Göttinger Händel-Beiträge, Band 24: Jahrbuch/Yearbook 2023 [1 ed.]
 9783666278389, 9783525278383

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Göttinger Händel-Beiträge Jahrbuch / Yearbook 2023

Göttinger Händel-Beiträge Begründet von Hans Joachim Marx Im Auftrag der Göttinger Händel-Gesellschaft herausgegeben von Laurenz Lütteken und Wolfgang Sandberger Band XXIV Redaktionelle Mitarbeit Viviane Nora Brodmann

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Bühnenfoto der Thyra Hagen-Leisner als Cleopatra (1922) (Städtisches Museum Göttingen) Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik GmbH & Co. KG, Göttingen Satz: textformart, Göttingen Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-330X ISBN 978-3-666-27838-9

Thyra Hagen-Leisner als Cleopatra, Szenenfoto Göttingen 1922, Städtisches Museum Göttingen

Thyra Hagen-Leisner als Cleopatra (1922) Das Bühnenfoto von 1922 zeigt die Sopranistin Thyra Hagen-Leisner (­ 1888–1938) in der Rolle der Cleopatra in der Göttinger Inszenierung des Julius Cäsar von Georg Friedrich Händel. Nicht zu verwechseln ist die Sopranistin mit ihrer Schwester, Emmi Leisner (1885–1958), die eine international renommierte Lied- und Konzert-Sängerin war. Von dieser haben sich auch einige frühe Schallplattenaufnahmen erhalten, darunter sogar eine Händel-Arie aus der Rodelinde. Demgegenüber war Thyra Hagen-Leisner eher eine semiprofessionelle Sängerin. Sie war seit 1914 mit dem Kunsthistoriker Oskar Hagen verheiratet, der treibenden Kraft der „Händel-Bewegung“ der Moderne, die mit der legendären Göttinger Rodelinde-Aufführung vom 26. Juni 1920 ihren Ausgang nahm. Schon bei dieser Premiere hatte Thyra Hagen-Leisner die Titelpartie übernommen. Sie dürfte auch für die Übersetzung des italienischen Librettos ins Deutsche verantwortlich gewesen sein. Das Bühnenfoto von 1922 spiegelt in der Kostümierung und Haltung der Protagonistin, die einem Stummfilm entsprungen sein könnte, die Moderne nach dem Ersten Weltkrieg. Die extravagante Kopfbedeckung der „Cleopatra“ kopiert exakt die weitausladende Haube der heute unbekannteren Standfigur der Nofretete, die 1920 als Schenkung nach Berlin gelangte. Diese altägyptische Darstellung korrespondiert auf faszinierende Weise mit der Mode der Roaring Twenties. Den Zeitgeist greift Paul Hindemith selbstbezüglich in seiner Komposition 1922. Suite für Klavier auf. Die Sätze „Shimmy“ und „Ragtime“ spielen mit den Modetänzen der Unterhaltungsmusik. Auf den deutschsprachigen Bühnen werden – neben der Wiederentdeckung des Julius Cäsar in Göttingen – allein im Frühjahr 1922 so unterschiedliche Werke wie Lady Chic von Walter Kollo (Berlin), Sancta Susanna von Paul Hindemith (Frankfurt a. M.) oder Der Zwerg von Alexander Zemlinsky (Köln) uraufgeführt. Diese „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ (Ernst Bloch) kann als ein Signum der Moderne gelten. Genau 100 Jahre nach dem Göttinger Bühnenfoto hat sich das Symposium, das in diesem Band dokumentiert ist, auf Spurensuche begeben und nach Anhaltspunkten für „Händel in der Literatur der Moderne“ gesucht. Die Fundstücke sind ebenso überraschend und disparat wie die Moderne selbst. Wolfgang Sandberger

Inhalt Laurenz Lütteken (Zürich) „Aus dem Hades bin ich zurückgekehrt“ – Händel in der Literatur der Moderne Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 Christine Lubkoll (Erlangen-Nürnberg) Musikeridole – Komponisten als Projektionsfiguren in der Literatur der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Esma Cerkovnik (Zürich) „Handel, who can still make atheists cry“: Händel zwischen Musik und Religion bei George Bernard Shaw . . . . 27 Joachim Kremer (Stuttgart) „Händel hören“ – „Händel sehen“: Romain Rollands antikisierendes Bild eines „génie homérique“ . . . . . 45 Michael Meyer (Trossingen) „Makrokosmos“ und „Masse“: Georg Friedrich Händel in Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit . 63 Arturo Larcati (Salzburg) Zwischen Ohnmacht und Gnade Zu Stefan Zweigs „Sternstunde“ Georg Friedrich Händels Auferstehung (1935) . . . . . . . . . . . . . . . 77 Klaus Wolfgang Niemöller (Köln) Sakralisierung der Kunst Händels Das graphische Schmuckblatt des Berliner Malers Melchior Lechter (1897) in der Händel-Biographie von Fritz Volbach (1898). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 Internationale Bibliografie der Händel-Literatur 2021/2022 . . . . . . . 109 Mitteilungen der Göttinger Händel-Gesellschaft e. V. . . . . . . . . . . 117 Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121

„Aus dem Hades bin ich zurückgekehrt“ – Händel in der Literatur der Moderne Einführung

Laurenz Lütteken (Zürich)

Im Jahr 1974, also lange nach dem Zeitraum, den man gemeinhin ‚Moderne‘ nennt, erschien Alejo Carpentiers Novelle Concierto barocco, Barockkonzert. Carpentier, zu diesem Zeitpunkt in seinem 70. Lebensjahr, schrieb eine Fantasie über eine reale und über eine phantastische Begegnung im Zeichen der Musik. Georg Friedrich Händel lernte während seines Venedig-Besuchs 1706 Antonio Vivaldi kennen, ein nicht folgenloses Treffen.1 Carpentier hat dies um eine fiktive Dimension erweitert. In seiner Erzählung beschließen die beiden Komponisten, einen Ausflug zur Insel San Michele zu unternehmen. Deren Bestimmung zur Friedhofsinsel stammt jedoch erst aus dem 19. Jahrhundert. Beim Erkundungsgang blieb Vivaldi plötzlich stehen „vor einem Grab in der Nähe, das er schon seit einiger Zeit beobachtet hatte, weil darauf ein in dieser Gegend ungewöhnlicher Name prangte. ‚Igor Strawinsky‘, sagte er buchstabierend. ‚Stimmt‘, sagte der Deutsche [also Händel, L. L.], seinerseits buchstabierend. ‚Er wollte in diesem Friedhof ruhen.‘ – ‚Ein guter Musiker‘, sagte Antonio, ‚aber manchmal sehr altmodisch in seinen Vorhaben. Er inspirierte sich an den altgewohnten Themen: Apollo, Orpheus, Persephone – wie ist das möglich?‘ – ‚Ich kenne seinen ‚Oedipus Rex‘, sagte der Deutsche. ‚Manche behaupten, daß er am Schluß des ersten Aktes – /Gloria, gloria, gloria Oedipus uxor!/ – an meine Musik anklingt.‘“2 In diesem surrealistischen Text verschwimmen willentlich die Grenzen, und sie machen auf pointierte Weise zwei Komponisten des 18. Jahrhunderts zu literarischen Figuren, die im Geflecht der literarischen Aneignungen und Verwandlungen von Musikergestalten zunächst keine herausgehobene Rolle spielten, nämlich Vivaldi und Händel. Im Falle zum Beispiel Johann Sebastian Bachs verhielt es sich ganz anders. Er wurde bereits im 19. Jahrhundert zu einer immer wieder bemühten Figur poetischer Imagination. Peter August Dazu bereits Hans Joachim Marx: Italienische Einflüsse in Händels früher instrumentaler Ensemblemusik, in: Dietrich Berke / Dorothee Hanemann (Hg.): Alte Musik als ästhetische Gegenwart. Bach, Händel, Schütz, Kassel u. a.: Bärenreiter 1987, S. 218–225. 2 Alejo Carpentier: Barockkonzert, Novelle aus dem Spanischen von Anneliese Botond, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1976, S. 65 f. 1

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­ ur­meister (1804–1870), der auch unter den Pseudonymen Johann Peter Lyser B und Hilarius Paukenschläger schrieb, veröffentlichte bereits 1837 seine dreiteilige Novelle Sebastian Bach und seine Söhne, es folgten u. a. 1857 der überaus erfolgreiche erste Band der Musikalischen Märchen von Elise Polko (1823–1899), einer in Duisburg lebenden Schriftstellerin, eines davon, Ein feste Burg’ ist unser Gott, war ausdrücklich Bach gewidmet, oder 1858 Albert Emil Brachvogels (1824–1878) dreibändiger, zahlreiche Auflagen erlebende Roman Friedemann Bach.3 Damit war eine Serie von Bach-Novellen und -Romanen begründet, die über das ganze 20. Jahrhundert anhielt und selbst im 21. Jahrhundert weiterhin fortgesetzt wird, bis hin zu Rolf Schneiders (geb. 1932) Die Offenbarung von 2009, dem ausdrücklich so genannten ‚Johann-Sebastian-Bach-Roman‘ Die Stimmung der Welt, den Jens Johler (geb. 1944) 2013 herausbrachte und der schon jetzt mehrere Auflagen erlebte, oder Sebastian Knauers (geb. 1949) Musik-Krimi Tödliche Kantaten, ebenfalls 2013 erschienen. Bemerkenswert ist allerdings der Umstand, dass der Gegenstand Bach schon vor und dann um 1900 zum bevorzugten Gegenstand quasi-religiöser, teilweise nationalistischer Erbauungsliteratur geworden war, als deren späte Verkörperung Kurt Arnold Findeisens (1883–1963) Der große Kantor und seine Orgel von 1961 gelten kann. Auch wenn Händel in der Novellistik des 19. Jahrhunderts durchaus begegnet, so bei Lyser,4 so spielte er doch insgesamt eine merkwürdig untergeordnete Rolle – erstaunlich nicht zuletzt deswegen, weil es im 18. Jahrhundert und insbesondere nach Händels Tod eine Reihe von bemerkenswerten Zeugnissen gerade der literarischen Auseinandersetzung gab.5 Dennoch überwog im 19. Jahrhundert, vor allem jenseits der Oratorien und nicht nur im deutschen Sprachraum, eine spürbare Distanz. Schon im 1803 abgeschlossenen Titan von Vgl. die alten Überblicksdarstellungen bei Hans-Martin Pleßke: Bach in der deutschen Dichtung, in: Bach-Jahrbuch 46, 1959, S. 5–51; sowie ders.: Bach in der deutschen Dichtung (II.). Nachlese zu einem unerschöpflichen Thema, in: Bach-Jahrbuch 50, 1963/64, S. 9–22; auch Karl Theodor Bayer: Bach und Händel in der deutschen Dichtung, in: Dichtung und Volkstum [eig. Euphorion] 37, 1936, S. 235–255. – J[ohann] P[eter] Lyser: Neue Kunst-Novellen, Bd. 1, Frankfurt a. M.: Sauerländer 1837, S. 197 ff.; hier benutzt Elise Polko: Musikalische Märchen, Phantasien und Skizzen, mit Illustrationen in Holzschnitt […], 4. Aufl., Leipzig: Barth, 1859; A[lbert] E[mil] Brachvogel: Friedemann Bach. Ein Roman, 3 Bde. Berlin: Junke 1858. 4 J[ohann] P[eter] Lyser: Händel, in: ders.: Neue Kunst-Novellen, Bd. 1, mit vier Zeichnungen vom Verfasser, Frankfurt: Sauerländer 1837, S. 111–144. 5 Für den deutschen Sprachraum Annette Monheim: Händels Oratorien in Nord- und Mitteldeutschland im 18. Jahrhundert, Hamburg: Wagner 1999 (= Schriften zur Musikwissenschaft aus Münster 12); Laurenz Lütteken (Hg.): Händel-Rezeption der frühen Goethe-Zeit. Kolloquium Goethe-Museum Düsseldorf 1997, Kassel u. a.: Bärenreiter 2000 (= Marburger Beiträge zur Musikwissenschaft 9); für den englischen Sprachraum vgl. die Hinweise bei David Reißfelder: Jenseits des Crystal Palace. Arthur James Balfour und die zweite ‚Handel Society‘, in: Göttinger Händel-Beiträge 22, 2021, S. 29–50. 3

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Jean Paul findet sich, unter Anspielung auf die Befreiungskriege, der ironische Hinweis: „sey versichert, in diesem glücklichen Fall stellte ich mich am ersten hinter die Spitze und führte die Kanonen mit der kurzen flüchtigen Bemerkung, wie Händel zuerst Kanonen in die Musik, so brächte man hier umgewandt zuerst Musik in die Kanonen“.6 Viel später bemerkte Hans von Bülow: „Was sind sämmtliche, für das Haymarket Theater in London geschriebene Oratorien des Londoner Weltmannes Händel gegen die eine Passionsmusik des gotterfüllten deutschen Joh. Seb. Bach?“7 Einige Jahre später sprach er einzig vom „stählenden Eindrucke, mit welchem Händel’sche Chöre eine energische Natur“ erfüllen könnten.8 Und am 17. Februar 1876 notierte Cosima Wagner in ihrem Tagebuch: „Am Nachmittag nimmt R. mehreres von Händel vor und erstaunt über die Banalität; gar keine Tiefe, kein Christentum, der rechte Jehovah-Dienst. Einzig ist ihm großartig in der Erinnerung die Cäcilien-Ode.“9 Er sei eben, wie er gute zwei Jahre später zu Protokoll gibt, der „Rossini der damaligen Zeit“.10 Im späten 19. Jahrhundert scheinen sich die Kontexte jedoch zu ändern. Bereits Friedrich Nietzsche setzte Händel zwar, im Zusammenhang seiner These von Musik als ‚verspäteter‘ Kunst, in den konfessionellen Zusammenhang des Luthertums, hob aber dabei etwas hervor, was man ‚modern‘ nennen könnte, nämlich eine eigenartige Unangepasstheit, die ihn damit eben über die Zeit hinausweise. Und so mehren sich gegen 1900 Zeugnisse, in denen Händel mit einem Mal nicht mehr als Gegenbild des ‚eigentlichen‘ Musikers, des „gotterfüllten deutschen“ Bach galt, sondern als kosmopolitischer Anwalt einer neuen, einer anderen Form der Selbstvergewisserung. In diesem Geflecht spiegelte sich gewissermaßen die gefühlte Ambivalenz des Gegenstands in der differenzierten Auseinandersetzung mit ihm. Während eben Bach durch seine Religiosität als ‚unanfechtbar‘ galt, wurde der Kosmopolit Händel zur Verkörperung von Ambivalenz und widerstreitenden Aspekten, mit einer Religiosität, die nicht gesetzt war, sondern erworben werden musste. Das Segment dieser literarischen Auseinandersetzung blieb klein, es war allerdings bedeutsam. Doch die damit verbundene Ambivalenz blieb es auch. Zu Beginn von Arthur Schnitzlers Leutnant Gustl langweilt sich der Protagonist bei Jean Paul: Titan, Bd. 4, Berlin: Matzdorf 1803, S. 262 f. Hans von Bülow: [Bericht über ein Konzert der Berliner Singakademie am 01.10.1855], in: Hans von Bülow: Ausgewählte Schriften. 1850–1892, Leipzig: Breitkopf & Härtel 1896 (= Bülow. Briefe und Schriften 3), S. 124–127, hier S. 125 f. 8 Hans von Bülow: Franz Liszt. Die erste Aufführung des Oratoriums ‚Die heilige Elisabeth‘ auf dem ersten ungarischen Musikfeste, in: Neue Zeitschrift für Musik 61, 8. September 1865, hier zit. nach: ders.: Ausgewählte Schriften (wie Anm. 7), S. 298–304, hier S. 302. 9 Cosima Wagner: Die Tagebücher, ediert und kommentiert von Martin Gregor-Dellin und Dietrich Mack, Bd. 1, München / Zürich: Piper 1976, S. 970 f.; Eintrag vom 17. Februar 1876. 10 Wagner: Die Tagebücher (wie Anm. 9), Bd. 2 (1977), S. 180; Eintrag vom 22. September 1878. 6 7

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einer Oratorienaufführung, deren Komponist nicht genannt wird, als den man sich jedoch mit sehr guten Gründen Händel vorstellen muss: „Wie lang’ wird denn das noch dauern? Ich muß auf die Uhr schauen… schickt sich wahrscheinlich nicht in einem so ernsten Konzert. Aber wer sieht’s denn? Wenn’s einer sieht, so paßt er gerade so wenig auf, wie ich, und vor dem brauch’ ich mich nicht zu genieren… Erst viertel auf zehn?… Mir kommt vor, ich sitz’ schon drei Stunden in dem Konzert. Ich bin’s halt nicht gewohnt… Was ist es denn eigentlich? Ich muß das Programm anschauen… Ja, richtig: Oratorium! Ich hab’ gemeint: Messe. Solche Sachen gehören doch nur in die Kirche! Die Kirche hat auch das Gute, daß man jeden Augenblick fortgehen kann. – Wenn ich wenigstens einen Ecksitz hätt’! – Also Geduld, Geduld! Auch Oratorien nehmen ein End’! Vielleicht ist es sehr schön, und ich bin nur nicht in der Laune. Woher sollt’ mir auch die Laune kommen? Wenn ich denke, daß ich hergekommen bin, um mich zu zerstreuen… Hätt’ ich die Karte lieber dem Benedek geschenkt, dem machen solche Sachen Spaß; er spielt ja selber Violine. Aber da wär’ der Kopetzky beleidigt gewesen. Es war ja sehr lieb von ihm, wenigstens gut gemeint. Ein braver Kerl, der Kopetzky! Der einzige, auf den man sich verlassen kann… Seine Schwester singt ja mit unter denen da oben. Mindestens hundert Jungfrauen, alle schwarz gekleidet; wie soll ich sie da herausfinden? Weil sie mitsingt, hat er auch das Billett gehabt, der Kopetzky… Warum ist er denn nicht selber gegangen? – Sie singen übrigens sehr schön. Es ist sehr erhebend – sicher! Bravo! Bravo!… Ja, applaudieren wir mit. Der neben mir klatscht wie verrückt. Ob’s ihm wirklich so gut gefällt? – Das Mädel drüben in der Loge ist sehr hübsch. Sieht sie mich an oder den Herrn dort mit dem blonden Vollbart?… Ah, ein Solo! Wer ist das? Alt: Fräulein Walker, Sopran: Fräulein Michalek… das ist wahrscheinlich Sopran… Lang’ war ich schon nicht in der Oper. In der Oper unterhalt’ ich mich immer, auch wenn’s langweilig ist.“11

Die Pointe dieses inneren Monologs liegt aber ausgerechnet darin, dass die teilnahmslos verfolgte Oratorien-Aufführung zum Auslöser einer immer unerbittlichere Züge annehmenden Selbsterfahrung mit tragischem Ausgang werden wird. Das Oratorium mit seiner Musik erscheint beiläufig – und wird dennoch zu einem schicksalhaften Programm. Es ist daher also kein Zufall, dass der Verweis auf diese Aufführung am Beginn der Novelle steht und dabei eine entscheidende Paradoxie bezeichnet. Wie Gustl bemerkt, bietet der vermeintliche Ort absoluter Gewissheit, die Kirche, jederzeit die Gelegenheit zur Flucht; der scheinbar absolute Ort nur vermeintlicher Gewissheit, der Konzertsaal mit seiner Oratorienaufführung, wird sich dagegen als unentrinnbare Klammer um das Leben erweisen.

Arthur Schnitzler: Leutnant Gustl, in: ders.: Der blinde Geronimo und sein Bruder. Erzählungen 1900–1907, Frankfurt a. M.: Fischer, 9. Aufl. 1999, S. 9–42, hier S. 9.

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Das Thema, dem das Symposium der Göttinger Händel-Festspiele von 2022 gewidmet war, gilt zwar einem kleinen, aber bedeutenden Bereich der Auseinandersetzung mit Händel, einem Bereich, dem bisher überdies nicht systematisch nachgespürt wurde. Händel, dies bemerkte schon Nietzsche, bot, anders als in den Heroisierungen des 18. Jahrhunderts, unerwartete Widerstände und Sperrigkeiten, die um 1900 durchaus wahrgenommen wurden – in einer kleinen Reihe bemerkenswerter Auseinandersetzungen. Christine Lubkoll zeichnet in ihrem Eröffnungsbeitrag, der zugleich der Festvortrag war, die Koordinaten und Kontexte dieser Auseinandersetzungen nach, vor dem Hintergrund der leitenden Frage, warum Musiker überhaupt zu literarischen Bezugsgrößen werden konnte. Am Ende der Reihe literarischer Händel-Auseinandersetzungen steht zweifellos Stefan Zweigs (1881–1942) Händel-Novelle, dem auch der Titel des Symposiums und damit dieses Bandes entlehnt ist – ein vieldeutiger Titel voller Ungewissheiten, denn der vermeintlich christliche Komponist entdeckt als Gegen-Ort ausgerechnet die antike Unterwelt, den Hades, fast, als habe er Carpentiers fiktiven Dialog zwischen Vivaldi und Händel vorausgeahnt. Arturo Larcati hat diesen späten Text in allen seinen vielschichtigen zeitgeschichtlichen Bezügen und Dimensionen untersucht. Drei weitere Schriftsteller stehen alsdann im Mittelpunkt. Im Falle George Bernard Shaws (1856–1950) ist die Auseinandersetzung mit Händel, wie Esma Cerkovnik erstmals detailliert aufzeigt, ebenso intensiv wie verblüffend, wird der Komponist gerade mit seinen religiösen Werken zu einer projektiven Reibungsfläche in einem sozialistisch-agnostischen Weltbild, und zwar weit jenseits der musikjournalistischen Tätigkeit Shaws. Der äußerst produktive Literaturnobelpreisträger Romain Rolland (1866–1944) hingegen schrieb 1910 ein Buch über Händel, in dem die Grenzen zwischen Biographie und Roman willentlich überschritten werden. Mit der Übersetzung in tatsächlich 13 Sprachen kann man dieses Buch als die wohl erfolgreichste Auseinandersetzung mit Händel überhaupt bezeichnen, und es ist bezeichnend, dass hier absichtsvoll historische und fiktionale Elemente überblendet werden. Joachim Kremer geht diesem erstaunlichen Spannungsfeld nach, mit einer Perspektive weit über Shaw hinaus. Egon Friedell (1878–1938) ist mit seiner dreibändigen Kulturgeschichte der Neuzeit, die rasch zu einem kanonischen Text aufstieg, zu einem der einflussreichsten Autoren des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts geworden. In diesem Panorama spielen die Musik und Händel eine bemerkenswerte Rolle, der Michael Meyer ausführlich nachspürt. In diesem Band kommt hinzu ein Beitrag von Klaus Wolfgang Niemöller, der mit seiner Untersuchung der Händel-Darstellungen des Illustrators Melchior Lechter (1865–1937) gewissermaßen die visuelle Dimension hinzufügt  – also einen Bereich, der bereits im 18. Jahrhundert eine zentrale Rolle spielte und in der Moderne nochmals Bedeutung erlangen sollte.

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Das Thema führt unmittelbar und nochmals in die Entstehungszeit der Göttinger Händel-Festspiele, denn gerade die dortige Entdeckung des Opernkomponisten Händel 1920 mit der Rodelinde verstand sich, wie Wolfgang Sandberger in seinem Festvortrag 2021 gezeigt hat, als genuines Signum der Moderne.12 Insofern ist auch der diesjährige Band der GHB nochmals ein Beitrag zu jenen Händel-Bildern, die um 1920 zur Etablierung der Göttinger Festspiele geführt haben. Alle Beiträger haben sich auf dieses Thema und die damit verbundene Grundlagenforschung vorbehaltlos eingelassen. Die Göttinger Händel-Festspiele, ihr Intendant Jochen Schäfsmeier, ihr künstlerischer Leiter George Petrou und das künstlerische Betriebsbüro, insbesondere Herr Kim Grote, haben das Festspiel-Symposium entschieden unterstützt. Esma C ­ erkovnik hat wiederum die Händel-Bibliographie beigesteuert. Frau Miriam Lux und Frau Jehona Kicaj vom Verlag Vandenhoeck & Ruprecht (Brill Deutschland) haben abermals die Veröffentlichung betreut. Die Redaktion lag diesmal in den Händen von Viviane Nora Brodmann. Laura Kacl und Célestine Muster haben das Register erstellt. Allen Beteiligten gilt der herzliche Dank der Herausgeber.

Wolfgang Sandberger: ‚Händel und wir‘? Kontinuitäten und Brüche in der hundertjährigen Geschichte der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen, in: Göttinger Händel-Beiträge 23, 2022, S. 9–27.

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Musikeridole – Komponisten als Projektionsfiguren in der Literatur der Moderne1 Christine Lubkoll (Erlangen-Nürnberg) „Aus dem Hades bin ich zurückgekehrt“2: Dieses Zitat aus Stefan Zweigs Erzählung Georg Friedrich Händels Auferstehung, das dem Göttinger HändelSymposium 2022 als Motto diente, hat auch den folgenden Beitrag inspiriert. Die Vision von der Überwindung der Unterwelt – im Text Stefan Zweigs ist der Satz dem Komponisten Händel selbst in den Mund gelegt – verweist, zusammen mit dem Titel der Novelle, auf einen bemerkenswerten Umstand bzw. auf eine generelle Tendenz, die mit der fiktionalen Gestaltung von Komponisten in der Literatur oft einhergeht: nämlich den Hang zur Mythisierung und quasireligiösen Überhöhung des Tonkünstlers und seiner ‚Genialität‘. Verweist doch Händels ‚Rückkehr aus dem Hades‘ auf die antike Mythologie und den dort immer wieder ausphantasierten Schrecken des Totenreiches, aber auch die Sehnsucht nach seiner Überwindung (man denke etwa an die Nähe zum Orpheus-­ Mythos). Korrespondierend hierzu bemüht der Titel der Erzählung (Händels Auferstehung) zugleich die christliche Religion, um auch hier die vorangegangene ‚Passion‘ des Künstlers in eine Heilsvision und Erlösung umzumünzen. Beide Anspielungen – die antike Mythologie und das christliche Modell – heben den Künstler in eine überirdische Sphäre, stilisieren sein „Schöpfertum“ zu einem göttlichen „Wunder“ und begründen die „Unsterblichkeit“ seines Werkes. Um eine solche fiktionale Idolisierung von Komponistenfiguren seit der Romantik, aber auch um die Art der Aktualisierung und Neuaufladung dieses Topos in der Literatur der Moderne soll es im folgenden Beitrag gehen. Zweigs Erzählung, in der sich alle genannten Vokabeln wiederholt finden (Genie; Wunder; unsterblich), komponiert den Gedanken von Passion und Auferstehung ganz konsequent anhand markanter Daten und Anspielungen durch. Händel, der nach einem Schlaganfall am 13. April 1737 in eine große

Für den Druck eingerichtete Fassung eines Festvortrags am 20. Mai 2022 im Rahmen der Göttinger Händel-Festspiele und hier des Symposiums „‚Aus dem Hades bin ich zurückgekehrt‘. Händel in der Literatur der Moderne“. Der Vortragsgestus wurde gelegentlich beibehalten. 2 Stefan Zweig: Georg Friedrich Händels Auferstehung, in: ders.: Sternstunden der Menschheit. Vierzehn historische Miniaturen, Frankfurt a. M.: Insel 2013, S. 68–91, hier S. 74. 1

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Schaffenskrise stürzt, kommentiert diese im Text mit den Worten Jesu Christi am Kreuz: „Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“.3 Nach seiner wunderbaren Genesung (Hier fällt der Satz: „Aus dem Hades bin ich zurückgekehrt“4) erlangt er seine Schaffenskraft zunächst nur ‚mäßig‘ wieder (das ist es, was er als sein ‚Kreuz‘ empfindet), bis er vier Jahre später anlässlich der Lektüre der Messias-Dichtung in eine Art kreativen Rausch gerät und in drei fieberhaft durchgearbeiteten Wochen das Oratorium komponiert. Wiederum an einem 13. April (1742) kommt es zur bombastischen Uraufführung, die dem Komponisten Händel einen unermesslichen Ruhm einbringt. Das Datum seiner todesähnlichen Erkrankung wird so durch die Geburt des unsterblichen Werkes geheilt. Und so ist es von großer Bedeutung, dass just das Datum des 13. April im Text ein drittes Mal wiederkehrt, nämlich als der Karfreitag des Jahres 1759, das ist ein Tag vor dem tatsächlichen Sterbedatum des Komponisten: „Am Karfreitag möchte er sterben, murmelte er. Die Ärzte staunten, sie verstanden ihn nicht, denn sie wussten nicht, dass dieser Karfreitag der 13. April war, der Tag, da die schwere Hand ihn zu Boden geschlagen, und der Tag, da sein ‚Messiah‘ zum ersten Mal in der Welt geklungen. Am Tage, an dem alles in ihm gestorben gewesen, war er auferstanden. Am Tage, da er auferstanden war, wollte er sterben, um ­Gewissheit zu haben des Auferstehens zum ewigen Leben.“5

Mit dieser Engführung von Künstlertum und christlicher Passionsgeschichte steht Stefan Zweig nicht allein. Sie findet sich schon in Wilhelm Heinrich Wackenroders Berglinger-Novelle (Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger) aus dem Jahr 1796, in der der Protagonist an einem Ostersonntag feierlich beschließt, Komponist zu werden; Jahre später stirbt er an einem Karfreitag nach der von einem heftigen Nervenfieber begleiteten Vollendung einer herrlichen „Passionsmusik“, die „ewig ein Meisterwerk bleiben wird“, wie es im Text heißt.6 Übrigens ist die Lebensgeschichte Berlingers eng an die Biographie eines historischen Komponisten angelehnt: nämlich Giovanni Battista Pergolesi, der im Text eine wichtige Vorbildfunktion für Berglinger erfüllt und der ebenfalls, nach der Komposition des berühmten Stabat mater, an einem Karfreitag gestorben ist (am 16. März 1736). Die Verbindung von

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Ebd., S. 75. Ebd., S. 74. Ebd., S. 91. Georg Friedrich Händel starb tatsächlich einen Tag später, am 14. April 1759. Wilhelm Heinrich Wackenroder: Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers ­Joseph Berglinger, in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Historisch-kritische Ausgabe, hg. von Silvio Vietta und Richard Littlejohns, Bd. 1: Werke, hg. von Silvio Vietta, Heidelberg 1991, S. 130– 145, hier S. 144.

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Künstlertum und Passion bildet seit der Romantik einen literarischen Topos, der insbesondere die Gestaltung von Musikererzählungen bestimmt.7 Aber nicht nur bezüglich dieser ‚Choreographie‘ der Lebensgeschichten ähneln sich die beiden literarischen Künstlernovellen (Zweigs Händel- und Wackenroders Berglinger-Novelle), sondern Parallelen finden sich auch in der fast stereotypen Charakterisierung der Komponisten-Figuren. Beide werden als exzentrische, einzelgängerische, von der Gesellschaft missverstandene oder auch missachtete Außenseiterfiguren beschrieben; beide sind höchst enthusiastisch und todgeweiht zugleich (oft sind Komponisten durch Krankheit gezeichnet); beide erscheinen als lebensuntüchtige, aber eben geniale Tonkünstler – Berglinger als in sich gekehrt, Händel als jähzornig; beide leiden am Banausentum der bürgerlichen (Musik-)Welt. Es ist daher nicht nur die anfangs erwähnte Tendenz zur Mythisierung und Idolisierung von Komponisten in literarischen Künstlererzählungen, sondern auch die auffällig stereotype ‚Musikerikonographie‘, die mich im Folgenden beschäftigen soll.8 Wie kommt es, dass ausgerechnet Komponisten in der Literatur immer wieder als außergewöhnliche, geradezu von Gott begnadete Übermenschen, aber auch als an der Welt scheiternde Randexistenzen dargestellt werden? Und lässt sich, bei allen Parallelen und Stereotypen der Darstellung – bis hin zum Kitsch – eine Entwicklung des literarischen Topos des Komponisten ablesen? Denn der Fokus richtet sich ja hier, im vorgegebenen Rahmen des Händel-Symposiums, auf die „Literatur der Moderne“. Das impliziert die Fragen: Lässt sich die Thematisierung und Stilisierung von Komponisten in der Moderne, also seit dem frühen 20. Jahrhundert, als eine spezifische Zuspitzung oder gar Modifikation im Verlauf der literarischen Tradition begreifen? Oder eher als eine Wiederaufnahme bzw. Reproduktion bekannter Topoi und Klischees? Meine Antwort auf beide Fragen lautet: ja und nein. Dies soll in zwei Schritten entfaltet werden.

Vgl. dazu etwa: Klaus Harro Hilzinger: Die Leiden der Kapellmeister. Der Beginn einer literarischen Reihe im 18. Jahrhundert, in: Euphorion 78, 1984, S. 95–110; Karl Prümm: Berglinger und seine Schüler. Musikernovellen von Wackenroder bis Wagner, in: Zeitschrift für Deutsche Philologie 105, 1986, S. 186–212. 8 Zum inzwischen in der Musikwissenschaft etablierten Forschungszweig der ‚Musikikonographie‘ vgl. zusammenfassend: Tilmann Seebass: Musikikonographie. Begriff, Fachgeschichte und Methodenfragen, in: Ludwig Finscher (Hg.): Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Bd. 6, 2. Aufl., Kassel u. a.: Bärenreiter 1997, Sp. 1319–1343. Siehe auch die Übertragung auf literaturwissenschaftliche Fragestellungen und in diesem Zusammenhang die Konzentration auf Musiker-Ikonographien bei Ruth Brusniak: „Die Sage von einem Menschen“. Musikerikonographie und Genredifferenzierungen in der Literatur der 1920er Jahre am Beispiel von Arnold Schmitz’ Beethoven, Franz Werfels Verdi und Franz Kafkas Josefine, unveröffentl. Manuskript (Masterarbeit an der FAU Erlangen Nürnberg) 2018. 7

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Zunächst ist eine historische Kontextualisierung erforderlich: der Blick auf die Entstehung einer fiktionalen Komponisten-Ikonographie seit dem 18. und frühen 19. Jahrhundert – seit der Empfindsamkeit und der Romantik – im Feld der Literatur. Ob als historisch verbürgte Tonkünstler oder fiktive Figuren, ob als Hauptprotagonisten oder nur en passant erwähnt: Die Musik, das Komponieren und die Existenz als Tonkünstler sind ein Themenkomplex, der sich seit der Aufklärung und seit der Ausbildung der bürgerlichen Gesellschaft als Sujet in der Literatur etabliert. Die Hintergründe hierfür möchte ich in einem ersten, dem größeren Teil des Beitrags, erläutern. Damit soll ein Diskurs beschrieben werden, der vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart hinein wirksam ist – und der auch die Darstellung Händels bei Stefan Zweig und anderen Autoren der Moderne bestimmt. Meine zweite These lautet: Während in der Darstellung genialer Musiker­ figuren um 1800 vornehmlich die pathologische Exzentrik und die Krise künstlerischer Subjektivität im Zentrum stehen, wird das Bild des Komponisten in der Moderne zum Repräsentanten der Kultur schlechthin. Dabei mischt sich radikale Kulturkritik mit mythisierenden Tendenzen bis hin zur Überzeichnung eines künstlerischen ‚Heldentums‘. Diese Entwicklung umreißt der Beitrag in seinem zweiten Teil.

Ausprägung des literarischen Musikdiskurses in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Zunächst also zur Entstehung einer ‚Musikerikonographie‘ bzw. der Ausprägung eines literarischen Bildes des ‚Komponisten‘ in der Sattelzeit zwischen 1750 und 1830, also jener historischen Umbruchskrise, in der das aufklärerische Denken, die bürgerliche Gesellschaft, ein neues ökonomisches System und eben auch eine bürgerliche Auffassung bzw. Funktionalisierung von Kunst sich herausbilden.9 Es sind drei Faktoren, die die Entstehung und Attraktionskraft von Künstler- und insbesondere Komponistenbiographien bzw. fiktionalen Künstlergeschichten seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begünstigen: erstens die Der Begriff der ‚Sattelzeit‘ als Bezeichnung für die umfassende gesellschaftliche, politische, soziale, wissenschaftliche und nicht zuletzt auch begriffsgeschichtliche Epochenschwelle bzw. Umbruchskrise zwischen 1750 und 1850 wurde von Reinhart Koselleck geprägt und hat sich mittlerweile in der interdisziplinären Forschung zum 18. Jahrhundert etabliert. Siehe zum Beispiel: ders.: Einleitung, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhart Koselleck (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart: Klett-Cotta 1979, S. XIII–XXVII, hier S. XV; oder ders.: Neuzeit. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1989, S. 300–348.

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Ausdifferenzierung des Kunstsystems als eines eigenen, abgegrenzten Funktionsbereiches innerhalb der Gesellschaft; zweitens die Ausprägung des aufklärerischen Subjekt-Diskurses und Geniekonzepts; schließlich drittens die Aufwertung der Musik als eigenständige Kunst im Wettstreit zwischen den Künsten. Herausbildung des Kunstsystems. Die Etablierung und Hochkonjunktur des Musikthemas und der Kunstreflexion in der Literatur um 1800 beruht nicht zuletzt auf der Ausdifferenzierung der gesellschaftlichen Teilsysteme – so beschreibt der Soziologe Niklas Luhmann den Umwälzungsprozess in der Sattelzeit.10 Er konstatiert einen Übergang von einer ‚stratifikatorischen‘ zu einer ‚funktionalen‘ Gesellschaftsdifferenzierung11 (also von einem System, das weitgehend auf durch Geburt festgelegten Hierarchien beruht: Adel  – Klerus  – Bürger  – Bauern) hin zu einer Ordnung, die durch eine Ausdifferenzierung bestimmter Teilsysteme und im Zusammenhang damit einer Ausprägung von Leitdifferenzen bestimmt ist. Nicht mehr die Ständegesellschaft mit ihrer festgefügten Ordnung und den durch Geburt festgefügten Hierarchien (Adel, Bürger, Bauern), sondern ein dynamisches Gebilde entsteht, in dem sich die Bewertung des Einzelnen nach seiner Rolle bzw. ‚Funktion‘ im gesellschaft­ lichen Gefüge bestimmt und in dem vor allem die Grenzen durchlässig sind. Und dieses ist eben in verschiedene Funktionsbereiche unterteilt. So wird z. B. unterschieden zwischen den Bereichen der Ökonomie, der Justiz, des Militärs, des Bildungsbereichs, der Familie, der Kunst und Kultur usw. Alle Mitglieder der Gesellschaft erfüllen in diesen Teilsystemen ihre Aufgaben, sie wechseln auch zwischen verschiedenen Teilsystemen und sind an ihnen gleichzeitig beteiligt. Dabei kommt es zu Gewichtungen und Differenzierungen: Der Bereich der Ökonomie wird in der bürgerlichen Gesellschaft sehr hoch bewertet und mit Fleiß, Effektivität, Reichtum und Produktivität gleichgesetzt; der Bereich der Kunst gilt dagegen zwar als wichtiger, inspirierender und erbaulicher Nebenbereich, aber eben auch als Freizeitbeschäftigung (wenn man sie konsumiert) bzw. als ‚brotlose Kunst‘ (wenn man sie praktiziert). Künstlerische Produktivität wird zwar sehr hoch eingeschätzt, sie wird von der Gesellschaft ‚gebraucht‘ (Kunst erfüllt ja eine wichtige Funktion); aber die Leistung eines Künstlers oder sein gesellschaftliches Ansehen sind nicht mit dem etwa eines Kaufmanns oder eines Richters zu vergleichen (eine selbstredende Veranschaulichung dieses Wertesystems bietet etwa Der arme Poet von Carl Spitzweg). Das heißt auch, dass eine bekannte Leitdifferenz entsteht, die übrigens in der Literatur bevorzugt thematisiert wird: nämlich der Gegensatz zwischen Niklas Luhmann: Die Funktion der Kunst und die Ausdifferenzierung des Kunstsystems, in: ders.: Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1997, S. 215–300. 11 Ebd., S. 216.

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Künstler und Bürger, zwischen Künstlertum und bürgerlichem (Alltags)leben. Während die Künstler, wie zu Beginn schon verdeutlicht, oft als exzentrische, ja asoziale Subjekte erscheinen, die zwar genialisch schöpferisch sind, aber im realen Leben keinen wirklichen Fuß auf den Boden bekommen, entwickelt sich auf der anderen Seite in der bürgerlichen Welt ein verbreiteter Dilettantismus: Man ‚macht auf Kultur‘, höhere Töchter erlernen das Klavierspiel und den Gesang, Singakademien und Männerchöre werden ebenso gegründet wie Hausmusikabende veranstaltet, ein reges Konzert- und Theaterleben beginnt. Aber diese Freizeitbeschäftigungen stehen in einem krassen Gegensatz zum hehren Kunstanspruch der eigentlichen Experten oder Repräsentanten des Teilsystems der Kunst bzw. der Künste. Bezogen auf Komponisten ist es daher zunächst neu und auffallend, dass sie überhaupt als eigene Berufsgruppe beschrieben werden und als solche interessieren – so wie sozialgeschichtlich gesehen erstmals im 18. Jahrhundert eine freie Künstlerschaft, unabhängig von der aristokratisch-höfischen Welt oder irgendwelchen Mäzenaten und Auftraggebern, entsteht. Musikerfiguren in der Literatur müssen daher mit ihrer sprichwörtlichen ‚brotlosen Kunst‘ Geld verdienen, sie stehen allerdings in der öffentlichen Wahrnehmung zumeist auch im Gegensatz zur gesellschaftlichen Realität – angefangen von notorischen Geldsorgen und Schulden, von denen übrigens auch noch Stefan Zweigs Händel geplagt wird, über eine gewisse Asozialität und Antibürgerlichkeit bis hin zu Versponnenheit, Kränklichkeit, Wahnsinn und Tod. Immer wieder wird die Faszinationskraft der musikalischen Künstlerschaft mit Momenten der Gefährdung in Verbindung gebracht.12 Aufklärerischer Subjekt- und Geniediskurs. Auf der anderen Seite erfahren Künstler und literarische Musikerfiguren in der Öffentlichkeit auch eine Wertschätzung bis hin zur Idealisierung oder gar nationalen Verehrung. Verkörpern sie doch alles, was im aufklärerischen Subjektdiskurs dem autonomen Individuum zugeschrieben wird: Individualität und Eigentümlichkeit, Freiheit von Autoritäten und Konventionen sowie die potenzielle Genialität und Schöpferkraft des Subjekts.13 Der Geniebegriff, der im 18. Jahrhundert vor allem durch Shaftesbury in England und Diderot in Frankreich populär gemacht wurde, verbreitete sich in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Vgl. dazu etwa: Stefan Scherer: Künstler und Außenseiter, in: E. T. A. Hoffmann-Portal. Ein Dienst der Staatsbibliothek zu Berlin in Zusammenarbeit mit der Staatsbibliothek Bamberg, https://etahoffmann.staatsbibliothek-berlin.de/erforschen/charakteristisches/kuenstler-undaussenseiter/ (Zugriff am 04.11.2022). Zu Recht beschreibt Scherer das Phänomen der Dichotomisierung von Künstler und Bürger in der Literatur anhand von E. T. A. Hoffmann, der diesen Diskurs nicht nur aufgegriffen, sondern durch seine Texte selbst vorangetrieben hat. 13 Vgl. dazu immer noch: Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Heidelberg: Winter 2004. 12

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rasant und führte zur Ausbildung einer ganz neuen Auffassung von Künstlerschaft. Nicht mehr die Orientierung an Regelsystemen und konventionellen Vorgaben und damit eine vollendete Handwerklichkeit bestimmte die Wertschätzung des Künstlers, sondern von nun an sein individuelles, subjektives Ausdrucksvermögen. Ein schöner Satz aus Carl Philipp Emanuels Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen (1759) führt dies sehr anschaulich vor Augen: „Aus der Seele muss man spielen, und nicht wie ein abgerichteter Vogel.“14 Musikalische Künstlerschaft steht also stellvertretend für den Subjektanspruch des aufgeklärten Menschen, für seine Individualität und sein ganz eigenes, inniges Ausdrucksvermögen, für die Selbstverwirklichung und eine unverstellte Eigentümlichkeit – frei von Regeln und Normen. Aufwertung der Musik als eigenständige Kunst im Wettstreit zwischen den Künsten. Diese Tendenz wird zunehmend befördert durch eine weitreichende Veränderung im ästhetischen bzw. musikästhetischen Diskurs – das ist neben der Ausprägung eines öffentlichen Kulturlebens und der Etablierung des Geniedenkens mein drittes Argument für die Hochkonjunktur von Komponistenfiguren in der Literatur. Die Musik als eigenständige Kunst und individuelle Ausdrucksform tritt nämlich überhaupt erst seit dem späten 17. Jahrhundert in den Blick – und zunehmend ist sie es, die von allen Künsten am stärksten für das Postulat der unbedingten Subjektivität einsteht.15 Man muss bedenken, dass die Musik in der Antike immer mit der Dichtung verbunden war und deshalb nie als selbstständiges Ausdruckssystem betrachtet wurde. Im Mittelalter gehörte sie zu den sieben freien Künsten, aber eben nicht zur Kunst – sie wurde im Quadrivium zusammen mit der Geometrie, der Arithmetik und der Astronomie verortet. Im Übrigen galt die Musik im religiösen Kontext als ‚zu sinnlich‘ und war deshalb im Gottesdienst verpönt. Erst allmählich wurde sie bekanntlich aufgewertet – aber nur als ‚Begleitmusik‘ zur Verkündung des Wortes Gottes. Erst in französischen Ästhetiken des 17. und frühen 18. Jahrhunderts (­Dubos, Batteux16) wird die Tonkunst neben der Dichtung und der Malerei als spezifisches Zeichensystem mit eigenen Ausdrucksmöglichkeiten, Gesetzen und Funktionen beschrieben. Spätestens mit Jean Jacques Rousseau17 wird dann Carl Philipp Emanuel Bach: Versuch über die wahre Art das Clavier zu spielen [1759], 3. Aufl., Berlin 1787. Drittes Hauptstück. Vom Vortrage. S. 85–103, hier § 7, S. 89. 15 Vgl. zum Folgenden Christine Lubkoll: Mythos Musik. Poetische Entwürfe des Musikalischen in der Literatur um 1800, Freiburg i. Br.: Rombach 1995. 16 Jean Baptiste Dubos: Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture, Paris 1719; Charles Batteux: Les beaux arts réduits à un meme principe, Paris 1746. 17 Jean Jacques Rousseau: Essay über den Ursprung der Sprachen, worin auch über Melodie und musikalische Nachahmung gesprochen wird, in: ders.: Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, übers. von Dorothea Gülke und Peter Gülke, Wilhelmshaven: Heinrichshofen 1984, S. 99–169. 14

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(in der Mitte des 18. Jahrhunderts) das Musikalische und insbesondere der Gesang als die natürlichste Artikulationsform des Menschen betrachtet. Dessen Vorzug wird zunehmend darin gesehen, dass Musik anders funktioniert als die Sprache bzw. dieser sogar überlegen ist. Noch im Barock – mit seiner musikalischen ‚Grammatik‘ und ‚Rhetorik‘ – wurde die Musik wie eine Sprache behandelt, und man kann natürlich sagen, dass bereits diese Gleichsetzung, die gleichwertige Betrachtung von Musik und Sprache, zur Emanzipation der Musik als eigenständiger Kunst beitrug. In der Empfindsamkeit des 18. Jahrhunderts entsteht dann eine ausschließlich auf die Tonkunst bezogene musikalische Ausdrucks- und Gefühlsästhetik. Die Musik wird als ‚Sprache des Herzens‘ verstanden, sie wirkt vor allem dort Wunder, wo die menschliche Sprache versagt: wo empfindsame Rührungen, namenlose Gefühle, emotionale Überwältigungen nicht zu fassen sind und Worte eben nicht hinreichen (diese Vorstellung ist so weit verbreitet, dass man von einem „Unsagbarkeitstopos“ in der Literatur der Empfindsamkeit spricht18). Es ist interessant, dass dann in der Romantik diese These von der Überlegenheit der Musik gegenüber der Sprache noch überboten wird: in der sogenannten ‚Idee der absoluten Musik‘. Der Begriff stammt eigentlich von Eduard Hanslick aus dem 19. Jahrhundert, der Musikwissenschaftler Carl Dahlhaus hat ihn aber auf die Musikästhetik der Romantik bezogen, eine Musikästhetik, die, so seine These, allererst in der Literatur und nicht in musikalischen Kompositionen der Zeit erfunden wurde und zum Tragen kommt.19 Die ‚Idee der absoluten Musik‘ besagt, dass die Zeichen der Musik und ihr Zusammenspiel gerade deshalb so ausdrucksstark oder eindrucksvoll seien, weil sie nichts ‚Bestimmtes‘ sagten; weil sie – im Gegensatz zu Worten – eben keine konkrete Aussage beinhalten, sondern ‚losgelöst‘ (das heißt wörtlich: ab-solut) vom Bedeutungszwang oder unmittelbaren Realitätsbezug ihre Wirkung entfalten. Gerade damit ließen sie Raum für alle möglichen Assoziationen und Sehnsüchte, für ein Ausufern der Phantasie ins Unendliche, letztlich sogar für eine ganz besondere Nähe zum Absoluten, zum Überirdischen, zum Göttlichen. – Diese Zuschreibung spielt für die Konzeption von Musikerfiguren in der Literatur der Sattelzeit eine entscheidende Rolle: Sie stehen für eine unmittelbare, intensive, gänzlich freie Ausdrucksmöglichkeit, die anderen Künsten – und erst recht der Alltagssprache – versagt ist. Die Komponisten und andere Tonkünstler repräsentieren damit nicht nur das gesellschaftliche Teilsystem der Kunst und erfahren sich – in der Opposition Ruth E. Müller: Erzählte Töne. Studien zur Musikästhetik im späten 18. Jahrhundert, Stuttgart: Franz Steiner 1989. 19 Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel / München: Bärenreiter 1984. 18

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von Bürger und Künstler – als Randfiguren (1); sie stehen auch nicht nur für das aufklärerische Autonomiepostulat und das schöpferische Genie und werden in dieser Hinsicht für ihre herausragende Könnerschaft bewundert (2); sondern sie werden schließlich auch als abgehoben und als einer ‚anderen‘ Sphäre angehörig angesehen – und damit ebenso als unzugängliche Zeitgenossen wie als prophetische Erlöser (3). Dass diese Gemengelage zu einer Überhöhung und Idolisierung auf der einen Seite und (was die soziale Seite betrifft) zu existenziellen Zerreißproben und einem gesellschaftlichen Außenseiterdasein auf der anderen Seite führt, liegt auf der Hand. Übrigens ist es noch besonders interessant, dass die Idolisierung von Komponisten vornehmlich in der Literatur geschieht, die ja selbst dem gesellschaftlichen Teilsystem der Kunst zuzurechnen ist und sich auf dem entstehenden Buchmarkt etabliert. Offenbar dient gerade die Musik den Sprachkünstlern, den Dichtern, als Projektionsfläche: als Möglichkeit, ihre eigene prekäre Situation als Künstler zu reflektieren; vor allem aber als ein Medium, in dem die eigenen poetischen Ausdruckmöglichkeiten und Grenzen durchgespielt werden. In vielen romantischen Texten gilt die Musik als Vorbild für die Poesie, als die „romantischte aller Künste“.20 Ich möchte nun das Gesagte in einem kleinen Überblick über einschlägige Darstellungen von Komponistenfiguren in der Literatur um 1800 verdeut­ lichen, bevor ich dann im zweiten Teil auf die Weiterentwicklung des Diskurses bis ins 20. Jahrhundert zu sprechen komme – mit einem Ausblick ganz am Ende auf unsere heutige Gegenwart. In der Literatur bevölkern ab dem späteren 18. Jahrhundert zahlreiche Komponisten die Literatur. Ich kann mich hier nur auf wenige Beispiele beschränken und tue dies, um eine Entwicklung nachzuzeichnen. Die ersten Komponisten treten in Wilhelm Heinses Musikerroman Hildegard von Hohenthal (1795/96) auf.21 Hier findet allerdings noch keine Verklärung oder Idolisierung statt, auch keine Problematisierung der Künstlerexistenz – was kein Wunder ist, spielt doch die Handlung vorwiegend noch im aristokratischen Milieu, am Hof, an dem auch der Kapellmeister und Komponist Lockmann angestellt ist. Der Text erzählt eine recht triviale (verhinderte) Liebesgeschichte zwischen Lockmann und der bildschönen Sängerin Hildegard von Hohenthal, verbindet dies aber mit zahlreichen Gesprächen über die zeitgenössischen Entwicklungen der Musik, des Musiklebens und ästhetischer Tendenzen. Diese Passagen machen ungefähr die Hälfte des Romans aus und wurden von vielen E. T. A. Hoffmann: Kreisleriana, in: ders.: Phantasiestücke in Callots Manier, in: ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. II / I, hg. von Hartmut Steinecke, Frankfurt a. M. 1992, S. 32–82, hier S. 52. 21 Vgl. Lubkoll: Mythos Musik (wie Anm. 15), S. 83–117. 20

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Lesern, unter ihnen zum Beispiel auch Goethe, so sehr geschätzt, dass sie das Werk als eine Art enzyklopädische Informationsquelle für Fragen zur Komposi­ tionskunst und zur aktuellen Musikentwicklung benutzten. Lockmann, der Komponist, vertritt im Roman im Wesentlichen noch eine rationalistische, am Pythagoreismus und der barocken Musikrhetorik orientierte Position, zeigt sich aber offen für die empfindsame Ausdruckästhetik und sogar an manchen Stellen für die romantische ‚Idee der absoluten Musik‘. Interessant ist an diesem Text, dass Lockmann in den Dialogen eine Vielzahl realer zeitgenössischer Komponisten vor allem im Hinblick auf ihre musikgeschichtliche Bedeutung würdigt. Im Zentrum stehen dabei das Berliner Musikleben mit dem Kom­ ponisten Carl Heinrich Graun und die italienische Opernszene, aber auch die alte Kirchenmusik oder die Symphonien Joseph Haydns. In der Romantik rücken dann zunehmend fiktive Tonkünstler in den Blick, deren Schaffensprozess selbst zum Thema gemacht wird. Diese Komponisten leiden an der Banalität und dem Banausentum der sich etablierenden bürgerlichen Musikkultur, sie sind exzentrisch, krank bis zum Wahnsinn, scheiternde Existenzen. In Wackenroders Berglinger-Novelle (1796) gerät der Komponist aus zwei Gründen in eine Krise: Er leidet erstens am „Käfig der Kunstgrammatik“22, kann also das Ideal der künstlerischen Genialität offenbar nicht mit den Regeln des Tonsatzes und überhaupt den pragmatischen Rahmenbedingungen des Komponierens in Einklang bringen. Und er zerbricht zweitens an seinem Publikum, das offenbar seine mit Inbrunst verfassten Werke nicht versteht und nicht zu würdigen weiß. Besonders ausgeprägt wird dieses Narrativ des scheiternden oder jedenfalls problematischen Künstlertums im Werk E. T. A. Hoffmanns entfaltet, der als Jurist und Komponist ja selbst der diskursiven Dichotomisierung von Kunst und Leben unterlag. Mit seinem Ritter Gluck 23 greift er zum einen auf einen historischen Komponisten zurück, der aber als Wiedergänger nicht nur anachronistisch, sondern in seinen Attitüden auch so „sonderbar“24 gezeichnet wird, dass er letztlich als gesellschaftlicher Außenseiter und Ausnahmeexistenz erscheint. Die Exklusivität des Musikers zeigt sich dabei zunächst in seiner geradezu esoterischen, außergewöhnlichen und übersinnlichen Empfänglichkeit für Klänge und Töne („der Euphon fing an zu klingen“25), sodann in seiner Wilhelm Henrich Wackenroder: Das merkwürdige musikalische Leben des Tonkünstlers Joseph Berglinger (wie Anm. 6), S. 139. 23 E. T. A. Hoffmann: Ritter Gluck, in: ders.: Phantasiestücke in Callots Manier, in: ders.: Sämtliche Werke in sechs Bänden. Bd. II / I, hg. von Hartmut Steinecke, Frankfurt a. M. 1992, S. 19–31. 24 Ebd., S. 31. 25 Ebd., S. 26. 22

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Unabhängigkeit von jeglichen Konventionen – nicht zuletzt der Konvention der (Noten-)Schrift: Von „rastrierte[n] Blätter[n], aber mit keiner Note beschrieben“ spielt der Komponist am Klavier die Ouvertüre seiner Armida, mit etlichen „neue[n] geniale[n] Wendungen“.26 Die Spannung von Kreativität und Konvention, Genie und System wird auch am Beispiel des fiktiven Komponisten Johannes Kreisler vor Augen geführt (der in den Kreisleriana aus dem Jahr 1814 erstmals in Hoffmanns Werk auftritt, dann aber auch durch andere seiner Texte geistert: Am prominentesten erscheint er als Protagonist einer Künstlerbiographie im Roman Lebensansichten des Katers Murr). Er leidet an der Schwierigkeit, die augenblickliche Begeisterung des Schöpfungsakts in die Dauer des Werks zu überführen: „[I]n der exaltiertesten Stimmung“ komponiert Kreisler zwar eine geniale Musik – „aber den andern Tag – lag die herrliche Komposition im Feuer“27 – auch dies übrigens ein Gestus, den wir so fast wortwörtlich in Zweigs Händel-Novelle finden. Bei E. T. A. Hoffmann ist es (paradoxerweise) gerade der Aspekt der Flüchtigkeit der Musik als Zeitkunst, die diese zur „romantischte[n] aller Künste“28 erhebt. In der in die Kreisleriana eingefügten Besprechung der 5. Symphonie Beethovens lässt Hoffmann Kreisler die permanente Dynamik (als Ausdruck romantischer Sehnsucht) in der Tonkunst preisen: „Wie führt diese wundervolle Komposition in einem fort und fort steigenden Klimax den Zuhörer unwiderstehlich fort in das Geisterreich des Unendlichen“.29 In der Figur des Komponisten wird dieses musikalische Prinzip in mehrfacher Weise verkörpert. Er wird als rastlose Existenz gezeichnet, ist nicht zu greifen und verschwindet schließlich, „man wußte nicht wie und warum“.30 Außerdem bezeichnet er sich selbst als „basso ostinato“ und verkörpert damit in nuce das Prinzip einer hartnäckigen Fortschreibung: „aber fort muß ich bald auf irgendeine Weise“.31 Während Hoffmanns fiktive Komponisten durchgängig als verrückte, nicht wirklich in die bürgerliche Welt integrierte Existenzen erscheinen, werden aber in der Besprechung der 5. Symphonie Beethovens (die einen Teil der Kreis­ leriana ausmacht) auch reale zeitgenössische Komponisten genannt, die nicht in der gleichen Weise stigmatisiert, sondern in hohem Maße einfach wegen ihrer künstlerischen Leistungen und Errungenschaften verehrt werden. Das ist überhaupt eine Beobachtung wert: Historische Komponisten werden in der Literatur der Romantik (mit Ausnahme des Phantasmas vom ‚Ritter 28 29 30 31 26 27

Ebd., S. 29 f. E. T. A. Hoffmann, Kreisleriana (wie Anm. 20), S. 33. Ebd., S. 52. Ebd., S. 55. Ebd., S. 33. Ebd., S. 418.

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Gluck‘) nicht mit dem zeitgenössischen Konflikt zwischen der Kunstüber­ höhung einerseits und den Niederungen der prekären Künstlerexistenz andererseits in Verbindung gebracht. Vielmehr stehen sie fast durchwegs für das Ideal der Musik selbst. So ist es besonders gut nachzulesen in der schon erwähnten Rezension der 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven, die E. T. A. Hoffmann zuerst 1810 in einer Musikzeitschrift veröffentlicht hatte und erst nachträglich in die Kreisleriana integrierte, als eine Art ‚Manifest der romantischen Musikästhetik‘ aus der Feder Johannes Kreislers. Carl Dahlhaus hat hervorgehoben, dass die Ideale der romantischen Musikästhetik eher hier erfunden wurden, als dass sie zuerst in der zeitgenössischen Kompositionspraxis entstanden.32 „Mozart und Haydn (so heißt es da), die Schöpfer der jetzigen Instrumental-Musik, zeigten uns zuerst die Kunst in ihrer vollen Glorie; wer sie da mit voller Liebe anschaute und in sie eindrang, ist  – Beethoven!  – Die Instrumentalkompositionen aller drei Meister atmen einen gleichen romantischen Geist […], der Charakter ihrer Kompositionen unterscheidet sich jedoch merklich. – Der Ausdruck eines kindlichen heitern Gemüts herrscht in Haydns Kompositionen. Seine Sinfonien führen uns in unabsehbare grüne Haine, in ein lustiges buntes Gewühl glücklicher Menschen.“33

Abstrakter erscheint schon die Charakteristik der Symphonien Wolfgang Amadeus Mozarts: „In die Tiefen des Geisterreichs führt uns Mozart. […] Liebe und Wehmut tönen in holden Geisterstimmen; die Nacht geht auf in hellem Purpurschimmer und in unaussprechlicher Sehnsucht ziehen wir nach den Gestalten, die freundlich uns in ihre Reihen winkend in ewigem Sphärentanze durch die Wolken fliegen.“34

In Beethovens Instrumentalwerk sieht Hoffmann dann jedoch den Gipfel der absoluten Musik: „So öffnet uns auch Beethovens Instrumental-Musik das Reich des Ungeheuern und Unermeßlichen. Glühende Strahlen schießen durch dieses Reiches tiefe Nacht, und wir werden Riesenschatten gewahr, die auf- und abwogen, enger und enger uns einschließen und uns vernichten, aber nicht den Schmerz der unendlichen Sehnsucht.“35

Hier beginnt die Geschichte der Mythisierung der genannten Komponisten: der ewig heitere Haydn, der phantasiereiche Mozart, Beethoven als Repräsentant des Erhabenen. Die These kann noch weitergesponnen werden: Denn Vgl. nochmals Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik (wie Anm. 19). Hoffmann: Kreisleriana (wie Anm. 20), S. 53. 34 Ebd., S. 53 f. 35 Ebd., S. 54. 32 33

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während diese realen Komponisten in der Romantik nicht als fiktive Figuren erscheinen, sondern losgelöst vom realen Leben als Verkörperungen einer reinen Idee besprochen werden, überführt die Literatur auch sie später in die Welt der Fiktion (wo dann wieder Kunst und Leben in Konflikt geraten). Das beginnt mit Richard Wagners Eine Pilgerfahrt zu Beethoven (1840) und Eduard Mörikes Mozart auf der Reise nach Prag (1855) und wird dann fortgesetzt im 20. Jahrhundert, wo Händel bei Stefan Zweig (Händels Auferstehung), Verdi bei Franz Werfel (im gleichnamigen Roman), wiederum Beethoven in Thomas Manns Doktor Faustus oder Tschaikowsky in Klaus Manns Symphonie pathétique zu fiktionalisierten Personen werden. In diesen Texten mischen sich die Topoi der exzentrischen, kränklichen, dem Tode nahen und jedenfalls lebensuntüchtigen Künstlerfiguren mit der Vorstellung vom Komponisten als ‚Helden‘. Bisher war hauptsächlich – mit Ausnahme der Passagen zu Haydn, Mozart und Beethoven in Hoffmanns Kreisleriana  – von fiktionalen Musikererzählungen die Rede, in denen, wie ich deutlich zu machen versucht habe, eine bestimmte Ikonographie des genialen, aber in sich zerrissenen und weltfremden Komponisten ausgeprägt wurde. Neben den fiktiven Gestaltungen gibt es aber natürlich auch die Tradition der echten Musikerbiographien  – eines Genres, das weniger der Literatur als der wissenschaftlichen, oft aber auch populären Geschichtsschreibung zuzurechnen ist. Auch hier sind die Wurzeln für eine Mythisierung und Idolisierung von Komponisten auszumachen. Die erste Musikerbiographie eines Komponisten überhaupt wurde im 18. Jahr­ hundert nicht in Form einer literarischen Fiktionalisierung verfasst, sondern als Darstellung der Lebensgeschichte und als ‚Erinnerung‘ an einen historischen Komponisten, nämlich: Georg Friedrich Händel. Es handelt sich um die Biographie von John Mainwaring Memoirs of the Life of the Late Frederic Handel aus dem Jahr 176036, diese wurde also direkt ein Jahr nach Händels Tod veröffentlicht. Übersetzt wurde der Text von niemand Geringerem als dem in Deutschland sehr bekannten und geschätzten Musiktheoretiker Johann Mattheson37, ein Buch, das in Deutschland viel rezipiert wurde und sicherlich entscheidend zum Bild des Komponisten (nicht nur Händels, sondern zum Typus des Komponisten und seiner Verehrung) beigetragen hat. Es kann nicht genug betont werden, wie sehr die euphorische Händel-Rezeption schon früh zur Idolisierung von Künstlerschaft beigetragen hat. Man denke an die bombastische Beerdigung des Künstlers in Londons Westminster Abbey, die zur kollektiven Verehrung beitrug; dann an die ebenso aufsehenerregenden Gedächtnisfeiern

John Mainwaring: Memoirs of the Life of the Late Frederic Handel, London 1760. Johann Mattheson: Georg Friderick Handels Lebensbeschreibung, Hamburg 1761.

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zwischen 1784 und 1791, die mit Sicherheit die Mythenbildung beförderten. Oder man denke auch an die sehr frühe Vereinnahmung für ein deutsches Nationaldenken schon in den frühen 1770er Jahren. So formulierte im Mai 1772 der heute völlig unbekannte Dichter Johann Arnold Eber folgende Proklamation: „O Händel, stolzer Briten Ruhm,/Doch unser, unser Eigenthum!“38 Auf einer Tagung der Georg Friedrich Händel-Gesellschaft 2016 wurde dieses Thema schon einmal vertieft: „Mythos Aufklärer – Mythos Volk? Zwei Topoi der Händel-Rezeption und ihre Kontexte“.39 Interessanterweise kommt der Name Händel in der deutschsprachigen Literatur um 1800 ansonsten kaum vor. Wenn man die historischen Komponisten-Biographien hier einbezieht, muss an dieser Stelle für den deutschsprachigen Bereich unbedingt noch die BachBiographie Johann Nikolaus Forkels erwähnt werden, des ersten Musikwissenschaftlers an einer deutschen Universität, die 1802 erschien. Auch diese Biographie zeigt schon auf, dass es über das Interesse an der Person hinaus ein offensichtliches kollektives Identifikationsbedürfnis gibt, das letztlich dazu führt, den Komponisten zum ‚Helden‘ zu stilisieren. Der vollständige Titel der Forkelschen Biographie lautet nämlich: Johann Sebastians Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Für patriotische Verehrer echter musikalischer Kunst.40 ‚Für patriotische Verehrer der Kunst‘, das ist – 1802 – eine starke, im Zusammenhang mit einem Komponisten doch durchaus erstaunliche Aussage. Hier wird die Kunst nicht nur als ästhetische Idee, sondern auch als ein kollektives Identifikationsprojekt begriffen.41

Johann Arnold Ebert: An den Herrn C. A.  Schmid. 1772 im May, in: ders.: Johann ­Arnold Ebert’s Episteln und vermischte Gedichte, Hamburg 1789, S. 76–114, hier S. 88, https://www. haendel.de/konferenzen/2016-mythos-auf klaerer-mythos-volk-zwei-topoi-der-haendelrezeption-und-ihre-kontexte/ (Zugriff am 04.11.2022). 39 Anette Landgraf (Hg.): Mythos Aufklärer – Mythos Volk? Zwei Topoi der Händel-Rezeption und ihre Kontexte, Kassel u. a. 2017 (= Händel-Jahrbuch 63). 40 Johann Nikolaus Forkel: Ueber Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke. Für patriotische Verehrer echter musikalischer Kunst, Leipzig 1802. Lizenzausgabe mit Genehmigung des Henschel Verlages Berlin 1968. Vertriebsrechte für die Deutsche Bundesrepublik und Westberlin beim Bärenreiter Verlag Kassel. 41 In seinem Vorwort zur Bach-Biographie heißt es: „Dieses Unternehmen ist nicht nur der Kunst selbst in jedem Betrachte äußerst vorteilhaft, sondern muss auch mehr als irgendeines der Art zur Ehre des deutschen Nahmens gereichen. Die Werke, die uns Joh. Seb. Bach hinterlassen hat, sind ein unschätzbares National-Erbgut, dem kein anderes Volk etwas ähnliches entgegen setzen kann. Wer sie der Gefahr entreißt, […] allmählig der Vergessenheit und dem Untergange entgegen zu gehen, errichtet dem Künstler ein unvergängliches Denkmal, und erwirbt sich ein Verdienst um das Vaterland; und jeder, dem die Ehre des deutschen Nahmens etwas gilt, ist verpflichtet, ein solches patriotisches Unternehmen zu unterstützen“ (Forkel: Ueber Johann Sebastian Bach (wie Anm. 40), S. 7 f.). 38

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Natürlich spielt hier in erster Linie der aufkommende Nationalismus eine Rolle. Man kann in diesem Zusammenhang feststellen, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts weniger Bach als vielmehr Beethoven in Anschlag gebracht wird. Dies mag damit zusammenhängen, dass Beethoven selbst durchaus mit seinen Kompositionen zu politischen Ereignissen Stellung nahm (man denke an die wütend vom Komponisten durchgestrichene Widmung der 3. Symphonie, der „Eroica“, an Napoleon). Die aufkommende nationale Beethoven-Vereinnahmung zeigt sich schon anlässlich des „Leichenbegängnisses“ zu Beethovens Tod 1827, wenn zum Beispiel der Trauerredner Grillparzer seine Ansprache mit den Worten beginnt: „Indem wir hier an dem Grabe dieses Verblichenen stehen, sind wir gleichsam die Repräsentanten einer ganzen Nation, des deutschen gesamten Volkes, trauernd über den Fall der einen hochgefeierten Hälfte dessen, was uns übrig blieb von dem dahingeschwundenen Glanz heimischer Kunst, vaterländischer Geistesblüte. […] Noch lebt zwar – und möge er lange leben! – der Held des Sanges in deutscher Sprach’ und Zunge; aber der letzte Meister des tönenden Liedes, der Tonkunst holder Mund, der Erbe und Erweiterer von Händel und Bachs, von Haydn und Mozarts unsterblichem Ruhme, hat ausgelebt, und wir stehen weinend an den zerrissenen Saiten des verklungenen Spiels.“42

Die umfassende Rezeptionsgeschichte Beethovens kann hier nicht weiterverfolgt werden.43 Für die literaturwissenschaftliche Diskursanalyse ist festzuhalten: Parallel und durchaus losgelöst von pathologischen Künstlerdarstellungen in der Literatur setzt schon im frühen 19. Jahrhundert eine Art Idolisierung und Heldenverehrung von Komponisten ein, die zunächst ästhetisch, dann zunehmend national vereinnahmt werden. In der Moderne (im 20. Jahrhundert) vermischen sich dann die genannten drei Varianten der Pathologisierung, der ästhetischen Idolisierung und der Heroisierung von Komponisten.

Forkel spricht dann noch vom „edlen Enthusiasmus in der Brust jeden deutschen Mannes“, er betont, dass er sich mit seiner Biographie nicht nur an die Kunstgelehrten, sondern einen „größeren Teil seiner deutschen Mitwelt“ wenden möchte, und kommt dann zu dem Schluss: „…und doch ist die Erhaltung des Andenkens an diesen großen Mann – man erlaube mir, es noch Ein Mahl zu wiederholen – nicht bloß Kunst-Angelegenheit, sie ist National-Angelegenheit“ (ebd., S. 8). 42 Franz Grillparzer: Rede am Grabe Beethovens (29. März 1827), in: ders.: Autobiographisches. Studien. Kritische Ausgabe, besorgt von Reinhold Backmann, Wien: Bergland 1949, S. ­420–422, hier S. 420. 43 Vgl. dazu Angelika Corbineau-Hoffmann: Testament und Totenmaske: Der literarische Mythos Ludwig van Beethoven, Hildesheim: Weidmann 2000.

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Komponisten als Repräsentanten der Kultur und moderne Helden im 20. Jahrhundert Bisher wurde die Ausprägung bestimmter Topoi und Klischees in der Literatur um 1800 aufgezeigt, die bis in die fiktionale Komponisten-Literatur des 20. Jahrhunderts hinein wirksam sind. Diese Zuschreibungen waren typisch für die Situation und das Ansehen von Künstlern in der bürgerlichen Welt, für die Kombination von Geniedenken und Pathologisierung, auch für die Hochschätzung der Musik als Ausdrucksform der Subjektivität und des Erhabenen. Andererseits wurde auf die Stilisierung von real existierenden Komponisten wie Händel, Bach, Haydn, Mozart und Beethoven in nicht-fiktionalen Texten hingewiesen, die von Anfang an als ideale, meisterhafte Vertreter ihrer Kunst und als kollektive Projektionsfiguren beschrieben wurden. Nun soll es am Ende darum gehen, wie sich diese Ikonographie mit einer Mythisierung, mit einer Idolisierung der Komponisten zu Nationalhelden im 20. Jahrhundert verbindet. Die Überlegung lautet, dass im Laufe des 19. Jahrhunderts die beiden Stränge der fiktionalen Musikererzählung, die den leidenden Künstler in den Mittelpunkt stellt, und des biographischen Schrifttums, das seit dem späten 18. Jahrhundert das Wirken der Komponisten im Zeichen des aufkommenden Nationalismus deutet, zusammengeführt werden. Nur so lässt sich erklären, warum sich in Stefan Zweigs Händel-Novelle neben mythischen und religiösen Vorstellungen auch zusätzlich politische Idolisierungen finden, die die Literatur um 1800 so nicht kennt: Neben den Bildern des leidenden Christus, des antiken Überwinders des Hades und des „Genius“ (als Verweis auf den Künstlerdiskurs seit der Aufklärung) werden geradezu inflationär Vokabeln wie „Meister“, „Held“ und „Sieger“ verwendet. Man möchte fast sagen: Die Geburt des Meisterwerks des Messias aus dem Leidensweg und der Auferstehung des Künstlers wird zugleich mit militärischen Metaphern verklärt: „Noch hatte der riesige Mann sich nicht besiegt gegeben“44; „zum ersten Mal fühlt er sich müde, der riesige Mann, zum ersten Mal besiegt der herrliche Kämpfer“45; „wie ein toter Held auf der Walstatt nach dem errungenen Sieg, so lag er da, erschlagen von der Müdigkeit nach unsäglicher Tat“46; „Man machte ihm Schwierigkeiten, aber glorreich wusste er sie zu besiegen“47; „Doch noch mit verschlossenem Auge, wie Beethoven mit verschlossenem Ohr, schuf er wei 46 47 44 45

Stefan Zweig: Georg Friedrich Händels Auferstehung (wie Anm. 2), S. 73. Ebd., S. 75. Ebd., S. 84. Ebd., S. 89.

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ter und weiter, unermüdlich, unbesiegbar, und nur noch demütiger vor Gott, je großartiger seine Siege auf Erden waren.“48 Interessant ist in diesem Zusammenhang auch der Kontext, in dem die Händel-­Novelle steht: Zweigs Sternstunden der Menschheit. Die ganze Sammlung konzentriert sich ja, wie der Titel schon sagt, auf historische Augenblicke, die im Leben von bedeutenden Persönlichkeiten maßgeblich zu deren Ruhm beigetragen haben. Es geht dabei nicht um rein biographische, sondern um kulturgeschichtlich relevante Ereignisse, um richtungsweisende Wegmarken, die den Einzelnen zum Helden nationaler (oder auch europäischer) Identitäts­ stiftung erheben. So ist es bezeichnend, dass neben Georg Friedrich Händels Auferstehung (die das ‚Wunder‘ der Komposition des Messias markiert) etwa die Entstehung der Marseillaise‚ die „Weltminute von Waterloo“, die „Entdeckung des pazifischen Ozeans“ (Scott) oder die erste Kabellegung durch den Atlantik behandelt werden („Erste Worte über den Ozean“) – immer geht es hier um essentielle zivilisatorische Errungenschaften – künstlerische Meisterwerke werden neben politische Umbrüche und technische Revolutionen gestellt. Eine solche Verbindung des Genialischen mit dem Heldengedanken findet sich nicht nur in Zweigs Händel-Novelle, sondern auch in den anderen Texten, die im Rahmen des Symposiums über „Händel in der Literatur der Moderne“ im Zentrum stehen. Den geradezu inflationär verwendeten Begriff des ‚Genies‘ mythisiert Romain Rolland in seiner Händel-Biographie von 191049, indem er ihn auf die Antike bezieht und von Händel als einem „génie homérique“ oder einer „impersonnalité supérieure“ spricht.50 In ähnlicher Überhöhung bringt er auch den Begriff und die Vorstellung vom ‚Helden‘ ins Spiel, wobei diese Vokabel weniger mit dem theatralen Konzept des ‚tragischen Helden‘ als vielmehr mit der Vorstellung von Ruhm und einem kollektiven Identifikationspotential verbunden wird: „Dès les premières exécutions d’Israél, certains des auditeurs avaient célébré la vertue heroique de cette musique, qui peut soulever des peuples et mener les armées à la victoire.“51

Besonders interessant erscheint in diesem Zusammenhang auch Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit, weil in ihr an zwei Stellen Georg Friedrich Hän Ebd. Romain Rolland: Haendel, préface de Dominique Fernandez, Paris: Editions Albin Michel 1951, Neuauflage ACTES SUD / Classica 2005. 50 Ebd., S. 146. 51 Ebd., S. 228. Deutsche Übersetzung C. L.: „Seit den ersten Aufführungen des Israel hatten einige der Zuhörer die heroische Tugend dieser Musik gefeiert, die ganze Völker erheben und die Armeen zum Sieg führen kann.“ 48 49

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dels Bedeutung für die Kulturentwicklung thematisiert wird. Im Anfangsteil äußerst sich der Autor in einem Kapitel mit dem Titel „Das Genie ist ein Produkt seines Zeitalters“ folgendermaßen: „Zwischen Genie und Zeitalter besteht nun eine komplizierte und schwer entzifferbare Verrechnung. Ein Zeitalter, das nicht seinen Helden findet, ist pathologisch. Seine Seele ist unterernährt und leidet gleichsam an ‚chronischer Dyspnoe.“52

Anschließend an diese Gleichsetzung von Genie und Heldentum entwickelt Friedell seine drei Thesen vom „Wesen des Genies“, die, wie ich finde, ganz wesentliche Aspekte der modernen Auffassung vom Künstler und insbesondere eben auch vom Komponisten als ‚Helden‘ beschreiben: 1. „Der große Mann ist ganz und gar das Geschöpf seiner Zeit; und je größer er ist, desto mehr ist er das Geschöpf seiner Zeit. Dies ist unsere erste These über das Wesen des Genies.“53

Das heißt vor allem, dass schöpferische Genialität nicht nur als eine spezielle Begabung oder als die herausragende Inspiration eines Individuums, sondern selbst als eine Art Kulturgut betrachtet wird: Die ‚Zeit‘, also die gesamte Kultur, beeinflusst letztlich jegliche künstlerische Kreativität, und umgekehrt kann die Gesellschaft sich daher die Leistungen des Einzelnen stolz zu eigen machen, sozusagen im Goetheschen Sinn: „Denn er war unser“.54 Friedell sieht dies allerdings auch als ein reziprokes Verhältnis: Dem schöpferischen Menschen wird nicht nur seine Abhängigkeit von seinem zeitgenössischen Umfeld, sondern auch die Fähigkeit zugesprochen, dieses maßgeblich mitzugestalten: 2. „Kurz: Die Zeit ist ganz und gar die Schöpfung des großen Mannes, und je mehr sie es ist, desto voller und reifer erfüllt sie ihre Bestimmung, desto größer ist sie. Dies ist unsere zweite These über das Wesen des Genies.“55

Bezogen auf Georg Friedrich Händel wird dieser Gedanke später bestätigt. Denn ihn feiert Friedell vor allem als einen Künstler, dem es vor allen anderen als Genie gelungen ist, das Volk als Helden auf die Bühne zu bringen bzw. seine Macht als Kollektiv zu gestalten:

Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit. Die Krisis der europäischen Seele von der schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg, München 1927, S. 29. 53 Ebd., S. 30. 54 So sprach Goethe über Schiller nach dessen Tod. Johann Wolfgang von Goethe: Epilog zu Schillers Glocke, in: ders.: Berliner Ausgabe. Poetische Werke [Band 1–16], Bd. 2, Berlin 1960 ff., S. 92–96,122–123. 55 Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit (wie Anm. 52), S. 31. 52

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„… in seinen reichen Chören, besonders im ‚Israel‘ [gemeint ist das Oratorium Israel in Egypt , C. L.], der fast nur aus ihnen besteht, wird zum erstenmal ein Objekt künstlerisch gestaltet, das die Dichtung noch lange übersah: die Masse, das Volk; erst im „Tell“, ja genau genommen erst in den „Webern“ wird von einem Dramatiker der Versuch gemacht, die Kollektivseele als Helden auf die Bühne bringen … .“56

Kurz danach heißt es: „Händel errichtete als gesuchter und gefeierter Großmeister den Makrokosmos und die Schöpfung.“57 Und nicht zuletzt spricht Friedell in diesem Zusammenhang auch von der großen nationalen Bedeutung dieser ‚Heldentat‘, nämlich vom „tiefe(n) germanische(n) Ethos, das alle […] Werke erfüllte.“58 Ich möchte an dieser Stelle nicht verschweigen, dass Egon Friedell neben der Verbindung von Genie und Heldentum auch die traditionellen Zuschreibungen in seinen Merkmalskanon aufnimmt. Er erwähnt die Topoi des asozialen oder extravaganten Künstlers, die Vorstellung vom „pathologischen Original“, vom „großen Solitär“, vom „Unikum“ und der „völlig beziehungslosen Einmaligkeit“, vom „exotischen Monstrum.“59 Und kommt so zu seiner „dritten These über das Wesen des Genies“: „Er (der Künstler) hat mit seiner Zeit nichts zu schaffen und sie nichts mit ihm. Dies ist unsere dritte These über das Wesen des Genies.“60

Diese „Paradoxie“61 einer pathologischen Stigmatisierung des Künstlers einerseits und seiner heldenhaften Verehrung andererseits gibt Friedell unumwunden zu; und sie bestimmt, wie ich meine, die Darstellungen und Stilisierungen des Komponisten in der Literatur der Moderne – nicht nur bei Zweig und Friedell, sondern auch etwa bei Franz Werfel (in seinem Verdi-Roman von 1923), bei Klaus Mann (in seinem Roman Symphonie pathéthique über Tschaikowsky von 1935) und bei Thomas Mann (in seinem Doktor Faustus von 1947). Dies macht die Komplexität und Widersprüchlichkeit der Musikeridole in der Literatur der Moderne aus. Ich habe versucht zu zeigen, wie ein Teil dieser Zuschreibungen aus dem Geniediskurs des 18. Jahrhunderts und dem Künstlerdiskurs in der bürgerlichen Gesellschaft seit der Sattelzeit tradiert werden; und meine These lautete, dass in der Moderne paradoxerweise neben die Pathologisierung und Ausgrenzung des Künstlers die durch ein nationalistisches Identifikations­ bedürfnis entstehende Überhöhung zum Helden hinzukommt. Ebd., S. 600. Ebd. 58 Ebd. 59 Ebd., S. 32. 60 Ebd., S. 33. 61 Ebd., S. 32. 56 57

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Und wie sieht es heute mit Komponistenfiguren in der Literatur aus? Ich denke etwa an Peter Schneiders Vivaldi und seine Töchter (2019), an Robert Seethalers Der letzte Satz, einen Roman über Gustav Mahler (2020), oder an ­A lbrecht Selges Beethoven (ebenfalls 2020). Hier setzen sich, wie ich meine, andere Tendenzen durch: Erstens fehlt nun ganz die Stilisierung zum Nationalhelden oder dem Repräsentanten der Kultur (auch nicht einer ‚Kulturdialektik‘, wie Thomas Mann es noch formuliert hatte). Diese Dimension ist ganz verschwunden, und das ist sicher, um noch einmal mit Egon Friedell zu argumentieren, der Zeit geschuldet, unserer Zeit, in der eben ein solcher Heldendiskurs nicht mehr angemessen erscheint und von den Dichtern auch nicht mehr angefacht wird. Eine zweite Beobachtung betrifft die Tendenz zum Dokumentarischen. Alle genannten Texte beruhen nämlich auf ausführlichen Recherchen, sie enthalten authentisches biographisches Material, vor allem auch zur Wahrnehmung und Rezeption der Komponisten durch ihre Zeitgenossen. Dieser Duktus trägt vor allem dazu bei, letztlich den Konstrukt-Charakter von Musikeridolen aufzuzeigen; es wird offengelegt, dass es eben Prozesse der Zuschreibung sind, aus denen sich das Bild des Komponisten seit 200 Jahren genährt hat. Hätte sich dieser Beitrag mit aktuellen Musikererzählungen beschäftigt, dann hätte er sicher den Titel getragen: Vom Ende des Musikeridols. Komponisten als AntiHelden in der Literatur der Gegenwart.

„Handel, who can still make atheists cry“: Händel zwischen Musik und Religion bei George Bernard Shaw Esma Cerkovnik (Zürich) „Mr. Bernard Shaw was one of my earliest antipathies“1, so beginnt Winston Churchill seine Erinnerung an den berühmten Dramatiker, Schriftsteller und Kritiker George Bernard Shaw in Great Contemporaries aus dem Jahr 1937, das noch zu Shaws Lebzeiten erschien. Diese Antipathie war nicht überraschend, da der künftige Premierminister und Chef der Tories – Churchill – und der damals 81-jährige sozialistische Dramatiker Shaw ihre politischen Ansichten – gelinde gesagt – nicht teilten. Doch es sind genau die politische Position Shaws und deren Bedeutung für weitere Aspekte seines Schaffens, die im Zentrum von Churchills Text stehen, der einen speziellen Seitenblick auf Shaws Religionsverständnis erlaubt: „But these sources are not enough [for Shaw]; something must be found to replace religion as a binding force and a director. Mr. Shanks says: ‚All his life he has suffered under a handicap, which is that he is shy of using … the name of God, yet cannot find any proper substitute.‘ Therefore he must invent the Life-Force, must twist the Saviour into a rather half-hearted Socialist, and establish Heaven in his own political image.“2

Churchill bezieht sich hier auf Shaws prominente Idee, dass sich der sozialis­ tische Weg an dem Tag verwirklichen wird, an welchem „the exploitation and destruction inherent in capitalism shall cease and mankind as a whole achieve ‚the realization of God‘“.3 Das wäre für Shaw das Ende der kreativen Evolution,4 die durch die Bergsonsche Lebenskraft über den Nietzscheanischen Übermenschen zu Gott führen wird. Shaws Weltanschauung besagt also, dass die Lebenskraft (Life Force) als „ewiges Prinzip des Lebens“ die Evolution des Menschen zum Übermenschen „erleichtern“ und „steuern“ soll.5 In seinem eigenen Text Winston Churchill: Great Contemporaries, London 1941, S. 37. Ebd., S. 39. 3 Richard Corballis: Why the Devil Gets All the Good Tunes: Shaw, Wagner, Mozart, Gounod, Bizet, Boito, and Stanford, in: Shaw 12, 1992, S. 165–180, hier S. 167. 4 Ebd. 5 Dietrich Schwanitz: Shaws Weltanschauung, in: Kurt Otten / Gerd Rohmann (Hg.): Georg Bernard Shaw, Darmstadt 1978 (= Wege der Forschung 388), S. 185–213, hier S. 187. 1 2

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„What is my religious faith? “ aus den Sixteen self-sketches definierte Shaw seine religiös-politische Position als „Providence“6 (Vorsehung): „I have called it the Life Force and the Evolutionary Appetite. Bergson called it the Élan Vitale, Kant the Categorical Imperative, Shakespeare the ‚divinity that shapes our ends, roughhew them how we will.‘ They all come to the same thing: a mysterious drive towards greater power over our circumstances and deeper understanding of Nature, in pursuit of which men and women will risk death as explorers or martyrs, and sacrifice their personal comfort and safety against all prudence, all probability, all common sense.“7

Es stellt sich daher die Frage, inwiefern seine Haltung zu solchen politischen und religiösen Fragen relevant für sein Schaffen als Dramatiker sowie für seine Beschäftigung mit Musik war. Was haben Shaws „Heaven“ und sein „SocialistSaviour“ eigentlich mit Musik zu tun? Shaws Religionserfahrung als kreativer Evolutionist ist v. a. eine poetischästhetische8, die mit seinem dichterischen Schaffen eng verbunden ist. Charles Berst suggeriert in seiner Analyse, dass es sich bei Shaw um eine „poetische Genesis“9 handle, die sich zweifach auf das „Fleisch gewordene Wort“ bezieht: das Wort als Gedanke, der zu Gott wird,10 und das Wort als artikuliertes Geschehen, also als „ultimative Metapher“,11 aber auch u. a. als akustische Metapher. Der Aspekt des Akustischen spielt dabei in Shaws Dramatik eine wesentliche Rolle. Das ist in seinem Konzept der „word music“ oder „music of words“ besonders ersichtlich.12 In seinem Text „What I owe to German Culture“ präzisiert Shaw dieses Konzept:13 Gemeint ist die Forderung, dass die Rede auf der Bühne George Bernard Shaw: Sixteenth Self Sketches, London 1949, S. 78. Ebd. 8 Charles A. Berst: In the Beginning: The Poetic Genesis of Shaw’s God, in: Shaw 1: Shaw and Religion (1981), S. 5–41, hier S. 5. 9 Ebd. 10 Ebd., S. 8. 11 Ebd., S. 8–9. 12 George Bernard Shaw: The Complete Prefaces. Volume 1: 1889–1913, hg. von Dan H. Laurence und Daniel J. Leary, London 1993, S. 339. 13 „Besides, much as I have learnt from music, and frankly as I abandon romance to the musician, there is a music of words as well as of tones. There are many masterpieces of such music in the English language. […] Yet Shakespear, Milton and the Bible still cast the spell of their word music on us. I also profess to be a word musician; but as this sort of music cannot be translated, and must be replaced by an independent and original German word music, I must leave the German honors of that to my friend Trebitsch“ (ebd., S. 339). Der Dramatiker Siegfried Trebitsch, den Shaw 1902 zum ersten Mal traf (vgl. Elisabeth Knoll: Produktive Mißverständnisse. Georg Bernard Shaw und sein deutscher Übersetzer Siegfried Trebitsch, Heidelberg 1992 (= Anglistische Forschungen 220), S. 28), war Shaws deutscher Übersetzer und, wie er selber 6 7

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so stark auf die akustischen Elemente konzentriert werden soll, dass man sie bei der Aufführung des Dramas als Musik sui generis versteht.14 Genau dieses Konzept bewunderte Shaw bei Shakespeare und beschrieb es in verschiedenen Texten als „Shakespearean Music“15: Die Konzentration auf  – gemäß Peter Gahan – „the delivery and performance of the sound“,16 die allein vom Ritual des Dramas ermöglicht werden. Die Shakespearsche „word music“17 und Shakespeare als „word-musician“18 finden bei Shaw ihr Äquivalent in der Musik von Händel: „‚It is only in the music, verbal or other, […] that the feeling which plunges thought into confusion can be artistically expressed. Any attempt to d ­ eliver such music prosaically would be absurd as an attempt to speak an oratorio of Handel’s, repetitions and all.‘“19 Das Konzept von „word music“ verwendet Shaw häufig, um Parallelen zur Musik zu entwickeln und so die Betrachtung der Musik auf einer Meta-Ebene zu ermöglichen. Deswegen ist es nicht erstaunlich, dass Shaw in seinen Werken ständig mit Musik spielt und diese auch in einem musikalischen Sinn, also v. a. als Opern, konzipiert.20 Er hob dies 1941 selbst hervor: „I am myself  a composer: that is, a planner of performances, in the special capacity of a playwright“.21 Das spiegelt sich nicht nur in der direkten Einbeziehung der Musik (mit notierten

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schreibt, ein sehr enger Freund – „an intimate friend in my household“: „[…] for there is no man in Europe to whom I am more deeply indebted or with whom I feel happier in all our relations, whether of business, or art, or of personal honor and friendship“ (Shaw: The Complete Prefaces. Volume 1 (wie Anm. 12), S. 344). Trebitsch schrieb in seiner Autobiographie Chronik eines Lebens, dass Egon Friedell zu einem der „ersten Bewunderern“ Shaws gehörte und auch als Schauspieler Shaws Werke aufführte (Siegfried Trebitsch: Chronik eines Lebens, Zürich 1951, S. 195 und 220). Trebitsch hat außerdem Shaw gegen Ende der 1930er Jahren Stefan Zweig vorgestellt (vgl. ebd., S. 456). Jennifer Buckley: Talking Machines: Shaw, Phonography, and Pygmalion, in: Shaw 25:1, 2015, S. 21–45, hier S. 24. Bernard Shaw: The Drama Observed. Volume I: 1880–1895, hg. von Bernard F. Dukore, University Park 1993, S. 254. Vgl. dazu: Charles A. Berst: New theatres for old, in: Christopher Innes (Hg.): The Cambridge Companion to George Bernard Shaw, Cambridge 2004, S. 22–75, hier S. 64. Peter Gahan: Shaw and Music: Meaning in a Basset Horn, in: Shaw 29, 2009, S. 145–175, hier S. 147. Ebd., S. 147. Bernard Shaw: The Drama Observed. Volume III: 1897–1911, hg. von Bernard F. Dukore, University Park 1993, S. 803. Zitiert nach: Charles Haywood: George Bernard Shaw on Shakespearian Music and the Actor, in: Shakespeare Quarterly 20:4, 1969, S. 417–426, hier S. 421. J. L.  Wisenthal: „Please remember, this is Italian opera“: Shaw’s plays as music-drama, in: ­Christopher Innes (Hg.): The Cambridge Companion to George Bernard Shaw, Cambridge 2004, S. 283–308, hier S. 286–287. Bernard Shaw: How to become  a musical critic, hg. von Dan H. Laurence, London 1960, S. 319–320.

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musikalischen Einschüben wie z. B. in Man and Superman)22 und der Verwendung von Musikinstrumenten in vielen seiner dramatischen Werke,23 sondern auch in seinem Verständnis der dramatischen Struktur auf der Basis von Arien, Duetten, Quartetten, sowie in der Einordnung der dramatischen Figuren nach Singstimmen.24 Bei einem so erfahrenen Musikkritiker wie Shaw stellten solche ‚musikalischen‘ Eingriffe in seinen Dramen nicht nur oberflächliche ‚Ornamente‘ dar, sondern auch profunde Überlegungen über die Musikästhetik und über die musikalischen Werke, die er gründlich kannte. Dabei lassen sich zwei besonders einflussreiche, musikalische Spuren bei Shaw verfolgen: Die erste führt zu Richard Wagner, die zweite zu Wolfgang Amadé Mozart. Zur selben Zeit beschäftigte sich Shaw in den 1880er Jahren mit Wagner und mit Karl Marx.25 Das Ergebnis war seine Schrift The Perfect Wagnerite (1898) als philosophischer Kommentar, der durch eine sozialistischen Leseweise des Ring des Nibelungen nicht nur die Philosophie des Übermenschen verfolgte, sondern auch eine Perspektive und ein Vorbild für das richtige, von der Oper inspirierte Drama sein sollte – wobei sich das Dramatische und das Musikalische gegenseitig bedingen.26 Mit konkreten Techniken wie Leitmotivik und Allegorien, die Shaw in seinen Dramen übernahm, diente Wagner dabei auch auf einer Mikroebene als Vorbild.27 Auf der anderen Seite wurde der Einfluss Mozarts – als „master of masters“,28 als „ideal and supreme composer“29 – nicht in einem Kommentar, sondern in einem Drama sichtbar, nämlich in Man and Superman aus dem Jahr 1903. In dessen drittem Akt schläft der Hauptprotagonist John Tanner ein, was zu einer Szene des Dramas im Drama30 führt, einem Vgl. Bernard Shaw: Man and Superman. A Comedy and  a Philosophy, Westminster 1903, S. 87–88. 23 Vgl. dazu: Bernard F. Dukore: Shaw’s Theater, Gainesville 2000 (= The Florida Bernard Shaw Series), S. 127–129. 24 Paulina Salz Pollak: Master to the Masters: Mozart’s Influence on Bernard Shaw’s Don Juan in Hell, in: Shaw 8, 1988, S. 39–68, S. 42. 25 Brian Tyson (Hg.): Bernard Shaw’s Book Reviews Originally Published in the Pall Mall Gazette from 1885 to 1888, Pennsylvania 1991, S. 88–89. 26 Wisenthal: Shaw’s plays as music-drama (wie Anm. 20), S. 287. 27 Vgl. dazu: Lutz Wiedmann: Die Dramaturgie George Bernard Shaws und ihre Wurzeln in Musik, Philosophie und in seiner Auseinandersetzung mit dem englischen Theater der Jahrhundertwende, Bern 1993 (= Europäische Hochschulschriften. Reihe XIV: Angelsächsische Sprache und Literatur 259); Gilles Couderc: Un fantôme des années 1880: George Bernard Shaw, „demicritique“ musical, 1901–1957, in: Timothée Picard (Hg.): La critique musicale au XXe siècle, Rennes 2020, S. 391–397, S. 395. 28 Zitiert nach: Pollak: Master to the Masters (wie Anm. 24), S. 39. 29 Archibald Henderson: George Bernard Shaw. His Life and Works, Cincinnati 1911, S. 238. 30 Agnes Heller: Mozart’s Don Giovanni in Shaw’s Comedy, in: Lydia Goehr / Daniel ­Herwitz (Hg.): The Don Giovanni Moment. Essays on the Legacy of an Opera, New York 2006, S. ­181–191, hier S. 183. 22

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„Traum-Intermezzo“31 mit dem Titel Don Juan in Hell. Dieses metatheatralische Moment bezieht sich eindeutig auf Shaws Lieblingsoper Don Giovanni,32 was im Text durch mehrere Referenzen auf Mozart und seine Musik hervorgehoben wird, auch durch die akustische, musikalische Begleitung, die in den Szenenanweisungen auftaucht.33 Auch wenn die Mozartschen Grundlagen unübersehbar sind, formt Shaw daraus eine ganz neue Szene: Es entsteht ein Gespräch zwischen Don Juan, der sich in der Hölle befindet, und dem Teufel. Darin geht es um eine philosophische Diskussion über das Wesen des Himmels und der Hölle und „die Bestimmung des Menschen“34, in der Shaw „zum ersten Male seine Grund-Idee von der life-force entwickelte“35 und das Konzept des Übermenschen weiter vertiefte. Es zeigt sich, dass der Weg Don Juans in die Hölle und jener des „Commanders“ (Mozarts Commendatore) in den Himmel führte, aber dass – erstens – diese Orte frei wählbar sind, und – zweitens – dass die Wahl am Ende eine Frage des Geschmacks ist36 („if your taste lies that way“).37 Deshalb taucht die Statue des Komturs nicht im Himmel auf, wo sie unzufrieden war und sich langweilte, sondern in der Hölle. Seinen Wunsch, in die Hölle zu wechseln, begründet er wie folgt: „Hell, in short, is a place where you have nothing to do but amuse yourself“.38 Im Gegensatz zu ihm beschreibt Don Juan die Hölle als unerträglich: „for hell is the home of the unreal and of the seekers for happiness“.39 In seiner Antwort an Donna Ana begründet er seine Wahl des Himmels: „In Heaven, as I picture it, dear lady, you live and work instead of playing and pretending. You face things as they are […] If the play still goes on here and on earth, and all the world is a stage, Heaven is at least behind the scenes.“40 Don Juans Streben zum Himmel (wo sich Mozart schon befindet) zeigt sich als Streben zum Übermenschen.41 Das empfindet der Teufel hingegen als vollkommen unrealistisch und unnötig und sagt gegenüber Donna Ana am Ende der Szene, dass der Übermensch noch gar nicht geschaffen sei.42 Ihr Vater, der Komtur, bleibt in der Hölle, wo sich auch – gemäss Teufel – Hermann Stresau: George Bernard Shaw in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 1962 (= Rowohlts Monographien), S. 96. 32 Nicholas Grene: Bernard Shaw. A Critical View, London 1984, S. 153. 33 Heller: Mozart’s Don Giovanni in Shaw’s Comedy (wie Anm. 30), S. 185. 34 Stresau: George Bernard Shaw in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (wie Anm. 31), S. 97. 35 Ebd., S. 96.; vgl. dazu Corballis: Why the Devil Gets All the Good Tunes (wie Anm. 3), S. 168. 36 Heller: Mozart’s Don Giovanni in Shaw’s Comedy (wie Anm. 30), S. 187. 37 Shaw: Man and Superman (wie Anm. 22), S. 100. 38 Ebd., S. 97. 39 Ebd., S. 103. 40 Ebd., S. 104. 41 Stresau: George Bernard Shaw in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (wie Anm. 31), S. 100. 42 Shaw: Man and Superman (wie Anm. 22), S. 137. Vgl. dazu: Stresau: George Bernard Shaw in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten (wie Anm. 31), S. 100. 31

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Wagner befindet. Die Traum-Szene endet mit Donna Anas Aufschrei: „A father for the Superman!“.43 Aber wie läßt sich Händel mit dem von Mozart inspirierten Man and Superman in Verbindung bringen? In einem Brief an den Produzenten des BBC Rundfunks von 1946 gab Shaw klare Instruktionen, welche Musik diese Szene bei einer Adaptation begleiten solle: „‚At the entrance of the statue the two first chords of the overture to Don Giovanni must crash out fortissimo in the broadest measure. When the devil appears the opening staves of Le Veau d’Or, the song of Mephistopheles from Gounod’s Faust, rattles out. At the end, when Ana cries ‚A father for the Superman‘ the band bursts out with ‚unto us a child is born‘ from Handel’s Messiah, and makes a resounding and triumphant finish.‘“44

Der Musik von Mozart wird also die von Shaw scharf kritisierte Musik Gounods als „sentimentaler Kitsch“45 für den Teufel gegenübergestellt; der Ruf nach dem Übermenschen hingegen kommt erstaunlicherweise mit dem Messiah und Händel. Demnach führt die „Evolution“ über den Übermenschen zu Gott. Dafür wählt Shaw nicht zufällig die Chornummer „For unto us a child is born“, die in seinen Musikkritiken und Dramen eine spezielle Konnotation zu haben scheint. Gerade diese musikalische Nummer steht im Fokus des vorliegenden Beitrags. So lassen sich die Umrisse eines zentralen Dreiecks in Shaws musikalischem Pantheon erkennen: Wagner als Mensch (von Shaw bewundert, verehrt und verteidigt, aber in einem realistischen Maß, sogar mit einer gewissen Kritik); Mozart als Übermensch und absolute Autorität in einer musikalisch-praktischen Art und Weise; und Händel als Gottheit (unerreichbar, archetypisch, ein partikulares Wesen in einer separaten Dimension, der eher als ein Ur-Konzept auftaucht). Für Shaw gehört Händel zu den grössten Komponisten aller Zeiten „when measured by the highest standards“46: Neben Händel, Mozart und Wagner erscheinen dort nur noch Bach und Beethoven,47 die deutlich seltener in Shaws Texten Erwähnung finden. Für Shaw scheint Händel ein Modell und Maßstab der Musik zu sein, in erster Linie aber eine Institution. In dem Text „Causerie on Handel in England“, der zuerst als Vortrag in Frankreich gehalten und erst 1913 Shaw: Man and Superman (wie Anm. 22), S. 138. George Bernard Shaw: Collected Letters. Vol. IV, hg. von Dan Laurence, London 1988, S. 779. Zitiert nach: Wisenthal: Shaw’s plays as music-drama (wie Anm. 20), S. 288. 45 Heller: Mozart’s Don Giovanni in Shaw’s Comedy (wie Anm. 30), S. 186 und 187. 46 Louis Crompton: Note on the Selections, in: Bernard Shaw: The Great Composers. Reviews and Bombardments, hg. von Louis Crompton, Berkeley / L os Angeles / L ondon 1978, S. xxv–xxvii, hier S. xxvi. 47 Ebd., S. xxvi. 43

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in der amerikanischen Zeitschrift Ainslee’s Magazine veröffentlicht wurde, gibt Shaw seinen vielleicht ausführlichsten Händel-Kommentar, der sein Händel-­ Bild klar erkennen lässt: „Handel is not a mere composer in England: he is an institution. What is more, he is a sacred institution. When his Messiah is performed, the audience stands up, as if in church, while the Hallelujah chorus is being sung. It is the nearest sensation to the elevation of the Host known to English Protestant. […] If anyone in England were to take the song from the oratorio and set it back again to secular words, he would probably be prosecuted for blasphemy. […] Handel’s music is the least French music in the world, and the most English. […] When he tells you that when the Israelites went out of Egypt, ‚there was not one feeble person in all their tribes‘, it is utterly useless for you to plead that there must have been at least one case of influenza. Handel will not have it: ‚There was not one, not one feeble person in all their tribes,‘ and the orchestra repeats it in court, smashing chords that leave you speechless. That is why every Englishman believes that Handel now occupies an important position in heaven. If so, le bon Dieu must feel toward him very much as Louis Treize felt toward Richelieu.“48

Hier bezieht sich Shaw mehrfach auf einige allgemeine Aspekte der englischen Händel-Rezeption dieser Jahre, die stark von Mythen und Legenden als „mythistoria Handeliana“49 geprägt wurde. So findet man seine Idee von Händel als Institution schon 1877 in The Musical Times, im Text „The Influence of Handel on Music in England“ des Musikkritikers Joseph Bennett. Er schrieb, Händel sei „not only an institution but an all-embracing, well-nigh absolute influence“.50 Bennett erwähnte dabei die Kategorie „Englishness“, die genauso für Händel wie auch für das Oratorium als Gattung gelte.51 Neben dieser nationalen Spur steht hier auch die Idee der Pseudo-Religiosität im Zentrum, die durch Händels Kultstatus sowie durch seine Verwendung der Bibel als Vorlage und Vorbild in den Vordergrund tritt: „[…] in the homes of the people Handel’s music is to art what the Bible is to literature“.52 Auf ähnliche Weise fand Hubert Parry im Messiah53 den „tiefen religiösen Sinn“,54 obwohl die Musikliteratur bereits damals deutlich hervorhob, Shaw: How to become a musical critic (wie Anm. 21), S. 278–280. Jonathan Keates: Messiah. The Composition and Afterlife of Handel’s Masterpiece, London 2016, S. 146. 50 Joseph Bennett: The influence of Handel on Music in England, in: The Musical Times 18:413, 1877, S. 321–324, hier S. 321. 51 Ebd., S. 321–322. Die englische Identität Händels war auch für George Grove eine der wichtigsten Eigenschaften Händels (vgl. dazu: Robert Stradling und Meirion Hughes: The English Musical Renaissance 1860–1940, London / New York, S. 13 und 23). 52 Bennett: The influence of Handel on Music in England (wie Anm. 50), S. 323. 53 Hubert Parry: Studies of great composers, London 1887, S. 59. 54 Ebd., S. 59. 48 49

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dass die Oratorien Händels nicht als religiöse oder überhaupt als Kirchenwerke konzipiert wurden.55 Ernest Walker sprach 1907 über die „englische Verehrung von Händel“56, Händels Namen als „nationalen Fetisch“57 und den Messiah als „a part of the average Englishman’s religion“.58 Shaw als Musikkritiker59 rezipiert Händel nicht nur anhand der erwähnten allgemeinen Perspektiven, sondern definiert ihn auch als den ultimativen Maßstab der Musik – und zwar nicht nur der Musik von Händels Zeitgenossen, sondern der Musik aller Zeiten und in erster Linie der Musik seiner eigenen Gegenwart. 1887 schrieb George T. Ferris in seinem Buch The Great Composers, dass Händel in der englischen Gegenwart so omnipräsent sei, dass er dem modernen Engländer „praktisch ein Zeitgenosse“ werde.60 So wird in Shaws Kritiken aus den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ersichtlich, dass Mendelssohns Oratorien einen zweitrangigen Status im Vergleich zu Händel erreichen; Shaw suggeriert auch, dass wegen Mendelssohns „parasitischem Verhältnis“ zu Händel 61 ein Vergleich der beiden Komponisten gar nicht möglich sei.62 Shaws Kritik an Gounod aus dem Jahr 1886 geht in eine ähnliche Richtung, und wieder spielt Händel eine zentrale Rolle: „And indeed M. Gounod does not express his ideas worse than Handel; but then he has fewer ideas to express. No one has ever been bored by an adequate performance of the Messiah. […] Mr. Gounod is to Handel as a Parisian duel is to Armageddon, let him seek wisdom at the next Crystal Palace performance of the Redemption or Mors et Vita.“63

Die vielleicht schärfsten Kritiken lieferte Shaw über die englische zeitgenössische Musik in der Gattung des Oratoriums; dabei sind Bezeichnungen wie „secondhand Handel“64 oder „shoddy Handel“65 keine Seltenheit. Von dieser Ernest Walker: A History of Music in England, Oxford 1907, S. 189. Ebd., S. 196. 57 Ebd., S. 195. 58 Ebd. 59 Zu seiner Tätigkeit als Musikkritiker vgl. Gebhard Redlin: Die Welt der Musik des Bernard Shaw. Ein außergewöhnlicher Musikkritiker und seine Zeit, Frankfurt a. M. 2001 (= Beiträge zur Europäischen Musikgeschichte 6). 60 George T. Ferris: The Great Composers, London 1887, S. 7. 61 „He thought Mendelssohn’s extremely popular oratorios were parasitic on Handel the way Victorian blank verse tragedy was parasitic on Shakespeare“ (Louis Crompton: Editor’s Introduction, in: Shaw: The Great Composers. Reviews and Bombardments (wie Anm. 46), S. xi–xxiv, hier S. xvi). 62 Bernard Shaw: Music in London 1890–94. Vol. 1, London 1932, S. 23. 63 Shaw: How to become a musical critic (wie Anm. 21), S. 121 und 123. 64 Ebd., S. 84. 65 Ebd., S. 305. 55

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Art der Kritik wurde nur Elgar verschont,66 während Hubert Parry vielleicht der extremste Fall war: Shaw bezeichnete 1888 dessen Oratorium Judith als „emasculated Handel“67 und als Derivat von Händels Oratorienkunst.68 Solche Oratorien charakterisierte Shaw als „sham religious works“69 und „dull imitations of Handel“.70 Das geht zurück auf Shaws „sham Shakespeare“71, eine Analogie zu Mendelssohns Oratorien in der Kritik von 1889: „But compared with Handel he [Mendelssohn, E. C.] is what Tennyson is compared with Shakespeare.“72 Gerade hier zeigt sich eine der wohl wichtigsten Vergleichsgrößen, die Shaw für Händel fand, nämlich Shakespeare. Shaw brachte die beiden – Händel und Shakespeare – erneut im Vorwort zu seinem Drama The Dark Lady of the Sonnets aus dem Jahr 1914 zusammen, in dem er ihre beispiellose dramatische und musikalische (klangliche)  Fähigkeit lobte,73 v. a. im Sinne von „word music“. Händel und Shakespeare stehen dabei als Archetypen, als Ur-Modelle hauptsächlich für Shaws eigene Kunst. Shaws Auseinandersetzung mit Händel beschränkte sich jedoch nicht nur auf seine Musikkritiken und Vorworte, sondern prägte sogar seine eigene musika­ lische Praxis. In seinen Tagebüchern wird ersichtlich, dass er Händel gespielt und gesungen hat74, aber auch, dass er höchstwahrscheinlich mindestens in der Zeit zwischen 1889 und 1894 relativ regelmäßig bei großen Händel-Auffüh-

Ebd., S. 272. Vgl. dazu: Stanley Weintraub: Shaw’s Musician: Edward Elgar, in: Shaw 22 (2002), S. 1–18, hier S. 4. 67 Shaw: The Great Composers. Reviews and Bombardments (wie Anm. 46), S. 334. 68 Eugene Gates: The Music Criticism and Aesthetics of George Bernard Shaw, in: The Journal of Aesthetic Education 35:3, 2001, S. 63–71, S. 67. 69 Shaw: Music in London 1890–94. Vol. 1 (wie Anm. 62), S. 21. 70 Ebd., S. 21. In seinen Kritiken der zeitgenössischen Oratorienproduktion beschäftigte sich Shaw viel mit dem Verhältnis zwischen Religion und Kunst (v. a. im Sinne einer religiösen Erfahrung), wobei Händel eine spezielle, vorbildliche Position einnahm: „In so far as these are not dull imitations of Handel, they are unstaged operettas on scriptural themes, written in a style in which solemnity and triviality are blended in the right proportions for boring an atheist out of his senses or shocking a sincerely religious person into utter repudiation of any possible union between art and religion“ (ebd., S. 21). 71 Shaw: The Great Composers. Reviews and Bombardments (wie Anm. 46), S. 123. 72 Ebd. Eine weitere Kritik von Mendelssohns Oratorien nahm er in einem Text von 1890 vor: „I do not know how it is possible to listen to these works without indignation, especially under circumstances implying a parallel between them and the genuine epic stuff of Handel, from which, in spite of their elegance, they differ as much as Booth does from Bunyan“ (ebd., S. 29). 73 Bernard Shaw: The Complete Prefaces. Volume 2: 1914–1929, hg. von Dan H. Laurence und Daniel J. Leary, London u. a. 1995, S. 116. 74 Wie etwa am 29. August 1887, als er schrieb: „Played Bach and Handel all the morning“ (Bernard Shaw: The Diaries 1885–1897. Volume I, hg. von Stanley Weintraub, University Park / L ondon 1986, S.  295). 66

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rungen wie jenen des Messiah (sein Lieblingsoratorium)75 in London anwesend war76 (u. a. vermutlich am 1. Januar 1889,77 beim Handel Festival am 22. Juni 1891,78 vermutlich am 1. Januar 189279). Zwei besondere Aspekte des Händel-Bilds sollen an dieser Stelle im Zusammenhang mit dem Messiah näher betrachtet werden. Es handelt sich um eine Schnittstelle zwischen Shaws Musikkritiken und Dramen: Einerseits geht es um Händel im aufführungspraktischen Kontext Shaws, andererseits um Händel als Apostel der Shawschen Religion. Es wurde lange behauptet, dass Shaw einer der ersten Initiatoren zur Rückkehr zum originalen Händelschen Klang war. Diese Annahme basiert auf einer langen Tradition von monumentalen und höchstritualisierten Händel-Aufführungen,80 besonders in Bezug auf das Handel Festival im Londoner Kristallpalast. Das Festival befolgte jahrelang ein festgefügtes Ritual der Aufführungen:81 Messiah am ersten Tag, dann den „Selection day“ mit Exzerpten aus verschiedenen anderen Werken und am letzten Tag Israel in Egypt oder Judas Maccabäus.82 Der Aufführungsstandard war ein Apparat von mehr als tausend Teilnehmern83 sowie eine in Besetzung und im musikalischen Material angepasste Partitur, die sich in erster Linie an Mozarts Bearbeitung aus dem Jahr 1789 orientierte.84 Die Monumentalität, die durch eine klingende Masse verkörpert,85 aber auf Kosten der Aufführungsqualität inszeniert wurde, war für Shaw ein riesiger Stolperstein, den er häufiger in seinen Texten thematisierte: „I do not hesitate to say that whoever has heard an oratorio of Handel’s at the Handel Festival only has never heard it at all.“86 In Shaw: Music in London 1890–94. Vol. 1 (wie Anm. 62), S. 219. Vgl. Shaw: The Diaries 1885–1897. Volume I (wie Anm. 74) und Bernard Shaw: The Diaries 1885–1897. Volume II, hg. von Stanley Weintraub, University Park / L ondon 1986. 77 Shaw: The Diaries 1885–1897. Volume I (wie Anm. 74), S. 454. 78 Shaw: The Diaries 1885–1897. Volume II (wie Anm. 76), S. 732. 79 Ebd., S. 782. 80 David Reißfelder: Jenseits des Crystal Palace. Arthur James Balfour und die (zweite) Handel Society, in: Göttinger Händel-Beiträge 22, 2021, S. 29–50, hier S. 29. 81 Natasha Loges: Händels Musik und Programmgestaltung in Londons Kristallpalast, 1859–1874, in: Göttinger Händel-Beiträge 20, 2019, S. 61–76, hier S. 68. 82 Ebd., S. 65 und 70.; Redlin: Die Welt der Musik des Bernard Shaw (wie Anm. 59), S. 368. 83 „Bis zu 4000 Sänger aus ganz England bildeten den Chor, während das 300 bis über 400 Personen starke Orchester sich aus Berufsmusikern und Laien zusammensetzte“ (ebd., S. 368). 84 Monika Hennemann: „A Most Extraordinary Mania“ – Händel und die englische Aufführungstradition des 19. Jahrhunderts, in: Wolfgang Birtel (Hg.): Händels Weg von Rom nach London. Tagungsbericht Engers 2009, Mainz 2012 (= Schriften zur Musikwissenschaft 21), S. 85–110, hier S. 98; Donald Burrows: Handel: Messiah, Cambridge u. a. 1991 (= Cambridge Music Handbooks), S. 72–73. 85 Diese Tradition von Massenaufführungen fasst Thomas Irvine als „massive Handel“ zusammen (dazu siehe: Thomas Irvine: Handel at the Queen’s Hall Promenade Concerts, 1895–1914, in: Göttinger Händel-Beiträge 16 2015, S. 55–75, hier S. 63–64). 86 Bernard Shaw: Music in London 1890–94. Vol. 3, London 1956, S. 253. 75 76

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dem Text von 1913 kommt er zurück auf seinen Vorschlag aus dem Jahr 1891, den Apparat zu reduzieren: „Yet in England his music is murdered by the tradition of the big chorus! […] If I were member of the House of Commons I would propose a law making it a capital offence to perform an oratorio by Handel with more than eighty performers in the chorus and orchestra, allowing fortyeight singers and thirtytwo instrumentalists. Nothing short of that will revive Handel’s music in England. It lies dead under the weight of his huge reputation and the silly notion that big music requires big bands and choruses.“87

Es ist durchaus plausibel, dass sein Reduktionsvorschlag eine allmähliche Wende zurück zum ‚originalen‘ Händel und zu historisch informierten Praxis anregte, v. a. durch Bemühungen von William Cusins,88 George Grove89 (der für eine Trennung von Mozarts Instrumentierung plädierte, wie es Arthur Mann 1894 in seiner „bereinigten“ Aufführung umsetzte),90 Frederick Bridge91 oder ­Ebenezer Prout.92 Aber Shaws Ziel war nie eine historisch informierte Version von Händel, wie er 1941 auch in seinem Text „Handel’s Messiah“ in The Times betonte;93 dort verteidigte er Mozarts Eingriffe in die Musik, sowohl in der Besetzung als auch in weiteren musikalischen Ergänzungen und Anpassungen.94 Seine dramatische Tätigkeit beeinflusste wohl seine Haltung gegenüber Mozarts Bearbeitung. 1937 arbeitete er nämlich an Shakespeares Cymbeline (das er in einem Text von 1896 stark kritisiert hatte)95 und fügte diesem einen eigenen Akt in Shakespeares Stil hinzu. Die Idee, in Shakespeares Text einzugreifen (jedoch nicht im Sinn von ‚cutting‘) beschrieb er schon 1920 in seinem Brief, betitelt „Cutting Shakespear“, an den Herausgeber der Zeitung The Star. In diesem Brief ging er der Frage nach, ob es überhaupt Dramatiker gäbe, die fähig wären, bei Shakespeare genau das zu replizieren, was Mozart mit Händels Messiah erfolgreich gemacht hatte: „But where is this paragon of play producers Shaw: How to become a musical critic (wie Anm. 21), S. 280–281. Dabei spielte die Qualität der Aufführungen, die unter der Masse des Klangkörpers litt, eine große Rolle. 88 Percy M. Young: Die englische Suche nach dem wahren Händel im 19. Jahrhundert, in: Walther Siegmund-Schultze (Hg.): Georg Friedrich Händel im Verständnis des 19. Jahrhunderts, Halle 1984, S. 62–69, S. 66. 89 Ebd., S. 69. 90 Irvine: Handel at the Queen’s Hall Promenade Concerts (wie Anm. 85), S. 68. 91 Young: Die englische Suche nach dem wahren Händel im 19. Jahrhundert (wie Anm. 88), S. 69. 92 Luke Howard: Ebenezer Prout (1835–1909) and Messiah: An overdue assessment, in: Newsletter of The American Handel Society 34:2, 2019, S. 1–3, S. 2. 93 Shaw: How to become a musical critic (wie Anm. 21), S. 318–319. 94 Ebd., S. 318–319 und 326. 95 Im Text „Blaming the Bard“, der am 26. September 1896 in Saturday Review veröffentlicht wurde. Wiedergegeben in: Bernard Shaw: The Drama Observed. Volume II: 1895–1897, hg. von Bernard F. Dukore, University Park 1993, S. 660. 87

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to be found? Who is the laureate who will do for the tomb scene or the balcony scene what Mozart ventured to do for Handel’s ‚The people that walked in the darkness‘? And even that wonderful variation has not superseded the simple original.“96 Diese „wunderbare“ Variation (wie er sie nennt), die das Original aber nicht komplett ersetzen kann, machte sich Shaw letztendlich in der Bearbeitung von Shakespeares Text zum Ziel.97 Im Vorwort zu Cymbeline Refinished schrieb er, dass ihm als Bezugspunkt Mozarts Händel-Bearbeitungen dienten:98 „What about the additions made by Mozart to the score of Handel’s Messiah? Elgar, who adored Handel, and had an unbounded contempt for all the lesser meddlers, loved Mozart’s variations, and dismissed all purist criticism of them by maintaining that Handel must have extemporized equivalents to them on the organ at his concerts. […] Accordingly, I feel no qualm of conscience and have no apology to make for indulging in a variation on the last act of Cymbeline. I stand in the same time relation to Shakespear as Mozart to Handel, or Wagner to Beethoven. Like Mozart, I have not confined myself to the journeyman’s job of writing ‚additional accompaniments‘; I have luxuriated in variations. […] But I do care a good deal about what Mozart did to Handel, and Wagner to Gluck; and it seems to me that to discuss the artistic morality of my alternative ending without reference to them would be waste of time.“99

Gerade die Idee der Variation wird bei seinen Eingriffen in Shakespeares Text zur Grundlage100, wobei die bekannten Parallelen auch hier hervortreten: Shakespeare als Händel und Shaw als Mozart. Bernard Shaw: The Drama Observed. Volume IV: 1911–1950, hg. von Bernard F.  Dukore, University Park 1993, S. 1349. 97 Shaw hatte eine ambivalente Beziehung zu Shakespeare, die mit Shakespeares dramatischen Schaffen verknüpft war: „on the one hand, keen disappointment and frustration with his mediocrity as an original or deep thinker; on the other hand, enticement by the vividness of his characters and scenes, admiration for his immense power over language, and enchantment with his musical expression“ (Berst: New theatres for old (wie Anm. 15), S. 64). Gerade die „musical expression“ bzw. die klangliche Dimension von Shakespeares Werken bringt – aus Shaws Perspektive – Shakespeare wieder näher zu Händel: „But Handel and Shakespear were not held to their best in this way. They could turn out anything they were asked for, and even heap up the measure. They reviled the British Public, and never forgave it for ignoring their best work and admiring their splendid commonplaces; but they produced the commonplaces all the same, and made them sound magnificent by mere brute faculty for their art“ (Shaw: The Complete Prefaces. Volume 2: 1914–1929 (wie Anm. 73), S. 116). Diese Beziehung zwischen Händel und Shakespeare im Sinne von Verbindung von Ton und Wort erinnert in einer Weise an Georg Gottfried Gervinus’ Händel und Shakespeare aus 1858 (dazu siehe: Georg Gottfried Gervinus: Händel und Shakespeare: zur Ästhetik der Tonkunst, Leipzig 1868, S. 429–430). 98 Bernard Shaw: The Complete Prefaces. Volume 3: 1930–1950, hg. von Dan H. Laurence und Daniel J. Leary, London u. a. 1997, S. 317 und 319. 99 Ebd., S. 317–319. 100 Haywood: George Bernard Shaw on Shakespearian Music and the Actor (wie Anm. 19), S. 419. 96

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Neben der Parallele zu Shakespeare kommt Händel bei Shaw noch eine weitere wichtige Rolle zu, nämlich die des Apostels. Bisher konnte an Shaws Texten gezeigt werden, dass Händel eine archetypische, kultische, sogar göttliche Rolle zukommen sollte. In seinen Überlegungen über das Verhältnis zwischen Kunst und Religion 1896 stellte Shaw Musik als die exklusive Kunst des Himmels dar und rückte dabei abermals Händel in den Vordergrund: „Music, for instance, has always been highly privileged in the popular imagination. No other art has ever been conceived as practised in Heaven. Prophets may have been inspired to write books on earth; and St Luke is supposed to have painted a portrait of the Virgin; but who ever dreamt of easels and inkbottles, or typewriters, in Heaven? Yet what would Heaven be without its harps, and trumpets, and choir of angels? It was owing to this association of ideas that Handel met with no opposition when he popularized the oratorio. He gave us, in the concert room, Samson and Delilah, and Menoah, and the rest of the persons in the Bible story; and no one was scandalized.“101

Diese Rolle wird hauptsächlich durch den Messiah hervorgehoben, da es dabei für Shaw nicht nur um einen der „Höhepunkte der abendländischen Kunst“,102 sondern auch um einen der „größten Ausdrücke des Glaubens ihrer Zeit“103 gehe – ganz anders als z. B. Mendelssohns Musik: „Popular religious music like Mendelssohn’s oratorios, on the other hand, catered to those Puritans who shunned the theater but revelled in the melodrama of hellfire and damnation“.104 Dass gerade die Musik aus dem Messiah den Übermenschen und Don Juans Wende zum Himmel in Man and Superman musikalisch umsetzt, kann auch noch an einem anderen Beispiel gezeigt werden: im Vorwort zum politischen Drama On the Rocks (1933). In diesem Vorwort wendet sich Shaw an Jesus, die revolutionäre Figur schlechthin,105 die aber im Passionsspektakel stumm bleibt, da Jesus sich nicht gegen Pilatus wehrte.106 Genau dieser Punkt ist zentral in Shaws Antwort auf Max Reinhardts Vorschlag, „ein Christusdrama zu schreiben“,107 wie Siegfried Trebitsch es in seiner Autobiographie beschrieb.108 Jesu Weige Aus dem Text „Church and Stage“, der am 25. Januar 1896 in Saturday Review veröffentlicht wurde. Wiedergegeben in: Shaw: The Drama Observed. Volume II: 1895–1897 (wie Anm. 95), S. 505. 102 Crompton: Editor’s Introduction (wie Anm. 61), S. xvi. 103 Ebd. 104 Ebd., S. xvi–xvii. 105 Aus dem Vorwort zu On the Rocks. Wiedergegeben in: Shaw: The Complete Prefaces. Volume 3: 1930–1950 (wie Anm. 98), S. 185. 106 Ebd., S. 204–205. 107 Trebitsch: Chronik eines Lebens (wie Anm. 13), S. 346. 108 „Nie zuvor hatte sich Professor Max Reinhardt für noch nicht geschriebene Stücke von Bernard Shaw so sehr interessiert wie nach dem noch lange nicht ausgelaufenen Erfolg der ‚Heiligen Johanna‘. Er bat mich dringend zu sich nach Berlin und verlangte, ich solle Shaw in seinem 101

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rung, sich zu verteidigen, machte für Shaw ein Passionsdrama unmöglich,109 weswegen er das Gespräch zwischen Jesus und Pilatus neu erfand und die Szene ins Vorwort setzte. Basierend auf dem Johannes-Evangelium folgen eine Selbstverteidigung und eine philosophische Debatte: „Only in the account attributed to John was there anything to build upon – and Shaw wrote a dialogue (more a debate) between Jesus and Pilate to illustrate the dilemma, turning Jesus into something of a feisty and more philosophical Joan, and Pilate into a sharply intellectual opponent on behalf of Rome.“110

Der Glaube Jesu basiert auf Shaws Idee des Fleisch gewordenen Gedanken Gottes,111 und dies ermöglicht „that men rise from being beasts of prey to believing in me and being saved.“112 Namen nahelegen, doch jetzt, nach der ‚Heiligen Johanna‘, ein Christusdrama zu schreiben, wozu seiner Meinung nach niemand imstande wäre außer Bernard Shaw. Ich habe ihm die ausführliche Antwort meines von dieser Zumutung sehr angeregten Freundes wörtlich überbracht. Shaw erklärte darin dem großen Theatermagier, daß Christus als Dramenheld ganz unmöglich sei, weil er immer dort schweige, wo er zu sprechen hätte, und weil sein Auftreten von Anfang bis zu Ende undramatisch gewesen sei. Christus sei weniger der Held eines Dramas als der Schöpfer unzähliger Dramen, die die Folge seines großartigen Wirkens und seines edlen Schweigens gewesen seien. Es hieße, meinte Shaw, ein unvergängliches Menschenbild verfälschen, wenn man es als dramatischen Helden loslegen ließe und ihn zu einer ‚Rolle‘ erniedrigen würde“ (Trebitsch: Chronik eines Lebens (wie Anm. 13), S. 345–346). Trebitsch bezieht sich hier wahrscheinlich auf den Brief von Shaw an Trebitsch vom 7. Juni 1925, als Shaw schrieb: „[…] and it completely confirmed my opinion that Jesus is an impossible subject for a play. His story is just the opposite of Joan’s. Joan’s heresies and blasphemies are not heresies and blasphemies to us: we sympathize with them. And she defends herself splendidly, wiping the floor with her accusers every time. Jesus is convicted for asserting that he is the Messiah, and that he will rise from the dead after three days and come again in glory to establish his kingdom on earth. To us that is the delusion of a madman. Instead of defending himself he remains arrogantly dumb, only breaking silence occasionally to insult Pilate, who is trying to be reasonable and even friendly with him. The effect when it is brought to life on the stage is extremely unpleasant; and the cruelties and horrors of the scourging and so forth make it worse, as they are torturing, not a martyr, but a madman. In reading the gospels we do not realize this; but the stage brings it out mercilessly; and the spectacle is shocking to simple Salvationists and intensely disagreeable to the Intelligentsia“ (Samuel A. Weiss (Hg.): Bernard Shaw’s Letters to Siegfried Trebitsch, Stanford 1986, S. 257). 109 Aus dem Vorwort zu On the Rocks. Wiedergegeben in: Shaw: The Complete Prefaces. Volume 3: 1930–1950 (wie Anm. 98), S. 204. Shaw schrieb zwar 1878 das Theaterstück Passion Play, das er aber nie beendete (Shaw: The Drama Observed. Volume I: 1880–1895 (wie Anm. 15), S. 76). 110 Stanley Weintraub: Who’s Afraid of Bernard Shaw? Some Personalities in Shaw’s Plays, Gainesville 2011, S. 14. 111 Aus dem Vorwort zu On the Rocks. Wiedergegeben in: Shaw: The Complete Prefaces. Volume 3: 1930–1950 (wie Anm. 98), S. 208; vgl. dazu: Berst: In the Beginning: The Poetic Genesis of Shaw’s God (wie Anm. 8), S. 8. 112 Aus dem Vorwort zu On the Rocks. Wiedergegeben in. Shaw: The Complete Prefaces. Volume 3: 1930–1950 (wie Anm. 98), S. 210.

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Die Szene und somit das Gespräch enden mit der folgenden Warnung Jesu: „[…] and when your Empire is dust and your name a byword among the na­ tions the temples of the living God shall still ring with his praise as Wonderful! Counsellor! the Everlasting Father, the Prince of Peace.“113 Shaw geht noch weiter und erklärt diese Worte: „And so the last word remains with Christ and Handel; and this must stand as the best defence of Tolerance until a better man than I makes a better job of it.“114 Dabei wird deutlich, dass Shaws Jesus sich in seinen letzten Worten an Pilatus ausgerechnet auf Händel bezieht, und zwar durch Worte aus Jesaja 9:6 „Wonderful! Counsellor! the Everlasting Father, the Prince of Peace“ aus der Chornummer: „For unto us a child is born“ (Messiah, Teil 1, Nummer 12). Es handelt sich hierbei um dieselbe Nummer, die in der BBC -Adaptation von Man and Superman am Ende von Don Juans Szene in der Hölle erklingt. In dieser Konstellation repräsentieren die Verse in ihrer vollständigen Form bei Händel einen Übergang zu Gott: „For unto us a child is born, unto us a son is given, and the government shall be upon His shoulder; and His name shall be called Wonderful, Counsellor, the mighty God, the Everlasting Father, the Prince of Peace.“115 Aber hier geht es nicht allein um die Worte, sondern auch um den Klang; dies hatte Shaw, wie er selber schrieb, aus der Bibel und von Händel gelernt.116 Das impliziert, dass seiner Bibel-Lektüre und Ebd., S. 211. Es gibt sogar Hinweise, dass Shaw plante, dieses Gespräch aus dem Vorwort zu On the Rocks vertonen zu lassen – und zwar von Edward Elgar, wie es angeblich in einem Brief an den Komponisten erwähnt wurde. In Who’s Afraid of Bernard Shaw? Some Personalities in Shaw’s Plays gibt Stanley Weintraub diesen Brief wie folgt wieder: „He was sending, Shaw wrote on December 5, a copy of Too True to Be Good, just published with another play, On the Rocks. Don’t bother about the plays, he urged, ‚but read, or get Carice to read to you the part [of the preface] about Socrates, Jesus, Joan [of Arc] and Galileo, because it ends with a dialogue between Christ and Pilate which you will have to orchestrate and vocalize for the Gloucester Festival [in September 1934]. It ends with a quotation written expressly for you‘“ (Weintraub: Who’s Afraid of Bernard Shaw? (wie Anm. 110), S. 94–95). Es ist ziemlich eindeutig, dass Shaw sich hier explizit auf das Händel-Zitat bezieht, das v. a. als akustisches, musikalisches Zitat in diesem Gespräch eine entscheidende Rolle spielt. 114 Aus dem Vorwort zu On the Rocks. Wiedergegeben in: Shaw: The Complete Prefaces. Volume 3: 1930–1950 (wie Anm. 98), S. 211. 115 Georg Friedrich Händel: The Messiah / Der Messias, hg. von John Tobin, Kassel u. a. 1965 (= Hallische Händel-Ausgabe. Serie I: Oratorien und große Kantaten 17), S. 53–57. 116 Shaw: How to become a musical critic (wie Anm. 21), S. 219. Hier ergibt sich eine interessante Parallele zu Stefan Zweigs Händel-Bild: In Zweigs Sternstunden der Menschheit hebt er Händels „Auferstehungsmoment“ im Messiah durch die Verbindung von Wort und Klang hervor. Dies tut er mit einem Zitat des Chors Nr. 37 „The Lord gave the word“, der später zur Metapher für die Vollendung des Werks wird: „‚The Lord gave the word‘: von ihm kam das Wort, von ihm kam der Klang, von ihm die Gnade! […] Das Wort war Ton geworden, unverwelklich blühte und klang, was eben noch trockne, dürre Rede gewesen“ (Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit. Vierzehn historische Miniaturen, hg. von Hans Wagener, Stuttgart 2020, S. 112 und 114). 113

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-Interpretation stets eine prominente akustische Dimension zukommt. Gerade die Nummer „For unto us a child is born“ aus dem Messiah erwähnte er mehrmals in seinen Musikkritiken als zentrale Stelle des Werkes. Dabei fokussierte er sich auf die „gigantische Explosion“117 des Klanges auf den Worten „Wonderful! Counsellor!“, den „donnernden“118 Höhepunkt. Das war gemäss Shaw „one of Handel’s mightiest strokes“.119 Shaws Jesus scheint im Gespräch mit Pilatus eine Ergänzung zu Händels Messiah zu werden, denn Jesus tritt in Händels Oratorium nie als singende Figur auf.120 Shaws Jesus hat stattdessen eine Stimme, doch er spricht und beendet seine Rede mit einem klaren Bezug zur Musik und zu Händel. Genauso wie bei Händel (und früher bei John M ­ ilton)121 ist Jesus bei Shaw keine göttliche Figur; das Übermenschliche kann also nur in der Musik und durch Händel gefunden werden – wie auch Don Juans Apotheose zum Himmel in Man and Superman, die musikalische Begleitung aus Messiah benötigte (wie oben erwähnt). Händel und seine Musik bieten dabei in einem quasi-religiösen Kontext eine utopische Vision, sie spiegeln die Sehnsucht nach dem Paradies. Händels musikalische Bibel-Ergänzung ist für Shaw die Form einer (über­ natürlichen) Bibel-Erfahrung und -Transzendenz122, weswegen für ihn Jesus und Händel nebeneinander in einem Bild der allmächtigen Kraft der Musik stehen: „[Bible’s] charm, its promise of salvation, its pathos, and its majesty have been raised to transcendence by Handel, who can still make atheists cry and give materialists the thrill of the sublime with his Messiah.“123 Somit ist Händel Apostel und Prophet einer musikalischen, akustischen (Ersatz-)Religion, die universal, parallel und gleichmäßig alle berühren kann. Aber diese Religion ist nicht ein versteinertes Relikt; für Shaw muss Kunst die Ikonographie „for a live

Shaw: Music in London 1890–94. Vol. 3 (wie Anm. 86), S. 253. Shaw: Music in London 1890–94. Vol. 1 (wie Anm. 62), S. 222. 119 Ebd. 120 Johanna Rudolph: Händelrenaissance. Band II: Händels Rolle als Aufklärer, Berlin / Weimar 1969, S. 240. 121 Ebd., S. 239. 122 Shaw beschrieb 1894 im Text „The Religion of the Pianoforte“ für The Fortnightly Review seine musikalische Erfahrung der Bibel durch Händel: „I soon acquired a terrible power of stumbling through pianoforte arrangements and vocal scores; and my reward was that I gained penetrating experiences of Victor Hugo and Schiller from Donizetti, Verdi, and Beethoven; of the Bible from Handel; of Goethe from Schumann; of Beaumarchais and Molière from Mozart; and of Mérimée from Bizet, besides finding in Berlioz an unconscious interpreter of Edgar Allan Poe“ (Bernard Shaw: The Great Composers. Reviews and Bombardments (wie Anm. 46), S. 8). 123 Nachwort 1932 und Vorwort 1947 zu The Adventures of the Black Girl in Her Search for God. Shaw: The Complete Prefaces. Volume 3: 1930–1950 (wie Anm. 98), S. 120. 117

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religion“ kreieren.124 Diese akustische „Religion“ hat die Grundlagen genau in der „word music“, und damit schließt sich der Kreis von Shaws Auseinandersetzung mit Händel: Da Shaw die Bibel  – wie oben erwähnt  – als eines der Paradigmen der „word music“ verstand und Händel als Meister der biblischen Texte wahrnahm, scheint sein dramatisiertes Gespräch zwischen Jesus und Pilatus zugleich die Idee der Musik zu thematisieren. Dies geschieht hier auf einer Meta-Ebene: Händel und die Referenz auf das Klangliche und Musikalische werden hier als Musik der „word music“ dargestellt. Dadurch erscheint Händel nicht nur als Apostel von Shaws (akustischer) Religion, sondern auch als Paradigma (und Maßstab) seiner Theaterkunst, die mit der Musik auf zwei Ebenen interagieren möchte: „All of this music in Shaw’s plays is not just something added decoratively. Their music – that is, their literal music and their verbal music – is part of their very fabric, and it gives expression to their values and to their form. In an 1894 piece on Wagner’s theories about music, Shaw said that ‚there is a great deal of feeling, highly poetic and highly dramatic, which cannot be expressed by mere words – because words are the counters of thinking, not of feeling – but which can be supremely expressed by music‘ […], and Shaw’s music-dramas do express feeling that goes beyond what mere words can convey. If actual music is used in productions, and if dialogue is spoken musically, then the intense feeling in Shaw’s work will be given expression.“125

Wiedergegeben in: Crompton: Editor’s Introduction (wie Anm. 61), S. xvi. Wisenthal: Shaw’s plays as music-drama (wie Anm. 20), S. 303.

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„Händel hören“ – „Händel sehen“: Romain Rollands antikisierendes Bild eines „génie homérique“ Joachim Kremer (Stuttgart) Rollands Hændel in Form eines kurzen Vortrags mit dem Anspruch zu erläutern, das Wesentliche dabei zu benennen, ist kaum möglich. Das liegt nicht nur an dem Faktenreichtum dieses Buches, den literarischen Vorlagen, die Rolland zurate zog, oder den zahlreichen Wertungen, die kritisch zu hinterfragen nach mehr als 110 Jahren nach der Erstveröffentlichung Anlass bestünde.1 Die Schwierigkeit liegt auch im Kontext der biographischen Arbeiten Rollands begründet: Nachdem nämlich seine ersten Dramen mit Empedocles (1891), ­Caligula und Niobe (beide 1882) antike Sujets bearbeitet hatten, wandte er sich 1894 mit St. Louis historischen Themen zu und damit auch der Biographik. Was er dann mit der Trilogie Vie de Beethoven (1903), Vie de Michel-Ange (1907) und Vie de Tolstoi (1911) vorlegte, unterschied sich wesentlich von den biographischen Studien, die er seit 1900 geschrieben hatte.2 Diese im 1919 erschienenen Band Voyage musical au pays du passé vereinten Studien waren ab 1900 in der Revue de Paris erschienen:

Zu den Vorlagen, etwa von Friedrich Chrysander, Carl von Winterfeld und der Ausgabe von Werken Dietrich Buxtehudes und Friedrich Wilhelm Zachows in den DDT (1903 und 1905), siehe Rainer Kleinertz: Romain Rollands Haendel im Kontext der aktuellen Händel-Forschung, in: Hans-Jürgen Lüsebrink / Manfred Schmeling (Hg.): Romain Rolland. Ein transkultureller Denker  – Netzwerke, Schlüsselkategorien, Rezeptionsformen, Stuttgart 2016 (= Vice Versa. Deutsch-französische Kulturstudien 6), S. 211–225, hier S. 213 f. und S. 216. 2 Zu Rollands Schriften und Vorlesungen der Jahre 1890 bis 1945 siehe Hermann Fähnrich: Romain Rolland als Musikwissenschaftler, in: Die Musikforschung 9, 1956, Heft 1, S. 34–45, hier S. 42–45. Die Antike war damit aber nicht aus Rollands Blick geraten. In einem Brief an Edgar Varèse, der damals mit seinem Opernprojekt Œdipe et le Sphinx ins Stocken geriet, kritisiert er den „dekadenten Archaismus“ von Hugo von Hofmannsthals Ödipus: „Je n’aime pas, pour ma part, ces drames barbares de cabinet, d’un archaïsme décadent […] j’aime mille fois mieux ceux de notre tragédie classique.“ Auch hier benutzt Rolland das kollektive Zugehörigkeit signalisierende Possesivpronomen „notre“. Und er empfiehlt Varèse das Studium der originalen Quellen: „Si vous êtes attiré par les mythes hélleniques, que n’allez-vous les puiser à la source! […] Que dire des Bacchantes, et de tant d’inventions essentiellement lyriques et musicales d’Euripide?“ Der in der Sammlung Edgar Varèse der Paul Sacher Stiftung (Basel) befindliche Brief wird zitiert nach dem Wiederabdruck in: Felix Meyer / Heidy Zimmermann (Hg.): Edgar Varèse. Komponist, Klangforscher, Visionär, Mainz u. a. 2006, S. 63. – Für den Hinweis darauf danke ich Frau Dr. Esma Cerkovnik (Zürich) auch an dieser Stelle vielmals. 1

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Biographische Studien Rollands, 1900–1912: Le roman comique d’un musicien allemand au XVII e siècle, in: La Revue de Paris, Septième Année, Tome Quatrième, Juillet-Août 1900, Paris 1900, S. 199–214. La vie musicale en Angleterre au temps de la Restauration des Stuarts, d’aprés le journal de Samuel Pepys, in: Carl Mennicke (Hg.): Riemann-Festschrift. Gesammelte Studien Hugo Riemann zum sechzigsten Geburtstage, Leipzig 1909, S. 294–309. Hændel, in: La Revue de Paris, Dix-septiéme Année, Tome Deuxième, Mars-Avril 1910, Paris 1910, S. 791–808. Les origines du ‚style classique‘ dans la musique du XVIII e siècle, in: Le Mercure Musical (La Revue Musicale S. I. M.), Vol. 6 (1910), S. 81–99. Telemann: L’Autobiographie d’un illustre oublié, rival heureux de J. S. Bach, [vor 1912], unveröffentlicht. Métastase, précurseur de Gluck, in: La Revue musicale S. I. M., 1912, No. 4 (15 Avril 1912), S. 1–10.

Im Kontext dieser Studien entstand auch die 1910 erschienene Händel-Biographie. Alle genannten biographische Studien haben bislang im Gegensatz zu Hændel weniger Interesse erregt als Rollands literarische Entwürfe, als Beethoven, Michel-Ange oder auch Jean Christophe; sie gelten im Vergleich zu diesen pauschal als wissenschaftliche Werke.3 Aber ungeachtet dieser Bewertung werfen auch sie eine Fülle von Fragen auf, von der Materialerfassung bis hin zur raschen Rezeption in den zahlreichen Fachzeitschriften der Zeit. Indem nämlich diese Studien Rollands nicht die großen Heroen der Musikgeschichte darstellten, sondern ein lebendiges Bild der Breite entwarfen, sollte die Musik und ihre Geschichte als ein vielgestaltiges Feld mit unterschiedlichen Entwicklungssträngen dargestellt werden. Auch in Hændel finden sich Spuren dieser Idee, indem Rolland Essays zu zahlreichen Komponisten wie z. B. Zachow, Keiser oder Bononcini einstreut, die in dem großen narrativen Faden wie in sich geschlossene Inseln wirken und die immer zum Ziel haben, einen wesentlichen Einfluss auf Händel zu benennen. Händels Aufgeschlossenheit und seine Fähigkeit zur Assimilierung stellt dabei keine Zufälligkeit dar, sondern geradezu eine Prämisse. Freilich legt die Chronologie eines Lebens immer eine Linearität der Darstellung nahe, was D ­ anièle Pistone einfach und klar in eine rhetorische Frage kleidete: „Echapper à la chronologie, est-ce encore écrire une biographie?“ Im Falle von Rollands ­Hændel aber scheint die Linearität an Perspektivenreichtum und Implikationen planvoll angereichert zu werden. Vorlage dazu bietet der Sachverhalt, dass Händel zwar deutscher Abstammung war, aber vorwiegend in anderen Ländern wirkte, was die Vorstellung eines vielgestaltigen Prozesses der Assimilation nahelegt. Zu den verschiedenen „Formen und Erzählweisen“ der Biographik, etwa der „Wissenschaft­ lichen Biographik“, der „Populären Biographik“ und der „Fiktionalen Metabiographien“, siehe Christian Klein (Hg.): Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien, Stuttgart 2009, S. 103–198. Zum folgenden Zitat Pistones siehe: Danièle Pistone: Prospectives musicologiques, Paris 2019, S. 29.

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Dieser Sachverhalt schwächt ein anderes, um 1900 verbreitetes Bezugssystem der Musikerbiographie, nämlich den zunehmenden Nationalismus. Er lässt sich seit dem Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 auch auf dem Feld der Musik deutlich nachweisen, etwa mit der Gründung einer nationalen Musikgesellschaft im Jahre 1871 (der Société nationale de Musique), der sich 1886 heftig entladenden affaire Lohengrin um Richard Wagner, der zunehmend unter nationalen Vorzeichen erfolgten Wiederentdeckung Rameaus bis hin zu Debussys angeblichem Ausruf „Vive Rameau, à bas Gluck“ anlässlich der Aufführung von La Guirlande in der Schola Cantorum am 22. Juni 1903. Ohne einen Bezug auf dieses nationale Klima kommt kaum eine Darstellung zur französischen Musikgeschichte dieser Zeit aus, aber man kommt durchaus ohne einen pauschalisierenden und damit unreflektierten Begriff aus, der vergröbernd jede Selbstdefinition dem Verdacht des Chauvinismus aussetzt. So wie in Frankreich die Idee einer „petite patrie“ als Fundament der „grande patrie“ diente, kann sogar auch die nationale Identifikation in einer kosmopolitischen Perspektive aufgehen.4 Gerade im Falle des transkulturellen Kosmopoliten Rolland, der sich wegen ausbleibender nationalistischer Selbstpositionierung und geradezu anti-nationalistischer Überzeugung während des Ersten Weltkriegs schon ab 1915 den Worten von Michael Klepsch zufolge „auf verlorenem Posten“ befand, wäre jeder Chauvinismusverdacht unangemessen.5 Und folglich ist der in seinen Augen europäisch geprägte Händel für Rolland ein idealer Musiker, um einen genuin französischen Blick ohne Nationalismus zu formulieren. In diese scheinbar widersprüchliche Feststellung wird dieser Vortrag münden.6 Zur Vorstellung einer „petite patrie“ und einer „grande patrie“ siehe Anne-Marie Thiesse: Ils apprenaient la France. L’exaltation des régions dans le discours patriotique, Paris 1997, S. 8, und Wiebke Bendrath: Ich, Region, Nation. Maurice Barrès im französischen Identitätsdiskurs seiner Zeit und seine Rezeption in Deutschland, Tübingen 2003, S. 82. 5 Hans-Jürgen Lüsebrink / Manfred Schmeling (Hg.): Romain Rolland. Ein transkultureller Denker. Netzwerke, Schlüsselkategorien, Rezeptionsformen / Romain Rolland. Une pensée transculturelle – réseaux, notions clés, formes de réception, Stuttgart 2016 (= Vice versa. Deutsch-französische Kulturstudien 6), und Michael Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg. Ein Intellektueller auf verlorenem Posten, Stuttgart 2000. Zum Kosmopolitismus Rollands siehe Aude Leblond: Romain Rolland ou l’ identité française dans la tourmente, in: Anne Cadin u. a. (Hg.): Romans et récits français, entre nationalisme et cosmopolitisme (= Rencontres 24), Paris 2017, S. 195–211. 6 Dass auch in Rollands Ausführungen deutsch-französische Auto- und Heterostereotype zu finden sind, führt Klünemann aus; Clemens Klünemann: Der Intellektuelle im Widerspruch. Romain Rolland und die Macht der Stereotypen  – zur Aktualität seiner Kritik des kulturellen Gegensatzes, in: Hans-Jürgen Lüsebrink / Manfred Schmeling (Hg.): Romain Rolland. Ein transkultureller Denker – Netzwerke, Schlüsselkategorien, Rezeptionsformen, Stuttgart 2016 (= Vice Versa. Deutsch-französische Kulturstudien 6), S. 135–148, insbesondere S. 139–143. – Rollands Text wird nachfolgend zitiert nach Romain Rolland: Hændel, Paris 1951 [hiernach abgekürzt: RR], die deutsche Übersetzung nach Romain Rolland: Georg Friedrich Händel. Mit einem Vorwort von Carl Dahlhaus, München / Zürich 1985 [hiernach abgekürzt: RD]. 4

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I. Rollands Biographik: Popularisierung oder Neudeutung? Schon 1902 hatte Rolland Aufsätze zum „Volkstheater“ veröffentlicht, in denen er Shakespeare, Molière, Schiller und Goethe kritisierte: Diese Autoren hätten eher eine Elite bedient als eine breite Masse zu erreichen. Inga Mai Groote hat in ihrer Studie über Maurice Bouchor dieses Moment der Biographik Rollands benannt und als Beispiel einer „Popularisierung“ und „Pädagogisierung“ bezeichnet.7 Groote stellt bei Rolland eine „Wendung nach außen fest […], wobei die Musik zu einem Kommunikationsmittel mit der Welt wird“.8 Händel könne durch die ihm eigene Kraft und Schlichtheit Werte wie das Weltbürgertum vermitteln. Universalität und Objektivität garantierten dabei die Breite der Wirkung. Man kann also das Händel-Bild Rollands – wie Groote es tut – durchaus im Kontext der „Erziehungspolitik der Dritten Republik“ sehen9, aber die Adjektive „objektiv“ und „allgemeingültig“, die Herbert Schneider im Kern schon bei Berlioz nachwies10, verweisen auf ein ästhetisches Bezugssystem, das als Beitrag zu einer Selbstdefinition zahlreiche Texte des 19. Jahrhunderts bis ins frühe 20. Jahrhundert bestimmte.11 Dass solche grundsätzlichen Debatten in popularisierter Form auch mit einem gewissen Unterhaltungswert geführt wurden, findet sich in Frankreich häufiger und bis ins 20. Jahrhundert. Aber die Frage der Unterhaltung und der Rezipierbarkeit ist nicht nur eine der Historiographie: Oscar Comettant hatte schon 1862 damit den schwachen Erfolg der Neudeutschen Schule in Frankreich begründet, die bei ihrer Arbeit metaphysisch-wissenschaftlich überfrachte, dadurch unmelodische und unverständliche Musik produziere, während Rossini seinen Barbier von Sevilla in nur 18 Tagen geschaffen habe. Die Beispiele für die Ablehnung eines „genre trop complexe“ durch französische Publizisten sind zahlreich, aber schon zu Händels Zeit hat das Moment der Verstehbarkeit – bewusst wird hier der Begriff der „Populari Inga Mai Groote: ‚niemand sonst konnte ein Volk singen lassen wie er‘: Maurice Bouchors Händel und der französische Kontext, in: Göttinger Händel-Beiträge 16, 2015, S. 77–92, hier S. 83. 8 Ebd., S. 84. 9 Ebd., S. 86. 10 „Toujours noble, toujours calme, il chante sans passion. Sa religion est simple et sévère; elle ne s’abondonne jamais aux rêveries extatiques, aux joies de l’amour céleste: c’est à peine si elle prie; elle borne sa tâche à louer Dieu fort.“ Zitiert nach Herbert Schneider: Händel und Frankreich – Frankreich und Händel, in: Göttinger Händel-Beiträge 14, 2012, S. 23–29, hier S. 37. 11 Schon in dem von Groote wiedergegebenen Zitat Bouchors findet sich ein Antikenbezug: „Croyez-moi, Baille, prenons l’habitude de retourner dans cette hospitalière ville de Bâle, où il nous est permis de nous laver de toutes les turpitudes contemporaines qui nous écœurent dans l’un de ces grands fleuves de la musique, Bach ou Hændel, larges et sereins comme le fleuve des Amazones, sacrés comme le Gange et purifiants comme lui.“ Maurice Bouchor: Israël en Égypte. Étude sur un oratorio de G. F. Hændel, Paris 1888, S. 7; hier zit. nach Groote: ‚niemand sonst konnte ein Volk singen lassen wie er‘ (wie Anm. 7), S. 79. 7

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sierung“ vermieden – Bedeutung, denn das Ideal der Galanterie ist im Grunde als soziales Phänomen eine Verhaltensnorm, beispielsweise zur Distinktion und zur Kommunikation innerhalb einer Gruppe. Zahlreiche Studien haben darauf inzwischen eindrucksvoll hingewiesen.12 So sehr Groote also zuzustimmen ist, dass die Sprache und die Faktur des Rollandschen Textes eine gewisse Popularisierung aufweist, so sehr wäre jede vorschnelle Abwertung dieses Befundes zu vermeiden, sondern vielmehr nach dem zugrundeliegenden Denkmodell zu fragen. Man darf sich von dem, was als publikumswirksame „Veräußerlichung“ erscheint, weder abschrecken noch täuschen lassen, zumal das Buch eine gewisse Konzentration erkennen lässt und zahlreiche Schlüsselbegriffe eines ästhetischen Bezugssystems verwendet: Denn wenn von Einfachheit, von Kompliziertheit, von Popularität und Melodie gesprochen wird, dann sind das Begriffe, die in den unter nationalen Vorzeichen geführten Diskursen um Musik – auch um Wagner in Frankreich – reichlich benutzt wurden. Sie stammen aus einem umfangreichen Begriffstableau, das der Psychologe Edmond Marc Lipiansky am Beispiel ausgewählter literarischer Werke 1992 zusammengestellt hat, verbunden mit der jeweiligen Negativ- oder Positivbewertung.13 Was also an Rollands Darstellung „äußerlich“ scheint, ist gleichwohl in ein ästhetisches Konzept von nationaler Tragweite eingebunden. Eine unterhaltsame Art der Erörterung hat Ernst Neufeldt auch in der 1912 erschienenen Händel-Biographie Michel Brenets festgestellt, verbunden mit einem nationalen Stereotyp: „Man fragt sich, für wen solche Bücher, die nichts Neues bringen und bringen wollen, eigentlich bestimmt sind. Aber dann hört man auch wieder ganz gern dem Autor zu, weil er kurzweilig zu plaudern versteht in jener leichten angenehmen Art, die nun einmal einen Hauptreiz aller französischen Schriftstellerei ausmacht.“14

Das erinnert an den deutschen Musikschriftsteller Wilhelm Kleefeld, der auch in den Schriften von Saint-Saëns einen gewissen „Plauderton“ erkannte: „Saint-Saëns verschmäht es, mit dem schweren Geschütz rein wissenschaftlicher Beweisführung seine Anschauungen zu verteidigen und zu unterstützen; als echter Franzose schlägt er einen unterhaltenden Plauderton an, giebt sich als schlich Zur Galanterie siehe z. B. Ruth Florack: Die Kunst der Galanterie. Facetten eines Verhaltensprogramms in der Literatur der frühen Neuzeit, Berlin u. a. 2012 (= Frühe Neuzeit, 171), und Alain Viala: La Galanterie. Une Mythologie française, Paris 2019 (= La couleur des idées). 13 Edmond Marc Lipiansky: L’ identité française. Représentations, mythes, idéologies, La GarenneColombes 1991. Eine kritische Auseinandersetzung mit Lipianskys dichotomischen Belegung der Begriffe erfolgt hier nicht. Wesentlich ist im vorliegenden Zusammenhang, dass diese Kategorien grundsätzlich wertend eingesetzt werden. 14 Ernst Neufeldt: Michel Brenet: Haendel, in: Die Musik Jg. 12, 1912/13, Heft 23, 1. SeptemberHeft, S. 316. 12

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ten Kunstfreund, der in leicht docierender Weise von einem Thema zum anderen springt, der als angenehmer Gesellschafter dies und jenes Kapitel streift, hier ein paar freundliche, dort ein paar abwehrende Worte dazwischenstreut, ohne eine Frage irgend erschöpfend darzuthun und abzuschliessen. […] wir müssen dem romanischen Charakter Rechnung tragen und in ruhiger Ueberlegung nicht jedes einzelne Wort auf die Goldwage legen“.15

Im Gegensatz dazu erkannte Hugo Leichtentritt in einer Rezension von R ­ ollands Händel schon 1912 dessen große Linie: „Dieses ausgezeichnet geschriebene Buch des hervorragenden französischen Musik­ historikers bringt eine auch für deutsche Leser wertvolle Händelbiographie: wertvoll nicht so sehr, weil neues, unbekanntes Material beigebracht wird, sondern durch die Beleuchtung, die hier auf Händels Persönlichkeit und Kunst geworfen wird. […] Die Gelehrsamkeit, die nichtsdestoweniger in dieser Arbeit steckt, merkt nur ein sehr sachkundiger Leser.“16

Ein Moment der Rollandschen „Beleuchtung“ ist der Antikenbezug, der im Folgenden nachgezeichnet werden soll.

II. Händel als „génie homérique“ Rolland beschließt seinen Abriss vom Leben Händels mit der folgenden Zusammenfassung: „A nous maintenant de faire pénétrer en France le sens vivant de ce grand art tragique et lumineux, comme celui des Grecs.“17 Insgesamt hatte Rolland bis zu diesem Punkt seines Buches in Abgrenzung zu den anderen „génies allemands“ ein Bild von Händel als dem wahren Erben der griechischen Antike entworfen, der zugleich eine mediterran-lateinische Tradition assimiliert und folglich auch mit der französischen Ästhetik des Klassizismus kompatibel ist: „Tout autre est Hændel, et beaucoup plus près que quiconque en Allemagne du génie méditerranéen, de ce génie homérique, dont Gœthe eut la soudaine révélation dès son arrivée à Naples.“18 Und wenig später eröffnet Rolland die

Camille Saint-Saëns: Harmonie und Melodie, übers. und hg. von Wilhelm Kleefeld, Berlin 2 1905, S. 1 f. 16 Hugo Leichtentritt: Romain Rolland: Haendel, in: Deutsche Literaturzeitung. Wochenschrift für Kritik der Internationalen Wissenschaft 33, Heft 15, 13. April, Sp. 940. 17 RR (wie Anm. 6), S. 124; „Nun ist es an uns, unsre Welt mit dem lebendigen Gefühl für Händels große Kunst zu erfüllen, die tragisch und lichterfüllt ist, wie die der Griechen.“ RD (wie Anm. 6), S. 77. 18 RR (wie Anm. 6), S. 126. „Händel war anderer Art: mehr als in irgendeinem andern Deutschen war in ihm Geist vom südlichen, vom homerischen Geist, der sich Goethe offenbarte vom Augenblick seiner Ankunft in Neapel an.“ RD (wie Anm. 6), S. 79. 15

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Besprechung der Musik Händels, indem er ihr „große Objektivität“ und eine „überragende Unpersönlichkeit“ attestiert. Die Vielheit dessen, was Händel assimiliert, überdecke aber niemals die klare Objektivität, sein Werk zeichne sich vielmehr durch ein „Gleichgewicht“ aus.19 Wie eine Klammer verbindet also der Bezug zur Antike die Abschnitte zu Leben und Werk. Weitere, deutliche Antikenbezüge seien kurz erinnert: – Händel sei bestimmt, „[de] faire triompher dans l’Europe musicale le beau style latin“.20 – „C’est [Esther, J. K.] en tout cas une des plus grandes tragédies à l’antique qui ait été écrite depuis les Grecs. Comme si elle avait ramené l’esprit de Hændel vers l’idéal hellénique, il composa presque en même temps la tragédie pastorale Acis and Galatea […] d’une perfection classique, que Hændel n’a jamais dépassé.“21 – Im Concerto grosso in g-moll HWV 324 spreche eine Melancholie „en un monologue élégiaque, que coupent des points d’orgue, puis en des dialogues du Concertino et du tutti, se répondant comme des groupes de chœurs antiques.“22 – Durch sein Assimilieren war Händel zum Weltbürger geworden: „Profondément Allemand de race et de caractère, il était devenu en art un Weltbürger [sic], […] un Européen, avec prédominance de la culture latine.“23 Mögen diese Sätze auf den ersten Blick aus dem Kontext herausgelöst scheinen und die Auswahl den Charakter der Zufälligkeit erwecken, so sind dies nur die „Sa volonté artistique est nettement objective. […] Mais telle est la puissance d’assimilation et l’équilibre souverain de cette nature, que jamais on ne la sent submergée par la masse des éléments passagers“. RR (wie Anm. 6), S. 125 f.; „Sein künstlerischer Wille ist von klarer Objektivität […] So groß aber ist die Kraft dieser Natur, Fremdes sich zu assimilieren, so vollkommen ist ihr Gleichgewicht, daß diese Natur selbst niemals verschlungen werden kann von der Vielheit der fremden Elemente.“ RD (wie Anm. 6), S. 78. 20 RR (wie Anm. 6), S. 46; er sei bestimmt, „im musikalischen Europa dem edlen lateinischen Stil einen unerhörten Triumph zu bereiten.“ RD (wie Anm. 6), S. 36. 21 RR (wie Anm. 6), S. 84 f. „Auf alle Fälle ist es [Esther, J. K.] eine der größten Tragödien im antiken Stil, die seit den Griechen geschrieben worden sind. Als ob diese Tragödie Händels Geist dem hellenischen Ideal zugeführt hätte, komponiert er zu selben Zeit die Schäfertragödie Acis and Galatea […] von einer klassischen Vollkommenheit, über die Händel nie hinausgekommen ist.“ RD (wie Anm. 6), S. 56. 22 RR (wie Anm. 6), S. 195. „Hier nun spricht sie [die Melancholie, J. K.] aus einem elegischen Monolog, unterbrochen von Orgelpunkten, aus den Dialogen von Concertino und dem Tutti, die sich antworten wie die Gruppen des antiken Chores.“ RD (wie Anm. 6), S. 119 f. – Zum Chor in Händels Oratorien, der z. B. in Saul, Hercules, Alexander Balus und Susanne „die Rolle des antiken Chors [übernimmt und] die Idee des Dramas, das geheime Fatum, das den Helden leitet, herauszuschälen hat“, siehe RD (wie Anm. 6), S. 94. 23 RR (wie Anm. 6), S. 128. Händel war „ein Weltbürger geworden, ein Europäer, bei dem die lateinische Kultur die Oberhand gewonnen hatte.“ RD (wie Anm. 6), S. 80. 19

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offensichtlichen Belege für eine Bezugnahme; sie stechen aus einem dichten Geflecht von Schlüsselwörtern, die mit der antiken Ästhetik assoziiert werden, heraus. Rollands Darstellung der Vita Händels stellt keine scharfe Analyse dar. In den narrativen Faden der Biographie streut er gewissermaßen en passant Bilder anderer Komponisten ein: Zachow, Kusser, Keiser, Buxtehude, Mattheson u. a. Sie sind zwar „bemüht […], einen musikwissenschaftlichen Text unter Heranziehung der neuesten Literatur zu verfassen“24 und keinen Roman, aber sie sparen biographische Details nicht aus und erreichen so eine Anschaulichkeit. Dabei finden sich auch zahlreiche Einschätzungen, die wir heute mit Vorsicht goutieren würden, wenn z. B. Keiser als „sorgloser Lüstling“ („voluptueux, insouciant“) bezeichnet wird.25 Auch wird der Begriff des Pietismus unscharf verwendet. Statt aber den korrigierenden Blick eines Oberlehrers einzunehmen, wäre nach der Funktion dieser Bilder und dieser Einschätzungen zu fragen. Ihr großer Nutzen liegt offenbar darin, den Leser schon seit den ersten Seiten des Buches auf ein ästhetisches Denksystem einzustimmen. So lernt er die für Rolland wichtigen Kategorien kennen, etwa die Bedeutung der Melodie, der Einfachheit und der clarté. Dem Leser wird auf diese Weise ein Interpretationsrahmen vorgegeben, und die eindeutigen Antikenbezüge wirken dann wie die Bekräftigung dessen, was mit Begriffen, Charaktereigenschaften und Beispielen aus der Musikgeschichte zuvor schon umschrieben worden war. Beispielhaft sei aus den ersten Seiten zitiert, die Händels Werdegang umreißen: Eine gewisse serenità habe Händel Rolland zufolge schon bei Zachow, den Rolland „mit erstaunlicher Ausführlichkeit“ behandelt, vorgefunden.26 Die Musik beider Komponisten sei nämlich eine „Art de lumière et de joie“.27 Und Zachows Musik habe „des dessins joyeux et dansants. Elle a des motifs pastoraux, des rêveries voluptueuses et pures, des danses et des chants, accompagnés

Kleinertz: Romain Rollands Haendel im Kontext der aktuellen Händel-Forschung (wie Anm. 1), S. 219. 25 Das Bild Keisers ist nicht sehr positiv, Rolland attestiert ihm einen „défaut de caractère“ (RR (wie Anm. 6), S. 28). Keiser war „trés bien doué, mais de culture hâtive et dissipé, voluptueux, insouciant, […] l’artiste-type de cette époque débordante de vie matérielle et possédée de l’amour du plaisir.“ RR (wie Anm. 6), S. 28. Keiser war „sehr begabt, aber nicht genügend geschult, daneben verschwenderisch, ein sorgloser Lüstling, […] Er kann als Typus für den Künstler jener von materiellem Leben und von Genußfreude überfließenden Zeit hingestellt werden.“ RD (wie Anm. 6), S. 27 f. 26 Kleinertz: Romain Rollands Haendel im Kontext der aktuellen Händel-Forschung (wie Anm. 1), S. 213. 27 RR (wie Anm. 6), S. 16. Der französische Satz weist kein Verb auf. – „Es ist das Wesen der Kunst, das beiden gemeinsam ist, Kunst des Lichtes und der Freude.“ RD (wie Anm. 6), S. 21. 24

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de flûtes, d’un parfum héllénique“.28 Der junge Händel habe folglich – quasi wie in Form einer glücklichen Fügung – in Zachow den idealen Lehrer gefunden: „En résumé, un art moins intime qu’expansif, un art ensoleillé. Non sans émotion. Mais avant tout, reposant, fortifiant et heureux. Une musique optimiste, comme celle de Hændel.“29

Folglich war Zachow „le maître qu’il fallait à Hændel, le maître que plus d’un grand homme a eu le bonheur de trouver, (c’est Giovanni Santi pour Raphaël, c’est Neefe pour Beethoven): bon, simple, clair, un peu pâle, une lumière égale et douce, où l’adolescant rêve en paix“.30 Wie deutlich ist doch dieses Bild frei von Sorgen, Nöten oder Leidenschaften, demgegenüber in einer ausgewogenen Welt situiert.31 Ähnlich geht es auch mit den Kontakten zu Keiser und Buxtehude, die ­Rolland zur Hervorhebung von Qualitäten dienen, die als romanisch gesehen wurden, also eine gewisse Südlichkeit hervorheben wie etwa Matthesons Plädoyer für die Melodie. Durch ihn sei Händel zu einem „génie mélodique“ („Genie der Melodie“) geworden32, und bei Buxtehude habe er die Verbindung von Einfachheit, der Kontur des dessin und Dramatik erfahren, verbunden mit einer gewissen Beschränkung: „Buxtehude écarte de sa musique la polyphonie débordante et touffue, qui était cependant son royaume. Il n’y veut rien laisser que de clair, de fort, de largement dessiné, et même de scénique. Volontairement, il s’appauvrit, mais en se concentrant; et ce qu’il perd en abondance, il le reprend en intensité. Le caractère presque homophone de l’écriture, la netteté des beaux dessins mélodiques, d’une clarté populaire, l’insistance des rhythmes et des phrases qui se répètent et s’enfoncent dans l’esprit, d’une façon obsédante, sont des traits essentiellement hændeliens.“33 RR (wie Anm. 6), S. 16. „Sie hat […] Tänze und Gesänge, von Flöten begleitet, die von hellenischen Geist erfüllt sind.“ RD (wie Anm. 6), S. 21. Der französische Text spricht vom „parfum héllénique“, der deutsche aber vom „hellenischen Geist“. 29 RR (wie Anm. 6), S. 18 „Alles in allem eine weniger intime als expansive, jedenfalls aber eine von Sonne durchströmte Kunst, nicht ohne Bewegung, aber vor allem beruhigend, stärkend und beglückend, und, wie die Händlsche, eine optimistische Musik.“ RD (wie Anm. 6), S. 22. 30 RR (wie Anm. 6), S. 18 f. „Das war nun wirklich der Lehrer, den ein Händel brauchte […] gut, einfach, klar, etwas farblos, ein gleichmäßiges und sanftes Licht, in dessen Schein der Jüngling friedlich träumt.“ RD (wie Anm. 6), S. 22. 31 In dieser Linie steht auch Rollands Behauptung, Händel habe sich vom Pietismus als einer extremen Denkart ferngehalten; sie soll seine klassische Ausgewogenheit, also ein „équilibre“, dokumentieren. Siehe dazu RR (wie Anm. 6), S. 21 und RD (wie Anm. 6), S. 23 f. 32 RR (wie Anm. 6), S. 38 und RD (wie Anm. 6), S. 32. 33 RR (wie Anm. 6), S. 40. Buxtehude „verlangt nur nach Klarheit, Stärke, scharfer Kontur und sogar Dramatik. Freiwillig entäußert er sich eines Teils seines Reichtums, um sich zusammenfassen zu können: Was er an Überfluß verliert, gewinnt er an Intensität. Die nahezu homo28

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Und was für Rolland in Deutschland seine Vorstufe hatte, fand in Italien seine Fortsetzung im Kontakt mit Agostino Steffani, den Rolland wegen seines Gleichgewichts und der Harmonie mit dem Renaissancemaler Fra Bartolomeo (1472–1517) vergleicht: „Les deux artistes religieux ont un art lumineux, sûr de soi, savant avec simplicité, peu ou point passioné: leurs âmes sont nobles, pures, un peu impersonelles.“34

Ähnlich auch Bononcini, bei dem Rolland trotz einer zunehmenden „patesse naturelle“ („Trägheit“) die Eigenschaft als „Verkünder der Melodie“, ihn als „Horizontalisten“, sah und zugleich einen Zug zum Großen konstatiert: „Cette simplicité distinguée, cette sensibilité délicate, fade, toujours correcte dans ses audaces et froide dans sa volupté, faisaient de Bononcini un grand homme de salon, un révolutionnaire pour gens du monde.“35

III. Die Antike als Basis einer nationalen Kunst Auf den ersten Blick mag der Antikenbezug überraschen. Aber so wie Neogrec als neoklassizistischer Stil in Architektur, Dekor und Bildender Kunst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts präsent war, so ist er auch in der Musik nachweisbar. Weniger wäre an Erik Satie zu denken, dessen Neogrec-Kompositionen im späten 19. Jahrhundert eine ironische Brechung darstellen, sondern man müsste an die antiken Sujets und an jene Anlehnungen an die antike Ästhetik denken, die sich seit etwa 1870 wie ein roter Faden durch die französische Musik ziehen und die von der zunehmenden Präsenz antiker Stoffe auf den französischen Bühnen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts profitierten.36 Sie hatte in den Forschungen und Kompositionen Louis-Albert Bourgault-Ducoudrays phone Schreibart, die Reinheit der schönen Melodieführung von volkstümlicher Einfachheit, das Eindringliche der Rhythmik, der Themen, die sich wiederholen und sich der Erinnerung eingraben, vom Hörer Besitz ergreifen, sind auch die Kennzeichen Händelscher Kunst.“ RD (wie Am. 2), S. 33 f. 34 RR (wie Anm. 6), S. 69. „Beide Künstler, von der Religion kommend, sind licht, klar, ihrer selbst sicher, einfach, aber wissend, kaum von Leidenschaft beschwert, ihre Seele ist edel, rein, ein wenig unpersönlich.“ RD (wie Anm. 6), S. 47 f. 35 RR (wie Anm. 6), S. 90. „Seine vornehme Einfachheit, seine zärtliche, fade Empfindsamkeit, immer korrekt in der Kühnheit, immer kalt in der Wollust, machten Bononcini zum großen Mann des Salons, zum Revolutionär der großen Welt.“ RD (wie Anm. 6), S. 59. – Zu Bononcini als „Vertikalisten“ siehe RR (wie Anm. 6), S. 89 und RD (wie Anm. 6), S. 59. 36 Howard Lee Nostrand: Le théâtre antique et à l’antique en France de 1840 à 1900, Paris 1934, und Kerstin Mira Schneider-Seidel: Antike Sujets und moderne Musik. Untersuchungen zur französischen Musik um 1900, Stuttgart / Weimar 2002.

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ab Mitte der 1870er Jahre ihre Vorläufer, auch wenn dabei das zeitgenössische und das antike Griechenland verschmolzen.37 Charles Kœchlin verfolgte seit seinen ersten Liedern in den 1890er Jahren eine Anregung aus der Antike: Er brachte diese Orientierung schon 1915, im Grunde vor jener als Neoklassizismus bezeichneten Dekade, in einer Konferenz auf den Punkt, indem er das auf die Antike zurückzuführende Ideal in den Werken von Gabriel Fauré, Claude Debussy, Paul Dukas und Albéric Magnard beschrieb: „Die Antike zuerst, – und besonders die griechische Antike. […] die Rückkehr zu den alten Tonleitern, die uns zu neuen musikalischen Gedanken inspiriert hat (oder uns zumindest hilft, sie zu übersetzen), die einen Einblick in die Schönheit gegeben hat, die durch diese alten Klageweisen ausgedrückt werden können […] unsere Kunst scheint heute mehr und mehr einer ausgezeichneten Moral zu gehorchen: überhaupt nicht kalt und starr, sondern von allen neuen Werken autorisiert, hat es auf sich genommen, die korrekte und breite Definition des Klassizismus eines Fauré oder Debussy zu respektieren. – Fauré, Debussy, wie auch Ravel, und gewissermaßen Paul Dukas, und manchmal auch Albéric Magnard, finden sich vereint in einem gemeinsamen Kult der prägnanten und gewählten Form, – im Hass der Betonung, der Geringschätzung des Geschwätzes und ‚Schrecken der Leere‘.“38

Mitten im Ersten Weltkrieg und nur wenige Jahre nach der Gründung der SMI lag es (man möchte fast sagen: wieder einmal) nahe, sich über Wesen und Zu Folgende Publikationen Louis Albert Bourgault-Ducoudrays wären zu nennen: Trente mélodies populaires de Grèce et d’Orient recueillies et harmonisées (Paris [u. a.] 1876; 2. Aufl. Paris 1897); Souvenirs d’une mission musicale en Grèce et en Orient (Paris 1876); Étude sur la musique ecclésiastique grecque (Paris 1877); Conférence sur la modalité dans la musique grecque, 7. September 1878 (Paris 1879). 38 „L’Antiquité d’abord, – et particulièrement l’Antiquité grecque. Je vous ai dit, à propos de Bourgault-Ducoudray, de Gabriel Fauré et de Debussy, l’héritage précieux qu’elle nous  a transmis: le retour aux anciennes gammes, qui nous inspira de nouvelles pensées musicales, (ou du moins nous aide à les traduire) qui nous firent entrevoir la beauté qu’on peut exprimer au moyen de ces vieux modes du plaint-chant: le dorien, le phrygien, le lydien. À l’heure actuelle, ils font partie intégrante de notre langage, au même titre que le majeur et le mineur. Il ne s’agit plus de les écrire artificiellement et timidement pour l’exclusive réalisation d’une ‚couleur archaïque‘, mais ils nous servent à traduire, d’instinct, notre propre sentiment. – Et notre art d’aujourd’hui semble de plus en plus obéir à une excellente morale: non du tout froide et figée, mais s’autorisant de toutes les trauvailles nouvelles, à charge seulement de respecter la juste et large définition du classique fauréen ou debussyste. – Fauré, Debussy, comme également Ravel, et dans une certaine mesure Paul Dukas, et aussi parfois Albéric Magnard, se trouvent unis dans un culte commun de la forme concise et choisie, – dans la haine de l’emphase, le mépris du bavardage et ‚horreur du vide‘.“ Charles Kœchlin: Influences diverses. L’Antiquité – L’Orient – L’exotisme – La légende – Les ballets russes – etc., in: ders.: Écrits, Vol 1: Esthétique et Langage musical, hg. von Michel Duchesneau, Sprimont 2006, S. 77–97, hier S. 78. Siehe zu Kœchlin grundlegend Christophe Corbier: La Grèce de Charles Kœchlin, in: Philippe Cathé / Sylvie Douche / Michel Duchesneau (Hg.): Charles Kœchlin. Compositeur et humaniste, Paris 2010, S. 328–347. 37

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kunft der französischen Musik Gedanken zu machen, und die stärkste Referenz gab dabei die Antike ab. Es ist bezeichnend, dass in der Nennung beispielhafter Komponisten durch Kœchlin Fauré eine prominente Stelle einnimmt: Er galt „généralement pour un musicien ‚grec‘“, und zwar aufgrund der „justes proportions, de mesure, d’équilibre“: Er wurde schon vor der Gründung der Société de Musique indépendente gemeinsam mit Ravel im Jahre 1910 als Verkörperung einer klassisch-antiken Ästhetik gesehen.39 Zu der 1893 am Athenerschatzhaus in Delphi entdeckten Appollohymne schrieb er 1894 eine Klavierbegleitung. Das sollte aber nicht die erste und auch nicht die letzte antikisierende Komposition des Fin de siècle bleiben: Antike / a ntikisierende Hymnen,1885–1927 Pierre de Bréville

Hymne à Vénus en mode phrygien

1885

Gabriel Fauré

Hymne à Apollon. Chant grec du II siècle, ­ écouvert à Delphi d

1894

Albéric Magnard

Hymne à Vénus

1904

Lili Boulanger

Les Sirènes Hymne au Soleil Le Retour

1911 1912 1912

Florent Schmitt

Poème d’orchestre „Dionysiaques“

1913

Albert Roussel

Madrigal aux Muses

1923

Théodore Dubois

Hymne antique. Chœur de nymphes à trois voix

1924

Albert Roussel

Odes anacréontiques

1927

e

Schon 1897 hatte der Kritiker Gaspard Vallette in der Semaine littéraire anlässlich der im „mode wagnérien“ vertonten Zeus-Hymne Gabriel Faurés festgestellt: „Jamais la presse quotidienne ne s’était autant occupée de l’art grec qu’en ces jours derniers. Ce qu’on a raisonné et même déraisonné sur la musique antique (dont nous ne saurons sans doute jamais rien de précis), c’est à n’y pas croire.“40 1905 hob Julien Tiersot in der Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft die folgenden Eigenschaften an Fauré hervor: „L’on peut dire Corbier: „La Grèce de Charles Kœchlin“ (wie Anm. 38), S. 329 und S. 332. Zu Fauré und Debussy als Repräsentanten einer „art greco-français“ ebd., S. 332–336. 40 Chanteclair [d. i. Gaspard Vallette]: Echos du partout, in: La Semaine littéraire 16, 21 Avril 1894, S. 190–192, hier S. 191. 39

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en effet que, par la forme de son melos, M. Gabriel Fauré est grec. Parfois ses chants donnent une impression effective de la tonalité antique“.41 Das wirkte über Kœchlin hinaus bis zu Arthur Dandelots Feststellung von 1927 nach, dass Fauré wie kein anderer „un prodigieux instict de l’art antique“ zeige: Er vermittle „réellement l’impression de l’art grec“, besser als jeder Komponist zuvor.42 Man machte diese antike Ästhetik an der formalen Ausgewogenheit fest, „raison“ und „sensibilité“ seien in einem Gleichgewicht, Größe, Ruhe und Einfachheit seien die Grundkategorien seiner Musik. Auch Saint-Saëns hatte ein Bewusstsein für das antike Ideal, schon 1892 schrieb er in Le monde artiste eine Note sur la lyre antique, lehnte 1907 aber den Laokoon als zu exzessiv ab.43 Eine Bezeichnung Händels als „Homer in der Musik“ war zu jener Zeit also gewiss nicht neu, die Belege reichen zurück bis zu Gustav Schilling 184344 und dem Bericht über die erste Aufführung geistlicher Musik, des Alexanderfests, durch die École royal de la musique religieuse in Paris 1827.45 Bezieht man weitere deutsche Quellen ein, dann muss man nach den spezifisch französischen Motiven fragen, diese Homer-Vergleiche um 1900 zu aktivieren. Sie lagen offensichtlich darin, erneut das Ideal der Klassizität zu verhandeln. So wie sich die Literatur gegen Ende des Jahrhunderts in nationale und kosmopolitische Lager spreizte,46 so drifteten auch die Lager der romantischen Wagner-Nachfolger und der an klassischen Idealen orientierten Komponisten auseinander. In dieser Spreizung war es nicht überraschend, dass auch die Besprechung einer Aufführung von Bachs h-Moll-Messe und von Händels Messias durch Hippolyte Fierens-Gevaert 1894 den Homer-Vergleich benutze, nicht ohne dabei zugleich den antikisierenden Klassizismus JacquesLouis Davids erinnernd:

Julien Tiersot: Gabriel Fauré, in: Zeitschrift der Internationalen Musikgesellschaft 7, 1905, S. 45–52, hier S. 50. 42 Arthur Dandelot: Évolution de la musique de théâtre depuis Meyerbeer jusqu’ à nos jours, Paris 1927, S. 90–92. Dandelot bezieht sich auf Pénélope, von Fauré 1907 begonnen, aber erst 1913 beendet, von Kœchlin 1927 als „sommet de cet art rationnel et équilibré“ betrachtet; vgl. das Zitat Kœchlins in Corbier: La Grèce de Charles Kœchlin (wie Anm. 38), S. 334. 43 Corbier: La Grèce de Charles Kœchlin (wie Anm. 38), S. 333. 44 Gustav Schilling: Musikalische Dynamik oder die Lehre vom Vortrage in der Musik, Kassel 1843, S. 9. 45 „Vor Kurzem fand die erste Aufführung geistlicher Musik […] in Paris statt. […] Händel wird der Homer der Musiker genannt. Wenn nun die Franzosen nun auch anfangen, Händel zu geben und so zu ehren, dann wird es wohl Zeit, dass in Deutschland ein Schilda selbst nicht zurückbleibt, wenn es der Aufführung seiner Werke gilt.“ Anonym: Aus Paris, in: Münchener Allgemeine Musik-Zeitung 15, 12. Januar 1828, Sp. 240. 46 Anne Cadin u. a. (Hg.): Romans et récits français, entre nationalisme et cosmopolitisme, Paris 2017 (= Rencontres 168/24). 41

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„Quand on disait de Haendel qu’il était Homère de la musique, on exagérait le mérite de son œuvre, mais on rendait justice à la beauté antique de sa forme, à la supériorité de sa science contrapuntale, comparable au dessin grandiose de David, et dont il usait pour dramatiser son Olympe chrétien.“47

Dass in der christlichen Welt des 19. Jahrhunderts die pagane Welt der Antike integriert werden konnte, demonstriert die Kantate La lyre et la Harpe op. 57 von Camille Saint-Saëns, 1879 erstmal in Birmingham aufgeführt.

IV. Händel der Kompatible, Händel der Universale Das Ideal der Antike erschöpft sich nicht in einer „couleur archaïque“, vielmehr entspricht es Kœchlin zufolge so sehr dem französischen Wesen, dass ein französischer Komponist durch die Respektierung der Antike instinktiv, also wie aus einer natürlichen Anlage heraus, das Eigene ausdrücken könne: „Il ne s’agit plus de les écrire artificiellement et timidement pour l’exclusive réalisation d’une ‚couleur archaïque‘, mais ils nous servent à traduire, d’instinct, notre propre sentiment.“

Das nationale Selbstbild entspricht in weiten Teilen diesem Antiken-Bild, und Händels Kompatibilität spricht Rolland unverblümt in seiner Spekulation darüber aus, was sein Besuch in Paris hätte bewirken können: „Il avait ce que ne possédait aucun des musiciens français: une surabondance de musique. Et il n’avait point ce qu’ils avaient: l’intelligence lucide et pénétrante de la véritable nature du drame musical et de ses destinées […] Avec sa prodigieuse souplesse et ses qualités, toutes latines, de clarté de lignes, de raison éloquente, d’amour passioné pour la forme, ce luit eût été un jeu de s’assimiler la tradition de notre art et de la reprendre, avec une vigueur irrésistible.“48

H.[ippolyte] Fierens-Gevaert: Bach et Haendel. La Messe en si mineur au conservatoire de Bruxelles. Le Messie aux Concerts Lamoureux (Suite et fin), in: Le Guide Musical 42/20, 17. Mai 1896, S. 383–386, hier S. 384 f. 48 RR (wie Anm. 6), S. 58 f. „Ihm war das eigen, was keiner der französischen Musiker besaß: musikalischer Reichtum. Dafür fehlte ihm, was sie besaßen: das klare und durchdringende Verständnis für die wirkliche Natur und die Forderungen des musikalischen Dramas. […] begabt mit wunderbarer geistiger Geschmeidigkeit und allen romanischen Qualitäten, nämlich der Liebe für die klaren Linien, für die beredte Vernunft, mit der Leidenschaft für die Form, hätte er sich die Überlieferungen unserer Kunst spielend angeeignet und sie mit der ihm eigenen unwiderstehlichen Kraft sich assimiliert.“ RD (wie Anm. 6), S. 43. 47

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Auch wenn also Händel nie in Frankreich war, gilt er Rolland als ein dem romanischen Wesen eng verwandter Künstler, der jene lateinischen Qualitäten besaß, die auch viele naturalisierte Franzosen haben mussten, um zum Inbegriff der französischen Ästhetik zu werden: Die Fähigkeit zur Assimilation hatten Lully, Meyerbeer, Franck, und selbst die Nachwirkung Beethovens wurde unter den Vorzeichen der Assimilation gesehen, indem der d’Indy-Schüler Auguste ­Sérieyx dem als Belgier nostrifizierten César Franck attestierte, Beethoven besser als die Deutschen verstanden und fortgeführt zu haben: „Du moins, dans ce domaine, la revanche nous appartient: car l’école symphonique contemporaine, franche, française et franckiste, est bien la continuatrice du maître de Bonn, admiré toujours, mais pas encore compris sur les bords de la Sprée.“49

Nicht der Ursprung des Komponisten war also entscheidend, nicht das Wirken eines jus sanguinis, sondern der Umgang mit dem Material, das Aufnehmen und das Weiterentwickeln, als eine Form des realisierten jus soli. Jeder national scheinende Blick Rollands geht folglich in dem übergeordneten Wertsystem der mediterran-romanischen Antike auf, was er am Beispiel von Händels Suites de pièces pour le clavecin von 1720 beschreibt: „Avant elle [vor Händels Werk, J. K.], il y avait eu des recueils pour clavier plus originaux peut-être; mais leur inspiration était presque toujours circonscrite par les limites de leur art national. Hændel fut le premier des grands classiques allemands du XVIII e siècle […] il a écrit pour tous, et son premier recueil fut, dès le jour de sa publication, ce qu’il est resté, depuis: une œuvre classique européenne.“50

Unklar bleibt, ob Rolland hier das meint, was unter dem Begriff des „vermischten Geschmacks“ in der Geschichtsschreibung kursiert. Eher ist hier die Kategorie der Assimilation gemeint, die Rolland Händel von jungen Jahren an attestiert, und die in Frankreich als wesentliche Voraussetzung zur Schaffung eines allgemeingültigen, eines objektiven und damit auch übernationalen Werkes gesehen wurde: Der Kunstkritiker und Schriftsteller Raymond Bouyer hat

Auguste Sérieyx: Chronique Musicale. Opéra: ‚Hippolyth et Aricie‘, in: Action Française 1908, 20. Mai 1908, [S. 3]. 50 RR (wie Anm. 6), S. 165. „Vor ihm waren vielleicht schon originellere Klavierwerke dagewesen, aber ihr Geist hatte sich meistens von den Grenzen der nationalen Kunst einschränken lassen. Händel war der erste der großen deutschen Klassiker des 18. Jahrhunderts […] Er hat für alle geschrieben, und seine erste Sammlung war vom ersten Tag ihres Erscheinens an, was sie seitdem geblieben ist, ein klassisches europäisches Werk.“ RD (wie Anm. 6), S. 101. – Nicht näher ausgeführt wird der Hinweis auf die „nationale Kunst seiner Oratorien“ in: Kleinertz: Romain Rollands Haendel im Kontext der aktuellen Händel-Forschung (wie Anm. 1), S. 223. 49

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dieses Ideal 1904 in seinen Ausführungen zur tradition française und mit Bezug zu dem barocken Maler Georges de la Tour (1593–1652) mit wenigen Worten benannt: „Nous sommes nés assimilateurs. Je rève un art épique qui ne soit plus un art d’école!“51

V. Händel hören – Händel sehen Bei der Diskussion der vermeintlichen „Plagiate“ spricht Rolland von Händel als einem „génie de visionnaire“ („Seher“).52 Er habe im Grunde nicht kopiert, sondern man könne vielmehr erkennen, „avec quel génie de visionnaire Hændel a évoqué du fond de ces phrases musicales leur âme secrète, que les premiers créateurs n’avaient pas même pressentie.“53 Händel habe aus dem Vorhandenen neue Welten herausgearbeitet, so wie auch Leonardo aus der „Flamme des Herdes und [den] Risse[n] der Mauer“ lebende Gestalten schuf. Folglich verlangt Rolland auch vom Hörer händelscher Musik eine gewisse Vorstellungskraft, geradezu eine seherische Gabe: „Qui se satisfait d’entendre cette musique sans voir ce qu’elle exprime, – qui la juge comme un art purement formel, – qui ne sent point son pouvoir expressif et suggestif, parfois jusqu’à l’hallucination, ne la comprendra jamais. C’est une musique qui peint: des émotions, des âmes, des situations, voire les époques et les lieux qui sont le cadre des émotions, et qui les teintent de leur couleur poétique et morale. En un mot, c’est un art essentiellement pittoresque et dramatique.“54

Was hier als Abgleiten einer vermeintlich objektiven Kunst in die Tonmalerei erscheint und was am Beispiel der Ouverture zu Agrippina als dramatische, pittoreske und schon an Programmmusik heranreichende Verfahrensweise er-

Raymond Bouyer: La tradition française dans le génie de La Tour, in: Revue Bleue 5, 5e Serie, Tome II, 30 Juillet 1904, S. 148–153, hier S. 150 f. 52 RR (wie Anm. 6), S. 132 und RD (wie Anm. 6), S. 82. 53 RR (wie Anm. 6), S. 132. Man kann „schnell erkennen, daß Händel mit dem Genie des Sehers aus der Tiefe dieser musikalischen Themen ihre verborgene Seele, von deren Dasein der ursprüngliche Schöpfer nicht einmal eine Ahnung hatte, ans Licht beschworen hat.“ RD (wie Anm. 6), S. 82 f. 54 RR (wie Anm. 6), S. 133. „Wer sich damit begnügt, diese Musik zu hören, ohne zu sehen, was sie ausdrückt, wer sie als reine Formkunst auffaßt, wer nicht die suggestive Macht ihres Ausdrucks, die bis zur Halluzination führen kann, fühlt, der wird sie nie verstehen. Diese Musik malt: Sie malt Affekte, Seelen, Situationen, ja selbst ganze Epochen und Orte malt sie, die den Rahmen liefern zu diesen Affekten und ihnen bestimmte dichterische und sittliche Färbung geben. Mit einem Wort: Das Wesen dieser Kunst ist malerisch, ist dramatisch.“ RD (wie Anm. 6), S. 83. 51

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innert,55 wird aber aufgefangen: Die „beauté du dessin“ („Schönheit der Zeichnung“) vermeide nämlich ein Übergewicht an Farben, ermögliche vielmehr „les effets d’ombres et de lumières“ (eine „Verteilung von Licht und Schatten“).56 Dieses gelungene Spiel der Abwägung von Zeichnung (dessin) und Farbe (couleur) offenbare auch Händels Orchestrierungskunst: „Tout son art de l’orchestre est dans le juste instinct d’équilibre et d’économie qui sait, avec des moyens très réduits, en ménageant certaines couleurs, obtenir des impres­sions aussi puissantes, quand ces couleurs apparaissent, que nos musiciens d’aujourd’hui, avec leur palette surchargé.“57

Nicht nur wird hier erneut eine Kategorie des classicisme argumentativ ins Feld geführt, die Zeichnung, die schon 1883 Auguste Renoir in der Musik ­Couperins und Grétrys, nicht aber in der Musik Wagners fand.58 Und so ist es eher das innere Auge, das durch eine solche konzise Musik angesprochen wird. Um beispielsweise die Concerti grossi zu verstehen, müsse man Augen und Herz haben: „Pour les comprendre, il ne suffit pas de bonnes oreilles, il faut des yeux pour voir, et un cœur pour sentir.“59 In dieser Qualität seiner Kompositionen als „des peintures en musique“ („wirkliche musikalische Gemälde“)60 wird Händel volkstümlich, nicht im Sinne einer „banalen Popularität“, sondern im Sinne einer einfachen und empfindsamen musikalischen Spontaneität, die alle Hörer erreichen kann. Folglich münden Rollands Ausführungen in einer Zusammenfassung, die wesentlich den Antikenbezug herausstreicht: „Ce génial improvisateur, astreint pendant toute une vie, – un demi-siècle de création – à parler du haut de la scène à de grands publics mêlés, dont il fallait être sur-le „Si l’on ne peut dire que la splendide ouverture d’Agrippina (1709) soit déjà une ouverture à programme, combien elle est dramatique!“ RR (wie Anm. 6), S. 202. „Wenn man auch nicht zu sagen wagt, die Ouvertüre zur Agrippina (1709) sei schon Programmusik, so ist sie doch unerhört dramatisch.“ RD (wie Anm. 6), S. 125. 56 RR (wie Anm. 6), S. 178 f. und RD (wie Anm. 6), S. 108. 57 RR (wie Anm. 6), S. 179. „Seine ganze Kunst der Orchestration liegt in der weisen Verteilung des Gleichgewichts und in der Ökonomie der Kraft, die mit beschränkten Mitteln, Farben sparend, ebenso gewaltige Wirkungen erzielt, wenn sie diese Farben dann wirklich gebraucht, wie unsere heutigen Musiker mit ihrer überladenen Farbenpracht.“ RD (wie Anm. 6), S. 109. Hier ist eine Schnittstelle zur musikalischen Antikenrezeption erkennbar, die „la recherche de la coukeur et le souci de la ligne“ als zentrale Kategorien verfolgte; Corbier: „La Grèce de Charles Kœchlin“ (wie Anm. 38), S. 328. 58 Scott Messing: Neoclassicism in Music. From the Genesis of the Concept through the Schoenberg / Stravinsky Polemic, Rochester 21996, S. 9. 59 RR (wie Anm. 6), S. 199 f. „Um sie verstehen zu können, muß man nicht nur ein gutes Gehör, man muß auch Augen haben, um zu sehen, ein Herz, um mitfühlen zu können.“ RD (wie Anm. 6), S. 124. 60 RR (wie Anm. 6), S. 199 und RD (wie Anm. 6), S. 124. 55

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champ compris, était comme ces orateurs antiques, qui avaient le culte de la forme et l’instinct de l’effet immédiat et vivant. Notre époque a perdu le sens de ce type d’art et d’hommes: de purs artistes qui parlent au peuple et pour le peuple, non pour eux seuls et pour quelques confrères. […] La libre Angleterre du XVIII e siècle était, dans une certaine mesure, parente de la République romaine; et l’éloquence d’un Hændel n’est pas sans rapports avec celle des orateurs épiques, qui faisaient retentir de leurs périodes savantes et passionnées le Forum où s’écrasait la plèbe flâneuse et frémissante.“61

* Rolland war gewiss nicht der einzige Autor mit einer Ausrichtung an der Antike. Als Kontrastfolie zu Rolland könnte aber Pierre Lasserre genannt werden, der konservative Parteigänger der Action Française, der 1907 in seinem Buch Le romantisme zahlreiche Antikenbezüge geradezu beschwört, um gegen jenen Autor zu argumentieren, der das Ende des Klassizismus begründet habe, gegen Jean-Jacques Rousseau.62 Im Vergleich dazu wird erkennbar, dass Rolland  – trotz der Kritik der romantischen Farbe und des modernen Künstlertyps – in seinem Hændel vorwiegend nicht gegen etwas argumentiert, sondern für das Ideal eines in der Antike verwurzelten classicisme, der – anders als Lasserre – assimilierend und international verstanden wird. Das bewirkt trotz aller Exkurse und Ausschmückungen eine gewisse Konzentriertheit und Kontur, verleiht dem Buch seinerseits einen im classicisme verwurzelten Charakter. Diese Stimmigkeit hatte Rolland selbst schon 1914, vor dem Hintergrund des herannahenden Krieges bekannt, indem er sich selbst als „letzter Schößling der Aufklärung“ bezeichnete.63

RR (wie Anm. 6), S. 211. „Dieser geniale Improvisator […] gleicht einem antiken Rhetor, der neben der Formkultur den Instinkt für die lebendige und zündende Wirkungseiner Rede besitzt. Unsere Zeit hat den Sinn für diesen Typus des Menschen, des Künstlers, verloren, für den reinen Künstler, der zum Volk für das Volk spricht, nicht für sich und einige Gleichgesinnte. […] Das freie England des 18. Jahrhunderts war in gewisser Beziehung verwandt mit der römischen Republik; so hat denn auch die Beredsamkeit eines Händel Ähnlichkeit mit der jener Redner, von deren leidenschaftlichen und mit größtem Können gefügten Perioden das Forum widerhallte, wo sich eine müßige, hin und her wogende Plebs drängte.“ RD (wie Anm. 6), S. 130. 62 Pierre Lasserre: Le romantisme français. Essai sur la révolution dans les sentiments et dans les idées au XIX e siècle, Paris 1907. 63 „C’est aux ‚philosophes‘ du XVIIIe s[iècle] que je me rattache – je suis un des derniers rejetons de leur lignée.“ Brief an Alphonse Séché vom 14. Januar 1914; zitiert nach Klepsch: Romain Rolland im Ersten Weltkrieg (wie Anm. 5), S. 14. 61

„Makrokosmos“ und „Masse“: Georg Friedrich Händel in Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit Michael Meyer (Trossingen) Für die Vermarktung von Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit, die von 1927 bis 1931 in drei Bänden erschien,1 hat sich kein geringerer als Thomas Mann engagiert. In einer Annonce in der Neuen Zeitschrift für Musik ließ sich der Dichter folgendermaßen zitieren: „Friedells Kulturgeschichte erscheint mir als das Fortgeschrittenste, Klügste und Feinste, was auf diesem Gebiet geleistet worden, als ein zu grossem Erfolge bestimmtes Buch, so ernst-amüsant, so gelehrt und leicht, so freundlich dem Menschen und dabei so wissend über ihn, dass man wohl ins 18. Jahrhundert zurückgehen muss, um seinesgleichen zu finden“ (siehe Abb.).2

Friedells Werk stellt gemäß seinem Untertitel einen Versuch dar, der „Krisis der Europäischen Seele von der Schwarzen Pest bis zum Ersten Weltkrieg“ habhaft zu werden, will heißen jenen verstörenden Umwälzungen und Ereignissen, die die Neuzeit in allen möglichen Gebieten der menschlichen Betätigung mit sich gebracht hat. Entsprechend behandelt es nicht nur zeit- und sozialgeschichtliche, sondern u. a. auch kunst- und musikhistorische Themen. Gleichzeitig handelt es sich bei der Kulturgeschichte der Neuzeit um die einzige bekannte Arbeit Friedells, in der Musikgeschichtliches in relativ ausführlicher Art diskutiert wird. Es gibt also Gründe genug, sich dem Werk aus musikwissenschaftlicher Perspektive zu nähern. Wenn im Folgenden der Fokus auf das Händel-Bild in Friedells Kulturgeschichte gelegt wird, dann ist dies erstens mit der relativen Prominenz des Komponisten zu rechtfertigen. Immerhin erscheint er zusammen mit Johann Sebastian Bach und Friedrich dem Großen als einer der „Ruhmestitel, die sich Deutschland damals [d. h. im 18. Jahrhundert, M. M.] im Reiche des Geistes“ erworben habe.3 Zweitens legte die berühmte Händel-Episode in Stefan Zweigs Sternstunden der Menschheit von 1936 einen Blick auf die Händel-Rezeption Egon Friedell: Kulturgeschichte der Neuzeit, München 1927 (Einleitung und 1. Buch), 1928 (2. und 3. Buch) und 1931 (4. und 5. Buch sowie Epilog). Für die vorliegenden Ausführungen wurde die Ausgabe Zürich 2009 benutzt. 2 Vgl. die Annonce in: Neue Zeitschrift für Musik 94, 1927, S. 805. 3 Friedell: Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 703. 1

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Historische Werbeannonce in der Neuen Zeitschrift für Musik (Jahrgang 94, 1927, S. 805) für den ersten Band von Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit mit einem Urteil Thomas Manns (ANNO / Österreichische Nationalbibliothek).

beim heute eher weniger bekannten Friedell nahe, will heißen bei einem weiteren durch die Fährnisse der Wiener Moderne hindurchgegangenen und zu seinen Lebzeiten besonders auch im Wiener Kontext erfolgreichen Autoren.4 Und drittens können Forschungslücken als Motivation angeführt werden: In der Geschichts- und Literaturwissenschaft fand Friedell bisher eher marginale Beachtung, in der Musikwissenschaft, zumal was die Kulturgeschichte betrifft, überhaupt keine.5 Vgl. zu Zweigs Händel-Rezeption den Beitrag von Arturo Larcati in diesem Band. Zu Friedells Kulturgeschichte vgl. im Überblick Joachim Koch: Kulturgeschichte als Erkenntnismodell. Egon Friedells „Kulturgeschichte der Neuzeit“, St. Ingbert 1993 [Diss. Univ. Saarland], sowie auch das in der Ausgabe Zürich 2009 zu findende Nachwort von Ulrich Weinzierl, vgl. Friedell Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 1774–1784. Beide Texte gehen allerdings nicht auf Friedells Umgang mit Musik ein. Dies trifft auch für biographische Studien zu, unter den neueren sei stellvertretend hingewiesen auf die ansonsten sehr materialreiche Arbeit von Bernhard Viel: Egon Friedell. Der geniale Dilettant, München 2013. Besser erforscht ist ­Friedells Zusammenarbeit mit Alfred Polgar im Rahmen der Wiener Kabarettkultur. Vgl. dazu Roland Innerhofer: Die Polfried AG. Satirisches Kabarett von Egon Friedell und Alfred ­Polgar, in: Wendelin Schmidt-Dengler (Hg.): Komik in der österreichischen Literatur, Berlin 1996, S. 179–188; Michael Buhrs u. a. (Hg.): Fledermaus Kabarett. 1907 bis 1913. Ein Gesamtkunstwerk der Wiener

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Wegen der schieren Monumentalität von Friedells Kulturgeschichte  – die 2009 im Diogenes-Verlag erschienene Taschenbuchausgabe umfasst gegen 1800 Textseiten –, wäre eine erschöpfende Würdigung des in ihr zu findenden Umgangs mit Musikgeschichte Gegenstand einer größeren Studie. Die Untersuchung der Händel-Rezeption kann aber einen Einstieg bieten. So wird im Folgenden zunächst Friedells Händel-Bild vorgestellt, das in erster Linie in einem Abschnitt über den Komponisten und dessen Zeitgenossen Johann Sebastian Bach sichtbar wird.6 In einem zweiten Schritt wird versucht, Friedells HändelBild in Bezug zu weiteren musikbezogenen Äußerungen in der Kulturgeschichte zu setzen, um es abschließend wenigstens kursorisch im größeren Kontext der deutschsprachigen Händel-Rezeption um 1900 aufscheinen zu lassen. Dabei soll es auch um die Frage gehen, ob sich bei Friedell zeitgenössische bzw. ‚moderne‘ Ansätze in Sachen Händel-Rezeption feststellen lassen. Vorab schienen allerdings einige wenige Bemerkungen zur Person Friedells angebracht, zumal er heute eher ein Nischendasein unter Spezialisten und Liebhabern führt.7 Der „geniale Dilettant“, wie ihn der österreichische Theatermann Max Reinhardt genannt haben soll,8 lebte von 1878 bis 1938 und hieß eigentlich Egon Friedmann.9 Er wurde in Wien in eine jüdische Fabrikantenfamilie geboren und verbrachte den größten Teil seines Lebens in der Donaumentropole, ausgenommen davon sind u. a. knapp zehn Jahre Ausbildungszeit in Frankfurt a. M. und Heidelberg. Friedell, der sich kurz vor seinem 20. Geburtstag zum evangelisch-lutherischen Glauben bekannte und einige Jahre später seinen Namen geändert hat, genoss aufgrund einer großen Erbschaft den Vorzug, sich nicht um den Broterwerb kümmern zu müssen. So erklärt sich letztlich auch das Bonmot vom genialen Dilettanten: Der vom Wiener Philosophen Ernst Jodl promovierte Friedell war weder professioneller Schauspieler, Regisseur, Werkstätte. Literatur. Musik. Tanz, Wien 2007; Michael Meyer: Moderne als Geschichtsvergewisserung. Musik und Vergangenheit in Wien um 1900, Kassel u. a. 2021, S. 189 f. Ansonsten ist hinzuweisen auf Hans Valentin: Mozartbild ‚en miniature‘. Zu Egon Friedells 100. Geburtstag, in: Acta Mozartiana 25, 1978, S. 54–56 (zu Friedells Ausseinandersetzung mit Mozart), und auf Bernhard Adamy: Zwei wiederaufgefundene Pfitzner-Beiträge: Das Herz und Die ‚Symbolik‘ in der Rose vom Liebesgarten, in: Mitteilungen der Hans-Pfitzner-Gesellschaft 40, 1979, S. 3–11 (zur Friedell-Rezeption bei Hans Pfitzner). 6 Friedell: Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 703. 7 Vgl. zu dieser Einschätzung auch Viel: Egon Friedell (wie Anm. 5), S. 15. 8 Die vorliegende Apostrophierung findet sich häufig in der Sekundärliteratur, vgl. z. B. Weinzierl: Nachwort (wie Anm. 5), S. 1776, oder den Untertitel von Viel: Egon Friedell (wie Anm. 5). Ein Primärnachweis dieser Apostrophierung ist allerdings nicht gelungen, vgl. zu letzterem Problem auch Elisabeth Kampmann: Essay und Dilettantismus: Egon Friedell, in: Michael Ansel u. a. (Hg.): Der Essay als Universalgattung des Zeitalters. Diskurse, Themen und Positionen zwischen Jahrhundertwende und Nachkriegszeit, Leiden 2016, S. 139–159, S. 140, Fußnote 3.  9 Vgl. zum Folgenden Viel: Egon Friedell (wie Anm. 5), dort auf S. 328–335 auch mit einer ausführlichen Zeittafel.

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Schriftsteller, Feuilletonist noch Historiker, betätigte sich aber in allen genannten Berufen gleichermaßen und mit Erfolg. Als Schauspieler engagierte er sich in der Kabarettkultur der Jahrhundertwende genauso wie in den Ensembles Max Reinhardts. Und neben der Kulturgeschichte der Neuzeit verfasste er eine schwer zu überblickende (und auch noch nicht im Rahmen einer Gesamtausgabe erschlossene) Anzahl Theaterstücke, Kritiken, Essays und Briefe.10 Einer gewissen Bekanntheit erfreuen sich heute seine gemeinsam mit Alfred Polgar verfassten kabarettistischen Elaborate, darunter besonders die Groteske mit dem Titel Goethe aus dem Jahr 1908, in der dieser einer Prüfung durch einen „Professor der deutschen Literaturgeschichte“ unterzogen wird und dabei in kläglichster Weise versagt.11 Dass sich Friedell für Musik interessierte, belegt nicht nur die Kulturgeschichte: Die sogenannte Polfried AG, wie das Autoren­ duo gern genannt wurde, brachte auch eine „Musteroperette“ heraus (so die originale Genrebezeichnung), die vom Komponisten Konrad Scherber vertont wurde. Das Werk von 1908 trägt den Titel Der Petroleumkönig oder Donauzauber und nimmt Franz Lehárs Lustige Witwe aufs Korn.12 Gleichermaßen stellt sie eine Distanznahme vom nostalgischen Alt-Wien-Kult der Jahrhundertwende dar, und zwar inklusive eines freilich an sich auch nicht ernst gemeinten Spott-Quartetts: „Die schrecklichen Modernen,/von denen kann man lernen. / Die dichten nur symbolisch / Und diabolisch / Und melancholisch / Und alkoholisch. […] Ein wahrer echter Weaner/, Ist niemals kein Moderner,/Ein gutes Hiefelschwanzerl,/[…] Dazu a Gstanzerl,/Das ist uns angenehmer / Wie alle Sezessiöner“.13

Tragisch allerdings das Ende Friedells. Als Konvertit wurde er Opfer der Schergen des Diktators: Am 16. März 1938 klingelten zwei Beamte der SA bei ­Friedell, worauf er sich aus einem Fenster seiner Wohnung in der Wiener Gentzgasse stürzte.14 * Eine aktuelle Übersicht  – auch unter Berücksichtigung bisher unbekannter Quellen aus dem Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek – bietet Viel: Egon Friedell (wie Anm. 5), S. 336–338; vgl. auch Heribert Illig: Schriftspieler – Schausteller. Die künstlerischen Aktivitäten Egon Friedells, Wien 1987. 11 Vgl. Egon Friedell und Alfred Polgar: Goethe. Eine Szene, Wien 1908. Vgl. dazu bei Viel: Egon Friedell (wie Anm. 5), S. 163–166. 12 Alfred Polgar und Egon Friedell: Der Petroleumkönig oder Donauzauber. Muster-Operette in vier Bildern […]. Musik von Sch. Kontrad [Textbuch], Wien 1908. 13 Ebd., S. 28 f. Vgl. zum Petroleumkönig aus musikwissenschaftlicher Perspektive und mit weiterführenden Quellen Meyer: Moderne als Geschichtsvergewisserung (wie Anm. 5), S. 189 f. 14 Vgl. dazu im Detail bei Viel: Egon Friedell (wie Anm. 5), S. 297–303; zum Problem von Friedells Nachlass vgl. ebd., S. 15 und S. 336. 10

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Die Kulturgeschichte der Neuzeit spannt einen Bogen von „Renaissance und Reformation“ über „Barock und Rokoko“, „Aufklärung und Revolution“ sowie „Romantik und Liberalismus“ bis hin zu „Imperialismus und Impressionismus“.15 In Friedells Themenmosaik findet sich einerseits Zeit-, Politik-, und Gesellschaftsgeschichtliches, andererseits Literatur-, Philosophie-, Kunst- und eben Musikgeschichtliches. Dabei ist festzuhalten, dass im engeren Sinn musikbezogene Abschnitte in der Minderzahl sind, dasselbe gilt für die Kunstgeschichte: Philosophie- und Literaturgeschichte waren für Friedell wichtiger. Seine Erzählweise ist als Wechselspiel zwischen kürzeren Aperçus und längeren Vertiefungen zu charakterisieren.16 Ausführliche thematische Blöcke werden vermieden, man sucht also vergeblich Abschnitte etwa im Sinne einer längeren ‚Musikgeschichte der Barockzeit‘. So gehen den Ausführungen zu Händel und Bach beispielsweise Passagen über Klopstock, den Pietismus und den Belcanto voraus, gefolgt werden sie von längeren Auslassungen über Friedrich den Großen.17 Friedells Umgang mit Musikhistorischem lässt sich cum grano salis in drei Kategorien einteilen: Erstens in dessen Fruchtbarmachung für kulturgeschichtliche Beobachtungen, zweitens in die Würdigung von Komponisten und drittens in die Würdigung übergreifender musikhistorischer Zusammenhänge (wobei hier auch immer Komponistenfiguren erscheinen). Dieses charakteristische Changieren zwischen übergreifender Einordnung und Spezialbetrachtung geben auch die Händel betreffenden Passagen zu erkennen. Dabei spielen die ersten beiden der soeben erwähnten Umgangsmodi eine Rolle. Einerseits erscheint Händel im Unterkapitel „Die Ouvertüre der Barocke“ im Zusammenhang mit „germanischen Genies“, die sich im „Vaterlande wie im Exil gefühlt“ und darum „ihre Versteher im Ausland“ gesucht hätten: „Man denke an […] Schopenhauer, Nietzsche, Händel, Beethoven […] und viele andere“.18 Der Passus zeigt, wie Musikhistorisches im übergreifenden Sinn in kulturgeschichtliche Thesenbildung eingeflochten werden konnte: „Dies alles kommt aber ebendaher, daß […] bei den Romanen der große Mann der zusammengefaßte Ausdruck, die Essenz seines Volkes ist, bei den Germanen aber nicht“.19 Solche aus gegenwärtiger Sicht pauschal-wertend anmutenden Behauptungen sind typisch für Friedells Kulturgeschichte. Letztere ist denn auch als feuilletonistisch-literarische Studie Vgl. Friedell: Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 9–20 (Inhaltsverzeichnis). Friedell arbeitete entsprechend auch kompilatorisch bzw. unter Verwertung zuvor geschriebener Versatzstücke, vgl. dazu Weinzierl: Nachwort (wie Anm. 5), bes. S. 1777 f. 17 Friedell: Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 696–726, der Abschnitt über „Bach und Händel“ ist auf S. 702 f. zu finden. 18 Ebd., S. 506. 19 Ebd. 15

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verfasst worden, die in den Worten Ulrich Weinzierls „mit heutigem Auge gesehen“ bisweilen als „ideologisch bedenklich“, ja sogar als „reine Provokation“ erscheint.20 Der schon erwähnte längere Abschnitt über Händel ist der zweiten Kategorie zuzuordnen: Es handelt sich um eine Würdigung des Komponisten. Diese ist, wie bereits angedeutet, mit derjenigen Johann Sebastian Bachs verwoben.21 Der Passus ist nicht besonders lang – es handelt sich ungefähr um eine Druckseite –, bietet aber Stoff für weiterführende rezeptionsgeschichtliche Überlegungen. Friedell argumentiert einerseits auf gattungshistorisch-stilistischer Ebene: Beide erscheinen – epochengemäß – als Fugenkomponisten, wobei Händel als Meister des Vokalen, Bach als Meister des Instrumentalen apostrophiert wird. Händel ist dabei „unproblematischer“ und „kantabler“, Bach verbinde „Schwung und Schwere der Barocke mit der Introspektion des Rokokos“ (was auch immer letzteres im Detail genau meinen mag).22 Sodann würdigt Friedell die beiden Komponisten aus ästhetisch-soziologischer Perspektive: Händels Musik stelle einen „Makrokosmos für Alle“ dar, es handelt sich zum ersten Mal um Musik für die „Masse“, um einen Spiegel der „Kollektivseele“, was sich an den „reichen Chören, besonders im Israel“ zeige.23 Bach demgegenüber zeichnet sich durch ein „gewaltigeres Universalreich im Innern“ aus, das in „kleinbürgerlicher Enge“ entstand, wobei dazu passend besonders auf die „monumentale Kammerkunst“ verwiesen wird. Dabei handelt es sich um eine Feststellung, die auch auf einer allgemeineren Ebene aufscheint, Händel sei der „Psycholog“, Bach der „Metaphysiker“.24 Zudem werden die beiden mit zwei Exponenten der Philosophiegeschichte verglichen: Händel entspricht Leibniz, beide „zwangen der ganzen Welt die ihre auf“, Bach entspricht Kant, beide hätten „in ihrer Welt die ganze“ umspannt.25 Abschließend kann auf Verbindendes hingewiesen werden, das wiederum in einer allgemein-kulturgeschichtlichen Dimension aufscheint: Die beiden Komponisten zeichnen sich durch „tiefes germanisches Ethos“ aus, sie sind eine „riesige Doppelsonne“ im „Reiche des Geistes“. Damit würden sie, wie bereits angedeutet, neben Friedrich dem Großen einen der beiden „Ruhmes­ titel“ der deutschen Kulturgeschichte des 18. Jahrhunderts bilden.26

Vgl. Weinzierl: Nachwort (wie Anm. 5), S. 1778 (Zitat), sodann bes. S. 1782–1784, und Koch: Kulturgeschichte als Erkenntnismodell (wie Anm. 5), S. 13–16. 21 Vgl. noch einmal Friedell: Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 702 f. 22 Ebd., S. 703. 23 Ebd., S. 702 f. 24 Ebd. S. 703. 25 Ebd. 26 Ebd. 20

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Musikalische Autoren in Egon Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit „Renaissance und Reformation“: Giovanni Pierluigi da Palestrina, Ludwig Senfl „Barock und Rokoko“: Giovanni Maria Artusi, Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel, Claudio Monteverdi, Giovanni Battista Pergolesi, Jean-Philippe Rameau „Aufklärung und Revolution“: Ludwig van Beethoven, Christoph Willibald Gluck, Josef Haydn, Wolfgang Amadé Mozart, Niccolò Piccinni „Romantik und Liberalismus“: Daniel François Auber, Vincenzo Bellini, Hector Berlioz, Johannes Brahms, Frédéric Chopin, Felix Mendelssohn Bartholdy, Giacomo Meyerbeer, Gioachino Rossini, Franz Schubert, Robert Schumann, Louis Spohr, Gaspare Spontini, Giuseppe Verdi „Imperialismus und Impressionismus“: Georges Bizet, Claude Debussy, Franz Liszt, Hans Pfitzner, Camille Saint-Saëns, Johann Strauss [Sohn], Richard Strauss, Jacques Offenbach, Richard Wagner, Hugo Wolf Übersicht 1: Die in Friedells Kulturgeschichte der Neuzeit erwähnten musikalischen Autoren. Die Systematik reflektiert Friedells Epochenzuordnung, wobei einige der Namen auch in anderen Zusammenhängen bzw. Epochen zusätzlich erwähnt werden.

Fraglos werden hier wohlbekannte Muster der Händel-Rezeption des 19. Jahr­ hunderts sichtbar. Doch bevor diese weiter diskutiert werden, soll Friedells Händel-Bild wie angekündigt kurz in Bezug zu weiteren musikbezogenen Abschnitten der Kulturgeschichte gesetzt werden. Dabei bot sich an, zunächst Licht auf Friedells Komponistenkanon zu werfen. Die abgedruckte Zusammenstellung zeigt seine Epochen mit ihren jeweiligen Komponistenvertretern (vgl. Übersicht). Aus der Zusammenstellung wird erstens eine deutliche Häufung ab dem 18. Jahrhundert ersichtlich; Friedells Kenntnisse der Renaissancemusikgeschichte waren offenbar rudimentär, was er indirekt mit dem Hinweis rechtfertigt, dass es sich bei dieser Epoche um eine Zeit handle, in der die Bildende Kunst dominant gewesen sei.27 Ebenso wird ein besonderer Herkunftsschwerpunkt ersichtlich: Von den insgesamt über 35 erwähnten Komponisten ist gut ein wenig mehr als die Hälfte ‚deutsch‘ in Friedells Definition (d. h. deutsch Ebd., S. 555: „In jedem Zeitalter hat eine bestimmte Kunst die Hegemonie: in der Renaissance war es die Plastik, im Barock ist es die Musik.“

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sprachig und aus Deutschland oder Österreich stammend). Überblickt man außerdem deren Gewichtung, dann stechen zwei klare Favoriten ins Auge, nämlich Mozart und Wagner. „Die Produktion Mozarts ist in ihrer Fülle und Vielseitigkeit vielleicht das erstaunlichste Phänomen der gesamten europäischen Kunstgeschichte“, meint Friedell und würdigt ihn mit Verweis auf die Zauberflöte insbesondere als Komponisten der Aufklärung.28 Und Wagner sei weder ein Musiker gewesen, der gedichtet, noch ein Dichter, der Musik gemacht habe, sondern ein Theatraliker, und zwar mit einer „musikalischen Technik, die dem Zeitalter der virtuosen Ingenieurbauten [und] der elektrodynamischen Wundermaschinen […] entspricht“: Wagner also als moderner Homo universalis, als „mächtigster Theatrarch“ und „Zusammenfasser aller Zeittendenzen“.29 Aus diesen kursorischen Beobachtungen lässt sich als Zwischensumme Folgendes festhalten: Erstens ist Händel bei Friedell Teil eines Komponistenkanons, der den Höhenkamm repräsentiert: Händel, Bach, Beethoven, Brahms, Mozart, Schubert, Schumann, Wagner etc. Das sind Namen, die von der im 19. Jahrhundert enorm expandierenden Musikgeschichtskultur kanonisiert worden waren; sie galten als Speerspitze der ebenso in dieser Zeit erfundenen und in Konzertund Opernhäusern gepflegten ‚Klassik‘.30 Zweitens spiegeln Friedells Komponistenporträts die große Bedeutung nationaler Konkurrenz. Sie passen gut zu seiner andernorts immer wieder artikulierten deutschnationalen Haltung: Nicht nur die Bemerkungen zu Händel und Bach, sondern auch jene zu Wagner und Mozart lassen den Willen erkennen, deutschsprachige Kulturleistungen als etwas Hervorgehobenes erscheinen zu lassen.31 Und drittens dürften die enthusiastischen Beschreibungen Mozarts und Wagners als Opern- bzw. Musiktheaterautoren auf eines der Hauptbetätigungsfelder des genialen Dilettanten verweisen, nämlich auf das Theater. Merkwürdig bleibt dabei, dass Händels Opern nicht erwähnt werden, obwohl die Händel-Renaissance der 1920er Jahre sie durchaus programmatisch wiederzuentdecken begonnen hatte.32 * Ebd., S. 884. Ebd., S. 1509. 30 Stellvertretend für Friedells Wirkungsort Wien kann zu diesem Themenkomplex etwa hingewiesen auf Gernot Gruber (Hg.): Wiener Klassik. Ein musikgeschichtlicher Begriff in Diskussion, Wien 2002. Zur Expansion der Musikgeschichtskultur in der Wiener Moderne vgl. Meyer: Moderne als Geschichtsvergewisserung (wie Anm. 5). 31 Zu Friedells politischer Gesinnung vgl. Weinzierl: Nachwort (wie Anm. 5), S. 1779, sowie Viel: Egon Friedell (wie Anm. 5), S. 183–218. 32 Vgl. dazu im Überblick Manuela Jahrmäker: Händel-Renaissance – Händel-Renaissancen, in: Arnold Jacobshagen / Panja Mücke (Hg.): Händels Opern, Bd. 1, Laaber 2009 (= Das HändelHandbuch 2), S. 408–422. Zur Händel-Renaissance der 1920er Jahre mit Fokus auf Göttingen Wolfgang Sandberger: „Händel und wir?“ Kontinuitäten und Brüche in der hundertjährigen 28 29

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Wie aber ist nun Friedells Händel-Bild als Zeugnis der Geschichte der HändelRezeption zu würdigen? Inwiefern lassen sich dabei auch moderne Elemente erkennen? Wenig braucht wohl im Zusammenhang mit der Heroisierung Händels als Oratorienkomponist gesagt zu werden: Es handelt sich dabei um einen Allgemeinplatz der Geschichte der Händel-Rezeption des 19. und 20. Jahrhunderts.33 So hat sich auch Israel in Egypt, das von Friedell namentlich genannte Werk, einer ungebrochenen Beliebtheit im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfreut.34 Und auch wenn eine detaillierte Wiener Aufführungsgeschichte noch zu rekonstruieren ist, lassen sich an dieser Stelle zwei Darbietungen im unmittelbaren Umfeld der Publikation der Kulturgeschichte belegen: Im November 1927 erklang eine Version des Wiener Opernchors, im Januar 1930 eine Version mit dem „Sängerbund Dreizehnlinden“ im Musikverein.35 In diesen Belangen dürfte Friedell also von allgemein etabliertem ‚Kanonwissen‘ beeinflusst gewesen sein. Dasselbe gilt für die Verbindung von Bach und Händel. Diese war ein Topos der musikalischen Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts, der in Wien mitunter von keinem geringeren als Eduard Hanslick artikuliert wurde: „Bach und Händel“, schrieb er 1885 in einem seiner Feuilletons, „die Colossalgestalten unserer Musikgeschichte, stehen in gewissem Sinne als riesige Pförtner am Eingange derselben […]. Vor Händel und Bach gab es lebendige Musiker, gibt es aber für uns keine lebendig gebliebene Musik“.36 Wie kanonisch das Komponistenpaar auch später noch war, vermag z. B. eine Glosse zu belegen, die anlässlich



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Geschichte der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen, in: Göttinger Händel-Beiträge 23, 2022, S. 9–27. Dass Händels Opern auch im Wien der 1920er und 1930er Jahre eine gewisse Rolle spielten, belegt z. B. P. Stf. [wohl Paul Stefan]: Samson, in: Die Stunde, 23. November 1923, S. 5: „Dieser Händel hat Opern über Opern geschrieben, die in den letzten Jahren, außerhalb Wiens versteht sich, wie durch Zaubermacht wiederum über alle Bühnen stürmten“. Ebenso hinzuweisen wäre auf Aufführungen, z. B. im Mai 1928 des Giulio Cesare in Egitto im Wiener Hofoperntheater, vgl. Julius Korngold: Feuilleton. Operntheater. Gastspiel der Kölner Oper „Julius Cäsar“ von Händel, in: Neue Freie Presse, 5. Mai 1928, Morgenblatt, S. 1–4. Vgl. zur Rezeption der Oratorien Händels im 19. Jahrhundert im Überblick Michael Zywietz: Die Rezeption der Oratorien Händels im 19. Jahrhundert, in: ders. (Hg.): Händels Oratorien, Oden und Serenaten, Laaber 2010 (= Das Händel-Handbuch 3), S. 107–135; zu ihrer Rezeption im 20. Jahrhundert vgl. Erik Fischer: Die Rezeption der Händel-Oratorien seit Beginn des 20. Jahrhunderts, in: Ebd., S. 136–153. Vgl. dazu im Detail Anette Landgraf: Händels ‚Israel in Egypt‘. Rezeptionsgeschichte von 1739 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts, Beeskow 2016. Zur rezeptionshistorisch bedeutsamen Aufführung durch Mendelssohn 1833 vgl. ebd., S. 127–144, zur Rezeption in Deutschland und Großbritannien im 20. Jahrhundert S. 187–195. Vgl. zu diesen Aufführungen E. B.: „Israel in Aegypten“. Aufführung des Opernchors, in: Neues Wiener Journal, 8. November 1927, S. 11, und die anonyme Programmnotiz in: Die Stunde, 17. Januar 1930, S. 7 („Musikverein: Großer Saal: (1/2 8) Konzert des Sängerbundes ‚Dreizehnlinden‘. Händel: ‚Israel in Ägypten‘; Dirig. Prof. Ferdinand Habel.“). Ed.[uard] H.[anslick]: Feuilleton. Concerte, in: Neue Freie Presse, 5. März 1885, Morgenblatt, S. 1 f. Zit. nach Meyer: Moderne als Geschichtsvergewisserung (wie Anm. 5), S. 109.

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des Gluck-Jubiläums 1914 in der Wiener Satirezeitschrift Kikeriki erschien: „Der zweihundertste Geburtstag Glucks wird in Wien mit einer […] Generalpause begangen. Direktor Gregor schwärmt eben, seit er in Wien ist, nur mehr für Back-Händel“.37 Dasselbe kann auch für die nationalistische Vereinnahmung behauptet werden. Diese hat ihre Wurzeln bereits im 18. Jahrhundert und bildet in den Worten Laurenz Lüttekens „vielleicht am Ende das zentrale Motiv für die Auseinandersetzung mit dem Komponisten im gesamten 19. Jahrhundert“.38 Wie aus dem soeben zitierten Feuilleton Hanslicks hervorgeht, gilt dies im Zusammenhang mit der Idee von der ‚deutschen Musik‘ auch für Wien: „Mit Bach und Händel beginnt, was von deutscher Musik ein wirkliches Leben führt in der Nation“.39 Diese Spur lässt sich freilich weiterverfolgen, sie findet sich auch in einem 1925 in der Zeitung Radio Wien erschienenen Artikel des Schriftstellers und Musikkritikers Ernst Décsey: Der Autor entschied sich für den emphatischen Titel Drei deutsche Meister Gluck – Händel – Bach und erkennt in Händel trotz seines Wirkens „in Italien und England […] ein[en] grundfeste[n] deutsche[n] Mann“.40 Dass Friedell von Händel und Bach als „germanischen“ Komponisten spricht, dürfte auf seine deutschnationale Gesinnung sowie auf die Konjunktur des Begriffs im späteren 19. und frühen 20. Jahrhundert verweisen.41 Auch die Vorstellung vom mondänen Händel und dem in „kleinbürgerliche[r] Enge“ komponierenden Bach war bereits vorgespurt. Sie findet sich sinngemäß etwa im ersten Band von Friedrich Chrysanders Händel-Monographie von 1858: „Der Sonne gleich steht Händel’s Kunst von ihrem ersten Aufgange an vor aller Welt da, und wirkt schnell und kräftig auf eine große Oeffentlichkeit“, während Bach „in dem Kreise geblieben sei“, aus welchem Händel sich emporgeschwungen habe.42 Genauso lässt sich noch einmal Décsey zitieren: [Anonym]: Der zweihundertste Geburtstag Glucks, in: Kikeriki, 5. Juli 1914, S. 3. Laurenz Lütteken: Von der „Emanzipation der deutschen Musik“. Grundzüge des Umgangs mit Händel im 19. Jahrhundert, in: Göttinger Händel-Beiträge 13, 2012, S. 19–28, hier S. 20. 39 H.[anslick]: Feuilleton (wie Anm. 36), S. 1 f. 40 Ernst Décsey: Drei deutsche Meister Gluck – Händel – Bach, in: Radio Wien, 18. Oktober 1925, S. 79–81, hier S. 80. Décsey spricht übrigens auch – neben den Oratorien – ausführlich über Händels Opern. 41 Vgl. noch einmal Friedell: Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 506 und S. 702 f. Vgl. dazu im Überblick auch Heinrich Beck u. a. (Hg.): Zur Geschichte der Gleichung „germanisch – deutsch“, Berlin u. a. 2004. 42 Friedrich Chrysander: G. F. Händel. Erster Band, Leipzig 1858, S. 150 f. Vgl. auch ebd.: „Bach bleibt in dem Kreise aus welchem Händel sich empor schwingt […]. Die Hauptstätten deutscher Organistenkunst waren sein gelobtes Land dahin er heimlich und unter Mühen pilgerte. Hätte ihm jemand einige tausend Thaler zu einer italienischen Reise freigestellt, so ist zu vermuthen, daß er, falls er sie überhaupt annehmen wollen, gebeten haben würde, ihm dafür eine Musterorgel nach eigner Disposition bauen zu lassen; während Händel durch nichts zu bewegen gewesen wäre, von einer Reise abzustehen“.

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Händel sei ein „weltmännischer“ Komponist, der es verstanden habe, durch die „Macht der Chöre“ mit „monumentaler Kraft“ und als „Seelenschilderer“ in eine größere Öffentlichkeit zu wirken; Bach demgegenüber habe „Deutschland nie verlassen“, sich in Leipzig „in die Tiefen und Abgründe des Tones“ versenkt und die „Gebirge der Kantaten wie der großen Passionen“ gebaut, sein Denken sei ein „kontrapunktisches“, was sich besonders im „Woltemperierte[n] Klavier“ [sic] offenbare.43 Dass gerade die Idee eines durch seine Chöre besonders publi­ kumswirksamen Händel in Wien breiter etabliert war, belegt ein Programmhinweis in der Zeitschrift Radio-Wien vom Januar 1930 zur bereits erwähnten Produktion von Israel in Egypt im Musikvereinssaal: „Der Chor tritt besonders in den Vordergrund. Der berühmte Händel-Forscher Friedrich Chrysander charakterisiert dies dahin, daß Händel in den Chören seines ‚Israel‘ eine Reihe von Ton-Pyramiden aufzurichten wußte, die nicht ihresgleichen haben“.44 Bisher wurde herausgearbeitet, dass Friedells Händel-Bild sich mit bereits etablierten Topoi der Händel-Rezeption deckt. Es bleibt die Frage nach den neuen Horizonten. In diesem Zusammenhang fiel besonders die Behauptung ins Auge, dass Händel „zum erstenmal“ als „Psycholog“ für die „Masse“ komponiert habe.45 Denn um 1900 wurden Massenphänomene aus psychologischer Perspektive diskutiert: Unter den einschlägigen Publikationen zu erwähnen sind etwa Gustave Le Bons La Psychologie des foules aus dem Jahr 1895 und Siegmund Freuds Massenpsychologie und Ich-Analyse aus dem Jahr 1921.46 Le Bons Werk war sehr wirkmächtig, und der in Wien wirkende Freud bezog sich auf ihn.47 Friedell setzt sich in seiner Kulturgeschichte weder mit Le Bon noch mit dem Buch von Freud auseinander, sehr wohl aber mit anderen psychoanalytischen Arbeiten des letzteren.48 Es scheint also sehr wohl denkbar, dass Freud einen der möglichen Hintergründe für Friedells Applikation der Begriffe Décsey: Drei deutsche Meister (wie Anm. 40), S. 80 f. [Anonym]: Übertragung aus dem Musikvereinssaal: F. G. [sic!] Händel: „Israel in Ägypten“. Oratorium für Soli, Chor, Orchester und Orgel“, in: Radio-Wien, 10. Januar 1930, S. 38; Programmnotiz für den „Donnerstag, 16. Jänner“. 45 Friedell: Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 702. 46 Die bibliographischen Nachweise lauten Gustave Le Bon: La Psychologie des foules, Paris 1895, Siegmund Freund: Massenpsychologie und Ich-Analyse, Wien 1921. Vgl. dazu im Überblick Reinhart Koselleck u. a.: Art. Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Reinhart Koselleck u. a. (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7, Stuttgart 1992, S. 141–431. 47 Vgl. ebenso Michael Gamper: Masse lesen, Masse schreiben: Eine Diskurs- und Imaginations­ geschichte der Menschenmenge 1765–1930, München 2007, besonders zu Le Bons psychologisch grundiertem Massenbegriff und seiner Rezeption u. a. bei Freud S. 426–434. Vgl. auch bei Freud: Massenpsychologie (wie Anm. 46), S. 5–24, Kapitel „Le Bon’s Schilderung der Massenseele“. 48 Vgl. Friedell: Kulturgeschichte (wie Anm. 1), S. 1678, 1699 f., 1721, 1747, 1750–1753. 43

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‚Masse‘ und ‚Psychologie‘ im Zusammenhang mit Händels Musik darstellt. Ob dabei Händels Oratorien im Sinne Le Bons und Freuds dazu beitrugen, die „individuellen Erwerbungen des Einzelnen“ zu verwischen, muss freilich dahingestellt bleiben.49 Dafür sind Friedells Äußerungen zu knapp und zu skizzenhaft. Jedenfalls lässt sich vermuten, dass es sich um eine dezidiert als ‚modern‘ anzusehende Akzentverschiebung in Sachen Händel-Bild handeln könnte. Demnach würde zum Bild des öffentlichkeitswirksamen jenes eines im modernen Sinn massenpsychologisch wirksamen Komponisten hinzutreten, das heißt auch eines Komponisten, dessen Musik der neuen gesellschafts- und bevölkerungsgeschichtlichen Situation mit Arbeiterschaft und Kleinbürgertum Rechnung zu tragen vermochte. Im Zusammenhang mit der Idee von Händel als Komponisten für die „Masse“ muss ebenso an die Händel-Renaissance der 1920er Jahre als mög­ lichen Einflussfaktor gedacht werden. Im deutschen Sprachraum der 1920er Jahre wurde Händel emphatisch als ‚Massenkomponist‘ inszeniert. Der Musikwissenschaftler Hermann Abert behauptete in seinem Geleitwort zum Hallen­ sisch­en Händelfest 1922, dass es Händel vermocht habe, ein „ideale[s] Publikum“ zu schaffen, das „den musikalischen Teil eines ganzen Volkes“ umfasse, um „alle Menschen zu Brüdern zu machen“.50 Hugo Leichtentritt schwärmt in seiner Händel-Monographie davon, wie in Händels Chören die „Masse des Volks“ dargestellt werde.51 Und der Choreograph und Regisseur Hanns Niedecken-Gebhard, der ab 1922 in leitender Position an den Göttinger Händel-Festspielen mitwirkte und dem später eine Karriere als Großinszenator nationalsozialistischer Propaganda gelang, brachte Händels Oratorien massenwirksam auf die Bühne. Zu erwähnen ist etwa die Produktion des Saul mit 800 Beteiligten und einer speziellen, auf besondere Wirksamkeit abzielenden Chor-Choreographie, die 1922 in Hannover vor 6000 Zuschauern stattfand.52 Inwiefern Friedell auch dieses Moment der Händel-Renaissance reflektierte, wäre noch nachzuweisen: Immerhin wurde 1927 eine Inszenierung des Hercules von Niedecken-Gebhard auch im Wiener Konzerthaus gegeben,53 also just ein Jahr vor dem Erscheinen des zweiten Bandes der Kulturgeschichte im Jahr 1928, der den fraglichen Händel-Passus enthält. Neben Freud und Le Bon könnte also auch dieser spezifische Aspekt der Händel-Rezeption für Friedell eine Rolle gespielt Freud: Massenpsychologie (wie Anm. 46), S. 9. Hermann Abert: Geleitwort, in: Hallisches Händelfest 1922. Festschrift, Halle 1922, S. 41 und 43, zit. nach Fischer: Die Rezeption der Händel-Oratorien (wie Anm. 33), S. 139 f. 51 Hugo Leichtentritt: Händel, Bd. 2, Stuttgart / Berlin 1924, S. 715. 52 Vgl. dazu Fischer: Die Rezeption der Händel-Oratorien (wie Anm. 33), S. 137 f. 53 Vgl. dazu Max Graf: Zeitgenosse Händel. Szenische Aufführung des Oratoriums „Herakles“, in: Der Tag, 22. Januar 1927, S. 4. 49

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haben. Inwieweit der eine oder andere Aspekt wichtiger war, lässt sich aufgrund der relativen Kürze der fraglichen Passage und der schwierigen Situation in Sachen Friedell-Philologie kaum entscheiden (dasselbe gilt übrigens auch für die Frage nach Herkunft und Bedeutung des ebenso bei Nietzsche zu findenden Vergleichs von Händel mit Leibniz).54 Jedenfalls erscheint Friedells Bild eines als „Psycholog“ für die „Masse“ schreibenden Komponisten mit Blick auf Le Bon und Freud sowie mit Blick auf die Händel-Renaissance der 1920er Jahre als zeitgemäß. Gänzlich unklar muss eine allfällige Nachwirkung von Friedells HändelRezeption bleiben. Dass das Werk auch im musikbezogenen Kontext – wenigstens rudimentär – wahrgenommen wurde, belegt neben der eingangs zitierten Annonce in der Neuen Zeitschrift für Musik eine 1933 in den Signalen für die Musikalische Welt erschienene Rezension des Wiener Komponisten und Musikschriftstellers Ferdinand Scherber, dessen Resümee lautet: „Das Buch ist eine fast unerschöpfliche Quelle von Anregungen, auch dort wo es irrt und wo es im Ton über die Stränge haut. Es lehrt gewissermaßen sehen.“55 Das sagt freilich noch nichts über eine Nachwirkung von Friedells-Händel Rezeption aus. Außerdem ist zu vermuten, dass eine solche ohnehin von den kulturpolitischen Machenschaften bzw. der ebenso auf Massenkultur abzielenden Händel-Rezeption der Nationalsozialisten überdröhnt worden wäre.56 * Jenseits des engeren Themenkomplexes der Händel-Rezeption wären auch übergreifende Fragestellungen weiterzuverfolgen, etwa mit Blick auf Friedells Konzept der Kulturgeschichtsschreibung an sich, das bisher noch nicht aus historiographiegeschichtlicher Perspektive problematisiert worden zu sein scheint.57 Mit Blick auf Wien könnte in diesem Zusammenhang die von Richard von Kralik und Hans Schlitter verfasste Stadtgeschichte von 1912 eine Rolle gespielt haben: Dieses Werk ist gemäß seinem Titel expressis verbis der „Geschichte der Vgl. dazu Friedrich Nietzsche: Aus dem Nachlass der Achtzigerjahre, in: ders.: Werke in drei Bänden, hg. von Hans Schlechta, München 1954, Bd. 3, S. 509: „Händel, Leibniz, Goethe, Bismarck – für die deutsche starke Art charakteristisch“. Zit. nach Lütteken: Von der „Emanzipation der deutschen Musik“ (wie Anm. 38), S. 19. 55 Ferdinand Scherber: Musik und Kultur [Rezension von Egon Friedells Kulturgeschichte], in: Signale für die Musikalische Welt 91, 1933, S. 2 f. 56 Zur Händel-Rezeption bei den Nationalsozialisten vgl. insbesondere Katrin Gerlach u. a.: Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen, 2 Bde., Beeskow 2014, mit Blick auf die Oratorien darin besonders Juliane Riepe: Händels Oratorien im ‚Dritten Reich‘. Bearbeitungspraxis und ideologischer Kontext, Bd. 1, S. 16–56. 57 Vgl. bisher Koch: Kulturgeschichte als Erkenntnismodell (wie Anm. 5), allerdings mit einem hauptsächlich wissenschaftstheoretischen und geschichtsphilosophischen Schwerpunkt. 54

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Kaiserstadt und ihrer Kultur“ gewidmet58 und berücksichtigt wie Friedell auch die Musik im Zusammenhang mit kulturhistorischen Beobachtungen. So böten etwa die Walzer von Johann Strauss Sohn „immer einen Leitfaden durch die Wiener Kulturgeschichte“, da sie bestimmte kulturelle und soziale Realitäten im Wandel widerspiegeln würden.59 Die Einschätzung der möglichen Relevanz dieses und vergleichbarer Werke für Friedell würde sich einmal mehr mit den bereits erwähnten philologischen Abgründen konfrontiert sehen. Am Schluss der vorliegenden Betrachtungen dürfte aber unbestritten sein, dass Friedell hinsichtlich seiner Händel-Rezeption mit dem Wien des frühen 20. Jahrhunderts verwoben war. Zweifelsohne war er in seiner Kulturgeschichtsschreibung auch von einer Lebenswelt beeinflusst, in der Musik in kaum zu überbietender Weise als identitätsstiftender Teil des Kulturlebens galt und inszeniert wurde, wofür Kralik und Schlitters Buch nur einer von zahlreichen Belegen ist. In diesem Zusammenhang lässt sich auch noch einmal die Zeitschrift Kikeriki zitieren: 1916 setzte sie sich für „Aufschriften für die acht Komponistenmonumente“ ein, „die vom Musikvereinsgebäude auf den Naschmarkt übertragen werden sollen“.60 In diesem Jahr war auf dem Wiener Naschmarkt ein neues Marktgebäudeensemble eingeweiht worden, um der steigenden Nachfrage gerecht zu werden. Es war eine große, fast einen Kilometer lange moderne Marktstrasse entstanden – ein Symbol der modernen Metropole mit ihren Bevölkerungsmassen. Und zufälligerweise hat im selben Jahr der Wiener Musikverein einen Teil der Komponistenstatuen der Stadt Wien geschenkt, die an der Front des 1870 errichteten Musikvereinsgebäudes zu sehen waren. Sie sollten nun, durchaus auch im Sinne des ‚Brandings‘ Wiens als Musikstadt, auf dem Naschmarkt neu aufgestellt werden.61 Bach durfte im Musikverein bleiben, er war bereits zuvor von der Fassade ins Vestibül umgezogen, und die von Kikeriki vorgeschlagene Aufschrift der Händel-Statue lautet: „Vor mir sollt’ stehn der Bach,/Doch der fehlt leider, ach. / Zu Händeln neigt der Naschmarkt sehr,/Bachhändel gibt’s schon lang nicht mehr.“62

Richard [von] Kralik / Hans Schlitter: Wien. Geschichte der Kaiserstadt und ihrer Kultur, Wien 1912. 59 Ebd., S. 704. 60 [Anonym]: Aufschriften für die acht Komponistenmonumente, die vom Musikvereinsgebäude auf den Naschmarkt übertragen werden sollen, in: Kikeriki, 20. August 1916, S. 2. 61 Der Hergang wird auch beschrieben in [Anonym]: Theater und Kunst. Rund um die Wiener Theater, in: Neues 8 Uhr Blatt, 11. August 1916, S. 3. 62 [Anonym]: Aufschriften (wie Anm. 60), S. 2. 58

Zwischen Ohnmacht und Gnade Zu Stefan Zweigs „Sternstunde“ Georg Friedrich Händels Auferstehung (1935)1 

Arturo Larcati (Salzburg) „Lawrence setzt sich an das Klavier und beginnt. MRS. SIMPSON in die Hände klatschend Ah, Händel … wie ergreifend, oh, Händel hier …  das ist … wie die Feuer­säule vor Israels Heer, die seinen Weg in die Wüste erhellt.“ (Romain Rolland)2

I. Zur Entstehungsgeschichte Die wichtigsten Impulse für eine Beschäftigung mit Georg Friedrich Händel in einem Erzählwerk erhält Stefan Zweig von seinem Vorbild und Mentor Romain Rolland, der nicht nur ein berühmter Schriftsteller, sondern auch ein international bekannter Musikschriftsteller ist. Ebenso relevant ist Zweigs große Begeisterung für die Musik des Komponisten, die anlässlich der Händel-Festspiele 1925 bzw. eines Konzertes von Bruno Walter 1935 zum Ausdruck kommt, sowie die Reflexion über jene Musikautographen Händels, die Zweig 1933 zu sehen bekommt und 1939 erwirbt. Romain Rolland hat 1910 eine bekannte Händel-Biographie3 verfasst, auf die Zweig in der Lebensgeschichte seines Freundes aus dem Jahr 1920 mehrmals Bezug nimmt.4 Auf die biographische Studie über Händel geht Zweig in diesem Buch zwar nicht im Detail ein, trotzdem wird hier der Komponist als Referenzgestalt oder Vergleichsgröße für die Beschreibung anderer Künstler immer wieder zitiert. Überhaupt bilden Rollands Biographien von berühmten Künstlern (Michelangelo, Beethoven, Händel) ein zentrales Modell für Zweigs Essays in jenen Reihen der Baumeister der Welt, die seit den 20er Jahren entstehen. An dieser Stelle möchte ich mich bei Prof. Herwig Gottwald (Universität Salzburg) für zahlreiche Anregungen bedanken. 2 Romain Rolland: Die Zeit wird kommen. Drama in drei Akten [1921], in: Stefan Zweig: Ben Jonson’s ‚Volpone‘ und andere Nachdichtungen und Übertragungen für das Theater, hg. und mit einer Nachbemerkung versehen von Knut Beck, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1987, S. 204. 3 Romain Rolland: Haendel, Paris: Félix Alcan 1910 (dt. Übersetzung: Das Leben G. F. Händels, übersetzt von Lisbeth Langnese-Hug, Zürich / L eipzig: Rotapfel 1925). 4 Stefan Zweig, Romain Rolland, hg. und mit einer Nachbemerkung versehen von Knut Beck, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2006, S. 69, 167, 187–188, 244. 1

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Von Romain Rolland wird Stefan Zweig auch dazu angeregt, die HändelFestspiele, die vom 6. bis zum 8. Juni 1925 in Leipzig stattfinden, zu besuchen. In einem Brief an seinen Verleger Anton Kippenberg teilt er am 25. Januar 1925 mit, dass der französische Freund am Deutschen Händelfest in Begleitung seiner Schwester teilnehmen möchte, und fügt hinzu: „Mir ist Händel das, was Ihnen Bach und ich möchte die Gelegenheit nicht versäumen, umsomehr als sie mich mit Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin wieder zusammenführt.“5 Am 12. April 1925 erkundigt sich Stefan Zweig bei Kippenberg über die Möglichkeit, das Programm und eine Privatloge im Theater zu bekommen. Drei Tage später teilt ihm dieser das definitive Programm der Händelfeier mit, das er von Karl Straube, einem mit ihm befreundeten Leipziger Organisten, Thomaskantor und Leiter der Festspiele, bekommen habe: „Sonnabend Abend im Neuen Theater: Belsazar. Sonntag Vormittag: Orchester-Konzert. Abends: Tamerlan (im Original). Montag Vormittag: Kammermusik. Abends: Salomo.“6 Der Verleger bezeichnet das Programm als „ein[en] herrlich gedeckte[n] Tisch“7 und freut sich auf das Kommen von Zweig und Rolland, die in der Tat nach Leipzig reisen, um dort vier Tage zu bleiben. Im Nachhinein beschreibt Zweig seine Begegnung mit der Musik von Händel als eine „die innere Welt gleichsam aufwölbende […] Entzückung“.8 Der Besuch der Händel-Festspiele bleibt nicht ohne Folgen. Mit Blick auf eine Musik-Serie im Insel Verlag empfiehlt Zweig Kippenberg die Veröffent­ lichung des Schubert-Buches von Otto Erich Deutsch und fügt hinzu: „Ich kann mir zum Beispiel denken, dass ein Band Chopin oder Händel gleichfalls vielen Menschen ein pitoreskes und gleichzeitig dokumentarisches Bild gewähren könnte.“9 Ein Jahr später rät er dem Verleger zu einem „Büchel, das der richtige Mann gestalten müsste, namens ‚Musiker Anekdoten‘ – kleine Anekdoten Unveröffentlichter Brief von Stefan Zweig an Anton Kippenberg (DLA, Marbach). Brief von Anton Kippenberg an Stefan Zweig vom 15. April 1925, in: Anton Kippenberg /  Stefan Zweig: Briefwechsel 1905–1937, ausgewählt von Oliver Matuschek und Klemens ­Renoldner, Frankfurt a. M.: Insel 2022, S. 495. 7 Ebd. 8 Stefan Zweig: Die Kirchweih des guten Essens, in: ders.: Auf Reisen. Feuilletons und Berichte, hg. und mit einer Nachbemerkung versehen von Knut Beck, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2004, S. 253–255; hier S. 254. Vgl. auch den Brief von Stefan Zweig an seine Frau Friderike vom 6. Juni 1925: „L. F., wir waren eben mit R. R. in der Thomaskirche bei einer Bach-Motette, auch deine Freundin Andro [Therese Rie, A. L.] haben wir getroffen. Sonst ist Leipzig Leipzig, womit alles gesagt scheint. Heute abends Belsazar. Alles lässt grüssen“ (Friderike Zweig / Stefan Zweig: Unrast der Liebe. Ihr Leben und ihre Zeit im Spiegel ihres Briefwechsels, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1989, S. 128). Einen Tag später berichtet er seiner Frau: „Händels Belsazar unerhört, ein elementarer Eindruck“ (ebd., S. 129). 9 Unveröffentlichter Brief von Stefan Zweig an Anton Kippenberg vom 26. Juni 1925 (DLA, Marbach). 5 6

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von Beethoven, Schubert, Bach, Mozart, Wagner, Händel usw., die sicherlich in einer guten Vereinigung Anklang fänden.“10 Während eines zweimonatigen Aufenthalts in London Ende 1933, kurz bevor Zweig Salzburg endgültig verlässt und in die englische Hauptstadt übersiedelt, wendet er sich voller Stolz an Anton Kippenberg, der mit ihm die Leidenschaft für Autographen teilt: „Nächster Tage sehe ich mir die grandiose Händel-Privatsammlung von Newman Flower, dem Besitzer von Cassel & Co., meinem englischen Verleger an – vielleicht dass ich über sie und Händel in England etwas kurzes veröffentliche (ein Thema das gottseidank Millionen Meilen von aller Actualität liegt).“11

Aus dem Brief geht hervor, dass Zweigs Begegnung mit den Autographen des renommierten Händel-Forschers Neumann Flower sehr wahrscheinlich als eine der ersten Inspirationsquellen für die Entstehung eines Werkes über Händel gesehen werden kann. Mit dem letzten Satz des Zitats präsentiert Zweig die geplante Arbeit als willkommene Ablenkung von der politischen „Actualität“: Hitlers Machtübernahme in Deutschland 1933 bzw. dem grassierenden Antisemitismus in Österreich, der ihn dazu bringt, im Februar 1934 Salzburg den Rücken zu kehren. Die Vergangenheit als Refugium: Immer wieder hat Zweig seine biographischen Studien aus den 30er Jahren sowie sein Libretto für die Richard-Strauss-Oper Die schweigsame Frau als willkommene „Flucht“ aus der bedrängenden Gegenwart gerechtfertigt.12 Das Projekt eines Werkes über den Komponisten konkretisiert sich zwei Jahre später, wie aus einem unveröffentlichten Brief von Zweig an seine italienische Übersetzerin Lavinia Mazzucchetti zu entnehmen ist: „Ich hatte Sperling & Kupfer [gemeint ist der Verlag, A. L.] versprochen, bis zum dritten April eine fehlende ‚Sternstunde‘ zu liefern, statt des Dostojewski. Es lag wie ein Alp auf mir, aber nun habe ichs geschrieben und es war vielleicht gut, dass ich unter diesem Drucke stand, denn, verzeihen Sie, es ist eine Arbeit geworden, die anständig ist. Ich verdanke sie der herrlichen Aufführung Bruno Walters.“13

Unveröffentlichter Brief von Stefan Zweig an Anton Kippenberg vom 25. Juni 1926 (DLA, Marbach). 11 Brief von Stefan Zweig an Anton Kippenberg vom 26. Oktober 1933, in: Anton Kippenberg / Stefan Zweig: Briefwechsel 1905–1937 (wie Anm. 6), S. 768. 12 Vgl. den Brief aus London vom 2. August 1936 an Hans Carossa, wo Stefan Zweig „die Beschäftigung mit dem Historischen“ als „eine Art Flucht vor der Zeit“ bezeichnet. Stefan Zweig: Briefe an Freunde, hg. von Richard Friedenthal, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1984, S. 275. 13 Brief von Stefan Zweig an Lavinia Mazzucchetti vom 30. März 1935, Stefan Zweig Collection, National Library of Israel, Jerusalem. 10

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Aus diesem Brief erfahren wir, dass die erste Veröffentlichung der „Sternstunde“ über Georg Friedrich Händel in Buchform beim Mailänder Verlag Sperling & Kupfer zustandegekommen ist, als Nr. 21 in der Reihe der „Narratori nordici“, der „nordischen Erzähler“ – einer Reihe, die von Lavinia Mazzucchetti geleitet wurde.14 Darüber hinaus sei der Händel-Text als Ersatz für eine weitere „Sternstunde“ konzipiert worden – und zwar für Heroischer Augenblick, jene Erzählung, die die fingierte Hinrichtung Dostojewskis zum Thema hat. Schließlich habe Stefan Zweig seine Inspiration für die Verfassung der „Sternstunde“ den Gesprächen zu verdanken, die er mit dem Dirigenten Bruno Walter vor und nach dessen Aufführung des Messias im Wiener Musikverein am 20. März 1935 geführt habe. Das von Bruno Walter dirigierte Chorkonzert hatte im Rahmen der Feierlichkeiten zum 250. Jubiläum des Geburtstags von Georg Friedrich Händel und von Johann Sebastian Bach stattgefunden. Einen Monat später wird Georg Friedrich Händels Auferstehung in der Neuen Freien Presse veröffentlicht.15 Am 4. Mai 1935 beschwört Zweig noch einmal das besondere Erlebnis des Konzertes von Bruno Walter in einem Brief aus Wien an seinen Freund Hermann Hesse: „[I]ch hätte Sie gerne hierher gewünscht, zu den starken Gesprächen, die wir mit Bruno Walter hatten vor und nach dem Händel’schen ‚Messias‘, denn auch mich zieht (anscheinend wie Sie) die Musik stärker heran, weil sie so herrlich überweltlich und überpolitisch wirkt und dadurch beruhigend.“16

Im Brief stilisiert Zweig die Musik zu einem „tröstenden Element“, das ihm erlaubt habe, das Gleichgewicht nicht zu verlieren, wie es anderen Exilierten passiert sei: „Nichts hat mir vielleicht mehr geholfen im letzten Jahr als die enge Beziehung zu Toscanini und Bruno Walter […]“.17 Am 7. Juli gratuliert Stefan Zweig dem Dirigenten Bruno Walter selbst zu seiner Beschäftigung mit Händel und seinem Konzert: Stefan Zweig: Momenti eccelsi. Cinque miniature storiche. La resurrezione di Händel, übers. v. B. Burgio Arens, Mailand: Sperling & Kupfer 1935 (La resurrezione di Händel wurde von Marcella Gorra übersetzt.) 15 Neue Freie Presse, Morgenblatt, 21. April 1935, S. 33–35 und Morgenblatt, 28. April 1935, S. 25 f. 16 Brief von Stefan Zweig an Hermann Hesse vom 4. Mai 1935, in: Stefan Zweig, Briefe ­1897–1914, hg. von Knut Beck, Jeffrey B.  Berlin und Natascha Weschenbach-Feggeler, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1995, S. 121. 17 Ebd. Schon 1931 hatte Zweig einem „concerto grosso“ von Händel unter der Leitung von Bruno Walter beigewohnt, ohne allerdings davon besonders berührt zu werden: „gute, aber nicht menschlich emotive Musik“, so sein damaliges Urteil. (Stefan Zweig: Tagebücher, GWE, hg. mit Anmerkungen und einer Nachbemerkung versehen von Knut Beck, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1988, S. 352.) 14

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„[I]ch habe sosehr das innere Gefühl, daß Sie Händel und Gluck gerade in den letzten Jahren noch näher gekommen sind als vordem; vielleicht muß man etwas älter werden, um die Schönheit der strengen Linie ganz zu verstehen: ich denke noch immer an Ihren ‚Messias‘ und wünsche mir mehr dieser mächtigen Art von Ihnen.“18

In seiner Antwort am 11. Juli 1935 bestätigt der Dirigent die Beobachtung seines Freundes: „Meine ganze Richtung ging von je auf das Erhabene, aber ich glaube schon, dass ich einen Gluck, Händel und Beethoven jetzt besser verstehe und aufführe als früher.“19 Als Stefan Zweig zum sechzigsten Geburtstag von Bruno Walter am 15. September 1936 eine Hommage an den Dirigenten verfasst, in der er „seine wundervolle Fähigkeit der Hingabe bis zur Selbstverschattung“ hervorhebt, vergisst er nicht, das Erlebnis des Wiener Konzertes zu erwähnen, wofür er extra aus London angereist war: „Wie oft und wie immer anders hat er uns bezwungen, bald silbernen Klangs am Klavier oder Spinett Mozartsche Magien erweckend, dann wieder grandios Händels ‚Messias‘ mit riesigen Quadern aufbauend, diesen Babelsturm bis in den Himmel […].“20

Zweigs Bewunderung für Händels Musik kommt nicht zuletzt in seinem Erwerb von wertvollen Autographen zum Ausdruck. Durch den Kontakt zum Antiquar Heinrich Eisemann gelingt es ihm, im Jahre 1939 sogar drei Notenhandschriften von Händel zu erwerben.21 Eines davon steht auch am Anfang der Aufzählung in den autobiographischen Erinnerungen der Welt von Gestern: „Da war Nietzsches „Geburt der Tragödie“ in einer ersten, unbekannten Fassung, die er lange vor der Veröffentlichung für die geliebte Cosima Wagner geschrieben, eine Kantate von Bach und die Arie der Alceste von Gluck und eine von Händel, dessen Musikmanuskripte die seltensten von allen sind.“22

The Bruno Walter papers – NYPL Archives, New York (Signatur: JPB 92–94, Reel No. 10, Series I, Folder 649, Zweig, Stefan). 19 Stefan Zweig Collection, Daniel A. Reed Library, The State University of New York at Fredonia (USA). 20 Stefan Zweig: Bruno Walter: Kunst der Hingabe. Zu seinem sechzigsten Geburtstag 15. September 1936, in: ders.: Das Geheimnis des künstlerischen Schaffens. Essays, hg. und mit einer Nachbemerkung versehen von Knut Beck, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2007, S. 328–331; hier S. 329 und 331. 21 Oliver Matuschek: Stefan Zweig. Drei Leben – Eine Biographie, Frankfurt a. M.: S. Fischer 2006, S. 325. 22 Stefan Zweig: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers, hg. und kommentiert von Oliver Matuschek, Frankfurt a. M.: S. Fischer, 2017, S. 374. 18

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Wertvolle Autographe sind für Stefan Zweig nicht primär eine finanzielle Investition, sie bedeuten viel mehr als die Befriedigung seiner Sammelleidenschaft oder „eine Möglichkeit, dem Alltag kurzzeitig zu entfliehen“.23 Zweig schätzt sie vor allem deshalb, weil sie über das „Geheimnis des künstlerischen Schaffens“ Aufschluss geben. In der Schrift von Händel, die „groß“, „schwungvoll“ und „streng“ sei, spüre man „den mächtigen, starken Mann und glaubt, die kraftvollen Chöre seiner Oratorien zu hören, in denen ein männlicher Wille den wildesten Aufschwall rhythmisch meistert.“24

II. Die „Sternstunde“: Gattung und Titel Georg Friedrich Händels Auferstehung ist keine Novelle mit einer „unerhörten Begebenheit“, aber sie hat novellenartigen Charakter, sie kann als Novelle im weitesten Sinne interpretiert werden. Laut Zweig ist sie eine „historische Miniatur“ und Teil der Sternstunden – einer Sammlung von Geschichten aus den unterschiedlichen Bereichen der Politik, der Entdeckungen und der Kunst, die Zweig beginnend in den 10er und 20er Jahren bis zum Ende seines Lebens verfasst hat. Etliche davon, darunter jene über Händel, wurden während seiner Exilzeit verfasst. Innerhalb der Sternstunden ist Georg Friedrich Händels Auferstehung eine Geniegeschichte wie Die Marienbader Elegie aus dem Jahre 1923. In dieser Erzählung geht es um Goethes Idee, nach Überwindung einer Lebenskrise etwas Geniales zu schaffen. Nach der Trennung von der jungen Ulrike von Levetzow war Goethe verzweifelt, wollte aufgeben und von der Liebe sowie vom Leben Abschied nehmen. In einem künstlerischen Akt, in der Erinnerung an seine letzte große Liebe in Marienbad gelingt es ihm jedoch, die genannte Krise zu überwinden und etwas Außerordentliches zu schaffen. Ausführlich schildert Zweig, wie Goethe während einer Kutschfahrt auf dem Weg nach Hause die Elegie schreibt und sich vor dem Abgrund rettet: „Goethe rettet sich – man darf es wohl sagen – durch dieses Gedicht. Endlich ist die Qual überwunden, die letzte tragische Hoffnung besiegt, der Traum von einem gemeinsamen ehelichen Leben mit dem geliebten ‚Töchterchen‘ zu Ende. Er weiß, er

Oliver Matuschek: Einleitung, in: Ich kenne den Zauber der Schrift. Katalog und Geschichte der Autographensammlung Stefan Zweig, mit kommentiertem Abdruck von Stefan Zweigs Aufsätzen über das Sammeln von Handschriften, bearbeitet von Oliver Matuschek, Wien: Inlibris 2005, S. 7–88; S. 83. 24 Stefan Zweig, Sinn und Schönheit der Autographen [1935], in: Ich kenne den Zauber der Schrift, (wie Anm. 23), S. 139. 23

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wird niemals mehr nach Marienbad, nach Karlsbad, nie mehr in die heitere Spielwelt der Sorglosen gehen, fortan gehört sein Leben allein noch der Arbeit.“25

In Zweigs Deutung der Episode spielt die Konzeption des Abschieds bzw. der Entsagung eine entscheidende Rolle, wobei diese in einem engen Verhältnis zu jenem der genialen Kreativität steht. In jeder Sternstunden-Geschichte, unabhängig davon, ob es um einen Abenteurer, einen Künstler (wie im Falle von Händel oder von Goethe), einen Feldherrn oder einen Politiker geht, steht immer ein Held im Zentrum. Die Helden der Sternstunden sind ausschließlich Männer, oft Männer auf verlorenen Posten bzw. „mittlere Charaktere“, mit denen sich der durchschnittliche Leser leicht identifizieren kann. Diese Männer sind meistens Verlierer, Antihelden. Als solche sind sie für Zweig interessanter als die traditionellen Helden der Geschichte: Da die Geschichte immer nur die Sieger zelebriert, erscheint es ihm gerecht, die Verlierer wieder zu entdecken und zu würdigen. Wenn man vom Titel der Sammlung Sternstunden der Menschheit ausgeht, würde man Geschichten von Siegern erwarten, stattdessen werden oft Niederlagen und Enttäuschungen erzählt. Richtige Verlierer sind Scott, Suttner oder Grouchy, während Händel, Goethe oder Dostojewski gestärkt aus ihren Krisen hervorgehen. Zweigs typische Helden, zu denen auch Händel gehört, oszillieren zwischen Niederlage und Triumph. So geht der Komponist einerseits physisch zugrunde und stirbt, aber zugleich triumphiert er, weil ihm ein Meisterwerk, ein Werk für die Ewigkeit gelingt, ein Werk, das die Welt der Kunst verändert. Die Entstehung seines Messias verdankt sich für Zweig dem heroischen Willen des Komponisten, der gegen die Krankheit und später beharrlich gegen den Mangel an Inspiration kämpft und sich schließlich gegen alle Widrigkeiten durchsetzt. Mit ihrem Schwanken zwischen Scheitern und Nicht-Aufgeben-Wollen faszinieren die Gestalten der Sternstunden die Leser bis heute, weil sie heroische und zugleich tragische Gestalten sind. Zweigs Sternstunden sind durchwegs nach einem ähnlichen Muster gestaltet. In den „historischen Miniaturen“ fokussiert der Schriftsteller den historischen Augenblick im Leben eines Menschen, der mit einem Datum in Verbindung gebracht werden kann.26 Er konzentriert sich auf den Moment einer bahnbrechenden Entdeckung oder einer folgenschweren (politischen oder militä­rischen)

Stefan Zweig: Die Marienbader Elegie, in: ders.: Sternstunden der Menschheit, hg. von Werner Michler und Martina Wörgötter, Wien: Zsolnay 2017, S. 32–42, hier S. 41. 26 Die Datumsangaben drücken Zweigs Verklärung der Poetik des Augenblicks aus. Vgl. dazu Bruno Hildebrand, Ästhetik des Augenblicks. Der Dichter als Überwinder der Zeit – von Goethe bis heute, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999. 25

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Entscheidung, die man im Sinne von Hans Blumenberg als „bedeutsam“ bezeichnen könnte. Der Philosoph hat eine Theorie der mythischen Bedeutsamkeit entwickelt und sie auf kultur- und literaturgeschichtliche Phänomene sowie auf Biographien angewendet.27 Unter „Bedeutsamkeit“ versteht er das „Heraustreten aus dem diffusen Umfeld der Wahrscheinlichkeit“. Ein erstes Überhöhungsmittel zur Herstellung von Bedeutsamkeit besteht aus seiner Sicht im Verfahren der Gleichzeitigkeit, die sich gegen die von der Wissenschaft behauptete Indifferenz der Phänomene unseres Lebens stellt.28 Die Sternstunden von Zweig können als ein prägnantes Beispiel für Blumenbergs Theorie der mythischen Gleichzeitigkeit interpretiert werden: Große Ereignisse der Geschichte einer Kultur (oder der Biographie eines Menschen) werden demnach mit spektakulären kosmischen Ereignissen in Zusammenhang gesehen. Dieses mythische Überhöhungsmittel beruht auf der Erwartung der „Übereinstimmung des Kosmos mit den Hilfsbedingungen des Menschen.“29 Bei Zweig kommen zwar keine Kometen oder kosmische Vorgänge vor, aber die Metaphorik der Sternstunden deutet darauf hin, dass die indirekte Bezugnahme auf kosmische Ereignisse noch eine gewisse Bedeutung hat. Mit anderen Worten: Die Metapher verrät die Bedeutsamkeit des erzählten großen Geschehens, das ‚nach den Sternen greift‘. In dieser Bildlichkeit klingt das alte Vertrauen des Menschen an, dass es Momente in der Geschichte und im Leben geben könnte, die kosmischbedeutsamen Charakter erlangen. In diesem Glauben an die kosmische Dimension eines Ereignisses ist ein Nachhall voraufklärerischen Denkens zu erkennen. Die Aufklärung hat die Bedeutsamkeit als „Abwehr der Indifferenz“30 von Raum und Zeit und als Gegenstrategie zum „Abbau des Bedeutsamkeitsprofils der Geschichte eingeebnet“.31 Die Romantik hat den von der Aufklärung eingeleiteten Prozess der Entzauberung der Welt bekämpft und Zweig steht noch in dieser sich auflösenden Tradition.

29 30 31 27

28

Hans Blumenberg: Arbeit am Mythos, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1984, S. 68 f. Ebd., S. 116–118. Ebd., S. 118. Ebd., S. 121. Ebd., S. 123.

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III. Zum musikästhetischen und -philosophischen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts Zweigs Erzählung ist in mehreren Diskursen verankert, sie bezieht sich in erster Linie auf den musikästhetischen Diskurs des 18. und 19. Jahrhunderts. Stefan Zweig partizipiert an den Ausprägungen dieser Debatten bzw. an deren Aus­ läufern, in denen es auch um die höhere Bedeutung der Musik und die Philosophie der „absoluten Musik“ nach Dahlhaus geht. Schon im 18. Jahrhundert wird die uralte Verbindung von Religion und Kunst erneuert – und zwar im Kontext der beginnenden Entzauberung der Welt durch die Aufklärung. Händel schreibt seine Musik im Zeitalter von Klopstock und Milton. Das wichtigste Werk Klopstocks ist sein Epos Der Messias, das zwar 1773 erschienen ist, das Klopstock allerdings zur gleichen Zeit begonnen hat wie Händel sein Oratorium. Die 40er und 50er Jahre des 18. Jahrhunderts sind einerseits die Zeit der Hoch-Aufklärung, auf der anderen Seite beschränkt sich die Aufklärung auf einige kulturelle Eliten; es dominieren in diesen Jahren mächtige religiöse Strömungen wie der Pietismus. Man könnte die HändelSternstunde von Zweig fast als einen vom Pietismus beeinflussten Text interpretieren – denn die Figuren weinen viel, Tränen fließen in großen Mengen, und es ist von „unendlicher Inbrunst“ die Rede: „Tränen dunkelten Händel das Auge, so ungeheuer drängte die Inbrunst in ihm. Noch waren Blätter zu lesen, der dritte Teil des Oratoriums. Aber nach diesem „Halleluja, Halleluja“ vermochte er nicht mehr weiter. Vokalisch füllte ihn dieses Jauchzen innen an, es dehnte und spannte, es schmerzte schon wie flüssiges Feuer, das strömen wollte, entströmen“ (HA , 128).

Klopstock hat das religiös geprägte Werk von John Milton Paradise Lost (1667) gekannt. Das Material dieses epischen Gedichts war ursprünglich für ein Li­ bretto von Händel gedacht, es wurde dann allerdings von Haydn für sein Werk Die Schöpfung (1796 bis 1798) übernommen. Mit Klopstock, mit dem deutschen Pietismus und mit der aus England und Frankreich stammenden Empfindsamkeit wird ein Diskurs eröffnet, der die enge Verbindung von Kunst und Religion forciert und der in der Romantik fortgesetzt wird. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstehen Texte wie die Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (1797) von Ludwig Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder, in denen über Kunstmetaphysik, über die Metaphysik der bildenden Kunst und der Musik reflektiert wird. Mit Tieck und Wackenroder wird eine Verbindung zwischen der Kunst einerseits und dem Göttlichen, dem Transzendenten, dem Religiösen andererseits hergestellt. In den Herzensergießungen wird die Idee des Kunstwerkes als Produkt göttlicher Eingebung reflektiert. Auf der

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anderen Seite macht sich eine neue Form der Wahrnehmung von Musik breit, in der Musik nicht länger zu einem Hintergrund reduziert wird, sondern im Zentrum des Erlebens steht. Mit der deutschen Romantik sind die Weichen für die Entstehung der Idee der absoluten Musik32 gestellt, die sowohl Werke von E. T. A. Hoffmann und Eichendorff als auch von Wagner und Schopenhauer beeinflusst.33 Für die Vertreter dieser Idee ist Musik auf ganz besondere Art und Weise dazu geeignet, höhere Sphären der Metaphysik zu erreichen – eine Dimension dessen, was über das materielle, irdische Leben hinausreicht. Für diesen musikphilosophischen Diskurs ist Schopenhauer paradigmatisch, weil er die These vertritt, dass unter allen Künsten gerade die Musik das Wesen der Welt ausdrücke, das Ding an sich, zu dem wir normalerweise keinen Zugang haben, wohl aber im Erleben der Musik. Diese Position hat in der Folge Nietzsche und Wagner stark beeindruckt. Ein weiteres Beispiel für diese Orientierung an einer neuen Kunstmetaphysik finden wir in der Künstlernovelle Der arme Spielmann von Franz ­Grillparzer. Der Protagonist der Novelle ist ein armer Musikant, der nicht spielen kann, ein Dilettant, eine gescheiterte Existenz, aber er hat einen sehr hohen Anspruch an seine Musik. Wenn man von diesen Voraussetzungen ausgeht, ergibt sich nun mit Blick auf die „Sternstunde“ über Händel ein bezeichnender Widerspruch. Stefan Zweig bezieht sich auf einen Komponisten des Barocks, eines Zeitalters, in dem Musik noch heteronom war, weil sie bestimmten Zwecken beziehungsweise geistlichen Anlässen wie Messfeiern, Begräbnissen oder Hochzeiten und Festen diente. Erst in der Romantik beginnt Musik autonom34 zu werden beziehungsweise ihre Bedeutung in sich zu haben. Jedoch erscheint die Figur Händels, wie Vgl. Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel: Bärenreiter 1978. Ein Höhepunkt in der Geschichte der absoluten Musik ist Wagners Parsifal in den frühen 80er Jahren des 19. Jahrhunderts, ein „Bühnenfestspiel“, wie der Komponist ihn nennt und keine Oper. Das Werk dient nicht der Unterhaltung, sondern der religiös-metaphysischen Meditation. Dahinter steht das philosophische Konzept von Schopenhauer, demnach die Musik zur Erkenntnis der Wirklichkeit funktional ist: Wer sich in die Musik versenke, denkt der Philosoph, der komme dem Grund der Wirklichkeit besonders nahe. 34 Man muss freilich zwischen dem sozialen und dem ästhetischen Aspekt des Problems unterscheiden. Musik wird im 19. Jahrhundert insofern autonom, als dass sie nicht mehr notwendigerweise eine soziale (repräsentative) oder kultische Funktion hat. Aus ästhetischer Sicht ist autonome Musik eine Musik, deren Inhalt in den Tönen selbst liegt („Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik“, sagte Eduard Hanslick im Aufsatz „Vom Musikalisch-Schönen“, 1854), während Musik, die mit einem literarischen Substrat beziehungsweise Programm oder einer poetischen Idee verbunden ist, heteronome Musik ist (dies ist bei vielen Komponisten der Fall, die als romantisch gelten, wie Weber, ­Berlioz, Liszt, Schumann und Wagner). Man kann also eine autonome romantische Musik nicht gegen eine heteronome klassische Musik ausspielen. 32 33

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sie Zweig darstellt, eher als ein Romantiker, er hat mehr mit den Gestalten von Tieck und Wackenroder oder von E. T. A. Hoffmann als mit dem historischen Barockkomponisten zu tun, der in der Zeit der Heteronomie von Kunst und Musik lebte. Zweigs Händel trägt die Züge eines vom musikphilosophischen und musikästhetischen Diskurs der Romantik geprägten Komponisten. Er ähnelt zwar einem Joseph Berglinger (Wackenroder) beziehungsweise Kapellmeister Kreisler (E. T. A. Hoffmann), am meisten ist er jedoch mit Ludwig van Beethoven in Verbindung zu bringen.35 Die Biographie von Händel wird von Zweig mit jener von Beethoven verschmolzen.36 Die wichtigsten Schnittstellen im Leben der beiden Komponisten sind die physischen Beeinträchtigungen und die Zusammenbrüche. Auch bei Beethoven gibt es suizidale Gedanken rund um das sogenannte Heiligenstädter Testament (1802). Vom fortschreitenden Verlust des Hörvermögens geplagt, kündigt er in diesem Text an, aus dem Leben scheiden zu wollen. Mit der Romantik und in deren Nachfolge mit Nietzsche und Schopenhauer erhält die Kunst beziehungsweise die Musik im 19. Jahrhundert einen quasi­ sakralen Charakter.37 Die Händel-Erzählung Zweigs ist davon durchdrungen. Dass ein Barockkomponist mit dieser Tradition in einen Zusammenhang gestellt wird, ist in gewisser Weise anachronistisch, weil Händels Musik weit weg von der modernen Musik angesiedelt ist, die zur Zeit von Zweig dominiert. Der Schriftsteller war mit vielen modernen Musikern und Komponisten wie Bruno Walter, Arturo Toscanini oder Maurice Ravel befreundet, aber hier überträgt er den genannten Diskurs und die damit verbundenen Konnotationen auf das Leben dieses Barockkomponisten in einer quasi-religiösen Sprache. Wie schon der Titel verrät, ist die Geschichte nach dem Muster des Lebens Christi gestaltet. Der Ausdruck ‚Auferstehung‘ hat eine starke religiöse Konnotation und ist nur in Verbindung mit Christus zu verwenden. Allerdings rekurriert Zweig nicht nur auf die imitatio christi, er bringt Händel auch in Verbindung mit Gestalten aus der griechischen Mythologie. Wie Odysseus oder Orpheus sei er „[a]us dem Beethovens intellektuelle Welt war die der Aufklärung. Dass Beethoven später als der Inbegriff des romantischen Komponisten angesehen wurde, ist vor allem E. T. A. Hoffmann in seiner berühmten Rezension über die Fünfte Symphonie (Allgemeine musikalische Zeitung 40, 4. Juli 1810, Sp. 630–642; die Rezension wurde im Nachhinein in die Kreisleriana aufgenommen) zu verdanken, der diese Symphonie als Inbegriff der musikalischen Romantik analysiert und später zum Referenztext für zahlreiche Musikwissenschaftler des 19. Jahrhunderts macht. 36 Zum Verhältnis von Zweig und Beethoven vgl. Oswald Panagl: „Zur Fülle geboren, scheint er berufen, die Schönheit des Lebens zu verkünden…“. Ludwig van Beethoven im literarischen Schaffen von Stefan Zweig, in: Claus Bockmaier (Hg.): Beethoven-Aspekte. Spezifika und Tangenten in Literatur, Aufführungspraxis, Komposition, München: Allitera Verlag 2021, S. 35–44. 37 Die Idee der Kunstreligion, die bereits bei Tieck und Wackenroder vorhanden ist, wird 1814 von E. T. A. Hoffmann in dem Aufsatz Alte und neue Kirchenmusik deutlich formuliert. 35

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Hades […] zurückgekehrt“.38 Zweig scheut also nicht davor zurück, griechische Mythologeme und christliche Motive zu verschmelzen, um Händel zu einer genialen Gestalt zu stilisieren, zu einem Helden, einem großen Protagonisten der Kunst- und der Menschheitsgeschichte.

IV. Der Geniediskurs des 18. und 19. Jahrhunderts Ein zweiter wichtiger theoretischer Horizont, der für das Verständnis der Erzählung relevant ist, ist der Geniediskurs, der mit dem musikphilosophischen Diskurs eng verknüpft wird.39 Diese Verbindung wird von Zweig mit großem Pathos vorgetragen: Die Auferstehung ist ein sehr pathetischer Text, der heute stellenweise schwer erträglich ist. Zweig verwendet hier eine übertreibende, überbordende Sprache, die heute ziemlich fremd wirkt. In der Erzählung erleidet Händel einen Schlaganfall. Zweig verbindet den Schlaganfall als Tiefpunkt des Lebens des Komponisten mit dem späteren schöpferischen Augenblick. Händel ist schon fast tot, erholt sich aber mit 52 Jahren, steigt quasi wie der Phönix aus der Asche und arbeitet weiter. Im Verhältnis zur realen Biographie wird das Leben von Georg Friedrich Händel sehr stark reduziert und auf zwei entscheidende Momente beziehungsweise auf zwei entscheidende Krisen reduziert: den Schlaganfall sowie den Versuch, sich davon zu erholen, und den Verlust der schöpferischen Inspiration und die Schaffung des Messias. Der Text wird von der religiösen Thematik beziehungsweise von einer religiös eingefärbten Sprache beherrscht, die mit der Genialität des Künstlers und seiner Musik in Verbindung gebracht wird. Zuerst schreibt Zweig, Händel habe nicht sehr viel mit Religion zu tun gehabt, nach seiner Genesung habe er aber eine Rückkehr zu Gott erfahren: „Am letzten Tage, völlig Herr seines Leibes, da er abreisen sollte von Aachen, machte Händel halt vor der Kirche. Nie war er sonderlich fromm gewesen, aber nun, da er im gnädig wiedergegebenen freien Gang zum Emporium hinaufschritt, wo die Orgel stand, fühlte er sich vom Unermeßlichen bewegt. Er rührte mit der Linken versuchend die Tasten. Es klang, es klang hell und rein durch den wartenden Raum. Nun versuchte sich zögernd die Rechte, die lange verschlossen und erstarrt gewesen. Und siehe, auch unter ihr sprang wie silberne Quelle der Klang empor. Allmählich begann Stefan Zweig: Georg Friedrich Händels Auferstehung, in: ders.: Sternstunden der Menschheit, S. 114–138, S. 120. Von nun an als HA abgekürzt und mit Seitenzahl in Klammern. 39 Zur Genieästhethik vgl. Jochen Schmidt: Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945,  2 Bde., Darmstadt: Wissenschaftliche Buch­ gesellschaft 1988. 38

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er zu spielen, zu phantasieren, und es riß ihn mit in das große Strömen. Wunderbar türmten und bauten sich ins Unsichtbare die klingenden Quadern, herrlich wieder stiegen und stiegen die luftigen Gebäude seines Genius schattenlos empor, wesenlose Helle, tönendes Licht. Unten lauschten namenlos die Nonnen und die Frommen. So hätten sie niemals einen Irdischen spielen gehört. Und Händel, das Haupt demütig geneigt, spielte und spielte. Er hatte wieder seine Sprache gefunden, mit der er redete zu Gott, zur Ewigkeit und zu den Menschen“ (HA , 119 f).

Im letzten Teil des Zitats sind Anklänge an eine zentrale Stelle in Grillparzers Künstlernovelle Der arme Spielmann nicht zu überhören, in der der Protagonist mit Blick auf andere Musiker behauptet: „Sie spielen den Wolfgang Amadeus Mozart und den Sebastian Bach, aber den lieben Gott spielt keiner.“40 Allerdings besteht zwischen Zweig und Grillparzer ein wesentlicher Unterschied: Während bei Zweig die Genieästhetik ungebrochen präsentiert wird, wird diese in der tragischen Person des Musikanten bloß zitiert, denn Grillparzer geht mit der Genieästhetik distanziert um. Der arme Spielmann ist gerade das Gegenteil eines Genies. Der Protagonist der Geschichte ist sowohl als Künstler als auch als Mensch gescheitert, aber er berührt uns heute noch als tragische Figur, und in dieser Tragik hat er noch Züge eines romantischen Künstlers. Als Zerrbild beziehungsweise als Karikatur der Romantik ist er Protagonist eines menschlichen und künstlerischen Dramas, das wir als bewegend empfinden. Trotz seiner unerwarteten Genesung erlebt Händel in der Folge eine Schaffenskrise, die mit einer Reihe weiterer Probleme verbunden ist, darunter das Überleben seines Theaters. Dann gibt es das zweite wichtige Moment in seinem Leben: Händel erlebt eine Erleuchtung. Er überwindet die Krise und kom­ poniert in drei Wochen den Messias. Er beendet das Oratorium am 21. August 1741. Das entspricht der „unerhörten Begebenheit“ im Sinne Goethes. Die „Auferstehung“ wiederholt sich, dieses Mal aber ist es nicht nur eine physische, sondern auch eine geistige Auferstehung von Händel als Musiker und als Komponist. Zweig bringt in seinem Text die religiöse Dimension des Lebens zum Ausdruck, an die die Menschen im Zeitalter des Barocks noch geglaubt haben. Zweig bringt Zitate aus dem englischen Original des Messias und übersetzt sie (HA , 125 f.). So heißt es zum Beispiel über das „Halleluja“ im Messias, es sei Händel gelungen, „aus diesem Wort, aus diesem Dank einen Jubel [zu] schaffen, der von dieser Erde zurückdröhnte bis zum Schöpfer des Alls!“ (HA , 128) Hier spricht Zweig erneut die kosmische Dimension von Händels Musik an. Religiös geprägt ist auch das aus der Genieästhetik stammende Inspirationsmotiv, das Klopstock in seinem Aufsatz Von der heiligen Poesie (1754) verwen40

Franz Grillparzer: Der arme Spielmann. Erzählung, mit einem Kommentar von Peter Höfle, Berlin: Suhrkamp 2013, S. 29.

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det – ein Text, der in geistiger Nachbarschaft zu Händels Leben gesehen werden kann. Darin versucht Klopstock darzulegen, dass Poesie etwas Göttliches sei, dass der Dichter ein Sprachrohr göttlicher Mächte sei.41 Das ist ein ganz anderes Konzept von Kunst als jenes, in dem Arbeit und Handwerk Schlüsselrollen spielen. In der Erzählung Zweigs entsteht der Messias in drei Wochen, Händel erscheint als ein von Gott inspiriertes Genie: „[E]s war wie eine große Trunkenheit über ihm. […] Georg Friedrich Händel wußte in jenen Wochen nicht mehr um Zeit und Stunde, er schied nicht mehr Tag und Nacht, er lebte vollkommen in jener Sphäre, die Zeit nur mißt in Rhythmus und Takt […] nie hatte zeitlebens ein solcher Sturz des Schöpfertums ihn überkommen, nie hatte er so gelebt, so gelitten in Musik“ (HA , 129).

Um die Arbeitsweise von Händel näher zu definieren, greift Zweig auf die Typologie des Künstlerischen beziehungsweise des Genialen zurück, die er am Beispiel von Frans Masereel entwickelt hat. In einem Aufsatz über den belgischen Maler hat er eine Unterscheidung zwischen den „strömend“ Schaffenden, zu denen Händel gehört, und den „Nervenkünstlern“ der Gegenwart gemacht. Bei ersteren entstehe „der Genius aus einem Zusammenklang“, sie hinterlassen für Zweig den „Eindruck […] einer unendlich gesteigerten Naturkraft“: „Solchen Vollmenschen ist es gegeben, rastlos, tagtäglich, gleichsam strömend zu schaffen. Sie haben nicht die Hemmungen und psychischen Stauungen, die seelischen Untiefen und grandiosen Plötzlichkeiten des Nervenkünstlers, sondern eine ebenmäßige und gerade quellhafte Produktivität, die Kraft aus Kraft schafft, und nur aus derart naturhaften Nichtanstrengung vermag eine kolossale Fülle zu entstehen, eine Vielfalt der Welt, wie sie Händel in seiner Musik, Rubens in seinen Bildern, Whitman in seinen Versen, wie sie dieser heute noch Junge und Unverbrauchte [Frans Masereel, A. L.] in seinen vielleicht tausend Holzschnitten geschaffen hat.“42

Darüber hinaus besitzen Naturen wie Händel für Zweig „die wahre Gabe der Universalität“, da sie „keine Vorliebe […] in ihrer Weltliebe“ haben, sie verfügen in seinen Augen über ein großes Repertoire: „Ein Händel kann ebenso heitere Opern und künstliche Arien wie den tragischen Messias und die Schicksale der Das Motiv des göttlich inspirierten Dichters wirkt bei Zweig auch in seiner Trilogie Der Kampf mit dem Dämon (1925) nach: Stefan Zweig: Kampf mit dem Dämon. Hölderlin. Kleist. Nietzsche, hg. und mit einer Nachbemerkung versehen von Knut Beck, Frankfurt a. M.: S. ­Fischer 2004. Vgl. dazu Herwig Gottwald: Genie und Dämon. Stefan Zweigs Hölderlinund Kleist-Deutung vor dem Hintergrund zeitgenössischer Geniediskurse, in: Austriaca 91, 2020 (Sonderheft Figures de l’artiste dans l’esthétique de Stefan Zweig. Stefan Zweigs Künstlerästhetik), S. 107–121. 42 Stefan Zweig: Frans Masereel. Der Mann und Bildner [1923], in: ders.: Das Geheimnis des künstlerischen Schaffens, S. 217–228, hier S. 218. 41

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Propheten schaffen […].“43 Im Einklang mit der skizzierten Definition des Künstlers als „strömend“ Schaffendem spielt die Metaphorik des Flüssigen und Strömenden in der „Sternstunde“ über Händel eine prominente Rolle: „Und immer wieder wie Güsse von warmem, lösendem Licht strömten die Worte über ihn, jedes in sein Herz gezielt, beschwörend, befreiend!“ (HA , 126) Später heißt es ebenfalls: „[E]r wogte nur mitgerissen von dem Strömen, das aus ihm immer wilder, immer drängender quoll, je mehr das Werk sich der heiligen Stromschnelle näherte, dem Ende“ (HA , 129). In dieser Auffassung der künstlerischen Arbeit werden die rationalen und technischen Aspekte bei der Entstehung von Musik völlig ausgeblendet. Stattdessen kommt immer wieder deren quasi-religiöse Dimension zum Tragen. Als der Messias beendet wird, verwendet Zweig beispielsweise zweimal das Wort „Wunder“, um die Fertigstellung des Meisterwerks zu schildern. Er spricht zuerst vom „Wunder des Willens“ (HA , 130) und dann vom „Wunder der Auferstehung“ (HA , 130). Er gebraucht einen Ausdruck aus der christologischen Tradition des Neuen Testaments, aus den Evangelien, um ihn ins Mythische zu überhöhen. In der Beschreibung der Entstehung des Messias und der Werke, die auf den Messias folgen, erscheint Kunst als Ausdruck der Verbindung mit dem Göttlichen, so wird Händels „Auferstehung“ von Zweig ebenfalls im Zusammenhang mit dem Göttlichen gesehen: „Auch er war erschrocken über das Werk und die Gnade, die über ihn wie im Schlafe gekommen. Auch er schämte sich. Er wandte sich ab und sagte leise, kaum konnten die anderen es hören: ‚Ich glaube, vielmehr, daß Gott mit mir gewesen ist‘“ (HA , 133).

V. Ein Porträt des Künstlers als alternder Mann In der „Sternstunde“ wird Händel als ein Künstler dargestellt, der mit den Problemen des Alters zu kämpfen hat – etwa mit Krankheiten und anderen unangenehmen Erscheinungen, die das Alter begleiten, wie zum Beispiel ständige Müdigkeit oder Depressionen. Dabei ist für Zweig der Schlaganfall, den Händel mit 52 Jahren erleidet, relevanter als seine spätere Erblindung: „Das Alter höhlte mählich seine Kraft, es lahmten ihm die Arme, die Gicht krampfte die Beine, aber mit unermüdlicher Seele schuf er weiter und schuf. Schließlich versagte das Augenlicht; während er seinen ‚Jephta‘ schrieb, erblindete er. Doch noch mit verschlossenem Auge, wie Beethoven mit verschlossenem Ohr, schuf er weiter und Ebd., S. 219.

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weiter, unermüdlich, unbesiegbar, und nur noch demütiger vor Gott, je großartiger seine Siege auf Erden waren“ (HA , 136 f).

Aufgrund dieser Voraussetzungen ist die künstlerische Leistung Händels für Zweig umso höher zu bewerten, als dass sie nicht das Werk eines jungen Künstlers ist, der voller Energie und Dynamik ist, sondern jenes eines alten und kranken Mannes. Das Interesse für das Motiv des Künstlers als alternder Mann ist in zwei weiteren Texten der Sternstunden zu erkennen. In jener über Goethe führt Zweig vor, wie der alte Dichter seine Liebesenttäuschung durch die Schöpfung eines großen Meisterwerkes, Die Marienbader Elegie, sublimiert. Eine Variante des Motivs gestaltet Zweig im Dramolett „Die Flucht zu Gott“. Ein Epilog zu Leo Tolstois unvollendetem Drama „Und das Licht scheinet in der Finsternis (1927), ein Nebenprodukt der Arbeit am Tolstoi-Essay von 1928. Darin erzählt Zweig die letzten Tage von Tolstoi im Herbst des Jahres 1910. Mit 82 Jahren verlässt der russische Schriftsteller seine Familie, weil er das bürgerliche Leben als Lüge empfindet. Insbesondere verzichtet er auf die angenehmen Seiten des bürgerlichen Daseins, weil er den Konflikt zwischen seinem Wunsch nach einem franziskanischen Leben und seinem Alltag als Gutsbesitzer nicht mehr ertragen kann. Daher entscheidet sich Tolstoi für ein Leben in Askese und Armut, um sich seiner künstlerischen Arbeit im Dienst an der ganzen Menschheit zu widmen. Wie in der „Sternstunde“ über Goethe spielt hier das Thema der Entsagung eine prominente Rolle. Tolstois Tod im verlassenen Bahnhof von Astapowo wird als konsequente Folge dieser Verzichtshaltung dargestellt. Ein Jahr nach der „Sternstunde“ über Tolstoi verfasst Zweig einen langen biographischen Essay über Casanova, mit dem er den venezianischen Lebemann und Abenteurer als Schriftsteller wiederentdeckt. Das vorletzte Kapitel der Studie heißt Bildnis des alten Casanova. Darin erzählt Zweig, wie der alte Casanova im Prager Exil die Kraft findet, „die Historia seines Lebens“44 zu schreiben und damit aus seiner Sicht ein Werk der Weltliteratur schafft. Genauso wie in der „Sternstunde“ über Goethe und in anderen Texten wird der schöpferische Akt des alten Schriftstellers, der sein Meisterwerk schafft, als Ritual der Verjüngung dargestellt: „Die Augen glänzen dem gichtischen Greis, die Lippen zucken in Eifer und Erregung, halblaute Worte spricht er vor sich hin, neuerfundene und halberinnerte Dialoge, unwillkürlich ahmt er ihre Stimmen von einst nach und lacht selbst über die eigenen Scherze. Er vergißt Essen und Trinken, Armut, Elend, Erniedrigung und Impotenz, 44

Stefan Zweig: Drei Dichter ihres Lebens. Casanova. Stendhal. Tolstoi, hg. mit Anmerkungen und einer Nachbemerkung versehen von Knut Beck, Frankfurt a. M.: Fischer 2004, S. 111.

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allen Jammer und die Scheusäligkeit des Alters, während er sich im Spiegel seiner Erinnerungen träumend verjüngt, Henriette, Babette, Therese schweben lächelnd heran, beschworene Schatten […].“45

Der Grund für Zweigs intensive Auseinandersetzung mit dem Motiv des alternden Künstlers liegt  – abgesehen von der grundsätzlichen Faszination für das Thema46  – in seiner Angst begründet, mit zunehmendem Alter könne seine künstlerische Inspiration versiegen. Diese Angst wird mit seinem fünfzigsten Geburtstag akut47  – als er die „Sternstunde“ über Händel verfasst, ist er nicht zufällig bereits 54 Jahre alt  – und erreicht ihren Höhepunkt mit dem sechzigsten, kurz bevor er freiwillig aus dem Leben scheidet. Trotz seiner enormen Produktivität, die konstant geblieben ist, bereitet Zweig „die Schande des Alters“ große Probleme.48 Das prekäre Leben unter den Bedingungen des Exils verstärkt seine Ängste.

VI. Schlussüberlegungen Mit seiner Orientierung an der Theorie der absoluten Musik und am Genieparadigma in der „Sternstunde“ über Händel steht Stefan Zweig philosophischästhetisch noch tief im 18. und 19. Jahrhundert. Andererseits macht er zugleich auch einen großen Schritt in Richtung Moderne. Ebd. Für das Motiv interessiert sich Stefan Zweig schon in seiner Jugend, als er zum Beispiel das Gedicht Der Bildner (1913) über den alten Rodin schreibt (Stefan Zweig: Der Bildner. Meudon, Maison Rodin 1913, in: ders.: Silberne Saiten, hg. mit Anmerkungen und einer Nachbemerkung versehen von Knut Beck, Frankfurt a. M.: Fischer 1982, S. 191–194.) 47 Vgl. den Brief von Stefan Zweig an Anton Kippenberg vom 28. November 1931, in dem er seinen fünfzigsten Geburtstag mit Spott kommentiert: „Ich habe mir die ominöse Zahl 50 heute genau betrachtet: der ‚Fünfer‘ galt in der Schule als die schlechteste Note, die Null dahinter scheint anzudeuten, dass nichts Wesentliches mehr kommt“ (Anton Kippenberg / Stefan Zweig: Briefwechsel 1905–1937 (wie Anm. 6), S. 655). 48 Mit Blick auf Romains Rollands 70. Geburtstag am 29. Januar 1936 schreibt Stefan Zweig dem Freund am 24. Januar 1936: „Also mein lieber Freund, seien Sie dankbar / dem unbekannten Gott / Ihres Freundes Beethoven und senden Sie ihm heute Ihr Gebet, daß er Ihnen die Schande des Alters erspart hat – schwach, feige oder gleichgültig zu werden. ‚Rejoice‘, ‚Freuet euch‘, wie es Ihr Freund Händel im ‚Messias‘ gebietet, loben Sie den gütigen Gott mit Ihrer ganzen Seele, daß er Ihnen geschenkt und bewahrt hat, was den Menschen und Künstler ausmacht – die große menschliche Seele! Ja, ‚rejoice‘, und wir singen den Chorus. Und möge dieses Oratorium nur erst die Generalprobe für einen schöneren Tag in zehn Jahren in einem geeinigten Europa sein!“ (Vgl. Stefan Zweig / Romain Rolland: Briefwechsel 1910–1940. Zweiter Band: 1924–1940, aus dem Französischen von Eva und Gerhard Schewe und Christel Gersch, mit einer Einleitung von Wolfang Klein und einer Zeittafel von Gerhard Schewe und Gerda Böttcher, Bd. 2, Berlin: Rütten & Loening 1987, S. 619). 45

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Die Modernität seines Ansatzes liegt zunächst in der erwähnten Poetik der Sternstunden. In seinen „historischen Miniaturen“ erfindet Zweig eine neue Erzählweise. Mit der Konzentration auf einen Augenblick im Leben einer Person, der eine kosmische Dimension gewinnt und der diesem Leben Bedeutsamkeit in einem mythischen Sinne verleiht, macht er Geschichte wieder lebendig. In den Augen des Schriftstellers Max von der Grün besitzt er die „eigentliche große Begabung, […] an einem unscheinbaren Detail, an einem auf den ersten Blick uninteressanten Vorfall Geschichte sinnlich faßbar, für den Lesenden aufs neue Realität werden zu lassen.“49 Die „Verlebendigung“ der Geschichte ist bei Zweig von der subtilen psychologischen Vertiefung der Gestalten nicht zu trennen. Der Schriftsteller, schreibt Max von der Grün weiter, seziert „ihre ‚Seele‘, so daß ihm manche geschichtliche Episode fast zu einem Psychogramm“50 gerät. Zweig erweist sich als Meister der Einfühlung in die „Seele“ der Personen, die er beschreibt, und der Konzentration auf dessen Innenleben, weil er von den neuen Erkenntnissen der Psychoanalyse profitiert. Das „Psychogramm“ von Händel ist jenes eines Künstlers, der zwischen Depressionen und Euphorie permanent schwankt. Nach dem Schlaganfall wird der Komponist von einer starken Niedergeschlagenheit überwältigt: „Noch einmal ist es zu Ende, noch einmal“ (HA , 123). Sein immer stärker werdender Pessimismus führt ihn bis an den Rand des Selbstmordes: „Und manchmal starrt er von der Brücke der Themse nieder in das nachtschwarze, stumme Strömen, ob es nicht besser wäre, mit einem entschlossenen Ruck alles von sich zu werfen! Nur die Last dieser Leere nicht mehr tragen, nur nicht das Einsamkeitsgrauen, von Gott und den Menschen verlassen zu sein“ (HA , 122).51

Als Händel die Krise überwindet und die Inspiration wiederfindet, bricht bei ihm Euphorie aus: „Alle Müdigkeit war dahin. So hatte er nie seine Kraft gefühlt, noch nie sich ähnlich durchströmt empfunden von aller Lust des Schöpfertums“ (HA , 126). Der Komponist kann den Ausdruck seiner Begeisterung nicht mehr unter Kontrolle halten: „Und siehe: da war es ja hingeschrieben, da Max von der Grün: Über Stefan Zweig [1981], in: Ulrich Weinzierl (Hg.): Stefan Zweig  – Triumph und Tragik. Aufsätze, Tagebuchnotizen, Briefe, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1992, S. 166–168; hier S. 167. 50 Ebd. 51 Vgl. auch die folgende Passage: „[D]enn wie eine Krankheit lastete nun diese Müdigkeit auf ihm, Müdigkeit zu reden, zu schreiben, zu spielen, zu denken, Müdigkeit zu fühlen, Müdigkeit zu leben. Denn wozu und für wen? Wie ein Trunkener war er dann die Straße heimgegangen, Pall Mall entlang und St. Jamesstreet, nur von dem einzigen süchtigen Gedanken bewegt: schlafen, schlafen, nichts mehr wissen, nur ausruhen, ruhen, und am besten für immer“ (HA, 123). 49

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klang es, das Wort, unendlich wiederholbar, verwandelbar, da war es: ‚Halleluja! Halleluja! Halleluja!‘“ (HA , 128) Händels Freude über die Komposition des Messias erscheint fast übertrieben: „Kaum ward er des Doktors ansichtig, so begann er zu lachen, es wurde allmählich ein ungeheures, ein schallendes, ein dröhnendes, ein hyperbolisches Lachen […]“ (HA , 132). Als Barockmusiker, der im 18. Jahrhundert an die göttliche Inspiration und an die kosmische Dimension von Musik glaubt, erscheint Händel als eine anachronistische Gestalt  – als frustrierter und im nächsten Atemzug exaltierter Künstler, als Künstler, der zwischen Höhen und Tiefen schwankt, der zum Manisch-Depressiven neigt, steht er den Menschen des 20. Jahrhunderts sehr nahe. In seiner „Sternstunde“ präsentiert Zweig Händel als ein Genie, das mit seinem Werk zum Fortschritt der gesamten Menschheit beiträgt. In einem ganz anderen Kontext und zwar mit Blick auf die Kulturgeschichte des 17. und 18. Jahrhunderts macht Zweig den Schöpfer des Messias zu einem bedeutenden Vertreter des Kosmopolitismus. Dadurch greift er einen Aspekt seiner Künstlerpersönlichkeit heraus, der bereits für Romain Rolland in seiner biographischen Studie über Händel ausschlaggebend war. In der Rede Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung, die Zweig 1932 in Florenz hält, stilisiert er das 17. und 18. Jahrhundert zu einer Epoche, in der „die Musiker die Bannerträger der europäischen Einheit“52 werden. Zweig aktualisiert hier den alten Topos von der Musik als universale Sprache, die über die Grenzen der einzelnen Nationen zu verstehen ist und daher völkerverbindend wirkt, und überträgt ihn auf die Vision eines friedlichen und geeinten Europas, die als Orientierungspunkt für die Zukunft dienen sollte: „Die Musiker sind die großen Weltfahrer des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts, die Boten von Volk zu Volk. Erinnern wir uns nur, wie sie alle die Länder tauschen, der alte Heinrich Schütz kommt nach Italien, um bei Gabrieli zu lernen, Händel lebt in Neapel und in London, Gluck bald in Wien, bald in Paris.“53

Zweig nennt die europäischen Musiker dieser Zeit ein „große[s] kosmopoli­ tische[s] Geschlecht“, das „über den Ländern, über den Sprachen, über den Nationen, im Stolz auf ihre Brüderlichkeit“ lebt. Er zitiert Händel, Mozart, Haydn und Gluck als Beispiele für Künstler, die „ihre Opern bald auf französische, bald auf englische, bald auf deutsche, bald auf italienische Texte“ schreiben Stefan Zweig: Der europäische Gedanken in seiner historischen Entwicklung, in: ders.: Die schlaflose Welt. Aufsätze und Vorträge aus den Jahren 1909–1941, hg. mit Anmerkungen und einer Nachbemerkung versehen von Knut Beck, Frankfurt a. M.: S. Fischer 1983, S. 197. 53 Ebd. 52

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und „ihre Briefe […] im bunten Polyglott“ wechseln.54 Das Bild von Händel als Botschafter des Friedens und als Künder des künftigen Europas zeigt, dass der Autor des Messias mehr ist als das einsame Genie, das in seinem Elfenbeinturm an einem Meisterwerk arbeitet. Im Horizont seiner Friedensutopie stellt Zweig eine Verbindung zwischen Händel und Bruno Walter oder Arturo Toscanini her.55 Als Boten, die im Dienste der Völkerverständigung „von Volk zu Volk“ gehen, erscheinen sie alle mit ihrer Musik als „Diener an einem einzigen gemeinsamen Werk.“56 Das Bild von Händel, das Stefan Zweig in seinen Briefen und in seinen Werken skizziert, hat viele Facetten, jene des großen Genies ist nur die bekannteste, aber sicher nicht die einzige. Deshalb ist es legitim und sogar empfehlenswert, die Händel-Sternstunde im Kontext jener Werke zu lesen, die Zweig im Vorfeld und während des Exils geschrieben hat. Dafür plädiert auf jeden Fall Hermann Broch, der in einem unveröffentlichten Brief an Stefan Zweig vom 23. Oktober 1936 aus Altaussee im Salzkammergut die neue Ausgabe der Sternstunden aus dem Jahr 193657 zum Anlass nimmt, um die Kontinuität in dessen Schreiben zu unterstreichen: „Es ist schön, dass […] Sie die Wiedersammlung [der Sternstunden, A. L.] vorgenommen haben, und besonders schön, dass dadurch die Linie [I]hrer Entwicklung sich so klar abzuzeichnen beginnt: nicht nur zu den neuen Stücken, mit denen Sie die Ausgabe bereichert haben und von denen ich den Händel besonders liebe, sondern auch zu den neuen Büchern hin, zum Erasmus und zum Castellio; man kann es nur die Linie der Gesinnung nennen, denn weit mehr noch als an seiner Kunst legitimiert sich das schriftstellerische Sein an der Gesinnung.“58

Die „Linie der Gesinnung“, die laut Broch unterschiedliche Werke von Zweig in den 30er Jahren zusammenhält, ist der Glaube an den Humanismus, an die Humanität. Das macht in seinen Augen das intellektuelle Profil des Freundes als Ebd., S. 198. Vgl. Jean-François Candoni: Le „mistère de la création artistique“ chez le musiciens: Georg Fridrich Haendel et Arturo Toscanini racontés par Stefan Zweig, in: Austriaca 91, 2020, S. 165– 178. 56 Stefan Zweig: Der europäische Gedanke in seiner historischen Entwicklung (wie Anm. 52), S. 198. In diesem Zusammenhang verweist Rüdiger Görner auf den transnationalen Charakter von Händels Musik, der sich aus verschiedenen nationalen Traditionen speist (Rüdiger Görner: „Händels Auferstehung“. Ästhetische Positionen in einer der Sternstunden-Novellen, in: ders.: Stefan Zweig. Formen einer Sprachkunst, Wien: Sonderzahl 2012, S. 86–92.) 57 Stefan Zweig: Sternstunden der Menschheit, in: ders.: Kaleidoskop, Wien / L eipzig / Zürich: Reichner 1936, S. 359–464. 58 Stefan Zweig Collection, Daniel A. Reed Library, The State University of New York at Fredonia (USA). 54 55

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Exilschriftsteller aus. Daraus folgt, dass Stefan Zweig selbst dort, wo er erklärt, von der politischen „Actualität“ Abstand nehmen zu wollen, nicht aufhört, mit Blick auf die Gegenwart die humanistischen Werte als Banner gegen Fanatismus und Intoleranz hoch zu halten. Zweigs Händel ist zweifellos als Humanist zu betrachten, weil er sich ohne Rücksicht auf seine gesundheitlichen Probleme total verausgabt, um für die ganze Menschheit zu arbeiten.59

Eine weitere Eigenschaft, die Zweigs Händel mit dessen humanistischen Gestalten teilt, die das Mitleid für die Schwächeren bzw. diejenigen, die am Rande der Gesellschaft leben: „Jahr für Jahr führte er es [den Messias, A. L.] in London auf, jedesmal den vollen Ertrag, jedesmal fünfhundert Pfund zum Besten des Hospitals, überweisend, der Genesene an die Gebrestigen, der Befreite an jene, die noch in den Banden lagen“ (HA, 137). Seine Solidarität ist in der Nächstenliebe begründet: „[…] Nie will ich je Geld dafür nehmen, niemals, ich stehe da einem anderen in Schuld. Immer soll es den Kranken gehören und den Gefangenen. Denn ich bin selbst ein Kranker gewesen und bin daran gesundet. Und ich war ein Gefangener, und es hat mich befreit“ (HA, 134).

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Sakralisierung der Kunst Händels  Das graphische Schmuckblatt des Berliner Malers Melchior Lechter (1897) in der Händel-Biographie von Fritz Volbach (1898).

Klaus Wolfgang Niemöller (Köln) Der bildnerischen Buchausgestaltung galt stets ein besonderes Augenmerk der Verleger, denn die Qualität und Attraktivität von Illustrationen entscheidet mit über den Erfolg eines Buches in der interessierten Leserschaft. Dabei kann sie der Thematik des Buches auch einen besonderen Akzent mitgeben. Unter dieser Perspektive ist eine besondere Händel-Graphik des Berliner Malers Melchior Lechter zu sehen (Abb.), die 1904 von dessen Biograph Maximilian Rapsilber ohne weiteren Kommentar als „Zeichnung für eine Händel-Biographie“ abgebildet wurde.1 Das identifizierte Buch ist von Fritz Volbach: Georg Friedrich Händel.2 Es erschien erstmals 1898 im Berliner Verlag Harmonie. Verlags-­ Gesellschaft für Literatur und Kunst. Die Graphik befindet sich zwischen den Seiten 26 und 27 eingefügt und hat sicherlich wegen des mittelalterlichen Bildinhaltes bei den sich für Händel interessierenden Lesern vielfach Erstaunen ausgelöst. Den Verlag „Harmonie“ hatte der erst 24-jährige Alexander Jadassohn aus Leipzig 1897 gegründet. Die Reihe „Berühmte Musiker. Lebens- und Charakterkunde nebst Einführung in die Werke des Meisters“ hatte Jadassohn 1897 eröffnet mit dem Band Johannes Brahms von Heinrich Reimann. Das Vorwort verweist auf den Todestag von Brahms am 3. April 1897. Es ziert eine PorträtFotografie des Komponisten gegenüber dem inneren Titelblatt. Das BrahmsBuch erschien 1919 bereits in der 5. Auflage. Der Berliner Musikschriftsteller und Organist an der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche Dr. Heinrich Reimann (1850–1906) hatte 1887 schon das Buch Robert Schumann. Leben und Werke in Leipzig veröffentlicht.3 Bereits hier ging es um eine Einführungsschrift, die die Ergebnisse der Schumann-Forschung für eine breite Leserschaft zusammenfasste. Das ist dann 1897 auch das Konzept der Buchreihe von Jadassohn. In Fritz Volbach (1861–1940) fand er einen Autor, der sich gerade als Musiker mit

Maximilian Rapsilber: Melchior Lechter, Berlin 1904 (= Berliner Architekturwelt. Sonderheft 3), S. 79. 2 Fritz Volbach: Georg Friedrich Händel, Berlin 1898 (= Berühmte Musiker 2). Der Verfasser dankt Frau Dr. Annette Landgraf vom Händel-Haus in Halle für Ihr Hilfestellung. 3 Joachim Dorfmüller: Heinrich Reimann. Leben und Werk eines schlesischen Musikschriftstellers, Organisten und Komponisten, Bonn 1994 (= Deutsche Musik im Osten 3). 1

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Melchior Lechter: Händel-Graphik, in Fritz Volbach: Georg Friedrich Händel, Berlin 1898 (zw. S. 26 und 27), Zentralbibliothek Zürich.

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Händel-Aufführungen einen Namen gemacht hatte.4 Volbach hatte seit 1887 in Berlin am Institut für Kirchenmusik als Lehrer gewirkt und wurde 1891 städtischer Kapellmeister in Mainz. Hier leitete er 1895 das erste deutsche HändelFest.5 Es fand am 21. und 22. Juli statt im Auftrag der Handel Society London an den Oratorienverein „Mainzer Liedertafel und Damengesangverein“, dessen Präsident der Musikverleger Dr. Ludwig Strecker (Schott-Verlag) war, und stand unter dem Protektorat der Kaiserwitwe Victoria, die sich zum Andenken an ihren Gemahl Kaiserin Friedrich nannte und seit 1889 auf Schloss Friedrichshof in Kronberg unweit von Frankfurt residierte.6 Aufgeführt wurden die Oratorien Deborah (HWV 51) und Hercules (HWV 60), zum ersten Mal nach der Edition von Dr. Friedrich Chrysander. Die englischsprachige Einladung mit dem Hinweis auf Chrysanders Edition vermerkt dann auch: „Herr Kapellmeister FRITZ VOLBACH will be the conductor“. Er reiste zu Chrysander nach Bergedorf bei Hamburg und es begann ein lebhafter Briefwechsel.7 1897 folgte ein zweites Händel-Fest mit Aufführungen von Deborah und Esther (HWV 50). Der Verleger Jadassohn gewann mit Volbach also einen bekannten Händel-Kenner als Autor für sein Buchprojekt. 1899, ein Jahr nach dem Erscheinen des HändelBuches, wurde Volbach an der Universität Bonn mit der Dissertation Die Praxis der Händel-Aufführung promoviert.8 1906 erschien Volbachs Händel-Buch in zweiter Auflage, nun in der Schlesischen Verlagsanstalt, die Jadassohn im selben Jahr als Zweigverlag von „Harmonie“ gegründet hatte. Auch Lechters Graphik wurde wieder mitveröffentlicht. Es bleibt die Frage, unter welchen Umständen die Graphik von Lechter, die dieser mit „1897“ (Bildmitte) datierte, in das Buch kam, denn kleingedruckt unterhalb der Illustration liest man: „Vorlage a.[us] d.[em] musikhistor.[schen] Museum des Herrn Nic.[olaus] Mahnkopf.“ Der begüterte Frankfurter Wein Klaus Hortschansky (Hg.): Fritz Volbach, (1861–1940): Komponist, Dirigent und Musikwissenschaftler: Festschrift zum 60jährigen Bestehen des Musikwissenschaftlichen Seminars der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, Hagen 1987 (= Beiträge zur westfälischen Musikgeschichte 20). – Peter Schmitz: Licht und Schatten. Zur Biographie Fritz Volbachs, in: Golo Berg / Michael Custodis / Jürgen Heidrich (Hg.): Musik für Münster. Die Geschichte des Städtischen Orchesters 1919–2019, Münster 2019, S. 43–61. 5 Christoph-Hellmut Mahling: Bemerkungen zu den Händel-Festen in Mainz unter Fritz Volbach, in: Händel-Jahrbuch 44, 1998, S. 100–111. 6 „Under the immediate Protection of her Majesty the Empress Frederick, Queen of Prussia“ (Einladung). Ein Faksimile dieser Einladung ist abgebildet in: Mahling: Bemerkungen zu den Händel-Festen in Mainz unter Fritz Volbach (wie Anm. 5), S. 109. 7 Walther R. Volbach: Friedrich Chrysanders Briefe an Fritz Volbach, in: Die Musikforschung 13/2, 1960, S. 148. 8 Fritz Volbach: Die Praxis der Händel-Aufführung, Potsdam 1899 (Dissertations-Teildruck, 17 S.). Richard Schaal: Verzeichnis deutschsprachiger musikwissenschaftlicher Dissertationen 1861–1960, Kassel 1963, S.133, Nr. 2595. 4

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händler Mahnkopf (1869–1928) hatte eine große Sammlung von originalen Dokumenten zur Musik- und Theatergeschichte gesammelt, die 1894 nicht weniger als 34.000 Stück zählte. Er stellte sie in einem eigenen Museum aus. Sie befinden sich heute als „Sammlung Mahnkopf“ in der Universitätsbibliothek Frankfurt. Lechters Händel-Graphik ist allerdings nicht (mehr) darin enthalten.9 So bleibt die Frage, in welchem Kontext überhaupt die Graphik von Lechter geschaffen wurde und wer sie in Auftrag gab. Möglicherweise stand sie in Verbindung mit dem Mainzer Händel-Fest 1897. Vielleicht kannte Volbach den Maler ja noch aus seiner Berliner Zeit. Betrachtet man das Personengeflecht, so hatte Volbach 1891 bei seiner Heirat in Berlin mit Katharine Ginsberg den Bankdirektor Bernhard Dernburg zum Trauzeugen,10 dessen Schwester, die Sängerin und Schriftstellerin Luise Dernburg (1876–1940) 1895 ein Liebesverhältnis mit Karl Wolfskehl hatte, einem Freund von Stefan George und Melchior Lechter. Dieser gestaltete 1897 das Titelblatt von Wolfskehls Gedichtsammlung ULAIS , Anagramm für Luise, in der er der schmerzhaften Trennung gedachte. Wolfskehl war jüdischer Herkunft wie die Familien Ginsberg und Dernburg. Überregional bekannt geworden war Lechter ein Jahr zuvor durch seine erste Ausstellung im November 1896 in der Berliner Galerie von Fritz Gurlitt, mit deren 71 Exponaten er seinen künstlerischen Durchbruch erreichte. Ein Jahr vor dem Erscheinen des Händel-Buches, also noch 1897, erschien in Berlin eine berühmt gewordene Buchgestaltung Lechters, die mit einem Engel, der eine Kleinorgel (Positiv) spielt, als Titelseite eine unmittelbare bildinhaltliche Parallele zur Händel-Illustration bildet: „Das Jahr der Seele von Stefan George“.11 Durch diese Gedichtsammlung des bedeutenden Lyrikers ist Lechter auch über die Kreise der bildenden Kunst hinaus bekannt geworden. Zugleich demonstriert das so gezierte Titelblatt Lechters Ansicht, „es soll uns die unsichtbare Seele der Verse, der Prosa, wie stumme Musik umfangen“. 1897 sind es nun im Händel-Buch drei musizierende Engel, die im beschränkten Bildrahmen, in den vier brennende Kerzen hineinragen, holzschnittartig figurieren. Der rechte Engel nimmt mit einem Flügel samt der Vorderseite des Positivs fast die Bildhälfte ein, sodass der Engel in der Mitte, der eine Fidel streicht, etwas verdeckt ist, auch von dem Engel auf der linken Bildseite, der aus einem aufgeschla Der Verfasser dankt der Leiterin der Sammlung, Frau Dr. Ann Kersting-Meuleman, für die freundliche Auskunft. 10 Der Verfasser dankt dem Volbach-Forscher Prof. Dr. Martin Blindow, Münster, für seine Mitteilungen. 11 Im Verlage der Blätter für die Kunst. Abbildung in: Piet C. Cossee (Buchgestalter): Melchior Lechter: Der Meister des Buches, Amsterdam 1987, S. 134. 9

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genen Notenbuch auf den Knien singt und durch eine Krone vor den beiden anderen Engeln ausgezeichnet ist. Nur die Spitzen der Schwingen deuten auf sie als Engel hin. Alle drei Engelsköpfe sind von unterschiedlichen Aureolen umgeben. Im unteren Teil des Bildfeldes sind zwischen den vier Kerzenständern die Buchstaben des Komponistennamens in Versalien eingefügt, darunter „MEL / CHIOR /1897/LECH / T ER“. Unterhalb der Bild-Graphik sind in roter Farbe die Buchstaben des Namens „GEORG FRIEDRICH HAENDEL“ kunstvoll angeordnet, flankiert von Geburts- und Sterbedatum. Diese in die mittelalterliche Ikonographie führende Gesamtgestaltung in einem Händel-Buch überrascht noch heute. Zum Verständnis der Buchgraphik mit musizierenden Engeln und den damit verbundenen künstlerischen Intentionen ist ein gedrängter Einblick in Lechters Leben und Wirken hilfreich, namentlich in Hinsicht seiner musika­ lischen Interessen. Quellenmäßig dokumentiert sind sie durch Teilnachlässe im Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kultur, Münster, im Museum für angewandte Kunst (MAKK), Köln, im Stefan-George-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek, Stuttgart, sowie im Deutschen Literaturarchiv, Marbach. 1865 in Münster geboren erhielt Lechter hier eine Ausbildung als Glasmaler, die er von 1884 bis 1894 in der Malklasse der Königlichen Akademie der Künste in Berlin fortsetzte. Nach der Kündigung seines dortigen Ateliers gestaltete er seine angemietete Wohnung kunstvoll mit Glasfenstern, Gemälden und Möbeln aus. Er selbst empfing seine Gäste in einem talarartigen Gewand und bestätigte damit persönlich den übergreifenden neugotischen Stil, den er im Anschluss an die „alten Meister“ des Mittelalters als Gegenentwurf zum herrschenden Stil im wilhelminischen Kaiserreich ausprägte.12 Spitzbögen und filigranes Maßwerk aus gotischen Kirchen fanden nicht nur in seine Glasfenster Eingang. Am 18. Januar 1898 schrieb er an seine Schwester Anna, „[d]ie Kunst der alten Meister wirkt wie eine Sonne in mir nach“,13 und bestätigte ihr noch 1907: „Hier sitze ich und sinne den grossen Mittelalterlichen Kunsttraum weiter in Werken, die die Mystik der Kunst verkünden“. Musikalisch hatte Lechter sich autodidaktisch gebildet, konnte so beispielsweise aus der glücklich erworbenen Partitur der Graner Messe (1857) von Franz Liszt, die er auf seinem Flügel aufschlug, einzelne Partien seinem Freund Georg Fuchs vorsummen, der die musikalischen Neigungen Lechters aus eigener Erfahrung beschreibt.14 Vertraut Georg Schütz: Ein Gotiker im George-Kreis. Melchior Lechter und die Erneuerung der Kunst aus dem Geist des Mittelalters, in: Barbara Schlieben u. a. (Hg.): Geschichtsbilder im George-Kreis. Wege der Wissenschaft, Göttingen 2004, S. 147–172. 13 Lechter: Der Meister (wie Anm. 10), S. 11. 14 Georg Fuchs: Melchior Lechter (vor 1949), Abdruck in: Lechter: Der Meister (wie Anm. 10), S. 99–102. 12

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war der Katholik Lechter seit Jugendzeit mit dem Gregorianischen Choral, was auch in die Welt seiner Bilder Eingang fand. Lateinische Bildtitel wie „Tristis est anima mea“ (1892/1893) beziehen sich auf Choralgesänge (Responsorium am Karfreitag).15 Es folgten 1906 der Entwurf für eine Altarstickerei (Antependium) „Panis Angelorum“ (aus der Sequenz „Lauda Sion“ zu Fronleichnam)16 und 1907 der Entwurf „Lumen de lumen“ (aus der Osterliturgie) für ein Glasfenster, das 1910 für das Vestibül des 1908 eröffneten Westfälischen Landesmuseums in Münster gestiftet worden war.17 Seit seinem ersten Besuch der Wagner Festspiele in Bayreuth 1893 hinterließen die Aufführungen von Tristan und Isolde bei Lechter immer wieder eine besondere Ergriffenheit, so 1901 mit dem Bemerken: „tieferschüttert und trunken von diesem gefährlichsten aller Gifte“. Lechters künstlerische Reaktion auf das Wagner-Erlebnis ist 1896 das große zweiteilige Glasfenster seines Schlafzimmers, auf dem sich die nackt dargestellten Gestalten von Tristan und Isolde gegenüberstehen. Die Inschrift „Mich sehnen und sterben“ stammt aus der ersten Szene des dritten Aufzuges. Am unteren Rand der Glasfenster hat Lechter den Anfang von Tristan im Klavierauszug abgebildet.18 Lechters Wohnung wurde seit 1895 bevorzugter Treffpunkt des GeorgeKreises. Der Dichter, der seinen Hauptwohnsitz in seiner Heimatstadt Bingen hatte, las dort seine neuesten Gedichte, der Klaviervirtuose Carl Ansorge spielte auf dem Flügel Beethoven, Chopin und Liszt. Insgesamt trug das Verhältnis Lechters zur Musik ganz spezielle Züge. Sieht man von Wolfgang Osthoffs Untersuchung über das Verhältnis Georges zum Lieder-Komponisten Richard Wintzer von 1989 ab, der als Freund Lechters auch dem George-Kreis zugehörte,19 gibt es dazu bisher nur Darstellungen aus kunsthistorischer Sicht. 2006 gab der Niederländer Bert Treffers unter dem Titel „Tristan als Nirwana“ einen

Rapsilber: Melchior Lechter (wie Anm. 1), S. 40 Abb. Friedrich Wolters: Melchior Lechter, München 1911, S. II. 1908 veröffentlichte Lechter im Berliner Verlag Otto von Holten die kommentierende Schrift „Ueber die Symbolik von Panis Angelorum“. 17 Maren Terbrüggen: Das Kunstwerk des Monats August 2020: Melchior Lechter: Tristan und Isolde, Bönen 2020, S. 1, https://www.lwl.org/landesmuseum-download/Website/KdM/2020/ KdM_August_2020.pdf (Zugriff am 17.08.2022). Glasfenster (Digitalisat LWL-Museum Kunst und Kultur Münster). 18 Das Digitalisat des Glasfensters im LWL-Museum Kunst und Kultur Münster: Terbrüggen: Das Kunstwerk des Monats August 2020 (wie Anm. 17), Titelseite. Zur Abbildung der Noten im Glasgemälde als Bildausschnitt: Philipp Heitmann: Intertextualität als Weltanschauung und Ästhetik des Epigonalen. Das Instrumentalwerk Conrad Ansorges, Hildesheim 2015, S. 395 (= Diskordanzen 16). 19 Wolfgang Osthoff: Stefan George und ‚Les deux Musiques‘: tönende und vertonte Dichtung im Einklang und Widerspruch, Wiesbaden 1989, S. 17–28. 15

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eindrucksvollen Überblick, allerdings ohne die Händel-Graphik.20 Er bezieht auch das von Lechter gestaltete Titelblatt zu Wintzers „Lieder und Gesänge für eine Singstimme mit Klavierbegleitung“ von 1897 im Berliner Verlag Bote & Bock ein. Die Lithographie zeigt ebenfalls vor einem rosettenartigen Kirchenfenster einen Engel, der eine Krone in den erhobenen Händen als göttliche Gabe zur Krönung hoch hält und damit Wintzers Kompositionen eine christlich-religiöse Aura verleiht.21 Es stellt sich die Aufgabe, aus musikhistorischer Sicht das Gesamtbild der Musik-Darstellungen Lechters zu ergänzen und zu vertiefen.22 Dies gilt auch hinsichtlich der Darstellung musizierender Engel, die einen ganz wesentlichen Bestandteil seiner musikbezogenen Bildallegorien bilden. Zu ihnen wurde er durch die spätmittelalterliche Malerei inspiriert, die er auf seinen Reisen nach Florenz und Paris kennen lernte. Für eine große Kopie von Fra Angelicos „Jüngstem Gericht“ in seiner Wohnung hatte er eigens einen kunstvollen Bildrahmen mit Sockel angefertigt. Auch die zahlreichen musizierenden Engel vor der Prozession der Seligen zum himmlischen Jerusalem und auf dessen Zinnen im „Weltgericht“, das Stefan Lochner um 1435 im Auftrag des Kölner Rates malte, sind als Vorbild zu erachten.23 Im sogenannten „Pallenberg-Saal“ des ehemaligen Kölner Kunstgewerbemuseums, gestiftet vom Möbelfabrikanten Jakob Pallenberg und von Lechter zwischen 1898 und 1902 als Gesamtkunstwerk zur Manifestation der Vereinigung von Dichtung, Musik, Malerei und Plastik gestaltet,24 waren nach einem ersten Entwurf in die Majolika-Supporte der beiden Eichenholz-Türen die Namen „DONATELLO“ und „ST. LOCHNER“ eingeschrieben. Diese Namen wurden dann durch die neuen Inschriften „ ARS COELESTINA“ und „ ARS HUMANA“ abgelöst. In die Lunette der Tür unterhalb der Supporte der „himmlischen Kunst“ hatte Lechner die Silhouette der Turmspitzen des Kölner Doms einbezogen. Damit verwies er die Besucher des Saals auf die zwölf musizierenden Engel über den Apostelfiguren im Chorraum des Doms (um 1332) hin, das berühmte Engelskonzert. Zwei spielen das

Bert Treffers: Tristan als Nirwana. Melchior Lechter und die Musik, in: Jürgen Krause (Hg.): Melchior Lechters Gegenwelten. Kunst um 1900 zwischen Münster, Indien und Berlin, Münster 2006, S. 112–127. 21 Exemplar in der Graphischen Sammlung des Germanischen Nationalmuseums Nürnberg. Walter von Zur Westen: Musiktitel aus vier Jahrhunderten, Leipzig 1921, S. 110. 22 Der Verfasser bereitet dazu aufgrund umfangreichen Quellenmaterials eine eingehende Studie vor. 23 Rainer Budde: Nebensächliches? – Zur Darstellung der Musik auf Stefan Lochners ‚Weltgericht‘, in: Frank Günter Zehnder (Hg.): Stefan Lochner. Meister zu Köln. Herkunft – Werke – Wirkung [Ausstellungskatalog Köln], Köln 1993, S. 201–206. 24 Jürgen Krause: Melchior Lechters Pallenberg-Saal für das Kunstgewerbe-Museum. Ein Kultraum der Jahrhundertwende, in: Wallraf-Richartz-Jahrbuch 45, 1984, S. 203–230. 20

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mittelalterliche Hauptinstrument, eine kleine und eine große Fidel.25 Nicht verwunderlich, dass der Engel der vergoldeten Bronzestatue von Otto Schlichting neben der Tür im Pallenberg-Saal als Allegorie der „Musik“ eine Fidel spielt. Die bildliche Parallelität zur Händel-Graphik erstreckt sich schließlich auch auf das Positiv. In dem als Triptychon gestalteten großen Wandgemälde Lechters für den Pallenberg-Saal, das erst Ende 1902 nach einer Ausstellung in Berlin in den Saal kam, figuriert im rechten Flügel die Heilige Cäcilia an einer kleinen Orgel als Patronin der Musik, besonders der Kirchenmusik. Im Sinne der „ ARS COELESTINA“ ist auch ein Flügel sichtbar von Cäcilias gemäß Heiligenlegende sonst unsichtbarem Schutzengel. Lechters Auffassung der Musik als himm­ lische Gabe kommt auch 1901 im Entwurf eines Glasfensters für das Vestibül der neu erbauten Königlichen Hochschule für Musik in Berlin-Charlottenburg zum Ausdruck mit der Inschrift „MUSICA DULCISSIMA FILIA DIVINAE MAJESTATIS “.26 Bemerkenswerterweise gibt Lechter im Pallenberg-Saal auch der „Dichtung“ ein musikalisches Attribut als Allegorese bei, nun aber aus der Sphäre der antiken Mythologie: die Lyra (Leier). Im Mittelteil des Triptychons „Die Weihe am mystischen Quell“ kniet die Dichtergestalt, um von der Priesterin den inspirierenden Trank zu empfangen. Sie trägt die Züge von Stefan George. Die Zeitgenossen erkannten das Krypto-Porträt. Wenn eine der schwebenden Genien als Schutzwesen im linken Flügel des Triptychons eine Lyra zupft, wird der Verweis auf den mythischen Dichtersänger Orpheus deutlich. Das 1896 gemalte „Orpheus“-Bild Lechters wird so zu einem „Schlüsselbild“.27 Der Dichtersänger steht vor fahlen Birkenstämmen in einem blauen Sternenmantel und spielt gen Himmel schauend eine hocherhobene Lyra. Das Antlitz des mit einem Diadem geschmückten Hauptes ist eine wohl nicht zufällige Parallele zum GeorgeProfil der Dichtergestalt im späteren Triptychon. An die Seite dieser künstlerischen Zusammenhänge tritt geradezu geschichtsträchtig das Schicksal des Gemäldes, dem Lechter einen kunstvollen Bildrahmen beigab mit der Inschrift „­ORPHEUS “. Auf der Ausstellung in der Galerie Gurlitt erregte es 1896 besondere Aufmerksamkeit, machte Lechner mit einem Schlage über Berlin hinaus in der Kunstwelt rühmlich bekannt. Es wurde von dem mäzenatischen Bankiers-Ehepaar Fritz und Edith Andreae gekauft. Sie war eine jüngere Schwester Björn R. Tammen: Musik und Bild im Chorraum mittelalterlicher Kirchen 1100–1500, Berlin 2000, S.49 f. und 459, Abb. 10. 26 Rapsilber: Melchior Lechter (wie Anm. 1), S. 27–32 und 67. 27 Abbildungen in Rapsilber: Melchior Lechter (wie Anm. 1), S.99; Cossee: Melchior Lechter. Der Meister des Buches (wie Anm. 11), S. 159; Ulrich Schultze: Das Kunstwerk des Monats April 1992: Melchior Lechters „Orpheus“: ein musikalisches Drama, Münster 1992, https://lwl.org/ lmkukdok/KdM_04_1992.pdf (Zugriff am 17.08.2022). 25

Sakralisierung der Kunst Händels  

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des Industriellen und 1922 als Reichaußenminister ermordeten Walther Rathenau. Auf Ihren Gesellschaften in der Villa im Grunewald trafen sich Literaten, Künstler, Musiker und Gelehrte. Als das Ehepaar Andreae 1939 wegen seiner jüdischen Herkunft in die Schweiz emigrieren musste, kam das „Orpheus“-Gemälde als Dauerleihgabe in das Westfälische Landesmuseum nach Münster. Erst 2009 stifteten die Erben es zum endgültigen Eigentum des Museums. Im Rahmen der von Lechter entwickelten Konzeption einer bis in Synästhesien reichenden Verbindung der Künste durch symbolische Attribute von Musikinstrumenten, vornehmlich des Mittelalters, erhält die Händel-Graphik ihre quasi paradigmatische Bedeutung über das Spezifikum einer einzelnen Buch-Illustration hinaus. Den Grand Prix auf der Pariser Weltausstellung 1900 erhielt der dort aufgebaute Pallenberg-Saal deshalb als „räumliches Gesamtkunstwerk des Jugendstils“. Der Bezug auf die christliche Weltauffassung des Mittelalters gab den Künsten eine besondere religiöse Aura. Als die Kölner Gesellschaft für Neue Musik (KGNM) ihre ersten Veranstaltungen 1922 und 1923 im Pallenberg-Saal des 1943 kriegszerstörten Kunstgewerbemuseums abhielten, wirkte auf die Besucher sicherlich die musikalische Symbolwelt des Mittelalters wie „aus der Zeit gefallen“. Diese von Lechter unter ein religiöses Vorzeichen stehende Huldigung der Musik Händels, dessen Oratorien schließlich Gestalten aus dem Alten Testament gewidmet sind, erweitert das kulturgeschichtliche Spektrum seiner Rezeption um eine weitere Facette.

Internationale Bibliografie der Händel-Literatur 2021/2022 Zusammengestellt von Esma Cerkovnik (Zürich) Die nachfolgende Bibliografie setzt die im Band XXIII abgedruckte fort. Eingang fanden wissenschaftliche Publikationen zu Georg Friedrich Händel des Jahres 2021, die noch nicht in der letzten Bibliografie berücksichtigt werden konnten, sowie solche des Jahres 2022, die zum Zeitpunkt der Zusammenstellung der vorliegenden Bibliografie greifbar waren. Für eine komplette Bibliografie der Händel-Literatur von 1959 bis 2009 siehe die von Hans Joachim Marx verantwortete Veröffentlichung, die 2009 im Verlag Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen herauskam. Folgende Sammelpublikationen werden im Folgenden abgekürzt zitiert: Göttinger Händel-Beiträge 23, 2022 Laurenz Lütteken / Wolfgang Sandberger (Hg.): Göttinger Händel-Beiträge. Begründet von Hans Joachim Marx, Bd. XXIII, redaktionelle Mitarbeit Christoph Jannis Arta, Göttingen 2022. Händel-Jahrbuch 68, 2022 Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft e. V. / Stiftung Händel-Haus (Hg.): Händel-Jahrbuch, 68. Jahrgang, Kassel u. a. 2022.

Biografisches, Historisches, Quellenstudien Alfonzetti, Beatrice: Diplomatici letterati del partito filoasburgico: Vincenzo Grimani, Tiberio Carafa, Severio Pansuti, in: Sieglinde Klettenhammer u. a. (Hg.): Diplomazia e letteratura tra imperio Asburgico e Italia: (1690–1815)/Diplomatische und literarische Beziehungen zwischen der Habrburgermonarchie und Italien, Rom 2021 (= Temi e testi 207; Diplomazia delle lettere), S. 37–51. Beeks, Graydon: ‚O Come, Let us Sing unto the Lord‘: Performances of the Cannons Anthems during Handel’s Lifetime, in: David Vickers (Hg.): New Perspectives on Handel’s Music. Essays in Honour of Donald Burrows, Woodbridge 2022, S. 350–360. Belissa, Marc: Haendel en son temps, Paris 2022. Bolzan, Claudio: Georg Friedrich Händel: Tra splendori teatrali e fasti cerimoniali. Vita e Opere, Varese 2022 (= Compositori). Broude, Ronald: The interpretative edition: its history and future, in: The Musical Times 29, 2021, Heft 2, S. 11–28. Buckle, Lizzy: Musical Ties: Mapping Performer Interactions in London’s 1760/61 Concert Season, in: Handel Institute Newsletter 33, 2022, Heft 1, S. 5–9. Burden, Michael: Early Keepers of the Flame: Vanneschi (and Handel) at the Opera, in: David Vickers (Hg.): New Perspectives on Handel’s Music. Essays in Honour of Donald Burrows, Woodbridge 2022, S. 377–399.

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Internationale Bibliografie der Händel-Literatur 2021/2022

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Musical Legacy, in: Rhiannon Mathias (Hg.): The Routledge Handbook of Women’s Work in Music, London 2022 (= Routledge Music Handbooks), S. 407–418. Marcaletti, Livio: Johann Simon Mayr und Il Messia als Beispiel norditalienischer Rezeption des Messiah im frühen 19. Jahrhundert, in: Händel-Jahrbuch 68, 2022, S. 147–162. Riepe, Juliane: Heroicizing Handel in the Third Reich: Towards the Collapse of Political Propaganda, in: Beate Kutschke / K atherine Butler (Hg.): The Heroic in Music, Woodbridge 2022, S. 161–184. Riepe, Juliane: Eine neue Quelle zur frühen Händel-Rezeption auf dem europäischen Kontinent: Il Messia, in: Händel-Jahrbuch 68, 2022, S. 335–345. Riepe, Juliane: Zur Geschichte der hallischen Händel-Tage in der NS-Zeit (1935–1944), in: Konstanze Musketa / Clemens Birnbaum (Hg.): Feuerwerk und Halleluja: 100 Jahre Händel-Festspiele, Leipzig 2022, S. 112–117. Sandberger, Wolfgang: „Händel-Ekstase“. Szenische Oratorienaufführungen in den 1920er Jahren, in: Konstanze Musketa / Clemens Birnbaum (Hg.): Feuerwerk und Halleluja: 100 Jahre Händel-Festspiele, Leipzig 2022, S. 92–101. Sandberger, Wolfgang: „Händel und wir“? Kontinuitäten und Brüche in der hundertjährigen Geschichte der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen, in: Göttinger Händel-Beiträge 23, 2022, S. 9–29. Sandmeier, Rebekka: Music Beyond Genre: Tunde Jegede’s African Messiah, in: Händel-Jahrbuch 68, 2022, S. 95–104. Schneider, Frank: Form und Klang: Essays und Analysen zur Musik von Friedrich Goldmann, hg. von Reiner Kontressowitz und Gisela Schneider, Neumünster 2021. Schrammek, Bernhard: „Der Tag, der uns den Frieden bringt“. Händel-Einspielungen in der DDR, in: Konstanze Musketa / Clemens Birnbaum (Hg.): Feuerwerk und Halleluja: 100 Jahre Händel-Festspiele, Leipzig 2022, S. 138–143. Seedorf, Thomas: „Dein Wagner heißt jetzt Händel“ oder: Der Einzug des Countertenors in Halle, in: Konstanze Musketa / Clemens Birnbaum (Hg.): Feuerwerk und Halleluja: 100 Jahre Händel-Festspiele, Leipzig 2022, S. 130–135. Ulrichs, Karl Friedrich: Händelpredigt  – Händel predigt: Messiah in evangelischer Predigt, in: Händel-Jahrbuch 68, 2022, S. 49–64. Urrows, David Francis: Rubbra, Brahms, Handel: How retro can it get?, in: Walter Bernhart / Werner Wolf (Hg.): ‚Make It Old‘: Retro Forms and Styles in Literature and Music, Leiden / Boston 2022 (= Word and Music Studies 19), S. 44–59. Virc, Benjamin: V iskanju inovativnih pristopov pri interdisciplinarnem raziskovanju libretov glasbenogledaliških del [In the search for the innovative approaches to the interdisciplinary research of libretti for musical-theatrical works], in: De musica disserenda 17, 2021, Heft 2, S. 7–28. Walcott, H. Stefan: Handel’s Caribbean Messiah – The Global Messiah. A brief musicological study of Handel’s Caribbean Messiah, in: Händel-Jahrbuch 68, 2022, S. 105–117. Werner, Edwin: Aufführungspraxis Alter Musik in Halle zwischen 1922 und 1993, in: Konstanze / Clemens Birnbaum (Hg.): Feuerwerk und Halleluja: 100 Jahre Händel-Festspiele, Leipzig 2022, S. 72–79. Zauft, Karin: Zwischen „realistischer Fabelerzählung“ und „zeitloser Bilderwelt“. Händels Orlando auf der halleschen Bühne in den Jahren 1961, 1993 und 2010, in: Konstanze Musketa / Clemens Birnbaum (Hg.): Feuerwerk und Halleluja: 100 Jahre Händel-Festspiele, Leipzig 2022, S. 120–127.

Mitteilungen der Göttinger Händel-Gesellschaft e. V.

Beim Aufbruch zu Neuen Horizonten  – so das Motto der Festspiele 2022  – schwingen die Lust auf Veränderung, Neugier und Hoffnungen mit. Doch bei aller Vorfreude auf das Neue ist es nicht immer leicht, das Bekannte hinter sich zu lassen. Gemeinsam mit der neuen Doppelspitze der Göttinger Händel-Festspiele, George Petrou und Jochen Schäfsmeier, haben wir alle diesen Aufbruch gewagt – das Publikum, die Mitglieder der Gesellschaft, die Mitarbeiter:innen in der Geschäftsstelle sowie die Künstler:innen auf der Bühne und alle Unterstützer:innen der Festspiele. Und der Aufbruch ist gelungen! Mit dem im März erschienenen Festspiel-Magazin wurden die Neuen Horizonte bereits optisch sichtbar: Ein neues Format, eine neue Schrift und ein prägendes „Horizont-Blau“ kündigten Veränderungen an. Ganz wörtlich erlebbar wurde das Motto in innovativen Formaten oder neuen Spielstätten wie z. B. „Good Morning, George“, den „Lunchkonzerten“ oder dem „Café George“. Im Mittelpunkt stand freilich erneut die Festspieloper, für die George Petrou gleich doppelt verantwortlich war: Giulio Cesare wurde von ihm inszeniert und musikalisch geleitet. Die exzellente Koproduktion mit der Niederländischen Reiseoper beeindruckte unter anderem durch ihr Bühnenbild (Paris Mexis) und ihre Licht-Dramaturgie (Stella Kaltsou). Mit Yuriy Mynenko (Cesare), Sophie Junker (Cleopatra), Nicholas Tamagna (Tolomeo), Francesca Ascioti (Cornelia), Katie Coventry (Sesto) u. a. stand ein international gefeierter Cast auf der Göttinger Bühne. Das begeisterte Publikum und die internationale Presse feierten diese Produktion euphorisch. Das Flaggschiff der Festspiele, das FestpielOrchester Göttingen, spielte unter der Leitung von Petrou auch das Eröffnungskonzert „Aminta e Fillide“ mit der Sopranistin Myrsini Margariti und dem Sopranisten Bruno de Sá sowie das Gala-Konzert mit Julia Lezhneva. Für das Oratorium Belshazzar konnten das NDR Vokalensemble, Concerto Köln und ein außergewöhnlicher Cast mit Juan Sancho (Belshazzar), Jeanine De Bique (Nitocris), Mary-Ellen Nesi (Cyrus), Raffaele Pe (Daniel) sowie Stephan MacLeod (Gobrias) unter der Leitung des tschechischen Dirigenten Václav Luks gewonnen werden. Zahlreiche weitere renommierte Künstler:innen und Ensembles waren zu Gast in Göttingen, hervorgehoben sei hier aber nur noch das Vermittlungsprogramm Händel 4 Kids! Mit „Händels Hamster“, dem Audiowalk mit der Partnerschule St. Albani, und vor allem der Familienfassung der Festspieloper (moderiert von Juri Tetzlaff) wurde ein junges Publikum angesprochen. Ein besonderer Höhepunkt war der „Rollende Georg“: Auf einem LKW als Konzert-

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bühne wurden interaktive Jugendkonzerte vor Nachbarschaftszentren und vor der Göttinger Kinderklinik angeboten. Die Göttinger Händel-Gesellschaft (GHG) hatte bereits exklusiv zur Vorstellung des Festspielprogrammes eingeladen und besuchte vorab eine Probe der Festspieloper. Während der Festspiele organisierte die GHG nach mehreren Konzerten ein „Meet the Artist“ im Bistro des Deutschen Theaters oder Café Liesels. Dieses Angebot soll in den kommenden Jahren ausgebaut werden, um die Attraktivität der Festspiele über den Konzertbesuch hinaus atmosphärisch zu bereichern. Bei der „göttingen händel competition“ wurden dieses Jahr vier Preise ausgelobt: neben dem Hauptpreis der GHG, dem Bärenreiter Urtext Preis und dem Publikumspreis zum ersten Mal in Zusammenarbeit mit der Kölner Philharmonie auch der Sonderpreis „Musik und Raum“. Unter dem Jury-Vorsitz von Jochen Schäfsmeier vergaben Prof. Christian Rieger (Folkwang Hochschule Essen), Prof. Scheuch-Vötterle (Bärenreiter Verlag), Christiane Irrgang (NDR), Frerk Schenker (Göttinger Tageblatt), Frauke Bernds und Teresa de Luca (beide Kölner Philharmonie) und Isabelle Gaillard (Centre Ambronnay) folgende Preise: Den Hauptpreis und auch den Sonderpreis teilten sich die Ensembles Duo Auxesis und Apollo’s Cabinet. Duo Auxesis stand außerdem in der Gunst des Publikums ganz oben und wurde mit dem Publikumspreis belohnt. Den Bärenreiter Urtext Preis in Form eines Notengutscheins erhielt das Duo Sull’onde. Wissenschaftlich begleitet wurden die Festspiele durch den Festvortrag von Frau Prof. Dr. Christine Lubkoll und das Symposium „‚Aus dem Hades bin ich zurückgekehrt‘ – Händel in der Literatur der Moderne“. Der Festvortrag und die Vorträge sind in diesem Band versammelt. Dank einer Großspende ist die GHG derzeit in der Lage, sich als Hauptgesellschafter für eine Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Festspiel GmbH einzusetzen, und sie ermuntert die übrigen Gesellschafter, gleichzuziehen. So ist auf Initiative der GHG geplant, den jährlichen Zuschuss an die GmbH zu erhöhen und gleichzeitig die Liquiditätsrücklage zu steigern. Damit sollen die Internationalen Händel-Festspiele Göttingen nicht nur durch die unsicheren Zeiten der Nach-Pandemie und der Auswirkungen des UkraineKonflikts geführt, sondern nachhaltig abgesichert werden. Für diese Ziele steht die Göttinger Händel-Gesellschaft ein und hofft auch in Zukunft auf Ihre großzügige Unterstützung. Auch wichtige Personalien sind mitzuteilen: Dr. Wilhelm Krull scheidet nach 15 Jahren aus dem Aufsichtsrat aus und legt zum neuen Geschäftsjahr den Vorsitz nieder. Mit großem Weitblick und klugen Entscheidungen hat er die Entwicklung der Festspiele seit Gründung der Festspiel GmbH nachhaltig

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geprägt. Ihm gilt unsere Hochachtung dafür, wie souverän und besonnen er die vielen strukturellen und personellen Veränderungen der vergangenen Jahre moderiert und gestaltet hat. Wilhelm Krull trägt zudem einen großen Anteil an der erfolgreichen Gestaltung und Bewältigung der Pandemie-bedingten Herausforderungen. Danke! Neu in den Aufsichtsrat entsendet wurden Konstantin Kuhle, MdB (Nachfolge von Thomas Oppermann) und zum 1. Oktober 2022 Prof. Dr. Volker Römermann (Nachfolge von Dr. Wilhelm Krull). Seit dem Frühjahr 2022 gab es auch einige personelle Veränderungen bei der GHG. Sandra Hinz (Verwaltungsdirektorin Deutsches Theater), die seit vielen Jahren der Händel-Familie verbunden ist, folgte Fritz Güntzler in den Vorstand. Güntzler hatte in den vergangenen 16 Jahren einen prägenden Einfluss auf ‚Händel in Göttingen‘. Ob vor Ort oder als Bundestagsabgeordneter in Berlin: Er hat maßgeblich dazu beigetragen, die Festspiele fest im Bewusstsein von Förderern auf kommunaler Ebene und bundesweit zu verankern. Wir danken ihm herzlich für seinen unermüdlichen Einsatz und schätzen uns glücklich, dass er die GHG weiterhin im Aufsichtsrat der Festspiel GmbH mit Engagement und Sachkenntnis vertritt. Auch in der Geschäftsstelle der Göttinger Händel-Festspiele gab es personelle Neubesetzungen: Mit Elena Kutter (Rechnungswesen für Martina Brücher), Helen Landzettel (Kommunikation für Patrick Walter) und Gabriela Lopez Sanchez (Sekretariat und Mitgliederbetreuung für Petra Jans) konnten die Herausforderungen gemeistert werden. Bei allen Mitarbeiter:innen möchten wir uns ausdrücklich bedanken, dass sie auch die Doppelbelastung, die die Verschiebung der Festspiele 2021 nach sich gezogen hatte, so bravourös bewältigt haben! Allen, die die Göttinger Händel-Festspiele 2022 mit ihrer Förderung und Unterstützung ermöglicht haben, sei herzlich gedankt! Die Festspielmacher:innen auf und hinter der Bühne konnten sich über eine großartige nationale und internationale Presseresonanz sowie über eine erfreuliche Publikumsbeteiligung freuen. Viele Konzerte können Sie dank der Zusammenarbeit mit dem Norddeutschen Rundfunk und der Unterstützung durch Förderprogramme im Internet unter www.handel-channel.de noch einmal erleben. 2022 haben wir Neue Horizonte entdeckt und dürfen uns nun in den kommenden Jahren auf die faszinierenden musikalischen Landschaften freuen, die sich hinter dem Horizont erstrecken. Die Festspiele 2023 entführen uns nach Hellas, dem antiken und heutigen Griechenland, der Heimat von George Petrou. Wolfgang Sandberger / Jochen Schäfsmeier

Register Abert, Hermann  74 Andreae, Edith  106, 107 Andreae, Fritz  106, 107 Ansorge, Carl  104 Anthony Ashley Cooper, der dritte Earl von Shaftesbury  12 Artusi, Giovanni Maria  69 Ascioti, Francesca  117 Auber, Daniel François  69

Bach, Carl Philipp Emanuel  13 Bach, Johann Sebastian  1, 3, 20–22, 32, 46, 48, 57, 63, 65, 67, 68, 69, 70–73, 76, 78, 79, 80, 81, 89 Batteux, Charles  13 Beaumarchais, Pierre Augustin Caron de  42 Beethoven, Ludwig van  17, 18, 19, 21, 22, 32, 38, 42, 53, 59, 67, 69, 70, 77, 79, 81, 87, 93, 104 Bellini, Vincenzo  69 Bennett, Joseph  33 Bergson, Henri  28 Berlioz, Hector  42, 48, 69 Bernds, Frauke  118 Berst, Charles  28 Bizet, Georges  42, 69 Bloch, Ernst  VI Blumenberg, Hans  84 Bonaparte, Napoleon  21 Bononcini, Giovanni  46, 54 Booth, William  35 Bouchor, Maurice  48 Boulanger, Lili  56 Bourgault-Ducoudray, Louis-Albert  54 Bouyer, Raymond  59 Brachvogel, Albert Emil  2 Brahms, Johannes  69, 70, 99 Brenets, Michel  49 Bréville, Pierre de  56 Bridge, Frederick  37

Broch, Hermann  96 Brodmann, Viviane Nora  6 Brücher, Martina  119 Bülow, Hans von  3 Bunyan, John  35 Burmeister, Peter August  1 Buxtehude, Dietrich  45, 52, 53

Carpentier, Alejo  1, 5 Casanova, Giacomo  92 Castellio, Sebastian  96 Cerkovnik, Esma  5, 6, 45 Chopin, Frédéric  69, 78, 104 Chrysander, Friedrich  45, 72, 73, 101 Churchill, Winston  27 Comettant, Oscar  48 Couperins, François  61 Coventry, Katie  117 Cusins, William  37

D’Indy, Vincent  59 Dahlhaus, Carl  14, 18, 85 Dandelot, Arthur  57 David, Jacques-Louis  57, 58 Debussy, Claude  47, 55, 69 Décsey, Ernst  72 De Bique, Jeanine  117 Dernburg, Bernhard  102 Dernburg, Luise  102 Deutsch, Otto Erich  78 Diderot, Denis  12 Donizetti, Gaetano  42 Dostojewski, Fjodor  79, 80, 83 Dubois, Théodore  56 Dubos, Jean Baptiste  13 Dukas, Paul  55

Eber, Johann Arnold  20 Eichendorff, Joseph von  86 Eisemann, Heinrich  81

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Register

Elgar, Edward  35, 41 Erasmus von Rotterdam  96

Fauré, Gabriel  55–57 Ferris, George T.  34 Fierens-Gevaert, Hippolyte  57 Findeisen, Kurt Arnold  2 Flower, Neumann  79 Forkel, Johann Nikolaus  20, 21 Fra Angelico  105 Fra Bartolomeo  54 Franck, César  59 Freud, Siegmund  73, 74 Friedell, Egon  5, 23–26, 29, 63–76 Friedmann, Egon  65 Friedrich der Grosse  63, 67, 68 Friedrich III, Kaiser  101 Fuchs, Georg  103

Gahan, Peter  29 Gaillard, Isabelle  118 George, Stefan  102–104, 106 Ginsberg, Katharine  102 Gluck, Christoph Willibald  38, 46, 47, 69, 72, 81, 95 Goethe, Johann Wolfgang von  16, 24, 42, 48, 50, 82, 83, 89, 92 Gounod, Charles  32, 34 Graun, Carl Heinrich  16 Grétry, André  61 Grillparzer, Franz  86, 89 Groote, Inga Mai  48, 49 Grote, Kim  6 Grouchy, Emmanuel de  83 Grove, George,  33, 37 Grün, Max von der  94 Gurlitt, Fritz  102

Hagen-Leisner, Thyra  VI Hagen, Oskar  VI Hanslick, Eduard  14, 71, 72 Haydn, Joseph  16, 18, 19, 21, 22, 69, 85, 95 Heinse, Wilhelm  15

Hesse, Hermann  80 Hindemith, Paul  VI Hinz, Sandra  119 Hitler, Adolf  79 Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus  12, 16–19, 86, 87 Hofmannsthal, Hugo von  45 Homer  57, 58 Hugo, Victor  42

Irrgang, Christiane  118 Jadassohn, Alexander  99, 101 Jans, Petra  119 Jodel, Ernst  65 Johler, Jens  2 Junker, Sophie  117

K acl, Laura  6 Kaltsou, Stella  117 Kant, Immanuel  28, 68 Keiser, Reinhard  46, 52, 53 Kicaj, Jehona  6 Kippenberg, Anton  78, 79, 93 Kleefeld, Wilhelm  49 Klepsch, Michael  47 Klopstock, Friedrich Gottlieb  68, 85, 89, 90 Knauer, Sebastian  2 Kœchlin, Charles  55, 56, 57, 58 Kollo, Walter  VI Kralik, Richard von  75 Kremer, Joachim  5 Krull, Wilhelm  118, 119 Kusser, Johann  52 Kutter, Elena  119

Larcati, Arturo  5, 64 Lasserre, Pierre  62 Landzettel, Helen  119 Le Bon, Gustave  73, 74 Lechter, Anna  103 Lechter, Melchior  5, 99–107 Lehár, Franz  66

Register

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Leibniz, Gottfried Wilhelm  68, 75 Leichtentritt, Hugo  50, 74 Leisner, Emmi  VI Leonardo da Vinci  60 Levetzow, Ulrike von  82 Lezhneva, Julia  117 Lipiansky, Edmond Marc  49 Liszt, Franz  69, 103, 104 Lopez Sanchez, Gabriela  119 Louis XIII, König  33 Luca, Teresa de  118 Lubkoll, Christine  5, 118 Luhmann, Niklas  11 Luks, Václav  117 Lully, Jean-Baptiste  59 Luther, Martin  3 Lütteken, Laurenz  72 Lux, Miriam  6 Lyser, Johann Peter  2 → Burmeister, Peter August

Monteverdi, Claudio  69 Mörike, Eduard  19 Mozart, Wolfgang Amadé  18, 19, 21, 22, 30–32, 36, 37, 38, 42, 65, 69, 70, 79, 81, 89, 95 Muster, Célestine  6 Mynenko, Yuri  117

MacLeod, Stephan  117

Pallenberg, Jakob  105 Parry, Hubert  33, 35 Paukenschläger, Hilarius  2 → Burmeister, Peter August Paul, Jean  3 Pe, Raffaele  117 Pepys, Samuel  46 Pergolesi, Giovanni Battista  8 Petrou, George  6, 117–119 Pfitzner, Hans  69 Piccinni, Niccolò  69 Pistone, Danièle  46 Poe, Edgar Allan  42 Polgar, Alfred  66 Polko, Elise  2 Prout, Ebenezer  37

Magnard, Albéric  55, 56 Mahler, Gustav  26 Mahnkopf, Nicolaus  101, 102 Mainwaring, John  19 Mann, Arthur  37 Mann, Klaus  19, 25 Mann, Thomas  19, 25, 26, 63, 64 Margariti, Myrsini  117 Marx, Karl  30 Masereel, Franz  90 Mattheson, Johann  19, 52, 53 Mazzuchetti, Lavinia  79, 80 Mendelssohn Bartholdy, Felix  34, 35, 39, 69 Mennicke, Carl  46 Mérimée, Prosper  42 Metastasio, Pietro  46 Meyer, Michael  5 Meyerbeer, Giacomo  59, 69 Michelangelo Buonarroti  77 Milton, John  28, 42, 85 Molière  42, 48

Neefe, Christian  53 Nesi, Mary-Ellen  117 Neufeldt, Ernst  49 Niedecken-Gebhard, Hanns  74 Niemöller, Klaus Wolfgang  5 Nietzsche, Friedrich  3, 5, 67, 75, 81, 86, 87

Offenbach, Jacques  69 Oppermann, Thomas  119 Osthoff, Wolfgang  104

Palestrina, Giovanni Pierluigi da  69

R affael (eig. Raffaello Sanzio da Urbino)  52 Rameau, Jean-Philippe  47, 69 Rapsilber, Maximilian  99 Rathenau, Walther  107 Ravel, Maurice  55, 56, 87

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Register

Reimann, Heinrich  99 Reinhardt, Max  39, 65, 66 Renoir, Auguste  61 Richelieu, Kardinal  33 Rie, Therese  78 Rieger, Christian  118 Riemann, Hugo  46 Römermann, Volker  119 Rodin, Auguste  93 Rolland, Romain  5, 23, 45–62, 77, 78, 93, 95 Rossini, Gioachino  3, 48, 69 Rousseau, Jean Jacques  13, 62 Roussel, Albert  56

Sà, Bruno de  117 Sacher, Paul  45 Saint-Saëns, Camille  49, 50, 57, 58, 69 Sancho, Juan  117 Sandberger, Wolfgang  6 Sanzio, Giovanni  52 Satie, Erik  54 Schäfsmeier, Jochen  6, 117–119 Schenker, Frerk  118 Scherber, Ferdinand  75 Scherber, Konrad  66 Scherer, Stefan  12 Scheuch-Vötterle, Barbara  118 Schiller, Friedrich  42, 48 Schilling, Gustav  57 Schlichting, Otto  106 Schlitter, Hans  75 Schmitt, Florent  56 Schneider, Herbert  48 Schneider, Peter  26 Schneider, Rolf  2 Schnitzler, Arthur  3 Schopenhauer, Arthur  67, 86, 87 Schubert, Franz  69, 70, 79 Schumann, Robert  42, 69, 70, 99 Scott, Winfield  83 Seethaler, Robert  26 Selge, Albrecht  26

Senfl, Ludwig  69 Sérieyx, Auguste  59 Shakespeare, William  28, 29, 34, 35, 37, 38, 39, 48 Shanks, Edward  27 Shaw, George Bernard  5, 27–43 Spitzweg, Carl  11 Spohr, Louis  69 Spontini, Gaspare  69 Steffani, Agostino  54 Straube, Karl  78 Strauss, Johann [Sohn]  69, 76 Strauss, Richard  69, 79 Strawinsky, Igor  1 Strecker, Ludwig  101 Suttner, Bertha von  83

Tamagna, Nicholas  117 Telemann, Georg Philipp  46 Tennyson, Alfred  35 Tieck, Ludwig  85, 87 Tiersot, Julien  56 Tolstoi, Leo  92 Toscanini, Arturo  80, 87, 96 Tour, Georges de la  60 Trebitsch, Siegfried  28, 29, 39, 40 Treffer, Bert  104 Tschaikowsky, Pjotr I.  19, 25

Vallette, Gaspard  56 Varèse, Edgar  45 Verdi, Giuseppe  19, 42, 69 Victoria, Königin von England  101 Vivaldi, Antonio  1, 5 Volbach, Fritz  99, 101, 102

Wackenroder, Wilhelm Heinrich  8, 9, 16, 85, 87 Wagner, Cosima  3, 81 Wagner, Richard  19, 30, 32, 38, 43, 47, 49, 57, 61, 69, 70, 79, 86, 104 Walker, Ernest  34 Walter, Bruno  77, 79, 80, 81, 87, 96 Walter, Patrick  119

Register

Weinzierl, Ulrich  68 Werfel, Franz  19, 25 Winterfeld, Carl von  45 Wintzer, Richard  104, 105 Wolf, Hugo  69 Wolfskehl, Karl  102

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Zachow, Friedrich Wilhelm  45, 46, 52, 53 Zemlinsky, Alexander  VI Zweig, Friderike  78 Zweig, Stefan  5, 7, 9, 10, 12, 17, 19, 22, 23, 25, 29, 41, 63, 77–97