Göttinger Händel-Beiträge, Band 17: Jahrbuch/Yearbook 2016 [1 ed.] 9783666278341, 9783525278345, 9783647278346

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Göttinger Händel-Beiträge, Band 17: Jahrbuch/Yearbook 2016 [1 ed.]
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Göttinger Händel-Beiträge Begründet von Hans Joachim Marx und im Auftrag der Göttinger Händel-Gesellschaft herausgegeben von Laurenz Lütteken und Wolfgang Sandberger Band XVII Redaktionelle Mitarbeit Sarah Hodgson

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Mit 11 Abbildungen und 3 Notenbeispielen Umschlagabbildung: © akg-images / Erich Lessing: C.-A. Cayot, La mort de Didon Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0177-7319 ISBN 978-3-647-27834-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter www.v-r.de. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de

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Claude-Augustin de Cayot (1667–1772), La Mort de Didon (1711; Paris, Musée du Louvre)

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Claude-Augustin de Cayot (1667–1722) La Mort de Didon (1711; Paris, Musée du Louvre) Aeneas, der auf der Flucht aus Troja verwitwete Sohn des Prinzen Anchises und der Venus, wird, so Vergil, auf Sizilien, dem Sterbeort seines Vaters, durch einen von Juno entfachten Seesturm an der Weiterfahrt gehindert. Dort begegnet er der verwitweten Prinzessin Dido, der Gründerin Karthagos, mit der ihn ein ähnliches Schicksal verbindet. Sie verliebt sich unsterblich in Aeneas, dem jedoch durch Merkur seine wahre Bestimmung geoffenbart wird: als Ahnherr Roms nach Italien zu ziehen. Als Aeneas abreist, bezichtigt sie ihn der Untreue  – und beschwört die ewige Feindschaft zwischen Karthago und Rom. Verzweifelt lässt sie ihre Schwester Anna einen Scheiterhaufen am Ufer des Meeres errichten, dort soll alles verbrannt werden, was Aeneas zurückgelassen hat und an ihn erinnert. Entschlossen besteigt Dido den Scheiterhaufen, auf dem sie sich dann ersticht. Die erschütterte Juno schickt Iris, um dem qualvollen Sterben ein Ende zu bereiten. Die Königin stirbt in den Armen ihrer Schwester, der Scheiterhaufen wird zu ihrer Feuerbestattung. Claude-Augustin de Cayot hat den dramatischen Moment des Selbstmordes der Dido in eine virtuose Skulptur gefasst. Er erzielte mit der spektakulären Darstellung einen großen Erfolg: Er wurde zum Mitglied der Académie Royale de Peinture et de Sculpture ernannt und in der Folge mit repräsentativen Aufträgen bedacht. Die in ihrer verzweifelten Entgrenzung entblößte, kniend auf dem errichteten Scheiterhaufen innehaltende Dido stößt sich mit der Rechten das Messer in den Körper, eben nicht ins Herz, ein Zeichen für den ihr bevorstehenden qualvollen Tod. Aus der offenen Wunde tritt bereits Blut hervor. Cayots Skulptur lässt in der Hinwendung zur Dido-Figur eine Akzentverschiebung erkennen, die sich erstmals in Rubens’ Gemälde von der sich erstechenden Dido (1635) andeutet: Die Abkehr von der heroischen Aeneas-Geschichte und die Hinwendung zu den affektiven Verwirrungen der weiblichen Hauptfigur. Die Übertragung in eine multiperspektivische Skulptur ist daher gleichbedeutend mit der den Betrachter vorsätzlich in Bann ziehenden Ausstellung einer zum Äußersten entschlossenen, selbstvergessenen Frauengestalt. Wenige Jahre später hat Pietro Metastasio in seiner Didone abbandonata (1724) diese tragische Idee aufgegriffen. Auf dieses Werk bezog sich Händel mit seiner 1737 am Covent Garden Theatre (erfolglos) herausgebrachten Bearbeitung. Laurenz Lütteken © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525278345 — ISBN E-Book: 9783647278346

Inhalt Laurenz Lütteken (Zürich) Empfindsam – heroisch – erhaben Frauenfiguren in der Musik zur Zeit Händels. Einführung zum Symposium der Händelfestspiele 2015 . . . . . . . . . 1 Cord-Friedrich Berghahn (Braunschweig) Zauberinnen, Märtyrerinnen, Verführerinnen: Barocke Heroinen und die Ästhetik des Erhabenen . . . . . . . . . . . 7 Berthold Over (Mainz) Zwischen Hirtendasein und Heldentum. Frauenfiguren in der italienischen Kantate um 1700 . . . . . . . . . . . 37 Albert Gier (Bamberg) Zwischen Mythos und Geschichte: Dido als Herrscherin und Liebende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Panja Mücke (Mannheim) (Un)entwirrbares Intrigengeflecht: Die Konkurrenz der starken Frauen in Agrippina . . . . . . . . . . . . 73 Klaus Pietschmann (Mainz) „Pensieri voi mi tormentate“. Wahnsinn und psychische Extremsituationen in Händels Opern . . . . 85 Hans Joachim Marx (Hamburg) Zur Echtheit des Händel-Porträts von Christoph Platzer (um 1710) . . . 97 Ton Koopman (Bussum) Did Bach and Handel ever meet? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Internationale Bibliografie der Händel-Literatur 2014/2015 . . . . . . . 122 Mitteilungen der Göttinger Händel-Gesellschaft e. V. . . . . . . . . . . 127

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Empfindsam – heroisch – erhaben Frauenfiguren in der Musik zur Zeit Händels. Einführung zum Symposium der Händelfestspiele 2015 Laurenz Lütteken (Zürich) Die Zahl der titelgebenden Frauengestalten im Werk Händels ist erstaunlich: Sie reicht von der ersten Oper Almira, geschrieben in Hamburg 1705, bis zum letzten Melodramma Deidamia, geschrieben in London 1740. Hinzu kommen die Oratorien wie Esther, Athalia oder Theodora sowie eine stattliche Zahl von weltlichen und geistlichen Kantaten – und natürlich Agrippina und Deborah, jene beiden Werke, denen die besondere Aufmerksamkeit während der Göttinger Händel-Festspiele 2015 galt.1 Doch die bloße Zahl allein ist noch nicht ungewöhnlich. Vielmehr spiegelt sich in den Frauenfiguren von Händels Werken ein ästhetischer Wandel, der sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts fortsetzen sollte, der aber gleichwohl seine prägenden Konturen in den Jahren zwischen 1700 und 1760 erhalten hat.2 In der vom Sensualismus geprägten ä­ sthetischen Debatte interessierte man sich besonders für jene Affektlagen, die nicht mehr eindeutig, die vermischt – und die am Ende nicht mehr ‚schön‘ in einem nachdrücklichen Sinne waren. Die Annahme, Empfindungen könnten im Menschen gemischt und diese Mischung nicht mehr eindeutig zuzuordnen sein, war gekoppelt mit der Einsicht, dass diese von Moses Mendelssohn und Lessing bezeichneten „vermischten Empfindungen“ nicht notwendig ‚un­ interessant‘ oder gar verwerflich sein müssten.3 Schon Descartes hatte in seiner Annahme eines psychophysischen Zusammenhangs von Affekt und Nerven, von Seele und Körper die verwandelnde Das Phänomen fand nur vereinzelt und nicht systematisch Beachtung; so Silke Leopold: Mannsbilder – Weibsbilder: Händels Personendarstellung im Kontext höfischer Sitten, in: Händel-­ Jahrbuch 49, 2003, S. 263–282; Corinna Herr: Kriegerische Frauen – friedliebende Männer: „Geschlechtspolarisierungen“ in drei Opern Georg Friedrich Händels, in: Klaus Garber / Jutta Held (Hg.): Der Frieden. Rekonstruktion einer europäischen Vision, München: Fink 2001, S. 569–583; Ellen T. Harris: Abandoned Heroines. Women’s voices in Handel’s cantatas, in: Jane A. Bernstein (Hg.): Women’s Voices Across Musical Worlds, Boston: Northeastern University Press 2004, S. 232–256. 2 Vgl. zum Zusammenhang auch Jonathan Rhodes Lee: From Camelia to Calista and beyond. Sentimental heroines, ‚fallen‘ women and Handel’s Oratorio Revisions for Susanna Cibber, in: Cambridge Opera Journal 27, 2015, S. 1–34. 3 Zur Genese der ‚vermischten Empfindungen‘ nach wie vor Carsten Zelle: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg: Meiner 1987 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert 10). 1

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Laurenz Lütteken

Kraft der Seelenbewegung behauptet. Das Vergnügen der Seele, die d ­ araus resultierende Glückseligkeit konnte daher aus den vermeintlichen Unvereinbarkeiten von Lust und Schmerz resultieren, womit bei ihm vor allem die ‚gemischte Empfindung‘ des Mitleids gemeint war.4 Aus dieser Idee einer gemischten Empfindung ist, in einem langen, von Pseudo-Longin ausgehenden und vor allem auf den englischen Sensualismus konzentrierten Prozess, der Gedanke erwachsen, dass selbst schreckliche Dinge Vergnügen gewähren konnten, also große, wilde Landschaften oder furchtbare Ereignisse.5 Lukrez hatte zu Beginn seines dritten Buchs von De rerum natura ein Schiffsunglück beschrieben – und die von ihm ausgehenden Wirkungen beim Beobachter: Entsetzen über das Geschehen und Freude darüber, ihm entgangen zu sein. Daraus schließlich ist die Kategorie des Erhabenen hervorgegangen, also das ästhetische Vergnügen an eigentlich schrecklichen Gegenständen. Der „Schiffbruch mit Zuschauer“ ist von Hans Blumenberg schließlich zum Paradigma dieser Neubestimmung erhoben worden.6 In diesem hier nur ganz grob angedeuteten Prozess einer affektiven Neubestimmung spielten Frauengestalten stets eine besondere Rolle.7 Die Vorstellung, dass gerade die Frauenfigur zu gesteigerter Sensibilität befähigt sei, genügt dabei nicht einfach einem Klischee, sondern kann gleichsam als kulturelle Metapher gelten. Denn die unterstellte Fähigkeit zur affektiven Hingabe führte notwendig auch zur Annahme einer gesteigerten Sensibilität für nicht mehr kategorisierbare Empfindungen, schließlich zur daraus erwachsenen Bereitschaft zur Tat. Dieser Widerspruch, von Anett Kollmann in die schöne Metapher der „gepanzerten Empfindsamkeit“ gefasst,8 hat eine lange Tradition seit der Antike, die nie verschüttet gewesen ist. Die tragischen Figuren von Iphigenie und Elektra, von Ariadne und Medea deuten die besondere Konstellation dieser Denkfigur an, und sie wurde im 17. Jahrhundert, im Umfeld der sich ausdif Dazu neuerdings R. Darren Gobert: The Mind-Body Stage. Passion and Interaction in the­ Cartesian Theatre, Stanford: Stanford University Press 2013. 5 Vgl. den Überblick bei Martin Fritz: Vom Erhabenen, Tübingen: Mohr 2011; zum musikhisto­ rischen Zusammenhang Franziska Müller: Ästhetik eines Unfassbaren. Bewältigungsstrategien in der Landschaftsmalerei und in der Instrumentalmusik des 18. und 19. Jahrhunderts, Hamburg: Kovac 2015. 6 Hans Blumenberg: Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1979; vgl. auch Carsten Zelle: Erhabene Weltuntergänge im Kleinen. Über Schiffbrüche und Schlachten vor Zuschauer – Bemerkungen zur Krise der Aufklärungsästhetik im Anschluss an Lukrez’ De rerum natura, in: Emlio Bonfatti (Hg.): Il gesto, il bello, il sublime. Arte e letteratura in Germania tre ’700 e ’800, Rom: Artemide 1997, S. 77–111. 7 Vgl. Karen O’Brien: Women and Enlightenment in Eighteenth-Century Britain, Cambridge: Cambridge University Press 2009. 8 Anett Kollmann: Gepanzerte Empfindsamkeit. Helden in Frauengestalt um 1800, Heidelberg: Winter 2004 (= Probleme der Dichtung 34). 4

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ferenzierenden Debatte um die Leidenschaften und ihre Wirkung, wieder aufgenommen. Peter Paul Rubens malte 1617/18 das abgeschlagene Haupt der entsetzten Medusa, deren Haar aus Schlangen besteht, offenbar als Demonstration einer affektiven Extremlage – die den Betrachter dennoch in Bann zu ziehen vermag. Der holländische Dichter Constantijn Huygens hat eine in Amsterdam hängende Kopie des Bildes, die, wie er mitteilt, zumeist mit einem Vorhang verdeckt sei, gesehen  – und in diesem Sinne beschrieben.9 Lorenzo ­Bernini nutzte seine zwischen 1645 und 1652 für S. Maria della Vittoria in Rom entstandene Monumentalskulptur der Heiligen Theresa zu einer wahrnehmungspsychologischen Studie: der Erkundung einer affektiven Extremlage, die zugleich gebannt sein sollte in den wirkungsästhetisch bestimmten Augenblick der Darstellung.10 Interessanterweise wirken die Lichtstrahlen im Hintergrund wie jener zur Seite gerissene Vorhang, den Huygens bei seiner Betrachtung des­ Rubens-Bildes bemerkt hat. Der Zustand äußerster affektiver Erregung ist zugleich ein Augenblick der theatralischen Inszenierung, der Vorführung – der seinerseits in den Tragödien Racines eine paradigmatische Verwirklichung erfahren hat.11 Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass auch die Erkundung einer neuen Affektivität in der Musik, die mit den Möglichkeiten der Monodie erreicht war, sich eben nicht einfach antiker Vorbilder versichert hat, sondern stets auf Paradigmen affektiver Extremzustände gerichtet war. Gerade deswegen sind, beginnend mit Peris Euridice, immer wieder Frauenfiguren in den Mittelpunkt gerückt. Die gesuchten Vorbilder dienten dabei offenbar lediglich einer legitimatorischen Absicht. Auch hier ist die Beispielreihe lang und komplex, sie umfasst die Todesszene der Clorinda in Monteverdis Tancredi e Clorinda, die Erkundung vermischter Empfindungen in L’ incoronazione di Poppea, ebenfalls bei Monteverdi, das auskomponierte Ostinato in der Finalszene von Dido and Aeneas, in der Henry Purcell den Entschluss zum Selbstmord auf die Bühne stellt, die Verzweiflung der Titelheldin in Lullys und Quinaults folgenreicher Tragédie lyrique Armide oder die entschlossene Giuditta in Scarlattis gleichnamigem Oratorium. Auch Metastasios erstes (und weitgehend isoliertes) Drama mit tragischem Ausgang, Didone abbandonata von 1724, gehört in diese Reihe. Interessanterweise ist diese Konfiguration bisher noch nicht wirklich systematisch in den Blick genommen worden. Das Symposium wollte dazu einen Dazu Zelle: Angenehmes Grauen (wie Anm. 3), S. 115 f. Vgl. Jörg Jungmayr: Un si dolce languire. Berninis ‚Verzückung der Hl. Theresa von Avila‘ und die Entgrenzung der Künste, in: Walter Delabar / Helga Meise (Hg.): Liebe als Metapher. Eine Studie in elf Teilen, Frankfurt/M.: Lang 2013 (= Inter-Lit 13), S. 11–34. 11 Dazu auch Silke Segler-Messner: Zwischen Empfindsamkeit und Rationalität. Der Dialog der Geschlechter in der italienischen Aufklärung, Berlin: Schmidt 1998 (= Studienreihe Romania 13). 9

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Anstoß geben. Dabei sollten eben vor allem jene extremen affektiven Situationen im Vordergrund stehen, die zunehmend Aufmerksamkeit erregt haben. Jedoch sind einige Besonderheiten zu bedenken. Die Theorie der ‚vermischten Empfindungen‘ entstand in Rom und London gewissermaßen unmittelbar unter Händels Augen, er dürfte die Debatte um affektive Entgrenzungen, um Extremlagen, schließlich um das Heroische und das Erhabene genau verfolgt haben.12 Gerade in diesen Debatten, schließlich besonders bei Edmund Burke und Moses Mendelssohn, galt die Musik nicht einfach als eine unter mehreren Künsten. Vielmehr wurde die mimetische Unschärferelation der Musik als ihre besondere Befähigung zur Erzeugung solcher Empfindungen gedeutet. Mendelssohn beschrieb die Folge von Konsonanz und Dissonanz als Paradigma von Vermischtheit überhaupt, und Burke die wirkungsästhetische Macht, das ‚Erhabene‘ sinnlich zur Erscheinung zu bringen. In der Diskussion um das Erhabene schließlich galt Händels Musik nicht einfach nur als ein Beispiel, sondern als deren fundamentale Verwirklichung. Händel selbst war, als Sohn eines Arztes, sicher in besonderem Maße prädestiniert, die physiologischen Voraussetzungen dieser Zuspitzung des Affektbegriffs zu erkennen.13 Bei Händel reicht das Spektrum daher von der dramatischen Szene der reu­ igen Seele in Donna, che in ciel und von den beiden dramatischen Kantaten­ szenen der zum Selbstmord entschlossenen Lucrezia oder der verzweifelten Armida, alle 1707 in Rom entstanden, bis hin zum Seelendrama der Susanna im Oratorium von 1749. Die Frauenfigur im Werk des Komponisten erscheint also tatsächlich als Paradigma eines ästhetischen Wandels – und seiner musikalischen und auch kompositionstechnischen Beglaubigung. Um jedoch voreilige Schlüsse zu vermeiden, schien es bei diesem Symposium wichtig, die Perspektive von vornherein über Händel hinaus zu weiten, da sich erst im Vergleich Allgemeines und Besonderes zu trennen vermögen. Auch wenn nicht mehr als Schlaglichter entstehen konnten, so sollten diese doch die Problemlage beleuchten. Zu Beginn versuchte Cord-Friedrich Berghahn in seinem Festvortrag einen panoramaartigen Überblick über den Gesamtzusammenhang. In den einzelnen Referaten sollten dann Differenzierungen im Sinne von Fall­studien vorgenommen werden. Berthold Over hat bei den italienischen, vor allem römischen Kantaten um 1700 angesetzt, gehört doch die intellektuelle Physio Zur Bedeutung der Frauenfigur in diesem Zusammenhang Bettina Plesch: Die Heldin als Verrückte. Frauen und Wahnsinn im englischsprachigen Roman von der Gothic Novel bis zur Gegenwart, Pfaffenweiler: Centaurus 1995 (= Frauen in der Literaturgeschichte 4). 13 Carsten Zelle: „Ey was hat der Arzt mit der Seele zu thun“? Physiologie und Psychologie bei­ Albrecht von Haller und Johann Gottlob Krüger, in: Tanja van Hoorn / Yvonne Wübben (Hg.): „Allerhand nützliche Versuche“. Empirische Wissenskultur in Halle und Göttingen (1720–1750), Hannover-Laatzen: Wehrhahn 2009, S. 21–40. 12

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Empfindsam – heroisch – erhaben 

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gnomie der Kardinalshöfe um 1700 nach wie vor zu den bemerkenswerten Desiderata der Forschung. Noch immer bestimmt ein höchst ungenaues Bild die Vorstellung von den intellektuellen, poetologischen, ästhetischen, künstlerischen und musikalischen Aktivitäten der oligarchischen römischen Elite. Im Dido-Stoff liegt eine tragische Konfiguration aus der Antike vor, die – gipfelnd in Metastasios Libretto – viele Komponisten geprägt hat. Albert Gier, der aus gesundheitlichen Gründen nicht persönlich anwesend sein konnte, hat sich dieser Konstellation angenommen. In Agrippina, wiederum einem italienischen, nun für Venedig bestimmten Werk, spitzt sich der Konflikt im Kontrast der beiden Frauenfiguren Agrippina und Poppea zu, Gegenstand des Referats von Panja Mücke. Kaum zufällig dürften die Verschiebungen in der Darstellung auch mit dem ganz anderen, in vielem Rom entgegengesetzten intellektuellen Umfeld in Venedig zu tun haben. Klaus Pietschmann hat sich mit der Ästhetik des Wahnsinns in Händels Opern – und ihrer Bedeutung für die Frauengestalten auseinandergesetzt. In Ergänzung zu den Referaten des Symposiums sind in dem vorliegenden Band noch zwei weitere Beiträge aufgenommen: Hans­ Joachim Marx untersucht die Echtheit des Händel-Porträts von C ­ hristoph Platzer (um 1710), Ton Koopman verfolgt die Idee einer möglichen Begegnung zwischen Bach und Händel im Winter 1705/06. Vervollständigt wird auch dieser Band der GHB wieder durch die von Hans Joachim Marx zusammengestellte aktuelle Bibliografie der Händel-Literatur sowie die Mit­teilungen der Göttinger Händel-Gesellschaft e. V.

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Zauberinnen, Märtyrerinnen, Verführerinnen: Barocke Heroinen und die Ästhetik des Erhabenen Cord-Friedrich Berghahn (Braunschweig) The truth is, that the spectators are always in their senses, and know, from the first act to the last, that the stage is only a stage, and that the players are only players.1

Der französische Moralist Jean de La Bruyère schreibt 1688 in seinen Caractères ou les mœurs de ce siècle über die Oper, die er als „ébauche d’un grand spectacle“ zu den „ouvrages de l’esprit“ des Zeitalters rechnet: „das Eigentliche dieses Schauspiels besteht darin, die Geister, die Augen und die Ohren in einer gleichbleibenden Verzauberung zu halten“.2 Wenngleich La Bruyère dies in ziemlich kritischer Absicht äußert, scheint es mir eine vielleicht noch heute, auf je­den Fall aber für das Zeitalter des Barock zutreffende Definition zu sein. Die Oper ist von ihren Anfängen an mit dem Mythos und dem Wunderbaren verbunden, ist Schauplatz atemberaubender vokaler Kunst-Stücke und ausgefeilter technischer Illusionen. Auch ihre Protagonist(inn)en sind durch die Macht der Musik, die immer auch dämonischen Ursprungs ist, von den Schauspieler(inne)n des Sprechtheaters geschieden. Für sie gelten besondere Gesetze, so wie für die junge Gattung überhaupt. Jene historischen, mythischen oder phantastischen Figuren, die es aus der Sage, dem Epos oder der Historie auf die Opernbühne geschafft haben, erfahren hier eine Verwandlung, eine Metamorphose, die ganz eigenen Gesetzen unterliegt. Dies gilt auch für die Heroinen der barocken Oper, denen meine folgenden Ausführungen gewidmet sind. Unter Heroinen verstehe ich ikonische weibliche Hauptfiguren und unter der barocken Oper das Musiktheater zwischen 1600 und 1750, d. h., in dieses Zeitalter spielen noch der Renaissance-Humanismus und schon die Aufklärung hinein. Meine Überlegungen gliedern sich in fünf Abschnitte. Der erste erklärt den Begriff des Affekts und zeigt, wann er Samuel Johnson: Preface to Shakespeare (1768), in: The Works of Samuel Johnson. L. L. D. (9 Bde.), Bd. V, Oxford 1825, S. 103–154, hier S. 121. 2 „Il ne faut point de vols, ni de chars, ni de changements, aux Bérénices et à Pénélope: il en faut aux Opéras, et le propre de ce spectacle est de tenir les esprits, les yeux et les oreilles dans un égal enchantement.“ Jean de La Bruyère: Les Caractères (1688). Texte de la dernière édition revue et corrigée par l’auteur, publiée par E. Michallet, 1696, I/47, S. 74, http://www.oasisfle. com/ebook_oasisfle/la_bruyere_caracteres.pdf (Zugriff am 21.9.2015). 1

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Cord-Friedrich Berghahn

in das Visier der Oper gerät; der zweite geht der Darstellung der Leidenschaften in der Oper nach; der dritte skizziert die Anthropologie des Weiblichen im 17. und frühen 18. Jahrhundert; der vierte versammelt eine kleine Typologie barocker Heroinen; und der fünfte fragt abschließend nach der Kategorie des Erhabenen.

I. Monteverdi und die Leidenschaften in der Musik Dem achten Buch seiner Madrigale – den Madrigali guerrieri, et amorosi, einer Sammlung, die in der Heterogenität des Gedruckten die Summe seines Schaffens repräsentiert – stellt Claudio Monteverdi 1638 ein manifestartiges Vorwort voran. Unter der lapidar-skeptischen Überschrift Claudio Monteverdi a’ chi legge (Claudio Monteverdi an den, der es liest) rühmt sich der Musiker einer bahnbrechenden Er- oder doch Wieder-Findung: „Ich habe erwogen“, heißt es hier, „daß sich unsere Leidenschaften oder Gemütsbewegungen in folgenden drei Grund­ affekten ausdrücken: in Zorn, Mäßigung und Demut oder Flehen, wie dies die besten Philosophen bestätigen, ja selbst die Natur unserer Stimme, die in hohe, tiefe und mittlere Stimmlagen eingeteilt ist, und wie es die Musik mit den drei Bezeichnungen concitato, molle und temperato deutlich macht. Ich konnte jedoch in keinem Werk früherer Komponisten ein Beispiel für die erregte [concitato genere] Art finden, wohl aber für die weiche und gemäßigte Art […]“.3

Diese drei Affekte finden sich, so Monteverdi, schon bei Platon; doch ihre Harmonie ist nach dem Ende der Antike aus dem Gleichgewicht geraten, und zwar durch das christliche Verdrängen der weltlichen dramatischen Musik. „Und weil ich weiß“, fährt Monteverdi fort, „daß es die Gegensätze sind, die unser Gemüt heftig bewegen – das Ziel, das Gemüt zu bewegen, muß die gute Musik haben […] – setzte ich es mir mit nicht geringem Fleiß als Ziel und wurde nicht müde darin, diese Ausdrucksweise wieder aufzuspüren. […] So machte ich die Beschreibung des Kampfes zwischen Tankred und ­Clorinda ausfindig, um selbst die beiden gegensätzlichen Affekte Krieg bzw. Bitte und Tod vertonen zu können. […] Diese Kompositionsweise war auch anderen Komponisten so willkommen, daß sie mich nicht nur mit Worten lobten, sondern mich auch in ihrem Werk zu meiner großen Freude und Ehre nachgeahmt haben. Deshalb Claudio Monteverdi: Madrigali guerrieri, et amorosi […]. Libro ottavo di Claudio Monteverde […], Venedig 1638, o. P.; deutsche Übersetzung von Sabine Ehrmann im Begleitbuch zur CD-Einspielung der Madrigale guerrieri, et amorosi durch das Concerto Vocale unter René Jacobs, Arles: Harmonia Mundi 2002 (hcm 901736.37), S. 24–25, hier S. 24 (der italienische Text Monteverdis dort auf S. 8 als Faksimile).

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Barocke Heroinen und die Ästhetik des Erhabenen

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hielt ich es für richtig, die Öffentlichkeit wissen zu lassen, daß von mir die Erfindung und die erste Anwendung dieser Kompositionsart stammt, die für die [dramatische] Musik so notwendig ist, weil ohne sie – das kann man mit Recht sagen – die Musik bis heute unvollständig gewesen ist […]“.4

Mit berechtigtem Stolz rühmt sich Monteverdi seiner Entdeckung. Sein Text ist die erste Theorie der Oper, ein musikdramatisches Manifest, das für ein ganzes Zeitalter Gültigkeit hat – für das der großen ernsten Oper des Barock, der Opera seria. „Drohen und Flehen“, schreibt Ivan Nagel in einem der schönsten Bücher über die Oper des 18. Jahrhunderts, „sind die beiden Gebärden, von denen aller Ausdruck der Opera seria abstammt. […] Drohen und Flehen […] sind der Ernsten Gattung nicht Episode oder Handlung, sondern Quelle der Form. Darum klammerte sich die Frühgeschichte der Oper, ihres Daseinsrechts noch ängstlich ungewiß, an den Orpheus-Stoff: Der Erzürnte erhört den ihn Anflehenden nur, wenn er singt. Die Oper braucht es, um in einem Welt­gefüge vernichtend übermächtiger Willkür […] eine Chance für Gnade einzufordern.“5

Diese Idee der Leidenschaften, der Affekte, die den Kern aller dramatischen, also Handlung zeigenden Musik ausmachen, konkretisiert Monteverdi in einem musikgeschichtlich kaum weniger bedeutenden, aber an versteckter Stelle niedergeschriebenen Text. Dem Dichter Alessandro Striggio (1573–1630), Librettist seines Orfeo, schreibt er aus Anlass eines vorgeschlagenen allegorischen Libret­tos einen programmatischen Brief; in ihm heißt es: „ich kann die Sprache der Winde [mit meiner Musik] nicht nachahmen [also in einem höheren Sinn nachahmen, nicht lediglich tonmalerisch kopieren], weil sie nicht sprechen; wie soll ich da Mitgefühl erregen? Ariadne bewegte die Hörer, weil sie eine Frau war; ebenso ergriff Orpheus die Zuhörer, weil er ein Mensch war und kein Wind […]“.6

Am Anfang der Geschichte der Oper – der jüngsten und wahrscheinlich letzten großen Gattung des europäischen Theaters – steht das Bewusstsein, dass die menschlichen Leidenschaften in ihrer ganzen Vielfalt der elementare Bestandteil eines neuen (und damit der Antike zugleich wieder nahen) Schauspiels zu sein haben. Monteverdi ist in seinen musikalischen Werken – den dramatischen Madrigalen und Opern  –, aber auch in seinen theoretischen Über Ebd., S. 24 f. Ivan Nagel: Autonomie und Gnade. Über Mozarts Opern, München 1985, S. 9. 6 Zit. nach Nikolaus Harnoncourt: Orfeo – Ulisse – Poppea. Einführung zur Aufnahme der drei Opern Monteverdis, Teldec 1988 (242739–2), Booklet, S. 11. 4 5

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legungen ein genuiner Dramatiker. Im Zentrum seiner Reflexionen wie seiner musik­dramatischen Praxis stehen die Affekte  – also die Gemütsbewegun­gen oder seelischen Zustände wie Schmerz, Freude, Hass, Liebe usw.7 Begriffsgeschichtlich bezieht sich das lateinische affectus und passio auf das altgriechische pathos. Diese Begriffe „stellen von der Antike bis ins 18. Jahrhundert die üblichsten Bezeichnungen dar und werden fast durchgängig als Synonyme verstanden“.8 Monteverdis musikalische Reflexion der Affekte ist damit ganz auf der Höhe seiner Zeit: Kaum ein Thema beunruhigt die medizinischen, philosophischen und kunsttheoretischen Spekulationen des 17.  und des frühen 18. Jahrhunderts derart wie das der menschlichen Leidenschaften. Es liegt daher auf der Hand, dass die von Monteverdi praktisch geschaffene und theoretisch reflektierte Kunstform Oper sofort zum idealen Verhandlungs- und Darstellungsort der Affekte avanciert. Diese zentrale Stellung behauptet die Oper, allen ihren Wandlungen zum Trotz, bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, ja vielleicht sogar bis in die Gegenwart.

II. Vom Affekt zum Ausdruck – Leidenschaften und Oper im Barock Für das Zeitalter des musikalischen Barock ist der Affektbegriff zentral, so zentral wie die Vorstellung, dass alle Kunst, auch die Musik, rhetorisch zu be­ greifen ist.9 In der Philosophie, die den Barockbegriff meidet, gilt dies mit gleichem Recht. Das 17.  Jahrhundert, also das Zeitalter des philosophischen Rationalismus, hat sich an keinem Begriff stärker abgearbeitet, und dies aus gutem Grund: Vor dem so gewaltsamen wie trostlosen Tableau der religiösen Bürgerkriege – die wir heute wieder als die schlimmste Form des Krieges überhaupt erkennen – wird die Kunst der Beherrschung der Leidenschaften zum entscheidenden Mittel für die Pazifizierung der Welt und für das Gelingen des eigenen Lebens. Denn wenn man wie Descartes, Hobbes und Spinoza – die wichtigsten Kartographen der Affekte im 17. Jahrhundert – „das menschliche Seelenleben als ein[en] Kampfplatz, auf dem Verstand und Leidenschaften um die Vorherrschaft ringen“, betrachtet, dann muss die „Tyrannei der Affekte über die Vgl. einführend die nach wie vor lesenswerte Studie von Karl Bernecker: Kritische Darstellung der Geschichte des Affektbegriffs (Von Descartes bis zur Gegenwart), Berlin 1915. 8 Catherine Newmark: Passion – Affekt – Gefühl. Philosophische Theorien der Emotionen zwischen Aristoteles und Kant, Hamburg 2008 (= Paradeigmata 29), S. 9; vgl. ebd. und passim zur gegenwärtigen Konjunktur der Pathos-Forschung. 9 Vgl. zum Zusammenhang zwischen Affektenlehre und Rhetorik Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen 1990 (= Studien zur deutschen Literatur 107), S. 119–136.

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Vernunft“ das eigentliche Hindernis auf dem Weg zur Selbsterkenntnis und zur „heroische[n] Überwindung gewaltig andrängender, schädlicher Leidenschaften“ sein.10 Das Darstellen, Erkennen und Beherrschen der Leidenschaften wird so erkennbar als Teil jenes zivilisatorischen Prozesses, den Norbert Elias beschrieben hat: Die zunehmende Zivilisierung verlangt eine immer perfektere Kontrolle der Affekte durch Fremd-, v. a. aber durch „Selbstzwänge“;11 auf der Kehrseite wird die Inszenierung – und damit die Diskursivierung – der Affekte in der Kunst zum Surrogat dieses unumkehrbaren Prozesses.12 „Von den Leidenschaften allein hängt alles Gute und Übel in diesem Leben ab“, schreibt René Descartes am Schluss seiner Schrift Les passions de l’ âme (Die Leidenschaften der Seele),13 und in seinem Gefolge unternimmt Spinoza fast eine Generation später die Vermessung der Affekte: „Es geschieht nichts in der Natur, was man ihr als Fehler anrechnen könnte, denn die Natur ist immer und überall eine, und ihre Kraft und ihr Thätigkeitsvermögen ist dasselbe, d. h. die Gesetze und Regeln der Natur, nach welchen Alles geschieht und aus der einen Gestalt in die andere verwandelt sind, sind überall und immer die­ selben […]. Daher erfolgen die Affecte des Hasses, Zornes, Neides etc., an sich betrachtet, aus derselben Nothwendigkeit und Kraft der Natur […]. Ich werde also die Natur und die Kräfte der Affecte und die Macht des Geistes in Bezug auf dieselben nach derselben Methode behandeln, mit welcher ich im Vorigen über Gott und den Geist gehandelt habe, und die menschlichen Handlungen und Triebe eben so betrachten, als wenn von Linien, Flächen oder Körpern die Frage wäre.“14

Zeitgleich arbeitet Charles Le Brun, Hofmaler Ludwigs XIV., an seinem gewaltigen Projekt einer ikonologischen Erschließung und Kartographierung der Leidenschaften in der Malerei, die er in unzähligen Zeichnungen und Gemäl Hartmut Grimm: Affekt, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. I, Stuttgart / Weimar 2000, S. 16–49, hier S. 30. 11 Norbert Elias: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen (2 Bde.). Zweite, um eine Einleitung vermehrte Auflage, Bern 1969, Bd.  I: S. VII ff., hier S. VIII, und Bd. II: S. 369–396 („Die Dämpfung der Triebe. Psychologisierung und Rationalisierung“, mit zahlreichen Beispielen aus dem 17. Jahrhundert); vgl. auch Grimm: Affekt (wie Anm. 10), S. 17. 12 Vgl. zur Diskursivierung der Leidenschaften als Praxis der Regulierung des unbotmäßigen Selbst im Zeitalter des Barock Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit [frz. Titel: Histoire de la sexualité, Bd. I: La volonté de savoir, Paris 1976]. Übersetzt von Ulrich Raulff und Walter Seitter, Frankfurt/M. 1979, S. 27–49. 13 René Descartes: Über die Leidenschaften der Seele. Übersetzt und erläutert von Artur­ Buchenau, Leipzig 31911, S. 110. 14 Baruch de Spinoza: Opera / Werke (2 Bde.), hg. von Günter Gawlick, Friedrich Niewöhner und Konrad Blumenstock, Bd.  II: Ethica / Ethik. Lateinisch / Deutsch. Dritter Theil. Von dem Ursprung und der Natur der Affecte, Darmstadt 42008, S. 259. 10

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Abb. 1: Charles Le Brun: Les passions; Kupferstich von Henri Testelin (1696) nach einer Zeich­nung aus dem Jahr 1663.15

den umsetzt und in seiner so präzisen wie lakonischen Méthode pour apprende à dessiner les passions zusammenfasst.16 Wir sind nun tief in das Zeitalter des Rationalismus vorgestoßen, das mit dem musikalischen Barock über fast ein Jahrhundert parallel verläuft, bevor die Aufklärung die Themen anders ordnen wird. Dieser philosophische Rationalismus stemmt sich in seiner Rigidität gegen eine der irrationalsten und grausamsten Epochen der europäischen Geschichte. Mit ordnunggebietender Systematik greifen die Denker des Jahrhunderts das Thema der Leidenschaften auf – und damit auch das der Musik, die seit den antiken Theorien des Musikalischen in besonderer Art und Weise mit den Leidenschaften korrespondiert. Monteverdis Entdeckung des Zorns als Motor des Dramatischen ist also nicht nur die Geburtsstunde des modernen Musiktheaters, sie fügt sich auch hervorragend in das ideengeschichtliche Profil des 17. und frühen 18. Jahrhun Sentiments des Plus Habiles Peintres sur la Pratique de la Peinture et Sculpture, mis en Tables de Precéptes, avec Plusieurs discours académiques, Paris 1696, Tafel VI. 16 Charles Le Brun: Methode pour apprendre a dessiner les passions. Proposée dans une Conference sur l’expression générale, et particuliere. Par Mr. Le Brun […], Amsterdam 1702 [Reprint Hildesheim 1982], vgl. insbesondere den einleitenden Discours, S. 1–16. 15

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derts. Glücklicherweise geschieht sie in Italien und damit vor dem Hintergrund der Gegenreformation. Im Konzil von Trient hatte die schwer angeschlagene katholische Kirche im ausgehenden 16. Jahrhundert beschlossen, die Kunst in den Dienst der Religion zu stellen und die Heilige Messe, ja das Kirchenjahr insgesamt zu einem synästhetischen Fest zu machen. Dazu gehört wesentlich die Musik, insbesondere die Kantaten und Oratorien, aber auch jene Vorformen der Oper, die Monteverdi aufgreifen und mit der Idee des barocken Fests verbinden sollte. Dass die Oper ihren gesamteuropäischen Siegeszug geographisch im gegenreformatorischen Italien und ideengeschichtlich im Zeitalter des Rationalismus beginnt, ist also kein Zufall. Selbst wenn sich die Philosophie der Zeit von der sinnlichen Macht der Musik, von ihrer unmittelbaren Wirkung auf die Gemüter skeptisch distanziert, ist die Musik Teil ihres Systems, und zwar als „Reservat der Gefühle und Affekte“. Im musikalischen Barock bildet, so Carl Dahlhaus, eine „irrationale Musikästhetik“ das notwendige „Korrelat einer rationalen […] Ethik“.17 Damit avanciert die Oper zum Schauplatz der verdrängten und zu verdrängenden Leidenschaften – und à la longue auch zum Ort des Anderen der Vernunft: des Wunderbaren, des Übernatürlichen und des Erhabenen. Für diesen Schauplatz der Leidenschaften unter Beigabe von Musik, Tanz und Bühnenbild sind die Affekte in doppelter Hinsicht das Zentrum: erstens auf der Ebene der Darstellungsinhalte und zweitens im Hinblick auf das „expressive Wirkungspotential“ dieser Kunstform.18 Diese zweifache Begründung der Affekt-Dramaturgie ist auch für die Form des barocken Theaters verantwortlich. Erst wenn man diese Voraussetzung akzeptiert, kann man Schauspiel und Oper des Barock adäquat verstehen – und zugleich begreifen, warum die Aufklärung diese Dramatik seit der Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend bekämpft. Es geht den Bühnenwerken des Barock nämlich nicht um die Entwicklung eines Charakters, sondern vielmehr um die „Zuspitzung des Konflikts zwischen ungehemmter Leidenschaft und standhafter Vernunft“ und die „exzessive[ ] Aufwallung von Affekten, die ins Verderben führen“. Dieser Idee entspricht viel eher eine Folge plötzlicher Umschwünge als eine organische Entwicklung der Handlung. „Die dramatis personae der barocken Bühne sind versinnbildlichte Affekt-Typen, nicht individuelle Personen.“19 Von daher resultiert der emblematische Charakter barocker Bühnenfiguren überhaupt und barocker Heroinen im Speziellen; auch die Übersteigerung, ja scheinbar irratio Carl Dahlhaus: Einleitung, in: ders. (Hg.): Die Musik des 18.  Jahrhunderts, Laaber 1985 (= Neues Handbuch der Musikwissenschaft 5), S. 1–68, hier S. 9. 18 Grimm: Affekt (wie Anm. 10), S. 16. 19 Ebd., S. 32. 17

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nale Maßlosigkeit der gezeigten Leidenschaften, die so charakteristisch für die Oper des Barock ist, findet hier ihre Begründung. „Among opera’s grand narratives“, so Suzanne Aspden, „the discourse of excess is perhaps most persistent“.20 Dennoch darf man sich die Oper des Barock nicht von unseren postdramatischen Aufführungskonventionen der Entgrenzung her vorstellen. Die Bewegung der Musik und die Affekte der Sprache finden im 17. und bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts keine Entsprechung in der theatralischen Aktion der Sänger(innen), denn diese unterliegen, wie auch die Schauspieler, den Restriktionen der klassischen Rhetorik, die Quintilian im elften Buch seiner Institutio oratoria aufstellt. In den Abschnitten, die sich dem Vortrag zuwenden, differenziert Quintilian zwischen dem Redner und dem Tänzer, und er tut dies im Sinne einer Hierarchie, in der dem logos der Rede Priorität zukommt. Neben dem Gesicht, dessen Mimik den Sinn der Worte zu unterstützen hat, sind allenfalls die Hände ein zulässiges außersprachliches Mittel zu Bedeutungsverstärkung. Ansonsten sei eine „Nachahmung“ der Rede durch Gesten und körperliche Zeichen im Interesse der rhetorischen Angemessenheit unbedingt zu vermeiden. „Denn aufs Stärkste“, so Quintilian, „muß sich der Redner vom Ausdruckstänzer (Pantomimen) abheben, so daß das ­Gebärdenspiel mehr dem Sinn als den Worten dient, wie es ja auch bei den etwas anspruchsvolleren Schauspielern gebräuchlich war. Wenn ich es also auch gestatten möchte, die Hand auf sich zu richten, wenn man von sich selbst spricht, ferner auch sie auf den zu richten, den sie meint, und andere Gebärden dieser Art, so wenig doch, bestimmte Stellungen und alles, was man sagen will, darzustellen. Und das gilt nicht allein bei den Händen, sondern im ganzen Gebärdenspiel und stimmlichen Ausdruck zu beachten.“21

Auch diese scheinbare Diskrepanz zwischen leidenschaftlicher Rede und Musik und stoischer Haltung trägt zum ästhetischen Reiz der barocken Oper entscheidend bei; zugleich verweist sie auf die rationalistische und rhetorische Legitimation dieser Kunst. Indem sich die Oper dem stoizistischen Bühnenkonzept unterwirft, beansprucht sie, aller gezeigten Leidenschaft zum Trotz, auch die Würde des großen rationalistischen Theaters. Das aber bedeutet, dass der Sänger – als Analogon des Schauspielers, der wieder ein Analogon des Rhetors ist – die Affekte nicht einfach nachahmt, sondern diese im Moment der Äußerung auch in den Zuschauern hervorzurufen vermag. Dies sollte sich Suzanne Aspden: The Rival Sirens. Performance and Identity on Handel’s Operatic Stage, Cambridge 2013 (= Cambridge Studies in Opera), S. 1. 21 Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis Oratoriae Libri XII / Ausbildung des Redners. Zwölf Bücher (2 Bde.), Lateinisch / Deutsch, hg. und übersetzt von Helmut Rahn, Bd. II, Darmstadt 31995, S. 641 f. (XI 3, 89–90).

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mit der Idee einer eben nicht mehr im Sinne der Rhetorik schaffenden ‚Natur‘ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts grundsätzlich ändern – mit gravierenden Konsequenzen für die Oper und das Ballett.22

III. Die barocke Oper und die Anthropologie des Weiblichen Stellt die Oper die wohl ideale Form für das Zeigen der Affekte dar, so sind es die Frauenfiguren, denen von Anfang an das Augenmerk der Librettisten und Komponisten in ganz besonderem Maße gilt. Von Monteverdis Poppea bis zu Mozarts Königin der Nacht spannt sich ein Bogen, der extreme Gefühle in weiblichen Partien auslotet und dabei große, ikonische, im emphatischen Sinne opernhafte Frauengestalten schafft. In der Oper des 17. und 18. Jahrhunderts sind sich die Geschlechter, zumindest was den Kunstanspruch angeht, ebenbürtig. Dafür gibt es eine ganze Reihe von Gründen. Da ist zum einen der sehr spezifische Charakter der Oper. Sie ist eine, um mit Richard W ­ agner und seinem Bewunderer Charles Baudelaire zu sprechen, künstliche Kunst, eine Kunst, die ihre Kunsthaftigkeit wie auf einem silbernen Tablett vor sich herträgt. Alle aufklärerische Kritik an der ‚Unnatur‘ der Opera seria verfehlt von daher den ästhetischen Reiz, den diese internationale Kunstform für eineinhalb Jahrhunderte bereitete. Zu ihrer Kunsthaftigkeit gehört ein vertracktes Spiel mit den Geschlechterrollen, gehören Hosenrollen, aber auch Kastraten, und zwar sowohl in hohen Männer- wie in Frauenrollen. Auf der Ebene des Gesangs sind geschlechtliche Zuordnungen – und genau dies meint der Begriff Gender  – mithin willkürlich. Sie unterliegen nicht jenen für die Aufklärung entscheidenden Gesetzen der ‚Natur‘ – die, historisch gesehen, übrigens nicht weniger konstruktiv, also künstlich sind –, sondern den Gesetzen der Kunst. Und diese bestimmen mit absolutistischer Macht über die Geschlechterverhältnisse auf der Bühne. Neben dieses Spiel mit der Künstlichkeit und der Differenz zwischen Bühne und Realität treten die philosophischen und anthropologischen Spekulationen über das Weibliche. Seit der Antike, seit Platon, Aristoteles und Plotin, gilt das Weibliche als naturnah, als sinnlich evident und damit auch als intellektuell defizitär. Das bleibt prinzipiell auch in der Frühen Neuzeit so; allerdings wird diese Auffassung auch durch eine ganze Reihe von existenziellen und literarischen Modellen herausgefordert und in Frage gestellt. Auch daran 22

Vgl. Laurenz Lütteken: Das Monologische als Denkform in der Musik zwischen 1760 und 1785, Tübingen 1998 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 24), S. 286 ff.; vgl. auch M ­ atthias Sträßner: Tanzmeister und Dichter. Literaturgeschichte(n) im Umkreis von Jean Georges N ­ overre, Berlin 1993, insbesondere S. 29–46.

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partizipiert die Oper. In De la recherche de la vérité schreibt der Philosoph­ Nicolas Malebranche den Frauen 1674 eine spezielle „délicatesse des fibres“ zu. Im Abschnitt über die „imagination des femmes“ liest man: „Cette délicatesse des f­ ibres se rencontre ordinairement dans les femmes, et c’est ce qui leur donne cette grande intelligence pour tout qui frappe les sens.“ Diese sinnliche Gewissheit hat jedoch Grenzen, denn, so Malebranche: „Tout ce qui est abstrait leur est incompréhensible“.23 Malebranche ist nur einer unter vielen philosophischen Gewährsmännern der Epoche zwischen Hexenverbrennung und Schillers Glocke, die der Frau sinnliche Kompetenz und intellektuelle Inkompetenz bescheinigen. Es gibt aber – und das unterscheidet das 17. und frühe 18. Jahrhundert vom späteren 18. und insbesondere vom 19. Jahrhundert – auch andere Stimmen, und es gibt Gewährsfrauen, die sowohl theoretisch wie durch ihre Existenzmodelle andere Wege aufgezeigt haben. So bricht im späten 17. Jahrhundert in Paris im Umfeld der berühmten Querelle des anciens et des modernes – jenes europaweiten Streites über die Frage, ob die Moderne die Antike kulturell einholen und überholen könne und ob die Künste normative oder nur relative Ideale kennen24 – eine veritable Querelle des femmes aus. 1694 erscheint Charles Perraults Apologie des Femmes, in der die Frage der weiblichen Bildung diskutiert wird.25 Dass derselbe Autor, der mit seinem Gedicht Le siècle de Louis le Grand sieben Jahre zuvor den bis hin zu Nietzsche schwelenden Antikenstreit auslöst, sich nun dieser Frage zuwendet, unterstreicht die Brisanz, die dem Thema im Zeitalter des Rationalismus zuerkannt wird. Damit nämlich avanciert die Aus­einandersetzung über die Bildungsfähigkeit der Frau und über die Frage, ob nicht genau in der Partizipation der Frauen an Bildung und Kultur ein, ja der Unterschied zwischen Antike und Moderne besteht, zu einer grundsätzlichen Selbstverortung der Epoche. Auch in der Oper hat dieser historische Moment eines gleichsam offeneren Geschlechterdiskurses seine Folgen gehabt. Wendy Heller hat in ihrer Studie über die Frauen im Opernbetrieb und in Opern des 17. Jahrhunderts auf beeindruckende Weise zeigen können, wie intensiv die Bestimmung des Weiblichen im venezianischen Musiktheater der Zeit mit den philosophischen und anthro Oeuvres de Malebranche. Nouvelle edition par Jules Simon. Deuxième série: De la recherche de la verité, Paris 1842, S. 141 f. 24 Vgl. die Rekonstruktion der Querelle in Frankreich durch Hans Kortum: Charles Perrault und Nicholas Boileau. Der Antike-Streit im Zeitalter der klassischen Französischen Literatur, Berlin 1966 (= Neue Beiträge zur Literaturwissenschaft 22); vgl. für den deutschen Bereich Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der „Querelle des anciens et des modernes“ in Deutschland, München 1981. 25 Vgl. Dorothea Dornhof: Weiblichkeit, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. VI, Stuttgart / Weimar 2005, S. 481–520, insbesondere S. 488–495. 23

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Abb. 2: Der von Händel für London engagierte Kastrat Senesino (Francesco Bernardi) in einer zeitgenössischen ­ ­K arikatur.26

pologischen Debatten  der Zeit verschaltet ist.27 Ein ganz konkretes und zumindest teilweise venezianisches Beispiel dieser Wechselwirkung steht im Zentrum der Göttinger Händel-Festspiele 2015: Händels und Vincenzo Grimanis Agrippina, deren Titelheldin und Spielleiterin eine zutiefst ambivalente, alles riskierende und dabei zugleich auch wieder ironisch gebrochene Agrippina ist.28 Abb. nach Dahlhaus: Die Musik des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 17), S. 80. Wendy Heller: Emblems of Eloquence. Opera and Women’s Voices in Seventeenth-Century ­Venice, Berkeley / Los Angeles / London 2003, vgl. insbesondere die Einleitung S. 1–26; meine im nächsten Abschnitt skizzierte kleine Typologie barocker Heroinen ist als Supplement zu­ Hellers Galerie venezianischer Opernheldinnen angelegt, vgl. ebd., S. 47 ff. 28 Vgl. dazu den Beitrag von Panja Mücke in diesem Band. 26 27

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Letztendlich haben derart komplizierte, das Komische mit dem Ernsten amalgamierende Modelle im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts die Bühne räumen müssen, um Platz zu machen für die klar umrissenen Gattungen der metastasianischen Opera seria und der Opera buffa. Und auch die experimentellen Auslotungen alternativer Weiblichkeitskonzepte der Querelle des femmes sind im 18. Jahrhundert der dichotomischen Trennung der Geschlechterrollen zum Opfer gefallen. „Das Leitbild der weiblichen Intellektuellen, das feministisch gesonnene Autoren auf der Basis des Cartesianismus im späten 17. Jahrhundert geschaffen und das mutige Frauen als Modell und als Rechtfertigung genutzt haben, konnte sich nicht dauerhaft durchsetzen.“29 Dennoch hat sich gerade in der Bühnenwirklichkeit der barocken Oper ein Element radikal unbotmäßiger Weiblichkeit erhalten, das sowohl die dargestellte Rolle wie die Darstellerin betrifft. Von diesen Identitätsverhandlungen on stage sind, wie Suzanne Aspden am Beispiel von Händels Londoner Opern zeigen konnte, nicht nur bedeutende Impulse auf die Musik ausgegangen, sie haben im 18. Jahrhundert die Konzepte von Weiblichkeit (und Männlichkeit) auf der Bühne auch entscheidend modifiziert.30 Wir dürfen uns also nicht vorstellen, dass diese intellektuellen Debatten an der Musik und insbesondere an der Oper spurlos vorbeigerauscht sind. Operngeschichte ist immer auch Ideengeschichte; und es ist, trotz ihrer höfischen Genealogie, die Oper, und nicht das Schauspiel, die im Barock die meisten Zuschauer hat und viele Menschen zum ersten Mal mit Geschichte, Mythologie und Literatur konfrontiert.31 Dazu tritt die pränationale Disposition ­Europas zwischen Renaissance und Aufklärung. Intellektuelle Debatten sind in ihm prinzipiell grenz- und sprachüberschreitend. Das gilt auch für die Kunstformen: Mit Ausnahme der dem Sprechtheater stärker zugewandten französischen Tragédie lyrique ist Europa im Zeitalter des Barock der italienischen Oper verpflichtet  – und im Verlauf des 18.  Jahrhunderts ihrer strengen Sonderform, der metastasianischen Opera seria. Diese Faktoren tragen maßgeblich dazu bei, die sinnliche Oper zum Schauplatz der Ideen über Geschichte, Politik und die Anthropologie der Geschlechter zu machen. Der Ina Schabert: Die Frau als Intellektuelle im England des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Rainer Bayreuther / Meinrad von Engelberg / Sina Rauschenbach / Isabella von Treskow (Hg.):­ Kritik in der Frühen Neuzeit. Intellektuelle avant la lettre, Wiesbaden 2011 (= Wolfenbütteler Forschungen 125), S. 191–216, hier S. 215. 30 Aspden rekonstruiert diese performativen Verhandlungen weiblicher (Bühnen-)Identität anhand der Sängerinnen-Rivalität zwischen Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni; vgl. Aspen: The Rival Sirens (wie Anm.  20), insbesondere Kap.  I („The character of the­ actress“, S. 15–67) und V („Senesino and the crisis of heroine masculinity“, S. 207–244). 31 Reinhard Strohm: Die italienische Oper des 18. Jahrhunderts, Wilhelmshaven 1979 (= Taschenbücher zur Musikwissenschaft 25), S. 13 f. 29

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Motor dieser theatralischen Auseinandersetzung sind die Affekte, die sich nirgends so plastisch und direkt zeigen lassen wie auf der Opernbühne. Die Fallbeispiele barocker Heroinen, die ich im Folgenden aufrufen möchte, belegen nachdrücklich das intellektuelle Format der europäischen Barockoper. Die Musiker und Librettisten, die für meine Argumentation eine Rolle spielen, nehmen intensiv an den Debatten ihrer Zeit teil: Monteverdi ist mit Literaten und Philosophen befreundet und versteht seine Arbeit am Musiktheater als Wiederbelebung der antiken Kunst; Jean Baptiste Lully kennt die Protagonisten der Querelles des anciens et des modernes (sein Librettist Philippe Quinault ist einer davon), jene Intellektuellen, die sich mit denen der Querelle des femmes teilweise überschneiden. Das gilt auch für seinen großen Rivalen Marc-­A ntoine Charpentier und dessen Librettisten Thomas Corneille. Händel bewegt sich in Rom und Florenz in hochgebildeten und ästhetisch experimentierfreudigen Kreisen und verkehrt später, vielleicht durch Vermittlung des befreundeten Ferdinando de’ Medici, in London annähernd drei Jahre im Hause des Earl of Burlington, jenes progressiven, den Künsten aufgeschlossenen Kopfes, der als ausgesprochen innovativer Architekt dilettiert (zu einem Zeitpunkt, als Dilettant noch ein Kompliment war). An seiner Tafel speisen neben Händel ­A lexander Pope, John Arbuthnot, William Kent – und eigentlich alle Intellektuellen, die es mit der Partei der Whigs halten.32 Schließlich Christoph ­Willibald Gluck, der Mann, dem es 1774 gelingt, den Opernverächter JeanJacques Rousseau vor den Karren seiner Pariser Reformopern zu spannen; das Paradebeispiel eines neuen Typus des intellektuellen Musikers.

IV. Kleine Typologie barocker Heroinen Hier wird sich zeigen, dass die im Titel des Aufsatzes aufgerufenen Typen – Zauberin, Märtyrerin, Verführerin  – sich in der Bühnenwirklichkeit der barocken Oper fast immer durchmischen. Fast alle Zauberinnen sind Verfüh­ rerinnen, Märtyrerinnen können bisweilen zaubern, bisweilen möchten sie auch verführen und zaubern. Eigentlich müsste der Titel auch noch länger sein: es fehlen ja die Furien, die Intrigantinnen, die Kurtisanen, die Koketten, die Spielerinnen, ja selbst der historisch nicht korrekte Begriff der femme fatale wäre hier nicht ganz falsch. Schauen wir einige dieser Heroinen an. * 32

Vgl. Christopher Hogwood: Georg Friedrich Händel. Aus dem Englischen von Bettine Obrecht, Stuttgart / Weimar 1992, S. 69–71.

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Poppea, die verführerische Intrigantin  – Am Anfang der Geschichte der Gattung stellt Monteverdi in seiner letzten Oper eine der wohl beunruhigendsten Frauen­f iguren auf die Bühne. L’ incoronazione di Poppea („Die Krönung der Poppea“) auf einen ingeniösen Text Giovanni Francesco Busenellos führt dem venezianischen Publikum des Jahres 1642 eine moralisch verkommene, absolut egoistische Virtuosin des emotionalen Kalküls vor Augen.33 Die schöne Kurtisane Poppea treibt den tugendhaften Philosophen Seneca in den Selbstmord, macht den einstigen Geliebten Ottone zum willfährigen Werkzeug, überlebt geschickt ein Mordkomplott und wird am Ende Gattin des Kaisers Nero. Eitel­ keit, Kalkül und Sinnlichkeit der Poppea werden von Monteverdi musikalisch kongenial eingefangen und machen die Oper damit nicht nur zum Verhandlungsort radikaler moralischer Debatten, sondern bestätigen auch ihr ästhetisches Eigenrecht als Scheinwelt und anthropologisches Labor. In ihm ist Poppea die Experimentatorin, die vom ersten Auftritt an bis zum Schluss die Versuchsanordnungen kontrolliert. Zugleich ist sie selbst Teil  einer Versuchsanordnung. Im Prolog nämlich schlichtet Amor den Streit zwischen Fortuna und Virtù kurzerhand dadurch, indem er sich zum absoluten Sieger erklärt: „Io le virtuti insegno / io le fortune domo: questa bambina età / vince d’antichità / il tempo, e ogn’altro Dio, / gemelli siam l’eternitade et io.“34 Die dann folgende Handlung kündigt er als Exemplum seiner Macht an. Monteverdis und Busenellos Oper, so Jean Starobinski, „verherrlicht Poppeas Schönheit. Aber diese Schönheit ist die Ausstrahlung einer viel universelleren Macht, deren Priesterin Poppea ist: die verschiedenen Stimmen, die Instrumente und die Bühnenbeleuchtung bilden diese Macht, die sich in einer Vielzahl von Erscheinungen bricht. Alles steht unter der Gewalt des Eros, in allen Varianten der klanglichen Substanz und in allen Leiden der Personen.“35

Poppea vereinigt in sich die denkbar größten Extreme; sie ist Furie und Liebende, von Leidenschaften zerfressen und zugleich in der Lage, Leidenschaften Trotz der Zweifel von Alan Curtis an Monteverdis (Gesamt-)Autorschaft („La Poppea impasticciata“ or Who Wrote the Music to „L’Incoronazione“?, in: Journal of the American Musico­ logical Society 42 [1989], S. 23–54) halte ich an den Namen Monteverdis und Busenellos fest; vgl. die Diskussion der Zuschreibungsfrage durch Wolfgang Osthoff: Monteverdi: L’Incoronazione di Poppea, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters (7 Bde.), hg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth, Bd. IV, München 1991, S. 253–259, hier S. 255 f. 34 Monteverdi / Busenello: L’Incoronazione di Poppea. Abgedruckt im Beiheft der Aufnahme unter der Leitung von Nikolaus Harnoncourt (wie Anm. 6), S. 79. 35 Jean Starobinski: Die Zauberinnen. Macht und Verführung in der Oper. Aus dem Franzö­ sischen von Horst Günther, München 2007, S. 177. 33

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zu manipulieren. Kaum ein Werk des barocken Musiktheaters verdeutlicht die Arbeit an den Affekten und an der Kunst ihrer theatralischen Repräsentation so radikal wie Monteverdis und Busenellos Poppea. In Händels Agrippina treffen wir Poppea zwei Generationen später erneut an. Freilich eine andere Poppea, verspielter, unbekümmerter, koketter, den Sinnen ergeben. Das zeigt ihre Auftrittsarie im ersten Akt der Agrippina mit der Szenenanweisung „davanti allo specchio“  – „vor dem Spiegel“: „Vaghe perle, eletti fiore / adornatemi la fronte! / Accrescete  a mia bellezza / la ­vaghezza, / ch’a svegliar nei petti amori / ho nel cor le voglie pronte!“36 Händels Librettist Vincenzo Grimani – Kardinal und zugleich Mitbesitzer des Teatro di San­ Giovanni Grisostomo  – verschiebt die Perspektive auf ingeniöse Weise und richtet sie im Hinblick auf seine eigenen politischen Ambitionen aus.37 Die ikonische Gestalt ist nun Agrippina, die Mutter Neros. Dessen ungeachtet bleibt die Monteverdi’sche Poppea (die im venezianischen Opernbetrieb, der auch Händels Agrippina zugehört, nie ganz vergessen wird38) mit ihren manipulatorischen Fähigkeiten, aber auch mit ihrer eigenen Affektverfallenheit stets erkennbar. Der Beginn des dritten Akts zeigt sie als Meisterin des Spiels mit dem Begehren und der erotischen Insinuation. „Ma soffrir sempre dee chi ha in petto amore“ („Wer verliebt ist, muss stets leiden.“) ist die grundlegende Erkenntnis, von der ausgehend sie ihr erotisches Spiel mit Ottone, Nerone und Claudio inszeniert.39 Nacheinander empfängt sie die drei ihr Verfallenen, um dem jeweils zuvor versteckten Liebhaber die Avancen der folgenden zu demonstrieren – und damit das (glückliche) Ende herbeizuführen. Die Amplituden zwischen Monteverdi / Busenellos und Händel / Grimanis Poppea unterstreichen nachdrücklich die Lizenzen der Oper im Umgang mit der Historie (in diesem Fall mit den Annales des Tacitus).40 Sie zeigen, wie das historische Material im Hinblick auf die zeitgenössischen Affektdebatten und die anthropologischen Diskussionen des 17. und 18. Jahrhunderts umgeschrie Georg Friedrich Händel: Agrippina. Opera in tre atti HWV 6, hg. von John E. Sawyer, Kassel / Basel u. a. 2013 (= Hallische Händel-Ausgabe, Serie II, Bd. 3), S. LXVI; Übersetzung: „Liebliche Perlen, auserlesene Blumen, / schmückt mir die Stirn! Erhöht den Liebreiz /  meiner Schönheit, / denn ich trage das Verlangen im Busen, / in den Herzen Liebe zu erwecken!“. 37 Vgl. Winton Dean / John Merill Knapp: Handel’s Operas 1706–1724, Oxford 1987, S. 117 ff. 38 So scheint Giacomo Antonio Pertis Oper Nerone fatto Cesare aus dem Jahr 1693 ein ­mögliches Bindeglied zu sein, vgl. Reinhard Strohm: Händel: Agrippina (1709), in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters (wie Anm. 33), Bd. II, München 1987, S. 668–670, hier S. 669. 39 Händel: Agrippina (wie Anm. 36), S. LXXXVII (Akt III, Szene 5). 40 Vgl. Annette Simonis / Ramona Schermer: Poppaea, in: Peter von Möllendorff / Annette Simonis / Linda Simonis (Hg.): Der Neue Pauly, Supplemente, Bd. VIII: Historische Gestalten der Antike. Rezeption in Literatur, Kunst und Musik, Stuttgart / Weimar 2013, Sp. 781–788, hier Sp. 783 f. 36

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ben und neuinterpretiert wird. Aus der historisch verbürgten Figur kreieren Busenello und Grimani eine je eigene Bühnengestalt, die die, freilich fragwürdigen, Möglichkeiten autonomen weiblichen Handelns auslotet. Damit reagieren sie zugleich auf die Befindlichkeiten eines venezianischen Publikums, das den „weiblichen Einfluss auf die Politik für verderblich“ hält.41 * Armida, die verführerische Zauberin – Kaum eine literarische Quelle ist für die Oper des 17. und frühen 18. Jahrhunderts von derartiger Bedeutung wie die italienische Epik der Renaissance. Matteo Boiardos Orlando innamorato, Ludovico Ariostos Orlando furioso und Torquato Tassos Gerusalemme ­Liberata sind die wohl bedeutendsten unter ihnen. Die episodischen Handlungen um Karl den Großen oder um die Kreuzzüge bieten den Librettisten des Barock zahllose, psychologisch ausgesprochen differenzierte und stets mit dem Wunderbaren assoziierte Geschichten, die sich dem Wahrscheinlichkeitspostulat des Rationalismus entziehen. Zwischen Jean-Baptiste Lully und Joseph Haydn greifen viele Komponisten und Librettisten auf diese Stoffe zurück, ja die letzte Oper auf den Armida-Stoff stammt von niemand Geringerem als Antonín Dvořák und wird erst wenige Wochen vor seinem Tod im März 1904 uraufgeführt. Zu den von Tasso Faszinierten gehört auch der Dichter Philippe Quinault, der zusammen mit Jean-Baptiste Lully 1686 als letztes gemeinsames Werk eine Armida auf die Pariser Bühne stellt. Ihre Armide ist von Anfang an als paradigmatische Verwirklichung der französischen Oper des Barock-Klassizismus  – der Tragédie lyrique – angelegt und wird auch von Anfang an so verstanden. Davon zeugt nicht zuletzt der parallel zur Uraufführung vorgelegte Prachtdruck von Text und Musik. Armide partizipiert einerseits an der strengen Form der französischen Tragödie, ist andererseits aber dem Wunderbaren verpflichtet. Ihre zentrale Figur ist die Zauberin Armide, die sich wider Willen in den verhassten Kreuzfahrer Rinaldo verliebt. Die berühmteste und in allen Disputen über die Tragédie lyrique bis hin zu Rousseau und Gluck immer wieder als beispielhaft beschworene Szene ist jener Auftritt der Armida, in dem sie Rinaldo in ihrer Hand hat, um ihn zu töten, und in dem sie ihm doch verfällt. Ein geradezu mustergültiger Affektwechsel von Hass zu Liebe; hier in jener strengen rhetorischen Form, die das andere, das französische Modell der barocken Oper charakterisiert. Sie kennt den Dualismus von Rezitativ und Arie nicht, sondern ist stärker deklamatorisch und weniger virtuos angelegt. Dafür ist sie orchestral reicher als die Opera seria und bie-

John E. Sawyer: Vorwort, in: Händel: Agrippina (wie Anm. 36), S. XVI.

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tet Raum für umfangreiche handlungstragende Ballette. Im zweiten Akt ihrer Armide lassen Quinault und Lully die Zauberin vor dem in Schlaf gezauberten Rinaldo erscheinen: „Enfin il est en ma puissance, Ce fatal Ennemy, ce superbe Vainqueur. Le charme du sommeil le livre à ma vengeance; Je vais percer son invincible coeur. Par luy tous mes captifs sont sortis d’esclavage; Qu’il éprouve toute ma rage.“ Doch Armide, die rächende Furie, erfährt einen Affektwechsel, der über die Stufe des Mitleids von Hass zu Liebe führt. Im Moment, in dem sie den schlafenden Ritter erstechen will, hält sie inne: „Quel trouble me saisit? qui me fait hesiter? Qu’est-ce qu’en sa faveur la pitié me veut dire? Frapons… Ciel! qui peut m’arrester? Achevons… je fremis! vangeons-nous… je soûpire! Est-ce ainsi que je doy me vanger aujour-d’huy! Ma colere s’éteint quand j’approche de luy. Plus je le voy; plus ma vengeance est vaine; Mon bras tremblant se refuse à ma haine.“42

In Rinaldo (1711), der ersten für London geschriebenen Oper, hat Händel mit Hilfe seiner Librettisten – Aaron Hill für das Handlungsgerüst und Giacomo Rossi für die Verse – die Rolle der Armida anders aufgefasst.43 Durch das Hinzufügen von Nebenhandlungen, die sich in Tassos Gerusalemme liberata nicht finden – wie etwa die Liebe zwischen Armida und Argante – hat Hill die Beziehung zwischen Armida und Rinaldo depotenziert.44 Im Zentrum steht nun das Interesse an der Handlungs- und Reflexionsmächtigkeit des Titelhelden (und an dessen militärischem Glanz). Diese Verschiebung gibt Händel die Freiheit, das Schreckliche und Übernatürliche seiner Armida auf Kosten der psychologischen Durchdringung stärker zu betonen. Insbesondere im zweiten [Philippe Quinault:] Armide. Tragedie. Mise en musique, Par monsieur de Lully […], Paris 1686, S. 101–103; Online unter http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b9062826k/f168.image (letzter Zugriff am 24.9.2015). In der deutschen Übersetzung von Heidi Fritz: „Nun endlich ist er in meiner Gewalt, / der Todfeind, der hochmütige Recke. / Süßer Schlaf gibt ihn meiner Rache preis. / Sein unbesiegbares Herz wird meine Lanze durchbohren. / Durch ihn sind die Gefang’nen der Sklaverei entgangen, / jetzt soll er meine ganze Wut erfahren… Armida schickt sich an, Rinaldo zu töten, hält jedoch inne. [Szenenanweisung nicht in der gedruckten Partitur von 1686.] / Wie wird mir, welcher Zweifel beschleicht mich? / Ist es Mitleid, das mich ergreift? / Töte ihn… Himmel! Was hält mich zurück? / Vollende… ich zittre! Vergeltung will ich… ich muß seufzen! / Ist das die Rache, die ich schwor? / Mein Zorn erlischt, sobald ich mich ihm nähere. / Mein Rachedurst zerrinnt, je länger ich ihn seh! / Mein Arm, er zittert und versagt dem Haß den Dienst.“ (Text abgedruckt im Booklet der CD-Einspielung von Lullys und Quinaults Armide durch Philippe Herreweghe und die Chapelle Royale, Harmonia Mundi 1993, HMC 901456.57, S. 65–67). 43 Ohne Zweifel auch, um auf den Londoner Geschmack in Operndingen zu reagieren, vgl. Curtis Price: English Traditions in Handel’s „Rinaldo“, in: Stanley Sadie / Anthony Hicks (Hg.): Handel. Tercentenary Collection, Basingstoke / London 1987, S. 120–137. 44 Vgl. Dean / Knapp: Handel’s Operas 1706–1724 (wie Anm. 37), S. 172. 42

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Abb. 3: Nicolas Poussin: Armide.45

Akt gewinnt sie in ihrer maßlosen Leidenschaftlichkeit Kontur. Umgeben von­ Nixen, Geistern und Furien entfaltet sie ihren Zauber, um doch von Rinaldos Zurückweisung existenziell getroffen zu werden – vom furiosen Auftritt über enttäuschte Liebe bis zur Rachearie Vo’ far guerra reichen die Amplituden dieses Aktes, der es vielleicht an dramatischer Geschlossenheit nicht mit Lullys und Quinaults Tragédie lyrique aufnehmen kann,46 dafür an Leidenschaftlichkeit die Maßstäbe der Agrippina einzulösen vermag.47 Insbesondere der wirkungsvolle zweite Aktschluss bietet ein hervorragendes Beispiel für die Gattung der Rachearie, und Armida für eine barocke Furie, die ganz im monumental gesteigerten Affekt aufgeht: „Vo’ far Guerra, e vincer voglio, / Collo sdegno chi

Quelle: wikimedia commons: Poussin (Zugriff am 27.9.2015). Die Vorbildlichkeit des Quinault’schen Textes wird auch durch die Tatsache unterstrichen, dass Christoph Willibald Gluck diesen Text  – geringfügig modifiziert  – als programma­ tisches Werk im Rahmen des Pariser Opernstreits 1779 erneut vertonte. 47 In der Tat stammt auch ein beachtlicher Teil des musikalischen Materials aus der Agrippina und aus anderen Werken der italienischen Periode Händels, vgl. Reinhold Kubik: Händels „Rinaldo“. Geschichte, Werk, Wirkung, Stuttgart 1982. 45

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m’offende / Vendicar’ i Torti miei; / Per abbatter quell’ Orgoglio, / Ch’il gran Foco in sen m’accende, / Saran meco Uomini, e Dei.“48 * Medea, die Zauberin als Furie – Medea, die Zauberin, die für Jason alles aufgibt und die, nachdem Jason sie verlässt, die gemeinsamen Kinder tötet, gehört zu jenen frenetischen Frauengestalten, die das europäische Denken nachhaltig verstören.49 Für die Oper des Barock ist sie eine besondere Herausforderung, weil ihre Geschichte vom Ende her lebt, einem grausigen Ende, das nicht gemildert und sinnstiftend interpretiert werden kann.50 Damit ist das Gattungsgesetz des lieto fine – des glücklichen Ausgangs auch der Ernsten Oper – grund­sätzlich in Frage gestellt, und auch die Frage des Schlusses stellte sich musikdramatisch ganz neu. Diesen Herausforderungen haben sich mehr als 20 Komponisten zwischen Francesco Cavalli (1649) und Luigi Cherubini (1797) gestellt. Die Reihe der Medea-Opern bricht freilich nach der Aufklärung nicht einfach ab, sondern zieht sich weiter bis in die Gegenwart; an ihrem (vorläufigen) Ende steht Aribert Reimanns 2010 auf ein von ihm selbst verfasstes Libretto komponierte und an der Wiener Staatsoper uraufgeführte Medea. Die 1693 in Paris uraufgeführte Médée von Marc-Antoine Charpentier und seinem Librettisten Thomas Corneille ist neben Cherubinis Médée die vielleicht bedeutendste Medea-Oper des 17. und 18. Jahrhunderts, jedenfalls die überzeugendste im Hinblick auf das Wechselverhältnis von Text und Musik. Sie endet nicht mit einem Ballett, sondern einem dramatischen Rezitativ zwischen dem verzweifelten Jason und der nicht weniger verzweifelten Medea am Ziel ihrer Rache. Die Stärke dieser Oper liegt darin, das Monströse der Medea psychologisch nachvollziehbar zu gestalten, und zwar in einer ausgesprochen differenzierten Affektdramaturgie, der auch der musikalisch so wirksame wie a­ sketische Schluss verpflichtet ist. Dessen sparsame Verwendung musikalischer Mittel steht in einem scharfen Kontrast zur apokalyptischen Szene und der frenetischen, freilich durch Metrum und Reim auch wieder gedämpften Sprache: „Adieu Jason, j’ay remply ma vengeance. / Voyant Corinthe en feu, ces Palais embrazez, / Pleure à jamais les maux que ta flâme a causez.“ Die letzte Szenenanweisung ergänzt: Georg Friedrich Händel: Rinaldo. Opera seria in tre atti, hg. von Donald R. B. Kimbell, Kassel / Basel u. a. 1993 (= Hallische Händel-Ausgabe, Serie II, Bd. 4/1), S. XXIII (= Faksimile des zweisprachigen Textbuchs zur Uraufführung, London 1711, S. 40). 49 Vgl. Angelika Corbineau-Hoffmann: Medeia, in: Maria Moog-Grünwald (Hg.): Der Neue Pauly, Supplemente, Bd. V: Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart, Stuttgart / Weimar 2008, Sp. 418–428. 50 Vgl. Corinna Herr: Medeas Zorn. Eine ‚starke Frau‘ in Opern des 17. und 18. Jahrhunderts, Herbolzheim 2000 (= Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Musik 2). 48

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Abb. 4: Carle van Loo: Die Schauspielerin Claire Clairon als Medea (1759).51 „Médée  fend les Airs sur son Dragon, & en mesme temps les Statues & autres ornemens du Palais se brisent. On voit sortir des Demons de toutes côtez, qui ayant des feux à la main embrasent ce mesme Palais. Ces Demons disparoissent, une nuit se forme, & cet édifice ne paroist plus que ruine & monstres, après quoy il tombe une pluye de feu.“ 52 51

*

Quelle: [Artikel:] Medea. wikipedia (Zugriff am 27.9.2015). [Marc-Antoine Charpentier / Thomas Corneille:] Medée, tragedie. En musique, representée par l’academie royale de musique, Paris 1693, S.  79. In der deutschen Übertragung von I­ngrid Trautmann: „Jason, leb wohl. Sieh’, meine Rache ist vollbracht, / Korinth ein Feuermeer, in Flammen die Paläste; / Bewein das Leid, das deine Leidenschaft verschuldet hat. // Medea

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Cleopatra, die Herrscherin als Verführerin  – Mein viertes Fallbeispiel führt von der Mythologie zurück in die Historie, allerdings in eine ausgesprochen mythen­affine Historie.53 1724 erlebt Nicola Francesco Hayms und Händels Giulio Cesare seine glanzvolle Premiere am Haymarket Theatre. Im Zentrum dieser Opera seria steht die historisch verbürgte Liebesgeschichte zweier Gestalten der Weltgeschichte – die zwischen Cäsar und Cleopatra. In Cleopatra, die die eigentliche Zentralgestalt der Handlung und auch der Musik ist, hat Händel eine seiner facettenreichsten Frauenfiguren geschaffen; ihre acht Arien decken die unterschiedlichsten Leidenschaften von Liebe über Trauer und Hass ab; dazu trägt ihre zwischen Neigung und Pflicht, zwischen Rom und Ägypten oszillierende Position entscheidend bei. Winton Dean, einer der größten Händel-Kenner, hat den exzeptionellen Rang von Giulio Cesare wiederholt hervorgehoben und mit der brisanten Liebeskonzeption in Hayms Libretto begründet. Text und Musik, so Dean, sind eine „glorification of sexual passion uninhibited by the shadow of matrimony“; Guilio Cesare sei daher „not an immoral, but an amoral work“.54 Es gibt daher eine gewisse Nähe dieser barocken Heroine zu den femmes fatales des ausgehenden 19. Jahrhunderts, was auch ein Grund für die anhaltende Popularität dieser Oper auf den Spielplänen der Gegenwart ist. Das oszillierende Liebeskonzept der Oper und der polare Gegensatz zwischen der tugendhaften Cornelia und der verführerischen Cleopatra geben Händel die Möglichkeit, die sinnliche Macht seiner Ägypterin mit allen musikalischen Finessen auszugestalten. In dieser Form hat Dean Händels Cleopatra in ihrer Differenziertheit mit der Shakespeares verglichen.55 Im zweiten Akt inszeniert Cleopatra einen allegorischen Liebeszauber, um Cäsar zu betören; ironischerweise unternimmt sie ihr Vorhaben als Verkörperung der Tugend. Aber

zerteilt auf ihrem Drachen die Lüfte; gleichzeitig stürzen die Statuen und alles übrige s­ chmückende Beiwerk des Palasts ein. Von überall her erscheinen Dämonen und setzen mit ihren Fackeln das Gebäude in Brand. Die Dämonen verschwinden, die Szene verdunkelt sich. Wo der Palast stand, sieht man nur noch Ruinen und schemenhafte Gestalten. Ein Feuerregen beschließt das Bild.“ (Marc-Antoine Charpentier / Thomas Corneille: Medée. Tragédie lyrique, Booklet der CDEinspielung durch William Christie und das Ensemble Les Arts Florissants, Erato Disques 1995, 4509–96558–2, hier S. 213). 53 Vgl. zur intensiven Rezeption der Cleopatra-Figur auf der barocken (Opern-)Bühne Jörg Marquardt: Kleopatra, in: Der Neue Pauly, Supplemente, Bd. VIII: Historische Gestalten der Antike (wie Anm. 40), Sp. 551–576, hier Sp. 586 f.; vgl. auch Isabel Grimm-Stadelmann / ­ Alfred Grimm: Primadonna assoluta: Kleopatras Nachleben im Musiktheater, in: Elisabeth Bronfen u. a. (Hg.): Kleopatra – die ewige Diva, München 2013 (= Katalog zur gleichnamigen Ausstellung der Bonner Bundeskunsthalle 2013), S. 104–115. 54 Dean / Knapp: Handel’s Operas 1704–1726 (wie Anm. 37), S. 489. 55 Ebd., S. 490.

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Abb. 5: Gérard de Lairesse: Quem Mars nunquam, vicit Venus; eine allegorische Deutung der Liebe Cäsars zu Cleopatra als Exempel männlicher Schwäche (1680).56

die Affekte sind auch für diese Virtuosin der Manipulation eine schwer regulierbare Größe; sie, die Verführerin, verfängt sich selbst in den von ihr ausgelegten erotischen Fallstricken und wird von der Liebe in einem Maß betroffen, das ihr Wesen verwandelt. Von da ab ist sie eine zwischen den Extremen von Handlungsrationalität und Gefühlsverfallenheit oszillierende Figur; Händel und Haym deuten ihr tragisches (und für die Ethik der Aufklärung nicht entschuldbares) Ende mehrfach an. * Alceste, die Liebende als Märtyrerin – Das letzte Exempel meiner kleinen und unvollständigen Galerie führt in die Mythologie zurück. Alkestis, Gattin des Herrschers Admetos, steht für die weltliche Märtyrerin, die sich opfert, um den Gatten aus dem Hades zurückzuholen. Das Thema der Überwindung des Todes durch eheliche Liebe (das gewissermaßen ein Pendant zum Orpheus-

Abb. von akg-images / Gerard de Lairesse: Feast of Cleopatra, Quem Mars nunquam, vicit­ Venus (1675–1680).

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Mythos bildet) fasziniert Komponisten von Lully über Händel und Gluck bis hin zu Charles Koechlin.57 Für die Oper des Barock liegt der Grund für diese Faszination darin, dass eine Version des Mythos die Rettung der Alceste durch Herkules berichtet, ein lieto fine also trotz tragischen Stoffs möglich ist. Für den Klassizismus hingegen ist Alceste interessant, weil nicht nur die Überwindung der Affekte dargestellt werden kann, sondern auch das sittliche Wachsen, die autonome Entscheidung und die Entsagung – Themen der Literatur und Kultur im Zeitalter Kants und der Französischen Revolution. Mit diesem Stoff, dessen tragikomische Behandlung durch Euripides im 18. Jahrhundert allgemein abgelehnt wird, stellen so unterschiedliche Komponisten wie Lully, Händel, Gluck und Anton Schweizer (der eng mit seinem Librettisten Christoph Martin Wieland zusammenarbeitet) musikdramatische Werke auf die Bühne, in denen die Anverwandlung der Antike für die jeweilige Moderne exemplarisch unternommen wird.58 Meine kurze Beispielkette schließt daher mit Händels Alceste (also seiner Opera seria Admeto) und mit dem Ende der Oper des Barock überhaupt: mit Ranieri di Calzabigis und Christoph Willibald Glucks Alceste in der Wiener Fassung des Jahres 1767. Händels Admeto (1727) folgt weitgehend dem Text des Dichters Aurelio­ Aureli für Pietro Andrea Zianis L’Antigona delusa da Alceste (Venedig 1660);59 allerdings hat der Bearbeiter (wahrscheinlich Nicola Francesco Haym) die Nebenhandlungen und die Rüpelszenen getilgt und das Original strenger an die metastasianischen Konventionen gebunden.60 Trotzdem bietet Händels­ Admeto immer noch genügend fulminante Szenen, um das Publikum in Staunen zu versetzen, v. a. die musikalische und textliche Ausgestaltung der Unterweltszenen ist sehr viel stärker dem (katholischen) barocken Impuls des Zeigens der Hölle verpflichtet als der späteren klassizistischen Dämpfung. Der Abstieg des Herkules in den Hades (den Aureli / Haym als Hölle im nahezu christlichen Sinn auffassen und der mit dem Elysium als Paradies kontrastiert) gehört ebenso zu diesen Szenen wie Alcestes Eifersucht gegenüber Antigona, die Vgl. Peter von Möllendorff: Alkestis und Admetos, in: Der Neue Pauly, Supplemente, Bd. V: Mythenrezeption (wie Anm. 49), Sp. 53–62, hier Sp. 55 ff. 58 Vgl. John Pizer: Baroque Pageantry, Enlightenment Inwardness, Prerevolutionary Courtly & popular Solidarity: The Evolution of Alcestis Operas in the 17th and 18th Centuries, in: Lessing Yearbook 42 (2015), S.  7–30; Pizer konzentriert sich auf die Opern Lully / Quinault, Gluck / Calzabigi / Du Roullets und Schweizer / Wielands, um eine Typologie der BühnenZuschauer-Interaktion zwischen Barock und Aufklärung zu rekonstruieren. 59 Winton Dean: Handel’s Operas 1726–1741, Woodbridge 2006, S. 38 f. 60 Vgl. Bodo Plachta: Libretti: Eine von den Editoren vergessene Gattung? Überlegungen zur kommentierten Herausgabe von Operntextbüchern des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Gunter Martens (Hg.): Kommentierungsverfahren und Kommentarformen, Tübingen 1993 (Beihefte zu Editio), S. 25–37, hier S. 32. 57

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sich in ziemlich affektiven Handlungen (wie dem gewaltsamen Entreißen des Portraits von Admetos im zweiten Akt) äußert. Musikalisch gibt diese Disposition Anlass zu einer Reihe von Arien, die unterschiedliche Affekte zwischen Liebe, Mitleid, Eifersucht und Hass abdecken. Um diese Vielfalt der Affekte musikalisch möglich zu machen, haben Händel und Haym die psychologische Konsistenz ihrer Alceste gerade im zweiten Akt bewusst zur Disposition gestellt.61 Ein schneller, ja unvermittelter Wechsel zwischen entsagender Liebe und rasender Eifersucht, wie er hier vorkommt, wäre für das Drama der Aufklärung so nicht mehr akzeptabel. Dies zeigt ein Blick auf die genau vierzig Jahre jüngere Alceste von Gluck und Calzabigi. Beide, Librettist und Komponist, haben mit dieser Alceste die Gattung der ernsten Oper neu vermessen. Keine dreiteiligen Da-capo-Arien, kein Zerfall in Rezitativ und Arie mehr, dafür eine Vielzahl sehr kurzer und formal immer neuer Nummern und ein stets vom Orchester begleitetes und stets expressives Rezitativ  – keine Frage, wenn man die Opernreform der Aufklärung verstehen möchte, dann ist diese Alceste, aller barocken Reste zum Trotz, der Schlüssel. „Die Oper“, so Norbert Miller zu Calzabigis Vision des Musikdramas, „soll ein geschlossenes Kunstgebilde werden, an dem Auge, Ohr und Verstand sich gleichermaßen erfreuen können. Das Gebot der Wahrscheinlichkeit ist Gemeingut der Aufklärungsästhetik und dient hier vorab dazu, den barocken Apparat […] auf das Maß der metastasianischen Geschichtsoper zurückzuschneiden“.62 Am Ende dieses Klärungsprozesses steht der von allegorischen Einkleidungen befreite antike Mythos, der die Atmosphäre des euro­päischen Denkens um 1770 – und das heißt vor allem die des Winckelmann’schen Philhellenismus – atmet. Glucks und Calzabigis Alceste ist die Herrin ihrer Affekte und kann als paradigmatische Verkörperung eines neuen Ideals personaler Autonomie gelten.63 Alceste bedeutet so eine Zäsur im Werk Glucks wie in der Geschichte der Oper überhaupt: Die „Ausweitung der Gattung, die Eroberung der Bühne für ein […] Geschehen, das genauer dem Sprechdrama und seinem Dialogaufbau nachempfunden ist, die vielfältigere Gestaltung der Charaktere, die genaueste Durchdringung von Mythos und geschichtlichem Vorgang“64 – alle diese Faktoren zeigen die Wirkmacht aufklärerischer Dramenkonzepte auf die klassizistische Oper und damit auch auf das Ende der Affektdramaturgie der Vgl. Dean: Handel’s Operas 1726–1741 (wie Anm. 59), S. 40. Norbert Miller / Carl Dahlhaus: Europäische Romantik in der Musik (2 Bde.), Bd. I: Oper und symphonischer Stil 1770–1820, Stuttgart / Weimar 1999, S. 73. 63 Vgl. dazu Verf.: Das Wagnis der Autonomie. Studien zu Karl Philipp Moritz, Wilhelm von Humboldt, Heinrich Gentz, Friedrich Gilly und Ludwig Tieck, Heidelberg 2012 (= GermanischRomanische Monatsschrift, Beiheft 47), S. 26 ff. 64 Miller / Dahlhaus: Europäische Romantik in der Musik (wie Anm. 62), S. 80. 61

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Abb. 6: Karl Friedrich Schinkel: Bühnenbildentwurf zum dritten Akt von Glucks Alceste (1817).65

barocken Oper. Damit wird die affektive Verfügbarkeit der barocken H ­ eroinen der psychologischen Plausibilität geopfert, zugunsten der Identifikation und – das zeichnet sich in der spröden Haltung ab, mit der die postdramatische Gegenwart Gluck verwirft und Händel favorisiert – zuungunsten der Theatralität. Glucks immer kurze, fast epigrammatische Auftritte kennen das Schwelgen im Affekt nicht mehr; ihre Düsternis kommt aus einer anderen Tonsprache und verlangt ein anderes, ein ‚kommentierendes‘ Orchester. Der Unterschied liegt also nicht nur in der Heftigkeit respektive Dämpfung des Affekts, er liegt in der Idee der dargestellten Leidenschaft überhaupt. Auf der Ebene des Textes erkennt man die Ersetzung des affektiven Pathos durch das empfindsame Ethos; auf der der Musik den Wechsel vom kanonisierten und als Norm abrufbaren Affekt zum individuellen und bis in die Orchesterbehandlung hinein subjektiven Ausdruck. Ihren überzeugendsten Ausdruck hat diese Idee des Musik­ dramas in Alcestes Trauerpantomime und der anschließenden Rede an ihr Abb. von Bildagentur bpk / Karl Friedrich Schinkel: Alceste. Oper von Christoph Willibald Gluck. Entwurf zur 4. Dekoration. Eingang in die Unterwelt.

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Volk gefunden: „nè so chi prima in sì grave sciagura [/] a compianger m’appigli: [/] del regno, di me stessa, [/] o de’miei figli“, heißt es in der zweiten Szene des ersten Akts.66 Glucks Alceste ist Mutter, Liebende und Herrscherin zugleich und teilt ihre Emotionen nicht mehr in verschiedene Arien auf. So fällt der­ Affekt­wechsel weg und die Musik muss nun auf diese neue psychologische Komplexität reagieren. Von der rhetorischen „Klangrede“ führt hier der Weg zur individuellen „Empfindungssprache“.67 Damit ändert sich auch die Geschlechterdramaturgie der Oper. Und auch der ästhetische Rahmen, in dem Musik komponiert und diskutiert wird, ist um 1800 ein ganz anderer als um 1700 oder um 1600. Der Individualisierung der Musik auf der einen, steht auf der anderen Seite die philosophische Aufwertung gegenüber, die die Musik im Rahmen der romantischen Ästhetik erfährt. Der Preis dafür ist der Abschied von aller sprachlichen und musikalischen Rhetorik, namentlich der Affektrhetorik des Barock. Aus dem bewusst künstlichen Zeigen von Leidenschaften muss nun das Simulieren des individuellen Erlebens werden; aus der musikalischen Formel, die wiedererkennbar zu sein hat, die Sprache des Herzens. Das Ziel ist nun, um einen berühmten Ausspruch von Christian Friedrich Daniel Schubart zu zitieren, „seine Ichheit in der Musik herauszutreiben“.68 Damit wäre meine kleine Recherche eigentlich an ihrem Ende, wenn da nicht das Erhabene wäre, das ich bislang ausgeklammert habe und das doch in einem vertrackten Zusammenhang mit den barocken Heroinen von Monteverdi bis Gluck steht. Ich komme daher zu meinem letzten Abschnitt.

V. Das Erhabene und die Oper des Barock Der Begriff des Erhabenen existiert seit der Antike. Aber erst in der Neuzeit wird er zu einer wichtigen, ja entscheidenden Kategorie der Ästhetik. Seine Konjunktur setzt im späten 17.  Jahrhundert ein  – und zwar im Gefolge der schon erwähnten Querelle des anciens et des modernes, jenes Streites über die normative respektive relative Gültigkeit der antiken Kunst, Philosophie usw. Im Christoph Willibald Gluck: Alceste (Wiener Fassung von 1767), Tragedia per Musica in drei Akten von Raniero de’ Calzabigi, hg. von Gerhard Croll, Kassel / Basel u. a. 1988 (Christoph Willibald Gluck: Sämtliche Werke, Abt. I, Bd. 3), S. 50. 67 Dahlhaus: Die Musik des 18. Jahrhunderts (wie Anm. 17), S. 56 f. 68 Christian Friedrich Daniel Schubart: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, hg. von Jürgen Mainka, Leipzig 1977, S. 21. Das Zitat stammt aus den Musikalischen Rhapsodien (1786). Vgl. zu diesem Zusammenhang die instruktive Studie von Jürgen Stolzenberg: „Seine Ichheit auch in der Musik heraustreiben“. Formen expressiver Subjektivität in der Musik der Moderne, München 2011 (= Carl Friedrich von Siemens Stiftung, Themen 94), S. 17–21. 66

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Barocke Heroinen und die Ästhetik des Erhabenen

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Rahmen der Querelle kommt es 1697 zur Übersetzung der antiken Schrift Peri Hypsous – Über das Erhabene. Und von da ab reißt die Diskussion über diese­ ästhetische Kategorie jenseits des Schönen nicht mehr ab.69 Für das 18. Jahrhundert bedeutet das Erhabene eine neue ästhetische Kategorie jenseits der bekannten Normen, eine Kategorie, in der sich das Individuum selbst erfahren kann, und zwar in der Auseinandersetzung mit ästhetischen Grenzerfahrungen (also etwa der wilden Natur der Alpen oder der antiklassischen Kunst, die bislang als defizitär galt). In diesen Verhandlungen spielt die Musik von Anfang an eine entscheidende Rolle;70 so trägt etwa die Händel-Rezeption seit der Mitte des 18. Jahrhunderts explizit die Signatur des Erhabenen.71 Diese ästhetische und psychologische Neujustierung ist auch für die Oper ausgesprochen folgenreich, und zwar gleich in doppelter, nämlich produktionsund rezeptionsästhetischer Hinsicht. Dazu gehört wesentlich die Idee einer expressiven Ästhetik, die nun nicht mehr Affekte abbildet, sondern schafft. Das impliziert eine Individualisierung und Psychologisierung der Affekte und damit die Aufwertung der Leidenschaften als Leidenschaften, was zugleich die Abkehr von den moral- und erkenntnistheoretischen Vorgaben des Rationalismus zugunsten der Autonomie des eigenen Fühlens impliziert. Der englische Dramatiker und Kritiker John Dennis hat diesen Paradigmenwechsel früh registriert und mit den theatralischen Leidenschaften in Verbindung gebracht. In seiner Apologie The Usefulness of the Stage schreibt er 1698: „Nothing but ­passion, in effect, can please us, which every one may know by experience.“72 Die Lust am Tragischen ohne Moral und Didaxe, die Faszination durch die großen, auch die verderblichen Leidenschaften, die Faszination am Schrecken als „eigenständiger ästhetischer Wert“73 – diese für das Denken des Rationa Vgl. dazu grundsätzlich Carsten Zelle: Die doppelte Ästhetik der Moderne. Revisionen des Schönen von Boileau bis Nietzsche, Stuttgart / Weimar 1995. 70 Vgl. Hartmut Grimm: Moses Mendelssohns Beitrag zur Musikästhetik und Carl Philipp ­Emanuel Bachs Fantasie-Prinzip, in: Anselm Gerhard (Hg.): Musik und Ästhetik im Berlin Moses Mendels­ sohns, Tübingen 1999 (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 25), S. 165–186, insbesondere S. 169 f. 71 Annette Richards: Vereint durch den erhabenen Chor: Das ästhetisch-politische Vermächtnis von Händels „Hallelujah“ im Zeitalter der Personalunion, in: Göttinger Händel-Beiträge 16 (2015), S. 7–30, vgl. insbesondere S. 7 f. 72 John Dennis: The Usefulness of the Stage, to the Happiness of Mankind, to Government, and to Religion. Occasioned by a Late Book, Written by Jeremy Collier, M. A., in: John Dennis: The Critical Works, Bd. I, hg. von E. Niles Hooker, Baltimore 1939, S. 149. Bei dem „Late Book“ handelt es sich um Colliers Short View of the Immortality and Profaneness of the English Stage. Vgl. zu Dennis’ Position in der Geschichte des Erhabenen jetzt Robert Doran: Dennis: Terror and Religion, in: ders.: The Theory of the Sublime from Longinus to Kant, Cambridge 2015, S. 124–140, insbesondere S. 133 ff. 73 Carsten Zelle: Angenehmes Grauen. Literaturhistorische Beiträge zur Ästhetik des Schrecklichen im achtzehnten Jahrhundert, Hamburg 1987 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert 10), S. 76. 69

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lismus erratischen Phänomene, which every one may know by experience, gehören wesentlich zu den europaweiten Spekulationen über das Erhabene im 18.  Jahrhundert. In ihrem Kern kreisen sie um die Beobachtung, dass der Affekt selbst zum Genuss wird. Dabei ist die Differenz zwischen Kunst und Leben freilich entscheidend, also das reflexive Bewusstsein der Distanz zum beobachteten Schrecken. Das aber kann die Oper, die große, tragische, ernste, eben die Opera seria sehr viel besser umsetzen als das auf Identifikation und Nähe gestimmte bürgerliche Drama der Aufklärung oder als das empfindsame Singspiel. Denn die Musik ist seit den Anfängen der ästhetischen Reflexion mit dem Erhabenen eng verbunden.74 Und so ist es kaum verwunderlich, dass die von der aufgeklärten Theorie gerade erst für nicht satisfaktionsfähig erklärte Opera seria die Hohe Pforte der Philosophie gewissermaßen durch die Hintertür der ästhetischen Reflexion wieder betritt; jedenfalls so lange, bis um 1800 mit der weder an das Wort noch an den Begriff gebundenen Instrumentalmusik ein ganz neues Kapitel der Musik- und Philosophiegeschichte aufgeschlagen wird.75 Für eine ganze Generation  – die wir der Einfachheit halber mit der des Sturm und Drang identifizieren wollen, obwohl auch dezidierte Antiklassizisten wie Wilhelm Heinse dazugehören76 – sind es die großen tragischen Opern, die das Postulat einer antiklassischen, radikalen Gegen-Ästhetik, eines erhabenen Kunsterlebens jenseits rationalen Kalküls und jenseits empfindsamer Identifikation einlösen. Dann überträgt die Ästhetik der absoluten Musik dieses Denken auf die Instrumentalmusik, und die barocken Heroinen verlassen die Bühne für mehr als eineinhalb Jahrhunderte. Dass Kleopatra, Agrippina und ihre vielen Genossinnen aus dem Zeitalter des Barock heute wieder auf den Bühnen stehen, verdanken sie weniger den affekttheoretischen Grundlagen des 17. Jahrhunderts als der „Renaissance des Erhabenen“ in Moderne und Postmoderne.77 In der Moderne nämlich ist das Erhabene erneut eine, ja vielleicht die zentrale Kategorie einer anderen Ästhetik, die allein auf die „Realitäten“ des 20. und des Vgl. Hans-Georg Nicklaus: Das Erhabene in der Musik oder Von der Unbegrenztheit des Klangs, in: Christine Pries (Hg.): Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn, Weinheim 1989, S. 217–232, insbesondere S. 218 f. 75 Vgl. dazu Carl Dahlhaus: Die Idee der absoluten Musik, Kassel / London 31994, S. 7–24 und S. 91 ff.; vgl. ders.: Klassische und romantische Musikästhetik, Laaber 1988, S. 86–110. 76 Vgl. etwa Heinses Aufzeichnungen zur Musik im Frankfurter Nachlass: Wilhelm Heinse: Die Aufzeichnungen. Frankfurter Nachlass (5 Bde.), hg. von Markus Bernauer u. a., München 2005. Dazu Margret Jestremski: Heinses Werkstattnotizen zur Musik, in: Markus­ Bernauer / Norbert Miller (Hg.): Wilhelm Heinse. Der andere Klassizismus, Göttingen 2007, S. 268–278, vgl. insbesondere S. 273 f., wo Jestremski Heinses Genealogie der neuen Musik aus älteren Werken der Opera seria konstruiert. 77 Christine Pries: Einleitung. Die Renaissance des Erhabenen, in: Pries (Hg.): Das Erhabene (wie Anm. 74), S. 1–30, hier S. 1. 74

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Barocke Heroinen und die Ästhetik des Erhabenen

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21. Jahrhunderts „angemessen reagieren“ kann.78 Auf eine Welt etwa, die nicht mehr an die großen Erzählungen und nicht mehr an die organische Entfaltung des Individuums glaubt, sondern in der das Individuum allenfalls in bruchstückhaften Momenten aufscheint. Das scheint mir, neben dem musikalischen Reiz, eines der entscheidenden Argumente für die Renaissance der so lange totgesagten Barockoper auf den modernen Bühnen zu sein, und übrigens auch der Grund, warum die barocke Oper gerade die experimentellen Regisseure des postdramatischen ­Theaters so nachhaltig fasziniert. Wir sehen diese Oper als Zuschauer der Moderne. Was Lully, Händel und Pergolesi vor dem Hintergrund einer verbindlichen rhetorischen Tradition schufen, erleben wir in einem höchst individuellen und sich seiner geschichtlichen Situation bewussten ästhetischen Modus. Für die ba­ rocken Heroinen bedeutet diese Aktualisierung, dass wir ihre Erregung, ihre rhetorische und musikalische Aufladung, kurz: ihre Ikonizität nicht als rhetorisches Lehrstück begreifen, sondern als Aufstand gegen die verwaltete Welt; als Aufbegehren gegen eine nivellierte und nivellierende Gegenwart und als Zufluchtsort des Tragischen und Inkommensurablen in einer zugleich entzauberten und ästhetisch überformten Gegenwart.

Jörg Heininger: Erhaben, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. II, Stuttgart / Weimar 2001, S. 275–310, hier S. 276.

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Zwischen Hirtendasein und Heldentum. Frauenfiguren in der italienischen Kantate um 1700 Berthold Over (Mainz) Zwischen ca. 1650 und 1730 muss die Kantate als eine der beliebtesten Formen vokaler Kammermusik betrachtet werden. Ausgehend von Italien erstreckte sich ihre Rezeption vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation bis nach England, Spanien und Osteuropa. Ja sogar in Frankreich, das der italienischen Musikkultur weitgehend kritisch gegenüberstand und eine eigenständige Musiksprache hervorbrachte, wurde sie rezipiert. Paradigmatisch kann der Hof des Comte de Toulouse, Louis-Alexandre de Bourbon (1678–1737) stehen, ein legitimierter Sohn Ludwigs XIV. und der Marquise de Montespan, der zahl­reiche Handschriften italienischer Kantaten sammelte und aufführte.1 Auch in der königlichen Bibliothek in Paris befanden sich zahlreiche Manuskripte mit italienischen Kantaten.2 Die Distribution der italienischen Kantate soll jedoch nicht das Thema des vorliegenden Beitrags sein. Vielmehr sollen inhaltliche Aspekte im Vordergrund stehen: Die Konstitution und Konzeption von Frauenfiguren und ihre Reflexe in der Musik. In meinem Beitrag soll zusätzlich gefragt werden, welche Rolle Frauen in der damaligen Gesellschaft hatten, bzw. wie das in den Kantaten entwickelte Frauenbild auf die sozialen Gegebenheiten in reziproker Art und Weise zurückwirkt und ob es aus diesen Gegebenheiten erklärbar ist. Ein besonderer Fokus soll dabei auf die Kantate in Rom gerichtet werden, dem Zentrum der Kantatenproduktion um 1700 und Entstehungsort der meisten Kantaten Georg Friedrich Händels. Denn dass die Kantate eine besondere Rolle in der damaligen Gesellschaft spielte, ist unübersehbar: Im Gegensatz zur auf Breitenwirkung angelegten Oper ist die Kantate Kammermusik, d. h. sie ist oftmals nur einem beschränkten Kreis zugänglich, nämlich denjenigen, die in der höfischen Gesellschaft Zutritt zur fürstlichen Kammer hatten.3 Im Gegensatz zu den eher ‚öffentlichen‘ Vgl. Catherine Massip: La collection musicale Toulouse-Philidor à la Bibliothèque nationale, in: Fontes 30 (1983), S. 184–207, hier S. 186, 196 ff. 2 Kennzeichen der Manuskripte in der Bibliothèque nationale ist das Königswappen sowie der Stempel „Bibliothèque royale“, z. B. F-Pn, Vm7 7, Vm7 22, Vm7 55, Vm7 2371, Vm7 3734. 3 Der Zutritt zu den hierarchisch strukturierten Räumen eines Palazzo oder Schlosses wurde durch Hofordnungen geregelt. Vgl. etwa in Bezug auf Wien Jakob Wührer / Martin Scheutz: Zu Diensten Ihrer Majestät. Hofordnungen und Instruktionsbücher am frühneuzeitlichen W ­ iener Hof, 1

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Bereichen wie Gardesaal, die beiden Vorzimmer und Audienzsaal war die fürstliche Kammer (oder waren die fürstlichen Kammern) ein eher ‚privater‘ Bereich (so problematisch es auch sein mag, in Bezug auf das ancien régime mit den Begriffen ‚öffentlich‘ und ‚privat‘ zu operieren).4 Zu diesen gehörten das Schlafzimmer, aber auch weitere wie das Musikzimmer.5 Dies lässt sich an vielen Inventaren und Beschreibungen ablesen, wobei hier nur ein Beispiel genannt werden soll: Als 1699 Königin Maria Casimira von Polen, die Witwe des ‚Retters der Christenheit‘ König Jan Sobieski nach Rom kam, um dort ihren ständigen Aufenthalt zu nehmen, richtete Fürst Livio Odescalchi den gleichnamigen Palazzo her. Das Appartement der Königin umfasste neben den üblichen ‚öffentlichen‘ Räumen einen ‚privaten‘ Bereich mit drei Zimmern, wobei eines zwei Cembali enthielt, anschließend folgte ein Schlafzimmer mit einem Cembalo.6 Natürlich konnten Kantaten auch in größeren Kontexten aufgeführt werden, wie in eher formellen Akademien und in conversazioni, eher zwangloseren Abendgesellschaften, sowie zu Festen aller Art.7 Hier wurden Kantaten einem breiteren Publikum zugänglich, wiewohl sich dieses in Rom und anderswo in der adligen und intellektuellen Elite erschöpft haben dürfte, und konnten dazu genutzt werden, Botschaften zu vermitteln. Besonders evident wird diese Zielsetzung in den zahlreichen in Rom öffentlich und für jedermann zugänglich aufgeführten Serenaten, umfangreicheren, am Abend aufgeführten Kan­



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Wien u. a. 2011, S. 753–754 (Instruktion Karls VI. von 1715), S. 792–793 (Instruktion Franz I. Stephans von 1745); Irmgard Pangerl: „Höfische Öffentlichkeit“. Fragen des Kammerzutritts und der räumlichen Repräsentation am Wiener Hof, in: ders. / Martin Scheutz / Thomas Winkelbauer (Hg.): Der Wiener Hof im Spiegel der Zeremonial-Protokolle (1652–1800). Eine Annäherung, Innsbruck 2007 (= Forschungen und Beiträge zur Wiener Stadtgeschichte 47; = Forschungen zur Landeskunde von Niederösterreich 31), S. 255–285. Vgl. dazu Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a. M. 1983; in Bezug auf die Kantate vgl. Luca Zoppelli: Considerazioni sulla categoria del ‚privato‘ nello stylus cubicularis, in: I Quaderni della Civica Scuola di Musica 9 (1990), S. 71–76. Zu den Raumstrukturen römischer Palazzi vgl. Patricia Waddy: Seventeenth-Century Roman Palaces. Use and the Art of the Plan, Cambridge Mass. u. a. 1990. Vgl. Antonio Bassani: Viaggio à Roma della S.ra R.le M.tà Maria Casimira Regina di Polonia­ vedova dell’Invittissimo Giovanni III. per il voto di visitare i luoghi santi, et il supremo pastor della chiesa Innocenzo XII. All’Em.mo e Rev.mo Sig.r Cardinale Barberino protettore di quel r­egno, Rom 1700, S. 189–196. Vgl. Juliane Riepe: Händel vor dem Fernrohr. Die Italienreise, Beeskow 2013 (= Studien der Stiftung Händel-Haus 1), S. 85–105; Andrea Zedler: Antonio Caldaras Kantatenschaffen zwischen römischen Conversazioni und dem Zeremoniell des Wiener Hofs, in: Studien zur Musikwissenschaft 57 (2013), S.  117–140; Berthold Over: Zum sozialen Kontext von Händels römischen Kantaten, in: Michele Calella / Hans Joachim Marx (Hg.): Händels Kirchenmusik und vokale Kammermusik, Laaber 2012 (= Das Händel-Handbuch 4), S. 325–343, hier S. 336–338.

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taten,8 wobei die hierbei postulierten Botschaften bewusst verschlüsselt wurden und im Sinne einer sozialen Exklusion nur Eingeweihten zugänglich waren.9 Die besondere gesellschaftliche Relevanz der Kantate zeigt sich weiterhin in der Tatsache, dass Kantatenmanuskripte als Geschenke fungierten und damit ein Teil der in der Frühen Neuzeit für die Etablierung und stetige Versicherung von Allianzen und Treueverhältnissen so wichtigen Geschenkekultur waren.10 Ebenfalls wurden sie zumindest in Rom als Gut verstanden, das, je restriktiver verbreitet, desto exklusiver wurde. Ein besonderes Markenzeichen besaßen Kantaten, die „non vanno per le mani di molti“, d. h. nicht durch viele Hände gingen.11 Dieser Exklusivitätsanspruch ist sicherlich ein Grund dafür, dass in Rom um 1700 lediglich zwei Kantatensammlungen publiziert wurden, während etwa aus Bologna und Venedig eine Vielzahl von Publikationen bekannt Vgl. Stefanie Tcharos: The Serenata in Early 18th-Century Rome: Sight, Sound, Ritual, and the Signification of Meaning, in: The Journal of Musicology 23 (2006), S. 528–568; Aneta Markuszewska: Serenatas and Politics of Remembrance: Music at the Court of Marie Casimire ­Sobieska in Rome (1699–1714), in: Berthold Over (Hg.): Die italienische Kantate im Kontext aristokratischer Musikpatronage, Kassel 2016 (= MARS – Musik und Adel im Rom des Sei- und­ Settecento / Musica e aristocrazia a Roma nel Sei- e Settecento 3), S. 269–294; Magdalena Boschung: Antonio Caldaras Serenata Il trionfo d’amore: Frankreichrezeption im Dienste adeliger Selbstdarstellung, in: ebd., S.  295–326; Andrea Zedler: Nunc viator  – Demum victor. Panegyrik und Krieg in den römischen Kantaten für Kurprinz Karl Albrecht (1716), in: ebd., S. 327–360; Siegfried Schmalzriedt: Händels römische Kantate „Oh, come chiare e belle (Olinto Pastore, Tebro fiume, Gloria)“ (HWV 143), in: Sabine Ehrmann-Herfort / Matthias Schnettger (Hg.): Georg Friedrich Händel in Rom. Beiträge der Internationalen Tagung am Deutschen Historischen Institut in Rom 17.–20. Oktober 2007, Kassel u. a. 2010 (= Analecta musicologica 44), S. 210–215. 9 Signifikant ist in diesem Zusammenhang, dass in der damaligen Zeit das „arcanum“ als Ausweis des Fürstlichen (und Göttlichen) galt. Vgl. Berthold Over: The Cantata and Aristocratic Ethos, in: ders. (Hg.): Die italienische Kantate im Kontext aristokratischer Musikpatronage, Kassel 2016 (= MARS – Musik und Adel im Rom des Sei- und Settecento / Musica e aristocrazia a Roma nel Sei- e Settecento 3), S. 231–252. Dass tatsächlich Interpretationen von musikalischen Texten vorgenommen wurden und diese Fähigkeit auch anderen unterstellt wurde, zeigt das Beispiel Kardinal Ottobonis, der sein Leben einmal in einem OpernPlot widergespiegelt fand. 1692 versuchte er gar, eine Arie aus Alessandro Scarlattis Oper Gli equivoci in amore, overo La Rosaura entfernen zu lassen, da er befürchtete, sie könne auf seine aktuelle Lebenssituation bezogen werden  – und das, obwohl die Oper bereits zwei Jahre zuvor aufgeführt wurde, ohne solche Befürchtungen auszulösen. Vgl. Berthold Over: Spurensuche. Agostino Steffanis vokale Kammermusik in Rom, in: Claudia Kaufold / Nicole Strohmann / Colin Timms (Hg.): Tagungsband Agostino Steffani  – europäischer Komponist und hannoverscher Diplomat der Leibniz-Zeit, i. Vorb. 10 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger: Zur moralischen Ökonomie des Schenkens bei Hof (17.–18. Jahrhundert), in: Werner Paravicini (Hg.): Luxus und Integration. Materielle Hofkultur Westeuropas vom 12. bis zum 18. Jahrhundert, München 2010, S. 187–202. 11 Arnaldo Morelli: ‚Perché non vanno per le mani di molti…‘. La cantata romana del pieno Seicento: Questioni di trasmissione e di funzione, in: Paolo Russo (Hg.): Musica e drammaturgia a Roma al tempo di Giacomo Carissimi, Venedig 2006 (= Musica in atto 2), S. 21–39. 8

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ist.12 Und wenn man die Musiksammlung Fürst Ruspolis betrachtet, so bestätigt sich ebenfalls diese Haltung. Eine weitere Verbreitung erfuhren meist nur jene Kantaten, die Händel in seinem Gepäck aus Italien mit nach Deutschland und England nahm. Diejenigen, deren Autographe zurückblieben, wurden erst in den 1960er Jahren von Rudolf Ewerhart entdeckt, als er die Händel-Handschriften der Santini-Bibliothek, die aus dem Besitz Ruspolis stammen, sichtete.13 Ruspoli hielt diese Werke offenbar unter Verschluss.14 Dies vorausgeschickt, sei der Fokus nun auf die Frauenfiguren in der italienischen Kantate gerichtet. Dabei sollen aus der Vielzahl der möglichen Figuren und Figurenkonstellationen drei Hauptstränge ausgewählt werden, die exemplarisch die Konstitution von Frauengestalten aufzeigen und mögliche Interpretationen liefern sollen: die Hirtin, die weibliche Allegorie und die Heldin. Vgl. Giulia Giovani: Le edizioni romane di cantate da camera: Domenico Crivellati (1628), Francesco Gasparini (1695), Tommaso Bernardo Gaffi (1700), in: Fonti musicali italiane 14 (2009), S. 41–57; Reinmar Emans: A Tale of Two Cities: Cantata Publication in Bologna and Venice, c. 1650–1700, in: Michael Talbot (Hg.): Aspects of the Secular Cantata in Late B ­ aroque Italy, Farnham 2009, S. 79–109. Grund ist nicht etwa die Inexistenz musikverlegerischer Aktivitäten, denn im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts erschienen in Rom ca. 50 ­Drucke von Instrumentalmusik, darunter mit Ausnahme der Concerti grossi, op. 6 (Amsterdam 1714) die Erstdrucke der Werke Arcangelo Corellis. Vgl. Paolo Fabbri: Politica editoriale e m ­ usica strumentale in Italia dal Cinque al Settecento, in: Recercare 3 (1991), S. 203–216, hier S. 210–214; zu den Corelli-Drucken vgl. Hans Joachim Marx: Die Überlieferung der Werke Arcangelo­ Corellis. Catalogue raisonné, Köln 1980 (= Arcangelo Corelli: Historisch-kritische Gesamtausgabe der musikalischen Werke, Supplementband). 13 Es handelt sich um die Kantaten Amarilli vezzosa (Il duello amoroso / Daliso ed Amarilli, HWV 82), Clori, vezzosa Clori (HWV 95), Notte placida e cheta (HWV 142). Es gibt jedoch auch ein Gegenbeispiel: Von Hendel, non può mia musa (HWV 117) existiert das Autograph in D-MÜs, Abschriften in D-MÜs, GB-Cfm, Lbm, Mp, I-Vnm. Von anderen Kantaten ist das Autograph in GB-Lbl und eine Abschrift D-MÜs überliefert, ohne dass weitere Abschriften bekannt sind: Arresta il passo (Aminta e Fillide, HWV 83), Clori, mia bella Clori (HWV 92), Cor fedele, in vano speri (Clori, Tirsi e Fileno, HWV 96), Nò se emenderá jamás (HWV 140), Oh come chiare e belle (Olinto pastore arcade, HWV 143), Tu fedel? tu costante? ah non è vero (HWV 171). Over: Zum sozialen Kontext (wie Anm. 7), S. 330; Rudolf Ewerhart: Die Händel-Handschriften der Santini-Bibliothek in Münster, in: Händel-Jahrbuch 6 (1960), S. 111–150. 14 Dies scheint im römischen Adel gängige Praxis gewesen zu sein. Aus der Hofhaltung der Borghese ist bekannt, dass Kopieranfragen bezüglich des ‚hauseigenen‘ Repertoires über den Fürsten laufen mussten. Erst danach wurde der Kopist mit der Kopie beauftragt. Vgl. Arnaldo Morelli: La musica vocale in casa Borghese fra Sei e Settecento: contesti, produzione e consumo, in: Berthold Over (Hg.): Die italienische Kantate im Kontext aristokratischer Musikpatronage, Kassel 2016 (= MARS – Musik und Adel im Rom des Sei- und Settecento / Musica e aristocrazia a Roma nel Sei- e Settecento 3), S. 121–155, hier S. 126. Von Händels Kantate Ah crudel, nel pianto mio (HWV 78) existieren neben dem Autograph in Münster zwei Abschriften in GB-Lbm und GB-Lbl, die ausdrücklich mit „Composta a Roma per il Sgr. Marchese Ruspoli“ bezeichnet sind und wegen dieses Provenienznachweises vermutlich mit Erlaubnis Ruspolis angefertigt wurden. 12

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Zwischen Hirtendasein und Heldentum

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Hirte und Hirtin oder Die Unmöglichkeit einer Beziehung Kantaten verarbeiten eine Vielzahl von Themen, doch muss als eindeutiger Spitzenreiter auf der Beliebtheitsskala der damaligen Zeit das pastorale Thema angesehen werden. Das Gros der Kantaten um 1700 dreht sich um die Liebe zwischen einem Hirten und einer Hirtin. Diese ist jedoch in der Regel unglücklich und führt Hirte und Hirtin nicht zusammen. Das zwischen zahlreichen Facetten und Fokussierungen oszillierende Repertoire stellt normalerweise den Hirten in den Mittelpunkt, der seine Gefühle preisgibt. Der Blickwinkel ist derjenige des Mannes,15 der seine unerfüllte Liebe besingt und seine Qualen, Hoffnungen, Ängste mitteilt. Die besungene Hirtin namens Clori, Filli, Licori u. ä. wird dabei als spröde, unnahbar, grausam, undankbar, wankelmütig, untreu und als Ursache aller Qualen geschildert. Manchmal spricht der Hirte namens Tirsi, Fileno, Elpino u. ä. an andere Hirten eine Warnung aus, wenn die Hirtin seiner Meinung nach verschlagen sei, wie es z. B. in Udite il mio consiglio von Georg Friedrich Händel oder O pastori, io v’aviso von Nicola Porpora der Fall ist.16 Eine besondere, toposhafte Kantate liegt in der cantata di lonananza vor, in der der Hirte den schmerzlichen Abschied von seiner Hirtin thema­ tisiert: Wird sie ihm treu sein, wenn er in der Ferne weilt?17 Dieser Parforceritt durch die Kantatenpoesie um 1700 soll hier jedoch nicht genügen. Vielmehr soll an den relativ seltenen Kantaten, die aus der Perspektive einer Frau die Liebesthematik behandeln, gezeigt werden, welche Themen die damalige Gesellschaft interessierten und ob eine spezifische weibliche Sicht der Dinge konstatiert werden kann. Viele Kantaten projizieren die männliche Sicht auf eine weibliche Protagonistin, ohne dass geschlechterspezifische Unterschiede gemacht würden. Ein Text wie der folgende, von Francesco Mancini vertonte, könnte ebenso gut von einem Hirten gesungen werden:

Dies ist angesichts der von Männern dominierten Gesellschaft, was für Rom besonders relevant ist – man denke nur an die hohe Zahl von Klerikern, die aufgrund der hohen Zahl der Kirchen und des Papsthofs bzw. der Kurie diejenige in anderen Städten um ein Vielfaches überstiegen haben dürfte –, nicht verwunderlich. 16 Beide Texte in Clori. Archivio della cantata italiana, www.cantataitaliana.it, scheda 1635, 2062, 6946. 17 Etwa [Anon.] / Alessandro Scarlatti: Filli adorata e cara (komponiert 1706 für Kardinal Carlo Colonna), [Anon.] / Giovanni Lorenzo Lulier: Dove andò l’anima mia (aus dem Besitz von Kardinal Pietro Ottoboni), [Anon.] / Francesco Gasparini: Quanto sei penosa, ò quanto (aus dem Besitz von Kardinal Benedetto Pamphilj); vgl. Clori. Archivio della cantata italiana, www.cantataitaliana.it, scheda 1396, 1454, 1532. 15

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„Agitato mio pensiero, Dimmi pur, che vuoi da me? Tu sei schiavo al Nume arciero, Ma gradita è la tua fè. Dimmi, perché ti lagni, Perché t’affliggi e peni? Ah, che ben io t’intendo! La cagion, perché piangi D’amar la tirannia, È la furia dell’alma, è gelosia. Penso all’Idolo amato, Temo non sia fedele, Parmi, che la distanza Far lo deggia crudele. L’alma mia non riposa, Onde fin che nol veggio, io son gelosa. Son gelosa dell’Idol, ch’adoro, Mi struggo, mi moro E pace non ho. Me lo fingo tal hora fedele, Mi lusingo, ma poi più crudele Il timore ritorna nel core E un momento godere non so.“18

Dass diese Modelle auch persifliert werden konnten, zeigt eine Kantate von Antonio Ottoboni, dem Vater des bekannteren Kardinal Pietro Ottoboni, die von Pietro Paolo Bencini vertont wurde. Sein Hirte Liso und seine Hirtin Clori gerieren sich in Li due volubili (Die beiden Unsteten) wie Liebhaber und Kurtisane, wenn Liso versichert, dass es ihm nichts ausmache, wenn er Clori mit anderen teile: „Mi contento, che tu sia / Mezza d’altri e mezza mia“ („Ich gebe mich zufrieden, dass du halb anderen und halb mir gehörst“). Clori wiederum stellt klar, dass sie nur für Stunden liebe: „Liso non dubitar / Che Clori non sa amar / Se non per ore“ („Liso, zweifle nicht, dass Clori nur für Stunden zu lieben weiß“).19 Clori. Archivio della cantata italiana, www.cantataitaliana.it, scheda 1788. Partitur: GB-LVmt; Stimmen: GB-Mp, Ms. Q480 Bk51 (unvollst.). Vgl. Michael Talbot:­ ‚Loving Without Falling in Love‘. Pietro Paolo Bencini’s Serenata Li due volubili, in: Nicolò Maccavino (Hg.): La Serenata tra Seicento e Settecento: musica, poesia, scenotecnica. Atti del Convegno Internazionale di Studi (Reggio Calabria, 16–17 maggio 2003), 2 Bde., Reggio­ Calabria 2007, Bd. 2, S. 373–395; Berthold Over: Komik in den Kantaten Antonio Otto­bonis, in: ders. (Hg.): Die italienische Kantate im Kontext aristokratischer Musikpatronage, Kassel 2016 (= MARS – Musik und Adel im Rom des Sei- und Settecento / Musica e aristocrazia a Roma nel Sei- e Settecento 3), S. 499–529.

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Eine Persiflage auf ähnliche Stellen in arkadischer Poesie liegt vor, wenn Liso Clori als „Sei mia regina e dea, / Sei la mia Cicisbea“ („Du bist meine Königin und Göttin, / du bist meine Cicisbea“) bezeichnet.20 Ein gänzlich anderer Text liegt in Delirio amoroso vor, eine Dichtung von Kardinal Benedetto Pamphilj, die von Händel vertont wurde.21 Der an sich recht ernsthafte Text stellt eine Verkehrung der Orpheus-Sage dar, was allein schon durch die Diskrepanz des hehren Mythos und der niederen pastoralen Sphäre, in der die Kantate spielt, befremdlich wirkt. Denn nicht Orpheus steigt in den Hades hinab, um Euridice zu retten, sondern die Hirtin Clori, die ihren Tirsi der Unterwelt zu entreißen sucht. Doch der Orpheus-Mythos wird auf den Kopf gestellt: Denn anders als Euridice weicht Tirsi vor Clori zurück und flieht, was die Hirtin erzürnt. Sie kommt zum Lethe-Fluss und schreitet ins Elysium. Das Schlussrezitativ fasst als Fazit zusammen: „Sì disse Clori, e se d’un sole estinto Più vide il bel lume, Lo vide almen per fantasia dipinto.“

Das führt die Kantate auf eine andere Ebene. Die Formulierung „per fantasia dipinto“ enthüllt dem Hörer, dass das vorher Gehörte keine Schilderung einer mythologisch inspirierten Allegorie (für eine liebende Frau, die ihren Liebsten erretten möchte) ist, sondern ein Fantasiegebilde der Clori. Sie stieg nicht wie Orpheus in die Hölle hinab, sie bildete es sich nur ein. Sie ist kein weiblicher Orpheus, aber sie würde gerne sein wie er. Hier könnte man an eine Kritik weiblicher Prätentionen denken, doch könnte ebenso gut die Realisierung eines ‚concetto‘ oder einer ‚arguzia‘ im Vordergrund stehen,22 wie sie sich in der konsequenten Negation des Orpheus-Mythos zeigt. Etwa „Tu sei la vita mia, / La mia gioia, il mio bene, il mio contento.“ aus der Kantate Filli, giunta è quell’ora von Pietro Paolo Bencini; vollständiger Text in: Clori. Archivio della cantata italiana, www.cantataitaliana.it, scheda 1271. 21 Georg Friedrich Händel: Kantaten mit Instrumenten II, hg. von Hans Joachim Marx, Kassel u. a. 1995 (= Hallische Händel-Ausgabe V, 4), S. XXXI–XXXII, 3–38; Berthold Over: Die Texte von Händels italienischen Kammerkantaten, in: Michele Calella / Hans Joachim Marx (Hg.): Händels Kirchenmusik und vokale Kammermusik, Laaber 2012 (= Das Händel-­ Handbuch 4), S. 344–360, hier S. 351. 22 Vgl. Inga Mai Groote: „In dotta palestra“? – Kantate und accademia, in: Berthold Over (Hg.): Die italienische Kantate im Kontext aristokratischer Musikpatronage, Kassel 2016 (= MARS – Musik und Adel im Rom des Sei- und Settecento / Musica e aristocrazia a Roma nel Sei- e Settecento 3), S. 361–384, hier S. 378; Reinmar Emans: Die Charakterisierung des „Witzes“ („Argutezza“) bei Emanuele Tesauro und seine Umsetzung in der italienischen Oper des 17. Jahrhunderts, in: Ares Rolf / Ulrich Tadday (Hg.): Martin Geck. Festschrift zum 65.  Geburtstag, Dortmund 2001, S. 315–324; vgl. auch Roger Freitas: Singing and Playing. The Italian Cantata and the Rage for Wit, in: Music & Letters 82 (2001), S. 509–542. Harris’ Interpretation 20

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Ein Wutausbruch, wie ihn z. B. die Hirtin in Händels Kantate Tu fedel? tu costante? ah, non è vero! vollzieht, scheint indessen eher typisch für weibliche Rollen gewesen zu sein.23 Die Hirtin beschuldigt Fileno der Untreue und des Flirtens mit anderen Hirtinnen: Fillis dunkle Augen verursache bei ihm Qualen, an Licori gefielen ihm die schmeichlerischen Lippen, Lidias blondes Haar seien Ketten seines Herzens. Dies reißt die Hirtin dazu hin, Fileno heftig zu beschimpfen. Sie legt damit ein Verhalten an den Tag, das dem dama­ligen­ adligen Verhaltungskodex, der durch Affektkontrolle und absolute Beherrschung gekennzeichnet war,24 diametral entgegengesetzt ist: „Incostante, infedele, traditore! Questi, Fileno, questi Giusti titoli sono e pregi tuoi, Onde superbo ir puoi, Spergiuro, menzogniero. Tu fedel? tu costante? ah non è vero! Cento belle ami, Fileno, E poi vanti avere in seno Un costante e fido cor. Stolta è ben colei, chi crede, Ch’in te sia costanza e fede, Empio, infido, mentitor. […] Che farò dunque? che farò, spietato, Infido traditor, spergiuro, ingrato?“

Hier kann ein Bezug zum zeitgenössischen Frauenbild hergestellt werden, das davon ausgeht, dass Frauen leidenschaftlich sind und ihre Leidenschaften auch ausleben.25 Die Frauen unterstellte Hysterie ist auch in den Beschimpfungen von Clori als Heiligem Geist und Tirsi als Christus kann ich angesichts der Schlusspointe nicht folgen (Ellen Harris: Handel as Orpheus: Voice and Desire in the Chamber Cantatas, Cambridge 2001, S. 81–82). 23 Vollständiger Text in: Clori. Archivio della cantata italiana, www.cantataitaliana.it, scheda 4410, 4413; Georg Friedrich Händel: Kantaten mit Instrumenten III, hg. von Hans Joachim Marx, Kassel u. a. 1999 (= Hallische Händel-Ausgabe V, 5), S. XXVI–XXVII, 79–94. 24 Vgl. Berthold Over: „E le passioni colla ragione si temperino“. The cantata da camera as a Means to Control the Passions, in: Renata Ago (Hg.): Revisiting Baroque (Bericht ENBaCH-Kongress, Rom 2014): http://www.enbach.eu/en/essays/revisiting-baroque/over.aspx, DOI 10.14615/ enbach30. 25 Vgl. Wendy Heller: Chastity, Heroism, and Allure: Women in the Opera of Seventeenth-­Century Venice, Diss. Brandeis University 1995, S.  88–90 und passim; Harris: Handel as Orpheus (wie Anm.  22), S.  53 ff.; auch als subkutane Konstante bei der Abwertung des weiblichen

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der Hirtin in Tu fedel? tu costante? ah non è vero erkennbar. Die Hirtin löst ihre Situation, eine unter vielen zu sein, mit der Beendigung ihrer Liebesbeziehung zu Fileno. Sie kehrt in ihre ehemalige Freiheit zurück, um sich einen neuen Liebhaber zu suchen. Die auf den ersten Blick abwegig erscheinende gesellschaftliche Relevanz des pastoralen Liebesthemas klärt sich, wenn man bedenkt, dass sich die adlige Führungsschicht als Hirten verstand, die eine Herde (die Untertanen, bzw. die von ihnen Abhängigen) führte. Dieses heute noch im Religiösen valide Bild wurde um 1700 auch im Säkularen benutzt. Sinnfälligsten Ausdruck fand es in der römischen Arcadia, jener einflussreichen Literaturakademie, deren Mitglieder Schäfernamen trugen und die sich dezidiert in diese Tradition stellte: Denn viele Führungsfiguren in Bibel (z. B. König David, der als Hirte Goliath erschlug), Mythologie (z. B. Apollo, der die Herden des Admetos hütete) und Antike (z. B. Romulus und Remus) seien ursprünglich Hirten gewesen. Und die pastorale Poesie könne mit der Hirtenthematik eine Bandbreite an Themen verhandeln und damit weit über die wörtliche Ebene hinausreichen.26 Nun sind der Vielfalt an Interpretationen keine Grenzen gesetzt, doch sei ein Beispiel für eine Deutung des Pastoralen herausgegriffen. Mit der Identifizierung der adligen Führungsschicht mit den Hirten wird die Hirtensphäre in den zeitgenössischen gesellschaftlichen Kontext transferiert, der geprägt ist durch Abhängigkeitsverhältnisse, Patronage und Klientelismus. Grundmodell dieses Kontexts ist die Beziehung zwischen dem Patron und dem Klient, die durch ein ständiges Geben und Nehmen gekennzeichnet ist. Der Klient ‚gibt‘ dem Patron seine Treue, Dienste, Arbeitskraft usw., die der Patron ‚annimmt‘. Der höhergestellte Patron ‚gibt‘ dem Klienten eine Entlohnung, d. h. Geld- und Machtchancen, die der Klient ‚annimmt‘. Der Klient hat jedoch keinen Anspruch auf diese Entlohnung, er kann sie nur erhoffen und im günstigsten Fall erhalten. Ausschlaggebend dafür ist die Gunst des Patrons, die nur durch lange Dienste und ständige Liebe erwirkt werden kann. Es ist kein Zufall, dass diese Situation in Hofmanntraktaten und Ethiken als Liebessituation beschrieben wird: So wie die Geliebte einem Liebenden nach langem Werben ihre Gunst erteilt (oder auch nicht), so erteilt sie der Patron dem Klienten (oder auch nicht). Die Ungewissheit, die Hoffnung, die unerfüllte Liebe, die Sprödheit der Geliebten sind sämtlich thematische Elemente der Kantatenpoesie, die auch auf der Folie der Patron-/Klient-Beziehung sinnstiftend gelesen werden können.27 Und diese Geschlechts in der Diskussion um Bildung und Erziehung der Frau: Silke Segler-Meßner: Zwischen Empfindsamkeit und Rationalität. Der Dialog der Geschlechter in der italienischen Aufklärung, Berlin 1998 (= Studienreihe Romania 13), S. 47–58. 26 Vgl. Over: The Cantata and Aristocratic Ethos (wie Anm. 9). 27 Ebd.

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Interpretationsfolie ist meiner Meinung nach weit plausibler als andere, da sie auf einer konkreten sozialen Praxis beruht.28 Wendet man diesen ‚Schlüssel‘ an, erhalten auf den ersten Blick unverständliche Texte einen Sinn. Die von Händel für Marchese Ruspoli in Rom vertonte Kantate Mentre il tutto è in furore e d’ogni intorno spielt auf eine offensichtliche Kriegssituation an. In dieser Situation fordert eine Hirtin einen Hirten auf, in den Krieg zu ziehen: „Mentre il tutto è in furore e d’ogni intorno Di timpani e di trombe il rauco suono Strepitosi ne fan la notte e il giorno, Mentre i boschi e le valli Al nitrir de cavalli Rendon eco guerriera, Tu sol, forte Filen, t’en stai posando Nel sen di molle amore. Ah no, risveglia il core, impugna il brando!“29

Dieser Text ist insofern unverständlich, da sich Hirten- und Kriegerdasein ausschließen.30 Liest man ihn jedoch auf der Folie der klientelären Liebe, erhält er einen Sinn: Der untätige Klient wird von seinem Patron aufgefordert, in den Krieg zu ziehen. Dieser bedrohte zur Entstehungszeit der Kantate tatsächlich Rom unmittelbar: Es ist die Zeit des Spanischen Erbfolgekriegs. Wenn er siegreich zurückkehre, werde ihn der Patron außerordentlich schätzen: „Vanne, sì vedi e vinci E poi ritorna à me carco di palme E di trionfi onusto Cinto d’alloro augusto Torna à goder, che anch’io Godrò, se potrò dire: Amante io sono D’un, che in campo sembrò fulmine e tuono.“ Etwa Ellen Harris’ homoerotische Deutung in ihrem Buch Handel as Orpheus (wie Anm. 22), S. 111 ff. Neben der wörtlichen Bedeutung liegt mit dem Neuplatonismus eine weitere Interpretationsfolie vor, die von Christina von Schweden propagiert wurde. Auf ihr Geheiß und unter ihrer Mitarbeit entstand in der Accademia Reale ein Traktat über die neuplatonische Liebeslehre, das zur Deutung von Liebespoesie dienen sollte: Stefano Pignatelli: Quanto più alletti la bellezza dell’animo, che la bellezza del corpo. Alla Sacra,  e Real Maesta di Cristina Reina di Svezia. Trattato, Rom 1680. 29 Vollständiger Text in: Clori. Archivio della cantata italiana, www.cantataitaliana.it, scheda 2056, 4422. 30 Vgl. Daniela Della Valle: L’eroe pastorale barocco (proposta per un comparatismo strutturale), in: Studi francesi 15/43 (1971), S.  37–56, hier S.  40–42; Françoise Lavocat: Arcadies­ malheureuses. Aux origines du roman moderne, Paris 1998, S. 252–257. 28

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Francesco Maria Ruspoli unterstützte mit einem eigenen Regiment Papst­ Clemens XI. und erhielt reiche Belohnung: Er wurde 1709 zu einem Principe erhoben und konnte damit eine Statuserhöhung verzeichnen, die ihm eine Spitzenposition in der römischen Adelshierarchie sicherte.31

Weibliche Allegorien oder Die Verbrämung der Realität Eine weitere Spielart der Frauenfiguren in Kantaten liegt in weiblichen Allegorien vor, die als Personifikationen das Kantatenrepertoire bevölkern. Diese können sowohl abstrakte Begriffe als auch Naturerscheinungen zum Leben erwecken. So verbergen sich hinter Innocenza und Nettuno in der Kantate Non cessate, aquiloni, io voglio guerra von Carlo Francesco Cesarini nicht Neptun und eine Frau, sondern die personifizierte Unschuld, die allerdings wiederum mit Papst Innozenz XII. zu identifizieren ist, und die Personifikation der Stadt Nettuno, in die der Papst 1697 reiste.32 Andere Personifikationen liegen in Virtù (Tugend), Ragione (Vernunft), Gloria (Ehre), Pace (Friede), Providenza (Vorsehung),33 Blumenmetaphern34 und vielen anderen vor. Zwei Beispiele seien herausgegriffen. Die Kantate für zwei Stimmen und Orchester Amore e Virtù oder Il trionfo della Virtù von Alessandro Scarlatti, die 1706 nach Auskunft des Titelblatts des Manuskripts – das allerdings erst um 1800 entstand und einige Unstimmigkeiten enthält – für Francesco Maria Ruspoli komponiert wurde,35 stellt Amor die personifizierte Tugend (Virtù) zur Seite. Amor verlässt angesichts der Schönheit und Reinheit der Virtù seinen himmlischen, „unzüchtigen“ Palast („L’impudica […] regia fatale“) und kommt zur Erde, um sich mit Virtù für eine tugend Vgl. Over: Zum sozialen Kontext (wie Anm.  7), S.  342–343; Ursula Kirkendale: Antonio­ Caldara. Life and Venetian-Roman Oratorios, rev. und übers. von Warren Kirkendale, Florenz 2007 (= Historiae musicae cultores 114), S. 57–58. 32 Text in: Clori. Archivio della cantata italiana, www.cantataitaliana.it, scheda 1404. 33 Eine Durchsicht der Serenaten Alessandro Scarlattis etwa bietet viele Beispiele: u. a. La contesa d’onore tra la Gloria, la Fama et il Valore (Rom 1704), Venere, Amore e Ragione (Rom 1706), Amore, Pace e Providenza (1711). 34 Lea Hinden: Die Kantatentexte von Benedetto Pamphilj (1653–1730) (mit vollständiger Edition), Kassel 2015 (= MARS – Musik und Adel im Rom des Sei- und Settecento / Musica e aristocrazia a Roma nel Sei- e Settecento 2), S. 70–76. 35 D-B, Mus.ms.19649. Das Titelblatt nennt ‚Fürst‘ Ruspoli als Auftraggeber, obwohl dieser erst 1709 den Fürstentitel erhielt: „Amore e Virtù ossia il trionfo della Virtù Cantata a due voci con stromenti / del Cavaliere Alessandro Scarlatti Roma 1706 scritta per il Principe Ruspoli“. Eine Notiz auf dem Manuskript nennt vermutlich den Besitzer: „Monsieur le Baron Charles Doblhof“, sicherlich der Komponist Karl von Doblhoff-Dier (1762–1837). Vgl. Österreichisches Biographisches Lexikon und biographische Dokumentation, online: www. biographien.ac.at/oebl/oebl_D/Doblhoff-Dier_Karl_1762_1837.xml (29.9.2015). 31

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hafte Liebe einzusetzen. Der in Virtù verliebte Amor solle durch seine eigenen Liebespfeile die Menschen zu einer tugendhaften Liebe bewegen. Dies sei der Weg zum Ruhm. Im weiteren Verlauf stellt sich heraus, dass dieser Weg von zwei Schäfern, deren Aufenthalt in Rom verortet wird, beschritten werden soll: „Virtù: Tu vuoi, che del gran Tebro il bel Mirtillo, Ch’è il più bell’astro del romano cielo, Ornar di gigli e rose Il maestoso aspetto. Bramo al pari di te, ch’unito à Filli Risplendan le virtudi, Siccome suole, Cintia il ciel fra le stelle al par del sole.“36

An dieser Stelle wird deutlich, dass in der Kantate kein abstrakter Diskurs um Liebe und Tugend verhandelt wird, sondern dass dieser Diskurs auf zwei mit Schäfernamen verbrämte reale Personen in Rom bezogen werden muss, wobei im Einzelnen offen bleiben muss, um wen es sich handelt. Dies geht auch aus anderen Versen hervor: „Amore: Sì, sì, Virtù gradita, Fa, che di sì bel foco una scintilla Di Mirtillo e di Filli il core accenda E la Fortuna ancora Tributaria fedele omai si renda. Virtù: Ed ogni core apprenda, Che impossibil non è, ne fia stupore, Ch’unito alla virtù trionfi amore.“

Diese Hinweise legen nahe, dass es sich bei der Serenata um eine Hochzeits­ kantate gehandelt haben könnte, wobei für das Haus Ruspoli kein solches Ereignis im Jahr 1706 belegt ist. Es ist wohl auch auszuschließen, dass es sich um die (hier falsch datierte)  Serenata handelte, die Ruspoli 1695 aus Anlass seiner eigenen Hochzeit aufführen ließ, da diese offenbar solistisch besetzt war: „La med[esi]ma sera [15. August 1695] lo sposo Capizucchi [Francesco Maria­ Ruspoli] fece una galante serenata alla sua sposa Isabella Cesi, e vi cantò a voce sola Vittoria Bolognese la figlia del cocchiere, accompagnata da varii strom[en]ti­ con g[e]n[era]le applauso […].“37 Vollständiger Text in: Clori. Archivio della cantata italiana, www.cantataitaliana.it, scheda 2042. Luca Della Libera: Notizie di cantate  e serenate  a Roma nel Fondo Bolognetti dell’Archivio­ Segreto Vaticano, in: Berthold Over (Hg.): Die italienische Kantate im Kontext aristokratischer Musikpatronage, Kassel 2016 (= MARS – Musik und Adel im Rom des Sei- und Settecento / 

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Will man die Kantate tatsächlich auf Ereignisse des Jahres 1706 im Hause Ruspoli beziehen, so ergibt sich durch die Betrachtung des historischen Kontexts eine weitere mögliche Lesart: Nach einem großen Rechtsstreit, der am 2. März, bzw. am 22. September 1705 beendet wurde, letzte Nachwirkungen jedoch bis zum 10. Januar 1707 erlebte, erbte der als Conte geborene Francesco Maria den Nachlass seines 1687 verstorbenen Onkels Francesco und nahm offiziell den Namen Ruspoli und den Titel des Marchese an. Im Frühjahr 1706 zog er in den Palazzo Bonelli um und entfaltete eine großartige Kultur­ förderung, die mit der Einrichtung einer Abendgesellschaft, der sonntäglichen „conversazione Ruspoli“, innerhalb derer möglicherweise die Aufführung der Kantate zu lokalisieren ist, im August begann und spätestens Anfang 1707 in der Anstellung Georg Friedrich Händels kulminierte.38 Es könnte sein, dass die Kantate auf jenen neuen Status anspielt, den Francesco Maria Ruspoli und seine Frau Isabella Cesi erreicht hatten, die zu dieser Zeit angesichts des gerichtlichen Erfolges und der endgültigen Standeserhöhung vom Conte zum Marchese mit den „più bell’astri del romano cielo“ zu identifizieren wären. In diesem Zusammenhang müsste Virtù auf die moralische und kognitive Ex­ zellenz (virtus ethica und virtus dianoetica)  des Paars zu beziehen sein, das durch Affektkontrolle und Scharfblick hervorsticht.39 Amore würde in diesem Musica e aristocrazia a Roma nel Sei- e Settecento 3), S. 157–168, hier S. 166. Ruspoli wurde als Francesco Maria Capizucchi geboren und nahm mit dem lange umstrittenen Erbe seines 1687 verstorbenen Onkels Francesco Ruspoli dessen Namen an. Vgl. Over: Zum sozialen Kontext (wie Anm. 7), S. 325–343, hier S. 342–343. 38 Zu den Prozessdaten vgl. die zusammenfassende Darstellung von Kardinal Galeazzo Ma­ rescottis (Francesco Maria Ruspolis Onkel) Sekretär in I-Rasv, Archivio Ruspoli-Marescotti, B. 69: „Narrazione storica degli Interessi di Casa Ruspoli, dalla morte del march:e Francesco Ruspoli, avvenuta il 1.o Xbre 1687 fino all’anno 1720“, insb. fol. 182r ff. Erste Belege für die conversazione im August 1706 (zwei Abrechnungen für Karten von Domenico Castrucci, bei denen auch die Besucher Monsignore Giori und Kardinal Joseph-Emmanuel de la Trémoille genannt sind) finden sich in I-Rasv, Archivio Ruspoli-Marescotti, B. 43. Dort auch Belege vom 11. August zur Bezahlung der Sängerin Lucrezia d’Andrè detta Carò („Spese p[er] Regalare Madama Carò Cantarina d’ordine dell’Ill.mo March[ese] Padrone“) und vom 30. August zur Bezahlung von zwei Geigern („Pag[ato] à P[iet]ro Castrucci disse d’ord[ine] S[ua] S[igno] ria Ill[ustrissi]ma p[er] dare alli du violini che Sonorno la Cantata come p[er] ricevuta“, bzw. „Io infrascritto ò ricevuto dal sig.r Angelo Valeri scudi due moneta e sono p[er] i due Violini della serenata del Ill.mo Sig.r M[archese] Ruspoli – questo di 30 Agosto 1706 Io ­Pietro Castrucci“). Auch: Ursula Kirkendale: Händel bei Ruspoli: neue Dokumente aus dem Archivio Segreto Vaticano, Dezember 1706 bis Dezember 1708, in: Händel-Jahrbuch 50 (2004), S. 309–374, hier S. 310–313, der jedoch die genannten Dokumente nicht bekannt sind. 39 Zur Unterscheidung der beiden Aspekte von virtus in der zeitgenössischen Philosophie vgl. etwa Giambattista Vico: De universi juris uno principio, et fine uno liber unus. Ad Amplissimum Virum Franciscum Venturam a regiis consiliis et criminum quaestorem alterum, Neapel 1720, S. 22: „Vis veri, quae errorem vincit est virtus Dianoetica, seu virtus cognitionis, […]. Vis veri quae affectus refrenat est Virtus Ethica sive actionis, quam Moralem dicunt.“

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Kontext die klienteläre Liebe zum Patron (dem Papst) repräsentieren, die Ruspoli und seine Frau entzünden solle und infolgedessen zwangsläufig Fortuna ihr Glückshorn ausschütten werde. Dies ist möglicherweise eine Anspielung auf die Ambitionen des nunmehr ‚amtlichen‘ Marchese, eine weitere Standes­ erhöhung zu erlangen, wie sie bekanntermaßen 1709 erfolgte. Wie dem auch sei, auf jeden Fall ist zu erkennen, dass die Kantate offenbar reale Ereignisse reflektiert. Blumen sind ein weiteres beliebtes allegorisches Motiv, das in den Kantaten auftaucht. Insbesondere die Rose, aber auch Veilchen und Lilie treten auf und miteinander ins Gespräch. Als Beispiel sei der Text Il Giglio (Die Lilie) von­ Kardinal Benedetto Pamphilj angeführt: „Con le tue mani intatte O bellissima aurora Mi cingesti di latte, Onde il giglio son’io Purissimo desio del nuovo giorno. E se di perle ho il manto e d’oro il seno, Tra i riveriti odori. A ragione m’appello il rè de’ fiori. È mia sposa la rosa che nasce E le cingo di spine le foglie Per sottrarla geloso alle voglie Di mano furtiva Che lasciva D’ardire si pasce. Beltà non custodita, Con le sue pompe alle rapine invita. Vergognosa e pallidetta Violetta, Ancorché bella, Della rosa è la donzella: Poi del prato ogni altro figlio Serba al giglio Serba fede in alma ancella. Al fin di queste voci Giunse un aura crudele, E le scosse dal crin fasto odorato Il giglio impera ai fior, ma [? fedel] al fato.“40

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Textedition in: Hinden: Die Kantatentexte (wie Anm. 34), Nr. 18.

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Dieser auf den ersten Blick kryptische Text kann natürlich als eine Äußerung der Lilie in Bezug auf andere Blumen verstanden werden. Eine zweite Bedeutungsebene eröffnet sich jedoch, wenn man die Blumen als Allegorien der Kirchenhierarchie deutet. Es ist Tatsache, dass die purpurne Rose für den Purpur tragenden Kardinal stehen kann und das violette Veilchen für die violett gekleideten Prälaten.41 Was liegt näher, als mit dem „König der Blumen“, die im Italienischen männliche weiße Lilie, den Papst zu identifizieren, denn auch damals schon trug das Kirchenoberhaupt als Hauptkleid ein weißes Gewand.42 In dieser Deutung wird klar, warum die Rose die Braut der Lilie sein solle, die­ Lilie die Rose vor Zugriffen schütze und das Veilchen die Dienerin der Rose sei: Der Machtanspruch des Papstes ziele, so kann man annehmen, auf eine Vereinnahmung des Kardinalskollegiums ab (so wie der Bräutigam die Braut vereinnahmte, zum Schutze ihrer Tugend ihren Bewegungsradius auf den Palast/das Haus/die Wohnung einschränkte und in der damaligen Gesellschaft mundtot machte).43 Die Prälaten dienten im Sinne des Klientelismus den Kardinälen, um ihre Karrieren voranzubringen.44 Dass der Machtanspruch des Papstes jedoch ins Leere läuft, lässt der leider nicht komplett lesbare Schluss der Kantate erahnen. Auf welches konkrete Ereignis sich die Kantate indessen bezieht, muss unklar bleiben. Benedetto Pamphilj wurde 1681 von Innozenz XI. zum Kardinal kreiert45 und es ist möglich, dass die 1688 vertonte Kantate auf innerkuriale Spannun­ Auf dieselbe Farbmetaphorik spielt Lodovico Sergardi (1660–1726), Kurienprälat und Mitglied von Kardinal Ottobonis Hofstaat, an, der Filodemo, d. i. Gianvincenzo Gravina, eine steile Karriere in der Kirchenhierarchie vorhersagt: „Su, Filodemo, accresci i tuoi trofei, / già Roma è tua, e il merito già pianta / la violetta onde vestir ti dei; // ogni signor la tua virtù decanta, / e fin chi logra la purpurea lana / d’averti appresso insuperbisce e vanta.“ Lodovico Sergardi: Le satire, hg. von Amedeo Quondam, Ravenna [1976], S. 107 (auch Anm. 76 auf derselben Seite). 42 „Era il Papa vestito del suo abito lungo bianco, con rocchetto, mozzetta rossa, stola e cappello rosso. Li signori cardinali in abito di vesticciola a mezza gamba rossa, zimarola simile con maniche pendenti e mozzetta del medesimo colore. Li prelati in abito pavonazzo corto a mezza gamba, ch’era una vesticciola e sopra una zimarola con maniche pendenti della medesima linghezza.“ Viaggio di Papa Innocentio XII da Roma a Nettuno l’anno 1697, hg. von June di Schino und Furio Luccichenti, Rom 2001, S. 15; vgl. auf S. 26 auch die Reproduktion eines Gemäldes, das den Papst in Carroceto in einem rein weißen Gewand zeigt. 43 Zur Rolle der Frau in der Ehe und zum Ideal des weiblichen Schweigens vgl. Heller: Chastity, Heroism, and Allure (wie Anm. 25), S. 38 ff., 62–67, 81–83 und passim. 44 Vgl. dazu einen anonymen Bericht, der über Akademien und conversazioni bemerkt, dass die Prälaten dorthin gingen: „più per trattare li loro negotii,  e pretensioni che altro fine“. Vgl. Fabrizio Della Seta: I Borghese (1691–1731). La musica di una generazione, in: Note d’archi­vio per la storia musicale 1 (1983), S. 139–208, hier S. 147. 45 Vgl. Alessandra Mercantini: Art.  Pamphili, Benedetto, in: Dizionario Biografico degli Italiani 80 (2014), online: http://www.treccani.it/enciclopedia/benedetto-pamphili_(DizionarioBiografico)/ (3.5.2015). 41

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gen anspielt.46 Dies ist insofern nicht abwegig, da Kardinal Pamphilj in sei­ nen Kantatentexten häufiger seine eigene Situation in der Kurie reflektiert, wie z. B. die Kantaten zeigen, die sich mit dem Hofleben insgesamt kritisch auseinandersetzen.47

Die Heldin oder Das Ideal der heroischen Tugend Kommen wir nun zur dritten Facette des zu untersuchenden ‚weiblichen‘ thematischen Spektrums der Kantatentexte um 1700. Neben der Oper ist die Kantate eine Gattung, in der Heroen musikalisch anschaulich präsentiert wurden. Während jedoch in der Oper um 1700 die Helden plastisch auf der Bühne zu bewundern waren, müssen Kantaten ohne Aktion auskommen. Sie können somit als Pendant zu jenen ‚leblosen‘ Artefakten gesehen werden, die in Rom als griechisch-römische Originale oder als neuzeitliche Schöpfungen omnipräsent waren und die Antike als Ideal und Maßstab, den man erreichen, aber auch im Sinne einer „querelle des anciens“ übertreffen konnte, heraufbeschworen: Bauwerke, Ruinen, Skulpturen, Gemälde. Auffallend an diesen ‚heroischen‘ Kantaten ist, dass meist Frauengestalten auftreten. Natürlich gibt es auch heroische Kantaten über Männer wie Nero, Germanico oder Coriolano, aber die Riege der Frauen ist ungleich länger: Lucrezia, Artemisia, Cleopatra, Medea, Olimpia, Armida, Agrippina, Ottavia usw. und so fort. Diese Kantaten sind in einen literarischen Traditionskontext einzuordnen, denn auf literarischem Gebiet existierte im 17. Jahrhundert eine Gattung, die als Vorbild zu gelten hat: die epistole eroiche, die heroischen Briefe.48 Kopistenrechnungen liegen vom 5. Juli 1688 und 26. Juni 1706 vor. Vgl. Hinden: Die Kantatentexte (wie Anm. 34), Nr. 18 und Hans Joachim Marx: Die „Giustificazioni della Casa Pamphilj“ als musikgeschichtliche Quelle, in: Studi musicali 12 (1983), S. 121–187, hier S. 155 (Nr. 54) und S. 173 (Nr. 142). 47 Vgl. in Hinden: Die Kantatentexte (wie Anm.  34), die Kantaten Bell’onda, che mormori (Nr. 8), Belle sponde d’Egitto (Nr. 11), Innocente augellin, disciogli il canto (L’usignolo, Nr. 42), Rendimi i voti miei (La corte, Nr. 70), Selve ombrose! Valli amene! (La solitudine, Nr. 78), Si fan voti a quella nave (La corte, Nr. 79), Ti ricordi altera nave (Sopra la corte, Nr. 86); vgl. auch die Diskussion der Kantate Non sarei de’ fior reina (La rosa regina de’ fiori, Nr. 54) in ebd., S. 188–195. 48 Vgl. Berthold Over: Virtù eroica – Heroic Music. Social Norms and Musical Reflections in the 17th and 18th Century, in: Beate Kutschke / Katherine Butler (Hg.): The Heroic in Music – Diverse Meaning and Musical Analysis, Löwen (= Analysis in Context. Leuven Proceedings in Musicology), (i. Dr.). Zu epistole eroiche und ähnlichen Formen (Szenen, Reden) vgl. Moreno Savoretti: Il carteggio di Parnaso. Il modello ovidiano e le epistole eroiche nel Seicento, Avellino 2012; Lorenzo Geri: L’epistola eroica in volgare: stratigrafie di un genere seicentesco. Da ­Giovan Battista Marino ad Antonio Bruni, in: Roberto Gigliucci (Hg.): Miscellanea seicen46

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Als Nachahmung der heroischen Briefe Ovids (Heroides epistulae)49 erfuhren die epistole eroiche damals in Italien (und Europa) große Popularität. Ihre Charakteristika lassen erahnen, warum sie in der Form von Kantaten Einzug in die musikalischen Repertoires hielten: Als Monologe gestaltet, entfalten die epistole eroiche eine Bandbreite an Gefühlen in Extremsituationen, die in letzter Konsequenz zum Tod führen können. Lucrezia und Cleopatra begehen beispielsweise Selbstmord;50 Agrippina in Händels Kantate Agrippina condotta a morire („Dunque sarà pur vero“) schwankt zwischen Abscheu für ihren Sohn, Rachegelüsten (sie ruft Jupiter an, ihren Tod zu rächen) und ihrer Mutterliebe, um sich letztendlich doch ihrem Schicksal, ihrer Ermordung, zu fügen.51 Diese Bandbreite an Gefühlen – Wut, Zorn, Liebe, Resignation – ist ein ‚gefundenes Fressen‘ sowohl für Komponisten, die eine Fülle musikalischer Nuancen in ihren Kompositionen realisieren konnten, als auch für das gebildete Publikum, das die literarische und musikalische Realisierung der als bekannt vorausgesetzten Situationen goutieren konnte. Und in der Tat bilden heroische Kantaten bestimmte musikalische Charakteristika aus: Sie sind gekennzeichnet durch einen hohen rezitativischen Anteil, der die Arienteile dominiert. Der Grund dafür liegt selbstverständlich vor allem an der durch den Textdichter vorgegebenen Textstruktur, bei der durch das Versmaß bereits angedeutet ist, wie die einzelnen Textteile vertont werden sollten: Sieben- und Elfsilbler weisen auf rezitativische Vertonung, andere Versmaße auf eine Vertonung als Arie. Wenn wir beispielsweise Händels Agrippina-­K antate betrachten, so setzen sich die insgesamt 133 Verse aus 95  Rezitativversen (ca.  71 %), 27 Arienversen (ca. 21 %) und 11 kurzen Arioso-Versen (ca. 8 %) zusammen, während im Normalfall der Rezitativanteil ca. 50 % beträgt. 52 Rezitativzeilen, das ist mehr als die Hälfte, enthalten sogar keine Arie, sondern nur kurze, meist zweizeilige ariose Einschübe. Dieser hohe Rezitativanteil lässt die heroische Kantate einerseits als Nachschöpfung der epistole eroiche in der spezifischen Form der poesia per musica erscheinen, nur dass hier die Heroinen nicht zu uns sprechen oder schreiben, sondern in Arien tesca, [Rom 2011]; Heinrich Dörrie: Der heroische Brief. Bestandsaufnahme, Geschichte, Kritik einer huma­nistisch-barocken Literaturgattung, Berlin 1968; Nicola Badolato: Matteo Noris, „L’animo eroe“ (1689) e alcuni drammi per musica del secondo Seicento, in: Renata Ago (Hg.): Revisiting Baroque, Rom 2014: www.enbach.eu/en/essays/revisiting-baroque/badolato.aspx, DOI:10.14615/06. 49 Publius Ovidius Naso: Liebesbriefe / Heroides epistulae. Lateinisch und deutsch, hg. von Bruno W. Häuptli, Düsseldorf 2001. 50 Vgl. [Anon.] / Georg Friedrich Händel: La Lucrezia (1707); [Anon.] / Emanuele d’Astorga: E pur Cesare ha vinto (1708); Texte in Clori. Archivio della cantata italiana, www.cantata italiana.it, schede 1571, 1519. 51 Händel: Kantaten mit Instrumenten II (wie Anm. 21), S. XXXIV–XXXVII, 53–72.

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und vor allem Rezitativen singen. Das Deklamatorische ist hier der Dreh- und Angelpunkt, der die beiden Gattungen ‚verklammert‘. Andererseits muss sie als Fortführung der großen Lamento-Szene der venezianischen Oper im 17. Jahrhundert gelten. Während jedoch die Lamento-Szene gegen Ende des Jahrhunderts mehr und mehr verschwand und sich auf die Lamento-Arie reduzierte,52 lebt sie in den heroischen Kantaten fort. Ein Passus wie der folgende zeigt deutlich die Nähe der heroischen Kantate zu den Lamento-Szenen des vorhergehenden Jahrhunderts auf: „Con pestiferi fiati Gl’ultimi suoi respiri Avveleni la terra, e l’ossa infrante, Fra tormenti severi, Pria che l’anima spiri, Servano poi d’orror a’ passeggieri; Mora l’indegno figlio… ah! che a tal nome Penso ancor che son madre, E manca il mio furor, né so dir come. Come, o Dio! bramo la morte A chi vita ebbe da me?“

Der Umbruch von einer Invektive zur Reflexion über das geliebte Objekt findet sich ähnlich schon in Monteverdis Lamento d’Arianna: „O nembi, o turbi, o venti, Sommergetelo voi dentr’a quell’onde! Correte, orche e balene, E delle membra immonde Empiete le voragini profonde! Che parlo, ahi! Che vaneggio? Misera, ohimè! Che chieggio? O Teseo, o Teseo mio, Non son, non son quell’io, Non son quell’io che i feri detti sciolse: Parlò l’affanno mio, parlò il dolore; Parlò la lingua sì, ma non già’l core.“53

Vgl. zu dieser Entwicklung Ellen Rosand: Opera in Seventeenth-Century Venice. Creation of a Genre, Berkeley 1991, S. 361–386. 53 Claudio Monteverdi: Il lamento d’Arianna, in: ders.: Tutte le opere, hg. von G. Francesco Mali­piero, Bd. 11, Wien u. a. 1930, S. 165–166. 52

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Er fügt sich nahtlos in die Konstante der Lamento-Dichtung (und -Vertonung) ein, starke emotionale (und musikalische)  Kontraste aufeinander folgen zu lassen.54 Doch welchen Zweck erfüllten die heroischen Kantaten in der damaligen Gesellschaft? Illustrieren sie lediglich ein idealisiertes Bild der Antike? Stellen sie beklagenswerte Einzelschicksale dar? Ich glaube: nein. Sie sind vielmehr in den Tugend- und Wertekanon der adligen Gesellschaft einzuordnen. Höchste erreichbare Tugend war demzufolge die heroische Tugend, die „virtù eroica“. Diese zeichnet sich dadurch aus, große Dinge zu vollbringen, überall seine Vernunft zu gebrauchen, die Leidenschaften perfekt zu kontrollieren, in allen Wechselfällen des Lebens beständig und ruhig zu bleiben und dadurch einen quasi übermenschlichen Status zu erreichen. Die Beständigkeit kann dabei bis zum Tod gehen. Dieses Hinauswachsen über die menschliche Existenz wird auch in den heroischen Kantaten manifest: Während in der zeitgenössischen Vorstellung Frauen als schwach, wankelmütig und unfähig, die Leidenschaften zu bändigen, angesehen wurden,55 entwerfen die heroischen Kantaten ein komplettes Gegenbild und erfüllen so die Kriterien der „virtù eroica“. Auch wenn die Heroinen ihre Gefühle präsentieren und zwischen dem einen und anderen emotionalen Extrem hin- und hergerissen sind, gelingt es ihnen, diese zu kanalisieren, einen Entschluss zu fassen, ihn umzusetzen und eine bewundernswerte heroische Tat zu vollbringen.56 Heroische Kantaten dienten daher ebenso wie die epistole eroiche als moralische exempla.57 Über die Konventionen der Lamento-Dichtung und -Vertonung vgl. Margaret Murata: The Recitative Soliloquy, in: Journal of the American Musicological Society 32 (1979), S.  45–73;­ Rosand: Opera in Seventeenth-Century Venice (wie Anm.  52), S.  363 ff.; Harris: Handel as­ Orpheus (wie Anm. 22), S. 60 ff. 55 Zum Frauenbild der Zeit vgl. Heller: Chastity, Heroism, and Allure (wie Anm. 25), S. 11–65, 88–90; dies.: Emblems of Eloquence: Opera and Women’s Voices in Seventeenth-Century Venice, Berkeley 2003, S. 27–47. 56 In diesem Sinne greift die Annahme Harris’ zu kurz, die Protagonistinnen der Kantaten g­ äben sich (ganz unheroisch) den Leidenschaften hin, stellten dadurch eine Gefahr für­ Männer dar und bestätigten auch musikalisch ein etabliertes Frauenbild (Harris: Handel as Orpheus [wie Anm. 22], S. 53 ff.). Dies tun auch die Protagonistinnen der Briefe, die indessen explizit als heroisch qualifiziert werden und dies angesichts ihrer die Grenzen des Weiblichen überschreitenden heroischen Taten auch sind. Paradigmatisch kann in diesem Kontext­ Cleopatra angesehen werden, die dadurch, dass sie Marc Antonio in ihrer leidenschaftlichen Liebe quasi gefangen hielt und ihn überdies zu „weibischem“ Handeln antrieb, als gefährlich ein­gestuft und deren Selbstmord hingegen als heroische Tat gefeiert wurde. Vgl. etwa die Darstellung Cleopatras in Le vite degli Imperadori romani da Giulio Cesare sino à Massimiliano tratte per M. Lodovico Dolce dal libro spagnuolo del Signor Pietro Messia. […], Venedig 1688 [Erstausgabe vor 1511, Nachdrucke bis 1849], S. 40–46. 57 Zur moralischen Relevanz der heroischen Briefe vgl. die Dedikation von Pietro Bonarelli zum zweiten Buch von Antonio Brunis Epistole eroiche in der Ausgabe Rom 1634 (S. 248–250): „La vaghezza delle materie con bell’ordine disposte, e l’amenità della elocutione facile, e sub54

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Fazit Kommen wir nun zu einem kurzen Fazit: 1. Als Hirtinnen sind Frauenfiguren in Kantaten weitgehend mit ihren männlichen Pendants austauschbar und entwickeln lediglich in besonders leidenschaftlichen Texten ein eigenes Profil. Insgesamt mögen Hirtinnen und Hirten in den Patronagediskurs um 1700 einzuordnen zu sein, der die Kantatentexte als Reflexionsmedium des höfischen Lebens erscheinen lässt. 2. Als Personifikationen sind Frauenfiguren selbstverständlich abhängig vom Genus des zu repräsentierenden Nomens. Insgesamt sind allerdings auch hier die Interferenzen zu höfischen Anlässen, Konstellationen und Situationen unübersehbar. 3. Als Heroinen entwickeln Frauenfiguren am ehesten ein eigenes Profil. Aber auch hier darf die gesellschaftliche Relevanz nicht unbeachtet bleiben: Heldinnen fungieren als moralische exempla und erfüllen damit ebenso wie alle anderen hier vorgestellten Frauenfiguren eine zentrale Forderung an Poesie: nämlich das horazische prodesse, das dem delectare der schönen poetischen Form und der attraktiven musikalischen Vertonung an die Seite gestellt ist.

lime mirabilmente dilettano: le riposte, & opportune dottrine, sparse per entro, vagamente insegnano, & ammaestrano:  e lo stile con bell’arte opportunamente pathetico con grata viole[n]za movendo gli affetti, e sollevando le menti, scorge queste, e quelli per l’erto sentiero della virtù; etiandio, là dove si scrive d’amori. […]; s’osserva nelle seconde [Allegorien, die Bruni neben argomenti den Briefen voranstellt] un vivo tesoro di precetti politici, e morali, che al diletto dell’esquisitezza di queste poesie accoppiano insieme l’utile; […].“

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Zwischen Mythos und Geschichte: Dido als Herrscherin und Liebende Albert Gier (Bamberg) „Mit einem glücklichen Anachronismus“, so schrieb Pietro Metastasio in der Vorbemerkung zu seinem dramma per musica Didone abbandonata1, habe Vergil die Geschichte der Irrfahrten des Aeneas mit der Gründung Karthagos verknüpft. Bis in die frühe Neuzeit galten Dido und Aeneas als historische ­Figuren, deren Leben und Taten sich exakt datieren lassen: Giovanni ­Boccaccio berief sich in seinem Dante-Kommentar2 auf die Chronik des Euse­ bios von ­K aisareia (nach 260–337/3403), derzufolge Troja im Jahre 4020 nach Erschaffung der Welt zerstört worden sei; Dido4 habe Karthago mindestens 143 Jahre später gegründet, die beiden hätten einander also unmöglich begegnen können.5 Was Vergil über die unglückliche Liebe der Königin Dido berichtet, ist nicht historische Wahrheit, sondern fabula, dichterische Erfindung.6 Die historia Didos konnten Boccaccio wie Metastasio in dem Auszug (Epitome) lesen, den

Pietro Metastasio: Drammi per musica. I. Il periodo italiano 1724–1730, a cura di Anna Laura Bellina, Venezia 2002, S.  69: „con un felice anacronismo“. Die Edition gibt den Text der­ Ausgabe des Verlags Hérissant 1780–1783 wieder; gleicher Wortlaut im Druck von 1724 (abrufbar unter http://librettidopera.it/didabb/didabb.html, konsultiert 1.5.2015). 2 Giovanni Boccaccio: Tutte le opere a cura di Vittore Branca, Bd. VI: Esposizioni sopra la comedia di Dante (I Classici Mondadori), Milano 1965, § 82, S. 300. – Vgl. auch Valentia Atturo: Passione negate. Boccaccio e le emozioni di Didone, in: Critica del testo 16/3 (2013): Boccaccio autore e lettore, a cura di Paolo Canettierei e Arianna Plunzi, S. 211–240. 3 Zu ihm J[osef] Ri[st], in: Hubert Cancik / Helmuth Schneider (Hg.): Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike [= DNP], Altertum, Bd. 4, Stuttgart / Weimar 1998, Sp. 309 f. 4 Boccaccio nennt den Tyrer „Carcedone“ oder seine Tochter „Tidadidone“ als mögliche Gründer Karthagos (wie Anm. 2). 5 Der Venezianer Matteo Noris rechtfertigt in der Vorrede seiner Festa teatrale Il Greco in Troia (Florenz 1688) die Änderungen, die er an der bekannten Geschichte vorgenommen hat, u. a. mit dem Argument: „Virgilio non descrive gli amori di Didone con Enea?  e pure, quanto doppo l’incendio di Troia nacquero le descritte flamme amorose? Anzi, quanto, doppo la morte di Enea, nacque Didone?“ Vgl. dazu Albert Gier: Werkstattberichte. Theorie und Typologie des Argomento im italienischen Opernlibretto des Barock, Bamberg 2012, S. 63. 6 Die Autoren italienischer Dido-Tragödien des 16.  Jahrhunderts wie Alessandro Pazzo de’ Medici (Didone in Cartagine, 1524) oder Giovan Battista Giraldi Cinthio (Didone, ca. 1541) stellen der historia explizit Vergils fabula gegenüber, vgl. Eberhard Leube: Fortuna in Karthago. Die Aeneas-Dido-Mythe Vergils in den romanischen Literaturen vom 14. bis zum 16. Jahrhundert, Heidelberg 1969, S. 173; 178. 1

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Marcus Iunianus Iustinus7 aus der Universalgeschichte des Pompeius ­Trogus, eines Zeitgenossen Vergils,8 anfertigte. Dido erscheint hier9 als kluge, mutige und energische Herrscherin: Ihrem Ehemann Acherba (bei Vergil heißt er­ Sychaeus) ist sie in treuer Liebe zugetan. Nachdem ihr eigener Bruder, K ­ önig Pygmalion, ihren Mann aus Habgier ermordet hat, schafft sie es dank einer List, mit den Schätzen des Gatten aus ihrer Heimatstadt Tyros zu entkommen; in Nordafrika findet sie eine neue Heimat und gründet Karthago, das sich schnell zur blühenden Stadt entwickelt. Wenn der afrikanische König Iarbas Dido heiraten will und droht, eine Zurückweisung bedeute Krieg, greifen die hochgestellten Karthager, die wissen, dass die Königin ihrem toten Mann die Treue halten möchte, zu einer List: Sie entlocken ihr die Aussage, für das Vaterland müsse man alles, selbst das Leben, opfern; wenn das so sei, erklären sie dann, könne Dido Iarbas ihre Hand nicht verweigern. Sie aber gibt sich lieber den Tod, als eine neue Ehe einzu­gehen. Boccaccio preist sie deswegen als „ewig verehrungswürdiges Beispiel ungebeugter Witwenschaft“10. Manches spricht dafür, dass Vergil11 seine Version der Geschichte, in der sich Dido nicht aus Treue zu Sychaeus, sondern aus unglücklicher Liebe zu ­Aeneas den Tod gibt, frei erfunden hat,12 um die Rivalität und Feindschaft zwischen Rom und Karthago zu begründen, die im 3. Jahrhundert v. Chr. zu den beiden Punischen Kriegen führten. Dass Aeneas, der mit Dido offensichtlich glücklich ist, der durch Mercur übermittelten Mahnung Iuppiters zum Auf Vermutlich Ende des 4. Jahrhunderts, vgl. P[eter] L. S[chmidt], in: DNP (wie Anm. 3), Altertum, Bd. 6, Sp. 105 f. 8 Die Historiae Philippicae des Pompeius Trogus dürften wohl „in augusteischer Zeit“ entstanden sein, vgl. C[hristian] Mü[ller], ebd., Bd. 10, Sp. 115–117. 9 Epitome historiarum Philippicarum, 18, 4–6; abrufbar unter http://www.thelatinlibrary.com/ justin/18.html (30.4.2015). 10 Boccaccio: Tutte le opere (wie Anm.  2), Bd.  X: De mulieribus claris, Milano 1967, XLVI, S.  168–181, § 16: „O pudicitiae inviolatum decus! O viduitatis infracte venerandum eternumque specimen, Dido!“ Boccaccio erzählt hier die Geschichte Didos genau nach Iustinus, fügt allerdings (§ 14) den Hinweis ein, zwischen Didos Entschluss zum Suizid und dessen Ausführung sei Aeneas in Karthago angekommen, Dido habe ihn aber nie gesehen („adveniente Enea troiano nunquam viso“), d. h. er habe auf ihre Entscheidung keinen Einfluss gehabt. Im Dante-Kommentar (Anm. 2) übernimmt er die Erzählung aus De mulieribus claris zunächst nahezu wörtlich (S. 295–299), schließt dann (S. 299 f.) die abweichende Version Vergils an und verweist (S. 300, § 82) auf die chronologische Unstimmigkeit. In der Genealogia deorum gentilium (Tutte le opere, Bd. VII, Milano 1998, II, 60, S. 260–263) stellt er der knapp evozierten Version Vergils den ausführlich wiedergegebenen Bericht des Iustinus gegenüber. 11 Benutzte Ausg.: P. Vergili Maronis Opera recognovit (‥), R. A. B. Mynors, Oxford 1976. Die Dido-Geschichte findet sich in Buch I–IV der Aeneis, hier in Buch I, V. 335–756; IV. Bücher II/III enthalten Aeneas Bericht über den Untergang Trojas und seine Irrfahrten. 12 Vgl. F[ritz] G[raf], in: DNP (wie Anm. 3), Bd. 3, Sp. 543. 7

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bruch nach Italien ohne großen Widerstand Folge leistet, beweist einmal mehr, dass er seinem Weg „im Dienste des röm[ischen] fatum […] mit einer geradezu wörtlich ‚stoischen‘ Leidensfähigkeit“13 folgt. Das scheint ihm allerdings deutlich weniger schwerzufallen als in den frühneuzeitlichen Dido-Opern – sonst würde er die verzweifelte Dido wohl kaum daran erinnern, dass er ihr nie die Ehe versprochen hat.14 Aeneas ist eine Figur auf dem Schachbrett der Götter: Iuppiter will, dass er die Voraussetzungen für die Gründung Roms als des neuen Troja schafft, Iuno will eben dies verhindern. Dabei gehorchen die Götter zumindest gelegentlich kleinlichen, egoistischen Motiven (Iuno rächt sich an den Trojanern, weil Paris den berühmten Apfel nicht ihr, sondern Venus zugesprochen hat) und scheuen sich auch nicht, die Menschen zu betrügen15. Während Aeneas immerhin eine Mission zu erfüllen hat, scheint Vergils Dido aus Sicht der Götter völlig unwichtig, sie benutzen sie lediglich: Venus, die fürsorgliche Mutter des Aeneas, findet, dass der Junge nach den Strapazen der letzten Zeit jemanden braucht, der ihn ein bisschen verwöhnt, deshalb erregt sie mit Amors Hilfe in Dido verzehrende Leidenschaft: „[…] mit Listen zu fahn und rings zu umhegen mit Feuer Denk’ ich die Fürstin zuvor, daß keinerlei Macht sie verändre, Sondern sie fest anhange mit mir dem geliebten Äneas.“16

Die Königin ist zwar entschlossen, dem Andenken des Sychaeus die Treue zu halten,17 aber ihr Verlangen ist stärker; der Dichter vergleicht sie18 mit einer vom Jäger angeschossenen Hirschkuh, die den Pfeil, der in ihrer Flanke steckt, nicht abschütteln kann. Iuno wäre es durchaus recht, wenn Dido Aeneas zum Mann nähme, denn das würde ihn von Italien fernhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, würde sie sich sogar mit Venus verbünden,19 die freilich Zweifel hat, ob diese Heirat in W[erner] SU[erbaum], in: DNP (wie Anm. 3), Bd. 12/2, Sp. 52. Aeneis IV (wie Anm. 11), V. 338 f.: „[…] nec coniugis umquam / praetendi taedas aut haec in foedera veni“. 15 Die fraudi der Götter spielen z. B. in Alessandro Pazzi de’ Medicis Tragödie eine zentrale Rolle, vgl. Leube: Fortuna in Karthago (wie Anm. 6), S. 177. 16 Aeneis I (wie Anm. 11), V. 657–675, Zitat V. 673–675: „quocirca capere ante dolis et cingere flamma / reginam meditor, ne quo se numine mutet, / sed magno Aeneae mecum teneatur amore“. – Übersetzung von Johann Heinrich Voß: Vergilis Äneide von Johann Heinrich Voß, neu hg. von Otto Güthling, Leipzig 1875, abrufbar unter http://gutenberg.spiegel.de/buch/ vergils-aneide-2624/1 (3.10.2015). 17 Vgl. Aeneis IV (wie Anm. 11), V. 20–30. 18 Ebd., V. 65–72. 19 Vgl. ebd., V. 90–128. 13 14

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Iuppiters Sinn wäre. Iuno lässt sich aber nicht davon abhalten, während der für den folgenden Tag angesetzten Jagd das „Hochzeitsfest“20 des Paares zu arrangieren. Schon vorher hat Dido über ihrer Liebe ihre Pflichten vernachlässigt, der Bau der Befestigungsanlagen ist zum Erliegen gekommen.21 Jetzt gibt sie jegliche Zurückhaltung auf: „Es rühret nicht Ruf sie ferner, noch Anstand; Und nicht heimliche Freuden ersinnt die schmachtende Dido: Ehe nennt sie es; so wird Schuld durch Namen beschönigt.“22

Gerüchte verbreiten sich,23 die auch König Iarbas erreichen; empört ruft er­ Iuppiter an, er möge diesen Zuständen ein Ende machen,24 der daraufhin Mercur zu Aeneas schickt. Es ist das einzige Mal, dass Didos abgehalfterter Verehrer bei Vergil direkt ins Geschehen eingreift. Wenn die Trojaner sich zur Abreise rüsten, sucht Dido den Geliebten mit allen Mitteln zurückzuhalten: Zunächst erinnert sie ihn (mit Recht) daran, dass sie sich seinetwegen mit Iarbas und den Nachbarstämmen überworfen hat und ohne seinen Schutz verloren ist;25 dann hält sie ihm – weniger geschickt – vor, was er ihr zu verdanken hat, und wünscht ihm alles erdenklich Schlechte.26 Da nichts ihn aufhalten kann, besteigt sie zuletzt – wie bei Iustinus, aber aus ganz anderen Gründen – den Scheiterhaufen. Vergils Dido lässt sich als tragische Gestalt im Sinne der aristotelischen­ Poetik 27 verstehen: Bis zur Begegnung mit Aeneas ist sie eine tüchtige, vom Glück begünstigte Herrscherin und ihr Lebenswandel ist moralisch einwandfrei. Als den Fehler, der ihren Untergang verursacht (Hamartia28), kann man die Untreue dem Andenken des Sychaeus gegenüber werten.29 Dass sie als Opfer der Ränke Amors, dem kein Sterblicher (und auch kein Gott) zu widerste „hymenaeus“, ebd., V. 127. Ebd., V. 86–89. 22 Ebd., V. 170–172: „[…] neque enim specie famaue mouetur / nec iam furtiuum Dido meditatur amorem: / coniugium uocat, hoc praetexit nomine culpam“. 23 Ebd., V. 191–194: Die Fama verkündet im ganzen Land „uenisse Aeneam Troiano sanguine cretum, / cui se pulchra uiro dignetur iungere Dido; / nunc hiemem inter se luxu, quam longa, fouere / regnorum immemores turpique cupidine captos.“ 24 Ebd., V. 196–219. 25 Ebd., V. 320–326. 26 Ebd., V. 365–387. 27 1452b–1453a; benutzte Ausg.: Aristoteles: Poetik. Griechisch / deutsch, übers. und hg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 1993, Kap. 13, S. 36–40. 28 Ebd., Kap. 13 § 10, S. 38. 29 Der Gedanke an Sychaeus bestärkt Dido in ihrem Entschluss, sich den Tod zu geben, Aeneis IV (wie Anm. 11), V. 552. 20 21

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hen vermag, nicht anders konnte, als sich Aeneas zuzuwenden, mag Jammer und Schaudern30 (Anteilnahme und Bestürzung) hervorrufen. Vor allem bietet Vergil eine eindrucksvolle Schilderung zerstörerisch rasender31 Leidenschaft. In der frühen Neuzeit wird die Geschichte Didos häufig als Exempel für das Wirken der Fortuna gedeutet:32 Als Herrscherin ist Dido vom Glück begünstigt, aber seit der Ermordung ihres Gatten lebt sie einsam als trauernde Witwe. Mit der Ankunft des Aeneas scheinen sich alle ihre Wünsche zu erfüllen, aber dann verlässt sie das Glück, die Liebe zu dem Fremden besiegelt Didos Untergang. Das erinnert an Geschichten vom ‚Sturz des Mächtigen‘, wie man sie zu allen Zeiten, besonders aber in Spätmittelalter und Renaissance, findet;33 freilich haben viele der Großen, von denen z. B. Boccaccio (De casibus virorum­ illustrium) erzählt, von Anfang an neben guten auch schlechte Eigenschaften oder Laster, die die finale Katastrophe verständlich machen,34 während Dido vor der Begegnung mit Aeneas das Idealbild einer Herrscherin verkörpert. Henry Purcells Oper Dido and Aeneas (1689), ein „singuläres Werk“35, das quer zu allen Gattungen des zeitgenössischen Musiktheaters steht, kennt mit der Zauberin eine Fortuna vergleichbare Macht: Im ersten Akt wirbt Aeneas um Dido, die, das haben ihre Hofdamen längst erraten, rettungslos in ihn verliebt ist und ihn dennoch abweist: „Fate forbids what you pursue“36 – ob mit dem ‚Schicksal‘ die Treue zu ihrem toten Gatten37 oder etwas anderes gemeint So Fuhrmanns Übersetzung für ἔλεος und φόβος, Poetik (wie Anm. 27), S. 39 und passim. Vgl. Iunos Charakterisierung der Königin (Aeneis IV [wie Anm. 11], V. 101): „ardet amans Dido traxitque per ossa furorem“. 32 Vgl. dazu Leube: Fortuna in Karthago (wie Anm. 6). Zu italienischen Dido-Tragödien und -Libretti des 17. Jahrhunderts vgl. Bruno Brizi: La Didone e il Siroe, primi melodrammi di P. Metastasio  a Venezia, in: Maria Teresa Muraro (Hg.): Venezia  e il melodramma nel Set­ tecento, Firenze 1978, S. 363–388, hier S. 370. 33 Vgl. den Sammelband von Theodor Wolpers (Hg.): Der Sturz des Mächtigen. Zu Struktur, Funktion und Geschichte eines literarischen Motivs. Bericht über Kolloquien der Kommission für literaturwissenschaftliche Motiv- und Themenforschung 1995–1998, Göttingen 2000 (= Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen. Philologisch-historische Klasse. Dritte Folge, 234), und hier besonders den Beitrag von Theodor Wolpers: Der „Sturz des Mächtigen“ als gattungskonstitutives Motiv: Zur De casibus-Geschichte bei Boccaccio, ­Chaucer und im Mirror for Magistrates, S. 105–147. 34 Vgl. ebd., S. 132. 35 Janina Klassen: Purcell: Dido and Aeneas, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters. Oper – Operette – Musical – Ballett, hg. von Carl Dahlhaus und dem Forschungsinstitut für Musiktheater der Universität Bayreuth unter Leitung von Sieghard Döhring, Bd. 5, München / Zürich 1994, S. 137–140, hier S. 136. 36 Der Text wird zitiert nach Boston Early Music Festival: Dido and Aeneas. Texts and libretto, abrufbar unter www.bemf.org/media/BEMF_dido_libretto.pdf (3.10.2015). 37 Unmittelbar vor ihrem Tod verabschiedet sich Dido von ihrer ersten Hofdame Belinda: „When I am laid in Earth, may my Wrongs create / No trouble in thy Breast.“ Das könnte man als Anspielung auf den Verrat an Sychaeus verstehen. 30 31

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ist, wird nicht deutlich. Dass sie dem Fremden nicht mehr lange widerstehen wird, ist offensichtlich.38 Im zweiten Akt ruft die Zauberin ihre Hexen zusammen, um Karthago in Schutt und Asche zu legen und Dido zu vernichten: „The Queen of Carthage whom we hate, As we do all in prosperous State, E’re Sun set shall most wretched prove, Deprived of Fame, of Life and Love.“

Grund für ihren Hass ist offenbar, dass Dido, die große Königin, im Begriff ist, auch als Frau Erfüllung zu finden, was offenbar – zumindest nach Ansicht der Zauberin – mehr Glück wäre, als eine Sterbliche für sich beanspruchen kann. Während das Liebespaar bei Vergil dank des Sturms, den Iuno entfesselt, in der Grotte zueinanderfindet, beschwören die Hexen ein Unwetter herauf, um Didos Jagdgesellschaft in die Stadt zurückzutreiben und so eine erotische Begegnung zu verhindern.39 Aeneas ist es vom Schicksal („by fate“) bestimmt, in Italien sein Glück zu suchen, aber nicht Iuppiters Bote Mercur, sondern ein Elf („my trusty elf“) oder Geist („spirit“) im Dienst der Zauberin mahnt ihn zur Abreise, Didos Bitten und Vorwürfe können ihn nicht zurückhalten. Die Zauberin, so scheint es, ist „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft“, da sie einerseits alle Glücklichen und Erfolgreichen hasst und andererseits verwirklicht, was das Schicksal beschlossen hat – genau wie Fortuna.

Auch für Belinda, die Aeneas ermutigt: „Pursue thy Conquest, Love: her Eyes / Confess the Flame, her Tongue Denyes.“ 39 Purcells Librettist Nahum Tate hatte die Geschichte von Dido und Aeneas vorher in der Tragödie Brutus of Alba, or the Enchanted Lovers behandelt (1678, abrufbar unter http://quod. lib.umich.edu/e/eebo/A62851.0001.001?rgn=main;view=fulltext [1.5.2015]; im Vorwort erläutert Tate, er habe das Stück als Dido-Tragödie konzipiert, aber dann auf den Rat von Freunden hin die Namen der Protagonisten verändert): Dort liebt Brutus, „Prince of the­ Dardan Forces“ (= Aeneas) die namenlose Königin von Syracus (= Dido). Die Handlung wird durch die Intrige Sozimans kompliziert, der Dido vernichten will, um selbst die Macht in Syracus zu übernehmen und um seinen Sohn zu rächen, den Brutus Sohn Locrinus im Zweikampf erschlagen hat. Er bedient sich der Hilfe der Zauberin von Ragusa, die u. a. einen Liebestrank für das Protagonistenpaar braut; während einer Jagd treibt sie ein Sturm in eine Höhle, wo die Königin Brutus Geliebte wird (also wie bei Vergil). Hinterher bereut sie, ihrem verstorbenen Mann die Treue gebrochen zu haben, und will sterben; Brutus kann sie umstimmen, aber sie kündigt an, bei der ersten Kränkung, die Brutus ihr zufüge, werde sie sich den Tod geben. Unter diesen Umständen zögert Brutus natürlich, seine Pflicht zu er­füllen und Syracus zu verlassen; um ihn aufzurütteln, opfert sein Vertrauter Asaracus sein Leben und ersticht sich selbst. Daraufhin entschließt sich Brutus zur Abreise, die Königin stirbt an gebrochenem Herzen. 38

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Wie später Pietro Metastasio machte auch Giovanni Francesco Busenello, prominentes Mitglied der Accademia degli Incogniti40, der u. a. auch das Buch zu Monteverdis L’ incoronazione di Poppea verfasste, in seinem dramma per musica La Didone für Francesco Cavalli (1641) den bei Vergil ganz unwichtigen Iarbas zur dritten Hauptfigur. Wie in der venezianischen Oper des 17. Jahrhunderts üblich41 gibt Busenello der Geschichte ein glückliches Ende: Zuletzt findet sich Dido mit der Trennung von Aeneas ab und willigt ein, Iarbas zu heiraten42. Trotz dieser radikalen Umdeutung folgt Busenellos Libretto43 der Vorlage Vergils in anderer Hinsicht bemerkenswert genau. Wie später Berlioz stellt er im ersten Akt den Untergang Trojas dar. Creusa bittet ihren Mann Enea, bei ihr, seinem Vater Anchise und dem Sohn Ascanio zu bleiben, aber der Held stürzt sich erneut in den aussichtslosen Kampf: „Del ferro ostil sopra le punte acute or cerchiamo o la morte, o la salute.“ (I,1)

Erst seine Mutter Venus kann ihn dazu bewegen, „per divin consiglio, / e non per tua viltà“ aus der brennenden Stadt zu fliehen (I,5), um seine Mission – Stammvater der Gründer des neuen Troja zu werden – zu erfüllen. Im zweiten Akt holt sich zunächst Iarbas bei Dido eine Abfuhr (ihre ganze Liebe, so erklärt sie ihm, gehöre dem toten Gatten44), die freilich nichts an sei­ nen Gefühlen ändert. In den folgenden Szenen treten die Götter auf: Juno bittet Aeolus, einen Sturm zu entfesseln, um Eneas Schiffe zu vernichten45 (II,4); Zu ihnen vgl. u. a. Monica Miato: L’Accademia degli incogniti di Giovan Francesco Loredan. Venezia (1630–1661), Firenze 1998. 41 Acht Jahre später endet auch Cavallis Giasone auf das Libretto von Giacinto Andrea Cicognini glücklich, da Giasone, dem zwei Frauen jeweils Zwillinge geboren haben, sich zuletzt mit Isifile (Hypsipyle) versöhnt, die er vergessen hatte, als er Medea traf; diese tröstet sich mit Egeo (König Aegeus von Athen), mit dem sie der klassischen Tradition zufolge erst nach dem Mord an Jasons Kindern zusammenlebte. In Cicogninis Prolog (vgl. die Edition des Librettos in:­ Libretti d’opera italiani dal Seicento al Novecento a cura di Giovanna Gronda e Paolo Fabbri, Milano 1997, S. 107–207, hier S. 113–115) ergreift Apollo für Medea, Amor für Isifile Partei; bezeichnenderweise hat Vergils, und auch Busenellos Dido keinen Fürsprecher unter den Göttern. 42 Mit der Heirat Didos und Iarbas endet auch Carlo Pallavicinos Didone delirante (Text Carlo Franceschi), Venedig 1686, vgl. Alberto Beniscelli: Felicità sognate. Il teatro di Metastasio, Genova 2000, S.  31, Anm.  35; der Text ist abrufbar unter http://bildsuche.digitale-samm lungen.de/index.html?c=viewer&bandnummer=bsb00047912&pimage=8&v=100&nav=&l=de (2.5.2015). 43 Abrufbar unter http://librettidopera.it/didone/didone.html (1.5.2015). Vgl. auch Florian Mehltretter: Die unmögliche Tragödie. Karnevalisierung und Gattungsmischung im venezianischen Opernlibretto des siebzehnten Jahrhunderts, Frankfurt/M. 1994, S. 160–163. 44 Busenello: Dido (wie Anm. 43), I,2, Aria. 45 Ebd., I,4, vgl. Aeneis I (wie Anm. 11), V. 50–123. 40

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der Gott der Winde gehorcht, aber Neptun macht dem Treiben ein Ende46. Dann bittet Venus Amor, Ascanius Platz einzunehmen und Dido mit dem Pfeil der Liebe zu Aeneas zu verwunden,47 ehe sie ihrem Sohn in Gestalt einer Nymphe Auskunft über Karthago und seine Königin gibt.48 Natürlich ist Dido hingerissen, wenn sie Aeneas zum ersten Mal sieht (II,10), wie drei klatschsüchtige Hoffräulein sehr wohl bemerken (II,11). Iarbas begreift, dass Dido die Treue zum toten Gatten nur vorgeschoben hat, aber die Eifersucht heilt ihn nicht von seiner Liebe zu ihr (II,12). Der dritte Akt zeigt zunächst die zwischen Liebe zu Aeneas und Treue zu­ Sychaeus schwankende Dido, der ihre Schwester Anna zuredet, das neue Gefühl zuzulassen und ihre Jugend nicht zu vergeuden.49 Aus Eifersucht und übergroßer Liebe hat Iarbas unterdessen den Verstand verloren (vgl. II,13), er redet irre – eine Standardszene der frühen venezianischen Oper50 –, zwei Hoffräulein sehen in ihm dennoch (oder gar eben deswegen?) einen geeigneten Partner für das Liebesspiel (III,2). Wie bei Vergil schickt Iuppiter Mercur zu Aeneas, um ihn an seinen Auftrag zu erinnern (III,4); die Mahnungen des Götterboten gipfeln in dem Vorwurf, der Trojaner bringe durch sein Zögern ­A scanius und seine Nachkommen um die ihnen verheißene Herrschaft: „Ascanio il tuo figliuol, che in sé racchiude de’ posteri gli scettri, e le corone, fraudato oggi vien per tua cagione, e l’error tuo le di lui glorie esclude.“ (III,5)51

Wie bei Vergil52 würde Aeneas einer Auseinandersetzung mit Dido am liebsten aus dem Weg gehen und heimlich davonsegeln (III,6), aber sie stellt sich ihm in den Weg (III,7); von Beschimpfungen gelangt sie über Versprechungen zu fle Busenello: Dido (wie Anm. 43), I,5, vgl. Aeneis I (wie Anm. 11), V. 124–144. Neptuns berühmte, an die Winde gerichtete Drohung „quos ego –“ (Aeneis I, V. 135) gibt Busenello mit „io vi farò!“ (‚euch werd ich’s geben!‘) wieder; bei Voß schwächer „Ha, ihr sollt…!“ 47 Busenello: Dido (wie Anm. 43), I,6, vgl. Aeneis I (wie Anm. 11), V. 657–696. 48 Busenello: Dido (wie Anm. 43), I,8, vgl. Aeneis I (wie Anm. 11), V. 314–417. Bezeichnenderweise fehlt das wichtige Gespräch der Venus mit Iuppiter, der ihr die Gründung Roms und die Taten Iulius Caesars prophezeit, Aeneis I, V. 223–296. 49 Busenello: Dido (wie Anm. 43), III,1, vgl. Aeneis IV (wie Anm. 11), V. 1–53. Vergils Anna gibt der Schwester bezeichnenderweise zu bedenken, dass sie mit einem Mann wie Aeneas an ihrer Seite weder ihre afrikanischen Nachbarn noch Pygmalions Tyrer zu fürchten braucht (V. 31 ff.). 50 Zu den Wahnsinnsszenen vgl. Ellen Rosand: L’Opera veneziana nel XVII secolo. La nascita di un genere, Roma 2013, S. 387–403. Sie findet die Szene in La Didone, die erst in letzter Minute hinzugefügt wurde, eher schwach (S. 396). 51 Vgl. Aeneis IV (wie Anm. 11), V. 274–276: „Ascanium surgentem et spes heredis Iuli / respice, cui regnum Italiae Romanaque tellus / debetur.“ 52 Aeneis IV (wie Anm. 11), V. 288–295. 46

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hentlichen Bitten. Da Aeneas sich nicht umstimmen lässt, verabschiedet sie ihn mit Vorwürfen und Verwünschungen; in ihrer Arie53 sehnt sie den Tod herbei. Sie wird ohnmächtig, der Geist des Sychaeus erscheint, beschimpft sie als „schamlose Frau“ (donna impudica) und hält ihr in harten Worten ihre Treulosigkeit vor, die schwerste Strafe verdiene (III,8). Aeneas hat Karthago unterdessen verlassen; drei Hofdamen kommentieren in einer kurzen Szene (III,9), es wäre falsch, einem Mann die Treue halten zu wollen, da sie alle gleich flatterhaft seien. Iarbas deliriert noch immer, aber Mercur heilt ihn und verheißt ihm Didos Liebe (III,10). Die Königin steht noch unter dem Eindruck der Strafpredigt des Sychaeus; sie erkennt, dass ihre Untertanen sie für „die gemeine Konkubine des Aeneas“ halten und über ihre „Zügellosigkeit“ tratschen werden, und will sich mit dem Schwert des treulosen Geliebten54 den Tod geben (III,11).­ Iarbas hindert sie daran; da sie offenbar erneut ohnmächtig wird, hält er sie für tot, verzweifelt will jetzt er sich erstechen, aber sie kommt rechtzeitig wieder zu sich und bietet ihm endlich Herz und Hand (III,12). Im Schlussduett gibt sie sich ihm als „ancella, e sposa“55 hin, Iarbas aber empfängt sie „per mia regina […] e sposa“. Iarbas Beharrlichkeit und Liebe über ihren (vermeintlichen) Tod hinaus hat endlich doch noch Didos Herz gerührt, sie gesteht ihm ihre plötzlich erwachte Liebe. Freilich ist die Verbindung mit Iarbas auch aus politischen und militä­ rischen Gründen geboten: Karthago wäre offenbar nicht in der Lage, sich gegen einen Angriff von außen zu verteidigen, die Festungsanlagen sind noch im Bau, eine schlagkräftige Armee gibt es anscheinend nicht.56 Nachdem der kampferprobte Aeneas Karthago mit seinen Leuten verlassen hat, ist die Stadt schutzlos, Didos Verbindung mit Iarbas ist der beste Weg, hier Abhilfe zu schaffen. Bemerkenswerterweise scheint auch der Geist des Sychaeus, der Dido eben noch ihrer Liebe zu Aeneas wegen beschimpft hat, gegen ihre neue Ehe nichts einzuwenden zu haben.

Busenello: Dido (wie Anm. 43): „Vanne, ch’io qui delibero“; elf Settenari sdruccioli, gefolgt von zwei Endecasillabi piani. 54 Ebd.: „nicht ohne marinistische Zuspitzungen“ (Mehltretter: Die unmögliche Tragödie [wie Anm. 43], S. 163) apostrophiert sie das Schwert, es möge ihr Herz durchbohren; wenn es dort aber „il bel nome d’Enea“ fände, solle es diesen keinesfalls verletzen. 55 Vgl. die Antwort Marias auf die Verkündigung des Engels („Ecce ancilla Domini“, Lk 1,38), bzw. die Worte, mit denen sich Tassos Armida zuletzt Rinaldo unterwirft („Ecco l’ancilla tua“, Gerusalemme Liberata 20, 136, 7). 56 Vgl. Aeneis IV (wie Anm. 11), V. 86–89: Vergil bemerkt, dass, da Dido nur noch ihrer Liebe lebt, die Bauarbeiten an Türmen und Mauern zum Erliegen kommen und die jungen Leute sich nicht mehr im Gebrauch der Waffen üben.

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Pietro Metastasio griff die Dreieckskonstellation Dido  – Aeneas  – Iarbas 1724 in seinem ersten dramma per musica Didone abbandonata auf, allerdings mit gegenüber Busenello gegensätzlichem Ausgang: Bei ihm weigert sich Dido bis zuletzt, Iarbas zu heiraten; seine Truppen erobern und zerstören daraufhin Karthago, die Königin sucht den Tod in der brennenden Stadt. Im originalen, 1724 in Neapel von Domenico Sarro57 vertonten Libretto ist Iarbas (ein Altkastrat) gleichsam die Hauptfigur, jedenfalls hat er die meisten Arien: acht, gegenüber sieben für Aeneas, sechs für Dido und je fünf für­ Didos Schwester, die hier Selene heißt, und für Iarbas Vertrauten Araspe. Anfang der 1750er Jahre58 hat Metastasio das Buch für Aufführungen in Madrid überarbeitet und dabei vor allem die Zahl der Arien reduziert (von 34 auf 2459); während Dido ihre sechs Arien behielt, verlor Iarbas deren drei, Aeneas zwei.60 Im übrigen scheinen nur wenige Komponisten, die in den Jahren nach 1724 das Didone-Buch vertonten, alle acht Arien Iarbas beibehalten zu haben: Für Leonardo Vinci, dessen Vertonung 1726 in Rom in Szene ging, hat Metastasio selbst das Buch revidiert und schon damals drei Arien Iarbas gestrichen.61 Domenico Sarro hat das Libretto 1737 ein zweites Mal in Musik gesetzt (wieder in Neapel); er beließ Aeneas seine sieben, Dido ihre sechs Arien, Iarbas behielt ebenfalls sechs, zwei weniger als 1724.62 Schon in seinem ersten Libretto inszeniert Metastasio eines der ihm so teuren Verkleidungsspiele: Sein Iarbas kommt unter falschem Namen, als sein eigener Botschafter, nach Karthago; wie bei Iustinus wirbt er (im Namen seines ‚Herrn‘) um Didos Hand und droht, sollte sie ablehnen, mit Krieg: Er bietet Vgl. Teresa M. Gialdroni: I primi dieci anni della „Didone abbandonata“ di Metastasio: il caso di Domenico Sarro, in: Friedrich Lippmann (Hg.): Analecta Musicologica 30/II: Studien zur italienischen Musikgeschichte XV, Laaber 1998, S. 437–500. 58 Vgl. Ivanos Ciani: La Didone rivisitata, in: Selena Sala Di Felice / Laura Sannia Nowé (Hg.): Metastasio e il melodramma. Atti del Seminario di Studi Cagliari 29–30 ottobre 1982, Padova 1985, S. 209–223, hier S. 212. 59 Ebd., S.  213; da die Komponisten um 1750 längere Arien schrieben als 1724, hätte die vollständige Vertonung des ursprünglichen Didone-Librettos den üblichen Rahmen einer Opernaufführung gesprengt, vgl. Reinhard Wiesend: Metastasios Revisionen eigener Dramen und die Situation der Opernmusik in den 1750er Jahren, in: Archiv für Musikwissenschaft 40 (1983), S. 255–275. 60 Ciani: La Didone rivisitata (wie Anm. 58), S. 213. 61 Vgl. Diana Blichmann: „So che un barbaro sei, né mi spaventi“. Spunti esotici nella Didone abbandonata di Metastasio, in: Francesco Cotticelli / Paologiovanni Maione (Hg.): Le arti della scena e l'esotismo in età moderna, Napoli 2006, S. 235–270. 62 Vgl. Paologiovanni Maione: Un impero centenario: Didone sul trono di Partenope, in: Andrea Sommer-Mathis / Elisabeth Theresa Hilscher (Hg.): Pietro Metastasio  – uomo universale (1698–1782). Festgabe der Österreichischen Akademie der Wissenschaften zum 300. Geburtstag von Pietro Metastasio, Wien 2000 (= Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Sitzungsberichte, 676), S. 185–219, hier S. 191. 57

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ihr „tuo sostegno in un punto o tua ruina“, Unterstützung oder Vernichtung, an.63 Metastasio charakterisiert ihn als Barbaren.64 Schon sein erster Auftritt macht deutlich, dass er eine den Zuschauern, und wohl auch den Tyrern und Trojanern, fremde Welt repräsentiert: Der ‚Botschafter‘ zieht zum Klang „barbarischer Instrumente“ ein, die Mohren in seinem Gefolge führen unter anderem Tiger und Löwen als Geschenke für Dido mit.65 Der Königin gegenüber verhält sich Iarbas ziemlich ungehobelt: Er verknüpft nicht nur seine Werbung mit einer massiven Drohung (s. o.), er fordert sie auch zweimal ziemlich ungalant auf, ihn ausreden zu lassen, wenn sie ihn unterbrechen will.66 Nach dem Ende der Audienz bietet Osmida, ein unzufriedener Vertrauter der Königin, dem ‚Botschafter‘ des Mohrenkönigs seine Dienste an: Er will ­Iarbas zur Heirat mit Dido verhelfen, wenn der ihn dafür als Herrscher in­ Karthago einsetzt (I,6). Der ‚Botschafter‘ verspricht es, denkt aber nicht daran, sein Wort zu halten, wie er seinem Vertrauten Araspe erläutert (I,7), den er gleich danach auffordert, seinen Rivalen Aeneas heimtückisch zu ermorden. Araspe weist dieses Ansinnen empört von sich und mahnt den König an seine Tugend, Iarbas antwortet zynisch: „Eh che virtù? Nel mondo o virtù non si trova o è sol virtù quel che diletta e giova.“ (I,7, V. 257–259)

Wenig später versucht Iarbas, Aeneas eigenhändig zu ermorden, wird aber von Araspe daran gehindert (I,15). In der Perspektive Vergils und der frühneuzeitlichen Vergil-Rezeption muss ein Vergleich zwischen Aeneas und Iarbas notwendigerweise zuungunsten des Afrikaners ausgehen; deshalb hat Busenello in seinem Libretto jede Begegnung der beiden Rivalen vermieden. Bei Metastasio treffen sie fünfmal aufeinander: Beim ersten Mal fragt Iarbas den Trojaner hochmütig nach seinem Namen, Aeneas ignoriert ihn schlicht und einfach (I,10). Der beleidigte König reagiert darauf mit dem Mordanschlag, den Araspe verhindert (I,1567). Der treue Helfer will sich für seinen König opfern und die Schuld auf sich nehmen, doch I­ arbas Metastasio: Dido (wie Anm. 1), I,5, S. 126. Zitiert wird nach der Ausgabe Bellina; wenn nicht anders vermerkt, ist der Text identisch mit dem des Erstdrucks von 1724. 64 Dazu Blichmann: „So che un barbaro sei, né mi spaventi“ (wie Anm. 61), S. 239 und ff. 65 Metastasio: Dido (wie Anm. 1), I,5, Regieanweisung. Der Verweis auf die „barbari stromenti“ fehlt 1724. 66 Ebd., I,5, V. 148, S. 162: „Lascia pria ch’io favelli / finisca e poi rispondi.“ Wenn er selbst Dido unterbricht, bleibt die Retourkutsche nicht aus (V, 177: „Lascia pria ch’io risponda e poi favella.“). 67 Ebd., = I,16 im Buch von 1724. 63

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gibt sich zu erkennen; Dido will ihn hinrichten lassen, Aeneas bittet für ihn um Gnade (II,768). Wenn Iarbas ihn danach als Feigling verhöhnt, beschämt er ihn, indem er ihm das von Dido unterzeichnete Todesurteil zeigt und es dann zerreißt (II,869). Den zweiten Akt beschließt eine Komödienszene:70 Scheinbar resigniert­ bittet Dido den im Aufbruch begriffenen Aeneas um einen Rat: Wenn er nicht mehr da ist, um sie zu beschützen, bleibt ihr keine andere Wahl, als entweder Iarbas zu heiraten oder zu sterben. Wenn Aeneas resigniert zur Ehe mit dem Mohrenkönig rät, lässt sie Iarbas rufen und bietet ihm in Gegenwart des­ Aeneas ihre Hand; wie sie vorausgesehen hat, vermag ihr Geliebter seine Eifersucht nicht zu bezwingen, aber statt sie Iarbas streitig zu machen, zieht er beleidigt ab  – Situation und Sprachstil71 nehmen bürgerliche Ehekonflikte im Theater des 19. Jahrhunderts vorweg. Sobald Aeneas den Raum verlassen hat, erklärt Dido Iarbas, dass ihre Bereitschaft, ihn zu heiraten, nur Täuschung war,­ „perché mi piace, / più che Iarba fedele, Enea fallace“72. Bevor die Trojaner davonsegeln, erhält Iarbas noch Gelegenheit, Aeneas zum Zweikampf herauszufordern (III,2); er unterliegt sang- und klanglos, aber sein Gegner schenkt ihm das Leben. Dass Dido Aeneas vorzieht, ist somit durchaus begreiflich. Aeneas freilich unterwirft sich dem Fatum und verlässt sie. Dido reagiert wie ein trotziges Kind, keifend wirft sie ihm Undankbarkeit vor,73 zieht sarkastisch seinen göttlichen Auftrag in Frage74 und steigert sich zuletzt in eine Rachephantasie (schiffbrüchig soll Aeneas – zu spät – Dido um Hilfe anrufen75). Didos Egozentrik macht sie zum Negativbild herrscherlichen Versagens in der Krise. Iarbas rächt sich dafür, dass sie ihn zum besten gehalten hat, um­

Ebd., = II,4 im Buch von 1724. Ebd., = II,5 im Buch von 1724. 70 Ebd., II,11–13 = II,14–16 im Buch von 1724.  – Die (diskreten) Anklänge an Komödien­ motive verbinden Didone abbandonata mit Tragödien Racines (speziell mit Andromaque), dazu Ettore Paratore: L’Andromaque del Racine e la Didone abbandonata del Metastasio, in: Scritti in onore di Luigi Ronga, Milano / Napoli 1973, S. 515–547, hier S. 527 f., 532 f. und passim. 71 Ebd., II,12 (= II,15 1724), V. 971–975: „Intendo, intendo; / io sono il traditor, son io l’ingrato; / tu sei quella fedele / che per me perderebbe e vita e soglio; / ma tanta fedeltà veder non voglio.“ 72 Ebd., II,13 (= II,16 1724), V. 984/85. 73 Ebd., I,17 (= I,18 1724), V. 473–492. Auch hier (V. 483–485: „Di cento re per lui / ricusando l’amor, gli sdegni irrito; / ecco poi la mercede“) spricht sie eher wie eine bürgerliche Ehefrau denn wie eine Königin. 74 Ebd. V. 493 f.: „Veramente non hanno / altra cura gli dei che il tuo destino“, vgl. Aeneis IV (wie Anm. 11), V. 379 f.: „scilicet is superis labor est, ea cura quietos / sollicitat.“ 75 Metastasio: Dido (wie Anm. 1), V. 502–506. 68 69

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Aeneas Eifersucht zu erregen, indem er seine Truppen in Karthago wüten lässt. Vom Palast aus kann sie sehen, wie sich das Feuer in der Stadt ausbreitet.76 Die Aufforderungen, sie möge endlich etwas unternehmen, werden immer dringlicher: Zunächst meldet Araspe, dass Karthago in Flammen steht, und drängt Dido, Iarbas Zorn zu besänftigen (III,11/1724: III,13). Wenn Osmida ebenfalls berichten will, dass die ganze Stadt brennt, unterbricht sie ihn sofort: Sie will nur wissen, was mit Aeneas ist (III,12, V. 1211 f./1724: III,14). Die vormals so energische Königin ist unfähig zu agieren, sie bittet ihre Schwester, statt ihrer die Initiative zu ergreifen (III,13/1724: III,15). Wenn Iarbas sie findet, räumt sie ein, hilflos und besiegt zu sein, und bittet ihn, sie zu töten; Iarbas Zorn verraucht, er wäre immer noch bereit, sie zu seiner Frau und Königin zu machen.77 In diesem Moment müsste die Großmut des Siegers Didos eigensinnigen Stolz überwinden, und sie müsste sich mit ihrer Situation abfinden, um ihre Stadt und die Menschen, die ihr anvertraut sind, zu retten. Stattdessen weist sie Iarbas erneut hochmütig ab. Sie verstößt ihre Schwester, wenn sie entdeckt, dass auch Selene (heimlich) in Aeneas verliebt war (III,18/1724: III,20); und sie lästert die Götter, die sie, so fasst sie es auf, ohne jeden Grund ins Verderben stürzen: „Che dèi? Son nomi vani, Son chimere sognate, o ingiusti sono.“ (III,19, V. 1354 f./1724: III,21)

Von allen verlassen, bleibt ihr nichts anderes übrig, als in den Trümmern des Palastes den Tod zu suchen. Metastasio hat besondere Sorgfalt daran gewendet zu zeigen, dass Dido ihren Untergang selbst verschuldet. Daher ist ihr Ende traurig, aber nicht tragisch, da es (Aristoteles zufolge78) weder Jammer (der sich bei unverdientem Leiden einstellt) noch Schaudern erregt (das wir empfinden, wenn der Protagonist uns ähnlich ist). Metastasios Dido ist wesentlich das Negativexempel einer verantwortungslosen Herrscherin. In einem gegenüber dem 17. und 18. Jahrhundert völlig veränderten kultu­ rellen und intellektuellen Klima schreibt Hector Berlioz seine Große Oper Les Troyens79. Wie Busenello bringt er die Eroberung Trojas durch die Griechen Ebd., III,8 (= III,10 1724) Regieanweisung. Ebd., III,17/1724: III,19. 78 Aristoteles: Poetik (wie Anm. 27), 1453a, Kap. 13, S. 38. 79 Komponiert zwischen 1856 und 1858; Uraufführung der Akte III–V (Les Troyens à Carthage) Paris 1863, Akte I–II (La Prise de Troie) konzertant Paris 1879, szenisch Karlsruhe 1890, erste Gesamtaufführung Stuttgart 1913, nach Hellmut Kühn: Berlioz: Les Troyens, in: Pipers Enzyklopädie des Musiktheaters (wie Anm. 35), Bd. 1, 1986, S. 312–316, hier S. 312. – Libretto abrufbar unter http://www.fichier-pdf.fr/2013/06/26/livret-les-troyens-berlioz/ (3.5.2015). 76

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­ eneis (Akte I/II = Aeneis Buch II) und die Dido-Geschichte (Akte III –V  =  A Buch I, IV ) auf die Bühne. Beide Teile sind jeweils um eine starke Frauen­f igur zentriert (in Troja: Cassandra, in Karthago: Dido); Aeneas spielt im ersten Teil nur eine untergeordnete Rolle: Der Geist Hectors macht ihn mit seiner Bestimmung (Italien) bekannt (II. Akt, 1. Bild). Der 2. Akt endet mit dem ­Suizid einer von Cassandra angeführten Gruppe trojanischer Frauen (2. Bild), der auf Didos Ende vorausweist. Iarbas tritt in den Troyens nicht auf. Zu Beginn des Karthago-Teils teilt Dido, Königin einer offensichtlich aufblühenden Stadt, ihrem Volk mit, „le farouche Iarbas“ wolle sie zur Heirat zwingen, was ihm aber nicht gelingen werde.80 Wenn der König der Numider mit „zahllosen Soldaten“ vorrückt, zeigt sich freilich, dass die Karthager schlecht bewaffnet sind und ohne die Hilfe der von Aeneas geführten Trojaner, die inzwischen gelandet sind, verloren wären.81 Dido, die kurz vorher noch erklärt hatte, Sychaeus, dessen Ring sie nie ablegt, treu bleiben zu wollen,82 ist von der Erscheinung des Aeneas geblendet: „Ô ma sœur, qu’il est fier, ce fils de la déesse, Et qu’on voit sur son front de grâce et de noblesse!“ (III, Nr. 28 – Final)

Eine pantomimische Szene (IV, 1. Bild) stellt dar, wie Didos Jagdgesellschaft durch ein Unwetter zerstreut wird; die Königin und Aeneas finden Zuflucht in einer Grotte. Tosende Sturzbäche, der Blitz, der einen Baum entzündet, Naturgottheiten  – Nymphen, Satyrn, Faune  –, die das Geschehen beobachten, sind überdeutliche Zeichen für die Macht des Begehrens. Das zweite Bild des 5. Akts evoziert mit Gesang und Tanz die sinnliche Atmosphäre eines orientalischen Gartens in der Abendkühle. Didos Standhaftigkeit wird durch das Beispiel Andromaches erschüttert, die, so berichtet Aeneas, nach langem Widerstand Pyrrhus (dessen Vater Achill Andromaches ersten Mann Hector besiegt und getötet hatte)  geheiratet habe.83 Auf die Götterszenen Vergils hat Berlioz verzichtet, aber er zitiert die Verwandlung Amors in Ascanius,84 wenn der Sohn des Aeneas Dido den Ring ihres toten Gatten vom Finger zieht und Anna, die es bemerkt hat, den Jungen mit Cupido vergleicht85 (Dido nimmt den Ring wieder an sich, vergisst ihn aber später auf dem Ruhebett). Der 4. Akt

Berlioz: Les Troyens (wie Anm. 79), III, Nr. 19 – Récitatif et air. Ebd., III, Nr. 28 – Final. 82 Ebd., III, Nr. 24 – Duo; Annas Prophezeiung, sie werde sich wieder verlieben, blieb freilich nicht ohne Wirkung: „Sa voix fait naître dans mon sein / La dangereuse ivresse […]“. 83 Ebd., IV, Nr. 35 – Récitatif et quintette. 84 Aeneis I (wie Anm. 11), V. 657–696. 85 Berlioz: Les Troyens (wie Anm. 79), IV, Nr. 35 – Récitatif et quintette. 80 81

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schließt mit dem Liebesduett (Nr. 37), das alle früheren Dido-Opern dem Paar verweigert haben.86 Wenn Aeneas den Mahnungen der Geister des Priamus, Chorebus, Hectors und Cassandras gehorcht87 und seine Abreise vorbereitet, macht ihm Dido­ Vorwürfe, die meist den entsprechenden Passagen bei Vergil nachgebildet88 und weit entfernt sind vom pedestren Stil der entsprechenden Passagen bei Metastasio. Sie wendet die markanteste Eigenschaft des pius Aeneas negativ und flucht dem „Monstre de piété“89. Ihre Rachephantasien90 gelten nicht nur­ Aeneas und seiner Sippe: Aus ihrer Asche, so prophezeit sie auf dem Scheiterhaufen, soll ein Rächer (Hannibal) entstehen, der die Nachkommen der Trojaner vernichten wird;91 sterbend sieht sie jedoch den wahren Ausgang der Geschichte, Roms Triumph und den Untergang Karthagos, voraus.92 Der Text ist dem Dialog zwischen Lorenzo und Jessica in Shakespeares Merchant of Venice (V,1; William Shakespeare: The Complete Works. A new edition, ed. with an introd. and glossary by Peter Alexander, London / Glasgow 1964, S. 249) nachgebildet, vgl. „in such a night / Troilus methinks mounted the Troyan walls, / And sigh’d his soul toward the Grecian tents, / Where Cressid lay that night“ – „Par une telle nuit, fou d’amour et de joie / Troïlus vint attendre aux pieds des murs de Troie / La belle Cressida“, und vor allem den Schluss: „Jessica. In such a night / Did young Lorenzo swear he lov’d her well, / Stealing her soul with many vows of faith, / And ne’er a true one. – Lorenzo. In such a night / Did pretty Jessica, like a little shrew, / Slander her love, and he forgave her“ – „Didon. Par une telle nuit le fils de Cythérée / Acueillit froidement la tendresse enivrée / De la reine Didon! – Énée. Et dans la même nuit hélas! l’injuste reine, / Accusant son amant, obtint de lui sans peine / Le plus tendre pardon.“ Shakespeares Lorenzo erinnert auch daran, dass „In such  a night / Stood Dido with a willow in her hand / Upon the wild sea-banks, and waft her love / To come again to Carthage.“ 87 Berlioz: Les Troyens (wie Anm. 79), V, Nr. 42 – Scène. 88 Ebd., V, Nr. 44 – Duo; vgl. z. B. „Tu pars? Non! ce n’est pas Vénus qui t’enfanta, / Quelque louve hideuse aux forêts t’allaita!“  – Aeneis IV (wie Anm.  11), V. 365–367: „nec tibi diua ­parens generis nec Dardanus auctor, / perfide, sed duris genuit te cautibus horrens / Caucasus Hyrcanaeque admorunt ubera tigres“. – „Tais-toi! rien ne t’arrête; La mort qui plane sur ma tête, / Ma honte, mon amour, [Aeneis IV, V. 307 f.: „nec te noster amor nec te data dextera quondam / nec moritura tenet crudeli funere Dido?“] notre hymen commencé, [Aeneis IV, V. 316: „per inceptos hymenaeos“] / Mon nom du livre d’or à jamais effacé! / Encor, si de ta foi, j’avais un tendre gage, / Oui, si d’un fils d’Énée / Le fier et doux visage / Me rappelant tes traits, souriait sur mon sein, / Je serais moins abandonnée…“ [Aeneis IV, V. 327–330: „saltem siqua mihi de te suscepta fuisset / ante gugam suboles, si quis mihi paruulus aula / luderet ­Aeneas, qui te tamen ore referret, / non equidem omnino capta ac deserta uiderer.“] Sie verzichtet allerdings darauf, Aeneas wie Vergils Dido (Aeneis IV, V. 370–376) die erwiesenen Wohltaten vorzurechnen. 89 Im Gespräch mit Anna (Berlioz: Les Troyens [wie Anm. 79], V, 2. Bild, Nr. 45 – Scène) äußert sie blasphemisch: „Ah! je connais l’amour, et si Jupiter même / M’eût défendu d’aimer, mon amour insensé / De Jupiter braverait l’anathème.“ 90 Vgl. Berlioz: Les Troyens (wie Anm. 79), V, Nr. 46 – Scène. 91 Ebd., V, Nr. 50 – Scène. 92 Ebd., V, Nr. 51 – Chœur. 86

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Dido stirbt bei Berlioz als Märtyrerin der Liebe. Dass der besiegte Iarbas einen neuen Versuch unternehmen könnte, sie zur Ehe zu zwingen, ist anscheinend nicht zu befürchten, zumindest wird diese Möglichkeit nicht erwähnt; Dido flüchtet demnach nicht wie Cassandra und die Frauen von Troja in den Tod, um der Versklavung durch den Sieger zu entgehen. Obwohl sie ihre Herrscherpflichten vernachlässigt hat93 und durch ihren Suizid das junge Gemeinwesen führungslos zurücklässt, wird der Vorwurf verantwortungslosen Handelns nicht erhoben – Karthago, das lehrt die Geschichte, hat auch nach Didos Tod weiterbestanden. Letztendlich freilich wird das Erbe, das sie ihren Nachfolgern hinterlässt – die Feindschaft den Trojanern und ihren Nachfahren, den Römern, gegenüber – zum Untergang ihrer Stadt führen. Vergils Held ist Aeneas, der jedoch – von den Göttern, oder vom Schicksal – gleichsam ferngesteuert wird. Die Dido-Geschichte ist eine von zahl­reichen Prüfungen, die er auf dem Weg nach Italien – tantae molis erat Romanam condere gentem (Aen. 1, 33) – zu bestehen hat. Obwohl er bei der Trennung von Dido eine eher klägliche Figur macht, nimmt sein (in den Erzählungen der Bücher II und III verkündeter) Ruhm nicht Schaden. Wenn die Episode aus dem epischen Zusammenhang gelöst und selbständig dramatisch gestaltet wird, ist das anders: Nicht Aeneas ist der Protagonist der einschlägigen Schauspiele und Opern, sondern – das beweist in der Regel schon die Titelgebung – die Königin Dido. Ihre Geschichte lässt sich unterschiedlich deuten: als Beispiel für die Launenhaftigkeit Fortunas (Purcell und Nahum Tate), als Positiv- ­(Francesco Cavalli und Busenello) bzw. Negativexempel (Metastasio) für herrscherliches Verhalten in Krisensituationen oder als Tragödie des Scheiterns individuellen Glücksstrebens an übermächtigen Zwängen (Berlioz). Die Figur Dido fasziniert seit Vergil als Beispiel für die zerstörerische Gewalt sinnlicher Leidenschaft, das die literarische Tradition der letzten 2000 Jahre auf vielfältige Weise geprägt hat.

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Narbal stellt fest (ebd., IV, 2. Bild, Nr. 30 – Récitatif): „Mais Didon maintenant oublie / Les soins naguère encore à son esprit si chers; / En chasses, en festins, elle passe sa vie; / Les travaux suspendus, les ateliers déserts, / Le séjour prolongé du Troyen à Carthage / Me causent des soucis que le peuple partage.“ Vgl. Aeneis IV (wie Anm. 11), V. 86–89.

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(Un)entwirrbares Intrigengeflecht: Die Konkurrenz der starken Frauen in Agrippina Panja Mücke (Mannheim) Am Ende von Händels Agrippina siegen die Frauen auf ganzer Linie. Sie, und nur sie, erreichen das, was sie von Anfang an begehren: Agrippinas Sohn Nero wird von seinem Stiefvater zum nächsten Cäsar bestimmt; damit geht ein Plan auf, den Agrippina kompromisslos und mit allen, wirklich allen Mitteln verfolgt hatte. Poppea bekommt wiederum Ottone zum Gemahl, der dafür sogar auf seinen Thronanspruch verzichtet. Man staunt: Nach den langwierigen Verwicklungen und schier unauflösbaren, erbittert geführten Intrigen der Oper scheinen im Finale plötzlich alle Figuren glücklich zu sein. „Felice son“ singen die einstigen Gegner Nero und Poppea in Quinten- und Terzen­ seligkeit, O ­ ttone freut sich, dass seine Schmerzen nun vorüber sind und Agrippina ist zufrieden, weil Nero regieren wird. Auch der Kaiser ist vergnügt und entzückt über seinen besonders klugen Schachzug: „Ho sciolto il cor, s’ell’è d’un altro amante“, bekennt er  a parte, hofft also unverändert auf eine zukünftige Affäre mit der schönen Poppea, die durch die Eheschließung mit Ottone nun wunderbar unauffällig zu werden verspricht. Die Oper schließt zwar mit einem Lieto fine, aber was heißt das hier schon? Glücklich ist nur der Moment; Fortsetzung folgt, so denkt man, und erahnt schon die kommenden Verwicklungen. Doch der Reihe nach: Händels Agrippina ist im Grunde eine Farce im Gewand der Opera seria. Sie präsentiert – wie viele von Händels Opern aufgrund seiner Auswahl älterer Libretti  – einen Operntyp mit ernsten und grotesken Anteilen gleichermaßen. Dass aber Agrippina zwischen Tragödie und Situationskomik pendelt, liegt allein an der Satire im Libretto, nicht an Händels Musik, die hiervon beinahe unberührt bleibt.1 Der Text stammt aller Wahrscheinlichkeit nach von Vincenzo Grimani, dem habsburgischen Vizekönig von Neapel, dem Kardinal und kaiserlichen Botschafter beim Heiligen Stuhl, der damals auch Eigentümer des venezianischen Uraufführungstheaters San Giovanni Grisostomo war. Thema von Agrippina ist der bei Tacitus und Sueton geschilderte Stoff um die Thronbesteigung des römischen Kaisers Nero mit brachialer Hilfe seiner Mutter. Das Libretto entfernt sich jedoch weiter als­ üblich von der Historie und überzeichnet die Charaktere derart, dass in ge Vgl. auch Silke Leopold: Händel. Die Opern, Kassel u. a. 2009, S. 175 ff. und 180 f.

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Bsp. 1: G. F. Händel, aus Agrippina, Rezitativ (I,1), ab T. 25.

wissem Sinne von einer Historien-Parodie gesprochen werden kann. Händels Musik aber bemäntelt die Farce, formt Agrippina zur Opera seria, mit französischer Ouvertüre, regelgerechten Da-capo-Arien, je einem Terzett und Quartett sowie einem einzigen Accompagnato. Hinsichtlich der Weiblichkeitsbilder, wie sie im librettistischen wie musikalischen ‚Raum‘ von Händels Agrippina entfaltet werden, erscheinen drei Punkte zentral: Erstens, die Figur der Agrippina als Mutter, zweitens, die starken Frauen und das Modell der Femme forte und drittens, das Dreiecksverhältnis Claudio – Agrippina – Poppea mit den hieraus erwachsenden Konfliktfeldern. Agrippina ist nicht nur die Gemahlin des Kaisers, sondern auch, in dieser Oper eigentlich vor allem die Mutter Neros. Mithilfe ihres Sohnes aus erster Ehe will sie sich nach dem vermeintlichen Tod ihres Gatten Claudio einen fortdauernden Einfluss als Regentin sichern. Sie instrumentalisiert Nero für ihre Zwecke unter dem Vorwand, für ihn die Kaiserwürde zu erhalten. Genau genommen strebt sie selbst unumwunden die kaiserliche Macht an. Nero ist Agrippinas Werkzeug, er ist jung, unerfahren, abhängig von der Klugheit seiner Mutter, ihr geradezu hörig. Dies zeigt sich unmittelbar am Beginn der Oper im ersten Rezitativ (Bsp. 1), wenn Agrippina ihren Sohn über Claudios Tod informiert und ihre Pläne darlegt. Ihr Redeanteil ist in diesem Dialog weit höher als derjenige Neros, sie beschwört ihn, die Chance auf den Thron zu ergreifen. Agrippinas melodische Linie weist  – bei gleicher Stimmlage beider Rollen  – deutlich mehr rhythmische Varianz auf, auch häufigere große Intervallsprünge als Zeichen für Agrippinas nachdrücklichen wie gleichermaßen einschüchtern© 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525278345 — ISBN E-Book: 9783647278346

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den Sprechduktus. Zudem fällt sie in T. 36 Nero einmal direkt ins Wort, eine auskomponierte Dominanzgeste („Che far degg’io?“ – „Senti:“). Wie Christoph Henzel für die Oper des frühen 18.  Jahrhunderts heraus­ gearbeitet hat, treten die Mütter in der italienischen Oper der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts im Allgemeinen aus ihren untergeordneten Rollen im dramatischen Gefüge nur heraus, wenn ihre Männer nicht mehr am Leben sind. Die Stärke der Mütter kommt – so Henzel – dann zum Vorschein, wenn das AlleinErbe für das erstgeborene Kind zu sichern ist und gleichzeitig das eigene Auskommen, muss doch der Erstgeborene auch für den Unterhalt seiner Mutter sorgen.2 Damit wird auf der Opernbühne das Frauenbild des späten 17. Jahrhunderts gespiegelt, das Christa Schlumbohm im Blick auf die Femme forte im Adel wie folgt beschrieben hat: „Eine Fürstin, die – wie Anna d’Autriche während der Minderjährigkeit des Thronfolgers – die Regierungsgeschäfte und damit zugleich die Kriegspolitik übernimmt, wird infolgedessen zu einem besonders exponierten Beispiel für eine femme forte, zu einem hervorragenden Modell für die große, bewundernswerte Frau, die mit ­ihren männergleichen Tugenden und Leistungen dem starken Geschlecht in allen Be­ reichen durchaus ebenbürtig ist.“3

Ein anders konturiertes Mutter-Konzept aber vermitteln Händels Opern. In Agrippina glaubt die Titelheldin zu Beginn zwar Claudio tot und wird – wie naheliegend und der Norm entsprechend – umgehend tätig. Als Claudio aber zurückkehrt, verfolgt sie weiterhin offensiv ihren Nachfolgeplan und kann weder vom Kaiser noch von den Intrigen Poppeas gestoppt werden. Die Rolle Agrippinas verändert sich in keiner Weise mit Claudios Rückkehr, wie es eigentlich zu erwarten wäre; sie stellt sich niemals in die zweite Reihe hinter ihren Mann und fügt sich dessen Anweisungen, im Gegenteil:4 Der Kaiser erfüllt schließlich alle Wünsche seiner Gemahlin, um endlich den häuslichen Frieden wiederherzustellen, aber auch – wie eingangs erläutert –, weil er einen neuen Plan im Vgl. Christoph Henzel: „Puoi veder, se madre io sono, dall’acerbo mio dolor“. Mütterrollen in der friderizianischen Oper, in: Norbert Dubowy / Corinna Herr / Alina Zórawska-Witkowska (Hg.): Italian Opera in Central Europe 1614–1780, Bd. 3: Opera Subjects and European Relation­ ships, Berlin 2007, S. 59–72, insb. S. 69. Zum Recht des Erstgeborenen und den Folgen für die Mutter beim Tod des Vaters vgl. Elisabeth Badinter: Die Mutterliebe. Geschichte eines Gefühls vom 17. Jahrhundert bis heute, übers. von Friedrich Griese, München / Zürich 21982, S. 67 ff. Zur innerfamiliären Funktion der Mutter vgl. auch Bengt Algot Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit. Der Patriarchalismus und das Drama im 18. Jahrhundert, München 1984, S. 16 f. 3 Christa Schlumbohm: Die Glorifizierung der Barockfürstin als ‚Femme Forte‘, in: August Buck u. a. (Hg.): Europäische Hofkultur im 16. und 17. Jahrhundert, Bd. 2, Hamburg 1981 (= Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung 9), S. 113–122, hier S. 116. 4 Zur innerfamiliären Rolle der Mutter zwischen Vater und Kindern vgl. auch Sørensen: Herrschaft und Zärtlichkeit (wie Anm. 2), S. 16 f. 2

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Blick auf Poppea verfolgt. Und ein solches Mutterbild vermittelt Händel nicht nur in Agrippina. Wie Silke Leopold ausgeführt hat, schenkte kaum ein anderer Komponist der Rolle von Müttern und ihrem dynastischen Interesse so viel Aufmerksamkeit wie Händel und brachte die Mütter nicht nur als leidende, edle Figuren auf die Opernbühne, sondern häufig auch als „Schurkinnen von Format“5 – erinnert sei neben Agrippina auch an Florinda in ­Rodrigo, an ­Medea in Teseo, Gismonda in Ottone oder Matilde in Lotario. Die Klugheit von Agrippina und Poppea, ihr strategisches Denken, ihr Mut und ihre Standhaftigkeit sind den Männerfiguren in dieser Oper zumindest ebenbürtig; beide tragen Merkmale der Femme forte, insbesondere durch ihre Rationalität und Fähigkeit zum Furor, zur Wut, zur Raserei, mithin Eigenschaften, die eigentlich den Männern vorbehalten sind. Beide Figuren sind indessen ambivalent bis negativ gezeichnet; ihren Qualitäten als Femmes fortes stehen Intriganz, Skrupellosigkeit und machiavellistisches Handeln bei ­A grippina, Mangel an Tugend und Eitelkeit bei Poppea gegenüber. Zudem sind sich beide Frauen ihrer erotischen Anziehungskraft bewusst und nutzen diese für ihre Zwecke – Agrippina bedient sich der Zuneigung von Narciso und­ Pallante im ersten Akt als Startpunkt ihrer Intrige, Poppea wiederum bedient sich des Liebeswerbens von drei Männern als Endpunkt ihrer Gegenintrige in der Versteckszene im dritten Akt. Dass Agrippina als Femme forte voller Aktivität und Kraft konturiert ist, wird musikalisch schon in ihrer ersten Arie in der sechsten Szene des ersten Akts greifbar, einer Arie in quasi heroischem Stil. Nachdem Agrippina Narciso und Pallante für ihre Zwecke gewonnen hat, gibt ihr eine kleine Soloszene Raum zur Reflexion. Sie spricht sich selbst Mut für ihr Vorhaben zu, Nero auf den Thron zu bringen, wozu auch die List unbedingt nötig sei; sie wolle alles tun für den Staat, und der Staat sei sie selbst. Es folgt die Arie „L’alma mia fra le tempeste“, in der Agrippina im Gleichnis von Sturm und ersehntem Hafen ihren dynastischen Hoffnungen Ausdruck verleiht. In dieser Da-capo-Arie in strahlendem C-Dur mit Solo-Oboe bilden die melodischen, zunächst syllabisch gehaltenen Formeln der Singstimme ein musikalisches Pendant zur Standhaftigkeit und zum Mut der Titelfigur. Die melodisch kleinschrittige, nur eine Septime ausmessende Bewegung der Singstimme mit ihrer rhythmisch gleichförmigen Achtelbewegung zielt auf eine deutliche Textartikulation und einen musikalischen Ausdruck von Selbstbewusstsein und Durchsetzungskraft. Die Solo-Oboe wird alsbald in den Koloraturen in parallelen Terzen zur Sechzehntelbewegung der Singstimme geführt, die Sequenzierung der Umspielungsfiguren wird unschwer als klangliche Chiffre für die Stürme des Meeres wie der Seele greifbar. Leopold: Händel (wie Anm. 1), S. 149 f.

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Bsp. 2: G. F. Händel, aus Agrippina, Beginn der Arie „Pensieri, voi mi tormentate“ (II,13).

Die Stärke Agrippinas besteht auch darin, dass sie den Mut angesichts großer Schwierigkeiten nicht verliert und ihren Nachfolgeplan zielgerichtet weiterverfolgt. Als sie etwa bemerkt, dass Poppea im zweiten Akt die Intrige aufgedeckt hat und mit einer Gegenintrige antwortet, verändert Agrippina geschmeidig © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525278345 — ISBN E-Book: 9783647278346

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ihre Strategie. Sie berichtet Claudio, dass ihm Ottone nach dem Leben trachte und entlockt ihm das Versprechen, Nero als Kaiser vorzuschlagen. Davor indessen gibt es einen kurzen Moment des Zweifels. In einer Soloszene muss sich Agrippina zunächst sammeln und ihr weiteres Vorgehen überlegen. Diesen Moment vertont Händel mit einer ganz erstaunlichen Arie, wiederum mit Solo-Oboe (Bsp. 2): Formal handelt es sich nicht um eine Da-capo-Anlage, sondern eine ihr nur ähnliche Bogenform A-B-A’. Die Arie beginnt unentschieden, mit starken dynamischen Kontrasten, mit kleinen Fetzen musikalischer Figuren, Akkordschlägen, Tonrepetitionen und Punktierungsfolgen, die sich nicht zu einer Melodie oder gar einem Ritornell formieren, sondern an ein Recitativo accompagnato denken lassen. Nach einer Generalpause von drei Viertelschlägen setzt die Singstimme, gleichsam verspätet, auf der unbetonten Taktzeit ein. Die abwärtsgerichtete, Agrippinas Verzweiflung nachzeichnende Kopfmotivik wird von der Solo-Oboe wiederholt, während die übrigen Instrumentalstimmen nach wie vor bei den Repetitionen, Akkordschlägen und Punktierungsfolgen bleiben. Die Singstimme ist haltlos, sie erhält keine Begleitung, kein Fundament im musikalischen Satz. Die als bedrohlich empfundene Lage von Agrippina, ihre Ratlosigkeit in diesem Augenblick, manifestiert sich deutlich in der musikalischen Faktur der Arie am Szenenbeginn. Im sich anschließenden Rezitativ hat Agrippina die Fassung bereits wieder gewonnen und plant couragiert die nächste Intrige. Als weiteres Indiz für die Charakterisierung Agrippinas als starke Frau kann gelten, dass sie nicht nur im privaten Raum, dem typisch weiblichen Raum, sondern ebenso im öffentlichen Raum agiert; ihr Wirken ist nicht allein auf häusliche Belange begrenzt, vielmehr gleichermaßen auf politische ausgeweitet. Besonders deutlich wird dies in Szene I,9, einer Szene auf dem Platz vor dem Capitol mit Thron, wie die Szenenanweisung im Libretto vermerkt. Soeben hat Nero auf Geheiß seiner Mutter Geld an das Volk ausgeteilt, um sich Anhänger zu verschaffen, und Mitleid mit den Armen geheuchelt. Nun erscheint Agrippina, wahrhaft kaiserlich begleitet von großem Gefolge, und nimmt auf dem Thron Platz. Von dort teilt sie dem Volk mit, dass Claudio im Seesturm umgekommen sei. Sie verlässt den Thron und fordert das Volk auf, einen würdigen Nachfolger, einen gerechten und frommen Herrscher zu wählen. Wie von ihr zuvor geschickt eingefädelt, rufen Pallante und Narciso im folgenden Quartett Nero zum Nachfolger aus, woraufhin Agrippina und Nero gemeinsam den Thron besteigen und die zukünftige Doppelregentschaft für alle Anwesenden vor Augen geführt wird. Durch diese zeremonielle Geste postuliert Agrippina ihren eigenen Machtanspruch, enthüllt unverhohlen, dass sie sich nicht zugunsten ihres Sohnes auf eine Rolle als Witwe des Kaisers­ zurückziehen wird. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525278345 — ISBN E-Book: 9783647278346

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Bsp. 3: G. F. Händel, aus Agrippina, Arie „Tu ben degno sei del’allor“ (I,12), ab T. 6.

Außerdem beherrscht Agrippina die Kunst der Verstellung, die sie virtuos und planvoll zur Zielerreichung einsetzt. Ihre Intriganz bringt die Handlung im ersten Akt eigentlich erst in Gang: Agrippina heuchelt in I,3 und I,4 Pallante und Narciso gleichermaßen ihre Liebe und politische Teilhabe, wenn sie Nero zur Kaiserwürde verhelfen. Nachdem dies geglückt ist, täuscht sie Ottone, dass sie ihn bei der Verbindung mit Poppea unterstützen werde. Es folgt mit der Arie „Tu ben degno sei del’allor“ gleichsam ein Kabinettstück ihrer Falschheit. In einer schmucklosen, nur mit Basso continuo begleiteten Aria parlante versichert Agrippina Ottone, dass er ein würdiger Kaiser und bald mit Poppea vereint sein werde; a parte offenbart sie aber gleichzeitig ihren Zorn allein bei dem Gedanken an eine Wahl Ottones zum Kaiser. Händel formt die Arie als kleine, dreiteilige Da-capo-Form, in der der B-Teil auf einer melodischen Variante von A basiert, was dem Stück durch den fehlenden Kontrast zusätzliche Geschlossenheit verleiht. Die Passagen des Schwindels (an Ottone gerichtet) und der Wahrheit (a parte zum Ausdruck gebracht) werden von Händel geschickt kontrastiert (Bsp. 3): Pendelt die melodische Linie in der Singstimme zu Beginn zwischen g’ und e’’, also in der absoluten Mittellage der Sopranstimme, sind die  a parte vorgetragenen Blöcke von einer deutlichen Erweiterung des Stimmambi­ tus gekennzeichnet, der sich hier von e’ bis g’’ erstreckt. Zudem benutzt Händel in den Koloraturen der A-parte-Passagen (und nur hier) Triolenketten, die sich rhythmisch an der Achtelbewegung im begleitenden Basso continuo reiben. Agrippinas Zorn, den sie Ottone gegenüber zu unterdrücken sucht, gelangt hier, wenn auch stark kontrolliert, gleichsam in der Musik an die Oberfläche. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525278345 — ISBN E-Book: 9783647278346

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Auch in den folgenden Szenen täuscht Agrippina alle Figuren, um ihre politischen Ambitionen durchsetzen zu können: Sie umgarnt Poppea als angebliche Freundin und benutzt sie, um Ottone als Thronfolger auszuschalten. Nachdem Poppea getan, wie Agrippina ihr geheißen, bedankt sich die Kaiserin mit der Arie „Non ho cor che per amarti“ bei Poppea (I,23), wohl dem Gipfel an Scheinheiligkeit: „Non hò cor che per amarti; Sempre amico a te sarà. Con sincero e puro affetto Io ti stringo à questo petto; Mai di frodi, inganni, ed arti Sia trà noi l’infedeltà.“

Poppea – angelegt als Gegenfigur zu Agrippina, aber ebenfalls eine starke, zu Wut und Rache fähige Frau – sind hingegen politische Ambitionen fremd. Sie möchte im Grunde nur mit Ottone vereint werden, zeigt sich also allzeit von der Liebe geleitet. Poppea agiert in der Oper vornehmlich im privaten Raum, in ihrem Zimmer und im Garten. Ihr Rachefeldzug gegen Agrippina, der die zweite Hälfte der Oper bestimmt, ist als Vergeltung für Agrippinas Betrug, für ihre Kränkungen zu verstehen. Poppea wird in der Oper vollkommen anders exponiert als Agrippina, in einer intimen Szene in I,14, in der Poppea allein vor dem Spiegel sitzt. In der mit Blockflöten begleiteten Arie „Vaghe perle“ räsoniert sie mit leichter und beweglicher Stimme über den wohligen wie lukrativen Zustand, dass ihr alle Männer den Hof machen. Das höchst virtuose Stück im 3er-Metrum umfasst zahlreiche kleinere, in die Textdeklamation eingestreute Verzierungen und ausgedehnte Koloraturen mit Messa di voce sowie lange und leichtfüßige Sechzehntelketten. Doch bald darauf wird dieser harmlos-oberflächliche Eindruck von Poppea in Richtung Femme forte korrigiert: In Szene II,7 wird sie für einen Moment gar in die Nähe einer Amazone gerückt, indem Ottone ihr sein Schwert übergibt und sie ihm ankündigt, dass sie ihn bald töten werde, falls er sie belogen habe. Nachdem Poppea mit großem Geschick herausgefunden hat, dass sie von Agrippina arglistig getäuscht wurde, beginnt sie ihren Rachezug: „Nel duol non m’abbandono; se vendetta non fò, Poppea non sono.“ Auch bei der Abrechnung mit Agrippina geht Poppea klug und mutig vor, um sich für die Kränkungen zu revanchieren (erinnert sei exemplarisch an die dramatische, geradezu auf die Buffa vorausweisende Versteckszene im dritten Akt). Mithin ist allein Poppea, aber keine einzige der männlichen Opernfiguren ihrer Gegenspielerin gewachsen, was sogar von Agrippina anerkannt wird: „Poppea [hà] corraggio“ (II,13). Die Konflikte der Oper lösen sich im Grunde erst auf, als beide starke Frauen © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525278345 — ISBN E-Book: 9783647278346

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ihre Gegnerschaft beenden. Schließlich sind sie im Finale derselben Meinung und erkennen, dass sie es genau genommen von Anfang der Verstrickungen an waren – sie waren sich dessen nur nicht bewusst. Der eigentlich erwartbare Konflikt beider Frauen in der klassischen Dreiecksgeschichte um Claudio, der Poppea begehrt, aber mit Agrippina verheiratet ist, spielt demgegenüber in Händels Oper keine Rolle, er läuft ins Leere: Agrippina liebt den Kaiser ohnehin nicht und hat seine Eskapaden längst toleriert. Poppea wiederum ist an einer Liaison mit Claudio nicht im Geringsten interessiert, ja, fürchtet sogar seine Zudringlichkeiten. Die aktive Rolle der beiden Frauenfiguren im Dreieck spiegelt sich präzise im formal-musikalischen Konzept der Oper insgesamt und in der kaum noch existierenden Abstufung zwischen Prima und Seconda Donna. Agrippina hat im ersten Akt vier Arien, Poppea drei Arien vorzutragen; im zweiten Akt hat Agrippina drei Arien und Poppea vier; im dritten Akt präsentiert jede der Frauen jeweils eine Arie. Beide Frauenfiguren erhalten demnach je acht Arien sowie jeweils eine Aktschlussarie mit großer Soloszene, wobei wiederum sensibel ein Gleichgewicht zwischen beiden Figuren hergestellt wird. Am Ende des ersten Akts, der von Agrippinas Intrige beherrscht wird, erhält Poppea eine Zorn-Arie. Agrippina trägt als Finale des zweiten Akts, der von Poppeas Rachefeldzug getragen wird, die Gleichnisarie „Ogni vento“ vor, in der sie ihr Credo entfaltet, dass es ihr einziges Streben sei, ihren Sohn auf dem Thron zu sehen: „Regni il figlio mia sola lusinga; Sian le stelle in aspetto funeste, Senza pena le guarda il pensier.“

Das Dreieck aus Claudio und den beiden starken Frauen ist in Agrippina gut ausbalanciert, die Rollen der Titelheldin und ihrer Gegenspielerin werden nahezu gleich gewichtet. Die Partien der Prima donna Agrippina (gesungen in der Uraufführung von Margherita Durastanti) und der Seconda donna­ Poppea (bei der Uraufführung Diamante Maria Scarabelli) nehmen fast denselben Stellenwert innerhalb der Handlung und der Opernanlage ein, was bereits an Händels spätere Londoner Opern Alessandro (1726), Admeto (1727) und ­Riccardo Primo (1727) denken lässt, deren ebenbürtige Frauenpartien gemeinhin mit dem Engagement von Francesca Cuzzoni und Faustina Bordoni begründet werden. Die männlichen Rollen der Oper reichen demgegenüber weder in der Arienanzahl noch im dramatischen Gewicht an die Relevanz von Agrippina und Poppea heran: Ottone trägt insgesamt sieben Arien und das einzige Accom­pagnato der Oper vor, Nero sechs Arien und Claudio fünf. Auch formal wird so deutlich, dass Agrippina und Poppea die Handlungsfäden in der Hand halten und die männlichen Figuren gleichsam ihre Marionet­ © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525278345 — ISBN E-Book: 9783647278346

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ten sind: Nero zeichnen Grimani und Händel als vollkommen angepasstes, devotes Muttersöhnchen. Der notorische Schürzenjäger Claudio sucht trotz Kaiserwürde und Sieg in Brittanien die häuslichen Konflikte mit seiner dominanten und angriffslustigen Gattin zu vermeiden. Und Ottone, die aufrichtigste Figur der ganzen Oper? Ottone ist derartig in blinder Liebe zu P ­ oppea entbrannt, dass er alle politischen Chancen und Ambitionen fahren lässt. Zwar wird er im ersten Akt als mutiger Retter Claudios im Seesturm exponiert, als ‚Held‘, legt dann aber sein Schwert zur Seite, um – gänzlich ‚unmännlich‘ – nur noch die Verbindung mit seiner Geliebten zu verfolgen. Als eroe effeminate, als ein empfindsamer Mann, wird er außerdem musikalisch gezeichnet durch eine gegengeschlechtliche Rollenbesetzung bei der Uraufführung – Francesca Vanini­ Boschi übernahm die Partie als Hosenrolle, ein androgynes Konzept für Ottone war also auch bei der performativen Realisierung von Händel intendiert. Agrippina ist eine Oper voller Unmoral, voller Doppelbödigkeit, arglistiger Täuschungen und einem Mangel an Sittlichkeit, ganz ähnlich der wohl bekanntesten Nero-Oper, Monteverdis L’Incoronazione di Poppea. Die v­ ielfältigen A-parte-Wendungen der Figuren an das Publikum schaffen eine Distanz zum dramatischen Geschehen, tragen zur Illusionsbrechung bei und siedeln auf diese Weise die Handlung zwischen Tragödie und Komödie an. Alle der AgrippinaFiguren sind ambivalent, wenn nicht eine Parodie auf ihre historischen Vorbilder sowie Rollentypen. Zweifellos ist der Anspruch des Agrippina-Libretto die Zuspitzung höfischer Verhältnisse auf der Bühne zu zeigen, die Zuspitzung menschlicher Abgründe, die Zuspitzung historisch verbürgter Machtkämpfe um Kaiser Nero. Dies hat immer wieder zu Deutungen herausgefordert, bislang im Wesentlichen in zwei Richtungen: Reinhard Strohm hat plausibel gemacht, dass Agrippina als eine Karikatur auf die Zustände am päpstlichen Hof unter Clemens XI. gelesen werden kann, zu dem der in Habsburger Diensten stehende Kardinal Grimani in Opposition stand (wofür auch ein in der Österreichischen Nationalbibliothek befindliches Widmungsexemplar an den Wiener Hof spricht).6 Damit würde diese Oper als ein Spiegel des politischen Kontexts, konkret des Streits um die spanische Erbfolge interpretierbar, aber auch – und etwas allgemeiner – als ein Spiegel des Selbstverständnisses der Republik Venedig, die sich deutlich von der „Verkommenheit“ Roms abzusetzen trachtete. Eine zweite, ebenfalls sehr einleuchtende Lesart hat John E. Sawyer diskutiert, indem er ausführte, dass in Agrippina „akzeptable oder inakzeptable Modelle weiblichen Betragens“7 zur Diskussion gestellt Vgl. Reinhard Strohm: Händel in Italia: Nuovi contributi, in: Rivista Italiana di Musicologia 9 (1974), S. 152–174, S. 169 f. 7 Georg Friedrich Händel: Agrippina. Opera in tre atti HWV 6, hg. von John E. Sawyer, Kassel u. a. 2013 (= Hallische Händel-Ausgabe, Serie II, Opern, Bd. 3), S. XVI. 6

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würden. Weitergedacht ergäbe sich auch bei dieser Interpretation ein recht stimmiges Bild: So änderte sich zwischen 1700 und 1750 der europäische Weiblichkeitsdiskurs bekanntermaßen erheblich, zumal hinsichtlich der Kategorie der Geschlechterdifferenz. Die im 17.  Jahrhundert noch positiv konnotierten ‚männlichen‘ Eigenschaften bei Frauen, die positive Beurteilung von­ Femmes fortes (die sich in zahlreichen unbeugsamen, couragierten, mutigen und politisch klug agierenden Fürstinnen auf der Opernbühne wie den femmes­ illustres-­Folgen in der Bildenden Kunst gleichermaßen spiegelte) erfuhr eine radikale Kehrtwende mit zunehmender Herausbildung des „Two-sex-models“8. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurden Sittlichkeit, Reinheit und weibliche Unterordnung propagiert, verstand man die Frau als „Naturwesen“ mit Bereitschaft zur Aufopferung, das sich physisch und psychisch stark vom Mann unterschied.9 Wendy Heller hat herausgearbeitet, dass es auch im Venedig des späten 17. Jahrhunderts eine erregt geführte Debatte über die Rolle von Frauen im öffentlichen Leben der Stadt gab, die in Biographien, Handbüchern und Novellen entfaltet wurde. Große Teile der venezianischen Patrizierschaft standen demnach dem Einfluss von Frauen auf die Politik negativ gegenüber.10 Es hat zweifellos Reiz, Agrippina als Teil  des venezianischen Diskurses über die Grenzen und die Angemessenheit weiblicher Macht zu analysieren; die Oper wird als Reflexion der gesellschaftlichen Vorstellungen vom angemessenen sozialen und gesellschaftlichen Ort von Frauen greifbar. Durch die paro­ distische Färbung des Librettos dekonstruiert man das Modell der Femme forte  – die Repräsentation dieses Weiblichkeitsbildes in Agrippina gerät zur Farce.

Vgl. dazu grundlegend: Thomas Laqueur: Auf den Leib geschrieben. Die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud, übers. von H. Jochen Bußmann, Frankfurt / New York 1992, S. 21, 34 f. und 172–219. 9 Vgl. z. B. Schlumbohm: Die Glorifizierung der Barockfürstin als ‚Femme Forte‘ (wie Anm. 3), insb. S. 113 f.; Corinna Herr: Medeas Zorn. Eine ‚starke Frau‘ in Opern des 17. und 18. Jahrhunderts, Herbolzheim 2000 (= Beiträge zur Kultur- und Sozialgeschichte der Musik 2), S. 29 ff.; Vera Nünning: Maskuline ‚Amazons of the Pen‘ und empfindsame ‚Men of Feeling‘: Eine thesenhafte Skizze zum Wandel der Geschlechterdifferenz im England des 18.  Jahrhunderts, in: Petra Leutner / Ulrike Erichsen (Hg.): Das verortete Geschlecht. Literarische Räume sexueller und kulturelle Differenz, Tübingen 2003, S. 129–154, insb. S. 130 f.; Susanne Rode-­ Breymann: Das 17.  Jahrhundert, in: Annette Kreutziger-Herr / Melanie Unseld: Lexikon­ Musik und Gender, Kassel 2010, S. 67–76, insb. S. 67 f. und 74 f. 10 Vgl. Wendy Heller: Emblems of Eloquence: Opera and Women’s Voices in Seventeenth Century Venice, Berkeley 2003, insb. S. 147–152. 8

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„Pensieri voi mi tormentate“. Wahnsinn und psychische Extremsituationen in Händels Opern Klaus Pietschmann (Mainz) Der Wahnsinn und seine musikalische Zeichnung beschäftigten Händel in zahlreichen seiner dramatischen Kompositionen. Das bekannteste Beispiel bildet zweifellos der rasende Ritter Orlando, dessen unerwiderte Liebe zu Angelica ihn um den Verstand bringt und in der spektakulären Szene „Stigie larve“ jedes musikalische Maß verlieren lässt: Das vielteilige Accompagnato-Rezitativ ist von ariosen Momenten durchsetzt, die sich jedoch nie zu einer sinnvollen Durchformung zu verdichten vermögen – der imaginierte Abstieg des Liebeswahnsinnigen in den Hades ist auch kompositorisch bar jeder Vernunft. Auch in anderen dramatischen Werken nutzt Händel den emotionalen Kontroll­ verlust seiner Protagonisten zu musikalischen Grenzüberschreitungen. Das Liebesduett von Acis und Galathea in der gleichnamigen Masque wird gegen alle Konvention von dem vor Eifersucht verrückten Polyphem durch dessen wütende Einwürfe gestört und mit der Ermordung des Rivalen zu einem gewaltsamen Ende gebracht. Am radikalsten ist wohl die Schilderung des alle Stadien durchlaufenden seelischen Verfalls der Dejanira im Musical Drama H ­ ercules, deren Eifersucht schließlich zum qualvollen Tod des Gatten führt. In ihrem letzten Rezitativ formuliert sie kurz die Unbeschreibbarkeit ihrer extremen Gefühle, bevor sie, von allen Umstehenden unkommentiert, regelrecht aus der Handlung verschwindet – drastischer als durch diese Verweigerung eines (auch musikalisch) geregelten Abgangs kann irreparabler Wahnsinn kaum verdeutlicht werden. Die Forschung hat sich mit den vielfältigen Spielarten des Wahnsinns in Händels musikdramatischem Schaffen umfänglich auseinandergesetzt. Während beispielsweise Silke Leopold die musikalisch-formalen Strategien exemplarisch in den Blick nahm und von den mad songs im englischen Restoration Drama herleitete,1 betrachteten andere Autoren wie etwa David Ross Hurley die jeweiligen Voraussetzungen und Ausprägungen von Wahnsinn differenzier Vgl. Silke Leopold: Wahnsinn mit Methode: Die Wahnsinnsszenen in Händels dramatischen Werken und ihre Vorbilder, in: Klaus Hortschansky (Hg.): Opernheld und Opernheldin im 18. Jahrhundert: Aspekte der Librettoforschung, Hamburg 1991 (= Schriften zur Musikwissenschaft aus Münster 1), S. 71–83.

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ter und untersuchten sie auf der Grundlage zeitgenössischer Hysterievorstellungen (v. a. bezogen auf Dejanira im Hercules).2 Ellen T. Harris wiederum erweiterte das Spektrum um Kantaten, in deren Zentrum verlassene Frauen stehen, und verwies auf ähnliche musikalische Gestaltungsparameter wie in den Bühnenwerken.3 Allerdings zeigt die assoziative Heranziehung von Beispielen in dieser Arbeit besonders deutlich, dass keine akzeptierte Vorstellung oder gar eine Definition dessen vorliegt, was eine Wahnsinnsszene ausmacht bzw. wodurch sich Wahnsinn etwa von extremem Zorn oder anderen Formen emotionalen Kontrollverlustes unterscheidet. Dies ist zweifellos symptomatisch, denn eine klare Grenzziehung ist in vielen Fällen kaum möglich. Besonders deutlich macht das ein Fall, der in der bisherigen Debatte um Händels Wahnsinnsdarstellungen praktisch keine Rolle gespielt hat, obwohl er in vieler Hinsicht signifikant ist und insbesondere den möglicherweise frühesten Versuch des Komponisten betrifft, eine an Wahnsinn grenzende extreme Gefühlslage musikalisch zu zeichnen. Gemeint ist die bekannte Arie der Agrippina „Pensieri, voi mi tormentate“ im 2. Akt der gleichnamigen Oper. Sie wurde bislang gemeinhin nicht zu den Wahnsinnsarien gerechnet; Händel selbst aber zog sie 1734 für die Eröffnungsszene des Pasticcios Oreste heran, um den Titelhelden, durch Gewissensqualen über den Sühnemord an seiner Mutter Klytämnestra dem Wahnsinn verfallen, einzuführen. Zudem fand sie bereits 1712 Eingang in das Londoner Pasticcio A ­ ntioco, um den fingierten Wahnsinn der weiblichen Hauptfigur zu illustrieren. Es stellt sich also die Frage, ob diese späteren Verwendungen der Arie sie im Umkehrschluss als erstes Experiment des jungen Komponisten zur musikalischen Zeichnung von Wahnsinn werten lässt und ob Agrippina in der fraglichen Szene folglich den Verstand verliert bzw. zu verlieren droht. Daran anknüpfend bietet dieser Fall die Gelegenheit, Händels Umgang mit dem Wahnsinn in der Oper zu diskutieren und zu fragen, ob Händel zwischen wahnsinnigen Männern und Frauen musikalisch unterscheidet, er den Bühnenwahnsinn also ‚gendert‘. Betrachtet man zunächst den Text der fraglichen Szene im Handlungskontext von Agrippina,4 so lässt er nicht darauf schließen, dass Agrippina den Ver-

Vgl. David Ross Hurley: Dejanira and the physicians: Aspects of hysteria in Handel’s Hercules, in: The musical quarterly 80 (1996), S. 548–561. 3 Vgl. Ellen T. Harris: Handel as Orpheus. Voice and Desire in the Chamber Cantatas, Cambridge M. A. 2001, S. 79 ff. 4 Zu Händels Agrippina und aktueller Bibliographie vgl. Thomas Schipperges: Agrippina (HWV 6), in: Arnold Jacobshagen / Panja Mücke (Hg.): Händels Opern, Bd. 2, Laaber 2009 (= Händel-Handbuch 2), S. 41–53. 2

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stand zu verlieren droht. Die Titelheldin beschleichen hier erstmals in der Oper Zweifel an der Durchführbarkeit des Plans, ihren Sohn Nero auf den Kaiserthron zu bringen. Aus ihrer Warte sind diese Zweifel eigentlich unbegründet, denn ihre Verleumdung des Rivalen Ottone hatte im ersten Bild des 2. Aktes das gewünschte Resultat erzielt und diesen völlig isoliert. Dass sich zwischenzeitlich das Blatt gewendet und Poppea ihrerseits eine Gegenintrige zugunsten Ottones eingefädelt hat, kann Agrippina nicht wissen. Insofern haftet den Gedanken, die sie quälen, durchaus etwas Irrationales an, allerdings sind es eher Ahnungen als ein begründeter Verdacht; einen Anflug von Wahnsinn würde man nicht erwarten. In der ursprünglichen, erst vor oder während der Uraufführungsserie reduzierten Fassung kleidete Händel diese Szene in eine geschlossene, sehr kontrastreiche Vertonung. Schon die Plazierung der Arie zu Szenenbeginn ist ungewöhnlich und stellt damit den emotionalen Ausnahmezustand Agrippinas in den Vordergrund. Auffällig ist das Ungleichgewicht der Versstruktur: Der A-Teil besteht nur aus einer Zeile, gefolgt von einem dreizeiligen B-Teil. Im­ Uraufführungslibretto gut erkennbar, steht eingangs die erste Anrufung der „pensieri“ isoliert und außerhalb des Versmaßes: „PEnsieri, Pensieri voi mi tormentate. Numi eterni, ch’il Ciel reggete, I miei voti raccogliete, La mia speme secondate. Pensieri &c. Quel ch’oprai è soggetto à gran periglio Creduto Claudio estinto, A Narciso, e à Pallante Fidai troppo me stessa. Otone hà merto, & hà Popea coraggio; S’è scoperto l’inganno, Di riparar l’oltraggio; Mà frà tanti nemici, A voi frodi, or è tempo, Deh non m’abbandonate Pensieri Pensieri voi mi tormentate.“5

Szene der Agrippina (II,13) im Uraufführungslibretto von Agrippina (Venedig: Marino Rossetti 1709), S. 39 f.

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Für diesen aus den Fugen geratenen Arientext findet Händel im A-Teil plastische musikalische Entsprechungen.6 Das Ritornell beginnt mit kurzen Motivpartikeln, durch lange Pausen separiert, bevor Sechzehntelläufe, scharf punktierte Rhythmen und akzentuierte Unisono-Schläge im Fortissimo zum Einsatz der Gesangstimme hinleiten. Diese Elemente kontrastieren nachfolgend mit der ziellos schweifenden Vokalkantilene, die nur durch die Oboe sekundiert wird. Im B-Teil erfolgt der plötzliche Wechsel zu atemloser Syllabik und erstaunlich rasch die Rückkehr zum A-Teil. Auf die Arie folgt ein Rezitativ, in dem Agrippina ihre Befürchtungen konkretisiert. Hieran anschließend wiederholt sie nochmals leicht gekürzt den A-Teil der Arie zum Szenenende, ein Kunstgriff, der abseits jeder Konvention angesiedelt ist. Möglicherweise deshalb wurde diese Wiederholung kurz vor oder während der ersten Aufführungsserie gestrichen.7 Den in Venedig etablierten Traditionen des Wahnsinns auf der Bühne, wie sie von Ellen Rosand aufgearbeitet wurden,8 folgt die Szene Agrippinas kaum. Üblicherweise dominierten dort vorgetäuschter und Liebeswahnsinn, stets inhaltlich und durch offenkundige Übertreibungen eindeutig kenntlich gemacht. Allenfalls die Versstruktur stellt eine Verbindung zur Tradition der Wahnsinnsszenen her, auch wenn textliche Abnormitäten ebenso mit anderen extremen Gefühlslagen in Verbindung gebracht wurden. Es unterbleibt auch die Evokation von Furien, die als Charakteristikum von Wahnsinnsszenen des 18. Jahrhunderts ausgemacht werden konnte.9 Als Stellvertreter der Furien-Allegorie könnten allenfalls die personifizierten „pensieri“ gelten. Beim zeitgenössischen Publikum dürfte die Wortwahl jedoch nicht zwingend entsprechende Assoziationen geweckt haben. Blickt man nämlich auf die Verwendung der Formulierung „i pensieri mi tormentano“ o. ä. in anderen literarischen Zusammenhängen um 1700, so quälen beispielsweise Abraham seine Gedanken während des dreitägigen Marschs zu dem Berg, auf dem er seinen Sohn Isaak opfern soll.10 Oder in den Worten eines Übersetzers der Imitatio Christi des Thomas von Kempen von 1678 wird der Mensch im irdischen Jam Vgl. HHA II, 3, S. 143–146. Die vollständige erste Fassung der Szene ist wiedergegeben in HHA II, 3, S.  258–263. Vgl. auch den kritischen Bericht S. 320 f. sowie S. 335. 8 Vgl. Ellen Rosand: Opera in Seventeenth-Century Venice: The Creation of a Genre, Berkeley 1991, S. 346–360. 9 Vgl. Esther Huser: „Wahnsinn ergreift mich  – ich rase!“ Die Wahnsinnsszene im Operntext, Diss. Fribourg 2006 (http://doc.rero.ch/record/5860, 8.11.2015), S. 107–114. 10 „Affine, dice egli, che caminando, & auvanzandosi venisse tormentato da diversi pensieri per tutto questo lungo camino; e che il comando di Dio affrettando la di lui ubbidienza, e dall’altro opponendosi l’amore verso l’unico Figliuolo provasse questa divisione, e questo tormento den­tro la sua Anima.“ La Galleria di Minerva, overo notizie universali, Bd. 3, Venedig 1700, S. 173. 6 7

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mertal von vielen Gedanken gequält.11 Eine vielleicht nicht zufällige Parallele zur Formulierung in Grimanis Libretto bietet das Libretto von Pier Matteo Petrucci zu dem 1676 in Rom aufgeführten Oratorium Il Santo Alessio, wo der Heilige mit sich ringt, ob er der göttlichen Berufung oder den Bitten der Familie, bei ihr zu bleiben, folgen soll: „Deh non mi tormentate, o miei pensieri, E con volto mentito D’affetto impietosito Non siate a danno mio tanto guerrieri. Deh non mi tormentate, o miei pensieri. Spoglisi pur d’ogni terreno affetto Coraggioso il mio petto: Prendasi pure ogni lusinga a gioco: Per hauer Dio lasciar’ vn mondo, è poco.“12

Ebenso wie in Grimanis Agrippina-Libretto werden hier die Gedanken direkt angesprochen und die Aufforderung, von den Qualen abzulassen, beschwörend wiederholt. Anzeichen von Wahnsinn sind aber auch in diesem Zusammenhang nicht erkennbar. Dennoch wurde die Szene aus Händels Oper im Jahre 1712, also nur drei Jahre nach der venezianischen Uraufführung der Agrippina, in dem Londoner Pasticcio Antioco als Wahnsinnsszene eingesetzt. An die Themse war sie sicherlich von Händel selbst gebracht worden, der kurz zuvor mit Rinaldo sein erfolgreiches Londoner Debüt erlebt hatte. In Antioco dient die Arie zur Veranschaulichung des vorgetäuschten Wahnsinns der Prinzessin Arsinoe, die mit dieser List ihrem Verlobten Antioco auf den Königsthron verhelfen will: „[Arsinoe che finge impazzire, e Tolomeo ambi affisi a Tavola. Ars. Da qual densa caligniesi vela L’alta luce del giorno? Tol. Eccovi in porto Mie reali speranze. Ars. E chi mi suelle Dal busto il Capo? ola chi mi soccorre? [Balza dalla Tavola. Oron. Che fia mai questo. Ant. Idolo mio, che dici? „I giorni di questo tempo sono pochi, e cattiui, pieni di dolori, e di angustie, doue l’huomo s’imbratta di molti peccati, è inuolto in molte passioni, è ristretto da molte paure, è tormentato da molti pensieri.“ Dell’ imitatione di Christo di Tomaso de Kempis, Canonico Regolare,­ Venedig 1678, S. 330. 12 Poesie sacre morali, e spirituali di monsignor Petrucci vescouo di Iesi, Venedig 1686, S. 495. 11

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Ars. Antioco, Tolomeo, Popoli, Oronta, Dove e Arsinoe Dov’e? Pensieri voi mi tormentate. Ciel Soccorri a miei dissegni Il mio Sposo fa che Regni E voi numi il secondate. Pensieri, &c.“13

Wie bereits Winton Dean feststellte, wurden in das Pasticcio zahlreiche Nummern aus Agrippina übernommen,14 wohl ohne sein Zutun, aber möglicherweise gab er sein Einverständnis, die venezianische Partitur auszuschlachten. Die fragliche Arie „Pensieri, voi mi tormentate“ eignete sich auch deshalb sehr gut, weil der Text kaum angepasst werden musste. Lediglich im B-Teil musste das Wort „figlio“ in „sposo“ geändert werden. Nur am Rande sei erwähnt, dass diese Quelle auch in textphilologischer Hinsicht von gewissem Interesse ist: Es handelt sich nämlich um das einzige gedruckte Libretto, das die Arie in der von Händel vertonten Textfassung überliefert. Im Libretto der venezianischen Uraufführung dagegen erscheint der B-Teil in seiner Erstfassung, ebenso wie in den Libretti zu den beiden einzigen zeitgenössischen Nachfolgeproduktionen in Neapel 1713 und Hamburg 1718. Dass Händel diesen Text so nie vertonte, sondern sofort abänderte bzw. abändern ließ, belegen das Autograph und die zeitgenössischen Partiturabschriften, die durchweg die veränderte Textfassung aufweisen.15 Noch aufschlussreicher freilich ist Händels Entscheidung des Jahres 1734, die Arie am Beginn des Pasticcios Oreste aufzugreifen, das von ihm selbst aus eigenen Kompositionen zusammengestellt wurde. Hier nämlich sah sich der Komponist mit einer typischen Wahnsinnsszene konfrontiert. Grundlage bildete ein 1723 verfasstes Libretto von Giangualberto Barlocci, das den Titelhelden in der ersten Szene von Gewissensbissen geplagt vorstellt, da dieser aus Rache für den Vater Agamemnon seine eigene Mutter Klytämnestra ermordet hat. Der Monolog bestand ursprünglich aus der Abfolge Rezitativ – Arie –­ Rezitativ, wobei das zweite Rezitativ sicherlich als Accompagnato-Rezitativ konzipiert war:

Antioco. Opera. Da rappresentarsi nel Reggio Teatro d’Haymarket, London: Jacob Tonson 1712, S. 11. 14 Vgl. Winton Dean / John Merrill Knapp: Handel’s Operas, 1704–1726, Oxford 1995, S. 157. 15 Im kritischen Bericht von John Sawyers Neuausgabe der Agrippina (HHA II, 3) findet dieser singuläre Befund im Londoner Antioco-Libretto keine Erwähnung. Freilich erlaubt er keine Aufschlüsse darüber, ob die Arie hier in ihrer längeren oder kürzeren Fassung erklang. 13

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Wahnsinn und psychische Extremsituationen in Händels Opern 

„O Del gran Padre Giove Pudica eterna Figlia, O Dea Triforme, ò Dea, Che sei nel Ciel fra le più chiare stelle Nelli puri sereni il maggior lume, Ed in terra sei Nume Di Cor pudico, e d’anime più belle, Il cui valor possente Il morto Regno sente, Là dove Stige colla torbid’ onda I tristi, e dolorosi Campi d’Inferno inonda; Se d’infelice stato Di misero Mortal giamai t’ increbbe, E se preghiera, ò voto A pietade or ti move, Alma Figlia di Giove Rendi al mio Cor la desiata pace, Come il Ciel mi promise, acciò non sia La sua promessa, e il mio sperar fallace. Nò fallace non sei dolce Speranza, Che mi consoli …. mà O Dei! chi sà Che il desiderio mio me non inganni! Nò non m’inganno nò, Mentire il Ciel non può, Promise il Ciel …… ma che? Ah che io pur sento in mè gl’antichi Nò fallace &c. (assanni! Sì, sì ritogli ò Dea Al core il suo tormento; Ma tù non odi ancora? Oimè ch’ io sento, Sento l’ultrice Furia, che mi caccia. Ahi con pallida faccia, Ecco sen viene a mè la Madre estinta, Vè come ancora è tinta Di nero sangue, e di color di Morte! Ahi che irata minaccia, e irata dice: Figlio, Figlio crudele Queste nel petto mio Ampie ferite la tua mano aprio. Perdona, sì perdona ò Genitrice. Ma quale io veggio? Ahi lasso! © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525278345 — ISBN E-Book: 9783647278346

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Vi sono ancor con lei Le sembianze funeste Del Figlio di Tieste: E tu chi sei, che a me ti fai presente! Larva dolente? ah che ben lo ravviso Egli è Pirro, che ucciso Fù già dall’empia mano mia nel Tempio. O Madre, o Egisto, o Pirro Deh più non m’agitate, Se vendetta bramate ecco io l’adempio, E chiudo i lumi a notte eterna, e giaccio. Stanco dall’agitazione delle furie si getta sopra di un sasso a giacere.“ 16

Der Komplex trägt bereits in Barloccis Vorlage wesentliche Züge einer Wahnsinnsszene: Orest imaginiert zunächst eine Furie, die sich bald als die tote Mutter erweist und ihn anklagt, bevor er am Ende ohnmächtig niedersinkt: „Stanco dall’agitazione delle furie si getta sopra di un sasso a giacere“, heißt es in der Regieanweisung. Entsprechend der üblichen Londoner Praxis wurde die Szene in der Bearbeitung extrem gekürzt. Dies führte hier aber nicht – wie so oft – zu sinnentstellender Reduktion, sondern vielmehr zu einer wirkungsvollen Verdichtung. Zugleich erfuhr die Szenenstruktur eine grundlegende Veränderung, indem die Arie aus Agrippina gleich zu Beginn eingeschaltet wurde, allerdings beschränkt auf den verkürzten A-Teil: „PENSIERI, voi mi tormentate. O tu del gran Tonante Pudica eterna Figlia, Rendi al mio cor la desiata pace, Come il ciel mi promise, acciò non sia La sua promessa, e ’l mio sperar fallace. Ma tu non m’ òdi ancora? Oimè ch’ io sento; Sento le ultrici Furie, Che mi squarciano il core; Mi lacera il furore. Deh! piu non m’ agitate, Se vendetta bramate, ecco l’ avete. Corro precipitoso in fondo a Lete. [Stanco dall’ Agitazione delle Furie, si getta a giacere sopra di un sasso.“ 17 Erster Auftritt des Oreste (I,1) im Libretto zu L’Oreste von Giangualberto Barlocci (Rom: Bernabò 1723). 17 Erster Auftritt des Oreste (I,1) im Libretto zu Händels Pasticcio Orestes (London: Wood [1734]).

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Hieran schließt sich ein kurzes Secco-Rezitativ an, das in ein AccompagnatoRezitativ übergeht, sobald der Furienwahn beginnt.18 Einen Anstoß für den Rückgriff auf die Szene der Agrippina mag die gestrichene Textzeile von Barloccis Oreste-Libretto „Ritogli o Dea / Al cuore il suo tor­mento“ geboten haben: Er fleht zu Diana, vor deren Altar er steht, die Qualen seines Herzens zu beenden. Indem die Arie aber entgegen der Libretto­ vorgabe an den Anfang rückt, nähert sich die Szene auch in ihrem Aufbau der Agrippina-Szene an. Die wirkungsvolle musikalische Schilderung der quälenden Gedanken prägt den Beginn, und es folgt ein erklärend-reflektierendes Rezitativ. Im Unterschied zu Agrippina jedoch verliert Orest nunmehr vollends die Fassung, verfällt dem Wahn, und verlässt konsequenterweise im Accompagnato auch musikalisch die geregelte Form, bevor er ohnmächtig zu­ Boden sinkt. Agrippina ergeht es nicht so, da sie ihre quälenden Gedanken rechtzeitig unter Kontrolle bekommt und weiter ihre Intrigen spinnt. Aber Händels Rückgriff lässt den Schluss zu, dass er sie nur um Haaresbreite dem Wahnsinn entgehen sieht. Das Pasticcio Oreste hält auch eine Erklärung für diesen vordergründig nur schwer nachvollziehbaren Borderline bereit: Wie Huser feststellt, handelt es sich bei Oreste um einen sehr frühen Fall von Opernwahnsinn, der durch Schuldgefühle ausgelöst wird.19 Wie schon erwähnt, führte traditionell v. a. Liebesleid zum Verlust des Verstandes; im Falle des Muttermörders ist es jedoch die ungeheuerliche Tat, die rational nicht verarbeitet werden kann und eine Bestrafung durch die Geister der Toten imaginieren lässt. Zwar hat Agrippina keine vergleichbare Schuld auf sich geladen, aber sie hat skrupellos Mordkomplotte geschmiedet und befürchtet ihr Scheitern – dies macht die musikalische Nähe zu schuldbewusstem, angsterfülltem Wahnsinn durchaus plausibel. Das Pasticcio liefert damit ein wichtiges Indiz für Händels eigene Interpretation der „pensieri“ Agrippinas. Dieser Überblick über die verschiedenen Verwendungen der Arie zeigt, dass Händel die Agrippina-Szene zum Anlass nimmt, mit musikalischen Ausdrucksmitteln zu experimentieren, die die Figur in die Nähe des Wahnsinns rücken lässt, ohne diesem zu verfallen. Dies ist umso bemerkenswerter, als der Text für eine so weitgehende Interpretation kaum Anhaltspunkte liefert. Eine Inspirationsquelle mag dabei Händels eigene, 1707 komponierte AgrippinaKantate gewesen sein. Sie hat das Endresultat von Agrippinas Intrigen zum Thema und leuchtet die extremen Gefühlslagen der Kaiserin im Angesicht des vom eigenen Sohn verhängten Todesurteils aus. Musikalische Beziehungen Vgl. HHA II, Suppl. 1, S. 8–11. Vgl. Huser: Wahnsinn (wie Anm. 9), S. 117.

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zwischen den beiden Szenen bestehen zwar nicht, aber die dem Wahnsinn nahen „pensieri“ erlangen in Kenntnis von Agrippinas Ende jenseits der Opernhandlung volle Plausibilität und erweisen sich damit als schicksalhafte Prophezeiungen, die sie in die Nähe einer unbewussten Todesangst rücken. Dass Händel die „pensieri“ Agrippinas in der Tat als Todesahnungen zeichnet, verdeutlicht der Vergleich mit einer anderen, wenig später entstanden Opernarie Händels. Gesungen wird sie von Medea zu Beginn des 5. Aktes von Teseo, der 1713 in London komponiert wurde. Wiederum steht die Protagonistin am Rande des Wahnsinns, hier allerdings aus enttäuschter Liebe zu Teseo, dessen Vergiftung sie plant. In der ersten Zeile der Arie schwört sie: „Moriro, ma vendicata“ („Ich werde sterben, aber gerächt“). Wie bereits Robert Ketterer feststellte, bedient sich dieser Arienbeginn ganz ähnlicher kompositorischer Mittel wie „Pensieri, voi mi tormentate“, ohne dass von einer Bearbeitung oder gar einem „Borrowing“ zu sprechen wäre.20 Die Unisono-Schläge der Streicher und die kontrastierenden Oboentöne im Dialog mit der Singstimme auf dem Wort „moriro“ markieren zu Beginn einen ganz ähnlichen Gestus, der sich dann freilich in Koloraturen entlädt, die Medeas Racheschwur illustrieren. Die analogen musikalischen Mittel in dieser Arie machen explizit, dass bereits den „pensieri“ Agrippinas die existenzielle Dimension von Todesahnungen eingeschrieben war, und auch der Wahnsinn des Orest trägt die Züge von Todesangst. Als Fazit kann festgehalten werden, dass die Wahnsinnsszene für Händel keine schematische Kategorie darstellte. Emotionale Grenzsituationen können, situations- oder charakterbedingt, in Wahnsinn umschlagen oder eben auch nicht. Interessant und in der Oper des frühen 18. Jahrhunderts neu ist dabei, dass Händel die Ausleuchtung dieses Grenzbereichs in die formal strukturierte Form der Arie verlagert. Zugleich führt er sie kompositorisch an ihre Grenzen: Kompositorische Verfahren, wie sie dem Wahnsinn traditionell im formal ungebundenen Accompagnato-Rezitativ vorbehalten waren (und blieben), dringen in die formale Ordnung der Opernarie ein und drohen sie jeweils zu sprengen. Das Beispiel der Arie Agrippinas und ihres Weiterwirkens erlaubt dabei zugleich einen Einblick in die geschlechtsspezifische Handhabung der musikalischen Mittel. Prinzipiell sind es dieselben musikalischen Ausdrucksmittel bzw. sogar dieselbe Musik, die Händel für die Zeichnung extremer, an Wahnsinn grenzender Gefühlslagen bei Frauen und Männern für angemessen hält – 20

Vgl. Robert C. Ketterer: Helpings from the Great Banquets of Epic. Handel’s Teseo and Arianna in Creta, in: Bruno Forment (Hg.): (Dis)embodying Myths in Ancien Régime Opera: Multi­ disciplinary Perspectives, Leuven 2012, S. 33–61, hier S. 49 f.

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Agrippina und Orest singen dieselbe Arie. Der Unterschied besteht jedoch in der formalen Handhabung: Während Agrippina die Form wahrt und die Arie in konventionsgetreuer Dreiteiligkeit vorträgt, sprengt Orest die Form, indem er die Arie zur Einteiligkeit verkürzt. Ein Unterschied freilich, der wohl weniger seinem Geschlecht als der extremen Situation geschuldet ist – die Sprengung der Arienform indiziert seinen Wahnsinn, während Agrippina ihm knapp entgeht. Dieser Befund erweist damit ein weiteres Mal, wie differenziert und präzise Händel Gefühlslagen zeichnet und dass man sich bei ihm vor Generalisierungen und voreiligen Einordnungen in Gattungstraditionen zu hüten hat, auch und gerade wenn es um seine Protagonisten dies- oder jenseits vom Rande des Wahnsinns geht.

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Zur Echtheit des Händel-Porträts von Christoph Platzer (um 1710)* Hans Joachim Marx (Hamburg) Kurz vor dem Zweiten Weltkrieg erwarb die Stadt Halle an der Saale ein kleines Händel-Porträt, das als bildliches Zeugnis des jungen, in Italien Aufsehen erregenden Hallenser Musikers einer der Anziehungspunkte des zu gründenden Händel-Museums werden sollte. Ein lokaler Kunsthistoriker machte den Kauf des Porträts in den Hallischen Nachrichten vom Februar 1939 mit dem Hinweis bekannt, es handle sich „um ein Miniaturbildnis in Silberfiligran­ fassung von Christoph Platzer, im Jahre 1938 erworben für das Händel-Haus in Halle“1. Doch kurz vor Eröffnung des Händel-Hauses im Jahre 1948, also in einer Zeit des Um- und Aufbruchs, soll die wertvolle Miniatur gestohlen worden sein, ohne dass irgendeine Zeitung davon berichtet hätte. Der mysteriöse Diebstahl ist bis heute nicht aufgeklärt.2 Erst durch die Recherchen des englischen Händel-Forschers William C. Smith (1881–1972), die er in seiner zunächst nicht veröffentlichten Handel Iconography zusammengefasst hat, sind wir über die sog. ‚Platzer-Miniatur‘ etwas genauer unterrichtet.3 Seinen Forschungen zufolge wurde sie 1920 auf einer Auktion in London versteigert. In dem Auktionskatalog, auf den später noch näher einzugehen sein wird, wird das Händel-Porträt etwas enigmatisch beschrieben als „bust, viewed to the right, face turned and looking towards the spectator. He wears a blue cloak over his shoulders, short lace cravat, long powdered wig“. Das Bild sei in ­ovaler Form *

Für einige kunsthistorische Anregungen und Ergänzungen danke ich meinem Hamburger Kollegen Martin Warnke sehr herzlich. 1 Herbert Wolfgang Keiser: Das Kunstwerk des Monats. Städtisches Moritzburg – Museum, in: Monatsprogramm Halle, Februar 1939, S.  18. In dem vom Städtischen Moritzburgmuseum der Stadt Halle 1938 herausgegebenen Katalog Georg Friedrich Händel und seine Zeit. Gemälde und Stiche aus der Händelsammlung des Städtischen Moritzburgmuseums ist die Händel-­ Miniatur nicht angegeben. 2 Es ist durchaus möglich, dass das Porträt nicht von einer Privatperson gestohlen wurde, sondern zu der halben Million Kunstgegenstände gehörte, die zwischen 1945 und 1948 in die Sowjetunion gebracht wurden. Vgl. Joachim Dietze (Hg.): Wissenschaftliche Bibliotheken nach der Wiedervereinigung Deutschlands, Halle/S. 1996 (= Arbeiten aus der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle a. d. Saale 42), S. 40. 3 Herrn Dr. Edwin Werner, dem früheren Direktor des Händel-Hauses in Halle, verdanke ich eine Kopie der entsprechenden maschinenschriftlichen Passagen aus: William C. Smith: A Handel Iconography. Die von Gerald Coke herausgegebene, 1973 in Bentley, Hants., gedruckte und 1983 von der British Library wiederaufgelegte Schrift war mir nicht zugänglich.

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auf eine Art feines Pergamentpapier (vellum) gemalt und vom Maler signiert (signed). Seine Bildmaße betrügen etwa 6,8 × 4,8 cm („2⅔ by 1⅞ in[ches]“). Im Original habe das Bild einen mit Diamanten besetzten Rahmen (fine­ diamond frame). Obgleich über die Signierung durch den Maler nichts mitgeteilt wird, wird die Christoph Platzer zugeschriebene Autorschaft mit den Worten kommentiert: „Platzer worked at Passau during the first half of the XVIIIth ­Century. About 1720 he was appointed Court painter to the PrinceBishop“4. Auch über diesen Passus wird im folgenden noch ausführlich zu diskutieren sein. Von dem bis heute unauffindbaren Original ist in den späten 1930er Jahren von dem Hallenser Photographen Gerhard Roth eine SchwarzWeiß-Aufnahme gemacht worden.5 Im Jahre 1983 hat das Händel-Haus im Hinblick auf das Händel-­Jubiläum 1985 von der Dessauer Restauratorin Luzie Schneider (1919–2011) eine Replik der Miniatur anfertigen lassen (vgl. Abb. 1). Das nach dem Photo von Roth und den farblichen Angaben im Auktionskatalog von 1920 gemalte Bild ist heute Teil der ständigen Ausstellung im HändelHaus (vgl. Abb. 2).6 Es ist (in der Version mit dem diamantenbesetzten Rahmen) weltweit durch tausende von Abbildungen in Aufsätzen, Büchern und als Postkartenmotiv verbreitet.7 Fragt man nach der Herkunft der kostbaren, mit Diamanten verzierten Miniatur selbst, so stößt man – dank der Recherchen von William C. Smith – zunächst auf den Londoner Antiquar Percival (Percy) Horace Muir (1894–1979), der das ‚Platzer-Porträt‘ 1938 für £ 9508 der Stadt Halle verkaufte. Muir war Zit. nach dem Catalogue of the well-known and valuable collection of Plumbago, Pen and Ink, and Coloured Pencil Drawings and Miniatures… The Property of Francis Wellesley, Esq., which will be sold by auction by Messrs. Sotheby, Wilkinson & Hodge, London 1920, S. 204, Losnummer 624. Louisann D. White vom Getty Research Institute in Los Angeles hat mir freundlicherweise eine Kopie des Katalogs als Digitalisat überlassen, wofür ihm bestens gedankt sei. 5 Die verschollene Miniatur hat in den Sammlungen der Stiftung Händel-Haus in Halle die Signatur BS-I V02; die Photographie der Miniatur von G. Roth scheint ebenfalls verschollen zu sein. Für die Angaben danke ich Herrn Jens Wehmann, Bibliothekar des Händel-Hauses, vielmals. 6 Die Vorlage der Abbildung verdankt der Verf. der Deutschen Fotothek in Dresden. Das­ Original der Replik von Luzie Schneider ist unter der Signatur BS-I 065 im Händel-Haus überliefert. Über die Herstellung des neuen Rahmens ist nichts bekannt. Vgl. hierzu auch­ Edwin Werner: Händel-Bildnisse in den Sammlungen der Stiftung Händel-Haus, Halle/S. 2013, S. 11. Auf der Rückseite dieses Heftes ist die Replik von Luzie Schneider einschließlich des mit Diamanten verzierten Silberrahmens in etwa doppelter Größe farblich abgebildet. 7 Vgl. zuletzt den kommentarlosen Abdruck des Porträts in: Ellen T. Harris: George ­Frideric Handel. A Life with Friends, New York / London: Norton 2014, gegenüber S.  17, und in:­ Juliane Riepe: Händel vor dem Fernrohr. Die Italienreise, Beeskow: ortus musikverlag 2013, S.  26. Das Händel-Haus in Halle und der Carus-Verlag in Stuttgart bieten das Miniatur-­ Porträt als Arbeit von Christoph Platzer als Postkarte an. 8 W. C. Smith gibt „£ 50“ an, nach Werner: Händel-Bildnisse in den Sammlungen der Stiftung Händel-Haus (wie Anm. 6), S. 11, waren es aber „£ 950“. 4

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ein weltweit agierender Kunsthändler, der sich auch für Musik interessierte. In seiner Autobiographie berichtet er ausführlich über den Ankauf des Autographs von Mozarts ‚Haffner-Sinfonie‘ (KV 385), nicht aber über den des Händel-Porträts.9 Muir hatte die Miniatur zu einem nicht näher angegebenen Zeitpunkt von dem Kunstliebhaber Byam Shaw (1903–1992) erworben, der sich, obwohl Dilettant, auf dem Gebiet der Bildenden Kunst des 18. Jahrhunderts einen Namen gemacht hatte.10 Shaw hatte sie im Juni 1920 auf einer Auktion in London für £ 3311 erstanden. Die von Sotheby, Wilkinson & Hodge ausgerichtete Auktion, die „at their large Galleries, New Bond Street“ stattfand, bot nicht nur Gemälde und Miniaturen, sondern auch Drucke und Brief-Autographe aus der „well-known and valuable collection“ von Francis Wellesley, Esq., an. Wer war aber dieser Francis Wellesley, dessen Sammlung und dessen Sammelleidenschaft bekannt war, von dem aber weder im Katalog noch anderswo etwas über sein Leben und seine beruflichen Tätigkeiten zu finden ist? In der Einleitung zu dem erwähnten Auktions-Katalog wird lediglich darauf hingewiesen, dass die Sammlung von Porträts des Duke of Wellington „and other members of the Wellesley Family“ besondere Beachtung verdiene.12 Tatsächlich gehörte Francis Wellesley, was bisher unbekannt war, im weiteren Sinne zur Familie von Arthur Wellesley (1769–1852), des Duke of Wellington, der 1815 als Sieger aus der Schlacht von Waterloo hervorgegangen war. Dessen Neffe Rev. Dr. Henry Wellesley (1794–1866) in Oxford besaß eine bedeutende Bildersammlung, aus der wiederum sein Neffe Francis Wellesley einiges geerbt hat.13 Francis Wellesley (1865–1935)14 muss also ein wohlhabender Mann gewesen sein, der mit seiner Frau Minnie teils im südenglischen Westfield Common in der Nähe von Woking (Grafschaft Surrey), teils in London wohnte und sich auch als Orchideenzüchter15 und Friedensrichter (Justice of peace) einen Namen gemacht hat. Seit etwa 1892 verkaufte er aus seiner „wellknown and valuable collection“, wie es in dem bereits erwähnten Auktions­ Vgl. Percy Muir: Minding my own business. An autobiography, London 1956. Vgl. hierzu den Artikel von Christopher White: James Byam Shaw (1903–1992), in: The Burlington Magazine 134 (Juli 1992), S. 444–445. 11 Siehe Werner: Händel-Bildnisse in den Sammlungen der Stiftung Händel-Haus (wie Anm. 6), S. 11. 12 Zit. nach dem in Anm. 4 angegebenen Katalog, S. (V). 13 Henry Wellesley war der illegitime Sohn des Bruders von Arthur Wellesley, Richard C ­ olley Wellesley (1760–1842). Im Katalog von 1920 (siehe Anm.  4) sind die Minaturen aus der Sammlung von Henry Wellesley gezeichnet mit „Dr. Wellesley“. 14 Die Lebensdaten verdanke ich einer Auskunft der Kuratorin des Victoria & Albert Museum in London, Frau Katherine Coombs, FSA. 15 Angebote sind angezeigt in The Garden’s Chronicle von 1904 und in The Orchide News von 1905. 9

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katalog von 1920 heißt, Bilder, die heute u. a. dem Fine Art Museum in Boston16, dem British Museum in London17 und dem Metropolitan Museum of Art in New York18 gehören. Seine Kunstsammlung scheint mit den Jahren in einem solchen Maße angewachsen gewesen zu sein, dass er sich entschloss, zunächst die Miniaturen und Porträts zu verkaufen. Zu diesem Zwecke ließ er die etwa 600 Preziosen seiner Sammlung von einem Fachmann katalogisieren. In dem Katalog, den er auf eigene Kosten im Jahre 1918 unter dem Titel Catalogue of the Miniatures and Portraits in Plumbago or Pencil Belonging to Francis & Minnie Wellesley veröffentlichte (vgl. Abb. 3)19, ist auch das Platzer zugeschriebene Händel-Porträt angezeigt – hier zum ersten Mal.20 Der Eintrag mit der Katalognummer 198 lautet vollständig: „CHRISTOPH PLATZER. GEORGE FREDERICK HANDEL . Bust, viewed to the right, face turned and looking towards the spectator. He wears a blue cloak over his shoulders, short lace cravat [d. i. ein Jabot], long powered wig. On vellum. Oval, 2⅔ by 1⅞ in[ches]. In the original Diamond frame. Signed.“

Spätestens hier stellt sich die Frage, woher Wellesley wusste, dass die PorträtMiniatur ein Werk von Christoph Platzer ist. Eine vorläufige Antwort lässt sich einem früher erstellten Katalog der Wellesley-Sammlung entnehmen, der bereits 1914 in Oxford erschienen war. Dem Katalog, in dem das Händel-Porträt von Platzer noch nicht erwähnt ist, ist ein Vorwort beigegeben, das der Kunsthistoriker Dr. George C. Williamson (1858–1942) verfasst hat.21 Williamson war ein international anerkannter Spezialist in Sachen Miniaturen und stand Wellesley offensichtlich bei der Begutachtung, der Katalogisierung seiner Bestände und bei den Auktionen als Fachmann zur Seite.22 Kurz nach Veröffentlichung des Kataloges der Wellesley-Sammlung von 1918 (mit der Beschreibung der Platzer-Miniatur) erschien in der Zeitschrift The Connoiseur. An Illustrated Magazine for Collectors von Williamson ein Artikel, in dem er die U. a. das Bild Scating on a Frozen River des Holländers Barent Averkamp (um 1650), Acc.no. 60.982. 17 Sieben Zeichnungen, u. a. eine Bleizeichnung von Cornelis Visscher, 1649, PDO14595. 18 Etwa die gerahmte Silhoutte auf Seide, Acc.no. 38.145.2. 19 Der 211 Seiten starke Band ist als Digitalisat unter dem Link www.openlibrary.org/books/ OL25615115M einsehbar. 20 Der Wortlaut ist oben auf S. 97/98 wiedergegeben. 21 A Hand-list of the Miniatures and portraits in plumbago or pencil belonging to Francis and­ Minnie Wellesley with a foreword by Dr. G. C. Williamson, Oxford 1914. 22 Williamson hat mehrfach über Porträt-Miniaturen publiziert: u. a. 1904 in seinem Buch How to identify portrait miniatures; with chapters on how to paint miniatures by Alyn Williams [sic], erschienen in London, 1910 in Portrait Miniatures, London / Paris / New York, und 1921 in The miniature collectors. A guide for the amateur collector of Portrait miniatures, ebenfalls London. 16

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Kunstwelt auf den wertvollen Bestand an Miniaturen und Gemälden in der Wellesley-Sammlung aufmerksam machte.23 Williamson kann also unzweifelhaft als Autor des Katalogs gelten. Wie kam aber Williamson darauf, das Porträt als ein Werk von Christoph Platzer auszugeben? Obwohl es in der Beschreibung nur heißt, die Miniatur sei signiert (signed), ohne anzugeben in welcher Weise (mit vollem Namen, mit einem Monogramm oder mit den abgekürzten Vor- und Nachnamen?), hat Williamson sie dem in England wohl kaum bekannten Christoph Platzer zugeschrieben. In dem kurzen Kommentar im Katalog heißt es lapidar: „Platzer worked at Passau during the first half of the XVIIIth century. About 1720 he was appointed Court painter to the Prince-Bishop“. Williamson hat diesen Passus, wie sich jetzt herausstellt, weitgehend einem Artikel über einen Verwandten Christoph Platzers entnommen, aus der von ihm selbst herausgegebenen Neuauflage von Bryan’s Dictionary of Painters and Engravers von 1904. In dem Artikel über Platzers Neffen Victor wird seinerseits auf Georg Kaspar ­Naglers Neues allgemeines Künstler-Lexikon von 1841 verwiesen, in dem Christoph Platzer lediglich als Maler von Heiligen-Bildern, nicht als Porträtist bezeichnet wird. Ein Vergleich der beiden Artikel lässt erkennen, dass letztlich Nagler für die Zuschreibung an Platzer herangezogen wurde: George C. Williamson (Hg.): Bryan’s Dictionary of Painters and Engravers, Bd.  IV, New York / London 21904, S. 133: „Platzer, Johann Victor, is called by Nagler… was a scholar of Kessler at Innspruck, until the court-painter, Christoph Platzer, took him under his care at Passau“. Georg Kaspar Nagler: Neues allgemeines Künstler-Lexikon, Bd.  XI, München 1841, S. 409: „Platzer, Christoph, Maler zu Passau, arbeitete in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Er malte für Kirchen und Klöster heilige Darstellungen und andere Bilder. Er war um 1720 fürstbischöflicher Hofmaler“.

Wer war aber dieser „fürstbischöfliche Hofmaler“ Christoph Platzer?24 Den spärlichen Hinweisen in der neueren kunstgeschichtlichen Literatur nach25 entstammte Jacob (Joseph) Christoph Platzer einem Südtiroler Malergeschlecht. G. C. Williamson: „Mr. Francis Wellesley’s Collection of Miniatures and Drawings, Part II“, The Connoisseur, LII, Nr. 206, Oktober 1918. 24 Verweis auf Platzer als Porträtmaler erst in: Ulrich Thieme / Felix Becker (Hg.): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, Bd. 27, Leipzig 1933, S. 102: „Miniaturbildnis Händels in der Sammlung von Francis Wesley [sic] in London“. 25 Verschiedene Hinweise auf die kunstgeschichtliche Literatur verdanke ich Herrn Archiv­ direktor Dr. Herbert W. Wurster vom Bistumsarchiv in Passau. 23

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1659 in Eppan bei Bozen geboren, arbeitete er zunächst als „Hausoffizier“ (eine Art Kammerdiener) des Domherrn Paris Dominikus Freiherr von Wolkenstein (gest. 1697) in Salzburg.26 Spätestens 1699 wurde Platzer „hochfürstl. Hofmaler“ in Passau.27 In den folgenden Jahren diente er den Passauer Bischöfen Johann Raymund Graf von Lamberg (bis 1713), Johann Philipp Graf von Rabatta (bis 1722) und Joseph Dominicus von Lamberg (bis 1733) als Hof­ maler. Von 1723 bis 1728 war der später berühmte Maler Johann Georg Platzer (1704–1761), ein Neffe Christoph Platzers, sein Schüler.28 In dieser Zeit entstanden im Auftrag der Bischöfe Altar- und Heiligenbilder für verschiedene Kirchen und Klöster (u. a. in Kitzbühel, Vilshofen, Niederaltaich, Neuhofen und Niedernburg). 1733 ist Platzer – der Pfarrmatrikel des St. Stephan-Domes nach – in Passau als „Kammerdiener und Mahler“ gestorben.29 Der über den süddeutsch-bayerischen Raum hinaus kaum bekannte Maler hat sich also nach allem, was wir von ihm wissen, lediglich als Maler von Altar- und Heiligen­ bildern einen Namen gemacht. Als Porträtmaler lässt er sich vor 1920 weder in der kunsthistorischen Literatur noch in privaten oder öffentlichen Kunstsammlungen nachweisen. In seiner Beschreibung des ‚Platzer-Porträts‘ weist George C. Williamson auch auf dessen Rahmen hin, der seiner Meinung nach original, also gleichzeitig mit der Miniatur entstanden ist („In the original fine diamond frame“). Da die Miniatur und mit ihr der Rahmen nur von einer Photographie des Originals her bekannt ist, müssen wir uns auf einige Hinweise beschränken. Zunächst: In der Wellesley-Sammlung gibt es unter den mehreren hundert Miniaturen nur noch drei weitere, deren Rahmen mit Diamanten bzw. Edelsteinen besetzt sind (Nr.  6, 31 und 643). Man wird also sagen können, dass diamantenbesetzte Rahmen im frühen 18. Jahrhundert relativ selten wa Dem Testament des Grafen von Wolkenstein nach war am 28.  Januar 1696 bei dem „gewesten Hausmeister und Maler“ Jakob Christoph Platzer ein Hochaltarbild für die Kajetanerkirche in Salzburg bestellt und auch ausgeführt worden. Vgl. Johann Riedl: Salzburg’s Domherren. Von 1514–1806, in: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde 7 (1867), S. 122–278, hier unter Nr. 320 erwähnt. Der Salzburger Domherr Paris Dominikus Freiherr von Wolkenstein ist nicht zu verwechseln mit dem Landeshauptmann von Tirol, Paris Dominikus Graf von Wolkenstein-Trostburg (1696–1774), vgl. hierzu Astrid von Schlachta: Das Amt des Landeshauptmanns. Verwaltung und Politik in Tirol im 18. Jahrhundert am Beispiel Paris Dominikus von Wolkenstein-Trostburgs und Paris von Wolkenstein-­ Rodeneggs, in: Gustav Pfeifer / Kurt Andermann (Hg.): Die Wolkensteiner. Facetten des Tiroler Adels in Spätmittelalter und Neuzeit, Innsbruck 2009, S. 345–360. Ich danke Frau Dr. von Schlachta herzlich für die Übersendung einer Kopie ihres Aufsatzes. 27 Vgl. Erich Egg: Kunst in Tirol, Innsbruck 1970, S. 172. 28 Siehe Michael Krapf: Johann Georg Platzer. Der Farbenzauber des Barock. 1704–1761, München 2014. 29 Zit. nach Holger Schulten: Passauer Maler und Kupferstecher des 17. und 18. Jahrhunderts, in: Geschichte der Stadt Passau, Regensburg: Pustet 2003, S. 130. 26

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Zur Echtheit des Händel-Porträts von Christoph Platzer (um 1710) 

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ren. Die zahlreichen Miniatur-­Porträts des englischen Königshauses sind im frühen 18.  Jahrhundert ausnahmslos mit einem Goldrahmen, jedoch ohne Diamanten versehen. Erst in späterer Zeit sind die Rahmen mit Edelsteinen besetzt, wie etwa das Porträt von Königin Charlotte aus dem frühen 19. Jahrhundert (Abb.  4).30 Es ist auch möglich, dass der Rahmen ursprünglich gar nicht zu dem Händel-­Porträt gehörte, sondern erst später hinzugefügt wurde. Die Londoner Spezialistin für Miniatur-Porträts Dr. Emma Rutherford vom Auk­tions­haus Philip Mould vermutet auf Anfrage hin, dass der Rahmen erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dem Porträt hinzugesetzt worden sein könnte.31 Das entspräche durchaus den Vorstellungen von James Henry­ Yoxhall, der in seinem Ratgeber Collecting Old Miniatures von 1916 unter dem Stichwort „Miniature Frames“ empfiehlt, ggf. in einem Juwelierladen einen alten Rahmen zu einer rahmen­losen Miniatur zu kaufen. Aus eigener Anschauung berichtet er: „In a small Surrey town [war es Francis Wellesleys Woking?] I found a large one [miniature-frame], fine golde [sic] paste and old silver, perfect, price £ 1 5s. It is allways wise to acquire a good old frame, ready for some frameless old miniature that may turn up, though one cannot hope always to match frame with picture in exact periode or style, of course“.32 Jedenfalls wird man davon ausgehen können, dass die Miniatur vor allem der Diamanten wegen in der Sotheby-Auktion von 1920 einen ziemlich hohen Verkaufspreis erbrachte.33 Die meisten Miniaturen kosteten nicht mehr als £ 10. Die schließlich wichtigste Frage im Hinblick auf das Händel-Porträt ist die nach der Identifizierung: Worauf stützt sich die Annahme von George William­ son, dass es sich bei dem Porträt um Händel handelt, obwohl es keinen direkten Hinweis hierfür gibt? Man wird davon ausgehen können, dass etwa die Hälfte aller Miniatur-Porträts ohne Angabe des jeweils Porträtierten erhalten ist. James Henry Yoxhall widmet in seinem bereits erwähnten Traktat ­Collecting Old Miniatures einen ganzen Abschnitt dem Thema „Naming sitters“. Dort stellt er nüchtern fest: „I should think that one half the old miniatures extant are­ namelss; on the other hand, most of the modern copies and the counterfeits are quite elaborately named“. In der Regel sei es einfacher den Maler der Miniatur zu bestimmen als den Porträtierten. Trotzdem sollte ein Sammler nicht überängst London, The Royal Collection Trust, RCIN 422431. Briefliche Mitteilung vom 19. Januar 2015: „From the image, I would suggest that the pierced diamond frame is later – dating perhaps to the second half of the 18th century – but again this is very difficult without examination of the object“. Dr. Rutherford sei auch hier für ihre Antwort auf meine Anfrage gedankt. 32 Siehe James Henry Yoxhall: Collecting Old Miniatures, New York 1916, S. 13. Digitalisiert von: Hathi Trust Digital Library, open access. 33 Byam Shaw hatte für die ‚Platzer-Miniatur‘ £ 33 bezahlt. Zum Kaufpreis siehe Werner: Händel-­Bildnisse in den Sammlungen der Stiftung Händel-Haus (wie Anm. 6), S. 11. 30 31

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lich sein, „to put a name to every sitter represented in his collection“.34 Könnte nicht auch Williamson dem Ratschlag gefolgt sein, nach einem bekannten Namen eines Mannes zu suchen, der auf der Miniatur porträtiert ist? Zufällig gibt es einen in der Konsequenz deutlichen Hinweis darauf in einem Brief, den George Williamson, der Autor des Kataloges der Wellesley-Sammlung, an den englischen Verleger und Händel-Forscher Newman Flower geschrieben hat.35 In dem Brief bezieht sich Williamson auf „Platzer in  a fine diamond frame“, ohne etwas zu dem Porträtierten zu sagen. Daraus kann geschlossen werden, dass Williamson auf die Idee gekommen war, den Porträtierten als jungen Händel auszugeben, weil er von dem Hudson-Porträt der National Portrait Gallery36 her Händels Perücke als Erkennungsmerkmal des Porträtierten angesehen haben könnte. Um sicher zu gehen, fragte er bei dem Händel-Enthusiasten Newman Flower (1879–1964) nach, etwa des Inhalts, ob eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem ‚Platzer-Porträt‘ und dem Hudson-Porträt bestehen könnte. Flower wird in seiner Antwort, die uns nicht erhalten ist, die Idee positiv aufgenommen haben, denn in seiner drei Jahre später (1923) erschienenen Händel-Biographie ist die Miniatur zum ersten Mal ab­gebildet und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden. In der Bildunterschrift („From the miniature by Platyer“ [sic]) wird auch erstmals auf den jungen Händel hingewiesen: „Handel at the time of his first visit to Italy“.37 Dass er der ‚Entdecker‘ des Händel-Porträts ist bzw. es als erster als Bildnis des jungen Händel ‚erkannte‘, bestätigt der englische Musikhistoriker Edward Dent (1876–1957). In seiner Gedächtnis-Rede anläßlich der 250. Geburtstagsfeier Händels, die er am 24. Februar 1935 in der Aula der Universität Halle auf Deutsch gehalten hat, sagte er eingangs wörtlich: „Der bekannte englische Händel-­ Forscher Mr. Newman Flower – der hier im Saal anwesend ist – entdeckte vor einigen Jahren ein Miniaturbild[,] von Christoph Platzer gemalt, das Händel in diesen italienischen Jahren darstellen soll“. Und er fährt deutend fort: „ das Bild zeigt uns ein seltsam anziehendes Gesicht; wir bemerken eine Fülle von blonden Yoxhall: Collecting Old Miniatures (wie Anm. 32), S. 43. Einige Jahre vor Yoxhall äußerte sich J. J. Foster ähnlich in seiner Abhandlung Chats on Old Miniatures, London 1908, und beklagt, „that miniatures do not bear the names of either the person whom they are intended to represent, or of the artist who drew the likeness“. Digitalisiert von: Google: archive.org/details/ chatsonoldminia01fostgoog. 35 Auf den Brief verweist William C. Smith in seiner Handel Iconography, siehe Anm. 3. Dem mir unzugänglichen Brief liegt Flower’s Sevenoaks catalogue bei, der sich heute im Besitz von E. Richardson in Melbourne befindet. Smith-Catalogue S.  131: „(Richardson letter [an Smith] 9 Feb. 1971)“. Smith ist 1972 gestorben. 36 Das frühe Hudson-Bild Händels gehört seit 1857 zum Bestand der National Portrait Gallery in London (NPG 8). 37 Vgl. Newman Flower: George Frideric Handel: His Personality and his Times, London: Cassel & Co. 1923. Die Miniatur ist gegenüber von S. 62 abgebildet. 34

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Zur Echtheit des Händel-Porträts von Christoph Platzer (um 1710) 

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[sic] Haaren, eine breite Stirn, heitere und humorvolle Augen und einen Mund mit vollen, aber kräftigen Lippen, um die ein sonderlich geheimnisvolles Lächeln spielt. Ein sehr mysteriöser Mann“.38 Trotz dieser emphatischen Deutung scheint Dent doch nicht so recht von der Echtheit des Bildes überzeugt gewesen zu sein, denn sonst hätte er in seinem geschliffenen Deutsch nicht geschrieben, das Porträt soll Händel während seiner italienischen Reise darstellen.39 Da die Stadt Halle die Absicht hatte, das 1937 erworbene Geburtshaus Händels in der Großen Nikolaistraße in ein Museum umzuwandeln (Newman Flower wollte es schon 1922 kaufen), kam Dents Hinweis auf ein Bildnis des jungen Komponisten zur rechten Zeit. Vermutlich von ihm oder Newman Flower vermittelt, verkaufte der Londoner Antiquar Percy Muir das Miniatur-Porträt 1938 für das fast Dreißigfache des ursprünglichen Auktionspreises (£ 950 statt: £ 33) an die Stadt Halle.40 Kurz vor Eröffnung des Händel-Museums im Jahre 1948 wurde die Miniatur, wie erwähnt, gestohlen. Seither fehlt jede Spur von ihr. Zusammenfassend lässt sich über die obskure Herkunft der Porträt-Miniatur festhalten, dass sie erst 1920 im Vorweg der Versteigerung in London eine personale Identität erhalten hat. Der Kunsthistoriker George C. Williamson deklarierte als Maler der Miniatur den zu seiner Zeit in England völlig unbekannten Passauer Hofmaler Christoph Platzer, der Verleger und Händel-Enthusiast Newman Flower glaubte in dem Porträtierten den jungen Händel erkennen zu können.41 Aus der namenlosen Miniatur mit dem wertvollen, diamantenbesetzten Rahmen wurde gleichsam eine ‚Ikone‘ der Händel-­ Ikonographie. Es mag für manchen bitter sein, das vertraute Bild abschreiben zu müssen. Aber der ‚historischen Wahrheit‘, wieweit man sie auch fassen mag,­ gebührt letztlich doch der Vorrang. Die Rede mit dem Titel Händel in England ist 1936 als Hallische Universitätsreden Nr. 68 gedruckt worden. Wiederabdruck in: Katrin Gerlach / Lars Klingberg / Juliane Riepe / Susanne Spiegler (Hg.): Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext, Teil 2, Beeskow: ortus musikverlag 2014 (= Studien der Stiftung Händel-Haus 2), S. 348–356, hier S. 348. 39 Einer der wenigen Händelforscher, die von der Echtheit des Porträts nicht überzeugt waren, war Bernd Baselt. Vgl. seinen posthum erschienenen Aufsatz Georg Friedrich Händels Gestalt und äußeres Wesen, in: Händel-Jahrbuch 40/41 (1995), S. 13–22, hier S. 16. 40 In der städtischen Ankaufsliste vom 1.4.1938–31.3.1939 wird das Porträt unter Nr.  382 geführt. Zit. nach Werner: Händel-Bildnisse in den Sammlungen der Stiftung Händel-Haus (wie Anm. 6), S. 11. 41 Newman Flower besaß übrigens noch andere Bildnisse, von denen er annahm, dass sie Händel darstellten, etwa das Kinderbildnis Händels mit Harfe, abgebildet in: Joseph Müller-Blattau: Georg Friedrich Händel (1933), Laaber 1980, S.  11. Jacob M. Coopersmith: A List of Portraits, Sculptures etc. of Georg Friedrich Händel, in: Music and Letters 13 (1932), S. 157, beschreibt das Bild als „Portrait (40 in. × 31 in.) of a young musician said to be Händel; a youth in grey dress, with red hose, seated in a garden, playing a harp, a pet dog at his feet.“ 38

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Abb. 1: Georg Friedrich Händel. Nach einer Porträt-Miniatur von Christoph Platzer. Replik von Luzie Schneider (1983) nach einem heute verschollenen Photo des Originals von Gerhard Roth (Stiftung Händel-Haus Halle/S.)

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Abb. 2: Georg Friedrich Händel. Nach einer Porträt-Miniatur von Christoph Platzer von Luzie Schneider, mit neuem Rahmen unbekannter Provenienz. Exponat der ständigen Ausstellung des Händel-Hauses Halle (Deutsche Fotothek Dresden)

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Abb. 3: Titelblatt des Catalogue of the Miniatures and Portraits in Plumbago or Pencil belonging to Francis & Minnie Wellesley, Woking & London [1918] (Getty Research Institute, Los Angeles)

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Zur Echtheit des Händel-Porträts von Christoph Platzer (um 1710) 

Abb. 4: Miniatur mit dem Porträt von Königin Charlotte, nach einer Vorlage von Sir William Beechey, um 1800 (The Royal Collection Trust © Her Majesty Queen Elizabeth II 2015)

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Did Bach and Handel ever meet? Ton Koopman (Bussum)

Since the days of J. N. Forkel’s Bach biography1 it is generally thought that J­ ohann Sebastian Bach and George Frideric Handel never met.2 Forkel quotes an anonymous publication dating from 1788, though attributed to Carl Philipp Emanuel Bach,3 in which it is stated that Johann Sebastian went to some trouble on two occasions to effectuate a meeting.4 In 1719 he actually travelled to Halle for this purpose, but to no avail, for Handel had just departed. The latter resided mainly in London from 1712, and only on occasional visits to his native Halle would there have been opportunity for the two to meet. It was to be ten years, however, before the next chance would arise. On 29 June 1729 ­Johann Sebastian, in ill health, sent his eldest son Wilhelm Friedemann to Halle to ­invite Handel to come to Leipzig, but he did not do so.5 Not until 1751 did Handel revisit Halle, but by that time Bach had died. Halle was not unfamiliar territory to Bach. On 29 and 30 April 1716 he joined Christian Friedrich Rolle and Johann Kuhnau there to examine the new main organ in the Marktkirche, which had been built by Christoph Contius. Forkel reports that Bach held Handel in high esteem. In his biography of Bach we sense that Wilhelm Friedemann and especially Carl Philipp Emanuel very sympathetically did all they could to promote their father’s fame yet further, even after his decease. And does it not sound quite impressive to claim that Handel apparently did not consider it worthwhile to take the trouble to meet Johann Sebastian? The world-famous Handel compared — in the eyes of Johann Nikolaus Forkel, Über Johann Sebastian Bachs Leben, Kunst und Kunstwerke (Leipzig, 1802). 2 Hans Joachim Marx, Händel und seine Zeitgenossen. Eine biographische Enzyklopädie­ (Laaber, 2008), vol. I, p. 144: “as we know, Handel never met Bach” [“Händel ist Bach bekanntlich niemals begegnet”]. 3 See Christoph Wolff, Johann Sebastian Bach (Oxford, 2001), p. 207–209. 4 In general I refer to the two main personages in this article by their surnames; Bach’s initials or first names are occasionally given to avoid confusion with his sons. 5 According to David Schulenberg, Wilhelm Friedemann claimed not to have met Handel ­until 1739 or 1740. David Schulenberg, The Music of Wilhelm Friedemann Bach (Rochester, 2010), p. 7: “… although Friedemann claimed to have reached the latter in 1739 or 1740”. Schulenberg questions the story, see p. 291, note 9: “But if this story is true, why does no one besides Forkel seem to have mentioned it? And how was Sebastian, then ill, able to get word to Friedemann in time for the latter, presumably in Dresden, to travel immediately to Halle and receive Handel’s regrets?” 1

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Bach’s sons — to their far more brilliant father. Disdain or lack of interest were Bach’s lot. In Forkel’s day, Handel was still the more celebrated of the two masters. Bach, so highly esteemed by his pupils, his sons and of course Forkel, had yet to achieve broad recognition. Though he enjoyed fame among a group of con­ noisseurs, after his decease he never received a reward similar to that of Handel:  a festival in Westminster Abbey (1784). Indeed wider interest in Bach’s music arose only after 1829, the year in which the St Matthew Passion was performed by Mendelssohn in the presence of the young German Emperor. In 1719, when Bach travelled to Halle in the hope of meeting Handel, the latter had not yet achieved world fame. Did they know one another? Could they have met on another occasion, as young men, perhaps in Hamburg? Bach journeyed to Lübeck in 1705 to take part in the Abendmusiken organised by ­Dieterich Buxtehude (on the invitation of the ageing organist of the Marien­ kirche?). The Abendmusiken were supported by sponsors in the modern way, and it was not unusual for Buxtehude to invite established musicians or as yet unknown young talented ones, and thus the twenty-year-old Bach as well. In the year 1705, in addition to the five regular Abendmusiken (in that year on 15 and 22 November and 6, 13 and 20 December),6 there were two special, ‘extraordinaire’ ones,7 the first of which took place on 2 December (by exception on a Wednesday) in commemoration of Emperor Leopold I (who had died earlier that year after reigning from 1658). On this occasion Buxtehude’s Castrum Doloris BuxWV 134 was performed, of which only the text booklet survives. The second exceptional Abendmusik was held on Thursday 3 December to mark the inauguration of the new Emperor Joseph I (who reigned from 1705–1711). It included a performance of Buxtehude’s Templum Honoris BuxWV 135, likewise only known today from the text booklet. If Bach took part in all these Abendmusiken he had more than enough work on his hands. Much has been written concerning Bach’s journey to Lübeck, and fact and fiction are often blurred. According to the well-known obituary, Bach wished to hear the celebrated organist Buxtehude play, and he walked to Lübeck and stayed there for some three months.8 He was subsequently reproached Traditionally the Abendmusik was never held on the First Sunday in Advent (29 November in 1705). 7 See Georg Karstädt, Die ‘extraordinairen’ Abendmusiken Dietrich Buxtehudes. Untersuchungen zur Aufführungspraxis in der Marienkriche zu Lübeck (Lübeck, 1962). 8 Obituary of Johann Sebastian Bach, written by Carl Philipp Emanuel Bach and Johann­ Friedrich Agricola, published in Mizlers Musikalische Bibliothek in 1754; see Bach-Dokumente III, Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1750–1800, ed. Hans-­ Joachim Schulze (Kassel, 1972), no. 666, p. 82. 6

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by the Arnstadt church council, for instead of the agreed four weeks he had stayed away “about four times as long”. And that was not all, for since his visit to Lübeck the congregational singing had suffered from his “many strange harmonies”.9 And then there was the matter of the ‘marriage terms’, the North German custom, on accepting a post as organist, of marrying an unattached daughter of one’s predecessor. But Bach did not go to Lübeck to apply for a job; what is more, in 1705 he was in all likelihood already engaged to Maria Barbara.10 Christoph Wolff rightly says that Bach did not visit Lübeck to be taught by Buxtehude but to take part in his Abendmusiken.11 He therefore arrived not as a pupil but as a young colleague. And if he had permission to be absent for only four weeks, why, as an organist with a paid position, would he travel by foot? It makes for a nice story, but is it not time to condemn it once and for all to the realm of fiction? Precisely when Bach embarked on his journey remains unknown. W ­ olfgang Sandberger quotes Spitta’s Bach biography: “Spitta already considered this four-month journey, which Bach set out on in October 1705, as the central biographical hiatus in the development of the young Bach”.12 In his wonderful book on Bach, Christoph Wolff writes: “Apparently he was granted leave ‘for only four weeks’ as from mid- or late November […] Still more important,

See Bach-Dokumente II, Fremdschriftliche und gedruckte Dokumente zur Lebensgeschichte Johann Sebastian Bachs 1685–1750, ed. Werner Neumann / Hans-Joachim Schulze (Kassel, 1969), no. 16. Bach had little sympathy with the church council’s complaints, as his declaration reveals: “He has been to Lübeck in order to comprehend one thing and another about his art” [“Er sey zu Lübeck geweßen umb daselbst ein und anderes in seiner Kunst zu be­ greiffen”], had he not arranged for a deputy organist? Among other matters, the church council also reproached him for “having hitherto made many curious variationes in the chorale, and mingled many strange tones in it, and for the fact that the congregation has been confused by it.” [“daß er bißher in dem Choral viele wunderliche variationes gemachet, viele frembde Thone mit eingemischet, daß die Gemeinde drüber confundiret worden.”]. 10 See Wolff, Johann Sebastian Bach (see note 3), p. 88: in October 1704 Maria Barbara became an orphan and went to live in Arnstadt in one of the two houses owned by her uncle Bürger­ meister Feldhaus, where Bach probably already lived. See Bach-Dokumente II (see note 9), no. 26, where we read that Bach paid board and lodging for the year 1706–1707. 11 Chistoph Wolff, ‘Probleme und Neuansätze der Bach-Biographik’ in R. Brinkmann (ed.), Bachforschung und Bachinterpretation heute: Wissenschaftler und Praktiker im Dialog. Bericht über das Bachfest-Symposium 1978 der Philipps-Universität Marburg (Leipzig, 1981), p. 27. 12 Wolfgang Sandberger, ‘Bachs Reise nach Lübeck — zwischen Mythos und Wirklichkeit’ in: Wolfgang Sandberger (ed.), Bach, Lübeck und die norddeutsche Musiktradition. Bericht über das Internationale Symposion der Musikhochschule Lübeck April 2000 (Kassel, 2002), p. 44: “Bereits Spitta wertete diese viermonatliche Reise, die Bach wohl im Oktober 1705 antrat, als die zentrale biographische Zäsur in der Entwicklung des jungen Bach.” 9

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­ owever, appears to be the fact that Bach desired his sojourn in Lübeck ‘to comh prehend one thing and another about his art’”.13 Some 400 kilometres lie between Arnstadt and Lübeck. Both Sandberger and Wolff estimate that it would have taken the twenty-year-old Bach about ten days to walk them.14 But if Bach knew he had only four weeks’ leave of a­ bsence, would he have spent twenty of those days on the road? That would have left no more than ten days to take part as organist in the Lübeck Abendmusiken. I find that rather difficult to believe for somebody with a well-paid job. Bach arrived back at Arnstadt before 7 February 1706, on which Sunday he participated in the communion service there.15 If it is true that he had been away for sixteen weeks, he must have left in the first half of October. If we assume that he travelled by stagecoach (several days in each direction?) he would have arrived in Lübeck well in time to play in the seven Abendmusiken and take part in the rehearsals. And surely he would have demonstrated his virtuosity at the organ. Furthermore he had time to study Buxtehude’s music. And perhaps even to visit Hamburg? Although it may never be proved, it could be worthwhile to check the following hypothesis: could it be that Bach stayed away so long because he travelled from Lübeck to Hamburg? To attend the opera or visit his exact contemporary Handel? Bach’s obituary tells us that, while at work in Arnstadt, he was greatly interested in listening to as many good organists as possible. On that point Hamburg had much to offer: not only (possibly) Handel and the music theorist Johann Mattheson, but of course opera, concerts, church music etc. Handel came to Hamburg in 1703. There he met Johann Mattheson, and together they journeyed to Lübeck in August 1703 to meet Buxtehude, to behold — whether seriously or not — the marriage terms in the person of Buxtehude’s daughter,16 and to try out the Lübeck organs. Mattheson describes this journey in his Grundlage einer Ehren-Pforte,17 clearly mentioning, incidentally, Wolff, Johann Sebastian Bach (see note 3), p. 96. Sandberger, ‘Bachs Reise nach Lübeck’ (see note 12), p. 45: “A distance of thirty kilometres would have been a good daily average. Even if the young Bach did parts of the journey by stagecoach, the almost 400 kilometres would have taken him a good ten days” [“Dreißig zurückgelegte Kilometer galten als guter Tagesdurchschnitt. Auch wenn der junge Bach einige Abschnitte zwischen Arnstadt und Lübeck mit der ‘Ordinari-Post’ zurückgelegt haben mag, dürfte er für die knapp 400 Kilometer gut zehn Tage gebraucht haben”]. 15 Bach-Dokumente II (see note 9), no. 15. 16 Anna Margreta Buxtehude was ten years older than Handel. 17 Johann Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte, woran der tüchtigsten Capellmeister, Componisten, Musikgelehrten, Tonkünstler etc. Leben, Wercke, Verdienste &c. erscheinen sollen, Hamburg, 1740 (facsimile, Kassel: Bärenreiter, 1969), p. 94. 13 14

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that Handel and he travelled to Lübeck by wagon (why then should Bach have come by foot from Arnstadt over a far greater distance?). Mattheson and Handel returned without success, for neither wished to succeed Buxtehude. Handel became second violinist and later harpsichordist in the orchestra of the ­Gänsemarkt Opera, where Mattheson had sung since his teens and now occasionally conducted. The celebrated duel between Handel and Mattheson took place on 5 December 1704: during a performance Mattheson was so enraged by Handel’s macho behaviour that he very nearly killed him,18 but they made up for it later. On 8 January 1705 Handel’s first opera Almira (HWV 1) was premiered, with Mattheson as one of the soloists.19 It was  a great success and the work was repeated many times.20 Some weeks later, on 25 February, the premiere of his second opera Nero (HWV 2) took place, now with Mattheson in the main role.21 It is recorded that it did not equal the success of Almira, and that it disappeared from the stage after a few performances. But was that really the case? And if so, was it due to its lack of success? According to John Roberts, very few performances of Nero were actually possible owing to the beginning of Lent. (In 1705 Easter Day was on 12 April, Lent began on 1 March and the opera closed on the preceding Friday, 27 February.)22 We do not know whether Nero was revived after Easter, but we do know that on 5 August 1705 the premiere of Octavia by Reinhard Keiser took place, the artistic director of the Gänsemarkt Opera. So what was on at the Hamburg opera between Easter and August? Mattheson was both soloist and conductor in his own opera Cleopatra. When he went to sit down at the harpsichord again after his final aria he was obstructed by Handel. A duel followed outside on the marketplace, with almost fatal consequences. According to M ­ attheson’s report of the incident, Handel escaped unharmed thanks to  a large metal button on his ­costume; see Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte (see note 17), p. 95. 19 It is remarkable that Mattheson dates Almira in 1704 rather than 1705. See: Der Musica­lische Patriot, Hamburg 1728 (facsimile, Leipzig, 1975), p. 186. 20 John Mainwaring, Memoirs of the Life of the late George Frederic Handel (London, 1760), p. 37 on Almira: “The success of it was so great, that it ran for thirty nights without interruption.” Mainwaring doubtlessly exaggerates. 21 Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte (see note 17), p. 95: “Nero followed on 25 February. I was then pleased to say farewell to the theatre, having played the leading role to general acclaim in the two beautiful operas last mentioned, and having fulfilled this task for a total of 15 years — perhaps already a little too long.” [“Den 25. Februar folgte der Nero. Da nahm ich mit Vergnügen Abschied vom Theatro, nachdem ich, in den beiden letztgenannten schönen Opern, die Hauptperson, unter allgemeinem Beifall, vorgestellet, und dergleichen Arbeit gantzer 15. Jahr, vieleicht schon ein wenig zu lange, getrieben hatte …”]. 22 See John Roberts, ‘What Handel Heard: Borrowings from Three German ­Contemporaries’ in: Carsten Lange / Brit Reipsch (ed.), Telemann und Händel: Musikerbeziehungen im 18. Jahrhundert, Bericht über die Internationale Wissenschaftliche Konferenz, Magdeburg, 12. bis 14. März 2008, Telemann-Konferenzberichte XVII (Hildesheim, 2013), p. 163–191. 18

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We do not know. By the way, Handel heard Keiser’s Octavia, and we know he took a score of it with him to Italy.23 When did Handel leave for Italy? Did he go directly from Hamburg or did he break his journey in his native Halle? We do not know when Handel left the Hamburg opera. Mattheson writes: “Meanwhile Handel remained another four to five years with the Hamburg opera, and also had very many pupils.”24 This would imply that Handel stayed on in Hamburg until 1709 or 1710, while we know that he was in Italy at the end of 1706. Relying on his memory to compile his Ehrenpforte, Mattheson was mistaken here (and the biography he requested from Handel was never received). Handel’s departure for Italy remains shrouded in mystery. Here is an impression from the wide range of literature on the subject: – F. Chrysander, G. F. Händel (Leipzig, 1919), vol. I, p.  135: “From Easter 1705 Handel was entirely occupied with his numerous pupils.” [“Händel wurde seit Ostern 1705 bloß von seinen zahlreichen Schülern in Anspruch genommen.”] – O. E. Deutsch, Handel, A Documentary Biography (New York, 1954), p. 16: “After the failure of Nero, Handel retires from the opera house and lives by giving music lessons (1705–06). It is uncertain when Handel left for Italy, but it was probably not until 1706.” – W. Siegmund-Schultze (ed.), Georg Friedrich Händel, Beiträge zu seiner ­Biographie aus dem 18. Jahrhundert (Leipzig, 1977), p. 37 note 7 on Mattheson’s claim that Handel stayed on at the Hamburg opera for four to five years after Nero: “With these numbers, Mattheson, who should have known better, caused much mischief concerning Handel’s biographical data; Handel remained in Hamburg for another two years at the most (until the end of 1706 or the beginning of 1707).” [“Mit diesen Zahlen hat Mattheson, der es an sich besser wissen mußte, hinsichtlich der Händelschen Lebensdaten viel Unheil angestiftet; Händel blieb nur noch höchstens zwei Jahre (bis Ende 1706 oder Anfang 1707) in Hamburg.”] – S. Flesch, Georg Friedrich Händel: Lebens- und Schaffensdaten, in: Händel-Handbuch (Leipzig, 1978), vol. I, p. 15: “1706–1710. Handel’s Italian sojourn: from about autumn 1706 to spring 1710” [“1706–1710. Italien-­ Aufenthalt Händels: etwa von Herbst 1706 bis Frühjahr 1710”] See Händel und Hamburg. Ausstellung anlässlich des 300. Geburtstages von Georg Friedrich Händel, Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Carl von Ossietzky 15.  Mai bis 29. Juni 1985, publ. Hans Joachim Marx (Hamburg, 1985), p. 54. 24 Mattheson, Grundlage einer Ehren-Pforte (see note 17), p. 95. 23

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– C. Hogwood, Handel (London, 1984), p.  31: “Until recently, H ­ andel’s itinerary in Italy has been obscure”; p.  32: “His first stop is undocu­ mented, but there seems every likelihood that in the autumn of 1706 he travelled to ­Florence …”; p. 32: “His arrival in Rome can be dated from an ­entry in the diary of Valesio for 14 January 1707: ‘A German [‘Sassone’] has arrived in this city who is an excellent player of the harpsichord and composer”. – Time scale on Handel in the period 1703–1706 in: Händel und Hamburg. Ausstellung anlässlich des 300. Geburtstages von Georg Friedrich Händel (1985, see note 23), p. 54: “June 1706 at the latest: Handel travels (possibly via Halle) to Florence …” [“spätestens Juni 1706: Händel reist (möglicher­ weise über Halle) nach Florenz …”] – W. Dean, Handel’s Operas 1704–1726 (Oxford, 1987), p. 79: “autumn 1706 (to end of year?): Florence” – ‘Preliminary notes’ in: Händel-Jahrbuch 46 (Kassel, 2000), p. 7: “… when the then twenty-one-year-old Handel set off for the South in autumn 1706.” [“… als der damals 21-jährige Händel im Herbst des Jahres 1706 in den Süden aufbrach.”] – U. Kirkendale, ‘Handel with Ruspoli. New Documents from the Archivio Segreto Vaticano, December 1706 to December 1708’ in Studi Musicali XXXII (2003) p. 301–348, p. 302: “… Handel’s sojourn in Rome […] from the beginning — early December 1706 …”; p. 303: “The arrival of Handel in Rome can be safely established before 1707” – G. Poppe, ‘Beobachtungen zum Laudate Pueri F-Dur HWV 236 vor dem Hintergrund der Gattungsgeschichte und von Händels Hamburger Situation’ in: Händel-Jahrbuch 51 (Kassel, 2005) p.  131–152, p.  152: “why we have no information at all on Handel’s activities and whereabouts between mid-1705 and the end of 1706: the young composer had enough to do to digest two years’ intensive experience and to prepare himself in various respects — financial, linguistic — for the journey to Italy.” [“… warum wir von Händels Aktivitäten und Aufenthaltsort zwischen Mitte 1705 und Ende 1706 keinerlei Informationen besitzen: Der junge Komponist hatte genug zu tun, um die innerhalb von zwei Jahren gewonnenen intensiven Erfahrungen zu verarbeiten und sich in verschiedener Hinsicht — finanziell, sprachlich —  auf die Reise nach Italien vorzubereiten.”] – D. Schröder, Georg Friedrich Händel (Munich, 2008), p. 33: “Handel appears to have left Hamburg in the spring of 1706, and therefore could have been beyond the Brenner by July or August” [“Händel scheint Hamburg im Frühjahr 1706 verlassen zu haben, könnte also im Juli oder August schon jenseits des Brenners unterwegs gewesen sein”] © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525278345 — ISBN E-Book: 9783647278346

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– R. S. Pegah, ‘Anno 1707. Neue Forschungsergebnisse zur Tätigkeit von G. F. Händel in Rom und Florenz’ in: Die Musikforschung vol. 62, no. 1 (Kassel, 2009), p. 2–13, p. 2: “Thus the following chronology of Handel’s whereabouts emerges: 1706/07 Florence/Rome …” [“So ergibt sich folgende Chronologie von Händels Reise-Stationen: 1706/07 Florenz/Rom …”] – J. Riepe, Händel vor dem Fernrohr. Die Italienreise (Beeskow, 2013), p. 20: “The young Handel must have departed on his Italian journey, which ­probably lasted some four years, by 1706 at the latest.” [“Der junge Händel muß zu seiner Italienreise, die vermutlich etwa vier Jahre dauerte, spätestens 1706 aufgebrochen sein.”] – H. Geyer, ‘Überlegungen zum frühen italienischen Kantatenschaffen’ in: G. F. Händel. Aufbruch nach Italien / In viaggio verso l’Italia. Ed. H. Geyer, B. J. Wertenson (Rome, 2013), p.  89: “We do not know for certain when Handel actually left Germany for Italy. Was it really already in 1705, as suggested by a hypothesis which has become stronger in the course of the last two decades […] ?” [“Wir wissen nicht mit Bestimmtheit, wann Händel tatsächlich Deutschland Richtung Italien verließ. War es wirklich schon 1705, wie eine sich im Verlauf der letzten beiden Jahrzehnte verfestigte These nahelegt (…) ?”] – H. J. Marx, Händel und seine Zeitgenossen. Eine biographische Enzy­ klopädie (Laaber, 2008), vol. I, p. 566: “Handel had already left Hamburg in autumn 1705”; p. 491: “Handel stayed in Italy from the end of 1706 at the latest.” [“Händel hatte Hamburg schon im Herbst 1705 verlassen”. P. 491: “Händel hielt sich spätestens seit Ende 1706 in Italien auf.”] In a personal email (10 April 2014) Hans Joachim Marx writes: “the question when Handel went to Italy […] cannot be answered from available documents. We only know that in autumn 1706 he was already in Rome. I assume that between mid-august 1705 and perhaps September 1706 he was in Halle for a while.” [“die Frage, wann Händel nach Italien gegangen ist […], läßt sich von den Dokumenten her nicht beantworten. Wir wissen nur, daß er im Herbst 1706 bereits in Rom war. Ich nehme an, daß er sich zwischen Mitte August 1705 und vielleicht September 1706 zeitweise in Halle aufgehalten hat.”] – W. Stadnitschenko, Zachows Kantaten. Quellen, Stil, Kontext (Frankfurt, 2015), p. 254: “Handel left Hamburg secretly and without saying farewell” [“Händel verließ Hamburg geheim und ohne Verabschiedung”] It seems more than likely that somebody not in a hurry, like Handel, would choose to travel at a comfortable time of year, so the spring or summer of 1706 was surely more attractive than the winter. Precisely where Handel abided around New Year 1706 remains uncertain, but as far as we know at present, © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525278345 — ISBN E-Book: 9783647278346

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he was in all probability still in Germany, either in Hamburg or Halle. And if he was mainly occupied with teaching, as Mattheson records, then Hamburg is more likely, since there would have been more potential pupils than in Halle and therefore better financial prospects. Why was Bach, after having all the time he needed to “behorchen” (eavesdrop) on Buxtehude, not back in Arnstadt in time for Christmas 1705? An organist who does not play at Christmas hardly makes himself popular, to put it mildly, and that went for Bach too, as he realised on his return. Nonetheless he did not seem particularly worried about the church council’s annoyance. Had he already decided to leave Arnstadt? For Bach, the organist, harpsichordist, composer and concert organiser Buxte­ hude was a fascinating musical personality. The fact that the earliest known manuscript in the hand of the young Bach is a copy of Buxtehude’s Nun freut euch, lieben Christen g’mein (BuxWV 210), notated by the twelve- or thirteenyear-old boy in tablature, is of no little significance. What other music by Buxtehude did Bach know as a student? Which pieces did he play? Did his teacher Georg Böhm of Lüneburg possess vocal works by Buxtehude, and did he perform them? We can only guess. But one thing seems certain to me, and that is that when Buxtehude invited Bach (or had him invited) to come to Lübeck for the 1705 Abendmusiken, he was keen not to miss the opportunity. What did Bach learn from Buxtehude? The stylus fantasticus.25 I believe the best example is the opening (including the pedal solo) of his Toccata, Adagio and Fugue in C major BWV 564 and the celebrated Toccata in D minor BWV 565. I am aware that some have removed the latter from Bach’s oeuvre: ‘it cannot possibly be by J. S. Bach’ is one of the arguments. But who else could have written it? The sources are late (e.g. Mus.ms. Bach P 595, copy by Johannes Ringk). Schmieder writes that the dating is “uncertain” and quotes: “From the early Weimar years (Spitta), from the Arnstadt and Mühlhausen period 1706–1708 (H. Keller), in Weimar (H. Klotz), Arnstadt ca. 1704 (Stauffer)”.26 Peter Williams dates it ca. 1705.27 I would argue for 1706, directly after Bach’s return from Lübeck, and strongly influenced by the stylus fantasticus of Die­ te­rich Buxtehude. The Toccata in E major (or C major) BWV 566 is also inspired by Buxtehude. In this case we have a copy by Krebs (dated after 1714 by ­Zietz); Schmieder remarks that the dating is uncertain and goes on to quote The present author is preparing a study of Buxtehude’s performance practice, which will include an extensive discussion of the stylus fantasticus. 26 Wolfgang Schmieder, Thematisch-systematisches Verzeichnis der musikalischen Werke von Johann Sebastian Bach: Bach-Werke-Verzeichnis (Wiesbaden, 1990), p. 530. 27 Peter Williams, The Organ Music of J. S. Bach (Cambridge, 1980), vol. I, p. 215. 25

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Spitta, Keller, Klotz and Stauffer, all of whom refer to the period 1706–1708.28 The cantata Gott ist mein König BWV 71, written for the inauguration of the ­Mühlhausen town council, is, with its polychoral plan, another work that bears witness to what Bach had experienced in Lübeck, where Buxtehude employed several galleries of the Marienkirche for his performances. In his discussion of the music of Bach’s Arnstadt period, it is notable that Christoph Wolff is inclined to include among it the Passacaglia in C minor BWV 582, in which, in addition to the influence of Buxtehude, he perceives another homage in the fugue “à la Reincken”.29 Wolfgang Sandberger, furthermore, counts among Bach’s Lübeck-influenced works the cantatas Christ lag in Todesbanden BWV 4, Actus Tragicus BWV 106, Nach dir, Herr, verlanget mich BWV 150 and Der Herr denket an uns BWV 196.30 The complaints made to Bach about his congregational accompaniment in Arnstadt are well known. The pieces known as the ‘Arnstadt chorale preludes’ are often mentioned in this context, though they are quite clearly not intended as accompaniments but as introductions (similar to In dulci jubilo BWV 729). These rather unfamiliar Bach pieces reveal considerable influence of the stylus fantasticus. They are little gems among his organ music, especially when performed in the style of Buxtehude. What did Bach do after the Abendmusiken, after 20 December 1705? Did he stay in Lübeck, or did he go to the most famous city in the vicinity: Hamburg, to “behorchen” (eavesdrop) on other musicians? It is quite likely that he wished to attend the opera, but this was not always possible. We know that the Hamburg opera was often forced to close.31 Handel’s Almira was premiered there on 8 January 1705. So it would seem possible that its doors also opened in January 1706 and that Bach was able to attend. Perhaps he had to wait, and this was the main reason why he was so late in getting back to Arnstadt? Why does Bach’s obituary tell us nothing about a possible encounter with Handel? Did C. P. E. Bach omit it on purpose in order to promote a certain im 30 31 28 29

Schmieder, Bach-Werke-Verzeichnis (see note 26), p. 530. Wolff, Johann Sebastian Bach (see note 3), p. 97–98. Sandberger, ‘Bachs Reise nach Lübeck’ (see note 12), p. 54. See for example John H. Roberts, ‘Keiser and Handel at the Hamburg Opera’ in Händel-­ Jahrbuch 36 (Leipzig, 1990), p. 63–90, p. 63: “On 28 August 1703 the Theater am Gänse­ markt in Hamburg reopened after a long summer recess”, p. 65: “According to Mattheson, performances were suspended early in the year [1704], ‘for certain reasons’”. “By July the theater had reopened, but in August Mattheson again departed ‘because opera was forbidden’”. And Marx, Händel und seine Zeitgenossen (see note 2), vol. 2, p. 612: “After the temporary collapse of the opera enterprise at Easter 1707 […]” [“Nach dem vorläufigen Zusammenbruch des Opernunternehmens zu Ostern 1707 …]”.

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age of his father? To suggest that the celebrated Handel did not think the g­ enius Bach was interesting enough to pay him a visit? Was it unknown, and unimportant, for Mainwaring and Mattheson?32 As we know, the latter’s account of Handel in his Ehrenpforte had to rely primarily on Mainwaring’s ­Handel ­biography and his own memory.33 Could it be that for us it was nothing less than a most memorable encounter? Let us not forget that we are also told nothing about Handel’s meeting with Reinhard Keiser. It is at the very least conceivable that the two later world-famous musicians met in the winter of 1705/06. Further research could go to support this: may this article offer a first impulse. My sincere thanks are due to all who took time to answer my enquiries, and particularly to John Roberts, Hans Joachim Marx, Helen Geyer and Reinhard Strohm. Speaking personally, I believe an encounter between George Frideric Handel and Johann Sebastian Bach is more likely to have taken place than the playing contest between Bach and Louis Marchand — once planned but never effectuated. (translated by Stephen Taylor)

Mattheson, incidentally, was the first to mention J. S. Bach in  a publication: in Das Be­ schützte Orchestre, oder desselben Zweyte Eröffnung […] Hamburg 1717. See Bach-Dokumente II (see note 9), no. 83. 33 Mainwaring has too often been criticised. Much of what we know about Handel comes from him alone, and his information was gleaned only at second or third hand (as John Roberts informed me in a personal conversation). In the eighteenth century too it was not uncommon for musicians and artists to spread around rosy but not always entirely accurate stories about themselves. Did Mainwaring receive expressly coloured information? 32

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Internationale Bibliografie der Händel-Literatur 2014/2015 Zusammengestellt von Hans Joachim Marx (Hamburg) Die folgende bibliografische Zusammenstellung enthält die wissenschaftlichen Veröffentlichungen zu Leben, Werk und Wirkung Georg Friedrich Händels aus den Jahren 2014/2015. Außerdem sind einige Titel aus den Jahren zuvor nachgetragen, die in der Händel-Literatur bisher nicht beachtet worden sind. Von der Erwähnung allgemein gehaltener biografischer Publikationen wurde ebenso abgesehen wie von Werkeinführungen in Konzertprogrammen, zu CD-Einspielungen u. ä. Zu den neuesten Aufnahmen von Werken Händels siehe im Internet http://www.gfhandel.org/, eine Diskografie, die in Verbindung mit dem Handel Institute London erstellt wird. Die vorliegende Bibliografie schließt an diejenige in Band XVI unmittelbar an. Eine vollständige Zusammenfassung der Händel-Literatur aus den Jahren 1959 bis 2009 von Hans Joachim Marx ist als selbständige Publikation 2009 bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschienen. Die nachstehend aufgeführten Sammelpublikationen sind mit folgenden Kurztiteln zitiert: Göttinger Händel-Beiträge 16 (2015) Göttinger Händel-Beiträge. Begründet von Hans Joachim Marx und im Auftrag der Göttinger Händel-Gesellschaft herausgegeben von Laurenz Lütteken und Wolfgang Sandberger, Bd. XVI, Redaktionelle Mitarbeit Ulrike Thiele, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. Händel-Jahrbuch 61 (2015) Händel-Jahrbuch. Hrsg. von der Georg-Friedrich-Händel-Gesellschaft e. V. Internationale Vereinigung, Sitz Halle (Saale) in Verbindung mit der Stiftung Händel-Haus, Sitz Halle (Saale), 61. Jahrgang, Kassel usw.: Bärenreiter 2015. Höink / Sandmeier (Hrsg.), Aufführungen von Händels Oratorien im deutschsprachigen Raum (1800–1900) (2014). Dominik Höink / Rebekka Sandmeier (Hrsg.), Aufführungen von Händels Oratorien im deutschsprachigen Raum (1800–1900): Bibliographie der Berichterstattung in ausgewählten Musikzeitschriften, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht unipress 2014 (Chronologisches Verzeichnis der Aufführungen: 87–574).

Biografisches, Historisches, Quellenstudien Babington, Amanda / Chrissochoidis, Ilias, Musical References in the Jennens-Holdsworth Correspondence (1729–46), in: Royal Musical Association Research Chronicle 45 (2014), 76–129. Baker, Malcolm, Handel and the animated statue, in: Ders., The Marble Index. Roubiliac and Sculptural Portraiture in Eighteenth century Britain, New Haven / London 2014, 249–261. Bäzner, Hansjörg, Georg Friedrich Händel:  a case of large vessel disease with complications in the eigteenth century, in: Progress in Brain Research (Elsevier B. V.), vol. 216 (2015), 305–316. Baldwin, Olive / Wilson, Thelma, Another Handelian bass singer and organist, in: The Handel Institute London – Newsletter 24,2 (2013), [3]. Beeks, Graydon, What’s in  a name?, in: Newsletter of the American Handel society vol. XXVIII,3 (Winter 2013), 1–3. Belissa, Marc, Haendel en son temps, Paris: Ellipses 2011.

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Opern und Kantaten Burden, Miochael, When Giulio Cesare was not Handel’s Giulio Cesare; the opera on the London stage in 1787, in: Musicorum 14 (2013), 109–122. Carter, Tim, Nicola Francesco Haym and George Frideric Handel: ‘Giulio Cesare in Egitto’ (London, 1724), in: Ders., Understanding Italian Opera, Oxford: Oxford University Press 2015, 68–107. Freeman, Gary, ‘Almira’: Handel’s Fountain of Youth?, in: Early Music America 19 (2013), 31–35. Jacobshagen, Arnold, Verstellte Helden. Zur musikdramaturgischen Rollenkonzeption in Händels „Deidamia“, in: S.  Döring / St. Rauch (Hrsg.), Musiktheater im Fokus. Gedenkschrift für Gudrun und Heinz Becker, Sinzig: studio-Verlag 2014, 171–190. Kreisig, Philip, Hochzeitsopern zwischen Staatsakt und Konkurrenzsituation: Händels „Atalanta“ und Porporas „La festa d’Imeneo“ von 1736 für den Prince of Wales und Kurprinzen von Hannover, in: Händel-Jahrbuch 61 (2015), 203–226. Timms, Colin, Archive Notes on Singers in Handel’s ‘Agrippina’, in: The Handel Institute London – Newsletter, 22,1 (2011), [6–9]. Wissmann, Friederike, Ein ungleiches Liebespaar aus unterschiedlichen Perspektiven: R ­ inaldo und Armida bei Giambattista Pittoni und Georg Friedrich Händel, in: Th. Hochradner (Hrsg.), Zur Ästhetik des Vorläufigen, Heidelberg: Winter 2014, 47–58.

Oratorien, Kirchenmusik und andere Vokalwerke Beeks, Graydon, Non-Handelian Changes to the ‘Cannons’ Te Deum, HWV 281, in: HändelJahrbuch 61 (2015), 283–291. Burrows, Donald, Handel: Messiah (Cambridge 1991), Cambridge University Press 2012 (online-Version). Churgin, Bathia, Beethoven’s Handel and the Messiah copies, in: The Beethoven Journal 29 (2014), 5–13. Drauschke, Hansjörg, Vocal Chamber Music in Hamburg: Keiser, Mattheson and Handel, in: The Handel Institute London – Newsletter 25,2 (2014), [1–4]. Farson, Helen Annette, ‘Winning the Cause’ – Handel’s Reply to Dryden’s Arguments in ‘Alexander’s Feast’ and ‘A Song for St. Cecilia’s Day’, Ph. D. diss. University of California, Santa Barbara 2013 (published by ProQuest Dissertation Express: 3559786). Lee, Jonathan, Virtue Rewarded: Handel’s Oratorios and the culture of Sentiment, Ph. D. diss. University of California, Berkeley 2013 (published by ProQuest Dissertation Express: 3616373). Paduch, Arno, ‘The King shall rejoice’ – Musik zur Krönung Georgs I., in: Händel-Jahrbuch 61 (2015), 167–172. Rilling, Helmuth, Messiah. Understanding and Performing Handel’s Masterpiece, in collaboration with Kathy Saltzman Romey, Stuttgart: Carus 2015. Roberts, John H., Steffani Duets and Handel Sources, in: Händel-Jahrbuch 61 (2015), 259–282. Shryock, Andrew, Handel and the sublime: Crafting librettos, composing oratorios, and transfixing audiences in eighteenth-century England, Ph. D. diss. Boston University 2012. Tarling, Judy, Handel’s ‘Messiah’: a Rhetorical Guide, St. Albans, Herts (GB): Corda Music Publications 2014. Taylor, Benedict, The Triumph of Time in the Eighteenth Century: Handel’s ‘Il Trionfo del Tempo’ and his Historical Conceptions of Musical Temporality, in: Eighteenth-Century­ Music 11 (2014), 257–281.

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Voss, Steffen, „Frömmigkeit, Weisheit und Herrlichkeit“. Salomonisches aus dem Jahre 1759 bei Händel und Telemann, in: Ders., Studien zur Kirchenmusik und weltlichen Vokalmusik im Hamburg der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, phil. Diss. Universität Utrecht 2014, 219–230. Zazzo, Lawrence, ‘J’aurai des maitresses’: George II and Language in the 1730s Bilingual Revivals of ‘Esther’, in: Händel-Jahrbuch 61 (2015), 227–240.

Instrumentalwerke Ebrecht, Jörg, Händels Klaviermusik. Strukturen – Kontexte – Didaktik, phil. Diss., Hochschule für Musik und Tanz, Köln 2014 (mschr.). Irving, David R. M., Handel and the Violin, in: Early Music Performer 32 (2013), 4–12. Rampe, Siegbert (Hrsg.), Handel. Water Music. Music for the Royal Fireworks HWV 348–351. Eingerichtet für Cembalo oder Orgel von Francesco Geminiani (1743) & Anonymous (ca. 1749), Kassel usw. 2015.

Kompositions- und Aufführungsgeschichte Beacco, Enzo, Offerta musicale. La musica dalle origini ai giorni nostri. Milano: Il saggiatore 2013 (über „Rinaldo“ [156–160], „Musica sull’acqua“ [167–171], „Il Messia“ [214–220]). Degott, Pierre, Les enjeux de la traduction dans la réception de Haendel en Grande-Bretagne entre 1945 et 1970, in: Revue LISA e-journal 12 (2014). De Simone, Alison Clark, The Myth of the Diva: Female Opera Singers and Collaborative Performance in Early Eighteenth-Century London, Ph. D. diss. University of Michigan 2013. Grossert, Sarah, Aufführungsberichte in der Allgemeinen musikalischen Zeitung (1798–1848) als Praktiken der Kanonisierung, in: Höink / Sandmeier (Hrsg.), Aufführungen von Händels Oratorien im deutschsprachigen Raum (1800–1900), Göttingen 2014, 21–44. Höink, Dominik, Händel-Solisten: Repertoire und Reisen  – Betrachtungen an ausgewählten Beispielen, in: Höink / Sandmeier (Hrsg.), Aufführungen von Händels Oratorien im deutschsprachigen Raum (1800–1900), Göttingen 2014, 65–86. Holman, Peter, Handel’s Lutenist, the Mandolino in England, and John Francis Weber, in: Händel-Jahrbuch 61 (2015), 241–257. Irvine, Thomas, Handel at the Queen’s Hall Promenade Concerts, 1895–1914, in: Göttinger Händel-Beiträge 16 (2015), 55–75. Jacobs, René, Herrliche Libretti, in der Sprache Shakespeares. Über Händels Opern und Oratorien, in: René Jacobs im Gespräch mit Silke Leopold, Ich will Musik neu erzählen, Kassel usw.: Bärenreiter 2013. Neubacher, Jürgen, Der Bach-Kopist Heinrich Georg Michael Damköhler und seine Rolle im Hamburger Musikleben der 1770er und 1780er Jahre. Mit neuen Quellen zur Händel-­ Rezeption in Hamburg, in: Bach-Jahrbuch 100 (2014), 97–130. Rätzer, Manfred, Szenische und konzertante Aufführungen von Händel-Opern sowie szenische Aufführungen von Händel-Oratorien und Händel-Kantaten im Jahr 2014, in: Händel-Jahrbuch 61 (2015), 533–547. Reames, Cory Scott, Handel’s ‘Acis and Galatea’: Mozart, Mendelssohn, and Performance Practices of the Eighteenth and Nineteenth Centuries, Ph. D. diss. University of Kansas (2014). Roberts, John H., ‘Blooms of Youth’: A Solomonic Addendum, in: Händel-Jahrbuch 61 (2015), 413–424. Sandmeier, Rebekka, Bearbeitungen von Händels Oratorien im 19. Jahrhundert: Zusammenhänge zwischen Ausgaben und Aufführungen, in: Höink / Sandmeier (Hrsg.), Aufführun­gen von Händels Oratorien im deutschsprachigen Raum (1800–1900), Göttingen 2014, 45–64.

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Stanley, Glenn, Mendelssohn’s ‘Authentic’ Handel in Context: German Approaches to Translation in Art and Architectural Restoration in the Early Nineteenth Century, in: J. Thymm (Hrsg.), Mendelssohn, the Organ and the Music of the Past. Constructing Historical­ Legacies, Rochster, NY: Univ. of Rochester Press 2014, 264–286. Voss, Steffen, Händels Borrowings aus Johann Matthesons Oper „Porsenna“ (1702), in: Ders., Studien zur Kirchenmusik und weltlichen Vokalmusik im Hamburg der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, phil. Diss. Universität Utrecht 2014, 175–190 (mschr.). Zaunmair, Christiane, Szenische Umsetzung von Händel-Oratorien auf der Opern-Bühne. Bühneninterpretationen einer nicht-szenischen Gattung und deren Erfolg in Österreich, Dipl.-Arb. Universität Wien 2011.

Rezeptions- und Wirkungsgeschichte Drüner, Ulrich / Günther, Georg, Musik und „Drittes Reich“. Fallbeispiele 1910 bis 1960 zu Herkunft, Höhepunkt und Nachwirkungen des Nationalsozialismus in der Musik, Wien 2012 [u. a. über die Bearbeitungen Händelscher Werke]. Gerlach, Katrin / Klingenberg, Lars / Riepe, Juliane / Spiegler, Susanne (Hrsg.), Zur Rezeption Georg Friedrich Händels in den deutschen Diktaturen. Quellen im Kontext (= Studien der Stiftung Händel-Haus 2), 2 Teilbände, Beeskow / Berlin: Ortus-Verlag 2014. Flamm, Christoph, Zwischen Schering und Heuß. Händel in der deutschen Musikgeschichtsschreibung des frühen 20. Jahrhunderts, in: Göttinger Händel-Beiträge 16 (2015), 43–54. Groote, Inge Mai, „niemand sonst konnte ein Volk singen lassen wie er“: Maurice Bouchors Händel und der französische Kontext, in: Göttinger Händel-Beiträge 16 (2015), 77–92. Harnisch, Ulrike / Schiemann, Pascal, Margret und Walter Eisen  – ein Lebensbild, in: Händel-Jahrbuch 61 (2015), 439–478 [über die „Herausgeber des Händel-Handbuchs“]. Henzel, Christoph, Händelfilme – made in GDR (Teil 2), in: Händel-Jahrbuch 61 (2015), 295–310. Hirsch, Lily E., Händel, Verdi, and National Pride, in: Diess., A Jewish Orchestra of Nazi­ Germany: musical politics and the Berlin Jewish Culture League, Ann Arbor: Univ. of Michigan 2010, 107–130. Hüls, Rudolf, Freiheitsbewusstsein durch Musik: Der „Arminio“ als zeremonielle Polit-Oper in Lucca, in: Händel-Jahrbuch 61 (2015), 479–510. Klingberg, Lars, Die Göttinger Händel-Gesellschaft während der NS-Zeit, in: Göttinger Händel-Beiträge 16 (2015), 107–141. Landgraf, Annette, Zum Gedächtnis der Helden – Umtextierungen von Händels Funeral Anthem für Queen Caroline im Hamburger Kontext, in: Händel-Jahrbuch 61 (2015), 325–340. Osthövener, Claus-Dieter, Der religiöse Händel: Händel in der Theologie um 1900, in: Göttinger Händel-Beiträge 16 (2015), 31–41. Richards, Annette, Vereint durch den erhabenen Chor: Das ästhetisch-politische Vermächtnis von Händels „Hallelujah“ im Zeitalter der Personalunion, in: Göttinger Händel-Beiträge 16 (2015), 7–30. Sandberger, Wolfgang, „Mehr Händel!“. Georg Friedrich Händel am Vorabend des Ersten Weltkriegs. Einführung zum Symposium der Händel-Festspiele 2014, in: Göttinger HändelBeiträge 16 (2015), 1–6. Thacker, Toby, The ‘Handel Renaissance’ in the German Democratic Republic: Why did the British take part?, in: Händel-Jahrbuch 61 (2015), 311–324. Wiesenfeldt, Christiane, Schiller trifft Händel im „Mythos Weimar“: Zu einem Sonderfall der Händel-Rezeption des frühen 20. Jahrhunderts, in: Göttinger Händel-Beiträge 16 (2015), 93–106.

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Mitteilungen der Göttinger Händel-Gesellschaft e. V. Bei der Mitgliederversammlung der Göttinger Händel-Gesellschaft e. V. am 22. Mai 2015 in der Aula der Universität Göttingen wurde Stefan Lipski, Inhaber des Tonträgerfachgeschäftes „Tonkost“ in seinem Amt bestätigt. André Schüller, Vorstand der Sparkasse Göttingen, wurde als neues Vorstandsmitglied gewählt. Bei der konstituierenden Vorstandssitzung am 16.  September 2015 wurde Prof. Dr. Wolfgang Sandberger als Vorsitzender wiedergewählt. Wolfgang Sandberger und Gerhard Scharner bilden den Geschäftsführenden Vorstand. Zum weiteren Vorstand gehören Fritz Güntzler, Sigrid Jacobi, Prof. Dr. Laurenz Lütteken, Barbara Mirow, Dr. Dagmar Schlapeit-Beck, Dr. Anne-Katrin Sors und Prof. Dr. Andreas Waczkat. Mit einer ausverkauften Vorstellung von Händels Agrippina und einem ausverkauften Regionalkonzert in Besenhausen endeten am 25. Mai die Internationalen Händel-Festspiele Göttingen 2015, die im Berichtsjahr unter dem Motto „Heldinnen!?“ rund 19.500 Besucher aus aller Welt nach Göttingen und in die Region lockten. Zwölf ereignisreiche Tage mit über einhundert Veranstaltungen hielten die Organisatoren des Festivals auf Trapp. Vor allem die Solisten und das FestspielOrchester Göttingen unter Laurence Cummings wurden bei der Oper Agrippina, dem Galakonzert und dem Oratorium Theodora in der vollen Stadthalle mit enthusiastischem Applaus belohnt. Ca. 12.000 Karten wurden verkauft. Eine Spitzenauslastung gab es bei der Oper mit 96 %. Auch die Regionalkonzerte waren mit 92 % Auslastung ein absoluter Erfolg. Ca. 50 Medienvertreter von Print, Rundfunk und TV aus dem In- und Ausland – darunter JournalistInnen aus Großbritannien, den USA , Australien und Tschechien – hatten sich akkreditiert. Neben vielen Dritten Programmen der ARD im Hörfunk, der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der Financial Times, Deutschlandradio/Deutschlandfunk berichteten auch Fachmagazine wie Classical Music, Early Music Today, Opera Now, Opera Magazine oder Opernwelt über die Festspiele. Erstmalig wurde auf ARTE Concert ein Livestream des Galakonzerts angeboten. NDR Kultur übertrug nicht nur die Premiere der Oper live im Hörfunk, sondern schnitt auch viele Konzerte mit und strahlte die Aufnahmen in unterschiedlichen Formaten aus. Im Oktober erschien die Oper Agrippina als CD beim Label ACCENT – nach Siroe und Fara­ mondo die dritte gemeinsame CD -Produktion der Internationalen HändelFestspiele Göttingen und ACCENT. Die CD kostet regulär 37 €, Mitglieder der Göttinger Händel-Gesellschaft e. V. können sie zum Preis von 25 € erwerben. © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525278345 — ISBN E-Book: 9783647278346

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Mitteilungen der Göttinger Händel-Gesellschaft e. V.

Als erstes Ensemble des EU-Stipendiatenprogramms „eeemerging“ waren die jungen Musiker von Voces Suaves im Ursulinenkloster in Duderstadt zu Gast. Am Montag, den 29. Juni 2015, gaben die Künstler im GDA Wohnstift um 16 Uhr ein Konzert für Patienten der Geronto-Station. Neben zwei Schulbesuchen in der IGS St. Ursula am 30.  Juni und 2.  Juli 2015 in Duderstadt stand für die diesjährigen Stipendiaten u. a. auch ein Workshop zum Thema GEMA , Steuern und Honorare auf dem achttägigen Arbeitsprogramm. Darüber hinaus traten sie beim hochkarätig besetzten Symposium der VolkswagenStiftung „Madonna in Kunst und Kultur“ am 3. Juli im Schloss Herrenhausen auf. Bei dieser Veranstaltung befassten sich Experten aus Kunstgeschichte, Theologie, Musik- und Literaturwissenschaft mit den vielseitigen Erscheinungsformen des Marienbildes. Anlass waren zwei Großveranstaltungen des Jahres 2015: die Internationalen Händel-Festspiele Göttingen, die eben unter dem Titel „Heldinnen?!“ standen, und die Ausstellung „Madonna. Frau  –­ Mutter – Kultfigur“, die das Landesmuseum Hannover von Herbst 2015 bis Februar 2016 zeigte. Als zweites Ensembles des europäischen Stipendiatenprogramms eeemerging gastierte im November das Ensemble Barroco Tout – bestehend aus der Flötistin Carlota Garcia mit Izana Soria (Violine), Edouard Catalan (Cello) und Zeljko Manic (Cembalo)  – im Ursulinenkloster in Duderstadt. Neben den Workshops im Lorenz-Werthmann-Haus und der St. Ursula-Schule stand am 13. November auch eine Zwischenpräsentation vor großem Publikum im Kloster Walkenried auf dem Programm. Ab dieser Saison hat die Göttinger Händel-Gesellschaft e. V. erstmalig mit dem AStA der Georg-August-Universität Göttingen eine Teilnahme am Kulturticket Göttingen vereinbart. Ab sofort können alle, die dieses Ticket besitzen, kostenfrei die vier Konzerte des internationalen Nachwuchswettbewerbs „Göttinger Reihe Historischer Musik“ besuchen. Den Auftakt machte am 11. November 2015 das K’antu Ensemble, das in seinen farbigen Arrangements Elemente von Folk und Weltmusik mit Barockmusik kombinierte. Weitere Kandidaten sind The Goldfinch Ensemble, Scaramuccia und PRISMA . Die Jury vergibt nach dem letzten Konzert als Preis einen Auftritt im Rahmen der Internationalen Händel-Festspiele Göttingen 2016. Diese finden vom 5. bis 16.  Mai 2016 statt. Zu den geplanten Höhepunkten zählen das Oratorium­ Susanna (HWV 66), die „Operetta“ Imeneo (HWV 41) und die Gala „10 Jahre FestspielOrchester Göttingen“. Wolfgang Sandberger / Tobias Wolff © 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525278345 — ISBN E-Book: 9783647278346