet sich das Recht, dann sind es nicht mehr königliche Beamte, sondern städtische Beamte, welche die städtischen Abgaben erheben. Viel trägt auch auswärtiger, insbesondere französischer Einfluß bei. Man sieht, wie fremde Landgemeinden, z. B. die der französischen Normandie, von dem Herzog das Recht einer eigenen Stadtorganisation erlangen, und so strebt denn auch z. B. London danach, eine eigene communa mit einem eigenen mayor zu besitzen 2 ). Die Freiheitsrechte gehen dann aber noch weiter. Die Städte erlangten das Recht, eigene conservatores zu bestellen, welche darauf zu achten haben, daß die Stadtverordneten gerecht und rechtmäßig arm und reich behandeln. Freilich, eine besondere Differenzierung der Organe, namentlich die Einrichtung eines Stadtrats, werden wir in dieser Periode noch vermissen. Meist ist es das Stadtgericht, welches auch Verwaltungsfunktionen hat. So verleiht im Jahre 1200 Johann der Stadt Ipswich eine Charte, wonach sie 2 bailivi und 4 conservatores wählen darf. Aber dabei blieben die Bürger nicht stehen, sie wählen noch 12 portmen, »wie das in andern freien Städten Englands Sitte ist«, welche die Stadt regieren und die Urteile der städtischen Gerichtsbarkeit sprechen sollten. Diese 12 schließen die bailivi und die conservatores in ihre Mitte ein und bilden das Stadtregiment. Alle Bürger müssen ihnen *) Für Hedon bestand das besondere Privileg, daß, wenn ein Mündel, das unter städtischer Vormundschaft sich befand, vor Erreichung des 16. Lebensjahres starb, die Stadt (nicht der König) das Heimfallsrecht ausübte. Boylea. a. O. p. LXIX. *) Siehe dazu Round, The commune of London 1899, ch. XV.

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Die Städte.

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eidlichen Gehorsam versprechen, ausgenommen, daß die Herren des Stadtregiments etwas begingen, was gegen den König und die königliche Gewalt wäre. Mit der Zeit werden diese 12 portmen für Lebensdauer gewählt, können nur bei offenbar schlechter Führung ihres Amtes abgesetzt werden. Sie ergänzen sich durch Kooptation und nicht durch Wahl. Dieser Ipswichtyp ist aber nicht der einzige. London hat einen eigenen Typus entwickelt. Außer dem Stadtgericht gibt es hier noch ein folkmöt, welche zu bestimmten Zeiten tagt, und zwar auf dem St. Paul-Kirchhof. Das Stadtgericht tagt daneben als hüsting. Das folkmöt ist das Stadtregiment, die Versammlung aller Bürger. Im großen und ganzen überwiegt der Ipswichtyp den Londontyp, d. h. im großen und ganzen sind in England die Städte eher oligarchisch als demokratisch verwaltet. 5. Die Stadt erlangt ein besonderes Recht, sich selbst Statuten zu setzen, bylaws. Zunächst ist dies keine Besonderheit der Stadt, auch kleine Dörfer können mit Zustimmung ihres Lords solche bylaws erlangen. Das besondere Privileg der Stadt liegt nun darin, daß sie von niemand abhängig ist, wenn sie solche bylaws erläßt. Als solches bylaw ergeht 1189 in London die Fitz Alwynes Assize, die erste städtische Bauordnung. Eine ähnliche Bauordnung wird nach dem großen Feuer 1212 erlassen, sie stellt unter anderem auch die Löhne der Maurer, Zimmerer und Dachdecker fest. Aber auch sonst dienen städtische bylaws der Preisregulierung innerhalb der einzelnen Innungen und Zünfte. Den königlichen Gerichten steht natürlich die Kontrolle darüber zu, daß die Stadt ihre durch Charte gesetzte Grenze nicht auf dem Wege eigener Statuten überschreite, aber in den seltensten Fällen kommt eine solche Überschreitung vor die Kognition der königlichen Gerichte. Wie konnte es auch anders sein! Nur der reiche Mann konnte es riskieren, den Prozeß vor die königlichen Gerichte zu ziehen, der kleine Mann war froh, wenn ihn seine Nachbarn in Ruhe ließen, und war am wenigsten geneigt, Unfrieden in die Situation zu bringen und den Michael Kohlhaas zu spielen. 6. Die Steuergewalt der Stadt wurde ebenfalls durch Charte verliehen, aber wir können nur im uneigentlichen Sinne von einer solchen sprechen, denn im großen und ganzen ruhte diese Steuergewalt auf Gewohnheit und auf Grundbesitz. Die Abgaben wurden automatisch nach diesem Grundbesitzausmaß und nach der Gewohnheit erhoben. Wenn die Bürgerschaft ihre Mauern, ihre Brücken, ihre Straßen reparieren wollte, so wandte sie sich an den König um die Berechtigung, Abgaben hierfür zu erheben. Aber wir dürfen uns die Bedürfnisse einer Stadt zu Beginn des Mittelalters nicht zu umfangreich vorstellen, namentlich nicht nach modernem Muster einschätzen, denn die Ambition, Sozialpolitik in dem weitesten Sinne des Wortes zu treiben, hatte eine mittelalterliche Stadt nicht, und die wenigen Bedürfnisse, die sie hatte, wurden von solchen Abgaben, tolls genannt, erledigt. Die häufigsten waren Wegegelder (wheelage) zur Reparatur von Wegen, Brückengelder (pontage) zur Reparatur von Brücken, Ladegelder (lastage),

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Der Feudalstaat.

Straßenreinigungsgelder (scavage), Krangelder (tronage) u. a. Den Umfang dieser Abgaben nach freiem Willen zu erweitern, stand der Stadt nicht zu. Man kann dies am besten daraus ersehen, daß, wenn gegen eine Stadt die Beschwerde erhoben wurde, sie hätte eine neue Abgabe aufgelegt, die Stadthäupter gleich ernstlich versicherten, daß die Abgabe durchaus keine neue sei. Wenn dem Könige selbst das Recht streitig gemacht wurde, neue und ungewohnte Zölle und indirekte Abgaben zu erheben (s. z. B . cap. 41 der Magna Charta), um wie viel mehr den Städten, die auch nur eine vom König abgeleitete Besteuerungsgewalt besaßen. 7. Ein besonderes Privileg, das sehr geschätzt wurde, war die eigene gilda mercatoria. Das R e c h t , eine Kaufmannsgilde zu haben, bedeutete das Privilegium der Bürger, sich zu einem besonderen Verein, zu einer Gilde, zusammenzutun, welche alle Handelsprivilegien, die der Stadt zustanden, Fremden gegenüber geltend machen konnte. Ein Korrelat der gilda mercatoria und neben ihr häufig verliehen, ist das Privileg, eine »hansa« zu halten 1 ). Während gilda mercatoria sich auf das Handeltreiben innerhalb der Stadtmauern bezog, bedeutete das Recht, eine »hansa« zu halten, die Befugnis, a u ß e r h a l b der Stadtmauern in allen Teilen des Reichs handeln zu dürfen. Die Voraussetzung der »hansa« war immer eine gilda, nicht umgekehrt. Denn die ausländischen Kauüeute, z. B . die Cölner Englandfahrer hatten eine »hansa« in London (aus der dann die deutsche Hansa in London hervorgegangen ist), aber keine »gilda«. Eine der ersten Städte, welche eine gilda mercatoria erhielt, war Ipswich im Jahre 1200. Die Gildenorganisation war manchmal mit der städtischen (so z. B . in Leicester) vereinigt, manchmal aber vollständig von ihr abgetrennt, j e nachdem die betreffende Stadt in der kaufmännischen Entwicklung fortgeschritten war oder nicht. Anfangs beschränkt sich das Gildenwesen nur auf die Kontrolle der Außenwelt, insbesondere auf die der stadtfremden Außenwelt gegenüber geltend zu machenden Privilegien. Später, in der nächsten Epoche, werden wir aber sehen, wie sehr die Gilde mit der Stadt zusammenwächst, wie insbesondere die Gilde sich zunftartig ausgestaltet und die ganzen Gewerbe der Stadt kontrolliert. Die Vorbedingung wird schon in dieser Periode geliefert. Die Gilde hat ihren eigenen Gerichtshof, der neben dem städtischen Gerichtshof tagt. Die Gildenbrüder treten zu »Morgensprachen« zusammen und verhandeln dabei nicht bloß über die Gildenverwaltung, sondern auch über Rechtsfragen, z. B . die Frage der Nachfolge in einen vakant gewordenen Gildenplatz. Der Gildenplatz, d. i. das Recht der Mitgliedschaft, wird wie ein unbewegliches Gut behandelt, vergeben, verkauft, vererbt. Rechtsfragen, die sich auf dieses Veräußerungs- und Ubertragungsgeschäft beziehen, werden in diesen Morgensprachen erledigt. ') Der Nachweis, daß hansa nicht Abgabe, sondern Recht des genossenschaftlichen Zusammenschlusses bedeutet und neben gilda mercatoria eine besondere Bedeutung besitzt, hat zuerst W a l t e r S t e i n in den Hansischen Geschichtsblättern 1909 S. 89 ff. in überzeugender Weise erbracht. Siehe auch dessen frühere Ausführungen a. a. 0 . 1 9 0 8 , S. 197 ff. und seine jüngsten Ausführungen ebendaselbst 1911, S. 292 ff.

§8.

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Die Städte.

Mitunter, wie z. B . in Leicester, wird die städtische Gerichtspflege durch die Morgensprache dirigiert. Wir sehen, die Hauptsache ist, daß die Bürger einer Stadt in ihrer Kollektiveigenschaft diese Rechte geltend machen können. Man fragt nicht viel danach, ob nicht ein besonderes Rechtssubjekt dieses Recht losgelöst von den einzelnen Mitgliedern in Anspruch nehmen darf. Der Gedanke einer persona ficta ist für die damalige Zeit eines gebundenen Vermögensverkehrs nicht so wichtig. Kommt diese Frage da und dort vor Gericht zur Sprache, so wird erklärt »communa non est capax libertatis«, d. h . : sie kann kein subjektives Herrschaftsrecht (franchise) erwerben (s. Yearbooks in Seiden Society X X I V , p. 131 6/7 Ed. I I . 1313/4). Aber es kommt die Zeit, und man kann ihr Heranbrechen schon an einzelnen Symptomen feststellen, es kommt eine Zeit, da diese Frage sehr wichtig wird: wem alle diese Rechte zustehen ? Der Vermögensverkehr der Stadt dehnt sich über die Stadtmauer aus, der Stadtverkehr wird intermunizipal und drängt die Frage auf: wer ist Eigentümer all dieser Rechte ? Das Problem löst erst die nächste Periode durch den Korporationsbegriff. Mitunter, allerdings höchst selten, wird der Stadt schon in unserer Periode die Qualität eines Subjekts des Lehensrechts gegeben. So tritt die Stadt, z. B . London, als Vasall 1 ) auf. Dann ist sie communa, und wird nicht wie die andern Städte, die zu den königlichen Domänen gehörten, mit dem tallagium, der Steuer der Hörigen belegt, sondern leistet freiwillige »auxilia«. London 2 ) hat diese so bevorrechtigte Stellung schon seit 1191 und erhält sie im Jahre 1215 in der Magna Charta, c. 12 bestätigt, freilich um 1255 mit seinen Ansprüchen in dieser Hinsicht abgewiesen zu werden. W a s nun die grundherrlichen Mediatstädte unserer Periode anlangt, so ist besonders die Verwendung der von den Baronen verliehenen Stadtfreiheiten und -privilegien zur Kolonisation des platten Landes hervorzuheben. Auf englischem Gebiet und in den sog. Grenzgebieten gegen Wales, in Wales und Irland waren eine große Zahl von Städten durch große normannische Barone angelegt worden. Nicht selten sind das Vorbild dieser Stadtfreiheiten Privilegien, wie sie an Städte der Normandie von den großen Grundherren verliehen worden sind. So z. B . fungieren die »libertates et libere consuetudines de Betoil«, d. s. die Stadtfreiheiten von Breteuil 3 ), als großes Muster, nach welchem Städte wie Hereford, Rhuddlan, Shrewsbury, Bideford, Nether Weare, Drogheda in Meath, Ludlow, Dungrave in Waterford, Chipping Sodbury, Preston u. a., bewidmet wurden. Königliche Genehmigung *) Nach französischem Muster als »seigneurie collective populaire«. Siehe Luchaire, Communes Françaises, p. 97. 2 ) Siehe dazu Round, The Commune of London and other Studies 1899, p. 219 ff. und A d a m s in E . H. R. X I X , p. 702 ff. Dagegen aber Petit-Dutaillis a. a. O. p. 100 ff., den aber Adams, E . H . R . X X I V , p. 490 ff., mit zutreffenden Argumenten widerlegt. s ) Siehe darüber und zum Folgenden Bateson in E . H. R . X V , p . 7 3 ff., 302 ff., 4 9 6 ff., 754 und X V I , p. 92 ff., 322 ff. H a t s c h e k . E n a l . Verfassungsgeschichte.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

zu solcher Kolonisation durch das Mittel der Städtegründung war zwar nötig1), wurde aber wohl niemals versagt. So berichtet Florence von Worcester anno 1067 von dem großen Kolonisator, William Fitzosbern, daß ihm Wilhelm der Eroberer den Auftrag erteilt hätte, »castella per loca firmari«. Dem Kastell mußte aber, um seine wirtschaftliche Verproviantierung zu sichern, eine Reihe von Handelsleuten, Kleinkaufleuten und Handwerkern zugeführt werden. Dazu mußten in der zu gründenden Stadt Vorteile erlangt werden, die sonst nirgends zu erhalten waren. Die künftige Stadtbevölkerung mußte durch besondere Stadtprivilegien angezogen werden. Eines der Mittel war, die Polizeistrafen (amercements), welche damals willkürlich von den königlichen Beamten und den großen Immunitätsherren gehandhabt wurden, von vornherein in den Kolonisationsstädten derart zu fixieren, daß sie noch immer bedeutend niedriger waren als anderswo. So verlieh W. Fitzosbern den Bürgern von Hereford den Schutz, daß er ihnen als Höchstmaß der Polizeistrafe 7 sh. zusicherte, während andere Barone ihren Mediatstädten 20 sh. oder 25 sh. für geringfügige Delikte abnahmen und auf dem platten Land die königlichen Richter bis ins Ungemessene gehen konnten. 12 Schilling Polizeibuße war der Durchschnittssatz. Aber nicht bloß in dem niedrigeren Bußtarif, sondern vor allem in seiner Fixierung haben wir ein Privilegium von besonderer Anziehungskraft. — Ein anderes Mittel war der geringe Rentenkanon (»Freizins« im deutschen Sinne), der von dem zur Erbleihe geliehenen Gut (burgagium) in solchen Kolonisationsstädten zu zahlen war. Das war die »Gründerleihe«, wie sie auch in Deutschland vorkam 2 ). Freilich, diese Grundbesitzeinheit war weit davon entfernt, den Inhabern ein auskömmliches wirtschaftliches Einkommen zu sichern. Es war ein Kleinbesitz, der hier ausgetan wurde. Aber die Neusiedler sollten auch hier nicht bloß in der Urproduktion ihren ausschließlichen Beruf erblicken, sondern in Handel und Gewerbe, so berichtet die Domesday Book (D. B. I, 248 b, col. 1) von Tetbury, wahrscheinlich eine Kolonisationsstadt Henry de Ferrers: »in burgo circa castellum sunt XLII homines de mercato suo tantum viventes«. Ein sehr anschauliches Bild dieses Kolonisationsprozesses in Staffordshire gibt ein Topograph aus der Zeit Elisabeths, Shaw (I, 44): »Und um ihre Immunitätsbezirke volkreicher und ansehnlicher zu machen, errichteten die großen Grundherren drei Städte innerhalb sechs Bannmeilen des Kastells, . . . . und gaben den Bürgern und Einwohnern Es hängt dies wohl mit dem zusammen, was Roth, Geschichte des Benefizialwesens S. 72, als Grundsatz »des fränkischen Völkerrechts« bezeichnet, nämlich das Recht des Königs, in neueroberten Ländern die Okkupation zu gestatten und jene Länder zu bevölkern. Die aprisio des fränkischen Rechts und das Recht des Königs am eremus (Brunner, D. RG. II, 215 f. und l 2 , 293 2 ) läuft wohl auch parallel. ') In England gilt noch heute der Rechtssatz, daß keine kolonisatorische Okkupation durch Private ohne königliche Genehmigung zulässig ist. Siehe Forsyth Cases and Opinions on Constitutional Law 1869, p. 119 ff. und mein engl. Staatsrecht I, 218.

§ 8.

Die Städte.

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jeder Stadt so viel Land, um so viel darauf zu bauen, als in jeder Verleihungsurkunde aufgezeichnet war. Und um die Leute mehr anzuspornen, daß sie ihre Niederlassungen in diesen Städten nähmen, so gaben sie ihnen Wochen- und Jahrmärkte innerhalb dieser und gewährten den Bürgern Allmenden, Hutweiden, Eichelmästung in den Wäldern und das Recht, in dem gutsherrlichen Forst von Needwood ihren Wohnungsholzbedarf zu entnehmen, und auch daß sie frei seien von Wegezöllen, Wägegeldern 1 ), Marktstandsgeldern 2 ), Gewichtzöllen und anderen Steuerforderungen innerhalb ihrer gutsherrlichen Besitzungen; und sie vergaben an Tetbury 182, an Newburgh 101 und an Uttoxester 127 burgagia, welche alle von Handwerkern besiedelt wurden, wie es den Anschein hat. Anders konnten sie nicht ihren Lebensunterhalt fristen. Denn wir finden in den Urkunden und Stadtrechnungen von Zeit zu Zeit, daß alles Land innerhalb dieser Gutsbezirke an verschiedene Personen entweder durch charter oder sonst an Gutshörige ausgetan wurde, ohne irgendwelchen Vorbehalt zugunsten der Bürger für die Erhaltung ihres Lebensbedarfs, sondern bloß mit einem Vorbehalt für die Handwerker und Kleinkaufleute, die nicht Bauern und Viehzüchter waren, und sich bloß auf ihren Handel und ihr Gewerbe verließen. Solches war die Weisheit und Politik unserer Vorfahren, die die Trennung der Kaufleute und Handwerker v o n den Bauern und Zehentleuten derart vornahmen, daß keiner von der einen Klasse an dem Gewinn der andern Geschmack finden sollte «. Ein anderes Mittel war die Emanzipation von dem common law, wie es im Hundertschat'tsgericht gehandhabt wurde, denn die Städte wurden durch ihre Stadtqualität von diesem Gericht eximiert und ihrem Stadtgericht unterstellt, das jedenfalls mehr ein Immunitätsgericht des Baron-Kolonisators als ein unabhängiges Stadtgericht war. Gewöhnlich wurden diese Kolonisationsstädte neben dem Kastelle angebaut, das der Verteidigung diente. Dort, wo eine Stadt aus einer alten gutsherrlichen Gemeinde herauswuchs, suchte man durch die Kolonisation neue Stadtbürger, die alten Gemeindebewohner in ihrem Besitz ungestört zu lassen und vergab außerhalb des alten Gemeindebezirks, der die alte Agrarbevölkerung umfaßte, Neuland in kleinen Stücken an die neuen Siedler, die Krämer und Handwerker. Normannische Vorstädte (Frankville!) entstehen dicht neben alten Grafschaftsstädten, wie Herford und Shewsbury. — Der Feudalismus hat diese Kolonisationsstädte geschaffen. Mitunter entwickelt sich in ihnen ein städtischer Gemeingeist, der die feudalen Fesseln einfach sprengt; mitunter aber bleiben die Fesseln dauernd und bewirken im 17. und 18. Jahrhundert jene korrupten kleinen Stadtflecken, welche für Wahlzwecke dem Grundherrn ein freies Verfügungsrecht über die zugehörigen Parlamentsvertreter verschaffen. 1

) s. v. tronagium bei Ducange. ) s. v. picagium bei Ducange.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

§ 9. Die Rechtspflege. Literatur. v. A m i r a , Grundriß, S. 203 f. B i g e 1 o w , History of Procedure in England from the Norman Conquest, London 1880. — B r u n n e r , D. RG. I*, S. 206 f. — Derselbe, Die Entstehung der Schwurgerichte 1872. — D u g d a 1 e , Origines judiciales, London 1666. — F o r s y t h W., History of Trial by Jury, London 1852, 2. ed. New York 1875. — G r e e n , The Centralization of Norman Justice under Henry II., in Select Essays in Anglo-American Legal History 1907, I, p. I l l ff. — H a s k i n s in der American Historical Review VIII, 613—640. — Derselbe in der E. H. R. XXIV, p. 213 f. — L a u g h 1 i n J. L., Essays in AngloSaxon Law, Boston 1876, p. 183 ff. — L e o H. C., Superstition and Force, 4. ed. Philadelphia 1892. — L i e b e r m a n n , Archiv für neuere Sprachen, C II, S. 275 ff. — Derselbe in der Festschrift für Brunner 1910, S. 17 ff. — Derselbe, Sachglossar s. v. »Gerichte, Gerichtsbarkeit private, Grafschaftsgericht, hundred, Königsgericht, Instanzenzug, Rechtweisung, Richter, Urteilfinder«. — M a i t l a n d , Constitutional History, p. 105—190. — Derselbe, Pleas of the Crown for the County Gloucester, London 1884 (Einleitung). — M a u r e r K., Das Gesetzsprecheramt in Dänemark, Sitzungsberichte der Kgl. Bayer. Akademie, Philos.-philol. Klasse 1887, II, S. 388—399. — Derselbe, Das Väpnatak des nordischen Rechts. — N e i 1 s o n G., Trial by Combat, London 1890. — P o l l o c k u. M a i t l a n d I I , p. 529 ff. — R i n t e l e n M . , in Hist. Aufsätze für Karl Zeumer zum 60. Geburtstage 1910, S. 557 ff. — S t e e n s t r u p , Normannerne IV, p. 175—243. — T h a y e r , A Preliminary Treatise on Evidence at the Common Law, ch. II. — V i n o g r a d o f f , English Society, p. 90—140. — Z i n k e i s e n F., Die Anfänge der Lehensgerichtsbarkeit in England, Berlin 1893, S. 61 ff. — Derselbe, The Anglo-Saxon Courts of law, in Political Science Quarterly X, p. 132—144. Die Gerichte unserer Periode sind von dreifacher Art: 1. die sog. Volksgerichte, 2. die Immunitätsgerichte der großen Grundherren, 3. das Königsgericht. I. Die sog. Volksgerichte (folcgemöt). I. D i e sog. Volksgerichte (folcgemöt). Dieselben sind schon in der Zeit der angelsächsischen Leges als königlich anzusehen 1 ). Die Doppelteilung, nämlich in das Grafschaftsgericht und das Hundertschaftsgericht resp. Stadtgericht, wird wohl erst für die Zeit Edwards des Älteren (Anfang des 10. Jahrhunderts) anzusetzen sein 4 ). Vorsitzender und Leiter des Grafschaftsgerichts und wohl auch Urteilsprecher, Rechtweiser 3 ) ist in der angelsächsischen Zeit der ealdorman und der Bischof, letzterer mit der Verpflichtung, den Gedanken der christlichen Milde zu bringen, in der Zeit der Normannenkönige bereits der Sheriff (vicecomes). Der Sheriff *) Spuren des volkstümlichen Ursprungs vielleicht noch in den Kenter Gesetzen erhalten. Liebermann, Sachglossar »Gericht« 157. s ) Liebermann a. a. O. 13 in Verbindung mit 12 b. Vor dieser Zeit gab es nur eine Art »folcgemöt«, welches auch mitunter »burhgemöt« hieß, wenn die Versammlung in einem befestigten Gehöfte (burh) stattfand. s ) Dies bedeutet ihr »riht täcan«, in III Eadgar 5, 2(7); Liebermann im Archiv für neuere Sprachen, C II, S. 279 f., und a. a. O. »Gericht« 19a, ferner »Rechtweisung« und »Richter«. In Grenzgebieten und Gebieten mit gemischter Bevölkerung wird ein Kollegium von Urteilsprechern gebildet. Liebermann a. a. O. 280 und Rintelen a. a. O. S. 570 f.

§ 9.

Die Rechtspflege.

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ist der Krone für alle Gerichtsfälle verantwortlich und muß ihr zweimal im Jahre Rechnung ablegen. Er ist der Vollstrecker der königlichen Sendschreiben (brevia). Das Grafschaftsgericht besteht aus den vornehmen Grundeigentümern und mittleren Freibesitzern der Grafschaft. Eine Urkunde aus der Zeit von Wilhelm Rufus (1087—1097) bestätigt dies. Sie sagt deutlich, daß dem Abt von Burry St. Edmund Immunitätsgerichtsbarkeit verliehen würde, daß alle dieser Unterworfenen von der Gerichtsfolge zum Grafschaftsgericht und Hundertschaftsgericht ausgenommen sind (»Et defendo etiam u t non cogatis homines sancti ire ad schiras vel ad hundreda«), a u s g e n o m m e n d i e jenigen, welche sovielGrund undBoden besitzen, Bedaß d i e s e r sie s c h o n zur Z e i t E d w a r d s des k e n n e r s z u j e n e r G e r i c h t s b a r k e i t b e f ä h i g t hätte (»nisi illos qui tantum terre habent unde dignis fuissent tempore regis Edwardi ire ad schiras vel ad hundreda«) 1 ). Gewöhnlich repräsentiert sich der Großgrundeigentümer auch als Urteilfinder. Aus ihrer Zahl und aus den erschienenen Freien bestellt der Gerichtsherr resp. der königliche Richter die Urteilfinder. Der Beklagte darf sein Einverständnis mit der Wahl verlangen 2 ). Das gefundene Urteil wird vom Vorsitzenden in ein Rechtsgebot umgewandelt (riht tiican). Die in Denalagu und anderwärts vorhandenen lagamen 3 ) sind wohl mehr als bloße Urteilfinder, vielleicht Rechtweiser. Ihr Amt ist erblich. Die auf der Grundherrschaft ansässigen Bauern, Freien und Unfreien, sind durch ihren Grundherrn vertreten gedacht. Statt des Grundherrn kann sein Vogt erscheinen, und wenn beide fehlen, der praepositus des Dorfes (Dorfvogt), Pfarrer und vier Dorfbauern, die alle nicht Vorgeladenen (also die Freien des Dorfes) vertreten. (Leges Henrici, § 7 Z. 7—8.) Die selbständige Gerichtsfolgepflicht ist das Zeichen eines freien und wenigstens die andern Bauern überragenden Grundbesitzes. Das Gerichtsurteil wird — wie bereits oben erwähnt — von den im Gerichtshof erschienenen vollfreien Grundeigentümern der Grafschaft gefunden. So sagen die Leges Henrici (§ 29) »regis judices sint barones comitatus qui liberas in eis terras habent«. Grundsatz war, daß Unvermögende und Gutshörige (»villani, vel cotseti vel ferdingi« § 29, l a ) ') Diese Urkunde abgedruckt in E. H. R. vol. 24, p. 424 Nr. V. Über ähnliche Verhältnisse aus Norfolk siehe Vinogradoff a. a. O. p. 104. Die obige Urkunde belegt zugleich, daß Hn. Com. (bei Liebermann I, 524 § 4): »Et volo et precipio, ut o m n e s de comitatu eant ad comitatus et hundreta, sicut fecerunt in tempore regis Eadwardi« für die angelsächsische Zeit nicht e r n s t zu nehmen ist, und daß die Gerichtsfolge nur auf größerem Grundbesitz lastet. Wie die Freibürgschaft in der Normannenzeit mit der Sectapflicht in Verbindung gesetzt wurde, siehe oben § 7. 2 ) In einigen Gegenden (Wessex) gab es außer feststehenden Urteilfindern (constituti) noch von jeder Partei herangezogene (advocati) nach dem Zeugnis der Leges Henrici § 31, 8. ') Liebermann, Sachglossar »Lagamen«; Steenstrup, Normannerne IV, 195 ff.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

als Urteilfinder (judices) nicht zugelassen wurden, denn die Grundeigentümer sollten nur »per pares suos et ejusdem provincie« (Leges Henriei § 31, 7) gerichtet werden. Verlangt ward also, daß jeder Grundeigentümer nicht nur durch seinesgleichen gerichtet wird, sondern auch von Leuten seines Nachbarverbandes. Das »ejusdem provinciae« der Leges Henrici (§31, 7) hat für die ausgehende angelsächsische Zeit noch eine ganz besondere Bedeutung 1 ). Bevor sich nämlich das common law über ganz England ausgebreitet hatte, besaß jede Grafschaft ihr eigenes common law. Solche Grafschaftsgewohnheiten finden wir in der Domesday Book zahlreich aufgeführt. Die Grafschaftsgerichte waren der Sitz, wo diese Provinzial- oder Grafschaftsgewohnheiten ihre definitive Festlegung erfuhren. Sie entschieden nach dem vorhandenen Gewohnheitsrecht oder übten freie Rechtsfindung aus. Es gab nämlich einen gewissen Kern von Rechtssätzen, welche der König selbst oder mit seinen witan erlassen hatte (Königsrecht). Das war bloß der kleinere Teil, der größere Teil war vom König nicht erlassen, sondern hatte Grafschaftsursprung (Volksrecht). Der größte Teil der Zivilrechtsstreitigkeiten, der freiwilligen Gerichtsbarkeit, gründete sich auf solche Entscheidungen des Grafschaftsgerichts. Mitunter treten mehrere Grafschaften zusammen, um eine bestimmte Entscheidung zu fällen und das Recht authentisch zu deklarieren (z. B. Domesday Book I 175 b). Wenn eine Verschiedenheit der Meinungen unter den Richtern obwaltet, so entscheidet entweder die Majorität (»vincat sentencia plurimorum« § 5, 6) oder aber die Meinung der an Rang Höchsten (»vincat sententia meliorum« L. H. § 31, 2). Die Kompetenz des Grafschaftsgerichts war in der angelsächsischen Zeit nicht umfangreich. Sie litt unter der überaus großen Konkurrenz des Hundertschaftsgerichts, vor welches sowohl Kriminal- als auch Kronprozesse gelangen konnten (Liebermann Sachglossar »hundred« 35 a). Erst unter Heinrich II. tritt sie gegenüber der Hundertschaftsgerichtsbarkeit in den Vordergrund. Die weniger wichtigen Fälle des Friedensbruches, Streitigkeiten von Gutshörigen verschiedener Gutsherren u. dgl. werden im Hundertschaftsgericht abgetan. Im Sheriff's tourn der Hundertschaft findet der visus franciplegii, die Kontrolle, daß jeder in einer Freibürgschaft 2 ) sei, statt. Vor das Grafschaftsgericht gehören gewisse Kriminalfälle (z. B. Diebstahl) und Grundeigentumsprozesse3) sowie die Kontrolle der guts- und grundherrlichen Gerichte und der Hundertschaftsgerichte bei Justizverweigerung, Rechtsweigerung (in bezug auf Prozeßeinlassung und Urteilserfüllung und Nichtausnutzung des Vollstreckungsgangs seitens der Nieder1

) Siehe dazu Vinogradoff, English Society, p. 90 ff. ) Darüber oben § 7. *) Sofern sie insbesondere nicht gewisse Lehensstreitigkeiten, die dem Königsgericht vorbehalten waren, oder die vom Königsgericht allein zu führenden Assissenprozesse betrafen. Bigelow, p. 82 u. 134. 2

§ 9.

Die Rechtspflege.

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gerichte). Zur Kompetenz des Grafschaftsgerichts gehört ferner auch die Friedloserklärung. Das Grafschaftsgericht tagte zwölfmal im Jahre (Leges Henrici, § 7, 4), zur Zeit der Magna Charta von 1217 jeden Monats, an manchen Plätzen, wenn es die Gewohnheit war, öfters (Art. 12 »Nullus comitatus decetero teneatur, nisi de mense in mensem; et, ubi major terminus esse solebat, major sit«). Das Hundertschaftsgericht war in der älteren Zeit wohl auf demokratischer Basis eingerichtet. Jeder ceorl war »mötweorjj«1), d. h. gerichtsfähig und Teilnehmer an dem Hundertschaftsgericht. Später verengerte sich der Kreis der Gerichtsteilnehmer, und am Ausgang der angelsächsischen Zeit waren Mitglieder des Hundertschaftsgerichts nur die größeren Grundeigentümer und Vertreter der gutshörigen Dorfgemeinden, wenn ihre Gutsherren abwesend waren. So ganz ausgeschaltet von der Urteilsfindung wie im Grafschaftsgerichte sind die freien Bauern im Hundertschaftsgerichte selbst des 12. Jahrhunderts keinesfalls 2 ). Die Leitung und Rechtweisung steht in der angelsächsischen Zeit dem Vogt (königlichen, = Fiskalrichter, oder grundherrlichen, wenn das hundred in die private Gerichtsbarkeit als Immunität übergegangen ist 3 )), zu. Der in den Gesetzen erwähnte hundredes ealdor ist nicht Richter, hat aber eine polizeiliche Aufsicht über die Hundertschaft und sammelt das Dänengeld ein. (Liebermann, Sachglossar »hundred« 25 a ff.) Er ist vom oder wenigstens aus dem Volke der Hundertschaft gewählt, im Gegensatz zu dem vom Könige gewöhnlich bestellten Richter des Hundertschaftsgerichts. (Liebermann a. a. 0 . 25). In der Normannenzeit wird aus dem letzteren (custos hundredi D. B. II, 66 b), nicht aus dem erstem der baillivus der Hundertschaft 4 ), der in der Hundertschaft den Sheriff der Grafschaft vertritt. Nach den Leges Henrici wird das Hundertschaftsgericht zwölfmal im Jahre abgehalten (Leges Henrici § 7, 4). Diese Fristsetzung ist wohl altgermanisch, denn es findet sich auch bei andern Stämmen der Brauch, die Dingversammlung um Voll- oder Neumond anzusetzen 6 ). In der Zeit Heinrichs II. tagt es alle 14 Tage, und durch eine Verordnung von 1234 wird bestimmt, daß es einmal in drei Wochen zusammentreten soll4). II. Die Immunitätsgerichte.

Während diese anfangs eigentlich bloß als Übertragung einer reich fließenden Einnahmequelle des Strafgelds gedacht ist, spezialisiert sie sich später zur Übertragung richterlicher Funktionen 7 ), da man nicht 1

) Siehe Earle, Landcharters p. 343, und Leges Henrici § 7, Ziff. 8. *) Siehe Liebermann, Sachglossar »hundred« 31 b. а ) Liebermann, Sachglossar »hundred« 26 ff. *) Round, in Victoria County History (Essex I, 518a). б ) Brunner, D. R G. II, 218. •) P. & M. I», 557. 7 ) A m frühesten findet Liebermann die Immunität im Sinne privater Gerichtsbarkeit Anno 780: Sachglossar »Gerichtsbarkeit, private« 9. Sehr häufig aber schon im 9. Jahrhundert.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

erwarten konnte, daß die staatlichen Lokalgerichte, nachdem ihnen die Gerichtsgefälle entzogen waren, auch wirklich in den Immunitätsbezirken judizieren würden. Doch kommt auch dies vor, daß die staatlichen Gerichte judizierten, das Strafgeld aber dem Immunitätsherrn (z. B. der Kirche, Birch, Chartularium Nr. 1219) zufloß. Übrigens war das Strafgeld nicht der einzige Ertrag. »Auch Geschenke (Bestechung) spielten eine Rolle, vielleicht blieb dem königlichen Gerichtshalter auch Buße für Formfehler im Prozeß«1) (sog. miskenning). Diese söcn, ursprünglich als persönlicher Immunitätsbezirk gedacht, wird mit der Zeit territorial, söcn und Gutshof decken sich aber keineswegs. Es gibt z. B. Immunitäten, welche keinem Gutshof zugehören, wo überhaupt kein Gutsherr in der Umgebung vorhanden ist und welche doch besonders als jurisdictionelle Zentren vorkommen 2 ). So finden sich z. B. in Lincolnshire große Immunitätsbezirke, ohne daß ein Gutshof, eine gutsherrliche Domäne vorhanden war, und der Zentralpunkt des Bezirks erscheint nur im Lichte eines Zusammenkunftsorts für das Immunitätsgericht. Auch die Gerichtsbarkeit der Immunität ist in ihrem" Umfang verschieden, je nachdem die Privilegierung reicht: für gewöhnlich ist in ihr das Recht zur Beweisführung mittels Ordals und der gewöhnliche Gewährzug im Anefangsprozesse nicht gegeben. Auch die kriminale Gerichtsbarkeit steht nur dem Adel zu. Eine solche umfangreiche Immunität umfaßt nach der folgenden Aufzählung: (C. D. Nr. 850) »ic habe geunnen Criste and Sancte Petre intö Certeseige done sylfa tun and Eggehäm and Torp and Cebbehäm mid däm hundrede of Goddelie freo wid echege scote, and weorc and wäre, and saca and söca, and toi and teäm, and infangene |>eöf and grisbruche and foresteal, hämsöca, and flemenformd, and mordslehte, inne freols and üt of freöls, and wid ealle de Junge de tö me belimpad, on wude and on felde«. (Cf.C.D.Nr.848, 849.) Die geläufigsten Gegenstände der Immunitätsgerichtsbarkeit waren, außer der allgemeinen Formel sacu and söcn, welche im allgemeinen eigentlich bloß Gerichtssache meinte, toll, das Recht, seine Gutshörigen und Immunitätsabhängigen zu besteuern; team, das Recht einen Gerichtshof zu halten, in welchem auch im Eigentumsprozesse an die Gewähr eines Fremden als Autors einer Eigentumsübertragung gezogen werden darf (namentlich im Anefang!); infangenj)eof ist das Recht, einen Dieb zu ergreifen und abzuurteilen, den man bei handhafter Tat ertappt hat, gleichviel ob es ein eigener Untertan oder fremder ist 3 ); gri|jbryce war das Recht, für den Bruch eines Sonderfriedens, sei es des Königs oder der Kirche, eine besondere Buße zu verlangen; forsteall bedeutet Bußrecht für gewaltsame Rechtsperrung 4 ), die aber wie bei andern Germanen mehr ist ') Liebermann, Sachglossar »Gerichtsbarkeit, private« 17. l ) Siehe dazu F. M. Stenton, Types of Manorial Structure in the Northern Daneland, in Oxford Studies, II. Bd. (1910), p. 1 ff. s ) Das Privileg der Jurisdiktion über den eigenen Mann, der außerhalb des Immunitätssprengeis bei Diebstahl ertappt wird, heißt »ütfangen|>eof«. Liebermann, Sachglossar »infangen]>eof« IIa. 4 ) Liebermann, Sachglossar »Rechtsperrung«.

§9.

Die Rechtspflege.

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als gewaltsame Versperrung eines öffentlichen Weges 1 ) und z. B. das Delikt umfaßt, die Spurfolge hinter gestohlenem Vieh gewaltsam abzuwehren, ferner auch Widerstand gegen Staats- oder Kirchengeldeintreibung u.a. insbes. Widerstand gegen die öffentliche Vollstreckungsgewalt bedeutet; fliemanfeorm 2 ) ist Strafe wegen Beherbergung Geächteter; hämsöcn 3 ) ist die Bestrafung wegen Hausfriedensbruchs; mor|>sliht die wegen heimlichen Mords u. a. m. Seit Cnut kommt das Bestreben des Gesetzgebers auf, diese Immunitätsgerichtsbarkeit durch die sog. Kronprozesse zu beschränken, jedenfalls dem Könige und seiner Gerichtsbarkeit fünf Gegenstände vorzubehalten, nämlich: Bruch des königlichen Friedens (mundbryce), Hausfriedensbruch, Rechtsperrung, Beherbergung Geächteter, Versäumung der Heerespflicht (fyrdwite) siehe Cnut II, 12). Die Zahl dieser dem König vorbehaltenen Gerichtssachen erweiterte sich natürlich in der Folgezeit, und die Leges Henrici zum Beginn des 12. Jahrhunderts geben schon ein umfassenderes Bild der königlichen Gerichtsbarkeit (§ 10). Ein Hauptmotiv der Erweiterung dieser Kompetenz der königlichen Gerichtsbarkeit liegt wohl in dem fiskalischen Nutzen, den diese Konprozesse dem Könige brachten. So hat auch denn der Verfasser der Leges Henrici ein wahres Durcheinander von fiskalischen Rechten und Gerichtssachen, weil es ihm hauptsächlich darum zu tun ist, all das zusammenzustellen, was dem König Einnahmequellen eröffnet. Schrittweise ringt dann die königliche Gerichtsbarkeit der Normannenzeit der Immunitätsgerichtsbarkeit Punkt für Punkt ihrer Gegenstände ab, bis sie in derZeit Edwards I. durch die placita quo waranto ganz auf den Aussterbeetat gesetzt wird. Eine besondere Art des Immunitätsgerichts ist das, was vielen Gutshöfen, die nämlich eine sog. »söcn«, also Immunität besitzen, verliehen ist. Es heißt halimot. Es umfaßt die kommune, nicht kriminelle Gerichtsbarkeit ohne toll, team, infangen]>eof. Der Gutsherr befragt die Bauern im Hallengericht über ihre Fronpflicht (s. Liebermann »Hallengericht«). Neben dem Hallengericht des Gutsherrn gibt es noch im 12. Jahrhundert ein Bauerngericht, welches über Klagen zwischen »compares vicinos ad divisas terrarum suarum« (Leg. Henr. 57), also über Rechtsverhältnisse aus der Dorf- und Marktgemeinschaft (daher auch mearcmöt genannt, C. D. III. Nr. 568) entscheidet. Uber diesem steht die curia doinini, das gutsherrliche Gericht, und falls der Gutsherr keine Gerichtsbarkeit hat oder das Dorf mehreren Gutsherren untersteht, in schwierigen Fällen das Hundertschaftsgericht (Liebermann, Sachglosser »Dorfgericht« l b ) . III. Das Königsgericht Diesem sind in der angelsächsischen Zeit nicht etwa die Kronprozesse vorbehalten, denn ihre Kognition erfolgt gewöhnlich in den Lokalgerichten (Grafschafts- und Hundertschaftsgericht). Auch müssen wir ») Brunner, D. RG. II, 563. *) Liebermann, Sachglossar »Begünstigung«. 3 ) Liebermann, Sachglossar »Heimsuchung«.

I. Abschnitt. Der Feudalstaat.

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den Gedanken ablehnen, als ob mittels regelrechten Instanzenzugs durch Berufung der unterlegenen Partei, die sich durch ein rechtlich falsches Urteil verletzt fühlt, jede Sache an das Königsgericht gelangt wäre. Nur wegen Rechtsweigerung in bezug auf Prozeßeinlassung oder Urteilserfüllung nach erfolgloser Angehung der Niedergerichte (»Daheim«! II yEthelstan 3) durfte man das Königsgericht angehen, ebenso, wenn das Niedergericht Justiz verweigerte oder Urteile verzögerte, oder Vollstreckung nicht erzwang 1 ). Jedenfalls durfte das Königsgericht gleich angegangen werden bei Klagen gegen Königsthane (III yEthelred 11), bei Streit über böcland. Im Königsgericht allein wurde über Hochverrat abgeurteilt, wobei die witan die Schwere des Reinigungsbeweises bestimmten (V yEthelred 30 bei Liebermann, Gesetze I, Kolumne D). An diese Grundlage knüpft die anglonormannische curia regis ihre Gerichtsbarkeit an, verstärkt sie aber in monarchisch-zentralistischer Weise. Zunächst läßt sie ähnlich, wie schon das Königsgericht der Angelsachsen (Liebermann, Sachglosser »Billigkeit«) das Prinzip der Billigkeit gegenüber dem Formalismus des Volksrechts zur Geltung kommen. Sodann übt sie ihre Funktion im Gegensatz zu provinzieller Verschiedenheit des Volksrechts, das in das westsächsische, mercische und dänische zerfällt, nach einheitlichen Gesichtspunkten (Leges Henrici, § 9, 9), ähnlich wie im Frankenreich 2 ). Insbesondere sind es aber die großen Gerichtsreformen Heinrichs II., welche der curia regis eine bestimmte Gerichtsbarkeit zuweisen und dem Siege der königlichen Gerichtsbarkeit über Lokal- und Immunitätsgerichtsbarkeit die Wege ebnen. Die wichtigsten Gesetze, welche diese Reformen schaffen, sind die sog. Constitutions of Clarendon 1164, namentlich zur Abgrenzung der geistlichen und weltlichen Gerichtsbarkeit, die Assize of Clarendon 1166, der Inquest of sheriffs 1170, die Assize of Northhampton 1176. Das Resultat dieser Reformgesetzgebung läßt sich in folgenden Grundsätzen zusammenfassen: 1. Die curia regis gilt als Gerichtshof, vor den jedermann treten kann, um sich wegen Rechtsverweigerung in den Untergerichten zu beklagen. Der König erläßt darauf ein breve, ein Mandat, das dem betreffenden Gerichtsherrn, insbesondere dem Feudalgerichtsherrn aufträgt, Recht zu geben mit der Drohung »quod nisi feceris vicecomes meus facit«3), das ist das sogenannte breve de recto tenendo. 2. Kein Prozeß um freies Grundeigentum darf in einem seigneuralen (grundherrlichen) Gericht beginnen ohne Erlaubnis des Königs (Glanville de legibus lib XII, c. 25). 3. Ist ein solcher Prozeß einmal auch mit Erlaubnis des Königs in einem solchen Gericht begonnen, so kann der Inhaber des Grund und *) Liebermann, Sachglossar »Instanzenzug« 4. ) Brunner, D. R G . I ! , 411. *) Diese Formel, die erst unter Heinrich II. in England stereotyp wird, findet ihr Prototyp in Formeln aus der Zeit Heinrichs I. für die Normandie »nisi feceris iusticia mea faciet«. Siehe Haskins, E. H. R. X X I V . p. 213. 2

§ 9.

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Bodens, also der Beklagte, das Gottesurteil des Zweikampfs zurückweisen und sich auf die J u r y seines Nachbarverbandes vor dem Königsgerichte (reisende Richter oder Sheriff) berufen. 4. In ähnlicher Weise kann die possessorische Besitzklage mit Hilfe der J u r y entschieden werden. Die drei possessorischen Besitzklagen waren die assize of novel disseisin, wenn es sich um eine einfache Besitzstörung handelt, die assize of mort d'ancestre, wenn die Besitzstörung das väterliche Erbe betraf, die assize of darrein presentement, die Klage wegen Besitzstörung in dem Präsentationsrecht zu einer Kirchenpfründe. Diese Besitzklagen sind ein Vorrecht des Königsgerichts, und die feudalen Gerichtsherren dürfen sie nicht annehmen. 5. Der Gedanke der Leges Henrici wird ausgebaut, wonach es auch placita gibt, welche gegen die contemptores königlicher Vorschriften vorgehen. Wenn B Grund und Boden von A innehat, oder A Geld schuldig ist, so kann der König aus eigener Machtvollkommenheit dem B auftragen, das Gut zurückzustellen oder eine Schuld an A zurückzuzahlen, über den Kopf des Feudalherrn oder Gerichtsherrn, den eigentlich dieser Prozeß angeht. Und wenn B dieser Anordnung des Königs, diesem breve, nicht Folge leistet, so macht er sich einer Verächtlichmachung königlicher Anordnungen schuldig. Das ist das sogenannte writ of praecipe 1 ), das den großen Feudalbaronen so unangenehm ist, weshalb sie von Johann in der Magna Charta die Konzession erwirken, daß es in Hinkunft nicht ergehen soll. (Art. 34.) Aber die Magna Charta spricht bloß von der Einschränkung dieses breve bei Grundeigentum (tenementum), läßt die Praxis in bezug auf Besitzklagen und Vermögensklagen weiter zu. 6. Die Jury spielt in diesem Prozeß der Erweiterung der königlichen Gerichtsbarkeit eine große Rolle, sie ist ein kostbarer Gegenstand, der als Privilegium verliehen wird, ein beneficium regale, welches die königliche Gerichtsbarkeit der Feudalgerichtsbarkeit vorziehen läßt. Sie ist fränkischen Ursprungs; der fränkische König nahm zur Feststellung der ihm zustehenden fiskalischen Gerechtsame, sehr oft aber auch zur Entscheidung von Rechtsstreitigkeiten und zu Verwaltungsmaßregeln, inquisitiones, Enqueten im Nachbarverbande vor 2 ). Das Merkmal derselben besteht darin, daß der Richter eine Anzahl von Gemeindegenossen, bei welchen er die Kenntnis der fraglichen Tatsache voraussetzen kann, auf Grund eigener Auswahl vorlädt und ihnen das Versprechen abnimmt, auf die von ihm zu stellende Frage die Wahrheit auszusagen. Auf dieses Versprechen hin erfolgt dann die richterliche Fragestellung, die Inquisition, welche das Thema der Aussage betrifft und dem ganzen Verfahren so charakteristisch ist, daß es davon seine Benennung erhalten ») Glanvilla lib. I, c. 5 und lib. X, c. 1 u. 2. *) Siehe Brunner, Die Entstehung der Schwurgerichte, 1871, S. 206 ff., 596 ff. und Forschungen zur Geschichte des deutschen und französischen Rechts 1894, S. 68 ff. Neuestens nimmt Vinogradoff, Engl. Society 61 außer dem fränkischen Einflüsse noch die alte Ansicht wieder auf, wonach die 12 Thane der Gesetze Ethelred III, 3, § 1 und XIII, § 2 gewissermaßen eine Vorbereitung der Rezeption des fränkischen Rechts gewesen wären.

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hat. (Brunner, Schwurgerichte, S. 84). Diese in der Normandie ausgebildete innquisitiones wurden von den Normannenkönigen auch in England eingeführt. Die Domesday Book beruht auf solchen Feststellungen im Nachbarverband. Der Beweis durch die Jury wird in der Zeit vor Heinrich II., im allgemeinen als kostbares königliches Privilegium1) um Geld erkauft, weil es den Kläger oder Beklagten, oder Beschuldigten der Fährlichkeiten des Zweikampfes überhebt und eine sichere Beweisgrundlage für sein Recht schafft. Seit Heinrich II. verändert sich dies insofern, als zunächst der Rekognitionsprozeß (recognitio der neue Name für inquisitio: Brunner, Schwurgericht, S. 93) in England für gewisse Streitigkeiten von Privatpersonen als allgemeines Recht, nicht mehr, wie früher, als Privilegium einzelner Personen, gewährt wird. Vor Heinrich II. hatte schon dessen Vater Geoffrey von Anjou als Regent der Normandie gewissen Personen für ganze Kategorien von Rechtsstreitigkeiten das Juryprivileg erteilt 2 ). Heinrich II. gewährte es ganz allgemein: 1. als sog. magna assissa in einem Eigentumstreit um liegendes Gut, wenn der Inhaber desselben die assissa fordert; 2. bei den oben genannten Besitzklagen, sog. petty assizes. Ob die k ö n i g l i c h e V e r o r d n u n g Heinrichs 11. den Rekognitionsprozeß eingeführt hat, wie Brunner (Schwurgericht 301) annimmt, ist neuerdings (Hoskins a. a. o.) in Zweifel gestellt. Vielleicht kommt auch Gerichtspraxis allein in Frage. Jedenfalls ist diese Einführung eine schöpferische Tat Heinrichs II. 3 ). Freilich konnte der König nach wie vor das Juryprivileg in allen Zivilstreitigkeiten, welche nicht unter die oben angeführte Klagetypen fielen, oder die durch Vereinbarung der Parteien der Jury überwiesen wurden (sog. jurata), besonders gewähren. Aber in den typischen Rechtshändeln der damaligen Zeit wurde der arme Mann der rechtsunsicheren Lage, in die ihn das alte Verfahren durch Gottesurteil oder Zweikampf gesetzt, überhoben: was Glanvilla (Tractatus § II, c 7) von der Magna Assissa sagt, wird wohl vor allen gelten: »Est autem a s s i s s a r e g a l e q u o d d a m beneficiuni de consilio procerum populis indultum quo vita hominum et statu» integritatis tarn salubriter consulitur, ut in jure, quod quis in libero tenemento possidet, retinendo, duelli casum declinare possunt homines ambiguum. E x a e q u i t a t e a u t e m m a x i m a p r o d i t a e s t l e g a l i s i s t a i n s t i t u t i o . Jus enim, quod post multas et longas dilationes vix evincitur per duellum, per beneficium istius constitutionis commodius et acceleratius expeditur. Assissa enim ipsa tot non exSiehe über diese Entwicklung, die hauptsächlich in der Normandie stattfindet, und die J u r y zur Zeit Heinrichs I. und Geoffrey von Anjou Haskins a. a. O. 2 ) Haskins a. a. O., p. 624. 3 ) Einzelne von den Assissen sind nach ihrer Einführung durch die Gerichtspraxis wohl noch durch besondere Verordnung anerkannt, durch die Constitution von Clarendon von 1164 c. 1 die assissa de advocatione et praesentatione ecclesiarum, durch c. 9 die assissa u t r u m , durch die Assize of Northampton von 117& Art. 4 die assissa de morte antecessoris.

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pectat esonia quot duellum.. ac per hoc et laboribus hominum par^itur etsumptibus pauperum«. Unter den Nachfolgern Heinrichs II. scheint man, was eigentlich rechtens w a r , wieder als von königlicher Gnade abhängig aufzufassen. Die Magna Charta verhindert diese Ansicht: die Barone hatten in ihren Artikeln (Art. 30) gebeten: »Ne jus vendatur vel differaturvel vetitum sit«. Daraufhin bestimmt die Magna Charta (1215) u. a. 40: »Nulli vendemus, nulli negabimus aut differemus rectum aut justiciam«. Nicht so weit dringt in unserer Periode die J u r y im Strafprozeß vor. Hier war noch das Verfahren der lex terrae maßgebend, nämlich die Privatklage (appellum) und die Beweismittel des Zweikampfes und Gottesurteils. Der Reinigungseid war seit der Assize of Clarendon (1166) außer Brauch gekommen. Dagegen hatte aber diese Assize neben dem Gottesurteilangeordnet, daß in der Hundertschaft durch zwölf rechtliche Männer und durch 1 ) vier rechtliche Männer von jeder (sc. benachbarten) Dorfschaft über Räuber, Mörder, Diebe und deren Helfershelfer nachgeforscht werde. Das sollte sowohl vor den reisenden Richtern, als auch vor dem Rügegericht des Sheriffs (sheriffs tourn) geschehen. Im Jahre 1176 wurde diese Vorschrift in der Assize of Northampton den reisenden Richtern nochmals eingeschärft. Den Rechtszustand infolge dieser Anordnung beschreibt Glanvilla im 14. Buch seines Traktats folgendermaßen: Zuweilen wird der Schuldige durch die öffentliche Meinung, d. i. also durch die »Jury« der »12 + 4 « angeklagt. Der Richter hat sorgfältig der Sache auf den Grund zu gehen, »per multas et varias inquisitiones et interrogationes coram justiciariis faciendas inquiritur rei veritas, et id ex verisimilibus rerum indiciis et conjecturis, nunc pro eo nunc contra eum qui accusatur facientibus«. Manchmal hat der Beschuldigte die Wahl, ob er sich dem Gottesurteil unterwerfen will oder dem Juryspruch. Manchmal muß er ein Gottesurteil über sich ergehen lassen, wenn er als Mörder auf der Flucht von der ihn verfolgenden Menge gefangen genommen und diese Gefangennahme durch Juryspruch vor dem Gerichtshof festgestellt wird »si hoc per juramentum patria fuerit in curia legitime testatum (c. 3)«. Man kann aber auch, wenn man 60 Jahre oder darüber zählt, den Zweikampf verweigern, dann muß man das Gottesurteil entscheiden lassen (c. 1). Noch ist also der Wirkungskreis der Strafjury beschränkt. Er kann erweitert werden durch Vereinbarung der Parteien, namentlich mittels exceptio de odio et atia. X behauptet, Y habe die Privatklage böswillig und gehässig gegen ihn erhoben, um ihn zu enterben oder ihm sonst Unrecht zuzufügen; er beruft sich zum Nachweise dessen auf die Jury. Der so Bezichtigte erklärt sich mit dem Juryspruch einÜber die Bedeutung der »vier« benachbarten Dorfschaften schon seit den Tagen des angelsächsischen Rechts siehe Gross in Seiden Society IX, p. X X X V I I bis XLIII.

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verstanden. Dieser enthält auf die Weise einen Spruch über Schuld oder Unschuld des X wie des Y. Seit dem 4. Laterankonzil (1215) war auch den Geistlichen jede Teilnahme an den Formen des Gottesurteils verboten. Dadurch war die Jury als Beweismittel in den Vordergrund gerückt. Dabei war aber noch eine andere Frage zu erledigen, was zu geschehen habe, wenn der Beschuldigte sich nicht auf den Juryspruch verlassen wollte. Die Krone erklärt in einer Verordnung von 1219 (s. Maitland, Gloucester Pleas XXXVIII): die Richter sollen nach ihrer Einsicht vorgehen. Die sich nicht dem Juryspruch unterwerfen wollen, sollen eingesperrt werden, »teneantur in prisona nostra et salve custodiantur, ita quod non incurrant periculum vitae membrorum occasione prisonae nostrae«. Der Königsfriede steht in Strafsachen also noch auf schwachen Füßen, und ein renitenter Schuldiger darf der Strafjustiz ausweichen. Denn der Gedanke, daß es sich um ein Privilegium 1 ) des Beschuldigten handelt, wird noch immer aufrechterhalten. Erst seit Edward I. kann er gezwungen werden, sich darauf zu berufen, er kann zum Hungertode gepeinigt werden, bis er sich auf die Jury beruft. Das ist die »peine forte et dure«. Soweit ist man aber in unserer Verfassungsperiode noch nicht vorgedrungen, zu erkennen, daß die Gerichtsbarkeit königliche Gerichtsbarkeit ist, daß das frühere Privilegium des Beklagten doch noch etwas mehr ist als bloß sein Privilegium, daß der König selbst ein Interesse hat an der Durchführung dieses Privilegiums (des »se ponere super patriam«). 7. Der Königsfriede hat aber auch schon in unserer Verfassungsperiode Fortschritte gemacht. Nun kommt auch der Ausdruck felonia als allgemeine Bezeichnung für Verbrechen auf. Noch in den Leges Henrici ist die Felonie der Bruch lehensrechtlicher Treue, ein Vergehen wie andere, das mit der Verwirkung des Lehensguts bestraft wird. Schon am Ausgange des 12. Jahrhunderts hat das Wort seine spezifische Bedeutung verloren und die allgemeine Bedeutung erlangt. Wenn eine Privatanklage erhoben wird wegen Todschlag, Verwundung, Diebstahl etc., so muß der Privatkläger immer die Worte hinzufügen, daß es nicht bloß geschehen war in pace domini regis, sondern auch in felonia. So sehr hatte der Königsfriede an Verbreitung gewonnen, gegenüber der angelsächsischen Zeit. Jedes Vergehen gilt als Bruch seines Friedens, als Lehensverrat, als felony. Wie bei der Verbreitung der Jury wird auch bei der Ausbreitung des Feloniebegriffes natürlich auch das Begehren des Königs nach größeren Gerichtsgefällen mitgewirkt haben, außerdem vielleicht die Tatsache, daß das alte germanische Bußensystem schon seit dem 11. Jahrhundert zusammengebrochen war und doch an Stelle der alten Sippe der König zur Sühnung der Verbrechen die Initiative ergreifen mußte. Der Hebel dieser Entwicklung war aber sicherlich der Gedanke der königlichen Huld und des Huldentzugs als Strafe, wie er schon in angelsäch1

) Dieser Oedanke ist so alt wie das fränkische Inquisitionsrecht; daher jus inquisitionis: Brunners Forschungen S. 147.

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sischer Zeit hauptsächlich unter kirchlichem Einflüsse 1 ) ansetzt und von dem Beamtenverhältnis auf das Untertanenverhältnis übergreift. Dadurch wird das Bußsystem des alten angelsächsischen Volksrechts vereinfacht. Das »amerciment«der Normannenkönige ist arbiträrer Strafvollzug 2 ). Um die königliche Gunst zu erkaufen, muß man Strafe leisten, meist unter Angebot von Geld oder liegendem Gut. Daher die Dreiteilung der Strafe im Dialogus de scaccario, die sich schon in den »Consuetudines et Justicie« Wilhelms des Eroberers (um 1091)3) vorfindet. Man unterscheidet Strafen, die in Verlust von Geld, von liegendem Gut bestehen oder an Leib und Leben (corpus) gehen 4 ). Als Reformprogramm gilt die Umwandlung dieser arbiträren und daher willkürlichen Strafen in wenigstens den Delikten nach abgestufte schon seit dem 12. Jahrhundert 5 ). Rechtliche — aber damit noch nicht notwendig tatsächliche — Anerkennung hat diese Foiderung in Art. 20 der Magna Charta erhalten. Hier wird sogar noch weiter der arbiträre Strafvollzug beschränkt, als das Existenzminimum des Grundbesitzers (das contenementum) durch ihn nicht angegriffen werden darf*). Daß die Praxis sich daran hielt, ist nicht wahrscheinlich. Sicher ist nur, daß in den zu Kolonisation angelegten, insbesondere den Mediatstädten 7 ), aber auch in großen Handelszentren wie London durch die Stadtcharten eine feste Schranke dem arbiträren Strafvollzug aufgestellt wurde 8 ). 8. Die Organe der königlichen Gerichtsbarkeit waren die reisenden Richter, wahrscheinlich schon seit der Zeit Heinrichs I. 9 ), die von der curia regis nach allen Richtungen des Landes entsendet wurden, nach allen Verbrechen forschten, Zivilstreitigkeiten, aber auch Verwaltungssachen erledigten. Ferner sind es in späterer Zeit die drei Gerichtshöfe des Dies hat jetzt überzeugend R. Köstler, Der Huldentzug als Strafe, 1910 (Stutz, Kirchenrechtliche Abhandlungen, 62. Heft), S. 59 ff. nachgewiesen. Siehe auch Beyerle, Von der Gnade im deutschen Recht, Göttingen 1910, S. 7 ff. 2 ) »misericordia« als Begnadigung durch »Umwandlung in arbiträre Strafe findet sich bei den Angelsachsen« nur für friedlos machende bußlose Tat. Liebermann, Sachglossar »Misericordia« 3. Sonst ist sie fester Rechtschutzkauf. Liebermann a. a. O. 2. Zum norm. Ursprung der misericordia als arbiträren Strafvollzug vgl. Brunner, Ztschr. f. RG. X I . 83; Forschungen 313, D. RG. II, 66. 3 ) Abgedruckt in E. H. R. X X I I I , p. 502 ff. 4 ) Vielleicht hat auch hier schon das angelsächsische Recht vorgearbeitet, das seit dem 10. Jahrhundert jedenfalls den Gegensatz von sühnbaren und unsühnbaren Friedlosigkeitssachen (utlagaria) kennt. Siehe Liebermann in der Festschrift für Brunner 1910, S. 29. 6 ) Liebermann, Sachglossar a. a. O. 7 b. •) »Liber homo non amercietur pro parvo delicto, nisi secundum modum delicti; et pro magno delicto amercietur secundum magnitudinem delicti, salvo contenemento suo; et mercator eodem modo salva mercandisa s u a . . . « (Siehe oben S. 21.) ') Bateson, E. H. R. X V 93. 8 ) Liebermann a. a. O. 3 a u. 11 b. 9 ) Dies ist wahrscheinlich gemacht durch die Tatsache, daß jedenfalls in der Normandie reisende Richter in der Zeit Heinrichs I. bestanden haben (Haskins in E. H. R. X X I V , p. 213 f.), sodann auch für England durch die Ausführungen von G. B. Adams in American Historical Review vol. VIII, p. 489 f.

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Landes, deren Konturen man schon in der Magna Charta sehen kann, die seit der Zeit Heinrichs II;, jedenfalls aber im Beginn des 14. Jahrhunderts ihres Amtes walten: der exchequer, der oberste Finanzgerichtshof des Reichs, der common pleas, der Gerichtshof, der insbesondere seit der Magna Charta Stabilität und Dauer bekommt, indem diese vorsieht, caput 17, daß er nicht dem König auf seinen Reisen zu folgen habe, sondern in einem bestimmten Ort zu tagen hat, und schließlich der Gerichtshof coram rege, die King's bench, die freilich erst im 14. Jahrhundert als ständiger Gerichtshof etabliert wird. Die Konturen der Wirksamkeit dieser Gerichtshöfe merkt man schon deutlich in unserer Periode, wie sie aber voll wirken im Kampf gegen die Feudalgerichtsbarkeit und wie sie zur Ausbreitung des common law dienen, das wird erst in der nächsten Periode uns besonders klar werden. Eine besondere Gruppe reisender Richter war für die Kognition von Forstdelikten bestellt. Das Forstregal, in England erst durch Wilhelm den Eroberer eingeführt 1 ) und von Heinrich I. besonders liebevoll ausgebildet, bedarf, um erhalten zu werden, einer besonderen Verwaltungsmaschine. In dem Forste die Förster (forestarii) resp. Oberförster (forestarum primas) mit den viridarii (welche die Aufsicht über den Waldbestand haben) und über ihnen die (seit 1184: vier) justiciarii, die reisenden Richter, zur Ahndung der Forstdelikte. Erst in der nächsten Periode wird dieser Organismus besonders ausgebaut, insbesondere seit der Charta de foresta von 1217.

§ 10. Das Heerwesen. Literatur. Außer den zu § 2 u. 3 angeführten noch: G n e i s t , Englische Verfassungsgeschichte § 7 u. 10. — L i e b e r m a n n , Sachglossar »Heer«, »Heergewäte«, »Gefolgsadel«. — M c K e c h n i e , Magna Charta p. 6 4 - 9 3 . — P. & M. I s , bk. II, ch. 1. — R o u n d , Feudal England, p. 225 —314. — S t e e n s t r u p , Normannerne I, p. 262 ff. u. IV, p. 123 ff. — S t u b b s I2, p. 2 0 8 - 2 1 3 , 468 ff., 629 ff. — V i n o g r a d o f f , English Society a. a. O. section I, ch. I u. II. I. Die angelsächsische Zeit.

Da finden wir ebenso wie später unter den Normannenkönigen, ja durch das ganze englische Mittelalter hindurch, nicht bloß ein System der Heeresverwaltung, sondern mindestens gleichzeitig drei; nämlich das der Mietstruppen, das des Volksaufgebots und das einer erblichen Aristokratie, einer Kriegerkaste (Gefolgsadel), die aus dem Grund und Boden ihre Wehrkraft zieht. Natürlich ist es, daß unter diesen drei Systemen das eine in dieser, das andere in jener Periode überwiegt. Für die angelsächsische Zeit überwiegt das System des Volksaufgebots 2 ), für die übrige Periode des englischen Mittelalters das der erblichen Land') Siehe Liebermann, Über Pseudo-Cnuts Constitutiones de foresta, Halle 1894, S. 14 ff. 2 ) Eine anschauliche Schilderung des Zusammenwirkens von Volksaufgebot und Söldnern im angelsächsischen Heere gibt c. LI ff. der nordischen Egilssaga.

{ 10.

Das

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aristokratie, die als militärische Organisation auf Grund und Eigentumbesitz basiert, kurz das Feudalsystem. Daneben kommen in beiden Zeitabschnitten Mietstruppen vor. In der Zeit der Angelsachsen ist die fyrd das Volk in Waffen. Am Ausgang dieser Zeit kommt noch der dänische here hinzu. Am Ausgange dieser Epoche ist dann fyrd von here nicht zu unterscheiden. Die Namen werden wechselweise für einander gebraucht (so z. B. Chron. Saxon. 1006). Anfangs war dies nicht so. Anfangs, da die Dänen ins Land kamen, wurde scharf zwischen fyrd und here geschieden. Der Unterschied war auch zu groß. Der here war im Prinzip zunächst eine stehende Armee, die nur gelegentlich friedlichen Beschäftigungen nachging. Die fyrd stellte ein Volk in Waffen dar, welches nur gelegentlich kriegerische Beschäftigungen aufnahm. Wer waren die Mitglieder der fyrd ? Mitunter hören wir von Aufgeboten en masse, sogar von Aufgeboten, die von ihren Priestern geführt werden (ähnlich wie im fränkischen Recht 1 ). Aber im allgemeinen wird die fyrd bloß aus den bewaffneten Hausvätern bestanden haben. Mit der Zeit mußte sich allerdings diese Zusammensetzung wesentlich verändern. Auf der einen Seite wurde die Unterhaltsfrage der fyrd eine wesentliche Sorge. Wie sich beköstigen ? Wie sich überhaupt ausrüsten ?, zumal die Ausrüstung sehr kostspielig war, namentlich in einer Zeit, die vorwiegend Naturalwirtschaft kannte. Und endlich die schwierige ökonomische Lage, in der die ursprünglich freien ceorlas im Laufe der Zeit sich befanden, da sie die großen Latifundienbesitzungen rings herum immer mehr zu wirtschaftlich abhängigen Elementen des Gutshofs herabdrückten. Ein Teil der Grundeigentümer blieb ausschließlich mit der Bewirtschaftung, Bestellung des Ackers beschäftigt und mußte einen andern Teil aus seiner Mitte für die kriegerische Beschäftigung ausrüsten. Diese Pflicht, bewaffnete Krieger zur fyrd zu stellen, lastete mit der Zeit als eine Grundlast auf dem bäuerlichen Grund und Boden. Sie war ein Bestandteil der trinoda necessitas und verpflichtete bloß zur Verteidigung des Landes, nicht zum Kriegsdienst im Auslande. Mit der Zeit bildet sich der Grundsatz aus, daß nur je fünf Hufen Land einen Krieger aufzubringen fähig und verpflichtet waren. Die kleinen ceorlas mußten sich nach dem Fünfhufenbesitz immer zu kleineren Gruppen zusammentun, um einen Krieger zu stellen, die großen Grundeigentümer für je fünf Hufen einen miles oder Than aufbringen. Gerade für diesen Zweck waren die Vergabungen zu »Isen« in den letzten Jahrhunderten der angelsächsischen Zeit vorgenommen worden, und gerade dies erklärt die große Verbreitung der Kategorie der Thane, die zu dieser Eigenschaft auf Grund eines eigenen Fünfhufenbesitzes kommen kann. Ähnlich wurde auch die sogenannte scipfyrd (Seewehr) aufgebracht, nämlich nach dem Prinzip, daß auf 300 Hufen ein Schiff kommt, oder ein Ruderer auf fünf Hufen, ein bewaffneter Seemann auf je acht ») B r u n n e r , D. R G . II, 215. H a t s c h e k , Engl. Verfassungsgeschichte.

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Hufen (Chron. Sax. 1008). So bestand mit der Zeit die fyrd nicht mehr aus allen Haushaltungsvorständen, sondern aus besonderen Kriegern, die von den Grafschaften und Hundertschaften gestellt wurden nach dem Prinzip: fünf Hufen stellen einen Krieger. Der dänische here wird ähnlich organisiert gewesen sein, doch mit einem höchst bedeutsamen Unterschied, daß hier in dem dänischen Gebiet, der sogenannten Denalagu, noch Verhältnisse vorherrschten wie im südlichen England vor der Zeit des 7. Jahrhunderts, d. h. die Fünfhufeneinheit war im dänischen Gebiet noch nicht die Grundlage der Bewaffnung, vielmehr sehen wir hier kleine Leute, die Grund und Boden nach Hufenteilen besaßen, und die doch jeder für sich Kriegsdienste leisteten. Mit der Zeit verfallen sie allerdings auch dem Fünfhufenprinzip, weil sie wirtschaftlich es auf die Dauer nicht aushalten können, eine privilegierte Kriegerkaste zu bilden, und dem Ackerbau und der damit verbundenen Handarbeit nachgehen müssen. Außer dem Volksaufgebot gab es, wie schon erwähnt, auch in der angelsächsischen Zeit die Mietstrüppen. Besonders treten sie in der Zeit Cnuts, Edward des Bekenners und Haralds auf 1 ), wo sie die Kerntruppe des Heeres abgeben. Es waren dies Berufskrieger, die als ständige Armee gemietet waren und auf Kosten des Königs lebten, in dessen Dienst sie standen. Es waren dies die berühmten hüscarlas. Daß sie bezahlt wurden, geht aus mancher Stelle der Domesday Book hervor 2 ), wo Städte verpflichtet werden für die Erhaltung der hüscarlas Summen von 1—2 marcae zu bezahlen. DOrchester zahlt z. B. »ad opus huscarlium unammarcam«, Bridport »ad opus huscarlium ]/2 marca«. Den Landmietstruppen entsprechen Seemietstruppen (butsacarlas) (Chron. Sax. 1052). Zu oberst aber besteht das angelsächsische Heer aus dem Gefolgsadel (gesif), geferrseden), der seit dem 10. Jahrhundert zum Teil durch den Than abgelöst wird. Gefolgsadel brauchte nicht bloß vom Könige abzuhängen. Mancher Große hatte auch sein Gefolge3), das im Range hinter den Königsthanen stand. Das angelsächsische Königreich konnte mit der fyrd auf die Dauer nicht auskommen. Zu seiner Ergänzung traten einmal die Mietstruppen, anderseits die durch Isen (Bodenleihe) gewonnenen Krieger des Gefolgsadels, die Thane 4 ), hinzu. Aber auch das Mietstruppensystem mußte in sich selbst zusammenfallen in einer Zeit, die vorwiegend Naturalwirtschaft kannte und in der das Geld infolgedessen sehr teuer war. Die Naturalwirtschaft in dem Stadium der Ackerbauwirtschaft führt notwendig zu einem Heersystem auf aristokratischer Grundlage, da sie die Scheidung einer ackerbautreibenden Bevölkerung und einer dauernden Krieger') Die Egilssaga berichtet von ihnen schon für die Zeit jEthelstans. ') Siehe auch Egilssaga a. a. O. 3 ) Siehe Leben des hl. Quthlac, Bibliothek angels. Prosa, p. 108 u. 110. *) Liebermann, Sachglossar »Gefolgsadel« C u. la, macht noch besonderen Unterschied zwischen dem Than und dem Gefolgsadeligen. Ersteren soll ein Hofamt zur Thanschaft qualifizieren. M. E. ist wohl die Tatsache der Abschätzung allein maßgebend. Der Than ist der durch Landverleihung abgeschichtete Gefolgsadelige.

§ 10.

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käste zur notwendigen Folge hat. Der Berufskrieger wird unter diesen Umständen natürlich der Herr des Berufsackerbauers. Die Erhaltung des Berufskriegers kostet Geld, aber dies wird durch Naturaldienst des nunmehr gutshörig gewordenen Ackerbauers beschafft. Langsam und allmählich vollzieht sich dieser Prozeß schon in der Zeit vor der Eroberung des Landes durch die Normannen. Die Feudalisierung war schon im Prinzip da vor der Normanneneroberung, die Normannenkönige gaben diesem Feudalisierungsprozeß nur die Vollendung 1 ). II. Die Normannenzeit.

Ausrüstung und Dienst in der normannischen Armee werden bestimmt durch den Umfang eines Ritterlehens (feodum militis). Seit den Forschungen von Round steht es nun fest, daß der Ritterdienst oder besser die Einheit des Ritterlehens als Grundlage der Heeresverfassung und -ausrüstung von den Normannenkönigen aus der Normandie mitgebracht worden ist und daß sie sich im großen ganzen nicht genau nach bestimmten Plänen vollzog, sondern mehr nach dem Prinzip, daß auf je zehn Ritterlehen (constabulariae) ein bestimmter Haufe von Rittern zu stellen war. Das war das debitum servitium, das jeder der Feudalbarone dem Lehensherrn zu stellen hatte. Wieviel constabulariae er aufzubringen hatte, war Sache eines Übereinkommens zwischen dem Könige und ihm. Der König verlieh ihm einen großen Grundkomplex, eine Baronie, mit der Verpflichtung so und so viel constabulariae oder Ritterhaufen zu stellen. Jede constabularia bestand aus zehn Rittern, die der betreffende Baron zu stellen hatte. Gleichgültig war für den König, wie der Baron dies zuwege brachte, ob er wirklich eine Unterbelehnung von Grund und Boden an jeden der von ihm zu stellenden Ritter vornahm oder nicht. 2 ) Belehrend in dieser Hinsicht sind die Berichte der Barone von 1166, in denen sie den königlichen Beamten mitzuteilen haben, wie groß die Zahl der Ritterlehen ist, die sie besitzen. Da findet sich der Unterschied wieder zwischen antiqua feffamenta und nova feffamenta, je nachdem die Ritterlehen in der Zeit der ersten drei Normannenkönige kreiert worden waren oder nachher, und dann die Verpflichtung zur Angabe, wie viel Grund und Boden der Baron nicht mit Rittern besetzt habe, also gewissermaßen auf seiner Domäne n o m i n e l l liegen habe. Die erste und dritte Kategorie wurde zusammengefaßt als servitium debiSiehe oben § 2. *) Ähnliches ist wohl — was Round übersehen hat — nach Steenstrup III 297 ff. normannische Art schon zurZeit Rollos gewesen (das sog. »funiculo divisit«). Die damalige Zeit verwendet den Ausdruck »mit dem Bindfaden oder Seil zuteilen« zur Bezeichnung der Zuteilung o h n e vorherige genaue Abgrenzung. Ganz dasselbe wird auch Wilhelm der Eroberer gemacht haben. Die »rapes« (die wohl dieselbe Stammwurzel wie altnord. »hreppr«, holländisch »rope« enthalten), die die Hauptteilungen der Grafschaft Sussex im M. A. waren, sind zweifellos von den Normannen eingeführt. Diese Grafschaft war der Schlüssel zu England, und sie wurde beinahe zu gleichen Teilen von v o r n h e r e i n , also offenbar vor der Landung Wilhelms des Eroberers seinen Getreuesten zugeteilt. Jeder erhielt einen »rape«. Siehe Victoria County History (Sussex) I, 352 ff. 9*

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Der Feudalstaat.

tum, die zweite Kategorie erwuchs einfach aus der Politik der Unterbelehnung, die jeder der Barone auf seine eigene Faust durchführte. Die große Revolution, die Heinrich II. vornahm, war, daß er als Recht beanspruchte, auch von diesen nova feffamenta Schildgeld zu erheben, trotzdem diese nicht zu dem servitium debitum gehörten. Daraus geht klar hervor, daß die ältere Auffassung von Gneist und Stubbs, wonach die Einführung des Ritterlehens als Einheit ein großer Prozeß der Belehnung und Unterbelehnung, planvoll vom Eroberer zuwege gebracht, hinfällig ist, und daß nach der neueren Auffassung die Frage, wieviel jeder der Barone dem Könige als debitum servitium zu stellen hat, für den Normamnenkönig die Hauptsache war. Wie der Unterbelehnungsprozeß weiter vor sich ging, war ihm gleichgültig. Nicht so gleichgültig aber war dieser Unterbelehnungsprozeß für die Barone selbst, wie dies neuerdings von Vinogradoff dargetan ist 1 ). Bei dem Prozeß der Unterbelehnung berücksichtigten die Barone die Fünfhufeneinheit des angelsächsischen Heersystems. Sie erhielt in der Normannenzeit, also im 12. Jahrhundert, die Gestalt, daß ein Ritterlehen, wenn es ein großes war, nur dann als ein magnum feodum angesehen wurde, wenn die betreffende Gutseinheit 15 oder 16 marcae Einkommen betrug, und daß ein kleineres Rittergut, feodum minutum, 2/a davon an Einnahmen abwerfen mußte. Wenn also auch die Bildung der großen Baronien nach dem Prinzip der constabulariae auf Grund von Übereinkommen zwischen König und Baronen stattfand, so ging der Unterbelehnungsprozeß nach jenen Regeln vor sich, welche am Ausgang der angelsächsischen Zeit für die expeditio regis, für die Gestellung von Kriegern nach dem Fünfhufenprinzip maßgebend waren*). Der Unterschied zwischen den Thanen und den neuen normannischen Rittern lag bloß darin, daß der Vertrag, durch welchen die Thane an ihr l&n gebunden waren, einen viel allgemeineren Charakter hatte und mannigfachere Dienste, nicht bloß ausgesprochene Kriegsdienste zuließ, während der normannische Ritter bestimmte Pflichten dem Lehnsherrn gegenüber zu erfüllen hatte, die sogenannte Lehnspflicht, und unter diesen wieder zu oberst die Heerespflicht, das servitium militare. Aber auch die übrigen Dienste des Lehnsritters heben sich als servitium forinsecum scharf ab von den allerhand Diensten, zu denen der frühere Than oder dreng oder rädcniht verpflichtet war. An Stelle der Kategorie der Thane und liberi homines dringen nach der Normanneneroberung die Ritter ein. III. Lehnsdienst und Lehnspflichten. Lehnsdienst und Lehnspflichten sind verschieden, je nachdem es sich um Ritterdienst (servitium militis), frankalmoin (libera elemosina), grand serjeanty oder petty serjeanty handelt. 1 ) *) naeum, lich im

English society in the eleventh century, p. 44 ff. Noch unter Heinrich II. soll nach Vinogradoff (Br. Academy 1907, Athe9. Febr. 1907, p. 170) die Jahresrente eines Ritterlehens 10 £ und namentsüdlichen England 5 Hufen (eingeschätzte Grundfläche) betragen haben.

§ io.

Das Heerwesen.

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1. Der Ritterdienst. Er bestand darin, daß für ein bestimmtes Grundeigentum eine bestimmte Anzahl von Ritterdiensten geleistet werden mußte. 2. Die grand serjeanty teilte alle Lehnslasten mit dem Ritterdienst, sie unterschied sich aber von ihm darin, daß sie kein scutagium zu zahlen hatte, und daß der mit einer grand serjeanty Belehnte an Stelle der ordentlichen Militärdienstpflicht andere bestimmte Pflichten im Feld zu erfüllen hatte, so z. B. das Tragen des königlichen Banner» oder der königlichen Lanze, oder gewisse Hofdienste zu erfüllen hatte. 3. Petty serjeanty unterscheidet sich von der grand serjeanty dadurch, daß die Dienste hier bedeutend geringfügiger waren als bei der grand serjeanty. Littleton beschreibt sie lib. II. cap. 9 § 159 mit folgenden Worten: daß sie dann vorhanden ist »where a man holds his lands of our lord the king to yield to him yearly a bow or sword, or a dagger or a knife . . . or to yield such other small things belongingto war.« 4. Die frankalmoin oder libera elemosina war die Verleihung von Grund und Boden durch fromme Gründer an religiöse Körperschaften. Der Dienst war bloß ein geistlicher Dienst. Die Verleihung in liberam elemosinam bedeutete ewige Verleihung frei von weltlichen Diensten. In schottischen Charten wird dieser Dienst umschrieben als Dienst zu »preces et lacrimae«. Da der Ritterdienst auf diese Weise als der inhaltsreichste erscheint, wollen wir uns mit den aus ihm folgenden Lehnspflichten und Lehnslasten besonders beschäftigen. Diese zerfallen in drei Klassen: in Dienste (servitia), Lehnsgefälle und auxilia (aids). 1. Die servitia waren secta, Gerichtsfolge und servitium, Heeresdienst. Der Belehnte war verpflichtet, persönlich in der Lehnskurie seines Lehnsherrn zu erscheinen, sei es, daß diese Kurie für Verwaltungsoder richterliche Zwecke tagte, oder bloß um zeremoniellen Pomp zu entfalten. Das servitium, der Lehnsdienst, war das servitium debitum, die Pflicht für jedes Ritterlehen oder acutum einen bewaffneten Reitersmann durch 40 Tage im Feld zu erhalten. 2. Die Lehensgefälle (sogenannte feudal incidents), waren eine Reihe von gelegentlichen Einnahmequellen' die der Lehnsherr in unregelmäßiger Weise, je nachdem sich die Gelegenheit ergab, von seinen Vasallen erhob. Ihre Zahl ist ungefähr sechs, nämlich die relevia, die escaeta, die Vormundschaftsgefälle (wardae), die Heiratsfälle (maritagia), die primer seisin und die Veräußerungsabgaben (fines). Das relevium bestand in der Abgabe, die der das Erbe seines Vaters neu antretende Lehnsvasall dem Lehnsherrn als Anerkennung seiner Lehnsabhängigkeit zu leisten hatte (sog. Mannfall), relevium beim sog. Herrnfall ist für das englische Recht nicht überliefert (Round, Feudal England 310 Note). Es knüpft an das alte auch in der angelsächsischen Zeit bestehende Heergewäte an und war als Erinnerung gedacht an die Zeit, wo das Lehen noch nicht erblich geworden war,

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

sondern beim Lehnsfall an den Lehnsherrn zurückfiel1). Um dies Zurückfallen zu verhindern, zahlte dann der Erbe des Lehnsvasallen das relevium. Der Heimfall (escaeta) war der Rückfall des Lehens an den Lehnsherrn, wenn dem Vasallen keine männliche Nachfolge blühte, oder wenn der Vasall Felonie begangen hatte. Dieser Lehensheimfall war der Krone besonders wertvoll, denn er hatte zur Folge, daß die Untervasallen des der Felonie schuldigen Vasallen nun direkt von der Krone ihr Gut zu Lehen hatten, und die Krone außerdem das ganze Lehnsgut des der Felonie Schuldigen einzog. Die warda oder wie der Dialogus de scaccario sagt, die escaeta cum herede, bestand darin, daß der Erbe des Lehnsvasallen, wenn er noch minderjährig, also unfähig war, die Waffen an Stelle seines Vaters zu tragen, während seiner Minderjährigkeit eigentlich das vom Vater ererbte Lehnsgut an den Lehnsherrn verwirkte. Dieser zeitweilige Lehnsheimfall bewirkte, daß der Lehnsherr den Besitz des Vasallengutes in Anspruch nahm, die Einkünfte daraus zog und sie für seine Zwecke verwandte, mit der Verpflichtung, den Erben des Vasallen seinem Stande gemäß erziehen zu lassen. Das Recht der Krone auf Vormundschaftsgefäll erstreckte sich als sog. Regalie auch auf Bischofssitze, nicht bloß auf die damit verbundene weltliche Baronie, d. h. die Krone hatte das Recht, solche Bischofssitze und ihre Einkünfte nach dem Tode eines Bischofs bis zur Installation seines Nachfolgers für sich in Anspruch zu nehmen 2 ). Bemerkt sei, daß die Vormundschaft des Lehnsherrn für den minderjährigen männlichen Vasallen so lange dauerte, bis dieser das 21. Lebensjahr vollendet hatte. War die Vormundschaft über Frauen zu führen, so dauerte sie bis zu deren 14. Lebensjahre, da sie in diesem Alter einen Ehemann nehmen durften, der, so lautete die Begründung Littletons, für sie den schuldigen Ritterdienst erfüllen konnte. Heiraten waren ebenfalls ein gelegentlicher Profit des Lehnsherrn, insofern als der Lehnsherr berechtigt war, für die Tochter seines Vasallen einen Ehemann zu wählen. Der Preis, den dieser Ehemann zu zahlen hatte, war das maritagium. Primer seisin war ein Vorrecht, das bloß dem Könige zukam gegenüber seinen Vasallen, nicht auch gegenüber andern Lords. Es bestand darin, daß die königlichen Beamten nach dem Tode eines Kronvasallen sofort sein Besitztum in Beschlag nahmen und den Lehnserben von der sofortigen Besitznahme ausschlössen, ehe er eine ausdrückliche Erlaubnis zum Besitzantritt von dem Könige erhalten hatte. Diese erlangte er nur dann, wenn er den Nachweis lieferte, daß er der richtige Erbe war, Sicherheit stellte für relevia und Lehnsschulden seines Vorgängers und den Lehnseid leistete. Bei der Gelegenheit konnte natürlich die Krone sehr auf ihren Vorteil bedacht sein, namentlich wenn die Lehnsfolge bestritten war, was natürlich eine Gelegenheit bot, um Profit daraus zu ziehen. Primer seisin war kurz gefaßt also das Recht der f

Siehe Liebermann, Sachglossar »Heergewäte«, insbes. 2 b. ) Siehe darüber noch weiter § 12.

§11.

Die Finanzverwaltung.

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Krone, in summarischer Weise sich alle Lehnsschulden des verstorbenen Vasallen vom Erben erfüllen zu lassen. Schließlich hatte der Lehnsvasall, wenn er einen Teil seines Lehnsgutes zu veräußern wünschte, die Zustimmung seines Lehnsherrn zu erlangen, dafür mußte er auch Gebühren bezahlen, die sogenannten Veräußerungsgebühren. 3. Die auxilia des Vasallen waren durch Lehnsrecht festgelegt. Es waren die normalen drei »Hülfen«, welche der Lehensvasall seinem Lehnsherrn zu leisten hatte. Nämlich: den Lehnsherrn aus der Gefangenschaft zu lösen, dem Lehnsherrn bei der Verheiratung seiner ältesten Tochter oder beim Ritterschlag seines ältesten Sohnes zu »helfen«. Wie die Magna Charta Kapitel 12 sagt: »ad corpus nostrum redimendum, et primogenitum filium nostrum militem faciendum, et ad filiam nostram primogenitam semel maritandam«. Alle anderen auxilia waren ungewöhnliche und mußten vom Vasallen besonders bewilligt werden. Wieviel der Lehensvasall bei den ordentlichen drei Auxilien zu leisten hatte, hing von dem Willen des Lehnsherrn ab. Die Magna Charta verlangt nur, daß sie vernünftig seien, (»rationabilia«, Kap. 12). Sie schwankten zwischen 20 und 40 Schilling unter Heinrich II. Zu den Lehnslasten gehörte auch das scutagium 1 ). Diesen Lasten und Pflichten des Vasallen entsprachen aber auch Rechte, die er von seinem Lehnsherrn fordern konnte, denn das Lehnsverhältnis war auf Vertrag basiert. Der Lehnsherr war dem Vasallen zum Schutz und zur Treue verpflichtet. In England gewann aber diese Lehnsverpflichtung durch die starke Hand des Normanneneroberers eine besondere Gestalt. Der Lehnsherr war immer zu Schutz und Treue gegenüber seinem Vasallen verpflichtet, der Vasall aber durfte nicht seine schuldige Lehnstreue seinem unmittelbaren Lehnsherrn gegenüber erfüllen, wenn dieser sich in offenbarer Auflehnung gegenüber dem obersten Lehnsherrn, dem König, befand, und schon nach Glanvillas Auffassung hatte der Vasall, wenn der König es gebot, selbst gegen seinen unmittelbaren Lehensherrn zu kämpfen.

§ 11. Die Finanzverwaltuug. Literatur. B a l d w i n J . F., Scutage and Knight Service in England, Chicago 1897. — B a l l a r d A., The Domesday Inquest 1906, p. 1 —26. — Domesday Studies, ed. Dove 1886. (Abhandlungen von Round I, p. 77 — 142 und 189—225 und von O. C. Pell I, 2 2 7 - 3 8 5 und II, 561 — 619.) — G n e i s t , Englische Verfassungsgeschichte § 1 2 f. — H a l l H., Studies in English Official Historical Documents, Cambridge 1908, p. 281 ff. — L e h m a n n K., Abhandlungen z. g. RG. 1888. S. 74 ff. — L i e b e r m a n n , Sachglossar »Dänengeld, Tribut, Gastung, Steuer, Leistung, Zollabgabe«. — M a i 11 a n d , Domesday Book and beyond, Essay III. — P o o 1 e R., The English Exchequerin the X I I . Century, London 1912. — R o u n d , Feudal England 1895 (Neudruck 1909, S. 3 5 - 2 2 4 u. 236 ff. Vinogradoff, English Society, p. 140 — 208. ') Siehe darüber § 11.

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I. Das materielle Finanzrechi 1. D i e a n g e l s ä c h s i s c h e Z e i t . Die Einnahmen des angelsächsischen Königs waren zunächst Zölle, sodann Marktgelder, Schlagschatz, Einkünfte aus Gerichtsgefällen einschließlich der Geldbußen für angetanes Unrecht und für Nichterscheinen vor Gericht, schließlich Steuern, die unter drei Haupttitel sich einreihen lassen: 1. herkömmliche Leistungen in natura und in Geld. Die Domesday Book bezeichnet sie als »de consuetudine«, Dd. I 362 a »homines de Colebi retinent vi sol. et x den. de consuetudine. homines de Hermestune retinent vm sol. de consuetudine«. Sie bestanden in Leistungen von Lebensmitteln, von Spanndienst, von Logier- und Einquartierungsdienst oder Ersatz dafür und sind wohl die ältesten und einfachsten Formen der Besteuerung. Diese Leistungen, die wohl ursprünglich nur im Haushalt des Privatmannes sich gut einfügen lassen, dienen doch in der angelsächsischen Zeit dazu, die Bedürfnisse des königlichen Haushalts, der Armee, der öffentlichen Beamten zu decken. Sie werden entweder bei bestimmten Gelegenheiten und zu bestimmten Zwecken geleistet, zuweilen aber erscheinen sie auch als systematische Naturalleistungen, an deren Stelle dann Geldleistungen treten, für den Unterhalt des Königs, wenn er sich auf Reisen befindet, was ja den größten Teil des Jahres der Fall war. In diesem Falle heißen sie feormfultum. Die Einheit dieser Steuern waren ein (sog. firma unius n o c t i s ) o d e r mehrere Nächte, je nachdem die Verpflichtung bestand. Aber auch das Quantum für je eine Nacht ( = 1 Tag) wechselte nach Landgütern und war durch Herkommen für jedes besonders geregelt 2 ). Wer diese Abgabe leistete, war gewöhnlich von dem sog. Geld, dem Denagield, frei. Herkömmliche Abgaben dieser Kategorie waren auch die Hand- und Spanndienste, ferner der Wachtpfennig, der eigentlich eine Ablösung von Wachtdiensten, sei es im Innern des Landes, sei es gegen den auswärtigen Feind, bedeutete. 2. Die andere Steuer des angelsächsischen Staates war die Grundsteuer3), mit der Haus und Hof belegt waren, das landgafol. So hat z. B. die Domesday Book, Dd. I. 158 b (Oxeneford); 203 b (Huntedun), »de toto hoc burgo exibant T. R. E. de landgable X lib. inde comes terciam partem habebat, rex duas.« Das gafol existiert seit den frühesten Zeiten. So erwähnt das Gesetz der Nordleute, § 7, cyninges gafol. Ähnlich finden wir in den Gesetzen Ines schon im 7. Jahrhundert den Abgabe zahlenden Welschen »Wealh gafolgylda«. Das gafol wird nicht bloß vom Könige sondern auch als Privatabgabe von dem großen Grundherrn, vom hläford, erhoben, das des Königs hat den besonderen Namen cyninges gafol. *) Siehe dazu insbesondere Round, p. 109—116. *) Liebermann, Sachglossar »Gastung« 12 ff. 3 ) Sie hat allerdings in der Grundherrschaft und dem Bodenzins ihre Wurzel. Liebermann, Sachglossar »Abgabe« S. 264 f.

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3. Neben dieser ordentlichen Grundsteuer wurden aber außerordentliche Lasten auferlegt, so die gersuma 1 ) und das tallagium (Dd. II 111 a und Dd. I 339 c). Diese Abgaben konnte jeder große Gutsherr von seinen Gutshörigen fordern, natürlich auch der König. Während nun diese außerordentlichen Steuern meist lokaler Natur waren, gewissermaßen Ortssteuern, wurde eine allgemeine Steuer bei außergewöhnlichen Gelegenheiten, namentlich um das Land von den Dänen freizukaufen, schon frühzeitig 2 ) erhoben. Ursprünglich eine lokale Art, insofern, als einzelne Grafschaften sie zahlten, um Ruhe zu erkaufen, sind sie schon seit 1012 eine Steuer behufs Reichswehrsolds für die Truppen Englands gegen die Dänen. Schon seit 1013 oder 1016 wird sie regelmäßig, jedenfalls erst seit der Normanneneroberung. Ganze Städte wurden nun jenes Steuerdrucks wegen ihrer Bewohner beraubt. Oder wie die Domesday Book ebenso kurz als inhaltsreich es zum Ausdruck bringt, z. B. Dd. I 75 a: »in Brideport D. R. E. erant CXX domus et ad omne servicium regis defendebant se et geldabant pro V hydis . . . modo sunt ibi C. domus et XX sunt ita destitutae quod qui in eis manent geldum solvere non valent«. Diese drückende Last war das Denagield, eine Grundsteuer, die allmählich zur Grundlast wurde, weil sie infolge der mangelnden Katasterverhältnisse fix wurde, d. h. immer in der gleichen Höhe von dem betreffenden Grundstück erhoben wurde. Da sie seit dem 10. Jahrhundert eigentlich unter allen andern Steuern die größte Bedeutung gewann und auch die größte finanztechnische Vollendung erlangte, soll sie im folgenden näher beschrieben werden. Als Mittel der Einschätzung diente eine Steuerwerteinheit, die hida, die Hufe. Diese Geldhida als Steuerwerteinheit unterscheidet sich sehr wesentlich von der realen Hufe, die als Feldmaß benutzt wurde. Die letztere war bedeutend umfangreicher, weil sie sich der Realität vollständig anschmiegte und bildete die Grundlage der ersteren 3 ). Die Geldeinheit war nur eine rechnerische Abstraktion, die dazu diente, den Wert des besteuerten Grund und Bodens ungefähr abzuschätzen. Der hida im Süden entsprach die carucata im Norden und Nordosten, vorwiegend in den dänischen Gebieten, und die sulung in Kent. Wie scharf die Geldhida von der realen Feldhida geschieden wurde, geht aus manchen Bemerkungen in der Domesday Book, aber auch schon aus den Urkunden der angelsächsischen Zeit hervor. So heißt es z. B. Kemble C. D. 1057: »öaet waes öaet mon aßlles öises freolses are aefre for ane hide werian scolde«. Hier ist wohl bloß von der »werhida« die Rede, aber auch diese ist ein ebenso fiktives Maß wie die Geldhufe und bedeutet, ähnlich wie die letztere, jede Einheit, welcher die Bewaffnungspflicht für Grund *) Darüber handelt besonders Steenstrup IV, 301 ff. Über gaersum = Überbuße v. Amira, Grundriß S. 201. ') So schrieb Alfred. Liebermann, Sachglossar »Dänengeld« 2 ff. ') Siehe dazu auch Vinogradoff, Growth a. a. O., ferner Rhamm, Die Großhufen der Nordgermanen, Braunschweig 1905, S. 171—305. Daß die angelsächsische hida einfach eine angelsächsische Nachahmung des dänischen bol (Rhamm a. a. O. 292 in Verb, mit 261) sei, wird mit Recht bezweifelt von Vinogradoff, E. H. R. XXI, p. 356.

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I. Abschnitt. Der Feudalstäat.

und Boden entspricht. In der Domesday Book finden wir ganz deutlich den Unterschied hervorgehoben für wieviel die hida Denagield zahlt, und wieviel eigentlich der Grundbesitz an Pflugland hat, z. B. Dd. I 100: »Halgevilla, quam tenet Brictricus . . . reddit gildum pro 1 virga, et haue possunt arare 5 carucei. Das Charakteristische der Domesday Book und ihres Zwecks ist ja auch, daß sie nicht bloß den Grundbesitz angeben soll, für welchen faktisch Denagield gezahlt wird, sondern auch den Grundbesitz, soweit er anbauungsfähig ist, die sogenannte terra carucae, das Land des Pfluggeldes. Aus diesem Auseinanderfallen von Steuerwerteinheit und faktischer Grundbesitzeinheit folgt dann die Möglichkeit, Grundsteuernachlässe zu machen, indem man den Grundbesitz viel niedriger an Hufen einschätzt, als er wirklich und in der Tat innehatte, das ist die sogenannte »wohltätige Nidation«. Ein Beispiel dafür aus der Domesday Book für die «arucata, die übrigens, wie wir wissen, im Norden gilt und gleichbedeutend mit der hida ist. Dd. I 270: »in Assefarde cum Berewicis rex Edwardus habuit 22 carucatas terrae ad geldum et 1 carucatam terrae sine geldo. ibi nunc in dominio habet rex 4 carucas et 18 villani habent 5 carucas. terra 22 carucarum«. Auf ein anderes typisches Beispiel, wo nicht weniger als vier verschiedene Einschätzungen genannt sind, hat Bezug Beedon (Berks) Dd. I. 58 b: »Tunc se defendebat pro X hidis, modo pro VIII hidis. Tarnen fuit pro XV hidis, sed rex Eduardus condonavit pro XI hidis ut dicunt«. Mitunter waren diese Steuernachlässe bis ins 12. Jahrhundert maßgebend. So z. B. der für das obengenannte Beedon (s. Chart, von Abingdon II. 312). Aber nicht bloß um faktische Grundsteuernachlässe in Notfällen durchzuführen, sondern im allgemeinen um sich den veränderten Bevölkerungs- und Bodenverhältnissen anzupassen, bot dieses System der Steuereinschätzung eine elastische Grundlage. So finden wir, daß z. B. der Süden im 7. Jahrhundert nach Qucllenzeugnissen (Bedas Kirchengeschichte, ferner die sogenannte tribal hidage aus der Zeit Edwins) eine größere Anzahl von Hufen aufweist als später zur Zeit der Domesday Book. Dies erklärt sich daraus, daß der Süden an Bevölkerung stärker zugenommen hatte, daß die Bodenverteilung immer mehr Zwergbesitz geworden und daß es nötig war, diesen kleineren Besitzern dadurch auch zu helfen, daß man die hida, von der sie das Denagield zu entrichten hatten, fiktiv viel größer ansetzte, als sie wirklich war. Aus dem Gesagten ergibt sich, daß die hida jedenfalls als fiktive Steuerwerteinheit kein bestimmtes reales Acremaß hatte, bald 120 acres entsprach, bald aber auch mehr, sogar bis zu 180 acres realen Bodenumfangs umfassen konnte. Es wechselte dies eben nach Orten. Das eine steht nur fest, daß sie selbst wieder in fiktive Unterabteilungen zerfiel. Die hida hatte 4 virgata, jede virgata 2 bovatae oder Ochsengänge. Die kentische sulung zerfiel in 4 Joch. Nicht bloß zur Einschätzung für die Zwecke der Erhebung des Denagields sondern auch für andere Lasten diente die hida als Einheit. Wir haben schon oben die sogenannte werhida genannt. Es war dies jene fiktive Grundbesitzeinheit, welche der Lastverteilung für Heereszwecke

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zugrunde gelegt wurde. Wenn es in den Quellen heißt »defendebat se pro una hida«, so bedeutete das, daß der Grundbesitz des X, mochte e r noch so viele Hiden faktisch besitzen, für eine hida bloß zur Bewaffnung des Landes beizutragen hatte. Für die Steuereinschätzung war der Unterschied zwischen »inland« und »waraland« besonders wichtig. Da die bäuerlichen ceorlas nicht allein die Bewaffnung des Landes ausreichend leisten konnten, mußte sich eine besondere Berufskriegerklasse derThane herausbilden. Das inland, das Land des Großgrundherrn 1 ), das er selbst bewirtschaftete (das spätere Domanialland des Ritterlehens), war, weil es die Kriegerkaste an und für sich erhalten sollte, von der Steuer, dem Geld, frei. Das »waraland«, das Land der Gutshörigen und derjenigen, welche vom Gutshof als ceorlas in Abhängigkeit geraten waren, mußte das Geld tragen. Die Verteilung des Denagields, das seit dem 11. Jahrhundert eine ständige Steuer geworden war, ging in folgender Weise vor sich. Der ganze Betrag des Geldes wurde in runden Ziffern von hidae und carucatae auf die einzelnen Grafschaften aufgeteilt und in jeder Grafschaft auf die Hundertschaften oder die ihnen entsprechenden Gutshofeinheiten. Die hidae der Hundertschaft wurde wieder auf die einzelnen Dorfmeinden aufgeteilt in der Art, daß die größeren Dorfgemeinden für 10 und die kleineren für je 5 hidae aufzukommen hatten. Innerhalb der Dorfgemeinschaft mußte dann jedes Besitztum zusehen, wie es seinen Anteil an der 5- resp. 10-Hideneinheit deckte. Ein Beispiel dafür Dd. III, 7: »Warnerius autem retinuerat geldum 1 hidae, scilicet 6 solidos. Turstinus vero, homo G. Maminot retinuerat geldum 3 virgarum, scilicet 4 solidos et 6 denarios«. Die Einsammlung der Steuer, die Steuererhebung, erfolgte anfangs durch die Dorfgenossenschaften, selbst in späterer Zeit aber übernimmt der Großgrundherr, der landrica, zu dessen Immunitätsbezirk die Dorfgenossenschaft gehörte, die Verantwortung für die Steuer und damit auch für ihre Erhebung. Der Unterschied zwischen »waraland« und »inland« verwischt sich auf diese Weise, und das hat natürlich für den landrica zunächst eine unangenehme Nebenwirkung, aber auf der andern Seite findet er seine Entschädigung darin, daß nunmehr die kleinen ceorlas, für deren Geld er dadurch verantwortlich wird, immer mehr und mehr in das Abhängigkeitsverhältnis von richtigen Gutshörigen hinabsinken. So zeigt denn der Prozeß der Steuerentwicklung dieselbe Umwandlung von ursprünglich freien Institutionen in Einrichtungen, die ein Herrschaftsverhältnis begründen, die Umwandlung von Genossenverbänden in Herrschaftsverbände. Das alte System, das dem Könige Naturalabgabenoder Grundrenten, wiedasgafol, zuführte, war, daß sie nicht bloß von Hörigen und Sklaven des Königs, sondern auch von dem gewöhnEbenso einige besonders privilegierte Kirchen und Stifte. Siehe Liebermann, Sachglossar »Dänengeld« 8 u. 8 a. Vielleicht auch Londons Bürger. Liebermann a. a. O. 8 b. Die Krone war in der Verleihung solcher Privilegien nicht verschwenderisch. Liebermann a. a. O. 9.

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liehen freien Mann geleistet werden. Der Kampf mit den Dänen und die Notwendigkeit von Tributzahlungen an diese führte zur Erhaltung kostspieliger militärischer und sozialer Einrichtungen und zur Erhebung des Denagieldes, einer außerordentlichen, allgemeinen Abgabe, welche allerdings nur nominell allgemein war, da sie ja nur den ceorl traf. Die Lflst, die ihm so auferlegt war, brachte ihn in ein noch größeres Abhängigkeitsverhältnis von dem Großgrundbesitzer, der größere Mittel hatte um den Steueranforderungen gerecht zu werden, und demnach in der Lage war, dem kleinen Mann um den Preis seiner Kommendation und Unterwerfung Geld- und andere materielle Hilfe zu leisten. 2. D i e N o r m a n n e n z e i t . In d e r Z e i t d e r N o r m a n n e n k ö n i g e und der ersten Plantagenets erhält sich das Denagield allerdings unter einem andern Namen, es heißt jetzt hidagium. Neben dem hidagium kommt jedoch schon seit Beginn des 13. Jahrhunderts (etwa 1217) auch das carucagium vor (s. Round in E. H. R. IV p. 109)1). Während aber das hidagium nur im allgemeinen eine Erhebung nach der fiktiven Steuerwerteinheit, der hida, ist, sucht das carucagium den realen Bodenwert in der Weise zu fassen, daß es eine Steuer ist, die direkt auf dem Pflug, der Einheit des realen Pfluglandes lastet, auf der carucata. So berichten uns die Annalen von Edmundsbury »Rex Johannes . . . . de singulis carucis per totam angliam exegit tres solidos exceptis tarnen carucis virorum religiosorum«2). Ein Bild von der damaligen Besteuerung machen wir uns am besten, wenn wir einen Blick in die Rotuli chartarum werfen, in denen Ausnahmen von der damaligen Besteuerung erteilt werden. So heißt es z. B. in einer Urkunde Johannes von 1199: (Rotuli chartarum, p. 2 a): »quod liberi sind ab omni scetto et geldo et Omnibus auxiliis regum et vicecomitum et omnium minister(i) alium eorum et hidag(io) et caruc(agio) et denegeld(o), etc.« Und in einer andern Urkunde desselben Königs von 1200 (Rotuli chartarum § 15 b) heißt es: »soluta et quieta de omnibus geldis et danegeldis, scutagiis, hydag(iis), carucag(iis) etc.« Daraus ergibt sich deutlich, daß außer den uns schon bekannten Worten Denagield und seinen Modifikationen noch in dieser Zeit eine andere Steuer aufkam, die als scutagium, als Schildgeld bezeichnet wird. Es ist dies eine speziell mit dem Lehnsrecht des Vasallen zusammenhängende Last, von der wir nunmehr handeln wollen. Die Krone bestand ursprünglich nicht immer auf wirklich geleistetem Heeresdienst des Vasallen, sie war auch geneigt, öfter eine Umwandlung dieses persönlich zu leistenden Dienstes in eine Geldzahlung anzunehmen. Freilich müssen wir uns davor hüten zu glauben, daß das scutagium oder *) Das sog. »carucagium« von 1194 resp. 1198 ist kein echtes carucagium, eine Steuer, die für jede Pflugschar (caruca) zu leisten war, sondern eine kleine Modifikation des hidagium, eine Steuer, die vom Pflugland, der caru c a t a (nicht caruca) zu leisten war. Siehe Round, E. H. R. III, 502 ff. und IV, 709 ff. *) Siehe Liebermann, Ungedruckte anglonormannische Geschichtsquellen, p. 139.

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Schildgeld nur die Ablösungssumme für persönlichen Heeresdienst bedeutete. Wie Round nachgewiesen hat, Feudal England § 278 ff., und wie übrigens schon Madox in seinem Exchequer § 1, 19 lange vorher angedeutet hatte, ist scutagium jede Steuerforderung, welche auf der Basis des Feudalbesitzes erhoben wird. Ja sogar das gewöhnliche auxilium wird mitunter als scutagium bezeichnet, aber der normale Sinn des Wortes war wirklich der einer Ablösungssumme für persönlich zu leistenden Militärdienst. Schon Heinrich I. erhebt ein scutagium (siehe Round a. a. 0.) im Jahre 1109, und zwar, wie Round gegen Stubbs nachgewiesen hat, wenn es ihm beliebt, nicht wenn es den Vasallen beliebt. Wenn der König wollte, so konnte er auf der Leistung des persönlichen Heeresdienstes bestehen. Wünschte der Vasall zu Hause zu bleiben, so konnte er einen Handel mit dem Könige abschließen und statt seiner einen Stellvertreter senden. Die großen Steuerrollen aus dieser Zeit, die Pipe Rolls (rotuli pipae) weisen solche Zahlungen auf, welche die Vasallen leisten »ne transfretent oder pro remanendo ab exercitu«. Unter Johann zahlt ein Kronvasall eine Geldsumme dafür, daß er an seiner Statt zwei Ritter zur Armee nach Irland stellt (Madox, Exchequer I, 658). Zuweilen konnte der König, wie z. B. Heinrich II., im allgemeinen ankündigen, daß er bereit wäre, statt der Leistung von persönlichem Heeresdienst Geldzahlungen entgegenzunehmen. 20 s für das Ritterlehen war damals der anerkannte Standard. Wenn der Vasall aber ohne Erlaubnis der Krone zu Hause blieb, dann kam er in eine üble Lage, er war dann der Krone auf Gnade und Ungnade ausgeliefert (»in mercy«) und verlor mitunter sein Leben. Unter den Verhältnissen war er aber froh, wenn er vom König pardonniert wurde und mit einer Strafe z. B. von 40 Schilling davonkam. Das Recht die Höhe der Strafe zu bestimmen, lag ganz in der Machtvollkommenheit des Exchequergerichtshofs. Heinrich II. verlangte ein scutagium nur, wenn er wirklich im Kriege lag, bloß siebenmal wärend der 35 jährigen Regierungszeit. Das scutagium überschritt nur einmal den 20 Schilling-Standard (siehe Round a. a. O. p. 277). Richard I., sein Nachfolger, erhob bloß 4 scutagien. Während 10 Jahren seiner Regierung wurde der 20 SchillingStandard niemals überschritten. Zur Zeit des Regierungsantritts Johanns waren durch Gewohnheit drei Normen festgelegt, nämlich daß das scutagium nur bei außerordentlichen Gelegenheiten und nicht als regelmäßige, jährliche Bürde erhoben werden dürfte; dann der Grundsatz, daß das höchste Maß 20 Schilling für das Ritterlehen betrug und unter Umständen eine niedrigere Höhe, 13 Schilling 4 Pence und selbst 10 Schilling, erreichen konnte; schließlich, daß die Zahlung des Schildgeldes, wenn von dem König zuvor der Standard fixiert war, einem vollständigen Loskauf von allen Verpflichtungen für den betreffenden Kriegsanlaß gleichkam. Johann verletzte alle diese Regeln und brachte es zur Revolte der Barone, die mit der Magna Charta endigte. Deshalb schreibt dann die Magna Charta vor Kapitel 12: »nullum scutagium . . . ponatur in regno nostro, nisi per commune consilium regi nostri.« Dadurch war es

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

in das Belieben der Barone gelegt, ob und wann sie den 20 SchillingStandard leisten oder seine Überschreitung zulassen wollten. Freilich wurde dieser Grundsatz in der Folge wenig beachtet (siehe Mac Kechnie, Magna Charta 276). Unter Heinrich III. verschwindet die Bestimmung aus der Magna Charta selbst. Bemerkt sei noch zum Schlüsse, daß vom scutagium nur die grand serj eanties frei waren. Da aber die Lehensvasallen sich immer mehr der persönlichen Dienstpflicht und der Leistung des scutagium zu entziehen wußten (s. Baldwin a. a. 0 . 103 ff.), so rückten immer mehr servientes an ihre Stelle. Gneist schätzt die Zahl der servientes um diese Zeit achtmal so groß als die der Ritter. Damit war die Lehensarmee auf eine höchst unsichere Basis gestellt, und mit dem Lehenswesen verfiel das scutagium (Baldwin, p. 110). Für die servientes, für die Städte und die nicht lehenspflichtigen Untertanen kam seit den Zeiten Heinrichs II. eine äquivalente Besteuerung in Form des sog. »donum« oder »»tallagium« auf, das der König, ohne die Zustimmung irgend jemandes abzuwarten, aus eigener Machtvollkommenheit auferlegt und erhoben. Das tallagium war insbes. eine von den auf den königl. Domänen ansässigen Untertanen gezahlte Abgabe. Die Städte, die durch eine besondere königl. charter Privilegien erhalten hatten, wurden aus diesem Grunde als Bestandteil der königlichen Domäne angesehen und unterlagen deshalb dem tallagium. Vergebens versuchten die Barone im Jahr 1215 zugunsten der Londoner einen Vorstoß zu machen, um die ihnen auferlegte »tallagia« von der Zustimmung des commune consilium abhängig zu machen wie bei den auxilia der Lehensvasallen des Königs (siehe dazu Petit-Dutaillis, Studies in Constitutional History 1908, p. 102 ff.). Sie drangen damit nicht durch. Die Magna Charta konzediert den Londonern für die sog. auxilia die gleichen Rechte wie den Lehensvasallen. Sie schweigt aber (c. 12) in bezug auf die tallagia, die der König nach wie vor aus eigener Machtvollkommenheit erheben konnte. Ein zusammenfassendes Bild der damaligen Steuerarten gibt folgendes Diagramm 1 ): auxilium "Nichtfeudales

Feudales Regelmäßig, ohne bes. Bewilligung zu Leistendes: 1. Gefangenschaft des Lehensherrn. 2. Heirat der ältesten Tochter. 3. Ritterschlag des ältesten Sohnes. Unregelmäßig, ohne bes. Bewilligung zu leisten: 1. tallagium. (erhoben von Städten, Domänen, Kirchenländereien, Juden). 2. scutagium.

Gelegentlich von bes. Bewilligung abhängig: sog. donum.

Saladin zehnt. carucagium. hidagium.

Siehe Baldwin, The Scutage and Knight Service in England, 1897, p. 2; doch im einzelnen juristisch ungenau.

§11.

Die Finanzverwaltung.

II. Die formelle Finanzverwaltung.

Sie vollzieht sich ganz in den Formen einer mittelalterlichen Gutshof Verwaltung. Diese Formen sind die Einrichtung des exchequer und die Steuerrollen. Über den exchequer wird im folgenden Abschnitt (II, 24) ausführlich gehandelt werden. Hier sei nur von den Steuerrollen als Grundlage der Finanzverwaltung die Rede. 1. Wenngleich wir schon aus der angelsächsichen Zeit eine Art von Gutshofinventaren haben (z. B. die Charter von Beadingtun Cart. Saxonicum, ed. Birch No. 618 und 619), so wird doch das Hinüberwirken der Einrichtungen auf die Steuerrollen der Normannenkönige nicht gut anzunehmen sein. Vielmehr wird auf diese Wohl fränkisches Vorbild, insbesondere die sog. inquisitio eingewirkt haben, worauf identische Formeln und technische Ausdrücke hinweisen. Die Steuerrollen sind in dieser Zeit nichts anderes als Abschätzungen des landwirtschaftlich bebauten G r u n d u n d B o d e n s . Solche Grund-und Bodenschätzungen finden wir im Frankenreich in den Capitula de diversis causis von 807 ( ?), im Capitulare de villis, 8121), c. 62; Capitulare Aquisgranense 812, c. 5 und c. 7; im Polyptichon Irminonis Abbatis, p. 30 sq. und 306. In gleicher Weise aber zu einem andern, nämlich zu einem öffentlichrechtlichen Zwecke ist die hervorragende Steuerrolle der Normannenzeit angelegt: die sog. D o m e s d a y B o o k Wilhelms des Eroberers. Ihrer äußeren juristischen Form nach teilt sie ganz den Charakter jener fränkischen Gutshofübersichten. Hier wie dort finden wir eine die Katastrierung anordnende königliche Maßnahme bei den Franken: ein edictum (siehe z. B. Capitulare de villis, c. 62) bei den Normannen ein königl. Schreiben, »breve«. Hier wie dort schließt sich daran die sog. »forma inquisitionis«, d. h. eine Kollektion von Fragen, die zu beantworten sind und bei den Normannen von einer Jury im Nachbarlande beantwortet werden. Hier wie dort folgen darauf die Antworten der Befragten, welche als Protokolle in amtliche Verwahrung genommen werden. Aus diesen Protokollen wird für amtliche Zwecke ein kurzer Auszug gemacht (sog. abreviatio). Zwei Fragen haben uns nach dieser Feststellung der juristischen Natur der Domesday Book zu beschäftigen: der historische Anlaß, seine Entstehung und sein Zweck. Über den ersten Punkt berichtet die alte angelsächsische Chronik (ed. Thorpe Roll Series II, 186): Anno 1085. . . . «Dann mitten im Winter war der König in Gloucester mit seinen witan und hielt hier Hof fünf Tage lang; und nachher hatten der Erzbischof und der Klerus eine dreitägige Synode. . . . Darauf hielt der König großen Rat und hatte eine tiefdringende Rede mit seinen witan (»After fñsum haefde se cyng mycel gej>eaht and swiöe deopa spsece wiö his witan«) wegen dieses Reichs, und wie es bevölkert wäre und durch was für Leute (ymbe |>is land hu hit wsere gesett oööe mid hwilcon mannon). Dann sandte er über ganz England seine Leute, in jede Grafschaft, und veranlaßte, ') Nach Dopsch a. a. O. 54 ca. 794 oder 795 erlassen.

144

I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

festzustellen, wie viele Hundert Hiden in der Grafschaft waren, oder welches Land der König selbst besaß, und wieviel Vieh auf dem Lande, oder was für Gefälle er alle 12 Monate von der Grafschaft zu erhalten hatte. Auch ließ er niederschreiben, wieviel Land seine Erzbischöfe hatten und seine Leutbischöfe (leodbiscopas) und seine Äbte und Earls und, wenngleich ich noch des längeren ausführen könnte, was oder wie viel jeder Landbesitzer in England hatte, an Land- oder Viehstücken, und wieviel Geld es wert sei. So genau ließ er dies feststellen, daß es keine einzige hida, noch eine Gerte Landes gab, noch — ich schäme mich es zu sagen, obwohl er sich nicht schämte, es zu tun — Ochs, Kuh oder Schwein, das nicht in seinen Brevien (gewrite) festgestellt wurde. Und alle diese Brevien wurden zu ihm nachher gebracht«. Daraus erhellt der Sachverhalt kurz: der König wird wohl Geld gebraucht haben. Das Denagield, das Edward der Bekenner seit 1051 nicht mehr erhoben hatte, war vom Eroberer mindestens dreimal während seiner Regierung erhoben worden, und im Winter 1083/4 forderte er sogar das überaus hohe von 6 sh. für jede hida. Dabei mögen namentlich wegen der sog. »wohltätigen Hidation« große Ungleichheiten vorgekommen sein. Auch mögen viele Hiden der Besteuerung sich entzogen haben. Das Land des großen Gutsherrn, das er selbst bewirtschaftete, seine Domäne (demesne) war wenigstens 1083/4 frei gelassen worden. Dazu noch die große Unsicherheit der Besitzverhältnisse% die seit den Tagen der Eroberung nicht geklärt waren. Diese Momente all mögen dazu beigetragen haben, daß der König auf dem Reichstage zu Gloucester um Weihnachten 1085 die Katastrierung des gesamten Grund und Bodens anordnete, eine Maßregel, die sich auch in die damalige innere Politik Wilhelms einfügt, der 1086 auf dem Reichstag von Salisbury sich von all den englischen Grundbesitzern den Treueid leisten ließ, wodurch sie alle des Königs Vasallen wurden. — Der Hauptzweck der Katjisteraufnahme war die Feststellung sicherer Grundlage für die Erhebung des Denagields (Maitland a. a. O. p. 103). Daneben wird auch die Absicht vorhanden gewesen sein, eine Musterrolle anzulegen, und daher auch — wie Vinogradoff (Growth of theManor, p. 292) annimmt — den König über die sozialen und rechtlichen Abhängigkeitsverhältnisse der Bevölkerung Englands aufzuklären. Hingegen ist die Ansicht von Freeman allgemein abgelehnt, wonach die Anlegung der Domesday Book den Zweck gehabt haben soll, den König deswegen zu versichern, daß seine bei der Eroberung vorgenommene Bodenverteilung rechtlich ausgeführt worden und daß kein Angelsachse ohne des Königs Zustimmung Grundbesitz innehabe. — Die Form der Anlegung war die folgende: Das ganze Reich wurde in neun Distrikte zerlegt. Jeder Distrikt hatte seine eigenen Kommissäre, und jede Kommission war wohl durch ein königliches Schreiben ermächtigt, das ungefähr folgende Worte hatte 1 ), die »inquisitio« vorzunehmen: Das oben gegebene ist das einzige uns erhaltene, gerichtet an die Kommissäre, welche die Güter der Kirche von Ely aufzunehmen hatten, abgedruckt bei Round a. a. O. p. 133.

5 11.

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Die Finanzverwaltung.

Wilhelmus Rex Anglorum Lanfranco episcopo salutem . . . Inquire per episcopum Constantiensem et per episcopum Walchelinum et per ceteros qui terras sanctae Aedelredae scribi et jurare fecerunt, quomodo jurate fuerunt et qui eas juraverunt, et qui jurationem audierunt, et qui sunt terre, et quante, et quot, et quomodo vocate (et) qui eas tenent. His distincte notatis et seriptis fac ut cite inde rei veritatem per tuum breve sciam . . .« In der Antwort*) auf dieses königl. Schreiben ist die sog. forma inquisitionis gegeben. Sie umfaßte folgende Fragen: 1. Wie ist der Name des Grundbesitzers oder Gutshofs? 2. Wer hatte ihn in der Zeit König Edwards des Bekenners inne ? (T. R. E. = Tempore Regis Eduardi.) 3. Wer hat ihn jetzt inne ? 4. Wie viele Hiden umfaßt er? 5. Wie viele Pflugschare sind auf dem eigentlichen Gutshofe (dominium) und wie viele in den Händen der Gutsbauern ? 6. Wie viele Hörige, wie viele Kossäten (cottarii), gehören zum Gutshof ? 7. Wie viele freie Leute sind in wirtschaftlichem Abhängigkeitsverhältnis, wie viele sochemanni ? 8. Wieviel Wald-, Wiesen- und Weideland ist vorhanden, wie viele Mühlen, wieviel Fischereien ? 9. Wieviel ist hinzugekommen oder weggenommen worden? 10; Wieviel war der ganze Grundbesitz wert ? Wieviel ist er jetzt wert ? 11. Wieviel hatte oder hat jeder Freibauer oder jeder sochemannus inne ? All dies soll in dreifacher Weise angegeben werden; nämlich wie es in der Zeit König Edwards, König Wilhelms war und wie es jetzt ist. 12. Ob man mehr (sc. Geld) erhalten kann, als man erhalten hat (»et si potest plus haberi, quam habeatur«) ? Die Antwort auf diese Fragen erteilten in jeder Hundertschaft Geschworene, die, wie Round nachgewiesen, zur Hälfte Angelsachsen, zur Hälfte Normannen waren. Die Kommissäre hatten nur Daten in Empfang zu nehmen, nicht Rechtsstreitigkeiten zu entscheiden. (Round, in Domesday Book Studies II, p. 541 ff.). Die Antworten wurden an den thesaurus in Winchester gesendet, wo sie aufbewahrt wurden. Sie sind aber alle in Verlust geraten. Was uns heute als Domesday Book (in der Ausgabe der Record Commission) entgegentritt, sind nur Auszüge aus jenen Antworten, in 2 Bänden fertiggestellt im Jahre 10863). (Siehe Stevenson in E. H. R. 22, p. 78.) Sie mußten angefertigt werden, um dem mit dem Könige von Ort zu Ort wandernden Schatzamt (thesaurus) stets in knapper Form prä1

) Abgedruckt bei Round a. a. O. p. 133. ) Uber die Entstehungsgeschichte dieser beiden Bände und ihre »Satelliten«, die Inquisitio Cantabrigiensis, Inquisitio Eliensis und den Liber Exoniensis, s. Round, Feudal England, p. 1—225. 2

H a t s c h e k , Engl. Verrassungsgescbicbte.

10

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

seilt zu sein (Domesday Book Studies II, 517 ff.). Der Name Domesday Book für die beiden Bände der Auszüge ist nicht der ursprüngliche. Dieser war: »Descriptio totius Angliae.« Der Name Domesday findet sich erst am Ausgange des 12. Jahrhunderts (1198, s. darüber Birch, p. 70) in einem Briefe eines gewissen William de Poterna, des Vorstehers des Klosters Bath (»Liber de domesdai«). Wie grundlegend dieser Auszug für die gesamte Steuerverwaltung war, dürfte aus dem Vorhergehenden zur Genüge hervorgehen. Erinnern wir uns nur daran, daß er die Grundlage der königlichen Gefälle, ferner nicht bloß die Grundlage der Steuererhebung, sondern auch aller Steuernachlässe für einzelne Personen, Distrikte oder ganze Teile des Reiches abgeben konnte, daß er ferner durch sorgfältige Angabe aller Bevölkerungsklassen und ihres Besitzes eine Reihe von Klassen der Steuer unterworfen oder von ihr unberührt lassen konnte, daß er schließlich die Möglichkeit gab, durch Angabe des Pfluglandes auch dieses (die sog. terra ad carucam, oder carucata an Stelle der hida) der Steuer zu unterwerfen. 2. Am Ausgange des 12. Jahrhunderts tritt ein wichtiger Wandel in der Besteuerungsgrundlage und damit in der Anlage der Steuerrolle ein. Die der Steuer unterliegende Einheit ist nur mehr das Pflugland und seit dem 13. Jahrhundert der Pflug (caruca) *), nicht die Hufe Landes. Man strebt 2 ) dabei eine intensivere Form der Besteuerung an. Doch schon hat das Feudalwesen eine neue Steuereinheit, das Ritterlehen, an Stelle der Hufe 3 ) und des Pfluglandes entstehen lassen. Die Steuerrollen werden so angelegt (z. B. die von 1166)4), daß der König erfährt, wieviel Ritterlehen der Lehensvasall des Königs aufzurichten hatte, um seiner Lehensverpflichtung dem Könige gegenüber (debitum servitium »de veteri«) nachzukommen, und wie viele er darüber hinaus aufgerichtet hatte, wie viele er noch nicht aufgerichtet hatte. Trotz der veränderten Steuereinheit und der neuen Steuerform (auxilium) blieb die Form der Steuerveranlagung, die Steuerrolle, ganz in der Form der alten Gutshofsinventare und der Domesday Book. Nur kommt es hierbei mitunter vor, daß, wie z. B. 1166, die Antworten auf die forma inquisitionis nicht von Geschworenen, sondern von den Lehensvasallen selbst gegeben werden. Wir sehen: solche Steuerrollen sind großartig angelegt. Sie ersparen viel Arbeit, durch Feststellung der Lasten und Pflichten nach dem Grundbesitz. Es bekommt der ganze Apparat eine gewisse Objektivität, die heutzutage nur durch Parlamentsgesetze, Selbstverwaltung der Steuerträger und Verwaltungsgerichtsbarkeit erreicht wird. Diese Objektivität wird erzielt durch eine gewisse »Realität«, d. h. reallastartige Gebundenheit. Ähnlich wie diese in der mittelalterlichen englischen Dorfgenossenschaft8) deren Selbstl

) ») 3 ) «) ')

Daher die Steuer nicht mehr hidagium, sondern carucagium heißt. Siehe Round, E. H. R. IV, 105. Diese erhält sich auch noch in der Lokalbesteuerung, s. Hall a. a. O. 292Round, Feudal England, p. 236 ff. Siehe Maitland, Domesday Book and beyond a. a. 0 . 350 ff.

§12.

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Die angelsächs. u. anglo-norm. Eigenkirche.

tätigkeit ersetzt, so ersetzt sie auch hier die Selbsttätigkeit der Steuerträger und n i m m t dem Schatzamt viele Tätigkeit ab, erspart i h m insbesondere ein Heer lokaler Steuerbeamter. Aber mit dieser »Realität« ist auch ein großer Nachteil verbunden. Die Katastrierung kann nicht häufig vorgenommen werden. Die Steuergrundlage u n d damit die Besteuerung wird hinfällig, da sie das vielgestaltige Leben nicht faßt und daher nur geringe Erträgnisse abwirft.

§ 12. Die angelsächsische und anglo-normannische EigenMrche. Literatur. B a l l a r d A . , The Domesday Inquest, London 1906, ch. IX. — B i r c h W. de Gray, Domesday Book 1885. — B i g e 1 o w M. M. Ph. D., History of Procedure in England from the Norman Conquest, London 1880, p. 25—75. — B ö h m e r Heinr., Kirche und Staat in England und in der Normandie im XI. und XII. Jahrhundert, Leipzig 1899. — B r i g h t William, Chapters of Early English Church History, Oxford 1878, 3. edition 1897. — C a b r o l , L'Angleterre chrétienne, Bibliothèque de l'enseignement de l'histoire eccles. XII, 1909. — D e l a r c Odon, Le Saint-Siège et la conquête de l'Angleterre, Revue des Questions Historiques. Paris 1887. — D o m e s d a y Studies, ed. P. E. Dowe, London 1888/91, II, 399—432. — G a s q u e t F. A., Henry the Third and the Church. London 1905. — H i 11 G., English Dioceses: A History of their Limits from the Earliest Times to the Present Day. London 1900. — J e r g e n s e n E., Fremmed Inflydelse under den danske Kirkes tidligste Udvikling 1909. — L i e b e r m a n n , Anselm und Hugo von Lyon, in-: Aufsätze dem Andenken an Waitz gewidmet. — L i e b e r m a n n , Sachglossar »Geistliche, Geistliches Gericht, Kirche, Kircheneinkünfte, Kirchenstaatsrecht«. — L i n g a r d John, The History and Antiquities of the Anglo-Saxon Church, 2 vols, London 1845, reprinted 1858. Ancient Facts and Fictions concerning Churches and Tithes by Roundell Earl of Selborne, London 1888. — L u a r d H. R., On the relations between England and Rome during the early portion of the reign of Henry III., Cambridge etc. 1877. — L u c h a i r e A . , Innocent III. Les Royautés vassales du Saint-Siège, Paris 1908, p. 137—245. — P. and M. I», p. 433-458 u. 486—501. — P 1 e h n H., Der politische Charakter von Matheus Parisiensis. Ein Beitrag zur Geschichte der englischen Verfassung und des Ständetums im 13. Jahrhundert, Leipzig 1897, in Schmollers Staats- und sozialwissenschaftlichen Forschungen Bd. XIV, H. 3. — R e i c h e 1 O. J., The développement of the parochial System in England 1905. — D e r s e l b e , The »Domesday« Churches, in Transactions of the Devonshire Association XXX (1898), 258-315. — S e i d e n John, The history of tithes, London 1618. — S e c k e 1 Emil, Die Westminster Synode 1175, Deutsche Zeitschrift f. Kirchenrecht IX, 159—189, Freiburg 1899. — S c h a r n a g l , Der Begriff der Investitur, 1908, in Stutz, Kirchenrechtliche Abhandlungen 56. Heft, p. 62 ff. — S t e p h e n s W. R. W. and Hunt William (editors), A History of the engl. Church, vol. 1 u. 2, London 1899. — S t e v e n s o n , Robert Grosseste, Bishop of Lincoln, London 1899. — S t u b b s I*, ch. VIII. — T a r a n g e r A., Den angelsaksiske Kirkes Inflydelse paa den norske, Kristiania 1890. — W a l s h W., Englands Fight with the Papacy: A Political History 1912, ch. IV. — W e b e r Heinr., Über das Verhältnis Englands zu Rom 1237 — 1241, Berlin 1883.

I. Das Verhältnis von Staat und Kirche im Reiche der Angelsachsen. Die englische Pfarrkirche erscheint in der D o m e s d a y B o o k als Gutshof und wird einem Gutshof gleich für das Denagield gewertet. Natürlich gab es auch manche Kirchen, welche nicht in der D o m e s d a y Book ver10*

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

zeichnet sind, aber dann waren sie sicherlich nicht einträglich und bildeten keinen Steuerwert. Die Domesday Book verzeichnet nur jene Pfarrkirchen, welche solche Wertung vertragen und nur ausnahmsweise findet sich eine ecclesia sine terra 1 ) angemerkt. Gleich wie einem Gutshof die freien socmanni, mitunter durch Willkür des Sheriffs oder durch Vergewaltigung der normannischen Großen, abgenommen werden und einem andern Gutshof zugefügt erscheinen, so auch die parochiani im Verhältnis zu einer Kirche: sie werden einfach von einer Kirche genommen und einer andern zugefügt 2 ). Im nordöstlichen England, das von den Dänen besetzt war, ist eben die »söcn« auch der persönlich gedachte geistliche Herrschaftsbezirk, ebenso wie die weltliche söcn, der Gerichtsbezirk (siehe diesen oben §3, III 3). Bauen socmanni eines Gutsherrn eine Kirche auf ihrem Grund und Boden, so macht ihr Grundherr diese Kapelle für sich ansprüchig und verlangt von der Mutterkirche Abtretung einer dos ecclesiae. Damit hören natürlich die Beziehungen zwischen Kapelle und Mutterkirche nicht auf. Die Mutterkirche behält den Anteil an der sepultura (dem Seelenschoß) und an anderen Erträgnissen der Kapelle3). Dadurch entsteht zwischen Mutterkirche und Filialkirchen ein ähnliches Verhältnis wie zwischen einem Gutshof und seinen Vorwerken (berewichae)4). Wer auf seinem Gutshof die grundherrliche Gewalt hat (soca), kann auch, ohne jemand zu fragen, eine Kirche bauen 5 ). Zur Kirche des Gutshofs gehört ein Priester, welcher häufig ein unfreier Mann ist; infolgedessen findet sich nicht selten die Eintragung, daß zu einer bestimmten Kirche »ein halber Presbyter« (sie!) gehört6). Das will bedeuten, daß der Priester seine Dienste wohl zwischen zwei Gutshöfen zu teilen hatte, ganz so, wie auch mitunter die villani als dimidii vorkommen7). Mitunter wird sogar hervorgehoben, daß zu dem Gutshof ein Presbyter »integer« gehört. Interessant ist der Vermerk, daß in North Langele ein Presbyteri »integer« und zwei »dimidii« vorhanden sind8). Daß der Priester hierbei nicht bloß zu geistlichen, sondern auch zu weltlichen Zwecken, z. B. zur Aufsicht über die Gutshofverwaltung verwendet wurde, ist bekannt 9 ). Schließlich sei noch bemerkt, daß auch die Einkünfte einer Kirche an Seelenschoß, Kirchenschoß, Zehnten etc. als »consuetudines« bezeichnet werden, ebenso wie die Leistungen der Gutshörigen an den Gutshof. (Siehe z. B. D. B. I, 42: Z. B. D. B. II, 286 B ; II, 169 B, 282, 409 (Kirche von Cambas, Kirche von Stow). 2 ) D. B. II, 291 b. 3 ) D . B . II, 2 8 1 b (Kirche von Thorney). *) Siehe z. B. D. B. I, 4t b (Kirche von Stoneham). 6 ) D. B. I, 280. De Stori antecessore Walterii de Aincurt dicunt quod sine alicujus licentia potuit facere sibi, aeclesiam in sua terra et in sua soca et suam deeimam mittere quo vellet. •) Siehe D. B. II, 400. ') D. B. I, 162, 168, 169, B 252. *) D. B. II, 196: ') Epis., c. 10—11, siehe Liebermann, Sachglossar »Geistliche« 35.

§ 12.

Die angelsächs. u. anglo-norra. Eigenkirche.

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»unam aecclesiam et 6 capellas cum omni consuetudine vivorum et mortuorum. «) Unter solchen Verhältnissen ist es kein Wunder, daß natürlich Kirchen wie Gutshöfe halbiert in y 4 und 1 / 8 Teile 1 ) auseinanderfallen können. In Depenham gehören zwei Teile einer Kirche dem einen Stift, der vierte Teil einem andern Stift 2 ), j a auch 12 Teile einer Kirche sind der Domesday Book nicht fremd 3 ). Eine schärfere Ausprägung des Eigenkirchengedankens als diese Aufteilung von Kirchen in 6, 8 und 12 Teile läßt sich kaum denken. Ganz so wie die Kirchen waren auch mitunter die dazugehörigen Zehnten aufgeteilt. An der Domesday Book fällt auf, wie wenig Zehnten eigentlich einer K i r c h e immer zugehören, gewöhnlich finden sie sich, wenn sie überhaupt erwähnt werden, in w e l t l i c h e n Händen. Erst in der normannischen Zeit wird allmählich darauf gesehen, daß die der Kirche abhanden gekommenen Zehnten ihr wieder zugefügt werden, namentlich geschieht dieses seit dem Laterankonzil von 1179/80. Ein hübsches Bild, wie eine solche Pfarre als Gutshof etabliert ist, gibt Domesday Book I, 40. E s handelt sich um zwei Kirchen eines Gutshofes, der dem Bischof von Winchester gehört. Sehen wir zu, wie Radulfus presbyter, der diese Kirchen innehat, sie gutshofartig gestaltet: »Radulfus presbyter tenet duas ecclesias hujus manerii cum II hidis et dimidia et ibi habet II carucas et II vilanos et I X bordarios et VI servos cum I caruca. Valet C solidos. De terrae harum aecclesiarum tenet unus homo I hidam de terra vilanorum. Ibi habet unum vilanum et III bordarios cum I X bobus valet X X X solidos.« Nun spiegelt die Domesday Book nur die Eigenkirchenverhältnisse vergangener Zeiten wieder, denn der Eigenkirchengedanke ist beinahe so alt wie die angelsächsische Besiedelung. Wir finden Eigenkirchen schon im 7. Jahrhundort. Einer der größten Eigenkirchenherren ist der berühmte W i 1 f r i d , Erzbischof von York (630—709) 4 ), der durch seinen Kampf mit dem Erzbischof Theodor von Canterbury und seine Einführung des römischen Rituals im Norden berühmt geworden ist. Auch B e d a kennt das Eigenkirchenwesen und schildert in drastischen Farben seine Gefahren 6 ). Vergebens eifert die Kirche schon seit den Tagen des angelsächsischen Königs Wihtraed. Auf einer Synode zu Baccanceld wird bestimmt 8 ) : »pro hac re firmiter statuimus atque decernimus, et in nomine omnipotentis Dei omniumque Sanctorum praecipimus omnibus successoribus D. B . II, 329 b, 379 b. ) D. B . I I , 305 b. 3 ) D. B . I, 370. 4 ) Siehe über dessen Eigenkirchen Malmesburv, Gesta pontificum, p. 219 und Eddi, Vita Wilfridi, c. 14, c. 15 u. c. 24. ä ) Epistola ad Ecgbertum episcopum §§11 — 13. Taylor (Transactions of Bristol and Gloucestershire Arch. Society X V I (1892), p. 225 ff.) berechnet, d a ß in Gloucestershire im 8. Jahrhundert von 2484 Hiden etwa 525 — 625 Kirchenbesitz (also % ! ) waren. •) Zwischen 696—716, Haddan and S t u b b s Councils I I I , p. 238 f. 2

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

nostris, regibus, principibus, vel omnibus qui in habitu laico constituti sunt, ut nullus unquam habeat licentiam accipere alicuius ecclesiae vel familiae monasterii d o m i n i u m , quae a me ipso vel antecessoribus meis priscis temporibus tradita erant in perpetuam haereditatem, Jesu Christo et sanctis Apostolis, etiamque Maria Virgine (matri) Domini nostri sacrata.« In der Folge scheint man sich auch kirchlicherseits allmählich mit dem Gedanken abzufinden, denn die Synode von Clovesho von 747 schreibt im § 5 vor, daß solche Eigenkirchen doch der bischöflichen Yisitationsgewalt unterworfen seien1). Die Bischöfe sind inzwischen selbst die größten Eigenkirchenherren geworden, die weltlichen Gesetze rechnen ebenfalls schon seit den Tagen Alfreds mit dem »cyrican hläford« 2 ) — auch der Bischof ist Eigentümer (hläford) seiner Kathedralkirche 3 ) — und der Ehrenrang aus der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts (Liebermann I, 457) erzählt, daß ein Gemeinfreier nur dann Thanberechtigung erlangt, wenn er u. a. eine Kirche eignet. In den Urkunden begegnen uns Eigenkirchen von Großgrundherren, Eigenkirchen des Königs, Eigenkirchen von Klöstern, Stiftskirchen und von Bistümern, ja selbst die Bistümer scheinen, namentlich «eit dem 10. Jahrhundert, als Eigenkirchen des Königs aufgefaßt zu werden, denn man kauft sie vom König mitunter 4 ). Natürlich werden auch Eigenkirchen verpfändet 5 ) oder geschenkt4) oder zu usus fructus M Siehe Haddan und Stubbs III, 364. >) Z. B. jElfreds Gesetze § 8 (Liebermann I, 55 § 18), Edgar II, 2. Der Ankauf einer Pfründnerstelle seitens des Priesters (hämes bycgan) und die damit hergestellte Abhängigkeit von einem »Herrn« ist etwas Gewöhnliches. /Elfred a. a. O. | 21. Siehe dazu noch die zahlreichen Belege bei Liebermann, Sachglossar J» Kirchenherr«. *) Siehe z. B. C. D. I, Nr. 235, Thorpe Dipl. p. 138, C. D. II, p. 150, ferner Urkunden Oswulfs (um 805 — 810) in Sweet, O. E. Texts p. 443 u. a. m. Seit dem 10. Jahrhundert etwa wird der König Eigentümerder Bischofskirche. Sieheweiterunten. 4 ) Beda III, c. 7 u. Chron. Sax. 1044. Plummer I, 164. Liebermann a. a. O. will nur Eigenkirchenrecht an nichtbischöflichen Kirchen anerkennen. Er übersieht aber die Entwicklung seit dem 10. Jahrhundert, die zweifellos auch das höhere Kirchenamt und die Bischofskirche in das Benefizialwesen des Staats und damit in das Eigenkirchensystem einbezieht. Nicht bloß daß Bistümer gekauft werden, daß an ihnen divisiones vorgenommen werden (wie weiter unten gezeigt wird), es kommen noch folgende Urkunden in Betracht: a) Der Erzbischof leistet seinem »läford« das Heergewäte (C. D. Nr. 716). b) Der König verleiht Präbenden an Kathedralkirchen, z. B. C.D.VI Nr. 1327. c) Der König will, daß der Erzbischof all seine Besitzungen (landäre, vielleicht soviel wie beneficia), die zum Bistume gehörten, »werige«, d. h. von dem Grundbesitz die Dienste leisten, die davon gebühren (C. D. VI, Nr. 1323). Auch der Kötter muß seines Grundherrn »inland werian«. Siehe Rectitudines singularum personarum 3, 4. d) Der König vergibt Bistümer in urkundlicher Form, wie er Grundbesitz zu vergeben pflegt. Siehe z. B. die Urkunde Edwards des Bekenners um 1060 (Thorpe Dipl. 380): »Et ego notifico vobis quod ego concessi Waltero episcopo i s t u m e p i s c o p a t u m , et omnia universa quae ad ipsum (nämlich episcopatum) cum justicia pertinent, infra portum et extra, c u m s a c a e t c u m s o k n a , tarn plene et tarn plane s i c u t i p s u m a l i q u i s e p i s c o p u s ante ipsum prius habuit in omnibus rebus.« ') C. D. Nr. 75 (anno 727). •j C. D. Nr.. 86.

§ 12.

Die angelsächs. u. anglo-norm. Eigenkirche.

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verliehen. Eine Eigenkirche wird durch bôc gestiftet und mit Land ausgestattet 1 ), eine Eigenkirche wird vererbt 2 ). Die Dedikation einer angelsächsischen Kirche vollzieht sich als germanische Landnahme (vgl. Archaeologia X X V , S. 251 ff., wo ein ordo ad benedicendam basilicam mitgeteilt ist, mit v. Amira, Grundriß S. 173, wo die Formalität der nordischen »landnäm« beschrieben ist. Vgl. auch Duchesne, Origine du Culte Chrétien 19095, p. 424). Mit dem Beginn des Benefizialwesens werden Kirchen als Benefizien verliehen, die Domesday Book steht auf diesem Standpunkt 3 ), und er wird schon lange vorher anerkannt worden sein. Man kann eine Kirche entweder als Benefizium innehaben und dafür bestimmte Leistungen, servitia, an den König entrichten, oder man kann ein Benefizium »in elemosina tenere«, dann ist es von allen Steuern und Kriegslasten frei. Oder man kann eine Kirche in »praebendam tenere«, namentlich dann, wenn ein Kleriker einer Stiftskirche mit Land oder mit einer besonderen Kirche ausgestattet wird. Die Eigenkirehenidee hat nämlich schon in der angelsächsischen Zeit das ursprünglich ungeteilte Bischofs- oder Klostergut zu sprengen begonnen. Anfangs wird die Teilung in der Weise vorgenommen, daß gewisse Schenkungen dem Bischof oder Abt und andere dem Bischofskirchen- oder Klosterklerus gemacht werden4). Man beginnt seit dem 9. Jahrhundert zwischen dem Gute des Bischofs und dem Tafelgut des Kathedralstiftes oder Klosterklerus (sog. beodland) 6 ) zu unterscheiden. Mit der Ausbreitung des Benefizialwesens kommt noch ein anderer Einteilungsgrund hinzu. Von den ehemals aufgeteilten Kathedralen oder Klostereigentum müssen nicht nur die Mönche und der Klerus unterhalten werden, sondern der Bischof muß auch einen bestimmten Teil seines Grund und Bodens als »teineland« oder »thaneland« reservieren, d. h. an Ministerialen ausgeben 6 ). *) G. D. Nr. 80, 83, 90. 2 ) C. D. Nr. 169. Qua de re ego Headda presbiter et abbas, ob honorem dei et reverentiam hominum praeditus, donans donabo in testimonio totius venerabilis familiae in Weogernacestre meam propriam haereditatem ; tali eonditione adfirmo, quod mei haeredes in mea genealogia, in aecclesiastico gradu de virili sexu percipiant, quam diu in mea prosapia tarn sapiens et praesciens invenire potest qui rite et monastice aecclesiasticam normam regere queat, et nunquam potestati Jaicorum subdetur. Post quam autem in nostra generatione tales aecclesiastici viri desint, qui indigni et inscii eam bene moderare et regere ignorant, praecipio quod absque ullo obstaculo ad sedem episcopalem in Weogernacestre reddantur, is est, aet Dogodeswellan and aet Tyreltune. 3 ) Z. B. D. B. I, 17. Osbernus episcopus tenet de rege ecclesiam de Boseham. 4 ) Siehe z. B. Cartularium saxonicum, ed. Birch III, p. 602 (anno 972), »Des landes set Hedham to biscop hame. öes Landes aet Tidpoldingtune öam hirede to breoe into Paules mynstre. «Vgl. auch Thorpe, Cartularium, p. 104, anno 852. Auch Taylor in Bristol and Gl. Arch. Society XV (1891), p. 137, ohne sie richtig oder überhaupt zu deuten. 5 ) Z. B. C. D. II, p. 47, Zeile 3; C. D. IV, p. 292, Zeile 18; C. D. V, p. 218, Zeile 19: »Ic das lanb sselle öam hiwum tô hira beödlandse.« 6 ) Siehe Round, Feudal England, p. 28 f.; Vinogradoff, English Society, p. 370 bis 372, 406 u. a.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

Überall sind die Kirchen manorialisiert, d. h. Eigenkirchen eines Großgrundherrn, des Bischofs, eines Stiftes, des Königs. Nur in den Gebieten der Denalagu ist die Manorialisierung in der Zeit der Domesday Book noch nicht weit genug vorgedrungen, hier gibt es noch genossenschaftliche Eigenkirchen, Eigenkirchen, welche einer Gemeinde gehören 1 ). Der Fehler des sonst so vortrefflichen Buches von Taranger ist, daß er diese nicht manorialisierten Genossenschaftskirchen der Denalagu für die typische angelsächsische Eigenkirche hält 2 ). Sie ragen in die Zeit des 11. Jahrhunderts deutlich hinein. Auch die Leges Edwardi confessoris § 11, 1 zeigen diese Gegensätze von manorialisierten und nicht manorialisierten Pfarrkirchen und sind ein Beleg dafür, daß wahrscheinlich auch die angelsächsische Kirche sich ursprünglich 3 ) als Genossenschaftskirche da und dort entwickelt hat, aber ebenso der Manorialisierung erlegen ist wie die Dorfgemeinde, ihre soziale Grundlage. Dieser Zentralstellung der Eigenkirchenidee im Verhältnis von Kirche und Staat entspricht auch die Ausgestaltung der kirchlichen Verfassung, die territoriale Organisation der Kirche, die Abgrenzung der geistlichen Gerichtsbarkeit gegenüber der weltlichen und die Kirchengesetzgebuirg. 1. Die Verfassung der Kirche war im großen und ganzen nach kontinentalem, insbesondere fränkischem Muster eingerichtet. Aber was dieser Verfassung gegenüber der im Frankenreich eingerichteten fehlt, ist der streng hierarchische Zug, wie er in der fränkischen Reichskirche des 9. Jahrhunderts stark hervortritt, namentlich durch die Rechtsfälschungen dieser Zeit befördert. Der König und seine witan setzen Bischöfe ein, sie setzen Bischöfe ab. Die Erlaubnis zur Wahl wird wohl von dem König eingeholt worden sein. Denn schon seit den Tagen Eadgars 4 ) wird dem Kathedralklerus eingeschärft, die Wahl »mid cynges gefjeate—myd raede « vorzunehmen. Daß auch wie später schon die Empfehlung des Königs eine wesentliche Voraussetzung der Wahl war, darauf deuten die Formeln hin, welche von der Wahl des Bischofs sprechen: »favente rege et populo acclamante — oder voto totius cleri et populi cum favore regio consonante — jubente rege Edgaro — jubente rege Athelredo—tarn regeCnuto praecipiente 5 ), quam toto convenlu petente.« ') Siehe z. B. D. B. II, 24 b, Kirche von Estinford und Coser oder D. B. II, 189 b, Kirche von Tyddenham (Norfolk). Über die genossenschaftliche Eigenkirche in Deutschland E. Jacobi, in Stutz, Kirchenr. Abhandlungen Nr. 78 (1912); für Dänemark Jergensen a. a. O. p. 155. 2 ) Umgekehrt übersieht Liebermann, Sachglossar» Eigenkirche«, die genossenschaftliche Form in England. a ) Ein anderer Beleg ist die Form der Erhebung des Kirchenschosses, ciricsceatt, von f r e i e n Hiden und zwar immer nur von e i n e r Hide,. eines Freien, mögen auch sonst noch so viele in einer Hand vereinigt sein, wie sie noch als Überrest vergangener Zeiten sich im D. B. I, 175c vorfindet. (Siehe auch zur Deutung dieser Stelle Vinogradoff, Engl. Society 418 f.) Vergleiche dazu auch das OläfssäJ bei den Nordleuten, der das Seitenstück zum ciricsceatt ist und auf genossenschaftlicher Basis gezahlt wurde (siehe Taranger a. a. O. 280 f.). 4 ) Siehe Lingard I, p. 94. 5 ) Vgl. auch z. B. C. D. Nr. 929 u. 1314. Liebermann, Sachglossar »Bischof« 2a.

§ 12.

Die angelsächs. u. anglo-norm. Eigenkirche.

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Namentlich die letztere Formel weist auf einen ähnlichen Prozeß hin, wie er gleichzeitig im westfränkischen Reich Rechtens war 1 ). Auch die Tatsache, daß der rite Gewählte vom Volke akklamiert wurde, daß ein Wahlprotokoll vom Metropolitan angefertigt und dann erst die Konseration vorgenommen wird ist England 2 ) und dem westfränkischen Reiche 3 ) gemeinsam. Aber erst seit der Normannenzeit begegnet uns die formelle Ubergabe des Amts durch Investitur mit Ring und Stab. Doch war es schon unter Edward dem Bekenner üblich, durch ein königliches Schreiben die Ernennung des Bischofs zu beurkunden und den Großen der Grafschaft, insbesondere dem eorl anzuzeigen. Der König und die witan bestimmen ferner die Verlegung oder Aufhebung von Bistümern. Der König kann als Eigenkirchenherr eine Division am Bischofsgut vornehmen 4 ). Der König und seine witan nehmen aber auch durch legislative Akte Einfluß auf die Gestaltung des inneren kirchlichen Lebens; sie treffen Bestimmungen über das Leben der Mönche und Kanoniker, den Zölibat des Klerus, die Sonntagsheiligung, die Beobachtung des Fastengebots, allgemeine Büß- und Bettage und anderes mehr. 2. Die territoriale Organisation. Infolge der innigen Verschmelzung von Kirche und Staat, der Verwendung von kirchlichen Amtsträgern für staatliche Zwecke und als Kronbeamte 5 ) kam man damals noch gar nicht auf den Gedanken, daß die territoriale Organisation der Kirche eigentlich für sie Selbstzweck sei. Daher entwickeln sich, wie wir oben sahen, Pfarrsprengel nur soweit der Gutshofbezirk reicht, und die Einteilung in Diözesen war vorwiegend auf das Bedürfnis der Staatsverwaltung zugeschnitten. Deshalb zeigt die damalige territoriale Organisation der angelsächsischen Kirche ein Bild des Verfalls. Die Bistümer waren in England damals nicht wie die französischen als Mittelpunkt der civitas, als Stadtbistümer eingerichtet, sondern sie waren Religionsbistümer für ein bestimmtes Reich oder eine bestimmte Grafschaft, ohne daß innerhalb derselben eine feste Residenz gefordert wurde. Die Bischöfe wurden daher viel nach der Grafschaft genannt. Es gibt einen Bischof von Sussex, Ostanglien, Wiltshire usw. Vergebens mahnte die Kurie dagegen. Im Jahre 1050 residierten von 16 Bischöfen 8 in Dörfern und Flecken. Auch die territoriale Verwaltungsorganisation der unteren Organe war mangelhaft. Eine Mittelstufe zwischen Kirchspiel und bischöflicher Diözese, wie sie damals auf dem Kontinent in Gestalt der Archidiakonate und Dekanate schon vorhanden war und hier zur Entlastung der Bischofsverwaltung diente, fehlte im

') Imbart de la Tour, Les élections épiscopales dans l'Église de France du I X e en X I I e siècle, Paris 1890, p. 2 ff.—32. s ) Lingard II, p. 24 f. s ) Imbart de la Tour a. a. O. *) Siehe Charter Nr. 7 der Crawford Charters, ed. Napier and Stevenson, in Anecdota Oxoniensia, Bd. 7 (1895). s ) Siehe bes. Liebermann, Sachglossar »Bischof« 1 0 — l i a .

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

großen ganzen. Zwar begegnen uns seit dem 9. Jahrhundert 1 ) da und dort Archidiakone als Gehilfen des Bischofs, und als Vertreter geistlichen Gerichts (z. B. Northumbr. Priestergesetz 6/7), aber sie haben keinen Amtsbezirk unter dem Bischof und stehen damals im Range noch unter den presbiteri, eigentlichen Priestern (siehe Earle, Land Charters, Urk. von 863, p. 135 f.). Wir sehen, es fehlt im damaligen England der hierarchische Aufbau der Kirche. Erst seit der Normannenzeit finden wir die Einteilung der Diözese in Archidiakonate.*) 3. Bei der innigen Verbindung von Kirche und Staat war von einer prinzipiellen Abgrenzung der geistlichen von der weltlichen Gerichtsbarkeit gar keine Rede. Es lag ja auch kein Bedürfnis vor, solange Bischof und Archidiakon in den Volksgerichten, in dem Grafschafts- und Hundertschaftsgericht saßen und über geistliche Streitsachen ebenso entschieden wie über weltliche. Zwar stand dem Bischof auch im angelsächsischen Reich eine besondere, von Rom unabhängige Gerichtsbarkeit über die Dienste des Klerus zu, unabhängig und selbständig vom Volksgericht. Das Verfahren, welches zur Auslieferung des geistlichen Missetäters an das weltliche Gericht voranging, wurde vom kirchlichen Richter geleitet 3 ). Streitigkeiten zivilrechtlicher Natur zwischen Klerikern wurden vom kirchlichen Richter geschlichtet 1 ). Aber in der Hauptsache war es doch das Volksgericht, welches über weltliche Vergehen der Priester ebenso judizierte wie über kirchliche Vergehen der Laien. Namentlich unterlagen auch diese dem Wergeidsystem und dem für weltliche Vergehen eingerichteten Bußensystem. Das Verfahren war das gleiche für weltliche wie für kirchliche Vergehen8). Und schließlich verband sich bei schweren Delikten die ExLiebermann, Sachglossar »Archidiakon« 1 u. 2. Er geht fehl, wenn er den Dekan der leges Edwardi 27, 2 auch unter dem Schlagwort »Archidiakon« rubriziert. Der dort gemeinte Landdekan ist dem Archidiakon des 12. Jahrhunderts untergeordnet, jedenfalls von ihm scharf zu scheiden. Siehe Kenett, Parochial Antiquities, Oxford 1695, p. 634 ff. Die Vereinigung des Landklerus zu Kapiteln deutet schon die Domesday Book an I, 3: »In civitate Cantuaria habet Archiepiscopus XII burgenses et XXX mansuras quas tenent clerici de villa in gildam suam.« *) Ausgangspunkt dieser Entwicklung war vielleicht ähnlich wie in gewissen Gegenden Deutschlands die bischöfliche Banngewalt, die teilweise auf den Archidiakon überging (siehe namentlich Hilliger im Archiv für kath. Kirchenrecht Bd. 80, S. 107 ff.). In England hat seit Beginn des 11. Jahrhunderts der Archidiakon zu einer Zeit, wo es noch keine Archidiakonatssprengel gibt, ein eigenes »gebann« unter dem Bischof. Siehe North, Priestergesetz 4 u. 6. a ) In diesem Sinne ist auch Vertrag zwischen Edward und Guthrum 4, 2 und II Cnut 43 zu verstehen, wonach, wenn ein Geweihter sein Leben durch Todschuld verwirkt, er verhaftet werden soll (sc. durch den Verletzten oder durch das weltliche Gericht) bis zur Entscheidung des Bischofs. Ähnlich im Frankenreich seit Karl dem Gr. Siehe Nissl, Der Gerichtsstand des Klerus im fränkischen Reich, 1886, S. 132. Liebermann bezieht (Sachglossar »Bischof« 9n) diese Stellen — m.E. unzutreffend — auf das Recht des Bischofs, den Straf V o l l z u g zu bestimmen (ob Tod oder eine andere Strafe). 4 ) Uber andere »Ansätze zum geistlichen Gericht« unter den Angelsachsen: Liebermann, Sachglossar »Geistliches Gericht« 4 ff. *) Siehe Liebermann, Sachglossar a. a. O. 14 c.

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kommunikation mit der Friedlosigkeit der Entflohenen, »der ja zur Kirchengemeinde zu erscheinen nicht wagen durfte« 1 ). 4. Die Kirchengesetzgebung war infolgedessen auch noch ganz von der weltlichen umfangen. Die gesetzgebenden Kirchenversammlungen hatten, seitdem England ein Einheitsstaat war, also etwa seit dem 10. Jahrhundert, aufgehört. An ihrer Stelle erlassen die witan genannten Versammlungen des Reiches die Gesetze. Die hohen geistlichen Würdenträger saßen ja in dem witenagemöt, und so beschlossen denn diese Körperschaften, ähnlich wie im Frankenreich der Karolinger, neben weltlichen auch geistliche Gesetze2). Doch finden wir vielleicht schon seit der Mitte des 10., jedenfalls seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts, aber noch in der Angelsachsenzeit, eine Trennung in zwei Kurien, die geistliche und weltliche Kurie, entsprechend dem fränkischen Verband der Karolingerzeit 3 ). Die Ausbildung eines besonderen kanonischen Rechts ist dieser Zeit fremd, ebenso auch der Begriff eines Kirchenstaatsrechts, das das Verhältnis des Staates zu der Kirche als vom Staate verschieden darstellt 4 ). Sofern ein kirchliches Recht vorhanden ist, stellt es sich entweder dar als Ausfluß der von den witan und dem Könige erlassenen Gesetze, teils als Konstitutionen einzelner Bischöfe, wie z. B. das Northumbrische Priestergesetz, die canones Edgars, JEIfrics, die canones für Wulfric von Sherborne, die epistola pastoralis für Wulfstan von York. Rezeptionen geistlichen Rechts, wie sie im Frankenreich vorkamen, gab es im damaligen England nicht. Die pseudoisidorischen Dekretalen waren bis zur Eroberung Englands durch die Normannen noch nicht rezipiert 8 ). Das Standesrecht der Geistlichen wird durch staatliche Gesetze garantiert, ebenso wie die Kircheneinkünfte durch das Staatsgebot befohlen und eingetrieben werden. II. Die Zeit der Normannenkönige und Heinriche II.

In dieser Zeit beginnt England dem von gregorianischen Kirchenideen erfüllten Kontinent in der Kirchenfrage näherzutreten. Wilhelm dankte seine Eroberung zum größten Teil auch der moralischen Unterstützung ') Liebermann in der Festgabe für Brunner 1910, S. 30. ütlah godes and manna erscheint fast als e i n Begriff. Die Begünstigung des »ämänsod odde ütlah« wird gleich gestraft. *) Siehe die Belege bei Liebermann, Sachglossar »Bischof« 11c—llo. ') Siehe Brunner, D. RG. II, 132; vgl. damit die Reichsversammlung zu Eanham, in Liebermann, Gesetze I, S. 246 (VI Atr. um 1008—1011). Vielleicht ähnlich schon I Edm. zustande gekommen. Liebermann, Sachglossar »Bischof«, übersieht diese Möglichkeit zweier getrennter Kurien in der Reichsversammlung, wenngleich er auch I Edm. Prol. Erwähnung tut. Sie hat dann auch bis spät in die Normannenzeit Bedeutung. Selbst die zur Verurteilung Beckets einberufene Reichsversammlung zu Northampton 1164 wird von dem Chronisten so berichtet, als ob die Bischöfe auch besonders in nächster Nähe des Königs mit seinen Räten getagt hätten. Siehe z. B. Gervase I, 183 ff. *) Er kommt erst zur Normannenzeit auf. Eadmer erfaßt ihn zuerst in der Zeit des Investiturstreits. Siehe Brooke in E. H. R. X X V I , p. 225. 6 ) Liebermann, Sachglossar »Kanones« 14, spricht von der Benutzung dieser Kirchenrechtsquelle erst durch Lanfranc.

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welche ihm der Papst hatte angedeihen lassen, und so war er von vornherein päpstlichen Ansprüchen nicht abgeneigt. Allerdings setzte er der Aspiration des Papsttums, England als Lehen von der Kurie entgegenzunehmen, rundweg ein kategorisches Nein entgegen. »Fidelitatem facere nolui nec volo«, und dies zu einer Zeit (1080)1), wo der Papst seine Lehensoberherrlichkeit anderen kontinentalen Monarchen gegenüber mit Erfolg durchgeführt hatte. Im übrigen setzte aber sein kirchliches Reformwerk ein, wobei er von Lanfranc, dem Primas von England, unterstützt wurde. Zunächst ersetzte er die englischen Bischöfe durch Normannen. Er veranlaßte ferner, daß die englischen Bischöfe nur Städte als ihre Residenzen bezogen. Sodann ordnete er die Trennung der geistlichen von der weltlichen Gerichtsbarkeit in der Weise an, daß er gebot 2 ): Bischöfe und Archidiakone sollten nicht länger ihre geistliche Gerichtsbarkeit im Grafschafts- oder Hundertschaftsgcricht abhalten, sondern ihren eigenen geistlichen Gerichten Vorsitzen, sollten die geistlichen Sachen nach kanonischem und nicht nach Volksrecht behandeln und nicht zulassen, daß Fragen geistlicher Art vor die Laiengerichtsbarkeit kämen. Wenn der Verletzer eines geistlichen Gebots exkommuniziert wird, so soll der König und der Sheriff als weltlicher Arm der geistlichen Gerichtsbarkeit das Urteil vollstrecken, umgekehrt solle der Laienrichter sich nicht in geistliche Angelegenheiten mengen. Die Bedeutung dieser Maßregel lag nicht etwa darin, daß das geistliche und weltliche Richterpersonal nun vollkommen getrennt gewesen wären, denn in den geistlichen Gerichten findet man z. B. noch in der Zeit Heinrichs I. weltliche Richter oder Beisitzer (siehe Round E. H. R. XIV, p. 421, Urkunde Nr. 421), sondern vielmehr darin, daß sich nun aus der Masse des Volksrechts ein eigenes kanonisches Recht für England ausbildete und daß man »päpstliches« und nationales Recht als Gegensatz empfinden lernte. Die Frage der Investitur von Kirchenämtern, die Frage des Zölibats der Kleriker und die Übel der Simonie (Eigenkirche!) verlangten ein einförmiges Recht, und zwar ein Rechtssystem. Dieses Rechtssystem konnte nur seine Stütze und seinen Schwerpunkt in der römischen Kurie 3 ) finden, welche als oberster Appellationsgerichtshof fungierte für kanonische Rechtsstreite. Es beginnt sich allmählich der Klerus von der übrigen Laienwelt zu sondern und wird in der nächsten Periode ein selbständiger Stand. Trotz dieser Konzession an die Kurie war Wilhelm der Eroberer weit entfernt, bloß der Vollstrecker gregorianischer Ideen zu werden. Das Prinzip der auf dem Eigenkirchengedanken aufgebauten Nationalkirche blieb bestehen und erfuhr in folgenden drei Kardinalsätzen seine rechtlichen Ausdrücke. >) Brooke in E. H. R. XXVI (1910), p. 237. 2 ) Siehe die zwischen 1070—1072 ergangene Verordnung bei Liebermann, Gesetze I, 485. 3 ) Wilhelm hatte diese Rechtssätze übrigens auf den englischen Reichssynoden von Winchester 1070, Winchester 1072, London 1075, Winchester 1076 teilweise zum Reichsrecht erhoben. Siehe Böhmer a. a. O. 128 f.

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1. Wilhelm duldete nicht, daß irgendeine Person in seinem Herrschaftsbereich den obersten Bischof der Stadt Rom als apostolischen Papst ansähe ohne seine Erlaubnis, oder daß er einen Brief oder eine Bulle von ihm erhielte ohne des Königs Erlaubnis. 2. Er' duldete nicht, daß der Primas seines Königreichs, der Erzbischof von Canterbury, eine Bischofsversammlung zusammenrief, um etwas zu befehlen oder zu verbieten, was gegen des Königs Willen und gegen ein vom König zuerst angeordnetes Gebot verstieße. 3. Er duldete nicht, daß irgend einer seiner Bischöfe durch geistliche Strafen einen seiner Barone oder Diener bedränge, mochte dieser wegen Ehebruchs oder eines Kapitalverbrechens angeklagt sein, es wäre denn, daß der König selbst die geistliche Strafe anbefohlen hätte oder vorher in Kenntnis gesetzt worden wäre 1 ). Wilhelm Rufus nutzte die Eigenkirchenidee vollständig aus: höheren und niederen Kirchenpfründen gegenüber. Freilich findet sich eine scheinbare Abschwächung des Eigenkirchengedankens insofern, als ähnlich wie im zeitgenössischen Frankreich bloß ein Spolienund Regalienrecht namentlich an höherem Kirchengut ausgeübt wird. Daneben aber besteht Kauf und Verkauf von Bistümern, und das Regalienrecht wird derart ausgeübt, daß nicht bloß die während der Vakanz eines Bistums anfallenden Revenuen eingezogen, sondern auch von den Vasallen des Bischofs relevia eingefordert werden 2 ). An dem niederen Kirchengut bestand das Eigenkirchenwesen vollständig zu Recht 3 ). Daran hielt auch die Folgezeit fest, trotzdem die gregorianischen Kirchenideen unter dem Schlagworte »ecclesia libera sit« Anerkennung verlangten. Heinrich I. gewährte zunächst bei seinem Regierungsantritte der Kirche eine Charte, in welche er auf Regalien- und Spolienrecht verzichtete: nec, mortuo archiepiscopo sive episcopo sive abbate, aliquid accipiam de dominio aecclesiae vel de hominibus ejus donec successor in eam ingrediatur (S. I) 4 ). Freilich hielt er sich ebensowenig als sein Vorgänger und sein Nachfolger daran. Als Anselm von Canterbury vom König die Leistung des Lehenseides und die Aufgabe des Investiturrechts (also Aufgabe der Eigenkirchenidee und der Praxis derselben) fordert, kommt es zum Konflikt, aus dem der König als Sieger hervorgeht. Das Resultat dieses englischen Investiturstreits ist nämlich ein Kompromiß mit der Kirche. (Konkordat, bestätigt auf einer Reichsversammlung zu London im August 1107.) Ring und Krummstab als Zeichen der geistlichen Gewalt konnten und sollten nur von der Kirche Heinrich II. hat im konkreten Falle Thomas Becket sicli auf diesen Satz berufen. Ranulfus de Diceto I, 310 f. 2 ) Siehe z. B. die Urkunde bei Round, Feudal England p. 309 (Bistum Worcester). 3 ) Historia Monasterii de Abingdon II, 27: In lllis diebus tenebat eandem ecclesiam sub rege presbiter . . . . cui rex concessit, ut ibi quamdiu viveret ab abbate et fratribus Abbendonensis loci illam ecclesiam teneret, (eine sog. precaria verbo regis, siehe Stutz Ztsch. f. R G . X X . Bd. S. 213 ff., »Lehen und Pfründe«). *) Text bei Liebermann I, p. 521.

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verliehen werden. Aber bevor diese Verleihung stattfand, mußte jeder Kirchenprälat zuvor dem Könige den Lehenseid geleistet haben und zwar vor seiner Salbung zum Bischof. Die kanonische Wahl ließ der König pro forma bestehen, in Wirklichkeit aber vollzog sie sich, zwar durch die Mitglieder des Metropolitankapitels, am Hofe des Königs, dem auf diese Weise der nötige Einfluß bei der Wahl der ihm genehmen Person gegeben war. Nach der Wahl huldigt der Gewählte für die Temporalien dem König als Lehensmann und erhält von diesem eine Bestallungs- und Konfirmationsurkunde. Gleichzeitig ergeht der Befehl an den Metropoliten, den zum Bischof Gewählten zu weihen. Unter Stephan blühte das Eigenkirchenwesen an höheren und niederen Pfründen. Trotz der starken Abhängigkeit dieses Fürsten von der moralischen Unterstützung der Kirche und trotzdem er in seiner Oxford Charter von 1136 1 ) versprochen hatte: »nihil me in ecclesia vel rebus ecclesiasticis simoniace acturum vel permissurum esse promitto« und auf das Spolienrecht und das Recht der Regalie 2 ) ausdrücklich verzichtet hatte. Heinrich II. suchte die bisherige Grundlage des Kirchenstaatsrechts in rechtlicher Form zu konsolidieren. In den Konstitutionen von Clarendon 1164 für das höhere Kirchengut wird bestimmt, daß Erzbischöfe und Bischöfe ihre Temporalien oder Baronien vom Könige innehaben sollen (Art. 11) und deswegen vor den königlichen Gerichten Red und Antwort zu stehen haben. Das Recht der Regalie wird dem König in umfassender Weise zugesprochen sowie die Praxis der Bischofund Abtwahlen am Hofe des Königs in der capella regis, wie sie sich schon zur Zeit Heinrichs I. entwickelt hatte, auf rechtliche Basis gestellt (Art. 12). Dies blieb das ganze Mittelalter 9 ) hindurch Rechtens. ») Statutes of the Realm I, 3. ') A. a. O. Si quis episcopus vel abbas, vel alia ecclesiastica persona, ante mortem suam rationabiliter sua distribuerit vel distribuenda statuerit, firmum manere concedo. Si vero morte preoccupatus fuerit, pro salute anime ejus, ecclesie consilio, eadem fiat distributio. Dum vero sedes propriis pastoribus vacue fuerint, ipsas et earum possessiones omnes in manu et custodia clericorum vel proborum hominum ejusdem ecclesie committam, donec pastor canonice substituatur.« ') Jedenfalls nicht der Lehenseid als solcher. Zur Zeit Johanns wurde schon folgende Praxis beobachtet. Der König erteilt dem Kathedralkapitel die »Erlaubnis« (licentia), einen Bischof zu wählen und delegiert Kommissäre, in deren Gegenwart die Wahl vollzogen wird. Das Kapitel berichtet hierauf dem Könige, der dann folgendes Schreiben an den Erzbischof sendet: »Rex Domino S. Cantuariensi Archiepiscopo . . . . salutem. Noverit paternitas vestra Priorem et Conventum Wigorn. canonice elegisse sibi Episcopum Walterum de Gray . . . Cancellarium et nos eidem electioni assensum nostrum praebuimus, ipsumque Walterum ad vos transmittimus a n e x i b u s C u r i a e (d. h. mit Rücksicht auf die frühere Stellung als Kanzler). Rogantes quatinus beneficium confirmationis ei impendere velitis.« Siehe Prynne, Upon the Liberties of the Kings, London 1670, (III. Bd. s. Records), p. 21 f. In der späteren Zeit ist der Eid nur Treueid (Statutes of the Realm I, 249). Siehe auch Böhmer a. a. O. 390. Daß er noch im 15. Jahrhundert geleistet wird, siehe z. B. Trans, of Devonshire Ass. XVIII, 233. Die Bischöfe werden auch »in fide et ligeantia«, nicht wie die Barone »in fide et homagio« zum Parlament berufen. Offenbar war für diese Abschwächung des ehemaligen bischöflichen Lehenseides einmal die zeitweise Oberherrschaft der Kurie Uber England in unserer Verfassungs-

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An einem Punkte blieb Heinrich II. nicht Sieger: das war das sog. beneficium cleri. Es ist zunächst zweifelhaft, ob dies von Heinrich I. anerkannt war. Von Stephan ist es ebenso wie von Wilhelm dem Eroberer sicher, daß er es nicht anerkannt hatte, und unter Heinrich II. entbrannte darüber der Kampf zwischen dem König und Thomas Becket. Die Konstitutionen von Clarendon 1164 stellen im caput III den Grundsatz auf: »clerici rettati et accusati de quacunque re, summoniti a iustitia regis venient in curiam ipsus, responsuri ibidem de hoc unde videbitur curiae regis quod ibidem sit respondendum, et in curia ecclesiastica unde videbitur quod ibidem sit respondendum; ita quod iustitia regis mittet in curiam sanctae ecclesiae ad videndum qua ratione res ibi tractabitur; et si clericus convictus vel confessus fuerit, non debet de cetero eum ecclesia tueri.« Dies besagte dreierlei: 1. Wenn ein Kleriker eines Verbrechens beschuldigt ist, dann muß die Anklage im weltlichen Gericht erhoben werden, welches auf diese Weise zunächst sich mit der Sache befassen wird und ihren weiteren Fortgang beobachten kann. 2. Die königlichen Beamten müssen bei der Verhandlung im geistlichen Gericht anwesend sein. 3. Wird der Kleriker für schuldig befunden und seiner geistlichen Stellung für verlustig erklärt, so kann er wegen des Verbrechens von der weltlichen Gewalt noch außerdem abgestraft werden. Dagegen stemmte sich nun der glaubensstarke Thomas Becket. Er behauptete, daß es den Grundsätzen des kanonischen Rechts widerspreche, wegen ein und derselben Sache zweimal bestraft zu werden: »nec enim Deus iudicat bis in idipsum.« Deswegen erlitt er auch den Märtyrertod. Heinrich II. gab in der Folge der Kirche teilweise nach, und der durch die Konstitutionen von Clarendon geschaffene Rechts.zustand wurde durch die Praxis des Mittelalters wesentlich abgeschwächt. Zur Zeit Heinrichs III. war folgendes Rechtens. Wenn ein Kleriker eines Verbrechens angeklagt wurde, so konnte dies nur vor dem weltlichen Gericht zuerst geschehen. Wenn der Kleriker behauptete, daß er sich vor dem weltlichen Richter nicht verantworten wolle und der Bischof oder sein Beamter ihn als Kleriker für das geistliche Gericht in Anspruch nahm, mußte zunächst untersucht werden, ob er wirklich das Verbrechen begangen habe. Dies entschied eine Jury von 12 Männern der Nachbarschaft auf Eid. Wurde er von dieser für schuldig befunden, dann wurde er dem geistlichen Gericht ausgeliefert. Freilich was weiter geschah, war eine Farce und ein Hohn auf jede Rechtsprechung. Der geistliche Richter konnte mit dem Kleriker anfangen, was er wollte. Er konnte ihn freisprechen, was in der Regel geschah, so daß die Geltendmachung des beneficium cleri in der Regel gleichperiode, sodann vielleicht auch das französische Vorbild maßgebend, wo seit Schlichtung des Investiturstreits nur der Treueid von den Bischöfen geleistet wurde. Siehe über diesen Imbart de la Tour a. a. O. 438 ff., Barth in Stutz, Kirchenrechtl. Abhandlungen Nr. 34/36, S. 443 u. 459*. Unrichtig jedenfalls Scharnagl a. a. O. S. 137, daß der Lehenseid in England »bestehen« blieb.

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Der F e u d a l s t a a t .

bedeutend war mit Freispruch vor dem weltlichen Richter. Nicht bloß weltliche Priester, sondern auch Mönche nahmen das Privilegium in Anspruch. Das Privilegium selbst wurde mehr als Privilegium der Kirche als das des beschuldigten Klerikers angesehen. Durch das Privilegium waren alle Verbrechen gedeckt, ausgenommen die schwersten, wie Hochverrat u. dgl. mehr. Ausgenommen waren von dem Privilegium auch die kleinen Vergehen, z. B . wußte es Heinrich I I . noch durchzusetzen, daß Vergehen gegen die Forstgesetze nicht unter das beneficiutn cleri fallen. (Diceto, I, 410.) In bezug auf das Eigenkirchenwesen im niederen Kirchengut wurden überhaupt keine Konzessionen gemacht, sondern es blieb alles beim alten. Interessant ist, das Anselm nicht einmal in der Lage war, die Beschlüsse des Laterankonzils von 1102, welche das Verbot der LaienInvestitur für das niedere Kirchenwesen aussprachen, in England durchzusetzen. In einem Brief an den Papst Paschal führt er aus, er hätte den apostolischen Beschluß, der im römischen Konzil gefaßt worden war, den Großen des Reichs und dem König vorgelegt, aber sowohl der König wie die Großen und vor allem die Bischöfe sowie die niederen Prälaten hätten sich darüber derart aufgehalten, daß er gefürchtet hätte, aus dem Lande vertrieben zu werden 1 ). So stark war die Eigenkirchenidee im Lande festgewurzelt, bei geistlichen und weltlichen Großen, daß nicht einmal die schwache Regierung Stephans II., um so weniger die kraftvolle Herrschaft Heinrichs II. irgendwelche Veränderung in den Rechtszustand brachte. Von diesem Herrscher aber wurde mit Erfolg der Versuch gemacht, der ganzen Eigenkirehenbewegung eine Form zu geben, welche sie dauernd an das Interesse des Staates knüpfte. Heinrichs I L Kampf galt vor allem den Feudalgewalten im Staate. E r wollte die feudale Gerichtsbarkeit nicht hochkommen lassen, und wie sehr er hierin von Erfolg begleitet war, davon haben wir bereits (§ 9) Kenntnis erhalten. Aber gerade hierin hätte seine ganze Politik Schiffbruch erfahren, wenn er das niedere Eigenkirchenwesen, das in den Händen der weltlichen und geistlichen Großen sich befand, ruhig seiner Wege hätte gehen lassen wollen. E s handelte sich hierbei um folgendes: Die Normannen hatten offenbar aus dem fränkischen Reiche den Begriff der Advokatie in dem Sinne übernommen, daß jeder Geistliche wegen seines liegenden Gutes sich vor dem weltlichen Gericht durch eine weltliche Person vertreten lassen müßte. Den Angelsachsen war dieser Begriff der Advokatie fremd 2 ). Als nun von Seiten Siehe Anselm, Briefe an den Papst Paschal, zitiert bei Seiden p. 376 f. ) Der Quadripartitus aus dem 1'2. J a h r h u n d e r t übersetzt wohl das angelsächsische mundbora mit advoeatus, aber der beste Beleg', daß es sich hier bloß um einen Fürsprech (mitunter auch »forspreca« genannt) handelt, der für den Einzelfall ernannt wird und nicht eine generelle Vollmacht hat, geht aus diesem wie aus andern Fällen klar hervor, jedenfalls handelt es sieh nicht um den technischen Begriff der Advokatie, da j a hier gerade (Edwards Gesetz nach Erwerbung von Guthrums Gebiet, §12) der Bischof ein solcher Beschützer sein soll, während die Advokatie im technischen Sinne gerade von der Voraussetzung ausgeht, daß der Kle2

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Die angelsächs. u. anglo-norm. Eigenkirche.

der Päpste und der Konzilien seit der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts immer lauter die Forderung erhoben wurde, daß keine geistliche Person von einem Laien investiert werden dürfte, wurde folgender Umweg durch Vertrag gewählt, um einer Laienperson dauernd den Eigenkirchenbesitz zu sichern: die Laien übertrugen das Eigentum an der betreffenden Kirche einem Kloster oder Stift, behielten sich aber das jus advocationis oder jus advocatiae vor; dadurch ändert sich praktisch nichts andern Eigenkirchenverhältnis. Die Laienperson blieb nach wie vor praktisch Eigentümer. Sie behielt das Recht im Sinne des Eigenkirchenrechts, die Kirche nach wie vor zu nutzen, einen Geistlichen dem betreffenden Amt oder Stift zu präsentieren, welcher dann auch von diesem kirchlichen Organ eingesetzt werden mußte. Dafür lag dem Benefiziaten ob, einen gewissen Rekognitionszins »pro fidelitate« an das Kloster oder Stift zu entrichten; im übrigen aber blieb das Verhältnis des Benefiziaten zum Eigenkirchenherrn nach wie vor dasselbe 1 ). Dadurch wurden die Forderungen der Gregorianer und die Verbote der Laieninvestitur umgangen. Die kirchlichen Stifter und Klöster befanden sich dabei sehr wohl, denn sie mehrten ihr Vermögen, und außerdem erlangten sie durch die Bestellung des Advokaten, die immer vom König genehmigt werden mußte, den Vorzug der Juryprivilegien im Königsgericht 2 ). riker in der weltlichen Person seinen Schutz finden soll (siehe Liebermann im Wörterbuch verbo advocatus). Die technische Bedeutung des Advokaten kommt wohl in Leges Henrici vor, aber dieses Rechtsbuch gehört ja schon der anglonormannischen Zeit an. Wie untechnisch »J>ingere« zur angelsächsischen Zeit gebrauchtwird, zeigt Priester »Jtingere« = intercessor, advocatus. Siehe Mac Gillivray i n M o r s b a c h s Studien zur englischen Philologie V I I I , §112. Daher bemerkt Mac Gillivray mit Recht, daß der lat. Ausdruck »advocatus ecclesiae« sehr bedeutend von dem angelsächsischen »cyrcj>ingere« sich unterscheidet. *) Ein typisches Beispiel hierfür der von Seiden p. 379 zitierte Fall aus dem 33. Regierungsjahre Heinrichs II.: Haec est finalis concordia facta in Curia Domini Regis apud Cantuarium anno regni Regis Henrici secundi X X X I I I die Veneris próxima post festum Si Joh. Bapt. Coram Radulpho Archidiácono Colecestriae et Rogero filio Reinfri et Roberto de Witefield et Michaeli Belet Justiciariis Domini Regis et aliis fidelibus Domini Regis ibidem praesentibus inter Priorem de Lewes et Monachos ejusdem loci et Willielmum filium Arthuri, quem Richardus de Budketun posuit loco suo ad lucrandum vel perdendum de advocatione Ecclesiae de Budeketun, unde placitum erat inter eos in Curia Regis, scilicet quod Prior et Monachi remiserunt et quietum clamaverunt eidem Richardo et haeredibus suis advocationem praedictae Ecclesiae per ita quod persona quae per ipsum Richardum vel haeredes eius in eadem ecclesia instituatur reddet singulis annis Ecclesiae de Lewes I I I I solidos sc. ad Fest Sancti Mich, et ille qui in eadem Ecclesia per ipsum Richardum vel haeredes suos instituatur persona post institutionem suam coram Episcopo fidelitatem praestabit, quod praedictam pensionem praedicto termino Ecclesiae de Lewes persolvet, et postea in Capitulo de Lewes eandem fidelitatem innovabit.« Daß auch Mönche, deren Ordensregel das Eigentum überhaupt, also auch das an Kirchen, verbot, dem Gesetze ein Schnippchen in der oben dargestellten Art zu schlagen wußten, sagt Mapes (zur Zeit Heinrichs II.), De Nugis Curialium (Camden Society), p. 57: »cum prohibeat regula ecclesias possidere, jura praesentationum ab advocatis obtinent, et immisso vicario non ecclesias possident sed pensiones annuas.« Was hier die Mönche, taten sonst die Laien. s ) Siehe über den Zusammenhang zwischen Königschutz und Gerichten: Brunner, Schwurgerichte, S. 144 ff., 255 ff. H ä t s c h e l t , Engl.Verfassungsgeschichte.

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

Daß aber der advocatus, trotzdem er formell nur der alte defensor der Kirche war, in der Praxis sich nur als Eigenkirchenherr fühlte und gebftrdete, ergeben viele Verleihungsurkunden 1 ). Heinrichs II. bedeutsame Tat bestand nun darin, /daß er diese Ad v o k a t i e nicht zu dem ausarten lassen wollte, was sie auf dem Kontinent damals und in der Folgezeit war, zur zügellosen V o g t ei, die ihr untergebene Kirchen durch eigene Gerichtsbarkeit usw. aussog. In seinem Kampfe gegen die seigneuralen Gerichte wollte er auch keine Vogtei-Gerichtsbarkeit in selbständiger Weise aufkommen lassen, und deshalb machte er den kontinentalen Vogt 2 ) in England zu einem staatlichen, vom König abhängigen Funktionär, durch dessen Hilfe allein die Kirche für die Pfründen die Juryprivilegien im Königsgericht in Anspruch nehmen konnte. Nur im Königsgericht sollte darum gestritten werden, ob ein Gut kirchliches oder weltliches Lehen war, nur im Königsgericht sollte die Frage entschieden werden, wer der advocatus einer Kirche sei, denn die Advokatie war Staatsfunktion, ein Staatsamt. Das ist der kurze Sinn der Constitutions of Clarendon (1164)3). Durch diese Konstitution wurde gleich nach zwei Richtungen hin die Sache geregelt: die kirchliche Vogteigerichtsbarkeit und Vogtei in England war ein für allemal unmöglich und der geistlichen Gerichtsbarkeit die Kognition über die weltliche Staatsfunktion der Advokatie entzogen. Weil die Kirche sich so in der Durchführung der Gregorianischen Ideale bedroht sah, deshalb erhob B e c k e t dagegen Protest. Heinrichs II. Unternehmen war aber bloß eine Staatsnotwendigkeit. Hätte er hier nachgegeben, so wäre unfehlbar auch das Vogteiunwesen und die Vogteigerichtsbarkeit in England entstanden und damit ein neuer Zweig der seigneuralen Gewalt. Heinrich II. gab nicht nach und siegte an diesem Punkte. Nun wird uns auch verständlich, weshalb Alexander III. mit einem Gegenschlag kam und behauptete, daß das jus patronatus ein jus spirituali annexum sei. Er wollte, daß die kirchenrechtliche Seite das Institut und seine Ausgestaltung beherrschen solle. Heinrich II. wollte umgekehrt die weltliche Seite des Eigenkirchenwesens und die Zuständigkeit der weltlichen Gerichte in England für alle Folgezeit erhalten, da er die rechtsbildende Kraft der Rechtsprechung — und zu seiner Zeit war sie nicht gering — klar erkannte. ') Man vgl. insbes. das Chartularium von St. John of Pontefract, ed. by Rieh. Holmes, The Yorkshire Archaeological Society, Bd. 25 (1899), Einleitung, p. XV ff. (namentlich die Urkunde auf S. XXVIII f.) und Bd. 30 (1902). ! ) Es ist ein Irrtum, wenn Friedberg, Kirchenrecht S. 375 (Anm. 10) annimmt,, daß das englische right of advowson in seinem Ursprung anders geartet sei als die kontinentale Vogtei. Nicht in ihrem Ursprung, sondern in der weiteren Entwicklung Seit Heinrich II. liegt die Verschiedenheit. Dieser Irrtum geht auf Hinschius zurück: Kirchenrecht II, 629 Anm. 2. *) Insbesondere § 1, § 9.

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§ 12. Die angelsächs. u. anglo-norm. Eigenkirche.

III. Der eigenkirchliche Kondominat zwischen Papst und König unter Johann und Heinrich III. Richard I. und Johann hielten streng an den Grundsätzen fest, die ihr Vorgänger in bezug auf das Verhältnis zwischen Staat und Kirche ausgebildet hatte. Bei der Durchsetzung der Gigenkirchenbefugnisse, den Erzbischof von Canterbury zu bestellen (1205), kam es zum Konflikt mit keinem Geringeren als Innozenz III., der nicht den Kandidaten des Königs, sondern S t e p h a n L a n g t o n zum Erzbischof konsekrierte. Bis zum Jahre 1213 dauerte der Kampf. Johann gab nach, weil er zu dieser Zeit vom König von Frankreich durch Krieg bedroht war. Er unterwarf sich nicht bloß insofern der Kurie, als er Langton schließlich als Erzbischof anerkannte, sondern auch, indem er, um dem Staat einen starken Rückhalt am Papsttum zu gewinnen, sich und die Krone Englands der Lehensoberhoheit des päpstlichen Stuhls (15. Mai 1213) überantwortete und einen Lehenstribut, bestehend aus jährlich 1000 £ Sterling (700 für England, 300 für Irland), zu zahlen versprach. Diese Unterwerfung nahm der Legat Pandulph im Namen des Papstes entgegen. Der Lehenstribut wurde bis zur zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts neben dem seit altersher bestehenden Peterspfennig gezahlt 1 ). Trotz dieser Erniedrigung, wie sie unter Johann und Heinrich III. nicht bloß formell, sondern auch praktisch bestand, i s t d i e E i g e n k i r c h e n i d e e in E n g l a n d k e i n e s w e g s verschwund e n , nur war es nicht mehr der König allein, der sie nutzte, sondern auch sein Oberlehnsherr, der Papst. Das Hauptbestreben beider ging dahin, die Ausübung des Eigenkirchenrechts in ihrer Hand zu monopolisieren und die Eigenkirchenrechte der geistlichen und weltlichen Großen zurückzudrängen. Freilich, formell wurde der Schein gewahrt, als ob man die Rechte der letzteren schonen wollte. So erwiderte der Papst Gregor IX. im Jahre 1239 den Baronen von England auf ihre Forderung, ihre Rechte bei Besetzung geistlicher Pfründen zu beachten, daß dieses in Hinkunft geschehen solle. Der Schein mußte gewahrt werden, da Artikel 46 der Magna Charta den Baronen Englands das Recht der Regalie für die von ihnen gegründeten kirchlichen Institute ausdrücklich zugesichert hatte. Durch die Magna Charta war auch die freie Wahl den Kathedralen, Kollegiatkapiteln und Klöstern zugesichert (Art. 1 der Magna Charta). Aber in der Praxis wurde dieses gar nicht beachtet, sondern Papst und König taten sich zusammen, um nur i h r e Eigenkirchenbefugnisse durchzuführen. An drei Punkten kommt dieser königlich-päpstliche Kondominat zum Ausdruck. 1. Zunächst wurde die Freiwahl der kirchlichen Würdenträger weder vom Papst noch vom König beachtet. König und Papst kassierten Wahlen, wenn es ihnen paßte. Papst und König oktroierten Kapiteln ') Über diesen siehe P. Fahre, Recherches sur le denier de St. Pierre en Angleterre au Moyen-Age. Supplement aux Mélanges d'Archéologie et d'Histoire XII; 1892, 159—182 und Jensen, Transactions of the Royal Historical Society XV (1901), p. 171—189. 11*

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I. Abschnitt.

Der Feudalstaat.

ihre Kandidaten, und zwar immer so, daß der Papst zustimmte, wenn der König dies tat, und der König es guthieß, wenn der Papst seinen Kandidaten dem Kapitel aufnötigte. 2. Mit Ignorierung der den geistlichen und weltlichen Großen zustehenden Eigenkirchenrechten providierte der Papst englische Pfründen zugunsten italienischer Kleriker, behandelte diese Pfründen als Eigentum des päpstlichen Stuhls ohne irgendwelche Berechtigung. Freilich dürfen wir nicht vergessen, daß damals von den Päpsten die Eigentumstheorie der Universalkirche mit Vorliebe propagiert wurde. Wie sehr der Papst in seinem Verhältnis zu den englischen Pfründen von dieser Auffassung durchdrungen war, illustriert sein Schreiben an den König Heinrich III. von 12381), in welchem er ihm aufträgt, Freiheiten, Besitzungen und Würden, die der König an mehrere geistliche Würdenträger und hohe Herren verstreut hatte, wieder zurückzunehmen, denn diese gehörten der Krone, dürften aber zum schweren Nachteil der römischen Kirche, die das Königreich England zu eigen hatte, nicht verliehen werden. Übrigens ist dieser Brief auch ein interessanter Beleg für den oben erwähnten königlich-päpstlichen Kondominat. 3. Aus dem Eigentumsrecht der Gesamtkirche und des Papstes an den Pfründen (sog. Universaleigentumtheorie) leitet die Kurie das Recht der Besteuerung des kirchlichen Vermögens her2) und fordert in dieser Zeit trotz des Widerspruchs der geistlichen und weltlichen Großen die Zahlung der päpstlichen Steuern. Dagegen protestiert der hohe und der niedere Klerus. Die Kirchen seien des Papstes nur »tuitione non fruitione vel appropriatione Smith a. a. O. p. 1 5 4 - 1 5 8 . 6 ) Smith a. a. O. p. 1 5 4 - 1 5 8 . ') Siehe darüber Nicholls, History of the Poor Laws, 2 vols, 1854. Aschrott, Das englische Armenwesen in seiner historischen Entwicklung und seiner heutigen Gestalt, 1886, und der Bericht der berühmten Armenpflegekommission von 1834: Pari. Papers 1834, vol. XXVII. Siehe auch mein engl. Staatsrecht II, 419 f. über die juristischen Einzelheiten. ') Siehe über die Verordnung der Friedensrichter von Berkshire von 1795, die dann als »Speenhamland Act of Parliament« allgemein Anerkennung erlangte, ohne vom Parlament je sanktioniert worden zu sein, Nicholls a. a. O. II, p. 137 ff. 2

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IV. Abschnitt.

Die parlamentarische Monarchie.

richtern abgenommen und neuen unparteiischen Behörden (Armenpflegräten, poor law guardians) übertragen wurde. b) In der Wegeverwaltung, die seit der angelsächsischen Zeit als Kommunallast galt, fanden die Stuarts für gut, durch das Kirchspiel die erforderlichen Leistungen zu bewirken. Naturaldienste überwiegen noch im 18. Jahrhundert. Die Leistung von Hand- und Spanndiensten wird an den Realbesitz 1 ) im Kirchspiel geknüpft. Aushilfsweise tritt eine Steuer ein, die teils von den petty sessions der Friedensrichter, teils von den Wegeaufsehern (surveyors) 2 ) ausgeschrieben wird. Die letzteren versehen Ehrenämter und werden von den Friedensrichtern ernannt 3 ). Bei ihnen steht das mit der Wegeverwaltung verbundene Dezernat in unterster Instanz, also die Zuteilung der Hand- und Spanndienste, die Steuereinschätzung 4 ). Wir finden demnach, daß auch diese Kollektivtätigkeit des Kirchspiels für Staatszwecke durch eine, an Realbesitz im Kirchspiel geknüpfte Verteilung von Rechten und Pflichten erzielt wird. 2. Das wirkliche Leben des Kirchspiels vollzog sich in drei verschiedenen Formen: der eine Typus ist durch die Tatsache gegeben, daß in einzelnen Kirchspielen die gesamte Kirchspielverwaltung in die Hände eines kleinen Zirkels (close body) gelangte, welcher die breite Masse der Kirchspielbewohner von jeder Teilnahme an der Verwaltung ausschloß. Diese close vestry oder select vestry war gebildet entweder durch unvordenkliche Gewohnheit oder durch Erlaubnis des Bischofs, der ja in Kirchspielangelegenheiten im 16. und 17. Jahrhundert viel darein zu reden hatte, oder durch Gesetz. Diese Form der Kirchspielverwaltung findet sich im 18. Jahrhundert namentlich in dünn bevölkerten Kirchspielen. Eine zweite Form war die Kirchspieloligarchie, die sich nicht auf dem Wege des Gesetzes, sondern durch Konventionalnormen herausgebildet hatte. Hier kam am Ostermontag oder Osterdienstag der Pfarrer mit 3 oder 4 wohlbegüterten Farmern zusammen und stellte die Kirchspielsteuern fest. 2 oder 3 von diesen Farmern pflegten im Kirchspiel die Stellung der churchwardens und der Armenpfleger zu übernehmen, andere vielleicht die Funktionen der surveyors of high ways. Niemand kontrollierte ihre Rechnungen in richtiger Weise, lose Papierfetzen, schlecht gehaltene Rechnungsbücher, d a s ' w a r alles, was bei dieser Zusammenkunft vorgezeigt wurde. Diese Kirchspieloligarchie waltete und wirtschaftete nach eigenem Gutdünken. Nicht immer war es diese Kirchspieloligarchie, die herrschte. Manchmal war die große Masse der Kirchspielangehörigen vollständig damit einverstanden, daß diese unverantwortliche Kirchspieloligarchie verwaltete, wie es ihr beliebte. Manchmal steckte sogar ein Ring, eine Clique dahinter, welche regelmäßig in den Kirchspielversammlungen erschien und die ») s ) ») *)

Smith Smith Smith Smith

a. a. a. a.

a. a. a. a.

O. O. O. O.

p. p. p. p.

467-469. 114-116. 110. 108, 111, 357.

§ 48.

Die Lokalverwaltung.

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Beamten des Kirchspiels dirigierte. Manchmal kam es in diesen von einer Clique beherrschten Kirchspielen doch dazu, daß sich die große Masse der Kirchspielbewohner ihrer ursprünglichen Verwaltungsgewalt erinnerte und in offenkundiger Revolution die Kirchspielversammlung zu Aufschlüssen veranlaßte. Das waren die sog. turbulent open vestries. Die bevölkerten Kirchspiele hatten aber nicht selten eine von allen Kirchspielangehörigen besuchte Kirchspielversammlung, welche über die Ehrenämter eine eingehende Kontrolle ausübte, welche die Kirchspielfunktionäre wählte, zu ihrer Aushilfe besoldete Beamte bestellte und für die laufende Kirchspielverwaltung einen Ausschuß aus der Kirchspielversammlung, das sog. parish committee, bestellte. Die Kirchspielverwaltung übte mitunter ein Referendum in den wichtigsten Verwaltungsfragen aus, das war die sog. open vestry. Der größte Teil Englands und Wales war aber durch den zweiten Typus der Kirchspieloligarchie auf Grund von Konventionalregeln beherrscht. Die beiden letzteren Typen der Kirchspieloligarchie machten dem Parlament wegen ihrer Freiheit und Ungebundenheit viel Sorge. Es wurde die Zeit der Reaktion, namentlich die Zeit der Six Acts, von denen oben die Rede war 1 ), benutzt, um auch dieser sich frei entwickelnden, in extralegalen Formen sich bewegenden Kirchspieloligarchie resp. Demokratie den Garaus zu machen. Denn die extralegale Kirchspieloligarchie war wegen ihrer Konzessionen an die Kirchspielversammlungen ebenso unangenehm, wie die ganz reine Kirchspieldemokratie. Die Sturges Bourne Acts von 1818/19, welche an einigen Punkten zwar jene Konventionalregeln zu Rechtsregeln erhoben, z. B. das parish committee, den Verwaltungsausschuß und auch die besoldeten Beamten sowie das Referendum akzeptierten, bereiteten doch der open vestry den Tod. Sturges Bourne hatte nämlich beabsichtigt, die Kirchspielversammlungen, die in ungebundenster Weise mitunter auch revoltierten, auf gemäßigte Grundlagen zu bringen und deshalb durch seine Maßnahmen versucht, die Kirchspielversammlungen bloß aus Steuerzahlern zusammenzusetzen. Namentlich hatte er dies durch ein kumuliertes Stimmrecht, das sich nach dem Besitz abstufte und demjenigen, der mehr besaß, eine größere Anzahl von Stimmen lieh, zu erreichen geglaubt. Personen, welche weniger als 50 Pfund Jahreseinkommen hatten, besaßen bloß eine Stimme, für jede 25 £ mehr erhielt jeder Kirchspielsangehörige eine Stimme mehr, bis zu 6 Stimmen. Aber nicht bloß die open vestry wurde so auf die normale Grundlage rechtlicher Regeln gebracht, sondern auch umgekehrt die close vestry geöffnet durch die sog. Hobhouse Act im Jahre 1831. Diese Oligarchie wurde gebrochen. Die laufende Verwaltung soll von einem Kirchspielkomitee, das alljährlich ebenso gewählt wird, wie die zwei Kirchenaufseher und die sechs Armenaufseher, geführt werden, zwei andere Armenaufseher sollen von den Friedensrichtern bestellt werden. Drei Rechnungsbeamte sollen jährlich vom Kirchspiel gewählt werden. Jeder Kirchspielx

) § 40.

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IV. Abschnitt. Die parlamentarische Monarchie.

angehörige darf bloß eine Stimme haben, vorausgesetzt, daß er seinen Steuerpflichten nachkommt. Bis zum Jahre 1834 erhielt sich dieser durch die genannten Gesetze geschaffene Rechtszustand. E r wurde den Kirchspielen nicht aufoktroyiert, sondern jedes Kirchspiel konnte die Akte von 1819 oder die Akte von 1831 annehmen oder nicht, wie es wollte, doch genügte schon ein Fünftel der Steuerzahler, um darüber eine Abstimmung herbeizuführen, ob eines der genannten Gesetze akzeptiert werden sollte. Zwei Drittel der Steuerzahler mußten sich dann dagegen aussprechen, um zu verhindern, daß eines der genannten Gesetze angenommen wurde. Trotzdem wurden die Hobhouse Act nur hauptsächlich innerhalb der Londoner Metropole, die Sturges Bourne Acts von 1818/19 hingegen gleich von etwa 2000 Kirchspielen angenommen und Tausende andere folgten in den nächsten zehn Jahren. Bis zum Jahre 1834 dauerte der durch die Hobhouse Act und der durch die Sturges Bourne Acts geschaffene Rechtszustand. In diesem Jahre nämlich wurden durch Gesetz (4/5 Will. IV., c. 76) die Kirchspiele ihrer wichtigsten selbständigen Funktion, der Armenpflegverwaltung, entkleidet und diese besonderen Kirchspieldistrikten (unions), die durch Zusammenlegen von Kirchspielen gebildet waren, übertragen. Auch wurden die neuen Unionen einer obersten Zentralbehörde (den poor law commissioners) mit weitgehenden Aufsichtsrechten unterstellt. Nur in der Metropole erhielten sich jene Kirchspiele, welche sich der Hobhouse Act unterstellt hatten, mit einzelnen Modifikationen bis zum Jahre 1900. III. Die Städte 1 ). 1. Eine Grundverschiedenheit besteht zwischen den Städten des Kontinents, insbesondere den deutschen und englischen Städten, die in der Literatur wohl anerkannt 2 ), deren politischer Grund aber nicht gewürdigt wird. Er liegt in dem verschiedenen Verhältnisse zur Staatsgewalt. Die deutschen Städte, insbesondere die Reichsstädte, waren im Mittelalter der Reichsgewalt n e b e n geordnet; die englischen waren dies niemals, sie waren stets dem Staate e i n geordnet und sind es auch im 18. Jahrhundert. Die Erklärung dieser Tatsache ist auch aufzufinden, wenn wir uns vergegenwärtigen, was die deutschen Städte zu Staatsgewalten hat werden lassen: es war die Verdrängung der Reichsgewalt aus dem *) S t a t t aller: Webb, English Local Government from the Revolution to the Municipal Corporations A c t : The Manor and the Borough, 2 vols, London 1908. Auch eine Spezialarbeit, die die Verhältnisse, welche W e b b schildert, noch besonders illustriert: R . Muir and E . M. P l a t t , A History of municipal Government in Liverpool from the earliest time to 1 8 3 5 (2 vols), London 1906. Das früher als Hauptquelle betrachtete Blaubuch der Kommission, welche 1835 über den Stand der Munizipalverfassung in England zu berichten h a t t e (unten als »First Report« zitiert), ist jetzt seit Webbs Buch, der die tendenziöse Darstellung jenes Blaubuchs in wichtigen Punkten nachweist, nur mit Vorsicht zu gebrauchen, läßt übrigens die sog. manorial boroughs vollständig außer B e t r a c h t . ») Gneist, Gesch. d. Selfgov. I, S. 200.

§ 48.

Die Lokalverwaltung.

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Umkreis der Stadt, durch Lösung jeder unmittelbaren Beziehung zwischen Städten und Reichsgewalt. Die Stadtpersönlichkeit war die Mittlerin zwischen beiden geworden 1 ). — Ganz anders lagen diese Verhältnisse in den englischen Städten. Hier hatte, wie wir gesehen, (§ 20) nie eine Lösung der Beziehung zwischen Staatsgewalt und Städten stattgefunden. Selbst dann nicht, als die Städte eigene Verfassung oder charters bekamen. In ihrem Verhältnisse zur Staatsgewalt hielt die Rechtstheorie den Zusammenhang der Städte mit dem Ganzen stets fest. Sie sind, wie wir oben (§35) festgestellt, im 16. u. 17. Jahrhundert nur Staatsanstalten oder örtliche Kollektiwerbände für Staatszwecke 2 ). Die englische Stadt des 18. Jahrhunderts ist nicht juristische Person des öffentlichen Rechts, wenngleich sie durch »Inkorporationscharten« juristische Person des Privatrechts ist. — Als Person des Privatrechts hat sie auch Privilegien, wie z. B. das Recht, Abgeordnete ins Parlament zu schicken, zuweilen auch als county corporate das Recht, als selbständige Grafschaft mit eigenen Friedensrichtern 3 ) zu funktionieren. Ja, ihre ganze öffentliche Stellung beruht auf Privilegienbasis. Aber auch ihre Privilegien übt sie in der Art von Privatrechten aus und versieht deshalb auch nur unvollkommen jene öffentlichrechtlichen Funktionen 4 ), die dier Staat sonst durch den Grafschaftsund Hundertschaftsverband versehen läßt. Diese öffentlich-rechtlichen Funktionen sind im 18. Jahrhundert Gerichts- und Polizeiverwaltung 6 ). Der alte städtische court leet, der namentlich in solchen Städten vorkam, welche von einem großen Grundnachbarn die Patrimonialgerichtsbarkeit erworben hatten, hat seine Bedeutung seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts eingebüßt. 6 ) Sofern er noch wirksam ist, beruht die Erzeugung der hierfür notwendigen Kollektivtätigkeit auf derselben Kommunalpflichtenverteilung, wie wir sie in der Grafschaft kennen gelernt. Im 18. Jahrhundert ist die Privilegienbasis zwar noch vorhanden, aber niemand denkt daran, die Kollektivpflicht der Städte zu erzwingen. Die einzige Pflicht, die noch besonders anerkannt wird, besteht in der pflichtmäßigen Besetzung des städtischen Friedensrichteramtes, aber niemand sucht diese zu erzwingen (Webb a. a. 0., p. 288). Glücklicherweise war von dieser Indolenz der Städte desM Siehe Gierke, Genoss.-R. II. Bd., S. 705 ff. ) Dies auch die Ansicht Gneists, Verw., Justiz, Rechtsweg S. 43: »Die englische Stadtverfassung ist keine eigentümliche Bildung, sondern nur die Übertragung der Kreis- und Kirchspielsverfassung auf die stadtische Lebensweise.« 3 ) Siehe Blackstone, vol. I, p. 107. 4 ) Ähnlich wie im deutschen Recht die Patrimonialherren. S. dazu Webb, Bnglish Local Government from the Revolution to the Municipal Corporations Act: The Manor and the Borough, London 1908, p. 286 f. 6 ) Siehe Pollock a. a. O. vol. I, p. 627 ff. In bezug auf die Milizverwaltung gehört die Stadt in den Grafschaftsverband. Siehe Gneist, Gesch. d. Selfgov. I, S. 371. •) Siehe First Report on the Municipal Corporations (England und Wales) observed by the house of Commons to be printed, 1835, p. 26—28 und p. 41 — 43, ferner Palgrave, Observations on the principles of new municipalities, 1833, p. 23 ff. Webb a. a. O. p. 344 ff. 2

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IV. Abschnitt.

Die parlamentarische Monarchie.

halb nicht viel zu befürchten, weil die Last der Armenpflege nunmehr auf die Schulter der Kirchspiele gelegt war, und die Polizeifunktionen, sofern sie von der Stadt mangelhaft geübt wurden, von den Friedensrichtern der Grafschaften oder von besonderen, durch Lokalgesetze eingesetzten Stadtkommissaren (commissioners) ebenso wie andere Verwaltungsaufgaben (Beleuchtung, Pflasterung, VVegewesen usw.) erfüllt wurden. Die Stadtobrigkeit sollte1) von den Einwohnern gewählt werden, die die Qualifikation des bearing lot and paying scot besaßen, d. h. die Steuerund öffentliche Dienstpflicht im Kommunalverbande erfüllten. — Dieses System von Wahlberechtigungen hing also mit jener Kommunalpflichtverteilung innig zusammen und ergänzte die Kollektivtätigkeit des court leet, indem es die obrigkeitlichen Organe schuf. Freilich war dies bloß die Theorie. Die Praxis sah ganz anders aus. Wer Stadtbürger war, bestimmte nur selten die königliche charter, meist hing dies von lokaler Gewohnheit und insbesondere von Lokalstatuten (bylaws) ab. In einigen wenigen Städten war die Stadtbürgerschaft abhängig von einem Grundbesitz innerhalb der Stadt (burgage tenements). Dieser Grundbesitz war von altersher als burgagium ausgezeichnet und diente allein als Grundlage der Stadtbürgerberechtigung. Neuer Grundbesitz hatte nicht diese Qualität. In einer großen Zahl von Städten, ungefähr 2 / s der Gesamtzahl, war die Grundlage des Stadtbürgerrechts die Tatsache, daß man bei dem Meister einer anerkannten Innung in Lehre gestanden hatte. In anderen Städten, namentlich in solchen, welche eine mehr demokratische Verfassung hatten, war Mitgliedschaft in einer Handelsgilde die grundlegende Voraussetzung für die Stadtbürgerschaft. In ungefähr 40 Stadtkorporationen, in einem Fünftel der Gesamtzahl, konnte man sich nur durch Einkauf in die Stadtkorporation die Stadtbürgerschaft erwerben. In 50 Stadtkorporationen, etwa in einem Viertel der Gesamtzahl gab es überhaupt keine freien Bürger, sondern die Korporation bestand bloß aus dem regierenden Stadtrat, der sich durch Kooptation ergänzte. Ais Stadtobrigkeit fungierte der mayor, portreeve, bailiff oder wie das Stadthaupt sonst genannt wurde. In 40 Städten gab es sogar ein doppeltes Haupt an Stelle eines einzigen, ein Paar von bailiffs. In Städten, welche aus den großen Gutshöfen herausgewachsen waren, war die eigentliche Seele des Stadtregiments der high steward, daneben gab es einen Stadtkämmerer und einen Stadtschreiber (townclerk) in den meisten Städten. Außer diesen Beamten fungierten als Stadtorgane eine Reihe von Stadtgerichten, meist mit den Befugnissen einer Patrimonialgerichtsbarkeit und mitunter auch als Handelsgerichte, namentlich aber als Bagatellgerichte tätig. In Anlehnung an diese Gerichte entwickelte sich mit der Zeit, insbesondere seit dem 17. Jahrhundert, ein sog. common council, eine Art Stadtrat. Das Stadthaupt wählte mehrere Personen, die sog. »mayors peers« oder »mayors brethren«, *) Siehe First Report p. 35 — 39 über den Mißbrauch, der von dieser Qualifikation absieht und diese Wahlen zum Tummelplatz der verschiedensten politischen Parteien macht, auch Blackstone, Comra., vol. I, p. 517—522.

§ 48.

Die Lokalverwaltung.

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welche ihm in seinem Verwaltungswerke beistanden. Allmählich wird dieser kleinere Zirkel von Räten oder, wie sie manchmal heißen, aldermen, ein ständiger Rat. Dabei gibt es Räte ersten, zweiten und dritten Grades, je nachdem diese Räte aus den unteren, aus den mittleren oder aus den obersten Klassen genommen werden. Es entwickelt sich jedoch kein Zwei- oder Dreikammersystem innerhalb des Rats, sondern alle bilden eine Versammlung. Seit Beginn des 18. Jahrhunderts büßt auch dieser Stadtrat seine ursprüngliche Bedeutung ein und versinkt in einen Formalismus, der ihn für die modernen Verwaltungsaufgaben unfähig macht. Diese allmählich eintretende Bedeutungslosigkeit des Stadtrats hängt mit der Tatsache zusammen, daß die englischen Städte des 18. Jahrhunderts überhaupt, namentlich aber durch die Willkür der Stuarts in ihrer Verfassung verunstaltet worden waren. Die Test Acts von 1661 und 1672 hatten dann das Ihrige dazu beigetragen, um auch die stets arbeitswilligen und den reicheren Kaufmannskreisen angehörigen dissenters den Stadträten zu entfremden. Infolgedessen spielen die Städte des 18. Jahrhunderts im Verwaltungsorganismus des englischen Staats eine nur untergeordnete Rolle, die ihnen überhaupt nur deshalb nicht genommen wird, weil der Staat die geschichtliche Kontinuität wahren will. Er zieht es vor, ihre Verwaltungstätigkeit durch parallel wirkende Organe, z. B. für alle möglichen Sonderzwecke im Stadtgebiete errichtete »Verbesserungskommissäre« (improvement commissioners), zu ersetzen oder die Städte, wie z. B. für die Milizverwaltung, in der Verwaltungsmaschinerie der Grafschaft aufgehen zu lassen. In dieser Zeit hätten sie allerdings neue Kraft für Verwaltungsaufgaben schöpfen können. Die Kirchenspielverfassung, die Grundlage der staatlichen Verwaltungstätigkeit, hatte sich auch über die Städte ausgebreitet. Aber zu einem Zusammenwachsen der Stadt- und Kirchspielverwaltung kam es nicht 1 ), weil die Stuarts, wie wir sahen, die Stadtverfassungen verunstaltet hatten, oder weil durch Gewohnheitsrecht Stadtregimente (select bodies) entstanden waren, welche sich durch Kooptation aus einem engen Kreise der freemen 2 ) zusammensetzten. Es ist demnach auf den ersten Blick einleuchtend, daß sie mit der auf der breiten Basis aller Angehörigen ruhenden Kirchspielverwaltung nicht in Zusammenhang stehen konnten. — Das war die böse Frucht der von den Stuarts gesäten Saat: die Frucht der select bodies. 2. In diese starren Rechtsformen ließ sich aber auf die Dauer der in England vorhandene städtische Geist nicht einkapseln. Konnten gesellschaftliche Gruppen im Staat, die nach außen hin die Bedeutung städtischer Gemeinwesen hatten, nicht auf gesetzlichem Wege durch Inkorporationscharten die Stadtqualität erlangen, so mußten sie auf außergesetzlichem Wege ihr städtisches Gemeinleben entfalten. Und so finden wir zunächst ein wirklich städtisches Gemeinleben, das keine *) Palgrave, Observations, p. 18 ff. 2 ) First Report, p. 1 8 - 2 0 u. p. 32 f.

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andere Grundlage hat als den ehemaligen großen Gutshof eines Latifundienbesitzers, eines Landmagnaten. Der court baron und der court leet, die ihre eigentlichen Funktionen schon in der zweiten Hälfte des Mittelalters eingebüßt hatten, bekommen dadurch seit dem 16. und 17. Jahrhundert neues Leben, daß sie nun die Grundlage eines stadtähnlichen Gemeinwesens werden. Die Stadtbürger, welche in formeller Beziehung der gutsherrlichen Gerichtsbarkeit unterliegen, wissen aber geschickt den Einfluß des großen Grundherrn ganz in den Hintergrund zu drängen oder sie kaufen die Rechte des großen Grundherrn ab und nutzen nun den court baron und den court leet für ihre eigenen, stadtähnlichen Zwecke. Der court baron und der court leet erlangen eine Polizeiverordnungsgewalt, sie erlangen eine Steuergewalt und verpflichten durch statutarische Anordnungen (bylaws) die Mitglieder des stadtähnlichen Gemeinwesens. In dieser Weise hat sich z. B. Manchester auf den Grundlagen des court leet und des court baron bis zum Jahre 1846 entwickelt, da es selbst endlich Stadt im Rechtssinne wurde. In anderen Orten versteht es eine große Gilde, den Einfluß des Lords ganz in den Hintergrund zu drängen durch Anmassung von Rechten, die ihr gar nicht zukommen. Hierher gehört z. B. die sog. Stadt Allenwik, die gegen die Grafen von Northumberland eine Zeitlang mit Erfolg sich städtische Freiheiten anmaßte, die ihr gar nicht zukamen. In anderen stadtähnlichen Gemeinwesen z. B. in Liverpool, kauft die Bürgerschaft den Lord aus, in andern benutzt sie den Augenblick, wo der Lord, dem sie eigentlich zugehört, eine Zeitlang überhaupt fehlt, um sich eine autonomieähnliche Stellung zu verschaffen. Hierher gehören z. B. die Bürger der sog. Stadt Newbiggin-by-the-Sea. Im Jahre 1689 war es ein bloßes Fischerdorf, der Grundherr dieses Fischerdorfes, Lord Widdrington, hatte durch Act of atteinder im Jahre 1715 seine bürgerlichen Rechte verloren und die gutsherrliche Gewalt wurde bis 1751 nicht ausgeübt. In der Zwischenzeit brachten es die Fischer von Newbiggin-by-the-Sea zu einer recht ansehnlichen Autonomie. An anderen Orten wieder wurde die Stellung des Lords auf ein Minimum reduziert, es wurde ihm nur gestattet, bei feierlichen Anlässen einen court baron oder einen court leet zu halten. Im übrigen aber kümmerte er sich nicht um das, was seine früheren Gutshörigen taten und ließen. Wieder an anderen Orten hatten sich die ehemaligen Gutshörigen eines großen Magnaten stadtähnliche Freiheiten von der Krone zu erkaufen verstanden, so z. B. die »Leute« von Godmanchester. All diese stadtähnlichen Gemeinwesen waren deutliches Zeugnis dafür, daß wenn eine Verfassung derart verrottet ist, daß sie das städtische Leben zurückzuhalten gedenkt und nur kleineren egoistischen Zwecken nutzbar machen will, sich dieses städtische Leben dennoch über die Häupter der regierenden Kreise hinweg mit Erfolg durchsetzt. Das parlamentarische Regime, das nach der glorreichen Revolution in England anhebt, hat in ebenso engherziger Weise wie seine Vorgänger, die Stuarts, die Stadtverfassungen in ihrer krüp-

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pelhaften Gestalt zu erhalten versucht. War es j a doch die bequemste Art, sich selbst in der Herrschaft zu erhalten, wenn man die Stadtverfassungen in dieser Gestalt weiter beließ und so der Möglichkeit Raum schuf, daß immer ein Patron, ein großer Grundherr oder ein großer Finanzbaron auf die Besetzung der städtischen Parlamentssitze einwirkte. Aus diesem Grunde schwang sich das parlamentarische Regime Englands im 18. Jahrhundert niemals zu einer Stadtreform auf, trotzdem diese dringend nötig gewesen wäre. Weil aber alles beim alten blieb, kam diese Doppelteilung zwischen formal-juristischer Stadtkorporation und stadtähnlichem Gemeinwesen auf, welche sich aus Überresten und Trümmern mittelalterlicher Gerichtsbarkeit entwickelte. IV. Die Kommunal8teuern. Das Problem der Lokal b e s t e u e r u n g 1 ) , welche das 17. Jahrhundert der kommenden Zeit überlassen hatte, war, wie wir oben gesehen (siehe § 35), die Angleichung der verschiedenen Arten von Lokalbesteuerung aneinander. Neben der durch Elisabeth eingeführten Armensteuer bestand, wie wir wissen, noch eine Reihe von Spezialsteuern, die im Kirchspiel für die Zwecke der Grafschaft umgelegt wurden. Erstere beruht auf dem Gedanken der Erfassung des gesamten Einkommens jedes Kirchspielangehörigen, letztere hingegen hängen in der Hauptsache dem mittelalterlichen Prinzip der Realbesteuerung an. — Hier eine Angleichung beider Steuerformen zu finden, war eine Lebensfrage der Kommunalverwaltung. Die mittelalterliche Verzettelung der Steuerkräfte in eine ganze Reihe von Spezialsteuern mußte jeden Kommunalhaushalt lähmen und verhinderte besonders in England, wie wir gesehen haben, die Ausbildung einer Grafschaftssteuer und im Zusammenhang damit die Ausbildung einer Vermögensverwaltung der Grafschaft, die zum Kernpunkt einer kommunalen Selbstverwaltung sich hätte entwickeln können. Wie sollte aber diese Angleichung erfolgen ? Zwei Möglichkeiten bestanden: entweder stieg der Gesetzgeber von dem hohen Standpunkt der Erfassung des Einkommens des Kirchspielsteuerzahlers auf die alte Stufe der Realbesteuerung hinab, oder die Realgrundlage der neben der Armenbesteuerung im Kirchspiel bestehenden Lokalbesteuerung wurde zugunsten des Personalsteuerprinzips aufgegeben. In Wirklichkeit beschritt man in England von der zweiten Hälfte des 17. bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beide Wege. Zunächst wurde durch die Praxis des Reichsgerichts die Armensteuer aus einer Einkommensteuer zu einer allerdings modifizierten Realsteuer. Wie war das möglich ? Zunächst wurde der Standpunkt eingenommen, daß man, wenn man das Einkommen eines Kirchspielsteuerzahlers fassen wollte, am besten seine sichtbaren Einkommensquellen (»visible property«) ins Auge fassen müßte. 1 ) Dazu insbes.: Cannan, History of Local R a t e s in England, 1896, in Hewins, Studies in Economics and Political Science.

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In einer vorwiegend auf Ackerbau ruhenden Volkswirtschaft, wie sie England bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts noch immer darstellte, mußte natürlich die in die Augen springende Einkommensquelle der Grund- und Bodenbesitz sein. So kam man dazu, die Kirchspielangehörigen nach ihrem Grund- und Bodenbesitz einzuschätzen und zu veranlagen. Nur in einigen wenigen Kirchspielen wurde, wie z. B. in Whitechapel infolge »alter Gewohnheit«, noch bis ins 19. Jahrhundert die Erfassung des gesamten Einkommens jedes Kirchspielangehörigen versucht. Sodann wurden der Grund- und Pachtzins aus Boden- und Häuserbesitz mit der Zeit als steuerbare Einkommensquellen vollständig beiseite geschoben. Das Armensteuergesetz von 1601 hatte die Steuer nicht bloß jedem im Kirchspiel wohnenden, sondern auch den nur Grund und Bodenbesitz im Kirchpiel besitzenden Forensen auferlegt. Da man aber seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (seit dem sog. Sir Anthony Earby's case) das Einkommen aus Grund- und Pachtzins (rent) freiließ, so vollzog sich eine merkwürdige Verschiebung im Steuersubjekt der Armensteuer, die bis auf den heutigen Tag die charakteristische Form derselben bildete, nämlich: nicht der Grundeigentümer wird zur Armensteuer und den Lokallasten herangezogen, sondern sein Pächter. Das entspricht ja auch ganz der egoistischen Art der landed gentry, welche auf diese Weise die wichtigste Kommunalbesteuerung auf andere Schultern wälzen konnte. Aber auch das Einkommen aus Gehältern verschwand seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts. Blieb sonach außer dem Grundbesitz noch die Einkommensquelle aus beweglichem Kapitalvermögen (stock-in-trade). Um dieses wurde allerdings hart gekämpft, und wir erkennen in diesem Kampfe deutlich die äußeren Züge der gesamten Verfassungsentwicklung seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Der absolutistischen Zeit lag es natürlich nicht fern, auch diese Einkommensquellen gemäß den Intentionen Elisabeths zu erfassen. Im Jahre 1633 legte ein Landedelmann dem Oberrichter Sir Robert Heath eine Reihe von Fragen vor, darunter die, wie es mit der Steuerkraft des Kirchspiel-Steuerzahlers zu halten sei. Die Antwort, die der Oberrichter gibt, geht u. a. dahin, daß die Steuerkraft des Steuerzahlers im Kirchspiel nach Gutdünken der Kirchspielorgane auch auf das bewegliche Vermögen, sofern es im Kirchspiel sichtbar sei, erstreckt werden könnte. — Während der Zeit der Republik, die alle Steuerkräfte, die ihr zu Gebote standen, anspannte, war die Erfassung auch des beweglichen Kapitals das natürlich Gegebene. So wird z. B. in einem Gesetz, welches die Wegebaupflicht vorschreibt (anno 1652, c. 3) das bewegliche Vermögen jedes Kirchspielangehörigen der Besteuerung unterworfen, und zwar sollen 20 £ beweglichen Kapitals 20 s jährlichem Reinertrage aus Grund- und Bodenbesitz gleichgestellt werden. In dieser Weise verfuhr man auch während der Zeit der Restaurierung der Stuarts und in den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts, freilich nicht ohne den lebhaften Tadel der nun auf ihre Interessen bedachten Handelskreise auf sich zu laden. -— Seit der zweiten Hälfte

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des 18. Jahrhunderts sind aber diese Kreise immer einflußreicher, und die Spruchpraxis bequemt sich ihrer Auffassung an. Warum soll auch das im Handel investierte Kapital zur Steuer beitragen, wenn die landed gentry aus ihrem Bodeneigentum keine Armensteuer bezahlt ? Dieser konservative Gedanke kommt natürlich in den Urteilssprüchen nicht zum Ausdruck. Man argumentiert hier vielfach damit, daß das im Handel investierte bewegliche Kapital zu rasch fluktuiere, zu wenig sichtbar sei, um als Steuerquelle der Armensteuer zu dienen. Nur wo Gewohnheit in einem Kirchspiel auch diese Einkommensquelle der Armensteuer unterwerfe, sei ihre Steuererfassung zulässig. Der Lord Oberrichter Mansfield war auch sonst ein Anhänger des Hergebrachten, und in unserer Frage hatte er am allerwenigsten Veranlassung davon abzugehen. Er stellt im Jahre 1776 als Maxime fest, daß das Gewohnheitsrecht eines Kirchspiels entscheide, und dieses Maxime wird von da ab als Grundlage des Armensteuerrechts angesehen. So geht die Sache bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Einen Schritt nach rückwärts bedeutet eine Instruktion der poor law commissioners (September 1838), welche nicht einmal die Gewohnheit für die Steuererfassung des beweglichen Kapitalvermögens mehr anerkennen will. — Das oberste Reichsgericht, die Queen's bench, reprobiert zwar diese Auffassung, aber ein Gesetz von 1840 (3 u. 4 Vict., c. 81) stellt sich auf den Standpunkt der poor law commissioners und nimmt von der Armenbesteuerung endgültig das im Handel investierte Kapitalvermögen aus. Zugleich wird die alte Praxis anerkannt, wonach nicht, wie das Armensteuergesetz von 1601 wollte, jeder Kirchspielangehörige neben dem Grund besitzenden Forensen zur Armensteuer herangezogen wird, sondern bloß der »occupier«, d. i. der Pächter von Grund und Boden innerhalb des Kirchspiels, gleichviel ob er in der Gemeinde wohnt oder Forense ist. Der »inhabitant« des Elisabetheischen Gesetzes wird so eliminiert, wie er es ja durch die Spruchpraxis des Gerichts bereits schon seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war. Nun war die Angleichung der übrigen Spezialsteuern im Kirchspiel an die Armensteuer nicht schwer. Manche derselben war schon im 17. Jahrhundert, insbesondere während der puritanischen Revolution, auch auf das bewegliche Vermögen gelegt (so z. B. die oben erwähnte Wegebausteuer von 1652). Die Wegesteuer von 1654 wird schon ganz auf der Grundlage der Armensteuer eingeschätzt und erhoben. — Die primitive Polizeisteuer, hue and cry rate, wird ebenfalls an die Armensteuer angeglichen und zwar ohne Mitwirkung der Legislatur, einfach durch die Spruchpraxis der Gerichte. Ähnlich ergeht es den Steuern für Kanalisation und Straßenreinigung, obwohl hier die Legislatur mit Hilfe der Private-Bill-Gesetzgebung nachgeholfen hat. In Städten werden auch die sog. Straßensteuern, d. i. Lokalbesteuerung für Beleuchtung, Bepflasterung und Wasserversorgung, auf der Grundlage und nach dem Vorbild der Armensteuer erhoben. So ist der Boden für eine Konsolidation aller dieser Spezialsteuern genügend vorgearbeitet. Im Jahre 1739 ergeht das Gesetz, welches in

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der Hauptsache eine ganze Reihe dieser Detailsteuern konsolidiert, und aus ihnen eine einheitliche Grafschaftssteuer schafft (12 Geo. II., c. 29). Die Begründung, die das Gesetz gibt, ist charakteristisch; man könne diese Detailsteuern deshalb nicht aufrechterhalten, weil der Steuerfuß der einzelnen derselben derart gering sei, daß die Arten der Steuererhebung die Einnahmen aus der Steuer bedeutend überschreiten würden, wollte man sie nach wie vor, jede für sich, einheben1). Auch die neue Grafschaftssteuer soll in der Art der Armensteuer und auf deren Grundlage erhoben werden. Die friedensrichterlichen Vierteljahrssitzungen werden angewiesen, die für Grafschaftszwecke aufzubringende Summe auf die einzelnen Kirchspiele zu repartieren. Ein Gesetz von 1815 (55 Geo. 3, c. 51) verbessert diese Vorschrift dahin, daß die Verteilung der aufzubringenden Steuersumme auf die einzelnen Kirchspiele nach Verhältnis des im Kirchspiel bleibenden steuerbaren Grundeigentums vorzunehmen sei. So ist die Armensteuer zum Mittelpunkt der Kommunalbesteuerung Englands geworden, denn auch die seit der Städtereform eingeführte Stadt- und Polizeisteuer, (borough rate und police rate) hielt daran fest, daß für ihre Erhebung wie für ihre Einschätzung die Grundlage der Armensteuer maßgebend sein müßte. V. Die Aufsicht der Kommunalverwaltungen und die Reformbestrebungen.

Am Ausgang der vorigen Periode konnten wir schon feststellen, daß die Kommunalaufsicht aus den Händen des Staatsrates in die Hände der Reichsgerichte übergegangen war. Die Rechtsmittel, die diesem Zwecke dienten, waren die des alten Writ-Prozesses. Die Friedensrichter wurden mittels »mandamus« angehalten, dem Recht entsprechend zu handeln und Verwaltungsakte zu setzen. Mittels »certiorari« konnte jeder ihrer Verwaltungsakte von dem Reichsgerichte nachgeprüft und eventuell aufgehoben werden. Mittels »quo warranto« konnten die Friedensrichter und Stadtbehörden veranlaßt werden, die Rechtsgründe anzugeben, weshalb sie einen Verwaltungsakt gesetzt, und mittels Prohibition konnte ihre Absicht, einen unzulässigen Verwaltungsakt zu setzen, verhindert werden2). Seit dem Ausgang des 18. Jahrhunderts hatte sich dann auch noch das Rechtsmittel des stating of special case entwickelt, wodurch die Friedensrichter aus eigener Initiative zweifelhafte Fälle vor die Reichsgerichte bringen konnten, um die prinzipielle Rechtsfrage entscheiden zu lassen. Diese Art von Aufsicht war natürlich eine unvollkommene, denn sie war nur zuweilen geübt und nicht beständig, was doch jede Staatsaufsicht über Kommunalbehörden sein muß. Sie war also abhängig davon, daß ein Rechtsfall aufkam, und eben deshalb — und das war der schwerste Mangel — nicht kontinuierlich. Als Kontrollinstanz fungierte auch das Parlament mit Hilfe der Private-Bill-Gesetzgebung. 1 ) »If possible to have been rated the expense of assessing and collecting the same would have amounted to more than the sum rated.« 2 ) Siehe darüber mein englisches Staatsrecht II. Bd., S. 609.

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Wir haben schon oben (§46) gesehen, wie das Parlament, eben die durch die Abschaffung der Sternkammer und der rechtsprechenden Tätigkeit der Zentralverwaltung entstandene Lücke durch seine eigene Tätigkeit auszufüllen bestrebt war. Wenn jeder einzelne Staatsbürger in der Lage war, wegen der Härte des Rechts an das Parlament Petitionen zu richten, warum sollte eine Stadtgemeinde oder ein Kirchspiel daran verhindert werden zu petitionieren, daß die Härte ihres Lokalrechts durch Parlamentsgesetz beseitigt werde ? Freilich war diese Aufsicht des Parlaments auch keine kontinuierliche Verwaltungstätigkeit. Die gesetzgebenden Körperschaften glaubten ihre Aufgabe in dieser Hinsicht schon dann erfüllt zu haben, wenn sie ein neues Lokalgesetz (private act) für den oder jenen Flecken, für dieses oder jenes Kirchspiel erließen, und neben den schon vorhandenen Kommunalorganen neue Kommissare zur Erfüllung der Beleuchtung, Bepflasterung oder Bewässerung eben in diesem oder jenem Kirchspiel einsetzten. Die so eingerichteten Organe sollten weiter von selbst gehen, ohne Gängelung durch irgendwelche Zentralinstanz. Gewiß ein schöner Gedanke, wenn er nur zu verwirklichen gewesen wäre! Denn gerade diese sich so selbst überlassenen Kommunen mit ihren Spezialkommissaren bedurften damals am meisten der Aufsicht, wenn sie nicht, wie dieses faktisch auch erfolgt ist, lokaler Interessenmajorisierung und lokalen Parteikämpfen zum Opfer fallen sollten. Daß diese lokalen Rechtszustände jemals eine Korrektur durch eine private act erfuhren, war von Zufälligkeiten solcher Parteikämpfe abhängig. Die reformbedürftigsten Kirchspiele waren nicht immer diejenigen, welche Reform auch anstrebten. Lokaler Parteihader verhinderte nicht selten die Einbringung einer unbedingt notwendigen private bill (siehe dazu die interessante Schilderung bei F. H. Spencer, Municipal origins 1911, ch. 2). Und dann noch ein anderes: diese fortgesetzte iNeuschaffung von Spezialkommissionen innerhalb desselben Kirchspiels und derselben Stadt schuf ein Chaos von Verwaltungskompetenzen, die einander lähmten. Das war aber eben das Verhängnis der Private-Bill-Gesetzgebung und der vom Parlament so geleiteten Verwaltungsaufsicht, daß die in den gesetzgebenden Körperschaften herrschenden Klassen von dem Wahn befangen waren, als ob sich mit Hilfe der veralteten Kommunalverwaltung in Grafschaft und Kirchspiel noch weiter arbeiten ließe. — Ein auf Friedensrichter und Konstabier aufgebautes Kommunalorgan setzte voraus, daß alles patriarchalisch im Nachbarverbande noch dirigiert werden könnte. Das neue Problem, das durch die Industrialisierung Englands seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts aufgegeben, war aber die Anhäufung von Arbeitermassen in Kirchspielen und Flecken, die bis dahin niemals solche Menschenmassen gesehen. Dieses Problem war der landed gentry nicht aufgegangen, und wenn es ihr aufgegangen war, jedenfalls verhaßt. Erst die Tatsache, daß man am eigenen Geldbeutel in Gestalt der Armensteuer gefaßt wurde, führte zur Reform der ganzen Armenverwaltung. Schwache und unfähige Kirchspiele wurden zu größeren Verwaltungsdistrikten vereinigt, zu H a t s c h e n , Engl. Verfassungsgeschictite.

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den Unionen, und diesen Unionen ward für die Zwecke der Armenpflege eine Zentralinstanz, die der poor law commissioners, übergeordnet. Wir haben oben (§ 46 II) gesehen, unter wessen Einfluß diese Zentralbehörde 1834 geschaffen wurde und welche Bedeutung sie für die allgemeine Verwaltungsorganisation des Reiches hatte. Hier muß ihre Bedeutung für die Lokalverwaltung besonders erwähnt werden. Das sie einsetzende Gesetz von 1834 (4 u. 5 Will. IV., c. 76) gibt ihr ein weitgehendes Aufsichtsrecht, das sie in Gestalt von Generalverordnungen (§ 15), von Dienstinstruktionen ( § 2 1 f) und in Gestalt einer Rechnungskontrolle (§ 23/25) über die Armenpflege-Unionen auszuüben hat. Die Bedeutung des Gesetzes von 1834 ist aber noch keineswegs vollständig damit gekennzeichnet. Die Armenpflege-Unionen, die dem Zentralamt untergeordnet werden, haben den Zweck, die friedensrichterliche Tätigkeit auf dem Gebiete der Armenpflege, wenn nicht ganz, so doch in der Hauptsache, beiseitezuschieben. Sie sind zusammengesetzt aus Armenpflegern, poor law guardians, die, wenn auch nach einem Zensuswahlrecht gewählt, bei dem die Mindestbesteuerten eine Stimme, die Höchstbesteuerten bis zu sechs Stimmen besitzen, doch immerhin g e w ä h l t e Repräsentanten der Steuerzahler darstellen. Damit ist das Modell geschaffen, auf dem die Kommunalorganisation im 19. Jahrhundert einzurichten war. Dies und die Beseitigung des Chaos von Verwaltungskompetenzen, wie es die improvement commissioners in den einzelnen Kommunalverbänden tatsächlich bewirkten, blieb die Aufgabe, welche erst von der Viktorianischen Gesetzgebung gelöst wurde.

§ 49. Die Justizverwaltung. Literatur. B o v e n , Progress in the Administration of Justice during the Victorian Period, in Select Essays in anglo-american Legal History, Cambridge 1907, I, p. 516 ff. — B r o u g h a m , Speeches, Edinburgh 1838, vol. II, p. 319 —486 und 489—529. — A C e n t u r y of Law Reform : Twelve Lectures. . . delivered at the Request of the Council of Legal Education, London 1901, ch. II, VI, VII. — D i l l o n I. F., Bentham's Influence in the Reform of the ninteenth Century, in Sel. Essays a. a. O. I, p. 492 f. — Life of Sire Samuel Romilly, ed. by his sons, 2 vols, 1808. — Bentham œuvres, Brüsseler Ausgabe 1830 in 3 Bdn. — Six Reports of Commissions on the Practice and Proceedings of the Courts of Common Law; Papers and Appendices, 7 parts, 1829/34. — M a i t l a n d F. W., Equity also the Forms of action at Common Law, Cambridge 1909, lecture VII. — S t e p h e n L., The English Utilitarians I. — S t e p h e n I. F., A History of the Criminal Law of England, London 1883, I, ch. XIII. — Derselbe, Criminal Procedure from the thirteenth to the eighteenth Century, in Sel. Ess. a. a. O. II, p. 443 f. — v a n V e c h t e n V e e d e r , A Century of engl. Judicature 1800—1900, in Sel. Ess. a. a. O. II, p. 730—764. — Z a n e I. M., The five ages of the bench and bar of England, in Sel. Ess. a. a. O. I, p. 625 ff. I. Die Zivilrechtspflege.

Ihr charakteristisches Merkmal in unserer Periode ist, daß sie noch ganz das zentralisierte, von den Plantagenets eingerichtete Gerichtssystem darstellt, ebenso stark zentralisiert wie dieses und in bezug

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auf Formalismus und Rechtsfiktion noch um Wesentliches vermehrt. England war inzwischen zum weltumspannenden Handels- und Industriestaat vorgeschritten. Die Gerichtsverfassung und das Verfahren waren aber bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts noch immer die mittelalterlichen geblieben. Die daran geknüpften Übelstände beziehen sich auf die Gerichtsorganisation, das Verfahren, die Beweismittel und die zwangsweise Durchsetzung der Rechtsansprüche (Zwangsvollstreckung). Sehen wir im einzelnen zu. Was zunächst die Gerichtsorganisation anlangt, so fallen in unserer Periode vier Mängel hauptsächlich auf: 1. Vor allem litt das englische System der Gerichtsorganisation an dem Übel vieler überflüssiger Subalternbeamten in den englischen Gerichtshöfen. Eine große Anzahl von ihnen hatte nur Sinekuren inne, die zum größten Teil wie Marktware gekauft und von den Richtern, die jene Stellen zu patronifizieren, d. h. zu besetzen hatten, verkauft wurden. Ein Teil dieser Sinekuren fiel, wie wir oben gesehen (siehe § 47), im Anschluß an die Burke-Pittsche Verwaltungsreform hinweg, aber ein guter Teil blieb in bis die letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Erst die Gerichtsorganisation des Jahres 1873 räumte mit ihnen derart auf, daß heute nicht mehr viele solcher Stellen vorhanden sind. 2. Der zweite Übelstand war das Fehlen einer Gerichtshierarchie, welches damit zusammenhing, daß England niemals eine richtige Rezeption des römisch-kanonischen Prozesses vorgenommen hatte. Die verschiedensten Gerichte kreuzten sich in ihren Jurisdiktionsbefugnissen. Planlos wie das Mittelalter diese Gerichte des Common Law und der Equity hatte entstehen lassen, waren sie bis ins 19. Jahrhundert nebeneinander und übereinander getürmt. Am hervorstechendsten war der Übelstand im Verhältnis zwischen Common-Law- und Equitygerichten. Die Equity hatte sich entwickelt, um die Sprödigkeit des Common Law, des jus strictum, zu mildern. Nun war sie aber infolge der Präzedentien ebenso spröde. Insbesondere waren diese Präzendentien, die jetzt so bindend waren, zu einer Zeit entstanden, wo England noch vorwiegend von agrarischen Interessen beherrscht gewesen. Die modernen, neu aufstrebenden Handelsverhältnisse, die auf Treu und Glauben aufgebaut waren, verlangten nun auch gebieterisch Anerkennung im Kanzlergerichtshof. Dafür war aber die Equity zu spröde geworden. Dazu kam die Langwierigkeit des Verfahrens, die mitunter ganze Familien um ihr Vermögen brachte. Die lange Dauer des Verfahrens, insbesondere das Festhalten an Präzedentien, wie es damals aufkam, machten die Equity bald ebenso formalistisch, wie es das Common Law damals war. Statt jeder weiteren Belege hierfür sei nur auf die meisterhafte Schilderung einer Verhandlung im Kanzlergerichtshof verwiesen, wie sie uns Dickens in »Bleak House« liefert: der Rechtsfall Jaryndice v. Jaryndice! Schließlich kam noch dazu, daß das Common Law in der vorhergehenden Epoche derart mit Equity-Grundsätzen durchsetzt worden war, 45*

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•— eben um es zu verbessern —, daß ein Rechtszustand konkurrierender Jurisdiktionen von Common-Law- und Equity-Gerichtshöfen bestand. Daswar ein großer Übelstand. Denn diese konkurrierenden Jurisdiktionen kreuzten und hinderten sich auf Schritt und Tritt und suchten die Arbeitslast wechselseitig aufeinander abzuwälzen. All diesen Übelständen, namentlich der Langwierigkeit und Kostspieligkeit des Verfahrens, wurde zum Teile durch folgende Akte abgeholfen, die größtenteils eine Vermehrung des wirklich arbeitenden Richterpersonals und eine Verminderung des gewinngierigen und überflüssigen Beamtenheeres des Kanzlergerichtshofs mit sich brachten: 1833, 3 und 4 Will. IV., c. 94; 1841, 4 und 5 Vict., c. 52 (Schaffung zweier neuer Vizekanzler); 1842, 5 und 6 Vict., c. 103 (Abschaffung der six clerks) und 1852 die Chancery Amendment Act. Gründlicher Wandel wurde aber erst durch die Fusion der zur Equity berufenen Gerichte mit den Gerichten des Common-Law in der Judicature Act von 1873 geschaffen. Aber nicht bloß Common-Law- und Equity-Gerichte kreuzten und hinderten einander in ihren Funktionen, sondern auch die CommonLaw-Gerichte untereinander zeigten dieselbe Anarchie. Da bestanden von alters her die bekannten drei Reichsgerichte. Ursprünglich hatte jedes derselben, wie wir wissen, eine besondere Aufgabe. Die King's bench sollte vorwiegend Kronstreitigkeiten, also Strafgerichtsbarkeit und Zivilgerichtsbarkeit, sofern die Krone Partei war, üben. Seit dem Wegfall der Sternkammer und der Staatsratsgerichtsbarkeit hatte sie (siehe oben § 48 V) noch eine Kontrolltätigkeit über Verwaltungsbehörden mittels der sog. prerogative writs. Der Common-Pleas-Gerichtshof hatte die Zivilstreitigkeiten Privater zu erledigen, und der ExchequerGerichtshof sollte neben einer in Konkurrenz mit der chancery geübten Billigkeitsgerichtsbarkeit Streitigkeiten, die die Finanzen des Reichs betrafen, erledigen. In Wirklichkeit aber durfte die King's bench eine ausgedehnte Zivilgerichtsbarkeit in Konkurrenz mit dem CommonPleas-Gerichtshof üben; das t a t sie, unterstützt von Parteien und Rechtsanwälten durch eine Fiktion. Wenn X. eine Klage um Schuld gegen Y., sagen wir wegen des Betrages von 50 £ erhob, so erließ die King's bench im Einverständnis mit dem Kläger ein Schreiben (writ), in dem erklärt wurde, daß der Beklagte Y. mit Waffengewalt in das Haus des Klägers eingedrungen sei und daß er ihm außerdem 50 £ schulde. Nur durch diese Fiktion, nämlich, daß der königliche Frieden gebrochen, war die Kompetenz der King's bench begründet. Ähnlich operierte der Exchequer-Gerichtshof, um dem Common-Pleas-Gerichtshof Klienten abzujagen. Wollte jemand vor diesem Gerichtshof eine Klage vorbringen, z. B. wegen 100 £, die ein anderer ihm schuldete, so erging ein writ, in welchem erklärt wurde, daß der Kläger dem König 100 £ schulde und daß der Beklagte, weil er den Kläger nicht befriedige, den König um seine 100 £ bringen wollte. Dadurch erst war die Kompetenz des Exchequer-Gerichtshofs gegeben. Aber bei der Verhandlung versuchte weder der Kläger den Nachweis zu führen, daß er dem König

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das Geld schulde, noch machte der Beklagte irgendwelchen Einwand aus diesem Mangel der Klagebegründung geltend. Dieses merkwürdig harmonische Zusammenspiel von Partei und Gerichtshof erklärt sich einmal aus der Tatsache, daß die Richter zum großen Teil auf Gerichtssporteln angewiesen waren, zum andern Teil daraus, daß der eine Gerichtshof billiger und schneller die Sache erledigte als der andere. Die King's bench war in dieser Hinsicht besonders beliebt. Erst die Reformen der 50 er und 70 er Jahre des 19. Jahrhunderts machten dieser widerlichen Konkurrenz der höchsten Gerichtshöfe ein Ende. 3. Es fehlte ferner ein richtiger Appellationsweg im kontinentalen Sinne. Das writ of error, das in letzter Instanz den Streitfall vor das Oberhaus führte, bewirkte nur eine Revision wegen eines juristischen Formfehlers (error in procedendo), der sich aus dem Gerichtsprotokoll ergab. Es gab aber namentlich auch in Zivilsachen keine Wiederaufnahme des Verfahrens und keine Revision wegen anderer als bloßer Formfehler. Erst eine Akte von 1852 1 ) half diesem Ubelstande teilweise ab. Die Judicature Act von 1876 (39/40 Vict., c. 59, s. 3) führte dann das moderne Rechtsmittel der Appellation (in dem weiteren Sinne des Wortes) vom high court of justice an das Oberhaus ein, und endlich schuf die Judicature Act von 1884 (in s. 23) die Möglichkeit, solch moderner Appellation im Verhältnis von high court und Untergerichten 2 ). Auch die Organisation der Appellationsgerichtshöfe war im höchsten Grade mangelhaft, insbesondere die des Oberhauses als Gerichtshof. Noch bis zum Jahre 1809 stimmten Lords, die vom Rechte nichts verstanden, mit. Der Kreis der Richter des Oberhauses war kein fest begrenzter. Er wechselte fortwährend. Uber technische Fragen der einzelnen Spezialgerichtshöfe des Common Law und der Equity konnten nur die da und dort beschäftigten Spezialrichter Aufschluß geben. Sie wurden als »Berater« zugezogen, und die Richter, die im Oberhause saßen, selbst die rechtsgelehrten Lords, waren vollständig bei ihrer Entscheidung auf diese zu Rate gezogenen Spezialrichter angewiesen, wobei es nicht selten vorkam, daß den Rat gerade jener Richter zu erteilen hatte, der in der Streitsache in erster oder zweiter Instanz selbst entschieden hatte. Am auffälligsten zeigte sich dieser Ubelstand bei Appellationen von der chancery. Hier saß der Lordkanzler als Präsident des Oberhauses in Appellationssachen zu Gericht, die gegen sein Urteil in erster Instanz als Richter der chancery erhoben wurden. An ähnlichen Ubelständen litt der Appellationshof unterhalb des Oberhauses, nämlich die exchequer Chamber und besonders der dem Oberhaus koordinierte oberste Gerichtshof für die Kolonien, nämlich das privy council. Hier kam noch hinzu, daß die Londoner Richter von dem Kolonialrecht, nach welchem sie zu entscheiden hatten, nichts verstanden. Erst die Reform von 1833 schuf ein judical committee, welches von diesen Übelständen frei war. Insbesondere wurden seit dieser Zeit ») Holdsworth I, p. 413. ) ibid. I, p 411 f.

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Kolonialrichter in die höchsten Instanzen gezogen, um das Laienelement in Gestalt von Admiralitätsoffizieren, Gouverneuren und Konsuln überflüssig zu machen. 4. Ein ganz besonderer Übelstand der Gerichtsorganisation war ihre straffe Zentralisation. Die Plantagenets hatten sie im Kampfe gegen den Feudalismus angeführt. Aber nun war sie eine lästige Fessel der Rechtspflege. Weder die Reichsgerichte in London noch die reisenden Richter im Nisi-prius-Verfahren waren in der Lage, die große Menge von Rechtsstreitigkeiten zu bewältigen. Daher entstand Hinausziehung der Prozesse. »Enlargement« (d. i. Terminverlängerung) war das Schlagwort, mit dem namentlich die Rechtsanwälte zu operieren wußten, die hierbei ihr Geschäft machten. Der Wunsch lokaler Gerichtshöfe, d. h. erster Instanzen in der Provinz, ging erst seit dem Jahre 1846 durch Schaffung der sog. county courts in Erfüllung. Wie die Gerichtsorganisation, so war auch das Verfahren veraltet. Noch immer herrschten W o r t u n d F o r m im englischen Zivilprozeß ganz so wie sie in normannischen und altfranzösischen Prozessen vorgeherrscht hatten. Ein Grundsatz des letzteren war 1 ), daß die Dingleute das Urteil nur auf Grund der Worte fällen durften, welche die Streitteile in der Verhandlung vor Gericht gesprochen hatten. Daher war auch im englischen Recht eine festbestimmte Form des die Klage einleitenden königlichen Schreibens (breve, writ) nötig. Gleich dem Appell bildete das breve die strikte Grundlage des dadurch eingeleiteten Prozesses2). Eine Klage aus einem vertragsmäßigen Pfandbrief konnte nicht mit einer Wechselklage wegen desselben Klagegegenstandes verbunden werden. Ein Mann, der z. B. angefallen, und ungerechtfertigter Weise öffentlich des Diebstahls bezichtigt wurde, konnte, wenn er Schadenersatz beanspruchte, dieses doppelte, ihm zugefügte Unrecht nicht in einer Klage geltend machen, sondern mußte zwei besondere writs erwirken. Das Verfahren selbst war wie das des altfranzösischen und normannischen Prozesses vorwiegend auf der Grundidee aufgebaut 3 ), daß der Rechtsstreit sich wie ein Netz abwickeln müßte, in welchem die Parteien sich gegenseitig fingen oder zu fangen suchten. Daher das Festhalten am technischen Wortausdruck, daher ferner die Tatsache, daß keine der beiden Parteien der materiellen Wahrheit näher rücken wollte, daß der Kläger seinen Klageanspruch in höchst unbestimmter Weise umschrieb, der Beklagte darauf ebenso gewunden und unpräzis antwortete, bis sich schließlich die eine oder andere Partei in Widersprüche verwickelte und dem Gegner einen mehr oder weniger schweren Sieg darbot. Das nannte man »pleading«, und wie es im altfranzösischen normannischen Prozeß für eine Kunst galt 4 ), »ein bon plaideoir zu sein«, so pries auch Edward Coke diese Kunst mit den Worten: »quia bene placitare omnibus placet.« Siehe Brunner, Forschungen zur Geschichte des deutschen u. französ. Rechts S. 266. ») Brunner a. a. O. S. 296. ») Brunner a. a. O. S. 289. 4 ) Brunner a. a. O. S. 286.

§ 49.

Die Justizverwaltung.

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Wurde jemand wegen Schuld verklagt, so konnte er nicht weniger als folgende Einwände geltend machen: »non est factum«, d.i. »Ich leugne die Schuld«, gleichzeitig erklärte er aber »solvi ad diem«: »Ich habe die Schuld termingemäß bezahlt«, ferner: »solvi ante diem«: »Ich habe die Schuld noch vor dem Fälligkeitstermin bezahlt«, ferner »solvi post diem«: »Ich habe die Schuld nach dem Termin bezahlt«, schließlich: »Ich habe nicht zu leisten, weil der Kläger seinerseits seinen Verbindlichkeiten nicht nachgekommen ist«. Und alle diese fünf Einwendungen konnten gleichzeitig gemacht werden 1 ). Der Kläger mochte es nun unternehmen, eine dieser Reden nach der andern als unrichtig nachzuweisen, dann kamen natürlich Repliken und Dupliken und endlose Schriftsätze. 2 ) Veraltet waren auch das Beweisverfahren und die Beweismittel. Für gewisse Formen der Schuldklagen war die Zulässigkeit des Beweises durch Eid noch bis zum Jahre 1834 ausgeschlossen 3 ). Die Möglichkeit, Zeugen als Beweismittel zu verwenden, war wesentlich durch die beiden Grundsätze des Common Law eingeengt, wonach keine Partei in eigener Sache Zeugnis ablegen durfte und jede nur in ganz entferntem Zusammenhang an der Streitsache interessierte Person als untauglicher Zeuge galt. Erst ein Gesetz von 1851 (Brougham's Act) und ein anderes von 1843 (sog. Denman's Act) machten diesem Rechtszustand ein Ende. Im Verfahren vor der chancery sollte auf das Gewissen des Schuldners eingewirkt werden, man wollte der materiellen Wahrheit hier um allen Preis näher kommen, aber die Beweismittel waren schriftlich formulierte Weisartikel! Ein gründlicher Zeugenbeweis war ausgeschlossen, die Parteien wurden unter Eid vernommen, aber alles mußte schriftlich vor sich gehen. Kommissare wurden in die Provinz geschickt, um Zeugen auf die Weisartikel hin den Eid abzunehmen: eine endlose Prozedur und dazu eine sehr kostspielige! Die Zwangsvollstreckung wurde natürlich mit eventuellem Schuldarrest durchgeführt, aber man stand in dieser Hinsicht in England überhaupt auf dem Standpunkt, daß jedes Kontrahieren von Schuld ein strafwürdiges Verbrechen sei. Man wartete nicht einmal fruchtlose Mahnung ab, sondern die Tatsache, daß man Geldschulden habe, genügte, um sofort verhaftet zu werden, wenn der Gläubiger einfach Denn wie im altfranzös. Prozeß (Brunner a. a. O. p. 323), so galt auch im englischen Zivilprozeß des 19. Jahrhunderts der Grundsatz: der Beklagte darf sich nicht in eine solche Position bringen, daß der Inhalt seiner Antwort als techn. Einwendung betrachtet und vom Kläger negiert werden könnte. 2 ) Siehe als Seitenstück des altfranzösischen und daher auch normannischen Prozesses Brunner a. a. O. 302 f. »Da das Urteil sich stets streng an den Wortlaut der Urteilsbitte anschließen mußte, so konnte der Beklagte — wollte er die Sache in die Länge ziehen —, über einen und denselben Gegenstand eine beliebige Anzahl von Urteilsfragen stellen, falls ihn nur seine copia verborum nicht im Stich ließ. Er begehrte nämlich jedes einzelne Urteil sauf son retenail, d. i. mit dem Vorbehalte, die Bitte, falls sie verweigert würde, aus anderem Grunde abermals stellen zu dürfen. War er mit einem Urteilsantrag gefallen, so brachte er ihn mit einer kleinen Änderung des Wortlauts von neuem an.« 3 ) Erst die Act 3 u. 4 Will. IV., c. 42 (§ 13) schaffte sie ab.

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IV. Abschnitt.

Die parlamentarische Monarchie.

glaubhaft machte, daß der zu verhaftende ihm Geld schulde. In kaufmännischen Kreisen war natürlich ein so strenger Standpunkt nicht durchzuführen. Hier aber herrschte wieder ein ganz veraltetes Recht vor, durch welches ein ehrenhafter Schuldner sehr gedrückt und ein leichtsinniger Schuldner wegen der Langwierigkeit des Verfahrens seinen Gläubigern manchen Possen spielen konnte. Die meisten der genannten Ubelstände erkannte Jeremias Bentham mit klarem Blick, wenngleich die Mittel, die er vorschlug, nicht immer die brauchbarsten waren. E r wollte mit seinem radikalen Sinne alles niederreißen und neu aufbauen. Die Scheidung von Common-Law- und Equity-Gerichtsbarkeit war ihm eine Absurdität. Eine Klage in der chancery erklärte er als den Inbegriff notorischer Lügen. Das »pleading« nannte er Barbarei. Er griff mit großem Eifer veraltete Beweisregeln an und befürwortete die Einrichtung lokaler Gerichte, damit, wie er sagt: »die Gerechtigkeit nur dann schlafen sollte, wenn die Ungerechtigkeit schliefe «. Von allen Seiten wurden zunächst seine Vorschläge als überspannt betrachtet, aber er machte Schule. Der Durchsetzung seiner Pläne widmeten sich auf dem Gebiete der Zivilrechtspflege namentlich Brougham und Denman, ersterer auch noch durch französisches Vorbild mitbeeinflußt; auf dem Gebiete der Strafrechtspflege Romilly und Mackintosh. Namentlich auf Veranlassung von Brougham und infolge seiner berühmten Reden (die er am 7. II. 1829 und am 29. IV. 1830 im Unterhaus hielt) wurden Enqueten veranstaltet, welche den Reformgesetzen von 1832, 1834 und 1852 zur Grundlage dienten. Das Gesetz von 1832, die sog. Unification of Process Act 1 ) hob die wesentlichsten Differenzen zwischen Haupt- und Zwischenprozeß bei den obersten Reichsgerichten auf, das Gesetz des nächsten Jahres 2 ) (§ 36) beseitigte einen großen Teil des alten Aktionensystems, namentlich die strengen Aktionsformeln für Klagen um liegendes Gut und für die sog. gemischten Klagen. Aber erst die Common Law Procedure Act von 1852 räumte endgültig mit dem alten »pleading« und dem Writprozeß in Zivilsachen auf. Freilich, noch blieb die Fusion der Common-Law- und Equity-Gerichte ein zu lösendes Problem. Das Jahr 1873 brachte die Lösung (in der sog. Judicature Act). II. Die Strafrechtspflege. Der englische Strafprozeß des 18. Jahrhunderts litt nicht an ebenso großen Ubelständen wie der Zivilprozeß. Im Anschluß an die Revolution war in der vergangenen Periode, wie wir gesehen haben (siehe oben § 3 6 11,2) manches geschehen, um namentlich den Juryprozeß zu vervollkommnen. Im großen und ganzen erfuhr das Strafverfahren in unserer Periode auch keine wesentliche Veränderung. Nur ein Gesetz von 1836, die sog. Prisoner's Counsel's Act 3 ) gestattete die volle Verteidigung durch einen Rechtsbeistand für den Fall, daß es sich um ') 2 und 3 Will. IV., c. 33. ) 3 und 4 Will. IV., c. 27. s ) 6 und 7 Will. IV., c. 114, § 1. 2

§ 49.

Die Justizverwaltung.

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schwere Verbrechen handelte, wie Räubereien, Diebstahlseinbruch usw. Für kleinere Vergehen und für die Verbrechen des Hochverrats war schon in der vergangenen Periode die Zuziehung und die Übernahme der Verteidigung durch einen Rechtsanwalt gestattet. Die niedere Polizeigerichtsbarkeit allerdings lag in unserer Periode sehr im argen, und wir haben bereits (s. oben § 48 I) die Reformen auf diesem Gebiete, die ebenfalls unter dem Einflüsse Benthams stehen, im Zusammenhang mit der Reform der Polizeiverwaltung näher ins Auge gefaßt. Veraltet war ferner der Strafvollzug. Zunächst fällt auf, daß der englische Strafprozeß fast bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts noch das System der sog. qualifizierten Todesstrafe hatte. Ein Hochverräter wurde zum Galgen geschleift, gehängt, danach aber mehr sterbend als lebend wieder vom Galgen abgenommen, geköpft und gevierteilt. Bis 1770 erhielt sich diese traurige Form des Strafvollzuges. Frauen wurden noch bis zum Jahre 1790 bei schweren Delikten und Hochverrat verbrannt. Erst ein Gesetz dieses Jahres schuf diese Todesstrafe ab 1 ). Mörder wurden bis zum Jahre 1832, nachdem sie gehängt waren, entweder in Ketten hängend belassen oder einem medizinischen Institut zur Sektion überwiesen. Im Jahre 18322) wurde das Sezieren solcher Leichname und im Jahre 1834 das Hängenlassen in Ketten 3 ) abgeschafft. Ein Selbstmörder wurde bis zum Jahre 1824 an einem Kreuzweg vergraben und ihm eine Rute in den Leib gesteckt, die aus dem Grabe herausragte, eine merkwürdige Prozedur, die in der Lex Ribuaria ihr Seitenstück findet, wonach der Knecht, der nach dem Anefang gemeinen Todes stirbt, an einem Kreuzweg begraben werden soll, indem an dem Fuße des Leichnams eine Weidenrute gebunden wird, die über das Grab hinausragt 4 ). Offenbar war man in England derAnesicht, daß ein Selbstmörder durch den Selbstmord zum Knecht herabsinkt. Merkwürdig nur, daß diese Rechtsauffassung sich bis ins 19. Jahrhundert erhalten konnte. Der Hauptübelstand des Strafvollzuges war aber das Strafsystem, dem jede Proportion fehlte. Statt hier zu reformieren, wandte man das alte System der Fiktion an. Aus dem Mittelalter hatte sich das sog. beneficium cleri erhalten, das von jedem geltend gemacht werden durfte, der lesen konnte. Diese Privilegien ließ man in allen Fällen bestehen, wo die Todesstrafe in keinem Verhältnis zu dem Delikt, auf das sie gesetzt war, stand. Andere Delikte aber, die wirklich todeswürdig waren, wurden als nonclergyable angesehen, d. h. das Benefizium wurde in diesen Fällen nicht gewährt. Mit solchen Fiktionen hätte man wohl ruhig weiterarbeiten können, wenn nicht zu viel Macht in die Willkür der Richter gelegt worden wäre, denn sie hatten es in der Hand, eine Art von Begnadigungsrecht zu üben. Deshalb ging die auf Benthams Schule zurückzuführende Reform nach zwei Zielen. Auf der einen Seite wurde die M ) ) 4 ) 2

3

30 Geo. III., c. 48. 2 and 3 Will. IV., c. 7 § 16. 3 and 4 Will. IV., c. 26 § 2. Siehe Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte II, S. 506.

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IV. Abschnitt.

Die parlamentarische Monarchie.

innere Unwahrheit, die in dem mit dem beneficium cleri ausgestatteten todeswürdigen Verbrechen lag, dadurch beseitigt, daß im Jahre 1827 das Benefizium selbst ein für allemal abgeschafft wurde 1 ). Auf der anderen Seite mußte natürlich die Zahl der todeswürdigen Verbrechen bedeutend vermindert werden. Zweihundert war ihre Zahl zu Beginn des 19. Jahrhunderts, Schritt für Schritt ging man auf diesem Reformwege vor. Im Jahre 1832 fiel die Todesstrafe, die auf Pferde-, Schaf- und Viehdiebstahl gesetzt war, im Jahre 1835 die wegen Briefdiebstahls, Einbruchs, Sakrilegs und Räubereien, im Jahre 1837 die auf Fälschung und ähnliche Delikte gesetzte. Im Jahre 1841 fiel die Todesstrafe, mit der das Gesetz Entführung und geschlechtlichcn Mißbrauch von Kindern unter zehn Jahren bestrafte, so daß nunmehr nur wenige Delikte noch der Kapitalstrafe fähig waren. Die das Publikum entsittlichenden Formen des Strafvollzuges in Gestalt des An-den-Pranger-Stellens verschwand erst im Jahre 1868. In demselben Jahre wurde auch die öffentliche Vollziehung der Todesstrafe beseitigt. Die Transportation als Strafe wurde bis zum Jahre 1867 beibehalten. Freilich hatte sie in der Zwischenzeit manche Modifikation erfahren, indem namentlich (seit 1853) als Ersatz für sie die Zwangsarbeit eingeführt wurde (penal servitude). So hatte schließlich Bentham auf diesem Gebiete wesentliche Reformen durchgesetzt. Nur in einem Punkte versagte sein Einfluß. Zu einer Strafrechtskodifikation, die der Meister schon längst gefordert hatte, kam es nicht. 1833 wurde auf Veranlassung des Lordkanzlers Brougham, der hierbei jedenfalls unter Benthams Einfluß stand und mit den sog. Radikalen während seiner ganzen politischen Tätigkeit stets Fühlung hatte, eine königliche Kommission mit der speziellen Aufgabe betraut, das englische Strafrecht zu kodifizieren oder wenigstens anzugeben, wieweit die Kodification durchführbar sei. Von 1835 bis 1845 tagte die Kommission und erstattete 8 Berichte. Dann wurde sie aufgelöst, hierauf 1845 eine neue Kommission bestellt, die 6 Reports veröffentlichte und eine Bill abfaßte, welche »Digesten des Strafrechts« betitelt, von Brougham 1849 dem Oberhause vorgelegt wurde. Zu weiteren legislativen Schritten kam es jedoch nicht. Die oben bezeichnete Kommission erstattete noch einen Bericht über das Strafverfahren und seine Kodifikation; das war ihr letztes Werk. Nachdem 1852 vom Lordkanzler St. Leonhard eine königliche Kommission für ähnliche Zwecke, nämlich zur Kodifikation des Strafrechts, eingesetzt worden war, übernahm 1853 Lord Cranworth, der dem Kanzler St. Leonhard im Amte folgte, die Leitung der Arbeiten mit der festen Absicht, nicht bloß das Strafrecht, sondern auch das gesamte Common Law zu kodifizieren und einen »Code Victoria«, wie er sagte, zu Tage zu fördern 2 ). In der Kommission saß aber der vorzügliche Jurist Bellenden Ker, der, viel bedächtiger als sein Chef, der nächsten Zukunft eine viel bescheidenere, aber nicht minder praktische Aufgabe stellte. Die KomM 1 und 8 Geo. IV., c. 28, § 6. «) Hans. D. 3. ser., vol. 123, p. 9.

§ 50.

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Die Finanzverwaltung.

mission empfahl unter des letzteren Einfluß die Errichtung eines ständigen statute law board zum Zwecke der Konsolidation des statute law und der Vorbereitung von Gesetzvorschlägen u. a. m. Kurz, seit der Zeit kam der Gedanke auf, nicht K o d i f i k a t i o n des gesamten Rechts, sondern bloß K o n s o l i d a t i o n der wichtigsten Gesetzesmaterien, d. i. Zusammenfassung mehrerer eine Rechtsmaterie beherrschenden Gesetze zu versuchen. Diese Konsolidation sollte eine dereinstige Gesamtkodifikation vorbereiten. Dementsprechend ergingen auch im Jahre 1861 auf dem Gebiete des Strafrechts Konsolidationsgesetze, welche heute gewissermaßen den Kern des englischen Gesetzstrafrechts darstellen. Das war die einzige Errungenschaft auf diesem Lieblingsgebiet Benthams 1 ).

§ 50. Die Finanzverwaltung. Li t e r a t u r . Für die formelle Finanzverwaltung: Ha t s e 11, Precedents, vol. III. — P h i l i p p o v i c h , Die Bank von England im Dienste der Finanzverwaltung des Staats, Wien 1885. — Return on Public Income and Expenditure, C. P. 1869 (366), II. - Second Report on the Public Accounts in France, C. P. 1831, Nr. 289. — Th o m a s , Notes of Materials for the History of Public Department, 1846, p. 5 - 9 . Für die materielle Finanzverwaltung: A s h 1 e y W. J., Historic and Economic Surveys, p. 268 — 308, New York 1900. — B a s t a b 1 e C. F., Public Finance, 3rd edn., London 1903. — B r i s c o N. A., The Economic Policy of Robert Walpole, Columbia Univ. Studies, vol. X X V I I , Nr. 1, New York 1907. — B u x t o n S., Finance and Politics I, London 188, ch. I bis III. — Cambridge Modern History VI, ch. 2 u. 6. — D o u b 1 e d a y T. A., Financial, Monetary and Statistical History of England, 1688 — 1847, London 1847. — D o w e 11 S., History of Taxation, vols I, II, III, London 1884. — F r a n e i s J., History of the Bank of England, vol. I, London 1847. — H a l 6 v y a.a.O. 327 ff. — Parliamentary History VIII, 918, 9 9 2 - 1 0 0 2 , 1 1 9 5 - 1 2 0 0 , 1 2 6 1 - 1 2 6 6 . S i n c l a i r Sir J., History of the Public Revenue of the British Empire, 3 rd edn., 3 vols, London 1803 — 1804. — S m i t h Adam, Wealth of Nations, vol. II, bk. IV, chap. VII, ed. E. Cannan, London 1904. — W i 11 i a m s W. M. J., The King's Revenue, London 1908.

I. Die formelle Finanzverwaltung.

Es ist oben gezeigt worden 2 ), wie der formellen Finanzverwaltung des 18. Jahrhunderts so gut wie alles fehlte, was man Voraussetzung einer parlamentarischen Finanzkontrolle nennen könnte. Es fehlte ein Finanzminister, welcher in seiner Hand das Anweisungsrecht und die Einnahmen des Staats konzentrierte; es fehlte ein Finanzminister, welcher die Ausgaben des Staats kontrollierte und über den Gesamtstand der Finanz, die Einnahmen- und Ausgabenbewegung derselben, dem Parlament Rechenschaft bieten konnte. Daß eine solche formelle Finanzverwaltung für ein parlamentarisches Regierungssystem untauglich war, liegt auf der Hand, denn für das, was der Finanzminister 1 ) ü b e r die Fortsetzung dieser Kodifikationsversuche siehe mein engl. Staatsrecht I, S. 151. 2 ) Siehe § 38 I.

in der

Gegenwart

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IV. Abschnitt.

Die parlamentarische Monarchie.

nicht übersehen konnte, durfte er auch nicht dem Parlament verantwortlich gemacht werden. Die Modernisierung in der englischen Finanzverwaltung im Sinne des parlamentarischen Systems dankt England zwei großen Ideenkreisen: einmal den Burke-Pittschen Reformideen, sodann der Rezeption des französischen Budgetrechts zu Beginn der 30 er Jahre des 19. Jahrhunderts. 1. D i e B u r k e - P i t t s c h e n R e f o r m i d e e n . Um entsprechend den Burke-Pittschen Reformideen, das Anweisungsrecht und die Verfügung über die Staatseinnahmen in der Hand des Finanzministers, des chancellor of the exchequer, zu konzentrieren, mußte zunächst die Konkurrenz zwischen seinem Anweisungsrecht und dem königlichen Anweisungsrecht aufgehoben werden. Wie das unbeschränkte königliche Anweisungsrecht durch die Reform der Zivilliste unter dem Einflüsse Burkescher Ideen beseitigt wurde, ist bereits an anderer Stelle 1 ) dargelegt worden. Von einem andern Übel ist hier zunächst zu handeln, nämlich von der Tatsache, daß bis zum Ausgange des 18. Jahrhunderts in England kein einheitlicher Staatsfonds als Reservoir aller Staatseinnahmen und -ausgaben vorhanden war. Noch immer waren in echt mittelalterlicher Weise gewisse Ausgaben auf bestimmte Staatsgefälle radiziert. So existierten vor dem Jahre 1785 nicht weniger als 74 separate Staatsrechnungen von Ausgaben, die auf die Zolleinnahmen gewiesen waren. Die im Anschluß an die Burkeschen Reformideen eingesetzte Untersuchungskommission von 1786 schlug daher vor, einen einzigen Staatsfonds zu schaffen, »in welchen jeder Strom öffentlicher Einnahmen fließen und aus dem jede Deckung von Staatsausgaben bestritten werden sollte«2). Demgemäß erging auch das Gesetz von 1787 (27 Geo. III., c. 13), welches den sog. Consolidated fund einführte. In diesen sollten von nun ab alle Staatseinnahmen fließen. Auch die Rechnungskontrolle, wie sie bisher der court of exchequer in einem langwierigen Verfahren bewerkstelligt hatte, wurde nunmehr teilweise modernisiert. Zunächst wurde mit einer Reihe von Amtsstellen, die sich als Sinekuren darstellten, aufgeräumt. Im Jahre 1783 wurden die überflüssigen Ämter der chamberlains abgeschafft (23 Geo. III., c. 82). Zwei Jahre später die der auditors of imprest (25 Geo. III., c. 52). Ihre Hauptfunktion der Rechnungskontrolle wurde einer eigenen Kollegialbehörde, dem audit-board, übertragen. Diese arbeitete viel rascher als die Beamten des exchequer, wo es z. B. doch noch vorkam daß im Jahre 1782 Rechnungen aus der Zeit Wilhelms III. nicht geprüft waren. Freilich der Hauptübelstand blieb nach wie vor derselbe, daß das Parlament keine Kontrolle hatte, ob die Ausgaben auch der Appropriationsakte d. i. der parlamentarischen Bewilligung entsprechend erfolgten. Das Schatzamt übte allein eine rein administrative Rechnungskontrolle aus, für welche es dem Parlament gar nicht verantwortlich war. l ) Siehe oben § 43 III. *) Siehe 12th Report of the Commissioners of Public Accounts, 1785.

§ 50.

Die Finanzverwaltung.

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Unter dem Einflüsse Burkescher Reformideen wurde nunmehr auch an die Herstellung einer Gesamtübersicht über die Staatseinnahmen und -ausgaben, eine wesentliche Vorbedingung der parlamentarischen Budgetkontrolle, gedacht. Freilich, was man in dieser Hinsicht schuf und nach dem damaligen Stande der Verwaltungsroutine schaffen konnte, war nur eine äußerst unvollkommene Verwirklichung der Burkeschen Wünsche. Schon die Untersuchungskommission v o n ^ S ö 1 ) empfiehlt die Herstellung solcher Gesamtübersichten über den Staatshaushalt, und das Gesetz, welches den Consolidated fund schafft, ordnet sie auch ausdrücklich an (27 Geo. III., c. 13, §72). Aber erst seit 1802 (42 Geo. III., c. 70) werden jährliche Gesamtübersichten als sog. »finance accounts« dem Parlament vorgelegt, und erst seit 1822 werden auf Empfehlung eines Unterhauskomitees die Einnahmen den Ausgaben gegenübergestellt. Doch selbst dann war eine Grundlage für einen geordneten Staatshaushaltsplan und eine parlamentarische Übersicht aus ihnen nicht zu gewinnen, denn sie enthielten ein Durcheinander von Einnahmen und Ausgaben, Ausweisen von Handelsimport- und Exportziffern. Bei jeder einzelnen Einnahme (Steuer, Verbrauchsabgabe, Gefälle) standen als Anhang so und so viele einzelne heterogene Ausgabeposten, welche auf jene Einnahmen angewiesen waren. Das ging so einige 50—100 Seiten hindurch, dann folgte auf fast ebensoviel Seiten der jährliche Handelsimport und Export nach Warengattung, Gewicht und Wert. Eine systematische Anordnung des Staatshaushalts nach Verwaltungszweigen fehlte jedoch ganz und gar. Und das sollte die Grundlage eines parlamentarischen Staatsvoranschlags sein ? Trotz aller Burkescher Reformen und Pittscher Durchführungsmaßnahmen konnte die Verwaltungsroutine eben damals nicht mehr leisten, als sie leistete. Zwar war infolge einer Unterhausenquete von 17952) seit dem Jahre 1800 ein einheitliches Rechnungsjahr für die Finanzverwaltung eingeführt, aber eine Konzentration des Anweisungsrechts in der Hand des Finanzministers fehlte noch immer, trotz der Einrichtung des Consolidated fund, ebenso wie eine einheitliche Rechnungskontrolle. Der Finanzminister besaß sie nicht und noch weniger das Parlament. Was zunächst den ersteren Punkt anlangt, so bestanden nicht weniger als vier verschiedene Zahlstellen, die mehr oder minder vom Schatzminister unabhängig waren. Ein Zahlmeister für die Zivilverwaltung, ein anderer für die Armee, ein dritter für die Flotte und ein vierter für die Waffenausrüstung, ordnance. Aber auch eine einheitliche Ausgabenkontrolle war unmöglich, denn noch immer bildeten die Staatseinnahmen so und so viele verschiedene Fonds, aus welchen die verschiedenartigsten Ausgaben geleistet wurden. Trotz dem die Untersuchungskommission von 1785 in ihrem 15. Report ') Fifteenth Report of the Commissioners of Public Accounts, datiert vom 19. Dez. 1786. *) 22d und 23d Report of the Select Commission of the House of Commons on Finance, p. 16 u. 17.

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IV. Abschnitt.

Die parlamentarische Monarchie.

vorgeschlagen hatte, daß jede Erhebungsstelle von Staatseinnahmen die Bruttoeinnahmen und nicht wie bisher die Nettoeinnahmen der Staatseinkünfte in die Staatskasse zahlte, kehrte sich die Verwaltungspraxis nicht an diesen Vorschlag. Noch immer wurden die einzelnen Staatseinnahmen als selbständige Fonds betrachtet und aus ihnen, noch ehe sie den Consolidated fund erreichten, die auf sie gewiesenen Ausgaben ausgezahlt. So übte infolgedessen weder der Finanzminister eine genügende Kontrolle in administrativer Hinsicht, noch das Parlament eine parlamentarische Kontrolle aus. Allen diesen Ubelständen — und das war die Erkenntnis, welche zur Rezeption des französischen Budgetrechts führte — lag ein Hauptübel zugrunde: das Fehlen einer geordneten Buchführung auf der Basis des double entry, d. h. nach dem System der doppelten Buchhaltung. Trotzdem England schon seit den Tagen Elisabeths im kaufmännischen Verkehr die doppelte Buchführung kennen gelernt und eingeführt hatte, der staatlichen Finanzverwaltung blieb dies System vollkommen fremd. Zwar hatte eine Verordnung des Schatzamts vom 14. Juli 18291) auf die Notwendigkeit dieses Systems an Stelle der zahlreichen, zusammenhanglosen Rechnungsbücher hingewiesen, aber nur in einigen Zweigen der Verwaltung, in der Armee, der Marineverwaltung war davon Gebrauch gemacht. Zum durchgehenden System ist sie aber erst erhoben worden durch 2. Die R e z e p t i o n d e s f r a n z ö s i s c h e n B u d g e t r e c h t s in d e n d r e i ß i g e r J a h r e n . England studierte damals die französische formelle Finanzverwaltung, und mit Bezug darauf konnte der französische Finanzminister Baron Louis am 18. August 1831 im Parlament sagen2) : »Notre système de comptabilité, Messieurs, est parvenu, à un haut degré de perfection. Un éclatant témoignage vient de lui être rendu dans un pays voisin, longtemps cité comme modèle en fait de finance.« Auch hier sind es wieder die Benthamiten, welche sich um diese Rezeption französischen Budgetrechts verdient machen, denn der maßgebende Bericht, der zu diesem Rezeptionsprozesse führte 8 ), ist von niemand anders als von John Bowring, dem Biographen und Freund Jeremias Benthams, abgefaßt. In Frankreich seien schon seit dem 18. Jahrhundert die Staatsrechnungen nach dem System der doppelten Buchhaltung geführt worden. Dieses System bewirke, daß man die Gesamteinnahmen und Gesamtausgaben nicht bloß in jeder Staatsrechnung, sondern auch für die gesamte Aufstellung des Staatshaushalts (Budget) verwenden könne. Die übergeordnete Verwaltungsbehörde könne in summarischer Weise dadurch, daß Einnahmen und Ausgaben in den Einzelrechnungen der Unterinstanz einander gegenübergestellt seien, die Resultate dieser Ein') Siehe Commons Papers 1851, vol. V, p. 43 f. ) Archives parlamentaires, 2. série, vol. 69, p. 304. *) Second Report on the Public Accounts of France, G. P. 1839. 2

§ 50.

Die Finanzverwaltung.

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Stellungen systematisch zusammenfassen, und dies könne in nützlicher Weise vom Finanzminister für die Aufstellung des Budgets und vom Parlament für die Bewilligung des Staatshaushaltplans verwendet werden 1 ). Würde dies mit Erfolg durchgeführt, so könnte, wie in Frankreich, auch die Verausgabung von Staatsgeldern der parlamentarischen Kontrolle unterworfen werden. Dieses sollten wie in Frankreich parlamentarische Kommissionen zur Prüfung der Staatsrechnung besorgen 2 ). Natürlich müßten endlich auch wie in Frankreich alle Zahlstellen in einer einzigen konsolidiert werden 3 ), und es müßten wie in Frankreich alle Bruttoeinnahmen, nicht bloß die Nettoeinnahmen, in die Staatskasse fließen 4 ). Dadurch allein würde die Zentralisation aller Einnahmen und Ausgaben wie in Frankreich in die Hände des Finanzministers gelangen. Das war ja, wie wir wissen, der Hauptmangel, der der englischen formellen Finanzverwaltung bisher anhaftete. Alle diese Vorschläge, die auf französisches Vorbild zurückzuführen sind, wurden dann im Laufe der 30er, 40er und 50er Jahre in England verwirklicht. England erhielt zunächst infolge dieser Vorschläge eine Konzentration des Kassenanweisungsrechts in der Hand des Finanzministers. Durch das Gesetz von 1834 (4 Will. IV., c. 15) wurde die alte Anweisungsroutine des exchequer beseitigt. Diese bestand bisher darin, daß 5 ) jede Schatzanweisung vom König in Form eines Warrant an die Lords des Schatzamts ging. Auf Grund dieser Autorisation veranlaßten diese den auditor of the receipt im exchequer eine Kassenanweisungsordre auszustellen. Diese Autorisation wurde selbst in ein money book eingetragen. Das Formular der Kassenanweisung kam nun vom auditor of the receipt an das Schatzamt zurück, damit die Lords es unterschrieben 6 ). Nachdem die Anweisung die Unterschrift des Lord treasurer oder dreier Kommissäre erhalten hatte, ging sie an die sog. tellers of the exchequer. Hier wurde sie wieder in ein besonderes Buch, das sog. order book des pell office eingetragen. Der teller mußte aber sich erst eine Direktive holen für den Fonds, aus welchem er überhaupt zahlen sollte. Diese Direktive erhielt er mittels letter of direction von den Lords des Schatzamts durch Vermittelung Report a. a. O. p. 9 - 1 1 . ) Report a. a. O. p. 19. 3 ) Report a. a. O. p. 14. 4 ) Report a. a. O. p. 15. 6 ) Siehe Calendar of Treasury Papers 1729-1730, Intr. p. X X V J I I - X L V . •) Diese Kassenanweisung hatte ungefahr folgende Form: »Order is taken this XXV. day of February 1684 by virtue of His Majesty's letters of Privy Seal dated the 24th instant that you direct and pay of such His Majesty's treasure as remains in your charge unto Anthony Lord Viscount Falkland, Treasurer of His Majesty's Navy of his assigns the sum of two hundred thousand pounds upon accompt for the use and service of His Majesty's said Navy and the victualling thereof. And these together with his or his assign's acquittance shall be your discharge herein«. 2

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des auditors of the receipt. Und nun wurde wieder diese Direktive in ein besonderes Buch im Schatzamt eingetragen, das sog. public disposition book. Erst nach Empfang dieser Direktive zahlte der teller das Geld an den Empfänger. Dieses langwierige und schleppende Verfahren wurde durch das oben angeführte Gesetz beseitigt. Von nun ab sollte die königliche Anweisung zunächst nur für jene Summen nötig sein, welche nicht auf den consolidated fund angewiesen waren, sondern alljährlich parlamentarischer Bewilligung bedurften, im übrigen sollte die Anweisung des Finanzministers genügen. Erging eine königliche Anweisung, so mußte sie einmal von den Kommissären des Schatzamts kontrasigniert werden und außerdem gerichtet sein an den comptroller of the exchequer. Dieser t r a t nämlich an Stelle der durch das obige Gesetz abgeschafften auditor of the receipt, clerk of the pells und anderer untergeordneter Beamter. Der comptroller of the exchequer wurde hiernach angewiesen, bei der Bank von England, entsprechend dem vom Parlament bewilligten Staatshaushaltsplan, für diesen oder jenen Verwaltungszweig, resp. diese oder jene Verwaltungsbehörde, einen laufenden Kredit zu eröffnen. Dies erfolgte durch die Weisung des comptroller of the exchequer, und nun besaß dann für das laufende Verwaltungsjahr jede rechnungsiegende Behörde einen Kredit bei der Bank von England. In dieses Reservoir floß je nach Bedarf und auf Anweisung des Schatzamts (durch sog. treasury warrants) das Geld ein. So sehen wir den großen Unterschied von einst und jetzt. Einst durfte das Schatzamt niemals danach fragen, ob die königliche Anweisung entsprechend dem Gesetz oder der Parlamentsbewilligung erfolgt war, es hatte nur auszuführen, niemals zu prüfen. Nunmehr wird das Prüfungsrecht, ob die Anweisung gesetzmäßig sei, verdoppelt, es wird einmal ausgeübt durch das Schatzamt und zum zweiten durch den comptroller of the exchequer. Die Bank von England darf Krediteröffnungen in anderer Form nicht bewerkstelligen. Im Anschluß daran wurden 1836 die Zahlstellen für die Armee, für die Flotte und für das Militärarsenal (ordnance), konsolidiert. Dies erfolgte durch Errichtung der Stelle des Generalzahlmeisters (5/6 Will. IV., c. 35 in Verbindung mit 11/12 Vict., c. 55). Die Staatsgelder sollten nur von ihm ausgezahlt werden. Die Staatseinnahmen flössen nun seit 1835 (4/5 Will. IV., c. 15) in die Bank von England resp. die von Irland, und damit hörte das frühere Unwesen auf, daß Staatsgelder unverrechnet und unverzinst durch eine Reihe von Jahren in den Händen der vielen Zahlmeister sich befanden. Das Kassenanweisungsrecht behielt nach wie vor das Finanzministerium, aber das war nunmehr hierin nicht wie bisher durch die Sinekurstelle eines auditor of receipt oder clerk of the pells, also durch vom Finanzministerium abhängige Beamte kontrolliert, sondern durch den unabhängigen Generalkontrolleur (comptroller of the exchequer), dessen politische Unabhängigkeit dadurch auch noch gesichert wurde, daß ihm das Sitzen und Stimmen im Par-

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lament verboten wurde. Damit fiel der alte exchequer als Kassen- und Zahlstelle. Ebenso wurde die Rechnungskontrolle in der Hand des comptroller of the exchequer konzentriert. Schon durch ein Gesetz von 1832 (2 Will. IV., c. 40) wurde das sog. appropriation audit eingeführt, wodurch nicht bloß die Tatsache der Zahlung, sondern auch deren Übereinstimmung mit den Voten des Parlaments unter Aufsicht der treasury geprüft wurde. Erst im Jahre 1866 (29 Victoria, c. 39) wurde die rechnungskontrollierende Behörde von der treasury selbständig. Aber schon durch das obengenannte Gesetz von 1834 wurde erreicht, daß unter den Augen des comptroller jede rechnungspflichtige Behörde das von ihr geschuldete Geld an die Staatskasse, d. i. an die Bank von England abführte. In der Bank von England existierten nämlich gedruckte Formulare, in welche der Betrag der Rechnungsschuldsumme eingetragen wurde. Diese Formulare in Duplikatform wurden vom comptroller oder seinem Vertreter unterzeichnet, eins blieb im Amte der obersten Rechnungsbehörde, das andere wurde dem Rechnungspflichtigen ausgehändigt, der es mit dem zu zahlenden Geld an die Bank von England abgab und von dieser hierfür eine Quittung erhielt. So wurde auch die Reehnungskontrolle vereinheitlicht. Als Überbau über dieser vereinheitlichten Rechnungskontrolle wurde ein parlamentarisches Komitee des Unterhauses seit 1861 eingesetzt, welches nicht bloß die Rechtmäßigkeit der gemachten Ausgaben, sondern auch ihre Zweckmäßigkeit zu prüfen hatte. Zuvor, im Jahre 1854, war natürlich schon die Hauptvoraussetzung einer wirksamen Parlamentskontrolle, die Rechtsregel, zum Gesetz erhoben (17/18 Vict., c. 94), daß alle Bruttoeinnahmen, nicht bloß die Nettoeinnahmen, in die Staatskasse zu fließen hätten. Nun erst war das parlamentarische Regime in der Finanzverwaltung gesichert. II. Das materielle Finanzrecht.

Die Form der Besteuerung in unserer Periode zeigt immer deutlicher die Einwirkung der nun etablierten parlamentarischen Herrschaft. Die großen Finanzreformer unserer Zeit, Robert Walpole, der jüngere Pitt und seine Nachfolger, Vansittart, Huskisson, Robinson, sie alle sind genötigt, von den großen Leitmotiven ihrer Finanzpolitik, mögen diese nun Merkantilismus oder Freihandel im Sinne Adam Smiths sein, abzuweichen, nur um den herrschenden Parteien im Staate nicht zu mißfallen. Ein wahrer Eiertanz wird mitunter ausgeführt, nur um bei den herrschenden Kreisen im Parlament nicht Anstoß zu erregen. Dabei wird das Wohl der Volksmassen ganz außer acht gelassen. 1. D i e F i n a n z p o l i t i k R. W a l p o l e s . Robert Walpole steht ganz im Banne des Merkantilismus, und der Kernpunkt seiner Finanzpolitik ist, eine günstige Handelsbilanz zu erzielen, d. h. einen Überschuß des englischen Exports über den ImH a t s c b e k , Engl. Verfasaungsgeschlctite.

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port. Zu diesem Zwecke wird ein umfassendes System von Extraprämien gezahlt, nicht bloß an jene Industriezweige, welche das Nationalvermögen vermehrten, sondern auch an solche Handelsbranchen, welche im Zusammenhang mit der Flotte standen. Exportprämien werden vergeben an die Purpurfabrikanten, an die Seidenfabrikanten, an die Verfertiger von Segeltuch, an die Zuckerfabrikanten u. dgl. Dazu kommen die schon seit der Com Bounty Act von 1690 zugunsten der grundbesitzenden Aristokratie eingeführten Prämien auf den Export von Getreide. Schließlich werden durch Exportprämien jene Handelszweige gefördert, welche die Grundlage einer seetüchtigen Bevölkerung abgeben. Die Walfischer, die nach Grönland ziehen, und die Heringsfischer, die auf ihren Booten in die Nordsee stechen, sie alle werden vom Staate subventioniert, mit Exportprämien bedacht. Man muß diese Bevölkerung unterstützen, denn sie bietet die geeignete Bemannung für die königliche Marine. Dieses künstliche System von Exportprämien, Vergütungen und Subventionen belastet die Staatskasse und damit den gewöhnlichen Steuerzahler, aber es dient dem Merkantilismus und damit dem englischen Handel. Grund genug, um dieses künstliche System aufrecht zu erhalten. Wo Volkswohl und Förderung des Kaufmannstandes im Widerstreit lagen, da schlug sich Walpole immer auf die Seite des letzteren, weil dieser im Parlament nicht unmaßgebliche Stimmen führte. Wo aber kaufmännischer Kapitalismus und landed gentry mit ihren Interessen im Widerstreit lagen, da schlug sich Walpole immer auf die Seite der landed gentry, weil sie im Parlament vorherrschend war. Er selbst sagte darüber in seiner derben, humoristischen Art: »Die landed gentry gleicht einem Schwein, das immer quiekt, wenn man ihm Hand auflegt, während die Kaufleute den Schafen gleichen, welche sich stillschweigend scheren lassen.« Nach diesem Grundsatz verfuhr er auch. Er legte lieber eine Menge indirekter Steuern auf, als daß er die Besteuerung der landed gentry in Gestalt der uns bekannten landtax erhöht hätte. Die landtax war, wie wir wissen, unter Wilhelm III. eingeführt, um kräftig den Krieg gegen Frankreich fortzuführen. Sie betrug bei ihrer Einführung 1692 4 s auf das Pfund und sollte erhoben werden von allem beweglichen und unbeweglichen Vermögen. Nur Vieh, das zur Bewirtschaftung von Grund und Boden diente, und das zur Führung des Haushalts dienliche Hausgerät sollte nicht der Steuer unterworfen sein. Auch waren die Einkünfte aus Ämtern in Heer und Marine von der Steuer befreit. Aber die Steuer, die eine gerechte Einkommensteuer darstellen sollte, konnte keine guten Resultate haben, weil alle Vorsichtsmaßregeln fehlten, um richtige Steuerbekenntnisse zu erzielen. Die Whigdoktrin sträubte sich gegen jedes tiefere Eindringen in die Vermögensverhältnisse des einzelnen. Alle Eide und eidesstättigen Steuerbekenntnisse wurden vermieden. Die Strafen wegen Steuerhinterziehung waren nur gering. Die Steuereinschätzer wurden nicht vom König ernannt, sondern von den Kommissaren, welche durch Parlamentsakte bezeichnet waren, und ihren Gehilfen. Die Tories

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gefielen sich namentlich in der Steuerhinterziehung. Und so kam es denn, daß die Steuer das erstemal bloß 1 922 712 Pfund abwarf, während sie eigentlich drei- bis viermal soviel hätte abwerfen müssen. Das Bedenkliche aber war, daß die Steuer in ihrem Erträgnis von Jahr zu Jahr fiel. Im Jahre 1693 brachte sie schon 10 000 Pfund weniger als im Vorjahr, im Jahre 1694 53 000 Pfund und im Jahre 1695 123 000 Pfund weniger ein. Im Jahre 1696 war die Steuer in zwei Formen bewilligt, als 3-Schillingsteuer auf das Pfund und als 1-Schillingsteuer auf das Pfund. Beide Steuern zusammen brachten im Jahre 73 000 Pfund weniger ein als die 4-Schillingsteuer des Vorjahres. Man mußte nun auf Mittel sinnen, um diesem fortwährenden Fallen der Steuer entgegenzuarbeiten. Da kam die Regierung auf die unglückliche Idee, den alten Krebsschaden der mittelalterlichen Zehnten und Fünfzehnten und Subsidien wieder zu etablieren, nämlich sie kam darauf, die Summe, die zu erheben war, ein für allemal zu fixieren und auf die einzelnen Grafschaften und Städte zu verteilen. Sie stellte als solche Summe die Ziffer 1484 015 £ 1 s 11% d oder rund 1 y2 Millionen Pfund Sterling auf, was ungefähr einer Steuer von 3 s auf das Pfund steuerbaren Einkommens entsprach. Jede Grafschaft und Stadt mußte für die auf sie repartierte Steuersumme aufkommen, und zwar in der Form, daß zuerst von dem beweglichen Vermögen je 3 s auf das Pfund erhoben wurden, wobei angenommen wurde, daß etwa 100 Pfund steuerbaren Vermögens ein Einkommen von 6 Pfund repräsentierten. Was auf diese Weise von dem beweglichen Vermögen der betreffenden Grafschaft oder Stadt nicht aufgebracht wurde, sollte von dem unbeweglichen getragen werden. Aber auch diese Summen gingen nicht ein, und man t a t noch einen Schritt in der Fixierung der Besteuerung weiter, indem man die auf jede Grafschaft oder Stadt entfallende Steuersumme so hoch ein für allemal feststellte, als sie 1692 bei der Steuereinschätzung dieses Jahres gewesen war. So stand man glücklich wieder dort, wo man im Mittelalter gestanden hatte. Der Staat forderte eine fixe Geldsumme als Steuerbetrag ein und perpetuierte für alle Zeiten die auf jeden Steuerbezirk entfallende Summe, so daß je 500 000 Pfund ungefähr einer Besteuerung von 1 s pro Pfund steuerbaren Einkommens entsprachen. Statt daß die Steuer mit dem Volkswachstum auch gewachsen wäre, blieb sie fixiert auf jenen Betrag. Man gewöhnte sich schließlich daran, bloß 2 Millionen regelmäßig zu erheben, wenn man eine 4-Schillingsteuer erheben wollte. Walpole war ängstlich bemüht, selbst diese petrifizierte Steuer niemals auf die Höhe von 4 s zu bringen. Gleich nach seinem Amtsantritt reduzierte er sie auf 2 s, mußte sie aber schon 1727 auf 4 s erhöhen, brachte sie 1728 und 1729 auf 3 s hinunter, im Jahre 1730 auf 2 s und im Jahre 1731 auf 1 s. Das war für ihn der glücklichste Tag. Im Jahre 1732 war sie noch immer nicht höher, und um sie auf dieser niedrigen Höhe zu erhalten, war er bereit, die indirekte Besteuerung wesentlich zu steigern, insbesondere eine Salzsteuer zu erheben, trotzdem sie zwei Jahre zuvor aus wohlverstandenen Gründen 46*

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aufgehoben war. Im Jahre 1733 suchte er den Kreis der indirekten Besteuerung noch zu erweitern. Dazu führte ihn nicht bloß der Wunsch, die landtax zu vermindern, sondern auch die Einsicht, daß durch das bisherige Zollsystem mit den außerordentlich hohen Zöllen das Schmuggelwesen nur blühte. Er dachte, statt der hohen Zölle entsprechend hohe Verbrauchssteuern einzuführen. Und so brachte er 1733 seine berühmte Akzisebill ein, die Wein und Tabak besteuern wollte. Die Aussicht, daß eventuell dieses Akziseprojekt auch noch andere Gegenstände der Besteuerung umfassen könnte, die Furcht vor den Akzisebeamten, die in alle Geschäftszweige nun in unwillkommener Weise eindringen konnten, rief einen Entrüstungssturm der Bevölkerung herbei, welcher Walpole zum Rückzug zwang. Das Akziseprojekt fiel. Nun mußte wieder die landtax auf die Höhe von 2 s auf das Pfund erhöht werden, und sie blieb auf dieser Höhe bis 1740, zwei Jahre vor Walpoles Sturz. Im Jahre 1740 wurde sie wieder auf 4 s erhöht. Was soll man nun von einem Staatsmann halten, der als Finanzmann von allen Interessenten hoch gewertet wird, der klar sieht, daß der Handel nach jeder Richtung hin befördert werden muß, der ferner klar erkennt, daß durch Steigerung der indirekten Besteuerung und der Zölle das Volkswohl geschädigt wird, und trotz alledem lieber dies alles zu tun versucht, ehe er eine gerechte direkte Besteuerung einführt ? Er war eben der landed gentry gegenüber machtlos. Er fürchtete ihren Unwillen und kehrte sich lieber von seinen merkantilistischen Idealen, von seiner Vorliebe für die Beförderung des Handels ab, als daß er der landed gentry eine zu hohe landtax aufgebürdet hätte. Er ließ lieber diese landtax versteinern und ewig bleiben. Er vermied es, eine neue Veranlagungvorzunehmen, trotzdem eine solche Maßregel nur zum Nutzen des Staatsschatzes gewesen wäre und nur einen Akt der Gerechtigkeit gegenüber den einzelnen durch die bisherige Fixität der landtax geschädigten Steuerdistrikten dargestellt hätte. Die landtax wurde hauptsächlich von der gentry getragen, die indirekte Besteuerung vom Volk und von den kapitalistischen Kreisen. Lieber das »stille Schaf scheren«, als das »stets quiekende Schwein« berühren. Innerhalb des von Walpole eingerichteten Steuersystems war die alte Grundlage beibehalten. Die indirekten Steuern und Zölle überwogen, ganz wie in der vergangenen Epoche, sehr beträchtlich die direkte Besteuerung, was namentlich folgende Ziffern ergeben1). Es betrug 1722, d. i. am Beginn der Walpoleschen Finanzära, das Nettoeinkommen von Zöllen . . . . Akzise . . . landtax u. dgl. und am Ausgang seiner Ministerherrschaft kommen von

1 604 049 £ 11 s 2 779 914 £ 5 s 1 224 116£ 18s 1742 betrug das

1d 5d 6d Nettoein-

Siehe Public Income and Expenditure, Commons Papers 1869, Nr. 366, p. 68 f. u. 108 f.

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Zöllen Akzise landtax u. dgl

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1 278 202 £ 16 s 9 d 2 903 318 £ 5 s 6 d 2 130 047 £ 3 s 1 d.

2. D i e F i n a n z p o l i t i k d e s j ü n g e r e n P i t t u n d s e i n e r Nachfolger. Adam Smith hat ohne Frage einen großen Ginfluß seit dem Erscheinen seines Buches: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations auf die englische Finanzpolitik ausgeübt 1 ). Schon Lord North hatte seit dem zweiten Jahre des amerikanischen Befreiungskrieges Adam Smiths Lehren auf sich wirken lassen. Freilich nur in dem beschränkten Sinne, daß das von Smith in seinem Buche beigebrachte, andere Länder betreffende Steuermaterial, natürlich aber nur in der Beleuchtung von Adam Smith, als Vorbild für die englische Steuer verwertet wurde. Holland war insbesondere das Land, dessen Besteuerung North durch Vermittelung von Adam Smith kennen lernte. Und so empfahl North 1777 nach holländischem Vorbild eine Steuer auf das Halten von Dienstboten, eine Besteuerung der Auktionen. Im Jahre 1778 legte er eine Steuer auf Wohnhäuser auf, nicht etwa nach dem willkürlichen Kriterium der Fensterzahl oder der Anzahl von Feuerstätten, sondern nach dem Jahreswert. Auch dieses war holländische Besteuerungsmanier. Nach holländischem Vorbild wurde auch eine Erbschaftssteuer von Lord North eingeführt, geradeso wie sie Adam Smith beschrieben hatte. Pitt der Jüngere war ein wirklicher Schüler von Smith, nicht etwa bloß in dem Sinne wie- Lord North, daß er bloß das Steuervorbild des Auslandes verwertet, sondern auch nach der Richtung hin, daß er in den ganzen Geist der Lehre von Adam Smith eindrang, deren Hauptgrundsätze etwa waren: Hinwegräumung aller künstlichen durch den Merkantilismus bewirkten Exportprämien, Einfuhr- und Ausfuhrzölle, Verbreiterung der Steuerbasis derart, daß sie nicht bloß das Volk, sondern auch namentlich die besitzenden Klassen nach ihrer Steuerkraft treffen sollte, schließlich Bestreitung der Staatsbedürfnisse des Jahres durch die Jahreseinkünfte, wenn möglich. In diesem Sinne wirkte auch Pitt der Jüngere zu Beginn seiner Regierung. Nicht bloß, daß er seine Handelspolitik namentlich mit Frankreich nach den Grundsätzen von Adam Smith einrichtete (Handelsvertrag von 1786/87!), sondern auch die Verbrauchs- und die übrige Besteuerung wurde womöglich in Einklang mit den Lehren Adam Smiths gebracht. Smith hatte die Verminderung und namentlich die Vereinfachung der Zölle gelehrt, um den Schmuggel zu beseitigen. Ähnlich ging Pitt zu Anfang seiner Wirksamkeit darauf aus, das verwickelte englische Zolltarifwesen zu ordnen. Die Unübersichtlichkeit der Tarife war ein Hauptübel. Das ganze Erbteil der Walpoleschen Ära und seiner Folger war, daß man niemals planmäßig und systematisch Zölle auferlegte, sondern, so wie ') Siehe d a r ü b e r Cunningham, The Growth of English Industrie and Commerce in Modern Times, p. 545 f. u n d insbes. Felix Salomon, William P i t t II, 1906, p. 178 f.

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es momentane Bedürfnisse mit sich brachten, bald hier bald dort einen Zoll auferlegte, ohne sich überhaupt zu fragen, wieviel der Artikel im ganzen belastet war. So gab es Artikel, die 14 verschiedenen Zöllen unterlagen, verschieden je nach Benennung, Wert, Gewicht, Umfang, Zahl usw. Das brachte viel Belästigungen der Kaufleute, namentlich bei der Zollabfertigung, mit sich, aber auch viel Willkür in der Berechnung der Zölle. Adam Smith hatte für Artikel des allgemeinen Konsums Zollfreiheit verlangt, jedenfalls Zollherabsetzung, namentlich um den kleinen Mann wirtschaftlich zu schützen. In diesem Sinne bewirkte Pitt der Jüngere im Jahre 1784 die Herabsetzung des Teezolls von 50% des Wertes auf 1214%. Als Ersatz dieses Teezolls sollte eine Fenster- und Häusersteuer in höherem Maße als früher erhoben werden (sog. Commutation Act). Unter dem Einfluß von Adam Smith führte Pitt eine Luxusbesteuerung ein in Gestalt der sog. assessed taxes, welche in ihrer Gesamtheit auf die Schultern der reicheren Klassen fiel. Dahin gehörten die Besteuerung des Haltens von Dienern, von Equipagen, von Pferden u. dgl. Auch die Einführung eines Consolidated fund im Jahre 1787, das ist die Schaffung einer einheitlichen Staatskasse, in welche alle Staatseinnahmen flössen und aus welcher die Staatsausgaben geleistet wurden, wird wohl auf die Rechnung von Adam Smith zu schreiben sein, denn sie war die notwendige Voraussetzung einer richtigen Staatswirtschaft, die den Jahresbedarf durch Jahreseinnahmen zu decken bemüht war, und beseitigte den alten Mißstand, wonach jede einzelne Steuer besonderen Gläubigern verpfändet wurde und daher in besonderer Weise verwaltet werden mußte, was die Verwaltungskosten bedeutend steigerte und die Unübersichtlichkeit des Budgets herbeiführte. Adam Smith hatte schließlich die Überwälzung der Hauptsteuerlast auf die kräftigen Schultern der bemittelten Klassen empfohlen. 'In diesem Sinfie sollte ja auch die obengenannte Fenster- und Häusersteuer und die sog. assessed taxes wirken. Dazu kam im Jahre 1796 die Einführung einer Erbschaftssteuer, aber leider nur in bezug auf das bewegliche Vermögen; das unbewegliche Vermögen durfte nicht dieser Steuer unterliegen, denn die landed gentry war dagegen. Den ärmeren Klassen kam Pitt 1792 durch Aufhebung der Besteuerung für das Halten von Dienstboten in ärmeren Familien, durch Aufhebung der Steuern auf Karren, durch Aufhebung der Fenstersteuer für kleine Häuser mit weniger als 7 Fenstern, durch Verminderung der Steuer auf Lichte usw. entgegen. Aber all diese Grundsätze von Adam Smith mußten der härteren Notwendigkeit weichen, als man daran ging, die Lasten der Kriege mit Frankreich zu tragen, ohne der landed gentry zu nahe zu treten. Auch ein solch gewaltiger Geist wie Pitt konnte nichts gegen den Widerwillen der gentry, zu den Staatslasten entsprechend beizutragen, ausrichten. Dies tritt an zwei Punkten namentlich hervor: in der Frage der landtax und in der Frage der Kornzölle. Die landtax mußte, weil

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sie der landed gentry nicht paßte, zu einer ablösbaren Realgerechtigkeit umgewandelt werden. Wie kam es, daß die landed gentry die landtax als besonderes, von ihr zu tragendes Übel auffaßte, da sie doch ursprünglich bestimmt war, auch das bewegliche Vermögen zu besteuern ? Die Antwort ist leicht gegeben : dadurch, daß der Steuereinschätzungsapparat welcher ihr zugrunde lag, versteinerte, dadurch, daß sie selbst zu einer fixen Summe geworden war, war das bewegliche Vermögen schon längst ihren Netzen entschlüpft. Pitt machte sie deshalb perpetuierlich als eine Last, die auf den einzelnen Steuerdistrikten ruhte, und gab den von ihr betroffenen Personen das Recht, die Steuer abzulösen. Ja noch mehr, er machte die Steuerlast selbst zu einem Handelsartikel, indem er Personen, welche ihr Geld in Grund und Boden oder in Hypotheken anlegen wollten, die Möglichkeit eröffnete, die landtax eines bestimmten Grundstücks abzulösen und dafür eine Jahresrente, die als Grundrente auf dem so abgelösten Boden lastete, zu erwerben. Anfangs wurde ein Drittel dieser Steuer abgelöst, später erlahmte das Interesse, da der Zinsfuß im Lande höher wurde und man das Geld anderweitig anlegen konnte. Noch heute ist die landtax nicht ganz abgelöst. Verfiel nun so die einzig wirksame direkte Steuer des Ancien Régime, so wäre es doch nahe gelegen, nun eine wirkliche Einkommensteuer zu schaffen. Pitt versuchte sich daran. Im Jahre 1798, also etwa ein Jahr vor der Ablösbarkeitserklärung der landtax, führte Pitt die erste Einkommensteuer, das sog. triple assessment, ein. Der Name dieser Einkommensteuer stammt daher, daß sie in dreifachen Stufen veranlagt wurde. Die Einkommen bis 60 Pfund sollten frei sein, von da ab in Progressionen vom Einhundertzwanzigstel bis zu einem Zehntel des gesamten Einkommens aufsteigen. Der höchste Betrag der Steuer sollte eben ein Zehntel des steuerbaren Einkommens sein. Aber abgesehen davon, daß man alsbald erkannte, daß diese Steuer bloß auf den mittleren Einkommen ruhte, war sie auch im höchsten Maße unergiebig. Im Jahre 1799 versuchte er es mit einer anderen Einkommensteuer, mit der sog. property and income tax. Alles Einkommen aus Grund und Boden ünd aus beweglichem Vermögen, ferner alles Einkommen aus Ämtern, Pensionen, Berufen usw., sofern es in Großbritannien seine Quelle hatte, unterlag der Besteuerung. Wie beim triple assessment wurden zum erstenmal Steuerbekenntnisse den Steuerpflichtigen auferlegt. 60 Pfund Einkommen unterlag überhaupt nicht der Besteuerung, für Einkommen zwischen 60 und 200 Pfund waren verschiedene Steuerstufen eingeführt. Von 200 Pfund an wuchs die Einkommensteuer auf 10% des Einkommens. Um die kommerziellen Kreise zu beruhigen, wurde als Verbesserung gegenüber dem triple assessment eine neue Form von Einschätzungskommissaren bestellt, die sog. commercial commissioners für London und die größeren Städte. Freilich das Einschätzungsgeschäft ruhte ganz in den Händen der Lokalkommissare, und das Staatsinteresse wurde nur durch einen Inspektor (surveyor) gesichert, der aus eigener Machtvollkommenheit einen Zuschlag zur Einschätzung der Lokalkommissare feststellen durfte. Auch diese Steuer erwies sich nicht als so ergiebig, wie man sie

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ursprünglich gedacht. Sie wurde deshalb und auch aus dem Grunde, weil die Steuerbekenntnispflicht den parlamentarischen Parteien nicht behagte, im Jahre 1802 abgeschafft. An ihre Stelle trat im Jahre 1803 die Einkommensteuer Addingtons, welche eigentlich aus fünf Ertragsteuern bestand, die auf Grund und Boden, auf Pachtbesitz, auf Einkommen aus Staatspapieren und anderen öffentlichen Obligationen, auf Einkommen aus Ämtern und schließlich auf allem anderen Einkommen ruhte. Abgeschafft war die Steuerbekenntnispflicht: äußere, sichtbare Merkmale allein waren die Grundlagen der Einschätzung. Die Steuereinkommen aus Ämtern wurden gleich von den Personen bezahlt, welche die Steuerpflichtigen angestellt hatten, und diesen in Abzug gebracht. Diese Steuer erhielt sich, nachdem sie 1806 unbedeutende Modifikationen erfahren hatte, bis zum Jahre 1816. Sie war als Kriegssteuer gedacht und konnte deshalb auf die Dauer sich nicht halten. Die Regierung versuchte sie nach 1815, also nach Wiederherstellung des Friedens, zu dem halben Steuerfuß zu erhalten, auch sollte das Einkommen der Pächter von Grund und Boden bloß mit einem Viertel seines wahren Erträgnisses besteuert werden, aber der Widerstand der landed gentry war zu groß und auch die übrige Bevölkerung hatte kein sonderliches Interesse an einer Steuer, welche nichts dazu beitrug, die durch Zölle und indirekte Steuern herbeigeführte Belastung des Volks irgendwie zu mildern. Was nun die Kornzölle anlangt, so war schon seit ungefähr 1670 die Getreideeinfuhr im Interesse des Ackerbaus wesentlich gehindert, während seit 1689 eine Ausfuhrprämie für Korn bestand. Wenn schlechte Ernten waren, so wurde der Einfuhrzoll herabgesetzt, so 1756 und 1767. Zuletzt erfolgte eine solche Einfuhrerleichterung 1773. Von der Zeit an hörte aber der englische Getreideexport vollständig auf, und England wurde ein großer Konsument ausländischen Getreides. Hier h ä t t e nun Pitt sich als Schüler Adam Smiths bewähren können und die Getreideeinfuhr überhaupt freigeben müssen, denn das Übersteigen der Einfuhr über die Ausfuhr zeigte deutlich, daß England selbst seinen eigenen Getreidebedarf nicht decken konnte. Im Jahre 1789 kam noch die Tatsache hinzu, daß die Ernte des Vorjahres eine sehr dürftige und Import aus dem Ausland nur gegen hohe Preise möglich war, weil die französische Regierung als Konkurrent im Aufkauf von Korn auftrat. Wahre Hungerpreise für das Jahr 1789 waren zu erwarten. Die von Pitt eingeleitete Enquete ergab, daß gewichtige Stimmen sich für die Freiheit der Getreideeinfuhr und für die Abschaffung aller hindernden Zölle und Exportprämien aussprachen. Die Regierung gab zunächst für das Jahr 1790 nach. Der Export wurde gesperrt, der Import freigegeben. Aber im Jahre 1791 brachte er, was gar nicht im Einklang mit den Lehren Adam Smiths stand und noch weniger durch die Vorgeschichte der Getreidezölle und Preise zu rechtfertigen war, ein neues Gesetz ein, welches die Gewährung von Exportprämien und die gleitende Herabsetzung von Einfuhrzöllen miteinander zu verbinden suchte. Exportprämien sollten nur noch gezahlt werden,

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wenn der Weizenpreis im Inland unter 44 s stand. Insofern änderte also die Bill nicht den bisherigen Rechtszustand. Von 44—46 s hörten zwar die Exportprämien auf, aber die Ausfuhr wurde noch immer gestattet. Stand aber der Weizenpreis im Inland über 46 s, so war das Exportieren überhaupt nicht mehr gestattet. Was nun die Einfuhrzölle anlangt, so wurden dieselben erst bei einem Weizenpreis von 50 s und darüber erhoben; sie betrugen, wenn sich der Weizenpreis zwischen 50 und 54 s pro quarter hielt, 2 s 6 d. Sank aber der Weizenpreis unter 50 s, so wurde ein Zoll von 24 s 3 d erhoben. Diese sogenannte gleitende Tarifskala, die Pitt gewissermaßen als Mittelweg zwischen den Interessen der großen Grundbesitzer und der notleidenden Masse des Volks gewählt hatte, erwies sich in der Folge bloß als ein Mittel, die ungerechtfertigte Spekulation blühen zu lassen. Durch diese Maßregel gewann weder das Volk noch der Großgrundbesitzer, sondern der Einfuhrspekulant. Wie sprunghafte Preise die Spekulation hier bewirkte, geht am besten daraus hervor, daß, während im Jahre 1801 der Weizenpreis auf 155 s stand, er im Jahre 1804 auf 49 s 6 d plötzlich sank. Unter der Ackerbau treibenden Bevölkerung, insbesondere der landed gentry, entstand eine große Panik, und um die zu beschwichtigen, erging eine Modifikation des Korngesetzes von 1791 im Jahre 1804. Der Regulativpreis für den Import, der im Jahre 1791 50 s pro quarter betrug, wurde auf 62 s erhöht und dieser als Existenzminimumpreis der gentry gewährleistet. Der hohe Zoll von 24 s 3 d sollte so lange gezahlt werden, so lange der Weizenpreis im Innern unter 63 s pro quarter stand. Kam er auf die Höhe von 63 s, so fiel der hohe Zoll mächtig ab, und zwar auf 2 s 6 d. War der Weizenpreis im Inland 66 s, so fiel der Zoll auf 6 d. Eine Ausfuhrprämie von 5 s wurde gewährt, wenn der Preis im Innern unter 48 s stand. Die Getreideausfuhr war überhaupt verboten, wenn der Weizenpreis im Innern 54 s oder darüber ausmachte. Da sich derselbe aber um die Zeit immer in einer Höhe über 54 s erhielt 1 ), so war der Getreideexport aus England so gut wie ausgeschlossen. Daß durch dieses ganze System der Einfuhrzölle und Exportprämien nur die Spekulation und niemand anders Nutzen gewann, geht am besten aus der Tatsache hervor, die durch parlamentarische Enquete im Jahre 1813 festgestellt wurde, daß der Kornexport in den letzten 21 Jahren von 1792—1811 zwar ständig gewachsen, der Durchschnittspreis für den quarter Weizen aber von 77 s 3 d bis auf den Hungersnotpreis von 100 s 5 d gestiegen war. Statt nun dieses künstliche System von Kornzöllen und Ausfuhrprämien aufzuheben, versuchte man im Jahre 1813 und 1814 den Regulativpreis in England sogar auf 105 s 2 d zu erhöhen. Im Jahre 1813 war nämlich die Kontinentalsperre aufgehoben, und man befürchtete in England — d. h. es befürchtete dies bloß die landed gentry —, daß England jetzt mit ausländischem Getreide überschwemmt würde, was !) Siehe darüber und zum folgenden E. H. R. vol. X X I V (1909), p. 471 f.

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zu einer Senkung des heimischen Preises führen könnte. Ein parlamentarisches Komitee, dessen Mitgliedern, außer Sir Henry Parnell als Vorsitzendem so bedeutende Finanzmänner wie Vansittart, Peel, Huskisson und andere angehörten, empfahl dringend die Erhöhung des Regulativpreises auf die Höhe von 105 s 2 d. Die Autorität von Adam Smith wurde sogar zitiert, um diese Erhöhung zu rechtfertigen, trotzdem alle Einfuhrzölle auf Getreide für Adam Smith sicherlich verdammenswert waren. Ein neues Argument wurde vorgebracht: man wolle den Grundbesitz und den Ackerbau besonders stärken, um sich nicht immer auf das Ausland in bezug auf die Getreideeinfuhr verlassen zu müssen. Auch würde die Spekulation aufhören, wenn durch den hohen Regulativpreis nun stetige Preisverhältnisse des Getreides erzielt würden. Man gestand offen zu, daß die Hauptsache des neuen gesetzgeberischen Plans nicht die wäre, den Getreidepreis niedrig zu halten, sondern nur zu verhindern, daß er in Zukunft außerordentlich hoch würde. Der Ruf, der Landwirtschaft zu helfen, übertönte in dem damaligen von der landed gentry abhängigen Parlament vollständig den Aufschrei des Landes gegen die neuen projektierten Kornzölle und den Widerwillen der großen Masse der Bevölkerung, wie er sich in zahlreichen Petitionen, die ans Parlament gerichtet waren, wiederspiegelte. Man sagte damals, die Petenten, die »niedern Klassen« (lower Orders), verständen nichts von der Sache; und es endete die Aktion in den neuen Kornzöllen von 1815. Der heimische Regulativpreis wurde nun auf 80 s erhöht. In den Folgejahren, 1822 und 1828, trat eine Besserung insofern ein, als der Regulativpreis 62 s wurde. Der Zoll betrug 25 s 8 d, wenn der Regulativpreis unter 62 s, aber nicht unter 61 s war ; ging er unter 61 s, so kam 1 s Zollaufschlag hinzu. Stieg der Weizenpreis im Innern über 62 s, nämlich auf 70 s, so betrug der Zoll bloß 10 s 8 d, bei 72 s fiel er sogar auf 2 s 8 d, und bei 73 s und darüber sank der Getreidezoll auf 1 s. In dieser letzten Gestalt erhielten sich die Kornzölle bis zu ihrer Abschaffung 1846. Wir sehen, auch von den Nachfolgern Pitts wird das Ideal Adam Smiths hochgehalten, aber bloß in der Theorie, während man in der Praxis nur einen Gedanken hat, der landed gentry zu Willen zu sein. Männer wie Huskisson, Vansittart, Peel, Robinson u. a. beugen sich vor dieser allmächtigen landed pentry. 3. D e r Ü b e r g a n g z u m F r e i h a n d e l u n d d i e B e f e s t i g u n g der p a r l a m e n t a r i s c h e n F i n a n z w i r t s c h a f t . Immer klarer wurde die Notwendigkeit, das lästige Schutzzollsystem und das beinahe unentwirrbare und verstrickte Netz der indirekten Besteuerung ein wenig aufzulockern, denn die Not des Volkes war schon aufs Höchste gestiegen. Die Steuerlast pro Kopf der Bevölkerung war zwischen 1776 und 1811 um 1 6 2 % gestiegen; sie betrug 1811 13 s 2 d, in Wessex 24 s 8 d. Seit 1825 begann man nun dieses dicht gearbeitete Netz zu lösen. Huskisson, Vorsteher des board of trade, gebührt das Verdienst, die Steuerreform begonnen zu haben.

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Es war also nur der Anfang gemacht. Der entscheidende Schritt in dieser Richtung, die Aufhebung beinahe all jener indirekten Steuern, die in der Periode zu lästig erschienen, die Aufhebung aller Schutzzölle bis auf wenige Fiskalzölle, kurz die Einführung des Freihandels erfolgt erst in der folgenden Periode, in deren Mittelpunkt die Gestalten zweier Staatsmänner stehen: Robert Peel und Gladstone 1 ). 4. D e r S c h u t z d e s S t e u e r g e h e i m n i s s e s . Das Land, das die erste Einkommensteuer im modernen Sinne sah, mußte natürlich auch zuerst das Problem des Steuergeheimnisses und seiner Wahrung zu lösen versuchen. Schon die Vorläufer des jüngeren Pitt, des Vaters der englischen Einkommenbesteuerung, am Ausgange des 18. Jahrhunderts hatten bei ihren Vorschlägen einer Einkommensteuer mit dem beinahe unausrottbaren Vorurteile der englischen Bevölkerung zu kämpfen, das sich gegen ein inquisitorisches Eindringen in die privaten Vermögensverhältnisse richtete. So sehr war diese Frage Zentralpunkt des Einkommensteuerproblems, daß im Jahre 1797 der erste Entwurf des triple assessment, der ersten Einkommensteuer Pitts, jenen Gesichtspunkt in den Vordergrund der Berücksichtigung rückte 2 ): »Der große praktische Einwand gegen eine solche Form der Besteuerung ist die Unmöglichkeit, den Umfang des zu besteuernden Eigentums ohne einen Grad der Inquisition zu bestimmen, der im allgemeinen nur gehässig und oft, besonders im Fall von Handelsleuten, ihnen sehr nachteilig sein würde, übrigens wegen des komplizierten Zustandes ihrer Buchführung nur mit sehr großen Schwierigkeiten zu bewerkstelligen wäre.« Im Anschlüsse an dieses Bedenken schlägt jener erste Entwurf die Steuerstufen unter Zugrundelegung der Hausmiete, also eines äußeren Kriteriums zur Bestimmung der Ausgaben der Steuerpflichtigen, vor. Dieser Grundgedanke des »äußeren Kriteriums« blieb auch dem neuen Steuergesetz, das als »triple assessment« 3 ) bekannt ist: nämlich die Gewinnung der Einkommensteuersumme durch ein Multiplum von Steuern, welche jeder einzelne für Dienstboten, Wagen, Luxuspferde, Wohnung, bewohnte Häuser usw. zahlte. Dadurch, daß man sich an äußere Merkmale (visible criterion) des Einkommens hielt, konnte man auch, weil eben die öffentliche Meinung den Behörden mißtraute, von einer Deklarationspflicht des Einkommens Umgang nehmen, stellte es aber jedem Steuerpflichtigen anheim, zur Erlangung gewisser Steuervorteile eine Vermögenserklärung (return of property) unter Eid abzugeben. Dieses Steuergesetz erwies sich jedoch sehr bald als Mißgriff, wie oben erwähnt. Pitt hob daher das »triple assessment« auf und *) Siehe darüber m e i n engl. Staatsrecht I. S. 485 ff. ) Der englische Text bei Manes in der Festgabe zum 70. Geburtstage von Lexis S. 176: »Die Einkommensteuer und die englische Finanzpolitik und -literatur bis zu William Pitts Tode.« *) Siehe darüber Dowell, History of Taxation and Taxes in England III, p. 174 ff. 2

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legte nun (1799) eine richtige Einkommensteuer von 10% x ) mit obligatorischer Vermögensdeklaration (general Statement of income) auf. Von einer Garantie des Steuergeheimnisses ist in dem Gesetze (39 Geo. III., c. 13) insofern die Rede, als die Einschätzungskommissare den Eid leisten müssen, nichts zu veröffentlichen, was über das Einkommen des Steuerpflichtigen zu ihrer Kenntnis gelangte, es wäre denn, daß die eidesstättige Versicherung des Steuerträgers falsch wäre und im Strafprozeße, der sich daran knüpfte, das Zeugnis des Steuerbeamten in Anspruch genommen würde. Die Unpopularität der Maßregel hatte schon 1801 ihre Aufhebung zur Folge. Im Jahre 1803 trat Addington mit einer neuen Einkommensteuer (43 Geo. III., c. 122) hervor, der sog. property tax. Um den vexatorischen Charakter einer Einkommensteuererklärung von dem Gesamtvermögen zu mildern, wurden eine Reihe von Einkommenklassen, nämlich Einkommen von landwirtschaftlichem Eigentum, Pacht, Handel und Gewerbe, Gehälter, Zinsen aus öffentlichen Schuldtiteln geschaffen. Auch jetzt erhob sich ein Entrüstungssturm gegen die inquisitorische Nachforschung des Vermögens, trotzdem Addington zu seiner Entschuldigung vorbrachte, daß eine Generalinquisition fernläge, daß äußerlich leicht erkennbare Kriterien des Einkommens gefunden werden müßten und zu diesem Zwecke an Stelle einer Generaleinkommensteuer eine Zersplitterung derselben nach Einkommenquellen stattfände 2 ). Auch würde betreffs einiger Einkommenquellen (Grundbesitz, öffentliche Schuldtitel) keine besondere Steuererklärung verlangt (Parliamentary History, vol. 36, p. 1663). Im übrigen war in diesem Gesetze keine Wahrung des Steuergeheimnisses garantiert. Erst das Einkommensteuergesetz R. Peels (5 u. 6 Vict., c. 35), welches noch heute gilt, führte — und das wurde als sein besondererVorzug angesehen,— für das Einkommen von Handel und Gewerbe nach Schedule D des Gesetzes, besondere Einschätzungskommissare mit weitgehenden Ermittlungsbefugnissen ein, denen aber eine Steuergeheimnispflicht durch besonderen Eid auferlegt war. Es sollte durch diesen strengformulierten Eid die Opposition gegen das Gesetz, die nach wie vor die »inquisitorischen« Befugnisse tadelte, beschwichtigt werden. III. Die Staatsschulden dieser Periode. Bis zum Jahre 1689 war die Staatsschuld Englands ganz unbedeutend. Sie betrug beim Regierungsantritt Wilhelms III. bloß 664 263 £, d. i. jene Summe, die noch Karl II. aufgenommen und nicht zurückgezahlt hatte. Seit der Zeit begann aber England durch seine führende Stellung in der europäischen Politik und die damit verbundenen Kriege eine gewaltige Schuld anzuhäufen. Davon fielen in die Regierungszeit:

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Die volle Wucht der Steuer traf nur die Einkommen von mehr als 200 £. ) Dowell a. a. O. II, p. 220.

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Wilhelms III. (insbesondere die Kriege mit Ludwig XIV. bis zum Ryswiker Frieden) etwa 16Mill.£ Annas (Spanischer Erb folgekrieg!) 38 „ „ Georgs II. (österreichischer Erbfolgekrieg, Krieg mit Frankreich, beendet durch den Aachener Frieden, Siebenjähriger Krieg) 87 „ „ Georgs III. (Krieg gegen die nordamerikanischen Kolonien) 121 „ „ Georgs IV. (Revolutions- und Koalitionskriege gegen Fran„ reich und Napoleon) 601,5,, ,, Sie spielten nun eine wichtige Rolle im Staatshaushalt des Einzeljahres in dieser Epoche. Schon in der Regierungszeit Georgs II. war die jährliche Anleihe nicht selten ebenso groß, wie die Nettoeinnahme aus Steuern und Zöllen. In den ersten Jahren der Regierung Georgs III. betrug sie zwar bloß die Hälfte der Jahreseinnahme aus Steuern und Zöllen, manchmal auch weniger. Seit 1767, seit dem Kriege mit den nordamerikanischen Kolonien erreichte sie deren Höhe, ja sie übertraf sie mitunter. Nach einer kurzen Unterbrechung zwischen 1785 und 1790, wo sie wieder geringer wurde als die Jahreseinnahmen, stieg sie dann wieder auf eine Höhe, die die der Staatseinnahmen wesentlich überschritt. Wenn also jährlich mehr Geld geliehen werden mußte, als durch Steuern und Zölle aufzutreiben war, so war natürlich die Macht des Parlaments immer größer geworden, trotzdem ein autokratisch gesinnter Monarch auf dem Throne saß. Zur Verstärkung der Macht des Parlaments trug auch nicht wenig der durch Pitt den Jüngeren organisierte Staatsschuldentilgungsfonds bei. Schon Walpole hatte im Jahre 1716/17 die Form einer Staatsschuldentilgung durch Anlegung eines Fonds eingerichtet. Die Idee, die diesem Plan zugrunde lag, war durch Reduzierung der Zinsen der bisherigen Staatsschuldverschreibungen von 6 % auf 5% ein Jahresplus zu gewinnen, durch welches sich jährlich die Staatsschuld amortisieren ließ. Im Jahre 1727 wurde das diesem Plan zugrunde liegende Prinzip ausgedehnt auf eine Reihe anderer Zinsreduktionen verschiedener Staatsschuldverschreibungen. Diesmal handelte es sich um die Reduktion von 5 auf 4 %. Durch diese Manipulation betrug die Jahresamortisation der Staatsschuld etwa y2 Million. Was aber diesem Fonds fehlte, war die parlamentarische Kontrolle, und aus diesem Fehlen erwuchs die Möglichkeit für die Regierung, den Fonds immer anzugreifen, wenn man ein Jahresdefizit ohne Hilfe des Parlaments decken wollte. Auch sonst war d e r . Fonds Angriffen der Regierung ausgesetzt. So erhöhte im Jahre 1728 Walpole aus eigener Machtvollkommenheit die Zivilliste Georgs II. auf 100 000 £ und wies dieses jährliche Plus auf den Staatsschuldentilgungsfonds. Und im Jahre 1729 suchte er die Tatsache, daß 4000 £ aus dem Staatsschatz gestohlen waren, vor dem Parlament dadurch zu verbergen, daß er die Summe, die so fehlte,

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aus dem Tilgungsfonds nahm. Im Jahre 1733 und 1737 erfolgten ähnliche Eingriffe in den Tilgungsfonds. Pitt der Jüngere führte die nötige parlamentarische Kontrolle ein. Im Jahre 1786 schuf er einen Tilgungsfonds (sinking fund). Danach sollten aus den Jahresüberschüssen des Staatshaushaltes 1 Million £ jährlich in einen besondern Fonds, und zwar in Form vierteljährlicher Raten gezahlt werden. Dieser Fonds sollte von einer eigens neu geschaffenen Behörde, den auch noch heute vorhandenen national debt commissioners, verwaltet und seine Erträgnisse zum Ankauf von Staatsschuldverschreibungen verwendet werden. Die letzteren wurden jedoch nicht vernichtet, sondern von der Finanzverwaltung des Staats verzinst und die daraus hervorwachsenden Zinsen der Schuldentilgungskasse zugeführt. Dies sollte so lange dauern, bis vermöge der Jahreszuschüsse und Zinsen sowie Zinseszinsen der Betrag der Gesamtschuld erreicht wäre und diese sich so »automatisch« aufgezehrt hätte. Der Pittsche Plan wurde dann durch Gesetz (26 Geo. III., c. 31) verwirklicht. Sein Hauptfehler 1 ) bestand darin, daß hierdurch die Möglichkeit geboten war, durch Aufnahme von Staatsschulden »Jahresüberschüsse« zu fingieren, aus denen zwar ein Teil der alten Schulden gedeckt wurde, wobei aber die Zinsen der neuern, zur Deckung der fingierten »Jahresüberschüsse« aufgenommenen Schulden mitunter ungleich höher waren als die der alten dadurch getilgten. Dieser Übelstand bewirkte eine .Reihe von gesetzlichen Modifikationen (1813 durch 53 Geo. III., c. 35, 1823 durch 4 Geo. IV., c. 19 und namentlich 1829 durch 10 Geo. IV., c. 7), wodurch auch die unfundierte Schuld in den Bereich der Tilgungsmöglichkeit gezogen und an Stelle des bisherigen Prinzips der Zwangstilgung, das der freien Tilgung von Staatsschulden eingeführt wurde.

§ 51. Die Heeresverwaltung. Literatur. C 1 o d e , Military forces of the Crown, 1869, 2 vols. — F o r t e s c u e J. W., A History of the British Army, vol. I—VI, London 1899—1910. — Derselbe, The County Lieutenancies and the Army 1803—1814, London 1909. — H a l 6 v y a. a. O. p. 63 ff. — Memorandum of the War-Office, Dez. 1870. Being the previous history of and objections against that form of Military Conscription known as Ballot for the Militia; Appendices. — Nineteen Reports of Commission on the Public Expenditure and Conduct of Public Business in the Military Departments 1806—1816. — Report of Commission on the System of Military Punishments in the Army; Evidence and Appendices 1836.

Die vergangene Periode hatte, wie wir wissen, zwei Probleme der Zukunft überlassen: erstens die Ausbildung einer Zentralstelle für Derselbe wurde zuerst von einem Dr. Hamilton 1813 aufgedeckt. Dessen Essay war eine Kritik des Planes von Dr. Price (1772), auf dessen Grundlage Pitt seinen sinking fund eingerichtet hatte. Resolutionen von Hume 1826 und eines 1828 tagenden Unterhauskomitees legten den Fehler vor aller Augen bloß.

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die Heeresverwaltung, welche sich in das parlamentarische Regime einfügte, zweitens die Ausbildung einer Volksmiliz, welche allein als die dem parlamentarischen Regime angemessene Form der Wehrh a f t m a c h u n g des Volkes angesehen wurde. I. Die Organisation der Zentralstelle. Die Furcht vor einer ständigen Armee erfüllte die Engländer schon seit den üblen Erfahrungen, die sie mit Cromwells Heer gemacht. Nach der Revolution war es eine der Hauptsorgen Wilhelms III., diese Abneigung des Volkes mit der Notwendigkeit eines stehenden Heeres zu versöhnen. Er kam auf den Gedanken, den er auch schon bei der übrigen Verwaltungsorganisation zur Anwendung brachte 1 ), nämlich innerhalb der Zentralleitung ein System »checks and balances« einzurichten, wo keine Partei allein das Heft in Händen hatte, und die Vollgewalt auch im Heerwesen unter mehrere Beamten und Behörden aufzuteilen, die sich gegenseitig die Wage hielten, während der König der oberste Befehlshaber blieb. Um ein Bild von dem Zusammenwirken dieser Beamten und Behörden für Heerzwecke zu gewinnen, sei erw ä h n t , daß der Soldat seine Nahrung durch das sog. Kommissariat erhielt, das dem Schatzamt untergeordnet war. Seine Bewaffnung bekam er vom sog. ordnance board, das im Parlamente durch einen Chef, den master general of the o. b., vertreten war und namentlich Aufsicht über die Arsenale und Rüstkammern hatte. Der Staatssekretär des Innern war für alle Truppendislozierungen im Inlande, der Kolonialsekretär für solche in den Kolonien verantwortlich, während der secretary at war die Marschrouten für die Truppen im Feldzuge entwarf (s. Clode II, 321 ff.) und außerdem dem Parlamente für die Behandlung des Soldaten und für das Verhältnis der Militärgewalt zum Zivil verantwortlich war. Seit der Burke's Act von 1782, die auch schon oben (§ 46 I) in ihrer sonstigen organisatorischen Bedeutung gewürdigt worden, hatte er u. a. besonders die Vertretung des Militärbudgets vor dem Parlamente übernommen. Zeitweise wurde für einen Feldzug ein Commander in chief, der aber in den wichtigen Finanzfragen dem secretary at war untergeordnet war (Clode II, 201), bestellt. Mittels dieses Systems wurde die Heeresverwaltung das ganze 18. Jahrhundert hindurch geführt. Die Wende t r a t ein, als 1793 ein ständiger Commander in chief als A m t eingerichtet wurde, um der Ämterbewerbung durch die politischen Parteien, wie sie bisher namentlich unter der Leitung des secretary at war üblich gewesen, ein Ende zu machen (Army Administration in 3 Centuries b y Constitutionalist, London 1901, p. 14 f.) und die Disziplin in d.er Armee zu heben. Seit der Zeit bestand nunmehr die Doppelherrschaft in der Armee: das Bureau des Commander in chief, die horse guards und das war office. Dem secretary at war, dem bisherigen Alleinherrn des war office wurde nun ein besonderer Chef im Jahre 1794 aufgesetzt, nämlich ') Siehe mein englisches Staatsrecht, Bd. II, p. 119.

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der dritte Staatssekretär (secretary of war and colonies). Es handelte sich hierbei darum, für das war office einen Anschluß an das Kabinett zu erlangen. Von nun ab sollte nämlich der secretary at war diejenigen Weisungen, die für die Vorbereitung des Armee-Etats (army estimates) nötig waren, vom Kabinett durch Vermittlung des dritten Staatssekretärs erlangen. Jedenfalls war durch diese neue Organisation vieles im unklaren gelassen: einmal das Verhältnis zwischen dem neuen Staatssekretär und dem secretary at war, und sodann die Kompetenzabgrenzung zwischen dem letzteren und dem Commander in chief. Während die erste Frage nicht viel zu schaffen machte, weil der Staatssekretär viel zu sehr mit den Kolonien, die ebenfalls seiner Leitung überantwortet waren, beschäftigt war, wurde die zweite zum fortwährenden Gegenstand der Fehde zwischen secretary at war und Commander in chief, in dem jeder der Herr des andern sein wollte. Es begann das System der »dual control«. Dies dauerte bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. II. Die englische Miliz im Rahmen der englischen Heeresverfassung.

1. Nach der »glorreichen«Revolution war das stehende Heer in England ein Gegenstand großer Unbeliebtheit. Unter den ersten Königen aus dem Hause Hannover wurde es von den Jakobiten, d. i. den Anhängern der vertriebenen Stuarts, als unkonstitutionell aufs heftigste angegriffen 1 ). Man hoffte Von dieser Seite aus, durch Opposition eine Verringerung der englischen Streitkräfte herbeizuführen, um einem von Seiten der entthronten Dynastie etwa gemachten Einfall in England den Weg zu bahnen. Aber auch die herrschende Whigpartei konnte, so nötig sie auch zur Führung der kontinentalen Kriege eine stehende Armee brauchte, dieser nicht offenkundig das Wort reden. Das verbot schon die damalige konstitutionelle Doktrin. Hatten doch die Whigs in die Bill of rights die Klausel aufgenommen, daß eine stehende Armee prinzipiell im Lande nicht gehalten werden dürfte, es wäre denn mit Zustimmung des Parlaments. So wurden denn auch die regulär angeworbenen Truppen, was man damals stehende Armee nannte, vom Parlament höchst stiefmütterlich behandelt und infolgedessen von allen Seiten scheel angesehen. Zu der geringen Achtung, die ihr zuteil wurde, trug sie natürlich selbst bei, aber das Hauptmoment, das ihr Ansehen schmälerte, war die Tatsache, daß das Parlament die öffentlich rechtlichen Herrschaftsbeziehungen über die Armee und in der Armee in Abhängigkeitsverhältnisse umzusetzen bestrebt war, die nur der Geldbeutel schaffen konnte. Unter diesem Gesichtspunkt erklärt sich die Tatsache, • daß bis ins 19. Jahrhundert jedes Regiment gewissermaßen als Eigentum seines Obersten aufgefaßt wurde. Die Rekrutierung erfolgte, namentlich wenn Truppen angeworben werden sollten, meist auf die Weise, daß entweder einem unternehmenden Mann der höheren Gesellschaftsschichten das Patent eines Regimentsinhabers übertragen Siehe Fortescue II, p. 5 ff.

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wurde unter der Bedingung, daß er einen Heereshaufen um sich sammelte, oder in der Art, daß man Offizieren Beförderung unter der Bedingung versprach, daß sie eine Anzahl von Rekruten stellten. Auch materielle Vorteile ergaben sich aus der Art der Rekrutierung und Rekrutenbesoldung, denn den Sold und die Gelder für die Ausrüstung und Bekleidung seines Regiments erhielt der Oberst in Form einer Bausch- und Bogensumme 1 ). Seine Sache war es nun, möglichst billig das Menschenmaterial, die Rekruten, einzukaufen, und innerhalb gewisser Grenzen, die ihm das Gesetz auferlegte, versuchten er und seine Offiziere, mit den angeworbenen Rekruten handelseinig zu werden. Was er für die Zwecke der Ausrüstung des Regiments brauchte, beschaffte der Agent des Regiments, ein Zivilist, bei den Lieferanten durch Verwaltungsvertrag. Was von der Bausch- und Bogensumme nach Abzug aller dieser Kosten übrigblieb, war der Profit des Regimentsinhabers. Es war sein Stolz, daß das Regiment seinen Namen führte, aber mit diesen ideellen Vorteilen verband sich ein großes materielles Risiko. Jedes Regiment wurde nämlich als sich selbst genügende Truppeneinheit nach dem Prinzip der vollständigen Selbstbewirtschaftung betrachtet. Der ein Regiment organisierende Oberst erhielt allerdings ein sog. levy money, ein Aushebungsgeld, um Truppen anzuwerben. Es war jedoch gewöhnlich nicht ausreichend. Wenn Rekruten durch Desertion, Krankheit oder sonstiges Mißgeschick abgingen, so traf der Verlust einzig und allein den Inhaber des Regiments. Er mußte Ersatzrekruten stellen. So finden wir z. B. Klagen der Offiziere, die in Spanien während des Spanischen Erbfolgekrieges operierten, daß sie infolge der großen Sterblichkeit unter den Truppentransporten Ersatz schaffen müßten, der sie 8—9 Pfund Sterling für den Kopf des Rekruten kostete. In ähnlicher Weise fielen Verluste unter den Remonten dem kommandierenden Regimentsinhaber zur Last. Dem Regiment, das ist also dem Inhaber desselben, lag auch die Versorgung der Witwenpensionen ob. In jeder Regimentskompagnie war ein fiktiver Mann eingestellt, dessen Sold dazu diente, einen Regimentsfonds darzustellen, aus dem die Offizierswitwen versorgt wurden, das war der sog. widows man. Jedes Regiment war haftbar für die Schulden, die eines seiner Mitglieder kontrahiert hatte, entweder der Oberst oder ein Regimentsagent 2 ). In solchen Fällen half man sich damit, daß man mit Erlaubnis des Königs die erste beste Kompagnie zur Liquidation der Schulden an einen anderen Regimentsinhaber verkaufte, der eine solche Kompagnie gerade gebrauchte. Ganz so wie das Regiment als Eigentum des Regimentsobersten aufgefaßt, wurde, so galt das Offizierspatent selbst als Marktware. Die Veräußerlichkeit der Offizierspatente diente einerseits dazu, um auf dem Wege des dadurch gewonnenen Geldes Witwen und Waisen der gefallenen Offiziere zu versorgen, anderseits war es den Obersten möglich, Siehe Clode I, p. 74, 105; II, p. 2 - 6 . ) Das war ein Zivilist, der die Rechnungsgeschäfte des Regiments besorgte.

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H a t s c h e k , Engl. Verfassungsgeschichte.

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Offiziere aus andern Regimentern für ihr Regiment zu gewinnen, indem sie dem zu Verabschiedenden den Kaufpreis seines Offizierspatents als Entschädigung überantworteten. Es kam aber auch vor, daß, abgesehen von diesen vernünftigen Zwecken, für Kinder solche Offizierspatente gekauft wurden und ein offenbarer Mißbrauch mit einem öffentlichen Amt getrieben wurde. Diese ganze Umsetzung öffentlicher Herrschaftsbeziehungen in Abhängigkeitsverhältnisse, die durch Geld vermittelt werden, kam natürlich auch bei der Anwerbung von Truppen zu besonderer Geltung. Bei dem Mangel allgemeiner Wehrpflicht, der ja doch mit Rücksicht auf den Verfall der alten Landmiliz in England zu Beginn des 18. Jahrhunderts Tatsache war, ist es nicht zu verwundern, daß man angeworbene Rekruten nur um hohes Geld erhielt. Um dies nicht gleich verausgaben zu müssen, kam man schon 1703 unter der Königin Anna dazu, schwere Verbrecher zu pardonnieren, wenn sie sich als Truppen anwerben ließen. Im folgenden Jahr wurden alle insolventen Schuldner aus dem Gefängnis unter der gleichen Bedingung entlassen. Daneben erhielt sich natürlich das Pressen von Soldaten in alter Geltung. Erst wenn all diese Mittel versagten, griff man zu der Truppenanwerbung, wo man auf freien Willen rechnete; aber hohe Werbegelder, die am Ende des 18. Jahrhunderts die Höhe von 10—20 Pfund pro Kopf erreichten, mußten gezahlt werden. Die stehende Armee war ein notwendiges Übel, aber eben ein Übel, so wie sie zusammengesetzt und organisiert war. Es wurde noch verschlimmert durch die fortwährende Einflußnahme, die das Parlament auf die Armee auszuüben suchte. Jede Armeedisziplin war unmöglich, wenn man durch gute Verbindung beim secretary at war sich von der zudiktierten Militärstrafe befreien konnte, wenn man durch Verwendung bei diesem Beamten auf rasche Beförderung rechnen konnte. Deserteure wurden von den Zivilbehörden kaum ausgeliefert und die Protektion von Mitgliedern des Parlaments für die Leiter einer Meuterei, für Deserteure und andere in Anspruch genommen. Der Höhepunkt dieser militärischen Anarchie war wohl erreicht, wenn ein Mitglied des Parlaments ruhig seinen Sohn aus einem Regiment entfernte, ohne irgendwelche Erlaubnis einzuholen, nur um ihn in einem Handelsgeschäfte besser beschäftigen zu können. Der so häufig von Parlamentariern in Anspruch genommene secretary at war scheint auch die Geduld verloren zu haben, wenn er einmal dem Militärgericht empfiehlt, über den Deserteur lieber die Todesstrafe zu verhängen, da sonst irgendwelche parlamentarische Vermittlung sicherlich dem Verbrecher Pardon erwirken könnte 1 ). Man kann wohl sagen, daß die stehende Armee in den Tagen der ersten Könige aus dem Hause Hannover aus den angeführten Gründen eine wenig geachtete Rolle im Rahmen der übrigen Staatseinrichtungen ») Siehe Fortescue II, p. 2 1 - 2 6 .

§ 51.

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Englands hatte, trotzdem sowohl Georg I. als Georg II. viele Versuche unternahmen, Ordnung und Disziplin in das Heerwesen zu bringen. Namentlich schwebte ihnen beiden das preußische Vorbild vor 1 ). Diesem preußischen Vorbild dankt England auch die Reform seiner damals verfallenen Volksmiliz*). 2.

Die Form der allgemeinen Wehrpflicht, wie sie in England zuerst in grundlegender Weise durch die Milizakt von 1757 (30 Geo. II., c. 25) eingeführt worden, ruht nämlich auf dem Kantonreglement Friedrich Wilhelms I. von 1733. Eine bestimmte Anzahl von Rekruten wird durch Gesetz proportioneil nach der Bevölkerung auf die einzelnen Grafschaften verteilt. Rekrutenrollen aller waffenfähigen Männer zwischen dem 18. bis 50. Lebensjahre sind von den Kirchspielen anzulegen und dem Lordlieutenant der Grafschaft zu übersenden. Dieser verteilt dann die auf jede Grafschaft entfallende Quote unter die einzelnen Kirchspiele. Aus jeder Rekrutenliste wird nun durch Los die vorgeschriebene Zahl von Rekruten bestimmt. Man dient für drei Jahre und kann einen Stellvertreter dingen. Auch waren eine Anzahl von Exemtionen, unter anderem für Familienväter mit einer größeren Kinderzahl und für Personen, die bereits zwei Jahre gedient hatten und über 35 Jahre alt waren, gegeben. An die Substitution der Ausgehobenen wurde zunächst nicht gedacht, sondern man hoffte, daß jeder Mann, der so ausgehoben würde, drei Jahre dienen würde, um dann bis zur nächsten Aushebung durch das Los ruhig seinen Privatgeschäften nachgehen zu können. So sollte jeder waffenfähige Mann nach der Reihe darankommen. Aus den geschilderten Grundzügen ist wohl ersichtlich, daß zwei Hauptprinzipien der preußischen Militärverwaltung entlehnt worden waren; denn niemals zuvor finden sie sich in englischen Milizorganisationen. Diese Prinzipien sind die »Kantonierung«, das ist die Einrichtung von regulären Aushebungsbezirken, die in England die Grafschaften darstellten. Nur aus einem solchen Aushebungsbezirk durfte die Miliz der Grafschaft ihren Ersatz^ und zwar alle drei Jahre beziehen. Durch Einführung dieses Kantonprinzips wurde an Stelle der früheren Individualpflicht der Grundeigentümer und besitzenden Klassen die Kollektivpflicht der Grafschaft eingesetzt. Sodann wurde das Prinzip der allgemeinen Wehrpflicht zur Anerkennung gebracht. Daran ändert auch nichts die Tatsache, daß durch zahlreiche Exemtionen diese allgemeine Wehrpflicht in England ebenso wie in Preußen sehr in ihrer Wirksamkeit beeinträchtigt wurde. Das deutsche Heer und die englische Miliz haben demnach den gleichen Ausgangspunkt. Wie kommt es, daß jenes es auf eine so stolze Höhe gebracht, diese aber eine so verkümmerte Gestalt hat und zu immer neuen, unbefriedigenden Reformen Anlaß gibt ? Die Ant) Siehe Fortescue I I , 51 u. 592. ) Nachweis in meinem engl. Staatsrecht I I , S. 257 ff.

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wort ist, daß sich beide Wehrsysteme von dem gleichen Ausgangspunkt nach verschiedenen Richtungen bewegt haben. In Preußen bedeutete die Einführung des Kantonssystems, »daß der König die seinem monarchischen und militärischen Gefühle so widerwärtige Mitwirkung der Stände und Korporationen bei der Rekrutierung los wurde« (Lehmann, Historische Zeitschrift, Bd. 67, 271). In England sollte nach dem Willen der damaligen Gesetzgeber gerade das Gegenteil herbeigeführt werden: die vollständigste Beherrschung der Armee durch die Stände und das Parlament. Deshalb schwang sich die Miliz damals zu dem ihr seither erhaltenen Ansehen einer »konstitutionellen Wehrkraft« (constitutional force) auf. Dieser Absicht entsprach auch die vollständigste Unterordnung der Militärverwaltung unter das geldbewilligende Unterhaus, sodann die Abhängigkeit der Offiziersernennung und der Kommandogewalt vom Lordlieutenant jeder Grafschaft, was gleichbedeutend war mit der »Abhängigkeit von der landed gentry«, die die Lordlieutenantstellen ebenso wie die Bänke des Unter- und Oberhauses besetzte. Also gerade das Gegenteil von dem, was Friedrich Wilhelm I. anstrebte, war die Absicht der zeitgenössischen englischen Politiker: nicht »Los von den Ständen!«, sondern »Unter die Stände!« 3. So wurde die konstitutionelle Armee, die Miliz, eingerichtet. Ihre Feuerpobe sollte sie während der Napoleonischen Kriege bestehen, aber da zeigte sich die ganze Hinfälligkeit des Systems, das sich kurz in die Worte fassen läßt, die der Militärreformer Windham im Beginn des 19. Jahrhunderts gesprochen hatte: »Zwangsaushebung durch das Los (ballot) erzeugt Substitution in der Erfüllung der Wehrpflicht, und Substitution bewirkt immer höhere Werbeprämien.« Zunächst kam die Reform Addingtons. Neben den angeworbenen Regulärtruppen wurde die Miliz erhalten, aber durch Gesetz von 1801 die Substitution eingeführt. Die Militia Act von 1802 (42 Geo. III., c. 90) erhob dieses Substitutionssystem zur dauernden Grundlage der Heeresorganisation. Die danach wehrpflichtigen Männer wurden in fünf Klassen eingeteilt: a) Männer unter 30 Jahren und kinderlos. b) Männer über 30 Jahre und kinderlos. c) Alle Männer mit Kindern unter 14 Jahren. d) Männer mit Kindern über 14 Jahren. e) Männer mit 1 Kind unter 14 Jahren und schließlich alle übrigen. Diese fünf Gruppen wurden nacheinander aufgeboten derart, daß, wenn die notwendige Truppenzahl nicht durch das erste Aufgebot ausgefüllt war, die folgenden daran kamen. Ausgenommen von der Wehrpflicht waren Peers, Offiziere, die auf Wartegeld gestellt waren, alle übrigen Angehörigen der Regulärtruppen, Mitglieder der Universitäten, Geistliche, Lehrer, Konstabier u. a. Außerdem sog. arme Peräonen, die ein Vermögen im Werte von weniger als 100 £ besaßen und

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mehr als ein Kind hatten. Der Ausgehobene, der sog. principal, konnte sich vertreten lassen durch einen Substitute, den er entweder selbst bezahlte (personal Substitute) oder den das Kirchspiel für ihn ausfindig machte. Jeder wehrpflichtige Mann, der nicht ausgehoben war und nicht über 35 Jahre alt war, außerdem kein Kind unter 14 Jahren hatte, konnte sich als solcher Substitute anbieten. Zur Unterstützung ärmerer Bürger, die zwar ein Vermögen über 100 Pfund aber unter 500 Pfund hatten, sah das Gesetz (§ 122) vor, daß der Staat ihnen zu Hilfe käme, um einen Substituten ausfindig zu machen. Sie erhielten nämlich vom Staat die halbe Prämie, die zur Anwerbung eines Substituten notwendig war. Wehrpflichtig waren prinzipiell alle Personen vom 18. bis 45. Lebensjahr. Daß sie auch wirklich waffenfähig waren, war nicht erforderlich. Blinde, Taube, Idioten, Hand- und Fußlose waren wehrpflichtig, wenn das Los auf sie fiel und sie keinen Substituten stellen konnten. Die Exemtionen, welche zugunsten der Personen mit Kindern unter einem bestimmten Alter getroffen waren, wurden nur deshalb eingeführt, um zu verhindern, daß die Familien dieser ausgehobenen Milizleute dann doch der Armenunterstützung zur Last fielen, während ihre eigentlichen Versorger in der Miliz dienten. Die Wehrpflicht war unter diesen Verhältnissen eine Blutsteuer, die infolge der Armenkirchspiellast, die sie im Gefolge hatte, lokalen und persönlichen Charakter annahm, statt eine allgemeine Reichssteuer zu sein (Clode I, 289). Die Folge der Addingtonreformen und der Substitution war, daß Regulärarmee und Miliz auf dem Rekrutenmarkte sich gegenseitig Konkurrenz machten. Da immer höhere Werbeprämien bald von der einen, bald von der andern Seite der Werber bezahlt werden mußten, wurden weder die Regulärtruppen noch die Miliz vollzählig. Pitt versuchte in seiner Militärreform die Kirchspielbeamten selbst zu Werbeoffizieren iu machen, um die gegenseitige Konkurrenz auf dem Rekrutenmarkt, die sich Werber für die Regulärtruppen und Werber für die Miliztruppen machten, zu mildern. Doch auch dies war ohne Erfolg. Dann kam Windham, der den vernünftigen Grundsatz hatte, daß die Miliz das Endziel jeder Militärreform sein müßte und daß die ganze Nation in Waffen geübt sein müßte. Er stellte sich die Sache so vor, daß die Miliz als das Volk in Waffen eine Defensiv- und die angeworbene Regulärarmee eine Offensivtruppe sein sollte. Aber trotz dieses Reformversuchs blieb es bei dem alten Übel, daß die Vollzähligkeit sowohl der Miliz als auch der Regulärtruppe fehlte, indem sich die Rekruten gar nicht zur Anwerbung meldeten. Castlereagh schuf, indem er eine neue Truppe der Lokalmiliz aushob, die Substitution in der Miliz ab. Jeder Engländer im Alter von 18 bis 30 Jahren sollte zum Milizdienst durch vier Jahre verpflichtet sein und jährlich 28 Tage dienen. In den Zeiten der schwersten Not, in den Jahren 1812 und 1813, wo die Gefahr französischer Invasion so groß war, half diese Lokalmiliz notdürftig aus, um die Cadres der übrigen Generälmiliz und der Regulärtruppen zu unterstützen. Aber Castlereagh gestand selbst, daß dies auch die äußerste Anspannung englischer Waffenkraft und kaum

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auf die Dauer zu ertragen gewesen wäre, da er doch seit 1813 genötigt war, Knaben für seine Lokalmiliz zu rekrutieren. Alle diese Pläne waren nur augenblickliche Auskunftsmittel, niemals auf Dauer berechnet. Konnten sie es doch nicht sein, da der Urgrund alles Übels unangefochten blieb, die Auffassung, daß die Miliz die Hauptsache und das Werbeheer die Nebensache sei. Wenn man wenigstens den Milizgedanken ernstlich erfaßt hätte. Aber die Substitution war ein Krebsschaden, der immer höhere Werbeprämien kostete. Regulärtruppen und Miliz machten sich Konkurrenz auf dem Rekrutenmarkte. Man schuf schleunigst eine neue Truppe. Mag sie nun Armeereserve oder Supplementarmiliz oder Lokalmiliz geheißen haben, oder gar volunteers, immer machte sich das Grundübel bemerkbar: durch die Natur gebotene Herrschaftsverhältnisse in Geldabhängigkeit umzusetzen. Die neuen Truppenorganisationen, wie sie nun alle hießen, überboten sich gegenseitig an Begünstigungen, die den Rekruten zuteil werden sollten. Reichte angeworbene Regulärarmee und Miliz nicht aus, so schuf Addington eine Armeereserve. Sie unterschied sich von der eigentlichen Miliz nur dadurch, daß ihre Mitglieder die Erlaubnis erhielten, sich als Regulärtruppen anwerben zu lassen, was den Miliztruppen aufs strengste verboten war. Dann kamen die volunteers auf. Wir finden sie schon am Ausgang des 18. Jahrhunderts mit großen Privilegien gegenüber den andern Truppen ausgestattet. Dieses Chaos von gegenseitig sich aufhebenden Privilegien bewirkte, daß keine der Truppenarten effektiv wurde. Um nun eine Vorstellung von der großen Nachfrage nach Rekruten bei dem geringen Angebot von Menschenmaterial am Ausgang des 18. Jahrhunderts zu haben, genügt es, darauf hinzuweisen, daß Prämien über 20 Pfund für den Kopf des Rekruten gezahlt wurden. Versicherungsgesellschaften, die den einzelnen dagegen versichern sollten, daß er, im Falle das Aushebungslos auf ihn fiele, einen Substituten sich beschaffen müßte, machten sehr gute Geschäfte. Aber das interessanteste ist, daß bei dieser Hausse von Rekrutenmaterial mancher dadurch, daß er sich der ihm zugefallenen Erfüllung der Wehrpflicht entzog, noch Prämien vom Staate beanspruchte, wie dies folgender interessante Fall zeigt1). In der Stadt Blackburn hatten sich mehrere wechselseitig dagegen versichert, daß sie Substituten aufbringen müßten. Die Zahl der Rekruten, welche in dieser Stadt aufzubringen waren, betrug 36 Mann, die der Subskribenten, die sich so wechselseitig versichert hatten, war 512. Ein Beitrag von 1 Pfund pro Kopf der Subskribenten wurde als genügend aufgefaßt, um für den Fall, daß auf einen der Subskribenten das Los fallen sollte, ^für ihn einen Substituten ausfindig zu machen. 189 £ 16 s wurden auch in der Folge für 10 Substituten bezahlt, die nötig waren, um 10 der Subskribenten vom Kriegsdienst zu befreien. Nun bestand aber die Bestimmung der Milizakte von 1802, wonach eine Person mit einem Ver*) Fortescue, The Coiint-v Lietitenancies a. a. O. 42 f.

§ 5t.

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mögen von weniger als 100 Pfund berechtigt war, die Hälfte der Prämie f ü r den Substituten vom Staat einzufordern. Das taten nun die Subskribenten. Die Durchschnittsprämie, die für ihre Substituten bezahlt wurde, betrug 16—20 Pfund. Sie verlangten nun jeder 8—9 Pfund vom Staate herausgezahlt und hatten selbst bloß als Beitrag in der wechselseitigen Versicherung 1 Pfund gezahlt. Durch Stellung der Substituten wollten sie noch ein gutes Geschäft machen und durch ihre Transaktion 8—9 Pfund jeder vom Staat herausgezahlt bekommen. Die Zentralbehörden waren der Raserei nahe bei dem Gedanken, daß man durch solche Umgehung der Wehrpflicht noch ein Profitchen machen könnte. Aber es half ihnen nichts, denn die Kronjuristen rieten ihnen zu schweigen und zu zahlen. 4. So kam die Miliz in diesem Zustande ins 19. Jahrhundert hinüber. Seit dem Jahre 1815 kam die Zwangsaushebung durch Los (ballot) in Vergessenheit. Der eigentümliche Gegensatz zwischen Regulärtruppen und Miliz blieb aber erhalten. Die Möglichkeit, sich gegenseitig Konkurrenz auf dem Rekrutenmarkt zu machen, blieb bestehen, denn all dem lag zugrunde der Gegensatz zwischen Staatstruppen, als welche die Regulärtruppen angesehen wurden, und ständischen Truppen, als welche man doch die englische Miliz bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ansehen muß. Ständisch war zunächst der Armeebefehl über die Miliz. Seit der Milizreform von 1757 hatte die Krone bloß das Recht, die Vertreter des Lord-Lieutenant in der Grafschaft zu genehmigen, zu bestätigen und zu entlassen und auch die Offiziere zu entlassen. Der Lord-Lieutenant selbst war in der Grafschaft unabhängig von der Krone; er besaß ein Ehrenamt, gestützt auf Grundbesitz in der Grafschaft. Das Anstellungsrecht der Offiziere der Grafschaftsmiliz stand aber ihm zu und ebenso stand bei ihm das Anstellungsrecht seiner Stellvertreter, der Deputy-Lieutenants. Der LordLieutenant allein hatte die jährlichen Übungen zu bestimmen und das Kommando während dieser Zeit. Nur wenn die Miliz zur Kriegsbereitschaft einberufen wurde, durfte der König sie unter das Kommando eines seiner Generalbefehlshaber stellen. In diesem Zustand erhielt sich das Milizkommando bis zum Jahre 1852, und erst im Jahre 1871 wurden die Machtvollkommenheiten der Lord-Lieutenants der Krone übertragen. Ständisch war zunächst auch die Versorgung der Miliz mit Munition und die Ausrüstung der Truppe. Im Jahre 1757 wurde allerdings der Staatsschatz damit belastet, aber die Einrichtung von Vorratskammern und Arsenalen blieb Sache der Kirchspiele und wurde im Jahre 1786 auf die Grafschaften übertragen. Erst im Jahre 1871 wurden die Grafschaften von dieser Last befreit. Ständisch war die Gestellungspflicht der Rekruten. Durch die Reform von 1757 war das Kirchspiel als ganzes gestellungspflichtig. I m Jahre 1761 wurde den Grafschaften diese Pflicht unter Strafsanktion

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auferlegt; wenn sie ihre Quote, d. i. die Zahl der ihnen auferlegten Rekruten, nicht aufbrachten, mußten sie eine Strafe, anfangs 5 Pfund für den Kopf des fehlenden Rekruten, später sogar 60 Pfund bezahlen. Ständisch war schließlich die Auffassung, daß der Milizmann sich nicht unterstehen durfte, in die Regulärarmee einzutreten, denn das hätte ja die Zahl der von den Ständen aufzubringenden Mannschaften verringert, und der Ersatz konnte, wie wir wissen, nur um schweres Geld auf dem Rekrutenmarkt beschafft werden. An diesem Widerstreit von Staats- und ständischen Interessen trägt einzig und allein die parlamentarische Regierung Englands zu Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts schuld. Sie schuf die Vorstellung, daß die Miliztruppen die Hauptsache der englischen Heeresverfassung seien, sie ließ die ständige Werbearmee verkümmern auf Kosten einer Truppengattung, die selbst in den Händen der landed gentry, also derjenigen Personen war, die das Parlament in Ober- und Unterhaus beherrschten. Man kann nicht sagen, daß die landed gentry dabei sehr gut fuhr. Sie ächzte schwer unter den hohen Lasten der Werbeprämien, die ja doch im Effekt auf ihren Schultern lasteten, aber öffentlich-rechtliche Herrschaftsverhältnisse wollte sie nicht tragen. Sie wollte diese in Geldabhängigkeit umsetzen, erreichte ihr Ziel aber nur um den Preis hoher Geldsummen und nur unter Verzicht auf die Waffenfähigkeit der englischen Nation.

§ 52. Staat und Kirche. (Das sog. „establishment".) Literatur. Ch. J. A b b e y , The English Church and the English Bishops (1700—1800), London 1887. — A b b e y and O v e r t o n , History of the Church of England in the XVIII. Century, 2. ed., 1887. — G n e i s t , Englische Verfassungsgeschichte §47. — H a l i v y a . a . O . 367 ff. — M a k o w e r , Die Verfassung der Kirche von England, 1894. — M a y a. a. O. II, Kap. 12 — 14. — O v e r t o n J. H., The English Church in the XIX. Century, London 1898. — O v e r t o n and R e 11 o n , A History of the E. Church from the Accession of George I. to the End of theXVIII. Cent., London 1906. — C o r n i s h F. W., A History of the English Church in the XIX. Cent., part I, London 1910. — Die beiden letztgenannten Werke sind in der Sammlung History of the E. Church, herausg. von Stephens und Hunt, erschienen. — Report of the Commissioners appointed to inquire into the Constitution and Working of the Ecclesiastical Const. I (C. 3760) und II (C. 3760/61); Pari. Papers 1883, vol. XXIV. - W i l s o n F. W., The Importance of the Reign ot Queen Anne in English Church History, Oxford 1911. über die K a t h o l i k e n e m a n z i p a t i o n vergleiche namentlich M a y a. a. O. II., Kap. 13 f. — A m h e r s t W. J., History of Catholic Emancipation etc. 1771 — 1820, 2 vols, London 1886. — B r e n a n M. J., Ecclesiastical History of Ireland to 1829, Dublin 1864. — C o b b e t t W . , History of the Regency and Reign of Georg IV., London 1830. — D a v i s in Cambridge Modern History X. Bd., ch. XIX. — L e c k y , Democracy and liberty 1896 I., ch. VI und II, 1—12.—Proceedings of the Catholic Association from May 13. to Feb. 11. 1825, London 1825. — S h a w - L e f e v r G . J., Peel and O'Connell, London 1887.— W y s e , Historical Sketch of the Late Catholic Association of Ireland, 2 vols, London 1829. — Über die sog. Strafgesetze gegen die Katholiken: S t e p h e n , History of the Criminal Law of England, London II (1883), 483 ff. und A. O. M e y e r , England und die katholische Kirche unter Elisabeth und den Stuarts I (1911).

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Auch die englische Staatskirche mußte sich ganz dem parlamentarischen Regime dieser Epoche einfügen. Wir wissen, daß im Jahre 1664 der Klerus sein altes Recht, sich selbst in den Konvokationen zu besteuern, aufgegeben hatte, und seit der Zeit dem gemeinen Recht des Reichs in jeder Hinsicht Untertan war. Dafür erlangt er Anteilnahme an den Wahlen zum Parlament. Doch auch diese Entschädigung wurde zu Beginn des 19. Jahrhunderts, wie wir wissen, dem geistlichen Stande abgenommen. Das was aber dem Klerus als besonderen Stand erhalten, die Konvokation und ihre Rechte, vegetierte eine Zeit lang, als zu Beginn des 18. Jahrhunderts ihre Neubelebung versucht wurde. Zu dieser Zeit schrieb der Bischof von Rochester, Atterbury, ein Buch über die Rechte und Privilegien der Konvokationen. Nun begannen die Konvokationen dem Parlament unbequem zu werden, und es benutzte einen ganz unpassenden Vorwand, um den unbequemen Rivalen für lange Zeit tot zu machen. Im Jahre 1717 denunzierte nämlich das Unterhaus der Konvokation von Canterbury den Bischof von Bangor, daß er eine Predigt zugunsten religiöser Freiheit gehalten. Darauf vertagt das Ministerium die Konvokation plötzlich, und 135 Jahre hörte man nichts mehr von ihrem Zusammentritt. Sie wurde zwar regelmäßig einberufen, aber ebenso regelmäßig unmittelbar nach ihrem Zusammentritt vertagt. Erst im Jahre 1850 kam es zu einer wirklichen Tagung der Konvokation, und erst 1865 kam sie zu ihren alten Funktionen der Gesetzgebung für die Kirche. Hier zeigt sich ganz deutlich an einem typischen Beispiel die Art, wie das Parlament die Herrschaft über die Kirche führte, wie wenig es religiöse Freiheit achtete und wie sehr es durch seine Minister als Handlanger seines Willens die Staatskirche ganz in sein Schlepptau nahm. Ein anderes Beispiel für die Unterjochung des Kirchengedankens unter das Parteigetriebe ist der Widerstand, mit dem Walpole sich 1730 der damals versuchten Aufhebung der Testakte zur Emanzipation der dissenters widersetzte, ferner die Tatsache, daß er den Plan Berkeleys für die Einrichtung eines Episkopats in den amerikanischen Kolonien zunichte machte. Auch erhielt sich dieser Rechtzustand selbst nach der Thronbesteigung Georgs III., da ein kräftiger religiöser Zug, der auf Verinnerlichung des ganzen Kirchenlebens gerichtet war, durch das englische Volk ging. Nun aber trat die Verinnerlichung ein, die das englische Kirchenleben durch die Sekte der Methodisten unter Wesleys und Whitefields Führung erfuhr. Diese waren für das englische Kirchenleben ungefähr von derselben Bedeutung wie Spener und die Pietisten für das Luthertum. Wie diese das Luthertum aus seinen starren Formen zu neuem Leben erwecken wollten, so versuchten Wesley und Whitefield die Erstarrung der anglikanischen Staatskirche aufzuheben. Denn bis dahin hatte der Pfarrer der anglikanischen Staatskirche, wie seinerzeit in der angelsächsischen Eigenkirche, sein geistliches Amt wie einen Meierhof genutzt und angesehen. Die ihm durch sein Amt aufgegebenen Pflichten wurden mechanisch abgetan, und zwar möglichst rasch, damit der Pfarrer dann dem vornehmen Squire, dem Landedel-

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mann, nacheifern konnte. Die beiden Apostel der Methodisten suchten demgegenüber durch Predigt auf das Gefühl und die Frömmigkeit ihrer Zuhörer zu wirken und verwarfen das Parochialsystem als Grundlage der Kirchenverfassung. Links und rechts um die in Starrheit befindlichen Kirchengemeinden der anglikanischen Staatskirche wuchsen blühende Gemeinden der Methodisten. Statt daß das Parlament nun dieses blühende religiöse Leben außerhalb 1 ) der Staatskirche anerkannte, statt daß es die Religionsfreiheit zum Prinzip erhob, wurde den dissenters gegenüber, ebenso wie den Katholiken, an kleinlichen Beschränkungen der staatsbürgerlichen Rechte festgehalten. Wuchsen dann Ubelstände heran, die dringend nach Abhilfe schrien, so kam das Parlament mit kleinen Mitteln, die es allerdings in jeder Form vollständig beherrschte. Bald hob es ein zu strenges Strafgesetz gegen dissenters oder Katholiken auf, bald veranlaßte es seine Minister, die Gesetze gegen die nicht der Staatskirche angehörigen Staatsbürger weniger streng zu handhaben, Duldung und Nachsicht statt eifriger Verfolgung zu üben, bald das »non videt papa« zu spielen und die Dinge nicht zu sehen, bald aber auch, wenn es von einer Laune besonders beherrscht war, diese Strafgesetze mit unnachsichtiger Strenge zur Anwendung zu bringen. Dabei kümmerte man sich, wenn man gleich scheinbar die Interessen der Staatskirche durch Verfolgung der ihr nicht Angehörigen förderte, dennoch um die Staatskirche und ihr materielles Wohlbefinden gar nicht. Es gab keine Vermehrung der Kirchen entsprechend dem Anwachsen der Bevölkerung2), keine ordentlichen Kirchensteuern, die Kirchenländereien waren in argem Verfall, die Zehnten spielten die Hauptrolle bei der Versorgung des Klerus, und ungleich war das Los dieses Klerus. Da gab es fette Pfründen, aber nur für einige wenige Auserwählte, während die große Zahl des Klerus kümmerlich und elend von den unwillig gezahlten Zehnten leben mußte. Und wie unwillig wurden diese Zehnten gezahlt, da sie auch von jenen Staatsbürgern getragen werden mußten, welche nicht der anglikanischen Staatskirche angehörten! Das parlamentarische Regime hatte die Fesseln, die durch die Eigenkirche und später seit der Reformation durch die Staatskirche geschaffen waren, noch straffer angezogen als das alte und absolute Königtum, und nun mußte infolge der auf Verinnerlichung des Kirchenlebens gerichteten kirchlichen Strömungen (der Methodisten, später der sog. evangelicals) sowie der auf Trennung von Kirche und Staat hinzielenden Bestrebungen der utilitarischen Benthamiten die Reaktion eintreten. Sie bewegte sich nach dreifacher Richtung, welche auf Abschwächung des Staatskirchentums hinzielte: 1. mußte die Religionsfreiheit, das ist die Freiheit, sich mit andern zu freier Religionsübung zusammenzutun, sofern sie noch nicht vollständig gewährt war, den von ihr Ausgeschlossenen gewährt werden; ») Erst seit 1811. Siehe Hal6vy a. a. O. 392 f. ) Siehe dazu J. H. Overton and F. Relton, The English Church from the Accession of George I. to the End of the Eighteenth Century, London 1906, p. 228, 287. 2

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2. mußte die Gewissensfreiheit, das ist die Freiheit jedes einzelnen, ohne Beschränkung seiner bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte dem von ihm gewählten Glauben anzuhängen, besser garantiert und im einzelnen durchgeführt werden; 3. mußte die Staatskirche selbst in materieller Richtung auf eigene Füße gestellt werden, denn eine notwendige Konsequenz der Gewissensfreiheit war die Lockerung des Parochialzwangs innerhalb der anglikanischen Staatskirche und die Aufhebung der Fiktion, als ob jeder Staatsbürger, wenigstens vor dem Recht, mit seinem Vermögen und mit seinem Privatleben der Staatskirche Untertan wäre. 4. Nur in einem Punkte gelangte man in unserer Periode eher zu einer Verschärfung als zu einer Abschwächung des Staatskirchentums, nämlich bei der Ordnung der geistlichen Gerichtsbarkeit. I. Die Gewährung der Religionsfreiheit.

Strafgesetze waren es, welche seit der Zeit Elisabeths, wie wir wissen, einen andern Glauben als den der Staatskirche und einen andern Gottesdienst als den der Staatskirche in England verboten. Die Toleranzakte von 1689 hatte wenigstens den dissenters das Recht des privaten Gottesdienstes freigegeben, vorausgesetzt, daß sie den Untertitneneid und den Suprematieeid leisteten, die Erklärung gegen die Transsubstantiation unterschrieben, und unter der ferneren Voraussetzung, daß ihre Prediger die 39 Artikel, den englischen Katechismus, unterschrieben. Die den dissenters gewährte Glaubensfreiheit war schließlich in der Regierungszeit Georgs III. so sehr anerkannt, daß sie sich einer so mächtigen Korporation gegenüber wie der City von London mit Erfolg behaupten konnte. Die City von London verwendete nämlich die Corporation Act von 1661 zu einem Mittel der Erpressung gegen die dissenters: sie nahm dissenters, nachdem sie sie zuvor zum Amte des Sheriff gewählt hatte, dann in Geldstrafe, wenn sie die nach jenen erforderlichen Eide nicht leisten wollten. Das Gesetz erklärte sie ausdrücklich für nicht wählbar, und trotzdem nahm man sie in Strafe, weil sie das Amt, zu dem sie nicht wählbar waren, anzunehmen sich weigerten. Das Oberhaus als höchster Appellationsgerichtshof gab (1759) den dissenters recht und der City von London unrecht. Lord Mansfield sprach hierbei die denkwürdigen Worte: »Die Toleranzakte macht das, was früher ungesetzlich war, gesetzlich, das Gesetz gestattet den dissenters in ihrer Weise den Gottesdienst zu verrichten. Ihr Gottesdienst ist nicht allein vor Bestrafung gesichert, sondern erlaubt und gesetzlich; er ist anerkannt, nicht nur aus Nachsicht geduldet, sondern unter den Schutz des Gesetzes gestellt.« Im Jahre 1812 wurden die den Privatgottesdienst der dissenters beschränkenden Gesetze, nämlich die sog. Five Miles Akt und die Conventicle Act aufgehoben (52 Geo. III., c. 155). Soweit hatten es glücklich die dissenters gebracht, aber die Katholiken waren noch lange nicht so weit, sie unterlagen noch immer den strengen Strafbestimmungen, die zwar, wenn das Parlament gut ge-

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launt war, manchmal nicht kräftig gegen sie angewandt wurden, die aber doch immer zu Recht bestanden und über ihnen und ihrem Gottesdienste wie ein Damoklesschwert hingen. Die Gunst des Parlaments hatten sie nicht, weder die der Whigs noch die der Tories. Zu kleinlichen Mitteln mußte man greifen, um katholische Priester wegen des Messelesens oder wegen anderer Handlungen ihres Gottesdienstes nicht den schwersten Strafen jener Gesetze zu überantworten. Man wagte nicht sie zu begnadigen, weil man den Volksunwillen fürchtete, anderseits wagte man doch auch nicht sie zu verurteilen, weil die Minister auch ein Gewissen hatten. Manche Katholiken entgingen nur deshalb der gesetzlichen Strafe, weil sie die Denunzianten bestachen. Manchmal ließ sich auch das Parlament dazu herab, und das zeigt deutlich, wie despotisch es in jener Zeit über den Kirchengedanken verfügte, durch private act einen Katholiken vor dem nach dem Gesetz drohenden Verlust des Vermögens zu schützen. Als nun im Jahre 1778 einsichtsvolle englische Politiker sich für die Aufhebung der gegen die Katholiken gerichteten Strafbestimmungen aussprachen, gelanges im Jahre 1778 ein Gesetz (sog. Savile Act, 18Geo. Ill. r c. 60) durchzubringen, welches den Katholiken und ihren Gottesdiensten eine ähnliche Position, wie sie die dissenters bereits hatten, schaffen wollte. Die bisherigen Strafbestimmungen, insbesondere - diejenigen, welche lebenslängliches Gefängnis auf gottesdienstliche Handlung der Priester setzten, wurden abgeschafft. Nun aber erhob sich gegen dieses freisinnige Gesetz der Volksunwille, führte zu den sog. Gordon riots von denen wir schon gesprochen haben, und bewirkte, daß das Unterhaus in Form von Resolutionen Erläuterungen zu dem Gesetze vornahm, die nur als Konzessionen gegen den Volksunwillen aufzufassen sind und infolgedessen der Stellung des Unterhauses vollständig unwürdig erscheinen. Erst im Jahre 1791 wurde den Katholiken, welche eine besondere Form des allgemeinen Untertanen- und Suprematieeides leisteten, die völlige Freiheit des Gottesdienstes und des Unterrichts zugestanden (sog. Mitford Act, 31 Geo. III., c. 32). Gleichzeitig erhielten sie Befreiung von lästigen Beschränkungen ihres Besitztums, die Möglichkeit zur juristischen Laufbahn und, sofern sie Peers waren, ihr altes, seit Karl II. außer Brauch geratenes Privilegium des direkten Verkehrs mit dem Könige als seine erblichen Berater, aber freilich dadurch noch nicht das Recht, im Oberhause wieder Platz zu nehmen. II. Die Glaubens- und Gewissensfreiheit.

Das Recht der Gewissensfreiheit und die Freiheit vom Gewissenszwang, derauf die nicht der Staatskirche Angehörigen durch Beschränkung ihrer bürgerlichen Rechte ausgeübt wurde, kam in England verhältnismäßig spät zum Durchbruch. Es waren namentlich die beschränkenden Bestimmungen der Corporation Act und der Test Act, welche auch im 18. Jahrhundert für gewisse Stellen des bürgerlichen Beamtentums, des Heer- und Flottendienstes die Ableistung von Eiden verlangten. Von solchen Eiden waren auch die Ämter der Selbstverwaltung und Sita

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und Stimme im Parlament abhängig. Seitdem die dissenters und die Katholiken am Ausgang des 18. Jahrhunderts die Freiheit religiöser Übung erlangt hatten, verstummte nicht der Wunsch in ihnen auch von allen Beschränkungen, die ihr bürgerliches Leben belästigten, frei zu werden. Die häufigen (jährlichen) Indemnitätsgesetze zeigten, wie nutzlos es war,'auf der einen Seite die Ausübung von Ämtern an ein bestimmtes äußeres Bekenntnis, an einen Eid zu binden, der ja doch nicht abgelegt wurde, dessen Nichtablegung zu Strafbarkeit der Amtsinhaber hätte führen müssen, und auf der anderen Seite, die Strafbarkeit der Amtsinhaber durch Indemnität des Parlaments zu beheben. Im Jahre 1779 wurde endlich den dissenters gestattet, ohne Unterschreibung der 39 Artikel der anglikanischen Staatskirche zum Amt eines Predigers oder Schulmeisters zugelassen zu werden. Es wurde nur eine Erklärung der betreffenden Person verlangt, daß sie Christ, protestantischer dissenter sei und die Heilige Schrift als Grundlage des Glaubensbekenntnisses und des Handelns anerkenne. In demselben Jahre erging in England ein Gesetz, welches Protestanten, wenn gleich sie auch nicht das Sakrament nach dem Ritus der anglikanischen Staatskirche genommen hatten, zu Zivil- und Militärämtern den Zutritt gestattete. Die irische Gesetzgebung zeigte sich ebenfalls, namentlich am Vorabend der Vereinigung Irlands mit England, in religiösen Fragen sehr nachsichtig. Nach der Union sollte Irland der Hebel werden, durch den die Gewissensfreiheit in England überhaupt durchgeführt wurde. Denn eine der wichtigsten Zusicherungen, die man seinerzeit vor der Union Irland gegeben hatte, war die, daß die irischen Katholiken in der Union keinen strengeren Beschränkungen unterworfen sein sollten als vor der Union in dem selbständigen Königreich Irland. Pitt hatte dieses Versprechen gegeben, und Pitt mußte nun nach der Union, also nach 1801, Mittel und Wege finden, um dieses Versprechen wenigstens teilweise zu realisieren. Zunächst scheiterten alle seine Bestrebungen an dem Widerstand des Königs, und auch seine Nachfolger waren gegenüber dem Widerstand des Königs, der Volksmeinung und der Lords machtlos. Aber seit dieser Zeit ruhte die Frage nicht, und die Bewegung dauerte die nächsten 20—30 Jahre fort. Männer wie Fox, Grenville, Burdett, Plunket, Canning und John Russell auf englischer Seite und auf der Seite der irischen Katholiken namentlich Daniel O'Connell waren unermüdliche Vorkämpfer der Dissenters- und der Katholikenemanzipation. Zuerst «rfochten die dissenters den Sieg im Jahre 1828. John Russell nahm, nachdem die Sache der dissenters etwa 16 Jahre geruht hatte, diese wieder auf, zeigte das Widersinnige in dem geltenden Rechte, wonach die Zahl und Auswahl der Ämter, auf welche die Testakte sich bezöge, eigentlich prinzipienlos die eine oder andere Beamtenklasse träfe. Er wies ferner darauf hin, daß man auf die Mitwirkung der dissenters im Staatsamt nicht verzichten könnte, was ja am besten daraus hervorginge, daß die schweren Geldstrafen und anderen Strafbestimmungen, die die dissenters von der Übernahme

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aller jener Ämter zurückschrecken sollten, gar nicht zur Anwendung kämen. Wenn man von ihnen äußerliche Konformität mit dem Glauben der anglikanischen Kirche verlange, so entweihe man das Sakrament, das die anglikanische Kirche spende. Die Bill ging im Unterhause mit einer Mehrheit von 44 Stimmen durch, im Oberhaus wäre ihr aber ein lebhafter Widerstand begegnet, wenn nicht zuvor Peel, der damalige leitende Staatsmann, mit dem Erzbischof von Canterbury und anderen Staatsmännern in Verbindung getreten wäre, um sie zu bereden, der Bill zuzustimmen. Unter Mitwirkung der geistlichen Lords und durch ihre besondere Unterstützung wurde die Aufhebung der Corporation- und Test Act durchgesetzt (9 Geo. IV., c. 17). Im nächsten Jahre (1829) gelang der Sieg zugunsten der KatholikenEs ist das denkwürdige Jahr der Katholikenemanzipation in EnglandPeel und Wellington, die führenden Minister, verstanden es, nicht bloß ihre eigenen Parteianhänger, sondern auch den König zu der geplanten Maßregel zu überreden. Die Liberalen waren schon aus früherer Zeit von der Notwendigkeit der Aufhebung des Gewissenszwanges für Katholiken überzeugt. Das Emancipationsgesetz (10 Geo. IV., c. 27) eröffnete den Katholiken nach Ableistung eines neuen, an Stelle des Suprematieeides tretenden eidlichen Bekenntnisses den Zutritt zum Parlament, zu Gemeinde- und Richterämtern, ausgenommen natürlich zu Richterämtern bei den geistlichen Gerichtshöfen der Staatskirche, und zu den höchsten Staatsämtern. Die Stellung des Regenten, die des Kanzlers von England und Irland und des Lordlieutenants von Irland sollte, ebenso wie die eines englischen Premiers (First Lord of the treasury) ihnen unzugänglich sein. Gleichzeitig wurde aber den römisch-katholischen Bischöfen verboten, Titel existierender Bistümer anzunehmen. Jedoch wurde das früher als Kompensationsobjekt für die Krone geforderte Veto bei der Wahl irisch-katholischer Bischöfe nunmehr fallen gelassen.1) Die Jesuiten blieben aus dem Lande verbannt, und die vorhandenen Ordensklöster mußten sich einer Registrierung unterwerfen, eine Maßregel, die notwendig schien, um ihre Ausbreitung zu verhindern. Auch die Stellung der Juden wurde allmählich verbessert und führte schließlich zu ihrer Emanzipation und Gleichberechtigung mit den andern Staatsbürgern. Unter Edward I. 2 ) wurden die Juden (1290) aus England vertrieben 8 ); seit der Zeit Cromwells und auch schon vorher *) Die interessante Geschichte dieser Forderung bei Hal6vy a. a. O. 435 ff. *) Zur Geschichte der Juden und des Judenrechtes in England siehe: A. M. Hyamson, A History of the Jews in England, London 1908. — H. S. Q. Henriques, The Jews and the English Law, London 1908. — Lucien Wolf, The Jewry of the Restoration 1660—1664 (Transactions of the Jewish Historical Society of England VI, p. 5—33). — Jacobs, Jews of Angevin England. 4 ) Man streitet darüber, ob durch Gesetz (Theorie von Prynne) oder durch Synodalbeschluß (einer zu London abgehaltenen Synode) oder durch Verordnung des Königs (Theorie von Henriques a. a. O. p. 58 — 62). Lord Coke behauptet sogar, daß sie nicht vertrieben worden seien, sondern daß sie nur infolge des Zinsenverbots das Land freiwillig verlassen hätten.

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Staat und Kirche. (Das sog. „establishment".)

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wurden sie in England wieder geduldet, waren aber nicht formell berechtigt, sich in England niederzulassen. Ein Gesetz Jakobs I., das im Jahre 1610 erging und das seine Spitze hauptsächlich gegen die Katholiken richtete, hatte aber in der Folgezeit auch das Resultat, daß es Juden von der Naturalisation ausschloß, da es für jede Naturalisation eines Fremden die Empfangnahme des Sakraments nach dem Ritus der anglikanischen Staatskirche verlangte. Später traten wohl Erleichterungen ein, namentlich im Anschluß an das gesteigerte Handels- und Kolonialinteresse. So erließ z. B. ein Gesetz vom Jahre 1663 allen Fremden, welche sich in der Hanf- und Flachsmanufaktur hervortaten, die Notwendigkeit der Empfangnahme des Sakraments. Und im Jahre 1739 wurde dieselbe Konzession Juden und Protestanten gemacht, welche als Fremde sich in den amerikanischen Kolonien niedergelassen hatten. Im Jahre 1753 erging ein Gesetz, welches allen jüdischen Fremden die Möglichkeit gab, auch ohne Empfangnahme des Sakraments die parlamentarische Naturalisation, das ist die Naturalisation auf dem Wege des Gesetzes, zu erlangen. Dieses Gesetz (26 Geo. II., c. 26) war aber dem Volk so verhaßt und hatte die Volksmeinung so sehr gegen sich, daß sich die Minister beeilen mußten, es in der nächsten Session wieder aufheben zu lassen. Die Rechtsstellung der Juden war nun in der Folge die, daß sie, ähnlich wie die dissenters, mitunter zu städtischen Ämtern zugelassen wurden, aber vor der damit verbundenen Strafbarkeit nur dadurch geschützt werden konnten, daß alljährlich Indemnitätsgesetze zu ihren Gunsten ergingen. Als dann die dissenters durch die Akte vom Jahre 1828 ihre vollständige Gleichberechtigung mit den andern Staatsbürgern anglikanischer Konfession erlangten, waren die Juden in unangenehmer Isolierung, da sie nicht in der Lage waren, die nach der Emanzipationsakte von 1828 notwendige Erklärung, »on the true faith of a Christian« abzugeben. Erst im Jahre 1845 (8 und 9 Vict., c. 52) wurde diese Form der Erklärung in bezug auf die Ämter der Selbstverwaltung beseitigt, und wie dasselbe im Jahre 1858 für das Parlament geschah, haben wir oben1) dargestellt. III. Die Lockerung des Parochialzwangs und die Verselbständigung der anglikanischen Staatskirche gegenüber dem Staat.

Gewissensfreiheit ist im Prinzip leichter ausgesprochen und garantiert, als im Detail durchgeführt. Dies zeigte sich auch in England nach den verschiedenen Emanzipationsgesetzen, insbesondere der dissenters und Katholiken, denn noch immer lastete ein schwerer Parochialzwang auf den nicht der anglikanischen Staatskirche angehörigen Staatsbürgern, welcher diese von der Wiege bis zur Ehe und von der Ehe bis zur Bahre verfolgte. Uberall war auch für die nicht der Staatskirche Angehörigen die Mitwirkung des parochus proprius der anglikanischen Staatskirche nötig, um kirchlich-religiöse Handlungen, die mit dem >) Siehe § 44.

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IV. Abschnitt.

Die parlamentarische Monarchie.

bürgerlichen Recbtsleben der dissenters und Katholiken zusammenhingen, zu setzen. Zum mindesten war eine vorausgehende Zustimmung des parochus proprius der anglikanischen Staatskirche nötig, wenn -die Priester der Katholiken und dissenters kirchliche Handlungen ausüben wollten. Der Parochialzwang machte sich aber auch in der Weise geltend, daß dissenters und Katholiken zu den Kirchenzehnten der anglikanischen Staatskirche beitragen mußten. Nicht bloß, daß sie bei jeder Taufe, bei jeder Eheschließung, bei jedem Begräbnis die vorherige Erlaubnis des Priesters der anglikanischen Staatskirche erlangen mußten, sie hatten auch für seine Erhaltung und für die Erhaltung der Staatskirche zu sorgen. Hier war eine Lockerung des Parochialzwangs unvermeidlich, um nicht denselben weiter als Gewissenszwang fortbestehen zu lassen. Daher begann im Jahre 1836 nach langem Kampfe die Umwandlung und Ablösung der auf dem Grund und Boden haftenden Zehnten der anglikanischen Kirche (insbesondere durch Gesetz von 1836, 6 und 7 Will. IV., c. 71). Sodann erfolgte die Einführung der Zivilehe durch die Marriage Act von 1836