Gurdjieff. Der Kampf gegen den Schlaf
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Table of contents :
Esoterik
Inhalt
Einleitung
Der Magier
Die frühen Jahre
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Moskau und St. Petersburg
4
Ouspensky auf der Suche nach dem Wunderbaren
5
Die Sintflut und was danach kam
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Das Wecken des Mutes
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Neue Wege
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Gurdjieff kontra Ouspensky?
Anmerkungen

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Esoterik Herausgegeben von Gerhard Riemann

»Gurdjieff selbst, ein ruhiger, bulliger Mann, mit Muskeln wie von Stahl, den Kopf geschoren wie ein preußischer Offizier, mit einem imponieren­ den schwarzen Schnauzbart und meistens teure ägyptische Zigaretten rauchend, mit makelloser Abendkleidung angetan, stand lässig im Audi­ torium oder an einer Seite neben dem Flügel... Er schrie niemals. Immer war er lässig, doch zu jeder Zeit beherrschte er die Situation vollkommen. Erwirkte wie ein Sklavenaufseheroder Dompteur, der seine unsichtbare Peitsche lautlos durch die Luft tanzen läßt. Außerdem war er ein großarti­ ger Showman, und an einem Abend brachte er einen Höhepunkt, der die in der vordersten Reihe sitzenden Zuschauer buchstäblich von ihren Sit­ zen hochriß. Seine Varietetruppe hielt sich im hintersten Teil der Bühne mit Blickrichtung aufs Publikum auf. Auf sein Zeichen hin rasten alle mit voller Geschwindigkeit auf die Rampenlichter zu. Wir erwarteten nun eine großartige Darbietung von plötzlich fixierter Bewegung zu erleben. Statt­ dessen drehte sich Gurdjieff ruhig um und zündete sich eine Zigarette an. Im Bruchteil der nächsten Sekunde ergoß sich ein aus Menschen beste­ hender Wasserfall über das Orchester hinweg durch die Luft herunter zwischen leere Stühle auf dem Fußboden...«

William Seabrook Witchcraft, Its Power in the World Today

Colin Wilson, geboren 1931, ist 1956 mit seinem ersten Buch The Outsider international bekannt geworden. Seither hat er eine Reihe von Büchern über Aspekte des Okkulten und Übersinnlichen geschrieben, die welt­ weites Aufsehen erregten und zu den meistdiskutierten Werken auf die­ sem Gebiet gehören.

Deutsche Erstausgabe © Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nacht, München 1986 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts­ gesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Titel der Originalausgabe »The War Against Sleep. The Philosophy of Gurdjieff« © 1980 by Colin Wilson Wir danken dem O. W Barth Verlag, München, für die Abdruckeriaubnis von Zitaten aus dem Buch von RD. Ouspensky »Auf der Suche nach dem Wunderbaren. Fragmente einer unbekannten Lehre«. Umschlaggestaltung Dieter Bonhorst, München Satz IBV Satz- und Datentechnik GmbH, Berlin Druck und Bindung Ebner Ulm Printed in Germany 5 4 3 2 1 ISBN 3-426-04162-6

Inhalt Einleitung .................................................................. 7 1 Der Magier ........................................................... 9 2 Die frühen Jahre ................................................... 28 3 Moskau und St. Petersburg................................. 46 4 Ouspensky auf der Suche nach dem Wunderbaren ........................................... 63 5 Die Sintflut und was danach kam ...................... 84 6 Das Wecken des Mutes........................................ 102 7 Neue Wege ........................................................... 121 8 Gurdjieff kontra Ouspensky?............................. 138 Anmerkungen .......................................................... 166 Ausgewählte Literaturhinweise............................. 168

Einleitung 1951, ein Jahr nach dem Erscheinen von Auf der Suche nach dem Wunderbaren und Beelzebubs Erzählungen für seinen Enkel, bin ich zum erstenmal auf die Ideen Gurdjieffs gestoßen. Mir war sofort bewußt, mit einem der großen Geister dieses Jahrhunderts in Berührung ge­ kommen zu sein. 1955 habe ich erstmalig über ihn geschrieben, im Schluß­ kapitel meines Buches Der Außenseiter, wo er neben Ramakrishna und T. E. Hulme einen der wenigen Men­ schen verkörpert, die einen Weg gezeigt haben, wie dem »Siechtum des Menschen im zwanzigsten Jahrhundert« beizukommen wäre. Seitdem habe ich mehrere Bücher über ihn verfaßt —insbesondere Das Okkulte und Mysteries (Geheimnisse). Als mir jetzt vorgeschlagen wurde, über Gurdjieff zu schreiben, hatte ich erst meine Zweifel, denn das hieß, mich weitgehend zu wiederholen. Aber schließlich hat sich mein Gurdjieff-Bild im Lauf der Jahre doch auch ge­ wandelt und weiter geformt, und der Gedanke an ein neues Buch hatte entschieden seinen Reiz. Also fegte ich all meine Zweifel beiseite, ging auch das Risiko ein, mich zu wiederholen, und schrieb das Buch. Und je mehr ich mich damit befaßte, desto mehr merkte ich, daß Gurdjieff dabei eine völlig andere Bedeutung, eine ganz neue Hin­ tergründigkeit gewann. Ich lernte auf einmal den Unterschied zwischen »intuiti­ vem Erfassen« und bloßem »Wissen« begreifen — eine 7

Unterscheidung, die den Wesenskern des Gurdjieffschen Denkens bildet. Nicht zuletzt darum leiste ich keine Abbitte für irgend­ welche Wiederholungen aus früheren Werken - Gurdjieffs Ideen können das vertragen.

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Der Magier An einem strahlenden Sommermorgen im Jahre 1917 saß eine attraktive Russin, sie mag Ende Zwanzig gewesen sein, in Phillipows Cafe auf dem Newsky-Prospekt von Petersburg und wartete auf ihren Freund Peter Demianowitsch Ouspensky. Es war ganz und gar nicht seine Art, sich so zu verspäten. Als er schließlich atemlos eintraf, war er in einer für ihn ungewöhnlichen Aufregung. Das erste, was er sagte, war: »Ich glaube, diesmal haben wir wirklich gefunden, was wir brauchen.« Und dann rief er ihr ins Gedächtnis zurück, wie er 1915 in Moskau einem außergewöhnlichen Lehrer begegnet war, der über die fundamentalen Probleme der menschlichen Existenz ge­ sprochen und den Eindruck erweckt hatte, als habe er dazu auch die nötige Kenntnis und Autorität. Er hieß Ge­ org Iwanowitsch Gurdjieff. Jetzt, fuhr Ouspensky fort, sei Gurdjieff nach Petersburg gekommen - und in eben­ diesem Augenblick erwarte er sie beide in einer Phillipow-Filiale auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Die Dame, Anna Butkowsky, erzählt: Beim Eintritt in das andere Phillipow-Cafe sah ich ei­ nen Mann an einem Tisch in der hintersten Ecke sit­ zen, der einen einfachen schwarzen Mantel und die hohe Astrachanmütze trug, die russische Männer im Winter aufzusetzen pflegen. Seine feinen, männlichen Züge wie auch sein durchdringender Blick (der aller­ dings keineswegs unangenehm berührte) ließen die 9

griechische Abstammung erkennen. Er hatte einen länglichen Schädel, schwarze Augen, eine dunkle Hautfarbe und einen schwarzen Schnurrbart. Er wirkte sehr ruhig und entspannt und redete ohne Ge­ bärdenspiel. Schon allein neben ihm zu sitzen war das reine Vergnügen. Obwohl Russisch nicht seine Mut­ tersprache war, sprach er es fließend, nur etwas anders als wir, nämlich viel exakter und bildhafter. Gelegent­ lich sprach er fast träge, und man merkte, daß seine Sätze sorgfältig und in besonderer Weise für die be­ treffende Gelegenheit zusammengestellt waren, völlig anders als die fertigen Redewendungen, deren wir uns im allgemeinen bei einer Unterhaltung bedienen und denen jede Virtuosität oder persönliche Note fehlt. Man wurde schnell gewahr, daß er die Gabe hatte, aus­ drucksvoll zu formulieren. Und da saß ich nun und hatte das Empfinden, endlich einmal in der Nähe eines Gurus zu sein.

Einen ähnlichen Eindruck machte Gurdjieff auf alle, die ihm begegneten. Es gibt etwa ein Dutzend Berichte von Schülern, die ihre erste Begegnung mit ihm beschreiben. Fast ausnahmslos erwähnen sie jenen »Blick, der durch und durch ging«. Ein junger Offizier namens Thomas de Hartmann lernte Gurdjieff ungefähr zur gleichen Zeit kennen. Als sich ihm im Cafe zwei Männer in schwarzen Mänteln und mit schwarzen Schnurrbärten näherten, fragte er sich, welcher wohl Gurdjieff sei. »Aber meine Ungewißheit schwand sogleich angesichts der Augen ei­ nes der beiden Männer.« J. G. Bennett, der Gurdjieff 1920 in Konstantinopel kennenlernte, schrieb: »Ich be­ gegnete dem seltsamsten Paar Augen, das ich je gesehen habe. Die beiden Augen waren so unterschiedlich, daß ich mich fragte, ob mir nicht das Licht einen Streich spielte.« 10

All diese verschiedenen Eindrücke spiegeln sich in einer Bemerkung wider, die die Frau des Physikers Kenneth Walker einmal machte: »Der Haupteindruck, den ich von ihm hatte, war der einer ungeheuren Vitalität und geball­ ten Kraft. Ich hatte das Gefühl, er sei nicht etwa ein Mensch, sondern ein Magier.« Gurdjieff war tatsächlich so etwas wie ein Magier. Es be­ steht kein Zweifel, daß er gewisse magische oder psychi­ sche Kräfte besaß. Gurdjieff ging es in erster Linie um die inneren Möglichkeiten des Menschen - genauer gesagt, des menschlichen Bewußtseins. Das hat Ouspensky in seinem Buch Die Psychologie der möglichen Evolution des Menschen deutlich gemacht, wo er sagt, die normale Psychologie befasse sich mit dem Menschen in seinem gegenwärtigen Daseinszustand. Es gebe aber noch eine andere Psychologie, die den Menschen »nicht unter dem Gesichtspunkt betrachte, was er ist oder zu sein scheint, sondern unter dem Gesichtspunkt, was er werden könnte, das heißt unter dem Gesichtspunkt seiner mögli­ chen Evolution«. So ausgedrückt, klingt der Gedanke vage und unbe­ stimmt. Gurdjieffs Denkansatz war jedoch präzise und bestimmt. In den Schriften seiner Schüler - oder Jünger ist häufig die Rede davon, wie seine bemerkenswerten Kräfte wirksam wurden. Fritz Peters, ein Amerikaner, der Gurdjieff von Kindheit an kannte, beschreibt, wie er Gurdjieff gleich nach dem Zweiten Weltkrieg in Paris be­ suchte. Seine Kriegserlebnisse hatten Peters an den Rand eines Nervenzusammenbruchs geführt. Sobald Gurdjieff ihn sah, wußte er, daß er krank war. Als wir seine Wohnung betraten, führte er mich durch einen langen Flur zu einem dunklen Schlafzimmer, wies auf das Bett, bedeutete mir, mich hinzulegen, und ii

sagte: »Das ist dein Zimmer, solange du es brauchst.« Ich legte mich auf das Bett, und er ging hinaus, ohne jedoch die Tür zu schließen. Ich fühlte mich dermaßen erleichtert und war so aufgeregt über das Wiederse­ hen, daß ich in Tränen ausbrach, aber dann begann es in meinen Schläfen zu hämmern. Ich konnte nicht ru­ hen, stand auf und ging in die Küche, wo ich ihn am Tisch sitzend fand. Er blickte tiefbesorgt auf, als er mich sah, und fragte mich, was mir fehle. Ich erwiderte, ich brauche Aspi­ rin oder dergleichen gegen meine Kopfschmerzen, aber er schüttelte den Kopf, stand auf und bot mir den anderen Stuhl am Küchentisch an. »Ich mach' dir Kaffee. Trink ihn, so heiß du kannst.« Ich saß am Tisch, während er den Kaffee kochte und mir ein­ schenkte. Dann ging er durch den kleinen Raum hin­ über zum Kühlschrank, stellte sich davor auf und fi­ xierte mich. Ich konnte meinen Blick nicht von ihm wenden und bemerkte, daß er unglaublich erschöpft aussah - nie habe ich jemanden so müde ausschauen sehen. Soweit ich mich erinnere, hing ich zusammengesaokt über dem Tisch und schlürfte meinen Kaffee, als ich auf einmal merkte, wie auf seltsame Weise Energie in mir aufstieg - ich starrte ihn an, straffte mich automatisch, und mir war, als ginge ein starkes blaues elektrisches Licht von ihm aus und ströme in mich hinein. Dabei spürte ich, wie alle Müdigkeit von mir wich, im selben Augenblick jedoch sackte sein Körper zusammen, und sein Gesicht färbte sich grau, als weiche alles Leben aus ihm. Ich blickte ihn er­ staunt an, und als er mich aufrecht dasitzen sah, lä­ chelnd und energiegeladen, sagte er schnell: »Du bist wiederhergestellt - achte aufs Essen auf dem Ofen ich muß gehn.« Es lag etwas außerordentlich Alar-

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mietendes in seiner Stimme, und ich sprang auf, um ihm zu helfen, aber er winkte ab und schleppte sich langsam aus dem Zimmer.

Offenbar hatte Gurdjieff mit Hilfe psychischer Kräfte ir­ gendwie Lebensenergie auf Peters überströmen lassen entweder das, oder er hatte die Quelle der Lebenskraft in Peters' Innern berührt; jedenfalls erschöpfte er seine Kraft dabei. Peters sagt: »Ich war davon überzeugt, daß es nur auf Kosten seiner selbst ging.« Was dann passierte, ist ebenso bedeutsam: Innerhalb der nächsten paar Minuten wurde auch klar, daß er sich darauf verstand, seine Kräfte rasch zurück­ zugewinnen, denn zu meinem Erstaunen nahm ich bei seiner Rückkehr in die Küche eine solche Veränderung wahr: Er sah wieder wie ein junger Mann aus, frisch und munter, lächelte verschmitzt und war gutgelaunt. Er meinte, es sei gut, daß ich gekommen sei. Wiewohl ich ihn gezwungen hätte, sich fast über Gebühr anzu­ strengen, so hätte dies doch - wie ich bezeugen konnte - uns beiden sehr geholfen. Die letzte Bemerkung Gurdjieffs ist von erheblicher Be­ deutung. Als Peters die Wohnung betrat, sah Gurdjieff müde aus - »nie habe ich jemanden so müde ausschauen sehen«. Trotzdem unternahm er eine Anstrengung, die ihn noch mehr erschöpfte, und übertrug Lebensenergie auf Peters. Und dann, nach einer Viertelstunde, war er völlig wiederhergestellt und erfrischt. Was das bedeutet, liegt auf der Hand. Gurdjieff hatte offenbar vergessen, daß er seine eigenen Kräfte zu erneuern vermochte, bis ihn die Erschöpfung von Fritz Peters zwang, eine unge­ heure Leistung zu vollbringen. Vor der Ankunft von

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Peters hatte Gurdjieff seine eigene Übermüdung als ge­ geben hingenommen, als unvermeidlich. Erst bei der Übertragung von Energie auf Peters besann er sich wie­ der auf seine eigene Lebenskraft. Deshalb äußerte er Peters gegenüber, es sei gut, daß er gekommen sei. Diese Geschichte erklärt, warum Kenneth Walkers Frau Gurdjieff für einen Magier hielt. Darüber hinaus wird deutlich, daß seine »magischen« Kräfte nicht von der Art waren, wie sie meist bekannten »Okkultisten« und Ma­ giern zugeschrieben werden, etwa Madame Blavatsky oder Aleister Crowley. Von Madame Blavatsky wird er­ zählt, sie habe Klopfgeräusche von allen Zimmerwänden widerhallen lassen, und Crowley soll Menschen dazu ge­ bracht haben, auf allen vieren zu gehen und wie Hunde zu heulen; aber all ihre Künste hatten offenbar nicht diese starke belebende Wirkung auf irgend jemanden. Man braucht nicht einmal unbedingt anzunehmen, Gurdjieff hätte Peters mittels einer Art von telepathi­ scher Energieübertragung revitalisiert; ein Psychologe würde womöglich argumentieren, er habe sich einer Form von Suggestion bedient. Was Gurdjieffs Gabe zur Erneuerung seiner eigenen Energien betrifft, so ist diese Fähigkeit im wesentlichen bereits von Psychologen des 19. Jahrhunderts erkannt worden, Jahrzehnte vor Freud und Jung. Schon William James spricht in seinem bedeutenden Essay The Energies of Man davon.

Jedem ist das Phänomen vertraut, den einen Tag voller Lebenslust, den anderen recht lebensunlustig zu sein. Jeder weiß, daß jeden Tag Energien in ihm schlum­ mern, die an dem betreffenden Tag nicht gefordert sind, auf die er aber nötigenfalls zurückgreifen kann. Die meisten von uns haben das Gefühl, es laste eine 14

Art Wolke auf ihnen, die ihnen das Höchstmaß an Klarheit im Urteilen, an Folgerichtigkeit im Denken und an Sicherheit im Entscheiden verwehre. Gegen­ über dem, was wir sein müßten, sind wir nur halb­ wach. Unser Feuer ist gedämpft, unsere Kraft gedros­ selt. Wir machen nur von einem kleinen Teil unserer geistigen und körperlichen Möglichkeiten Gebrauch. Bei manchen Personen ist dieses Gefühl, von den rechtmäßig zu Gebote stehenden Möglichkeiten abge­ schnitten zu sein, übersteigert, und dadurch kommt es zu den schrecklichen neurasthenischen und psychasthenischen Zuständen, wo sich das Leben in ein Netz von Unmöglichkeiten verstrickt, wie sie so viele medi­ zinische Bücher beschreiben. Allgemein ausgedrückt, kommt der Mensch in seinem Leben nicht einmal in die Nähe seiner Grenzen; er be­ sitzt die verschiedensten Fähigkeiten, die er sich für gewöhnlich nicht zunutze macht. Weder ist seine Tat­ kraft maximal noch sein Verhalten optimal. In den elementaren Fähigkeiten, in der Koordination, der Macht zur Zügelung und Kontrolle, in jeder nur er­ denklichen Art und Weise ist sein Leben so beschränkt wie das Gesichtsfeld einer hysterischen Person — nur gibt es dafür kaum eine Entschuldigung, denn wäh­ rend der Hysteriker krank ist, ist es bei uns andern lediglich die tief eingewurzelte Gewohnheit — die Gewohnheit, nicht unser ganzes Selbst zu verwirkli­ chen -, die schlecht ist. James zitiert das unter Sportlern bekannte Phänomen der »zweiten Luft« als Beispiel für diese Kraft der Erneue­ rung von Energiereserven. Bei der Bewältigung einer Aufgabe machen wir es uns, wie er sagt, zur Gewohnheit, innezuhalten, sobald wir ermüdet sind - sobald wir den 15

ersten Anflug von Müdigkeit verspüren. Zwingen wir uns nun jedoch durchzuhalten, geschieht etwas Erstaunli­ ches. Die Müdigkeit nimmt bis zu einem gewissen Punkt zu, um dann plötzlich wie weggeblasen zu sein, so daß wir uns besser als vorher fühlen. Er erwähnt, daß es im 19. Jahrhundert zu den Standard-Behandlungsmethoden »neurasthenischer« Patienten gehörte, sie dazu anzutrei­ ben, sich mehr als sonst anzustrengen. »Zuerst kommt die äußerste Qual, dann folgt unerwartet Erleichterung.« Und er fügt hinzu: »Wir finden uns in unserm Leben mit Ermüdungsgraden ab, denen wir letztlich nur aus Ge­ wohnheit nachgeben.« Mit diesem Satz hat James den Kern von Gurdjieffs Le­ benswerk definiert. Sicher, Gurdjieffs Ideen decken einen Riesenbereich ab - die Psychologie, Philosophie, Kosmo­ logie, ja selbst die Alchimie. Aber den Kern seiner Lehre bildet die Idee, daß wir größere Fähigkeiten besitzen, als uns bewußt ist, und daß unsere offensichtlichen Grenzen ihre Ursache in einer bestimmten Form von Trägheit ha­ ben - einer Trägheit, die so sehr Gewohnheit geworden ist, daß sie sich zu einem Mechanismus ausgewachsen hat. Wie aber kann dieser Mechanismus kontrolliert oder aus­ geschaltet werden? In seinem Essay über die Lebensener­ giereserven weist William James darauf hin, daß wir diese tieferliegenden Kräfte erst mobilisieren, wenn wir entweder in einer Krise stecken oder wenn eine tiefemp­ fundene Dringlichkeit uns antreibt - ein unumstößlicher Entschluß. Er zitiert Colonel Baird-Smith, der 1857 wäh­ rend einer sechswöchigen Belagerung Delhis durch indi­ sche Rebellen für die Verteidigung der Stadt verantwort­ lich war. Seine Lippen, sein Mund und sein ganzer Kör­ per waren voller Wunden; ein verletztes Fußgelenk war nur noch eine schwarze, schwärende Masse; Durchfälle 16

hatten ihn zu einem Schatten seiner selbst abmagern las­ sen. Da er nichts essen konnte, lebte er nahezu aus­ schließlich von Brandy. Doch schien ihm das nichts aus­ zumachen. Die Krisensituation - die Notwendigkeit, das Leben von Frauen und Kindern zu schützen - versetzte ihn in einen solchen Zustand konzentrierter Entschlos­ senheit, daß er während der ganzen Belagerung frisch und tatkräftig blieb. Er tat eindeutig das, was auch Gurdjieff machte, als er Fritz Peters in der Küche sitzenließ: Er langte tief ins eigene Innere und mobilisierte seine Energiereserven. Diese Methode - Anreize, Spannung, ja sogar kritische Situationen aus freien Stücken förmlich zu suchen - ist eines der beliebtesten Mittel, um dem Gefühl der »auf uns lastenden Wolke« zu entgehen. Eine deprimierte Hausfrau geht hin und kauft sich einen neuen Hut. Ein gelangweilter Mann betrinkt sich. Ein unzufriedener Ju­ gendlicher stiehlt ein Auto oder nimmt zum Fußballspiel einen Schlagring mit. Allgemein ausgedrückt: Je stärker die inneren Potentiale einer Person auf Verwirklichung drängen, desto stärker ist der Widerwille der betreffen­ den Person gegen das Gefühl, »von den rechtmäßig zu Gebote stehenden Möglichkeiten abgeschnitten zu sein«. Shaws Captain Shotover erzählt Ellie Dunne: »In deinem Alter hielt ich Ausschau nach Widrigkeiten und Gefah­ ren, nach Entsetzen und Tod, um das Leben in mir stärker spüren zu können.« Aus dem gleichen Grund verspürte auch Ernest Hemingway die Lust, soviel Zeit mit der Großwildjagd, dem Stierkampf und der Kriegsberichter­ stattung zuzubringen. Der Wunsch, die Bande der eigenen Trägheit zu spren­ gen, veranlaßt die Menschen oft sogar dazu, sich völlig anders zu verhalten, als in ihrem Interesse läge. Van Gogh gab eine angenehme Stellung als Kunsthändler auf, 17

um Laienprediger bei belgischen Minenarbeitern zu wer­ den. Lawrence von Arabien lehnte eine gesicherte staatli­ che Anstellung zugunsten eines Lebens als gewöhnlicher Flieger bei der englischen Luftwaffe ab. Der Philosoph Wittgenstein verschenkte ein ererbtes Vermögen und wurde schlechtbezahlter Schulmeister. Diese »Außensei­ ter« waren nur von dem einen Wunsch beseelt, dem Empfinden des Ersticktwerdens, der Stagnation, zu ent­ gehen. Ihr Ziel war es, die »Gewohnheits-Neurose« ab­ zuwerfen - die »Gewohnheit, nicht unser ganzes Selbst zu verwirklichen«. Andererseits ist es ziemlich absurd, sich absichtlich in Gefahr oder Unannehmlichkeiten zu stürzen, wo man doch soviel Zeit seines Lebens daran wendet, derlei zu vermeiden. Es muß noch andere Wege geben, zu seinen Lebensenergiereserven vorzudringen, ohne dabei Kopf und Kragen zu riskieren oder auf einem Nagelbrett schla­ fen zu müssen. Eine Krise allein bringt gewiß die Lebens­ energie noch nicht zum Fließen; alles hängt davon ab, wie man darauf reagiert. Anscheinend gibt eine innere Stimme einen »Befehl«, der dann im eigenen Innern etwas auslöst, was einen jäh in einen Zustand gespann­ tester Aufmerksamkeit versetzt. Colonel Baird-Smiths Reaktion auf den Aufstand war der Befehl an sich selbst, durchzuhalten und Schmerz und Hunger zu ignorieren, bis die Krise unter Kontrolle war. Der Aufstand gab ihm lediglich ein Gespür für den Ernst der Lage, auf das seine »Lebensenergiereserven« sofort ansprachen. Wenn nun ein Mensch diesen Sinn für den Ernst der Lage, für die Notwendigkeit, in Aktion zu treten, schärfen könnte, müßte er in der Lage sein, die Energien auch ohne einen indischen Aufstand zu mobilisieren. Wie ist das zu erreichen? Laut Gurdjieff hat die Antwort zwei Teile. Zuerst muß der Mensch sich voll und ganz der

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Aufgabe widmen, seine normalen Grenzen zu überwin­ den; dazu ist die Art von Engagement erforderlich, die Heilige veranlaßte, auf Säulen zu leben. Zum zweiten muß er ein wenig von der Arbeitsweise des komplizierten Computers verstehen, der den menschlichen Geist beher­ bergt. (Gurdjieff starb vor Anbruch des Computerzeital­ ters, deshalb benutzte er das Wort »Maschine«; er hätte jedoch sicherlich »Computer« für passender und präziser befunden.) »Lerne die Maschine verstehen.« Dieser Kör­ per ist ein Computer, und so auch das Gehirn. Wie alle Computer sind beide zu weit mehr fähig, als wir ihnen je abverlangen. Aber mehr Möglichkeiten eröffnen sie uns nur, wenn wir sie vollkommen verstehen. Gurdjieffs Methode, das erste dieser beiden Ziele zu er­ reichen, bestand einfach darin, einen ungewöhnlich ho­ hen Einsatz zu fordern. Als der elfjährige Fritz Peters ihm einmal offenbarte, er wolle »alles über den Menschen« wissen, fragte ihn Gurdjieff mit großer Eindringlichkeit: »Willst du mir versprechen, etwas für mich zu tun?« Und als Peters bejahte, deutete Gurdjieff auf die ausgedehnten Rasenflächen vor dem Chateau du Prieure und sagte ihm, er müsse das alles einmal die Woche mähen. »Er schlug zum zweitenmal mit der Faust auf den Tisch. >Du mußt es bei deinem Gott versprechens Seine Stimme war todernst. >Du mußt mir versprechen, daß du diese Sache durchführst, was immer auch passiert... mußt versprechen, es zu machen, was immer auch geschieht, ganz gleich, wer dich daran hindern will.