Gutes Tier – böser Mensch?: Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung [1 ed.] 9783666462757, 9783525462751

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Gutes Tier – böser Mensch?: Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung [1 ed.]
 9783666462757, 9783525462751

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Jürgen Körner

Gutes Tier – böser Mensch? Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung

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Jürgen Körner

Gutes Tier – böser Mensch? Psychologie der Mensch-Tier-Beziehung

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-666-46275-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Umschlagabbildung: Matej Kastelic/shutterstock.com © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: SchwabScantechnik, Göttingen

INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1 Wie kommunizieren Menschen mit Tieren? . . . . . . . . . . 15 2 Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung vom Mittelalter bis zur Neuzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mensch-Tier-Beziehung im frühen Mittelalter . . . . . . . Die materielle und soziale Situation des Menschen . . . . . Wie gingen die Menschen miteinander und mit ihren Tieren um? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mensch-Tier-Beziehung im frühen Mittelalter aus psychologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter . . . . . . . . . Die materielle und soziale Situation der Menschen . . . . . Der Umgang mit Tieren, Tierstrafen und Tierprozesse . Die Mensch-Tier-Beziehung im hohen und späten­ ­Mittelalter aus psychologischer Perspektive . . . . . . . . . . . Die Mensch-Tier-Beziehung in der Neuzeit . . . . . . . . . . . . . Renaissance, Aufklärung, Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hetztheater, Tierkämpfe und der lange Weg in die Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die neuzeitliche Mensch-Tier-Beziehung aus psychologischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19 23 23 27 31 33 33 38 45 57 58 62 65 5

3 Wie wir die Tiere verwenden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschen sind angewiesen auf den anderen . . . . . . . . . . . . . Unsere Beziehungen zu den Tieren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie und wozu verwenden wir die Tiere? . . . . . . . . . . . . . . . .

71 71 80 84

4 Die Mensch-Tier-Differenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 Die Mensch-Tier-Differenz – vom Menschen aus betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Grenzen des Verstehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97 Tiere sind anders . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Die Mensch-Tier-Differenz – vom Tiere aus vermessen . . . 119 Die »Intelligenz« der Bienen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 Sinnesleistungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Orientierungsleistungen der Wandertiere . . . . . . . . . . . . . 127 Ein kurzer Blick zurück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 5 Warum sollen wir Tiere achten und lieben? . . . . . . . . . . . Metaphysische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . … weil sie Geschöpfe Gottes sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . … weil sie eine eigene Würde oder einen »inhärenten Wert« besitzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . »Empirische« Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . … weil sie leiden können: Utilitarismus . . . . . . . . . . . . . . … weil sie Subjekte sind, Wünsche hegen, Absichten verfolgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anthropozentrische Konzepte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . … weil sie uns nützlich sind . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . … weil wir ein »natürliches« Mitleid empfinden . . . . . . . … weil wir es uns selbst schuldig sind: Tugendethik . . . .

133 135 135 137 140 141 145 148 149 152 160

6 Versuch einer altruistischen Ethik der Mensch-Tier-Beziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Wie lässt sich eine Ethik der Mensch-Tier-Beziehung begründen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung aus psychologischer Perspektive im Überblick . . . . . . . . . . . . . . . 171 6

 Inhalt

Die Licht- und Schattenseiten sozialkognitiver Kompetenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die einseitige Verwendung des Tieres in der Tierliebe . . . . Wie weit reicht unsere Tierliebe? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Wie wird eine altruistische (Tier-)Liebe möglich? . . . . . . . . Was ist Altruismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Menschlicher Altruismus gegenüber Tieren – worauf gründen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eine ästhetisch begründete altruistische Mensch-Tier-­ Beziehung und das Konzept der Alterität . . . . . . . . . . . . . . . .

174 181 183 189 189 197 210

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217

Inhalt

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VORWORT

Als ich vor mehr als zwanzig Jahren schon einmal ein Buch über die Mensch-Tier-Beziehung schrieb (Körner, 1996), bewegte mich die Frage, was einen halbwegs vernünftigen Menschen dazu bringen könnte, sich dem Diktat seiner Haustiere – damals waren es zwei schwer erziehbare Windhunde – zu unterwerfen und sich in der Freizeitgestaltung, der Wahl des Ferienortes und des Familienautos ganz nach ihnen zu richten. Die Tierliebe war mir schon damals ein Rätsel. Die zahlreichen Tierfreunde um mich herum aber dachten und denken wohl anders: Für sie ist die Tierliebe eine natürliche menschliche Regung, über die nachzudenken sich kaum lohnt und deren Motive trotz der häufig bizarren Formen unseres Umgangs mit Tieren auch nicht in Zweifel gezogen werden sollten. Die Zahl dieser eingefleischten Tierliebhaber ist in den letzten Jahren stark gewachsen, und weltweit nehmen die Anhänger der Tierschutz- und Tierrechtsbewegungen sichtbar und hörbar zu. Immer mehr Menschen entscheiden sich heute aus Gründen des Tierschutzes auch für eine vegetarische oder vegane Ernährung. Diese Bewegung wurde zunächst von den Intellektuellen der oberen Mittelschicht getragen, aber sie pflanzt sich fort, sodass heute auch die Lebensmitteldiscounter, die ja vor allem mit ihren niedrigen Preisen werben, immer größere Regalflächen für die teureren Bioprodukte und sogar veganes Soja-»Fleisch« und »Veggi-­Schnitzel« bereitstellen. 9

Auf der anderen Seite wirken einflussreiche ökonomische Interessen auf eine Fortentwicklung der industriellen Nutztierhaltung ein und zielen darauf, die Nutztiere über selektive Züchtungen immer besser an eigentlich schwer erträgliche Haltungsbedingungen anzupassen. Wir müssen heute befürchten, dass genetisch manipulierte Nutztiere zukünftig so bedürfnislos sein werden, dass wir ihnen die schlimmsten Haltungsbedingungen zumuten können, womit sich dann die Frage nach der Artgerechtigkeit in der Tierhaltung erledigt haben könnte. Zyniker könnten schon jetzt darauf hinweisen, dass ein Masthähnchen, das nicht nach 36 Tagen geschlachtet wird, ja nur qualvoll weiterleben könne, weil es ihm gar nicht mehr möglich sei, mit seiner überdimensionierten Brust im Gleichgewicht zu bleiben. Die Diskussion über den rechten Umgang mit den Tieren hat in der Öffentlichkeit an Bedeutung gewonnen, und die Auseinandersetzungen darüber sind schärfer geworden. Dabei haben sich auch aufseiten der Tierfreunde längst Fronten gebildet zwischen den traditionellen Tierschützern, die sich auf die Ziele des Artenschutzes beschränken und radikaleren Anhängern etwa der Tierrechtsbewegung, die jede Indienstnahme der Tiere für menschliche Interessen überhaupt ablehnen. Aber es gibt bei allen Differenzen in der Reichweite und Radikalität der Forderungen doch auch Gemeinsamkeiten: Viele Tierfreunde lehnen es ab, grundlegende Unterschiede zwischen Menschen und Tieren anzuerkennen, sei es im Hinblick auf die Intelligenz, die moralische Urteilsfähigkeit, das Sprachvermögen, das Bewusstsein oder gar das Selbstbewusstsein. Viele Autoren vermenschlichen die Tiere, indem sie ihnen Attribute wie Würde oder Persönlichkeit zuschreiben, und fordern dann folgerichtig, dass wir den Tieren ähnliche Rechte wie den Menschen zuerkennen sollten. Auch dann, wenn die Mensch-Tier-Differenz beim besten Willen nicht zu leugnen ist, etwa im Symbolisierungsvermögen oder in der Fähigkeit, kulturelle Errungenschaften über die Sprache weiterzugeben und fortzuentwickeln, sollten diese Unterschiede nicht als Überlegenheit des Menschen verstanden werden. Vertreter der Tierrechtsbewegung legen großen Wert auf die »Augenhöhe« von Tier und Mensch, und die radikaleren unter ihnen gehen noch einen 10

Vorwort

großen Schritt weiter: Für sie steht fest, dass der Auftritt des Menschen in der Evolution nur Unglück über die Tiere und die Natur überhaupt brachte. Da wird eine tiefe Spaltung sichtbar: gutes Tier – böser Mensch. Eine zweite, unter Tierschützern weitverbreitete Überzeugung behauptet, es sei eine »natürliche« Neigung des Menschen, achtsam und sogar empathisch mit Tieren umzugehen. Erst der moderne Mensch, so die Annahme, sei den Tieren entfremdet und habe deren rücksichtslose Ausbeutung möglich gemacht. Der mittelalterliche Mensch hingegen habe noch im friedlichen Einklang mit der Natur und den Tieren gelebt. Diese Vorstellung, die wohl an das Paradies erinnern soll, ist falsch, wie noch zu zeigen sein wird. Die Wahrheit ist: Der einfache Mensch des europäischen Mittelalters (6. Jahrhundert bis Mitte des 15. Jahrhunderts) war vielleicht nur selten grausam, aber er ging aus heutiger Sicht herzlos mit seinen Nutztieren um (Heimtiere wie Papageien oder Schoßhunde gab es nur in höfischen Kreisen). Es fiel ihm nicht ein, Mitleid mit einem leidenden Tier zu empfinden, aber das war damals in der Beziehung der Menschen untereinander oder zu ihren Kindern auch nicht viel anders. Die Tierliebe des modernen Menschen, wie sie uns allgegenwärtig ist, trat erst im 19. Jahrhundert, in der Zeit der deutschen Romantik auf. Erst dann nämlich wurden sich die Menschen ihrer Getrenntheit von den Tieren und überhaupt von der Natur schmerzlich bewusst, aber sie verstanden es, mithilfe ihrer erst kurz zuvor entwickelten kognitiven Fähigkeiten der Perspektivenübernahme und der Empathie, diese Distanz in der Phantasie zu überbrücken: Sie fühlten sich in die Tiere ein und empfanden Mitleid mit ihnen. Das war der Ursprung der Tierliebe, wie sie aktuell in der westlichen Zivilisation vorherrscht. Die heute verbreitete Überzeugung von der »natürlichen« Tierliebe des Menschen und zum Teil auch die Ablehnung jeglicher Sonderstellung des Menschen gegenüber dem Tier, verbunden mit einer Idealisierung der Tiere, werden in der Regel nicht begründet. Sie sind auch nicht begründbar; es genügt ja, wenn sich die Menschen darauf verständigen, dass z. B. Säugetiere eine »Würde« Vorwort

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besitzen oder Hunde »beseelt« sind. Ob diese Aussagen wahr oder falsch sind, lässt sich gar nicht klären, ebenso wenig wie die ethische Maxime, dass die »Würde des Menschen unantastbar« sei. Denn dieser Satz ist gar nicht empirisch gemeint; als Tatsachenbehauptung wäre er ganz unsinnig. Aus einer psychologischen, insbesondere aus einer psychoanalytischen Perspektive ist es aber interessant zu untersuchen, welche bewussten und unbewussten Motive den neuzeitlichen Menschen bewogen haben, die Tiere derart zu idealisieren und sie mit menschlichen Eigenschaften auszustatten. Wie und wozu verwendet der Mensch seine Tiere heute? Was projiziert er in sie hinein, und welche seiner Bedürfnisse sollen sie ihm befriedigen? Lieben wir die Tiere vielleicht deswegen, weil sie »für uns« da zu sein haben? Das wäre eine wahrlich egozentrische Verwendung. Und ist das Mitleid mit Tieren wirklich eine angeborene Tugend? Diese Fragen zielen nicht auf eine moralische Bewertung, auch wenn es ernüchternd sein mag, einzusehen, dass wir die Treue unseres Hundes vielleicht deswegen so lieben, weil wir selbst von den Menschen so enttäuscht sind, und dass wir seinen Gehorsam so schätzen, weil sonst niemand auf uns hören will. Wir brauchen uns auch nicht länger einzubilden, dass es dem Elefanten Spaß macht, im Zirkus auf einem kleinen Hocker zu sitzen oder dass der Gorilla im Zoo gerne bestaunt wird. Derartige Rationalisierungen aufzuklären, könnte helfen, die egozentrische Verwendung der Tiere zurückzunehmen. Dieses Buch wendet sich an Leser, für die es vielleicht selbstverständlich ist, Tiere achtsam zu behandeln, die auch nicht unbedingt nach weiteren Gründen suchen, warum man tierlieb sein sollte, die aber die Tierliebe mit einem gewissen Abstand als zeitgeschichtliches Phänomen betrachten wollen. Vielleicht ist ihnen die moralisierende Attitüde der radikalen Tierschützer ebenso suspekt, wie es die oft bizarren Auswüchse der Tierliebe sein können. Gerade in diesen Übertreibungen und der auf beiden Seiten ungehemmten Neigung, die Tiere zu vermenschlichen und zugleich für sich zu verwenden, erscheint ja wohl weniger eine »natürliche« Achtung vor dem Tier, sondern eher ein Zivilisationssymptom eines von der Natur entfremdeten Menschen. 12

Vorwort

Die Distanz zu den Tieren anzuerkennen und auch die Sonderstellung des Menschen wahrzunehmen, muss nun keineswegs zu einer herablassenden Haltung führen. Unsere Fähigkeiten zu moralischem Urteil und bewusst verantwortungsvollem Handeln erheben uns ja nicht über das Tier – zumal wir auf das mit diesen Fähigkeiten Erreichte nicht sehr stolz sein können –, sondern sie laden uns eine hohe Verantwortung auf. Die Tiere können in unserer Welt nur sehr begrenzt für sich sorgen, das ist unsere Aufgabe: Tierschutz ist Menschensache. Immer verwenden wir die Tiere, auch in der Tierliebe. Aber es könnte ein Ziel sein, die Tiere so weit wie möglich aus der Verwendung für uns zu entlassen. Wir könnten aufhören, sie dafür zu lieben, dass sie für uns da sind, und versuchen, sie um ihrer selbst willen zu lieben und zu achten und sie in ihrer Formenvielfalt, ihren phantastischen Sinnes- und Orientierungsleistungen zu bewundern. Das wäre der Versuch einer nicht anthropozentrischen, altruistischen Begründung des achtungsvollen Umgangs mit Tieren. Die Maxime lautete dann also: Wir lieben die Tiere nicht deswegen, weil sie uns so ähnlich sind, sondern weil sie ganz anders sind und in einer ganz eigenen Welt leben. Und wir lieben sie auch nicht deshalb, weil sie für uns da sind, sondern geradezu, weil sie uns entzogen sind, für uns unzugänglich, aber in einer faszinierenden Vielgestaltigkeit und ästhetischen Schönheit. Wir müssen Tiere durchaus nicht vermenschlichen, um achtungsvoll mit ihnen umzugehen.

Vorwort

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  WIE KOMMUNIZIEREN MENSCHEN MIT TIEREN?

Viele Menschen sind sich heute sicher, dass sie die Gefühle ihres Haustieres unmittelbar erfassen. Sie erkennen, so glauben sie, dass ihr Hund traurig ist oder Angst hat. Sie wissen, dass sein gesträubtes Nackenfell Aggressivität signalisiert, wie auch der Pferdebesitzer weiß, dass er besser Abstand hält, wenn das Pferd die Ohren anlegt. In allen diesen Fällen haben die Menschen »nur« gelernt, das Verhalten und insbesondere die Mimik der Tiere zu deuten, aber sie irren sich, wenn sie glauben, dass sie sich vom Affekt ihres Tiers unmittelbar »anstecken« lassen. Affektansteckung ist unter Menschen wie auch zwischen Tieren eine angeborene Form der gefühlshaften Kommunikation. Säuglinge werden mit dieser Fähigkeit geboren, sie sind sogar besonders sensibel darin, Stimmungen ihrer Bezugspersonen zu erfassen. Schon wenige Stunden nach der Geburt imitieren sie spontan mimische Ausdrücke anderer Menschen. Zweifellos fördert die Affektansteckung eine frühe Bindung an die Bezugspersonen, wenn auch zunächst nur in dieser reflexhaften, unwillkürlichen Form. Säuglinge spiegeln in ihrer frühen Entwicklung die Affekte ihrer Beziehungspersonen, aber sie »haben« sie noch nicht in dem Sinne, wie ein vielleicht vierjähriges Kind denken kann: Ich weiß, dass ich mich jetzt freue und lächele. Affektansteckung ist also ein angeborenes Resonanzphänomen. Ein bildhafter Vergleich: Wenn man einen Ton auf dem Klavier anschlägt, wird das daneben stehende Cello im gleichen Ton mit15

schwingen. Ganz analog können wir uns z. B. von der Traurigkeit eines anderen »anstecken« lassen. Derartige Ansteckungsphänomene lassen sich in Massenveranstaltungen, etwa im Fußball­stadion beobachten. Man kann in seiner Affektansteckung eigentlich nicht fehlgehen (auch das Cello neben dem Klavier kann sich nicht irren). Man kann allerdings versuchen, seine Bereitschaft zur Affektansteckung zu dämpfen. Nicht wenigen Menschen wird z. B. unbehaglich, wenn sie traurige Gefühle empfinden, und sie vermeiden es, sich von der Trauer eines anderen »anstecken« zu lassen. Das ist, wie wenn sie ihre Resonanzbereitschaft auf dieser »Frequenz Traurigkeit« dämpften, ähnlich wie man das Mitschwingen des Cellos dämpfen kann, indem man die Hand auf dessen Resonanzboden legt. Denn das ist die Voraussetzung für das Resonanzphänomen Affektansteckung: Dass ich mich vor dem Affekt, den ich beim anderen wahrnehme, selbst nicht fürchte und meine Resonanz nicht unbewusst verhindere. Voraussetzung, sich vom Affekt eines anderen »anstecken« zu lassen, ist allerdings auch eine eigene hinreichende Affektdifferenzierung. Dazu muss das kleine Kind erlebt haben, dass seine nahen Bezugspersonen seine Affekte spiegeln und ihm helfen, die eigenen Affekte und die der anderen zunehmend differenziert wahrzunehmen. Eine Mutter etwa, die vielleicht aufgrund ihrer schweren Depression nicht fähig ist, die Affekte ihres Kindes zu beantworten und zu benennen, behindert die Affektdifferenzierung ihres Kindes nachhaltig. Unter sozial lebenden Tieren ist Affektansteckung sehr verbreitet, man spricht in der Ethologie von »Stimmungsübertragung« und denkt z. B. an einen auffliegenden Vogelschwarm oder an ein Rudel von Wölfen, die sich gegenseitig in Jagdstimmung bringen. Affekt­ansteckung dient also der Synchronisierung des Verhaltens von Rudeltieren. Affektansteckung (Stimmungsübertragung) ist aber nur innerartlich wirksam. Eine Katze etwa lässt sich vom Jagdgebell eines Hundes nicht anstecken und auch nicht vom Quieken einer gefangenen Maus. Tiere können zwar lernen, die Affektausdrücke anderer Tierarten für sich auszuwerten. Zum Beispiel können die Warnrufe des 16

Wie kommunizieren Menschen mit Tieren?

Eichelhähers bei Rehen eine Fluchtbereitschaft auslösen. Und wenn unsere Katze sich dem Hund, der über seinem Fressnapf gebeugt stand, näherte, hörte sie sein leises Knurren und zog ihre (richtigen) Schlüsse daraus, obwohl in der Katzenwelt ja gar nicht geknurrt wird. Vermutlich handelt es sich in diesen Fällen aber nicht um eine angeborene Reaktion, also auch nicht um Affektansteckung, sondern um Ergebnisse von individuellen Lernprozessen. Auch wir müssen erst lernen, dass Pferde dadurch drohen, dass sie ihre Ohren flach nach hinten anlegen, wir »wissen« es nicht intuitiv. Und das Pferd kann sich natürlich nicht vorstellen, dass wir seine Drohgebärde nicht verstehen. Weil Affektansteckung nur innerartlich vorkommt, ist es auch nicht möglich, dass wir Menschen uns vom Affekt eines Tieres ohne Weiteres »anstecken« lassen. Zwar können wir uns einbilden, nachzufühlen, wie unserem Hund gerade zumute ist – nahezu jeder Hundebesitzer glaubt das –, aber das ist ein Irrtum. In Wahrheit fühlen wir nicht unmittelbar, was in Tieren vor sich geht. Es gibt also keine »natürliche« Form der Stimmungsübertragung zwischen Tieren und Menschen. Aber Lerneffekte wie die vom Reh und dem Eichelhäher gibt es in der Mensch-Tier-Beziehung allemal: Haustiere, insbesondere Hunde und Katzen, lernen sehr rasch die Stimmungslage ihrer menschlichen Bezugspersonen für sich auszuwerten. In ihrer Aufmerksamkeit für kleinste Signale etwa der menschlichen Mimik sind sie uns vermutlich sogar turmhoch überlegen. Dass Menschen sich vom Affektausdruck eines Tieres nicht anstecken lassen, kann man im Verhalten von kleinen Kindern erkennen. Sie lassen sich vom Zappeln eines Insekts, dessen Inneres sie inspizieren, nicht berühren. Deswegen müssen die Erwachsenen Kinder mit dem Spruch ermahnen: »Quäle nie ein Tier zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz!« Diese Ermahnung fordert das Kind auf, Einfühlungsvermögen, also Empathie zu entwickeln. Das wird dem Kind frühestens ab dem dritten Lebensjahr möglich sein, denn die Empathiefähigkeit setzt einige kognitive Kompetenzen voraus: Das Kind muss ein reflexives Ich-Bewusstsein entwickelt haben und es muss fähig sein, die PerWie kommunizieren Menschen mit Tieren?

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spektive anderer Menschen zu übernehmen, sich z. B. also einzufühlen in die Traurigkeit eines anderen, auch wenn es selbst nicht traurig ist. Ob seine Einfühlung die Traurigkeit des anderen richtig abbildet, bleibt aber ungewiss, denn der Empathie liegt immer ein subjekthafter, egozentrischer Entwurf zugrunde. Genau genommen fragt sich nämlich das Kind nur: »Was würde ich fühlen anstelle des anderen?« Unsere Versuche, uns in andere einzufühlen, haben wir längst nicht mehr nur auf Menschen begrenzt. Wir glauben, uns nicht nur in andere Menschen, sondern auch in Tiere (vielleicht sogar in Pflanzen) einfühlen zu können, und denken gar nicht daran, nachzuprüfen, ob wir mit unserem empathischen Entwurf die Innenwelt eines Tieres richtig erfassen. Das wäre erstens auch gar nicht nötig, denn, wie wir gesehen haben, bleiben wir in unserem Einfühlungsvermögen sowieso ganz bei uns, und zweitens wäre es wohl kaum möglich, denn wir wissen nun einmal nichts über das Innenleben der Tiere.

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Wie kommunizieren Menschen mit Tieren?

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 GESCHICHTE DER MENSCH-TIERBEZIEHUNG VOM MITTELALTER BIS ZUR NEUZEIT

Die Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung ist ein Thema der Historischen Anthropologie. Sie wird nur verständlich im Kontext der sozialen und kulturellen Entwicklung, vor dem Hintergrund der sich ändernden materiellen Lebensverhältnisse, in denen die Menschen lebten und die die Entfaltung des reflexiven und empathischen Subjektes im Laufe der vergangenen Jahrhunderte ermöglichten. Die Tierliebe, wie wir sie heute kennen – mit unzähligen Heimtieren, Tierschutzvereinen und einem modernen Tierschutzgesetz –, wurzelt in geistigen Bewegungen des 19. Jahrhunderts. Aber es ist aufschlussreich, die Entwicklung der Mensch-Tier-Beziehungen bis ins Mittelalter zurückzuverfolgen und durch die Jahrhunderte zu rekonstruieren. Ich beginne mit der Zeit des frühen Mittelalters in Mitteleuropa (6. bis Anfang des 11. Jahrhunderts). Die Quellen, die uns aus dieser Zeit zur Verfügung stehen, illustrieren vor allem, wie in höfischen Kreisen schon damals Tiere zum Zeitvertreib gehalten wurden: Papageien, Affen, und in größerer Zahl auch Greifvögel, Hunde und Pferde für die Jagd. Aber das Verhältnis der höfischen Damen und Herren zu diesen Tieren war absolut nicht gleichzusetzen mit dem Umgang des gemeinen Volkes mit seinen Nutztieren. Mehr als 90 % der Bevölkerung des 9. und 10. Jahrhunderts in Mitteleuropa lebten auf dem Land und von der Landwirtschaft (Schneider, 2006, S. 26), und deren Beziehung zu Tieren war völlig anders als in den höfischen Kreisen: Man lebte in großer räumlicher Nähe zueinander, und die Menschen 19

gingen mit Tieren um, wie es ihnen nützlich erschien. Selbstverständlich wurden sie geschlachtet und gegessen, wenn sie alt genug waren. Aus heutiger Sicht war es ein achtloser, gleichgültiger Umgang mit den Tieren, aber wohl nur in wenigen Fällen ein sadistischer. Das Mittelalter wird rückblickend zuweilen verklärt, so als lebten Mensch und Tier damals noch im Einklang miteinander. Das sind Rückprojektionen in eine vermeintlich idyllische Zeit, die es so nie gab. In ihnen erscheint der Traum des entfremdeten Menschen von heute, der sich so sehr wünscht, einträchtig mit der Natur leben zu können, vielleicht sogar die Idee verfolgt, dass es der guten Natur sehr viel besser ginge, wenn es den bösen Menschen gar nicht gäbe. Die Mensch-Tier-Beziehung hat sich seit der Zeit des Frühen Mittelalters sehr gewandelt. Es sind vielleicht nur vierzig Generationen, die uns heute von jener Epoche trennen, aber in dieser Zeit ist sehr viel geschehen. Davon handelt das nun folgende Kapitel: Wie sich im hohen Mittelalter (1000 bis 1250) im Zuge der »agrarischen Revolution« die materiellen und sozialen Lebensverhältnisse radikal verbesserten, wie sich die Anfänge des modernen, reflexiven Subjektes entwickelten, und wie sich damit auch das Verhältnis zum Tier wandelte; welchen Einfluss das Christentum nahm, und wie sich das Mensch-Tier-Verhältnis in der Renaissance, in der Zeit der Aufklärung und in der deutschen Romantik abermals veränderte. Wir werden also die Entwicklungsschritte nachvollziehen, welche die Menschen Mitteleuropas vom frühen Mittelalter bis zur Neuzeit in ihren Beziehungen untereinander und zu den Tieren durchwandert haben. Wir werden sehen, dass die sozialkognitiven Kompetenzen, die für uns heute selbstverständlich sind, dem frühmittelalterlichen Menschen nur in geringem Maße zur Verfügung standen: Die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in einen anderen Menschen hineinzuversetzen, seine Welt mit seinen Augen, aus seiner Perspektive zu betrachten. Es fällt uns schwer, uns diesen frühen Entwicklungsstand vorzustellen, denn dazu müssten wir unsere eigenen sozialkognitiven und empathischen Kompetenzen für einen Augenblick rückgängig machen und unsere soziale Welt so betrachten, als besäßen wir noch nicht die hoch entwickelten Fähigkeiten des modernen zivilisierten Menschen. Es fällt uns schwer, uns vor20

Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

zustellen, wie es ist, ein noch wenig empathischer Mensch zu sein, der weder das Interesse noch die Fähigkeit hat, sich in andere Menschen einzufühlen. Heute tun wir das unablässig – wir können ja kaum anders. Die Kompetenzen zur Reflexivität, Empathie und Perspektivenübernahme sind ja nicht Fertigkeiten – wie z. B. die mathematische Kompetenz zur Lösung einer Dreisatzrechnung –, hinter die man gleichsam zurückgehen könnte. Man kann sich also vielleicht vorstellen, vor einer Dreisatzaufgabe zu sitzen und nicht (mehr) zu wissen, wie man sie löst. Aber wir können uns nicht in einen Menschen hineinversetzen, der noch nicht verstanden hat, dass andere aus eigenen, inneren Beweggründen handeln und eine gemeinsame Situation ganz anders bewerten als man selbst. Wenn vierjährige Kinder erst einmal gelernt haben, die Perspektive eines anderen einzunehmen und zu verstehen, dass Menschen nach ganz eigenen, subjekthaften Beweggründen handeln, wenden sie diese Kompetenzen so selbstverständlich an wie das Laufen, das sie erst kurz zuvor erlernt haben. Ich glaube nicht, dass wir fähig sein könnten, die Welt wie ein einjähriges Kind zu betrachten, das noch nicht weiß, dass andere eine gemeinsame Situation ganz anders deuten als es selbst. Ebenso wenig sind wir in der Lage, uns vorzustellen, wie der frühmittelalterliche Mensch mit noch geringen kognitiven Kompetenzen seine Welt erlebte. Ein weiteres Hindernis, das wir nennen müssen, wenn wir über das Mensch-Tier-Verhältnis früherer Epochen nachdenken, gründet in den Werturteilen, die wir mit Feststellungen wie »noch nicht empathisch« fast unvermeidlich verknüpfen. Wenn wir aus unserer Sicht eines modernen mitteleuropäischen Menschen annehmen, dass der Mensch des frühen Mittelalters bestimmte sozialkognitive Kompetenzen (Perspektivenübernahme, Empathie) noch wenig entwickelt hatte, dass er wenig Mitgefühl mit seinen Kindern empfand und aus heutiger Sicht oft grausam mit Tieren umging, rufen wir sehr häufig empörten Widerspruch hervor. Wir, die wir es gewohnt sind, uns immer wieder einzufühlen in unsere Mitmenschen und uns sogar einbilden, wir könnten uns in ein Tier einfühlen, können und wollen uns nicht vorstellen, wie es Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

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ist, einen Menschen oder ein Tier leiden zu sehen, ohne Mitgefühl zu empfinden. Und wir sind heute ratlos und fühlen uns abgestoßen, wenn wir Menschen begegnen, die Tiere scheinbar ohne eine Gefühlsregung quälen können. Regelmäßig handelt es sich dann ja auch – nach heutigen Maßstäben – um gravierende psychische Fehlentwicklungen, die uns sehr fremd sind. Oder es sind Menschen mit sadistischen Motiven, die Lust empfinden, wenn das Tier (oder auch ein Mensch) leidet; sie wollen das Tier leiden sehen. Aber wir wollen mit denen nichts zu tun haben. Deswegen klingen Beschreibungen wie »der mittelalterliche Mensch ging mitleidslos mit Tieren um« für uns unvermeidlich wie die Zuschreibung eines moralisch bedenklichen Defizits. Heute stoßen derartige Diagnosen – ob begründet oder nicht – gegen die Regeln der »Political Correctness«. Diese schreiben uns vor, dass wir Minderheiten, Randgruppen oder überhaupt »den anderen« keine »Defizite« zuschreiben dürfen, um sie nicht zu diskriminieren oder gar zu pathologisieren, sondern wir sollen vielmehr ihre Fähigkeiten in den Vordergrund unserer Betrachtungen stellen. Ich vermute, dass die verbreitete Auffassung von der »Eintracht« und der »Verbundenheit« des mittelalterlichen Menschen mit der Natur und die Redeweise von seiner »Nähe« zur Tierwelt darin gründen, dass wir uns scheuen, den Menschen von damals Eigenschaften zuzuschreiben, die aus heutiger Sicht negativ bewertet werden. Als würde unsere Behauptung, der frühmittelalterliche Mensch habe zwar in großer räumlicher Nähe zum Tier gelebt, aber er sei nicht empathisch gewesen, den Menschen von damals pathologisieren, uns selbst aber die Aura des gelungenen Fortschritts umhängen. Dabei haben wir doch gar keinen Grund, so besonders stolz zu sein auf den Besitz unserer sozialkognitiven Fähigkeiten wie Empathie und Perspektivenübernahme. Denn gerade diese Fähigkeiten brachten auch Unglück ins menschliche Leben. Perspektivenübernahme nämlich befähigt uns nicht nur, uns in die innere Situation eines anderen hineinzuversetzen, um seine Interessen zu berücksichtigen (das ist eine Voraussetzung für soziale Handlungsfähigkeit überhaupt), sondern sie ermöglicht uns auch, den anderen zu täuschen, auszutricksen, ihn für unsere Interessen auszunutzen. Weil wir wissen, wie der 22

Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

andere soziale Situationen bewertet, welche Motive ihn leiten und wie er auf unsere Handlungen reagieren wird, können wir ihn manipulieren, solange er es nicht bemerkt oder sich nicht wehren kann. Wir sollten uns also angesichts unserer mühsam erworbenen kognitiven Kompetenzen nicht allzu überlegen fühlen. Mit ihnen erwarben wir nicht nur die Fähigkeit zu sozial bezogenem Handeln, sondern auch zu erfolgreich dissozialem Verhalten.

DIE MENSCH-TIER-BEZIEHUNG IM FRÜHEN MITTELALTER Die materielle und soziale Situation des Menschen Noch im 10. Jahrhundert war Mitteleuropa sehr dünn besiedelt. Schätzungen zufolge (Mensching, 1992, S. 130) lebten in dem Raum des heutigen Deutschlands und Skandinaviens nur vier Millionen Menschen (um die Mitte des 14. Jahrhunderts aber schon 11,5 Millionen). Wahrscheinlich waren um diese Zeit nur 3 % der Fläche Mitteleuropas landwirtschaftlich genutzt (Schneider, 2006, S. 34). Denn Mitteleuropa war bis ins 11. Jahrhundert hinein von dichtem, fast undurchdringlichem Wald bedeckt. »Nicht Gemarkungsgrenzen, sondern Wälder trennten die Menschen voneinander« (Schubert, 2002, S. 38). Tacitus beschrieb in seiner »Germania« um 100 die düsteren, dichten Wälder und die schaurigen Moore, das waren Betrachtungen, die sehr viel später in der deutschen Romantik mit Begeisterung aufgenommen wurden. Die Besiedelung war sehr dünn, im 10.  Jahrhundert waren weniger als 3 % des Territoriums überhaupt bewohnt oder genutzt. Rodungen waren äußerst mühsam, oft wurden kleine Ackerflächen nur dadurch geschaffen, dass um abgebrannte oder abgesägte Bäume herum Getreide, vor allem der anspruchslose Hafer, aber auch Roggen, Dinkel und Gerste gesät wurde. Der Ertrag der Landwirtschaft war sehr gering, zum einen, weil wenig Ackerfläche zur Verfügung stand, und zum anderen wegen der im Vergleich zu heute noch sehr primitiven Anbaumethoden. Die Schätzungen der damaligen Ertragsquote, also des Verhältnisses Die Mensch-Tier-Beziehung im frühen Mittelalter

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von Aussaat und Ernte schwanken zwischen 1:2 und 1:3, d. h., auf ein gesätes Getreidekorn kamen zwei, maximal drei geerntete Körner (Schneider, 2006, S. 34). Selbst unter günstigen Bedingungen wurde also maximal das Dreifache der Saatmenge erzielt (Schubert, 2002, S. 43), und von diesen dreien musst eines für die Aussaat des nächsten Jahres aufbewahrt werden. Zum Vergleich: Die Ertragsquote beträgt in Mitteleuropa heute durchschnittlich 1:25 bis 1:30! Diese magere Ernte wurde weiter dezimiert durch Pflanzenkrankheiten, Schimmel- und Pilzbefall, Fäulnis und Mäusefraß. Trotzdem war Getreide das hauptsächliche Nahrungsmittel im gesamten Mittelalter. Die riesigen Waldflächen, mit denen das Land bedeckt war, bestanden fast ausschließlich aus Laubwald, es waren vor allem Buchen, aber auch Eichen, deren Lebensdauer ja höher war, außerdem waren sie widerstandsfähiger bei Feuer. In den ausgedehnten Feuchtgebieten gab es Ulmen, Eschen und Ahorn. Der Wald lieferte Gerbrinde von Eichen, Bast für die Seilerei, Weidenruten zum Flechten von Zäunen, Körben, Häuserwänden, Harz zur Pechherstellung und als Klebemittel, ferner Kerzenwachs und Met (Honigwein) sowie Tinte aus Eichengalläpfeln. Im Wald lebten Bienen, ihr Honig war bis zum 15. Jahrhundert einziger Süßstoff. Die Imker (»Zeidler«, »Bütener« oder »Beutner«) lebten im Wald, unterstanden einem Zeidelmeister und mussten in der Regel der Herrschaft alljährlich ein »Honiggeld« entrichten. Der Wald war für die Fleischproduktion sehr wichtig, zum einen wegen des Niederwildes, das die Landbevölkerung fangen durfte – die Jagd auf Hochwild war dem Adel vorbehalten –, zum anderen aber auch als Weide für Schweine und Ziegen, die zum Fressen in den Wald getrieben und von Kindern beaufsichtigt wurden. Die zuweilen vorgetragene Behauptung, dass sich die mitteleuropäischen Menschen des frühen Mittelalters vegetarisch ernährt hätten, ist also nicht richtig. Sie aßen sogar sehr gern Fleisch und sie aßen es reichlich: »Die frühmittelalterlichen Menschen (aßen) zumindest in guten Jahren auch im Vergleich zu heute außerordentlich große Mengen Fleisch« (Hirschfelder, 2005, S. 99). Neben Schweinen wurden Hühner gehalten, auch zur Eierproduktion. 24

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Aufgrund der sehr dünnen Besiedelung und der riesigen Wälder konnte also relativ viel Fleisch gegessen werden: »People, rich and poor, looked at large and small game, fish, small birds« (Salisbury, 2011, S. 43). Ausgrabungen haben eine »diversity of meat« im frühen Mittelalter festgestellt (S. 43). Allerdings nahm der Fleischanteil in der Ernährung mit zunehmender Rodung der Wälder und Nutzung der Flächen für den Ackerbau bei rasch steigender Bevölkerungszahl ab. Aber auch dann »stand Fleisch im Zentrum der Ernährung« (Hirschfelder, 2005, S. 99). Man vermutet einen großen Fischreichtum bis ins 18. Jahrhundert hinein. Es gab Lachse, Aale, Barsche, Forellen, Schmerlen und Flusskrebse. Fisch war sehr wichtig als Eiweißlieferant, denn das Getreide enthielt nur wenig Eiweiß. Bäche und Flüsse waren natürlich noch nicht reguliert, und die Binnenseen dehnten sich viel weiter aus als heute. Erst ab dem 13. Jahrhundert entwickelte sich eine Teichwirtschaft, auch mit Karpfenzüchtungen, aber die »lagen in den Händen der adeligen Ökonomie« (Schubert, 2002, S. 84). Die Auflehnung gegen dieses adelige Monopol, das »wilde« Fischen, markierte später den Beginn der Bauernkriege. In der geschlossenen Hauswirtschaft jener Zeit lebten die Menschen buchstäblich von der Hand in den Mund. Was sie zum Leben brauchten, produzierten sie großenteils selbst, und in vielen Fällen ging ein Teil ihrer Ernte an den weltlichen oder kirchlichen Grundherren. Es gab kaum einen Überschuss, den sie hätten »ansparen« können, und es war schwierig genug, ausreichend Vorräte und Futter für die Tiere zu sammeln, um den Winter zu überstehen oder schlechte Ernten ausgleichen zu können. In wirtschaftlich erfolgreichen Jahren konnten sie »Erzeugnisse der eigenen Stallhaltung und Viehzucht, von frischem und getrocknetem Obst, Käse und Milch, von Waldfrüchten und kleineren handwerklichen Arbeiten« (Cherubini, 1996, S. 140) tauschen. Selten aber gelang es ihnen, einen Überschuss an Grundnahrungsmitteln zu erzielen, den sie hätten verkaufen können. Daher war auch nur wenig Geld in Umlauf. Und ihre Kleidung? »Wool, furs and skin made up most of the clothing in the middle ages« (Salisbury, 2011, S. 148). Auch wenn es erwiesen ist, dass sich die Menschen des frühen Die Mensch-Tier-Beziehung im frühen Mittelalter

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Mittelalters gern von Fleisch ernährten, darf man sich nicht täuschen: Ihre Ernährungssituation war von einem »steten Mangel« gekennzeichnet (Hirschfelder, 2005, S. 104). Sie konnten nur wenige Vorräte anlegen, Krankheiten und Parasiten bedrohten ihre Tiere, sodass dann oft doch nur der Getreidebrei als Standardmahlzeit übrig blieb. Bäuerliche Familien bestanden in der Mehrzahl der Fälle aus »Kern- und erweiterten Kernfamilien, also aus den Eltern, ein, zwei oder drei Kindern sowie der Großmutter und/oder dem Großvater« (Cherubini, 1996, S. 134 f.). Die ältere Auffassung, dass sich die Kernfamilie nur allmählich aus der Großfamilie mit mehreren Generationen entwickelte, »hat sich […] heute weitgehend als ein Mythos erwiesen« (Althoff, Goetz u. Schubert, 1998, S. 125). Die bäuerliche Familie bewohnte ein Haus; darin gründet das Wort »Bauer«, das nichts mit anbauen etc. zu tun hat, sondern »Behältnis, Kammer, Hütte« (Schneider, 2006, S. 29) bezeichnet (daher auch Vogelbauer). Mit der Bezeichnung »Bauer« wurde der fundamentale Unterschied zu der »sehr viel älteren Nomadenexistenz des Hirten festgehalten« (S. 29). Wenn sich mehrere Familien eine »Hufe« teilten, so hatten sie doch jeweils einen eigenen Herd, also ein eigenes Haus, das freilich nicht in Zimmer unterteilt war: »Man aß, schlief, ruhte, liebte, gebar und starb in einem einzigen Raum« (Schneider, 2006, S. 43). Die Hälfte aller Menschen starb vor Erreichen des 18. Lebensjahres. Dies drückt das arithmetische Mittel der Lebenserwartung auf täuschende 25 bis dreißig Jahre. Wer aber das 18. Lebensjahr erreicht hatte, wurde durchschnittlich fünfzig Jahre alt, und es gab auch noch ältere Menschen (Schneider, 2006, S. 99). Kinderarbeit begann mit sechs Jahren und sie war sehr verbreitet. Die Märchen von Zwergen im Bergwerk täuschen uns: Gemeint waren Kinder! Schubert (2002): Mit dem siebten Lebensjahr, den zweiten Zähnen, ist die Kinderzeit vorbei, Kinder müssen Schweine und Gänse hüten (S. 223). Kinderspielzeug wurde erst nach 1500 formenreicher. Kinder zu schlagen, war Erziehungspflicht, trotz gewichtiger Gegen­reden, wie z. B. von Walther von der Vogelweide (S. 224). Die Menschen des frühen Mittelalters »besaßen ein ausgeprägtes Familienbewusstsein« (Althoff et al., 1998, S. 126). Es herrschte eine strenge patriarchalische Ordnung: Der Mann besaß die »Munt« (von 26

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»manus«, die Hand, heute noch im »Vormund« und in der »Mündigkeit« enthalten), hatte Verfügungsrecht über alle Angehörigen des Hauses und haftete für sie. Er besaß das »männliche Privileg zur körperlichen Züchtigung«, die förmlich vorgeschrieben war (Schneider, 2006, S. 42). Die Frau galt im Mittelalter als ein menschliches Wesen minderen Wertes (S. 93). Eine Liebesheirat war durchaus nicht die Regel, die Ehe sollte im günstigen Falle die Liebe stiften und nicht umgekehrt (Schneider, S. 95). Neben der Muntehe, die dem Ehemann die patriarchalischen Rechte eines Vaters übertrug, gab es – vor allem in Adelskreisen – die Friedelehe (eine Friedel war eine Freundin oder eine Geliebte), ferner eine Konkubinatsehe ohne Trauung, aber doch vollzogen vor Zeugen. Frauen durften dergleichen nicht. »Eine freie Frau, die sich mit einem Knecht einließ, riskierte ihr Leben« (S. 96). »In ganz Europa war die bäuerliche Gemeinschaft einem weltlichen oder kirchlichen Herrn unterstellt« (Cherubini, 1996, S. 140). Das Land war in drei große Flächen unterteilt: Die eine bebaute der Patron mit Knechten und Tagelöhnern, oft wurden auch Bauern zu Arbeiten verpflichtet, zu denen sie auch ihre Zugtiere mitzubringen hatten. Der zweite Teil wurde an bäuerliche Familien mit Erbrecht gegeben, und der dritte bestand aus Wäldern und unbebautem Land. Zwar nutzten die Bauern Fischfang und Jagd für ihre Ernährung, aber die Grundherren schränkten die Verfügung über die Natur zunehmend ein. Sie besaßen oft Monopole, z. B. für die gewerbliche Nutzung der Wasserkraft, über den Backofen in der Siedlung und die Dorfschenke. Sie übten die Rechtsprechung in der niederen Gerichtsbarkeit aus, verhängten allerdings auch drakonische Strafen bis hin zur Todesstrafe.

Wie gingen die Menschen miteinander und mit ihren Tieren um? Es gibt kaum Zeugnisse darüber, was die einfachen Menschen des frühen Mittelalters dachten, was sie empfanden (Cherubini, 1996, S. 151). Unser Wissen über diese Zeit ist leider sehr beschränkt. Man hielt es im Mittelalter nicht für angebracht, das Leben ein­facher Menschen zu schildern und aufzuschreiben, ganz abgesehen davon, Die Mensch-Tier-Beziehung im frühen Mittelalter

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dass nur wenige Menschen lesen und schreiben konnten – nicht einmal alle Kleriker und auch nicht alle Adligen konnten dies – und Schreibpapier überaus kostbar war. Niemand gab sich die Mühe, für die Nachwelt aufzuschreiben, wie ein einfacher Bauer sich selbst verstand, wie er seine Geschichte interpretierte oder seine Zukunft plante. Es schrieb niemand auf, weil es auch niemanden interessiert hätte. Wenn überhaupt Biografien niedergeschrieben wurden, dann eher idealtypische Beschreibungen, z. B., wie es ist (besser noch: wie es sein sollte), ein frommer Mönch oder ein mutiger Ritter zu sein. Außerdem: Der Bauer »Hans« des 10. Jahrhunderts hätte diese Überlegungen über sich selbst auch nicht angestellt, sie lagen ihm gar nicht nahe, weil er noch nicht jene reflexive Persönlichkeit ausgebildet hatte, die über sich nachdenkt und ihr Leben individuell gestaltet. Es fehlte ihm noch jenes »Selbst«, auf das sich der moderne Mensch fortlaufend bezieht, das ihm die Maßstäbe liefert zur Deutung seiner Geschichte und zur autonomen moralischen Beurteilung seiner Handlungen –, und darin manchmal übertreibt, wenn er seine Biografie so gestaltet, als gelte es, sein Selbst wie einen roten Teppich durchs Leben vor sich her auszurollen. So war und ist die Nachwelt gezwungen, ein subjektives Bild vom frühmittelalterlichen Menschen zu entwerfen. Sie nutzte diese freie Projektionsfläche zu sehr unterschiedlichen, ja gegensätzlichen Ausdeutungen. Zahlreich sind die idealisierenden Darstellungen, die den frühmittelalterlichen Menschen als noch nicht entfremdet und im Einklang mit der Natur sehen wollten. Diese romantisierenden Beschreibungen deuten wohl auf die Zivilisationsverdrossenheit des modernen Menschen und seine Entfremdung von der Natur hin. Andererseits: Wenn wir soziale Verhältnisse heute als »mittelalterlich« beschreiben, meinen wir oft dumpfe Menschen, die roh und gefühllos miteinander umgehen. Und das könnte der Realität etwa des 10. Jahrhunderts durchaus nahe kommen, angesichts eines bäuerlichen Lebens, das unter überaus harten Bedingungen, schwerer Arbeit, materiellen Notlagen und Krankheiten zu bestehen war. Es mag also sein, dass die oft satirischen Beschreibungen, welche den Schmutz, die Rohheit und einen »tierhaften Zug im Wesen 28

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der Bauern« (Cherubini, 1996, S. 152) hervorheben, ein zu negatives Bild entwerfen, aber doch nicht ganz falsch sind. Zwar wendet sich auch Schubert (2002) gegen das Vorurteil vom grausamen Mittelalter (S. 273), beschreibt aber doch die gut dokumentierten, aus heutiger Sicht sadistischen Veranstaltungen der Volksbelustigung noch des späteren Mittelalters: Blinde kämpften noch im 14. und 15. Jahrhundert unter dem Gejohle der Zuschauer mit Knüppeln (oder auch Messern) um einen Preis, z. B. ein Schwein, gegeneinander, oder man veranstaltete »Dirnenwettkämpfe«, bei denen Prostituierte in Wettläufen gegeneinander antraten und versuchten, sich mit Schlägen und Tritten aus dem Rennen zu werfen (Meyer, 2000a, S. 330 f.). Über die Beziehung des mittelalterlichen Menschen zu seinen Kindern ist in der Literatur intensiv gestritten worden. Ariès (1978) und DeMause (2000) haben sehr viel Material zusammengetragen, das die Vermutung von einem »herzlosen«, also recht gleichgültigen Umgang mit Kindern nahelegt. Noch Montaigne (1533–1592), der große Renaissancedenker, sprach von seinen Kindern im Rückblick als »Äffchen«, von denen er zwei oder drei im Säuglingsalter verloren habe, ohne dies »verdrießlich« gefunden zu haben. Diese Auffassung vom lieblosen Umgang mit Kindern blieb zwar nicht unwidersprochen (Dinzelbacher, 2003), aber die Beschreibungen eines liebevollen Umgangs mit Kindern beziehen sich doch überwiegend auf höfische Kreise, die vielfach spätere Erlebens- und soziale Umgangsformen schon vorwegnahmen. Allerdings ist die Quellenlage über den Umgang Kindern in Bauersfamilien auch sehr viel dürftiger. Wie ging der frühmittelalterliche Mensch mit Tieren um? Sehr häufig wird die »Nähe« (oder gar die »Verbundenheit«) des mittelalterlichen Menschen zum Tiere beschrieben. Aber was ist mit dieser Nähe gemeint? Richtig ist: Sie ist zunächst räumlich zu verstehen, denn der Mensch war ständig von Tieren umgeben. Die Lebensräume von Mensch und (Nutz-)Tier waren noch nicht streng getrennt. Trotzdem aber stand der Mensch den Tieren nicht nahe, wie wir uns ihnen heute nahe fühlen können, indem wir uns vorstellen, was das Tier fühlt, ob es sich freut, ob es Angst empfindet oder leidet. Diese Art der Nähe, die unser Einfühlungsvermögen voraussetzt, kannte der Mensch des frühen Mittelalters gewiss noch nicht. Die Mensch-Tier-Beziehung im frühen Mittelalter

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Vielmehr ging er aus heutiger Sicht nicht selten grausam mit Tieren um: Frettchen, die in Kaninchenbauten jagen sollten, wurden häufig die Zähne ausgerissen, sodass sie die Beute nicht selber fressen konnten. Nur die begüterten Jäger verwendeten für sie auch kleine Maulkörbe. Und Jagdfalken wurden die Augenlider zugenäht, um sie leichter domestizieren zu können (Salisbury, 2011, S. 41). Dieser Umgang war vermutlich nicht sadistisch, die Menschen quälten Tiere also nicht zum eigenen Vergnügen, aber es fiel ihnen auch nicht schwer, Tieren Schmerzen zuzufügen, z. B. Kutschpferden ein Auge auszustechen, wenn es zu sehr scheute (Dinzel­bacher, 2000; Salisbury, 2001). Als streunende Hunde in den langsam wachsenden Städten eine Plage wurden, erfand man den Beruf des »Hundeschlagers«, der dafür bezahlt wurde, herrenlose Hunde totzuschlagen und fortzuschaffen (Schubert, 2002). Und Hütehunde, die alt geworden waren, wurden geschlachtet und gegessen. Kaum anders erging es den verbrauchten Arbeitspferden. Sie waren weniger wert als alternde Ochsen, ihr Fleisch wurde nämlich nur in Notzeiten gegessen. Ein altes Pferd war daher nur so viel wert wie seine Haut, die man zu Leder verarbeiten konnte (Salisbury 2011, S. 17). Heimtiere, also Tiere als Kumpanen, gab es in der Landbevölkerung noch nicht. Schoßhunde, die in vorchristlicher Zeit, in der Antike, also in der Zeit von etwa 800 vor bis 600 nach Christi Geburt, noch recht häufig waren, tauchten erst im 13. Jahrhundert wieder auf, und zwar fast ausschließlich in Kreisen des Adels. Katzen wurden häufig gehalten, aber zunächst nicht als Schoßtiere, sondern nur, um die Nagetiere in Schach zu halten. Erst ab dem 19. Jahrhundert wurden auch sie verwöhnt und gefüttert (Salisbury, 2011, S. 120). Aber es gehörte zu den Volksbelustigungen zur Fastnacht im Elsass, in Frankreich und England, lebende Katzen in große Feuer zu werfen (Schubert 2002). Die Menschen gingen mit Tieren vermutlich achtsam um, wenn sie auf sie angewiesen waren: Als Produzenten von Fleisch, Wolle, Leder, Milch, Honig etc. waren sie nützlich, darum sollten sie überleben und sich fortpflanzen. Wenn es heißt, dass der Mensch des 10. Jahrhunderts den Tieren nahe war, dann gilt das einmal in dem konkreten Sinne, dass 30

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sie räumlich wenig getrennt von ihnen lebten. Sie waren auch in einem subjektiven Sinne wenig getrennt, indem die Grenze zwischen Mensch und Tier dem Menschen durchlässig erschien, Menschen konnten leicht auch tierische Eigenschaften übernehmen, z. B. konnte »die Kraft des Pferdes auf einen Menschen übertragbar sein« (Schubert, 2002, S. 113). Zahlreiche Vornahmen spielten auf Tiere an, beispielsweise auf den Wolf: Wolfgang, Wolfhard, Rudolf. Anders­herum zog man Tiervergleiche heran, um menschliche Eigenschaften zu beschreiben: Biene, Hummel, Schlange, Wolf. Menschen können »saudumm« und »bienenfleißig« sein. Dinzelbacher (2000, S. 274) spricht daher von einer »archaische Permeabilität« zwischen Mensch und Tier. Außerdem: Menschen staunten über die Sinnesleistungen der Tiere und ihr Orientierungsvermögen: Sie können besser hören, sehen und riechen, und sie scheinen aufgrund ihrer Instinktsicherheit immer zu wissen, was sie als Nächstes tun sollen. Und sie fühlten sich den Tieren (noch) nicht überlegen, denn die christliche Lehre der großen Kirchenväter über die Sonderstellung des Menschen, seine Gottesebenbildlichkeit, hatte die Bauernfamilien tatsächlich noch nicht wirklich erreicht. Die bäuerlichen Glaubensvorstellungen »wurzelten in vorchristlicher Zeit«, daher musste die Kirche »eine Vielzahl von Versöhnungsriten, animistischen Praktiken sowie magischen Beschwörungsformeln integrieren« (Cherubini, 1996, S. 153). Augustinus schrieb: »Es gibt keine Gemeinsamkeiten zwischen uns und den Tieren und Bäumen« (Dinzelbacher, 2000, S. 289). Und: Die Überlegenheit des Menschen zeige sich in seiner Rationalität (Salisbury, 2011, S. 4). Thomas von Aquin meinte im 13. Jahrhundert: Tiere sind »without intellect« und daher »not made in God’s image« (S. 4).

Die Mensch-Tier-Beziehung im frühen Mittelalter aus psychologischer Perspektive Wie können wir uns die Nähe, diese »archaische Permeabilität« des frühmittelalterlichen Menschen zum Tiere einerseits und den eher gefühllosen Umgang mit ihnen andererseits psychologisch erklären? Die Mensch-Tier-Beziehung im frühen Mittelalter

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Wenn in der Literatur zuweilen die große Nähe oder gar Unabgegrenztheit des mittelalterlichen Menschen zum Tiere erwähnt wird, dann kann damit kaum die Affektansteckung gemeint sein, denn die ist ja artspezifisch, d. h., Menschen können sich von den Affekten eines Tieres nicht wirklich anstecken lassen. Das Näheerleben des mittelalterlichen Menschen erinnert eher an das animistische Denken, das sich bei kleinen Kindern im »präoperationalen« (­Piaget) Stadium ihrer Entwicklung beobachten lässt, wenn sie etwa bis zum sechsten oder siebten Lebensjahr dazu neigen, nicht nur Tieren, sondern auch unbelebten Gegenständen Motive und Absichten, eine Seele oder sogar moralisches Urteilsvermögen zuzuschreiben (»Der böse Tisch hat mich gestoßen«). Dieses animistische Denken wird oft indigenen Völkern zugeschrieben, insbesondere den Jäger- und Sammlerkulturen Südostasiens. Bei Kindern können wir magisches Denken beobachten, wenn sie z. B. glauben, sie könnten mit ihren Wünschen andere Lebewesen und auch unbelebte Gegenstände beeinflussen. Tragisch sind dann etwa solche Fälle, in denen ein Kind am plötzlichen Kindstod eines kleinen Geschwisters schuldig zu sein glaubt, weil es so gern wieder mit der Mutter allein sein wollte. Möglicherweise können wir den Menschen des frühen Mittelalters einen Animismus zuschreiben, der nicht nur die Tiere (und die Natur überhaupt) beseelt, sondern umgekehrt auch den Menschen selbst den Einflüssen durch andere – auch der Tiere – schutzlos aussetzt. Menschen sind dann sehr »durchlässig«, eben »permeabel« für Stimmungen und glauben fest daran, ein Gefühl bei ihrem Gegenüber wahrzunehmen, obwohl es eigentlich nur ihr eigenes ist. So entsteht ein intensives, aber illusionäres Nähegefühl, das wie eine Verbundenheit erlebt werden kann. Es handelt sich hierbei nicht um das Ergebnis einer Affektansteckung, die ja ein innerartlich wirksames Resonanzphänomen darstellt, sondern um die Phantasie von einer »umfassenden natura«, die Menschen und Tiere gleichermaßen einschließt (Schubert, 2002, S. 113). Tatsächlich also ließ sich der Mensch damals so wenig von den Affekten eines Tieres anstecken, wie wir das heute können. Die Frage ist aber, inwieweit die Affektansteckung der Menschen untereinan32

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der damals ähnlich wirksam war wie heute. Haben sich die Mütter des 10. Jahrhunderts vom Weinen ihres Kindes »anstecken« lassen? Das ist durchaus möglich, sofern sie selbst in ihrer Kindheit ermutigt worden sind, derartige Affekte zu erleben, wenn ihnen also ihre Affekte gespiegelt und feinfühlig beantwortet worden sind. Aber das wird nicht die Regel gewesen sein. Das sollte sich erst im hohen und späten Mittelalter ändern.

DIE MENSCH-TIER-BEZIEHUNG IM HOCHMITTELALTER Mit dem Ende des Frühmittelalters, also etwa ab Anfang des 11. Jahrhunderts, setzte eine Entwicklung ein, in der sich die Anfänge der Persönlichkeit des modernen europäischen Menschen herausbildeten. Sie begannen, selbstreflexiv zu denken und die Fähigkeit zu entwickeln, sich in andere Menschen – und vermeintlich auch in Tiere – hineinzuversetzen und ihnen eigene Absichten, Handlungsziele und sogar moralisches Urteilsvermögen zuzuschreiben. Sie wurden zunehmend empathisch und legten schließlich (im 18. Jahrhundert) auch die Grundlagen zur Entwicklung einer Tierliebe im heutigen Sinne. Diese großen und äußerst folgenreichen Entwicklungsschritte entstanden freilich nicht anlasslos in den Köpfen der Menschen. Vielmehr vermute ich, dass es der Wandel der realen Lebensbedingungen der Menschen im Hochmittelalter (also zwischen 1000 und 1250) war, welcher es den Menschen nicht nur ermöglichte, sondern sie anregte oder sogar zwang, ihre sozialkognitiven Kompetenzen in rasantem Tempo fortzuentwickeln.

Die materielle und soziale Situation der Menschen Hatte es in den letzten drei Jahrhunderten des ersten Jahrtausends keine nennenswerten Fortschritte in den landwirtschaftlichen Methoden gegeben, lernten die Menschen des 11. und 12. Jahrhunderts sehr rasch effektivere Techniken der Naturbeherrschung und der Landwirtschaft. Die Pflüge des frühen Mittelalters hatten nur Die Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter

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eine flache Saatrille in den Acker ritzen können, aber nun ermöglichte die Erfindung der Pflugschar und des Streichbrettes, die Scholle umzuwerfen und damit den Bodenertrag ganz erheblich zu steigern. Die Schubkarre tauchte erst Ende des 11. Jahrhunderts in Mitteleuropa auf. Die Zugtiere, in den meisten Fällen waren das Ochsen, hatten den Pflug im frühen Mittelalter mit einem breiten Riemen ziehen müssen, der ihnen vor die Stirn gebunden wurde. Das gepolsterte Joch, das Kummet, das die Zugtiere vor ihrer Schulter trugen, wurde im 11. Jahrhundert erfunden. Es verbesserte den Einsatz ihrer Zugkraft ganz wesentlich. Die Dreifelderwirtschaft setzte sich durch – ein aus heutiger Sicht rührend antiquiert-idyllisches Verfahren der Bewirtschaftung von Ackerland – und führte ebenfalls zu höheren Ernteerträgen. In dieser Zeit entstanden auch Wassermühlen, und man begann, Bäche und Flüsse zu regulieren, um die Landwirtschaft zu intensivieren. Seit dem 11. Jahrhundert stieg der Anteil der landwirtschaftlich genutzten Fläche kontinuierlich an. Dadurch und auch wegen der sehr viel effektiveren Anbaumethoden änderten sich auch die Ernährungsgewohnheiten der Familien. Der Anteil des Fleisches in der Nahrung der Landbevölkerung ging zurück. Eiweiß lieferten zunehmend Milchprodukte, anfangs von Schafen, später auch von Kühen. Neuere Forschung (Gerste, 2015) wies nach, dass es in der Zeit von 950 bis 1250 eine »Mittelalterliche Warmzeit« gegeben hat. Die mittlere Temperatur lag im Vergleich zu den vorherigen und den nachfolgenden Klimaperioden um 1,5 bis 2 Grad Celsius höher. Diese Warmzeit führte zu steigenden Ernteerträgen, in England wurde Weinanbau möglich und in günstigen Lagen Deutschlands konnten sogar Oliven und Feigen angebaut werden. Die erheblich verbesserten Bodenerträge senkten die Kindersterblichkeit drastisch und die Bevölkerung wuchs in rasantem Tempo. Weil die Familien nicht mehr ausschließlich als Selbstversorger, also »von der Hand in den Mund«, lebten, musste nicht jedes Familienmitglied in der Landwirtschaft mitarbeiten. Diese Freisetzung Einzelner aus der Subsistenzwirtschaft ermöglichte eine tiefgreifende Arbeitsteilung. Während die Bauersfrau um das Jahr 1000 34

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herum Brot backen, Schafe scheren, Wolle spinnen, stricken, weben und Kleider nähen konnte, entstanden in den folgenden zwei, drei Jahrhunderten die Berufe, die ihr diese Tätigkeiten abnahmen, sich dabei zunehmend spezialisierten und immer anspruchsvollere Bedürfnisse befriedigen konnten. Diese Arbeitsteilung und Spezialisierung führte dazu, dass sich die Menschen objektiv und subjektiv zu unterscheiden begannen. War im 10. Jahrhundert der Bauer »Hans« noch aus dem Dorf xy nur einer von vielen, die sich voneinander kaum unterschieden, wurde es nun möglich, dass ein Hans aus dem Dorf xy dadurch bekannt wurde, dass er wie kein Zweiter weit und breit Weberschiffchen schnitzen konnte, und ein Franz aus dem Nachbardorf konnte besonders gut Schuhe nähen und wurde dadurch bekannt. In den Städten entstanden Handwerksbetriebe und Zünfte. Städter lebten immer weniger unmittelbar von der Landwirtschaft, sodass ein Austausch von Waren aus der Landwirtschaft gegen Dienstleistungen (Weben, Schneidern, Tischlern, die Berufe als Keimzellen des Bürgertums) nötig wurde. Und weil die Ernteerträge gewachsen waren, konnte dieser Tauschhandel erblühen. Mensching (1992) erläutert die überzeugende Hypothese, dass die Arbeitsteilung die Individualisierung des Menschen dadurch förderte, dass sich das Individuum seiner eigenen Besonderheit zunehmend bewusst wurde (»ich bin doch der, welcher besonders gut eine Pflugschar aus Eisen schmieden kann«) und begann, über sich nachzudenken. Er wurde zunehmend seiner Selbst als besondere, unverwechselbare Persönlichkeit gewahr und gewann Distanz zu sich. »Der Fortschritt handwerklicher Produktion konkretisierte die Individuen, je mehr die artifizielle Naturbeherrschung sich verfeinerte. Die Arbeitsteilung bewirkt eine Differenzierung des Einzelnen durch seine Arbeit« (Mensching, 1992, S. 132). Die Menschen des Hohen Mittelalters »treten aus der bloßen Naturbefangenheit heraus und werden zu unverwechselbaren Personen« (S. 136 f.). Man muss sich diesen Unterschied vor Augen führen: Die Bauern des 9. oder des 10. Jahrhunderts standen vor überschaubaren Entscheidungsproblemen: Welches Getreide baue ich an? Wohin sollen meine Kinder die Schweine heute treiben? Was wollen wir heute Die Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter

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essen? Sie waren gleichsam der Natur ausgeliefert, mussten sich vor allem in ihr und oft genug auch gegen sie behaupten. Aber die Arbeitsteilung, die moderneren Geräte und Anbaumethoden entließen sie aus dieser Abhängigkeit und öffneten ihren Denkhorizont für eigene Absichten und Ziele. Sie erlaubten sich nun den »Rekurs auf sich selbst, die Herausbildung eines Selbstbewusstseins« (Mensching, 1992, S. 138). Und sie sahen sich gezwungen, immer komplexere Zweck-Mittel-Relationen zu bewältigen: Mit welchen Geräten, welchen Zugtieren, welchem Saatgut kann ich auf welchem Acker welche Erträge erzielen? Mit zunehmender Beherrschung der Natur durch den planvollen Einsatz von Werkzeugen und Anbaumethoden lösten sich die Menschen aus der unmittelbaren Abhängigkeit von ihr. Auch dies ist für uns heute nicht leicht vorstellbar: Wie sehr die Menschen des frühen Mittelalters in ihrem Denkhorizont eingeengt waren und wie sehr sie sich dadurch emanzipierten, dass sie Distanz zu den gegenständlichen Bedingungen, die sie vorfanden, aufnahmen, über sie nachdenken und planvoll in sie eingreifen konnten. Sie befreiten sich und ihre Sprache aus der »Unmittelbarkeit der handfesten Dinge« (Meyer, 2000a, S. 380). Aber das war wohl immer so: Wenn Menschen die Chance ergreifen, sich als absichtsvoll und zielbezogen wahrzunehmen, machen sie ihr Denken selbst zum Gegenstand ihres Denkens, damit entwickeln sie ein Selbst-Bewusstsein in einem modernen Sinne. Mit dieser Beschreibung sind natürlich vor allem die Bauern gemeint; die Mitglieder der anderen Stände, die Adeligen und die Priester waren gebildeter, und das galt recht bald auch für die wachsende Schicht des Bürgertums in den Städten, also vor allem die Handwerker und Gewerbetreibenden. Im 11. Jahrhundert wurden die Nachnamen eingeführt. Zuvor genügte es, der Bauer Hans im Dorf xy zu sein, und wenn es drei mit Namen Hans im selben Dorf gab, war das nach außen hin nicht schwierig, es genügte, wenn dem Namen die Gegend hinzugefügt wurde, also vielleicht »Hans vorm Wald«. Außerdem war das Bewusstsein der eigenen Individualität noch nicht so ausgeprägt, anders gesagt: Die Mitglieder eines Standes, in diesem Falle 36

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der Bauern, unterschieden sich nicht sehr voneinander. Ihr Verhalten war durch die Rollenzuschreibungen ihres Standes hinreichend genau bestimmt. Und sie verfolgten noch nicht die Idee, ihr Selbstbewusstsein durch die Bildung individueller Zielsetzungen anzufeuern. Nun aber wollten und sollten sich die Menschen unterscheiden, und dazu genügte es nicht, »Hans vorm Wald« zu heißen sondern ein »Nachname« musste her, um diesen Einzelnen auf Dauer identifizierbar und unverwechselbar zu machen. Bei Adeligen gab der Nachname die Herkunft (»von Bodenhausen«) an. Erst »im 12. Jahrhundert sind die Adelsnamen Herkunftsbezeichnungen, die auf den Stammbesitz bezogen sind« (Mensching, 1992, S. 136). Bei NichtAdeligen, also den Bauern und dem rasch wachsenden Bürgertum in den Städten, waren es zunächst die Berufe, welche den Nach­namen bestimmten. Noch heute sind die 14 (!) häufigsten Nachnamen in Deutschland alte Berufsbezeichnungen. In der Reihenfolge ihrer zahlenmäßigen Verbreitung: Müller, Schmidt, Schneider, Fischer, Weber, Meyer, Wagner, Becker, Schulz, Hoffmann, Schäfer, Koch, Bauer, Richter (Duden, Lexikon der Familiennamen, 2008). Vor- und Nachnamen hoben die Individualität des Einzelnen hervor, und wenn es nicht der Beruf war, so waren es Besonderheiten der eigenen Persönlichkeit und oft auch Eigenschaften, die sich die Träger selbst zuschrieben, oder die ihnen zugeschrieben wurden Der Mutige, der Fleißige, der Schöne. Zum Beispiel hieß der Lehrer Albrecht Dürers Michael Wolgemut. Die Einführung von Nachnamen zur eindeutigen Bestimmung von Individualität ermöglichte es auch, das Eigentum an Grundbesitz zweifelsfrei und auf Dauer in Urkunden zu dokumentieren. Denn auch dies änderte sich im 11. Jahrhundert: Gab es zuvor kaum Ackerland als persönliches Eigentum, konnte nun die Bauernfamilie ihr Land als ihren vererbbaren Besitz eintragen lassen. Die im hohen Mittelalter erwachende reflexive und selbst-­ bewusste Persönlichkeit erschien nun auch vielfältig in der Kunst, also in den Bildwerken und der Poesie. Die Entdeckung des Ich spiegelt sich in der »naturnachahmenden gotischen Malerei und Plastik«, im Unterschied zum »typusorientierten romanischen« Stil (DinzelDie Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter

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bacher, 2003, S. 121). Und das Subjekt des Künstlers gibt sich jetzt nach und nach zu erkennen, in der Poesie mit persönlichen Schilderungen, in der Malerei schrieb der Maler seinen Namen ins Bild, die Plastiken der Toten trugen persönliche Züge. Interessant ist, dass sich auch die Darstellung der Beziehung zwischen Maria und dem Jesuskind bedeutsam veränderte: Ältere Mariendarstellungen zeigen den Sohn regelmäßig von der Mutter abgewandt, aber schon im 12. Jahrhundert erscheinen Bilder, »auf denen der Jesusknabe sich Maria zuwendet, ja sie sogar umarmt und küsst. In der Gotik wird dieser Typus der vorherrschende werden« (Dinzelbacher, 2003, S. 136). Die Beziehung wird weltlicher, Maria und das Jesuskind erscheinen nun als lebendige, fühlende, einander zugewandte Menschen. Um das Jahr 1150 tritt der Minnesang auf, eine höfische, ritualisierte Form der Frauenverehrung mit ihrem Ursprung in Südfrankreich (die Trobadors). Seine Herkunft aus der Marienanbetung ließ diese Liebeslyrik zunächst noch ganz unkörperlich erscheinen, sie drückte also noch nicht romantische Gefühle oder gar sexuelles Begehren aus – allenfalls eine starke Sehnsucht angesichts der Unerreichbarkeit der verehrten und hoch idealisierten Frau.

Der Umgang mit Tieren, Tierstrafen und Tierprozesse Der frühmittelalterliche Mensch war mit seinen Tieren – es waren in den breiten Schichten der Bevölkerung ausnahmslos Nutztiere, denn es gab nur in Adelskreisen hoch geschätzte Pferde, verwöhnte Schoßhunde, umsorgte Papageien – aus heutiger Sicht recht mitleidslos umgegangen. Er behandelte sie zweckmäßig, weil er auf sie angewiesen war, empfand aber kein Mitleid, wenn sie krank waren oder offenkundig Schmerzen litten. Er fühlte sich den Tieren (noch) nicht überlegen, staunte vielleicht sogar über ihre Fähigkeiten und Sinnesleistungen. Teils ging der Mensch, auch des späten Mittelalters (1250 bis 1450), bei besonderen Gelegenheiten, z. B. auf Jahrmärkten, auch sadistisch mit Tieren, aber auch mit Menschen um. Einige, schon erwähnte Praktiken scheinen dafür zu sprechen: Aus Vergnügen 38

Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

lebende Katzen in große Feuer zu werfen, die Kämpfe von Blinden mit Messern oder Knüppeln gegeneinander und die Dirnenwettläufe. »Seit 1381 lassen sich in Wien von Dirnen ausgeführte ›Scharlachrennen‹ belegen. Die Siegerin in diesem Reiterrennen bekam ein Stück Scharlachtuch«1. Recht gut dokumentiert ist der institutionalisierte, öffentliche Umgang mit Tieren, die einen Schaden angerichtet hatten. Dass Tiere, die einen Menschen verletzt hatten, streng bestraft wurden, war nicht erst im Mittelalter eine verbreitete Praxis. Schon das zweite Buch Mose (21, 28–32) schrieb vor, dass ein Rind, das einen Mann oder eine Frau stößt, sodass sie daran sterben, gesteinigt werden sollte, und das Fleisch durfte nicht verzehrt werden (Schumann, 2009, S. 188). Neben dieser Praxis, Tiere für ein »Vergehen« zu bestrafen, gab es in verschiedenen Gegenden des heutigen Europas etwa seit dem 13. Jahrhundert, insbesondere aber zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert förmliche Tierprozesse, in denen Tiere wegen ihrer »Untaten« angeklagt und verurteilt wurden – in den meisten Fällen mit dem Tode. Der erste Prozess, in dem ein Säugetier wegen Mordes angeklagt wurde, wird für das Jahr 1266 geschildert (Salisbury, 2011, S. 108). Diese beiden Praktiken, die seit der Antike üblichen Bestrafung (in der Regel bedeutete dies die Tötung) von Tieren, die eine »Untat« begangen hatten oder an einer beteiligt gewesen waren, einerseits, und das förmliche Gerichtsverfahren gegen Tiere im späten Mittelalter, andererseits, müssen, wie die Juristin Schumann (2009) mit einer gründlichen Untersuchung überzeugend darlegt, getrennt voneinander betrachtet werden. Denn die ihnen zugrundeliegenden Motive waren sehr unterschiedlich und sie beleuchten den Wandel des Mensch-Tier-Verhältnisses vor dem Hintergrund der sich entwickelnden Persönlichkeit des (spät)mittelalterlichen Menschen. Zunächst zu den Tierstrafen: Ein gut dokumentiertes Beispiel aus dem Jahre 1621, eigentlich war schon längst die Neuzeit angebrochen, das Schumann ausführlich kommentiert: Eine Mietkuh hatte die hochschwangere Frau des Junkers Friederich von Lindenau vom 1 www.schwarze-ritter-augsburg.de/ma-spiele_sonstige.php (Zugriff am 15.04.2017).

Die Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter

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Gut Machern unweit Leipzigs gestoßen, sodass sie starb. Der Junker bat die Leipziger Juristenfakultät um einen Urteilsspruch, und zwar deswegen, weil die Kuh ihm selbst nicht gehörte, sodass die übliche Strafe, nämlich das Töten der Kuh, einen Anspruch des Eigentümers auf Schadensersatz hervorrufen könnte. Allein, die Richter kamen zu dem Beschluss, dass die Kuh »an einen abgelegenen öden ort billig geführet, daselbst Erschlagen oder Erschossen und unabgedeckt begraben« (zit. nach Schumann, 2009, S. 191) werden sollte. Und so geschah es dann auch. Und es war klar: Diese Kuh durfte nicht gegessen werden. Wesentlich bei diesen Tierstrafen ist insbesondere, dass sie nicht Rache oder Vergeltung üben sollten oder auch nur auf die Sühne des »Verbrechens« abzielten. Eher ging es darum, eine frevelhafte Untat zu tilgen, vielleicht sogar dadurch ungeschehen zu machen, dass der Täter beseitigt wurde. In diesen Fällen der Gerichtsurteile kam es nicht zu öffentlichen »Hinrichtungen«, weil es gar nicht darum ging, »das Böse« zur Abschreckung aller »Guten« zu bestrafen. Die »Täterin«, die Mietkuh, sollte »an einen abgelegenen öden Ort« geführt und dort getötet werden, fernab einer Öffentlichkeit, die sich an der »gerechten« Strafe vielleicht weiden könnte. Ein zweites Beispiel: Sodomie galt in vielen Teilen des mittelalterlichen Europas als schweres Verbrechen. Wurde ein Mann wegen sodomitischer Beziehungen mit einem Tier angeklagt, so drohte nicht nur ihm, sondern auch dem Tier die Todesstrafe. Auch in diesem Fall geriet das Tier nicht unter Anklage, und es wurde nicht getötet, weil es Böses getan hatte, sondern mit ihm sollten die Objekte dieses »Verbrechens« gelöscht werden. Deswegen wurden der sodomitische Täter und das missbrauchte Tier auch verbrannt, »weil alles, was an die Tat erinnerte, vernichtet werden sollte« (Schumann, 2009, S. 199). Sogar Tiere, die »Zeugen« einer Vergewaltigung waren, wurden, wie der Täter, getötet (Schumann, 2009, Fußnote 74; Sickert, 2013, S. 174). Sickert meint, die Tötung der beteiligten Tiere sollte die Erinnerung an die Untat löschen. Das ist gewiss richtig, aber wir erfahren zugleich auch etwas über das Verhältnis von Innenwelt und Außenwelt des mittelalterlichen Menschen. Es war ihnen so wichtig, die 40

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Spuren einer bösen Tat gänzlich zu beseitigen, weil sie erst damit auch die beunruhigende Vorstellung vom Bösen loszuwerden glaubten. Nach diesen Überlegungen scheint fraglich, ob der Begriff der »Strafe« in solchen Fällen überhaupt angebracht ist. In der modernen Welt verfolgen wir mit Strafen ja die Ziele der Abschreckung, der Besserung des Täters, der Wiederherstellung der Gerechtigkeit und der Vergeltung. Von diesen Motiven scheint damals keines wirksam gewesen zu sein, sondern nur die Absicht, mit dem Täter auch die Tat auszulöschen. Noch weniger als Strafe war die verbreitete Praxis gedacht, Tiere in den Vollzug von Todesstrafen an Menschen einzubeziehen. Überliefert ist z. B., dass man Verbrecher zusammen mit einem oder zwei Hunden aufhängte. Ein spätmittelalterlicher Holzschnitt von Stumpf (nach Schumann, 2009, S. 186) stellt dar, wie ein des Diebstahls überführter Jude im Jahre 1374 zusammen mit zwei Hunden gehenkt wurde, und zwar kopfunter, was die Strafe besonders qualvoll werden ließ, denn alle drei starben erst nach Tagen. Es ist offenkundig, dass es in diesen Fällen nicht darum ging, die Hunde zu bestrafen, sondern die mit dem Täter aufgehängten Hunde sollten die Qual des Täters vergrößern. Die Qual der vollkommen unschuldigen Tiere selbst berührte die Menschen nicht. Ganz ähnlich ist auch die Hinrichtungsmethode des »Säckens« zu verstehen. Dieses Verfahren wurde in der römischen Antike häufig neben der sehr verbreiteten Kreuzigung zur Bestrafung vor allem bei Verwandtenmord angewendet. Beim Säcken wird der Verurteilte zusammen mit Tieren in einen Sack eingenäht und ins Wasser geworfen, sodass er und die Tiere ertranken. In der Antike waren es Skorpione und Nattern, später auch Affen, Hunde und Hähne, im Mittelalter ersetzte man die Affen, die nicht so leicht zu beschaffen waren, der Einfachheit halber durch Katzen. Der Sinn dieser Praxis des Säckens liegt im Dunkeln, er war möglicherweise auch schon nicht mehr bekannt, als diese Strafe auf Geheiß des oströmischen Kaisers Justinian im Corpus Iuris Civilis von 828 bis 834 kodifiziert wurde. Schumann (2009, S. 187) zitiert aus einer Übersetzung dieses Gesetzestextes die Absicht, dass der Täter »noch bei lebendigem Leib jede Verbindung zu den Elementen verDie Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter

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liert und dem Lebenden der Himmel, dem Toten die Erde genommen wird«. Das ist wohl so zu verstehen, dass der Täter nirgendwo mehr hingehören durfte, dass er gleichsam aus der Welt fallen sollte. Warum ihm Tiere beigegeben wurden, ist aber unklar geblieben. Vermuten kann man aber, dass die anfangs verwendeten Schlangen und Skorpione als Abkömmlinge der Unterwelt verstanden wurden. Oder, spezifischer, die diesen Tieren zugeschriebenen Eigenschaften (Hunde galten als unrein) zielten auf »die Herabwürdigung des Verurteilten« (Sickert, 2013, S. 166). Später, im hohen Mittelalter, als auch profane Tiere, nämlich Hunde, Katzen und Hähne mit ertränkt wurden, genügte es wohl, den Täter im Tode der Tierwelt zuzuordnen. In all diesen Fällen wurden die Tiere für nichts »bestraft«, sie dienten nur dazu, die Strafe für den Verurteilten und für die Zuschauer noch grausamer auszugestalten. Dass vollkommen »unschuldige« Tiere verwendet wurden, zeigt doch, wie mitleidslos die Menschen noch im hohen Mittelalter mit Tieren umgingen, wie wenig sie sich z. B. von der Qual des gänzlich unbeteiligten, kopfunter aufgehängten Hundes rühren ließen. Ganz anders die Tierprozesse des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, insbesondere zwischen dem 14. und 17. Jahrhundert. Diese verfolgten, vertraut man den spärlichen Quellen, ganz andere Absichten. Es handelte sich um mehr oder weniger förmliche Gerichtsverfahren gegen Tiere, die einen Schaden angerichtet hatten: So wurde Schweinen, die einen Säugling gebissen oder gar getötet hatten, der Prozess gemacht, Ratten, die sich über die Kornernte hergemacht hatten, wurden angeklagt, sogar Insekten wie Heuschrecken, Würmer oder die Engerlinge von Maikäfern (die »Engen von Bern«) kamen vor Gericht, weil sie einen großen Schaden angerichtet hatten. Es gab Prozesse, die von kirchlicher Seite angestrengt wurden, die vor allem über nicht domestizierte Tiere (Mäuse, Ratten, Engerlinge) abgehalten wurden, aber auch weltliche Verfahren gegen Tiere, die in der Gemeinschaft von Menschen lebten, und in denen formvollendet ein Ankläger, ein Verteidiger und ein Richter auftraten. Die Strafen waren in aller Regel drakonisch: erhängen, erwürgen, lebendig begraben oder verbrennen. Kirchenverfahren endeten häufig mit einem Kirchenbann oder der Exkommunizierung, denn 42

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damals gehörten Tiere ja auch noch zur Communio, ihnen wurde also eine Seele zugeschrieben. Welche Auffassungen vom Tiere lagen der Idee von Tierprozessen zugrunde? Im Fall von kirchlichen Verfahren war es die Vermutung, ein Tier oder auch ein Heer von Schädlingen sei ein Werkzeug des Teufels geworden oder ein böser Mensch habe in Tiergestalt Unheil angerichtet, wie im Falle eines Wolfes, der 1685 in Ansbach gehängt wurde (Schild, 1980). In weltlichen Prozessen wurde den angeklagten Tieren hingegen ganz offenbar unterstellt, dass sie die Tat absichtsvoll begangen hatten, dass sie das Unrecht der Tat hätten einsehen und anders handeln können. In diesen Verhandlungen wurden die »Delinquenten« oft vorgeführt und ein Verteidiger versuchte, mildernde Umstände für sie zu erwirken. Zum Beispiel wurden die Ferkel einer Sau, die mit ihr gemeinsam ein fünf Jahre altes Kind getötet hatten, freigesprochen, weil man ihnen zugutehielt, dass die Mutter mit schlechtem Beispiel vorangegangen war (Salisbury, 2011, S. 112). Die Strafen sollten auch zur Abschreckung dienen, denn die anderen Tiere sollten ihre Lehre daraus ziehen (Dinzelbacher, 2000). Und in einem weniger schwerwiegenden Fall einer Mäuseplage bekamen die Täter, also die Mäuse, eine Frist eingeräumt, das Land zu verlassen, andernfalls würde man sie töten. Es ist nicht bekannt, ob sie der Auflage gefolgt sind. In einem anderen Tierprozess aus dem 16. Jahrhundert in Frankreich (Salisbury, 2011) wurden Ratten vor Gericht geladen, aber sie erschienen nicht. Der damals sehr bekannte gerichtliche Verteidiger von Tieren, Bartolomew Chassenée, ließ von den Ratten ausrichten, dass sie nicht zum Prozess erscheinen könnten, weil sie sich vor den vielen Katzen in der Stadt fürchteten. Sie würden kommen, wenn für die Zeit des Prozesses alle Katzen eingesperrt würden. Der Richter akzeptierte diese Entschuldigung, und weil es ihm nicht möglich schien, alle Katzen für die Zeit des Prozesses einzusperren, wurde das Verfahren eingestellt. Diese Beispiele illustrieren die damalige Auffassung, dass Tiere vernünftig handeln könnten, wenn sie wollten, und dass die Tiere, die sich schuldig gemacht haben, »should have known better« (Salisbury, 2011, S. 110). Ihnen wurde also nicht fehlende Rationalität Die Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter

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unterstellt, denn damit wären sie entschuldet gewesen. Man schrieb ihnen also insoweit einen freien Willen zu, dass sie sich schuldig machen konnten (S. 113). Trotz dieser Menschenähnlichkeit wurden Tiere im Alltag weiterhin wie Dinge oder Sachen behandelt. Denn Mitleid oder Empathie mit ihnen lag den Menschen noch ganz fern. Während in kirchlichen Verfahren zur Verteidigung der Tiere immerhin eingewandt werden konnte, dass Gott es z. B. den Insekten ja aufgegeben habe, sich von Früchten oder Getreide zu ernähren, entfiel dieses entlastende Argument in weltlichen Tierprozessen. Diese aus heutiger Sicht bizarr erscheinenden Schilderungen legen freilich den Verdacht nahe, dass es sich bei diesen Berichten um »Schwankerzählungen« (Schumann, 2009, S. 195) handelt, die aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert stammen und deren materieller Gehalt mangels verfügbarer mittelalterlicher Quellen kaum nachprüfbar ist. Tatsächlich berufen sich die meisten Autoren auf zwei ältere Quellen, ohne deren Rechercheergebnisse nachgeprüft zu haben, nämlich auf Publikationen von Evans (1906) und Amira (1891). Sicher können wir Schumann in der Vermutung folgen, dass zahlreiche, oft mit juristischen Feinheiten ausgeschmückte Berichte als Rückprojektionen aufgefasst werden sollten. Dass es aber Tierprozesse im späten Mittelalter gab, in denen Tiere wie Rechtssubjekte gesehen und behandelt wurden, steht wohl außer Zweifel. Und das ist für unsere Fragestellung, dem Wandel der Mensch-Tier-Beziehung seit dem Mittelalter, von großer Bedeutung. Denn das bedeutet, dass man ihnen schon menschliche Fähigkeiten, nämlich ein moralisches Urteilsvermögen zuschrieb. Fischer (2005), der sich in einer Monografie ausführlich mit den Tierprozessen des hohen und späten Mittelalters befasst, beschreibt, dass die Tiere, die sich »strafbar« gemacht hatten, für ihre Untaten erst verantwortlich gemacht werden konnten, nachdem man ihnen menschliche Kompetenzen wie die Fähigkeit zu freier, moralisch begründeter Entscheidung zugeschrieben hatte. In dieser »Personifizierung« wurden dem Tier durchaus böse Absichten unterstellt, und demzufolge erschien die Schuldzuschreibung »nicht als eine ›objektive‹, sondern menschenanalog als subjektive« (S. 114). Damit wurden, schreibt der Jurist Fischer weiter, Tiere zu Rechtssubjekten, 44

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weswegen sie nach vollzogener Hinrichtung auch nicht gegessen werden durften. Sie waren also von einem bloßen Objekt, das jeder töten und essen durfte, »zu einem Subjekt, zu einer Person geworden« (S. 116). Und deswegen wurden die so verurteilten Tiere auch nicht einfach geschlachtet, sondern sie mussten von einem Berufshenker getötet werden.

Die Mensch-Tier-Beziehung im hohen und späten Mittelalter aus psychologischer Perspektive Der Umgang des einfachen Menschen im Hoch- und Spätmittelalter mit seinen Tieren ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert und aus heutiger Sicht rätselhaft: •• In den Tierstrafen zeigt sich noch einmal die aus der Antike stammende Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Mensch und Tier. Die Zumessung der Strafen (überwiegend die Todesstrafe) folgte ebenso wie in den Prozessen gegen menschliche Straftäter noch dem Prinzip der »Erfolgshaftung«, d. h., der Richter orientierte sich ausschließlich an der Tat selbst und ihren Folgen, er berücksichtigte noch nicht, wie in den späteren Jahrhunderten, die Motive des Täters, also seine Absichten im Sinne einer »Verschuldenshaftung«. •• In den Tierprozessen des späten Mittelalters hingegen werden bereits Ansätze einer »Verschuldenshaftung« erkennbar. Zumindest wurde den Tieren die Fähigkeit zugeschrieben, das Frevelhafte ihrer Taten einzusehen und sich für oder gegen ihr schädliches Verhalten zu entscheiden (»Sie hätten es wissen können«). Auch in diesen Fällen zeigt sich freilich eine Durchlässigkeit der Grenzen zwischen Mensch und Tier, diesmal aber von der Art, dass die Menschen den Tieren jene Fähigkeiten zuschrieben, die sie selbst erst mühsam (und nicht ganz freiwillig) erworben hatten: Entscheidungsfreiheit und moralisches Urteilsvermögen.2 2 Um noch einmal eine Parallele zur Kindheitsentwicklung zu ziehen: Mit Kohlberg (1996) unterscheiden wir eine frühe Entwicklungsstufe des moralischen Urteils, auf der das Kind eine Tat ausschließlich nach ihren Folgen beurteilt,

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•• Aber es fehlte den Menschen bis ins späte Mittelalter jegliches

Mitgefühl für eine leidende Kreatur. Dass es über diesen mitleidslosen Umgang nur wenige Quellen gibt, liegt daran, dass man die Gefühllosigkeit noch nicht für bemerkenswert hielt. Nur nebenbei erfahren wir z. B. von dem erwähnten Beruf des »Hundeschlagers«, der streunende Hunde in den Städten totschlug. Dass Tiere wie in der Praxis des »Säckens« zusammen mit einem Straftäter einen oft qualvollen Tod erleiden mussten, erscheint nur als Randdetail und wie zufällig in den Schilderungen der Urteilsvollstreckungen. Und wenn ein Hund neben einem Straftäter kopfunter aufgehängt wurde, sodass er erst nach Tagen starb, geschah dies nicht, um den Hund zu bestrafen, sondern um den menschlichen Täter zu beschämen. Nur sehr selten kam es vor, dass einem Arbeitstier das »Gnadenbrot« geschenkt wurde. Von einer Sensibilität für »Mitgeschöpfe« konnte noch keine Rede sein (Dinzelbacher, 2000, S. 291). •• Inwieweit darüber hinaus der mittelalterliche Mensch mit Tieren (und mit seinesgleichen) sadistisch umging, sich also an der Qual eines Tieres erfreute, ist nicht ganz geklärt: Es finden sich zahlreiche Beispiele für sadistische Vergnügungen auf Volksfesten, die zum Ende des Mittelalters und in der Frühen Neuzeit sogar zugenommen haben. Wie können wir uns erklären, dass der mittelalterliche Mensch zwischen den Jahren 1000 und 1450, also in vielleicht nur zwanzig Generationen die Vorstellung von menschlicher Handlungsfreiheit und moralischer Urteilsfähigkeit entwickelte und auf Tiere ausdehnte, andererseits aber noch weitgehend ohne Einfühlungsvermögen blieb und gegenüber Mensch und Tier aus heutiger Sicht gefühllos oder sogar grausam handelte? Wie müssen wir uns die Persönlichkeit dieser Menschen vorstellen, und wie mag sie sich entwickelt haben?

von einer reiferen Stufe etwa ab dem sechsten Lebensjahr, auf der das Kind die Absichten des »Täters« berücksichtigt: Hat er mit dem Fußball auf das Fenster gezielt oder nur versehentlich die Scheibe getroffen?

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Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

Beginnen wir mit der schon in der Antike verbreiteten Praxis der Tierstrafen. Wir hatten gesehen, dass die Tiere – wie die Kuh, die eine Schwangere zu Tode »gestoßen« hatte – noch nicht für ihre bösen Absichten »bestraft« wurde, sondern die Tötung der Kuh sollte das Böse auslöschen, aus der Welt schaffen. Offenbar fühlten sich die Menschen damals vom Bösen erst dann nicht mehr bedroht, wenn seine Spuren nachprüfbar beseitigt waren. In Anlehnung an die psychoanalytische Theorie sozialkognitiver Entwicklung von Fonagy und Target (2006) könnte man von einem »Äquivalenzmodus« sprechen, wie ihn auch kleine Kinder regelmäßig durchlaufen. Sie machen in der frühen Zeit dieser Entwicklung (von 1,5 bis vier Jahren) nämlich keinen Unterschied zwischen der Vorstellung von einem bösen Tier, das unter dem Bett liegt und sie bedroht, und einem wirklichen Tier. Deswegen muss man sie dadurch beruhigen, dass man gemeinsam unter dem Bett nachschaut, auch wenn das nicht immer hilft. In einem reiferen Entwicklungsstadium – Fonagy und Target sprechen vom »reflektierenden Modus« – kann sich das Kind sagen: »Wahrscheinlich ist es nur eine Angstvorstellung«. Erwachsene, die den reflektierenden Modus erreicht haben – und das ist nicht immer der Fall –, müssen nicht darauf bestehen, alle Spuren einer bösen Tat zu beseitigen, sie können den Gedanken ertragen, dass »das Böse« in der Welt geblieben ist, sie können es, psychoanalytisch gesprochen, in sich selbst »entgiften«. Vielleicht können wir heute deswegen überhaupt auf die Todesstrafe verzichten und den – gewiss beunruhigenden – Gedanken ertragen, dass das Böse (der Täter!) lebt und nach seiner Entlassung auch unter uns weilt. Im Falle eines Schuldspruchs wurden überwiegend Todesstrafen oder Regeln der Wiedergutmachung, z. B. durch eine Zahlung an den Geschädigten, ausgesprochen. Gefängnisstrafen im heutigen Sinn gab es noch nicht. Allerdings: Die Todesstrafe sollte (und soll auch heute noch in vielen Ländern) auch dem Motiv der Rache dienen, vielleicht auch die Illusion der Abschreckung einlösen. Das Motiv der Besserung des Täters kommt in diesen Fällen ja wohl nicht in Betracht.

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Perspektivenübernahme als bedeutsamer historischer und individueller Entwicklungsschritt In der Praxis der Tierprozesse, die den »Tätern« Entscheidungsfreiheit und moralische Urteilsfähigkeit zuschrieben, zeigt sich ein großer Entwicklungsschritt, nämlich die Entfaltung der Fähigkeit zur Perspektivenübernahme. Um die Bedeutung dieses Entwicklungsschrittes zu erkennen, sollten wir uns vor Augen führen, wie Kinder und Jugendliche die Kompetenz zur Perspektivenübernahme entwickeln und welche Bedingungen diese Entwicklung fördern oder behindern. Der Begriff der Perspektivenübernahme bezog sich in der Entwicklungspsychologie zunächst nur auf optische Perspektiven. In einem klassischen Experiment, dem berühmt gewordenen »DreiBerge-Versuch« des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget (2003), sollte ein Kind erkennen, dass eine Landschaftsplastik, die vor ihm auf dem Tisch aufgebaut ist, aus der optischen Perspektive eines Kindes, das seitlich am Tisch sitzt, anders aussieht als aus seiner eigenen. Versagt das Kind bei dieser Aufgabe, hat es das frühe Stadium des Egozentrismus noch nicht verlassen. Die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme zeigt sich nicht nur darin, dass wir erkennen, dass ein anderer die gleichen Gegenstände aus seiner Perspektive optisch anders wahrnimmt als wir. Sondern sie erstreckt sich auch auf die Motive und Absichten anderer Menschen. Ein vierjähriges Kind versteht heute, dass die Welt für andere Menschen immer eine andere ist und dass menschlichem Handeln regelmäßig Überzeugungen und Absichten zugrunde liegen. Es kann darüber nachdenken, wie Überzeugungen und Absichten bei anderen Menschen zusammenhängen, und versteht, dass Überzeugungen auch dann wirksam sind, wenn sie falsch sind. Eine Vierjährige im »False-Belief-Test« (Wimmer u. Perner, 1983) z. B., die sich überzeugt hat, dass sich in einer Keksdose Buntstifte befinden, wird annehmen, dass ein fremdes Kind, das hinzukommt, in dieser geschlossenen Dose aber Kekse vermuten wird. Dieses Kind hat im Laufe der ersten 18 Monate nicht nur die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, sondern auch eine Theory of Mind (TOM) (Fonagy, Gergely, Jurist u. Target, 2004) entwickelt, 48

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d. h., »die Fähigkeit, den Blickwinkel der Anderen einzunehmen, taucht nach und nach auf« (Fonagy u. Luyten, 2011, S. 905). Kennen wir die Motive eines anderen, können wir sein Handeln mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussagen und, noch wichtiger: Wir setzen bei dem Handeln anderer immer voraus, dass es absichtsvoll ist. Oft genug irren wir uns, wenn wir glauben, die Absichten im Handeln des anderen erkannt zu haben, und es mag sogar sein, dass diesem selbst die eigenen Motive nicht bewusst waren. Es sind gerade diese unbewussten Motive eines Menschen, die sich gleichsam hinter seinem Rücken besonders erfolgreich durchsetzen, die das Interesse der Psychoanalyse gefunden haben. Und weiter: Mit unserer Theory of Mind werden wir auch fähig, andere Menschen zu täuschen. Ein fünfjähriges Kind z. B. stellt sich vielleicht schlafend, um zu erreichen, dass die Eltern endlich das Haus verlassen, sodass es unbehelligt fernsehen kann. Täuschungen gelingen, sofern unser Gegenüber aufgrund eigener reflexiver Kompetenz die Täuschung nicht durchschaut. Besitzt er diese Kompetenz nicht, können wir ihn, wenn wir wollen, sehr weitgehend manipulieren. Und so gestalten wir unsere Beziehung zu unseren Tieren. Wir können sie sehr leicht täuschen, und weil sie unsere Manipulationen nicht durchschauen, sind sie uns hoffnungslos unterlegen. Gewiss lernt ein Haustier, nach mehrfacher Täuschung nicht mehr auf uns »hereinzufallen«: Wenn wir unsere Katze mit einer Leckerei angelockt haben, um sie zum Tierarzt zu bringen, vor dem sie sich so fürchtet, wird sie diese Täuschung im Wiederholungsfall »durchschauen«. Aber dieser »Durchblick« beruht nicht auf einer Theory of Mind, also nicht auf der Fähigkeit, über unsere Motive nachzudenken, sondern ist als Effekt eines einfachen Lernprozesses, einer operanten Konditionierung, zu erklären. Wie entwickeln Kinder diese sozialkognitiven Kompetenzen der Perspektivenübernahme und einer Theory of Mind? Wir wissen heute recht gut, dass Kinder diese Fähigkeiten und das Motiv, sie auch anzuwenden, nur in sozialen Beziehungen erlernen, und es ist vielfach dokumentiert, unter welchen Voraussetzungen diese Interaktionen förderlich sind und unter welch anderen nicht. Eine MutDie Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter

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ter muss fähig und bereit sein, die inneren Zustände ihres Kindes zu thematisieren (Fonagy u. Luyten, 2011, S. 909) und sich selbst und ihr Handeln zu kommentieren. Nur reflexive Mütter können ihre eigene Befindlichkeit thematisieren (»Ich ärgere mich über dich«), und sie können auch die inneren Zustände ihres Kindes erkennen, benennen (»Du bist jetzt traurig«) und emotional beantworten. Dadurch, dass das Kind die emotionale Antwort der Mutter erfährt, gewinnt es zunehmend die Fähigkeit, den Blickwinkel der anderen auf sich einzunehmen und von der eigenen Perspektive zu unterscheiden. Das Kind braucht also ein Gegenüber, das seine Äußerungen über seine Innenwelt kommentiert und beantwortet. Selbstreflexivität erwirbt man mitnichten allein vor dem Spiegel. Sie setzt eine sichere Bindung voraus. Gründlich untersucht wurde auch, wie Störungen in der Entwicklung der Mentalisierungsfähigkeit von Generation zu Generation weitergegeben werden. Eine Mutter, die als Kind nicht darin gefördert wurde, sich selbst zu explorieren und ein Interesse am Innenleben anderer Menschen zu entwickeln, kann dieses Interesse und diese Fähigkeit wohl kaum bei ihren eigenen Kindern wecken. Diese Kinder bleiben egozentrisch und auch deren Kinder werden wenig Neigung entwickeln, Selbstreflexivität zu entwickeln und sich in andere Menschen hineinzuversetzen. Fehlen also die anregenden Beziehungserfahrungen, unterbleiben diese Schritte der sozialkognitiven Entwicklung. Menschen mit schweren Persönlichkeitsstörungen – zu denken ist vor allem an sogenannte Borderline-Persönlichkeiten – sind oft unfähig, »zwischen eigenen inneren Zuständen und denen anderer klar zu trennen; aufgrund dieses Unvermögens findet keine Differenzierung zwischen Selbst und Anderen statt« (Fonagy u. Luyten, 2011, S. 934). Sie leiden unter einem Mentalisierungsproblem, welches dazu führt, dass sie Affekte, die sie bei sich selbst wahrnehmen, einem anderen zuschreiben und umgekehrt vermutete Gefühle anderer in sich selbst verspüren. Vereinfacht beschrieben, sind diese Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung »steckengeblieben« und ähneln insofern kleinen Kindern, die selbst auch noch sehr »durchlässig« sind. Aber: 50

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Es macht einen großen Unterschied, ob ein Kind entwicklungstypisch bestimmte sozialkognitive Kompetenzen noch nicht entwickelt hat oder ob ein psychisch kranker Mensch sich gezwungen sah, auf die Entfaltung seiner Empathiefähigkeit zu verzichten, weil seine Erfahrungen ihm dies als viel zu gefährlich erscheinen ließen. Vielleicht hat er eine Mutter erlebt, die so depressiv war, dass sie dem Kind keine emotionalen Antworten geben konnte, oder Eltern, die unberechenbar, vielleicht sogar gewalttätig reagierten und dem Kind jedes Interesse und jeden Mut nahmen, zu erforschen, was im anderen Menschen vor sich gehen mag. Einfach gesagt: In diesen Fällen fehlt nicht das Interesse am anderen, sondern es muss unbedingt vermieden werden. Der Erwachsene, der an einer solchen Persönlichkeitsstörung leidet, erscheint also nicht wie ein vierjähriges Kind, das die mentalen Kompetenzen noch nicht erreicht hat, sondern als ein Mensch, der vieles versucht hat, um seine sozialkognitiven Defizite zu kompensieren. Zum Beispiel könnte ein Jugendlicher, der oft erfahren hat, dass er sich in der Wahrnehmung der Gefühle oder Motive anderer irrt, sich angewöhnt haben, in jedem neuen Zweifelsfall böse Absichten zu unterstellen. Er ist damit »auf der sicheren Seite«. Denn stellt sich sein Vorurteil als Irrtum heraus, ist das schade, aber nicht weiter schlimm. Wenn er aber riskiert, dem Fremden gute Absichten zu unterstellen, und er irrt sich, wäre zumindest der subjektive Schaden sehr viel größer. Wegen dieser Risikoeinschätzungen sind Verhaltensänderungen so schwer zu erreichen (Körner u. Wysotzki, 2006) Entwicklung der Selbstreflexivität im Mittelalter Dem Kind des 10. Jahrhunderts wurden gewiss noch keine reflexiven Kompetenzen zugeschrieben – konkret: Die Mütter stellten sich noch nicht vor, wie das Kind eine eigene Persönlichkeit ausbildet, wie es die Welt sieht, welche Motive es entwickelt und wie es insbesondere über sich und andere und deren Innenleben nachdenkt. Wenn nun in Mitteleuropa aufgrund der sich rasch verbessernden Lebensbedingungen, der Arbeitsteilung und der Spezialisierung in Berufe die Menschen sich individualisiert und begonnen hatten, über Die Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter

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sich und über das Innenleben anderer nachzudenken, änderten sie auch ihren Umgang mit den Kindern. Die zunehmend reflexiven Erwachsenen schrieben auch ihren Kindern mehr und mehr Individualität, sogar eine Persönlichkeit zu. Säuglinge und Kleinkinder reagieren auf solche Zuschreibungen spontan und intensiv und entwickeln sich dann zusehends zu selbst-bewussten Persönlichkeiten, die auch anderen eine Innenwelt zuschreiben. In der sehr kurzen Zeit des 11. bis 13. Jahrhunderts, also in einer Zeitspanne von vielleicht nur zehn Generationen (!) erwachte, so könnte man etwas pathetisch sagen, das reflexive Individuum. Das war – und ist in jeder neuen Generation – ein riesiger Entwicklungsschritt, eine Dezentrierung, ein Abschied von der Egozentrik, mit der das Subjekt anfangs noch im Mittelpunkt der Welterkenntnis steht und nicht einsehen will, dass die Dinge nicht so sind, wie sie ihm erscheinen. Das Neugeborene von heute steht in etwa vor der gleichen Aufgabe wie das Kind im Jahre 1100, aber: Heute trifft es auf eine soziale Welt, die die Selbstentwicklung, eine Theory of Mind und das moralische Urteilsvermögen etc. von ihm erwartet, fordert und deren Entwicklung aktiv unterstützt. Man könnte daher folgende Hypothese wagen: Würde ein Kind aus dem Jahre 1100 heute geboren, würde es sich zu einem unauffälligen Menschen der Moderne entwickeln. Wie kam es dazu, dass derartige Anlagen damals schon bereitlagen? Gottes Vorsehung? Vielleicht doch nicht, sondern eher die Plastizität der Entwicklung des Subjekts. Aber daran schließt sich eine weitere Frage an: Welche menschlichen Entwicklungen werden dann in der Zukunft möglich sein? Die Menschen des hohen und späten Mittelalters haben diese Fähigkeit zur Perspektivenübernahme auch auf Tiere angewendet – z. B. in den Tierprozessen – und damit die soeben erst entstandene Distanz zum Tier gedanklich überschritten. Es ist also eine gewisse Nähe, zumindest eine Ähnlichkeit entstanden. Aber: Man darf diese Art der Nähe nicht mit der später entwickelten Empathie, also einem Einfühlungsvermögen, verwechseln. Denn die kognitive Kompetenz, sich die Ziele und Absichten eines anderen zu erschließen, bedeutet noch nicht, dass ich mich in seine Gefühlssituation 52

Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

hineinversetze, also etwa mit ihm leide, wenn ich spüre, wie traurig er ist. Dieses Einfühlungsvermögen, das dann auch auf Tiere ausgedehnt wurde, entstand erst viele Jahre später: in der Zeit der »Empfindsamkeit« (Sauder, 2003), insbesondere der deutschen Romantik. Bis in diese Zeit der deutschen Romantik müssen wir nach Erklärungen dafür suchen, dass die Menschen des hohen und späten Mittelalters einerseits mit gewachsener sozialkognitiver Kompetenz ihre moralischen Betrachtungen auf Tiere ausgedehnt und insofern die alte frühmittelalterliche »Permeabilität«, also die Unabgegrenztheit zwischen sich und den Tieren, noch beibehalten hatten, aber aus heutiger Sicht trotzdem sehr grausam mit ihnen umgehen konnten. In dieser Haltung gegenüber dem Tier zeigt sich zum einen ihre noch wenig entwickelte Empathie (die der moderne Mensch auch über Tiere oder überhaupt alle Lebewesen werfen kann), zum anderen aber auch ein Motiv, das noch besondere Beachtung verdient: Der Wunsch, sich als moralisch denkendes und handelndes Wesen vom Tier abzuheben. Und das kam so: Obwohl schon im Jahre 800 das Christentum »Staatsreligion« geworden war, dauerte es noch lange Zeit, bis die Kirche Einfluss auf das alltägliche Denken und Handeln des einfachen Menschen nahm. Das betraf z. B. die Eheschließung, die vor (und nicht in) der Kirche stattfand. Der Eheschluss war das ganze Mittelalter hindurch also ein weltlicher Akt. Und Scheidungen waren rechtlich noch ohne Weiteres möglich. Erst auf dem Konzil von Trient (1546–1563) wurde die Ehe zum Sakrament erhoben. Bis dahin beschränkte sich die Rolle des Pfarrers auf das rechtlich bedeutsame Verkünden der Eheschließung vor der Kirche, »war doch die Pfarrgemeinde auch eine Rechtsgemeinde«, und: »Nicht Sakrament, sondern Öffentlichkeit wurde gesucht« (Schubert, 2002, S. 227). Das Mensch-Tier-Verhältnis wurde von den großen Kirchen­ vätern unzweideutig als Über- und Unterordnung definiert. Thomas von Aquin z. B. sah das Tier als Ding an, und der Zweck seiner Existenz liege darin, als Nahrung für den Menschen zu dienen (Salisbury, 2011, S. 34). Und von Augustinus ist der Satz überliefert, es gebe »keine Gemeinsamkeit zwischen uns und den Tieren und Die Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter

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Bäumen« (Dinzelbacher, 2000, S. 289). Auch Franz von Assisi war nicht tierlieb im heutigen Sinne. Er achtete die Tiere als wunderbare Geschöpfe Gottes, schrieb ihnen aber keineswegs menschliche Eigenschaften zu. Die christliche Lehre von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen, seiner Hervorgehobenheit (und, so könnte man ebenfalls schlussfolgern, auch seiner besonderen Verantwortlichkeit) erwies sich nicht als eine Theologie der Befreiung, sondern eher als eine Last. Denn die Überlegenheit des Menschen sollte sich nun vor allem dadurch erweisen, dass es ihm gelänge, die Triebnatur des Tierischen, das er in sich trägt, zu überwinden oder, etwas verdunkelt formuliert, das eigene »Böse« in Schach zu halten. Das wurde ein starkes Motiv, sich vom Tiere abzuheben und das Triebhafte in ihm (und damit zugleich in sich selbst) zu verfolgen. Der Mensch jener Zeit war in große Angst geraten, »in seiner Sündhaftigkeit leicht auf die Stufe der Tiere zurückfallen« zu können (Dinzelbacher, 2000, S. 279). Aus diesem Grunde »versuchte die christliche Theologie und Katechese, Ansätze zur Tierliebe zu ersticken« (S. 288). Vermutlich ging es den Kirchenmännern weniger darum, Tiere zu entwerten, als dass sie besorgt waren um das Seelenheil der Menschen, die sich der Triebnatur der Tiere vielleicht allzu nahe fühlten. Deswegen entstanden die Bemühungen, sich vom »Tierischen« abzuheben, insbesondere in den Auffassungen von der menschlichen Sexualität jener Zeit. Zwar war auch der frühmittelalterliche Mensch durchaus nicht so unbefangen in seiner Sexualität, wie dies zuweilen behauptet wird. Aber unter dem Einfluss des Christentums geriet schon der sexuelle Triebwunsch in den Verdacht des Unmoralischen. Geschlechtsverkehr wurde, so Dinzelbacher (2003), »eindeutig in die Sphäre des Sündhaften und Teuflischen« verbannt (S. 127). Die Menschen begannen, sich für ihre sexuellen Wünsche zu schämen, wenn sie einmal nicht der Zeugung von Kindern dienen sollten. Sexuelle Erregung galt bei den Kirchenvätern als »tierisch«, Augustinus beschrieb männliche Erektionen als »bestial moments« (Salisbury, 2011, S. 62). Und auch die Wahl der Stellung beim Geschlechtsverkehr stand unter einer moralisierenden Bewertung: 54

Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

Die Geschlechtspartner sollten einander zugewandt sein und keine Stellung praktizieren, wie sie bei vielen Säugetieren üblich ist. In den Praktiken des Geschlechtsverkehrs zeige sich auch die für den Klerus damals überaus wichtige Absetzung der Christen von den Heiden. Heiden nämlich schreckten angeblich nicht vor der sündhaften Praktik »a tergo« zurück, die sie mit den Tieren gemein machte. Heilige lebten die Enthaltsamkeit auch dadurch vor, dass sie sehr häufig betont vegetarisch lebten. Nicht nur die sexuelle Enthaltsamkeit sollte das Humane betonen, sondern auch der Verzicht auf Fleisch. Denn Fleisch zu essen, war tierisch. Und in den Geschichten von Heiligen tauchten häufig Tiere auf, die zumindest in der Gegenwart des Heiligen ihre tierischen Verhaltensweisen (Fleisch fressen) unterließen und damit den paradiesischen Frieden vor dem Sündenfall noch einmal aufscheinen ließen. Homosexualität galt als unnatürlich, nicht einmal Tiere praktizierten das. Mit der Betonung der Mensch-Tier-Differenz im Einfluss des Christentums wuchs auch die Ablehnung sexueller Handlungen mit Tieren. Man glaubte, auch hierdurch die Grenze zwischen Christen und Heiden markieren zu können. Allerdings: Noch im sechzehnten Jahrhundert wurden Tausende von Ziegen in Feldzügen mitgeführt, um den Soldaten Triebabfuhr zu ermöglichten (Salisbury, 2011, S. 65; Dekkers, 2003, S. 28). Es ist gewiss kein Zufall, dass in der Zeit der Tierprozesse auch die Hexenverfolgungen aufkamen. Ab etwa 1450 überzogen Hexenprozesse die Länder Europas – nicht allein, nicht einmal vorrangig im Dienste der katholischen Inquisition (die ja vor allem Häretiker verfolgte), sondern getragen von der breiten Bevölkerung, die insbesondere verdächtig-triebhafte Frauen beschuldigte, mit dem Teufel im Bunde zu sein und Böses im Schilde zu führen. Diese Schuldprojektionen dienten wohl auch der Entlastung etwa dann, wenn im Falle eines persönlichen Unglücks, einer Krankheit oder eines großen Missgeschicks ein Schuldiger gesucht und bestraft werden musste. So versuchten sich auch die Menschen zur Zeit der großen Pest in Europa projektiv zu entlasten. Zwischen 1347 bis 1353 raffte der »schwarze Tod« (Bergdolt, 1994) in Europa etwa 25 Millionen Menschen dahin, das war vermutlich ein Drittel der damaliDie Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter

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gen europäischen Bevölkerung. Es gab damals noch keine rationalen Erklärungen für die Ursachen der Erkrankung, auch die Wege der Übertragung des Erregers waren noch ganz unbekannt. Viele Menschen glaubten daher an göttliche Strafen und sie suchten sich projektiv zu entlasten, indem sie Minderheiten, insbesondere Juden (»Brunnenvergifter«), beschuldigten und voller Wut verfolgten. Es wäre sicher zu einfach, diese Versuche der projektiven Entlastung von Schuld wie im Falle der Tierprozesse, der Hexenverfolgungen und der Judenprogrome in der Zeit der großen Pest allein auf den Einfluss der christlichen Lehre von der Sündhaftigkeit des Menschen zurückzuführen. Denkbar ist auch, dass die Entwicklung der Selbstreflexivität des Menschen, seine wachsende Entscheidungsund Handlungsfreiheit unvermeidlich die Entwicklung eines moralisches Bewusstseins nahelegte und die Frage nach persönlicher Schuld aufwarf, von der man sich dann auch projektiv befreien wollte. Zwischenfazit Der mitteleuropäische Mensch löste seine innere Verbundenheit mit dem Tier, die »archaische Permeabilität«. Er entwickelte als Folge der Arbeitsteilung und der Individualisierung sein Selbstbewusstsein und begann, über sein eigenes Innenleben und das der anderen nachzudenken (Theory of Mind). Aufgrund dieser sozialkognitiven Kompetenzen und unter dem Einfluss der christlichen Doktrin von der Gottesebenbildlichkeit des Menschen nahm er Distanz auf zu den Tieren, und zwar in vertikaler Richtung: Er begann, sich zunehmend überlegen zu fühlen. Diese Überlegenheit war aber weniger eine des Verstandes, sondern vor allem eine der Moral und der drängenden Schuldgefühle: Menschen versuchten, sich vom Tier zunehmend dadurch zu unterscheiden, dass sie das »Tierische« (oder das »Böse«) in sich bekämpften. Sie waren sich ihrer moralischen Überlegenheit aber nicht sicher und konnten immer nur wieder aufs Neue versuchen, das Animalische in sich zu überwinden. Weil dieser Kampf aber niemals wirklich gewonnen werden kann (das gilt für alle Epochen und Kulturen und bis heute), galt es, fortwährend die Mensch-Tier-Differenz zu betonen. 56

Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

Aus psychoanalytischer Sicht führte diese Neigung, das »Tierische« oder das »Böse« in sich zu bekämpfen, unverkennbar zu projektiven Phantasien, die sich in den Tierstrafen und Tierprozessen und auch in den Hexen- und Judenverfolgungen verwirklichten. Und dass der projektive Druck, mit dem sich die Menschen des Mittelalters zu entlasten suchten, bis zum 16./17. Jahrhundert sogar noch zunahm, muss wohl so verstanden werden, dass unter dem wachsenden Einfluss der Kirche die moralischen Anforderungen an den Einzelnen stark wuchsen, damit stiegen auch die Angst des Menschen vor dem Tierischen in ihm und seine Schuldgefühle. Vermutlich standen ihm auch noch nicht die reiferen Abwehrformen zur Verfügung, mit denen wir heute Schuldgefühle über das »Böse« in uns verarbeiten können: Reaktionsbildungen, Rationalisierungen oder die Sublimierung. So ist es dann doch kein Widerspruch, dass gerade in der Zeit der heraufdämmernden Renaissance die Hexenverfolgungen ihren Höhepunkt fanden, denn das Humane musste sich zunächst »in der Absetzung vom Bestialischen« (Meyer, 2000a, S. 380) erweisen. Daneben bleibt der Eindruck, dass der mittelalterliche Mensch zwar sozialkognitive Kompetenzen erwarb, aber in seiner Fähigkeit und Bereitschaft, sich in den anderen – auch in das Tier – einzufühlen, noch wenig entwickelt hatte. Denn diese Empathie setzt eine frühkindliche Beziehungserfahrung voraus, die in einer mittelalterlichen Bauernfamilie (und dies betraf 90 % der Bevölkerung) noch nicht möglich war. Dinzelbacher (2003) meint zwar: Im »hohen Mittealter zeigten immer mehr Eltern eine empathische Haltung ihren Kindern gegenüber«, aber er fährt fort: »Freilich spricht alle Wahrscheinlichkeit dafür, dass es sich hier vorerst um eine nur kleine Gruppe von Menschen handelte« (S. 136).

DIE MENSCH-TIER-BEZIEHUNG IN DER NEUZEIT Wie beschrieben, hatte sich auch der einfache Mensch des hohen Mittelalters im Zuge seiner Individualisierung selbstreflexive Fähigkeiten angeeignet und er hatte begonnen, sich in andere Menschen Die Mensch-Tier-Beziehung in der Neuzeit

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hineinzudenken (Theory of Mind). Unter dem wachsenden Einfluss der christlichen Lehre von der Sonderstellung des Menschen gegenüber dem Tier nahm er Distanz zu den Tieren auf, fürchtete aber immer, seine moralische Überlegenheit zu verlieren und bekämpfte das »Animalische« in sich und dort, wo es ihm bedrohlich nahekam: In »bösen« Tieren und in Menschen – vor allem Frauen –, die vom Teufel verführt oder gar besessen waren. Auffällig ist, dass die in Ansätzen schon gut erkennbar werdende moderne Persönlichkeit, die in Tierprozessen den »schuldig« gewordenen Tieren sogar moralische Verantwortlichkeit zuschreiben konnte, noch sehr wenig Mitgefühl mit leidenden Tieren und Menschen empfand. Sie hatte sich zwar von den Tieren entfernt, aber noch nicht begonnen, die hergestellte Distanz zu ihnen mithilfe des Einfühlungsvermögens, der Empathie, zu überbrücken.

Renaissance, Aufklärung, Romantik In der humanistischen Bewegung der Renaissance des 15. und 16.  Jahrhunderts setzte sich der Prozess der Distanzierung des Menschen von der Tierwelt fort. Zumindest der gebildete Mensch definierte sich geradezu »in Absetzung vom Bestialischen« (Meyer, 2000a, S. 380), er lehnte sich an die Ideale der Antike und deren Anthropozentrismus an. Ab 1500 setzte ein Bildungsschub ein, der Buchdruck mit beweglichen Lettern war erfunden, er förderte die Alphabetisierung, die natürlich zunächst im Adel, im Klerus und in den rasch wachsenden Städten einsetzte. Das Interesse an der individuellen Persönlichkeit zeigte sich in der bildenden Kunst (Leonardo, Raffael, Michelangelo, Dürer), die Künstler verließen die typisierende Bildersprache des Mittelalters und erfassten das Einmalige, Besondere einer Persönlichkeit. Ein beeindruckendes Beispiel ist das Porträt, das Albrecht Dürer von seinem sichtbar gealterten Lehrer Michael Wolgemut (1516) zeichnete. Auch die Künstler selbst traten in Erscheinung, sie signierten ihre Bilder und gaben sich als Gestalter zu erkennen. Die Maler entwickelten die Zentralperspektive, und sie entdeckten die Schönheit der Landschaft und der Tiere. 58

Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

In der Individualisierung distanzierten sich die Menschen von den Tieren, sie feierten die Errungenschaften ihrer kritischen Erkenntnisfähigkeit und ihres moralischen Urteilsvermögens. Insofern fühlten sich die Menschen im Humanismus den Tieren weit überlegen, und sie hatten die Angst des spätmittelalterlichen Menschen vor »Rückfällen« in tierisch-triebhaftes Erleben hinter sich gelassen. Aus dieser Sicherheit heraus konnten sie sich dann den Tieren durchaus zuwenden und die Tiere um ihre Umweltgebundenheit und Instinktsicherheit sogar beneiden. Deren Unmittelbarkeit und Unverstelltheit erschien ihnen als glücklicher Naturzustand (Meyer, 2000a, S. 394), von dem sich die Menschen sogar entfremdet fühlen mochten. In der Aufklärung (etwa 1650 bis 1800) nahm die subjektiv empfundene Mensch-Tier-Differenz dann noch einmal zu. Genauer gesagt: Die Mensch-Tier-Differenz spielte im Erleben der Menschen kaum noch eine Rolle, denn die Überlegenheit des Menschen gegenüber dem Tier »verstand sich von selbst« (Meyer, 2000, S. 389). Der Glaube an die Vernunft, mit der die Probleme des menschlichen Zusammenlebens gelöst werden könnten, beförderte die (Natur-)Wissenschaften, die sich zunächst noch nicht unter dem Einfluss der ökonomischen Interessen entwickelten, sehr wohl aber die Industrialisierung ermöglichten: James Watt erfand 1796 die Dampfmaschine, 1764 wurde die Spinnmaschine, 1785 der Webstuhl erfunden. Zumindest die gebildeteren Menschen wurden sich der MenschTier-Grenze zunehmend sicher. Ihr Verstand schien ihnen einen uneinholbaren Vorsprung zu sichern. Damit befreiten sie sich noch weiter aus der Notwendigkeit, das Animalische in sich zu bekämpfen. Sie verloren nun fast gänzlich die Angst vor den Tieren und wandten sich ihnen neugierig zu. Aus der sicheren Distanz und Überlegenheit konnten sie nun gefahrlos das christliche Gebot, Tiere als Geschöpfe Gottes zu achten, befolgen. Zwar bewunderten sie die Tiere wegen ihrer imponierenden Sinnesleistungen und Instinktsicherheit, erkannten aber auch, dass diese Instinktgebundenheit zwar Verhaltenssicherheit ermöglicht, zugleich aber von außen wie ein Gefängnis aussieht, aus dem das Tier niemals herausfindet. Die Mensch-Tier-Beziehung in der Neuzeit

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Erst im 18. Jahrhundert setzte sich die Vorstellung von der Empfindungsfähigkeit der Tiere durch. Tierquälerei wurde in mehreren Ländern Europas bestraft. Die Jagd geriet in kritische Zweifel und die weitverbreiteten Hetztheater und Tierkämpfe als Veranstaltungen zur Belustigung wurden von den gebildeten Schichten mehr und mehr abgelehnt. Und 1838 wurde in Deutschland der erste Tierschutzverein gegründet. Allerdings gründeten auch diese »tierfreundlichen« Haltungen noch nicht in einfühlsamen Empfindungen, sondern eher in einer Pflicht des Menschen vor sich selbst: Nur »ein niederes und unedles Volk« dulde Tierquälerei, meinte Alexander von Humboldt. Und Immanuel Kant zweifelte zwar nicht an der Empfindungsfähigkeit der Tiere, aber sie rücksichtsvoll zu behandeln, soll den Menschen vor allem vor der eigenen Verrohung schützen. Die Mahnung, mit Tieren achtsam umzugehen, war also insofern anthropozentrisch, als sie der (Selbst-)Erziehung des Menschen dienen sollte, denn die Achtung vor dem Tiere war nun eine Pflicht des Menschen, die er sich selbst schuldete (Meyer, 2000a, S. 329). In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildeten sich jene Einstellungen zum Tier, die schließlich in die moderne Tierliebe mündeten. Die deutsche Romantik war als Gegenbewegung zu dem aufklärerischen Primat der Vernunft und der Strenge des von der Antike inspirierten Klassizismus entstanden. Die rasche Industrialisierung, das rasante Wachstum der Städte und die Landflucht entfremdeten den Menschen von der Natur und begünstigten diese Strömungen: die Sehnsucht nach der Verbundenheit mit einer idealisierten Natur, nach Zusammenführung des Gegensätzlichen zu einem harmonischen Ganzen. An die Stelle des Primats der Vernunft trat die Empfindsamkeit des Individuums, das Gefühl, die Leidenschaft und das Mitgefühl mit der gequälten Seele. Dieser Wandlungsprozess zeigt sich auch in der Entwicklung des Kinderspielzeugs (Berger, 1989). In früheren Jahrhunderten gab es nur wenig Tierspielzeug, und wenn, hatte es symbolischen Charakter, wie z. B. das Steckenpferd: Ein stilisierter Pferdekopf, auf einem Stecken angebracht, mit dem Kinder wie auf einem Besenstiel ritten. Erst im 19. Jahrhundert tauchte das Schaukelpferd auf, das Pferde 60

Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

schon möglichst naturgetreu darstellte, vielleicht sogar mit echtem Leder überzogen und mit einer Mähne aus Pferdehaar. Dann wuchs auch die Nachfrage nach möglichst naturähnlichem Tierspielzeug, ausgestopfte Tiere wurden begehrt und Kinder nahmen kuschelige Bären, Löwen und Tiger mit ins Bett. Es war das Zeitalter der Deutschen Empfindsamkeit. Schon 1727 hatte Johann Sebastian Bach die Matthäus-Passion uraufgeführt, ein Oratorium, das bei aller formalen Strenge im Text und in der Komposition sehr emotional wirkte. (Allerdings geriet dieses Werk nach seiner Uraufführung wieder in Vergessenheit, bis es mehr als einhundert Jahre später von Mendelssohn Bartholdy wiederentdeckt wurde). Einflussreiche Dichter dieser Zeit waren Friedrich Gottlieb Klopstock (1724–1803), Christian Fürchtegott Gellert (1715–1769) und Johann Wolfgang von Goethe, der 1774 »Die Leiden des jungen Werther« veröffentlichte. Das Gefühl des Mitleids, das zunächst religiös motiviert war, wurde gleichsam säkularisiert, also herausgelöst aus den religiösen Kontexten und zu einer Emotion des Alltags, geradezu ein Wesensmerkmal sittlicher Menschen. Und zunehmend legten sich die Empfindsamkeit und das Mitleid auch über die Tiere. Ein sehr bekanntes Beispiel für die überaus gefühlshafte Beziehung zum Tier ist das Gedicht »Als der Hund tot war« von Matthias Claudius aus dem Jahr 1775: »Alard ist hin, und meine Augen fließen Mit Tränen der Melancholie! Da liegt er tot zu meinen Füßen! Das gute Vieh! Er tat so freundlich, klebt’ an mir wie Kletten, Noch als er starb an seiner Gicht. Ich wollt’ ihn gern vom Tode retten, Ich konnte nicht. Am Eichbaum ist er oft mit mir gesessen, In stiller Nacht mit mir allein; Alard, ich will dich nicht vergessen, Und scharr’ dich ein, Wo du mit mir oft saß’st, bei unsrer Eiche, Die Mensch-Tier-Beziehung in der Neuzeit

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Der Freundin meiner Schwärmerei. – Mond, scheine sanft auf seine Leiche! Er war mir treu.« (Claudius, 1775/1975, S. 27)

Hetztheater, Tierkämpfe und der lange Weg in die Moderne Die künstlerischen Werke der Romantik und der Zeit der Empfindsamkeit scheinen jene Epoche für uns bis heute auf eindrucksvolle Weise zu repräsentieren. Aber wir übersehen doch gern, dass diese geistigen Strömungen vor allem vom Bildungsbürgertum getragen wurden. Die einfachen Menschen und insbesondere die zahlenmäßig immer noch dominierende Landbevölkerung dachten (noch) nicht daran, sich dem Tiere empfindsam zuzuwenden. Vermutlich müssen wir mit einem sehr kontrastreichen Nebeneinander von humanistischen Idealen einer kleinen gebildeten Oberschicht einerseits und einem in der breiten Bevölkerung vorhandenen, aus heutiger Sicht rohen Umgang mit Tieren (und mit Menschen) rechnen. Vielleicht stellen diese Gegensätze nur eine subjektive Seite tiefgreifender ökonomischer und sozialer Veränderungen dar: Immer mehr gebildete Menschen in den Städten, Adelige, Beamte und der Klerus lebten von der Arbeitskraft der Bauern, die aufgrund ständig wachsender Abgaben selbst aber zunehmend verarmten und denen eine breite Bildung zu jener Zeit noch versagt blieb. Dass seit der Renaissance so viele einflussreiche Kunstwerke entstehen konnten, war ja den Mäzenen der Feudalgesellschaft und zunehmend auch den Zuwendungen der ersten großen Bankhäuser (Fugger, Medici) zu verdanken, die sehr viel Kapital ansammelten, durchaus auch zulasten der breiten Schichten der Bevölkerung auf dem Lande. Diese hatten sich schon im 16. Jahrhundert gegen die ausbeuterische Feudalgesellschaft aufgelehnt und in Süddeutschland um 1524 die Bauernkriege angezettelt. Ein Beispiel für ein aus heutiger Sicht schwer begreifliches Nebeneinander von romantischer Literatur und Musik einerseits und mitleidslosem Umgang mit Tieren andererseits bietet die bis ins 19. Jahrhundert verbreitete Praxis der Tierkämpfe und Hetztheater. 62

Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

Tierkämpfe in der Tradition der römischen Zirkusspiele waren bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sehr verbreitet: Man hetzte Tiere der gleichen Art (z. B. zwei Stiere) oder unterschiedlicher Arten (Hunde und Bären gegen Stiere) aufeinander, bis eines von beiden unterlag und in der Regel an seinen Verletzungen starb. In England wurden die Bulldoggen bis 1835 zum Zwecke des »Bullenbeißens« gezüchtet; erst später änderten sich allmählich die Zuchtziele. In Berlin hatte Kurfürst Friedrich III. noch im Jahr 1693 ein »Jagdtheater« einrichten lassen, in dem Löwen, Tiger und Bären auftraten und zur Belustigung des Publikums kämpfen mussten. Bei Tierhetzen wurden vor allem abgerichtete Hunde auf andere Tiere, z. B. Füchse oder Dachse, aber auch Esel oder Bären losgelassen, um sie zu töten. Häufig wurden dem Opfer zuvor die Zähne ausgerissen oder es wurde geblendet und festgebunden, also weitgehend wehrlos gemacht, sodass die Hunde nicht zu sehr zu Schaden kamen und wieder eingesetzt werden konnten. Derartige Tierhetzen fanden in »Hetzgärten« statt, zum Vergnügen des Volkes, und man konnte Wetten abschließen etwa über die Zeit, die der Hund benötigte, sein Opfer zu töten. Die »Hetzgasse« im dritten Wiener Gemeindebezirk erinnert noch heute an dieses Hetztheater (Roth, 1991). Ein beliebtes Vergnügen, vor allem in höfischen Kreisen, war das Fuchsprellen. In einer eigens hierzu angelegten Arena oder im Innenhof von Schlössern oder Burgen standen sich die Spielerpaare gegenüber, zwischen sich ein circa sieben Meter langes und dreißig Zentimeter breites Tuch, das sie ruckartig straff zogen, sobald eines der Tiere (ein Fuchs, eine Katze, ein Marder, ein Dachs oder ein Kaninchen) darüber lief. Diese Tiere hatten keine Wahl, sie mussten die Tücher überqueren, die in großer Zahl nebeneinander ausgelegt worden waren. Es war also eine Art Geschicklichkeitsspiel, bei dem es darauf ankam, dass das Paar den rechten Augenblick, in dem das Tier das Tuch betrat, abpasste, das Tuch an seinen Enden so koordiniert ruckartig anzog, dass das Tier in die Höhe katapultiert wurde und sich bei der Landung verletzte. Zuweilen wurden die Opfertiere zum Vergnügen der Zuschauer auch kostümiert und dadurch noch lächerDie Mensch-Tier-Beziehung in der Neuzeit

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lich gemacht. Jäger standen bereit, die verletzten oder bewusstlos gewordenen Tiere zu töten – überhaupt figurierten diese Veranstaltungen als Jagdvergnügen; die Spielteilnehmer waren häufig entsprechend gekleidet. Das Fuchsprellen kam erst aus der Mode, als die höfischen Kreise in der Zeit der Empfindsamkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zu weniger grausamen Vergnügungen, z. B. dem Federballspiel übergingen. Auch an diesem Beispiel ist zu erkennen, dass die Bereitschaft, Mitleid mit Tieren zu empfinden, zunächst in den gebildeteren Schichten wuchs, sodass sich Veranstaltungen wie die Tierkämpfe in dieser Zeit auf die Tummelplätze des gemeinen Volkes verlagerten und dort auch noch eine Zeit lang praktiziert wurden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden Tierkämpfe und Tierhetzen in Europa nach und nach verboten, in Deutschland erst Mitte des 19. Jahrhunderts unter Strafe gestellt. Allerdings gibt es auch heute noch in Deutschland illegale Hundekämpfe. Hahnenkämpfe sind in zahlreichen Ländern Mittel- und Südamerikas immer noch verbreitet und auch nicht verboten. Insbesondere auf den Philippinen sind Hahnenkämpfe überaus beliebt, und sie stellen wegen der hohen Preise für Kampfhähne und der riesigen Wettumsätze einen bedeutenden Wirtschaftsfaktor dar. Im Jahre 2014 zerschlug die New Yorker Polizei einen Hahnenkampfring und befreite auf einen Schlag 6.000 Tiere. Die Zuschauer hatten Tausende Dollars auf die Sieger gesetzt (Brunner, 2015). Zweifellos gehört auch der spanische Stierkampf in die Tradition der Tierkämpfe, auch wenn hier die erniedrigende Geste gegenüber den Tieren mehr oder weniger fehlt, die für die Tierkämpfe der zurückliegenden Jahrhunderte so typisch war. Auch könnte man einräumen, dass ja der Stier durchaus eine, wenn auch geringe Chance habe, diesen Kampf zu gewinnen. Ob er dann überleben darf, ist aber wohl fraglich. Diese kleine Chronik der Tierhetzen, Tierkämpfe und des Fuchsprellens soll veranschaulichen: •• Wie weit der Weg war von den öffentlich zur Schau gestellten sadistischen Tierkämpfen und Hetzjagden noch Ende des 64

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18. Jahrhunderts bis zu dem modernen Tierschutzgesetz Deutschlands von 2006, das verbietet, dem Mitgeschöpf Tier »ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zu[zu]fügen« (§ 1, Tierschutzgesetz). •• Wie kurz aber die Zeitspanne war, in der dieser Weg zurückgelegt wurde (umgerechnet vielleicht nur acht Generationen). •• Wie groß im internationalen Vergleich die soziokulturellen Unterschiede sind zwischen der völlig legalen Aufführung von Hahnenkämpfen auf den Philippinen, den Stierkämpfen in Spanien und etwa dem Verbot des »Preisangelns« in Deutschland.

Die neuzeitliche Mensch-Tier-Beziehung aus psychologischer Perspektive In den zurückliegenden Abschnitten haben wir zwei Wege betrachtet, mit denen Menschen eine Brücke zum anderen zu schlagen versuchen: die Affektansteckung als Resonanzphänomen und die Perspektivenübernahme, mit der sich der Mensch des Mittelalters bis in die Neuzeit hinein eine Vorstellung vom Innenleben der Tiere (und der Menschen) zu machen versuchte. Aber erst ab Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelten die Menschen Empathie, also die Fähigkeit und Bereitschaft, sich in andere Menschen und auch in die Tiere einzufühlen. Einen Meilenstein in der Entwicklung der Tierliebe im modernen Sinne setzte der englische Jurist und Philosoph Jeremy Bentham (1748–1832), als er 1789 (1789/1928) die Missachtung der Empfindungen der Tiere kritisierte und schrieb: »Die Frage ist nicht: Können sie verständig denken? Oder: Können sie sprechen?, sondern: Können sie leiden?« (siehe auch Meyer, 2000a, S. 403). Dieser Text wurde zu einer wichtigen und oft zitierten Grundlage für die Tierschutzbewegung bis in die Gegenwart. Zunächst aber, zum Ende des 18. Jahrhunderts waren die Ziele der Tierschützer noch recht schlicht, denn es galt erst einmal, gegen Tierkämpfe und Hetztheater vorzugehen. Mit unserer Perspektivenübernahme und Theory of Mind versuchen wir, die Innenwelt eines anderen Menschen zu ergründen, seine Motive und Absichten zu erraten und zu erfassen, mit welchen Die Mensch-Tier-Beziehung in der Neuzeit

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S­ innerwartungen er seine Welt interpretiert. Mit der Empathie gehen wir darüber hinaus: Wir versuchen, die emotionale Lage des anderen, seine Gefühle zu erspüren und in uns stellvertretend für ihn nachzuempfinden. Das kann sehr schwierig sein, z. B. dann, wenn wir ein Gefühl erfassen und nacherleben wollen, das mit unserer eigenen inneren Situation nicht übereinstimmt. Ein Beispiel: Ich höre, dass ein Freund seinen Hund, an dem er sehr hing, durch einen Unfall verloren hat. Ich fühle, wie traurig der Freund sein wird – obwohl ich diesen bissigen und kläffenden Hund ganz schrecklich fand und, wenn ich ehrlich bin, sogar fast erleichtert bin, dass er endlich tot ist. Das Wesentliche an diesem Beispiel liegt zum einen darin, dass es für meine Einfühlung ausreicht, von dem Freund, der seinen Hund verlor, nur zu hören. Er muss nicht anwesend sein, wenn ich mich einfühlen will, denn ich kann es mir selbst vorstellen, sofern ich überhaupt ein Gefühl von Trauer in mir zulassen kann und will. Darin liegt schon ein bedeutender Unterschied zur Affektansteckung, die nur als unmittelbares, dann aber kaum fehlgehendes, allenfalls vermeidbares Resonanzphänomen denkbar ist. Zum anderen müssen wir uns vor Augen führen, dass jeder Einfühlung ein eigener, subjekthafter, unzweifelhaft egozentrischer Entwurf zugrunde liegt. Wir greifen in der Einfühlung unvermeidlich auf eigene Modellvorstellungen zurück: Wie würde es sich für mich anstelle des Freundes anfühlen, einen geliebten Hund zu verlieren (obwohl ich seinen Hund selbst ganz schrecklich fand)? Unser Einfühlungsvermögen setzt also voraus, dass wir möglichst passende Modellvorstellungen jener Gefühle, die wir nachempfinden wollen, zur Verfügung haben. Wir können aber nie sicher sein, ob wir die Gefühlslage eines anderen richtig erfasst haben, auch dann nicht, wenn er vor uns steht. Wegen dieser Unsicherheit sind wir darauf angewiesen, uns im Dialog fortlaufend über unsere wechselseitigen empathischen Entwürfe zu informieren und sie gegebenenfalls zu korrigieren. Das versuchen wir im Alltag unablässig (Buchholz, 2013). Nicht immer aber sind wir wirklich interessiert zu erfahren, ob wir uns »richtig« eingefühlt haben. Viel häufiger mag es vorkommen, dass wir einfach zu wissen glauben, was der andere fühlt, und dann warten wir 66

Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

gar nicht erst seine Bestätigung ab. Oder wir sind sogar überzeugt davon, dass wir das Innenleben des anderen besser kennen als er selbst. So hören wir vielleicht eine Mutter zu ihrem Kind sagen: »Du bist nicht böse, du bist nur müde.« Der subjekthafte Entwurfscharakter der Empathie eröffnet uns die Möglichkeit, uns nicht nur in Menschen, sondern auch in Tiere »einzufühlen«. (Manche Menschen behaupten sogar, sich in Pflanzen – es sind ja Lebewesen! – »einfühlen« zu können.) In Wahrheit erfassen wir natürlich nicht die Gefühlssituation des Tieres, sondern wir entwickeln eine Phantasie darüber, was wir z. B. als Hund oder als Katze wohl empfinden würden. Während wir in der Beziehung zu anderen Menschen wenigstens den Versuch machen können, uns mit ihnen über unseren empathischen Entwurf zu verständigen (»Ich spüre doch, wie du dich ärgerst – richtig?«) und der andere unsere Mutmaßung bestätigen oder zurückweisen kann, haben wir es im Falle eines Tieres sehr viel einfacher: Es kann unserem »empathischen« Entwurf nicht widersprechen, und solange wir keine groben Fehler machen, können wir glauben, dass wir die Gefühle unseres Hundes »richtig« nachempfunden haben. Er wird uns das Illusionäre und Egozentrische unserer Empathie nicht vorhalten und dafür lieben wir ihn umso mehr. (Darüber ausführlich im nächsten Kapitel.) Ähnlich wie im Falle einer mangelnden Perspektivenübernahme können wir aus entwicklungspsychologischer Perspektive auch diejenigen Fehlentwicklungen untersuchen, die bei Kindern zu einem Empathiemangel führen und eine Parallele zur Persönlichkeitsentwicklung im frühen Mittelalter sehen. Voraussetzung für die Entwicklung des Einfühlungsvermögens ist natürlich die kognitive Kompetenz der Perspektivenübernahme und einer Theory of Mind. Darüber hinaus aber muss das Kind Beziehungserfahrungen machen, die es ermutigen, andere Menschen als positive Modelle in sich aufzunehmen und zu repräsentieren. Desinteressierte oder gar feindselige Eltern erzwingen eine unsichere Bindung, sie erschweren nicht nur den Aufbau der Mentalisierungsfähigkeit und der Theory of Mind, sondern sie legen es dem Kind durchaus nahe, sich gerade nicht mit anderen Menschen zu identifizieren, sich in sie und deren Die Mensch-Tier-Beziehung in der Neuzeit

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Gefühle hineinzuversetzen. Dieses Kind bleibt wahrscheinlich egozentrisch und empfindet auch kaum Mitleid angesichts einer leidenden Kreatur. Der Begriff der Einfühlung ist eine Wortschöpfung der deutschen Romantik (Körner, 1998). Anfangs noch als »Einsfühlung« gebraucht, meinte sie zunächst das Gefühl der Verbundenheit mit der Natur, die Bereitschaft, sich etwa von der düsteren Atmosphäre eines Waldes oder einem drohenden Wetterleuchten ansprechen zu lassen. Der deutsche Philosoph und Psychologe Theodor Lipps (1851–1914) definierte »Einfühlung« als einen intrapsychischen Prozess. »Sich einfühlen« ist ein transitives Verb, es zielt also nicht auf ein Objekt (man kann nicht jemanden einfühlen), und es ist reflexiv: Ich fühle mich (in jemanden) ein. Der Begriff der Empathie (übersetzt etwa »Mit-Leiden«) wurde zwar schon von dem deutschen Philosophen Rudolf Herrmann Lotze (1817–1881) verwendet, bekannt wurde er aber im Deutschen erst, nachdem der amerikanische Psychologe Edward B. Titchener das Wort Einfühlung ins Englische mit »empathy« übersetzt hatte. Dort wurde aus dem reflexiven »sich einfühlen« ein »to empathize with someone«. Glücklicherweise kam noch niemand auf die Idee, auch das Verb »to empathize with you« einzudeutschen und eine so grauenvolle Wendung wie »Ich empathiere dich« vorzuschlagen. Seit der Zeit der deutschen Romantik also neigen wir dazu, uns in andere Menschen, aber auch in Tiere oder überhaupt in Lebewesen, sogar auch in Pflanzen einzufühlen. Ich vermute, dass sich die Menschen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend entfremdet fühlten von der Natur und versuchten, den Graben zu überwinden, der sie von der Welt trennte. Natürlich waren sie immer schon getrennt von der Natur, sieht man einmal von der möglicherweise animistischen Vorstellungswelt des frühmittelalterlichen Menschen ab, aber diese Getrenntheit war ihnen lange nicht bewusst gewesen – im Gegenteil: In der Renaissance und in der Zeit der Aufklärung waren sie gewiss stolz darauf, Distanz zum »Tierischen« auch in sich selbst aufgenommen zu haben. Aber nun fühlten sie sich plötzlich allein. Das waren sie schon immer gewesen, 68

Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

aber sie hatten es nicht gewusst. Den Tieren war das freilich immer schon gleichgültig, sie rechnen ja gar nicht mit uns. Wichtig ist mir daran zu erinnern, dass jeder Einfühlungsversuch notwendigerweise egozentrisch ist; immer greifen wir auf eigene, mehr oder weniger bewusste Erlebensmuster zurück und projizieren sie auf den anderen. Und da wir kaum sicher sein können, ob wir die Gefühlslage eines anderen – und erst recht die eines Tieres – »richtig« erfassen, bleibt eine Ungewissheit, die wir aber wohl gern verleugnen. In der Beziehung zu anderen Menschen können wir diese Ungewissheit dadurch überspielen, dass wir uns sprachlich darüber verständigen, inwieweit wir mit unseren empathischen Entwürfen fehlgehen bzw. richtig liegen. Das Tier aber spricht nicht mit uns. Es schaut uns an, wie es andere Tiere anschaut. Für Menschen hat es keinen besonderen Blick reserviert. Doch wir aber empfinden den Blick des Tieres als vertraut (Berger, 1989). Wie illusionär unsere Einfühlung werden kann, sehen wir, wenn wir auch niederen Tieren oder sogar Pflanzen ein Seelenleben zuschreiben. Und weil wir die Tiere aufgrund unserer kognitiven Überlegenheit weitgehend ohne ihre Gegenwehr verwenden können, ergibt sich für den modernen Menschen die Verpflichtung, in seiner Beziehung zu den Tieren seine Egozentrik zu kontrollieren und kritisch zu sein gegenüber eigenen Entwürfen einer MenschTier-Beziehung.

Die Mensch-Tier-Beziehung in der Neuzeit

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  WIE WIR DIE TIERE VERWENDEN

Im zurückliegenden Kapitel haben wir uns vor Augen geführt, wie der neuzeitliche Mensch in Mitteleuropa die höheren kognitiven Kompetenzen der Perspektivenübernahme und Empathie entwickelt hat und in der deutschen Romantik dazu überging, sich auch in die Tiere einzufühlen. Menschen glauben seither, sich vorstellen zu können, was in den Tieren vor sich geht, was sie empfinden und sogar, was sie denken und planen. Sie täuschen sich darüber hinweg, dass all diese empathischen Entwürfe rein spekulativ sind und dass sie niemals wirklich die Innenwelt eines Tieres erfassen werden. Aber sie können es nicht lassen: Abgesehen von wenigen pathologischen Einzelfällen – etwa einer autistischen Störung – müssen sie versuchen, sich in den anderen einzufühlen, und sie werfen ihre Empathie nicht nur über andere Menschen, sondern auch über die Tiere, zumindest über die, die ihnen nahe stehen.

MENSCHEN SIND ANGEWIESEN AUF DEN ANDEREN In ihren ersten Lebensmonaten sind Menschen vollkommen hilflose »Mängelwesen«, also auf andere angewiesen, um biologisch überleben zu können. Ebenso dringlich benötigen sie die Erfahrung einer sozialen Beziehung, müssen emotionale und feinfühlige Resonanz erleben, um sich entwickeln zu können. Der Psychoanalytiker René Spitz wies schon Anfang der 1950er Jahre nach, dass Kleinkinder,

denen die Beziehungserfahrung vorenthalten wird, schwere und dauerhafte Hospitalismusschäden davontragen. Seine Filme, die er in Heimen und Krankenhäusern drehte, erschütterten die Öffentlichkeit3 und lösten eine intensive Debatte über frühkindliche Entwicklung und die Betreuung von Kleinkindern in Heimen und Krankenhäusern aus. Schon Kaiser Friedrich II. (1194–1250) hatte Kleinkinder ohne Bindungserfahrung aufwachsen lassen. Sie wurden ernährt, erfuhren aber keine menschliche Resonanz. Friedrich wollte eigentlich herausfinden, welche Sprache diese Kinder sprechen würden, wenn nie mit ihnen gesprochen wird. Allein, sie kamen gar nicht so weit, denn alle Kinder starben frühzeitig. Sie überlebten nicht, weil ihnen die lebensnotwendigen sozialen Kontakte fehlten. Heute wissen wir viel mehr darüber, wie sehr Menschen in ihrer Kindheitsentwicklung auf soziale Kontakte angewiesen sind. Es gehört zu der basalen Ausstattung eines Neugeborenen, dass es schon wenige Stunden nach seiner Geburt den sozialen Dialog sucht, und ungezählte Filmaufnahmen führen uns vor Augen, in welche Verzweiflung ein Kind gerät, wenn ihm die soziale Resonanz vorenthalten wird – sei es, dass es in einem Heim oder im Krankenhaus ohne persönliche Ansprache bleibt, sei es auch, dass die ersten Bezugspersonen aufgrund eigener seelischer Erkrankungen nicht fähig sind, auf ihr Kind emotional zu antworten. Weiter: Auch die Entwicklung des Selbstbewusstseins »ist eingebettet in soziale Zusammenhänge« (Gabriel, 2015, S. 178). Ohne soziale Kontakte wäre es uns nicht möglich, ein Bewusstsein unseres Selbst zu entwickeln, diese Einsicht verdanken wir unter anderem George Herbert Mead (in jüngerer Zeit Prinz, 2016) und seiner Theorie des sozialen Interaktionismus. Denn mit Selbstbewusstsein meinen wir ja die Fähigkeit, ein Bewusstsein vom eigenen Bewusstsein zu haben, wir nehmen gleichsam eine Außenperspektive auf uns ein, und diesen Standpunkt gewinnen wir nur, wenn wir sehr früh schon erleben, wie andere feinfühlig auf uns reagieren und uns den 3 Ein Beispiel unter www.youtube.com/watch?v=VvdOe10vrs4 (Zugriff am 19.04.2017).

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Wie wir die Tiere verwenden

Eindruck vermitteln, dass auch sie über ein Bewusstsein verfügen und wir in ihnen gleichsam vorkommen (Prinz, 2016). In psychoanalytischer Perspektive erscheint noch ein anderer zwingender Grund für die Angewiesenheit des Menschen auf den anderen. Dieser Grund entstand paradoxerweise im Zuge der Selbstentwicklung der Menschen, die sich mit dem wachsenden Bewusstsein ihrer selbst und ihres moralischen Urteilsvermögens vom Tier entfernten. Diese Entwicklungsschritte befreiten die Menschen zwar aus der Instinktgebundenheit der Tiere, stürzten sie aber auch in vielfache Unsicherheiten, die sie nur in der Beziehung zu anderen bewältigen können. Menschen sind, wie Friedrich Nietzsche sagte, das »nicht festgestellte Tier«, das bedeutet, dass sie nur von Residuen alter Instinkte gesteuert werden. Sie sind also auch insofern »Mängelwesen«, als ihnen die angeborene Verhaltenssicherheit fehlt, die wir bei vielen Tieren beobachten und bewundern können. Tiere scheinen immer zu wissen, was als nächstes zu tun sein wird (tatsächlich wissen sie es natürlich nicht, sie machen sich einfach gar keine Gedanken), während Menschen sich permanent entscheiden müssen und sich oft genug in inneren Konflikten befinden. Welches sind nun die Unsicherheiten oder Ängste, denen wir im Lauf unseres Lebens unvermeidlich begegnen und die wir mithilfe der anderen zu bewältigen versuchen? Bei der folgenden Aufzählung orientiere ich mich an den Konflikttypen der Operationalisierten Psychodynamischen Diagnostik (Arbeitskreis OPD, 2004), ferner an den schon älteren Modellen von Erikson (1988) und Riemanns Grundformen der Angst (1976): 1) Die erste Unsicherheit, die Menschen in ihrer Kindheitsentwicklung ertragen müssen, entsteht mit dem erwachenden Selbstbewusstsein. Das Kind entdeckt sich als ein Ich; das ist vielleicht von außen betrachtet ein erhebender Augenblick, aber dieses Ich-Bewusstsein führt dem Kind zwangsläufig den »Schrecken vor dem Nicht-Ich« (Manfred Pohlen, 1986, pers. Mitteilung) vor Augen, also die Angst, verloren gehen zu können, die Angst vor dem Tode. Einfach gesagt: Wenn ich weiß, dass es mich gibt, gerate ich unvermeidlich in die Menschen sind angewiesen auf den anderen

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ängstigende Vorstellung, dass es mich auch nicht geben könnte. Tiere hingegen wissen nicht, dass es sie gibt, und sie können sich auch nicht vorstellen, dass es sie nicht geben könnte; sie haben daher auch keine Angst vor dem Tod. Wie bewältigen Menschen diesen »Schrecken vor dem NichtIch«? Indem sie sich im anderen gespiegelt sehen. Winnicott sprach vom »Glanz im Auge der Mutter«, den das Kind sehen soll, um sich in der Welt sicher aufgehoben und geliebt zu fühlen. In sogenannten »Still-Face-Experimenten« kann man untersuchen, in welche Verzweiflung Säuglinge geraten, wenn die Mutter, die ihnen gegenüber sitzt, nicht emotional antwortet: Sie schaut sie freundlich an, reagiert aber nicht auf die mimischen und gestischen Signale. Die Kinder versuchen angestrengt, die Mutter zu einer emotionalen Antwort zu bewegen, resignieren dann nach einer Weile und wenden sich deprimiert den toten Gegenständen ihrer Umgebung zu. 2) Die nächstfolgende Angst, die in der fortschreitenden Entwicklung (etwa ab dem zweiten Lebensjahr) bewältigt werden muss, entsteht wieder im Zusammenhang mit einer neuen Kompetenz, die das Kind erwirbt, nämlich der Fähigkeit, die bedeutenden Beziehungspersonen seiner Umgebung in sich abzubilden, symbolisch zu »repräsentieren«, wie die Psychoanalytiker sagen. Auslöser für die Bildung solcher »Objektrepräsentanzen« im Kinde ist die Erfahrung, dass die Mutter (oder der Vater) nicht permanent anwesend ist, dass sie also auch »für sich« und oft genug nicht verfügbar ist. Das Kind tröstet sich, meinte Freud, indem es sich die abwesende Mutter vorstellt, sie also gleichsam vor das innere Auge holt, bis sie endlich wiederkehrt. Freilich hält dieser Trost nicht lange vor. Kleine und vor allem unsicher gebundene Kinder können die Vorstellung von der Mutter nur kurz aufrechterhalten und geraten rasch in große Furcht, dass die Mutter gänzlich verloren gehen könnte. Aber auch sicher gebundene Erwachsene sind niemals ganz frei von dieser Angst vor Trennung und Verlust. Immer wieder ist es der andere, der uns helfen soll, diese Angst zu beschwichtigen und der uns wohl auch immer wieder einmal versichern muss, dass er 74

Wie wir die Tiere verwenden

uns nicht verlassen wird. Manche Menschen fürchten sich vor dem Verlassenwerden aber so sehr, dass sie jeden Beziehungswunsch in sich verleugnen und von vornherein lieber allein leben. Aber in der Mehrzahl wagen wir uns doch in eine – mehr oder weniger ausgeprägte – Abhängigkeit und sind dann darauf angewiesen, dass uns andere versprechen, bei uns zu bleiben und uns nicht zu verlassen. 3) Eine weitere Angst, die wir (etwa ab dem dritten Lebensjahr) bewältigen müssen, ist die, in der kleinkindhaften Unselbstständigkeit stecken zu bleiben, nicht die »Augenhöhe« zu anderen Menschen zu gewinnen und vor allem keinen Einfluss auf andere zu haben. In der »Trotzphase« sucht das Kind sich um jeden Preis zu behaupten, und wenn ihm seine Bezugspersonen dies ermöglichen, wird das Kind einen guten Weg finden zwischen Unterwerfung und übermäßiger Anpassungsbereitschaft einerseits und dem Zwang, sich kämpferisch behaupten zu müssen andererseits. 4) In dieser Zeit beginnt auch die Entwicklung der moralischen Urteilsfähigkeit beim Kind. Wenn das Kind sich identifiziert mit den Normen seiner bedeutenden Bezugspersonen, ersetzt es die Strafangst durch die Gewissensangst. Ein zweijähriges Kind handelt noch korrekt, weil es Angst vor Strafe hat, ein vierjähriges handelt moralisch, weil es »a good boy« oder »a good girl« sein möchte, weil es also vor seinem eigenen Gewissen bestehen will. Ein solches »autonomes« Gewissen macht das Kind relativ unabhängig von den anderen, aber diese Freiheit erkauft es sich mit der Präsenz eines inneren Aufpassers, der niemals schläft, dem nichts entgeht und der eine Quelle peinigender Schuldgefühle sein kann. Diese vierte Grundangst, also die Angst, schuldig zu werden, und die ihr zugrunde liegende Kompetenz, die moralische Urteilsfähigkeit, katapultierten den Menschen endgültig aus dieser Gemeinschaft mit den Tieren. Ich möchte sie im Folgenden eingehender betrachten, bevor wir uns dann der Frage zuwenden, wie Menschen ihre vielfältigen Ängste auch mit Hilfe von Tieren bewältigen und wie sie die Tiere dabei verwenden. Menschen sind angewiesen auf den anderen

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Mit der Entwicklung eines autonomen Gewissens schaffen wir uns selbst unendlich viele Gelegenheiten, Schuldgefühle zu empfinden. Das liegt daran, dass Menschen nicht nur in ihrem äußeren Verhalten aus der Instinktgebundenheit entlassen wurden, sondern auch nach innen »freigesetzt« sind: Zwar sind auch sie wie die Tiere Triebwesen, und ihre Triebwünsche wurzeln nicht anders als bei den Tieren in Körperbedürfnissen, aber dadurch, dass Menschen sich ihrer Triebwünsche bewusst werden, spüren sie sie nicht nur körperlich, sondern sie wissen auch um sie. Diese Fähigkeit des Menschen, sich seiner Triebbedürfnisse bewusst werden zu können, eröffnet ihm ein Universum von Wünschen. Er kann im Prinzip alles phantasieren und alles begehren – wenn es da nicht sein Gewissen gäbe und für den Ernstfall auch noch die Strafangst. Denn ganz ohne Strafangst kommen wir nicht aus, deswegen muss es z. B. auch die Fahrscheinkontrolleure in der U-Bahn geben. Die Freisetzung aus der Instinktgebundenheit könnte man als Chance betrachten, menschliches Leben bewusst und befriedigend zu gestalten, aber sie wirft auch schwere innere Konflikte auf: Ganz unvermeidbar ist nämlich der Konflikt zwischen dem, was der Einzelne wünschen und begehren könnte, und dem, was in einer zivilisierten Gesellschaft gedacht und getan werden darf. Deswegen brauchen wir die Sozialisation, und je weiter die Kulturentwicklung fortschreitet, umso anspruchsvoller stecken wir deren Ziele. Ein Kind des 9. Jahrhunderts brauchte nur wenige Jahre, um sich in seiner Umgebung zurechtzufinden. In einer Hochkultur wie der unsrigen genügen kaum 14, 15 Jahre, bis ein junger Mensch all die Wertvorstellungen und Verhaltensnormen internalisiert hat, die es bei uns zu beachten gilt. Weiter: In diesem Sozialisationsprozess genügt es nicht, zu lernen, was man in einer zivilisierten Gesellschaft darf und was nicht. Um z. B. aggressive Handlungsimpulse zu kontrollieren, reicht es nicht, sie bewusst in Schach zu halten, um nicht zu tun, was man eigentlich gern täte. Die Ziele einer Sozialisation sind viel anspruchsvoller, sie gehen viel weiter: Menschen sollen ihre »freigesetzten«, d. h. im Prinzip ungehemmten Phantasien und Handlungsimpulse gar nicht erst erleben, sie also – im psychoanalytischen Sinne – abwehren, damit 76

Wie wir die Tiere verwenden

unbewusst machen, sodass sie nicht mehr von ihnen bedrängt werden. Nur so können sie sich nämlich halbwegs unbefangen in den vielgestaltigen, potenziell verführerischen sozialen Situationen bewegen. Eine besonders strenge und wirksame Verhaltensnorm ist das Inzesttabu, also das Verbot sexueller Beziehungen zwischen eng verwandten Menschen, das in allen zivilisierten Kulturen in aller Regel eingehalten wird. Aus psychoanalytischer Sicht sind es vor allem sehr wirksame Abwehrprozesse, die verhindern, dass Eltern und ihre Kinder sowie Geschwister untereinander sich sexuell begehren. Dass diese Abwehr nur selten durchbrochen wird, ist angesichts der Prominenz des Sexualtriebes ganz erstaunlich. Es hat deswegen auch nicht an Versuchen gefehlt, andere, nämlich soziologische und biologische, Erklärungen für die Haltbarkeit des Inzesttabus gegeben, aber eine überzeugende Alternative zur psychoanalytischen Abwehrhypothese liegt bislang nicht vor. Nun ein alltägliches Beispiel für die Notwendigkeit und die Wirksamkeit von Abwehrprozessen, mit denen wir Phantasien und Handlungsimpulse unbewusst machen und damit erreichen, dass wir uns auch in eigentlich vieldeutigen Situationen unbefangen bewegen können: Einem Arzt z. B. erlauben wir, uns anzufassen, auch an intimen Stellen, und er darf uns dabei auch wehtun. Wir ertragen diese ärztlichen Untersuchungssituationen im Allgemeinen deswegen recht gut, weil wir uns gar nicht erst die Phantasie vor Augen führen, die in Alltagssituationen naheläge, nämlich dass er vielleicht ein Sadist ist und Freude daran haben könnte, uns Schmerzen zuzufügen. Wir haben »gelernt«, diese Phantasien (»Er will uns wehtun«) abzuwehren, sodass sie uns gar nicht erst bedrängen. Dieses Beispiel wird vielleicht noch plastischer, wenn wir uns nicht einen Hausarzt, sondern einen Gynäkologen vorstellen. Oder, viel harmloser: Ein Kind muss lernen, wovor man bei einem Frisörbesuch Angst haben müsste und wovor nicht. Zivilisierte Menschen finden sich in den ihnen vertrauten sozialen Situationen gut zurecht, weil sie mithilfe zahlreicher Abwehrformen in aller Regel gar nicht erst wünschen oder befürchten, was hier und jetzt nicht phantasiert werden darf, was also aus dem Rahmen fallen würde (Goffman, 1977). Menschen sind angewiesen auf den anderen

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Sozialisation ist vor allem eine Arbeit des Kindes und des Jugendlichen an sich selbst, und der Ausgangspunkt eines jeden Sozialisationsschrittes ist ein innerer Konflikt zwischen dem Vielen, was ich mir wünschen könnte, und den Verboten, die ich – selten freiwillig – internalisiere und mithilfe meiner Abwehr vor mir selbst und vor den anderen verberge. Freiwillig gehen wir diese Schritte vor allem dann, wenn wir uns mit Vorbildern und deren Normen und Verhalten identifizieren, wenn wir also so sein und handeln wollen wie sie. Aber auch die perfektesten Abwehrstrategien führen nicht dazu, dass der verpönte eigene Wunsch oder die Phantasie, was jetzt alles passieren könnte, wirklich zum Schweigen käme oder ganz verschwände. Bei jeder Gelegenheit nämlich drängen die Wünsche und »unangemessenen« Phantasien wieder ins Bewusstsein und müssen immer wieder verdrängt werden. Das ist eine der Erkenntnisse, die wir der Psychoanalyse verdanken. Die zahlreichen Abwehrvorgänge, mit denen wir uns ein sozial angemessenes Wünschen und Denken und Handeln ermöglichen, sind die Bausteine dessen, was wir einen »Charakter« nennen. Denn all die »sekundären« Eigenschaften, die unseren »guten« Charakter ausmachen, die soziale Rücksichtnahme, die Zuverlässigkeit und Pünktlichkeit, die Ehrlichkeit und der Altruismus sind doch »nur« durch Abwehrvorgänge entstanden, die wir gegen eigene egoistische, willkürliche und neidische Impulse so erfolgreich eingesetzt haben. Wenn diese Abwehrformen sehr rigide werden, führen sie allerdings erkennbar zu Einschränkungen der Persönlichkeit. Sehr stark abwehrbetonte Charaktere wirken oft starr und auf wenige, stereotype Handlungsweisen eingeengt. Ein Mensch z. B., der sich sehr vor der eigenen Aggressivität fürchtet, muss unbedingt immer freundlich sein. Er wirkt auf einen äußeren Betrachter wahrscheinlich unangemessen lieb, auch in Situationen, die andere, z. B. den Beobachter, wütend machen könnten. Die Abwehr von Aggressivität, seine betonte Freundlichkeit, prägt unübersehbar diese Persönlichkeit. Aber die von Abwehr gestützte Anpassung an die soziale Wirklichkeit führt nicht nur zu vielfachen Einschränkungen und inneren Verboten, mit denen wir uns zuweilen von uns selbst und unseren 78

Wie wir die Tiere verwenden

basalen Bedürfnissen zu entfernen scheinen. Sie hat auf der anderen Seite auch eine produktive Seite: Wir lernen im Zuge dieser Anpassung nämlich auch, unsere zunächst unsozialisierten Triebwünsche zu verfeinern, zu sublimieren, und erschließen uns dadurch neue, differenziertere Ausdrucksweisen unseres Trieblebens (Körner, 2013). Ein gutes Beispiel ist vielleicht die Entwicklung der Esskultur: Der einfache, drängende Wunsch des kleinen Kindes, unverzüglich, also ohne Aufschub und vor allem anderen gestillt zu werden, verwandelt sich im Laufe vieler Jahre in die Fähigkeit und Bereitschaft, in einem Restaurant auf das Essen zu warten, dem Tischnachbarn die größere Portion zu gönnen und all die Regeln des guten Benehmens zu beachten – nein, mehr noch: auch die Einschränkungen, wie das Warten auf das Essen, sogar zu genießen. Das sind Sublimierungsleistungen, wie sie auf vielen Gebieten menschlichen Wünschens zweifellos zu großen zivilisatorischen Fortschritten geführt. haben. Weitere Beispiele wären die Sublimierung der Aggressivität im Sport (z. B. durch Speerwerfen!) oder, noch perfekter getarnt, im Schachspiel. Bevor wir uns den vielgestaltigen Formen der egozentrischen Verwendung der Tiere durch den Menschen zuwenden, hier noch eine allgemeinere Überlegung aus kulturhistorischer Perspektive: Wie schon erwähnt, steigt mit einer sich entwickelnden Zivilisation das Ausmaß an Selbstzivilisierung, das im Interesse der Gesellschaft vom Einzelnen verlangt werden muss. Man könnte – wie die sozialwissenschaftlichen Autoren der Frankfurter Schule (u. a. Theodor W. Adorno, Max Horkheimer) – sich fragen, ob sich die Menschen in den gegenwärtigen Hochkulturen nicht mehr und mehr von sich und ihrer Triebnatur entfremdet fühlen, weil das Ausmaß an geforderter und durchgesetzter Versagung in keinem akzeptablen Verhältnis mehr steht zu dem Glücksversprechen einer modernen Gesellschaft. Und wir könnten uns im Anschluss an diese Überlegung auch die Frage stellen, ob die moderne Tierliebe, die ja erst im 18. Jahrhundert einsetzte, nicht als Symptom verstanden werden muss: Dass wir Menschen uns in der Beziehung zum Tier diejenigen »primitiven« Bedürfnisbefriedigungen holen, die wir im Alltag vermissen müssen. Menschen sind angewiesen auf den anderen

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Ein kurzer Rückblick: Vier Grundängste des Menschen haben wir uns vor Augen geführt: Die Angst vor dem Tode; die Angst vor dem Verlust der anderen; die Angst, wie Kleinkinder nichts bewirken zu können; und die Schuldangst. Alle diese Ängste bewältigen wir mithilfe der anderen: •• Die Existenzangst überwinden wir, indem wir uns als der oder die Besondere vom anderen gesehen fühlen und im anderen vorkommen. •• Die Angst vor dem Verlust bewältigen wir, indem wir uns an Menschen binden und immer wieder bestätigen lassen, dass wir nicht verlassen werden. •• Die Angst, nichts bewirken zu können, besänftigen wir dadurch, dass wir Einfluss nehmen in der Beziehung zu anderen Menschen und uns vergewissern, wie erfolgreich wir auf sie einwirken. •• Der Schuldangst schließlich treten wir entgegen, indem wir unsere vielfachen Triebwünsche selbst in Schach halten, und so die Bestätigung der anderen finden, dass wir trotz zweifelhafter Anlagen doch gute Menschen sind. Und wenn all diese Bewältigungsversuche doch nicht genügen, dann können wir uns an die Tiere wenden und versuchen, uns dort holen, was uns zur vielfachen Angstbewältigung noch fehlt.

UNSERE BEZIEHUNGEN ZU DEN TIEREN Wie schon ausführlich erläutert, können Menschen ihre Beziehungsentwürfe auch über Tiere legen, sie also einbeziehen, sich Illusionen machen über sie und ihre Innenwelt. Die Fähigkeiten zur Empathie und Perspektivenübernahme versetzen Menschen nicht nur in die Lage, sozial bezogen zu denken und zu handeln, sondern sie müssen, wie im Vorigen gezeigt, diese Fähigkeiten auch nutzen, um ihre Persönlichkeit zu entwickeln und stabil zu halten. Was aber in der Beziehung zwischen den Menschen im günstigen Fall zu einem fairen Ausgleich wechselseitiger Interessen führt, indem sie sich gegenseitig zur Bedürfnisbefriedigung verwenden, entgleist in der 80

Wie wir die Tiere verwenden

Mensch-Tier-Beziehung unvermeidlich zu einer extrem asymmetrischen Beziehung: Wir entwerfen die Beziehung zu unseren Tieren nach unseren bewussten und unbewussten Motiven, das Tier aber antwortet immer nur im Rahmen seiner Instinktausstattung. Aufgrund unserer Perspektivenübernahme können wir das Tier manipulieren, indem wir dessen zu erwartende Verhaltensweisen und Reaktionen schon vorweg berücksichtigen. Jede Tierdressur versinnbildlicht diese Asymmetrie und auch die Illusionen, die wir uns darüber machen (»Der Hund gehorcht mir gern!«). Ganz unbegrenzt sind unsere Fähigkeiten, die Tiere für uns zu verwenden, allerdings nicht. Wir können das Erlebens- und Verhaltensrepertoire der Tiere nicht wesentlich erweitern und wir müssen die Grenzen ihrer kognitiven Möglichkeiten respektieren. Zum Beispiel könnten wir Katzen, die Einzelgänger sind, niemals zu Wachoder Hüteaufgaben heranziehen. Oder: Man kann Karpfen sehr leicht dressieren, aber sie werden niemals lernen, uns als Personen zu erkennen, was die in der phylogenetischen Entwicklung höher stehenden Vögel ohne Weiteres vermögen. Bei manchen Experimenten mit Primaten scheint es, als könnte es gelingen, die Grenzen ihres Repertoires zu überschreiten, zumindest in dem Sinne, dass sie in Gefangenschaft und unter optimalen Trainingsbedingungen Leistungen zeigen, die sie in der »freien Wildbahn« nicht beobachten lassen. Zirkusvorführungen mit Elefanten, die sich auf einen Hocker setzen, oder Pferden, die den Kopf schütteln oder sich hinwerfen und sich tot stellen, gewinnen ihren Reiz daraus, dass die Tiere Verhaltensweisen zeigen, die ihnen eigentlich fremd sind. Das verleiht uns, den Zuschauern, vielleicht ein Gefühl großer Macht. Und wenn wir dann noch zu unserem Vergnügen »Fußball spielenden« Hunden zuschauen, haben wir die Tiere aus ihrer Welt gerissen und ganz zu uns herübergezogen. Besonders publikumswirksam ist es, wenn sich der Dompteur unter Großkatzen wagt, sie zu beherrschen und dabei zugleich sein Leben zu riskieren scheint. Die wenigsten Zuschauer wissen vermutlich, dass die Zirkusarbeit mit Löwen wenig gefährlich ist, weil Löwen als Rudeltiere sozial bezogen und kommunikativ sind, und wenn man ihre Kommunikationsregeln kennt und beachtet, hat man Unsere Beziehungen zu den Tieren

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leichtes Spiel – im Gegensatz etwa zur Arbeit mit Bären, die überwiegend als Einzelgänger leben, deswegen viel weniger sozial bezogen und daher für uns unberechenbar sind. Wenn wir die Tiere für uns verwenden, sei es als Nahrungslieferanten, als Heimtiere, im Zirkus oder Zoo, können wir damit rechnen, dass sie mit großer Duldsamkeit und Anpassungsbereitschaft versuchen werden, auch mit einer ganz und gar nicht artgerechten Haltung zurechtzukommen. Die schon erwähnte Asymmetrie im Mensch-Tier-Verhältnis zeigt sich ganz besonders deutlich unter der Frage, wer sich an wen anpassen muss und wie weit diese Anpassung gehen kann: Der Mensch muss sich an die Tiere nur so weit anpassen, als dass er ihre fundamentalen artspezifischen Bedürfnisse beachtet. Man sollte ein Pferd, ein Rudeltier, nicht einzeln halten, mindestens eine Ziege als Kumpan müsste schon zur Verfügung stehen. Und eine Ratte, die ohne soziale Kontakte und ohne Explorationsmöglichkeiten leben muss, wird sicher verhaltensauffällig, vermutlich aggressiv werden. Aber die Erfahrung lehrt, wie artfremd die Haltung der Tiere – z. B. in Zoos – auch sein mag, sie ertragen es doch, unter unserer Herrschaft zu leben, ohne für uns erkennbar zu leiden. Nehmen wir z. B. Hühner, die in moderner Bodenhaltung leben, die sich also frei bewegen können, soweit das mit neun Tieren pro einem Quadratmeter begehbarer Fläche möglich sein kann. Natürlich achten die Züchter schon aus wirtschaftlichen Gründen auf die Gesundheit der Tiere, und die allermeisten Legehennen halten durch bis zum festgelegten Schlachttermin mit spätestens sechzig Wochen. Kann man in diesem Fall von einer artgerechten Haltung sprechen, nur weil die Hühner nicht massenhaft vorzeitig sterben? Gewiss nicht. Ich habe oft Gelegenheit, Hühner zu beobachten, die ihren Tag frei gestalten können. Ihre Schar umfasst einschließlich Hahn etwa zwölf Tiere, sodass sich eine Rangordnung gebildet hat, was bei einer sehr großen Zahl von Hühnern nicht mehr möglich wäre. Diese »Hackordnung« (die bei vielen sozial lebenden Tieren zu beobachten ist) weckt bei zartfühlenden Menschen, die sich aufgrund eigener Lage vielleicht gern mit den rangniedrigsten Tier identifizieren, Gefühle des Mitleids, aber es lässt sich gut erkennen, dass die Hühner selbst mit allen ihren Rangpositionen einverstanden 82

Wie wir die Tiere verwenden

sind, auch wenn sie häufiger versuchen, um einen höheren Rangplatz zu kämpfen. Diese Hühner haben tagsüber ein großes Gelände mit Wiesen, Acker und Wald zur Verfügung, und es ist leicht zu beobachten, wie sie sich ihren Tag einteilen mit Grünfutter aufnehmen, Scharren in altem Laub, Staubbaden, Gefieder putzen, Insekten fangen und Neues erkunden. Aus Sicht der Hühner bleiben in diesem Leben, das durchaus 15 Jahre dauern kann, wohl keine Wünsche offen. Gewiss kann diese Idylle nicht als allgemeines Muster einer artgerechten Hühnerhaltung verwirklicht werden, zumindest nicht für die in einer modernen Gesellschaft nachgefragten Mengen an Fleisch und Eiern. Es werden also Kompromisse eingegangen werden müssen. Trotzdem erscheint es mir sinnvoll, in der Diskussion über die Spannbreite möglicher Haltungsformen – in diesem Falle von Hühnern – einen idealen Eckpunkt zu definieren, der ganz allein vom Tiere aus bestimmt wird. Aber selbst dieser Eckpunkt wird heute schon nicht mehr vom Tier aus definiert. Längst haben wir unsere Tiere durch Zucht an uns angepasst. Das Bankivahuhn, die noch wildlebende mutmaßliche Stammform unseres Haushuhns, würde uns überhaupt keine Eier überlassen und saisonal auch nur so viele legen, wie ausgebrütet werden sollen. Alle unsere Nutztiere sind in Mitteleuropa spätestens seit dem Mittelalter durch Zucht und Auslese, neuerdings auch durch genetische Manipulationen an unsere Bedürfnisse angepasst worden. Dadurch verschärft sich die Asymmetrie im Mensch-Tier-Verhältnis zunehmend, und ein Ende ist nicht abzusehen. Wir passen die Tiere immer mehr unseren Bedingungen an, im Falle der Nutztiere sind es vor allem wirtschaftliche Interessen, denen wir die Tiere unterwerfen, im Falle der Heimtiere sind es mehr oder weniger neurotische – in jedem Falle aber egozentrische – Bedürfnisse, auf die im Einzelnen anschließend noch eingegangen werden soll, denen wir die Interessen der Tiere unterordnen. Da wird es sehr schwer, die Frage einer »artgerechten« Tierhaltung ganz vom Tier aus beantworten zu wollen. Denn »das« Tier gibt es in diesen Fällen schon nicht mehr. Unsere Beziehungen zu den Tieren

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WIE UND WOZU VERWENDEN WIR DIE TIERE? Gehen wir nun die unterschiedlichen Bedürfnisse durch, die wir mit Tieren befriedigen können, mit einem nur geringen Risiko, enttäuscht zu werden, uns schämen oder hilflos fühlen zu müssen. 1) Beginnen wir mit der Angst vor dem Nicht-Gesehenwerden und dem Zweifel, überhaupt ein wertvoller Mensch zu sein. Nehmen wir dazu als Beispiel einen kleinen Angestellten, der von seinem Vorgesetzten erniedrigt, von seinen Mitarbeitern missachtet und von den Kunden seiner Firma herablassend behandelt wird. Abends geht er deprimiert nach Hause, aber der Hund begrüßt ihn wie einen Helden nach gewonnener Schlacht! Zumindest für diesen Augenblick fühlt er sich wirklich »gesehen« und geliebt, denn die Freude des Hundes ist ja ganz unverkennbar. Die Angst »nicht gesehen« zu werden, ist in einer individualisierten Gesellschaft sicher größer als in traditionellen Gesellschaften; vielleicht wird sie durch die modernen »Social Media«, über die wir mit allen über alles verbunden sein können, etwas gemildert. Vielleicht täuschen wir uns darin aber auch und die zahlreichen, eher oberflächlichen Kontakte können nicht die beglückende Erfahrung ersetzen, von einem Tier als der ganz Besondere gemeint und geliebt zu sein. Deswegen haben sich Tiere in der Therapie mit autistischen Kindern, die sich in ihrem Einsamkeitsgefängnis so schrecklich allein fühlen, sehr bewährt und längst ist es auch in vielen Altersheimen möglich, eigene Heimtiere mitzubringen. Tiere sind nicht ambivalent, sie können nicht gleichzeitig ärgerlich sein und sich freuen – was Menschen ohne Weiteres können. Und sie können sich nicht verstellen, ein Hund kann nicht so tun, als freute er sich, sondern er ist immer eindeutig. Diese Unverstelltheit ist für Menschen, die stark an sich und an anderen Menschen zweifeln, eine Chance, Beziehungen zu wagen. Sie müssen nicht befürchten, dass die Tiere ihnen Freundlichkeit nur vorspielen, denn sie teilen sich in ihrem Verhalten unmittelbar und unzweideutig mit. Eine Voraussetzung für diese Art der Verwendung der Tiere ist allerdings, dass das Tier eine persönliche Beziehung eingehen kann, 84

Wie wir die Tiere verwenden

das vermögen Reptilien oder Fische z. B. nicht. Aber da wir uns ja sehr leicht Illusionen darüber machen können, was im Tier vor sich geht, genügt es vielleicht, einen Goldfisch dressiert zu haben, sodass er zum Futter an die Oberfläche des Aquariumswassers aufsteigt, und wir glauben, dass er uns erkannt hat und sich freut, uns wiederzusehen. Natürlich wissen wir gar nicht, was wirklich in dem Fisch vor sich geht. Aber auch das, was in einem Hund vor sich geht, der uns mit glänzenden Augen erwartet, wissen wir nicht, aber es ist sehr leicht für uns, darüber Phantasien zu entwickeln – der Hund wird ihnen nicht widersprechen. 2) Die Angst vor dem Verlassenwerden lässt sich mithilfe von Tieren sehr leicht bewältigen. Wer fürchtet, dass Freunde oder Partner sich jederzeit und ohne erkennbaren Grund abwenden könnten – sei es, dass er (oder sie) sich selbst nicht für liebenswert hält, sei es, dass er (oder sie) in der Kindheit sehr willkürliche oder unzuverlässige Eltern erlebt hat –, ist vielleicht beglückt von der Treue seines Tieres, das immer wieder nur seine Nähe sucht und sich darin von nichts und niemandem abbringen lässt. Fast alle sozial lebenden Vögel und Säugetiere eignen sich für diese Verwendung, aber zweifellos sind Hunde besonders geeignet, Trennungsängste ihres Besitzers zu beschwichtigen. Sie sind in der Regel mit unteren Rangplätzen in der Familienhierarchie zufrieden, passen sich gut an, sind leicht zu dressieren, suchen die Nähe und fühlen sich am wohlsten, wenn »das Rudel« beisammen ist. Allerdings gibt es gewiss unter den Hunderassen große Unterschiede im Hinblick auf diese Eigenschaften, aber die sind ja schon längst katalogisiert, und wer z. B. einen besonders anhänglichen Hund sucht, sollte vielleicht keinen Chow-Chow wählen (wie Sigmund Freud). Auf dem Tierfriedhof in Berlin-Lankwitz erzählen die Grabinschriften, dass es vor allen anderen Eigenschaften die Treue ist, die wir im Hunde suchen und schätzen: »Hier ruhen meine beiden Lieblinge Ulli, Annette, Ihr wart mein Sonnenschein. Habt Dank für Liebe und Treue. Unvergessen.« (Körner, 1996, S. 177) Wie und wozu verwenden wir die Tiere?

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Ulli und Annette sind zwei Hunde. Schon der Heilige Franz von Assisi (1182–1226) soll sich so geäußert haben4: »Dass mir der Hund das Liebste sei, sagst du, o Mensch, sei Sünde? Der Hund blieb mir im Sturme treu, der Mensch nicht mal im Winde.« Ungezählte Geschichten handeln von Hunden, die ausgesetzt wurden oder verloren gingen, und die langen Wege unter großen Strapazen auf sich nahmen, um zu ihrem Herrn zurückzukehren. Sie kehrten auch dann zu ihm zurück, wenn er es war, der sie verstieß, denn sie sind nicht nachtragend und verwandeln sogar einen bösen Menschen in einen guten Menschen. Legendär wurde der japanische Akitahund »Hachiko«, der seinen Herrn, einen Universitätsprofessor, jeden Abend vom Tokioter Bahnhof »Shibuya« abholte. Als der Professor im Mai 1925 starb, kam der Hund viele Jahre lang weiterhin zur festen Zeit zum Bahnhof, um auf sein Herrchen zu warten. Sein Schicksal wurde bekannt und rührte die ganze Nation. Noch zu seinen Lebzeiten wurde an diesem Bahnhof eine Statue für ihn aufgestellt – der Zeremonie wohnte er selbst auch bei – und als er 1935 starb, nachdem er fast zehn Jahre vergeblich auf seinen Herren gewartete hatte, berichteten die Medien landesweit über seinen Tod. Hachiko steht heute ausgestopft in einem Tokioter Museum. Der Bahnhofsausgang, vor dem er immer gewartet hatte, heißt heute ihm zu Ehren »Hachiko Exit«. Hachikos Geschichte ist in Japan sehr bekannt. Sein Schicksal wurde mehrfach verfilmt, und rührte viele Menschen auch in Deutschland zu Tränen. Die Rührung, die wir angesichts dieser unverbrüchlichen Treue empfinden, lässt uns spüren, wie groß unsere Angst sein kann, verlassen zu werden. Und sie lässt uns auch erahnen, wie groß unsere Wut werden kann, wenn ein Tier sich von uns abwendet. Otto von Bismarck soll seine Dogge »Sultan« halbtot 4 Andere Quellen nennen Arthur Schopenhauer oder Christian Morgenstern als Urheber.

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Wie wir die Tiere verwenden

geschlagen haben, weil die sich einmal weigerte, auf Kommando zu ihm zurückzukehren. Sehr eindrucksvoll schildert Helen Macdonald (2015) das Leben einer britischen Falknerin, die unter großen Mühen einen Habicht (»Mabel«) zähmt und darauf abrichtet, nach einem Angriff auf einen Fasan oder ein Kaninchen wieder auf ihre Faust zurückzukehren. Viele Monate trainiert sie mit ihm, lässt ihn, gebunden an einer vielleicht hundert Meter langen Leine, der »Lockschnur«, davonfliegen und lockt ihn mit toten Eintagsküken zurück auf ihre behandschuhte Faust. Der Augenblick dann, wenn der Falke zum ersten Male ohne Lockschnur davonfliegen darf, ist für jeden Falkner ein Wagnis, denn nicht selten entschließt sich der Vogel, ins Freie davonzufliegen. »Einen Greifvogel frei zu fliegen ist immer mit Ängsten verbunden, denn dabei werden die Verbindungen auf die Probe gestellt. Und es ist noch schwieriger, wenn man das Vertrauen in die Welt verloren hat und das Herz im eigenen Leib zu Asche geworden ist« (S. 218 f.). Auch für die Protagonistin des Romans war dieser Augenblick überaus spannungsreich. Sie wagt es und lässt ihn von der Lockschnur, und Mabel steigt auf in die Dämmerung, und »ich kann den Abstand zwischen mir und dem Habicht wie eine Wunde spüren« (S. 232). Doch dann kehrt Mabel zurück, »zu meinem heftig schlagenden, ängstlichen Herzen. Zu meiner Seele, die sich anfühlt wie vier Grad kaltes Wasser, die schwerer als Eis auf den Grund des Ozeans sinkt« (S. 233). Man ahnt, was für diese junge Frau auf dem Spiel stand. Weit weniger psychischen Aufwand betreiben vermutlich die Brieftaubenzüchter, die ihre Lust daraus gewinnen, dass ihre Tauben aus immer weiterer Entfernung besonders rasch »heimfinden«. Eine Brieftaube, die sich vor Jahren ermattet auf meinem Balkon niedergelassen hatte, und deren Herkunft ich anhand ihres Ringes identifizieren konnte, durfte leider nicht zurück zu ihrem Züchter. Er meinte am Telefon, eine Taube, die nicht zurückfinde, sei »wertlos«. Ihr, der Taube, konnte es wohl recht sein, denn ich entließ sie natürlich in die Freiheit, und vermutlich hat sie sich einem der vielen Schwärme verwilderter Brieftauben angeschlossen.

Wie und wozu verwenden wir die Tiere?

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3) Auch die Angst, nichts bewirken zu können, uns ohnmächtig zu fühlen, weil wir keinen Einfluss haben auf die Geschehnisse und die Menschen um uns herum, können wir mithilfe der Tiere sehr leicht bewältigen. Jede gelungene Dressur beweist uns unsere Überlegenheit und unsere Macht über das Tier. Ob wir mit Strafandrohung die Unterwerfung erzwingen, ob wir über Belohnungssysteme den Gehorsam konditionieren oder ob wir unser Wissen um die Instinktsteuerung der Tiere ausnutzen, um ihr Verhalten für unsere Zwecke zu nutzen (wie z. B. bei Bienen oder Hütehunden): Immer erweisen wir uns als die Überlegenen, die die Tiere in ihre Herrschaft zwingen. Hier wird die Asymmetrie im Mensch-Tier-Verhältnis wieder gut sichtbar: Wir haben so viel Macht über die Tiere, weil wir deren Steuerungssysteme, insbesondere ihre Instinktausstattung durchschauen, sie aber ihrerseits nicht fähig sind, sich in uns hineinzuversetzen, also unsere Perspektive zu übernehmen, um uns gleichsam einen Strich durch unsere Rechnung zu machen. Es ist interessant, dass uns der Gehorsam der Tiere so wichtig ist. In den Beschreibungen der Zuchtziele sehr vieler Hunderassen nimmt der Gehorsam des Hundes einen prominenten Platz ein, und Nichtgehorsam oder gar Aufsässigkeit wird oftmals sehr streng bestraft, wie im Falle von Bismarcks Dogge. Offenbar zählt aber der Gehorsam im Gegensatz zur Treue nicht zu den Eigenschaften, die man über verstorbene Hunde rühmend in Grabsteine meißelt. Denn bei einem Gang über den Tierfriedhof Berlin-Lankwitz habe ich nirgends lesen können: »Hier ruht mein geliebter Hund, niemand hat mir so aufs Kommando gehorcht wie er.« Ich vermute, dass in unseren modernen Zeiten der Wunsch, sich ein Tier (oder gar einen Menschen) untertan zu machen, etwas in Verruf geraten ist. Aber täuschen wir uns nicht: Auch wenn wir unsere Macht über die Tiere nur selten bewusst genießen, prägt doch das Motiv, unsere Angst vor eigener Einflusslosigkeit durch Machtausübung über die Tiere zu besänftigen, unser Verhältnis zur belebten Natur. Die Formen der Unterwerfung variieren stark, sie reichen von schwacher Einflussnahme wie im Falle der Honigbienen, denen wir mehr oder weniger gute Bedingungen bieten, deren Verhalten wir aber nur sehr wenig manipulieren, bis hin zu extremer Indienstnahme wie 88

Wie wir die Tiere verwenden

bei Lasttieren oder Arbeitspferden. Oft genug verbergen wir unsere Motive hinter Rationalisierungen: »Die Tiere ordnen sich doch gern unter« (wie im Falle des Hundes) oder »Es ist ja nur zu seinem Besten (wie im Falle eines Kaninchens im Streichelzoo), da ist es doch in Sicherheit!« 4) Schließlich: Die Schuldangst. Wie beschrieben, gerät der zivilisierte Mensch ganz unvermeidlich in Schuldkonflikte, denn trotz aller Anpassung an die öffentliche Moral konfrontiert er sich doch selbst mit seinem eigenen moralischen Urteil, also seinem Gewissen, dem Über-Ich. Wenn wir uns gegenüber einem anderen Menschen schuldig fühlen, können wir versuchen, ihn um Verzeihung zu bitten. Das fällt uns nicht leicht, denn wir müssten eingestehen, falsch gehandelt zu haben. Wenn wir z. B. zu einer Verabredung wesentlich zu spät kommen, empfinden wir vermutlich Schuldgefühle, aber vielleicht finden wir eine Entlastung, indem wir andere (die verstopfte Straße, die verspätete S-Bahn) verantwortlich machen. Einem Tier gegenüber haben wir es da einfacher: Der Hund, der lange auf uns gewartet hat, wird sich vermutlich besonders freuen, wenn wir endlich auftauchen. Und wir müssen nicht befürchten, dass er – wäre er ein Mensch – vielleicht dächte: »Etwas anderes (ein anderer?) war ihm wichtiger« oder »Wenn ihm wirklich an mir läge, wäre er gewiss pünktlich gewesen«. Ich erinnere auch an die zahlreichen, erbaulichen Geschichten über die Güte und Nachsicht von Tieren: Der Bauer, der mit seinem alt gewordenen Hund auf den See hinaus rudert, um ihn dort zu ertränken, fällt selbst ins Wasser und wird von eben diesem Hund gerettet. Das Tier trägt nichts nach und es wendet das Böse im Menschen zum Guten. Selbst der sadistische Hundebesitzer darf darauf hoffen, dass der Hund ihm die Hand leckt, wenn er sie ihm nach schweren Prügeln wieder hinhält. Und wenn er ihn, um ihn loszuwerden, über den Zaun des Tierschutzvereines geworfen hat, würde er doch freudig begrüßt, wenn er ihn wieder abholen käme. Dass wir uns so an der Gutherzigkeit der Tiere erfreuen können, gründet in einer »typisch menschlichen« Verkennung: Der Wie und wozu verwenden wir die Tiere?

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Unterstellung nämlich, dass Tiere überhaupt moralisch urteilen könnten. Weil wir ihnen auf eine anthropozentrische Weise moralisches Urteilsvermögen unterstellen, sind wir erleichtert, wenn uns der lange wartende Hund freudig begrüßt. Wir glauben, er habe das Böse, das wir ihm doch angetan haben, entgiftet, also von uns genommen. Tatsächlich urteilen die Tiere natürlich nicht moralisch, aber uns gefällt die Vorstellung, dass sie es doch tun – wir können auch kaum anders. Diese anthropozentrische Illusion, dass Tiere – wie wir – ihre Situation und unser Handeln moralisch beurteilen, begründet vermutlich auch die Gleichmütigkeit, mit der wir die elenden Lebensbedingungen betrachten, die wir den Tieren in der Massentierhaltung zumuten. Denn offenbar wirken die Hühner nicht vorwurfsvoll, wenn sie sich einen Quadratmeter mit acht Artgenossen teilen müssen, und der Hund, dem wir ohne Betäubung Teile der Ohren oder des Schwanzes abgeschnitten haben, trägt uns diese Untaten nicht nach. Zum Abschluss dieses Kapitels noch eine Geschichte, welche – stellvertretend für viele andere – davon erzählt, wie die guten Tiere das Böse im Menschen besiegen können: Der Gründer des Wiener Tierschutzvereins, der damals recht bekannte Dichter J. F. Castelli, berichtet in seinen Memoiren, wie er ein Tierfreund wurde. Der Psychoanalytiker Stekel (1912, S. 48) gibt diese Erzählung wieder (Körner, 1996, S. 174 f.): »Er war als Kind ein großer Tierquäler, er schoss aus einem Blasrohr mit Erbsen nach gefangenen Kanarienvögeln, er rupfte ihnen die Federn aus und steckte sie sich auf den Hut […]. Die Prügel vom Vater blieben ohne Eindruck, aber eine frei erfundene Tiergeschichte der Mutter, ein Märchen, das sie ihm erzählte und womit sie ihn so erschütterte, dass er bitterlich weinte, die hellte sein grausames junges Herz. Die Mutter erzählte ihm, es hätte einmal einen wilden Knaben gegeben, der niemandem gehorchte und ein liederlicher Junge wurde. Er hatte nichts auf Erden lieb als die Tiere, mit denen teilte er sein Brot, die schützte er, wo er konnte. Er wurde ein Lump, ein Betrüger, er starb im Gefängnis und die ewige Verdammnis war ihm gewiss. Aber als er vor Gottes Richterstuhl erschien, um sein fürchterliches Urteil zu vernehmen, da kamen 90

Wie wir die Tiere verwenden

alle Tiere, alle, alle aus der weiten Welt, die Vögel aus den Lüften, die Bären aus dem Walde und die Mäuslein, die er noch im Gefängnis gefüttert, aus ihren Löchern und baten Gott um Gnade für ihn, ihren Freund. Und um dieser einen guten Eigenschaft willen verzieh Gott ihm alle seine Verbrechen. Castelli gesteht, dass sich von dieser Stunde an eine völlige Umwälzung in ihm vollzog und dass ihn zeitlebens der Gedanke verfolgte, etwas für die Tiere zu tun, denen er als Bub einst viel Leid zugefügt hatte.«

Wie und wozu verwenden wir die Tiere?

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DIE MENSCH-TIER-DIFFERENZ

In diesem Kapitel betrachten wir Unterschiede zwischen Menschen und Tieren. Die Frage, wie ähnlich sich Menschen und Tiere sind und worin sie sich voneinander unterscheiden, fand erst im Laufe der letzten Jahrhunderte zunehmende Beachtung. Im 8. oder 9. Jahrhundert, also zu Beginn des europäischen Mittelalters stellte sie sich noch nicht. In den Augen der Menschen damals gab es keine wesenhafte Mensch-Tier-Differenz, und sie fühlten sich den Tieren durchaus noch nicht so überlegen wie in den späteren Jahrhunderten. Mit dem wachsenden Einfluss des Christentums gewann die Frage nach den Unterschieden an Bedeutung. Einerseits verhieß ihnen die Christenlehre eine Sonderstellung, andererseits fürchteten die Menschen, dem Anspruch der christlichen Moral nicht gerecht werden zu können und auf die Stufe der Tiere zurückzufallen. Denn die den Menschen zugewiesene moralische Überlegenheit mussten sie sich erkämpfen, indem sie das Böse in sich überwanden, aber die eigene Triebhaftigkeit drohte ihre Überlegenheit jederzeit zunichte zu machen. Die Tierprozesse im späten Mittelalter (siehe Kapitel 2, Abschnitt »Der Umgang mit Tieren, Tierstrafen und Tierprozesse«) können als Versuch verstanden werden, die Angst vor dem eigenen Tierischen projektiv zu bekämpfen. Im hohen Mittelalter begannen die Menschen, sich ihre wachsenden kognitiven Kompetenzen zunutze zu machen, um sich die Tiere zu unterwerfen und sie für sich auszubeuten. Da ihnen die empathischen Fähigkeiten zunächst noch weitgehend fehlten, gin93

gen sie mit Tieren aus heutiger Sicht recht mitleidslos, zuweilen auch sadistisch um. Das Überlegenheitsgefühl wuchs in der Renaissance weiter an, und in der Zeit der Aufklärung mit ihren Idealen von der menschlichen Vernunft, der moralischen Urteilsfähigkeit und der Handlungsfreiheit schien das Band zwischen Mensch und Tier endgültig zu reißen. In der Zeit der Romantik setzt dann eine Gegenbewegung ein. Menschen begannen zunächst in den oberen Schichten, ihre soeben entwickelte Empathie auch auf Tiere anzuwenden, sie glaubten, sich auch in Tiere einfühlen zu können. Das war (und ist) zwar ein Irrtum, führte aber dazu, dass schrittweise eine von Mitleid geprägte, also »pathozentrische« Ethik des Umgangs mit Tieren entstand. Die ersten Tierschutzvereine forderten gesetzliche Maßnahmen gegen Tierquälerei, die Hetzgärten und sadistischen Spektakel wie das »Fuchsprellen« (siehe Kapitel 2, Unterabschnitt »Hetztheater, Tierkämpfe und der lange Weg in die Moderne«) wurden verboten. Diese Entwicklung einer pathozentrischen Tierliebe hat sich bis heute fortgesetzt und verstärkt. Zahlreiche Autoren unternahmen und unternehmen große Anstrengungen, die Mensch-Tier-Differenzen infrage zu stellen und nachzuweisen, dass zumindest höhere Tiere denken und sprechen können, dass sie Intentionen verfolgen und sogar moralisch urteilen können. Diese »Assimilationisten«, darunter viele Autoren der Tierschutz- und Tierrechtsbewegung, begründen die menschliche Verpflichtung, mit Tieren achtsam umzugehen, mit dem Ähnlichkeitsargument. Genauer: Sie behaupten zwar nicht, dass es keine Unterschiede zwischen Tieren und Menschen gäbe, sehen aber keine kategorialen Unterschiede von der Art, die einen Sonderstatus des Menschen rechtfertigten. In ihren Augen erscheinen Autoren, welche die Mensch-Tier-Differenz – wie in diesem Kapitel – hervorheben, also die »Differentialisten«, dann rasch als »speziesistisch«, analog zu dem Vorwurf einer rassistischen Einstellung unter den Menschen. Für die Assimilationisten erscheint offenbar jeder auch noch so gut begründete Hinweis auf Mensch-Tier-Unterschiede (z. B. im moralischen Urteilsvermögen) schon als eine Entwertung der Tiere. In historischer Betrachtung wird diese kritische Haltung gegenüber den »Differentialisten« vielleicht verständlich: In der Tradi94

Die Mensch-Tier-Differenz

tion der cartesianischen Unterscheidung zwischen der res cogitans und res extensa, in der Tiere wie Maschinen betrachtet wurden, die keine Schmerzen empfinden, standen lange Zeit die aus heutiger Sicht schwer vorstellbaren Praktiken der Vivisektion, also der Operation am unbetäubten lebenden Tier bis ins 20. Jahrhundert. Und nicht wenige Chirurgen operierten noch in den 1950er Jahren Neugeborene ohne Anästhesie, weil denen ja angeblich das Schmerzempfinden fehlte. Man dachte, sie empfänden noch keinen Schmerz, reagierten gewissermaßen nur physiologisch. In der Zeit des Nationalsozialismus verbot das Reichstierschutzgesetz von 1933 dann die Vivisektion, allerdings wurde dieses Verbot später klammheimlich wieder aufgehoben. Der Vorwurf des »Speziesismus« träfe dann zu, wenn wir mit der Betonung der Mensch-Tier-Differenz einen herablassenden oder rücksichtslosen Umgang mit Tieren rechtfertigen wollten. Das ist ganz und gar nicht die Absicht dieses Buches. Wenn wir also feststellen, dass Tiere keine Vernunft besitzen, nicht sprechen und nicht moralisch urteilen können, so wird daraus nicht folgen, dass wir damit das Recht besäßen, sie als wertlose Gegenstände zu behandeln, denn das träfe ja auch auf Säuglinge zu (Schmitz, 2015b, 2015a). Ganz im Gegenteil: Die Anerkennung der Andersartigkeit der Tiere soll gerade die Achtung vor ihnen begründen. Um damit schon das Resümee dieses Buches vorwegzunehmen: Wir sollten nicht deswegen die Tiere lieben und achten, weil sie eigentlich doch so sind wie wir, sondern gerade deswegen, weil sie anders und weil sie für sich sind. Aber auch wenn wir den Speziesismus-Vorwurf zurückweisen, müssen wir doch die Kritik akzeptieren, dass wir die Mensch-TierDifferenz ganz vom Menschen aus vermessen. Wir können gar nicht anders: Wir nehmen uns selbst als Bezugspunkt, wenn wir über das Sprach- und Denkvermögen der Tiere urteilen. Von uns aus betrachtet, verfügt der Schimpanse über geringere Fähigkeiten der Perspektivenübernahme und Empathie, und verglichen mit uns mangelt es seiner Sprache an einer Syntax und Grammatik. Bei diesen anthropozentrischen Vergleichen schneidet das Tier regelmäßig schlecht ab, nur selten ist es »besser« als wir, wenn uns der Schimpanse z. B. Die Mensch-Tier-Differenz

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beim Memoryspielen überlegen ist oder wenn unser Hund den Weg nach Hause viel sicherer findet als wir. Für unseren Hund sind wir ein Mitglied seines Rudels, mit etwas Glück der Rudelführer, freilich einer mit einigen merkwürdigen Angewohnheiten und oft überraschenden Reaktionen. Schließlich: Den Tieren ist die Mensch-TierDifferenz vollkommen gleichgültig. Sie machen sich keine Gedanken über uns oder darüber, wie sie sich von uns unterscheiden. Trotzdem möchte ich versuchen, in diesem Kapitel die MenschTier-Differenz nicht allein – wie üblich – vom Menschen aus zu beschreiben, sondern an Beispielen der Sinnes- und Orientierungsleistungen vieler Tiere deren besondere Fähigkeiten im Vergleich zu unseren zu würdigen. Dieser Versuch muss unvollkommen bleiben, schon deswegen, weil wir über die Sinnes- und Orientierungsleistungen der Tiere bislang nur sehr wenig wissen. Aber dann, wenn wir mithilfe moderner Forschungsmethoden Einblicke gewinnen etwa in die »Intelligenz« eines Bienenschwarmes (Menzel u. Eckoldt, 2016) oder das Riechvermögen eines Aals erfassen, könnten wir uns sehr unvollkommen und überaus schlecht ausgestattet fühlen. Darüber hinaus müssen wir damit rechnen, dass uns viele Sinnesleistungen der Tiere bislang verborgen geblieben sind, weil wir gar nicht erst nach ihnen gesucht haben. Dass z. B. viele Tierarten (Fische, Vögel, Meeresschildkröten) sich bei ihren Wanderungen an dem Magnetfeld der Erde orientieren, ist erst seit einigen Jahren bekannt. Wir konnten es uns einfach nicht vorstellen, weil wir selbst diesen Magnetsinn (wahrscheinlich) nicht besitzen und natürlich auch diese Sinnesorgane bei den Tieren nicht gesucht haben. Wir haben uns immer nur gewundert, dass die Meeresschildkröten auch nach zwanzig Jahren Abwesenheit zu ihrem Ursprungsort zurückfinden. So ist auch der Versuch, die Mensch-Tier-Differenz vom Tiere aus zu vermessen, unvermeidlich anthropozentrisch und zweifellos sehr unvollkommen. Aber das ist es, was wir vielleicht nicht gut ertragen: Dass Tiere in ihrer eigenen Welt leben, zu der wir keinen Zutritt haben. Wir könnten aber über sie staunen und sie als das Fremde achten.

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Die Mensch-Tier-Differenz

DIE MENSCH-TIER-DIFFERENZ – VOM MENSCHEN AUS BETRACHTET Grenzen des Verstehens Im Kapitel über die Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung begegnet uns das Problem, dass wir uns kaum vorstellen können, wie der frühmittelalterliche einfache Mensch, der nur über geringe empathische Fähigkeiten verfügte, seine Welt, die Menschen und die Tiere seiner Umgebung wahrnahm. Noch schwieriger wird es, wenn wir versuchen wollten, uns in Tiere hineinzuversetzen, um etwa zu verstehen, wie z. B. ein Schimpanse seine Welt sieht und welche »Vorstellungen« er sich von sich selbst und den anderen um sich herum bildet. In solchen Fällen stoßen wir an unüberschreitbare Grenzen, ob wir sie wahrnehmen wollen oder nicht. Wir können wohl kaum hinter den Erwerb unserer Sprache und Begriffsbildungen zurückgehen und etwa versuchen, uns nur gefühlshaft von der Natur und den Tieren »anmuten« zu lassen. Ferner: Wir können auch nicht unser evokatives Gedächtnis, aus dem wir schon lange zurückliegende Ereignisse aufrufen können, einfach abschalten. Wenn wir z. B. einem besonders zutraulichen Hund begegnen, so ordnen wir diese Begegnung automatisch in die Geschichte unserer Hundebegegnungsepisoden ein und korrigieren vielleicht aufgrund dieser neuen Erfahrung unser Schema, wie es ist, einem fremden Hund zu begegnen. Und wenn wir von diesem Erlebnis emotional berührt sind, drängt es uns vielleicht, uns darüber später mit anderen auszutauschen: »Da bin ich doch vorhin einem besonders zutraulichen Hund begegnet …« Menschen tauschen sich unablässig über ihre Erfahrungen aus. Tieren aber fehlt die Fähigkeit, zurückliegende Erfahrungen zu reflektieren und sie anderen Tieren mitzuteilen, so dass die sich das Erfahrene vorstellen können. Die Welt der Tiere: Das ist diejenige, die sie sehen, riechen, schmecken, fühlen, hören können und nichts darüber hinaus. Und ein paar weitere Sinnesleistungen kommen hinzu: Der Ferntastsinn der Fische, der Magnetsinn sehr vieler Tierarten, die Fähigkeit einiger Wanderfische, die Polarisation Vom Menschen aus betrachtet

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des Lichtes wahrzunehmen und auszuwerten. Diese faszinierenden Fähigkeiten können wir uns nicht einmal vorstellen. Der Philosoph Thomas Nagel (1974) versuchte in einem berühmt gewordenen Aufsatz die Frage zu beantworten: Wie ist es für eine Fledermaus, eine Fledermaus zu sein? Darin steckt die grundsätzliche Frage: Können wir Menschen uns überhaupt vorstellen, wie es für ein anderes Lebewesen ist, dieses Lebewesen zu sein? Nagel wählte mit Bedacht ein Tier aus, das uns als Säugetier phylogenetisch nahesteht, sich aber in vieler Hinsicht von uns sehr unterscheidet: Es fliegt, nimmt seine Außenwelt mithilfe eines Echolotes wahr und ernährt sich fast ausschließlich von Insekten. Die Frage ist also, können wir uns mit unseren überragenden Verstandesmitteln lösen von unserem Bewusstsein, wie es für uns ist, in der Welt zu sein, und uns vorstellen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein? Nagel führt dazu aus: »Unsere eigene Erfahrung liefert die grundlegenden Bestandteile für unsere Phantasie, deren Spielraum deswegen beschränkt ist. Es wird nicht helfen, sich vorzustellen, dass man Flughäute an den Armen hätte, die einen befähigten, bei Einbruch der Dunkelheit und im Morgengrauen herumzufliegen, während man mit dem Mund Insekten finge; dass man ein schwaches Sehvermögen hätte und die Umwelt mit einem System reflektierter akustischer Signale aus Hochfrequenzbereichen wahrnähme; und dass man den Tag an den Füßen nach unten hängend in einer Dachkammer verbrächte. Insoweit ich mir dies vorstellen kann (was nicht sehr weit ist), sagt es mir nur, wie es für mich wäre, mich so zu verhalten, wie sich eine Fledermaus verhält. Das aber ist nicht die Frage. Ich möchte wissen, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein.«5 Seine Antwort lautet also, in komprimierter Fassung: Wir wissen es definitiv nicht, und, so möchte ich hinzufügen: Wir können es auch nicht wissen, und »wir werden niemals wissen, wie es ist, ein Individuum einer anderen Spezies zu sein« (Perler u. Wild, 2005, S. 50). Wir werden immer beschränkt bleiben auf die Gegenstände 5 Zitiert nach Wulfinghoff: www.orgenda.de/newsletter/print.asp?letterid=24104 (Zugriff am 26.03.2016).

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Die Mensch-Tier-Differenz

unseres eigenen, subjektiven Bewusstseins. Wir können vielleicht annehmen, dass auch Tiere wie z. B. Fledermäuse Erlebnisse haben, aber diese liegen »jenseits unserer Fähigkeit, uns einen Begriff davon zu machen« (S. 50). Diese Beschränkung ertragen wir nicht gut. Zu sehr erleben wir sie als narzisstische Kränkung. Obwohl wir über die subjekthafte Befindlichkeit der Tiere in uns keinerlei Entwürfe vorfinden und allenfalls auf diejenigen Vorlagen angewiesen sind, die wir für unser Verständnis von anderen Menschen zur Verfügung haben, versuchen wir es doch immer wieder mit unseren »Bordmitteln« und glauben seit vielleicht 250 Jahren, uns in Tiere »einfühlen« zu können. Das ist vielleicht verständlich, denn wir ertragen die Unzugänglichkeit der Tiere nicht gut, aber es ist doch auch ein riesiger und folgenreicher anthropozentrischer Irrtum.

Tiere sind anders In den folgenden Abschnitten werden wir die Mensch-Tier-Differenzen untersuchen, und zwar im Hinblick auf das Denk- und Sprechvermögen, auf die Fähigkeit, intentional zu handeln und die moralische Urteilsfähigkeit. Ich bin mir bewusst, dass die Redeweise von den »Fähigkeiten« oder dem »Vermögen« des Denkens, Sprechens etc. fast zwangsläufig eine Entwertung derjenigen Geschöpfe nahelegt, die über solche Kompetenzen nicht verfügen. Natürlich kann man nicht verleugnen, dass etwa die Kompetenz des Menschen, die äußere Welt in sich symbolisch zu repräsentieren, über sie zu sprechen und kulturelle Errungenschaften weiterzugeben, eine »höhere« Fähigkeit darstellt als die nicht symbolische Repräsentanz der Erfahrungen im tierischen Bewusstsein. Aber, wie zu zeigen sein wird, betrachten wir diese Fähigkeiten (Denken, Sprechen, moralisches Urteilsvermögen etc.) ganz vom Menschen aus. Von den Tieren aus gesehen könnte man gewiss die Frage nach der moralischen Urteilsfähigkeit für unerheblich erklären, denn das Böse und Gute kommen in der Tierwelt ja gar nicht vor, und würde dann wohl eher die Unterschiede in den Sinnesleistungen und im Orientierungsver­mögen (z. B. von Meeresschildkröten) zur Bestimmung der Mensch-Tier-Differenz heranziehen, und dann kann von der Überlegenheit des Menschen keine Rede mehr sein. Vom Menschen aus betrachtet

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Wie denken Tiere? (Denken, Sprechen, Bewusstsein) Zahlreiche Autoren haben sich mit der Frage befasst, ob Tiere – gemeint sind dann regelmäßig Wirbeltiere – denken können. In den letzten Jahren haben auch Philosophen in diese Debatte eingegriffen und daran erinnert, dass doch zunächst zu klären wäre, was eigentlich mit »Denken« gemeint sein soll. Beginnen wir gleichsam von unten, bei der primitivsten Form der Speicherung von Sinneseindrücken. Von dem Philosophen Helmuth Plessner (1982) stammt die oft zitierte Unterscheidung zwischen Pflanzen, Tieren und Menschen: Pflanzen sind offen organisiert, meint er, sie haben keine zentralen Organe, etwa um Sinneseindrücke zu speichern und weiter zu verwenden. Tiere hingegen sind zentrisch organisiert, sie leben aus ihrer Mitte heraus. Menschen schließlich können darüber hinaus einen »exzentrischen Standpunkt« einnehmen, also über sich und ihr Handeln nachdenken. Dass Tieren diese exzentrische Positionalität fehlt, dass sie also »nur« zentrisch organisiert sind, schließt allerdings durchaus ein, dass sie ihre Empfindungen und Sinneseindrücke speichern, verarbeiten und für ihr zukünftiges Verhalten verwenden können. Wie sollen wir uns diese Speicherung und Weiterverarbeitung vorstellen? Hauser (2001) unterscheidet vier Stufen der mentalen Repräsentation: •• Auf der untersten findet keinerlei Repräsentation statt, der sehr primitive Organismus – z. B. eine Pflanze – lernt nichts, er verhält sich wie ein Thermostat, der zwar Informationen verarbeitet, aber sie nicht speichert und für zukünftiges Verhalten verarbeitet. Schon einzellige Lebewesen bleiben vermutlich nicht auf dieser Stufe stehen. Amöben z. B. lassen sich mit Schmerzreizen dressieren, im Viereck zu schwimmen, das heißt, sie vollbringen schon eine komplexe Lernleistung. •• Auf der zweiten Stufe nutzt das Lebewesen Informationen, es lernt assoziativ und kann verzögert reagieren. Seine Reaktionen sind also nicht mehr unwillkürlich und invariant. •• Auf der dritten Stufe bildet das Tier Kategorien. Spinnen z. B. können aufgrund der Vibration ihres Netzes die Beute kategorisieren und ihr Verhalten danach ausrichten. 100

Die Mensch-Tier-Differenz

•• Auf der vierten Stufe werden die Informationen abgelöst von

der unmittelbaren Einbettung in den Zirkel von Wahrnehmung und Verhalten. Das Tier kann prüfen, ob seine Wahrnehmungen falsch oder richtig sind, und es kann Schlussfolgerungen ziehen.

Voraussetzung für die vierte Stufe ist, dass das Tier seine Erfahrungen im prozeduralen Gedächtnis speichert und abrufen kann. Es kann sich an Fakten erinnern, aber selbst Säugetiere wie Hunde, Katzen und Delfine scheitern schon an der Aufgabe, ein Objekt zu finden, das vor ihren Augen versteckt wurde. Lediglich großen Menschenaffen scheint das hin und wieder zu gelingen, jedenfalls unter Trainingsbedingungen. Viel wurde in der Philosophie darüber diskutiert, ob die Fähigkeit, zu denken, das Sprachvermögen voraussetzt. Der Philosoph Donald Davidson (2005) ist sich sicher, dass nur Individuen, die eine natürliche Sprache sprechen, auch denken können. Weiter ist er der Ansicht, dass das Denkvermögen voraussetzt, dass das Individuum unterscheiden kann zwischen seiner Vorstellung von der Wirklichkeit und der Wirklichkeit selbst. Nur dann nämlich könne es Irrtümer erkennen und zwischen einem richtigen und einem falschen Gedanken unterscheiden. Es gäbe aber, so Davidson, keinen Hinweis darauf, dass Tiere sich derart Gedanken über ihre Gedanken machen könnten. Menschenaffen erkennen sich auch im Spiegelbild, sie können sich »verschiedene Szenarien ausmalen« (Suddendorf, 2013, S. 292), in dieser Hinsicht sind sie 18 bis 24 Monate alten Kindern vergleichbar. Aber in diesem Alter tritt bei Menschen die Sprache hinzu und ihre mentalen Fähigkeiten vermehren sich rasant: Sie lernen mentale Simulationen, können kontrafaktische Überlegungen anstellen, sie können sich Szenen aus der Vergangenheit vor Augen führen und sie können sich z. B. vorstellen, wie es ist, Hunger zu haben, wenn sie gerade satt sind. Das kann ein Tier sicher nicht. Kaum vorstellbar ist, was Sasse (2017), der in seinem Buch die Tiere auf liebevolle Weise vermenschlicht, behauptet: dass nämlich »Hunde andere Hunde und sogar Menschen auf Bildern erkennen und sich merken können« (S. 61). Vom Menschen aus betrachtet

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Tiere verfügen nicht über eine Sprache. Allerdings entwickeln sie differenzierte Kommunikationssysteme, die uns Menschen oft verborgen bleiben, wenn wir nicht gezielt und mit großem Aufwand nach ihnen suchen. Suddendorf (2013) schildert, wie sich z. B. Meerkatzen am Fuße des Kilimandscharo mit unterschiedlichen Rufen gegenseitig vor einer Schlange, einem Adler, Leoparden oder Menschen warnen. Diese Differenziertheit der lautlichen Ausdrücke hat sich offenbar bewährt: »Sie versteckten sich unter einem Baum, wenn sie den Adleralarm hörten, und kletterten den Baum hinauf, wenn es sich um einen Leoparden handelte« (S. 114). Erst gründliche Feldstudien, bei denen diese Warnrufe auf Tonband aufgenommen und später einer Meerkatzengruppe wieder vorgespielt wurden, erbrachten den Nachweis für diese aufschlussreichen Signale. Wir müssen wohl annehmen, dass wir die allermeisten Kommunikationssysteme, welche die Tiere untereinander verwenden, noch gar nicht kennen. Tiere verwenden ihre Signalsysteme fast ausschließlich zur Kommunikation im Zusammenhang mit der Reproduktion, z. B. im Paarungsverhalten, zur Revierabgrenzung, bei der Nahrungssuche und um sich vor Feinden zu warnen. Oft tragen die Signale einen imperativen Charakter, das ist neben dem semantischen der »pragmatische« Aspekt einer Sprache, d. h., die Signale regen an, etwas zu tun oder zu unterlassen, aber die Tiere tauschen sich nicht darüber aus, was in ihren Köpfen vor sich geht. Ein Beispiel: Wenn eine Mutter mit einem zweijährigen Kind an der Straßenkreuzung vorbeikommt, an der sie gestern einen netten Hund gesehen haben, dann sagt sie vielleicht: »Weißt du noch, gestern der nette Hund hier?« Und das Kind erinnert sich und freut sich. Solche Dialoge wären selbst zwischen Schimpansen unmöglich – nicht nur, weil sie so nicht sprechen können, sondern auch, weil sie nicht über das evokative Gedächtnis verfügen, um sich Vergangenes »vor Augen zu führen« und anderen mitzuteilen. Zahlreiche Forscher versuchten nachzuweisen, dass große Menschenaffen sich nicht nur über Zeichen verständigen, sondern auch Symbole verwenden. Erstaunliche Leistungen einzelner Schimpansen werden beschrieben: Dass sie mithilfe von Symbolen kleine Sätze bilden können wie »Ich habe Hunger«, aber sie entwickeln keine 102

Die Mensch-Tier-Differenz

Syntax und keine Grammatik und haben kein Verständnis für Zeitformen. Ein Bonobo kann Befehle verstehen und befolgen wie »Hole das Futter aus dem Kühlschrank!«, wäre aber überfordert, wenn wir zu ihm über Zukünftiges oder Vergangenes sprächen. So erstaunlich die kognitiven Leistungen sein mögen, welche die Tiere – allerdings oft erst nach intensivem Training – zeigen, erreichen sie doch niemals die menschliche Fähigkeit, die äußere Welt in Vorstellungen zu repräsentieren und über sie zu sprechen. Sprache dient Menschen nicht nur der Kommunikation, sondern auch der Kooperation. Menschenkinder lernen mit ihrer Sprache, die Welt – nicht nur die sichtbare, auch die vergangene und zukünftige – in sich zu repräsentieren, und sie entwickeln ein kaum erlahmendes Bedürfnis, sich mitzuteilen und sich mit dem Geist der anderen zu vernetzen. Sprache ermöglicht es jeder Generation, ihr Wissen und ihre kulturellen Errungenschaften zusammenzufassen und an die nächste Generation weiterzugeben. So kumulieren sie eine gewaltige Wissens- und Erfahrungsmenge. Jede neue Generation muss diesen Akkumulationsprozess nicht wiederholen, sondern startet auf dem Entwicklungsstand, den die vorige erreicht hat und setzt ihn fort. Dieser »Wagenheber-Effekt« (Tomasello, 2006), auch als »Schraubratschen-Effekt« bezeichnet, ermöglicht es dem Menschen, sich aus der überaus langsamen Bewegung der Evolution herauszukatapultieren und sich aus der Gemeinschaft mit den Tieren für immer zu entfernen. Es ist sehr auffällig, dass viele wissenschaftliche Anstrengungen dem Ziel dienten, zumindest bei höheren Tieren menschenähnliche Fähigkeiten des Denkens, Problemlösens und Sprechens nachzuweisen. In überaus vielen Experimenten lernten Schimpansen und Gorillas, Mehrwortsätze durch das Antippen von Zeichen zu bilden, Werkzeuge zu benutzen oder sogar Täuschungsmanöver zu verwenden, um sich einen Vorteil in ihrer Gruppe zu verschaffen. Häufig dienen die Ergebnisse derartiger Experimente dazu, die Schutzwürdigkeit der Tiere zu begründen oder ihnen sogar eigene Rechte analog den Menschenrechten zuzuerkennen. Ich halte das für einen falschen Ansatz. Seine Anthropozentrik liegt darin, dass wir den Tieren dann besondere Rechte zubilligen, Vom Menschen aus betrachtet

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wenn sie den Menschen besonders ähnlich sind. Aber diese Assimilationisten geraten in Begründungsschwierigkeiten, wenn sie für Tierarten streiten sollen, denen beim besten Willen keine menschlichen Fähigkeiten zugeschrieben werden können. Deswegen plädiert ja Francione (2008, 2014) auch dafür, keine Unterschiede zwischen mehr oder weniger intelligenten Tieren zu machen. Er fordert für alle empfindungsfähigen Tiere weitgehende Rechte. Sollten wir aber Tierliebe nicht andersherum begründen: Dass wir Tiere nicht achten, weil sie so sind wie wir, sondern weil sie anders sind als wir? Diesen Gedanke werde ich auch in den folgenden Abschnitten über Intentionalität und moralisches Bewusstsein verfolgen. Er bildet am Schluss dieses Buches den Kern einer eigenen ethischen Konzeption. Haben Tiere ein Bewusstsein? Wieder gilt es zunächst zu klären, was wir mit »Bewusstsein« und insbesondere mit »Selbstbewusstsein« eigentlich meinen. Denken wir an einen Hund, der erkennbar unter Schmerzen leidet: Wie weit sind ihm seine Schmerzen bewusst? Wie weit weiß er, dass er Schmerzen hat, und könnte er sich vorstellen wie es ist, Schmerzen zu haben, wenn es ihm gerade gut geht? Diese Fragen sind nicht sicher zu beantworten, weil der Hund darüber ja keine Auskunft geben kann. Man kann versuchen, neurophysiologische Argumente anzuführen, die die Annahme eines Schmerzbewusstseins stützen könnten: Tiere besitzen Schmerzrezeptoren, deren Signale werden im zentralen Nervensystem verarbeitet. Dort werden Schmerzerlebnisse erzeugt, die der Körper selbst mit eigenen Opioiden lindern kann (Perler u. Wild, 2005; Tietz u. Wild, 2006). Diese Prozesse sind analog denjenigen, die auch in uns ablaufen, aber kann man deswegen auch annehmen, dass Tiere Schmerzen erleben ähnlich wie Menschen? Oder: Tiere zeigen Flucht- und Vermeidungsreaktionen, sie lernen Situationen zu meiden, die Schmerzen verursachen könnten. Wären das Indizien für ein Bewusstsein für Schmerz? Nein, oder besser: Nicht sicher. Denn auch niedere Tiere, selbst Einzeller, können (wie schon gesagt) auf Schmerzreize konditioniert werden. Was meinen wir ferner, wenn wir von »Selbstbewusstsein« – im Unterschied zu »Bewusstsein« – sprechen? Gemeint ist nicht die alltagssprachliche Bedeutung von »selbstbewusst« im Sinne von 104

Die Mensch-Tier-Differenz

selbstsicher oder von sich überzeugt zu sein. Im Hinblick auf die Mensch-Tier-Differenz sind zwei unterschiedliche Bedeutungen des Selbstbewusstseins relevant: Zum einen als Bewusstsein seiner selbst, auch als »Ich-Bewusstsein« bezeichnet, zum anderen als »Meta-Repräsentation« oder »Metakognition«, nämlich als die Fähigkeit, über eigene Gedanken oder Gefühle nachzudenken. In Tierexperimenten wird oft mit dem »Fleck-Test« überprüft ob ein Tier über ein Ich-Bewusstsein verfügt. Ein Schimpanse, der sich im Spiegel betrachtet und einen Fleck auf seiner Stirn entdeckt, und der dann versucht, diesen Fleck nicht auf der Spiegelfläche, sondern auf der eigenen Stirn zu berühren, hat offenbar ein Selbstbewusstsein von »Das hier bin ich selbst«. Es liegen experimentelle Ergebnisse vor, die zu belegen scheinen, dass nicht nur höhere Affen, sondern auch Delfine, Elefanten und Schweine über ein Ich-Bewusstsein verfügen. Auch über Rabenvögel wird Ähnliches behauptet; tatsächlich kann man aber beobachten, dass eine Krähe nach dem vermeintlichen Nebenbuhler hackt, den sie in einem Auto-Seitenspiegel entdeckt zu haben glaubt, und das wäre nun gerade kein Indiz für ein Ich-Bewusstsein. In der Summe verfügen wohl doch nur einige wenige, in der Phylogenese hochstehende Säugetiere über ein Ich-Bewusstsein oder die Fähigkeit zur Metakognition. Und vielleicht lohnt es sich, im Sinne eines »Gradualismus« für jede Spezies gesondert zu prüfen, wie weit ihre kognitiven Fähigkeiten gehen. Auffällig ist aber, dass diese intensiven Forschungsbemühungen offenbar dem Ziel dienen, die Mensch-Tier-Differenz zu verringern. Kaum ein Forscher bemüht sich um die Frage: Wie und wo sind Tiere wirklich anders? Intentionalität Zu den Argumenten, mit denen die Utilitaristen und die Vertreter der Tierrechtsbewegung Rechte für Tiere analog den Menschenrechten fordern, gehört auch die Behauptung, dass Tiere eigene Intentionen entwickeln, also Absichten hegen und Ziele verfolgen. Tatsächlich kann man kaum bestreiten, dass Tiere Ziele verfolgen und insofern Intentionen erkennen lassen: Das Huhn scharrt im Laub, Vom Menschen aus betrachtet

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um Insekten zu finden; das Wolfsrudel schwärmt aus, um ein Hirschkalb einzukesseln; und eine Schule von Walen kreist einen Schwarm Fische ein, um sie dann mit kräftigen Schwanzschlägen bewusstlos zu machen. Wir könnten Tausende solcher Beschreibungen anführen, die denjenigen sehr ähnlich scheinen, die wir für das intentionale, also absichtsvolle Handeln von Menschen verwenden: Frau H. nimmt ein Taxi zum Bahnhof, um den Zug nicht zu verpassen. Alle diese Formulierungen verwenden ein »Um-zu«, sie sind sich einander ähnlich, weil sie alle eine Ziel-Mittel-Relation beschreiben. Aber die Unterschiede zwischen menschlichem und nicht menschlichem absichtsvollem Handeln werden erst dann sichtbar, wenn wir genauer betrachten, was mit diesem »Um-zu« jeweils gemeint sein kann. Schauen wir uns die folgenden Beispiele an: •• Herr A möchte seiner Frau eine Freude machen. Um ihr eine Freude zu machen, kauft er ihr ein neues Smartphone. •• Die Schwalbe sammelt feuchte Lehmklumpen, um ein Nest zu bauen. •• Der Schachcomputer berechnet den nächsten Zug, um den Gegner schachmatt zu setzen. •• Die Sonnenblume wendet sich zur Sonne, um möglichst viel Sonnenlicht einzufangen. •• Die infrarotgesteuerte Rakete folgt der Wärmequelle, um das Flugzeug zu treffen. •• Der Wecker klingelt, um uns zu wecken. In allen Beispielen verwenden wir ein »Um-zu«, um eine Mittel-ZielRelation zu beschreiben. Aber diese Ähnlichkeit unserer Formulierungen täuscht darüber hinweg, dass es gravierende Unterschiede gibt zwischen menschlichem intentionalem Handeln und funktionalen Mittel-Ziel-Relationen bei Tieren, Pflanzen, Maschinen oder Schachcomputern. Hierzu ein kurzer Ausflug in die Philosophie: Der Philosoph Oswald Schwemmer (1976, 1979) erklärt, dass eine intentionale Handlung in drei Schritten zustande kommt. Jemand möchte ein 106

Die Mensch-Tier-Differenz

Ziel erreichen, er überlegt, wie (mit welchen Mitteln) er dieses Ziel erreichen könnte und entscheidet sich für das ihm geeignet erscheinende Mittel. Im Beispiel von Herrn A, der seiner Frau ein Smartphone kauft, um ihr eine Freude zu machen, ist zu beachten, dass Herr A zwei Entscheidungen trifft. Die erste betrifft das Ziel: Er entschließt sich, seiner Frau eine Freude machen zu wollen. Schwemmer spricht hier von dem »praktischen Aspekt« einer intentionalen Handlung. Die zweite Entscheidung betrifft die Wahl des geeigneten Mittels zum Ziel, nämlich ein neues Smartphone zu schenken. Diesen Teil der intentionalen Beschreibung nennt Schwemmer den »technischen Aspekt«. Wenden wir uns zunächst dem »praktischen Aspekt« einer intentionalen Handlung zu. Es geht allgemein um die Frage, welche Ziele wir überhaupt anstreben wollen; in unserem Beispiel: Will Herr A seiner Frau überhaupt eine Freude machen oder nicht? Hier schon zeigt sich ein wesentlicher Unterschied zwischen dem intentionalem Handeln der Menschen und instinktgesteuerten Verhalten der Tiere: Menschen können über ihre Absichten und Ziele nachdenken, Tiere in aller Regel aber nicht. Ein Schimpanse überlegt nicht, ob er als nächstes Nahrung suchen oder eine Gefährtin kraulen will. Er tut mal dies, mal jenes, folgt dabei immer seinem aktuell stärksten Motiv. Er kann nicht denken: Eigentlich möchte ich Futter suchen, weil ich Hunger habe, aber diesmal stelle ich dieses Motiv zurück und kraule lieber meine Gefährtin. Menschen hingegen können solche Entscheidungen fällen; darin gründet im Wesentlichen sogar die Idee von der eigenen Handlungsfreiheit: Sie müssen nicht ihren Impulsen folgen, sondern sie können sich auch gegen das aktuell stärkste Motiv entscheiden, z. B., weil ihnen dessen Ziel unmoralisch erscheint. Ohne diese Möglichkeit der Handlungsfreiheit gäbe es für die Idee vom moralischen Urteilsvermögen gar keinen Spielraum. Tieren ist diese Sphäre der Handlungsfreiheit und des moralischen Urteilsvermögens nicht zugänglich – abgesehen vielleicht von einigen wenigen hoch trainierten Primaten. Die Philosophin Christine Korsgaard (2008) betont in guter kantischer Tradition den wesentlichen Unterschied zwischen dem Tier, Vom Menschen aus betrachtet

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das ein Ziel verfolgt, und dem menschlichen »Tier«, das sich dessen bewusst ist, dass es dieses Ziel verfolgt. Dieses Bewusstsein zielt nicht nur auf die praktische Frage, z. B. darauf, ob das Ziel überhaupt erreichbar ist, sondern es ist selbstreflexiv (»Ist es das, was ich wirklich will?«) und moralisch (»Ist es das, was man tun soll?«). Nun zu dem »technischen Aspekt« einer intentionalen Erklärung, gemeint ist die Fragestellung, welches Mittel nach unserer Überzeugung geeignet sein wird, unser Ziel zu erreichen. Herr A muss bei der Wahl des geeigneten Mittels, mit dem er seiner Frau eine Freude machen könnte, auf seine Überzeugungen oder Meinungen oder Vermutungen zurückgreifen, und es ist klar, dass er sich hier irren kann. Vielleicht vermutet er nur, seine Frau würde sich über ein neues Smartphone freuen, aber vielleicht irrt er sich auch und sie findet, dass er dabei vor allem an sich und sein Interesse an technischen Neuerungen gedacht hat. Meinungen, Vermutungen, Erwartungen, Wünsche, Hoffnungen nennt man in der Philosophie »propositionelle Einstellungen«, und es ist sehr fraglich, ob Tiere darüber verfügen. Zwar verfolgen auch Tiere, wie soeben betrachtet, ihre eigenen Ziele, aber in der Wahl ihrer Mittel folgen sie einer biologischen und nicht einer intentionalen Zweckausrichtung. Die Amsel, die ein Nest baut, entscheidet weder über das Ziel, noch entscheidet sie über die Mittel, dieses Ziel zu erreichen. Und: Mittel und Ziele sind für sie untrennbar miteinander verknüpft, sie bilden fast immer eine instinktgesteuerte funktionale Einheit. Der Philosoph Donald Davidson (2005) ist überzeugt, dass Überzeugungen und überhaupt propositionelle Einstellungen Gedanken und Sprachkompetenz voraussetzen. Im intentionalen Handeln des Menschen hingegen sind Mittel und Ziel nicht fest miteinander verknüpft. Wir setzen nicht jedes Mittel ein, um unser Ziel zu erreichen, sondern wir fragen uns, »ob das Wollen dieses Ziels ein guter Grund dafür ist, diese bestimmte Handlung zu vollziehen« (Korsgaard, 2008, S. 128). Anders gesagt: Wir fragen uns, ob unsere Handlungen durch unsere Ziele gerechtfertigt sind. Also: Herr A kann, muss aber nicht seiner Überzeugung darüber, was seiner Frau eine Freude bereiten wird, folgen. Und er kann über 108

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seine Überzeugung nachdenken und sie gegebenenfalls für falsch halten. Das setzt voraus, dass er weiß, dass seine Überzeugungen (Meinungen, Vermutungen etc.) nicht identisch sind mit der objektiven Realität. Herr A weiß vielleicht, dass seine Frau sich möglicherweise nicht freuen wird. Allgemeiner: Wir wissen, dass es eine Realität gibt, die von unseren Überzeugungen unabhängig ist. Tiere hingegen können diese Unterscheidung nicht treffen. Es mag sein, dass sie über Repräsentationssysteme verfügen, mit denen sie sich ein Abbild von der Realität schaffen, aber sie können nicht unterscheiden zwischen diesem Abbild, also ihrer inneren Repräsentanz der Wirklichkeit und der Wirklichkeit selbst. Deswegen kann z. B. ein Frosch nicht denken: »Dies sieht zwar aus wie eine Fliege, aber es ist wahrscheinlich keine Fliege« (vgl. Millikan, 2005). Spätestens im dritten Lebensjahr wissen Kinder, dass Menschen sich nur in Ausnahmefällen nach Zufall verhalten, dass sie in der Regel nach Gründen und auf Ziele hin handeln und dass man aus ihrem Handeln häufig auf ihre Absichten zurückschließen kann. Aber weil eben Mittel und Ziele nicht fest miteinander verknüpft sind (wie bei Tieren), kann man sich in diesem Rückschluss auf die Motive bei Menschen leicht irren. Die Frau des Herrn A könnte z. B. annehmen, dass ihr Ehemann vor allem sich selbst einen Gefallen tun wollte, als er ihr das Smartphone schenkte. Wenn man nun noch hinzunimmt, dass Menschen oft auch unbewusste Absichten verfolgen, muss einem die Aufgabe, aus dem sichtbaren Verhalten auf die Absichten zurückzuschließen, besonders schwierig erscheinen. Nehmen wir das Beispiel eines Mannes, der einen Brief in einen Mülleimer wirft, der neben dem Briefkasten steht. Darf man als Beobachter zurückschließen, dass dieser die Absicht hatte, den Brief in den Mülleimer zu werfen? Wir könnten ihn fragen, und vermutlich würde er sagen, dass er ihn eigentlich in den Kasten werfen wollte. Als Psychoanalytiker könnte man vielleicht die Vermutung anstellen, dass er unbewusst diesen Brief vernichten wollte, und vielleicht stellt sich diese Erklärung im Gespräch sogar als triftig heraus. Aber sicher können wir nicht sein. Bei Tieren haben wir es sehr viel einfacher. Hier rechnen wir mit der Instinktgebundenheit der Tiere und sind uns da in den meisten Vom Menschen aus betrachtet

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Fällen sicher. Von der Philosophin Ruth Millikan (2005) stammt das amüsante Beispiel von der Maus, die den Wohnungsflur entlang rennt. Wozu rennt sie in diese Richtung? Eine Erklärung wäre, dass sie die Katze gesehen hat, die am anderen Ende des Flurs auftauchte. Denkbar wäre aber auch, dass die Maus zum Flughafen will, der genau in der Richtung liegt, welche die Maus eingeschlagen hat. Wenn wir annähmen, dass Mittel und Ziele der Maus nur so locker miteinander verknüpft sind, wie das bei Menschen der Fall ist, müsste man solche Möglichkeiten in Betracht ziehen. Aber »natürlich« rechnen wir mit der Instinktgebundenheit der Maus und sind uns sicher, dass sie vor der Katze flüchtet. Es gehört aber zu unserer anthropozentrischen Weltsicht, dass wir nicht nur menschlichem Handeln, sondern auch tierischem Verhalten gern eine intentionale und nicht bloß eine funktionale Zweckausrichtung unterstellen. Und wir nehmen an, zumindest bei Wirbeltieren, von tierischem Verhalten wie bei Menschen auf die zugrunde liegenden Absichten rückschließen zu können, wir können kaum anders. Und die Erklärungen, die wir dabei finden, bewähren sich in der Praxis recht gut. Wir nehmen z. B. an, dass die Amsel im Frühjahr kleine Zweige sammelt, um ein Nest zu bauen; wenn wir ihr Nest suchen wollten, müssten wir der Amsel mit den Zweigen im Schnabel nur folgen. Die Betrachtungsweise »Die Amsel sammelt Zweige, um ein Nest zu bauen« ist ganz unproblematisch, solange wir uns dessen gewahr sind, dass wir mit dieser intentionalen Beschreibung (… um  … zu …) doch nur ein Instinktverhalten abbilden wollen. Ich glaube aber, dass wir im Alltag Tieren bedenkenlos unterstellen, dass sie in gleicher Weise absichtsvoll und zielbewusst handeln, wie Menschen das tun (oder zumindest tun können). Es ist nämlich einfacher und praktischer, die Form intentionaler Beschreibungen auch für tierisches Verhalten anzuwenden, auch wenn wir damit die Mensch-TierGrenze oft überschreiten. Wir sagen »Die Biene fliegt zum Rapsfeld, um Honig zu sammeln« oder »Der Lachs kehrt in sein Herkunfts­ gewässer zurück, um dort zu laichen«. Das ist viel kürzer und einfacher, als die einzelnen Verhaltensschritte aufzuzählen, die instinktgesteuert ablaufen. Aber: Wir dürfen nicht übersehen, dass wir mit 110

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dieser Verwechselung von instinktgesteuertem Verhalten und intentionalem Handeln die Tiere zu einem gewissen Grade vermenschlichen, sie uns gleichsam zu uns herüberziehen und die MenschTier-Differenz verleugnen. Mühelos können wir ja mit unseren intentionalen Beschreibungen sogar noch weitere Grenzen überschreiten, indem wir z. B. sagen: »Die Sonnenblume wendet sich zur Sonne, um maximal beschienen zu werden.« Oder: »Die Spargelpflanze möchte ans Licht.« Und um die Vermenschlichung auf die Spitze zu treiben: Man könnte sich fragen, wieso sie nach so vielen vergeblichen Versuchen nicht einfach aufgibt. Immer sind wir es gewohnt, selbst bei Nicht-Lebewesen intentionale Beschreibungen zu verwenden: »Die Rakete verfolgt über Infrarot-Steuerung das Flugzeug, um es zu treffen.« Oder: »Der Schachcomputer möchte (!) gewinnen, darum nutzt er einen schlecht gewählten Zug seines Gegners zu seinem Vorteil aus.« Nach dieser Erörterung der Mensch-Tier-Differenz im Hinblick auf die »praktischen« und »technischen« Aspekte intentionalen Handelns möchte ich nun noch einen weiteren Unterschied vorstellen: Menschen und Tiere unterscheiden sich auch darin, wieweit sie fähig sind, die Intentionen des jeweils anderen zu erkennen und für sich zu nutzen, z. B., um dessen Verhalten voraussagen und sich darauf einstellen zu können. Der Philosoph Daniel Dennett (1981) unterscheidet vier Stufen der Intentionalität, und wir sollten uns fragen, welche dieser Komplexitätsstufen wir Menschen und Tieren zutrauen sollten. Auf der untersten Stufe (Stufe 0 bei Dennett) reagiert ein Organismus bloß physiologisch auf Sinnesreize, das können natürlich alle Tiere, eine Intentionalität ist auf dieser Stufe nicht zu erkennen. Auf der nächsten Stufe (Stufe 1 bei Dennett) kann das Tier gezielt Gegenstände bestimmen, sie voneinander unterscheiden, Präferenzen bilden und für das eigene Verhalten berücksichtigen. Dazu ein Beispiel: Perler und Wild (2005) referieren ausführlich die berühmt gewordenen Experimente von Premack und Woodruff (1978). Diese beiden US-amerikanischen Psychologen untersuchten, inwieweit Primaten eine Theory of Mind entwickeln können. Eine begabte Schimpansin, Sarah, bewältigte folgende Aufgabe: Sie hatte gelernt, Vom Menschen aus betrachtet

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einen Pfleger dazu zu bringen, mit seinem Schlüssel eine Kiste zu öffnen, so dass sie an die dort verborgene Banane gelangen konnte. Diese Problemstellung erfordert eine Intentionalität auf Stufe 1, vermutlich sind mindestens alle Säugetiere, wenigstens aber alle Primaten in der Lage, die Aufgabe zu lösen. Premack und Woodruff führten nun aber eine Variante des Experimentes ein, deren Lösung eine höhere Stufe der Intentionalität (Stufe 2 bei Dennett) voraussetzt: Ein bestimmter, »böser« Tierpfleger hatte die Angewohnheit, die richtige Kiste, die die Banane enthielt, nach Aufforderung durch Sarah zu öffnen, dann aber zum Entsetzen der Schimpansin die Banane selber zu essen. Nachdem diese das einige Male mit angesehen hatte, ging sie dazu über, den »bösen« Pfleger zukünftig eine falsche Kiste öffnen zu lassen, von der sie wusste, dass sie keine Banane enthielt. Sarah täuschte also den »bösen« Pfleger absichtlich, sie konnte nicht nur den »bösen« von dem »guten« Pfleger unterscheiden. Sie wollte offenbar auch erreichen, dass der »böse« Pfleger irrtümlich meinte, in der Kiste befände sich die Banane. Das wesentlich Neue der Stufe 2 der Intentionalität gegenüber der Stufe 1 liegt darin, dass Sarah die Intentionen des »bösen« Pflegers erfasste und für ihre eigenen Handlungsentscheidungen berücksichtigte. Diese Reziprozität oder Wechselseitigkeit intentionaler Systeme setzt ein sehr hohes kognitives Entwicklungsniveau voraus. Noch einmal ein alltägliches Beispiel (nach Tress, 1987, S. 98): Kinder können schon im Vorschulalter vorgeben, müde zu sein, und sich schlafend stellen, sodass die Eltern beruhigt das Haus verlassen und sie endlich fernsehen können. Derartige Täuschungsmanöver setzen die Intentionalitätsstufe 2 voraus, sie ist im Tierreich – außer bei einigen Primaten – kaum zu erwarten. Und ob Schimpansen diese Fähigkeit in freier Wildbahn entwickeln und auch nutzen, ist umstritten. Dass aber zumindest Sarah diese Aufgabe auf Stufe 2 der Intentionalität lösen konnte, steht wohl außer Frage. Tatsächlich gibt es etliche Berichte darüber, dass Primaten auch außerhalb von Laborbedingungen täuschen können. Eine Schimpansin etwa, die eine begehrte Frucht fand und fürchtete, ein rang112

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höherer Artgenosse würde sie ihr wegnehmen, stieß einen Warnruf aus, sodass das Rudel zu der vermeintlichen Gefahrenquelle lief, und sie konnte unbeobachtet ihre Apfelsine essen. Eine andere kopulierte mit einem rangniederen Männchen des Rudels, achtete aber darauf, dass der Rudelführer sie aus seiner Perspektive gerade nicht sehen konnte. Freilich muss man in der Bewertung solcher Schilderungen berücksichtigen, dass solche In-vivo-Beobachtungen im Gegensatz etwa zu den Experimenten von Premack und Woodruff auch zufälliges Geschehen beschreiben können und im Ergebnis oft von den Erwartungen der Beobachter geprägt sind. Die Aufgabe, die Sarah gelöst hat, liegt etwa auch der gleichen Schwierigkeitsstufe wie der »False-Belief-Test« (Wimmer u. Perner, 1983), den vierjährige Kinder in der Regel bestehen sollten: Sie wissen zwar, dass in einer Keksdose Buntstifte liegen, sind aber überzeugt, dass ein fremdes Kind dort Kekse vermutet. Die Vierjährige muss sich dazu in die Perspektive der anderen Kinder hineinversetzen, ähnlich wie die Schimpansin Sarah, die annimmt, dass der »böse« Pfleger in der Kiste, auf die sie hindeutet, die Banane vermutet. Zuweilen scheinen auch weniger hoch entwickelte Tiere zu Täuschungsmanövern fähig zu sein. Als Beispiel diene der Hund, der enttäuscht feststellt, wie sein Herrchen in seinem Lieblingssessel sitzt. Er rennt daraufhin bellend zur Türe, Herrchen steht auf, um zu schauen, wer dort wäre, Hund rennt an ihm vorbei zum Sessel und pflanzt sich dort hinein. Wäre diese Episode nicht ein Beweis für die Fähigkeit des Hundes, die Perspektive seines Herrchens einzunehmen und ihn absichtsvoll zu täuschen? Nicht zwingend. Es ist durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich, dass der Hund per Zufall gelernt hat, dass sein Bellen an der Türe dazu führt, dass der Platz auf seinem Lieblingssessel frei wird. Das wäre dann ein Lernen am Erfolg, also eine »operante Konditionierung« – eine beachtliche Lernleistung, aber eben doch kein Zeichen einer Intentionalität auf der zweiten Stufe. Der englische Zoologe und Psychologe Conwy Lloyd Morgan (1952–1936) forderte (»Morgans Kanon«), ein Verhalten nicht mit einer höheren psychischen Funktion (wie im Beispiel die IntentioVom Menschen aus betrachtet

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nalität auf der zweiten Stufe) zu erklären, wenn es auch mit einfacheren Funktionen (Versuch und Irrtum oder Konditionierung) erklärt werden könne. Diese Forderung ist eine Neuauflage von »Ockhams Rasiermesser«, ein nach Wilhelm von Ockham (1288–1347) benanntes Prinzip, demzufolge von mehreren möglichen Erklärungen für eine Erscheinung die einfachste, welche die geringsten Annahmen voraussetzt, gewählt werden sollte. Und die Erklärung der operanten Konditionierung (Lernen am Erfolg) ist für den Hund, der bellend zur Türe rennt, wesentlich einfacher und weniger voraussetzungsreich als die Annahme einer Intentionalität auf zweiter Stufe nach Dennett. Vielleicht ist die Mensch-Tier-Differenz auf keinem Gebiet so folgenreich wie auf diesem »metakognitiven« Gebiet der Perspektivenübernahme und Intentionalitätsstufe. Man stelle sich nun eine Beziehung zwischen zwei Individuen vor, von denen das eine sich in die Intentionen (und die Perspektiven) des anderen hineinversetzen kann, das andere aber nicht die des einen. Der eine Mensch kann den anderen täuschen, der andere den einen aber nicht – mehr noch: Er versteht gar nicht die Täuschungsabsicht des einen, weil er sich nicht vorstellen kann, dass der etwas anderes beabsichtigte, als offenkundig zu sein scheint. In dieser Situation befindet sich das Tier in seiner Beziehung zum Menschen. Tzvetan Todorov (1985) schildert eindrucksvoll, wie die spanischen Eroberer Anfang des 16. Jahrhunderts die Azteken in Mexiko trotz ihrer zahlenmäßigen Unterlegenheit überwanden, indem sie deren noch eingeschränkte sozialkognitive Kompetenz ausnutzten. Sie konnten einen einfachen Trick anwenden, um die Anführer der Ureinwohner in ihre Gewalt zu bekommen: Sie luden die Häuptlinge zu einem Festmahl ein, allerdings in der Absicht, sie bei dieser Gelegenheit gefangen zu nehmen und umzubringen. Die Täuschung gelang, weil den Azteken noch nicht vorstellbar war, dass eine Einladung zum Festmahl nur ein Vorwand sein könnte. Was folgt aus dieser gravierenden Mensch-Tier-Differenz? Doch nicht, dass wir uns überlegen fühlen sollten! Zumal wir ja von unseren hochentwickelten Kompetenzen fürwahr wenig segensreichen Gebrauch gemacht haben in der Entwicklung menschlicher Gesell114

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schaften. Aus der Asymmetrie in unseren Beziehungen zueinander, aus der Tatsache, dass wir für die Tiere mitdenken können, sie aber nicht für uns, folgt doch eher, dass wir uns für sie in besonderer Weise verantwortlich fühlen müssten und dass wir uns gerade in jenen Fähigkeiten kontrollieren sollten, die wir den Tieren voraushaben. Die von vielen Tierschützern gewünschte »Augenhöhe« zwischen Mensch und Tier ist eine vielleicht schöne Illusion, aber sie kann auch dazu führen, dass wir uns aus unserer Verantwortung, die gerade in der Ungleichheit gründet, mit dem angenehmen Gefühl, ein guter Mensch zu sein, herausstehlen. Mit diesen Überlegungen bin ich bei dem letzten Unterthema zur Frage der Mensch-Tier-Differenz angekommen: dem moralischen Urteilsvermögen. Moralisches Urteilsvermögen Aus philosophischer Sicht besitzen nur Menschen aufgrund ihrer kritischen Vernunft und ihrer Entscheidungsfreiheit die Fähigkeit, moralische Prinzipien zu formulieren, ihr Handeln danach auszurichten und das der anderen entsprechend zu bewerten. Um es in Anlehnung an Immanuel Kant etwas pointiert zu formulieren: Erst die Freiheit der Wahl aufgrund der Vernunft lässt das Böse als böse erscheinen. Tiere, die nicht über diese Freiheit verfügen, sind auch freigestellt von moralischen Erwägungen: »Menschen, aber niemals Nagetiere, stehen vor Entscheidungen, die rein moralischer Art sind […]. Sie sind moralisch autonom« (Cohen, 2008, S. 53). Nun hat es nicht an Versuchen gefehlt, den Tieren neben den spezifisch menschlichen Fähigkeiten wie Einfühlungsvermögen, Perspektivenübernahme und einer Theory of Mind auch das moralische Urteilsvermögen zuzuschreiben. Könnte es denn sein, dass auch Tiere über eine Art Gewissen verfügen, das sie selbst leitet und ihnen nahelegt, das Verhalten der anderen Tiere (und Menschen) nach moralischen Maximen zu beurteilen? Dass also z. B. unser Hund deswegen darauf verzichtet, Nachbars Katze zu jagen, weil er weiß, dass das moralisch (!) falsch wäre – oder doch nur deswegen, weil er gelernt hat, Strafe zu vermeiden? Vom Menschen aus betrachtet

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Wie könnte sich moralisches Urteilsvermögen bei Tieren äußern? Suddendorf (2013) schlägt mit de Waal (2008) vor, die allgemeinen Voraussetzungen für moralisches Handlungsvermögen in drei Komponenten zu zerlegen und diese gesondert zu untersuchen: 1) Empathie und Reziprozität: die Fähigkeit, sich in einen anderen einzufühlen, dessen Situation aus dessen Augen zu betrachten und die Fähigkeit, sich selbst mit den Augen des anderen anzuschauen. Ferner: die Neigung zu reziprokem Altruismus, d. h.: Ich vergelte Gutes mit Gutem. 2) Gruppenzwänge: Moralische Maximen werden in sozialen Gruppen und (Sub-)Kulturen ausgehandelt. Wie weit entwickeln sozial lebende Tiere moralische Normen, deren Einhaltung sie überprüfen und gegebenenfalls belohnen? 3) Selbstreflexivität: die Fähigkeit, moralische Urteile auf sich selbst anzuwenden. Zu 1): Es gibt Beobachtungen auch in freier Natur, die Mitgefühl unter Tieren zu belegen scheinen. Schimpansen und wohl auch Bonobos scheinen einander trösten und beruhigen zu können (Suddendorf, 2013, S. 277). Unklar bleibt bei diesen Beobachtungen aber, ob die Schimpansen sich in die Gefühle eines anderen hineinversetzen können und einen leidenden Artgenossen um dessentwillen, also vorwiegend altruistisch motiviert trösten oder ob sie nur von den Affekten des anderen angesteckt werden und mit ihm auch sich selbst beruhigen oder trösten wollen. Zahlreiche Beispiele aus der Beobachtung von Primaten liegen uns vor, die eine ganz andere, unmissverständlich klare Sprache sprechen. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel aus einer Feldbeobachtung liefert Jane Goodall (1986, S. 351), die gewiss nicht im Verdacht steht, ihre Primaten hinsichtlich ihrer sozialkognitiven Kompetenzen zu unterschätzen. Es handelt von zwei weiblichen Schimpansen, zwei Schwestern, von denen die eine, Passion, ihrer Schwester Melissa das neugeborene Baby entriss, tötete und auffraß. Sie wurde dabei von ihrer eigenen Tochter Pom aktiv unterstützt. Die Mutter Melissa gab nach einem etwa zehnminütigen heftigen Kampf ihre Gegenwehr auf, und die Beschreibung der Szene endet mit den bewegenden 116

Die Mensch-Tier-Differenz

Sätzen: »Während Passion weiterhin das Baby verspeiste, begann Melissa, ihre Wunden zu betupfen. Ihr Gesicht war stark geschwollen, ihre Hände zerbissen, ihr Steiß blutete heftig. Um 18.30 Uhr ging Melissa erneut zu Passion, und die beiden Weibchen hielten sich kurz an den Händen […] Um 18.42 näherte sich Melissa wieder; Passion umarmte sie und fuhr fort, das tote Baby aufzufressen« (eigene Übers.). Schimpansen machen gern Jagd auf niedere Affen, zerreißen sie bei lebendigem Leib und fressen sie auf. Die Angstschreie dieser nahen Verwandten scheinen sie nicht zu rühren. Und wenn ein Löwenmännchen oder ein Wolfsmännchen ein Rudel erobert, tötet es zunächst die Jungtiere, und es ist für Menschen nicht leicht anzusehen, wie die Mütter scheinbar unbewegt zuschauen, denn sie würden doch ihr Junges gegen äußere Feinde ohne Zögern »bis aufs Blut« verteidigen. Der biologische »Sinn« diese Verhaltens ist nicht schwer zu erraten: Das neue und vermutlich stärkere, vielleicht jüngere Männchen verschafft sich die Chance, seine Gene ohne Verzögerung weiterzugeben, denn die Weibchen, die ihr Junges verloren haben, können rasch wieder trächtig werden. Andererseits: Viele Verhaltensweisen sozial lebender Tiere könnten als Äußerungen von Mitgefühl interpretiert werden. Wenn z. B. eine rangniedere Krähe von einer ranghöheren angegriffen wird und womöglich verletzt werden könnte, kommt sehr häufig die ranghöchste Krähe aus dem Schwarm der angegriffenen zu Hilfe. Diese Hilfe scheint mitfühlend zu sein, kann aber weniger voraussetzungsvoll als »moralanaloges Verhalten« (Lorenz, 1956) verstanden werden, das bei sozial lebenden Wirbeltieren in vielen Varianten beobachtet werden kann: Wenn Vögel ihre Jungen beschützen, wenn aggressive Hunde Welpen schonen (»Welpenschutz«) oder wenn ältere Rattenmännchen sich »todesmutig« einem Feind entgegenstellen und sich dabei oft selbst aufopfern. Derartig moralanaloges Verhalten dient natürlich dem Überleben der Gruppe oder der Art und ist gewiss das Ergebnis einer phylogenetischen Anpassung. Zu 2): Suddendorf (2013) beschreibt zwar, dass große Menschen­affen ein kooperatives Gruppenleben zu erzwingen scheinen. Aber sie Vom Menschen aus betrachtet

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reagieren auf Normenverletzungen offenbar nicht mit Strafen, und wenn doch, gilt die Sanktion nicht der Verletzung einer abstrakten Norm, sondern einem erkennbaren Fehlverhalten. Wenn sich z. B. ein Wolf von seinem Rudel entfernt hat, wird er bei der Rückkehr aggressiv »begrüßt«. Wenn sich hingegen ein Schimpanse einen Leckerbissen vor seinen neidischen Artgenossen dadurch sichert, dass er einen Alarmruf ausstößt, um seine Gruppe gegen einen vermeintlichen Feind zu hetzen, muss er keine Sanktion befürchten, wenn die Gruppe den mutmaßlichen Feind nicht findet. Schimpansen können vermutlich zwar täuschen, aber sie durchschauen das Täuschungsmanöver ihrer Artgenossen nicht. Zu 3) in aller Kürze: Es gibt keinerlei belastbare Hinweise dafür, dass Tiere selbstreflexiv moralische Erwägungen anstellen könnten. Wozu sollten sie das auch tun, in ihrer Welt, in der das Gute und das Böse gar nicht vorkommen? Die Frage nach dem moralischen Urteilsvermögen der Tiere stellt sich daher nicht. Tiere handeln nicht moralisch oder unmoralisch. Diese Kategorien sind auf die Tierwelt nicht anwendbar. Die Frage nach der Moral kam erst mit den Menschen in die Welt. Sie erfanden das Gute und sie erfanden zwangsläufig zugleich auch das Böse. In der Welt der Menschen gibt es nicht das eine ohne das andere, in der Welt der Tiere gibt es beides nicht. Aggression hingegen ist ein primär arterhaltender Instinkt, man sollte versuchen, diesen Begriff möglichst wertneutral zu verstehen. Und darin wiederum ähneln sich Tiere und Menschen durchaus. Ihnen gemeinsam ist die Fähigkeit und Bereitschaft, aggressiv zu handeln, auch und gerade gegenüber den eigenen Artgenossen. Bei Tieren regelt die Instinktausstattung die Formen und Grenzen innerartlicher Aggression. Menschen sind auch in dieser Hinsicht freigesetzt und sie müssen über viele Jahre in ihrer Kindheit und Jugend sozialisiert werden, um ihre Aggressivität zu kanalisieren, auch abzuwehren und im günstigen Falle zu sublimieren, indem sie z. B. Sport treiben oder, noch sublimer, Schach spielen – immerhin ein Kriegsspiel! Wieder und ähnlich wie im Falle der Perspektivenübernahme und der Intentionalität zweiter Stufe nach Dennett folgt aus der MenschTier-Differenz im Hinblick auf Moralität durchaus nicht, dass wir 118

Die Mensch-Tier-Differenz

uns überlegen fühlen könnten. In der Beziehung zu Tieren ist es ja nicht so, wie wenn ein moralisch hochstehend urteilender und handelnder Mensch einem anderen begegnete, der nicht fähig oder nicht willens wäre, moralische Maßstäbe anzulegen. Das System der Moral ist ein Kontext, in dem sich ausschließlich die Menschen bewegen, aber: Die Anwendung moralischer Maßstäbe schließt alle ein, weil Moral rückbezüglich ist: Ich verhalte mich zu mir selbst moralisch, und die Welt ist darin einbezogen.

DIE MENSCH-TIER-DIFFERENZ – VOM TIERE AUS VERMESSEN Von Karl von Frisch, dem überaus einfallsreichen und produktiven Forscher insbesondere über das Verhalten der Honigbiene, stammt das folgende Gedicht »Resignation« aus dem Jahr 1973 (S. 183): »Der Mensch in seinem Wissensdrang, Sinniert und forscht sein Leben lang, Um dann verzichtend einzusehn: Im Grunde kann er nichts verstehn.« Wie schon erwähnt, kann man sich zwar vornehmen, die MenschTier-Differenz vom Tiere aus zu vermessen, aber das wird nicht wirklich gelingen. Wie z. B. wollen wir uns vorstellen wie es ist, sich als Lachs oder als Schildkröte am Magnetfeld der Erde zu orientieren? Oder wie stellt sich die Welt der Gerüche dar, wenn man wie Bienen dreidimensional riechen kann? Wir wissen es nicht und wir werden es niemals wissen. Es kommt noch ärger: Wir wissen schon gar nicht, was wir alles nicht wissen. Wir kommen nicht darauf, bei Tieren nach Sinnesleistungen zu suchen, die wir uns nicht vorstellen können. Deswegen hat es sehr lange gedauert, bis wir zu ahnen begannen, dass etliche Tierarten die Polarisation des Lichtes wahrnehmen und zur Orientierung auswerten können. Derartige Entdeckungen werden frühestens dadurch angestoßen, dass uns ein tierisches Verhalten unerklärlich erscheint, und auch dann dauert es sehr lange, bis wir Vom Tiere aus vermessen

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die Erklärungen finden. Zum Beispiel rätselten die Menschen sehr lange schon, wie es Meeresschildkröten (genauer: der Unechten Karettschildkröte) gelingt, nach vielen Jahren ihrer Abwesenheit den Strand wiederzufinden, an dem sie selbst vielleicht vor zwanzig Jahren geschlüpft ist. Heute weiß man, dass sie sich an den Linien des Magnetfeldes orientiert, aber wo sich ihr Magnetfeldsinnesorgan befindet, ist immer noch unbekannt. Ich vermute, dass uns zahlreiche Sinnes- und Orientierungsleistungen der Tiere noch verborgen sind, weil wir noch gar nicht wissen, wonach wir suchen sollen, denn Fragen, die man nicht kennt, kann man nicht beantworten, man kann sie nicht einmal stellen. Zum Beispiel musste man erst auf die Frage kommen, wie ein Bienenschwarm, der mit der alten Königin seinen Stock verlassen hat, eine neue, möglichst optimale Unterkunft findet, bevor man in mühsamer und jahrelanger Forschungsarbeit die raffinierten Strategien dieser Entscheidungsfindung entdeckte (Seeley, 2014). Glücklicherweise gibt es auf diesen Forschungsgebieten zahlreiche Wissenschaftler, die unabhängig von materiellen Verwertungsinteressen an der Suche nach Fragestellungen und ihren Antworten arbeiten können und dabei Forschungsmethoden entwickeln, die überhaupt erst erlauben, ganz unbekannte Wissensgebiete zu erschließen. In diesem Kapitel möchte ich aus der Flut von Berichten über die Fähigkeiten der Tiere beispielhaft drei Themenkreise herausgreifen und etwas näher beleuchten. Ich habe mich dabei auf Forschungsergebnisse konzentriert, die gerade erst in den letzten Jahren zu neuen Einsichten in die tierischen Sinnes- und Orientierungsleistungen geführt haben: •• die »Intelligenz« der Bienen, •• die Sinnesleistungen vieler Tiere, •• die Orientierungsleistungen der Wandertiere.

Die »Intelligenz« der Bienen Seit den bahnbrechenden Forschungsergebnissen Karl von Frischs (1923) über die »Sprache« der Bienen, die mit ihrem »Schwänzeltanz« ihre Schwestern auf die nahe gelegenen Trachtquellen auf120

Die Mensch-Tier-Differenz

merksam machen, ist viel über die Kommunikation staatenbildender Insekten geforscht worden. Aber erst in jüngerer Zeit eröffneten moderne Methoden tiefer gehende Einblicke in die »Intelligenz« der Bienen: Auf der einen Seite ermöglichten es elektrophysiologische Ableitungen aus dem Nervensystem der Bienen, die Arbeitsweise ihrer Sinnesorgane zu erfassen (Menzel u. Eckoldt, 2016), auf der anderen Seite gelang es, Bienen mit Minibarcodes zu markieren oder sogar mit extrem kleinen Sendern auszurüsten, sodass die Bienen und ihre Verhaltensweisen auch im Schwarm individuell erkennbar wurden. Weil man ferner lernte, Bienen zu konditionieren, also ihr Verhalten durch Belohnungsanreize systematisch zu steuern, konnte man prüfen, welche Sinnesreize sie wahrnehmen, wie differenziert sie z. B. Gerüche unterscheiden können und zu welchen Gedächtnisleistungen sie fähig sind. Aus den inzwischen vorliegenden Forschungsergebnissen möchte ich einige wenige vorstellen. Es sind erstaunliche Fähigkeiten, die den Forschern sichtbar wurden. Immerhin hatten die Bienen ja mindestens dreißig Millionen Jahre Zeit, diese Kompetenzen zu entwickeln. Um die Weite dieser Zeitspanne zu illustrieren, stelle man sich vor, die Existenz der Bienen auf der Erde mit 24 Stunden gleichzusetzen. Innerhalb dieser Zeitspanne sind die Menschen dann erst drei Minuten vor Mitternacht erschienen. Thomas D. Seeley (2014) untersuchte in zahlreichen Experimenten, wie sich ein Bienenschwarm darüber verständigt, welche Höhle als zukünftige Unterkunft angeflogen werden soll. Jeder Imker weiß, dass im Frühsommer, wenn die Zahl der Bienen im Volk stark angewachsen ist, die alte Königin mit einem Schwarm von vielleicht 10.000 Bienen den Bienenstock verlässt und nach einer geeigneten neuen Höhle sucht, bevor die neue Königin geschlüpft ist. Dieser Schwarm bleibt dazu die ersten Stunden ganz in der Nähe, hängt sich vielleicht an eine Astgabel, schickt dann Kundschafterinnen aus, die die Gegend erkunden und nach ihrer Rückkehr über den Schwänzeltanz mitteilen, wie geeignet die Behausungen sind, die sie vorgefunden haben: Ist der Rauminhalt angemessen, ist sie trocken, wie groß ist die Einflugöffnung und wie hoch liegt sie? Jede Kundschafterin besucht nur eine Höhle und berichtet nach ihrer Rückkehr Vom Tiere aus vermessen

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über deren Qualitäten und natürlich ihre Lage: Wie weit entfernt liegt diese Höhle und in welcher Himmelsrichtung? Erscheint ihr die Höhle sehr geeignet, tanzt sie energischer und mit bis zu hundert Tänzen. Über weniger geeignete berichten die Kundschafterinnen mit weniger anhaltenden, »lustlosen« Tänzen (Seeley, 2014, S. 146). Diese »Berichte« der Kundschafterinnen animieren weitere Bienen, die Höhlen, über die berichtet wurde, aufzusuchen und bei ihrer Rückkehr die Urteile ihrer Vorgängerinnen zu verifizieren oder nicht. Innerhalb weniger Stunden entwickelt der Schwarm eine Mehrheitsmeinung, weil Kundschafterinnen, die lustlos über »ihre« Höhle berichten, weniger Bienen zur Überprüfung ihrer Quelle rekrutieren als energisch und länger tanzende. Wenn sich die Kundschafterinnen für die beste in Aussicht stehende Höhle »entschieden« haben, weil diejenigen unter ihnen, die über weniger geeignete Höhlen berichten, ihre Werbungen einstellen, erzeugen sie Pfeifsignale, um den Schwarm in Aufbruchsstimmung zu bringen. Die Bienen erwärmen dann durch Flügelbewegungen ihre Flugmuskulatur, um den Abflug vorzubereiten, bis ein weiteres akustisches Signal, ein auch für Menschenohren gut hörbares Schwirren den Aufbruch des Schwarms mitsamt der alten Königin einleitet. Die Kundschafterinnen müssen die Flugrichtung vorgeben, denn nur drei bis vier Prozent des Schwarms wissen, wo sich ihre neue Unterkunft befindet. Diese »Flitzerbienen« (S. 226) informieren durch markante, schnelle Vorstöße über die Flugrichtung. Dieser Entscheidungsprozess muss sehr sorgfältig getroffen werden, denn er ist nicht umkehrbar. Erweist sich die neue Unterkunft als ungeeignet, wird der Schwarm nicht lange überleben. Überlebenswichtig ist ferner, dass die alte Königin im Schwarm bleibt, dabei orientieren sich die Bienen am Geruch ihrer Pheromone. Die Entscheidungsfindung ist eine erstaunliche Leistung der Bienen, weil sie über einen Abstimmungsprozess zustande kommt, der, wie man im Computer simulieren kann, mehrere Parameter verrechnet: Einerseits darf der Schwarm nicht zu lange mit seiner Entscheidung warten, um nicht auszukühlen, andererseits wird die Entscheidung umso sicherer, je mehr Zeit sich die Bienen nehmen. Es wäre interessant zu erfahren, wie die Bienen angesichts dieser Entschei122

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dungskonflikte den richtigen Zeitpunkt für den Abflug finden und ob dabei weitere Einflüsse wie z. B. das gerade herrschende Wetter einbezogen werden: Ist es vielleicht zu kalt für längere Entscheidungsprozesse? Die Redeweise von den »Berichten« der Kundschafterinnen und den »Entscheidungen« des Schwarms legen nahe, das Verhalten der Bienen in Analogie zu kognitiven Prozessen bei Menschen zu setzen. Tatsächlich ist es ganz erstaunlich, wie ein Bienenschwarm derart komplexe Entscheidungen treffen kann, wo doch die einzelne Arbeitsbiene, die selbst ja auch nur sechs bis acht Wochen alt wird, sich sehr eng instinktgebunden verhält. Vielleicht lässt sich folgende Parallele ziehen: Die einzelne Nervenzelle in unserem Gehirn ist ja auch unsäglich »dumm«, sie kann eigentlich nur ein schlichtes elektrisches Signal senden oder schweigen. Aber im Zusammenwirken von vielen Milliarden von Neuronen, die einzeln betrachtet nur ja oder nein sagen können, bringen wir es doch auf geistige Leistungen, auf die wir nicht wenig stolz sind. Bei den Bienen sind es die Gehirne der vielen Tausend Einzeltiere, die den Schwarm analog zu einem Superorganismus intelligent machen (Menzel u. Eckoldt, 2016, S. 312).

Sinnesleistungen Beginnen wir wieder mit den Bienen. Sie können im Vergleich zu uns Menschen nicht sehr gut sehen, sind aber große Meister im differenzierten Wahrnehmen von Gerüchen. Mit ihren sehr beweglichen Antennen ertasten sie die Gerüche ihrer unmittelbaren Umgebung. Es mag sein, dass sie nicht mehr Geruchsvarianten unterscheiden können als wir, aber in einer besonderen Fähigkeit sind sie uns haushoch überlegen: Eine Biene benötigt nur einen zeitlichen Abstand von sechs Millisekunden, um einen Geruch vom nächsten unterscheiden zu können. Das bedeutet: Wenn sie ihre Fühler etwa über eine Blüte streifen lässt, gewinnt sie alle sechs Millisekunden einen neuen Eindruck, sodass sie in einem ganz konkreten Sinne einen Duftraum wahrnimmt, also räumlich riechen kann, was schon Karl vor Frisch aufgrund seiner Beobachtungen vermutet hatte. Vom Tiere aus vermessen

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Wir wissen nicht, wie dieser dreidimensionale Duftraum in der Biene repräsentiert ist. Und wir können uns dergleichen auch nicht vorstellen. Auf den Sehsinn, in dem wir uns ganz zu Hause fühlen, übertragen, könnten wir daran denken, wie es ist, einen 3D-Film mit und ohne 3D-Brille anzuschauen. Und vielleicht ist es ja so, dass viele Tiere die Gerüche ihres Nahraumes ganz ähnlich in »3D« wahrnehmen wie wir die Gegenstände in unserem Gesichtsfeld. Dass also für sie auch die Geruchsquellen räumlich hintereinander angeordnet sind und sich natürlich in ihrer Qualität und Intensität sehr voneinander unterscheiden. Mein Hund, mit dem ich beim Waldspaziergang die Duftspur eines Wildtieres kreuze, scheint immer genau zu wissen, dass dieses Tier von rechts nach links oder von links nach rechts gelaufen ist, in welche Richtung er also suchen müsste, wenn er das dürfte. Für die Ermittlung der Laufrichtung muss er wahrnehmen, in welcher Richtung die Duftintensität minimal, aber offenbar gerade noch wahrnehmbar ansteigt. Das ist eine Aufgabe, die man eigentlich nur mithilfe einer Differenzialrechnung lösen könnte. Nachgewiesen ist jedenfalls, dass Honigbienen – wie auch z. B. Ameisen – ihre Verwandten am Geruch erkennen, sodass Fremdlinge sofort bekämpft werden können. Die von der Tracht heimkehrenden Bienen werden geruchlich gemustert, und vermutlich lernen die Bienen auch dadurch, wo es etwas »zu holen gibt«. Menzel und Eckoldt gehen sogar so weit, zu behaupten, dass Bienen riechen können, ob sie von demselben oder einem anderen Vater abstammen. Diese Vermutung muss aber noch experimentell überprüft werden. Wir haben uns vor Augen geführt, dass sich die Bienen mit dem »Schwänzeltanz« über nahe gelegene Trachtquellen und im Falle des Ausschwärmens auch über geeignete Unterkünfte informieren. Diese Ortsangaben erfordern zwei Parameter: die Richtung, in der das Ziel liegt, und seine Entfernung. Die Richtung geben die Bienen in Relation zum Sonnenstand an: Wenn sie, wie üblich, auf einer vertikalen Fläche tanzen, deutet ein senkrecht ausgerichteter Tanz auf ein Ziel genau in Richtung Sonne. Ein vertikaler Schwänzeltanz, dessen Achse in einem bestimmten Winkel zur Senkrechten ausgeführt wird, zeigt den anderen Bienen an, welchen Winkel zur Sonne 124

Die Mensch-Tier-Differenz

sie einschlagen müssen. Tanzt die Biene auf einer horizontalen Fläche, weist die Mittelachse ihres Rundlaufes direkt in die Richtung der Trachtquelle. Die Orientierung am Sonnenstand ist den Bienen angeboren, aber sie müssen im Laufe ihres sehr kurzen Lebens lernen, ihre innere Uhr am Sonnenstand zu justieren. Bienenvölker, die man von der Südhalbkugel der Erde in den Norden verbrachte, tanzten dort um 180 Grad verdreht. Und ein anderes Volk, das von New York nach München versetzt wurde, tanzte um 90 Grad falsch, was einem Jetlag von circa sechs Stunden entspricht (Menzel u. Eckoldt, 2016, S. 268). Um den Sonnenstand auswerten zu können, muss die Sonne nicht sichtbar sein. Bienen können – wie viele andere Tierarten auch – die Polarisation des Lichtes wahrnehmen und zur Ortsbestimmung heranziehen. Und wenn es dunkel ist, verwenden sie die Wahrnehmung ihres eigenen Gewichts aufgrund der Schwerkraft, um ihren Schwänzeltanz »einzunorden«. Die Entfernung zur Trachtquelle signalisiert die Biene vor allem durch die Anzahl der Hin- und Herbewegungen ihres Unterleibes auf der Geraden des Tanzes. Menzel und Eckoldt meinen, dass ein Schwenk hin und her eine Entfernung von sechzig Metern anzeigen soll (S. 162). Etwas unklar ist noch, wie Bienen die Entfernungen messen. Vermutlich erfassen sie den Energieverbrauch beim Fliegen und errechnen daraus die zurückgelegte Distanz. Es ist interessant, dass Bienen ihre Informationen beim Schwänzeltanz nicht allein optisch vermitteln. Zwar imitieren einige Bienen im Stock den Tanz und bereiten sich schon dadurch auf ihren Flug zur angezeigten Trachtquelle vor. Aber auch viele andere Bienen, die dem Tanz keine Aufmerksamkeit zu schenken scheinen, nehmen doch die Informationen auf: Menzel und Eckoldt wiesen nach, dass die tanzenden Bienen elektrostatische Felder erzeugen, die von anderen Bienen über ihre Antennen wahrgenommen und ausgewertet werden. Wenn wir die Sinne der Biene zusammenzählen, kommen wir also auf mindestens sieben: Neben den uns vertrauten ließen sich die Fähigkeiten zur Wahrnehmung der Polarisation des Sonnenlichtes und die der elektrostatischen Felder nachweisen. Die Forschung ist Vom Tiere aus vermessen

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sich heute außerdem schon sicher, dass Bienen auch die Feldlinien des Erdmagnetismus wahrnehmen und zur Orientierung nutzen können. Es ist aber noch nicht gelungen, diese Fähigkeit experimentell sicher nachzuweisen und bei der Suche nach den hierzu notwendigen Rezeptoren stecken die Forscher auch noch in den Anfängen. Dass der Magnetsinn überhaupt für die Orientierung genutzt wird, ist für sehr viele Tierarten schon nachgewiesen: Bakterien, Ameisen, Käfer, Fliegen, Heuschrecken und Wespen nutzen einen Magnetsinn zur Richtungsbestimmung in der Fortbewegung. Dass auch Vögel über einen Magnetsinn verfügen, wurde schon seit Langem vermutet. Heute wissen wir, dass dieser Magnetsinn nicht einfach wie ein Kompass arbeitet, der permanent auf den (magnetischen) Nordpol weist. Vielmehr haben die Vögel im Laufe ihrer Evolution »gelernt«, die Neigung der magnetischen Feldlinien zur Erdoberfläche, die Inklination, auszuwerten. Dieses Messverfahren erlaubt im Vergleich zum Kompass eine sehr viel genauere Orientierung im Raum, verlangt aber von den Langstreckenzugvögeln, dass sie bei Überquerung des Äquators ihr Berechnungsverfahren umkehren müssen, denn die Feldlinien erlauben nur eine Ausrichtung äquator- oder polwärts. Beginnen sie z. B. im europäischen Herbst mit der Richtung Äquator, müssen sie sich mit Erreichen der Südhalbkugel auf polwärts umstellen. Gartengrasmücken, die diese langen Strecken regelmäßig zurücklegen, haben jedenfalls diese Umkehrung gelernt. Dass viele Tiere einen Magnetsinn nutzen, ist also nicht mehr strittig. Unklar ist aber noch, welche Sinnesorgane ihnen hierfür zur Verfügung stehen. Die wahrscheinlichste Hypothese besagt, dass mikroskopische Spuren von Magnetit, einem Eisenoxyd, das in besonderen Sinneszellen eingelagert ist, sich im Magnetfeld ausrichten und ihre Ausrichtung verändern, wenn das Tier sich bewegt. Diese Lageveränderung führt zu biochemischen Reaktionen, die von Nervenzellen erfasst und als Signale weiterverarbeitet werden. Tatsächlich hat man bei vielen Tieren Magnetit nachweisen können. Bei Wirbeltieren findet sich dieses Mineral vorwiegend im Siebbein, einem Knochen am Ende der Nasenhöhle, an der Grenze zur 126

Die Mensch-Tier-Differenz

Schädeldecke. Trotzdem hält die Diskussion über die Neurophysiologie des Magnetsinnes an. Zumindest bei einigen Tierarten scheinen die Rezeptoren für den Magnetsinn in den Sehzellen des Auges zu liegen. Und wenn man den Befund hinzunimmt, dass sich der Sehnerv bei bestimmten Grasmückenarten mit der Reizleitung aus den Magnetrezeptoren kreuzt, könnte man die Vermutung anstellen, dass diese Vögel die Feldlinien des Erdmagnetfeldes in einem gewissen Sinne »sehen« können. Das Wahrscheinlichste ist jedenfalls, dass die Tiere im Verlauf der Evolution mehrere Verfahren der Magnetwahrnehmung entwickelt haben, ganz sicher können wir nur darin sein, dass wir noch längst nicht alle ihre Methoden kennen. Verlassen wir jetzt das Kapitel über die Sinnesleistungen der Tiere. Wir haben das Glück, dass gerade auf diesem Gebiet und speziell über Bienen so intensiv und mit modernen Methoden geforscht wird. Aber es gibt keinen Grund anzunehmen, dass es bei anderen Tierarten weniger faszinierende und rätselhafte Sinnesleistungen nachzuweisen gäbe. Da wäre z. B. der Ferntastsinn der Fische, die über ihr Seitenlinienorgan Wasserströmungen, Druckwellen, aber auch niederfrequenten Schall wahrnehmen können. Mit ihren Brust- und Schwanzflossen erzeugen sie fortlaufend hydrostatische Druckwellen, die von den Gegenständen um sie herum reflektiert werden und so ein räumliches Bild ihrer Umgebung ermöglichen. Oder man denke an die ungeheuer sensiblen Geruchsorgane bei zahlreichen Fischarten. Aale z. B. können einen für sie relevanten Geruch noch in einer Verdünnung von wenigen Molekülen pro Kubikzentimeter Wasser wahrnehmen. Wenn man einen Fingerhut dieses Geruchsstoffes gleichmäßig verteilen wollte, könnte man ihn etwa um die 50fache Wassermenge des Bodensees verdünnen – und er würde dennoch vom Aal wahrgenommen werden.

Orientierungsleistungen der Wandertiere Hier betrachten wir einige Beispiele für die erstaunlichen Orientierungsleistungen der Wandertiere. Deren Fähigkeiten, den Sonnenstand, die Polarisation des Lichts, den Stand der Sterne, die Feldlinien des Erdmagnetfeldes und deren Neigungswinkel (die Vom Tiere aus vermessen

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Inklination) auszuwerten, dienen ihnen dazu, sich auf ihren Jahrmillionen Jahren alten Wanderwegen zu orientieren. Seit vielen Jahren schon haben die Menschen über die Wanderzüge der Vögel und Fische gerätselt. Wohin verschwanden die zahlreichen Lachse, die noch im 19. Jahrhundert den Rhein bevölkerten, und wie fanden sie zurück, um in den Oberläufen der Flüsse zu laichen? Und umgekehrt: Wie finden die Aale, die in unseren Flüssen groß geworden sind, die 5.000 Kilometer entfernten Laichplätze in der Sargassosee? Wie orientieren sich die Zugvögel, die jährlich riesige Wegstrecken zurücklegen? (Die Küstenseeschwalbe hält den Rekord mit circa 30.000 Kilometer ihres Hin- und Rückweges von der Nordpolarregion, in der sie brütet, zu den Gebieten vor der antarktischen Packeiszone, wo sie überwintert.) Und schließlich: Wie orientieren sich die Meeresschildkröten, die oft erst nach zwanzig Jahren zu ihren viele Tausend Kilometer entfernten Brutplätzen zurückkehren? Längst nicht alle Fragen sind vollständig beantwortet. Wir wissen aber, dass die meisten Wandertiere zwei Orientierungssysteme miteinander kombinieren: Eine Richtungsorientierung und eine Zielorientierung. Mit der Richtungsorientierung verfolgt das Wandertier eine Art Marschroute, auf der es entlang fliegt oder schwimmt. Sehr viele Tiere verwenden hierzu ihren Magnetsinn, das ist für Zugvögel, für Lachse und auch für Schildkröten nachgewiesen. Im Falle der Aale wissen wir es nicht, aber da wir uns keinen anderen Orientierungssinn vorstellen können, nehmen wir einfach an, dass auch Aale über einen Magnetsinn verfügen. Ferner orientieren sich Lachse und Zugvögel am Sonnenstand, bzw. an der Polarisation des Lichtes. Einige Vogelarten, die vorwiegend nachts ziehen, nehmen Sternenbilder als Orientierungshilfe. Dabei müssen sie berücksichtigen, dass sich das Sternenzelt zu drehen scheint, und sie orientieren sich deshalb am Polarstern und die ihn umgebenden Sterne mit ihrer relativ konstanten Position. Vögel, die über Tag ziehen, wie z. B. Stare, müssen den Sonnenstand verrechnen, d. h., sie stellen eine »innere Uhr« ein, die ihnen erlaubt, die gewählte Himmelsrichtung trotz der »wandernden« Sonne beizubehalten. Vermutlich verfügen auch Lachse über diese Fähigkeit zur Verrechnung der Tageszeit. 128

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Jeder, der einmal in einem unbekannten Gelände nach Kompasszahl gewandert ist, weiß, wie leicht man sein Ziel verfehlen kann, wenn man ein Hindernis, z. B. einen steilen Berg oder einen See umwandern muss. Vögel oder Fische begegnen diesem Problem, wenn sie z. B. aufgrund starker seitlicher Strömungen abdriften. Da genügen schon wenige Winkelgrade Abweichung, um 1.000 Kilometer weiter in einer ganz falschen Gegend anzukommen. Da Zugvögel ihre Flugrichtung immer wieder korrigieren, nimmt man an, dass sie sich auch an Landmarken orientieren, etwa einen markanten Gebirgszug oder eine Meerenge, die sie regelmäßig überfliegen. Eine anspruchsvollere Erklärung für diese Richtungskorrekturen verwendet die Annahme, dass Zugvögel sich anhand einer »kognitiven Landkarte«6 orientieren, also über ein inneres, dreidimensionales Bild des geografischen Raumes verfügen, in dem sie sich bewegen. Damit besitzen sie die Möglichkeit, ihr Ziel auch dann direkt anzusteuern, wenn sie sich verflogen haben oder wenn ein Experimentator sie zu einem falschen Ort gebracht hat. Bei Bienen lässt sich diese Fähigkeit leicht nachweisen: Wenn man Bienen an zwei Futterstellen gewöhnt hat, die sie für gewöhnlich nacheinander anfliegen, kehren sie nicht um, wenn der Experimentator eine der beiden Stellen verschlossen hat, sondern fliegen von der einen direkt zur anderen. Ohne eine innere Landkarte würden sie zum Bienenstock zurückfliegen und von dort die zweite Quelle anfliegen. Die Zielorientierung setzt spätestens dann ein, wenn der Fisch oder der Vogel in die Nähe seines Brutgebietes kommt. Lachse z. B. suchen genau den Fluss, in dem sie vor zwei bis sechs Jahren aufgewachsen sind, und den würden sie mit einer Richtungsorientierung allein gewiss nicht finden. Sie orientieren sich bei der Annäherung am Duft ihres Heimatgewässers, das sie vor Jahren verlassen haben, vertrauen also auf ein Riechvermögen, dessen Präzision wir uns nicht vorstellen können. Forscher haben zahlreiche Experimente angestellt, um die Hypothese der Zielorientierung durch Geruch zu 6 Dieser Begriff geht auf die »cognitive maps« E. C. Tolmans aus den 1930er Jahren zurück.

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bestätigen: Schon 1962 nahm Hasler zahlreiche laichbereite Lachse, die an ihrem Geburtsort angekommen waren, heraus, verstopfte einer Hälfte von ihnen die Nasenlöcher (was Lachse vermutlich nicht übermäßig stört, weil sie nicht durch die Nase atmen) und setzte sie viele Kilometer flussabwärts wieder ein. Die Lachse, die riechen konnten, schwammen unverzüglich wieder zu ihrem Ziel zurück, die anderen blieben unten im Fluss (Hediger, 1967, S. 183). Auch Versuche, junge Lachse an einen künstlichen Duft zu gewöhnen und ihnen, wenn sie Jahre später zurückkehren, diesen Duft in einem anderen Fluss anzubieten, brachten die zu erwartenden Ergebnisse: Die Lachse stiegen in dem »falschen« Fluss mit dem »richtigen« Duft auf. Damit genug der Beispiele für faszinierende Sinnes- und Orientierungsleistungen der Tiere. Wir haben ihre Besonderheiten und ihren Unterschied zu menschlichen Fähigkeiten zwangsläufig nicht wirklich vom Tiere aus vermessen. Und da, wo wir Sinnesleistungen vermuten, die wir uns nicht vorstellen können, wie im Beispiel des Magnetsinnes, bleiben wir staunend im Außen und kämpfen vielleicht mit unserer Neigung, diese Fähigkeiten gering zu schätzen, nur weil sie uns so fremd sind.

EIN KURZER BLICK ZURÜCK Ich habe in diesem Kapitel versucht, die Mensch-Tier-Differenz anhand einiger Merkmale auszuloten. Es kann sein, dass wir von uns aus betrachtet eine große Überlegenheit verspüren, besitzen wir doch Fähigkeiten, über die Tiere im Allgemeinen nicht verfügen: moralisches Urteilsvermögen und Handlungsfreiheit, Intentionalität und eine Sprache mit Syntax und Grammatik. Von dort aus ist es schwer, die Instinktsicherheit der Tiere nicht als ein Gefängnis wahrzunehmen, aus dem sich das Insekt oder auch das Wirbeltier niemals befreit. Wir können unseren anthropozentrischen Standpunkt nicht wirklich verlassen, können uns also nicht vorstellen, wie sicher man sich fühlen könnte, wenn man immer wüsste, was im nächs130

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ten Augenblick zu tun wäre, frei von Entscheidungsnöten, von quälenden Selbstbewertungen und dem ständigen Risiko falscher und folgenreicher Entscheidungen. Was ich mir aber wünsche, ist, dass wir auf die Tiere nicht herabsehen, weil sie nicht so sind wie wir. Wenigstens im Scherz könnten wir den Spieß auch herumdrehen, uns, so gut es geht, mit der einen oder anderen Tierart identifizieren und von dort aus auf uns Menschen schauen. Dann nämlich sehen wir einen tumben Tor, dessen Nase und dessen Ohren so gut wie verschlossen sind vor der ungeheuerlichen Vielfalt der Gerüche und Geräusche. Der sich gar nicht vorstellen kann, wie es ist, räumlich zu riechen und der sich ohne sein Navigationsgerät überhaupt nicht zurechtfindet in der Welt. Ebenso wenig, wie er stolz sein kann angesichts seiner mühsam errungenen Fähigkeiten zur Empathie und Theory of Mind, steht es ihm an, auf Tiere mit einer arroganten Geste herabzublicken, weil sie in einer anderen Welt leben, von der er für immer ausgeschlossen ist. Tierschützer und Vertreter der Tierrechtsbewegung begründen ihre Forderungen gern mit dem Argument, dass sich Tiere in vieler Hinsicht gar nicht grundsätzlich von Menschen unterscheiden: Sie hätten ein Bewusstsein, könnten denken und sprechen, ihr Handeln sei absichtsvoll und lasse Ziele erkennen und sie seien sogar zu moralischem Urteil fähig. Es ist aber klar, dass diese Behauptungen – wenn überhaupt – für die allermeisten Tiere nicht gelten können, und Anhänger der Tierrechtsbewegung, welche den Tieren Denk- und Sprechvermögen zuschreiben, geraten regelmäßig in die Schwierigkeit, dann im Tierreich Unterschiede machen zu müssen. Die Forderung des »Great Ape Project« z. B., großen Menschenaffen analog den Menschen Grundrechte zuzubilligen, gilt nämlich offenbar nicht mehr für Gibbons oder gar Meerkatzen. Kritiker der Tierrechtsbewegung, die auf die Mensch-Tier-Unterschiede hinweisen, gelten ihr als »Speziesisten« analog etwa zu den Rassisten, die ja die Überlegenheit einer besonderen Rasse über die andere zuweilen auch mit angeborenen Unterschieden begründen. Nach meiner Ansicht lautet die zentrale Frage aber nicht, ob Menschen sich wesentlich von Tieren unterscheiden – das kann ernsthaft kaum bestritten werden – sondern, wie wir diese Unterschiede Ein kurzer Blick zurück

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bewerten. Fühlen wir uns den Tieren überlegen, weil wir denken, sprechen und moralisch urteilen können? Und halten wir es deswegen für gerechtfertigt, achtlos mit ihnen umzugehen und sie rücksichtslos für unsere Interessen auszubeuten? Dann wäre der Vorwurf des »Speziesismus« tatsächlich gerechtfertigt.

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 WARUM SOLLEN WIR TIERE ACHTEN UND LIEBEN?

Die Verpflichtung, mit Tieren achtsam umzugehen, ist in der zivilisierten Welt wohl nicht umstritten. Große Uneinigkeit aber herrscht darüber, wie streng diese Verpflichtung auszulegen sei. Die Spannbreite der Standpunkte reicht von der sehr strengen Auffassung der Veganer, die sich z. B. verbieten, den Bienen ihren Honig oder den Schafen die Wolle zu stehlen, bis zu der sorglosen Haltung industrieller Fleisch- oder Eierproduzenten, die die Tiere nur so weit »artgerecht« halten wollen, dass sie ihre Aufgaben in der Produktion erfüllen können, dabei nicht sichtbar leiden und nicht ernsthaft krank werden. Es ist aussichtslos, die Frage nach dem »richtigen« Umgang mit Tieren mithilfe rationaler Kriterien beantworten zu wollen – obwohl zahlreiche Autoren dies versucht haben (darüber später mehr). Schon die Frage, wie »artgerechte« Tierhaltung sein soll, lässt sich nicht objektiv klären; die einen halten die Bodenhaltung von Legehennen für artgerecht, weil sie den Hühnern im Vergleich zur Käfighaltung viel Bewegungsfreiheit einräumt, die anderen finden, »Artgerecht ist nur die Freiheit« (so ein Titel von Szezgin, 2014), und malen sich aus, wie gut es den Tieren doch ginge, wenn es nur die Menschen nicht gäbe. Aber es ist doch schwer, sich selbst aus der Natur wegzudenken; und mit uns verschwände ja auch die Frage nach ethischen Maximen überhaupt. Denn um ethische Begründungen geht es, so scheinbar objektiv (»weil sie leiden«) oder subjektiv (»Seit ich die Menschen kenne, 133

liebe ich die Tiere«) die Rechtfertigungen auch ausfallen mögen. Es geht um moralisch begründetes Handeln im Umgang mit Tieren. Die Frage lautet also: Wie sollen wir mit Tieren umgehen und mit welcher Begründung? Die Antworten auf diese Frage fallen sehr unterschiedlich aus. In einigen Fällen stützen sie sich auf scheinbar objektive Merkmale, in anderen Fällen als Verpflichtung des Menschen gegenüber sich selbst, in wieder anderen Fällen ziehen sie das »natürliche« Mitleid des Menschen heran oder wollen eine besondere Verantwortung gegenüber den Mitgeschöpfen Gottes erkennen. In den folgenden Abschnitten dieses Kapitels versuche ich, die Vielfalt der ethischen Begründungen zu ordnen und vorzustellen. Man kann die sehr unterschiedlichen ethischen Begründungen nach verschiedenen Gesichtspunkten einteilen. Ich wähle eine Gliederung, die sich an die sehr sorgfältig getroffene Einteilung von Ursula Wolf (2008, 2012) anlehnt: Zuerst stelle ich metaphysische Konzepte vor, also solche, die nicht empirisch begründet werden können (und wollen), die also nicht rational aus Erfahrungen abgeleitet sind. Vielmehr gründen sie in der Verständigung der Menschen untereinander darüber, »was uns wichtig ist«, konkret: Wie wir die Tiere sehen und behandeln wollen. Zu metaphysischen Konzepten zähle ich zunächst die christliche Überzeugung, dass Tiere – wie Menschen – Geschöpfe Gottes sind und daher wie wir selbst Achtung und Fürsorge verdienen. Sodann stelle ich eine ethische Begründung vor, die den Tieren eine »inhärente Würde« (oder einen »inhärenten Wert«) zuschreibt und die weitgehend darauf verzichtet, »objektive« Sachverhalte anzuführen, um diese Auffassung zu »beweisen«. In die zweite Gruppe, der »empirischen« Konzepte, fallen zum einen die »utilitaristischen« Begründungen, welche die Tiere einbeziehen wollen in unsere Bemühungen um das Wohlergehen aller und ihnen, da sie wie die Menschen leiden können, die gleichen Rechte zugestehen, wie sie die Menschen für sich selbst fraglos in Anspruch nehmen. Eine zweite Variante der empirischen Konzepte argumentiert mit der Behauptung, dass Tiere – kaum anders als Menschen – Absichten hegen, Ziele verfolgen, sich erinnern und Erwartungen 134

Warum sollen wir Tiere achten und lieben?

an ihre Zukunft herantragen, und insofern als Subjekte anerkannt und behandelt werden sollten. Zu den »anthropozentrischen« Konzepten zähle ich drittens zunächst die überaus verbreitete Auffassung, dass wir Tiere deswegen gut behandeln sollen, weil sie uns nützlich sind. Diese Begründung ist zweifellos die älteste Rechtfertigung für einen achtungsvollen Umgang mit Tieren. Ein weiteres anthropozentrisches Konzept gründet in der Erfahrung, dass Menschen angesichts leidender Tiere ein »natürliches« Mitleid empfinden, das ihnen zur Orientierung für den allgemeinen Umgang mit Tieren dienen könnte und sollte. Schließlich zähle ich die Tugendethik zu den anthropozentrischen Konzepten. Für sie gehört es zu den Verpflichtungen des Menschen gegenüber sich selbst, mit Tieren achtungsvoll umzugehen.

METAPHYSISCHE KONZEPTE … weil sie Geschöpfe Gottes sind Ob und inwieweit diese ethische Maxime einen Menschen bindet, hängt davon ab, ob er den Glauben teilt oder nicht. Deswegen »leidet dieser Begründungsansatz an der entscheidenden Schwäche, sich auf Prämissen zu stützen, die nur dem Gläubigen zugänglich sind und nicht gegenüber jedermann mit rational nachvollziehbaren Argumenten vertretbar wären« (Patzig, 2008, S. 251). Man könnte also meinen, dass z. B. für den christlich Gläubigen die Achtung vor dem Tiere ausreichend begründet ist, während derjenige, der diesen Glauben nicht teilt, nach anderen, nicht metaphysischen, also vielleicht rationalen Begründungen für den richtigen Umgang mit dem Tiere suchen müsse. Aber so einfach ist es nicht. Zunächst lässt sich eine Unterscheidung »ob er den Glauben teilt oder nicht« gar nicht sicher treffen. Selbst diejenigen, die sich als Atheisten verstehen, sind doch den Normen des Tierschutzgesetzes von 2006 unterworfen, das ausdrücklich von »Mitgeschöpfen«, also mit einem »Pietistenwort des 18. Jahrhunderts« (Precht, 1996), spricht und aus dieser »MitgeMetaphysische Konzepte

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schöpflichkeit« (Teutsch) konkrete, wenn auch etwas unbestimmt definierte Handlungsregeln (z. B. Tieren nicht ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen) ableitet. So betrachtet, gilt die christliche Maxime ungewollt und ungerufen doch auch für den Atheisten. Andererseits: Auch diejenigen, die sich ausdrücklich dem christlichen Glauben verpflichtet fühlen, können sich in der praktischen Anwendung der christlichen Maxime nicht sicher sein. Denn die einschlägigen Textstellen insbesondere des Alten Testaments sind immer auslegungsbedürftig – und sie wurden in den verschiedenen kulturellen Epochen auch unterschiedlich ausgelegt. Als Beispiel diene die Exegese von Genesis 1,28 (Rosenberger, 2009). Dort lautet der sogenannte Schöpfungsauftrag an den Menschen: »Unterwerft die Erde und herrscht über die Vögel des Himmels, die Tiere des Meeres, die Tiere der Erde«. Dieser Satz wurde in den zurückliegenden Jahrhunderten unterschiedlich verstanden. Rosenberger (S. 373) erläutert, dass das Wort »kabasch« im hebräischen Original, das mit »unterwerft euch« übersetzt wurde, wörtlich genommen bedeutet: »Seinen Fuß auf etwas setzen«, womit zu damaliger Zeit das Ritual gemeint war, mit dem »ein Lehensnehmer ein Haus oder ein Stück Land in seine Obhut nahm« (S. 373), indem er in Anwesenheit von Zeugen feierlich seinen Fuß darauf setzte. Der Mensch sollte also die Erde und ihre Geschöpfe wie ein Lehen mit Sorgfalt bewahren und verwalten, denn er wird es vielleicht eines Tages zurückgeben müssen. Dieses »Auftreten«, die Lehensnahme also, rechtfertige aber gewiss nicht Ausbeutung oder Zerstörung der Natur, meint Rosenberger (S. 373). Diese Auslegung des Textes, die Natur als Lehen zu nehmen, hatte bis ins hohe Mittelalter seine Gültigkeit, ist aber seit dem späten Mittelalter aus dem Bewusstsein der Menschen weitgehend verschwunden. Seither lässt sich die Aufforderung »Unterwerft (euch) die Erde« auch mit theologischer Rückendeckung als wenig rücksichtsvolle Ausbeutung der Natur verstehen. Ähnliche Veränderungen lassen sich im Hinblick auf den moralischen Status der Tiere erkennen. Bis zum 3./4. Jahrhundert herrschte unter Christen die Auffassung von der friedlichen Gemeinschaft von 136

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Mensch und Tier, dem »Schöpfungsfrieden« vor, der sich natürlich im Paradies, aber dann auch in dem friedlichen Miteinander in der Arche Noah widerspiegelt. Und es war klar, so Rosenberger (2009), dass auch die Tiere in die Erlösung nach dem Tode einbezogen sind und wie die Menschen Zutritt zur Ewigkeit haben. Aber der wachsende Einfluss der neoplatonischen Philosophie führte schließlich im Zeitalter der Aufklärung zur Betonung der Sonderstellung des Menschen mit seiner Vernunft und seiner Distanzierung von eigener »animalischer« Triebhaftigkeit. Tiere hingegen galten als vernunft- und seelenlos – mithin als »Sachen«. Klar ist seither auch: Tiere gehören nicht zur communio, haben keine Seele, kennen keine Sünde und sie werden nicht mit den Toten auferstehen.

… weil sie eine eigene Würde oder einen »inhärenten Wert« besitzen Wie in Kapitel 2 (Abschnitt »Die Mensch-Tier-Beziehung in der Neuzeit«) beschrieben, wandelte sich das Bild, das die Menschen von den Tieren und von ihrer Beziehung zu ihnen entwarfen, in der Zeit der deutschen Romantik. Erneut stellte sich die Frage, ob Tiere nicht ebenso wie Menschen als Geschöpfe Gottes betrachtet und geachtet werden sollten. Auch wenn man an der theologisch begründeten Lehre festhält, dass die Sonderstellung des Menschen und seine »Gottesebenbildlichkeit« nicht auf Tiere angewendet werden kann, lässt sich doch moralphilosophisch begründen, dass Tiere als »Mitgeschöpfe« (Teutsch, 2008) Anspruch auf Zuschreibung eines eigenen Wertes haben, den sie nicht durch ihre Nützlichkeit für uns erwerben oder rechtfertigen müssen. Diese Frage, ob Tieren oder überhaupt allen Lebewesen ein »inhärenter Wert« zukommt (Albert Schweitzer sprach von der »Ehrfurcht vor dem Leben«), ob Tiere gar eine Würde analog der Menschenwürde besitzen, soll im Folgenden untersucht werden. Wenn wir von »Würde« sprechen, meinen wir vor allem die Würde des Menschen, die, so steht es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, »unantastbar ist«. In welchem Sinne könnte auch Tieren eine Würde zukommen, und dann: Welchen Tieren? Metaphysische Konzepte

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Zahlreiche Autoren weisen darauf hin, dass Tieren zwar die Vernunft- und Moralfähigkeit abginge, menschliche Fähigkeiten also, die die Zuschreibung von Würde zweifellos rechtfertigten, aber: Es seien doch Lebewesen mit einem »Selbstzweckcharakter« (Teutsch, 2008, S. 58 f.), sie verfolgen in ihrer Welt den Erhalt ihrer Art, das heißt, sie verfolgen ihre eigenen Ziele, auch wenn ihnen dies alles selbst nicht bewusst sein mag. Nun sprechen wir Menschen auch dann eine Menschenwürde zu, wenn sie weder Vernunft- noch Moralfähigkeit besitzen, z. B. als Neugeborene oder geistig schwer Behinderte. Wir tun das, weil Menschenwürde eben nicht durch bestimmte Fähigkeiten erworben oder legitimiert werden muss. Deswegen lautet der Paragraf 1 im Grundgesetz »Die Würde des Menschen ist unantastbar« und nicht: »Der Mensch, wenn er zu vernünftigem und zu moralischem Handeln fähig ist, besitzt eine Würde«. Die Wendung »ist unantastbar« kann überhaupt nicht empirisch gemeint sein, als Tatsachenbehauptung wäre der § 1 GG »schlichtweg falsch« (Teutsch, 2008, Fußnote 5). Auch die Würde der Kreatur kann nicht empirisch bestimmt werden, sondern nur normativ. Wenn Menschen den Tieren oder überhaupt allen Lebewesen eine Würde zuschreiben, so tun sie das daher vorrangig in einer Verpflichtung gegen sich selbst. Es mag sein, dass sie dabei auch berücksichtigen, dass sie selbst ja auch Teil dieser Natur sind, dass sie von dieser getragen und hervorgebracht wurden. Es mag auch sein, dass sie den »Selbstzweckcharakter« der Tiere anführen, oder den Standpunkt einnehmen, dass das Leben ein Dasein als Zweck in sich selbst darstellt, aber rational begründen lässt sich die Zuschreibung von Würde damit nicht. Sie ist und bleibt ein »Anspruch« der Kreatur, den Menschen an sich selbst stellen – als die einzige (Tier-)Art, die überhaupt sich und anderen eine Würde oder einen Eigenwert zuschreiben kann. Im deutschsprachigen Raum ist es vor allem Teutsch (1987, 2008), der das Konzept von der »Würde der Kreatur« vertritt. Seine Auffassungen sind hier unter den »metaphysischen« Theorien angeführt, weil sie in gut theologischer Tradition darauf verzichten, die Zuschreibung von Würde an bestimmte Voraussetzungen beim Tiere (Reflexivität, Intentionalität oder Ähnliches) zu knüpfen. Allerdings 138

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muss auch er einräumen, dass nicht alle Tiere gleichermaßen als Träger einer Würde anerkannt werden können. Auch wenn wir bei Teutsch den Versuch erkennen, mit empirischen Behauptungen (Tiere verfolgen ein eigenes »Wohl und Wehe« und ihr Leben hat einen »Selbstzweckcharakter«) die Zuschreibung von Würde zu begründen, ist ihm selbst doch klar, dass diese Behauptungen den moralischen Anspruch, der Natur eine Würde zuzuschreiben, nicht wirklich legitimieren. Es handelt sich um einen Anspruch, den die Menschen gegen sich selbst erheben: »Die Würde der Natur ist kein deskriptiver, sondern ein normativer Begriff« (Teutsch, 2008, S. 59). Ich vermute, dass eine so eindeutig metaphysische Begründung in unserem »postmodernen« Zeitalter nur wenige Menschen überzeugen kann. Darum fehlt es auch nicht an Versuchen, die Auffassung von einer Würde oder einem »inhärenten Wert« der Tiere oder aller Lebewesen doch mit Hinweis auf tatsächliche Eigenschaften der Tiere zu begründen. Neben der soeben erwähnten Auffassung von dem Selbstzweckcharakter aller Lebewesen kann man mit Balzer, Rippe und Schaber (2008) Tieren und überhaupt allen Lebewesen deswegen eine Würde zuschreiben, weil ihnen »ein individuelles, eigenes Gut zukommt« (S. 68). Damit ist gemeint, dass sie selbst Ziele verfolgen, dass sie darauf angelegt sind, sich anzupassen, zu überleben und sich fortzupflanzen. Auch wenn sie selbst nichts subjektiv empfinden, können wir doch von außen erkennen, was gut für sie ist und was nicht. Im Gegensatz zu unbelebten Gegenständen, wie z. B. Maschinen, nehmen alle Organismen »einen eigenen Standpunkt« (S. 69) ein und verfolgen individuelle Ziele. Wenn man allen Lebewesen eine Würde zuschreibt, die in ihrem »inhärenten Wert« begründet ist, verbietet es sich, Pflanzen oder Tiere allein als Mittel zum Zweck zu betrachten. Allerdings ist es dann doch sinnvoll, Unterschiede zu machen: Zum einen sollte man unterscheiden zwischen Lebewesen, die empfindungsfähig sind und solchen – wie alle Pflanzen – die das sehr wahrscheinlich nicht sind. Die Empfindungsfähigen haben einen Anspruch auf subjektives Wohlergehen. Gegenüber Pflanzen und niederen Tieren gilt dieser Anspruch dann nicht. Metaphysische Konzepte

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Diese Konzeption einer Würde des Lebewesens zielt nicht auf einen absoluten Wert, der keine Abwägung gegen andere Güter zuließe, wie dies im Fall der Menschenwürde zweifellos gedacht ist. Das bedeutet, dass nicht alle Lebewesen denselben inhärenten Wert besitzen, sodass »einem Schimpansen ein höherer inhärenter Wert zukommt als einem Grashalm und einer Rose ein höherer als einem Schimmelpilz« (Balzer et al., 2008, S. 71). Wie man die unterschiedlichen Lebewesen im Hinblick auf ihre inhärente Würde in eine Hierarchie einordnet, ist dann allerdings eine eigene, schwierige Frage. Man könnte sich dabei an der Komplexität der kognitiven Organisation der Tiere orientieren oder an ihrer stammesgeschichtlichen Nähe zu uns. Derartige Entscheidungen, die für die Tiere sehr folgenreich sein können, müssten dann ihrerseits ethisch begründet werden. Inwieweit käme z. B. einem Elefanten eine größere inhärente Würde zu als einer Spitzmaus? Es sind beides Säugetiere, wenn auch mit äußerst unterschiedlichem Erscheinungsbild … Den hier aufgeführten Auffassungen von einem »inhärenten Wert« oder einer »Würde« der Kreaturen ist gemeinsam, dass sich die Lebewesen diese Zuschreibungen nicht »verdienen« oder auch nur bestimmte Eigenschaften besitzen müssen, die eine Zuschreibung ihrer Würde rechtfertigten. Vielmehr gründen sie in einer Selbstverpflichtung des Menschen gegenüber sich selbst und sind insofern »anthropozentrisch«. Allerdings unterscheiden sie sich von den »klassisch« anthropozentrischen Konzepten – wie der Begründung, die in der Nützlichkeit der Tiere für uns liegt – dadurch, dass in dieser Selbstverpflichtung des Menschen, den inhärenten Wert der Lebewesen anzuerkennen, gerade eine Dezentrierung, eine Distanzierung von der Auffassung »Sie sind für uns da« liegt.

»EMPIRISCHE« KONZEPTE Im Unterschied zu den im vorigen Abschnitt vorgestellten »metaphysischen« Auffassungen vom inhärenten Wert der »Mitgeschöpfe«, der nicht rational begründet werden kann (Patzig, 2008), verzichten zahlreiche Autoren, z. B. Singer und Regan, ausdrück140

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lich auf metaphysische Vorannahmen wie etwa der Zuschreibung einer Seele, welche Respekt und Würde fordern könnte. Sie begründen ihre Forderung nach moralischen Rechten für Tiere mit empirisch nachweisbaren Fähigkeiten der Tiere (»Können sie leiden?« bei Singer oder die »Präferenz-Autonomie« bei Regan). Sie glauben sich damit auf sicherem Boden, aber daran sind Zweifel angebracht. Zumindest müssen sie die schwierige Frage beantworten, welche Eigenschaften der Tiere ihre besonderen Rechte begründen und welche nicht. Und: Die Bindung der Tierrechte an bestimmte Fähigkeiten, wie z. B. die Fähigkeit zur Perspektivenübernahme, schließt dann vielleicht nicht nur niedere Tiere aus, sondern auch Menschen, denen diese Fähigkeit fehlt, also Neugeborene oder an Demenz Erkrankte.

… weil sie leiden können: Utilitarismus Die Ethik des Utilitarismus zielt auf das Wohlergehen aller. Sie bewertet diejenigen Handlungen oder Handlungsnormen als richtig oder gut, die im Ergebnis das Glück aller zu mehren versprechen. Der Utilitarismus ist normativ und teleologisch, denn gut ist, was sich im Effekt als nützlich erweist, und zwar für das Gemeinwohl oder zumindest für diejenigen, die von einer Handlung betroffen sind. Im Gegensatz dazu steht eine deontologische Ethik (von griechisch deon, das Erforderliche) oder auch die Pflichtethik, die ein Handeln primär nicht von seiner Wirkung her, sondern danach beurteilt, ob sie einer verpflichtenden Regel (z. B. »Man soll nicht lügen« oder »Man darf nicht töten«) folgt. Der Utilitarismus ist durchaus nicht wertneutral oder gar wertnihilistisch. Sein Ziel, den Nutzen für alle zu mehren – um den Eindruck von Kaltherzigkeit zu vermeiden, sprechen die Utilitaristen heute weniger vom »Nutzen« als vielmehr vom »Glück« aller – setzt voraus, dass dieses Ziel berechenbar und empirisch (!) nachweisbar ist. Der Utilitarismus ist altruistisch, weil dem Gemeinwohl Vorrang vor dem des Einzelnen zukommt, und er ist deswegen teleologisch, weil er auf das zukünftige Glück aller hinzielt, dabei auch das Wohl der kommenden Generationen berücksichtigt. Seine Ethik hat sich »Empirische« Konzepte

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als Liberalismus in der Ökonomie und in der Politik (Ludwig Ehrhardt, Margret Thatcher) zeitweilig durchgesetzt. Die Kritik am Utilitarismus weist darauf hin, dass konkurrierende ethische Maximen (Gerechtigkeit, Gleichheit, Tugendhaftigkeit) weniger beachtet werden, sodass es utilitaristische Begründungen z. B. für Folter (»water boarding«) geben kann, die von anderen Ethiken als unmoralisch bewertet würden. Ferner: Wenn das Gemeinwohl Vorrang hat, fällt es schwer zu begründen, warum Einzelnen, z. B. Behinderten, Rechte eingeräumt werden, die andere, also die Mehrheit behindern oder benachteiligen, z. B. im Falle von Behindertenparkplätzen oder bei einem Notarztwageneinsatz. Es könnte also sein, dass im Dienste einer utilitaristischen Ethik Grundsätze der Menschenwürde missachtet werden. Die Utilitaristen argumentieren in diesen Fällen, dass ihr Prinzip durchaus einschließe, dass das Recht eines Einzelnen schwerer wiegen könne als das der Mehrheit. Aber: Die Verteilung solcher Gewichte bedarf dann allerdings doch einer ganz eigenen (nicht utilitaristischen!) Begründung. Umstritten, aber für den Gegenstand dieses Buches von großer Bedeutung ist es, ob auch nicht menschliche Spezies, also z. B. Säugetiere (oder alle Wirbeltiere?) in eine utilitaristische Ethik einbezogen werden sollten. Große Teile der Tierrechtsbewegung bejahen diese Frage. Sie berufen sich auf den hier schon zitierten Utilitaristen Jeremy Bentham, der 1789 jene berühmt gewordenen Sätze schrieb: »Es mag der Tag kommen, an dem man begreift, dass die Anzahl der Beine, die Behaarung der Haut oder das Ende des Kreuzbeins gleichermaßen ungenügende Argumente sind, um ein empfindendes Wesen dem gleichen Schicksal zu überlassen. Warum soll die unüberwindbare Grenze gerade hier liegen? Ist es die Fähigkeit, zu denken, oder vielleicht die Fähigkeit, zu reden? Aber ein ausgewachsenes Pferd oder ein Hund sind unvergleichlich vernünftigere sowie mitteilsamere Tiere als ein einen Tag, eine Woche oder auch einen Monat alter Säugling. Aber angenommen, dies wäre nicht so, was würde das ausmachen? Die Frage ist nicht ›Können sie denken?‹ oder ›Können sie reden?‹, sondern ›Können sie leiden?‹« (Bentham, 1789/1928, Kap. 14, Fußnote 4; eigene Übers.). 142

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Das heißt, die Leidensfähigkeit oder vielleicht allgemeiner die Empfindungsfähigkeit der Tiere gebietet, die utilitaristische Ethik auch auf Tiere auszudehnen. Das deutsche Tierschutzgesetz von 2006, das in § 1 verbietet, dem »Mitgeschöpf Tier […] ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zu[zu]fügen«, scheint diesem Gedanken Rechnung zu tragen, bietet aber für den konkreten Einzelfall noch keine Entscheidungshilfe, weil erst noch in zahlreichen gerichtlichen Entscheidungen präzisiert werden musste und muss, was mit einem »vernünftigen Grund« gemeint sein könnte. Einige Urteile liegen schon vor, so sind z. B. Veranstaltungen wie das Preisangeln kein vernünftiger Grund, Fische zu fangen, weswegen diese Veranstaltungen heute gern »Hegeangeln« oder ähnlich genannt werden. Auch die Hälterung gefangener Fische in einem Setzkescher und die Verwendung lebender kleiner Fische als Köder sind nicht mehr erlaubt. Und die Amputation von Ringelschwänzen oder die Kastration männlicher Ferkel ohne Betäubung werden in naher Zukunft vermutlich auch verboten werden. Es ist gut nachvollziehbar, dass Tierschützer unzufrieden damit sind, wie zögerlich die Ziele des Tierschutzgesetzes umgesetzt werden, z. B. im Falle von »Qualzüchtungen« bei Heimtieren oder in der Massentierhaltung. Es ist aber auch nicht zu übersehen, dass die Entwicklung doch, wenn auch langsam, in die von Tierschützern geforderte Richtung verläuft, wozu auch das sich ändernde Verbraucherverhalten beiträgt. Aber: Die Forderung der Utilitaristen geht heute ja viel weiter. Sie wenden sich gegen das Töten von Tieren überhaupt und möchten erreichen, dass den Menschenaffen Menschenrechte zuerkannt werden, dass sie insofern also Rechtssubjekte werden sollten. Der australische Philosoph Peter Singer, der Autor von »­Animal Liberation« (1975, dt. 1996), vertritt mit seinem »Great Ape Project« eine radikale utilitaristische Ethik. Seine Beispiele, mit denen er seinen Utilitarismus erläutert, stoßen allerdings auf scharfen Widerspruch; sie legen den Verdacht nahe, dass der Utilitarismus konkurrierende ethische Maximen wie z. B. die, die Menschenwürde zu achten, übergeht. Berühmt geworden ist sein Vorschlag, die Tötung von lebensfähigen Säuglingen zu erlauben, die an einer zurzeit »Empirische« Konzepte

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unheilbaren schweren Krankheit (z. B. einer Anenzaphalie) leiden und die niemals ein befriedigendes Leben führen könnten. Dabei gilt das Hauptinteresse Singers primär nicht der Frage, wie wir mit Menschen umzugehen hätten, sondern dem Problem des achtlosen Umgangs mit Tieren etwa in der Massentierhaltung. Der Bezugspunkt zur Frage des Umgangs mit Menschen dient ihm nur dazu, diejenigen ethischen Maximen, die uns im Umgang mit unseresgleichen leiten, auch auf Tiere anzuwenden. Er wendet sich gegen den »Speziesismus« (ein Begriff, der von dem Psychologen Richard Ryder 1970 in einem Flugblatt geprägt wurde), mit dem Menschen Sonderrechte gegenüber den Tieren beanspruchen. Diese Sonderstellung sei, so Singer, nicht zu rechtfertigen, denn auch Tiere besäßen ein Schmerzempfinden, seien an ihrem Wohlergehen interessiert, verfügten über ein Bewusstsein ihrer Selbst und seien insofern Personen. Im Umkehrschluss kommt er dann zu der Auffassung, dass Menschen, denen diese Fähigkeiten fehlen, wie z. B. ein neugeborenes Kind oder auch ein schwer geistig behinderter Erwachsener, weniger Rechte zu beanspruchen hätten als etwa ein gesundes (Säuge-)Tier. Singer schreibt (1975, dt. 1996, S. 47): »Ein Schimpanse, ein Hund oder ein Schwein beispielsweise dürfte einen höheren Grad an Selbstbewusstsein aufweisen und eine größere Fähigkeit zu sinnvollen Beziehungen zu anderen besitzen als ein geistig schwer behindertes Kleinkind oder ein Mensch im Stadium fortgeschrittener Senilität.« Wenn das so ist, sollten wir »diesen Tieren ein genau so großes, wenn nicht sogar größeres Lebensrecht zugestehen als solchen geistig behinderten oder senilen Menschen.« Die Frage, ob Tiere über ein Bewusstsein ihrer Selbst verfügen und insofern als Personen anzusehen sind, oder, noch weiter gefasst, wie ähnlich bzw. unähnlich Menschen und Tiere einander sind, haben wir in Kapitel 4 untersucht. Sie ist ja für die Utilitaristen von zentraler Bedeutung. An dieser Stelle möchte ich aber noch einmal darauf hinweisen, dass die Ausdehnung eines moralischen Status wie der Menschenwürde auf Tiere in ethische Sackgassen führt, wenn er sich allein auf die (unterstellte) Ähnlichkeit in den kognitiven Leistungen stützt. Denn immer dann, wenn einem Menschen 144

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anscheinend diese Fähigkeiten fehlten, entfiele die Begründung für die Zuschreibung eines moralischen Status. Man könnte Singer Recht geben in seiner Kritik am Speziesismus, wenn er die besonderen kognitiven Leistungen des Menschen (sein Sprachvermögen und seine Reflexivität) als Begründung für seinen besonderen moralischen Status anführt. Nur: Diese Kritik trifft ins Leere, denn niemand knüpft die Menschenwürde an das Vorhandensein bestimmter kognitiver Kompetenzen. Deswegen werfen wir z. B. ein totgeborenes Baby nicht einfach fort, sondern bestatten es mit den Ritualen, wie wir sie für Menschen überhaupt für richtig halten: Weil es eben ein Mensch ist. Der besondere moralische Status, die Würde des Menschen, lässt sich nicht mit seinen empirisch feststellbaren sozialkognitiven Kompetenzen begründen.

… weil sie Subjekte sind, Wünsche hegen, Absichten verfolgen Der US-amerikanische Philosoph Tom Regan (1997) kritisiert den Utilitarismus, wie er insbesondere von Singer vertreten wird, mit dem Argument, dass dieser als »aggregative Theorie« zwar auf das Wohlergehen oder Glück aller abziele, aber durchaus zulasse, dass dem Einzelnen im Dienste der Befriedigung aller ein schweres Unrecht zugemutet werden könnte. Diese Auffassung ermögliche nämlich auch, Tiere im menschlichen Interesse schlecht zu behandeln. Regan (1997, S. 35) meint aber, »der gute Zweck heiligt nicht das schlechte Mittel«, und schlägt vor, allen menschlichen Individuen gleichermaßen einen inhärenten Wert zuzuschreiben, und zwar so, dass alle von diesem inhärenten Wert gleich viel besitzen, »ungeachtet ihres Geschlechts, ihrer Rasse, ihrer Religion, ihres Geburtsortes« (S. 35). Diese egalitäre Auffassung verbiete, Einzelne im Interesse anderer zu verzwecken, niemand dürfe zur Ressource für andere werden. Und jeder habe das Recht, in seinem inhärenten Wert respektiert zu werden, und zwar unabhängig von seiner Nützlichkeit für andere. Ähnlich wie Singer versucht auch Regan, seine Auffassung vom gleichen inhärenten Wert aller menschlichen Individuen auf Tiere »Empirische« Konzepte

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auszudehnen. Dazu verweist er auf die mentalen Fähigkeiten der Tiere, die nach seiner Auffassung empirisch nachweisbar sind: Tiere – wie Menschen – »wollen und bevorzugen Dinge, glauben und fühlen Dinge«, sie erinnern sich und erwarten Dinge (S. 57). Sie sind empfindende Subjekte ihres Lebens – nicht unbedingt im Sinne einer Vernunftfähigkeit, wie Personen sie besitzen, sondern im Sinne einer Präferenz-Autonomie, weil sie in Entscheidungssituation selbst wissen, welche Ziele sie verfolgen wollen. Der Begriff der »Präferenz-Autonomie« ist zwar nicht mit menschlicher Vernunft gleichzusetzen, aber er stelle, so Wolf (2012, S. 50), eine »Vorstufe« der Vernunftfähigkeit dar. Er ermögliche Regan und seinen Nachfolgern in der Tierrechtsbewegung, die Behauptung vom inhärenten Wert auch auf Säuglinge anzuwenden, die zwar noch nicht über die Vernunft eines Erwachsenen verfügten, aber doch schon Absichten hegten und Ziele verfolgen könnten. Es ist interessant, dass Regan glaubt, mit seinem Rechte-Ansatz ohne metaphysische Vorannahmen (z. B. ohne den Begriff der Seele) auskommen zu können. Tatsächlich aber legt er mit seiner Behauptung, der Subjektstatus und die Präferenz-Autonomie der Tiere stelle einen »inhärenten« Wert dar, der unbedingt – also unabhängig von den tatsächlichen kognitiven Kompetenzen des Tieres – zu beachten sei, eine metaphysische Prämisse vor, die man teilen mag oder nicht. Es kann ja sein, dass sich die Präferenz-Autonomie eines Tieres empirisch nachweisen lässt. Ob sie aber einen inhärenten Wert begründet, lässt sich natürlich nicht mit empirischen Methoden beweisen. Dennoch meint z. B. Martha Nussbaum (2006), die mentalen Fähigkeiten der Tiere oder zumindest ihre Empfindungs- und Leidensfähigkeit verliehen ihnen einen Anspruch auf Gerechtigkeit. Carl Cohen (2008) führt hiergegen an, dass der Begriff des Rechts doch nur in einer Gemeinschaft plausibel sei, die fähig ist, aufgrund moralischer Erwägungen ihre Freiheit einzuschränken und damit den Rechten auch Pflichten gegenüberzustellen. Tiere hingegen besäßen die Fähigkeit zu moralischem Urteil zweifellos nicht. Darum hätten sie auch keinen Anspruch auf Rechte, die denen der Menschen vergleichbar wären. Allerdings: Daraus, dass Tiere keine Rechte hät146

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ten, folge keineswegs, »dass wir mit Tieren alles tun dürfen, was uns gefällt« (S. 55). Menschen hätten durchaus gewichtige Pflichten gegenüber Tieren, aber die entstünden nicht aus Tierrechten, »denn daraus können sie nicht entstehen« (S. 55). Die international verbreiteten Tierrechtsbewegung (People for the Ethical Treatment of Animals – PETA, und die Animal Liberation Front) nahm hingegen die Konzepte von Singer und Regan auf und radikalisierte sogar die Behauptung von der moralischen Gleichstellung von Mensch und Tier. Ingrid Newkirk, langjährige Vorsitzende von PETA brachte diese Auffassung auf den oft zitierten Satz: »Eine Ratte ist ein Schwein ist ein Hund ist ein Junge. Alle sind Säugetiere« (Cohen, 2008, S. 210). Kein Lebewesen in dieser Aufzählung habe vor den anderen besondere Rechte. Diese Auffassung, dass zwischen Tieren und Menschen nicht unterschieden werden dürfe  – jedenfalls nicht im Hinblick auf die ihnen zustehenden moralischen Rechte –, machten sich viele Vertreter der Tierrechtsbewegung zu eigen. Die Äußerungen sehr radikaler Tierschützer wecken freilich den Verdacht, dass es ihnen weniger darum geht, die Tiere auf eine moralische Ebene mit den Menschen zu heben, sondern eher umgekehrt, die Sonderstellung des Menschen entschieden in Abrede zu stellen. Auch hierzu ein häufig wiedergegebenes Zitat von Ingrid Newkirk: Mit den Menschen sei ein »Pesthauch« über die Welt gekommen7. In diesem Zitat kommt unverblümt zum Ausdruck, was zumindest bei radikalen Tierschützern immer wieder durchschimmert: Tiere sind gut, Menschen sind schlecht. Man muss diesen extremen Standpunkt nicht übernehmen, aber man darf auch nicht verleugnen, dass Menschen allein durch ihre bloße Präsenz auf der Erde nicht nur massiv in die Umwelt eingegriffen und viele Arten zum Aussterben gebracht haben, sondern auch zahlreiche Tiere durch Zucht und Auslese manipuliert haben. Damit sind nicht nur die absurden »Qualzüchtungen« unter den Haustieren gemeint, sondern auch die Zuchterfolge im Dienste effektiverer 7 Zitiert nach http://www.animal-health-online.de/drms/schweine/tierrechtsterror.pdf (Zugriff am 02.07.2017).

»Empirische« Konzepte

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Produktion von Fleisch, Milch und Eiern. Auch wenn man die Ethik der Tierrechte und ihre Begründungen ablehnt, kann man sich doch die Frage stellen, ob wir gegenüber all jenen Tierarten, die wir durch Züchtung verändert haben, nicht in besonderer Weise zur Fürsorge verpflichtet sind. Diese Pflicht gründet nicht in einem Recht der Tiere, sondern in unserer eigenen Verantwortung für unser Handeln und das der früheren und der späteren Generationen.

ANTHROPOZENTRISCHE KONZEPTE In diesem Abschnitt stelle ich Auffassungen vor, die aus eindeutig egoistischen Motiven einen achtsamen Umgang mit Tieren fordern: Da ist zunächst die Begründung: »weil sie uns nützlich sind«. Moralisch mag man dieses Konzept fragwürdig finden, vor allem dann, wenn es dazu dient, Massentierhaltung in industrieller Produktion zu rechtfertigen. Man könnte aber die Nützlichkeit auch sehr viel weiter fassen. Vielleicht sind uns Tiere auch dadurch nützlich, dass sie unser Leben durch ihre Vielfalt ästhetisch bereichern, durch ihr »Für-Sich-Sein« herausfordern und durch ihre Unzugänglichkeit auf die Probe stellen. Das zweite Konzept, das ich »anthropozentrisch« nenne, stützt sich auf die Erfahrung, dass wir angesichts leidender Tiere ein »natürliches« Mitleid empfinden. Darin liegt gewiss ein starkes Motiv, mit Tieren achtsam umzugehen, und es hat in der Entwicklung des Tierschutzes eine bedeutende Rolle gespielt. Trotzdem nenne ich es »anthropozentrisch«, weil es oft genug nur das Ziel verfolgt, selbst angesichts eines leidenden Tieres nicht mitleiden zu müssen. Das dritte anthropozentrische Konzept, das ich hier vorstelle, erkennt in der Maxime, mit Tieren achtsam umzugehen, eine Selbstverpflichtung des Menschen gegenüber sich selbst. Wenn er sich Tieren liebevoll zuwendet, kontrolliert er seine eigenen ausbeuterischen, vielleicht sadistischen Impulse und vergewissert sich so seiner Zivilisiertheit: die Tugendethik.

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… weil sie uns nützlich sind Dieses ist sicher das älteste Motiv, mit Tieren achtsam umzugehen. Es wird seit mindestens 10.000 Jahren angewandt und es ist in der »Dritten Welt« und in ländlichen Gebieten außerhalb der Massentierhaltung heute noch maßgeblich. Die Maxime lautet: Behandele das Tier zumindest so artgerecht, dass es seine Zwecke als Nutztier für den Menschen erfüllen kann. Gewiss ist dieses Motiv sehr egoistisch, denn was »artgerecht« ist, wird in diesen Fällen kaum vom Tiere aus bestimmt oder doch nur so weit: Welche Haltungsbedingung kann diese Tierart noch ertragen, um ausreichend gesund und fortpflanzungsfähig zu bleiben? Wenn im 11. Jahrhundert die halbwilden Schweine von den sieben-, achtjährigen Kindern in den Wald getrieben wurden, um tagsüber Eicheln und Bucheckern zu fressen, war das zweifellos artgerecht, und was dem Schwein nützte, das nützte am Ende auch dem Menschen. Diese idyllische Betrachtungsweise muss allerdings in mehrfacher Hinsicht relativiert werden. Zum einen haben die Menschen seit Beginn der Nutztierhaltung damit begonnen, in die Natur der Tiere durch Selektion und Zucht einzugreifen, um sie an die für den Menschen nützlichen Haltungsbedingungen anzupassen. Das fing ganz harmlos an, als die Menschen in der Gegend des Fruchtbaren Halbmondes, das ist ein Gebiet in Form einer Mondsichel, das sich über den Norden von Syrien, den Libanon, Israel-Palästina und Jordanien erstreckt, vor etwa 11.000 Jahren dazu übergingen, die wilden Ziegen, die im Winter in die Täler gezogen waren, im Frühjahr an ihrer Rückkehr in die Berge zu hindern, dann vor allem die weiblichen Ziegenlämmer behielten, bei der Zucht die leistungsfähigeren Tiere bevorzugten sowie jene, die mit den Haltungsbedingungen am besten zurechtkamen. Die Domestizierung der Tiere erforderte freilich auch eine Selbstdomestizierung des Menschen. Denn die Ziegen mussten nicht nur achtsam gehalten werden, sie durften auch nicht geschlachtet werden, wenn der Bestand den Winter über erhalten bleiben sollte. In Zeiten der nicht seltenen Hungersnöte bedurfte es erheblicher Selbstdisziplin, die Ziegen, die im nächsten Jahr den Nachwuchs erzeugen sollten, vor dem eigenen Hunger zu bewahren. Anthropozentrische Konzepte

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In diesen frühen Zeiten blieben das Tierwohl und das Menscheninteresse aber noch weitgehend deckungsgleich. Doch diese Idylle sollte nicht wiederkehren – außer vielleicht in den Projekten heutiger Tierschutzbewegungen, die sehr viel Zeit und Geld aufwenden, um Nutztieren ein möglichst artgerechtes Leben zu ermöglichen. Vielfach ist beschrieben worden, wie weit die Zucht der Nutztiere zu genetischen Veränderungen geführt hat, die ihnen ein Leben unter »natürlichen« Bedingungen unmöglich machen würden. Masthähnchen etwa, die das übliche Lebensalter von rund 36 Tagen überschreiten, haben wegen ihres hypertrophen Brustfleischvolumens zunehmend Probleme, sich auf den Beinen zu halten – aber in diese missliche Lage kommen sie ja nicht, weil sich eine längere Haltungsdauer für den Agrarunternehmer ohnehin nicht lohnt. In den vielen Tausend Jahren der Tierzucht hat der Mensch seine Nutztiere immer perfekter an seine Produktionsbedingungen angepasst, und ein Ende ist nicht abzusehen – es sei denn, die moderne Tierschutzbewegung verhindert erfolgreich die immer weitergehende Indienstnahme der Tiere und überhaupt der Natur. Radikale Tierschützer wie die Abolitionisten8 (Francione, 2008, 2014) vertreten denn auch die Auffassung, dass Nutztierhaltung niemals artgerecht sein kann. Sie lehnen die Veränderung der Nutztiere durch Tierzucht als verbrecherisch ab und fordern eine Rückzüchtung der Nutztierrassen. Wo dies nicht möglich sei, solle man diese künstlichen Existenzformen aussterben lassen. Diese Forderung geht über die strikten Maximen der Veganer noch hinaus. Francione polemisiert dann auch gegen die Vertreter der Tierrechtsbewegung wie Singer und Regan, die höher entwickelten Tierarten wie z. B. Primaten mehr Rechte zuschreiben wollen als niederen Tierarten wie etwa Fischen oder gar Schnecken. Die Abolitionisten treffen derartige Unterscheidungen nicht: Alle Tiere, so Francione, die empfindungsfähig seien, die demzufolge ein Bewusstsein hätten, besäßen das Recht, nicht als Eigentum behandelt zu werden, und die Menschen

8 Der Abolitionismus bezeichnete ursprüngliche eine Bewegung zur Abschaffung der Sklaverei.

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hätten nicht das Recht, über sie zu verfügen, nicht als Haustiere und auch nicht als Rettungs- oder Blindenhunde. In diesem utopischen Vorschlag steckt zweifellos die Idee, dass es für alle Lebewesen in der Natur das Beste wäre, die Menschen enthielten sich aller Eingriffe – noch besser vielleicht, sie wären gar nicht erst aufgetreten. Denn die Tiere sind gut, aber der Mensch ist böse. Aber schon mit den Versuchen, die Lebewesen ganz sich selbst zu überlassen, tun sich moralische Dilemmata auf: Von den Wildkaninchen in »freier Wildbahn« überleben nur die wenigsten das erste Lebensjahr. Und auch danach stirbt kaum ein Kaninchen eines »natürlichen« Todes, es hat zu viele Feinde: Rotfüchse, Eulen, Marder, Marderhunde, Greifvögel, Luchse und Wölfe, auch Hunde und Katzen. Der »natürliche« Tod eines Wildkaninchens ist der, gefressen zu werden oder an Hunger oder Krankheiten zu sterben. In Gefangenschaft aber kann das Kaninchen neun Jahre alt werden – welches Los würden wir als Kaninchen vorziehen? Glücklicherweise können wir sie nicht fragen. Es könnte nämlich leicht sein, dass sie der Vermutung von Donaldson und Kymlicka (2013, S. 536), dass sie das Risiko gefressen zu werden, dem Eingesperrtsein vorzögen, widersprechen würden. Die Frage, wie artgerecht Tierhaltung sein sollte, hat sich heute aus der Egozentrik einer reinen Nützlichkeitserwägung weitgehend gelöst. Vor allem die Tierschutzbewegung versucht, das menschliche Interesse am Tiere zurückzustellen, also zu dezentrieren und vom mutmaßlichen Interesse des Tieres auszugehen. Es ist durchaus gelungen, den problematischen Seiten einer Nützlichkeitsethik zu begegnen, die darin liegen, dass alle Tiere, die »unnütz« sind, keine Achtsamkeit verdienen. Das traf den Wachhund im Mittelalter, der alt geworden war, aber es traf auch alle Tierarten, die sich außerhalb des Verwertungsinteresses des Menschen aufhielten. Heute werden viele Tier- und Pflanzenarten um ihrer selbst willen geschützt, und zuweilen – vielleicht noch zu selten – wird ihr Überlebensrecht gegen menschliche Interessen erfolgreich zur Geltung gebracht.

Anthropozentrische Konzepte

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… weil wir ein »natürliches« Mitleid empfinden Unter den ethischen Begründungen für einen achtsamen oder gar liebevollen Umgang mit Tieren bilden die Beiträge zur Mitleidsethik eine eigene, weit verbreitete Kategorie (Wolf, 2008). Neben David Hume war es vor allem Arthur Schopenhauer, der auf die beobachtbare Tatsache alltäglicher altruistischer Affekte beim Menschen hinwies und forderte, Motiv und Ziel menschlichen Handelns sollte »das Wohl und Wehe« (Schopenhauer, 1840/1988, S. 564) anderer Menschen und auch das der Tiere sein. Von Jeremy Bentham (1789/1928) stammt der bereits erwähnte Satz, dass es zur Begründung eines achtungsvollen Umganges mit Tieren nicht darauf ankäme, ob sie denken oder sprechen könnten, sondern die Frage sei vielmehr: »Können sie leiden?«. Dieses Diktum bildet den Kern einer »pathozentrischen«, also in menschlichem Mitleid gründenden Umweltethik, welche die Sonderstellung des Menschen in Abrede stellt, weil »Menschen und Tiere auf ähnliche Weise leben und leiden« (Teutsch, 1985, S. 83 f.). Die Anhänger einer pathozentrischen Ethik bemühen sich natürlich, Beweise dafür beizubringen, dass Tiere in ganz ähnlicher Weise leiden wie Menschen. Doch das ist schwierig, denn es geht ja um die subjekthafte Leidensempfindung; es genügt nicht, nachzuweisen, dass Tiere etwa bei physikalischer Verletzung ein Fluchtverhalten zeigen. Das tut sogar ein Pantoffeltierchen, das man mit einer Nadel anpiekst, und wir glauben doch gewiss nicht, dass es ein Leiden empfindet. Oder doch? Immerhin hat Markus Wild in einer sehr gründlichen Arbeit (2012) das Schmerzempfinden der Fische beschrieben. Für mich aber führt die Debatte »Wie stark leidet ein Huhn im Käfig, ein Schwein in der Box, ein Löwe im Zoo, ein Bär im Zirkus?« in eine falsche Richtung. Nicht, weil ich das Leiden der Tiere in Abrede stellen wollte – allerdings gilt dabei: Wie stark ein Tier leidet, lässt sich objektiv gar nicht feststellen. Vielmehr kommt es doch darauf an, ob wir uns vorstellen wollen, dass das Tier leidet. Der Satz von Bentham dürfte also nicht lauten »Können sie leiden?«, sondern »Können und wollen wir uns vorstellen und fühlen, dass sie leiden?«. Es scheint, als läge die pathozentrische Begründung für einen liebevollen oder wenigstens achtsamen Umgang mit Tieren auf der 152

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gleichen Ebene wie die utilitaristische Begründung wie z. B. durch Singer (1975, dt. 1996), aber dieser Schein trügt. Denn die Utilitaristen begründen ihre tierethische Konzeption mit einer empirisch nachweisbaren Leidensfähigkeit der Tiere. Schopenhauer hingegen würde deren Leidensfähigkeit zwar gewiss nicht bestreiten, aber seine ethische Maxime richtet sich primär an den Menschen selbst und dessen Tugend, Mitleid empfinden zu können und zu wollen. Das Mitleid ist dann weniger eine Verpflichtung des Menschen gegenüber dem Tiere als vielmehr eine gegen sich selbst. Hier liegt eine Nähe zu den »tugendethischen« Entwürfen (siehe den nächsten Abschnitt). Bevor wir uns eingehender mit der Psychologie einer Mitleidsethik befassen, möchte ich noch einmal eine Unterscheidung aufgreifen, die von Bedeutung ist: die zwischen Mitleid und Mitgefühl. Die Unterschiede scheinen auf der Hand zu liegen: Mitleid meint das Mit-Leiden angesichts des Schmerzes oder des Unglücks anderer, ähnlich dem Begriff der Empathie, dessen griechische Wurzel »em-passio« ja mit »mit-leiden« übersetzt werden kann. Mitgefühl hingegen ist eine seelische Antwort auf vielfältige Gefühlszustände unseres Gegenübers wie Trauer, Scham oder Ekel, wenngleich wir im Alltag vor allem Gefühle der Trauer oder des Schmerzes meinen, wenn wir von Mitgefühl sprechen. Ein anderer Unterschied ist schwieriger zu beschreiben, aber er ist in der Gestaltung unserer Beziehungen untereinander sehr einflussreich: In unserem Mitleid schwingt – im Gegensatz zum Mitgefühl – nicht selten ein herablassender Ton mit (»Ach, du armer Tropf!«), der den Bedauernswerten erniedrigt, vor allem dann, wenn der Mitleidige auch noch ein erleichtertes »Wie gut, dass es mir nicht so geht wie dir!« anklingen lässt. Der so Angesprochene spürt, wie das Mitleid die Differenz zwischen ihm selbst und dem anderen, dem es so gut geht, betont. Und dessen Mitleid erscheint ihm wie vergiftet, auch dann, wenn das Mitleid – wie in guter christlicher Tradition – in Barmherzigkeit mündet. »Mitleid ist der Tod der Empathie«, meinte deswegen auch der Psychoanalytiker Klaus Frank einmal mir gegenüber, denn das Mitleid, so glaubte er, schaffe eher Distanz zum anderen, während echte Empathie eine innere Nähe herzustellen versuche. Anthropozentrische Konzepte

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Es ist wohl diese herablassende Geste, die viele Anhänger der Tierrechtsbewegung bewogen hat, eine Ethik des Mitleids entschieden abzulehnen. Man solle, meinen sie, die Tiere nicht deswegen gut behandeln, weil man Mitleid mit ihnen hat, sondern weil sie ein Recht auf gute Behandlung haben. Sie verdienten, so auch Schopenhauer, »Gerechtigkeit statt Erbarmen« (Sasse, 2017, S. 185). Vertreter der Mitleidsethik behaupten gern, dass Mitleid eine natürliche Empfindung sei, die zwar in verrohten Menschen fehlen könne oder auch unterdrückt werde. In der Überschrift dieses Abschnitts hingegen steht »natürlich« in Anführungszeichen. Damit soll zum Ausdruck gebracht werden, dass die Fähigkeit, sich in andere Menschen (oder gar in Tiere) einzufühlen, dem Menschen durchaus nicht natürlich ist, etwa in dem Sinne, dass es eine angeborene Fähigkeit wäre. »Natürlich« im Sinne von »angeboren« ist den Säuglingen ein ausgeprägtes Interesse an sozialen Kontakten und überhaupt an lebendigen Wesen. Sie sind auf soziale Resonanz angewiesen und verkümmern, wenn ihnen die emotionalen Kontakte vorenthalten werden. Aber ihr Einfühlungsvermögen müssen alle Kinder in einem längeren Entwicklungsprozess, angeregt von feinfühligen Bezugspersonen, entwickeln und anzuwenden lernen. Zwei- bis dreijährige Kinder untersuchen zum Entsetzen ihrer Eltern noch neugierig, aber »mitleidslos« das Innere von Tieren, z. B. von Insekten oder Fröschen. Wie schon im ersten Kapitel ausführlich beschrieben, müssen wir die Fähigkeit zur Einfühlung unterscheiden von der angeborenen Bereitschaft, resonanzhaft auf Stimmungen anderer, anwesender Menschen zu reagieren: der Affektansteckung. Säuglinge werden mit dieser Fähigkeit und Bereitschaft geboren, sie sind darin den Erwachsenen sogar weit überlegen. Affektansteckung dient der emotionalen Verständigung etwa zwischen Mutter und Kind, lange bevor Gesten und Sprache diese Aufgabe übernehmen können und vor der Entwicklung empathischer Fähigkeiten. Affektansteckung tritt auch bei allen sozial lebenden Tieren auf. Wir sprechen dann (in der Ethologie) von einer Stimmungsübertragung, mit der diese Tiere ihr Verhalten synchronisieren, wenn sich z. B. ein Rudel Wölfe in Jagdstimmung bringt oder ein Entenschwarm gemeinsam auffliegen will. 154

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In der Affektansteckung bzw. Stimmungsübertragung werden Signale ausgetauscht, die nur innerhalb der eigenen (Tier-)Art »verstanden« werden können. Deswegen können Menschen den Affektausdruck von Tieren nicht ohne Weiteres »lesen«, sie können allenfalls lernen, was das Pferd signalisiert, wenn es z. B. die Ohren anlegt. Aber das sind Lerneffekte – und diese führen ja auch nicht dazu, dass ein Mensch die Stimmung eines Tieres, z. B. des Pferdes mit den angelegten Ohren, wirklich nachfühlt. Allenfalls hat er in diesem Fall gelernt, vorsichtshalber einen Schritt zurückzutreten, mehr nicht. Das bedeutet, dass die Affektansteckung als »natürliche« Quelle menschlichen Mitgefühls (oder auch des Mitleids) mit Tieren nicht infrage kommt. Wenn Menschen sich in ein Tier einfühlen wollen, müssen sie die höheren kognitiven Kompetenzen der Perspektivenübernahme und der Empathie anwenden, die ihnen nicht »natürlich« angeboren sind, sondern erworben werden müssen. In Europa bot sich den einfachen Menschen erst im hohen Mittelalter diese Möglichkeit, begünstigt durch die sich rasch verbessernden Lebensbedingungen, die Arbeitsteilung und die von Generation zu Generation wachsende Individualisierung. Es dauerte aber hierzulande bis ins 18. Jahrhundert, bis in die Zeit der deutschen Romantik, dass auch die breiten Schichten der Bevölkerung dazu fähig und bereit waren, sich in andere Menschen und sogar in Tiere intensiv einzufühlen. Der einfache Mensch des frühen Mittelalters empfand kaum Mitgefühl, nicht zu nahestehenden Menschen wie seinen Kindern und schon gar nicht zu seinen Tieren bzw. zu Tieren überhaupt. Wenn also die Mitleidsethiker behaupten, dass die Fähigkeit, Mitleid zu empfinden, zur Conditio humana gehöre, können sie allenfalls die geistig-seelische Verfassung des neuzeitlichen Menschen in Europa meinen. Zwar hatten schon zahlreiche Autoren der Antike wie z. B. Aristoteles die Fähigkeit zum Mitleiden zu den menschlichen Tugenden erklärt, und in der Christenlehre ist das Mitleid überhaupt die Grundlage der Barmherzigkeit, z. B. bei Augustinus. Aber: Diese frühen ethischen Entwürfe betrafen das Verhältnis der Menschen untereinander; die Ausdehnung des Mitleidsgebotes auch auf Tiere ist eine »Erfindung« der Neuzeit. Es dauAnthropozentrische Konzepte

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erte außerdem viele hundert Jahre, bis die Mahnungen von Augustinus in der Allgemeinheit »ankamen«. In der Zeit der deutschen Romantik haben breite Gesellschaftsschichten Mitteleuropas also entdeckt, dass sie sich nicht nur in andere Menschen, sondern auch in Tiere und vielleicht sogar in Pflanzen einfühlen können. In diesen Fällen handelt es sich natürlich nicht um Resonanzphänomene, und die Selbstbezüglichkeit dieser Entwürfe liegt auf der Hand. Dass wir so umstandslos zu fühlen glauben, was unser Hund gerade jetzt fühlt, obgleich wir es doch wirklich nicht wissen, ist nur so zu erklären, dass wir uns mit unserer Einfühlung gar nicht von uns entfernen, sondern nur zu fühlen versuchen, was wir anstelle des anderen – vielleicht auch anstelle unseres Hundes – fühlen würden. Es handelt sich also streng genommen um egozentrische Übergriffe oder, wie zuvor schon erläutert: Wir stellen eine emotionale Nähe zum Tiere her, indem wir sie gleichsam zu uns herüberziehen. In Wahrheit aber bleiben sie natürlich da wo sie sind, und sie machen sich ihrerseits über uns nicht solche Gedanken. Diese Neigung, Tiere zu verwenden und uns in sie einfühlen zu wollen, kann sehr weit gehen. Sie ist bei den Tieren, die uns nahestehen, besonders ausgeprägt. Das gilt natürlich zuallererst für unsere Heimtiere, denen wir ja immer einen Namen geben. Schon dadurch werden sie für uns zu Personen, genauer: Wir machen sie zu Personen, versuchen sie uns ähnlich zu machen. Dann ist es leicht zu glauben, dass wir uns in sie einfühlen können, und wenn sie leiden, dann leiden wir mit ihnen. Sie zu schlachten wird unmöglich, sie werden auch nicht getötet, sondern »eingeschläfert«, und als tote Tiere sind sie keine Kadaver, sondern Leichname, deren Körper nicht beseitigt, sondern beerdigt werden müssen. Mitte der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts habe ich mich oft auf kleinen Bauernhöfen herumgetrieben, die es damals noch sehr häufig gab. Die Kinder, die dort lebten, mussten mithelfen, die Tiere zu füttern, und zuweilen entwickelten sie auch persönliche Beziehungen zu ihnen, z. B. zu einem niedlichen Ferkel oder einem zutraulichen Kaninchen. Es wurde aber nicht gern gesehen, dass die Kinder diesen Tieren Namen gaben, denn man wusste, dass 156

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man sie dann kaum noch schlachten konnte. Diese Tiere wären zu »Personen« geworden und damit in den Geltungsbereich ethischer Maximen versetzt worden, den Menschen füreinander geschaffen haben. Wie viele Karpfen haben schon Silvester überlebt, nachdem sie, zum Schlachten gekauft, zwei Tage in der Badewanne der Familie schwammen, aber dann freigesetzt wurden, weil die Kinder erfolgreich um das Leben von Kurt, dem lieben Karpfen, bettelten! Das hier beschriebene Motiv, den anderen als Person zu sehen und damit in die eigene innere Welt aufnehmen zu wollen, ist schon vor vielen Jahren beschrieben worden. Der Psychologe Karl Bühler prägte 1922 als erster den Begriff der »Du-Evidenz«, den er allerdings als Beziehungstyp nur unter Menschen verstanden wissen wollte. Theodor Geiger wandte diesen Begriff 1931 auch auf die Mensch-Tier-Beziehungen an (Teutsch, 1987, S. 40), in neuerer Zeit Vernooi und Schneider (2008, S. 7). Für diese Autoren ist klar, dass sich Du-Evidenz dadurch zeigt, dass wir den anderen als Person wahrnehmen, die wir in uns abbilden und von der wir glauben, dass wir auch von ihr als Person wahrgenommen werden. Je näher die Tiere uns phylogenetisch verwandt sind, desto stärker spüren wir ein Bedürfnis, ihnen eine »Du-Evidenz« zuzuschreiben. Säugetiere z. B. scheinen unsere Einfühlungsversuche geradezu herauszufordern, wir können sie, wenn wir ihnen nicht gerade in der Massentierhaltung begegnen, ohne Schwierigkeiten in Personen verwandeln. Und in der Wirbeltierreihe abwärts: Auch Vögel sprechen wir gern als Personen an, wenn wir ihnen als Individuen, z. B. in der Gefangenschaft unseres Vogelkäfigs, begegnen. Auch dazu eine kleine Anekdote: Für mich sahen alle Schwarzdrosseln gleich aus, bis in meiner Jugendzeit eines Tage eine Amsel in unserem Garten auftauchte, die in ihrem schwarzen Federkleid eine einzige weiße Feder trug. Daran konnte man sie unverwechselbar erkennen, und sogleich wurde sie für mich diese eine besondere Amsel. Ich machte mir Sorgen um sie, wenn ich sie längere Zeit nicht sah, besorgte ihr Futter etc. Ich hatte begonnen, sie in eine Person zu verwandeln, und manchmal bildete ich mir ein, dass auch sie mich erkannte und schon darauf wartete, dass ich ihr ein Apfelstückchen hinlegte. Anthropozentrische Konzepte

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Alle Tiere, die wir als Personen in uns abbilden, statten wir mit einer – mehr oder weniger differenzierten – Innenwelt aus, wir können kaum anders. Aber es gibt unter uns große individuelle Unterschiede: Menschen unterscheiden sich in ihrer Fähigkeit und Bereitschaft, andere – auch Tiere – zur Bevölkerung ihrer Innenwelt in sich aufzunehmen. Auf dem einen Extrem dieser Variationsbreite finden wir z. B. Menschen mit einem Asperger-Syndrom, also einer milden Variante autistischer Erkrankungen, denen es sehr schwer fällt, sich in die Innenwelt eines anderen Menschen hineinzuversetzen, dessen gefühlshafte Lage nachzuempfinden, seine Handlungsmotive zu erraten und sich auf sein Handeln einzustellen. Auf dem anderen Pol befinden sich Menschen, die sich gar nicht gegen den anderen abgrenzen, sich von dessen Gefühlen »anstecken« lassen, die schon die Vorstellung von einem leidenden Tier nicht ertragen können und sich daher gar nicht erst die Frage stellen können: »Wie würde ich an seiner Stelle fühlen?« In beiden Fällen können wir psychische Fehlentwicklungen vermuten, die sich überwiegend auf schädigende Kindheitserfahrungen zurückführen lassen. Aber irgendwo zwischen diesen beiden extremen Polen befinden wir uns alle. Die Subjekthaftigkeit eines jeden empathischen Entwurfs kommt schon in der intransitiven und reflexiven sprachlichen Wendung »Ich fühle mich ein« zum Ausdruck. Die unvermeidliche Egozentrik des Mitgefühls ist schon unter Menschen kaum zu vermeiden, aber für die gefühlshafte Beziehung von Mensch zu Tier ist sie die Regel. Denn da wir die Affektausdrücke eines Tieres nicht wirklich decodieren können, bleibt uns nichts anderes, als in uns selbst ein Gefühl aufzurufen, das wir dann dem Tiere zuschreiben. Unter Menschen können wir immerhin versuchen, unsere empathischen Entwürfe zu überprüfen, und sie gegebenenfalls korrigieren, aber in der Beziehung zu Tieren ist eine solche Überprüfung nicht möglich. Unsere Einfühlung in das Tier beruht auf einer Illusion und sie bleibt eine Illusion. Unter Menschen bildet sie eine emotionale Brücke, in der Beziehung zu Tieren erspart sie uns vielleicht die schmerzliche Einsicht in die unüberwindliche Getrenntheit von ihnen. 158

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Die unvermeidliche Egozentrik unserer Einfühlung in Tiere wäre wenig anstößig, wenn wir uns ihrer bewusst wären und wenn wir sie für einen liebevollen Umgang mit allen Tieren nutzen würden. Das aber ist sehr häufig nicht der Fall: In unserer Einfühlung sind wir überaus selektiv und korrumpierbar: Man denke nur an die Wirksamkeit des »Kindchen-Schemas« (Konrad Lorenz), an den egozentrischen Umgang mit unseren Haustieren, die Vorführungen von Großkatzen, Bären oder Elefanten im Zirkus, die Acht­ losigkeit gegenüber Tieren außerhalb unseres Gesichtskreises, kulturell geprägte Abneigungen (Ratten, Wölfe, Schlangen, Fledermäuse), Vermenschlichungen (Bambi, Donald Duck, der Kleine böse Wolf, auch die Gestaltung der Zoos im 19. Jahrhundert). Von »natürlichem« Mitgefühl kann also wirklich keine Rede sein. Radikale Tierschützer nutzen aber gern die Bereitschaft zum Mitleid mit Tieren, indem sie Bilder von in Experimenten gequälten Affen oder Tieren in Massenhaltungen in die Fußgängerzonen (oder ins Internet) stellen, obwohl sie das Mitgefühl eigentlich ja gar nicht zur Grundlage ihrer ethischen Maxime (»Gerechtigkeit!«) machen. Und nur selten verfehlen diese Bilder ihre Wirkung. Tiere untereinander haben schon immer sehr gelitten, sie haben, seit es Menschen gibt, auch unter Menschen gelitten, und zumindest quantitativ hat das Ausmaß dieses Leidens zweifellos zugenommen. Aber wirklich geändert hat sich, dass wir in Europa vor zwei- bis dreihundert Jahren begonnen haben, dieses Leiden wahrzunehmen und versuchsweise nachzuempfinden. Wir haben die Reichweite unseres Mitgefühls in den letzten Jahrzehnten weit ausgedehnt, und da es sich immer um subjekthafte Entwürfe handelt, können wir da ganz ungehemmt vorgehen. Aber vielleicht stellt sich dann doch einmal die Frage, ob wir darin nicht auch zu weit gehen könnten. Wo könnten die Grenzen unseres Mitgefühls liegen? Schon bei den bisher behandelten ethischen Begründungen für einen achtsamen Umgang mit Tieren konnte man kritisch einwenden, dass die Bereitschaft, Tiere aus Nützlichkeitserwägungen oder wegen utilitaristischer Motive achtsam zu behandeln, mit abnehmender stammesgeschichtlicher Verwandtschaft nachlässt. Kann z. B. der Utilitarismus schon nicht begründen, warum man seine Anthropozentrische Konzepte

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Maximen überhaupt auf Tiere anwenden soll, fällt es ihm noch viel schwerer, in der Hierarchie der Tierstämme jene Grenze festzulegen, die jene Tierarten, denen wir Achtsamkeit schuldig sind (Primaten?), trennt von den anderen, die wir achtlos behandeln könnten (Amphibien oder Krebse?). Wo sollte diese Grenze liegen: Unterhalb des Unterstammes der Wirbeltiere, oder, etwas höher angesetzt, zwischen Vögeln und Säugetieren? Oder nähern wir uns vielleicht schon Exaltiertheiten wie in jener indischen Sekte des Jainismus9, deren Anhänger unbedingt vermeiden müssen, Kleinstlebewesen zu schädigen, sodass sie die Wege vor sich fegen, um nur kein Insekt zu zertreten? Tierliebe kann wirklich sehr weit gehen, könnte sie auch zu weit gehen?

… weil wir es uns selbst schuldig sind: Tugendethik Tugendethische Ansätze verzichten von vornherein darauf, moralische Einstellungen gegenüber Tieren rational zu begründen. Im Gegensatz zu Singer oder Regan und überhaupt der Tierrechtsbewegung behaupten sie also nicht, dass Tieren deswegen moralische Rechte zukommen, weil sie Leid oder Lust empfinden oder weil sie eine »Präferenz-Autonomie« oder mit ihren Wünschen und Absichten einen Zukunftsbezug erkennen lassen. Für Tugendethiker gründet eine moralische Einstellung zu Tieren in einer bestimmten Deutung, »wonach wir Tiere als Mitgeschöpfe, als Gefährten im Leben auf der Erde sehen« (Wolf, 2012, S. 65), ohne dass die Tiere diese Mitgeschöpflichkeit beweisen oder rechtfertigen müssten. Diese Auffassung erinnert an die »metaphysischen« Entwürfe (Kapitel 2, Abschnitt »Die Mensch-Tier-Beziehung im frühen Mittelalter«), sie werden dennoch hier unter den anthropozentrischen Konzepten aufgeführt, weil sie stärker als die Vorstellungen von den »Mitgeschöpfen«, die monotheistischen, z. B. christlichen Glaubensüberzeugungen folgen, eine Selbstverpflichtung des Menschen betonen. Durchaus in der Denktradition von Immanuel Kant, der 9 www.rajasthan-indien-reise.de/indien/religionen-jainismus.html (Zugriff am 03.05.2017).

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den Menschen mit seiner Fähigkeit zur Vernunft und zu moralischem Urteil unzweideutig der Tierwelt gegenüberstellt, erkennen sie im achtsamen Umgang mit dem Tier eine Verpflichtung des Menschen gegen die Menschheit. Wenn also z. B. ein Hundebesitzer sein Tier, das alt und unnütz geworden ist, tötet, vergeht er sich nicht (nur) gegen das Tier (und dessen Rechte), sondern gegen »die Menschlichkeit in sich, die er in Ansehung der Pflichten der Menschheit ausüben soll« (Wolf, 2012, S. 42). Und wenn er, so könnte man mit Kant hinzufügen, mit Tieren derart roh umgeht, muss man befürchten, dass er diese Rohheit auch in seinen Beziehungen zu Menschen zu erkennen geben wird. Kritiker haben Kant deshalb auch vorgeworfen, dass seine Ermahnung, Tiere zu achten und achtsam mit ihnen umzugehen, gar nicht primär den Tieren gilt, sondern in pädagogischer Absicht als Selbsterziehung des Menschen gemeint ist. Metaphysisch sind tugendethische Entwürfe auch insofern, als sie die Deutung eines moralisch guten Lebens anbieten, die man teilen kann oder auch nicht. Andere Deutungen mögen ebenso plausibel sein. Entscheidend ist in solchen Fällen dann weniger, welche Auffassung sich als »richtig« erweisen könnte, sondern inwieweit sie in den Alltagsüberzeugungen der Menschen verankert sein werden. Tugendethische Entwürfe wie die von Cora Diamond (2008) oder von Lawrence Becker (2008), unterscheiden zwischen ethischen Verpflichtungen gegenüber Menschen und denjenigen gegenüber Tieren. Becker z. B. vertritt die Auffassung, dass moralische Verpflichtungen mit wachsender Distanz abnehmen, sodass Tiere einen schwächeren moralischen Status einnehmen als Menschen. Und, so wird man hinzufügen können, auch zwischen den Tierarten muss demgemäß unterschieden werden: Tieren, die uns stammesgeschichtlich näherstehen, sind wir in höherem Maße moralisch verpflichtet als niederen Tieren. Auch diese Unterscheidungen gründen nicht in den mutmaßlich unterschiedlichen Fähigkeiten bei höheren und niederen Tieren, sondern allein darin, welche Bedeutung wir Menschen den verschiedenen Tierarten zuschreiben. Ein Heimtier z. B., das wir zu Anthropozentrische Konzepte

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einer Person gemacht haben, indem wir ihm einen Namen gegeben haben, quälen wir nicht und wir essen es nicht, wenn es gestorben ist. Wir handeln nicht deswegen so, weil das Heimtier gewisse Rechte besitzt oder weil es ein Interesse daran hat, nicht gequält zu werden, sondern weil es für uns zu einer Person geworden ist. Anhänger der Tierrechtsbewegung und Utilitaristen werfen den Tugendethikern häufig »Speziesismus« vor, weil diese dem Menschen aufgrund seines moralischen Urteilsvermögens eine Überlegenheit zuschreiben, ohne diese Behauptung empirisch begründen zu können. Der Speziesismus gleiche, wie schon gesagt, dem Rassismus, weil er einer Spezies – wie die Rassisten einer »Rasse« – eine Sonderstellung zuerkennt und dadurch zumindest blind wird für die Unterdrückung und Ausbeutung der anderen Spezies, möglicherweise sogar einen repressiven Umgang überhaupt erst begründet und rechtfertigt. Tatsächlich setzen die tugendethischen Entwürfe geradezu voraus, dass Menschen fähig und willens sind, ihre besonderen Fähigkeiten zur Vernunft und zu moralischem Urteil zu nutzen. Allerdings sind diese Fähigkeiten nicht im empirischen Sinne gemeint, sodass ein Mensch auch dann unsere Achtung verdient, wenn er als Schwerkranker oder als Neugeborener über diese Fähigkeiten nicht mehr oder noch nicht verfügt. Schließlich: Die Tugendethik richtet sich als moralische Maxime also primär gegen den Menschen selbst. Sie fordert von ihm eine Selbstbeschränkung, indem sie ihm untersagt, willkürlich oder gar sadistisch mit Tieren umzugehen. Ein achtungsvoller Umgang mit Tieren ist dem Menschen ja nicht angeboren, sondern Folge eines langen zivilisatorischen Prozesses. Welche konkreten Handlungsnormen aus der moralischen Maxime des achtungsvollen Umganges mit Tieren folgen, muss offenbleiben. Ob man Tiere töten darf, um sie zu essen, lässt sich aus tugendethischer Sicht nicht sicher entscheiden, man könnte sich darauf verständigen oder auch nicht. Gut begründbar hingegen erscheint die Verpflichtung, Nutztiere artgerecht zu halten und ihnen eine Lebensumwelt zur Verfügung zu stellen, die ihren Präferenzen entspricht. 162

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Ob man Tiere durch Zucht und heute auch mit genetischer Manipulation so verändern darf, dass sie auch die ungünstigsten Haltungsbedingungen ertragen, ist eine aus tugendethischer Sicht schwierige Frage. So lange Menschen z. B. Hühnereier noch nicht synthetisch herstellen können, werden sie den riesigen Eierbedarf (in Deutschland wurden 2014 insgesamt 17,6 Milliarden Eier verbraucht) dadurch decken, dass sie die Legehennen einseitig auf die Aufgabe der Eierproduktion hin züchten. Wenn diese dann als »Zuchterfolg« ihre angeborene Präferenzen verlieren, nämlich zu scharren, zum Schlafen auf Sitzstangen zu sitzen, in kleinen Gruppen hierarchische Strukturen zu entwickeln, umso besser: Es wird ihnen bald gar nichts mehr fehlen. Die Utilitaristen werden dann nicht länger behaupten können, dass diese Tiere leiden, und die Tierrechtler werden aufhören müssen, diesen Tieren eine Präferenz-Autonomie zuzuschreiben, denn sie werden keine mehr haben. Man sieht auch an dieser Stelle, dass die pathozentrische Begründung der Tierliebe (»weil sie leiden können«) schon bald ihren Gegenstand verlieren könnte. Es wird ja schon bald möglich sein, ein Tier gentechnisch so zu verändern, dass es sich auch unter den ärgsten Haltungsbedingungen wohlfühlt. Aber aus tugendethischer Sicht sind hier durchaus Einwände denkbar: Die ethische Verpflichtung des Menschen gegen sich selbst, die Tiere zu achten, sollte uns doch verbieten, die Eigenschaften einer Tierart so zu manipulieren, dass sie vollkommen unseren Interessen angepasst sind und ihre Eigenart mehr und mehr verlieren. Tugendethik zielt ja gerade auf Selbstbeschränkung, die auch dann beachtet werden muss, wenn das Tier »objektiv« gar nicht leidet. Denn diese Verpflichtung geht der Mensch gegenüber sich selbst ein – in der Achtung vor dem Tier. In allen Varianten metaphysischer Begründungen fehlt es an objektiven Kriterien zur Entscheidung für das richtige und gegen das falsche Handeln. Die soeben geschilderte Maxime, Nutztiere nicht durch Zucht den egoistischen Interessen des Menschen anzupassen, kann man mehr oder weniger streng fassen. Jedoch man muss wohl nicht sehr streng eingestellt sein, um die hier ausphantasierte vollkommene Anpassung der Legehennen an menschliche ökonoAnthropozentrische Konzepte

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mische Interessen abzulehnen. Aber wie wollen wir die Zucht von Gebrauchshunderassen beurteilen, in denen wir die Eigenschaften eines Hütehundes oder eines Wachhundes zum Vorschein gebracht haben? Sind nicht alle unsere Nutztiere manipuliert? Gewiss sind sie es, aber was folgt daraus? In einer sehr strengen Auslegung der tugendethischen Maxime muss man wohl in allen diesen Fällen eine Verletzung der Selbstverpflichtung des Menschen erkennen. Tatsächlich gibt es diese extrem radikale Position: Wie schon erwähnt, vertreten die Abolitionisten (Francione, 2008, 2014) die Auffassung, dass alle Zuchtrassen wieder zu den Wildtierrassen rückgezüchtet werden sollten, und wo dies nicht möglich sei, müssten diese Zuchtrassen mit der Zeit aussterben. Derart radikale Konzepte faszinieren uns zuweilen, weil sie so eindeutig und kompromisslos sind und weil sie uns die Last sehr schwieriger Einzelfallentscheidungen von den Schultern zu nehmen versprechen. In ihnen stecken Vorstellungen von absoluten Werten, die es zu schützen oder wiederherzustellen gilt: das frei lebende, von jeglichem menschlichen Einfluss verschonte gute Tier, dessen Rechte vollkommen unangetastet bleiben. Da wir aber nun einmal auf der Welt sind (und ohne uns wären solche Konzepte von Gut und Böse auch gar nicht in die Welt gekommen), müssen und wollen wir die Rechte der Tiere gegen unsere eigenen abwägen. Menschen leben seit jeher auf Kosten anderer – wie übrigens auch die Tiere, insofern sind auch sie »böse«. Als die frühen Menschen, der Homo sapiens, vor 70.000 Jahren aus den Wäldern Westafrikas auf die Steppen hinauszogen, vergrößerten sie ihre Überlebenschancen, weil sie lernten, Tiere zu jagen und zu essen. Und der Rückgang der Kindersterblichkeit im hohen Mittelalter, das Bevölkerungswachstum und die sozialen Entwicklungen in jener Zeit wurden durch Zuchterfolge beim Getreide und in der Nutztierhaltung möglich. Dass wir auf Kosten der Natur leben, ist unvermeidlich. Und seit wir uns dessen bewusst sind, leben wir in einem Dilemma. Wir müssen die Interessen der Tiere stellvertretend für sie wahrnehmen, auch gegen uns selbst. Ich verstehe gut, dass viele Autoren 164

Warum sollen wir Tiere achten und lieben?

nach möglichst rationalen Kriterien suchen, um sich in den unausweichlichen Konflikten zwischen unseren Interessen und denen der Natur zu orientieren. Aber wir finden diese Orientierung nicht in der Welt der objektiven Tatsachen, sondern in der Verständigung der Menschen untereinander: Wie wollen wir die ethische Selbstverpflichtung sehen und gestalten? Wie finden wir das rechte Maß?

Anthropozentrische Konzepte

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6

 VERSUCH EINER ALTRUISTISCHEN ETHIK DER MENSCH-TIER-BEZIEHUNG

WIE LÄSST SICH EINE ETHIK DER MENSCH-TIER-BEZIEHUNG BEGRÜNDEN? Unsere Ethik gibt Antwort auf die Frage, wie wir sein sollen. Sie gründet zumeist in zentralen Wertvorstellungen, etwa von der Gerechtigkeit oder der Selbstbestimmung, der Freiheit oder der Achtung, z. B. der Ehrfurcht vor allem Lebendigen. Aus ihr leiten wir moralische Maximen ab, die uns angeben, wie wir handeln sollen, konkretisiert in Verhaltensnormen, etwa der, dass wir Tiere nicht töten und essen sollen. Ethik ist eine reine Menschensache, sie kommt in der Natur sonst nicht vor. Tiere können sich nicht nach ethischen Prinzipien verhalten. Auch wenn wir ihnen manchmal Gefühle des Mitleids oder ein Motiv der Solidarität unterstellen: Wir irren uns. Wenn sich z. B. sozial lebende Tiere zuweilen gegenseitig helfen, folgen sie lediglich ihrem Instinkt, sie zeigen, wie Konrad Lorenz (1956) sagt, ein »moralanaloges Verhalten«. Ethik wurde uns möglich, weil wir über Entscheidungs- und Handlungsfreiheit verfügen und für unser Handeln verantwortlich sein können. Dies allerdings nur im Prinzip, denn dass es mit unserer Handlungsfreiheit nicht so weit her ist, hat uns schon seit Langem die Psychoanalyse gelehrt. Ethik wurde also auch nötig, weil wir aus unserer Instinktbindung entlassen worden sind und 167

seither alles Mögliche (und Unmögliche) wünschen und anrichten können. Die Geschichte der menschlichen Kulturen ist auch eine Geschichte der sich wandelnden ethischen Maximen. Im Rückblick identifizieren wir diese unterschiedlichen Maximen gern mit bedeutenden Autoren, aber man darf deren Einfluss auf die Ethik einer Kultur nicht überschätzen. Oft brachten Sie »nur« zum Ausdruck, was in ihrer Zeit schon bereitlag, wie z. B. Kant mit seiner Pflichtethik im Zeitalter der Aufklärung. Und zuweilen gab es ethische Entwürfe, die ihrer Zeit weit voraus waren. Das einflussreichste Beispiel gab Jesus von Nazareth, der in seiner Bergpredigt eine Ethik der Friedfertigkeit und der Feindesliebe entwarf. Es sollte viele Jahrhunderte dauern, bis diese ethischen Maximen weltweit Verbreitung fanden und anerkannt wurden. Ethische Maximen setzen sich in einer Kultur nicht einfach deswegen durch, weil ihre Begründungen stichhaltig sind. Ob z. B. die Begründung »Wir müssen die Tiere achten, weil sie ein Bewusstsein haben« als überzeugend genommen wird, hängt nicht vom Wahrheitsgehalt der Aussage ab (ganz abgesehen davon, dass sich dessen Wahrheitsgehalt schwerlich nachweisen lässt), sondern davon, ob die Menschen in einer Gesellschaft diese Begründung für triftig halten oder nicht. Damit komme ich zur Ethik der Mensch-Tier-Beziehung. Wir sind in Kapitel 5 die unterschiedlichen Konzepte darüber durchgegangen, warum und wie man Tiere achten oder lieben sollte. Auch hier konnte vielleicht der Eindruck entstehen, dass es immer wieder zündende Ideen waren, die den Anstoß gaben für neue, auch nachhaltige geistige Strömungen, wie z. B. der so oft zitierte Satz des Jeremy Bentham »Können sie leiden?« oder der Begriff von der »Mitgeschöpflichkeit« (Teutsch) oder die Behauptung vom »inhärenten Wert« der Tiere von Regan. Doch dieser Schein trügt. Obwohl in der Geschichte dieser Überzeugungen oft einzelne, zuweilen auch charismatische Persönlichkeiten den Anstoß gaben, sodass diese Konzepte im Rückblick auf diese geistigen Urheber zurückgeführt werden können (Utilitarismus auf Singer, Tierrechtsbewegung auf Regan), glaube ich doch, 168

Versuch einer altruistischen Ethik

dass es »die Zeit« gewesen sein muss, die »reif« war für diese Konzepte. Schon früh haben einflussreiche Denker »moderne« Thesen zur Mensch-Tier-Beziehung vertreten, wie z. B. der Philosoph der Renaissance Montaigne (1533–1592), der voller Mitleid beschrieb, wie ein von Jägern gestellter Hirsch »durch seine Tränen um Gnade bittet, das hat mir immer als ein sehr trauriges Schauspiel erschienen« (zit. nach Asche, 2015, S. 43). Aber seine Einfühlung, die übrigens nicht unbedingt seinen eigenen Kindern galt, erzeugte damals noch keinen Widerhall und wurde erst in der Zeit der deutschen Romantik wiederentdeckt, als es für breitere gesellschaftliche Schichten »an der Zeit war«. Auch Schopenhauers Mitleidsethik war ihrer Zeit einige Jahre voraus. Ein Beispiel für ein schon lange vorliegendes Konzept, das trotz lautstarker Anhänger bis heute wenig erfolgreich war, ist der Utilitarismus, wie ihn Peter Singer schon seit vielen Jahren vertritt. Wie in Kapitel 5 (Abschnitt »… Weil sie leiden können: Utilitarismus«) beschrieben, fordert Singer in seiner Ethik, dass zwischen Menschen und Tieren kein kategorialer Unterschied gemacht werden dürfe, sofern sie ein Bewusstsein besäßen und als Personen betrachtet werden müssten. Seine Gleichsetzung etwa von Säugetieren mit Menschen hat zur Folge, dass z. B. im Falle eines brennenden Hauses zuerst nicht der Säugling, der noch kein Bewusstsein besitzt, gerettet werden sollte, sondern der Hund.10 Ähnliche Beispiele für irritierende Dilemmasituationen finden sich bei Utilitaristen häufiger, etwa zu der Frage, wer in einem übervollen Rettungsboot über Bord gehen sollte: der geistig behinderte Mensch oder der gesunde Hund? Ich vermute, dass heute nur wenige Menschen Singers Ansicht auch bis in diese Beispiele hinein folgen würden. Und zwar nicht deswegen, weil sie die Behauptung vom Bewusstsein eines Hundes nicht für wahr halten, sondern aus einem ganz anderen Grund: Sie folgen einer »metaphysischen« Vorannahme, dass es nämlich einen kategorialen Unterschied zwischen Tieren und Menschen gibt; die10 Singer hat im Gespräch mit Precht (2016, S. 261) allerdings eingeräumt, dass diese Haltung von einer Mutter wohl nicht geteilt werden würde, weil diese nicht »ihrem Instinkt entspräche«.

Ethik der Mensch-Tier-Beziehung begründen

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ser gilt selbstverständlich auch für Säuglinge und für demente Menschen, und er gründet sich nicht auf »objektive« Merkmale wie Empfindungsfähigkeit oder Selbstbewusstsein. Von philosophischer Seite sind die Auffassungen der Utilitaristen und der Tierrechtsbewegung kritisiert worden. Sehr deutlich äußert sich Norbert Hoerster (2004): Die Behauptung der Tierrechtler wie Tom Regan vom »Eigenwert« der Tiere »hängt begründungstheoretisch völlig in der Luft« (S. 37), meint er. Hoerster vertritt den Standpunkt, die einzig mögliche Basis einer ethischen Forderung nach Tierschutz liege in »einer Einstellung des Altruismus gegenüber Tieren, die wir auch als ›Tieraltruismus‹ bezeichnen wollen« (S. 63). Ähnlich äußert sich der Philosoph Richard David Precht (2016): Er resümiert, »dass man auf Singers tierethischer Basis niemals zu sicheren moralischen Urteilen kommen kann« (S. 447). Es sei ein Irrweg, eine Ethik der Mensch-Tier-Beziehung damit zu begründen, dass Tiere ganz ähnlich wie Menschen Empfindungen und reflexive Fähigkeiten etc. hätten. Vielmehr sei das Faszinierende an den Tieren, dass sie eben nicht ausrechenbar seien, und ihr Reiz läge doch darin, dass sie uns ganz absichtslos in ihrer Artenvielfalt entgegenträten. Deren ästhetischer Reiz sei »kein Wert an sich«, aber doch ein sehr starker Grund für den Tier- und Artenschutz. Wenn ich am Ende dieses Buches selbst auch Vorschläge zu einer altruistischen Ethik in Mensch-Tier-Beziehungen mache, möchte ich nicht versuchen, den Leser mit Argumenten oder gar Tatsachenbehauptungen (wie »Auch Tiere haben ein Bewusstsein«) zu überzeugen. Sondern ich werde versuchen, ein ethisches Konzept darzulegen, und den Leser einladen, diese Auffassung nachzuvollziehen. Die Ethik der Mensch-Tier-Beziehung wurde auch in der Vergangenheit nicht von der Philosophie, der Theologie oder den Wissenschaften hervorgebracht. Es sind also, einfach gesagt, nicht die theologischen oder philosophischen oder biologischen Ideen gewesen, die den Menschen »überzeugten«, sondern es war der Stand der Persönlichkeitsentwicklung des gemeinen Menschen, seiner reflexiven, sozialen und empathischen Fähigkeiten, die eine Fortentwicklung der ethischen Maximen forderten und ermöglichten. 170

Versuch einer altruistischen Ethik

Auch diese Prozesse der Persönlichkeitsentwicklung fielen natürlich nicht »vom Himmel«. Sondern die Entwicklung der sozialkognitiven Kompetenzen lässt sich nur erklären im Kontext der materiellen und sozialen Lebensbedingungen der Menschen. Ich habe versucht, diesen Zusammenhang für den Zeitraum des europäischen Mittelalters in Umrissen darzustellen.

GESCHICHTE DER MENSCH-TIER-BEZIEHUNG AUS PSYCHOLOGISCHER PERSPEKTIVE IM ÜBERBLICK Überblicken wir noch einmal die Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung seit dem frühen Mittelalter in Mitteleuropa. •• Der einfache Mensch des frühen Mittelalters (90 % der Bevölkerung Mitteleuropas lebten von der Landwirtschaft) ging sachlich mit seinen Nutztieren um, Heimtiere wie Schoßhunde oder gar Papageien wurden nur in höfischen Familien gehalten. Er lebte in räumlicher Nähe zu seinen Tieren, fühlte sich ihnen wie in einer Seelenverwandtschaft verbunden (die »mittelalterliche Permeabilität« nach Dinzelbacher, 2006) und er fühlte sich den Tieren nicht überlegen. Er neigte zu animistischen Vorstellungen, Tiere erschienen ihm geheimnisvoll-beseelt. Sie schienen ja immer zu wissen, was sie zu tun haben, daher erlebte er ihre Instinktgebundenheit eher als beneidenswerte Verhaltenssicherheit und noch nicht – wie in späteren Jahrhunderten – als lebenslanges Gefängnis. Er war vermutlich nicht sadistisch zu Tieren, zögerte aber auch nicht, ihnen Schmerzen zuzufügen, wenn es ihm angebracht schien (Frettchen die Zähne ausreißen). Insofern war er aus heutiger Sicht mitleidslos, aber das war er weitgehend auch zu den Menschen seiner Familie und näheren Umgebung. •• Im hohen Mittelalter entfalteten die Menschen schrittweise ihre sozialkognitiven Kompetenzen. Im Zuge der »agrarischen Revolution«, der Arbeitsteilung und Individualisierung wurden sie zunehmend selbst-bewusst, entdeckten auch in ihren Kindern das handlungsfähige Subjekt, sodass innerhalb weniger GeneraGeschichte der Mensch-Tier-Beziehung

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tionen die Grundlagen der modernen, reflexiven Persönlichkeit gelegt wurden. Zu den neuen Kompetenzen gehörten die wachsende Fähigkeit zur Perspektivenübernahme und die »Theory of Mind«. Menschen verstanden, dass andere eine gemeinsame Situation anders bewerten als sie selbst und dass sie deswegen, nämlich aufgrund eigener Motive andere Absichten und Ziele entwickeln. Aber: Dieser sozialkognitiv schon recht kompetente Mensch war noch wenig empathisch, nicht zu seinesgleichen und schon gar nicht zu Tieren. •• Im Einfluss der christlichen Religion wandelte sich das MenschTier-Verhältnis. Menschen erlebten sich nun getrennt von den Tieren, ihnen auch überlegen, aber sie begannen auch, das »Tierische« in sich zu fürchten und angestrengt unter Kontrolle zu halten, um ihre fragile moralische Überlegenheit abzusichern. In den Tierstrafen und den Tierprozessen des späten Mittelalters zeigen sich die Tendenzen, das »Böse« projektiv im Tier zu verfolgen und zu bestrafen. Die Grausamkeit dieser Strafen wie auch die gegenüber menschlichen Straftätern kann man als eine immer noch verbreitete Empathielosigkeit verstehen oder geradezu als das Gegenteil: Als Versuch, die wachsende gefühlshafte Nähe zum »bösen« Tier oder zum Straftäter buchstäblich mit Gewalt zu bekämpfen. •• Im Zeitalter der Renaissance und in der Aufklärung feierte sich die reflexive, individualisierte Persönlichkeit, die den Tieren kirchturmhoch überlegen schien. Aus dieser sicheren Entfernung konnte man sich aber den Tieren wieder neugierig, staunend zuwenden und fasziniert sein über ihre Sinnesleistungen, bei aller Herablassung der »res cogitans« gegenüber der bloßen »res extensa« des Tieres. Zu den humanistischen Idealen dieser Zeit gehörte allerdings auch, dass Menschen nicht sadistisch mit Tieren umgingen. Freilich gründete diese Verpflichtung zur Achtsamkeit gegenüber Tieren noch nicht in Mitleid, sondern in dem moralischen Anspruch des Menschen an sich selbst: Nur rohe Menschen gehen herzlos mit Tieren um. •• In der deutschen Romantik erwachte das Einfühlungsvermögen. Erstmals erlebten sich die Menschen auf schmerzhafte Weise 172

Versuch einer altruistischen Ethik

getrennt von der Natur und den Tieren (und auch voneinander) und suchten diese Trennung mit ihren empathischen Entwürfen zu überwinden. Sie fühlten sich in die Tiere ein, und jetzt erst konnten pathozentrische Konzepte (Bentham, Schopenhauer) auch von der breiten Bevölkerung aufgenommen werden. •• In den letzten zweihundert Jahren setzte sich diese Entwicklung fort. Es gibt in Deutschland seit 1838 Tierschutzvereine, in England bereits seit 1822, initiiert durch die Society for the Prevention of Cruelty to Animals, und hierzulande seit 1933 ein Tierschutzgesetz mit irritierend antisemitischen Motiven, weil es sich vor allem gegen das Schächten als Tötungsmethode richtete, allerdings auch – für einige Jahre nur – die Vivisektion verbot. Im Jahr 2002 wurde der Tierschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankert und 2006 ein modernes Tierschutzgesetz erlassen. Die Zahl der Heimtiere stieg und steigt unablässig, 2015 lebten etwa 5,4 Millionen Hunde, 8,2 Millionen Katzen und 5,1 Millionen kleine Säugetiere11 in den deutschen Haushalten. •• Aber die Tierliebe kann auch sehr weit gehen. Die circa 120 Tierfriedhöfe lassen kaum noch einen Unterschied zu Menschenfriedhöfen erkennen (Körner, 1996), mit Grabsteinen und Inschriften, welche die überaus guten Eigenschaften der Verstorbenen preisen. Die Zucht von Hunden und Katzen hat Merkmale hervorgebracht, die das Tier krank machen – wie die chronische Bindehautentzündung beim Basset, die Atembehinderung aufgrund der kurzen, aufgebogenen Nase bei der französischen Bulldogge, die Schwergeburten, die häufig einen Kaiserschnitt erfordern wie beim Pekinesen, die Hautentzündungen aufgrund übermäßiger Faltenbildung beim Mops und die Kälteempfindlichkeit beim chinesischen Nackthund. Es sind »Qualzüchtungen« die glücklicherweise auf zunehmende Kritik stoßen. Schon heute ist es in Deutschland verboten, Hunden die Ohren oder Schwänze zu »kupieren«, gemeint ist: ohne Betäubung abzuschneiden.

11 www.zeit.de/zeit-magazin/2015/06/tierfriedhof-telefonbuch-deutschlandkarte (Zugriff am 03.05.2017).

Geschichte der Mensch-Tier-Beziehung

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•• Auch Gegenbewegungen zur »normalen« Tierverwendung haben

seit den 1970er Jahren stark an Einfluss gewonnen. Neben den traditionellen Tierschutzvereinen haben sich radikalere Gruppierungen gebildet, z. B. die Animal Liberation Front, eine militante Tierbefreiungsbewegung, unter deren Dach sich eine Anzahl dezentral operierender Gruppen zusammenfinden und sich zum Ziel setzen, Tierversuche und Massentierhaltungen, insbesondere auch die Pelztierzucht zu verhindern, indem sie diese Tiere befreien oder auch Anschläge auf Laboratorien oder Tierfarmen begehen. Die vermutlich weltweit größte Tierrechtsorganisation PETA (People for the Ethical Treatment of Animals) wurde 1980 von Ingrid Newkirk in den USA gegründet und kämpft mit oft provokanten Methoden gegen die Massentierhaltung der Fleischindustrie, gegen Pelztierzucht und Tierversuche. Gedanklich am weitesten gehen wohl die Abolitionisten (Francione, 2008, 2014), die alle empfindungsfähigen Tiere mit Rechten ausstatten möchten, die es den Menschen unmöglich machen sollen, die Tiere überhaupt als Eigentum zu verwenden.

Es kann faszinierend sein, diese beiden Extreme der Tierliebe einander gegenüberzustellen: Auf der einen Seite eine egozentrische Indienstnahme der Heimtiere und bedenkenlose, allerdings weitgehend im Verborgenen stattfindende Verwendung der Tiere in der industriellen Massentierhaltung. Auf der anderen Seite die kompromisslose Haltung radikaler Tierrechtsbewegungen, welche den Menschen jeglichen Zugriff auf die Tiere untersagen wollen. Wer ist jetzt gut, wer ist böse?

DIE LICHT- UND SCHATTENSEITEN SOZIALKOGNITIVER KOMPETENZEN Wenn wir die mitteleuropäische Entwicklung der Mensch-Tier-­ Beziehung in den letzten eintausend Jahren aus einer Makroperspektive betrachten, können wir erkennen, dass sich der Mensch schrittweise aus der Verbundenheit mit den Tieren entfernte, eine 174

Versuch einer altruistischen Ethik

zunächst sehr unsichere moralische Überlegenheit gewann, die er dadurch festigte, dass er das Tierische in sich und das Böse im Tier verfolgte und bekämpfte. Mit wachsendem Selbstbewusstsein verlor er die Angst vor dem eigenen Animalischen, aber er wurde auch zunehmend seiner Getrenntheit von der Natur gewahr. Mit seinem sich entwickelnden Einfühlungsvermögen gelang es ihm dann, die schmerzlich empfundene Getrenntheit von der Natur in der Phantasie zu überwinden und sich den Tieren wieder sehr nahe zu fühlen. Diese empathisch hergestellte, also illusionäre Nähe darf jedoch nicht mit jener Verbundenheit oder Seelenverwandtschaft verwechselt werden, die wir in der Beziehung zwischen dem mittelalterlichen Menschen und seinen Tieren gesehen haben. Die einfachen Menschen des 10. und 11. Jahrhunderts lebten nicht nur in räumlicher Nähe zu den Tieren – sie lebten in der Regel buchstäblich unter einem Dach –, sondern sie fühlten sich ihnen wesensverwandt, jedenfalls nicht getrennt durch einen unüberbrückbaren Gegensatz. Diese Nähe erscheint uns aus heutiger Sicht rätselhaft, sie wirkt von uns aus betrachtet wie eine Entgrenzung, die uns jetzt gewiss unangenehm wäre. Denn die Nähe, die wir heute in unseren empathischen Entwürfen herstellen, ist eine nur gefühlte, phantasierte Nähe, die freilich wie im Beispiel vieler Haustiere sehr eng, wie eine Entgrenzung, erlebt werden kann. Der frühmittelalterliche Mensch war den Tieren dadurch nahe, dass er sich zu ihnen noch auf die gleiche Stufe stellte. Der moderne Mensch hingegen stellt die Nähe zum Tiere dadurch her, dass er sie vermenschlicht, sie mit menschlichen Eigenschaften ausstattet und sie damit gleichsam zu sich herüberzieht. Voraussetzung für diesen Wandel war gewiss die Entfaltung des reflexiven Selbstbewusstseins, also der Fähigkeit, »exzentrisch« auf sich selbst zu schauen und über sich und die anderen nachzudenken. Dieser Entwicklungsprozess wurde ja (wie in Kapitel 2, Abschnitt »Die Mensch-Tier-Beziehung im Hochmittelalter«, beschrieben) durch die Individualisierung im hohen Mittelalter angestoßen und setzte sich dann fort. Die Zeitspanne zur Ausbildung selbstreflexiver Fähigkeiten und der Empathie umfasste nur etwa vierhundert Jahre. Das war ein kurzer Abschnitt, es dauerte nur 16 oder zwanzig Die Licht- und Schattenseiten sozialkognitiver Kompetenzen

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Generationen, bis sich die moderne reflexive Persönlichkeit in breiten Schichten Mitteleuropas so weit entwickelt hatte. Wie kann man sich die rasante Geschwindigkeit dieser Persönlichkeitsveränderungen erklären? Genetische Veränderungen kommen als Ursachen nicht in Betracht, dafür ist der Zeitraum der Veränderung viel zu kurz. Der Mensch der Antike war vermutlich genetisch nicht anders ausgestattet als der heutige. Inwieweit epigenetische Veränderungen hier wirksam werden, ist gegenwärtig ein Gegenstand intensiver Forschungsbemühungen (Kegel, 2015). Vielleicht nähern wir uns ja doch wieder der alten Lamarck’schen Vorstellung von der Vererbung erworbener Eigenschaften an. Deutlich erkennen wir in der raschen Kumulierung kognitiver Kompetenzen über die Generationen hinweg einen »WagenheberEffekt«, wie ihn Tomasello (2006) beschrieben hat: Einmal Gelerntes, wie z. B. die Fähigkeit, sich in die Perspektive eines anderen hineinzuversetzen, wird von Generation zu Generation fortentwickelt und weitergegeben. Zwar fängt jede Generation von Säuglingen gleichsam »bei Null« an, aber mit jeder Generation wächst die Erwartung (und der Anspruch) an den Säugling, die sozialkognitiven Kompetenzen zu entwickeln, die seine Eltern schon verwirklichten. Und alle diese Kompetenzen, die Kinder heute in einem langen und mühsamen Sozialisationsprozess entwickeln, lagen vielleicht auch schon im Säugling des 9. Jahrhunderts bereit, aber kaum jemand dachte daran oder wäre fähig gewesen, diese Fähigkeiten abzufordern. Weiter: Man kann die kulturgeschichtliche Entwicklung sozialkognitiver Fähigkeiten in eine Analogie setzen zu jenen Prozessen, mit denen ein Kleinkind Perspektivenübernahme und Einfühlungsvermögen erlernt. Zwar glaube ich nicht, dass wir in unserer Kindheit die kulturgeschichtlichen Entwicklungsprozesse eins zu eins wiederholen, aber eine Parallele bietet sich doch an: Ähnlich wie der spätmittelalterliche Mensch seine Getrenntheit von den Tieren dadurch zu überwinden suchte, dass er die Tiere zunehmend als Phantasieobjekte in sich aufhob, gelingt es dem Kleinkind, die schmerzhafte Erfahrung seiner Getrenntheit von der Mutter dadurch zu ertragen, dass es lernt, sich die Mutter vorzustellen, sie also symbolisch in sich zu repräsentieren. 176

Versuch einer altruistischen Ethik

Angestoßen wird dieser Entwicklungsprozess also von der Erfahrung des Säuglings, dass seine Mutter nicht allein für ihn da ist, sondern sich auch anderen zuwendet. Das ist eine der großen, unvermeidlichen Enttäuschungen seines noch jungen Lebens. Säuglinge behelfen sich dann damit, bildhafte Vorstellungen von der Mutter vor dem »inneren Auge« aufzurufen, um sich im Alleinsein zu trösten. Die Bildung von symbolischen Repräsentanzen und die Fähigkeit, sich die Mutter vorzustellen, ersetzt natürlich nicht die reale Mutter, stellt aber eine, wenn auch illusionäre Nähe her, und sie bildet eine Grundlage des Einfühlungsvermögens, mit dem wir uns andere Menschen und ihre Innenwelt vorstellen. Sigmund Freud hat diesen Entwicklungsschritt in einer kleinen Anekdote beschrieben (1920). Sein eineinhalbjähriger Enkel hatte gelernt, eine Garnrolle, die an einem Faden hing, über das Gitter seines Bettchens zu werfen, sodass sie verschwand, was er mit einem lauten »O-o-o!« quittierte, welches die Mutter für sich mit »Fort!« übersetzte. Wenn er dann am Faden zog und die Rolle wieder auftauchte, rief er beglückt: »Da!« Freud vermutete, dass der kleine Junge in diesem Spiel die schmerzliche Erfahrung einer nicht ständig verfügbaren Mutter verarbeitete. Indem er die Garnrolle vorübergehend verschwinden ließ, festigte er sein inneres Bild, seine Repräsentanz von der Mutter, und er inszenierte die Illusion, seine Mutter jederzeit zum Vorschein bringen zu können. Dieser Prozess der Ausbildung früher symbolischer Repräsentanzen kann empfindlich und nachhaltig gestört werden, wenn die frühen Bezugspersonen dem Kleinkind emotional nicht verfügbar sind oder ihm vielleicht unberechenbar oder sogar bedrohlich erscheinen. Kindern, die so daran gehindert werden, andere Menschen positiv in sich abzubilden, fällt es später schwer, ein angemessenes Einfühlungsvermögen zu entwickeln. Aber auch unter günstigen Bedingungen braucht es vier oder fünf Jahre, bis Kinder sich in andere Menschen oder Tiere einfühlen können. Viele Eltern sind entsetzt, wenn ein zweijähriges Kind einen Frosch zerlegen will, um zu schauen, wie er von innen aussieht. Wenn Kinder allerdings diese »Grausamkeit« noch im Schulalter zeigen, ist Besorgnis angebracht. Die Licht- und Schattenseiten sozialkognitiver Kompetenzen

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Das Kind in Freuds Beobachtung tröstet sich also, indem es sich bestätigt, dass »fort« nicht »gänzlich aus der Welt« bedeutet, denn genau diese Besorgnis empfinden Säuglinge, wenn sie wahrnehmen, dass die Bezugspersonen nicht permanent verfügbar sind. Darüber hinaus befriedigt das Garnrollenspiel aber noch ein anderes Motiv: den Wunsch, das »Fort« und das »Da« der anderen selbst bestimmen und steuern zu können. Leider bleibt dem Kind in der Regel nicht erspart, seine Idee von der vollständigen mütterlichen Verfügbarkeit als Illusion zu durchschauen. Es muss akzeptieren, dass die Mutter auch für sich selbst da ist, dass sie – schlimmer noch – auch anderen zugewandt ist, dass sie ihre eigenen Interessen verfolgt und sich zuweilen sogar bewusst und gewollt abwendet. Diese bittere Erfahrung der nur sehr begrenzten Verfügbarkeit anderer Menschen bleibt uns in der Beziehung zu Tieren weitgehend erspart. Unsere kognitiven Fähigkeiten der Perspektivenübernahme und der Theory of Mind erlauben uns nicht nur zu bestimmen, welche Tiere »fort« und welche »da« zu sein haben, sondern wir haben immer besser gelernt, über die Tiere zu verfügen, sie für unsere eigenen Zwecke zu verwenden. Wie schön ist es, einen Hund zu besitzen, dem nichts lieber ist, als immer für uns »da« zu sein! Noch einmal einige Beispiele, um diesen Unterschied zu illustrieren: Ein fünfjähriges Kind kann krank spielen, wenn es möchte, dass seine Mutter heute besorgt zu Hause bleibt. Als Erwachsene können wir verführerisch sein, indem wir etwa dem anderen schmeicheln oder ihn erpressen, indem wir z. B. unseren Partner daran erinnern, dass es unmoralisch wäre, sein gegebenes Versprechen nicht zu halten. All diese manipulativen Manöver sind uns möglich, weil wir mithilfe unserer Theory of Mind mit ausreichender Wahrscheinlichkeit vorhersagen können, welchen Motiven unsere Beziehungspartner folgen und welche Absichten sie hegen. Aber unsere Möglichkeiten der Manipulation sind auch begrenzt, denn zum einen können wir uns in unseren Vermutungen über die Innenwelt unseres Beziehungspartners irren, und zum anderen kann er sich seiner Verwendung widersetzen. Um wie vieles leichter gelingt uns der manipulative Umgang mit Tieren! Da sie sich in dem engen Käfig ihrer Instinktausstattung 178

Versuch einer altruistischen Ethik

bewegen müssen, sind sie leicht ausrechenbar, und wir können sie fast nach Belieben verwenden. Auch hierzu ein Beispiel: Um Wanderratten nach einem NeugierExperiment in einem großen Labyrinth wieder in ein kleines Transportkästchen zu locken, kratzte ich mit dem Fingernagel zart an der Rückseite des Kästchens und die Ratten konnten nicht anders, als dieses Geräusch zu erkunden und im Transportkästchen nachzusehen. Ich hätte sie auch nach dem Erkundungsexperiment in das Kästchen treiben können, aber dann wären sie in Angst geraten und hätten Markierungen hinterlassen, die die nachfolgenden Ratten vor möglichen Gefahren gewarnt hätten. So aber betraten sie »freiwillig« und eher neugierig als ängstlich das Transportkästchen. Tiere können sich ihrer Verwendung kaum entziehen. Sofern wir nur in etwa ihre Grundbedürfnisse beachten und an unsere Haltungsformen anpassen, stehen sie uns vollkommen zur Verfügung – und selbst ihre Grundbedürfnisse können wir durch Zucht verändern und weiter an unseren Bedarf anpassen. Und da sie ihrerseits aber nicht die Fähigkeit besitzen, uns zu durchschauen, sind sie uns ganz und gar ausgeliefert. Es gibt zwar unzählige Geschichten, die davon erzählen, wie erfolgreich Tiere ihre Interessen gegen die Menschen durchsetzen. In dem Reitstall, in dem ich mich als Jugendlicher oft aufhielt, gab es eine Stute, die auf einem Bein lahmte, wenn sie keine Lust mehr hatte, die immergleichen Runden in der Halle zu drehen. Wurde sie vom Reitlehrer angeschnauzt, konnte sie plötzlich wieder unbehindert gehen. Hatte sie Perspektivenübernahme gelernt? Gewiss nicht; es genügt anzunehmen, dass es ein Lernen am Erfolg war. Einige Male hatte sie vermutlich zufällig erfahren, dass sie in den Stall zurückgeführt wurde, wenn sie ein paar Schritte »lahmte«. Ich vermute, dass viele »höhere« Lernleistungen bei genauer Betrachtung auch durch weniger anspruchsvolle Theorien als etwa durch Perspektivenübernahme erklärt werden können. Tierschützer tragen solche Berichte aber gerne vor, um zu »beweisen«, wie ähnlich die Tiere den Menschen doch seien, in jüngster Zeit hat z. B. Sasse (2017) eine Reihe von Beispielen aufgezählt. Aber auch wenn es einige experimentell erzeugte Nachweise für eine Theory of Die Licht- und Schattenseiten sozialkognitiver Kompetenzen

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Mind bei Primaten gibt – ich erinnere an die Schimpansin, die den »bösen« Pfleger, der die gefundenen Bananen immer selbst aufaß, dadurch täuschte, dass sie ihm eine leere Kiste zum Öffnen zeigte –, bleiben doch die überaus großen Unterschiede zwischen Mensch und Tier in der Fähigkeit, den jeweils anderen für sich zu verwenden. Ich betone diese Unterschiede und damit die »Asymmetrie« in der Mensch-Tier-Beziehung nicht deswegen, um die »Überlegenheit« des Menschen herauszustellen, sondern um die besondere Verantwortung des Menschen zu betonen. Er ist für die Tiere mitverantwortlich, und er könnte dieser Verantwortung dadurch gerecht werden, dass er sich seiner Fähigkeit und seiner Neigung bewusst wird, die Tiere für sich egoistisch zu verwenden, auch und vielleicht gerade in der Tierliebe. Kann es ihm gelingen, diese Egozentrik zu kontrollieren und die Tiere weitgehend aus seiner Verwendung zu entlassen? Kann es überhaupt eine nicht egozentrische, also »allozentrische« oder altruistische Tierliebe geben? Zahlreiche Autoren sind sich ja darin einig, dass die sozialkognitiven Fähigkeiten des Menschen, sich in den anderen hineinzuversetzen und sich in ihn versuchsweise einzufühlen, einen großen zivilisatorischen Gewinn darstellt. Der Philosoph R. Rorty schreibt: »Der moralische Fortschritt ist davon abhängig, dass die Reichweite des Mitgefühls immer umfassender wird« (zit. nach Precht, 2016, S. 300). Das ist richtig, denn zweifellos ist sozial bezogenes, moralisches und insbesondere altruistisches Handeln nur mithilfe dieser sozialen Kompetenzen möglich. Aber die Schattenseite unserer sozialkognitiven Fähigkeiten wird wohl zu wenig beachtet: Dass wir mit diesen Fähigkeiten einander und ganz besonders die Tiere egozentrisch verwenden können. In menschlichen Beziehungen mag diese Verwendung durch unser Gegenüber begrenzt werden, in der Beziehung zu Tieren begegnen wir einem Partner, der eben nicht mit uns »auf Augenhöhe« ist und seiner Verwendung widersprechen kann.

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Versuch einer altruistischen Ethik

DIE EINSEITIGE VERWENDUNG DES TIERES IN DER TIERLIEBE Die menschliche Fähigkeit und Bereitschaft, Mitleid mit den Tieren zu empfinden, liefert für viele Tierschützer das tragende Motiv für einen achtsamen Umgang mit der Tierwelt. Wie weit dieses Motiv wirklich »trägt« und wie wir seine »Reichweite« (Rorty) abstecken wollen, untersuche ich in diesem und dem folgenden Abschnitt. Empathie beruht auf einem subjekthaften Entwurf. Er soll eine Verbindung zum anderen herstellen, aber weil wir uns sehr leicht irren können, sind wir eigentlich darauf angewiesen, dass der andere unseren Entwurf (»Ich fühle, wie traurig du bist«) bestätigt. Er soll uns bestätigen, dass wir seine innere Situation richtig wahrgenommen haben, oder uns auffordern, unseren empathischen Entwurf zu korrigieren (»Nein, ich bin nicht traurig, ich bin verärgert«). Allerdings unterscheiden sich Menschen voneinander in ihrer Bereitschaft, ihre eigenen empathischen Entwürfe vom anderen infrage zu stellen. Nicht wenige sind einfach überzeugt, dass sie die innere Situation des anderen richtig erfasst haben, und verzichten darauf, sich mit ihm zu verständigen. Außerdem haben wir die Möglichkeit, Einfluss zu nehmen auf den anderen und ihn so zu bewegen, unsere Erwartungen über ihn tatsächlich einzulösen. Wenn ein Schüler z. B. überzeugt ist, dass der Lehrer ihn ablehnt, wird er ihn vielleicht so lange provozieren, bis er seine Erwartung eingelöst sehen kann. Solche Einflussnahmen sind im Alltag unter uns Menschen sehr häufig. Zum Beispiel können wir uns vor unseren Freunden selbst herabsetzen und behaupten, unsere eben gezeigte Leistung sei doch in Wahrheit nur mangelhaft gewesen. Unsere Freunde werden uns hoffentlich widersprechen und uns über den grünen Klee loben. Der Sinn dieser Interaktion liegt auf der Hand: Wir möchten gern bewundert werden und erreichen das dadurch, dass wir uns demonstrativ herabsetzen und so unser Gegenüber veranlassen, uns zu loben. Man nennt diesen harmlosen Typ der Verwendung anderer ein »Fishing for Compliments«. In der Psychoanalyse sprechen wir von einer »projektiven Identifizierung«. Die einseitige Verwendung des Tieres in der Tierliebe

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Derartige Formen der Verwendung der anderen verlaufen oft unbewusst und sind gerade dann besonders wirksam. Wir können das, weil wir uns einfühlen in den anderen und intuitiv erahnen, wie er auf unser »Angebot« reagieren wird. Das ist die Kompetenz, die wir hier schon mehrfach als »Theory of Mind« bezeichnet haben. Unser Einfühlungsvermögen dient uns also nicht nur dazu, dem anderen nahe zu sein und mit ihm seine Gefühle zu teilen, sondern es eröffnet uns auch die Möglichkeit, unser Gegenüber für uns zu manipulieren und zu verwenden. Auch der Schüler im soeben erwähnten Beispiel »verwendet« seinen Lehrer, wenn er ihn erfolgreich provoziert, um seine Erwartungen über ihn (»Der lehnt mich sowieso ab«) bestätigt zu finden. Und dann ist die Welt für ihn wieder in Ordnung. Derartige, alltägliche Verwendungen sind harmlos, wenn sich die Beteiligten auf Augenhöhe begegnen und die wechselseitige Verwendung miteinander (mehr oder weniger bewusst) aushandeln können. In unserem Fishing-for-Compliments-Beispiel könnten unsere Freunde ja auch lachend darauf hinweisen, dass wir doch jetzt nur ein Lob hören wollen, oder sie antworten augenzwinkernd: »Ja, es stimmt, das war wirklich nichts Besonderes!« Weniger harmlos verlaufen solche Manipulationen, wenn unser Gegenüber die Verwendung nicht durchschauen kann. In dieser Situation ist das Tier in seiner Beziehung zum Menschen. Dieser nutzt seinen Vorteil, dass er dessen Reaktionen antizipieren kann. Er kann es in unendlichen Varianten manipulieren und so für sich verwenden. Jede Dressur eines Tiers beruht auf erfolgreichen Manipulationen, die es in aller Regel nicht durchschauen kann. Dabei stoßen wir kaum je auf natürliche Grenzen: So lange wir von den Tieren nur verlangen, was ihr natürliches Verhaltensrepertoire ermöglicht, können wir alles von ihnen verlangen. Und selbst diese Grenzen überschreiten wir mühelos: Elefanten spielen Mundharmonika im Zoo, Bären fahren einen Roller im Zirkus und Hunde lernen, Skateboard zu fahren12.

12 www.youtube.com/watch?v=EVnzXA9b7Ww (3.5.2017).

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Eigentlich wissen wir ja, dass uns die extreme Asymmetrie in der Mensch-Tier-Beziehung, unsere Möglichkeit zu einer einseitig manipulativen Beziehung zum Tier, eine besondere Verantwortung aufgibt. Aber wir werden dieser Verantwortung nicht gerecht. Im Gegenteil: Wir täuschen uns selbst, wenn wir denken, dass die Tiere ja »gern« tun, was wir von ihnen verlangen. Offenbar macht es dem Elefanten ja Freude, wenn er Mundharmonika spielt (und dafür belohnt wird) und der Hund im YouTube-Video kann es gar nicht erwarten, auf sein Skateboard steigen zu dürfen. Und wir sind uns auch über die Innenwelt unserer Tiere so sicher, weil sie sich eben in der Regel nicht verstellen können. Unser Hund kann uns beim Wiedersehen nicht Freude vorspielen, in Wirklichkeit aber beleidigt sein, weil wir so lange weg waren. Er kann nicht Distanz zu sich aufnehmen und sich etwa fragen, ob seine Freude jetzt wirklich angemessen ist und ob er nicht erst herausfinden müsste, warum wir ihn so lange haben warten lassen. Tiere sind eben »immer richtig«, wie Sigmund Freud sagte. Aber weil sie so leicht ausrechenbar und manipulierbar sind, weil sie sich – abgesehen von wenigen hoch trainierten Primaten – nicht verstellen können, verwenden wir sie, dass sie uns all die Ängste nehmen, die wir als die »freigesetzten«, aus der Instinktbindung entlassenen und dem Bösen zuneigenden Tiere zu bewältigen haben (siehe Kapitel 3, Abschnitt »Wie und wozu verwenden wir die Tiere?«): die Angst vor dem Nicht-Gesehenwerden und dem Zweifel, überhaupt ein wertvoller Mensch zu sein, die Angst vor dem Verlassenwerden, die Angst, nichts bewirken zu können und natürlich auch die Schuldangst.

WIE WEIT REICHT UNSERE TIERLIEBE? Die Vermenschlichung der Tiere begann vereinzelt schon im frühen Mittelalter. Adelige Damen in höfischen Kreisen gingen zu ihren Schoßhündchen oder zahmen Papageien persönliche Beziehungen ein und behandelten sie wie Personen. Aber erst im 18. Jahrhundert verbreitete sich auch im Alltag breiter Schichten allmählich ein MitWie weit reicht unsere Tierliebe?

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gefühl mit den Tieren. Es war zunächst in England, dass die Menschen Anstoß nahmen an dem rohen, sogar brutalen Umgang der Kutscher mit ihren Pferden, und das erste Tierschutzgesetz von 1822 stellte dort derartige Grausamkeiten sogar unter Strafe. Im Rückblick bleibt allerdings offen, ob diese Vorschriften wirklich auf das Wohlergehen der Pferde abzielten oder nicht doch nur den empfindsamen Damen der höheren Gesellschaft den schmerzlichen Anblick der geschundenen Pferde ersparen wollten. Es entspricht unserer alltäglichen Erfahrung, dass wir uns am ehesten in diejenigen Tiere einfühlen (und in ihrem Leiden mitfühlen), die uns – wie unsere Haustiere – räumlich im Wortsinne »nahe stehen«, die also real präsent sind oder als Film oder wenigstens als Foto gezeigt werden. Deswegen versuchen die Betreiber von Massentierhaltungen jegliche Foto- und Filmaufnahmen strikt zu unterbinden, und die Aktivitäten etwa der Animal Liberation Front sind dann besonders wirksam, wenn es ihr gelingt, in einen Tierstall einzudringen und Fotos oder sogar Videos aufzunehmen und zu verbreiten. Derartige Aufnahmen von Kühen, Schweinen und Geflügel sind sehr wirkungsvoll, weil wir uns mit diesen leidenden Tieren leicht identifizieren können. Aber wie halten wir es mit Reptilien oder Fischen? Immerhin sind es ebenfalls Wirbeltiere, aber unsere Neigung, sie zu Personen zu machen und damit auch in unsere empathischen Entwürfe einzubeziehen, ist sehr begrenzt. Fische betrachten wir nur in der Ausnahme als Person, etwa dann, wenn der Silvesterkarpfen nach zwei Tagen in der Badewanne von den Kindern einen Namen bekommt. Im Allgemeinen stehen sie uns fern. Das liegt nicht nur daran, dass wir mit Fischen keinen gemeinsamen Lebensraum teilen (allenfalls nur für Sekunden), sondern Fische eignen sich auch nicht gut als Adressaten persönlicher Projektionen. Sie sind, viel mehr noch als höhere Wirbeltiere, »für sich«, und das macht es uns schwer, auch ihnen das Persönliche zuzuschreiben. Sie suchen und erkennen sich ja auch gegenseitig nicht als Individuen. Man kann z. B. bei einem Stichlingspaar mitten im Balztanz einen der beiden Partner, also vielleicht den männlichen Stichling gegen ein anderes Männchen, austauschen, aber das Weibchen würde mit dem neuen Männchen den Tanz weiterführen. 184

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Es ist gleichsam blind gegenüber dem Besonderen, dem Persönlichen des Männchens im Balztanz. Und auch der dressierte Karpfen im Teich, der schon wartet, dass wir ihm wieder Futter reichen, und der sogar gelernt hat, uns aus der Hand zu fressen, wird uns nicht als Person erkennen, wir sind für ihn austauschbar. Schon deswegen ist es unsinnig, in Karpfen Personen sehen zu wollen. Aber das wird uns wahrscheinlich nicht daran hindern, unser Mitleid auch auf Fische auszudehnen. Und es ist wohl nur noch eine Frage der Zeit, bis die Öffentlichkeit aufmerksam wird auf die »grausame« Behandlung von Meeresfischen, die millionenfach in Schleppnetzen qualvoll ersticken oder erdrückt werden. Das deutsche Tierschutzgesetz lässt sich ja durchaus auch auf den Umgang mit Fischen anwenden, und die ihm folgende Rechtsprechung hat bereits festgestellt, dass kleine Fische nicht mehr als lebende Köder zum Raubfischangeln verwendet werden dürfen. Auch ist es nicht mehr erlaubt, ein Wettangeln zu veranstalten oder als »Sportangler« Fische nur zu fangen, um sie wieder einzusetzen (»Catch and Release«). Tiere, die auf einer noch niedrigeren Evolutionsstufe als Fische stehen, also etwa Spinnentiere oder Insekten oder gar Schnecken, kommen als Adressaten unserer empathischen Entwürfe eigentlich kaum noch infrage. Aber selbstverständlich können wir sie trotzdem wie Personen wahrnehmen und behandeln und sie zu Objekten unseres Mitleids machen und vor grausamer Behandlung schützen. Berühmt wurde ja der Krake Paul, als er während der Fußballweltmeisterschaft 2010 den Ausgang der Spiele mit deutscher Beteiligung »voraussagte«. Er durfte, soweit bekannt, eines »natürlichen« Todes sterben. Wenn wir gedanklich die Phylogenese der Arten abwärts steigen: Wo soll die Tierliebe, wo die Achtung vor dem Tiere enden? Gewiss endet sie noch nicht bei der Küstenseeschwalbe, auch nicht bei dem (Zucht-)Lachs, vielleicht bei der Heuschrecke, aber bestimmt doch bei der Zecke, die nur darauf wartet, ihre Borrelien (Das sind allerdings auch Lebewesen!) in unseren Blutkreislauf tröpfeln zu lassen. Und was könnten dann unsere nächsten Ziele sein? Windräder zur Stromenergie verbieten oder zumindest in den Abendstunden abschalten, weil viele Fledermäuse an ihnen verunglücken? »HochWie weit reicht unsere Tierliebe?

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rechnungen gehen davon aus, dass bis zu 200.000 Tiere jährlich an deutschen Windenergieanlagen verunglücken«, schreibt der NABU13 und fordert, dass bei der Standortwahl von Windkraftanlagen der Fledermausverkehr berücksichtigt werden muss. Und weiter: Die früher in Biergärten häufigen elektrischen Insektenvernichter, welche die Insekten mit einer UV-Lampe anziehen, sodass sie sich an dem elektrisch geladenen Metallgitter verbrennen, sind aus der Mode gekommen, weil sich die Menschen in den Gartenrestaurants an den Verbrennungsgeräuschen störten; heute dürfen sie im Freien gar nicht mehr aufgestellt werden, weil auch viele nützliche Insekten zugrunde gehen und die eigentliche Zielgruppe, die Stechmücken, gar nicht so sehr von UV-Licht, sondern viel mehr vom Kohlendioxyd in der Atemluft von Säugetieren (einschließlich der Menschen) angezogen werden. Wären wir damit am Ziel einer wünschenswerten Entwicklung? Oder sollen wir uns die indische Sekte des Jainismus zum Vorbild nehmen, deren Mitglieder die Wege vor sich fegen, um nur keinem Kleinlebewesen zu schaden? Gibt es eine natürliche Grenze, an der unsere Einfühlung enden könnte? Oder wollen wir die Reichweite unserer Einfühlung unendlich ausdehnen? Einerseits dulden wir zwar eine Massentierhaltung, die den Tieren objektiv Leid zufügt, aber es kümmert uns wenig, weil diese Tiere weitgehend vor unseren Augen verborgen sind. Andererseits überdehnen wir womöglich unser Mitgefühl, wenn wir unsere Katze nicht mehr ins Freie lassen, weil sie nicht darauf verzichten kann, Mäuse und Vögel zu jagen?14 Wie weit wollen wir unsere Einfühlung auswerfen und die Tiere vermenschlichen, sodass sie zu Personen werden, die man – wie Menschen – achten muss?

13 www.nabu.de/tiere-und-pflanzen/saeugetiere/fledermaeuse/wissen/15018.html (1.12.2016). 14 Tatsächlich gibt es in den USA eine Gruppe von Tierschützern, die ein »Policing Nature« verlangen, um zu verhindern, dass Tiere einander Gewalt antun. Mehr dazu im letzten Kapitel und unter www.gmu.edu/centers/publicchoice/ faculty%20pages/Tyler/police.pdf (3.5.2017).

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In den letzten Jahren haben sich die Publikationen vermehrt, die sich sehr bemühen, Tieren menschliche Eigenschaften zuzuschreiben, wie z. B. im Titel des »Spiegel« Nr. 30 (2016) »Tiere sind auch nur Menschen«. Sasse hat sein neuestes Buch (2017) gleich mit »Tiere sind die besseren Menschen« überschrieben und »Beweise« für »menschliche Umgangsformen« der Tiere aufgezählt: »Hilfsbereitschaft bis zur Selbstaufgabe, Mitleid, Einfühlung, Freundschaft, Gerechtigkeit, Offenheit, Aufrichtigkeit, Treue bis in den Tod und viele mehr« (S. 35). Szezgin (2014) schildert teilnahmsvoll, wie eine Kuh ihr Kälbchen schmerzlich vermisst, und Wohlleben (2016) berichtet, wie es dem Hund peinlich ist, beim Verrichten des »großen Geschäfts« beobachtet zu werden. Deswegen, so der Autor, zerre er an der Leine, bis er ein Gebüsch erreicht habe. Tiere, so Wohlleben, »können sich schämen, und zwar in ähnlichen Situationen wie wir« (S. 110 f.). Auffällig ist, dass die genannten Autoren immer weniger überprüfen, ob sie mit ihrer Zuschreibung recht haben, und ich vermute (und hoffe), dass sich die Idee vom Hund, der sich so schämt, als blanke Projektion erweisen könnte. Die Vermenschlichung unserer Haustiere und unsere Bereitschaft, uns in sie einzufühlen, sie dabei aber egozentrisch zu verwenden, sind sehr weit fortgeschritten. Ich will nur an die vielen »Qualzüchtungen« unter den Haustieren erinnern. Könnte es nicht sein, dass wir in der Verwendung der Tiere in unserer Tierliebe zu weit gegangen sind? Vor vielen Jahren bereiste ich den Jemen und besuchte den Markt einer Kleinstadt. Dort, unter freiem Himmel wurde sehr viel Ziegenfleisch verkauft, und wenn der Fleischvorrat zur Neige ging, schlachtete man eine der Ziegen, die seitlich, weniger Meter entfernt angepflockt waren. Man tötete das Tier mit einem raschen Schnitt in die Halsschlagader, ließ es ausbluten und zerlegte es. Bei dieser Tötungsmethode verliert das Tier sofort das Bewusstsein, man könnte also von einer »humanen« Methode sprechen (analog dem Schächten), aber für einen Mitteleuropäer, einen Großstädter zumal, erschien mir das Verfahren, bei dem natürlich sichtbar viel Blut fließt, barbarisch. Ist es barbarisch? Waren die Menschen, die noch in ländlichen Gegenden aufwuchsen und vertraut waren mit der Schlachtung von Wie weit reicht unsere Tierliebe?

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Tieren, barbarisch? Sie haben vielleicht nicht gern zugesehen, wenn das Huhn geköpft oder das Schwein mit dem Bolzen erschossen wurde, aber ihr Mitgefühl hielt sich in Grenzen und verwandelte sich häufig genug in eine Freude über das bevorstehende Essen. Ist es nicht – ganz umgekehrt – ein Ausdruck von dekadenter Entgrenzung, wenn wir, die hochzivilisierten Menschen, die Neigung entwickeln, den Tieren, die uns nahestehen, menschliches Fühlen und Denken zuzuschreiben, sie zu Personen zu machen und sie als solche behandeln? Wir können stolz darauf sein, dass wir mit der Fähigkeit, uns in andere Lebewesen hineinzuversetzen und Mitgefühl zu empfinden, einen zivilisatorischen Fortschritt errungen haben, auch wenn wir diese Fähigkeiten oft genug einsetzen, um andere für uns zu verwenden. Wir rechnen es uns so hoch an, dass wir uns fortentwickelt haben von dem rohen, aus heutiger Sicht herzlosen und zuweilen auch sadistischen Umgang des mittelalterlichen Menschen mit seinen Tieren hin zu einem einfühlsamen Verhältnis, in dem wir glauben, die vermeintlichen Interessen der Tiere gegen die unsrigen zur Geltung bringen zu können bzw. einen Ausgleich dieser Interessen für möglich zu halten. Aber sind es wirklich die Interessen der Tiere, die wir berücksichtigen wollen? Wie können wir diese Interessen wahrnehmen und dann gegen unsere eigenen abwägen? In der Betrachtung der Tierwelt finden wir keine sichere Antwort auf diese Frage. So sehr sich die Tierschützer auch abmühen: Es gibt keine objektiv messbaren Eigenschaften der Tiere, an denen wir uns orientieren könnten. Die Merkmale, die von den Vertretern der Tierrechtsbewegung angeführt werden, nämlich »weil sie leiden können« oder »weil sie Subjekte ihres Lebens sind« oder »weil sie ein Bewusstsein haben« oder eine »Präferenz-Autonomie zeigen«, werden ja ausnahmslos von uns den Tieren zugeschrieben, und zwar nach Art eines Zirkelschlusses: Weil wir die uns nahestehenden Tiere so lieben, schreiben wir ihnen menschliche subjektive Erlebnisse (qualia) zu, und weil sie uns so menschlich erscheinen, lieben wir sie so sehr. Das ist die wahre Egozentrik der Tierliebe: Wir vermenschlichen sie, aber wir lieben in den Tieren uns selbst. 188

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Wie können wir uns dessen bewusst werden, wie sehr wir in der Beziehung zum Tiere eigene Interessen wahrnehmen – auch und gerade in der Tierliebe? Könnten wir auf die Verwendung der Tiere in der Tierliebe verzichten? Wie könnten wir unseren Egoismus kontrollieren? Ist eine altruistische Tierliebe denkbar?

WIE WIRD EINE ALTRUISTISCHE (TIER-)LIEBE MÖGLICH? Altruismus zählt zu den großen Tugenden eines Menschen in der christlich-abendländischen Kultur. Wir erwerben sie in einem langen und mühevollen Sozialisationsprozess. Und wenn der uns gelingt, dann erlauben uns unsere sozialkognitiven Kompetenzen nicht nur, andere für uns zu verwenden, sondern auch, die Interessen der anderen in ihrem Gegensatz zu unseren eigenen Interessen wahrzunehmen und zu berücksichtigen. Bevor wir uns fragen, wie eine altruistische Mensch-Tier-Beziehung aussehen könnte, möchte ich versuchen, zu klären, was mit Altruismus eigentlich gemeint ist.

Was ist Altruismus? In der Soziologie bezeichnet Altruismus ein Verhalten, das einem Individuum zugunsten eines anderen mehr Kosten als Nutzen einbringt. Klassisches Beispiel ist die Mutterliebe und – evolutionsbiologisch vorausgehend – das Instinktverhalten der Brutpflege. Sozial lebende Tiere zeigen oft Kooperationen und einen Altruismus, der das Überleben der Gruppe, des Schwarms oder des Rudels sichern hilft. Wenn, wie gesagt, z. B. eine Kolonie von Wanderratten von einem Feind angegriffen wird, stellt sich oft ein älteres Rattenmännchen dem Eindringling entgegen und riskiert damit seinen eigenen Tod – zugunsten der Kolonie. Oder wenn eine rangniedrige Krähe von einer ranghöheren angegriffen wird, hilft ihr die ranghöchste; auch dieses Verhalten, das Konrad Lorenz »moralanalog« genannt hat, steht im Interesse des Schwarms und seiner Überlebenschancen. Wie wird eine altruistische (Tier-)Liebe möglich?

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Obgleich das Verhalten der Ratten und der Krähen in diesen Beispielen der soziologischen Definition von Altruismus entspricht, sollten wir diesen Begriff doch nur auf solches Verhalten (oder besser: Handeln) anwenden, das einer moralisch begründeten Entscheidung folgt. Derartiges lässt sich in Ansätzen schon bei höheren Primaten beobachten, die einander Vorteile verschaffen, dabei allerdings darauf hoffen, bei nächster Gelegenheit selbst bevorteilt zu werden. Wieweit es sich bei diesem »reziproken Altruismus« wirklich um ein moralisch begründetes, prosoziales Verhalten handelt, dürfte zweifelhaft sein. Es ähnelt dem Verhalten von vielleicht dreijährigen Kindern auf der zweiten, noch präkonventionellen Stufe der Moralentwicklung nach Kohlberg (1996): Sie verwenden einander instrumentell, nach dem Motto »Wie ich dir, so du mir«. Auf dieser Stufe der Entwicklung kann man noch nicht erwarten, dass das Kind eine verinnerlichte soziale Norm (wie z. B. »Ein gutes Kind ist selbstlos, und ich will ein gutes Kind sein«) verwirklicht. Es ist sehr schwierig, Reste etwa eines Brutpflegeinstinktes empirisch nachzuweisen, weil solche Instinkte bei uns Menschen längst von höheren kognitiven Funktionen überlagert wurden und weil unser Handeln nur in extremen Situationen oder regressiven Momenten (z. B. im Falle einer Massenpanik) stark von Instinkten geprägt ist. Entwicklungspsychologen und Anthropologen15 glauben aber, nachgewiesen zu haben, dass einige Kleinkinder schon mit eineinhalb Jahren altruistische Handlungen erkennen lassen. Die Beispiele scheinen zu überzeugen: Die Zweijährige, die ihrer Mutter, die weinend auf dem Bett liegt, zum Trost ihre Teddybären auf den Bauch legt, oder der kleine Junge, der im entwicklungspsychologischen Experiment Erwachsenen, die mit Paketen beladen sind und offenkundig keine Hand frei haben, eine Tür öffnet. Diese spontanen Gesten scheinen auf einen primären Altruismus hinzudeuten, aber diese Deutung müsste weitreichende Vorannahmen verwen15 Z. B. Felix Warneken und Michael Tomasello am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie: Altruistic Helping in Human Infants and Young Chimpanzees http://www.eva.mpg.de/psycho/staff/tomas/pdf/Warn_ Science.pdf+ (Zugriff am 04.05.2017).

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den, nämlich dass schon zweijährige Kinder den moralischen Gehalt sozialer Situationen erkennen könnten. Tatsächlich aber wären sie damit in der Regel überfordert. Sie versagen regelmäßig bei Testaufgaben, in denen sie zu eigenen Ungunsten anderen einen Gefallen tun oder einen Vorteil gönnen sollen. Die oft beschriebene Hilfsbereitschaft oder das tröstende Verhalten zweijähriger Kinder lässt sich wohl eher so erklären, dass sich Kinder in jenem Alter noch wenig abgegrenzt von anderen Menschen, die ihnen nahestehen, erleben. Die Zweijährige, die ihre Mutter weinen sieht, lässt sich also von deren Gefühlen anstecken. Eine solche Gefühlsansteckung erleben auch Erwachsene untereinander, sie aber grenzen sich stärker als kleine Kinder voneinander ab, und haben längst gelernt, eigene antwortende Gefühle, die ihnen selbst unangenehm wären, abzuwehren, also nicht mehr bewusst zu erleben. Zum Beispiel fürchten sich viele Erwachsene vor starken Gefühlen der Trauer und suchen sie zu vermeiden, im extremen Falle fühlen sie dann in einer traurigen Situation gar nichts. Kinder hingegen sind der Gefühlsansteckung viel stärker ausgeliefert. Deswegen hilft das Kind, das die weinende Mutter tröstet, auch sich selbst, weil es sich von den Gefühlen der Mutter »anstecken« lässt und mit ihr auch sich selbst tröstet. In der Sozialpsychologie wird altruistisches Handeln oft mit ethisch begründetem, »prosozialem« Handeln gleichgesetzt. Es verdient schon deswegen moralische Anerkennung, weil der altruistisch Handelnde seine Handlungsentscheidung zumeist gegen starke innere Widerstände durchsetzen muss: Fast immer steht nämlich dem altruistischen Motiv ein eigenes egoistisches entgegen, das zurückgestellt werden soll und dessen Überwindung einigen psychischen Aufwand kosten könnte. Vielleicht hilft in solchen inneren Konfliktsituationen die Aussicht auf eine soziale Anerkennung durch andere oder zumindest auf ein überzeugendes Selbstlob. So betrachtet, ist es eigentlich erstaunlich, wie häufig altruistisches Handeln vorkommt, zuweilen sogar in bewundernswert couragierten, das eigene Leben riskierenden Taten. Leuchtende Beispiele sind diejenigen Menschen gewesen, die es in der Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft wagten, jüdische Mitbürger zu verstecken, Wie wird eine altruistische (Tier-)Liebe möglich?

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und die sich damit selbst in größte Gefahr brachten. Oder in jüngerer Zeit: Der 50-jährige Bauarbeiter Wesley Autrey rettete am 2. Januar 2007 mit einer waghalsigen Heldentat in der New Yorker U-BahnStation 137 Street/City College dem Studenten Cameron Hollopeer das Leben. Der junge Mann war in einem epileptischen Anfall auf die Schienen gefallen, als die U-Bahn einfuhr. Als es Wesley Autrey nicht gelang, ihn hochzuziehen, warf er sich neben ihn, und so blieben beide unverletzt. Ein starkes ethisches Fundament für eine altruistische Haltung bietet die christliche Theologie. Die Aufforderung »Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst« taucht in der Bibel mehrfach auf, zunächst schon im 3. Buch Mose, 19, Vers 18, dann im Neuen Testament u. a. bei Lukas 10.27, dessen Text besonders häufig zitiert wird. Natürlich hat die Wendung »wie dich selbst« zahlreiche exegetische Bemühungen angeregt: Wie ist das »Wie« zu verstehen? Die moderne Auslegung des Textes legt »wie« nicht als »genauso viel wie« aus, sondern eher so, dass der Nächstenliebe die Selbstliebe vorausgehen müsse, denn wer sich nicht selbst liebt, könne auch den anderen nicht lieben. Im Brief des Paulus an die Philipper (Kapitel 2.1) wird es konkreter: »Ein jeglicher sehe nicht auf das Seine, sondern auch auf das, was des anderen ist.« Das ist unzweideutig eine Aufforderung zu prosozialem Handeln. Und für den christlich Gläubigen, für den Jesus Christus das Vorbild für eine fürsorgliche und selbstlose Liebe verkörpert, formulieren diese Sätze einen Anspruch, der vor zweitausend Jahren gewiss nicht einfach zu befolgen war und der auch heute vielleicht nur unvollkommen eingelöst werden kann, dem zu folgen aber persönliche Befriedigung verschaffen kann. Auch im abendländischen Kulturkreis hat sich nur eine Minderheit dieses christliche Gebot bewusst zu eigen gemacht. Ich vermute aber, dass es die meisten Menschen hier geprägt hat, ob sie das so sehen wollen oder nicht. Es bildet doch eine Säule unserer Zivilisation. Was haben Psychoanalytiker über die Möglichkeit des Altruismus geschrieben? Die erste Generation der Analytiker um Sigmund Freud hielt den Altruismus für eine sekundäre Tugend. Entsprechend 192

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ihrem indifferenten Menschenbild glaubten sie nicht an ein hereditär begründetes altruistisches Motiv, sondern sie vermuteten im Altruismus abgewehrte, sozial gewendete, antisoziale Triebimpulse wie Gier oder Neid. Anna Freud prägte mit dieser Auffassung den unter Psychoanalytikern für lange Zeit verbreiteten Standpunkt: Das altruistische Motiv entsteht demnach durch eine Projektion eigener Wünsche auf einen anderen Menschen und einer nachfolgenden Identifikation mit den dort untergebrachten und »wiedererkannten« Bedürfnissen. Dieser Abwehrvorgang bringt also moralisch anspruchsvolle Handlungsmotive hervor, auch wenn er in egozentrischen Wünschen gründet. Er kann aber auch klinisch relevant werden, wenn ein Mensch z. B. in pathologischer Selbstlosigkeit dazu neigt, alle seine Bedürfnisse »altruistisch abzutreten«: Was ich mir selbst nicht zu erlauben wage, ermögliche und fördere ich wenigstens bei anderen. Diese für Psychoanalytiker typische Auffassung, dass nämlich selbst die höchsten Motive erst in der Auseinandersetzung mit (besser: in der Abwehr von) wenig angesehenen Strebungen entstehen, mag im Alltagsverständnis desillusionierend erscheinen. Tatsächlich glauben wir in der Psychoanalyse nicht an das angeboren Gute im Menschen und sind überzeugt, dass wir unsere hochgeschätzten Tugenden erst in einem mühsamen Sozialisationsprozess auch gegen uns selbst erkämpfen müssen. So stammt z. B. von Freud (1930, S. 461 f.) die Formulierung von der »Zärtlichkeit als triebgehemmte[r] Sexualität«. Wegen dieser kulturkritischen Haltung wurde die Psychoanalyse in der NS-Zeit bekämpft. Zum einen galt sie als »jüdische« Wissenschaft, zum anderen aber wurde sie gefürchtet, weil sie die »heiligsten« Tugenden – wie die Liebe zum Vaterland oder zum Führer – »in den Dreck zog«. Zurück zum Altruismus: Die Neigung zu altruistischer Abtretung finden wir häufig in sozialen Berufen und natürlich auch in der Beziehung zu Tieren. Betont altruistische Menschen genießen oft eine hohe soziale Anerkennung, weil sie sich für den anderen oder auch für Tiere ganz selbstlos einsetzen, geradezu aufopfern. Aber bei genauerer Sicht lässt sich erkennen, dass sie doch auf versteckte Weise egoistisch handeln. Denn sie verwenden andere, um einen Wie wird eine altruistische (Tier-)Liebe möglich?

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schweren inneren Konflikt zu lösen, genauer gesagt: ihn immer wieder zum Schweigen zu bringen. Diese Menschen fürchten sich vielleicht vor ihren eigenen, latent riesigen Wünschen nach Zuwendung oder Anerkennung, projizieren diese z. B. in ihr Haustier und überschütten es mit Liebe und dem teuersten Futter. Oder sie stellen sich in größter Kälte mit abschreckenden Bildern in die Fußgängerzonen, um gegen Tierversuche einzutreten. Wer ist jetzt gut und wer ist böse? Man kann auch im Alltag solche neurotischen Kompromissbildungen recht gut erkennen, nämlich an ihrer Starrheit und Stereotypie, denn es steht dem derart Selbstlosen nicht frei, anders zu empfinden und zu handeln. Doch wehe, wenn sich das Objekt seiner Liebe als undankbar erweist oder seine Fürsorge ablehnt! Das führt in zwischenmenschlichen Beziehungen rasch zu ernsthaften Krisen, weil sich das Objekt der übermäßigen Liebe und Fürsorge rasch eingeengt und zur Dankbarkeit gezwungen fühlt. Tiere hingegen erkennen eine solche Zwangsverpflichtung nicht, sie lassen sich fast grenzenlos verwöhnen und für egozentrische Konfliktlösungen verwenden. Dafür lieben wir sie umso mehr. Sind wir damit dann doch wieder in der Nähe der deprimierenden Auffassung von Anna Freud und ihren zeitgenössischen Psychoanalytikern angelangt, dass altruistische Tierliebe oder Liebe überhaupt regelmäßig auf einem – mehr oder weniger neurotischen – Kompromiss beruht? Vielleicht, bis hierher steht jedenfalls nur fest, dass nicht jeder, der zu Tieren lieb ist, ganz und gar altruistisch handelt. Es mag sein, dass er den Interessen seiner Tiere entgegenkommt, aber möglicherweise verwendet er sie doch nur, um sich selbst zu helfen. Wir haben ja schon gesehen, dass wir Tiere auch dann verwenden können, wenn wir liebevoll mit ihnen umgehen. Diese Art der Verwendung ist manchmal schwer zu durchschauen, aber auch sie führt zu sehr problematischen Erscheinungen, etwa in der Haustierzucht. Die ethische Maxime könnte indessen lauten: Altruistische Liebe verzichtet weitgehend auf die Verwendung des anderen im eigenen Interesse. Anders gesagt: Ich liebe den anderen, wie er für sich ist, und nicht, wie er für mich sein soll. 194

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Wie wird das möglich? In der Beziehung unter uns Menschen verfolgen wir durchaus schon dieses Ideal, den anderen um seiner selbst willen zu lieben. Aber um es in unseren Beziehungen tatsächlich zu verwirklichen (oder um uns ihm wenigstens anzunähern), müssen wir uns in einem wenig lustvollen Entwicklungsprozess selbst zivilisieren: Beginnen wir wieder mit dem Säugling. Dieser verwendet seine Mutter kompromisslos für sich: Sie soll ausschließlich verfügbar, ganz und gar für ihn da sein. Schon Freud schrieb, der Säugling »sondert noch nicht sein Ich von einer Außenwelt als Quelle der auf ihn einströmenden Empfindungen« (1930, S. 423), er lernt erst allmählich, dass es eine äußere Welt der Objekte gibt, insbesondere dadurch, dass sich ihm das wichtigste Objekt, die Nahrungsquelle, also in der Regel die Mutterbrust, immer wieder entzieht, aber häufig genug durch energisches Schreien herbeigerufen werden kann. Die Erfahrung, dass das nicht immer gleich gelingt, ist frustrierend, regt den Säugling aber auch an, sich in der Enttäuschung über die Abwesenheit der Mutter dadurch zu trösten, dass er lernt, sie sich gedanklich vorzustellen, sie also in sich zu »repräsentieren«. Die Erfahrung, dass die Mutter eben nicht nur »für mich« da ist, regt also einen wichtigen Entwicklungsschritt an. Aber die andere Erfahrung, dass das Herbeirufen der Mutter eben doch oft genug gelingt, ist ebenso notwendig für die innere Entwicklung des Kindes. Es lernt nämlich, in der Außenwelt etwas bewirken zu können, Selbsturheberschaft zu besitzen. Mütter versuchen zuweilen, ihren Säuglingen die enttäuschende Erfahrung des zeitweiligen Alleinseins zu ersparen, indem sie sich bemühen, immer verfügbar zu sein und ihrem Säugling alle Wünsche »von den Augen abzulesen«. So sehr sich das Kind für den Augenblick über die grenzenlose Verfügbarkeit der Mutter freuen mag, es wird doch daran gehindert, den Stress des Alleinseins über die Bildung von Repräsentanzen verarbeiten zu lernen, und es wird schwerlich die Erfahrung machen können, durch sein Handeln etwas Wesentliches bewirken zu können. Vielleicht gewinnt dann das Kind den Eindruck, die Welt sei für es uneingeschränkt verfügbar – eine Erwartung, die spätere schwere Enttäuschungen aufwerfen wird. Wie wird eine altruistische (Tier-)Liebe möglich?

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Mit diesem ersten Schritt, wenn der Säugling lernt, seine Mutter aus der totalen Verwendung zu entlassen, beginnt die Selbstentwicklung des Kindes (Stern, 2003). Voraussetzung ist neben der schon erwähnten Selbsturheberschaft, dem Erleben von Selbstkohärenz und Selbstgeschichtlichkeit (ich verändere mich, bleibe aber dieselbe Person) auch ein »Urvertrauen«, also die Erwartung, dass andere Menschen in der Regel liebevoll auf mich reagieren, dass sie sich über meine Erfolge freuen und mich bei Misserfolgen unterstützen. Diese Entwicklungsschritte gelingen umso besser, je mehr und je verlässlicher die Bezugspersonen das Kind tatsächlich liebevoll ansprechen, es unterstützen und fördern. Sehr wichtig ist der Einfluss der Eltern, wenn sie im Kind das sich entwickelnde Selbst ansprechen, es anregen, sich in seinen Wahrnehmungen und Erwartungen auf sich selbst zu beziehen, dadurch ein reflexives Verhältnis zu sich selbst zu entwickeln und zunehmend eine relative Unabhängigkeit von äußeren Objekten zu gewinnen. Diese Unabhängigkeit bildet die Voraussetzung dafür, dass wir andere Menschen (und Tiere!) nur wenig für unser eigenes psychisches Wohlbefinden verwenden müssen. Auch wenn eine solche Kindheitsentwicklung wirklich gut gelingt, so bleibt doch ein gewisses Maß an Abhängigkeit von anderen erhalten. Das ist auch durchaus wünschenswert, denn anders wären ja die Sehnsucht nach einer liebevollen Beziehung und die Fähigkeit, überdauernde Freundschaftsbeziehungen einzugehen, gar nicht denkbar. Die Frage bleibt dann, wie sehr ein Mensch darauf angewiesen ist, andere für sich zu verwenden, oder wie weit er den anderen aus seinem eigenen Anspruch auf Verwendung entlassen kann und ihn als eine Person für sich zu schätzen oder gar zu lieben lernt. Es muss im Einzelfall offen bleiben, ob wir, wenn wir versuchen, den anderen aus unserer Verwendung wenigstens partiell zu entlassen, dabei einer verinnerlichten ethischen Maxime – etwa im Sinne des »Liebe den anderen wie dich selbst!« – folgen oder ob wir uns von unserem Gegenüber, der sich von uns nicht ganz und gar verwenden lassen will, begrenzen lassen. Denn auch wenn wir gelernt haben, uns in den anderen hineinzuversetzen und seine Welt mit seinen Augen zu betrachten, also fähig geworden sind, ihn für unsere 196

Versuch einer altruistischen Ethik

Zwecke zu manipulieren, stoßen wir mit unserem Motiv, ihn für uns zu verwenden, auf seinen Wunsch, sich mit seinen eigenen Interessen zu behaupten.

Menschlicher Altruismus gegenüber Tieren – worauf gründen? Genau an dieser Stelle unterscheiden sich die menschlichen Beziehungen von denen, die wir mit den Tieren eingehen. Tiere können nicht mit uns verhandeln, inwieweit wir sie für unsere eigenen Interessen verwenden dürfen. Wir haben gelernt, uns in sie hineinzuversetzen, glauben sogar, uns in sie einfühlen zu können, aber den Tieren bleibt unsere Innenwelt fremd (tatsächlich bleibt uns die Innenwelt der Tiere auch fremd, aber wir können uns darüber weitreichende Illusionen machen). Die Instinktausstattung der Tiere begrenzt zwar ihre Verfügbarkeit für uns, setzt aber nur sehr weite Grenzen, innerhalb derer wir sie immer noch »artgerecht« behandeln. Es ist tragisch, wie weit wir in unserer Verwendung von Tieren gehen können, man denke nur an die industriellen Massentierhaltungen für Rinder, Schweine und Geflügel. Und selbst dort, wo die Instinktausstattung der Tiere Grenzen setzen könnte, überschreiten wir sie, indem wir die genetische Ausstattung der Tiere durch Zucht und bald auch durch direkte genetische Manipulation unseren Interessen anpassen. Bei Nutzpflanzen wie im Falle von Soja und Mais ist uns die gentechnische Manipulation schon sehr effektiv gelungen. Ich bin sicher, dass sich dieser Siegeszug einer manipulativen Verwendung auch bei Tieren kaum aufhalten lassen wird. Mit unserer Fähigkeit, für die Tiere mitzudenken, ihr Verhalten systematisch zu konditionieren und sogar ihre genetische Ausstattung zu manipulieren, haben wir die Augenhöhe, in der sich der mittelalterliche Mensch noch zum Tier befand, längst verlassen und eine fast grenzenlose Überlegenheit errungen. In dieser Asymmetrie liegt unsere besondere Verantwortung, die wir für die Tiere mittragen. Da sie uns kaum etwas entgegensetzen, liegt es ganz bei uns und unserer ethischen Orientierung, wie weit wir sie aus unserer Verwendung entlassen und versuchen, sie so zu lieben, wie sie Wie wird eine altruistische (Tier-)Liebe möglich?

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für sich sind. Wir müssen uns und unsere Neigung, die Tiere für uns zu verwenden, selbst begrenzen. Was in unserer Beziehung zu Menschen der andere, unser Beziehungspartner übernimmt, nämlich sich unserer Verwendung zu widersetzen, müssen wir im Falle unserer Beziehung zu den Tieren selbst übernehmen: Tierliebe ist Menschensache. Woran wollen wir uns orientieren, wenn wir versuchen, Tiere zu lieben, wie sie für sich sind? Was an ihnen lieben wir dann? Die Vorschläge der Tierrechtler, Tiere deswegen zu achten oder zu lieben, weil sie uns so ähnlich sind, weil sie quasi-menschliche Fähigkeiten, indem sie denken und sprechen könnten, einen Zukunftsbezug oder eine »Präferenz-Autonomie« hätten, sind nur scheinbar altruistisch, wie wir gesehen haben. Zieht man diese Fähigkeiten ab, bleibt wirklich nur das Tier ohne unsere Zuschreibungen übrig, und das scheint vielen Tierfreunden als Grundlage einer Zuneigung oder gar einer Liebe nicht tragfähig. So als wäre die Tatsache, »nur« ein Tier zu sein, schon eine Entwertung. In dieser Haltung, die die Verpflichtung zu einem achtsamen Umgang mit Tieren damit begründet, dass sie so zahlreiche menschliche Fähigkeiten besäßen, liegt doch der wahre »Speziesismus«. Ich vermute, dass viele Autoren deswegen zu solchen Anthropomorphisierungen greifen, weil sie der Maxime nicht folgen wollen, Tiere deswegen lieben zu sollen, weil sie für sich sind, weil sie anders sind als wir und in einer Welt leben, zu der wir keinen Zutritt haben. Deswegen sind so viele Tierfreunde überaus eifrig auf der Suche nach »menschlichen« Fähigkeiten auch bei Tieren, die in der phylogenetischen Reihe unterhalb der Säugetiere stehen, etwa bei Vögeln16 oder Fischen (Wild, 2012). Und sie geraten regelmäßig in Erklärungsnot, wenn sie Achtsamkeit auch für diejenigen Tiere begründen sollen, die nun definitiv keine menschlichen Fähigkeiten besitzen.

16 So jüngst geschehen bei Hühnern: https://web.de/magazine/wissen/unterschaetzte-huhn-32099142 (Zugriff am 04.01.2017).

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Für diese Tierschützer zählt es offenbar nicht, dass Tiere, wie in Kapitel 4 (Abschnitt »Die Mensch-Tier-Differenz vom Tiere aus vermessen«) beschrieben, über so bewundernswerte Fähigkeiten verfügen, dass sie sich Wahrnehmungswelten erschließen, zu denen wir keinen Zutritt haben oder dass sie sich bei ihren Wanderungen orientieren, wie wir uns das nicht vorstellen können. Altruistische Tierliebe verzichtet darauf, Tieren menschliche Eigenschaften oder Fähigkeiten zuzuschreiben, um sie achten oder lieben zu können. Die Maxime altruistischer Tierliebe lautet also, Tiere um ihrer selbst willen zu lieben. Das heißt wohl als Erstes, sich daran zu erfreuen, wenn es ihnen gut geht. Das schon ist ein schwer auszumachendes Ziel, man denke nur an die Diskussionen um die Frage, wie »artgerechte« Tierhaltung sein soll, z. B. in den zoologischen Gärten. Die Definitionen reichen von dem radikalen »Artgerecht ist nur die Freiheit« (Sezgin, 2014) einschließlich der Forderung, alle Zuchtrassen rückzuzüchten oder aussterben zu lassen über die Bestimmung, sie sollten ihre arttypischen Verhaltensweisen ausleben können (Precht, 2016, S. 408) bis hin zu dem minimalistischen »Sie sollen überleben und sich fortpflanzen«. Bleiben wir noch bei den zoologischen Gärten: In den letzten fünfzig Jahren wurden große Fortschritte in der Zootierhaltung verwirklicht, und der Anspruch, Tiere artgerecht zu halten, geht über die Erwartung, dass sie überleben und sich fortpflanzen können, weit hinaus. Sicher ist aber auch, dass zahlreiche Tierarten wie Leoparden, Wölfe, Delfine und viele Raubvögel niemals die Gelegenheit haben werden, in einem Zoo ihre »arttypischen Verhaltensweisen auszuleben«. Das ist sehr unbefriedigend, und wir brauchen starke Gründe, diese Tierarten dennoch in zoologischen Gärten zu halten. Das Argument, dass manche Arten in Zoos vor dem Aussterben gerettet werden, mag zwar in wenigen Fällen zutreffen, begründet aber wohl kaum, dass wir in Tausenden zoologischen Gärten eine so große Vielfalt lebender Tiere zur Schau stellen. Ein wesentlicher Grund, zoologische Gärten mit immer verbesserten Haltungsbedingungen auch zukünftig zu befürworten, liegt doch wohl darin, dass sehr viele Menschen in der Betrachtung »wilder« Tiere eine ästhetische Faszination erleben, die vielleicht sogar Wie wird eine altruistische (Tier-)Liebe möglich?

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den Kern einer Tierliebe überhaupt ausmachen könnte. Der Philosoph Martin Seel (1991, 1997) hat diesen Gedanken überzeugend ausgeführt. Ich komme auf ihn ganz zum Schluss dieses Buches zurück. Faszinierend könnte gerade sein, dass Tiere sich eben nicht in unserer Welt bewegen, dass sie uns entzogen sind, dass sie »von Natur aus kein Mittel zu irgendeinem Zweck« (Precht, 2016, S. 453 f.) sind. Diese Hingabe an das andere im Tier ohne den Versuch, das Unzugängliche und Fremde durch anthropozentrische Zuschreibungen doch wieder in Vertrautes zu verwandeln, fordert uns viel ab. Aber wenn wir uns einmal dieser ethischen Maxime verpflichtet fühlen, helfen uns zwei innere Instanzen, die uns beobachten und bewerten: unser Gewissen, also unser Über-Ich, und unser Ich-Ideal, das uns vorschreibt, wie wir eigentlich sein sollten (aber selten sind). Mithilfe dieser inneren Bewertungssysteme können wir uns belohnen, uns also gut fühlen, wenn wir wieder einmal unseren Egoismus zugunsten einer altruistischen Einstellung begrenzt haben. Bei einer sehr strengen Betrachtung könnte man also sagen, dass wir in den Fällen altruistischen Handelns eigentlich doch nur uns selbst einen Gefallen tun. Aber unter derart strenger Beurteilung würde es fast unmöglich, überhaupt ein guter Mensch zu sein, denn die Selbstliebe ist ja nie aus dem Spiel. Zurück zu den Tieren: Wir könnten also versuchen, unsere anthropozentrischen Zuschreibungen darüber, dass Tiere eigentlich auch so denken und fühlen wie wir, zurückzunehmen und gerade ihr Anderssein suchen und bewundern. Weiter: Wir können die Bestimmung dessen, was »artgerecht« heißen soll, immer weiter zum Tier hin verschieben. Das heißt, je mehr sie Gelegenheit haben, ihre arttypischen Verhaltensweisen zu zeigen, desto besser. Welche diese Verhaltensweisen sind, ist nicht schwer herauszufinden; man muss die Tiere nur in »freier Wildbahn« unvoreingenommen beobachten. Und in jenen Fällen, in denen unsere Nutztiere aufgrund unserer Eingriffe die »freie Wildbahn« längst verlassen haben (alle unsere Nutztiere würden dort kaum überleben), können sie uns doch zu erkennen geben, wie sie sich ihr Leben einrichten möchten. Martha Nussbaum (2006) schlägt daher vor, für jede Tierart eine Spezies­ 200

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norm festzulegen, die z. B. die Frage beantwortet: Was braucht ein Schimpanse im Allgemeinen, um glücklich zu sein? (siehe auch Donaldson u. Kymlicka, 2013, S. 210). Ein Beispiel aus eigener Anschauung: Ein Landwirt in SachsenAnhalt hatte sich nach der »Wende« auf die Milchproduktion spezialisiert, hatte sehr viel in automatisierte Melkanlagen und eine großzügige, offene Stallhaltung investiert. Aber im Sommer ließ er seine zahlreichen Milchkühe immer in die Elbwiesen hinunter zum Grasen. Das war wirtschaftlich ein grober Unfug, wie er mir erklärte, denn die Wiesen müssen elektrisch umzäunt werden, Mitarbeiter müssen die Kühe hin- und zurücktreiben und die Wiesenflächen könnten anders genutzt werden, aber, so sagte er: »Sie [die Kühe] haben das so gern.« Das ist altruistische Tierliebe! Wir werden keine objektiven Maßstäbe finden dafür, was es heißt, ein Nutztier wirklich artgerecht zu halten. Und selbst wenn es sie gäbe, was würden sie uns nützen? Vorerst genügt es doch zu wissen, dass die Tierhaltung in den zoologischen Gärten in vieler Hinsicht verbessert werden kann (und manche Tierart sollte man dort gar nicht mehr halten), aber im Vergleich dazu ist die Frage nach der »Artgerechtigkeit« in der industriellen Massenproduktion von Fleisch, Milch und Eiern doch wirklich bedrängender, von den Fragen nach der Zucht von Pelztieren oder nach der Verwendung von Tierversuchen für die Kosmetikindustrie ganz abgesehen – die müssen wir hier wohl nicht mehr diskutieren. Auf diesem Feld lohnt es sich, für Veränderungen zu kämpfen und möglichst viele Verbraucher zu gewinnen. Denn so sehr oder gerade weil der Umgang mit unseren (Nutz-)Tieren von wirtschaftlich starken Interessen bestimmt wird, entscheiden doch die Kunden im Supermarkt, ob sich z. B. Bioprodukte trotz ihres unvermeidlich höheren Preises durchsetzen werden oder nicht. Vielleicht haben auch die radikalen Forderungen der Tierrechtsbewegung dazu beigetragen, dass die Frage nach der artgerechten Tierhaltung überhaupt so sehr in das Bewusstsein vieler Menschen gerückt ist. Ich möchte diese Veränderungen mit zwei Beispielen illustrieren: der Jagd einschließlich der Angelfischerei und dem Zirkus. Wie wird eine altruistische (Tier-)Liebe möglich?

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Zirkusvorführungen mit (»wilden«) Tieren sind seltener geworden. Das Publikum findet es nicht mehr so amüsant, wenn sich Elefanten auf kleine Hocker setzen, Hunde Fußball spielen oder Löwen den Kopf des Dompteurs ins Maul nehmen, aber nicht zubeißen. Ich achte die Leistung der Dompteure sehr, die oft intensive Beziehungen zu ihren Großkatzen eingehen (bei Bären ist das sehr viel schwieriger, weil sie Einzelgänger sind), und ich kann auch nicht übersehen, dass es diesen Hunden viel Spaß zu machen scheint, in der Manege einem Fußball hinterherzujagen. Aber unter der hier entwickelten Maxime, das Tier zu lieben, wie es für sich ist, müssen wir einsehen, dass diese Verwendung der Elefanten und der Hunde im Zirkus zu weit geht. Es ist einfach nicht des Elefanten Art, auf einem Hocker zu sitzen. Ihn dazu zu bringen, ist eine Dressurleistung, die vor fünfzig Jahren noch beklatscht wurde, heute könnte sie wohl nur peinliche Gefühle wecken. Und dass Hunde Fußball spielen, ist doch nur ein vielleicht harmloses Beispiel für eine arge Vermenschlichung. Wir sollten uns eigentlich schämen. Wie sollte man dann die Verwendung der Hunde beurteilen, die eine Schafherde hüten und – z. B. in Osteuropa – auch gegen Raubtiere verteidigen? Es handelt sich in der Regel um Hunderassen, oft auch um Mischlingshunde, die erkennbar eine Veranlagung für diese Arbeit mitbringen. Sie lernen ihre Aufgaben sehr rasch und sie freuen sich offenkundig, wenn es des Morgens wieder losgeht. Sollte man in der Abrichtung dieser Hütehunde eine unzulässige Verwendung für menschliche Zwecke erkennen? Zweifellos lag es nicht in der Natur der ersten Hunde(vorläufer), die sich dem Menschen anschlossen, Tierherden zu bewachen, und diese Veranlagung ist gewiss Folge eines von menschlichem Interesse geleiteten Selektionsvorganges. Diesen rückgängig zu machen, hieße wohl, die ethische Maxime, die Tiere nicht für sich zu verwenden, zu weit zu treiben. Denn wenn ihnen ihre Aufgabe offenkundig Freude macht, warum sollte man sie ihnen dann nehmen? Rückepferde, in der Regel schwere Kaltblüter, die gefällte Holzstämme durch den Wald ziehen und dabei im Vergleich zu schweren Traktoren den Waldboden sehr viel weniger schädigen, brauchen einige Jahre, um die Techniken des Holzrückens zu erlernen. Dann 202

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aber entwickeln sie eine erstaunliche Geschicklichkeit in der Bewältigung ihrer Aufgaben. Die Halter dieser Pferde versichern, dass es ihnen »Spaß macht« und dass sie an Feiertagen ganz ungeduldig auf ihren nächsten Einsatz waren. In solchen Fällen – und man könnte viele analoge Beispiele hinzufügen – handelt es sich zweifellos um eine Indienstnahme des Tieres für den Menschen, die auch erst durch Tierzucht möglich wurde. Sollte man hier einen Verstoß gegen ein Altruismusgebot erkennen? Unsere altruistische Ethik der Mensch-Tier-Beziehung wird uns keine klaren Anweisungen geben können, wie weit die Verwendung im Einzelfall gehen darf. Es muss uns genügen, einzusehen, dass wir versuchen sollen, das Ausmaß der Verwendung, das wir heute praktizieren, schrittweise zurückzunehmen. Radikal denkende Tierschützer lieben es, eine ethische Maxime (wie die der altruistischen Tierliebe) in ihrer Extremvariante verwirklichen zu wollen. Dann allerdings müsste man bei dem hier genannten Beispiel vom Hütehund oder Rückepferd eine Rückzüchtung dieser Rassen verlangen, denn schon die Jahrtausende alte Selektion von Hunden mit Hüteeigenschaften oder von Reitpferden war ja zweifellos schon ein Eingriff des Menschen aus eigenem Interesse. Derart radikale Haltungen übersehen, dass Menschen gar nicht leben können, ohne die Umwelt – und damit auch die Tiere – für sich zu verwenden. Das tun Tiere zwar auch untereinander, aber Menschen sind darin sehr viel effektiver und den Tieren unendlich überlegen. Aber es ist Unsinn, die Menschen gleichsam wegdenken zu wollen aus der Natur; manche Parolen klingen so wie: »Wenn es die Menschen nicht gäbe, ginge es der Natur gut«. Oder noch deutlicher in dem schon zitierten Ausspruch von Ingrid Newkirk, der Präsidentin der großen Tierrechtsorganisation PETA, dass mit den Menschen ein »Pesthauch« und ein »Krebsgeschwür« über die Erde gekommen wäre. Das ist sie wieder, die Idee vom »guten« Tier und vom »bösen« Menschen. Und nun: die Jagd. Tierschützer sind sich einig in der entschiedenen Ablehnung der Jagd, und, weniger emphatisch, auch der Angelfischerei. Das ist eigentlich erstaunlich, denn Jäger könnten (z. B. mit Asche, 2012) anführen, dass sich das Wild im Unterschied zum NutzWie wird eine altruistische (Tier-)Liebe möglich?

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tier in der Fleischproduktion relativ frei bewegt, sich nach eigenen Vorlieben ernährt und fortpflanzt und kaum Bewegungseinschränkungen hinnehmen muss. Und der tödliche Schuss aus dem Jagdgewehr ist eine »humane« Methode, verglichen mit den Praktiken der Tötung in unseren Schlachthöfen, zu denen die Tiere oft auf langen Wegen unter entsetzlichen Bedingungen gebracht werden müssen. Gewiss sind Abstriche von dieser idyllischen Beschreibung der Jägerei zu machen: In vielen Gegenden wird durch Fütterung eine Überpopulation von Wildtieren erzeugt, die das ökologische Gleichgewicht des Waldes erheblich stören. Und oft genug wird das Wildtier eben nicht durch einen einzigen gut platzierten Schuss getötet, sondern nur schwer verletzt, sodass es unter Schmerzen flieht und erst noch gesucht werden muss. Aber diese berechtigten Einwände können wohl kaum die starken negativen Affekte erklären, die das Thema der Jagd bei Tierschützern hervorruft. Die Philosophin Cora Diamond (2008) vermutet, dass die Empörung gegen die Jäger dadurch ausgelöst wird, dass sie sich erlauben, Tiere ohne vernünftigen Grund zu töten. Damit verstoßen sie eklatant gegen die zentrale Forderung der Tierrechtsbewegung, dass Tieren kein Leid zugefügt und sie nicht für unsere Interessen getötet werden dürfen. Diamond berichtet, dass es offenbar »überhaupt nicht sonderbar oder merkwürdig ist, wenn der Vegetarier die Kuh isst, die sich freundlicherweise vom Blitz erschlagen ließ« (S. 319). Es ist wohl nicht das tote Tier, das nicht gegessen werden darf, sondern das vom Menschen getötete Tier. Und so stark die Tierschützer auch die ethische Verpflichtung vortragen, dem Tier dürfe kein Leid zugefügt werden, richtet sich ihr Affekt vielleicht noch stärker gegen die menschliche Aggressivität, die den Tierfreunden zuwider ist, und die bei den Jägern ganz offen und umrahmt von eigentümlichen, zuweilen auch abstoßenden Ritualen zur Schau getragen wird. Haben wir hier nicht wieder eine Spaltung vor uns, nämlich die zwischen dem guten Tier, das leidet, und dem bösen Menschen, der ihm das antut? Können Tiere denn nicht auch »böse« sein? Für die vielen Anhänger der Tierrechtsbewegung, die »pathozentrisch«, also mit Hinweis auf das Leiden der Tiere argumentieren, scheint es kein Problem zu 204

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sein, dass es für die meisten Tiere »normal« ist, getötet und gefressen zu werden. Ein Wildkaninchen wird in Gefangenschaft etwa neun Jahre alt, in der Natur nur durchschnittlich sechs Monate, bevor es gefressen wird oder an Krankheiten oder Nahrungsmangel stirbt. Es gibt nur wenige Tierarten, die nicht fürchten müssten, gefressen zu werden und die in der Regel einen Tod sterben, wie er für Menschen »natürlich« ist, nämlich an Altersschwäche oder aufgrund einer Krankheit. Tatsächlich fordert, wie schon erwähnt, eine Gruppe von Tierschützern in den USA ein »Policing Nature«, nämlich ein aktives Einwirken des Menschen auf das Verhalten der Tiere, um zu verhindern, dass sie einander Gewalt antun. Das Argument lautet: Wenn wir von uns selbst verlangen, Tieren kein Leid zuzufügen, warum sollten wir es dann unserer Katze erlauben? Man müsse, so Donaldson und Kymlicka (2013, S. 337), die eigene Katze beaufsichtigen, um andere Tiere vor ihrem Raubtierverhalten zu schützen. Auch im Hinblick auf die Ernährung unserer Heimtiere sollten wir unsere eigene vegetarische oder vegane Einstellung durchsetzen. Es könnte zwar sein, dass unsere Hunde und Katzen Fleisch vorzögen, aber da sie nun einmal einer gemischten Mensch-Tier-Gesellschaft angehörten, haben sie »kein Recht auf Nahrung, die das Töten anderer Tiere mit sich bringt« (S. 331). Einer der Autoren, die diesen Standpunkt mit Nachdruck vertreten, Tyler Cowen, argumentiert in seinem Aufsatz »Policing Nature«17 so: »The question is simple: if human beings should restrict or regulate their own behavior toward animals, why should humans not also restrict how animals treat each other? To the extent that we reject an anthropocentric world view, restrictions on human treatment of animals might imply corresponding restrictions on animal treatment of other animals. Human beings are, after all, one animal of many. So the question arises whether and when we should stop animals from killing, raping, and otherwise harming each other.«

17 www.gmu.edu/centers/publicchoice/faculty%20pages/Tyler/police.pdf (Zugriff am 06.05.2017).

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Auch auf diese Weise lässt sich der Gegensatz vom guten Tier und bösen Menschen natürlich auflösen: Böse sind alle, die anderen Schmerzen zufügen oder Gewalt anwenden. Gut wären dann die Friedliebenden (oder die, die daran gehindert werden, böse zu sein), gleichgültig, ob Mensch oder Tier. Auch für Menschen ist es seit vielen Tausend Jahren normal, Tiere zu töten um sie zu essen. Das belegen auch früheste archäologische Funde. Erst in den letzten zwei- bis dreihundert Jahren kam die Forderung auf, Tiere nicht zu quälen und nicht zu töten: Die Menschen haben begonnen, sich in die Tiere hineinzuversetzen (jedenfalls bildeten sie sich das ein) und schlossen sie so in ihr Mitgefühl ein. Diese Neigung, Mitgefühl – und oft genug auch Mitleid – mit den Tieren zu empfinden, hat sich in den letzten Jahrzehnten verstärkt. Da es sich ohnehin um subjekthafte Entwürfe handelt, für die allein wir verantwortlich sind, gibt es keine natürliche Grenze, an die unser Mitgefühl stoßen könnte: Wir leiden mit unserem Hund, wenn er offenkundig Schmerzen hat, wir empfinden Mitgefühl, wenn unsere Aquarienfische bei Sauerstoffmangel an der Wasseroberfläche nach Luft schnappen. Wir leiden schon nicht mehr mit den Fischen, die – von uns unbeobachtet – im Nordatlantik im Schleppnetz zappeln und erdrückt werden. Und vielleicht schon gar nicht mehr mit dem Regenwurm, den wir versehentlich dem Spaten zerteilt haben. Oder doch? Dann jedenfalls aber nicht mehr mit der Zecke, die auf uns herumkrabbelte und die wir unter unserem Schuh zerquetschen. Je näher uns die Tiere stehen und je ästhetischer sie uns erscheinen, umso intensiver entwickeln wir unsere Einfühlung für sie. Diese triviale Regel gilt sowohl im Hinblick auf die phylogenetische Nähe (Säugetiere stehen uns näher als Reptilien), als auch in dem Sinne, dass wir mit abnehmender Präsenz weniger Mitgefühl spüren. Im Angesicht eines leidenden Tieres können wir uns kaum unseres Mitgefühls erwehren. Filmaufnahmen etwa von Tieren in der Massentierhaltung regen unvermeidlich unser Mitgefühl an, wenn sie drastisch genug sind. Aber bloße Nachrichten über gequälte Tiere lassen uns eher kalt, weil wir uns die Mühe machen müssten, uns die Tiere »vor unserem inneren Auge« vorzustellen, und das soll und will uns nicht so einfach gelingen. 206

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Deswegen hat Precht gewiss Recht, wenn er behauptet: »Die einfachste Form, einen Menschen vom Fleischessen abzubringen, ist eine Schlachthofbesichtigung« (2016, S. 368). Zweifellos ist es das Mitgefühl mit der leidenden Kreatur, das die Tierschützer bewegt und immer mehr Menschen motiviert, sich ihren Forderungen anzuschließen. Der Anteil der Bio-Produkte am Gesamtumsatz aller Lebensmittel steigt stetig. 2015 betrug der Zuwachs gegenüber dem Vorjahr 11 %, aber der Anteil am Umsatz des Lebensmittelhandels lag nur bei 4,4 % und bei Fleisch war er noch geringer.18 Offenbar bilden die Verbraucher, die für Bio-Produkte mehr zu zahlen bereit sind, immer noch eine, wenn auch wachsende Minderheit. Die Mehrheit hat offenbar keine schwerwiegenden Bedenken, Tiere töten zu lassen (sofern sie dem Töten nicht zuschauen muss), um sie zu verzehren. Zum Schluss also die Frage: Dürfen wir unter der Maxime einer altruistischen Mensch-Tier-Beziehung Tiere töten, um sie zu essen? Zunächst: Es gibt gute Gründe, das ungeheure Ausmaß der weltweiten Fleischproduktion mit seinen überaus schädlichen Einflüssen auf die Ökosysteme und das Klima auf der Erde drastisch einzuschränken. Zuletzt haben Jonathan Safran Foer (2012) und Richard David Precht (2016) diese Schäden aufgeführt, sie sind ja auch weithin bekannt. Allein daraus sollte man die Forderung ableiten, den Fleischanteil der menschlichen Ernährung schrittweise zu verringern. Weiter: Es gibt im Sinne der altruistischen Tierethik überaus starke Gründe, die industrielle Massentierhaltung zugunsten einer artgerechteren Haltung abzuschaffen. Wir haben zwar gesehen, dass es sehr strittig sein kann, was mit »artgerecht« gemeint sein soll. Aber mit dieser Unklarheit wird doch das Ziel nicht infrage gestellt, nämlich zu versuchen, unseren Nutztieren immer mehr die Möglichkeit einzuräumen, ihre arttypischen Verhaltensweisen ausleben zu können. Denn dass diese Haltungsbedingungen trotz gewisser Fortschritte, die erzielt werden konnten (so wurde die Mindestgrößte 18 Siehe www.foodwatch.org/de/informieren/bio-lebensmittel/mehr-zum-thema/ zahlen-daten-fakten/ (Zugriff am 30.12.2016).

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der Käfige für Hühner in der EU ein wenig erhöht), immer noch keine arttypische Verhaltensweisen erlauben, kann wohl nicht ernsthaft bestritten werden. Selbstverständlich kann Fleisch und können Eier, deren Produktion in höherem Maße artgerecht ist, nicht billig sein. Aber ein Fortschritt läge schon darin, wenn dem Kunden, der Fleisch einkaufen will, eine echte, informierte Entscheidung ermöglicht würde. Wäre es daher nicht sinnvoll, dem Verbraucher, also dem Kunden im Supermarkt an der Kühltheke mit dem Fleisch kurze Videos anzubieten, die ihn in zwanzig Sekunden darüber informieren, wie die Tiere, deren Fleisch hier angeboten wird, gehalten wurden, wie weit ihr Weg zum Schlachthof war und auf welche Weise sie getötet wurden? Der Kunde könnte die Videos über einen Barcode an der Kühltheke mit dem Smartphone abrufen und dann entscheiden, ob er dieses Fleisch, das gewiss teurer sein muss als konventionell produziertes, kaufen will oder nicht. In der Medizin gibt es ja längst das Konzept des »Informed Consent«, damit ist gemeint, dass ein Patient vor der Entscheidung über eine therapeutische Maßnahme gründlich informiert werden soll. Mein Vorschlag wäre, den Konsumenten vor seiner Kaufentscheidung so ausführlich wie möglich zu informieren. Vielleicht werden die Konsumenten dann zu »Flexitariern«, die auf Fleisch nicht ganz verzichten wollen, die aber ihren Fleischkonsum einschränken und strikt darauf achten, nur Fleisch aus weitgehend artgerechter Tierhaltung zu essen. Diese beiden Ziele, die Fleischproduktion möglichst weltweit zurückzufahren einerseits und artgerechte Tierhaltung durchzusetzen andererseits bedingen einander und sind wohl auch nur gemeinsam zu verwirklichen. Aus meiner Sicht folgt aus der Maxime einer altruistischen Tierliebe nicht zwingend, dass man Tiere nicht töten darf, um sie zu essen. Allerdings verpflichtet sie uns, ihre Lebensbedingungen nicht primär auf das Ziel hin auszurichten, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Fleischmasse zu unserer Verfügung zu stellen. Gewiss könnte man auch einwenden, dass die Maxime, Tiere nicht für uns verwenden zu dürfen, auch einschließt, dass wir sie überhaupt nicht halten sollen, um sie zu essen. Aber ein Tier, dem 208

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wir für eine lange Zeit ein artgerechtes Leben ermöglichten, bevor wir es auf eine möglichst schonende Weise schlachten, hat ein gutes Leben gelebt. Seine Existenz wurde nicht geprägt von dem Zweck, für uns Fleisch zu produzieren, insofern durfte es »für sich« sein. Und wir haben es nicht weniger geachtet, nur weil wir wussten, dass es am Ende geschlachtet werden wird. Tiere haben dieses Wissen um ihr Ende nicht, ihnen fehlt der »Resonanzboden von Erinnerung und Zukunftserwartung« (Patzig, 2008, S. 263), und deswegen fällt auch nicht der Schatten des Todes auf ihr Leben. Tierschützer lehnen das Töten von Nutztieren so vehement ab, nicht weil sie verhindern wollten, dass die Tiere überhaupt sterben, sondern weil wir, die Menschen, es sind, die diesen Tod herbeiführen. Gern bezeichnen sie die Tötung eines Nutztieres als Mord, womit sie das getötete Tier einem Menschen gleichstellen. Und sie schlagen als Anhänger der Tierrechtsbewegung vor, den Tieren – allerdings nur einigen Primaten – Rechte zu verleihen analog zu den Menschenrechten, weil ihnen, wie den Menschen, eine eigene Würde (Remele, 2016) zukäme. Diese Konzepte vermenschlichen die Tiere, so als dürften sie nicht für sich sein. Ist das nicht wirklich Anthropozentrik? Die Neigung, Unterschiede zwischen Menschen und Tieren zu verleugnen, erscheint dabei keineswegs immer als Versuch, Tiere aufzuwerten, sie auf unsere Stufe zu heben. Häufig zielen die Konzepte eher umgekehrt darauf, die Sonderstellung des Menschen infrage zu stellen. Wenn Utilitaristen wie Peter Singer den Wert des Lebens eines gesunden Hundes gleich hoch (oder höher) einschätzen wie den eines demenzkranken Menschen und, wie zahlreiche Tierrechtler, dabei mit dem vergleichbaren Niveau in den kognitiven Fähigkeiten argumentieren, entziehen sie dem Menschen seine besondere Würde, die er deswegen »hat«, weil wir sie ihm in unserer Ethik zuschreiben. Ist das nicht die Rückseite einer zunehmenden Anthropozentrik, dass wir die Tiere nicht für sich sein lassen, sondern zunehmend vereinnahmen und uns selbst zugleich entwerten?

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EINE ÄSTHETISCH BEGRÜNDETE ALTRUISTISCHE MENSCH-TIER-BEZIEHUNG UND DAS KONZEPT DER ALTERITÄT Die Maxime einer altruistischen Mensch-Tier-Beziehung fordert von uns, mit Tieren um ihrer selbst willen achtsam umzugehen, und zwar gerade wegen ihrer Andersartigkeit, ihrer Unzugänglichkeit und Fremdheit. Das ist eine schwere Aufgabe, denn unsere Nähe zu den Tieren stellen wir gerade dadurch her, dass wir sie vermenschlichen, also Eigenschaften in ihnen sehen, die sie uns ähnlich erscheinen lassen, also ein Bewusstsein, eine Denkfähigkeit oder gar moralisches Urteilsvermögen. Aber wenn wir glauben, uns in sie einfühlen zu können oder Mitleid mit ihnen haben, fühlen wir doch nur das, was wir anstelle der Tiere empfinden würden. Wenn wir also darauf verzichten, die Tiere zu vermenschlichen, was könnte es dann sein, das wir am Tiere achten oder lieben sollen? Die Feststellung, dass sie »anders« oder »unzugänglich« sind, ist ja noch zu unbestimmt. Was ist gemeint, wenn der Philosoph Martin Seel (1991, 1997) für eine ästhetische Anerkennung der Natur und insbesondere der Tiere plädiert, und zwar »um ihrer selbst willen« (1997, S. 310)? Auch Seel schreibt der Natur damit einen »Eigenwert« zu und er räumt auch ein, dass hierin ein »anthropozentrisches Element« (S. 311) liege. Aber die Begründung eines ästhetischen Eigenwertes unterscheidet sich von jenen Vorstellungen vom Eigenwert der Tiere, wie sie von zahlreichen Tierrechtlern und insbesondere von Regan vorgetragen werden. Regan begründet seine Auffassung vom Eigenwert damit, dass Tiere den Menschen so ähnlich seien, denn sie »wollen und bevorzugen Dinge, glauben und fühlen Dinge«, sie erinnern sich und erwarten Dinge (1997, S. 57). Regan würde sich gegen die Behauptung verwahren, dass er mit diesen Feststellungen unbegründete anthropozentrische Zuschreibungen vornähme. Seel argumentiert nur scheinbar ähnlich: Selbstverständlich sind die Behauptungen vom Eigenwert der Tiere oder von der Schönheit oder Erhabenheit der Natur eine anthropozentrische Zuschreibung, es geht ja gar nicht anders. Denn Schönheit oder Erhabenheit »an sich« gibt es nicht, sondern nur innerhalb der ästhetischen Praxis 210

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der Menschen. Es ist immer eine Schönheit oder Erhabenheit für uns. Und unsere ästhetische Einstellung gründet in einer Sensibilität, zu der nur wir fähig sind. Das ist vielleicht eine naturgegebene Voraussetzung, die aber zugleich kulturell ausgeformt wurde und insofern in unserer Lebensform verankert ist. Die Forderung, wir sollen die Tiere achten oder lieben, weil sie »für sich«, »anders« oder »unzugänglich sind«, stellt uns vor ein Paradoxon: Obwohl unser ästhetischer Sinn und auch unser Interesse für die Natur kulturell hervorgebracht sind, richten sie sich nun gerade auf dasjenige, was nicht ein Ergebnis menschlicher Formung oder »sinnhafter Setzung« (S. 316) ist. Das ästhetische Interesse an der Natur sucht also, so schreibt Seel, gerade den Abstand zur menschlich gemachten und gedeuteten Welt. Und vielleicht lieben wir deswegen in der Natur die »ungelenkte Fülle der Erscheinungen«, weil wir uns in unserer scheinbar lückenlos aufgeklärten Welt doch nicht so recht »zu Hause« fühlen. Wir haben ja gesehen, dass sich die Menschen im hohen Mittelalter zunehmend entfernt fühlten von den Tieren und versuchten, mithilfe ihres wachsenden Einfühlungsvermögens diese Entfernung wenigstens in der Illusion zu überbrücken. Man könnte also, klänge das nicht arg kulturpessimistisch, die ästhetische Liebe zur Natur und zu den Tieren als ein Zivilisationssymptom bezeichnen, als einen Versuch des modernen Menschen, seine Entfremdung von der Natur zu kompensieren. Auch Nussbaum (2006) erkennt in den Tieren »etwas Wunderbares und Bewunderung Erzeugendes« (S. 347), über das wir staunen und das uns nahelegt, »dass es für jedes solches Wesen gut ist, als das, was es ist, fortzuleben und zu gedeihen, was wiederum nahelegt, dass es unrecht ist, dieses Gedeihen zu behindern« (S. 349). Allerdings versucht auch Nussbaum, Unterscheidungen zu treffen zwischen denjenigen Tieren, die diesen achtsamen Umgang beanspruchen können und den anderen, für die das nicht gilt. Ihr Schwellenkriterium ist die Leidens- oder Empfindungsfähigkeit, die sie zweifellos den Säugetieren zuschreiben will, vielleicht auch noch den Vögeln, aber vermutlich den Fischen schon nicht mehr. Für Wolf (2012, S. 52) ist dieses Schwellenkriterium nicht überzeugend, zumal Nussbaum Eine ästhetisch begründete altruistische Mensch-Tier-Beziehung

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zu erkennen gibt, dass auch die wahrscheinlich nicht leidensfähigen Lebewesen Anspruch auf unsere Bewunderung hätten. Die Unterscheidung zwischen leidensfähigen Tieren, die ein Recht auf achtsamen Umgang haben, und den anderen, für die das nicht zutrifft, ist doch recht willkürlich. Sie wurde schon von den Vertretern der Tierrechtsbewegung angeführt, die sich auf das Diktum von Jeremy Bentham (1789/1928) »Die Frage ist: Können sie leiden?« stützen. Sachlich lässt sich diese Unterscheidung kritisieren, die ja auf eine Gleichstellung von Menschen und (einigen!) Tieren abzielt, weil sie eine Asymmetrie von Menschen und Tieren übersieht: »Die Verletzungen« schreibt Habermas (1997, S. 97 f.), »die der Mensch dem Tier zufügen kann, berühren nicht so etwas wie eine personale Identität […]. Ein Tier empfindet seinen Schmerz nicht reflexiv wie ein Mensch, der mit dem Wissen leidet, dass er Schmerzen hat.« Tieren dieses reflexive Bewusstsein zuzuschreiben, ist eine Mystifizierung, die den Tierschützern und der Tierrechtsbewegung vermutlich dazu dienen soll, den Anspruch der Tiere auf achtsamen Umgang möglichst objektiv begründen zu können. Aber ist das wirklich notwendig? Genügt es nicht, sich auf den Standpunkt zu stellen, dass wir Tiere aus ästhetischen Gründen achten wollen, dass wir darauf verzichten könnten, sie für uns zu verwenden, sodass sie ihren Eigensinn auf ihre Weise zur Geltung bringen können? Ich vermute, dass dieses Konzept von der ästhetischen Begründung achtsamen Umganges mit den Tieren den meisten Tierschützern und Tierrechtlern zu subjektiv erscheint. Ist es nicht willkürlich oder der Beliebigkeit unserer ästhetischen Moden ausgeliefert? Nein, wir brauchen für eine derartige altruistische, ästhetisch begründete Tierliebe keine »objektiven« Kriterien, die sich auf vermeintliche Eigenschaften der Tiere stützen (weil sie Subjekte sind, Wünsche hegen, Absichten verfolgen etc.). Und wir werden nicht nach Kriterien suchen müssen, die uns anweisen, welche Tiere wie zu behandeln sind. Vielmehr müssen wir mit uns selbst ausmachen, wie wir mit den Tieren umgehen möchten – so wie wir es schon in der Diskussion um die Frage »Was ist artgerecht?« gesehen haben. Auch dort konnten wir keine Kriterien finden, die uns sicher ange212

Versuch einer altruistischen Ethik

ben könnten, wie ein artgerechter Umgang etwa mit einer Hühnerschar auszusehen hätte. Es würde doch genügen, sich vorzunehmen, die Tiere so weit wie möglich aus unserer Verwendung zu entlassen. Dabei bedeutet »So weit wie möglich«: Die Maximen eines altruistischen Umgangs mit Tieren müssen wir gegen uns selbst durchsetzen, gegen unsere wirtschaftlichen Verwertungsinteressen, aber auch gegen die Egozentrik unserer Tierliebe, wie wir sie nicht selten mit unseren Haustieren, im Zoo und im Zirkus ausleben. Tierliebe ist eben Menschensache. Wir werden auch damit umgehen müssen, dass wir nicht alle Tiere gleichartig behandeln. Wir werden diejenigen, die uns nahestehen, weil wir mit ihnen zusammenleben oder weil wir phylogenetisch enger verwandt sind, anders behandeln als ferner stehende. Und wir werden unsere Neigung kontrollieren müssen, unser Einfühlungsvermögen auch über die Tiere zu werfen, und einsehen, dass diese empathischen Entwürfe immer auch selbstbezüglich sind. Vermutlich werden viele Tierschützer diese Vorschläge zu einer ästhetisch begründeten altruistischen Tierliebe als zu offen einschätzen; tatsächlich sind sie ja nicht geeignet, konkrete Gebote oder Verbote für den Umgang mit Tieren zu begründen. Ob man Tiere töten darf, um sie zu essen, ob man Fische in Schleppnetzen fangen darf, wo sie sich gegenseitig erdrücken, und ob man Hühner halten darf, ohne ihnen die Möglichkeit zu geben, nach Futter zu scharren, im Staub zu baden und in überschaubaren Gruppen eine Rangordnung auszubilden, lässt sich so nicht sicher begründen. Das müssen wir unter uns ausmachen. Wenn wir uns darauf verständigen, Tiere immer weniger für uns zu verwenden und sie zunehmend um ihrer selbst willen zu achten und zu lieben, werden wir die Haltungsbedingungen unserer Nutztiere im Sinne eines artgerechten Umgangs weiter verbessern, Tierversuche weiter einschränken und Pelztiere z. B. gar nicht mehr züchten. Für Philosophen wie Seel, Precht und Habermas ist diese ethische Begründung eines achtsamen Umgangs mit Tieren überzeugend genug, jedenfalls triftiger als die Mitleidsmoral, der Utilitarismus oder die Berufung auf moralische Rechte der Tiere. Habermas Eine ästhetisch begründete altruistische Mensch-Tier-Beziehung

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(1997, S. 99) schreibt den ästhetischen Gründen für den verantwortungsvollen Umgang des Menschen mit Tieren und Pflanzen sogar ein besonderes Gewicht zu, denn »in der ästhetischen Erfahrung der Natur ziehen sich die Dinge gleichsam in eine unnahbare Autonomie und Unberührbarkeit zurück; sie kehren dann ihre unversehrbare Integrität so deutlich hervor, dass sie uns um ihrer selbst willen – und nicht bloß als erwünschter Bestandteil einer präferierten Lebensform – unantastbar erscheinen.« Denn die Natur und die Tiere sind für uns schön insofern, als wir mit ihnen nichts vorhaben, »außer in ihrer vielgestaltigen, vielfarbigen, vielstimmigen Gegenwart zu sein« (Seel, 1997, S. 319). Vielleicht liegt darin sogar eine Quelle der Dankbarkeit. Denn so stolz wie wir Menschen auf unsere Sonderstellung sind (»Gäbe es uns nicht, gäbe es keine Moral in der Welt«), sind wir doch angewiesen auf die Natur, denn gäbe es die Tiere nicht, gäbe es uns auch nicht. Schließlich: Man könnte die hier unterbreiteten Vorschläge zu einer altruistischen, ästhetisch begründeten Mensch-Tier-Beziehung auch als eine Variante des philosophischen Konzepts von der Alterität verstehen. Mit Alterität (lat. alter: der eine, der andere von beiden) ist gemeint, dass Menschen im anderen, z. B. in der anderen kulturellen Lebensform oder im »anderen Geschlecht« (Simone de Beauvoir), zwar einerseits das Fremde hervorheben und damit Distanz schaffen und sogar ausgrenzen und vielleicht auch verfolgen. Aber andererseits vergewissern sie sich im Blick auf die anderen doch auch über sich selbst. Das Konzept von einer Alterität in der Mensch-Tier-Beziehung geht daher über die Aufforderung, das Tier zu achten und zu lieben, wie es »für sich« und »anders« ist, hinaus. Denn die altruistische Tierliebe verzichtet zwar so weit wie möglich darauf, das Tier für sich zu verwenden, betont aber zugleich – vielleicht etwas einseitig – die Mensch-Tier-Differenz. Das Alteritätskonzept schlägt hingegen vor, in der Andersartigkeit des anderen auch sich selbst zu erkennen: »Uns« gäbe es nicht ohne den »anderen«. Insofern bedingen sich Alterität und Identität gegenseitig und sind aufeinander bezogen. Derrida sprach daher von dem »konstitutiven Außen«. Wir brauchen die anderen, um uns selbst zu konsolidieren. 214

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Wenn wir das Konzept der Alterität auf die Mensch-Tier-Bezie­ hung anwenden, suchen wir also das Gemeinsame, aufeinander Bezogene in der Verschiedenheit. Es geht konkret darum, die Tiere weder in der Tierliebe zu vermenschlichen und ihre Andersartigkeit zu verleugnen, noch sie – ganz im Gegenteil – ängstlich oder feindselig abzuweisen. Vielmehr achten wir in ihnen das Fremde, das uns einen Spiegel vorhält, z. B. so: Wir sind so stolz auf unsere Handlungsfreiheit und unser moralisches Urteilsvermögen und übersehen dabei, dass wir uns dessen doch nur gewahr wurden, indem wir uns vom »Animalischen« (auch in uns selbst) abgesetzt haben und mühevoll versuchen, das Tierische in uns zu verbergen. Und wir blicken auf die Instinktgebundenheit der Tiere herab, obgleich wir auch neidisch sein könnten angesichts ihrer Verhaltenssicherheit und ihrer Zuversicht, die keine Angst vor der Zukunft und vor dem Tod kennt.

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