Gut und (Ge)schlecht: Männlichkeit, Kultur und Kriminalität [Reprint 2012 ed.]
 9783110806526, 9783110154450

Table of contents :
Teil I. Theoriekritik
1 Kriminalität und Geschlecht
1.1 Das Alltagsverständnis von »Männlichkeit«
1.2 Bilder von »Männlichkeit« und Kriminalität
1.3 Theorieansätze und Forschung zum Thema »Männlichkeiten« im Kontext von Abweichung und Kontrolle
1.4 Der Zuschnitt dieses Buchs
2 Zum Stand der Theorie
2.1 Kriminologische Theorie: Bestandsaufnahmen
2.2 Kriminalitätstheorien und ihre Probleme
2.3 Spezielle Gesichtspunkte der Kritik: Männlichkeiten und Kriminalität
2.4 Kriminalität und Geschlecht: Frühe Theorieansätze
2.5 Die power-control Theorie
2.6 Kritik am Geschlechtsrollenmodell und an seinen Anwendungen
3 Männergewalt und Frauenbewegung
3.1 »Bewegungstheorien« über männliche Gewalt
3.2 Kritik an der »radikalen« Position
Teil II. Theoretische und methodologische Grundlagen des Kulturvergleichs: Geschlechterverhältnis, Männlichkeiten und Abweichung
4 Kriminalität als Auseinandersetzung von Männlichkeiten: Ein Erklärungsmodell
4.1 Kriminalität und Sozialstruktur
4.2 Soziales Handeln und hegemoniale Männlichkeit
4.3 Der kulturelle Bezug von Männlichkeitsentwürfen (Gilmore)
4.4 Kriminalität als Gegenüber von Männlichkeitsfunktionen
5 Arbeit, Schutz und Sexualität: Dimensionen des Kulturvergleichs
5.1 Geschlechtliche Arbeitsteilung und Ernährermännlichkeiten
5.2 Männliche Schutzmacht
5.3 Geschlechterverhältnis und Sexualität
5.4 Der Kulturvergleich von Männlichkeiten
5.5 Fremd- und Selbstbildkonstruktionen im Vergleich der westlichen und der japanischen Kultur
6 Das japanische Geschlechterverhältnis im Kulturvergleich
6.1 Widersprüche im westlichen Bild des japanischen Geschlechterverhältnisses
6.2 Quantitativer Kulturvergleich und »Männlichkeitskultur« Japans (Hofstede)
6.3 Japans »harte« und »weiche« Männlichkeiten
6.4 Körper und Geschlecht
6.5 Sexualität
Teil III. Kulturelle Determinanten von Männlichkeiten und Kriminalität
7 Vom Sträfling zum Nationalheld: Metamorphosen australischer Männlichkeiten
7.1 Bushman und mateship
7.2 Die Existenz des bushman als Freiheit in Unfreiheit
7.3 Konstruktionsmerkmale des Männlichkeitsentwurfs
7.4 Bushman/-ranger, digger: Spielarten der Aussie-Männlichkeit
7.5 Klassen-/Rassenbeziehungen und Geschlechterverhältnis
8 Die Sichtbarkeit sexueller Gewalt in Australien: Die frontier society im Wandel
8.1 Vergewaltigung als Untersuchungsgegenstand
8.2 Determinanten der Geschlechterverhältnisse in den Vergleichsländern
8.3 Vergewaltigung und interpersonelle Gewaltkriminalität: Offizielle Daten, Opferbefragungen und Medienberichterstattung in Australien, Japan und Deutschland
8.4 Geläufige geschlechtsneutrale Annahmen über die Gründe für Kriminalitätsunterschiede
8.5 Geschlechterverhältnisse und Sichtbarkeit sexueller Gewalt
9 Vom samurai zum salariiman: Tugendhafte Männlichkeiten in Japan
9.1 Abgeschlossenheit und Öffnung
9.2 Die samurai
9.3 Die samurai und die Modernisierung: Der Weg des Toda-san
9.4 Business samurai: Die salariiman Kultur
9.5 Lern-, Schul- und Zeitdisziplin und der Zugang zum salariiman (»Firmenkrieger«)-Status
9.6 Der Tod des Firmenkriegers als Symbol des Wandels
10 Japans männlich dominierte Kriminalitätsprobleme
10.1 Exkurs: Makrodimensionen männlich dominierter Kriminalität im Pazifischen Krieg
10.2 Straßen- und Gewaltkriminalität in der japanischen Gegenwartskultur
10.3 Die Schattenseite
11 Kriminalität als Bewerkstelligung von Geschlecht
Literatur

Citation preview

Materiale Soziologie TB 7 Gut und (Ge)schlecht

Materiale Soziologie TB 7

Materiale Soziologie stellt Arbeiten vor, in denen konkrete kulturelle Lebensformen dokumentiert und analysiert werden. Soziologie ist hier Wirklichkeitswissenschaft: der untersuchte Einzelfall kommt selbst zur Sprache. Beschreibung, Deutung und Theorie müssen sich am Material bewähren, an der soziologischen Rekonstruktion von Milieus, Stilen, kommunikativen Mustern, Handlungsfiguren und Sinnkonstruktionen des gesellschaftlichen Lebens. Materiale Soziologie vereinigt Perspektiven von Wissens-, Kultur- und Sprachsoziologie einerseits, Kulturanthropologie und Ethnologie andererseits. Die Autoren stützen sich auf Verfahren der Ethnographie, der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik und der Gattungsanalyse: kontrollierte Rekonstruktion tritt an die Stelle sonst üblicher Konstruktion und Spekulation. Herausgeber Prof. Dr. Jörg R. Bergmann, Gießen Prof. Dr. Hans-Georg Soeffner, Konstanz Prof. Dr. Thomas Luckmann, Konstanz

Joachim Kersten

Gut und (Ge)schlecht Männlichkeit, Kultur und Kriminalität

w G DE

Walter de Gruyter Berlin · New York 1997

Prof. Dr. Joachim Kersten, Hochschule für Polizei, FB Gesellschaftswissenschaften, Fachhochschule Villingen-Schwenningen

Das Buch enthält 2 Abbildungen.

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

Die Deutsche Bibliothek



CIP-Einheitsaufnahme

Kersten, Joachim: Gut und (Ge)schlecht : Männlichkeit, Kultur und Kriminalität / Joachim Kersten. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1997 (Materiale Soziologie : TB ; 7) ISBN 3-11-015445-5

© Copyright 1997 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin - Buchbinderische Verarbeitung: Mikolai GmbH, Berlin. — Einbandentwurf: Johannes Rother, Berlin.

Danksagung

Diese Arbeit ist das Ergebnis von Forschung, die gleichermaßen durch Forschungsmittel und durch den Austausch mit Partnern aus anderen Ländern unterstützt wurde. Gefördert wurden die Arbeiten in Australien durch den Deutschen Akademischen Austauschdienst. Danken möchte ich Frau Laube, Frau Reichling und Herrn Dr. Schmidt fur die gute Betreuung. Die Forschung in Japan wurde ermöglicht durch ein Fellowship der Tageszeitung Asahi Shimbun. Frau Nagahama, Herr Ono und Herr Tomioka haben mir über den Rahmen der ohnehin guten Betreuung durch das Asahi Fellowship Office hinaus Hilfestellungen gegeben und Kontakte ermöglicht. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft hat die Forschung von 1992 bis 1994 durch ein Habilitandenstipendium gefördert. Während der fünf Jahre an der Melbourne University und der eineinhalb Jahre in Tokyo habe ich viel Hilfe und Unterstützung erfahren. Ein Dankeschön geht an Steve James, Sandra Cook, Ken Polk, Christine Aider, Hein Hesse, Tim Mehigan, Christine Howlett, Angela Savage, an die Studentinnen und Studenten des »Gang«-Projekts und besonders an Julian Golby, Nachbarin, Freundin und Vize-Chef der Forschungs-»Gang«. An der Rikkyo Universität in Tokyo danke ich Nobuyoshi Araki, Umihiko lino und den Studenten des Kriminologie-Seminars, die mich bei den Besuchen in den Institutionen begleitet haben. Besonderer Dank gilt Minoru Yokoyama, Kazuko Tanaka, Koichi Miyazawa, Haruo Nishimura und Setsuo Miyazawa. Don Gibbons, Jim Messerschmidt, Bob Connell und John Braithwaite haben mir wichtige Anregungen gegeben und sich mit früheren Entwürfen der Arbeit kritisch auseinandergesetzt. Claudia Fromm, Heinz Steinert, Thomas Feltes, Monika Frommel, Karl Schumann und Hans-Georg Soeffner haben mir durch ihre Kritik und Hinweise geholfen. Ich danke auch Gisela Trommsdorff, drei anonymen Gutachtern und Jürgen und Hannelore Römpke für ihre Gastfreundschaft. Frau Gaul, Herr Wessolowski und Herr Junkermann haben technische Hilfestellungen gegeben. Nichtsdestoweniger bin ich selbst für alle verbliebenen Fehler in dieser Arbeit allein verantwortlich.

Konstanz, im März 1997

Joachim Kersten

Inhalt

Teil I Theoriekritik 1

Kriminalität und Geschlecht 1.1 Das Alltagsverständnis von »Männlichkeit« 1.2 Bilder von »Männlichkeit« und Kriminalität 1.3 Theorieansätze und Forschung zum Thema »Männlichkeiten« im Kontext von Abweichung und Kontrolle 1.4 Der Zuschnitt dieses Buchs

2

Zum 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6

Stand der Theorie Kriminologische Theorie: Bestandsaufnahmen Kriminalitätstheorien und ihre Probleme Spezielle Gesichtspunkte der Kritik: Männlichkeiten und Kriminalität . . . Kriminalität und Geschlecht: Frühe Theorieansätze Die power-control Theorie Kritik am Geschlechtsrollenmodell und an seinen Anwendungen

3

Männergewalt und Frauenbewegung 3.1 »Bewegungstheorien« über männliche Gewalt 3.2 Kritik an der »radikalen« Position

3 5 6 7 9 13 13 17 21 23 25 26 35 36 41

Teil II Theoretische und methodologische Grundlagen des Kulturvergleichs: Geschlechterverhältnis, Männlichkeiten und Abweichung 4

Kriminalität als Auseinandersetzung von Männlichkeiten: Ein Erklärungsmodell 4.1 Kriminalität und Sozialstruktur 4.2 Soziales Handeln und hegemoniale Männlichkeit 4.3 Der kulturelle Bezug von Männlichkeitsentwürfen (Gilmore) 4.4 Kriminalität als Gegenüber von Männlichkeitsfunktionen

47 47 48 49 52

VIII 5

6

Arbeit, Schutz und Sexualität: Dimensionen des Kulturvergleichs 5.1 Geschlechtliche Arbeitsteilung und Ernährermännlichkeiten 5.2 Männliche Schutzmacht 5.3 Geschlechterverhältnis und Sexualität 5.4 Der Kulturvergleich von Männlichkeiten 5.5 Fremd- und Selbstbildkonstruktionen im Vergleich der westlichen und der japanischen Kultur Das japanische Geschlechterverhältnis im Kulturvergleich 6.1 Widersprüche im westlichen Bild des japanischen Geschlechterverhältnisses 6.2 Quantitativer Kulturvergleich und »Männlichkeitskultur« Japans (Hofstede) 6.2.1 Familie, Erziehung und maternelle Prägung der Alltagskultur . . . . 6.2.2 Schule und Freitod 6.2.3 Arbeitswelt und Tod durch Überarbeitung (karoshi) 6.2.4 Japans ranking in Hofstedes Geschlechterdualismus 6.3 Japans »harte« und »weiche« Männlichkeiten. 6.4 Körper und Geschlecht 6.5 Sexualität 6.5.1 Dating und Schule 6.5.2 Sexualitätsauffassung in Japan

Inhalt

57 57 62 63 66 67 73 73 74 76 78 79 80 82 85 86 87 88

Teil III Kulturelle Determinanten von Männlichkeiten und Kriminalität 7

8

Vom Sträfling zum Nationalheld: Metamorphosen australischer Männlichkeiten 7.1 Bushman und mates hip 7.2 Die Existenz des bushman als Freiheit in Unfreiheit 7.3 Konstruktionsmerkmale des Männlichkeitsentwurfs 7.4 Bushman/-ranger, digger: Spielarten der ^ussje-Männlichkeit 7.5 Klassen-/Rassenbeziehungen und Geschlechterverhältnis Die Sichtbarkeit sexueller Gewalt in Australien: Die frontier society im Wandel 8.1 Vergewaltigung als Untersuchungsgegenstand 8.1.1 Zur Kontrolle von Männlichkeiten im Kontext sexueller Gewalt.. 8.1.2 Variabilität in Erscheinungsformen männlich dominierter sexueller Gewalt 8.1.3 Tätermerkmale und gemeldete Vergewaltigung 8.1.4 Sexuelle Gewalt als Konstrukt der Medien und der Populärkultur.

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123 123 125 125 127 128

Inhalt 8.2 Determinanten der Geschlechterverhältnisse in den Vergleichsländem . . . 8.2.1 Ungleichheit der Geschlechter 8.2.2 Sexismus und Pornografie 8.3 Vergewaltigung und interpersonelle Gewaltkriminalität: Offizielle Daten, Opferbefragungen und Medienberichterstattung in Australien, Japan und Deutschland 8.3.1 Offizielle Daten 8.3.2 Opferdaten 8.3.3 Medienberichterstattung 8.3.4 Dunkel- und Hellfeld der australischen Vergewaltigungskriminalität 8.4 Geläufige geschlechtsneutrale Annahmen über die Gründe für Kriminalitätsunterschiede 8.4.1 Grad der Urbanisierung und warmes Klima als Kriminalitätsursache 8.4.2 Homogenität der Kultur; Anteil Nicht-Einheimischer in der Wohnbevölkerung als Kriminalitätsfaktor 8.4.3 Strukturen formeller und informeller Kontrolle 8.5 Geschlechterverhältnisse und Sichtbarkeit sexueller Gewalt 8.5.1 Kontinuität der Bezugspunkte von Männlichkeit in der frontier society 8.5.2 Sozialer Wandel, frontier Männlichkeiten und die Sichtbarkeit von Kriminalität 8.5.3 Sexual danger und hegemoniale Männlichkeit 9

Vom samurai zum salariiman: Tugendhafte Männlichkeiten in Japan 9.1 Abgeschlossenheit und Öffnung 9.2 Die samurai 9.3 Die samurai und die Modernisierung: Der Weg des Toda-san 9.4 Business samurai·. Die salariiman Kultur 9.5 Lern-, Schul- und Zeitdisziplin und der Zugang zum salariiman (»Firmenkrieger«)-Status 9.5.1 Zeitdisziplin und Gleichaltrigenprinzip 9.5.2 Zeit und Geld in der Welt der Firmenkrieger 9.6 Der Tod des Firmenkriegers als Symbol des Wandels

10 Japans männlich dominierte Kriminalitätsprobleme 10.1 Exkurs: Makrodimensionen männlich dominierter Kriminalität im Pazifischen Krieg 10.1.1 »Greueltaten« 10.1.2 »Trostfrauen« 10.2 Straßen- und Gewaltkriminalität in der japanischen Gegenwartskultur . . . 10.2.1 Die geringe »Normalkriminalität« 10.2.2 Die geringere Sichtbarkeit von Gewalt gegen Frauen 10.2.3 Kriminalitätskontrolle durch Polizei

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130 131 132 133 136 137 137 138 139 140 141 143 145

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X

Inhalt

10.3 Die Schattenseite 10.3.1 Jugendliche und Heranwachsende 10.3.2 yakuza 10.4 Das Anti-yakuza Gesetz: Das Ende von Japans Unterwelt?

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11 Kriminalität als Bewerkstelligung von Geschlecht

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Literatur

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Teil I Theoriekritik

1 Kriminalität und Geschlecht

Kriminalitäts- und Viktimisierungsdaten weisen in allen Industrieländern eine stärkere Sichtbarkeit von Vertretern des männlichen Geschlechts auf. Dies ist bisher nur unzureichend in der Theoriebildung berücksichtigt worden. In diesem Band wird die Kriminalisierung von Angehörigen des männlichen Geschlechts und auch die ihr entsprechende Kontrolle von Männern durch Männer als Auseinandersetzung zwischen Männlichkeiten in genauer zu beschreibenden sozialen und kulturellen Dimensionen aufgegriffen. Geschlecht, Kriminalität und ihre Kontrolle können dabei nicht in der Tradition einer »männlichen Geschlechtsrolle« oder der »männlichen Sozialisation« aufgefaßt werden. Ein eindimensionales Verständnis von Geschlecht verstellt den Blick auf die vielfaltigen, nicht selten widersprüchlichen Formen, mit denen durch Kriminalität und Kriminalitätskontrolle geschlechtsbetonte Entwürfe von sozialem Handeln hergestellt werden. Die vorliegende Untersuchung vergleicht im Hinblick auf Kriminalität und Kontrolle unterschiedliche kulturelle Traditionen des accomplishing gender. Verstanden wird darunter eine situations- und kontextbezogene Vielfalt von Interaktionen, in denen Individuen und Gruppen jeweils Männlichkeit und Weiblichkeit, auch durch Kriminalität, »bewerkstelligen«. Die gewohnte Sicht begreift Kriminalität häufig als Folge einer monolithisch aufgefaßten Unterschichts- oder Hyper-Männlichkeit. Im Gegensatz dazu versucht der hier vorgenommene Kulturvergleich unterschiedliche Formen männlich dominierter Abweichung und Kontrolle als sozial und historisch eingebettete Bewerkstelligungen von Geschlechtszugehörigkeit und die mit Kriminalität und Kontrolle verknüpften Praktiken als state of play (Connell 1987, 1995) zwischen Männlichkeiten zu verstehen. In der Kriminologie und Kriminalsoziologie verwendet man, sofern der (eigentlich schwer zu übersehende) Zusammenhang zwischen Geschlecht und Abweichung zum Gegenstand wird, vorwiegend das Modell der Geschlechtsrolle. Man geht davon aus, daß der »allgemeine« Unterschied zwischen den Geschlechtern, konstruiert als eine zeit- und kulturübergreifende Konstellation, in mehr oder minder statischer Ausprägung auf Kriminalität durchschlägt und somit für die Erklärung der Unterschiede im Kriminalitätsaufkommen von Männern und Frauen verwendet werden kann. Das Geschlechtsrollenmodell operiert dabei an der Oberfläche mit einem sozialen Begriff von Geschlecht. In der Dichotomie von sozialen Eigenschaften bei jedem der beiden als polar gesetzten Geschlechter finden sich essentialistische Vorannahmen über Unterschiede zwischen Männern und Frauen. So wird in einer ursprünglich soziologisch intendierten Sicht der Geschlechterdifferenz das »biologistische Erbe« offensichtlich.

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Kriminalität und Geschlecht

Die soziologische Kritik an Theorien, die auf dem Geschlechtsrollenmodell beruhen, läßt sich folgendermaßen zusammenfassen: • Der biologische Reduktionismus an der Wurzel des Geschlechtsrollenmodells bewirkt eine stereotype Grundannahme über die Konstitution des männlichen und weiblichen Geschlechts. Dies fuhrt letztlich dazu, daß die Interpretation der erhobenen Daten nur in Mustern geschehen kann, die wiederum mit dieser Grundannahme übereinstimmen. • Männliches und weibliches Geschlecht werden in der dichotomischen Logik des Geschlechtsrollenmodells als sich ausschließende Pole, als Gegenüber gesetzt. Dadurch werden soziale und kulturelle Determinanten in der situativen, kontextbezogenen »Bewerkstelligung« von Geschlechtszugehörigkeit ausgeblendet. Es wird nicht berücksichtigt, daß unterschiedliche Männlichkeiten und Weiblichkeiten jeweils unterschiedlich dargestellt werden können, und daß dies zusätzlich unabhängig von der organischen Ausstattung erfolgen kann. Dritte und vierte Optionen von Geschlecht, die in anderen Kulturen sichtbar werden, kann das Geschlechtsrollenmodell grundsätzlich nicht einbeziehen. • Bezogen auf den engeren Gegenstand der Kriminologie und Soziologie abweichenden Verhaltens fuhrt die Annahme von feststehenden Geschlechterrollen zu einer problematischen Sicht von zwischenmenschlichen Konfrontationen. Aggression wird dabei stets nur dem männlichen Geschlecht zugeordnet oder als untypisches weibliches Rollenverhalten kategorisiert; soziale und situative Determinanten von Konfrontation als öffentlicher Darstellung und Bewerkstelligung von sozialem Geschlecht werden nicht berücksichtigt (vgl. Edwards 1983; Connell 1987, 1995; Jefferson 1994; Messerschmidt 1993, 1994; Campbell 1995) Der Glaube an einen »natürlichen« Unterschied zwischen den Geschlechtem 1 ist Folge einer kulturell bedingten und zudem vorwiegend eurozentrischen Sichtweise (vgl. auch Kappel 1995) und verstellt den Blick auf Interaktionen und Prozesse in den Alltagsbeziehungen der Menschen. In der deutschsprachigen Kriminologie haben die hauptsächlich verwendeten theoretischen Ansätze bisher weitgehend die Ausprägungen von Kriminalität und Kontrolle vor dem Hintergrund sozial und kulturell geprägter Geschlechterverhältnisse »übersehen«, besonders was die Bedeutung des männlichen Geschlechts betrifft. Eine kürzlich erschienene Sammlung von Beiträgen zum Thema Geschlechterverhältnis und Kriminologie verweist auf die Neigung zu reduktionistischen und essentialistischen 2 Kurzschlüssen in der deutschsprachigen Diskussion (Althoff und Kappel 1995). Messerschmidts Feststellung über die englischsprachige Kriminologie trifft so in ihrem Kern noch stärker auf den Zustand der hiesigen Auseinandersetzung zu: ...(Although traditionally written by men and primarily about men and boys, major theoretical works in criminology are alarmingly gender-blind. That is, while men and boys have been seen as the »normal subjects,« the gendered content of their legitimate and illegitimate behavior has been virtually ignored (1993: 1).

Das Alltagsverständnis von »Männlichkeit«

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1.1 Das Alltagsverständnis von »Männlichkeit« Das vorliegende Buch betrachtet die geschlechtsspezifische Qualität von Abweichung und Kontrolle in einem kulturvergleichenden Ansatz. Es wird die Frage verfolgt, ob ein kulturell unterschiedliches Aufkommen männlich dominierter Abweichung und ein unterschiedlicher Stellenwert der öffentlichen Besorgnis über die Gewalttätigkeit von »gefahrlichen Männern« im Rahmen von Ansätzen der Soziologie der Geschlechterverhältnisse interpretiert werden können. Dabei werden Strukturen der Geschlechterverhältnisse von kriminalitätsbelasteten Gesellschaften mit denen von kriminalitätsannen verglichen. Die Befunde kulturvergleichender Forschung zum Geschlechterverhältnis widerlegen zunächst einmal die Vermutung, daß »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« jeweils als Folge natürlicher, kulturunabhängiger Prozesse angesehen werden müssen. Ethnographische Studien über männliche und weibliche Jugendliche in Straßengangs (Campbell, A. 1995; Messerschmidt 1996) verweisen darauf, daß auch im Zusammenhang von Kriminalität und Geschlecht vielfaltige Männlichkeits- und Weiblichkeitsentwürfe realisiert werden. Eine sozialwissenschaftliche Beschreibung des Zusammenhangs von Geschlecht, Abweichung und Kontrolle kann nicht von einer »selbstverständlichen« Kausalität zwischen einer (monolithisch verstandenen) »Männlichkeit« und Kriminalität ausgehen. Verschiedene Orientierungen an »Männlichkeit« entwickeln sich innerhalb der sozialen und kulturellen Determinanten eines gegebenen Geschlechterverhältnisses (Connell 1995: 71). Insofern ist auch ein von solchen Determinanten unabhängiges Potential von »Männergewalt« kaum vorstellbar. Wird das männliche Geschlecht mehr oder minder direkt mit »potentieller Täterschaft« gleichgesetzt, wie dies zunächst Susan Brownmiller (1975) mit dem Satz »All men are rapists« tat und wie es nun die Studie von Heiliger und Engelfried (1995; kritisch Karstedt 1996) erneut zu belegen sucht, so gerät letztlich die biologische Geschlechtszugehörigkeit und nicht die im sozialen Kontext bewerkstelligte Geschlechtszugehörigkeit zum bestimmenden Faktor. Ein Standpunkt außerhalb der zur Routine gewordenen Anwendung von Alltagswissen über das, was »männlich« ist und »weiblich« zu sein hat, ist der erste notwendige Schritt zur theoretischen Erfassung des Zusammenhangs Geschlecht und Abweichung/Kontrolle. Dieser Schritt fuhrt zunächst zwangsläufig zu dem von Connell postulierten Außenblick auf kriminologische Theorie: »a conceptual standpoint outside criminology« (im Vorwort zu Messerschmidt 1993: VIII). Der Kriminologie als Wissenschaft 3 wird von Vertreterinnen einer feministisch orientierten Kriminologie nicht grundlos vorgeworfen, daß sie Einsichten über die geschlechtsspezifische Ausprägung von Kriminalität mit erheblichem Widerstand begegne. Dieser sei sogar mit dem der mittelalterlichen Kirchenfursten gegenüber Galilei vergleichbar (Heidensohn 1989). Was die Thematik der eigenen Arbeit betrifft, haben jedoch auch einige feministische Ansätze die im sog. malestream »übersehene« geschlechtsspezifische Qualität des Forschungsgegenstands nicht befriedigend aufgegriffen. Auch in neueren Beiträgen befaßt sich die feministische Perspektive, wenn nicht mit dem Opferstatus des weiblichen Geschlechts, dann doch nahezu ausschließlich mit der Kriminalität von Frauen (Lamott 1995; vgl. auch die entsprechenden Beiträge in Althoff und Kappel 1995). Im gesell-

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Kriminalität und Geschlecht

schaftlichen Umgang mit Frauenkriminalität würden »Bilder, Symbole und Deutungsmuster vermittelt..die auf symbolischer Ebene eine geschlechtsspezifische Konstruktion von >Normalität< (re-)produzieren« (Gransee und Stammermann 1992:12). Für die vorliegende Untersuchung ist die Frage erkenntnisleitend, ob in der männlich dominierten Kriminalität auf symbolischer Ebene nicht eine vergleichbare Konstruktion von bestimmter Männlichkeit als Normalität produziert wird. Dies ist eine fur den kriminologischen Kontext nicht unerhebliche Frage, denn Kriminalität und ihre Kontrolle durch Rechtsprechung, Staat, Justiz, Polizei und Formen informeller Kontrolle ist überwiegend ein Handlungsfeld von Angehörigen des männlichen Geschlechts. Ansonsten ist der feministischen Kritik am kriminologischen Theoriebildungsprozeß uneingeschränkt zuzustimmen: Theorie konstruiert Kriminalität vorwiegend als geschlechtslos. Ein in Abweichung und Kontrolle durch Angehörige eines Geschlechts deutlich dominiertes Phänomen sozialen Handelns wird ohne eine Analyse dieses spezifischen Merkmals als geschlechtsneutrale Norm gesetzt. Das ist die allgemeine Schieflage, an der die vorliegende Arbeit zunächst im Rahmen eines theoriekritischen Untersuchungsteils ansetzt.

1.2 Bilder von »Männlichkeit« und Kriminalität Die traditionelle Wahrnehmung der geschlechtsspezifischen Qualität von Abweichung als quasi »normalem« Bestandteil von Kriminalität beruht auch auf Folgendem: Bei nahezu allem, was in unseren Kulturen als Kriminalität und ihre Kontrolle aufgefaßt wird, erscheinen Täter und Beschützer als kulturell tief verwurzelte Bilder von bösen und guten Männern. Der Kampf gegen das Böse ist im Alltagsverständnis mit Vorstellungen von männlichen Beschützern verbunden. Deutlich ist dies gleichermaßen in Mythen, Märchen, Geschichten, in den Gestalten von Film und Fernsehen sowie im Spielzeug, das uns vom Kindesalter an bis hin zum Computerspiel fur Erwachsene umgibt. In der geläufigen Auffassung verbindet sich mit der Vorstellung von Frau und Kind nahezu zwangsläufig die der Unschuld, der Wehrlosigkeit und des potentiellen Opferstatus. Kriminalität ist im allgemeinen Verständnis die Handlung des männlichen Bösewichts, schlimmer noch, einer Bande von Bösewichtern. Der Kampf gegen solche Gefahren ist nahezu naturgegeben Domäne männlichen Handelns. Solches Handeln steckt ein Terrain ab, in denen Bilder maskuliner Gestalten von Superman und Batman bis zu Dirty Harry und Schimanski zuhause sind. Mit ihnen verbinden sich weithin geteilte Vorstellungen von männlicher Beschützerfunktion, speziell durch Gewaltausübung gegen »die Bösen« und von entsprechenden Attributen attraktiver männlicher »Identität«. Und so ragt in die Interpretationen von Daten aus der Kriminalstatistik, aus Aktenanalysen oder aus ethnographischen Einblicken in Institutionen oder Lebenswelten nicht selten das Alltagsverständnis mit seinen archetypischen Schreck- und Heldengestalten. Untersuchungen zur Furcht vor Kriminalität, speziell vor gewaltsamen Angriffen, fördern bei den Befragten ein stereotypes Konstrukt von »gefahrlicher Männlichkeit« zutage. Diesem Entwurf entspricht im Alltagsverständnis ein ebenso stereotypes Bild von Kriminalität als der des fremden, bösartigen, männlichen Individuums bzw. der Gruppe ge-

Theorieansätze und Forschung zum Thema »Männlichkeiten«

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fahrlicher junger Männer, die morden, foltern, Kinder und Frauen rauben und vergewaltigen. Mit solchen Konstrukten positiv und negativ bewerteter Männlichkeiten im Kontext von Kriminalität und Kontrolle befaßt sich ausfuhrlicher ein der Theoriekritik folgender zweiter Teil der Arbeit. Die öffentliche und kriminalpolitische Diskussion über«das Kriminalitätsproblem« einer Gesellschaft enthält geschlechtsspezifische Entwürfe von Tätern, Opfern, Verantwortlichen und Beschützern. Der Kulturvergleich muß deshalb auch die in Gestalten von Männlichkeit »geronnenen« historischen und politischen Dimensionen aufsuchen. Beschrieben wird dies in der vorliegenden Untersuchung an Entwürfen derfrontier society im australischen outback. Den Kontrast dazu bildet die vielschichtige Gestalt der japanischen Tradition: Der samurai.

1.3 Theorieansätze und Forschung zum Thema »Männlichkeiten« im Kontext von Abweichung und Kontrolle Ansätze zur Überwindung der begrifflichen Beliebigkeit bei der sozialwissenschaftlichen Behandlung des Themas Geschlecht und Abweichung/Kontrolle finden sich in der englischsprachigen Soziologie seit Beginn der 80er Jahre in der Kritik am Konzept der Geschlechtsrollen (Edwards 1983) und in den theoretischen Vorarbeiten von R.W. Connell, einem Soziologen australischer Herkunft (1987; 1990; 1994; 1995a). In neueren Arbeiten zum Mord (Polk 1994), zu geschlechtsuntypischen Berufen (Williams 1989), zum Thema Abweichung (Newbum und Stanko 1994; Rafter und Heidensohn 1995) und Medien (Craig 1992) wird sich auf die Vorarbeiten von R. W. Connell, insbesondere sein Konzept »hegemonic masculinity« bezogen. Dieser Ansatz stellt eine Erweiterung der Arbeiten von Gramsci und Althusser dar. Connell faßt zusätzlich zu anderen Faktoren der Sozialstruktur (Klasse/Ethnie), in denen »Grenzlinien zwischen Herrschaftsanwendung und Herrschaftsunterworfenheit« (Fritz Sack) verlaufen, das Machtverhältnis zwischen den Geschlechtern als prägenden Machtfaktor auf. Dieser Ansatz schließt sich im zweiten Teil der Arbeit an die Theoriekritik an, in dem auch das Begriffsinstrumentarium festgelegt und im Rahmen eines kulturanthropologischen Modells auf Kriminalität und ihre Kontrolle hin spezifiziert wird. Auch wenn der Ausdruck »Männlichkeiten« zunächst befremdlich wirken mag, wird in diesem Text der neueren Praxis gefolgt, die den Plural masculinities fur die Analyse von Geschlechterverhältnissen verwendet (vgl. auch Badinter 1993). Die unbedachte Verwendung des Singular-Begriffs »Männlichkeit« für das Universum aller Eigenschaften, Verhaltensweisen, Orientierungen etc., die mit den Angehörigen des entsprechenden Geschlechts zu tun haben, ist für eine Analyse von Geschlechterverhältnissen dysfunktional. Es wird Kohärenz unterstellt, wo sich in Wirklichkeit durchaus widersprüchliche kulturelle Praktiken, Bedeutungsgehalte und Orientierungen feststellen lassen. Auch in ein und demselben Vertreter des Geschlechts, sicherlich aber in unterschiedlichen Gruppierungen von Männern lassen sich Potentiale von Abweichung und Konformität beschreiben. Die Vorstellung von der (latent negativ bewerteten) Männlichkeit oder der männlichen Rolle

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Kriminalität und Geschlecht

als fixiertem Zustand verstellt den Blick auf situative, kontextbezogen variierende und konkurrierende Aspekte gerade im von Männlichkeiten dominierten Kontext von Abweichung und Kontrolle. Die Bewerkstelligung von bestimmten Entwürfen, z.B.: einer Männlichkeit der »Beschützer der Gemeinschaft« bei Straßengangs ist kriminogen und risikobelastet. Tritt die Beschreibung aber aus dem Alltagsverständnis und seinen inhärenten Bewertungen heraus, so zeigen sich nicht selten auf beiden Seiten, der abweichenden und der kontrollierenden, ähnliche Orientierungen an Entwürfen einer bestimmten Männlichkeit. Neuere Arbeiten zur innerhäuslichen Gewalt (Dobash, Dobash et al. 1993; Daly und Wilson 1988), beispielsweise zum uxoricide (Tötung der Partnerin) sowie zum physischen und sexuellen Mißbrauch zeigen, daß auf Seiten der beteiligten Männer Gewaltausübung als Form des berechtigten Kampfes aufgefaßt wird. Es handelt sich um den Versuch, über Kontrolle und Dominanz auf einen Kontext (wie Familie, Beziehung) und auf eine Situation (wie Gesichtsverlust, Eifersucht) bezogen, einen Entwurf von Männlichkeit herzustellen (Polk 1994). Gewaltaffine Darstellungen von männlicher Geschlechtszugehörigkeit haben auch im Selbstverständnis von losen oder fester strukturierten Kollektiven junger Männer in westlichen Industrienationen, aber auch in Japan, offensichtliche Bedeutung. Als europäisches Beispiel können die hooligans dienen. Sie suchen Prügeleien mit ihresgleichen und Auseinandersetzungen mit dem »Kampfsportgegner« Polizei (Buford 1992). Das Erlebnis von Gefahr, begleitet und stimuliert vom exzessiven Alkohol- und Drogenrausch, läßt die Ausübung von Gewalt gegen Stärkere und Unterlegene, aber auch das Erleiden von Gewalt zum »euphorischen Fest« werden. Durch gemeinsame Gewalttätigkeit stellt sich das Gefühl der Gemeinschaft überhaupt erst ein4. Erb verwendet in seiner ethnographischen Studie über deutsche Jugendgruppierungen im Umfeld von Berlin ( 1994,1995) den Ausdruck »euphorisches Fest«. Damit bezeichnet er Gewaltformen, in denen vorwiegend männliche Jugendliche in Gruppierungen der rechten und der Straßencliquen-Szene den Angriff auf Mitglieder anderer Gruppen, auf ausländische Mitbürger, Behinderte, Obdachlose oder auch auf Frauen suchen. Dies wird als Form des legitimen Kampfes und somit als sinnvoll für die Gemeinschaft aufgefaßt. Ähnliche Orientierungen fanden Karazman-Morawetz und Steinert (1993) in ihrer Untersuchung bei Jugendlichen in Wiener Cliquen. Analog dazu schildert Messerschmidt die wilding Vergewaltigung einer weißen Joggerin im New Yorker Central Park als high spirited celebration von jungen Afroamerikanern (1993: 114-117). In anderen Teilen seiner Studie interpretiert er den Diebstahl am Arbeitsplatz (shop floor theft) als Inszenierung einer »partikularen hegemonialen Männlichkeit« (1993: 126ff). Ohne explizite geschlechtstheoretische Zielrichtung befaßt sich Jack Katz (1988) mit dem Straßenraub in den verarmten Innenstadtgebieten amerikanischer Städte. Er schildert die sinnstiftende Wirkung der gewaltsamen Bedrohung, Unterwerfung und Mißhandlung von situativ Unterlegenen. Diese sind meistens Angehörige der eigenen unterdrückten Minderheit und nur durch Nichtzugehörigkeit zur entsprechenden gang oder zum turf als »andere« gekennzeichnet. Kompetenz im Raub und in der Erniedrigung und »Entmännlichung« der Opfer werden als Darstellung der »richtigen«

Der Zuschnitt dieses Buches

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Männlichkeit des badass verstanden. Man muß unbarmherzig gegenüber dem Opfer sein, um als »guter Typ« anzukommen (vgl. auch Campbell, A. 1995: 136ff und 176ff). Ganz ähnlich gelagerte Orientierungen lassen sich bei marginalisierten männlichen Gefangenen in ethnographischen Studien des Gefängnisses (Bowker 1980; Lockwood 1980), aber auch in Einrichtungen für delinquente Jugendliche nachweisen (Kersten 1990). Beatrix Campbell (1993) fuhrt in ihrer dichten Beschreibung der riots in englischen Städten während der 80er und 90er Jahre zahlreiche Konfliktanlässe und -hintergründe auf Darstellungen von Männlichkeit (z. B. draufgängerisch gekonnte Handhabung von schnellen Fahrzeugen, Kontrolle von Territorium, Gewalt gegenüber asiatischen Ladenbesitzem als »Feinden der Gemeinschaft«) sowohl auf der Seite der marginalisierten und rassisch diskriminierten jungen Männer als auch auf Seiten der zu ihrer Kontrolle entsandten Polizeikräfte zurück. In der Zusammenschau verweisen diese Forschungsansätze und Beispiele auf eine sich ausdehnende Befassung empirischer und theorieorientierter sozialwissenschaftlicher Forschung mit dem Thema Geschlecht und Abweichung, zu der die eigene Untersuchung einen Beitrag leisten soll.

1.4 Der Zuschnitt dieses Buchs Der Kulturvergleich birgt Gefahren, die Shimada ( 1994) in einer grundlegenden Arbeit zu dieser Methode westlicher Sozialwissenschaft hervorhebt. Die kulturvergleichende Vorgehensweise bietet trotz dieser Vorbehalte für den hier zu untersuchenden Themenkomplex den Vorteil, daß kulturell unterschiedliche Formen der Abweichung im Kontext der jeweiligen Geschlechterverhältnisse differenziert dargestellt werden können. Diese Methode beugt der Begriffslastigkeit und der terminologischen Beliebigkeit vor, wie sie insbesondere in deutschsprachigen Theorien zur »Männlichkeit«/männlichen Sozialisation wie auch zur allgemeinen Bedeutung der »Kategorie Geschlecht« in der Kriminologie sichtbar werden (Kersten 1994a). Der Kulturvergleich beschränkt sich dabei auf Aspekte der Abweichung und Kontrolle im Kontext der Geschlechterverhältnisse. Die Daten wurden während mehrjähriger Aufenthalte in den Vergleichsländern erhoben. Dies unterscheidet die gewählte Vorgehensweise von Kulturvergleichen, die vorwiegend auf der Basis von Surveydaten oder Sekundäranalysen ohne eigene Feldforschung durchgeführt wurden. In der vorliegenden Arbeit wird am Beispiel von Industrienationen mit deutlichen Unterschieden einerseits in der männlich dominierten Kriminalität, andererseits in den Traditionen und Strukturen des Geschlechterverhältnisses gefragt, ob solche Variationen in der Sichtbarkeit bestimmter Taten und Täter mit Faktoren der jeweiligen Geschlechterverhältnisse korrespondieren. Der Anspruch der Arbeit ist dabei eher explorativ. Es soll keine auf Geschlecht ausgerichtete neue »general theory of crime« entwickelt werden. Dementsprechend ist eine genaue Beschreibung der Unterschiede und ihrer Hintergründe das wichtigste Ziel der Untersuchung.

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Kriminalität und Geschlecht

Ein Vergleichsland ist dabei Japan, ein Land, dessen niedrige Raten in nahezu allen Sparten der bekanntwerdenden Kriminalität seit längerem das Interesse der kulturvergleichenden Kriminalsoziologie auf sich zieht. Als Land mit vergleichsweise hohen Kriminalitäts- und Viktimisierungsraten wurde die last frontier Einwanderungsgesellschaft Australiens herangezogen. Als eine weitere Kultur hätte sich unter Gesichtspunkten der Vergleichbarkeit auch die USA angeboten. Dort ist aber u.a. auch die manifeste Überrepräsentation der diskriminierten afroamerikanischen Minderheit in allen Phänomenen von Kriminalisierung und Viktimisierung ein Umstand, der den Vergleich erschwert. In den einzelnen Teilen der Untersuchung werden Daten, auch ethnographischer Natur, aus den USA und aus anderen vergleichbaren Industrieländern herangezogen. Der hauptsächliche geschlechter- und kriminalsoziologische Vergleich erstreckt sich auch aus dem genannten Grund der eigenen Forschung in diesen Ländern aber auf Japan und Australien. Die Untersuchung hat drei Teile. Der erste befaßt sich mit kriminologischer Theorie und mit Ansätzen der Soziologie des Geschlechterverhältnisses. Kriminalsoziologische Theorien werden auf ihre Auslassungen in bezug auf die nicht zu übersehende geschlechtsspezifische Qualität ihres Untersuchungsgegenstands hin untersucht. Gleichzeitig werden die vorhandenen sozialwissenschaftlichen und kriminologischen Ansätze zur männlichen Überrepräsentation kritisch gesichtet. Im zweiten Teil wird aus der Diskussion kulturanthropologischer Befunde zum Thema abweichender (subordinierter) Männlichkeiten als Gegenüber, als »Anderes« von hegemonialer Männlichkeit die theoretische Orientierung fur die eigene vergleichende Untersuchung abgeleitet. Der dritte Teil beginnt mit einer Untersuchung der Tradition der nationalen Männlichkeitskonstrukte Australiens, deren Auswirkungen auf die Sichtbarkeit von Kriminalität mit sexuellem Hintergrund im darauffolgenden Kapitel vergleichend interpretiert werden. Die Darstellung traditioneller japanischer Männlichkeitsentwürfe und die vom Westen unterschiedliche soziale und kulturelle Formation von Geschlecht werden mit der Tradition, den Orientierungen und Praktiken »illegitimer« Männlichkeiten in diesem asiatischen Land kontrastiert. Das abschließende Kapitel beleuchtet den Ertrag des Kulturvergleichs für die Soziologie abweichenden Verhaltens und entwickelt daraus Fragestellungen für zukünftige Forschungsarbeit.

Anmerkungen zu Kapitel 1 1

Im Vorwort zu seinem Buch »Masculinities« beklagt R.W. Connell die verworrenen Ideen der neuen Männlichkeitsliteratur. Diese lege obsoletes Gedankengut über den »natürlichen Unterschied« und über die »wahre Männlichkeit« wieder auf (1995: IX).

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Die Kennzeichnung von Annahmen als »essentialistisch« bezieht sich auf Ansätze, die die Determinanten des Geschlechterunterschieds als zeit- und kulturunabhängig setzen. Dupré zeigt, daß dies selbst für den biologischen Unterschied falsch ist (1990: 49-50).

Anmerkungen

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Kriminologie ist, im deutschsprachigen Raum, ausgeprägter als anderswo, in einem disziplinaren Vielländereck angesiedelt, irgendwo zwischen Rechtswissenschaft, Sozialwissenschaft, Psychologie und Erziehungswissenschaft.

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In seinem fesselnden Bericht Among the thugs (1991; dt. »Geil auf Gewalt« 1992) beschreibt der amerikanische Journalist Buford seine Erlebnisse mit englischen Fußballfans bei »Fußballreisen«. Speziell bei Trips ins europäische Ausland kann dem Bericht zufolge auf Seiten der Fans von einer Antizipation »planmäßiger Entgleisungen« vor und nach dem Spiel ausgegangen werden, die den eigentlichen sportlichen Anlaß nur zu einem Hintergrundereignis macht, das den geplanten Vandalismus ermöglicht.

2 Zum Stand der Theorie

John Braithwaites Entwurf einer general theory of crime ( 1989) und Don Gibbons ' Theoriekritik (1994) befassen sich mit den Schwachstellen im Theoriegerüst der anglo-amerikanischen Kriminologie. Diese ist, so muß angemerkt werden, wesentlich stärker kriminalsoziologisch ausgerichtet als die deutschsprachige, die traditionell eher an die Rechtswissenschaften angebunden ist. Im Folgenden bleibt die kriminalsoziologische Theorie bzw. die Soziologie abweichenden Verhaltens der hauptsächliche Bezugsrahmen. Juristische, psychologische und pädagogische Gesichtspunkte zum Kontext Geschlecht und Kriminalität werden nur am Rande aufgegriffen.

2.1 Kriminologische Theorie: Bestandsaufnahmen In der englischsprachigen Kriminologie wird die allgemeine Kriminalitätstheorie von John Braithwaite in »Crime, shame and reintegration« als eine der wichtigsten neueren Arbeiten gewürdigt, der Autor gar als »neuer Dürkheim« gelobt (kritisch dazu: Gibbons 1991 ). Die Beschämungstheorie Braithwaites ist in doppelter Hinsicht für die eigene kulturvergleichende Untersuchung bedeutsam. Braithwaite bezieht sich in seiner Beweisführung zentral auf die niedrigen Kriminalitätsraten in der femöstlichen Industrienation Japan. Weiterhin listet Braithwaite zu Beginn seines Buchs durch die Forschung belegte Merkmale von Kriminalität auf, die ein Entwurf einer allgemeinen Kriminalitätstheorie mittlerweile mit einschließen müßte. An erster Stelle steht die Feststellung, daß Kriminalität überdurchschnittlich häufig von Angehörigen des männlichen Geschlechts begangen wird. Der Autor fuhrt zahlreiche Belege für diese Tatsachenerklärung an. Es wird darauf verwiesen, daß in nahezu allen Ländern der männliche Anteil acht bis neun Zehntel der bekanntwerdenden schweren Kriminalität ausmacht. In Studien selbstberichteter Delinquenz fallt der Unterschied zwischen den Geschlechtern hingegen weniger drastisch aus. Zu beachten ist hierbei aber, daß solchen self report studies nicht selten schwammige Konzepte von Tatbeständen unterliegen, die mit strafrechtlichen Kategorien nicht kompatibel sind, schon gar nicht im internationalen Vergleich. Meist sind es auch weniger ernsthafte Vergehen und Straftaten im Bagatellbereich, die in solchen Studien zum Gegenstand gemacht werden. Im Vergleich aller zugänglichen und vergleichbaren Daten über schwere Kriminalität, die sich zwischen Personen ereignet und die zum Tod oder zur Verletzung führt, tritt die männliche Überrepräsentation klar hervor. Braithwaite zeigt, daß die Schwere der Tat mit der Deutlichkeit korreliert, mit der der Geschlechterunterschied in den Kriminalitätsraten zutage tritt.

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Zum Stand der Theorie

Dieser Befund steht auch im Widerspruch zur chivalry-Annahme, die u.a. auf Pollak ( 1950) zurückgeht. Sie bestand in der fur Delinquenz insgesamt zweifelhaften, fur schwere Kriminalität falschen Vermutung, daß Tatverdächtige und Angeklagte weiblichen Geschlechts von der Kavaliershaltung im männlich dominierten Kriminaljustizsystem profitieren würden. Gleichfalls verworfen wird die »Gleichberechtigungs-Hypothese«. Freda Adler hatte in ihrem Werk »Sisters in Crime« ( 1975) postuliert, daß mit wachsender Gleichberechtigung der Frauen auch deren Kriminalitätsraten ansteigen würden (zusammenfassend Renzetti und Curran 1992: 222ff; Braithwaite 1989: 45). Die anderen Positionen aus Braithwaites Auflistung von insgesamt dreizehn erklärungsbedürftigen kriminologischen Tatbeständen sind nachfolgend zusammengefaßt, da sie teilweise in die Fragestellung der eigenen Untersuchung hineinragen: • Angezeigte Kriminalität wird überproportional häufig von 15- bis 25-jährigen unverheirateten Angehörigen des männlichen Geschlechts begangen, die in Städten wohnen und hohe Mobilität aufweisen. • Kriminalität ist weniger häufig bei engagierten Schülern vorzufinden, die hohe Bildungs- und Berufserwartungen aufweisen. Ahnliches gilt für Jugendliche mit starker Elternbindung. • Schlechte Schüler sind eher kriminalitätsgefahrdet, ebenso junge Leute mit Verbindungen zu Kriminellen. • Soziale und ökonomische Marginalisierung korrelieren positiv mit Kriminalität. • Kriminalitätsraten sind in den meisten Ländern seit Ende des zweiten Weltkrieges insgesamt angestiegen; in dieser Zeitspanne läßt sich nur in Japan ein Rückgang beobachten. Braithwaites eigene theory of reintegrative shaming läßt trotz der theoretischen Dichte der Fragestellung zwei entscheidende Fragen offen: a) Kann das westliche, d.h. judäo-christliche Verständnis von Scham und Gewissen auf die Struktur der japanischen Primärsozialisation und auf die sozialen und rechtlichen Beziehungen des Landes problemlos übertragen werden? b) Ist Beschämung zeit- und kulturübergreifend bei weiblichen Geschlechtsangehörigen derart stark ausgeprägt, daß sich daraus die niedrigeren Kriminalitätsraten von Mädchen und Frauen ableiten lassen? zu ä): Das Konstrukt »japanische Schamkultur« der westlichen Kulturanthropologie geht auf Ruth Benedicts Untersuchung The Chrysanthemum and the Sword ( 1946) zurück und wurde in späteren Arbeiten unbesehen übernommen. Für die Kriminologie bedeutsam war dabei Bayleys Vergleich der japanischen und amerikanischen Polizei. Der Begriff »Schamkultur« ging damit in das Inventar kriminologischer »Alltagstheorien« über Japan ein. In der soziologischen Japanforschung findet die Schamkulturthese eine eher kritische Rezeption (Lebra 1976; Shimada 1994). Für den kriminologischen Kontext legen die eigenen

Kriminologische Theorie: Bestandsaufnahmen

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Untersuchungen darüber hinaus den Schluß nahe, daß Japan kein glaubhafter Kronzeuge für die zentralen Annahmen der Braithwaiteschen Beschämungs-Theorie sein kann. Braithwaites-propagiert, in aller Kürze zusammengefaßt, die Beschämung des Täters bei gleichzeitiger sozialer Wiedereingliederung (reintegrative shaming) des/der Abweichenden als erfolgreichste Form der Kontrolle von Straßenkriminaliät und White Collar Crime. Folgt man der Theorie, so gibt es gute, nämlich reintegrierende und schlechte, nämlich ausgrenzende Beschämung. Nur letztere würde von Ansätzen der labeling Theorie berücksichtigt. Gute Beschämung wie sie Braithwaite in Japan gegeben sieht, grenze Kriminalität ein, schlechte aber, wie sie in westlichen Industrienationen vorläge, würde gerade junge Menschen in die Subkulturen treiben und trage so zu höherer Kriminalität bei. Japans geringe »Normal«-Kriminalität und die auf Beschämung und auf »willfahriger Einsicht« (icompliance) beruhende Kontrolle der Wirtschafts- und Umweltverbrechen sind dabei die empirischen Bausteine der Beschämungstheorie. Diese Einschätzung der Modellfunktion Japans als Wunderland der Kriminalitätskontrolle ist im Hinblick auf die Kriminalitätsprobleme des Landes anzuzweifeln (Araki 1988; Miyazawa, S. 1992; Kersten 1992; vgl. auch Findlay 1993). Der geringer ausgeprägten Straßenkriminalität entspricht auf der »Schattenseite« sowohl eine im Vergleich zu westlichen Demokratien erhebliche strukturelle Korruption als auch eine in die Politik, die Wirtschaft und den Alltag Japans hineinragende Unterweltkultur. Das Vorhandensein ausgeprägter krimineller Subkulturen dürfte es aber in Japan der Beschämungstheorie zufolge nicht geben. zu b): Braithwaites Theorie greift die erste Position der Theoriemängelliste (»Facts a theory of crime ought to fit«) auf, nämlich die männliche Überrepräsentation in allen Sparten bekanntwerdender und von Opfern berichteter Kriminalität. Er kritisiert zu Recht, daß die dominanten Theorien die Korrelate Alter und Geschlecht im Zusammenhang mit Kriminalität nicht oder nicht ausreichend berücksichtigen ( 1989:50). Von den Ansätzen, die viele der unbestrittenen kriminologischen Tatbestände auf seiner Liste erfassen und die in Braithwaites synthetisierte Theorie eingearbeitet werden konnten, wird mit Blick auf die männliche Dominanz an der differential association Theorie von Sutherland und Cressey bemängelt, daß sie auf »natürliche« (Schwangerschaft) und quasi-»natürliche« Determinanten des weiblichen Lebensentwurfs (strengere Aufsicht bei Mädchen, weniger Zwang zum ruppigen rough and tough Auftreten) zurückgreifen würde, um die geringere weibliche Kriminalität zu erklären. Die Lerntheorie von James Q. Wilson und Robert Herrnstein, ansonsten ein Ansatz, der zahlreiche Positionen der Liste, z. B. die Überrepräsentation von jüngeren Tätem berücksichtigt, äußert sich nicht zum gender bias in der bekanntwerdenden Kriminalität und in den Dunkelfelddaten. Braithwaite selbst versucht dann nachzuweisen, daß Schamgefühle das Verhalten von Frauen in Richtung Konformität lenken, und daß ferner die »weibliche Lebenswelt« durch eine Tradition reintegrierender Beschämung charakterisiert sei.

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Zum Stand der Theorie

The female role, which is partly about doing (kursiv im Original, J.K.) reintegration in families, renders its exponents more committed to the view that being (s.o.) reintegrated is desirable, should one find onfeself at risk of becoming an outcast. (Braithwaite 1989: 74) Braithwaite beruft sich hier auf Alltagstheorien über Eigenschaften des weiblichen Geschlechts, die die niedrigere Kriminalitätsbelastung von Mädchen und Frauen erklären sollen. Abgesehen davon wie sinnvoll solche Ableitungen sind, wird somit männlich dominierte Kriminalität ohne bezug auf »männliche Eigenschaften« als »kriminelle Normalität« gesetzt. Das weibliche Geschlecht erscheint so als das »Andere« des neutralen männlichen. Das Anders-Sein von Frauen wird auch bei Braithwaite auf »natürliche« weibliche Wesenszüge zurückgeführt. Nach dem Hinweis auf die von der männlichen wesensartig verschiedenen weiblichen Rolle als Erklärung der größeren Affinität von Frauen zur Scham/ zur »guten« Beschämungsvariante reintegrative shaming, führt Braithwaite eine ganze Palette von Forschungsergebnissen zum Geschlechterunterschied im Kontext abweichenden Verhaltens auf, die folgende Bestimmung weiblichen Verhaltens belegen soll: The female is thus always more socially integrated, always more susceptible to shaming by those on whom she is dependent, and never quite as free to make deviant choices as the male. ( 1989:92) Daß Frauen und Männer im Geschlechtsrollenkonzept als wesensmäßig unterschiedlich definiert sind, erscheint in der Forschung zum Geschlechterunterschied als nicht zu begründende zeit- und kulturübergreifende Annahme. Es ist zwar durchaus wahrscheinlich, daß spezifische Sozialisationsmuster bei Mädchen zu »Eigenschaften«, schließlich auch zu normativen Erwartungen führen, die internalisiert und handlungswirksam werden. Im Kontext von Kriminalität sind jedoch über den Faktor der Geschlechtszugehörigkeit hinaus Klassen- und Rassenfaktoren sowie soziale und situative Konstellationen zu berücksichtigen. Spätestens bei der Sichtung komplexerer Zusammenhänge sind vorgebliche »Geschlechtseigenschaften« des weiblichen Geschlechts, die aus allgemeinen Einstellungsbefragungen rühren, eher irreführend. In der ethnographischen Forschung zu afroamerikanischen Mädchen und Frauen in gangs (Campbell, A. 1995; vgl. auch Conquergood 1995) wird beschrieben, wie Geschlecht durch Kriminalität öffentlich »bewerkstelligt« wird und wie dabei auf den ersten Blick äußerst »männliche« Eigenschaften von afroamerikanischen Mädchen (Messerschmidt 1996) dargestellt werden. Connells Grundannahme, daß »Männlichkeit« und »Weiblichkeit« nie ohne ein spezifisches Geschlechterverhältnis konstruiert werden können ( 1995:71 ), gilt auch fur den Bereich der Kriminalität. Braithwaites Argument beruft sich auf »die Mission« der Frauen in der Familie: To understand the lower crime rates of women, we need to understand the structurally differentiated mission of women to secure social integration in the family. (1989: 94) Von wem diese »Mission« erteilt wird, warum sie von Frauen übernommen wird und was sie für das Geschlechterverhältnis und die Konstruktion von »Weiblichkeit« und »Männlichkeit« bewirkt, bleibt unklar. Ein weiterer für Braithwaites Theorieentwurf problematischer Tatbestand ist darin zu sehen, daß die proportionalen Raten registrierter weiblicher

Kriminalitätstheorien und ihre Probleme

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Kriminalität in Japan nicht mit der Theorie übereinstimmen. Müßte nicht in der »Vorbildnation der wiedereingliedernden Beschämung« die weibliche Kriminalität niedriger liegen als in westlichen Kulturen? In den bekanntwerdenden Daten zur japanischen Kriminalität bildet sich das Gegenteil ab (Government of Japan 1993). Unklar bleibt auch, ob in der Beschämungstheorie das vermutlich doch in allen menschlichen Gemeinschaften vorhandene, also kulturübergreifend angelagerte Potentials der Verbrechenseindämmung durch wiedereingliedernde Beschämung den Selbst- und Fremdbeschämungskapazitäten des jeweiligen weiblichen Geschlechts über- oder nachgeordnet wird. Dieses Potential wird, der Theorie nach, in verschiedenen Kulturen unterschiedlich genutzt, ließe sich aber prinzipiell in weniger beschämungsorientierte Kulturen übertragen. Dabei scheint die jeweilige Beschaffenheit der Geschlechterverhältnisse keine Bedeutung zu haben. Der sich nach den Vorgaben über das Wesen des weiblichen Geschlechts aufdrängende Vermutung, daß in Kulturen mit größerem Einfluß von weiblichen Gesellschaftsmitgliedern weniger Kriminalität auffindbar sein müßte als in solchen mit stärkerer männlicher Vormacht, geht Braithwaites Untersuchung nicht nach. Nachvollziehbar im Hinblick auf den Kontext Männlichkeiten und Kriminalität, insbesondere in bezug auf die Bewertung von Männlichkeitsdarstellungen in Gruppierungen junger Männer, ist Braithwaites Kritik der Subkulturtheorie. Dieser Ansatz zeichnet sich, wie auch Gibbons ( 1994:28) anmerkt, durch ein konfuses Verständnis von Unterschichts-, Gang- und Macho-»Kultur« aus. Das Konstrukt »der« Unterschichtskultur als »dem« männlichen Milieu, das Kriminalität produziere, lokalisiere männlichefocal concerns ausschließlich in der Unterschicht. Die Annahme eines kulturübergreifenden kausalen Bezugs zwischen dem Vorkommen von kriminellen Subkulturen und, auf der anderen Seite, strukturellen Unterschieden im Kriminalitätsaufkommen ist, wie am Beispiel Japans zu zeigen sein wird, irreführend. Es gibt keine überzeugenden Belege für das, was in der Kriminologie als »die« Unterschichtskultur oder »die« delinquente Subkultur figuriert und auf Routinebasis zur Erklärung von Makrodimensionen der Kriminalität herangezogen wird. In bezug auf den Kontrollansatz heben Braithwaite und auch Gibbons dessen Tendenz hervor, die (gleichfalls männlich dominierten) Missetaten der Mächtigen als sehr folgenreiche Kriminalität zu ignorieren. Eine elaborierte Theorie informeller Sozialkontrolle, basierend auf attachment/commitment, müsse in der Lage sein, nicht nur triviales Fehlverhalten, sondern gleichzeitig die Kriminalität von Jugendlichen und die von Organisationen, politischen und wirtschaftlichen, miteinzubeziehen.

2.2 Kriminalitätstheorien und ihre Probleme Wie Braithwaite stellt auch Gibbons die Frage: Wo ist die Substanz, wo ist der Nutzen kriminologischer Theorien? Er bezieht sich dabei auf die Mängelliste im Buch von Braithwaite, also auf die kultur- und z. T. auch zeitübergreifenden hauptsächlichen Merkmale von Kriminalität. In einer früheren Arbeit hatte Gibbons (1992a) die Klassifizierungsversuche der Kriminologie in die zwei Hauptrichtungen crime-centered und criminal-centered unterteilt, eine fur die vorliegende Untersuchung wichtige Differenzierung.

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Zum Stand der Theorie

Dabei ist für die Fragestellung der eigenen Untersuchung bemerkenswert, daß, obgleich für die Masse der bekanntwerdenden Kriminalität Angehörige des männlichen Geschlechts als Tatverdächtige registriert werden, sich die Vorstellung von Kriminalität als männlicher Domäne vorwiegend mit bestimmten in der Kriminalitätswirklichkeit eher raren Tätertypen verbindet, beispielsweise dem des sexuellen Gewalttäters oder dem des Mitglieds in einer kriminellen Gang. Anders formuliert: Der langfristig schadensintensiven Kriminalität der Verbände, Unternehmen, Parteien, Behörden etc., die von Schräger und Short (1978) in einem Versuch der Präzisierung des zu vagen white collar cn'/ne-Begriffs organizational crime genannt wird, liegen keine dezidiert negativen Entwürfe von abweichender Männlichkeit zugrunde, obwohl sie fast ausschließlich von männlichen Geschlechtsangehörigen begangen wird. Seit den Anfangstagen der Kriminologie hat das Denkmodell der individuell pathologischen Konstitution des Abweichers eine im doppelten Sinne »natürliche« Affinität zur entsprechenden Theoriebildung gehabt. Das Vermessen von Schädeln und anderen Körperteilen bei Strafgefangenen, die Analyse biochemischer und hormoneller Körpermerkmale bei Tätern, der Chromosomen- und Serotonin-Test bei impulsiv Aggressiven, aber sicherlich auch einige psychoanalytisch orientierte Methoden dienen seit Cesare Lombrosos Pionierarbeit des kriminologischen Positivismus dem für die Wissenschaft stets noch attraktiven Versuch, Abweichung aus ihrem situativen, sozialen und kulturellen Kontext zu lösen und den Grund in der Konstitution des Täters zu finden. Diese Forschung setzt nahezu ausschließlich bei Populationen festgenommer bzw. verurteilter und inhaftierter Täter an, die mit Populationen nicht auffällig gewordener verglichen werden. So sinnvoll im Einzelfall Einblicke in die individuellen Determinanten des unfaßbaren Geschehens für die Beurteilung einer Tat und eines Täters sein mögen, eine wissenschaftliche Herangehensweise muß zum jetzigen Zeitpunkt davon ausgehen, daß spezifische Bestandteile der Körperchemie und bestimmte Hormone, deren mangelndes oder zu reichliches Vorhandensein mit aggressiven Ausbrüchen im Zusammenhang stehen kann, nirgendwo als kausaler Faktor von Kriminalität isoliert werden konnte. Insofern kann auch die männliche Überrepräsentation in der abweichenden Population der Täter nicht auf solche im Körper zu isolierenden Merkmale zurückgeführt werden (Wright 1995; vgl. auch Daly und Wilson 1988; Stanko 1994; Kersten 1996a). In populären bis populärwissenschaftlichen Mutmaßungen über den Zusammenhang zwischen Männlichkeit und Abweichung bezieht man sich häufig auf »Tätermonster« 1 . Grauenhaftes Geschehen und das Bild des Täters leben von der Dynamik zwischen der verbreiteten Begierde nach visueller Gewaltrezeption und daraufbezogenen Absatzstrategien der Medien 2 . Der Einfluß solcher Bilder läßt sich zudem in Untersuchungen über die Angst der Bevölkerung vor Opferwerdung kulturübergreifend nachweisen. Solche Angst entsteht zumindest zum Teil unabhängig vom Aufkommen und von der Entwicklung registrierter Kriminalität. Die Angst kann steigen, wenn die Kriminalitätsraten sinken. Gibbons kritisiert die diese »schrecklichen« Verbrechen betreffende Enthaltsamkeit der Kriminologie:

Kriminalitätstheorien und ihre Probleme

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.. .criminologists ought to have something to say about the causal influences that give rise to a Jeffrey Dahmer or a Ted Bundy. There is no shortage of »experts« who are willing to offer ex post facto pronouncements about the »causes« for the criminal acts of various »monsters« once these persons have been apprehended. For example, a number of »experts« claimed to see etiological significance in the »sexual abuse« that Dahmer had allegedly undergone from a male peer when he was relatively young, while others opined that clues to Dahmer's sexual crimes could be seen in his childhood interest in collecting animal bones. (1994: 133) Gibbons hat in mehreren Veröffentlichungen auf den »asexuellen« Zuschnitt des mainstreams der kriminologischen Theorie hingewiesen. Eine geeignete kriminalsoziologische Bearbeitung z.B. von Sexualverbrechen stehe aus: ...this failure seems in considerable part to be due to the lack of movement toward an adequate explanatory scheme which identifies the crucial experiences that are involved in sexual socialisation, whether »normal« or »deviant« in form. (1994: 134) Im Kontext einer wissenschaftlichen Debatte von Sexualvergehen und ihren Tätern weist Gibbons noch einmal auf die Fragwürdigkeit des nach wie vor gängigen Konzepts »Psychopath« bzw. »Soziopath« hin. Angesichts der Struktur der bei den entsprechenden Untersuchungen generierten Daten konstatiert er eine tautologische Substanz des wissenschaftlichen Soziopathiebegriffs. Auch hier finden Erhebungen fast immer bei institutionalisierten Populationen statt. Gibbons schlägt eine andere Interpretation vor: Could it be that the crude machinery of these organizations (Straf- und Erziehungsinstitutionen J. Κ.), rather than sociopathy, contribute to botched lives? (1994: 136) Ein Drittel der sog. putative psychopaths hatte in einer von Gibbons kritisierten Untersuchung von Lee Robbins das entsprechende Verhalten zum Zeitpunkt der Nachfolgeuntersuchung abgestellt. Dies steht, wie Gibbons anmerkt, im massiven Widerspruch zur Grundannahme des Zwangsverhaltens im Psycho- bzw. Soziopathiekonzept. Generell lasse der professionelle Hintergrund von Sozialarbeitern und psychiatrisch-psychologischem Personal in den von ihnen erhobenen Daten eine gewisse Affinität zur Vorstellung erwarten, daß emotionale Probleme ein vorwiegender Grund fur abweichendes Verhalten sind. Schon in den 50er Jahren haben Sekundäranalysen solcher auf dem Konzept der gestörten Persönlichkeit beruhenden Untersuchungen die Frage der Validität der Ergebnisse erhoben. Die Ergebnisse der eigenen Forschung zu Sozialisationsbedingungen in der Lebenswelt Gefängnis und in Institutionen der Zwangserziehung (Kersten und Wolffersdorff-Ehlert 1980; Kersten/Kreissl und Wolffersdorff-Ehlert 1983; Wolffersdorff-Ehlert, Sprau-Kuhlen und Kersten 1996) bestätigen Gibbons ( 1994:140) grundlegende Zweifel am Konzept der gestörten Persönlichkeit des Täterindividuums in Untersuchungen an Populationen von Institutioneninsassen: If we find that prison inmates, training school wards, or other incarcerated (Hervorhebungen im Original J.K.) offenders differ from seemingly noncriminal or nondelinquent individuals, such a

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Zum Stand der Theorie

finding may not be evidence of a causal link between personality factors and misconduct. Instead, hostility, negative attitudes, and antagonism toward authority figures, in particular, may be byproducts or the results of correctional experience such as incarceration... In short, some of the psychological differences between offenders and nonoffenders may be the result of involvement in lawbreaking, rather than the other way around. Ethnographien in entsprechenden Institutionen belegen eine erhebliche »Geschlechter-« Dynamik bei Gewaltkonflikten urid beschreiben auch entsprechend ausgeprägte geschlechtsbezogene Orientierungsmuster bei männlichen und weiblichen Insassen und beim Personal (Carlen 1983; Dobash, Dobash und Gutteridge 1986; Kersten 1990). Trotz der fundamentalen Kritik der Kriminalsoziologie an den bisherigen vorwiegend psychologisch-psychiatrischen Denkansätzen zum Komplex Persönlichkeitsstörung und Kriminalität, kann angesichts der Bedeutung einzelner »Monsterfälle« für das kriminalpolitische Klima eine theoretische Weiterentwicklung nicht ohne die grundsätzliche Beschäftigung mit Persönlichkeitsfaktoren im kriminellen Verhalten erfolgen. Ende der 70er Jahre schrieb Gibbons dazu: ...there are hints contained in some of the personal accounts of criminal careers that have been provided by actual offenders that these »qualities«...do play a part in lawbreaking...More such linkages between social conditions and psychological states are likely to be uncovered if and when criminologists begin the task of »bringing men [sic] back in«. (1979: 212-216) Als Beispiel eines Ansatzes der umfassenderen Sicht von Merkmalen einer bestimmten Kriminalität und Faktoren der Sozialstruktur/Kultur verweist Gibbons in seiner Theoriesichtung mehrfach auf die Studie von Baron und Straus (1990). Diese untersucht den Tatbestand der (bekanntwerdenden) Vergewaltigung in Abhängigkeit von Merkmalen der sozial-kulturellen Organisation (u.a. Benachteiligung von Frauen, Verfügbarkeit von Pornografie). Obgleich sie ohne einen entwickelten geschlechtertheoretischen Anspruch vorgehen, verfolgen Baron und Straus, basierend auf einem Vergleich der Bundesländer der U. S. Α., eine in der Anlage ähnliche Fragestellung wie die in dieser Arbeit untersuchte (vgl. dazu Kapitel 8). Den engeren Theoriezweig feminist theory in criminology kennzeichnet Gibbons als die Verbindung zwischen einer kritischen Haltung gegenüber den allgemeinen/wissenschaftlichen Strukturen des Androzentrismus und der praxisbezogenen Bekämpfung von Benachteiligung. Feministische Kriminologie sei nicht nur mit Frauenkriminalität befaßt, sondern beziehe sich auf die Frage wie sich die Geschlechtsungleichheit auf die Kriminalität von Frauen und Männern auswirke und auf die Reaktionen, die darauf erfolgen. Gibbons deutet auf die Vielschichtigkeit der feministischen Denkrichtungen in der Kriminologie und unterscheidet drei Hauptrichtungen in der englischsprachigen Diskussion: liberal, socialist, radical. Diese Richtungen der feministischen Tradition werden im nachfolgenden dritten Kapitel ausführlicher dargestellt.

Spezielle Gesichtspunkte der Kritik: Männlichkeiten und Kriminalität

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2.3 Spezielle Gesichtspunkte der Kritik: Männlichkeiten und Kriminalität Die von Braithwaite und Gibbons identifizierte Theorielücke »Kriminologie und Geschlecht« ist der Fokus von Messerschmidts kritischer Abhandlung Masculinities and Crime (1993). Messerschmidts Arbeit entwickelt aus der Kritik an den (vorwiegend amerikanischen) geschlechtslosen sowie an den essentialistisch/dogmatischen Traditionen der »Bewegungsliteratur« eine neuartige Interpretation (wiederum amerikanischer) Kriminalitätsphänomene im Rahmen eines geschlechtersoziologischen Ansatzes. Letzterer ist die Fortentwicklung des Connellschen Konzepts der hegemonic masculinity im Kontext Kriminalität und Kontrolle. Es handelt sich um eine Fortschreibung eines neueren Modells der Soziologie bezogen auf den kriminalsoziologischen Kontext Abweichung und Kontrolle3. In der Kritik an den gender-blind theories wird zunächst Mertons Anomietheorie aufgegriffen. Dort wird abweichendes Verhalten aus dem Widerspruch zwischen kulturell definierten Ansprüchen und den durch die Determinaten der jeweiligen sozialen Lage vorhandenen legitimen und widerrechtlichen Mittel zur Erfüllung solcher Ansprüche hergeleitet. In einem gewissen Rahmen eignet sich die Anomietheorie zur Erklärung der entlang der Kategorie Klasse/Schicht differenzierten Sichtbarkeit von Kriminalität im traditionellen Verständnis. Die Theorie erklärt jedoch weder die allgemeine männliche Überrepräsentation in den Kriminalitätsraten, noch die spezifischen Charakteristika vieler Sparten der Kriminalität als Domäne männlicher Auseinandersetzungen. Der Zugang zu den Mitteln, die zur Erreichung der Ansprüche/Ziele führen sollen, ist für Männer und Frauen nicht gleichberechtigt. Hätte die Anomietheorie universelle Gültigkeit, so müßten demnach Frauen wesentlich mehr Kriminalität als Männer begehen. Man kann diese Kritik noch dahingehend ergänzen, daß die Anomietheorie prinzipiell white collar/organizational crime als männlich dominierte Kriminalitätssparte ausschließt. Deren Merkmale laufen auch ohne Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Gesichtspunkte einigen zentralen Annahmen des Anomiekonzepts zuwider. Die control theory von Travis Hirschi gehe zwar von der richtigen Überlegung aus, daß die Gründe fiir die Konformität der Nicht-Auffalligen ein besserer Ausgangspunkt für die Theorie von Abweichung sind, als der ausschließliche Blick auf die hochselektiven Populationen gefaßter Straftäter, produziere aber durch die Nicht-Beachtung der Kategorie Geschlecht einen zentralen Widerspruch. Hirschi benenne attachment (verbindliche Beziehungen zu Eltern, Schule und Gleichaltrige), commitment (Verpflichtung auf konventionelle Handlungsformen), involvement (Engagement in konventionellen Aktivitäten) und belief (Orientierung an konventionellen Werten) als die zentralen Barrieren, die abweichendes Verhalten kontrollieren würden. Hirschi ist mit der Theorie Sozialer Kontrolle eine stringentere Fassung der containment theory von Reckless (vgl. Gibbons 1994: 33) gelungen. Nach Hirschi begehen Jugendliche Delinquenz, sobald ihr Eingebundensein in die herkömmliche soziale Ordnung gestört ist. Abweichung kann häufig den in sich reizvollsten oder eben den effektivsten Weg darstellen, ein wünschenswertes Ziel zu erreichen. Alle würden delinquieren, würden ihre Bindungen zu anderen sie nicht davon abhalten. Fehlen diese Bindungen, so bedürfe

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Zum Stand der Theorie

es keiner spezifischen Motivation, das Gesetz zu brechen. Die Überprüfung der Theorie erfolgte mit Hilfe von selbstberichteter Delinquenz. Gibbons kritisiert an dieser Theorie allgemein die mangelnde Trennschärfe der verwendeten Kategorien sozialer Bindung, z.B. zwischen involvement und commitment. Zudem lasse sie sich nicht auf ernsthaftere Kriminalität anwenden, vermöge aber geringfügigere Abweichungen und die Geschlechterdifferenz zu erklären. Messerschmidt vermißt in Hirschis Studie ganz wesentlich den Nachweis einer bei Frauen und Mädchen ausgeprägteren persönlichen bzw. familien-, umweit- und lebensweltbezogenen Orientierung an attachment/commitment/involvement/belief. Nur so könne die größere weibliche Konformität im Sinne der Kontrolltheorie interpretiert werden. Messerschmidt erwähnt, daß Hirschi zunächst ein sample von Jungen und Mädchen gezogen hatte, dann aber aus Gründen, die er nicht offenlegte, seine Studie ausschließlich auf Jungen bezog. Den Annahmen seiner Theorie zufolge wäre es aber einleuchtender gewesen, sich auf die Mädchen zu konzentrieren, da diese sich allgemein konformer verhalten. Erhebliche Widersprüche werden auch in den label Ansätzen sichtbar. Gibbons nennt die entsprechenden Ansätze »a loose set of themes, rather than an explicit and coherent theory« (1994: 36), die aber gleichwohl erst den wissenschaftlichen Blick auf die konstituierenden und eskalierenden Merkmale des Kriminalisierungsprozesses und der institutionellen Sozialisation ermöglicht haben. Lemerts Arbeiten werden als Basis dessen angesehen, was sich später als label theory fassen läßt. Der Grundgedanke verweist zunächst auf Unterschiede zwischen individual, situational, systematic deviance, also zwischen einem Druck zur Abweichung von innen, von außen und als Folge von systematischen, nämlich subkulturell organisierten Mustern der Non-Konformität. Lemert führte auch die Unterscheidung zwischen primärer und sekundärer Devianz ein. »Primär« steht dabei für vorübergehende flirts, wie Gibbons dies nennt, mit abweichendem Verhalten, »sekundär« für ein Selbstverständnis und entsprechende Verhaltensmuster der Person, die sich um den selbst übernommenen Status des Abweichlers gruppieren. Primäre Abweichung werde von allen oder nahezu allen begangen und sei deshalb nicht mit einem negativen Selbstbild verbunden. Die sekundäre Abweichung jedoch sei Folge der gesellschaftlichen Reaktion, die bei den stigmatisierten Individuen ein abweichendes Selbstbild zur Folge habe. Andauernd »gelabelt« nehmen die Träger des Stigma die zugeschriebene abweichende Identität an. Mit solcher Sichtweise sind beispielsweise auch die von Norbert Elias in der englischen Industriearbeitersiedlung Winston Parva beschriebenen Prozesse zwischen Etablierten und Außenseitern zu interpretieren (Elias und Scotson 1993). Ein abweichendes Selbstbild ist demnach von der eigenen Machtposition abhängig, also u.a. auch von dem, was man der Etikettierung als »abweichend« entgegensetzen kann. Die Folge ist, daß die Machtlosesten leichter als abweichend dargestellt werden, während Machtinhaber oder -partizipanten dies vermeiden, oder im Falle der Stigmatisierung leichter wieder reduzieren können. Bei den label-Ansätzen ergeben sich Zuordnungsprobleme bei schweren Stratftatsbeständen wie Mord und ganz allgemein für gewalttätige Kriminalität4. Anzumerken ist auch, daß der label theory zufolge Angehörige des männlichen Geschlechts, die ganz allgemein mehr Macht als Frauen haben, geringere Aufíalligkeitsraten aufweisen müßten.

Kriminalität und Geschlecht: Frühe Theorieansätze

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Gegen die Konflikttheorie, die auch mit dem Machtunterschied operiere, wird der Einwand ins Feld gefuhrt, daß ihre Annahmen bezüglich der Machtdifferenz als Kriminalisierungskorrelat für differenzielle Kriminalisierung entlang der Merkmale Klasse und Rasse (Minderheitenstatus) zutreffend seien. Diese Annahmen stehen aber im Widerspruch zum Machtdifferential bezogen auf Geschlechtszugehörigkeit. Allgemein übersieht die Konflikttheorie die Machtstruktur in der Gesellschaft aufgrund der Annahme einer pluralistischen Verteilung von Chancen. Der Grundgedanke der Konflikttheorie wird jedoch in der Entstehung der Tradition »kritischer Kriminologie« (auch radical, marxist criminology) aufgegriffen und präzisiert. Dies geschieht in den 60er Jahren analog zur Radikalisierung der amerikanischen Gesellschaft, auch durch die öffentliche Wahrnehmung verbreiteter Brutalität und widerrechtlicher Übergriffe bei der Polizei im Umgang mit Protestierenden sowie durch das wachsende Bewußtsein über das Ausmaß der Kriminalität der Mächtigen. Die Unterdrückung der Bürgerrechtsbewegung, der Konflikt um den Vietnamkrieg und das Entstehen der Jugendgegenkultur in den Bildungsinstitutionen führen Gibbons zufolge zu einem Klima, in dem die Annahme, daß die Masse der Bevölkerung durch das Strafrecht unterdrückt wird, zum Forschungsgegenstand werden kann. So bilden eine kulturkritische/politische und eine (häufig vulgär-)marxistische Denkrichtung einen neuen Trakt des Gebäudes der kriminologischen Theorie. Der Zusammenhang zwischen kapitalistischer Herrschaft und Kriminalität/Strafrecht wird durch eine monolithische Vorstellung von der »herrschenden Klasse« hergestellt, wobei die Polizei ausschließlich als Beschützermacht der Herrschaftsinteressen dieser Klasse aufgefaßt wird. Gibbons kritisiert an der radical theory über die falsche Einschätzung der Funktion der Polizei und der Gefangnisrealität als »Unterdrückung der Geknechteten« hinaus noch die in dieser Theorierichtung inhärente Verniedlichung der Alltagskriminalität. Aus theoriekritischer Sicht handele es sich bei vielem, was die radikale kriminologische Kritik vorgelegt habe, um wenig mehr, als um die politisch dramatisierte Fassung der gängigen Theorien, angereichert mit etwas Vulgärmarxismus. Für die eigene Themenstellung ist zentral, daß der Klassenunterschied in dieser Abteilung der Kritischen Kriminologie als der alles dominierende Unterdrückungsfaktor gesetzt wurde, und insofern Ausformungen von Geschlechtsspezifität bei Phänomenen der Kriminalität auch in dieser Theorietradition nicht fur erklärungswürdig befunden wurden (vgl. dazu auch Gransee und Stammermann 1992)5.

2.4 Kriminalität und Geschlecht: Frühe Theorieansätze6 Hier läßt sich anhand von drei prominenten Vertretern verschiedener Epochen der Theorieentwicklung auf Kriminologen verweisen, die im Unterschied zum malestream den Geschlechterunterschied wahrgenommen haben. Mehr als irgendwelche anderen Vertreter der Disziplin haben Lombroso im ausgehenden 19., Bonger in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und Pollak in den 50er Jahren versucht, die geringere Kriminalität der Frauen/die höhere der Männer theoretisch zu begründen. Dabei haben sie zwangsläufig als Denker ihrer Zeit aus unterschiedlicher Warte den jeweils vorherrschenden misogyni-

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Zum Stand der Theorie

stischen Stand der Überlegungen reproduziert7. Auf Cesare Lombroso als Vertreter des biologischen Determinismus geht die wissenschaftliche Vermutung von der angeborenen Kriminalität zurück. Diese Vorstellung ist (früher und heute) Bestandteil eines vorwissenschaftlichen Verständnisses von Abweichung und als solche auch in Alltagstheorien der Bevölkerung, der Medien und der Kriminalpolitik über Kriminalität angelagert. Kriminelles Verhalten wird in Lombrosos Werk als eine Art Rückfall in frühere Stufen der Evolution gesehen. Die Vermessungen von Gefangenen und ihr Vergleich mit Kontrollgruppen »normaler« Männer (in Lombrosos Fall Soldaten) führen zum Glauben der Wissenschaft an äußerlich sichtbare Merkmale des »geborenen Verbrechers« (große Kiefer, hohe Backenknochen, Ohrformen)8. Das theoretische Problem der geringeren weiblichen Kriminalität wird bei Lombroso und seinem Schwiegersohn Ferrerò durch die Annahme von Wesensmerkmalen des weiblichen Geschlechts angegangen. Weil sie in ihren Normen stärker durch den christlichen Glauben geformt, »mütterlich« und leidenschaftsloser, dazu frigider sowie physisch schwächer und zudem durch eine im Vergleich zum Mann geringer entwickelte Intelligenz benachteiligt seien, resultiere die wesensmäßige Beschränkung der Frauen in der prinzipiellen Unfähigkeit, Kriminalität zu begehen. Lombroso ist also gewissermaßen ein früher Vertreter der Annahme vom wesensmäßigen Unterschied, der sich, wenn auch unter anderem Vorzeichen, nämlich Männer seien Täter, Frauen seien vor allem deren Opfer und ansonsten die besseren Menschen, trotz kritischer Gegenstimmen bis heute in der feministischen Bewegungsliteratur wiederentdecken läßt. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang der in der kritischen US-Kriminalsoziologie stärker rezipierte Niederländer Bonger, dessen marxistisch informierter Beitrag zur Kriminologie eine Beziehung zwischen Egoismus als Folge des Kapitalismus und Kriminalität formulierte. Kriminalität wird als Folge des Kapitalismus angesehen. Bonger stellte Überlegungen über die »natürlichen« Unterschiede zwischen den Geschlechtern an: Frauen hätten weniger Kraft und Mut; Frauen könnten aufgrund der physiologischen Beschaffenheit ihrer Geschlechtsorgane keine Sexualstraftaten begehen; so wie in der Sexualität sei ihre generelle Rolle passiv. Sie würden weniger zum Diebstahl gezwungen als Männer, weil Prostitution profitträchtiger sei. Bonger nimmt als gesellschaftskritischer Kriminologe das Zusammentreffen von Kriminalität und sozialem Elend wahr, gibt aber mehr oder weniger direkt den Müttern die Schuld daran. Er leitet somit eine (gleichfalls beharrliche) kriminologische Routine ein: Werden Kinder delinquent, so wird dies mit der Abwesenheit der Mutter, wahlweise mit der Verwöhnung durch die Mutter begründet. Pollaks Theorie geht zunächst davon aus, daß Kriminalität von Männern und Frauen begangen werden könne. Weibliche Kriminalität sei aber Kriminalität der Verschlagenheit und würde in der »maskierten« Kriminalität des Ladendiebstahls, des Beischlafdiebstahls, des Diebstahls im Haus, der Abtreibung und des Meineids erfolgen. Frauenkriminalität würde weniger angezeigt. Die Anlagen zur geschlechtsspezifischen Form der weiblichen Kriminalität, die Neigung zum Verbergen und zum Betrügen, sieht Pollak in sexuell/biologischen Gegebenheiten, in einer Art sexualtheoretischen Lerntheorie: Weil Männer ihre Erektion nicht verbergen können, können sie ihr sexuelles Versagen nicht verbergen. Frauen dagegen erlernen die Täuschung, denfake. Sie hätten von Pubertät an Übung darin, ihre

Die power-control Theorie

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monatliche Blutung zu verbergen. Die Kunst des Verbergens sei weiblich und werde im weiblichen Diskurs als positiv bewertet (vgl. dazu auch Messerschmidt 1996). Dies prädestiniere die weibliche Kriminelle für die Komplizenrolle; dazu fuhrt, wie erwähnt, Pollak das chivalry Argument ins Feld. Durch ihre Verstellungskünste und nachgeordnete, abhängige Position stoßen weibliche Kriminelle beim vorwiegend männlichen Personal der Kriminaljustiz auf mehr Verständnis und Milde. Pollak, dessen Annahmen in der feministischen Kritik häufig als extremes Beispiel der frauenfeindlichen Tradition der Kriminologie aufgeführt werden, hat durchaus die mangelnde Gleichberechtigung der Frau berücksichtigt. Die dadurch bedingte »kulturelle Rollenverteilung« zwinge die Frau in die Position der Anstifterin, die im Hintergrund der Straftaten stehe, die Männer ausführten.

2.5 Die power-control

Theorie

Diese Theorie neueren Datums von John Hagan macht geschlechtsspezifische Unterschiede im Kriminalitätsaufkommen zum expliziten Gegenstand und untersucht darüberhinaus wie sich die Delinquenz von Mädchen in Abhängigkeit von der Familienstruktur und von der Schichtzugehörigkeit verändert. Hagans allgemeine These bezieht sich auf die Kontrollfunktion der Familie, die eine Schicht- und eine Geschlechtskomponente habe. In »egalitären« Familien würden Frauen arbeiten und hätten deshalb mehr Macht. In »patri-, archalischen« Familien würden die Frauen die Hausarbeit bewerkstelligen. Nur die Männer arbeiten außer Hauses. In letzteren Familien würden Mädchen auf eine Tätigkeit in der Sphäre des Hauses hin zugerichtet, während die Söhne auf eine Erwerbstätigkeit außerhalb orientiert würden. In »egalitären« Familien würden Mädchen wie Jungen auf eine Tätigkeit außerhalb des Hauses hin erzogen. In beiden Familientypen würden Mädchen durch die auf sie gerichtete stärkere Kontrolle der Mütter weniger Kriminalität als Jungen begehen. Im »patriarchalischen« Haushalt erfolge aber bei Töchtern eine ausgeprägtere Zurichtung auf Risikovermeidung. Im »egalitären« Typus werde risk taking Verhalten bei Söhnen und Töchtern vergleichsweise weniger eingeschränkt. Hagans Daten ergeben dementsprechend größere Geschlechterunterschiede in der Delinquenz von Kindern aus »patriarchalischen« Familien, während in denen des »egalitären« Typus Töcher wie Söhne Formen der Delinquenz als risk taking aufweisen würden. Auch an dieser Theorie fallt zunächst einmal der Fokus auf die Mütter und Töchter auf. Es handelt sich dabei um die merkwürdige kriminologische Tradition, an das Regelphänomen über die Untersuchung der Ausnahme heranzugehen. Messerschmidt isoliert in Hagans Ansatz die folgenden problematischen Grundannahmen. Die Problematisierung dieser kriminologischen Alltagstheorien hat auch für die eigene Untersuchung richtungsweisende Bedeutung: 1) Frauen haben durch Erwerbstätigkeit nicht notwendigerweise eine gleichberechtigtere Stellung in der Familie oder im Alltag, die sie beispielsweise vor Vergewaltigung schützen würde. Es sei hier auf die Diskussion der Annahmen von Baron und Straus (1990) in Kapitel 8 vorgegriffen, die von einem ähnlichen, auf Beteiligung am Arbeitsmarkt

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Zum Stand der Theorie

beschränkten, Begriff von Gleichberechtigung9 ausgehen. Spätestens im Kulturvergleich zeigt sich die Fragwürdigkeit eines solchen Verständnisses, denn grundsätzlich haben einige Länder mit hohem Frauenanteil in der Erwerbstätigkeit nicht nur die höchsten Kriminalitäts- und Viktimisierungsraten, sondern auch die höchsten Raten sexueller Viktimisierung. 2) Die erklärungsbedürftige männliche Überrepräsentation wird bei Hagan methodisch über die weibliche Seite angegangen. Ähnlich wie bei Freda Adler, die mit wachsender Gleichberechtigung der Frauen auch ein Ansteigen der weiblichen Kriminalität gegeben sah, soll sich, Hagan zufolge, Gleichberechtigung auf die Töchtergeneration auswirken. Hagans Annahme ist ebenso anzuzweifeln wie die von Adler. Die Entwicklung der weiblichen Kriminalitätsrate zeigt für die weibliche Population der USA eher stagnierende, z.T. auch zurückgehende Raten, während fur prägnante Anstiege andere Verursachungsfaktoren als gestiegene Erwerbstätigkeit von Frauen angenommen werden (zusammenfassend Renzetti und Curran 1992: 225). 3)Hagans Argument beinhaltet eine Abwertung von Frauen und Mädchen. Was beim männlichen Verhalten in solchen Theorien als Handeln im rational choice Modell erscheint, z.B. als Kompetenz zur Kosten-/Nutzenkalkulation, verwandelt sich im »Anderen« der weiblichen Konformität und wird als angepaßtes Verhalten oder gar als wesensgemäße weibliche Unterwürfigkeit abgewertet. 4) Eine Reihe von Untersuchungsergebnissen stehen Hagans Annahmen diametral gegenüber: Die Sichtbarkeit von Geschlechtsunterschieden in Raten der Jugendkriminalität ist vom Familientypus, ob »egalitär« oder »patriarchalisch« nicht abhängig. Die Mutterbeziehung (unabhängig von deren Erwerbstätigkeit) steht, speziell bei Jungen, mit geringerem Kriminalitätsaufkommen in einem gewissen Zusammenhang, ähnlich wie negatives Sanktionsverhalten, ausgehend vom Vater, bei beiden Geschlechter. Abweichendes Verhalten wird eher durch Schichtzugehörigkeit, als durch Erziehung zum Risiko bedingt, und zwar bei Jungen und bei Mädchen (vgl. Messerschmidt 1993: 1114).

2.6 Kritik am Geschlechtsrollenmodell und an seinen Anwendungen Dort, wo in der Kriminologie das männliche Geschlecht in den Blick gerät, herrscht der Essentialismus: .. .criminologists have relied ultimately upon an essentialist framework to explain the high rate of crime for men and boys. That is, the presumption has been that a natural distinction exists between man and women. Accordingly, what unites criminologists who focus their specific theoretical attention on men and boys is that their framework ultimately ascribe to men certain innate characteristics. These form the basis of gendered social conditions — the »male sex role« — that leads to specific sexed patterns of crime. In other words, biogenic criteria establish differences between men and women and society culturally elaborates the distinctions through the socialization of sex

Kritik am Geschlechtsrollenmodell und an seinen Anwendungen

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roles. These sex roles, in turn, determine the types and amounts of crime committed by men and women, and by boys and girls. (Messerschmidt 1993: 15) An den Beginn einer soziologischen Beschäftigung mit der männlichen Qualität von Abweichung wird von Messerschmidt interessanterweise Edwin Sutherlands Theorie der differential association und nicht Talcott Parsons Beitrag zur Geschlechtersoziologie gesetzt. Letzterer bildet in der deutschen Diskussion häufig den Ausgangspunkt. Sutherland begriff Konformität und kriminelles Verhalten als erlernt, erkannte den Zusammenhang zwischen Geschlechtszugehörigkeit und Kriminalität, warnte aber schon damals davor, diesen Zusammenhang als kausalen aufzufassen. In einer Veröffentlichung kurz nach Kriegsende führte er die deutlichen Unterschiede im Delinquenzaufkommen von Jungen und Mädchen ursächlich auf geschlechtsspezifisch unterschiedliche Erziehungs- und nicht auf Wesensmerkmale zurück. Mädchen würden strikter kontrolliert, sozial angepaßtes Verhalten würde ihnen sorgfaltiger und nachdrücklicher nahegebracht als dies bei Jungen der Fall sei. Sie würden zur Nettigkeit erzogen, Jungen dazu, rough and tough zu sein. Den Unterschied begründete er mit der auf das weibliche Geschlecht begrenzten Fähigkeit zur Schwangerschaft. Angst vor unehelichen Kindern kontrolliere das Sexual- und Sozialverhalten von Mädchen. Messerschmidt verweist auf die Funktion, die die biologische Differenz zwischen den Geschlechtern in Sutherlands Entwurf habe. Der Vorwurf des cryptic essentialism in Sutherlands Deutung erstreckt sich auch auf dessen Diskussion des Inzest, eines Straftatbestands mit geschlechtsspezifischer Ausprägung. Männer, die ihre Töchter sexuell mißbrauchen, sind nach Sutherland vor allem in Familien zu finden, in denen die Mütter verstorben, krank seien oder anderswie nicht fiir sexuelle Beziehungen in der Ehe zur Verfügung stünden. Solche Männer würden durch ihre Kontakte zur entsprechenden Szene der Prostitution verbotenes Sexualverhalten »erlernen«, das den Inzest miteinschließe. Mütter verstorbener, kranker oder sonstwie nicht zur sexuellen Verfugung stehender Partner würden aber auch keinen Inzest begehen 10 . Talcott Parsons Anwendung des Modells der dichotomen Geschlechterrollen auf die Kleinfamilie, die Kindererziehung und letztlich auf die Stabilität der modernen Gesellschaft, zeigt sich trotz aller Kritik gleichfalls als eine weitreichende theoretische Erfassung eines bis dahin soziologisch nicht erfaßten Zusammenhangs. Ihre Verwendbarkeit in den Delinquenztheorien von Albert Cohen und anderen Subkulturtheoretikern hat der Theorieentwicklung in der Kriminologie einen großen Schritt nach vorne ermöglicht. Gleichfalls auf die natürliche Fähigkeit zur Schwangerschaft bezogen, die mit der expressiven weiblichen Rolle korrespondiere, im Gegensatz zur instrumentellen des Mannes, lokalisiert die Theorie den strukturellen Mangel nicht bei der Frau (wie in der Lombroso Tradition und in gewisser Weise auch bei O. Pollak und F. Adler), sondern beim männlichen Geschlecht, dem aufgrund dieser Gegebenheit andere Aufgaben zukäme. Parsons Grundannahme ähnelt dabei dem, was in Elisabeth Badinters Diskussion der Entwicklung der Arbeitsteilung (1988) die »ursprünglichen Komplimentarität der Geschlechter« zur Zeit der Sammler und Jäger genannt wird. Dort und in den heute noch zu beobachtenden »Jäger- und Sammlerkulturen« hätten die

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Zum Stand der Theorie

Lebensbedingungen...sowohl eine gewisse Distanz zwischen den Geschlechtem als auch ihre Komplimentarität« begünstigt. (1988: 29).

Komplimentarität rühre aus der geschlechtlichen Aufgabenteilung: Die Trennung der Geschlechter und der jedem Geschlecht übertragenen Funktionen ist vielmehr der sicherste Garant ihrer Komplimentarität. (1988: 31f)

Geschlechtliche Arbeitsteilung ist demnach nicht hierarchisch, obgleich dies die Forschung bis in die 70er Jahre so aufgefaßt hat. Die Gleichsetzung der Annahme von Geschlechterrollen als Folge der Arbeitsteilung mit der »natürlichen« Begründung einer Hierarchie zwischen den Geschlechtern kann nicht Parsons Entwurf angelastet werden. Wie bei Sutherland beruhten seine Begründungen auf nachvollziehbaren Beschreibungen der sozialen Praxis, die er untersuchte. Wenngleich ein Einheitsentwurf (Connell nennt dies unitary model) von Geschlechtsidentität, sowohl männlicher als weiblicher, für die Untersuchung komplexer Prozesse, die mit Geschlechtszugehörigkeit im Zusammenhang stehen, ungeeignet ist, so weisen die bei Parsons, Albert Cohen oder Walter B. Miller fur erklärungswert befundenen und empirisch beschriebenen Tatbestände in eine weiterfuhrende Richtung. In ihrer Untersuchung des state of play von Männlichkeiten und Weiblichkeiten in geschlechtssegregierten Berufen am Beispiel weiblicher US Marines und männlicher nurses11 zeigt Christine Williams (1989), daß das Geschlechtsrollenmodell, wie es heute Verwendung findet, zu eindimensional für die Erfassung der Abgrenzungs- und Umformungsvorgänge ist, die beim Eintreten von Frauen in eine militärische Männerdomäne bzw. bei der Besetzung 12 eines traditionell weiblich besetzten Tätigkeitsfeldes durch Männer auftreten. Even though sex role theory emphasizes social rather than biological determinants of gender differences, it suffers from one major drawback: neglect of the myriad variations in the meanings individuals attach to their social activities. The theory focuses on behavioral conformity to static sex roles rather than on the processes whereby individuals actively construct definitions of masculinity and femininity. (Williams 1989: 12)

Williams Forschung demonstriert die auf stereotypen Vorstellungen von Männlichkeit beruhenden Immunisierungs- und Beharrangsbestrebungen in den von Geschlechts-»Apartheid« geprägten Lebenswelten Militär und Krankenpflege. Ihre Fassung des Konstrukts masculinity hat bei genauerer Betrachtung viel Ähnlichkeit mit dem Parsonschen Entwurf der reaction-formation als Grundlage der Ausbildung der männlichen Rolle in der Adoleszenz. Parsons beschreibt die Zurückweisung weiblicher Eigenschaften bei männlichen Adoleszenten anhand der beleidigenden Zuschreibung sissy fur Jungen, die als weiblich bzw. schlimmer »weibisch« wahrgenommene Verhaltensweisen oder Charakterzüge zeigen. Männlichkeitsangst (masculine anxiety) führe zur zwanghaften Darstellung von Männlichkeit {compulsive masculinity) als Verteidigungsstrategie einer im Prinzip labilen Ausformung männlicher Identität. Diese allgemeine Parsonsche Regel ist nicht nachzu-

Kritik am Geschlechtsrollenmodell und an seinen Anwendungen

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weisen. Aber sie kann zur Interpretation von Männlichkeitsdarstellungen in Lebenswelten benutzt werden, in denen stereotype Entwürfe von Männlichkeit mit Situationen sozialen Drucks, Streß und ähnlichem einhergehen. Auf einer breiteren Ebene bestätigt sich der ein halbes Jahrhundert alte Parsonsche Gedanke, wenn kulturell dominante Männlichkeitsentwürfe durch Prozesse ökonomischen und sozialen Wandels ins Wanken geraten. Genauso baut sich auch heute Williams Begründung der strukturellen Diskriminierung gegen Frauen im Militär auf: Women are discriminated against in the military because o f its close association with masculinity. Our society defines masculinity in contradiction to femininity, a masculine person is one who denies and to some extent denigrates qualities associated with feminity. Think, for example, o f the expressions young boys use to criticize their fellow for not living up to the standards o f their newfound masculine status: »Sissy,« »crybaby,« »momma's boy« all describe derogatory attitudes toward the affective and nurturant characteristics closely associated with femininity. The military is an institutionalized version o f this »masculine« position. .. .an area limited to tough men able to »make the grade«; basic training is intentionally marketed as a »masculinity proving ground.« A recent advertisement for the A r m y National guard, showing a group o f men wading through thigh-high water, is captioned »kiss your m o m m a goodbye«. (Williams 1989: 4 7 )

Die Kritik am reduktionistischen Gehalt des Parsonsschen Entwurfs einer Theorie des Geschlechterverhältnisses ist berechtigt, sollte aber nicht übersehen, daß vielzitierte Beiträge zur Theorie des Geschlechterverhältnisses wie z.B. der von Nancy Chodorows The reproduction of mothering: Psychoanalysis and the sociology of gender auf einem ebenso reduktionistischen Einheitsentwurf von geschlechtlicher Identität beruhen (Connell 1987: 167; vgl. Jefferson 1994: 22f). Zu kritisieren ist die bis heute andauernde unreflektierte Anwendung dieses, für das Verständnis des Geschlechterverhältnisses nicht mehr ausreichenden Theorieinstruments. Die Grundzüge des ursprünglichen Geschlechtsrollenmodells sind einfach darzustellen: Werden Kinder in stabile Geschlechtsrollen sozialisiert, ist die Gesellschaft stabil und bleibt es auch. Mädchen durchlaufen dabei in der Familie und der dadurch gegebenen Nähe zur Mutter eine Art Lehrausbildung in Sachen Weiblichkeit; sie werden mehr oder minder automatisch Träger der ihnen zustehenden Rolle. Der Junge identifiziert sich zunächst über die Mutter mit Weiblichkeit, merkt dann aber, daß Weibliches weniger hoch bewertet wird als Männliches, schämt sich seiner Identifikation mit dem Weiblichen und entwickelt kompensatorische Zwangsmechanismen über seine dann stattfindende Identifikation mit dem (abwesenden) Vater. Aus dieser widersprüchlichen, nicht wie bei Mädchen selbstverständlichen Geschlechtsrollensozialisation mit dem Muster der reaction-formation ergibt sich zwangsläufig die Nähe von Jungensozialisation zu dissozialem Verhalten; diese Geschlechtsrollen werden in der Adoleszenz intemalisiert (vgl. Messerschmidt 1993:17-19). Albert Cohens Buch Delinquent boys von 1955 bringt im Subkulturansatz in die Erklärung abweichenden Gruppenverhaltens männlicher Jugendlicher das Konzept der Geschlechtsrolle mit Merkmalen der sozialen Schichtzugehörigkeit im Ansatz der status-frustration in einen Zusammenhang. In Anlehnung an Parsons sieht Cohen, daß goodness in der Sozialisation für die männliche Rolle Weiblichkeit symbolisiert, während das tadel-

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Zum Stand der Theorie

oder flegelhafte Verhalten des being bad als Gegenüber des guten Weiblichen eine Form der verhaltensmäßigen Vergewisserung der eigenen und kollektiven Männlichkeit bedeute. Dieser, Annahmen der feministischen Bewegung nicht unverwandte, wenngleich mit unterschiedlicher Konnotation versehene Dualismus ist Cohens zentrale Erklärung dafür, warum Jungen, weitaus mehr als Mädchen, abweichende Gleichaltrigenzusammenhänge aufsuchen13. Sicherlich ist Cohens Einschätzung der Selbstwertfindung bei Mädchen (im Sinne des Erlernens der »weiblichen Rolle«) über die Bindung an den einzelnen Jungen kurzsichtig, in ihrer allgemeinverbindlichen Form sogar falsch. Sue Lees beobachtete in einer ethnographischen Studie Disziplinierungs- und Normalisierungsmuster bei Hauptschülerinnen im Norden von London (1989). Es fanden sich bei Mädchen gleichfalls Muster der Selbstwertfindung im Rahmen geschlechtshomogener Gruppenprozesse, vor allem in der Definition von Außenseiterinnen (slags). Kontrolle und Abwertung gleichgeschlechtlicher Gleichaltriger ist demnach auch bei Mädchen eine Darstellung von Weiblichkeit (vgl. auch Campbell 1995: 186f; Messerschmidt 1996). Wenngleich widersprüchlich, so ist Cohens Argument doch da als wesentliche theoretische Weiterentwicklung der Kriminalsoziologie anzusehen, wo er die Verbindung von Geschlechtsrolle und Klassenzugehörigkeit/sozialem Status herstellt. Er versteht die abweichende Subkultur als ein Produkt der Arbeiterkultur. Er sieht Klassenunterschiede auch in ihrem Bezug auf die Kategorie Geschlecht, indem er in der Arbeiterklasse eine stärkere alltägliche Konfrontation und insofern auch Identifikation des männlichen Adoleszenten mit, wie er es versteht, »richtiger« Männlichkeit beobachtet, d.h. mit authentischen Trägern der »männlichen Rolle«. Dies ermögliche dort die Aneignung dieser Rolle ohne die gleichzeitige Negation der weiblichen. Dies sei in der Mittelschicht durch die Abwesenheit des Vaters nicht gegeben. Dort sei die »Männlichkeitsangst« ausgeprägter. Die Delinquenz von Arbeiterjugendlichen sei demnach durch den Klassenstatus bedingt, die von Mittelschichtsjungen sei eher »Männlichkeitsbeweis«. Hier wird die zahlenmäßig dominante Unterschichtsabweichung als Bestandteil der Unterschichtskultur »entmännlicht«. Die Kategorie Geschlecht findet nur auf die weniger ausgeprägte Abweichung von Mittelschichtsjugendlichen Anwendung und wird dort als eine Art Problem der Geschlechtsrollenfindung interpretiert14. Auch andere auf dem Geschlechtsrollenmodell basierende Ansätze15 zeigen die grundsätzlichen Mängel: ...(S)ocial scientist, including the above criminologists, begin with the assumption that there are only two sexes, and then proceed to find evidence supporting that assumption. Criminologists have addressed the problem of the gendered nature of crime through a theoretical lens that assumes that sex is exclusively dichotomuous when no such dichotomy holds biologically or cross-culturally. (Messerschmidt 1993: 26)

Die Praktiken der hegemonialen und der als abweichend konstruierten Männlichkeiten haben in jeder Kultur historische Wurzeln. Im Fall von frontier societies wie den USA und Australien finden sich in Konstrukten von abweichenden Männlichkeiten andere Bezugspunkte als in westeuropäischen oder asiatischen. Deutlicher werden die Unterschiede, und somit die Probleme mit den universalistischen Geschlechtsrollenentwürfen, wenn man den

Anmerkungen

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Rahmen der westlich-christlichen Kultur verläßt und außereuropäische Varianten des Geschlechterverhältnisses zum Vergleich heranzieht. Die künstliche Polarisierung von »männlich« und »weiblich« im Geschlechtsrollenparadigma ordnet die phänomenologische Nähe von Männlichkeiten und Kriminalität falsch: Es erfolgt eine wesensmäßige Gleichsetzung von Kriminalität und »Männlichem«. Das Wesensmäßige wird da vorausgesetzt, wo die Analyse stattfinden müßte. Das Konzept der Geschlechtsrolle ist starr und verdeckt die kulturelle Leistung, die jeweils aktiv von Individuen in die Ausfüllung der Vorstellung von Geschlecht investiert werden muß. Sie nimmt die vielfach wechselnden sozialen und kulturellen Bezüge, Orientierungen, Deutungen, Festlegungen, in denen alltäglich Geschlechtszugehörigkeit bewerkstelligt wird, nicht wahr, und somit auch die Vielfältigkeit, in der Geschlechtszugehörigkeit dargestellt und wahrgenommen wird. Sie übersieht die Bedeutung der Alters-, Klassen-, Status-, Berufs- und Religionzugehörigkeit von Männern und Frauen fur die Bewerkstelligung von Geschlecht. So wird Geschlecht im Konzept der männlichen und weiblichen Rollensozialisation zugleich maßlos über- und unterschätzt. Der soziologische Rollenbegriff faßt soziale Realität als Inszenierung vor einem Publikum auf. In diesem »Spiel« soll eine Dramaturgie von Rollenwahl, Rollenfestlegungen, Rollenskripten und Rollenkostümen walten. Dies mag für die Beschreibung von Berufsrollen oder von Interaktionen und Hierarchiebildung in Gruppensituationen oder in Institutionen heuristische Bedeutung haben, allerdings nur dann, wenn es um nichts Wesentliches geht: This is not to say the dramaturgical metaphor of role is entirely useless in understanding social situations. It is apt for situations where a) there are well-defined scripts to perform, b) there are clear audiences to perform to, and c) the stakes are not too high (...). None of these conditions, as a rule, applies to gender relations. (Connell 1995: 26) Was fur das Geschlechterverhältnis im Allgemeinen wenig brauchbar erscheint, muß für eine Untersuchung der Bedeutung von Geschlecht im Kontext Kriminalität, Gewalt und Kontrolle noch mehr angezweifelt werden. Im letzteren Konfliktbereich gelten die von Connell zitierten Voraussetzungen für die Reichweite der Rollentheorie (deutliche Rollenskripte, deutliche performance vor einem distanzierten Publikum, geringe Bedeutung der Handlung) mit Sicherheit überhaupt nicht.

Anmerkungen zu Kapitel 2 1

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Gibbons ( 1994) nennt die neueren Fälle des amerikanischen Serienmörders Jeffrey Dahmer und des Russen Andrei Chikatilo. Als Produkt der Populärkultur, z.B. in der Person des Hanibal the cannibal im Film Das Schweigen der Lämmer läßt sich mittlerweile das Grauen jenseits der niedrigeren Maßstäbe des

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Anmerkungen Horrorgenres ästhetisieren. Bemerkenswert ist hier auch der Fall des Issei Sagawa. Sagawa ermordete eine holländische Studentin in Paris und verzehrte Teile ihres Leichnams (McGill 1992). Nach Japan ausgeliefert wird er, obgleich des Mordes angeklagt, zum talkshow-Stargast, der dann auch für die Medien in Ubersee attraktiv wird: Der japanische Kannibale Sagawa darf 1992 als Gast in Roger Willemsens 0137 show (Premiere) auftreten.

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Ein ähnliche Anwendung der Connellschen Vorarbeiten vollzog sich in den eigenen Untersuchungen, z.B. zur geschlechtsspezifischen Qualität von institutionalisierten Lebenswelten (Kersten 1989; 1990). Diese wurde in kulturvergleichenden Untersuchungen auf der Basis unterschiedlicher Daten weiterentwickelt. Zwischen dem Zugang Messerschmidts in Masculinities and Crime (1993) und der eigenen Vorgehensweise gibt es Überschneidungen. Sie erstrecken sich auf den theoretischen Zuschnitt der Fragestellung, in der Messerschmidt z.B. zur Ausblendung der Faktoren Klasse, Alter und Rasse (Minderheitenstatus) in feministischen Ansätzen nahezu identische Positionen vertritt, die der Autor in der Auseinandersetzung mit deutschsprachigen Arbeiten zum Thema Kriminalität und Geschlecht benutzt hat. Mehr noch als die Arbeiten von Braithwaite und Gibbons hat dem Verfasser die gebündelte Theoriekritik in Messerschmidts neuer Arbeit erhebliche Wegesmühen eingespart, was dankbar anerkannt wird. Kritische Durchgänge durch den kriminologischen »malestream« sind an sich nichts Neues und finden sich seit einiger Zeit auch in Teilen der deutschen Literatur. Die prinzipiell synthetisierende Qualität, der sachliche Zuschnitt seiner Beweisführung und die sich aus der Kritik entwickelnde empirische Prüfung des Ansatzes, Kriminalität als Diskurs von Männlichkeiten aufzufassen, machen Messerschmidts Untersuchung zu der bisher umfassendsten theoretischen Leistung auf diesem Gebiet. Messerschmidts Kritik am gender-blind mainstream, am Geschlechtsrollenansatz und an einigen Positionen der feministischen Bewegung zum Thema Kriminalität und Geschlecht, beschreibt auf umfassende Weise den Gesamtzustand der »Theoriebaustelle Abweichung/Kontrolle und Geschlecht«.

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Gibbons hat eine vorwiegende Ausrichtung auf Kriminalität in Friedenszeiten. Die quasi-legitimierte Ausübung von Straftatsbeständen der schweren Kriminalität zu Zeiten eines Kriegs oder aktuell während Bürgerkriegsauseinandersetzungen in Europa ist umgekehrt zu Gibbons Sicht ein trauriger Beleg fur das umfassende Potential der Etikettierungserklärung für abweichendes Verhalten, die eben Mord, Vergewaltigung, schwere Körperverletzung, Raub und weitere Gewalttaten miteinschließt. Hierzu aufschlußreiches Material findet sich in den historischen Untersuchungen von Browning (1992) und Dower (1986). Zu erwähnen ist hier auch Messerschmidts früherer Versuch (in Capitalism, patriarchy and crime: Toward a socialist feminist theory von 1986) eine Synthese aus sozialistischer Kritik und feministischen Positionen zu entwickeln. In seinen neueren Schriften bezeichnet er diesen Versuch als insgesamt gescheitert (1993: 54fï). Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, daß die »neuen« Kriminologien (New Realism, peacemaking criminology, postmoderne Theorien; vgl. auch Gibbons 1994) aus Messerschmidts Sicht ebensowenig Erklärungen für die Unterrepräsentierung von Angehörigen des weiblichen Geschlechts bieten wie die alten Hauptströmungen der kriminologischen Theorie. Vgl. hierzu Messerschmidt (1993: 5-10). Messerschmidt zitiert die Sexismusvorwürfe von Frances Heidensohn, Carol Smart und Dorie Klein gegen Otto Pollak. Auch in Deutschland finden sich in der feministischen Theoriekritik entsprechende Vorwürfe gegen längst zu Staub zerfallene Verfasser von unzureichenden Theorieentwürfen. Es ist Messerschmidts Sicht zuzustimmen, daß sich Lombroso, Bonger und Poll-

Anmerkungen

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ak aus dem Gros ihrer kriminologischen Zeitgenossen durch die das Geschlecht umfassende Art ihrer Fragestellung herausgehoben haben. Trotzdem waren sie wohl, wie alle Autoren und Autorinnen, dem Denken ihrer Zeit verhaftet. Lombrosos Annahmen sind Ausdruck des cartesianischen Verständnisses von Ursache und Wirkung im Kontext von Kriminalität. Diese Kausalannahmen findet man, obgleich Lombroso heute als überholt gilt, mit großer Regelmäßigkeit in Zweigen der Kriminologie und in ihren benachbarten Wissenschaftsgebieten auch gegenwärtig als forschungsleitende Annahme wieder. H. Nickel hat dies (am Beispiel der Stellung der Frau in der vormaligen DDR) zurecht »patriarchalische Gleichberechtigung« genannt, um anzudeuten, daß ein solches Verständnis von Gleichberechtigung bei gleichzeitig bestehender Hauptverantwortlichkeit der Frau für die Hausarbeit und für die Erziehung der Kinder häufig nur eine Mehrbelastung bei fortdauernder ökonomischer Abhängigkeit vom Mann bedeutet. Wie im deutschen Kontext bedeutet solche »Gleichberechtigung« beispielsweise für Frauen in den USA oder Australien, daß sie durch Erwerbsarbeit ihren Beitrag zum Familieneinkommen leisten müssen (to pay the rent). Gleichzeitig machen sie die Hausarbeit, fahren die Kinder zur Schule/in den Kindergarten/zum Sport und zu anderen Aktivitäten, bezahlen mit ihrem Gehalt die Kosten für child care etc.

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Hier folgt Messerschmidts Kritik nicht seinem eigenen Ratschlag, Theorieentwürfe auch in ihrem Zeitkontext zu begreifen. In der Kritik an der Beschränkung des Sutherland Entwurfs wird unkritisch der Skandalisierung des Inzest gefolgt. Sutherlands Beobachtung bezieht sich trotz ihrer massiven Beschränktheit auf Wirklichkeitsbeobachtungen. Messerschmidt verläßt sich hier auf Annahmen über die Allgegenwärtigkeit des Vater-Tochter-Inzests, der eine nicht-existente Praxis des sexuellen Mißbrauchs durch Mütter entsprechen soll, die sich bei näherer Betrachtung als problematisch herausstellen. Die gegenwärtigen verfügbaren Daten zur Prävalenz des sexuellen Mißbrauchs von Kindern deuten auf eine erhebliche Überschätzung der Beteiligung von leiblichen Vätern/Stiefvätern (und auch der von lauernden Fremdtätern) als Inzesttätern. 11 Die deutsche Bezeichnung Krankenschwester verweist auf die geschlechtsspezifische Ladung des Berufsstands. Die Verwendung des Ausdrucks nurse, obgleich auf den ersten Blick geschlechtsneutraler als das Suffix -schwester, war gleichwohl für männliche Angehörige des Berufsstands in der US Navy nicht zulässig (Williams 1989: 39). 12 Besetzung kann hier durchaus im Sinne der Okkupation verstanden werden, denn männliche nurses wurden und werden wie Williams (1989) zeigt, nicht nur besser bezahlt, sondern nehmen auch eher Leitungs- und Organisationsfunktionen ein. Diese sind als »männliche« Territorien definiert. Somit gelangen die Pfleger in eine gegenüber der weiblich definierten care Tätigkeit der »handanlegenden« Krankenpflege hierarchisch übergeordnete Position. In Connette Definition stellt sich so hegemoniale Männlichkeit über die subordinierte Weiblichkeit ein. 13 Bemerkenswert erscheint Cohens stille, z.T. auch explizite Sympathie für das Verhalten des abweichenden jungen Manns. Cohen faßt ihn (nicht nur, aber auch) als Verkörperung eines nicht domestizierten Männlichkeitsentwurfs auf. Diese Form des geschlechtsbezogenen going native in der Jugendsoziologie blieb bis zu Angie McRobbies (1991) Kritik an der unreflektierten Übernahme von Randgruppen-Machismo im malestream der Studien des Center for Contemporary Cultural Studies der Universität Birmingham ohne Widerspruch. 14

Im Kontext dieses biologischen Verständnisses des Geschlechterunterschieds in der Substanz der Theorien von Sutherland, Parsons und Cohen zitiert Messerschmidt David Matzas Beob-

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Anmerkungen achtung über die polaren Standpunkte, zwischen denen kriminologische Theorie oszilliert. Lombroso' habe die körperliche Konstitution als kriminalitätsverursachend angesehen. Aber wer Lombroso gründlich und sorgfaltig lese, wird darin sein Geraune über die Wirkung sozialer Bedingungen entdecken; heutzutage würden wir uns auf die sozialen Bedingungen berufen, aber wer uns gründlich und sorgfaltig lese, entdecke unser Geraune über die organischen Ursachen (Matza 1969 zitiert in Messerschmidt 1993: 22).

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Deutlicher weist Messerschmidt die Vermutung des Zusammenhangs zwischen biologischen Ursachen und geschlechtsspezifischer Überrepräsentation in der Kriminalität bei Wilson und Herrnstein nach. Größere männliche Aggressionsbereitschaft und der Einfluß von primären Trieben in die Gestaltung von Geschlechtsrollen erkläre die männliche Dominanz in diesem Phänomen (1993: 22f). Auch Positionen des liberal feminism, als Beispiel geht Messerschmidt auf Steffensmeier und Allan ein, fußen auf dem Geschlechtsrollenmodell, dort »Geschlechtsnormen« genannt, gehen aber erkenntnisleitend von der Geschlechtsungleichheit aus, die unterschiedliche Kriminalitätsaufkommen bedinge (1993: 23-25).

3 Männergewalt und Frauenbewegung

Forschung zum Zusammenhang zwischen Geschlechterverhältnis und Kriminalität ist ohne Berücksichtigung des grundlegenden Beitrags der Frauenbewegung, der vor allem durch die Verbindung von Theorie und Praxis in Kampagnen gegen die Viktimisierung von Frauen und Mädchen entstand, kaum noch möglich. Wie bei den im letzten Kapitel besprochenen älteren, das Geschlecht miteinbeziehenden Erklärungsansätzen der Sozialwissenschaft, muß auch hier berücksichtigt werden, daß die zugrundeliegende Sicht des Geschlechterverhältnisses, insbesondere die häufig ablehnende Haltung gegenüber dem männlichen Geschlecht in bestimmten Erfahrungszusammenhängen, z.B. Frauenhäusern oder Beratungsstellen für vergewaltigte Frauen entstanden ist. Grundsätzlich ist es sinnvoll, die vorliegenden Arbeiten zur »Männergewalt« in genuin theoretische Ansätze und in »Bewegungsliteratur« zu unterteilen. In den Arbeiten feministischer Tradition ging es bisher vorwiegend um die Frau als Opfer, um Frauenkriminalität und um die Situation von Frauen im männlich dominierten Kriminaljustizsystem. Männlichkeit erscheint fast ausschließlich in einem Blickwinkel, der den Mann als Täter in Augenschein nimmt. In neuerer Zeit finden sich vermehrt Ansätze, die im Kontext der Forschung über Gewalt und Kriminalität eine differenzierte Sicht von Männlichkeiten und Weiblichkeiten entwickeln1 (z.B.: Smaus 1995; Kappel 1995; Stanko 1994). Im nachfolgenden Kapitel stehen häufig zitierte Arbeiten zum Thema »Männergewalt« im Mittelpunkt. In diesen Teilen der feministischen »Bewegungsliteratur« finden sich Annahmen über den Zusammenhang von männlicher Geschlechtszugehörigkeit und Kriminalität/Gewalt, die im Kontext der eigenen Untersuchung von Bedeutung sind. Die dort vertretenen Tatsachenbehauptungen über männlich dominierte Gewalt, z.B. daß »Väter Täter sind« und daß »jede dritte Frau mißhandelt wird«, haben durch die Skandalisierung von »Männergewalt« in Medien, Professionen und Kreisen des Moralunternehmertums die Qualität von unbestreitbaren Gesetzmäßigkeiten angenommen. Beim Thema »Männergewalt« sind die Übergänge zwischen den Annahmen der »Bewegungsliteratur« und Argumenten mit wissenschaftlichem Anspruch nicht selten fließend. Eine Auseinandersetzung, zumindest mit einigen Positionen, ist von daher für die Begründung des eigenen Vorgehens unumgänglich. Zum Teil gehen die Mutmaßungen über eine allgegenwärtige, kultur- und zeitübergreifende Männergewalt auf frühe feministische Forschung zurück. Deren Ergebnisse lösten notwendigerweise Skandale aus, da Kriminalität im Tabubereich der Ehe/Partnerschaft und der Eltern-Kind-Beziehung aufgedeckt wurde. In dieser Sicht wurde Gewalt zunächst ausschließlich als Unterdrückung der Frau aufgefaßt. Damals wie heute richtet sich aber

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Männergewalt und Frauenbewegung

die (offiziell und auch durch Opferbefragungen) bekanntwerdende körperliche Gewalt überwiegend gegen die Vertreter des männlichen Geschlechts. Sexueller Mißbrauch, ob durch Familienmitglieder oder Täter aus dem sozialen Nahbereich wie Bekannte, Pädagogen, Theologen oder Therapeuten ist auf der Täterseite ähnlich eindeutig männlich dominiert, hat aber gemäß der Ergebnisse neuerer victim surveys, darunter auch in Deutschland durchgeführter Befragungen (Wetzeis und Pfeiffer 1995) auf der Opferseite viel mehr Jungen als bisher angenommen wurde. Die ausschließliche Festschreibung von Opferstatus auf der Seite von Frauen und Mädchen, bei einigen Positionen sogar aller weiblicher Gesellschaftsmitglieder, ist eine wissenschaftlich unhaltbare Position. Der kulturübergreifende Blick wird zeigen, daß der mit Geschlechtszugehörigkeit einhergehende Täter-/Opferdualismus auf einem ethnozentrischen Blick, speziell des weißen akademischen Mittelschichtsfeminismus, beruht. Das Thema dieser Arbeit geht auf die Beschäftigung mit eben jenen Tatbeständen zurück, die die Frauenbewegung und feministisch orientierte Wissenschaft seit Mitte der 70er Jahre immer wieder auf die kriminologische Tagesordnung gesetzt hat 2 . Die Suche nach den komplexen Ursachen der Vormachtstellung von Männern und nach Erklärungen für geschlechtsspezifische Formen der Viktimisierung beginnt seit dem Ende der 70er Jahre. Dieser Blick verdankt sich in westlichen Industrienationen der »radikalen« feministischen Kritik. Diese ist sowohl mit dem politischen Kontext sozialistischer Bewegungen verbundenen (socialist feminism in englischsprachigen Ländern), als auch mit der richtungsweisenden, in der Substanz politischen Gesellschaftskritik des »radikalen« Feminismus. Für die letztere Tradition werden im englischsprachigen Kontext die Ausdrücke radical und cultural feminism verwendet. Das Zusammenwirken wissenschaftlicher, politischer und praktischer Anstrengungen beider Richtungen, der »links«- und »radikal-feministischen« haben auch für die vorliegende Forschung den Raum und den wissenschaftlichen Status geschaffen.

3.1 »Bewegungstheorien« über männliche Gewalt Die »radikale« Richtung interpretiert im Unterschied zu der des liberal und socialist feminism die Herrschaftsform des Patriarchats als diejenige Absicherung von Macht, Privilegien und Gewaltpraktiken von Männern gegenüber Frauen, die alle anderen Spielarten der Unterdrückung bedingt und überlagert. In dieser Sicht sind class und race/ethnicity der Geschlechterunterdrückung nachgeordnet. Die Entwicklung dieses Standpunkts führt dabei von der Kritik der das Geschlecht ausschließenden Analyse von Herrschaft über Zwischenschritte zu einer Sicht, die ausschließlich Geschlechterherrschaft als Wurzel von Macht und Unterdrückung ansieht. Der weibliche Opferstatus ist in dieser Betrachtungsweise kultur- und zeitübergreifend festgelegt, und Herrschaftsanwendung und Herrschaftsunterworfenheit werden als Diskurs von Kontrolle, Ausschluß und Unterdrückung des weiblichen Geschlechts verstanden. Kate Millets Arbeit von 1970 wird allgemein als der Beginn des »radikalen« Feminismus angesehen. Millets prinzipielle Zurückweisung solcher Sozialwissenschaft, die aus-

»Bewegungstheorien« über männliche Gewalt

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schließlich ökonomische und sozialstrukturelle Bedingungen als Ursache von Macht- und Statusunterschieden versteht, wird begleitet von der Kritik der Familie, die als Institution des Patriarchats die Unterdrückung der Frau reproduziere. Die Geschlechtsrollen als Dispositive der Männermacht würden so »im Privaten« erzeugt und perpetuiert. Die Sphäre des Privaten, der unmittelbaren Beziehungen zwischen Familienangehörigen untereinander, gerät in den Blick, um die männliche Vormacht, ermöglicht durch die Unterdrückung der Frau, zu verstehen. Das Hegemoniekonzept als Instrument einer Soziologie des Geschlechterverhältnisses wird durch Millets Beitrag gewissermaßen vorbereitet, denn es wird festgestellt, daß die Durchsetzung männlicher Interessen alltäglich nicht durch brutale Gewalt geschieht. Millet sieht die Umsetzung von Geschlechtsrollensozialisation in der Dynamik von persönlichen Beziehungen in der Familie als Basis der Reproduktion von Frauenunterdrückung. Daß »das Private politisch ist« sei eine Formel der sozialen Bewegung der New Left, die durch die »radikale« amerikanische Frauenbewegung in das breitere Bewußtsein vorgedrungen sei (Messerschmidt 1993: 33). Diese frühen Ansätze haben nicht die sexuelle und physische Unterdrückung der Frau in den Mittelpunkt gestellt, diese aber durchaus als in bestimmten Zeiten und Kulturen geläufige Formen der Absicherung von männlicher Macht über Frauen angesehen. Die Unterdrückung der weiblichen Sexualität, bedingt durch die Geschlechtsrollensozialisation, sei einer der wesentlichen Gesichtspunkte der frühen »radikalen« Position. Vergewaltigung, obgleich untrennbar verbunden mit dem Patriarchat, wurde als mit der männlichen Rolle zusammenhängendes, »erlerntes« Verhalten verstanden. Vergewaltigung sei ein Gewaltakt, der alle Frauen terrorisiere und insofern als Mittel der sozialen Kontrolle von Frauen fungiere. Bevor Susan Brownmillers Formel.4//men are rapists in Teilen der Bewegungsliteratur den Charakter eines Naturgesetzes annehmen konnte, hat Susan Griffin in ihrer Untersuchung Rape: The All-American Crime die Angst vor Vergewaltigung noch sozialwissenschaftlich aufgefaßt. Aus dem Blickwinkel dieser Untersuchung ist die Angst vor dem nächtlichen Gang durch die Gasse, die Angst als potentielles Opfer aufzufallen, ob durch Kleidung oder Verhaltensmerkmale, eine geschlechtsspezifische Form der sozialen Kontrolle. Die Angst vor Vergewaltigung wird nicht nur von Frauen empfunden, bedingt aber fast auschließlich für weibliche Geschlechtsangehörige Einschränkungen in der Nutzung und Gestaltung von öffentlichem Raum und von Zeit, von persönlichem Verhalten und Aussehen. Zusammen bedeutet dies eine allgegenwärtige geschlechtsspezifische Kontrolle des Alltags (vgl. dazu auch Stanko 1994). Die Beschränkung der Nutzung von öffentlichem Raum ist bedingt durch seine Qualität als potentieller Tatort (Gasse, Park, Unterführung, Tiefgarage). Helle Tageszeit erscheint Frauen sicherer als die Dunkelheit: »Die Nacht nimmt eine ganz andere Bedeutung an.. .und die Hälfte der Zeit ist es Nacht« (Badinter 1993: 172). Verhalten muß kontrolliert sein, insofern als es männliche Angriffe nicht provozieren sollte. Kleidung sollte gefallen, aber nicht aufreizen etc. Die Anwendung von Wissen über die Gefahren, die daraus entstehen können, daß Vorsichtsmaßnahmen nicht ausreichend beachtet werden, kann durch eigene Erfahrungen von Viktimisierung entstehen, oder es wird vermittelt über die Erfahrungen von anderen Frauen und Mädchen. Fixiert liegt es aber in Bilder von Tätern und Tatorten vor, die auch, weil es den Absatz bzw. die Zuschauerquoten beeinflußt, durch Berichte in den Medien und in Produkten der Popu-

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lärkultur hergestellt werden. Das Gefahrenwissen wird so für Frauen ein Bestandteil ihrer Alltagswahrnehmung und z.T. auch des alltäglichen Handelns. Das resultierende Vermeidungsverhalten, z.T. auch eine lähmende Angst, haben für Angehörige des weiblichen Geschlechts eine unbestreitbar höhere Verbindlichkeit (Stanko 1987; 1994:36). Griffin machte die Beobachtung, daß der Verbreitung von Vergewaltigungstatbeständen nicht »natürliche«, sondern soziale und kulturelle Bedingungsfaktoren unterliegen. Diese Sicht verliert in der weiteren Entwicklung der »radikalen« Position an Bedeutung. In der eigenen Untersuchung verweisen die im internationalen Vergleich ausgeprägtere Sichtbarkeit von Gewaltstrafittaten, auch von solchen mit sexuellem Hintergrund in den frontier societies USA und Australien sowie der komplexe, aber nicht zu leugnende Zusammenhang zwischen sozialer Marginalisierung und (auch sexueller) Viktimisierung auf die kulturellen und sozial-ökonomischen Dimensionen, die im Kontext Geschlecht und sexueller Viktimisierung zu berücksichtigen sind (vgl. auch Stanko 1994: 44). In der Universalformel all men are rapists, die in verschiedenen Spielarten im radicalfeminism, zum Teil auch in den new men 's studies zu den Grundannahmen gehört, ist die Auffassung des Zusammenhangs von »Männlichkeit« mit Gewalt auf die Spitze getrieben, vorwiegend in Form eines moralischen Schuldvorwurfs. Der Blick der frühen »radikalen« Tradition auf die sozialen Determinanten von männlicher Vormacht und Gewaltausübung/-androhung wird abgelöst durch ein drastisch reduziertes Verständnis von Macht, Geschlechterverhältnis und Gewalt. Bereits bei Susan Brownmiller findet sich eine Sichtweise, die sexuelle Gewalt von Männern gegen Frauen als eine biologisch bedingte Grundlage der patriarchalischen Gesellschaftsform und somit als Basis der fortgesetzten Unterdrückung der Frauen auffaßt. Danach kann der Mann durch seine anatomische Austattung, verstanden als allgemeine physische Überlegenheit und als besondere Beschaffenheit seines Geschlechtsorgans, vergewaltigen. So werde sein Verhalten von einer »Ideologie der Vergewaltigung« gesteuert. Durch Vergewaltigung als Praxis oder als stetige Drohung würde demnach die Herrschaft aller Männer über alle Frauen in aller Welt und zu allen Zeiten bedingt und aufrecht erhalten. Gegen Frauen und Mädchen sexuell gewalttätige Männer werden als Agenten einer »Spezialeinheit«, zufront line shock troops, später, in einer Steigerung dieser Perspektive sogar als Helden und gefeierte Märtyrer der Männerherrschaft beschrieben. Als solche würden sie allen Frauen immer wieder verdeutlichen, daß die Machtverhältnisse nicht ohne Gefahr für Leib und Leben verändert werden können. Der implizite Essentialismus der soziologischen Rollenperspektive der frühen »radikalen« Richtung ermöglicht in der weiteren Entwicklung dieser Position die Marschroute in die ausschließlich biologistische Zuschreibung. Aus Soziologie wird so ein durch »Natur« informiertes System von Glaubenssätzen3 Messerschmidt zeigt in der Entwicklung des »radikalen« Feminismus in den USA mehrere parallel verlaufende Entwicklungen: l)Das ursprüngliche »radikal«-feministische Interesse am weiblichen sexual pleasure wandelt sich, auch durch die Dominanz bestimmter Szenen in dieser Bewegung, in einen mehr oder minder fixierten Blick auf sexual danger für Frauen durch Männer. Vergewaltigung wird nicht mehr der Sexualität zugeordnet, sondern nur noch der Gewalt.

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2) Ein »natürlich« begründeter Unterschied erscheint als Basis der Geschlechterunterdrückung. Die »männliche Ideologie der Vergewaltigung« ist demnach biologisch bedingt. »Männlich« und »weiblich« werden nicht mehr als soziale Kategorien verstanden, die mit Kultur, Ökonomie, Religion etc. in Verbindung stehen. 3) Gewalt gegen Frauen ist in dieser Sichtweise nicht Folge oder Begleiterscheinung der männlichen Vorherrschaft, sondern sie ist die Grundlage des patriarchalischen Systems der Unterdrückung (1993: 35-37). Möglichkeiten einer langfristigen Veränderung dieses Zustandes werden zunächst in einer Vorstellung von Androgynität gesehen, die aber bald aufgegeben wird. Praktisch setzt sich die »radikale« Perspektive in Programme zur strikten strafrechtlichen Kontrolle von Männern und zur Einrichtung von rape crisis Zentren für Frauen um. Gefordert wird zudem die Abschaffung der »patriarchalischen Geschlechtsrollenerziehung«. Parallel zu einem gesteigerten Bewußtsein über die strukturelle, aber verdeckte Viktimisierung von Frauen in privaten Beziehungen (Vergewaltigung, Mißhandlung) und in ihren Arbeitsbeziehungen (sexuelle Belästigung) ensteht im Zentrum des »radikalen« Feminismus die zeit- und kulturübergreifende Gestalt des violent heterosexual male (Messerschmidt 1993: 39-45). Dieser soll nicht mehr durch allgemeine Androgynie, sondern durch eine Gegenkultur der Frauen bezwungen oder in Schach gehalten werden. Hier vollzieht sich im Übergang vom radical zum culturalfeminism ein Paradigmenwechsel. In der mainstream Kriminologie wie in der allgemeinen männerdominierten Sicht werde Männliches als Normalität gesetzt, und »das Weibliche« erscheine als das von der Normalität abweichende und minderwertige »Andere« (Other) der Männlichkeit (1993: 39; Brook 1994: 52f). Der Feminismus der Gegenkultur setzt »das Weibliche« zunächst als Normalität und besetzt in einem nächsten Schritt alles, was »weiblich« ist (»from the workplace to the bedroom«) mit einer essentiellen Qualität von »gut«. Dagegen wird alles »Männliche« als »schlecht« angesehen. Diese qualitative Bewertung der Geschlechter aus der Sicht von privilegierten weißen Frauen, fast ausschließlich Mittelschichtsangehörige in akademischen Berufen, steigert sich stellenweise in eine Mythologie. Sie teilt die Welt auf in das »weiblich Reine« (pure) und das »männlich Böse« (evil) und gerät so zum umfassenden Ausdruck und zur Kulmination des in der judäo-christlichen Kultur und in der westlichen Sozialwissenschaft angelagerten Tendenz zur dualistischen Betrachtung (grundlegend dazu Shimada 1994): Reine heilende Natur auf der einen, schlechte zerstörerische Kultur auf der anderen, reine Seele hier und sündiger Körper als Gegenüber, hier heimische Geborgenheit und privates Glück, dort Triebhaftigkeit und öffentliche Gefahr etc. Der Kampf zwischen Gut und Böse, zwischen dem Teufel als Mann und der guten und weisen Göttin wird hier auf ein polar mit Wertigkeit geladenes Geschlechterverhältnis übertragen. Nicht ganz unverständlich werden so Kriminalität und Gewalt schlechthin, ebenso wie Umweltzerstörung, Ausbeutung von Drittweltländern und Krieg zur ausschließlichen Domäne des Männlichen, zur männlichen Verkörperung des Bösen. Kriminalität hat dann nur noch zwei Seiten: männliche Täter und weibliche Opfer. Die Wahrnehmung und Sichtweise verfahrt nach den Prinzipien des Schuldvorwurfs, und so kann der »Chor der Opfer« (Thürmer-Rohr 1987: 122) den Frauen Mitschuld an dieser Männerherrschaft nur im moralisie-

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rend-provokativen-Vorwurf der »Mittäterschaft« zuweisen (1987: 38). Sexuelle Initiative des Manns wird mit Vergewaltigung, männliche Sexualität mit Mord gleichgesetzt. Die Vernichtung der Frauen ist demzufolge im Programm männlicher Sexualität festgeschrieben: ...the annihilation of women is the source of meaning and identity for men. (Dworkin, zitiert in Messerschmidt 1993: 41). Der Penis sei in dieser Richtung zum kulturellen Symbol als schlimmer Waffe des männlichen Terrors geworden, Vergewaltigung erscheine als das bestimmende Paradigma von Sexualität, Heterosexualität als »der Stoff, aus dem der Mord, nicht die Liebe ist«. Diese »erschreckende Abqualifizierung des Penis durch Andrea Dworkin« (Badinter 1993:154) wird zum Teil im »Selbsthaß« der New Men's Studies übernommen (vgl. auch Tacey 1991 : 783ff). Die Sichtung der theoretischen Standpunkte des culturalfeminism zum Thema Kriminalität und Gewalt benennt die zentrale Hypothesen der entsprechenden feministischen Rechts- und Sozialwissenschaft: 1) Heterosexualität und sexuelle Gewalt sind die Basis der Männerherrschaft: Vergewaltigung, Mißhandlung von Ehefrauen, Vergewaltigung von Ehefrauen, gewalttätiger Inzest, sexuelle Belästigung und Pornografie und Heterosexualität dienen der Unterwerfung von Frauen. Soziales Geschlecht stellt sich durch (männliche) sexuelle Vorherrschaft her. Die männliche Definitionsmacht über Sexuelles und Sexualität drückt beidem immer die »Perspektive der Vergewaltigung« auf. Entsprechend gibt es keine klare Unterscheidung zwischen einem auf Einwilligung beruhenden heterosexuellem Geschlechtsakt und Vergewaltigung, sondern stattdessen ein »Kontinuum von Druck, Drohung, Zwang und Gewaltanwendung«. So seien alle Frauen Opfer, der Unterschied in der erfahrenen Gewalt sei nur ein gradueller und die Verwendung des »Opfer«-Begriffs führe zu einer Spaltung der Frauen. Ebensowenig sollte zwischen »Tätern« und Männern unterschieden werden. 2) Sexuelle Gewalt ist in dieser Sicht der Heterosexualität zu eigen. Eine riesige Population von männlichen Geschlechtsangehörigen ist demnach an der weiblichen Sklaverei direkt beteiligt. Dies fuhrt aber nicht zum Alarm, zur Ausrufung eines allgemeinen Notstands, hervorgerufen durch Sexualgewalt, sondern werde als normales Verhalten verstanden. 3) Auch in den gemäßigteren Positionen des »radikalen« Feminismus wird das auf Heterosexualität beruhende Patriarchat (heteropatriarchy) als die alle anderen Unterdrükkungssystemen zugrundeliegende Form der männlichen Vorherrschaft angesehen. Auch in neueren feministischen Stellungnahmen werden die obigen Annahmen als Grundlage einer wissenschaftlichen Diskussion des Themas »Männlichkeit und Gewalt« eingeklagt (z.B. Hanmer 19904; Heiliger und Engelfried 1995).

Kritik an der »radikalen« Position

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3.2 Kritik an der »radikalen« Position Messerschmidt weist auf die vereinfachende Beurteilung der Geschlechterunterschiede und -konflikte im cultural feminism hin sowie auf die dort erfolgende Reduktion von zwischengeschlechtlicher Sexualität auf eine fur Frauen immer und überall gefahrliche Ausbeutung durch eine in sich maligne Männlichkeit. Zudem seien viele der »radikal-feministischen Annahmen, obgleich aus dem amerikanischen Kontext entstanden, noch nicht einmal auf diesen anwendbar. Ihre begrenzte theoretische Reichweite erweise sich auch an der Situation der afroamerikanischen Männer als Mitglieder einer in der Kriminalisierung stark überrepräsentierten Minderheit. Die strukturelle Benachteiligung dieser Männer durch Rassismus und Klassenherrschaft stattet sie mit weniger Kontrolle sowohl über ihr eigenes Leben als auch die ihrer Frauen aus, eine Differenzierung, die die »radikale« Position nicht erfaßt, da sie von einer einheitlich beschaffenen Männlichkeit ausgeht. In einem anderen Kontext schreibt dazu Sallie Westwood: Thus, an analysis of black masculinities must also move away from the essentialisms of feminism to a different terrain in which the essentialism of the subject is challenged. (1990: 56) Weiterhin wird an den Annahmen des »radikalen« Feminismus kritisiert, daß sie die folgenden sozialen Merkmale im Kontext des Geschlechterverhältnisses nicht beachten würden: 1)die Unterschiede zwischen Männern in bezug auf die Kategorien Alter, Klasse, Ethnie und sexueller Präferenz; 2) die Gründe für die Ausformungen unterschiedlicher Männlichkeiten, die auch sehr unterschiedliche Grade von Gewalt gegen Frauen aufweisen; 3) die Unterschiede zwischen den Gründen fur Gewalt gegen Frauen und ihre jeweiligen Auswirkungen. Zusammenfassend wird für das theoretische Differenzierungsvermögen des cultural feminism die Metapher der Planierraupe benutzt: Indeed, radical feminists simply bulldoze away the complexity in which gender (masculinity) is situationally and, therefore, differently accomplished throughout society. (Messerschmidt 1993: 45) Der »radikalen« Perspektive unterliegt, was die eigene Untersuchungsfragestellung betrifft, eine im besten Fall eindimensionale Vorstellung von »fixierter« männlicher Geschlechtsidentität, aus der sich eine Prädisposition zu männlicher Kriminalität, definiert als Gewalt gegen Frauen, naturgesetzlich ableitet. Gewalt wird ausschließlich als auf Penetration des weiblichen Geschlechtsorgans, letztlich auf das Ziel der Tötung der Frau ausgerichtetes männliches Verhalten verstanden. Dies ist ein Verständnis, das, wie oben ausgeführt, weder kulturspezifische und -übergreifende, noch geschlechtsspezifische und -übergreifende Praktiken von Abweichung und Kontrolle befriedigend erklären kann. Bei-

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spielsweise ist, trotz der im Vergleich zur Mißhandlung von Frauen durch männliche Partner quantitativ geringen Ausprägung, (im Feminismus über lange Zeit tabuisierte) Gewalt in lesbischen Partnerschaften, erkennbar daran, daß in einigen größeren Städten der USA Frauenhäuser fur die von ihren Partnerinnen mißbrauchten Frauen existieren (Renzetti 1988), ein Phänomen, das mit den grundlegenden Bewertungen des radical feminism im Widerspruch steht und so das gesamte theoretische Gerüst dieser Richtung erheblich ins Schwanken geraten läßt. Dazu ist die verwendete Vorstellung von »geronnener« Identität (als »die« geschlechtliche, sexuelle oder soziale Identität) ein problematisches Instrument für eine Sozialwissenschaft, die Wechselprozesse zwischen persönlichen und sozialen und anderen Konstellationen erfassen muß. Für die Erfassung der komplexen Prozesse, in denen in der Alltagskultur, in der Erziehung, in der Arbeitswelt, in Beziehungen oder gar in der Kontrolle abweichenden Verhaltens Zuschreibungen von »männlich« oder »Männlichkeit« erfolgen, ist ein solcher Identitätsbegriff zumeist untauglich. Für Identität gibt es keinen fixierten Zustand, auch nicht für solche, die mit der Zugehörigkeit zu einem Geschlecht (sozial und biologisch verstanden) zu schaffen hat: (I)dentity is a construction and, as such, involves a process of exclusion, negation and repression. And this is a process which even if successful, results in an identity intrinsically unstable. This is bad news for masculinity one of whose self-conceptions is stability, and whose functions is to maintain it socially and psychically. (Dollimore 1986: 6-7). Carrigan, Connell und Lee ( 1985) haben im Feminismus das Problem der grob reduzierten und negativen Sichtweise von Männlichkeit als das einer Gleichschaltung von Männlichkeit mit der unausgesetzten Schuftigkeit aller Männer als Agenten des Patriarchats identifiziert. Dies führt, wie sie zeigen, zu einem weitgehend schematischen Verständnis des Verhältnisses zwischen den Geschlechtern. Diese Gleichsetzung würde aber insbesondere bei Männern, die sich mit Problemen der Frauenunterdrückung/Männerherrschaft befassen, zu einer lähmenden Politik des Schuldgefühls fuhren, für die die Autoren einiger der Schriften der new men's studies zum Beleg anfuhren. Tacey (1991) findet in der Sprache der new men's studies ähnliche Kastrationsphantasien, wie sie im culturalfeminism zutage treten. Die ganze Malaise der Männlichkeit und der Welt ist in der Sicht dieser sozialen Bewegungen phallisch bedingt. Deshalb müsse der Phallus »Männlichkeit« rausgerissen werden, um das Üble im Keim zu bekämpfen. Was die wissenschaftliche Brauchbarkeit der entsprechenden Annahmen betrifft, finden sich ähnliche Probleme in der feministischen Geschlechterforschung und bei den Geschlechtsrollenansätzen: Thus, radical and cultural feminism, like sex role theory, is incapable of explaining the various ways that masculinity and femininity are constructed under different historical and social conditions (...). Indeed, one cannot understand why wife burning is prevalent in India but not in the United States without a thorough examination of the particular social conditions that prevail in these societies. Otherwise, it follows that Indian men are biologically predisposed to burning their wives while U.S. men are not. (Messerschmidt 1993: 47)

Kritik an der »radikalen« Position

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Für die eigene Untersuchung liegt der problematische Gehalt der Kausalitätsannahmen dieser Prägung prinzipiell darin, daß allein die Dichotomie »männlich«-»weiblich« auch ohne ihre Ladung mit negativer und positiver Bewertung an der Basis der entsprechenden Annahmen für den Kulturvergleich unbrauchbar ist. Für den amerikanischen Kontext gilt: The position that »male sexuality« is uncontrollable and preordained with violence whereas »female sexuality« is nurturant and serene reproduces, rather than challenges, current gender arrangements and normative heterosexuality. Contemporary radical and cultural feminism are similar to the sex-role theorists (...) inasmuch as they uncritically build their theoretical frameworks upon the assumption that gender is exclusively dichotomuous. (1993: 50)

Hinter der biologistischen Auffassung von Geschlecht und Gewalt in Teilen der Bewegungsliteratur verbirgt sich eine vorwissenschaftliche Sicht, eine Dämonologie, die in kruder Form auf das Verhältnis der Geschlechter übertragen wurde. Die Annahme, daß Vergewaltigung der männlichen Sexualität inhärent ist, kann nicht bewiesen werden (vgl. Badinter 1993: 173). Gerade der Kulturvergleich zeigt die Unhaltbarkeit der Axiome der ethnozentrischen feministischen Sozialwissenschaft. In the past there has been a tendency for the women's movement to take it for granted that there is a recognisable unified subject >woman< about whom generalising and universalising statements can be unconditionally made. This has had a political value in creating a unified base for action. .. >Sisterhood is globalWelt< und den der >Menschheit