Götter und Schriften rund ums Mittelmeer 3770558197, 9783770558193

Das vorliegende Buch, entstanden aus einem Symposion, das von Friedrich Kittler noch zu Lebzeiten vorbereitet wurde, ver

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Götter und Schriften rund ums Mittelmeer
 3770558197, 9783770558193

Table of contents :
GÖTTER UND SCHRIFTEN RUND UMS MITTELMEER
Table of content
VORWORT
Peter Berz
Kittlers Schriften. Kittlers Götter
I. Alphabetische Medien
I.1 Alphabetisierung
I.2 Schriften: System
I.3 Digitale Schriften
I.4 Von der Schrift zu Alphabeten
II. Wort und Zahl
III. Götter
III.1 Die Götter der Maschine
III.2 Die gegenwärtigen Götter
III.3 Die wiederkehrenden Götter
III.4 Die vielen Götter
Die zehn Beiträge. Einführungen
Ludwig Morenz
Joachim Schaper
Barry Powell
Beatrice Gruendler
Oliver Primavesi
Gerhard Scharbert
Peter Weibel
Siegfried Zielinski
Lars Denicke
Joulia Strauss
Literaturverzeichnis
VIER SCHRIFTSYSTEME
Ludwig Morenz
Von Gottes-Worten und Götter-Zeichen.
Zur kulturpoetischen Balance von Figurativität und
Ikonizität in der frühen ägyptischen Hieroglyphenschrift
I. Einleitung
II. Varianten des Götterkonzepts im Spiegel der Zeichenformen
III. Von Horus zu Re. Eine frühe Entmythologisierung
des Sonnengottes im Spiegel der Zeichen
IV. Coda
Joachim Schaper
Gesprochene Sprache, Schrift und Ikonophobie
im alten Israel, auf dem Hintergrund Griechenlands
und Ugarits
I. Einleitung
II. Gesprochene Sprache und ihre Notation
III. Das Faszinosum Schrift
IV. Hören, Sprechen, Schreiben – und Ikonophobie
Barry Powell
Wie das Alphabet entstand
I. Phonetische Alphabete
II. Schriften rund ums Mittelmeer
II.1 Die Hieroglyphen
II.2 Die zypriotische Silbenschrift
II.3 Die phönizische Schrift
III. Das griechische Alphabet und der Hexameter
Beatrice Gründler
Chiffre und Spielfeld.
Kleine Mediengeschichte der arabischen Schrift
I. Zugängliche Sprache
II. Perfekt angepasstes Schriftsystem
III. Das abgad und die Kunst des Weglassens
IV. Eingebaute Adaption
V. Arabische Schrift als Chiffre
V.1 Kreative Vokalschreibung
V.2 Papierbasierte Kommunikation
VI. Zweigleisige Überlieferung
VII. Problemlösen bei ungeschriebenen Vokalen
IX. Performanz
Literaturverzeichnis
GÖTTER ZAHLEN ELEMENTE
Oliver Primavesi
Tetraktys und Göttereid bei Empedokles:
Der pythagoreische Zeitplan des kosmischen Zyklus.
I. Die Empedokleische Physik und die Pythagoreer
II. ‚Telauges‛ und die Tetraktys
III. Der Pythagoreer-Eid und die Empedokleische Physik
IV. Nikomachos über das Pythagoras-Lob des Empedokles
V. Zwischenbilanz: Der explanatorische Mehrwertder Tetraktys-Hypothese
VI. Allgemeines zur Struktur des kosmischen Zyklus
VII. Die abiotischen Phasen vor und nach dem Wendepunkt
VIII. Die vier göttlichen Elementmassen
IX. Der große Wirbel (Dinos)
X. Die Grundstruktur des kosmischen Zeitplanes
nach den Florentiner Scholien
XI. Der Zeitplan und die Tetraktys
XII. Chronos und Aion
XIII. Die doppelte Tetraktys und die zoogonischen Stufen
XIV. Zunahme und Abnahme der Phasenlänge
XV. Die doppelte Tetraktys und der Göttereid
XVI. Ergebnis
Literaturverzeichnis
Respondenz zu Oliver Primavesi
„Tetraktys und Göttereid“, von Peter Berz
I. Schließung
II. Abiotische Götter, biotische Dämonen
III. Schrift und Zahl der Tetraktys
IV. Physis
V.1 Elemente der Neuzeit
V.2 Der N-cycle
V.3 geostory
Literaturverzeichnis
RELIGION
Friedrich Kittler Theologie
Gerhard Scharbert
Tell me true, tell me why / was Jesus crucified. Prolegomena zu einer späten mediengeschichtlichen These Friedrich Kittlers
I. Kontext Roma aeterna
II. Der römische Orient in der neueren Forschung
III. Judentum und Hellenismus
IV. Jesus als Lehrautorität – das eigentliche Erbe
V. Die Botschaft Jesu als Medienprogramm
VI. Johannes – tragische Verkündigung
VII. Ausblick: Paulos – politische Philologie
VIII. Universale Signifikanten
Peter Weibel
Das Medium Religion.
Oder: Glaubenssysteme im Gefängnis der Sprache
I. Die Quelle des Glaubens ist schon eine Frage des Glaubens
II. Heilige Schriften rund ums Mittelmeer
III. Vom gesprochenen Wort und vom Ritual zur Schrift
IV. Die Schrift als Medium
V. Das Problem des Ursprungs
VI. Morphologie der Religionen
VII. Performativität der Schrift und Jesus als Schriftrebell
VIII. Religion ist Medium, die Medien sind Religion
Religionen als sprachbasierte Weltentwürfe. Eine Nachschrift
Religionen als sprachbasierte Weltentwürfe. Eine Nachschrift
Siegfried Zielinski
Mittel und Meere
I. mare internum, mare externum
II. Verstreute Inseln
III. Orientalisieren
IV. Der Automat der Banū-Mūsā
V. Kombinatorik und Algorithmik, Musik und Liebe
Lars Denicke
Land und Meer, Luft und Feuer.
Die Vier-Elemente-Lehre der Geopolitik
I. Land- und Seemächte
II. Die Raumrevolution des Luftkriegs
III. Luftverkehr findet am Boden statt
IV. „What does a man with a $350 millionincome really want?“
V. Was ist eigentlich ein Mittelmeer?
Joulia Strauss
Den Lauten Stummen

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Götter und Schriften rund ums Mittelmeer

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GÖTTER UND SCHRIFTEN RUND UMS MITTELMEER Herausgegeben von Friedrich Kittler, Peter Berz, Joulia Strauss, Peter Weibel zusammen mit Gerhard Scharbert

Wilhelm Fink

4

Einbandgestaltung: Joulia Strauss „Neopythagoreischer Zahlenkranz aus Efeu-Pentagrammen und Tetraktys-Trauben“ „Medienhistorische Taubenfüße (Non-Uniform Rational Bezier-Splines, 1983 n. Chr.)“

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. © 2017 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.fink.de Layout, Schriftgestaltung und Satz: SchäferWolf, Berlin Printed in Germany Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-7705-5819-3

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Vorwort

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Peter Berz Kittlers Schriften. Kittlers Götter.

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I.

II. III.

Alphabetische Medien I.1 Alphabetisierung I.2 Schriften: System I.3 Digitale Schriften I.4 Von der Schrift zu den Alphabeten Wort und Zahl Götter III.1 Die Götter der Maschine III.2 Die gegenwärtigen Götter III.3 Die wiederkehrenden Götter III.4 Die vielen Götter

Die zehn Beiträge. Einführungen Ludwig Morenz Joachim Schaper Barry Powell Beatrice Gründler Oliver Primavesi Gerhard Scharbert Peter Weibel Siegfried Zielinski Lars Denicke Joulia Strauss Literaturverzeichnis

20 20 21 23 25 27 30 33 37 63 68

71 71 73 75 81 83 109 110 114 118 120 134

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GÖTTER UND SCHRIFTEN

VIER SCHRIFTSYSTEME Ludwig Morenz Von Gottes-Worten und Götter-Zeichen. Zur kulturpoetischen Balance von Figurativität und Ikonizität in der frühen ägyptischen Hieroglyphenschrift I. II. III. IV.

Einleitung Varianten des Götterkonzepts im Spiegel der Zeichenformen Von Horus zu Re. Eine frühe Entmythologisierung des Sonnengottes im Spiegel der Zeichen Coda

Joachim Schaper Gesprochene Sprache, Schrift und Ikonophobie im alten Israel, auf dem Hintergrund Griechenlands und Ugarits I. II. III. IV.

Einleitung Gesprochene Sprache und ihre Notation Das Faszinosum Schrift Hören, Sprechen, Schreiben – und Ikonophobie

Barry Powell Wie das Alphabet entstand I. II.

III.

Phonetische Alphabete Schriften rund ums Mittelmeer II.1 Die Hieroglyphen II.2 Die zypriotische Silbenschrift II.3 Die phönizische Schrift Das griechische Alphabet und der Hexameter

145 145 147 149 156

157 158 159 165 167

171 175 179 179 180 182 182

INHALT

Beatrice Gründler Chiffre und Spielfeld. Kleine Mediengeschichte der arabischen Schrift

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I. II. III. IV. V.

Zugängliche Sprache Perfekt angepasstes Schriftsystem Das abgad und die Kunst des Weglassens Eingebaute Adaption Arabische Schrift als Chiffre V.1 Kreative Vokalschreibung V.2 Papierbasierte Kommunikation VI. Zweigleisige Überlieferung VII. Problemlösen bei ungeschriebenen Vokalen VIII. Sprachfehler als Literaturzweig IX. Performanz

189 192 198 200 203 204 207 208 210 212 220

Literaturverzeichnis

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GÖTTER UND SCHRIFTEN

GÖTTER ZAHLEN ELEMENTE Oliver Primavesi Tetraktys und Göttereid bei Empedokles: Der pythagoreische Zeitplan des kosmischen Zyklus. I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII. IX. X. XI. XII. XIII. XIV. XV. XVI.

Die Empedokleische Physik und die Pythagoreer ‚Telauges‛ und die Tetraktys Der Pythagoreer-Eid und die Empedokleische Physik Nikomachos über das Pythagoras-Lob des Empedokles Zwischenbilanz: Der explanatorische Mehrwert der Tetraktys-Hypothese Allgemeines zur Struktur des kosmischen Zyklus Die abiotischen Phasen vor und nach dem Wendepunkt Die vier göttlichen Elementmassen Der große Wirbel (Dinos) Die Grundstruktur des kosmischen Zeitplanes nach den Florentiner Scholien Der Zeitplan und die Tetraktys Chronos und Aion Die doppelte Tetraktys und die zoogonischen Stufen Zunahme und Abnahme der Phasenlänge Die doppelte Tetraktys und der Göttereid Ergebnis

Literaturverzeichnis

Respondenz zu Oliver Primavesi „Tetraktys und Göttereid“, von Peter Berz I. II. III. IV. V.

Schließung Abiotische Götter, biotische Dämonen Schrift und Zahl der Tetraktys Physis Die Zukunft der Zyklen V.1 Elemente der Neuzeit V.2 Der N-cycle V.3 geostory

Literaturverzeichnis

229 230 235 242 252 256 259 261 262 267 271 281 285 289 294 296 306 308

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INHALT

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RELIGION Friedrich Kittler Theologie Gerhard Scharbert Tell me true, tell me why / was Jesus crucified. Prolegomena zu einer späten mediengeschichtlichen These Friedrich Kittlers

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Kontext Roma aeterna Der römische Orient in der neueren Forschung Judentum und Hellenismus Jesus als Lehrautorität – das eigentliche Erbe einer „gescheiterten“ Hellenisierung V. Die Botschaft Jesu als Medienprogramm VI. Johannes – tragische Verkündigung VII. Ausblick: Paulos – politische Philologie VIII. Universale Signifikanten

419 424 433 437 440

Peter Weibel Das Medium Religion. Oder: Glaubenssysteme im Gefängnis der Sprache

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I. II. III. IV.

I. II. III. IV. V. VI. VII. VIII.

Die Quelle des Glaubens ist schon eine Frage des Glaubens Heilige Schriften rund ums Mittlemeer Vom gesprochenen Wort und vom Ritual zur Schrift Die Schrift als Medium von Transzendenz und Absenz Das Problem des Ursprungs Morphologie der Religionen Performativität der Schrift und Jesus als Schriftrebell Religion ist Medium, die Medien sind Religion

Religionen als sprachbasierte Weltentwürfe. Eine Nachschrift

413 415 417

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GÖTTER UND SCHRIFTEN

RUND UMS MITTELMEER Siegfried Zielinski Mittel und Meere I. II. III. IV. V.

mare internum, mare externum Verstreute Inseln Orientalisieren Der Automat der Banū-Mūsā Kombinatorik und Algorithmik, Musik und Liebe

Lars Denicke Land und Meer, Luft und Feuer. Die Vier-Elemente-Lehre der Geopolitik I. II. III. IV. V.

Land- und Seemächte Die Raumrevolution des Luftkriegs Luftverkehr findet am Boden statt „What does a man with a $350 million income really want?“ Was ist eigentlich ein Mittelmeer?

Joulia Strauss Den Lauten Stummen

481 483 484 488 491 494

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VORWORT Das vorliegende Buch ist aus einem Symposion entstanden. Götter und Schriften rund ums Mittelmeer hat am 19. und 20. Oktober 2012 am Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe stattgefunden. Konzipiert und in Teilen vorbereitet wurde es von Friedrich Kittler. Daß es ein Symposion würde und nicht eine Tagung oder Konferenz, daran lag viel. Der Anfang, griechisch, feiert. Die Grundidee des Symposions und seines hier vorliegenden Buches, im privaten Kreis des öfteren diskutiert, wurde im Sommersemester 2010 während eines Seminars über Aristoteles an der Humboldt-Universität zu Berlin einmal auch in der universitären Halböffentlichkeit entwickelt.1 Anläßlich eines kurzen Resumées von Band I.1 seines Buchs Musik und Mathematik formulierte Friedrich Kittler: „Wenn ich mich endgültig von der Lehre zurückziehe, dann möchte ich das gerne beenden mit einem kleinen Kongress: Götter und Schriften rund ums Mittelmeer. Die Götter lasse ich heute eher weg, aber ich glaube, man kann zeigen: Wie die Schrift, so die Götter.“2

Von dieser Hypothese gingen eine Reihe von Fragen aus, die das Symposion tragen sollten und im Laufe von eineinhalb Jahrzehnten Arbeit an Musik und Mathematik entstanden waren.3 Die Fragen waren an Forscherinnen und Forscher gerichtet, die Friedrich Kittler allesamt persönlich kannte. Mit den meisten verband ihn eine längere intellektuelle Geschichte. Joachim Schaper aus Aberdeen aber stand wohl mehr als Pate, denn im Gespräch mit ihm war schon 1 2

3

Das Seminar, das Friedrich Kittler zusammen mit Thomas Macho abhielt, hatte eine alphabetgeschichtliche Lektüre aristotelischer Schriften zum Gegenstand. Das vollständige Transskript der Seminar-Sitzung ist nachzulesen in einem parallel zum Symposion erschienen Band der Zeitschrift TUMULT. Schriften zur Verkehrswissenschaft, Nummer 40: Friedrich Kittler, Technik oder Kunst? (hg. Walter Seitter, Michaela Ott), Wetzlar 2012, S. 127 – 138. Musik und Mathematik war auf vier Bände mit einigen Teilbänden angelegt. Zwei Bände sind 2006 und 2009 erschienen. Sie tragen die Namen von Göttern: I. Hellas, Teil 1: Aphrodite, München 2006; und I. Hellas, Teil 2: Eros, München 2009.

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zwei Jahre vorher am Rand einer Tagung in Aberdeen die Idee des Symposions entstanden.4 Eine erste Frage ging an Ludwig Morenz vom Institut für Ägyptologie in Bonn: „Mir scheint, dass der Verbund von Tierikone, Konsonantenzeichen und Götterdeterminanten schon etwas über das Wesen dieser Götter sagt, wie die Priesterkaste es installiert und verwaltet hat. Könnten Sie sich denken, uns Laien den Stand der Ägyptologie in diesen Dingen näher zubringen?“ Eine zweite Frage ging an die Arabistin Beatrice Gründler, damals Yale, jetzt Freie Universität Berlin: „Ich brauche Ihnen kaum zu erzählen, um was es gehen würde: den Analphabeten Mohammed, das klassische Arabisch als lingua franca (wie Sie erklärt haben), seine möglichen Vokalisierungen und die Heiligkeit der Schrift.“ An den Münchener Gräzisten, Empedokles- und Aristotelesforscher- und -herausgeber Oliver Primavesi hatte Friedrich Kittler schon vor der Symposionseinladung in einem Gespräch einmal die folgende, dann brieflich bekräftigte Frage gestellt: „Von Ihnen erhoffe ich mir eine Antwort auf die Frage, ob und wie die 4 göttlichen Wurzeln bei Empedokles mit den Lettern des Alphabets und den Zahlen der Tetraktys zusammenhängen.“ Eine Frage und Einladung ging auch an den amerikanischen Gräzisten Barry Powell: „Who else but you could explain the possible relation between the Greek vocalic vowel alphabet and the specific forms and cults of gods created by poets and not by priests?“ Schließlich gingen Fragen an zwei Professorinnen, die die Einladung an Symposion oder Buch teilzunehmen, leider nicht wahrnehmen konnten. Dadurch ist freilich dem Ganzen des Gedankens eine Lücke entstanden. Es fehlen einerseits die mesopotamischen, assyrischen Schriften und ihre Götter.5 Andererseits die lateinische Schrift, ihre Dichtung und ihre Götter. So ging die eine Frage an die Berliner Altorientalistin Eva Cancik-Kirschbaum: „Keilschrift hat eine Göttin erfunden, aber sie wird praktiziert von Männern (Priestern). Diesen Widerspruch hast Du mir einst angedeutet, liebe Eva, ich würde mich freuen, wenn Du ihn und die möglichen Folgen auf dem Symposion darlegen könntest.“ 4

5

Siehe auch die Einleitung zu Joachim Schapers Beitrag im vorliegenden Buch. Dieser Beitrag ist darum der einzige, dem keine explizite Frage zugrunde liegt, Schaper war ja gewissermaßen Mitautor der Idee. Die Lücke wird zum Teil ausgefüllt durch einen schon 2006 von Friedrich Kittler und Wolfgang Ernst herausgegebenen Band (vgl. Eva Cancik-Kirschbaum: ‚Der Anfang aller Schreibkunst ist der Keil‘, in: Wolfgang Ernst, Friedrich Kittler: Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie. Schrift, Zahl und Ton im Medienverbund, München 2006, S. 121 – 149).

VORWORT

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Der letzte Brief ging an die französische Latinistin Florence Dupont.6 Sie war zur Beantwortung von Fragen eingeladen, die jene für Band II von Musik und Mathematik zentralen römischen Dichter Ennius, Lukrez, Ovid betreffen: „Les structures rigides de l‘ancienne religion romaine, me semble-t-il, sont liées à un pouvoir de l‘écrit en Grece. Je croix que vous (comme aucune autre) pourriez faire l‘histoire de cette obsession jusqu‘ à l‘éclatement triomphal de Vénus.“ Die Teilnehmer des Symposions und Beiträger des vorliegenden Buches haben diese Fragen jede und jeder auf ihre eigene Weise erweitert, umgelenkt, verwandelt. Aber sie haben sie zum Teil auch ganz direkt beantwortet. Daß die Fragen und ihre wunderbaren Echos symposiastisch Wissenschaften zusammenbringen, die sich unter Umständen des normalen Betriebs ihrer Einzelwissenschaften nicht so häufig treffen, ist das Verdienst der kittlerschen Form von Wissenschaft, die Fachwissenschaftler um einen Gedanken jenseits aller Fachwissenschaften versammelt. Wie der Fragende selbst diesen Gedanken im Gespräch mit den geladenen Kolleginnen und Kollegen geschärft, verteidigt, verbessert hätte, muß ungesagt bleiben. Das vorliegende Buch kann nur aus Kittlers Denken heraus und an die Adresse seines Nachlasses eine Frage stellen, die vielleicht die kürzeste und präziseste des Buches und seines Symposions ist, eine detektivische Frage, in der sich Götter und Schriften zu einem plot verdichten: „Why was Jesus crucified?“ Diese, Friedrich Kittler bis zuletzt beschäftigende Frage zu beantworten, wird ein Beitrag aus seinem digitalem Nachlaß schöpfen.7 Das Symposion also ist die unmittelbare Umgebung, aus der das vorliegende Buch entstanden ist. Ihr folgen auch seine Herausgeberschaften, nicht zuletzt die posthume Friedrich Kittlers. Noch Anfang 2011 hatten er, seine Mitarbeiterin Tania Hron und die Künstlerin Joulia Strauss Einladungen mit den eben vorgestellten Fragen formuliert. Als Friedrich Kittler am 18. Oktober 2011 starb, waren Antworten auf die Einladungen noch nicht eingetroffen und die schwierige Suche nach einem Träger und Ort für das Symposion noch nicht abgeschlossen. Erst als mit direkter Unterstützung und Teilnahme von Peter Weibel das Symposion im Zentrum für Kunst und Medientechnologie Karlsruhe ZKM Aufnahme fand, konnte es Realität werden. Auch das vorliegende Buch ist vom Karlsruher Zentrum finanziert.

6 7

Vgl. etwa Florence Dupont: L'invention de la littérature : de l'ivresse grecque au texte latin, Paris 1998. Siehe den Beitrag von Gerhard Scharbert und den Beitrag von Peter Weibel in dem vorliegenden Band.

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Nicht zuletzt diesem Ort folgend hatte, über Friedrich Kittlers ursprüngliche Idee hinausgehend, das Symposion Götter und Schriften rund ums Mittelmeer noch weitere thematische Schwerpunkte. Das ist zunächst die Kunst. Joulia Strauss, in Zusammenarbeit mit der spanischen Aktivistin Kari Machet, führte in einer Performance am Ende der Tagung ein neues Alphabet vor, das in den politischen Bewegungen rund ums Mittelmeer der letzten Jahre entstanden ist.8 Der Berliner Künstler Jan-Peter E.R. Sonntag und der Medienwissenschaftler Sebastian Döring gaben Einblick in ihren künsterlischen Rekonstruktions- und Präsentations-Versuch eines elektronischen Synthesizers, für den Friedrich Kittler von 1979 bis 1991 Schaltpläne entworfen, gezeichnet, Platinen geätzt und gerechnet hat.9 Die davon erhaltenen Mappen und elektronischen Module dokumentieren eine Praxis und einen Begriff von Schrift, wie sie das ausgehende zweite nachchristliche Jahrtausend hervorgebracht hat. In diesem Sinn war ein weiterer Teil des Symposions den analogen und digitalen Schriften von Friedrich Kittlers Nachlaß gewidmet, samt den archivalischen und editorischen Innovationen, die sie gegenwärtig in Gang setzen.10 Weil der vorliegende Band auf die historische Frage nach Göttern und Schriften fokussiert sein soll, werden die Beiträge an anderer Stelle veröffentlicht. Einige der im vorliegenden Buch versammelten Beiträge arbeiten mit dem digitalen Nachlaß.11 Demgegenüber ist eine letzte, über Friedrich Kittlers Intuition hinausgehende Wendung in der Frage nach Göttern und Schriften rund ums Mittelmeer : die Frage nach dem Mittelmeer und ihre zeitliche Erweiterung ins 20. Jahrhundert, eine der Säulen des vorliegenden Bandes geworden. Das Mittelmeer, das historische „Mittel der Kommunikation“ (Hegel) für die Entstehung von Schriften und ihren Göttern,12 wurde im vergangenen Jahrhundert zum Raum von Geopolitik. Sie läuft durch alle vier göttlichen Elemente des Empedokles – Land und Meer, Luft-Fahrt und Feuer alias Verbrennung13 – und sie bringt globale Machtstruk8 9 10

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Siehe den Beitrag von Joulia Strauss in diesem Band. Jan-Peter E.R. Sonntag und Sebastian Döring werden für die Gesammelten Schriften Friedrich Kittlers einen Teil dieses Materials edieren. Paul Feigelfeld (Lüneburg/Berlin) gab einen kurzen Einblick in die Edition von Kittlers programmiertechnischen Schriften und Codes. (Im Rahmen der im Fink-Verlag München herausgegebenen Gesammelten Schriften Friedrich Kittlers (hg. Martin Stingelin) wird auch ein Band erscheinen: Friedrich Kittler: Das Programmierwerk (hg. Peter Berz und Paul Feigelfeld).) Tania Hron gab Einblicke in die archivalische Lage des kittlerschen Nachlasses an der Schnittstelle von analogen Schriften – Karteikarten, Typoskripte, Papierdokumente – und digitalen Schriften (vgl. auch im vorliegenden Band im Beitrag von Peter Berz: Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: I.3 Digitale Schriften). Vgl. auch den hier zum ersten Mal veröffentlichten Text Friedrich Kittlers Theologie. Siehe den Beitrag von Siegfried Zielinski im vorliegenden Band. Siehe den Beitrag von Lars Denicke im vorliegenden Band.

VORWORT

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turen hervor, die heute das Mittelmeer zugleich zum Mittel der Kommunikation und zur Mauer machen. Warum gehen vom Mittelmeer, so Kittlers dringliche Frage an die Gegenwart, jene Monotheismen aus, die sich heute bekriegen? Seine provokative Antwort: Der Grund liegt beschlossen in ihrer medialen Basis – der Weise, wie sie schreiben und lesen und singen. Berlin, Februar 2017

Wir danken zunächst dem ZKM | Zentrum für Kunst und Medien Karlsruhe und Peter Weibel: Sie haben unter Mithilfe von Meta Maria Valiusaitite und Tania Hron das Symposion ermöglicht, auf dem das vorliegende Buch aufbaut. Wir danken Ingrid Truxa, ZKM, für ihre nimmermüde Unterstützung. Wir danken dem ZKM auch für die Finanzierung von Satz und Gestaltung des Buches und Herrn Professor Oliver Primavesi für die Finanzierung eines Teils der Satzkosten aus den Mitteln des ihm 2007 verliehenen Gottfried Wilhelm Leibniz-Preises. Wir danken Sebastian Schäfer für Satz und Gestaltung. Wir danken Susanne Holl und dem Deutschen Literaturarchiv Marbach für die Freigabe eines unveröffentlichten Textes von Friedrich Kittler und dem Literaturarchiv für die Unterstützung bei der Arbeit mit anderem unveröffentlichtem Material.

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Peter Berz

KITTLERS SCHRIFTEN. KITTLERS GÖTTER. Nach Medien und Maschinen, nach den Techniken des Speicherns, Übertragens, Rechnens und ihrer Aufhebung in der universalen Maschine Computer, nach Durchgang durch die Weltkriege des 20. Jahrhunderts, aus denen diese Techniken kommen, schließlich die überraschende Lagebestimmung: Nur die Befreiung von allen Monotheismen wird uns die Quellen von Lust und Wissen des Abendlands eröffnen. Denn griechische Götter, die mit Religion, dieser römischen Erfindung, nichts zu tun haben, stehen am Beginn dessen, was unsere Wissenschaft und ihre technische Welt geworden sein wird. Dieser erstaunliche Denkweg hört auf den Namen Friedrich Kittler. Es ist sein Werk, die Geschichte der Dichtung, der Philosophie, ja der Kultur als solcher vom Kopf auf die Füße ihrer technischen und vortechnischen Medien gestellt zu haben. So fällt auch der Gott der Religionen nicht vom Himmel, den er errichtet, und die Götter entbergen sich in ihren Medien. Was Aufschreibesysteme für die Literatur, was Befehlssätze für programmierbare Maschinen, das ist den Göttern das elementarste Medium im lateinischen Wortsinn von elementa: Buchstaben. Wie die Götter mit den Sterblichen verkehren oder nicht verkehren, ob sie befehlen oder strafen, ob sie um Gnade angefleht oder im gesungenen Epos, in Tragödie und Oper in die Anwesenheit gerufen werden, hängt an der Art, wie eine Kultur schreibt. Das vorliegende Buch Götter und Schriften rund ums Mittelmeer widmet sich dieser Hypothese. Aber wie konnte im Denken eines Germanisten, der zum Begründer der historisch-systematischen Medientheorie und hegelianischen Propheten des Computerzeitalters wurde, die Frage nach Göttern und Schriften so zentral werden?

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PETER BERZ

I. Alphabetische Medien I.1 Alphabetisierung Auch wenn Friedrich Kittlers erstes Buch von 1985, Aufschreibesysteme 1800 ‧ 1900,1 eine Dimension der Frage bereits anzudeuten scheint: Es geht in Aufschreibesysteme weniger um Schriften und Alphabete als um Strategien der Alphabetisierung. Für 1800 also um einen historischen Typ von Alphabetisierung, der als Alphabetisierung durch den Sinn angesprochen werden kann. Vom Sprechenlernen durch die Mutter übers sanfte Lesenlernen durch die pestalozzische Volksschule bis zur Deutschen Dichtung, Goethe oder E.T.A. Hoffmann, handelt es sich um ein System aus Geist und Verstehen. Darin sollen die Buchstaben als Buchstaben gerade nicht auftauchen. Sie sollen verschwinden im Sinn. Noch auf dem Totenbett habe etwa Friedrich Schlegel genaue Anweisungen gegeben, daß man die Buchstaben seiner Gesammelten Werke möglichst dünn machen solle und die Serifen möglichst zart. Am Ende dieser Alphabetisierungskampagne steht ein Verbund oder eine Regelschleife von männlichen Dichtern und weiblichen Leserinnen, preußischen Staatsbeamten und Müttern.2 Dieses geschlossene System zerfällt um 1900 in technischen Medien, also Medien, die im Unterschied zu den vortechnischen, nicht ohne Physik denkbar sind, nicht ohne Mechanik, Elektrizität, Chemie, nicht ohne Physiologie und Experimentalpsychologie. Die Imaginationen des Sinns werden Kino, die Stimme der Mütter tönt vom Grammophon und statt einschmeichelnder Handschriften und Serifen hämmert wenig sanft die Schreibmaschine.3 Dieser neue Typ von Alphabetisierung baut auf dem standardisierten, technisch implementierten Buchstaben. Es sind technische Standards, die skripturale Standards generieren: “Von der Letter zum Bit“.4 Am Ende leiten die Aufschreibesysteme sogar Saussures zwei Achsen der Sprache - Paradigma und Syntagma – aus einer skripturalen Operation zwischen Handschrift und Schreibmaschine ab.5 Dieser Kittlersche Blick auf Schrift und Schreiben hatte in den jungen Kulturwissenschaften Ende des letzten Jahrhunderts eine wahre Explosion des Wissens freigesetzt. Plötzlich waren die Schriften von philologischen Archiven, von Philosophie oder Kunstgeschichte nur noch Teilmengen dessen, was ein fröhlicher 1 2 3 4 5

Kittler 1985. Vgl. auch die Sammlung von Aufsätzen über Lessing, Schiller, Goethe, Novalis und ETA Hoffmann: Kittler 1991a. Vgl. Kittler 1986. Kittler 1994a. Vgl. Kittler 1985: 259 f.

KITTLERS SCHRIFTEN. KITTLERS GÖTTER.

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Positivismus in Technik-, Psychologie-, Sozialgeschichte entdecken konnte. Die von Friedrich Kittler zu Tage geförderten Positivitäten von Buchstaben, Alphabeten, Schriften, von Schreiben, Lesen, Drucken, Tippen als systementscheidenden Kulturtechniken setzten eine Art Entsicherung des Wissens in Gang. Ihre Bedingung: Daß Germanisten oder Philosophen sich selbst einer neuen Alphabetisierung unterziehen und anfangen, Zeichensysteme, Codes und Alphabete zu lernen, die bislang in ihren Wissenschaften unbekannt waren. Die Lektüre von Experimentalanordnungen und Patenten, die Einarbeitung in ein mathematisches Problem oder das Erlernen einer Programmiersprache sind Teil dieser Alphabetisierungskampagne, der die Kulturwissenschaften selbst angehören. Wenn also Kulturtechniken der Alphabetisierung die Kehrseite der Entstehung von Schriften und Alphabeten sind, dann kommt es von langer Hand, daß etwa Band zwei von Friedrich Kittlers Musik und Mathematik das erste ABC-Buch griechischer Sprache feiert 6 oder die Entstehung des lateinischen Worts für Buchstabe: el-em-en-tum, aus dem Buchstabieren Lernen der zweiten, schwierigeren Hälfte der Alphabets, die eben mit el und em und en beginnt.7 I.2 Schriften: System Die Kultur- und Naturwissenschaften scheinen vor lauter kurzen Geschichten von fast allem die Suche nach Systemen fast ganz aufgegeben zu haben. Friedrich Kittlers Werke dagegen sind von dem hegelianischen Willen beseelt, im Konkreten das Systematische zu finden. Wie in Foucaults Epochenschwellen kehrt sich das System oft in groben Schnitten nach außen.8 Schriften und Alphabete finden darin einen angebbaren Ort. Etwa in jenem kittlerschen Coup, die Dreiheit von Real Symbolisch Imaginär, in der der französische Psychoanalytiker und Protomedientheoretiker Jacques Lacan das menschliche Subjekt situierte, einer radikalen Historisierung zu unterwerfen: das Reale als die Medien von Musik und Akustik, kurz: Grammophon; das Imaginäre in den technischen Bildmedien bis zum Film; und das Symbolische in Handschrift, Buchdruck, Schreibmaschine. Daß Grammophon Film Typewriter Schriften und Alphabete überhaupt als Das Symbolische im System der 6 7 8

Vgl. Kittler 2009: 161 f.: Eine Schulstunde. Vgl. auch den Beitrag von Beatrice Gründler im vorliegenden Band. Daß Kittlers erstes Buch das Wort „System“ aus einem Wahnsystem nimmt, Daniel Paul Schrebers Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken (1900), dem das Wort „Aufschreibesysteme“ entstammt, ist selbst schon ein Stück Theorie des Systems – in Konkurrenz zu Luhmann. Zu Schnitten in Kittlers Denken vgl. auch Berz 2015.

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PETER BERZ

lacanschen Dreiheit anspricht,9 eröffnet für die Kulturgeschichte von Schriften neue Perspektiven. Als Medium sind Schriften (einem Theorem Marschall McLuhans folgend) dann nicht ohne systemische Konkurrenz denkbar: Konkurrenz zum Herstellen und Projizieren, Sehen und Speichern von Bildern, vortechnischen wie technischen; zum Hören, Spielen, Aufzeichnen von Tönen und schließlich Geräuschen, auf denen die Akustik als Wissenschaft gründet. Innerhalb der historisierten lacanschen Dreiheit steht auch die Wiedentdeckung des phonologischen Alphabets der Griechen und seiner Vokalschreibung, wie sie Kittler, Barry Powell folgend, eineinhalb Jahrzehnte später unternehmen wird, in einem speziellen Kontext. Denn erst das reiche Wissen um die Geschichte akustischer Medien bis in die Gegenwart konnte den Blick öffnen auf die akustischen Elemente innerhalb der Schrift selbst. Neben Real Imaginär Symbolisch steht in Kittlers Mediendenken eine zweite Reihe systematischer Schnitte: Speichern Übertragen Rechnen. Dieser Dreiheit folgend rücken Grammophon, Film und Schrift plötzlich in einen einzigen Horizont: Sie sind Speichermedien. Sie seien, so die systematische Annahme, von den Medien der Übertragung oder Kommunikation zu unterscheiden.10 Schriften gehören beiden Universen an: dem Speichern und Übertragen. Als Medium der Übertragung gehören Schriften in die Geschichte der Post.11 Technische Übertragungsmedien dagegen – Telegraphie, Telephonie, drahtlose Funken-Telegraphie und Radio als erstes technisches An Alle! gerichtetes Übertragungsmedium bis hin zu den kriegsentscheidenden Übertragungs- und Befehlsmedien des Zweiten Weltkriegs: Kurzwellenfunk und Radar – setzen andere Dispositive in Gang als die Medien der Speicherung. Die Nachrichtentheorie und ihre formale Darstellung durch den amerikanischen Mathematiker und Ingenieur Claude Elwood Shannon ist als eine Theorie der Übertragungsmedien entstanden.12 Diese zweite Dreiteilung erlaubte es schließlich, das Systemische selbst der Medientheorie zu historisieren. Denn die Medien von Speichern Übertragen Rechnen seien, so das Theorem, systemisch-hegelianisch aufgehoben in ei9

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Systematisch gesehen beginnt der Dreischritt von Grammophon Film Typewriter im Realen der Akustik führt über das Imaginäre des Films zum Symbolischen der Schriften, die Reales und Imaginäres in sich aufheben. Lacans Weg dagegen war der von R S I. Kittler 1993b. Vgl. Siegert 1993. Und: „Wie einst Griechenland für schlechte Postverbindungen notorisch war, so fehlte den neuen Speichern der Mediengründerzeit von 1890 [Grammophon, Film, Schreibmaschine, pb] noch eine adäquate Transmissionstechnik.“ (Kittler 1988/2002: 12). Vgl. Shannon 2000.

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ner universalen, weil programmierbaren, diskreten Maschine namens Computer. Im Computer werden Daten sowohl gespeichert als auch übertragen. Intern werden Daten über BUS-Systeme, binary unit systems, übertragen, extern in der Kommunikation von Prozessor und Speicher mit der Peripherie (Graphik-, Soundkarte, usw.). Die gespeicherten und übertragenen Daten werden dann verarbeitet, das ist: sie sind berechenbare Zahlen.13 Seitdem sind auf dem state of the art – mit einem turingschen Lieblingswort Kittlers – Medien berechenbar. Der Computer aber ist eben als Ort des Speicherns Übertragens Berechnens nicht nur Maschine, sondern ein Medium.14 Das Medium dieses Mediums sind Codes, Alphabete, Zahlensysteme.15 Das fängt mit Turings miserabler Schülerhandschrift und Erfindung einer Schreibmaschine an und geht über ein transportierbares Band zum Lesen, Schreiben, Löschen von Buchstaben und Zahlen16 bis zur Befehlszeile von Betriebssystemen mit etwa dem Zeichen „ ; “, das in der Programmiersprache C eine Zeile als Befehl absetzt statt als Text des Verstehens oder Nicht-Verstehens.17 „Computeranalphabetismus“ nannte Kittler in den 90er Jahren umgekehrt die große Gefahr, die das Universitäts-System als ganzes bedrohe, wenn es diese neue Basis aller Schriften vergesse.18 I.3 Digitale Schriften Die Wendung zur digitalen Schrift kommt schließlich auch in dem an, was Kittlers Schriften im klassischen Sinne von „Gesammelten Schriften“ wären.19 Schon kurz nach seinem Tod haben sie nämlich in ihrer schieren skripturalen Materialität archivalische Innovationen angestoßen. Das Deutsche Literatur13

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Daraus entsteht eine weitere Dreiteilung: Bild – Schrift – Zahl. Sie war die Grundlage eines gemeinsamen Forschungsprojekts mit fünf anderen Professoren aus Mathematik, Mediävistik, Kunstgeschichte, Informatik und Philosophie der Humboldt-Universität Berlin. Aus ihm ist das „Hermann von Helmholtz-Zentrum für Kulturtechnik“ hervorgegangen. Vgl. den von Friedrich Kittler mit herausgegebenen Band Computer als Medium (Kittler/Bolz/Tholen 1994). Vgl. Kittler 1998a. Vgl. etwa: Alan Turing: „Über berechenbare Zahlen mit einer Anwendung auf das Entscheidungsproblem“ (1937), in: Ders. 1987: 17 – 60, 20, Rechnende Maschinen. Vgl. Bernhard Dotzler, Friedrich Kittler: „Alan M. Turing“, Nachwort in: Turing 1987: 211 – 233. Vgl. Kittler 1992/2002. Sie erscheinen als: Friedrich Kittler: Gesammelte Schriften im Fink-Verlag, München und werden herausgegeben von Martin Stingelin. Die einzelnen Bände haben jeweils Band-Herausgeber. Der erste Band, Friedrich Kittler: Der Traum und die Rede. Eine Analyse der Kommunikationssituation Conrad Ferdinand Meyers (hg. Martin Stingelin), wird in Bälde erscheinen.

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archiv Marbach ist zum ersten Mal in seiner Geschichte Empfänger eines digitalen Nachlasses vom Umfang des Kittlerschen geworden: 1,7 Millionen Dateien von mehreren Festplatten und Hunderten anderer Datenträger.20 Es handelt sich um den Nachlaß eines Theoretikers der Schrift, der seit Ende der 1980er Jahre digitale Maschinen nicht nur, wie in den Geisteswissenschaften weithin üblich, als Schreib- und Schrift-Verarbeitungsmaschinen benützte, sondern sich als Programmierer, autodidaktischer Ingenieur und Bastler technisch, also praktisch mit der „Welt der Maschine“ und ihren Schriften auseinandersetzte. Sie folgen neuen Logiken oder: Die Schrift des Computers – a license to kill.21 So bestehen Kittlers digitale Schriften nicht nur aus Textdateien, sondern aus abertausenden Zeilen Programm-Code, geschrieben in der Hochsprache C und der maschinennahen Sprache Assembler, aus lauffähigen Programmen (Compilaten), aus selbst geschriebenen Schnittstellen, Compilierskripten und Selbst-Dokumentationen des Programmierers Friedrich Kittler.22 Das ist eine neue Herausforderung an Archivare im digitalen Zeitalter der Schriften. Für das Literaturarchiv wurde in den letzten vier Jahren ein eigenes digitales Programm entwickelt, das Programme, Texte, Skripte eines so heterogenen Nachlasses erschließbar und indizierbar macht.23 Kittlers nachgelassene Schriften sind unversehens zum flagship einer neuen Epoche der Archivierung digitaler Schriften geworden.

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Vor Eintreffen des Kittlerschen Nachlasses waren im gesamten Bestand des Marbacher Archivs 26700 Dateien verzeichnet und 281 Floppies (vgl. Jürgen Enge, HansWerner Kramski: „‘Arme Nachlassverwalter...’. Herausforderungen, Erkenntnisse und Lösungsansätze bei der Aufbereitung komplexer digitaler Datensammlungen“, in: Von der Übernahme zur Benutzung. Aktuelle Entwicklungen in der digitalen Archivierung (hg. Thüringische Staatsarchive), Weimar 2015, S. 53). Vgl. Kittler 1993d; und: „Die Schrift des Computers: a licence to kill“ (unveröffentlichter Text aus dem Jahr 1995: #2008.349503, application/msword (1995-09-27T18:01:10Z). chemnitz.txt. In: Bestand A:Kittler/DLA Marbach. hd04-p01:/root/texte_89-99/kittler/95 [hd, 29.5 KiB] ). Das Wort to kill bezieht sich auf den Befehl „kill [Prozessnummer]“, der unter dem Betriebssystem Linux nicht Dateien löscht, sondern Prozesse stoppt: laufende Programme, wie der Jargon sagt, abschießt. Vgl. den im Rahmen der Gesammelten Schriften erscheinenden Band: Friedrich Kittler: Das Programmierwerk (hg. Peter Berz und Paul Feigelfeld), erscheint München 2017. Das Programm „Indexer“, geschrieben von dem Informatiker Jürgen Enge (Basel) wurde in Zusammenarbeit mit Hans-Werner Kramski (Marbach) und dem Referat für wissenschaftliche Datenverarbeitung des DLA weiterentwickelt und von der Arbeitsstelle Nachlaß/Edition Kittler an der Humboldt Universität zu Berlin erprobt. Eine in Marbach öffentlich benutzbare Version wird in Bälde zugänglich sein. Die Metadaten der im vorliegenden Band verwendeten Nachlaßtexte wurden allesamt durch den Indexer erschlossen.

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Aber auch digitales Schreiben findet prinzipiell in analogen Umgebungen statt und so beinhalten einige Kästen mit bekritzelten, karierten Ringblöcken in Kittlers Nachlaß mathematische Versuche, Programmentwürfe, Notate. Viele davon sind entstanden beim Debuggen von Programmen. In größeren Programmen nämlich sind Fehler nur durch Programme zur Suche von Fehlern, genannt bugs, zu finden. Die Programme heißen folglich Debugger und ohne sie hätte auch Friedrich Kittler in den 1990er Jahren nicht die tausenden Programmzeilen geschrieben, die er schrieb. Nun ist aber ein Debugger samt seiner eben erwähnten analogen Umgebung ein wahres Versammeln oder Ge-Schreib abendländischer Schriften und Schriftpraktiken: von der durch den Debugger erst sicht- und lesbar gewordenen Ausführung Befehl für Befehl, Zeile für Zeile des Programms über den automatisch formatierten, hierarchisierten und darum weit über den Buchdruck hinaus adressierbar gemachten Text bis zum mnemotechnisch unerlässlichen Papier und Stift. I.4 Von der Schrift zu Alphabeten Ein vierter Einsatz von Kittlers Schriften ist der von ihm eingeschlagene diskurs- und wissenspolitische Weg von Der Schrift zu Alphabeten, sowohl den ersten als auch den „Alphabeten der Neuzeit“.24 Kurz gesagt: Von Derrida zu Doblhofer. Das 1957 in erster Auflage erschienene Werk des österreichischen Gymnasialprofessors und Archäologen Ernst Doblhofer Zeichen und Wunder. Die Entzifferung verschollener Schriften und Sprachen,25 gewidmet seinen Eltern und mit einem Hölderlin-Motto versehen,26 ist eine schriftgeschichtliche Basisreferenz Kittlers. Auch für das vorliegende Buch könnte Doblhofers Buch – ein tour d’horizon durch ägyptische und persische Schriften, durch Keilschrift, zyprische Silbenschrift,27 Linear B, Etruskisch und einige andere – eine Art Gründungstext darstellen. Und Doblhofer erzählt die Geschichte von Schriften nicht von ungefähr in Geschichten der Entzifferung. Einer der beiden codebreaker der minoischen Silbenschrift Linear B, John Chadwick, war seit 1942 beim Intelligence 24

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So der Titel eines sich über mehrere Semester erstreckenden Seminars Friedrich Kittlers an der Humboldt Universität zu Berlin (vgl. auch im vorliegenden Band die Respondenz zu Oliver Primavesis ‚Tetraktys und Göttereid‘ : Die Zukunft der Zyklen). Doblhofer 1964/2000. ... der Vater aber liebt, / Der über allen waltet, / Am meisten, dass gepfleget werde / Der veste Buchstab, und bestehendes gut / Gedeutet. … (Hölderlin: Patmos [Erste Fassung], 15. Strophe, Vers 222 – 226 (Hölderlin MA, Band I: 453)). Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Joachim Schaper und den Beitrag von Barry Powell.

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Service der britischen Marine im Mittelmeer und wird 1944 ins Zentrum britischer Entschlüsselungsaktivitäten nach Bletchley Park versetzt. Der geheime Held von Bletchley Park aber heißt Alan M. Turing, ein junger Mathematiker, dessen Entzifferung der deutschen Verschlüsselungsmaschine Enigma den Weltkrieg mit entschied. 1936 hatte er theoretisch die allgemeine Idee programmierbarer Maschinen entworfen. Nach dem Krieg arbeitet er bereits programmierend an den Maschinen der Universität Manchester. So gehören die ersten und alten Schriften und die neuen technischen Schriften der „Turing-Galaxis“28 immer schon dem gleichen Universum abendländischer Schriftpraktiken an. Götter und Schriften rund ums Mittelmeer wird an dieser Stelle mit einer Reihe geschichtlicher, ja geschichtsphilosophischer Fragen einsetzen: Entbirgt sich nun in jedem Debugger, in jedem AssemblerProgramm der griechische Anfang?29 Entfaltet sich also dieser Anfang immer reicher, immer umfassender? Oder steigert sich, mit Heidegger, in der Technik die Seinsvergessenheit? 30

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„Turing-Universum“ war der vorgesehene Titel des vierten und letzten Bandes von Musik und Mathematik. Die basale Programmiersprache Assembler mit ihren Drei-Buchstaben-Befehlen und drei Termen (Befehl – Quelle – Ziel) war auch dem Indogermanisten Johannes Lohmann (s. weiter unten) nicht unbekannt. „Johannes Lohmann, der große Sprachwissenschaftler und Indogermanist, hat schon vor dreißig Jahren [also etwa 1960, pb] vorgeschlagen, den historischen Ermöglichungsgrund von Programmiersprachen einfach in der Tatsache zu suchen, daß es im Englischen und nur im Englischen Verben wie Read oder Write gibt, Verben also, die im Unterschied zum lateinischen amo amas amat undsoweiter alle Konjugationsformen abgestreift haben. Kontextlose Wortblöcke […] hindert aber nichts daran, in kontextlose Mnemonics und schließlich in ComputerOpcode [die Hexadezimal-Form von Assembler-Befehlen, pb] übersetzt zu weden. Die endlose Litanei von Read und Write, Move und Load heißt bekanntlich Assembler.“ (Kittler 1991/1993: 222). Friedrich Kittler hat 1963/64 bis 1966/67 zwei Vorlesungen und ein Kolloquium Johannes Lohmanns besucht (Auskunft nach Kittlers Studienbuch, Dank an Susanne Holl, Berlin). In der nachgelassenen Datei m+m12.utf, den Vorarbeiten zum geplanten Band „Turing-Galaxis“ von Musik und Mathematik, finden sich folgende Bemerkungen: „ … Assembler als Basic English (Lohmann, mündlich): alle idg. Flexion fällt weg / Nicht mehr read read read, write wrote written, sondern nurmehr read / write als Befehle oder Instruktionen (je nachdem ob wir an Generäle oder Oberlehrer glauben) // Diese ‚chinesische‘ Erlöschung jeder Flexion gilt wahrscheinlich von allen Programmiersprachen. Kontextunabhängigkeit ist Seins- und Zeitvergessenheit // Aber die als Code oder Algorithmus stillgestellte Zeit ermöglicht es gerade, lineare Zeitfunktionen und ergodische Prozesse zu modellieren[.] “ ( #1001.7861, text/plain (2011-07-28T19:23:33Z). m+m12.utf. In: Bestand A:Kittler/DLA Marbach. xd002:/kittler/mm). Eine Erwähnung von Assembler-Codes in den Schriften Lohmanns konnte bislang nicht gefunden werden. Siehe hier weiter unten.

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II. Wort und Zahl Worin liegt nun in diesem nur grob hingeworfenen Horizont Friedrich Kittlers systematische Grundintuition, sich schließlich dem Alphabet der Griechen zuzuwenden und damit und darin dem griechischen Anfang überhaupt? Freilich ist es noch zu früh, diesen Weg zu ermessen und es gibt viele Formulierungen, darauf zu antworten. Eine könnte sein: Die Wendung zu den Griechen in Friedrich Kittlers Denken ist der leidenschaftlichen Suche nach der gemeinsamen Wurzel von Wort und Zahl gewidmet.31 „Wurzel“ im Sinne des pythagoreischen Schwurs – rhizoma t’echousan. Der Schwur sagt es von der Tetraktys als Wurzel der physis.32 Für unsere digitale Gegenwart ist es ja kaum bezweifelbar, daß in allen Sachen unserer durch und durch technischen Welt das Wort nicht ohne die Zahl ist. Das Wort trifft nicht unser ganzes Sein. Das Wort ohne Zahl vergißt die Tatsachen unseres Seins. Es ist, wenn man so will, Seinsvergessenheit. Aus ihr führt, so Kittlers Grundintuition, nur ein in allem Ernst verfolgter, neuer Pythagoreismus.33 Vielleicht am radikalsten hat der Freiburger Indogermanist, vergleichende Sprachwissenschaftler und Musiktheoretiker Johannes Friedrich Lohmann – Friedrich Kittler sprach von ihm immer nur als von „meinen Lehrer Johannes Lohmann“ – nach diesem Pythagoreismus gesucht. Immer dichter entwickelte er seit Mitte der 1950er Jahre die Hypothese: Die gemeinsame Wurzel von Wort und Zahl ist die Musik. Denn in der Musik und nicht in der orientalischen Landvermessung und Geometrie komme die Mathematik als Mathematik zum ersten Mal zu sich. Das heißt: In „kleinen Sätzchen“ 34 über gerade und ungerade Zahlen entsteht theoretisches Wissen, ja die Begründung theoretischen Wissens überhaupt. Auch wenn Lohmann das Vokalalphabet – schon aufgrund der schütteren Quellenlage vor Barry Powell – nie eigens zum Thema machte, beginnt seine Suche mit dem Namen dessen, was dem Buch Götter und Schriften rund ums Mittelmeer in der einen oder anderen Form zugrunde liegt: mit dem Buchstaben, griechisch stoicheion, lateinisch elementum. Stoicheion, von stichos und stichomai: 31

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Vgl. auch Johannes Lohmanns kleine Studie über „‚Wort‘ und ‚Zahl‘“ (Lohmann 1956). Lohmann analysiert darin die Entwicklung von „Bedeutung“ in der Auffassung einer Sprache und sieht als deren Gradmesser eine Veränderung in der Auffassung der Zahl: „von der gestalthaften Zahl zur Zahlenreihe“ (ebd.: 156). Vgl. im vorliegenden Band Oliver Primavesi: Tetraktys und Göttereid: III. Der Pythagoreer-Eid und die Empedokleische Physik. Vgl. Oliver Primavesi: Tetraktys und Göttereid, sowie die Einführung Primavesi (Zur Genese). Vgl. auch Berz 2012. Lohmann 1956–57/1970: 3.

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„in einer Reihe gehen“, ist, bevor es zum Buchstaben wird, etwas anderes.35 Es ist stoicheiosis der Töne, also die Reihe, die Folge, die Tonfolge, ein Fortschreiten von Tönen. Stoichein ist dynamisch zu denken, bevor es im Buchstaben statisch wird.36 Aber wie wird stoicheion zum Buchstaben? In dem, was Lohmann schlicht „die Erziehung des Bürgers“ nennt,37 also eine Alphabetisierung, in der Schriftlehre und Lautlehre noch nicht getrennt von der „rhythmisch-metrisch-‚musikalischen‘ Terminologie“ sind.38 Lesen Schreiben Musik seien, so Lohmann, in diesem Erziehungs-System immer zusammen zu denken.39 Noch bei Platon sei die Rede von diesen Dingen zweideutig. Es gebe jedoch noch einen weiteren Grund, warum das Wort stoicheion von der Tonfolge auf die Buchstaben übertragen worden sei: In der sehr alten griechischen Notenschrift werden Töne durch Buchstaben bezeichnet.40 Von daher werde stoicheion der Buchstabe des Alphabets, Grundeinheit und letztes Element. „Der Buchstabe – diese ursprünglich semitische Erfindung – hat im Griechischen seinen ureigenen Charakter als bloßer Schreib-Behelf vollkommen verändert […], er ist gewissermaßen Verkörperung des [stoicheion]–Begriffes, indem er dessen verschiedene Funktionen materiell in sich vereinigt, als Träger und Werkzeug einer radikalen Analyse sowohl des Wort- wie des Ton– Gebietes […].“41 Das Tongebiet aber ist bei Lohmann keine anthropologische Konstante. Es ist selbst eine historische Sphäre und er leitet sie aus dem Wort melos her. Es steht – Kennzeichen frühen griechischen Denkens – in einem Gegensatz, wie grad und ungrad, hoch und tief, symphonos und diaphonos. So steht melos in einem Gegensatz zu epos. Das Wort taucht bei Homer nur im Plural auf: 35

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Lohmann folgt darin einer Studie Hermann Kollers (Koller 1955). Zur Kritik an Koller/ Lohmann bei Wilhelm Schwabe (Schwabe 1980) vgl. im vorliegenden Band die Respondenz zu Oliver Primavesi ‘Tetraktys und Göttereid’: III. Schrift und Zahl der Tetraktys. Vgl. im vorliegenden Buch auch die Respondenz zu Oliver Primvesis ‚Tetraktys und Göttereid‘ : Schrift und Zahl der Tetraktys. Lohmann 1956–57/1970: 5. Ebd.: 4. Friedrich Kittler entdeckte eben dieselbe Dreiheit in Gottfried von Strassburgs Tristan und Isolde wieder. Tristan unterrichtet Isolde Singen, Schreiben, Lesen, Leier und Harfe spielen – im Zeichen des künftigen Ehebruchs (Vers 7962 – 8131). Vgl. auch hier weiter unten. Vgl. Lohmann 1956–57/1970: 5. Ebd.: 10 (Hervorhebungen pb).

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als ta melea (vs. ta epea), die Glieder des Körpers, für den als Ganzen es, nach Bruno Snell, bei Homer gar keinen Ausdruck gibt.42 Melos ist die „gegliederte Welt der Töne“.43 Es ist die Schicht des Musikalischen, abgezogen von den Worten – wie die reinen Farben von den farbigen Dingen. Lohmann situiert Vokalalphabet, Zahl, Notenschrift in einer „melischen Periode“ des Griechischen. Barry Powell wird in seinem Beitrag für das vorliegende Buch zeigen, wie das Melische oder Melodische des Hexameters an der Wurzel des griechischen Vokalalphabets stehen. Eine erste, philologische Großtat von Friedrich Kittlers Nachdenken über die Entstehung von Schriften besteht in dieser Zusammenführung Barry Powells mit Johannes Lohmann. Denn die Einführung des Vokalalphabets und seiner Geschichte verschärft Lohmanns Pythagoreismus der gemeinsamen Wurzel von Wort und Zahl. Kittlers Pythagoreismus also denkt den Anfang, das Anfängliche des abendländischen Wissens in dichten Schleifen, vielleicht Rekursionen über diese vier Terme: Wort und Zahl, Musik und Vokalalphabet. Das griechische Alphabet, wie es in Musik und Mathematik heißt, „ruft immer wieder sich selbst auf“. Es notiert gesprochene Vokale und Konsonanten, es notiert ganze Zahlen, es notiert die Töne einer Singstimme, es notiert die Töne der Kithara – alles in den gleichen, nur manchmal in ihrer räumlichen Lage gedrehten Buchstaben. Das Alphabet ruft sich selbst auf „bis das Seiende im ganzen – von den Lauten über die ganzen Zahlen und vier Elemente bis schliesslich zum Oktavraum – sich der einen Schrift erschloss. Und wohl nur darum ward es denkbar, das Seiende als Seiendes überhaupt zu denken.“44 Durch die Rekursionen des Alphabets hindurch geht den Griechen die Philosophie auf. Es ist die systemische Dichte dieser Schleifen und Rekursionen, auf deren Hintergrund in Kittlers Denken die beiden Grundfragen des vorliegenden Buches entstanden sind: die nach den Schriften und die nach den Göttern. Sie machen einen Sprung heraus aus den systemisch verdichteten Rekursionen des Griechenalphabets und werfen Blick von außen auf sie, einen regard éloigné. Gibt es, während in Griechenland das „melische Zeitalter“ beginnt, in anderen Kulturen rund ums Mittelmeer ganz andere Ausgangspunkte der Schriftentwicklung: 42 43 44

Vgl. Snell 1939/1948: 19 – 22. Vgl. Lohmann 1956–57/1970: 6. Kittler 2006: 293.

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graphisch orientierte Schriften, konsonantisch orientierte Schriften, Verwaltungs- und Handelschriften, hieratische, von Priestern gewußte Schriften? Worin genau bestünde dann das historisch Singuläre einer aus dem griechischen Vokalalphabet kommenden Kultur? Wird allererst durch Auseinandersetzungen und Kontakte mit anderen Schriftkulturen verstehbar, wie der griechische Einsatz durch Transformation anderer Schriften, anderer „Erfindungen“ etwas grundsätzlich Neues hervorbrachte?45 Der vorantike und antike Mittelmeer-Raum bis zur klassischen Zeit, zur christlichen Zeitrechnung und Blüte der arabisch-islamischen Zivilisation wäre damit eine Art Hohlspiegel, in dessen Brennpunkt sich Fragen nach Schriften und Alphabeten und ihren seinsentscheidenden Folgen versammeln.

III. Götter Das ist die eine, erste Grund-Frage des vorliegenden Buchs. Sie kommt von der Seite der Schrift her. Die zweite Frage: die nach Göttern, ist verborgener. Denn sie geht auf eine Gegenwärtigkeit: die Gegenwärtigkeit der Götter. Im Anfang von Wort und Zahl ist diese Gegenwärtigkeit eine grundsätzlich andere als im 20. und 21. Jahrhundert, in dem Friedrich Kittler die Frage nach den Göttern stellt. Die geschichtliche Frage nach den Göttern, wie Kittler sie stellt, ist nicht religionsgeschichtlich. Sie hebt mit der einfachen Tatsache an, daß die griechische Gleichursprünglichkeit von Wort und Zahl einer Zeit angehört, in der es Götter gibt. Einer Zeit, in der die Götter nicht nur exzeptionell und herausgehoben im Verkehr mit den Sterblichen stehen, sondern auch selbstverständlich, in „einer Wechselseitigkeit, die Sterbliche und Götter ins Spiel des Austauschs und der Gegengaben bringt“.46 Sie gehen Liebesverhältnisse miteinander ein, die Götter wohnen mit den Sterblichen, sie werden von ihnen adressiert und sind Teil der oiko-nomia. Es sind diese Götter der Wechselseitigkeit, die, so Kittler, in Epos, Lyrik, Tragödie von griechischen Sängern und Dichtern gerufen und nicht 45

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Nach Lohmann seien zwei „orientalische Erfindungen“ von den Griechen übernommen worden: erstens das Alphabet und zweitens das Gnomon. Aus beiden hätten sie schließlich etwas grundsätzlich Anderes gemacht (Lohmann 1956–57/1970: 3). Friedrich Kittler: mmII.pdf (#1001.8144, application/pdf (2011-08-20T21:46:15Z). mmII. pdf. In: Bestand A:Kittler/DLA Marbach. xd002:/kittler/mm [xd, 282.12 KiB]): S. 34. Bei der nachgelassenen Datei handelt es sich um einen als pdf-Dokument fertig gesetzten Text von inklusive Literaturverzeichnis 86 Seiten aus dem geplanten Band II von Musik und Mathematik: Roma aeterna, Teil 1: Sexus: 5.1.1.2 Religion und Imperium.

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von Priestern inauguriert werden. Schon das macht innerhalb von Göttern und Schriften rund ums Mittelmeer einen spezifischen Horizont aus. Ob er sich von anderen Horizonten rund ums Mittelmeer unterscheiden läßt, das ist eine zentrale Forschungsfrage dieses Buchs. In allen Beiträgen geht es in verschiedener Weise um einen Anfang. Kittlers Frage nach dem Anfang steht in einer bestimmten Tradition. Kleine Sätzchen über Gerade und Ungerade, minusküle Operationen an Buchstaben legen den Grund des abendländischen Wissens. Doch wo Foucault mit Nietzsche am niederen Anfang, der Genealogie, festhält, da sind Götter und Schriften der niedere Anfang im großen. Zu Geringem auch kann kommen / Großer Anfang.47 Es ist eine geschichtsphilosophische Position des 20. Jahrhunderts, den Anfang groß zu denken. Mit Kittlers Frage nach den anfänglichen und gegenwärtigen Göttern steht, wie bei Heidegger, Geschichtlichkeit als solche auf dem Spiel. Es geht nicht nur ums klassische Altertum und seine Kunde, sondern erstens um die Kunde als solche, also ihre Medientheorie. Und zweitens um das Kommen, also die Herkunft, Zukunft, Abkunft, Ankunft der Götter in der Geschichte, ja als Geschichte. Götter und Schriften – das heißt in Kittlers Denken: Aus der Herkunft des abendländischen Wissens das „Nahen der Götter vorbereiten“.48 Doch wie nahen die Götter im 20. und 21. Jahrhundert? Als etwa der französische Architekt Le Corbusier eine neue gestalterische Weltordnung einführen will: ein universales Maß für alles, was im Raum gemacht ist, den „Modulor“, nimmt er nicht am Menschen Maß,49 sondern setzt auf pythagoreische Zahlenforschung: auf Erfahrungen mit seiner Zahl, der Zahl φ, genannt Goldener Schnitt. Auf ihr möchte Le Corbusiers Utopie eine Herrschaft der Zahl errichten.50 Sie ist nicht römischem Durchzählen, Abzählen, Auszählen und der „Trostlosigkeit der großen Zahl“ 51 verschrieben, sondern einem Zahlen-Wesen. Nun ist aber die irrationale Zahl φ eine Zahl, die eigentlich gar nicht existiert, 47 48

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Hölderlin: Griechenland [Dritter Entwurf] (1804), Vers 24 f. (Hölderlin MA, Band I: 479). Vgl. den Vortrag dieses Titels, der 2008 in der Tate Gallery of Modern Art, London, und 2011 in der Pinakothek der Moderne in München gehalten wurde. Der Vortrag wurde titelgebend für Friedrich Kittlers letztes Buch mit drei Texten und einem Gespräch (Kittler 2008/2012). Auch wenn es anfangs „anthropozentrisch“ sein sollte und das Grundmaß an einem englischen Polzeiwachtmeister genommen (sechs Fuss = 182,88 cm) (vgl. Le Corbusier 1948/1998: 50 und 56). Sie trägt am Ende totalitäre Züge: Eisenbänder im Verhältnis des Goldenen Schnitts rund um den ganzen Globus sollten jedem Menschen an jedem Punkt der Erde erlauben, „Maß zu nehmen“. Strauss 1967: 184; vgl. auch Kittler 2012: 143 f., 5.1.1.1 Dezimieren.

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nicht als eindeutiger Wert, sondern nur in Operationen der Näherung, etwa dem einfachsten denkbaren, ins Unendliche fortgehenden Kettenbruch, gebildet aus der natürlichen Zahl eins,52 oder, mit Richard Dedekind, „Intervallschachtelungen“. Le Corbusier ist beunruhigt über diese Nichtexistenz seines Maßes, er versucht immer wieder neue Werte, gibt Gutachten in Auftrag, korrespondiert mit Mathematikern.53 Am Ende des Modulor, einem Spitzenprodukt des Formalismus im 20. Jahrhundert, kommen aus dieser Erfahrung mit einem wesenlosen Zahlenwesen die Götter an. Le Corbusier schließt: „HIER spielen die GÖTTER!“ 54 Die pythagoreische Erfahrung mit den Göttern bei Le Corbusier ist eine Erfahrung des 20. Jahrhunderts. Eine breite, noch wenig erforschte, oft auch abschüssige Bahn führt die Götter in dieses Jahrhundert.55 Auf seinem Boden verzweigt ihre Bahn, keleuthos, schnell in Wege, hodus, die durch die verschiedensten Diskurse, Sprachen und Kulturen laufen.56 Friedrich Kittler kennt die Abzweigungen, manche nimmt er, andere nicht. Immer aber trägt er darin seine Erfahrungen der Gegenwart des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ein: ihres Wissens, ihrer Mathematik, ihrer Kriege, ihrer Technik, ihrer Sounds, ihrer Stars und Drogen, ihrer Lieben.

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Vgl. auch Berz 2004. Mit Andreas Speiser (Le Corbusier 1948/1998: 29 f.), mit Fräulein Elisa Maillard (ebd., S. 43 und 229 ff.), mit R. Taton, einem Mathematiker der Sorbonne (ebd., S. 231 ff.). Ebd.: 238 (Typographie so bei Le Corbusier). Zu Anfang des Kapitels „Mathematik“ heißt es im Modulor: „Die mathematischen Wissenschaften sind der Meisterbau, den der Mensch für sein Verständnis des Weltalls erdacht hat. […] Mauern erheben sich, vor denen man fruchtlos vorbeigehen und wieder vorbeigehen kann; zuweilen findet man ein Tor; man macht es auf, tritt ein, ist an einem fremden Ort, dort, wo die Götter wohnen, dort, wo sich die Schlüssel der großen Systeme finden. […] Hat man eines dieser Tore durchschritten, handelt nicht mehr der Mensch: [...]“ (ebd.: 73). Vgl. Walter F. Ottos Fragment Die Bahn der Götter (Otto 1953/1963). Nach Otfried Beckers schulbildender Studie über Das Bild des Weges im frühgriechischen Denken führt eine Bahn, keleuthos, die Götter direkt vom Olymp herunter (vgl. Becker 1937). Beckers Arbeit dürfte Walter F. Otto bei der Wahl seines Titels bekannt gewesen sein. Über den für Kittlers Denken so wichtigen französischen Weg etwa kann hier nicht gehandelt werden. Er führt von Paul Valéry über Pierre Klossowskis Le Bain de Diane (1956), Marcel Detiennes Dionysos à ciel ouvert (1986) bis zum Werk des Kittler befreundeten schwedischen Altphilologen Jesper Svenbro: Phrasikleia. Anthropologie des Lesens im alten Griechenland (2005), das von einem der engsten, universitären Mitarbeiter Kittlers, Peter Geble, übersetzt wurde.

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III.1 Die Götter der Maschine Ein erster Weg von Kittlers Göttern 57 führt dahin, wo im 20. Jahrhundert Der Mensch verschwindet. Denn nicht nur bleibt am Platz, wo seine Zeichnung im Sand zu sehen war, der blanke Strand, überspült vom Wasser des Ozeans. Der Platz selbst verlagert sich auf den Ozean – und dort erscheinen Götter.58 Am Ende von Les mots et les choses (1966)59 läßt Michel Foucault Nietzsches letzten Menschen auftreten. Dieser Mensch schaffe mit der Tötung Gottes zugleich sich selbst ab. „Da der letzte Mensch im Tod Gottes spricht, denkt und existiert, ist sein Akt der Tötung Gottes selber dem Tod geweiht“. Und darauf, nach einem Strichpunkt, der Nachsatz: des dieux nouveaux, les mêmes, gonflent déjà l’Océan futur – „neue Götter, die gleichen, wühlen bereits den künftigen Ozean auf“.60 Foucault schweigt sich aus über die neuen, die gleichen, neuen gleichen, alten gleichen Götter.61 Friedrich Kittlers Spätwerk wird sie bei Geschlecht und Namen nennen: nicht die Machtgötter Zeus, Poseidon, Hades, nicht Athena und Hera, sondern Aphrodite, Dionysos, Pan und die Göttinnen der Odysee: Kirke, Calypso, Leukothea, die Sirenen. Er wird ihre Ankünfte, ihre Fluchten als Mediengeschichte beschreiben. Doch schon in den frühen 90er Jahren – weit vor der von manchen behaupteten Kehrtwende zu den Griechen in Musik und Mathematik – gibt Kittler den Foucaultschen Göttern ihr und ihre Echo. Ein Gespräch mit der Berliner Philosophin Gerburg Treusch-Dieter über Marx und die Maschine, über Codes und Alphabete landet unvermutet bei den Göttern. (Freiheit, Bildung, Wagemut der beiden Gesprächspartner dürfte in der deutschen Geisteslandschaft Anfang der 1990er Jahre seinesgleichen schwerlich finden.) Die Götter werden im Verlauf des Gesprächs zum Gegenentwurf von Anthropologie, Ökonomie und „Kritik“, als einem Dispositiv von Theorie.62 57 58

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Siehe im hier vorliegenden Band den Text Friedrich Kittlers: „Theologie“. … Es nehmet aber / Und giebt Gedächtnis die See, / ... (Hölderlin: Andenken, 5. Strophe, Vers 56 f. (Hölderlin MA, Band I: 477)). Hölderlin steht für den jungen Foucault in einer Linie mit Nerval, Nietzsche, Artaud. Foucault 1966/1990 (frz.): 396; Ders. 1966/1980 (dt.): 460. „Puisque c’est dans la mort de Dieu qu’il parle, qi’il pense et existe, son meurtre luimême est voué à mourir; des dieux nouveaux, les mêmes, gonflent déjà l’Océan futur.“ (Foucault 1966/1990 (frz.): 396). Walter F. Otto hatte 1937 behauptet, daß „die europäische Kultur überhaupt“ und als ganze auf dem Kampf der alten und der neuen Götter basiere: „ [...] unser geistiges Sein gründet sich auf dies Grundmotiv der griechischen Religion, den Kampf der alten und neuen Götter“ (Otto 1937/1939: 24). Vgl. Kittler/Treusch–Dieter 1994. Der Band, in dem das Gespräch erschien, versammelt fünf Jahre nach dem Ende der DDR vor allem linke Intellektuelle und befragt sie über ihr Verhältnis zur Marxschen Theorie. Die Aufnahme Kittlers in die Reihen der lin-

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Im Horizont von Marx’ „Maschinerie und großer Industrie“ ist das Verschwinden des Menschen von Anfang an konkret und kleingeschrieben: Er wird durch die Maschine ersetzt und ihren letzten state of the art von Automatisierung und Informatisierung.63 So radikal und positiv und positivistisch wie möglich schlägt sich Kittler auf die Seite der Maschine und der „Welt des Symbolischen“ in ihrer Geschichtlichkeit.64 Die Gesprächspartnerin Treusch-Dieter führt dagegen die Welt des Biologischen und geschlechtlicher Konkretion ein: biomedizinische, molekulargenetische Techniken, die die Frau ersetzen sollen. Sie fragt, ob diese Abschaffung des Menschen mit technologischen Mitteln noch irgendwie „legitimiert werden kann“. „Kittler: Die Abschaffung des Menschen läßt sich nicht humanistisch legitimieren. Das ist vollkommen klar! Es gibt nur den einen Weg, wie Adam in den Apfel zu beißen und zu sagen, die Maschine shall take over. Also, er hat Selbstmord begangen. Treusch-Dieter: Also die Maschinen sollen übernehmen und er selbst schafft sich ab. Kittler: Ja. Treusch-Dieter: Und das findest Du okay? Kittler: Find’ ich okay. Treusch-Dieter: Warum? Kittler: Theoretisch find’ ich das okay, wie alles, was Foucault gemacht hat.“65 Die Informationsmaschinen sind nicht nur die Abschaffung des Menschen, sondern führen aus der foucaultschen Dreiheit des 19. Jahrhunderts von „Leben Arbeit Sprache“ hinaus. Sie verwandeln die Arbeit und ihre Agenten als solche, die Marx vom Kopf des Begriffs auf die Füsse der Ökonomie und der realen Lage der Arbeiter gestellt hatte. Die im Produktionsprozeß verbleibenden Arbeiter und Angestellten 66 „werden maschinisiert“.

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ken Intellektuellen überbrückt auch zwei Kulturen: die aus Frankreich kommende, am Strukturalismus und mitunter Heidegger orientierte 68er Generation und die politisch engagierte, marxistische, feministische 68er Generation. Vgl. etwa das seinerzeit wichtige Buch des Freundes und späteren Kollegen Friedrich Kittlers Wolfgang Coy über Industrieroboter (Coy 1985). Vgl. Kittler 1989/1993. Kittler/Treusch-Dieter 1994: 89. Friedrich Kittler hatte mit dem programmatischen Begriff von den „Diskursangestellten“, also dem, auch sozialgeschichtlichen, Blick auf die Sekretärin oder dem Blick auf den Denkschriften verfassenden Beamten, preussisch oder als Subjekt, die Seite der Angestellten mehr im Blick als die der Arbeiter.

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„Kittler: […] So wie einst die Leute durch den Buchdruck bis in die Köpfe hinein maschinisiert worden sind, geht es heute damit weiter, daß wir die Sprache der Maschinen sprechen werden. Gut marxistisch sollte uns das aber gar nicht schrecken, es ist Hegel vom Kopf auf die Füsse gestellt: nicht die Idee entäußert sich in die Natur, sondern bestenfalls entäußert sich die Natur in Götter und kommt dann wieder zu sich selber zurück. Das ist doch ein materieller Prozeß, der da abläuft. Die Codes, die heutzutage schon ins Herz der Materie hineingeschrieben werden, noch nicht in die Atome, aber in die Moleküle, sorgen durch uns hindurch dafür …“ 67 Die Bahn der Götter ins 20. Jahrhundert ist hier also die Schleife einer Entäußerung jenseits von Subjekt, Mensch und Arbeit: wenn sich die Materie und die Codes von selbst untereinander verständigen. Die Götter kommen an, wo die Alphabete im Realen zu hausen beginnen. Bleibt jene, Gesprächspartnerin und Gesprächsleiter beunruhigende Frage nach der Differenz zur Maschine, wenn kein Mensch, keine Kritik, kein Alphabet ihren Göttern entkommt. Sind denn Götter, Maschinen, Codes nicht gemacht von einem geschichtlichen Subjekt, das kritisch ist, Entscheidungen fällt und Alternativen hat? „Kittler: Ich bin kein kritischer Theoretiker, das tut mir einfach leid, ich habe keinen denkbaren Grund für irgendwelche Kritiken. Was ich eben nicht glaube, ist, daß die Menschen am Anfang in irgendeiner absichtlichen oder unabsichtlichen Weise erst mal die Götter erfunden und dann an den Himmel projiziert haben und es nunmehro darauf ankäme, dieses vergessene Faktum wieder rückgängig zu machen, sie vom Himmel zurückzuholen; sondern ich finde, die Götter gehören an den Himmel und waren früher da als die Menschen, und nun haben sie seit langem begonnen, in den Maschinen zu hausen. Da habe ich keinen ordentlichen Punkt, von dem aus ich sie kritisieren könnte.“ Wo die Geschichte im Zeichen der Götter nicht von kritischen Subjekten gemacht ist, ereignet sie sich in Einheiten, die größer sind als Subjekt und Mensch. Die programmierbare Maschine etwa, in der die Götter hausen, ist Teil einer langen Geschichte von Alphabeten. Slapstickartig entwirft Kittler ein Stück Sprachgeschichte (ungenannt Lohmann folgend): von indoeuropäischen Sprachen mit „Flexion und Endung“ zu formalen Sprachen.

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Ebd.: 90; die drei Punkte stehen im Orginal, weil der Gesprächsleiter mit einer Frage das Gespräch weiterlenkt.

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„Es scheint mir ziemlich plausibel, aus diesem indo-europäischen Sprachsystem, so wie es nun einmal irgendwie aus dem Grund der Zeiten hervorgekommen ist, das Vokal-Alphabet abzuleiten, weiter das Vokalalphabet als Bedingung der griechischen theoria zu betrachten, weiter die Explosion der modernen Mathematik hieraus zu erklären, nachdem noch im 13. Jahrhundert das indische Zahlensystem als weiterer Virus [68] über Arabien importiert worden war. Diese Explosion hat alles möglich gemacht, was uns seit Marx beschäftigt.“ 69 Sprachgeschichte und Mathematik, Schriften und Götter sind die Antwort auf jene „Schuld der Maschinen“, die von der Gesprächspartnerin als religiöse Gewalt der Abstraktion gedacht werden, „Auferstehung des Fleisches in Sündlosigkeit“.70 So öffnet der Weg, den Ursprung der Maschine mit Lohmann zu denken, mitten im Maschinendenken am Ende des 20. Jahrhunderts einen Weg zu den Göttern. Götter als Mächte, die über Den Menschen, über die Geschichte des Subjekts hinaus sind, sind eben darin nicht nur die Götter der Maschinen, sondern auch die Götter der Medien. Die Rockmusik und ihre Medien: UKW Radio, Tonband, elektronische Soundsysteme sind und bringen, wenn sie um ihre Hörer weit jenseits menschlicher Macht magische Schlingen legen, „neue Götter“, die zugleich die alten sind.71 In das hier vorliegende Buch ist ein Text aus dem digitalen Nachlaß Friedrich Kittlers aufgenommen, der aus der Zeit kurz vor dem Gespräch mit TreuschDieter stammt. Darin heißt es: 68

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In einer Lieblingsgeschichte Kittlers aus William S. Burrouhgs’ Electronic Revolution „Feedback from Watergate to the Garden of Eden“ (Burroughs 1970/2005) wird einem fiktiven Wissenschafler die Theorie in den Mund gelegt, daß zuerst die Schrift, dann die Sprache da gewesen sei, und die Schrift als Virus den Kehlkopf von Affen befallen habe und die Sprache hervorgebracht. In Kittlers slapstick-Fassung: „Ich kann da nur mit der Geschichte meines geliebten Burroughs antworten: Sprache ist ein Virus von einem anderen Planeten, irgendwann befällt er die Affen und sie werden alle verrückt und koitieren und die meisten sind gestorben und die, die überlebt haben, können plötzlich sprechen und sind Menschen.“ (Kittler/Treusch-Dieter 1994: 93). Der SchriftVirus, eine Wiederaufnahme des alten logos spermatikos, nimmt bei Burroughs auch die Form eines Tonbandschnipsels an (vgl. im vorliegenden Band auch die Einführung zum Beitrag Peter Weibels). Kittler/Treusch-Dieter 1994: 95. Ebd.: 94. Im Hintergrund steht Günther Anders’ „prometheische Scham“ des Menschen vor seinen Maschinen. Vgl. Kittler 1988/2002: 10; vgl. auch hier weiter unten: III.3 Die wiederkehrenden Götter.

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„Kittlers Götter, soweit man sie entziffern kann, scheinen unwandelbar dieselben. Keine Dekonstruktion hat je an ihnen gezehrt. Daß sie nicht sterben können, steht irgendwo, sorgt für periodische Wiederkehren. Daß sie, wie es irgendwo anders heißt, nur am Hohngelächter sterben, wenn einer von ihnen sich zum einzigen Gott, zur einzigen Wahrheit erklärt, sagt dasselbe auf selbige Weise.“ 72 III.2 Die gegenwärtigen Götter „Das Gespräch ist festlichen Wesens.“ 73

Ein zweiter Weg von Kittlers Göttern hört nicht mehr auf Foucault. Er liegt im Bereich jener wohl folgenreichsten Tat von Kittlers Werk: Heidegger vom Kopf auf die Füsse zu stellen. Das heißt erstens: auch Heideggers Götter vom Kopf der Dichtung auf die Füsse von Musik und Mathematik, von alphabetischen Medien und einer Geschichte der Liebe zu stellen. Das heißt zweitens: Heideggers seinsgeschichtliche Grundstellungen zu übernehmen 74 – den Großen Anfang, die Flucht der Götter und ihre Wieder-Kehren. Eine kleine Datei margot.utf, angelegt zwischen 2005 und 2010, aus Kittlers digitalem Nachlaß eröffnet auf überraschende Weise diesen zweiten Weg von Kittlers Göttern.75 Die Datei beinhaltet in der äußersten Zeichenökonomie seiner Arbeitsweise in 546 Wörtern zwei Listen: Stellenverzeichnisse aus der Lektüre zweier Bücher. Die beiden Listen machen die Ankunft der Götter im Denken des 20. Jahrhunderts zum plot. Und plots liebte Kittler bekanntlich so sehr, daß er von ihnen her dachte.76 72 73 74 75 76

Siehe den Abdruck des Textes im vorliegenden Band. Heidegger 1941–42/1992: 157. Vgl. Heideggers Vorlesung vom Sommersemester 1937: Nietzsches metaphysische Grundstellung im abendländischen Denken (Gesamtausgabe Band 44). #2008.1324940, application/octet-stream (2010-08-21T09:39:08Z). margot.utf. In: Bestand A:Kittler/DLA Marbach. hd04-p01:/mnt/old/usr/ich/mm [hd, 3.27 KiB]. Veröffentlicht taucht der plot aus margot.utf etwa in Musik und Mathematik Band I.2 Eros auf (vgl. Kittler 2009: 184 f.), ohne Bezug auf Ottos Briefe; oder in einem Gespräch mit Frank M. Raddatz im Dezember 2010 (vgl. Kittler/Raddatz 2011: 91). Im Nachlaß finden sich auch die Anfänge eines bis auf fünf kurze Absätze ausformulierten, aber nicht weitergeschriebenen Textes mit dem Titel „Vor Sternenjahren. Als Margot, Prinzessin von Sachsen-Meiningen, mit Martin Heidegger vor lauter Liebe von der Liebe sprach“. Er wurde entworfen für ein nicht genanntes Feuilleton (zu vermuten der Frankfurter Allgemeinen Zeitung) und präsentiert sich als ergänzende, „kleine Konjektur, die vielleicht doch große Folgen hat,“ zur Archivpolitik des Marbacher Literaturararchivs und der Heidegger-Gesamtausgabe (#2008.1325033, text/plain (2010-08-21T09:39:11Z). groessler.utf. In: Bestand A:Kittler/DLA Marbach. hd04-p01:/mnt/old/usr/ich/mm [hd, 2.59 KiB]).

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Margot ist eine Prinzessin mit dem bürgerlichen Namen Margot Größler und stammt aus einer Breslauer Kaufmanns-Familie. Sie heiratet, wie Adelsgenealogien es genau verzeichnen, am 25. April 1931 in Eichenhof im Riesengebirge den Prinzen Bernhard von Sachsen-Meiningen. Die seitdem Prinzessin Margot von Sachsen-Meiningen hat neben dem hochgeborenen Gatten zwei Kinder,77 eine Kuh und zwei berühmte Liebhaber. Von Margots Leben – „so sind doch Einzelheiten stets willkommen“ 78 – ist bislang wenig bekannt.79 Jedenfalls zieht sie sich um 1942 ohne Mann mit den zwei Kindern in das Dörfchen Hausen an der oberen Donau zurück, kurz unterhalb von Beuron. Sie hält zur Ernährung der kleinen Familie eine Kuh und ab 1944 bewohnt man ein „Forsthaus“, das ist: ein Wirtschaftsgebäude von Schloß Hausen, dessen Ruine hoch über dem Tal der Donau aufragt.80 Das Haus trägt den familiären Codenamen „Adlerhorst“. Im Sommersemester 1942 schreibt sie sich an der Universität Freiburg im Fach Philosophie ein. Es ist anzunehmen, daß sie sich die Vorlesung eines gewissen Professor Heidegger nicht entgehen ließ: Er liest zum dritten Mal ein ganzes Semester lang über eine Hymne Friedrich Hölderlins, diesmal die Hymne „Der Ister“. Ístros ist der griechische Namen für die Donau.81 Ab Oktober 1942 ist in Heideggers Briefen an seine Frau von der Prinzessin die Rede.82 77 78 79

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Sie stammen aus morganatischer Ehe, sind also ohne Sukzessionsrecht. Wladimir Nabokov: Gelächter im Dunkel (1951/1954/1967), zweiter Absatz. Im Oktober 1933 sitzt der Gatte einige Monate im Gefängnis und sie selbst unter Hausarrest auf der Burg der Familie Sachsen-Meiningen zu Pitzelstetten in Kärnten. Dieses österreichische Bundesland mit brauner Vergangenheit und brauner Gegenwart war Anfang der 1930er Jahre die Wahlheimat vieler deutscher Adliger. Sie sollten Kärnten deutsch machen. Nach der Machtergreifung fürchtet in Wien die austro-faschistische Regierung Dollfuß einen nationalsozialistischen Umsturz. Das fürstliche Paar wird verhaftet und angeklagt, NS Propaganda zu betreiben. Aktenkundig ist etwa, daß man im Auto mit Naziflagge durch Klagenfurt fuhr. Über die realen Umsturzpläne in den beschlagnahmten Akten kann fürs erste nur spekuliert werden. Margot bleibt in Gesellschaft einer Freundin zwei Monate streng bewacht im Schloß und hinter Riegeln (Bericht Associated Press in, vermutlich, New York Times vom 21. Oktober 1933: http:// royalmusingsblogspotcom.blogspot.de/2009/10/german-princess-jailed-by-dollfuss. html). Der jetzt dreiteilige Bau gehörte dem Grafen Douglas (vgl. Heidegger 2005: 222, Erläuterung der Herausgeberin Gertrud Heidegger) und ist heute noch im Besitz der Familie Douglas. Das Haus liegt ein wenig oberhalb der Ruine von Schloß Hausen. Die Griechen nennen den unteren Lauf der Donau Ístros, den oberen Danoúbios. „Hölderlin aber benennt (…) gerade den oberen Lauf der Donau mit dem griechischrömischen Namen für den unteren Lauf des Stromes, gleich als ob die untere Donau an die obere und damit an ihre Quelle zurückgekehrt sei.“ (Heidegger 1942/1993: 10). Wie das Nennen des Namens in der Hymne selbst benannt wird, vgl. Heidegger 1946– 48/2000: 170 – 173. „Die Prinzessin schreibt mir kurz, dass sie plane, die Kinder nach dem Birklehof zu

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Die Annäherung von Philosoph und Prinzessin muß fürs erste im Dunkel bleiben, aber Heidegger hält sich schon seit 1939, aufgrund der vorübergehenden Schließung der Universität Freiburg nach Beginn des deutschen Überfalls auf Polen, lange Monate in Meßkirch auf und beginnt mit dem Bruder zusammen seine Manuskripte der letzten zwanzig Jahre zu sichten, durchzuarbeiten, zu sortieren und Abschriften zu machen.83 Die Sichtung wird im Februar 1945 mit Sicherung verbunden. Zusammen mit Bibliothekar Dr. Hoffmann aus Stuttgart, der eine „Unterbringungsmöglichkeit für die Hölderlinmanuskripte sucht“, inspiziert man eine Höhle über der Donau. In Blechkisten sollen dort Hölderlins und Heideggers Manuskripte gelagert werden, die Spuren verwischt und der Lageplan bei „vertrauenswürdigen Leuten“ hinterlegt. „In allen Wirren ist es ein schöner Gedanke, zu denken, dass meine Arbeiten mit Hölderlin zusammen in den Felsen an der Donau ruhen dürfen.“ 84 Eine individuelle Versetzung nach Meßkirch ist unmöglich, aber als Anfang 1945 die Universität schließt, zieht – auf Betreiben Heideggers – die philosophische Fakultät samt Institutsbibliothek auf die Burg Wildenstein, um dort den Lehrbetrieb weiter aufrecht zu erhalten. Die Burg liegt von Meßkrich einen alten Kindheitsweg weit entfernt und einen Fußmarsch weit von Hausen. Der Philosoph geht bei der Prinzessin aus und ein. Briefe an Ehefrau Elfriede kommen schon ab Sommer 1944 oft direkt aus Hausen. In diesen Monaten nun, so die kriminologische Vermutung Friedrich Kittlers, entsteht ein großer, zu Lebzeiten nicht veröffentlichter Text, den Heidegger selbst auf 1946 datiert, Ausarbeitung: 1948.85 Nur Ehefrau Elfriede zuliebe 86 oder durch Erinnerungstäuschung sei er auf 1946/1948 umdatiert worden.87

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geben.“ (Heidegger 2005: 217). Kittler, dem Theoretiker der Erziehung und ihrer Anstalten, entgeht das nicht (vgl. margot.utf). Der Birklehof ist ein privates Gymnasium in Hinterzarten, das aus der Reformpädagogik der 1930er Jahre kommt, gegründet 1932 von Kurt Hahn und während des Nationalsozialismus geleitet von Wilhelm Kuchenmüller, dessen Nähe zum Regime umstritten ist. Einziges Ziel der Erziehung sei es, eine persönliche Leidenschaft zu finden. Vgl. Heidegger 2005: 205, 227, usw.. Brief aus Meßkrich vom 15. April 1945 (ebd.: 237). Vgl. das Deckblatt von Heidegger 1946–48/2000. Auch Odysseus erzählt, wie Musik und Mathematik es genüsslich erzählt, nach seiner Rückkehr bloße Geschichten von Sirenen, Kirke, Calypso und all den Inseln der Liebe (vgl. hier weiter unten). Die Fakten sind eindeutig: Der erste Brief Heideggers aus Margots Hausen datiert vom 14. August 1944. (Im Text des Abendländischen Gesprächs wird öfters vom Herbst die Rede sein.) Die erste definitive Erwähnung des Gesprächs ist der Brief vom 23. März 1945: „Ich schreibe an einem ‚Gespräch‘ – eigentlich habe ich die ‚Inspiration‘– ich muß es schon so nennen, gleichzeitig zu mehreren.“ (Heidegger 2005: 235), und im Brief vom 3. April heißt es: „Es sind jetzt über 120 Mscr. Seiten; Fritz hat mit der Abschrift

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Der Text ist kein Aufsatz, kein Vortrag und keine Vorlesung, sondern ein Gespräch: „Das abendländische Gespräch“. Man spricht über die Gegenwart der Götter, spricht an der oberen Donau, über ihr und über sie, der Adler kreist und die Vermutung liegt nicht fern, daß der Ort des Gesprächs das Forsthaus ist und die beiden Gesprächspartner D.A. und D.J. zu lesen als „Der Ältere“ und „Die Jüngere“. Friedrich Kittler hat auf dieses Gespräch und seinen Hintergrund immer wieder Bezug genommen.88 Margot Größlers Anteil am Weg der Götter ins 20. Jahrhundert hat damit jedoch kein Ende. Nach dem Krieg, im Frühjahr 1947, nimmt die Prinzessin Kontakt zu dem berühmten Gräzisten Walter F. Otto in Tübingen auf, dessen Bücher über Die Götter Griechenlands (1929) oder Dionysos (1933) auch Nicht-Gräzisten, von Heidegger bis zu Friedrich Kittler, in die Welt der griechischen Götter einführten.89 Margot Größler tauscht mit Otto zehn Jahre lang Briefe, Texte,

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schon begonnen.“ Am 10. April berichtet er über den Lehrbetrieb in Burg Wildenstein, am 14. Juni wartet man auf das Auto, das die ganze Fakultät zurück nach Freiburg bringen soll, und am 27. Juni findet der berühmte, für lange Zeit letzte Vortrag „Die Armut“ in Margots Forsthaus statt. Im Februar beginnt Heidegger die Behandlung bei Viktor von Gebsattel, mit stationärem Aufenthalt im Sanatorium von Badenweiler und Traubenzuckerspritzen („was das Gesamtbefinden wohltätig beeinflußt“). Dort beginnt er im Nachdenken über M. wieder zu arbeiten, durchaus möglich auch am zweiten Teil des Gesprächs. Alles Weitere ist, bevor der Briefwechsel Größler/Heidegger nicht freigegeben ist, Spekulation. Intern könnte die Freigabe im April 1946 stattgefunden haben: „Mit Deinem Brief zusammen kam ein kurzer Gruß von M[argot]., worin sie mir sagt, sie wolle Dir ihre Briefe an mich zum Lesen geben.“ (Brief aus Badenweiler, 8.4.1946, in ebd.: 249). Im Kapitel Die Silbe spricht des Aristoteles-Teils von Musik und Mathematik I.2 Eros wohl am ausführlichsten (vgl. Kittler 2009: 184 f.). Vgl. aber auch Kittler/Raddatz 2011: 91. Vgl. Otto 1929/1947 und Ders. 1933/1996. Heidegger und Otto verbindet eine lange Geschichte (vgl. Stavrou 2001). Sie beginnt 1928 mit der gemeinsamen Arbeit am Nachlaß Max Schelers und setzt sich seit 1933 im Wissenschaftlichen Ausschuß der „Historisch-Kritischen Gesamtausgabe“ Nietzsches in Weimar fort, den Heidegger 1942 nach jahrelangen Reibereien mit dem Amt für Schrifttumspflege verläßt. Der geradezu erstaunlichen Parallelität der intellektuellen Biographie beider – Entdeckung Hölderlins und Neuerschließung Nietzsches: zwei Vorträge Heideggers und Ottos über Hölderlin werden ein Jahr versetzt Frühjahr 1936 und 1937 am gleichen Ort in Rom gehalten (Heidegger 1936/2012 und Otto 1937/1939) – stehen tiefste philosophische, vielleicht auch politische Differenzen gegenüber. Sie betreffen nicht nur einen Prioritätsstreit über die Theorie der dionysischen Maske als Anwesen des Abwesens und Abwesen des Anwesens (vgl. Heidegger 1934–35/1999: 190). Nietzsches Spätwerk und Hölderlin als zwei äußerste, seinsgeschichtliche Anti-Poden – das kann Ottos elementaren, hölderlinschen, vom frühen Nietzsche inspirierten Göttern nicht dämmern. Erst in den 1950er Jahren scheinen sich Heidegger und Otto wieder einander anzunähern. 29. März 1950: „[...] dass ich zu Heidegger wieder eine große Zuneigung gefaßt habe. Während mich seine vorletzten Produkte nicht angenehm berührten, machten

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Musikalien aus, besucht ihn in Tübingen und Otto kommt zu mehreren, auch längeren Aufenthalten ins Forsthaus, in dem die Prinzessin noch nach dem Krieg wohnt. Man spaziert gemeinsam an der oberen Donau und spricht über die Gegenwart der Götter. Die Briefe, die Otto von April 1947 bis zwei Monate vor seinem Tod im September 1958 schrieb, erschienen – ohne die Antworten der Adressatin – aus dem Archiv und unter Mitarbeit Margot Größlers 1963: „Walter F. Otto: Die Wirklichkeit der Götter“.90 Diese Wirklichkeit mündet auch für Otto in ein fiktives Gespräch. Es findet zwischen einem Ich und einem Freund statt, unter dem Titel: „Die Bahn der Götter“.91 Margot Größler kommentiert das Gespräch und behauptet direkt, der „Freund“ sei sie.92 Wie zum Beweis steuert sie ein weiteres Gespräch bei, aufgezeichnet aus eigener Erinnerung.93 In den beiden Gesprächen über die Gegenwart der Götter tauschen zwei Männer also ihre Reden mit einer Frau.94 Als Margot Größler sich nach dem Krieg dichterisch versucht, schreibt sie ein Dionysos-Drama.95 Kittler kann der Konstellation an der oberen Donau präzise Götternamen geben: „Ariadne = Margot, MH = Theseus, Otto (‘Dionysos’) = Dionysos, der Ariadne vom verräterischen Theseus erlöst.“ 96 Auch die Frage nach den Göttern des 20. Jahrhunderts fällt also nicht vom Himmel, sondern bildet sich wie preussische Beamte, Dichter und Mütter im 19. Jahrhundert über eine bestimmte Anordnung der Geschlechter – jetzt nicht über familiäre Anordnungen, sondern eine Anordnung von Göttern am Rand zweier bürgerlicher Ehen.

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die ‚Holzwege‘ einen großen Eindruck auf mich.“ (Otto 1963: 94). Nach einem Stuttgarter Vortrag Heideggers und einem mit ihm verbrachten Abendessen ein Jahr später: „ungemein sympathisch“ (ebd.: 97). Otto 1963. Otto 1953/1963. Und einige andere darin aufgenommene Personen, die sie namentlich nennen könne („Aus den Aufzeichnungen der Prinzessin von Sachsen-Meiningen: Einleitung“, in: Otto 1963: 134 – 138). „Gespräch am Waldrand“ (in: Otto 1963: 138 – 143). Kittlers Exzerpte verzeichnen genau: „114 Otto duzt ab Juli 1953“ [korr.: 31. Juli 1955] (Otto: Wirklichkeit der Götter, S. 114). Die Anrede entwickelt sich von „Hochverehrte Prinzessin!“ bis „Liebe, innig verehrte Freundin!“ (ebd.: 86 – 133). Schon der erste, von Größler ausgewählte Brief Ottos spricht davon: „Wie viel mir Dionysos und Ariadne, und die griechischen Götter überhaupt zu denken geben, das zeigen einige meiner Bücher.“ (Otto 1964: 86) Oktober 1948: „Macht die Dichtung Fortschritte? Ich bin sehr gespannt darauf.“ (ebd., S. 91). September 1951, Postskriptum: „Ich gedenke der wahrhaft tiefen und schönen Worte Ihrer Ariadne-Theseus-Szene.“ (ebd., S. 99). Vgl. margot.utf. Der Verrat: Heidegger gibt seine Ehe mit Elfriede nicht auf. Was Margot Größler erhoffte, wissen wir ohne ihre Briefe nicht.

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Ihre Musik Die Gegenwart der Götter steht in Walter F. Ottos Gespräch von Anfang an zwischen Freund und Ich. Nicht die der großen Götter, sondern die der Musen und Nymphen und ihres Gottes Pan. Die erste Frage ist, ob die Gegenwart dieser Götter an einen Ort gebunden ist? Literarisch absichtsvoll wird die Erzählung zweier Bekannter eingeführt, die beide an bestimmten Orten – in Delphi der eine, auf den südamerikanischen Cordilleren der andere – die Erschütterung göttlicher Gegenwart erfahren haben sollen. Unter der Hand tritt dabei die Lokalität des Gesprächs selbst auf den Plan: die Landschaft „hoch oben über dem Donautal“, also um Margot Größlers Forsthaus.97 Der Boden dort ist trocken, ohne Chance der Kultivierung durch den Menschen, eine „Urwelt“,98 „kein Land für menschliches Wohnen“,99 hier herrscht „die heilige Stille, das Ungeheure des Ursprünglichen“.100 Aber wenn nun, so die bange Frage, Motorsägen kommen und hier ein Stück Autobahn gebaut wird und „der Odem der Urnatur“101 von „Autos und Motorrädern mit ihrem Benzingeruch und Lärm“102 hinweggefegt? Wohnen dann die Götter immer noch da? Vom Ort der gegenwärtigen Götter bewegt sich das Gespräch auf die zweite Frage zu: die Macht der Götter. Haben sie Macht über ihren Ort, ja haben sie überhaupt Macht? Warum sollen oder müssen Götter mächtig sein? Mit Heidegger gedacht: die Macht einer Wirkung haben, eines Bewirkens und das ist, auf der metaphysikgeschichtlichen und geschichtlichen Bahn der Götter ins 20. Jahrhundert, Willen zur Macht. Der „Freund“ denkt dem gegenüber eher an die epikureischen Götter, die „nur sind“ – weit weg und machtlos.103 Die „verhängnisvollste Vermenschlichung des Göttlichen“ sei es, „ihm den Willen zur Macht und Herrschaft zuzuschreiben“.104 Man müsse die Götter „nicht als mächtig und als machtvoll handelnd denken“.105 Das einzige, was man über sie sagen könne: sie sind. Sie sind Götter ganz ohne Macht und nur da oder eben fort. Die Gesprächspartner überkommt bei diesem Gedanken ein Glücksgefühl. Otto 1953/1963: 63. Ebd.: 134. 99 Ebd.: 63. 100 Ebd.: 66. 101 Ebd.: 94. 102 Ebd.: 76. 103 Vgl. Walter F. Ottos Text über Epikur: Walter F. Otto: „Lust und Einsicht: Epikur“, in: Ders. 1963: 10 – 43. 104 Otto 1953/1963: 72. 105 Ebd.: 70. 97 98

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Denn: „Wo lebendige Macht ist, da ist kein Wille, sondern ein Sein.“106 Doch das Ich des Gesprächs hat Einwände und möchte sich „lieber auf die Seite Homers stellen“. Denn dort seien, anders als bei Epikur, die unerreichbar entrückten Götter „zu gleicher Zeit unmittelbar gegenwärtig“.107 Diese Form der Gegenwärtigkeit wird es sein, die auch die Götter in Friedrich Kittlers Homer-Analysen trägt. Drittens aber nimmt das Gespräch sehr bald eine Wendung zur Musik, genauer: zum Musikinstrument. Ist nicht, so der Freund, der Ort der Götter wie eine Violine – ist sie zerstört, klingt keine Musik? Das Ich gerät in Rage über derartige Plattitüden. Es sei ein menschlicher Spieler, der seine Hand führe und er spiele die in der Regel „längst von einem anderen aufgeschriebene“ und komponierte, also geschaffene Melodie.108 Der Freund verfolgt seinen Gedanken unverdrossen weiter. Daß der Komponist ein Schöpfer sei, Schöpfer seiner Werke, wäre griechisch ganz undenkbar.109 Homer rufe „eine Gottheit, die Muse, an, dass sie singen möge“.110 Man müsse diesen Musen sogar im Instrumentenbau treu bleiben. Der „Erfinder und Erbauer“ des Instruments sei kein Schöpfer, sondern, indem er auf Naturgesetze hört und sich unter seiner Hand „naturgeborene Stoffe“ wie Holz, Harz, Lack zusammenfinden, verwirklicht er einen „Willen der Natur“: Das Instrument ist ein „Organ“. Es entbirgt die physis,111 also jene Spezialsphäre, die griechisch für alles steht, was von selbst hervorkommt und hervorgeht.112 Schon im Instrument als Organ sind die Musen da. Das schreibt sich im Laufe des Gesprächs immer weiter in die physis zurück. Etwa wenn das musikalische Instrument als Organ die Stimme ist, das Stimmorgan. Dann geht es bei der Frage nach dem Instrument nicht ums Handwerk, sondern um die, modern gesprochen, biologische Evolution eines Organs. Und dieses Organ ist da – vor seinem Gebrauch. „‚Die Tiere‘, sagt Goethe, ‚werden durch ihre Organe belehrt‘.“ 113 Doch wirken auch in der biologischen Entwicklung der Stimmorgane die Musen? Wie bei Goethe das Licht sich aus gleichgültigen Häuten ein ihm ähnliches Organ schafft, so daß inneres Licht und äußeres Ebd.. Ebd.: 69 108 Ebd.: 77. 109 Hans Blumenberg leitete 1957 aus der Geschichte des Künstlers als Ich und Schöpfer seiner Werke die Vorstellung vom Schöpfer-Gott ab (Blumenberg 1957/2009). 110 Otto 1953/1963: 77; vgl. auch Ders. 1955. 111 Ob Otto Heideggers Aristoteles-Studie von 1939 gekannt hat, in der ganz ähnliche Gedanken vorkommen, ist unklar (vgl. Heidegger 1939/2004). 112 Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Oliver Primavesi: Kapitel III; und die Respondenz zu Oliver Primavesi ‚Tetraktys und Göttereid‘ : IV. Physis. 113 Otto 1953/1963: 79. 106 107

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sich begegnen können, so sei es „die Muse“, die aus Häuten und Muskeln ein Stimmorgan schafft, so daß „der eingeborene Gesang dem göttlichen begegnen und mit ihm eins werden kann“.114 Die Natur als Schauplatz der gegenwärtigen Götter: die elementare Natur und die biologische Natur, ist Ottos Göttern von langer Hand eingeschrieben. „Wie kann das rein Elementare Gegenstand eines Gottesdienstes sein?“,115 so befragt 1937 Otto die Götter Friedrich Hölderlins. Als Schauplatz des Gesprächs aber wird die Natur von der Gesprächspartnerin induziert. So kreist auch das von ihr im Anhang zur Bahn der Götter notierte Gespräch am Waldrand ausschließlich um die Gegenwart der Götter in und mit den Tieren.116 Das Gespräch findet statt in Gegenwart der vor den Sprechenden grasenden Kuh Margots.117 Hört das Tier gern die Stimme der anwesenden Menschen? Wie zähmt die Muse durch die Stimme die Tiere? Was sagt das über die Domestizierung der Tiere? Wohnen die Götter in Tieren? Usw..118 Friedrich Kittlers margot.utf notiert ein Gespräch zwischen dem Altphilologen Karl Ludwig Reinhardt und Walter F. Otto, das der bekannte Gräzist Albrecht Dihle ihm, Kittler, zutrug (das „Ich“ ist hier also Friedrich Kittler): „Karl Reinhardt: Sie glauben also an die Griechengötter? Walter F. Otto: Ja. Karl Reinhardt: Also beten Sie auch zu ihnen? … Ich: Er hat aber angebetet – mit einer flüchtigen Prinzessin von Sachsen- Meiningen, als beiden eine Hera-Kuh erschien. […] Wie doch Altphilologen die Treue nicht ertragen! Das mit Herzen und mit Händen.“119 Ebd.. Otto 1937/1939: 35. Doch ahnt Otto nicht im Entfernstesten, daß er sich im Dispositiv einer neuzeitlichen Naturwissenschaft bewegt: der Biologie. Erst hier wird der ganze Einsatz Heideggers sichtbar, Hölderlin gegen Galilei und Darwin zu lesen. 116 Auch von daher wäre eine Brücke zu schlagen zu den theriomorphen Götterzeichen Ägyptens, wie Ludwig Morenz sie in seinem Beitrag für das vorliegende Buch entwickelt; vgl. auch Kittler 2009: 171 – 186, 3.2.2.2.3 Tiere und Menschen. 117 margot.utf notiert: „134 M hält in Hausen eine Kuh / […] 139 Otto: Kuh einst Göttin /140 Margot: Sie hört uns zu, denn sie liebt unsere Stimmen“. 118 Vgl. das Gespräch am Waldrand, in: Otto 1963: 138 – 143 119 Die Unterhaltung mit Dihle fand am 5. 9. 2007 in Heidelberg statt. In der Datei steht „Diehle CHK“ statt Dihle und „Aktphilologen“, verbessert zu „Altphilologen“ (Kittler: margot.utf). 114 115

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In Ottos Gespräch, das die Musen ganz in die Physis versenkt, singt in einer letzten Wendung schließlich die Physis selbst: Pan kommt und die Nymphen, jene Schwestern der Musen.120 „Was gäbe ich darum, wenn ich einmal die Flöte des Pan hören könnte oder eine flüchtige Melodie vom Gesang der Nymphen.“ Die Gegenwärtigkeit der Götter in einer elementaren oder Natur-Musik121 ist, bevor das Gespräch in einer seltsamen Engführung von Waldland-Indianern, manitu und Hölderlin endet, schließlich Pan selbst: „Alles Sein ist ein Tönen […].“ 122 Diese Gegenwart der Götter und ihre Musik steht Kittlers Göttern so nah wie fern. Debussys Nachmittag eines Faun ist ein immer wieder aufgerufener Glanzpunkt von Kittlers Musikgeschichte.123 Aber die Wissensgeschichte der Musik in die Natur zurückzuschreiben und damit ihre Geschichtlichkeit als solche zu überspringen, liegt der Gegenwärtigkeit von Kittlers Göttern prinzipiell fern. Am Anfang der musikalischen Gegenwart von Kittlers Göttern steht Pythagoreismus, nicht Naturlyrik. Zwar hält die Tetraktys die Wurzel der phýsis, wie der pythagoreische Schwur es sagt,124 aber die Tetraktys hat und begründet eine Geschichte: die von Göttern und Schriften, von Musik- und Mathematikgeschichte, von musikalischen Notationen und des Instrumentenbaus seit dem pythagoreischen Monochord über die erst 4- dann 7- und 8-seitige Lyra bis zur „Turing-Galaxis“.125 Gerade diese Galaxis schreibt die musikalische Gegenwart der Götter und ihrer Schriften in technische Instrumente auf dem jeweiligen state of the art – Verstärker, Soundgeneratoren, Synthesizer – voraus statt in eine goetheanische Natur zurück.126 Auch wo die Götter und ihre Musik ins Elementare eintreten, kommen sie als Kittlers Götter sehr anders an als Ottos Götter. Wenn Wagners Ring der Nibelungen die Elemente komponiert, „beispielsweise im Rheingold-Vorspiel das Wasser selbst komponiert werden muß oder am Ende der Götterdämmerung das Feuer, der Brand Walhalls und die Sturmluft […]. Durch ihre Auskomponierung werden kosmische Mächte freigesetzt, die über die christliche Schöpfung aus dem Nichts hinausragen, […]. Die Liebe findet unter diesen elementaren Bedingungen statt.“ 127 Das heißt: eher in der Sphäre von Empedokles’ Lehrgedichten als einer romantischen Urnatur. Vgl. Otto 1955: 7 – 20. Hölderlins Pindarkommentar „Vom Delphin“ ist das ganze Gespräch hindurch präsent (vgl. Hölderlin MA, Band II: 381, [Pindar-Fragmente] Vom Delphin). 122 Otto 1953/1963: 82. 123 Vgl. Kittler/Raddatz 2010: 18b/c. 124 Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Oliver Primavesi. 125 So – neben „Turingzeit“ – ein vorgesehener Titel des letzten Bandes von Musik und Mathematik. 126 Vgl. hier unten: III.3 Die wiederkehrenden Götter. 127 Kittler/Raddatz 2011: 92c. 120 121

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Nun sind bei Empedokles aber die Elemente selbst Götter.128 Als „Elementargötter“ eröffnen sie eine andere Art von Gegenwärtigkeit. Im Elementaren berühren sich Wissenschaften.129 Wo bei Kittler die Götter in den Elementen hausen, führen sie den Materialismus der Medientheorie130 fort. Wenn auf dem Stand der Gegenwart die Codes „ins Herz der Materie hineingeschrieben werden“ und sich nicht hegelianisch eine Idee entäußert, „sondern bestenfalls sich die Natur in Götter entäußert und dann wieder zu sich selber zurückkommt“,131 dann ist dies eine andere Art der Gegenwärtigkeit der Götter im Elementaren: in der Physik von digitaler Hardware, von Optik, Akustik, Elektrizität. Dem wäre Anfang des 21. Jahrhunderts auch jenes unübersehbar gegenwärtige Wissen hinzuzufügen, dem Kittler so fern nicht stand wie es scheinen mag: das Wissen von der Biosphäre. Daß wir liebend alle Götter werden, weil die Geliebte, der Geliebte sich einander so viel größer und schöner vorkommen: Das sei, so Kittler, nicht nur „eine wechselseitige Illusion, sondern eine biologische Tatsache, die sich gleichermaßen bei Singvögeln, Pfauen und Menschen zeigt.“ 132 Diese biologische Tatsache ist nicht nur in Darwins sexual selection verbürgt, sondern auf andere Weise auch in Philosophie- und Literaturgeschichte: in Friedrich Nietzsches „Anti-Darwinismus“ etwa,133 in Annie Francé-Harrars Tier und Liebe oder Ingeborg Bachmanns Erklär mir, Liebe.134

Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Oliver Primavesi; und Kittler 2006: 245 – 249. 129 „Die Elemente selbst, die die Wissenschaft zum Gegenstand rationaler Erkenntnis macht, Erde, Meer, Feuer, sie gehören in Wahrheit dem Reich des Göttlichen an. Davon zeugt die gesamte Dichtung Hölderlins; … .“ (Otto 1937/1939: 32). Was freilich in Wahrheit hier „in Wahrheit“ heißt, inmitten der Wahrheits-Operationen neuzeitlicher Naturwissenschaften, darauf hat Walter F. Ottos Götterdenken ganz im Unterschied zu dem Heideggers keine Antwort mehr. Vgl. im vorliegenden Band auch den Versuch in der Respondenz zu Oliver Primavesis ‚Tetraktys und Göttereid ‘: Die Zukunft der Zyklen. 130 Vgl. Gumbrecht/Pfeiffer 1987. 131 Kittler/Treusch-Dieter 1994: 90; vgl. hier weiter oben. 132 Kittler 2008/2012: 15; vgl. auch Kittler 2009: 171 – 174, Säugetiere; ebd.: 174 – 181, Singvögel. 133 Um nur die explizit so betitelten Versuche Nietzsches zu nennen: Friedrich Nietzsche: Götzen-Dämmerung: Streifzüge eines Unzeitgemäßen, 14. Anti-Darwin (KSA 6: 120 f.). Oder in den nachgelassenen Fragmenten vom Frühjahr 1888: 14[123]: Gegenbewegung – Anti-Darwin (KSA 13: 303 – 305); 14[133]: Anti-Darwin (ebd.: 315 - 317); oder im gleichen Sinne 14[120]: Liebe (ebd.: 299 f.). 134 Vgl. Francé-Harrar 1926; oder den Eintrag „Hochzeitskleider“ in Friedrich Kittlers geliebtem Großen Meyer von 1905 – 1910; zu Ingeborg Bachmanns Gedicht vgl. Kittler/ Raddatz 2011: 94. 128

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Lieben und Singen Schon darum steht das zweite, Heideggers Abendländisches Gespräch, den Göttern Kittlers sehr viel näher. Denn wo Margot Größler den Altphilologen Otto in die Natur führt, da flüstert sie dem Philosophen Heidegger Göttinnen. „Beiträge zur Philosophie kennen 1938 nur vage Götter, aber keine Göttinnen. Margot flösst sie Martin also ein.“135 Offen wird es bei Heidegger ausgesprochen, daß eine Liebe „das Element“ aller folgenden Gespräche über Göttinnen und Götter ist. Sie ist ihr Element im zweifachen Sinn von umfassender Umgebung und Empedokleischer Vierfalt Erde und Wasser, Luft und Feuer. Ihr Ort im „sich neigenden Sommer“, August 1944, ist der gleiche wie bei Otto: die obere Donau bei Hausen im Tal. Aber die Position der Sprechenden darin ist eine andere. Zusammen im Fluß schwimmen und dann „beim Abendlicht“ die zweihundert Höhenmeter vom Fluß bis zu „unserer Behausung“, dem Forsthaus, aufsteigen, vom „Stromwesen als unserem Element getragen“:136 Diese Grundstimmung137 ist anders als die auf peripatetisch-platonischen Spaziergängen, die damit enden, daß der Altphilologe Otto als Götze reglos neben dem moosigen Thron der Prinzessin und ihrer Kuh steht – in Andacht vor der Urnatur.138 Das Stromwesen als Element fließt nicht nur kühl: es singt. Die Beiden sind „umsungen“ von ihm.139 Denn der zweite Ort der Liebe ist nicht Fluß und Forsthaus, sondern die ersten Zeilen einer späten Hymne Friedrich Hölderlins: „Der Ister“. Bevor das Gespräch von diesen wenigen Versen aus durch Hölderlins hymnisches Werk mäandert, ergeht und erklingt Gesang als erstes Element der Präsenz. Die Gegenwart des Gesangs ruht auf einer alphabetischen Praxis: Immer wieder wird D.J. diese und andere Zeilen aufsagen.140 Damit allererst wird aus dem Schwimmen in Flüssen das Singen des Strom-Geists. Das Donauknie Kittler: margot.utf. Doch kommen auch im Abendländischen Gespräch keine Göttinnen vor, ja nicht einmal namentlich genannte Götter. 136 Heidegger 1946–48/2000: 64; vgl. auch Kittler 2009: 185. 137 Diese Grundstimmung an der oberen Donau auch eine andere als die „heilig trauernde aber bereite Bedrängnis“ der Hölderlin-Vorlesung von 1934/35, in der die Grundstimmung als solche gedacht wird (vgl. Heidegger 1934–35/1999: 78 – 137, Zweites Kapitel: Grundstimmung der Dichtung und Geschichtlichkeit des Daseins). 138 Vgl. Anhang: Ein Gespräch. Aus den Aufzeichnungen der Prinzessin von SachsenMeiningen. Einleitung (in: Otto 1963: 135). 139 Heidegger 1946–48/2000: 64. 140 Medientechnisch ungesagt bleibt, ob auswendig oder vorgelesen. Im letzteren Fall hätten die Beiden also auf allen Spaziergängen ein Buch dabei gehabt und sich gegenseitig vorgelesen, wie das rousseauistische Pärchen aus dem 18. Jahrhundert, das sich in Jean-Luc Godards Weekend verirrt. 135

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flußabwärts hinter Hausen ist ein Leierschwung.141 Er trägt „den Anklang, der uns immer wieder überklingt, gleich als sei seine Stimme innig um das Ufer dieses Stromes versammelt.“ 142 Doch es ist nicht der Strom, der den Klang versammelt. Das Deuten selbst der Hymnen und das Sprechen über sie ist Anklang und Einklang. Es will, gestimmt auf den Grundton, im Element des Gesangs bleiben – hörend und sprechend.143 Das Gespräch über Hölderlins Verse und mit ihnen „läßt das Wort in seinem Ton verweilen“.144 Doch ist Deuten kein Vertonen. Überhaupt bleibt „die Musik im engeren Sinne“ 145 von der Gegenwart des Erklingens im gesamten Abendländischen Gespräch programmatisch ausgeschlossen. Denn seine Realität ist die Sprache, die hier geradezu in Konkurrenz zur Musik steht. D.Ä. Mir ahnt, als sollten wir erst das Klingen der Sage des Wortes erfahren lernen. D.J. Und vielleicht gar einmal erkennen, daß die Sage das Wort und in ihr beruhend die Sprache Jenes ist, dem das entsprungen, was sie sonst das bloße Tönen der Musik heißen. D.Ä. Im wörtlichen Sinne wäre die Musik der Sprache entsprungen, so daß die Musik wohl kaum je mehr zu ihrer Quelle zurückgeführt werden kann.146 Damit ist also systematisch der Rückgang zu den Anfängen von Musik und Mathematik verlegt. Und wo bei Heidegger zur Sprache „nachträglich das Lauten und Tönen“ hinzukommt, da könnte sich für einmal jene Differenz von Sinnlich und Übersinnlich eingeschlichen haben, die im ganzen Gespräch als Metaphysik bekämpft wird.147 Zwar nähert sich auch das Abendländische Gespräch, ganz wie Kittlers Musik und Mathematik, vor aller Sprache etwa dem Vogelgesang in der MorgenHeidegger 1946–48/2000: 60. – Die Griechen haben im südrussischen Ufer des Schwarzen Meers den Schwung eines Kompositbogens gesehen. 142 Ebd.: 61. 143 Ebd.: 68. 144 Ebd.: 69. – Es gilt dem gegenzusteuern, „das im Wort Genannte wie etwas einheitlich Gegenständliches nur vorzustellen und zu umgrenzen, statt das Wort als das singende Wort im Tönen des Gesanges zu hören.“ (ebd.: 111). 145 Ebd.: 69. 146 Ebd.: 170. 147 Auf den zwanzig Seiten zu Hölderlins Nachtgesang Thränen wird also etwa kein einziges Mal das Metrum zur Sprache kommen, in der das Gedicht klingt: die alkäische Strophe. Zu metron und rhythmos vgl. auch hier weiter unten: Die wiederkehrenden Götter. 141

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dämmerung des Abendlands.148 ... und wenn die Prüfung / Ist durch die Knie gegangen / Mag einer spüren das Waldgeschrei. / Wir singen aber vom Indus her … . Heidegger deutet das Waldgeschrei als das von Vögeln. Doch die Differenz von Schreien und Singen wie sie etwa Kittlers Mediengeschichte des Schreis unternimmt – zwischen „traditionellen Buchstabenarchiven und modernen Klangspeichern“, zwischen Alphabet, Notenschrift und Grammophon149 – muß Heideggers Deuten verschlossen bleiben. Schon hier also lassen sich Kittlers Götter und ihre andere Gegenwart eintragen: Klang und Gesang, Grundton und Tönen als musikalische Praktiken. Ihre Geschichte in Epos, Lyrik, Tragödie habe Heidegger, so Kittler, bei allem Reden über Anklang und Gesang nie bedacht, sondern eben nur die Dichtung.150 So bleibt die Musikgeschichte des abendländischen Anfangs, von den Pythagoreern bis zu Sophokles, in allen Göttergesprächen Heideggers und Ottos die große Leerstelle. Kittlers Götterdenken trägt genau hier Positivitäten ein und stellt schon darum die von Philosophen und Philologen ererbten Götter vom Kopf auf die Füße. Sprechen und Schreiben Weil, wie schon sein Titel sagt, die Realität des Abendländischen Gesprächs die Sprache ist, kann hier alles Sprechen vom Singen die Musik nur beschwören. Doch findet diese sprachliche Realität nicht wie in Ottos Bahn der Götter über rudimentäre Theaterdramaturgien zu sich: in Ortswechseln, dramatis personae, Emotionen, Gesprächsabbruch und Schweigen. Die Sprache des Gesprächs ist von der ersten, durchrhythmisierten Äußerung D.J.’s an151 der Versuch, Vgl. ebd.: 149 – 152 oder Kittler 2009: 174 – 181: Singvögel. Vgl. Kittler 1983. Zwischen dem Schrei und der Versammlung der Schreie, dem GeSchrei, besteht freilich selbst ein heideggerscher Unterschied. Daß aber im wirklichen Waldgeschrei der Vögel über der Donau im Herbst 1944 außer Kranichen wohl auch Spitfires zu hören waren – das ist zu vermuten. 150 Daß überhaupt Friedrich Kittler, trotz aller Götter und ihrer Flucht, Hölderlin nie explizit thematisiert hat, ist sicherlich nicht nur Kittlers Distanz zu Hölderlins „Pietismus“ geschuldet (mündliche Auskunft des Hölderlinforschers und letzten Kittler-Assistenten Gerald Wildgruber, Basel). Das Motto des ersten Bandes I.1 von Musik und Mathematik sind eineinhalb Verse aus der dreizehnten Strophe von „Der Rhein“ (1801/1804), die beginnt: Es feiern das Brautfest Menschen und Götter … ; der Schluß von Musik und Mathematik Band I.2 sind die letzten fünf Verse der Hymne „Am Quell der Donau“ (Juli 1801). Dazwischen finden sich an mitunter wichtigen Stellen der beiden Bücher Zitate aus Hölderlin-Hymnen. 151 „Als schwinge das Wort im glänzenden Tal über dem zögernden Strom...“ (Heidegger 1946–48/2000: 59). 148 149

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eine neue Sprache zu sprechen. 1959 wird Heidegger die Idee, in der alten Sprache neu zu sprechen, aus Wilhelm von Humboldt begründen:152 „Ein Volk könnte, durch innere Erleuchtung und Begünstigung äußerer Umstände, der ihm überkommenen Sprache so sehr eine andere Form erteilen, daß sie dadurch zu einer ganz anderen und neuen würde.“ 153 Das Gespräch von 1944/45 ist also – wie viele spätere Aufsätze Heideggers – ein Sprachexperiment.154 Darin überschreitet es den wissenschaftlichen Diskurs. Denn es führt nicht neue Begriffe ein, sondern unterläuft Vorgriff und Übergriff von Begriffen als solchen und „Griffen des bloßen Vorstellens“.155 Ohne Begriff und Vorstellung, also „begrifflos“ zu denken156 und doch clare et distincte, ist aber nur mit einem neuen Maßstab dessen möglich, was deutlich sein soll. Heidegger findet das Maß im klaren „Gefüge“ der hölderlinschen Gesänge selbst, das ist: dem strukturellen Bezug der Gesänge untereinander und dem Bau von Versen und Strophen eines Gesangs.157 Er findet das Maß schließlich in Schrift und Geschrieben Sein selbst der hölderlinschen Götter. Das Gespräch wie zwei Jahre zuvor die Vorlesung über Hölderlins Hymne bewegt sich programmatisch diesseits von Begriff, Metapher, Symbol und Sinnbild,158 diesseits auch des „darstellenden Aussagens“ 159 mit der Beschreibung von geographischen Strömen und ihrer natürlichen Umgebung aus Kräutern, harzigen Bäumen, schwarzen Wäldern und Fichten, wie sie in der Hymne genannt sind. Heidegger denkt das Sinnliche selbst in Hölderlins Gedichten gegen Kants sinnliche Anschauung und damit, so die Behauptung, gegen die Metaphysik. Seit den Griechen, sprich: Platon und Aristoteles, habe man „an sprachlichen Gebilden ihren sinnlichen Wortleib (Laut und Schriftbild) und den Wortsinn unterschieden“.160 Friedrich Kittler zitiert in extenso die Wechselrede, Heidegger ist in der Vortragsreihe „Die Sprache“ der Bayerischen und Berliner Akademie der (Schönen) Künste der Vorredner Walter F. Ottos – wie in Wiederholung der Situation Rom 1936, Rom 1937. Otto war kurz vor dem Abend gestorben und sein Vortrag wird verlesen (vgl. Heidegger 1959). 153 Wilhelm von Humboldt 1836/2003: 343, Kapitel: Lautsystem der Sprachen. Lautform der Sprachen; vgl. auch Heidegger 1959: 114. 154 Zur Theorie des Sprachexperiments vgl. auch Peter Berz: „Pushkins approximations. Das Dispositiv der Sprachnäherung bei Pushkin, Markov, Shannon (mit einem Anhang zu Martin Heidegger)“, in: Ders.: Programm und Umgebung. Zwölf Studien zur historischen Medienwissenschaft, Habilitationsschrift HU Berlin, Oktober 2006, S. 131 – 190. 155 Heidegger 1946–48/2000: 77. 156 Ebd.: 77 f.. 157 Vgl. Ebd.: 85 f.. 158 Vgl. auch die lange Abhandlungen über das Sinnbild in der Vorlesung von 1942 (Heidegger 1942/1993: 17 – 23). 159 Heidegger 1946–48/2000: 184. 160 Ebd.: 105

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in der dieser Gedanke steht.161 Er ruft ihn dort auf, wo Konstellationen von Laut Silbe Wort bei Aristoteles die zentralen Theoreme dessen unterlaufen, was Metaphysikgeschichte werden wird.162 Bei Heidegger löst sich die Differenz von Laut, Schriftbild und Sinn schon in Hölderlins fernhintreffenden Sprüchen auf, die zugleich leuchten und tönen.163 Die Götter der Hölderlinschen Schriften wohnen bei Heidegger da, wo Sinn und Leib des Worts zusammenfallen. Die Zeilen der zweiten Strophe der Ister-Hymne, in denen die Umgebung des Stroms als eine Art natürlicher Tempel gedichtet sei,164 sind dann nicht die Beschreibung eines Tempels. Diese Zeilen „sind in ihrem Bau selbst das Haus, darinnen der Strom wohnt“.165 So ist noch nicht die Sprache das Haus des Seins, sondern der Bau der Hymnen und der „als Anordnung […] in der Schrift zugänglichen Gedichte“.166 Bau und Schrift Hölderlinscher Hymnen als Tempel der Götter würden direkt an die Frage nach Göttern und Schriften rühren. Kittler betont immer wieder, daß die Sprache Haus des Seins und nicht ein Medium ist. Mediengeschichte beginnt mit dem Alphabet. Doch schon Hölderlins Götter mit Heidegger würden in Bau, Anordnung, Schrift von Gedichten auf der Grenze zum Medium wohnen. Heidegger geht so weit nicht und operiert weiter mit den Worten. Er verwandelt etwa philosophische Begriffe und hölderlinsche Worte auf nahezu Jelinek’sche Weise167 in eine Sprache der Liebe: vom Verhältnis168 über das Zu-trauen der Trauung,169 das Deuten als Be-freyen des Sinns170 bis zum Beieinander wohnen 171 von Menschen und Göttern. Auch die neue, von der Liebe angesteckte Sprache unterläuft die Metaphysik. Das kantsche „Vermögen“ 172 etwa zergeht in Vgl. Kittler 2009: 185. Vgl. ebd.: 157 – 170. 163 Wo, wo leuchten sie denn, die fernhintreffenden Sprüche? / Delphi schlummert und wo tönet das grosse Geschick? (Hölderlin: Brod und Wein, 1. Fassung, 4. Strophe, Vers 61 und 62, in: Hölderlin MA, Band I: 376). 164 Vgl. Heidegger 1946–48/2000: 178 – 186. 165 Ebd.: 184 f.. 166 Ebd.: 86, Hervorhebung pb. Die nahezu wörtliche Aufnahme des Gedankens im Brief über den Humanismus – „Wir denken Lautgestalt und Schriftbild als den Wortleib, Melodie und Rhythmus als die Seele und das Bedeutungsmäßige als den Geist der Sprache.“ – führt zur Sprache als „das vom Sein ereignete und aus ihm durchfügte Haus des Seins.“ (Heidegger 1946/1949: 21). Vgl. auch Kittler 2009: 185. 167 Elfriede Jellineks Roman „Lust“ (1989) reizt bis zum Kalauer die sexuelle Doppelbödigkeit der Sprache Heideggers und Hölderlins aus. 168 Heidegger 1946–48/2000: 61 und 64. 169 Ebd.: 60. 170 Ebd.: 66. 171 Ebd.: 106. 172 Vgl. etwa: „Der Verstand mag ein Vermögen der Einheit der Erscheinungen vermittelst Regeln sein, so ist die Vernunft das Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien.“ (Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, B359). 161 162

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einer Hölderlinschen Zeile aus der ersten Strophe der Ister-Hymne: Nicht ohne Schwingen mag / Zum Nächsten einer greifen / Geradezu / Und kommen auf die andere Seite.173 Die Gesprächspartner des Abendländischen Gespächs umspielen das mehrfache mag und mögen der Verse, lassen es zwischen Können und Lieben hin- und hergehen, um dann selbst in die Sentenz zu münden: „Alles Vermögen ist dem Mögen vereignet und verdankt sich diesem.“ 174 Das führt, im Echo auf den bekannten Hölderlinschen Vers, zu einer sprachphilosophischen Aussage: daß „die Sprache in Wahrheit die Sprache der Liebenden ist“. D.J.: „Ich wage kaum diesen kühnen Gedanken auszusprechen“.175 Geschichte der Liebe

J’ai graissé la patte au sonneur...

Aber welcher Art ist die Liebe, die sich da anschickt die Geschichte der Metaphysik umzustürzen – in Gegenwart neuer Götter? Sie ist, trotz platonischer Dialogform,176 antiplatonisch und möchte den Gegensatz von himmlischer und irdischer Liebe auflösen, wie ihn das Mittelalter „und alle Metaphysik“ aufgerichtet habe.177 Sie huldigt Sappho, „der singenden Heldin der Liebe, die auf einer der ‚lieben Inseln‘ wohnte mit ihren Gefährtinnen“.178 Und sie ist maßlos,179 überschreitend, unschicklich. „Die großen Liebenden wären demnach gerade diejenigen, die das Schickliche nicht achten.“180 Das heißt: Wo Walter F. Otto trotz aller Forsthaus-Aufenthalte eine platonische Geistesfreundin adressiert, die Ehefrau läßt brieflich grüßen, da setzt Heidegger Ehe, Familie, zwei Häuser aufs Spiel 181 und Margot Größler das Damit-ich-edel-sterbe.182 Wenn auf den Wegen Es handle sich um „eine Art ‚Sentenz‘“ oder „allgemeine Aussage“ wie sie in Hölderlins Hymnen oft zu finden seien (Heidegger 1946–48/2000: 84). 174 Ebd.: 89. 175 Ebd.: 119. 176 „Erst aus der eigenen Erfahrung verstehe ich jetzt Platons Art der Darstellung u. in irgendeiner Form muß das Dir [Elfriede, pb] zugedachte Platobuch sich doch noch verwirklichen.“ (Brief vom 23. März 1945, Heidegger 2005: 235). 177 Heidegger 1946–48/2000: 115. 178 Ebd. Ein erster Entwurf Hölderlins im Stuttgarter Foliobuch von vier Zeilen des Gedichts ist überschrieben mit „Sapphos Schwanengesang“ (Hölderlin MA, Band I: 274; vgl. auch Kittler/Raddatz 2011: 91b). 179 Heidegger 1946–48/2000: 67 und 116 – 120, usw. 180 Ebd.: 119. 181 Das ist noch zehn Jahre später nicht vergessen: „Meßkirch, 13. Mai 1954 […] dass ich nie mich von Dir trennen könnte […]. Ich kann es nicht, wenn es auch so scheinen mag, als sei ich in einer haltlosen Vergessenheit Dir ganz fern. Dies war zuweilen bei M[argot].“ (Heidegger 2005: 298 f.). 182 Hölderlin: Thränen, 5. Strophe. Kommentierung, D.Ä.: „Was aber ohne diese Herkunft ist, ist das Unedle, gesetzt daß das Wesen des Edlen darin beruht, Herkunft zu haben ...“ (Heidegger 1946–48/2000: 129 f.). 173

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rund ums Forsthaus und in ihm die Liebenden der „leichthin geschworenen ‚ewigen Liebe‘ “ abschwören, die „einstige Liebe“ bedenkend,183 dann wird das Sprechen über das Brautfest von Menschen und Göttern eins nicht ausgelassen haben: die Ehe. Sie ist im Gespräch mit einer eingeheirateten und noch verheirateten Prinzessin – Scheidung vom Prinzen: Juni 1947 – durchaus keine Nebensache. Im Abendländischen Gespräch beginnt die Frage nach den geschicklichen Göttern also nicht beim großen Geschick,184 sondern mit einer unschicklichen Liebe. Im Horizont von Kittlers Göttern ist das Gespräch sowohl ein Beitrag zur Geschichte der Liebe im Abendland als auch ein Ereignis dieser Geschichte. Kittler wird sie etwa auf Tristan und Isolde zulaufen lassen und die Wiederkehr der Göttinnen des Odysseus bei Gottfried von Straßburg.185 „Der gelungene Ehebruch wird zum Abenteuer, und eine Liebe, die sich über alle Schranken des Standes und der Ehre hinwegsetzt, avanciert zum höchsten Ziel.“ 186 Dieses Abenteuer steht und fällt mit seinen Schriften. Nicht nur scheidet, nach Kittlers Analyse, der ganze Tristan-Roman diejenigen, die lesen, von denjenigen, die nicht lesen, sondern den Roman nur vorgelesen bekommen. Tristan harpfete wohl und ist Isoldes Musiklehrer, bei ihm verfeinert sie ihre Fähigkeit sowohl im Schreiben und (Vor-)Lesen von Buchstaben als auch im Lesen und Spielen von Noten.187 Und eines Tages, an einer von Friedrich Kittler sehr geliebten Stelle des Romans, rät Brangäne: snîdet spaene in lage wîs, also: „schneidet längliche Späne“ und ritzt dann auf der einen Seite ein T und auf der anderen ein I ein und laßt die Späne daz bechelîn / daz von dem brunnen dâ gât, den Bach oder Strom bis zu den Frauengemächern hinuntertreiben. So könne Tristan „Isolde darüber verständigen, daß er diese Nacht bei ihr schlafen wird“.188 Ebd.: 64. Ebd.: 100. Hölderlin: Brod und Wein, 1. Fassung, 4. Strophe, Vers 62 (Hölderlin MA, Band I: 376). 185 Gottfried von Straßburg wäre das Zentrum des von Friedrich Kittler geplanten Musik und Mathematik III: Hesperien, Teil 1: Minne geworden. Die nachgelassenen Textstücke und Notizen werden Teil der Gesammelten Schriften Friedrichs Kittlers im FinkVerlag München sein. 186 Kittler/Raddatz 2011: 91c. 187 Isolde beweist höfschlîcher liste und schoener site, „höfische Kunst und feinen Anstand“, indem sie bei Hof vor dem Vater „sang, dichtete und vorlas“, si sang in, sie schreip und sie las (Gottfried von Straßburg: Tristan, Vers 8055). Sie spielt geschickt „aufwärts und abwärts (…) die Tonleiter“ (ebd., Vers 7994 f.); sie spielt „Leier und Harfe“ in allen Stilen – Pastourelle, Rotrouenge, Rondeau, Chanson, usw.; sie spricht alle Sprachen (ebd., Vers 7985 f.) und ist in ihrer magnetischen Wirkung überhaupt nur den Sirenen vergleichbar (ebd., Vers 8087). 188 Kittler/Raddatz 2011: 91b/c; vgl. Gottfried von Straßburg: Tristan, Vers 14423 – 14447, auch wenn es da Isolde ist, die auf das Zeichen hin zu Tristan kommt, der an der Quelle wartet. 183 184

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Wo der Medientheoretiker Kittler den Adreßraum der unschicklichen Liebe erweitert, da löscht der Philosoph – in bewährter Hegelscher Manier189 – Adressen, Götternamen und Geschlechter und: „weil wir, ich weiß nicht wie, in das Tal dieses Stromes gelangt sind“.190 Aber auch die Inseln der Liebe folgen den Gesetzen der Erd’ und sind angesteuert. Ihre Folgen sind institutionell einschneidend: erstens, wie angedeutet, Sicherung der Schriften in einer Höhle über der Donau; zweitens Umzug der philosophischen Fakultät auf die Burg Wildenstein; drittens eine warme Dachstube zum Schreiben im Forsthaus;191 und viertens der lange vorbereitete und noch im März 1946, nach Lehrverbot und drohender Beschlagnahmung der Bibliothek im Freiburger Wohnhaus, betriebene Rückzug nach Meßkirch, zurück in die Ortschaft der Herkunft – und der außerehelichen Zukunft.192 März 1946 aus Badenweiler an Ehefrau Elfriede: „Klar ist mir dieses, daß ich in keiner Weise mit M[argot]. zusammenwohnen werde. Wenn ich mich für Meßkirch oder die engste Heimat entscheide, dann möchte ich, daß Du mit bist.“ Freilich müßte „M[argot].s Beziehung zu Meßkirch geklärt u. so gestaltet werden, daß alles im Guten u. Gewandelten sich erfüllt“.193 Im Klartext: Rückzug nach Meßkirch und Fortführung der Ehe schließen sich gegenseitig aus. Übertragungsmedien So ist die Gegenwart einer unschicklichen Liebe in ihrer langen, abendländischen Geschichte die Bedingung, unter der im Herbst 1944 Götter gegenwärtig ins 20. Jahrhundert treten. Auf wie verschlungenen Wegen auch immer werden sie in Friedrich Kittlers Götterdenken ankommen. Die geographisch herausgehobene Lage dieser Gegenwärtigkeit – das Forsthaus oben, unten der Fluß – wird durch die geschichtliche Gegenwart gesteigert: das Ende des Weltkriegs in Meßkirch, Freiburg,194 an der russischen Front,195 im „Weltland“.196 Aus dieser Kittler 1990a. Heidegger 1946–48/2000: 63. 191 „Ich habe hier eine kleine Dachstube und es ist gut für mich gesorgt.“ (Heidegger 2005: 238). 192 Brief vom 15. März 1946 aus Badenweiler, der psychiatrischen Klinik Schloss Hausbaden Viktor von Gebsattels: „Meßkirch, d.h. die Heimat ruft mich aus dem einzigen Grunde, weil ich diese Nähe als das Tragende u. Bewegende in der kommenden großen Einsamkeit des Werkens brauche u. weil ich eine gesammelte Seßhaftigkeit u. Bodenständigkeit für die noch bleibenden Jahre als zum Werk gehörig ganz lebendig spüre.“ Todtnauberg aber sei zu beschwerlich und „zu nah an Freiburg“ – usw. (ebd.: 244). 193 Brief vom 15. März 1946 aus Badenweiler (ebd.: 244 f.). 194 Luftangriff der 5. britischen Bomberflotte auf Freiburg am 27. November 1944. 195 Die Söhne Heideggers sind beide in russischer Gefangenschaft. 196 Heidegger 1946–48/2000: 157. 189 190

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mehrfach herausgehobenen Position ist die leitende Frage des Abendländischen Gesprächs gesprochen: die nach der geschicklichen Gegenwart der Götter. Die Gegenwart der Götter ist, mit Heidegger, Geschick. Die Götter sind nicht „dem menschlichen Wollen“ 197 unterworfen und nicht gemacht,198 sondern geschickt. Schon darum unterlaufen sie „Wille und Macht“ 199 und den Willen zur Macht, in dessen Horizont Heidegger während des Zweiten Weltkriegs die wissenschaftliche Technik der Neuzeit als Ganze stellt. Aber woher sind die Götter geschickt? Das Abendländische Gespräch macht sich darüber zunächst weniger Gedanken als über das Schicken selbst, also seine Medientheorie. „Wir schicken, wenn du hier die Erwähnung von Gewöhnlichem erlaubst, eine Postsendung und vermerken darauf den Absender. Wir schicken auch oder senden einen Boten.“ 200 Lange spürt man dem Unterschied von Schicken und Senden nach.201 Das Senden scheint das Allgemeinere, das Schicken das Adressiertere: „das Geschickte geht uns nicht einfach zu, sondern es geht uns an.“ 202 Der Bote, für den sich nach Luhmanns Äußerung „Herr Kittler“ interessiere, während er, Luhmann, die Botschaft analysiere, kommt auch in Hölderlins Hymne Germanien an: Drum sandten sie den Boten.203 Es ist der sprechende Adler, der vom Indus über den Parnassos, Italien, die Alpen in die vielgestalteten Länger fliegt, und dessen Botschaft an die Priesterin den ganzen zweiten Teil der Hymne Germanien ausmacht. Gerade im Medium ihrer hymnischen Schrift sind die Götter Funktion von Übertragungsmedien. Denn die Schrift als Übertragungsmedium geht nicht in phönizischen Handelsschriften und Imperien auf, die „mit Übertragungstechniken über Ort und Raum siegen“.204 Eine Seinsgeschichte der „Kommunikationsmedien“ 205 hätte auch die Übertragungen zwischen Göttern und Menschen zu bedenken. Der Weg, auf dem D.Ä. und D.J. dann durch Hölderlins Hymnik hindurch das Geschickliche suchen, führt zunächst zum Schicklichen – ein „Lieblingswort des Dichters“.206 Im Nachtgesang Thränen steht der Neologismus geschicklich dann ebd.: 80 f. Siehe hier weiter oben: Die Götter der Maschine. 199 Die Zeitschrift der Hitlerjugend „Wille und Macht“ hatte Heideggers Rom-Vortrag von 1936 über Hölderlin und das Wesen der Dichtung in der Luft zerrissen (vgl. Safranski 1994/2011: 359). 200 Heidegger 1946–48/2000: 91. 201 Vgl. ebd.: 91 – 94. 202 Ebd.: 93. So wäre denn auch eine „Postwurfschickung“ sprachlich schwer denkbar. 203 Hölderlin: Germanien, 4. Strophe, Vers 58 (Hölderlin MA, Band I: 406). 204 Kittler 1988/2002: 12. 205 Vgl. Kittler 1993b und Siegert 1993. 206 Heidegger 1946–48/2000: 90. Vgl. Hölderlin: Der Ister, 1. Strophe, Vers 9 f.: … lange 197 198

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einmal auch tatsächlich geschrieben.207 Freilich sind es nicht die Götter, deren geschickliche Gegenwart hier genannt wird, sondern: Ihr lieben Inseln, Augen der Wunderwelt! Sie werden in der vierten Strophe auch zu Inseln der Liebe.208 Ihr Geschick ist geographisch und Hölderlins Hymne Der Archipelagus nennt sie: Kreta, Salamis, Delos, Tenos, Chios, Zypern, Kalauria.209 Friedrich Kittlers Götterdenken wird liebevoll die Positivitäten griechischer und großgriechischer Geographien der Göttinnen Homers rekonstruieren, die auf den Inseln der Liebe von Odysseus’ Irrfahrt wohnen.210 Das Abendländische Gespräch verknüpft ihre Geographie mit der Landschaft von Wald und Fluß des oberen Donautals und Hölderlins Hymne unter dem Namen des Flusses: Der Ister. Daß Göttinnen und Götter überhaupt eine Geographie haben, gründet darin, daß sie wohnen, in einer Behausung,211 daß sie „beieinander Wohnen“ 212 und den Sterblichen beiwohnen.213 Das Nahen der Götter (Kittler) ist Einkehr ins Haus oder Einkehren in Das Gasthaus, das am Ende die Erde selbst ist.214 Die Erde als Haus, das die Götter bewohnen, ist gebaut. Nicht palä-ontologisch, als geostory der Erde,215 und nicht architektonisch, als his– und herstory des Wohnens,

haben / Das Schickliche wir gesucht (Hölderlin MA, Band I: 475). „Eine etwas gewaltsame und gekünstelte Wortbildung.“ (Heidegger 1946–48/2000: 96). Hölderlin: Thränen, 1. Strophe, Vers 2 (Hölderlin MA, Band I: 441). 208 Hölderlin: Thränen, 2. Strophe, Vers 5, und 4. Strophe, Vers 14 (Hölderlin MA, Band I: 441). 209 Vgl. Hölderlin: Der Archipelagus, 2. und 3. Strophe (Hölderlin MA, Band I: 295 f.); vgl. auch Heidegger 1946–48/2000: 110 f.. Es handelt sich im Wesentlichen um die Ägäis des Hyperion. 210 Vgl. im ersten Band von Musik und Mathematik die Kapitel: 1.1: Odysseus leidet und lernt. 1.1.1: 2 Inseln, 7 Bräute. 1.1.2: 4 Inseln, 5 Frauen., usw. (Kittler 2006: 15 – 89). Das nicht von ungefähr darauf folgende Kapitel ist überschrieben: 1.2 Singen und Schreiben. Kittler folgt auch den geographischen Erkundungen des segelnden Engländers Ernle Bradford (Reisen mit Homer. Die wiedergefundenen Inseln, Küsten und Meere der Odyssee, München 1967) und wird schließlich selbst mit einigen Gefährten eine Reise zu den Inseln der Sirenen unternehmen. 211 Vgl. Kittler: margot.utf: „Feb 1945 Sprache als Behausung (232) = Hausen“; vgl. auch Kittler 2009: 185. Ein Brief Heideggers vom 2. Februar 1945, geschrieben während Heideggers Flakhelfer-Einsatz: „[...] daß zumal die Sprache als die Behausung für ein neues Wohnen erwachen wird.“ (Heidegger 2005: 232). 212 Heidegger 1946–48/2000: 106. 213 Das Gespräch mündet zuletzt in einen nahezu oiko-logischen Diskurs über das Wohnen des Stroms selbst in seiner Umgebung (vgl. Heidegger 1946–48/2000: 178 – 196). 214 Vgl. Hölderlin: Das Gasthaus. An Landauer., 4. Strophe, Vers 45 f.: … sie sind, wie Liebende, feierlich seelig, / Wohnen bräutlich sie erst nur in den Tempeln allein (Hölderlin MA, Band I: 310); und Heidegger 1946–48/2000: 100. 215 Vgl. auch im vorliegenden Band die Respondenz zu Oliver Primavesi ‚Tetraktys und Göttereid ‘: geostory. 207

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sondern als Gedicht. „Der Gesang bildet die Behausung“,216 die Verse selbst sind, wie skizziert, der Bau, in dem die Götter wohnen. Gelesen im Horizont von Kittlers Göttern hat dieses so sehr in einen Text versenkte Nahen der Götter aber auch dies als seinen blinden Fleck. Foucault sprach einmal Derridas Philosophie als „une ‚textualisation‘ des pratiques discursives“ an, „une petite pédagogie historiquement bien déterminée“.217 Friedrich Kittlers Götter wohnen nicht in Schriften als Bau eines heiligen Textes, sondern in Schriften als Teil einer kohärenten Gesamtheit kultureller Praktiken: im Bau von Instrumenten, Lyra und Kompositbogen218 bis zur elektrischen Gitarre; in der Theoretisierung dieser Instrumente als Mathematik der Musik.219 Sie wohnen als gegenwärtige weniger in einem Bau als in der zeitlichen Präsenzform des Erklingens und dessen Techniken, vom Vokalalphabet 220 bis zum Synthesizer. Der von Kittler verehrte Archäologe Hans Georg Wunderlich ortete die fundamentale, kulturgeschichtliche Wende von Bau und Architektur (vor allem von Totenpalästen) zu vorgetragenem, gesungenem, gehörtem Epos schon auf den von der Archäologie entdeckten Theater- und Tanzplätzen des spätminoischen Knossos.221

Heidegger 1946–48/2000: 101. Foucault 1972/1994: 267. Demgegenüber ist die Stellung Homers bei Kittler weniger vom Text getragen als von einer Gesamtheit kulturgeschichtlicher Positivitäten bis hin zum Text und seiner Schrift selbst als kulturellen Praktiken. (Vgl. Kittler 2006 und 2009). Heidegger 1935/36: „Die genannte Aufgabe [die Wesensbestimmung des Dinges und des Satzes bei den Griechen, pb] wäre nämlich damit nicht erfüllt, daß wir einige Belegstellen darüber zusammen suchten, was Platon und Aristoteles da und dort über das Ding und den Satz sagen. Es müßte vielmehr das Ganze des griechischen Daseins, seine Götter, seine Kunst, sein Staat, sein Wissen ins Spiel treten, um zu erfahren, was es heißt, dergleichen wie das Ding zu entdecken.“ (Heidegger 1935–36/1987: 38). Auch mit der Schlüsselstellung Homers – von der archäologisch orientierten Altphilologie bezweifelt – könnte sich Musik und Mathematik auf Heidegger berufen: „Der Dichter stiftet das Seyn. Dieses Stiften des Seyns hat sich für das abendländische Dasein vollzogen bei Homer, den Hölderlin den ‘Dichter aller Dichter’* nennt. [* Über Achill II., III, 247]“ (Heidegger 1934–35/1999: 184; Homer als Dichter aller Dichter in: Hölderlin: Am meisten aber lieb ich ..., in: Hölderlin MA, Band II: 64). 218 Vgl. Kittler 2006: 85 – 88; vgl. ebd. auch: 239 f., 255 f.. – Für Oswald Spengler gehört der einige Jahre dauernde Bau eines Kompositbogens mit seiner dichten Fügung mehrerer Lagen von Hölzern zu den historisch ersten Systemtechniken, von ihm „Unternehmen“ genannt (vgl. Spengler 1931: 47). Zum Synthesizerbau vgl. das Vorwort des vorliegenden Bandes. 219 Vgl. im vorliegenden Band auch die Respondenz zu Oliver Primavesis ‚Tetraktys und Göttereid‘ : Schrift und Zahl der Tetraktys. 220 Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Barry Powell. 221 Wunderlich 1972: 308 – 319. 216 217

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Der Zweite Weltkrieg Wie sich aber die geschickliche Gegenwart der Götter in ihrer geschichtlichen Gegenwart ereignet, also im 1944 sehr gegenwärtig zu Ende gehenden Weltkrieg: Diese Frage kann hier nur obenhin angedeutet werden. Nähme man hypothetisch zwei Enden, an denen das Abendländische Gespräch in Heideggers Werk vertäut ist: die Ister-Vorlesung vom Sommer 1942 und den Brief über den Humanismus vom Herbst 1946, dann ist an diesen beiden Enden die geschichtliche Gegenwart des Geschicklichen ortbar. Im Gespräch von 1944/45 dagegen ist sie gelöscht. Wenn also Heideggers Vorlesung von 1942 über Ortschaft und Wanderschaft in Hölderlins Hymnen nachdenkt, dann steht der Krieg des Nationalsozialismus nicht nur allgemein im Hintergrund. Die Vorlesung denkt mit Hölderlin gegen die „raumgreifenden Bewegungen […] im Zusammenhang mit Siedlung und Umsiedlung“.222 Wenige Monate nach dem „Eintritt Amerikas in diesen planetarischen Krieg“ 223 nennt sie auch die „neuzeitliche Maschinentechnik“ beim Namen: den „in sich gestaffelten Triumph“ einer Werkzeugmaschinenfabrik, also „die Fabrikation von Fabriken zur Fabrizierung von Fabrikaten, nämlich Maschinen, die selbst wieder Maschinen fabrizieren“.224 Wo Friedrich Kittler in der Steigerung dieser Logik unter digitalen Bedingungen (nur Maschinen der Generation n errechnen Maschinen der Generation n+1)225 Turings prophetische Maxime erfüllt sah: machines shall take over, da sieht Heidegger 1942 einen äußersten Punkt der Metaphysik-Geschichte erreicht: „Erst in unserem Jahrhundert [beginnt] die Metaphysik ihren höchsten und vollständigen Triumph zu erlangen Heidegger 1942/1993: 59. Daraus schon „Kritik“ im klassischen Sinn machen zu wollen, wäre verfehlt: „Zwischen dem raumzeitlichen Ausgreifen der Weltbeherrschung und der in ihren Dienst genommenen Siedlungsbewegung auf der einen Seite und dem Heimischwerden des Menschen durch Wanderschaft und Ortschaft waltet wohl ein geheimer Bezug, dessen geschichtliches Wesen wir nicht wissen.“ (ebd.: 60). 223 Ebd.: 68. 224 Ebd.: 54. Was Heidegger 1942 prophetisch die aus diesem Triumph folgende „eigene Art von Bewußtsein des Sieges“ nennt, das ist jetzt: des alliierten Sieges, trifft schlafwandlerisch eine historische Wahrheit. Denn in der deutschen Maschinenbau-Industrie gilt seit Ende des 19. Jahrhunderts, daß die amerikanische Werkzeugmaschinen-Industrie auch in Europa unbesiegbar ist. Nur für einen kurzen Moment war 1899 zu konstatieren: the best american tool shop is now in Germany, nämlich die LOEWE A.G. Georg Schlesingers (vgl. Peter Berz: 08/15. Ein Standard des 20. Jahrhunderts, München 2001: 47, und allgemein: 37 – 76, 697 – 720). 225 „Wenn nur noch die Computer der Generation n in der Lage sind, die Computer der Generation n+1 als nächsthöhere Intelligenz zu entwickeln, muß man die ganze Geschichte andersherum lesen.“ (Kittler/Treusch-Dieter 1994: 91). Dieser Gedanke gewinnt in den 1990er Jahren immer schärfere Konturen, vgl. etwa Kittler 1996. 222

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als neuzeitliche Maschinentechnik“.226 Deren Basis, die Einheit von Raum und Zeit nach Galilei und Descartes, skizziert die Vorlesung mit Referenz aufs Wintersemester 1935/36 von Neuem 227 – erweitert durch Relativitätstheorie, das ist: Ergänzung der cartesischen Zu-ordnungslogik von xyz durch eine vierte Ko-ordinate, eine „Weltlinie“, die Zeit.228 Der Weltkrieg ist die ins Planetarische gehende Steigerung der neuzeitlichen Maschinentechnik und der Kriegseintritt der USA „schon der letzte amerikanische Akt der amerikanischen Geschichtslosigkeit und Selbstverwüstung“. Er ist „Entscheidung für das Anfangslose“.229 Heidegger antwortet mit der Suche nach dem Anfänglichen und seinen Göttern in einer mehrere Vorlesungsstunden umfassenden Analyse des zweiten Standlieds von Sophokles’ Antigone – Ungeheuer ist viel / Doch nichts ungeheuerer als der Mensch.230 Am anderen Ende des Endes, im Brief über den Humanismus von 1946, nach Reinigungskommissionen, drohender Beschlagnahme der Bibliothek und Lehrverbot, wird aus Geschichte vor allem Geistesgeschichte. Nicht nur in Auseinandersetzung mit Sartres Existenzialismus als Humanismus,231 sondern auch im Nachdenken über den Marxismus und seinen metaphysischen Begriff der Arbeit 232 oder in der Auseinandersetzung mit Nationalismus und Internationalismus.233 Für einmal kann dann das Abendland auch schlicht Europa heißen: in der „Gefahr, in die das bisherige Europa immer deutlicher gedrängt wird“, daß „sein Denken – einst seine Größe – im Wesensgang des anbrechenden Weltgeschickes zurückfällt“.234 Dem gegenüber umkreist Das Abendländische Gespräch von 1944–46 alias 1946–48 die historische Lage nur unter strikter Löschung aller Adressen. Die in Hölderlins Geschichtsentwürfen fernher geschickten Götter münden in Heidegger 1942/1993: 66. Heidegger hatte ihre historische Situierung in der Kant-Vorlesung 1935/36 ganz im Fahrwasser seines ehemaligen Kollegen Alexandre Koyré (und ohne ihn zu nennen) unternommen (vgl. Heidegger 1935–36/1987: 49 – 83, 5. Die neuzeitliche mathematische Naturwissenschaft und die Entstehung einer Kritik der reinen Vernunft). 228 Heidegger 1942/1993: 48; zur Relativitätstheorie in Heideggers Denken vgl. Vagt 2012. 229 Heidegger 1942/1993: 68. 230 Vgl. ebd.: 63 – 152, Zweiter Teil: Die griechische Deutung des Menschen in Sophokles’ Antigone. 231 Ausführlich nachgezeichnet in Kapitel 21 von Rüdiger Safranskis Heidegger-Biographie (vgl. Safranski 1994/2011: 392 – 410). 232 Vgl. Heidegger 1946/1949: 27. Daß dieser Begriff vielleicht weniger Hegels Phänomenologie des Geistes als der Physik und Thermodynamik des 19. Jahrhunderts geschuldet ist, kommt dem philosophischen Diskurs nicht mehr in den Blick. 233 Vgl. ebd.: 28. 234 Ebd.. 226 227

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strukturalistische Studien über Raum und Zeit, Geographie und Geschichtszeit. Aber genau hier generiert das sogenannte Ende des Zweiten Weltkriegs, also das Ende eines zweiten 30–jährigen Kriegs im Europa der Neuzeit (Wehler, Kershaw), eine Frage nach den Göttern, die Frage nach den Göttern als Frage nach dem 20. Jahrhundert. Den ersten Teil des Abendländischen Gesprächs trug die Geographie von Strömen, Ufern, Inseln. Im zweiten Teil 235 wandert, mit Hölderlin, der Geist durch größere Geographien: vom Orient in den Okzident, vom Indus nach Griechenland, jenem Ort des Übergangs im Aufgang des Geistes – einem Morgenland. Er wandert weiter von Griechenland über die Schwelle der Alpen, vom Adler überschwungen, nach Hesperien und damit auf die andere Seite.236 Der Geist muß in die Fremde, dort, wo es heiß ist und kein Schatten. Er liebt die Kolonie und muß von da zurückkehren, an die Wasserquellen hieher.237 Aus dieser Wanderung vom Orient in den Okzident ergeben sich komplizierte Zeit-Strukturen. Sie gehen nicht nur Tag und Nacht und Mittag an, Abend und Morgen mit ihren Dämmerungen.238 Auch Zeit-Punkte müssen bedacht sein, das ist: Zeiten der Entscheidung. Sie hängen an dem, was Hölderlin „die Prüfung“ nennt: … / Und wenn die Prüfung / Ist durch die Knie gegangen, / Mag einer spüren das Waldgeschrei. 239 1945 wird nur der „die Geschichte erkennen“, der die Prüfung bestanden hat.240 Schritt für Schritt entwickelt das Gespräch daraus die geschickliche Lage der ersten Strophe der Hymne:241 Die Prüfung ist bestanden, das Schickliche ist gefunden, freudig bejubelt vom Waldgeschrei, Heidegger 1946–48/2000: 138 – 196. Es könnte durchaus sein, daß Heidegger hier zwei Gespräche zusammengefügt hat und der zweite Teil später entstanden ist als der erste. 236 Hölderlin: Der Ister, 1. Strophe, Vers 14 (Hölderlin MA, Band I: 475). 237 Ebd.: 2. Strophe, Vers 35 (Hölderlin MA, Band I: 476). Daß es dabei freilich immer darum geht, Hölderlins Geist von dem Hegels zu lösen und damit aus der Geschichte der Metaphysik, kann hier nicht ausgeführt werden (vgl. etwa Heidegger 1946–48/2000: 140 – 144). 238 Kittler über Wagners Götterdämmerung: „Zur selben Zeit [wie Nietzsches Geburt der Tragödie, pb], mit dem Aufgehen des Vorhangs und der Scheinwerfer, setzt Wagner eine neue Wiederkehr der Götter in Szene. Dämmerung meint Morgen und Abend, Geburt und Tod.“ (Kittler 2008/2012: 20). 239 Hölderlin: Der Ister, 1. Strophe, Vers 4 – 6 (Hölderlin MA, Band I: 475). Die drei Verse würden, so Heidegger, nicht zuletzt von der grammatikalischen Zweideutigkeit zwischen wenn und wann, von bedingender und zeitlicher Abfolge, propter hoc und post hoc getragen (vgl. Heidegger 1946–48/2000: 134 – 136). 240 Ebd.: 138. Es dürfte, zumindest bei der Überarbeitung 1946, nahe gelegen haben, daß die Prüfung nicht nur durch die Knie geht, sondern auch durch die Bereinigungskommission der Fakultät – und schließlich Heideggers Geldbeutel 241 Vgl. ebd.: 155. 235

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und das Brautfest von Menschen und Göttern ist vorbereitet, es findet statt – auf der anderen Seite. In dieser Lage, jetzt, kann der Gesang beginnen. „Wo aber ist der Ort des Geschicks und wann ist die Zeit seines erfüllten Beginns?“ 242 Wie sind Ort und Zeit der geschicklichen Gegenwart der Götter zu erkennen? Wann genau feiern das Brautfest Menschen und Götter? Was ist das Wahre einer bestimmten Zeit, wann ist sie im Wahren? 243 Wie erkennt der Geprüfte „die Geschichte“, wie weiß er, „was geschieht“ und „was reif geworden ist zum Geschick“? 244 Auf dem Spiel steht also die Geschichtlichkeit der geschicklichen Lage von 1944–46. Ist der Untergang des Dritten Reichs und das Ende des Weltkriegs die Ankunft des Wahren? Ist der Zeitpunkt für die Ankunft der Götter also jetzt? Die Ankunft im Ende? Die Dämmerung in der Dämmerung? Statt zu antworten nimmt das Gespräch die Hegelsche Frage nach der Struktur von Jetzt und Hier, also Gegenwärtigkeit überhaupt auf und geht durch die Hymne als wäre es Hegelscher Text: von „Jetzt komme“ zu „Hier aber wollen wir bauen“.245 Schließlich kreist es um die Einigkeit von Jetzt und Hier.246 Sie soll die Einheit von Zeit und Raum unterlaufen, die seit Galilei und Decartes das neuzeitliche Wissen trägt. Damit steht die Einigkeit von Jetzt und Hier auf der anderen Seite, dort, wo sich der Zeit-Ort des Geschicks baut: das Abend-Land – der Abend als Zeit, das Land als Ort.247 Als Ganzes ist der Zeit-Ort von einer speziellen Zeitstruktur überwölbt: der Zeit des Zögerns. Das Geschick des Abendlands, das sagen sich D.Ä. und D.J. immer wieder, kommt erst, es „zögert noch“.248 Das heißt: Die seinsgeschichtliche Gegenwart der Götter am Ende des Zweiten Weltkriegs ist ein Warten auf ihre Ankunft. Die Gegen–wart der Götter ist entgegen Warten.249 „Unsere Gespräche Ebd.: 157 (Hervorhebungen pb). Vgl. ebd.: 138. 244 Ebd.. 245 Vgl. Hölderlin: Der Ister, 1. Strophe, Vers 1 bis 14 (Hölderlin MA, Band I: 475); vgl. Heidegger 1946–48/2000: 155 – 162. Was, fragt Hegel, ist die sinnliche Gewißheit des Dieses? „Nehmen wir es in der gedoppelten Gestalt seines Seins, als das Jetzt und als das Hier, [...]“ (Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Phänomenologie des Geistes, I. Die sinnliche Gewißheit). 246 „Wenn im Jetzt das Hier sich lichtet und im Hier das Jetzt erblüht“ (Heidegger 1946– 48/2000: 157, Hervorhebungen pb), dann ist die Wanderung vom Orient in den Okzident an ihr Ziel gelangt: in die Einigkeit von Jetzt und Hier. Lichten und Blühen (als Aufgehen) sind bei Heidegger gegen die abendländische Verbindung des Geists mit dem Licht und gegen das Schaffen aus dem Nichts gedacht. 247 Vgl. Heidegger 1946–48/2000: 157. 248 Ebd.: 139. 249 Ebd.: 158. 242 243

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vom Abendland warten seiner und wartend sind sie das Bleiben im Kommen.“ 250 Die Gespräche des Denkens können nur eins tun: „das kommende Brautfest zu bereiten“.251 Oder: „Das Nahen der Götter vorbereiten“.252 Es ist hier nicht der Ort und viel zu früh, mit Heideggers Göttern und gegen sie jetzt schon die Lage von Kittlers Göttern zu den Weltkriegen des 20. Jahrhunderts zu bestimmen. Kittler dachte als Medienhistoriker von diesen Kriegen her wie vielleicht kein zweiter (außer dem DDR-Dramatiker Heiner Müller). Der Krieg selbst und seine Medien sind, so sagt es der im vorliegenden Band abgedruckte Text Theologie, ein Riß im Sein, den der Monotheismus und die Flucht der Götter hervorgebracht haben. Doch sind in Kittlers Ende des Zweiten Weltkriegs, in das er hineingeboren wurde,253 fürs erste keine Götter zu finden. Unter dem Titel Unconditional surrender etwa analysiert er das Ende des Dritten Reichs systemtheoretisch als ein “Fraktal aus amerikanischen, sowjetischen, britischen und zuguterletzt auch französischen Zonen”; als einen Prozeß, in dem ein “System in seine Subsysteme auseinander[fällt] und diese Subsysteme mit ihrer jeweiligen Umwelt verschmelzen”.254 Aber Götter, auch wenn ihr Nahen sich nur vorbereiten läßt, kommen nicht als ferne Erlöser von Riß und Krieg, zögernd und wartend im Ende. Die Götter sind nah und da oder nicht da und fort. „Dionysos kommt und geht.“ 255 Die Götter sind kein künftiges Seinsgeschick. Denn sie feiern ihre Gegenwart in Techniken, die aus genau diesem Weltkrieg kommen: den elektronischen Soundmaschinen der Popmusik und heute ihren Computern. „Am Ende habe ich mich hinreißen lassen zu behaupten, daß uns die Popstars die Götter wiederbringen.“ 256 Im Horizont des Abendländischen Gesprächs hieße das: Wenn die Stars die Götter wiederbringen, die von Schriften rund ums Mittelmeer her- und ankommen, ihren Anfang in Musik und Mathematik haben und eine pythagoreische Bahn von dort bis zu den Stars des 20. Jahrhunderts nehmen, in einer Rockmusik als Mißbrauch von Heeresgerät zweier Weltkriege:257 Dann sind die Götter Ebd.. Ebd.: 140. Im Brief über den Humanismus von 1946 ist die Lage der gegenwärtigen Götter die gleiche: Warten auf „die Entscheidung, ob und wie der Gott und die Götter sich versagen und die Nacht bleibt, ob und wie der Tag des Heiligen dämmert, ob und wie im Aufgang des Heiligen ein Erscheinen des Gottes und der Götter neu beginnen kann.“ (Heidegger 1946/1949: 26). 252 Kittler 2008/2012. 253 Vgl. Kittler 1990c. 254 Kittler 1991b: 523. 255 Kittler/Raddatz 2010: 16b. 256 Ebd.: 14b. Kittler faßt an dieser Stelle seinen Vortrag Das Nahen der Götter vorbereiten zusammen. 257 Kittler 1988/2002. 250 251

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nicht in der amerikanischen Weltnacht entflohen, sondern kommen direkt aus derselben. Sie kehren wieder, aus einer Nacht, die bergend ist und befreyend 258 statt wüst und nichts. So leicht also wäre es, den Leuten Götter zu beschaffen?259 III.3 Die wiederkehrenden Götter Rockmusik – ein Mißbrauch von Heeresgerät ist einer der populärsten Aufsätze Friedrich Kittlers.260 Er entwirft schon Ende der 1980er Jahre den Weg der Götter als ganzen, mehr als fünfzehn Jahre vor den Göttern von Musik und Mathematik. Ihr Weg beginnt 1988 mit Nietzsche und seiner „utilitaristischen“ Theorie des Rhythmus in der Dichtung. Der Rhythmus sei Mittel zum Zweck, als Gedächtnisstütze oder als Mittel zur besseren Hörbarkeit auf weite Entfernungen (wie bei den Sirenen des Odysseus) oder aber als Mittel, „den Göttern näher an’s Ohr zu kommen“, ja überhaupt als Mittel der Faszination. Der Rhythmus ist „eine magische Schlinge“ für Menschen und Götter. Er „erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, - wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter!“ 261 Übersetzt in den Ende der 1980er Jahre noch jungen Diskurs der Medientheorie ist der Rhythmus also zunächst eine Technik des Speicherns und Übertragens, von Gedächtnis und Hörbarkeit. Weil er im Fall der Dichtung an die Sprache selbst und ihre Struktur gebunden ist, muß er nicht auf Menschen und Den Menschen zurückgreifen: „Genau das macht Medien aus.“ 262 Kittler beruft sich in seiner kleinen Mediengeschichte des Rhythmus auf den Musikwissenschaftler Thrasybulos Georgiades Sprache als Rhythmus.263 Es sei, so Heidegger, nur Gewohnheit, das Dunkle der Nacht „aus dem Finsteren zu denken und aus dem Verbergen als einem Entziehen, so daß wir das Bergende verkennen und darin das Befreyende der Nacht … “ (Heidegger 1946–48/2000: 62). 259 Heidegger über das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933 als Versuch der christlichen Konfessionen weiterzubestehen: „So billig sind die Götter eines Volkes nicht zu beschaffen.“ (Heidegger 1934–35/1999: 80). 260 Kittler 1988/2002. 261 Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Zweites Buch, Abschnitt 84: Vom Ursprunge der Poesie (vgl. Kittler 1988/2002: 8). 1998 wird Friedrich Kittler den Gedanken von Hegel her aufzäumen, in dessen Ästhetik, Kapitel: Allgemeiner Charakter der Musik, c. Wirkung der Musik, es heißt: „So haben wir z.B. bei hervorstechenden, leicht fortrauschenden Rhythmen sogleich Lust, den Takt mitzuschlagen, die Melodie mitzusingen, und bei Tanzmusik kommt es einem sogar in die Beine.“ (zit. in: Kittler 1998b: 1). 262 Kittler 1988/2002: 9. 263 Vorgetragen 1959 in der Reihe Die Sprache einen Abend vor Heideggers Vortrag Der Weg zur Sprache (vgl. Georgiades 1959). 258

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Georgiades stellt sich dem Rätsel, daß in jedem griechischen Wort, ob gesprochen oder geschrieben, ob Prosa oder Epos, genau festliegt, welche Vokale kurz und welche lang sind.264 Keine Betonung, kein Sinn, kein Ausdruck kann diese Verteilung ändern, nur Stellung und Wahl der Worte. Das unterscheidet das Griechische von den „anderen heutigen abendländischen Sprachen“.265 Dort liegen nur die Haupt-Betonungen fest, die auf der Wurzel des Worts und damit seinem Sinn liegen. Die Längen und Kürzen der übrigen Silben können je nach Ausdruck oder musikalischem Sinn verändert werden.266 Gegen diesen „abendländischen Rhythmus“, der subjektiv, dynamisch, innig, ausdrucksvoll die Sprache überlagert, steht der griechische: „Das griechische Wort ist wie ein fester Körper.“ 267 Unabhängig von Sinn und Ausdruck (für den das Griechische gar kein Wort kennt) sind die Silben kurz oder lang. Sie sind „nicht nur Bestandteile der Wörter, sondern zugleich, wie Substanzen, um ihrer selbst willen vorhanden“.268 Kittlers Antwort: Durch diese fundamentale Struktur sei im Griechischen „Lyrik und Musik unlöslich“ verbunden.269 „Das rhythmische Tiktak folgte beim quantierenden Versmaß der Antike bekanntlich durchaus keinem Sinn, wie er über die Wortbedeutung den qualitativen Akzent modern-europäischer Lyrik regiert [Fußnote Georgiades]: Es koppelte den Versfuß, um seine Speicherung und Übertragung zu sichern, sehr einfach und physiologisch an die Füße von Tänzern.“270 Nun hat der Münchener Gräzist Oliver Primavesi 271 gezeigt, wie schon in der Poetik des Aristoteles – und nach ihm in den elementa rhythmica seines Schülers Aristoxenos von Tarent – das, was Nietzsche, Georgiades, Kittler als „Rhythmus“ ansprechen nicht von Füßen getragen ist, sondern allein von der Sprache.272 Die Längen und Kürzen der Silben und die daraus folgenden Versmaße sind nicht rhythmos, sondern metron. Der rhythmos überlagert sich diesem metron als Vers-fuß im eigentlichen Sinn, das heißt: wenn der schreitende Nach Maßgabe des einzigen Kriteriums, ob nach dem Vokal ein Konsonant folgt (vohergehender Vokal kurz) oder mehrere Konsonsanten folgen (vorhergehender Vokal lang). 265 Georgiades 1959: 84. 266 So kann Schubert in der Vertonung eines Goethe-Gedichts unter Erhaltung der Wortwurzel-Betonungen Längen und Kürzen je nach Ausdruck dehnen oder kürzen (vgl. ebd.: 76 – 79). Bei Hölderlin führt die Einführung des quantierenden alkäischen Vermaßes im Deutschen (etwa im Nachtgesang Thränen) zu Besonderheiten wie: Himmlísche Líebe statt Hímmlische Líebe. 267 Ebd.: 85. 268 Ebd.. 269 Kittler 1998/2002: 9. 270 Ebd.. 271 Vgl. im hier vorliegenden Band sein Beitrag: ‚Tetraktys‘ und Göttereid bei Empedokles. 272 Primavesi 2013. 264

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Schauspieler oder Chor einen Vers spricht und auf bestimmten Silben den Fuß hebt (arsis) und auf bestimmten Silben ihn senkt (thesis). Die Art dieses Schreitens und sein rhythmos ist von Länge und Kürze der Silben nicht eindeutig bestimmt. Denn es gibt viele Möglichkeiten, auf einen nach metron regulierten Vers rhythmisch zu schreiten.273 Für Aristoteles und seinen Schüler Aristoxenos steht fest, „[d]aß der rhythmos zu den Silben hinzukommt, und ihnen (anders als die Quantität den Vokalen bzw. Silben) nicht bereits von Hause aus anhaftet […]“ .274 Das hat weitreichende Konsequenzen. Sie gehen auch das an, was seit Arbogast Schmitt in der Gräzistik als eine aristotelische Theorie der „Medien“ angesprochen wird.275 Das Worin der Nachahmung ist nach Aristoteles ihr Medium.276 Es ist, sofern die Nachahmung entweder nur in phonē, Stimme, oder in logos, Rede, arbeitet, statt in Farbe und Form, bei Aristoteles auf zwei Dreiergruppen von Medien aufgeteilt.277 Ihre Unterschiede und ihre Kombinatorik erlauben eine systematische Chrakterisierung verschiedener Künste: von Epos, Tragödie, Kommödie, Dithyrambus und schließlich das Spiel auf kithara und aulos.278 Die Medien der ersten Trias sind: rhythmos, logos, harmonia; die der zweiten: rhythmos, metron, melos.279 Die Medien können einzeln vorkommen oder kombiniert werden. Harmonia alias melos zielt auf die nach einer bestimmten Tonart gestimmte Musik,280 mit einem bestimmten Vorrat an Tönen (und charakterisiert damit

Primavesi demonstriert es, Lionel Pearson folgend (Aristoxenus Elementa Rhythmica, 1990), an den ersten beiden Versen der Perser von Aischylos’ Tragödie Die Perser (vgl. ebd.: 255). 274 Ebd.. 275 Eine Proto–Medientheorie des Aristoteles hat Walter Seitter aus dem tò metaxý in Aristoteles’ Physik, Buch II, Kapitel 6 und 7, entwickelt (vgl. Seitter 2002). In seinen Büchern zur Aristotelischen Poetik (Poetik lesen 1 und 2, Berlin 2010 und 2014) legt Seitter kein Gewicht auf aristotelische Medientheorie. 276 Wichtigster Anhalt des Gebrauchs von „Medium“ ist hier die Präposition „in“ im aristotelischen Text: en heterois mimeisthai, „in verschiedenen [Medien] nachahmen“ (Aristoteles: Poetik, 1447a17). Dieser Gebrauch des Wortes ist, anders als der des Mittleren, Vermittelnden oder Zwischen (vgl. etwa Seitter 2002), vom Gebrauch des Wortes Medium als Milieu geprägt. Er hat ebenfalls eine lange Geschichte, die ins 19. Jahrhundert und weiter zurückreicht. Das Abendländische Gespräch in seinem Nachdenken über das Wohnen in einer Umgebung und das Innestehen in ihr weiß: „D.J. Wobei es mit dem ‚inne‘ und ‚in‘ seine besondere Bewandtnis hat. Vielleicht ist es aber ratsam, erst einmal auf das Umgebende zu achten, darinnen wir möglicherweise mit dem Strom sind.“ (Heidegger 1946–48/2000: 178). 277 Primavesi 2013: 253 f.. 278 Zu Primavesis Auseinandersetzung mit Arbogast Schmitt, ob bei Aristoteles eine partielle oder „vollständige Einteilung der Künste nach den Medien“ vorliegt oder nicht, vgl. ebd.: 249. 279 Aristoteles: Poetik, 1447a22 und 1447b24 (vgl. Primavesi 2013: 250 – 257). 280 Vgl. im vorliegenden Band die Respondenz zu Oliver Primavesi: Schrift und Zahl der Tetratktys. 273

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Musik im engeren Sinn).281 Kombination von harmonia und rhythmos ergibt das aulos- und kithara-Spiel und das Spiel auf der syrinx. Der rhythmos als alleiniges Medium charakterisiert die Kunst der Tänzer.282 Das Medium metron aber ist das von Georgiades analysierte Maß der Längen und Kürzen, das, wenn es sich an einem bestimmten Schema orientiert, allein durch Wortwahl und Wortstellung die Rede zum Vers macht – zu Hexameter, Distichon, alkäischem Vers, usw.. Aber auch die Rede ohne ein Schema, mit ungeregulierter Verteilung von Längen und Kürzen, ist vom Medium metron bestimmt – eben weil jede Äußerung in griechischer Sprache die Längen und Kürzen festlegt. So öffnet das metron als einziges Medium ein weites Feld, für das Aristoteles keine einheitliche Bezeichnung hat.283 Es ist schon darum weit, weil es nach Aristoteles auch metrisierte Rede- und Schreibformen umfaßt, die trotzdem keine Dichtung sind, und umgekehrt nicht metrisierte Redeformen, die durchaus Dichtung sind. Denn Dichtung beginnt mit der nachahmenden Rede, nicht mit dem Metrum. Das geht vor allem die philosophische Rede selbst an, also die Urgeschichte der Heideggerschen Konvergenz von Dichten und Denken. So sind nach Poetik 1 sokratische Dialoge darum Dichtung, weil sie ein Gespräch nachahmen. Empedokles’ Lehrgedichte dagegen (die Aristoteles an anderen Stellen als homerisch bewundert oder als metaphorisch geiselt)284 sind keine Dichtung. Empedokles ist kein Dichter, sondern ein physiólogos.285 Demnach realisierte das Abendländische Gespräch dichterisches Denken medientheoretisch schon einfach darum, weil es Nachahmung eines Gesprächs ist – selbst wenn das, Heidegger nicht zuliebe, aristotelische Metaphysik wäre statt hölderlinsche Praxis von Denken als Dichten.

Die aristotelische Medientheorie von Rhythmus und Metrum würde also, noch weit mehr als Kittler es mit Nietzsche und Georgiades denkt, den Rhythmus an ein reales Geschehen mit schreitenden und tanzenden Sprechern binden. Sollte aber umgekehrt der Rhythmus auch eine Mediengeschichte der musikalischen Faszination begründen, jener magischen Schlinge, die direkt zum Ohr der Götter führt, dann stellt sich die medienhistorische Frage, wie denn das Geschehen unter Tänzerinnen und Tänzern gespeichert wurde? Weil das kein Medium seit der Antike vermag, „[d]eshalb ist dieser Rhythmus, der einst Lyrik und Musik unlöslich verband, auch durchaus verlorengegangen“.286 Die Gräzistik muß ihn mühsam wieder hervorholen. Und doch nimmt die Weltmacht des Rhythmus an der Gräzistik vorbei ihren Lauf durch die Geschichte bis unter medientechnisch gänzlich veränderten Bedingungen Lyrik, Musik, Rhythmus und Tanz wieder zueinander finden. Kittler konVgl. oben und Heidegger 1946–48/2000: 69. tōn orchēstōn (Aristoteles: Poetik 1, 1447a27) meint im Griechischen den Reigen in Differenz zum Chortanz, choreia, der auch ein Springen, choreuō, sein kann. 283 Ihr ist der zweite Teil von Primavesis Arbeit gewidmet. 284 Vgl. Primavesi 2013: 271 – 273. 285 Vgl. Primavesis Kommentar zu Aristoteles: Poetik, 1447b9-13 (ebd.: 263). 286 Kittler 1998/2002: 9. 281 282

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struiert das auf einen historischen Fluchtpunkt zu: den Song Texas Radio and the Big Beat auf der 1971, im Todesjahr Jim Morrisons, erschienen Doors-Platte L.A. Woman. Diese „real existierende Lyrik von heute“ 287 verkündet eine Wahrheit, die das Medium selbst ist: Radio und Rhythmus. Kittler erzählt also die Medienkurzgeschichte des Radios, beginnend mit dem Speichern von Wörtern, Klängen, Rhythmen und Geräuschen auf Grammophon und Schallplatte; dem Übertragen per Telegraphie und Telephon; über Schallplatten am Telephon bis zur Elektronenröhre, dieser entscheidenden Erfindung, die drahtlos, masselos im elektromagnetischen Feld die technischen Systeme der Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs steuert, um nach dem Krieg in ein Heer arbeitsloser Funker zu münden, die eine Revolution machen. Am Ende steht ein ziviler Rundfunk, der 1917 in den Gräben des Weltkriegs als erste Radioübertragung über einen primitiven Röhrensender für die Funker in den Gräben als „Mißbrauch von Heeresgerät“ begann und der bis zu seiner Freigabe daran laboriert, von der Interzeption von Codes und Schriften auf Rezeption „ohne Informationsgehalt“, also Musik, umzuschalten. Aber die Geschichte, die in Texas Radio and the Big Beat ankommt, läuft weiter in die UKW-Technik des Zweiten Weltkriegs, dem Befehlsmedium von Guderians Panzearmeen, über Stereo als Funkortung im Luftkrieg und HIFI als Ortung im U-Bootkrieg bis schließlich zum aus Wehrmachts-Kriegsbeständen erbeuteten Medium aller Medien in jenen britischen Soundstudios, in denen nach dem Krieg die real existierende Lyrik von heute gemischt wird: dem Tonband. Wenn „Wahrheit nur im Medium selber hausen kann, nicht in seinen Botschaften“,288 dann ist Texas Radio and the Big Beat der Moment, in dem geschichtlich und geschickt, das ist: technisch übertragen, aus der Wahrheit eines Mediums, das der Output zweier Weltkriege ist, die Götter wiederkehren: „Mit den elektrischen Medien von heute kehrt alles das wieder, womöglich weil Götter gar nicht vergehen können.“ 289 Jim Morrison ist Dionysos.

Ebd.: 19. Kittler 1998/2002: 20. 289 Ebd.: 10. Diese Wahrheit von der Wiederkehr der Götter ist selbst eine, die wiederkehrt: „Alles Große ist einmalig, aber dieses Einmalige hat seine Weise der Beständigkeit, d.h. der geschichtlich gewandelten und verwandelten Wiederkehr. Einmalig heißt hier gerade nicht: einmal vorhanden und dann vergangen, sondern: gewesen und deshalb in der ständigen Möglichkeit der gewandelten Wesensentfaltung und demzufolge in der Eignung, unerschöpflich immer neu entdeckt und mächtig zu werden.“ (Heidegger 1934–35/1999: 144 f.). 287 288

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III.4 Die vielen Götter Ein Element dieser Wahrheit aber steht über jedem Versuch, auch nur in ersten Ansätzen Kittlers Denken der Götter und sein Denken mit ihnen nachzuzeichnen: Die Götter sind ein Plural. Programmatisch und von langer Hand. Wo Foucaults verschwindender Mensch als Der Mensch im Singular steht und Jacques Lacan den Artikel La von La Femme durchgestrichen schrieb,290 da wird nach Kittlers Historisierung das Aufschreibesystem von 1800 vom Singular der alphabetisierenden Mutter und der einen weiblichen Leserin im Imaginären gesteuert, während das Aufschreibesystem um 1900 unter veränderten technischen Bedingungen auf einer Vielheit realer Frauen basiert, die schreiben, tippen, studieren und tätlich den Diskurs erobern, also etwa studieren. In dieser Bewegung steht auch die Vielheit von Kittlers Göttern. Ihre Realität aber ist nicht mehr nur diskursanalytisch, diskurspraktisch und medientheoretisch, sondern seinsgeschichtlich. Der kleine, im vorliegenden Band abgedruckte Text Theologie ist ein Stück Kittlerschen Nachdenkens über die Vielheit der Götter. Sie ist nicht hinduistisch, animistisch, aus Naturgöttern oder „kosmotheistisch“ gedacht,291 sondern aus der Tragödie.292 Auch wenn die Götter „ein anachronistischer, aber notwendiger Plural“ sind: „Ohne ihren Plural gäbe es keine Tragödien“. Dem folgt Kittlers vielleicht grundsätzlichste, von ihm selbst so genannte „Gegenwartsdiagnose“: daß der Monotheismus, der mit der Vertreibung der Musik aus der Tragödie bei Euripides beginnt,293 Tragödien unmöglich macht. Seitdem gelte es, einen „Riß des Unmöglichen“ zu denken, der „quer zu unseren Reden und/oder Körpern“ liege und Krieg heiße.294 Erst in Wagners Opern würden durch ein neues musikalisches Dispositiv nicht nur griechische Musik und Dichtung, sondern die Tragödie als solche wieder möglich und ein Nahen ihrer vielen Götter.295 Denn der Ring des Nibelungen Jacques Lacan: Encore (1972–1973). Le Séminaire Livre XX, Paris 1975, S. 83 – 98, Sitzung VI vom 20. Februar 1973: Dieu et la Jouissance de La Femme. 291 Jan Assmann (Monotheismus und Gewalt. Eine Auseinandersetzung mit Rolf Schieders Kritik an ‘Moses der Ägypter’) möchte durch Benennung der ägyptischen Götterwelt als kosmotheistisch statt polytheistisch die Auseinandersetzung von Mono- und Polytheismus entschärfen (vgl. Schieder 2014: 49 f.). 292 Vgl. im hier vorliegenden Band die Einführung zu Friedrich Kittler: Theologie. 293 Vgl. Kittler 2009: 31 – 126. 294 Friedrich Kittler: Theologie, im hier vorliegenden Band 295 „Was also sind die notwendigen Bedingungen, um (wie auf Pink Floyds lyrischen Wiesen) den Geist griechischer Musik und Dichtung ‚jetzt‘ ‚wieder‘ zu rufen? In meinen Augen – oder besser Ohren – heißt die Antwort Richard Wagner.“ (Kittler 2008/2012: 290

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nehme jene zentrale Frage der Tragödie wieder auf, die nach Heraklit nur im Kampf zu entscheiden ist: Wer ist Mensch und wer Gott? Das ist, aus dem Herzen der Tragödie, Wagners Einspruch gegen das Christentum. „Zum ersten Mal in der abendländischen Musikgeschichte kündigt der Ring dem Christengott, dessen Lobpreis seit der Gregorianik alle Klangereignisse limitiert hatte.“ 296 Dagegen hätten, so Kittler, Neuzeit und Moderne, Neunzehntes Jahrhundert und unsere Gegenwart den „Begriff des Tragischen“ verloren. Er ist nur in einer Vielheit von Göttern. Wo sie dem einen Gott weicht, geht jener Riß und sein Krieg durch die Kultur. Weil es keine vielen Götter gibt, muß auch Mediengeschichte Kriegsgeschichte sein. Nur ein Weg führt aus ihr heraus: Er führt über die vielen Götter einer Geschichte der Liebe – zwischen Sterblichen und Sterblichen, Göttern und Sterblichen, Sterblichen und Göttern. In all dem antworten Kittlers Götter, ohne daß es bislang in einer öffentlichen Debatte je zur Sprache gekommen wäre, auch auf die von dem Ägyptologen Jan Assmann angestoßene „Monotheismus-Debatte“, die bis in die jüngsten Tage von Philosophen, Theologen, Hebraisten fortgeführt wird.297 Das vorliegende Buch Götter und Schriften rund ums Mittelmeer ist nicht zuletzt zu dieser Debatte ein Beitrag.

19). Ebd.. 297 Vgl. Schieder 2014. Kittlers nachgelassenes, digitales Werk und die Fortsetzungen des großen Projekts Musik und Mathematik werden dazu – wenn auch nur in Entwürfen – neuen Stoff liefern. Im vorliegenden Band gibt einen ersten Einblick der Beitrag von Gerhard Scharbert. 296

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DIE ZEHN BEITRÄGE. EINFÜHRUNGEN Die zehn Beiträge dieses Buches versetzen die Frage nach den Göttern und ihren Schriften in einen historischen Horizont, der vom zweiten vorchristlichen Jahrtausend über das achte und fünfte Jahrhundert v. Chr., das Jahr Null, das achte Jahrhundert n. Chr. und mit einem gewagten Sprung bis in den Zweiten Weltkrieg und die Gegenwart des 21. Jahrhunderts reicht. Die Beiträge bewegen sich in Kulturen, die geographisch rund ums Mittelmeer liegen, mit einer Ausweitung des „Mittelmeerischen“ auf globale Maßstäbe durch den Zweiten Weltkrieg. Die Beiträge stammen aus fünf Wissenschaften: Ägyptologie, Hebraistik, Arabistik, Gräzistik, sowie der Kultur- und Medienwissenschaft. Die ersten Beiträge spannen das Geviert der ägyptischen, hebräischen, griechischen und arabischen Schrift auf. Ihre Argumentationen zu Schrift und Bild, Schrift und Stimme, Schrift und Sprache, Schrift und Dichtung greifen eng ineinander.

Vier Schriftsysteme 1. Ludwig Morenz Der Beitrag des Bonner Ägyptologen Ludwig Morenz fragt nach Göttern und Schriften in einem Schriftsystem, dessen erstes Kennzeichen es ist, überhaupt Zeichen für Götter oder den Gott zu kennen – Götterzeichen. Das altägyptische Schriftsystem ist „hybrid“: gemischt aus hieroglyphischen, hieratischen und kursiven Schriften, aus Zeichen, die gleichzeitig phonologische und rein semantische Bedeutung haben. In einem ersten Teil faltet der Beitrag die Struktur des Götterzeichens nTr auf. Dessen Lautkörper ist auch der gegenwärtigen Forschung unhörbar, aber sein Schrift-Bild hat eine reiche und dokumentierbare Geschichte. „Göttlichkeit und Götter“ artikulieren sich in den Zeichen des altägyptischen Schriftsystems auf verschiedene Weise: als Zeichen einer Menschengestalt, einer Tiergestalt: Falke oder Schakal auf Standarte, eine Schlange

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oder das Hinterteil einer Raubkatze, als Stern oder schlicht als Sakral-Marker ohne bildlichen Einsatz. An der Komposition der Bildzeichen des Gottes wird dessen Wesen und Entwicklungsgeschichte entzifferbar. In einem zweiten Teil erzählt Ludwig Morenz dies anhand der passionierenden Geschichte von Sonnengott und Sonne als Zeichen. Schrift wird in diesen Zeichen „inszeniert“ und sie ist Teil einer Inszenierung, auch der von Herrschaft. Was Morenz die „Wucht“ nennt, die im „Königsnamen: Nb(=j)-Rʿ “ liegt, ist Inszenierung von Königsherrschaft. Aber der König ist nicht die irdische Verkörperung des Sonnengottes. Vielmehr handelt es sich um ein kompliziertes Verhältnis von vier Termen: Horus-Falke, Sonne, Gott und König. Wo zunächst der Horus-Falke für die Sonnengottheit steht und ihr Zeichen ist, tritt Anfang des dritten Jahrtausends eine Sonne als Scheibe, die zunächst mit dem Horus-Falken verbunden bleibt: Der Falke hält die Scheibe in der Hand. Morenz spricht von einer zweifachen „Übertragung“ – die Scheibe als Sonne, die Sonne als Sonnengott. Die Übertragung findet also zwischen der Abstraktheit von Re (Sonne), seinem Namen, der Mythologisierung von Re und einer realen Sache, dem Sonnenkörper, der Sonne als sichtbarer Scheibe statt. All das ist ablesbar an der Geschichte eines einzigen Zeichens oder Symbols, das als einzelnes oder in Bildzusammenhängen, monumental oder in „symbolisch dichten Siegelbildern“ vorkommt. Damit werden eine Fülle prinzipieller Fragen über Götter und Schriften aufgeworfen, gerade in Differenz zu anderen Schriftsystemen rund ums Mittelmeer. Was etwa heißt es, dass Götter ein Zeichen haben oder sind? Morenz spricht von der „Arbeit an einem Gotteszeichen“ – Verschiebungen (um mit dem ägyptologisch interessierten Sigmund Freud zu sprechen) von Gott-Zeichen, Mythologie, Metaphorik, Herrscherkult und der sichtbaren Sonnenscheibe. Wie könnte von der Schrift her die Differenz zu anderen Sonnengöttern gedeutet werden? Der griechische Gott Helios etwa hat eine Genealogie, eine Geschichte, eine Familie und eine, ja!, Tochter. Die Zeichen, in denen er sich artikuliert, sind nicht seine Zeichen, sondern sie spielen auf einer familiären und nicht familiären Geschichte mit anderen Göttern oder Sterblichen, gesungen in Epos oder Lyrik und als Gesang aufgeschrieben. Aber es gibt kein Gotteszeichen, in dessen komplexer Struktur das Wesen des Gottes aufgehoben wäre. Oder wäre etwa die Verschiebung von Zeichen/Tier/Falke zur Sonnenscheibe als physikalischem Ding kontrastierbar mit Empedokles’ physikalischen Elementen als Göttern? Trifft etwa Walther Kranz ins gleiche Zentrum, wenn er über die Verschiebungen von „Gottes- und Stoffname“ bei Empedokles handelt,1 in 1

Vgl. Kranz 1949: 41 ff.. Vgl. auch den Beitrag Oliver Primavesis über den Empedokleischen Zyklus

EINFÜHRUNGEN

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einem Horizont, in dem die Götter nicht aus dem Nichts schöpfen, sondern eine kosmotheistische Seinsweise haben.2 Im Empedokleischen Denken stünden, so Kranz, die Götter „zum Stoff in einem viel innigeren Verhältnis“ als es je in der platonisch-christlichen Tradition möglich wäre.3 Auf welche Weise unterscheidet sich ein solches Denken von der Arbeit am Götterzeichen? 2. Joachim Schaper Der zweite Beitrag, der von der Schrift des Alten Testaments handelt, setzt an der doppelten Differenz zum ägyptischen Schriftsystem und zum griechischen Schriftsystem an. „Nehmet euch um eures Lebens willen gut in acht! Denn eine Gestalt habt ihr an dem Tag, als der Herr am Horeb mitten aus dem Feuer zu euch sprach, nicht gesehen. Lauft nicht in euer Verderben, und macht euch kein Gottesbildnis, das irgend etwas darstellt, keine Statue, kein Abbild eines männlichen oder weiblichen Wesens, kein Abbild irgendeines Tieres, das auf der Erde lebt, kein Abbild irgendeines Vogels, der am Himmel fliegt, kein Abbild irgendeines Tiers, das am Boden kriecht […]. Wenn du die Augen zum Himmel erhebst und das ganze Himmelsheer siehst, die Sonne, den Mond und die Sterne, dann laß dich nicht verführen! Du sollst dich nicht vor ihnen niederwerfen und ihnen nicht dienen. Der Herr, dein Gott, hat sie allen anderen Völkern überall unter dem Himmel zugewiesen. Euch aber hat der Herr genommen und aus dem Schmelzofen, aus Ägypten herausgeführt, damit ihr sein Volk, sein Erbbesitz werdet – wie ihr es heute seid.“4 Der Beitrag des Alttestamentlers Joachim Schaper aus Aberdeen kreist um das Rätsel einer bildlosen Schrift und Schriftkultur. Einer Schrift, die radikal um die Stimme zentriert ist statt um das Bild. Nach einer kurzen Einleitung über Syllabare und Alphabete5 wendet sich Schaper der Schrift im Alten Testament zu, vor allem Deuteronomium 4 und Nehemia 8. Auch wenn im Alten Testament der „Finger Gottes“ die Gesetze schreibt, auf Tafeln und monumental, ist der eine Gott vornehmlich im Hören gegenwärtig. Die erste Gegenwart und Nähe Gottes ist seine Stimme. 2

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Kosmotheismus ist Jan Assmanns Ausdruck, durch den er den Begriff Polytheismus für die altägyptische Götterwelt ersetzen möchte (vgl. Jan Assmann: „Monotheismus und Gewalt. Eine Auseinandersetzung mit Rolf Schieders Kritik an 'Moses der Ägypter'“, in: Schieder 2014, 36 – 55, hier: 50). Kranz 1949: 41 Deuteronomium 4, 15 – 19 (Einheitsübersetzung). Vgl. die Einführung zu Barry Powells Beitrag.

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Wie spricht „Die Stimme Gottes“? Erstens spricht die Stimme aus dem Feuer, ohne dass die Gestalt des sprechenden Gottes wahrnehmbar wäre. „Denn der Herr, Dein Gott, ist verzehrendes Feuer.“6 Das ist die äußerste Opposition zum Schriftbild des Gottes ohne Stimme im ägyptischen Kontext. Eine Opposition am anderen Ende der Skala ist die phonologische Schrift der Griechen. Auch alttestamentlich „bildet die Schrift die Stimme ab“, so Schaper, und auch das hebräische Alphabet kennt rudimentäre Vokale, dargestellt mithilfe „zweckentfremdeter“ Konsonanten. Doch je mehr und sichtbarer Vokalzeichen integraler Teil des Alphabets sind, desto physisch konkreter wird die Stimme des Sprechers und dieser Sprecher selbst. In der Stimme im Feuer wäre dann die physische Präsenz des Sprechers zurückgenommen und die der reinen Stimme verstärkt, sozusagen losgelöst von der Physis des Buchstabens und damit des Sprechers. All das geht schließlich auch jene zentrale Funktion der Sprache an, Ich zu sagen. Wenn sich diese Funktion (mit Émile Benveniste) nur auf den Sprecher des Satzes bezieht, in dem Ich gesagt wird, stellt sich (mit Joachim Schaper) die Frage, ob es auch für den Schreiber des Satzes gilt. Ist also Ich schreiben sprachheoretisch etwas ganz anderes als Ich sagen, eben weil je nach Schriftsystem die Gegenwart der Stimme dieses Ich eine andere ist? Zweitens ist die Stimme des Alten Testaments die vor-lesende Stimme, die Stimme eines Vorlesers.7 In Nehemia 8 etwa wird zuerst das Gesetz laut vorgelesen und dann findet das Fest statt, ja das Vorlesen als solches inauguriert das höchste Fest, das der Laubhütten. Wäre das – Schaper führt es nicht aus – kontrastierbar mit der Situation, in der ein griechischer Sänger das Epos vorträgt: der feierlichen Situation im Augenblick des erklingenden Gesangs? Man könnte die Frage stellen, wann in beiden Fällen getanzt wird, vor oder nach oder während des Gesangs? Wenn das Fest (Heidegger mit Hölderlin) die „Entgegnung der Menschen und Götter“ ist und nicht nachträglich diese Entgegnung feiert, dann ist der Status des Präsentischen, aller Grammatologie zum Trotz, in beiden Fällen grundsätzlich anders. Auf subtile und historisch mehrfach determinierte Weise also ruft Joachim Schaper die Frage nach Schrift und Stimme auf. Er adressiert sie via Powell/Kittler an Jacques Derrida.8 Freilich steht im Vokalalphabet, in der Präsenz von Laut und 6 7

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Deuteronomium 4, 25. Vgl. auch den Beitrag von Beatrice Gruendler in diesem Band, in dem die arabische Situation beschrieben wird: Lesen und Vorlesen sind hier so eng gekoppelt, daß nach Gruendler eine schlichte Dichotomie von Mündlich und Schriftlich ganz unmöglich ist. Vgl. etwa Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen: ein Essay über das Problem des Zeichens in der Philosophie Husserls (übersetzt von Jochen Hörisch), Frankfurt 1979 (frz.: La voix et le phénomène, 1967).

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Ton, die Präsenz und ihre Metaphysik als solche auf dem Spiel. Die Frage ist nur: Welche Präsenz? Die des Gottes im Feuer? Die Gegenwart der Götter? Die Gegenwart der tatsächlich klingenden Musik? Die Gegenwart der Tänzer? Die Gegenwart der, des Geliebten – can’t hear my baby, so I call and call? 9 3. Barry Powell Stellung und Genese des griechischen Vokalalphabets inmitten der anderen Schriften, Syllabare, Alphabete rund ums Mittelmeer ist Thema des Beitrags des amerikanischen Gräzisten Barry Powell. Konzentriert auf die essentiellen Argumente spitzt er seine berühmt gewordenen Analysen zu und verleiht der Grundthese schließlich fast erzählerische Intensität: „Die Notwendigkeit, den griechischen Hexameter aufzuschreiben: Darin sehen wir den Grund für die Erfindung einer Schrift, die zum Ziel hat, den tatsächlichen Klang der menschlichen Stimme aufzuzeichnen.“ Der Beitrag beginnt – wie als Antwort auf Joachim Schaper – mit der grundsätzlichen Frage: Was überhaupt ist ein Alphabet? Schaper und Powell entwerfen die gegensätzlichen Positionen zweier Schulen. Die Auseinandersetzung, die seit langem geführt wird,10 und sich an der Familie der westsemitischen Schriften, den phönizischen, aramäischen, hebräischen Schriften entzündet, fokussiert sich schließlich auf die archäologischen Zeugnisse eines sehr frühen Vertreters dieser Schriftfamilie: der ugaritischen Schrift, gefunden in Ras Schamra, nahe dem heutigen Latakia, im Jahr 2015 von Weltmächten und Religionen umkämpft. In der umgestalteten Keilschrift von Ugarit liegen nicht nur ausführliche Schriftzeugnisse vor, sondern auch eine Art ABC-darium aus einer Schreiberschule.11 Es verzeichnet 30 Zeichen, die sich überraschend genau auf die 22 Zeichen des heutigen hebräischen Alphabets abbilden lassen. Die Streitfrage, die auch in dem hier vorliegenden Buch ausgefochten wird, ist, ob diese keilschriftlichen Zeichen „Buchstaben- oder Silbenzeichen“ sind?12 Schaper spricht dieser wie anderen westesemitischen Schriften den Status von AlphabetSchriften zu. Nicht nur ist die Zahl der Zeichen im Vergleich zu logosyllabischen und syllabischen Systemen äußerst reduziert und jedes Zeichen auf jeweils einen einzigen Konsonanten als Phonem bezogen. Es seien auch erste Versuche 9 10 11 12

Jim Morrison: Cars hiss by my window ... (L.A. Woman 1971). Vgl. etwa Daniels 2001, Quack 2006, Doblhofer 1964/2000: 194 – 210; oder Powell selbst in: Powell 1997 und Powell 2006. Vgl. Doblhofer 1964: 206; Powell 2009: 157 f.. Aus dem Beitrag von Joachim Schaper.

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von Vokalzeichen – a i u – in der Tafel von Ugarit zu finden, auch wenn sie sich nicht durchsetzten und in der phönizischen Schrift etwa nicht wieder auftauchen. Barry Powell setzt dagegen, daß die Tafel von Ugarit nur zum Schein einzelne Phoneme bezeichne und es sich vielmehr um Silben mit unbestimmtem vokalischem Wert handle. Darum sei hier noch nicht von einem Alphabet im eigentlichen Sinn zu sprechen. Das m der Liste etwa – das ist, mit dem Namen des hebräischen Alphabets, das mem – stehe für ma und mi und mu.13 Da nun aber nicht, wie in wirklichen Silbenschriften, etwa dem mykenischen Linear B, für ma mi mu jeweils ein eigenes Zeichen steht, muß der Vokal a i u vor oder hinter dem Zeichen m aus dem Text erschlossen werden.14 Nach Schaper springt genau hier die Lese- oder Aussprachetradition ein. Sie übernehme in westsemitischen Alphabeten die Funktion von Vokalen, selbst wenn daneben immer wieder der „Wunsch, Vokale explizit schriftlich abzubilden,“ bestanden habe, wie sie etwa die matres lectionis hebräischer Texte realisieren.15 Alles das, so die von Schaper vertretene Schule, mache keinen „wesentlichen strukturellen Unterschied“ zu einem Alphabet, das, wie das Griechische, erfolgreich Vokale anschreibt. Powell dagegen legt das ganze Gewicht auf eine in sich stehende Struktur aus atomaren, nicht weiter reduzierbaren, phonetischen Einheiten. Er wendet das auch ins Epistemologische: In der Sprache existieren keine Phoneme, sie sind bloße Rückprojektionen des Alphabets. (Sein Beispiel: Sprecher des Chinesischen ohne Kenntnis eines Vokalalphabets hören gar keine unterschiedlichen Phoneme.) Aber auch die Wissenschaft der Ägyptologie etwa benützt, wie Powells Beitrag es genau vorführt, das Instrumentarium des Vokalalphabets, um die syllabischen Werte von Hieroglyphen überhaupt anschreiben zu können und daraus Wissenschaft zu machen. Die analytische und, seit der Buchstabenreihung in semitischen Alphabeten, auch ordnende Kraft des Alphabets generiert Wissen. Das ist ein Gedanke, auf den auch Friedrich Kittlers Alphabetgeschichte, bis hin zu den Alphabeten der Neuzeit, immer wieder zurückkommt.16 Diesseits der eben skizzierten Positionen geht Kittlers Alphabetdenken nicht vom einzelnen Zeichen oder Phonem aus, sondern vom Zeichensatz und seiner Ökonomie. Was Schaper das „eigentlich 13 14

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Vgl. Powell 2006, 25; Zitat im Beitrag von Joachim Schaper: II. Gesprochene Sprache und ihre Notation. Das von Schaper wörtlich zitierte Argument Quacks, daß es faktisch keinen Unterschied mache, ob Silben geschrieben werden oder Konsonant +Vokal geschrieben wird, gilt nur für den Fall wirklicher Silbenschriften wie dem Linear B (vgl. Quack 2006: 76). Vgl. auch den Beitrag von Gerhard Scharbert in diesem Band. Vgl. im vorliegenden Band auch die Respondenz zu Oliver Primavesi ‚Tetraktys und Göttereid‘: Die Zukunft der Zyklen.

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Revolutionäre“ der Alphabet-Erfindung nennt: „ein Graphem für jeweils ein Phonem“,17 führt in Ugarit zu einer kolossalen Vereinfachung der Keilschrift, Grundlage aller „westsemitischen Alphabetschriften“.18 Silbenschriften dagegen, nicht zu sprechen von piktoralen oder Hieroglyphenschriften, basieren auf einem sehr breiten Zeichensatz.19 Weil Alphabete zeichen-ökonomische Innovationen sind, sind auch bei Kittler westsemitische Schriften der entscheidende Durchbruch zum Alphabet und nicht bloße Fortsetzung von Silbenschriften.20 Diese Grundposition reicht bis zu jenem im Jahre 2005 – also zeitlich parallel zum Erscheinen von Musik und Mathematik I.1 – veröffentlichten Fund einer Forschergruppe aus Yale, die an der westlichen Grenze Ägyptens zur Sahara zwei alphabetische Inschriften aus der ersten Hälfte des Zweiten vorchristlichen Jahrtausends entdeckte.21 Die Inschriften sind damit etwas älter sind als die bis dahin angenommenen ältesten alphabetischen Schriften von Serabit auf der Sinai-Halbinsel.22 Die in den Felsen geritzten Inschriften – eine horizontal, eine vertikal – operieren mit einem äußerst reduzierten Zeichensatz, der in 12 Fällen hebräische Buchstaben präfiguriert.23 Dieser Fund kann in Musik und Mathematik ein Schlüssel frühester Alphabetgeschichte werden, weil er mehrfach determiniert ist.24 Erstens kommt dieses Alphabet nicht aus einem Großen Anfang, von Göttern oder Gott gegeben, sondern entsteht im niedrigen Gewühle der Geschichte. 17 18 19 20

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Vgl. den vorliegenden Beitrag Joachim Schapers (II. Gesprochene Sprache und ihre Notation). Ein Gedanke, der bei Doblhofer tragend ist (vgl. Doblhofer 1964: 194 – 210). Auch das ist, gegen Joachim Quack gesprochen, für die „praktische Leistungsfähigkeit“ eines Schriftstystems wichtig (vgl. Quack 2006: 76). Auch wenn Musik und Mathematik Powells Meinung zitiert, bei den nordsemitischen Schriften handle es sich um „Konsonantensilbenschrift“ (Kittler 2006: 106, Anm. 4; vgl. auch den Verweis auf diese Stelle im Beitrag Joachim Schapers (Anmerkung 13)). Darnell, e.a, 2005. Die Datierung, die mithilfe einer anderen Inschrift möglich wird, geht auf das Mittlere Reich, die Regentschaft Amenemhat III. während der späten 12. Dynastie, das heißt in Jahreszahlen: 1850 – 1700 v. Chr. (vgl. ebd.: 89 f.). „The Wadi el-Hôl texts, then would be among the earliest (if not the earliest) specimen of alphabetic writing discovered to date.“ (ebd.: 90). „ [...] most of the signs bear a very close resemblance to – or exhibit clear conitinuity with – the various signs in the emergent alphabetic tradition as it appears at Serabit, the handful of early alphabetic inscriptions from Palestine, and the later linear (nonpictographic) alphabetic script traditions.“ (ebd.: 86). Um nur die ersten fünf der 16 Zeichen der horizontalen Inschrift mit ihren hebräischen Buchstaben zu nennen: resch, beth, lamed, nun, mem – usw.. Damit freilich war 2005 eine Entzifferung der Texte noch lange nicht möglich. Vgl. Kittler 2006: 105.

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Wadi el-Ḥôl in der Nilschleife nördlich von Luxor war ein Garnisons-Ort, ein Tor zur Sahara, das in einer instabilen Zeit des Niltals von durchziehenden Soldaten und foreign auxiliaries wimmelte. Vor allem Söldner, Kuriere, Wüstenspezialisten aus dem semitisch sprechenden, westlichen (Klein)Asien infiltierten in ganzen Gruppen die ägyptische Armee. „Die Asiaten“, etwa die Gruppe eines „General Bebi“, arbeiteten eng mit der ägyptischen Militärverwaltung zusammen, deren Schreiber eine ägyptische Schrift verwendeten und zwar eher das lapidary hieratic (oder ein Hybrid aus hieratic und hieroglyphic) als das Hieroglyphische selbst. Aus dem Zusammentreffen ägyptischer Militärschreiber und semitisch sprechender Söldner – „initially in a plurality of cultural contexts“ 25 – entsteht schließlich diese vielleicht früheste alphabetische Schrift. „This was probably neither an Asiatic scribe, nor an Egyptian writing an alphabetic script, but an Egyptian military scribe whose company consisted of Asiatic conscripts.“ 26 Zweitens aber ist der aus einem Hybrid von hieratischer und hieroglyphischer ägyptischer Schrift entstandener Zeichensatz von Wadi el-Ḥôl äußerst reduziert: „they employ a radically abbreviated number of graphemes, the sine qua non of alphabetic writing“.27 Kittlers schlichte Vermutung: Die asiatischen, im Vergleich zu den ägyptischen ungebildeteren Schreiber oder Leser brauchten vor allem eine einfache Schrift,28 die außerdem angepaßt war an die Bedürfnisse ihrer Sprache.29 Diese niedere Geburt des Alphabets im Großen Anfang, gepaart mit verschärfter Zeichenökonomie bestimmt Friedrich Kittlers Blick auf die früheste Alphabetgeschichte sowie seine eigene alphabetische Praxis bis hin zum „eleganten“ Zeichensatz der Assembler-Sprache.30 Es führt schließlich auch zum Zeichensatz des griechischen Vokal-Alphabets. Barry Powells Beitrag zur Geschichte dieses Alphabets führt nach den skizzierten prinzipiellen Bemerkungen und nach einer kurzen Darstellung des logosyllabischen Systems der Hieroglyphen-Schrift, der zypriotischen Silbenschrift und der phönizischen Schrift direkt zu den zwei, vom Autor immer wieder thematisierten frühesten Schriftzeugnissen des griechischen Alphabets: dem Becher des Nestor 740 v. Chr. mit seiner hexametrischen Inschrift und der um die 25 26 27 28 29 30

Darnell, e.a., 2005: 91a. Ebd.: 88. Ebd.: 86. Kittler geht darin über die Forschergruppe aus Yale hinaus. „ [...] semitic-speaking Asiatics adopted and adapted certain aspects of the Egyptian writing system for the needs of their own language(s) [...] “ (ebd.: 90b). In dieser Sprache, diesem Alphabet schrieb Friedrich Kittler lange Jahre viele tausend Zeilen Code (vgl. auch Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: Digitale Schriften).

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gleiche Zeit zu datierenden Inschrift auf einem Becher, der in der euböischen Kolonie auf Pithekoussai gefunden wurde und eine Art hexametrisches Sprachspiel darstellt. Die archäologische Sachlage wirft das große Rätsel auf, daß die frühesten Zeugnisse griechischer Schrift im Unterschied zu den meisten anderen Schriften rund ums Mittelmeer keinerlei Verwaltungs-, Rechts- oder Handelstexte umfassen. Sie sind hexametrische Zeilen, die als solche und in ihren Gegenständen auf die homerische Dichtung verweisen. Der Funktion des Hexameters für die Genese der griechischen Schrift ist darum der Hauptteil von Powells Beitrag gewidmet. Er nimmt zwei Einsätze: Erstens beschreibt er, wie sich vom griechischen Hexameter ausgehend die Frage nach der Kenntnis der hier aufgeschriebenen Sprache – in vielen Alphabeten ist Sprachkenntnis die Bedingung, einen Text in dieser Sprache auch lesen zu können – völlig neu stellt. Denn der Hexameter ist eine Sprache, „die niemand jemals sprach, eine Kunstsprache, entstanden aus einer Mixtur verschiedener Dialekte, aus Archaismen und künstlichen Formen“. Die Möglichkeit also, daß der Leser des Textes auf die Kenntnis einer Normalsprache zurückgreifen kann, fällt hier weg. Keine natürliche Sprecherkompetenz wäre je die Instanz, um aus einem rein konsonantischen Text die Vokale, die Verteilung von Längen und Kürzen oder die Häufung von Vokalen in ganzen Vokalclustern zu erschließen. Zweitens konstruiert Powell daraus die homerische Frage neu. Mit dem Scheinwerfer narrativer Wahrscheinlichkeit leuchtet er, genauer als in allen vorangehenden Versuchen, die mediengeschichtliche Situation im Lefkandi des achten Jahrhunderts aus. Er wechselt ins Präsens. In dieser Kultur mit ihren reichen Handelsverbindungen von Euboia zu den Regionen der semitischen Schriften, nach Zypern bis in den äußersten Westen (Pithekoussai) muß es zweisprachige Kinder geben, die „Griechisch sprechen und zugleich Erben semitischer Traditionen sind“.31 Das heißt: ein junger Schreiber, eine Schreiberin, ist mit einem „kurzen syllabischen Zeichensatz“ von 22 Zeichen vertraut32 und nimmt alltäglich im Geschäftskontext mit diesem Alphabet Diktate auf. Ein solches Kind, fasziniert vom berühmtesten und alle anderen weit überragenden Dichter der Region, probiert, seiner Faszination erlegen, wie gewohnt die vorgetragenen Gesänge als Diktat aufzunehmen. Schnell wird klar, daß das unmöglich ist. Aus dem aufgeschriebenen Text ist kein Hexameter zu rekonstruieren. Man muß die Vokale von Längen und Kürzen und Vokalhäufungen mit schreiben.

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Aus dem vorliegenden Beitrag Barry Powells (III. Das griechische Alphabet und der Hexameter). Syllabisch steht bei Powell für alphabetisch (siehe oben).

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So werden denn, Mißbrauch von Handelsgerät,33 einige phönizische Zeichen entwendet und verändert bis „zu jenen Zeichen, die, ziemlich unvorhergesehen, die Welt verändern sollten“. Eine Diskussion, die sich ebenso unvorhergesehen am Rand des Symposions Götter und Schriften rund ums Mittelmeer unter den Teilnehmern entspann,34 widmete sich aus großer Distanz diesem Powellschen Szenario. Man erprobte im Gespräch durch alle ägyptologischen, hebraistischen Einwände hindurch, unter Weglassung aller weitergehenden Hypothesen Powells – wie die Einmaligkeit der griechischen Erfindung, der Adaptor als Agent, das plötzliche Erscheinen des Alphabets, die Geschlossenheit des alphabetischen Systems – die „Minimal-These“. Daß das griechische Vokalalphabet einzig dazu erfunden wurde, den Hexameter jener mündlich vorgetragenen Dichtung aufzuzeichnen, die heute unter dem Namen Homer bekannt ist: Wie wahrscheinlich ist das? Welche strukturellen Bedingungen setzt ein solches Szenario? Macht nur die genaue Verteilung von Vokalen und Konsonanten die Aufzeichnung und Rekonstruktion von Längen und Kürzen eines griechischen Verses möglich? Gab es unter den in der historischen Realität Lefkandis im achten Jahrhundert v. Chr. zugänglichen Schriften – zu denen eben nicht sämtliche der Ägyptologie und Assyriologie bekannten keilschriftlichen Varianten gehören – eine andere geeignete Schrift? Muß man, um aus einer alphabetisch geschriebenen Zeile einen Hexameter zu rekonstruieren, den Hexameter kennen? Kurzum: Die Einführung des Hexameters in die Zweiheit von Sprachklang und Schrift trifft ins Zentrum der Frage nach den griechischen Göttern und Schriften, gerade in ihrer kittlerschen Fassung. Aber auch die minimalste im Gespräch der versammelten Fachkollegen vorgeschlagene Variante: Das Vokalalphabet wurde spät, sekundär und jenseits aller Ursprungsmythen einzig aus dem Grund entwickelt, die Gesänge Homers unterrichten zu können und damit den Grundkanon aller griechischen Alphabetisierung schulfähig zu machen – wozu eben der Hexameter aus der Schrift rekonstruierbar sein muß – auch dieses noch minimalere Szenario erledigt die Powell/Kittlersche Frage nach dem Vokalalphabet der Griechen nicht, sondern wirft sie auf immer wieder anderen Ebenen neu auf.35

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Kittler 1988/2002; vgl. auch Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: III.3 Die wiederkehrenden Götter. Sie wurde dank Joulias Strauss’ Geistesgegenwart aufgezeichnet und von Susanne Holl transskribiert. Teilnehmer des Gesprächs: Oliver Primavesi, Ludwig Morenz, Joachim Schaper, Gerhard Scharbert, Jan-Peter Sonntag, Tania Hron, Erika Kittler. Vgl. auch Kittler 2009: 161 f., Eine Schulstunde.

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4. Beatrice Gruendler Der vierte Beitrag schließlich, der historisch ins 8. Jahrhundert nach Christus, in die Blütezeit der arabisch-islamischen Zivilisation springt, stellt die Frage nach den Göttern nicht direkt, sondern aus dem Spiel der Schrift und ihrer heiligen und unheiligen Texte heraus. Der Koran ist aus theologischen Gründen unübersetzbar, anders als etwa – eine Lieblingsthese Friedrich Kittlers – die von Anfang an auf Übersetzbarkeit ausgerichteten Schriften des Neuen Testaments.36 Als Garant der Hochsprache stabilisiert der Koran Sprache und Schrift. Der Ausgangspunkt von Gruendlers Kleiner Mediengeschichte der arabischen Schrift ist die Trennung von erstens Arabisch als einer vor-islamischen Sprache der Dichtung, gepflegt vor allem von gewissen Beduinenstämmen; und zweitens der aus dieser und dem Koran entwickelten Hochsprache (al-ʿarabiyya alfuṣḥā), einer zu erlernenden Sprache der Gebildeten; und drittens einer gesprochen Sprache, die sich im Islam vor allem in den kosmopoliten Städten rasch veränderte. In der Sprache der Dichtung werden grammatische Wort-Endungen durch Reim und Versmaß bewahrt, die Hochsprache übernimmt und bewahrt diese Endungen, doch in der gesprochen Sprache sind sie weggefallen (wie etwa im Englischen). Die Geschichte der arabischen Schrift, wie Gruendler sie darstellt, ist charakterisiert durch solche divergierenden Sprachgeschichten, die geprägt sind vom Kampf um Endungen, Flexionen und Vokale. Da al-ʿarabiyya al-fuṣḥā wie eine Fremdsprache erlernt werden muß, kann der Sprecher Fehler machen. Eine wichtige Funktion der Schrift ist es darum, die Sprache überhaupt erlernbar zu machen und ihren Gebrauch durch eine reiche „korrektive Literatur“, das ist: Fehler- und Sekretärshandbücher und Grammatiken einzuüben. Die Schrift steht im Dienste verschärfter Alphabetisierung von Sprechern. So ist denn das arabische Schriftsystem durchwegs auf die Kenntnis der Sprachen bezogen, die es schreibt. Die Schrift selbst wird in einem langen, so Gründler, „Prozeß des Experimentierens“ aus anderen semitischen Sprachen übernommen, entsteht also nicht, wie nach Powell die griechische, plötzlich. Das betrifft vor allem das Leitthema des Beitrags: die Behandlung der Vokale. Auch sie ist bezogen auf die Struktur der Sprache. Die Struktur semitischer Sprachen nämlich hängt an einer Wortwurzel aus meistens drei Konsonanten. Einzelne Wörter sind eben darum in einem arabischen Text auch leicht zu suchen und zu finden: Das „Wortbild“ mit den drei Konsonanten steht fest. Im Unterschied zu dieser „Wurzelbedeutung“ aus drei Konsonanten finden sich 36

Siehe auch den vorliegenden Beitrag von Gerhard Scharbert.

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im indoeuropäischen Sprachsystem schon in der Wurzel vokalische Elemente. Obligatorische Flexionen und Endungen sind, nach Johannes Lohmann, ein Grund für die Möglichkeit formaler Sprachen überhaupt, die nicht von ungefähr im indoeuropäischen Sprachsystem entstehen.37 Das Feld formaler, kombinatorischer „Spiele“ in der arabischen Sprache und Schrift dagegen liegt auf einer anderen Ebene. Gerade an der Vokalschreibung zeigt sich ein anderer Begriff des, mit Powell zu sprechen, „atomaren“ oder „elementaren“ Moments der arabischen Schrift. Vokale werden – veränderbar oder standardisiert – in den Buchstaben als Schriftkörper integriert. Das universale und flexible Medium dafür ist das „Prinzip der Zusatzzeichen“, also diakritischer Zeichen, die auf vielfältige Weise im Raum eines Buchstabens angeordnet sein können. Im griechischen Vokalalphabet sind die Vokale (außer im Fall des iota subskriptum bei alpha, eta, omega) nicht auf einen anderen Schriftkörper bezogen und können schon darum auch gehäuft, in Clustern auftreten.38 Andererseits entwickelt der Beitrag eine einfache Erklärung, warum in semitischen Alphabeten die Vokale fehlen: Semitische abgad’s werden akrophonisch aus den Anfangsbuchstaben von Worten gebildet und nicht aus Silben. Nun kann aber kein Wort in diesen Sprachen mit einem Vokal anfangen, auch wenn im Wort Vokale stehen. Gruendler geht dann die Vokale im Einzelnen durch. In der „phonetischen Optimierung der Schrift“ werden etwa kurze Vokale, die vom „Wortbau bestimmt“ sind, nicht geschrieben, denn „sie waren dem Sprecher ohnehin vertraut“. Die langen Vokale haben jeder eine weit verzweigte Geschichte, die der Beitrag durch viele arabisch geschriebene Sprachen verfolgt. Aus der Schreibung der Vokale als Zusatzzeichen, aus dem Weglassen und Hinzufügen, Ergänzen und Modifizieren, aus dem Spiel mit dem Weggelassenen in der Schrift entwickelt sich eine eigene Dynamik, entwickeln sich eigene Stratageme, ja eine eigene Kultur. „Kreative Vokalschreibung“, wie Gruendler das anspricht, wird zum Mittel, die Schrift an fremde Sprachen anzugleichen und durch minimale Operationen neue Vokale anderer Sprachen einzuführen. Andererseits haben viele Worte mit anderen Vokalen auch eine andere Bedeutung. Das heißt für „Staatsbriefe“, also Befehle, sie müssen, um eindeutig zu sein, Maßnahmen zur Standardisierung der Vokalschreibung ergreifen. Für die Dichtung aber eröffnet sich hier ein weites Feld kombinatorischer Spiele. Sie scheinen immer auch lehrhaften Charakter zu haben, etwa aufs Auswendig37 38

Vgl. auch Kittler/Treusch-Dieter 1994: 94 f.. Vgl. auch den vorliegenden Beitrag von Barry Powell (III. Das griechische Alphabet und der Hexameter).

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lernen hin konstruiert zu sein. Der Dichter Al-Bahnasī fügt in seine Grammatik ein Liebesgedicht ein, dessen Zeilen in jeder Strophe alle drei mit verändertem Vokal möglichen Worte zu einer poetischen Fügung dichtet.

Götter Zahlen Elemente 5. Oliver Primavesi Hinweis der Herausgeber: Als Einführung zum Beitrag „Tetraktys und Göttereid bei Empedokles“ des Münchner Gräzisten Oliver Primavesi wird im Folgenden ein bisher unveröffentlichter Text von ihm abgedruckt: „Zur Genese der Tetraktys-Hypothese“. Er führt nach Meinung der Herausgeber in idealer Weise an das Thema des Beitrags heran und verdeutlicht dessen forschungsgeschichtliche Stellung. In diesem Text, den Primavesi auf Bitten der Herausgeber freundlicherweise für den vorliegenden Band zur Verfügung gestellt hat, dokumentiert er nämlich die Entstehung seiner These: Wie er seit 2001 versuchte, auf den von Marwan Rashed (Sorbonne) entdeckten Zeugnissen zum kosmischen Zeitplan des Empedokles ein hälftig gegliedertes Modell dieses Zeitplans aufzubauen, wie er seit 2012 – angespornt durch eine Frage Friedrich Kittlers – mit einer pythagoreischen Neudeutung dieser Zeugnisse experimentierte, und wie es dann erst 2014 dank einem weiteren Textneufund mit einem Mal möglich wurde, den pythagoreischen Deutungsansatz in ein kohärentes, nicht mehr hälftig gegliedertes Modell zu überführen. – Die Graphiken hier und in „Tetraktys und Göttereid“ werden Joulia Strauss verdankt. Zum Verhältnis zwischen Primavesis These und Kittlers Forschungsprogramm „Musik und Mathematik“ sowie dessen Fortsetzungen vgl. die auf Primavesis Beitrag folgende Respondenz von Peter Berz.

O. Primavesi: Zur Genese der Tetraktys-Hypothese In seiner Abhandlung „Tetraktys und Göttereid bei Empedokles“ hält sich der Verfasser streng an die schlichte Frage, die Friedrich Kittler an ihn gerichtet hatte: Welche Rolle spielt die pythagoreische Tetraktys, d.h. die Folge der ersten vier natürlichen Zahlen (1, 2, 3, 4), in der Theorie des frühgriechischen Naturphilosophen Empedokles von den göttlichen vier Elementen (Rhizomata) Feuer, Luft, Erde und Wasser? Wenn die Antwort, die der Verfasser auf diese Frage fand, das Richtige trifft, dann ist sie für die Geschichte des frühgriechischen Denkens von erheblicher Bedeutung: Der im Altertum vielbezeugte Pythagoreismus des Empedokles ist dann erstmals als Fundament seiner Physik erwiesen.

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Der zentrale Gegenstand dieser Physik ist bekanntlich der von Empedokles spekulativ entworfene „kosmische Zyklus“,39 in dem der von der Liebe herbeigeführte vollkommene Vereinigungszustand, während dessen die vier Elemente in ihrer Gesamtheit zu einem göttlichen Kugelwesen (Sphairos) verbunden sind, mit einem vom Streit herbeigeführten, ebenso vollkommenen Trennungszustand alterniert, während dessen die vier Elemente zu vier chemisch reinen, konzentrisch umeinander geschichteten, sphärischen Massen gesondert sind. Die Übergangsphasen zwischen diesen beiden Extremzuständen sind durch das Werden und Vergehen von Lebewesen charakterisiert: In fortwährendem Agón schafft die Liebe durch Elementmischung ephemere Organismen, die dann vom Streit wieder aufgelöst werden. Während der gesamten Dauer des Zyklus befindet sich die Liebe stets innen, der Streit stets außen. Was sich im Laufe des Zyklus ändert, ist nur die Aufteilung des von den vier Elementen erfüllten Kosmos auf Liebe und Streit. In der durch zunehmende Element-Mischung und Verlangsamung charakterisierten Zeit der Liebesherrschaft beginnt die Liebe ausgehend vom Erdmittelpunkt, d.h. vom Mittelpunkt des Universums, mit einer allseitigen, zentrifugalen Expansionsbewegung, bis sie schließlich am Endpunkt ihrer Herrschaft den Streit an die Peripherie gedrängt und die Gesamtmasse der vier Elemente zum Sphairos vereint hat, der sich in vollkommener Ruhe befindet. In der durch zunehmende Element-Trennung und Beschleunigung charakterisierten Zeit der Streitherrschaft zerstört der Streit von der Peripherie aus den Sphairos und dringt in zentripetaler Invasion von allen Seiten her immer tiefer in das All ein. Dabei drängt er die Liebe zunehmend in der Erdmitte zusammen und befreit die vier Elemente zunehmend aus jeder organischen Verbindung, bis diese die vier reinen, göttlichen Massen gebildet haben. Die allseitige Streitinvasion kommt dann an ein natürliches Ende, wenn die Liebe an einem einzigen Punkt komprimiert ist, nämlich im Mittelpunkt der Erde und des Alls: Der Streit kann jetzt nicht mehr weiter, da er überall nur noch auf sich selbst trifft. Genau in diesem Augenblick beginnt auch die Expansion der Liebe aufs Neue. Die vom Verfasser jetzt vorgeschlagene neue Rekonstruktion des kosmischen Zyklus besagt nun, dass Empedokles die Dauer der einzelnen Phasen nach den Proportionen der pythagoreischen Tetraktys bemessen habe. Dabei verstehen wir unter „Tetraktys“, gemäß der primären Bedeutung dieses Terminus,40 die Folge der ersten vier natürlichen Zahlen, insofern ihre Aufsummierung die Zahl Zehn ergibt (1 + 2 + 3 + 4 = 10), bzw. umgekehrt die Zahl Zehn, insofern sie die Summe der ersten vier natürlichen Zahlen darstellt (10 = 1 + 2 + 3 + 4). Weitere Zahlen-Quadrupel, die in der späteren pythagoreischen Tradition 39 40

Primavesi 2013: 670. Vgl. hierzu Delatte 1915: 256–257; Kucharski 1952: 32; Burkert 1962: 63–64.

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ebenfalls mit dem Begriff Tetraktys verbunden wurden, spielen bei Empedokles offenbar noch keine Rolle. Das griechische Wort tetraktýs hat Eduard Schwyzer als Analogiebildung zu triktýs erklärt,41 dem dorischen Äquivalent42 des ionisch-attischen trittýs „Dreizahl, Gruppe von drei Opfertieren, Dreiteilung (der Bürgerschaft)“.43 Aus dieser Analogie würden sich für tetraktýs die möglichen Bedeutungen „Vierzahl“, „Gruppe von vier Zahlen“, „Vierteilung (der Zehn)“ ergeben. – Dagegen deutete Johannes Lohmann tetraktýs als ein von dem (erschlossenen) medialen Präsens tetrázomai gebildetes Verbalsubstantiv auf -týs,44 dem er die Bedeutung „Operation mit der Tetrade“ beilegte.45 Zwar wird das aktivische Präsens tetrázō im Altertum nicht nur (I) auf tetrás („Tetrade“) bezogen,46 sondern auch (II) auf den Vogelnamen tétrax („Perlhuhn“),47 und im ionisch-attischen Griechisch könnte das Verbalsubstantiv tetraktýs gar nicht von tetrázō in der Bedeutung I („eine Tetrade anwenden“) abgeleitet werden,48 sondern nur von tetrázō in der Bedeutung II („ein Perlhuhn-Gegacker von sich geben“).49 Doch liegt hierin natürlich kein Einwand gegen Lohmanns Hypothese: Die Pythagoreer sprachen und schrieben Dorisch, also Westgriechisch, und im Westgriechischen wird den 41 42 43

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Schwyzer 1939: 599. Von dem Athenaios-Editor Johannes Schweighäuser im sizilischen Prosamimus des Sophron hergestellt, vgl. Sophron Fr. 3 Kassel/Austin. Zur letztgenannten Bedeutung ist zu beachten, dass im Supplement (1996) zum GreekEnglish Lexicon von Liddell/Scott/Jones auf S. 296 der alte Eintrag s.v. τριττύς III ( „a third of the φυλή“) ersetzt wurde durch „apparently a tripartite civic division, understood as a third of a φυλή“. Vgl. Kühner/Blass 1892: 272 (§ 329/28): „Fem. auf τύ-ς, G. τύ-ος, Abstrakta zur Bezeichnung der Handlung des Verbums, entsprechend den lateinischen Wörtern auf tus, ūs, doch im Genus verschieden“. Lohmann 1959: 283 (= 1970: 74), Anm. 1: „Etymologisch ist τετρακτύς ein V e r b a l Substantiv zu τετράζομαι ‚mit der Tetrade o p e r i e r e n ‘, was bisher nicht bemerkt worden ist“. Philostrat, Gymnastikos 47, verwendet tetrázō in der Bedeutung „in einem Zyklus von vier Tagen trainieren“ und leitet es demnach von tetrás („Tetrade“) ab. Im zweiten Buch der Vogelkunde des Alexander v. Myndos (bei Athenaios 9, 398d; II 368,25 Kaibel) bezeichnet tetrázō das „Gackern des tétrax („Perlhuhn“ / „große Trappe“) beim Eierlegen“ (ὅταν ᾠοτοκῇ δὲ – scil. ὁ τέτραξ – , τετράζει τῇ φωνῇ), wird also von tétrax abgeleitet. Die Ableitung von tetrás (Gen. tetrád-os) führt auf einen d-Stamm (tetrázō < *tetrádj-ō), so dass im ionisch-attischen Griechisch als Verbalsubstantiv *tetras-týs zu erwarten wäre, nach dem Muster des Homerischen oaris-týs („Liebkosung, vertrautes Gespräch“, zu oarízō). Die Ableitung von dem Vogelnamen tétrax impliziert einen Verbalstamm auf -g (tetrázō < *tetrág-j-ō), aus dem sich auch im ionisch-attischen Griechisch ein Verbalsubstantiv tetrak-týs ableiten ließe, nach dem Muster des Homerischen rhystak-týs („Herumzerrung“, zu rhystázō).

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DIE ZEHN BEITRÄGE

außerpräsentischen Formen der Verba auf -zō (wie tetrázō) stets ein GutturalStamm zugrunde gelegt, unabhängig von der Etymologie des Verbalstamms.50 Nach der im Beitrag des Verfassers vorgestellten Tetraktys-Hypothese hat Empedokles die Phasen des kosmischen Zeitplans gemäß einer Doppel-Tetraktys proportioniert, deren Phasendauern sich aus der Abfolge von Liebes-Ritardando und Streit-Accelerando ergeben (1 : 2 : 3 : 4 : 3 : 2 : 1). Mithin hätte Empedokles die Tetraktys, deren musikalische Bedeutung (als mathematisches Äquivalent der drei reinen Intervalle Oktave, Quinte und Quarte) schon im vor-Empedokleischen Pythagoreismus nachgewiesen worden war, zur Formel eines kosmischen Zeitplans umfunktioniert. Dass wir zum Zeitplan des kosmischen Zyklus heutzutage überhaupt etwas sagen können, ist einigen zuvor gänzlich unbekannten Zeugnissen zu verdanken, die Marwan Rashed (Sorbonne) in den gelehrten byzantinischen Annotationen („Scholien“) einer Florentiner Aristoteles-Handschrift 51 entdeckt und größtenteils schon im Jahre 2001 ediert hat.52 Die Neudeutung dieser Zeugnisse am Leitfaden der pythagoreischen Tetraktys wurde jedoch in ihrer jetzt vorgelegten, systematisch geschlossenen Form erst dadurch ermöglicht, dass Rashed im Jahre 2014 ein zuvor übersehenes Scholium nachtrug. Bis dahin war die vollkommene Korrespondenz des kosmischen Zeitplans mit der Tetraktys durch eine Fehlannahme verdeckt, die der zunächst noch defizienten Überlieferungslage geschuldet war, nämlich durch die Annahme, dass der kosmische Zeitplan aus zwei gleich proportionierten Hälften zusammengesetzt sei („hälftige Gliederung“). Zwar war bereits im Jahre 2001 so viel klar, dass die Scholien der Herrschaft der Empedokleischen Liebe bis zum Beginn des göttlichen Einheitszustandes (Sphairos) eine Dauer von 60 Zeiteinheiten („Chronoi“)53 zuschreiben;54 daraus ergab sich 50

51 52

53

54

Buck 1955, 115–116 (§ 142) „ξ in the future and aorist of verbs in -ζω. The extension of ξ, which is regular in the case of guttural stems, to other verbs in -ζω, which regularly have σσ, σ (δικάσω, ἐδίκασα), is seen in some isolated examples even in Homer (πολεμίξομεν, as, conversely ἥρπασε beside ἥρπαξε) and Hesiod (φημίξωσι). But as

a general phenomenon it is characteristic of the West Greek dialects“; vgl. Schwyzer 1939: 737–738; Risch 21974: 296 (§ 109a). Codex Laurentianus graecus 87,7. Vgl. Rashed 2001 und die von Primavesi 2006 vorgelegte Neu-Edition der Scholien, die auf dem Studium der Florentiner Handschrift in situ beruht und einige Korrekturen erbringt. Der blasse Terminus Chronos „Zeiteinheit“ ist offenbar sekundär an die Stelle von Empedokleischem Aion „Lebensspanne“ getreten, vgl. Tetraktys und Götteid, XII. Chronos und Aion. Im Hinblick darauf wird in mehreren Arbeiten des Verfassers (Primavesi 2006, Primavesi 2011, Primavesi 2013) ein Chronos versuchsweise mit 100 Jahren (als der maximalen Lebensspanne des Menschen) gleichgesetzt. Scholien B und C Rashed (= Fr. 92c und 93 b Mansfeld/Primavesi).

EINFÜHRUNGEN

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für die Streitherrschaft gleichfalls eine Dauer von 60 Chronoi, da Aristoteles für Liebesherrschaft und Streitherrschaft „gleiche Zeiten“ bezeugt.55 Weiter war klar, dass den Scholien zufolge die Streitherrschaft ihr Ziel und Ende, nämlich die Vollendung der vier göttlichen, konzentrisch umeinander geschichteten Elementmassen, 100 Chronoi nach dem Abschluss der Liebesherrschaft erreicht.56 Demnach verbleiben für den zwischen dem Ende der Liebesherrschaft und dem Beginn der Streitherrschaft liegenden göttlichen Einheitszustand (Sphairos) 40 Chronoi. Dies führte insgesamt auf folgende Zeitangaben: Liebesherrschaft: Sphairos: Streitherrschaft:

60 Chronoi 40 Chronoi 60 Chronoi.

Keine eindeutige Auskunft aber war dem 2001 veröffentlichten Scholienbestand hinsichtlich der Frage zu entnehmen, in welcher Periode des Zyklus die Lebenszeit der vier reinen göttlichen Elementmassen unterzubringen sei, mit deren Herstellung die Streitherrschaft abschließt und bei denen es sich, wie beim Sphairos, gleichfalls um „langlebige Götter“ (theoi dolichaiōnes) handelt. Zu dieser Frage gingen Marwan Rashed und der Verfasser seit 2001 von einer „hälftigen Gliederung“ des Zyklus aus; beide schalteten also als Gegenstück zum Sphairos zwischen dem Ende der Streitherrschaft und dem Beginn der neuerlichen Liebesherrschaft am Anfang des nächsten Zyklus eine eigenständige 40 Chronoi-Periode für die Lebenszeit der vier göttlichen, chemisch reinen Element-Massen ein, so dass der Zeitplan aus zwei gleichlangen und gleich proportionierten Sequenzen bestand, die beide die Struktur „Herrschaft des Produzenten + Lebenszeit seines göttlichen Produkts“ aufwiesen (vgl. auch Abb. 1):57 1. Hälfte: 60 Chronoi (Herrschaft der Liebe) + 40 Chronoi (Sphairos) 2. Hälfte: 60 Chronoi (Herrschaft des Streits) + 40 Chronoi (Vier göttliche Massen)

55 56 57

Empedokles Fr. 94a Mansfeld/Primavesi. Scholium G Rashed (= Fr. 95c Mansfeld/Primavesi). Vgl. Rashed 2001: 247–248; Primavesi 2001: 43–54.

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DIE ZEHN BEITRÄGE

Abb.1: Hälftige Gliederung des Zyklus nach Rashed 2001, Primavesi 2001 und Primavesi 2006

EINFÜHRUNGEN

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Die Annahme, dass die Zeit der 4 reinen Massen in eine 40 Chronoi währende Zwischenzeit zwischen dem Ende der Streitherrschaft und dem erneuten Beginn der Liebesherrschaft fällt, musste allerdings mit dem oben bereits erwähnten Umstand vermittelt werden, dass auf das Ende der Streitinvasion unmittelbar der Beginn der Liebesexpansion folgt.58 Um diesen punktuellen Machtwechsel in einer Weise zu terminieren, die dem Gleichgewicht von Streitbewegung und Liebesbewegung im Zyklus gerecht wird, nahm der Verfasser 2011 an,59 dass sich die zentripetale Invasion des Streites nach Ende seiner Herrschaft noch 20 Chronoi lang d.h. bis zur Halbzeit des Trennungszustandes fortsetzt, und dass sodann die zentrifugale Expansion der Liebe einsetzt, d.h. bereits 20 Chronoi vor Beginn ihrer Herrschaft. Er operierte damals also mit einer begrifflichen Unterscheidung zwischen Streitherrschaft einerseits und Streitinvasion andererseits, und ebenso zwischen Liebesexpansion einerseits und Liebesherrschaft andererseits, wie folgt: Er beschränkte die 60 Chronoi währende Herrschaft des Streits auf dessen zunehmendes Trennungswirken, das bereits dann als abgeschlossen gelten kann, wenn der Streit die drei äußeren Kugelschalen (Feuer, Luft und Wasser) zustande gebracht hat und besetzt hält. Erst in den daran anschließenden 20 Chronoi ließ er den Streit auch noch die Erdkugel besetzen und dabei die Liebe am Erdmittelpunkt komprimieren. Umgekehrt ließ der Verfasser damals die Liebe in den ersten 20 Chronoi ihrer zentrifugalen Expansion zunächst rein räumlich den Streit aus der Erdkugel verdrängen, bevor sie die Fähigkeit erlangte, Verbindungen aus heterogenen Elementen herzustellen; und auf dieses zunehmende Verbindungswirken beschränkte er die 60 Chronoi währende Herrschaft der Liebe. Somit generierte die Notwendigkeit, den ausgedehnten Zustand vollkommener Getrenntheit mit dem punktuellen Übergang von Streitinvasion zu Liebesexpansion zu vereinbaren, als einen ersten Lösungsversuch die Annahme, dass die Erde durch den Streit erst nach Ende seiner Herrschaft und durch die Liebe bereits vor Antritt ihrer Herrschaft in jeweils 20 Chronoi in Besitz genommen wird, und dass sich demgemäß in den je 60 Chronoi der Herrschaft von Liebe und Streit jeweils die Besetzung der drei äußeren Elemente (Wasser – Luft – Feuer bzw. Feuer – Luft – Wasser) vollzieht. Hierdurch wiederum wurde anscheinend eine modulare Unterteilung der beiden Bewegungsphasen des Zyklus (Liebesexpansion und Streitinvasion) im Ganzen nahegelegt: Beide Mächte benötigen, so schien es, für die Inbesitznahme des Kosmos jeweils insgesamt 80 Chronoi, nämlich 20 Chronoi pro Element. Der Umstand, dass zwei weitere 20-Chronoi58 59

Vgl. Empedokles Physika I (Fr. 66b Mansfeld/Primavesi) 288–290 und Fr. 69b Mansfeld/Primavesi, 2–5. Das Folgende nach Mansfeld/Primavesi 2011: 398–403; ebenso Primavesi 2013: 706– 707.

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DIE ZEHN BEITRÄGE

Module auf die Ruhephase des Sphairos entfielen, konnte dann durch die Symmetrie zwischen den Zuständen vollendeter Trennung und vollendeter Vereinigung erklärt werden (vgl. Abb. 2). Diese modulare Unterteilung des hälftig gegliederten Zyklus erscheint in der Rückschau zwar insofern als methodisch zukunftsweisend, als sie den ersten Versuch darstellt, die von den Florentiner Scholien für den Kosmischen Zyklus überlieferten Zeiträume in distinkte Teilphasen zu unterteilen, deren Anzahl (abgesehen vom Sphairos) durch die Prozess-Logik der Liebesexpansion bzw. der Streitinvasion begründet ist. Doch in der konkreten Durchführung muss dieser erste Versuch aus heutiger Sicht als unplausibel gewertet werden. Zwei Einwände drängen sich auf. (i) Was die Anzahl der Teilphasen betrifft, so leuchtet die Zuweisung je einer Teilphase von Liebesexpansion und Streitinvasion an jedes der vier Elemente deshalb nicht ein, weil in den Herrschaftszeiten von Streit und Liebe durchweg oder nahezu durchweg Kombinationen aus allen vier Elementen entstehen und vergehen: Dies stimmt schlecht zu der Annahme, dass Liebe und Streit in ihren Herrschaftszeiten jeweils ein Element zur Gänze erobert, d.h. gleichsam „abgearbeitet“ haben müssen, bevor das nächste Element an die Reihe kommt.60 (ii) Gegen die Annahme konstanter Zeitdauern für die einzelnen Teilphasen aber spricht der von Denis O’Brien 1969 aufgewiesene Umstand, dass der Sphairos in Ruhe ist, während die vier konzentrischen, chemisch reinen Elementmassen auf dem Höhepunkt der Elementtrennung in höchster Geschwindigkeit umeinander rotieren;61 demgemäß ist die Liebesherrschaft, d.h. die Zeit zunehmender Elementmischung, durch zunehmende Verlangsamung gekennzeichnet, für die Streitherrschaft hingegen, d.h. für die Zeit zunehmender Elementtrennung, ist ausdrücklich zunehmende Beschleunigung bezeugt:62 Diese zyklische Sequenz von Verlangsamung, vollkommener Ruhe, Beschleunigung und rasend schneller Bewegung findet in einem aus konstanten Phasenlängen zusammengesetzten Zeitplan keinen Niederschlag. Damit zeichnen sich mögliche Kriterien für eine überzeugende Phaseneinteilung des Kosmischen Zyklus ab:

60

61 62

Eine Ahnung davon verrät die salvatorische Klausel, der zufolge die Besetzung der drei äußeren Elemente nur „im Mittel“ 20 Chronoi pro Element in Anspruch nimmt, bei Primavesi 2013: 706. O’Brien 1969, 4–45 („Rest and Movement“). O’Brien 1969, 46–54 („Speed“).

EINFÜHRUNGEN

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Abb.2: Modulare Unterteilung des hälftig gegliederten Zyklus (20 Chronoi pro Element) nach Mansfeld/Primavesi 2011 und Primavesi 2013

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DIE ZEHN BEITRÄGE

i. Der punktuelle Übergang von Streitinvasion zu Liebesexpansion muss mit einem zeitlich ausgedehnten Zustand völliger Element-Trennung vermittelt werden. ii. Die Anzahl der Teilphasen sollte der Anzahl der tatsächlich bezeugten inhaltlich distinkten Phasen der von Empedokles angenommenen kosmischen Prozesse entsprechen. iii. Die Dauer der Teilphasen sollte widerspiegeln, dass die Liebesherrschaft eine Verlangsamung und die Streitherrschaft eine Beschleunigung bewirkt. Den ersten Anstoß zur Entwicklung eines alternativen Modells gab Friedrich Kittler im Frühsommer des Jahres 2011 mit einem Brief, in dem er sich vom Verfasser die Klärung des Zusammenhangs zwischen der pythagoreischen Tetraktys einerseits und der Empedokleischen Theorie der vier Elemente andererseits erbat. Mochte diese Problemstellung auch nicht gerade neu sein,63 so traf sie jetzt doch auf eine durch die Florentiner Scholien gänzlich veränderte Überlieferungslage. Zwar ist eine bloße Menge aus vier Elementen – pace Kittler – auch bei Empedokles noch keine Tetraktys, und wären es die göttlichen Elemente Feuer und Luft, Erde und Wasser.64 Eine Tetraktys liegt erst vor, wenn man mit einer Vierergruppe operiert, also z.B. sie zueinander ins Verhältnis setzt bzw. sie zur Zehn aufsummiert.65 Doch nachdem Kittler das Stichwort „Tetraktys“ überhaupt einmal wieder ins Empedokleische Spiel gebracht hatte, wurde der Verfasser bald auf den entscheidenden Sachverhalt aufmerksam, der ihm an sich schon früher hätte auffallen können: Die von den neuentdeckten Scholien bezeugte Sequenz von 60 Chronoi + 40 Chronoi lässt sich klarerweise auch als Sequenz von (10 + 20 + 30) Chronoi + 40 Chronoi schreiben, was den Proportionen der Tetraktys (1 : 2 : 3 : 4) entspricht. Aufgrund dieser Beobachtung versuchte sich der Verfasser am 19. Oktober 2012 in Karlsruhe erstmals an einer Rekonstruktion des kosmischen Zyklus gemäß den Proportionen der Tetraktys. In seinem auf dem Symposion über „Götter und Schriften“ frei gehaltenen Vortrag sagte er wörtlich:66 63

64 65

66

Vgl. Diels 1899, S. 15: „Empedokles selbst hat zwar die Vierzahl der Elemente, der pythagoreischen Vorliebe für die heilige Tetraktys folgend, zuerst aufgestellt …“; und Zeller 61920, 951: „Die pythagoreische Wertschätzung der Vierzahl ist bekannt; doch möchte ich den Einfluß dieser Bestimmung auf Empedokles nicht zu hoch anschlagen, da er sonst in der Physik vom Pythagoreismus nur wenig aufgenommen hat“. Kittler 2009: 122: „… Empedokles’ zur Tetraktys gepaarte Götter oder Elemente“. Das Richtige z.B. bei Lohmann 1970: 107: „ … die berühmte τετρακτύς (die übrigens – was man vielfach vergißt – nicht einfach „Tetrade“, sondern vielmehr das „Operieren mit der Tetrade“ bedeutet, so in der Musiktheorie die „Oktave“ als 1 : 2, die „Quint“ als 2 : 3, und die „Quart“ als 3 : 4)“, worauf Kittler 2006: 279 selbst hingewiesen hatte. Zu Lohmanns Erklärung von τετρακτύς als Verbalsubstantiv vgl. oben den dritten Absatz. Nach dem auch im Internet abrufbaren Mitschnitt, dessen Transkription die Herausgeber dem Verfasser freundlicherweise zur Verfügung stellten.

EINFÜHRUNGEN

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„ … wir stellen fest, dass Empedokles die Herrschaft der Liebe und ihr Produkt jeweils aus den Zahlen 4 und 6 zusammengesetzt hat, ebenso wie die Herrschaft des Streites und die Herrschaft seines Produktes (nämlich der 4 Massen). Auf die von Kittler gestellte Frage: ‚Wie hängen die göttlichen Wurzeln des Empedokles – hängen sie, und wenn ja, wie – mit der pythagoreischen Tetraktys zusammen (also 1 + 2 + 3 + 4 = 10)?‘ kann man jetzt also antworten: Wenn der Zeitplan der Florentiner Scholien, den ich gerade referiert habe, zutrifft, wenn er nicht eine sekundäre Konstruktion ist, sondern wenn er aus dem Gedicht des Empedokles, als es noch vollständig war, entnommen ist, dann sind die beiden Hälften des kosmischen Zyklus nach Zahlenverhältnissen gebaut, die der Tetraktys, also der Aufsummation auf Zehn entsprechen.“ Der hier postulierte Zeitplan setzt nach wie vor die hälftige Gliederung des Zyklus voraus: Zweimal folgt auf die 60 Chronoi währende Herrschaft des jeweiligen Produzenten (Liebe bzw. Streit) die 40 Chronoi währende Lebenszeit seines göttlichen Produkts (Sphairos bzw. vier Massen). Aber die Herrschaftszeit jedes der beiden Produzenten ist jetzt in 10 + 20 + 30 Chronoi unterteilt, so dass sich, wenn man hier wie dort die Lebenszeit des betreffenden Produktes hinzunimmt, zweimal eine steigende Tetraktys ergibt, eine für die Liebe und eine für den Streit (vgl. auch Abb. 3): Liebes-Tetraktys: + Streit-Tetraktys:

(10 + 20 + 30) Chronoi + 40 Chronoi (10 + 20 + 30) Chronoi + 40 Chronoi

Indessen war dies nicht mehr als eine erste, gänzlich vorläufige Skizze: Der liebe Gott wohnt auch hier im Detail. (i) Eine erste Schwierigkeit war schon mit der Grundsatzentscheidung gegeben, an der hälftigen Gliederung des Zyklus festzuhalten und in dieses Modell die doppelte Tetraktys einzufügen. Denn im hälftig gegliederten Zyklus wird, wie wir sahen, ein exaktes zeitliches Gegenstück zum Sphairos benötigt, so dass der Zustand vollkommener ElementTrennung in eine 40 Chronoi währende Zwischenzeit zwischen dem Ende der Streitherrschaft und dem Anfang der Liebesherrschaft zu setzen ist. Nach wie vor konnte also der punktuelle Umschlag von Streitinvasion zu Liebesexpansion – wenn denn jeder der beiden Mächte gleiche Bewegungsdauern zugewiesen werden sollten – weder am Anfang noch am Ende des 40 Chronoi währenden Trennungszustands angesetzt werden, sondern nur zu seiner Halbzeit (eben hierdurch wird ja das Modul von 20 Chronoi pro Element suggeriert). Mehr noch: Der Verfasser hielt in seinem Karlsruher Vortrag nicht nur am Wendepunkt zur Halbzeit des Trennungszustandes fest, sondern sogar an der vollständigen modularen Untergliederung des hälftig gegliederten Zyklus: Er präsentierte die neue Tetraktys-Hypothese einfach als eine willkommene Ergänzung zum modularen Modell. Doch dies war, rückblickend betrachtet, viel zu optimistisch:

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DIE ZEHN BEITRÄGE

Abb.3: Unterteilung des hälftig gegliederten Zyklus durch eine Doppel-Tetraktys, 1. Versuch, Vortrag Primavesi in Karlsruhe am 19.10.2012

EINFÜHRUNGEN

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Bei Lichte besehen stimmt die Tetraktys-Hypothese in ihrer damals vorgetragenen Form schon zu der grundlegenden Implikation der hälftigen Gliederung des Zyklus äußerst schlecht, der zufolge der Wendepunkt zur Halbzeit einer 40 Chronoi währenden Zwischenzeit eintritt. Denn diese Zwischenzeit gilt jetzt ja als der abschließende, längste Teil der zweiten Tetraktys, so dass die Sachangemessenheit der Proportionen dieser Tetraktys unrettbar unterminiert würde, wenn ihr längstes Glied ausgerechnet durch den entscheidenden Wendepunkt des Zyklus in zwei antagonistische Hälften aufgespalten würde. (ii) Eine weitere Schwierigkeit betrifft den Übergang von der Liebes-Tetraktys zur Streit-Tetraktys. Zwar korrespondiert die Liebes-Tetraktys mit ihren zunehmend längeren Teilphasen der durch die Liebesherrschaft bewirkten Verlangsamung der Bewegung bis zum absoluten Ruhezustand des Sphairos; aber gerade deshalb leuchtet es nicht ein, dass unmittelbar im Anschluss an die 40 Chronoi währende Lebenszeit des Sphairos, d.h. zu Beginn der Streit-Tetraktys, ein unvermittelter Rückschritt auf die mit 10 Chronoi kürzeste Phasendauer und daraufhin ein erneutes Anwachsen der Phasendauern über 20 und Chronoi zu den 40 Chronoi der vier Massen erfolgen sollte: Die Streitherrschaft bewirkt ja eine stete Beschleunigung der Bewegung, so dass es ungleich plausibler sein würde, wenn die Streitherrschaft durch eine gegenläufige Sequenz von 30 + 20 + 10 Chronoi charakterisiert wäre. Durch die offenkundigen Schwächen des in Karlsruhe unternommenen ersten Versuchs ließ sich der Verfasser nicht davon abbringen, der möglichen Proportionierung des Empedokleischen Zyklus gemäß der pythagoreischen Tetraktys weiter nachzugehen. Dazu ermutigte ihn in erster Linie die Tatsache, dass den Pythagoreern in der Zeit nach Empedokles die Verbindung von pythagoreischer Tetraktys und Empedokleischem Zyklus etwas ganz Geläufiges war. Dies ergibt sich aus der vielzitierten, wenn auch bislang noch nicht genau genug verstandenen Eidesformel, mit der die Mitglieder der Pythagoreischen Schule angeblich „bei Pythagoras“ zu schwören hatten, dass sie die schulinternen Lehren nicht verraten würden. Wir geben den Text zunächst in einer Transkription67 und in der Übertragung Friedrich Kittlers: 68

67

68

Um dem Leser eine ungefähre Vorstellung vom Metrum der beiden Hexameter zu geben, werden in der Transkription, unter Fortfall der Akzente des Griechischen, die langen Vokale mit Strichen bezeichnet, und die kurzen Vokale in kurzen Silben mit Bögen. Unbezeichnet bleiben hingegen solche kurzvokalischen Silben, die durch Konsonant geschlossen und deshalb als Silben lang sind (-don- in pa-ra-don-ta, -trak- in te-traktyn und rhis- in rhis-dō-ma-ta alias rhizōmata). Kittler 2006: 244, zu Anfang des Kapitels Die Pythagoreer.

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DIE ZEHN BEITRÄGE

Ū mă tŏn hāmĕtĕrā gĕnĕā părădontă tĕtraktyn pāgān āĕnăū physĕōs rhizōmătʼ ĕchūsan. Nein· bei dem der unserem geschlecht die vierung übergab· quelle die der immerfliessenden physis wurzeln hält. Dass der zweite Vers des Eides mit den Worten paga (dem dorischen Äquivalent des ionischen pege) und rhizomata (dem Empedokleischen Terminus für die vier göttlichen Elemente) zwei Grundbegriffe der Empedokleischen Physik aufruft, war damals längst bekannt.69 Darüber hinaus ist der Verfasser seither zu dem Ergebnis gekommen, dass Empedokles selbst mit dem Wort pege nicht, wie allgemein angenommen, die Quelle bezeichnet, sondern den ganzen Flusslauf des Stromes „all der unzähligen sterblichen Dinge“, die aus der Mischung hervorgehen. Demnach dürfte auch die dorische paga in dem auf Empedokles gemünzten Pythagoreereid nicht nur (wie noch in Kittlers Übersetzung) die Quelle meinen, sondern den ganzen Flusslauf,70 woraus sich folgende Neuübersetzung ergibt: Gewisslich nicht! Bei IHM, der unsrer Gattung schenkte die Tetraktys, den Flusslauf ewig strömender Natur, den Hort der Elemente! Diese appositive Gleichsetzung der von Pythagoras empfangenen Tetraktys mit dem Flusslauf des rhizomata-Stromes lässt sich, wenn überhaupt, dann doch wohl nur dahingehend verstehen, dass die Teilphasen, in die der Ringstrom des Empedokleischen Zyklus untergliedert ist, gemäß der pythagoreischen Tetraktys proportioniert sind.71 Unbeschadet dieser in „Tetraktys und Göttereid“ erstmals begründeten Präzisierung war aber immer schon so viel klar, dass der Pythagoreer-Eid eine Anwendung der Tetraktys in der Empedokleischen Physik suggeriert. Im Hinblick darauf und auf die weiteren Zeugnisse für den Pythagoreismus des Empedokles hielt es der Verfasser für geboten, die in Karlsruhe präsentierte Version der Tetraktys-Hypothese einer Revision zu unterziehen, die nach Möglichkeit frei von den Schwächen des ersten Versuchs wäre. Das Resultat stellte er am 30. Juni 2014 in Thessaloniki zur Diskussion.72 In der revidierten Version ist 69

70 71 72

Kranz 1938: 438; Burkert 1962: 170. Burkert begründete die Priorität des Empedokles vor dem Pythagoreereid überzeugend mit der Tatsache, dass das Wort Physis im Eid in der sicher nach-Empedokleischen Bedeutung „Allnatur“ verwendet wird. Zur Neudeutung des Empedokles-Fragments 67b Mansfeld/Primavesi und des Pythagoreer-Eides vgl. Tetraktys und Göttereid, Kapitel III. Siehe Tetraktys und Göttereid, Kapitel VI bis XVI. Im Eröffnungsvortrag der 4th Biennial Conference der International Association for Presocratic Studies.

EINFÜHRUNGEN

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die Richtung der Streit-Tetraktys invertiert: Nur die Verlangsamung unter der Liebesherrschaft manifestiert sich in einer steigenden Tetraktys zunehmender Phasendauern, die Beschleunigung unter der Streitherrschaft hingegen in einer fallenden Tetraktys abnehmender Phasendauern. Hierbei fungieren die vierzig Chronoi der Lebenszeit des Sphairos zugleich als Zielphase der steigenden Tetraktys der Liebe und als Ausgangsphase der fallenden Tetraktys des Streites, was angesichts ihrer Charakterisierung als gemeinsame Ruhezeit von Liebe und Streit in den Florentiner Scholien durchaus plausibel scheint: TETRAKTYS DER LIEBE

10 : 20 : 30 : 40 40 : 30 : 20 : 10 TETRAKTYS DES STREITS

Zwar hielt der Verfasser auch in Thessaloniki noch an der hälftigen Gliederung des Zyklus fest und fügte deshalb zwischen dem Ende der fallenden StreitTetraktys und dem erneuten Beginn der steigenden Liebes-Tetraktys die notorischen 40 Chronoi vollendeter Element-Trennung ein. Aber in die neue DoppelTetraktys bezog er diese Zwischenzeit jetzt nicht mehr ein (vgl. auch Abb. 4): Doppelte Tetraktys: + Zwischenzeit:

(10 + 20 + 30 + 40 + 30 + 20 +10) Chronoi 40 Chronoi

Vielmehr sollte die zunächst steigende, dann fallende Doppel-Tetraktys dieses Modells nur noch die biologischen Phasen des Zyklus abdecken, also diejenigen Phasen, in denen organische Verbindungen der vier Elemente vorhanden sind. Unter der Voraussetzung dieser Restriktion auf die Biologie schien es möglich, die Kontamination der Streit-Tetraktys durch den Wendepunkt zu vermeiden und neben der zunächst zunehmenden und dann abnehmenden Dauer der Teilphasen auch deren Anzahl auf überzeugendere Weise zu begründen als zuvor. Im kosmischen Zyklus des Empedokles spiegelt sich nämlich sowohl das jeweilige Kräfteverhältnis zwischen Liebe und Streit als auch die in der betreffenden Zyklushälfte vorliegende Entwicklungsrichtung (zunehmende Vereinigung bzw. zunehmende Trennung) darin, dass jeweils unterschiedliche Formen sterblicher Wesen entstehen und dass auch Art und Weise der Entstehung unterschiedlich sind.73 Der durch Originalzitate bestätigte doxographische Bericht des Aëtios bezeugt vier verschiedene zoogonische Stufen:74 73 74

Das Folgende nach Primavesi 2008: 33–36. Vgl. Empedokles Fr. 151 Mansfeld/Primavesi.

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DIE ZEHN BEITRÄGE

Abb.4: Unterteilung des hälftig gegliederten Zyklus durch eine Doppel-Tetraktys, 2. Versuch, Vortrag Primavesi in Thessaloniki am 30.06.2014

EINFÜHRUNGEN

Stufe I: Stufe II: Stufe III: Stufe IV:

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Isoliert umherirrende Einzelglieder75 Zufallskombinationen von Einzelgliedern76 Unartikulierte Kugelwesen77 Sexuell differenzierte Wesen.78

Hierbei zeigen die Stufen I–II eine Zunahme der Vermischung, während die Stufen III–IV durch eine Zunahme der Trennung gekennzeichnet sind. Demgemäß sind die beiden Stufen-Paare wie folgt auf die beiden Herrschaftszeiten von Liebe und Streit zu verteilen:79 Von den 4 Massen zum Sphairos Stufe I: Isolierte Einzelglieder Stufe II: Zufallskombinationen dieser Einzelglieder

Vom Sphairos zu den 4 Massen: Stufe III: Unartikulierte Kugelwesen Stufe IV: Halbierung und sexuelle Differenzierung dieser Wesen

Indessen lieferten die von Aëtios bezeugten zweimal zwei zoogonischen Stufen gerade nicht die (abgesehen vom Sphairos) zweimal drei biologischen Teilphasen, die für die revidierte Version der Tetraktys-Hypothese benötigt wurden. Deshalb griff der Verfasser auf die von O’Brien 1969 aufgestellte These zurück, dass es sich bei dem von Aëtios gegebenen Résumé des Stufenmodells um eine Vereinfachung der originalen Empedokleischen Darstellung handele. Aëtios habe in seiner rein typologisch gemeinten Übersicht die Tatsache übergangen, dass zwei der von ihm aufgeführten Typen im Zyklus zweimal realisiert werden: Die unartikulierten Kugelwesen der III. Stufe träten nicht nur unmittelbar nach der Zerstörung des Sphairos am Anfang der Streitherrschaft auf, sondern auch schon unmittelbar vor der Fertigstellung des Sphairos am Ende der Liebesherrschaft. Und die isolierten Einzelglieder der I. Stufe träten nicht nur im Anschluss an den Zustand vollkommener Element-Trennung am Anfang der Liebesherrschaft auf, sondern auch schon unmittelbar vor Eintritt der vollkommenen Element-Trennung am Ende der Streitherrschaft.80 So war O’Brien zu folgender Erweiterung des Schemas der zoogonischen Stufen gekommen: 81 75 76 77 78 79 80

81

Schläfen ohne Hals, Arme ohne Schultern, Augen ohne Stirn. Vgl. Empedokles Fr. 153b Mansfeld/Primavesi. Vgl. Empedokles Fr. 155 und Fr. 157a Mansfeld/Primavesi. Vgl. Empedokles Fr. 164 Mansfeld/Primavesi. Vgl. Empedokles Fr. 87,15–17 Mansfeld/Primavesi. Vgl. Dümmler 1889: 218–222, Bignone 1916: 570–575 und O’Brien 1969, 198–199. Tatsächlich hat der Straßburger Papyrus die Bestätigung dafür geliefert, dass die sexuell differenzierten Wesen der II. Stufe vor Eintritt der vollkommenen Element-Trennung in ihre Einzelgliedmaßen zerfallen, die sich sodann zersetzen; vgl. Empedokles Fr. 87,1–3 Mansfeld/Primavesi. Ob man hierin eine Vermehrung der von Aëtios bezeugten zoogonischen Stufen sehen sollte, steht natürlich auf einem anderen Blatt. Vgl. Dümmler 1889: 218–222, Bignone 1916: 570–575 und O’Brien 1969, 198–199.

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DIE ZEHN BEITRÄGE

Von den 4 Massen zum Sphairos Stufe I: Isolierte Einzelglieder Stufe II: Zufallskombinationen dieser Einzelglieder

Vom Sphairos zu den 4 Massen: Stufe III: Unartikulierte Kugelwesen Stufe IV: Halbierung und sexuelle Differenzierung dieser Wesen

Demnach würde individuelles Leben unmittelbar vor Eintritt jedes der beiden Vollendungszustände (des Sphairos bzw. der vier Massen) jeweils schon einmal in genau derjenigen Gestalt auftreten, die für die Zeit unmittelbar nach Abschluss des betreffenden Vollendungszustandes als bezeugt gelten darf. Dieses erweiterte Schema machte der Verfasser sich in Thessaloniki zueigen und entnahm ihm die (abgesehen vom Sphairos) zweimal drei biologischen Teilphasen, die von der revidierten Tetraktys-Hypothese gefordert waren (vgl. Abb. 5). Die Revision der Tetraktys-Hypothese hatte noch einmal deutliche Fortschritte erbracht: Durch die Ausgliederung des Zustandes vollendeter Trennung und die Inversion der Streit-Tetraktys war immerhin erreicht, dass letztere nicht mehr durch eine hälftige Aufspaltung ihrer finalen 40-Chronoi-Phase entstellt war; im „Tetraktys-Teil“ des Zeitplans stand die Zunahme und Abnahme der Phasendauern im Einklang mit der Verlangsamung und Beschleunigung der Bewegung im Zyklus; den einzelnen Teilphasen konnten – unter Zuhilfenahme von O’Briens Vermehrung der zoogonischen Stufen – distinkte Stationen des von Empedokles angenommenen biologischen Prozesses zugeordnet werden. Doch wurde dieser Fortschritt erneut mit deutlichen Mängeln erkauft: (i) Gegen die Ausgliederung des Zustandes vollendeter Trennung aus der Doppel-Tetraktys sprach die Erwägung, dass Empedokles seinen kosmischen Zeitplan wenn überhaupt, dann doch wohl zur Gänze nach den Proportionen der pythagoreischen Tetraktys gegliedert hätte und nicht nur zu vier Fünfteln. (ii) Die Ausdehnung des vom Streit herbeigeführten Trennungs-Zustandes über volle 40 Chronoi konterkariert die im Tetraktys-Teil des Zeitplans erreichte Koordination der Zu- bzw. Abnahme der Phasendauern mit der Verlangsamung bzw. Beschleunigung der Bewegung im Zyklus. (iii) Die Zuordnung der zoogonischen Stufen an einzelne Teilphasen des Zeitplans wäre ungleich plausibler, wenn man dabei mit den tatsächlich bezeugten vier zoogonischen Stufen auskäme und nicht – gleichsam faute de mieux – auf das von O’Brien konjektural erweiterte Schema zurückgreifen müsste. (iv) Dass unmittelbar im Anschluss an die letzte zoogonische Stufe des Zyklus sogleich die Herausbildung der vier chemisch reinen Massen vollendet sein soll, ist nicht nur kaum vorstellbar, sondern auch schwerlich vereinbar mit dem Zeugnis des Straßburger Empedokles-Papyrus, dem zufolge in der letzten Phase vor dem Wendepunkt die bisher noch selbständigen Element-Teile in rasend schneller, chaotischer Bewegung die ihnen jeweils zugehörigen Massen erreichen.82 82

Empedokles Physika I (Fr. 66b Mansfeld/Primavesi) 273–287.

EINFÜHRUNGEN

Abb.5: Zoogonische Stufen in der Doppel-Tetraktys, Vortrag Primavesi in Thessaloniki am 30.06.2014

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Allen vier Mängeln wäre nun allerdings auf einen Streich abgeholfen, wenn man die Zwischenzeit von 40 Chronoi zwischen dem Ende der Streitherrschaft und dem Anfang der Liebesherrschaft einfach tilgen und die nicht-zoogonische („abiotische“) Trennungszeit vielmehr sinnvoll auf die beiden 10-ChronoiPhasen der Doppel-Tetraktys verteilen könnte: In einer bereits abiotischen 10 Chronoi-Schlussphase der Streitherrschaft würde dann die Herausbildung der vier Massen vollendet, in einer immer noch abiotischen 10 Chronoi-Anfangsphase der Liebesherrschaft würde zwar die göttliche Reinheit der umeinander rotierenden Massen noch durch keinerlei Vermischung kompromittiert werden, aber die beginnende Expansion der Liebe würde bereits eine allmähliche Wiederverlangsamung der Rotations-Geschwindigkeit bewirken, durch die die Element-Massen auf das Wiedereinsetzen der Zoogonie vorbereitet würden. In diesem Fall würde die Doppel-Tetraktys den ganzen Zyklus abdecken, und für die Liebes- wie für die Streitherrschaft würden genau die je zwei zoogonischen Stufen benötigt, die dafür auch tatsächlich bezeugt sind. Wenn man also die in Thessaloniki präsentierte revidierte Fassung der Tetraktys-Hypothese konsequent zu Ende denkt, dann lässt sie keinen Platz mehr für die Unterbringung des Trennungszustandes in einer Zwischenzeit, die in der Grundannahme einer hälftigen Gliederung des Zyklus impliziert ist. Demnach musste entweder die Tetraktys-Hypothese der hälftigen Gliederung geopfert werden oder die hälftige Gliederung der Tetraktys-Hypothese. Eben dieses Dilemma aber wurde noch im gleichen Jahr (2014) in höchst überraschender Weise aufgelöst, als Marwan Rashed ein weiteres, zuvor übersehenes Scholium (J) zum kosmischen Zeitplan des Empedokles veröffentlichte. In diesem Scholium wird mit klaren Worten festgestellt, dass nicht nur die Herrschaft des Streits nach 60 Chronoi endet, sondern dass ineins damit auch die Bewegung des Streits von einer anderen Bewegung abgelöst wird. Diese andere Bewegung kann nur die Expansionsbewegung der Liebe sein, so dass die Zwischenzeit zwischen Streitherrschaft und Liebesherrschaft ebenso entfällt wie die komplizierte Unterscheidung zwischen Streitherrschaft und Streitinvasion bzw. die zwischen Liebesexpansion und Liebesherrschaft. Daraus erschloss Rashed konsequent einen neuen Zeitrahmen für den kosmischen Zyklus, dem zufolge die Sequenz: Liebesherrschaft (60 Chronoi ) – Sphairos (40 Chronoi ) – Streitherrschaft (60 Chronoi ) den gesamten Zyklus ausfüllt. Damit war die Annahme einer hälftigen Gliederung des Zyklus widerlegt, gleichviel, ob man sie gemäß dem modularen Modell ausgestaltete oder gemäß der Tetraktys-Hypothese. Für den Verfasser aber brachte Rasheds neuer Zeitrahmen die Befreiung von der schweren Bürde, die die in Thessaloniki vorgetragene Annahme einer „Tetraktys-freien“ Zwischenzeit zwischen den beiden 10 Chronoi-Phasen für die Tetraktys-Hypothese bedeutet hatte. Jetzt war nämlich klar, dass das am Ende

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der Streitherrschaft beginnende Dasein der reinen, konzentrisch umeinander rotierenden Element-Massen nicht in eine Zwischenzeit fällt, sondern bereits eine erste Phase der Liebesherrschaft darstellt. Wie das Produkt der Liebesherrschaft, der Sphairos, erst am Ende der Liebesexpansion fertiggestellt ist, so ist auch das Produkt der Streitherrschaft, die vier Massen, erst am Ende der Streitinvasion fertiggestellt: Es ist ja ausdrücklich bezeugt, dass die vier getrennten Massen in einer ersten Phase der Liebesherrschaft erst einmal wieder zur Verbindung geneigt gemacht werden müssen,83 bevor die Liebe mit der Herstellung von Element-Mischungen beginnen kann. Damit ist die Schwelle zu der Abhandlung „Tetraktys und Göttereid bei Empedokles“ erreicht. In diesem Beitrag kann der Verfasser der Tetraktys-Hypothese dank dem neuen Zeitrahmen eine Form geben, deren Verbindung einer steigenden mit einer fallenden Tetraktys nicht nur den Kosmischen Zyklus vollständig abdeckt (da die Fata Morgana einer hälftigen Gliederung des Zyklus jetzt zergangen ist), sondern auch vorzüglich zur Sequenz einer Entwicklung zum Sphairos hin und vom Sphairos weg stimmt; dabei wird Letzteres durch den Nachweis erhärtet, dass jeder der insgesamt sieben Phasen des neuen Zeitplans genau eine wohlbezeugte, qualitativ distinkte Phase im zyklischen Antagonismus von Liebe und Streit korrespondiert. Darüber hinaus glaubt der Verfasser sogar zeigen zu können, dass das einzige erhaltene Empedokleische Originalfragment zum Zeitplan des kosmischen Zyklus die Struktur der doppelten Tetraktys geradezu voraussetzt. Wenn dies zutrifft, dann ist der Pythagoreismus des Empedokles als Fundament seiner Physik erwiesen. Respondenz zu „Tetraktys und Göttereid“, von Peter Berz Die im Resonanzraum von Tetraktys und Göttereid geradezu unschuldige Frage Friedrich Kittlers nach der Tetraktys des Empedokles eröffnete einen langen Weg durch Schriften, Texte, Überlieferungen. Die Respondenz versucht, Primavesis Entdeckung zurückzuspielen in den Horizont von Musik und Mathematik. Dorthin also, wo mit der Tetraktys der Pythagoreismus Friedrich Kittlers und seine Arbeit als Historiker von Musik und Mathematik beginnt. Das Geschick beider als geschichtsphilosophisches Theorem über das abendländische Wissen, kann nur, wie bei Johannes Lohmann, pythagoreisch beginnen. Bei Kittler ist Empedokles der erste Akusmatiker unter den Pythagoreern. Nach Tetraktys und Göttereid kann er jetzt auch zur zweiten Gruppe der Pythagoreer gerechnet werden, der Friedrich Kittlers ganzes Nachdenken galt: zu den 83

Empedokles Fr. 69b Martin/Primavesi Vers 6.

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mathēmatikoi. Gerade mit Empedokles fände also ein Grundanliegen kittlerscher Griechenforschung ein unvermutetes Echo: das Anliegen, die Zahl als den Grund des abendländischen Wissens zu denken. Die Respondenz nähert sich nach einem kurzen Blick in die medialen Materialitäten unseres Wissens von Empedokles, deren virtuoser Handhabung ein Teil von Primavesis Denken verdankt ist, der Geschlossenheit selbst als einem Charakteristikum der neuen Rekonstruktion des kosmischen Zyklus. Primavesis vorstehender Versuch Zur Genese der Tetraktys-Hypothese beschreibt den zweifach verzögerten Moment einer strukturellen Schließung. Sie stellt sich im Operieren mit Strukturen, mit kleinen, seit 2001 bekannten Empedokleischen Zahlen und einem graphischen Standard her, der „mitdenkt“ am neuen Zyklus.84 Aber substanziell ist die Schließung nur darum möglich, weil sie alle uns bislang überlieferten Empedokleischen Annahmen über die „Prozess-Logik“ (Primavesi) des Kosmos: über Mischungen, Bewegungen, Geschwindigkeiten der Grundstoffe, über Entstehen und Vergehen der Lebewesen schlüssig anordnet. An einer zentralen prozessualen Annahme versucht die Respondenz dieses Zusammenspiel von struktureller und prozessualer Logik zu zeigen: der Trennung abiotischer und biotischer Phasen des Zyklus. Ein Exkurs in die dramatische Geschichte ihrer Erforschung demonstriert, wie genau sich Primavesis Tetraktys-Hypothese in der Geschichte der Empedokles-Forschung und ihrer Weltbilder situiert. Die Differenz von abiotisch und biotisch eröffnet dem Empedokleischen Zyklus nicht nur eine Zukunft im abendländischen Wissen von den Lebewesen: Vom 18. Jahrhundert bis heute steht es in Spannung zur abiotischen Sache der Physik und Chemie. Auch die seinsgeschichtliche Stellung des Empedokleischen Zyklus selbst ist ihr verdankt, das ist: seine Götter. Unsterbliche vier Elementargötter sind sie in den abiotischen Phasen, sterblich sind sie als daimones im Lauf durch die biotischen Phasen des Zyklus. Tetraktys-Struktur und Prozess-Logik des kosmischen Zyklus führen also auf die erste Frage des vorliegenden Buchs: die nach den Göttern. Ihrer Schrift im Zeichen der Tetraktys ist der dritte Teil der Respondenz gewidmet. Er argumentiert aus der in Zahlen notierten, mathematischen Struktur der Tetraktys, die für die Pythagoreer vor allem eine musikalische ist. Die Frage stellt sich, ob die musikmathematische Herkunft und Zukunft der pythagoreischen Tetraktys auch der Hintergrund ist, auf dem die Tetraktys als kosmisches Zeitmaß bei dem Pythagoreer Empedokles ankommt? Ist sie die kosmische Übertragung eines musikmathematischen Dispositivs?

84

Vgl. Tetraktys und Göttereid: Abbildungen 1 bis 4, und Einführung Primavesi (Zur Genese): Abbildungen 1 bis 5.

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Dazu werden, am Leitfaden von Friedrich Kittlers Musik und Mathematik, einige Momente dieses musikmathematischen Dispositivs der Tetraktys skizziert, vor dem großen Hintergrund von „les nombres et les choses“ (Paul Kucharski 1952). Übertragen auf die temporal-kosmische Anwendung der Tetraktys bei Empedokles entsteht daraus eine Frage, die seit Denis O‘Brien immer wieder gestellt wurde: Was ist überhaupt im mythischen und physikalischen Kosmos des Empedokles die Zeit? Ist sie aristotelisch „Zeit als Zahl der Bewegung“, hier der Elemente in Mischung und Trennung unter der Macht von Philia und Neikos? Oder steht die kosmische, nach der Tetraktys strukturierte Zeit bei Empedokles einer musikalischen Zeit näher, ganz ohne platonische Sphärenharmonie? In ihrem vierten Teil möchte die Respondenz zeigen, wie Primavesis Rekonstruktion der Empedokleischen Physika den Pythagoreismus auch auf einen neuen Horizont öffnet: die belebte Physis. Die von Primavesi 1993 wieder herausgegebene Habilitationsschrift Harald Patzers von 1939 über die Geschichte des Wortes PHYSIS und der Versuch Heideggers über die Physis der aristotelischen Physik aus dem gleichen Jahr 1939 setzten einen Fragehorizont, der nun, im Licht der Forschungen Primavesis, Empedokleisch angereichert oder reformuliert werden muß. Entfaltet sich die Physis als Zyklus? Oder entfaltet sie sich im Zyklus, im Werden und Vergehen der Lebewesen, im Wechsel von abiotischen zu biotischen Phasen mit ihren jeweiligen Gesetzen? Das führt auf eine erst von Primavesi im Empedokleischen System situierte Differenz: die zwischen sichtbar sich artikulierenden, erscheinenden Lebewesen, benennbar als Pflanzen, Tiere, Männer, Frauen; und dem, was Primavesi mitunter als „Chemie“ anspricht: Mischung und Trennung der Grundelemente. Die Physis des Empedokles steht genau auf dieser wissensgeschichtlich hochbrisanten Grenze. Zum Schluß wirft die Respondenz einen Blick auf die Nachgeschichte des Empedokleischen Systems: Was wird aus ihm geworden sein? In kurzen Schlaglichtern ging Primavesi 2013 durch die „Wirkungsgeschichte“ des Empedokleischen Systems, von der griechischen Philosophie über die Medizin, die Dichtung, über Neoplatonismus und Darwinismus bis Hölderlin und Brecht.85 Die Respondenz zu Tetraktys und Göttereid macht den Versuch, den Zyklus der Elemente bei Empedokles mit dem Wissen neuzeitlicher Wissenschaft zu konfrontieren: mit dem „zentralen vereinheitlichenden Paradigma“,86 das heute sämtliche, im 19. Jahrhundert „Biologie“ getaufte Wissenschaften miteinander verbindet – Zyklen oder cycles oder Kreisläufe von Elementen.

85 86

Vgl. Primavesi 2013 [TG]: 721 – 730. Vgl. Toepfer 2011: 331a.

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Dabei gilt es zunächst, eine Erweiterung der Schrift vom Alphabet auf andere Zeichensätze vorzunehmen: auf, nach Friedrich Kittler, „Alphabete der Neuzeit“. Die Erweiterung geht nicht nur den mathematischen Zeichensatz an, mit dem die vier Zahlen der Tetraktys neuzeitlich operabel werden. Die Erweiterung betrifft hier das Wissen von den Elementen. Das Periodensystem nach Mendelejev – jene Aussagebedingung aller Reden von den Elementen seit Ende des 19. Jahrhunderts – operiert mit Elementen, bezeichnet als ein oder zwei Buchstaben, angeordnet in Zeilen und Spalten. Diese Schrift der Elemente ist es, die im modernen Wissen von Stoffkreisläufen zirkuliert. Ihre Theorie müßte auch das berücksichtigen, was nach einem Wort Beatrice Gruendlers, der „Buchstabenkörper“ und seine Nachbarschaften sind: hoch- und tiefgestellte Ziffern vor oder nach dem Buchstaben, der ein Element bezeichnet. So stellt sich nach einer kurzen historischen Skizze über das mendelejevsche System der Elemente der respondierende Beitrag die Frage, was mit den Elementen geschieht, wenn sie Teil von Zyklen werden. Modell ist der sogenannte N–cycle, der Stickstoffkreislauf. Dessen elementare Prozesse und wirkende Mächte alias Einzeller scheinen bis in ihre schematische Darstellung Verbindungen zu dem von Primavesi rekonstruierten Zyklus der Elemente bei Empedokles zu unterhalten. Die Respondenz schließt mit dem, was in der Biologie der Element-Kreisläufe die Zeit der Erdgeschichte ist, die, mit Bruno Latour, geostory. Diese große Zeit, die im Zyklus des Empedokles entfaltet ist, verläuft neuzeitlich nicht wie bei Empedokles zyklisch. Sie ist ein unumkehrbarer Zeitpfeil in einem naturwissenschaftlich erzeugten, mythischen Raum, der in Tausenden Millionen von Jahren rechnet. Wie genau sich jedoch die Empedokleische und die moderne Konstellation von Wissen und Mythos aufeinander beziehen, ob sich darin gar ein neues Empedokleisches Zeitalter abzeichnet, muß fürs erste in der Schwebe bleiben.

Religion Die Götter, vor allem die olympischen aus Kult und Epos, Lyrik und Tragödie, die sich bei Empedokles mit den Elementen verbinden, die Götter fliehen: Das ist eine Grundstellung, die Friedrich Kittlers Denken mit Hölderlin, Heidegger, Otto und anderen teilt.87 Mit dem Verschwinden der Götter aber beginnt Religion. Musik und Mathematik folgt dem im Übergang von Sophokles zu Euripides.88 87 88

Vgl. auch im vorliegenden Band: Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: III. Götter. Vgl. Kittler 2006: 169 – 192, 1.4.3 Sophokles und was das Herz zerreisst; und Kittler

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Mit Euripides verschwinde die Musik aus der Tragödie und eine Vorform von Monotheismus halte Einzug. Die Geschichte der Tragödie ist ein Schlüssel für den Übergang von Götter und Schriften zu Schriften und Religionen. Diesen Übergang umkreist das Denken Kittlers nicht erst seit Musik und Mathematik. Ein bislang unveröffentlichtes Textfragment Friedrich Kittlers von 1992/1993, das im hier vorliegenden Band die Frage nach der Religion einleitet,89 trägt den Titel einer Wissenschaft, die den Griechen unbekannt war: „Theologie“.90 Die abendländische Geschichte der Tragödie und die Flucht der Götter werden hier zur Wurzel von Krieg. Nicht eines der Kriege, in denen das kittlersche Denken dieser Phase die reale Medien- als Kriegsgeschichte entfaltet, vom Zweiten Weltkrieg bis zurück zu ihren Anfängen.91 Sondern des Kriegs als solchen und im Allgemeinen, als einem Faktum der abendländischen Geschichte. Der Text beginnt in dieser biographischen Lage pro domo. Diskursgeschichtlich trägt ihn eine Wendung gegen Jacques Derridas Philosophie der Dekonstruktion. Weil nur mit vielen Göttern die Tragödie möglich ist, schafft der eine Gott Tragödien ab.92 Musik und Mathematik wird die musikgeschichtlichen Positivitäten dieser Abschaffung entwickeln. Der vorliegende Text nimmt dem gegenüber einen geschichtsphilosophischen Begriff des „Tragischen“ auf, wie er die frühen Arbeiten Michel Foucaults prägt. Im Vorwort zur ersten Auflage von Wahnsinn und Gesellschaft – „Hamburg, den 5. Februar 1960“ 93 – setzt Foucault die griechische Hybris und ihren Logos, dem Epizentrum jeder griechischen Tragödie, vom „europäischen Menschen“ ab. Der griechische Logos „n’avait pas de contraire“. Seit dem Mittelalter aber und bis in die große Abtrennung des Wahnsinns von der Vernunft im klassischen Zeitalter „le rapport Raison-Déraison constitue

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92 93

2009: 31 – 70, 3.1.2 Euripides, Sohn der Gemüsehändlerin. – Man könnte geradezu Musik und Mathematik I. Hellas. 1. Aphrodite dem Erscheinen der Götter gewidmet sehen und I. Hellas. 2. Eros ihrem Verschwinden. Metadaten zur Datei THEOLOG.TXT siehe an der Stelle des Abdrucks des Textes im vorliegenden Buch. „Die Griechen waren in ihrer großen und eigentlichen Geschichtszeit ohne ‚Theologie‘.“ (Heidegger 1941–42/1992: 132 f.) Vgl. die mit Müffling, D'Annunzio, Otto Schwab, mit Nachrichtendiensten und militärischer Aufklärung, mit der Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkriegs argumentierenden Arbeiten Kittlers aus dieser Zeit – bis schließlich in die militärgeschichtlichen Teile des Kapitels über Archytas von Taras in Musik und Mathematik (vgl. Kittler 2006: 302 – 337). Vgl. auch im vorliegenden Band Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: Die vielen Götter. Vgl. Foucault 1961/1973. Das Vorwort wird ab 1972 in allen folgenden Ausgaben durch ein anderes ersetzt. Es ist darum im Französischen auch gesondert erschienen (vgl. Ders. 1961/1994).

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pour la culture occidentale une des dimensions de son originalité“.94 Nietzsche hätte gezeigt, daß „die tragische Struktur“ am Anfang der abendländischen Geschichte eben darin bestehe, die Tragödie zu vergessen: „l’histoire du monde occidental n’est pas autre chose que le refus, l’oubli et la retombée silencieuse de la tragédie“.95 Das Verschwinden der Tragödie und ihrer so anderen expérience-limite unter dem Zeichen der Hybris ist eine Form, die Flucht der Götter zu denken. Friedrich Kittlers Miszelle „Theologie“ denkt das weiter und weiß, daß „Kulturen, die (mit Foucault) den Begriff des Tragischen verloren haben, selber verloren sind.“ Diese Unmöglichkeit der Tragödie durchziehe seitdem die Geschichte des Abendlands, nicht als „die kleine Verschiebung der Dekonstruktion“, sondern als fundamentaler „Riß des Unmöglichen“. Der Krieg haust in diesem Riß. Er ist darum eine der ursprünglichen Dimensionen der europäischen Geschichte. Aus ihm kommen die Medien, die zu bestimmten Zeiten auch den Geist hervorbringen.96 Friedrich Kittlers späteres Vorhaben, die Geschichte des Abendlands noch einmal von Musik und Mathematik aus neu zu durchdenken und zu recherchieren, wird diesen Weg von den Göttern zur Religion, von der Tragödie zum Krieg positivieren. Nur ein Teil davon ist in den veröffentlichten Band I: Hellas mit seinen beiden Teilbänden Aphrodite und Eros eingegangen. Der digitale Nachlaß Kittlers im Literaturarchiv Marbach erlaubt es, Konturen einer Fortsetzung zu sehen.97 So führt der zweite Teil von Hellas präzise an die Stelle, wo Band II: Roma aeterna, hätte anfangen sollen.98 Eine Analyse der römischen Militärmacht, eines Imperiums, das keine Mathematik kennt und schreibt, sondern durchzählt, sollte am Anfang stehen.99 Von Rom, dem römischen Theater unter dem Titel Sexus und der lateinischen Dichtung (Ennius, Lukrez, Ovid) hätte sich der Band zum Christentum vorgearbeitet, unter dem Titel Virginitas. 94 95 96

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Foucault 1961/1994: 160 f.; Ders. 1961/1973: 9. Foucault 1961/1994: 161; Ders. 1961/1973: 10. Warum sich „etymologisch“, wie der Text schreibt, die Hunnen und Berserker auf den „Schaum vor dem Mund“ beziehen, muß fürs erste ein Rätsel bleiben: Der Name der Hunnen kommt aus dem Chinesischen, dem Stamm der Hsiung-Nu, und über die Berserker, weiß der von Kittler geliebte Große Meyer von 1908, daß sie in der nordischen Sage die „Leute im Wolfsgewand“ oder, etymologisch, „Bärenfellgewand“ heißen. Sie sind verwandt dem Werwolf und geraten in Zustände wie beim „Amucklaufen“, wenn sie den Fliegenschwamm (Fliegenpilz) zu sich nehmen, wie die Lappen, Finnen, Sibiriaken oder die Bewohner von Kamatschatka, die Muchamor trinken. Zum digitalen Nachlaß vgl. Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: Schriften, digital. Vgl. etwa die Theorie der Virginitas am Ende des zweiten Bands von Hellas, im Kapitel über Longos’ Daphnis und Chloe (Kittler 2009: 280 – 286). Davon ist ein fertig gesetztes pdf-Dokument von ungefähr 70 Seiten erhalten, samt eines ausführlichen Inhaltsverzeichnisses des projektierten Bands II. Auszüge daraus in: Seitter/Ott 2012: 139 – 148.

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6. Gerhard Scharbert Für das hier vorliegende Buch gewährt der Herausgeber Gerhard Scharbert dieses ersten Nachlaßbandes Roma aeterna von Kittlers Gesammelten Schriften Einblicke in ein wichtiges Kapitel daraus: Friedrich Kittlers eingehende Lektüren des Neuen Testaments, vor allem der Evangelien, in oft Vers-für-Vers-Kommentaren, und der Paulusbriefe. Der Beitrag skizziert in ersten Schritten, wie daraus auch ein neuer, ein mediengeschichtlicher Blick auf das Wirken des Jesus von Nazareth entsteht. Konnte Heidegger unmittelbar zu den Griechen zurückspringen – er hatte es ja nur mit den Widerständen der Philosophiegeschichte zu tun – so steht Kittlers Unternehmen einer hegelianisch durchgeführten Welt-Geschichte von Musik und Mathematik vor den Widerständen, ja der Opazität der geschichtlichen Ereignisse. Hier hilft weder Theologie noch Kritik der Theologie. Denn es geht nicht um die Analyse von Diskursen, sondern um geschichtliche Tatsachen. Friedrich Kittler stellte darum einige seiner Forschungen zur frühen Geschichte des Christentums unter das Motto einer Zeile aus Pink Floyds The Final Cut (1983): „Tell me true, tell me why was Jesus crucified?“100 Eine außergewöhnliche Freiheit des Geistes führte ihn, der ein halbes Leben lang und dann vor allem in Musik und Mathematik mit nietzscheanischem Furor gegen die Monotheismen der Welt andachte, schließlich dazu, den Stifter des Christentums vorurteilsfrei, allein im Blick auf die Materialitäten von Schriften, Sprachen, Alphabeten als Schriftstrategen und -reformator zu erweisen. Kittlers späte Forschungen sind keine Rettung des Christentums, sondern Rettung einer Schriftpraxis, von der er wußte, daß auch er – als historisches Kind der lutherischen Reformation – von ihr herkommt. Gerhard Scharberts Beitrag stellt einige Grundzüge von Kittlers Arbeiten zum Neuen Testament und zum schriftgeschichtlichen Kriminalroman des Jesus von Nazareth vor, wie sie die Notizen des digitalen Nachlasses freigeben.101 Der Beitrag steckt also zunächst das historische Umfeld ab, die komplizierte Konstellation von hebräischer, aramäischer, griechischer und lateinischer Sprache zur Zeit Jesu. Er rekonstruiert dabei auch ein Stück des diskursiven Umfelds der Kittlerschen Arbeit, etwa Martin Hengels Studien zu Judentum und Hellenismus Roger Waters: The Post War Dream aus The Final Cut (1983): „... Tell me true, tell me why was Jesus crucified / Is it for this that Daddy died? / Was it for you? Was it me? / Did I watch too much T.V.? / Is that a hint of accusation in your eyes? ...“. 101 Einzelheiten und Metadaten zur Datei m+m5.utf, auf die sich Gerhard Scharberts Beitrag stützt, siehe den Anfang des Beitrags Theologie. 100

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von 1969, die Kittler ausführlich exzerpiert hat („Helden wie Hengel unglaublich rar!“ 102 ), Rudolf Bultmann (1926) oder immer wieder die Auseinandersetzung mit Jacob Taubes, Jan Assmann, Johannes Lohmann. Der Beitrag ergänzt dieses Umfeld durch neuere Forschungen.103 So entwickelt er ein Stück der Genese und Begründung einer spektakulären und weit reichenden These Kittlers: Der schriftkundige Jesus von Nazareth habe in der Konstellation von hebräisch geschriebener Tora, aramäisch sprechender Bevölkerung und griechisch sprechender und schreibender Bildungsschicht weit vor einer allgemeinen Vokalisierung der Tora (durch die diakritischen Punkte der sogenannten masoretischen Zeichen im 7. Jahrhundert n. Chr.) einen aus der griechischen Sprache und ihrer Schrift herkommenden Druck auf die Schriftpolitik der Schriftgelehrten ausgeübt. Sie fürchten um das Monopol ihres Wissens von der Vokalisierung der Tora und sehen am Ende nur noch den Ausweg seiner Hinrichtung.104 Der 12-jährige Jesus im Tempel vor den Schriftgelehrten wird in diesem Zusammenhang zur „Urszene“. Aber auch die Kreuzigung selbst, die sie umgebenden Sprachen und ihre Schriften alias Inschriften, wird auf neue Weise lesbar und eine Vielzahl von in den Evangelien berichteten Begebenheiten. Das führt schließlich zu jenem Evangelium, das von seinem berühmten Beginn an dem Wort den höchsten Rang zuweist: das Johannes-Evangelium. Aristotelische Analysen seiner Sprach- und Schriftauffassung schließen die nachgelassen Notizen Kittlers direkt an die veröffentlichten Aristoteleskapitel von Musik und Mathematik I.2 an. Den Abschluß des Beitrags bildet ein Ausblick auf die Briefe des Paulos, mit ihrer programmatisch und praktisch so folgenreichen Schriftpolitik. 7. Peter Weibel Der Beitrag des Künstlers, Performers, Wissenschaftlers, Texters und Direktors des Center for Art and Media Karlsruhe, Peter Weibel, entwickelt die Frage nach Göttern und Schriften explizit und programmatisch weiter zur Frage nach Schriften und Religionen.105 Er schließt damit direkt an jenen Übergang von den So heißt es auf Zeile 12 der 5557 Zeilen langen Datei. Michael Sommer 2006, Roland Deines 2004, Jean Zumstein 2009, u.a.. 104 Vgl. dazu auch im vorliegenden Band den Beitrag von Peter Weibel Das Medium Religion: VI. Performativität der Schrift und Jesus als Schriftrebell. 105 Ein Teil des Artikels basiert auf dem englischen Beitrag Peter Weibels für den Katalog der von ihm und Boris Groys kuratierten Ausstellung Medium Religion. Faith. Geopolitics. Art., die von 23. November 2008 bis 19. April 2009 am ZKM l Center for Art and Media Karlsruhe stattfand (vgl. Peter Weibel: „Religion as a Medium – the Media of 102 103

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Göttern zur Religion an, der so wichtig für Friedrich Kittlers Denken war. Weibel aber erweitert die Medien der Religion von der Schrift bis zu den technischen Medien unserer Gegenwart. Weibels Mediendenken der Religionen und ihrer Medien erhöht zunächst performativ das Tempo der Schrift: der Schrift seines eigenen Schreibens. Schon seit Nietzsche befreien stilistische Beschleunigungen das Denken – nicht von der Treue zum Buchstaben, sondern vom kleinen Schritt. Schneller als die strenge Wissenschaft geht es durch die Jahrhunderte und katalysiert eben dadurch den Blick aufs Prinzipielle.106 Weibel kann sich darin auch auf die Geschichte der Medientheorie selbst berufen. Marshall McLuhans essayistischer Stil etwa unterscheidet sich markant vom wissenschaftlichen Stil seines Lehrers Harod Innis – durch Erhöhung der Geschwindigkeit.107 Die französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari und eine Reihe anderer französischer Denker kultivierten diesen Stil. Schließlich steht auch die „Kommunikologie“ Villem Flussers, falls es Paten bräuchte, Pate. Dessen Alphabet-Theorie ist Peter Weibels Nachdenken über die Schriften auch in der Sache nicht fern, etwa der Theorie der „Sequenzierung“.108 Die Argumentationen des Beitrags umkreisen zunächst die Sache der Heiligen Schriften. Wie werden Schriften heilig und was heißt es, daß sich die großen Weltreligionen auf für heilig erklärte Schriften gründen – Talmud, Bibel, Koran, die buddhistische Tripitaka? Weil alle heiligen Schriften nur das kanonisierte Ergebnis von Prozeduren nachträglicher Schrift sind, von Umschriften, Abschriften, Übersetzungen, kann der eine Ursprung der Gründung, den alle Religionen erzählen, nur als medientechnische Strategie beschrieben werden. Peter Weibels Medientheorie der Religion tritt an, von der Schrift her alle religiösen Ursprungserzählungen zu dekonstruieren.

Religion“, in: MediumReligion. Faith. Geopolitics. Art., hg. Boris Groys, Peter Weibel, Karlsruhe und Köln 2011, S. 30 – 43). 106 Es kommt äußerlich gesehen oft als Anthropologie an. In der „Historischen Anthropologie“, die zwei Zeiten vereinigt: die anthropologische und die historische Zeit, hat sie in Deutschland seit Anfang der 1980er Jahre einen ganz neuen Einsatz genommen (vgl. etwa: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, hg. Christoph Wulf, Beltz und Weinheim u. a. 1997). 107 Sie ist bei McLuhan wie bei Weibel auch vom Bewußtsein einer „Medienkonkurrenz“ theoretischer Schrift mit Funk, Fernsehen, Film getrieben. McLuhan war der erste, der diese Konkurrenzverhältnisse als Triebkräfte der Mediengeschichte untersuchte (vgl. etwa Marshall McLuhan: Understanding Media, New York 1964; dt.: Die magischen Kanäle, Düsseldorf und Wien 1968). 108 Vgl. Villem Flusser: Kommunikologie (hg. Stefan Bollmann, Edith Flusser), Frankfurt a.M. 1998: S. 74 – 170, 2. Kapitel: Was sind Codes?.

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Ein zweites Epizentrum des Beitrags ist die Frage nach der Schriftpolitik der christlichen Religion, angefangen von ihrem Gründer Jesus von Nazareth. Weibels Medientheorie denkt Friedrich Kittlers Analysen von Jesus als Strategen vokalalphabetischer Schrift nahezu in Echtzeit weiter. Weibel radikalisiert die Konkurrenz konsonantischer Schriften und des griechischen Vokalalphabets als medienhistorischen Horizont des Jesus von Nazareth: „Jesus als Schriftrebell“ befreit die Leser, ALLE Leser vom Schriftmonopol einiger, er „verkörpert den Aufstand des Amateurs gegen den Experten“. Außerdem aber wird die Schrift als „Medium“ in Weibels Beitrag zum Ausgangspunkt einer Gegenwartsbestimmung des „Mediums Religion“. Wo sich bei Kittler die Wiederkehr der Götter in elektronischen Medien vorbereitet,109 da steigert sich für Weibel in technischen Medien die Ankunft der Religionen. „Tele-Medien“, von der Telegraphie übers Telephon bis zur Television, sind, so Weibel, Medien der Absenz und Präsenz. Gerade darin haben sie eine Tendenz, mit dem Religiösen zu verschmelzen, ja es zu erfüllen. Denn umgekehrt ist „TheoTechnologie“, diese Wortschöpfung Peter Weibels, eine Technik, die nicht nur wie bei Freud alle Wünsche des Märchens realisiert, sondern ganze religiöse Welten im Detail und direkt (Levitation, auf Wasser gehen, Fernwirkung von Worten, Transsubstantiation).110 Weibel kommt wiederholt auch auf die amerikanischen „Televangelisten“ zu sprechen, die Hundertausende in eine televisionäre Faszination stürzen. Drei kurze Einzel-Studien zu Mormonen, Zeugen Jehova, Scientology blicken durch die sogenannten „Sekten“ wie durch ein Mikroskop auf gemeinsame Strukturen, auf eine „Morphologie“ der Religionen. Die 133 Offenbarungen des Mormonen-Gründers Joseph Smith waren auf Goldplatten eingraviert, die er leider „zurückgeben“ mußte, Weibel: „die Quelle gewissermaßen löschen“. Was so beginnt, wird unter den medialen Bedingungen der Gegenwart eine Macht, die medienstrategisch auf dem letzten Stand von TV-Bildern und Internet arbeitet.111 Schließlich aber läßt der Beitrag sich in seiner „Nachschrift“ von einem anderen Vgl. auch Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: Die wiederkehrenden Götter. Diese religiöse Deutung hat auch anderweitig Medientheorie-Geschichte gemacht, vgl. etwa Bernhard Siegert: „Die Trinität des Gastgebers. Interaktion als virtuelle Eucharistie und Menschenfassung in den Netzen der Computer Mediated Communication“, in: ON LINE. Kunst im Netz, hg. Steirische Kulturinitiative, Graz 1993, S. 124 – 134. 111 Helmut Hoege (Berlin) machte 2013 im Zuge einer journalistischen Recherche über die Verwicklung mormonischer Programmierer in die amerikanische IT-Industrie darauf aufmerksam, daß ein massiver genealogischer Zug in der mormonischen Religiosität riesige Datenmengen und die Notwendigkeit neuer Suchalgorithmen hervorbringt. Verbunden mit einer rigiden asketischen Lebenspraxis sind die Universitäten der Mormonen Kaderschmieden für Programmierer geworden. 109 110

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Genre inspirieren: vom Künstlertext. Künstlertexte sind nicht ohne ihren Kontext innerhalb eines größeren Werks oder einer Werkgruppe denkbar, bewegen sich ganz in dessen Gesetzlichkeit und zitieren die Wahrheitsregeln der Wissenschaft oft nur als solche.112 Dafür könnte etwa die Sprachentstehungs-Theorie des amerikanischen Beatnik-Autors William Burroughs als ein Vorläufer gelten, die 1970 als Feedback from Watergate to the Garden of Eden erschien und auf brillanteste Weise die wissenschaftliche Hypothese von der Entstehung der Sprache aus der Schrift durch virale Übertragung unter Primaten vertritt.113 Weibel erklärt im Zuge künstlerischer Explorationen zur modernen Kosmologie, die ihn derzeit beschäftigen, die Entstehung des Kosmos selbst aus einer Art alphabetischem Spiralnebel, einem Buchstabenfeld oder Gewimmel von Zeichen. Der Kosmos ist hier nicht empedokleisch aus der alphanumerischen Strenge einer Zahlenmatrix, der Tetraktys, gedacht, sondern aus Urknall und Pluriversum, die in inflationäre Universen übergehen.

Rund ums Mittelmeer Die dritte (schon darum nicht mehr herakleische) Säule dieses Buches fragt nach einer geographischen Bestimmung: dem Mittelmeer. In dessen Umkreis finden die meisten der in diesem Buch thematisierten Innovationen statt. Auch wenn hier also nicht direkt nach dem Abendland, dem Westen, nach Europa gefragt wird: Diese Geographie als solche hat ihr Geschick im Denken des Abendlands. Was am Ende des 19. Jahrhunderts als Allgemeine Erdkunde, Anthropogeographie oder Geopolitik ankommen wird,114 beginnt in Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte als dialektische Entgegensetzung der Neuen und der Alten Welt. In der Neuen hängen die beiden Weltteile im Norden und Süden nur äußerlich zusammen. Panama ist nicht der dialektische Umschlag zweier Weltteile, sondern eine äußerliche Landbrücke – mit ihrem im 20. Jahrhundert „neuralgischen Panama-Kanal“.115 Die Alte Welt dagegen ist „durch eine tiefe Bucht, das Mittelländische Meer“, durchbrochen. Seine drei Weltteile – Europa Asien Afrika – machen im ganzen Unterschied zu Nord- und Südamerika eine Das betrifft auch den Beitrag von Joulia Strauss in diesem Band. Burroughs 1970/2005. Friedrich Kittler hat diesen Text immer wieder aufgerufen vgl. etwa Kittler/Treusch-Dieter 1994: 92; oder Kittler 2009: 178, Anm. 3. 114 Bei Ernst Kapp und Friedrich Ratzel, Karl Haushofer und Carl Schmitt. 115 Aus dem Beitrag von Lars Denicke im vorliegenden Band. 112 113

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„Totalität“ aus. Denn „sie sind um das Meer herumgelagert und haben darum ein leichtes Mittel der Kommunikation“.116 Die tiefe Bucht als Mittel der Kommunikation und der Vereinigung transformiert sich bei Hegel schließlich zum geographischen „Mittelpunkt der Weltgeschichte“. Er ist, in der Sprache der Enzyklopädie, Teil eines Organismus und seiner Innerlichkeit: der Erde selbst als „geologischem Organismus“.117 In der Philosophie der Geschichte wird daraus eine weltgeschichtliche Geographie. In der tiefen Bucht liegt der Morgen des Geistes und zugleich sein Abend: „Griechenland liegt hier, der Lichtpunkt der Geschichte.“118 Darum sieht Hegel auch die Weltreligionen „rund ums Mittelmeer“ versammelt. „Dann in Syrien ist Jerusalem der Mittelpunkt des Judentums und des Christentums, südöstlich davon liegt Mekka und Medina, der Ursitz des muselmännischen Glaubens, gegen Westen liegt Delphi, Athen, und westlicher noch Rom; dann liegt noch am Mittelländischen Meere Alexandria und Karthago.“119 Die beiden folgenden Beiträge und auf seine Weise auch der künstlerische Beitrag von Joulia Strauss sind Auseinandersetzungen mit dieser historischen Geographie. 8. Siegfried Zielinski Für Siegfried Zielinskis Beitrag ist Hegels Begriff des Mittelmeers der Gegenpol schlechthin. In einer Reihe dezentrierender Lektüren zersplittert der Beitrag kalkuliert jede organische Innerlichkeit von Euro- und Graeco-Zentrismus des Hegelschen Ansatzes.120 Zielinskis Lektüren sind ein Schulfall dessen, was Foucault einmal „Das Denken des Außen“ genannt hat.121 Hier aber nicht auf die Sprache – Sprache des Wahnsinns und Sprache der Literatur – bezogen, sondern auf die äußerliche Berührung von Kulturen und Schrift- und Wissenssystemen, immer in Hörweite der Musikgeschichte. Hegel 1822–23 ff./1961: 147. – Daß Hegel hier vom Mittel spricht und nicht vom Medium, reicht tief in die Geschichte von Wort und Sache des Mediums. Dem 19. Jahrhundert ist „Medium“ nicht, wie der Medientheorie in Nachfolge von Innis und McLuhan, der „Weltverkehr“, sein Zwischen und seine Mittel. Medium meint im 19. Jahrhundert Milieux und Umgebung, Hegel nennt es Element. 117 Hegel 1830/1986: 337 und 337 ff.. 118 Hegel 1822–23 ff./1961: 148. 119 Ebd.. 120 „Zersplitterte Welten. Der Diskurs der Antillen.“ ist der deutsche Titel eines der ersten essayistischen Bücher Edouard Glissants (Edouard Glissant: Zersplitterte Welten. Der Diskurs der Antillen, aus dem Französischen von Beate Thill, Heidelberg 1986 (frz.: Le Discours des Antilles, Paris 1981). 121 Foucault 1966/1978. 116

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Ein Echo Hegels im 20. Jahrhundert eröffnet den Beitrag: wenn die Hegelsche Totalität totalitär ankommt. Denn Anfang der 1930er Jahre hatte der Architekt Herman Sörgel den totalen technischen Zugriff aufs Mittelmeer visioniert. Sein Ausgangspunkt sind geowissenschaftliche Daten, die, parallel zur auch andernorts (etwa bei Oswald Spengler) wirksamen Idee einer fortschreitenden Wüstenbildung oder Verwüstung als geschichtsbildender Macht, das Mittelmeer zur Verdunstungszone erklären.122 Nur durch ständig neuen Zufluß vom Atlantik durch die Strasse von Gibraltar erhält sich das Mittelmeer. Würde man also durch einen riesigen Damm die Strasse sperren, verdunstet das Mittelmeer: Neues Land wird gewonnen, neue Geographien entstehen, neue politische und wirtschaftliche Strukturen. Afrika, geographisch vereinigt mit Europa, wäre ein Gegengewicht zu Asien und Amerika und eine Alternative zu Eurasien. Sörgel nennt das neue Gebilde „Atlantropa“.123 In vier Wendungen katapultiert Zielinski Götter und Schriften rund ums Mittelmeer in ein Denken des Außen, dessen immer schon gerissener Faden die Frage ist: „einheitlich oder zusammengesetzt“? Die erste Wendung hört auf den in Martinique geborenen Philosophen Édouard Glissant, den, so Zielinski, „zeitgenössischen Empedokles der Karibik“. Die Karibik ist schon als Geographie der glatte Gegenentwurf zu Hegels tiefer Bucht eines mare internum: die Geographie einer Äußerlichkeit, in der jede Einheit in den Raum tausender Inseln zerstiebt – ohne Festland mit fraktaler Küstenlinie. Ihre einzige Kontinuität ist der Meeresgrund. Dem antwortet die Sprache: Das berühmte Créole ist eine zusammengesetzte Sprache, mit französischem, spanischem, englischem Wortschatz und afrikanischer Grammatik.124 Glissants französische Sprache bildet das nach, durch äußerliche Sprachveränderungen, Assonanzen, Silbenverdopplungen oder „gezielte Umplatzierungen von Vokalen in einzelnen Worten“. In einer zweiten Wendung wird die Frage nach Einheitlichkeit und Zusammengesetztheit auf die Geschichte des Abendlands selbst zurückgebogen, gegen seinen reinen Ursprung, der mit Foucaults Denken der Genealogie „immer bei den Göttern liegt“. Schon die Entstehung der vorsokratischen Philosophie in Ionien findet nach Zielinski in einer „minimalen europäischen Kabirik“ statt: der Inselwelt Ioniens. Sie bringt mit Heraklit, Parmenides, Demokrit „eine ganze Bande Vgl. etwa Oswald Spenglers Spätwerk Zur Weltgeschichte des zweiten vorchristlichen Jahrtausends (1935). Herman Sörgel bezieht sich unter anderem auf die hydrologischen Forschungen des Geographen Otto Jessen (Die Straße von Gibraltar, 1927). 123 Auch Spenglers Weltgeschichte denkt das Mittelmeer ins Große. 124 Die Frage nach den Göttern der Karibik stellt in diesem Sinn das ethnographisch-literarische Werk Hubert Fichtes (vgl. etwa Xango 1976 oder Petersilie 1980).

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von […] aufrührerischen Denkern hervor“. „Ein Lied von den Inseln“, so steht in rechten oberen Ecke eines Blatts, auf das Édouard Glissant und Siegfried Zielinski ihre gemeinsamen Notizen für eine Diskussion in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts schrieben (Abbildung 1 des Beitrags). „Ihr lieben Inseln, Augen der Wunderwelt“, heißt es in Hölderlins Nachtgesängen.125 Damit ist die brisante Frage aufgeworfen, warum die Fraktalität griechischer Festlandsküsten und ihre Beziehung auf die ägäisch-ionische Inselwelt mit einer Vielfalt regionaler Sprachvarianten, mythologischer Erzählungen, lokaler Kulte so früh Kohärenzen, etwa die olympische Götterwelt, hervorbringt, die dem „Diskurs der Antillen“ fremd wären? Sind diese Kohärenzen eine bloße Frage der Deutung oder sind sie historische Realitäten, von denen die abendländische Wissenschaft als solche herkommt, inbegriffen die neuzeitliche, die heute noosphärisch den ganzen Globus überzieht? Wäre eben darum die Créolité eine Art Gegenentwurf? Gegen den reinen Ursprung des Abendlands setzt der Beitrag schließlich auch eine zweihundertjährige „orientalisierende Phase“ der hellenistischen Wissenschaft. Zeuge ist etwa eine Geschichte, wie sie die arabische „Enzyklopädie der Wissenschaften“ (Kitāb Iḥṣāʾ al-ʿulūm: Buch der Klassifikation der Wissenschaften) entwirft, verfaßt in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts von dem arabischen Gelehrten Abu Nasr Muhammad al-Farabi. Al-Farabis Buch sei zugleich eine, so Zielinksi, „Philosophie der Weltgeschichte“. Aber sie erzählt diese Geschichte nicht als lineare Entwicklung, sondern spiralförmig um vier „lokale Attraktoren“ herum: Alexandria, Athen, Milet und Bagdad. Al-Farabi wie auch der Mathematiker Al-Chwarismi, dem das Wort Algorithmus nachgebildet ist, haben unter anderem musiktheoretische Werke geschrieben, in denen die Stimme und die Frage der Vokalisierung eine entscheidende Rolle spielen.126 Die dritte Wendung ins Außen führt zur „Äußerlichkeit der Teile in einer Maschine“.127 Die Brüder Abu Musa aus Bagdad haben im 9. Jahrhundert n. Chr. einen Automaten gebaut, der in der Geschichte der automatischen Musikinstrumente oft als der erste gilt. Der Musikautomat arbeitet mit Ventilen als Relais

Vgl. im vorliegenden Band auch Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: Übertragungsmedien. 126 Zu den Vokalen im Arabischen, vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Beatrice Gruendler. 127 Georges Canguilhem: Das Normale und das Pathologische (1966), aus dem Französischen übersetzt von Monika Noll und Rolf Schubert, München 1974, S. 173. Der Organismus dagegen, anders als die Maschine und die gesellschaftlichen Organisationen, kenne „eigentlich keine Distanz zwischen den Organen, keine Äußerlichkeit der Teile“ (ebd., S. 234). 125

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von Pumpen für Wasser und Luft und steuert – Vorschein aller LochkartenAutomaten – über einen Zylinder mit Stiften das Öffnen und Schließen der Luftlöcher einer Flöte. Die vierte und letzte Wendung folgt dem Werk Raimund Lulls, eines „der seltsamsten Weltverbesserer des 13. Jahrhunderts“.128 Raimundus Lullus hat auch metrisierte Text geschrieben und Zielinski wirft die Frage auf, ob mit Nietzsches Theorie des Metrums als Medium des Gedächtnisses129 und seiner Auswendigkeit das Metrum nicht mit der Kombinatorik Lulls und ihren „algorithmischen Artefakten“ zusammenzudenken wäre? Die Ars magna oder Lullische Kunst „bestand in einer mechanischen Methode, durch systematische Kombination der allgemeinsten Grundbegriffe (der aristotelischen Kategorien und scholastischen Postprädikamente) unfehlbare Lösungen aller wissenschaftlichen Aufgaben zu finden.“ 130 Lullus wendet die Methode dann in missionarischem Eifer auch auf die drei Heiligen Schriften rund ums Mittelmeer an – Talmud, Bibel und Koran.131 Damit mache er, so Zielinski, rein äußerlich die Weltreligionen „miteinander kommunzierbar“. Das Medium seiner Kombinatorik aber sind Alphabete und Axiome vertretende Buchstaben, also Schriften mit einer definierten und reduzierten Anzahl von Elementen. Daß Raimundus Lullus als dongiovannesker Liebhaber dabei auch den Übergang von der obsessiven irdischen zur obsessiven himmlischen Liebe macht,132 tut sein Übriges, ihn unter den Denkern des Außen glänzen zu lassen. Gegen die kreisförmige Geschlossenheit des „rund ums Mittelmeer“, aus der sich bei Hegel die Geschichte des abendländischen Geistes in systematischer Geschlossenheit bereits geographisch begründet, stellt also Zielinskis Beitrag ein kultur- und mediengeschichtliches Denken des Außen, das Michel Foucault noch in der Literatur suchen mußte, in einer literarischen Sprache, die „eher eine Zerstreuung als eine Rückkehr der Zeichen zu sich selbst“ ist.133

So der Große Meyer von 1905/08 im Artikel „Lullus, Raimundus“. Vgl. im vorliegenden Band auch Kittlers Schriften. Kittlers Götter: Die wiederkehrenden Götter. 130 Großer Meyer 1905/1908. 131 Vgl. im vorliegenden Band auch den Beitrag von Peter Weibel. 132 Vgl. im vorliegenden Band auch Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: Geschichte der Liebe. 133 Foucault 1966/1978: 56. 128 129

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9. Lars Denicke Der Beitrag von Lars Denicke stellt die Frage nach dem Mittelmeer so, daß sie direkt ins 20. Jahrhundert führt. Auf besondere Weise rührt sie dabei an die Sphäre der Götter. Ausgehend von den vier Grundbestandteilen oder rhizomata des großgriechischen Philosophen Empedokles, deren zyklischer Prozessualität der Beitrag Oliver Primavesis gewidmet ist, unternimmt Denicke eine Neubestimmung der Geopolitik des 20. Jahrhunderts. Nicht nur Erde und Wasser, in der traditionellen Opposition von Landmacht und Seemacht, sondern auch Luft und Feuer eröffnen einen neuen Blick auf die Geschichte dieses Jahrhunderts als einer „Bewegung in und durch alle vier Elemente hindurch“. In seinen Kriegen wirkt vom Dampfschiff über den Verbrennungsmotor bis zum Triebstrahlwerk das Feuer und sein erdgeborener Rohstoff, Kohle oder Öl. Das Feuer begründet eine neue Macht, die, gestützt auf Erdpositionen, aus der Luft und in der Luft agiert. Als, so Denicke, „das Feuer in den Verbrennungsmotor gebannt war und Flugzeuge sich über Land und Meer in der Luft bewegten“, kamen die vier Elemente des Empedokles als eine Grundstruktur des 20. Jahrhunderts zum Vorschein. Auch wenn diese Elemente bei Empedokles schon darum keine Buchstaben, stoicheia alias elementa, sind, weil er dieses Kunstwort noch nicht kannte,134 so sind doch Erde, Wasser, Luft, Feuer empedokleisch gedacht vier Götter: Hera, Nestis, Zeus und Hades.135 Damit stellt sich die Frage nach der Gegenwart der Götter im 20. Jahrhundert auf besondere Weise. Entfalten sich die empedokleischen Götter in ihrer Vierheit immer weiter und reicher? Kehren sie wieder? Oder sind die Götter in der modernen Technik und ihren Kriegen der Vergessenheit anheim gefallen?136 Geopolitisches Denken im 20. Jahrhundert beginnt mit der Relativierung des Mittelmeers. Als der britische Diplomat John Halford Mackinder 1904 das historische Erstarken der Landmächte diagnostiziert, kommen Poseidons Pferde nicht übers Mittelmeer, sondern aus dem Osten: Dschingis Khans Eurasien macht Europa samt Mittelmeer zu einer kleinen Halbinsel. Die nationalsozialistische Geopolitik, Karl Haushofer etwa oder sein Rechtsgelehrter Carl Schmitt, stilisieren synchron zum Überfall auf die Sowjetunion das kontinentale Eurasien als Ganzes zum „zusammenhängenden Leistungsraum“ gegen den „Streu-

Vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Oliver Primavesi. Vgl. ebd.; zur Benennung vgl. auch Kittler 2006: 246. 136 Vgl. auch im vorliegenden Band Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: Die wiederkehrenden Götter. 134 135

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besitz“ der Seemächte. Damit verschiebt sich die Totalität stiftende Geographie vom mittelländischen Meer Hegels auf die eurasische Steppe.137 In diese alte Tradition von Land und Meer führt der Beitrag zunächst das Feuer ein: als Dampfschiffahrt und Explosionsmotor. Eine Wissenschaft des Feuers mit ihrer mathematischen und autographischen Schrift (etwa Indikator-Diagrammen) trägt diese Dromologien seit dem 19. Jahrhundert: die Thermodynamik. Schon bei Mackinder aber tritt die Luft-Fahrt in den Blick. Zwei Jahre nach Mackinders Rede starten die Gebrüder Wright ihren ersten erfolgreichen Motor-Flug, der Auftrieb durch Antrieb erzeugt statt durch leichtes Gas wie in der Luftschiffahrt. Aber dieser Motor ist ein Explosionsmotor aus der Sphäre des Feuers. Der Beitrag zeichnet dann in groben Strichen die Entwicklung der Luftfahrt zur Luftmacht nach, als militärischer wie ökonomischer Macht. Ein Argument durchzieht dabei alle Überlegungen: das Flugwesen ist an den Boden gebunden. Denn Flugzeuge geringer Reichweite brauchen ein Netz von „Luftstützpunkten“ auf der Erde, sprich: Flughäfen zur Versorgung mit Benzin. Die Erde selbst verwandelt sich darin. Seit Landebahnen aus modular ineinander verhakten „Stahl-Gitterplatten“ bestehen, sind „Luft und Erde als technisches System aufeinander bezogen“: das agencement einer Kriegsmaschine, ganz nach der Definition Deleuze/Guattaris. Vor allem die USA bauen während des Zweiten Weltkriegs ein Netz von Luftstützpunkten, dessen Knoten nicht mehr als 1000 Kilometer voneinander entfernt sind. Damit wird das präzise Datum des amerikanischen Kriegseintritts zweifelhaft. Denn schon längst vor dem japanischen Angriff auf einen solchen logistischen Netzknoten in Pearl Harbour haben die USA dieses Netz selbst auf den Krieg hin entwickelt. Der Film Casablanca ist in Denickes überraschender Deutung haargenau in diesen logistischen Krieg eingefügt. Die „Luftversorgung“ verschaltet schließlich alle vier empedokleischen Elemente: Schiffe bringen den Stoff des Feuers, das Öl, an die Küste, von dort wird es über Land zu den Luftstützpunkten gebracht. 100 Kamele, die von der afrikanischen Westküste durch die Sahara laufen, betanken genau ein Flugzeug. Das Mittelmeer wird in Denickes Blick zuächst vor allem vom nordafrikanischen Kriegsschauplatz aus sichtbar und der Frühgeschichte Saudi-Arabiens als Ölland, Vorbereitung der Nachkriegs-Wirtschaft. Im neuen globalen Blick aus der Luft, seiner „Emphase der Globalität“ taucht aber schließlich auch ein anderes Mittelmeer auf. Dieses andere Mittelmeer steht geschrieben in der besonderen Schrift von Land- und Weltkarten, deren Geo-graphie aus der Luft 137

Vgl. auch Peter Berz: „Nomadische Geopolitik“, in: Gegner. Monatsunabhängige Zeitschrift gegen Politik aus Berlin, Heft 13, Oktober 2002 bis Februar 2003, S. 12 – 24.

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entworfen ist. Die Azimuthal-Projektion mit dem Nordpol als Zentrum rückt nicht die mittelmeerische opposite coast des Zweiten Weltkriegs in den Mittelpunkt, also Nordafrika und Italien, sondern die des Arktischen und Atlantischen Ozeans, die Alaska/Grönland von der gegenüber liegenden Sowjetunion trennen. Dieses „Arctic Mediterranean“, wie 1947 ein amerikanischer Geograph es nennt, präfiguriert den Kalten Krieg. Ein Mittelmeer ist damit zum universalisierbaren geopolitischen Modell geworden. 10. Joulia Strauss

„4000 Jahre linearer Schrift haben zu einer Trennung von Kunst und Schrift geführt ...“138

Wie sich die globalen Mittelmeere, mit denen Lars Denikes Beitrag endet und die unsere heutige Realtität sind, immer wieder im alten Mittelmeer verdichten, das zeigt nicht zuletzt die „relative Autonomie der Migration“ von rund ums Mittelmeer und südlich der Sahara ans und übers Mittelmeer.139 Wo der ökologische Blick auf den Globus, den blauen Saphir, nicht nur empedokleisch aus der Luft, sondern von jenseits der Luft kommt, aus Satellitenhöhen über der Atmosphäre, da durchwandern und durchfahren und durchschiffen unten Migrantinnen und Migranten auf Leben und Tod Land und Meer. Sie vermögen Europa mehr denn je zu erschüttern. Das saharische Feuer brennt von oben, dann kommt auf der „salzigen Wüste“ 140 Poseidons Zorn, dann die teuren, von Kameras und Hunden bewachten Fähren, die Lastwagen und Eisenbahnzüge und Straßen der hochtechnisierten Gesellschaften Europas und seiner Ränder. Aber dieser Einsatz des Mittelmeers ist keine Frage der Elemente. Rund ums Mittelmeer ist „von neuem an den Zeichen, den Thaten der Welt jetzt“ 141 zu einem politischen Schlüssel europäischer Zukunft geworden. Dem Aufbruch von südlich und nördlich der Sahara,142 geht nach der Jahrtausendwende ein anderer parallel. Er spricht sich selbst und programmatisch Leroi-Gourhan 1964/1984: 244. Oulios 2013: 198, u.a.. 140 „Salzige Wüste“ ist Homers Ausdruck für das Mittelmeer. 141 Friedrich Hölderlin: Wie wenn am Feiertage ... (Sommer 1800), 4. Strophe, Vers 30 (Hölderlin MA, Band I: 262). 142 Als Tatsache der mittelmeerischen Geographie stellt sich europäischen Technokraten der Aufbruch in den Norden, etwa von Libyien aus, so dar: „Mehr als tausend Kilometer Küste und unkontrollierbare Grenzen im Süden machen den Zugang leicht.“ (Der Spiegel 50/2015, S. 86: Der Brückenkopf des Kalifats). Die Küste ist die zum Mittelmeer, die Grenzen im Süden sind die zur Sahara, der Zugang geht durch Libyen nach Europa. 138 139

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als politisch an. Seine Bewegungen sind zunächst Besetzungen: Occupy! Er bezeichnet sich als activism, Grenzen überschreitend und global. Er fand und findet seit etwa 2010 rund ums Mittelmeer statt. Beginnend mit der JasminRevolution in Tunesien im Dezember 2010, einem gewaltsamen Umsturz der Verhältnisse mit Toten und Verletzten, Zerstörungen öffentlicher und privater Insitutionen, breitet sich ein „Domino-Effekt“ durch Nordafrika über Algerien bis nach Ägypten aus. Die Aufständischen folgen ihm ebenso wie die Reaktionen der Mächtigen.143 In Syrien wird der nordafrikanische Dominoeffekt abgestoppt und verwandelt sich in einen Bürgerkrieg, der sich bis heute intensiviert und bereits jetzt 12 Millionen Menschen in die Flucht trieb.144 Aber mit der Besetzung des Tahrir-Platzes in der ägyptischen Hauptstadt Kairo Anfang 2011 weitet sich der Aufbruch auch in andere Richtungen aus: am 15. Mai 2011 besetzen Demonstranten unter explizitem Bezug auf Kairo die Puerta del Sol mitten in Madrid und im selben Monat Mai wird der Syntagma-Platz in Athen besetzt.145 Trotz dieser Verkettung rund ums Mittelmeer hat jeder Ort seine lokalen, mit Bruno Latour zu sprechen: nachbarschaftlichen Strukturen, die den Einsatz der Aktivitäten allererst verständlich machen. In Athen etwa finden seit dem Mord an dem 15-jährigen Alexandros Grigoropoulos im Dezember 2008 inmitten einer anhaltend desaströsen Wirtschaftslage immer wieder Unruhen statt, mit gewaltsamen Ausschreitungen der Polizei, bis hin zu einer Serie klassischer Fabrikstreiks im Mai 2010. Ein Jahr später jedoch tritt ein nicht mehr klassischer, neuer Akteur auf. „Then, in May 2011, the Squares came onto the scene, bringing the first signs of a new political culture ...“.146 Schon im Herbst 2011 übernehmen etwa die streikenden Angestellten des öffentlichen Dienstes die Protestformen des besetzten Syntagma-Platzes im Zentrum von Athen.147 Die neuen Formen sind hochkompliziert und fragil. Es sind, wie einige Akteure sagen, „Ökologien“ 148 aus Strukturen gegenseitiger Hilfe, aus Logistiken, aus Vgl. „Arab Spring is not over, but continues in a different way“ (a conversation with Youness Belghazi and Hadeer Elmahdawy), in: Global Activism 2013: 31 – 35, hier 33. 144 Diese geradezu strukturalistische Genese des syrischen Bürgerkriegs: vgl. ebd.. 145 Für eine Echtzeit-Analyse der „Arabellion“ vgl. den mitunter fast täglich aktuellen tazblog von Helmut Hoege: Der Kairo-Virus – Chronik seiner Ausbreitung und Eindämmung Nr. 1 bis 148 vom Februar 2011 bis Mai 2012 (http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2011/02/06/der_kairo-virus/). 146 „Out of the radicalism of syntagma square many things could be born“ (a conversation with Christos Giovannopulos and Antonis Vradis), in: Global Activism 2013: 80 – 85, hier: 81. 147 Vgl. ebd.. 148 „But from the perspective of those who have no part in the given order of political representation it [the Syntagma Square, pb] introduces an ecology of real, militant democracy.“ Oder: „The main assembly was the visible peak of real democracy but real 143

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spezialisierten working groups, Ritualen wie der täglichen, abendlichen Versammlung. Die lokalen Bedingungen sind nicht nur historisch, sondern auch topographisch. Der Syntagma-Platz etwa ist in einen oberen und einen unteren Platz geteilt: Der obere liegt direkt vor dem Parlament, der untere direkt an der U-Bahnstation mit einer langen Reihe von Geschäften und Cafés. Die Besetzung findet am unteren Platz statt, der obere bleibt leer und von der Polizei abgesperrt – Zeichen einer repräsentativen Demokratie, die genau diese Leere vor ihren Toren braucht und schafft. Dagegen: „The lower square was the point that connected Greece to the powerful experiences of the 2011 Arab revolutions. The lower parliament connects Syntagma to this cycle of metropolitan struggles along the common Mediterranean space.“ 149 Gerade weil die politischen Formen der Plätze auf den „Ruinen der Repräsentation“ 150 errichtet sind, entfaltet sich in ihnen eine hohe symbolische Kompetenz, ja eine Art Virtuosität in Produktion und Handhabung von Zeichen, Symbolen, Schriften.151 Das beginnt, ganz nach Alexandre Kojève, mit dem Symbol aller Symbole: der Fahne. Weil auf dem Syntagma-Platz griechische Fahnen wehen, halten Anarchisten und die Kommunistische Partei zunächst von den Aktivitäten großen Abstand, bevor auch ihnen deutlich wird, „how people were re-negotiating symbols“.152 Die Flagge ist nicht mehr das alte Symbol der Nationalstaaaten. Die Platzbesetzer adressieren sich selbst als cockroaches, als Kakerlaken, weil vom ägyptischen Tahrir über den Syntagma-Platz bis zum Istanbuler Gezi-Park Demonstranten durch massiven Einsatz von Gas ausgeräuchert werden sollen.153 Die berühmte Aktionsform The standing man stellt democracy was happening far beyond the assembly itself in the fusion of space and people th[r]ough the metropolitan blockade: a new ecology of metropolitan existence.“ (Dimitris Papadopoulos, Vassilis Tsianos, Margarita Tsomou: „Athens: Metropolitan Blockade – Real Democracy (summer 2011)“, in: global aCtIVISm 2014: 225 – 232, hier: 225 und 229). 149 Ebd.: 225. 150 Ebd.. „The semantic interfaces of the squares were sometimes poetic, sometimes declarative, sometimes threatening.“ (ebd.). 151 Daß dem Global Activism aus diesem Grund ein nicht symbolisches Handeln nur schwer in den Blick kommt und er eben dort seine Grenze hat, wo das Symbolische und seine Verkehrsformen, seine Geschwindigkeiten und Zeiträume auf das nicht Symbolische langer sozialer Prozesse, auf den Aufbruch durch die Sahara bis rund übers Mittelmeer in Wohl und Wehe der europäischen Sozial- und Verwaltungssysteme samt deren konsumistischer Außenseite treffen: dies steht auf einem anderen Blatt. 152 „Out of the radicalism of Syntagma Square ...“ (a.a.O): 83. 153 Zur Ikone wurde das Photo einer Frau im roten Kleid im genauen Moment des Gasangriffs (vgl. global aCtIVISm 2014: 9; und die Bearbeitung des Bildes in: Global Activism 2013: 18). – Mit cockroaches sind „synanthrope Insekten“, wie Biologen sagen, gemeint, die sich zusammen mit warmen menschlichen Wohnungen global über den ganzen Planeten verbreiten und hier aus der Ordnung der Blattodea, Familie der

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das Symbolische selbst in Frage: Nach der Vertreibung aus dem Gezi-Park beginnt der türkische Künstler Erdem Gündüz sich an bestimmten Stellen rund um den Park reglos aufzustellen; ihm folgen mehr und mehr Leute, so daß die Herumstehenden bald zum öffentlichen Manifest werden. Dessen Deutung ist umkämpft. Die Erdogan-Regierung kontert symbolpolitisch: The standing man repräsentiere den Stillstand. Aber in der Praxis der Akteure repräsentiert er am Ende nichts – außer dem Ende der Repräsentation. Der siebenhundertseitige Katalog einer Ausstellung global aCtIVISm. Art and Conflict in the 21st century 2013/2014 dokumentiert diese symbolischen Kompetenzen und die wechselseitige Berührung von Kunst und Aktivismus. Der schon oberflächlich sichtbare Ausdruck ist eine gesteigerte Produktion von Ikonen oder Ikonizität.154 Die schnelle Zirkulation von Bildern produziert ikonisch werdende Bilder. Digitale Bildformate und Komprimierungsalgorithmen, neue Speicherkapazitäten und Verteilungsformen von Bildern unter zwei Milliarden Benutzern von smart objects – der aktuellen Transformation von Turings universaler diskreter Maschine – heizen alle Formen von Bilderzirkulation an. Dem parallel läuft ein Aufblühen kursivster, ephemerster und flüchtigster Schrift-Praktiken in technisch gestützten, sozialen Netzwerken, die über Prozesse positiver Rückkopplung binnen kurzer Zeit unberechenbare Versammlungen zu organisieren vermögen.155 Dieser medientechnischen Beschleunigung stehen in den neuen politischen Bewegungen Formen präsentischer Kommunikation gegenüber. Das Herz der Plätze, „the core of the square life“,156 sind auf dem Syntagma und anderswo die regelmäßig von neun Uhr abends bis genau Mitternacht (wegen der letzten UBahn) stattfindenden Versammlungen. „The main assembly was the visible peak of real democracy“.157 Was dort stattfindet, sind „unmediated processes“.158 Sie haben ihren Grund auch darin, daß technische Medien, traditionell oder smart, leicht zentral auszuschalten sind: ohne Stromversorgung kein Mikrophon und kein Aufladegerät. So entwickeln sich andere Techniken. Berühmt wurde in den Blattidae stammen, mit den beiden Arten der Blatta orientalis, der Küchenschabe oder Kakerlake, und der größeren Periplaneta americana, der Amerikanischen Großschabe. 154 Vgl. die zwei Bildstrecken: Icons of Revolution, die Anfang und Ende des Katalogs der Ausstellung bilden (vgl. global aCtIVISm 2014). 155 Vgl. etwa nur den kurzen Einblick: „Tweets from Tahrir“, in: global aCtIVISm 2014: 420 – 423. 156 „Athens: Metropolitan Blockade ...“ (a.a.O): 229. 157 Ebd.. 158 „Out of the radicalism of Syntagma ...“ (a.a.O.): 82. – Fernsehen ist nur in Form der vom Platz selbst organisierten communications working group zugelassen: eine Form von „non-representational mediatization“ („Athens: Metropolitan Blockade ...“ (a.a.O.: 229)).

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Wochen der New Yorker Occupy Wallstreet Bewegung etwa der „menschliche Verstärker“: Die ersten Reihen einer Versammlung wiederholen gospelartig jeden auf der Bühne ohne Mikrophon gesprochenen Satz.159 Vor allem aber bringt der Zwang zu schnellen und eindeutigen Entscheidungen vor Ort eine neue Sphäre des Symbolischen hervor. Wo Versammlungen zu groß und zu vielfältig wurden, um eine Verteilung der mündlichen Rede nach Zeiten, Rechten, Positionen mittels traditioneller Techniken wie Gesprächsleitung, Wortmeldung, Geschäftsordnung, Podium, Mikrophon zu organisieren, da entwickelte sich eine von hand signals unterstützte Kommunikationsform. Die Signale gehen, einem basalen Zeichensatz folgend, sowohl das Sprechen selbst an, etwa: Want to talk, Direct response, Clarify, Point of Order, Wrap up; als auch die Meinung oder doxa, hier genannt feeling: Agree, Don’t agree, Oppose, Block.160 Die junge Geschichte dieser politischen Handsignale beginnt in Spanien. Während des sogenannten 15-M movement, der Besetzung der Puerta de Sol am 15. Mai 2011,161 wurde zum ersten Mal auf Straßenversammlungen Kommunikation per hand signals gesehen. Sie sind, im Sinne Friedrich Kittlers, „Mißbrauch“: nicht nur von militärischen Zeichensprachen, eingesetzt im Close Range Engagement,162 sondern auch der gestischen Zeichensysteme, die im dichten, lauten Getümmel großer Börsenplätze in Gebrauch sind.163 Gegenwart und Geschichte eben dieser händischen Zeichensysteme wird vom Beitrag der Künsterlin Joulia Strauss für den vorliegenden Band in eine überraschende Perspektive gestellt: Die politischen hand signals seien eine neue, rund ums Mittelmeer entstandene Schrift. Damit ist ihnen eine weit verzweigte Herkunft, Gegenwart und Zukunft eröffnet. Joulia Strauss nimmt seit ihren ersten längeren Aufenthalten 2009/2010 in der griechischen Hauptstadt Athen164 an politischen Bewegungen teil: als Mitinitiatorin von Free Pussy Riot (Rußland), als Unterstützerin von Berlin Refugee Strike, als Mitorganisatorin von Occupy Museums Berlin und Warschau, als Mit-

Die gleiche Taktik findet während einer Besetzung des Berliner Pergamonaltars 2012 Anwendung ( http://joulia-strauss.net/de/2012-occupied-berlin-biennale-7 ). 160 Vgl. den WIKI Eintrag „Occupy Movement Hand Signals“ (zuletzt aufgerufen 25.2.2016). 161 Nach einer großen Demonstration, die auch der desaströsen wirtschaftlichen Lage Spaniens galt. 162 Zum Beispiel: http://www.lefande.com/hands.html . 163 Vgl. etwa das Students Manual des CME Chicago Mercantile Exchange: An Introduction to Futures and Options, Chicago 2006 , S. 100 – 108: The Art of Hand Signals. 164 2009–2010 Residency in mylivingroom (Sotirios Bahtsetzis). Danach Ausstellung in Beton 7: http://joulia-strauss.net/de/2010-welcome-to-the-medirerranean-basin. 159

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kuratorin und Herausgeberin einer Veröffentlichung im Rahmen der Karlsruher Ausstellung global aCtIVISm 165 – um nur einige ihrer politischen Aktivitäten zu nennen. Die in der finno-ugrischen und zur russischen „Föderation“ zählenden Republik Mari El in eine von animistischer Naturreligion geprägte Kultur (der Tscheremissen oder Wiesenmari) geborene Künstlerin hat ihre Anfänge im St. Petersburger Neoakademismus.166 Ihr Studium setzt sie in Berlin bei dem Bildhauer und Maler Georg Baselitz fort und arbeitet seit Ende der 1990er Jahren im Umfeld Friedrich Kittlers, das ist: in der Sphäre eines „Spreeathen“, dessen historisches Denken in Joulia Strauss’ Kunst auf dem state of the art interaktiver, animierter, in drei Dimensionen operierender digitaler Techniken landet.167 Auf der genauen Grenze von Analog und Digital folgt ihr künstlerisches Denken immer wieder zwei herausragenden Sachen: dem Portrait und der Schrift. Das Portrait kann als Büste, als Bild oder Zeichnung erscheinen,168 analog oder digitalisiert sein oder durch eine lange Kette medialer Übersetzungen laufen. Es kann zwei oder drei Dimensionen haben oder sich, etwa im Fall der Remote Mythical Objects (2002),169 in mehrere Medien übertragen: eine Gipsbüste, mittels industrieller 3D-Fräsen hergestellt aus dem digitalen Scan, die Umkleidung der Büste und ihres Gesichts mit einem feinen, analogen Drahtgespinst, Zerschlagung der Gipsbüste und Bearbeitung des freien Geflechts bis zum Zauber eines glitzernden, hyperanalogen, dreidimensionalen Portrait-Mobiles, das in jedem Druck der Luft spielt – bewegliche Mathematik statt Tonnen von Marmor. Das Portrait kann auch in performative, animierte oder andere dingliche Strukturen eingewoben sein.170 Immer aber liegt es in der griechischen Tradition des Heroischen, ob Künstler und Filmemacher von der Neva,171 DJ’s des Berliner TechnoImperiums, Wissenschaftler oder AktivistInnen der Occupy-Bewegung.

Global Activism 2013. Timur Novikovs Neue Akademie der Schönen Künste. 167 Joulia Strauss war von 2000 bis 2005 auch Dozentin an der German Filmschool in Berlin/Wustermark. 168 Siehe etwa: http://joulia-strauss.net/de/1996-portraits-of-rivermen http://joulia-strauss.net/de/1997-twelve-caesars-of-the-techno-empire-2 http://joulia-strauss.net/de/2003-medienspiritismus-videokabinet http://joulia-strauss.net/de/2013-global-activism/ – u.v.a.m.. 169 Siehe: http://joulia-strauss.net/de/2002-remote-mythical-object. 170 Siehe etwa: http://joulia-strauss.net/de/2003-medienspiritismus-videokabinet. 171 Die Rivermen oder rečniki (siehe: http://joulia-strauss.net/de/1996-portraits-of-rivermen/ ). 165 166

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Die Schrift ist in vielfältigsten Formen ein zweites Epizentrum von Strauss’ künstlerischen Unternehmungen. Sie verbündet sich mit dem Portrait, erscheint oft als Handschrift, auf verschiedensten Trägermedien,172 mitunter digital animiert, bis hin zur Schrift am Grund digitaler Bildbearbeitung und ihrer Codes. In einer Werkgruppe, die auch für den vorliegenden Band von Bedeutung ist, steht die musikalische Notation im Mittelpunkt. Auf dem athenischen Schatzhaus in Delphi (128 v. Chr.), wieder ausgegraben Ende des 19. Jahrhunderts, befindet sich eine Schrift eingemeißelt, die 1968 zum ersten Mal von dem Musikarchäologen Egert Pöhlmann vor Ort untersucht wurde.173 In Vokal- und Instrumentalnotation ist dort die seitdem so bezeichnete „Erste Delphische Hymne an Apollon“ aufgeschrieben. Die Hymne greift auf ältere Vorbilder zurück und beinhaltet archaische Bestandteile aus dem fünften Jahrhundert. Mehrere Jahre lang beschäftigt sich Joulia Strauss zusammen mit dem Musikwissenschaftler Martin Carlé174 und dem Literaturwissenschaftler Gerald Wildgruber mit diesen musikalischen Schriften, ihren alphabetischen Zeichen und Sonderzeichen, den notierten Tonarten und Melodien. Die Notationen werden von der Künstlerlin auf vielfache Weise transformiert und ikonographisch, ja mythographisch weiterentwickelt. Ihre „mathematischen Operationstiere“, die sie selbst als Götter anspricht, stehen Hieroglyphen mitunter nicht fern.175 Schließlich beginnt sie, die Notationen auch musikalisch aufzuführen, anhand der von Pöhlmannn (1970) bis Pöhlmann/West (2001) versuchten Transskriptionen.176 Wenn in diversen Performances und ihrer kinematographischen Dokumentierung die Hymne zu einer eigens aus einem Schildkrötenpanzer hergestellten Lyra erklingt,177 geht eine historische Schrift in den präsentischen Raum musikalischer Zeit über. Ein gefilmtes, dreidimensional animiertes und digital bearbeitetes Video 178 versammelt schließlich sämtliche Elemente: den musikalischen Klang, die mythographisch transformierten Tonarten und die immer wieder durchs Bild laufende Siehe etwa: http://joulia-strauss.net/de/2010-aporien-der-liebe. Pöhlmann 1970: 58 – 67. 174 Martin Carlé widmet den altgriechischen Musiknotationen eine demnächst erscheinende, grundlegende Studie (vgl. auch im vorliegenden Band die Respondenz zu Oliver Primavesi ‚Tetraktys und Göttereid‘: Schrift und Zahl der Tetraktys). 175 Siehe: http://joulia-strauss.net/de/2008-cat-notation; und die dreidimensionale Weiterentwicklung, in einer Technik, verwandt den remote mythical objects (s.o.): http://joulia-strauss.net/de/2010-welcome-to-the-medirerranean-basin. Das Becken des Mittelmeers wird von den sich im Kreis folgenden mathematischen Operationstieren gebildet, der Modulationsstruktur der 2. Delphischen Hymne (Ausstellung in Beton7, Athen 2010). 176 Pöhlmann 1970: 58 – 63; und Pöhlmann/West 2001: 62 – 86. Wobei die gespielten, aber neuzeitlich nicht notierten Drittel- und Vierteltöne der Aufführung ihre klingende musikalische Wahrheit sind. 177 Die Lyra wurde zusammen mit Gerald Wildgruber und Martin Carlé entwickelt (s.o.). 178 Siehe: http://joulia-strauss.net/de/2009-first-delphic-hymn-to-apollon. 172 173

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Schrift – sämtlich animiert in einem langen Panormaschwenk rund um die Berglage von Delphi. Eine künstlerische Tradition des 20. Jahrhunderts, die performance,179 trifft damit auf die theoretische Frage nach Schrift und Präsenz. Sie ist auch für das vorliegende Buch entscheidend. Sie wird etwa von Joachim Schaper gestellt, wenn er über die Präsenz der Stimme Gottes und ihrer Schrift im Alten Testament handelt; oder von Barry Powell, der dem griechischen Alphabet als Verschriftlichung des tatsächlich gesungenen Hexameters nachgeht; oder von Peter Weibel, wenn er in der Mediengeschichte der christlichen Religion die Performativität der Schrift freilegt. – Joulia Strauss’ Beitrag für den vorliegenden Band: Den Lauten Stummen besteht aus zwei Teilen: Erstens der piktographischen Spur einer Performance. Auf- und vorgeführt wurde ein von der Künstlerin verfaßter Text, der laut auswendig gesprochen und parallel dazu in Handzeichen übersetzt wurde.180 Die Aufführung eines ganzen Textes in Handgesten entwendet und erweitert das politisch bekannte Repertoire der politischen occupy hand signals: Das Signal wird zur Sprache – ganz nach der Theorie des späten Oswald Spengler, daß es ein entscheidender Moment in der Geschichte der Sprache ist, wenn aus Zuruf, Ruf, Befehl in praktischen Zusammenhängen ein „fließendes Sprechen“ und die „Technik der Satzbildung“ wird.181 Joulia Strauss macht diesen Übergang mithilfe einer durch occupy hand signals verfremdeten Taubstummen-Sprache.182 Für Schrift und Druck der Seiten eines Buchs ist das Video der Performance in eine Auswahl übereinander geblendeter, digital komponierter und modulierter Bilder zerlegt. Daraus entsteht das ABC-Buch einer neuen, unerhörten Sprache des Politischen, von den bisher nicht Gehörten erlernbar und von Taubstummen immer schon gesprochen.183 Die Lyra politisiert sich schließlich: Sie wurde von Frau Strauss wiederholt in Konfrontationen mit der griechischen Polizei eingesetzt, siehe: Joulia Strauss educates Hellenic Police, 2010, http://vimeo.com/12618252. 180 Siehe: http://joulia-strauss.net/de/2014-gods-and-writing-around-the-mediterranean. 181 Spengler 1931: 40 – 44. Mit dieser Technik beginnt nach Spengler die Technik als „Unternehmen“: Kompositbogen, Streitwagen, Schiffsbau. 182 Auf die Frage, welche der vielen Gebärdensprachen sie gebrauche, antwortet die Künstlerin am 16. 02. 2016: „DGS [Deutsche Gebärden-Sprache, pb] mit starkem Acampada-Sol-Dialekt.* Wird in einem selbstentworfenen Anarcho_Syndikat-Kostüm gesprochen und mit Bewegungen aus der elektronischer Tanzmusikszene Berlins ethisch untermalt.“ (* Acampado Sol wurde die auch als M-15 bekannte spanische Protestbewegung genannt: Am 15. Mai 2011 entschlossen sich nach einer großen Demonstration einige Teilnehmer, den zentralen Platz Puerta del Sol in Madrid zu besetzen. In den folgenden Tagen kamen immer mehr Menschen dazu und das Modell der camps verbreitete sich übers ganze Land.) Zu Gegenwart und Geschichte von Taubstummensprachen siehe etwa: Helmut Hoege: http://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2012/10/09/gehorlosen-bzw-gebardensprache. 183 In der Zeit des Stummfilms hatte der ungarische Filmtheoretiker Bela Balászs die Idee, das Kino insgesamt als ein „Lexikon der Gesten“ zu begreifen. 179

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Zweitens besteht der Beitrag aus der Handschrift des vorgeführten Textes, dessen Inhalt selbstreferentiell in eigenen und fremden Worten (Texten von Empedokles, Friedrich Kittler, Peter Weibel, Oliver Primavesi) einen Bogen von den OccupyBewegungen über die elementa, die Buchstaben eines Alphabets, bis zu den mélea, den Gliedern einer Mel-odie oder Körpersprache spannt.184 Die schreibende Hand der Bildhauerin wird so zur Heldin nicht nur einer Hand-Sprache, die Gesten modelliert, sondern einer Hand-Schrift, die Linien moduliert. Alle Schriften der alten Götter rund ums Mittelmeer, denen die Beiträge des vorliegenden Buchs gewidmet sind, liegen vor dem Buchdruck und der digitalen Schrift. So bauen etwa die Argumentationen Oliver Primavesis auf der virtuosen Praxis, mehr als tausend Jahre alte Handschriften oder Fragmente von solchen zu entziffern, zu Versen und Sätzen zusammenzusetzen und sie am Ende nachzuahmen.185 In Joulia Strauss’ Beitrag trifft sich also das Medium der Wissenschaften von den Göttern und ihren ältesten Schriften mit dem künstlerischen Nachdenken über neueste, rund ums Mittelmeer entstandene Schriften. In einer anderen, tieferen Schicht aber rührt Joulias Strauss’ Beitrag an eine anthropologische Wurzel der Schrift, das ist: die Relation von Schrift und Hand, Stimme und Sprache.186 Die Studie über „Hand und Wort“, Le geste et la parole 187 des französischen Paläanthropologen André Leroi-Gourhan folgt dieser Relation zunächst zoogonisch – in einer Entfaltung des empedokleischen Dispositivs, das seit dem 19. Jahrhundert Biologie heißt.188 Zwei Körperglieder, griechisch melea, die vorderen Extremitäten und das Gesicht, spannen als zwei Pole in der Evolution der Wirbeltiere ein Relationsfeld auf. Aus ihm entwickeln sich nach Leroi-Gourhan Sprache, Schrift und Werkzeug alias „Die Technik“. An diesem Feld setzen zwei Serien an, die durch Leroi-Gourhans gesamte Argumentation laufen: 189 A. Hand – Geste – Werkzeug – mythographischer Graphismus, B. Gesicht – Stimme – Sprache – linearer Graphismus.

Die von Strauss verwendete Taubstummensprache stellt selbstreferenziell das Wort „Element“, lateinisch elementum oder Buchstabe, als abgeknicktes Fingerglied dar. 185 Vgl. die Respondenz zu Oliver Primavesi ‚Tetraktys und Göttereid‘. 186 „ ... macht homo sapiens mit der asamblea Körperschrift einen neuen Schritt in seiner Entwicklung“ (aus dem Text des vorliegenden Beitrags Den Lauten Stummen). 187 Leroi-Gourhan 1964/1984. 188 Systematisch und in seiner Systematizität steht Leroi-Gourhans Evolutionsdenken Lamarck und dem berühmten Akademiestreit über die Frage nach der Entwicklung von Bauplänen sehr viel näher als der Evolution der Arten nach Darwin. 189 Band I von 1964 trägt im Französischen den Untertitel: Technique et langage. 184

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Am Ende der ersten Serie steht die Kunst. Am Ende der zweiten Serie steht die alphabetische Schrift. Die Kunst und die alphabetische Schrift sind in LeroiGourhans Denken eng verwandt. Noch vor allen Zeugnissen der Paläoanthropologie beruft sich Leroi-Gourhan dabei auf eine geschichtliche Quelle: den Kirchenvater Gregor von Nyssa (335 bis 395 n. Chr.). In seinen Sermones de creatione hominis ist die Hand einzig um der gesprochenen Sprache willen da. „Wenn der Körper keine Hände besäße, wie sollte sich da in ihm eine artikulierte Stimme bilden?“ 190 Ohne Hände wäre das Gesicht lang vorgestreckt, die Zunge fleischig und schwer, die Lippen würden vorspringen, um, wie bei den Pflanzenfressern, Gras zu fassen und mit vorstehenden Zähnen abzubeißen. Die Menschenaffen „arbeiten“, so Gourhans neuzeitlich-anthropologische Antwort, mit den Lippen, den Zähnen, der Zunge und der Hand gleichzeitig und im Gleichgewicht. Der heutige Mensch dagegen macht mit Lippen, Zähnen, Zunge vor allem eins: Er „spricht“.191 Mit den Händen aber stellen die Anthropoiden, in der Perspektive des 1959 von Mary Leakey entdeckten Zinjanthropus, Werkzeuge her: erst durch einen einfachen senkrechten Schlag auf einen Stein und dann durch tangentiale Schläge entstehen Formen – Chopper, Faustkeil, Hackmesser, Zweiseiter – die in ihrer Häufung nicht mehr dem Zufall geologischer Abbrüche geschuldet sein können.192 Damit scheinen sich die beiden Pole des Relationsfelds zwischen Hand und Gesicht getrennt zu haben: die Hand befreite sich von Gesicht und Mund, wie sie sich von der Fortbewegung befreite. Sie wird frei für Technik. Von der Entwicklung der Hand als einem der Glieder des Körpers aus gedacht wird „die menschliche Technizität eine einfache zoologische Tatsache“.193 Dem anderem Pol: Befreiung von Lippen und Zähnen, Zunge und Stimme zum Sprechen, vielleicht sogar die Parallelität von Werkzeug-Entwicklung und Sprach-Entwicklung,194 wachsen paläoanthropologisch auf direktem Wege keine Gregor von Nyssa: De creatione hominis, Kapitel VIII: Finalité des mains: la parole (zit. in Leroi-Gourhan 1964/1984: 54). 191 Leroi-Gourhan 1964/1984: 149. 192 Vgl. ebd.: 129 – 135. 193 Ebd.: 124. – Die Pflanzenfresser, etwa die Wiederkäuer Kamel, Pferd, Kuh, Rentier, Schaf oder Ziege, stellen die vorderen Extremitäten ganz in den Dienst möglichst schneller, fluchtartiger Fortbewegung. Die von Spengler so fundamental gedeutete Tatsache, daß Pflanzenfresser die Augen an der Seite haben, Raubtiere aber auf ein geschlossenes Sehfeld nach vorn gerichtet sind – „Die Welt als Beute“ vor sich haben (Spengler 1931: 20) – müßte im Horizont von Leroi-Gourhans Relationsfeld neu gedeutet werden: Das Relationsfeld selbst wirkt evolutionär und morphogenetisch. Bei den Vögeln läge das Relationsfeld, in dem ihre ganze Intelligenz haust, dann zwischen den hinteren Extremitäten und dem Gesicht alias Schnabel. 194 Vgl. Leroi-Gourhan 1964/1984: 147 ff.. 190

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Positivitäten zu. Nur die Hand als Instanz der Technik hinterläßt ja materielle Spuren, wie die riesigen Werkzeuglager der Olduvai Schlucht in Tansania bezeugen.195 Die gesprochenen Worte dagegen verwehen. Darum gibt es für die Entwicklung dieses Pols keine Zeugnisse – außer der Entwicklung des Gehirns und seiner Topographie. Aus der Nachbarschaft der Gehirnregionen für Hand und Gesicht zieht Leroi-Gourhan Rückschlüsse auf den Stand der Sprache.196 Dazu kommt eine andere, prinzipielle Erwägung. Der Gebrauch sowohl von Hilfsgeräten als auch Signalen ist bei den Primaten spontan, das ist: an konkrete Situationen gebunden. Das Werkzeug und das Wort dagegen haben sich vom Moment ihrer Verwendung abgelöst. Das gleiche Werkzeug ist in mehreren Situationen verwendbar und erfordert darum sogar eine Art Vorratsbearbeitung oder zweite Ebene der Bearbeitung, das ist: Arbeit am Arbeitsgerät. Im gleichen Sinne ist auch der Übergang vom Signal zum Wort – oder dem, was Spengler die „Wortsprache“ nennt – eine Ablösung von der konkreten Situation, in der ein Laut ergeht. Erst damit tritt das Wort als solches auf. Dieser Übergang vom Lautsignal zum Wort sei, so Leroi-Gourhan, „der Permanenz des Werkzeugs vergleichbar“.197 Das läßt sich fortsetzen: Operationsketten, also ganze Folgen tangentialer Schläge, gehen parallel mit dem Satz als einer Folge von Worten.

In die Parallelisierung und Polarisierung von Hand und Stimme, Wort und Werkzeug tritt jedoch in dem Moment eine Verschiebung, in dem die Hand selbst ebenfalls an „der Herausbildung von Kommunikationssymbolen“ beteiligt ist,198 also graphische Zeichen und Symbole produziert. Heute, so Leroi-Gourhan, „gestikulieren und schreiben“ wir mit den Händen.199 Leroi-Gourhans Nachdenken über die Schrift spannt damit den Bogen von der Paläontologie zur historischen Schriftgeschichte.200 Auch die Schrifttheorie Leroi-Gourhans geht von zwei polaren Prinzipien aus, die auf Hand und Stimme verteilt sind. Die „Koordination der Gesten“ der Hand mündet in graphische Symbolsprachen. Die Höhlenmalereien der paläolithiDie Schlucht ist auch der Fundort des Zinjanthropus. Vgl. ebd.: 110 – 119. 197 Ebd.: 150. 198 Ebd.: 148. 199 Ebd.: 149 (Hervorhebung pb). 200 Gestische Sprachen haben eine Kultur- und Mediengeschichte, die bis in geschichtliche Zeiten reicht, etwa das europäische Mittelalter. Ein Forschungsprojekt Bild Schrift Zahl, das Friedrich Kittler 2006 zusammen mit vier anderen Professoren der HumboldtUniversität zu Berlin mit initiiert hatte, untersuchte etwa – unter Leitung des Mediävisten Horst Wenzel – die Rolle der Hand in der Geschichte des Zählens und Erzählens (vgl. Horst Wenzel: „Von der Gotteshand zum Datenhandschuh. Über den Zusammenhang von Bild, Schrift, Zahl“, in: Bild – Schrift – Zahl, hg. Sibylle Krämer, Horst Bredekamp, München (Fink) 2008, S. 25 – 56: II. Abschnitt: Hand). 195 196

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schen Kunst – ihr hat Leroi-Gourhan große Studien gewidmet – besteht aus Symbolen, an denen nicht ihr Imitationswert entscheidend ist, sondern nur, daß und wie sie sich auf andere Symbole beziehen. Die Symbole stehen in einer „multi-dimensionalen“ räumlichen Anordnung von „Figuren, die zu Gruppen versammelt sind“,201 in einer „strahlenförmigen Organisation“, in Kontiguitäten über-, unter-, nebeneinander. Daraus entstehen keine lineare Schriften, sondern „Mythogramme“. Die „dimensionale Freiheit“ 202 graphischer Gebilde wird zur Bestimmung des Mythischen überhaupt. Der praktische Pol solch multidimensionaler Graphismen ist die Hand, die gleiche, die das Werkzeug zurichtet und handhabt. Sie eröffnet allgemein den Horizont eines „kosmischen Symbolismus“ mit einer Tendenz zu magischen, religiösen Vorstellungswelten.203 In einer menschheits-geschichtlich langen Perspektive folge daraus auch, „daß die bildende Kunst an ihrem Ursprung unmittelbar mit der Sprache verbunden ist und der Schrift im weitesten Sinne sehr viel näher steht als dem Kunst[objekt].“ 204 Dagegen steht der andere Pol: die Stimme, mit ihrer Tendenz zur Aufreihung oder Reihe im Nacheinander der ersten Dimension, nach der griechischen Urbedeutung von stoicheion.205 Jede Linearität ist nach Leroi-Gourhan von der Stimme abhängig, von der „Intervention des phonetischen Phänomens“.206 Selbst die Anordnung piktographischer Zeichen in einer Reihe, oft als Ursprung der Schrift genommen, sei ohne die Stimme und das Nacheinander der ersten Dimension nicht denkbar.207 Die Alphabetschriften – etwa die „phönizische um 1200 von unserer Zeit, und schließlich das griechische Alphabet des 8. Jahrhunderts vor Christus“ 208 – seien der erfolgreichste Ausdruck dieser Linearisierung: Stimme und Graphismus gehen auf im Regime der Linearisierung.209 Leroi-Gourhan 1964/1984: 256. Ebd.: 246. 203 Ebd.: 247. Vgl. auch Leroi-Gourhan: Les religions de la préhistoire paléolithique, Paris 1964, erschienen also im gleichen Jahr wie Hand und Wort. 204 Ebd.: 240. Die Übersetzung „Kunstwerk“ für oeuvre d'art ist in diesem Zusammenhang eher irreführend. 205 Vgl. im vorliegenden Band auch die Respondenz zu Oliver Primavesi ‚Tetraktys und Göttereid’: Schrift und Zahl der Tetraktys. 206 Leroi-Gourhan 1964/1984: 253. 207 Vgl. ebd.: 252 f.. 208 Ebd: 261. 209 Marshall McLuhan wird diese extreme Sicht erst mit dem Buchdruck einsetzen lassen. Außerdem steht nach Leroi-Gourhan überall, wo Symbole sich vereinfachen und linearisieren, vor dem Text die „Aufzählung von Lebewesen und Gegenständen“ (ebd.: 253). Die Linearisierung der Symbole gehe in Babylon, bei den Sumerern und Chinesen in ein „elementares Rechnen“ über, in „die Strenge des Rechnens“ (ebd.), die ihren Ort vor allem im Milieu des „bäuerlichen Seßhaftwerdens“ habe (ebd.: 263 f.). 201 202

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Auch andere historische Schriften, etwa die chinesische Schrift 210 oder die ägyptische Hieroglyphen-Schrift, seien nicht als Aneinander-Reihung von Piktogrammen zu verstehen, sondern als „phonetisierte Mythogramme“.211 Die Stimme transformiert die Welt der Hand. Graphische Bildsymbole – wie Horus, Falke, Sonne, die Ludwig Morenz in seinem Beitrag über die Entwicklung ägyptischer Gotteszeichen analysiert – reihen sich, so Leroi-Goruhan, erst unter dem Einfluß der Stimme und wenn sie sich auf das gesprochene Wort beziehen zu einer linearen Folge aneinander. Sie behalten trotzdem einen Doppelcharakter und stehen auf der Grenze von mythographischer Hand und linearisierender Stimme. In der Spannung des Relationsfelds von Hand und Stimme, bevor „der technische Utilitarismus in einer vollständig kanalisierten Schrift das Mittel einer unbegrenzten Entwicklung fand“,212 entsteht ein Überschuß. Schriften vor den gänzlich, bis zu den Vokalen alphabetisierten verleihen dem Denken eine Art „Halo“ und generieren ein prälogisches, strahlenförmiges Denken mit einem „eigentümlichen Charakter“. „Die Geste interpretiert das Wort, und dieses wiederum kommentiert den Graphismus.“213 Leroi-Gourhan verdeutlicht das einmal auch an zwei Varianten der chinesischen Schrift. Das chinesische Zeichen für Frieden kann entweder aus zwei Zeichen bestehen, transkribiert als ngan (Friede) gefolgt von kià (Familie). Es wird dann als linear geschriebenes Wort aufgefaßt. Oder die Vorstellung Frieden wird als Frau unter einem Dach symbolisiert. Die Familie ist dann dieses zeichenhafte Dach, unter dem außerdem auch noch ein Schwein sitzen kann. Hier wird nicht nur ein Wort geschrieben, sondern „die ganze techno-ökonomische Struktur des archaischen China im Hintergrund“ aufgerufen (ebd.: 257). 211 Ebd.: 254. 212 Ebd.: 265. 213 Ebd.: 262. – Noch radikaler charakterisiert er das „prälogische Denken“ so: „Die freie Koordination zwischen der gesprochenen Sprache und den graphischen Abbildungen bildet mit Sicherheit eine der Quellen dieses Denkens, dessen raum-zeitliche Organisation von der unsrigen verschieden ist und eine permanente Kontinuität zwischen dem denkenden Subjekt und der Umwelt impliziert, auf die sich das Denken bezieht. / Die Diskontinuität taucht erst mit dem bäuerlichen Seßhaftwerden und den ersten Schriften auf. Die Grundlage bildet die Schaffung eines kosmischen Bildes, dessen Angelpunkt die Stadt ist.“ (ebd.: 263). Wie die Suche nach dem prälogischen Denken Ethnologie, Philosophie und Mathematik der 1950er und 1960er Jahre durchzieht, vgl. die Studie von Erich Hörl: Die heiligen Kanäle. Über die archaische Illusion der Kommunikation, Zürich-Berlin 2005. (Leroi-Gourhan wird darin allerdings nicht erwähnt.) Vielleicht aber ließen sich auch in den historischen Schriftpraktiken der Literatur solche prälogischen Elemente finden. Man denke etwa an die Praxis Friedrich Hölderlins, Schrift simultan in der Fläche auszubreiten, in graphischen Nachbarschaften handgeschrieben übers Blatt verteilter Worte, und nicht in Linearitäten. Diese Praxis, die der Baseler Literaturwissenschaftler Gerald Wildgruber als grundlegend für das Verständnis von Hölderlins dichterischem Duktus hält, ließe sich also auch mit Leroi-Gourhan verorten: eine mythographische Gegentendenz zur linearen Schrift, eine Spannung, aus der die dichterische Sprache schöpft. 210

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Joulia Strauss experimentiert in ihrem Beitrag Den Lauten Stummen für den vorliegenden Band mit diesen vorgeschichtlichen und geschichtlichen Schichten der Schrift. Sie erschließt, erfindet, erlernt damit zugleich ein Feld neuer künstlerischer Praktiken. Zwischen analoger Stimme, gestischen und digitalen 214 Schriften entsteht ein Überschuß. Er und seine Referenzen auf die ältesten und die neuesten Zeiten der Schrift sollen am Ende dieses Buches Götter und Schriften rund ums Mittelmeer stehen.

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Digital: von lateinisch digiti, die Finger der Hand.

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DIE ZEHN BEITRÄGE

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EINFÜHRUNGEN

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DIE ZEHN BEITRÄGE

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EINFÜHRUNGEN

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EINFÜHRUNGEN

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EINFÜHRUNGEN

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Ludwig D. Morenz

VON GOTTES-WORTEN UND GÖTTER-ZEICHEN Zur kulturpoetischen Balance von Figurativität und Ikonizität in der frühen ägyptischen Hieroglyphenschrift.1 I. Einleitung Die ägyptische Hieroglyphenschrift ist durch eine ausgesprochen hohe Figurativität der Zeichen charakterisiert, doch wurde daneben immer auch eine sehr viel stärker kursive Schreibform praktiziert, das Hieratische (Fig. 1a und b).2

Fig. 1a und b: Beispiele für Hieroglyphenschrift (Grabrelief aus dem Grab des Chnum-hotep, V. Dynastie, Bonn, BoS 118) und hieratische Schrift (Topfaufschrift; das Gefäß diente als Grabbeigabe in der Elite-Nekropole von Elephantine, VI. Dynastie, Bonn, BoS QH 109/370).

1

2

Friedrich Kittler gehörte zu den Forschern mit bewundernswert breitem Horizont, dem Mut zu hoher Eigensinnigkeit und der intellektuell-poetischen Kraft zu dezidierten Meinungen. Gerne hätte ich auf dem Karlsruher Kolloquium von ihm gelernt und, selbstverständlich, auch mit ihm gestritten. Dazu kommt von der XXVI. Dynastie an als zweite Kursivschrift auch noch das Demotische, vgl. Mark Depauw: A Companion to Demotic Studies (Papyrologica Bruxellensia 28), Brüssel 1998.

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LUDWIG D. MORENZ

Diese bigraphische Situation des Nebeneinandergebrauchs von bildhaft-monumentalen Hieroglyphen und bildreduziert-administrativen Kursivschriften wirkte mehr oder weniger von den Anfängen in der zweiten Hälfte des 4. Jt. v.Chr. über 3000 Jahre in der ägyptischen Schriftgeschichte. Hinsichtlich ihrer Ikonizität aber wurden diese äußerlich so unterschiedlich aussehenden Schriftweisen völlig gleichwertig und systematisch gleichartig nebeneinander gebraucht, und sie sind tatsächlich (bis auf nur ganz wenige Ausnahmen) direkt ineinander überführbar. Im hier gebrauchten Begriffspaar bezeichnet Ikonizität die innere Form und Figurativität die äußere Form der Zeichen. Genau wie die mesopotamische Keilschrift oder die mesoamerikanischen Maya-Glyphen kann das über 3000 Jahre zwar mit verschiedensten Reformen und Akzentsetzungen aber in seiner Grundtendenz gleichartig praktizierte altägyptische Schriftsystem typologisch als ein phono-semantisches Hybrid verstanden werden. Hier wurden sowohl Phonogramme (insbesondere Ein- und Zweikonsonantenzeichen) als auch Semogramme (insbesondere Ideogramme und Determinative) nebeneinander und im Zusammenspiel miteinander verwendet.3 Für eine Diskussion um Medialität und Mentalität und die vorgebliche Domestication of the Savage Mind (Jack Goody 1977) ist zu beachten, dass mit diesem phono-semantischen, hybriden Schriftsystem im Niltal alle möglichen Textarten von Briefen, Listen, Abrechnungen, etc. über Hymnen und Gebete, literarisch-narrative Texte, wissenschaftliche Texte (von Medizin bis Mathematik) bis hin zu Liebesdichtung fixiert wurden. Bei Bedarf wurden etwa zur Fixierung der Lautung fremdsprachlicher Namen auch Vokale indiziert bzw. fixiert,4 doch stand diese Möglichkeit nicht im Zentrum der Schrift. Die agency des ägyptischen Schriftsystems war bemerkenswert komplex und lässt sich nicht einfach gegen die phonozentrische Alphabetschrift kontrastiert erfassen, so nahe diese Differenz und Differenzierung auf den ersten Blick auch zu liegen scheint.

3

4

Vgl. Wolfgang Schenkel: Die hieroglyphische Schriftlehre und die Realität der hieroglyphischen Graphie, Stuttgart und Leipzig 2003; Pascal Vernus: „Idéogramme et phonogramme à l’épreuve de la figurativité: les intermittences de l’homophonie“, in: Lucia Morra, Carla Bazzanella (Hg.): Philosophers and Hieroglyphs, Turin 2003, S. 196-218. Vgl. den Überblick bei Wolfgang Schenkel: „Syllabische Schreibung“, in: Lexikon der Ägyptologie, Band 6, Wiesbaden 1985, Kolumne 114-122.

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Ein frühes kulturelles Feld des Schriftgebrauchs war im Niltal das sakrale.5 Dazu gehört nicht zuletzt die Schreibung von Götternamen. Dabei und darin zeigen sich medien- und mentalitätsgeschichtliche Entwicklungen paradigmatisch. Mit zwei Fallstudien soll im Folgenden eine Scharnierzeit der ägyptischen Schriftgeschichte in den Blick genommen werden, das spätere 4. und das frühe 3. Jt. v.Chr..6 Dabei werde ich besonders im zweiten Abschnitt spezifischer ägyptologisch argumentieren, doch sollten die dafür vorausgesetzten Informationen je nach Bedarf und Interesse leicht zu beschaffen sein. Vorstellungen und Denkräume, Diskurse und Brüche in Diskursen sind teilweise als Spuren in den Hieroglyphen selbst und im Zeichengebrauch abgelagert. Dabei erscheint die dezidiert poetische und metaphorische Dimension der Schrift7 als differentia specifica der phono-semantischen Hybride im Unterschied zur phonozentrischen Alphabetschrift. Allerdings ist dies nur eine Grundtendenz, denn auch in der Alphabetschrift schlummert ein ikonisches Rezidiv (von Mallarmé bis Morgenstern), während umgekehrt mit phono-semantischen Hybriden auch phono-logisch geschrieben werden konnte und wurde.

II. Varianten des Götterkonzepts im Spiegel der Zeichenformen Das ägyptische Gotteskonzept ist keineswegs einfach zu fassen, und selbst der sprachliche Begriff nTr (herkömmliche Wörterbuchbedeutung eben „Gott“) ist alles andere als einfach zu erklären. Wenn uns die Analyse des Lautkörpers

5

6

7

Ludwig Morenz: Kultur- und mediengeschichtliche Essays zu einer Archäologie der Schrift (THOT. Beiträge zur historischen Epistemologie und Medienarchäologie, Band 4), Berlin 2013. Ders.: „Die Systematisierung der ägyptischen Schrift im frühen 3. Jahrtausend v.Chr. Eine kultur- und schriftgeschichtliche Rekonstruktion“, in: L. Morenz, R. Kuhn (Hg.): Vorspann oder formative Phase? : Ägypten und der Vordere Orient 3500 – 2700 v. Chr. (Philippika. Marburger altertumskundliche Abhandlungen, Band 48), Wiesbaden 2009, S. 19-47. Eine besondere Steigerung erfuhren diese Dimensionen in der Visuellen Poesie, vgl. Ludwig Morenz: Sinn und Spiel der Zeichen. Visuelle Poesie im Alten Ägypten (Pictura et Poiesis. Interdisziplinäre Studien zum Verhältnis von Literatur und Kunst, Band 21), Köln 2008.

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so große – und tatsächlich bisher noch ungelöste8 – Schwierigkeiten bereitet, können wir auf das Schrift-Bild als einer anderen Informationsquelle blicken. Tatsächlich finden wir durch die Analyse des Schrift-Bilds zumindest eine erste Hilfe bei der Kategorisierung in der Schrift. Denn hier haben bestimmte Vorstellungen buchstäblich Gestalt angenommen. Im Schriftsystem werden nämlich in den verschiedenen Schreibweisen von nTr drei verschiedene Kategorien von Göttlichkeit und/oder göttlicher Erscheinung unterschieden (Fig. 2). Sakral-Marker Anthropomorph Therimorph Fig. 2: Hieroglyphische Zeichen für GOTT.

Diese Zeichen wurden sämtlich seit der frühdynastischen Zeit und dem Alten Reich gebraucht, also vom frühen dritten Jahrtausend vor Christus an. Dabei kann noch genauer differenziert werden. Die anthropomorphen Zeichen sind jedenfalls nach der bisherigen Quellenlage erst seit dem Alten Reich belegt, während die beiden anderen Typen schon in der proto- und frühdynastischen Zeit verwendet wurden.9 Dabei könnte das Zeichen Falke auf Standarte zwar in der Tradition der älteren Negade-zeitlichen Standarten stehen – zu denen eben auch der Falke auf Standarte gehörte –, doch ist er meines Erachtens in dieser hieroglyphischen Verwendung als Teil des Gedankenpaars FALKE = Gott, SCHLANGE = Göttin zu verstehen. Zu diesen drei Zeichentypen kam dann im Neuen Reich ein weiteres Zeichen, der STERN – . Zwar war die Vorstellung von Göttern als Sternen schon weit älter, doch ist diese Hieroglyphe als spezifische Schreibung für nTr bisher seit 8

9

Diskussion bei Wolfhart Westendorf: Das Aufkommen der Gottesvorstellung im Alten Ägypten (Nachrichten der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, PhilologischHistorische Klasse, 1985, 2), Göttingen 1985. Der von Westendorf vorgeschlagene Anschluss an die semitische Wurzel nkr – „verhüllen“ u.ä. – ist zumindest attraktiv, wenn auch nicht sicher zu erweisen. Racheli Shalomi-Hen: Writing of the Gods. The Evolution of Divine Classifiers in the Old Kingdom, Wiesbaden 2006.

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Ramses II. belegt.10 Die Ptolemäerzeit mit der enormen Expansion des Zeichenund Bedeutungsrepertoires in der Hieroglyphenschrift11 brachte dann auch zwei weitere ikonisch signifikante Schreibweisen des Begriffes nTr hervor: Schakal auf Standarte

Konzept der Liminalität

Raubkatzen-Hinterteil

abzuleiten von einer traditionellen Schreibung des Wortes Hq3 – „Zauber“

Der Blick auf die elementaren ägyptischen Schreibtraditionen gibt uns also durchaus einen gewissen Aufschluss über bestimmte ägyptische Konzeptionen von nTr. Dieser Bezugsrahmen hat auch den Vorteil einer emischen Kategorisierung. Die Breite des Zeichenspektrums zeigt uns, daß die Ägypter sich auf verschiedenen Weisen und Wegen den Vorstellungen über Göttlichkeit und Götter annäherten und dies auch im Schrift-Bild ausdrückten.

III. Von Horus zu Re. Eine frühe Entmythologisierung des Sonnengottes im Spiegel der Zeichen Die gedankliche, emotionale, erzählerische und darstellerische Auseinandersetzung mit der Sonne war ein Kernthema der ägyptischen Religion und prägte die Königsideologie und darüber hinaus die Kultur überhaupt ganz wesentlich.12 Tatsächlich war, wie bekannt, der Sonnenkult in vielen Kulturen prominent. Ein kurzer kulturvergleichender Blick auf den Vorderen Orient zeigt, dass dort die Sonne zwar im religiösen System auch sehr wichtig, aber längst nicht so zentral war wie in Ägypten. Dem sumerischen Sonnengott UTU entspricht der akkadische Schamasch. Aus der Hebräischen Bibel können wir etwa auf die Schilderung der Weltschöpfung in Gen. I, 1,14-18 hinweisen. Hier werden Sonne und Mond als „Lampen“ geschildert, die Gott am Himmel aufgehängt habe. Darin steckt offensichtlich eine implizite Polemik gegen die bekannten orientalischen 10 11 12

Vgl. Morenz: „Sinn und Spiel der Zeichen“. Zusammenstellung in François Daumas et alii: Valeurs des signes hiéroglyphiques d‘époque gréco-romaine, Montpellier 1988-1995. Stephen Quirke: The Cult of Ra. Sun-worship in Ancient Egypt, London 2001.

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Gestirngötter – aber trotzdem trägt auch Jahwe bestimmte solare Züge.13 Weiterhin genüge hier nur ein stichwortartiger Hinweis auf den antiken Sol invictus, die japanische Sonnengöttin Amaterasu oder auch die hethitische Sonnengöttin von Arinna. Im pharaonischen Ägypten war der Sonnenkult eng mit der Vorstellung und der Inszenierung von Herrschaft verbunden. So galt die Sonne als der kulturelle Prototyp von Herrschaft, und zwar in Form der Parallele Kosmische Sonne = Herrscher als irdische Sonne. In einem weiteren Sinn können wir an die allgemeinere Dichotomie nTr a3 („großer Gott“) versus nTr nfr („junger/präsenter Gott“) denken. Zwar muß nTr a3 („großer Gott“) keineswegs immer der Sonnengott sein, sondern diese Rolle kann auch von anderen hohen Göttern ausgefüllt werden, aber er ist doch ein vorzüglicher Repräsentant dieser Rolle. Demgegenüber und in Bezug darauf bezeichnet nTr nfr den König. Die ägyptischen Könige wurden seit der IV. Dynastie als „Sohn des Re“ bezeichnet. Diese familiäre Formulierung wurde zwar in einer bestimmten historischen Situation neu eingeführt, doch das hiermit ausgedrückte Konzept der paternalistischen Beziehung vom Sonnengott zum König ist weit älter. Der ägyptische Name des Sonnengottes ist bekannt als Re. Auffällig und bemerkenswert ist der gleiche Name von Sonnengottheit (Ra) und Sonnenkörper (ra). Ebenfalls bemerkenswert ist, dass dieser Name der Sonnengottheit anscheinend erst ab der II. Dynastie belegt ist, dann allerdings mit Wucht: im Königsnamen Nb(=j)-Ra. Im Blick auf die Schreibkonvention, Semantik und Grammatik bestehen zunächst einmal die folgenden Interpretationsmöglichkeiten dieses Namens: Jede Sonne (ra nb) Jeder Tag (hrw nb) Re ist der Herr (nb ra) Re ist mein Herr (nb=j ra)

Wie bereits in der älteren Forschung angesetzt und dann in letzter Zeit gelegentlich zurückgewiesen, scheint mir die programmatische Aussage „Re ist mein Herr“ doch plausibel und soll im Folgenden genauer begründet werden.

13

Hier genüge ein Hinweis auf das Motiv der Hilfe Gottes am Morgen, vgl. Bernd Janowski: Rettungsgewißheit und Epiphanie des Heils. Das Motiv der Hilfe Gottes „am Morgen“ im Alten Orient und im Alten Testament, Neukirchen-Vluyn 1989.

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Im Sinne von „Re ist mein Herr“ (nb=j ra), „Ra is my lord“, argumentierte zuletzt auch Jochem Kahl. Dies verband Kahl mit der These von einem neuen Staats-Paradigma der II. Dynastie.14 Als Kern dessen setzte er einen Rückgang der Göttlichkeit des Königs durch Subordinierung unter einen Gott, insbesondere den Sonnengott an. Ein Problem bei solchen Rekonstruktionen mentalitätsgeschichtlicher Vorgänge ist die relativ dünne und zudem thematisch sehr eingeschränkte Quellenlage. Sie erscheint mir in diesem Fall aber keineswegs hoffnungslos. Dabei soll hier eine andere Erklärung der mutmaßlich programmatischen Aussage des Königsnamens „Re ist mein Herr“ (nb=j ra) vorgebracht werden. Sicher, und ganz im Einklang mit Kahl, waren Theo-Politik und Königsideologie ein ausgesprochen dynamisches Feld. Die hier zu beobachtenden oder manchmal auch nur zu vermutenden Wandlungen können historisch und diskursgeschichtlich zu verorten versucht werden. Gegen Kahls Ansatz einer Subordinierung des Königs unter den Sonnengott in der II. Dynastie als einer Minderung eines älteren, noch absoluteren herrscherlichen Machtanspruchs ist darauf hinzuweisen, dass schon König Nar-me(he)r am Ende des 4. Jt. v.Chr. durchaus nicht absolut autonom als irdische Verkörperung der Götter agierte. Vielmehr lag bereits bei ihm eine komplexe Beziehung des Königs zu dem solaren Falkengott Horus als Garanten und göttlichem Prototyp der herrscherlichen Macht und Autorität zu Grunde. Wir können dies als das Konzept des „doppelten Horus“ fassen, wie es in der Residenzstadt Hierakonpolis in Kraft war. Dies wurde, zu eindrucksvoller Bild-Schriftlichkeit verdichtet, auf der Prunk-Palette des Königs Nar-me(he)r dargestellt (Fig. 3). Der göttliche Horus am Himmel kann als ein Sonnengott gefasst werden, während der menschliche Horus auf Erden eben der König war.

14

Jochem Kahl: Ra is my Lord. Searching for the Rise of the Sun God at the Dawn of Egyptian History, Wiesbaden 2007, S. 61-63.

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König

Gott

Horus Fig. 3: Der doppelte Horus: König als irdischer Horus und der Falkengott von Hierakonpolis als himmlischer Horus.

Tatsächlich war dieser Horus von Hierakonpolis jedenfalls nicht einfach allgemein ein Himmelsgott, sondern genauer: ein Gott am Himmel. Auch dafür liefert bereits die Nar-me(he)r-Palette Indizien. Himmelsgottheit war hier nämlich offenbar die Himmelskuh mit Sternen. Dies zeigt neben dem oberen Rand der Palette mit den vier plastischen Kuhköpfen (auf Vorder- und Rückseite je zwei) und dem gesamten Palettenumriss, eben in Form eines Kuhkopfes, auch noch der Schurz des Königs mit wiederum vier Kuhköpfen.15

15

A.d.Hg.: Für eine photographische Abbildung von Vorder- und Rückseite der gesamten Palette, mit Umriß und Kuhköpfen, vgl. etwa den Wikipedia-Artikel „Narmer“ (Nar-me(he)r), http://de.wikipedia.org/wiki/Narmer#mediaviewer/File:NarmerPalletteBack.jpg und: … NarmerPallette-Front.jpg (aufgerufen am 12.10.2014). Die Kuhköpfe des Schurzes befinden sich jeweils am Ansatz der vier herabhängenden Bänder der Königsgestalt in Fig. 3. – Ausführliche Diskussion in: Ludwig Morenz: „Anfänge der ägyptischen Kunst. Eine Einführung in ägyptologische Bildanthropologie“ (OBO 264, Freiburg und Göttingen 2014, 112–120).

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Der Falke war dagegen spezifischer von solarer Natur, wie dies der Schurz des Königs auf der anderen Seite der Palette zeigt (Fig. 4). Fig. 4a und b: Abbildung des Königs, Vorderseite der Nar-me(he)r-Palette, und Detail (rechte Hälfte des zweiteiligen Schurzes): Der Falke mit Sonnenscheibe im Rücken.

Der (Horus-)Falke ist hier nämlich mit Sonnenscheibe im Nacken dargestellt, als kleiner Kreis über dem Falken. Dieses solare Motiv wurde dann in der Jahrzehnte und Jahrhunderte späteren ägyptischen Tradition reinterpretiert und zwar als Schwalbe + Sonnenscheibe (belegt über beinahe 3000 Jahre, vom Alten Reich bis in die Römerzeit).16 Der solare (Horus-)Falke am Schurz des Nar-me(he)r ist nun keineswegs ein singuläres Phänomen, sondern er findet in dieser Zeit Parallelen. Eben dies stärkt die hier vorgeschlagene Deutung. So zeigt der Siegelzylinder von diesem König Nar-me(he)r sowohl einen Himmels-Geier als auch einen Sonnen-(Horus-)Falken (Fig. 5). Fig. 5) Siegelzylinder von König Nar-me(he)r

Eine Deutung des (Horus-)Falken nur als Himmelsfalke wäre in diesen Fällen eigenartig, weil der Himmel hier ja bereits durch den Geier – die traditionelle ägyptische Himmels-Therimorphisierung – verkörpert ist. Auch von daher steht die spezifischere Rolle des (Horus-)Falken als einer Bildgestalt des Sonnengottes im frühägyptischen theologischen Denken zu erwarten. Für die frühe frühdynastische Zeit Ägyptens können wir also eine hohe Bedeutung des solaren (Horus-)Falken konstatieren, und diese war eng mit der frühen Residenz Hierakonpolis verbunden. Dann erfolgte bereits in der II. Dynastie ein Rückgang der solaren Natur des (Horus-)Falken zu Gunsten von Re. Wenn die solare Natur des (Horus-)Falken auch im Lauf der Zeit zurückgegangen war, 16

Alfred Grimm: „Das Königsornat mit dem Sonnenvogel. Zu s(j)3t und db3 als Bezeichnungen königlicher Trachtelemente“, in: Göttinger Miszellen. Beiträge zur ägyptologischen Diskussion, Nr. 115, 1990, S. 33-44.

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blieb sie trotzdem noch in Elementen wie dem von den Ägyptern selbst so genannten Gold-Horus-Titel der Könige präsent, zumindest untergründig.17 Die Vorstellung vom Gold-Falken erweckt Sonnenassoziationen, was zugleich auch die Verbindung von Horus mit Sternen nicht ausschließt. Die hier fassbare gewisse De-Solarisierung des (Horus-)Falken ist religionsund diskursgeschichtlich bemerkenswert und dürfte in der II. Dynastie ihren historischen Entwicklungsgrund haben. Wir können nämlich für diese Zeit die Konzeption einer neuen Sonnengottheit fassen, die eben wie das Gestirn „Re“ hieß. Der Weg ging in einer Art Entmythologisierung (Rudolf Bultmann) der Sakralmetaphorik von einer zunächst starken Bildmetaphorik solarer Falke hin zur Sonnenscheibe. Ein Musterbeispiel für die Sonnenscheibe als zwischen Bild und Schrift oszillierendem Zeichen des Sonnengottes bietet eines der Holzpanele aus dem Grab des Hesi-Re aus der frühen III. Dynastie. Hier hält dieser Elite-Beamte in einem Bild-Wort-Spiel mit seinem eigenen Namen eine Hes-Vase und eben eine kleine „Scheibe“ als Sonnen-Zeichen (Fig. 6).18 Fig. 6: Hesi-Re hält die Bild-Zeichen seines Eigennamens (hes-Vase und re-Scheibe).

In dieser spielerischen Schreibung des Namens Hesi-Re mit hes-Vase und re-Scheibe steht die kleine Scheibe in erster Übertragung als Zeichen für die Sonnenscheibe und in einer zweiten Übertragung diese wiederum für den Sonnengott. Von der II. Dynastie an wurde also nicht der Falke, sondern der Sonnenkörper, die Scheibe, als Zeichen des Sonnengottes in Szene gesetzt. Zu den historischen Hintergründen dieser Entwicklung gehört, daß Hierakonpolis in der II. Dynastie nicht mehr als ägyptische Haupt-Residenz fungierte. In diesem Rahmen können wir auch den Aufbau eines neuen Sakralzentrums im Norden mit einem spezifischen eigenen Gott, der doch zugleich in einer langen Traditionskette stand, verstehen. Zu den möglichen Verbindungen gehört, dass Ra-neb(i) - „Re ist mein Herr“ – eben als Horus(!)-Name dieses Herrschers diente. So ist der neue Gott Re mit dem alten Gott Horus verbunden, und im königlichen Namen steckt ein programmatisches Bekenntnis. 17 18

Simon Schweitzer: „Zur Lesung von [G5] in den Goldnamen des Alten Reiches“, in: Göttinger Miszellen. Beiträge zur ägyptologischen Diskussion, Nr. 201, 2004, S. 91-94. Diskussion in Morenz: „Sinn und Spiel der Zeichen“.

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In einer weiter gehenden These könnten wir annehmen, dass das theologische Sonnen-Zentrum Heliopolis eben unter dem König mit dem programmatischen Namen Ra-neb(i) – „Re ist (mein) Herr“ - aufgebaut wurde. Ein spezifischer Gründungsakt ist dabei durchaus wahrscheinlich. Dass dies archäologisch für diese frühe Zeit noch nicht belegt ist, könnte durchaus an einem Überlieferungszufall liegen. Der Gott „Re“ war trotz seiner namentlichen Nähe zum Sonnengestirn jedoch nicht abstrakt, sondern mythologisiert, und übernahm dabei Aspekte von Horus. Dazu gehört die Verbindung mit der Göttin Hathor als seinem weiblichen Pendant.19 Wir kennen keine frühen bildlichen Darstellungen von Re, was in diesem Fall womöglich nicht nur eine Frage des Überlieferungszufalls ist. Wurde dieser Gott vielleicht erst ab der V. Dynastie in anthropomorpher Form dargestellt? Wichtige ikonographische Quellen für frühe Re-Darstellungen sind die Rollsiegel der Könige der V. Dynastie, die als Söhne von Re und Hathor in Szene gesetzt wurden (Fig. 7).20

Fig. 7: Ausschnitte von königlichen Rollsiegeln der V. Dynastie, Götterpaar Re und Hathor, die gemeinsam das Macht-Szepter halten.

Das Götterpaar Re und Hathor (Altes Reich) ist demnach plausibel als ein Nachfolger des Götterpaares Horus und Hathor aus der proto- und frühdynastischen Zeit. Dabei finden die kleinen, aber symbolisch dichten Siegelbilder eine monumentale archäologische Entsprechung in den Sonnenheiligtümern der V. Dynastie. Zudem können wir an den königlichen Geburtszyklus denken, den wir etwa aus dem Karnak-Tempel von Hatschepsut oder in literarischer Schilderung aus dem Papyrus Westcar (Papyrus Berlin P 3033) kennen und nunmehr durch Ausgra19 20

Re und Hathor bildeten keine klassische Triade Vater-Mutter-Kind. Die Kind-Rolle erfüllt in dieser göttlichen Konstellation der König-Vater. Vgl. Peter Kaplony: Die Rollsiegel des Alten Reiches I, Brüssel 1977; ders.: Die Rollsiegel des Alten Reiches II, Brüssel 1981.

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bungen des Metropolitan Museums in Dahschur 21 auch archäologisch bis in das Mittlere Reich verfolgen können. Wann wurde die himmlische Hathor durch irdische Frauen, die die Rolle der himmlischen Hathor spielen, ersetzt oder zum Teil ersetzt? Weiterhin fragt sich, ob wir die etwa auf den Rollsiegeln der V. Dynastie belegte Darstellung von Re als falkenköpfigem Menschen als Survival einer Hierakonpolis-Vorstellung ansehen können oder darin eine unabhängige Neuschöpfung sehen sollten?

IV. Coda Die Religionsgeschichte, die Metaphorik und die Entwicklung von Zeichenkonzepten erweisen sich im Blick auf die frühen ägyptischen Konzeptionen des Sonnengottes und ihre Materialisierung in Bild und Schrift als sehr eng miteinander verzahnt. Die Schrift hatte in der ägyptischen Hohen Kultur ein hohes kulturpoetisches Potential und entfaltete eine starke agency. Ikonographie und Schrift als Medien der Religion erweisen sich im Niltal des 4. und frühen 3. Jahrtausends vor Christus ausgesprochen eng miteinander verbunden. Hinzu kommen die sozioökonomischen Bedingungen. Diese Zeit von hoher kultureller Dynamik war die formative Phase der ägyptischen Kultur. Dabei prägte das sakrale Feld gewiss die Schrift, doch wird im genaueren Blick deutlich, dass in diesem Fall keine mono-kausalen Erklärungen greifen. Vielmehr dürfen und müssen wir mit vielfachen Wechselwirkungen der in der Hohen Kultur verknüpften Faktoren rechnen.

21

The early life of the pharaoh: divine birth and adolescence scenes in the causeway of Senwosret III at Dahshur.“, in: Abusir and Saqqara in the year 2010, hg. Miroslav Bárta, Filip Coppens, Jaromir Krejčí (Czech Institute of Egyptology, Faculty of Arts, Charles University in Prague), Prag 2011, 171–188.

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Joachim Schaper

GESPROCHENE SPRACHE, SCHRIFT UND IKONOPHOBIE IM ALTEN ISRAEL, AUF DEM HINTERGRUND GRIECHENLANDS UND UGARITS In seiner letzten E-mail an mich schrieb Friedrich Kittler im Juli 2011: „… es ist mir eine große Freude, Ihnen nach mehreren schweren Operationen mitteilen zu können, dass der erträumte Kongress nun Wirklichkeit zu werden verspricht. An den Wünschen, die Ihren Beitrag betreffen, ändert sich nichts. Nur ich habe etwas dazugelernt und mit großem Gewinn Martin Hengel gelesen.“ Was die Ergebnisse seiner Lektüre waren, wird uns nun wohl für immer verschlossen bleiben – es sei denn, es finden sich im Nachlass Aufzeichnungen dazu. Gerhard Scharberts Beitrag in diesem Band wird erste Anhaltspunkte dazu liefern. Der Kongress jedenfalls – bzw. das Symposion (man beachte die Bevorzugung des griechischen Begriffs!) – hat stattgefunden, und das macht mich, das darf ich vielleicht so überschwänglich sagen, glücklich. Die Idee zu diesem Symposion kam Friedrich Kittler spontan während eines Gesprächs am Rande einer Konferenz in Aberdeen im Jahre 2008, als wir über einige Aspekte seines Vortrags über die Ontologie der Medien sprachen,1 die für mich im Hinblick auf meine eigene Arbeit zu Schriftkultur und Ikonophobie im alten Israel von besonderem Interesse waren und sind.2 Im Gespräch stellte sich nicht zuletzt auch heraus – für mich zu dem Zeitpunkt noch überraschend –, wie sehr Kittler am Alten Testament und am antiken Judentum interessiert war, obwohl – oder vielleicht gerade weil? – er eine solche Abneigung gegen (die abrahamitischen) Monotheismen hegte. Jedenfalls fand das Symposion statt, das er und ich damals gemeinsam ins Auge fassten, und dafür bin ich denen, die das durch ihre Arbeit ermöglicht haben, sehr dankbar: Tania Hron, Joulia Strauss, Peter Berz und Gerhard Scharbert sowie Peter Weibel und Meta Maria Valiusaityte und allen anderen, die zur Vorbereitung und Durchführung des Symposions beitrugen. 1 2

Seither veröffentlicht als: Friedrich Kittler: „Towards an Ontology of Media“, in: Theory, Culture & Society, 26, 2009, S. 23–31. Eine Monographie zum Thema habe ich soeben abgeschlossen; sie sollte im Laufe des kommenden Jahres erscheinen. Vgl. auch Joachim Schaper: „A Theology of Writing. Deuteronomy, the Oral and the Written, and God as Scribe“, in: Anthropology and Biblical Studies: Avenues of Research, hg. v. L. Lawrence und M. Aguilar, Leiden (Deo Publishing) 2004, S. 97–119.

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JOACHIM SCHAPER

I. Einleitung Götter und Schriften rund ums Mittelmeer, und in diesem Zusammenhang: Jahwe, der Gott Israels, und die hebräische Schrift sowie die „Schrift“ des Alten Testaments im antiken Israel. Nicht umsonst wird der Begriff „die Schrift“ für Altes und Neues Testament gebraucht, schon hierin zeigt sich die Hochachtung, die Judentum und Christentum für das haben, was „geschrieben steht“. Das ging so weit, dass die Autoren jener Worte aus dem 2. Buch Mose, Exodus, die in meinem Vortragstitel zitiert sind, die Vorstellung haben konnten, Jahwe, der Gott Israels, habe selbst geschrieben. In Exodus 31 heißt es: „… die beiden Tafeln des Gesetzes; die waren aus Stein und beschrieben von dem Finger Gottes.“3 Gott selbst wird also als Schreiber dargestellt. Das findet sich ganz ähnlich auch im 5. Buch Mose, Deuteronomium, 4, 12–13, wo man Folgendes liest: „Und der Herr redete mit euch mitten aus dem Feuer. Die Stimme seiner Worte hörtet ihr; aber ihr saht keine Gestalt, nur eine Stimme war da. Und er verkündigte euch seinen Bund, den er euch gebot zu halten, nämlich die Zehn Worte, und schrieb sie auf zwei steinerne Tafeln.“ Dazu später mehr. Und sowohl im Buch Exodus als auch im Buch Deuteronomium wird mit äußerster Deutlichkeit betont, dass der Gott Israels die Anbetung seiner selbst durch Bilder und in Bildern verabscheut. Es ist wichtig, hier festzustellen, dass sich die einschlägigen Stellen in Exodus 31 und 32–34 sowie in Deuteronomium 4 wahrscheinlich nicht gegen jegliche Benutzung von Bildern und Statuen aussprechen, sondern ausschließlich gegen die Anbetung Jahwes mit Hilfe von bildlichen Darstellungen.4 Aber mag das sein, wie es wolle: Was im Zusammenhang des Vortragsthemas, des gesamten Symposions und des vorliegenden Bandes hier vor allem interessiert, ist das Verhältnis zwischen Schrift und Bild. Doch bevor wir uns diesem widmen, müssen wir zuerst die Relation zwischen gesprochener und geschriebener Sprache im alten Israel verstehen.

3 4

Bibelzitate folgen der Luther-Übersetzung in ihrer 1984er Revision. Vgl. hierzu M. Köckert: „Die Entstehung des Bilderverbotes“, in: Die Welt der Götterbilder (BZAW 376), hg. v. Brigitte Groneberg und Hermann Spieckermann, Berlin (de Gruyter) 2007, S. 272–290, über Deuteronomium 4 als einen gegen das Errichten eines Jahwe-Standbildes gerichteten Text. Auf ein solches Standbild, und nur darauf, beziehen sich die umfassenden Darstellungsverbote von Deuteronomium 4,16–18.

SPRACHE, SCHRIFT, IKONOPHOBIE IM ALTEN ISRAEL

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II. Gesprochene Sprache und ihre Notation Warum werden nun in so deutlicher Weise an verschiedenen Kernstellen des Alten Testaments die Schrift und das Schreiben mit dem Herstellen von bildlichen Darstellungen kontrastiert, die wir, beeinflusst von Luthers Übersetzung und der Rhetorik des biblischen Textes folgend, oftmals abwertend „Götzenbilder“ nennen? Zunächst einmal, weil die Schrift als Kulturtechnik eine enorme Faszination auszuüben vermochte. Diese Faszination spiegelt sich darin wider, dass man die Ausübung dieser Kulturtechnik der Gottheit selbst zuschrieb. Zwar behauptet das Alte Testament nirgendwo, der Gott Israels habe das Schreiben erfunden (anders als polytheistische Religionen der Antike, die das ganz selbstverständlich taten; man denke nur an Nabu in Mesopotamien und Thot in Ägypten). Doch wird deutlich gemacht, dass das Schreiben der Sphäre des Göttlichen entstammt: Im gesamten Pentateuch, vom Schöpfungsbericht bis zum Tode des Mose, ist Mose, der Offenbarungsempfänger par excellence, der erste Schreibende (Exodus 17:14; 24,4), und die Gesetzestafeln sind „beschrieben von dem Finger Gottes“ (Exodus 31:18). Wie erklärt sich nun aber diese Faszination durch Schreiben und Schrift? Auf diese Frage geben uns die Texte selbst zumindest implizit eine Antwort. Sehen wir uns einmal näher an, wie die Abfolge der Ereignisse im Buch Exodus dargestellt wird: Moses steigt den Berg empor, um Jahwe zu treffen. Dort verkündet dieser ihm in einem Gespräch (!) den Bund, den er mit Israel schließen will, und übergibt ihm die „zwei Tafeln des Zeugnisses“, die er selbst beschriftet hat. In Deuteronomium 4 findet sich eine ähnliche Konzentration auf die Korrelation zwischen gesprochener Sprache und Schrift, und auch hier wieder zu Ungunsten jeglicher bildlicher Darstellung: Wie wir bereits hörten, wird betont, die Israeliten hätten ihren Gott nicht gesehen (womit das Bilderverbot begründet wird), wohl aber seine Stimme gehört. Der Gott Israels wird also gezeichnet als jemand, der die von ihm zuvor gesprochenen Worte schriftlich festhält, wie z.B. in dem schon erwähnten Text in Exodus 31,18, wo es, nachdem Jahwe Mose Anweisungen erteilt hat, heißt: „Und als der Herr mit Mose zu Ende geredet hatte auf dem Berge Sinai, gab er ihm die beiden Tafeln des Gesetzes; die waren aus Stein und beschrieben von dem Finger Gottes.“ Oder in Deuteronomium 5, wo man lesen kann: „Er [Jahwe] hat von Angesicht zu Angesicht mit euch aus dem Feuer auf dem Berge geredet“ (v. 4), und wo dann, im Blick auf die gerade verkündigten Zehn Gebote, Mose die folgenden Worte in den Mund gelegt werden: „Das sind die Worte, die der HERR redete zu eurer ganzen Gemeinde auf dem Berge, aus dem Feuer und der Wolke und dem Dunkel mit großer Stimme, und tat nichts hinzu und schrieb sie auf zwei

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steinerne Tafeln und gab sie mir“ (v. 22). Was offenbar die Autoren des Textes so fasziniert, ist die Möglichkeit, gesprochene Sprache festzuhalten und gleichsam abzubilden. Das ist den biblischen Autoren so wichtig, dass es Gott selbst zugeschrieben werden muss. Mit seinem eigenen Finger habe er geschrieben. Es ist wichtig, den Implikationen dieser Darstellungen von Verschriftungen gesprochener Sprache in Exodus und Deuteronomium genauer nachzugehen. Es gibt ähnliche Passagen auch in der prophetischen Literatur, z.B. im JeremiaBuch,5 aber diese brauchen uns im gegenwärtigen Zusammenhang nicht näher zu interessieren, da die Abschnitte aus Exodus und Deuteronomium das Phänomen, um das es hier geht, besonders deutlich bezeugen. Wohl gehört die graphische Wiedergabe des Tons nicht zu den ursprünglichen Funktionen der Schrift,6 doch ist sie zur Zeit der Produktion der biblischen Texte, um die es hier geht, bereits von zentraler Bedeutung. Wenn wir uns mit den biblischen Texten über das Schreiben Gottes nicht aus der üblichen philologischhistorischen Perspektive auseinandersetzen, sondern aus medienhistorischer, dann müssen wir die Frage stellen, mit welchem Schriftsystem die Autoren dieser Texte arbeiteten und in welcher Weise dieses Schriftsystem ihre Arbeit und ihr Denken geprägt hat. Nun hatten die Hebräer zwar „nur“ ein Konsonantenalphabet zur Verfügung, doch darf man sich die Eignung dieses Notationssystems zur Aufzeichnung komplexer Daten nicht als minderwertig vorstellen. So stellt Barry Powell zwar einerseits die westsemitischen Schriftsysteme, zu denen die hebräische Schrift gehört, (zu Recht) als revolutionären Durchbruch dar,7 wenn er schreibt: „The invention of the West Semitic writing was the second great moment in the history of writing, or in the history of civilization, after the invention of the logosyllabaries at the end of the fourth millennium at the two tips of the Fertile Crescent.“8 Andererseits bestreitet er, dass es sich bei den westsemitischen Schriftsystemen um Alphabete handle. Er spricht stattdessen von „West Semitic syllabaries“9 und sagt vom ugaritischen Alphabet (er setzt „Alphabet“ in Anführungsstriche): „Writing had never been so close to speech, but it remained unpronounceable, except by a native speaker.“10 5

6

7 8 9 10

Vgl. hierzu Joachim Schaper: „On Writing and Reciting in Jeremiah 36“, in: Prophecy in the Book of Jeremiah , hg. v. H. M. Barstad und R. G. Kratz, Berlin und New York (Walter de Gruyter) 2009, S. 137–147. Vgl. Peter Damerow: The Origins of Writing as a Problem of Historical Epistemology, Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Preprint 114, Berlin 1999, S. 1–18, passim (http://www.mpiwg-berlin.mpg.de/Preprints/P114.PDF). Vgl. Barry B. Powell: Writing. Theory and History of the Technology of Civilization, Chichester (Wiley-Blackwell) 2009. Ebd., S. 153. Ebd., S. 153. Ebd., S. 159.

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Hier möchte ich kurz innehalten: Es ist bei Powell und anderen beliebt, im Vergleich zu den westsemitischen Alphabeten den großen Fortschritt des griechischen Alphabets darin zu sehen, dass mit seiner Hilfe notierte gesprochene Sprache auch von des Griechischen Unkundigen gelesen werden kann. Doch darin lag der Fortschritt natürlich nicht, denn z.B. kann jemand mit guter Kenntnis der Keilschrift ebenso jeglichen in Keilschrift notierten Text lesen, auch ohne die Sprache zu kennen, die von dem Keilschrifttext notiert wird, und zwar, weil die Keilschrift mit ihrem logosyllabischen System auch die Aussprache der Vokale mitnotiert, und das recht genau. Gerade aus diesem Grunde wurde sie von so vielen altorientalischen Kulturen übernommen, die dann ihre je eigene Sprache keilschriftlich notierten. Nun aber zurück zu Powells Behauptung über die angeblichen westsemitischen „Syllabare“. Dieser Behauptung, die er im wesentlichen von dem Altorientalisten Ignace Gelb übernommen hat,11 liegt u.a. die These zugrunde, dass beispielsweise die ugaritischen Keilschriftzeichen nicht Buchstaben-, sondern Silbenzeichen seien. So schreibt Powell in seinem Beitrag zu einem von Friedrich Kittler und Wolfgang Ernst herausgegebenen Band, „daß die westsemitischen Zeichen nicht eigentlich Phoneme waren, wie es aus unserer alphabetischen Transkription der westsemitischen und ägyptischen Zeichen erscheinen mag, sondern daß sie Silben darstellten, deren vokalischer Wert unbestimmt ist. Danach hat zum Beispiel das sogenannte westsemitische Zeichen mem die Lautwerte ma, mi oder mu, etc., immer eine Silbe.“12 Darin ist ihm Kittler übrigens nicht gefolgt. Er bezeichnet das ugaritische Schriftsystem zu Recht als „Alphabet“.13 Nun wird aber Gelbs und Powells These schon dadurch von vornherein widerlegt, dass Schriftzeugnisse aus Ugarit überliefert sind, aus denen eindeutig nachzuweisen ist, dass man versuchte, eine Notation auch für Vokale zu

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Vgl. Ignace Jay Gelb: A Study of Writing. The Foundations of Grammatology, Chicago (University of Chicago Press) 1952. Derridas Gebrauch des Begriffs „Grammatologie“ wurde von Gelbs Buch inspiriert. Barry B. Powell: „Das Alphabet in Theorie und Geschichte. Text, Mündlichkeit, Buchstäblichkeit und andere Paradigmata in der Forschung zur griechischen Kultur“, in: Wolfgang Ernst, Friedrich Kittler (Hg.): Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie. Schrift, Zahl und Ton im Medienverbund (Reihe Kulturtechnik), München (Wilhelm Fink Verlag) 2006, S. 15–30, 25. Friedrich Kittler: Musik und Mathematik I: Hellas, 1. Aphrodite, München (Wilhelm Fink Verlag) 2006, S. 106. Er sagt allerdings auch (ebd., Anm. 4), Powell „frag[e] (…) zu Recht, ob statt von einem Konsonantenalphabet nicht eher von einer Konsonantensilbenschrift zu reden wäre.“ Wie wir zeigen werden (vgl. unten), fragt Powell dies nicht zu Recht.

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entwickeln; das ist von Oswald Loretz gezeigt worden.14 Zurecht weist Loretz darauf hin, dass die in der aktuellen Diskussion vorherrschende Fixierung auf das Verhältnis zwischen phönikischer und griechischer Schrift wissenschaftlich unerfreuliche Folgen hat, auf die es aber eine Antwort gibt: „Während das phönikische Alphabet durch seine Beschränkung auf Konsonanten nicht einmal Anlass zur Vermutung gibt, es seien bereits in der Geschichte des Alphabets Versuche einer Vokalisierung unternommen worden, machen uns die Texte aus Ras Schamra-Ugarit mit spannungsreichen Versuchen einer Vokalisierung des westsemitischen Konsonantenalphabets bekannt.“15 Dem erfolgreichen Versuch der Vokalisierung des Alphabets in Griechenland stand in Ugarit ein erfolgloser entgegen. Aber immerhin gab es, anders als viele meinen, einen solchen Versuch. Festzuhalten ist jedenfalls, dass schon im westsemitischen Bereich das Problem erkannt und eine Lösung angestrebt worden war, bevor der Durchbruch in Griechenland gelang. Zu Powells Behauptung schließlich, beim ugaritischen Alphabet handele es sich um ein Syllabar, hat Joachim Friedrich Quack einiges zu sagen. In einer Kritik an Eric Havelocks Ansatz, der dieselbe These von Ignace Gelb übernimmt wie Powell, merkt Quack an: „Ob man sagt, daß in den semitischen Schriftsystemen jedes Zeichen für eine Silbe steht, die aus einem Konsonanten und einem beliebigen Vokal einschließlich der Vokallosigkeit besteht, oder ob man sagt, daß im semitischen Schriftsystem jedes Zeichen für einen Konsonanten steht und Vokale nicht notiert werden, bedeutet für die praktische Leistungsfähigkeit des betreffenden Schriftsystems nicht den geringsten Unterschied.“16 Was nun alle westsemitischen Alphabete gemeinsam haben – unabhängig davon, ob sie linear oder keilschriftlich sind – ist die Eigenschaft, im wesentlichen ohne Vokalzeichen auszukommen. Die Funktionen, die im griechischen Alphabet von den Vokalen ausgeübt werden, wurden in den westsemitischen Schriftkulturen früh schon von mündlich weitergegebenen Lesetraditionen übernommen.17 Gleichzeitig gab es aber eben auch seit frühen Zeiten bereits den Wunsch, Vokale explizit schriftlich abzubilden, und das nicht nur in Ugarit. Im 14

15 16 17

Oswald Loretz: „Die prägriechische Vokalisierung des Alphabets in Ugarit“, in: Die Geschichte der hellenischen Sprache und Schrift: Vom 2. zum 1. Jahrtausend vor Chr.: Kontinuität oder Bruch? 3.–6. Oktober 1996, Ohlstadt/Oberbayern, hg. vom Verein zur Förderung der Aufarbeitung der griechischen Geschichte, Altenburg (Verlag für Kultur und Wissenschaft) 1998, S. 387–405. Ebd., S. 389. Joachim Friedrich Quack: „Die Rolle der Hieroglyphen in der Theorie vom griechischen Vokalalphabet“, in: Ernst, Kittler: Die Geburt des Vokalalphabets, S. 76. Das hat z.B. Stefan Schorch für die samaritanische Lesetradition nachgewiesen in: Stefan Schorch: Die Vokale des Gesetzes: Die samaritanische Lesetradition als Textzeugnis der Tora. 1 Das Buch Genesis (BZAW 339), Berlin (de Gruyter) 2004.

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Hebräischen entwickelte man sehr früh schon die sogenannten matres lectionis (sie finden sich bereits in einigen der ältesten Texte), jene von den Grammatikern des Mittelalters in lateinischer Übersetzung eines hebräischen Begriffs so genannten „Lesemütter“, die beim Lesen des Konsonantentextes helfen, gleichsam wie Mütter ihren Kinder. Bei den matres lectionis handelt es sich um Konsonantenbuchstaben, die zweckentfremdet wurden: So kann im Hebräischen, je nach Stellung im Wort, das Graphem, das normalerweise zur Darstellung des Phonems /w/ benutzt wird, in bestimmten Konstellationen für die Phoneme /ō/ oder /ū/ stehen. So stimmt es denn einfach auch nicht, was Powell über die scheinbar geringere Brauchbarkeit und die vermeintlich mangelnde Universalität der westsemitischen Alphabete sagt: Man kann mit ihnen auf durchaus zufriedenstellende Weise „phonographisch“ schreiben, und man kann die derart produzierten Texte – wie im Griechischen! – auch dann lesen, wenn man keine Kenntnis der Sprache selbst hat, solange man nur die Vokalzeichen und/oder die Aussprachetradition der betreffenden Sprache kennt. Zugegebenerweise ist das im Griechischen wesentlich einfacher als z.B. im Hebräischen oder Aramäischen, doch besteht in dieser Hinsicht kein wesentlicher struktureller Unterschied zwischen dem griechischen Alphabet einerseits und den westsemitischen Alphabeten andererseits. Verschiedene Einflüsse wirken auf ein Notationssystem zu verschiedenen Zeitpunkten in seiner Entwicklungsgeschichte ein. Was philologisch geprägte Wissenschaftler – und in unserer Wissenschaftstradition sind so ziemlich alle Altorientalisten, Orientalisten, Alttestamentler, Latinisten, Gräzisten u.a. auf diese Weise geprägt18 – leicht übersehen,19 ist, dass das erste Schriftsystem der Geschichte, nämlich das keilschriftliche, seine Ursprünge nicht in der Aufzeichnung gesprochener Sprache hatte, sondern im Buchhaltungswesen.20 Die Keilschrift wurde aus jenen Tonobjekten entwickelt – in der Forschung unter dem englischen Begriff tokens zusammengefasst –, die zu Buchhaltungszwecken erfunden worden waren. Zuerst existierte die früheste Keilschrift also unabhängig von jeder Sprache. Die erste Sprache, zu deren Notation sie eingesetzt wurde, 18

19 20

Die traditionelle philologische Ausrichtung der genannten Disziplinen führt dazu, dass manche ihrer Vertreter die Tatsache übersehen, dass die erste Schrift der Weltgeschichte nicht zu phono/glottographischen, sondern zu rechnerischen Zwecken geschaffen wurde; vgl. Schaper: „On Writing and Reciting in Jeremiah 36“ und Malcolm Hyman: „Of Glyphs and Glottography“, in: Language & Communication 26, 2006, S. 231–249. Powell: Writing, S. 153. Vgl. Hans J. Nissen, Peter Damerow, Robert K. Englund: Informationsverarbeitung vor 5000 Jahren: Frühe Schrift und Techniken der Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient. Informationsspeicherung und -verarbeitung vor 5000 Jahren, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin, Hildesheim und Berlin (Franzbecker) 2004, passim.

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war – nachdem einige hundert Jahre seit den frühesten Anfängen der Keilschrift bereits vergangen waren! – die sumerische.21 In der nun einsetzenden Entfaltung der Keilschrift entwickelten sich die Logogramme und schließlich die logosyllabischen Zeichen, die für die Keilschrift charakteristisch sind. Mit ihnen konnte man, wie sich dann herausstellte, den Lautstand auch der akkadischen und einiger anderer altvorderorientalischer Sprachen gut abbilden, was den Siegeszug der Keilschrift über tausende von Jahren altorientalischer Geschichte erklärt. Erst seit der Entfaltung der Keilschrift in ihrer entwickelten, logosyllabischen Form handelt es sich also um etwas rein philologisch Erfassbares, aber auf dieser Stufe ist dann auch bereits der Wunsch nach phonetischer Genauigkeit in der Darstellung der gesprochenen Sprache von zentraler Bedeutung, und wenigstens hierin stand die Keilschrift, so kann man mit Fug und Recht sagen, z.B. dem griechischen Alphabet in nichts nach. Die Existenz der westsemitischen Alphabetschriften, die Ergebnisse einer Vereinfachung von Elementen der ägyptischen Hieroglyphenschrift waren,22 bot die Grundlage dafür, das eigentlich Revolutionäre der alphabetischen Notation – ein Graphem für jeweils ein Phonem – nun auch unter Heranziehung von Elementen der Keilschrift umsetzen zu können: Unter dem Eindruck der kulturell übermächtigen Keilschrift wurde in Ugarit ein nach seinen drei verschiedenen Bezeugungen aus 22 bis 30 Keilschriftzeichen bestehendes Alphabet geschaffen – Keilschriftzeichen, die speziell für diesen Zweck kreiert wurden und, ebenso wie die linearen Alphabete jener Zeit, phonographischer Natur sind.23 Dieses ugaritische Keilschrift-Alphabet hat, anders als Powell meint, den Namen „Alphabet“ auch verdient. Man könnte sogar argumentieren, dass die westsemitischen Alphabete in mancher Hinsicht flexibler sind als das griechische.24 Gerade das griechische Alphabet bringt nämlich, eben wegen seiner radikalen Vereinfachung, auch eine radikale Reduktion der phonographischen Möglichkeiten mit sich. In seiner radikalen Vereinfachung ist es beeindruckend, aber es reicht eben auch nur zur 21

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23 24

Ob die Keilschrift noch vor der Notation des Sumerischen zur Aufzeichnung einer anderen Sprache herangezogen wurde, ist in der Forschung umstritten, vgl. Eva CancikKirschbaum: „Der Anfang aller Schreibkunst ist der Keil“, in: Ernst, Kittler: Die Geburt des Vokalalphabets , S. 121–149, 130, mit Anm. 15. Vgl. hierzu z.B. Christopher Rollston: Writing and Literacy in the World of Ancient Israel: Epigraphic Evidence from the Iron Age, Archaeology and Biblical Studies (Society of Biblical Literature), 11, Atlanta 2010, S. 11–18. Cancik-Kirschbaum: „Der Anfang aller Schreibkunst“, S. 135. Vgl. Quack: „Die Rolle der Hieroglyphen“, S. 92, mit seiner „piktographischen“ Darstellung des ersten Verses der Ilias, die zeigt, dass selbst eine „piktographische“ Schrift durchaus problemlos zu phonographischer Darstellung zu gebrauchen ist!

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Darstellung der Phoneme des Griechischen und einiger anderer indoeuropäischer Sprachen. Zur Darstellung des Lautbestandes z.B. der westsemitischen Sprachen ist das griechische Alphabet zu schlicht, im Hinblick sowohl auf deren in mancher Hinsicht stärker differenzierten Konsonantenbestand als auch auf deren komplexe Vokale. Wohl wird umgekehrt immer wieder gesagt (u.a., aber nicht nur von Powell), das griechische Alphabet sei gewissermassen vollkommen. In Wahrheit ist es nicht in einem absoluten Sinne besser als andere Notationssysteme. Es ist nur einfacher als die meisten anderen und eben zur Notation des Griechischen besonders geeignet.

III. Das Faszinosum Schrift Was bedeutet das alles nun im Zusammenhang unserer übergreifenden Frage nach dem Verhältnis zwischen, zum einen, Sprechen und Schreiben und, zum anderen, Schrift und Bild im alten Israel? Zunächst einmal dürfte deutlich geworden sein, dass das Alphabet und sein phonographisches Potential auf die Autoren der erwähnten biblischen Texte eine enorme Faszination ausgeübt haben müssen, die wir heutzutage überhaupt nicht mehr recht nachvollziehen können. Diese Faszination entsprang ganz besonders der mit dem Schreiben einhergehenden Unterstreichung der Bedeutung des Hörens und Wieder-Hörens der schriftlich festgehaltenen Texte. In der israelitisch-judäischen Kultur jener Zeit (insbesondere des achten bis sechsten Jahrhunderts v. Chr.), wie überhaupt in den antiken Kulturen des Mittelmeerraums, dienten schriftlich festgehaltene Texte nur einer kleinen Anzahl von Menschen zur persönlichen Lektüre, während die Mehrheit mit schriftlichen Texten nur als vorgelesenen Texten in Berührung kam.25 Gerade in der Begegnung mit einem laut vorgetragenen schriftlichen Text kann die Faszination der „Wiederbelebung“ des Geschriebenen natürlich in besonderer Weise wirksam werden; so kann z.B. die Stimme Gottes, die im schriftlichen Text zum Notat „geronnen“ ist, beim mündlichen Vortrag als scheinbar lebendige Gegenwart der Gottheit erfahren werden.26

25 26

Das Alte Testament bietet in Nehemia 8 einen hochinteressanten Einblick in diese Praxis. Vgl. hierzu z.B. Moshe Idel: „Die laut gelesene Tora: Stimmengemeinschaft in der jüdischen Mystik“, in: Friedrich Kittler, Thomas Macho und Sigrid Weigel (Hg.): Zwischen Rauschen und Offenbarung: Zur Kultur- und Mediengeschichte der Stimme, Berlin (Akademie Verlag) 2002, S. 19–53 passim.

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Zur Erinnerung: In Deuteronomium 4,12 heißt es: „Die Stimme seiner Worte hörtet ihr; aber ihr saht keine Gestalt, nur eine Stimme war da.“ Das Hören wird also eindeutig dem Sehen übergeordnet oder zumindest hinsichtlich der Erfahrung der Präsenz des Gottes Israels vorgeordnet. Diesen Punkt streicht Stephen A. Geller heraus.27 Die positive Betonung des Hörens, auf Kosten der Wertung des Sehens, führt Geller auf die mündliche Lehre in den Weisheitstraditionen Israels und Judas zurück.28 Diese Erklärung greift zu kurz, ja sie erklärt eigentlich nichts, denn das Problem würde nur verschoben – man müsste nun fragen, warum die mündliche Lehre in den genannten Traditionen einen solch hohen Stellenwert hat. Nun aber zurück zu unserem Ausgangspunkt: Welche Bedeutung haben die spezifischen Eigenheiten der westsemitischen Schriftsysteme, insbesondere des Hebräischen, im Blick auf unsere Frage nach dem spannungsreichen Verhältnis zwischen, einerseits, gesprochener Sprache und Schrift und, andererseits, Schrift und Bild im alten Israel? Die Stimme erweckt beim Sprechen im Sprecher die Illusion von Transzendenz;29 so ist „das Phonem das ‚idealste‘ aller Zeichen“: 30 „Der lebendige Akt, der Leben spendende Akt, die Lebendigkeit *, die den Körper des Signifikanten beseelt und ihn in einen bedeutenden Ausdruck verwandelt, die Seele der Sprache scheint sich nicht von sich selbst, von ihrer Selbstgegenwart zu trennen. Sie geht nicht das Wagnis des Todes im Körper eines der Welt und der Sichtbarkeit des Raumes überlassenen Signifikanten ein.“31

27 28 29

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Stephen A. Geller: Sacred Enigmas: Literary Religion in the Hebrew Bible, London und New York (Routledge) 1996. Die Folgerungen, die Geller daraus zieht, können wir allerdings nicht akzeptieren. Vgl. Jacques Derrida: Die Stimme und das Phänomen. Einführung in das Problem des Zeichens in der Phänomenologie Husserls, übersetzt von Hans-Dieter Gondek, Frankfurt am Main (edition suhrkamp 2440) 2003, S. 104–105: „Die somit ‚scheinbare Transzendenz‘ der Stimme hängt damit zusammen, daß das Signifikat, das stets von seinem Wesen her ideal ist, die ‚ausgedrückte‘ Bedeutung*, dem Ausdrucksakt unmittelbar gegenwärtig ist. Diese unmittelbare Gegenwärtigkeit hängt damit zusammen, daß der phänomenologische ‚Körper‘ des Signifikanten sich in genau dem Moment auszulöschen scheint, in dem er hervorgebracht wird. Er gehört scheinbar immer schon dem Element der Idealität an. Er reduziert sich phänomenologisch selbst, verwandelt die weltliche Undurchsichtigkeit seines Körpers in reine Durchsichtigkeit. Diese Auslöschung des sinnlichen Körpers und seiner Äußerlichkeit ist für das Bewußtsein schlicht die Form der unmittelbaren Gegenwärtigkeit des Signifikats.“ (Die mit * gekennzeichneten Begriffe sind von Derrida im Originaltext auf Deutsch benutzt worden.) Derrida: Die Stimme und das Phänomen, S. 105. Ebd., S. 105.

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Der menschliche Sprecher macht diese Erfahrung und projiziert sie auf Gott: Dieser wird gedacht als sich selbst gegenwärtiger Sprecher, der im Akt des Sprechens seinen Hörern „die Form der unmittelbaren Gegenwärtigkeit des Signifikats“ zu eröffnen scheint – eben deswegen setzen sich einige der bedeutendsten und originellsten Passagen der Hebräischen Bibel mit Jahwe als Sprechendem auseinander. Das Schreiben aber geht „das Wagnis des Todes im Körper eines der Welt und der Sichtbarkeit des Raumes überlassenen Signifikanten ein.“ Es etabliert eine Dialektik zwischen Nähe und Distanz, Unmittelbarkeit und Mittelbarkeit. Doch die Schrift verhält sich damit nicht nur der gesprochenen Sprache gegenüber subversiv. Als distanzschaffendes und zugleich im Prinzip ubiquitäres Medium unterminiert sie auch die als je lokal begrenzt konzeptualisierte göttliche Präsenz in Bildern (d.h. in Kultstatuen) und höhlt die aus dieser Erfahrung erwachsenen Vorstellungen von Präsenz ebenso wie jene aus der Erfahrung der Selbstpräsenz im Sprechen entstandenen Präsenzkonzepte aus. Zugleich eröffnet es eine neue Form von Präsenzerfahrung. Und eben deswegen thematisieren einige Schlüsselstellen des Alten Testaments Jahwe als Schreibenden. Die Schrift und die Praxis des Schreibens war in der Erfahrung der Hebräer unauflöslich mit dem Sprechen und dem Hören in einem dialektischen Spannungsverhältnis verbunden, das durchaus auch Gegenstand quasi-theoretischer Erwägungen wurde (z.B. in Deuteronomium 4!).32 Zugleich entwickelte sich aus diesem Spannungsverhältnis heraus die vehemente Ablehnung der Herstellung und Benutzung kultischer Statuen und anderer bildlicher Darstellungen der Gottheit.

IV. Hören, Sprechen, Schreiben – und Ikonophobie Warum aber werden bildliche Darstellungen der Gottheit abgelehnt, warum geschieht dies ausschließlich in Juda, und warum werden demgegenüber das Schreiben und die Schrift so positiv konnotiert?

32

Ich nenne diese Erwägungen „quasi-theoretisch“, weil sie nicht das Abstraktionsniveau und die analytische Qualität vergleichbarer Reflexionen in der griechischen Tradition erreichen (und dies auch nicht wollen und können, weil sie in einen narrativen Zusammenhang eingebunden sind), wohl aber von höchster Subtilität zeugen.

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Zunächst einmal, weil – wie sich aus den vorausgegangenen Beobachtungen ergab – das Alphabet und seine Möglichkeiten die biblischen Autoren faszinierten. Demgegenüber wird das Herstellen von kultischen Statuen und anderen bildlichen Darstellungen der Gottheit in aller Deutlichkeit abgelehnt: einerseits in klaren Stellungnahmen in Texten wie Exodus 32–34 und Deuteronomium 4, andererseits mit sehr subtilen Mitteln, die sich erst einer sorgfältigen Exegese erschließen. Ein Beispiel für solche Subtilität findet sich in Ex 32. Dort wird dasselbe Verb für die Herstellung des Goldenen Kalbes, also eines illegitimen Kultbildes, und für das Eingravieren der Schrift in die Tafeln, die den Text der Gebote Gottes beinhalten, benutzt. Ebenso werden die Tätigkeit Gottes (maʿăśeh ʿĕlōhîm) – nämlich bei der Herstellung der Tafeln des Gesetzes, die er zurechtgehauen hat (Exodus 32,16) – und das Produkt menschlicher Arbeit, nämlich die Herstellung (‘śh!) des Goldenen Kalbes (Exodus 32,4), kontrastiert, wobei beide Male das gleiche Verb (eben ‘śh) zugrunde liegt. Die Herstellung von Bildern für kultische Zwecke wird also auf immer neue Weise und aus verschiedenen Perspektiven als unangemessen und widergöttlich dargestellt. Der Siegeszug der Schrift erklärt sich vielleicht u.a. aus der Angst vor der Macht des Bildes und ihrer Eigendynamik, wie sie von Horst Bredekamp untersucht worden ist.33In Bezug auf das alte Israel aber würde eine solche Erklärung nicht weit reichen. Wohl aber kann man gleichsam der Schrift selbst die aktive Rolle im Prozess der allmählichen Verdrängung der Bilder zuschreiben: wegen ihres Charakters als Speichermedium mitsamt der von einem solchen ausgehenden Faszination – das haben wir bereits erwähnt –, wegen der mit dem Schreiben einhergehenden Privilegierung des Hörens auf Kosten des Sehens, und wegen anderer Implikationen des Schreibens, auf die Brian Rotman neuerdings aufmerksam gemacht hat. Rotman beschäftigt sich mit re-mediations, Übergängen von einem Medium ins nächste, und widmet seine Aufmerksamkeit dabei auch dem Übergang von gesprochener Sprache zu Schrift: „[t]he move from the medium of speech to its inscription.“34 Zwar ist ihm nicht zuzustimmen, wenn er die Elimination der Stimme als zwangsläufige Folge des Aufstiegs der Schrift sieht, doch scheint er mir völlig recht zu haben, wenn er von der Verdrängung des Ichs des Sprechenden durch die schwer greifbare Wirkkraft des schriftlichen Textes spricht, „as the body of the speaking ‚I‘ is replaced by an incorporeal, floating agency of the text“.35 33

34 35

Vgl. z.B. Horst Bredekamp: Theorie des Bildakts (Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007), Berlin (Suhrkamp) 2010, und David Freedberg: The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago (University of Chicago Press) 1989. Brian Rotman: Becoming Beside Ourselves: The Alphabet, Ghosts, and Distributed Human Being, Durham und London (Duke University Press) 2008, S. 109. Ebd., S. 110.

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Rotman betont den Unterschied zwischen, einerseits, dem sprechenden Körper, der „ich“ sagt, physisch präsent ist, gestikuliert und sich immer schon an ein Gegenüber wendet, und, andererseits, dem stimmlosen Text: „Defined entirely within toneless writing, the ‚voice‘ of such an author is its inscription. What would be the attributes of such an agency, one who/which ‚speaks‘ in a voice absent of all tone?“36 Der Gott der biblischen Texte, d.h. der Sprecher der an Mose und die Israeliten gerichteten Worte, der dann diese Worte selbst aufschreibt – ein solcher Gott wäre ohne die alle Lebensbereiche durchdringende und Gesellschaften transformierende Macht der Schrift gar nicht denkbar gewesen. Dieser ungreifbare, die Imagination durchdringende und bestimmende göttliche Akteur kann dann auch als gleichsam tonloser Sprecher erfahren werden und als bedrohliche, alles durchwaltende, omnipräsente Präsenz, die eben deswegen nicht zu lokalisieren ist. Mit Bildern ist dieser Präsenz nicht mehr beizukommen. Nur mit Hilfe der Schrift kann man noch versuchen, sie in den (Be)Griff zu bekommen.

36

Ebd., S. 121.

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Barry B. Powell

WIE DAS ALPHABET ENTSTAND

Wir nehmen es als gegeben, dass „Schrift“ die „Sprache“ aufzeichnet. Dabei fällt uns schwer, zu verstehen, dass „Schrift“ ein selbständiges Zeichensystem ist, mit einer eigenen inneren Logik und eigenen Regeln. Wenn wir im westlichen Kulturraum von „Schrift“ sprechen, meinen wir ganz selbstverständlich und ohne weiter darüber nachzudenken „alphabetisches“ Schreiben und lassen andere Schriftsysteme, die einmal existiert haben oder heute noch im Fernen oder Mittleren Osten bestehen, einfach außer Acht. Wir gehen mit diesen Schriftsystemen um, als könnten wir sie in gewisser Weise auf ihre „alphabetischen“ oder zumindest phonetischen Einheiten reduzieren, und tatsächlich gehen die meisten Studien davon aus, dass „wahre Schrift“ etwas ist, das phonetische Einheiten beinhaltet. Die enorme Bandbreite unterschiedlicher Notationsformen, seien sie musikalischer, mathematischer oder choreographischer Natur, oder das verwirrend große Aufgebot von Piktogrammen, die auf Computern zu finden sind – all die Notationssysteme, in denen Informationen mittels graphischer Zeichen vermittelt werden, werden so herabgestuft zu einer „Vorform von Schrift“, oder einer „Protoschrift“ oder „Piktographie“ oder zu „beschreibend abbildenden Elementen“ oder etwas in der Art. Dies ist ganz sicher falsch, da jedes allgemein gebräuchliche und Informationen vermittelnde Zeichensystem „Schrift“ genannt werden sollte. An anderer Stelle habe ich jedoch unterschieden zwischen „Semasiographie“, die alle Schriften ohne phonetische Informationen beinhaltet, und „Lexigraphie“, die jedes System einschließt, das phonetische Informationen beinhaltet.1 In der Realität existieren Semasiographie und Lexigraphie Seite an Seite. In diesem Aufsatz will ich mich allerdings mit dem Ursprung lexigraphischer Schrift als einer Sonderform befassen, die wir das Alphabet nennen. Historisch gesehen ist das Aufkommen von alphabetischer Schrift alles andere als zwangsläufig. Mehr noch, es ist eine höchst unwahrscheinliche Schriftform, und seine Entstehung gibt uns große Rätsel auf. 1

A.d.Hg.: Vgl. etwa Barry B. Powell: Writing: Theory and History of the Technology of Civilization, Oxford (Wiley&Sons) 2009, S. 32–36 und 40 –50; und ders.: „Das Alphabet in Theorie und Geschichte. Text, Mündlichkeit, Buchstäblichkeit und andere Paradigmata in der Forschung zur griechischen Kultur.“, in: Wolfgang Ernst, Friedrich Kittler (Hg.): Die Geburt des Vokalalphabets aus dem Geist der Poesie. Schrift, Zahl und Ton im Medienverbund, München (Fink) 2006, S. 15 –30, 18 f..

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BARRY B. POWELL

Zunächst einmal müssen wir uns von der Vorstellung lösen, dass die Familie der westsemitischen Schriften, die im Mittelmeerraum dem griechischen und dem phönizischen Alphabet vorangingen, bereits selbst ein „Alphabet“ war. Der Begriff wird häufig benutzt, um derartige Systeme zu benennen, rührt jedoch von einem Missverständnis hinsichtlich dessen, was ein Alphabet ist. Man könnte also ganze Bücher über die „Geschichte des Alphabets“ schreiben, die sich ausschließlich mit der Geschichte westsemitischer Schrift befassen, die aber kein Alphabet war. In einem Alphabet stellen Zeichen sozusagen die Atome der gesprochenen Sprache dar, die kleinsten Spracheinheiten, die eine Äußerung oder ein Wort vom anderen unterscheiden. Die Kombination der graphischen Zeichen, die diese kleinsten unteilbaren Elemente oder Phoneme darstellen, ermöglicht es dem Leser, mehr oder weniger den tatsächlichen Klang des gesprochenen Wortes nachzuvollziehen. Das griechische Alphabet war die erste Schrift in der Geschichte der Menschheit, die das getan hat. Keine frühere Schrift gab Auskunft darüber, wie die „zugrunde liegende Sprache“ tatsächlich klang. Diese Tatsache ließ den renommierten Schrifthistoriker Ignace Gelb vor fünfzig Jahren schlussfolgern, dass die westsemitischen Schriften, die dem griechischen Alphabet vorangingen, hinsichtlich ihrer inneren Struktur Syllabare waren, in denen jedes Zeichen einen Konsonanten repräsentiert plus einen zusätzlichen unbestimmten Vokal, beziehungsweise keinen Vokal, was der Leser selbst zu ergänzen hatte.2 Anders gesagt: Die Zeichen repräsentieren keine Phoneme; sie sind, könnte man sagen, nicht echt, sondern Projektionen des griechischen Alphabets und abhängig von ihm als einer Technologie. Letzten Endes ist Sprache eine kontinuierliche Abfolge von Lauten, die, wie jede phonographische Aufzeichnung der Stimme, Schwankungen unterworfen ist. Der kleinste isolierbare Sprachlaut ist die Silbe. Wie Experimente in China gezeigt haben, ist es für Versuchspersonen, denen das griechische Alphabet nicht geläufig ist, unmöglich, Phoneme in gesprochener Sprache zu identifizieren. Manche Semitisten bezeichnen die westsemitischen Silbenschriften als „Alphabete“, da ihre Zeichen, ähnlich wie in einem Alphabet, einer bestimmten Ordnung unterliegen, und weil die Zeichen Namen haben, die ihren Lautwert wie in einem Alphabet kodieren. Die in den westsemitischen Silbenschriften verwendeten Zeichen repräsentieren jedoch keine Phoneme und die Schrift gibt keine Auskunft über den tatsächlichen Klang der „zugrunde liegenden Sprache“, die der Muttersprachler stets aufgrund seiner Sprachkenntnis rekonstruieren muss. Sicher besteht ein historischer Zusammenhang zwischen den westsemitischen Syllabaren und dem griechischen Alphabet, das auf einem westsemitischen 2

Vgl. Ignace J. Gelb: A Study of Writing, Chicago (University of Chicago Press) 1955.

WIE DAS ALPHABET ENTSTAND

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Syllabar basiert. Die Erfindung des griechischen Alphabets war jedoch ein radikaler Bruch mit früheren Schrifttraditionen und von enormer, epochemachender Bedeutung. Im griechischen Alphabet gibt es zwei Arten von Zeichen. Hierin unterscheidet es sich von seinem semitischen Vorbild, das nur eine Art von Zeichen kennt. Im griechischen Alphabet wurden die semitischen Zeichen unterteilt in eine kleine Gruppe, bestehend aus fünf Zeichen, den sogenannten Vokalen, und in eine große Gruppe, die alle anderen Zeichen, die wir Konsonanten nennen, beinhaltet. Anders als im semitischen Vorbild können die der großen Gruppe zugehörigen Zeichen nicht ohne weiteres ausgesprochen werden. Es ist eine unumstößliche Regel, dass die der großen Gruppe zugehörigen Zeichen (unsere „Konsonanten“, Mitlaute) stets von einem Zeichen begleitet werden müssen, das der kleinen Gruppe angehört und das allein ausgesprochen werden kann (unsere „Vokale“ oder Selbstlauter). Kombinationen konsonantischer, nicht aussprechbarer, mit vokalischen, aussprechbaren Zeichen, ermöglichen die Zerlegung der Sprache in ihre kleinsten Teile, und die Erschaffung eines graphischen Systems, das die Sprache annähernd repräsentiert. Die enge Anbindung des Alphabets an die Sprache, durch die alles Gesagte auch zu Geschriebenem werden kann (was in keinem vorhergehenden System möglich war), hat die philosophischen, wissenschaftlichen und politischen Systeme der westlichen Welt erst ermöglicht. Die Frage, die wir uns nun stellen, ist die nach der historischen Triebkraft, die hinter der Einführung des griechischen Alphabets steht: Was hat zu seiner Erfindung geführt? Wie kam es zustande? Ein scheinbar anderes und davon gänzlich losgelöstes Problem hat mit dem Dichter Homer zu tun. Gewiss, wir haben mit der Ilias und der Odyssee die literarischen Grundlagentexte des Abendlandes. Aber wie kommt es, dass wir sie haben? Wie wurden sie niedergeschrieben? Josephus Flavius in der Antike (dem ersten Jahrhundert nach Christus),3 der Franzose Abbé D’Aubignac im frühen 18. Jahrhundert 4 und insbesondere der Deutsche Friedrich August Wolf im späten 18. Jahrhundert, in seinen gefeierten, 1795 verfassten Prolegomena ad Homerum – sie alle wiesen darauf hin, wie unwahrscheinlich es ist, dass Homers Dichtungen, verfasst in einem nicht alphabetischen Zeitalter, vom Dichter selbst niedergeschrieben wurden. Spekulationen über einen Zusammenhang von Schrift und Homer stehen im Zentrum der berühmten Homerischen Frage, die grob wie folgt zusammengefasst werden kann: Keine alphabetische Schrift, kein Homer! 3 4

A. d. Hg.: Vgl. etwa die Schrift „Jüdische Altertümer“, in der Josephus auch Streitfragen der Priorität zwischen Griechen- und Judentum behandelt. A. d. Hg.: Vgl. François Hédelin, abbé d'Aubignac et de Meymac: Conjectures académiques sur l'Iliade, 1715.

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Moderne Forschung, die sich mit mündlichen Überlieferungen beschäftigt, hat keineswegs aus dem Dilemma herausgeführt, das Wolf so beredt beschrieben hat. Selbst wenn Homer seine Gedichte mündlich und ohne die Hilfe einer Schrift verfasste, erscheint es unmöglich, dass sie ohne die Hilfe der Schrift übermittelt wurden, jedenfalls nicht in der Form, in der sie uns vorliegen. Feldstudien haben dies wiederholt belegt. Ein mündlich vorgetragenes Gedicht variiert sprachlich und erzählerisch stets beträchtlich, wenn es von einem Dichter mündlich wiederholt wird. Führende Homer-Forscher stimmen aufgrund umfassender Beweise überein, dass Homer im achten Jahrhundert vor Christus gelebt hat, just zu der Zeit, aus der die ersten Funde von griechischen Alphabet-Fragmenten stammen. Wurde eine brandneue Schrift, die, wie man allgemein unterstellt, dazu gedacht war, so alltägliche Dinge wie Geschäftskonten aufzuzeichnen und nur wenigen Menschen bekannt war – also noch in den Kinderschuhen steckte – rein zufällig dazu benutzt, 28.000 Zeilen kompliziertester Verse auf Dutzenden teurer Papyrusrollen aufzuzeichnen? Offensichtlich ja. Schriftstudien versuchen normalerweise nicht die Fragen des „Wie?“ und „Warum?“ zu beantworten. In meinen Studien über den Übergang von der mündlichen zur Schriftkultur im antiken Griechenland, und in meinen Spekulationen über die Unterschiede zwischen griechischem Alphabet und früherer Schrift, bin ich zu der zunächst noch überraschenden, inzwischen aber nicht mehr so erstaunlichen Schlussfolgerung gekommen, wie und warum das griechische Alphabet erfunden wurde. Eine Schlussfolgerung, die sich direkt auf die scheinbar andersartige Frage bezieht: „Wie wurden Ilias und die Odyssee aufgeschrieben?“ Wie wurde aus einem mündlichen Vortrag ein Text? Lassen Sie mich diese Themen nun in folgender Reihenfolge betrachten: Zunächst werde ich einige allgemeine Bemerkungen darüber machen, was geschah, als das griechische Alphabet erfunden wurde, und zwar aufgrund seiner inneren Logik. Um einen historischen Zusammenhang herzustellen, werde ich zweitens einige Worte darüber verlieren, wie frühere Schriftformen im antiken Nahen Osten und im Mittelmeerraum funktionierten. Drittens werfe ich einen Blick auf die allerersten überlieferten Hinterlassenschaften alphabetischer Schrift. Abschließend beschäftige ich mich mit der Schlussfolgerung selbst: den Ursprüngen griechischer alphabetischer Literalität.

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I. Phonetische Alphabete Das griechische Alphabet wurde von einem einzigen Menschen innerhalb eines begrenzten Zeitraums erfunden. Wir wissen dies deshalb, weil in allen lokalen Varianten archaischer griechischer Schrift singuläre und damit einzigartige Änderungen im semitischen Vorbild des griechischen Alphabets auftreten. Diese singulären Änderungen sind, erstens, die zufällige Herleitung der fünf griechischen Vokalzeichen von bestimmten semitischen konsonantischen Zeichen, insbesondere die Aufspaltung des für sich allein stehenden konsonantischen Zeichens wau in zwei griechische Zeichen: in ein konsonantisches mit dem Lautwert /w/, das später Digamma genannt wurde, und in ein vokalisches, später Ypsilon genanntes Zeichen mit dem Lautwert /u/. Die zweite unvorhersehbare und damit singuläre Änderung der semitischen Version des griechischen Alphabets ist eine verwirrende Neuzuordnung der Namen und Lautwerte der vier phönizischen Zischlaute – ein kompliziertes Themengebiet, das ich hier nur kurz streifen kann. Im Ergebnis ist dazu zu sagen, dass das griechische Alphabet von Anfang an drei Zeichen besaß, die sein semitisches Vorbild nicht hatte und die verwirrender Weise Supplemente genannt werden: f, x, c. Da die den ergänzenden Zeichen zugeordneten Laute nicht alle phonemisch waren – das heißt eine Bedeutungsveränderung beinhalteten – war ein erhebliches Durcheinander ihrer Lautwerte die Folge. Orthographische Belege bekräftigen die Schlussfolgerung, dass das griechische Alphabet von einem Einzelnen innerhalb eines begrenzten Zeitraums erfunden wurde: So wurde die früheste griechische Schrift, Bustrophedon, sich wendend wie der Ochse beim Pflügen notiert, also jede Zeile in eine andere Richtung verlaufend. Diese Praxis steht im Kontrast zur phönizischen Schrift, die Zeile für Zeile und stets von rechts nach links geschrieben wird. Außerdem kümmert sich die archaische griechische Schrift nicht um Silbentrennung, die in semitischen Schriften des achten Jahrhunderts vor Christus gang und gäbe war. Es ist unvorstellbar, dass mehrere Akteure zu fast derselben Zeit exakt dieselben Änderungen an ihrer Version des Alphabets vornehmen. Dem gewitzten Palamedes, der das Alphabet erfunden hat, habe ich den Beinamen „Der Adaptor“ gegeben. Wann machte der Adaptor seine bedeutende Erfindung? Diesbezüglich ernst zu nehmende Schätzungen schwanken zwischen einem so frühen Datum wie 1400 v. Chr. und einem so späten wie 670 v. Chr. Der amerikanische Wissenschaftler Rhys Carpenter hat in den 1930er Jahren die Grundlagen für eine moderne Sicht auf das Problem gelegt, zumindest unter Altphilologen. Er bestand darauf, dass das griechische Alphabet nicht viel früher entstanden sein

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kann als die frühesten existierenden materiellen Überreste.5 Für Carpenter war es unvorstellbar, dass ein Volk, das jede Art von Objekt und insbesondere unvergängliche Keramik beschriftet hat, mehr als eine Generation vor der Zeit, aus der die ersten uns bekannten Schrift-Fundstücke datieren, des Schreibens kundig gewesen sein soll. Carpenters Schlussfolgerungen wurden von der Oxforder Wissenschaftlerin Lillian Jeffery6 und werden heute allgemein von Griechisch-Epigraphikern anerkannt. Unserem heutigen Wissenstand zufolge datieren die frühesten Beispiele griechischer Schrift aus der Zeit um 800 –750 v. Chr. Sie sind eingeritzt auf Scherben, die an den Gräbern von Lefkandi gefunden wurden. Lefkandi ist der neuzeitliche Name einer bedeutenden archäologischen Ausgrabungsstätte der Eisenzeit an der Westküste der langgestreckten Insel Euböa, nahe der Meerenge von Eúripos. Die Fundstücke sind sehr kleinteilig. Es sind Fragmente von Namen, bestehend aus wenigen Buchstaben, Abecedarien, zumeist auf Scherben von kleinen Bechern und Amphoren.7 Von allen bekannten Ausgrabungsstätten der nachmykenischen griechischen Geschichte, der sogenannten dunklen Jahrhunderte, war Lefkandi die reichhaltigste und hatte eindeutig internationale Verbindungen. In der Nähe von Eretria8 – dessen Aufgabe zeitlich mit der Besiedlung einer Gegend in der Nähe Eretrias, vermutlich durch Lefkandier, zusammenfällt – wurden bei Grabungen im Tempel des Apollon Daphnephóros ähnliche und ungefähr zur selben Zeit entstandene Schriftfragmente gefunden. Diese ungefähr 30 Inschriften datieren aus der zweiten Hälfte des achten Jahrhunderts vor Christus, nur einige wenige sind etwas älter. In der Cella des Tempels wurden außerdem etwa 30 nicht-alphabetische Graffiti gefunden, ein oder zwei davon waren in semitischer Schrift verfasst.9 Die Lefkandier, und vielleicht auch die eng mit ihnen verwandten Eretrier, haben auch die Euböische Stadt Chalkis nahe Lefkandi mitbegründet und die früheste und westlichste griechische Kolonie auf der Insel Pithekoússai (dem heutigen Ischia im Golf von Neapel), wo weitere Muster griechischer Schrift aus dem sehr 5 6 7 8 9

Vgl. Rhys Carpenter: „The Antiquity of the Greek Alphabet”, in: American Journal of Archaeology, 37, no. 1, 1933, S. 8–29. Vgl. Lilian Hamilton Jeffery: The Local Scripts of Archaic Greece. Erweiterte Ausgabe, Oxford (Clarendon Press) 1990. Vgl. Lilian Hamilton Jeffery in: Mervyn R. Popham e. a.: Lefkandi I. The Iron Age. 1,1: Text, London (Thames and Hudson) 1980, S. 89 –92. A.d.Hg.: Eretria liegt einige Kilometer westlich von Lefkandi und besitzt ein interessantes, kleines Museum. T. Theurillat: „Early Iron Age graffiti from the Sanctuary of Apollo at Eretria“, in: Alexandros Mazarakis Ainian (Hg.): Oropos and Euboea in the Early Iron Age. Acts of an International Round Table, University of Thessaly (June 18 –20, 2004), Volos 2007, S. 331–345.

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frühen achten Jahrhundert vor Christus gefunden wurden. Gerade erst wurde eine Vase entdeckt, die aus dem antiken Gabii im südlichen Latium (dem heutigen Osteria dell’Osa) stammt und deren Entstehungsjahr nachweisbar circa 775 v. Chr. ist. Auf ihr ist der Teil eines Namens zu lesen, geschrieben eindeutig mit dem griechischen Alphabet: EULIN, was etwa so viel heißt wie „guter Weber“.10 Nur eine einzige weitere Scherbe aus Lefkandi sowie ein oder zwei aus Eretria sind genauso alt. Die Chalkidier – und zweifelsohne die Lefkandier und Eretrier – hatten eine andauernde Handelsverbindung mit einer Kolonie am anderen Ende des Mittelmeerraums: Al Mina im Norden Syriens, nahe der Mündung des Flusses Orontes. Ihre Keramiken wurden auch auf Zypern gefunden. Das Alphabet ist vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund und in dieser wirtschaftlichen Umgebung entstanden. Rein formal betrachtet ist die Zeit um 800 v. Chr. der Moment, an dem die Buchstabenformen altertümlicher griechischer Schrift denen von erhaltenen Beispielen westsemitischer Schrift, dem Vorbild des griechischen Alphabets, am ähnlichsten sehen. Vorausgesetzt, dass wir darauf bestehen, ganze Zeichensätze miteinander zu vergleichen und nicht nur einzelne Zeichen. Diese Methode ist leichter beschrieben als durchgeführt, aufgrund der geringfügigen Zahl westsemitischer Inschriften aus der Frühzeit. Dennoch ist die Zeit um 800 v. Chr. aufgrund epigraphischer Quellen die wahrscheinlichste Zeit für die Adaption. Hier treffen zwei voneinander unabhängige Forschungsansätze aufeinander – die Datierung der frühesten materiellen Überreste auf die Zeit um 800–775 v. Chr. und der Zeitpunkt der größten formalen Ähnlichkeit um 800 v. Chr. Wir sollten daher davon ausgehen, dass das griechische Alphabet um 800 v. Chr. erfunden wurde. Andere Datierungen lassen sich nicht belegen. Ob der Adaptor das Alphabet im syrischen Al Mina, in Zypern, auf Kreta, auf Euböa oder an einem anderen Ort erfunden hat, können wir nicht sagen, da wir es mit der Leistung eines Einzelnen zu tun haben, der völlig auf sich gestellt gearbeitet hat. Bis auf die von einem Ionier um 600 v. Chr. vorgenommene geringfügige Veränderung dreier Buchstabenwerte (H, J, C) und die Zugabe der diakritischen Variante des Omicrons als Omega (ῳ) gegen Ende der alphabetischen Buchstabenreihe wurden am griechischen Alphabet seit dem Zeitpunkt seiner Entstehung keine substanziellen Änderungen vorgenommen. Wie Athene Zeus’ Kopf, so entsprang das griechische Alphabet dem Kopf seines Schöpfers: in voller Rüstung.

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David Ridgway: „Greek Letters at Osteria dell’ Osa“, in: American Journal of Archaeology, 80, 1997, S. 87–97.

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Doch wie einschneidend war die Veränderung durch die Erfindung des Alphabets als historisches Ereignis wirklich? Während die einen Wissenschaftler die wunderbaren Kräfte des griechischen Alphabets als technologische Grundlage jedweder westlichen Zivilisation gewürdigt werden, gehen andere Wissenschaftler allzu oft davon aus, dass dies früher oder später ohnehin passiert wäre. Sei es, weil alle Dinge mit der Zeit besser werden, sei es, weil das griechische Alphabet eine leichte Modifikation der westsemitischen Silbenschrift war, die zur griechischen Sprache passte, und daher als logische Fortführung von dem angesehen wurde, was vorherging. Für keine dieser Einschätzungen gibt es wissenschaftliche Belege. Schriftsysteme sind die konservativsten menschlichen Einrichtungen, die Religion einmal ausgenommen. Diese allerdings ist oftmals eng mit Schrift verbunden. Zu Recht zitieren Wissenschaftler häufig die chinesische Schrift und andere Schriftsysteme, die auf ihr basieren, als ein Beispiel des Triumphs von Konservatismus über die Zweckmäßigkeit der Schrift. Doch wurde diese Entscheidung auch von anderen Traditionen getroffen. Historisch gesehen, hat sich die alphabetische Schrift, die derzeit zum Kodieren der englischen Sprache – der weltweiten Lingua franca – benutzt wird, zurückentwickelt, ja sogar Wortzeichen oder Logogramme angenommen, die sich in ihrer Funktion nicht von denen unterscheiden, die in antiken ägyptischen oder sumerischen Schriften verwendet wurden. Ein vertrautes Beispiel ist der Satz A ROUGH COUGH PLOUGHED THROUGH A DOUGHY HICCOUGH, in dem die Zeichenkombination [OUGH] keinen einheitlichen Wert hat. Der Leser muss zunächst wissen, wie das Wort ausgesprochen wird, um dann seine Wortbedeutung zu begreifen. Ein Lernprozess, der allmählich und von Fall zu Fall erfolgt. Schriftsysteme werden sich oft auf diese Weise zurückentwickeln. Generell ist Schrift als Institution so konservativ, dass einzig ein kultureller Bruch einen signifikanten Wandel herbeiführen würde. Das 1926 von Kemal Atatürk erlassene Mandat gegen arabische Schrift zugunsten der romanischen, war der Versuch, den Prozess vom anderen Ende aus in Gang zu bringen: Die Herbeiführung eines Kulturbruchs mithilfe des Bruchs in der Schreibtradition. Die im modernen Korea bevorzugte Hangeul Schrift, eine Art Alphabet, treibt den Bruch mit alten Traditionen voran und fördert vermutlich eine kulturelle Demokratisierung sowohl im republikanischen Südkorea als auch im kommunistischen Norden. Die griechischen Analphabeten des achten Jahrhunderts vor Christus, im Gegensatz zum lese- und schreibkundigen Osten, haben den Kulturbruch, nach dem wir Ausschau halten, erlebt. Aber eine Notwendigkeit, das griechische Alphabet zu erfinden, hat zu keiner Zeit bestanden. Das griechische Alphabet richtet seine Aufmerksamkeit auf die phonetische Genauigkeit. Damit ist es eine sehr idiosynkratische Schriftform, und wir sollten nach überzeugenden Gründen suchen, um ihre Entstehung zu erklären.

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II. Schriften rund ums Mittelmeer II.1 Die Hieroglyphen Betrachten wir antike Schriften des Nahen Ostens und wie sie funktionierten, bevor es das griechische Alphabet gab, können wir erkennen, welche Gründe zur Erfindung des griechischen Alphabets geführt haben mögen. Das griechische Alphabet ist ein entfernter Abkömmling ägyptischer Hieroglyphenschrift und hat einen langen, gewundenen Weg zurückgelegt. Ägyptische Hieroglyphenschrift ist typisch für eine ganze Klasse von Schriften, deren andere bedeutende Muster die sumerische oder die akkadische Keilschrift sind, die im Allgemeinen wort-syllabisch oder logo-syllabisch genannt werden. In logo-syllabischen Schriften steht ein phonetisches Zeichen für ein ganzes Wort oder für eine Silbe. Außerdem gibt es andere Zeichen ohne phonetischen Wert, semantische Indikatoren (oder Determinative) genannt, die ein Wort einer allgemeinen Klasse zuordnen. Hier etwa sehen wir den ägyptischen Namen für den Stern Orion, mit seinen phonetischen, äquivalenten römischen Buchstaben:

(1) s

x

(2)

s3 x

(3) x

3

x

(4) H

(5)

s3H x

x

(6)

star

(7)

god

= s xa x H x Das erste Zeichen, „gefaltetes Tuch“, repräsentiert einen Zischlaut /s/ plus einen unbekannten Vokal, gekennzeichnet durch das hochgestellte „x“. Das zweite Zeichen, „Rückgrat“, backbone (nicht gesichert), wiederholt den Wert /s/ plus einen unbekannten Vokal und fügt den Wert /glottaler Verschlusslaut/ hinzu. Der wird graphisch repräsentiert durch die „3“, plus einen unbekannten Vokal. Das vierte Zeichen, „gewundenes Seil“, bringt eine neue phonetische Information, indem es einen /stimmlosen, im Rachen gebildeten Frikativ/ anzeigt (ein Laut, der beim Verschließen der Kehle entsteht). Das fünfte Zeichen, „Zehen“, fasst nun die bereits gegebene phonetische Information zur Darstellung der Konsonanten zusammen – /s/, /glottaler Verschlusslaut/ und /stimmloser Frikativ/. Es hat selbst keinen phonetischen Wert. Das sechste Zeichen ist ein semantischer Indikator, der dem Leser sagt: „dieses Wort bezieht sich auf einen

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Stern“. Das siebente Zeichen, „Gott“, ist der zweite semantische Indikator, der dem Leser sagt, dass „dieses Wort die Eigenschaften eines Gottes hat“. Die moderne ägyptische Philologie scheut sich, die ägyptische Schrift direkt zu erfassen. Sie nähert sich den kodierten Bedeutungen in der Schrift mittels eines schrittweisen Verfahrens. Dabei werden die ägyptischen Zeichen zunächst zu einer rein theoretischen, phonetischen Konstruktion reduziert, die mittels der Buchstaben eines mehr oder weniger römischen Alphabets ausgedrückt wird, wie im eben dargestellten Beispiel. Nur dann kann die Bedeutung aus der alphabetischen Rekonstruktion abgeleitet werden. Transkribiert der heutige Ägyptologe die sieben Zeichen, die das ägyptische Wort für die Sternenkonstellation des Orion buchstabieren, rekonstruiert er also ein trikonsonantisches Wort, das aus /s/, /glottalem Verschlusslaut/ und einem /stimmlosen Frikativ/ besteht. In der Vorlesung würde der Ägyptologe dieses Wort so aussprechen: „sah“, obwohl „sah“ in keinster Weise die Rekonstruktion der tatsächlichen Aussprache des altägyptischen Wortes anstrebt. Die ägyptische logosyllabische Schrift ist trotz ihrer ausgeklügelten Komplexität nicht in der Lage, auch nur die geringste Information über vokalische Eigenschaften mitzuteilen. Sieben aufwendig gezeichnete Schriftzeichen enthalten Informationen über drei Konsonanten, teilen dem Leser aber in keiner Weise mit, wie das Wort klingt. Die antike ägyptische Schrift sollte ja auch nicht den heutigen Ägyptologen etwas mitteilen, sondern den zeitgenössischen Ägyptern, die wussten, wie das Wort klang. II.2 Die zypriotische Silbenschrift Ein anderes Beispiel präalphabetischer Schrift stammt aus der Frühzeit griechischer Literalität: die Schrift Linear B, die während der Bronzezeit in den Palästen Kretas und Mykene benutzt wurde. Weniger bekannt ist eine andere silbenbildende Schrift, die in gewisser Weise mit Linear B verwandt ist (oder mit deren Vorgängerin, der Linear A) und die in Zypern benutzt wurde: die zypriotische Silbenschrift. Die klassische Form der zypriotischen Silbenschrift war vom achten Jahrhundert vor Christus (obwohl ein Beispiel, ein einziges, von ca. 1100 v. Chr. datiert) bis ins dritte Jahrhundert vor Christus in Gebrauch, Seite an Seite mit dem griechischen Alphabet. Das ist ein außergewöhnliches Beispiel für den Konservatismus von Schriftsystemen. Der zypriotische Zeichensatz besteht aus ungefähr 55 Zeichen. Fünf davon stehen für reine Vokale und 50 repräsentieren offene Silben, die aus einem Konsonanten plus einem der fünf Vokale bestehen, wie etwa /ka/, /ke/, /ki/, /ko/, /ku/. Es wird nicht unterschieden zwischen stimmhaften, behauchten und stimmlosen Verschlusslauten, so dass beispielsweise /ba/, /pa/ und /pha/ alle vom selben Zeichen repräsentiert werden. Die konventionelle Transkription der ersten wenigen Worte auf der ältesten erhaltenen

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Inschrift in dieser Schrift – es ist die berühmte Bronzetafel aus Idalion – liest sich dann wie folgt (wenn auch das Original von rechts nach links geschrieben wurde): o-te-ta-po-to-li-ne-e-ta-li-o-ne ka-te-wo-ro-ko-ne-ma-to-i Dies sieht nicht wirklich nach griechischer Schrift aus, würde aber mit Buchstaben des griechischen Alphabets (und in lateinischer Transkription) wie folgt aussehen: Ὅτε τὰ πτόλιν Ἐδάλιον κατέ╒οργον Μάδοι Hote ta ptolin Edalion kateworgon Madoi

„When the Medes overcame the city of Idalion …“ „Als die Meder die Stadt Idalion eroberten ...“

Sogar in diesem Fragment ist zu erkennen, wie die Behauchung in Ὅτε (Hote) im zypriotischen Text (o-te) nicht kenntlich gemacht wird; wie der Nasal des bestimmten Artikels im Akkusativ weggelassen wird; wie die Konsonantengruppe πτ (pt) nicht repräsentiert werden kann; wie der letzte Konsonant /n/ in πτόλιν (ptolin) ne geschrieben wird; und wie, weil zwischen stimmhaften, behauchten und stimmlosen Verschlusslauten nicht unterschieden wird, die Schrift uns keine Auskunft darüber gibt, ob /g/ oder /k/ gemeint ist, oder ob „the Medes“ Μάδοι, Μάτοι oder Μάθοι (madoi, matoi, mathoi ) ausgesprochen wird. Anders formuliert, können wir von der Schrift nicht auf den Klang des Griechischen schließen. Als Muttersprachler wird von uns erwartet, dass wir von den reichhaltigen phonetischen Informationen der Schrift auf den Klang des Wortes schließen. Die zypriotische Silbenschrift ist, wie ihre Vorgängerin und mutmaßliche Stammverwandte Linear B, ein hochentwickeltes phonetisches Schriftsystem von wundervoller Eleganz. Es wirft den schweren Ballast semantischer und phonetischer Indikatoren, die noch in früheren logosyllabischen Schriften charakteristisch waren, über Bord. Dieses brillante System, das auf früheren kretischen Entdeckungen fußt, hat den zu vielen Hunderten Zeichen ergänzten Zeichensatz auf ungefähr 55 einfache phonetische Zeichen reduziert. Trotzdem: Phonetische Schrift vor dem griechischen Alphabet war von einem anderen Typ als das griechische Alphabet. Wie in den früheren logosyllabischen Schriften war sie immer dazu gemacht, den Muttersprachler an Worte zu erinnern, deren Sprachlaute er bereits kennt. Schreiber schreiben nicht für die Welt, sondern für sich selbst und für ihre Landsleute. Dieses Prinzip hat auch die westsemitische Schrift bestimmt, von der das griechische Alphabet abstammt.

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II.3 Die phönizische Schrift Eine aus der Zeit um 600 v. Chr. datierende phönizische Inschrift beginnt mit einer Reihe von Zeichen, die besagen: „Ich bin Yhwmlk, König von Byblos.“ Geschrieben von rechts nach links sieht das so aus:

In der Transkription so: axnxkx YxHx wxmxlxkx (das Zeichen „a“ bedeutet einen glottalen Verschlusslaut, genau wie die „3“ in ägyptologischen Studien; das hochgestellte x steht für einen Vokal oder keinen Vokal). Das Phönizische ist aufgrund der konsonantischen Informationen, die die Schrift mitteilt, nicht aussprechbar. Es ist nicht so, dass Griechisch – oder irgendeine andere Sprache – nicht auch ohne Alphabet aufgeschrieben werden könnte; das Griechische wurde in seiner Geschichte zweimal niedergeschrieben, als Linear A/B und als Vokalalphabet. Aber die alphabetische griechische Schrift mit ihrem Versuch, den tatsächlichen Klang der menschlichen Stimme aufzuzeichnen, ist etwas Besonderes und Zusammengesetztes (distinctly idiosyncratic) in der antiken Welt, wo drum herum überall logosyllabische und syllabische Systeme große Zivilationen stützten.

III. Das griechische Alphabet und der Hexameter Auf welche Weise wurde das griechische Alphabet zunächst genutzt? Worauf deuten die erhaltenen Schriften hin? Ein berühmtes Beispiel ist dieser Hexameter und einige weitere Zeichen, die von rechts nach links in ein Gefäß eingeritzt wurden. Offenbar handelte es sich bei dem Gefäß um die Trophäe eines athletischen Wettkampfs in Athen, aus der Zeit um 740 v. Chr.. Dies ist der griechische Text in einer links-nach-rechts Transskription:

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Eine Übersetzung des Textes lautet: „Welcher von den Tänzern tanzt besonders anmutig ... “ Der Text impliziert, dass der Tänzer oder Akrobat diese Trophäe erhält, obwohl dieser Gedanke in der Inschrift nicht zu Ende geführt wird. Diese früheste erhaltene griechische Inschrift ist zugleich unser frühester erhaltener Beweis für mündliche Dichtung in Griechenland. Denn die Diktion zeigt uns an, dass die vorliegende Hexameterzeile von einem oral poet verfasst wurde, von jemandem, der Kenntnisse der lebendigen Tradition griechischer mündlicher Poesie hatte, etwa von Homer und Hesiod. Doch wer beschriftete dieses Gefäß mit der Hexameterzeile, und warum? Fast ebenso alt ist ein bemerkenswertes, dreizeiliges Graffito auf einem einfachen Keramikbecher, der auf einem Friedhof aus dem achten Jahrhundert vor Christus auf der Insel Pithekoussai im Golf von Neapel gefunden wurde. Pithekoussai ist der Ort, an dem die Bewohner von Euböa den frühesten westlichen Außenposten des antiken Griechenlands installiert hatten. Die Inschrift ist datiert auf die Zeit um 740 v. Chr.. Ihre drei Zeilen sind von rechts nach links geschrieben. Sie ist hier zu sehen in einer Transkription mit neugriechischer Orthographie:

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Es bedeutet: „Ich bin der Becher des Nestor [erste Zeile], es ist eine Freude aus mir zu trinken. Wer immer aus mir trinkt [zweite Zeile], den wird alsbald die Begierde der schön-gekrönten Aphrodite ergreifen ... [dritte Zeile].“ Diese außergewöhnliche und urtümliche Inschrift scheint das Ergebnis eines symposiastischen Wort- und Sprachspiels (englisch: capping game) zu sein.11 Diese Poesie-Wettbewerbe wurden von rituellen Trinkgelagen begleitet. Die meisten fragmentarischen Inschriften aus Lefkandi und Eretria sind ebenfalls und ungefähr zur gleichen Zeit in Becher oder Amphoren geritzt worden, zu Hause, auf einem griechischen Symposion. Das Spiel geht so: Der erste Trinker beginnt das Spiel mit dem einem Spottvers (englisch: mock-epic). „Ich bin der Becher des Nestor, es ist eine Freude aus mir zu trinken.“ Der dabei benutzte, sehr einfache Becher unterschied sich sicherlich stark von dem prächtigen Goldbecher, den Homer im elften Buch der Ilias besingt (11,631–636). Der zweite Tischgenosse geht dann auf diesen Vorstoß mit einer geschickten Variation ein. Er benutzt den daktylischen hexametrischen Rhythmus einer gängigen Verwünschungsformel des Typs: „Wer mich stiehlt, wird mit Blindheit geschlagen – oder verrückt werden.“ Der dritte Teilnehmer muss schließlich ein Urteil sprechen, ebenfalls in purem Hexameter: „Und seine Strafe soll sein, dass er die Wonnen der Liebe kennenlernt!“ Auf einer solchen Party nun war jemand zugegen, der griechische Hexameter aufschreiben konnte und dann den Poesie-Wettkampf auch tatsächlich aufgezeichnet hat. Dieses „lange“ Beispiel alphabetischer griechischer Schrift, eines der beiden ältesten der Welt, wirkt auch wie eine literarische Anspielung auf die Ilias und das impliziert, dass im achten Jahrhundert ein Text von Homers Gedicht tatsächlich existierte, ja sogar im weit entfernten Italien bekannt war, zumindest im Kreis der Forschungsreisenden aus Euböa. Andere Bruchstücke alphabetischer Schrift, die lang genug sind, um sie als Inschriften zu bezeichnen, sind aus den ersten 100 oder 150 Jahren der griechischen Schrift erhalten. Von diesen Bruchstücken sind mehr als nur einige wenige hexametrisch. Unser Eindruck ist, dass die griechische Alphabetisierung zunächst in Kreisen stattfand, die sozial gesehen dem Adel zuzurechnen sind und vom Temperament her agonal gestimmt sind. Das alles ist nicht unähnlich dem von Homer beschriebenem Palastleben – mit gutem Essen, reichlich zu trinken, inmitten athletischer Wettbewerbe, Ritualen der Selbstvergewisserung und dem Vortrag von Liedern und Gedichten. Der Tanzwettbewerb um den attischen Preiskrug, der literarische Spaß und die erotische Zweideutigkeit des auf dem Nestor-Becher beschriebenen Spiels waren Teil dieser Welt. Hier 11

A.d.Hg.: Nach Erfindung des, im Griechischen unbekannten, Endreims im englischen Sprachraum seit dem 14. Jahrhundert auch als „Capping the rhyme“, „Crambo“ oder „ABC of Aristotle“ angesprochen.

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auf diesem Fest saß der oral poet, Zentrum der Aufmerksamkeit und hoch geehrt wegen der Berühmtheit seines Gesangs. Das heißt: Die frühe griechische Schrift ist weder zum Führen von Kassenbüchern genutzt worden, noch feiert sie die Triumphe von Männern oder einer Stadt. Aus den ersten 100 Jahren der alphabetischen Schrift der Griechen existiert nicht eine einzige öffentliche Inschrift – keine Dekrete, Verträge oder Gedenktafeln großer kämpferischer Heldentaten, keine einzige öffentliche Götterehrung und nur genau drei private Götterehrungen. Es gibt keine Inventuren, Kataloge, Aufzeichnungen über Vermögensschätze, Baupläne von Häusern, Konten irgendeiner Art und bis ungefähr 600 v. Chr. noch nicht einmal Zahlen. Die Aufzeichnungen enthalten nicht ein Wort über die Taten eines Staates oder den Umgang einer öffentlichen Körperschaft mit einer anderen. Das Schweigen über öffentliche Angelegenheiten ist vollständig. Und obwohl die Inschriften allesamt privater Natur sind, fehlen auch hier rechtliche Kategorien des Privaten, wie sie später durchaus auftauchen: Rechtsdokumente, Testamente, Freikaufgeld, Verträge, Hypotheken oder Landverkäufe. Nichts deutet auf irgendwelche kaufmännischen Interessen hin. Dagegen ist der enge Zusammenhang von hexametrischer Dichtung und früher Schrift sehr stark dokumentiert. Die hexametrische Dichtung war das natürliche Ausdrucksmittel früher griechischer Schreib- und Lesekundiger. Die Beweise, die die archäologischen Überreste liefern, stimmen überein mit dem, was wir aus der Schriftgeschichte vorhersagen können. Die Notwendigkeit, den griechischen Hexameter aufzuzeichnen: Darin sehen wir den Grund für die Erfindung einer Schrift, die zum Ziel hat, den tatsächlichen Laut der menschlichen Stimme aufzuzeichnen. Der griechische Hexameter war eine Form des Griechischen, aber eine Form, die niemand jemals sprach, eine Kunstsprache, hergestellt aus einer Mixtur verschiedener Dialekte, aus Archaismen und künstlichen Formen, die den metrischen Erfordernissen des daktylischen, hexametrischen Rhythmus dienten. Es war eine Art Spezialsprache, die durch bloßes Aufsaugen erlernt wurde – wenn wir den Zeugnissen moderner oral poets glauben dürfen. Diese Kunstsprache wurde nur von den Sängern gesprochen. Die Rhythmen der hexametrischen Zeile im Griechischen folgen dem Wechsel von langen und kurzen Vokalen. Diese Vokale treten oft in Clustern, gebündelt auf. Es ist wohl möglich, das Griechische in einer Silbenschrift aufzuzeichnen, sogar in einer westsemitschen Silbenschrift. Aber es ist schlicht unmöglich, einen griechischen Hexameter aus einem Text in Silbenschrift wieder herzustellen. Wir haben damit den historischen Beweggrund für die Erfindung einer Schrift gefunden, die sich nicht damit zufrieden gibt, den Sprecher einer Sprache an die Worte der Sprache zu erinnern, die er bereits kennt. Denn es gibt keine eingeborenen Muttersprachler des griechischen Hexameters.

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Wenn der Adaptor sein System entwickelt hat, um damit metrische Verse aufzuzeichnen, dann stellt sich freilich die Frage: Welche metrischen Verse? War die Erfindung des Adaptors von dem Wunsch getrieben, ganz allgemein metrische Verse aufzuzeichnen, mit einer universell einsetzbaren Technik, oder war es ein einzelner Sänger, der ihn zu seiner Erfindung inspiriert hat? Und was ist mit Homer? Wann hat er gelebt? Wann sind seine Lieder zu Texten geworden? Eigentlich verorten ihn alle führenden Homer-Forscher im achten Jahrhundert vor Christus (wenngleich es immer einen gibt, der anderer Meinung ist). Doch zu welcher Zeit genau im achten Jahrhundert hat er gelebt? Das ist schwer zu sagen. Um herauszufinden, wann genau Homer gelebt hat, ist es das Beste, die Welt, die er beschreibt, mit dem archäologischen Befund zu vergleichen – auch wenn Homers Welt eine poetische Welt ist, die nur in seinen Beschreibungen existiert. Jeder Zeitpunkt zwischen 850 und 750 v. Chr. stimmt mit den vielen komplexen Beweisstücken überein, die wir zusammentragen können. Irgendwo in der Mitte dieses Zeitraumes würde am besten passen als Zeit, die für die Erfindung des griechischen Alphabets am wahrscheinlichsten ist. Nichts spräche dagegen, dass sich Homer um 800 v. Chr. herum hingesetzt hat, um seine Gedichte dem Erfinder des griechischen Alphabets zu diktieren. Wie man es dreht und wendet: Die homerischen Gedichte wurden zeitnah mit der Erfindung des griechischen Alphabets abgefasst. Wir kehren damit in einem großen Bogen zurück zur Homerischen Frage: Was ist die Verbindung zwischen der Schrift und der Ilias und der Odyssee? War die neue Schrift, gemacht, um Hexameter aufzuzeichnen, von einem unbekannten Dichter oder Dichtern inspiriert, die spurlos verschwunden sind, während doch diese Schrift etwa zur gleichen Zeit 28.000 Zeilen komplizierter Verse bewahrte, verfasst vom größten Dichter der westlichen Zivilisation? Ungefähr zu Beginn des achten Jahrhunderts vor Christus stand in Griechenland eine Tradition mündlicher Poesie in Blüte, die ihre Ursprünge in der griechischen Bronzezeit, vielleicht noch früher hatte. Die Poeten dieser Tage sangen zur Unterhaltung in aristokratischen Häusern. Manche waren gut, manche weniger gut. Aber Homer führte eine moralische Kraft in die traditionellen Lieder ein, eine erzählerische Brillanz, einen rauhen Humor und eine lyrische Kraft, die ihn von seinen Mitstreitern absetzte. Verständlicherweise suchte Homer Anschluss an die sozialen Kreise der erfolgreichen, wohlhabenden und aggressiven Bewohner von Euböa, der Einwohner von Chalkis und des antiken Lefkandi, die Italien mit Schiffen bereisten und gleichzeitig Handel am anderen Ende des Mittelmeers trieben, in Al Mina und Nordsyrien. Leute aus Euböa heirateten Leute, die eine semitische Sprache sprachen, in Italien, in der Levante und auf Euböa. Hierfür gibt es epigraphische Beweise. Es muss also zweisprachige Kinder gegeben haben, die Griechisch sprachen und zugleich Erben semitischer Traditionen waren.

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Dazu gehörte auch das Schreiben mithilfe eines kurzen syllabischen Zeichensatzes aus etwa 22 Zeichen. Und beim Hören von Homers Vortrag entschloss sich dann jemand, Homers Lieder aufzuschreiben, auf dieselbe Weise, in der seit Generationen, oder von Anfang an, Diktate aufgenommen wurden. Einer dieser bilingualen Verehrer mündlicher Gedichte sollte aber bald entdekken, dass die westsemitische Silbenschrift nicht dazu in der Lage war, mit ihren graphischen Zeichen eine griechische Gedichtzeile festzuhalten (man bedenke etwa die Homerische Form „aáatos“!).12 Wenn man nur die konsonantischen Werte, die eine Silbe einleiten oder schließen, aufzeichnete – in Anlehnung an die Prinzipien der ägyptischen oder phönizischen Schrift – dann ging die ursprüngliche Form der Verse, die an ihren Vokal-Clustern und den vielen unvorhersehbaren Dialektformen hängt, einfach verloren. Daraufhin begann er, fünf der phönizischen Zeichen vokalische Eigenschaften zuzuordnen, willkürlich oder weil einzelne semitische Konsonanten in seinen Ohren wie griechische Vokale klangen. Damit entdeckte er die grundlegende Tatsache, dass ein Leser allein aufgrund seiner Kenntnis der gesprochenen Sprache keine vokalischen Eigenschaften erschließen kann, die, wie in der westsemitischen Silbenschrift üblich, mit bestimmten konsonantischen Zeichen verbunden werden könnten, so dass jede Vokalqualität einzeln aufgeschrieben werden musste. Indem er nun den Vokalzeichen den gleichen Status verlieh wie den konsonantischen, reduzierte er die phönizischen Silbenschriften zu den alphabetischen Zeichen der griechischen Schrift – zu jenen Zeichen, die, ziemlich unvorhergesehen, die Welt verändern sollten. Mit der verbesserten Technologie war nun der ursprüngliche Zweck erfüllt. Der Adaptor, oder jemand, der an diesem Projekt mitwirkte, war wohlhabend, ein Kaufmann vielleicht? Die Kosten allein des Papyrus wären enorm. Homer bräuchte mehrere Wochen, wenn nicht Monate, um Ilias und Odyssee zu diktieren, unter einmaligen, nicht wiederholbaren Bedingungen, günstig für Gedichte, die viel zu lang und komplex waren, um jemals Teil des üblichen Repertoires eines Dichters gewesen zu sein. Ilias und Odyssee waren eine Gemeinschaftsleistung, entstanden am Schnittpunkt einer neuen Technologie mit dem Hauptvertreter der alten Tradition mündlicher Poesie. Weil sie der Tradition mündlicher Dichtung entstammen, erscheinen die Texte von Ilias und Odyssee, als hätten sie die Tradition der griechischen Literalität erst in Gang gesetzt. Und darum galten sie immer als die klassischen Texte dieser Tradition. 12

A.d.Hg.: In der Ilias 14,271 über die Wasser des Styx, die „unverletzlichen“ (Schadewaldt); in der Odyssee 21,91 (22,5) als Epitheton des Wettkampfs, der „untrüglich, entscheidend“ ist. Im Vers der Ilias ist das dritte a lang, im Vers der Odyssee das zweite (nach Pierre Chantraine: Dictionnaire de la Langue Grecque. Histoire des mots, Paris (Klincksieck) 1999).

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BARRY B. POWELL

Als die Arbeit getan war, wer außer dem Adaptor war in der Lage, die vielen teuren Papyrusrollen zu lesen? Der Text, oder Teile davon, wurde kopiert und in Umlauf gebracht. Und mit den Texten zirkulierte auch das Geheimnis ihrer Entzifferung – die Zeichenfolgen, die Namen der Zeichen und ihre Lautwerte. Homers Gedichte, oder Teile von ihnen, waren von Beginn an zentrale Bestandteile der griechischen Erziehung – und sie sind bis heute Teil des Curriculums geblieben. Auf diese Weise breitete sich die alphabetische Literalität schnell in Griechenland aus. Homers Gedichte definierten griechische Werte und etablierten die Technologie alphabetischer Literalität für Griechenland und Griechenlands Erben. Auf diese Weise also entstand das Alphabet.

Übersetzt von Sylvia Prahl (Berlin)

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Beatrice Gruendler

CHIFFRE UND SPIELFELD. KLEINE MEDIENGESCHICHTE DER ARABISCHEN SCHRIFT I. Zugängliche Sprache Wenn man über die arabische Schrift spricht, kommt man unweigerlich auf die Sprache. Und wenn man im Arabischen von Sprache spricht, muss man den Plural benutzen, denn seit frühester Zeit existierten zahlreiche regionale Dialekte (und auch noch heute, das fällt jedem auf, der mehr als ein arabisches Land bereist). Aber über diese regionale Vielfalt hinaus gab es bereits vor dem Islam eine gemeinsame Hochsprache in der Wichtiges ausgedrückt wurde, z.B. Sehersprüche, Rangstreitigkeiten zwischen Stämmen und Dichtung, die oft kriegerischen oder politischen Zwecken diente. Diese Situation der Multiglossie prägte nachhaltig die Art und Weise, in der man sich der Schrift bediente – davon im Detail später. Zunächst verfolgen wir, was einem namhaften Philologen unterlief und die Sprachsituation plastisch vor Augen führt. Al-Farrāʾ (gestorben 822), dessen Name wörtlich „Kürschner“ bedeutet – ein Spitzname, den er seiner bekannten Gründlichkeit verdankte, der Sprache buchstäblich das Fell über die Ohren zu ziehen – ging wie viele andere Berufsgenossen bei Hof aus und ein, wo er dem Kalifen al-Maʾmūn (Regierungszeit 813–33) als Gesellschafter diente und auch die wichtige Aufgabe des Prinzenerziehers erfüllte. Die Prinzen brauchten dies, denn das Arabische war wegen seiner Vielschichtigkeit etwas, was man nicht einfach in die Wiege gelegt bekam. Am Hof und im gelehrten Umkreis verwendete man nämlich die Hochsprache oder ʿarabiyya. Sprachfehler waren peinlich, ganz besonders für Kalifen. Es erforderte Bildung und Geistesgegenwart, diese Sprache zu sprechen. Sogar Gelehrte vertaten sich gelegentlich und al-Farrāʾ beschreibt die arabische Hochsprache als eine erlernte Fähigkeit. „Eines Tages trat er beim Kalifen al-Rashīd ein und beging im Sprechen mehrere Fehler. Der Wesir bemerkte: ‚Beherrscher der Gläubigen, er hat fehlerhaft gesprochen!‘ ‚Stimmt es, dass Du Fehler machst?‘, fragte der Kalif al-Farrāʾ, welcher erwiderte: ‚Fallendungen sind normal für Beduinen und Sprachfehler sind normal für Städter. Wenn ich aufpasse, mache ich keine Fehler, aber wenn ich meiner Natur nach rede, mache ich welche.‘“1 1

Ibn Khallikān, Wafayāt, Band 6, S. 177.

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Mit Fallendungen, also Flexion, meinte der Grammatiker, dass sich das zu dieser Zeit in den Städten gesprochene Arabisch von der Hochsprache am deutlichsten dadurch unterschied, dass ihm die grammatischen Wortendungen fehlten, das ist: der iʿrāb, was wörtlich in etwa zu übersetzen wäre mit „etwas Arabisch machen“. In der klassischen Dichtung, die von den Beduinen gepflegt wurde, waren die Wortendungen durch das quantitative Metrum geschützt und bewahrt. Zum einen musste man also diese ʿarabiyya lernen (und das ist auch heute im modernen Schriftarabisch noch so, das sich vom klassischen nicht wesentlich unterscheidet). Zum anderen war dies durchaus möglich und auch recht nützlich, denn seit den frühen Eroberungen war die Schicht der Araber in den meisten neu islamisierten Ländern sehr dünn und Menschen vielerlei ethnischer Herkunft machten die Hauptmasse der Bevölkerung aus, seien es – von Westen nach Osten – Westgoten, Berber, Byzantiner, Sprecher des Aramäischen, Perser oder Türken. Gleichzeitig war kultureller Import in Form von Übersetzungen seit dem achten Jahrhundert staatlich unterstützt, teuer bezahlt und prestigeträchtig. Fremdes Wissen war ebenso geschätzt wie notwendig: Griechische Logik wurde zur Disputation mit den Ostchristen über den Islam gebraucht; von der persischen Staatskunst schaute man sich ab, wie ein multiethnisches, sich über drei Kontinente erstreckendes Imperium zu regieren sei. In der Tat wurden während der ersten Herrscherdynastie der Umayyaden (661–750) die Staatsakten noch eine Weile auf Griechisch bzw. Mittelpersisch (Pahlavi) weitergeführt, bevor man um die Wende zum achten Jahrhundert Münze und Verwaltung ins Arabische übertrug. Der byzantinische Basileus musste es sich gefallen lassen, dass die aus Ägypten importierten Papyrusrollen von nun an mit einem arabischen Protokoll ankamen, das den Propheten Muhammad pries. (Die Bezeichnung „Protokoll“ für das Deckblatt einer Papyrusrolle durchlief bekanntlich eine interessante semantische Metamorphose – bis hin zur elektronischen Kommunikation.) Das Arabische diente zunächst ganz pragmatischen Zwecken der Staatsführung, aber auch der Verständigung der städtischen Bevölkerung, die aus Angehörigen verschiedener Muttersprachen bestand, und natürlich dem religiösen Gebrauch. Es gab obendrein gerade den nichtarabischen Mitgliedern der Gesellschaft die Gelegenheit, mittels guter Sprachkenntnis in Verwaltung und Wissenschaft einen Beruf zu erlangen; ganze Dynastien hoher Staatsbeamter waren aramäischer oder persischer Herkunft.

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Die Sprache war leicht zu erwerben. Das System der semitischen Sprachen ist im Arabischen besonders sichtbar und regelmäßig. Jedes Wort gehört zu einem Stamm aus meist drei Wurzelbuchstaben (in der Regel Konsonanten) mit einer Grundbedeutung, die allen daraus gebildeten Worten gemeinsam ist. Gewisse Wortformen, die bei jeder Wurzel wiederkehren, modifizieren diese Grundbedeutung in ableitbarer Weise. Die arabische Syntax hat Nominal- und Verbalsätze und ist linear gebaut (parataktisch), anders als etwa das Deutsche mit seinen langen Nebensätzen. In anderen Worten, das Arabische war „ausländerfreundlich“. Diese zu erlernende und lernbare Sprache wurde im achten Jahrhundert (in dem wir uns hier bewegen) mit allerlei Lehrmitteln wie Grammatiken und Wörterbüchern zugänglich gemacht, um ihre Aneignung zu erleichtern. Hier beginnt nun die Schrift eine Rolle zu spielen (vgl. Abb. 1).

Abb.1: Abū ʿAmaythals (gestorben 854) Wörterbuch mehrdeutiger Begriffe, eines der frühesten erhaltenen arabischen Bücher auf Pergament (Hds. Süleymaniye/Veliyeddin Efendi 3139, datiert 264 A.H./872 A.D., fol. 1v und 2r).

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II. Perfekt angepasstes Schriftsystem Die arabische Schrift ist janusköpfiger Natur. Sie kann einerseits den Inhalt verdecken und wirkt so als Chiffre. Andererseits erlaubt sie gleichzeitig mehrere Lesarten und wird so zum Spielfeld. In der ersten Funktion ermöglicht sie manchem Schreiber, sein Unwissen zu verhüllen, in der zweiten lässt sie den gebildeten Schreiber sein Wissen zur Schau stellen. Zunächst besteht im Arabischen der glückliche Umstand, dass die Schrift von Vorgängersprachen übernommen wurde, die ebenfalls der semitischen Sprachfamilie angehörten und nach dem oben genannten Dreier-Wurzel-System aufgebaut waren, für die das Alphabet im Phönizischen ursprünglich konzipiert worden war. Sie saß also schrifttechnisch an der Quelle.2 Das Arabische sieht zwar auf den ersten Blick ganz anders aus als das Phönizische oder Aramäische, wenn man aber seine einzelnen „Elemente“ betrachtet, kann man die Ähnlichkeit leicht feststellen.3 Der ganz andere Duktus oder Gesamteindruck des Arabischen entsteht dadurch, dass seine Buchstaben auf einer sie verbindenden fortlaufenden Grundlinie sitzen, so wie auch im Syrischen (vgl. Abb. 2). Abb. 2: Syrische Schrift, eine der vielen Varianten des spätaramäischen Alphabets (nach J. Teixidor, Deux documents syriaques du IIIe siècle après J.C. provenant du Moyen-Euphrate, Comptes rendus de l’Académie des Inscriptions et Belles Lettres, 1990, S. 145).

Die arabische Schrift ist keine Neukreation, sondern hat lediglich partielle Tendenzen der Vorläuferschriften auf alle Zeichen ausgedehnt und systematisiert. So waren im Aramäischen die Buchstaben häufig auftretender Wortgruppen bereits verbunden. Gleichzeitig verlängerte man dort den letzten Buchstaben 2

3

Bei der Erfindung eines Alphabets ist das Konzept des minimalen phonetischen Zeicheninventars von der tatsächlichen Umsetzung in konkrete Buchstaben zu trennen. Denn in den frühesten Versuchen alphabetischen Schreibens wurden Elemente älterer Schriftsysteme, z. B. Hieroglyphen oder Keilschrift, verwendet. Zur Geschichte des Worts „Element“ siehe weiter unten.

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eines Wortes mit einem Bogen oder Strich. Die arabische Schrift kombinierte beides, so dass jeder Buchstabe in vier Varianten existiert, die je nach Position nach vorn oder hinten oder in beide Richtungen verbunden sind, wobei die nur nach vorn verbundene Variante die Verlängerung erhielt und das Wortende markierte (vgl. Abb. 3). Man sieht einem Buchstaben also sofort an, wo im Wort er steht, und gleichzeitig dienen die verlängerten Endbuchstaben als Worttrenner.

Abb. 3: Das arabische Alphabet. Von links nach rechts enthalten die Spalten 1. Buchstabennamen, 2. Transkription des bezeichneten Lauts, 3. isolierte Form, 4. nach vorn verbundene Form (Wortende), 5. beidseitig verbundene Form (Wortmitte) 6. nach hinten verbundene Form (Wortanfang). Ausnahme sind sechs Buchstaben, die in keiner Position nach hinten verbunden werden.

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Im Arabischen war die von semitischen Verwandten übernommene Schrift ideal an die Sprachstruktur angepasst. Dies zeigt sich zunächst in der Formation der Schrift. Wie andere semitische Alphabete geht das Arabische auf das altkanaanäische Inventar von 22 Konsonanten zurück.4 „Alphabet“ heisst hier das, was Peter Daniels als abgad definiert. (Im Folgenden benutze ich jedoch weiterhin den landläufigen Begriff „Alphabet“, worunter auch das abgad fällt.) Es besteht nur aus Konsonanten, darunter zwei Halbkonsonanten (w und y), die in ihrer zweiten Funktion lange Vokale (ū und ī) ausdrücken.5 Die unmittelbare Herkunft der arabischen Schrift aus der nabatäischen, einer spätaramäischen Schrift, ist hinreichend dokumentiert, entgegen der von Jean Starckey fälschlich postulierten Herkunft aus dem Syrischen.6 Das Syrische beeinflusste den Schriftstil des Arabischen erst nach seiner Formierung. Die Aneignung des Nabatäischen für die arabische Schrift fiel in den Zeitraum zwischen dem Ende der Vorherrschaft des Aramäischen als Verkehrssprache (römische Eroberung des nabatäischen Stadtstaats 106 n. Chr.) und der Übernahme dieser Vorherrschaft durch das Arabische ab 622. Während dieser Periode fehlte jegliche Schriftkontrolle von Seiten einer Bürokratie und das Experimentieren nahm freien Lauf, um schließlich in die arabische Schrift zu münden. Während die epigraphische Variante des Nabatäischen langsam verfiel und in der Mitte des vierten Jahrhunderts verschwand, wurde die kursive Variante von Arabisch sprechenden Nomaden und Städtern übernommen, um damit ihre eigene Sprache zu schreiben (vgl. etwa das Graffito von Jabal Ramm in Jordanien, ca. 350).7 Im sechsten Jahrhundert hatte die arabische Schrift im Wesentlichen ihre heutige Form erreicht. Die Tatsache, dass die ersten Schreiber zweisprachig waren, nämlich Nabatäisch und Arabisch beherrschten, ermöglichte eine systematische Notierung solcher Laute, die im Nabatäischen weggefallen waren, mit Hilfe der etymologischen Entsprechungen im Arabischen, d.h. Worten, die aus der gleichen semitischen Wurzel gebildet waren. Jedoch reichten die 22 nabatäischen Grapheme nicht aus, um die 28 Laute, die es im Arabischen gab, eindeutig wiederzugeben, denn manche Buchstaben mussten mehrfach benutzt werden. Die so entstandenen Homographen, also mehrdeutige Buchstaben, sind bereits in den frühesten Texten der 622 beginnenden islamischen Ära unterschieden. Nach dem Vorbild des Syrischen wurden die verschiedenen Funktionen eines Graphems durch kleine Punkte oder Striche (diakritische Zeichen) markiert, die man je nach Funktion der entsprechenden Variante beifügte. 4 5 6 7

Obwohl die mit diesem Alphabet geschriebene altaramäische Sprache 26 Laute hatte, wurden vier in der Schrift nicht differenziert. Vgl. Daniels 1990. Vgl. Grohmann 1971, Healey 1990 und Gruendler 1993. Siehe Grohmann 1971, S. 16 und Tafel I; Gruendler 1993, S. 13 und 153.

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So erhielt s ‫ س‬drei Punkte, um š ‫ ش‬zu schreiben und t ‫ ت‬einen zusätzlichen Punkt, um ṯ ‫ ث‬auszudrücken, während ein Punkt darunter ein b ‫ ب‬daraus machte. Ein kleines in den Bogen des l ‫ ل‬eingeschriebenes Miniatur-k deutete den Buchstaben als k ‫ك‬, denn beide sahen inzwischen gleich aus. Diese Diakritika fluktuierten in der Frühphase noch leicht. Reste der Varianz zwischen dem islamischen Westen und Osten sind in Manuskripten noch heute zu finden: f und q sind im Maghreb durch einen Punkt jeweils über und unter dem Buchstaben unterschieden, jedoch im Osten durch einen bzw. zwei Punkte über dem Buchstaben. Manche Mehrdeutigkeit entstand durch das Zusammenfallen von Lauten (ṯ war im Nabatäischen mit t verschmolzen), andere wie die Paare b und t oder k und l, die das Nabatäische noch graphisch unterschied, sahen in der früharabischen Schrift gleich aus (vgl. Abb. 4). Der arabische Trend, Teile von Buchstaben zu homogenisieren, wie es etwa die moderne Helvetica mit der Lateinschrift tut, wurde in der abbasidischen Monumentalschrift auf die Spitze getrieben, die die 22 Zeichen auf vier geometrische Grundformen reduzierte (vgl. Abb. 5). Ähnliches geschieht in der modern arabischen Kalligraphie (vgl. Abb. 6).

Abb. 4: Tabelle arabischer Homographen, die durch Diakritika unterschieden sind.

Ferner wurden ergänzende muhmal-Zeichen erfunden, um anzuzeigen, wenn ein Buchstabe unmarkiert war. Die Markierung mehrdeutiger Buchstaben war aber insgesamt optional und schuf einen Freiraum, den Laien, Literaten und Wissenschaftler verschiedentlich nutzten. Die Häufigkeit der Diakritika variierte stark zwischen verschiedenen Texttypen, sozialem Umfeld und sogar in ein und demselben Text, bis die moderne Drucktechnik dem Spiel ein Ende setzte und die diakritischen Punkte standardisierte. Sie wurden fester Bestandteil der Buchstaben und die nun überflüssigen muhmal-Zeichen wurden abgeschafft. Wenn wir nun bei Wörtern anlangen, wird es kreativ. Wie oben ausgeführt, hat die arabische Schrift von der aramäischen einen Charakterzug übernommen, der den semitischen Sprachen eigen ist: Sie schreibt hauptsächlich Konsonanten. Das liegt an der Entstehungsgeschichte der semitischen Buchstaben. Die Vorläufer des Alphabets, protosinaitische und protokanaanäische Buchstaben, die aus der Zeit der 12. Dynastie des altägyptischen Mittleren Reiches (1850–1700 v. Chr.) stammen, waren abgeleitet aus einer Mischung von hieroglyphischen

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Abb. 5: Koran in frühabbasidischer Schrift (nach F. Déroche, The Abbasid Tradition. Qur’ans of the 8th to the 10th centuries AD, London und Oxford: The Nour Foundation in Zusammenarbeit mit Azimuth Editions und Oxford University Press: 1990, S. 61).

und hieratischen Wortzeichen, sogenannten Logographen, etwa für pr „Haus“ und für jrt „Auge“, die dann von semitischen Schreibern mit deren Worten für Haus und Auge umbenannt wurden, nämlich bêt respektive ʿayin, und zu Zeichen für das Alphabet selbst umfunktioniert wurden, indem der benannte erste Buchstabe des betreffenden Wortes den Buchstaben innerhalb des Alphabets benannte.8 Das Haus-Zeichen drückte nun den Laut b aus und das Auge-Zeichen den Laut ʿ: ein emphatischer stimmhafter Kehllaut, nach dem das Arabische auch „die Sprache des ʿAyn“ genannt wird. Aus diesem akrophonischen Prinzip folgt, dass nur solche Laute, die ein Wort beginnen, zu Buchstaben werden konnten. Vokale, auch wenn sie am Anfang eines Wortes stehen, folgen immer einem Stimmansatz (wie z.B. zwischen o und e im französischen Wort „Citroën“, wo die zwei Punkte des tréma dazu dienen, die Aussprache Vgl. Darnell et al. 2005; Gardiner 1916; Hamilton 2006, S. 21–22, S. 282–95; Sass 1988.

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Abb. 6: Moderne Kalligraphie von Mehdi Moutashar “Variations sur sept lettres de l’alphabet arabe” (1996), die die Homogenisierung der Buchstaben auf die Spitze treibt (nach M. Guesdon und A. Vernay-Nouri, Hgg., L’Art du livre arabe. Du manuscrit au livre d’artiste, Paris: Bibliothèque nationale de France: 2001, S. 182).

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„Zitrön“ auszuschließen). Dieser Stimmansatz ist in semitischen Sprachen ein selbständiger Laut mit eigenem Buchstaben, der dann am Wortanfang vor den Vokal tritt. Dies erklärt das Fehlen von Vokalen im altkanaanäischen und somit auch im daraus abgeleiteten arabischen Alphabet, und es führte auch zum chronologischen Vorsprung der Konsonanten vor den Vokalen in semitischen Alphabeten allgemein.

III. Das abgad und die Kunst des Weglassens Die Mehrheit semitischer Worte besteht, wie beschrieben, aus einer DreiKonsonanten-Wurzel und gewissen Zusätzen, die die Bedeutung abwandeln. Gleichzeitig ließ diese frühe Variante des Konsonantenalphabets und die damit verbundene Orthographie gewisse Dinge aus. Das Weggelassene aber war rekonstruierbar: Die Abfolge der kurzen Vokale ist großenteils vom Wortbau bestimmt. Nun sind aber die Konsonanten im Semitischen auch die Träger der Wurzelbedeutung, sozusagen der harte Kern. Nur diese zu schreiben, ist also der Sprachstruktur angemessen und stellt diesselbe noch klarer heraus. Die kurzen Vokale waren dem Sprecher ohnehin vertraut (vgl. Abb. 7). Doch ist die prinzipielle Unterscheidung zwischen Konsonanten und Vokalen ein Hauptmerkmal des abgad-Alphabet-Typs. Es hält die Funktionen dieser zwei Lautsorten klar auseinander, wobei beide einander ergänzen. Hans-Jürgen Sasse formuliert dies so: „Der bezeichnendste Zug der semitischen Morphologie ist die Beziehung zwischen Konsonant und Vokal“.9 In Kombination mit dem Wortbau aus Wurzel und morphologischer Form verlieh diese Aufgabenverteilung nach Lautsorten dem abgad bis heute Bestand. Ein Beispiel mag die Nützlichkeit des abgad-Systems nicht nur für den alltäglichen Gebrauch, sondern auch für die Sprachwissenschaft verdeutlichen, welche zu den ältesten Disziplinen der arabisch-islamischen Zivilisation zählt. Der erste große Lexikograph, al-Khalīl (gestorben 791), konnte in Zusammenarbeit mit seinem Schüler al-Layth (gestorben ca. 805) mit Hilfe von Wortwurzeln und abgad den gesamten arabischen Wortschatz erfassen. Er ging das arabische Alphabet – ohne Halbkonsonanten – in phonetischer Reihenfolge (von hinten nach vorn gemäß dem Artikulationsort jedes Lauts im Stimmapparat) dreimal durch und erhielt so 26 x 25 x 26 Dreiergruppen von Buchstaben, die alle mathematisch möglichen Kombinationen von Wortwurzeln ausschöpften (zweiter 9

Sasse 1981, S. 233

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Abb. 7: Verschiedene Formen der Wortwurzel k-t-b (rot markiert). Spalten zeigen von links nach rechts: 1. das Arabische in lateinischer Umschrift mit Großbuchstaben für geschriebene Konsonanten, Kleinbuchstaben für ungeschriebene Vokale und Superscript für ungeschriebene Endungen, 2. deutsche Bedeutung des Wortes, 3. das Wort in arabischer Schrift mit supralinearen Vokalzeichen, 4. das Wort in arabischer Schrift ohne Vokalzeichen.

und dritter Radikal, das ist: Buchstabe, der Wortwurzel können im Arabischen identisch sein, erster und zweiter dagegen nicht). Jedes Lemma, das aus der Dreiergruppe einer starken Wurzel bestand, war gefolgt von der entsprechenden schwachen Wurzel, d.h. mit Halbkonsonant als zweitem oder dritten Radikal, wiederum gefolgt von einem Abschnitt, in dem weitere Konsonanten zur Wurzel hinzukamen. Dann rotierte al-Khalīl jede Gruppe durch alle möglichen Abfolgen, nämlich sechs (abc, acb, bac, bca, cab, cba), und eliminierte aus den resultierenden theoretischen Sequenzen solche, zu denen es kein Wort im arabischen Sprachgebrauch gab. So gelangte er zu einer vollständigen Liste aller tatsächlich existierenden Wurzeln. Al-Khalīl nutzte als erster das abgad als unübertreffliches Ordnungs- und Erfassungssystem. Spätere Lexikographen mochten Bedeutungen zu bereits identifizierten Wortwurzeln beitragen, aber was die Summe der Lemmata betraf, war al-Khalīl nichts hinzuzufügen.

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Gleichzeitig wirkte dieses auf das Wesentliche reduzierte Schriftbild auch als Kürzel. Die drei Konsonanten waren unmittelbar für das Auge ersichtlich und fungierten als Wortzeichen oder Logograph für die Grundbedeutung des Etymons. Es ist leicht, einen arabischen Text mit dem Auge nach einem bestimmten Wort zu überfliegen, weil dieses eben graphisch minimal definiert und maximal von anderen Worten differenziert ist. Das Arabische wirkte daher als alphabetisches und zugleich in gewissem Grad als logographisches System. Ein weiteres Erbstück des Aramäischen, das wie das Englische die Fallendungen verloren hatte, war, dass es kein Vorbild gab, diese aufzuschreiben. Sie fehlten daher in der Schrift. Auch die Fallendungen können vom Arabischkundigen aus der Satzfolge rekonstruiert werden, sie sind also implizit vorhanden. Anders als die indischen Alphabete, die sich mit dem Sprachwandel veränderten, blieb das arabische Alphabet konstant. Dasselbe galt für die damit geschriebene Sprache; die ungeschriebenen Dialekte mochten sich weiter entwickeln, aber die ʿarabiyya war im Qurʾān, der Schrift der islamischen Verkündigung, festgeschrieben und als Gelehrten- und Literatensprache ein für allemal kodifiziert. Als weiterer Grund für ihre Stabilität kam später ihr durch alle Islamsprachen hindurch verbreiteter Wortschatz hinzu. In der Schrift waren die einzigen systemischen Veränderungen der anfängliche Übergang vom Aramäischen zum Arabischen (sowie schließlich heute der Trend in den elektronischen Medien arabischsprachiger Länder, die üblicherweise nur gesprochenen Dialekte in Lateinbuchstaben zu transkribieren).

IV. Eingebaute Adaption Mit der Ausbreitung der arabisch-islamischen Zivilisation in Westeuropa, Asien und Afrika wurde Arabisch als die dominierende islamische Schrift von den dortigen Sprachen übernommen, die viel mehr Vokale zu schreiben hatten. Dies waren keine semitischen, sondern indoeuropäische, indoarische, austronesische, dravidische, Berber- oder Turksprachen. Trotzdem erfuhr die Struktur der arabischen Schrift keine tiefgreifende Veränderung. Geringe Angleichungen reichten aus, denn ihre bereits existierenden Zusatzzeichen (diakritische Punkte und Miniaturbuchstaben) wurden für neue Zwecke geeicht und einige wenige neu dazu erfunden, z.B. ein kleiner Kreis in Paschto und Kaschmiri. Nur das Kurdische und das Uighurische gingen dazu über, alle Vokale mit eigenen Buchstaben zu schreiben. Sprachen, die die arabische Schrift bis heute beibe-

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halten haben, sind Berber, Kurdisch, Persisch, Urdu, Paschto, Sindhi, Kaschmiri und Uighur.10

Abb. 8: Persische Adaption der arabischen Schrift. Die obere Tabelle zeigt wie arabische Buchstaben (die zwei linken Spalten mit Umschrift und arabischer Buchstabenform) für im Arabischen nicht existierende persische Laute mit zusätzlichen Diakritika modifiziert wurden (die zwei rechten Spalten mit Umschrift und persischer Buchstabenform). Die untere Tabelle zeigt die identische persische Aussprache verschiedener arabischer Interdentale in arabischen Fremdworten.

Um Laute dieser anderen Sprachen auszudrücken, die nicht zum Inventar des arabischen Alphabets gehörten, wurden existierende arabische Grapheme modifiziert. Zum Beispiel persisches p, č , ž und g übernahmen diejenigen arabischen Buchstaben, die dem persischen Laut am nächsten kamen, nämlich b, j, z und k, und modifizierten diese mit drei Punkten bzw. einem Strich (vgl. Abb. 8; obere Tabelle). Solche Adaptionen standen mit dem Prinzip der Zusatzzeichen im Ursprungsalphabet in Einklang und dank dieses eingebauten toolkits blieb die arabische Schrift in den verschiedensten Sprachsituationen intakt.11 Andere Sprachen wechselten zum lateinischen Alphabet. Für das reiche Vokalrepertoire des osmanischen Türkisch war die arabische Schrift ungeeignet 10 11

Vgl. Kaye 1996 und Naim 1971. Siehe Gruendler 2012. Ich danke dem Herausgeber Stephen Houston für die Erlaubnis, den Artikel hier in erweiterter Form zu verwenden.

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und wurde 1931 von einem modifizierten Lateinalphabet ersetzt. Hier brach der Schriftwechsel auch mit der arabisch-islamischen Vergangenheit, war doch gerade das die Intention des Wechsels, der eine national-ethnische türkische Identität schaffen sollte, die sich von ihrer osmanischen Vergangenheit schied. Durch die Reform reduzierte sich der Anteil der arabischen Worte im Türkischen von 50 Prozent auf 26 Prozent. Auch andere Sprachen wie Altspanisch, Azeri, Serbokroatisch in Europa; Malaiisch (von der Arabisch-basierten jawi Schrift) im malaiischen Archipel; Sulu, Malgasy (von der Arabisch-basierten sorabe Schrift), Swahili, Hausa und Fulani in Afrika wandten sich aus ideologischen oder praktischen Beweggründen zur Lateinschrift. Maltesisch, der einzige Fall eines arabischen Dialekts, der verschriftlicht wurde, verwendete von Anfang an das lateinische Alphabet.12 Die meisten indoarischen Sprachen behielten das arabische Alphabet bei. Dies mag hauptsächlich an der Vielzahl arabischer Fremdworte in diesen Sprachen liegen, ganz besonders im Persischen. Doch dies gilt nur für die Schrift, nicht für die Aussprache. Mehrere Buchstaben, die sich im Schriftbild unterscheiden, werden identisch ausgesprochen. So klingen zum Beispiel ‫ ض‬,‫ ز‬,‫ ذ‬und ‫ ظ‬allesamt wie z (siehe Abb. 8; untere Tabelle). Solche von der persischen Sprache nicht verwendeten Buchstaben konnten indes nicht eliminiert werden ohne die historische Orthographie der arabischen Fremdworte unkenntlich zu machen. (Man erinnere sich der Empörung, die die relativ geringfügigen Änderungen der deutschen Rechtschreibreform auslösten, als vertraute Worte plötzlich fremd aussahen.) Die arabische Schrift gar abzuschaffen, hätte den Verlust eines Kulturerbes nach sich gezogen, das in der persischen Wissenschaft, Religion und Literatur bis heute fortlebt. Besonders die persische Literatur entwickelte sich in engem Kontakt mit der arabischen, samt übernommener arabischer Literaturgattungen wie dem ghazal (dt. Gasel). Aus dieser Verbindung entstanden nicht wenige zweisprachige Werke. Persische Gebildete schrieben bis ins vierzehnte Jahrhundert regulär in beiden Sprachen und entwickelten dabei sogar einen eigenen arabischen rhetorischen Stil. Iranische Theologen beherrschen das Arabische bis heute. Seit seinem ersten staatlichen Gebrauch für Münze und Verwaltung unter den Umayyaden (ca. 695–705), als es das Griechische und Mittelpersische (Pahlavi) ersetzte, blieb das Arabische in seiner Essenz erstaunlich konstant. Die Schrift war in muslimischen Ländern durch den Qurʾān gestützt, der die Sprache, in der Gott zu den Muslimen spricht, wörtlich als „klares Arabisch“ definiert. Es folgt, dass der Qurʾān per Doktrin unübersetzbar ist. Übersetzungen geben lediglich seine Bedeutung wieder, sind aber nicht mehr der Qurʾān selbst. Der 12

Vgl. Vanhove 1993.

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Islam ist der arabischen Sprache und Schrift aufs Engste verhaftet. Bis zur Moderne wurde in traditionellen Schulen (kuttāb) der Qurʾān nicht nur auswendig gelernt, sondern sein Text diente auch zur Lehre des Lesens und Schreibens. Die heutige Verbreitung des Arabischen als zweithäufigster segmentaler Schrift der Welt beruht zu gleichen Teilen auf ihrem religiösen Status und ihrer Anpassungsfähigkeit. Sie übertrifft bei weitem die Ausbreitung der arabischen Sprache. Die Heranziehung der arabischen Schrift für andere Sprachen verursachte keine grundsätzlichen Veränderungen, dank der dem Schriftsystem inhärenten Mechanik, die flexibel genug war ein breites Inventar von Lauten auszudrücken. In dieser Hinsicht gilt für die arabische Schrift, was David Lurie über die japanische sagt: „Das gesamte Schriftsystem war im Prinzip in der Lage, sich zu wandeln und gleichzeitig dasselbe zu bleiben.“13

V. Arabische Schrift als Chiffre Das in der Schrift Weggelassene auszufüllen oblag dem Leser. Tat man dies laut wie im Unterricht oder literarischen Debatten, demonstrierte man Sprachkenntnis und Eloquenz, bzw. enthüllte einen Mangel derselben. Wie gezeigt stellte das abgad die semitische Bauweise des Arabischen heraus. Die Konsonanten sprangen unmittelbar ins Auge und vermittelten die Grundbedeutung eines Wortes. Diese abgekürzte Schreibweise musste vom Leser vervollständigt werden. Dies war in der frühesten Phase kein Problem, als die Schrift noch hauptsächlich als Gedächtnisstütze für auswendig gekannte Texte fungierte (vgl. Abb. 7; 4. Spalte von links). Ab dem achten Jahrhundert jedoch vermehrten sich die praktischen Anwendungen der Schrift, und auch die dazukommenden nicht-arabischen Konvertiten zum Islam benötigten eine Schrift, die mehr phonetisches Detail lieferte. Nun war das klassische Arabisch eine erlernte Kunst, die offiziellen Zwecken zu genügen hatte, aber auch von Menschen unterschiedlichen Bildungsgrads benutzt wurde. Manche Texte und Situationen erforderten es, alle kurzen Vokale – a, i und u – zu schreiben. Diese vollständig ausgeschriebenen Hilfsvokale in Form kleiner Striche oder Punkte sollten die letzte Phase der Optimierung darstellen. (vgl. Abb. 7; 3. Spalte von links). 13

Lurie 2012, S. 179.

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V.1 Kreative Vokalschreibung Vorab ein Wort zur semitischen Vorgeschichte der Vokale. Dass semitische Schriften keine Vokale schreiben, bedarf der Präzisierung. Abgesehen von der Keilschrift, einer Silbenschrift, hatten manche semitischen Alphabete tatsächlich gar keine Vokale wie etwa das Altsüdarabische. Andere hingegen benutzten Hilfsvokale (Aramäisch), Vokale, die Teile von Konsonanten wurden (Äthiopisch) oder alleinstehende Vokale (Mandäisch und Punisch), entsprechend Florian Coulmas’ Klassifikation der Vokalschreibung.14 Die Faustregel, dass semitische Schriften Vokale ignorieren, ist also stellenweise zu modifizieren. So erfand man im vierzehnten Jahrhundert vor Christus im Ugaritischen gleich drei Versionen des Stimmabsatzes (ʾ), die mit Kurzvokalen kombiniert (ʾa, ʾi und ʾu) dem Alphabet hinzugefügt wurden. In diesem Entstehungsstadium des Alphabets experimentierte man noch; es existierten eine Lang- und eine Kurzversion mit je 30 bzw. 21 Buchstaben15 in zwei verschiedenen Reihenfolgen, die jeweils mit ʾ b g d und h l ḥ m begannen und beide nebeneinander in Ugarit Verwendung fanden. Die letztere Reihenfolge überlebt im Äthiopischen sowie in der Etymologie des lateinischen Wortes elementa mit der verallgemeinerten Bedeutung „Buchstaben, Alphabet, Anfänge“. Angesichts dieser Vielfalt von Konsonantenschreibung überrascht es nicht, dass man hier und dort auch Wege erfand, Vokale zu schreiben. Im Aramäischen wurden sekundär die Halbkonsonanten w und y dazu benutzt, die Langvokale ū und ī wiederzugeben (sogenannte matres lectionis). Die weiteren semitischen Schriften, die dem Alphabet Vokale hinzufügten, nämlich Mandäisch, Punisch und Äthiopisch, taten dies wie folgt: Die Schrift der Mandäer etwa, einer gnostischen Sekte Südmesopotamiens, erweiterte den Gebrauch der matres lectionis dazu, auch kurzes u und i zu schreiben. Das Wegfallen der Laute ʾ , ʿ und ḥ stellte nunmehr das Graphem ʾ zur Verfügung, um damit a zu schreiben, und das Graphem ʿ, um damit sowohl das seltene e als auch am Wortanfang u und i zu schreiben. All diese Zeichen saßen auf der Grundlinie als eigenständige Buchstaben. Im Punischen, einer Spätform des Phönizischen, waren die Laute h und ḥ aus dem phonetischen System herausgefallen, ihre Grapheme konnten gleichfalls als unabhängige Vokalzeichen dienen, hier nach dem Vorbild des Lateinischen. Altäthiopisch (Geʾez) erreichte dasselbe Ziel auf anderem Weg. Im vierten Jahrhundert wies Geʾez ein vollständiges Syllabar auf, das jeden Konsonanten mit sechs verschiedenen Vokalen kombinierte (a, ū, ī, ā, ē, schwa und ō). Die zwei Elemente jeder Silbe blieben jedoch optisch getrennt. Dies ga14 15

Vgl. Coulmas 2003, S. 111. Bei der 21 Buchstaben-Version musste man vier Zeichen doppelt verwenden, um die 25 Laute auszudrücken. Vgl. Dietrich and Loretz 1988, S. 271.

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rantierte, dass die konsonantischen Wortwurzeln immer noch sichtbar blieben, was im Mandäischen und Punischen nicht mehr der Fall war, wo die Vokale als eigene Segmente wiedergegeben wurden. Semitische abgads integrieren in der Tat auf mannigfaltige Weise Vokale in den Schriftkörper. Im Arabischen war eine Art, die Vokale sichtbar zu machen, nämlich vermittels matres lectionis, über das Nabatäische aus dem Aramäischen übernommen worden. Bereits im zehnten Jahrhundert vor Christus, im sogenannten ‘Kalender von Gezer’, diente das h dazu, die lange ā-Endung und andere Endlaute zu schreiben und die Halbkonsonanten w und y für ū und ī im Wort und am Wortende. In den vorislamischen Inschriften vom vierten bis zum sechsten Jahrhundert und im Qurʾān, dessen früheste Fragmente ins siebte Jahrhundert datieren, ist der Gebrauch der Halbkonsonanten für die Langvokale ū und ī als Erbe der aramäischen Orthographie erhalten.16 Das half zwar, diese Vokale zu schreiben, verursachte aber eine neue Ambiguität, denn die Halbkonsonanten erfüllten als Langvokale und Konsonanten eine doppelte Funktion. Eine arabische Neuerung war das Schreiben des dritten Langvokals ā, der wichtige grammatische Funktionen erfüllte (Akkusativ, adverbialer Umstand, Vokativ, usw.). Lautwandel im Dialekt des Hedschas (Ḥijāz), den die älteste Schicht der arabischen Orthographie reflektiert, führte zum Verlust des Stimmabsatzes, welchen ursprünglich der Buchstabe alif bezeichnet hatte. Die Orthographie bewahrte jedoch die historische Schreibweise von Worten mit dem nun überflüssigen alif. Dies führte dazu, dass der ungenutzte Buchstaben so gelesen wurde, wie er tatsächlich klang. Zum Beispiel in rās ‫„ راس‬Kopf“, statt der ursprünglichen Aussprache *raʾs verstand man nun alif als langes ā. Dieser Gebrauch dehnte sich zu ähnlich klingenden Worten wie nās ‫„ انس‬Leute“ aus, das ursprünglich ns ‫ سن‬geschrieben worden war, also gar kein alif verloren hatte. Allmählich verbreitete sich das längende alif, wie man an den aufeinanderfolgenden Phasen der qurʾānischen Orthographie noch erkennt, da sie als direkte Transkription von Gottes Wort nicht angetastet wurde. So kann der Qurʾān in seine historischen Schichten zerlegt werden, wie es Werner Diem getan hat. Alif bürgerte sich überall als langes ā ein ― außer im Namen Gottes, allāh ‫ هللا‬und ein paar häufig benutzten Partikeln (hādhā ‫ اذه‬, lākin ‫)نكل‬. Alif wurde ferner dazu verwendet, gleich aussehende Worte zu unterscheiden, nämlich die Konjunktion an ‫„ ان‬dass“ vom Pronomen ana „ich“, welches ein zweites alif erhielt, obwohl sein Endvokal kurz war. Pluralverben in der Vergangenheit (mit w-Endung) erhielten ein End-alif, um sie von Verben im Singular, die von der Konjunktion wa- „und“ gefolgt waren und von Verben der Gegen16

Vgl. Diem 1979, §§ 7–9.

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wart, die auf den Radikal w endeten, zu unterscheiden. Arabisch verfügte somit insgesamt über zwei Halbkonsonanten und alif, um seine drei Langvokale ā, ī und ū zu schreiben. Der gängige Begriff „Konsonanten-Alphabet“ ist also leicht irreführend, da die semitischen Alphabete keine reinen Konsonantenalphabete sind, sondern die Vokalschreibung nur verschiedentlich reduzieren, was der Begriff abgad eben genau bezeichnet. Eine weitere arabische Veränderung waren die Fallendungen (iʿrāb ), die im Nabatäischen nicht geschrieben wurden, weil es das Kasussystem verloren hatte wie auch der ḥijāzenische Dialekt, das erste geschriebene Arabisch. Als man jedoch das klassische Arabisch, welches das Fallsystem behalten hatte, danach auch niederschrieb, musste man diese orthographische Lücke schließen. So wurden das alif und (wahlweise) kurze Vokalzeichen dazu verwandt, die grammatische Funktion von Wortenden und die Unbestimmtheit von Substantiven auszudrücken. Eine solche Schreibweise und die Fähigkeit, sie laut zu lesen, erforderte vom Schreiber/Leser, dass er die grammatische Funktion eines jeden Wortes kannte. Der optionale Status der Fallendungen, sozusagen als Nachgedanke in der Schrift, war einer der Beweggründe, die arabische Syntax zu kodifizieren, um Sprecher zu einer korrekten Aussprache zu befähigen. Der Verlust des Stimmabsatzes im ḥijāzenischen Dialekt verursachte seinerseits Probleme in der klassischen arabischen Sprache, die neben den Fallendungen auch diesen Laut beibehalten hatte. Da er, abgesehen vom Wortbeginn, an vielen Stellen herausgefallen oder ersetzt worden war, wurde er als Zusatzzeichen über einem existierenden Buchstaben, dem sogenannten „Sitz“ ( ), wieder eingeführt, nämlich auf die folgende Weise: ‫ ئ ؤ إ أ‬. Wo er ersatzlos weggefallen war, schrieb man das Hilfszeichen auf die Grundlinie: ‫ ء‬. Andere neue Zeichen markierten außer Kurzvokalen und Fallendungen die Elidierung des Stimmabsatzes (waṣla), langes ā am Wortanfang (madda) und die Doppelung von Konsonanten (shadda). Wie die Diakritika wurden diese Zeichen in Texten mit wechselnder Häufigkeit notiert, das heißt: vollständig, gelegentlich oder nie – was je nachdem weniger oder mehr Bildung des Lesers voraussetzte. Nur in schwierigen Texten wie dem Qurʾān, der Dichtung und Sprachwissenschaft, deren korrekte Lesung unabdingbar war, erschienen sie komplett. So war innerhalb der ersten zwei Jahrhunderte des Islam und seiner sich entfaltenden Buchkultur die rudimentäre arabische Schrift (rasm ) mit einem Inventar zusätzlicher Zeichen (tashkīl, ḥarakāt) verfeinert worden. Sie war auf diese Weise sehr viel phonetischer geworden.

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V.2 Papierbasierte Kommunikation Eine weiter reichende, aber weniger offensichtliche Veränderung – da sie nicht als fester Teil des Schriftsystems firmierte – war die Art und Weise, wie die Orthographie Probleme löste, die sich beim Gebrauch der Schrift stellten. Die Blüte der arabisch-islamischen Zivilisation ist eng verknüpft mit einer auf Papier basierenden Kommunikation, die im neunten Jahrhundert eine radikale Ausweitung privaten und öffentlichen Schreibens ermöglichte, ja eine wahre Buchrevolution in Gang setzte, darunter die Niederschrift mündlicher Überlieferung, die Entwicklung kodikologischer Konventionen, die Formulierung der Sprachwissenschaften und die Formierung eines Literaturkanons. Die Schrift hielt mit der Geistesgeschichte Schritt. Bereits im Jahrhundert ihrer Entstehung differenzierte sie sich je nach Funktion eines Textes. QurʾānAusgaben, Kanzleibriefe oder wissenschaftliche Texte waren an ihrer Handschrift zu erkennen. In Papyri beobachtet man einen chronologischen Trend von eckiger zu gerundeter Schrift zusammen mit der Vereinfachung von Strichen, der Betonung der Kursive und vermehrte Verbindungen zwischen separaten Worten.17 Schriftgrößen reichten von der winzigen Taubenpost zu gigantischen Prachtqurʾānen. Platzbegrenzung wie auf den Zetteln der in den Maẓālim-Gerichtshöfen unterbreiteten Bittgesuche begünstigte einen konzisen elliptischen Stil der Urteilssprüche (Apostillen), die direkt darauf vermerkt wurden.18 Umgekehrt benutzten Sekretäre für offizielle Korrespondenz eine Schrift mit weitem Zeilenabstand, die ostentativ verschwenderisch mit dem teuren, unter Regierungsmonopol hergestellten Papyrus umging. Bücher fanden weite Verbreitung durch öffentliche Massendiktate an Laienhörer und freischaffende Kopisten. Diese „freien Verleger“ verkauften Abschriften solcher Vorlesungen und profitierten davon, dass das Besitzverhältnis geistigen Eigentums (einmal der mündlichen Kontrolle des Autors entglitten) in schriftlicher Form noch nicht geregelt war.19 In Qurʾānen, Staatskorrespondenz und Architektur wurde Schrift zu einer illustren Kunst, deren Vertreter hoch angesehen waren. Die Schriftentwicklung war begleitet von einer Vielzahl von Formaten, beispielsweise dem quadratischen Pergamentblatt der westlichen Qurʾāne und der hochformatigen Papierseite jener aus dem islamischen Osten. Wissenschaftler benutzten Layout und Textgliederung der zweidimensionalen Buchseite geschickt, um einen Mehrwert an Information zu erzeugen. Konventionen entwickelten sich für verschiedene Arten des Glossierens und Kommentierens auf derselVgl. Khan, 1992. Vgl. Gruendler, 2009a. 19 Vgl. Zayyāt 1992. 17 18

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ben Seite: als Scholion direkt in den Text eingeschrieben, als Randbemerkungen durch Verweis an bestimmte Textstellen gebunden oder als auf dem Rand fortlaufender paralleler Volltext.20 Die Möglichkeiten, Texte in Manuskripten zu korrigieren, zu kommentieren und zu kombinieren übertrafen bei weitem die des nachfolgenden Buchdrucks — was seine zögernde Akzeptanz motiviert haben mag. Die interaktive Handschriftentradition hat sehr viel mehr gemeinsam mit dem Hyper-Linking von Texten in unserer Ära des Internets.

VI. Zweigleisige Überlieferung Seit dem ausgehenden achten Jahrhundert bot die Schrift eine Alternative zur Gedächtniskunst, die mit Rhythmus und Reim (sajʿ) die Prosa – einschließlich des Qurʾāns – und mit Metrum und Reim (ʿarūḍ) die Dichtung stabil gehalten hatte. Meinungsverschiedenheiten über die korrekte Rezitation von QurʾānPassagen führten zur Herausgabe eines schriftlichen, verbindlichen Kodex und bereiteten der Akzeptanz zusätzlicher Zeichen in dieser religiös hoch determinierten heiligen Schrift den Weg. Der Legende nach führten sie sogar zur schriftlichen Festlegung der Grammatik.21 Dennoch ersetzte die Schrift die mündliche Überlieferung nicht, sondern beide existierten sehr lang in allerlei Kombinationen nebeneinander, und danach lebte eine stilisierte Mündlichkeit in literarischen Texten fort. Bis ins neunte Jahrhundert war die Transmission von Texten, insbesondere Dichtung, Qurʾān, Prophetentradition und Historie dem zuverlässigeren, geschulten Gedächtnis von Personen in den Berufen des rāwī, qāriʾ, muḥaddith und akhbārī anvertraut gewesen.22 Es gab anfänglich auch einen Widerstand gegen das Schreiben. Die juristisch wichtige Prophetentradition schriftlich niederzulegen, hätte zum Beispiel bedeutet, durch Schaffung eines zweiten, ebenbürtigen Buches mit der heiligen Schrift des Qurʾān und ihrem besonderen Status zu konkurrieren. Fernerhin blieb die mündliche Version der Tradition in der Obhut von Gelehrten offen für die Anpassung an neue Situationen. Es erforderte die Autorität eines Kalifen, der ein Buch über Ḥadīthe in Auftrag gab, um den Gelehrten diese Kontrolle streitig zu machen.23 Vgl. Déroche 2000; Gacek 2001, 2008. Vgl. al-ʿAskarī, Awāʾil, II, S. 115–16; al-Zubaydī, Ṭabaqāt, S. 21–22; Gruendler 2006b, S. 152a. 22 Ein rāwī überlieferte Dichtung, ein qāriʾ Qurʾān, ein muḥaddith Prophetentraditionen und ein akhbārī Berichte historischen Inhalts. 23 Vgl. Schoeler 1989, S. 45, siehe auch S. 58–60. 20 21

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In der Lehrtradition war das Vorlesen (qirāʾa) mit Korrektur eines Textes bzw. sein Anhören (samāʿ ) oder Diktat (imlāʾ ) mehr wert als eine rein schriftliche Kommunikation ohne mündliches Interface, wie etwa der Briefverkehr (murāsala), das Übergeben eines Buches (munāwala) oder das stillen Lesen (wijāda).24 Wer sich nur auf beschriebene Blätter oder Notizhefte (ṣuḥuf, s. ṣaḥīfa; dafātīr, karārīs) verliess, wie sie seit dem achten Jahrhundert im Umlauf waren, zog sich die abschätzige Bezeichnung eines Halbgebildeten (ṣuḥufī) zu, was wörtlich bedeutet, dass jemand Worte falsch aussprach, weil er bei keinem Lehrer die richtige Lesung gehört hatte.25 Der mündliche Lehrprozess schloss durchaus nicht aus, dass dabei Notizen gemacht wurden. Man misstraute dem menschlichen Gedächtnis; Gelehrte benutzten für sich selbst oder im Kreis ihrer Schüler Notizbücher als Gedächtnisstützen. Diese Komplementarität von Schriftlichkeit und Mündlichkeit, die zuerst von Gregor Schoeler beschrieben wurde,26 bietet eine Alternative zu den teleologischen Modellen Marshall McLuhans, Walter Ongs und Jack Goodys und hat mehr gemeinsam mit alternativen, nuancierteren Ansätzen.27 Regelrechte Bücher mit Titel, Vorwort, Inhaltsverzeichnis und Querverweisen wurden allerdings erst allmählich hergestellt und zwar vorwiegend auf Verlangen der Regierung – etwa die früheste Gedichtsammlung der Mufaḍḍaliyyāt, die der gleichnamige alMufaḍḍal (gestorben 780 oder 786) auf Geheiß eines Kalifen für die Erziehung seiner Söhne zusammenstellte. Die Verwerfungen zwischen mündlichem Vortrag und zunehmend geschriebenem Text riefen eine Flut normativer Schriften über sprachliches Tun und Lassen hervor. Feldforschende Philologen fixierten und systematisierten das klassische Arabisch auf der Basis des Qurʾāns und der vorislamischen Beduinendichtung, die sie sammelten und in Dīwānen herausgaben.28 Das Niederschreiben machte es einfacher, Informationen für die entstehende Bürokratie und die blühende, von Mäzenen massiv unterstützte Literatur und Gelehrsamkeit bereitzustellen. Zur Behebung der Probleme, die sich beim Lesen und Schreiben ergaben, entstanden besondere Buchtypen, nämlich Sekretärs-Handbücher, die Rechtschreibung und die ungeschriebenen Kurzvokale und grammatischen Endungen erklärten. Dies ist das Umfeld, in dem sich die oben beschriebene phonetische Optimierung der Schrift abspielte.

Vgl. etwa al-Samʿānīs Adab al-imlāʾ [“Methodik des Diktatkollegs”]. Vgl. Gruendler 2004. 26 Vgl. Schoeler 2002, S. 23–26, 2006, S. 40–42. 27 Vgl. dazu Clanchy 1979; Coleman 1996; Finnegan 1988; Street 1984. 28 Vgl. Versteegh 1997a und 1997b. 24 25

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VII. Problemlösen bei ungeschriebenen Vokalen Besonders die Distanz zwischen geschriebenem Vokal und ungeschriebenem Konsonant schuf Raum für kreative Problemlösung und soziale Differenzierung. Lautes Lesen setzte das Verständnis eines Texts, seines Kontexts und die korrekte Performanz der Grammatik voraus, im gleichen Zuge wurde die Flexion ideologisch aufgeladen. Gebildete Leser mochten Diakritika und Vokalzeichen als Beleidigung ihrer Intelligenz verachten, aber grammatisch weniger sattelfeste Leser benötigten Listen schwieriger Wörter und häufig gemachter Fehler. Im späten achten Jahrhundert wimmelte es von Veröffentlichungen mit solchen Listen, angefangen von den erwähnten Sekretärs-Handbüchern bis zu Abhandlungen über Barbarismen.29 Im Folgenden zeige ich an zwei Beispielen, wie der selektive und abgekürzte Code des abgad auf technischer und literarischer Ebene kompensiert wurde. Die aramäische und ḥijazenische Vorgeschichte hatte der arabischen Schrift das Weglassen von Fallendungen vererbt, deren Erörterung die Grammatiken viel Platz widmeten. Gravierender kam hinzu: Es fehlte das Fallsystem nicht nur in der Orthographie, sondern es war auch in städtischen und sogar einigen beduinischen Dialekten nicht mehr in Gebrauch.30 So wirkten Rechtschreibung und Alltagssprache zusammen, dieses essentielle, dem Arabischen inhärente Element zum Objekt separater Expertise zu machen. Darüberhinaus lernten die persischen, aramäischen, jüdischen, byzantinischen und berberischen Konvertiten zum Islam (mawālī), die die Bevölkerungsmehrheit in vielen eroberten Städten bildeten, ein gesprochenes Arabisch ohne grammatische Endungen (auch als „Neo-Arabisch“ bezeichnet) und gaben es so an ihre Nachkommen weiter. Der Meinung einiger zeitgenössischer Philologen zufolge hatte man gerade diesen Konvertiten die allgemeine Sprachverderbnis zu verdanken.31 Zwei Bevölkerungsgruppen hatten also die Flexion zu lernen: die Konvertiten der jungen islamischen Gemeinschaft und die Stadtaraber (muwalladūn), die anders als die Beduinen nicht mit der literarischen Praxis der ʿarabiyya aufgewachsen waren. Versäumten sie dies, so verriet ihre falsche Benutzung des iʿrāb beim Sprechen, Vorlesen und Rezitieren eine Bildungslücke (siehe oben). Siehe u.a. al-Zubaydī, Laḥn al-ʿāmma; al-Ṣūlī, Adab al-kuttāb, S. 57–61; Ibn Qutayba, Adab al-kātib, S. 238–332; siehe auch ʿAbd al-Tawwāb 1967; Ayoub 2007; Pellat 1986. 30 Vgl. Versteegh 1997b, S. 93–113; für eine andere Sicht siehe Owens 2006, S. 85–101, S. 114–118. 31 Vgl. al-Zubaydī, Laḥn al-ʿāmma, 34; Gruendler 2006a. 29

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Diejenigen, die den iʿrāb in jedem Fall meistern mussten, waren die Gelehrten. Ibn Fāris (gestorben 1004) nimmt deren diesbezügliche Nachlässigkeit und Ignoranz scharf aufs Korn.32 Um ein Beispiel zu geben: In einem (allerdings einseitig berichteten) Disput zwischen einem Logiker und einem Grammatiker stopfte der letztere dem Logiker für seine ungenügende Sprachkenntnis – sie hatte die mit dem eigentlichen Diskussionsthema nichts zu tun – den Mund und gewann so das Streitgespräch.33 Iʿrāb wurde praktisch mit Kenntnis der gesamten Syntax (naḥw) gleichgesetzt, die wiederum die Hälfte der arabischen Grammatik ausmachte. Die andere Hälfte war die Wortbildung oder Morphologie (taṣrīf )34 und die Beherrschung beider wies jemanden als gebildet aus. Daher war das Thema, das in den meisten arabischen Grammatiken am Anfang steht ― vom Grundlagenwerk des Persers Sībawayh (gestorben 793) bis hin zur Synopse der nach ihrem berberisch-marokkanischen Autor Ibn Ājurrum (gestorben 1323) betitelten Ājurrumiyya ― die Flexion von Nomen und sekundär von Verben, deren Fälle und Modi (marfūʿāt, manṣūbāt, majrūrāt, majzūmāt) unter iʿrāb zusammengefasst sind. Das dazugehörige Verb aʿraba (oder ʿarraba) bedeutet „sich klar ausdrücken“ und im technischen Sinn: „die Flexion eines Wortes aussprechen“. Der Lexikograph Ibn Manẓūr (gestorben 1311) erklärt, „Iʿrāb heisst so, eben weil es die Sprache klar und durchsichtig macht.“ Im sprachlichen Kontext definiert ʿAbdalqāhir al-Jurjānī (gestorben 1058) es als „eine Änderung des Wortendes, verursacht durch eine Änderung des vorhandenen oder implizierten grammatischen Regens mithilfe eines Kurzvokals oder Buchstabens“ (huwa hkhtilāfu ākhiri l-kalimati bi-khtilāfi l-ʿawāmili lafẓan wa-taqdīran bi-ḥarakatin aw ḥarfin). Der Begründer der modernen arabischen Philologie in Frankreich, Sylvestre de Sacy (gestorben 1838) verkürzte dies elegant zu „Wortendungs-Syntax“.35 Iʿrāb nahm der Schrift ihre Ambiguität. Es ist das, „was zwischen den [verschiedenen] Bedeutungen gleich aussehender Worte entscheidet.“ 36 Die gemeinten Bedeutungsmöglichkeiten waren syntaktischer Art. Al-Zajjājī (gestorben 949) erklärt, „Iʿrāb erscheint in der Rede, um schwierige Bedeutungen, mithilfe derer man Subjekt, Objekt und den ersten und zweiten Teil einer Genitivverbindung markiert, und weitere in Nomina vorkommende Bedeutungen auseinanderzuhalten.“ 37 Ferner konnte iʿrāb auch die Bedeutung eines ganzen Satzes als Frage oder Ausruf kennzeichnen. Vom Fehlen des iʿrāb in der Schrift Siehe Ibn Fāris, al-Ṣāḥibī, S. 66. Siehe al-Tawḥīdī, al-Imtāʿ wa-l-muʾānasa, S. 107–117. 34 Phonologie spielt in der arabischen Sprachwissenschaft eine untergeordnete Rolle. 35 Vgl. Fleisch 1986; auch Dévényi 2007. 36 Huwā l-fāriqu bayna l-maʿānī l-mutakāfiʾati fī l-lafẓ; Ibn Fāris, al-Ṣāḥibī, S 66, 77. 37 Īḍāḥ, S. 77. 32 33

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ausgehend, definierten al-Zajjājī und seine Nachfolger von der systematischen Schule Basrisch-Bagdadischer Grammatiker die Flexion eines Wortes getrennt von und sekundär zu seiner Form und Bedeutung. Dadurch wurde die Eigenständigkeit des iʿrāb theoretisch gerechtfertigt, d.h. ein Wort musste zunächst vollständig sein, bevor seine Flexion am Ende angefügt werden konnte.38 Die Kluft zwischen Graphem und Phonem und ihre Theoretisierung enthüllte Defizite in der Schrift und ebenso in der Fertigkeit ihrer Benutzer, doch im gleichen Zuge gab sie Gelegenheit, durch Brillieren in der ʿarabiyya Sozialprestige zu erringen.39 Wenn man sich allerdings an weniger Gebildete richtete, konnte ein zu perfekter Auftritt pedantisch wirken. Ibn Qutayba (gestorben 889) bemerkt, „Schrift folgt anderen Regeln als Sprache, in der Schrift empfindet man nämlich keinen Teil des Iʿrāb als unschön oder schwerfällig.“40 Den seltenen Ausrutscher eines Gebildeten fand man charmant und Gelehrte taten dies auch absichtlich quasi als intellektuelles Understatement, wie es Abū Bakr al-Ṣūlī (gestorben 946) beschreibt, „Die meisten Gelehrten machen Fehler beim Sprechen um nicht pedantisch oder arrogant zu wirken, aber beim Schreiben und im Gedichtvortrag ist das sehr unschön und nicht erlaubt.“41 Darüberhinaus war es didaktisch von Vorteil, mit einfachen Leuten in fehlerhafter Sprache umzugehen.

VIII. Sprachfehler als Literaturzweig Die beschriebene Diglossie zwischen Schrift und Umgangssprache und die massive Aufnahme von Fremdwörtern ins Arabische im Zuge von Übersetzungen warf neue Probleme auf. Die Aussprache einfacher Nomina, Eigennamen und fremder Fachbegriffe erschloss sich nicht einfach aus ihrer morphologischen Form. Die Vokale solcher Wörter mussten in Büchern über Sprachfehler abgehandelt werden und die aus der fremdsprachlichen Herkunft erwachsenden Manuskriptverschreibungen in Sekretärs-Handbüchern. Die erste Gattung dieser korrektiven Literatur heisst zu Unrecht „Sprachfehler der Ungebildeten“ (laḥn al-ʿāmma), denn sie richtete sich keineswegs an die ungebildete Masse der Bevölkerung, die sich darum nicht scherte, sondern an Angehörige der Elite und gebildeten Mittelklasse, die in die Redeweise der Vgl. Īḍāḥ, S. 67. Vgl. Fück 1955; Gruendler 2006b, 153b; Suleiman 2007; Versteegh 1997b, S. 53–73. 40 Adab al-kātib, S. 13–14; cf. Sanni 2008; Ullmann 1979, 18–19. 41 Adab al-kuttāb, S. 130–32. 38 39

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Unterschicht abrutschten.42 Sie begann bereits mit den ersten Grammatikern, denselben, die das klassische Arabisch systematisierten und kodifizierten, wie al-Farrāʾ, Abū ʿUbayda (gestorben 825), al-Aṣmaʿī (gestorben 831) und Ibn alSikkīt (gestorben 858). (Nur die Werke des ersten und des letzten sind erhalten.) Ein Jahrhundert später wurde Thaʿlabs (gestorben 904) vielkommentiertes Werk al-Faṣīḥ: „Der Sprachgewandte“, zum Vorbild des Genres. Ein späterer Klassiker war Durrat al-ghawwāṣ fī awhām al-khawāṣṣ: „Die Perle des Tauchers über Irrtümer der Gebildeten”, verfaßt von dem Prosa-Stilisten al-Ḥarīrī (gestorben 1122). Wie andere Themen der arabischen Grammatik wurde das Sammeln von Sprachfehlern zum Selbstzweck. Autoren der Mamluken- und Osmanenzeit (zwölftes bis achtzehntes Jahrhundert) rehabilitierten manchen vermeintlichen Fehler als althergebrachten Sprachgebrauch (u.a. Ibn Hishām, gestorben 1182) oder kompilierten frühere Werke (u.a. al-Ṣafadī, gestorben 1348, und Raḍī alDīn al-Ḥalabī, gestorben 1563). Mit Ibrāhīm al-Yāzijī (gestorben 1906), Ṣalāḥ al-Dīn al-Zaʿbalāwī und Maʿrūf al-Ruṣāfī (gestorben 1945) erreichte die Gattung die Moderne. Der ägyptische Arabist Ramaḍān ʿAbd al-Tawwāb zählt insgesamt 52 Titel über einen Zeitraum von elf Jahrhunderten, woraus Georgine Ayoub schließt, dass das Fehlersammeln eher ein Akt des Purismus war als eine Korrektur realen Sprachgebrauchs.43 Neben dem Auflisten falsch vokalisierter Vokabeln behandelte die Sprachfehlerliteratur auch falsch realisierte Laute, unkorrekt gebildeten Worte, etwas Syntax (etwa fehlendes alif im Akkusativ), Ätiologien von Redewendungen und die vielen verballhornten Fremdwörter, die keiner arabischen Wortform glichen, die bei der Aussprache zur Orientierung hätte dienen können. Die Form der Darstellung war eine simple Auflistung korrekter Lemmata oder Gruppen morphologischer Typen (samt, gelegentlich, deren falschem Gebrauch) als auswendig zu lernende Vokabeln. Den dahinter stehenden Sprachwandel, der diese Irrtümer verursacht hatte, würdigte man keiner Aufmerksamkeit. Die zweite Gattung korrektiver Literatur betraf Verschreibungen bei diakritischen Punkten (taṣḥīf, taṣaḥḥuf). Abū Aḥmad al-ʿAskarī (gestorben 993) behandelte dies in mehreren Werken über seltene Worte und Eigennamen, bei deren Schreibung man sich leicht vertat. Auf allgemeine Nachfrage widmete er zwei Kompendien jeweils Theologen und Literaten, was noch einmal zeigt, dass die Zielgruppe der Anti-Barbarismus Traktate nicht ungebildete, sondern berufliche Schriftbenutzer waren.44 Vgl. al-Zubaydī, Laḥn al-ʿāmma, 37; Ayoub 2007, 630b–631a; Pellat 1986, 606a. Siehe ʿAbd al-Tawwāb 1967, S. 97–100; Ayoub 2007, S. 631; Pellat 1986. 44 Gruendler 2009b. 42 43

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Auf berufliche Bedürfnisse ist auch die dritte Gattung der Sekretärhandbücher (adab al-kātib, adab al-kuttāb) zugeschnitten, die teilweise dieselben Korrekturen enthielten. Solche Handbücher vermittelten üblicherweise Geschichte und Usus offiziellen Briefverkehrs und rudimentäres Wissen über Besteuerung, Landvermessung, Gewichtseinheiten, Währungen und Buchführung. Ein großer Anteil war der Schrift gewidmet, wobei in Staatsbriefen die Benutzung von Diakritika und Kurzvokalen empfohlen wurde, um der Fehlausführung von Anordungen vorzubeugen. Weiterhin wurden Schwierigkeiten in der Schreibung der im Arabischen umdefinierten Buchstaben w, y, alif erläutert.45 Das zweitlängste Kapitel von Ibn Qutaybas Adab al-kātib zählt eben diese typischen Fehlerquellen der Konsonantenschrift auf, nämlich die Fehlplatzierung ungeschriebener und nicht ableitbarer Kurzvokale in Nomina, falsche Themenvokale in Verben und Irrtümer bei den nur selten geschriebenen Hilfszeichen für Stimmabsatz (hamza) und Doppelkonsonanz (shadda).46 Worte, die nur aus den Wurzelkonsonanten ohne Zusatz bestanden, spielten in diesen Handbüchern eine Hauptrolle. Unaugmentierte Wortformen boten keine Orientierungshilfe und verschiedene mögliche Vokale führten zu jeweils anderen Bedeutungen. In diesen einfachen Nomen wurde die Schrift am vieldeutigsten: eine geschriebene Form konnte mitunter dreierlei bedeuten, es kam nur auf die Aussprache an. Wenn Paare einfacher Nomen, die sich nur durch einen einzigen Kurzvokal unterschieden, ähnliche oder genau gegensätzliche Bedeutungen hatten, half auch der Kontext nicht, denn die verschiedenen Lesungen veränderten den Sinn eines ganzen Satzes oder Absatzes. So kann etwa das Wort ‫ ردق‬entweder als qadr „[menschliches] Vermögen“ oder qadar „[göttliche] Fügung“ gelesen werden (die dritte Möglichkeit, qidr als „Kessel“ zu lesen, konnte in solchem Kontext wohl ausgeschlossen werden). ‫ ربك‬kann als kibr „Stolz“, kubr „Größe, Autorität“ oder kibar „hohes Alter“ gelesen werden, Bedeutungen, die in gewissen Situationen schwer gegeneinander abzuwägen waren. Die richtige Bedeutung und Lesung solcher Worte zu treffen, erforderte Wissen und Feingefühl. Man brauchte eine gute Kenntnis des Wortschatzes und musste gleichzeitig den Zusammenhang verstehen. Um die Kurzvokale dingfest zu machen, benutzten Philologen nicht die kleinen Zusatzzeichen, für deren korrekte und komplette Wiedergabe sie sich auf spätere Kopisten hätten verlassen müssen, sondern sie erfanden eine Weise der Umschreibung. Coulmas erwähnt diese Technik in seiner Klassifikation der Vokalschreibung nicht; sie ist indes der japanischen kundoku-Methode ver45 46

Siehe al-Ṣūlī, Adab al-kuttāb. Vgl. Ibn Qutayba, Adab al-Kātib [„Handbuch des Sekretärs“], S. 238–332.

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gleichbar, bei der erklärende Phonographen (Lautzeichen) zwischen chinesische Logographen (Wortzeichen) eingesetzt wurden.47 So glossierte man im Arabischen die Vokalisierung eines Wortes entweder mit den Bezeichnungen der verschiedenen Kurzvokale (maftūḥ, maksūr, maḍmūm, sākin für jeweils a, i, u, oder ø) oder mit analogen Beispielworten. Das Vergangheitsverb des Typs ‫ لعف‬faʿila mit dem Themenvokal i wurde so analog mit „shariba“ ( ka-shariba) beschrieben, um es vom identisch aussehenden faʿala oder faʿula zu unterscheiden. Für die Schreibweise des alif wurden gleich mehrere Begriffe geprägt (mahmūz maqṣūr, mahmūz mamdūd, usw.). Es entwickelte sich jedoch keine übergreifende Terminologie für lange und kurze Vokale, sondern jede Kategorie wurde nach der Art definiert, in der man sie schrieb. Kurze Hilfsvokale hiessen „Vokalzeichen“, entweder tashkīl, das ist wörtlich: „Formgebung, Fesselung [der Ausprache]“, oder ḥarakāt, das ist wörtlich: „Bewegungen [der Konsonanten]“. Die zu Langvokalen umfunktionierten Halbkonsonanten hiessen „stille“ oder „kranke Buchstaben“ (ḥurūf al-ʿilla). Diese präzise, aber umständliche Umschreibung eignete sich für Grammatiken, Wörterbücher und Enzyklopädien, und sie überlebte die Handschriftentradition unversehrt. Doch weil sie so viel Platz in Anspruch nahm, blieb sie auf derartige Nachschlagewerke begrenzt. Die große Gruppe der unaugmentierten Nomen wurde zur eigenen Kategorie: der Vokal-Triade (muthallath), d.h. zu einem Wort, das in drei verschiedenen Vokalisierungen gelesen werden konnte. Der Begriff war eine Prägung des frühen Lexikographen Muḥammad b. al-Mustanīr (gestorben 821) mit dem Spitznamen Quṭrub, zu deutsch „Werwolf“, den er seiner Gewohnheit verdankte, seinen Lehrer schon vor Morgengrauen mit Fragen zu belästigen. Sein ursprüngliches Werk ist von seinen späteren Kommentaren verschluckt worden und nicht mehr davon zu unterscheiden, doch die Biographen Ibn Khallikān (gestorben 1282)48 und auf ihm basierend al-Ṣafadī49 bestätigen Quṭrubs Erfinderrolle. Wie in anderen lexikographischen Themen fuhren die Gelehrten bis ins 19. Jahrhundert fort, ihre Vorgänger zu verbessern und deren Material zu erweitern. Ihr ganzer Eifer ging darin auf, die unerschöpfliche Polyvalenz der arabischen Sprache herauszustellen, ein Punkt, der bereits in der Debatte über die kulturelle Vorherrschaft zwischen Arabern und Persern (shuʿūbiyya) im achten Jahrhundert aufgekommen war, wo die Vieldeutigkeit je nach Standpunkt als Vor- oder Nachteil verbucht wurde.

Vgl. Lurie 2012, S. 169–81. Ibn Khallikān, Wafayāt IV, S. 312–13. 49 Al-Ṣafadī, Wāfī V, S.19–20. 47 48

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Quṭrubs Triaden erreichten die Höhe ihrer Popularität mit ʿAbdalwahhāb b. al-Ḥasan al-Warrāq al-Bahnasī (gestorben ca. 1286), der sie in Verse goss. Quṭrubs ursprüngliches Werk ist nicht erhalten und in der Überlieferung erschienen zwei Listen verschiedener Länge. Al-Bahnasī legte die kürzere Liste von 29 Wörtern zugrunde; die längere, unpublizierte (und nur von Ṣalāḥ al-Farṭūsī tabellarisierte)50 Liste mit 103 Worten erfuhr keine derartige Bearbeitung. RajazGedichte mit reimenden Halbversen (muzdawij) waren eine beliebte Lernhilfe, wie etwa die nach ihren 1000 Versen benannte Alfiyya-Grammatik des Ibn Mālik (gestorben 1274), bis heute ein Standardwerk im traditionellen Curriculum. AlBahnasī ging jedoch über die übliche trockene Versemacherei hinaus und schuf regelrechte Literatur, und zwar ein Liebesgedicht (ghazal), in dem er die 29 Nomen sinnvoll unterbrachte. Dank der starken Konventionalisierung dieses poetischen Genres kann er dem Leser ein vertrautes Repertoire an Themen und Motiven ins Gedächtnis rufen und die zu erklärenden lemmata dadurch leicht kontextualisieren. In seinem Vorwort rühmt er sich seiner tour de force, jede Bedeutungsnuance auf dem minimalen Raum eines Halbverses hinreichend illustriert zu haben. „Jeder Vers gibt die Erklärung des lemmas, das er enthält, auf eine suggestive, konzise und eingängige Art, die leicht auswendig zu lernen ist“.51

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Siehe auch Quṭrub, al-Muthallath, MS Yale Arabic 15. Prosakommentar von Ibrāhīm b. Hibatallāh al-Lakhmī (gestorben 1321) zu al-Bahnasīs Gedichtversion von Quṭrubs Vokaltriaden (Sharḥ qaṣīdat Muthallathāt Quṭrub, Hds. Yale Landberg 489, fol. 1v und 2r).

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Es ist tatsächlich faszinierend zu sehen, wie die Rajaz-Verspaare die disparaten Bedeutungen zu einem poetischen Ganzen zusammenfügen. Das Gedicht vereinigt die bekannten topoi der Liebeslyrik.52 Es beginnt mit einer Abschiedsszene zwischen dem Dichter und seinem männlichen Geliebten53 und dem Fortziehen des Dichters durch die Wüste (Strophen 1–8), gefolgt von der Remineszenz eines Trinkgelages (khamriyya) mit dem Geliebten und seinen Gefährten. Die zweite und sechste Strophe zeigen die literarische Qualität des Lehrgedichts besonders gut. (Die Vokal-Triaden sind in der Übersetzung kursiv gekennzeichnet):54

inna dumūʿī ghamru yā ayyuhā dhā l-ghumru

wa-laysa ʿindī ghimru aqṣir ʿani l-taʿattubi...

jadda l-adīma ḥalmu wa-mā hanā lī ḥulmu

wa-mā baqā lī ḥilmu mudh ghibta yā muʿadhdhibī

Siehe Bauer 1998. In der klassischen arabischen Dichtung ist die Liebe eines erwachsenen Manes zu einem jüngeren Partner seit der Abbasidenzeit (ab Mitte des 8. Jahrhunderts) durchaus gängig; siehe Bauer 1998, 150–84. 54 Zitiert nach Quṭrub 1315 A.H. – Der Anfang der sechsten Strophe jadda fa-l-adīmu, entspricht dort nicht dem Metrum und ist nach Quṭrub, Sharḥ Muthallathāt Quṭrub (Hg. Cheikho, 1908) emendiert. Das Verb baqiya ist metri causa in seiner mittelarabischen Form baqā verwendet (wie auch laqā statt laqiya in der 23. Strophe). Cheikhos Edition korrigiert dies entgegen dem Metrum zu baqiya. Die Übersetzung ist die der Autorin. 52 53

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Meine Tränen sind ein Meer, Doch ich fühle keinen Hass, O Hastiger, Spar’ Dir den Tadel! Meine Haut litt Verfall, Ich finde keine Ruh’, Kein Traum erlöst mich, Seitdem Du, mein Peiniger, mich verließest. Das Gedicht besteht aus zweizeiligen Strophen, in denen die drei Varianten jedes lemmas in der Reihenfolge faʿl, fiʿl und fuʿl am Ende der drei ersten Halbverse stehen und einen Binnenreim bilden. Dies macht die Vokalisierung mit jeweils a, i und u klar und Hilfszeichen überflüssig (die womöglich in späteren Abschriften fehlen mochten). Quṭrubs Triaden fanden in dieser Form weite Verbreitung, was sich u.a. im Katalog propädeutischer Werke des Andalusiers Ibn Khayr55 (gestorben 1179) manifestiert, der das Buch gleich über mehrere Überlieferungswege erhielt, wovon zwei direkt auf Quṭrub zurückgehen. Al-Bahnasīs Verskommentar erschien in unzähligen Manuskripten, die ihrerseits Stoff für weitere dreizehn Superkommentare in Vers und Prosa lieferten.56 Sie fanden sogar einen Platz in der Tabelle der Wissenschaften in dem von Ismāʿīl b. Abī Bakr al-Muqri (gestorben 1433) verfassten ʿUnwān al-sharaf al-wāfī fī ʿilm al-fiqh wa-l-taʾrīkh wa-lnaḥw wa-l-ʿarūḍ wa-l-qawāfī: „Das verbürgte Ehrenabzeichen in den Fächern der Jurisprudenz, Geschichte, Grammatik, Prosodie und Reimlehre“, in dem jede Seite in fünf Richtungen gelesen werden kann, je nach der gewünschten Wissenschaft.57 Dies geschah zusätzlich zur Überlieferung der ursprünglichen Prosaliste nebst deren Kommentaren.58 Niemand brauchte sich mehr über eine Triade den Kopf zerbrechen, mehr noch: die Lücken in der Schrift hatten die Sprache bereichert. Vgl. Fahrasa, S. 361–362. Siehe al-Farṭūsī 1981, I:53–56; Sezgin 1982, S. 61–66. 57 Ich danke Dr. Muhammad Aziz für diesen Hinweis. Das Werk ist horizontal gelesen eine Abhandlung zur Jurisprudenz und enthält in vertikalen Kolumnen Traktate über Prosodie, Geschichte, Grammatik und Reimlehre. Die erste und letzte Kolumne sind am oberen Rand in zwei Bögen wiederholt, zwischen denen al-Bahnasīs Verskommentar eingefügt ist. Dies könnte jedoch eine spätere Ergänzung sein, da sie in nicht allen frühen Drucken erscheint (Cairo 1318 A.H./1900 and Karachi 1304 A.H.; siehe al-Muqri, ʿUnwān al-Sharaf, S. 203–6). 58 Siehe die vollständigen Listen in al-Farṭūsī 1981, I, S. 51–62, 97; Sezgin 1982, S. 62–64; al-Tamīmī 1988, S. 41–47. 55 56

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Während die reduzierte Form der Worte beim Lautlesen Halbwissen bloßstellte, wirkte sie beim Schreiben als Schleier, denn der Schreiber konnte den Grad seiner Kenntnisse verhüllen. Trotzdem wurde der iʿrāb im privaten Schreiben unnötigerweise gesetzt, oft an der falschen Stelle. Frühe Papyri im sogenannten Mittelarabisch (einer Mischversion zwischen Hoch- und Umgangssprache mit gelockerten Regeln, reduziertem grammatischen Inventar und Pseudokorrekturen) zeigen, dass selbst in Flexion unbedarfte Schreiber den Drang verspürten, ihre Texte mit gelegentlichen Akkusativ-Endungen zu verschönern. Diese Endung mittels eines separaten Buchstabens, tanwīn alif, war eine sehr häufige Fallendung und den Schreibern waren die Fallendungen wohlbekannt, auch wenn sie sie nicht auseinanderhalten konnten. So heißt es in einem frühen Papyrus mit unfreiwilligem nahezu berlinerischen Humor: “Denn ich brauche ihm”59 ( ; fa-innī ilayhi muḥtājan, statt des korrekten muḥtājun).60 Das Wort „Vater“, dessen Fallendung immer sichtbar war, wechselte zwischen Genitiv und Akkusativ ( / abī/abā), motiviert durch nichts als statistische Regelmäßigkeit.61 Dies ist das Bild, das uns das mittelarabische Schrifttum präsentiert, das leider viele Details der Aussprache verbirgt. Wissenschaftler müssen sich mit den wenigen Fällen begnügen, in denen nichtklassisches Arabisch in anderen Alphabeten, etwa dem griechischen, transkribiert ist. An den Fallendungen kann man sehen, wie die abkürzende Schrift in der mündlichen Praxis die mangelhafte Beherrschung des Arabischen verriet und Gebildete und Gelehrte nötigte, sich entsprechend zu wappnen. Aber auch das Gegenteil traf zu: Weil die Schrift die Endungen eben nicht vorsah, konnten diejenigen, die sie nicht beherrschten, dies kaschieren. Daraus folgt, dass Schreiben weniger riskant war als Lesen. Im Vergleich zu einer vollständig segmentalen Schrift wie dem lateinischen Alphabet verringerte das abgad mögliche Fehlerquellen. Nur dort, wo Fall oder Modus mit einem Buchstaben bezeichnet wurden, enttarnten sich weniger kompetente Schreiber.

Der Fehler ist nicht wörtlich übersetzbar und hier durch eine deutsche Dativ-Akkusativ Verwechslung wiedergegeben. Im Arabischen setzt der Schreiber im Prädikat des Satzes einen Akkusativ statt des korrekten Nominativ. 60 Hopkins 1984, S. 168. 61 Vgl. ebenda, S. 158–159. 59

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IX. Performanz Wenn man allerdings die Vokale angeben wollte, gab es verschiedene Möglichkeiten, je nach dem mehr oder minder praktischen Zweck und Schwierigkeitsgrad eines Textes und je nach der Bildung des Adressaten. Die Selbstprotektion gewisser Berufsgruppen und das Zurschaustellen von Wissen spielten dabei gleichermaßen eine Rolle und führten gelegentlich zu ausgeklügelten literarischen Spielereien. Hier waren Effizienz und Leserlichkeit kein universelles Prinzip. Besonders in der im 10. Jahrhundert aufkommenden Kunstprosa zelebrierten Autoren die Ambiguität der Schrift und benutzten double-entendre (tawriya), d.h. Wörter, die bei gleichem Aussehen (Homonyme) verschiedene und teilweise sehr seltene Bedeutungen hatten, über die der Leser dann entscheiden musste. Andere spielten mit den Diakritika wie der Prosastilist al-Ḥarīrī (gestorben 1122), der in seine pikaresken Maqāmen Predigten einfügte, die nur aus Buchstaben ohne diakritische Punkte bestanden.62 Minimalismus war ein anderer Zeitvertreib, etwa bei der folgenden Petition und ihrer kaum davon zu unterscheidenden Antwort. Der Empfänger hatte lediglich im letzten Wort (ganz links in der arabischen Zeile) einen neuen Anfangsbuchstaben hinzugefügt, der den Konditional der indirekten Bitte zu seiner eigenen bejahenden Antwort verwandelte:

Die Bitte lautet: in raʾā sayyidunā an yunʿima bimā saʾaltuhū faʿala „Falls unser Herr es für gut befände, zu geben, worum ich ihn bat, täte er es“, und die Antwort: in raʾā sayyidunā an yunʿima bimā saʾaltuhū… ʾafʿalu „Falls unser Herr es für gut befände, zu geben, worum ich ihn bat…“ „Ich tue es“.63 Vgl. Bonebakker 2000. Maqāmen sind in Kunstprosa verfasste fiktionale Erzählungen oft satirischen Inhalts. 63 Vgl. al-Thaʿālibī, Khāṣṣ al-khāṣṣ, 137. 62

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Das Eigenleben des iʿrāb war durch das Schriftsystem ausgelöst worden ― gesprochenes unflektiertes Arabisch und der esprit de corps der Philologen trugen das Ihrige dazu bei. Im Anschluss daran wurde iʿrāb zum philologischen Lieblingsthema und Bildungssymbol, das emblematisch für das Wissen um die gesamte arabischen Sprache stand. So kam es zum Paradox der gleichzeitigen Abwesenheit des iʿrāb in der Schrift und seiner Omnipräsenz in der Kultur. Seine Wertschätzung kulminierte mit Ibn Fāris (gestorben 1004), der Flexion mit Prosodie und Genealogie auf eine Stufe stellte.64 Nach seinem Dafürhalten war der iʿrāb eine Errungenschaft, durch die das Arabische alle anderen Sprachen und ganz besonders das Griechische übertraf.

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Vgl. al-Ṣāḥibī, S. 77.

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Oliver Primavesi

TETRAKTYS UND GÖTTEREID BEI EMPEDOKLES: DER PYTHAGOREISCHE ZEITPLAN DES KOSMISCHEN ZYKLUS Dem Andenken Friedrich Kittlers

Vorbemerkung Im Frühsommer 2011 lud Friedrich Kittler den Verfasser ein, auf dem bereits damals geplanten Symposion über ‚Götter und Schriften rund ums Mittelmeer‛ ein Referat zum ‚Zusammenhang zwischen den göttlichen vier Wurzeln des Empedokles, den Lettern des Alphabets und den Zahlen der Tetraktys‛ zu halten. Eine im Hinblick auf diese Problemstellung vorgenommene erneute Prüfung des derzeit bekannten Bestandes an Fragmenten aus und Zeugnissen zu dem Werk des Empedokles von Agrigent1 schien zunächst ein rein negatives Resultat zu erbringen: Zum Verständnis der Empedokleischen Annahme von vier Elementen (Rhizomata = ‚Wurzelwerke‛) – Feuer, Wasser, Erde und Luft – leistet weder die Doppelbedeutung ‚Element / Buchstabe‛ des Wortes Stoicheion (στοιχεῖον)2 einen nennenswerten Beitrag, da Empedokles das Wort Stoicheion gar nicht verwendet, noch die pythagoreische Tetraktys (1 + 2 + 3 + 4 = 10), da diese keineswegs mit der simplen Vierzahl verwechselt werden darf, wie sie bei den Empedokleischen Elementen vorliegt. Doch sobald der Verfasser den zweiten Teil von Kittlers Problemstellung einmal zu der Frage verallgemeinert hatte, ob es überhaupt einen Zusammenhang zwischen der Tetraktys und der Empedokleischen Physik gibt, wurde der Blick frei für eine überraschende Beobachtung: 3 Die Tetraktys schien einen Schlüssel für das Verständnis der Zeitan1

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Der heute vorliegende, durch Neufunde und -lesungen des ausgehenden 20. Jahrhunderts vermehrte und korrigierte Bestand an Originalfragmenten sowie eine Auswahl der Testimonien ist ediert und ins Deutsche übersetzt bei Mansfeld/Primavesi 2011: 392–563. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert, allerdings unter gelegentlicher Modifikation der Übersetzung und in seltenen Fällen auch des Textes. Zu Stoicheion vgl. Diels 1899, Burkert 1959, Schwabe 1980: 82–251; zur griechischen ‚Buchstabenmetaphysik‛ Villers 2005: 361–392. Der Verfasser konnte diese Beobachtung erstmals am 19.10.2012 in Karlsruhe auf

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gaben zum kosmischen Zyklus des Empedokles zu liefern, welche Marwan Rashed (Paris) im Jahre 2001 aus noch unedierten Florentiner Aristoteles-Scholien ans Licht gezogen hatte.4 Bei der Ausarbeitung dieser ‚Tetraktys-These‛ zum vorliegenden Aufsatz wurde der Verfasser durch ein glückliches Zusammentreffen gefördert: Im Jahre 2014 erhielt der Bestand der erwähnten Scholien zum kosmischen Zeitplan einen Zuwachs, durch den die Plausibilität der These noch einmal deutlich erhöht wurde. In diesem Jahre hat Rashed nämlich weitere, zuvor übersehene Scholien zu demselben Thema ediert und auf dieser Basis die von ihm selbst wie vom Verfasser früher angenommene Grundstruktur des kosmischen Zeitplans der Scholien5 in einem zentralen Punkt korrigiert.6 Auf der Grundlage der hierdurch etablierten Struktur des Zeitplans lässt sich die Tetraktys-These ungleich stringenter durchführen als unter der früheren Rekonstruktion.7

I. Die Empedokleische Physik und die Pythagoreer Empedokles von Agrigent (ca. 483/2–424/3 v. Chr.), der Dichterphilosoph der griechischen Klassik, sei „Anhänger (Zelotes) und Lehrling (Plesiastes) des Parmenides und mehr noch (kai eti mallon) der Pythagoreer“ gewesen:8 So wird er im Physik-Kommentar des neuplatonischen Aristoteles-Kommentators Simplikios9 charakterisiert, und zwar in einem Abschnitt, der aus Theophrast10 geschöpft ist und damit aus einer der wichtigsten Quellen für die Rekonstruktion

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jenem (von Kittler leider nicht mehr erlebten) Symposion zur Diskussion stellen, sodann am 30.06.2014 in Thessaloniki zur Eröffnung der 4th Biennial Conference der International Association for Presocratic Studies und schließlich am 23.07.2015 in einer im Tübinger Stift abgehaltenen Sitzung des gräzistischen Oberseminars von Irmgard Männlein-Robert. Vgl. dazu oben die Einführung zum vorliegenden Beitrag. Rashed 2001a und Rashed 2001b. Die dort erstmals edierten Texte jetzt bei Mansfeld/ Primavesi 2011: 490–499. Vgl. Rashed 2001b, Primavesi 2006, Primavesi 2008: 18–19 mit den Anmerkungen 46–51, und das Résumé bei Primavesi 2013: 704–707. Rashed 2014. Zu den Einzelheiten vgl. oben die Einführung und unten Abschnitt X. Der Verfasser dankt sehr herzlich Joulia Strauss für die Anfertigung der Graphiken zur Rekonstruktion des Zeitplans, Marwan Rashed für die Übersendung seiner addenda et corrigenda zu den Florentiner Scholien und für stets förderliche Diskussionen, sowie, last not least, Peter Isépy für eine nochmalige Überprüfung aller jetzt bekannten Florentiner Scholien zu Empedokles am Original in der Biblioteca Laurenziana. Empedokles Fr. 1 Mansfeld/Primavesi (DK 31 A 7): ᾽Εμπεδοκλῆς ὁ ᾽Ακραγαντῖνος … Παρμενίδου δὲ ζηλωτὴς καὶ πλησιαστὴς καὶ ἔτι μᾶλλον τῶν Πυθαγορείων.

Simplicius In phys. A 2; Diels 1882: 25: 19–21. Theophrast Physicorum opiniones Fr. 3 Diels (1879: 477,17–18) = Theophrast Fr. 227A Fortenbaugh et al. (1992a: 412), Zeilen 6–8.

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des vorsokratischen Denkens.11 Indessen ist die einheitliche Provenienz der beiden Teile dieses Satzes in der Forschung wiederholt bestritten worden. Während nämlich bei der ersten, Parmenides betreffenden Hälfte die Urheberschaft des Theophrast fraglos akzeptiert wurde – die Bedeutung der Parmenideischen Ontologie für das Empedokleische Denken gilt als evident12 –, wurde die zweite, die Pythagoreer betreffende Hälfte von Hermann Diels und von Walter Burkert als ein Zusatz des Simplikios bewertet.13 Die Feststellung einer primär pythagoreischen Prägung des Empedokles mochte man dem Theophrast also nicht zutrauen, und zwar offenbar deshalb nicht, weil eine solche Feststellung an dem traditionellen Bestand von Empedokles-Fragmenten und -Testimonien14 keine tragfähige Stütze findet. Zwar ist in den Fragmenten mythischen bzw. ethischen Inhalts, die man traditionell den Empedokleischen Katharmoi zuordnet,15 die Bezugnahme auf den älteren Pythagoreismus unverkennbar: Die Katharmoi sind als ein Abschiedsbrief gestaltet, den eine als Gott (‚Daimon‛) stilisierte Erzählerinstanz am Ende ihrer Inkarnationenfolge und kurz vor ihrer Rückkehr zu den Unsterblichen an ihre früheren Mitbürger zu Agrigent richtet.16 Das Motiv von der Inkarnation eines Gottes, der für eine bestimmte Zeit in das Dasein der irdischen Lebewesen und in den allgemeinen Kreislauf der Wiedergeburt ihrer Seelen einbezogen wird, um schließlich zu den Unsterblichen zurückzukeh11 12 13

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Zur Abwägung des von Aristoteles und des von Theophrast geleisteten Beitrags zur Doxographie vgl. Mansfeld/Primavesi 2011: 28–35. Reinhardt 1916: 208–209, O’Brien 1981: 30–31, Curd 1998: 155–171, Palmer 2009: 260–317 und 324–336. Vorsichtig Diels 1879: 477 im Apparat zu Zeile 18: „narratio de Pythagoreorum disciplina a Theophrasto aut aliena est … aut certe immutata redditur a Simplicio“. Etwas entschiedener Diels 31912: 200 im Apparat zu Zeile 13: „καὶ … Πυθαγορείων] wohl nicht aus Theophrast“, was Kranz in die Neubearbeitung (Diels/Kranz 51934: 283 im Apparat zu Zeile 28) unverändert übernahm. Noch entschiedener Burkert 1962a: 268 Anm. 72 (= 1972: 289–290, n. 59): „Theophrast sprach nur von der Beziehung zu Parmenides, erst Simplikios setzt καὶ ἔτι μᾶλλον τῶν Πυθαγορείων (ζηλωτής) hinzu“. Die für die Forschung des 20. Jahrhunderts grundlegende Empedokles-Edition war das Empedokles-Kapitel in Diels’ Poetarum philosophorum fragmenta (1901), von dem das entsprechende Kapitel der für Zwecke des akademischen Unterrichts gedachten Fragmente der Vorsokratiker (11903) zwar hinsichtlich der Quellenangaben nur einen Auszug bietet, andererseits aber um eine deutsche Übersetzung der Originalfragmente (‚B-Stücke‛) erweitert ist. Zur unterschiedlichen Referenz der beiden Werktitel Katharmoi und Physika sowie zur Aufteilung der Fragmente auf diese beiden Werktitel, vgl. Primavesi 2013: 685–694. Die innertextliche Erzählerinstanz der Katharmoi sollte man nicht unbesehen mit dem historischen Empedokles gleichsetzen, wie z.B. Burkert 1962a: 130 (= 1972: 153–154) es tut: „… wie konnte er sich selbst als Gott bezeichnen, wenn er nicht tatsächlich Außergewöhnliches, Staunenerregendes zu leisten oder jedenfalls darzustellen vermochte?“. Gegen ein solches Verfahren spricht schon die Differenz zwischen dieser göttlichen Erzählerinstanz und der menschlichen, auf Musenhilfe angewiesenen Erzählerinstanz der Physika.

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ren, teilt das erste Buch der Empedokleischen Katharmoi 17 mit der bereits von Aristoteles bezeugten altpythagoreischen Legende vom hyperboreischen Apollon und von seiner Inkarnation als Pythagoras.18 Auch die im zweiten Buch der Katharmoi übermittelten konkreten Lebensregeln wie das Bohnenverbot19 und das Schlachtungsverbot20 erscheinen als Übernahme bzw. als Radikalisierung der entsprechenden, ebenfalls von Aristoteles überlieferten altpythagoreischen Akusmata.21 Aber die Simplikianische – sei es aus Theophrast zitierte, sei es selbst formulierte – Stellungnahme zu der Frage, was den Denker Empedokles vor allem charakterisiert, muss natürlich in erster Linie auf dessen Naturphilosophie zielen, da diese fraglos im Zentrum der Theophrastischen wie vor allem der Simplikianischen Empedokles-Rezeption steht.22 Diese Naturphilosophie wird im Empedokleischen Naturgedicht (Physika) von einer als menschlicher Lehrer stilisierten Erzählerinstanz dem Einzelschüler Pausanias mündlich mitgeteilt: Dem Lehrer zufolge werden die vier Elemente (Rhizomata) Feuer, Wasser, Erde und Luft von der Liebe (Philotes) zu organischen Verbindungen (‚Lebewesen‛) zusammengefügt und vom Streit (Neikos) wieder voneinander getrennt; auf kosmischer Ebene alterniert eine Phase der Liebesherrschaft, die einen globalen Einheits- und Ruhezustand (Sphairos) herbeiführt, periodisch mit einer Phase der Streitherrschaft, die zum Zustand chemisch reiner Trennung der Elemente zurückführt. Ein prägender pythagoreischer Einfluss ist hier nicht leicht auszumachen, und wenn überhaupt, dann wäre dabei sicherlich weder an die Pythagoras-Legende zu denken noch an die Akusmata, sondern allenfalls an die von den Pythagoreern untersuchten Zahlenverhältnisse und die darauf gegründete 17 18

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Empedokles Fr. 8–24 bei Mansfeld/Primavesi 2011: 420–431. Aristoteles Fr. 191 Rose; Herakleides Pontikos Fr. 86 Schütrumpf et al. 2008; dazu Kerényi 1937: 22–24 (= 19–21); die Reihe dieser Inkarnationen ließ man mit der Inkarnation als Euphorbos (ein in der Ilias erwähnter Troer) einsetzen (Kerényi 1937: 23–24 = 20) und in der Inkarnation als Pythagoras kulminieren. Empedokles Fr. 37 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 141). Empedokles Fr. 31–35 Mansfeld/Primavesi. Aristoteles Fr. 194–196 Rose (Fr. 197 ist zu streichen!), dazu Burkert 1962a: 150–175 (= 1972: 166–192). Hinzu kommt Iamblich, De vita pythagorica 109 (S. 62,23–63,11 Deubner) und ibid. 82–86 (S. 47,4–50,17 Deubner; dazu Burkert 1962a: 152–154 = 1972: 167–170), sowie der womöglich auf Aristoteles zurückgehende Bericht über die Spaltung der Pythagoreer in Akusmatiker und Mathematiker bei Iamblich, De communi mathematica scientia 25 (S. 76,16–77,24 + 78,6–8 Festa; dazu Burkert 1962a: 188–191 = 1972: 193–197). Im Gegensatz zu Simplikios hat Theophrast auch am Opferverbot der Empedokleischen Katharmoi ein – religionsgeschichtlich motiviertes – Interesse genommen; dies zeigen die umfangreichen Abschnitte aus Theophrasts Schrift Über die Frömmigkeit, welche Jacob Bernays 1866 aus Porphyrios wiedergewonnen hat; vgl. Theophrast Fr. 584A–D Fortenbaugh et al. (1992b: 404–433).

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Naturerklärung im Rahmen der vier Mathemata.23 Bei unbefangener Betrachtung erweckt die fragliche zweite Hälfte der eingangs zitierten Charakterisierung den Eindruck, dass hier eine Prägung der zyklischen Physik des Empedokles durch die pythagoreischen Mathemata vorschwebt. Der Nachweis einer solchen Prägung der Physika aber ist bisher nicht geführt worden, und auf der Basis der bisher bekannten Physika-Fragmente und Zeugnisse konnte er auch nicht leicht geführt werden, da das Pythagoreische dort nur eine vergleichsweise bescheidene Rolle spielt. Zwar wird es in einem Dialog Plutarchs ausdrücklich als ‚pythagoreisch‛ bezeichnet, dass der Physika-Erzähler (‚Empedokles‛) seinen Schüler Pausanias zum Stillschweigen über die ihm mündlich mitgeteilten Lehren verpflichtet:24 καὶ τὸν ὁμώνυμον ἐμοὶ τῷ Παυσανίᾳ Πυθαγορικῶς παραινεῖν τὰ δόγματα στεγάσαι φρενὸς ἔλλοπος εἴσω τῷ Παυσανίᾳ Diels : τῷ παυσαμένῳ Vindobonensis T | στεγάσαι φρενὸς ἔλλοπος εἴσω Diels (στέγειν ἔσω φρενὸς ἔλλοπος οὔτε ἐλάσσω iam Wyttenbach 1797 p. 693 adn. ad E. 5) : στέγουσαι φρενὸς ἀλλ᾿ ὅπερ ἐλάσσω Vindobonensis T

… und dass mein Namensvetter (d.h. Empedokles) 25 den Pausanias nach pythagoreischer Sitte dazu ermahnt, die Lehren „zu verhüllen im Innern des stummen Sinns“.

Und als ‚pythagoreisch‛ lassen sich wohl auch die – von Aristoteles als marginal abgestempelten – Mischungsverhältnisse bestimmen,26 die Empedokles in den Physika sowohl für die Zusammensetzung von Blut bzw. Muskeln angibt (1 Teil Erde, 1 Teil Feuer, 1 Teil Wasser, 1 Teil Luft),27 als auch für die der Knochen (2 Teile Erde, 2 Teile Wasser, 4 Teile Feuer)28 und der Sehnen (1 Teil Feuer, 1 Teil Erde, 2 Teile Wasser).29 Diese Mischungsverhältnisse dürfen nämlich als ein vereinzeltes Zeugnis dafür gelten, dass Empedokles die isolierten Ansätze zu einer quantitativen Naturerklärung, die für die Pythagoreer auf den Gebieten Akustik und Astronomie bezeugt sind, spekulativ auf einen Teilbereich der 23 24 25 26 27 28 29

Zum Aristotelischen Résumé der Pythagoreischen Mathemata-Forschung in Metaph. A 5 vgl. jetzt Primavesi 2014b. Empedokles Fr. 46 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 5), aus Plutarch Quaest. conv. 728 E; IV 286,18–20 Hubert. Die Dialogfigur, der Plutarch diese Bemerkung in den Mund legt, trägt ebenfalls den Namen ‘Empedokles’. Aristoteles Metaph. A 10, 993a17–27. Empedokles Fr. 98 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 98). Empedokles Fr. 100 und 97 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 96 und A 78). Empedokles Fr. 97 Mansfeld/Primavesi (DK 31 A 78).

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Physiologie übertragen hat. Doch weder das Gebot des Stillschweigens noch die physiologischen Mischungsverhältnisse reichen dazu hin, die fragliche Behauptung einer überwiegend pythagoreischen Prägung des Empedokleischen Denkens auch für seine Naturphilosophie zu bestätigen, weswegen ein Gelehrter vom Range Eduard Zellers zu dem Schlusse kam, dass der pythagoreische Einfluss nur in den Katharmoi von Belang sei, wohingegen er in der Physik des Empedokles auf vereinzelte, untergeordnete Punkte beschränkt bleibe.30 Der Widerspruch zwischen diesem Befund einerseits und der eingangs zitierten Charakteristik des Empedokles als eines zwar auch von Parmenides, aber primär von den Pythagoreern beeinflussten Denkers andererseits lässt sich nicht schon dadurch aus der Welt schaffen, dass man den zweiten Teil der Charakteristik dem Theophrast abspricht und ihn vielmehr dem Simplikios zuschreibt. Zum einen liegt jene Charakteristik nämlich in ihren beiden Teilen (Parmenides / Pythagoreer) offensichtlich bereits dem hellenistischen Biographen Hermippos von Smyrna (3. Jahrhundert v. Chr.) vor, der sie kritisiert.31 Zum andern hat es auch nicht den Anschein, dass Simplikios, wie Cardullo 2011 meint, die Empedokleische Philosophie einfach deshalb als primär pythagoreisch bewertet haben könnte, weil er im Banne der neuplatonischen Umdeutung des Empedokles stand.32 Mag diese Umdeutung bei den neuplatonischen Vorgängern des Simplikios auch mit der Bezeichnung des Empedokles als Pythagoreer verbunden werden, wie Cardullo zeigt, so findet sich unter den wenigen von ihr angeführten Simplikios-Stellen, die überhaupt von der neuplatonischen Umdeutung beeinflusst sind, allein im Kommentar zu De caelo ein schwaches Echo der Zurechnung des Empedokles zu den Pythagoreern, und an der betreffenden Stelle liegt das tertium comparationis zwischen Empedokles und den Pythagoreern lediglich in der rätselhaften Ausdrucksweise.33 Es ist nicht anzunehmen, 30

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Zeller/Nestle 1920: 1024: „Der Einfluß des Pythagoreismus tritt nur in dem mystischen Teil seiner Lehre, in den Aussprüchen über die Seelenwanderung und die Dämonen, und in den hiermit zusammenhängenden Lebensvorschriften entschieden hervor; in der Physik dagegen macht er sich teils gar nicht, teils nur an einzelnen untergeordneten Punkten geltend“. Hermippos fr. 26 Wehrli (= Diogenes Laertios 8, 56; Vita Empedoclis Zeilen 54–57 Dorandi) kritisiert gerade die erste, Parmenides betreffende Hälfte: Ἕρμιππος δὲ

οὐ Παρμενίδου, Ξενοφάνους δὲ γεγονέναι ζηλωτήν, ᾧ καὶ συνδιατρῖψαι καὶ μιμήσασθαι τὴν ἐποποιΐαν· ὕστερον δὲ τοῖς Πυθαγορικοῖς ἐντυχεῖν.

Vgl. Cardullo 2011: 836–837. Grundlegend zur platonisierenden Umdeutung der Empedokleischen Philosophie im Allgemeinen ist die Studie von O’Brien 1981. Simplicius In cael. 140,25–30 Heiberg: ὁμοίως δὲ καὶ Ἐμπεδοκλῆς – τόν τε ὑπὸ τῆς

Φιλίας ἑνούμενον νοητὸν κόσμον παραδιδοὺς αἰνιγματωδῶς, ὡ ς ἔθ ο ς ἦ ν τ ο ῖ ς Πυθαγορεί οι ς , καὶ τὸν ὑπὸ τοῦ Νείκους ἀπ᾽ ἐκείνου διακρινόμενον αἰσθητὸν – οὔτε γινόμενα ταῦτα οὔτε φθειρόμενα ἐν χρόνῳ φησίν, ἀλλὰ τὸν μὲν νοητὸν κόσμον κατὰ τὸ ὂν ἑστάναι, τὸν δὲ αἰσθητὸν κατὰ τὸ γινόμενον καὶ τοῦτον τῇ διαδοχῇ φησιν ἀιδίως ἀνακυκλεῖσθαι.

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dass Simplikios, einer der genauesten Kenner der Empedokleischen Physika überhaupt,34 auf einer für ihn so marginalen Assoziation seine Charakterisierung des Empedokles als eines primär pythagoreischen Denkers aufgebaut hätte; vielmehr setzt er diese Charakterisierung an der aus dem Kommentar zu De caelo angeführten Stelle offenbar bereits voraus. Demnach ist der Hinweis auf die primär pythagoreische Prägung des Empedokles, wenn er denn von Simplikios selbst stammt, kaum weniger erklärungsbedürftig, als wenn er auf Theophrast zurückginge: Nimmt man den Hinweis ernst, dann darf man um die Empedokleische Physik keinen Bogen machen, und gerade hierin liegt, wie wir sahen, das Problem. Deshalb seien im Folgenden einige wenig beachtete und einige neue Indizien für eine pythagoreische Prägung der Empedokleischen Physik vorgestellt, wobei wir aber unter dieser Physik – im Gegensatz zu dem in seiner Fragestellung vergleichbaren Unternehmen von Peter Kingsley 1995 – einfach die Theorie einer zyklischen Einwirkung von Liebe und Streit auf die vier Elemente verstehen wollen.35

II. ‚Telauges‛ und die Tetraktys Einen naheliegenden Ansatzpunkt für die Suche nach dem Pythagoreischen der Empedokleischen Physik bietet die von Diogenes Laertios in exzerpierter Form überlieferte biographische Tradition zu Empedokles.36 In dieser Tradition wird nämlich das Pythagoreertum des Empedokles sogar noch stärker hervorgehoben als bei Simplikios – so stark, dass Diogenes Laertios die Empedoklesvita nicht nur in das Pythagoreerbuch (d.h. in Buch VIII) seines großen Werks stellte, sondern Empedokles dort unmittelbar auf Pythagoras selbst folgen ließ, vor Epicharm, Archytas, Alkmaion, Hippasos und Philolaos. Zwar dürfte auch für die biographischen Quellen zu Empedokles gelten, was Mary Lefkowitz als allgemeines Resultat ihres aufschlussreichen Buches ‘The Lives of the Greek Poets’ formuliert hat, nämlich dass die biographischen Quellen größtenteils fiktive Nachrichten enthalten, die ausgehend vom Werk des betreffenden Dichters generiert worden sind: 34 35

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Vgl. hierzu Primavesi 2002: 189–191. Wir wollen also nach Möglichkeit die pythagoreische Prägung dessen erweisen, was antike Autoren wie Aristoteles und Theophrast und neuzeitliche Forscher wie Eduard Zeller, Hermann Diels und Ettore Bignone unter Empedokleischer Physik verstanden haben, nicht aber, wie Kingsley 1995, die pythagoreische Prägung einer als Oberstufe einer magischen Unterweisung gedeuteten Empedokleischen Physik. Die grundlegende Aufarbeitung dieser Quellen wurde von Bidez 1894 geleistet.

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„… virtually all the material in all the lives is fiction, and … ancient biographers took most of the information on ancient poets from the poets’ own works“.37

Doch zeigt dieses auf den ersten Blick rein destruktive Resultat bei näherem Hinsehen eine vielversprechende Janusköpfigkeit. Insofern nämlich die Abwertung des biographischen Zeugniswertes der biographischen Quellen damit begründet wird, dass diese in Wahrheit lediglich aus dem Werk des Dichters schöpfen, impliziert sie zugleich eine Aufwertung des möglichen Zeugniswertes der biographischen Quellen hinsichtlich des Inhalts oder der Form des Werkes selbst: Jene Abwertung und diese Aufwertung sind zwei Seiten ein und derselben Medaille. Insbesondere in den Fällen, in denen das Werk des Autors uns nur noch fragmentarisch oder gar nicht erhalten ist, werden die biographischen Quellen damit potentiell zu wertvollen Stützen der Rekonstruktion des Werkes, auch wenn es sich von selbst versteht, dass solche Zeugnisse zur Rekonstruktion nur mit Vorsicht und insbesondere nur dann herangezogen werden dürfen, wenn sie durch unabhängige Indizien bestätigt werden. In der Hoffnung auf derartige Aufschlüsse über die Physika des Empedokles seien die biographischen Zeugnisse über seine Zugehörigkeit zu den Pythagoreern kurz durchmustert.38 Bei dem Rhetor Alkidamas (4. Jahrhundert v. Chr.) scheint der Pythagoreismus des Empedokles noch auf den in den Katharmoi geschilderten Habitus des göttlichen Wundermannes beschränkt. Empedokles habe die Naturphilosophie von Anaxagoras übernommen, von Pythagoras hingegen das „Feierlich-Prätentiöse in Lebensführung und Auftreten“ (τὴν σεμνότητα τοῦ τε βίου καὶ τοῦ σχήματος).39 Dies ist ein Schulbeispiel für die Grundsatzthese von Lefkowitz, da Alkidamas sich ersichtlich auf die Selbstdarstellung des göttlichen Erzählers in den folgenden Versen des Katharmoi-Proömiums stützt:40 37

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Lefkowitz 1981: viii. Speziell auf Empedokles ist diese Betrachtungsweise von Ava Chitwood 1986 angewendet worden, vgl. auch Chitwood 2004: 12–58. Der von Kingsley 1995: 227 gegen Chitwood 1986 erhobene Vorwurf, sie habe sich des ihrer These angeblich entgegenstehenden ‚magischen‛ Empedoklesfragments 42 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 111; zur Deutung vgl. Diels 1898: 409–411) einfach dadurch entledigt, dass sie „es zum Verschwinden gebracht“ habe („by making it disappear“), muss angesichts der von Chitwood 1986: 181–183 vorgetragenen Interpretation dieses Fragments als unsachlich gewertet werden; so dass das Kingsley von Schorn 2004: 372 Anm. 978 insoweit gespendete Lob („glänzend“) etwas überraschend kommt. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Belege gibt Burkert 1962a: 267–268 Anm. 72 (= 1972: 289–290 n. 59). Diogenes Laertios 8.56; Dorandi 2013: 632–633 (Vita Empedoclis Zeilen 57–63) = Alkidamas Fr. 8 Avezzù (1982: 52). Vgl. Burkert 1962a: 148 mit Anm. 41 (= 1972: 215–216 mit n. 29), sowie Schorn 2007: 130 Anm. 91: „Da Empedokles das Auftreten des Pythagoras nachgeahmt habe, muß Alkidamas von einer persönlichen Schülerschaft gesprochen haben“. Empedokles Fr. 5 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 112), Verse 1–8.

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ὦ φίλοι, οἳ μέγα ἄστυ κατὰ ξανθοῦ Ἀκράγαντος ναίετ᾽ ἀν᾽ ἄκρα πόλεος, ἀγαθῶν μελεδήμονες ἔργων, ξείνων αἰδοῖοι λιμένες, κακότητος ἄπειροι, χαίρετ᾽· ἐγὼ δ᾽ ὑμῖν θεὸς ἄμβροτος οὐκέτι θνητός πωλεῦμαι μετὰ πᾶσι τετιμένος ὥσπερ ἔοικα ταινίαις τε περίστεπτος στέφεσίν τε θαλείοις· ❬πᾶσι δὲ❭ τοῖς ἂν ἵκωμαι ἐς ἄστεα τηλεθάοντα ἀνδράσιν ἠδὲ γυναιξὶ σεβίζομαι·

Ihr Freunde, die ihr die große Stadt des gelblichen Akragas-Flusses bewohnt, auf den Burghöhen der Stadt, auf gute Werke bedacht, gastfreundliche Häfen für Fremde, selbst unerfahren im Leid – Lebt wohl! Ich aber – wahrlich: als unsterblicher Gott, nicht mehr als Sterblicher, ziehe ich umher: bei allen nach Gebühr mit Ehren ausgezeichnet, mit Binden umkränzt und blühenden Kränzen. Von allen, deren blühende Städte ich besuche, von Männern wie von Frauen, werde ich verehrt.

Doch bei dem Historiker Timaios von Tauromenion (ca. 350–260 v. Chr.), der den Empedokles im neunten Buch seiner Historiai explizit als einen Schüler des Pythagoras bezeichnet,41 findet sich die Nachricht, dass Empedokles sich später eines Geheimnisverrats schuldig gemacht habe und aus der Schule ausgeschlossen geworden sei:42 ἀκοῦσαι δ᾽ αὐτὸν Πυθαγόρου Τίμαιος διὰ τῆς ἐνάτης ἱστορεῖ, λέγων ὅτι καταγνωσθεὶς ἐπὶ λογοκλοπίᾳ τότε (καθὰ καὶ Πλάτων) τῶν λόγων ἐκωλύθη μετέχειν.

Dass er selbst bei Pythagoras gehört habe, berichtet Timaios im neunten Buch, wobei er sagt, dass er damals (genau wie Platon) wegen geistigen Diebstahls verurteilt wurde und von der Teilhabe an den Lehren ausgeschlossen wurde.

Bei einem solchen Geheimnisverrat kann Timaios bzw. seine Quelle schwerlich nur an die von Alkidamas erwähnten Äußerlichkeiten gedacht haben; diese Nachricht muss vielmehr auf die Übernahme und Weitergabe pythagoreischer Lehren durch Empedokles zielen. Infolgedessen erhebt sich die Frage, welche der von Empedokles verbreiteten Lehren man dabei im Auge gehabt hat: 41 42

Burkert 1962a: 176 mit Anm. 8 (= 1972: 111 mit n. 7). Diogenes Laertios 8.54; Dorandi 2013: 632 (Vita Empedoclis Zeilen 37–39) = FGrHist 566 F 14 Jacoby. Vgl. Burkert 1962a: 431 mit Anm. 55 (= 1972: 454 mit n. 37), ibid. 204 mit Anm. 9 (= 1972: 220 mit n. 12), sowie Zhmud 2012: 161.

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Sollte es sich womöglich um eben diejenigen Lehrstücke handeln, aufgrund derer man zu der bei Simplikios vorliegenden Einschätzung des Empedokleischen Denkens als eines in erster Linie pythagoreischen Denkens gelangte? Neanthes v. Kyzikos der Ältere, der jetzt ebenfalls bereits auf das 4. Jahrhundert v. Chr. zu datieren ist,43 bestätigt sowohl die Zugehörigkeit des Empedokles zur pythagoreischen Schule als auch den Geheimnisverrat des Empedokles und seinen Ausschluss aus dem Bund der Pythagoreer; selbst der Hinweis auf den Parallelfall Platon kehrt wieder. Andererseits hält Neanthes den Empedokles nicht, wie Timaios, für einen persönlichen Schüler des Pythagoras, und zwar offenbar aufgrund chronologischer Erwägungen.44 Hierdurch wird neben der bereits gestellten Frage nach dem Inhalt des angeblich verratenen Geheimnisses die weitere Frage aufgeworfen, welchem pythagoreischen Lehrer man die Übermittlung des fraglichen Geheimnisses an Empedokles zuschrieb. Dazu zitiert Neanthes zwar einen auf den Namen eines gewissen ‚Telauges‛45 gestellten Brief an Philolaos,46 in dem anstelle des Pythagoras vielmehr Hippasos und Brotinos als die pythagoreischen Lehrer des Empedokles genannt werden.47 Doch diesen Brief hält Neanthes für eine Fälschung, so dass er die Frage nach dem pythagoreischen Lehrer des Empedokles offen lassen muss:48 φησὶ δὲ Νεάνθης ὅτι μέχρι Φιλολάου καὶ Ἐμπεδοκλέους ἐκοινώνουν οἱ Πυθαγορικοὶ τῶν λόγων.

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Neanthes sagt, dass die Pythagoreer bis zur Zeit des Philolaos und Empedokles ihre Lehren als ihren gemeinsamen Besitz behandelten.

Neanthes FGrHist 84 F 27; zur Datierung Burkert 2000. Schorn 2007: 128–129 akzeptiert diese Frühdatierung, hält aber dennoch an der Priorität der von Timaios gegebenen Empedokles-Darstellung fest, anders Zhmud 2012: 68 mit n. 30: „Timaeus made use of Neanthes’ work“. Schorn 2014: 309. Zu ‚Telauges‛ vgl. v. Fritz 1934. Der Adressat ergibt sich aus Diogenes Laertios 8.53 a.E.; Dorandi 2013: 631 (Vita Empedoclis Zeilen 30–31 = Thesleff 1965: 189: Ep.ad Philol.): Τηλαύγης δὲ ὁ Πυθαγόρου παῖς ἐν τῇ π ρ ὸ ς Φ ι λ ό λ α ο ν ἐπιστολῇ … („Telauges, der Sohn des Pythagoras, sagt in seinem Brief an Philolaos,…“). Es trifft nicht zu, dass im ‚Telauges‛-Brief, wie Schorn 2014: 309 schreibt, Pythagoras noch selbst als Lehrer des Empedokles genannt würde („Neanthes opposes Timaeus, who sees this teacher as Pythagoras himself, and declares that the letter of Telauges, which stated this view, is untrustworthy, i.e. a forgery“ [Kursivierung von uns]). Bei Schorn 2007: 129 war der betreffende Abschnitt des Neanthes-Fragments noch vollkommen korrekt übersetzt. Diogenes Laertios 8.55; Dorandi 2013: 632 (Vita Empedoclis Zeilen 48–52) = Thesleff 1965: 189: Ep.ad Philol. Vgl. Schorn 2007: 126 („Mut zur Lücke“) und Zhmud 2012: 160–161.

TETRAKTYS UND GÖTTEREID BEI EMPEDOKLES

ἐπεὶ δ᾽ αὐτὸς διὰ τῆς ποιήσεως ἐδημοσίωσεν αὐτά, νόμον ἔθεντο μηδενὶ μεταδώσειν ἐποποιῷ.

(τὸ δ᾽ αὐτὸ καὶ Πλάτωνα παθεῖν φησι· καὶ γὰρ τοῦτον κωλυθῆναι). τίνος μέντοι γε αὐτῶν ἤκουσεν ὁ Ἐμπεδοκλῆς, οὐκ εἶπε· τὴν γὰρ περιφερομένην ὡς Τηλαύγους ἐπιστολὴν ὅτι τε μετέσχεν Ἱππάσου καὶ Βροτίνου, μὴ εἶναι ἀξιόπιστον.

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Nachdem letzterer aber durch seine Dichtung jene Lehren an die Öffentlichkeit gebracht hatte, gaben sie sich das Gesetz, künftig keinen Hexameterdichter mehr an ihren Lehren teilhaben zu lassen. (Genauso, sagt er, sei es auch Platon ergangen: Auch dieser sei von den Lehren ausgeschlossen worden). Doch bei welchem Pythagoreer Empedokles gehört hatte, sagte Neanthes nicht. Denn der unter dem Namen des Telauges umlaufende Brief, dem zufolge Empedokles Zugang zu Hippasos und Brotinos erlangt habe, sei nicht vertrauenswürdig.

Das skeptische Urteil des Neanthes über die Authentizität des ‚Telauges‛-Briefes ist berechtigt: Der in dem Brief für Empedokles angegebene Vatersname (Archinomos)49 ist ebenso dubios wie die dort gegebene Beschreibung seines Todes:50 Empedokles sei aus Altersschwäche ausgerutscht, ins Meer gefallen und ertrunken.51 Im Hinblick auf unsere Fragestellung aber ist die Bedeutung des fiktiven ‚Telauges‛ damit noch keineswegs erschöpft. 49

50

51

Diogenes Laertios 8.53 a.E.; Dorandi 2013: 631 (Vita Empedoclis Zeile 31 = Thesleff 1965: 189: Ep.ad Philol.): … τὸν Ἐμπεδοκλέα Ἀ ρ χ ι ν ό μ ο υ εἶναι υἱόν („… dass Empedokles der Sohn des Archinomos sei“). Der Vater des Empedokles hieß nicht ‚Archinomos‛, sondern ‚Meton‛ (die Belege sind bei Schorn 2004: 368–369, Anm. 962 zusammengestellt). Satyros F 12 (Schorn 2004: 115–116) nennt zwar ‚Exainetos‛, doch dürfte es sich bei diesem in Wahrheit um den Urgroßvater des Philosophen handeln; vgl. Schorn 2004: 368–372. Diogenes Laertios 8.74; Dorandi 2013: 643 (Vita Empedoclis Zeilen 264–265 = Thesleff 1965: 189: Ep.ad Philol.): ἐν δὲ τῷ προειρημένῳ Τηλαύγους ἐπιστολίῳ λέγεται αὐτὸν εἰς θάλατταν ὑπὸ γήρως ὀλισθόντα τελευτῆσαι („In dem bereits erwähnten Briefchen des Telauges wird gesagt, dass er gestorben sei, weil er aus Altersschwäche ausgeglitten und ins Meer gefallen sei“). Der Brief setzt voraus, dass ‚Telauges‛ den Empedokles überlebt hat, was nach Kurt v. Fritz darauf schließen lässt, dass ‚Telauges‛ hier noch nicht, wie in der späteren Tradition, als Sohn des Pythagoras betrachtet wird; vgl. v. Fritz 1934: Sp. 195: „Danach müßte also T. den Empedokles überlebt haben und könnte nicht als Sohn des Pythagoras das Zwischenglied zwischen diesem und Empedokles bilden.“ Dies dürfte als gewollt triviale Korrektur der beiden anspruchsvolleren, bereits seit dem früheren 4. Jahrhundert miteinander konkurrierenden Versionen gemeint sein (hierzu Primavesi 2014a: 28–32): zum einen der berühmten Legende vom Ätnasprung des Empedokles, zum andern des von dem Platonschüler Herakleides Pontikos dagegengesetzten Himmelfahrtsberichts.

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OLIVER PRIMAVESI

Der Biograph Hippobotos (1. Hälfte des 2. Jh. v. Chr.)52 bezeugt nämlich erstmals einen – nach heutiger Forschungsmeinung unechten – Hexameter,53 in dem Empedokles selbst den ‚Telauges‛ als Sohn des Pythagoras und der Theano anredet:54 ἦν καὶ Τηλαύγης υἱὸς αὐτοῖς, ὃς καὶ διεδέξατο τὸν πατέρα καὶ κατά τινας Ἐμπεδοκλέους καθηγήσατο·

Ἱππόβοτός γέ τοί φησι λέγειν Ἐμπεδοκλέα· Τήλαυγες, κλυτὲ κοῦρε Θεανοῦς Πυθαγόρεώ τε. σύγγραμμα δὲ φέρεται τοῦ Τηλαύγους οὐδέν, τῆς δὲ μητρὸς αὐτοῦ Θεανοῦς τινα.

Sie – d.h. Pythagoras und Theano – hatten auch einen Sohn, der zum Nachfolger seines Vaters wurde und nach der Meinung einiger auch den Empedokles unterrichtete. Hippobotos jedenfalls behauptet, dass Empedokles sage: „Telauges, berühmter Sohn der Theano und des Pythagoras!“. Eine Schrift des Telauges ist nicht im Umlauf, wohl aber einiges aus der Feder seiner Mutter Theano.

Diese feierliche Anrede wurde Diogenes Laertios zufolge von einigen Autoren, womöglich auch schon von Hippobotos selbst, als Indiz dafür gewertet, dass ‚Telauges‛, der bei Neanthes noch ausschließlich als Verfasser eines dubiosen Briefchens über Empedokles an Philolaos figurierte, nicht nur ein Sohn des Pythagoras, sondern in Wahrheit auch der Lehrer des Empedokles war.55 Von einer eigenen Schrift des ‚Telauges‛ ist bei Diogenes Laertios noch nichts bekannt.

52 53 54 55

Die Fragmente sind gesammelt von Gigante 1983, mit einem Nachtrag bei Gigante 1985. Zur Datierung vgl. Engels 2007: 176. DK 31 B 155. Diogenes Laertios 8.43, Dorandi 2013: 624–625 (Vita Pythagorae Zeilen 484–489) = Hippobotos Fr. 14; Gigante 1983: 186. Hippobotos wird explizit nur als Gewährsmann für den (unechten) Vers DK 31 B 155 angeführt, während das, was dieser Vers belegen soll, zunächst dem Laertianischen Kontext dieser Anführung zuzurechnen ist. Dass auch diese Folgerungen bereits bei Hippobotos gestanden haben, ist zwar durchaus möglich, aber nicht sicher. Deshalb sollte man nicht den gesamten Kontext ohne weiteres pauschal dem Hippobotos zuschreiben, wie Engels 2007: 187 es tut: „Hippobotos unterstützt (fr. 14) die Hypothese über eine direkte Sukzession von Pythagoras zu Empedokles. Hippobotos dürfte sogar der ‘Erfinder’ der Variante sein, daß Empedokles ein Schüler eines gewissen Telauges, eines Sohnes des Pythagoras und der Theano, gewesen sei. Dieses Schülerverhältnis war offensichtlich sowohl dem Historiker Timaios als auch dem Biographen Neanthes unbekannt. Hippobotos kann für dieses Schülerverhältnis lediglich „irgendwelche“ namentlich nicht näher bezeichnete Quellen anführen. Dies widerspricht seiner Eigenart, sich gerne namentlich auf Autoritäten zu berufen“.

TETRAKTYS UND GÖTTEREID BEI EMPEDOKLES

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Doch auf Dauer gab man sich mit der literarischen Unproduktivität des ‚Telauges‛ nicht zufrieden – ungeachtet des pythagoreischen Schweigegebots, zu dessen vorbildlicher Einhaltung dieser vermeintliche Pythagorassohn doch verpflichtet gewesen wäre. Vielmehr wurde ihm, nachdem er einmal als Lehrer des Empedokles etabliert war, zu guter Letzt eine Monographie in vier Büchern über die pythagoreische Tetraktys zugeschrieben. Diese Nachricht stand in dem spätantiken Handbuch zu Leben und Werk der paganen griechischen Autoren,56 das den Grundstock des byzantinischen Suda-Lexikons bildet:57 Τηλαύγης Σάμιος, Πυθαγόρου τοῦ πάνυ υἱὸς καὶ μαθητής, φιλόσοφος, διδάσκαλος Ἐμπεδοκλέους. ἔγραψε περὶ τῆς τετρακτύος βιβλία δ‘.

Telauges von Samos, Sohn und Schüler des großen Pythagoras, Philosoph, Lehrer des Empedokles. Er schrieb ein Werk Über die Tetraktys in vier Büchern.

Unter der Tetraktys (‚Vierergruppe‛) verstanden die Pythagoreer zunächst und zumeist die Folge der ersten vier natürlichen Zahlen (1 / 2 / 3 / 4) bzw. ihre Summierung zur Zehn (1 + 2 + 3 + 4 = 10).58 Nach dem Zeugnis kaiserzeitlicher Autoren sahen die Pythagoreer den eindrucksvollsten Beleg für die universale Bedeutung der Tetraktys in dem Sachverhalt, dass sich mittels der ersten vier Zahlen die reinen Intervalle der Musik mathematisch erfassen lassen, da diesen Intervallen die ganzzahligen Verhältnisse (z.B. zweier Saitenlängen) im Raum der ersten vier Zahlen korrespondieren: 4 : 3 ergibt die Quarte, 3 : 2 die Quinte, 2 : 1 die Oktave, 4 : 1 die Doppeloktave.59 Die experimentelle Sicherung dieses Sachverhalts geht bereits auf Hippasos von Metapont zurück,60 womit natürlich 56

Hesychios von Milet (6. Jahrhundert n. Chr.), Ὀνοματολόγος ἢ Πίναξ τῶν ἐν παιδείᾳ

57

Suda τ 481; IV 538.23–25 Adler = TELAUGES De tetract.; Thesleff 1965: 189.10–11. Delatte 1915: 247–268, hier: 256: „Cependant la somme de quatre nombres ordinairement identifiée avec la tétractys est 10, formé par l’addition des quatre premiers nombres : 1, 2, 3 et 4“. Vgl. z. B. Theon v. Smyrna, 93,19–21 Hiller: τὴν μὲν γὰρ τετρακτὺν συνέστησεν ἡ δεκάς· ἓν γὰρ καὶ β’ καὶ γ’ καὶ δ’ ι’, und dazu Kucharski 1952: 32: „Cette tétrade était capitale pour les Pythagoriciens, qui lui assignaient, comme nous le dit bien Théon de Smyrne, le premier rang, reconnaissant « qu’elle semble renfermer toute la nature de l’univers (δοκεῖ τὴν τῶν ὅλων φύσιν συνέχειν) … »“. Theon v. Smyrna, 93,21–24 Hiller: ἐν δὲ τούτοις τοῖς ἀριθμοῖς ἔστιν ἥ τε διὰ τεσσάρων συμφωνία (Quarte) ἐν ἐπιτρίτῳ λόγῳ (4 : 3) καὶ ἡ διὰ πέντε (Quinte) ἐν ἡμιολίῳ (3 : 2), καὶ ἡ διὰ πασῶν (Oktave) ἐν διπλασίῳ (2 : 1) καὶ ❬ἡ❭ δὶς διὰ πασῶν (Doppeloktave) ἐν τετραπλασίῳ (4 : 1), und dazu Kucharski 1952: 32. Vgl. Delatte 1915: 257–258; Burkert 1962a: 348–357 (= 1972: 369–378); Barker 2014: 186 und 202. Hinsichtlich der Historizität des von Hippasos unternommenen Experiments stimmen Burkert 1962a: 354–357 (= 1972: 375–378) und Zhmud 2012: 309–310 überein. Ebenso Barker 2014: 186 mit n. 3 und 202.

58

59

60

ὀνομαστῶν.

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über das Alter der Bezeichnung ‚Tetraktys‛ noch nichts gesagt ist. Immerhin soll der Pythagoreer Philolaos von Kroton (Mitte 5. Jh. v. Chr.) die Tetraktys als ‚Ursprung der Gesundheit‛ (ὑγιείας ἀρχήν) definiert haben.61 Die Zuschreibung einer Monographie über die Tetraktys an ‚Telauges‛ lässt jedenfalls aufhorchen. Denn ‚Telauges‛ wird dann und nur dann ins Spiel gebracht, wenn die Zugehörigkeit des Empedokles zu den Pythagoreern belegt werden soll; von einigen wurde er, wie wir bei Diogenes Laertios bezeugt fanden, sogar zum Sohn des Pythagoras und Lehrer des Empedokles gemacht, um die Weitergabe authentischer Lehren des Pythagoras an Empedokles über den chronologischen Abstand hinweg glaublich scheinen zu lassen. Deshalb liegt in der Tatsache, dass diese Mittlerrolle des ‚Telauges‛ in der Suda wiederkehrt, dort aber um die Zuschreibung eines Werkes über die Tetraktys erweitert ist, womöglich ein Indiz dafür, dass man das ‚Geheimnis‛, dessen Verrat man dem Empedokles zur Last legte, in der Tetraktys sah. Der Umstand, dass man innerhalb der biographischen Literatur zu Empedokles als dessen pythagoreischen Lehrer den ‚Telauges‛ identifizierte und diesem wiederum eine Tetraktys-Monographie zuschrieb, würde dann als Konkretisierung der Nachricht vom Geheimnisverrat des Empedokles zu erklären sein. Daraus ergibt sich die Frage, ob es in der antiken Empedokles-Rezeption auch außerhalb der Biographie Anhaltspunkte für die Verbindung der Tetraktys mit Empedokles gibt. Die beiden in dieser Hinsicht meistversprechenden Zeugnisse sind zum einen die empedokleisierende Auslegung der Tetraktys im PythagoreerEid und zum andern die kaum verständliche und deshalb übersehene Deutungsthese des Nikomachos von Gerasa zum Empedokleischen Pythagoras-Lob. Diese beiden Zeugnisse seien im Folgenden geprüft.

III. Der Pythagoreer-Eid und die Empedokleische Physik Die über den Bereich der musikalischen Intervalle hinausgehende kosmische Geltung der Tetraktys brachten die Pythagoreer nach Theon von Smyrna in ihrer 61

Philolaos DK 32 A 11. Dazu Huffman 1993: 355–356, sowie, gegen die Authentizität, Zhmud 2012: 302 n. 56, der freilich nicht erwähnt, dass Huffman 1993: 356 gerade das Fehlen eines durchschlagenden Einwandes gegen die Authentizität konstatiert. Hingegen besteht über die Unechtheit des Lysis-Zeugnisses zur Tetraktys (DK 46, 4, aus Athenagoras) Einigkeit zwischen Burkert 1962a: 437 mit Anm. 92 (= 1972: 461 mit n. 71) und Zhmud 2012: 302 n. 56.

TETRAKTYS UND GÖTTEREID BEI EMPEDOKLES

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vielzitierten Eidesformel zum Ausdruck,62 welche den Schulgründer Pythagoras als Erfinder der Tetraktys preist.63 Ausweislich der mehrheitlich überlieferten verneinenden Form des ersten Verses ist die Eidesformel offenbar als das Gelübde stilisiert, die Lehren der Schule nicht an die Öffentlichkeit zu bringen:64 οὐ μὰ τὸν ἁμετέρᾱι γενεᾶι παραδόντα τ ε τ ρ α κ τ ύ ν 1 οὐ] ναὶ Hippol. Ref. VI.23.4, Carm. aur. 47 | γενεᾶι Porph. V.P. 20, Iambl. V.P. 162 : κεφαλᾶι Sext. M 7.94; Hippol. l.c.; Stob. I.10.12; v.l. ap. Theon. 94 Hiller : ψυχᾶι Ps.Plut. Dox. 877A; Sext. M 4.2; Theo l.c.

Gewisslich nicht! Bei IHM, der unsrer Gattung schenkte die Te t r a k t y s , ...

Im zweiten Vers wird dann mittels einer Apposition die kosmische Bedeutung der Tetraktys expliziert, die Theon in dem Eide ausgedrückt fand:65 π ᾱ γ ὰ ν ἀενάου φύσεως ῥ ι ζ ώ μ α τ ’ ἔχουσαν.

den F l u s s l a u f (Paga) ewig strömender Natur, den Hort der E l e m e n t e (Rhizomata)!

Diese beim ersten Hinsehen recht dunkle Erklärung der Tetraktys nimmt in der Tat nicht auf musikalische Intervalle Bezug, sondern vielmehr, wie Walther Kranz gesehen hat, auf zwei Grundbegriffe der Empedokleischen Physik, nämlich Rhizomata (ῥιζώματα) und Paga (παγά, dorisiert aus πηγή).66 Dies ist offenbar nicht erst in der Neuzeit wahrgenommen worden: In den Theologumena 62

63

64 65 66

Theon v. Smyrna, 93,25–94,5 Hiller: τοιαύτη μὲν ❬ἡ❭ ἐν μουσικῇ τετρακτὺς κατὰ

σύνθεσιν οὖσα, ἐπειδὴ ἐντὸς αὐτῆς πᾶσαι αἱ συμφωνίαι εὑρίσκονται. οὐ διὰ τοῦτο δὲ μόνον πᾶσι τοῖς Πυθαγορικοῖς προτετίμηται, ἀλλ᾽ ἐπεὶ καὶ δοκεῖ τὴν τῶν ὅλων φύσιν συνέχειν· διὸ καὶ ὅρκος ἦν αὐτοῖς κτλ.

Pythagoras Iusiur.; Thesleff 1965: 170,15–16 = Pythagoreische Schule DK 58 B 15 = Pythagoras, ältere Pythagoreer Fr. 29 Mansfeld/Primavesi. Eine ausführliche Behandlung des Eides gibt Delatte 1915: 249–253; vgl. Burkert 1962a: 170–172 (= 1972: 186–188) und Zhmud 2012: 300–303; die verzweigte Überlieferung der Eidesformel ist bei Delatte 1915: 249–250 n. 1 zu p. 249 dokumentiert. Demnach ist der früheste Zeuge für die vollständige Eidesformel erst das von H. Diels auf den Namen des Aëtios gestellte doxographische Sammelwerk (1. Jahrhundert n. Chr.); vgl. Diels 1879: 282a8–11 (Ps.-Plutarch) und 282b3–6 (Stobaios); doch einige Berührungspunkte mit dem Eid finden sich schon bei Philon v. Alexandria; vgl. hierzu Zhmud 2012: 302 n. 59. Pythagoras Iusiur.; Thesleff 1965: 170,15. Pythagoras Iusiur.; Thesleff 1965: 170,16. Zeller/Nestle 1920: 1025 Anm. 2. Kranz 1938: 438; Burkert 1962a: 170 mit Anm. 172 (= 1972: 186 mit n. 155). In den von Zhmud 2012: 301–303 vorgetragenen Überlegungen zur Datierung des Eides findet sich kein Hinweis auf diese auffälligen Berührungen mit der Empedokleischen Terminologie.

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OLIVER PRIMAVESI

Arithmeticae 67 wird das Zitat des Eides mit der Bemerkung eingeleitet, dass die darin zum Ausdruck kommende Bewunderung des Pythagoras als des Entdeckers der Tetraktys offenbar (που) auch von Empedokles geteilt worden sei.68 Deshalb kann der Pythagoreer-Eid, wenn man ihn denn als Aussage über den historischen Pythagoras beim Wort nimmt, als ein klares Indiz für den in der biographischen Tradition bezeugten Geheimnisverrat des Empedokles erscheinen. Im Pythagoreer-Eid wird nämlich behauptet, dass Pythagoras seinen Schülern unter dem Siegel der Verschwiegenheit die Tetraktys enthüllte, und dass hierunter eine die Rhizomata enthaltende Paga (dorisch für Pege ‚fließendes Gewässer, Strom, Quelle‘) zu verstehen sei. Unter dieser Voraussetzung scheint die Tatsache, dass das weitverbreitete Naturgedicht (Physika)69 des Empedokles eine Theorie der Elemente (Rhizomata) und des Flusslaufs (Pege) der Natur enthält, den Vorwurf zu rechtfertigen, dass Empedokles den Kern des pythagoreischen Geheimwissens an die Öffentlichkeit gebracht habe. Mithin stützt der Pythagoreer-Eid die oben erwogene Deutung der ‚Telauges‛-Notiz in der Suda: Wie Empedokles dort mit der Tetraktys in Verbindung gebracht wird, indem man ein Werk über diese seinem Lehrer ‚Telauges‛ zuschreibt, so wird er im Pythagoreer-Eid mit der Tetraktys in Verbindung gebracht, indem man diese mittels der Empedokleischen Begriffe Pege (πηγή) und Rhizomata (ῥιζώματα) expliziert. Es scheint also in der Tat die Tetraktys gewesen zu sein, die in der pythagoreischen Tradition als das von Empedokles verratene Geheimnis betrachtet wurde, und zwar, wie der zweite Vers des Pythagoreer-Eides zeigt, unter Berufung auf Rhizomata und Pege, d.h. auf die Empedokleische Physik. 67

68

Zu dieser auf den Namen Iamblichs gestellten – und womöglich in der Tat auf ihn zurückgehenden – Kompilation aus Anatolios Περὶ δεκάδος und Nikomachos Ἀριθμητικῶν θεολογουμένων βιβλία β´ vgl. Burkert 1962a: 87 mit Anm. 5 (= 1972: 98 mit n. 4). Theol. Arithm. 22,18–20 de Falco: τοιαύτης δὲ οὔσης (scil. τῆς τετρακτύος) ἐπώμνυον δι᾽ αὐτῆς τὸν Πυθαγόραν οἱ ἄνδρες, θαυμάζοντες δηλονότι καὶ ἀνευφημοῦντες ἐπὶ τῇ εὑρέσει, κ α θ ά π ο υ κ α ὶ Ἐμπεδοκλῆς (es folgt das Zitat

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des Eides). Delatte 1915: 252 dürfte mit der Feststellung Recht haben, dass der Hinweis auf Empedokles diesen nicht etwa als den Autor des anschließend zitierten Eides hinstellen soll (wie nach Sturz 1805: 533 und 672–677 neuerdings wieder Waterfield 1988: 57 mit n. 5 gemeint hat), sondern als wichtigen Zeugen für die im Eide vorgenommene Zuschreibung der Tetraktys an Pythagoras. Doch die von Delatte gegebene Begründung erscheint als unzureichend, da er zwar auf den Pythagoras-Bezug des Empedokles-Fragments 30 Mansfeld/Primavesi (= DK 31 B 129) verweist, aber die Präsenz Empedokleischer Begriffe im zweiten Vers des Eides selbst nicht bemerkt hat, auf die doch ein Argument für oder wider dessen Zuschreibung an Empedokles zuallererst eingehen muss. Zur Rezeption der Empedokleischen Dichtung in Kaiserzeit und Spätantike vgl. die Übersichten bei Primavesi 2002: 184–192. Noch in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts n. Chr. lagen die Physika des Empedokles dem neuplatonischen AristotelesKommentator Simplikios vollständig vor (Primavesi 2002: 190).

TETRAKTYS UND GÖTTEREID BEI EMPEDOKLES

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Doch in welcher Richtung verläuft das Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem zweiten Vers des Pythagoreer-Eides und den Empedokleischen Physika tatsächlich? Hierzu hat Walther Kranz 1938 die Ansicht vertreten, dass der historische Empedokles die beiden Begriffe Pege (πηγή) und Rhizomata (ῥιζώματα) in der Tat aus dem zweiten Vers der pythagoreischen Eidesformel entlehnt habe,70 so dass Kranz für das Abhängigkeitsverhältnis dieselbe Richtung annahm, wie sie auch in der Nachricht vom ‚Geheimnisverrat‛ des Empedokles vorausgesetzt wird. Indessen enthält dieser Vers auch die Fügung ἀέναος φύσις (‚ewig strömende Natur‛), mit der eindeutig die Natur im Sinne von ‚Allnatur‛ bezeichnet wird, d.h. die Gesamtheit alles Gewordenen. Nun bezeichnet aber das Wort φύσις als durchsichtige, in der Regel resultativ gebrauchte Ableitung von φύομαι zunächst die ‚Einzelnatur‛, genauer die ‚Wuchsform‛ des je einzelnen Lebewesens bzw. der je einzelnen Species – primär die der Pflanze (φυτόν), dann auch die von Tier und Mensch –;71 und nach Walter Burkert gibt es vor der Mitte des 5. Jahrhunderts v. Chr. keinen Beleg dafür, dass φύσις für sich (d.h. ohne Attribute wie τοῦ παντός) die Bedeutung ‚Allnatur‛ haben könnte, wie sie in der pythagoreischen Tetraktys-Explikation bereits vorausgesetzt wird.72 Dieser Befund spricht dafür, dass jedenfalls der φύσις-Begriff im zweiten Vers des Pythagoreer-Eides nicht nur nicht auf den historischen Pythagoras zurückgeht, sondern auch später ist als die Empedokleischen Physika. Dann aber geht die spezifische Übereinstimmung, die zwischen den Empedokleischen Physika und dem Pythagoreer-Eid hinsichtlich der Termini Pege (πηγή) und Rhizomata (ῥιζώματα) besteht, offenbar darauf zurück, dass diese beiden Termini im Pythagoreer-Eid aus Empedokles entlehnt sind, nicht umgekehrt, und es fragt sich, welche antike Auslegung der beiden Empedokleischen Termini ihrer im Pythagoreer-Eid hergestellten Verbindung mit der Tetraktys zugrundeliegt. Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, von der Empedokleischen Verwendung von Pege und Rhizomata auszugehen. 70

71

72

Kranz 1938: 438: „Jene ersten vier Zahlen aber ergaben die heilige τετρακτύς, die heißt παγὰν ἀενάου φύσεως ῥίζωμά τ’ ἔχουσαν. Kein Zweifel, daß Empedokles den alten Eid, der sie enthält, gekannt hat, sonst hätte er nicht von der πηγὴ θνητῶν, ὅσσα γε δῆλα γεγάκασιν gesprochen, nicht die Elemente ῥιζώματα πάντων genannt …“. Dies hat Harald Patzer im Jahre 1939 in seiner Marburger Habilitationsschrift gezeigt, die einem weiteren Leserkreis erst durch ihre 54 Jahre später erfolgte Drucklegung bekannt wurde; vgl. Patzer 1993: 247–277 (= 37–67). Burkert 1962a: 170, Anm. 172 (= 1972: 186 n. 155): „… der allgemeine φύσις-Begriff ist vor der zweiten Hälfte des 5. Jh. kaum denkbar“. Nach Patzer 1993: 276 (= 66) dürfte φύσις erstmals bei Philolaos DK 44 B 1 „konkret die Gesamtheit all dessen bezeichnen, was als Gewordenes (φύεσθαι im erweiterten Sinne) da ist“.

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OLIVER PRIMAVESI

Als Rhizomata (ῥιζώματα; ‚Elemente‛, wörtlich ‚Wurzelwerke‛) werden in einem einleitend-grundlegenden Fragment der Empedokleischen Physika (Fr. 49b M./P. = DK 31 B 6) die vier Elemente – Feuer und Erde, Luft und Wasser – bezeichnet. Der Begriff der Rhizomata wird in diesem Fragment appositiv durch vier Götternamen erläutert. Die damit festgestellte Göttlichkeit der vier Elemente manifestiert sich primär in dem nach Empedokleischer Auffassung ‚unsterblichen‛, d.h. göttlichen Zustand vier chemisch reiner, konzentrischer Sphären, in dem sie sich am Anfang eines jeden Umlaufs des kosmischen Zyklus befinden. Gleichwohl wäre es zu rigide, den Geltungsbereich der Bezeichnung Rhizomata auf den vollkommen göttlichen Zustand der reinen Trennung einzuschränken.73 Vielmehr werden in dem genannten Fragment die vier Rhizomata durch den hinzugesetzten Genetiv ‚aller Dinge‛ (πάντων) auf alle Verbindungen bezogen, die im Laufe des Zyklus aus ihnen, d.h. aus den Elementen gebildet werden. Dem entspricht, dass auch ihre Gleichsetzung mit den vier Göttern in einer Weise ausgestaltet ist, die – sei es durch die epischen Epitheta der Götter oder durch ihre traditionelle Lokalisierung oder schließlich durch einen ganzen Attributsatz – an die Präsenz der Rhizomata in unserer Welt denken lässt: Zeus als das ‚strahlend-helle‛ Feuer des Blitzschlags, Hera als die ‚lebenspendende‛ (Atem)luft, Aidoneus/Hades als die das Totenreich bergende Erde, die Totengöttin Nestis/Persephone schließlich als das Wasser, das sich in den Tränen der um ihre Toten trauernden Sterblichen verströmt:74 τέσσαρα γὰρ πάντων ῥ ι ζ ώ μ α τ α πρῶτον ἄκουε· Ζ ε ὺ ς ἀργὴς Ἥ ρ η τε φερέσβιος ἠδ᾽ ᾽ Α ϊ δ ω ν ε ύ ς Ν ῆ σ τ ί ς θ᾽, ἣ δακρύοις τέγγει κρούνωμα βρότειον.

Die vier W u r z e l w e r k e aller Dinge höre zuerst: leuchtend-heller Z e u s und lebenspendende H e r a und A i d o n e u s und N e s t i s , die mit ihren Tränen tränkt, was den Sterblichen entströmt.

73

74

So noch Primavesi 2013: 708–709; dass diese Einschränkung überzogen ist, hat der Verfasser in Gesprächen mit Jean-Claude Picot (Paris) gelernt; vgl. Picot 2014: 350– 352. Empedokles Fr. 49b Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 6). In der Deutung der beiden letzten Götternamen folgen wir Heyne 1776, p. IX, Fortsetzung der Anm. * zu p. VIII: „Mir deucht die Auflösung folgende zu seyn: Aidoneus ist die Erde, und Nestis das Wasser, beyde aber sind als unterirdische Wesen, oder Gottheiten, betrachtet, eben das, was sonst Pluto und Proserpina; das Wasser fließt ja unter der Erde. Als Proserpina benetzt sie das Auge der Sterblichen (den sterblichen Quell, versteht sich, der Thränen,) mit Thränen; indem sie auf die Menschen das harte Schicksal des Todes eindringen läßt“.

TETRAKTYS UND GÖTTEREID BEI EMPEDOKLES

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Am Ende des Fr. 67b (DK 31 B 23) bringt Empedokles die vier Rhizomata in Verbindung mit der im Pythagoreer-Eid ebenfalls genannten Pege:75 οὕτω μή σ᾽ ἀπάτη φρένα καινύτω ἄλλοθεν εἶναι θνητῶν, ὅσσα γε δῆλα γεγά❬κ❭ασιν ἄσπετα, π η γ ή ν .

So soll dir nicht Trug den Sinn bezwingen, anderswoher [als von den vier Elementmassen her] komme der F l u s s l a u f (Pege) all der unzähligen sterblichen Dinge, die zum Vorschein gekommen sind.

Das Wort Pege (πηγή) scheint hier nicht die vertraute Bedeutung ‚Quelle, Ursprung‛ zu haben, sondern vielmehr die Bedeutung ‚Flusslauf‛, da die hier gemeinte Pege des Lebens schon ihrerseits von einer vorausgehenden Phase des kosmischen Geschehens ‚herkommt‛, nämlich von der Lebenszeit der vier reinen Elementmassen her:76 Deshalb ist die Pege selbst schwerlich die Urquelle,77 sondern vielmehr der zyklische Flusslauf der Natur im Ganzen. Ein vergleichbares Bild liegt vor, wenn Empedokles die Entstehung der wunderbaren Fülle verschiedenartiger Lebewesen durch das Vereinigungswirken der Liebe als ein Sich-Ergießen bezeichnet.78 Nun bedeutet das Wort Pege (πηγή) an sich einfach nur ‚fließendes Wasser‛;79 daher kann es prinzipiell sowohl für eine Quelle als auch für einen ganzen Flusslauf stehen. Allerdings wird die im Vergleich zur Quelle größere Wassermenge des ganzen Flusslaufes nicht selten durch die Verwendung des Plurals (πηγαί = 75 76 77

Empedokles Fr. 67b Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 23), Zeilen 9–10. Näheres dazu unten im Abschnitt VIII. Ganz ebenso steht es um die einzige weitere Belegstelle für πηγή bei Empedokles, das Fr. 43 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 3), Verse 1–2: ἀλλὰ θεοὶ τῶν μὲν μανίην ἀποτρέψατε γλώσσης, / ἐκ δ᾽ ὁσίων στομάτων καθαρὴν ὀχετεύσατε π η γ ή ν

78

(„Doch ihr Götter, wendet den Wahnsinn dieser Leute von meiner Zunge ab, und leitet aus meinem ehrfürchtigen Mund einen reinen F l u s s “). Hier ist offensichtlich der dem gesamten Flusslauf entsprechende Lehrvortrag (der „Redefluss“) der Physika in seiner ganzen Ausdehnung gemeint, nicht etwa nur das dem quellnahen Oberlauf entsprechende Proömium. Zwar wird als Ausgangspunkt anders als an unserer Stelle nicht ein erster Teil des Flusslaufes genannt, sondern die Öffnung, aus der der Fluss hervortritt. Gleichwohl soll sich die erbetene göttliche Lenkung sicherlich nicht auf den Beginn des Redeflusses beschränken. Empedokles Fr. 69b Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 35), Verse 16–17: τῶν δέ τε μισγομένων χ ε ῖ τ ᾽ ἔθνεα μυρία θνητῶν, / παντοίαις ἰδέηισιν ἀρηρότα, θαῦμα ἰδέσθαι („Aus ihrer – der Elemente – Vermischung e r g o s s e n sich nun zehn-

79

tausend Scharen sterblicher Wesen, in mannigfaltige Formen gefügt, ein Wunder zu schauen“). LSJ 1996 s.v. πηγή I 1: „running water“; nach Frisk 1970: 525 s.v. verwandt mit πήγνυμαι im Sinn von ‚erstarren, gefrieren‛, also ursprünglich ‚eiskaltes Wasser‛.

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‚die Wasser eines Flusses‛) zum Ausdruck gebracht. So bezeichnet der Plural πηγαί im alten Epos, wo der Singular noch gar nicht belegt ist, einerseits eine Mehrzahl von Quellen,80 die zu einem Flusslauf zusammenfließen,81 andererseits den Fluss selbst, d.h. das Kollektiv der Wasser eines Flusses.82 Dieses pluralische πηγαί in der Bedeutung ‚Fluss‛ bleibt in der Tragödie des Aischylos83 und des Euripides84 ebenso gebräuchlich wie bei Pindar.85 Indessen ist a priori nicht einzusehen, warum der – erst seit Aischylos belegte – Singular πηγή von Hause aus auf die später allerdings vorherrschende Bedeutung ‚Quelle‛ beschränkt gewesen sein müsste: Ein Fluss lässt sich ja ebensogut auch als ein einziges fließendes Wasser auffassen. In der Tat schreiben LSJ 1996 gerade dem Aischylos selbst auch die okkasionelle Verwendung von singularischem πηγή in der Bedeutung ‚stream‛ zu;86 als Beleg dafür führen sie die Stelle der Perser ins Feld, an der die Königin (Atossa) davon berichtet, wie sie zur Reinigung von einem nächtlichen Albtraum vor der Darbringung eines Opfers ihre Hände zum Zweck ritueller Reinigung in fließendes Wasser tauchte:87

80 81

82

83

84

85 86 87

LSJ 1996, Supplement s.v. πηγή II 1. Ilias 21 (Φ) 311–312: ἀλλ᾽ ἐπάμυνε τάχιστα, καὶ ἐμπίμπληθι ῥέεθρα / ὕ δ α τ ο ς ἐ κ π η γ έ ω ν . Ilias 22 (Χ) 147–148: κρουνὼ δ᾽ ἵκανον καλλιρρόω· ἔνθα δὲ π η γ α ί / δοιαὶ ἀναΐσσουσι Σκαμάνδρου δινήεντος. Hier sind jeweils mehrere bzw. zwei πηγαί (‚Quellen‛) dem aus ihnen gespeisten Fluss, den Wassern (ῥέεθρα) des Simoeis bzw. dem Skamander, zugeordnet. Ilias 23 (Ψ) 147–148: πεντήκοντα δ᾽ ἔνορχα παρ᾽ αὐτόθι μῆλ᾽ ἱερεύσειν / ἐς π η γ ά ς , ὅθι τοι τέμενος βωμός τε θυήεις, und dazu v. Wilamowitz 21895: 94: „Ψ 148 will der Phthiote Achilleus dem Spercheios opfern … : natürlich in Phthia, am unteren laufe des flusses“. Anders Richardson 1993: 185: „But the springs seem the most suitable place for an altar and precinct“. Doch vgl. Hesiod Theogonie 282: Ὠκεανοῦ παρὰ πηγάς, und dazu West 1966: 247: „πηγὰς: ‘waters’, the usual sense of πηγαί in the plural“. Dies ist deshalb ein eindeutiger Fall, weil der Ringstrom Okeanos gar keine Quellen hat; so Diggle 1970: 103: „The commentators’ ‘springs, sources of Ocean’ do not exist“. Aischylos Perser 311 π η γ α ῖ ς τε Νείλου γειτονῶν Αἰγυπτίου, und dazu v. Wilamowitz 21895: 94: „so bezeichnet Aisch. Pers. 311 … die persische provinz Aegypten, nicht etwa die Nilquellen.“ Euripides Herakles 390–392: Ἀναύρου παρὰ π α γ ὰ ς / Κύκνον ξεινοδαΐκταν / τόξοις ὤλεσεν, und dazu v. Wilamowitz 21895: 94: „πηγαί im plural bedeutet gewässer …, nicht quelle. Kyknos wohnt an der küste.“ Phaëton, TrGF 5.2, Fr. 773, Vers 77 Kannicht (2004: 806): π α γ α ῖ ς τ᾽ ἐπ᾽ Ὠκεανοῦ. Pindar Fr. 39, 2 Maehler (1989: 10): Ὠκεανοῦ παρὰ π α γ ᾶ ν . LSJ 1996 s.v. πηγή I.1, a. E. Aischylos Perser 200–202.

TETRAKTYS UND GÖTTEREID BEI EMPEDOKLES

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καὶ ταῦτα μὲν δὴ νυκτὸς εἰσιδεῖν λέγω ἐπεὶ δ᾽ ἀνέστην καὶ χεροῖν καλλιρρόου ἔψαυσα πηγῆς, ξὺν θυηπόλωι χερί βωμὸν προσέστην …

Und dies, sage ich, habe ich in der Nacht gesehen. Als ich aber aufgestanden war und mit den Händen einen schönströmenden Flusslauf berührt hatte, trat ich mit den Opfergaben in der Hand vor den Altar …

Die für die Bedeutung von Pege bei Empedokles entscheidende Frage ist nun die, ob die von LSJ 1996 für die Aischylos-Stelle in Anspruch genommene Bedeutung von Pege dort tatsächlich vorliegt, d.h. ob Atossa sich von ihrem Albtraum in der Tat durch Berührung eines bei der Residenzstadt Susa vorbeiströmenden Flusses gereinigt hat,88 oder ob sie womöglich zwischen Albtraum und Opfer zur Quelle eines solchen Flusses reiste. Hier spricht nun die Darstellung einer derartigen Reinigung, die Aristophanes in der Komödie Die Frösche seinen ‚Aischylos‛ im Rahmen einer Euripides-Parodie vortragen lässt, eine klare Sprache; denn dort erfolgt die Reinigung des von der Nacht gesandten Unglückstraumes mittels Flusswasser:89 ἀλλά μοι, ἀμφίπολοι, λύχνον ἅψατε κάλπισί τ᾽ ἐκ ποταμῶν δρόσον ἄρατε, θέρμετε δ᾽ ὕδωρ, ὡς ἂν θεῖον ὄνειρον ἀποκλύσω.

Aber, ihr Dienerinnen, macht Licht und schöpft mit Krügen Tau aus den Strömen und wärmt das Wasser, damit ich den gottgesandten Traum abspülen kann. 88

Zu denken wäre aus heutiger Sicht an den Fluss Šahur; vgl. Asheri et al. 2007: 487: „The city (scil. of Susa) was situated on the site of the modern Šuš, on the river Šahur, a tributary of the Choaspes.“ Doch bei der Bestimmung des von Aischylos gemeinten Flusses ist zu bedenken, dass noch Herodot 1, 188, 1 in Verbindung mit Susa nur den berühmten, etwas weiter westlich vorbeifließenden Hauptfluss Choaspes selbst nennt, von dem das – auch im Felde stets mitgeführte – Trinkwasser des Königs Kyros gestammt habe: καὶ δὴ καὶ ὕδωρ ἀπὸ τοῦ Χοάσπεω ποταμοῦ ἅμα ἄγεται τοῦ παρὰ

89

Aristophanes, Frösche 1338–1340. Man beachte die Inversion, die darin liegt, dass der Flusslauf in den Persern mit dem Singular des Wortes πηγή bezeichnet wird, welches in dieser Bedeutung üblicherweise im Plural steht, während in der Parodie bei Aristophanes der Plural des Wortes ποταμός verwendet wird, bei dem zur Bezeichnung eines Stromes der Singular vollkommen ausreicht.

Σοῦσα ῥέοντος, τοῦ μούνου πίνει βασιλεὺς καὶ ἄλλου οὐδενὸς ποταμοῦ.

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Ein 1906 veröffentlichtes Papyrusfragment einer unbekannten Tragödie bestätigt diesen Befund: dort wird die Reinigung vom Albtraum am Flusslauf des Alpheios gesucht.90 Im Hinblick auf die damit gesicherte Verwendung des Singulars Pege in der Bedeutung ‚Fluss(lauf)‛ bei Aischylos darf die an unserer Empedokles-Stelle sachlich geforderte Auffassung von Pege als ‚Flusslauf‛ auch lexikalisch als plausibel gelten. Überdies steht dieser von uns postulierte Empedokleische Sprachgebrauch – unbeschadet der Differenz des Numerus – der seit Hesiod beliebten Verwendung von πηγαί zur Bezeichnung der Wasser des Ringstromes Okeanos besonders nahe: Bei Empedokles ist mit Pege der zyklische Flusslauf der Natur gemeint, d.h. der Strom der Lebewesen, die im Laufe des kosmischen Zyklus entstehen und wieder zugrundegehen. Doch anders als beim Okeanos lässt sich beim kosmischen Zyklus des Empedokles ein Stadium abgrenzen, das bei jedem neuen Umlauf des Ringstroms den Anfang macht: Die bereits zitierte Feststellung des Empedokles, derzufolge der Flusslauf des kosmischen Zyklus von einem Ausgangspunkt herkommt, bezieht sich klarerweise auf die vier Elementmassen. So bleibt zum systematischen Zusammenhang zwischen Rhizomata und Pege bei Empedokles folgendes festzuhalten: Pege bezeichnet im Fr. 67b M./P. den zyklischen Flusslauf der Natur im Ganzen, der sich aus den vier reinen Elementmassen speist und infolgedessen die vier Elemente bzw. die aus ihnen gebildeten organischen Verbindungen zum Inhalt hat. Eben dieser Zusammenhang und insbesondere die Gleichung Pege = ‚Flusslauf‛ liefert nun den Schlüssel zum Verständnis der Verbindung, die im Pythagoreer-Eid zwischen Rhizomata und Pege einerseits und Tetraktys andererseits hergestellt wird. Die im Eid vorliegende Bestimmung der Tetraktys als die „Pege ewig strömender Natur, der Hort der Rhizomata“ musste solange rätselhaft bleiben, als man die Empedokleische Pege der Eidesformel im Sinne des vulgaten Sprachgebrauchs (Pege = ‚Quelle‛) auf das quellnahe erste Teilstück oder gar auf den bloßen Ausgangspunkt des Flusslaufes beschränkte: Unter dieser Voraussetzung konnte man sich den Zusammenhang zwischen Pege und Tetraktys allenfalls dahingehend zurechtlegen, dass es sich bei dem Ursprung des Flusslaufes um vier reine Elementmassen handelt. Damit aber blieb man hinter dem Begriff der Tetraktys hoffnungslos zurück: In Wahrheit liegt eine Tetraktys erst dann vor, wenn von der Folge der ersten vier natürlichen Zahlen (1 / 2 / 3 / 4) als Folge, 90

Tragicorum Graecorum Fragmenta 2 (Adespota) F 626 d, Verse 37 und 39 Kannicht/ Snell (1980: 183): φόβος τις αὐτὴν δεῖμά τ᾽ ἔννυχον πλανᾶι …… καλ]λίρουν ἐπ᾽ Ἀ λ φ ε ι ο ῦ πόρον.

TETRAKTYS UND GÖTTEREID BEI EMPEDOKLES

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bzw. von ihrer Summierung zur Zehn (1 + 2 + 3 + 4 = 10) Gebrauch gemacht wird.91 Sobald man aber in der Pege den gesamten Flusslauf der Natur erkennt, ist auch eine Untergliederung der so verstandenen Pege nach den Proportionen der Tetraktys (1 : 2 : 3 : 4) ohne weiteres vorstellbar. Der Pythagoreer-Eid stimmt also gut zu der oben vorgetragenen Deutung der Empedokleischen Pege als Flusslauf der Natur, und er deutet überdies darauf hin, dass man dieser Empedokleischen Pege eine Untergliederung nach den Proportionen der Tetraktys zuschrieb. Es liegt nahe, diese Untergliederung als eine zeitliche Phasengliederung aufzufassen. Damit wird auch verständlich, warum die Verbindung der Tetraktys mit der Empedokleischen Pege gerade in den Eid der Pythagoreer aufgenommen wurde. Denn auch in den Empedokleischen Physika ist die zeitliche Gliederung der Pege, d.h. des Flusslaufs der Natur, fest mit dem Motiv des Eides verbunden.92 Nach Empedokles ist die Dauer der bei jedem Umlauf des kosmischen Zyklus wiederkehrenden Ruhezeit von Liebe und Streit, d.h. des göttlichen Einheitszustandes (Sphairos) – und damit zugleich der Zeitpunkt der am Ende dieses Ruhezustandes jeweils erfolgenden Machtergreifung des Streites – von Liebe und Streit durch einen „breiten (d.h. breitverschnürten) Eidvertrag“ garantiert worden:93 αὐτὰρ ἐπεὶ μέγα Νεῖκος ἐνὶμμελέεσσιν ἐθρέφθη ἐς τιμάς τ᾽ ἀνόρουσε τελειομένοιο χρόνοιο, ὅς σφιν ἀμοιβαῖος πλατέος παρ᾽ ἐλήλαται ὅρκου …

Aber nachdem sich der Streit in seinen Gliedern mächtig genährt hatte und zu Ehren emporgestiegen war, gegen Ende des Zeitraums, der von ihnen aufgrund eines breiten Eides als ein wechselseitiger festgelegt ist ... 91

92 93

Vgl. die Klarstellung bei Sextus Empiricus, Adversus mathematicos IV, 3; III 133,18–20 Mau. Dies spricht auch gegen die von Hermann Diels 1899 vertretene Ansicht, dass die bloße Vierzahl der Empedokleischen Elemente Feuer, Wasser, Erde und Luft bereits eine Anwendung der Tetraktys darstelle; vgl. Diels 1899: 15: „Empedokles selbst hat zwar die Vierzahl der Elemente, der pythagoreischen Vorliebe für die heilige Tetraktys folgend, zuerst aufgestellt …“. Vgl. Rashed 2014: 335 mit n. 41, wo „Philolaos A 9 DK“ zu „Philolaos A 11 DK“ zu verbessern ist. Empedokles Fr. 77 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 30). Das Eidmotiv wird bei Empedokles auch im mythologischen Zusammenhang der Katharmoi gespiegelt (vgl. Empedokles Fr. 8b Vers 2 Mansfeld/Primavesi = DK 31 B 115, 2), aber darauf kommt es im gegenwärtigen Zusammenhang nicht an.

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Das missing link zwischen dem durch Eid gesicherten Zeitplan der kosmischen Pege bei Empedokles einerseits und der Bestimmung der Paga als Tetraktys im Pythagoreer-Eid andererseits liegt also in einer antiken Empedokles-Deutung, der zufolge der kosmische Zyklus gemäß der Tetraktys periodisiert ist. Zum Pythagoreer-Eid kommt nun ein Dokument der kaiserzeitlichen Empedoklesrezeption hinzu, das überhaupt nur über den Begriff der Tetraktys mit den uns erhaltenen Empedoklesfragmenten zu vermitteln ist. Dieses Dokument ist die merkwürdige Deutung, der Nikomachos von Gerasa das Pythagoras-Lob des Empedokles unterzogen hat.

IV. Nikomachos über das Pythagoras-Lob des Empedokles Die berühmten Verse, in welchen Empedokles die überragende Geisteskraft eines Weisen preist,94 werden von Porphyrios auf Pythagoras bezogen und folgendermaßen gedeutet:95 αὐτὸς δὲ τῆς τοῦ παντὸς ἁρμονίας ἠκροᾶτο συνιεὶς τῆς καθολικῆς τῶν σφαιρῶν καὶ τῶν κατ᾽ αὐτὰς κινουμένων ἀστέρων ἁρμονίας, ἧς ἡμᾶς μὴ ἀκούειν διὰ σμικρότητα τῆς φύσεως.

τούτοις καὶ Ἐμπεδοκλῆς μαρτυρεῖ λέγων περὶ αὐτοῦ·96

Doch er selbst (scil. Pythagoras) hörte die Harmonie des Alls, da er für die universale Harmonie der Sphären und der sich mit ihnen bewegenden Planeten empfänglich war, die wir aufgrund der Beschränktheit unserer Natur nicht hören. Dies bezeugt auch Empedokles, indem er Folgendes über ihn sagt:

ἦν δέ τις ἐν κείνοισιν ἀνὴρ περιώσια εἰδώς, ὃς δὴ μήκιστον πραπίδων ἐκτήσατο πλοῦτον, παντοίων τε μάλιστα σοφῶν ❬τ᾽❭ ἐπιήρανος ἔργων. ὁππότε γὰρ πάσηισιν ὀρέξαιτο πραπίδεσσιν,

94 95

96

Empedokles Fr. 30 Mansfeld/Primavesi (= DK 31 B 129). Porphyrios, Vita Pythagorae 30–31; 50,2–20 des Places. Zu der im Altertum seit Timaios von Tauromenion bezeugten, gelegentlich aber auch bezweifelten Beziehung der Verse auf Pythagoras vgl. zuletzt Zhmud 2012: 39 n. 48. Es folgt das Empedoklesfragment 30 Mansfeld/Primavesi (= DK 31 B 129), welches nicht nur von Porphyrios, sondern auch von Iamblich De vita Pythagorica 67; 37,27– 38,4 Deubner überliefert wird.

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5

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ῥεῖ᾽ ὅ γε τῶν ὄντων πάντων λεύσσεσκεν ἕκαστα καί τε δέκ᾽ ἀνθρώπων καί τ᾽ εἴκοσιν αἰώνεσσιν.

5 ἕκαστα et Porphyrius et Iamblichi cod. Laur. F : ἕκαστον Iamblichi cod. Cizensis C (saec. XVI.), quod praeeunte Stein 1852 editores plurimi tacite in textum receperunt 97

5

Es war unter ihnen ein Mann von überragenden Kenntnissen, der ja den größten Reichtum an Verstandeskräften erworben hatte, kundiger Taten aller Art am meisten mächtig. Denn sooft er sich mit allen Verstandeskräften ausstreckte, sah er ohne Mühe von sämtlichen seienden Dingen alle im Einzelnen, sowohl in zehn als auch in zwanzig Menschen-Lebensspannen. τὸ γὰρ ‚περιώσια‛ καὶ ‚τῶν ὄντων λεύσσεσκεν ἕκαστα‛ καὶ ‚πραπίδων πλοῦτον‛ καὶ τὰ ἐοικότα ἐμφαντικὰ μάλιστα τῆς ἐξαιρέτου καὶ ἀκριβεστέρας παρὰ τοὺς ἄλλους διοργανώσεως ἔν τε τῷ ὁρᾶν καὶ τῷ ἀκούειν καὶ τῷ νοεῖν τοῦ Πυθαγόρου.

Denn ‚überragend‛ und ‚von den seienden Dingen sah er alle im Einzelnen‛ und ‚Reichtum an Einsichten‛ und verwandte Ausdrücke beziehen sich vor allem auf die erlesene und im Vergleich mit anderen Menschen präzisere Disposition des Pythagoras zum Sehen, Hören und Denken.

Nach Erwin Rohdes Nachweis steht dieser Abschnitt am Ende einer Kapitelfolge, die Porphyrios en bloc aus der Pythagorasbiographie des Nikomachos von Gerasa (1. bis 2. Jhdt. n. Chr.) übernommen hat, und aus der auch Iamblich in seinem Buch über die pythagoreische Lebensform geschöpft hat,98 wobei letzterer allerdings den Text der Vorlage stark amplifiziert und umdisponiert.99 97

98

99

Sturz 1805: 532 (Vers 423), Karsten 1838: 150 (Vers 444) und v. d. Ben 1975: 108 (vgl. ibid. 118–119 und 184) drucken ἕκαστα, was sowohl bei Porphyrios als auch von der seit langem als Archetyp identifizierten Iamblich-Handschrift Laur. F (vgl. Deubner 1937: p. V) überliefert wird, während das von Stein 1852: 84 (v. 421) kommentarlos eingeführte ἕκαστον von den meisten neueren Herausgebern ebenso kommentarlos übernommen zu werden pflegt (so z.B. Diels 1901: 159, v. Wilamowitz 1929: 650– 651 [= 506], Zuntz 1971: 249, Gallavotti 1975: 80, Inwood 1992: 204, Bollack 2003: 88, Mansfeld/Primavesi 2011: 436). Wright 1981: 132, die ebenfalls ἕκαστον druckt, rechtfertigt dies in ihrem Apparat mit der unzutreffenden Behauptung, dass es sich dabei um die Lesart des Iamblich handele. Dem bei Porphyrios bewahrten Abschnitt entspricht bei Iamblich, De vita Pythagorica einerseits Kapitel 65; 36,17–37,2 Deubner, andererseits Kapitel 67; 37,23–38,9 Deubner. Die Zurückführung auf Nikomachos bei Rohde 1871–1872: 30–31 (= 136–137). Zum Verhältnis zwischen Porphyrios und Iamblich vgl. Burkert 1962a: 87–88 mit Anm. 7–8 (= 1972: 98–99 n. 6–7): Während Rohde 1871–1872: 31 (= 136) vor allem die Kürzung der Vorlage durch Porphyrios betont hatte, spricht Burkert mit Bezug auf Iamblich von „einer künstlichen, von ihm geschaffenen Disposition.“

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Demnach war es bereits der platonisch/neupythagoreische Mathematiker und Musiktheoretiker Nikomachos von Gerasa, der die Empedokles-Verse als einen Hinweis auf die Fähigkeit des Pythagoras verstanden hat, den Klang der Sphärenharmonie zu hören.100 Doch ändert die Zurückführung auf Nikomachos natürlich nichts daran, dass diese Interpretation in der Sache ganz abwegig ist: In den betreffenden Empedokles-Versen ist weder von Sphären oder Planeten die Rede, geschweige denn von ihren Klängen, ja nicht einmal von der Fähigkeit des Hörens. Zwar geht es in der Tat um die überragenden geistigen Fähigkeiten des Pythagoras, aber die von Empedokles gerühmte Manifestation dieser Fähigkeit besteht nicht im Vernehmen von Sphärenklängen, sondern in einer geistigen Schau (λεύσσεσκεν), genauer: in einem Überblick über weite Zeiträume von 10 und sogar 20 Aiones (‚Lebensspannen‛), die die individuelle Lebensspanne eines einzelnen Menschen um ein Mehrfaches übertreffen.101 Wie konnte Nikomachos darauf verfallen, diese Verse auf das Vernehmen der Sphärenklänge zu beziehen? Wenn es hier zwischen Text und Deutung überhaupt ein verbindendes Moment gibt, dann kommt dafür wohl nur der Begriff der Tetraktys in Betracht. Denn ‚Tetraktys‛ galt auch als pythagoreische Bezeichnung der Sphärenharmonie. Dies zeigt der folgende Spruch, den Iamblich im Rahmen einer Zusammenstellung pythagoreischer Merksprüche (‚Akusmata‛),102 die im Kern auf Aristoteles zurückgeht,103 bewahrt hat:104 τί ἐστι τὸ ἐν Δελφοῖς μαντεῖον; τετρακτύς· ὅπερ ἐστὶν ἡ ἁρμονία, ἐν ᾗ αἱ Σειρῆνες.

Was ist das Orakel von Delphi? Die Tetraktys; worunter105 man die Tonart versteht, in der die Sirenen (scil. singen).

Delatte 1915: 252. Die traditionelle Beschränkung dieses Pythagoras-Lobes auf den (von Empedokles selbst in den Katharmoi gestalteten) Seelenwanderungsmythos erscheint gleichfalls als unbegründet, wie Zuntz 1971: 209 und Zhmud 2012: 39–41 zu Recht feststellen; man beachte insbesondere die sehr weite Fassung des Wissensgegenstandes: τῶν ὄντων πάντων … ἕκαστα, der über dasjenige hinausgehen dürfte, was der Wissende in früheren Präsumptiv-Inkarnationen persönlich erlebt hat. Deshalb wird man womöglich auch den von Zhmud 2012: 40 (mit n. 49) geäußerten Zweifeln an der traditionellen Zuordnung des Fragments zu den Katharmoi, an der Mansfeld/Primavesi 2011: 434–437 noch festgehalten haben, beipflichten müssen. 102 Zu den Akusmata bzw. Symbola im Allgemeinen vgl. Burkert 1962a: 150–175 (= 1972: 166–192); Zhmud 2012: 169–205. 103 In der Zurückführung von Iamblich De vita Pythagorica 82–86 auf das verlorene Pythagoreerwerk des Aristoteles stimmen Burkert 1962a: 151–154 (= 1972: 166–170) und Zhmud 2012: 189 und 197 (mit n. 110) prinzipiell überein. 104 Iamblich De vita Pythagorica 82; p. 47,15 Deubner = Pythagoras, ältere Pythagoreer Fr. 106 Mansfeld/Primavesi. 105 Zur Beziehung des neutralen Relativpronomens ὅπερ auf das Femininum τετρακτύς vgl. Kühner/Gerth 1898: 60–62 (§ 361 Fortsetzung) und 75 (§ 369/2). 100 101

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Die Nennung des Delphischen Apollon-Orakels in einem pythagoreischen Akusma kann schwerlich auf etwas anderes verweisen als auf die (von uns bereits einleitend erwähnte) Legende von der Inkarnation des hyperboreischen Apollon als Pythagoras;106 so dass die Tetraktys hier als das Vermächtnis von ApollonPythagoras charakterisiert wird.107 Dass die Bedeutung der Tetraktys hier am Phänomen der musikalischen Stimmung bzw. Tonart (harmonia) aufgewiesen wird, bezieht sich auf die (ebenfalls bereits erwähnte) Korrespondenz zwischen den reinen Intervallen der Musik einerseits und den ganzzahligen Verhältnissen im Raum der ersten vier Zahlen andererseits. Die Erwähnung der Sirenen aber wird, wie Delatte gesehen hat,108 erst im Lichte der Platonischen Politeia verständlich, da in deren pythagoreisierendem Schluss-Mythos den Sirenen die Hervorbringung der kosmischen Sphärenharmonie zugeschrieben wird.109 Mithin ist das Akusma dahin zu verstehen, dass es sich bei der von ApollonPythagoras seinen Jüngern anvertrauten Tetraktys um die Formel der Sphärenharmonie handelt.110 Der Aristotelische Kontext, in dem Iamblich das Akusma überliefert, macht dessen bereits altpythagoreische Herkunft zwar plausibel, aber er kann sie nicht garantieren, da auf dem Wege von Aristoteles zu Iamblich mit Zusätzen zu rechnen ist.111 Doch für unser Problem, die Empedokles-Deutung des Nikomachos, ist diese Datierungsfrage unbeachtlich, da das Vorliegen des Akusma im ersten Jahrhundert n. Chr. von niemandem bezweifelt wird: Wenn Nikomachos zur Erklärung des Empedokleischen Pythagoras-Lobes auf die Sphärenharmonie verweist, dann impliziert dies für ‚pythagoreische‛ Leser einen Verweis auf die Tetraktys. In den von Nikomachos angeführten Empedokles-Versen aber wird, wie wir sahen, der von Pythagoras überschaute große Zeitraum in zwei Abschnitte von Aristoteles Fr. 191 Rose; Herakleides Pontikos Fr. 86 Schütrumpf et al. 2008. Delatte 1915: 261. 108 Delatte 1915: 259–261; dazu Kucharski 1952: 75–77 (Appendice III). 109 Platon, Politeia X, 617b 6–8 (Slings): ἐπὶ δὲ τῶν κύκλων αὐτοῦ (scil. τοῦ ἀτράκτου) 106 107

ἄνωθεν ἐφ᾽ ἑκάστου βεβηκέναι Σειρῆνα συμπεριφερομένην, φωνὴν μίαν ἱεῖσαν, ἕνα τόνον· ἐκ πασῶν δὲ ὀκτὼ οὐσῶν μίαν ἁρμονίαν συμφωνεῖν.

Delatte 1915: 261: „La plus grande révélation qu’Apollon-Pythagore a faite aux hommes est celle de l’harmonie des sphères …“. 111 Zur Authentizität der überlieferten Akusmata im Allgemeinen vgl. Burkert 1962a: 172 (= 1972: 188): „Was vorliegt, ist eine Schottermasse: kein Steinchen muß, jedes aber kann Urgestein sein“. Unter Berufung auf diesen Umstand hat Leonid Zhmud (2012: 303 mit n. 62) sich für eine erst späthellenistische Datierung des Akusma ausgesprochen; die Rolle der Sirenen sei aus Platons Politeia in das Akusma übernommen worden, nicht umgekehrt; die Prägung des Begriffs der Tetraktys selbst sei vollends erst durch Speusipps Werk Über die pythagoreischen Zahlen angeregt worden. 110

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10 bzw. 20 Aiones gegliedert. Dies wirft die Frage auf, warum Empedokles die Dauer des Zeitraums nicht einfach gleich auf 30 Aiones veranschlagt. Liegt hier nur eine epische Umschreibung für „an indefinite number of generations“ vor, wie Günther Zuntz vermutet hat?112 In eine andere Richtung weist unsere Beobachtung, derzufolge offenbar schon im Pythagoreer-Eid die Gliederung des Empedokleischen Zyklus nach den Proportionen der Tetraktys vorausgesetzt ist. Denn auch die beiden Zeitabschnitte, von denen an der von Nikomachos behandelten Empedokles-Stelle die Rede ist, lassen sich leicht zu einem Zeitplan nach den Proportionen der Tetraktys (1 : 2 : 3 : 4) ergänzen: 10 Aiones / 20 Aiones / [30 Aiones / 40 Aiones]. So liegt es auch hier wieder nahe, als missing link zwischen unseren Empedoklesfragmenten und der antiken Empedoklesrezeption die zusätzliche Prämisse zu postulieren, dass der Zeitplan des kosmischen Zyklus gemäß der Tetraktys gegliedert ist. Unter der Voraussetzung nämlich, dass Nikomachos die von ihm zitierten Empedoklesverse in Verbindung mit einer Erklärung las, in der die dort erwähnten Zeiträume auf die Tetraktys bezogen wurden, lässt sich die Genese seiner Empedokles-Deutung nachvollziehen: Er müsste jenen selbstverständlich temporal gemeinten Verweis auf die Tetraktys – im Sinne des pythagoreischen Sirenen-Akusma – irrig auf die Sphärenharmonie bezogen haben, die ihm als einem Musiktheoretiker näher lag. Es ist zwar selbstverständlich auch denkbar, dass Nikomachos seine Interpretation der Verse ohne jeden Anhaltspunkt vollkommen aus der Luft gegriffen hat, doch als sehr plausibel erscheint die Annahme einer solchen Willkürdeutung hier ebensowenig wie im Fall des Pythagoreer-Eides.

V. Zwischenbilanz: Der explanatorische Mehrwert der Tetraktys-Hypothese Die bei Simplikios überlieferte Behauptung einer primär pythagoreischen Prägung des Empedokleischen Denkens, die Legende vom Geheimnisverrat des Empedokles, der Pythagoreer-Eid und schließlich die abwegige, von Nikomachos behauptete Beziehung des Empedokleischen Pythagoras-Lobes auf die Sphärenharmonie – all dies lässt sich unter der Annahme, dass dem kosmischen Zyklus in der hellenistischen Empedokles-Rezeption eine zeitliche Gliederung nach den Proportionen der Tetraktys zugeschrieben wurde, auf ökonomischere Weise erklären als ohne diese Annahme. 112

Zuntz 1971: 209 unter Hinweis auf Ilias 9 (Ι) 379 (οὐδ᾽ εἴ μοι δ ε κ ά κ ι ς τ ε κ α ὶ ε ἰ κ ο σ ά κ ι ς τόσα δοίη) und 22 (Χ) 349 (οὐδ᾽ εἴ κεν δ ε κ ά κ ι ς τ ε κ α ὶ ε ἰ κ ο σ ι ν ή ρ ι τ ᾽ ἄποινα).

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So erschien es uns als der nächstliegende Ansatzpunkt für die Charakterisierung des Empedokles bei Simplikios wie für die Herausbildung der Legende vom Geheimnisverrat, dass man die von Empedokles gelehrte Naturerklärung in einem wesentlichen Punkt auf die pythagoreische Zahlenphilosophie zurückführte. Die Zuschreibung eines Werkes über die Tetraktys an ‚Telauges‛, den vermeintlichen Lehrer des Empedokles, ließ sich dann mittels der präziseren Hypothese motivieren, dass man das Pythagoreische an der Empedokleischen Physik in einer wie auch immer gearteten Strukturierung dieser Physik durch die Tetraktys zu erkennen glaubte. Die im Pythagoreer-Eid vorliegende Verbindung der Tetraktys mit den Empedokleischen Grundbegriffen Pege (‚Flusslauf der Natur‛) und Rhizomata (‚Elemente‛) war durch die Annahme verständlich zu machen, dass man dem aus den vier Elementen gespeisten Lebensstrom der Empedokleischen Physik eine Strukturierung gemäß den Proportionen der Tetraktys zuschrieb. Die ohnehin naheliegende Vermutung, dass hierbei an eine zeitliche Gliederung zu denken ist, wurde zusätzlich durch das Eidmotiv gestützt, das dem Pythagoreer-Eid und den Empedokleischen Physika gemeinsam ist: Die Pythagoreer sollen bei der (mit dem Empedokleischen Flusslauf der Natur identifizierten) Tetraktys geschworen haben; bei Empedokles selbst aber ist es die Lebenszeit des Sphairos, auf die sich Liebe und Streit eidlich festgelegt haben. Die abstruse Beziehung des Empedokleischen Pythagoras-Lobes auf die Sphärenharmonie durch Nikomachos von Gerasa schließlich konnten wir in ihrer Genese unter der Voraussetzung nachvollziehen, dass dem Nikomachos eine Erklärung dieser Empedokles-Stelle vorlag, in der sie (im Hinblick auf die dort vorliegenden Zeitangaben von 10 und 20 Aiones) als Anspielung auf die Tetraktys gedeutet wurde, und dass Nikomachos sich durch diese Deutung (gemäß dem Sirenen-Akusma) auf die Sphärenharmonie verwiesen sah. Aufs Ganze gesehen darf also die Zuschreibung der Tetraktys-Hypothese an eine wohl bereits hellenistische Empedokles-Erklärung deshalb eine gewisse Plausibilität beanspruchen, weil sie für sehr verschiedene und zum Teil ausgesprochen rätselhafte Befunde eine einheitliche Erklärung liefert. Deshalb ist die Frage legitim, ob die postulierte Empedokles-Erklärung auch zutraf, d.h. ob der kosmische Zyklus bereits in den Empedokleischen Physika selbst gemäß der Tetraktys gegliedert war.

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Ein gewisses Indiz für Authentizität liegt im Pythagoreer-Eid, insofern dieser unter die hellenistischen Pseudo-Pythagorica zu zählen ist.113 Deren Funktion besteht nämlich häufig in dem Nachweis, dass es sich bei den berühmtesten real existierenden philosophischen Werken bzw. Lehren der griechischen Klassik in Wahrheit um Umarbeitungen entsprechender Werke bzw. Lehren älterer Pythagoreer handelt:114 Nur weil der Platonische Timaios, die Aristotelische Kategorienschrift oder die peripatetische Lehre von der Ewigkeit des Kosmos allgemein bekannt waren, konnte man den Ruhm des Pythagoras und seiner Schule dadurch zu mehren hoffen, dass man eine Bearbeitung jener Schriften bzw. Lehren in dorischem Dialekt herstellte und diese dann (sei es fiktiven, sei es historischen) älteren Pythagoreern zuschrieb, wie dem ‚Timaios Lokros‛,115 dem Archytas von Tarent,116 oder dem ‚Okellos Lukanus‛.117 Eine vergleichbare Funktion konnte die im Pythagoreer-Eid über die Tetraktys vermittelte Inanspruchnahme der Empedokleischen Grundbegriffe Rhizomata und Pege für Pythagoras nur dann erfüllen, wenn die Strukturierung der zyklischen Naturerklärung des Empedokles durch die Tetraktys als bekannt vorausgesetzt werden konnte. Dass Empedokles bereits die Bezeichnung ‚Tetraktys‛ verwendet haben könnte, erscheint als unwahrscheinlich, und zwar ganz unabhängig von der erwähnten Kontroverse über die Datierung des Sirenen-Akusma als der möglicherweise frühesten Bezeugung der Bezeichnung ‚Tetraktys‛. Denn ein Empedokleischer Beleg für denjenigen Begriff, der in Kaiserzeit und Spätantike geradezu als „Kernpunkt pythagoreischer Weisheit“ galt,118 wäre an den erhaltenen Textstellen nachchristlicher Autoren, an denen die Zugehörigkeit des Empedokles zum Pythagoreerbund behauptet wird, schwerlich unzitiert geblieben. Wohl aber kann Empedokles zu den einzelnen Phasen des Zyklus Zeitangaben gemacht haben, die de facto auf eine Gliederung des Zyklus nach den Proportionen der Tetraktys hinausliefen. Dazu würde gut der aus Nikomachos zu erThesleff 1961: 20; Zhmud 2012: 302: „The ‘Pythagorean oath’ is a typical specimen of pseudo-Pythagorica“. 114 Zu den hellenistischen Pseudo-Pythagorica im Allgemeinen vgl. jetzt Centrone 2014. Aus der älteren Literatur bleibt grundlegend die Einführung von Thesleff 1961 (mit der Rezension von Burkert 1962b), und die Textsammlung von Thesleff 1965 (mit der Rezension von Burkert 1967), wobei die bei Thesleff abgedruckten Texte von ‚Timaios Lokros‛ und Ps.-Archytas durch die im Folgenden anzuführenden Spezialausgaben von Marg 1972 und Szlezák 1972 überholt sind. 115 Editio maior und Übersetzung von Walter Marg 1972; Kommentar von Matthias Baltes 1972. 116 Ausgabe, Übersetzung und Kommentar von Thomas Alexander Szlezák 1972. 117 Text und Kommentar von Richard Harder 1926. 118 Burkert 1962a: 63 (= 1972: 72). 113

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schließende Umstand stimmen, dass man die Empedokleische Angabe der von Pythagoras überschauten Zeiträume von 10 und 20 Aiones mit der Tetraktys in Verbindung brachte, doch ein Beweis liegt darin natürlich nicht. Bei dieser vorsichtigen Diagnose müssten wir es bewenden lassen, wenn die Hypothese einer Gliederung des Zyklus gemäß der Tetraktys nicht durch die von Marwan Rashed 2001 und 2014 veröffentlichten Aristoteles-Scholien zum kosmischen Zyklus des Empedokles in überraschender Weise gestützt würde. Dies vor allem, seit Rashed 2014 aus den Angaben der jetzt vollständiger edierten Scholien überzeugend eine dreiteilige Grundstruktur des kosmischen Zeitplans erschlossen hat. Die nunmehr wiedergewonnene Grundstruktur lässt, so unsere These, auf einen Zeitplan schließen, der vollständig durch die pythagoreische Tetraktys strukturiert ist. Um für die Explikation dieser These den Boden zu bereiten, werden wir im Folgenden zunächst einige bereits an anderem Ort etablierte Grundzüge des kosmischen Zyklus darlegen.119

VI. Allgemeines zur Struktur des kosmischen Zyklus Der Empedokleischen Physik liegt die Annahme von vier Elementen zugrunde – Feuer, Wasser, Erde und Luft –, sowie von zwei Mächten – Liebe (Philotes) und Streit (Neikos). Die Liebe verbindet Portionen verschiedener Elemente zu Lebewesen, der Streit löst diese Verbindungen wieder auf. Einmal aus den Verbindungen gelöst, folgen die Elementportionen, falls sie nicht von der Liebe durch Schaffung neuer Verbindungen daran gehindert werden, dem ihnen innewohnenden Streben des Gleichen zum Gleichen und bilden homogene Massen. Auf diesen Voraussetzungen ruht insbesondere die Empedokleische Theorie des kosmischen Zyklus, die den Weltlauf als eine ewige Wiederkehr des Gleichen beschreibt, genauer: als eine periodische Alternation zwischen der von der Liebe allmählich herbeigeführten globalen Vereinigung der vier Elemente – von vier reinen Elementmassen zur Einheit – und ihrer vom Streit allmählich herbeigeführten globalen Trennung – von der Einheit zu vier reinen Elementmassen. Den ganzen Zyklus hindurch befindet sich die Liebe stets innen, der Streit stets außen; das, was sich im Verhältnis der beiden Kräfte im Laufe des Zyklus ändert, ist lediglich die Aufteilung des mehr oder weniger kugelförmigen, von den vier Elementen erfüllten Alls zwischen Liebe und Streit. 119

Im folgenden Abschnitt resümieren wir die systematische Darstellung bei Primavesi 2013: 696–698, auf die für die Textbelege und das Referat der Forschungskontroversen verwiesen sei.

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Die globale Vereinigung wird von der Liebe bewirkt, indem sie ausgehend vom Mittelpunkt des Alls sich in alle Richtungen ausdehnt, bis sie sich des ganzen Alls bemächtigt und den Streit an die Peripherie gedrängt hat. Am Ziel der globalen Vereinigungsbewegung sind die vier Elemente in vollkommener Vermischung zu einem kugelförmigen Gott verbunden, dem Sphairos. Der Sphairos hat für längere Zeit Bestand. In dieser Zeit haben Liebe und Streit ihre Bewegungen eingestellt; der Sphairos-Gott selbst vollzieht zwar ebenfalls keine Ortsbewegungen, ist aber geistig äußerst rege – wie später der unbewegte Beweger des Aristoteles. Nach Ablauf der Ruhezeit wird vom Streit die globale Trennung bewirkt, indem er ausgehend von der Peripherie den Sphairos zerstört, von allen Seiten in das All eindringt und die Liebe zur Mitte hin zusammendrängt, bis er sich des ganzen Alls bemächtigt und die Liebe wieder am Mittelpunkt komprimiert hat. Am Ziel der globalen Trennungsbewegung bilden die vier Elemente vier chemisch reine Massen, die sphärisch umeinander geschichtet sind: In der Mitte die Erdkugel, darum die drei Kugelschalen des Wassers, der Luft und des Feuers. Diese vier konzentrischen Massen rotieren in höchster Geschwindigkeit umeinander, so dass jede Verbindungsaufnahme zwischen ihnen ausgeschlossen ist. Während aber zwischen der Expansionsbewegung der Liebe und der Invasionsbewegung des Streites unstreitig eine längere Zwischenzeit vollkommener Ruhe eingeschaltet war, nämlich die Lebensdauer des göttlichen Sphairos, vollzieht sich der Wechsel zwischen der Invasionsbewegung des Streites und der Expansionsbewegung der Liebe schlagartig: Sobald der Streit die Liebe durch allseitig-zentripetale Invasion auf den Erdmittelpunkt zusammengedrängt hat, hat er nichts mehr zu erobern, da er dabei überall nur mehr auf sich selbst treffen würde: Sein Invasionspotential ist objektiv erschöpft. Dies löst unmittelbar die Gegenbewegung aus: Die Liebe beginnt sogleich wieder zu expandieren. So folgt auf die Invasion des Streites stets unmittelbar die Expansion der Liebe. Der von der Liebe bewirkte globale Übergang von der Vierheit zur Einheit und der vom Streit bewirkte globale Übergang von der Einheit zur Vierheit vollzieht sich jeweils in einem Antagonismus zwischen Liebe und Streit: In der globalen Vereinigungsphase bringt die expandierende Liebe zwar durch Elementverbindung immer neue und zunehmend komplexe Lebewesen hervor und drängt den Streit dabei allmählich an die Peripherie, doch der Streit leistet dagegen lange Zeit einen zunächst heftigen, später schwächer werdenden Widerstand, indem er die von der Liebe geschaffenen Lebewesen stets wieder zerstört. In der globalen Trennungsphase drängt der invadierende Streit die Liebe zwar allmählich zum Mittelpunkt, aber diese leistet dagegen lange Zeit einen zunächst heftigen, später schwächer werdenden Widerstand, indem sie anstelle des zerstörten

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Sphairos partikulare Lebewesen schafft und die, nach ihrer Auflösung durch den Streit, nach Möglichkeit durch neue Lebewesen ersetzt. Aus dem Gesagten ergibt sich eine fundamentale Dreigliederung des kosmischen Zyklus: A: eine allseitig-zentrifugale Liebes-Expansion, in deren Lauf die Liebe zunehmend die Oberhand über den Widerstand des Streites gewinnt und über immer komplexere Verbindungen der Elemente schließlich eine globale Vereinigung der vier Elemente bewirkt. B: der Einheits- und Ruhezustand des Sphairos. C: eine allseitig-zentripetale Streit-Invasion, in deren Lauf der Streit zunehmend die Oberhand über den Widerstand der Liebe gewinnt und eine globale Trennung der vier Elemente bewirkt. Auf den Zielpunkt dieser Streit-Invasion folgt unmittelbar die Liebes-Expansion (A) des nächstfolgenden Zyklus-Umlaufes.

VII. Die abiotischen Phasen vor und nach dem Wendepunkt Jede detailliertere Rekonstruktion des skizzierten Zyklus steht nun aber vor einem Problem, das in der bisherigen Forschung nicht immer zureichend bedacht worden ist: Der kosmische Antagonismus, der zwischen Streit und Liebe hinsichtlich des von ihnen jeweils besetzten Teils der Welt besteht, ist offenbar nur teilweise deckungsgleich mit dem biologischen Antagonismus, der zwischen Streit und Liebe hinsichtlich der Zusammenfügung und Auflösung von Elementverbindungen besteht. Einerseits sind nämlich die beiden dynamischen Übergangsphasen A und C jeweils von Anfang bis Ende durch einen kosmischen Antagonismus zwischen Liebe und Streit ausgefüllt: Die Streit-Invasion (C) vollzieht sich ihre gesamte Dauer hindurch als räumliche Verdrängung der widerstrebenden Liebe nach dem Mittelpunkt des Universums zu, und die Liebes-Expansion (A) vollzieht sich ihre gesamte Dauer hindurch als räumliche Verdrängung des widerstrebenden Streites an die Peripherie des Universums. Andererseits erscheint es aber als fraglich, dass die Liebe buchstäblich bis zum Ende ihres Rückzugs (d.h. bis zum Umschlagen von Streitinvasion zur Liebesexpansion) noch die Kraft besitzt, weiterhin Elementverbindungen herzustellen, und dass sie gleich zu Beginn ihrer Expansion (d.h. unmittelbar nach dem Um-

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schlagen von der Streitinvasion zur Liebesexpansion) bereits wieder die Kraft besitzt, erneut Elementverbindungen herzustellen. Die Belege sprechen vielmehr dafür, dass der biologische Antagonismus zwischen der Herstellung von Verbindungen durch die Liebe und deren Auflösung durch den Streit nicht nur für den Augenblick des Umschlagens von Streitinvasion zur Liebesexpansion unterbrochen ist,120 sondern bereits einige Zeit vor und noch einige Zeit nach dem Umschlagen. Wenn dieser Eindruck zutrifft, dann ist in einer letzten, abiotischen Extremphase der Streitinvasion der biologische Antagonismus bereits beendet, während der kosmische Antagonismus noch bis zum Augenblick des Umschlagens andauert, da der Streit bis zu diesem Augenblick damit fortfährt, die Liebe zum Mittelpunkt hin zusammenzudrängen. Ebenso ist dann in einer ersten, gleichfalls abiotischen Phase der Liebesexpansion der biologische Antagonismus noch unterbrochen, obwohl der kosmische Antagonismus bereits mit dem Augenblick des Umschlagens wieder eingesetzt hat, da die Liebe in diesem Augenblick damit begonnen hat, den Streit zur Peripherie zu verdrängen. Der Nachweis dieser beiden abiotischen Phasen vor und nach dem Wendepunkt ist sowohl für das Verständnis der in den Scholien überlieferten Zeitangaben von fundamentaler Bedeutung als auch in systematischer Hinsicht: So eröffnet z.B. nur eine längere Unterbrechung des biologischen Antagonismus rund um den Wendepunkt die Möglichkeit eines länger anhaltenden radikalen Trennungszustandes, während dessen die reinen Elementmassen dem Werden und Vergehen enthoben sind und mithin als unsterblich, ja göttlich gelten dürfen. Deshalb wenden wir uns diesem Nachweis jetzt zu.

VIII. Die vier göttlichen Elementmassen Die Wende von der Streitinvasion zur Liebesexpansion wird in einer bedeutsamen Versgruppe dargestellt, die im ersten Buch der Physika nicht zufällig gleich zweimal auftritt. An beiden Stellen wird beschrieben, a) wie der Streit die „Tiefen des Wirbels“ (βένθεα δίνης) erreicht, und b) wie die Liebe sich „im Zentrum des Strudels“ (ἐν μέσηι στροφάλιγγι) einstellt. Beide Ortsangaben a) und b) beziehen sich der Sache nach auf denselben Ort, nämlich auf den Mittelpunkt der rotierenden Erdkugel (und damit des Universums). Demgegenüber dient der Formulierungsunterschied zwischen beiden Ortsangaben dazu, die Verschiedenheit der Perspektive des verfolgenden Streites und der verfolg120

Diese Folgerung hat O’Brien 1969: 58 gezogen.

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ten Liebe zum Ausdruck zu bringen: a) Der Streit dringt von allen Seiten zum Mittelpunkt vor – deshalb der Plural „Tiefen des Wirbels“ – , b) die Liebe wird in dem einen Mittelpunkt komprimiert – deshalb der Singular „im Zentrum des Strudels“. Bei dem ersten, vom Straßburger Papyrus bewahrten Vorkommen der Versgruppe wird der subjektive Aspekt herausgestellt, dass die vom Streit am Ziel seiner allseitig-zentripetalen Invasion erreichten Tiefen für ihn nicht weiter überschreitbar (ἀνυπέρβατα) sind:121 [Ἀλλ’ ὅτ]ε δὴ Νεῖκός [τ’ ἀνυ]πέρβατα βέν[θε’ ἵκηται] δ[ίνη]ς, ἐν δὲ μέσ[ηι] Φ[ιλ]ότης στροφά[λιγγι γένηται,] 290 ἐν [τῆι] δὴ τάδε πάντα συνέρχεται ἓν [μόνον εἶναι.]

Doch stets wenn der Streit angelangt ist bei den unüberschreitbaren Tiefen des Wirbels, und die Liebe sich im Zentrum des Strudels eingestellt hat, 290 dann kommt in ihr all dies zusammen, um ein einziges zu sein;

In einem wichtigen, von Simplikios bewahrten Zitatfragment – Fr. 69b Mansfeld/ Primavesi (= DK 31 B 35) – kommt die Versgruppe zum zweiten Mal vor. Diesmal wird der objektive Aspekt herausgestellt, dass die vom Streit am Ziel seiner Invasion erreichten Tiefen die untersten (ἐνέρτατα) sind, d.h. am Mittelpunkt des Universums liegen:122

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ἐπεὶ Νεῖκος μὲν ἐνέρτατα βένθε’ ἵκηται δίνης, ἐν δὲ μέσηι Φιλότης στροφάλιγγι γένηται, ἐν τῆι δὴ τάδε πάντα συνέρχεται ἓν μόνον εἶναι,

3 ἐνέρτατα βένθε’ ἵκηται Mansfeld/Primavesi (cf. Physika I 288 ἀνυπέρβατα βένθε’ ἵκηται) : ἐνέρτατον ἵκετο βένθος Simpl., Rashed 2014: 329.

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Stets wenn der Streit angelangt ist bei den untersten Tiefen des Wirbels, und die Liebe sich im Zentrum des Strudels eingestellt hat, dann kommt in ihr all dies zusammen, um ein einziges zu sein; Empedokles Fr. 66b Mansfeld/Primavesi, Physika I, Verse 288–290. Empedokles Fr. 69 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 35), Verse 3–5. Die überlieferte Sequenz des indikativischen Prädikats ἐνέρτατον ἵκετο βένθος in Vers 3 und des konjunktivischen Prädikats ἐν δὲ μέσηι … στροφάλιγγι γένηται in Vers 4 innerhalb ein und desselben ἐπεί-Satzes ist mit Recht immer schon als unerträglich empfunden worden – vgl. hierzu Martin/Primavesi 1999: 218–221 – , und sicher nicht durch die von O’Brien 1969: 110–112 angeführten Scheinparallelen zu retten; speziell hierzu Martin/Primavesi 1999: 219 n. 3. Deshalb wurde in Fr. 69b Mansfeld/Primavesi Vers 3 (nach dem Vorbild der Parallelstelle Fr. 66b Mansfeld/Primavesi, Physika I Vers 288 ἀνυπέρβατα βένθε’ ἵκηται) das überlieferte ἐνέρτατον ἵκετο βένθος zu ἐνέρτατα βένθε’ ἵκηται emendiert, was Rashed 2014: 329 möglicherweise übersehen hat.

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Beiden zitierten Stellen ist gemeinsam, dass als Folge der Erreichung des Wendepunktes das durch die Liebe bewirkte Zusammenkommen der Elemente zum Einen angegeben wird. Doch liegt die besondere Bedeutung des zuletzt zitierten Fr. 69b M./P. für die Struktur des kosmischen Zyklus darin, dass innerhalb dieses einen Fragments sowohl von einem, wie wir sahen, mehr oder weniger schlagartigen Übergang von Streitinvasion zu Liebesexpansion die Rede ist, als auch von einer Phase, in der die voneinander getrennten Elemente für eine gewisse Zeit unsterblich, d.h. dem Werden und Vergehen enthoben sind. Die unmittelbare Fortsetzung der zuletzt zitierten Stelle zeigt nämlich, dass die Vereinigung der Elemente durch die Liebe nicht unmittelbar nach dem Wendepunkt (οὐκ ἄφαρ) beginnt, d.h. nicht unmittelbar mit Beginn der zentrifugalen Liebesexpansion, sondern erst dann, wenn die Elementmassen innerlich dazu bereit sind:123 ἐν τῆι δὴ τάδε πάντα συνέρχεται ἓν μόνον εἶναι, οὐκ ἄφαρ, ἀλλὰ θελημὰ συνιστάμεν’ ἄλλοθεν ἄλλα. τῶν δέ τε μισγομένων χεῖτ’ ἔθνεα μυρία θνητῶν

… dann kommen in ihr all diese zusammen, um ein einziges zu sein; nicht unmittelbar darauf, sondern erst, wenn sie bereitwillig von überall her zusammentreten. Dank ihrer Mischung aber ergossen sich unzählige Scharen sterblicher Wesen.

Dass die Liebe die Elemente zu den zwischen ihnen künftig zu stiftenden Verbindungen allererst geneigt machen muss, hat Empedokles an anderer Stelle ausdrücklich festgestellt:124 ὡς δ᾽ αὔτως ὅσα κρῆσιν ἐπαρκέα μᾶλλον ἔασιν, ἀλλήλοις ἔστερκται ὁμοιωθέντ᾽ Ἀφροδίτηι,

Genauso sehen sich all jene, welche sich gegen die Mischung eher abwehrend verhalten,125 126 voneinander geliebt, sobald sie durch Aphrodite einander angeglichen wurden.

Empedokles Fr. 69 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 35), Verse 5–7. Empedokles Fr. 58 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 22), Verse 4–5. 125 Zur Übertragung der transitiven Konstruktion des Verbs ἐπαρκέω (abwehren) auf das zugehörige Adjektiv ἐπαρκής vgl. Kühner/Gerth 1898: 296 (§ 409 Anm. 4). 126 Zum in ἀλλήλοις ἔστερκται vorliegenden Dativus auctoris beim Perfekt Passiv vgl. Kühner/Gerth 1898: 422 (§ 423/18.c). 123 124

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Doch den wichtigsten Beleg für einen länger anhaltenden abiotischen Zustand vollkommener Getrenntheit der Elemente liefert die bemerkenswerte Charakterisierung des Wiedereintritts der Elemente in sterbliche Verbindungen, die in einem später folgenden Vers des Fragments 69b Mansfeld/Primavesi gegeben wird:127 αἶψα δὲ θνήτ’ ἐφύοντο, τὰ πρὶν μάθον ἀθάνατ’ εἶναι,

Und im Nu erwuchsen zu Sterblichen die, die zuvor gelernt hatten, Unsterbliche zu sein.

Diesem Vers zufolge erfahren die vier Elemente nämlich ihre von der Liebe erstmals wieder bewirkte Verbindung zu organischen Lebewesen als jähen Wiedereintritt in die Sterblichkeit, d.h. in die Behelligung durch Werden und Vergehen, und ineins damit als scharfen Kontrast zu dem Dasein als unsterbliche (d.h. dem Werden und Vergehen enthobene) Wesen, wie sie es zuvor kennengelernt hatten. Der diametrale Gegensatz zwischen der (neuen) Gebundenheit in sterblichen Verbindungen einerseits und der (vorangegangenen) Unsterblichkeit andererseits stellt außer Zweifel, dass den Elementen unmittelbar vor ihrem Wiedereintritt in sterbliche Verbindungen ein abiotischer Zustand vollständiger Elementtrennung beschieden war, während dessen sie sich als Unsterbliche, d.h. als Götter, zu begreifen lernten (μάθον ἀθάνατ’ εἶναι). Die Unsterblichkeit und ihr lernendes Begreifen kann schwerlich nur einen Augenblick in Anspruch genommen haben, vielmehr muss dieser Zustand längere Zeit gewährt haben, wenn anders die Aufhebung von Werden und Vergehen überhaupt manifest und damit ‚lernbar‛ geworden sein soll. Es würde also nicht nur der in Vers 6 vorangegangenen Angabe „nicht unmittelbar darauf“ (οὐκ ἄφαρ) widersprechen, sondern auch dem Begriff der Unsterblichkeit, wenn man in Vers 14 aus der Zeitangabe „im Nu“ (αἶψα) mit Denis O’Brien auf eine nur momentane Dauer der Unsterblichkeit selbst schließen wollte:128 In Wahrheit bezieht sich das „im Nu“ (αἶψα) nicht auf die durch „nicht unmittelbar darauf“ (οὐκ ἄφαρ) bezeichnete Dauer der Unsterblichkeit, sondern auf den jähen Übergang von dieser Unsterblichkeit zu erneuter Sterblichkeit. Nur auf jenen längeren abiotischen Zeitraum der ‚Unsterblichkeit‛ vier chemisch reiner, konzentrisch umeinander rotierender Elementmassen kann sich der 127 128

Empedokles Fr. 69 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 35), Vers 14. O’Brien 1969: 59: „What is significant for our present purpose is that the elements become mixed and mortal quickly, αἶψα. The reason for this is probably that, as has been implied in lines 3–5, Love intervenes more or less as soon as the elements have been fully separated by Strife“.

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Vers beziehen, in dem festgestellt wird, dass bei jedem Umlauf des kosmischen Zyklus auch für die vier Elemente eine Zeit der Herrschaft kommt:129 ἐν δὲ μέρει κρατέουσι περιπλομένοιο χρόνοιο

wenn aber die Reihe an sie kommt, dann sind sie an der Macht, im Umlauf der Zeit.

Und nur durch diesen Zeitraum ihrer Herrschaft und Unsterblichkeit lassen sich schließlich auch die vier Götternamen rechtfertigen, die den Elementen zuerkannt werden, und mit deren Aufzählung der im ersten Buch der Physika gegebene Überblick über den kosmischen Zyklus beginnt:130 Ζεὺς ἀργὴς Ἥρη τε φερέσβιος ἠδ᾽ Ἀιδωνεύς Νῆστίς θ᾽, ἣ δακρύοις τέγγει κρούνωμα βρότειον.

Leuchtend-heller Zeus und lebenspendende Hera und Aidoneus und Nestis, die mit ihren Tränen tränkt, was den Sterblichen entströmt.

Nimmt man die angeführten Belegstellen zusammen, dann ist kaum ein Zweifel daran möglich, dass den Elementen, nachdem der Streit ihnen durch Zerstörung aller organischen Verbindungen den Zusammenschluss zu vier chemisch reinen, konzentrisch umeinander geschichteten Massen ermöglicht hat, ein länger andauernder abiotischer Zustand völliger Getrenntheit beschieden ist; dieser fällt nach dem Wortlaut von Fr. 69b M./P. (DK 31 B 35) in die Zeit unmittelbar nach dem Wendepunkt, d.h. eine erste Phase der Liebesexpansion, bevor die Liebe mit der erneuten Herstellung organischer Verbindungen beginnen kann. Mithin ist die Spannung zwischen den beiden in Fr. 69b M./P. getroffenen Aussagen – einerseits das schlagartige Umschlagen von der Streitinvasion zur Liebesexpansion, andererseits die länger anhaltende radikale Getrenntheit der vier Elemente – nicht dadurch zu lösen, dass man eine der beiden herunterspielt, sondern allein dadurch, dass man die nicht nur begriffliche, sondern auch zeitliche Differenz zwischen dem kosmischen und dem biologischen Antagonismus anerkennt: Aus der Persistenz des kosmischen Antagonismus vor und nach dem Wendepunkt erklärt sich das augenblickliche Umschlagen von der Streitinvasion zur Liebesexpansion; aus der längeren Unterbrechung des biologischen Antagonismus erklärt sich die abiotische Anfangsphase der Liebesexpansion bzw. das zeitlich ausgedehnte Dasein der vier reinen Elementmassen. Die Wirkung der Liebesexpansion während ihrer abiotischen Anfangsphase 129 130

Empedokles Fr. 66b Mansfeld/Primavesi: Physika I Vers 260 (DK 31 B 17, 29). Empedokles Fr. 49b Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 6), Verse 2–3.

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scheint sich darauf zu beschränken, einerseits den Streit aus der kompakten, zentralen Erdkugel zu verdrängen, und andererseits auch die Geschwindigkeit, mit der die homogenen Elementmassen umeinander rotieren, zunächst einmal so weit zu reduzieren, dass Verbindungen zwischen ihnen überhaupt wieder möglich werden.

IX. Der große Wirbel (Dinos) Auch schon vor dem Wendepunkt, d.h. in der Schlussphase der Streitinvasion, ist der biologische Antagonismus zwischen Liebe und Streit unterbrochen; um dies zu zeigen, werden wir uns auf zwei längere Abschnitte des Straßburger Empedokles-Papyrus stützen. An erster Stelle ist der apokalyptische Ausblick auf das bittere Schicksal anzuführen, welches den Lebewesen beschieden sein wird, wenn sie in der Endphase der Streitherrschaft vom großen Wirbel (Dinos)131 erfasst werden:132

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[ἄν]διχ᾽ ἀπ᾽ ἀλλήλω[ν] πεσέ[ει]ν καὶ π[ότ]μον ἐπισπεῖν [πό]λλ᾽ ἀεκαζομέν[ο]ισιν ἀ[να]γκα[ίης ὕ]πο λυγρῆς [ση]πομένοις· Φιλίην δ᾽ ἐ[ρατ]ὴν [ἡμῖ]ν νυν ἔχουσιν [Ἅρ]πυιαι θανάτοιο πάλοις [ἤδη παρέσ]ονται. Οἴμοι ὅτ᾽ οὐ πρόσθεν με διώλεσε νηλεὲς ἦμαρ, πρὶν χηλαῖς σχέτλι᾽ ἔργα βορᾶς πέρι μητίσασθαι· [νῦν δ]ὲ μάτη[ν ἐν] τῶιδε νότ[ωι κατέδ]ευσα παρειάς· [ἐξικ]νούμε[θα γὰ]ρ πολυβενθ[έα Δῖνον], ὀΐω, [μυρία τ᾽ οὐκ] ἐθέλουσι παρέσσε[ται ἄλγ]εα θυμῶι [ἀνθρώποις]

(Schließlich wird den Gliedmaßen beschieden sein,) abgetrennt auseinander zu stürzen und ihr Geschick zu vollenden, wobei sie höchst unfreiwillig unter schmerzlichem Zwang zersetzt werden. Bei uns aber, die wir gegenwärtig die herrliche Liebe haben,

Zu dem in einer Aristophanischen Vorsokratiker-Parodie (Wolken 828) bezeugten Begriff des Dinos, seiner Zuschreibung an Empedokles (σφαῖρα : Σφαῖρος = δίνη : Δῖνος ) und seiner Ergänzung in einer Lücke des Straßburger Papyrus vgl. Martin/ Primavesi 1999: 304–306. 132 Empedokles Fr. 87 Mansfeld/Primavesi, Verse 1–10a. 131

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werden bald Harpyen mit Todeslosen sein. Weh mir, dass mich nicht vernichtet hat der unentrinnbare Tag, bevor ich Fraßes halber mit meinen Klauen schändliche Werke verüben konnte! Jetzt aber habe ich mir in diesem Nass vergeblich die Wangen benetzt; denn wir werden z u m W i r b e l (Dinos) m i t d e n v i e l e n T i e f e n kommen, wie ich glaube, und unzählige Schmerzen werden gegen ihren Willen im Gemüt haben die Menschen.

In den ersten drei Versen ist von Teilen die Rede, die zunächst voneinander getrennt werden und auseinanderstürzen, um dann, für sich, ihr Geschick zu vollenden, indem sie zersetzt werden. Da weder von integralen Lebewesen noch von den Elementen gesagt werden kann, dass sie zunächst aus einer Verbindung herausfallen und dann für sich zersetzt werden, sind als logisches Subjekt der drei Verse die einzelnen Gliedmaßen anzunehmen: Beschrieben wird, wie Lebewesen bei lebendigem Leibe zerrissen und ihre einzelnen Gliedmaßen der Zersetzung preisgegeben werden. In den Versen 3–4 wird nun aber die gegenwärtig, d.h. zu dem Zeitpunkt der Äußerung, an dem die Erzählerinstanz dies sagt, noch gegebene Anwesenheit der Liebe kontrastierend der Attacke der mit Todeslosen versehenen Harpyien gegenübergestellt, die zu dem hier beschriebenen Zeitpunkt als Agentinnen des Streites über die Lebewesen herfallen werden. Hiermit soll offensichtlich mehr ausgesagt werden als der vergleichsweise triviale, für alle im Laufe des kosmischen Zyklus entstehenden Elementverbindungen geltende Sachverhalt, dass sie von der Liebe zusammengefügt und durch den Streit wieder aufgelöst werden. Vielmehr wird hier offenbar angekündigt, dass in einem fortgeschrittenen Stadium der Streitherrschaft die Kohäsionskraft der Liebe soweit reduziert sein wird, dass die dann vorhandenen organischen Verbindungen, d.h. Lebewesen, mitten in ihrer gewöhnlichen Lebenszeit dem Streit nicht mehr gewachsen sein und, in einem ersten Zerstörungsschritt, in einzelne Gliedmaßen zerfallen werden.133 Wenn dies aber alle zu diesem Zeitpunkt vorhandenen Lebewesen trifft, dann ist der Liebe die weitere Erzeugung von Lebewesen mittels geschlechtlicher Fortpflanzung nicht mehr möglich. Vielmehr fällt offenbar alle noch verbliebene organische Substanz der finalen Zersetzung (Sepsis) anheim.134 Etwas ähnliches hatte bereits O’Brien 1969: 218–229 unter dem Titel „The Third Stage of Increasing Strife“ vermutet. Allerdings erscheinen die von ihm ebd. 218–226 hierfür in Anspruch genommenen Verse Empedokles Fr. 66b Mansfeld/Primavesi: Physika I, 305–306 (DK 31 B 20, 4‒5) als Beleg ungeeignet; vgl. dazu Primavesi 2008: 35–39. 134 Empedokles Fr. 87 Mansfeld/Primavesi, Vers 3. Das Nomen σῆψις begegnet erstmals bei Empedokles Fr. 13b Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 121,3): αὐχμηραί τε νόσοι καὶ 133

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Zudem hat es den Anschein, dass auch das Tötungswirken des Streites nicht die gesamte Schlussphase seiner Invasion füllt, sondern zu Beginn des großen Wirbels mehr oder weniger schlagartig erfolgt und damit auch abgeschlossen ist. Jedenfalls ist im Straßburger Empedokles-Papyrus – wenn auch in beschädigtem Zustand – die Schilderung der abschließenden Phase der Streitinvasion überliefert (Physika I, Verse 273–287), die der bereits zitierten ersten Darstellung des Machtwechsels von Streitinvasion zu Liebesexpansion (Physika I, Verse 288–290) unmittelbar vorangeht, und in der offenbar nur mehr von einer raschen Bewegung von Elementteilen die Rede ist, nicht hingegen von der Tötung von Lebewesen:135

275

280

285

[ἐ]ν τῆι δ᾽ ἀΐσσοντα [διαμπ]ερὲς οὐδ[αμὰ λήγει] [π]υκνῆισιν δίνηισ[ιν ] ˘ ¯ ˘˘ ¯ ˘˘] τ [ ¯ x ] [ν]ωλεμές, οὐδέ πο[τ᾽ ¯ ˘˘ ¯ ˘˘ ¯ ˘˘ ¯ x ] [παῦρ]οι δ᾽ αἰῶνες πρότερ[οι ˘˘ ¯ ˘˘ ¯ x ] [πρὶν] τούτων μεταβῆνα[ι ˘ ¯ ˘˘ ¯ ˘˘ ¯ x ] [πά]ντηι δ᾽ ἀΐσσον[τ]α διαμ[περὲς οὐδαμὰ λήγει·] [οὔ]τε γὰρ ἠέλιος Τ[ιτ]ὴν ο[ὔτ᾽ ἄπλετος αἰθήρ] [ὁρ]μῆ❬ι❭ τῆιδε γέμον[τε ˘ ¯ ˘˘ ¯ ˘˘ ¯ x ] [οὔ]τε τι τῶν ἄλλων ˘˘ ¯ ˘˘ ¯ ˘˘ ¯ x ,] [ἀλ]λὰ μεταλλάσσον[τ᾽ ἀΐσσ]ει κύκλωι [ἅπαντα.] [ἄλλο]τε μὲν γὰρ γαῖ᾽ [ἀβ]άτη θέει ἠελ[ίου τε] [σφαῖρα,] τόσην δὴ κα[ί ν]υν ἐπ᾽ ἀνδράσι τ[ιέμεν ἐστίν·] [ὣς δ᾽ α]ὔτως τάδ[ε π]άντα δι᾽ ἀλλήλων [γε δραμόντα,] [κἄλλο]υς τ᾽ ἄλλ᾽ [ἔσχη]κε τόπους πλαγ[χθέντ᾽ ἰδίους τε·] [οὐ δή πω] μεσάτους τ[ι ἐσε]ρχόμεθ᾽ ἓν μ[όνον εἶναι.]

276 παῦρ]οι nunc supplevi136 : [πολλ]οὶ Mansfeld/Primavesi.

In ihr (?) hören sie niemals auf, fortwährend zu rasen. In dichten Strudeln … 275 unablässig; und niemals … aber nur noch wenige Lebensspannen, bevor sie … aus diesen übergehen … Allseits fortwährend zu rasen hören sie niemals auf. Denn weder die titanische Sonne, noch der unermessliche Aither (scil. steht still),

135 136

σ ή ψ ι ε ς ἔργα τε ῥευστά.

Empedokles Fr. 66b Mansfeld/Primavesi, Physika I, Verse 273–287. Die neue Ergänzung des Versanfangs ergab sich aus der neuen, den Proportionen der Tetraktys entsprechenden Rekonstruktion des Zeitplans.

270

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280 beide von diesem Drang erfüllt,

Noch eines von den anderen … Sondern wechselnd stürzt alles im Kreis. Denn zu einer Zeit läuft die Erde, unbegehbar, und der Sonne Sphäre, so groß, wie sie auch jetzt von den Männern zu schätzen ist. 285 Genauso verhalten sich all diese (Elemente), nachdem sie durcheinander gelaufen sind, und jedes hat, abgeschlagen, einen anderen, ihm eigentümlichen Ort inne: Wir kommen ja noch nicht etwa in die mittleren (Orte), um ein einziges zu sein.

Der Abschnitt ist offenbar so zu verstehen, dass die durch die Sepsis der organischen Verbindungen freigesetzten Elementteile sich von selbst, kraft des ihnen innewohnenden Strebens des Gleichen zum Gleichen, zu den ihnen jeweils artgleichen kosmischen Elementmassen bewegen, wodurch die Trennung der Elemente ihre Vollendung findet. Hieran sei noch eine Einzelheit hervorgehoben, die für die Deutung der von den Florentiner Scholien überlieferten Zeitangaben wichtig werden wird: Im vierten Vers des zitierten Abschnitts (d.h. in Physika I, Vers 276) wird die Dauer der letzten Phase der Streitherrschaft mittels der als Zeiteinheit verwendeten Bezeichnung Aiones (αἰῶνες ‚Lebensspannen‛) bemessen. Aufs Ganze gesehen hat sich in den beiden vorstehenden Abschnitten gezeigt, dass unmittelbar vor und unmittelbar nach dem Umschlagen von Streitinvasion zur Liebesexpansion in der Tat je eine abiotische Phase anzusetzen ist, in der sowohl das zoogonische Wirken der Liebe als auch das Zerstörungswirken des Streites und damit der biologische Antagonismus zwischen beiden unterbrochen ist, während dies für den kosmischen Antagonismus selbstverständlich nicht gilt. Daraus ergibt sich eine wichtige praktische Folgerung für die Deutung der in den Florentiner Scholien überlieferten Zeitangaben zu den einzelnen Phasen des kosmischen Zyklus: Die Angaben zur Dauer des Wirkens von Liebe und Streit in den beiden Übergangsphasen des Zyklus müssen darauf geprüft werden, ob sie sich speziell auf das biologische, d.h. verbindende bzw. auflösende Wirken von Liebe und Streit beziehen, oder auf ihre kosmische Expansions- bzw. Invasionstätigkeit im Ganzen.

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X. Die Grundstruktur des kosmischen Zeitplanes nach den Florentiner Scholien Die Florentiner Aristoteleshandschrift Laur. 87,7 ist Teil einer vollständigen handschriftlichen ‚Edition‛ der Werke des Aristoteles aus dem frühen 12. Jahrhundert, die im Konstantinopolitaner Skriptorium des Ioannikios hergestellt worden ist.137 Aus dieser Handschrift hat Marwan Rashed byzantinische Scholien ans Licht gezogen, die der Erläuterung und Präzisierung Aristotelischer Bemerkungen zum kosmischen Zyklus des Empedokles dienen wollen, und deshalb auch stets im Zusammenhang mit diesen Aristotelischen Bemerkungen betrachtet werden müssen.138 Durch einen Teil dieser Scholien sind Grundzüge eines Zeitplanes des kosmischen Zyklus bekannt geworden, von dem wir, wie angekündigt, zeigen wollen, dass er vollständig durch die pythagoreische Tetraktys strukturiert ist. In einem ersten Schritt geben wir einen Überblick über die betreffenden Aristoteles-Stellen samt Scholien, soweit sie für die von Rashed 2014 vorgelegte und von uns für richtig gehaltene Rekonstruktion der dreiteiligen Grundstruktur des Zeitplans unmittelbar von Belang sind. (i) Aristoteles Phys. Θ 1, 250b26–29 setzt die beiden Bewegungsphasen des kosmischen Zyklus mit den beiden von der Liebe bzw. vom Streit bewirkten Transformationsprozessen gleich: Empedokles lasse die Welt sowohl dann in Bewegung sein, wenn die Liebe aus Vielem Eines macht, als auch dann, wenn der Streit aus Einem Vieles macht. In Ruhe sei die Welt hingegen jeweils in den Zwischenzeiten:139 Aristoteles Phys. Θ 1, 250b26–29 … ἢ ὡς ᾿Εμπεδοκλῆς ἐν μέρει κινεῖσθαι καὶ πάλιν ἠρεμεῖν, κινεῖσθαι μὲν ὅταν ἡ φιλία ἐκ πολλῶν ποιῇ τὸ ἓν ἢ τὸ νεῖκος πολλὰ ἐξ ἑνός, ἠρεμεῖν δ᾽ ἐν τοῖς μεταξὺ χρόνοις.

… oder so wie Empedokles sagt: Abwechselnd bewege es sich und sei wieder in Ruhe, und zwar bewege es sich, wenn die Liebe aus Vielem das Eine macht oder der Streit Vieles aus Einem, in Ruhe aber sei es in den Zwischenzeiten.

Rashed 2001a: 132–134. Zwei einschlägige Scholien zu Phys. veröffentlichte Rashed 2001a: 141–145; der Beitrag von Rashed 2001b brachte dann die Erweiterung des Materials auf insgesamt sieben Scholien zu Phys. und Gener. Corr., die Primavesi 2006 aufgrund einer Kollation in situ erneut edierte. Corrigenda und wichtige Addenda schließlich bei Rashed 2014. 139 Empedokles Fr. 92a Mansfeld/Primavesi. 137 138

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Zu dieser Aristotelesstelle überliefert die Florentiner Handschrift ein Scholion, dem zu entnehmen ist, dass die von Aristoteles erwähnte ‚Zwischenzeit‛ deshalb eintritt, weil nicht nur die Liebe „nach 60 Zeiteinheiten“ pausiert, sondern weil auch der Streit in Ruhe ist und nicht etwa sogleich mit seinem Auflösungswirken beginnt:140 Scholium B Rashed (Cod. Laur. F, fol. 91r, 6) zu 250b29 (ἐν τοῖς μεταξὺ χρόνοις „in Ruhe aber sei es in den Zwischenzeiten“) παυομένης γὰρ καὶ τῆς φιλίας μετὰ τοὺς ξ χρόνους, οὐκ εὐθὺς ἤρξατο ποιεῖν ἀπόσπασιν τὸ νεῖκος, ἀλλ᾽ ἠρέμει.

Denn als auch die Liebe nach den 60 Zeiteinheiten pausierte, fing der Streit nicht sofort mit dem Abreißen an, sondern er war in Ruhe.

Die hier erstmals genannten 60 Zeiteinheiten (Chronoi )141 geben die Dauer einer Aktivität der Liebe an; am Ende dieser 60 Zeiteinheiten kann die Liebe deshalb pausieren, weil sie die Herstellung des Sphairos abgeschlossen hat; mit der ‚Zwischenzeit‛, die anschließend noch bis zum Beginn der Streitinvasion vergeht, ist offenkundig die Lebensdauer des Sphairos selbst gemeint; diese wird nicht der Zeit der Liebesaktivität zugerechnet, sondern als eine Zeit aufgefasst, in der sowohl Streit als auch Liebe sich ausruhen. Durch die Beschränkung auf diese eine Zwischenzeit suggeriert das Scholion, dass der Plural ‚in den Zwischenzeiten‛ an der kommentierten Aristotelesstelle sich nicht auf mehrere Zwischenzeiten pro Zyklus bezieht, sondern vielmehr darauf, dass die eine Zwischenzeit, die im Zyklus zwischen dem Abschluss des Liebeswirkens einerseits und dem Beginn der Auflösungstätigkeit des Streites andererseits eintritt, aufgrund der ewigen Wiederholung des Zyklus stets wiederkehrt. Offen bleibt, welche Aktivität der Liebe es ist, der hier eine Dauer von 60 Zeiteinheiten zugeschrieben wird: nur ihr eigentlich biologisches Wirken, d.h. die 140 141

Empedokles Fr. 92c Mansfeld/Primavesi. Zu pluralischem χρόνοι in der Bedeutung ‚Zeitabschnitte‛ vgl. LSJ 1996 s.v. χρόνος I.2.a: „pl. of points or periods of time“ mit Verweis auf Platon, Nomoi Z, 798a8–b1 (Burnet): οἷς γὰρ ἂν ἐντραφῶσιν νόμοις, καὶ κατά τινα θείαν εὐτυχίαν ἀκίνητοι γένωνται μ α κ ρ ῶ ν κ α ὶ π ο λ λ ῶ ν χ ρ ό ν ω ν . Auch in der Rhythmus-Lehre bedeutet χρόνος bekanntlich ‚Zeiteinheit‛, vgl. LSJ 1996 s.v. χρόνος V.3: „in Rhythmic and Music time … time unit “; unter den dort angeführten Belegstellen ist Aristides Quintilianus De musica 1, 23 wegen der Verbindung mit einer Maßzahl für uns besonders aufschlussreich, da die Korrektheit der von Winnington-Ingram 1963: 46,6 vorgeschlagenen Einfügung der Sache nach außer Zweifel steht: τὰ δὲ κατὰ διποδίαν ἢ συζυγίαν (scil. μέτρα) καὶ ❬μ έ χ ρ ι τ ρ ι ά κ ο ν τ α ❭ προχωρεῖ χ ρ ό ν ω ν ἢ ὀ λ ί γ ῳ π λ ε ι ό ν ω ν . Auf die Frage, welche spezifische Zeiteinheit hinter dem in den Florentiner Scholien verwendeten abstrakten Gattungsbegriff ‚Zeiteinheit‛ (Chronos) stehen könnte, gehen wir weiter unten ein.

TETRAKTYS UND GÖTTEREID BEI EMPEDOKLES

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Hervorbringung partikularer Lebewesen durch Elementverbindung oder ihre gesamte kosmische Expansionsbewegung? Letztere geht ja nicht von Anfang an mit dem Herstellen von Elementverbindungen einher; vielmehr fällt die Anfangsphase der Liebesexpansion zeitlich mit dem abiotischen Getrenntheitszustand der vier Elementmassen zusammen. Da nun mit der Herstellung des Sphairos sowohl die Expansionsbewegung der Liebe als auch ihr biologisches Wirken zum Abschluss kommt, lässt sich die Angabe ‚nach den 60 Zeiteinheiten‛ (μετὰ τοὺς ξ χρόνους) gleich sinnvoll auf jede dieser beiden Aktivitäten beziehen. Es lässt sich also allein aufgrund des vorliegenden Scholions nicht entscheiden, ob die 60 Zeiteinheiten, von denen hier die Rede ist, bereits am Wendepunkt des kosmischen Zyklus, d.h. beim Einsetzen der Liebesexpansion, beginnen und mithin auch die abiotische Phase vollkommener Elementtrennung einschließen, oder ob sie erst mit dem Einsetzen des biologischen Wirkens der Liebe beginnen.142 (ii) Aristoteles Phys. Θ 1, 252a9–10 beschreibt den Empedokleischen Zyklus als eine Sequenz: Liebesherrschaft – Ruhezeit – Streitherrschaft:143 Aristoteles Phys. Θ 1, 252a7–10 … ὅπερ ἔοικεν Ἐμπεδοκλῆς ἂν εἰπεῖν, ὡς τὸ κρατεῖν καὶ κινεῖν ἐν μέρει τὴν φιλίαν καὶ τὸ νεῖκος ὑπάρχει τοῖς πράγμασιν ἐξ ἀνάγκης, ἠρεμεῖν δὲ τὸν μεταξὺ χρόνον.

… Eben dies, so scheint es, meint wohl Empedokles: Es komme den Dingen aus Zwang zu, dass die Liebe und der Streit sie abwechselnd beherrschen bzw. in Bewegung halten, und dass sie die Zwischenzeit hindurch unbewegt sind.

Wenn man dies als vollständige Beschreibung des Zyklus versteht, dann entspricht die Beschreibung strukturell der oben unter (i) zitierten Parallelstelle Physik Θ 1, 250b26–29: Mit der Herrschaft der Liebe bzw. des Streites wären hier dann die beiden von der Liebe bzw. vom Streit bewirkten Bewegungsphasen des Zyklus als Ganze gemeint, einschließlich der abiotischen Phasen unmittelbar nach bzw. vor dem Wendepunkt, in denen das Werden und Vergehen von Lebewesen, wie wir sahen, suspendiert ist. Dass Aristoteles die Zwischenzeit diesmal im Singular anführt, stimmt zu dem, was bereits das unter (i) angeführte Scholion B suggerierte: Im kosmischen Zyklus des Empedokles ist offenbar nur eine Ruhezeit pro Umlauf anzunehmen, nämlich die zwischen dem Ende der Liebesexpansion einerseits und dem Beginn der Streitinvasion andererseits. Dieser Eindruck wird durch das zur vor142 143

Die letztgenannte Auffassung wird noch bei Primavesi 2013: 704–707 vertreten. Empedokles Fr. 93a Mansfeld/Primavesi.

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liegenden Aristotelesstelle gehörige Scholium C bestätigt: Dort wird unter der ‚Zwischenzeit‛ erneut diejenige und nur diejenige verstanden, die auf das 60 Zeiteinheiten lang währende Liebeswirken folgt:144 Scholium C Rashed (Cod. Laur. F, fol. 93r, 9) zu 252a9–10 (τὸν μεταξὺ χρόνον „die Zwischenzeit hindurch“) καὶ οὐκ εὐθὺς μετὰ τὴν παρέλευσιν τῶν ξ χρόνων ἐν οἷς ἐκράτησεν ἡ φιλία γενέσθαι διάσπασιν.

Und nicht sogleich nach dem Verstreichen der 60 Zeiteinheiten, während derer die Liebe an der Herrschaft war, setze die Zerreißung ein.

Das 60 Zeiteinheiten währende Liebeswirken wird diesmal ausdrücklich als die Phase bestimmt, in der die Liebe an der Herrschaft war (ἐκράτησεν). Versteht man den Begriff der Liebesherrschaft hier genauso, wie er offenbar an der kommentierten Aristotelesstelle zu verstehen ist, nämlich als Bezeichnung der gesamten von der Liebe bewirkten Bewegungsphase, dann verstreichen zwischen dem Wendepunkt des Zyklus und dem Eintritt des Einheitszustandes insgesamt 60 Zeiteinheiten, und der abiotische Zustand vollkommener Elementtrennung, in der die Elemente vier chemisch reine, konzentrisch umeinander rotierende Massen bilden, stellt eine erste Phase innerhalb der 60 Zeiteinheiten währenden Liebesherrschaft dar. Dagegen mag man zwar einwenden, dass von einer ‚Herrschaft‛ der Liebe über die Elemente erst dann die Rede sein könne, wenn sie die Elemente tatsächlich miteinander verbindet,145 aber zwingend ist dieser Einwand nicht: Für die Liebesexpansion gilt ja von Anfang an, dass die Liebe den Streit allmählich aus dem von den Elementen erfüllten Raume verdrängt und diesen Raum selbst okkupiert. Schon darin kann man eine ausreichende Rechtfertigung dafür sehen, auch die Anfangsphase der Liebesexpansion bereits der Zeit ihrer Herrschaft zuzurechnen. Eine endgültige Entscheidung dieser Frage wird das unten unter (iv) zu behandelnde Scholium J (zu Gener. Corr.) bringen. (iii) Unabhängig von der Frage, ob die Liebesherrschaft zeitlich koextensiv mit der Liebesexpansion als ganzer ist, stellt sich die weitere Frage, ob die für die Liebesherrschaft angegebene Dauer von 60 Zeiteinheiten in symmetrischer Entsprechung auch für die Streitherrschaft anzunehmen ist. Aristoteles Phys. Θ 1, 252a31–32 stellt nun ausdrücklich fest, dass für das globale Vereinigungswirken der Liebe und für das globale Trennungswirken des Streites jeweils gleichlange Zeiträume vorgesehen sind:146 Empedokles Fr. 93b Mansfeld/Primavesi (mit der Emendation von Rashed 2014). So noch Primavesi 2013: 704–707. 146 Empedokles Fr. 94a Mansfeld/Primavesi. 144 145

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Aristoteles Phys. Θ 1, 252a27–28 + 31–32 εἰ δὲ προσοριεῖται τὸ ἐν μέρει, λεκτέον ἐφ᾽ ὧν οὕτως, …

τὸ δὲ καὶ δι᾽ ἴσων χρόνων δεῖται λόγου τινός.

Wenn er aber zusätzlich (scil. zu der Annahme, dass die Liebe vereinigt und der Streit trennt) auf die Bestimmung hinauswill, dass sie dies „abwechselnd“ tun, dann muss er sagen, in welchen Fällen dies beobachtet werden kann, … Und dass sie es zudem noch j e w e i l s gleichlange Zeiträume hind u r c h tun, bedarf einer Begründung.

In einem Florentiner Scholion zu dieser Stelle wird dies dahingehend präzisiert, dass die von Aristoteles genannten, ‚jeweils gleichlangen Zeiträume‛ auf die Dauer der Streitherrschaft und auf die Dauer der Liebesherrschaft zu beziehen sind:147 Scholium E Rashed (Cod. Laur. F, fol. 93v, 20) zu 252a31 (τὸ δὲ καὶ δι’ ἴσων χρόνων „jeweils gleichlange Zeiträume hindurch“148) κρατεῖν τὸ νεῖκος καὶ τὴν φιλίαν.

… bleiben der Streit und die Liebe an der Macht.

Daraus folgt, dass nach dem Zeitplan der Scholien nicht nur die Liebesherrschaft 60 ‚Zeiteinheiten‛ in Anspruch nimmt, sondern ebenso auch die Streitherrschaft. (iv) Eine Bestätigung der gleichlangen Dauer von Liebes- und Streitherrschaft sowie die endgültige Klärung des oben problematisierten Verhältnisses zwischen Liebesherrschaft und Liebesexpansion bzw. zwischen Streitherrschaft und Streitinvasion hat nun eines der von Rashed erst 2014 publizierten Florentiner Scholien gebracht. Aristoteles Gener. Corr. Β 6, 334a5–9 schreibt dem Empedokles die Annahme zu, dass der gegenwärtige, in die Zeit der Streitherrschaft fallende Weltzustand 147 148

Empedokles Fr. 94b Mansfeld/Primavesi. Temporales διά + Gen. dient nach Kühner/Gerth 1898: 482 (§ 434/I.2) entweder a) „zur Bezeichnung des z e i t l i c h e n E r s t r e c k e n s : h i n d u r c h , per “ oder es wird gesagt b) „vom t e m p o r a l e n Z w i s c h e n r a u m e : i n e i n e m Z e i t a b s t a n d e v o n , daher n a c h , post. … So auch von einer nach bestimmten Zeitabschnitten wiederkehrenden Handlung“. Im Scholium E stimmt der durative Aspekt des zugehörigen Infinitivs κρατεῖν besser zu Bedeutung a), was gegen die von Primavesi 2006: 35–36 vorgeschlagene Übersetzung „in gleichen Zeitabständen“ spricht.

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strukturell äquivalent zu dem früheren, in die Zeit der Liebesherrschaft fallenden Weltzustand sei; nach Meinung des Aristoteles impliziert diese Äquivalenz, dass für beide Weltalter auch ein und dieselbe Bewegungsursache anzunehmen sei, und nicht, wie Empedokles behaupte, in einem Weltalter der Streit und in einem anderen Weltalter die Liebe. Sobald man aber eine einheitliche, von Streit und Liebe verschiedene Bewegungsursache für beide Weltalter annehme, sei der Status von Streit und Liebe als Bewegungsursachen und damit ihre Funktion im Empedokleischen System dahin:149 Aristoteles Gener. Corr. Β 6, 334a5–9 ἅμα δὲ καὶ τὸν κόσμον ὁμοίως ἔχειν φησὶν ἐπί τε τοῦ νείκους νῦν καὶ πρότερον ἐπὶ τῆς φιλίας. τί οὖν ἐστὶ τὸ κινοῦν πρῶτον καὶ αἴτιον τῆς κινήσεως; οὐ γὰρ δὴ ἡ φιλία καὶ τὸ νεῖκος. ἀλλὰ τίνος κινήσεως ταῦτα αἴτια, εἰ ἔστιν ἐκεῖνο ἀρχή;

Doch zugleich sagt er, die Welt verhalte sich jetzt unter der Streitherrschaft ähnlich wie zuvor unter der Liebesherrschaft. Was ist dann das erste Bewegende und die Ursache der Bewegung? Die Liebe und der Streit kann es dann ja nicht sein. Aber von welcher Bewegung können dann diese beiden die Ursachen sein, wenn doch jenes das Bewegungsprinzip ist?

εἰ ἔστιν] εἴ ἐστιν scripsit Rashed 2005, sed cf. Kühner/Blass 1890: 344 (§ 90/2.d)

An dieser Textstelle bietet die Florentiner Handschrift zwei Scholien. Deren zweites, Scholium J Rashed, lässt sich unbeschadet seiner sehr knappen Diktion als Versuch verstehen, eine Voraussetzung zu erläutern, die an der kommentierten Aristotelesstelle als offensichtlich betrachtet wird, nämlich die Voraussetzung, dass als einheitliche Bewegungsursache beider Bewegungsphasen weder die Liebe noch der Streit in Frage kommen würde (οὐ γὰρ δὴ ἡ φιλία καὶ τὸ νεῖκος): Schon wenn man nur so viel konzediere, heißt es im Scholion, dass eine mit dem Ablauf von 60 Chronoi abgeschlossene Bewegung der Elemente lediglich ein einziges Mal vom Streit durchgeführt und abgeschlossen worden sei, stehe man unweigerlich vor der Frage, wer als Bewegungsursache der daran anschließenden Bewegung zu bestimmen ist. Der Streit kann es nicht sein (denn von der durch ihn verursachten Bewegung wurde ja angenommen, dass sie nach Ablauf von 60 Chronoi zum Abschluss gekommen ist). Die Liebe kann es aber auch nicht sein (da die Annahme eines Bewegerwechsels gegen die von Aristoteles vorausgesetzte Einheitlichkeit der Bewegungsursache verstoßen würde):

149

Empedokles DK 31 A 42 (ii).

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Scholium J Rashed (Cod. Laur. F, fol. 236v, 2) zu 334a6–7 (ὁμοίως … ἐπί τε τοῦ νείκους νῦν καὶ πρότερον ἐπὶ τῆς φιλίας „jetzt unter der Streitherrschaft ähnlich wie zuvor unter der Liebesherrschaft“) ἀλλ᾽ ἐπεί ποτε καὶ ἅπαξ ἐκινήθησαν ὑπὸ τοῦ νείκους ἕως εἰς τοὺς ξ χρόνους, τί τὸ αἴτιον τῆς κινήσεως;

Aber nachdem irgendwann auch nur ein einziges Mal eine bis zum Ablauf von 60 Chronoi währende Bewegung (der Elemente) vom Streit durchgeführt wurde, – was ist danach die Bewegungsursache?

Post χρόνους interpunxit Rashed, post νείκους scriba scholiorum (teste P. Isépy)

In diesem Scholion fällt zunächst die ungewöhnliche Junktur ποτὲ καὶ ἅπαξ auf, die sonst offenbar erst in einem im Jahre 896 n. Chr. verfassten Brief des byzantinischen Diplomaten Leon Magistros Choirosphaktes (‚Leo Magister‛)150 an den bulgarischen Machthaber Symeon belegt ist.151 Dies liefert womöglich einen Hinweis darauf, dass in den Scholien kein wörtliches Zitat der benutzten Quellenschrift über den Empedokleischen Zeitplan vorliegt, sondern nur ein späterer Auszug daraus; denn jene Quellenschrift geht, wie wir noch sehen werden, bereits auf den Mittel- oder Neuplatonismus zurück. Die Bestimmung ‚bis zum Ablauf von 60 Zeiteinheiten‛ (ἕως εἰς τοὺς ξ χρόνους) hat man mit Rashed152 wohl eher noch dem einleitenden Temporalsatz zuzuordnen und damit auf die Streitherrschaft zu beziehen,153 obwohl das von P. Isépy in der Handschrift vor dieser Bestimmung gelesene Komma suggerieren könnte, dass sie bereits zum folgenden Hauptsatz gehört, in welchem Falle sie sich auf die Liebesherrschaft beziehen würde. Unabhängig von dieser Frage stellt das Scholion jedenfalls sicher, dass die hier zum dritten Mal auftretende Angabe ‚60 Zeiteinheiten‛ sich auf die betreffende Bewegung (sei es die des Streites oder die der Liebe) als ganze bezieht, einschließlich der Phase, in der der bio150 151

152 153

Kazhdan 1991. Leo Choerosphactes Ep. 10; lin. 11–15; p. 52/54 Strano: εἰ δὲ χρηστὸς μὲν κατὰ

ψυχὴν ὁ πέμψας, καὶ τοῦτο μετὰ τῶν πραγμάτων πάντες ὁμολογοῦσι, μὴ χρηστὰ δὲ τ ά π ο τ ε κ α ὶ ἅ π α ξ γ ρ α φ ό μ ε ν α , δοκιμασίαν ἀλλ᾽ οὐκ ἀλήθειαν, καὶ παιδιὰν ἀλλ᾽ οὐ σπουδήν, ἢ σφάλμα τοῦ τὸ γράμμα γράψαντος, ἀλλ᾽ οὐχὶ τοῦ τὸ γράφειν προστάξαντος εἴποιμεν.

Rashed 2014: 325. Die sich hieraus ergebende Stellung des folgenden Fragepronomens ‚was?‛ (τί) am Beginn des Fragesatzes erscheint als natürlicher; vgl. Kühner/Gerth 1904: 515 (§ 587/2): „Die natürliche Stellung der Fragwörter ist zu Anfang des Satzes; wenn aber ein oder mehrere Wörter im Fragsatze nachdrücklich hervorgehoben werden sollen, so überlassen sie diesen ihre Stellung“.

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logische Antagonismus zwischen der Hervorbringung und der Zerstörung von Lebewesen jeweils suspendiert ist. Das im Scholion vorgetragene Argument setzt nämlich (je nach Interpunktion) entweder voraus, dass unmittelbar im Anschluss an die 60 Chronoi lang währende Bewegung des Streites eine Bewegung stattfindet, für die der Streit nicht mehr verantwortlich gemacht werden kann, oder (im Fall der weniger plausiblen Interpunktion), dass unmittelbar im Anschluss an die Bewegung des Streites eine 60 Chronoi lang währende Bewegung stattfindet, für die der Streit nicht mehr verantwortlich gemacht werden kann. In beiden Fällen bezieht sich die Zeitangabe klarerweise auf die Bewegung als Bewegung, nicht nur auf die zunehmende Zusammenfügung bzw. auf die zunehmende Auflösung von Elementverbindungen. Dem Scholium J zufolge umfasst also die für die Liebesherrschaft und die Streitherrschaft bereits gesicherte Dauer von je 60 Zeiteinheiten jeweils die gesamte, von der betreffenden Macht dominierte Bewegungsphase – d.h. einerseits die gesamte Liebesexpansion und andererseits die gesamte Streitinvasion –, und nicht etwa nur die jeweilige biologische Teilphase zunehmender Agglomeration bzw. zunehmender Fragmentierung von Lebewesen. Aus diesem Befund ergibt sich nun, wie Rashed zu Recht hervorgehoben hat, eine einschneidende Konsequenz: Die zusätzlichen, als Gegenstück zum Sphairos gedachten 40 Zeiteinheiten rund um den Wendepunkt, in denen der Verfasser früher die abiotische Schlussphase der Streitinvasion und die abiotische Anfangsphase der Liebesexpansion untergebracht hatte,154 sind aus dem Zeitplan zu eliminieren;155 vielmehr folgt auf die 60 Zeiteinheiten lang währende Streitherrschaft unmittelbar die 60 Zeiteinheiten lang währende Liebesherrschaft. Allerdings wäre es übereilt, hieraus nun gleich die weitere Folgerung zu ziehen, dass abiotische Phasen rund um den Wendepunkt im Zeitplan der Scholien überhaupt keinen Platz finden:156 Dies hieße das Kinde mit dem Bade ausschütten, insofern man dann ohne Not die Angaben der Scholien in Widerspruch zu den oben von uns vorgelegten Indizien setzen würde, denen zufolge dem Wendepunkt sowohl eine abiotische Phase vorausgeht (Dinos), als auch eine abiotische Phase folgt (4 Massen). Vielmehr hat man aus dem neuen Befund die Konsequenz zu ziehen, dass die 60 Zeiteinheiten der Herrschaft des Streites die abiotische Endphase seiner Invasion einschließen, und dass die 60 Zeiteinheiten der Herrschaft der Liebe die abiotische Anfangsphase ihrer Expansion einschließen.

Vgl. zuletzt Primavesi 2011: 398–402 und 2013: 706. Rashed 2014: 330: „le cycle n’est pas constitué de 200 temps dont 40 temps de Dînos “. 156 So Rashed 2014: 330: „la période de Dînos n’existe pas“. 154 155

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(v) Nun bleibt nur noch die Dauer der ‚Zwischenzeit‛ zu klären, die zwischen das Ende der Liebesherrschaft und den Beginn der Streitherrschaft fällt, d.h. die Dauer der Lebenszeit des Sphairos. Aristoteles Gener. Corr. A 1, 315a6–8 kritisiert, dass Empedokles zwar einerseits die Ungewordenheit der Elemente behaupte, andererseits aber immer dann, wenn er alles zum Sphairos zusammengeführt habe, jedes einzelne (der vier Elemente) von neuem aus dem Sphairos heraus entstehen lasse:157 Aristoteles Gener. Corr. A 1, 315a4–8 ἅμα μὲν γὰρ οὔ φησιν ἕτερον ἐξ ἑτέρου γίνεσθαι τῶν στοιχείων οὐδέν, ἀλλὰ τἆλλα πάντα ἐκ τούτων, ἅμα δ᾽ ὅταν εἰς ἓν συναγάγῃ τὴν ἅπασαν φύσιν πλὴν τοῦ νείκους, ἐκ τοῦ ἑνὸς γίγνεσθαι πάλιν ἕκαστον.

Denn einerseits bestreitet er, dass jemals ein Element aus einem anderen entstehen könne; vielmehr entstehe alles Übrige aus den Elementen. Andererseits aber behauptet er immer dann, wenn er die gesamte Natur mit Ausnahme des Streites zu Einem zusammengeführt hat, d a s s aus dem Einen wieder jedes einzelne (Element) entsteht.

Das von Aristoteles verfolgte Widerlegungsziel impliziert zwingend, dass mit der ‚Entstehung jedes Einzelnen‛ nicht das Auftreten irgendwelcher partikulärer Elementverbindungen gemeint sein kann, sondern nur die Herausbildung der vier Elemente als solcher; denn nur aus deren vermeintlicher ‚Entstehung‛ lässt sich ja, wenn überhaupt, ein Widerspruch zu der von Empedokles behaupteten Ungewordenheit der Elemente ableiten. In einem von der Florentiner Handschrift bewahrten Scholion wird die Aristotelesstelle denn auch auf die Herausbildung der reinen, voneinander getrennten Elementmassen bezogen:158 Scholium G Rashed (Cod. Laur. F, fol. 201v, 1) zu 315a7–8 (ἐκ τοῦ ἑνὸς γίγνεσθαι πάλιν ἕκαστον „dass aus dem Einem wieder jedes einzelne (Element) entsteht “) διακρίσει μετὰ ρ χρόνους / νείκους ἐπικρατήσαντος / σύμπ(αν)

Durch Auflösung; nach 100 Zeiteinheiten; / nach Abschluss der Streitherrschaft; / (jedes einzelne) in seiner Gesamtheit

Das Scholion enthält zwei temporale Bestimmungen zu der von Aristoteles erwähnten ‚Entstehung jedes Einzelnen‛. Wir wenden uns zunächst der zweiten 157 158

Empedokles Fr. 95a Mansfeld/Primavesi. Empedokles Fr. 95c Mansfeld/Primavesi.

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Bestimmung zu: nach Abschluss der Streitherrschaft (νείκους ἐπικρατήσαντος). Da der Aorist ἐπικρατήσαντος sicher komplexiv zu verstehen ist,159 wird hierdurch als Zeitpunkt der ‚Entstehung jedes Einzelnen‛ präzise der Abschluss der Streitherrschaft angegeben. Die Streitherrschaft aber ist, wie wir sahen, mit der Streitinvasion als ganzer identisch; sie schließt also insbesondere auch deren abiotische Schlussphase ein, in der der biologische Antagonismus bereits suspendiert ist. Ziel- und Endpunkt der so verstandenen Streitherrschaft ist die Vollendung der vier chemisch reinen Elementmassen (σύμπαν scil. ἕκαστον).160 Im Scholion wird also der Aristotelische Verweis auf die ‚Entstehung jedes Einzelnen‛ plausibel auf den Abschluss der Herausbildung vier reiner Elementmassen am Zielpunkt der Streitherrschaft bezogen. Im Hinblick auf dieses Ergebnis wenden wir uns nun der ersten Bestimmung zu: Durch Auflösung; nach 100 Zeiteinheiten (διακρίσει μετὰ ρ χρόνους). Diese Bestimmung besagt, dass die am Zielpunkt der Streitherrschaft stehende Vollendung der vier reinen Massen, dem Zeitplan der Scholien zufolge, ‚nach 100 Zeiteinheiten‛ eintritt. Der zeitliche Ausgangspunkt aber, von dem aus diese 100 Zeiteinheiten berechnet sind, lässt sich unmittelbar an der durch das Scholion kommentierten Aristotelesstelle ablesen (Gener. Corr. A 1, 315a6–8): Andererseits aber behauptet er immer dann, w e n n e r d i e g e s a m t e N a t u r mit Ausnahme des Streites zu Einem zusammengeführt hat, dass aus dem Einen wieder jedes einzelne (Element) entsteht ( ἅμα δ᾽ ὅταν

εἰς ἓν συναγάγῃ τὴν ἅπασαν φύσιν πλὴν τοῦ νείκους, ἐκ τοῦ ἑνὸς γίγνεσθαι πάλιν ἕκαστον). Aristoteles stellt hier nämlich fest, dass die Fertigstellung der vier reinen Elementmassen (ἐκ τοῦ ἑνὸς γίγνεσθαι πάλιν ἕκαστον), auf die

sich unser Scholion bezieht, nach der Fertigstellung des Sphairos – d.h. nach dem Beginn seiner Lebenszeit – erfolgt (ὅταν εἰς ἓν συναγάγῃ τὴν ἅπασαν φύσιν πλὴν τοῦ νείκους). Demnach kann die in unserem Scholion bewahrte Angabe ‚nach 100 Zeiteinheiten‛ nur als Angabe des Zeitabstandes verstanden werden, der zwischen der Fertigstellung (d.h. dem Beginn) des Sphairos und 159

160

Primavesi 2008: 18 Anm. 49: Die komplexive Auffassung des Aorists ergibt sich aus dem unmittelbar vorausgehenden, auf die Vollendung des Sphairos bezogenen Scholium F Rashed (Laurentianus F, fol. 201r, 22 = Empedokles Fr. 95b Mansfeld/Primavesi): σφαῖρον / ἵνα γένηται ὁ διανοητὸς κόσμος τ ῆ ς φ ι λ ί α ς ἐ π ι κ ρ α τ η σ ά σ η ς , wo die komplexive Auffassung des Aoristpartizips ἐπικρατησάσης deshalb außer Zweifel steht, weil das Partizip mit der ebenfalls punktuell ausgedrückten Vollendung des Sphairos (ἵνα γένηται ὁ διανοητὸς κόσμος) verknüpft ist, die nach dem von uns bereits zitierten Scholium C Rashed (Laurentianus F, fol. 93r, 9 = Empedokles Fr. 93b Mansfeld/Primavesi mit der Emendation von Rashed 2014) beim Abschluss der Liebesherrschaft eintritt: καὶ οὐκ εὐθὺς μετὰ τὴν παρέλευσιν τῶν ξ χρόνων ἐ ν ο ἷ ς ἐ κ ρ ά τ η σ ε ν ἡ φ ι λ ί α γενέσθαι διάσπασιν.

Die überzeugende Beziehung von σύμπ(αν) auf das Aristotelische ἕκαστον hat Rashed 2014: 322 vorgeschlagen.

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der Fertigstellung der vier reinen Elementmassen liegt: Dem Zeitplan der Scholien zufolge tritt die Fertigstellung der vier reinen Massen 100 Zeiteinheiten nach der Fertigstellung des Sphairos ein.161 Andererseits haben wir bereits gesehen, dass die ‚Streitherrschaft‛, der im Zeitplan der Scholien 60 Zeiteinheiten zugemessen sind, in der Fertigstellung der vier reinen Elementmassen kulminiert und mit ihr endet. Nimmt man beides zusammen, dann folgt, dass der Endpunkt des Zeitabstandes zwischen Fertigstellung des Sphairos und Fertigstellung der vier Massen (100 Zeiteinheiten) mit dem Endpunkt der Streitherrschaft (60 Zeiteinheiten) identisch ist. Mithin beginnt die Streitherrschaft 40 Zeiteinheiten nach Fertigstellung des Sphairos, und die Zwischenzeit, die zwischen das Ende der Liebesherrschaft und den Beginn der Streitherrschaft fällt, d.h. die Lebenszeit des Sphairos, währt 40 Zeiteinheiten. Aufs Ganze gesehen ist den Florentiner Scholien mit Rashed 2014 die folgende dreiteilige Grundstruktur des kosmischen Zeitplans zu entnehmen (vgl. Abb. 1): A: Liebesherrschaft: B: Sphairos: C: Streitherrschaft:

60 Chronoi. 40 Chronoi. 60 Chronoi.

XI. Der Zeitplan und die Tetraktys Ein möglicher Ansatzpunkt zur weiteren Ausfüllung der dreiteiligen Grundstruktur des Zeitplans liegt darin, diese zu den oben mitgeteilten Indizien für eine Gliederung des kosmischen Zyklus gemäß der Tetraktys in Beziehung zu setzen. Wir hatten ja gesehen, dass (i) die Tradition der antiken Empedokles-Biographie dem ‚Telauges‛, d.h. dem fiktiven Sohn des Pythagoras und Lehrer des Empedokles, ein Werk über die Tetraktys zuschreibt, und dass (ii) der Pythagoreer-Eid eine Beziehung zwischen der pythagoreischen Tetraktys einerseits und der nach Empedokles vom Trennungszustand der vier Elemente herströmenden Pege (‚Flusslauf der Natur‛) andererseits voraussetzt, wobei sich der Zeitplan des kosmischen Zyklus auch über das Eidmotiv mit dem Pythagoreer-Eid in Verbindung bringen ließ. Wir hatten schließlich gesehen, dass (iii) zwischen dem Empedokleischen Lob des Pythagoras und der merkwürdigen Deutung dieser Verse durch Nikomachos von Gerasa eine begriffliche Lücke klafft, die sich nur durch die Einsetzung der Tetraktys schließen lässt. Aufgrund dieser drei Befunde hatten wir vermutet, dass dem Zeitplan des Empedokleischen Zyklus 161

Primavesi 2008: 18 Anm. 50.

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Abb.1: Der Zeitplan des kosmischen Zyklus nach den Florentiner Scholien (Rashed 2014)

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mindestens seit hellenistischer Zeit eine Gliederung nach den Proportionen der pythagoreischen Tetraktys zugeschrieben wurde. Vor diesem Hintergrund erscheint es nun als bemerkenswert, dass die von Rashed 2014 etablierte Zahlenfolge 60 + 40 + 60 sich sehr leicht zu einer Zahlenfolge umformen lässt, die nach den Proportionen einer doppelten Tetraktys strukturiert ist. Die im Zeitplan den beiden Bewegungsphasen jeweils zugeordnete Maßzahl 60 lässt sich als Summe von 10 + 20 + 30 schreiben, und zwar zunächst (bei der Liebesexpansion) in aufsteigender und dann (bei der Streitinvasion) in absteigender Folge; so dass sich insgesamt, unter Beibehaltung der Ruhephase von 40 Chronoi nach Abschluss der Liebesexpansion, folgende Zahlenfolge ergibt (vgl. Abb. 2 ): (10 + 20 + 30) + 40 + (30 + 20 + 10) Die dem zugrundeliegende Proportionenfolge lässt sich offensichtlich als Kombination einer aufsteigenden Tetraktys (≈ Liebesherrschaft + Sphairos) mit einer absteigenden Tetraktys (≈ Sphairos + Streitherrschaft) verstehen, wobei das Mittelglied, die Vier (≈ Sphairos), beiden Tetraktyes gemeinsam ist: Liebe 1:2:3:4 4:3:2:1 Streit Darf das Modell der doppelten Tetraktys mithin als plausible Ratio des durch die Scholien überlieferten Zeitplans gelten? Welche Bedingungen müssten für die Bejahung dieser Frage erfüllt sein? Zunächst müsste wohl gezeigt werden, dass der nach dem Modell der doppelten Tetraktys strukturierte Zeitplan – (10 + 20 + 30) + 40 + (30 + 20 + 10) Chronoi – , den wir aus den Florentiner Scholien erschlossen haben, in allen Einzelheiten mit den überlieferten EmpedoklesFragmenten und -Testimonien kompatibel ist. Hierzu sind insbesondere drei Fragen zu klären: a) Lässt sich aus den überlieferten Empedokles-Fragmenten und -Testimonien verständlich machen, warum in dem erschlossenen Zeitplan der Abstraktionsbegriff ‚Zeiteinheit‛ (Chronos) Verwendung findet und nicht eine bestimmte, d.h. im Sprachgebrauch auf eine bestimmte Dauer festgelegte Zeiteinheit?

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Abb.2: Die Untergliederung des Zeitplans gemäß den Proportionen der doppelten Tetraktys

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b) Lässt sich aus den überlieferten Empedokles-Fragmenten und -Testimonien inhaltlich plausibel machen, dass der nach dem Modell der doppelten Tetraktys strukturierte Zeitplan hinsichtlich der Anzahl distinkter Phasen mit dem physikalisch-biologischen Prozess des Zyklus korrespondiert? c) Lässt sich aus den überlieferten Empedokles-Fragmenten und -Testimonien inhaltlich plausibel machen, dass in dem erschlossenen Zeitplan während der Liebesherrschaft die Phasen kontinuierlich länger (10 – 20 – 30 Chronoi) und während der Streitherrschaft kontinuierlich kürzer (30 – 20 – 10 Chronoi) werden? Die hiermit umrissene Kompatibilität ist nun aber nicht mehr als eine notwendige Bedingung, die immer noch die Möglichkeit einer brillanten sekundären Konstruktion des Zeitplans offen lässt.162 Ehrgeiziger wäre das Vorhaben, darüber hinaus auch nachzuweisen, dass bereits der historische Empedokles selbst den eidlich festgelegten Zeitplan seines kosmischen Zyklus gemäß den durch die Scholien überlieferten Zeitangaben bzw. gemäß der doppelten Tetraktys konzipiert hat. Deshalb fügen wir eine vierte Frage hinzu: d) Ist die Annahme des durch die Scholien überlieferten Zeitplans bzw. dessen Untergliederung nach dem Modell der doppelten Tetraktys unabdingbar für ein vollständiges Verständnis der Originalfragmente zum Zeitplan des kosmischen Zyklus?

XII. Chronos und Aion Zu Frage a): Es erscheint als eine ziemlich abwegige Vorstellung, dass Empedokles, wenn er denn den eidlich festgelegten Zeitplan des kosmischen Zyklus zahlenmäßig nach dem Modell der doppelten Tetraktys konkretisiert hätte, sich zu diesem Zweck des vagen Abstraktionsbegriffs ‚Zeiteinheit‛ (Chronos) bedient hätte. Warum hätte Empedokles in diesem Fall darauf verzichten sollen, der allgemeinen ‚Zeiteinheit‛ de facto dann auch eine Dauer zuzuordnen, die es gestattet hätte, für die Zeitangaben zum kosmischen Zyklus (genauso wie bei den bereits erwähnten Formeln für Blut, Muskeln, Knochen und Sehnen)163 die Zahlen der ersten Dekade zu verwenden und damit der Tetraktys-Struktur des Auf den Unterschied zwischen (interner) Kohärenz, (externer) Kompatibilität und Authentizität weist Rashed 2014: 315 mit Recht hin. 163 Empedokles Fr. 97, 98 und 100 Mansfeld/Primavesi. 162

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Zeitplans nicht nur in den Proportionen, sondern auch in den konkreten Maßzahlen Rechnung zu tragen? Viel näher liegt also die Annahme, dass Empedokles im gesetzten Fall eine bestimmte, d.h. im Sprachgebrauch bereits auf eine bestimmte Dauer festgelegte Zeiteinheit verwendet hätte. Deshalb fragt sich, ob es in den Originalfragmenten der Empedokleischen Dichtung eine bestimmte Zeiteinheit gibt, von der sich sowohl plausibel machen lässt, dass Empedokles sie gegebenenfalls für Zeitangaben zu den Phasen des kosmischen Zyklus verwendet hätte, als auch, dass man sie in einem späteren Résumé des Zeitplans durch den Abstraktionsbegriff ‚Zeiteinheit‛ (Chronos) ersetzt hätte. In den Originalfragmenten des Empedokles gibt es tatsächlich eine Einheit zur Bemessung größerer, d.h. ein Jahr überschreitender Zeiträume, und zwar nur eine einzige, nämlich den Aion (‚Lebensspanne‛). Sie ist uns bereits aus den Versen über die von Pythagoras überschauten Zeiträume bekannt; in diesen Versen, die wir aufgrund ihrer Deutung durch Nikomachos von Gerasa versuchsweise mit der Tetraktys in Verbindung gebracht haben, ist der Dativ Plural Aionessin mit den Maßzahlen Zehn und Zwanzig verbunden:164 ὁππότε γὰρ πάσηισιν ὀρέξαιτο πραπίδεσσιν, ῥεῖ᾽ ὅ γε τῶν ὄντων πάντων λεύσσεσκεν ἕκαστα καί τε δέκ᾽ ἀνθρώπων καί τ᾽ εἴκοσιν α ἰ ώ ν ε σ σ ι ν .

Denn sooft er sich mit allen Verstandeskräften ausstreckte, sah er ohne Mühe von sämtlichen seienden Dingen alle im Einzelnen, sowohl in zehn als auch in zwanzig Menschen-L e b e n s s p a n n e n (anthrōpōn … aiōnessin).

Die ebenfalls bereits zitierte Schilderung des großen Wirbels zu Ende der Streitherrschaft stellt außer Zweifel, dass Empedokles die Einheit Aion auch zur Bemessung solcher größeren Zeiträume im kosmischen Zyklus verwendet, in denen es gar kein Leben gibt:165 [ἐ]ν τῆι δ᾽ ἀΐσσοντα [διαμπ]ερὲς οὐδ[αμὰ λήγει] [π]υκνῆισιν δίνηισ[ιν ] ˘ ¯ ˘˘ ¯ ˘˘] τ [ ¯ x ] 275 [ν]ωλεμές, οὐδέ πο[τ᾽ ¯ ˘˘ ¯ ˘˘ ¯ ˘˘ ¯ x ]

Empedokles Fr. 30 Mansfeld/Primavesi (= DK 31 B 129), Verse 4–6, wobei in Vers 5 das seit Stein 1854 willkürlich in den Text gesetzte ἕκαστον durch das überlieferte ἕκαστα ersetzt ist (vgl. oben Anm. 97). 165 Empedokles Fr. 66b Mansfeld/Primavesi, Physika I, Verse 273–278. 164

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[παῦρ]οι δ᾽ α ἰ ῶ ν ε ς πρότερ[οι ˘˘ ¯ ˘˘ ¯ x ] [πρὶν] τούτων μεταβῆνα[ι ˘ ¯ ˘˘ ¯ ˘˘ ¯ x ] [πά]ντηι δ᾽ ἀΐσσον[τ]α διαμ[περὲς οὐδαμὰ λήγει·] 276 παῦρ]οι nunc supplevi : [πολλ]οὶ Mansfeld/Primavesi.

In ihr (?) hören sie niemals auf, fortwährend zu rasen. In dichten Wirbeln … 275 unablässig; und niemals … aber nur noch wenige L e b e n s s p a n n e n (Aiones), bevor sie (scil. die Elemente) … aus diesen übergehen … Allseits fortwährend zu rasen hören sie niemals auf.

Wenn Empedokles also zum Zeitplan des Zyklus zahlenmäßig bestimmte Angaben gemacht und sich dazu einer größeren, d.h. ein Jahr überschreitenden Zeiteinheit bedient hätte, dann hätte er dazu, so scheint es, die Zeiteinheit Aion verwendet. Sobald man aber annimmt, dass es die Empedokleische Zeiteinheit Aion war, die in den Florentiner Scholien durch den sekundär verwendeten Abstraktionsbegriff Chronos verdrängt wurde, lässt sich auch ein Grund für die spätere Verdrängung der ursprünglichen Zeiteinheit angeben. Die Scholien schöpfen nämlich aus einem Résumé des Empedokleischen Zeitplans, welches auf den kaiserzeitlichen bzw. spätantiken Platonismus zurückgeht: Diese Herkunft wird durch die in Scholium A Rashed bewahrte anachronistische Bezeichnung des Sphairos als ‚intelligibler Kosmos‛ (διανοητὸς διάκοσμος) angezeigt.166 Gerade Platon aber hat bekanntlich im Timaios den Aion als die im Einen verharrende Ewigkeit bestimmt, und ihm den Chronos als sein in Zahlen fortschreitendes ewiges Abbild diametral entgegengesetzt;167 demgemäß wird auch in der neuplatonischen Empedokles-Rezeption das von Empedokles im Sinne 166

Empedokles Fr. 92b Mansfeld/Primavesi (= Scholium A Rashed, Cod. Laurentianus F, fol. 91r, 5), zu Aristot. Phys. VIII, 1, 250b28 (ὅταν ἡ φιλία ἐκ πολλῶν ποιῇ τ ὸ ἓ ν ): τὸν σφαῖρον τ ὸ ν δ ι α ν ο η τ ὸ ν δ ι ά κ ο σ μ ο ν . Diese platonisierende Umdeutung des Sphairos zum intelligiblen Kosmos (κόσμος νοητός) ist bereits mittelplatonisch, da Hippolytos sie schon kennt; vgl. Ref. VII 29, 17; 308,79–80 Marcovich (μάκαρας

καλῶν τοὺς συνηγμένους ὑπὸ τῆς φιλίας ἀπὸ τῶν πολλῶν εἰς τὴν ἑνότητα τ ο ῦ κ ό σ μ ο υ τ ο ῦ ν ο η τ ο ῦ ) und VII 31, 3; 313,8–10 Marcovich (κόσμον γάρ φησιν εἶναι ὁ Ἐμπεδοκλῆς τὸν ὑπὸ τοῦ νείκους διοικούμενον τοῦ πονηροῦ, κ α ὶ ἕ τ ε ρ ο ν ν ο η τ ό ν , τ ὸ ν ὑ π ὸ τ ῆ ς φ ι λ ί α ς ), und dazu Primavesi 2013: 725. 167 Platon Timaios 37d 5–7 (Burnet): ε ἰ κ ὼ δ ’ ἐπενόει κινητόν τινα α ἰ ῶ ν ο ς ποιῆσαι, καὶ διακοσμῶν ἅμα οὐρανὸν ποιεῖ μένοντος α ἰ ῶ ν ο ς ἐν ἑνὶ κατ’ ἀριθμὸν ἰοῦσαν αἰώνιον ε ἰ κ ό ν α , τοῦτον ὃν δὴ χ ρ ό ν ο ν ὠνομάκαμεν.

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von ‚Lebensspanne‛ verwendete Aion zu ‚Ewigkeit‛ umgedeutet.168 So konnte es aus platonischer Sicht wohl schwerlich etwas Abwegigeres geben als eine mit der ‚Maßeinheit‛ Aion formulierte zahlenmäßige Zeitangabe; die Notwendigkeit, Aion hier durch seinen Gegenbegriff Chronos (in der abstrakten Bedeutung ‚Zeiteinheit‛) zu ersetzen, verstand sich für einen Platoniker von selbst. Die Annahme, dass die Angaben zum Zeitplan ursprünglich mittels der Empedokleischen Einheit Aion konzipiert wurden, würde schließlich auch die Tatsache verständlich machen, dass als Maßzahlen des überlieferten Zeitplans nicht die Tetraktys-affinen Zahlen der ersten Dekade verwendet wurden, sondern das Produkt von Zahlen der ersten Dekade mit der vollkommenen Zehnzahl: Der Aion (‚Lebensspanne‛) war zu kurz, als dass seine Verbindung mit Maßzahlen der ersten Dekade auf einen halbwegs plausiblen Zeitplan hätte führen können. Es wäre z.B. absurd gewesen, die Dauer der Streitherrschaft, die die gesamte bisherige Menschheitsgeschichte einschließt (wozu bald mehr), mit nur sechs ‚Lebensspannen‛ zu veranschlagen statt vielmehr mit sechzig. So konnten dem Modell der doppelten Tetraktys zwar die Proportionen des Zeitplans entnommen werden, doch zur Ermittlung der absoluten Maßzahlen der ‚Lebensspannen‛ waren die Zahlen der Tetraktys jeweils mit Zehn zu multiplizieren. Übrigens könnte der Umstand, dass in den Zeitangaben der oben zitierten Florentiner Scholien Zahlen der ersten Dekade jeweils verzehnfacht vorliegen, vielleicht sogar eine einfache Erklärung für ein weiteres Scholion liefern. In diesem Scholion wird zu dem bereits angeführten Hinweis des Aristoteles (Phys. Θ 1, 252a31) auf die ‚jeweils gleichlangen Zeiträume‛ von Liebes- und Streitherrschaft Folgendes angemerkt:169 Scholium D Rashed (Cod. Laur. F, fol. 93v, 20) zu 252a31 (τὸ δὲ καὶ δι’ ἴσων χρόνων). πρὸς ῑ

Im Verhältnis zu 10

Diese Bemerkung konnte bisher nicht befriedigend gedeutet werden, da der Hinweis darauf, dass es sich etwa bei der Maßzahl des in den Scholien B und C Rashed für die Liebesherrschaft angegebenen Zeitraums von 60 Zeiteinheiten um eine Zehnerzahl handelt, als allzu trivial erscheinen würde.170 Jetzt aber 168

Simplicius In cael. 141,7–9 Heiberg zu Empedokles Fr. 66b Mansfeld/Primavesi, Physika I, Vers 242 (= DK 31 B 17, 11): ὥστε τὰ ἀπὸ τοῦ νοητοῦ κόσμου διὰ τοῦ

Νείκους διακριθέντα ἀντὶ τοῦ αἰωνίως εἶναι γίνονται μὲν καὶ „οὔ σφισιν ἔμπεδος αἰών“, ἀιδίως δὲ ἀνακυκλοῦνται.

Empedokles Fr. 94b Mansfeld/Primavesi, doch ohne die dort vorgeschlagene Konjektur, vgl. die folgende Anmerkung. 170 Primavesi 2006: 33–36 schlug deshalb die (paläographisch leichte) Emendation von ῑ (10) zu / ῑ (10.000) vor, und bezog dies auf den kosmischen Rhythmus von 10.000 169

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lässt sich das Scholion als Hinweis darauf verstehen, dass die Maßzahlen des Zeitplans das Produkt der relevanten Zahlen der ersten Dekade mit der vollkommenen Zehnzahl darstellen.

XIII. Die doppelte Tetraktys und die zoogonischen Stufen Zu Frage b): Die von Rashed 2014 etablierte Zahlenfolge 60 + 40 + 60, von der wir ausgingen, repräsentiert die zeitliche Dreigliederung des Gesamtzyklus in Liebesexpansion – Sphairos – Streitinvasion: Soviel steht angesichts des Wortlauts der Scholien und insbesondere angesichts der dort verwendeten Einheit Chronoi außer Zweifel. Daraus aber folgt, dass unser Vorschlag, diese Zahlenfolge am Leitfaden der doppelten Tetraktys auf die Zahlenfolge (10 + 20 + 30) + 40 + (30 + 20 + 10) zurückzuführen, nur dann als plausibel gelten kann, wenn diese resultierende Zahlenfolge ebenfalls wieder als eine (wenn auch natürlich feiner untergliederte) zeitliche Periodisierung des Gesamtzyklus verständlich zu machen ist. Diesem Kriterium kann die Deutung des Zeitplans, zu der sich Rashed durch die ihm gesprächsweise schon vorab mitgeteilte Tetraktys-Hypothese anregen ließ, schwerlich schon genügen.171 Nach Rashed steht hinter dem Zeitplan die Absicht des Empedokles, die Gesamtzeit des Zyklus, einschließlich des Sphairos, zu gleichen Teilen auf Liebe und Streit zu verteilen, und dabei insbesondere die vermeintliche Alleinherrschaft der Liebe im Sphairos durch einen entsprechend größeren Anteil des Streits an den Bewegungsphasen zu kompensieren. Schon diese hypothetische Zielstellung halten wir deshalb für unplausibel, weil jedenfalls den Scholien zufolge der Sphairos gar nicht als Teil der Liebesherrschaft zu betrachten ist (wofür der Streit dann außerhalb des Sphairos zu entschädigen wäre), sondern als gemeinsame Auszeit für Streit und Liebe. Nach Rashed aber hätte Empedokles um des genannten Zieles willen eine doppelte Tetraktys nach pythagoreischer Weise in Gestalt einer rautenförmig aus je acht weißen Steinchen (Liebe) und acht schwarzen Steinchen (Streit) zusammengesetzten Punktfigur konstruiert,172 wie folgt: Jahren, in dem Liebesherrschaft und Streitherrschaft – nach der seinerzeit angenommenen Rekonstruktion des Zeitplans – miteinander alternieren. Der schwache Punkt dieses Deutungsvorschlages lag darin, dass inmitten von Zeitangaben, die mittels des Abstraktionsbegriffs ‚Zeiteinheit‛ (Chronos) formuliert sind, eine nach Jahren bemessene Zeitangabe auftreten würde, ohne dass der Begriff des Jahres auch nur genannt würde. 171 Rashed 2014: 334. 172 Zur pythagoreischen Methode, „Zahlen durch Anordnungen von Steinchen, durch

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Die senkrechte Mittelkolumne mit 4 weißen Liebessteinchen bildet sowohl mit dem nach links als auch mit dem nach rechts anschließenden Dreieck von jeweils 1 + 2 + 3 Steinchen je eine Tetraktys: Dabei steht die Mittelkolumne selbst für den Sphairos. Links davon geht die Liebesherrschaft als (vertikal gegliederte) Folge von 1 schwarzen Streitsteinchen, 2 weißen Liebessteinchen und 3 schwarzen Streitsteinchen voraus, und rechts folgt die abschließende Streitherrschaft als Folge von 3 schwarzen Streitsteinchen, 2 weißen Liebessteinchen und 1 schwarzen Streitsteinchen. Wie man sieht, möchte Rashed das von ihm angenommene Liebesmonopol im Sphairos (4 weiße Liebessteinchen) dadurch zugunsten des Streites kompensieren, dass in den beiden links und rechts angrenzenden Bewegungsphasen das Verhältnis von Streitsteinchen zu Liebessteinchen jeweils 4 : 2 beträgt. Nun ist dieses Arrangement aber klarerweise ungeeignet, die zeitliche Binnenstruktur von Liebesherrschaft bzw. Streitherrschaft zu veranschaulichen: Das drastische Hin und Her einer Folge von 1 Einheit reinen Streites, 2 Einheiten reiner Liebe und 3 Einheiten reinen Streites kann ganz sicher nicht die Teilphasen repräsentieren, in denen sich der graduelle Machtzuwachs der Liebe während ihrer Expansion vollzieht; insbesondere wäre eine reine Streitherrschaft von 3 Einheiten offensichtlich ungeeignet, unmittelbar zum Sphairos überzuleiten. Für die Streitinvasion gilt entsprechendes. Deshalb tut Rashed einen weiteren und nun vollends radikalen Schritt: Er lässt die Steinchen-Kolumnen links und rechts des Sphairos gar nicht die zeitlichen Teilphasen repräsentieren, in die die Liebes- bzw. die Streitherrschaft untergliedert sind, vielmehr lässt er sie lediglich anzeigen, dass während jeder der beiden Bewegungsphasen für die Verteilung der Macht (τιμή) unter Streit und Liebe pauschal das Verhältnis von 4 : 2 gilt. Während sich also die übergeordnete Proportionenfolge 6 : 4 : 6, insofern sie den Scholien zum Zeitplan entnommen ist, unstreitig auf die zeitliche Periodisierung des Gesamtzyklus bezieht, würde nach Rashed die Fein-Analyse der beiden 6-Einheiten-Phasen nach den Proportionenfolgen 1 : 2 : 3 bzw. 3 : 2 : 1 gerade nicht die zeitliche Peψῆφοι-Figuren darzustellen“ vgl. Burkert 1962a: 31 mit Anm. 99 (= 1972: 33 mit n. 27: „representation of numbers by arrangements of pebbles“), Zhmud 2012: 282 („psephic arithmetic“).

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riodisierung dieser Phasen anzeigen, sondern die Machtverteilung innerhalb dieser Phasen als ganzer. Die Zurückführung des überlieferten Zeitplans auf die Tetraktys wird hier also um den Preis erkauft, dass sein Charakter als Zeitplan preisgegeben wird.173 Dieser Preis erscheint als zu hoch.

Die Auseinandersetzung mit Rasheds ingeniösem Vorschlag dürfte die Notwendigkeit einer strikt temporalen Durchführung der Analyse deutlich gemacht haben: Unser Vorschlag, den von den Scholien überlieferten Zeitplan gemäß der doppelten Tetraktys auf die Formel ‚(10 + 20 + 30) + 40 + (30 + 20 + 10) Chronoi ‛ zurückzuführen, erscheint nur dann als plausibel, wenn für die beiden Bewegungsphasen vor und nach dem Sphairos eine jeweils dreiteilige Periodisierung des physikalisch-biologischen Prozesses nachzuweisen ist, die es rechtfertigt, jede der beiden 60 Chronoi währenden Bewegungsphasen in je drei Perioden à 10 + 20 + 30 Chronoi (Liebesexpansion) bzw. 30 + 20 + 10 Chronoi (Streitinvasion) zu unterteilen. Nun sind aber nach dem, was wir oben über die beiden von der Liebe bzw. vom Streit dominierten Bewegungsphasen des Zyklus ausgeführt haben, sowohl die Liebesherrschaft als auch die Streitherrschaft jeweils zunächst einmal zweigeteilt, nämlich in eine Phase, in der zwischen Liebe und Streit ein biologischer Antagonismus besteht, und in eine weitere, abiotische Phase, in der der biologische Antagonismus suspendiert ist und nur der kosmische Antagonismus besteht. So hatten wir bei der Liebesexpansion eine abiotische Anfangsphase, in der die vier getrennten, homogenen Elementmassen bestehen, von einer zweiten, biologischen Phase unterschieden, in der die Liebe heterogene Elementverbindungen (‚Lebewesen‛) schafft, die vom Streit solange stets wieder aufgelöst werden, bis dieser aus den Elementen heraus an den Rand des Universums gedrängt ist. Und bei der Streitinvasion war eine erste, biologische Phase, in der die zunehmend zur Mitte hin gedrängte Liebe sich mit der Schaffung partikularer Verbindungen zur Wehr setzt (die freilich vom Streit stets wieder zerstört werden), von einer abiotischen Schlussphase (Dinos) abzuheben, die durch die Zerreißung aller vorhandenen Lebewesen bei lebendigem Leibe eröffnet wird, und in der kein neues Leben mehr entsteht. Darüber hinaus lässt sich nun aber zeigen, dass sowohl die biologische Phase der Liebesherrschaft als auch die biologische Phase der Streitherrschaft in sich jeweils noch einmal zweigeteilt sind. Dies folgt unmittelbar aus der Empedo173

Rashed 2014: 334: „Si l’on interprète les colonnes de points non plus comme des périodes de temps, mais comme des parts d’honneur dévolues à l’Amour et à la Haine, et qu’on assigne les colonnes impaires à la Haine, les colonnes paires à l’Amour, on obtient une répartition égale …“ (Kursivierung von uns).

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kleischen Lehre von den vier zoogonischen Stufen, von denen jeweils zwei auf die Liebesherrschaft und zwei auf die Streitherrschaft entfallen.174 Die entgegengesetzte Zielrichtung der Liebesherrschaft und der Streitherrschaft bringt es nämlich ebenso wie die kontinuierliche Verschiebung des Kräfteverhältnisses zwischen Liebe und Streit mit sich, dass organische Verbindungen im Laufe des Zyklus auf sehr verschiedene Weisen zustandekommen. Nach der doxographischen Tradition, deren Angaben durch zahlreiche Originalzitate gestützt und veranschaulicht werden, hat Empedokles die folgenden vier zoogonischen Stufen angenommen:175 (I) Ἐμπεδοκλῆς τὰς πρώτας γενέσεις τῶν ζῴων καὶ φυτῶν μηδαμῶς ὁλοκλήρους γενέσθαι, ἀσυμφυέσι δὲ τοῖς μορίοις διεζευγμένας· (II) τὰς δὲ δευτέρας συμφυομένων τῶν μερῶν εἰδωλοφανεῖς· (III) τὰς δὲ τρίτας τῶν ὁλοφυῶν·

(I) Empedokles [sagt], die ersten Generationen von Tieren und Pflanzen seien überhaupt keine vollständigen Gebilde gewesen, sondern getrennte, nicht zusammengewachsene Glieder; (II) die zweiten, bei denen die Teile zusammengewachsen seien, hätten wie Phantasiegebilde ausgesehen; (III) die dritten hätten aus den Einförmigen (Holophyeis) bestanden;

ὁλοφυῶν Karsten : ἀλληλοφυῶν codd.

(IV) τὰς δὲ τετάρτας οὐκέτι ἐκ τῶν στοιχείων, οἷον ἐκ γῆς καὶ ὕδατος, ἀλλὰ δι᾽ ἀλλήλων ἤδη, τοῖς μὲν πυκνωθείσης ❬τῆς❭ τροφῆς, τοῖς δὲ καὶ τῆς εὐμορφίας τῶν γυναικῶν ἐπερεθισμὸν τοῦ σπερματικοῦ κινήματος ἐμποιησάσης.

(IV) die vierten aber seien nicht mehr (unmittelbar) aus den Elementen – z. B. aus Erde und Wasser – entstanden, sondern durch wechselseitige Einwirkung, da für die einen (d.h. für die Pflanzen) die Nahrung sich verfestigte und für die anderen (d.h. für die Tiere und Menschen) zusätzlich die schöne Gestalt der Weibchen eine Stimulation der Samenbewegung bewirkte.

PB = Ps.-Plutarchi codices Bȳzantini. PQ = translatio arabica a Qusṭā ibn Lūqā confecta.

στοιχείων PQ : ὁμοίων PB | ὕδατος PB : ἀέρος PQ | ❬τῆς❭ τροφῆς inseruit Diels

Zur Lehre von den zoogonischen Stufen vgl. O’Brien 1969: 196–236 sowie Primavesi 2013: 711–713. 175 Empedokles Fr. 151 Mansfeld/Primavesi (= DK 31 A 72). 174

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Die ersten beiden zoogonischen Stufen fallen offenbar in die Liebesherrschaft. Auf der ersten Stufe erzeugt die Liebe zunächst nur getrennte Gliedmaßen, die unverbunden umherwandeln: Schläfen ohne Hals, Arme ohne Schultern, Augen ohne Augenbrauen. Auf der zweiten Stufe ist die Kraft der Liebe soweit erstarkt, dass sie die einzelnen Gliedmaßen zu phantastischen Zufalls-Kombinationen zusammenschließen kann. Über immer komplexere Kombinationen erreicht sie schließlich die Bildung des Sphairos. Von den Zufallskombinationen der zweiten Stufe aber führt keine kontinuierliche Entwicklung zum Artenbestand der gegenwärtigen vierten zoogonischen Stufe. Vielmehr handelt es sich bei der dritten zoogonischen Stufe um einen Neuansatz, der erst nach der Zerstörung des Sphairos und somit am Beginn der Streitherrschaft einsetzt. Im Zuge der Elementtrennung steigt Feuer rasch aus der Erde empor und transportiert kugelförmig-unartikulierte, stumme, ungeschlechtliche Lebewesen an die Erdoberfläche. Daran schließt sich unmittelbar die vierte Stufe an, in die unsere Gegenwart fällt und die durch die zunehmende Trennungskraft des Streites charakterisiert ist, sowie dadurch, dass sich das Leben nunmehr im Durchgang durch Lebewesen der jeweils gleichen Art fortpflanzt: Die wichtigste Kriegslist, mit der die Liebe der zunehmenden Spaltungstätigkeit des Streites lange Zeit entgegenzuwirken vermag, ist die sexuelle Reproduktion von ephemeren Verbindungen, d.h. von sterblichen Wesen. Eine eindrucksvolle Schilderung des Übergangs von Stufe III zu IV, die zugleich die Zugehörigkeit beider Stufen zur Streitherrschaft außer Zweifel stellt, ist durch den Straßburger Empedokles-Papyrus bekannt geworden.176 Die betreffenden Verse zeigen, dass der Übergang von Stufe III zu Stufe IV dann stattfindet, wenn das aufsteigende Feuer im Zuge der vom Streit bewirkten kosmischen Elementtrennung die Peripherie des Alls erreicht hat;177 dabei führt der erstarkende Streit den Übergang in der Weise herbei, dass er die kugelförmig-unartikulierten Lebewesen der dritten Stufe gewaltsam in männliche und weibliche Wesen aufspaltet: Beim ersten Sonnenaufgang geben die bis dahin stummen Lebewesen ihren ersten Laut von sich, den Schmerzensschrei, mit dem sie auf ihre Aufspaltung reagieren. Von nun an tragen sie das Verlangen nach geschlechtlicher (Wieder)vereinigung in sich, bis das weitere Erstarken des Streites am Ende der vierten Stufe allem Leben ein Ende machen wird. Aus dem Gesagten ergibt sich, dass die biologischen Phasen sowohl in der Liebesherrschaft wie in der Streitherrschaft jeweils in zwei Teilphasen untergliedert sind. Da nun aber am Anfang der Liebesherrschaft und am Ende der Streitherr176 177

Empedokles Fr. 87 Mansfeld/Primavesi, Verse 15–17. Das Verständnis der drei Verse ist einem Diskussionsbeitrag von Marwan Rashed zu verdanken.

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schaft, wie wir sahen, jeweils noch eine abiotische Phase hinzukommt, in der der biologische Antagonismus suspendiert ist, sind Liebesherrschaft und Streitherrschaft als ganze in der Tat jeweils dreigeteilt. Da schließlich zwischen das Ende der Liebesherrschaft und den Beginn der Streitherrschaft die Lebenszeit des Sphairos fällt, ergeben sich für den physikalisch-biologischen Prozess sieben Phasen, was genau der Untergliederung des Zyklus gemäß der doppelten Tetraktys korrespondiert (vgl. Abb. 3):

A) Liebesherrschaft B) S P H A I R O S C) Streitherrschaft

{

Abiotische Anfangsphase: Vier reine Elementmassen I. zoogonische Stufe: Einzelglieder II. zoogonische Stufe: Zufallskombinationen

{

III. zoogonische Stufe: Erdgeborene Kugelwesen IV. zoogonische Stufe: Sexuelle Reproduktion Abiotische Schlussphase: Großer Wirbel (Dinos)

10 Chronoi 20 Chronoi 30 Chronoi 40 Chronoi 30 Chronoi 20 Chronoi 10 Chronoi

XIV. Zunahme und Abnahme der Phasenlänge Zu Frage c): Weiter ist zu prüfen, ob sich eine physikalische bzw. biologische Motivation auch für den Umstand angeben lässt, dass in dem erschlossenen Zeitplan die drei Phasen der Liebesherrschaft auf dem Weg zum Sphairos kontinuierlich länger werden (10 – 20 – 30 Chronoi), und dass die drei Phasen der Streitherrschaft auf dem Weg zu den vier reinen Elementmassen kontinuierlich kürzer werden (30 – 20 – 10 Chronoi). Einen Ansatzpunkt zur inhaltlichen Explikation dieser Zu- und Abnahme der Phasenlängen liefert das doxographische Zeugnis, dem zufolge die Bewegung des Kosmos sich im Laufe der bisherigen Menschheitsgeschichte erheblich beschleunigt hat:178 Ἐμπεδοκλῆς ὅτε ἐγεννᾶτο τὸ τῶν ἀνθρώπων γένος ἐκ τῆς γῆς, τοσαύτην γενέσθαι τῷ μήκει τοῦ χρόνου διὰ τὸ βραδυπορεῖν τὸν ἥλιον τὴν ἡμέραν, ὁπόση νῦν ἐστιν ἡ δεκάμηνος· προϊόντος δὲ τοῦ χρόνου τοσαύτην γενέσθαι τὴν ἡμέραν, ὁπόση νῦν ἐστιν ἡ ἑπτάμηνος· διὰ τοῦτο καὶ τὰ δεκάμηνα γόνιμα καὶ

178

Empedokles [sagt]: Als das Menschengeschlecht aus der Erde geboren wurde, dauerte der Tag wegen des langsamen Laufs der Sonne genauso lange wie heute eine Periode von zehn Monaten; im Lauf der Zeit wurde der Tag dann genau so lang wie heute eine Periode von sieben

Empedokles Fr. 165 Mansfeld/Primavesi (= DK 31 A 75).

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Abb. 3: Die sieben Phasen des kosmischen Zyklus in den Proportionen der doppelten Tetraktys

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τὰ ἑπτάμηνα, τῆς φύσεως τοῦ κόσμου οὕτω μεμελετηκυίας αὔξεσθαι ἐν μιᾷ ἡμέρᾳ καὶ νυκτὶ τὸ βρέφος.

Monaten. Daher kommt es, dass sowohl die Zehn- als auch die SiebenMonats-Kinder lebensfähig sind: Die Natur des Alls wollte auf diese Weise sicherstellen, dass der Embryo in einem Tag und einer Nacht [damaliger Dauer] heranwächst.

Die Zeitangabe ‚als das Menschengeschlecht aus der Erde geboren wurde‛ verweist offensichtlich auf die dritte zoogonische Stufe, so dass hier insgesamt von einer Beschleunigung der kosmischen Bewegung im Laufe der gegenwärtigen Streitherrschaft die Rede ist. Diese Beschleunigung hat man nun mit der Tatsache in Verbindung zu bringen, dass der Sphairos unbewegt war, während auf dem Höhepunkt der Trennung die konzentrischen Massen in Höchstgeschwindigkeit umeinander rotieren werden: In dieser Geschwindigkeitsdifferenz der Extreme liegt offenbar der Grund dafür, dass die Herrschaft des Streites, d.h. der Übergang vom Sphairos zu den vier Massen, von einer zunehmenden Beschleunigung der kosmischen Bewegung gekennzeichnet ist. Daraus folgt weiter, dass umgekehrt die Herrschaft der Liebe, d.h. der Übergang von den vier Massen zum Sphairos, mit einer zunehmenden Verlangsamung der kosmischen Bewegung einhergegangen sein muss.179 Diese beiden allmählichen Geschwindigkeitsänderungen im Laufe des Zyklus spiegeln sich nun offensichtlich auch in der unterschiedlichen Dauer der einzelnen Phasen des kosmischen Zyklus: Je langsamer die kosmische Bewegung, desto länger die betreffenden Phasen des Zyklus, je schneller die Bewegung, desto kürzer die Phasen.

XV. Die doppelte Tetraktys und der Göttereid Der aufgrund der Florentiner Scholien rekonstruierte, gemäß der doppelten Tetraktys strukturierte Zeitplan fügt sich, wie das bisher Ausgeführte zeigt, nahtlos zu wesentlichen Merkmalen des kosmischen Zyklus, wie sie durch die Empedokles-Fragmente und -Testimonien bezeugt sind: zur Empedokleischen Zeiteinheit Aion ebenso wie zur Siebenzahl der Phasen des Zyklus und zur Verlangsamung bzw. Beschleunigung der kosmischen Bewegung im Laufe dieser sieben Phasen. Um aber von dieser Kompatibilitäts-Diagnose dazu übergehen zu können, den Zeitplan auch für authentisch zu erklären, d.h. ihn dem Naturgedicht 179

Zur Geschwindigkeitsänderung im Laufe des kosmischen Zyklus vgl. die umfassende Behandlung bei O’Brien 1969: 46–54.

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des historischen Empedokles zuzuschreiben, bedarf es der Prüfung unserer weitergehenden Frage d): Ist die Annahme des durch die Scholien überlieferten Zeitplans bzw. dessen Untergliederung nach dem Modell der doppelten Tetraktys unabdingbar für ein vollständiges Verständnis der Originalfragmente zum Zeitplan des Zyklus? Im Folgenden soll diese Unabdingbarkeit abschließend gerade an demjenigen unter den Fragmenten zum Zeitplan nachgewiesen werden, das dem Verständnis bisher die größten Schwierigkeiten bereitet hat, nämlich bei dem oben schon einmal angeführten Zitatfragment über die Machtergreifung des Streites:180 αὐτὰρ ἐπεὶ μέγα Νεῖκος ἐνὶμμελέεσσιν ἐθρέφθη ἐς τιμάς τ᾽ ἀνόρουσε τελειομένοιο χρόνοιο, ὅς σφιν ἀμοιβαῖος πλατέος παρ᾽ ἐλήλαται ὅρκου … 1 αὐτὰρ ἐπεὶ Simplicius : ἀλλ᾽ ὅτε δὴ Aristoteles || 3 παρ᾽ ἐλήλαται Sturz : παρελήλαται Aristot. β(AbΜ) Simplicius : παρελήλατο Aristot. α(JEEsVdEbT) Vk.

Aber nachdem sich der Streit in seinen Gliedern mächtig genährt hatte und zu Ehren emporgestiegen war, gegen Ende des Zeitraums, der von ihnen aufgrund eines breiten Eides als ein wechselseitiger festgelegt ist ...

Die Machtergreifung des Streites (ἐς τιμάς τ᾽ ἀνόρουσε) findet statt teleiomenoio chronoio (τελειομένοιο χρόνοιο), was man, gemäß der bisherigen communis opinio, mit ‚gegen Ende des Zeitraums‛ zu übersetzen hat und nicht, wie von Rashed 2014 vorgeschlagen, mit ‚beim Anbrechen des Zeitraums‛,181 so dass Empedokles Fr. 77 Mansfeld/Primavesi, aus Aristoteles Metaph. Β 4, 1000b14–16; zu den Handschriftensiglen vgl. Primavesi 2012: 465. Vgl. Estienne 1573: 19 (Text). – Sturz 1805: Verse 151–153, S. 519 (Text) und 581–583 (Kommentar). – Karsten 1838: Verse 66–68, S. 94–95 (Text und Übersetzung) und 187 (Kommentar). – Panzerbieter 1844: Fragm. V/8, S. 28 (Text und Erklärung). – Stein 1852: Verse 139–141, S. 47 (Text). – Diels 1901: Fr. 30, S. 120 (Text). – Diels 11903: Fr. 30, S. 193–194 (Text und Übersetzung). – Diels 31912: Fr. 30, S. 238 (Text und Übersetzung). – Bignone 1916: Fr. 30, S. 424–425 (Übersetzung und Kommentar). – Kranz 1949: Fr. 74, S. 143 (metrische Übersetzung). – Diels/Kranz 51934: Fr. 30, S. 325 (Text und Übersetzung). – O’Brien 1969: S. 80–85 und 274–275 (Interpretation). – Bollack 1969a: Fr. 126, S. 56–57 (Übersetzung und Text), 1969b: S. 158–161 (Kommentar). – Gallavotti 1975: Fr. 36; S. 42–43 (Text und Übersetzung) und 227 (Kommentar). – Wright 1981: Fr. 23; S. 105 (Text) und 190–191 (Übersetzung und Erklärung). – Kirk/Raven/Schofield 21983: Passage 359, S. 295 (Text und Übersetzung). – Inwood 1992: Fr. 35; S. 224–225 (Text und Übersetzung). – Rashed 2014: S. 326–329 (Interpretation). 181 Rashed 2014: 328–329: „… nous suggérons de comprendre le verbe τελειοῦσθαι au 180

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der Ausdruck der Sache nach nur das ‚Ende der Lebenszeit des Sphairos‛ bezeichnen kann (diese Zeit wird ja durch die Streitherrschaft abgelöst) und nicht, wie Rashed 2014 meinte, das ‚Anbrechen der Streitherrschaft‛. Zwar kann in der Sprache des Epos bei aktivischem τελέω die Grundbedeutung ‚vollenden‛ unter einer bestimmten Bedingung, nämlich wenn als Subjekt die ‚Morgenröte‛ und als Objekt der ‚Tag‛ steht, auch durch die inkohative Sonderbedeutung ‚heraufführen, anbrechen lassen‛ realisiert werden:182 Es ist ja in der Funktion der Morgenröte begründet, dass dann, wenn sie einen Tag (für ihre Verhältnisse) ‚vollendet‛ hat, dieser Tag erst anbricht. Aber für die Übertragung dieser durch die Eigenart der Morgenröte bedingten Sonderbedeutung auf andere temporale Subjekte oder gar auf medio-passivisches τελείεσθαι/τελέεσθαι gibt es keine epischen Belege;183 letzteres bedeutet in der Sprache des Epos an allen Stellen, an denen eine Zeitspanne als Subjekt steht, soviel wie ‚zu Ende gehen‛,184 wohingegen für intransitiv-inkohatives ‚anbrechen, hereinbrechen‛ das Verb τελέθω verwendet wird.185 Es ist also die Lebenszeit des Sphairos, von der im dritten Vers festgestellt wird, dass sie ‚von einem breiten Eide her‛, d.h. aufgrund eines unter Verwendung breiter Bänder gesiegelten Eides, ‚gezogen‛ sei (πλατέος παρ᾽ ἐλήλαται ὅρκου); das dafür verwendete Bild bezieht sich auf das Ziehen einer Linie. Auch der Sache nach ist die Beziehung der eidlichen Festlegung auf die Lebenszeit des Sphairos überzeugender als es die Beziehung auf die Herrschaftszeit des sens non pas rétrospectif de « s’achever », « se terminer », mais, prospectif, de « venir à maturation », « être porté à complétion »“. 182 Vgl. den bekannten Formelvers Odyssee ε 390 (= ι 76 = κ 144): ἀλλ᾽ ὅτε δὴ τ ρ ί τ ο ν ἦμαρ ἐϋπλόκαμος τ έ λ ε σ ᾽ Ἠώς. 183 Zur Prüfung der Frage, ob die inkohative Sonderbedeutung (‚anbrechen lassen‛) des Verbs τελέω/τελείω für unser Empedokles-Fr. in Betracht kommen könnte, wurde Rashed, wie er (2014: 329 n. 32) berichtet, durch den Verfasser angeregt. Doch bei der Durchführung der Prüfung operiert Rashed versehentlich mit dem falschen Verb: Das von ihm ibid. 328 angegebene Medio-Passiv τελειοῦσθαι (< τελειόεσθαι) gehört zum unepischen τελειόω/τελεόω (‚perfektionieren‛), und hierauf bezieht sich auch sein Hinweis 329 n. 32 „sens II, donc, et non I du L.S.J.“; vgl. LSJ 1996 s.v. τελειόω/ τελεόω II.1: „passive … esp. by reaching maturity in point of time“. An unserer Empedokles-Stelle hingegen steht nicht (unmetrisches) τελειουμένοιο (< τελειοoμένοιο), sondern τελειομένοιο. Zu prüfen waren also die epischen Belege für τελέω/τελείω, und die zeigen, dass die inkohative Sonderbedeutung auf das Aktiv beschränkt und auch dort an das Subjekt ‚Morgenröte‛ gebunden ist. 184 Vgl. die im Lexikon des Frühgriechischen Epos s.v. τελέω, τελείω unter Nr. 7 gegebenen Belege, z.B. die Odyssee-Formelverse β 107a (= κ 470, τ 153, ω 143) μηνῶν φθινόντων, περὶ δ᾽ ἤ μ α τ α π ό λ λ ᾽ ἐ τ ε λ έ σ θ η bzw. μ α κ ρ ὰ τ ε λ έ σ θ η und λ 294 (= ξ 293) ἀλλ᾽ ὅτε δὴ μ ῆ ν έ ς τ ε κ α ὶ ἡ μ έ ρ α ι ἐ ξ ε τ ε λ ε ῦ ν τ ο , oder das Hesiodische τετελεσμένον εἰς ἐνιαυτόν (Theogonie 795, Erga 561). 185 Vgl. Ilias 7 (Θ) 282 und 293: νὺξ δ᾽ ἤδη τελέθει.

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Streites sein würde: Die Sicherung der Lebenszeit des Sphairos ist für die Stabilität des Zyklus deshalb von herausgehobener Bedeutung, weil die Einhaltung dieser Lebenszeit aufgrund der in ihr herrschenden physikalischen Ereignislosigkeit durch keinerlei Prozesslogik abgesichert ist. Umso näher liegt die Frage, wer die Lebenszeit des Sphairos in dieser Weise demarkiert hat. Auch dies ist dem Vers 3 des Fragments zu entnehmen, wenn man das an zweiter Stelle des Verses stehende Personalpronomen σφιν nicht auf die ‚Ehren‛ (τιμαί) bezieht, wie von O’Brien 1969 und Rashed 2014 vorgeschlagen,186 sondern auf Liebe und Streit, wie seit Sturz 1806 von Forschern wie Hermann Diels, Ettore Bignone und Walther Kranz explizit angenommen.187 Doch sollte man den Dativ σφιν nicht mehr als Objektsdativ verstehen,188 man muss ihn vielmehr als einen Dativus auctoris verstehen, wie er beim passivischen Perfekt ganz üblich ist:189 Die Lebenszeit des Sphairos ist ‚von ihnen‛ eidlich festgelegt worden. Wer aber sollte sich eidlich auf die Einhaltung der Lebenszeit des Sphairos, d.h. der Ruhepause von Liebe und Streit, verpflichtet haben, wenn nicht Liebe und Streit selbst?190 Das eigentliche und bisher ungelöste Problem in Text und Deutung des Fragments liegt nun darin, dass im dritten Vers von dem in Rede stehenden Zeitraum nicht nur gesagt wird, dass er durch Eid festgesetzt ist, sondern auch, dass er, dem überlieferten Text zufolge, als ein amoibaios festgesetzt ist. Das Adjektiv ἀμοιβαῖος (‚wechselseitig‛) würde hier als eine mit dem Subjekt ὅς (scil. χρόνος) kongruente Verbalapposition verwendet sein,191 d.h. eine Bestimmung des O’Brien 1969: 275. Rashed 2014: 328. Sturz 1805: 582: „Sed magis dubium est, quo referatur σφιν, vtrum ad Amicitiam et Inimicitiam, an ad τιμάς. Mihi prior ratio placet“. – Diels 31912: 238 „… als die Zeit sich erfüllte, die ihnen (dem Streit und der Liebe) wechselsweise von einem breitversiegelten Eidvertrage aus festgezogen ist …“. – Bignone 1916: 425 „ … compiutosi il tempo che ad esse [l’Amicizia e la Contesa] è prefisso …“ – Kranz 1949: 143 „… da sich die Zeit nun erfüllte, / Dran abwechselnd Liebe und Haß durch Eidschwur gebunden“. 188 Rashed 2014: 328 n. 31 hat zu Recht darauf hingewiesen, dass die Zwischenzeit nach dem Zeitplan der Florentiner Scholien nicht primär ‚für‛ Liebe und Streit festgelegt ist, sondern für den Sphairos. 189 Vgl. Kühner/Gerth 1898: 422 (§ 423/18.c) und dazu die Empedokleische Fügung ἀλλήλοις ἔστερκται in dem von uns bereits zitierten Fragment 58 Mansfeld/Primavesi (DK 31 B 22). 190 Für die Annahme der Beziehung von σφιν auf Liebe und Streit bedarf es also sicher nicht, wie von O’Brien 1969: 275 suggeriert, der fehlerhaften Beziehung von ἐνὶμμελέεσσιν (Vers 1) auf den von der Liebe hergestellten Sphairos, und auch nicht der von Rashed 2014: 328 bezweifelten Voraussetzung, dass die Liebe in einem mehr oder weniger unmittelbar vorangehenden Vers ausdrücklich genannt war. 191 Schwyzer/Debrunner 1950: 618–619. Bornemann/Risch 21978: 274–276 (§ 261) haben dafür den Terminus Prädikatsadjunkt vorgeschlagen. 186 187

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Chronos angeben, deren Gültigkeit auf das Verbalprädikat beschränkt wäre: Mithin würde der zuendegehende Zeitraum des Sphairos vom Eid her ‚als ein wechselseitiger‛ demarkiert sein.192 Singularisches ἀμοιβαῖος wird nun in aller Regel verwendet, um von einem Gegenstand auszusagen, dass er mit einem anderen, gleichartigen Gegenstand in einem Wechselverhältnis steht; sei es, dass die beiden an diesem Wechselverhältnis beteiligten Gegenstände miteinander vertauscht werden, wie Gabe und Gegengabe, sei es, dass die beiden Gegenstände einander abwechseln, wie die Teile eines Wechselgesangs oder eines Zwiegesprächs.193 Singularisches ἀμοιβαῖος bezeichnet demnach den einen oder den anderen ergänzungsbedürftigen Teil einer Wechselbeziehung, nicht hingegen das aus beiden Teilen der Wechselbeziehung gebildete Ganze. Demgemäß verwendet Platon, um eine aus mehreren einander abwechselnden Redebeiträgen verschiedener Partner bestehende Dialogpartie als ganze zu bezeichnen, den Plural τὰ ἀμοιβαῖα.194 Auf einer konsequenten Anwendung dieses Sprachgebrauchs auf das an unserer Stelle überlieferte ἀμοιβαῖος hat O’Brien 1969 seine folgenreiche Deutung des Fragments aufgebaut: Er nahm an, dass in unserem Fragment die Lebenszeit des Sphairos als eidlich festgelegte Gegengabe für eine andere, gleichlange Phase des kosmischen Zyklus charakterisiert werde. Dem Eid zufolge hätten die beiden Phasen als Tauschobjekte den Besitzer zu wechseln: A hat dem B die Zeitspanne 1 zu geben, und B dem A dafür die Zeitspanne 2. Wenn nun aber eines der beiden Tauschobjekte die Lebenszeit des Sphairos selbst ist – welche Zeitspanne könnte dann das andere Tauschobjekt sein? Der Versuch, dieses andere Tauschobjekt zu bestimmen – und zwar unter der Voraussetzung, dass es sich bei den beiden Tauschobjekten fairerweise um zwei gleichlange Phasen des kosmischen Zyklus handelt –, führte O’Brien 1969 zu seiner Theorie über den Zeitplan des Zyklus. O’Brien setzte die (durch Ruhe und Einheit charakterisierte) Lebenszeit des Sphairos selbst mit der ‚Liebesherrschaft‛ gleich. So konnte er dann weiter postulieren, dass dem Eid zufolge der Streit verpflichtet ist, der Liebe die Lebenszeit des Sphairos zum Ausgleich dafür einzuräumen, dass die Liebe ihrerseits dem Streit den gesamten (durch Bewegung und Pluralität charakterisierten) Rest des Zyklus zuzugesteRichtig O’Brien 1969: 82: „The time that has come to an end is ἀμοιβαῖος …“. Zur Bedeutung des Adjektivs vgl. Crönert 1912–1913 s.v. ἀμοιβαῖος I, Spalte 381– 382. 194 Platon Politeia 394b 4–6 (Slings): μάνθανε τοίνυν, ἦν δ᾽ ἐγώ, ὅτι ταύτης (scil. τῆς ἁπλῆς διηγήσεως) αὖ ἐναντία γίγνεται, ὅταν τις τὰ τοῦ ποιητοῦ τὰ μεταξὺ τῶν ῥήσεων (die zwischen die Figurenreden eingeschaltete Erzählerrede) ἐξαιρῶν τ ὰ ἀ μ ο ι β α ῖ α (die Dialogpartie) καταλείπῃ. 192 193

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hen hat, so dass dieser gesamte Rest mit der ‚Streitherrschaft‛ gleichgesetzt werden müsse. Die so bestimmte StreitherrschaftO’B umfasst demgemäß nicht nur die Streitinvasion (O’Brien: ‚increasing Strife‛), sondern auch, so paradox es klingen mag, die Liebesexpansion (O’Brien: ‚increasing Love‛).195 Die vorausgesetzte gleiche Dauer der beiden gegeneinander zu tauschenden Zeitspannen impliziert dann, dass die LiebesherrschaftO’B, d.h. die Lebenszeit des Sphairos, genauso lange währt wie die StreitherrschaftO’B, d.h. die Gesamtzeit von Streitinvasion + Liebesexpansion. So gelangte O’Brien schließlich zu einer Hierarchie zweier Alternationen: Den innerhalb der StreitherrschaftO’B stattfindenden Wechsel der beiden Bewegungsphasen Streitinvasion und Liebesexpansion ordnet er als ‚minor alternation‛ der ‚major alternation‛ unter, d.h. dem Wechsel zwischen der Bewegungszeit als ganzer (= StreitherrschaftO’B) und der Ruhezeit (Sphairos = LiebesherrschaftO’B). Da O’Brien nun weiter die Zeit der StreitherrschaftO’B unter Berufung auf die Dauer des in den Katharmoi beschriebenen Dämonenexils versuchsweise mit 10.000 Jahren gleichsetzt,196 lässt sich die Differenz, die zwischen dem von O’Brien angenommenen Zeitplan und dem von den Florentiner Scholien bezeugten Zeitplan in den Begriffen wie in den Proportionen besteht, wie folgt schematisieren: O’Brien 1969 Streitherrschaft

{

O’B

Liebesherrschaft

O’B

Florentiner Scholien = Streitinvasion:

60 Chronoi

Streitinvasion:

5.000 Jahre

Streitherrschaft

Liebesexpansion:

5.000 Jahre

Liebesherrschaft = Liebesexpansion: 60 Chronoi

= Sphairos:

10.000 Jahre

Ruhezeit

= Sphairos:

40 Chronoi

Das Problematische an dem von O’Brien entworfenen Zeitplan ist nicht die Annahme, dass es im Empedokleischen Zyklus sowohl eine Alternation von Streitinvasion und Liebesexpansion gibt als auch eine Alternation von Ruhe und Bewegung: Diese Annahme ist offensichtlich korrekt. Problematisch ist vielmehr die zusätzliche Behauptung, dass beide Alternationen jeweils im zeitlichen Verhältnis von 1 : 1 organisiert seien, und die darin implizierte hierarchische Überordnung der Alternation von Ruhe und Bewegung über die Alternation der beiden Bewegungsphasen Streitinvasion und Liebesexpansion. Und geradezu O’Brien 1969: 77: „Any separation and any movement will have ‘belonged’ to Strife in the way that the Sphere ‘belongs’ to Love“.– O’Brien 1969: 80: „The purpose of the present analysis is to explain how movement dominated by Love as well as movement dominated by Strife both in a sense ‘belong’ to Strife, as the author of movement and plurality“. 196 O’Brien 1969: 92: „Similarly, in Empedocles, ten thousand years or thirty thousand seasons may be equivalent, we suggest, to the full period of separation and movement before the world returns to the cosmic bliss of the Sphere“. 195

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paradox ist die durch die Gleichsetzung der Ruhezeit mit der LiebesherrschaftO’B erzwungene Auffassung der Liebesexpansion als Teil der StreitherrschaftO’B. Diese Konstruktion bietet zwar in der Tat eine in sich konsistente Erklärung für die Bestimmung der Lebenszeit des Sphairos als einer Gegenleistung, die dem Adjektiv amoibaios in Fr. 77 M./P. zu entnehmen ist. Doch der Preis, den O’Brien für diese Lösung bezahlen muss, erscheint als zu hoch: Er setzt sich damit insbesondere in einen tiefgreifenden Widerspruch zur Strukturanalyse des Empedokleischen Zyklus durch Aristoteles. Der Aristotelischen Physik zufolge kommt es nämlich, wie wir sahen,197 im Empedokleischen System den Dingen zu, „dass die Liebe und der Streit sie abwechselnd b e h e r r s c h e n (κρατεῖν) bzw. in Bewegung halten, und dass sie die Zwischenzeit hindurch unbewegt sind“. Hier charakterisiert Aristoteles nicht nur die Streitherrschaft, sondern eben auch die Liebesherrschaft als Phasen der Bewegung, wohingegen er die auf die Liebesherrschaft folgende Zwischen- und Ruhezeit des Sphairos keiner der beiden Herrschaftszeiten zuordnet. Und wenn Aristoteles an einer von uns ebenfalls bereits zitierten Stelle aus Gener. Corr. sagt, dass sich „die Welt jetzt unter dem Streit (ἐπὶ τοῦ νείκους νῦν) ähnlich verhält wie zuvor unter der Liebe (καὶ πρότερον ἐπὶ τῆς φιλίας)“,198 dann hat er hierbei, wie der gedankliche Zusammenhang außer Zweifel stellt, zwei Bewegungsphasen im Sinn. In De Caelo schließlich stellt Aristoteles fest,199 „dass Empedokles die Darstellung der (von ihm behaupteten) Weltentstehung unter der Liebe mit Grund übergeht: Wenn die geschaffene Welt nämlich im Wesentlichen aus den getrennten kosmischen Elementmassen besteht, dann kann eine solche Welt nicht von der als Vereinigungsmacht definierten Liebe geschaffen werden”. Mit der These von einer Weltentstehung ‚unter der Liebe‛ (ἐπὶ τῆς Φιλότητος), die Empedokles zwar aufstelle, aber angeblich nicht durch eine Beschreibung illustrieren könne, kann Aristoteles klarerweise keine These über den unbewegten Sphairos meinen, sondern nur eine These über die Liebesexpansion, die er, Aristoteles, auch hier wieder als Liebesherrschaft auffasst. 197

Aristoteles Phys. Θ 1, 252a7–10 (= Empedokles Fr. 93a Mansfeld/Primavesi) … ὅπερ

ἔοικεν Ἐμπεδοκλῆς ἂν εἰπεῖν, ὡς τὸ κρατεῖν καὶ κινεῖν ἐν μέρει τὴν φιλίαν καὶ τὸ νεῖκος ὑπάρχει τοῖς πράγμασιν ἐξ ἀνάγκης, ἠρεμεῖν δὲ τὸν μεταξὺ χρόνον. 198 Aristoteles Gener. Corr. Β 6, 334a5–9 (= Empedokles DK 31 A 42,ii): ἅμα δὲ καὶ τὸν κόσμον ὁμοίως ἔχειν φησὶν ἐπί τε τοῦ νείκους νῦν καὶ πρότερον ἐπὶ τῆς φιλίας. τί οὖν ἐστὶ τὸ κινοῦν πρῶτον καὶ αἴτιον τῆς κινήσεως; οὐ γὰρ δὴ ἡ φιλία καὶ τὸ νεῖκος. ἀλλὰ τίνος κινήσεως ταῦτα αἴτια, εἰ ἔστιν ἐκεῖνο ἀρχή; 199 Aristoteles Cael. Γ 2, 301a14–20 (= Empedokles Fr. 71 Mansfeld/Primavesi) ἐκ διεστώτων δὲ καὶ κινουμένων οὐκ εὔλογον ποιεῖν τὴν γένεσιν. διὸ καὶ Ἐμπεδοκλῆς παραλείπει τὴν ἐπὶ τῆς Φιλότητος· οὐ γὰρ ἂν ἠδύνατο συστῆσαι τὸν οὐρανὸν ἐκ κεχωρισμένων μὲν κατασκευάζων, σύγκρισιν δὲ ποιῶν διὰ τὴν Φιλότητα· ἐκ διακεκριμένων γὰρ συνέστηκεν ὁ κόσμος τῶν στοιχείων· ὥστ᾽ ἀναγκαῖον γίνεσθαι ἐξ ἑνὸς καὶ συγκεκριμένου.

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Dass O’Brien die Zeit, die von Aristoteles als Liebesherrschaft und von O’Brien selbst als ‚increasing Love‛ charakterisiert wird, aus Systemzwang der Streitherrschaft zuschlagen muss, ist der schwache Punkt seiner Konstruktion. Doch ist mit der Kritik dieses schwachen Punktes wenig gewonnen, solange nicht gezeigt ist, wie das Fragment 77 M./P. und insbesondere das amoibaios von Vers 3 zu verstehen ist, wenn die Einheits- und Ruhephase keine Gegengabe für eine andere, gleichlange Phase des Zyklus darstellt.200 Eine wirkliche Alternative zu dem von O’Brien 1969 vorgelegten Lösungsvorschlag bietet erst der von den Florentiner Scholien überlieferte Zeitplan des kosmischen Zyklus, sobald man ihn gemäß der doppelten Tetraktys strukturiert sein lässt. Diese Annahme eröffnet die Möglichkeit, die Wechselbeziehung, die offensichtlich hinter der Charakterisierung der Sphairos-Zeit als ἀμοιβαῖος steht, nicht in einem Äquivalenzverhältnis zwischen zwei verschiedenen Zeiträumen des kosmischen Zyklus zu verorten, sondern vielmehr in dem Umstand, dass die Lebenszeit des Sphairos sowohl für die Liebe als auch für den Streit eine Ruhezeit darstellt, auf deren Einhaltung sie sich wechselseitig durch Eid verpflichtet haben. Nach den Florentiner Scholien ist die Lebenszeit des Sphairos nicht länger, wie früher angenommen, mit der Zeit der Liebesherrschaft oder mit einem Teil von dieser gleichzusetzen, sondern, wie gezeigt, als ‚Auszeit‛ sowohl des Streites als auch der Liebe zu betrachten. Dies wird bei Annahme der doppelten Tetraktys dahin präzisiert, dass es sich bei dieser Auszeit nur physikalisch um ein und dieselbe Zeit handelt, begrifflich aber um zwei Zeiten. In der doppelten Tetraktys fungiert nämlich die Lebenszeit des Sphairos einerseits als die abschließende 40-Chronoi-Phase der aufsteigenden Tetraktys der Liebe und andererseits als die einleitende 40-Chronoi-Phase der absteigenden Tetraktys des Streites: 200

Zwei in dieser Richtung seither unternommene Versuche sind nicht sehr überzeugend ausgefallen. Bei Mansfeld/Primavesi 2011: 481 wird auf der Grundlage der Florentiner Scholien vorgeschlagen, dass Liebe und Streit mit der 40 Chronoi währenden Ruhezeit des Sphairos für ihre Unrast während der verbleibenden (nach damaliger Rekonstruktion: 160) Chronoi des Zyklus entschädigt werden: Diese Annahme war im Prinzip immer noch dem von O’Brien postulierten Tauschverhältnis zwischen Ruhe und Bewegung verpflichtet, musste aber einen manifest ungerechten Wechselkurs von 1 zu 4 in Kauf nehmen. Rasheds Vorschlag (2014: 328–329), das Tauschverhältnis vielmehr zwischen Liebesexpansion (‚prérogatives de l’Amour‛) und Streitinvasion (‚prérogatives de la Haine‛) anzunehmen, empfiehlt sich zwar durch einen fairen Wechselkurs (60 Chronoi gegen 60 Chronoi ), beruht aber auf der von uns bereits ausgeschlossenen Annahme, dass das medio-passive Partizip τελειομένοιο in Fr. 77 Mansfeld/Primavesi auf die erst anbrechende Herrschaftszeit des Streites verweisen könnte.

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Liebe 10 : 20 : 30 : 40 40 : 30 : 20 : 10 Streit Dadurch ist die Zwischen- und Ruhezeit von 40 Chronoi, d.h. die Lebenszeit des Sphairos, in doppelter Weise im Gesamtzyklus verankert (vgl. Abb. 4). Beide Mächte, Liebe und Streit, haben sich durch Beeidung ihrer jeweiligen Tetraktys insbesondere auf die Einhaltung einer für beide gleichzeitigen Ruhepause verpflichtet: Die von der Liebe beschworene Tetraktys läuft auf die Ruhezeit von 40 Chronoi zu, an deren Anfangspunkt die Liebe zugleich ihr Ziel, die Fertigstellung des Sphairos, und das Ende ihrer Herrschaft erreicht hat. Die vom Streit beschworene Tetraktys setzt mit der gemeinsamen Ruhezeit von 40 Chronoi ein, an deren Endpunkt er zur Zerstörung des Sphairos und zugleich zum Antritt seiner Herrschaft berechtigt ist. Vor Ablauf der 40 Chronoi darf der Streit nicht in den von der Liebe erfüllten Sphairos eindringen, nach Ablauf der 40 Chronoi darf die Liebe ihn nicht daran hindern. Die Bezeichnung der Lebensspanne des Sphairos als ‚wechselseitig‛ (ἀμοιβαῖος) bringt nun zum Ausdruck, dass diese Zeit eine wechselseitig garantierte und begrenzte Waffenruhe der beiden Antagonisten darstellt. Es sind nämlich zwei Akteure – Liebe und Streit – im Spiel, aus deren je eigener Perspektive die Lebenszeit des Sphairos tatsächlich eine ‚Gegenleistung‛ ist, d.h. amoibaios im üblichen Sinne: Die beiden Antagonisten haben die in ihrer jeweiligen Tetraktys implizierte Kampfenthaltung von 40 Chronoi einander unter der Bedingung einer gleichzeitigen Kampfenthaltung des andern zugesichert. Mithin sind aus Sicht jedes der beiden Antagonisten die beiden zwar gleichzeitigen, aber begrifflich und rechtlich verschiedenen Zeiträume der Kampfenthaltung Gegenleistung für einander. Hieraus ergibt sich folgende Neuübersetzung von Fr. 77: Aber nachdem sich der Streit in seinen Gliedern mächtig genährt hatte und zu Ehren emporgestiegen war, gegen Ende des Zeitraums, der von ihnen [d.h. von jedem von beiden] 201 aufgrund eines breiten Eides als wechselseitige [d.h. einander geschuldete] Gegenleistung festgelegt ist ...

201

Der Dativ σφιν hat von Hause aus pluralische Bedeutung (LSJ 1996 s.v. σφεῖς B.I), doch kann er sekundär auch als Singular gebraucht werden (LSJ 1996 s.v. σφεῖς B.II); letzteres wäre hier auf den Streit zu beziehen. Da aber die mit ἐλήλαται gemeinte Festlegung eine Zeitspanne betrifft, die nach den Florentiner Scholien als gemeinsame Ruhepause von Streit und Liebe zu werten ist und deren Einhaltung die beiden Mächte nach der von uns entwickelten Interpretation einander schulden, ist für den diesbezüglichen Dativus auctoris die Auffassung als Plural entschieden vorzuziehen: Der Streit kann nicht einseitig festlegen, was dann wechselseitig geschuldet sein soll.

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Abb. 4: Die doppelte Verankerung der 40 Chronoi des Sphairos in der Tetraktys der Liebe und in der des Streites

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XVI. Ergebnis Durch das Fragment 77 M./P. war immer schon bekannt, dass der Empedokleische Zyklus durch einen Zeitplan geregelt ist. Doch konkrete Angaben zur Dauer einzelner Phasen des Zyklus sind erst jüngst aus einigen Florentiner Aristoteles-Scholien ans Licht gezogen worden. Die von Rashed 2014 aus diesen Scholien erschlossene dreiteilige Grundstruktur des kosmischen Zeitplans lässt sich durch Rückgriff auf die pythagoreische Tetraktys zu einer vollständigen Rekonstruktion des Zeitplans ergänzen, und die so erzielte Rekonstruktion ist in allen Einzelheiten mit dem Bild vereinbar, das die bereits bekannten Fragmente und Testimonien von der Struktur des Zyklus zeichnen. Vor allem aber erscheint es als notwendige Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis des zentralen Originalfragments 77 M./P., nicht nur die dreiteilige Grundstruktur des Zeitplans, sondern auch ihre Ausfüllung gemäß den Proportionen der doppelten Tetraktys bereits dem historischen Empedokles selbst zuzuschreiben. Nur unter dieser Voraussetzung kann man nämlich an der überzeugenden sprachlichen Deutung des Fragments festhalten, die O’Brien 1969 vorgelegt hat – die zu Ende gehende Lebenszeit des Sphairos als ‚Gegenleistung‛ – , ohne den Nachteil in Kauf zu nehmen, mit dem die von O’Brien vorgeschlagene Rekonstruktion behaftet ist: Da O’Brien in der Ruhephase des Zyklus, d.h. im Sphairos, das eine, der Liebe zugestandene von insgesamt zwei Tauschobjekten sah, war er gezwungen, zum Ausgleich den gesamten, durchweg in Bewegung befindlichen Rest des Zyklus dem Streit zuzuweisen, woraus sich dann das Paradox ergab, dass die Streitherrschaft sowohl Streitinvasion wie Liebesexpansion umfasst. Wenn man hingegen die Lebenszeit des Sphairos mit den Scholien als Ruhepause von Streit und Liebe versteht, und wenn man die Dauer dieser Ruhepause dadurch garantiert sieht, dass sie sowohl in der Tetraktys der Liebe als auch in der des Streites verankert ist, dann hat jede der beiden Mächte einen eigenständigen Beitrag zur Sicherung des Sphairos geleistet, so dass dessen Lebenszeit bereits in sich als eine Gegenleistung jeder der beiden Mächte an die jeweils andere verstanden werden kann. Mithin erscheint sowohl die Authentizität des in den Scholien überlieferten Zeitplans als auch die Angemessenheit seiner Rekonstruktion gemäß der doppelten Tetraktys als dadurch gesichert, dass sie erstmals einen Weg zu einem sprachlich und sachlich plausiblen Verständnis des Fragments eröffnen, in dem Empedokles die Machtergreifung des Streites beschreibt. Nach alldem ist die Privilegierung der Zahlenfolge der Tetraktys – auf die Bezeichnung ‚Tetraktys‛ kommt es hier nicht an – gegen die von Zhmud 2012: 303

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vorgeschlagene Spätdatierung bereits dem vor-Empedokleischen Pythagoreismus zuzuweisen. Denn es ist zwar theoretisch möglich, dass Empedokles selbst die Tetraktys ‚erfunden‛ haben könnte, doch erscheint der Gebrauch, der nach unserer These in den Empedokleischen Physika von ihr gemacht wird, eher als ein Seitenzweig der Geschichte der Tetraktys, während der Ausgangspunkt dieser Geschichte in den bereits von Hippasos demonstrierten Zahlenverhältnissen der drei reinen Intervalle der Musik (4 : 3, 3 : 2, 2 : 1) liegen dürfte. Demgegenüber ist die von Empedokles eingeführte Verzeitlichung der pythagoreischen Tetraktys, wie sie in der temporalen Struktur des kosmischen Zyklus vorliegt, bereits sekundär, und erst an dritter Stelle steht dann die anachronistische Formulierung des nach-Empedokleischen Pythagoreereides, die darauf zielt, die Empedokleische Verzeitlichung der Tetraktys und die darauf gegründete Naturphilosophie im Ganzen nachträglich bereits für den Schulgründer Pythagoras zu reklamieren. Unbeschadet dessen rechtfertigt schon die Tatsache, dass Empedokles die Phasengliederung des kosmischen Zyklus auf der pythagoreischen Tetraktys aufgebaut hat, die bei Simplikios überlieferte Behauptung einer vornehmlich pythagoreischen Prägung der Empedokleischen Philosophie: Für Empedokles lag das Seiende in aller Veränderung eben nicht nur in den vier Elementen und in den beiden Mächten Liebe und Streit, sondern auch in den Zahlenverhältnissen, durch die der kosmische Prozess strukturiert ist. Schon die seit jeher bekannten, aber von Aristoteles zu Unrecht marginalisierten Mischungsverhältnisse, die Empedokles für die Zusammensetzung von Blut, Muskeln, Knochen und Sehnen angibt, halten sich bemerkenswerterweise sämtlich im Raum der ersten vier Zahlen, auch wenn keine dieser Formeln unmittelbar der Tetraktys korrespondiert. Ihnen tritt jetzt die von Aristoteles gänzlich übergangene temporale Gliederung des kosmischen Zyklus gemäß der Tetraktys zu Seite, d.h. gemäß einer Zahlenfolge, die schon im älteren Pythagoreismus als eine Art Weltformel betrachtet worden war.

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OLIVER PRIMAVESI

Primavesi 2014b: O. Primavesi, „Aristotle on the ‚so-called Pythagoreans‘: from lore to principles“ in: A History of Pythagoreanism, edited by Carl A. Huffman, Cambridge University Press 2014, 227–249. Rashed 2001a: Die Überlieferungsgeschichte der aristotelischen Schrift De generatione et corruptione, von Marwan Rashed, (= Serta Graeca Band 12), Wiesbaden 2001. Rashed 2001b: Marwan Rashed, „La chronographie du système d’ Empédocle: documents byzantins inédits“, in: Aevum antiquum NS 1 (2001), 237– 262. Rashed 2005: Aristote de la génération et la corruption. Texte établi et traduit par Marwan Rashed, Paris 2005. Rashed 2014: Marwan Rashed, „La chronographie du système d’ Empédocle: addenda et corrigenda“, in: Les Études philosophiques, n° 3/2014, 315– 342. Reinhardt 1916: Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie, von Karl Reinhardt, Bonn 1916. Richardson 1993: The Iliad: A Commentary. General Editor G. S. Kirk. Volume VI: Nicholas Richardson, books 21–24, Cambridge 1993. Rohde 1871–1872: Erwin Rohde, „Die Quellen des Jamblichus in seiner Biographie des Pythagoras“, in: Rheinisches Museum für Philologie 26 (1871), 554–576 und 27 (1872), 23–61, (= Kleine Schriften von Erwin Rohde, Zweiter Band, Tübingen und Leipzig 1901, 102–172). Rose 1886: Aristotelis qui ferebantur librorum fragmenta collegit Valentinus Rose, Lipsiae MDCCCLXXXVI. Schorn 2004: Satyros aus Kallatis. Sammlung der Fragmente mit Kommentar, von Stefan Schorn, Basel 2004. Schorn 2007: Stefan Schorn, „‘Periegetische Biographie’ – ‘Historische Biographie’: Neanthes von Kyzikos (FgrHist 84) als Biograph“, in: Erler/Schorn 2007, 115–156. Schorn 2014: Stefan Schorn, „Pythagoras in the historical tradition: from Herodotus to Diodorus Siculus“, in: Huffman 2014, 296–314. Schütrumpf et al. 2008: E. Schütrumpf, P. Stork, J. van Ophuijsen, S. Prince (eds): Heraclides of Pontus. Texts and translation, New Brunswick / London 2008. Schwabe 1980: ‚Mischung‛ und ‚Element‛ im Griechischen bis Platon. Wort- und Begriffsgeschichtliche Untersuchungen, insbesondere zur Bedeutungsentwicklung von ΣΤΟΙΧΕΙΟΝ, von Wilhelm Schwabe, (= Archiv für Begriffsgeschichte, Supplementheft 3), Bonn 1980. Schwyzer/Debrunner 1950: Griechische Grammatik, auf der Grundlage von Karl Brugmanns griechischer Grammatik, von Eduard Schwyzer. Zweiter Band: Syntax und Syntaktische Stilistik. Vervollständigt und herausgegeben von Albert Debrunner, München 1950.

TETRAKTYS UND GÖTTEREID BEI EMPEDOKLES

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OLIVER PRIMAVESI

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RESPONDENZ ZU OLIVER PRIMAVESI „TETRAKTYS UND GÖTTEREID“ von Peter Berz *

Der Beitrag des Gräzisten Oliver Primavesi über den Pythagoreismus des vorsokratischen Naturphilosophen Empedokles ist schon darum in die Frage nach den Schriften und ihren Göttern eingesenkt, weil die Schriften selbst des Empedokles eine besondere Existenzweise haben. Zwar ist das Corpus der Empedokleischen Fragmente und Zeugnisse dank der Arbeit Primavesis und anderer das mit Abstand größte eines Philosophen vor Platon und Aristoteles.1 Aber die Genese jedes einzelnen Fragments, vor allem der umfangreicheren, ist eine Folge kriminalistischer Unternehmungen. Zur Kunst, Handschriften aus zwei Jahrtausenden Überlieferungsgeschichte aufzuspüren kommt ihre Entzifferung in einer Unzahl von Konjekturen unklarer, zerstörter, zu ergänzender, zerstörter anderweitig überlieferter Buchstaben.2 Oft hilft dieser verschärften alphabetischen Praxis einzig das Medium des Philosophen Empedokles: der Hexameter, der es erlaubt, manche zerstörte Textteile zu erschließen.3 Am Ende ist die „Rekonstruktion des zentralen Gedankengangs“ ein Philosophieren, das unmitttelbar in Anordnung und Konstitution eines Textes mündet. Philosophie konstituiert den Text, über den sie nachdenkt, und ist damit eine mediale Praxis, deren Vielfalt Philosophien mit gesicherter Textbasis gänzlich unbekannt ist. Sie realisiert eine Umwendung des Blicks, von dem sich auch Teile der Medientheorie herschreiben: Hilfswissenschaften werden zu Leitwissenschaften.4 Die Naturphilosophie des Empedokles ist ein Werk der Papyrologie. Die Konstitution des auch für den vorliegenden Beitrag wichtigen Fragments 66 etwa ist ein durch viele Mühen wahrscheinlich gemachtes „Kontinuum“ von 98 Versen

* 1

2 3 4

Für Gespräche, Lektüren, Anregungen herzlichen Dank an Gerald Wildgruber, Martin Carlé, Helmut Hoege! In der zum neuen Standard gewordenen Ausgabe von Mansfeld/Primavesi 2011 [TG], die Diels/Kranz (1. Auflage 1903, 6. Auflage 1951) ablöst, zählen die Zeugnisse und Orginalfragmente des Empedokles 192 Nummern. So die sprachliche Übersetzung einiger kritischer Zeichen in Papyrologie und Philologie. Über Rhythmos und Metron als im aristotelischen Sinne „Medien“ der Philosophie vgl. Primavesi 2013 [TG]. Vgl. etwa das modellbildende Buch von Cornelia Vismann über das juristische Aktenwesen und seine Wissenschaften (Vismann 2000).

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PETER BERZ

aus dem ersten Buch der Physika des Empedokles.5 Der Zufall spielt mit und gewährt mitunter erstaunliche Anschlüsse primärer und sekundärer, als Abschriften und als Zitate überlieferter Text-Teile.6 In dieser Materialität der Kommunikation mit den griechischen Anfängen beginnt, diesseits aller Konjekturen, Text als Teil von Textur.7 Die Fragmente jener Straßburger Handschrift, mit der Oliver Primavesi sein Nachdenken über die Philosophie des Empedokles begann, gehören zu einem Plot, dessen Anfänge dem „Deutschen Papyruskartell“ geschuldet sind.8 Unter dem Namen besteht von 1902 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs eine Institution, die in Ägypten bei lokalen Händlern urkundliche und literarische Papyri in griechischer Sprache erwirbt (oder bei Ausgrabungen zu Tage fördert) und sie verteilt. Vor allem die literarischen Papyri motivieren die Bildung eines nationalen Kartells.9 Denn hier ist am von nationalen Konkurrenzen besessenen Vorabend des Ersten Weltkriegs der Wettwerb besonders scharf. Die englische Wissenschaft scheint weit voraus: Man hat den „Der Staat der Athener“ des Aristoteles aus Abschriften auf Papyri herausgegeben oder die Gedichte des Bakchylides von Keos.10 Die deutschen Altphilologen drohen ins Hintertreffen zu geraten. Es fehlt ihnen schlicht das Material, „ihr Wissen und Können der gelehrten Welt darzutun“.11 Aber auch innerhalb des deutschen Reichs bestehen Konkurrenzen, vor allem zwischen Berlin, also der Berliner Papyruskommission, und der Bibliothek in Straßburg, der Hauptstadt Elsaß-Lothringens. Dort verfügt man seit 1898 über reiche Mittel und beschäftigt den wissenschaftlichen Attaché des deutschen Generalkonsulats in Kairo mit ständig neuen Aufträgen. Die Preussen gehen leer aus. Berlin entwirft also auf Anregung von Hermann Diels und Ulrich von Wilamowitz-Möl5

6

7 8 9 10 11

Das Kontinuum läßt sich aufgrund eines mit erhaltenenen „Zeilenzählers“ am Rand (stichometrisches Marginalzeichen, von stichos: Reihe, Glied, Vers oder Zeile) sogar im Ganzen des Empedokleischen Gedichts situieren: ab Vers oder Zeile 232. Ihm schließen sich als zusammenhängende Textstücke an: eine Fortsetzung des didaktischen Exkurses, die Wiederaufnahme der Darstellung des kosmischen Zyklus und schließlich ein Kontiuum II (vgl. Primavesi 2008 [TG]: 64 – 79, 7. Text). Vor allem Anschlüsse der Strasburger Papyrus-Fragmente an den Kommentar des Simplikios zur Physik des Aristoteles, in dem Teile der Empedokleischen Physik überliefert sind, scheinen von der Hand des glücklichen Zufalls geführt (vgl. Primavesi 2008 [TG]). So gestaltet sich die Rekonstruktion stellenweise wie eine Zwiesprache mit Simplikios. Vgl. Gumbrecht/Pfeiffer 1987. Der Sammelband Materialität der Kommunikation war ein Meilenstein in der Entwicklung der deutschsprachigen Medientheorie. Vgl. Primavesi 1996. Hinweise zur Wortgeschichte und allgemeinen Geschichte von Kartell, vgl. Krajewski 2001: 174 – 178. Vgl. die von Frederic George Kenyon herausgegebenen vier Bände: Greek papyri in the British Museum (1893–1910). Zit. bei Primavesi 1996: 175, A 14, aus: Wolfgang Müller: „Papyruskunde“, 1957.

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lendorff höchstselbst einen Kartellvertrag, der vor allem die literarischen Texte angeht: Die Papyri sollen gemeinsam erworben und dann verteilt werden, bei konvergierenden Interessen nach einem Losverfahren. Seit seiner Gründung 1902 ist der Breslauer Oberlehrer und Archäologe Otto Rubensohn im Dienste des Kartells in Ägypten tätig.12 Am 21. November 1904 besucht er auf einem Gang über die Märkte der oberägyptischen Stadt Akhmim den Antiquitätenhändler Ginti Faltas. „Runde bei den Händlern. Hanna und Genossen haben gar nichts. Nur bei Ginti Faltas findet sich: 1) Ein Kragen aus Kupferblech auf Papyrus aufgeklebt […] Da dabei Fragmente mit litterar. Schrift verwertet sind, kaufe ich ihn für 1 [Pfund] St. ...“.13 Diese literarische Schrift hat also wie alle Schriften ein Trägermedium, le support: Die matierielle Textur des Papyrus hält Stücke eines Rundkragens aus Metall zusammen,14 der sich am Hals einer Mumie befunden haben dürfte. In dem Fund, der 1905 vom Kartell durch Los nach Straßburg verteilt und erst 1999 von dem belgischen Papyrologen Alain Martin und Oliver Primavesi gesichtet und herausgegeben wird, sind es also metallische Elemente, Schmuck oder kosmos, die von der Textur des Papyrus zusammengehalten werden, der auch die Schrift, geschrieben in Richtung der Faserung und schon darum einer Schrift-Rolle angehörend, trägt: Es handelt sich um die Fragmente einer Abschrift des Empedokleischen Gedichts Peri physeos. Die Abschrift stammt aus dem späten 1. Jahrhundert n. Chr. und sie ist das einzige Stück primärer Überlieferung eines Texts vorsokratischer Philosophie, das bislang bekannt ist. Schon diese erste Schicht von Schriften hat das Bild der Empedokleischen Philosophie grundlegend verändert. Sie erlaubt es, die Frage nach Göttern und Schriften und ihren Elementen neu zu stellen.15 Die zweite Schicht sind Schriften, die nicht direkt überliefert sind, sondern als sogenannte „Scholien“, also 12 13 14

15

Rubensohn ist schon seit Oktober 1901 in Ägypten tätig und dann bis März 1907 für das Kartell, das mit Beginn des Weltkriegs endet. Zit. bei Primavesi 2008 [TG]: 6, aus: Tagebücher Rubensohn im Berliner Ägyptischen Museum / Papyrussammlung (vgl. ebd.: 5, A 13). Martin/Primavesi sprechen 1999 den Kragen als „une couronne“ an, was eine Krone oder ein Kranz sein kann (vgl. Martin/Primavesi 1999 [TG]: 27 – 36, I. Une couronne dans une tombe). Daß es sich dabei, wie auch im Fall der Scholien, immer um die Entzifferung von HandSchriften handelt, sei nur nebenbei erwähnt. Martin/Primavesi beginnen schließlich die Handschrift des Schreibers der Strasburger Papyri zu erlernen und den von ihnen ergänzten Text in seiner Handschrift als Simulation eines fiktiven Ganzen zu präsentieren. „Les parties conservées du papyrus apparaissent en noir, les parties restituées en grisé.“ (Martin/Primavesi 1999 [TG]: 154 und 154 – 157). Eine zeitgenössische, künstlerische Praxis von Handschrift trägt den Beitrag von Joulia Strauss im vorliegenden Band (vgl. auch Einführung zum Beitrag von Joulia Strauss).

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interlineare oder marginale Kommentare anderer Schriften, hier vor allem des Aristoteles, vorliegen.16 Ob dem Kommentator dabei ein Werk des Empedokles noch als vollständige Abschrift vorlag, ist oft schwer zu entscheiden.17 Wo sie vorlag, entsteht die Urszene eines medial generierten sujet supposé savoir:18 Der heutige Leser liest etwa den (mehr oder weniger gut überlieferten) Text des Aristoteles, den auch ein historischer Leser las, der aber des Aristoteles’ Äußerungen über einen anderen, etwa den Empedokleischen Text an eben diesem Empedokleischen Text überprüfen konnte und aus ihm heraus kommentieren. Aus diesem Kommentar nun versucht der Philologe heute den Referenz-Text zu erschließen. Mit vorsokratischen Texten zu philosophieren heißt: konjektural philosophieren. Auch das zeigen die Arbeiten Oliver Primavesis auf passionierende, oft dramatische Weise.19 So basiert das Hauptargument von Tetraktys und Göttereid auf den von Marwan Rashed 2001 herausgegebenen, 2006 von Primavesi ergänzten Scholien aus byzantinischen Handschriften, genannt Florentiner Scholien, denen Rashed 2014 die für den Beitrag entscheidenden zwei (plus eins) Scholien hinzufügt. Die vorliegende Rekonstruktion des Zyklus in seiner Gesamtheit aber ist die konsequente Weiterentwicklung der aus den Empedokles-Fragmenten des Straßburger Papyrus gewonnenen Erkenntnisse.

I. Schließung Tetraktys und Göttereid ist nicht nur eine weitere Ansicht über die Empedokleische Naturphilosophie, angereichert durch neue Texte und Deutungen be16

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Das sind für Tetraktys und Göttereid vor allem die von Marwan Rashed 2011 und 2014 herausgegebenen byzantinischen Scholien zu Buch Thauta der aristotelischen Physik und zu Aristoteles’ De generatione et corruptione (vgl. Rashed 2001b [TG], Primavesi 2006 [TG] und Rashed 2014 [TG]). Aristoteles, Simplikios, Plutarch, Eudemos etwa hatten ein Exemplar der beiden Bücher der Empedokleischen Physika vor sich (vgl. O’Brien 1969 [TG]: 150 f.). O’Brien führt auch die Verfahren vor, die Glaubwürdigkeit eines zitierenden Autors zu ermessen. Le Sujet supposé Savoir vgl. Jacques Lacan: Les quatres concepts fondamentaux de la psychanalyse (1964). Le Seminaire Livre XI, Paris 1973, S. 256 – 269. Immer wieder nimmt sich dabei die Philosophie in die Bescheidenheit des Papyrologen zurück. Der Schluß der philologischen und philosophischen „Rekonstruktion des zentralen Gedankengangs der Physika I“ lautet schlicht: „Aufs Ganze gesehen gruppieren sich mithin die beiden Kontinua I und II jeweils um einen der beiden großen Ausrisse aus der Kragenunterlage, d.h. um die Ensembles Strasb.a) und Strasb.d).“ (Primavesi 2008 [TG]: 63).

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kannter Zeugnisse, in einer aufsteigenden Linie immer reicherer Kenntnis der Empedokleischen Schriften. In Primavesis Beitrag steht der Moment auf dem Spiel, in dem ein System sich schließt. Barry Powell und ihm folgend Friedrich Kittler heben in der Genese des griechischen Vokalalphabets auf einen strukturell ähnlichen Moment ab: Eine Struktur schießt zusammen und schließt sich, nahezu ohne Rest.20 Diese sich schließende Struktur hat eine Außenseite und eine Innenseite.21 Auf der Außenseite steht das „Pythagoreertum“ des Empedokles, das bis in die Zeit des Hellenismus weithin bezeugt ist und dessen wichtigster Anhalt der Nachweis der Empedokleischen Herkunft des berühmten Pythagoreer-Eids ist.22 Auf der Innenseite stehen die von Primavesi so genannten „prozeßlogischen“ Annahmen des Empedokles über den kosmischen Zyklus,23 also sein Voranschreiten durch Mischungen, Besetzen von Orten in verschiedenen Geschwindigkeiten, im Entstehen, Sein, Vergehen der Lebewesen. Der Zyklus ist die zeitliche Struktur oder Rhythmisierung dieser Prozesse. Aber auch der Diskurs selbst der Systemschließung kennt eine Außen- und eine Innenseite. Er wird durch eine Idee in Gang gesetzt, die von außen an den hoch spezialisierten Diskurs von Papyrologie, Byzantistik, Gräzistik herangetragen wird: aus dem Pythagoreismus Friedrich Kittlers. Andererseits ist es ein Ereignis im Innersten der Empedokles-Forschung, das ihn ermöglicht: die zwei byzantinischen Scholien zu Aristoteles’ Empedokles-Lektüren, die Marwan Rashed 2014 veröffentlichte. Die Idee einer Empedokleischen Tetraktys, auch wenn sie nicht zum ersten Mal in der Geschichte der Empedoklesforschung auftaucht,24 kommt bei Friedrich Kittler aus einem Pythagoreismus, der programmatisch gegen die Zahlenvergessenheit weiter Teile der Philologie und Philosophie in den Mittelpunkt des griechischen Denkens die Zahl stellt.25 Er tritt an, die Fundamente unserer digitalen und darum durch und durch mathematischen Kultur freizulegen. 20 21

22 23 24 25

Vgl. den Beitrag Barry Powells in diesem Band. Primavesi verweist einmal auf die von Marwan Rashed 2014 getroffene Unterscheidung: „On confond trop souvent, dans les sciences historiques, cohérence interne, compatibilité externe, et vérité.“ (Rashed 2014 [TG]: 315; vgl. Tetraktys und Göttereid: XII. Chronos und Aion, A 162). Primavesis Argumentation zielt dagegen explizit und programmatisch darauf ab, externe Kompatibiltät, das ist: den biographisch und durch die Neudeutung des Eids bezeugten Pythagoreismus des Empedokles, und interne Kohärenz, das ist: die Tetraktys-Struktur selbst, konvergieren zu lassen. Primavesi unterscheidet Pythagoreertum und Pythagoreer. Vgl. Einführung Primavesi (Zur Genese). Vgl. ebd.; vgl. auch Kucharski 1952 [TG]: 47; und hier weiter unten: IV. Physis. Vgl. auch Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: II. Wort und Zahl.

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PETER BERZ

Tetraktys und Göttereid stellt die Brücke her zwischen Göttern und Schriften auf der einen, Musik und Mathematik auf der anderen Seite.26 Im Band Aphrodite von Kittlers Musik und Mathematik gilt Empedokles als der erste einer Reihe von Pythagoreern. Er firmiert neben Heraklit als Akusmatiker, denen die Mathematiker Hippasos, Philolaos, Eurytos und Archytas folgen.27 Durch den Nachweis Primavesis, daß das Pythagoreertum des Empedokles und seine kosmologische „Spiegelerzählung“ von pythagoreischem Mythos und pythagoreischer Wissenschaft in der mathematischen Grundstruktur seines Zyklus gründet, kann Empedokles von nun an beiden Gruppen gleichermaßen zugerechnet werden: den Akusmatikern und den Mathematikern. In Musik und Mathematik liegt zwischen Pythagoras und den Pythagoreern ein Scharnier: der berühmte Eid der Pythagoreer.28 Weil er einem aus der Gegenwart denkenden, in allem Ernst betriebenen Pythagoreismus heilig ist, muß Kittler, im Unterschied zu Burkert und Primavesi, den Eid früh ansetzen.29 Aber den Text des Eids als Ganzen zusammenzuhalten und nicht den ersten Vers historisch vor den zweiten zu legen, diese Auffassung in Kittlers Empedokles-Kapitel 30 ist auch für Primavesis Neusituierung des Eids strukturell wichtig. Denn nur wenn die Wurzeln, rhizōmata, und der Flußlauf, paga, also jene nach Primavesis Nachweis Empedokleischen Worte, und die späte Auffassung der physis als Allnatur zur Tetraktys der ersten Zeile gehören, kann der Eid Berufungsinstanz für die Tetraktys-Hypothese werden. Die Tatsache als solche aber der empedokleischen Herkunft des Eids ist nach Primavesi das Produkt einer wissenspolitischen Strategie: Eine neoplatonischpythagoreische Tradition, die alles tut und fälscht, um Pythagoras zu platonisieren und Platon auf Pythagoras zurückzuschreiben, hat, wenn sie den Eid Pythagoras zuschreibt und in empedokleischen Begriffen formuliert, auch Empedokles’ ganze Naturphilosophie dem Pythagoras-Platon untergeschoben.31 26 27

28 29 30

31

Vgl. hier weiter unten: III. Schrift und Zahl der Tetraktys. Das Kapitel Die Pythagoreer, teilt sich auf in die Akusmatiker Empedokles von Akragas (Kittler 2006: 245 – 249) und Herakleitos von Ephesos (ebd.: 249 – 251) und die Mathematiker Hippasos von Metapont (ebd.: 252 – 265), Philolaos von Kroton (ebd.: 265 – 289), Eurytos von Metapontion (ebd.: 290 – 302) und Archytas von Taras (ebd.: 302 – 337). Vgl. Einführung Primavesi (Zur Genese). Vgl. Kittler 2006: 244 f.. Kittler argumentiert gegen Walter Burkerts Behauptung, der Eid hätte ursprünglich nur aus der ersten Zeile bestanden und die zweite Zeile sei ein später Empedokleischer Zusatz: „Wer wollte auf die Weitergabe als solche schwören – nicht auf die Physis, die sich in ihr entbirgt?“ (Kittler 2006: 245, A 5). Vgl. Tetraktys und Göttereid: A 32 und V. Der explanatorische Mehrwert der TetraktysHypothese; und Burkert 1962a [TG]: 61 f..

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Das fällt zwar außerhalb des emphatischen Blicks auf den Eid in Musik und Mathematik – bei allem geteilten Anti-Platonismus. Doch Überlieferung als solche nicht als Wahrung von Traditionen zu begreifen, sondern als Schlachtfeld: Dieser Grundzug Primavesischer Geschichtsforschung steht Friedrich Kittlers „offener Feldschlacht“ nicht fern.32 Die Neusituierung des Eids und ein dichtes Netz biographischer Zeugnisse, bis hin zu regelrechten plots, über das Pythagoreertum des Empedokles,33 erzeugt in Tetraktys und Göttereid das Wahrscheinlichkeitsfeld für die strukturelle These: In der Lehre des Empedokles folge der Ablauf des kosmischen Zyklus dem Maß einer doppelten Tetraktys. Selbst zyklisch angelegt wird der Beitrag am Ende wieder bei einem Eid landen: dem für die Struktur des Zyklus essentiellen, in Aristoteles’ Metaphysik 1000b (Fr. 77) überlieferten Fragment, in dem Streit und Liebe, befestigt durch einen „breit verschnürten Eidvertrag“, gemeinsam, so die neue Rekonstruktion, an der gleichen Ruhezeit des Sphairos teilnehmen.34 Die lange Geschichte der Frage nach dem Zyklus hängt nicht zuletzt an dem, was Primavesi „Die empedokleische Frage“ nennt: 35 In welcher Beziehung steht das mythische Werk des Empedokles, die Katharmoi, die Reinigungen, zu seiner Naturphilosophie, den beiden Büchern der Physika? Denn daß Verbannung, Wiedergeburten und Inkarnationen des schuldig gewordenen Gottes und schließlich seine Rückkehr an die Tafel der Götter zyklischen Charakter tragen, ist in den erhaltenen Fragmenten manifest (vgl. Fr. 5 bis 39). Umstritten ist, bevor Denis O‘Briens epochales Buch Empedocles’ Cosmic Cycle (1969) kaum mehr Zweifel zuläßt,36 ob die Naturphilosophie des Empedokles, die von Theorien und Beobachtungen elementarer Vorgänge an Tieren, Pflanzen, Frauen, Männern spricht, ebenfalls eine zyklische Struktur hat. Das 19. Jahrhundert habe, so Primavesi 2013, die empedokleische Frage entweder nach dem ihm vertrauten diachronen Modell der Entwicklungsgeschichte beantwortet und zwei Phasen in Empedokles’ Denken angenommen; 37 oder es habe nach einem dualistischen Modell hierhin 32

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Vgl. etwa Friedrich Kittler: mmII.pdf (#1001.8144, application/pdf (2011-08-20T21: 46:15Z). mmII.pdf. In: Bestand A:Kittler/DLA Marbach. xd002:/kittler/mm [xd, 282.12 KiB], S. 65. Dort ist der Ausdruck bezogen auf den Kampf gegen Aneignungs-Strategien des Christentums. Plots im allgemeinen – bei Primavesi sind sie aus Geheimnisverrat, unehelichen Söhnen, gefälschten Briefen gestrickt – spielen in Friedrich Kittlers Denken eine entscheidende Rolle (vgl. auch Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: III.2 Die gegenwärtigen Götter ). Vgl. Tetraktys und Göttereid: XV. Die doppelte Tetraktys und der Göttereid. Vgl. Primavesi 2013 [TG]: 670 – 674, 1. Die Empedokleische Frage in der Forschung. Vgl. ebd.: 673b. Vgl. etwa ebd.: 674. Zur Diachronie als diskursiver Grundstruktur des 19. Jahrhunderts vgl. Foucault 1966/1980: Zweiter Teil.

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die Götter und dahin die physikalischen Elemente gestellt. So konnte die zyklische Struktur des Mythos nie die zyklische Struktur der Physik begründen, vice versa. Primavesis Konzept der „Spiegelerzählung“ unternimmt eben das. Nur der deutsche Gymnasialprofessor Friedrich Panzerbieter 1844,38 dann erst 1916 der italienische Gräzist und Übersetzer von Diels/Kranz,

Ettore Bignone, und fünfzig Jahre später O‘Brien seien. so Primavesi, konsequent von einem zyklischen Charakter des physikalisch–biologischen sowie des mythischen Geschehens bei Empedokles ausgegangen. Es sei in der Folge von vielen Autoren wieder relativiert worden.39 Schließlich habe man in der Empedokles-Renaissance der 1960er Jahre – und vor O‘Brien – von verschiedener Seite den Zyklus als solchen wieder angezweifelt. Die, so Primavesi, „Revisionisten“ mit ihren prominentesten Vertretern Uvo Hölscher und dem französischen Empedokles-Herausgeber Jean Bollack gehen von einer einmaligen Zerstörung des Sphairos als Anfang aus, einem einzigen Moment der Trennung und einem unidirektionalen Zeitpfeil der kosmischen Entwicklung.40

Daß gerade in den 1960er Jahren bei Bollack, Hölscher, Solmsen, O‘Brien und anderen überhaupt die Frage des Empedokleischen Zyklus einen solchen Aufschwung nimmt, mag mit ihrer Einbettung in die allgemeine Wissensgeschichte zusammenhängen.41 Zyklische Denkweisen sind in diesem Jahrzehnt epistemologisch, wisssenspolitisch und politisch hoch aufgeladen. Kreismodelle von den dynamischen Regelkreisen der Kybernetik42 bis in die Stoffkreisläufe der entstehenden Ökologie 43 gehören technisch und theoretisch zum avanciertesten Wissen. (Daß es politisch – selbst wenn nicht nur Nietzsche, sondern auch Engels und Blanqui die Ewige Wiederkehr dachten 44 – konservativ und technokratisch auftritt, steht auf einem anderen Blatt.) In ganz ähnlichem Sinne könnte das seit den 1990er Jahren neu erwachte Interesse an Empedokles, mit zahlreichen Veröffentlichungen, Tagungen und schließlich den neu entdeckten Texten,45 einem allgemeinen Aufblühen erdgeschichtlicher Erzählungen geschuldet sein. 38 39 40

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Panzerbieter 1844 [TG]. Primavesi nennt sie alle: Cornford 1926, Wilamwitz-Moellendorff 1929, Jäger 1936, Kerényi 1937, Herbert Strainge Longe 1942 (vgl. Primavesi 2013 [TG]: 670 – 672). Zu Bollack 1957, 1959 und 1969a, b [TG], und Hölscher 1965/1968, 1965/2001 kommt der am detailliertesten ausgearbeitete Ansatz Friedrich Solmsens: Solmsen 1964/1968; vgl. auch hier weiter unten: II. Abiotische Götter, biotische Dämonen. Primavesi widmet der Geschichte seiner Forschung durchweg große Aufmerksamkeit. So hat er 2012 in seinem Vortrag auf dem Karlsruher Symposion Götter und Schriften darauf hingewiesen, wie die Lage des Deutschen Reichs nach dem Ersten Weltkrieg zu einer Art Monumentalisierung der Vorsokratiker-Ausgabe von Diels/Kranz führte. Erst Ende des 20. Jahrhunderts sei es möglich geworden, an die Begrenztheit des Textkorpus von Diels/Kranz zu denken und sich auf die Suche nach neuen Textzeugnissen zu machen. Die erste Fassung der DIN-Norm 19226 für alle, noch heute gültigen Begriffe der Regelungstechnik stammt vom Mai 1968. Vgl. hier weiter unten: V. Die Zukunft der Zyklen. Vgl. etwa Friedrich Engels: Einleitung in die Dialektik der Natur, in: Karl Marx, Friedrich Engels, Werke, Band 20, Berlin 1986, S. 326 f.. Vgl. auch Walter Benjamin: Das Passagen-Werk, Konvolut D: Langeweile und ewige Wiederkehr. Als 1997 auf einem Empedokles-Kolloquium in Agrigent Alain Martin und der 36-jährige

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Denis O’Briens Buch über einen Kosmischen Zyklus des Empedokles, in dem sämtliche Theoreme seiner Naturphilosophie einen systematischen Ort haben, formulierte Grundfragen, die teils bis zu Aristoteles zurückreichen und die Forschung bis heute, auf einem neuen Stand der Überlieferung beschäftigen. Dazu gehört nicht nur die Frage der zyklischen Struktur selbst, sondern etwa auch die der kosmischen Zeit, ja der Zeit überhaupt als einem Hauptthema der Empedokleischen Naturphilosophie;46 dazu gehört die Geschwindigkeit und das „Momentane“47 sowie die Frage der Einteilung in Phasen oder Perioden. O‘Brien hält es, im Unterschied zu anderen Forschern, überhaupt für möglich, daß Empedokles die Frage nach den Längen der kosmischen Phasen beantwortet hat: „How long does the Sphere last? For how long are the elements fully separated under Strife‘s complete power? How long are the periods of increasing Love and increasing Strife?“ 48 Im Anschluß an die Aristotelische Physik, Buch Thēta (252a20 – 32, Fr. 93), in dem die Rede davon ist, daß bei Empedokles Liebe und Streit abwechselnd als zwei Bewegungsursachen an der Macht sind, in gleichen Zeiten oder gleichen Zeitabständen, isōn chronōn, spielt O’Brien einmal durch, welche kombinatorisch überhaupt möglichen Zeiten des Zyklus es geben kann. Daraus entsteht ein kombinatorisches Tableau von Gleichsetzungen, das auf den vier Termen increasing love, increasing strife, Sphairos, total strife operiert: ein formales Spiel, das keine Zahlen beinhaltet.49 Gleichungen im mathematischen Sinn können aus Gleichsetzungen erst mit den 2001 und 2006 aus byzantinischen Kommentaren zu genau diesen Passagen des Buchs Thēta bekannt gewordenen Zahlen werden (Scholium B, C, E Rashed).50

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Oliver Primavesi ihren sensationellen Papyrus–Fund vorstellen, ist Denis O’Brien als elder statesman der Empedokles-Forschung anwesend (vgl. Martin/Primavesi 1999 [TG]: X). Das längste Kapitel des Buchs ist der Zeit bei Empedokles gewidmet (vgl. O’Brien 1969 [TG]: 55 – 103, 4. Time ). O’Brien sieht erst in Platons Parmenides eine explizite Theorie des Augenblicks (vgl. ebd.: 58). Ebd.: 55. „It is unlikely [.] on quite general grounds, that Empedocles should altogether have failed to specify the relative duration of various parts of his cycle […].“ (ebd.). Vgl. auch das Empedokleische Fragment Fr. 91. Vgl. O’Brien 1969 [TG]: 60. Von den möglichen Varianten: Sphere = total strife; increasing love = increasing strife; increasing love = Sphere = increasing strife ist die von O’Brien für richtig gehaltene Variante: Sphere = increasing strife + increasing love nach Tetraktys und Göttereid eben darum unmöglich, weil bei Empedokles dem total strife durchaus eine bestimmte Zeit zugewiesen wird (vgl. die ausführliche Kritk O’Briens in Tetraktys und Göttereid: XV. Die doppelte Tetraktys und der Göttereid ). Vgl. Rashed 2001 [TG], Primavesi 2006 [TG]. Dazu kommt im Jahr 2014 Scholium J Rashed zu einer Passage aus De generatione et corruptione des Aristoteles. Vgl. in Tetraktys und Göttereid das entscheidende Kapitel: X. Die Grundstruktur des kosmischen

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Diese Zahlen sind zunächst vor allem eins: Sie sind klein. Der französische Strukturalist und Ethnologe Claude Levi-Strauss hatte 1967 einmal auf die Wiederentdeckung der kleinen Zahlen in der modernen Mathematik hingewiesen. Kleine Zahlen sind Strukturen.51 In diesem Sinne interessiere sich das strukturalistische Denken auch in anderen Wissenschaften nicht für die „Trostlosigkeit der großen Zahl“, die das 19. Jahrhundert aufgebracht habe, sondern etwa dafür, warum einige Kulturen die 3 (die indo-europäische Zivilisation), andere die 4 (die Afrikaner und Amerikaner) bevorzugen.52 In diesem strukturalen Sinn stehen bei Empedokles auf dem Spiel: eine 2er-Struktur wie Ruhe und Bewegung, Liebe und Streit; eine 3er-Struktur innerhalb einer 2er-Struktur wie O‘Briens Modell; eine 3er-Struktur mit drei gleichen Teilen; eine 5er-Struktur, entstanden aus der Erweiterung der 3er-Struktur durch zweifache Zoogonie mit je zwei 53 oder drei Phasen.54

Tetraktys und Göttereid wird schließlich aus der doppelten Tetraktys 1–2–3–4– 3–2–1 eine 7er-Struktur entwickeln, die, so die Hypothese, auf dem derzeitigen Stand der Überlieferung die einzige Variante ist, die aufgeht, im Doppelsinn von aufgehen: als mathematische Lösung und als Erscheinung oder „Entfaltung“ des Empedokleischen Kosmos.55 Forschungsgeschichtlich hat die formale Seite der Tetraktys-Hypothese auch dies für sich, daß in der Tetraktys alle vorhergehenden Modelle aufgehoben scheinen.56 Gerade das Umformen und Bewahren der alten Modelle verleiht der 51

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Zeitplanes nach den Florentiner Scholien. Zu Primavesis Versuch, mit Aristoteles und Alexander von Aphrodisias über die Logik kleiner Zahlen in den pythagoreischen Akusmata nachzudenken (vgl. Primavesi 2014b [TG]; und hier weiter unten: III: Schrift und Zahl der Tetraktys ). Vgl. Lévi-Strauss 1967. – Lévi-Strauss entwickelt 1956 in einer prominenten Studie: Gibt es dualistische Organisationen?, an indianischen Dorfstrukturen der Bororo zwei allgemeine, formale Typen: den diametralen und den konzentrischen Typ. Am Ende steht eine Vermutung, die der Psychoanalytiker Lacan begeistert aufnehmen wird: Jede duale, hälftige oder symmetrische Struktur ist nur der Grenzwert einer triadischen (vgl. Levi-Strauss 1957/1977). Primavesis Zur Genese beschreibt die Ablösung einer hälftigen Struktur durch eine triadische, die den insgesamt 7 Phasen des nach der Tetraktys strukturierten Zyklus zugrunde liegt. Nach Aetios, Fr. 151. Vgl. O’Brien 1969 [TG]: 199. Vgl. Bollack 1957; und weiter unten: IV. Physis. Es finden sich also nicht nur überhaupt duale Strukturen von Ruhe und Bewegung, Liebe und Streit, biotisch und abiotisch. Und zum ersten Mal ist gerade durch Verabschiedung des „hälftigen“ Modells, der Zyklus wirklich symmetrisch (nämlich spiegelsymmetrisch, bezogen auf eine senkrechte Achse zwischen dem Höhepunkt der Streit-

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geschlossenen Konstruktion des Zyklus in Tetraktys und Göttereid einen Teil ihrer wissenschaftlichen Wahrscheinlichkeit. Doch machen die Strukturmodelle des Empedokleischen Zyklus in dem Moment einen prinzipiellen Sprung, in dem die Tetraktys ins Spiel kommt. Denn sie ist nicht nur Strukturmodell, sondern ein pythagoreisches tool.57 Empedokles macht von ihm eine besondere „Anwendung“. Die pythagoreische Tetraktys ist vor dieser neuen Anwendung da, Empedokles verändert sie nur, wenn er sie verdoppelt und invertiert, verzeitlicht und „zur Formel eines kosmischen Zeitlaufs umfunktioniert“.58 Er betreibt „Mißbrauch“ des tools.59 Verdoppelung und Invertierung der Tetraktys sind in der Geschichte der Tetraktys vor und nach Empedokles andernorts bislang noch nicht nachgewiesen worden. Sehr wohl aber die pythagoreische Praxis, überhaupt mit und auf der Tetraktys zu operieren, das ist: tetrazesthai. Primavesi kann die Herkunft des Worts „Tetraktys“ aus einem Verbum, nach einer Idee Johannes Lohmanns, genau belegen.60 Die Schließung des Zyklus über der Tetraktys wird nicht nur, wie Primavesis Einführung Zur Genese der Tetraktys-Hypothese zeigt, durch den Wegfall von 40 Zeiteinheiten möglich, dem Ergebnis von Marwan Rasheds Scholium J.61 Sie findet in einem besonderen Medium statt. Zunächst steht sie in zwei Zeilen geschrieben: 62 1:2:3:4 4:3:2:1

Die obere Zeile markiert die Zeit der Liebe, die untere die Zeit des Streits. Die Mitte, die gemeinsame 4, die Zeit des Sphairos, ist die Zeit, in der Liebe und

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herrschaft und dem Sphairos; erst die „Inversion“ der zweiten Tetraktys, die Primavesi als die Intuition von Thesssaloniki beschreibt, produziert diese Spiegelsymmetrie, vgl. Einführung Primavesi (Zur Genese)). Im Tetraktys-Schema ist auch das triadische Modell 60 – 40 – 60 beschlossen. Schließlich kommt das quaternäre Modell – Liebeswirken, Sphairos, Streitwirken, getrennte Elementmassen – zu seinem Recht, weil die Phase der getrennten Massen, anders als bei O’Brien, eine bestimmte Zeit einnimmt, die dem Sphairos gegenüber liegt, nur jetzt nicht zweimal 20, sondern zweimal 10 chronoi lang. Vgl. hier weiter unten: III. Schrift und Zahl der Tetraktys. Einführung Primavesi (Zur Genese). Vgl. Kittler 1988/2002. Vgl. Einführung Primavesi (Zur Genese ); und hier weiter unten: III. Schrift und Zahl der Tetraktys. Vgl. Einführung Primavesi (Zur Genese). Vgl. Tetraktys und Göttereid: XIII (Schluß), XV und XI (Anfang); und Einführung Primavesi (Zur Genese).

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Streit ruhen. Nun sollen aber Anfang und Ende als Kreis aneinanderstoßen. Das ist in der Linearität von Zeilen nicht mehr darstellbar. Darum schaltet Tetraktys und Göttereid – in der Sprache des Computers – von Text- auf Graphikmodus um.63 Neben aller papyrologisch-philologischen Buchstaben-Virtuosität mit ihrer Vielzahl von Sonderzeichen, Schriftgrößen und Textformatierungen zweier Alphabete gießt Tetraktys und Göttereid sein Argument in vier Kreisdiagramme (plus fünf der Genese).64 Es könnte eines Tages wissenschaftsgeschichtlich interessant sein, wie das „Schreibzeug“ dieser Diagramme mitarbeitet an Primavesis Gedanken über das Denken des Empedokles.65 1912 führte Walther Kranz die Unterscheidung von gerader Linie und Kreis in die Darstellung

des Empedokleischen Kosmos ein. Weil Empedokles (nach Aristoteles) die Phase der ersten Zoogonie während der wachsenden Liebe in seiner Darstellung übergangen habe, paraleipei (Fr. 71, De caelo: 301a14), sei, so Kranz irrtümlich, auch die doppelte Zoogonie bei Empedokles wohl nur theoretisch konstruiert, aber nicht tatsächlich beschrieben worden. „[...] die doppelte Entstehung, die er gelehrt hat […], ist nur eine Forderung der Theorie gewesen, die Kosmologie war in der Darstellung eine Linie, kein Kreis (wie es sich ziemte, er hätte ja sonst alles zweimal erzählen müssen), also ist alles, was er über die Entstehung der θνηθά [der sterblichen Wesen] berichtet, in die Linie Sphairos, Kosmos, Herrschaft des Neikos einzuordnen.“66 1916 wird Ettore Bignone den Gedanken des Kreises weiter ausbauen, Romain Rolland daraus sogar eine grundsätzlichen Bevorzugung des Kreises vor dem Vektor im griechischen 63

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Empedokles selbst hätte die doppelte Tetraktys mit ihrer Inversion andeutungsweise als boustrophedon anschreiben können, in jener Zeilentechnik früher griechischer Inschriften, in der eine Zeile von links nach rechts, die folgende von rechts nach links, oft unter spiegelsymmetrischer Umwendung der Buchstaben, geschrieben wird (vgl. etwa den Beitrag von Barry Powell in diesem Band: I. Phonetische Alphabete). Die Zeilen alias Verse des Empedokleischen Gedichts aber kennen kein boustrophedon und von Empedokles sind keine graphische Darstellungen überliefert. Im Kreis der pythagoreischen Mathematikoi freilich war es üblich, Beweise auch über Diagramme nicht nur über Zahlenfolgen zu führen. Friedrich Kittler bemüht dazu einmal eine Stelle aus Cicero über die numeri et descriptiones der Pythagoreer (vgl. Kittler 2006: 243). Sie wurden in Zusammenarbeit mit der Künstlerin und Mitherausgeberin des vorliegenden Bandes, Joulia Strauss, entwickelt. „Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“: Nietzsche in einem Brief Ende Februar 1882 (zit. nach Friedrich Kittler: Film Grammophon Typewriter, Berlin 1986, S. 293). Kranz 1912: 37 f. A 1; vgl. auch Hölscher 1965/1968: 195 A 44. Freilich verkennt Kranz, wie sehr schon das zweimal oder dreimal Erzählen zur homerischen Grundstruktur des Empedokleischen Gedichts gehört. Primavesi hatte auf dem Karlsruher Symposion Götter und Schriften rund ums Mittelmeer darauf hingewiesen, daß das Epos Homers „der Triumph der Spiegelung ist. Im homerischen Gedicht erklärt eins das andere, in dem es sich spiegelt. Das Gleichnis erklärt die Handlung, die paradigmatische Geschichte erklärt die Haupthandlung. Die Rede erklärt die Tat.“ (Transskription des Mitschnitts von Primavesis Beitrag in Karlsruhe, 19. Oktober 2012).

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Denken spinnen. „Die Klarheit des hellenischen Geistes folgte keineswegs in unbestimmter Steigung dem vom Bogen zum Himmel steigenden Pfeil; man sah ihn aufsteigen, sich einwärts biegen und zurückfallen; und der ästhetische Hang zur schönen Zeichnung, welche die genauen und geschlossenen Umrisse wiedergibt, machte die Griechen, wie Bignone zeigt, für die stolze Vorstellung eines Weltenzyklus empfänglich.“67 Das führt bei Rolland zu einer gewagten

Deutung von Fr. 47, das Primavesi übersetzt: „durch Verbindung eines Gipfels mit dem anderen mehr als einen Pfad der Lehre zu vollenden.“68 Romain Rolland, sich auf Bignone berufend: „Es ist schön, die Zweige der Botschaften (der Hymnen) zu einer Krone ineinanderzuschlingen und auf mehr als einem Pfad ins Ziel zu gelangen.“69 Auch diese Krone könnte das Titelbild des vorliegenden Bandes motivieren.70 Und doch steht im Hintergrund der Kreisschemata von Tetraktys und Göttereid nicht der Kreis überhaupt, sondern die „symbolische Darstellung der Zeit“.71 Die graphische Darstellung des kosmischen Zyklus ist von Martin/Primavesi 1999 bis Tetraktys und Göttereid an der Uhr orientiert. Auf 12 Uhr der chemisch reine Trennungszustand der Elemente, auf 6 Uhr ihr vollkommener Vereinigungszustand, nachmittags das Wirken der vereinigenden Liebe und vormittags das Wirken des trennenden Streits. Doch auch dieses Schema hat seine Grenzen. Wenn Primavesi etwa den Sphairos als die Stunde des Pan anspricht,72 muß er in der Mitternacht des Südens stattfinden: Am Großen Mittag, beim höchsten Stand der Sonne. Die symbolische Darstellung der Zeit als Kreis ist kulturell durchaus nicht selbstverständlich. Sie ist als solche schon ein Stück Pythagoreismus. „Wir sind in unserem Denken über die Zeit viel zu eng an die Formulierungen der Astronomen gebunden; wenn wir uns die Zeit nicht als 67

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Rolland 1918/1948: 30. Rolland bezieht sich wohl auf die Passage: „L’idea del ciclo nelle sorti dell’universo, o nelle rinascenti esperienze delle anime, fluttuava del resto in tutta la cultura greca contemporanea. E bene s’accordava con lo spirito estetico dei Greci, che non sa concepire il mondo se non in forme nitide e conchiuse, ugualmente contrario al concetto di un progresso infinito, o di una continuità immutabile della vita, quasi una tragedia imperfetta senza i suoi atti ben segnati, senza l’epilogo, l’esodo e la catarsi finale.“ (Bignone 1916 [TG]: 207). Plutarch möchte sich damit vom Empedokleischen Stil abheben, von Gipfel zu Gipfel, von Hauptthema zu Hauptthema voranzuschreiten. Rolland 1918/1948: 73 A 51. Bignone übersetzt zwar koryphai mit le vette, die Gipfel, aber der Kommentar entwickelt den Gedanken: „Ἑτερος indica che vi sono due serie di argomenti, che si riprendono per compire un ciclo. L’immagine è tolta dalla corona, in cui i ramicelli, con le loro fogliuzze e diramazioni, sono intrecciati ad altri e formano un cerchio [Verweis auf Aischlyos]. Empedocle è il poeta del ciclo cosmico e vuole che ciclica sia la struttura del sua poema [...]“ (Bignone 1929 [TG]: 418, Kommentar zu B 24). Auch die Moderne, deren physikalische und geschichtliche Zeit ein nicht auf sich zurückkommender Zeit-Pfeil ist, kennt spektakuläre Auftritte von Kreisstrukturen. Am berühmtesten dürfte wohl August Kekulés Traum vom Benzolring in Gestalt einer Schlange sein. Leach 1966. Oliver Primavesi, mündlich.

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eine gerade Linie vorstellen, die aus einer unendlichen Vergangenheit bis in eine unendliche Zukunft reicht, dann beschreiben wir sie als einen Kreis oder als einen Zyklus. Dies sind rein geometrische Metaphern; und doch ist nichts eigentlich Geometrisches an der Zeit, wie wir sie tatsächlich erfahren. Im allgemeinen sind nur Mathematiker geneigt, die Wiederkehr als Aspekt der Kreisbewegung aufzufassen.“73 Es sei, so der Ethnosoziologe Edmund Ronald Leach, in-

tuitiv einleuchtender und ethnologisch verbreiteter, „die Zeit als etwas Diskontinuierliches“ zu empfinden, „als ständige Wiederkehr der Umkehr, als Abfolge von Oszillationen zwischen den polaren Gegensätzen: Tag und Nacht, Winter und Sommer, Trockenheit und Überschwemmung, Alter und Jugend, Leben und Tod.“74 Selbst wenn die Astronomie im Denken des Empedokles nicht die erste Stelle einnimmt, könnte Tetraktys und Göttereid eines Tages die Frage motivieren, ob auch andere Mathematikoi unter den Pythagoreern die Zeit in der Geometrie eines kyklos dachten.75

Kreismodelle der zyklischen Zeit zeichnet die Empedoklesforschung erst seit Martin/Primavesis Empédocle de Strasbourg von 1999. Zuvor waren es nur die rotierenden Sphären im Zustand der getrennten Elementmassen, die zur graphischen Repräsentation tendierten.76 Die Systemschließung als geschlossener Kreis eines zeitlichen Ablaufs ist so mächtig, daß Primavesi das für Tetraktys und Göttereid entwickelte „Denkbild“ auch auf die Entwicklungs-Phasen des Wissens von den Phasen anwenden kann.77 Er reduziert die in Veröffentlichungen von 1999, 2001, 2011, 2014 tatsächlich gezeichneten Schemata auf ihren formalen Kern und erläutert daran das Experimentieren mit der TetraktysHypothese.78 Am Anfang des Experiments steht das Diagram der „hälftigen 73

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Leach 1966: 394. Ob die von Leach gemeinten Mathematiker von der neuzeitlichen Trigonometrie, also dem Ablauf von Sinus und Cosinus im „Einheitskreis“ her kommen und damit weit entfernt von der historischen Sphäre des Empedokles sind, bleibt zu fragen. Ebd.: 395. Das habe, so Leach, Konsequenzen für die Zeitvorstellung überhaupt. „In einem derartigen System hat die Vergangenheit in sich keine ‚Tiefe‘; alles Vergangene ist gleich vergangen – es ist einfach das Gegenteil vom Jetzt.“ (ebd.). Zu einer aus der Tetraktys als musikalischer Struktur herkommenden Auffassung der Zeit, vgl. weiter unten: III. Schrift und Zahl der Tetraktys. „Concentric spheres have been thought of by anyone who has tried to draw a diagram of total Strife.“ (O’Brien 1969 [TG]: 146; Referenzen ebd.: A 1). O’Brien selbst zeichnet, um die schwierigen, bei Simplikios überlieferten Verse über die sich trennenden Elementmassen zu erläutern (Fr. 66, 250 – 251), zwei konzentrische Kreise in sein Buch: Der äußere ist beschriftet mit air and fire, der in ihm liegende kleinere mit earth and water (ebd.: 133). „Denkbilder“ ist der Titel einer Folge kurzer Texte Walter Benjamins von 1933. Martin/Primavesi 1999 [TG]: 96; Rashed 2001 [TG]: 248; Mansfeld/Primavesi 2011 [TG]: 399; Rashed 2014 [TG]: 331. – Es könnte für eine am iconic turn orientierte Wissenschaftsgeschichte eines Tages aufschlußreich sein, die formalisierten Diagramme den vier tatsächlich veröffentlichten gegenüber zu stellen. Sämtliche Diagramme sind durch Pfeilsymbole nach rechts oder links ausgerichtet – eben weil die Phasen oder

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Gliederung“ von 2011,79 in dessen zwei umlaufenden Bändern sich 4er- und die 3er-Struktur überlagern. Das Experiment endet mit jener entscheidenden Operation: Überlappung der beiden Bänder im und als Eid, der nicht zuletzt auch graphisch einleuchtenden neuen Auffassung des Worts amoibaios aus Metaphysik B 4, 1000b16 (Fr. 77, vgl. Tetraktys und Göttereid: Abbildung 4).80

II. Abiotische Götter, biotische Dämonen Die strukturelle cohérence interne des Zyklus stellt sich freilich nur darum her, weil sie der von Empedokles gedachten „Prozeß-Logik“ kosmischer, chemischer, biologischer Abläufe folgt.81 Die Tetraktys-Hypothese kann einem Maximum an prozessualen Annahmen des Empedokles über Kosmos, Natur, Lebewesen einen systematischen Ort im Zyklus zuweisen.82 So ist für die Tetraktys-Struktur eine prozessuale Annahme über verschiedene Geschwindigkeiten kosmischer Vorgänge zentral: Verlangsamung während der Liebesherrschaft und Beschleunigung während der Streitherrschaft. In der hälftig gegliederten Struktur aus gleich großen Modulen hatten verschiedene kosmische Geschwindigkeiten, die O‘Brien aus einigen Fragmenten des Empedokles ableitete, keinen Platz.83 Erst verschieden lange Phasen im Maß der Tetraktys beseitigen diese Unstimmigkeit, unter der Annahme: eine Zeiteinheit von 10 chronoi ist schnell und eine Zeiteinheit von 30 chronoi langsam.84

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Welten des increasing strife und increasing love bei Empedokles seit O’Brien eine Richtung haben. Sie stellen – gegen Rolland (vgl. oben) – vektorielle Kreise dar. Trotz einer gewissen Vorherrschaft der diametralen Darstellung in den Anfängen: Monde A und Monde B, règne de l'Amour und règne de la Discorde oder einer Art Sektoreneinteilung (Rashed 2014 [TG]: 331) sind die Schemata nie territorial gedacht. Sie bezeichnen Abläufe, durchlaufene Zeiten und ihre Einteilungen, étapes (zoogonie, mouvement acosmique, haine croissante, amour croissant). Auch setzen alle Schemata einen Anfang. Einmal liegt Dinos oben, Sphairos unten, dann umgekehrt. Mansfeld/Primavesi 2011 [TG]: 399. Vgl. Tetraktys und Göttereid: XV. Die doppelte Tetraktys und der Göttereid. Der Ausdruck „Prozeß-Logik“ in: Einführung Primavesi (Zur Genese). Mit Heidegger gesprochen würden sich die naturphilosophischen Theoreme des Empedokles im „Geviert“ der Tetraktys „versammeln“. Das Geviert, das Heidegger 1959 bei Hölderlin findet, auch wenn Hölderlin die Zahl Vier nie eigens nenne, sondern nur ein „Verhältnis“, versammelt in Himmel, Erde, Sterblichen, Göttlichen das Seiende im Ganzen (vgl. etwa Heidegger 1959/2012: 170). Vgl. Einführung Primavesi (Zur Genese). „Je langsamer die kosmische Bewegung, desto länger die Phasen des kosmischen Zyklus, je schneller die Bewegung, desto kürzer die Phasen.“ (Tetraktys und Göttereid: XIV. Zunahme und Abnahme der Phasenlänge, Schluß). Ob dabei die neuzeitliche

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O’Briens Buch widmet den Geschwindigkeiten des Zyklus schon im generellen Prospekt auf seine Rekonstruktion große Aufmerksamkeit und späterhin ein eigenes Kapitel.85 Er situiert sie auch im Kontext der Naturphilosophien des 5. Jahrhunderts. Wenn der Ilias-Kommentar des byzantinischen Gelehrten Tzetzes im 12. Jahrhundert der Sonne des Empedokles einen zunächst langsameren Gang in „Unordnung und Haltlosigkeit“ zuschreibt (Fr. 79), so steht das nach O‘Brien in der späteren Tradition eines ungeordneten „Sturms der Elemente“ am Anfang der Zeiten, wie sie bei Aristoteles, Platon, Lukrez zu finden ist und sich möglicherweise auf Empedokles zurückschreibt.86 Aus der Lektüre von vier Fragmenten des Empedokles zieht O‘Brien den Schluß: „speed [is] a general feature of Empedocles’ system“.87 Ein Fragment nennt unter den vielen neuen Götternamen auch die zwei Geschwindigkeits-Göttinnen Thoōsa und Dēnaiē, von Mansfeld/Primavesi übersetzt als „Eile und Herumlungern“ (Fr. 14).88 Verschiedene Geschwindigkeiten sind zunächst astronomisch von der Bewegung der Gestirne genommen, kürzeren und längeren Tagen und geologischen Ereignissen. Doch dann hat bei Empedokles, im Unterschied zu anderen vorsokratischen Kosmologien, „the cosmic change of speed […] biological effects“.89 Nach einem Zeugnis des Aetios etwa (Fr. 165)90 ging am Anfang der Zeiten die Sonne viel schneller als heute und ein Tag dauerte so lang wie heute 10 Monate; später wurde dann der Tag so lang wie heute 7 Monate. Nur hat dieses Ereignis in der Welt der Gestirne bei Empedokles ein Gegenstück, eine Art biologischer Erinnerung. Es gibt nämlich heute sowohl Siebenmonats-Kinder als auch Zehnmonats-Kinder: Sie beide wiederholen den alten und den weniger alten Sonnenumlauf, einen Tag und eine Nacht, und darum leben sie beide.91

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Formel v = s/t greifen kann, ist schon darum fraglich, weil dann prozessuale Geschwindigkeiten von Mischungen und Entmischungen – modern: Reaktionsgeschwindigkeiten der Chemie – keinen Platz fänden. Vgl. O’Brien 1969 [TG]: 1; vgl. auch Martin/Primavesi 1999 [TG]: 74 A ; und O’Brien 1969 [TG]: 46–54, Chapter 3: Speed; 55 – 103, Chapter 4: Time; vgl. Tetraktys und Göttereid: XIV. Zunahme und Abnahme der Phasenlänge; und Einführung Primavesi (Zur Genese), A 62. Vgl. O’Brien 1969 [TG]: 268 – 273, Note 4. The Storm of the elements. – Das Wort des Tzetzes atáktōs und ataxía findet sein Gegenwort in Scholium I, wo es heißt: ta d stoicheia … eutaktōs ... kineisthai … . Rashed übersetzt: Les quatre éléments… en bon ordre... se mouvoir… (Rashed 2014 [TG]: 324 und Kommentar). O’Brien 1969 [TG]: 51. Von thoos schnell flink, nach Benseler 1886 auch das schnelle Kommen der Nacht in südlichen Ländern; und von dēnaios lang lebend, dauernd, oder dēn (lat. diem) einen ganzen Tag lang, lange Zeit (Benseler 1886). Ein Zeugnis des Aetios über Empedokles läßt „durch den Schwung des Umlaufes“ der Erde Wasser aus ihr hervorsprudeln (Fr. 82). O’Brien 1969 [TG]: 53 und ebd.: A 2. Vgl. Tetraktys und Göttereid: XIV. Zunahme und Abnahme der Phasenlänge. Ob der Zahl 7 und der Zahl 10 an dieser Stelle eine Bedeutung zukommt, wäre zu un-

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Wo aber die Geschwindigkeit ein bestimmtes Maß überschreitet, wird sie eine Macht der Auflösung, des Streits und tendiert zur „disintegration of animal life“.92 Verschiedene Geschwindigkeiten führen direkt auf eine zweite prozessuale Annahme, die sowohl für das Verständnis der Scholien entscheidend ist „als auch in systematischer Hinsicht“.93 Sie betrifft nicht weniger als die Seinsweise der empedokleischen „Biosphäre“.94 Tetraktys und Göttereid unterscheidet abiotische und biotische Phasen des Zyklus. Diese Differenz ist ein Schlüssel nicht nur der Tetraktys-Hypothese, sondern reicht weit in das Wissen des 19. und 20. Jahrhunderts vom kosmischen Zyklus des Empedokles. Wie alle systematischen Differenzen der Empedokleischen Philosophie hat auch diese einen zeitlichen Index: am Beginn und am Ende der zwei äußersten Phasen des Zyklus von zweimal 10 Zeiteinheiten (Tetraktys und Göttereid: Abbildung 3).95 Empedokles’ Vorstellung vom Übergang aus der letzten biotischen Phase zur ersten abiotischen Phase vor dem Wendepunkt wurde durch den Straßburger Papyrus d und f(ii) genauer sichtbar (= Fr. 87).96 Vor Einsetzen des Abiotischen findet Zerreißung in einzelne Glieder „bei lebendigem Leib“ statt, ganz wie bei der von Empedokles mythisch-geschichtlich gedeuteten Einführung der Schlachtopfer.97 Harpyien treten auf – „Weh mir, daß mich nicht vernichtet hat der unentrinnbare Tag … “ (Fr. 87, 5). Die auseinander gerissenen Glieder sind im Zustand der Zerrissenheit nicht mehr zoo-gonisch und „bringen keine Lebewesen mehr hervor“. Sie sind abiotisch. Der noch weiter gehende Prozeß der Element-Trennung ist sepsis: ein Wort, das in der griechischen Sprache zum ersten Mal bei Empedokles nachgewiesen ist 98 und von Primavesi in diesem Zusammenhang nicht mehr mit „Verwesung“, sondern mit „Zersetzung“

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tersuchen. Immerhin hat der Zyklus der doppelten Tetraktys 7 Phasen und die Tetraktys als Ganze addiert sich zur Zahl 10. O'Brien 1969 [TG]: 53. Tetraktys und Göttereid: VII. Die abiotischen Phasen vor und nach dem Wendepunkt, Schluß. Primavesi gebraucht 2013 einmal den modernen Ausdruck: „Die Entscheidung über diese Deutungsalternative [eines für Lebewesen unbewohnbaren, „unwirtlichen Extremzustands“ der vollkommenen Element-Trennung, pb] ist nicht zuletzt für die Frage wichtig, wann im Lauf der Alternation von Einzigem und Mehrerem mit einer Biosphäre der uns bekannten Art zu rechnen ist […].“ (Primavesi 2013 [TG]: 703). In Tetraktys und Göttereid wird der Begriff Biosphäre nicht gebraucht (vgl. auch weiter unten: Die Zukunft der Zyklen). Detaillierte Darstellung in Tetraktys und Göttereid: IX. Der große Wirbel ( Dinos). Nur zwei bei Porphyrius stehende Verse waren schon vor Entdeckung des Straßburger Papyrus bekannt. Vgl. etwa Fr. 25a und b. Vgl. Tetraktys und Göttereid, Anmerkung 134.

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übersetzt wird.99 Streng unterscheidet Primavesi die biotische Zoogonie mit der ihr zugehörigen Tötung und Schlachtung und schließlich Verwesung von der abiotischen Zersetzung. Die abiotische Phase des Zyklus steht nach Tetraktys und Göttereid unter einem hohen strukturellen Druck: Sie dauert nur kurz, die Geschwindigkeiten in ihr sind die höchsten und sie ist in der Mitte geteilt, in 2 mal 10 chronoi. Die Argumente, die einmal (gegen O‘Brien) dazu führten, der Phase der getrennten Massen überhaupt eine bestimmte Zeit einzuräumen, bleiben ja in Kraft,100 nur sind die ehemals 40 Einheiten jetzt auf 20 verkürzt. Nach wie vor findet in der Mitte dieser Phase und mit einem Mal die Wendung von Streit zu Liebe statt, von 30+20+10 zu 10+20+30 Zeiteinheiten. Wenn der Streit ans Extrem gelangt ist: unüberschreitbar oder zuunterst (anyperbata oder enertata benthe: Fr. 66, 289 f. und Fr. 69, 3 f.), beginnt die Liebe mit den Vorbereitungen für die neuerliche Mischung von Elementen. Erst danach können wieder heterogene, biochemische und biologische Mischungen entstehen. Auch die Feinstruktur der beiden abiotischen Phasen wurde erst durch den Straßburger Papyrus sichtbar (a(ii) 3–17 = Fr. 66, 273–287). Sie folgt nach Primavesi zunächst einem erstaunlichen Gedanken: Alle Prozesse dieser Phasen sind rein ortsgebunden.101 Sie sind also keine Prozesse der biochemischen Mischung und Entmischung. Liebe und Streit sind bei Empedokles nicht nur räumlich ausgedehnt.102 Sie besetzen auch aktiv Orte und verdrängen Dieser abiotische Charakter der Sepsis innerhalb des Zyklus schneidet sie vorderhand von der biologischen Geschichte derselben ab. Die moderne Biologie unterscheidet zwischen Verwesen (mit Sauerstoff) und Verfaulen (ohne Sauerstoff). In beiden Fällen sind Saprobionten am Werk, das sind: Bakterien oder Pilze oder Vielzeller, die sich von verfaulender organischer Materie ernähren, also sapro-troph (von gr. sapros, sēpomai ). Zu Empedokles’ Nachdenken über die biologische Fäulnis in Verdauung, Weingärung oder mütterlicher Vormilch, vgl. Fr. 183, 184 und 182. Die moderne Biochemie unterscheidet darüber hinaus zwischen chemischer Zersetzung und Zerfall: die Polymere von Plastikverbindungen etwa zerfallen in kleinste Partikel, aber zersetzen sich nicht, mit bedeutsamen Konsequenzen für ihre Gegenwart in der Nahrungskette. 100 Vgl. Einführung Primavesi (Zur Genese), Abbildung 1 bis 4; vgl. auch Fr. 69, 14. 101 Vgl. auch Mansfeld/Primavesi 2011 [TG]: 400. Räumlich wäre irreführend: Das Griechische kennt für „Raum“ kein eigenes Wort und spricht nur von topos, dem Ort, oder chora, der Gegend, dem Platz. 102 Nach Fr. 66, 251 hat die Liebe „Länge und Breite“ (vgl. auch Kranz 1949 [TG]: 44; O'Brien 1969 [TG]: 329). Paul Tannery verbindet mit der Ausgedehntheit von Streit und Liebe eine Reflexion über die „Abstraktheit“ als solche der beiden Mächte bei Empedokles (vgl. Tannery 1887/1930: 314 – 316, 318 f.). Die Frage, ob sich Streit und Liebe ineinander verwandeln, beantwortet Tannery mit Nein: „tout s'explique par un simple déplacement dans l'espace.“ (ebd.: 316). Er möchte sogar dem „déplacement périodique des deux milieux matériels“ (das ist: Liebe und Streit) als eigentlicher Kraft 99

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sich gegenseitig aus diesen Orten. Sie sind antagonistisch im Sinne eines kosmischen Antagonismus. Primavesis Zur Genese spricht diesen Ant-agonismus kurz als „Agon“ an und hält damit alle Vorstellungen von Kraft, Widerstand, Trägheit aus der neuzeitlichen Physik fern. Geschwindigkeitsdifferenzen sind auch in den abiotischen Phasen strukturbildend. Vor dem Höhepunkt der Streitherrschaft erhöht der Streit die Geschwindigkeit und in der Phase danach wird sie von der Liebe gedrosselt. Erst wenn die Geschwindigkeit ermäßigt ist, verbinden sich wieder Erde mit Wasser, Wasser mit Luft, Luft mit Feuer zu Vorformen sterblicher Wesen und chemische, biochemische, biologische Prozesse setzen ein.103 Zum ersten Mal im abendlandischen Wissen scheint Empedokles’ Naturphilosophie jenen fundamentalen Unterschied zu eröffnen, der sich bis heute durch das Wissen von der physis zieht: zwischen schnellen physikalischen und langsameren biologischen Prozessen.104 Die Rahmenbedingung der beiden abiotischen Phasen ist eine fundamentale Verwandlung: der vier rhizomata zu vier getrennten Elementmassen.105 Durch das Wirken des Streits entmischen sich die Grundbestandteile und finden unter der Macht von Gleich-zu-Gleich zu homogenen Massen zusammen. Heterogene Elementverbindungen, die allein von der Liebe hergestellt werden, entstehen in den abiotischen Phasen nicht. Denn in hoher Geschwindigkeit rotierend „bewegen sich [die vier homogenen Elementmassen, pb] stur auf ihrer eigenen Bahn“, pheromenai phoras idias (Fr. 88). Sie nehmen schließlich äußere oder innere Orte ein und sind in Schichten, als rotierende Sphären umeinander gelagert. Diese Grundkonstruktion ist bei Plutarch am deutlichsten bezeugt (Fr. 88) und wird in den Versen a(ii) 13 bis 17 des Straßburger Papyrus bestätigt (= Fr. 66b, 283 – 287).106 der Periodizität einen eigenen Status zuerkennen (vgl. ebd.: 318). Das Wort „chemisch“ wird in Tetraktys und Göttereid nur in der Zusammensetzung „chemisch reine Elementmassen“ gebraucht. 2008 ist von „chemischer Zersetzung“ die Rede (Primavesi 2008 [TG]: 38). 2011 wird der Ausdruck „‚Chemische‘ Formeln“ in Anführungszeichen gebraucht (Mansfeld/Primavesi 2011 [TG]: Fr. 97 – 100). 104 Wo die Biologie mit Piko-Sekunden operiert (10 –12), etwa den 3 Piko-Sekunden, innerhalb derer im Photosystem der Purpurbakterien ein Elektron auf das Bakteriochlorophyll a übertragen wird, ist sie Physik und Biochemie. Das 20. Jahrhundert versucht nicht erst seit What is life? (1944) des Physikers Erwin Schrödinger den Unterschied physikalischer und biologischer Prozesse aufzuheben. Trotzdem bleiben Geschwindigkeits-Differenzen und, neuzeitlich, Energie-Differenzen ein Unterscheidungskriterium physikalisch-technischer von biologischen Prozessen (vgl. etwa den Unterschied von technischer Ammoniaksynthese und biologischer Stickstoffixierung, hier weiter unten: V.2 Der N-cycle ). 105 Die ganze Phase von 2 · 20 = 40 Zeiteinheiten trug 2011 die Bezeichnung „4 Massen“ (Mansfeld/Primavesi 2011 [TG]: 399). Jetzt, nachdem die 40er Phase als Ganze wegfiel (vgl. Einführung Primavesi (Genese)), heißen nur die 10 Zeitheinheiten der extremen, reinen Trennung 4 Massen, die vorhergehende Phase Dinos (vgl. Tetraktys und Göttereid: Abbildung 3 ). 106 Vgl. Martin/Primavesi 1999 [TG]: 68 – 75, 88 f., 186 – 189 und 189 – 216. – Nach Plutarch 103

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An der Frage aber, wie radikal sich die rhizomata als Elementmassen trennen, hängt die ganze Frage nach dem Abiotischen in Empedokles’ Philosophie. In der Tradition Panzerbieters, Dümmlers, Bignones, O‘Briens beschrieb Primavesi 2013 die Phase der vier getrennten Elementmassen als „unwirtlichen Extremzustand“,107 von Lebewesen unbewohnbar und unbewohnt. In „geometrisch exakter sphärischer Schichtung“ rasen die vier „chemisch reinen“, getrennten Massen umeinander.108 In dieser geometrischen Welt chemisch reiner Sphären kann es keine Lebewesen geben. Eduard Zeller sprach von einer Phase der „Naturlosigkeit“.109 Primavesis Rekonstruktion des Zyklus am Maß der Tetraktys legt jetzt, anders als 2013, zwischen den Anfang der ersten abiotischen Phase und die radikale Trennung der geschichteten Elementmassen eine Bewegungsform und -phase, in der sich die geometrische Schichtung erst herstellt.110 Auch das wurde durch den Straßburger Papyrus sichtbar:111 In der wirbelnden Bewegung des Dinos (vgl. Tetraktys und Göttereid: Abbildung 3) zersetzen sich die letzten Reste heterogener und biotischer Mischungen.112 Grundsätzliche Zweifel an einer abiotischen Phase extremer Trennung sind es, auf denen a small series of scholars 113 in den 1960er Jahren ein völlig anderes Bild von der Naturphilosophie des Empedokles konstruierte. Jean Bollack, Uvo Hölscher, Friedrich Solmsen identifizierten die vier getrennten Elementmassen mit der sichtbaren, erfahrbaren, benennbaren Vierheit von Sonne und Luft, Land und Meer (oder Regen).114 Die Phase der Trennung wäre dann etwa in liegt hier ein Ursprung der aristotelischen Lehre von der Ortsgebundenheit der Elemente, ihrer lieux naturels: daß jedes Element, schließlich auch jedes schwere und leichte Ding, seinen natürlichen, ihm zukommenden Ort hat. Mit dem Ende dieser, das ganze Mittelalter hindurch gültigen Vorstellung beginne, so die französische Wissensschaftsgeschichte, das neuzeitliche Wissen: la coupure galiléene (vgl. etwa Alexandre Koyré: „Galileo and the Scientific Revolution of the Seventeenth Century“, in: Metaphysics and measurement. Essays in scientific revolution, London 1968, S. 1 – 15, speziell: 6; oder Martin Heidegger 1935–36/1987: 64 – 66). 107 Primavesi 2013 [TG]: 702, und 702 – 704. Primavesi folgt hierin etwa Zeller und O'Brien gegen Solmsen. 108 Ebd.. 109 Zeller/Nestle 1929 [TG]: 971; vgl. Hölscher 1965/1968: 193. 110 „Le point le plus délicat dans la reconstruction du récit cosmologique.“ (Martin/Primavesi 1999 [TG]: 88). 111 a(ii) 13 – 20 = Fr. 66b, 283 – 290 (Primavesi 2008 [TG]: 68 f.). 112 Der dinos nimmt – auch mit Bezug auf Empedokles – in Aristoteles’ De caelo einen breiten Raum ein (vgl. etwa De caelo 295a (= Fr. 89 und 128); auch Scholium H Rashed; und Fr. 66b, 289). 113 O'Brien 1969 [TG]: 159. 114 Sie berufen sich dabei auch auf ältere Autoren wie Paul Tannery (1887) und Hans von Armin (1902). Die von Bollack, Hölscher, Solmsen geführte Debatte entfaltet sich in großer zeitlicher Dichte: Bollack 1957, 1959, 1965, 1969 a [TG] und b [TG], Solmsen

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den Versen beschrieben, die adjektivisch die helle und warme Sonne, die glänzende Luft, den dunklen und kühlen Regen, die dichte und starre Erde beschreiben (Fr. 66b, 309–314),115 also eben die Welt, in der die Lebewesen, auch wir selbst, leben und die schon darum die „gegenwärtige Welt“ ist.116 Die Phase der getrennten Elementmassen würde sinnfällig in die uns bekannte Welt fallen. Im kosmischen Ablauf wäre sie Teil von Weltwerdung. Nach Hölscher ordnet sich bei Empedokles gerade in der Trennung der sphärischen Schichten elementarer Massen der kosmos: Ihre Trennung ist Kosmogonie.117 Daraus freilich folgt, daß sie nie radikal getrennt sind. Denn in der uns erfahrbaren Erde ist Feuer unter der Erdoberfläche (Fr. 150): die Vulkane; in den Wolken ist Feuer (Fr. 149): die Blitze; auch kommt warmes Wasser aus der Erde.118 Wenn sich dagegen die vier rhizomata rein und extrem in vier Elementmassen trennen und, mit Hölderlin, „allgemeine Elemente“ werden,119 hört die wahrnehmbare und bewohnbare Welt auf. Die Phase der Trennung wäre das Ende der uns bekannten Welt, in der „Einzelexistenz“120 oder einzelne Wesen möglich sind. Zum Lauf des Empedokleischen Zyklus gehörte dann auch „Weltuntergang“,121 akosmia.122 Epistemologisch gesehen ist diese Extremphase, schon weil sie von der Erfahrung abgekoppelt ist und nicht in ihr benennbar, ein Theorem: Das mathēma von den vier chemisch reinen Massen. Es erfüllt das Empedokleische Forschungsprogramm, zu wissen, was kein „sterblicher Mann weiß“ (Fr. 66, 256 f.). Der Extremzustand ist nur zu „erschließen“, nicht zu sehen.123 1964/1968 und Hölscher 1965/2001 und 1965/1968. Zur Kritik vgl. O'Brien 1969 [TG]: 159 – 164, 179 – 189, usw.; Primavesi 2013 [TG]: 672 f., 702 – 704, usw.. 115 Vgl. auch Fr. 129, wo von der Sonne die Rede ist, durch die „alles sichtbar wurde, was wir jetzt anschauen“: das wogenreichen Meer, die untere und obere Lufschicht, usw. (Hervorhebung pb). Die Verse Fr. 66b, 309–314 gehören nach Primavesi in den „didaktischen Exkurs“ des Gedichts, der an der gegenwärtigen, erfahrbaren Welt die Theoreme des Lehrers anschaulich macht (vgl. Primavesi 2008 [TG]: 21 – 23, 24 – 45). 116 „Our present world certainly shows large compact aggregates of earth, water, air and fire; it also shows, so to speak between them and particularly here around the centre, a great variety of mixed beings, namely plants, land animals, fishes, birds, perhaps also stones.“ (Solmsen 1964/1968: 277). 117 Vgl. Hölscher 1965/1968: 191 und allgemein: 188 – 194. Hölscher bezieht sich vor allem auf Aristoteles De caelo 295a25–30 und 300b19–23. 118 Vgl. Primavesi 2013 [TG]: 703. Diels/Kranz 31 A 68 bringt ein Zeugnis aus Seneca: Naturales Questiones, Dritte Abhandlung, Abschnitt 24, wo von der Ursache warmer Quellen die Rede ist: „Empedokles war der Meinung, daß es durch das an vielen Stellen im Erdinnern verborgene Feuer warm wird, wenn dieses sich zufällig unter einer Erdschicht befindet, durch die eine Wasserader läuft.“ 119 Friedrich Hölderlin: Griechenland [Dritter Entwurf] (1804/05), Vers 19 und 20, in: Hölderlin MA, Band I: 72 – 77. 120 Zeller/Nestle 1920 [TG]: 971. 121 Hölscher 1965/1968 [TG]: IV. Weltuntergang und doppelte Zoogonie?. 122 Vgl. Martin/Primavesi 1999 [TG]: 88, un état acosmique; auch Rashed spricht vom mouvement acosmique (Rashed 2001 [TG]: 248, Abbildung). 123 Vgl. Fr. 66, 284: „von den Männern zu erschließen“, andrasi t[ekmerasthai]; das

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Um seiner systemischen Geschlossenheit willen kann Tetraktys und Göttereid den dramatischen, wissensgeschichtlichen Hintergrund, auf dem derartige Rekonstruktionen stattfinden, oft nur andeuten.124 So steht in dem mathēma von der abiotischen Trennung der Elementmas-

sen nicht nur das Ganze der Empedokleischen Naturphilosophie zur Entscheidung, sondern auch die „Weltbilder“, innerhalb derer man zu verschiedenen Zeiten die Naturphilosophie des Empedokles rekonstruierte.125 Kürzt man nämlich die abiotischen Phasen des Zyklus und unterstellt in biologischer Absicht dem Empedokles eine nur „biologische Absicht“,126 landet man bei einem völlig anderen Empedokles. Denn was heißt biologisch?

Nach Jean Bollack sind die vier Elementmassen im Zustand ihrer Trennung nicht das Ende, sondern gerade umgekehrt und mit unüberhörbar lamarckistischem Unterton das Milieu oder Element der Lebewesen.127 Die vier Elementmassen „beschützen“ sie.128 „Die Lebewesen sind von den nährenden Elementen umringt“,129 die aus dieser nährenden Funktion nie heraustreten. Das hat für den Kosmos des Empedokles strukturelle Folgen. Liebe und Streit können dann keine zwei Welten hervorbringen und kein zweigestaltes Entstehen der Lebewesen

Verbum des Verses, das auf dem Straßburger Papyrus zerstört ist, wurde von Martin/ Primavesi erschlossen: tekmairomai, ankündigen, vorhersagen, einen Beweis liefern, aus gewissen Zeichen erkennen (zur Begründung vgl. Martin/Primavesi 1999 [TG]: 203 – 206). Vgl. auch Fr. 189: „Das Göttliche, sagt der Dichter aus Akragas, sich nahe zu bringen ist unmöglich, oder es mit unseren Augen zu erreichen oder es mit Händen zu fassen [...]“. 124 Vgl. etwa die Exkurse zu O'Brien (Tetraktys und Göttereid: XV. Die doppelte Tetraktys und der Göttereid ) und natürlich die Auseinandersetzung mit Marwan Rashed. Explizit forschungshistorische Darstellungen Primavesis vgl. etwa Primavesi 2013 [TG] oder Primavesi 2014a [TG], u.a.. 125 In „Die Zeit des Weltbildes“ vom Juni 1938 versucht Martin Heidegger das „Weltbild“ als eine Strategie der neuzeitlichen Wissenschaft zu entziffern (Heidegger 1938/1972). Zur Heideggerschen Theorie des Weltbilds im Rahmen der Physik des 20. Jahrhunderts, vgl. Vagt 2012. 126 Hölscher 1965/1968: 201 – 209, VI. Die biologische Absicht. 127 Paul Tannerys Beitrag zu Empedokles beginnt mit: „I. Les milieux fluides“. Die Milieus sind bei Tannery Streit und Liebe selbst (vgl. Tannery 1887/1930: 313 – 325). Die Milieu-Biologie Jean-Baptiste Chevalier de Lamarcks ist in der französischen Geistesgeschichte tief verwurzelt. Erst im Zeichen der Genetik wird Lamarcks umfassende Naturphilosophie des Milieus auf die Vererbung erworbener Eigenschaften reduziert. (In Frankreich können denn noch Ende der 1950er Jahre lamarckistisch orientierte Biologen Lehrstühle besetzen.) „Element“ heißt dem 19. Jahrhundert Lamarcks und Hegels immer auch das Milieu, die Umgebung, in dem etwas stattfindet. Ein Wesen ist in seinem Element oder nicht (vgl. Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: Fußnote 276). Ob Bollack Heideggers Vorlesung von 1929 über die Umgebung und Welt der Tiere als „Umring“ gehört hat, ist fraglich (vgl. Heidegger 1929–30/1983: etwa 369 – 374). Heideggers Brief über den Humanismus an Jean Beaufret dagegen mußte Bollack kennen. Darin heißt es: „Doch in diesem Wort ‚Umgebung‘ drängt sich alles Rätselhafte des Lebe-Wesens zusammen.“ (Heidegger 1946/1949: 26). 128 Bollack 1959: 672. 129 Ebd..

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(„doppelte Zoogonie“). Schon Paul Tannery (1887) sah bei Empedokles, in O’Briens Worten, nur „a single world from Sphere to Sphere“.130 Damit verändert sich der ganze kosmische

Ablauf. Nach Friedrich Solmsen (1965) beginnt er mit dem Sphairos, in dem die Liebe alles durchdringt. Die Zerreißung des Sphairos durch den Streit leitet die Entstehung des Kosmos ein. Am Beginn der Zerreissung steht ungeordnete Bewegung, mouvement acosmique,131 also jene Bewegung, die Primavesi (mit O‘Brien und anderen) ans Ende der Streitherrschaft, in die erste, jetzt abiotisch genannte Phase legt. Nach Solmsen dagegen mündet die Zerreissung in eine Trennung der vier Elementmassen, aus der die Ordnung, kosmos, von Sonne, Luft, Meer, Land samt aller Gestirne wird (vgl. Fr. 129 – 144): Kosmogonie. In diesen Kosmos tritt nun die Liebe.132 Sie schafft durch Elementverbindungen die Lebewesen unserer gegenwärtigen Welt: Zoogonie. Die Kosmogonie wäre damit Werk des Streits, die Zoogonie Werk der Liebe und die gegenwärtige Welt gehört der aufsteigenden Liebesherrschaft an, die innerhalb des streitgeborenen Kosmos zum Sphairos aufsteigt.133 Das Modell ist intuitiv so einleuchtend wie biosphärisch naheliegend,134 hat aber strukturell einschneidende Folgen. Denn wenn es nur eine Welt gibt, tendiert das Verhältnis von Streit und Liebe dazu, überhaupt nicht mehr in Phasen aufgeteilt zu sein. Das reicht bis in die Übersetzung bestimmter Empedokleischer Fragmente. So übersetzt Uvo Hölscher zu Anfang von Fr. 66b (Vers 234 bis 237): „Von zweierlei Art ist das Werden der Sterblichen“, wo es bei Primavesi heißt: „Doppelt ist die Generation sterblicher Wesen“; was Primavesi übersetzt: die erste und die zweite (Generation), lautet bei Hölscher: einerseits und andererseits; und statt des beständigen Wechsels bei Primavesi steht bei Hölscher: im Austausch verharren sie immerzu. Aus diesem Austausch wird dann der das Einzelwesen konstant erhaltende Stoffwechsel.135

O'Brien: 158. Das ist, was Tannery betrifft, im Einzelnen nicht ganz zutreffend. Seine Theoreme: 1. Es gibt keine völlige Trennung der Elemente (Tannery 1887/1930: 319); 2. es gibt während der Streitherrschaft keine Welt, die der unseren gleicht (ebd.: 318), führen dazu, daß der Streit als ganzer weltlos ist und die Liebe weltbildend (um Heideggers Ausdrücke von 1929 zu entwenden). Der Streit trennt den Sphairos in einem tohu-bohu zufälliger Bewegungen und es gibt unter seiner Herrschaft keine stabilen Gebilde; die Liebe erst erzeugt die stabilen Gebilde unserer Welt, in Wirklichkeit aber ist sie transitoire: nämlich in Richtung auf den absolut homogenen, ruhenden Sphairos hin (vgl. ebd.: 318). 131 Rashed 2001 [TG]: 248, Schema. 132 Das sei, so Solmsen, die Grundsituation von Fr. 69 (vgl. Solmsen 1964/1968: 283). 133 Am Ende steht das Dreiphasen-Modell: Sphairos, Streit, Liebe, das bei Solmsen, im Unterschied zu Bollack und Hölscher durchaus zyklisch ist (vgl. etwa Solmsen: 293). Zur Kritik von Solmsens Ansatz vgl. O'Brien 1969 [TG]: 181 – 189. 134 Vgl. weiter unten: V.2 Der N-cycle, Dritter Versuch. 135 Zum „Stoffwechsel“ vgl. Hölscher 1965/1968: 182, 201, 203, 206; zu Heideggers Dekonstruktion des „Stoff-Wechsels“ vgl. weiter unten: Der N-cycle, Erster Versuch. – Daß der kosmos von Fr. 68, 5 (D/K B26) im Rahmen einer „biologischen Absicht“ des Empedokles nicht das Weltganze ist, sondern das „geordnete Ganze“ des einzelnen Lebewesens: Diesem Gedanken von v. Arnim folgt Hölscher (vgl. von Arnim: 26 f.; Hölscher 1965/1968: 182, 201). Dahinter freilich steht eine Vorstellung des 19. Jahr130

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Am Ende möchte Hölscher die Periodenlehre des Empedokles als ganze abschaffen136 und nimmt ein ewig dauerndes, dialektisches Verhältnis von Liebe und Streit, Werden und Vergehen an. Empedokles’ „biologische Absicht“ bestehe darin, mit philia und neikos die „Simultaneität des Werdens im Vergehen“ zu beschreiben, nicht aber kosmische Perioden oder Phasen.137 Diese Dialektik ist von einer bestimmten biologischen Absicht getragen, die ihre diskursiven Bedingungen hat. Eine etwa ist der Ursprung als solcher. Die biologische Absicht entspringt dem Etablieren von Ursprüngen. Für Hölscher tritt bei Empedokles das mythische Muster auch anderer vorsokratischer Naturphilosophien in Kraft: ein „Urzeitliches“, im dem alles zusammen war, und von dem alles ausgeht.138 Bei Empedokles heiße es Sphairos. Eine andere Quelle ist, ganz nach Foucaultscher Diskursanalyse, die Unerschöpflichkeit dieses Ursprungs. Jean Bollack holt ihn aus einer forcierten Engführung Empedokleischer Fragemente mit Lukrez’ De rerum natura. Im Überfluß, Lukrez: copia, dauere das „fortwährende Widerspiel“ von Liebe und Streit.139 Überfluß sichert die „Weltendinge“.140

Strukturell und in jeder Einzelheit läßt sich Tetraktys und Göttereid gegen die Auffassung der von Hölscher mit Bollack behaupteten „biologischen Absicht“ des Empedokles lesen. Alles entscheidet sich an den abiotischen Phasen der vier getrennten Elementmassen. Denn erst sie machen die entscheidende Periodisierung denkbar – eine Herrschaftsperiode der zunehmenden Liebe und eine zeitlich getrennte Herrschaftsperiode des zunehmenden Streits samt ihrer jeweiligen Erzeugnisse oder Welten.141 Zwischen den Welten müssen zwei Kehren liegen, die eine ist als Wendepunkt bestimmbar (Tetraktys und Göttereid, Abbildungen 1 bis 4), die andere ist eine Umwendung der Prozeßrichtung nach der Ruhezeit des Sphairos. Wenn Tetraktys und Göttereid jetzt diese Perioden sogar im Maß der Tetraktys zahlenmäßig begrenzen kann, stellt die Rekonstruktion den genauen Gegenpol zum grenzenlos überfließenden Werden und Vergehen in „biologischer Absicht“ nach Bollack und Hölscher dar. Der Zyklus hunderts: das Lebewesen ist geordnet, weil es organisiert ist, also ein Organismus. „Aber v. Arnim ist halbem Wege stehengeblieben. Er ist nicht gewahr geworden, daß damit [mit v. Arnims vier Argumenten gegen die vier Phasen, pb] die Grundlage nicht nur für die Vier-Phasen-Theorie, sondern für die Perioden-Theorie überhaupt entzogen ist. Denn das eine zieht das andere nach sich.“ (Hölscher 1965/1969: 201). 137 Und Hölscher ruft Hölderlin an: „[…] (Wie gerne würde man nachweisen, daß Hölderlin diese Verse gelesen hat. ‚Denn wie könnte die Auflösung empfunden werden ohne Vereinigung’[Fn] – schreibt er in Das Werden im Vergehen.)“ (Hölscher 1965/2001: 37; Zitat aus: Hölderlin: Das untergehende Vaterland …, in: Hölderlin MA, Band II: 72 – 77, hier: 72, Z. 29 f.). 138 Vgl. Hölscher 1965/2001: 36. 139 Bollack 1959: 673. 140 Ebd.: 672. 141 Martin/Primavesi sprachen sie als Monde A und Monde B an (Martin/Primavesi 1999: 96, Schema). 136

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selbst hat dabei, auch wenn er jedesmal einen Anfang hat,142 keinen Ursprung. Das zyklische Geschehen trägt sich selbst. Gegen das Bild eines unaufhörlichen Werdens und Vergehens, dessen Herkunft aus dem 19. Jahrhundert offensichtlich ist, setzt Tetraktys und Göttereid und die Tradition der Empedoklesforschung, der es verpflichtet ist, eine dramatische, besser: tragische Abfolge von Perioden.143 In bemessenen Zeiten, in bestimmten Konstellationen und agonalen Verhältnissen ringen die Götter neikos und philia miteinander. Das liegt Hesiod, Aischylos, Sophokles näher als Hegel oder Darwin. Erst die abiotischen Phasen erlauben die Artikulation eines periodisierten Kosmos und seinen strukturellen Reichtum. Sie sind keine Perioden reduzierter Lebenstätigkeit, wie eine Eiszeit. Sie sind vielmehr das Ende aller Lebenstätigkeit überhaupt, samt deren Wiederbeginn. Das ist der gewagte Gedanke des Empedokles, daß die Welt der Lebewesen als solche entsteht und vergeht. Er trägt wissensgeschichtlich fort bis in die neuzeitliche Biologie und könnte unsere erdgeschichtlich besessene Zeit eines Tages ins Herz treffen.144 Vom Großen Anfang aus gedacht145 hängt aber auch die geschichtliche Stellung der Empedokleischen Wissenschaft selbst an der Differenz abiotischer und biotischer Phasen. Denn die vier getrennten, reinen Elementmassen sind für Empedokles vier Götter: Zeus, Hera, Hades (Aidoneus) und Nestis, also Feuer, Luft, Erde und Wasser.146 Diese Götter sind „langdauernd“, dolichaiones (Fr. 66b, 272, 320 ). Ihre Unsterblichkeit mußten sie erst „lernen“ (Fr. 69b, 14) und sie können sie darum auch wieder verlieren, „plötzlich“, aipsa, beim Übergang von der letzten abiotischen zur ersten biotischen Phasen des Zyklus, in der „Doch anders als beim Okeanos lässt sich beim kosmischen Zyklus des Empedokles ein Stadium abgrenzen, das bei jedem neuen Umlauf des Ringstroms den Anfang macht: Die bereits zitierte Feststellung des Empedokles, derzufolge der Flußlauf des kosmischen Zyklus von einem Ausgangspunkt herkommt, bezieht sich klarerweise auf die vier Elementmassen.“ (Tetraktys und Göttereid: III. Der Pythagoreer-Eid und die Empedokleische Physik ). Die Argumentation bezieht sich auf Fr. 67b, 10 f.. 143 Tannery sprach von den „scènes successives du grand drame cosmogonique“ (Tannery 1887/1930: 320). Argumente gegen Hölschers Diktum vom „flachen Unisono des archaischen Philosophen“ (Hölscher 1965/2001: 63) vor allem in: Primavesi 2014a: 14 f., vor allem A 10. 144 Zur Dichotomie des 19. Jahrhunderts von Organisch und Anorganisch in ihrem Verhältnis zum Biotischen und Abiotischen, vgl. weiter unten: V.2 Der N-cycle, Zweiter Versuch. 145 Vgl. Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: III. Götter, A 47. 146 Zu den seit der Antike umstrittenen Zuschreibungen der vier Elemente zu bestimmten Göttern, vgl. Primavesi 2013 [TG]: 709; auch Kittler 2006: 245 f.. 142

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die Verbindung heterogener Elemente wieder sterbliche Wesen hervorbringt mit ihrem „Hin und Her von Werden und Vergehen“ (Primavesi).147 Die Götter des Empedokleischen Zyklus sind also sowohl unsterblich als auch langdauernd. In der abiotischen Phase reiner und getrennter Elementmassen sind sie unsterblich und erreichen ihr volles Sein als Götter. In den biotischen Phasen der Vermischung und Trennung sind sie sterblich wie die Pflanzen, die Tiere, die Männer und Frauen. Am Ende des Zyklus gewinnen sie ihre Unsterblichkeit wieder. Die Götter scheinen unsterbliche und vollkommene Götter, wenn und solang und weil sie abiotisch sind.148 Damit entsteht aus dem Zentrum von Tetraktys und Göttereid die Frage nach den Göttern. Daß Empedokles’ Werk eine dem Epos verpflichtete und dem Aischylos nahe stehende Naturphilosophie ist, die von Göttern aus und mit ihnen denkt, steht außer Zweifel.149 Nicht platonisierte Seelen, sondern Götter tragen in beiden Werken des Empedokles das Geschehen. (In einer anderen historischen Konstellation hatte Friedrich Kittler Geist und Seele, das neuzeitliche Subjekt und Den Menschen verabschiedet, um nur noch von Göttern zu sprechen.)150 Die wirkenden Mächte des kosmischen Geschehens sind Göttin und Gott und haben viele Namen: Liebe (Philia), Aphrodite, Kypris, Lust (Gethosyne), Sehnsucht (Pothos) die eine; Streit (Neikos), Aufstand (Stasis), Groll, usw. der andere.151 Auch finden sich bei Empedokles vergöttlichte Nomina. Am Ende wird der Sphairos selbst, die Elemente im Zustand völliger Vereinigung, als ein Gott angesprochen, ein Fragment nennt ihn Apollo (Fr. 192).152 O'Brien hatte den Übergang von der Liebes- zur Streitherrschaft selbst als „plötzlich“ angesprochen und damit fiel die Phase der chemisch reinen und getrennten Elementmassen überhaupt aus dem Zyklus heraus. 148 Freilich wäre ein entscheidender Einwand gegen diese extremistische Sicht, daß auch der Sphairos ein Gott ist: Er gehört eindeutig der biotischen Phase des Zyklus an. 149 Empedokles hätte, so Primavesi 2013, „sowohl die Subjekte seiner mythischen Erzählung als auch die vier physikalischen Grundstoffe als Götter bestimmt, […] Diese Analogie wurde von der Forschung des 19. Jahrhunderts dadurch systematisch verdeckt, dass die Göttlichkeit der Subjekte auf seiten der empedokleischen Physik wie aufseiten des empedokleischen Mythos nicht ernst genommen wurde.“ (Primavesi 2013 [TG]: 668). Walter Kranz stellte die vielen Götter des Empedokles in einen realhistorischen Zusammenhang: die griechische Kolonie Akragas mit ihren vielen Tempelbauten. „ … jeder der in diesen Tempeln verehrten Götter hatte ja seine im Jahre regelmäßig wiederkehrenden Feste, verlangte seine Opfer, empfing seine Hymnen, Weihgaben und Gebete ...“ (Kranz 1949 [TG]: 15). 150 Vgl. auch im vorliegenden Band Kittlers Schriften. Kittlers Götter. 151 Vgl. Kranz 1949 [TG]: 43; für die vielen Namen der Philia vgl. auch O'Brien 1969 [TG]: 333. 152 Die vergöttlichten Nomina sind im Text der Ausgabe Mansfeld/Primavesi 2011 [TG] durch Großschreibung hervorgehoben (eine Hinzufügung zur Schrift des griechischen Orginals, das nur Majuskeln kennt). Walter Kranz thematisiert die „Bedeutung der 147

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Die „Elementargötter“ des Empedokles sind nicht unwandelbar.153 Sie stehen nicht über dem zyklischen Geschehen, sondern sind in es eingebunden.154 „Sind Götter sterblich?“: Diese erste Frage, die bei Friedrich Kittler ein neues Götterdenken anstieß,155 findet also in Primavesis Empedokles ein unvermutetes Echo. Ihr steht die zweite, nicht weniger grundstürzende zur Seite: „Sind Götter lebendig?“ Diese Frage, die eine lange Geschichte bis zu Hölderlin,156 Walter F. Otto,157 Martin Heidegger158 hat, kehrt bei Primavesi auf Empedokleischem Grund wieder. Zwar werden in einer epischen Formel des Empedokles Bäume und Männer und Frauen, Wild und Vögel, Fische und „Götter, langlebige, an Ehren reichste“ in einem Zug genannt.159 Aber in den biotischen Phasen des Zyklus sind die Elementargötter keine vollen Götter mehr: Sie werden zu daimones.160 Götternamen“ bei Empedokles (Kranz 1949 [TG]: 41), die – wie Ludwig Morenz es in seinem Beitrag für die ägyptischen Götter entwickelt – immer auf dem „innigen Verhältnis“ des mythologischen Gottes „zum Stoff“ beruhe, so daß „Gottes- und Stoffname wechseln“ können (ebd.: 42). Schon bei Homer schafft und ist die Flamme Hephaistos (Ilias XXI, 342; ebd.). Dagegen zitiert Primavesi einmal Walter Burkert, der von „einer wahren Inflation des Göttlichen“ bei Empedokles spricht (Primavesi 2006: 15, A 78, aus: Walter Burkert: Griechische Religion der archaischen und klassischen Epoche, 2. Aufl. 2011, S. 474). 153 Wie etwa in der platonisierenden Überlieferung, die den Sphairos mit dem ewigen kosmos noetos gleichsetzen will (vgl. Primavesi 2013 [TG]: 725 f., Kap. 5.3: Die platonisierende Umdeutung von Göttermythos und Kosmischem Zyklus). Auch sind die Götter nicht epikureisch abgeschieden. 154 Als präfiguierte der Zyklus Hölderlins Natur : „... / Denn sie, sie selbst, die älter denn die Zeiten / Und über die Götter des Abends und Orients ist, / Die Natur ist jetzt mit Waffenklang erwacht, / …“ (Friedrich Hölderlin: Wie wenn am Feiertage ... (1800), Vers 21 – 23, in: Hölderlin MA, Band I: 262; vgl. auch Heidegger 1939/2012: 59). 155 Vgl. Kittler/Vismann 2001. 156 Vgl. etwa die Verse aus Wie wenn am Feiertage …: „Die Allebendigen, die Kräfte der Götter. // Erfrägst Du sie? … “ (dazu auch Heidegger 1939/2012: 65). 157 „Sie [die aorgische, fühllose Natur] ist uns fremd und unnachahmlich. Darum kann das Göttliche, so wie wir es fühlen und nennen, ihr an und für sich nicht angehören.“ (Otto 1937/39: 35). Otto übernimmt hier ganz die dem deutschen Idealismus entstammende Denkweise von Aorgisch und Organisch, die einerseits von Empedokles’ abiotischen Elementarzuständen, wie Primavesi sie entwickelt, und andererseits von dem Anorganischen der modernen Biologie und Chemie zu unterscheiden ist. 158 „Vermutlich ist für uns von allem Seienden, das ist, das Lebe-Wesen am schwersten zu denken, weil es uns einerseits in gewisser Weise am nächsten verwandt und andererseits doch zugleich durch einen Abgrund von unserem ek-sistenten Wesen geschieden ist. Dagegen möchte es scheinen, als sei das Wesen des Göttlichen uns näher als das Befremdende der Lebe-Wesen, näher nämlich in einer Wesensferne, die als Ferne unserem eksistenten Wesen gleichwohl vertrauter ist als die kaum auszudenkende abgründige leibliche Verwandtschaft mit dem Tier.“ (Heidegger 1946/1949: 15). 159 Fr. 66, 270 f. und im sogenannten „didaktischen Exkurs“ Fr. 66, 319 f.; vgl. auch Fr. 21. 160 Das Lexikon des frühgriechischen Epos (Göttingen 1991) bestimmt daimones bei Homer als unerkannt wirkende Götter, meist verbunden mit einem persönlichen Schicksal; bei Hesiod als eine „bes. Gruppe unterhalb der eigentl. Götter, die zw. Götter [sic] u. Menschen vermittelt; überw. pos. Züge“ (Artikel Daimōn; vgl. Primavesi 2006: 4).

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Im Wechsel von göttlichem zu daimonischem, von daimonischem zu göttlichem Sein haben die Empedokleischen Götter am kosmischen Zyklus teil. Und umgekehrt wohnen in Pflanzen, Tieren, Frauen, Männern keine reinen Elementgötter, sondern daimones. Damit ist auch im Horizont der Tetraktys und ihres Göttereids die erwähnte „Empedokleische Frage“ gestellt, auf die so viele Argumentationen Primavesis, hier wie andernorts, zulaufen: Wie hängen die beiden Werke des Empedokles, die Katharmoi und die Physika zusammen? Auch der vorliegende Beitrag ist von der parallelen Konstruktion der beiden Werke getragen,161 die Primavesi seit 2013 als „Spiegelerzählung“ von Physik und Mythos anspricht.162 Beide sind zyklisch angelegt. Die zyklische Struktur der Katharmoi steht tief in pythagoreischen Traditionen.163 Danach muß der Gott Apollo, nachdem er durch Ermordung der Kyklopen Blutschuld auf sich geladen hat, neun Jahre als Hirte bei dem thessalischen König Admetos dienen, dann in die Seele des Troers Euphorbos und anschließend durch viele Menschen wandern bis zur letzten Reinkarnation als Pythagoras. Seelen-Wanderung ist damit nur die, so Primavesis Ausdruck „Infrastruktur“ für die Reinkarnationen des Gottes.164 In Empedokles’ Katharmoi lädt ein Gott, der an der Tafel der Götter teilnimmt, Blutschuld auf sich, wird von der Tafel der Götter verbannt und muß als daimon eine Reihe von Inkarnationen durchlaufen, „junger Mann, junge Frau, Strauch, Vogel, feuriger Fisch“ werden (Fr. 10), bevor er wieder an die Tafel der Götter zurückkehren kann. In Empedokles’ Physika beginnt nach Tetraktys und Göttereid der Zyklus mit den vier abiotischen, reinen Elementmassen alias Göttern, die dann als daimones die biotischen Phasen der entstehenden und vergehenden Lebewesen durchlaufen, im Sphairos alias Apollon zur Ruhe kommen, um dann durch zwei biotische Phasen, in denen Pflanzen, Tiere, Männer und Frauen entstehen, wieder bei den vier reinen Elementmassen alias Elementargöttern anzukommen. Die Götter des Empedokleischen Kosmos, nicht nur seine zeitliche Grundstruktur, sind pythagoreisch.

Vgl. etwa Primavesi 2006: 8 – 13. Vgl. Primavesi 2013 [TG]: 674. Nach dem in der Romanistik kanonischen Buch von Lucien Dällenbach: Le récit spéculaire. Essai sur la mise en abyme, Paris 1977. 163 Vgl. etwa Primavesi 2013 [TG]: 713 – 717. 164 Ebd.: 715. 161 162

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III. Schrift und Zahl der Tetraktys So führt Tetraktys und Göttereid über eine mythisch-physikalische Parallelerzählung aus dem griechischen Sizilien des 5. Jahrhunderts v. Chr. direkt auf die erste Frage des vorliegenden Buches: die nach den Göttern. Ihrer Schrift eröffnet Primavesis Beitrag eine Reihe nicht weniger weit reichender Fragen, ja ganzer Forschungsfelder. Einige liegen in dem Horizont, in dem sich auch Friedrich Kittlers Musik und Mathematik bewegt. Wie kann aus der pythagoreischen Tetraktys mit ihrer musikalischen und mathematischen Herkunft die kosmische Übertragung des Empedokles werden?165 Was ist die Zahl als solche in Empedokles’ Denken, wenn die Tetraktys darin eine so tragende Rolle spielt? Wie fügt sich das von Primavesi neu rekonstruierte System in die pythagoreische Geschichte von „Zahl und Kosmos“166 – vor Philoloas, vor Archytas und vor Platons Umdeutungen? Die Geschichte der pythagoreischen Tetraktys beginnt diesseits graphischer Schriften mit dem Auslegen von Steinchen, genannt psēphoi. Ein Zeugnis über Pythagoras selbst berichtet, wie der Meister einem Schüler an vier in Dreiecksform untereinander gelegten Reihen von 1, 2, 3, 4 Steinchen das Addieren zur Zahl zehn beibringt.167 Die Tetraktys tritt in die Sphäre graphischer Zeichen als die griechische Mathematik sämtliche Übernahmen aus der babylonischen und ägyptischen schon dadurch grundlegend verändert, daß sie Zahlen als Buchstaben des griechischen Alphabets schreibt. Die Tetraktys steht dann geschrieben als: Α Β Γ Δ .168 Operationen auf diesen vier Buchstaben Die Tetraktys wird im ersten Band von Friedrich Kittlers Musik und Mathematik ausführlich behandelt (vgl. Kittler 2006: etwa 220 – 222; 240; 244; und das Kapitel über Philolaos von Kroton: 275 – 289). 166 Mit „Zahl und Kosmos“ ist das letzte Kapitel VI.4 von Burkerts Weisheit und Wissenschaft überschrieben (Burkert 1962a [TG]: 441 – 456). 167 Vgl. Kittler 2006: 220 – 222. „Aus schlichtem Zählen, das wie der Logos Seiendes versammelt, ist rekursiv das Versammeln von Zahlen zur Summe geworden.“ (ebd.: 221). Marwan Rashed hat 2014 dieses Stadium des Nachdenkens über die und mit der Tetraktys stark gemacht, um durch Reihen von „Liebessteinchen“ und „Streitsteinchen“ die Tetraktys – nach Primavesis/Kittlers Anregung – in Empedokles’ Denken einzuführen. Darstellung und Kritik des Ansatzes in Kapitel XIII von Tetraktys und Göttereid. Manche Schriftgeschichten wollen die sogenannten tokens, also Steinchen, die in tönernen Gefässen eine Gruppe von gehandelten Gegenständen oder Tieren (Schafen, Ziegen) bezeichnen, an den Anfang überhaupt der Schrift setzen. 168 „This use of the letters of the alphabet as numerals was orginal with the Greeks; they did not derive form the Phoenicians…“ (Heath 1921: 32). Heath erzählt als Kurzgeschichte (ebd.: 26 – 44), wie die 24 Buchstaben des Vokalalphabets erst durch drei weitere umgedeutete Zeichen auf 3 mal 9 = 27 Zeichen für Einer, Zehner, Hunderter ergänzt werden, um damit bis 999 zu zählen, also Einführung des Stigma (als 6 zwi165

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haben griechisch keine eigenen Zeichen oder Operatoren, sondern Worte: „und“, griechisch kai, für die Addition; für die Multiplikation die Präposition epi:169 tettares epi tettaras, modern: 4 · 4; oder es finden Zahladverbien Verwendung: hapax, dis, tris (einmal, zweimal, dreimal), die ab 4 die Endung -akis tragen: 4 · 4 als tetrakis tettaras. Die wichtigste Operation, die Bildung von Verhältnissen, seien es Vielfache oder echte Brüche, wird als diakritisches Zeichen geschrieben: λβ‘ für neuzeitlich 1/32 oder τ οα‘ für neuzeitlich 10/71.170 Was die Datierung der pythagoreischen Tetraktys angeht, folgt aus Primavesis Forschungen ihr hohes Alter.171 Zwar fällt die Berufungsinstanz, aus der man es ableiten wollte: der pythagoreische Eid,172 nun weg, wenn der Eid Empedokleisch induziert ist. Aber Empedokles’ „Gebrauch“ der Tetraktys legt nahe, daß sie schon vor ihm und um ihn herum eine allgemeinere Bedeutung hatte.173 Die doppelte Tetraktys des Empedokleischen Zyklus ist „ein Seitenzweig“ einer allgemeineren Geschichte der Tetraktys. Deren „Ausgangspunkt“, so Primavesi, sei in der Musikmathematik der Pythagoreer zu suchen, wie sie seit Hippasos von Metapont nachweisbar ist (um 500 v. Chr.).174 Schließlich werden im älteren pythagoreischen Denken die Zahlen der Tetraktys, so der Schlußschen ε 5 und ζ 7), des Koppa (als 90 zwischen π 80 und ρ 100) und des Sampi (als 900 nach ω 800). 1000nder und 10000nder Zahlen, wie sie etwa in den Scholien zu Empedokles Verwendung finden, werden durch Beistrich links unten markiert. Seit, so Heath, „Imperial times“ werden vor allem in der Kursivschrift Zahlen von Buchstaben durch einen horizontalen Oberstrich unterschieden. Je nach Schule wird die Herausbildung des numerical alphabets entweder um 700 in Milet angesetzt oder zwischen 550 und 425 in Karien. Die Überlegenheit dieses zeichenökonomischen, Platz sparenden und schon darum für Münzen verwendbaren Zahlensystems über die wie das römische Ziffernsystem funktionierenden Herodianischen Zeichen (für die Zahl 849 braucht es dabei 13, in der alphabetischen Schreibweise ganze 3 Zeichen), versuchte Paul Tannery auch durch ein Selbstexperiment zu erweisen: Er rechnete Archimedes’ Abhandlung über den Kreis, kyklou metresis, im numerical alphabet durch (vgl. ebd.: 38; mit Verweis auf Paul Tannery: Mémoires Scientifiques, Band I: 200 f.). Die Nachteile des Alphabetsystems: mangelnde Ableitbarkeit und der Zwang, 27 verschiedene Zeichen für Zahlen auswendig lernen zu müssen, pariert Heath mit dem schrift- und zahlentheoretischen Argument, daß wir im Kopf ohnehin nicht mit Ziffern, sondern mit Worten für Zahlen rechnen (vgl. ebd.: 39). 169 epi mit Akkusativ: Bezeichnung eines Zieles: auf, nach, zu, bis, bis zu bis an; vom Raum auch: über – hin, durch – hin; kausal: Angabe des Zwecks (Benseler 1886). 170 Ob erst seit Heron Verhältnisse so geschrieben werden, läßt Heath im Unklaren (vgl. Heath 1921: 41 – 45). 171 Vgl. den Schluß von Tetraktys und Göttereid : XVI. Ergebnis. 172 So etwa Delatte 1915 [TG]: 249 – 253. „En tout cas, la valeur et l'époche des sources […] nous permettent de rapporter la formule du serment à l'ancien pythagoreisme.“ (ebd.: 253). 173 Vgl. hier weiter oben: I. Schließung. 174 Vgl. den Schluß von Tetraktys und Göttereid: XVI. Ergebnis.

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satz von Tetraktys und Göttereid, „als eine Art Weltformel betrachtet“. In der Formulierung Johannes Lohmanns: „Die Tetraktys ist der Weltprozeß seiner Form nach, zugleich mit seiner ‚Reproduktion‘ im ‚Denken‘ (noein) und so auch in der Gestalt der Reproduktion oder Produktion ‚musikalischer‘ Strukturen.“ 175 Aber auf welche Weise diese allgemeinere musikalische und mathematische Welt-Geschichte der pythagoreischen Tetraktys auch der Hintergrund für die temporal-kosmische Übertragung des Empedokles ist oder sie sogar motiviert, diese Frage wird erst durch Primavesis vorliegenden Beitrag ermöglicht. Wenn Empedokles, so Primavesis Nachweis, als Pythagoreer anzusprechen ist und mit den Pythagoreern Unteritaliens Umgang pflegte,176 ist diese Frage wohl begründet. Sie wird immer wieder auf Theoreme und Positionen führen, die auch Friedrich Kittlers Musik und Mathematik bewegen. Am Anfang stünde das alte, aristotelische Problem: „Was sind und was sollen die Zahlen“ im Denken der frühen Pythagoreer?177 Oliver Primavesi hat 2014 in einer argumentativen Feinanalyse der berühmten Stelle über die „sogennannten Pythagoreer“ in Aristoteles’ Metaphysik einige Grundmomente altpythagoreischer Zahlenauffassung herausgearbeitet.178 Weil auch die Geschichte des frühen Pythagoreismus ein Stück konjekturaler Wissenschaft ist und ihrer platonischen Überformung entrissen werden muß,179 adressiert Primavesi Aristoteles hier weniger als Philosophen denn als Historiker des Pythagoreismus. Aristoteles hat ein Buch über die Pythagoreer geschrieben,180 das uns nicht erhalten ist, aber dem spätantiken Aristoteles-Kommentator Alexander Aphrodisias um 200 n. Chr. noch vorlag. Aus dem Kommentar des Alexander läßt sich ein Stück frühpythagoreischer Zahlenauffassung, „archaic Pythagorean arithmology“, rekonstruieren. Lohmann 1959/1970: 74. Walther Kranz’ synthetisierender, imaginativer Blick hat 1912 gesehen: „Es kann kein Zweifel sein, daß der vornehme, reiche Empedokles übers Meer zu den Eleaten gefahren ist, und wie er als reifer Mann in Thurioi mit Herodot und Protagoras, in andern Küstenstädten Unteritaliens mit Pythagoreern Zwiesprache gehalten haben wird, so hat der Jüngling mit Zenon zusammen den Worten des Parmenides gelauscht, der seinen Gedanken Form und Inhalt gab.“ (Kranz 1912: 18, Hervorhebung pb). 177 Richard Dedekinds Schrift „Was sind und was sollen die Zahlen?“ von 1887 stellt seine Ableitung der Irrationalen Zahlen aus Intervallschachtelung dar. 178 Metaphysik A 4, 985b23 – 986a3. 179 Sehr bald nach Platon wird „das platonische System [.] in allen seinen Teilen als Pythagoreismus ausgegeben“, wie Walter Burkerts Buch es formuliert (Burkert 1962a [TG]: 62), jene „Goldader für die Geschichte des frühen Pythagoreismus“ (Primavesi, mündlich). 180 „Von hier aus wird wieder das Zeugnis des Aristoteles besonders wichtig, hat er doch offenbar in der verlorenen Pythagoreerschrift vor allem Material zusammengetragen, ohne es deutend seinem eigenen System zu adaptieren." (Burkert 1962a [TG]: 97). 175 176

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Was in den pythagoreischen Akusmata an der Zahl dike (Gerechtigkeit), kairos (der rechte Augenblick), gamos (Hochzeit) ist, hängt an der inneren Struktur, den structual features, aristotelisch: pathē, einer Zahl: aus der ersten geraden und ersten ungeraden Zahl addiert zu sein (zwei plus drei gleich fünf) oder wie die Zahl 7 kein Produkt (4, 6, 8, 9, 10) aus Faktoren (2, 3, 5) im Zahlenraum bis zehn zu sein. Wenn die Multiplikation dann metaphorisch auf „bringing forth of offspring“ und „copulation“ übertragen wird,181 ist die Zahl 7 Jungfrau wie Athene. Wo Aristoteles aber von den pythagoreischen Zahlen als „structural features and ratios of attunements“, von harmoniōn also, schreibt, verweist Alexanders Kommentar auf die musikalischen Harmonien Oktav, Quint, Quart, die in den Zahlenverhältnissen sind: die Oktave in 2/1 (en diplasiō), die Quint in 3/2 (en hemioliō), die Quart in 4/3 (en epitritō).182 Die Zahlen der Pythagoreer sind, das macht Primavesi aus Alexander von Aphrodisias deutlich, für Aristoteles trotz all seiner enigmatic identity statements über Zahlen und Dinge (Met. A 987a19), operative middle terms.183 Zahlen sind Terme von Operationen und sind Strukturen, aber keine „Symbolzahlen“.184 Primavesis Argumentation von 2014 läuft auf eine systematische und historische Grenze zu. Sie trägt, anders als bei Aristoteles, einen Namen: Der pythagoreische Musikmathematiker Philolaos von Kroton „introduces some quite new material“ in die altpythagoreische Lehre von den Strukturzahlen.185 Aristoteles nennt die Elemente, aus denen die sogenannten Pythagoreer die Zahlen aufgebaut sahen: „Als Elemente (stoicheia) der Zahl aber betrachten sie das Gerade und das Ungerade, von denen das eine begrenzt sei, das andere unbegrenzt ...“ (Metaphysik A 5, 986a17–19). Damit mündet Aristoteles’ Darstellung direkt in die Lehre des Philolaos.186 Primavesi unterscheidet sie, immer noch unter Berufung auf Aristoteles, von der altphythagoreischen Auffassung. Es sei geradezu Aristoteles’ Problem, in der Passage über die sogenannten Pythagoreer einen Übergang von der „archaischen pythagoreischen Zahlenlehre“ zu „Philolaos’ Theorie der Prinzipien“ zu finden.187 Man müsse davon ausgehen, daß dem Primavesi 2014b [TG]: 242. Vgl. ebd.: 245. Diplasios: doppelt, hemiolios: die Hälfte und das Ganze, epitritos: ein Ganzes und ein Drittel (in der Metrik auch eine Kürze und drei Längen, also 7 chronoi protoi). Damit sind, so Primavesi, bei Aristoteles und Alexander Aphrodisias die Intervalle in den Zahlen und nicht umgekehrt die Zahlen in den Intervallen (vgl. ebd.: 246). 183 Ebd.: 247. 184 Das Kapitel Zahl und Kosmos bei Burkert läuft auf diesen Begriff der „Symbolzahl“ zu (vgl. Burkert 1962a [TG]: 441 – 456; besonders: 448). 185 Primavesi 2014b [TG]: 249. 186 Vgl. nach Mansfeld/Primavesi 2011 [TG], Kapitel 3: Pythagoras, ältere Pythagoreer (ebd.: 122 – 205): Fr. 25 (D/K 44 A 1, B 1), Fr. 35 (D/K 44 B 5), Fr. 27 (D/K 44 B 6). 187 Aristoteles thematisiere „a transition from archaic Pythagorean arithmology to Philolaus’ theory of principles“ (Primavesi 2014b [TG]: 248). 181 182

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Aristoteles außer Philoloas’ Buch auch andere Quellen über die pythagoreische Zahlenlehre vorlagen, die nicht aus Philolaos stammen.188 Was damit möglich wird, ist eine erste Bestimmung der historischen Lage, in der ein Pythagoreer namens Empedokles die pythagoreische Tetraktys aufgreift: Er steht genau auf der Schwelle eines älteren zu einem jüngeren Pythagoreismus. Wenn Empedokles im Jahr 430 im Alter von 65 Jahren starb und Philolaos im Jahr 470 geboren wurde, dann war der Jüngere beim Tod des Älteren 40 Jahre alt. Von der Tetraktys ist in Primavesis Aristoteles-Analyse von 2014 noch nicht explizit die Rede, auch wenn sie der Zahl und Sache nach von Alexander Aphrodisias in den Harmonien 2:1, 3:2, 4:3 genannt wird. Doch hat es nicht an Versuchen gefehlt, die Frage nach der Zahl im frühen pythagoreischen Denken gerade von der Tetraktys aus zu stellen. Wenn die Tetraktys für die pythagoreische Zahlenauffassung überhaupt zentral ist, dann muß auch ihr Gebrauch in der Naturphilosophie des Empedokles auf irgendeine, noch unklare Weise mit dieser Auffassung verbunden sein. Die erste und bislang einzige Monographie über die Geschichte der Tetraktys: Paul Kucharskis „Étude sur la doctrine pythagoricienne de la tétrade“ von 1952 geht, wie Primavesi, von ihrem hohen Alter aus.189 Wo die Tetraktys auftaucht, müsse prinzipiell von einer pythagoreischen Tradition vor Platon ausgegangen werden (von Philolaos ist nicht die Rede). Das systematische Argument Kucharskis aber führt einen Aspekt ein, der sehr weit reicht: Die Zahlen der Tetraktys müßten als eine generative Struktur begriffen werden. Es ist nach Kucharski die pythagoreische Grunderfahrung mit den Zahlen, daß sich aus Zahlen andere Zahlen generieren lassen. Die Matrix dieser frühpythagoreischen „conception génétique des nombres“ sei die Tetraktys.190 Wie erwähnt kann Primavesi die Primavesis kriminalistischer Geist adressiert auch diese Konjektur schließlich namentlich: Die „Erklärungen Pythagoreischer Symbola“ des Anaximander von Milet dem Jüngeren (nach Suda um 400 v. Chr.) (ebd.: 249; vgl. auch Burkert 1962a [TG]: 97 A 64). 189 Vgl. Kucharski 1952 [TG]. Zur Tetraktys als solcher siehe Tetraktys und Göttereid: II. ‚Teleauges‘ und die Tetraktys, Schluß. Paul Kucharskis Monographie von 1952, ergänzt 1955 (Aux frontières du platonisme et du pythagoreisme), steht in der Nachfolge Armand Delattes (La tétractys pythagoricienne, Kapitel VIII von Études sur la littérature pythagoricienne, 1915). Hermann Koller hat 1955 (Stoicheion) und 1959 (Harmonie und Tetraktys) die Frage aufgenommen, Johannes Lohmann sie seit 1956/57 (Musiké und Logos), 1959 (Der Ursprung der Musik) bis in die 60er Jahre in zahlreichen Beiträgen weiterentwickelt. Oskar Becker versetzte sie 1957 in griechische Mathematikgeschichte (Frühgriechische Mathematik und Musiklehre). Daß gerade in den 1950er Jahren die Frage nach der phythagoreischen Zahlenauffassung so virulent wird, mag nicht zuletzt dem anbrechenden Zeitalter der Kybernetik geschuldet sein. 190 Kucharski 1952 [TG]: 64. Kucharski selbst gebraucht das naheliegende Wort Matrix 188

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von Johannes Lohmann vorgeschlagene Wortbildung von Tetraktys genau belegen: als Substantivbildung aus „tetrazomai ‚mit der Tetraktys operieren‘ “.191 Zwar übergeht Kucharskis Monographie die Operativität selbst des Generierens: Addieren und Multiplizieren, Subtrahieren und Dividieren.192 Trotzdem macht seine – mit Aristoteles und Foucault – klingende Frage nach „les nombres et les choses“ im frühen Pythagoreismus193 einen systemischen Übergang: von Gerechtigkeit, Hochzeit, günstiger Zeit pythagoreischer akusmata zu den Dingen der mathēmata: erstens geometrischen Dingen, zweitens den Zahlen selbst und drittens musikalischen Dingen oder Harmonien.194 Erstens also sehen nach Kucharski die frühen Pythagoreer in geometrischen Dingen195 die Zahlen am Werk: Sie sind Agenten (agents) mit einer Art „force «réalisatrice»“.196 Zwischen Zahlen und geometrischen Dingen bestehe sinnfällig „une connexion génétique“: 197 von den in Rechtecken und Quadraten gelegten psēphoi 198 über die ganzen Zahlen der Ecken, Kanten, Flächen, gleichen für seine Konzeption der Tetraktys nicht. Neuzeitlich stammt die „Matrizen-Rechnung“ (seit der Mitte des 19. Jahrhunderts) von der Lösung linearer Gleichungssysteme. Sie basiert auf der Schrift von Zeilen und Spalten. Matrizen sind heute ein wichtiges Instrument der Computer-Mathematik, vor allem der Computer-Graphik. 191 Lohmann 1959/1970: 74, A 1; vgl. Einführung Primavesi (Zur Genese). Zur Wortgeschichte von Tetraktys vgl. auch Delatte 1915 [TG]: 253 – 255. Französisch „la tétrade“ scheint das Problem so sehr zu umgehen, daß Micro Robert vor lauter Bedeutungen aus Botanik, Genetik, Medizin („TÉTRADE (…) Groupe des quatre éléments.“) die pythagoreische gar nicht erwähnt und Jean Bollack das erste Kapitel seines dreibändigen Empedokles-Buches mit „La Tétrade“ überschreiben kann, ohne die Tetraktys auch nur zu nennen. Die Kittlersche Übersetzung „Vierung“ (vgl. Kittler 2006: 244; und Einführung Primavesi (Zur Genese)), dürfte weniger auf den Terminus aus der christlichen Architektur gehen als auf eine substantivierte Tätigkeit, also die Annahme eines Verbums „vieren“. Das Wort Vierung schlägt auch eine Brücke zu Heideggers Geviert, in dem eine Versammlung der Vier gedacht ist (wie Gewölk, Gebirg, Gestell, Gesang, usw.). 192 „Die Tetraktys und das in ihr gründende alt-pythagoreische Weltbild sind neuerdings in Untersuchungen von P. Kucharski […] und vorher schon von Boyancé und Delatte weitgehend ‚rehabilitiert‘ worden (es fehlt hier nur noch die Erkenntnis, daß die Tetraktys eine O p e r a t i o n ist), ...“ (Lohmann 1959/1970: 75). 193 „... les anciens Pythagoriciens concevaient la relation entre les nombres et les représentations géométriques, ou généralement, entre les nombres et les choses et dont il faut tenir compte si l'on veut comprendre le sens profond de la doctrine de la tétractys.“ (Kucharski 1952 [TG]: 24, Hervorhebung pb). 194 Die Astronomie fällt aus. Zur Bestimmung von mathēmata und akusmata vgl. auch Primavesi 2014b [TG]: 229 f. und 249; Burkert 1962a [Lit. OP]: 187 ff.; Kittler 2006: 233 – 243. 195 Geometrische Dinge liegen als geometrisierte Dinge seit dem geometrischen Stil und dem Tempelbau des 8. Jahrhunderts vor Augen. 196 Kucharski 1952 [TG]: 20. 197 Ebd.: 22. 198 Vgl. etwa Kittler 2006: 276.

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und ungleichen Winkel in Dreiecken199 bis hin zu den so genannten „Dimensionszahlen“, deren prekäre Überlieferung und Sache in Aristoteles’ De Anima (A 2: 404b17–27) eine ganze Literatur hervorgebracht hat. Die Passage ist ein zentraler Ausgangspunkt für Kucharskis Geschichte der Tetraktys. Nach einem Zitat aus Empedokles’ Peri physeōs über das Erkennen des Gleichen durch Gleiches (Fr. 121b) entwirft Aristoteles, was man in rein neuzeitlichen Begriffen als „Dimensionenfolge“ oder „Dimensionsgefüge“ angesprochen hat: 1, 2, 3, 4 als Punkt, Linie, Fläche, Körper.200 Im Unterschied zur Tradition vor und nach ihm führt Kucharski diese Folge aber nicht auf Platons Ideenzahlen aus dem Timaios zurück,201 sondern auf die Tetraktys. Sie stehe im Hintergrund jener immer wieder kommentierten Aristoteles-Stelle. Kucharski möchte daraus erstens auf vorplatonische Quellen des Aristoteles schließen, zweitens auf das hohe Alter der Tetraktys und drittens auf ihre von Anfang an kosmische Funktion.202 Aus nacharistotelischen Quellen, etwa Speusipps „Über die pythagoreischen Zahlen“,203 zeigt er, wie in dem von ihm angenommenen frühpythagoreischen Denken der Dimensionen das Einfache das Zusammengesetzte generiere: der Punkt die Linie, die Linie die Ebene, die Ebene den Körper. Generieren heißt

Die Berufung kann hier freilich – gegen die Argumentation im Ganzen – auch bei Kucharski nur auf Platons Timaios gehen (Kucharski 1952 [TG]: 25 und 55 – 61). In der Neuzeit wird Leonard Euler aus den ganzen Zahlen von Ecken, Kanten, Flächen dreidimensionaler geometrischer Körper die Anfänge einer eigenen Wissenschaft machen: der Graphentheorie. 200 Dimensionenfolge: Gaiser 1962/1968: 46; Dimensionsgefüge: ebd.: 122; Dimensionszusammenhang: ebd.: 52. Sehr anders als nach Einführung der den Griechen unbekannten Null und Descartes’ analytischer Geometrie ist hier der Punkt alias das Eine die 1, die Linie alias die Länge die 2, die Fläche alias die Breite die 3, der Raum alias die Tiefe die 4, also die cartesische dritte Dimension. 201 Vgl. etwa den schärfsten Kritiker Kucharskis: Henri DominiqueSaffrey (Saffrey 1955; ihm folgend auch Burkert 1962a [TG]: 24 A 58). 202 Die Beweislage bei Kucharski ist freilich prekär. Aufgrund von Widersprüchen zu Platon in den Texten Speusipps, Theons von Smyrna, der Metaphysik des Aristoteles, die das Theorem überliefern, folgert Kucharski: Es müssen Aristoteles und den Doxographen andere, vorplatonische Quellen vorgelegen haben und von dort aus wird direkt auf altpythagoreische Lehre geschlossen. Konrad Gaisers Einspruch: „Die Abhandlung von P. KUCHARSKI […] trägt zur Unterscheidung des pythagoreischen und platonischen Lehrguts nichts bei.“ (Gaiser 1962/1968: 361, A 88, vgl. auch 417, A 263). Gaiser, der darin nicht Hermann Koller und Johannes Lohmann und ihrer zustimmenden Aufnahme Kucharskis folgt, sondern Henri D. Saffrey und Walter Burkert, wird seinen Einspruch an anderer Stelle relativieren: „ ... freilich läßt sich nicht ausschließen, daß die Reihe der Raumdimensionen schon einen Aspekt der vorplatonischen ‚Tetraktys‘ darstellt … “, auch wenn die Pythagoreer Zahlen und Raumformen nicht so klar voneinander unterschieden hätten. „Ihre Zahlen scheinen Ausdehnung zu haben […] und waren also von den konkreten Dingen nicht grundsätzlich getrennt.“ (ebd.:417 f., A 263). 203 Speusippos, der Platon-Nachfolger, firmiert bei Diels/Kranz unter Philolaos (vgl. D/K 44 A 13, S. 399 – 402, überliefert in den Theologoumena arithmeticae). Schon Paul Tannery deutet in extenso diese Passage des Speusippos (Tannery 1887: 400 – 404). Kucharski zeigt Ähnliches später an Texten des Theon von Smyrna und des Aetios. 199

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hier Addieren oder Zusammenfügen: von Punkten zur Linie, von Linien zur Fläche, von Flächen zu Körpern .204

Zweitens können auch die Zahlen selbst der Tetraktys durch Addition, Subtraktion, Multiplikation und Verhältnis-Bildung andere Zahlen hervorbringen. Speusipp etwa handelt über die Zahl 10,205 die nicht nur alle Arten von Verhältnissen beinhalte, sondern auch lineare (grammikoi ), ebene (epipedoi ), räumliche (stereoi ) Zahlen, aus denen dann Punkt, Linie, Fläche, Pyramide als 1, 2, 3, 4 hervorgehen.206 Auf diese Weise seien die ersten vier Zahlen analogiōn de protē, „die erste der Analogien“. Paul Tannery übersetzte 1887 analogia als „la proportion (en général géometrique) entre trois ou quatre termes“ und an einer anderen Stelle bei Speusipp als: „progression par difference“.207 Die Tetraktys ist dann „la première des progressions, celle par égalité des differences, et cette progression a pour somme totale le nombre 10.“ 208 Drittens aber sind es die musikalischen Dinge und ihre mathematische Theorie, die im Zeichen der Tetraktys einen Zusammenhang von les nombres et les choses stiften, der, auch wenn bei Kucharski selbst die Musik stiefmütterlich behandelt ist, generativ zu nennen wäre.209 Der Pythagoreer Hippasos von Metapont (um 500), nach Walter Burkert „der älteste, faßbare Pythagoreer, der Vgl. Kucharski 1952 [TG]: 57. Das „Generieren“ folgt damit weder dem sich bewegenden Punkt (fluens) des Archytas noch jenem Wissen, das, arabisch vermittelt, erst die unendliche generierende Bewegung in die Mathematik einführen wird: der Trigonometrie (vgl. etwa Anton von Braunmühls Vorlesungen über Geschichte der Trigonometrie von 1900, einem Lieblingsbuch Friedrich Kittlers). Die Frage ist freilich, wie sehr sich im ganzen Diskurs über Dimensionszahlen in der griechischen Mathematik nicht nur ein weiteres Mal das 20. Jahrhundert selbst denkt. David Hilbert eröffnete 1900 dieses Jahrhundert mit seiner axiomatischen, am Alphabet orientierten Grundlegung der Geometrie: „E r k l ä r u n g . Wir denken drei verschiedene Syteme von Dingen: die Dinge des e r s t e n Systems nennen wir Punkte und bezeichnen sie mit A, B, C, …; die Dinge des z w e i t e n Systems nennen wir Geraden und bezeichnen sie mit a, b, c, …; die Dinge des d r i t t e n Systems nennen wir Ebenen und bezeichnen sie mit α, β, γ, …; die Punkte und Geraden heißen die Elemente der ebenen Geometrie, und die Punkte, Geraden und Ebenen heißen die Elemente der räumlichen Geometrie oder des Raumes.“ (Hilbert 1900/1956: 2). 205 D/K 44 A 13, S. 401, Z 16 – 2. 206 Tannery 1887/1930: 401; Kucharski 1952 [TG]: 20 – 24. 207 Tannery 1887/1930: 387, A 2. 208 Ebd.: 401. Die progression par difference oder arithmetische Reihe (im Unterschied zur geometrischen) berechnet sich neuzeitlich nach der Formel: a, a+r, a+2r, …, a+(n–1)r (r ist die konstante Differenz zwischen den Gliedern der Reihe); ihre Summe als: an + n·(n–1)·r/2 . Das macht für a=1 und r=1 und n=4 : 1·4 + (4·(4–1)·1) / 2 = 4 + 6 = 10. 209 Schon früh hat man die pythagoreische Musiklehre als den Anfang der allgemeinen Geschichte der Tetraktys gesehen, vgl. etwa Delatte 1915 [TG]: 257. 204

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sich intensiv mit Musiktheorie und Mathematischem befaßt hat“,210 habe mit vier Metallscheiben von der Dicke 1, 2, 3, 4 die Harmonien zum ersten Mal in re gezeigt.211 Alexander Aphrodisias schreibt, wie Primavesi zeigt, die Harmonien oder symphonen Intervalle Oktav, Quint, Quart (dia pasōn, dia pente, dia tessarōn) als Verhältnisse von Zahlen (en displasiō, en hemioliō, en epitritō).212 Ab wann genau auf den Zahlen der Tetraktys über die Addition hinaus operiert wurde oder gar Folgen von Operationen durchgeführt wurden, ist für die Zeit vor Philolaos textuell schwer belegbar. Denn erst und allein die Fragmente des Philolaos von Kroton haben, so Burkert, „Anspruch, als Orginaldokumente des vorplatonischen philosophischen Pythagoreismus zu gelten“.213 Aber in ihnen, die zeitlich so nahe zu Empedokles liegen, sind die Zahlen der Tetraktys bereits eine operative Struktur zur Beschreibung musikalischer Verhältnisse geworden. Es ist die Musikmathematik, in der sich, nachweisbar seit Philoloas, die Tetraktys als potentiell offene Struktur einer Abfolge von Operationen und Harmonien entfaltet. Hier hat sie ihre spektakulärste Zukunft – von Philoloas über Archytas von Tarent bis zum Aristoteles-Schüler und Musiktheoretiker Aristoxenos von Tarent (360 bis 300 v. Chr.).214 Mit Primavesis Entdeckung stellt sich die brisante Frage, ob die Tetraktys des Empedokles die kosmische, auch chemische und biologische Übertragung eines musiktheoretischen Dispositivs im pythagoreischen Denken des 5. Jahrhunderts v. Chr. ist? Die Tetraktys als musiktheoretisches Dispositiv nimmt in dem berühmten, in Johannes Stoibaios’ Anthologie aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. überlieferten Fragment D/K B 6 des Philolaos (Fr. 27) schärfere Konturen an: die vier Zahlen 1, 2, 3, 4 der Tetraktys, die im Fragment als solche nicht beim Namen genannt ist, werden zu Oktave 2/1, Quinte 3/2 und Quarte 4/3.215 Die Tetraktys ist dann eine Versammlung von Verhältnissen geworden.216 Als solche eröffnet sie Operationsfolgen, in denen ihre Zahlen Elemente von Gleichungen werden,

Burkert 1962a [TG]: 200. Hippasos habe „auch naturphilosophische Aussagen gemacht“ (ebd.). 211 Vgl. Tetraktys und Göttereid: II. ‚Teleauges‘ und die Tetraktys, Schluß; zu den Scheiben und Hippasos’ Folgerungen vgl. Burkert 1962a [TG]: 355 f.. 212 Primavesi 2014b [TG]: 245. 213 Burkert 1962a [TG]: 202. 214 Ein Schüler von Friedrich Kittler, der Musik- und Medienwissenschaflter Martin Carlé, wird diesem Weg eine demnächst erscheinende Studie widmen (Carlé 2017; vgl. auch Carlé 2012: 40 – 42). 215 Die ganze Länge der Saite wird also einmal in zwei, dann in drei, dann in vier Teile geteilt. 216 Eine Versammlung von Verhältnissen und nicht Brüchen oder reelen Zahlen, die erst die Neuzeit kennt. Nur in der Not werden hier im Text (wie meist in der Literatur) Verhältnisse als Brüche geschrieben. 210

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das ist in moderner Notation:217 2/1 = 3/2 · 4/3 = 12/6.

„Damit jedoch“, so Friedrich Kittler, „wandelt die Tetraktys ihr Wesen.“ 218 Es macht den Unterschied ums Ganze, ob die Tetraktys, im Dreieck ausgelegt und additiv, die Zehnzahl generiert, ob Punkte zu Linien, Linien zu Ebenen, Ebenen zu geometrischen Körpern zusammengefügt werden oder ob in der Tetraktys multipliziert wird: nicht nur ihre ganzen Zahlen, sondern Verhältnisse ihrer ganzen Zahlen. Auch wenn unklar ist, ab wann Intervalle als Verhältnisse geschrieben werden (daß es dabei um Frequenzen ginge, ist Rückprojektion aus der Neuzeit) : 219 Wo Musiker beim Spielen Quinte und Quart zur Oktave addieren, Quinte und Quart zum Ganzton subtrahieren, da rechnet sich die Addition der Verhältnisse Quint (di‘oxeian) und Quart (syllaba) als Multiplikation, ihre Subtraktion als Division.220 Auf diese Weise erzeugen sich im Tonraum der Oktave seit Philolaos mathematische Welten. Von der ganzen Saite aus, die jetzt als Ergebnis der obigen Gleichung in 12 Teile statt in 2 oder 3 oder 4 Teile zerlegt ist, liegt die Quinte (3/2) dann bei 12/8 und die Quarte (4/3) bei 12/9. Quinte minus Quart als Division von Verhältnissen ergibt: (3 / 2) : (4 / 3) = (3 · 3) : (2 · 4) = 9 / 8,

also den Ganzton, von Philolaos als „Überachtel“ oder epogdoon angesprochen. Was der Musikforscher Martin Carlé die „esoterische Tetraktys“ nennt (6, 8, 9, 12),221 führt zu fortgesetzten und fortsetzbaren Operationen mit größeren Zahlen. Freilich ist fürs erste ganz unklar, was genau „Gleichungen“ in einer Mathematik wären, die ohne den Operator des Gleichheitszeichens, ohne Malzeichen und ohne Bruchstriche operiert (vgl. Kittler 1990/1993). 218 Kittler 2006: 279. 219 Über die pythagoreische „Theorie der Akustik“ und die Vorstellung, daß hohe Töne schnell und tiefe langsam sind, vgl. Burkert 1962a [TG]: 358 – 361; und van der Waerden 1943: 192 – 197, 8. Der Schall als Vielheit von Luftstößen. Über die Geburt der Akustik bei Archytas von Taras (lat. Tarent), vgl. Kittler 2006: 323 – 327. 220 „... die Zusammensetzung von Intervallen wird zur Multiplikation, die Differenz zur Division der Zahlverhältnisse, Halbierung des Intervalls bedeutet das Ziehen der Quadratwurzel. Nach der Terminologie der modernen Mathematik entsprechen die Intervalle als Strecken den Logarithmen der zugehörigen Zahlenverhältnisse.“ (Burkert 1962a [TG]: 348). Wann und wie genau dieser zentrale und komplizierte Schritt in der Geschichte des pythagoreischen Umgangs mit Zahlen stattfindet, wird von keinem Historiker auch nur in Ansätzen beantwortet. 221 Carlé 2012: 26. Tannery weist auf den Bericht des Iamblichos hin, daß Aristaios von Kroton die Proportion 6 : 8 : 9 : 12 erwähnt, die Pythagoras von den Babyloniern gelernt hätte (vgl. Tannery 1887/1930: 391 – 393, hier: 391; vgl. auch van der Waerden 1943: 178). 217

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Quarte plus Ganzton plus Quarte ergibt die Oktave: 4/3 · 9/8 · 4/3 = 144/72 = 2/1

Oder Quarte plus Ganzton ergibt die Quint: 3/2 = 4/3 · 9/8 = 36/24.

In der zweiten Gleichung werden, so Friedrich Kittlers Musik und Mathematik, die beiden „Griffe“: die Quart als syllaba und die Quint als di‘oxeian, „aneinander meßbar“. „Philoloas weist also nicht bloss der vierten [= Quart, pb] und der fünften [= Quint, pb] Saite je ein Verhältnis ganzer Zahlen zu, sondern begreift das Gemeinsame an allen schönen Tonverhältnissen, ihr Bildungsgesetz.“ 222 Woraus aber ist die Quart selbst gebildet, also jener „Tetrachord“, an dem eine ganze Musikgeschichte hängt? Ganzton plus Ganzton plus ein Rest ergibt die Quart. Diesen Rest zu ermitteln, hieße modern geschrieben: (9/8 · 9/8) · x = 4/3; 81/64 · x = 4/3; x = 4/3 : 81/64 = (4 · 64) : (3 · 81) = 256/243 .223

Damit ist der von Philoloas als diesis bezeichnete Rest in Zahlen angeschrieben,224 die nach Friedrich Kittler im Unterschied zu allen anderen aus der Tetraktys entstehenden musikalischen Verhältnissen bei Philolaos keinen mathematischen Namen mehr tragen. Denn die zwei Zahlen 256 und 243 sind nicht „überteilig“, epimorion, folgen also nicht mehr dem Grundgesetz von grad und ungrad wie 2/1, 3/2, 4/3 und 9/8.225 Aus dieser generativen Operativität der Tetraktys entfalten sich durch systematische Anwendung der Lehre vom arithmetischen und harmonischen Mittel 226 Kittler 2006: 281 (Hervorhebung pb). Vgl. Kittler 2006: 282, A 1; Becker 1957: 161; Lohmann 1959/1970: 76. 224 Von di-iēmi (Lohmann 1959/1970: 76): hindurchschießen; hindurchgehen, durchziehen lassen; auseinander gehen lassen, fortlassen (Benseler 1886). 225 Kittler 2006: 282, A 1. Daß Philolaos wirklich so gerechnet und gedacht hat, beweist der Schluß des Fragments B 6: Die Oktave, harmonia, ist 5 Ganztöne, epogdoa und 2 Reste, dieses; die Quinte, di'oxeian, ist 5 epogdoa und 1 diesis; die Quarte, syllaba, ist 2 epogdoa und 1 diesis. Ob das auch multiplikativ durch- und ausgerechnet wurde, scheint zweifelhaft: Es würde zu riesigen Zahlen führen. 226 Martin Carlé möchte die Mittellehre an den Anfang der gesamten Musikmathematik stellen (vgl. demnächst Carlé 2016). 222 223

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bei Archytas und dann Aristoxenos im 4. und 3. Jahrhundert Theorien der griechischen Tonarten, harmoniai.227 So lassen sich die Töne zwischen den in aller griechischen Musik fest liegenden und auf die Tetraktys vereidigten Rahmenintervallen Oktave, Quart, Quint, also den beiden durch einen Ganzton getrennten Tetrachorden,228 durch eine Reihe hintereinander ausgeführter Operationen von Division und Multiplikation mit den Zahlen der Tetraktys erzeugen und damit die gesamte Theorie der Tongeschlechter, wie sie in der griechischen Musik tatsächlich klingend in Gebrauch sind.229 All das ist der pythagoreische mainstream der Tetraktysgeschichte, der mit den quite new things des Philoloas von Kroton einsetzt, mathematisch ist und musiktheoretisch. In den uns erhaltenen Fragmenten des Empedokleischen Systems dagegen ist keine Rede von Musik, von Geometrie, von Zahlen als Zahlen. Von den geometrischen, arithmetischen, musikalischen Dingen der mathēmata findet sich kaum eine Spur. Denn die Tetraktys im kosmischen Zyklus des Empedokles ist ein reines Zeitmaß. Doch öffnet sich gerade im Horizont der musikalischen Tetraktys damit eine neue Frage: Was ist, ti esti, die von Primavesi als Tetraktys rekonstruierte Zahl der Zeit in Empedokles’ Zyklus-Denken? Ist sie die aristotelische Zeit als Zahl der Bewegung: der Bewegung von Liebe und Streit in ihren vier Materien?230 Oder ist die Tetraktys als Zeitmaß einer musikalischen Zeit verschwistert? Musik, so wird es im 20. Jahrhundert n. Chr. KarlHeinz Stockhausen formulieren, stellt „Ordnungsverhältnisse in der Zeit“ dar.231 Wenn nun die pythagoreische Tetraktys des 5. Jahrhunderts v. Chr., wie sie zu Empedokles’ Zeit in pythagoreischen Kreisen gebraucht und gedacht wird, eine generative Struktur zur Erzeugung von, vor allem, Folgen musikalischer Harmonien ist: Würde dann auch im speziellen Gebrauch des Empedokles, also ihrer Übertragung in ein kosmisches Zeitmaß, die Tetraktys nicht nur äußerlich die Bewegung Vgl. etwa Carlé 2012: 45 – 54; van der Waerden 1943: 181 – 187; Lohmann 1959/1970: 35 – 52. 228 Vgl. Koller 1960: 239. „ ... daß die griechische Musik weitgehend mit labilen Intervallen arbeitet (nur 4 Töne in der Oktave stehen prinzipiell fest, in der Bewegung der ‚diaphonen‘ Töne gegen diese ‚symphonen‘ besteht sehr wesentlich das musikalische Formenspiel …) … .“ (Lohmann 1956–57/1970: 8). 229 Vgl. Carlé 2012: 31. 230 Aristoteles Physik D 10–14, speziell: D 11: 219b. 231 Gerald Wildgruber (Basel) machte auf dieses Diktum Stockhausens aufmerksam (aus: Karl-Heinz Stockhausen: „...wie die Zeit vergeht...“ (1957), in: Musikalisches Handwerk (= Die Reihe 3), Wien 1957, S. 13 – 42). Ob sich die Zeit der griechischen Musik mit ihrem Verhältnis zur metrischen und rhythmischen Zeit (wie sie etwa bei Thrasybulos Georgiades entwickelt wird) und die Zeit Stockhausens, die bei ihm auch dem technischen Dispositiv von Speichern Übertragen Berechnen (Kittler) akustischer Maschinen geschuldet ist, wirklich berühren könnten, muß dahin gestellt bleiben. 227

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der vier Elemente als Zeit zählen, sondern einen gesetzmäßigen Zusammenhang von auseinander entstehenden Phasen, ein „Bildungsgesetz“ nahelegen? 232 Es würde dann in der Tetraktys das wiederkehren, was die musikalische der vier Schulen, die seit Hermann Diels um das Wort stoicheion alias elementum oder Buchstabe streiten, beweisen will: daß stoicheion ursprünglich nicht den Buchstaben, sondern eine musikalische Abfolge oder Reihe bezeichne.233 Johannes Lohmann nähert diese Bedeutung von stoicheion dem melos, das ist: der „gegliederten Welt der Töne“ und einer „bestimmten Struktur der melodischen Gliederung“.234 Empedokles kennt kein Wort stoicheion. Aber wäre nicht die Tetraktys eben eine solche Gliederung, die die musikalische Schule dem Wort stoicheion aufbürdet? Würde sie der Tetraktys-Zeit des Zyklus näher stehen als die aristotelische Zeit als Zahl der Bewegung? Dann bestünde die kosmische Übertragung der musikalischen Tetraktys bei Empedokles darin, eine gegliederte Abfolge von Mischungs-Zuständen zu denken. Diese Mischungen werden mitunter auch bei Empedokles als Harmonien angesprochen und in Zahlenverhältnissen theoretisiert.235 Womit Tetraktys und Göttereid bereits das nächste Forschungsfeld eröffnet hätte:236 jene andere, für Empedokles entscheidende Gruppe von Wörtern, die Wilhelm Schwabes Studie über „‚Mischung‘ und ‚Element‘ im Griechischen“ behandelt: mixis und krasis. Schwabe unterscheidet streng krasis, als kunstund maßvolle Mischung (lateinisch: temperantia), die ihren Ausgang von der hoch ausgebildeten griechischen Praxis des Mischens von Wein und Wasser Wobei freilich auch für Aristoteles gilt: „Aber die Natur ist doch offenbar nicht so ohne Zusammenhang, epeisodiōdēs, wie eine schlechte Tragödie.“ (Metaphysik N 3, 1090b19f.). 233 Die drei Schulen, zu denen Schwabe selbst als vierte käme: vgl. Schwabe 1980 [TG]: 111; vgl. auch Diels 1899 [TG]; Koller 1955; Lohmann 1956–57/1970; Burkert 1959 [TG]; vgl. auch im vorliegenden Band Kittlers Schriften. Kittlers Götter.: Wort und Zahl. Die hier vorgeschlagene Hypothese also wäre: Bevor das Wort stoicheion auftaucht, bezeichnete schon das Kunstwort tetraktys eine Abfolge von Harmonien, ganzzahligen Verhältnissen, mathematischen Operationen. Die viel jüngere Geschichte von stoicheion würde dann auf der älteren Geschichte von tetraktys aufsetzen, das viele (nicht alle) der von Koller und Lohmann entwickelten musikalischen Charakteristika aufweist. 234 Lohmann 1956–57/1970: 6 und 7. Lohmann setzt melos in Differenz zu epos und möchte auch mit ihm ein ganzes Zeitalter verbinden: die „ ‚melische‘ Periode“. Nach Primavesi gehört Empedokles’ Denken und Sprache allerdings ganz dem epischen Zeitalter Hesiods und der Tragödie des Aischylos an (vgl. etwa die Argumentationen zur Geschichte des Eids in Tetraktys und Göttereid: III. Der Pythagoreer-Eid und die Empedokleische Physik, A 62). 235 Vgl. vor allem Fr. 67, in dem von Mischungen als Harmonien die Rede ist. 236 Das legt der Schluß von Primavesis Tetraktys und Göttereid nahe. 232

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hat,237 und mixis, als „wirres Gemenge von Kraftkomponenten ohne bestimmte Zahlenverhältnisse“.238 Bei Empedokles finden sich beide Worte. Die Frage wäre, ob im Zeichen der Empedokleischen Tetraktys eine Korrespondenz zwischen Musik und Flüssigkeiten oder Pulvern, also chemischen alias biochemischen Mischungen denkbar ist.239 Töne freilich mischen sich griechisch nicht zur Harmonie, sie klingen allenfalls zusammen symphonein, oder auseinander, diaphonein.240 Außerdem hat Empedokles im von Primavesi so genannten „pädagogischen Exkurs“ der Physika kein musikalisch-akustisches, sondern ein optisches Modell vor Augen: die Maler und ihre Farbenmischungen (Fr. 67).241 Auch daß dem Arzt Empedokles alle Mischformen von Flüssigkeiten und Pulvern242 vertrauter sind als musikalische, liegt auf der Hand. Kurzum: Oliver Primavesis Entdeckung einer Empedokleischen Tetraktys wirft nicht nur die Frage nach der Zeit als solcher und ihrer formalen Struktur in Empedokles’ Denken neu auf 243 und stellt damit die Frage, was überhaupt Zeit im Denken des frühen Pythagoreismus ist. Sie könnte auch die prozeßlogische und materiale Seite des Empedokleischen Denkens berühren, mit ihrem Hauptdispositiv: der Mischung.244 Marcels Detiennes Dionysos-Buch unterscheidet an der Kunst der Mischung von Wein und Wasser den athenischen vom thebanischen Dionysos (Detienne 1986/1992: 74, 78 ). Schwabe sieht in krasis „den harmonischen, numerisch bestimmten Ausgleich entgegengesetzter Kräfte“ (Schwabe 1980 [TG]: 32). 238 Ebd.: 32. 239 Das Wort „biochemisch“ bei: Primavesi 2006 [TG]: 29. Vgl. auch hier weiter unten: Die Zukunft der Zyklen. 240 Vgl. Primavesi 2014b [TG]: 244 f.. „Der Begriff eines symphonen Intervalls deckt sich nicht mit unserem Begriff der Konsonanz.“: Die Terz etwa ist diaphon (van der Waerden 1943: 166). Schwabe konstatiert gleich zu Anfang, daß die Ausdrücke mixis und krasis bei den Pythagoreern fehlen und durch harmonia ersetzt werden (vgl. Schwabe 1980 [TG]: 15). 241 „Wie die Klänge wurden in der platonischen Akademie auch die Farben als Mischungen erklärt und auf bestimmte Zahlenverhältnisse zurückgeführt ...“ (Gaiser 1962/1968: A 88, mit Referenz auf auf Oskar Becker: Eudoxos-Studien V (1936)). 242 Schwabe geht die Anwendungsgebiete des krasis-Begriffes durch: Legierung von Metallen, Malkunst, Arzneimittel und schließlich Metereologie (Schwabe 1980 [TG]: 26 – 28). 243 Denis O'Brien widmete ihr 1969 das längste Kapitel seines Buches: O'Brien 1969 [TG]: 55 – 103. 244 In einer meisterhaft verdichteten Sentenz bringt Johannes Lohmann einmal die Welten zusammen. Er beruft sich auf die, von Empedokles aus, denkbar höchste philosophische Instanz: Parmenides. Fragment 31 (D/K B 16): „Denn so wie zu jeder Zeit [einer] hat die Mischung der vielirrenden Körperglieder, so auch wird das Erkennen den Menschen zuteil.“ Parmenides spreche hier, so Lohmann, den Gedanken aus: „Beide, Mischung der Glieder als melodische Struktur und ihr entsprechender nóos Sinn bzw. das phronein (Denken und Empfinden), sind in der ‚pythagoreischen‘ Ausdrucksweise 237

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IV. Physis Gerade auf der materialen Seite aber eröffnet der Empedokleische „Seitenzweig der Geschichte der Tetraktys“ einen anderen, großen Schauplatz. Die doppelte Tetraktys des Zyklus strukturiert Entstehen, Wachsen, Vergehen von Pflanzen, Tieren, Frauen und Männern, Geburt, Gechlecht, Tod, ja den Wechsel zwischen Biotisch und Abiotisch.245 Der Zyklus aus Peri physeos des Empedokles wirft die Frage nach der Physis selbst auf, wie sie 1939 Harald Patzer und Martin Heidegger stellten. Entfaltet sich die physis bei Empedokles als kosmischer Zyklus oder entfaltet sie sich im Zyklus? Könnte das System des Empedokles am Ende in die Urgeschichte jener Zweiheit gehören, von der eines Tages unsere Zukunft abhängen wird: Zahl und Physis? 246 Auch die von Kucharski als Urgeschichte der Tetraktys gelesene Passage aus De Anima beginnt mit einer Bestimmung des Lebewesens, auto to zōon: 247 einmal nach dem Einen, der Länge, der Breite, der Tiefe (bathos) und dann nach den „Erkenntnisvermögen“ Verstand, Wissenschaft, Meinung, Wahrnehmung – nous, episteme, doxa, aisthesis. Nur der wahrnehmbare, weil mit Tiefe, bathos, begabte Körper, sōma, kann nach Aristoteles zōon sein. Die Lebewesen leben also in der Zahl vier. Denn: „Wie sollte eine Fläche oder Linie belebt sein können?“ (Metaphysik M 2, 1077a29). Die Forschung seit Henri Saffrey und anderen will in dieser Bestimmung reinen Platon sehen.248 Im Timaios sind die Lebewesen wie das ihnen ähnliche ÜberLebewesen, der Kosmos als zōon, geometrisch konstruiert.249 Paul Kucharskis eine harmonia, ein 'Gefüge'.“ (Lohmann 1956–57/1970: 8). Vgl. hier weiter oben: II. Abiotische Götter, biotische Dämonen. 246 Im Folgenden wird die Frage nach der Physis der Physika explizit von der belebten Physis aus gestellt – modern also der Biologie und nicht der Physik. Das legt nicht nur Empedokles’ Naturphilosophie nahe (vgl. hier Anmerkung 101), sondern die griechische Geschichte von Wort und Sache der Physis, wie sie bei Patzer, Heidegger, Schadewaldt entwickelt ist. 247 Aristoteles’ Schrift De Anima als Ganze ist nicht zuletzt dieser Grundsatzfrage eines großen Tierforschers gewidmet: „de quelque proprieté specifique qui divise l'animé de l'inanimé“? (Saffrey 1955: 3). 248 Saffrey 1955: 36 f.. 249 Die Tendenz zur Geometrisierung der Lebewesen wird sich bis zu Haeckels Radiolarien und in die Symmetriegruppen seiner Generellen Morphologie der Organismen, bis zu d'Arcy Thompsons Morphogenese (On Growth and Form, 1917 und 1945) oder den platonischen Körpern als äußere Hülle von Viren fortsetzen. Letztere generieren bei Jacques Monod programmatisch einen „Platonismus“ der modernen Wissenschaft insgesamt (vgl. Jacques Monod: „On symmetry and fonction in biological systems“, 11. Nobel-Konferenz von 1969). 245

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dynamisch-genetische Auffassung der Tetraktys unterläuft auch diesen Platonismus. Sie macht – mehr bergsonistisch als platonisch 250 – aus den Zahlen der Tetraktys selbst „les réalités quasi animés“ mit einer „force génératrice ou vitale“. Als solche hätten sie im frühen Pythagoreismus „une affinité avec l‘être vivant“ 251 und eine kosmologische Funktion.252 Kucharski landet damit schließlich direkt bei Empedokles: „Es gibt vor allem eine faszinierende Entsprechung zur Lehre des Empedokles: Den vier Wurzeln dieses Kosmologen antworten in der Lehre von der Tetraktys die vier Zahlen. Auch sie sind Instanzen der Hervorbringung (générateurs) aller Dinge und werden im Eid der Pythagoreer als ‚Wurzel der ewigen Natur‘ (ῥίζωμα) angesprochen.“253 Kucharskis Empedokleische Lektüre von Tetraktys und Wurzel im Göttereid steht also nicht wie bei Primavesi im Zeichen eines Zeitablaufs. Primavesis Tetraktys und Göttereid macht gerade durch die Zurücknahme des generativen Moments im Wort pagan des Eids, das als Stromlauf und nicht als Quelle zu verstehen sei, den Anschluß des Eids an den Lauf des kosmischen Zyklus und seine zeitliche Tetraktys-Struktur möglich. Kucharski dagegen möchte die Tetraktys und ihre Zahlauffassung in eine materiale Deutung des Zyklus einschreiben: „c‘est le mot «génétique», qui convient, semble-t-il, à cette conception des nombres“ .254 Kucharski 1947. Kucharski 1952 [TG]: 52 und 14. Kucharski spricht von „une conception dynamique des nombres“ (ebd.: 53 A 2), „une conception génétique du nombre“ (ebd.: 66) und schließlich: „Pour les anciens Pythagoriciens, les nombres et les figures ce sont des réalités quasi animées, des êtres sui generis qui s'engendrent, les plux simples «donnant naissance» à ceux qui ont une structure plus complexe. Et c'est bien pourquoi l'être vivant serait aussi un produit indirect des nombres.“ (ebd.: 52). Ganz entfernt deutet Primavesis Hinweis auf die Biologisierung der Multiplikation als Fruchtbarkeit eine solche Zahlenauffassung für die pythagoreischen akusmata an (vgl. Primavesi 2014 [TG]: 242). 252 „La tétractys est en tout premier lieu une cosmologie“ (Kucharski 1952 [TG]: 66). Nach Theon von Smyrna ist es der Inhalt des pythagoreischen Eids, die Tetraktys von der Musik und hai symphoniai auf die Natur aller Dinge auszuweiten: tēn tōn holōn physin synechein (Tetraktys und Göttereid: III. Der Pythagoreer-Eid und die Empedokleische Physik, A 62). 253 „Il y a surtout une analogie saisissante avec la doctrine d'Empédocle : aux quatre racines de ce cosmologue répondent, dans la doctrine de la tétractys, les quatre nombres, générateurs, eux aussi, de toutes choses et qualifiés dans le serment des Pythagoriciens de «racine de la nature éternelle» (ῥίζωμα).“ (Kucharski 1952 [TG]: 47). Das mündet, von Empedokles und der Tetraktys aus, in einer Spitze gegen Platon: Die Zahlen seien pythagoreisch „Agenten“ und keine Ideen oder Ideenzahlen. „C'est comme si l'on attribuait l'«idéalité» aux quatre «racines» d'Empédocle et, en général, aux «éléments corporels» de certains physiologues.“ (ebd.: 52). 254 Ebd.. 250 251

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Die sprachliche Wurzel gen- prägt entscheidende Worte des Empedokles,255 etwa die allgemeine Bezeichnung der vier rhizomata als genethlē, Primavesi übersetzt: „Grundbestand“, in jenem wiederkehrenden Formelvers:256 opsei gar xynodon te diaptyxin te genethlēs Denn sehen wirst du die Vereinigung wie die Freisetzung des Grundbestandes 257

Als Harald Patzer 1939 eine Grundlegung der Wortgeschichte von Physis unternimmt, betont er mehrfach, wie streng noch Homer die Wurzel gen- von der Wurzel phy- trennt, also die Vorstellung des Geboren Werdens von der des Sprossen-Lassens und Sprossens.258 Patzer nimmt zu den mit phy- kontrastierenden Vorstellungen auch die Wurzel tik-, also tiktomai geboren werden und tekto Kinder zeugen, nach der auch das Wort des Empedokles für das Entstehen der Lebewesen gebildet ist: tokos alias Zoogonie.259 Doch scheint sich bei Empdedokles die Lage der Wurzel gen- eher zu verwischen. Einmal will Empedokles den Namen physis als solchen ersetzt sehen: „Physis gibt es bei keinem von allen sterblichen Wesen, und auch kein Ende im jämmerlichen Tod; es gibt nur Mischung und Trennung von vorher Vermischtem“, alla monon mixis te diallaxis te migentōn (Fr. 53).260 Das Fragment, das aus dem definitorischen Buch Delta der Metaphysik stammt, dem Kapitel über das Wort „Physis“, verbindet die Physis mit Geburt und Tod, nicht mit phyein als Wachsen und Aufgehen. An anderer Stelle gebraucht Empedokles sogar für die Pflanzen selbst neben Worten wie thamnos oder phyma 261 die Wendung rhizophorōn gennēma: „wurzel-tragendes Gewächs“.262 Von den, nach Chantraine, fast zweihundert Kucharski selbst geht nicht so weit auf die überlieferten Texte ein. Jean Bollacks Empedokles-Ausgabe erscheint erst 15 Jahre später. 256 Fr. 66, 294 und 300. 257 Das episch und poetisch gebräuchliche Wort genethlē (vgl. auch Martin/Primavesi 1999 [TG]: 246 – 247), das bei Homer immer an der gleichen metrischen Stelle wie bei Empedokles zu finden ist, nämlich am Versende, wird von Benseler 1886 umschrieben mit: genethēs einai abstammen, auch Ursprungsort; genethlon, Sprößling; genethlios, zum Stamme gehörig, zur Geburt oder Zeugung gehörig; genethliai blastai: die ersten Keime durch Elternzeugung, auch Zusammenseztungen mit Geburtstags- . 258 Vgl. Patzer 1939/1993 [TG]: 222, 228, 236. 259 Vgl. ebd.: 236. Dazu kommt schließlich – auch hier in sehr Heideggerschem Sinn – der Kontrast zum Wort poioun: machen (vgl. ebd.: 243). 260 Vgl. auch die anderen Fragmente, die Mansfeld/Primavesis Ausgabe von 2011 unter den Titel „‚Werden‘ und ‚Vergehen‘ als bloßer Schein“ stellt: Fr. 52 – 56. 261 Vgl. Martin/Primavesi 1999 [TG]: 235 –238. 262 Das Wort kommt nach Martin/Primavesi bei Sophokles vor, aber im Sinne von „Kind“; erst in hellenistischen Zeiten werde es für „produits de la terre“ verwandt, wie das verwandte genēma „Ernte“. „Empedokles nimmt diesen spezialisierten Gebrauch vorweg.“ (ebd.: 238). 255

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verschiedenen Komposita von gen- prägt Empedokles das Wort bougenes,263 in bougenē androprōira: „Kuhartige mit Menschenbug“ (Fr. 157a), Chimären in der Phase der Zufallskombinationen. Empedokles scheint die sprachliche Wurzel phy- von Physis in Richtung auf die Wurzel gen- zu verschieben. Schon allererste Schritte in dieses weite Forschungsfeld zeigen also, daß explizit und implizit die Frage nach der Physis bei Empedokles immer mit auf dem Spiel steht.264 Das später „Biologie“ genannte Wissen von den Lebewesen wird durchzogen sein von der Spannung zwischen phy- und gen-. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts reißt die Wurzel gen- die Gesamtheit des Wissens von der Physis der Lebewesen an sich. Freilich setzt Primavesis Tetraktys und Göttereid die vier Wurzeln des Empedokles nie direkt – material und prozeßlogisch – mit der Tetraktys in Verbindung. Nur vermittelt über die Zeitstruktur des Zyklus gibt die Tetraktys das Maß des kosmischen Geschehens. Trotzdem bleibt die Frage, ob die Entdeckung der Empedokleischen Tetraktys auch neue Perspektiven auf den Grundbestand als solchen eröffnet, also die vier rhizōmata, die „Wurzeln“ Erde, Wasser, Luft und Feuer. Man wird, wie erwähnt, die Wurzeln erst später auf vier stoicheia oder Elemente taufen. Wilhelm Schwabe spielt einmal die biologischen Worte der vorsokratischen Philosophien für erste Bestandteile, wie „Wurzel“ oder „Samen“, gegen die nicht biologischen Worte wie stocheion aus.265 Die Worte des Empedokles – neben rhizōmata auch gyia oder melea – zielten, eben weil sie biologisch seien, auf „sinnvolle Ganzheiten“, auf „Organisch-Ganzheitliches“.266 Allerdings sei damit nicht die andere Idee des Empedokles repräsentiert, in allen Prozessen – Entstehen, Wachstum, Vergehen des Organischen – die vier Grundbestandteile selbst als unveränderlich zu erweisen. Das sei, so Schwabe, mit dem Modell von Buchstaben, dem (nach Schwabes rhythmischer Schule) die Ursprünge des Worts stoicheion nahe stehen,267 sehr viel leichter möglich: Buchstaben oder Laute fügen sich Vgl. Chantraine 1999: gignomai. Wolfgang Schadewaldt bemerkt einmal über Empedokles: „Er ist im Grunde kein Physiker wie die Milesier, sondern ein Mann, der mehr von der organischen Welt herkommt und der Welt der Seele. So sind es deutlich Prinzipien des Seelischen wie des Organischen, die er auf anderes überträgt und die seine Begrifflichkeit bestimmen.“ (Schadewaldt 1960–61/1978: 449). 265 Wie auch die spermata des Anaxagoras. 266 Schwabe 1980 [TG]: 80. 267 Schwabe setzt gegen die musikalische Auffassung von stoicheion bei Koller und Lohmann, daß stoicheion bei den sogenannten „Rhythmikern“ ein Fachterminus für metrische Grundbestandteile sei, also Längen und Kürzen von Silben (vgl. ebd.: 120 – 127; Kritik der musikalischen Auffassung: 133 – 147). Das aber macht die Entgegensetzung zu Vokal, Klang, pthongos, Harmonie, auf die Koller/Lohmann ihre musikalische Auf263 264

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zur Ganzheit von Silben, Worten, Versen. „Insofern kann man sagen, daß der spätere Terminus stoicheia den empedokleischen Begriff rhizōmata zu Recht verdrängt hat, weil er die Intention des Empedokles besser erfüllt.“268 Doch umgeht dieser atomistische, später aristotelische 269 Horizont die entscheidende Frage der Empedokleischen Wurzeln: Wie und als was sind überhaupt die neuzeitlich so genannten „biologischen“ Wesen im Zyklus des Empedokles gedacht – Pflanzen, Tiere, Männer und Frauen?270 Ohne Leukipp/Demokrit und vor den stoicheia und teleologischen Ganzheiten des Aristoteles und weit diesseits des Organischen und seiner Organismen, wie das 19. Jahrhundert sie hervorbringen wird. Nach den Rekonstruktionen Primavesis gilt für die „göttlichen Elemente“ oder Wurzeln des Empedokles zunächst das gleiche wie für die „Elementargötter“: Sie sind sowohl biotisch als auch abiotisch.271 Sobald sie im Lauf des Zyklus reines Wasser, reine Luft, reine Erde, reines Feuer werden, also in sich homogene „Elementmassen“, sind sie abiotisch. Da nun aber die Wurzel und das Wurzeln aus der Sphäre des pflanzlichen Wachstums stammen, scheint eine Art Bevorzugung des Biotischen vorzuliegen. Das ist nicht nur, mit Schwabe und Aristoteles, ein „Stammeln“ des Empedokles,272 sondern die Weise, wie sich in den Physika die Physis denkt: von der Wurzel bis zum „Höhepunkt des blühenden Lebens“, wenn die Elemente „im Besitz eines Körpers sind“ (Fr. 66, 304).

fassung der Wortgeschichte von stoicheion bauen, nicht scharf. Denn es sind ja gerade die klingenden Vokale des Verses, die Längen und Kürzen seiner Silben ausmachen (vgl. den Beitrag von Barry Powell in diesem Band). Das gilt wohl auch für den Fall, in dem eine geschlossene Silbe mit kurzem Vokal lang ist, wie jede geschlossene Silbe des griechischen Verses (Dank an Oliver Primavesi!). 268 Schwabe 1980 [TG]: 80. 269 Vgl. das Aristoteles-Kapitel in Kittler 2009: 157 – 161, mit dem Titel: Laut Silbe Wort. 270 Die Lebewesen erscheinen bei Empedokles als: Sträucher, Fische, Wildtiere, Vögel (Fr. 66b, 308 f.); oder Mann, wilde Tiere, Sträucher, Vögel (Fr. 54b, 2); oder junger Mann, junge Frau, Strauch, Vogel, feuriger Fisch (Fr. 10). Eine bestimmte Schule der modernen Biologie wird fünf Reiche der Lebewesen unterscheiden: Bakterien, Protoktista, Pilze, Pflanzen und Tiere (vgl. Margulis/Schwartz 1982/1989). 271 Vgl. hier weiter oben: II. Abiotische Götter, biotische Dämonen. Die Ausdrücke „göttliche Elemente“ und „Elementargötter“ bei Primavesi 2014a [TG]: 36. 272 Psellizomenē gar eoiken hē prōtē philosophia peri pantōn, „Denn die erste Philosophie schien über alles zu stammeln ...“ (Metaphysik A 10, 993a15 f.).

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Die Wissensgeschichte der Wurzel ist noch ungeschrieben.273 Werner Jaeger behauptete, daß Anaximander mit den durch die Zahl Neun getrennten “Radkränzen“274 von Erde, Sonne, Mond und Sternenhimmel – einer ersten „Gesetzmäßigkeit“ oder „Weltnorm“ überhaupt 275 – die „Erdwurzeln“, gēs rhizai, Hesiods,276 des Pherekydes und Parmenides gekappt hätte.277 Die Erde schwebe seitdem frei im Raum, gehalten in der Ordnung der Zahlen statt Wurzeln.278 Andererseits beginnt mit der Wurzel die uns bekannte Geschichte des Wortes physis. In Homers durch alle physis-Abhandlungen seit Harald Patzer berühmten Versen zieht Apollo für Odysseus ein Heilkraut gegen Kirkes Zauber aus dem Boden und zeigt ihm die physis des Krauts mit seiner schwarzen Wurzel (rhiza) und weißen Blüte (anthos): zeigt, wie es gewachsen ist.279 Die Wurzeln des Empedokles werden erst durch den in Tetraktys und Göttereid rekonstruierten kosmischen Zyklus als Frage nach der Physis formulierbar. Sie hat zwei mögliche Einsätze. Der erste: Der im Maß der Tetraktys ablaufende Zyklus ist selbst die sich entfaltende Physis. Sie würde sich dann keineswegs nur auf die Lebewesen beschränken, sondern, in der Sprache der modernen Biologie, mineralische und organismische Phasen umfassen. Der zweite: Die Physis entfaltet sich bei Empedokles als Welt der Pflanzen, Tiere, Frauen und Männer im Zyklus. Sie geht auf als eine seiner Phasen. Die Frage nach der grie-

In Rhizom, dem Eröffnungskapitel von Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Mille Plateaux, wird streng la racine, la racine fasciculé, la radicelle von le rhizom unterschieden (vgl. Deleuze/Guattari 1980: 12). Deleuze/Guattari sprechen dabei von der Schrift: der Schrift ihres eigenen Buchs. Das rhizom ist keine Ursprungswurzel (oder Quelle), sondern ein System sich vereinigender Wurzeln, horizontaler Transfers, Symbiosen, TierPflanzen, wie der Quecke, französisch: le chiendent, dem „Hundezahn“ (zur Wurzel vgl. auch hier weiter unten: Die Zukunft der Zyklen). 274 Diels 1897: 13. 275 Jaeger 1934: 218. Das Neue bei Anaximander: „durchgängige Ordnung und Gliederung im Aufbau der Welt“, formuliere sich, so Jaeger, in der „Ideensprache“ von Anaximander und jener, wie Jaeger verklausierend schreibt, „originalen Bahnbrecher“ mit ihren „eben erst ergründeten mathematischen Zahlenproportionen“ (ebd.: 216). Mit der „Weltnorm“ folgt Jaeger 1934 dem Zug seiner Zeit, die seit Anfang des 20. Jahrhunderts, von Wilhelm Ostwald bis zu walter porstmann, Weltnormen etablieren will. 276 Hesiod Theogonie 728; Hersiod Erga 19. 277 Vgl. Jaeger 1934: 215. Über die Vorstellungen der Wurzel, der Erdwurzel und des Wurzelns in der Wurzel phy- vgl. auch Patzer 1939/1993 [TG]: 231 f.. 278 Bei Parmenides wurzele sie nur noch im Wasser, hydatorhizon (Parmenides Fr. 27 (D/K B 15a); vgl. Jaeger 1934: 215, A 2). Von der Luft sagt Empedokles Fr. 81: sie „tauchte mit ihren langen Wurzeln nach der Erde“. 279 Vgl. etwa Kittler 2006: 30 f.; Schadewaldt 1959/1960: 910; Ders. 1960-61/1978: 204 f.. Rhizē ist die einzelne Wurzel, rhizōmata eine Versammlung von Wurzeln. 273

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chischen Physis, wie Harald Patzer, Martin Heidegger, Wolfgang Schadewaldt sie entwickelten, stellt sich mit dem Zyklus des Empedokles auf einem neuen, sehr komplexen Niveau.280 Harald Patzer hörte 1939 in physis und phyesthai den Unterschied zu natura, also nicht Geboren Werden aus dem Nichts, Geschaffen oder Gemacht-Sein, sondern „ein Sein ausmachendes Werden“, das dazu tendiert, „das durch das Nichts belastete Entstehen in das Sein aufzulösen“.281 Empedokles ist ihm dafür ein Beleg, etwa das Fragment: „Schnell aber erwuchsen zu sterblichen Wesen, thnēt‘ ephyonto, die früher unsterbliche Wesen zu sein gelernt hatten“ (Fr. 69, 14).282 Damit entstehen die sterblichen und entstehenden, wachsenden und vergehenden Wesen selbst und als solche aus den unsterblichen. Ihr Sein ist direkt an den kosmischen Zyklus verwiesen, aus dem sie als Wachsende erwachsen. Erst Primavesis Rekonstruktionen zeigen, wie der Bewegung des Zyklus unsterbliche und sterbliche Wesen unterworfen sind. Wie skizziert durchläuft diese Bewegung zwei Formen. Sie sind an die zwei Vorsilben syn- und dia- gebunden, zusammen- und auseinander-. Empedokles gebraucht zahlreiche Verbindungen davon, etwa: symmixis,283 synkrasis, synodos; oder: diallaxis, diakrisis, diapetomai oder diaphyomai,284 letzteres in der erstaunlichen Wendung, daß das, was wächst, „auseinanderwächst“. In der erwähnten Formel sind beide Bewegungen zusammen genannt: opsei gar x y n o d o n t e d i a p t y x i n t e genethlēs, „die Vereinigung und Freisetzung des Grundbestandes wirst Du sehen“. In einem vollen Zyklus bilden sich die Lebewesen zweimal, einmal auf dem syn- und einmal auf dem dia-Zweig des Vgl. Patzer 1939/1993 [TG]; Heidegger 1939/2004; Schadewaldt 1958/1960; Schadewaldt 1959/1969; sowie Schadewaldt 1960–61/1978: 201 – 209 und 171 – 174. 281 Patzer 1939/1993 [TG]: 241 und 240. Ob sich das in Heideggers Denken der Physis als Sein übersetzt oder umgekehrt von Heideggers Philosophie beeinflußt ist, bleibt eine interessante Frage. Heidegger beginnt seit 1935, phýsis als das Sein der Griechen anzusprechen, mit genau dem gleichen Einsatz wie bei Patzer: phýsis als Wuchsform, Hervorkommen, Aufgehen einer, so Primavesi, „'Einzelnatur'“, des, so Heidegger, Seins im Ganzen. Patzer verbringt um 1933 als Student einige Semester bei seinem Onkel Wolfgang Schadewaldt an der Universität Freiburg (Oliver Primavesi, mündlich; vgl. auch Primavesis Nachruf auf Harald Patzer in: Gnomon, Bd. 78, 2006, H. 4, S. 377 – 383). 282 Ebd.: 240. Durch Empdokles sei es „abermals erwiesen, daß sich in gignesthai die griechische Auffassung des vom Nichts bestimmten von der des mit phyesthai bezeichneten, ein Sein ausmachenden Werdens unterscheidet." (ebd.: 241). 283 Zusammensetzungen von syn- und mixis vgl. Schwabe 1980 [TG]: 18. 284 Vgl. Martin/Primavesi 1999 [TG]: 246, A 2. Diallaxis von diallasso umtauschen, verändern und diallassomai verschieden sein; diapetomai auseinanderstieben, auseinanderfliegen; diakrisis, diakrino trennen, scheiden, unterscheiden. Diaphyomai kommt allein in Fr. 66 fünfmal vor (v. 233, 236, 241, 248, 268). 280

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Zyklus.285 Daß sie sich auf dem Zweig des syn- zusammensetzen und zusammenfinden, durch die Phase der Einzelglieder hindurch und die berühmte Phase der Zufallskombinationen der Einzelglieder bis schließlich zur extremsten Form des syn- im Sphairos, ist das eine. Daß aber die Lebewesen in ihrem vollen Sein: Sträucher, Fische, Wildtiere, Vögel, dann auch die Männer und Frauen in ihrer Differenz, in ihrer Art, sich fortzupflanzen, und schließlich auch die langdauerenden Götter, kurz: unsere Welt, in der auch der Lehrer und sein Schüler selbst leben, auf dem Ast des Auseinander, der Trennung des Verbundenen, der Zerstörung sich bilden – erst der Auflösung der vollkommenen SphairosVereinigung, dann der Auflösung der ganz-gewachsenen Wesen, der oulophyes (Fr. 164,4) – das leuchtet intuitiv zunächst weniger ein.286 1999 jedoch entdeckten Martin/Primavesi eine mögliche Umpolung der destruktiven Auflösung im Wort diaptyxis. Das Wort ist gebildet aus ptysso: in Falten legen, zusammenlegen, oder ptyx: das mehrfach übereinander Gelegte. Es folge nicht der Vorstellung der Zerstörung und Auflösung, sondern der eines sich auffaltenden oder entfaltenden Fächers: je déplie, je révèle.287 Simplikios gebraucht für diese Empedokleische Phase, in der sich auch Männer und Frauen bilden, das Wort diarthrōsis, Aufgliederung oder Artikulation.288 Aus den ganz-gewachsenen, ungegliederten Wesen gehen, so Martin/Primavesi 1999, die Lebewesen hervor, „sous la forme d‘individus articulés“.289 Sie können Tiere sein oder Pflanzen. Wenn etwa Aristoteles die oulophyeis, die ganzen Wesen, als Samen anspricht,290 ist, was sich aus dem Samenkorn entwickelt, sichtlich eine Entfaltung, ein Aufgehen. Ganz wie bei Hegel, dem „Keim, Korn, Knoten“ ein „Punkt (Bläschen)“ sind,291 wäre die Entstehung der Lebewesen als Verallgemeinerung des pflanzlichen Wachstums „Diremtion“ 292 – ein Sich-AusDie doppelte Zoo-gonie ist ein Grundthema der Empedoklesforschung, resümiert etwa in: Martin/Primavesi 1999 [TG]: 54 – 57, La biologie, und 75 – 83, Double Zoogonie; und Primavesi 2013 [TG]: 209 f., 7.1 Das Problem der doppelte Zoogonie. 286 Zur Situierung der oulophyeis oder holophyeis vgl. auch Tetraktys und Göttereid: XIII. Die doppelte Tetraktys und die zoogonischen Stufen. 287 Vgl. Martin/Primavesi 1999 [TG]: 243 – 246, hier: 244. 288 Fr. 64, Einleitung. 1817 hatte Cuvier die Klasse der Articulata begründet mit den Unterklassen der gegliederten Würmer, der Annelida, und der Arthro-Poda, die mit den gegliederten Füssen und Leibern, zu denen (ausser Spinnen und Krebsen) die Insecta zählen, deren Gliederung Einschnitte sind. 289 „À nos yeux le mot diaptyxis est pratiquement synonyme de diarthrōsis, composé comme lui à l'aide du préverbe dia- ...“ (Martin/Primavesi 1999 [TG]: 245 f.). 290 Aristoteles Physik B 8, 199b9. 291 Hegel 1830/1986: 381. Zum Samenkorn überhaupt vgl. ebd.: 396. 292 Etwa: „Zwischen Blatt und Wurzel als der ersten Diremtion, ist der Stengel; wir sprechen hier nämlich von Pflanzen, die ein entwickeltes Dasein haben, denn Schwämme und derlgeichen gehören nicht hierher.“ (ebd.: 398). 285

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differenzieren, eine „Zergliederung der Gestalt“.293 Jean Bollack versammelte in seiner dreibändigen Ausgabe wichtige Zeugnisse und Fragmente über den Zyklus des Empedokles unter dem Titel „La Grande Articulation“ .294 Mit Patzer und Heidegger gedacht würde das je déplie, je revèle der diaptyxis im dia-Zweig des Zyklus der Grundvorstellung der griechischen Physis folgen: nicht „schlechthinniges Neu-Entstehen“, sondern Wachstum als Entfaltung zu sein. „Es ist immer eine Bewegung vom Keim als dem Umgeformtesten zu immer bestimmterer Form und Gliederung.“ 295 Oder, alle goetheanischen Morphologien und Hegelianismen über Bord werfend, Heidegger: „Was sagt nun das Wort φύσις? Es sagt das von sich aus Aufgehende (z.B. das Aufgehen einer Rose), das sich eröffnende Entfalten, das in solcher Entfaltung in die Erscheinung-Treten und in ihr sich Halten und Verbleiben, kurz, das aufgehend-verweilende Walten.“ 296 Diese philosophiegeschichtsträchtige Deutung der Empedokleischen Physis als Entfaltung wird Primavesi 2008 durch neue Tatsachen zum Wort diaptyxis revidieren und damit eine wichtige, argumentative Grundlage auch für die Physis in Tetraktys und Göttereid schaffen.297 Der Logik der Artikulation als Entfaltung stellt er eine andere gegenüber: die, modern gesprochen, chemische oder biochemische Logik. Damit öffnet sich eine der vielleicht brisantesten Fragen an das Empedokleische Denken der Physis: Wie ist die sichtbare Artikulation, die Erscheinung der Lebewesen, ja ihr oft forciertes Erscheinen,298 auf das bezogen, was nicht sichtbar ist? Diese beiden Logiken schießen in fünf Versen des von Primavesi rekonstruierten „Kontinuum I“ zusammen (Fr. 66). Die Verse gehören in den „didaktischen Exkurs“,299 in dem der Lehrer dem Schüler und Adressaten des Lehrgedichts die Primavesi 2008 [TG]: 22. Bollack 1969b [TG]: 191 – 248. Es scheint als würde Bollack darunter das Ganze der „Organischen Physik“ Hegels versammeln: die Drehung als Bewegung des Kosmos, die Erde und ihre Wölbung, die Glieder der Welt und die Berge (ebd.). 295 Patzer 1939/1993 [TG]: 240 und 225. Und weiter: „Wachsen ist daher auf jeder Stufe immer auch Bildung und am Ende A u s b i l d u n g , sein Ziel also ist sein Selbst als ein Ausgeformtes und schlechthin Erfülltes.“ (ebd.). Primavesi (Primavesi 2008 [TG]: 22, A 62) weist auf den in Ansätzen heideggerianisch gedachten Aufsatz Jean Bollacks hin: „Die Metaphysik des Empedokles als Entfaltung des Seins“ (Bollack 1957). 296 Heidegger 1935/1998: 11. 297 Vgl. Primavesi 2008 [TG]: 35 – 40. 298 Im 20. Jahrhundert wird in der phänomenologischen Biologie, etwa Adolf Portmanns, mit ihren Ursprüngen in Max Schelers und Helmuth Plessners Naturphilosophien dieses Erscheinen wollen oder Erscheinung machen zu einer fundamentalen Grundbestimmung der Lebewesen. Von Schelers und Plessners Auffassung der Pflanzen ist auch das Physis-Buch Harald Patzers nicht unberührt (vgl. Patzer 1939/1993 [TG]: 224 – 226, Vom Wachsen überhaupt). 299 Ab Vers 291 von Fr. 66. 293 294

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bislang nur modellhaft und abstrakt entworfene Vereinigung und Trennung der Elemente in Liebe und Streit erfahrbar machen möchte. Er führt jene Welt vor Augen, in der die Elemente „einen größeren Körper finden“: bei Tieren, Menschen, „wurzeltragendem Gewächs“ oder der „auf Reben kletternden (Traube)“ (v. 296 – 298). Dem soll der Schüler demonstrative „Belege“, deigmata, für die Worte des Lehrers entnehmen, der dann ankündigt, was der Schüler sehen wird: eben xynodos und diaptyxis des Grundbestandes Feuer, Luft, Wasser, Erde. Aber wo wird er sie am Werk sehen? 302 303 304 305 306

Zum einen bei der ansehnlichen Fülligkeit der menschlichen Gliedmaßen [ meleōn arideiketon onkon ]: Bald, in Liebe, kommen wir zu Einem zusammen allesamt, wir Elemente im Besitz eines Körpers [ gyia ta soma lelonche ], auf dem Höhepunkt des blühenden Lebens; bald wiederum auseinandergeschnitten in üblen Hadern, wird jedes einzelne [Element] getrennt umhergetrieben in der Brandung des Lebens.“ (Fr. 66, 302 – 306)300

Was so schlicht in Primavesis Übersetzung steht: „wir Elemente“ (v. 304), ist das hart erkämpfte Endprodukt einer papyrologischen, philologischen und philosophischen Operation. Sie hat fundamentale Konsequenzen und geht unmittelbar in die Argumentation von Tetraktys und Göttereid ein.301 Primavesis Übersetzung und Deutung führt zunächst eine im Empedokleischen System liegende Differenzierung ein: zwischen melea als artikulierte Gliedmaßen, menschliche wie tierische, und gyia als elementare Grundstoffe. Bislang hatte man gyia und melea gleichermaßen als „zoomorphe Gliedmaßen“ übersetzt. Daraus aber entstand für die Deutung der eben zitierten Verse eine Vielzahl von Problemen. Denn will man die Verse auf die Phasen des Zyklus abbilden, dann kann der Anfang, wenn Einzelglieder zu einem Körper zusammenfinden, nur im syn-Teil des Zyklus stattfinden,302 die letzten zwei Verse über die auseinandergeschnittenen und getrennten Glieder nur im dia-Teil.303 Die Verse finden sich im Kommentar des Neuplatonikers Simplikios zur Physik des Aristoteles (D/K B 20, 1–5) und – mit zwei wesentlichen Abweichungen – auf dem Papyrus Strasburg c 1 bis c 6. 301 Die erstaunliche Wir-Form, unter der die Elemente oder rhizōmata auftreten, ist erst durch die Straßburger Papyrusfunde ins Spiel gebracht worden: Emendation von synerchomen' zu synerchometh' (zur philologischen Begründung vgl. Martin/Primavesi 1999 [TG]: 273 – 277; zur Deutung vgl. Primavesi 2008 [TG]: 47 – 57, Intermezzo: Wer sind „Wir“? ). Die Wir-Form wird schließlich auch zum Argument in Primavesis Deutung von Hölderlins Empedokles-Tragödie (vgl. Primavesi 2014a [TG]: 40). 302 Am Übergang der Phasen: „Einzelglieder“ und „Zufallskombinationen“ (vgl. Tetraktys und Göttereid, Abbildung 3). 303 O'Brien muß durch komplizierte Operationen, etwa die Einschaltung von Übergangs300

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Weil aber im Gedicht (und in der Einführung des Simplikios) mehrfach der „Bezug auf unsere Erfahrungswelt“ angekündigt wird,304 sieht Primavesi in den Versen etwas anderes: eine für den Schüler sinnfällige Veranschaulichung von „Fortpflanzung und Tod“.305 Er situiert sie in den unmittelbar hintereinander liegenden, letzten beiden Phasen des dia-Zweigs: „Sexuelle Wesen“ und „Dinos“, wie sie in Tetraktys und Göttereid zum ersten Mal als solche benannt werden (vgl. Tetraktys und Göttereid, Abbildung 3). Wenn die zu Körpern sich zusammenfindenden Glieder voll erblüht sind und einander auf dem Höhepunkt des blühenden Lebens lieben (v. 303), bewegen sie sich als geschlechtliche Lebewesen.306 Unter der alten Annahme von gyia = melea wäre aber die darauf folgende Phase nicht mehr anschaulich und beobachtbar: Nachdem die Körper auseinandergeschnitten sind, würden sich die gyia, wenn sie Arme und Beine sind, für sich herumtreiben. Das hat noch niemand gesehen.307 Darum nimmt Primavesi gyia, das grammatikalische Subjekt der Verse, nicht als zoomorphe Glieder, sondern als „elementare Bestandteile“, also die vier Grundstoffe oder rhizomata selbst.308 Sie sind es, die (selbst unsichtbar) einen größeren (sichtbaren, schönen, liebenden) Körper finden und ihn auch wieder verlassen, in „chemischer Zersetzung“, 309 also dem Zerfall toter tierischer und pflanzlicher Körper in die Grundbestandteile Erde, Wasser, Luft und Feuer, wie man es (sichtbar) in Verwesen und Verfaulen beobachten kann. Darin würden sich die Grundstoffe, die in größeren Körpern gebunden waren, wieder „freisetzen“: biotisch als Verwesen und Verfaulen und abiotisch als reine Zersetzung alias Sepsis.310 Auf diese Weise müßten sich nach Primavesis Rekonstruktion des Zyklus alle Fragen nach der Physis bei Empedokles auf zwei Ebenen bewegen:311 erstens der Ebene der melea, der morphē als zōo-morphē, ihrer Artikulationen und Erscheinungen in der Welt der Pflanzen, Tiere, Männer und Frauen; und zweitens phasen, eine innere Kohärenz in die Verse bringen (vgl. die ausführliche Darstellung in: Primavesi 2008 [TG]: 32 – 36). 304 Ebd.: 39. 305 Ebd.: 36. 306 „... wobei, wie überhaupt für griechisches Empfinden, die Schönheit auf der vollkommenen Ausbildung, dem ‚erblühten‘ Leibe beruht ...“ (Patzer 1939/1993 [TG]: 238). 307 Nur der Dichter könnte es noch vor sich sehen: „Ein Knie geht einsam um die Welt / Es ist ein Knie sonst nichts ...“ (Christian Morgenstern: Galgenlieder, 1905). Vgl. auch die Behandlung dieses Problems bei O’Brien 1969 [TG]: 220. 308 Primavesi 2008 [TG]: 37. Von den vier Grundstoffen wurde zuvor schon gesagt (v. 293), daß sie mitunter einen „größeren Körper“ finden. Auch anderweitig ist bei Empedokles gyia als Grundbestandteile belegt (ebd.: 37). 309 Ebd.: 38. 310 Vgl. Tetraktys und Göttereid: IX. Der große Wirbel (Dinos). 311 Primavesi schafft 2008 und in Tetraktys und Göttereid die Artikulation der Wesen nicht ab, sondern weist ihr nur einen präzisen Ort im Geschehen des kosmischen Zyklus zu.

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der Ebene der gyia, der Grundelemente und chemischen Prozesse, der „chemischen Formeln“ und ihrer Mischungen.312 Auf der einen Seite begründet das Aufgehen als Ausdifferenzieren, diaptyxis als diarthrōsis, eine Geschichte dessen, was Empedokles die „größeren Körper“ nennt, die Körper von Tieren und Menschen. Die Grundstoffe finden sich zu diesen Körpern zusammen, einer Welt der sich artikulierenden, wachsenden, aufgehenden Erscheinungen, modern gesprochen: des Phänotyps und seines Romans.313 Auf der anderen Seite die Elemente selbst, die diese Körper suchen, finden und auch wieder verlassen, in chemischen und biochemischen Prozessen sie aufbauen und in Verwesung oder abiotischer Zersetzung wieder verlassen, um schließlich als reine Elemente zuerst herumzuirren „in der Brandung des Lebens“ und dann sich zu großen und reinen Elementmassen zusammenzufinden (Phase der Sepsis und der Vier Massen). Die Physis des Empedokles stünde damit genau auf der Grenze von sich artikulierenden, hervorkommenden, erscheinenden Wesen und einer Prozessualität, die nicht sichtbar erscheint. Wissensgeschichtlich hätte damit das Physis-Denken des Empedokles das dritte von drei Dispositiven seiner Rekonstruktion gefunden. Die zwei ersten scheinen nach Primavesis neuesten Erkenntnissen der Komplexität des Systems unangemessen. Das erste Dispositiv besteht im Zerlegen und Zusammensetzen, Fügen und Fugen von Grundelementen. Dieses analytische Dispositiv (modern „Reduktionismus“ genannt) folgt einer atomistisch überformten Lehre des Empedokles. Es ist gerade dort, wo es sich auf die Geschichte alphabetischer Schrift als technē beruft, eine Verschiebung der Grenze von physis und technē.314 Auch seine Kehrseite, auf der nach Schwabe rhizomata, genethle, gyia mit einer Empedokleischen „Intention“ ausgestattet werden, sinnvoll kombinierte Ganzheiten aus ins Sinnlose zerlegten Einzelteilen zu erzeugen, dürfte eher dem aristoteleischen Denken angehören – oder dem 20. Jahrhundert.315 Das zweite Dispositiv führt zu einem morphologischen, ja morphogenetischen Denken der Physis aus der Vorstellung des pflanzlichen Wachstums, in Der Ausdruck „Chemische Formeln“ bei Mansfeld/Primavesi 2011 [TG]: Fr. 97 – 100. Gottfried Benn: Roman des Phänotyp (Erzählung 1949). Freilich gehört biologisch etwa auch die Physiologie der Stoffwechsel-Wege und ihrer Enzyme zum Phänotoyp eines Organismus. 314 Diese Verschiebung ist nicht ohne Wirkung: Sie wird eines Tages bei dem ingenieuralmodularen Denken und Handeln der modernen Biologie landen, mit ihrer am Alphabet orientierten Leitwissenschaft, der Molekulargenetik. 315 Also dem, was die moderne Linguistik nach Saussure als „doppelte Gliederung“ anspricht. Zu Aristoteles vgl. Kittler 2009: 157 – 170, Laut Silbe Wort. 312 313

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dem Harald Patzer 1939 Wort und Sache der griechischen physis situierte.316 Danach sind im griechischen Wort physis Prozesse der Gestaltbildung zu hören, die man ein Jahrzehnt und einen Weltkrieg später kybernetisch inspiriert auch „autopoietisch“ nennen wird: daß etwa die Pflanze nicht „ein nur äußerlich mit ihr Zusammenbleibendes hervortreibe, sondern damit zugleich sich sebst ausforme, in ihren Umriß bringe.“ 317 Schon der Befund, daß phyein im Lauf der griechischen Sprachgeschichte immer häufiger im Medium phyesthai auftritt als im Aktiv hat nach Patzer seinen Grund darin.318 Die „Bewegung“ des Wachstums dient, so Patzers hegelianische Formulierung, „dem Sein der Form und hebt sich in dieses auf.“319 Bei Empedokles würde, in diesem Dispositiv gedacht, die Physis als „La Grande Articulation“ zuerst im Sich-Bilden biologischer „Einzelglieder“ aus dem Unartikulierten homogener Elementmassen und dann im Sich-Bilden der nach Geschlechtern artikulierten Wesen aus „Sphairos“ und „Unartikulierten Kugelwesen“ aufgehen (vgl. Tetraktys und Göttereid, Abbildung 3). Diese Artikulation würde am Ende nicht nur auf zoomorphe oder phytomorphe Glieder in der sichtbaren Erscheinung der Lebewesen gehen, sondern würde auch Andeutungen dessen enthalten, was modern Baupläne heißt (und im Englischen als Lehnwort aus dem Deutschen übernommen wird). Mit Vögeln, um nur ein Beispiel zu nennen, die „auf ihren Flügeln schreiten“, ptero-bamosai kymbai,320 könnte eine Geschichte der Artikulation zoomorpher Baupläne beginnen, die von Aristoteles bis zum Akademiestreit Geoffroy Saint-Hilaires und Georges Cuviers reichen wird.321 Außerdem differenzieren sich die Lebewesen bei Empedokles auch über ihre Milieus aus. Die Fische etwa wohnen unter dem Obdach des Wassers, Bei Heidegger landet die Sache der morphē bei einem Physis-Denken vor Aristoteles und weit vor den Morphologien des 19. Jahrhunderts. 317 Patzer 1939/1993 [TG]: 236 f.. 318 Die grammatikalische Form des Mediums folge, so Patzer, der „Ansicht des Formens und Entfaltens. Denn Formen und Entfalten bestimmt sich wesentlich am Geformten und Entfalteten selbst, das im Vollzug dieser Vorgänge an sich seine Form gewinnt.“ (ebd.: 238). 319 Ebd.: 239. 320 Die Identität der kymbai ist auch mithilfe des Glossary of Greek Birds (1895, 1936) d'Arcy Wentworth Thompsons, dem Biologen, Sohn eines Altphilologen, AristotelesKommentator und großen Morphogenetikers (s.o.), nicht zu klären: „ΚΥ'ΜΒΗ. A very doubtful bird. ...“ (Thompson 1936/1966: 186). 321 Mansfeld/Primavesi setzen unter die Überschrift „Morphologische Verwandtschaft der Lebewesen“ das Fragment Fr. 185 (aus Aristoteles Metereologie), in dem Haare und Blätter, Vogelfedern und Reptilienschuppen „als dasselbe entstehen“ (letzteres in der modernen Abstammungslehre verbürgt: die Vögel, so heißt es hier, „stammen ab“ von den Reptilien); und Fr. 186, in dem die Stacheln der Igel „spitzgeschossige Haare“ sind, oxy-belēs. 316

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hydro-melatroi,322 weil sie zu viel von dem Element Feuer haben und deswegen zur Kühlung im Wasser wohnen müssen.323 Zumindest drei der rhizomata – Wasser und Luft und Erde – sind für Empedokles eher Milieus als atomistische Bausteine. Lukrez wird es monieren.324 Doch – und damit begänne das dritte Dispositiv – im Rahmen des von Primavesi rekonstruierten kosmischen Zyklus wären die Artikulationen der erscheinenden Wesen nur bestimmte Phasen des ganzen Zyklus. Die „chemischen“, wenn also Erde, Wasser, Luft und Feuer größere Körper finden und sie in Sepsis wieder verlassen, folgen anderen Gesetzen als denen der Artikulation. Sie mischen sich, in harmonischen Verhältnissen, sie trennen sich, sie finden sich nach dem Gesetz von Gleich-zu-Gleich zu großen Massen zusammen. Als kosmischer Zyklus umfaßt die Physis, die um die Mitte des 5. Jahrhunderts zur „Allnatur“ wird,325 Mischung und Artikulation, unbelebte und belebte Welt, homogene Massen und ihre Wesen.

V. Die Zukunft der Zyklen Dies wäre der vielleicht erstaunlichste Gedanke des Empedokles: Im Lauf des kosmischen Zyklus von abiotischen zu biotischen zu abiotischen Phasen, von chemischen zu biologischen zurück zu chemischen Prozessen entsteht und vergeht die Welt der Lebewesen als solche.326 Wenn die neuzeitliche Wissenschaft Erdgeschichte denkt, mit Bruno Latour: die geóstory,327 denkt sie eine lineare Zeit mit offenem Horizont und einem Zeitpfeil, der nicht auf sich zurückkommt. Doch wo diese Wissenschaft biogeochemisch vorgeht und das heißt bottom up statt top down, existiert das Beste, was sie weiß, in cycles. Denn auf dem state of the art, 2500 Jahre abendländisches WisFr. 66, 307. Melathron: das Dachgewölbe, auch Wohnung oder Haus; der Mittelpunkt der Erde in Delphi heißt: meson gas melathron (Benseler 1886). 323 Fr. 10 (und Erläuterung). So berichtet Aristoteles über Empedokles in seiner Schrift über die Atmung, nicht ohne amphibisch inspirierte Zweifel ins Feld zu führen (vgl. Aristoteles De respiratione, 477a32–b5). 324 Vgl. Lukrez De rerum natura, Buch I, Vers 719 – 829. Lukrez hatte noch eine vollständige Ausgabe von Empedokles’ beiden Büchern vor sich (vgl. Kranz 1943: 69). 325 Vgl. Tetraktys und Göttereid: III. Der Pythagoreer-Eid und die Empedokleische Physik. 326 Vgl. hier weiter oben: Abiotische Götter, biotische Dämonen. 327 Geóstory ist eine Wortprägung Bruno Latours in Differenz zur history und feministisch herstory (Latour 2013: 73). 322

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sen nach Empedokles, entfaltet sich die Physis in einer Abfolge von Kreisläufen. Das Wissen von ihnen, das biochemisch, molekular, ökologisch, genetisch, evolutionär, paläontologisch, mineralogisch ist, wird von einer Wissenschaft namens Mikrobiologie versammelt. Mikrobiologisch sind und heißen Zyklen cycles von Elementen: N-cycle, S-cycle, C-cycle, O-cycle, H-cycle. Diese Stoffkreisläufe sind Stand des Wissens von den Elementen Anfang des 21. Jahrhunderts.328 Ließe sich die Gegenwart dieses Wissens als eine Zukunft denken, die der kosmische Zyklus von Elementen bei Empedokles, seine pythagoreischen Schriften und Zahlen, Götter und Wurzeln gehabt haben wird? Von dieser Gegenwart nämlich wird ein Teil unserer Zukunft abhängen.329 V.1 Elemente der Neuzeit Die Elemente, die in den Stoffkreisläufen der Mikrobiologie ankommen, sind Teil einer Geschichte, die Friedrich Kittler als „Alphabete der Neuzeit“ ansprach.330 Aus ihnen geht eine der folgenreichsten Systembildungen des 19. Jahrhunderts hervor: Dimitri Ivanovič Mendelejevs Periodensystem der Elemente. Kittlers Musik und Mathematik weiß um diese Neuzeit, gerade im Empedokleischen Horizont. Empedokles denke „den Kosmos – wie wir dank Mendelejew wieder – zum ersten Mal von abzählbaren Wurzeln her, als periodisches System der Elemente“ .331

Der reiche Artikel „Kreislauf“ in Georg Toepfers Historischem Wörterbuch der Biologie setzt das sogar sehr viel früher an: „Seit Ende des 19. Jahrhunderts wird das Modell des ökologischen Stoffkreislaufs ein zentrales vereinheitlichendes Paradigma, das die verschiedenen Bereiche der Biologie miteinander verbindet: ….“ (Toepfer 2011: 331). 329 Die International Commission on Stratigraphy: Subcommission on the Quaternary Stratigraphy berät seit Jahren über die Einführung des „Anthropozäns“ als einer eigenen Schicht der Erd-Geschichte. Ihre Protokolle, wie Bruno Latour berichtet, zeigen, daß die menschliche Geschichte in nahezu alle bekannten Zyklen von Elementen eingreift: „having modified the flows of all the rivers, the ‚anthropos‘ is now the most important agent of change for all the catchment areas [hier: Wassereinzugs-Gebiete, pb] of the world; it is already the main agent in the production and distribution of the nitrogen cycle, through deforestation, it has become one of the main factors in accelerated erosion; and of course, its role in the carbon cycle becomes enormous as does the degree of its complicity in the disappearance of species – ...“ (Latour 2013: 76, Hervorhebungen pb; vgl. auch die 4. Vorlesung: Athropocene and the Globe Theater, im Ganzen, ebd.: 75 – 97). 330 Friedrich Kittler: Alphabete der Neuzeit 1 (Seminar Humboldt-Universität zu Berlin Sommersemester 2005); Ders.: Alphabete der Neuzeit 2 (Seminar Humboldt-Universität zu Berlin Wintersemester 2005/06). 331 Kittler 2006: 246. 328

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Ein berufener Historiker dieses Systems, der lettische Chemiker und potentielle Nachfolger Mendelejevs: Pavel Ivanovič Wal‘den, bringt die Seinsweise der Elemente nach Mendelejev auf eine kurze Formel: „Sind sie Einzelwesen?“ 332 Antwort: Nein. Denn sie sind nur als System. Als solches und als Erbschaft aus dem 18. Jahrhundert ist das System geschlossen. Darum erlaubt es nicht nur die Beschreibung bekannter, sondern in einer Mendelejevschen „Dreistigkeit des Gedankens“ 333 auch Entwurf und Vorhersage neuer, noch unentdeckter Elemente. Ein geschlossenes System hat und erzeugt Leerstellen im Realen. Es ist axiomatisch, also das, was – Heidegger mit Koyré – die neuzeitliche Wissenschaft als solche von der griechischen und voraristotelischen, aristotelischen und mittelalterlichen unterscheidet. Axiom heißt, so Heidegger 1935: im Entwurf einen Bezirk umreißen oder herstellen.334 Dieser Bezirk als eine „Systembildung“ 335 des 19. Jahrhunderts, dem Periodensystem, wird um 1870 zur Aussagebedingung aller Reden von den Elementen336 und ist bis heute in Kraft. Ein erstes Medium der Aussagebedingung stammt von Jöns Jakob Berzelius. Er führt seit 1818 statt geometrischer Icons für die Elemente „Buchstaben und Zahlen“ ein337 und macht damit aus der Chemie die Buchstabenwissenschaft, die sie seitdem bis in ihre Strukturformeln ist. Seit man im 17. Jahrhundert die vier Elemente und Paracelsus’ drei Prinzipien verabschiedet hat, vermehren sich die Elemente. Die Vierzahl verwandelt sich in eine Vielzahl. Aber sie ist, anders als die unendlich vielen, gleichartigen elementa der Atomistik, qualititativ. Ihre Ordnung freilich ist gänzlich unklar.338 Die erste strukturbildende Operation ist Anordnung der Elemente in einer linearen Reihe. Elemente einer Reihe aber müssen auf ein Kriterium hin homogen sein. Erst seit Stanislao Cannizzaros „Abriß aus einem Lehrgang der philosophischen Chemie“, der als Sonderdruck auf dem großen Chemikerkongreß von 1860 in Karlsruhe – einem Relais der Chemie des 19. Jahrhunderts – verteilt wird, hat jedes Element ein und nur ein sogenanntes Atomgewicht. Damit kann etwa John A.R. Newlands die Elemente „in der Reihenfolge ihrer Atomgewichte“ durchnummerieren und damit die „Ordnungszahlen“ vorwegnehmen, die später Walden 1930: 229. Ebd.: 275. 334 Vgl. Heidegger 1935–36/1987: 71 – 73. Dieser Begriff des Axioms am Grund der neuzeitlichen Wissenschaft ist bei Heidegger von Fragen des mathematischen Formalismus im 20. Jahrhundert, etwa Hilberts axiomatischer Begründung der Geometrie (vgl. oben), nicht unabhängig (ebd.: 73). 335 Walden 1930: 269. 336 Michel Foucaults Archäologie des Wissens nennt ein solches „System der Aussagbarkeit“ auch historisches Apriori (vgl. Foucault 1969/1981: 183 – 190). 337 Vgl. Danzer 1971: 17. Daltons Tabellen etwa arbeiten noch mit diesen graphischen Symbolen (vgl. ebd.: 16, Tabelle 2 ). 338 Vgl. dazu Danzer 1971: 11 – 17. 332 333

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zur „Grundzahl oder Naturkonstante jedes Elementes“ werden.339 Diese Zahlen stellen eine adressierbare Ordnung her wie die Buchstaben alphabetischer Reihenfolgen.340 Die Elemente selbst alphabetisieren sich. Quer dazu liegen erstens die schon vor Cannizzaros Normierung unternommenen Versuche, die Differenzen oder Abstände in den Zahlen der Atomgewichte zu messen. Man versucht, „arithmetische Reihen“, „Proportionen“ oder eine bestimmte „Progression“ zu konstruieren.341 John Hall Gladstone, dem in diesen Reihen Sprünge und Lücken auffallen, läßt sich von dem Mathematiker de Morgan bestätigen, daß die Lücken nicht der statistischen Normalverteilung entsprechen.342 Sie müssen also strukturell sein. Gladstones Abhandlung „Über die Beziehungen zwischen den Zahlenwerthen der Atomgewichte analoger Elemente“ (1853) spricht auch das zweite Grundprinzip aus: die Analogie von Elementen. Wo es bei den Atomgewichten um Zahlenwerte geht, da stehen bei den Analoga die chemischen Eigenschaften der Elemente auf dem Spiel, die etwa für Kohlenstoff und Silicium Ähnlichkeiten aufweisen.343 In dieser zweiten Dimension der Eigenschaften gruppiert man die Elemente, bildet „Triaden“, Vierer- oder Fünfer-Gruppen, die als „Familien“ angesprochen werden und heute als die „Hauptgruppen“ von Elementen.344 Prinzip eins und zwei generieren ein langes Ringen um die ganze Zahl in der Chemie.345 Der Arzt William Prout möchte nur Vielfache des Wasserstoffs (H = 1) zulassen. Um die Mitte ds 19. Jahrhunderts bricht ein wahres „MultiplenWalden 1930: 270. Über die ordnende Macht des Alphabets vgl. im vorliegenden Band etwa die Vorstellung des Beitrags von Barry Powell und die Auseinandersetzung mit Joachim Schaper. 341 Diese Versuche reichen von J.B. Richters Äquivalent-Tafeln im 18. Jahrhundert bis zu Berzelius’ „Theorie der chemischen Proportionen“ (vgl. Walden 1930: 263 – 267; Danzer 1971: 16 – 21). 342 Vgl. Meyer 1895: 29. 343 Um statt Einzelheiten eine fundamentale Familienähnlichkeit der Kohlenstoff-Familie aus einem aktuellen Standardwerk der Chemie aufzurufen: „Kohlenstoff ist das Schlüsselelement des Lebens und der natürlichen Intelligenz. Silicium und Germanium bilden hingegen das Zentrum der elektronischen Technologie und der künstlichen Intelligenz [...]. Die einzigartigen Eigenschaften der Elemente von Gruppe 14/IV ermöglichen beide Arten von Intelligenz [...]. Die halb gefüllte Valenzschale dieser Elemente verleiht ihnen chemische Eigenschaften [...]“ (Peter W. Atkins, Loretta Jones: Chemie – einfach alles (Übersetzung hg. von Rüdiger Faust), 2. vollständig überarbeitete Auflage, WileyVCH 2006, S. 655 (engl.: Chemical Principles. The Quest for Insight, 2005)). 344 Frühere Gruppierungen bei Wolfgang Döbereiner 1829, Leopold Gmelin 1843, Max Pettenkofer 1850 (vgl. Danzer 1971: 19). 345 Im heutigen Periodensystem sind die Kommazahlen rein statistische Produkte: Sie geben die Isotopen-Verteilung an. Ein Element ist ein, im Fachausdruck, „Isotopengemisch“. 339 340

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fieber“ aus.346 Newlands (wie vor ihm Max Pettenkofer) sieht, wie sich aus seiner Anordnung der Elemente nach Atomgewicht von selbst eine Ordnung ergibt: „The n u m b e r s of analogous elements generally differ by 7 or some multiple of 7. In other words, the numbers of the same group stand to each other in the relation as the extremities of one or more octaves in music.“ 347 Als Newlands sein „Law of Octaves“ 1866 der Chemical Society von London vorstellt, wird er nur ungläubig bestaunt. Ein Wissenschaftler fragt „sogar sarkastisch, ob er nicht versucht habe, die Elemente alphabetisch zu ordnen, sicher ließen sich so ebenfalls Gesetzmäßigkeiten finden“.348 Die Idee der musikalischen Struktur der Elemente stammt von einem französischen Geographen und Multigelehrten des Second Empire. Alexandre-Émile Béguyer de Chancourtois hatte die ihm bekannten Elemente in einer „tellurischen Helix“ räumlich angeordnet, auf dem Mantel eines Zylinders mit 45° Steigung: Siehe da, die analogen Elemente lagen senkrecht übereinander.349 Chancourtois arbeitete seit seinem „Mémoire sur un classement naturel des corps simples ou radicaux appelés vis tellurique“, also „über eine natürliche Klassifikation der Elemente oder Radikale, genannt vis tellurique“,350 daran und fand schließlich eine allgemeine Formel dafür.351 Er schließt: „Les propriétés des corps sont les propriétés des nombres.“ 352

Berzelius nach Walden 1930: 266. Zit. bei Walden 1930: 270; vgl. auch Danzer 1971: 20. 348 Danzer 1971: 20 f.. „Professor G.F. Foster humorously inquired of Mr. Newlands wether he had ever examined the elements according to the order of their initial letters? For he believed that any arrangement would present occasional coincidences, but he condemned one which placed so far apart manganese and chromium, or iron from nickel and cobalt.“ (Newlands 1884: 18 f.). 349 Vgl. Walden 1930: 269 f.. Seinem Lehrer, Élie de Beaumont, folgt Chancourtois in der Anwendung eines pentagonalen System für die Vermessung der Erdkugel und erfindet ein „système phonétique généralisé“, vor allem für die einheitliche Benennung von Landkarten (vgl. Jacques Touret: Dans l'ombre de ses maîtres: Alexandre-Eugène Béguyer de Chancourtois (1820–1886), http://www.annales.org/archives/cofrhigeo/beguyer.html (zuletzt abgerufen: 8.8.16)). 350 Radikale, von lateinisch radix, die Wurzel, waren in der „Radikaltheorie“ um 1830 (Liebig und Wöhler) eine Art Zauberformel der organischen Chemie: kleinere Gruppen von Elementen bleiben in verschiedenen Reaktionen gleich. Nach Berzelius könnten zusammengesetzte Radikale sogar die Stelle von Elementen einnehmen. Dieser historische Begriff der Radikale hat mehr mit dem heutigen Begriff der „funktionellen Gruppe“ gemein als mit dem, was heute als „Radikal“ bezeichnet wird: Moleküle mit einer ungeraden Zahl von freien Elektronen, etwa ·CH3. 351 Die von Walden berichtete Formel Chancourtois': A = n + 16n' für die Atomgewichte (Walden 1930: 269) bleibt freilich schwer verständlich und in Deutschland ist nur das Mémoire vor der Académie des Sciences von 1862 greifbar, aber nicht das 1863 herausgegebene, durch Tafeln und Formeln ergänzte Mémoire. 352 Chancourtois 1863, zit. bei Walden 1930: 269. 346 347

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So wäre die aristotelische Frage nach der pythagoreischen Identität von Zahlen und Dingen im Wissen des Abendlands ständig und drängend anwesend. Mit den Elementen verbindet sie sich zum ersten Mal bei Empedokles, dem Pythagoreer, der den kosmischen Ablauf nach Primavesis Entdeckung in den Zahlen der Tetraktys dachte. Bei den Vätern des Periodensystems, Mendelejev und Lothar Meyer, findet die gleiche Frage in einem völlig anderen Dispositiv als bei Empedokles statt: dem Dispositiv der Frequenz.353 Meyer wird die periodische Wiederkehr von Eigenschaften der Elemente sogar einmal als Kurve nach der graphischen Methode des 19. Jahrhunderts anschreiben: in der y-Achse das Volumen des Atoms (als einer grundlegenden Eigenschaft), in der x-Achse die Atomgewichte.354 Wo die Gewichte durch 8 teilbar sind, zeigt die Schwingung Extremwerte. Weil es der Frequenz als Dispositiv des 19. Jahrhunderts entstammt, darum kann das System der Elemente auch „natürlich“ heißen und ist nicht wie im 18. Jahrhundert rein kombinatorisch.355 Die Form des Systems aber ist der tabellarischen Schrift geschuldet. Lothar Meyer trug als erster das Atomgewicht in der Waagrechten, die Familien oder Gruppen in der Senkrechten ein.356 Die Wahrheit dieses Systems ist aus Experimentaltechnik und „verwegener Spekulation“ synthetisiert. So klafft etwa in Mendelejevs erster Tabelle vom März 1869 zwischen Silicium und Zinn, Elementen in der gleichen Familie (Atomgewicht 28 bzw. 118), eine Lücke, ein Element, das rechnerisch das Atomgewicht von 70 haben müßte. Mendelejev spekuliert: „Es muß die Entdeckung noch vieler u n b e k a n n t e r einfacher Körper [das ist: Elemente, pb] erwartet werden ...“ 357 Er gibt den zu erwartenden Elementen bereits Stellvertreternamen: „Eka-bor“ oder „Eka-silicium“, und beschreibt exakt ihre Eigenschaften. Die EntZur Frequenz als Dispositiv des 19. Jahrhunderts vgl. Siegert 2003. Vgl. Danzer 1971: 277. 355 Vgl. etwa im 18. Jahrhundert Jean Hachettes kombinatorische Tableaus mechanischer Bewegungsformen mit leeren Kästchen für kombinatorisch mögliche, aber noch nicht realisierte Mechanismen. 356 Das System ist eine Operation auf der historisch so durchschlagenden Schrift-Technik Zeilen-und-Spalten: „Vor kurzen hat Mendelejeff gezeigt, daß man eine solche Anordnung schon dadurch erhält, daß man die Atomgewichte aller Elemente ohne willkürliche Auswahl einfach nach der Größe ihrer Zahlenwerte in eine einzige Reihe ordnet, die Reihe in Abschnitte zerlegt und diese in ungeänderter Folge aneinander fügt. Die nachstehende Tabelle … “ (Lothar Meyer 1870, zit. bei Walden 1930: 275, Hervorhebungen pb). 357 Zit. bei Walden 1930: 273, aus: Dimititrij I. Mendelejew: „Die Beziehungen zwischen den Eigenschaften der Elemente und ihren Atomgewichten“ (russ. 1869), in: Das natürliche System der chemischen Elemente. Abhandlungen von Lothar Meyer und D. Mendelejeff (hg. von Karl Seubert), Leipzig 1895 (Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften 68), S. 20 – 40, 39: Punkt, 6, 7, 8. 353 354

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deckung tatsächlicher Elemente mit diesen Eigenschaften ist nicht nur eine Folge von Romanen der Wissensgeschichte, etwa der Entdeckung des Germaniums alias Ekasiliziums. Sie wird auch zur Wahrheitsregel: „… einen schlagenderen Beweis für die Richtigkeit der Lehre von der Periodizität der Elemente, als den, welchen die Verkörperung des bisher hypothetischen ‚Ekasiliciums‘ in sich schließt, kann es kaum geben ...“.358 Umgekehrt ist das die Seinsform der Elemente: Sie sind schon, wo sie Nichts sind. Denn das Nichts ist ein Platz. Damit wäre das andere Extrem der Empedokleischen rhizomata ausgesprochen: so weit von ihnen entfernt wie eben eine neuzeitliche Wissenschaft von der griechischen Physis und ihrem Dispositiv, das nach Harald Patzer darin besteht, „das durch das Nichts belastete Entstehen in das Sein aufzulösen“.359 Die Frage nach einer Ursache der periodischen Anordnung wird in der Folge auf den physikalischen Stand der elementaren Dinge führen. Mit Niels Bohrs AtomModell, nach dem die Perioden den Schalen der um den Kern sich bewegenden Elektronen entsprechen,360 wobei die äußerste Schale für die wesentlichen chemischen Eigenschaften eines Elements verantwortlich ist; mit Wolfgang Paulis quantentheoretischer Ableitung des Schalenbaus selbst, nach dem nicht zwei Teilchen die gleiche Quantenzahl haben dürfen und eben darum die periodische Grundzahl acht ist und die äußerste Schale als „Oktett“ mit acht Elektronen geschlossen: damit scheint die Entwicklung des geschlossenen Systems der Elemente selbst vorerst abgeschlossen.361 Seitdem ist die erste Beschreibung eines Elements ein Steckbrief von Elektronen, Valenzelektronen, Wertigkeiten. Sie bildet die elementare Sprache der Chemie. So ist etwa das Element Stickstoff charakterisiert durch 5 äußere Valenz-Elektronen auf der zweiten (L-) Schale von insgesamt 7 Elektronen; es hat als Element eine durchschnittliche Atommasse von 14,0067362 und eine „Wertigkeit“ von drei, das heißt: Es fehlen dem Element Stickstoff drei Elektronen zur voll besetzten Schale. Zit. bei Danzer 1971: 47. Patzer 1939/1993 [TG]: 240. 360 „Die periodische Wiederkehr der Elementeigenschaften, wie sie das Periodensystem widerspiegelt, ist darauf zurückzuführen, daß sich eine analoge Anordnung der Elektronen in den nächsthöheren Bahnen wiederholt.“ (Danzer 1971: 82). 361 Es sei damit, so Danzer, „ein vorläufiger Schlußstrich unter die Entwicklung der Kenntnisse über das Periodensystem gezogen“ (Danzer 1971: 84). Die nächste Phase besteht nach Danzer darin, „über das natürliche System hinaus […] die letzten Lücken [im System, pb] durch eine künstliche Herstellung dieser in der Natur nicht vorkommenden Elemente zu schließen“ (ebd.: 78) und überhaupt natürliche wie „künstliche Elementumwandlung“ anzunehmen (ebd.: 84), das ist: nuklearen Zerfall (vgl. auch hier weiter unten). 362 Weil einer festen Zahl von Protonen eine variable Zahl von Neutronen entspricht und jedes Element ein statistisches „Isotopen-Gemisch“ ist, weicht die Atommasse von dem ganzzahligen Wert 7 Protonen plus 7 Neutronen ab (die Masse der Elektronen wird vernachlässigt). 358 359

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V.2 Der N-cycle Alles Wissen, Sprechen, Forschen von und mit „Elementen“ steht heute unter dieser Aussagebedingung. Sie ist auf ganzen und kleinen Zahlen gebaut. Aber ihre Periodizität ist – anders als Friedrich Kittler es nahelegt – noch kein Zyklus. Elemente in ihrer systemisch-periodischen Seinsform treten erst dann in einen Zyklus, wenn sie auf Agenten treffen. Diese Agenten haben Namen und sind meist Einzeller, solche ohne Zellkern, das sind: Bakterien, und solche mit Zellkern, das sind: Protozoa, oder, um die Algen nicht auszuschließen: Protoktista.363 Die Mikrobiologie versammelt das Wissen von diesen kleinen Lebewesen, die das 17. Jahrhundert als animalcula ansprach. Diese Wesen agieren nicht als Einzelne, sondern in Communities, Netzwerken, interspecies transfers, food webs, microbial ecologies. Als solche betreiben sie Zyklen, die mit dem Buchstaben eines Elements bezeichnet werden: C-cycle, N-cycle, O-cycle, usw.. Wenn also – um einen historisch berühmten und aufs biosphärisch Ganze wichtigen Fall zu nehmen – das Element N, das den Stoff schon im Namen trägt: der Stickstoff, zum N-cycle wird (vgl. Abbildung), dann ist erstens die elementare Basis des zyklischen Geschehens eine chemische Besonderheit des Elements N: Es kommt in Molekülen mit einer ungewöhnlich großen Bandbreite von Oxidationszuständen vor.364 Zwischen Molekülen dieser Zustände werden unter Aufwendung oder Gewinn von Energie Elektronen übertragen. Zweitens agieren in diesen Übertragungen Wesen. Sie leben davon, sowohl energetisch als auch substanziell. So gewinnen etwa die berühmten, von dem russischen Bodenkundler und Großgrundbesitzer Sergeij Vinogradskij um 1890 entdeckten Bakterien der Nitrifikation, heute benannt als Familie der NitrosoGriechisch ktisis, von dem schon mykenischen Wort kitijesi: urbar machen, pflanzen, ist zunächst die Gründung einer Stadt oder Kolonie und wird erst im Griechischen des Neuen Testaments zu Schöpfung und Geschöpf (vgl. Chantraine 1999: ktizo). 364 Die Oxidationszustände reichen von +V im Nitrat NO3– bis zu –III in Ammonium NH4+. Ein hochgestelltes Minus- oder Pluszeichen über dem „Buchstabenkörper“ (Gründler) bedeutet, daß dem Molekül, als sozusagen natürliches Charakteristikum, ein Elektron fehlt: +, oder es eins zu viel hat: – . (Denn ein Minuszeichen im chemischen „Alphabet der Neuzeit“ bedeutet die Anwesenheit eines negativ geladenen Elektrons, nicht dessen Abwesenheit.) Geht man davon aus, daß Atome verschiedener Elemente mit verschiedener Stärke die Elektronen an sich ziehen, also eine verschiedene Elektronegativität haben, Sauerstoff eine sehr große und Wasserstoff eine sehr geringe, dann halten sich die 5 Elektronen des Stickstoff-Atoms im Nitrat NO3– sämtlich um den Sauerstoff herum auf und fehlen dem Stickstoff im Vergleich zum Grundzustand; das ergibt einen Oxidationszustand von +V. Im Ammonium-Ion zieht der Stickstoff die vier (minus eins) Elektronen der Wasserstoff-Atome an sich und hat sie damit zu viel, Oxidationszustand –III. 363

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Bakterien: Ntrosococcus und Nitrosomonas, Nitrobacter und Nitrococcus (vgl. Abbildung), Energie für ihren Stoffwechsel durch Übertragung von 6 Elektronen aus NH3 auf NO2– .365 Damit können die Nitrifkanten den Kohlenstoff aus dem Molekül CO2 der Luft lösen und ganz ohne organische Stoffe leben, das heißt: auto-troph, genauer: litho-autotroph. Sie ernähren sich also, biblisch gesprochen, vom Stein als Brot, wo photo-autotrophe Bakterien wie die Cyanobakterien und die von ihnen herstammenden Pflanzen vom Sonnenlicht leben. Aber Zyklen von Elementen dehnen sich räumlich aus und die Frage ist entscheidend: Wo befinden sich die Quelle NH3 /NH4+ und das von Bakterien generierte Produkt NO3– ? Nitrat NO3– kommt etwa in der Erde, dem Boden, vor und ist dort die hauptsächliche (wenn auch nicht bevorzugte) Stickstoffquelle von Pflanzen; in den Wassern der Meere, wo sich gobal der größte Teil des Nitrats befindet, ist es der Stoff, von dem sich Algen und Plankton nähren. Pflanzen, Algen, Plankton assimilieren, über einen Umweg, das Element Stickstoff aus dem Molekül NO3–. Ammoniak NH3 (engl. ammonia) und Ammonium NH4+ (engl. ammonium)366 befinden sich zum Teil ebenfalls im fruchtbaren Boden. Die Pflanzen synthetisieren aus Ammonium Aminosäuren.367 Sie nehmen dabei zunächst alles in der Erde verfügbare NH3 auf, dann erst NO3– (assimilatorische Nitratreduktion: vgl. Abbildung).368 Also ist die Lage der nitrifizierenden Bakterien des Bodens diesseits und jenseits der Chemie biologisch: Sie stehen im Verhältnis zu anderen Lebewesen, hier in einem Konkurrenz-Verhältnis zu den Pflanzen – Bakterien wie Pflanzen leben von NH3. Andererseits stehen Nitrosomonas und Nitrococcus Der Oxidationszustand des Stickstoffs in NH3 ist, im Sinne der vorigen Anmerkung, +III; Oxidationszustand des Stickstoffs in NO2– ist –III. Das energetische Gefälle, genannt „Redoxpotential“, zwischen NO2– und NH3 ist +0,34 V, die Elektronen werden vom Nitrat angezogen und es entsteht für die nitrifizierenden Bakterien ein Energiegewinn. 366 Ammonium NH4+ und Ammoniak NH3, Ammoniak NH3 und das Amidion NH2– (bzw. R–NH3+ und R–NH2) stehen als konjugierte Säuren/Basen zueinander. Zum Paar R– NH3+ und R–NH2 vgl. nächste Anmerkung. 367 Vor allem die Aminogruppe –NH2 mit dem gleichen Oxidationszustand des Stickstoffs –III wie NH3 und NH4+ ist für die Bildung der Proteine zentral. Über die Aminogruppe bilden sich nämlich in jenen Polymeren oder Polypeptiden, die Aminosäuren heißen, den Grundbestandteilen der Proteine, lange makro-molekulare Ketten (Peptidbindung), die das Trägermedium, le support, von 20 verschiedenen Säuren sind (abgekürzt als R– ). Jede dieser Säuren wird heute als ein einziger Großbuchstabe des lateinischen Alphabets geschrieben. Proteine sind in der modernen Biologie endlose Buchstabenreihen und schon darum – im Wissen, nicht im Realen – von digitalen Maschinen verarbeitbar (vgl. auch Berz 2012). 368 Der Grund dieser Bevorzugung ist energetisch: NO3– muß, bevor es in Aminosäuren eingebaut wird, von der Pflanze in NH3 /NH4+ umgebaut, das ist: reduziert werden. Dem NO3– Molekül werden also 6 Elektronen zugeführt. 365

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Abb.: Der N-cycle (Singleton 1995: 167, Abb. 10.2)

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im Kooperations-Verhältnis, das ist: in Symbiose. Es war Sergeij Vinogradskijs Entdeckung und die Geburtsstunde der microbial ecology, daß die (später so genannten) Nitroso-Bakterien Nitrit, die Nitro-Bakterien daraus Nitrat generieren und beide immer zusammen vorkommen. Was aber sind die anderen Quellen von Ammoniak/Ammonium NH3/NH4+? Zunächst organisches Material (vgl. Abbildung). Zersetzung, Sepsis, des organischen Materials macht aus Teilen toter Pflanzen oder Tiere abiotische Mineralien, im Prozeß der Mineralisation. Bakterien verwandeln organische Verbindungen unter anderem zu Ammoniak NH3 und Ammonium NH4+: Mineralisation als Ammonifikation (vgl. Abbildung). 369 Oder: „the release of inorganic N from organic residues of soil organic matter“. 370 Die Mikrobiologie spricht hier von der Mobilisierung eines Elements, während sein Einbau in organische Moleküle seine Immobilisierung ist.371 Erst mit mineralisierten, mobilen, zirkulierenden Elementen beginnen Zyklen von Elementen überhaupt zu laufen. Die andere Quelle von NH3/NH4+ ist das, was Vielzellern und der Technik geschichtlicher Wesen bis 1913 unmöglich ist: 372 vom Stickstoff N2 der Luft zu leben, also daraus assimilierbares NH3 zu machen (Stickstofffixierung, vgl. Abbildung). Die Luft enthält neben 21% Sauerstoff auch einen Überfluß von 78% Stickstoff in Form des atmosphärischen Gases N2 (das restliche ein Prozent teilen sich Kohlendioxid CO2, Methan CH4, Ozon O3 und andere prominent gewordene Elemente). Pflanzen und Tiere sind, weil das Element N im atmosphärischen Distickstoff-Molekül N2 durch eine starke Dreifach-Bindung gebunden ist (geschrieben als: N≡N), nicht in der Lage, diese Bindung zu lösen. Allein Bakterien lösen das Gasmolekül N2.373 Diese Bakterien aber sind keine Fabriken Ammonifikation ist ein vielschichtiger Prozeß mit vielen Agenten und schon darum im Schema des N-cycle ohne Namen. Eine große Gruppe von gärenden, also anaeroben, Bakterien, die Proteine auflösen (proteolytisch) oder Methan produzieren (methanogen), „makes a living by obtaining energy and C from detritus“. Am Ende dieser bakteriellen Zersetzung organischer Materie steht NH3 – in Boden oder Luft. 370 Kandeler 2007: 72. 371 „Mineralization results in an increase, while immobilization results in a decrease, in simple, plant-available forms of N in the soil.“ (Robertson/Groffman 2007: 344). 372 Patentierung der technischen Ammoniaksynthese nach dem Haber-Bosch-Verfahren 1910, erste Produktionsanlage 1913, großindustrielle Weiterentwicklung auf Betreiben des deutschen Generalstabs, als Folge der britischen Seeblockade und des Ausbleibens von Salpter aus Chile 1914. Ammoniak (Salpeter) als Grundstoff für Schießpulver und als Düngemittel ist ein kriegswirtschaftliches Schlüsselmolekül (vgl. etwa Steininger 2014: 185 – 231). 373 Mit einem großen Energieaufwand von 16 Molekülen ATP, Adensosin-Tri-Phosphat, jener „Energiewährung“ im Metabolismus der Zelle. Bei der Glykolyse eines Moleküls Glucose entstehen 2 ATP. Die Knöllchenbakterien der Leguminosen brauchen 10 mg Glucose um 1 mg Stickstoff zu binden, die frei lebenden bis zu 100 mg (vgl. Odum 369

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zur Ammoniaksynthese, sondern haben in der Sprache der Mikrobiologie Lebensweisen (modes of existence): Entweder sie leben frei oder symbiotisch. Klebsiella pneumoniae etwa (vgl. Abbildung), ein heterotrophes (also sich von organischem Kohlenstroff nährendes) Bakterien ist im Milieu des menschlichen Körpers als Erreger von Lungenentzündungen gefürchtet. Als Bodenbakterium in der Nähe von Wurzeln ist es in der Lage, atmosphärischen Stickstoff N2 in NH3/NH4+ zu fixieren und im Boden anzureichern. In den Meeren fixieren Cyanobakterien, jene Genies der erdgeschichtlichen oxygen revolution,374 Stickstoff aus der Luft. Andere Bakterien leben nicht frei. Sie leben symbiotisch mit den Wurzeln bestimmter Pflanzen zusammen. Diese Wurzeln verändern in den Kreisläufen der Mikrobiologie ihre Seinsweise als Wurzeln: Aus einem Organ des pflanzlichen Organismus wird eine Rhizosphäre.375 In der Nachbarschaft oder Sphäre der Wurzel nimmt eine Pflanze Stoffe auf, aber sie gibt auch Stoffe ab: Zucker, Hormone, Vitamine, Flavonoide oder Aminosäuren. Durch die abgegebenen Stoffe werden stickstoffixierende Bakterien chemotaktisch angelockt. Diese symbiotischen Bakterien, etwa der Gattungen Rhizobium, Bradyrhizobium, Sinorhizobium, schleusen sich in die Zellen der Wurzel selbst ein.376 In der Pflanzenzelle werden die Bakterien von der Wurzel ernährt, etwa mit organischen Säuren als Kohlenstoffquelle oder den von der Pflanze aus Glykolyse gewonnenen 16 ATP Energie. Umgekehrt ernähren die Bakterien die Zellen der Wurzel und versorgen sie mit Stickstoff in Form von NH3. Auf diese Weise können geschichtlich entscheidende Pflanzen: die Hülsenfrüchtler, Fabaceae oder Leguminosen, also Bohnen, Soja, Linsen, Klee, Luzerne,377 vom Element N alias N2 der Luft leben. Aufs Ganze des Zyklus 1999: 108). Das Schlüsselenzym ist die Nitrogenase. Im Vergleich dazu verlangen die katalytischen Prozesse der technischen Synthese von Ammoniak nach Haber-Bosch einen immensen Energie-Aufwand von 500° C Hitze und bis zu 350 bar Druck. 374 Knoll 2003: 89 – 107: Chapter 6: The Oxygen Revolution. 375 Heutzutage wehren sich viele Botaniker generell gegen den Gebrauch des Worts „Organ“ im Bereich der Pflanzen, etwa für Wurzel, Blätter oder Blüte. Sie wollen dem botanischen Wissen gegenüber dem zoologischen immer mehr Eigenständigkeit verleihen. 376 Sie setzen sich an Wurzelhärchen fest, bilden einen Infektionsschlauch, gelangen darüber ins Cytoplasma der Pflanzenzelle, verlieren dort ihre Zellwand und regen in der Zelle das Wachstum der sogenannten Knöllchen an, kleine Kapseln, die an den Wurzeln der Leguminosen auch mit bloßem Auge sichtbar sind (vgl. etwa Drews 2010: 89 f.). 377 Die Fabaceae sind die heute wirtschaftlich vielleicht bedeutsamste Pflanzenfamilie überhaupt, bedeutsamer noch als Weizen. Doch auch verschiedene Gräser und Bäume, etwa die Erlen, fixieren über symbiotische Bakterien Stickstoff (vgl. Odum 1999: 106).

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gesehen stellt die Stickstofffixierung die eine Hälfte eines Kreislaufs zwischen Luft und Erde her: zwischen N2 in der Luft und NH3 in der Erde. Wandert das Element N umgekehrt von der Erde in die Luft, so geht es der Erde verloren. Die Denitrifikation (vgl. Abbildung)378 löst den Stickstoff aus seinen Verbindungen in Erde, Wasser, organischen Molekülen und macht daraus gasförmige Elemente.379 „Denitrification serves to close the global N cycle“.380 Aus der Denitrifikation stammt der größte Teil des Stickstoffs der Luft und ihr Hauptweg wird von Bakterien betrieben.381 125 verschiedene Arten, etwa solche der Gattung Pseudomonas, machen aus NO3– in Erde oder Wasser die Gase N2, NO und N2O, das Lachgas.382 Der Prozeß läuft über fünf Stufen mit drei Zwischenprodukten. Die Mikrobiologie schreibt diese sequence of products oder intermediates als eine Zeile von Buchstaben mit der Syntax von Pfeilen:383 NO3– → NO2– → NO → N2O → N2 .

Jedes intermediate ist das Substrat des nächsten Schritts, aber kann auch an die Umgebung, das Medium, abgegeben werden. Jeder Schritt ist mit einem Enzym verbunden, dessen Generierung nicht nur von der jeweiligen Phase des Prozesses abhängt, sondern auch vom Medium: Die Enzyme der Denitrifikation sind inducible.384 Die Synthese aber der Enzyme und ihrer Produkte und deren Verbrauch finden in der Zeit statt. „There is usually a lag between the production of an intermediate substrate and its comsumption by the next enzyme.“ 385 Diese skandierte Zeit aber ist in den pure cultures der Labore eine andere als im wirklichen Leben – in the field. Denn dort gibt es zwischen verschiedenen Arten denitrifizierender Bakterien im gleichen Medium Differenzen im zeitlichen Ablauf: Um die Intermediates findet ein Wettbewerb statt und auch gegenseitiger Austausch, genannt cross feeding. Die Abfolge des N-cycles in der Zeit wird von bakteriellen communities orchestriert.386 Vgl. Robertson/Groffman 2007: 355 – 359. Der „Verlust“ ist, menschlich gesehen, entweder gewünscht, wie in der Abwasserreinigung – Reinigung von Nitraten und Nitriten ist dabei ein wichtiges Ziel – oder gefürchtet, wie in der Landwirtschaft. 380 Vgl. Robertson/Groffman 2007: 355. 381 NO3– kann auch direkt, durch NO3– leaking, aus der Erde in Luft oder Wasser geraten, denn es ist, im Unterschied zu NH4+, nicht an Bodenpartikel, etwa Ton, gebunden. 382 Das Lachgas (nitrous oxide) ist ein Gas, dessen Treibhaus-Effekt 296 mal größer ist als der von CO2 (vgl. auch hier weiter unten). 383 Vgl. etwa Zumft 1997: 535; oder Robertson/Groffman 2007: 356. Als Membran-Schema mit allen Elektronen- und Protonen-Übergängen bei Brock 2012: 413. 384 Die Denitrifikation ist darum ein Lieblingsthema der Enzymforschung und ihrer molekularen Genetik, vgl. etwa Zumft 1997. 385 Robertson/Groffman 2007: 357. 386 Sie führen „to a complex response to the environmental conditions that induce denitrification“ (ebd.: 358). 378 379

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Von den drei Wegen, auf denen NO3– zurück zur Quelle kommt – assimilatorische Nitratreduktion, Denitrifikation Stickstofffixierung und dissimilatorische Nitratreduktion (vgl. Abbildung) – ist der dritte Weg Teil einer großen, in der frühgriechischen Philosophie beginnenden Wissensgeschichte. Die dissimilatorische Nitratreduktion ist eine Form von Atmen.387 Biologisch gesprochen ist Atmen Übertragung von Elektronen, also Elektronen-Transport, in langen Ketten in und an Membranen, mit am Ende der Übertragungskette einem Elektronenakzeptor.388 Er kann gut oder weniger gut sein, also Elektronen mit mehr oder weniger Energie an sich ziehen. Der beste Elektronenakzeptor der Biosphäre heißt O2, der zweitbeste NO3, wobei der letztere den Vorteil hat, in allen Meeren und Erden im Überfluß vorhanden zu sein, erdgeschichtlich schon vor Erscheinen des atmosphärischen Sauerstoffs. Die sogenannte Nitratatmung hat in den Zyklen der Mikrobiologie eine genaue Stelle (vgl. Abbildung).389 Denn sie ist unter Bakterien weit verbreitet: Die gärende Familie der Clostridien etwa390 oder die unserem genetischen Zeitalter berühmte Heldin Escheria coli leben davon. Was aber folgt daraus für Empedokles? Zwischen Empedokles’ Gedicht vom Zyklus der Elemente und dem modernen Wissen über Zyklen von Elementen liegen fundamentale Brüche der abendländischen Wissensgeschichte. Lassen sich trotzdem zwischen Zyklus und Zyklen Abstände vermessen? Würde darin etwas klar werden sowohl über den Zyklus als auch über die Zyklen? Erster Versuch. Das neuzeitliche, biologische Wissen von den Lebewesen steht unter einer Aussagebedingung, die einen ähnlichen Status hat wie das Periodensystem für die Elemente: Lebewesen sind Organismen. Das Dispositiv von Organ Organismus Organisation stammt aus dem 19. Jahrhundert. Martin Heidegger hörte in „Organismus“ nicht das Werkzeug, griechisch organon, sondern die Maschine.391 Vgl. etwa Empedokles Fr. 115 – 119 oder Aristoteles’ De respiratione. Der umstrittene britische Nobelpreisträger Peter Mitchell hat dies allgemein Anfang der 1960er Jahre gezeigt (vgl. demnächst: Berz [2017]). 389 Nitrat atmende Bakterien reduzieren zuerst NO3– zu NO2– und dann entweder NO2– über die intermediates NO und N2O zu N2 (der beschriebene Fall der Denitrifikation) oder zu NH4+; oder Nitrat atmende Enterobakterien etwa reduzieren direkt durch Übertragung von 6 Elektronen NO2– zu NH4+; weil das Redox-Potential NO3– /NO2– und NO2–/ NH4+ positiv ist, gewinnen die „anaerob atmenden“ Bakterien damit aus ihrer Umgebung Energie – „Umgebungsenergie“ (Singleton) (vgl. Mikrobiologie TB 2008: 364 f.; Singelton 1995: 83 und 71). 390 Clostridien gewinnen Umgebungsenergie aus nahezu allem, auch aus Cellulose, also Gras, etwa im Pansen der Kuh – nur nicht aus Plastik: „Außer künstlichen Polymeren (Plastik) können sie nahezu alle Kohlenstoffverbindungen abbauen.“ (Margulis/ Schwarz: 68, M–14). 391 Vgl. Heidegger 1929–30/1983: 311 – 325, § 51 und § 52. 387 388

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Nähme man aber die Sache von der Wurzel her, hē rhiza oder to rhizōma, und dem wissenshistorischen Befund, daß die moderne Mikrobiologie die Wurzel als Organ eines Organismus durch eine Rhizosphäre ersetzt, mit einer genauen Position im Zyklus der Elemente, dann ist das ein wissensgeschichtlich bedeutsamer Moment: Das Dispositiv des Organismus scheint an seine Grenzen zu kommen. Denn wäre eine Rhizosphäre noch als Organ anzusprechen? Als Organ eines Zyklus?392 Oder hätte das Wurzeln, jene fundamentale pflanzliche Seinsweise, seinen Sinn verändert? Das Wurzeln wäre – mehr als Deleuze/Guattari je zu träumen wagten393 – nicht Ursprung und Entspringen, sondern eine verzweigte, symbiotische Aktivität innerhalb eines zyklischen Ablaufs. Bilden sich also in Kreisläufen von Elementen mit ihren Agenten, den Einzellern, andere, oft noch unbenennbare Dispositive? Verändern die Zyklen die Seinsweise als solche der Lebewesen? Das führt umgekehrt zur Frage, was in mikrobiologischen Zyklen von Elementen überhaupt die Lebewesen sind und tun? Denn hier finden nicht nur biochemische Umwandlungen im Austausch von Elementen und Elektronen statt. Stoffkreisläufe gehen durch Stoffwechsel und das heißt: Sie werden von Wesen betrieben, die sich ernähren.394 Was für den Stoffwechsel der Wurzel gilt, könnte auch für andere stofflich-elementare Prozesse der Lebewesen und ihre Organe gelten. Wenn Blätter über Photosynthese im Licht (Feuer) den Kreislauf von Kohlen- und Sauerstoff betreiben; wenn tierische Lungen oder Tracheen den Sauerstoff der Luft atmen, also Energie durch Oxidation von Zuckern gewinnen; wenn die Assimilation von Elementen, die durch Münder und Mägen geht, Proteine auf- und abbaut, deren Elemente Kreisläufe betreiben; wenn Tiere beim Wahrnehmen – Sehen durch Augen, Hören (und Gleichgewicht) durch Ohren, Riechen durch Nasen und Fühler, Fühlen durch Haut – ebenso Energie verbrauchen wie beim Sich-Bewegen durch die Organe des Laufens, Schwimmens, Fliegens, dann sind die Organe immer auch Teil biogeochemischer Zyklen. Als solche verändern die Organe ihren Status. Sie gehören nicht mehr nur einem Organismus und der Physiologie seines Meta-, Ana-, Katabolismus an, sondern den Zyklen als solchen. – Umgkehrt ist die Ausweitung des Organismus-Begriffs auf die ganze Biosphäre, wie manche esoterische Adapationen von James Lovelocks Gaia-Theorie es wollen, aus prinzipiellen Gründen schwer möglich: denn dieser Organismus stünde nicht im Verhältnis zu anderen, weder der Konkurrenz noch Symbiose. Er läge wie bei Empedokles „Sphairos, der kugelförmige, froh über die ringsum herrschende Einsamkeit“ (Empedokles Fr. 191). 393 Vgl. Deleuze/Guattari 1977/1980. 394 Zur Physis, so Heidegger in einer geradezu Empedokleischen Volte, gehöre „ein einzigartiges Sich-zustellen von solchem, was durch sie erst aus einem Verfüglichen, wie z.B. Wasser, Licht, Luft, zu einem nur ihr Geeigneten, z.B. zur Nahrung und so zu Saft und Knochen wird. Man kann dieses Geeignete [aber auch, pb] für sich als Verfügliches nehmen und das Verfügliche als Stoff betrachten und die φύσις als einen 'Stoffwechsel'.“ (Heidegger 1939/2004: 298). In diese „doppelte Möglichkeit der Ansprechung“ – von der Physis oder vom Stoff her – mündet Heideggers ganze Argumentation über die Physis in Aristoteles’ Physik. 392

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Die Lebewesen des Empedokles, die zwischen den vier rhizomata: Erde, Wasser, Luft und Feuer (Licht) einmal als langdauerende Götter, ein andermal als lebendige, sterbliche Daimones leben; die zwischen Werden und Vergehen, genesis und pthora, zwischen Zusammentreten und Zersetzen, xynodos und diaptyxis, zwischen ewigen Grundstoffen und Wiedergeburt pendeln, in einem Zyklus, der von den vergöttlichten Mächten der bindenden Liebe und des lösenden Streits betrieben wird: Diese Lebewesen sind keine Organismen, so wenig wie die Glieder, melea, des Empedokleischen Zyklus Organe sind oder die gyia mendelejevsche Elemente. Könnte – erster Versuch – gerade dann, wenn in Zyklen von Elementen überkommene Dispositive der neuzeitlichen Biologie zergehen, das Wissen sich historisch von seinem gegenwärtig jüngsten Ende her auf das älteste Wissen öffnen? Zweiter Versuch. Dem vom 19. Jahrhundert ererbten Dispositiv des Organismus gehört auch die „binäre Opposition“ organisch-anorganisch an.395 Sie ist weit entfernt von der Empedokleischen Polarität biotisch-abiotisch, der nach Tetraktys und Göttereid eine strukturierende Funktion im Ablauf des kosmischen Zyklus zukommt. Doch wird auch diese dichotomische Grundregel anorganisch-organisch in den Zyklen der modernen Mikrobiologie prekär. Denn sie werden nicht von der Binarität organisch-anorganisch getragen, sondern von der Polarität immobil-mobil. Mineralisation im mikrobiologischen Sinn setzt Elemente aus organischen Molekülen frei und mobilisiert sie. Assimilation bindet sie in Kohlenstoffmoleküle und immobilisiert sie in und als Lebewesen. Die biotische Phase des Empedokleischen Zyklus besteht, nach Primavesis Übersetzung, aus „Vereinigung und Freisetzung“ der Grundbestandteile in und aus grösseren Körpern. In der Phase des Dinos (vgl. Tetraktys und Göttereid, Abbildung 3), in dessen Wirbelbewegung sich die letzten biotischen Reste zersetzen, lösen sich die Grundbestandteile aus den größeren Körpern, sie irren zuerst einzeln umher (Fr. 66, 300) und laufen, nachdem sie sich Gleich-zuGleich zu homogenen Massen zusammengefunden haben, in Hochgeschwindigkeit umeinander. Sie sind in diesen Phasen abiotisch. Zwar findet die Grund395

Die Transformation des Wissens von den Lebewesen seit Ende des 18. Jahrhunderts „entraîne une conséquence majeure: la radicalisation du partage entre organique et inorganique.“ (Foucault 1966/1990: 244). Friedrich Kittler nimmt das einmal so auf: „Der Zauber des Organischen […] ist historisch ein junger Begriff. Erst seit der Schwellenzeit von 1770 sind die altehrwürdigen und vielfachen Reiche des Sublunaren – vom Stein über die Pflanze und das Tier bis hin zum Menschen – zur binären Opposition zwischen Anorganischem und Organischem implodiert.“ (Kittler 1995: 199).

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bewegung der Mobilisierung und Immobilisierung bei Empedokles in einem ganz anderen Horizont statt als in der modernen Biologie. Denn der Zyklus des Empedokles gehört nicht einer energetisch-ökonomischen Welt der RedoxPotentiale und thermodynamischen Effizienzen von Input und Output an, samt ihrer „Wirkungsgradreligion“ .396 Im kosmischen Zyklus führt eine vergöttlichte Kraft genannt Philia die Grundstoffe zu größeren Körpern zusammen und eine vergöttlichte Macht genannt Neikos setzt sie frei. Energetische Input/Output Rechnungen über diese Kräfte gehören aus prinzipiellen Gründen nicht ins Dispositiv des Empedokles.397 Könnte es – zweiter Versuch – sein, daß bestimmte Grundstrukturen wie mobilimmobil im Wissen des Abendlandes andere, größere Zeiten aufspannen als die Dispositive des neuzeitlichen Wissens es erahnen lassen? 398 Freilich wäre auch ein direkterer Weg von der mineralization zu Empedokles denkbar. Denn Mineralization hat zwei Seiten.399 Darunter fällt nicht nur die beschriebene Ammonifikation, sondern auch auch die Ausfällung, precipitation, mineralischer Strukturen in Lebewesen: Knochen, Haare, Schuppen, Schildkrötenpanzer und Muschelschalen der Vielzeller, aber auch die kunstförmigen Schalen der Einzeller, der Radiolarien, Kieselalgen, Foraminferen, Nummuliten. (Aus den Nummuliten sind Ägyptens Pyramiden erbaut.) Bei Empedokles wird dem Schüler die Gegenwart dessen, was Erde ist, an bestimmten Tieren demonstriert: „ ... bei den Muscheln, den meerbewohnenden mit dem schweren Rücken ... […] wirst du die Erde als oberste Schicht

Der Ausdruck „Wirkungsgradreligion“ stammt aus einer Festrede Wichard von Moellendorfs, einem Organistor der deutschen Kriegswirtschaft, vor dem Verein Deutscher Ingenieure 1920 (vgl. von Moellendorf 1920). 397 Jacques Lacan behauptet einmal, daß das „energetische Kalkül“ als solches dem antiken Denken völlig fremd sei. Die „Leute, die Sklaven hatten, haben niemals bemerkt, daß man Gleichungen aufstellen konnte zwischen dem Preis ihrer Nahrung und dem, was sie in den latifundia taten.“ (Lacan 1954–55/1991: 100). 398 Ein anderes Indiz dafür könnte sein, daß auch das 18. Jahrhundert Zyklen und die Grundstruktur mobiler-immobiler Grundbestandteile kennt. Doch sind die Grundbestandteile, etwa bei Buffon, keine chemischen Elemente. Das Dispositiv Buffons sind sogenannte organische Moleküle. Sie durchlaufen bei Buffon Empedokleisch klingende Prozesse: „ ... ces molécules passent de corps en corps, & servent également à la vie actuelle & à la continuation de la vie, à la nutrition, à l'accroisement de chaque individu; & après la dissolution du corps, après sa destruction, sa réduction en cendres, ces molécules organiques, sur lesquelles la mort ne peut rien, survivent, circulent dans l'Univers, passent dans d'autres êtres, & y portent la nourriture & la vie.“ (zit. bei Toepfer 2011: 327, aus Band 4: Le boeuf von Buffons Histoire naturelle). 399 Im Deutschen wird oft Mineralisierung (etwa die Ammonifikation) von Mineralisation (Ausfällung anorganischer Strukturen) unterschieden. Für die weitere Bedeutung des englischen mineralization vgl. auch die Definitionen der International Union of Pure and Applied Chemistry IUPAC (vgl. Wikipedia Eintrag „Mineralization (biology)“, zuletzt abgerufen am 16.8.16). 396

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der Haut lagern sehen“, auch an „Tritonshörner mit steinerner Haut“ und Schildkröten und dem Geweih von Hirschen lasse sich, so der Lehrer zum Schüler, die dichte Erde als Grundbestandteil in den Lebewesen sehen.400

Dritter Versuch. Die vier homogenen Elementmassen: Erde, Wasser, Luft und Feuer (Licht) tragen nach Primavesis Rekonstruktion die beiden kürzesten Phasen 10–10 des Empedokleischen Zyklus (vgl. Tetraktys und Göttereid, Abbildung 3). Sie finden sich nach dem Gesetz von Gleich-zu-Gleich, auf dem Höhepunkt des Streits nach Zersetzung aller artikulierten Wesen zusammen.401 Auch wenn nach Primavesis Rekonstruktion im Lauf des Empedokleischen Zyklus die vier Elemente gerade im Zustand ihrer Trennung abiotisch sind und die als Sonne, Meer, Luft, Erde erfahrbaren Elemente bei Empedokles nicht vier reine, sondern durch Liebe und Streit vermischte Massen sind und damit selbst schon den biotischen Phasen angehören:402 Die Frage als solche nach Homogeneitität, Getrenntheit, Vermischtheit der Elemente alias vier rhizomata ist seit Empedokles ein Problem der Naturphilosophie. Denn erst wo von mehreren Grundbestandteilen und nicht nur von einem (wie bei Thales) oder unbegrenzt vielen (wie bei Anaxagoras oder Demokrit) die Rede ist, kann sich die Frage nach der Reinheit oder Vermischtheit elementarer Massen überhaupt stellen. Dieser Diskurs zieht sich von Empedokles über Lukrez403 bis zur Neuzeit durchs abendländische Wissen von den Elementen und ihren Zyklen. In der modernen Biologie werden die Elementmassen von Erde, Wasser und Luft als Sphären angesprochen: als Lithosphäre, Hydrosphäre, Atmosphäre.404 (Das Feuer als Sonnenlicht oder, mit dem Unterschied ums Ganze, SonnenEnergie nimmt hier wie überhaupt eine Sonderstellung ein. Es liegt auch bei Empedokles den drei anderen gegenüber.) Sowohl die cycles der Mikrobiologie als auch die Umwelten der Vielzeller liegen in einer oder mehrerer dieser Sphären. Cycles von Elementen finden entweder in der Erde oder im Wasser oder in der Luft statt. Sie sind die Milieus oder Medien der Zyklen. Vgl. Fr. 66, 324 – 330. Zum Folgenden vgl. auch weiter oben: Abiotische Götter, biotische Dämonen. 402 Vgl. weiter oben: Abiotische Götter, biotische Dämonen. 403 Etwa in Lukrez’ kritischer Empedokles-Eloge aus De rerum natura (Buch I, Vers 719 – 829). Lukrez bemängelt an den Grundstoffen des Empedokles, daß sie weich und formbar seien, gestaltlos wie eben Luft, Wasser, Feuer und, mitunter, die Erde statt dicht, voll, nicht verformbar wie die Lukrez’ primordia, die eben darum schema, taxis, thesis haben und darin den Buchstaben, elementa, gleichen, also abiotischen, ja kristallinen Dingen (vgl. ebd.: Vers 753 – 762). 404 Wenn die Elementmassen des Empedokles umeinander laufen oder rotieren, müssen sie auch eine ringförmige oder sphärische Form annehmen, selbst wenn das in den uns erhaltenen Fragmenten nicht explizit gesagt scheint. Der Sphairos als solcher freilich ist nur eine Phase, in der sich Sphären im Plural gerade nicht voneinander trennen. 400 401

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Über sie spricht die moderne Biologie auch in phyikalischen Begriffen: Die Sphären von Erde, Wasser, Luft sind Phasen – feste, flüssige, gasförmige Phase. Wo die Phasen aneinanderstoßen, liegen, im Sprachgebrauch der Biologie, interfaces. Sie sind eine Lebensbedingung. „Um wie viel leichter ist es, an einem Interface zu leben“, How much easier is it to live at an interface.405 Viele, vor allem während der explosiven Artenvermehrung im Kambrium sehr erfolgreiche Wesen leben am Interface von flüssiger und fester Phase, also am Meeresgrund etwa, an Steinen oder Korallen. Andere, darunter auch wir geschichtliche Wesen, leben am Interface von fester und gasförmiger Phase.406 Wieder andere, etwa das Schilf, Phragmites communis oder seine Unterart, das Pfahlrohr (Arundo donax),407 bewohnen zwei Interfaces und drei Phasen gleichzeitig: Sie wurzeln im erdig Festen der Sedimente, die reich an Nährstoffen sind und durch das Wasser unter gleichmässigem Druck gehalten werden. Ein Teil des Stiels aber ist im Wasser und die Blätter reichen in die Luft, also die Gasphase, in die die Pflanze Sauerstoff O2 entläßt und aus der CO2 für die Photosynthese kommt und „silbern an reinen Tagen das Licht“ .408 Für die Kreisläufe der Mikrobiologie sind die Grenzen von Erde und Luft, Wasser und Luft, Luft und Feuer Zonen des Austauschs. Von Erde oder Wasser gehen bei der Denitrifikation gasförmige Stickstoff-Moleküle in die Luft; bei der Stickstoffixierung werden sie aus der Luft in Erde oder Wasser fixiert; NH3 entweicht aus künstlichen oder natürlichen (Urea) Stickstoffdüngern in die Luft und zirkuliert mit ihr;409 im Regen – „der in allem dunkel und kühl ist“ (Fr. 66, 313) – schlägt sich NH3 aus der Luft als ungewollter Dünger wieder auf die Erde nieder.410 Das klagt einmal der Limnologe Hutchinson, nachdem er die Schwierigkeiten beschrieben hat, im ausschließlich flüssigen Teil der Biosphäre zu leben (Hutchinson 1970: 47b). 406 Das determiniert etwa die Art der Fortbewegung und damit die fundamentale Morphologie eines Lebewesens: bilateral symmetrisch mit pfeilförmig unterschiedenem Vorne und Hinten – dem Erfolgsmodell schlechthin für Fortbewegung. 407 Aus dem Pfahlrohr hat der Mensch lange Zeit Oboen, Panflöten, Krumhörner gemacht oder Kiele zum Schreiben auf Papyrus. 408 Hölderlin:Griechenland [Dritter Entwurf] (1804), Vers 20–22, in: Hölderlin MA, Band 1: 479. 409 Aus der Hydrolyse von Harnstoff, Urea: (NH2)2CO + H2O → 2NH3 + CO2 , durch das von Bakterien, der Gattungen Heliobacter oder Proteus etwa, produzierte Enzym Urease, das 1926 als erstes Enzym überhaupt isoliert und kristallisiert wurde. 410 Da es dann unterschiedslos auf kultivierten und unkultivierten Flächen ankommt, erzeugt es gerade da, wo es der kultivierende Mensch nicht will: in Wäldern, Seen, Landschaften Überdüngung. Sie läßt die Pflanzen ins Kraut schießen und erzeugt unvorhersehbare Artverschiebungen. „Widespread NH3 fertilization through atmospheric deposition can stimulate plant growth in pristine aereas where N was previously limiting. Changes in plant species are noted in undisturbed ecosystems where high NH3 deposition occurs.“ (Nitrogen Notes (number 6) des International Plant Nutrition Institut 405

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Methodisch liefe das – dritter Versuch – auf eine Art Rekursion des Elementaren zu.411 Das Wissen von den vier Elementen als Massen Erde, Wasser, Luft und Feuer riefe sich dann seit Empedokles immer wieder selbst auf, reicherte sich an und versenkte sich immer weiter verschachtelt in die Materie. Gegenwärtig wäre es in mikrobiologischen Stoffkreisläufen und ihren Medien angekommen. Vierter Versuch. Diesseits aller graphischen Analogien sind die Schemas mikrobiologischer Zyklen keine Zeit-Schemata, wie ein Vergleich der Abbildung des N-cycle hier mit den vier Abbildungen des cosmic cycle in Tetraktys und Göttereid zeigt. Die zyklischen Schemata der Mikrobiologie sind nicht nach der Uhr entworfen. Sie folgen eher dem graphentheoretischen Modell von Wegen, englisch: pathways.412 Die Zeit, die sich im Empedokleischen Zyklus als beschleunigtes oder verlangsamtes Wirken von Philia und Neikos entfaltet, ist hier die Zeit der Bakterien. Bevor also organischer Detritus in Wasser oder Humus „seine Nähstoffe freigibt“,413 müssen Bakterien die Kohlenstoffverbindungen abbauen – durch Faulen und Verwesen, Mineralisieren und Ammonifizieren. Das nimmt Zeit in Anspruch, ist an Zeiten gebunden und Bedingungen zu bestimmten Zeiten, auch Zeiten des Jahrs. Bei höherer Temperatur agieren die Bakterien schneller als bei niedriger, bei Trockenheit langsamer als im Feuchten. Die Zeit der Bakterien in den elementaren Zyklen bestimmt die Zeit von Wachsen und Aufgehen, phyesthai. Wo man im 19. Jahrhundert für das Wachstum der Pflanzen das sogenannte Minimum-Gesetz entdeckt – das in geringster Menge vorhandene mineralische Element bestimmt das Wachstum der gesamten Pflanze – da entsteht aus der Logik der Zyklen ein Zeit-Gesetz: Entscheidend ist, wieviel von einem mineralischen Element zu einer bestimmten Zeit von Bakterien aufgeschlossen wird, das ist: „während der kurzen Zeit des starken Wachstums“.414 (Nitrogene Notes-EN-6.pdf): 4; vgl. auch Reichholf 2006: 83 – 85; Odum 1999: 108). Erste Elemente ökologischen Denkens entstehen aus den Stoffkreisläufen. Eugen Odums Standardwerk Fundamentals of Ecology (1. Auflage 1953) setzt bis in die 2. Auflage von 1959 Biogeochemical Cycles an den Anfang (vgl. Eugene Odum: Fundamentals of Ecology, 2nd ed., Philadelphia und London 1959: 30 bis 42). 411 Friedrich Kittler bevorzugte immer wieder die Rekursion als historische Denkweise (vgl. etwa Kittler 2009: 244 – 246, 4.2.2 Rekursion). 412 In der Biochemie heißen Abläufe „Wege“ (engl. pathways), etwa der fundamentale der Glykolyse: Embden-Meyerhof-Parnas-Weg. Zur graphischen Darstellung des Zyklus vgl. hier weiter oben: I. Schließung. 413 Reichholf 2006: 82. 414 Ebd.. Das hat, ebenfalls nach Reichholf, hochbrisante Folgen für unsere biosphärische Zukunft. Künstliche Mineraldüngung, deren erster Prophet und Industriegründer eben Justus von Liebig heißt, kann sich auf die kurze Zeit des Wachstums synchronisieren. Sie macht die Hälfte der Stickstoffdüngung landwirtschaftlicher Flächen aus. Die an-

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Aber auch die Wege selbst, wie im skizzierten Fall der Denitrifizierung, sind zeitliche Sequenzen von Zwischenprodukten, skandiert durch Verlangsamungen oder Beschleunigungen, Geschwindigkeits-Konkurrenzen und -Synchronien.415 Doch haben diese Zeiten wenig mit der Zeit des Empedokleischen Zyklus zu tun. Denn die Zeiten der modernen Biologie sind Zeiten, die dem Grundgesetz der Effizienz folgen. Die Gesetze dagegen, nach denen Philia und Neikos die Geschwindigkeiten von Ortsbewegung, Mischung und Trennung geben, sind andere. Sie könnten, wenn die Tetraktys ein musik-mathematisches Maß ist, am Ende auch musikalisch oder metrisch bestimmt sein. Könnte sich trotzdem – vierter Versuch – auf dem langen Weg durch die abendländische Wissensgeschichte die Zeit des Empedokleischen Zyklus in einem bestimmten Moment als mikrobiologische Zyklen entfalten? Spiralförmig voranschreitend sequenziert sich die zyklische Zeit der Physis immer dichter, immer materieller – nicht nach oben, sondern in die Materie, in die Elemente und in die Lebewesen, die sie bewohnen? V.3 geostory Mit dem vierten Versuch ist freilich die Frage nach der Großen Zeit des Empedokleischen Kosmos allererst eröffnet. „Dreimal zehntausend Jahreszeiten“, tris min myrias hōras (Fr. 8b, 5): Das war die einzige Zahlenangabe, die aus Empedokles’ Werk bekannt war, bevor sich mit Oliver Primavesi, Alain Martin/Primavesi und Marwan Rashed die Empedokleischen Zeitgaben zu einer ganzer Wissenschaft entwickelt haben. Nach zehntausend Jahreszeiten zählt Empedokleisch-pythagoreisch das „mythische Gesetz: Die Bestrafung der blutschuldigen Götter“ .416 Als Daimones werden sie auf eine Reise durch die sterblichen Wesen in „allen möglichen Gestalten“ und Elementen geschickt, gejagt von Element zu Element: in die mächtige Himmelsdere Hälfte des Stickstoffs ist organisch: Gülle und Mist aus Tierhaltung, vor allem von Rindern, dazu die Stickstoffdüngung aus der Luft. Nun fällt aber weder organischer Dünger noch Düngung aus der Luft nur zu bestimmten Zeiten an. Rinder fressen das ganze Jahr und scheiden Stickstoff in Form von Gülle und Mist aus; das NH3, das aus offenen Güllegruben in die Luft steigt, fällt mit dem Regen zeitlich und räumlich unterschiedslos zu Wachstums- und Stillstandszeiten auf kultivierte und nicht kultivierte Flächen – mit den oben beschriebenen Folgen einer Überdüngung (vgl. ebd.). 415 Über Zeitbegriffe in den „Zwischenreaktionen“ und „Elementarprozessen“ der technischen Chemie und ihrer Katalyse, vgl. Steininger 2012: 65 – 76. 416 So überschreibt Primavesi die Empedokleischen Fragmente Fr. 8 – 10 (Mansfeld/Primavesi 2011 [TG]: 421 f.).

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luft, auf die See, auf den Erdboden und „zu den Strahlen der unermüdlichen Sonne, die aber warf ihn in die Wirbel der Luft“ (aus Fr. 8b, 5–10). In der modernen Biologie stehen Zyklen von Elementen im Zeithorizont der Erdgeschichte oder Palä-Ontologie. Diese Zeit ist nicht zyklisch, auch wenn sie mythische Züge trägt. Sie rechnet sich in Millionen: 1000 Millionen Jahre heißen Ein Äon.417 Werden die Millionen ausgeschrieben, dann fand etwa die O2-Revolution, die den Sauerstoff in die Luft brachte, vor 2500 Millionen Jahren (2,5 Äonen) statt und die kambrische Explosion der Vielzeller-Arten vor 500 Millionen Jahren (0,5 Äonen). Diese Zeiten sind keine geschichtlichen Zeiten. Denn sie sind atomar. Die Zeiten der Erdgeschichte entstehen im Zerfall von Elementen, also der Umwandlung eines Elements in ein anderes.418 Wenn sich etwa im Zirkon – einem Mineral, das Andrew Knoll als den Flugschreiber der Erdgeschichte anspricht – die Hälfte der Atomkerne des instabilen Elements Uran 23892U in das stabilere Element Blei 20682Pb verwandelt hat, sind, so die Atomphysik, 4500 Millionen Jahre vergangen. Die Gegenprobe mit den 700 Millionen Jahren der elementaren Verwandlung von Uran 23592U in Blei 20782Pb liefert das, was Zeitmessung im Universum der Präzision prinzipiell ausmacht: Uhrenvergleich.419 Das Riesenhafte der elementaren Zeiten,420 in denen sich auf dem state of the art Erdgeschichte auffaltet, ist allein im pythagoreischen Medium der Zahl – als reine Hochrechnung. Da aber von den atomaren Zeiten trotzdem und ausführlich erzählt wird, sind sie mythisch. Die Mythen erzählen nur vordergründig von „Ursprüngen“.421 Denn Zyklen von Elementen falten selbst die Zeit auf, in der sie stattfinden.

Über Empedokles’ Aion vgl. Tetraktys und Göttereid: XII. Chronos und Aion. In paläontologischen Schemas von Zeitschienen werden die Millionen meist ausgeschrieben (vgl. etwa Knoll 2003: 2, Figure P.1.). 418 Vgl. etwa ebd.: 52 – 56. 419 Vgl. ebd.: 54 f.. Über das Universum der Präzision als Epoche siehe den selbst Epoche machenden Aufsatz Alexandre Koyrés: „Du monde de l'à peu près à l'univers de la précision“ (Koyré 1948; vgl. auch Lacan 1954–55/1991: 377 f.). 420 Das „Riesenhafte“ als Kennzeichen der wissenschaftlichen Technik der Neuzeit geht für Heidegger „zugleich in der Richtung des immer Kleineren“ (Heidegger 1938/1972: 87 f. und 103, Zusatz 12; vgl. aus derselben Zeit 1936/1938: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), Gesamtausgabe Bd. 65, Frankfurt a. M. 2003, S. 135 – 138, § 70 und 71: Das Riesenhafte). 421 Der von Aleksandr Ivanovič Oparin in den 1920er Jahren begründete moderne Diskurs über proischoždenie, das ist: Entstehung, Hervorkommen, Abstammung oder (seit 1936) vozniknovenie, das ist: das Aufkommen „des Lebens auf der Erde“ feiert sich im Amerika der 60er Jahre als Origin-of-Life-Diskurs. 417

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Eine berühmt gewordene Erdgeschichte etwa handelt vom N-cycle. Auch wenn sie nur eine Hypothese geblieben ist,422 zeigt sich in ihr etwas Prinzipielles: Wie aus Zyklen Erdzeit entsteht. Die Erzählung setzt mit dem Feuer ein: mit solar luminosity. Seit den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts nimmt man an, daß die Sonnenstrahlung, gerechnet vom Beginn der Erdgeschichte bis heute, um mindestens 30% zunahm.423 Aber schon eine Verminderung der Sonneneinstrahlung um 2% bedeutet den Einbruch einer Eiszeit. Wie also konnten unter Bedingungen solch extremer Änderung der externen Bedingungen vor 3000 Millionen Jahren die Einzeller entstehen, die bis heute die Biosphäre tragen? 1954 hatten Elso Barghoorn und Stanley Tyler den sensationellen Nachweis geführt, daß 2000 Millionen Jahre alte Formationen von Feuerstein (Gunflint Chert ) an der Nordküste des Lake Superior (Ontario/Canada) microfossils enthalten, also fossile Spuren von Blaualgen, die man heute als Cyanobakterien anspricht.424 Andere, radioisotopisch in die Zeit ausgefaltete geologische Schichten beweisen, daß die Temperatur auf der Erde seit drei Äonen in etwa konstant blieb, mit einigen zeitlich und regional beschränkten Schwankungen genannt Eiszeiten. Der Astrophysiker und Bestseller-Autor Carl Sagan, dessen Buch nach der TVSerie Cosmos: A personal voyage von 1980 eine zeitlang das meist verkaufte Wissenschaftsbuch englischer Sprache war425 – Welcher geniale Philologe wird es in 2500 Jahren rekonstruieren? – hatte als Wissenschaftler 1972 zusammen mit seinem Physiker-Kollegen George Mullen Modelle für die Temperaturentwicklung der Erde aufgestellt, errechnet mithilfe der noch jungen Techniken des electronic computing. Modelliert wird die Abhängigkeit der Erdtemperatur von sich ändernder Sonneneinstrahlung und einem Reflexionskoeffizienten, genannt Albedo, einer hellen Erde (Eis) oder dunklen Erde (kein Eis).426 Vgl. weiter unten. Englisch: The faint early sun Paradox (auch: The cool sun Paradox), zu deutsch: Das Paradox der schwachen jungen Sonne. 424 Vgl. Tyler/Barghoorn 1954. Dazu kamen auch einfache Pilze. Später wird man in den Gunflint Cherts ganze Einzeller-Gemeinschaften in miniaturisierter Form, sogenannte Stromatolithen, nachweisen. 425 „Spurred in part by the popularity of the TV series, Cosmos spent 50 weeks on the Publishers Weekly best-sellers list and 70 weeks on the New York Times Best Seller list to become the best-selling science book ever published at the time. In 1981, it received the Hugo Award for Best Non-Fiction Book.“ (Wikipedia Eintrag „Cosmos (Carl Sagan book)“, zuletzt abgerufen am 16.8.16). Fünfzehn Jahre später wird Lynn Margulis die ähnlich enzyklopäidische, mikrobiologisch-biologische Antwort auf Cosmos geben unter dem Schrödingschen Titel: What is life? (Margulis/Sagan 1995/1997). 426 „ … the equation is solved iteratively for TS on an electronic computer“ (Sagan/Mullen 1972: 52b). James Lovelock wird wenig später mit der legendären Computersimulation „Daisyworld“ (1988) den Computer als Medium biosphärischen Wissens ausbauen. 422 423

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Eisbildung und Eischmelze erzeugen demnach eine positive Rückkopplung, in der die Erde entweder schnell erkalten müßte wie auf dem Mars oder sich überhitzten wie auf der Venus. Unter den aufgestellten Bedingungen ergibt sich nie und nimmer eine Erdtemperatur, in der etwa das Element Wasser nicht völlig zufriert oder verdunstet, in der Lebewesen entstehen und leben können. Nur eine Hülle aus Luft, eine Atmosphäre, könnte, so Sagan und Mullen, eine konstante Temperatur über so lange Zeit aufrecht erhalten. Wie ein Gewand, so James Lovelock, müsse sie um die Erde liegen.427 Diese Atmosphäre müßte erstens Gase enthalten, die durchlässig sind für kurzwelliges, energiereiches und sichtbares Licht, aber langwellige Wärmestrahlung von der erwärmten Erde absorbieren, die Wärme also auf der Erde halten. Nur Gasmoleküle, die Atome zweier verschiedener Elemente vereinigen, haben die Absorptionsspektren der so genannten greenhouse gases.428 Zweitens aber müßten diese Gasmoleküle in veränderlicher Menge in der Atmosphäre vorkommen können, wenn die Erdatmosphäre Veränderungen der Sonneneinstrahlung auffangen soll. Sagan und Mullen gehen sämtliche candidate molecules durch – von CO, SO2, O3 (Ozon) über CH4 (Methan) und H2S (Schwefelwasserstoff) und die Oxide des Stickstoffs: NO, NO2–, NO3– bis zum atmosphärischen Sauerstoff O2 und Stickstoff N2. Sie alle haben einen zu geringen Absorptionsgrad und Wasserdampf H2O hat wegen des Sättigungsgrads der Luft (100% relative Luftfeuchtigkeit) eine enge obere Grenze für sein atmosphärisches Vorkommen.429 So scheint ein einziges Gas zu bleiben: Ammoniak NH3, das Relais also des N-cycle. Es hat einen idealen Absorptions-Koeffizienten für Frequenzen zwischen 8 und 13 Mikrometern und seine Menge scheint variabel. In der gegenwärtigen Atmosphäre finden sich, trotz aller landwirtschaftlichen Emissionen, aufs Ganze gesehen nur Spuren davon. NH3 ist in Gegenwart von atmosphärischem O2 instabil.430 Ohne Sauerstoff jedoch wäre NH3 in der Atmosphäre stabiler.431 James Lovelock dekliniert die Metapher des Gewands des öfteren durch. Etwa: „Selbst noch so viele schützende Kleider könnten eine Steinstatue nicht auf Dauer vor Winterkälte oder Sonnenhitze schützen.“ (Lovelock 1979/1984: 39). Die Steinstatue ist die bei Sagan/Mullen und Margulis/Lovelock als, wie skizziert, Gegenrechnung geführte abiologische Variante, mit ihren beiden Namen Mars und Venus (vgl. etwa Margulis/ Lovelock 1974: 475, Fig. 2B, „Expected abiological temperature course“). 428 Die heute berühmten Vertreteter der Treibhausgase sind bekanntlich CO2 und CH4 . Die Bezeichnung greenhouse gases wird noch Anfang der 1970er Jahre oft in Anführungszeichen geschrieben. 429 Vgl. Sagan/Mullen 1972: 53b. 430 4 NH3 + 3 O2 → 2 N2 + 6 H2O . 431 Freilich löst sich außerdem NH3 leicht in Wasser und zersetzt sich photolytisch in ultravioletter Strahlung. Diese chemischen Tatsachen haben dazu geführt, daß die geolo427

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Damit gewinnt eine der fundamentalsten Anordnungen der frühen Erdgeschichte positive Konturen. Sie besagt: Es gab eine biotische Phase vor dem Sauerstoff; die Atmosphäre dieser Phase ist reduzierend und nicht wie heute oxidierend;432 möglicherweise gab es in dieser Atmosphäre ein Schlüsselmolekül – NH3.433 Auf diese Weise artikulieren sich überhaupt erst einmal unterschiedliche Phasen der Erdgeschichte. Empedokles widmete der Unterscheidung solcher Phasen, wie Primavesi es rekonstruiert, einen Großteil seines zyklischen Denkens. Im modernen Wissen von der Erdgeschichte sind diese Unterschiede, bevor sie chemisch und in der Zeit formuliert werden, Unterschiede im Raum: von Linien, Kanten, boundaries der Schichtung von Gesteinen.434 Sie zeigen mitunter diskontinuierliche Übergänge. Bis in die 1950er Jahre dachte man etwa, daß die mit scharfen Linien einsetzenden kambrischen Strata, die Explosion der Vielzellerarten vor 600 Millionen Jahren, den Beginn der Lebewesen überhaupt markieren.435 Erst die Ediacarische Fauna zeigte kontinuierlichere Übergänge und sie reichten weiter zurück.436 Als mit den Entdeckungen Tyler/Barghoorns auf ihren mikrometerdünnen Schnitten unterm Mikroskop zum ersten Mal Mikrofossilien sichtbar werden, beginnen die Einzeller Erdgeschichte zu machen.437 Eine reduzierende, archaische Atmosphäre aus NH3 (und Spuren von CH4) hätte ein fundamentales Kennzeichen: Sie kann nicht geologisch entstanden sein, etwa aus dem ‚degassing‘ of rocks, sondern nur aus und mit der Biosphäre. Als zwei Jahre nach Sagan/Mullen die amerikanische Mikrobiologin Lynn Margulis438 und der englische Atmosphärenchemiker James Lovelock „Biologische Modulationen der Erdatmosphäre“ untersuchen, können sie direkt die Hypothese Sagan/Mullens aufnehmen. NH3 ist für den Stoffwechsel von Bakterien unerläßlich: Sie brauchen und verbrauchen, wie skizziert, NH3 zur Biosynthese gische Schule der Atmosphärenforschung seit den 50er Jahren, die auf einen geologischen Ursprung von Hydro- und Atmosphäre setzt, nicht CH4 und NH3, sondern N2 und CO2 als Schlüselmoleküle annahm (vgl. Rubey 1955; Margulis/Dolan 2002: 27; Knoll 2003: 74 f.). 432 Eine entscheidende Umwälzung der Erdgeschichte ist der Übergang von einer reduzierenden Umgebung, reich an Wasserstoff, zu einer oxidierenden Umgebung, reich an Sauerstoff. Die eine Umgebung gibt für den Stoffwechsel der Lebewesen Elektronen ab (die Umgebung besteht aus Reduktionsmitteln), die andere nimmt Elektronen auf (die Umgebung besteht aus Oxidationsmitteln). 433 Lovelock spricht von key elements und key components (Lovelock 1979/2000: 24 f.). 434 Vgl. etwa Margulis/Dolan 2002: 30 – 35; oder Knoll 2003: 32 – 49. 435 Vgl. Margulis/Dolan 2002: 30 – 35. 436 Vgl. ebd.: 32 f., Figure 2–3 und 2–4. 437 In den späten 1970er erweitert sich mit den Funden im australischen Warrawoona der Horizont auf 3500 Millionen Jahre. 438 In erster Ehe verheiratet mit Carl Sagan.

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von Aminosäuren. Findet das in großem Stil statt, tritt damit freilich ein negativer Effekt ein: Die Einzeller beginnen mit der Zeit ihren Schutzschild aufzuzehren. Doch beginnt an dieser Stelle eine andere Logik zu greifen. „Sagan und Mullen meinten, daß der klimatische Status quo dadurch aufrechterhalten wurde, daß die Biosphäre Ammoniak, den sie als Nahrung verbrauchte, zu synthetisieren und damit zu ersetzen lernte.“ 439 Das heißt: Es entstehen Stoffwechselwege von Einzellern, die nicht nur NH3 verbrauchen, sondern auch NH3 produzieren. Damit werden, als Lovelock im Lauf der 1970er Jahre seinen Kosmos entwirft und griechisch Gaia nennt, Sagans und Mullens Untersuchungen zu einer Art Urszene. „Wenn sie [Sagan und Mullen, pb] recht haben, dann muß hier erstmals Gaias Existenz behauptet werden.“ 440 Mikroorganismen in Wasser und Erde scheinen durch ihren Stoffwechsel, durch ihren elementaren Input und Output, die Zusammensetzung der Atmosphäre zu regulieren und sie auf Bedingungen zu halten, die ihnen günstig sind. Und umgekehrt gilt: „The most effective greenhouse gases interact strongly with the biosphere.“ 441 Noch vor allen Schwierigkeiten, die mit der Übertragung kybernetischer Regelkreis-Modelle auf erdgeschichtliche, evolutionäre Dimensionen einerseits und mikrobiologische Dimensionen andererseits entstehen,442 ist die Interaktion der Biosphäre mit den Elementen der Luft in diesem Fall benennbar: Sie folgen Kreisläufen von Elementen, hier dem N-cycle. Margulis/Lovelock beschreiben ihn in erdgeschichtlicher Perspektive:443 Wo einerseits NH3 von Mikroorganismen assimiliert wird, da entsteht NH3 durch mikrobielle Gärungen, beim Abbau von Aminosäuren; wenn Bakterien über Urease aus Harnstoff und Harnsäure NH3 und CO2 freisetzen; wenn in der Nitrifikation Bakterien daraus Nitrit/Nitrat machen. Margulis/Lovelock setzen den vollen Stickstoffkreislauf an einer präzisen Stelle in die Erdgeschichte ein.444 Lovelock 1979/1984: 43. Ebd.. So ist dieses erste Erscheinen einer Bio-sphäre, die ihre eigene Atmo-sphäre reguliert, in Lovelocks erstem Buch ganz um den Ammoniak zentriert (vgl. Lovelock 1979/1984: 37 – 46). Lovelocks spätere Bücher geben – wohl aufgrund der skizzierten Schwierigkeiten (vgl. oben) – diese NH3-Zentrierung wieder auf. 441 Margulis/Lovelock 1974: 481. 442 So müßten Mikroorganismen nach den Gesetzen negativ rückgekoppelter Regelkreise etwa auch einen Sensor haben, der von der Erde aus die Gaszusammensetzung in den oberen Luftschichten mißt, um auf einen bestimmten Wert zu regeln (vgl. Lovelock 1979/1984: 44). Und biologisch dürften streng nach Darwin Mikroorganismen nicht altruistisch agieren, müßten also alle global für Lebewesen günstigen Bedingungen nur und allein zum eigenen Reproduktionsvorteil ihrer Art nutzen. 443 Nach Margulis/Lovelock 1972: 481. 444 „Microorganisms of the soil are known to do much of the work in cycling the gases through the atmosphere; ...“ (Margulis/Lovelock 1974: 481). Und umgekehrt : „Eine wichtige Folge der ununterbrochenen Aktivitäten des Lebens war die Ausbildung der 439 440

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Mit anderen Worten: Weil es Zyklen gibt, in denen die Erde und ihre Biosphäre mit der Luft und ihrer Atmosphäre interagieren, nur darum spannt sich überhaupt eine erdgeschichtliche Zeit, eine Zeit erdgeschichtlicher Ereignisse auf statt wie auf Mars und Venus in thermodynamischen Stabilitäten zu verschwinden. Kreisläufe von Elementen ermöglichen ihre eigene Zeit. So steht mit Oliver Primavesis Rekonstruktionen des kosmischen Zyklus bei Empedokles immer auch die Frage auf dem Spiel, was aus dem Zyklus in der Geschichte des abendländischen Wissens wird. Da epistemologische, fortschrittsgeschichtliche oder esoterische Kontinuitäten dabei nicht ernsthaft in Frage kommen, bleiben nur vier Möglichkeiten. 1. Entweder die Differenzen sind absolut und die Spiegelerzählung des Empedokles ist so weit vom modernen Wissen der Zyklen entfernt, daß es keine gemeinsame Sprache gibt. Dann können nur Differenzen herausgearbeitet und festgehalten werden. 2. Oder in den Zyklen der modernen Mikrobiologie lösen sich neuzeitliche Begriffe der Biologie auf und öffnen das Wissen von den Lebewesen und ihrer Biosphäre auf andere Weisen, die Physis zu denken. Damit könnten auch andere, geschichtliche Entwürfe wieder in den Bereich des nicht mehr nur historisch Denkbaren treten. Klarer als alle Rückgriffe auf Mythen einer vorolympischen Göttin Gaia 445 würde die Naturphilosophie des Empedokles und ihr von Primavesi auf dem letzten Stand der überlieferten Texte rekonstruierter kosmischer Zyklus Grundstrukturen des abendländischen Wissens von der Physis gründen.446 3. Oder Empedokles’ kosmischer Zyklus wäre, mit Martin Heidegger gedacht, Teil eines vormetaphysischen Denkens der Physis und als solches ein anderes anfängliches Denken. Mit der Chance, dieses andere Anfängliche in andere Gegenwarten zu überführen – nicht im Rückgang auf ein vormodernes, sondern im Vorgang auf dem state of the art eines nachmodernen Wissens. Kreisläufe, in denen die atmosphärischen Gase Ammoniak, Kohlendioxid und Methan die Biosphäre durchliefen.“ (Lovelock 1979/1984: 42). Auf die seit einigen Jahren das Denken Bruno Latours setzt (vgl. Latour 2013), das in den 1980er Jahren mit der Wissengeschichte der Mikrobiologie begann (vgl. Bruno Latour: Les microbes: guerre et paix suivi de irréductions, Paris 1984). 446 Diskursgeschichtlich wäre dann Denis O'Briens Buch über den kosmischen Zyklus des Empedokles im Jahre 1969 von neuen zyklischen, auch kybernetisch munitionierten Denkweisen in den biologischen Wissenschaften Ende der 1960er Jahre flankiert, bei George Evelyn Hutchinson, Eugene Odum, James Lovelock, Lynn Margulis und vielen anderen. 445

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4. Oder die Frage nach dem zyklischen Denken der Physis wird an der – dank Primavesis und anderer Arbeit – reichen und präzise Stelle aufgesucht, wo in den Anfängen der abendländischen Philosophie das mythische und das wissenschaftliche Denken ineinander übergehen, bei Empedokles also die Konstellation einer Spiegelerzählung entsteht. Dann könnten die beiden Empedokleischen Gedichte über den kosmischen Zyklus und die mikrobiologische Wissenschaft elementarer Zyklen am Ende selbst im historischen Verhältnis einer Spiegelerzählung stehen. Deren Status müßte vorderhand gänzlich in der Schwebe bleiben.

Nachtrag – In den Tagen, in denen das vorliegende Buch abgeschlossen wurde, erschien eine Geschichte der Erde, die sich selbst als „Epos“ anspricht.447 Sie versetzt die Erzählungen von Wissenschaftler-Ichs und eines um die ganze Welt an hotspots der Erdgeschichte reisenden Autoren-Ichs in eine wissenshistorische Perspektive. Ein Anhang spiegelt die Erzählung an der Sprache des Wissens von Erdgeschichte und liefert Referenzen, Berichte aus der Wissenschaft.448 Er trägt ein Motto, das einem Vortrag des Physikers Richard Feynman entstammt, den er 1955 auf dem Herbsttreffen der National Academy of Science im bekannten Caltech (California Institute of Technology) hielt. Feynman spricht über den dreifachen „Wert der Wissenschaft“: den praktischen, den imaginativen und drittens den methodisch-ethischen, als Erziehung zum Fragen als solches. Oft unterschätze man die zweite Dimension: die imaginative Lust, enjoyment, an den durch die Wissenschaft neu entstehenden Welten und ungeahnten world views, in denen es Dinge gibt, „infinitely more marvellous than the imaginings of poets and dreamers of the past“. Feynman setzt die „imagination of nature“ gegen die schwache „imagination of man“ und dichtet am Meeresstrand stehend – mit drei Punkten im Text wie der späte Céline – einen Blick aufs Meer. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit hätte jemand diesen Blick haben können. Er sieht: „[…] mountains of molecules, each stupidly minding its own business … trillions apart … yet forming white surf in unison. […] Never at rest … tortured by energy … wasted prodigiously by the sun … poured into space. A mite makes the sea roar. / Deep in the sea, all molecules repeat the patterns of one another till complex new ones are formed. They make others like themselves … and a new 447 448

Raoul Schrott: Erste Erde. Epos., München 2016. Im alphanumerischen Zeichensatz, also weitgehend ohne die Alphabete der Neuzeit und ihre Schemata.

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dance starts. […] living things, masses of atoms, DNA, protein … dancing a pattern ever more intricate [...]“. Dann geht der Tanz der Moleküle weiter auf dem trockenen Land, begabt sich mit Bewußtsein und steht schließlich als Richard Feyman am Meerestrand. Thrill, awe, mystery naturwissenschaftlicher Welten führen ihn zu dem Schluß: „Unsere Dichter schreiben nicht über diese besondere Art von religiöser Erfahrung, die Wissenschaftler machen: unsere Künstler versuchen nicht, deren staunenerregende Erkenntnisse anschaulich werden zu lassen. Ich frage mich, weshalb. Wird denn keiner von unserem heutigen Bild des Universums inspiriert? Der Wert der Wissenschaft bleibt unbesungen: Sie müssen sich jetzt also damit begnügen, nicht ein Lied oder ein Gedicht darüber zu hören, sondern einen Abendvortrag. Dies ist noch keine wissenschaftliche Zeit.“449 Wäre demnach das 5. Jahrhundert v. Chr. des Empedokleischen Gedichts Peri Physeōs ein wissenschaftliches Zeitalter gewesen? Ein Zeitalter, dessen neue Entdeckung die pythagoreischen Anfänge abendländischer Naturwissenschaft auf ihre Gegenwart öffnet und umgekehrt?

Literaturverzeichnis von Armin, Hans, 1902: „Die Weltperioden bei Empedokles“, in: Festschrift Theodor Gomperz (dargebracht zum siebzigsten Geburtstage am 29. März 1902), Wien 1902, S. 16 – 27. Becker, Oskar, 1957: „Frühgriechische Mathematik und Musiklehre“, in: Archiv für Musikwissenschaft, Jg. 14, 1957, H. 3, S. 156 – 164. Benseler, Gustav Eduard, 1886: Griechisch-Deutsches Schul-Wörterbuch (Achte, verbesserte Auflage, besorgt von Georg Autenrieth), Leipzig 1886 (erste Auflage: Leipzig 1858). Berz, Peter, 2012: „Pythagoreismus“, in: Friedrich Kittler. Kunst oder Technik? (hg. Walter Seitter, Michaela Ott), TUMULT. Schriften zur Verkehrswissenschaft, Band 40, Wetzlar 2012, S. 57 – 69. Berz, Peter, [2017]: Gären Atmen Lichten. Drei Seinsweisen (erscheint 2017). 449

Übersetzung Raoul Schrott (Schrott 2016: 685). „It is true that few unscientific people have this type of religious experience. Our poets do not write about it; our artists do not try to portray this remarkable thing. I don't know why. Is nobody inspired by our present picture of the universe? The value of science remains still unsung by singers, so you are reduced to hearing – not a song or poem, but an evening lecture about it. This is not yet a scientific age.“ (Richard Feynman: „The Value of Science“, in: Engineering and Science, vol. XIX, Dec. 1955, S. 13 – 15.).

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Bollack, Jean, 1957: „Die Metaphysik der Empedokles als Entfaltung des Seins“, in: Philologus, Bd. 101, 1957, S. 30 – 54. Bollack, Jean, 1959: „Lukrez und Empedokles“, in: Die Neue Rundschau, Jg. 1959, 4. H., S. 656 – 686. Bollack, Jean, 1965: Empédocle I. Introduction à l‘Ancienne Physique, Paris 1965. Brock 2012: Brock Biology of Microorganisms, 13th edition (hg. Michael Madigan, John Martinko, David Stahl, David Clark), Boston, etc. (Pearson) 2012. Carlé, Martin, 2012: „Vom Welten der Harmonia durch Mimesis zu den musikmathematischen Elementen von Platons Methexis“, in: Platon und die Mousiké (hg. Dietmar Koch, Irmgard Männlein-Robert, Niels Weidtmann), Antike-Studien, Band 2, Tübingen 2012. S. 8 – 54. Carlé, Martin, 2017: Verzeitlichung des Unsäglichen, Phil. Diss., Berlin 2017. Chantraine, Pierre, 1999: Dictionnaire étymologique de la langue grecque. Histoire des mots, (1ère éd. 1968) nouv. éd. Paris 1999. Danzer, Klaus, 1971: Dmitri I. Mendelejew und Lothar Meyer. Die Schöpfer des Periodensystems der chemischen Elemente (Biographien hervorragender Naturwissenschaftler und Techniker), Leipzig 1971. Deleuze, Gilles, und Guattari, Félix, 1977/1980: Rhizom (Internationale Marxistische Diskussion 67), Berlin (Merve) 1977 (Einführung von: Capitalisme et schizophrénie 2. Mille Plateaux, Paris 1980). Deleuze, Gilles, und Guattari, Félix, 1980: Mille Plateaux. Capitalisme et schizophrénie 2, Paris 1980. Detienne, Marcel, 1986/1992: Dionysos. Göttliche Wildheit (übersetzt von Gabriele und Walter Eder), Frankfurt a. M. 1992 (frz.: Dionysos à ciel ouvert, 1986). Diels, Hermann, 1897: „Über Anaximanders Kosmos“, in: Archiv für die Geschichte der Philosophie, Bd. 10, 1897, S. 228 – 237 [auch in Ders.: Kleine Schriften zur Geschichte der antiken Philosophie (hg. Walter Burkert), Hildesheim 1969; S. 13 – 22]. Drews, Gerhart, 2010: Mikrobiologie. Die Entdeckung der unsichtbaren Welt, Heidelberg, etc. (Springer) 2010. Foucault, Michel, 1966/1980: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (übersetzt von Ulrich Köppen), Frankfurt a.M. 1980 (frz. Les mots et les choses, 1966). Foucault, Michel, 1966/1990: Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines (1966), Paris 1990. Foucault, Michel, 1969/1981: Archäologie des Wissens (übersetzt von Ulrich Köppen), Frankfurt a. M. 1981 (frz.: L‘archéologie du Savoir, 1969). Foucault, Michel, 1971/1978: „Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971)“, in: Derselbe: Von der Subversion des Wissens (hg. und übersetzt von Walter Seitter), Frankfurt a. M. 1978.

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Gaiser, Konrad, 1962/1968: Platons ungeschriebene Lehre. Studien zur systematischen und geschichtlichen Begründung der Wissenschaften in der Platonischen Schule (1962), 2. Aufl. 1968. Heath, Sir Thomas, 1921: A History of Greek Mathematics. Volume I: From Thales to Euclid, Oxford 1921. Hegel, Georg Friedrich Wilhelm, 1830/1986: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse 1830. Zweiter Band: Die Naturphilosophie. Mit den mündlichen Zusätzen (neu ediert nach Werke 1832–1845 von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel), in: Ders.: Werke, Band 9, Frankfurt a.M. 1986. Heidegger, Martin, 1935/1998: Einführung in die Metaphysik (Vorlesung Sommersemester 1935), 6. Aufl., Tübingen 1998. Heidegger, Martin, 1929–30/1983: Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Vorlesung Wintersemester 1929/30), Martin Heidegger: Gesamtausgabe, Band 29/30, Frankfurt a. M. 1983. Heidegger, Martin, 1935–36/1987: Die Frage nach dem Ding. Zu Kants Lehre von den transzendentalen Grundsätzen (Vorlesung Wintersemester 1935/36), Tübingen 1987 (Gesamtausgabe Band 41). Heidegger, Martin, 1938/1972: „Die Zeit des Weltbildes“ (Juni 1938), in: Ders.: Holzwege (1950), Frankfurt a. M. 1972, S. 69 – 104. Heidegger, Martin, 1939/2012: „‚Wie wenn am Feiertage ...‘“ (1939), in: Ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a.M. 2012, S. 49 – 78. Heidegger, Martin, 1939/2004: „Vom Wesen und Begriff der Phýsis. Aristoteles, Physik B, 1“ (1939), in: Ders.: Wegmarken, Gesamtausgabe Band 9, Frankfurt a.M. 2004, S. 239 – 302. Heidegger, Martin, 1946/1949: Brief über den Humanismus (Herbst 1946), Frankfurt a. M. 1949 [vgl. auch ders., Wegmarken, Gesamtausgabe Band 9, Frankfurt a.M. 1976, S. 313 – 364]. Heidegger, Martin, 1959/2012: „Hölderlins Himmel und Erde“ (1959), in: Ders.: Erläuterungen zu Hölderlins Dichtung, Frankfurt a.M. 2012, S. 152 – 181. Hilbert, David, 1900/1956: Grundlagen der Geometrie (1900), Stuttgart 1956. Hölscher, Uvo, 1965/2001: Empedokles und Hölderlin (hg. Gerhard Kurz), Schriften der Hölderlin-Gesellschaft, Band 21, Eggingen 2001. Hölscher, Uvo, 1965/1968: „Empedokles“, in: Ders., Anfängliches Fragen. Studien zur frühen griechischen Philosophie, Göttingen 1968, S. 173 – 212 (zuerst erschienen als: „Weltzeiten und Lebenszyklus, eine Nachprüfung der Empedokles-Doxographie“, in: Hermes, 93, 1965, S. 7 – 33). Hutchinson, G. Evelyn, 1970: „The Biosphere“, in: Scientific American, September 1970, vol. 223, number 3: The Biosphere, S. 45 – 53. Iamblichos 1964: Pythagoras. Legende · Lehre · Lebensgestaltung / De vita pythagorica liber. Griechisch/Deutsch (hg., übersetzt und eingeleitet von Michael von Albrecht), Zürich und Stuttgart 1964.

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Kucharski, Paul, 1947: „Le point de départ de la philosophie de Bergson“, in: Archives de Philosophie, vol. 17, 1947, no. 1, S. 56 – 80. Kucharski, Paul, 1955: „Aux Frontières du platonisme et du pythagorisme. A propos d’un passage du De Anima d’Aristote“, in: Archives de philosophie, Tome XIX, Cahier I, 1955, S. 7 – 43. Lacan, Jacques, 1954–55/1991: Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse. Das Seminar Buch II, 1954–1955, (übersetzt von Hans-Joachim Metzger), Weinheim, Berlin 1991. Latour, Bruno, 2013: Facing Gaia. Six lectures on the political theology of nature (being the Gifford Lectures on Natural Religion), Edinburgh, 18th–28th of Feburary 2013 (version 10-3-13, only for discussion with the author, not for quotation). Leach, Edmund Ronald, 1966: „Zwei Aufsätze über die symbolische Darstellung der Zeit“, in: Kulturanthropologie (hg. Wilhelm Emil Mühlmann, Ernst W. Müller), Köln, Berlin 1966, S. 392 – 407. Lévi-Strauss, Claude, 1967: „Die Mathematik vom Menschen“, in: Kursbuch 8, März 1967, S. 176 – 188 (frz.: Les Mathématiques de l‘Homme, in: Bulletin international des Sciences sociales (hg. Unesco), Bd. 6, Nr. 4, numéro special: Les Mathematiques et les sciences sociales). Lévi-Strauss, Claude, 1956/1977: „Gibt es dualistische Organisationen? (1956)“, in: Ders., Strukturale Anthropologie I (übersetzt von Hans Naumannn), Frankfurt a. M. 1977, S. 148 – 180. Lohmann, Johannes, 1970: Musiké und Logos. Aufsätze zur griechischen Philosophie und Musiktheorie (Zum 75. Geburtstag des Verfassers am 9. Juli 1970 herausgegeben von Anastasios Giannarás), Stuttgart [1970]. Lohmann, Johannes, 1956–57/1970: „Musiké und Logos“ (1956/57), in: Ders.: Musiké und Logos. Aufsätze zur griechischen Philosophie und Musiktheorie (Zum 75. Geburtstag des Verfassers am 9. Juli 1970 herausgegeben von Anastasios Giannarás), Stuttgart [1970], S. 1 – 15. Lohmann, Johannes, 1959/1970: „Der Ursprung der Musik“ (1959), in: Ders.: Musiké und Logos. Aufsätze zur griechischen Philosophie und Musiktheorie (Zum 75. Geburtstag des Verfassers am 9. Juli 1970 herausgegeben von Anastasios Giannarás), Stuttgart [1970], S. 26 – 87. Lovelock, James, 1979/2000: GAIA. A new look at life on earth (1979), Oxford University Press 2000. Lovelock, Jim E., 1979/1984: Unsere Erde wird überleben. GAIA – Eine optimistische Ökologie (aus dem Englischen von Constanze Ifantis–Hemm), München (Heyne Sachbuch) 1984 (engl. 1979). Margulis, Lynn, und Lovelock, James E., 1974: „Biological Modulation of the Earth’s Atmosphere“, in: Icarus. International Journal of Solar System Studies, vol. 21, no. 4, April 1974, S. 471 – 489.

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Tyler, Stanley A., und Barghoorn, Elso S., 1954: „Occurrence of Structurally Preserved Plants in Pre-Cambrian Rocks of the Canadian Shield“, in: Science. New Series, Vol. 119, No. 3096, 1954, S. 606 – 608. Vagt, Christina, 2012: Geschickte Sprünge. Physik und Medium bei Martin Heidegger, Zürich 2012. van der Waerden, Bartel Leendert, 1943: „Die Harmonielehre der Pythagoreer“, in: Hermes, Bd. 78, 1943, H. 2, S. 163 –199. Walden, Paul, 1930: „Lothar Meyer, Mendelejeff, Ramsay und das periodische System der Elemente“, in: Das Buch der Grossen Chemiker (hg. Günther Bugge). Band II: Von Liebig bis Arrhenius, Berlin 1930, S. 229 – 287. Wildgruber, Gerald, 2011: Studien zum Verhältnis von Natur und Kunst bei Friedrich Hölderlin und Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Phil. Diss., München 2011. Zumft, Walter G., 1997: „Cell Biology and Molecular Basis of Denitrification“, in: Microbiology and molecular Biology Reviews, vol. 61, no. 4, 1997, S. 533 – 616.

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THEOLOGIE 1 Ich ersticke, de profundis, an Einladungen: Computertechnik hier, Architekturzukunft dort. Ein Vortrag jagt den nächsten. Und dabei hatte ich mir geschworen, nach acht Jahren ostdeutscher Grundschule, fünf Jahren westdeutscher Gymnasien nie wieder im Leben diesem morgendlichen Grauen ausgesetzt zu werden, einen Fünfstundendeutschaufsatz unter vorgegebenem Thema schreiben zu müssen. Also fingiere ich für einmal, irgendeine Institution hätte mich eingeladen, keine Deutschaufsätze nach ihrer eigenen, ebenso souveränen wie mediengesteuerten Themenvorgabe abzugeben, sondern darüber zu sprechen, was die Schriften, die unter meinem Nachnamen zirkulieren, bewegt. Und weil das niemand sagen kann, der Schreiber am allerwenigsten, stammle ich (stammelt mich) Theologie. Kittlers Götter, soweit man sie entziffern kann, scheinen unwandelbar dieselben. Keine Dekonstruktion hat je an ihnen gezehrt. Daß sie nicht sterben können, steht irgendwo, sorgt für periodische Wiederkehren. Daß sie, wie es irgendwo anders heißt, nur am Hohngelächter sterben, wenn einer von ihnen sich zum einzigen Gott, zur einzigen Wahrheit erklärt, sagt dasselbe auf selbige Weise. Jedenfalls sind diese Götter – und genau dafür stand Nietzsches Hohngelächter – ein anachronistischer, aber notwendiger Plural. Ohne ihren Plural gäbe es nämlich keine Tragödien, die es, den Göttern sei’s geklagt, seit dem einen Gott offiziell ja auch nicht mehr gibt. Ob (deutscher) Philhellenismus eine Maskerade des (deutschen) Antisemitismus ist, können zwar nur andere entscheiden. Aber solange sie dafür keine Beweise vorbringen, geht die vorgelegte Gegenwartsdiagnose davon aus, daß Kulturen, die (mit Foucault) den Begriff des Tragischen verloren haben, selber verloren sind. Was zu denken nottut, ist nicht die kleine Verschiebung der Dekonstruktion, sondern, quer zu unseren Reden und/oder Körpern, ein Riß des Unmöglichen, dessen Eigenname seit mindestens hundert Jahren nurmehr Krieg heißen kann. Daher die Hunnen und Berserker, deren Geist schon etymologisch ein Schaum vor dem Mund war. Daher jene Strategen, die von Müffling über Schlieffen bis Fellgiebel allesamt Geist auf diese Erde gebracht haben: als Telegramm, Funkspruch und Radiotelephon.

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Die Datei, deren Erstelldatum der 6. August 1992 ist und deren letztes Speicherdatum 23. April 1993, hat im Literaturarchiv Marbach die folgende Sigle: #4102.1749957, application/msword (1993-04-23T22:29:18Z). THEOLOG.TXT. In: Bestand A:Kittler/DLA Marbach. fd101:// [fd, 3 KiB].

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Gerhard Scharbert TELL ME TRUE, TELL ME WHY / WAS JESUS CRUCIFIED. PROLEGOMENA ZU EINER SPÄTEN MEDIENGESCHICHTLICHEN THESE FRIEDRICH KITTLERS I. Kontext Roma aeterna Die folgenden Ausführungen verstehen sich als Einführung zu einer mediengeschichtlichen These Friedrich Kittlers, die nichts weniger als den Tod des Jesus von Nazareth betrifft. Sie besagt zusammengefaßt, Jesus habe als „Medienstürmer“ dem einfachen Volk außerhalb des Kultus die streng bewachte hebräische Vokalisierung der Tora enthüllt und damit mittelbar auch die Aussprache des Namens Gottes selbst, was nach jüdischem Gesetz bei Strafe des Todes verboten war. Nur die Priester und Schriftgelehrten durften dies in kultisch engbegrenztem Rahmen tun. Diese Ausschließlichkeit ist die Kehrseite einer sprachgeschichtlichen Entwicklung, in der die ehemalige Volkssprache Hebräisch als Bildungs- und Religionssprache vom Griechischen und seinem Alphabet verdrängt worden war. Doch hatten viele Adressaten der religiösen Botschaft der Tora mittlerweile an keiner der beiden Sphären mehr teil, da die Sprache der „einfachen Leute“, zu denen Jesus sprach, längst das Aramäische geworden war. Diese These erfordert eine Reihe von Prolegomena, die im folgenden am Leitfaden Kittlerscher Nachlaßtexte zu „Musik und Mathematik II – Roma aeterna“ gegeben werden sollen, sowie einige anschließende Überlegungen zu den Konsequenzen dieser These für die Schrift- und Alphabetgeschichte. Es muß daher zunächst daran erinnert werden, in welchem Umfeld sich diese These im Denken Friedrich Kittlers ausdrücklich versteht. Denn nicht nur das geographische Umfeld oder die Umwelt, die der Titel des von ihm noch selbst initiierten Symposions als mediterranen Raum von Göttern und Schriften benannte, sondern auch der historische Raum des imperium romanum bildet den Hintergrund, vor dem eine Einordnung des Phänomens Jesus in den Zusammenhang einer Schrift- und Alphabetgeschichte möglich wird. Erst mit diesem doppelten Hintergrund kann eine Form von Seinsgeschichte ihre Fortsetzung finden, die die Frage nach den Göttern nicht top-down von Götterbildern,

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sondern bottom-up von Schriftsystemen her stellt.1 Dabei muß immer im Blick bleiben, daß diese Frage nur im Kontext des Gesamtplans von „Musik und Mathematik“ verstanden werden kann. Nur in diesem Rahmen macht Friedrich Kittlers Untersuchung mediengeschichtlicher Konstellationen in bezug auf die Entstehung des Christentums Sinn, indem sie den letztlichen „Sieg“ von Römern und Christen von den Schriftsystemen her deutet. Die im Nietzscheschen (und Foucaultschen) Sinne ausgesprochene Perspektivität der Gedanken und Reflexionen Friedrich Kittlers zu diesem Thema sollte dabei nicht übersehen werden. So erscheinen bestimmte Aspekte des historischen Auftretens von Jesus durchaus in einem positiven Licht, was aber keinesfalls für die Bewertung des Christentums im allgemeinen gilt, noch weniger für das Ganze des imperium romanum, um nur zwei – für das hier Gesagte aber wesentliche – Punkte herauszustellen, die erst die bevorstehende Edition der Notizen und Vorarbeiten Friedrich Kittlers zum zweiten, nicht mehr fertiggestellten Band von Musik und Mathematik in ihrer Gesamtheit wird beleuchten können.2 Daher werden auch so bedeutende Aspekte wie die Wanderung des Vokalalphabets von den Griechen zu den Etruskern und weiter zu den Römern bis hin zu uns, hier nicht behandelt. Auch wie den Römern aus dem Gesang der Griechen eine Literatur entstand – eine die Notizen sehr eingehend beschäftigende Frage – ist nicht Thema dieses Aufsatzes, so wenig wie die Namen Lukrez, Vergil, Horaz, Ovid, die ja erst am Ende einer Entwicklung auftauchen, als aus dem rohen Wehrbauernstaat des frühen Rom längst eine purpur- und diadembeschwerte hellenistische Tradition der Alleinherrschaft geworden war. Die immer wieder zu bedenkende Tatsache aber, daß die politische Einheit des kaiserzeitlichen römischen Ostens auf der Einheit der griechischen Sprache 1 2

Siehe Skizze des Symposions im Vorwort zu dem vorliegenden Band. Friedrich Kittler: Musik und Mathematik II. Roma aeterna. Texte, Entwürfe und Notizen (aus dem Nachlaß herausgegeben von Gerhard Scharbert), erscheint im Herbst 2017 im Fink-Verlag, München. Friedrich Kittlers Notizen werden im Folgenden nach der hier relevanten Datei m+m5.utf des Kittlerschen Rechners zitiert, im Deutschen Literatuarchiv Marbach zugänglich unter: #1001.8279, text/x-c (2011-08-25T19:33:54Z). m+m5.utf. In: Bestand A:Kittler/DLA Marbach. xd002:/kittler/mm [xd, 250.29 KiB]. Die Angaben Z nn beziehen sich auf die Zeilennummer der im 8-bit Code „utf“ nachgelassenen Dateien, die Kittler auf dem gleichen Linux Editor Emacs geschrieben hat wie die von ihm ersonnenen und gepatchten Source-Codes. Die Zeilenumbrüche sind, wie bei der Schreibmaschine, von Hand eingegeben. Längere Passagen aus der Kittlerschen Datei sind im vorliegenden Text darum so formatiert, daß die Zeilenumbrüche des utf-Textes erhalten bleiben. Dies ermöglicht auch eine Adressierung der zitierten Passagen in der digitalen Datei. Auslassungen sind durch […] gekennzeichnet. Die Zeichensetzung, etwa fehlende Punkte am Ende der meisten Notate, wurde, ebenso wie die Schreibung, beibehalten.

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beruhte, die wiederum das Ergebnis einer tiefgreifenden Hellenisierung des gesamten Orients war, ist gleichsam der Ariadnefaden, der aus der Vielzahl von Göttern und Schriften rund um das Mittelmeer über die Befehlsgewalt eines lateinisch kommandierenden, aber griechisch lesenden imperiums zu unseren sich einer Antike fern noch entsinnenden Sprachen führt, die diese problematische und vielschichtige perspektivische Einheit als Vokalalphabet bewahren. Der λόγος, der über die legiones und die leges hinführte zum λόγος ἐν ἀρχῇ des Johannesevangeliums,3 also vom freien Sprechen, das das Wissen der Musen kündet, über die Auswahl und -lese der Wehrfähigen und die auferlegten Gesetze, hin zu einer christlichen Verkündigung, die die Geschichte der Nationen in einem Hegelschen Sinne aufhebt zur Weltgeschichte und damit, so Hegel, zum Weltgericht,4 ist der Rahmen, den Rom vorzugeben bestimmt war, bis es in ihm selbst sich wandelte und verschwand. Daß Friedrich Kittler in seinen Reflexionen gerade über das Johannesevangelium auch auf Gedanken zurückgriff, die als Gelehrtentragödie die Aufschreibesysteme 1800 · 1900 einleiteten5 und den problematischen Begriff des Übersetzens oder der Hermeneutik als institutionalisierte Praxis am Beispiel von Goethes Faust von ihren Wurzeln her zu denken versuchten, steht hier als ein Faktum der Geschlossenheit seines Werks auch in den letzten Ausprägungen.

II. Der römische Orient in der neueren Forschung Der Althistoriker Michael Sommer hat im Zweiten Band seiner Römischen Geschichte einen kurzen Abriß der verschiedenen Forschungskonjunkturen zum imperium romanum gegeben, der die spezifischen Probleme einer weltanschaulich vorbestimmten Interpretation kurz und bündig benennt: Entsprechend herrschen heute andere Paradigmen vor, wenn die Forschung auf das Imperium Romanum blickt, Paradigmen freilich, die nicht weniger von intellektuellen Konjunkturen abhängig sind […]. So mutierte Rom unter marxistischen Vorzeichen zunächst vom gütigen Prometheus, der den Wilden die Zivilisation brachte, zum Reich des Bösen, das seine Provinzen hemmungslos ausplünderte. 3 4 5

Joh. 1,1: Ἐν ἀρχῇ ἦν ὁ λόγος : In principium erat verbum. Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1830), § 548. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800 · 1900, München 1985, S. 7–30.

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Allenthalben meinte man nun, Widerstand gegen die römischen Besatzer ausmachen zu können. Bald dann gesellte sich zum antiimperialistischen Impetus Marx’scher Provenienz das Theorieangebot der mit dem Dekolonisierungsprozess in der Dritten Welt aufblühenden sogenannten Postcolonial Studies: Ein Abendland, dem ob seiner eigenen kolonialistischen Vergangenheit das schlechte Gewissen schlug und in dem klassische Bildung obendrein nach und nach in Vergessenheit geriet, mochte sich immer weniger mit seinem römischen Erbe identifizieren. Das Herz ‚postklassizistischer‘ Altertumswissenschaftler schlug um so inniger für die vermeintlichen Opfer der römischen Expansion.6

Dem hat Sommer selbst in seinem Buch Der römische Orient 7 ein wesentlich differenzierteres Bild der römischen Präsenz im Osten des Reiches gegenübergestellt, das mittlerweile durch immer noch zunehmende Funde der materiellen Kultur gestützt wird. Es zeigt, wie neben und unter der dichten Struktur griechischer Städte eine bunte Vielfalt an Sprachen und Kulten existiert, die offensichtlich in den allermeisten Fällen diese Struktur eher bereichern als konterkarieren. So weist Sommer auf die Wirkung des römischen Rechts als region- und stammesübergreifendes Element hin, das so in seiner jeweiligen lokalen Interpretation für eine Rechtssicherheit sorgen konnte, die den Austausch unter den verschiedenen Gruppen und Personen immens erleichterte.8 Dabei muß allerdings erwähnt werden, daß die griechische παιδεία [paideía], das heißt die Bildung und Ausbildung in den Wissenschaften nach griechischem Muster, hier wie allerorts in der nun römischen Welt zumindest in den Städten und bedeutenderen Siedlungen den Standard der Eliten darstellte.9 Für den Raum und die Zeit Jesu trifft dasselbe unter durch die Religionsgeschichte wie in einem Vergrößerungsglas veränderter Perspektive zu. Die Geschichte der vielfachen Aufstände und Kriege in der Region, die auch später, nach der fast vollständigen Vertreibung der Israeliten weiterhin noch das Heilige Land genannt werden sollte, verschleiern den Blick darauf, daß auch dort wie überall sonst im römischen Orient die hauptsächliche und allgemein akzeptierte und beherrschte Verkehrs- und Amtssprache das Griechische war, in Form der sich am attischen Sprachgebrauch orientierenden Koinē, der „Gemeinsamen“, ergänze: Sprache. Dies ist insofern ein bedeutender Umstand, als er erklärt, warum die aus der Sicht des christlichen Glaubens so weltumstürzenden Vor6 7 8 9

Michael Sommer: Römische Geschichte. Zweiter Band: Rom und sein Imperium in der Kaiserzeit, Stuttgart 2009, S. 63 f.. Michael Sommer: Der römische Orient zwischen Mittelmeer und Tigris, Darmstadt 2006. Ebd., S. 139 ff.. Vgl. Ebd., S. 106.

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gänge im Jerusalem des Jahres ~33 in der offiziellen Geschichtsschreibung des Reiches nur als unscheinbare Marginalie auftauchen: Jesus, seine Jünger und viele seiner Gegner gehören einer Sphäre an, die von den jüdischen, syrischen, hellenischen und römischen, in der gemeinsamen Sprache verbundenen Eliten nicht oder nur widerstrebend zur Kenntnis genommen wird, etwa wenn ein römischer Statthalter wie Pontius Pilatus über einen spirituellen Führer aus dieser Sphäre zu Gericht sitzen muß. Als Zeugen einer solchen Einstellung kann man Flavius Josephus betrachten, der aufgrund späterer Urteile wie das gesamte hellenistisch orientierte Judentum seiner Zeit dem postumen Verdikt als Verräter durch seine eigenen Glaubensbrüder verfallen ist.10 Diese Einstellung wiederum ist die Folge einer Entwicklung, die den Hintergrund für Friedrich Kittlers weitreichende mediengeschichtliche These über die Ursachen und Auswirkungen des Todes Jesu bildet und ihrerseits einer historischen Analyse bedarf.

III. Judentum und Hellenismus In der traditionellen Geschichtsschreibung wie in der religionsgeschichtlichen und theologischen Erörterung herrscht mehrheitlich eine Auffassung über das Verhältnis von Judentum und Hellenismus, die sich im Wesentlichen mit dem Selbstverständnis des heutigen religiösen Judentums deckt: Die Hellenisierung des Judentums sei ein heterodoxer Irrweg gewesen, der den Fortbestand des Judentums gefährdete und schon von den Zeitgenossen als solcher immer stärker zurückgewiesen und schließlich habe gebannt werden können. Dies ist eine Auffassung, die eine retrospektive Wertung der tatsächlichen historischen Entwicklung vornimmt und sicherlich durch die Ereignisse der neueren Geschichte mitbestimmt ist. Dieser sehr einseitigen Position ist von theologischer Seite schon Ende der 60er Jahre und am entschiedensten Martin Hengel entgegengetreten, mit seinem grundlegenden Werk Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr..11 10

11

Für die einschlägigen älteren Urteile vgl. summarisch Michael Grant: Klassiker der antiken Geschichtsschreibung, München 1981, S. 204–227. Aber auch noch Collin Wells etwa nennt die Schriften des Josephus als „aus der Sicht eines übergelaufenen Juden“ verfaßt (Collin Wells: Das Römische Reich, München, 41994, S. 46). Martin Hengel: Judentum und Hellenismus. Studien zu ihrer Begegnung unter besonderer Berücksichtigung Palästinas bis zur Mitte des 2. Jh. v. Chr. (Wiss. Untersuchungen zum NT (WUNT) 10), Tübingen 1969. Vgl. Friedrich Kittlers Exzerpte aus Hengels Buch, erste Auflage 1969 und zweite Auflage 1976 (Kittler: m+m5.utf, Z 765–787 und

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Er argumentiert darin vor allem „gegen die retrospektive Trennung von jüdischen und griechischen Elementen in der Vorgeschichte des Christentums.“12 Hengel faßt das Verhältnis von hellenistisch-jüdischer Diaspora und Kernland vor der Zeitenwende folgendermaßen zusammen: Das Vordringen der griechischen Sprache war selbst im jüdischen Palästina unaufhaltsam, und der junge Jude, der sich über die Masse des einfachen Volkes erheben wollte, mußte sie erlernen. Dieser Prozeß wurde verstärkt durch die Kontakte mit der Diaspora […]. Die Bedeutung Jerusalems wuchs mit dem Wachstum der westlichen Diaspora, blieb es doch immer das Zentrum des – jetzt überwiegend griechischsprechenden – Weltjudentums.13

Und Richard Meyer stellte in einem Lexikonartikel die Situation im 3. Jahrhundert v. Chr. folgendermaßen dar: „In der Tat war im 3. Jh. Palästina weithin völlig hellenisiert, und in Alexandria war sehr schnell eine hellenist.-jüd. Diaspora aufgeblüht, deren Theologie sehr bald das gesamte J[udentum] beeinflussen sollte.“ 14 Dies hatte auch und gerade Folgen für die aramäischsprechende Bevölkerung, „das Aramäische wurde die Sprache der Analphabeten, die keiner sprachlichen Monumente mehr bedurften.“ 15 Selbst die politisch-religiösen Auseinandersetzungen, die letztlich zum Makkabäeraufstand und zum Beginn der Griechenfeindlichkeit des palästinensischen Judentums führten, konnten den tiefen Einfluß, den die Paideia bereits ausgeübt hatte, nicht mehr zurückdrängen. Sie wurde vielmehr umfunktioniert. Hengel bemerkt dazu: Jene tiefe Krise, die dieser – primär von jüdischen Kräften selbst unternommene – Versuch [einer von einer mächtigen aristokratischen Minorität geförderten Assimilation an die hellenistische Kultur] auslöste, änderte das religiös-geistige Gesicht des palästinensischen Judentums in entscheidender Weise. Es wurde der Grund gelegt zu jener polemisch-gesetzlichen Verschärfung der jüdischen Frömmigkeit, die dieselbe gerade in neutestamentlicher Zeit charakterisiert. Und selbst dort, wo man sich weiterhin der griechischen Sprache, ja Formen der Rhetorik bediente […], geschah es häufig nur, um die absolute Überlegenheit der eigenen Überlieferung zu betonen und mit den Mitteln hellenistischer Religionskritik die Unmöglichkeit des griechischen Polytheismus sowie die laxe Moral der Nichtjuden zu erweisen. Die „griechische Bildung“ wurde so in den Dienst der eigenen Sache gestellt.16 790–807). Und ebd., Z 12: „Helden wie Hengel unglaublich rar.“. Ebd., S. 1. 13 Ebd., S. 112. 14 Richard Meyer: Artikel „Judentum B. Vom Exil zur Spätantike“, in: dtv-Lexikon der Antike IV, 2, München 1971, S. 157. 15 Hengel: Judentum und Hellenismus, S. 110. 16 Ebd., S. 142 f.. – Eine Anregung, die später die Kirchenväter dankbar übernahmen. 12

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Dies hatte weitreichende Folgen für die Bedingungen, die Jesus von Nazareth vorfand, als er – eine Person aus nichthellenistischen Kreisen – begann, die Auseinandersetzung mit den Vertretern der durch solche neuen Mittel selbst erneuerten Gesetzesfrömmigkeit zu führen. Denn die Betonung der absoluten und wortwörtlichen Autorität und Suffizienz der Tora in allen Bereichen menschlicher Erkenntnis hatte zur Folge, daß der aus der Volkssitte und praktischen Rechtsüberlieferung stammende halachische Traditionsbegriff der pharisäisch-rabbinischen Lehrhäuser durch neue – von der alexandrinischen Philologie übernommene – exegetische Methoden auf die Tora selbst zurückgeführt werden mußte. Auch scheinbare Widersprüche in der Tora wurden mit ihrer Hilfe beseitigt. Die nicht zum Pentateuch gehörenden kanonischen Bücher der „Propheten“ und der „Schriften“ und die „mündliche Tora“ hatten ihre Autorität im Grunde nur indirekt als Auslegung der Mose gegebenen Tora.17

Dies sind die Bedingungen, unter denen Jesus als ein religiöser Lehrer auftrat, der sich den aus der „gescheiterten“ Hellenisierung stammenden schwerwiegenden religiösen Konsequenzen entgegenstellte, die für die illiterate, aramäischsprachige, einfache Bevölkerung der „Zöllner und Sünder“ gravierend waren. Sie blieb ohne Zugang zur Schriftgelehrsamkeit und damit zum neuen spirituellen Zentrum der eigenen Religion. Interessanterweise ist es gerade der charismatische Aspekt seines Auftretens als volkstümlicher Lehrer, der auch Jesus als in gewisser Weise in hellenistischer Tradition stehend ausweist.

IV. Jesus als Lehrautorität – das eigentliche Erbe einer „gescheiterten“ Hellenisierung Auch dem unbefangenen Leser der Evangelien dürfte auffallen, daß Jesus dort mit einer umfassenden Autorität auftritt. Er beruft sich zwar gelegentlich auf Moses und die Propheten, aber er selbst ist es, der die Wahrheit des von ihm Verkündeten bezeugt. Das muß im Einzelnen hier nicht nachgewiesen werden.18 Wie Johannes der Täufer stellt er sich damit einer Auffassung entgegen, die sich allein auf eine Überlieferung beruft, die zumindest der aramäischsprechenden jüdischen Bevölkerung der Region unverständlich geworden ist. 17 18

Ebd., S. 314. Immerhin sind die Worte der Form ἀμὴν [γὰρ] λέγω ὑμῖν : Amen, dico vobis, 101 mal in den Evangelien belegt (im NT insgesamt 130 mal).

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Jesus ist damit einer der ersten aus einer langen Reihe von Einzelpersonen, die als religiöse Lehrer im Judentum Bedeutung gewinnen; interessanterweise scheint sich hier ein Aspekt der Hellenisierung des Judentums jenseits der Sprachschranken auszuwirken. Wie Hengel hervorhebt, ist dies „ein Zeichen dafür, daß der Individualismus der hellenistischen Zeit auch im jüdischen Volk Bedeutung gewann“, denn: „die Betonung der Persönlichkeit des einzelnen Lehrers entstammte griechischer Sitte“.19 Wie aber steht diese Lehrautorität, die in der Regel von der jeweiligen Person abhängt und damit als ein Ausdruck von Volksfrömmigkeit im Widerspruch zu der von den Schriftgelehrten vertretenen alleinigen Gültigkeit der Schrift verstanden werden muß, mit der Struktur der Schriftlichkeit der Überlieferung des Hebräischen als Konsonantenschrift in Zusammenhang? Friedrich Kittler versuchte in Musik und Mathematik I/1 eine Erklärung, die direkt aus der Mediengeschichte der Konsonantenalphabete stammt. Worte in Konsonantenschriften sind fast beliebig umzudeuten. Ob das semitische Trigramm b-j-n trennen, zwischen, unterscheiden, verstehen, erklären oder erscheinen heisst, steht in den Sternen, wie David sagt, oder näherhin bei Mündern, die die Sprache kennen. Mütter lesen ihren Kindern vor; erfinden für die Kleinen also Stimmlaute, auch wo keine oder andere stehen sollten; Rabbiner renken derlei Fehler an den Grösseren wieder ein. So ist das Aussprechen semitisch selbst schon immer „Poesie“: Eine Zunge, deren freies Tun den Stummlautfolgen Stimme, Sinn und Satzbedeutung schenkt. Allein beim Tetragrammaton, der Vierletternfolge JHWH, bleibt Verlautung immerdar verboten. Den Gott, der seiner Schrift zufolge ohne jede Göttin ist, kann daher keine Stimme rufen. Das jedoch heisst umgekehrt, dass die Poesie der Leser(innen) die der Schreiber beinah ausschliesst. 20

In den nachgelassenen Notizen zu Mathematik und Musik zwanzig Jahre später notiert Friedrich Kittler ein Gespräch mit dem amerikanisch-jüdischen Literaturwissenschaftler Jeoffrey Hartman: „Jeoffrey Hartman, Antwerpen 13.05.05, stimmt meiner Lesart griechischer Vokale zu und wird konkret. Anfangs fügt die jiddische Mamme die Vokale für ihr Kind ein. Sie irrt sich oft, daher brauchts einen Rabbi oder Ältesten. Aber sie, indem sies tut, ist Dichterin (Hartman über Lohmann angetan).“ 21 Ebd., S. 145. Friedrich Kittler: Musik und Mathematik I/1: Aphrodite, München 2006, S. 107f.. 21 Kittler: m+m5.utf, Z 354 – 359. 19 20

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In genauer Korrespondenz zum System Dichter Mutter Kind um 1800 22 ist hier also wieder die Mutter im wahrsten Sinne des Wortes mater lectionis, ein Terminus technicus, auf den noch zurückzukommen ist. Oskar Grether bemerkt in seiner Hebräischen Grammatik für den akademischen Unterricht anläßlich des Gottesnamens: „Zur Zeit Jesu wurde der Jahwename im gottesdienstlichen Leben nur noch beim Priestersegen und am Versöhnungstag bei den Bußgebeten des Hohenpriesters im innersten Vorhof des Tempels ausgesprochen, wo kein Heide in Hörweite kommen durfte.“ 23 Friedrich Kittler notiert dazu den Satz aus einem Werk des Sprachwissenschaftlers Johannes Lohmann: 14.12.10: Lohmann, Lexis 1, 64: „Die semitische ‚Wurzel‘ erscheint so als \textit{Verkörperung der reinen Begrifflichkeit}, ‚Materialisierung der Idee‘ -- wie der persönliche Gott der Semiten die ‚höchste Idee‘, das \gr{málista ón} der griechischen Philosophie verkörpert.“ 24

– und er kommentiert: Einmal im Jahr darf der Hohepriester JHWH feierlich vokalisieren, niemand sonst. Der Gottesname ist der Inbegriff der Inbegriffe, die kein Mensch begreift. Wie hoch sind die Fälschungsmöglichkeiten, wenn Rabbiner die Tora vokalisieren? CHECK Shannons Konsonantenlesbarkeit spricht nicht dagegen, weil die Tora ja nicht indogermanisch ist. Mene mene tekel upharsim als grandiose Fälschung (Powell in mmI1).25

Barry Powell hatte 1997 eine neue philologische Interpretation der biblischen Erzählung 26 gegeben, nach der Daniel vor Belsazar eine schlichte Währungsanschrift („m-n m-n t-q-l-w-p-r-s-j-n; Minen, Minen, Schekel, Halbschekel“ 27) 22 23 24

25

26 27

Friedrich A. Kittler: Dichter · Mutter · Kind, München 1991. Oskar Grether: Hebräische Grammatik für den akademischen Unterricht, München 1951, S. 71. Johannes Lohmann: M. Heideggers ontologische Differenz und die Sprache (mit einem Epilog und einem Nachtrag), in: Lexis 1, 1948, S. 49–106, 64. Zit. n.: Kittler: m+m05.utf, Z 89–93. In Kittlers Notaten sind Worte vor einer geschweiften Klammer (etwa: „...\textit{...“, „...Überschrift{...“, usw.) Formatierungszeichen für das Textsatzsystems LaTeX. Kittler: m+m5.utf, Z 99–104. – Der Verweis: „(Powell in mmI1)“ bezieht sich auf Friedrich Kittler: Musik und Mathematik I, Hellas 1: Aphrodite, München 2006, S. 107 f.. Vgl. Barry Powell: Homer and Writing, in: A new Companion to Homer (Hg. Ian Morris, Barry Powell), Leiden-New York-Köln 1997, S. 11 f.. – In Kittlers Notaten verweist die Sigle „CHECK“ durchweg darauf, daß der folgende Gedanke überprüfungsbedürftig ist. Dan. 5. In aramäischer Schrift und lateinischer Umschrift bei Powell: Homer and writing, S. 11 f..

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in eine Untergangsvorhersage umdeutete. Der Gedanke liegt nahe, daß das „Volk“ die Schrift umso mehr als Macht erfuhr, als es weder lesen noch schreiben konnte. Es blieb daher durch die Schrift „im Glauben“ an eine göttliche Macht auf die kulturelle Macht der Schriftgelehrten und Priester angewiesen. Zwar erfordert die Tora, die ohne Satzzeichen geschrieben ist, daß der Leser sie schon im Akt der Lektüre interpretiert, doch bedeutet gerade dies, daß der Inhalt der Tora an die Autorität der Schriftgelehrten gebunden bleibt, da die Interpretation keinesfalls freisteht. Nun hatte aber, wie beschrieben, seit langem schon ein Sprachwandel in Israel und Judäa stattgefunden. An die Stelle des Hebräischen als Literatursprache war das Griechische getreten, das Aramäische wurde zu jener (s.o.) „Sprache der Analphabeten, die keiner sprachlichen Monumente mehr bedurften“.28 In dieser Zeit war die griechische Verkehrssprache des Ostens auf dem besten Wege, das vom Volk nicht mehr verstandene Hebräisch auch im religiösen Gebrauch abzulösen. Jüdische Gebildete wie Philon von Alexandria, der von 25 v. Chr. bis 40 n. Chr. lebte, also ein Zeitgenosse Jesu war, verstanden schon kein Hebräisch mehr, was die dringliche Notwendigkeit einer griechischen Bibelübersetzung der sogenannten Septuaginta (LXX) verdeutlicht, die schon um 300 v. Chr. in Angriff genommen worden war. Sie wurde sogar in Synagogen anstelle der hebräischen Tora verlesen. Auch in Qumran wurden Fragmente der Septuaginta gefunden.29 Daneben bildete sich eine neue Observanz heraus, für die die Kenntnis der real längst entschwundenen Sprache – und das heißt hier eindeutig die Kenntnis der Vokalisierung! – quasi ein Berufsgeheimnis wurde, das sie streng hüteten. Ich möchte hier nur an die Schwierigkeiten mit den matres lectionis erinnern, also behelfsmäßig und variierend für Vokale stehenden Konsonantenbuchstaben; 30 oder an so komplizierte Sachverhalte wie Ketíb (Geschriebenes) und Keré (zu Lesendes), wo, kurz gesagt, ein anderes Wort gelesen werden muß, als das im Text stehende. An 1314 Stellen des AT verlangten die späteren Massoreten, daß beim Lesen vom Wortlaut des Textes abgewichen werde, ohne daß dieser verändert werden durfte. Es handelt sich an diesen Stellen entweder um Abschreibeversehen, die als solche erkannt worden waren, oder um anstößig klingende Ausdrücke, an deren Stelle schönere gewählt werden sollten, oder es sollte auf Grund mündlicher Überlieferung ein Wort durch ein anderes ersetzt werden. Das Wort des Textes, das gemieden werden sollte, wird als Ketíb (‫„ כְּתִיב‬Geschriebenes“) bezeichnet, das Wort, das gelesen werden sollte als Keré (‫„ קְ רֵי‬zu Lesendes“). Das Kere 28 29 30

Hengel: Judentum und Hellenismus, S. 5, Anm. 13. Ebd., S. 113. Vgl. Grether: Hebräische Grammatik, S. 37 f..

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wurde neben der Abkürzung ׄ‫ ק‬bzw. ‫ ]…[ ק׳‬an den Rand geschrieben und beim Ketib wurde durch einen Circellus ° oder Asteriscus * darauf verwiesen. […] Damit das Ketib der Vokalisation nicht ermangele, wurden die Vokale des Kere ihm beigefügt, während das Kere selbst unvokalisiert blieb. Dem Leser ist also das Kunststück zugemutet, die beim Ketib stehenden Vokale zu den Konsonanten des Kere zu übertragen. Jud. 7, 13 ist z.B. als Ketib versehentlich ‫ צלול‬statt ‫צְלִיל‬ überliefert. Demnach ist als Kere an den Rand geschrieben: ‫ קׄ צליל‬und das Ketib folgendermaßen vokalisiert: ‫ צֵ ֯לִול‬so daß es ein unlesbares Wortungetüm bildet.31

Von den drei als Kere perpetuum bezeichneten Sonderfällen steht zuvörderst das Tetragrammaton JHWH [jod-he-wau-he, ‫]יהוה‬. Es „wurde in den letzten Jahrhunderten v. Chr. mehr und mehr gemieden in der Erkenntnis, daß der eine lebendige Gott eines Namens nicht bedürfe, und vor allem aus Furcht, er könne durch Heiden entweiht werden.“ 32 Friedrich Kittler notierte stenogrammartig den Stand der bisherigen Diskussion und ein erstes wichtiges Indiz für seine schließliche These : Raimar Zons, 13.02.06: (aus leider verlorener Zeitschrift) +70 brennt Titus Salomons Tempel nieder und mit ihm das eine Thora-Exemplar. Damit ist die Vokal-Aussprache-Tradition dahin, wie sie der Tempel gewährte. Es entstehen Rabbiner, deren ganzes Tun es ist, diakritische Zeichen zu erfinden, aber nur in ihren Kommentaren einzusetzen. Allerdings decken diese Kommentare jedes Wort der Tora ab, so daß Hebräisch - nur 2 Jahrzehnte nach Paulos‘ Griechisch! - voll-vokalisch wird. Einziger Einwand: das Iota und die Tüpfelchen schon beim Rabbi Jeschua. Ist das echtes Herrnwort? Bultmann 1926/ 1983, 47: „die berühmten Worte, die Jesus nicht wohl gesprochen haben kann.“ Im Unterschied zum gr. Iota ist das Jod kein Strich, sondern ein kleines Häkchen, das weder die Spalte noch die Zeile quadratisch füllt (Bild bei Wendt, 1961, 282). Die Griechenschrift kann nicht gemeint sein.“ 33

31 32 33

Ebd., S. 71. Ebd.. Kittler: m+m5.utf, Z 913–922. Vgl. Rudolf Bultmann: Jesus, Tübingen 1983 (erste Auflage 1926), S. 47.

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V. Die Botschaft Jesu als Medienprogramm Wie man erkennt, geht es um die berühmte Stelle Matthäus 5,18, an der Jesus – Kittler: „Rabbi Jeschua“ – spricht: ἀμὴν γὰρ λέγω ὑμῖν ἔως ἄν παρέλθη ὁ οὐρανός καὶ ἡ γῆ, ἰῶτα ἕν ἤ μία κεραία οὐ μὴ παρέλθη ἀπὸ τοῦ νόμου, ἔως ἄν παντα γένηται.

Amen, ich sage Euch, Bis Himmel und Erde vergehen, Wird nicht ein Jota noch ein Tüpfelchen [keraía] Des Gesetzes vergehen, Bevor nicht alles geschehen ist.34 Die nachgelassenen Notizen Friedrich Kittlers, die eine medientheoretische Relektüre des gesamten Neuen Testaments außer der Apokalypse in, zum Teil, Vers-für-Vers-Kommentaren,35 unternehmen, beginnen unter dem Titel „Die gute Botschaft“ mit einem Kommentar des Matthäus-Evangliums.36 Er setzt mit Kommentaren zu der eben genannten Stelle ein: 5, 18 Bis daß Himmel und Erde vergehn, wird nicht vergehen der kleinste Buchstabe und [oder!] kein Tüpfelchen vergehn vom Gesetz, bis daß es alles geschehe.

\gr{ἀμὴν γὰρ λέγω ὑμῖν, ἕως ἂν παρέλθῃ ὁ οὐρανὸς καὶ ἡ γῆ, ἰῶτα ἕν ἢ μία

κεραία οὐ μὴ παρέλθῃ ἀπὸ τοῦ νόμου, ἕως ἂν πάντα γένηται.}

Denn ich sage euch warlich/bis das himel vnd erden zurgehe/wird nicht alles zurgehen der kleinest buchstab/noch ein tüttel vom Gesetz/bis dass es alles geschehe. Vgl. Lk. 16, 17: Welt vergeht eher als eine keraía des Gesetzes So wird die Naherwartung angeheizt. Ein bisschen kleinkariert, wo es doch um den Kosmos geht.

34

35 36

Übersetzung G.S. – Roland Deines weist in seinem Buch: Die Gerechtigkeit der Tora im Reich des Messias. Mt 5,13–20 als Schlüsseltext der matthäischen Theologie [Wiss. Untersuchungen zum NT (WUNT) 177], Tübingen 2004, auf den überaus kunstvollen Aufbau dieses vierteiligen Logions hin (vgl. ebd.: S. 289). Vgl. die demnächst erscheinende Edition (wie Anm. 2). Kittler: m+m5.utf, Z 1495 bis 1666.

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Bei Lukas fehlt das Iota, weil er Grieche CHECK ist und nicht mehr medienmaterial wie Matthäus denken kann Das Buch setzt sich selber durch - wie soll das gehn? Vulgata: iota, apex, d. h. kein Konsonant und kein Vokal Benseler: apex spitze Mütze, Spitze überhaupt Siehe Burkert (unten) über apices als Rechensteine keraia: Akzent oder Schriftzeichen (Benseler), noch CHECK Passow, s. v. keraía: Fühlhorn, Antenne, Rah, Kriegsmaschine; diakritisches Zeichen (Plut. Non posse, 1100a.) Matthäus blickt durch sein (?) Griechisch auf Hebräisch und/oder Aramäisch hindurch, zurück, läßt dem Rabbi Jesus seine Muttersprache und Vaterschrift mit diakritischen Zeichen, die also schon erfunden sind und im Gebrauch Hebr. Jod bei Wendt, 1961, 282, in der Tat winzig klein, passt nicht wie alle anderen Konsonantenzeichen ins Quadrat HIER unbedingt SW-BILD: Konsonantenschrift und Vokalzeichen Jan Assmann, 30.05.08: Keraia meint bloss Krönchen, keine Vokalzeichen. Welche Wahrheit leugnet er […]? Krönchen schmücken angeblich den Text - wodurch wozu? Assmann empfiehlt Ägyptologen Morenz/Leipzig 37

Zunächst: Warum soll, wie oben zitiert, laut Rudolf Bultmann, Jesus diese berühmten Worte nicht wohl gesprochen haben können? In Bultmanns Interpretation wäre ein solches Wort eine unwahrscheinliche Bestätigung der gesetzestreuen Observanz, die Jesus ganz fernzuliegen scheint. Medientheoretisch aber hängt, so scheint es, alles an der kontroversen Interpretation des griechischen Wortes κεραία [keraía]. Roland Deines hat 2004 in einer umfangreichen Arbeit zu Matthäus, die Friedrich Kittler nicht rezipiert hat, diese Frage untersucht und ist zu frappierenden Ergebnissen gelangt, die den Verdacht Friedrich Kittlers bestätigen, bei μία κεραία [mía keraía] könnte es um mehr und Grundsätzlicheres gehen als die zur Verzierung angebrachten Tüpfelchen und Krönchen, die in der talmudischen Tradition zuerst erscheinen (siehe hier weiter unten) und auf die sich Jan Assman in dem von Friedrich Kittler 37

Kittler: m+m5.utf, Z 1503–1538.

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erinnerten Gespräch wohl bezog. Deines belegt mit zahlreichen Beispielen sowohl aus der jüdischen als auch der griechischen Überlieferung, daß die κεραία des Matthäustextes keinesfalls schmückendes Beiwerk meinen können, sondern einen integralen, sinnerhaltenden Bestandteil des gesamten Bibeltextes, also ausdrücklich nicht nur der Tora. Des Gewichts dieser theologisch-philologischen Argumentation wegen, werde ich hier genauer auf Deines’ Argumentation eingehen. Zunächst weist er nach, daß sich in der Matthäus-Stelle ἰῶτα ἕν ἤ μία κεραία die erste Wendung: „nicht ein Jota“, keinesfalls auf die Kleinheit des hebräischen Häkchen-Zeichens Yod oder den (größeren) griechischen Buchstaben Iota bezieht, sondern auf die Gesamtheit der Tora in der rabbinischen Tradition. Die Unentbehrlichkeit des Yod ist geradezu ein Topos dieser Überlieferung geworden, nach der sich einmal in einer Art metaphorischen Verselbständigung der Buchstaben sogar das Yod selbst an Gott oder an König Salomo wendet und auf seiner Unersetzbarkeit beharrt. Bündig resümiert Deines: „Das Yod steht als einzelner Bestandteil der Tora pars pro toto für ihre gesamte Gültigkeit“.38 Sodann betrachtet Deines die lange Reihe der „Belege, in denen κεραία Schriftzeichen, Buchstaben o. ä. bezeichnet“ 39 und nicht ornamentale Verzierungen. Er folgt Lidell/Scott/Jones 40 und nennt zunächst folgende Testimonia: 1. Bei dem Arzt und medizinischen Schriftsteller Antyllus aus der 1. Hälfte d. 2. Jh. n.Chr. […], dessen Werke nur als Zitate bei seinem späteren Kollegen Oreibasios/Oribasius und Leibarzt Kaiser Julians (4. Jh. n.Chr.) […] erhalten sind (Buch 45 25,3,2). Im Kontext einer Amputationsschilderung wird an einem „H“ verdeutlicht, wie die Haut aufzuschneiden ist. Dabei werden die das H bildenden Linien (griech. γραμμή) erwähnt und die Endpunkte derselben (am ehesten mit „Spitzen“ oder „Enden“ zu übersetzen) als κεραία bezeichnet (μέχρις τῶν κεραιῶν τῶν γραμμῶν). Das entspricht exakt der Bedeutung der verschiedenen hebräischen Bezeichnungen für die Striche oder Spitzen eines Buchstabens, die über die eigentliche Kontur hinausragen. […] 2. Plutarch (45– ca. 125 n.Chr.), in Non posse suaviter vivi secundum Epicurum (= 1086C–1107C [1100A]): Das Verhalten Epikurs gegenüber seinem Lehrer Demokrit wird als ζυγομαχεῖν περὶ συλλαβῶν καὶ κεραιῶν beschrieben, was mit 38 39 40

Deines: Die Gerechtigkeit der Tora, S. 297. Ebd., S. 314. A Greek-English lexicon: With a revised supplement (compiled by Henry George Liddell and Robert Scott. Revised and augmented throughout by Henry Stuart Jones with the assistance of Roderick McKenzie and with the cooperation of many scholars), Oxford 91996, S. 939 f.

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„streiten über Silben und Buchstaben“ oder „streiten über Silben und Akzente“ zu übersetzen ist. […] Der polemische Kontext läßt unschwer erkennen, dass damit ein Streit bis in das letzte Detail einer Lehre hinein gemeint ist, wobei κεραία Ausdruck für das kleinste bedeutungsrelevante Element ist. Ganz ähnlich ist auch die in der Kommentarliteratur vielgenannte (aber nie übersetzte bzw. kontextualisierte […]) Stelle aus Philo (Flacc 131) zu verstehen. Der Zusammenhang ist die Schilderung der juristischen Tätigkeit Lampons, einer der Gegner der Juden Alexandrias und Ankläger gegen den Präfekten Flaccus. Das Volk denunzierte ihn als καλαμοσφάκτης, d.h. als einen Schreibrohrmörder (‚Schreibtischtäter‘), weil er die Prozessakten systematisch durch Hinzufügen oder Streichungen manipulierte (μεταποιῶν καὶ μετατιθεὶς καὶ στρέφων ἄνω κάτω τὰ γράμματα), aber gleichzeitig als „Buchstabenbuckler“ (γραμματοκύφων, Schmähwort für einen Sekretär oder Schreiber) für „jede Silbe, ja mehr noch für jedes einzelne Häkchen“ (κατὰ συλλαβὴν μᾶλλον δὲ καὶ κεραίαν ἑκάστην) Geld verlangte. Eindeutig ist auch hier κεραία das kleinste Element in einem offiziellen Schriftstück, wobei der Kontext zusätzlich auf das Problem der willkürlichen Veränderungen von Justizakten verweist. Wer sich, so könnte man paraphrasieren, jeden Buchstaben einzeln bezahlen lässt, von dem sollte man auch erwarten können, dass er seine Sache entsprechend ordentlich und genau macht.

3. Die letzte bei Lidell/Scott/Jones genannte Stelle (Dionysos von Halikarnass, De Dinarcho 7) bezeichnet mit κεραία das kleinste Element eines Textes, bis zu dem der Stil eines Autors erkennbar ist. Der unmittelbare Kontext ist eine Anweisung des Dionysos an seine Leser, wie sie durch einen Stilvergleich die Reden des Demosthenes von denen des Dinarchos unterscheiden können, da in der Überlieferung falsche Zuweisungen vorliegen. Von Demosthenes ist als echt anzusehen, was „die Angemessenheit des Ausdrucks, die Originalität der Komposition, die Empfindsamkeit der Gefühle und den sich über jeden Buchstaben erstreckenden scharfen und intellektuellen Geist und Klugheit in allem darbietet“ (ἡ τῆς λέξεως μεγαλοπρέπεια καὶ ἡ τῆς συνθέσεως ἐξαλλαγὴ καὶ τὸ τῶν παθῶν ἔμψυχον καὶ τὸ δὶα πάσης κεραίας διῆκον πικρὸν καὶ νοερὸν τό τε πνεῦμα καὶ ἡ δεινότατης πᾶσι παρέπηται). […] D.h.

der Stil des Demosthenes ist bis in den letzten Buchstaben hinein spürbar, womit hier eindeutig das kleinste semantische Element gemeint ist und nicht eine wie auch immer geartete Buchstabenverzierung. 41 Zu erwähnen ist noch ein weiterer wichtiger Beleg für κεραία als integralem, signifikanten Bestandteil eines Textes, nämlich die Rede des Dion von Prusa an die Rhodier,42 in der er von der zeitgenössischen Unsitte spricht, aus Sparsam41 42

Deines: Die Gerechtigkeit der Tora, S. 315 ff.. Vgl. Dion Chrysostomos 14 [31], 86.

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keit Statuen durch Änderung der Inschrift quasi „umzuwidmen“. Dion sagt dort: Jemand werde bereits zum Tode verurteilt, wenn er „auch nur ein Wort von einer Gesetzessäule kratzt, ohne lange zu fragen, welches Wort es war und worauf es sich bezog. Wenn jemand in das Gebäude eindringt, in dem ihr eure öffentlichen Urkunden aufbewahrt, und ein Tüpfelchen vom Gesetz oder auch nur eine Silbe aus einem Volksbeschluß streicht (κεραίαν νόμου τινὸς ἢ ψηφίσματος μίαν μόνην συλλαβήν, μᾶλλον δὲ καὶ κεραίαν ἑκάστην) werdet ihr euch gebärden, als hätte jemand ein Stück von eurem Wagen geraubt.“ 43 Hieraus geht klar hervor, daß sowohl Iota wie Keraia im hellenistischen Sprachgebrauch integrale Bestandteile eines Textes darstellen und nicht bloß ornamentale Krönchen oder Punkte oder Striche. Die Deutung als ornamentale Verzierung wird von Deines in einem eigenen Abschnitt erörtert und widerlegt: Das griechische κεραία ist vielfältig verwendbar, aber im Bereich des semantischen Feldes von Schrift und Buchstaben eindeutig als kleiner bzw. kleinster Bestandteil eines schriftlichen Dokuments verstehbar. Wo es neben συλλαβή (das in diesem Kontext Silbe oder Buchstabe heißen kann) gebraucht wird, liegt der Ton auf dem noch kleiner sein. Damit entspricht es genau der m[at]t[häischen] Verwendungsweise neben ἰῶτα: „weder ein Buchstabe noch der Strich eines Buchstaben…“ […]. Keinen Hinweis gibt es in den genannten Texten darauf, dass es sich um ein bloßes Buchstabenornament handeln könnte. 44

Die Tradition der κεραία als „Krönchen, die den Text an bestimmten Stellen zieren“, geht unter anderem auf einzelne Stellen im Talmud zurück, die den Rabbinern Ben Akira und Raba 45 zugeschrieben werden. Dort bindet Gott selbst für die hebräischen Buchstaben Kronen, als Lohn für die Beschäftigung mit jedem einzelnen sinnhaltigen Buchstaben der Tora.46 Noch traditionsprägender scheint das Wort Rabas: „Sieben Buchstaben benötigen drei ‚Krönchen(?)‘ und dies sind: Shin, Ayyin, Tet, Nun, Zayyin, Gimel und Zadeh.“ Roland Deines bemerkt hierzu: Es spricht m.E. viel dafür, das Diktum Rabas als völlig isoliertes Traditionsstück zu betrachten, von dem schon die Talmudredaktoren nicht mehr wussten, was es besagte. Durch die Locierung in den Kontext von bMen [Menachot, G.S.] gaben sie zu verstehen, dass sie darunter eine Anweisung für das korrekte Schreiben bzw. Lesen sahen. Fraglich bleibt allerdings, warum gerade diese sieben Buchstaben 43

44 45 46

Dion Chrysostomos: Sämtliche Reden (übersetzt von W. Elliger), Zürich 1967, S. 390. – Mit dem „Wagen“ ist das Gespann des Helios gemeint, ein Werk des Lysippos und Polisheiligtum erster Ordnung. Deines: Die Gerechtigkeit der Tora, S. 317 f.. Raba bar Josef bar Chama, gest. 352, ist vielfach im Talmud bezeugt und scheint sich besonders für palästinische Traditionen interessiert zu haben (vgl. ebd., S. 323, Anm.). Menachot [bMen] 29b, vgl. Deines: Die Gerechtigkeit der Tora, S. 320 f..

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genannt werden, die eben in ihrer Mehrheit nicht zu den schwierig zu lesenden bzw. zu unterscheidenden gehören. Es ist jedenfalls methodisch nicht ratsam, das rätselhafteste und isolierteste Diktum des gesamten Abschnitts als Kriterium zu nehmen, nach dem die übrigen Aussagen interpretiert werden. Es ist die Wirkungsgeschichte dieses Wortes in der aschkenasischen Tradition, die hier den Blick verstellt. 47

Friedrich Kittler hat, wie erwähnt, diese Unterstützung seines Nachdenkens über iota und keraía bei Matthäus nicht zur Kenntnis genommen. Aber seine Forschungshypothesen gehen in Deines’ Richtung und zugleich, in geradezu kriminologischer Absicht, darüber hinaus. Denn Friedrich Kittler nimmt an, daß das Wort keraía im Munde von Jesus nicht nur allgemein ein bedeutsamer Teil eines Wortes oder Textes sei, sondern einen ganz präzisen Sinn habe: Gemeint seien diakritische Vokalzeichen. Sie werden offiziell in den hebräischen Text der Tora erst ab dem 7. Jahrhundert in Form der sogenannten masoretischen Vokalisierungszeichen eingeführt. 48 Allerdings war schon – siehe die weiter oben zitierte Notiz – mit der Zerstörung des Tempels und seines Tora-Exemplars 70 n. Chr. der Druck zur Vokalisierung des hebräischen Textes als einzigem gemeinsamem Monument aller Richtungen des Judentums angestiegen. Die Rabbiner benützten seitdem in ihren Kommentaren solche Zeichen. Kittler möchte sie oder Vorformen von ihnen noch weiter zurück datieren: schon auf das Wirken und die Lehre von Jesus. Der Erfolg seiner Lehre und der seiner Schüler stelle schließlich für die rabbinische Tradition einen weiteren Druck zur Vokalisierung der Tora dar. Die Rede von iota und keraía würde dann also nicht Gesetzestreue propagieren, sondern die Einführung und Erhaltung von Vokalzeichen in den hebräischen Text der Tora. Unmittelbar anschließend an den zitierten Bericht über das Gespräch mit Jan Assmann am 30. 5. 2008 notiert Friedrich Kittler zu den Worten über iota und keraía bei Matthäus weiter: Und diese Worte stehen der Bergpredigt unmittelbar voran! Sie handelt von einer neuen Lehre (Du sollst nicht töten >> Du sollst deinem Bruder nicht einmal zürnen, sondern ihn lieben), also einer Lesung, die sich an Hörer richtet, auf dem Berg statt im Gemeinschaftssaal (synagoge). 47 48

Ebd., S. 327, Anm.. Masoreten (von hebr. /Masora/, Überlieferung) werden jene jüdischen Gelehrten genannt, die ab ca. 600 n. Chr. im Osten um Babylon und in Palästina in Tiberias der Überlieferung der Tora ihre bis heute vorliegende Gestalt gaben. Dabei sind in unserem Zusammenhang zwei Tätigkeiten am bedeutendsten: Die Festlegung der Vokalisierung und der Akzente durch die masoretischen Zeichen (Punktierung) und die Kommentare in den Manuskripten, die die genaue Schreibweise von Wörtern und die Wortzahl angeben als Maßstab jeder neuerlichen Abschrift. Diese Marginalien werden selbst auch Masora genannt.

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Im Offenen (Delos) statt im Gemeinschaftssaal, der keiner ist, weil er (orthodox) nur Männern offensteht. Ein Durcheinander vieler Männerstimmen, die um Vokalisierung streiten. Statt dass der Gott im Abaton verehrt, geschont, belassen und gefeiert würde. Jesus als Rabbi verschärft die Schrift, hebt sie nicht auf. Er bricht das Monopol der Schriftgelehrten und setzt masoretisch-vokalische Zeichen. Für Huren, Samariter, Galiläer, Fischer - all die «Armen im Geiste», d. h. Illiteraten.49

Kittlers Notizen stellen daraufhin die Frage, ob es bereits in den Schriftrollen von Qumran mit Texten von 250 v. Chr. bis 70 n Chr., die der jüdischen Sekte der Essener zugeschrieben werden, masoretische Zeichen als Hilfen für die Vokalisierung hebräischer Texte gegeben habe und verneint dies; in drei zwischen 150 und 100 v. Chr. datierten Qumranrollen fänden sie sich nicht.50 Kittlers Schluß: „Jesus also nicht im ‚Trend‘, sondern Medienstürmer“.51

Die mit Paulus einsetzende griechische Überlieferung des Christentums sei dann die direkte Konsequenz und das genau entsprechende Verständnis dieser medienstürmerischen Botschaft Jesu. Und die späteren masoretischen Zeichen in den hebräischen Texten entstünden erst unter dem massiven Druck des griechischen Vokalalphabets in Form der Koinē.52 49

50

51 52

Kittler: m+m5.utf, Z 1540–1553. – Raimar Zons hat mich dankenswerterweise noch auf eine andere Interpretation dieses schon von den Zeitgenossen wahrgenommenen bevorzugten Umgangs mit gesellschaftlich Depravierten und Ausgeschlossenen hingewiesen: Lang, Bernhard: Jesus der Hund. Leben und Lehre eines jüdischen Kynikers München 2010. „Arm im Geiste“ würde sich dann weniger auf die Illiteraten, als auf die freiwillig gewählte Armut Jesu beziehen. Auch dies legt nahe, daß Jesus aus höheren Kreisen stammte, wie seine hebräische Gelehrsamkeit ja nahelegt; auch Matthäus und Lukas bezeugen seine Abstammung aus dem Hause des Königs David [Mt. 1,1; Lk. 2,4]. Auf welche Belege im Einzelnen sich Friedrich Kittler hier bezieht, konnte noch nicht eindeutig festgestellt werden. Aber schon eine erste Durchsicht eventuell in Frage kommender Funde bestätigt diese Aussage, die mittlerweile bibelwissenschaftlich als gesichert gilt (vgl. http://www.bibelwissenschaft.de/startseite/wissenschaftliche-bibelausgaben/biblia-hebraica/masora/ Letzter Aufruf: 19.03.2015). Die Editionslage der Qumranschriften ist nicht unkompliziert. Immerhin ist ihre Edition seit 2009 abgeschlossen: Discoveries in the Judean Desert (DJD) (hg. Roland De Vaux, Pierre Benoit, John Strugnell, Emanuel Tov), 40 Bände, Oxford 1955–2009. Die Revision älterer Bände wird vorbereitet. Die meisten der Funde können auch online eingesehen werden über: The Leon Levy Dead Sea Scrolls Digital Library (letzter Zugriff: 22.03.2014). Kittler: m+m5.utf, Z 1564. Vgl. ebd., Z 1567 f..

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Daraus ergibt sich schließlich die eigentliche These Friedrich Kittlers, also seine Antwort auf die Frage: Why was Jesus crucified? Arme Leute, die nur Aramäisch verstehen, können dank Jesus die Thora selber lesen, fast wie bei Luther. Deshalb hassen ihn die Schriftgelehrten und schlagen Jesus ans Kreuz. Seine Mörder sind nicht „die“ Juden, sondern nur die Rabbiner, sofern sie im Gegensatz zu Jesus das Frauenwissen ausschliessen (Lk 23, 27–29). Auf mediengeschichtlichen Taubenfüssen kommen die wahren Revolutionen.[53] Niemand, auch nicht Nietzsche, hat das Christentum so technisch schlicht begriffen. Warum? Wir stecken über beide Ohren drin. Seitdem Jesus Vokale schreibt, von der Koine erpreßt, ist Saulos immer schon sein Paulos. Auf Griechisch sind Vokale keine Tüpfelchen, sondern gleichberechtigt schöne Grammata. Paulos hat den Geist, das Pneuma, seines Meisters glatt verstanden. Warum nicht Jakob Taubes? Die Rabbiner warten ein Jahrhundert ab, dann spielen sie das Spiel, nicht Jesus habe die masoretischen Zeichen menschenfreundlich eingeschmuggelt, sondern (wer auch sonst?) sie selbst. [...]54

In seinen Notaten und medientheoretischen Kommentaren zu anderen Teilen des Neuen Testaments führt Kittler diesen Gedanken weiter. So berichten sowohl Matthäus als auch Markus, daß Jesus am Kreuz seinen Gott auf hebräisch angerufen habe, und zwar mit einem Zitat aus dem 22. Psalm: ἠλὶ ἠλὶ λεμὰ σαβαχθανὶ;55 beziehungsweise ἐλωῒ ἐλωῒ λαμὰ σαβάχθανι; 56, „Gott, Gott, warum hast Du mich verlassen?“ Offenbar kann also Jesus Hebräisch lesen, schreiben, sprechen. Die Umstehenden hingegen verstehen nur „Elias“, begreifen also den alten Gottesnamen nicht mehr.57 Markus zitiert hier wörtlich, weil auch

53

54 55

56 57

Vgl. Nietzsche Zarathustra II, Die stillste Stunde: „Da sprach es wie ein Flüstern zu mir: 'Die stillsten Worte sind es, welche den Sturm bringen. Gedanken, die mit Taubenfüssen kommen, lenken die Welt. …'.“ (Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra, in: Ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli und Mazzino Montinari, Band 4, Berlin-New York 1999, S. 189). Kittler: m+m5.utf, Z 1570–1586. Mt. 27, 46. Novum Testamentum Graece et Latine. Utrumque textum cum apparatu critico imprimendum curavit Eberhard Nestle novis curis elaboraverunt Erwin Nestle et Kurt Aland Editio vicesima secunda, Stuttgart 1969, S. 80 (im Folgenden Nestle/Aland). Manche Hss. haben die Variante ἐλωι ἐλωι [(B) ‫]א‬. Mk. 15, 3; Nestle/Aland, S. 134. Vgl. auch Kittler: m+m5.utf, Z 1705–1707 und folgende. Vgl. Mk. 16, 36.

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Jesus schon wörtlich zitiert hat.58 Das direkte Zitat aus Psalm 22,2 zeigt,59 daß beide hebräische Texte korrekt lesen können, also die Vokalisierung kennen. Lukas 2,46 berichtet, wie der zwölfjährige Jesus im Tempel inmitten der Gelehrten deren Reden versteht, mit ihnen auf Hebräisch spricht und ihnen Fragen stellt. Alle, einschließlich der Eltern, wundern sich. 2, 46 mit Zwölf kann er Lehrer im Tempel anreden und fragen. Eltern baff -: das hebräisch alphabetisierte Wunderkind 60

Lukas 11,52 sagt Jesus zu den Schriftgelehrten: οὐαὶ ὑμῖν τοῖς νομικοῖς, ὃτι

ἤρατε τὴν κλεῖδα τῆς γνώσεως· αὐτοῖ οὐκ εἰσήλθατε καὶ τοὺς εἰσερχομένους ἐκωλύσατε. „Weh euch Gesetzeslehrern! Ihr habt den Schlüssel zur Erkenntnis

weggenommen; ihr selbst seid nicht hineingegangen, und die, die hineingehen wollten, habt ihr abgehalten.“ 61 Wenn der Schlüssel zur Tora die Vokale sind, bekommt diese Scheltrede einen ganz konkreten, medientechnischen Hintergrund. Auch andere Stellen aus Lukas lassen sich in diesem Sinne deuten. Etwa die Emmaus-Erzählung (Lukas 24, 13 – 31), wo der auferstandene Jesus den Jüngern Moses und die Propheten auslegt, was also bedeuten würde, daß ihnen plötzlich die Bedeutung aufging, wie „die Schriften im Ganzen“, ἐν πάσαις ταῖς γραφαῖς, 62 wahrhaft zu lesen seien. Friedrich Kittlers Echo: „... durch Eintragen der Vokale?“ 63 Damit erhält diese Erzählung einen neuen und materialen Wundersinn. Oder Lukas 24,37, auch dies ein Ereignis nach der Kreuzigung, wo die Jünger „meinten, den Geist zu schauen“ (πνεῦμα θεωρεῖν 64), nicht ein spukhaftes Phantom, sondern die Stimme des Herrn, die sie nun erst in den aufgeschriebenen Stimmlauten alias Vokalen anschauen und als seine Botschaft erkennen, das heißt lesen können.65

Vgl. Kittler: m+m5.utf, Z 1725–1727. Ps. 22,2: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, „Deus meus, Deus meus ut quid derelinquisti me?“ (Nestle/Aland, S. 79). 60 Kittler: m+m5.utf, Z 1766. 61 Text nach Nestle/Aland, S. 185, bzw.: Die Bibel. Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Vollständige Ausgabe. Deutsche Übersetzung auf Grundlage von Herders Bibelkommentar hg. von der Erzabtei Beuron 1966 revidiert in Abstimmung mit der Jerusalemer Bibel, für die vorliegende Ausg. erneut rev. v. Dr. Johannes Franzkowiak, Freiburg i. B. 2007, S. 1098. 62 Nestle/Aland, S. 227. 63 Kittler: m+m5.utf, Z 1801. 64 Nestle/Aland, S. 228. 65 Vgl. Kittler: m+m5.utf, Z 1802 f.. 58 59

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VI. Johannes – tragische Verkündigung Von der Frage nach den Vokalen wird auch Friedrich Kittlers Lektüre des Johannes-Evangeliums geleitet. Dessen erstes, in der Überlieferung als „Prolog“ angesprochenes Kapitel, mit seinem entscheidenden Wort: Καὶ ὁ λόγος σάρξ ἐγένετο, „Und das Wort ward Fleisch“, 66 kommentiert Friedrich Kittler so: Johannesevangelium (um 90, Porter, 2004, Spiegel 13/08: 95) Jesus weiss und weiss nicht, dass Gott anderen Völkern (Griechen) näher ist als Juden, nämlich durch Vokale. Das nennt Johannes den logos. Erst Paulus und Johannes denken aristotelisch eidos/hyle, logos/phone. Klar, weil sie griechisch denken und schreiben 67

Bereits der Prolog des Johannesevangeliums, der Friedrich Kittler seit seinen frühen Tagen im Kontext von Goethes Faust beschäftigte (s.o.), legt eine Beziehung zur griechischen Tradition, hier zu Aristoteles nahe, sowohl durch seine Form wie durch seinen Inhalt. Ein 2009 erschienenes, ausschließlich dem Johannesprolog gewidmetes Buch, behandelt unter anderem die Form des Prologs und deren Tradition. Die literarische Gattung der Vorrede ist eine klassische Kategorie der griechischen und lateinischen Literatur der Antike. In diesem Literaturkorpus kann die Vorrede unter vier verschiedenen Formen auftreten: Einleitung oder Präambel, dramatischer Prolog, Incipit und virtuelles Vorwort. […] zwei Beobachtungen [sind] von Bedeutung. Erstens lässt die starke Präsenz der Rhetorik in den antiken Schulen vermuten, dass die von ihr vertretenen Regeln und Verfahren nicht nur die Komposition von Reden bestimmten, sondern auch andere literarische Gattungen beinflussten. […] Zweitens wird das Joh[annesevangelium] heute oft der literarischen Gattung des antiken Dramas angenähert und in der Eröffnung des Evangeliums ein Beispiel des dramatischen Prologs gesehen.68

Aristoteles’ ars rhetorica sagt über den Prolog, er diene in den Prosareden, den Heldenliedern und den Tragödien dazu, einen Hinweis auf den folgenden lógos zu geben: 66 67 68

Joh. 1,14: Et verbum caro factum est. Kittler: m+m5.utf, Z 1817–1823. Jean Zumstein: „Der Prolog, Schwelle zum vierten Evangelium“, in: Der Johannesprolog (hg. Günter Kruck), Darmstadt 2009, S. 49–75, 59 f..

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In den Prosareden aber wie in den Heldengedichten ist das [Proömium] ein Hinweis auf die folgende Rede [tou lógou], damit man im Voraus wisse, wovon die Rede [ho lógos] [[handelt]], und der aufmerkende Verstand nicht in Ungewissheit bleibe; denn das Ungewisse verursacht ein Umherirren. Wer uns also den Anfang gleichsam in die Hand gibt, der bewirkt, daß man seiner Rede [tō lógo] folgen kann; daher folgende Formulierungen: „Singe den Zorn, o Göttin“ [Ilias A 1], „Nenne den Mann mir, o Muse“ [Odyss. α 1], […] Auch die Tragiker geben Aufschluß über (den Stoff) des Dramas und, wenn nicht sogleich am Anfang wie Euripides, so [[informiert]] man doch irgendwie in dem Prolog [en tō prológō], wie auch Sophokles es tut: [[[„Polybos war mein Vater“]]]. 69

So stünde in dieser, für Musik und Mathematik so entscheidenden Reihe: des Anfangs von Ilias und Odyssee (und Hesiods Theogonie), von sophokleischen und euripideischen Tragödien schließlich auch der erste Vers des Johannes: „Im Anfang war das Wort (ho lógos), und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort (ho lógos).“ Diesseits literarischer Formen aber geht es in Kittlers Medientheorie des Johannes-Evangeliums vor allem um das Verhältnis des Worts zum Fleisch und des Worts zur Stimme, von lógos zu sárx und lógos zu phonē. 1, 14 kaì ho lógos sárx egéneto. hat Aristoteles mit der Gegenrichtung nicht genug Probleme? des Logos Hyle ist die Stimme Soll das heissen, Jesus sprach zwar aramäisch, dachte aber doch schon griechisch? Einfach weil er lógos war 70

Oder: 5, 25 Auferstehung als Gottsohnes Stimme (phohnä), die die Toten alle hören Ja, eine GRIECHENSTIMME Deutung: phone = hyle des logos wie Joh 1, 1: logos ward sarx (Arist. / De gen an. V) 71 69

70 71

Aristoteles: Rhetorik (übersetzt, mit einer Bibliogr., Erl. und einem Nachw. von Franz G. Sieveke), 5. Aufl., München 1995, S. 205 f. – Wer das griechische Original zu Rate zieht, wird feststellen, daß diese Stelle Johannes noch näher heranrückt, als die trockene Übersetzung es ahnen läßt. Denn auch die Tragödie ist ein lógos: „ἐμοὶ πατὴρ ἦν Πόλυβος“ (Aristot. rhet. Γ14 [1415a, 21]). Kittler: m+m5.utf, Z 1840–1844. Ebd., Z 1867–1870.

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Aristoteles hat sich mit dem Verhältnis von Logos und Stimme, lógos und phonē auch in seinem der Überlieferung nach letzten Werk De Generatione Animalium, Buch V, Kapitel VII beschäftigt. Er geht dort zunächst die Verteilung hoher und tiefer Stimmenlagen, oxýphona und barýphona, bei den Tieren durch und dann auch die Verteilung auf männliche und weibliche Stimmen. Die Differenz der Geschlechter sei vor allem bei der Stimme des Menschen besonders auffällig. Dafür gebe es einen Grund: „ihnen [sc. den Menschen] am meisten hat die Physis diese Kraft, einzig unter den Tieren, gegeben, die Rede zu gebrauchen, da der Rede Stoff (lógou hýlē) die Stimme (phonē) ist.“ 72 Wenn nun also in einer aristotelischen Lektüre des Johannes das Fleisch des lógos seine hýlē wäre, könnte mit Aristoteles dieses Fleisch als die Stimme oder Stimmwerdung des lógos angesprochen werden. Die Frage ist dann nur noch die nach der Richtung: vom lógos zur Stimme alias Fleisch oder von der Stimme der Tiere zum lógos des Menschen. Friedrich Kittlers Notizen zum Neuen Testament können fortsetzen, was das Aristoteles-Kapitel von Musik und Mathematik I/2 ausführlich entwickelte.73 Wenn später Johannes 5,25 Jesus spricht: „Amen, amen ich sage euch, es wird die Stunde kommen – und sie ist jetzt da – in der die Toten die Stimme des Gottessohnes hören, und die hören, werden leben.“ 74 – dann wird in Kittlers Deutung die Auferstehung als Aufgehen von Gottsohnes Stimme verstehbar, die alle hören: Weil es Vokale gibt. Diese Stimme – und der Text als im griechischen Vokalalphabet geschriebener Text bezeugt es ja selbst – ist eine Griechenstimme. Sie erklingt jetzt, das heißt in dem Moment des Lesens. Auf diese Weise versuchen Friedrich Kittlers Notate die Entsprechung von: phonē = hýlē des lógos und: „Der Logos ward Fleisch“, immer wahrscheinlicher und immer konkreter zu machen. Johannes 5,37 ff. etwa wirft Jesus jenen, die ihm mangelnde Gesetzestreue und seine direkte Berufung auf Gott als seinen Vater vorwerfen, selbst vor, daß sie die Stimme (φωνή) des Vaters nicht gehört, noch die Gestalt (εἶδος) erkannt haben, in der er sich offenbart hat. „Ihr durchforscht das Geschriebene (τὰς γραφάς), weil euch scheint, in diesen hättet ihr ewiges Leben.“ Sie erkennen und vernehmen aber die stimmlich lautende Gestalt des Vaters in der Lehre des Sohnes nicht, weil sie nur auf die Konso72

73 74

μάλιστα γὰρ τούτοις ταύτην τὴν δύναμιν ἀποδέδωκεν ἡ φύσις διὰ τὸ λόγῳ χρῆσθαι μόνους τῶν ζῴων, τοῦ δὲ λόγου ὕλην εἶναι τὴν φωνήν (Aristot. De gen.

an. V.VII. 786B, 20–22, Übersetzung G.S.). Vgl. Friedrich Kittler: Musik und Mathematik I/2: Eros, München 2009, S. 149 ff..

ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν ὅτι ἔρχεται ὧρα καὶ νῦν ἐστιν ὅτε οἱ νεκροὶ ἀκούσουσιν τῆς φωνῆς τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ καὶ οἱ ἀκούσαντες ζήσουσιν. Amen amen dico vobis, quia

venit hora, et nunc est, quando mortui audient vocem Filii Dei: et qui audierint, vivent., Dt. Übersetzung G.S..

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nantenschrift starren, so Friedrich Kittlers Deutung.75 Auch Johannes 7,15 wird deutlich, daß Jesus offensichtlich seine Lehrautorität aus der eigenen Kenntnis des Hebräischen bezieht (als eīdos des Vaters) und nicht aus dem Auswendiglernen ungeschriebener Vokale. Einmal, während des Laubhüttenfestes, geht Jesus in den Tempel und lehrt. Die anwesenden Juden sind verwundert: Wie kennt Jesus die Schrift (grámmata, d.h. Hebräisch), da er sie doch nicht gelernt hat (memathäkóhs)?“76

Schließlich aber ist, Johannes 17,26, im Zusammenhang mit der Verkennung des Vaters davon die Rede, daß Jesus der Welt dessen Namen kundgetan habe „ ... – worauf Todesstrafe steht“,77

wie Kittler lapidar anmerkt. In diesem Sinn kann Johannes dann das tragische Endszenario setzen, dem Pontius Pilatus sein dreisprachiges Epitaph schreibt:78 19, 20 INRI hebräisch, griechisch, lateinisch Lateinisch, weil Soldaten kreuzigen und römische Armeesprache Latein ist. Kein anderer Grund erfindlich. 19, 19 IESUS NAZARENUS, REX IUDAEORUM \gr{ΙΗΣΟΥΣ Ο ΝΑΖΩΡΑΙΟΣ Ο ΒΑΣΙΛΕΥΣ ΤΩΝ ΙΟΥΔΑΙΩΝ} […] Da haben wir das Zungendurcheinander, wobei das Aramäische sich auch noch ganz keusch hinter dem Hebräischen versteckt. Eine Provinzstadt in der römisch unterworfenen Koine, von niemand sonst gelesen und zitiert, ³OCD s. v. septuagint. Eben mal bei Tacitus gestreift. 75 76 77 78

Vgl. Kittler: m+m5.utf, Z 1871–1873. Joh. 7,1, zit. nach Kittler: m+m5.utf, Z 1886 f.. Ebd., Z 1911. Johannes 19.19 – 22: „19. Pilatus aber schrieb eine Ueberschrift, und setzte sie auf das Kreuz; und war geschrieben: Jesus von Nazareth, der Juden König [griechisch: ΙΗΣΟΥΣ Ο ΝΑΖΩΡΑΙΟΣ, Jesus der Nazoräer; der lateinische Text der Neuen Vulgata schreibt, wie die alte, Nazarenus, G.S.]. 20. Diese Ueberschrift lasen viele Juden; denn die Stätte war nahe bei der Stadt, da Jesus gekreuziget ist. Und es war geschrieben auf ebräische, griechische und lateinische Sprache. 21. Da sprachen die Hohepriester der Juden zu Pilatus: Schreibe nicht: Der Juden König, sondern, daß er gesagt habe: Ich bin der Juden König. 22. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben.“ (Die Bibel oder die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, nach der deutschen Übersetzung Dr. Martin Luthers, Hamburg 1893).

TELL ME TRUE, TELL ME WHY

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Da haben wir die Sprachen des Imperiums: Armee latein, Kultur klar griechisch, und unlesbares Hebräisch (wie sie ja bloss Aramäisch sprechen) für diese ärmliche Provinz […] Hier konkurrieren wahrlich Konsonanten- und Vokalalphabete. Gadamers Methermeneuein beginnt schon mit Pilatus Bilingue oder Trilingue typisch für weltliche Herrscher (Behistun, Rosetta) in syllabischen Systemen, nicht jedoch in China Dazu Powell, 2009, z. B. 75, 202 Polyglotte Imperien noch genauer von polyglotten Handelsstädten wie Ugarit oder Pithekoussai unterscheiden! Heidegger, ²1960, 97: Hermeneutik stammt aus Bibel Dagegen Gadamer, 1971, 62: stammt aus Neuzeit. […] 79

VII. Ausblick: Paulos – politische Philologie. Indem die Evangelien von Anfang an auf die Weltsprache Griechisch setzen,80 ist das frühe Christentum in der Lage, von einer lokalen Sekte zu einer reichsumspannenden Bewegung zu werden. Jede Suche nach der „ursprünglichen Sprache“, dem reinen Ursprung der Evanglien läuft damit ins Leere. Das Umschalten auf die Koinē ist schon die Mission selber. Schriftlich wird sie sich in den Briefen und Sendschreiben des Paulos und anderer mit einer Dynamik verbreiten, die an einen Ort und eine (lokale) Sprache gebundenen Kulten mit ihren Traditionen unmöglich wäre. 20.02.11: Es muss mit dem historisch-kritischen Bemühen, hinter die Evangelien auf aramäisch echte Herrnworte oder die berühmte Quelle Q zurückzukommen, ein Ende haben!81

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Ebd., Z 1925 bis 1947. Schon bei der eben thematisierten Sterbetafel ist das Hebräische zwar erwähnt, aber nicht, wie später bei den Sterbeworten am Kreuz, geschrieben, also transkribiert. Daß ja auch der lateinische Wortlaut nicht ausgeschrieben wird, fällt dem gegenüber weniger ins Gewicht. Ihn kann jeder Leser im bilingualen Westen leicht selbst ergänzen. Erst als die Doppelsprachigkeit im Westen des Reiches schwindet, wird überhaupt eine „Vulgata“, eine Fassung für Nichtgriechen notwendig. Sie erfolgt bezeichnenderweise deutlich später (ab 382 n. Chr.). Ebd., Z 1647 bis 1650.

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Friedrich Kittler spricht hier die berühmte sogenannte „Zweiquellentheorie“ an, die von der protestantischen Bibelwissenschaft im 19. Jahrhundert entwickelt wurde und gemeinhin, trotz des Widerspruchs der Päpstlichen Bibelkommission von 1907, als akzeptiert gilt. Sie besagt im Wesentlichen, daß die beiden Synoptiker Matthäus und Lukas aus Markus und einer weiteren, Q genannten Quelle geschöpft haben, die „authentische“ aramäische Jesusworte enthalten haben soll.82 Kittlers Notizen weiter: Die causa finalis Mission zählt mehr als jede causa efficiens. Die Evangelisten übersetzen ins Griechische als solches, ob nun auf Paulos‘ Spuren oder nicht. Das ist ihre frohe Botschaft, die von der Quellenforschung überlesen wird. Wie sollten [sie] auch hoffen, alle Juden zu bekehren? Dann hätten [sie] doch gleich Hebräisch schreiben können. Grad die Mühsal ihres Griechischen zeigt an, dass sie - wie Paulos - Proselyten machen wollen, nachdem der Tempel eine Trümmerstätte ist. Es gibt auch nicht die Spur eines Jesus-Auftrags, griechische Evangelien zu schreiben. 83

Paulus schließlich wird das Griechische in ein mediales Missionsprogramm umsetzen. Friedrich Kittler hat dies in einem kleinen Abschnitt der Notizen unter den Arbeitstitel „Die politische Philologie des Paulos“ gestellt und damit polemisch auf eine ganze Reihe an klassischen Philologen, von Nietzsche über Wilamowitz-Moellendorf bis zu Luciano Canfora Bezug genommen. 84 Der Abschnitt hat eine Überschrift und einen Anfangs- und Schlußstrich, darf also wohl als eine Einheit begriffen werden. Darin finden sich wichtige Grundgedanken zur Kittlerschen Paulus-Deutung. Sie befinden sich in ständiger Auseinandersetzung mit der Paulus-Deutung von Jacob Taubes. Die politische Philologie (genauer als Theologie) des Paulos Paulos benennt sich griechisch erst im genauen Augenblick, wo er altgriechischen Boden betritt, Kypros. Und am feierlichsten predigt er in Athenai auf dem Areopagos, des Aischylos eingedenk. Am wüstesten in Korinthos bei den Tempelmädchen (Davies, CHK). Also liebt er den logos und trägt seine Botschaft nicht etwa

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Ihr war in den vergangenen Jahren ein theologisches Projekt, das „International Q Project“, das inzwischen abgeschlossen und publiziert ist, gewidmet. Näheres dazu in: Die Spruchquelle Q. Studienausgabe gr. und dt. (hg. und eingel. v. Paul Hoffmann und Christoph Heil), Darmstadt-Leuven 2002. Kittler: m+m5.utf, Z 1650–1657. Vgl. Luciano Canfora: Politische Philologie. Altertumswissenschaften und moderne Staatsideologie, Stuttgart (Klett-Cotta) 1995 (it.: Le vie del classicismo, Rom-Bari 1989).

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nach Alexandreia ins Land der Judengriechen, sondern ins Herzland, wo Sein selbst einst aufgegangen ist. Auch von der Barbaren-Mission ist nur die Rede (1. Kor. 14), sie findet nicht oder doch sehr selten statt. All das mußte Taubes überlesen […]. Paulus, erst er, wird von ALLEN Juden verfolgt, nicht nur von Hohepriestern und Schriftgelehrten: WEIL er nicht Hebräisch schreibt Barth, 1948, 119, schiebt dagegen alle Schuld auf Pilatus, den „Unrechtsstaat“, den „Gangsterstaat“ [Drittes Reich], und dahinter auf die Juden überhaupt. „Die jüdische Lokalgemeinde“ (116) überhaupt beschließt den Tod, nicht der Hohe Rat. Kreuzesverzweiflung kommt nicht vor, nur consummatum est (128 und 135). 25.05.09: Eben daraus folgt für Band II/2: Pontius Pilatus ist das Schaltglied zwischen Rom und Juda. Er erfindet den gekreuzigten Messias. Wir brauchen keine negative Wittgenstein-Notation (wie in m+m6), um von den Römern zu den Christen zu gelangen. Siehe alles Weitere in nt.utf! Wo Barth mit voller Absicht Hitler und Pilatus vor Bonns Studenten durcheinanderbringt, gelangen wir zur Wahrheit irrer Schriftgelehrten. Pilatus als „praefectus Iudeae“ (nicht Procurator!) baut dem (mithin göttlichen) Tiberius einen Tempel in Caesarea, von Pilatus‘ einziger Inschrift bezeugt (Flusser, ²²2000, 90). Pilatus kein Tyrann (so Schulz, 2011, 116), sondern für bessere Alphabetisierung. So denken alle weltlichen Machthaber, die ja kein Schriftmonopol beanspruchen. Also lässt Pilatus INRI schreiben. Eine Trilingue, viel machbarer als das Pfingstwunder. TODO Alle griechischen und lateinischen, männlichen und weiblichen Christennamen bei Paulos auszählen! 85

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Kittler: m+m5.utf, Z 1989 – 2025. – Die Sigle „TODO“ in den Kittlerschen Notizen meint englisch „to do“: Aufgaben für die Zukunft.

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VIII. Universale Signifikanten So schlicht geht Friedrich Kittler von der Vielsprachigkeit des römischen Imperiums zu den auszählbaren Erfolgen der „Heidenmission“ über, die – anders als vielleicht der Verwaltungsakt nach der Hinrichtung eines underdogs in der Provinz – weltgeschichtliche Bedeutung erlangt hat. Diese medientechnische Schlichtheit aber ist in Kittlers Verständnis das Ganze. Soweit einige kurze Prolegomena (und Analecta) zu letzten Forschungen Friedrich Kittlers. Er war sich der Tragweite dieser Gedanken, die hier nur skizziert werden konnten, indes voll bewußt. In seinen letzten Lebenswochen, ja -tagen noch kreisten seine Gedanken um die Frage, wie eine Religion, die auf absolut variable und übertragbare Signifikanten baut, die Geschichte des Abendlandes bestimmen konnte. Diese Reflexion bleibt nun der Nachwelt aufgegeben.

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DAS MEDIUM RELIGION. ODER: GLAUBENSSYSTEME IM GEFÄNGNIS DER SPRACHE I. Die Quelle des Glaubens ist schon eine Frage des Glaubens Wer schrieb die Bibel und andere heilige Bücher? Einige Menschen behaupten, Gott selbst oder die Propheten, denen Gott die Texte diktiert hat, entweder direkt oder durch einen Boten, z.B. einen Erzengel oder Heiligen Geist oder eine „Stimme“, seien die Verfasser der Heiligen Schriften. Doch Jesus, Gottes Sohn, hat kein einziges geschriebenes Wort hinterlassen. Jesus war ein Prediger, ein Orator, ein Redner, allerdings sendungsbewusst. Bei Lukas 24,29 spricht er zum Abschied zu seinen Freunden: „Seht! Ich werde auf euch senden, was Abba zugesagt hat.“ Nach Johannes 1,51 stand Jesus in ständiger Verbindung mit Engeln, die ihm die Botschaften seines Abba, seines Vaters, des Gottes, überbrachten. Der Verkehr mit Geistern und Göttern, typisch für die vorsprachliche animistische Welt, ist heute technisch durch Funktechnik rationalisiert worden. Die Engel waren frühe Vertreter von Funktechnikern, welche die Stimme Gottes drahtlos übertragen konnten. Die animistische Geisterwelt hat also in den Religionen als Dialog zwischen Mensch und Gott weitergelebt – sei es als Gespräch mit Gott im Gebet oder als Gespräch Gottes zum Menschen als Erweckungserlebnis und Auftrag, Gottes Lehre zu verbreiten. Der Prophet Mohammed stand ebenfalls über den Funktechniker Gabriel mit Gott in Verbindung. Auch er hat keine schriftlichen Zeugnisse hinterlassen. Und die 10 Gebote hat Moses vom Berg heruntergebracht, ohne dass es einen Zeugen gab, der hätte dokumentieren können, wer diese Gebote geschrieben bzw. geschickt hatte. Gott hat die Bibel nicht in seine Bibliografie aufgenommen. Gott hat nicht einmal eine Bibliografie veröffentlicht. Offensichtlich schreibt Gott nicht selbst. Es sind die Menschen, die schreiben. Sie schreiben, was sie denken, dass Gott denkt. Sie schreiben, was sie denken, was Gott wünscht und will. Sie wünschen sich einen Gott, dem sie zuschreiben, was sie sich selbst wünschen. Sie schreiben Botschaften an sich selbst. Die Menschen sprechen zu Gott, ohne zu wissen, ob er ihnen zuhört. Das nennen sie Gebet. Die Menschen schreiben über Gott,

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ohne zu wissen, ob der Empfänger die Post annimmt, ob es überhaupt eine Adresse gibt oder ob der Empfänger unbekannt ist oder für immer „unbekannt verzogen“. Was an den heiligen Texten interessant ist, ist die logische Figur der Umdrehung, die nicht ohne Grund Konversion heißt. Heilige Texte bezeugen nämlich, nicht das Subjekt spricht zu Gott, sondern Gott spricht zum Subjekt. Normalerweise würde man sagen, Menschen, die Stimmen hören, sind psychisch krank. Aber wer behauptet, er habe Gottes Stimme gehört, muss nicht um die Aberkennung seiner geistigen Gesundheit fürchten, sondern im Gegenteil, er darf behaupten, er sei auserwählt. Der Mensch, der spricht, aus ihm spreche Gott, wird selbst heilig, wie die Heiligkeit, in deren Namen er Texte schreibt. Die Quellenlosigkeit der heiligen Schriften ist ein Musterbeispiel für die Konstitution von Autorität, nämlich ein Sonderfall von Selbstreferenzialität: Ein Mensch behauptet, er spräche im Namen Gottes, deswegen werden seine Texte für heilig erklärt und weil es sich um heilige Texte handelt, ist natürlich der Autor dieser Texte selbst eine heilige Person. Wer im Namen des Schöpfers spricht, darf mit ungeteiltem Vertrauen rechnen, denn wer würde es schon wagen, dem Schöpfer zu misstrauen – noch dazu, wenn der Zweifel an der Deutung der heiligen Schriften sofort als Häresie und ewige Verdammnis in der Hölle geahndet wird. In den diversen Glaubenssystemen ist also bereits der Ursprung, die Quelle des Glaubens, eine Glaubensfrage. Religionsgründer brauchen offensichtlich keine Quellen und Dokumente, keine Zeugnisse und Zeugen. Die selbstreferentielle Logik heiliger Texte autorisiert sich selbst. In der einzigen Autobiografie Gottes, die uns vorliegt, nämlich The Life of God (as Told by Himself),1 wird genau diese selbstreferentielle Logik von ihm selbst preisgegeben, nämlich, dass alles, was er geschaffen hat, sich selbst legitimiert, indem es seine eigene Geschichte mitliefert: „In fact, all that I have created dreams of telling its own story and in one way or another manages to do so. The mountains write with their geological strata, the trees with rings in their trunks and lines in their leaves, the animals through the traces they carry of their ancestors before. Even a blade of grass writes and rewrites its biography. The universe is a book of recollections, the earth is a journal.“ 2 So hat auch die Bibel als Gedächtnis der Menschheit ihre eigene Geschichte geschrieben und damit scheinbar ihren Wahrheitsanspruch legitimiert. Mit Gott als höchster Autorität 1 2

Franco Ferrucci: The Life of God (as Told by Himself), Chicago (University of Chicago Press) 1996. Ebd.: 100.

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wird jedes Buch, durch das er spricht, das Beispiel einer dogmatischen Ordnung. Die Kompilation wird zum Kanon.3 Im Zentrum des Glaubens zahlreicher Religionen stehen daher die heiligen Schriften. Die Heiligkeit dieser Schriften ist allerdings eine Glaubensfrage, denn die Quellenlage ist unsicher. Wir wissen nicht, wer die Texte geschrieben hat. Die Autorenschaft beruht auf Zuschreibungen. Keiner der Autoren der heiligen Texte war live bei den Ereignissen dabei, die er beschreibt. Die ursprüngliche Frage, in denen die Texte geschrieben wurden, ist ebenfalls nicht bekannt. Bei den Transkriptionen kam es zu vielen Fehlern, Unterlassungen, Umdeutungen und Zensuren. Erst 80 bis 150 Jahre, nachdem das Christentum gegründet worden war, haben Menschen seine Entstehungsgeschichte und seine Inhalte niedergeschrieben. Man ist versucht zu sagen, es handle sich bei den heiligen Schriften um Public Relations a posteriori bzw. post mortem, nach dem Fakt. Die Ursprünge der metaphysischen Systeme sind also bereits metaphysisch, d.h. schwierig oder unmöglich als reale, physikalische Ereignisse in Raum und Zeit zu erfassen, zu dokumentieren und zu definieren. Die Metaphysik des Ursprungs ist bereits teil der Quellen von Religionen. Die einzige Quelle, die namhaft gemacht werden kann, ist das Noumenon Gott, nicht Gott selbst, dessen Existenz ja erst durch die Heilige Schrift behauptet wird. Der einzige Beweis für die Existenz Gottes ist Gott selbst. Der einzige Zeuge ist Gott oder einer seiner Gesandten mit Namen Engel. Die Engel sind also die Botschafter Gottes, welche die Frohe Botschaft von der Existenz Gottes übermitteln, d.h. den Gospel (von altenglisch gōdspel “gute Nachricht“). Die von Gott erschaffenen Geistwesen, seine Boten, heißen Engel, weil sie die gute Nachricht überbringen, das Evangelium (griechisch ‚Gute Nachricht, Frohe Botschaft‘). Die Sprache der Religion verhehlt nicht die selbstreferentielle Logik bzw. Tautologie ihrer eigenen Begründung: „Die Engel verkünden das Evangelium“ heißt nichts anderes als: „Die gute Nachricht überbringt die gute Nachricht von der guten Nachricht“. Bei einer Dokumentenlage, die so ungeklärt und tautologisch ist wie bei allen Glaubenssystemen, erhebt sich natürlich die Frage nach dem Beweis bzw. der Beweisbarkeit: Existiert Gott wirklich? Dafür haben wir scheinbar von Anselm von Canterbury bis Kurt Gödel einen ontologischen Gottesbeweis. Gibt es die Engel wirklich? Gab es die Auferstehung wirklich? War Jesus wirklich der Sohn Gottes? Die Antwort ist: Weder der Verteidiger noch der Ankläger haben Beweise. Der einzige Unterschied besteht darin, dass der Verteidiger keine Beweise braucht, für ihn genügt der Glaube. Die Wahrheit braucht vielleicht Beweise, 3

Vgl. Pierre Legendre: Die Liebe des Zensors. Versuch über die dogmatische Ordnung, Wien (Turia + Kant) 2016.

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aber nicht so der Glaube. Der Ankläger, dem der Glaube nicht genügt, braucht Beweise. Nur gehört es zur Natur des Glaubenssystems, dass in ihm weder Beweise nötig sind noch Beweise eine Rolle spielen. Der Glaube hat Priorität über Erfahrung. Erfahrung kann dem Glauben nicht widersprechen. Für den Glauben sind Beweise, kritische und rationale Überprüfungen überflüssig, denn der Glaube ist geradezu das Gegenteil vom Beweis. Deshalb kann der Glaube nicht durch Beweise erschüttert, bezweifelt oder bekräftigt werden. Dies gilt sogar für epistemische Systeme weit unterhalb der metaphysischen Regime, weit unterhalb der Glaubenssysteme, nämlich für Meinungssysteme. In seinem Buch A Theory of Cognitive Dissonance beschrieb Leo Festinger 1957, wie vorgefasste Meinungen, bzw. Vorurteile durch Fakten nicht geändert werden.4 In der gerichteten bzw. selektiven Wahrnehmung werden nur Sachverhalte zugelassen, die eine bereits bestehende Meinung unterstützen. Eine Meinung, welche der vorherrschenden Meinung widerspricht, erzeugt ja eine Dissonanz im Kopf. Da diese Dissonanz als unangenehm empfunden wird, ist sie unerwünscht und wird unterdrückt. Nur solche Informationen werden vom Gehirn verarbeitet, die Harmonie auslösen, die also den vorhandenen Wissenstand und die vorherrschende Meinung nicht in Frage stellen. Nur Informationen, die bereits eine existierende Meinung unterstützen und verstärken, werden daher zugelassen. Neue Fakten und Beweise führen nicht zu einer Meinungsänderung, sondern werden ausgeschlossen, weil sie eine kognitive Dissonanz hervorrufen würden. Meinungssysteme funktionieren wie Glaubenssysteme. Sie sind nicht der Gegenpol zu Zweifel oder Wissen, sondern zeugen vom Willen zu Glaube und Gehorsam, auch wenn es keine Beweise gibt. Das Wort belief stammt von dem altenglischen Wort gliefan. Das verwandte deutsche Wort glauben stammt vom mhd. gelouben, ahd. gilouben, got. galaubjan, niederl. geloven. Alle diese Variationen gehen zurück auf germ. *ga-laubjan „für lieb halten, gutheißen“, das zu der weitverzweigten Wortgruppe lieb gehört. Glauben ist also im weitesten Sinn vom Wortstamm lieben ableitbar. Wer eine Sache oder Person liebt, glaubt daher an diese Sache oder Person – und umgekehrt. Meinungssysteme funktionieren wie Glaubenssysteme. Dieses Wissen hat dazu geführt, dass in modernen säkularisierten Gesellschaften in der Tat Glaubensfragen wie private Meinungen behandelt werden. In den zeitgenössischen westlichen Demokratien haben Religionsbekenntnisse bzw. Glaubenssysteme den Status privater Meinungen – was dazu geführt hat, dass, abgesehen von den 4

Leo Festinger: A Theory of Cognitive Dissonance, Stanford CA (Stanford University Press) 1957.

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Kirchen, die vor Jahrhunderten in den Städten gebaut wurden, oder den Kruzifixen in Schulzimmern, die Religionen im öffentlichen Leben mehr oder minder unsichtbar geworden sind. Darauf hat Thomas Luckmann in seinem Buch The Invisible Religion hingewiesen,5 nämlich, dass Religionen als private Meinungen nur mehr in privaten Sphären zirkulieren. Die Konflikte und Krisen, welche die westliche moderne Gesellschaft im Augenblick durch die islamischen Religionen erlebt, hat ihre Ursache gerade darin, dass sich die islamische Religion eben nicht aus dem öffentlichen Leben zurückziehen möchte, sondern im Gegenteil im öffentlichen Leben eine zentrale und sichtbare Rolle spielen möchte. Die christliche Religion wurde zu einer unsichtbaren Religion. Im Gegensatz dazu möchte der Islam eine überaus sichtbare Religion sein. Dieser Essay möchte auf die Problematik der Quellenlage verschiedener Glaubenssysteme, auf Struktur und Genealogie religiöser Erzählungen, Schriften und Traditionen und die Wege ihrer Überlieferung hinweisen. Im Mittelpunkt der Untersuchung steht daher die Beziehung zwischen Glaubenssystemen und der Schrift oder, allgemeiner gesprochen, zwischen Glaubenssystemen und den Medien der Informationsspeicherung und Informationsübertragung. Wir wollen daher nicht aufs Neue Überlegungen zur Essence of Christianity (Adolf von Harnack, 1900) oder Essence of Judaism (Leo Baeck, 1905) vorlegen, sondern Niklas Luhmann folgen, der in Die Religion der Gesellschaft (2000) Religion als autonomes Kommunikationssystem beschreibt, das gespeichert, dokumentiert, disseminiert, präsentiert wird.

II. Heilige Schriften rund ums Mittelmeer Ob Christentum, Islamismus, Zoroastrismus, Hinduismus, Buddhismus, Sikhismus, Taoismus oder Konfuzianismus, zahlreiche Religionen berufen sich auf Schriften. Diese Textdokumente vermitteln dabei nicht nur Glaubensinhalte. Sie liefern auch eine Erklärung der Schöpfung und Vorgaben für die einzig richtige Lebensführung. Sie behaupten, die Selbstmitteilung Gottes, mit anderen Worten: göttlichen Ursprungs zu sein. Gott existiert, da er als Autor eines den Menschen vorliegenden Textes gilt. Der Text ist glaubwürdig, da Gott sein Autor ist. Die Erklärung der Heiligkeit von Schriften ist ein tautologisches Mittel, das 5

Thomas Luckmann: Das Problem der Religion in der modernen Gesellschaft. Institution, Person und Weltanschauung, Freiburg i.Br. (Rombach) 1963; englisch: Ders.: The invisible religion : the problem of religion in modern society, 2nd printing, New York (Macmillan) 1972.

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Glaubenssysteme erzeugt. Nachdem der Ursprung göttlich ist, sind die Schriften qua selbstreferentieller Logik auch göttlich. Wenn die Quelle der Botschaft Gott ist, kann die Botschaft nur göttlich sein. Auch wenn diese Botschaft nur von seinen Gesandten, Botschaftern oder Propheten als Repräsentanten übermittelt wurde. Alle heiligen Schriften sind in der Tautologie gefangen. Daher sind die Bibel, der Talmud und der Koran für die jeweilige Glaubensgemeinschaft die allein seligmachende und wahre heilige Schrift, obwohl sich diese Schriften zum Teil widersprechen und gegenseitig für nichtig erklären. Die Glaubensgemeinschaft kennt nur sich selbst, legitimiert nur sich selbst und schließt alle anderen nicht als anders Gläubige, sondern als Ungläubige aus. Jede Tautologie fordert ihren Preis, nämlich wahr oder unwahr, gläubig oder ungläubig zu sein. Das Gesetz vom ausgeschlossenen Dritten, tertium non datur, gilt vor allem für Glaubenssysteme. Man ist Teil eines Glaubenssystems und man wird gläubig oder ist nicht Teil des jeweiligen Glaubenssystems und damit ungläubig und wird somit der Vernichtung preisgegeben. Nur der Polytheismus der Antike ließ Vielgläubigkeit zu. Die Monotheismen der drei herrschenden Glaubenssysteme schließen sich gegenseitig aus – deswegen seit Jahrtausenden die erbitterten Feindschaften und Kriege. Eben weil die heiligen Schriften vom einzigen Gott stammen, können nur sie nur die einzig wahren sein. Daher schwören die Mitglieder der jeweiligen Glaubensgemeinschaft buchstäblich auf die Bibel oder den Koran als einziges Zeugnis Gottes und seiner Botschaft und erklären damit logischer- und konsequenterweise alle anderen zu Ungläubigen.6 In Wirklichkeit wetteifern die Glaubenssysteme auf dem Markt der Glaubenswilligen. Jede Religion versucht im Wettbewerb mit anderen Religionen durch Versprechungen und Drohungen, die immer exzessiver werden, Gläubige zu rekrutieren oder die Gläubigen einer anderen Religion abspenstig zu machen. Radio, Fernsehen, Kirchen, Moscheen, Bücher sind die Medien dieses Marktes der Heiligkeit, dieses Wettbewerbs um Gläubige. Religionen werden zu Marktstrategien, die um Mitglieder buhlen. Die Schrift, ein Kommunikationssystem, legitimiert die Religion als heilig. Daher ist es logisch, wenn in Religionen auch andere Mittel der Kommunikation, etwa Das Schweigen, ebenfalls heilig sind.7 Die heiligen Schriften legitimieren also ihren religiösen Inhalt als heilig, bzw. göttlich, indem sie ihren Ursprung als göttlich oder heilig erklären. Natürlich bedarf es für diesen Prozess der Verheiligung und Vergöttlichung menschlicher Schriften bestimmter literarischer Prozeduren. Die bekannteste heißt Kanonisierung.

6 7

Vgl. Udo Tworuschka (Hg.): Heilige Schriften. Eine Einführung, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2000. Vgl. Gustav Mensching: Das heilige Schweigen, Giessen 1936; sowie Ders.: Das heilige Wort, Bonn 1937.

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„The writings become the holy book. The power of the holy word has been banished into this book. The boundaries have been drawn tightest in Islam, Judaism, and Christianity. Other religions also have their more or less cohesive holy books: the Vadas, the Avesta, the Buddhist Tripitaka, etc.“ 8 Der Kampf um die Heiligkeit bzw. Göttlichkeit eines Textes bestand also darin, seinen göttlichen Ursprung zu klären. Texte, die nicht in ein vorgefasstes Glaubenssystem passten, wurden zu apokryphen Texten erklärt. 9 Texte, die nicht zur Norm passten, wurden als abseitig und unzuverlässig ausgeschieden. Nur kanonisierte religiöse Texte wurden heilig erklärt und besaßen die notwendige religiöse Autorität. Der Beweis wurde ersetzt durch die Idee des Ursprungs, der nicht feststellbar ist. Der vermeintliche göttliche Ursprung, der von den Gemeinschaften frei festgelegt werden konnte, wurde zum Ausgangspunkt des Kanons, der wiederum die Autorität besaß, Schriften göttlichen Ursprungs zu bestätigen. Würde ein groß angelegtes Forschungsprojekt, das wahrscheinlich die Unterstützung von Algorithmen und computerbasierten Suchmaschinen benötigte, die enorm zahlreichen heiligen Schriften, die im Lauf der Menschheitsgeschichte entstanden sind, komparatistisch untersuchen, könnte man sicherlich erkennen, dass es sich um stetige Abschreibungen, Umschreibungen und Weiterschreibungen aus den verschiedensten Kulturen, Mythen, Riten und Glaubenssystemen handelt. Nicht der vermutliche göttliche Ursprung, aus dem der Kanon entspringt, und nicht der daraus entstandene Kanon, der den Texten ihre göttliche Autorität verleiht, sind die Basis aller Glaubenssysteme. In Wahrheit sind es Textsysteme. Carsten Colpe hat wahrscheinlich recht, dass es in der Geschichte der Religionen nur zwei unterschiedliche und von einander unabhängige Kanons gab, von denen alle anderen heiligen Schriften abgeleitet sind, nämlich die hebräische Bibel und die buddhistische Tripitaka.10 Die Kanonisierung hat zum Ziel, die absolute Einzigartigkeit der Textsammlung zu bekräftigen und zu bestätigen. Das Verfahren des Ausschlusses soll die Kanonisierung ermöglichen. Es ist auffallend, dass gerade in Glaubenssystemen das 8 9

10

Gerardus van der Leeuw: Phänomenologie der Religion, (1. Aufl. 1933) 2. Aufl. Tübingen (Mohr) 1956, S. 498. „Apokryphen (auch apokryphe Schriften; altgr. ἀπόκρυφος apokryphos ,verborgen‘, ‚dunkel‘; Plural ἀπόκρυφα apokrypha) sind religiöse Schriften jüdischer bzw. christlicher Herkunft aus der Zeit zwischen etwa 200 vor und 400 nach Christus, die nicht in einen biblischen Kanon aufgenommen wurden oder über deren Zugehörigkeit Uneinigkeit besteht, sei es aus inhaltlichen oder religionspolitischen Gründen oder weil sie erst nach Abschluss des Kanons entstanden sind oder zur Zeit seiner Entstehung nicht allgemein bekannt waren.“ (Wikipedia-Eintrag „Apokryphen“, zuletzt abgerufen am 12.8.2016). Vgl. Carsten Colpe: „Sakralisierung von Texten und Filiationen von Kanons“, in: Kanon und Zensur. Archäologie der literarischen Kommunikation II, hg. Aleida Assmann und Jan Assmann, München (Wilhelm Fink) 1987.

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Gesetz der Zensur die Autorität herstellen soll. Glaubenssysteme werden somit leicht zu Diktaturen, die politisch missbraucht werden können. Der Vergleich von Glaubensschriften ist daher ein Versuch, den Gebrauch der heiligen Schriften von der Gewalt der Zensur und Diktatur zu befreien.

III. Vom gesprochenen Wort und vom Ritual zur Schrift Allen heiligen Schriften gingen unterschiedlich lange Perioden mündlicher Überlieferung voraus. Vereinfacht lässt sich sagen, dass schriftlose Völker über Jahrtausende Mythen und Riten entwickelten, mit denen sie versuchten, sich ein Bild von der Welt zu machen. Sie bemühten sich, die Welt und deren Ereignisse – Naturkatastrophen und Epidemien, Geburt und Tod, Sonnenaufgang und -untergang, den Wandel der Jahreszeiten und den Sternenhimmel, das Wachstum der Pflanzen und das Leben der Tiere – zu erklären. Nachdem ihnen lange Zeit noch keine Sprache zur Verfügung stand, versuchten die Menschen am Anfang mit Gesten und Bildern, mit Handlungen und Gegenständen die Welt zu verstehen und ihre Kenntnisse zu überliefern. Rituale sollten also Wissen tradieren und gleichzeitig die Welt beeinflussen. Die Riten und Mythen bildeten vorsprachliche Erzählungen, die mündlich und performativ übermittelt wurden, um das Leben in einem bedrohlichen, kaum erklärbaren Kosmos zu sichern. Die Menschen wollten überleben und schon darum mussten sie sich fragen, warum sie überhaupt in dieser Welt lebten und wie sie ihr Weiterleben sichern konnten. Die Menschen waren konstant einer feindlichen Umwelt unterworfen. Große oder kleine Tiere konnten ihr Leben vernichten. Meteorologische Veränderungen ebenso. Pflanzen konnten giftig sein. Sie lebten unter einem ständigen Terror der Natur. Daher suchten sie nach Wegen und Mitteln, wie sie ihre Umwelt, die Natur, günstig und positiv beeinflussen konnten. Die damaligen Menschen besaßen noch keine Vorstellungen von Natur und Naturgesetzen. Für sie bestand die Welt aus Lebewesen wie sie selbst. Nur hatten die Bäume und Tiere eine andere Form als die Menschen, die sich selbst wahrscheinlich als von Geistern beseelte Lebewesen verstanden. Also bestand die Natur auch aus solchen Lebewesen und Geistern. Der beinahe unendlichen Vielfalt der realen Welt entsprach daher eine beinahe unendliche Vielfalt von Geistern, an die sich die Menschen in ihrer Not wandten. In dieser Welt waren unendlich viele Geister für die Dinge und Ereignisse der Welt zuständig. Sie sprachen aus allen Pflanzen und Tieren, aus allen natürlichen Phänomenen. Die Menschen lebten in einer animistischen Welt. Sie fühlten sich zurecht als Gefangene und der Natur Unterworfene. Nachdem die-

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se Natur aus Geistern bestand, versuchten sie diese durch Handlungen und Gesten günstig für ihr Leben und Überleben zu stimmen. Die Riten und Mythen dienten also der Einstimmung in die Geisterwelt, um die Zustimmung der Geister zu erreichen. Hier liegt wahrscheinlich der Ursprung der Religionen, nämlich zu erzählen, wie der Wille der Geister beeinflusst werden kann, wie die Geister überhaupt adressiert werden können, zum Beispiel durch Flehen, Beten, Opfern. Um die Bedingungen des menschlichen Lebens und Überlebens zu sichern, schien es notwendig, den Verlauf der Ereignisse zu beeinflussen. Das erforderte eine Kommunikation mit den Geistern. Diese Kommunikation ist der Ursprung der Religionen. Der Gedanke war naheliegend, dass wenn die Menschen den Geistern dienten und ihnen Reichtümer opferten, seien es Güter oder Menschen, dann die Geister gnädig würden. Und je größer und kostbarer die Geschenke und Opfergaben, desto freundlicher, so war die Hoffnung, würden sie gestimmt sein. Die ersten Erklärungen und Erzählungen dienten also der Kommunikation mit Geistern, um die Überlebensbedingungen zu optimieren. Daraus entstanden in Jahrtausenden ganze Systeme mit Regeln und Ritualen: Lebens- und Überlebensprogramme. Viele Rituale der Geistersysteme der Naturvölker, zum Beispiel Opfer, wurden in den nachfolgenden Religionen – den verbesserten Geistersystemen – beibehalten. Der Glaube an Geister in der animistischen Welt war wahrscheinlich der Ursprung aller Glaubenssysteme und Religionen. Als die Zivilisation fortschritt und die Schrift sich verbreitete, wurden die Geister in Götter verwandelt. So wurde die Schrift zum Medium der Religion und die Religion selbst ein Medium. Die Vielfalt der Geisterwelt wiederholte sich in der polytheistischen Vielfalt der Götterwelt. Der Mensch selbst war nicht in der Lage, die Ereignisse der Welt zu steuern und zu kontrollieren. Es mussten daher die Götter sein, welche den Kosmos und die Ereignisse der Welt steuerten. Die Götter wurden verantwortlich für dieses und jenes gemacht. In bestimmten Religionen gilt das bis heute. Der Mensch selbst war machtlos, in die Welt geworfen, dem Willen der Götter ausgeliefert. Die Glaubenssysteme sind daher erste zivilisatorische, vorsprachliche und frühsprachliche Antworten des Menschen auf die Welt, bevor die Naturwissenschaften und Technologien der Neuzeit andere Welterklärungs- und Weltveränderungsmodelle lieferten. Über tausende von Jahren sind diese frühen Glaubenssysteme, Mythen und Riten durch die kontinentalen Migrationen von lokalen Erfahrungen in neue religiöse Gemeinschaften aufgefächert worden. Dabei sind diese oral verbreiteten Glaubenssysteme, die ohne Zuweisung spezifischer Autoren überliefert worden waren, an die jeweiligen spezifischen Orte und Zeiten angepasst worden. Eine Vielzahl von veränderlichen Faktoren hat daher eine Vielzahl von Re-Interpretationen und Veränderungen durch weltweit verbreitete Glaubenssysteme hervorgebracht, die sich ununterbrochen „evolutionär“ veränderten. Erst 3500 Jahre vor Christus sind die überlieferten Geister-,

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Götter- und Glaubenssysteme schriftlich fixiert worden. Damit begannen die Kanonisierung und die Monopolisierung der Glaubenssysteme. Durch die schriftliche Notation wurden die Inhalte der mündlichen Überlieferung fixiert. Das einzige, was noch übrig blieb, war die Interpretation der Schriften. Auch aus der Diversität der Interpretationen haben sich noch viele Glaubensgemeinschaften abgespalten, je nach geografischer Lage, je nach Zeitalter, usw.. Die Mythen wanderten über Jahrtausende mit den jeweiligen Völkern über den Erdball. So, wie sich die Völker verzweigten, verzweigten sich auch die Mythen. Dabei wurden sie umgedeutet, variiert und ergänzt sowie um Zusätze erweitert. Im Lauf der Jahrtausende und über weite geografische Distanzen hinweg erfolgte eine Ausdifferenzierung des ursprünglich lokalen und gemeinsamen Erfahrungsschatzes. Religiöse Gemeinschaften spalteten sich auf und erzeugten dabei immer neue Variationen der alten Mythen und Erzählungen. Diese Umdeutungen der Mythen erfolgten lange Zeit nur mündlich, bis sie schriftlich gefasst wurden und eine neue Epoche der Umschreibungen begann. Die Erfindung der Schrift um 3500 vor Christi Geburt durch die Sumerer und Ägypter war eine wesentliche Zäsur in der Menschheitsgeschichte. In den folgenden Jahrtausenden wurde eine Vielzahl von Schriften und Sprachen geschaffen, welche die Quellen der religiösen Schriften durch ständige Übersetzungen und dabei zwangsläufig entstehende Abweichungen verunklarten. Die frühen Christen sprachen bekanntlich aramäisch. Das Aramäische stammt aus dem Semitischen. Innerhalb der semitischen Sprache ist das Aramäische der kanaanitischen Sprache am nächsten, zu der auch das Hebräische und Phönizische gehören. Die griechischen und iberischen Sprachen stammen wie das Lateinische und Russische vom Phönizischen ab. Das Syrische, Hebräische, Türkische und Arabische stammen alle vom Aramäischen ab. Die Kirchengeschichte von Eusebius 11, welche im 4. Jahrhundert die Entwicklung des Christentums im 1. Jahrhundert nach Christus zusammenfasste, wurde allerdings auf Griechisch verfasst. Man kann sich vorstellen, welche Lücken und Fabeln diese Geschichte bei einer so verworrenen und verspäteten Quellenlage aufweist. Die Kirchengeschichte von Eusebius überlebte die Jahrhunderte in lateinischen, syrischen und armenischen Manuskripten. Auch dabei kam es zu vielfältigen Umschreibungen. Die christlichen Texte sind also Glieder in einer Kette von Umschreibungen über tausende von Jahren. Was in Mesopotamien, Ägypten und sumerischen Städten mit Hieroglyphen und anderen Zeichen auf Knochen, Holz, Stein, Pergament, Papyrus und in Lehm begann, die Notation, Speicherung und Distribution von Rechnungen, Gedanken, Verträgen, Legenden usw., setzt sich mit der Erfindung der Schrift und der Notation auf Papier bis heute fort. Doch die Transkriptionen von Text zu Text haben nicht einfach 11

Vgl. hier weiter unten, Kapitel V.

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Sprache in Sprache übersetzt und verschiedene Symbole auf neue Symbole über-tragen, sondern ebenso wurden die Inhalte verändert. So wurden in tausenden Jahren des Schreibens (zwischen 5000 bis 7000 Jahren) präreligiöse Mythen und religiöse Erfahrungen durch die Macht des Mediums Schrift zu sozialen Fakten und realen Ereignissen. Metaphern wurden zu Wirklichkeit, Ereignisse wurden erfunden, um Fiktionen zu unterstützen. Alte Fiktionen wurden durch neue Fiktionen ersetzt, die jeweils besser zur neuen Zeit passten. Wenn also eine Geschichte der Religionen geschrieben wird, ist das eine Geschichte ohne Ursprung und ohne originäre Quellen. Kaskaden von Transkriptionen schriftlicher und mündlicher bilden die fiktive DNA der Glaubenssysteme. Diesen Mangel an Fakten bekennt die Bibel bekanntlich selbst mit dem Satz: „Am Anfang war das Wort“. Der Aufstieg der Schrift begleitete und verstärkte den Aufstieg der Religionen. Karl Jaspers machte daher auf eine zweite, für die Zivilisation und die Religionen entscheidende Phase aufmerksam: die Jahre 800 bis 200 vor Christi Geburt. In seinem Werk Vom Ursprung und Ziel der Geschichte12 bezeichnete er diese Periode als „Achsenzeit“. In dieser Zeit wurden gleichzeitig in vier voneinander unabhängigen Kulturräumen jene philosophischen und technologischen Fortschritte gemacht, welche die Grundlagen der menschlichen Zivilisation bildeten und in denen auch die Weltreligionen ihren Ursprung fanden:13 In China entstanden der Taoismus und der Konfuzianismus, in Indien der Hinduismus und der Buddhismus, im Orient das Judentum und der Zoroastrismus. Im Okzident ereigneten sich der griechische Rationalismus, die Wandlung „Vom Mythos zum Logos“14 und „Die Entdeckung des Geistes“.15 Diese Veränderung war nur möglich durch eine radikale Innovation: Um 700 v. Chr. setzten sich vokalalphabetische Schriften durch. Die abstrakte Alphabetschrift der Griechen, die eine Weiterentwicklung der phönizischen Schrift darstellte, erlaubte es, mündliche Rede unverkürzt wiederzugeben. Die Einführung der Vokale in die bisher nur aus Konsonanten bestehende Schrift durch die Phönizier und vor allem die Griechen bedeutet den eigentlichen Durchbruch der Schrift. 12 13

14 15

Karl Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, München (Piper) 1949. Vgl. Karen Armstrong: Die Achsenzeit. Vom Ursprung der Weltreligionen, München (Siedler) 2006; und Shmuel N. Eisenstadt (Hg.): Kulturen der Achsenzeit. Ihre Ursprünge und ihre Vielfalt, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 1987. Einige Wissenschaftler schließen die Geburt des Islam, der eigentlich außerhalb der Achsenzeit liegt, in dieses Modell mit ein (vgl. Shmuel N. Eisenstadt: „Die Achsenzeit der Weltgeschichte“, in: Die kulturellen Werte Europas, hg. Hans Joas, Klaus Wiegandt, Frankfurt am Main (Fischer) 2005, S. 60 ff.). Wilhelm Nestle: Vom Mythos zum Logos. Die Selbstentfaltung des griechischen Denkens von Homer bis auf die Sophistik und Sokrates, Stuttgart (Kröner) 1940. Bruno Snell: Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Hamburg (Claassen & Goverts) 1946.

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So lange die Schrift nur aus Konsonanten bestand, z.B. WND, wusste ja niemand genau, was diese drei Buchstaben bedeuten könnten, WAND oder WIND oder WUNDE, usw.. Es bedurfte also eines Schriftgelehrten, eines Hohen Priesters, der von sich behaupten konnte, die Bedeutung dieser drei Buchstaben zu kennen, weil sie ihm von seinem Meister mündlich überliefert worden waren. Die Hohen Priester waren also eine Klasse von Experten, die im Verhältnis von Meister und Schüler die Bedeutungen von Texten mündlich überlieferten, welche dem gemeinen Volk vorbehalten blieben. In einer vokallosen Schrift bedarf es eines zusätzlichen mündlichen Wissens, um den Text zu verstehen. Die Schriftgelehrten hatten also eine Monopolstellung. Sie waren der Hort des Geistes und des Logos. Sie waren das Orakel, aus dem die Stimme der Weisheit oder Gottes sprach. Die Schrift wurde zum entscheidenden Medium des Logos, zum Medium der Materialisierung des Geistes. Die Sequenzierung des unendlichen und kontinuierlichen Lautstroms in ein begrenztes Repertoire von visuellen Zeichen, die sowohl Konsonanten wie Vokale darstellen können, ist vielleicht die erstaunlichste Leistung der Menschheitsgeschichte. Die Schrift als erste, systematische Sequenzierung steht als Methode am Beginn weiterer Sequenzierungen, zum Beispiel der Sequenzierung der Gene.

IV. Die Schrift als Medium von Transzendenz und Abwesenheit Die Schrift, Folge einer Sequenzierung und System-Bildung, ist das erste Speicher- und Übertragungsmedium der Menschheitsgeschichte.16 Mit den Schriften – seien es Hieroglyphen und Keilschriften, Alphabetschriften, Silbenschriften oder ideografische Schriften – bildeten sich Werkzeuge heraus, mit deren Hilfe der Mensch konkrete Situationen abstrahieren konnte. Legenden, Mythen und Riten wurden gespeichert: durch Schriftzeichen auf Knochen, Ton, Papyrus, Stein, Holz, Rinde, Leder, Pergament und schließlich Papier. Schreibend konnte sich der Mensch mit anderen Zeiten, mit der Vergangenheit und Zukunft, sowie mit anderen Orten verbinden. Er konnte Erfahrungen und Wissen der Vergangenheit in Form von Erzählungen an die Gegenwart anbinden, Wissen der Gegen16

Über das Wort „Aufschreibesystem“, das Friedrich Kittler vom Dresdner Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber entlehnte vgl. Friedrich Kittler: Aufschreibesysteme 1800 · 1900, München (Fink) 1985, S. 303 – 307, Das „Aufschreibesystem“ über Schreber.

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wart für die Zukunft speichern und all dies an unterschiedliche Orte übertragen. Erst die Schrift ermöglichte Kommunikation, die Ort und Zeit überschritt. Ort und Gegenwart bilden beim Sprechen eine Einheit. Erst schriftliche Zeichen, die gesprochene Worte repräsentieren, und zwar in einer systematischen und reproduzierbaren Ordnung, befreiten die Kommunikation aus dem Gefängnis der Immanenz, des hic et nunc. Die Schrift erlaubte dem gesprochenen Wort, den Körper zu verlassen, in einem Speichermedium zwischengelagert zu werden, transportiert und übertragen zu werden und von einem anderen Körper wieder inkorporiert, das heißt in Nervenimpulse und Stoffwechsel umgesetzt und als Botschaft interpretiert zu werden. Wie Reisende sich jahrhundertelang an den Sternen orientierten, so ist die Schrift ein Navigationssystem, mit dem wir uns in der Welt zurechtfinden. Die Schrift ist unser erstes Werkzeug, mit dem wir durch Raum und Zeit navigieren, und zwar über die Grenzen des unmittelbar Wahrgenommenen hinweg. Ist Sprechen das Medium der Immanenz, so ist Schrift das Medium der Transzendenz, denn es erlaubt die Überschreitung der Gitterstäbe von Raum und Zeit, wie sie naturwissenschaftlich durch die vier Achsen x, y, z und t und von der natürlichen Sinneswahrnehmung des menschlichen Körpers definiert werden. Transzendenz ist eine Eigenschaft des Mediums Schrift. Daher ist die Schrift das ideale Medium für Transzendenzübungen und -sehnsüchte. Wenn Religion eine Technik der Transzendenz ist, so ist die Schrift als Medium der Transzendenz ihr optimales Mittel. Wie alle Medien ist die Schrift dabei keineswegs neutral. Sie bestimmt die Inhalte mit, die mit ihr erzeugt und in ihr vermittelt werden. Die Religion brauchte die Schrift und ihre zeit- und raumübergreifende Macht auch, um sich gegenüber Konkurrenzreligionen zu behaupten. Neben den Akteuren des Handels und der Verwaltung – die ersten schriftlichen Aufzeichnungen der Sumerer stellten keine Mythen oder Versdichtungen dar, sondern waren kaufmännische Listen und Tabellen – waren es vor allem die Priester, welche die Schrift weiterentwickelten und verbreiteten. Die phönizische Schrift, verwendet im Mittelmeerraum zwischen dem 11. und dem 5. Jahrhundert v. Chr., ist ein protosemitisches Alphabet. Sie ist eine von rechts nach links geschriebene Konsonantenschrift aus 22 Zeichen, deren Reihenfolge das Abdschad (oder abgad) übernommen hat.17 Mit ihr wurden nicht nur die phönizische Sprache, sondern lange auch die aramäische, hebräische und andere semitische Sprachen geschrieben. Die althebräische Schrift ist eine Variante der phönizischen Schrift. Sie wurde im 11. Jahrhundert v. Chr. von den Phöniziern durch Abstrahierung der protokanaanäischen Schrift entwickelt. Das älteste Zeugnis ist eine Inschrift auf dem Sarkophag des Ahiram von Byblos im 17

Vgl. den Beitrag von Beatrice Gründler im vorliegenden Band.

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heutigen Libanon (um 1000 v. Chr.).18 Aus der phönizischen Schrift entstanden die aramäische Schrift, die griechische Schrift, die altsüdarabische Schrift – und über deren Abkömmlinge auch fast alle heutigen alphabetischen Schriften. In dieser Genealogie der Schrift liegt bereits die Jesusfrage, wie Friedrich Kittler sie stellte: In welcher Sprache hat Jesus gesprochen und wie stand es um die Schriften seiner Zeit, Konsonanten- und Vokalschriften?19 In seinem Buch Was Jesus wirklich gesagt hat 20 weist Franz Alt nach, dass die Muttersprache von Jesus aramäisch war, die Bibelsprache aber griechisch. Allerdings „war vor 2000 Jahren das Aramäische vom Griechischen so weit entfernt wie heute das Arabische vom Deutschen“.21 Dadurch entstanden über Jahrhunderte Abschreibefehler, dogmatische Änderungen, subjektive Ergänzen, Fehldeutungen, Irrtümer und Auslassungen, weil die Theologen ja nur Lateinisch, Griechisch und Hebräisch kannten, jedoch nicht die Sprache Jesu. „Das könnte ähnlich auch für den Koran gelten: Zur Zeit der Entstehung des Koran war das arabische noch keine Schriftsprache. Die Urheber des Arabischen waren wahrscheinlich Christen und Juden. Sie werden im Koran ja auch als ‚Schriftbesitzer‘ bezeichnet. Das Wort ‚Koran‘ ist nicht arabisch, sondern syroaramäisch.“ 22 In seinem Buch Die syro-aramäische Lesart des Koran schlägt Christoph Luxenberg daher vor, den Koran vom Arabischen ins Aramäische rückzuübersetzen, um auch den Koran von Fehlübersetzungen zu befreien.23 Luxenberg weist nach, dass das Kopftuchgebot gar keiner spezifisch islamischen Praxis entspricht. Das entsprechende Wort Chumur aus der Sure 24, Vers 31 heißt nämlich im Aramäischen „Gürtel“, der um die Lenden gebunden werden soll, ähnlich wie bei den Frauen Spartas. Die Religionen sind in vielen Fällen sprachliche Fehldeutungen. Daher wäre eine Rückbesinnung der drei monotheistischen Religionen, Christentum, Judentum und Islam, auf die gemeinsamen aramäischen Wurzeln sicherlich hilfreich. Jesus sprach galiläisches Westaramäisch. Doch das meiste, was wir von ihm wissen, ist in griechischer Übersetzung überliefert. Der aramäische Begriff bar enascha bedeutet soviel wie „Mensch schlechthin“ und Jesus hat sich als solcher bezeichnet. Jesus ist also jeder Mensch. 18 19 20 21 22 23

Vgl. auch die Einführung zu Barry Powells Beitrag im vorliegenden Band. Vgl. den Beitrag von Gerhard Scharbert im vorliegenden Band. Franz Alt: Was Jesus wirklich gesagt hat. Eine Auferweckung, Gütersloh (Gütersloher Verlagshaus) 2015. Ebd.: Umschlagstext. Ebd.: S. 75. Christoph Luxenberg: Die syro-aramäische Lesart des Koran: Ein Beitrag zur Entschlüsselung der Koransprache, Berlin (Das arabische Buch) 2000.

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Jesus spricht nicht von Gott, sondern von Abba, was soviel heißt wie „Vater“ oder „Papa“. Maria und Josef nannten ihr Kind Jeschua, was soviel bedeutet wie „Gott hilft“. Jesus ist die griechische Form dieses aramäischen Namens. Maria war keine Jungfrau, sondern eine junge Frau, denn im Aramäischen bedeutet Jungfrau soviel wie „junge Frau“. Nach Markus 6,3 hatte Jesus noch vier Brüder und mehrere Schwestern. Vor der Taufe des Juden Jesus am Jordan durch Johannes, das Erweckungserlebnis Jesu, hat allerdings der Sohn Josefs, wenn wir den heiligen Schriften trauen können, bereits mit 12 Jahren im Tempel mit den Schriftgelehrten gestritten. Was Jesus in den 23 Jahren zwischen seinem Auftritt im Tempel und seinem öffentlichen Auftreten als Wanderprediger mit 35 Jahren getan hat, ist bis heute unbekannt. Die Lehren Jesu, seine gesprochenen Worte, hat zu Lebzeiten niemand niedergeschrieben. Sie sind also im strengen Sinn auch unbekannt. Erst 80 bis 100 Jahre nach seinem Tod haben Menschen, die Jesus zu Lebzeiten nie gesehen oder gehört haben, die sogenannten Evangelisten, Texte verfasst, in denen behauptet wurde, dies seien die Worte Jesu. Ähnliches gilt für den Koran und seine Entstehungsgeschichte nach dem Tode Mohameds. Die heiligen Schriften leiden also an einem Grundübel: ihrer unklaren Quellenlage. Woher stammen diese Texte? Wer hat sie geschrieben? Auf wen berufen sich die Autoren? Die einzig mögliche rationale Antwort, dass es sich um Abschriften und Umschriften von Jahrhunderte früher geschriebenen Texten handelt, wird bis heute abgelehnt. Das Dunkel über der Genese der sogenannten heiligen Schriften liegt genau in der Zone jener Zäsur: der Transition vom gesprochenen Wort zur Schrift. Vor der Durchsetzung der Schrift war Wissen aller Art mündlich, aber auch durch Rituale weitergegeben worden, die Wissen speicherten und durch Wiederholung und Nachahmung transportierten. Techniken, gerade auch Techniken des Wissenstransfers, lösen einander nicht notwendig ab, sondern existieren parallel nebeneinander und übernehmen in einem Prozess der Ausdifferenzierung unterschiedliche Aufgaben. Das Ritual der Wiederholung wurde im 20. Jahrhundert durch den Aufstieg der technischen Medien stark wiederbelebt. Es sedimentierte sich als Technik. So schien die Erfindung der Schrift den Weg dafür zu bereiten, das religiöse Wissen langfristig von jenen Personen zu lösen, die Rituale verkörperten und beglaubigten, und es damit von einer Struktur zu befreien, in der eine Klasse das Wissen durch Rituale monopolisierte. Schamanistische Rituale bei den sogenannten Naturvölkern versprachen Heilung und Schutz. Priester und Schamanen bildeten die Klasse, die dieses Monopol beanspruchte. Der Begriff Schamane leitet sich ab vom tungusischen šaman: „der Wissende“. Die Schrift, die tendenziell das Monopol brach, da sie nicht nur ein Speicherund Übertragungsmedium, sondern immer auch ein Distributions-Medium ist,

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löschte das Begehren nach Schamanen jedoch nicht aus. Der Erfolg von Künstlern wie Joseph Beuys, der von sich beanspruchte, ein moderner Schamane zu sein, aber auch die große Anhängerschaft, die Priester und Sektenführer aller Art im 20. Jahrhundert genossen, zeugen von der Kontinuität dieser Bedürfnisse. Fernsehprediger, sogenannte „Televangelisten“, ebenso wie Künstler, sind die Schamanen des Medienzeitalters, die durch ihre Performances, Rezitative und theatralischen Inszenierungen noch einmal Monopole des Wissens und der Erlösung beanspruchen. Die elektronischen audiovisuellen Medien – Radio, Fernsehen, Video, Computer – antworten auf dieses Begehren. Sie erlauben eine „physische“ Präsenz von Religionsführern und Priestern, die alle räumlichen und zeitlichen Grenzen überschreitet. Diese Technologien sind Tele-Medien, das heißt Medien der Ferne (von griechisch tēlû: „in der Ferne, fern, in die Ferne, aus der Ferne“): Television, Telefon, Telefax, Fernsehen, Fernhören, Fernkopieren. Als Technologien der Ferne, genauer gesagt als Medien zur Überwindung der Ferne, sind Telemedien klarerweise Techniken der Transzendenz. Sie sind daher die neuen und idealen Trägermedien der Religionen und ihrer Transzendenzversprechen. Der „islamische Staat“ (IS) setzt die Traditionen der nordamerikanischen Televangelistes auf radikale Weise fort. Die technischen Medien führen die Arbeit der Schrift als Transzendenzmedium weiter. Das Medienzeitalter vervielfachte die Transzendenz-Optionen und öffnete damit die Tür für die Rückkehr der Religionen. Dies mag ein Grund für die neue Wirkungsmacht des Religiösen im öffentlichen und politischen Raum sein. Heilige Schriften dienen dann nur noch als legitimierende Basis, auf die indirekt verwiesen wird. Der Aufstieg der sozialen Medien hat dem Virus der religiösen Propaganda Tür und Tor geöffnet. Die mediale Inkompetenz der Politik steht diesem Phänomen der deregulierten Dissemination von religiöser Propaganda fassungslos gegenüber. Die sozialen Medien sind der neue Markt der untereinander um Anhänger, Glaubensbrüder und -schwestern wetteifernden Religionsgemeinschaften. Waren es früher Bücher, Pamphlete und Zeitungen, sind es heute die sozialen Medien, welche die gleichsam öffentlichen, immer geöffneten, allzeit zugänglichen Sprechstunden der Evangelien, der frohen Botschaft, sind. Der in griechischer Übersetzung geschriebene Satz: „Am Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort“ zu Beginn des JohannesEvangeliums (Johannes 1,1) ist die entscheidende Aussage in der Bibel. Wir haben keine Fakten zum Leben Jesu. Wir haben nur Worte, niedergeschrieben mehrere Jahrzehnte nach dem Tod des fiktiven oder realen Mannes aus Bethlehem. Jesus verdankt seine Existenz, das ist: seine Menschwerdung, dem Wort. Das Medium Gottes, das Medium des Lebens Jesu, das Medium der christlichen Religion ist das geschriebene Wort. Dies ist die Funktion der Bibel, wie

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der Apostel Johannes selbst schreibt: „Noch viele andere Zeichen tat Jesus vor seinen Jüngern, die nicht geschrieben sind in diesem Buch. 
Diese aber sind geschrieben, damit ihr glaubt, dass Jesus der Christus ist, der Sohn Gottes, und damit ihr durch den Glauben das Leben habt in seinem Namen.“ (Johannes 20,30–31). Wiederum ist es eine tautologische, selbstreferentielle Begründung, die das Band zwischen Gott und Jesus knüpft. Allein die Schrift garantiert die Existenz Christi und dass er der Sohn Gottes ist. Die Schrift ist das Medium des Glaubens. Die Texte, die unter dem Sammelbegriff Neues Testament bekannt sind, wurden in der Absicht geschrieben, die Leser erstens davon zu überzeugen, dass es Jesus gegeben habe, zweitens, dass er der lang erwartete Messias sei, und drittens, dass er der Sohn Gottes sei. Das Medium dieser Behauptungen ist die Schrift. Insofern hat Jacques Derrida recht, wenn er in „Kursivschrift (Italisches)“ schreibt: „so geht es dabei zweifellos um die Sprache, genauer noch: um das Idiom, die Buchstäblichkeit, die Schrift, die das letztlich unzerlegbare und unübersetzbare Element einer jeden Offenbarung und eines jeden Glaubens bilden“. 24 Ein Satz, der mit den Worten „Am Anfang“ bzw. „Im Anfang“ beginnt, birgt jedoch ein metaphysisches Problem, das die konkrete Poesie mit dem Kalauer „Am Anfang war das Wort am“ (Timm Ulrichs) löste. Denn die Behauptung eines Anfangs oder Ursprungs ist die metaphysische Behauptung schlechthin. Folgen wir Martin Heideggers 1927 ausformulierter Lehre von der ontologischen bzw. ontisch-ontologischen Differenz, der Unterscheidung von Sein und Seiendem,25 kann etwas, das ist, nämlich das Sein, nicht aus dem Nichts entstanden sein, sondern muss immer schon sein. Wenn es immer schon war, hat das Sein keinen Anfang und keinen Ursprung. Was es allerdings gibt, ist die Verwandlung des Seienden, des Anfangs und des Endes des Seienden und dessen Umschreibungen. Auch die Religion kann, anders als sie und ihre Erzählungen es behaupten, keine Ontologie des Ursprungs anbieten. Denn sie selbst ist immer schon und nur durch das Medium des geschriebenen Worts. 1930 schrieb Sigmund Freud in Das Unbehagen in der Kultur: „die Schrift ist ursprünglich die Sprache des Abwesenden“.26 Die Schrift ist das Medium der 24

25

26

Jacques Derrida: „Glaube und Wissen. Die beiden Quellen der ‚Religion‘ an den Grenzen der bloßen Vernunft“, in: Die Religion, hg. Jacques Derrida, Gianni Vattimo, Frankfurt a. M. (Suhrkamp) 2001, S. 13; der Abschnitt S. 9 – 40 trägt den Titel „Kursivschrift (Italisches)“ und ist insgesamt in Kursiv gesetzt. Vgl. Martin Heidegger: Die Grundprobleme der Phänomenologie (Vorlesung Sommersemester 1927), in: Ders., Gesamtausgabe, Bd. 24., Frankfurt am Main (Klostermann) 1975, S. 22. Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Ders.: Gesammelte Werke,

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Absenz und sie war über Jahrhunderte die wichtigste aller Kulturtechniken, Worte von einem Ort an einem anderen Ort zu externalisieren, zu speichern und zu verbreiten. Ist die Schrift ein Medium der Absenz, so ist auch die Religion selbst ein Medium der Absenz, da Religion auf nichts anderes als auf das Medium der Schrift als Ursprung verweisen kann. Sie fällt gewissermaßen mit dem Gegenstand ihrer Beschreibung in eins, nämlich dem verborgenen, unerkennbaren Gott, dem deus absconditus (Jesaja 45,15). Den Bezug zum verborgenen Gott kann nie ein Faktum, sondern stets nur eine Schrift vermitteln. Dem absconditus antwortet das Medium der Absenz, der unerkennbare Gott ist in der Schrift. Die zeitgenössische Verbreitung religiöser Bilder durch die elektronischen Medien Fernsehen, Video und Internet ist eine Fortsetzung dieser Arbeit der Schrift als „Sprache des Abwesenden“. Das Internet sowie das fast schon historische Fernsehen, das im Begriff ist, sich in den neuen Konvergenztechnologien aufzulösen, übernehmen die Funktionen, die das Buch als primäres Medium der Religion über Jahrtausende innehatte – teils in der Form der Schrift, jedoch vermehrt in Form von Ton- und Videoaufnahmen bzw. -übertragungen. Natürlich gibt es auch schriftlose Religionen, die durch mündliche Überlieferung und Rituale ihre Inhalte tradieren und verbreiten, aber es sind die auf heiligen Schriften basierenden Religionen, die sich seit zwei Jahrtausenden um die Weltherrschaft streiten. Die Religionen haben also ein technisches Fundament: die Schrift und deren Fortsetzung, die technischen Medien. Mit den Medienumbrüchen wandelten und wandeln sich auch die Religionen.

V. Das Problem des Ursprungs Wenn wir die Frage, wie aus Schriften heilige Schriften werden, literaturwissenschaftlich betrachten, lautet die Antwort: durch Kanonisierung, durch Herkunft und durch Beschränkung. Die kanonisierte Auswahl und Abfolge von Schriften besitzt religiöse Autorität. Es ist zu betonen, dass die unter dem Gemeinnamen „heilige Schriften“ gefassten Gegenstände literarische Unterschiede aufweisen und in ihren jeweiligen Religionen differierende Stellenwerte besitzen. Trotz der Existenz umfangreicher Schriftensammlungen sind Religionsgründungen nur eingeschränkt rekonstruierbar. Die schriftlichen Quellen sind, wie Band 14, Frankfurt am Main (Fischer) 1991, S. 419–506, 450.

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erwähnt, in den meisten Religionen erst Jahrzehnte nach dem Tod des jeweiligen Religionsstifters verfasst worden, also nicht von Augenzeugen. Die Ereignisse, die Glaubensbegründung und die Glaubensinhalte wurden bis zum Zeitpunkt der schriftlichen Notation mündlich überliefert; sie wurden immer wieder neu erzählt, interpretiert und mit Fragmenten anderer Erzählungen ergänzt und bereichert. Die Analyse religiöser Texte zeigt, dass sie Ergebnisse eines fortwährenden Umschreibungsprozesses sind, ja dass die Erforschung der eigentlichen Bedeutung religiöser Schriften, die Exegese der Textquellen, im Laufe der Jahrhunderte Millionen von Büchern und Tausende konkurrierender Religionsgemeinschaften hervorgebracht hat, die sogenannten Sekten. Die Erforschung der Quellen religiöser Texte hat die Religion selbst hervorgebracht, und das Verfahren von copy and paste hat eine Vielfalt religiöser Sekten erzeugt. Beispielhaft für die Problematik des Ursprungs und zugleich für die aus dem Medium Schrift erwachsende Kraft der Legitimation ist das von Kaiser Konstantin in Auftrag gegebene Werk Historia ecclesiastica oder Historia ecclesiae. Konstantin, mit dessen Person die historisch falsche Geschichte des: „In hoc signo vinces“ in der Schlacht bei Saxa Rubra verbunden ist,27 beauftragte den Bischof von Caesarea, Eusebius (geboren 260/264, gestorben 339/340), eine Kirchengeschichte zu schreiben. Eusebius legte eine Geschichte in zehn Bänden von den Anfängen bis zur historischen Gegenwart vor, dem Jahr 324. Damit 27

Die Geschichte, die sich hier als „wahrer Roman“ zeigt – nach Paul Veyne: „Les historiens racontent des événements vrais qui ont l'homme pour acteur ; l'histoire est un roman vrai.” (Paul Veyne: Comment on écrit l’histoire. Essai d’épistémologie, Paris (Seuil) 1971, S. 10) – die Geschichte erzählt uns, dass Konstantin 312 in der Schlacht bei Saxa Rubra, der Schlacht um Rom, eine Vision hatte. Es sei ihm im Traum das Christusmonogramm erschienen, das ihm verkündete, in hoc signo vinces – „in diesem Zeichen wirst du siegen“. Aus Dankbarkeit für diesen tatsächlichen Sieg sei er zum christlichen Glauben konvertiert und habe das Christentum zur Staatsreligion gemacht. Tatsächlich hatte Konstantin, der Kaiser des Westens, mit Licinius, dem Kaiser des Ostens, in einem weit weniger religiösen Akt 313 die sogenannte Mailänder Vereinbarung getroffen, die sowohl den Christen als auch allen anderen Menschen freie Vollmacht gewährte, der von ihnen gewählten Religion anzuhängen. Zwar wurde das Christentum erst 68 Jahre später, 380 unter Kaiser Theodosius I., zur offiziellen Staatsreligion erklärt, doch nahm es in der Mailänder Vereinbarung bereits eine besondere Stellung ein. Die Vereinbarung ist als Ergänzung und Erweiterung des „Toleranzedikts“ zu sehen, das Kaiser Galerius im Frühjahr 311 herausgab. Durch dieses Edikt wurde die Christenverfolgung beendet und das Christentum gleichsam zur religio licita, zur „erlaubten Religion“, das heißt: Christen wurden in gewisser Weise zum ersten Mal anerkannt. Konstantin scheint einer strategischen Überlegung gefolgt zu sein, die für Jahrhunderte Gültigkeit hatte. Mit Hilfe einer einzigen herrschenden Staatsreligion konnte ein Reich besser beherrscht werden. Ein Reich, eine Religion, ein Führer waren die politischen Gedanken, die Konstantin wohl leiteten. Und in der Tat, Konstantin herrschte mehr als 50 Jahre über das Byzantinische Reich und für das Christentum begann der Aufstieg zur Weltmacht.

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wurde zum ersten Mal eine kritisch-historische Schrift zum christlichen Glauben verfasst. Sie ist ein normativer Gesetzestext, geschrieben zur Legitimierung von Religion und weltlichem Herrschaftsanspruch. Diese Geschichte lieferte das Vorbild für alle weiteren Kirchengeschichten. Wer von der hier vorgelegten Deutungslinie abwich, galt als Häretiker. Mit der Macht der Schrift konstruierte Eusebius im Auftrag Konstantinopels die Kirchengeschichte und die Weltgeschichte so, wie er und Konstantin sie sahen. Man hat es, schroff gesprochen, mit einer Propagandaschrift zu tun. Das byzantinische Kapitel des Christentums klärt ein Stück weit die Frage: Wie konnte aus einer marginalisierten Sekte, die lange Zeit verfolgt wurde, eine Weltmacht werden? Paul Veyne gab 2007 in Quand notre monde est devenu chrétien eine kurze Antwort: Das Christentum erreichte seine weltweite Dissemination durch das Schwert (sword ) und das Wort (word ).28 Die Kirchengeschichte, die aus einer Distanz von circa 300 Jahren die Entwicklung des Christentums zusammenfasste, war auf Griechisch geschrieben worden, überdauerte die Jahrhunderte bis heute jedoch in lateinischen, syrischen und armenischen Manuskripten. Eusebius verwendete zahlreiche kirchliche Dokumente, Märtyrerakten, Briefe sowie Auszüge aus älteren christlichen Schriften und integrierte diese Texte als ausführliche Zitate. Seine Interpretation der Quellen war nicht unvoreingenommen, diente sie doch der Legitimation der christlichen Religion und der Sicherung der Herrschaft Konstantins. Nach dessen Tod widmete ihm Eusebius zudem ein vier Bücher umfassendes Werk, die Vita Constantini, eine parteiische Lobschrift auf den verstorbenen Kaiser, die den kommenden Herrschern angesichts der drohenden innerkirchlichen Konflikte als Anweisung dienen sollte. Es sei darauf hingewiesen, dass die griechische Sprache, in der Konstantin die Historia ecclesiastica niederschreiben ließ, nicht die Sprache der ursprünglichen Christen oder Frühchristen war. Sie sprachen Aramäisch, eine Untereinheit der semitischen Sprachen. Die Texte der Frühchristen, wie die Texte der Kirchengeschichte des Eusebius, sind Glieder einer langen Kette von Umschreibungen, ohne greifbaren Ursprung. Denn die Berichte vom Leben Jesu reichen über dessen Lebenszeit weit hinaus. In den christlichen Erzählungen von Jesus finden sich vorreligiöse Mythen wieder, die über Jahrhunderte weitererzählt und verändert wurden, bis einige von ihnen etwa 3000 Jahre vor Christi 28

Paul Veyne: Quand notre monde est devenu chrétien, Paris (Michel) 2007. Die Alliteration von englisch sword and word legt das Verfahren nahe, nach dem bis heute die imperialen Strategien von Religionen mit ihren Kreuzzügen, Kolonialisierungen, Proselyten vorgehen – von der spanischen Eroberung Südamerikas bis zum „Islamischen Staat“ (IS).

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Geburt schließlich verschriftlicht wurden und sich weiter vermischten und ausdifferenzierten. Wenn Eusebius also seine Kirchengeschichte schrieb, dann war dies eine Geschichte ohne Ursprung, ohne ursprüngliche Quelle. Die einzigen Quellen waren Texte in anderen Sprachen, die bereits Umschreibungen anderer Texte aus anderen Sprachen waren. Eusebius baute eine Kirchengeschichte auf einer historischen Kaskade von Texten auf, deren Ziel es war, die Herrschaft von Konstantin zu untermauern und zu legitimieren. Durch die Übertragung von Sprache zu Sprache, von Sprache zu Schrift und von Schrift zu Schrift wurden die Inhalte der Texte, die Legenden, Mythen, Riten und Erinnerungen, je nach spezifischer Interessenslage umgeschrieben. Vorreligiöse Mythen und religiöse Narrationen und Metaphern wurden zu Fakten. Ereignisse wurden erfunden, um Fiktionen zu untermauern; alte Fiktionen wurden durch neue Fiktionen ersetzt, die besser in die zeitgenössische episteme und die Denkstrukturen der jeweiligen Epoche passten.

VI. Morphologie der Religionen Trotz der enormen Ausdifferenzierung und Vielfalt der Erzählungen ähneln sich die religiösen Berichte. Alle Geschichten über Religionsgründer und deren Botschaften weisen analoge Strukturen auf. Diese Verwandtschaften und Ähnlichkeiten der Handlungsträger wie auch der Handlungsfunktionen in allen klassischen und modernen Religionen ist auffallend. Die strukturelle Morphologie des Märchens, das heißt das Phänomen, dass die inhaltlich variierenden Märchen eine gemeinsame unveränderliche Tiefenstruktur der Handlung aufweisen, auf die der russische Philologe Vladimir Propp bereits 1928 hinwies, ließe sich auch auf Glaubenssysteme übertragen.29 Man wünscht sich ein Werk mit dem Titel Morphologie der Religionen, das die Arbeit Propps fortsetzen würde. Propp zeigte anhand eines Korpus von hundert Märchen, dass es in den russischen Zaubermärchen insgesamt nur sieben Handlungsträger gibt und sich die Handlung auf maximal 31 Funktionen reduzieren lässt. Natürlich geht es bei dieser Analyse stets um den kompositionellen Kern, so dass einzelne Funktionen oder Handlungsträger ausfallen können. Wie die Märchen zeigen auch die religiösen Erzählungen viele ähnliche oder gemeinsame Merkmale und Strukturen. Auch die religiösen Erzählungen bestehen aus wenigen Grundelementen – Geburt, Berufung, Botschaft, Exil, Tod, etc. – und deren Variationen. 29

Vgl. Vladimir Propp: Morfologija skazki, Leningrad (Academia) 1928; engl.: Ders.: Morphology of the Folktale, Bloomington IN (Indiana University) 1958; dt.: Ders.: Morphologie des Märchens, München (Hanser) 1972.

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Die übereinstimmende morphologische Struktur der Evangelien beispielsweise verweist weniger auf die Faktizität der Ereignisse als auf ihre literarische Fiktionalität. Man sieht deutlich die Strukturähnlichkeiten, selbstverständlich mit den Variationen, Auslassungen und Addenda, wie sie Propp für die Morphologie des Märchens festgestellt hat. Die Handlungsträger sind Jesus als Held, die Pharisäer als Gegenspieler, der falsche Held bzw. der Verräter, die Jünger als Helfer, Gott als Sender und die Wunder als Beglaubigungen. Die Handlungsfunktionen sind: die Geburt, der Kampf gegen die Anders- bzw. Ungläubigen, die Heldentaten und Wunder, das Leiden, das Sterben und die Auferstehung. Ich möchte mich bei der Suche nach Strukturgesetzen für den Entwurf einer Morphologie der Religionen auf moderne Religionen beschränken, da hier die Quellenlage einfacher zu erschließen ist als bei antiken Religionsgründungen. Drei bekannte Religionsgemeinschaften der Neuzeit bzw. Gegenwart sollen hier als Beispiele herangezogen werden, um strukturelle Elemente und ihre Kombinatorik zu bestimmen: das Mormonentum, die Zeugen Jehovas und die Church of Scientology. Diese drei Glaubenssysteme bzw. Religionsgemeinschaften werden im Allgemeinen als bizarre Sekten verworfen. Sie sind aber nur drei innerhalb einer großen Vielzahl von anderen Sekten, von Russland bis Brasilien. Was alle diese Sekten jedoch mit den drei großen monotheistischen Glaubenssystemen verbindet, sind morphologische und strukturelle Verwandtschaften. Man kann also sagen, diese drei Sekten dienen als Mikroskope, die Nahaufnahmen von der Struktur der drei großen Religionen Christentum, Judentum, Islam ermöglichen. Was bizarr an den drei Sekten erscheint, ist in Wirklichkeit ebenso bizarr an den drei großen Religionen: die Erweckungserlebnisse, die Überlieferung heiliger Texte durch Gott oder Botschafter Gottes, die unklare Quellenlage, der Monopolanspruch, die Auserwähltheit der Mitglieder der Religionsgemeinschaft, usw.. Im christlich-westlichen Kulturraum gibt es eine Reihe religiöser Neubildungen, die Inhalte des Christentums in deutlich neuer Form gestalten und sich zudem durch neue christliche Quellen legitimieren, neben der Heiligen Schrift des Alten und Neuen Testaments. Wie die meisten Religionsgemeinschaften berufen sich die Mormonen, die von ihrem Selbstverständnis her zur Familie der christlichen Kirchen gehören, auf einen Stifter und dessen Erweckungserlebnis, das heißt den Moment, in dem ihm Gott direkt die Inhalte des Glaubens diktierte. Der Gründer der Mormonenbewegung, der Church of Jesus Christ of Latter-day Saints, der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“, war der Amerikaner Joseph Smith, Jr., der 1844 im Alter von 39 Jahren als Untersuchungshäftling in einem Gefängnis von einer aufgebrachten Menschenmenge ermordet wurde. Smith berichtet in seinem 1838 verfassten autobiografischen Text

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Joseph Smith – History, die wesentlicher Bestandteil von The Pearl of Great Price ist (Die Köstliche Perle) – einer Publikation, die zu den kanonischen heiligen Schriften der mormonischen Kirche zählt –, von seiner ersten Vision im Jahre 1820. Dieser folgten, laut Smith, 133 weitere Offenbarungen. Er beschreibt zudem die Erscheinung des himmlischen Wesens Moroni im Jahr 1823, das ihm einen Hügel zeigte, in dem antike Goldplatten vergraben waren, die er jedoch erst 1828 an sich nehmen durfte. In die Platten war Gottes Text eingraviert, den Smith mit göttlicher Hilfe ins Englische übersetzte. Die Platten musste er zurückgeben, die Quelle gewissermaßen löschen. 1830 wurde die Übersetzung publiziert, als: The Book of Mormon. An Account Written by the Hand of Mormon upon Plates Taken from the Plates of Nephi (Das Buch Mormon. Ein Bericht geschrieben von der Hand Mormon’s auf Tafeln, entnommen Nephi’s Tafeln), und die Kirche Jesu Christi gegründet. Es ist interessant, dass auch innerhalb des Mormonentums nicht gänzlich geklärt ist, ob Smith die Platten bei der Übersetzung überhaupt physisch vor sich hatte. Smith verfügte über einen „Seherstein“. Die drei Zeugen des Buches Mormon und seine Frau Emma berichteten, dass Smith einen magischen Seherstein in einen Hut warf, darin sein Gesicht vergrub und dann mit der Übersetzung begann und diktierte. Der synkretistische Charakter dieser neuen Religion ist deutlich. Die Mormonen sehen sich selbst als Urchristen. Die verlorenen Stämme Israels teilen sich gemäß The Book of Mormon in die gläubigen Nephiten und die vom Glauben abgefallenen Lamaniten. Im 5. Jahrhundert sind die Nephiten von den Lamaniten vernichtet worden. Der letzte Überlebende Nephite sei der Prophet Moroni gewesen, der die ursprünglichen christlichen Glaubensinhalte in einer Offenbarung an Joseph Smith, Jr. weiterleitete. Im Mormonentum und bei vielen anderen Religionsgemeinschaften finden wir gemeinsame strukturelle Elemente. So zum Beispiel die Offenbarung bzw. die Übergabe kanonischer Texte: Gott gab Moses die zehn Gebote auf Steintafeln, Smith erhielt die heiligen Texte auf Goldtafeln. Der Sinn der Texte ist nur Smith mit Gottes Hilfe zugänglich gemacht worden. Er ist der von Gott Erwählte. Die Quelle der Religionsgründung ist also ein Text, der direkt von Gott an einen Auserwählten überliefert bzw. geliefert wurde. Neben den Presbyterianern (ab 1553), den Kongregationalisten (ab 1580), den Methodisten (ab 1738) und den Adventisten (ab 1863) sind die Zeugen Jehovas eine christliche Religionsgemeinschaft, die sich wie die Mormonen durch große Bibelgläubigkeit, also die Auslegung der Heiligen Schrift, auszeichnen. Die Religionsgemeinschaft ging aus dem von Charles Taze Russell 1876 gegründeten Bible Student Movement hervor, der Bibelforscherbewegung, deren

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Anhänger in Deutschland als „Ernste Bibelforscher“ bekannt wurden. Russell war ursprünglich Mitglied der Kongregationalistenkirche. Erst seit 1931 nennen sich die Bibelforscher „Jehovah’s Witnesses“, auf Deutsch Zeugen Jehovas. Russell propagierte die Wiederkunft Christi für das Jahr 1874 und den Beginn der „irdischen Phase des Reichs Gottes“ ab 1914. Ab 1879 publizierte er die Zeitschrift Zion’s Watch Tower and Herald of Christ’s Presence (Der Wachtturm verkündigt Jehovas Königreich), die heute in einer zweistelligen Millionenauflage erscheint. Für die Zeugen Jehovas ist die Grundlage ihres Glaubens die Bibel, die die von Gott offenbarte religiöse Wahrheit enthält. Durch ihre Auslegung der Bibel unterscheiden sie sich allerdings in vielen Punkten von anderen Glaubensgemeinschaften: So lehnen sie etwa die Dreifaltigkeit ab. Gott selbst ist ein gütiger und liebender Gott und ein unsichtbarer Geist. Die Auferstehung Christi ist nicht leibhaftig zu verstehen. Jehovas Zeugen glauben an die Wiederherstellung des Paradieses auf Erden. Im globalen Endzeitkrieg der letzen Tage sind sie die Einzigen, die Auserwählten, die unter dem besonderen Schutz Jehovas stehen werden. Russell behauptete nicht, er habe die christliche Botschaft direkt von Gott erhalten, sondern berief sich nur auf die Bibel. Allerdings ist bei ihm das Moment der Exegese, der richtigen Interpretation, ausschlaggebend. Insofern ist auch er ein Auserwählter bzw. „die leitende Körperschaft“, „von Gottes heiligem Geist gesalbt und geleitet“. Der Wachtturm zeigt immer den aktuellen Stand der Exegese an, die verpflichtend ist. Auserwählt als Gemeinschaft sind auch Jehovas Zeugen, daher werden sie die einzige Organisation sein, die Jehova besonders schützen und für deren Überleben er sorgen wird, wenn das verloren gegangene Paradies wiederhergestellt sein wird. Der massive missionarische Charakter dieser Religionsgemeinschaft verdankt sich diesem Versprechen. Die Menschen müssen überzeugt werden, jetzt Zeugen Jehovas zu werden, um später gerettet werden zu können. Mit einer ähnlichen Dramatisierung von Endzeitfantasien arbeitet auch die Church of Scientology. Der Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard begründete mit seinem 1950 publizierten Werk Dianetics (Dianetik) die Church of Scientology, „eine angewandte religiöse Philosophie“, wie er sie selbst nannte. Peter Sloterdijk hat die religiösen Strategien Hubbards und dessen Rekonstruktion des Phänomens Kirche als „wertvolle Aufklärung über die allgemeinen Bedingungen für Religionsbildungen“ mustergültig untersucht.30 Das betreffende Kapitel in Sloterdijks Buch hat übrigens den bezeichnenden Titel: „Religionen gibt es nicht“. Am Beispiel von Hubbard zeigt Sloterdijk, was es bedeutet, „wenn eine Firma zum Vertrieb von altbekannten Autosuggestionsmethoden zu einem welt30

Peter Sloterdijk: Du mußt dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a.M. (Suhrkamp) 2009.

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weit operierenden psychagogischen Konzern mit Religionsanspruch ausgebaut wird“. 31 Hubbard entwickelte Psychotechniken bzw. gab Anleitungen für Psychotechniken, mit denen „man im Dschungelkampf der Egoismen überlebt“.32 Da der synkretistische Charakter von Hubbards Religion typisch ist für die Imitation der „Originalreligionen“, gewährt ihre Untersuchung Aufschluss über „die Fabrikation und Konstitution von ‚Religion‘ im allgemeinen“.33 „Die Schicksale des Olympismus und der Betrieb der szientologischen ‚Kirche‘ lassen erkennen, daß Religion in dem Sinn, wie die Exploiteure des Begriffs ihn verstehen, nicht existiert – und nie existiert hat. […] Womit wir es tatsächlich zu tun haben […], sind mehr oder weniger mißinterpretierte anthropotechnische Übungssysteme und Regelwerke zur Selbstformung im inneren wie äußeren Verhalten.“34 An der scientologischen Kirche kann man eine selbstlobende Systematik erkennen und einen „Gründerkult ohne Grenzen“: „Die Feier des Meisters als Erwekkers der Menschheit durchzieht die gesamte scientologische Mediasphäre.“ 35 Die psychotherapeutische Dimension sowie die Fiktionalität jeder Religion wird bei der Church of Scientology überdeutlich erkennbar. Die strenge Kontrolle und Hierarchie, ebenso wie die Verfolgung von Abweichlern, die den Scientologen vorgeworfen werden, haben ebenfalls als Vorbild die christliche Kirche und deren tödliche Inquisition. Der missionarische Eifer der Scientologen ist eine Version der militanten Missionsreisen des Paulus von Tarsus. Die Geschichte des Paulus macht die parallelen Strukturen religiöser Stiftererzählungen nochmals sichtbar. Paulus, ein griechisch gebildeter Jude, der im kleinasiatischen Kilikien geboren wurde, verfolgte zunächst die Anhänger von Jesus von Nazareth, dem er selbst nie begegnet war. Um das Jahr 32 oder 33 nach Christus hatte er, angeblich auf dem Weg nach Damaskus, sein bekanntes Berufungs- bzw. Bekehrungserlebnis. Die Redewendung, die besagt, jemand wandle sich „vom Saulus zum Paulus“, ist dabei irreführend. Der Religionswandel des Saulus implizierte keinen Namenswandel. Er hatte immer schon zwei Vornamen, wie in der griechischhellenistisch-römischen Welt durchaus üblich: „Saulus, der auch Paulus heißt“ (Apg 13,9). In den Briefen verwendet der Apostel immer seinen Namen Paulus, wohingegen der zweite Name Saul(us), hebräisch ‫[ שָׁאּול‬Scha’ul], eher im vertrauten, häuslich-familiären Rahmen in Gebrauch war.36 31 32 33 34 35 36

Ebd., S. 134. Ebd., S. 168. Ebd., S. 134. Ebd. (Hervorhebungen PW). Ebd., S. 161. Vgl. Reinhold Then: Mit Paulus unterwegs, Stuttgart (Katholisches Bibelwerk) 2003, S. 17–23.

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Die Berufung des Paulus zum „Apostel des Evangeliums für die Völker“ (Brief an die Galater 1,15 f.) schließt sich an eine Reihe älterer Christuserscheinungen an, von denen ihm wohl bei seinem ersten Jerusalembesuch berichtet wurde. Die Versionen der Apostelgeschichte widersprechen sich allerdings. Einmal sah Paulus nur ein Licht, während seine Begleiter nur eine Stimme hörten. Ein anderes Mal sahen die Begleiter das Licht, hörten aber keine Stimme. Der Bericht ist im Grunde formelhaft: Gott hat sich Paulus offenbart und unmittelbar an ihn eine Botschaft gerichtet. Offenbarung, Bekehrung und Berufung, die nicht direkt überprüfbar sind, bilden den Anfang seiner Mission. Paulus verfasste seine berühmten Briefe zwischen 50 und 60 nach Christi Geburt. Nur noch sieben werden heute dem Paulus als Verfasser zugeschrieben. Diese Briefe sind älter als die vier Evangelien und sind ebenfalls ohne persönliche Bekanntschaft mit Jesus entstanden. Wie bei den neuzeitlichen Sekten bildet auch in der paulinischen Theologie die Naherwartung der Endzeit den Transmissionsriemen. Paulus predigt, dass der Glaube errettet, dass alle, auch die Heiden, auf diese Weise errettet werden können. Deshalb muss Paulus missionieren, damit die Heiden zu Christen und dadurch gerettet werden. Die Briefe dienen als Medium des Glaubens und zur Verbreitung des Glaubens. Die Verbindung von Glaube und Schrift, von Heilserwartung und Heilsbotschaft kann nicht deutlicher dargestellt werden. Was folgt daraus? 1. Die Evolutionsgeschichte der Glaubenssysteme ist nicht zu Ende. Es werden sich weitere Religionsgemeinschaften von den bestehenden abspalten. 2. Es ist nicht gesichert, dass die herrschende Ordnung der drei monotheistischen Religionen bestehen bleibt, es könnte sein, dass asiatische oder arabische Glaubenssysteme das Christentum und Judentum von ihren Plätzen verdrängen. 3. Es wird zu Gründungen neuer Glaubenssysteme kommen, die vielleicht die alten Religionen marginalisieren.

VII. Performativität der Schrift und Jesus als Schriftrebell „Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“ (Johannes 1,14). Mit dieser Formel des Johannes-Evangeliums wird der Vorgang des Übergangs von der immateriellen geistigen Sphäre in die materielle körperliche Sphäre beschrieben. Die Schrift verwandelt sich in einen Körper. Diese Transformation ist eine der erstaunlichsten Behauptungen des Christentums. In Wahrheit steht sie in der Tradition von Geistergeschichten. In allen Spukgeschichten erscheinen die unsichtbaren Geister plötzlich als sichtbare Wesen, das heißt als nebelhafte, doch zumindest geringfügig materielle Erscheinungen.

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Der eigentliche Sinn des Verses liegt aber nicht in der Fleischwerdung des Geistes, sondern im Glauben an die Macht des Wortes. Wenn das Wort bzw. die Schrift die einzige Quelle der Legitimation ist, erwächst die Macht der Religion aus der Macht des Wortes, aus der Macht der Heiligen Schrift, da diese von Gott stammt. Der Glaube an die Macht des Wortes verleiht also dem Glauben selbst die Macht. Aber auch die Freiheit von der Macht ist ein Effekt der Schrift. Bei der Schrift vor den Griechen, bei der die Vokale fehlten, bedurfte es eines Lehrers, der den Leser einwies und ihm half, die fehlenden Konsonanten richtig einzusetzen, um den Sinn eines Wortes zu erfassen. Erst seit Einführung des Vokalalphabets durch die Griechen um etwa 900 v. Chr. gibt es den autonomen Leser. Der brauchte keinen Schriftexperten mehr, der für ihn die Vokale einsetzte. Dieser autonome, emanzipierte Leser erfüllte genau die Kant’sche Bedingung der Aufklärung, „sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen“.37 Judentum und Christentum stellen gegenüber den Vielgötterwelten anderer Religionen gewissermaßen eine Regression dar. Gibt es viele Religionen, gibt es auch viele Deutungen. Gibt es nur eine Religion, gibt es nur eine Deutung. Monotheistische Religionen entstehen aus dem Wunsch nach einem Monopolanspruch. Monotheistische Glaubensgemeinschaften behaupten, sie seien die einzig richtigen, von Gott auserwählten Völker, die den einzig richtigen Glauben vertreten. Alle anderen sind nicht Andersgläubige, sondern Ungläubige. Die Priester sind wie eine Kaste, die ihre Monopolstellung verteidigt. Zur Zeit Jesu wollten die Schriftgelehrten ihre Macht und ihr Monopol der Schriftdeutung nicht an den „Laien“ bzw. den „Amateur“ abgeben. Die Dispute, die angeblich Jesus mit 12 Jahren im Tempel mit den Hohen Priestern hatte, können als Dispute um dieses Monopol gedeutet werden. Jesus wollte als Sohn einfacher Menschen, als Menschensohn, als Jedermann, nicht weiter die Klassenhierarchie, die sich aus dem Schriftgelehrtentum ergab, akzeptieren. Jesus wollte bei der Deutung der Texte mitreden und mitdiskutieren. Er wollte den Umgang mit der Schrift reformieren, vielleicht sogar die Schrift selbst, eben gerade deswegen, weil er selbst weder lesen noch schreiben konnte, sondern nur ein äußerst begabter Redner war. Jesus von Nazareth lag als Reformer des Judentums im Streit mit den Schriftgelehrten. Er verkörperte den Aufstand des Amateurs gegen den Experten. Jesus bezog sich auf die Freiheit des Lesers, welche die Schrift als solche und ihrem Wesen nach gewährt. Er wusste, die Sprache macht ihn frei. 37

Immanuel Kant: Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? (1784), in: Ders.: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 1, Werkausgabe Band XI, hg. Wilhelm Weischedel, Frankfurt am Main (Suhrkamp) 2001, S. 53.

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Jesus war nicht der Gründer des Christentums. Im besten Fall wollte er das Judentum durch eine Schriftreform reformieren. Die Gründer des Christentums waren andere, die Jesus zum Gründervater machten. Diese Gründer mussten klarerweise den jüdischen Ursprung ihrer Religion und des Gründungsvaters verleugnen. Dadurch entstand der Antisemitismus im Christentum selbst.38 Die Reformen des Judentums durch Jesus, die erst seine Nachfolger als Reformen im eigentlichen Sinn vortrugen, bildeten die Grundlagen des Christentums. Um so bizarrer ist daher die Jahrtausende währende Feindschaft zwischen Christen- und Judentum, die schließlich zum Holocaust führte. Die Grundlage der Feindschaft ist im Monopolanspruch beschlossen und in den üblichen selbstreferentiellen Logiken und tautologischen Beweisen der Glaubenssysteme. Der Menschensohn wird zum Sohn Gottes und dadurch beglaubigt Gott, dass seine Botschaft die Botschaft Gottes ist. Jesus selbst hätte solche Argumente gar nicht benötigt, da er wusste, dass ihn die vokalalphabetische Schrift per se zu einem autonomen Leser macht. Seine Autonomie bedarf nicht der Unterstützung durch einen absoluten Meister wie Gott. Dieser Rückgriff auf Gott widerspricht der Schrift selbst. Denn zur Schrift gehört nicht nur die Erlernbarkeit für alle, sondern auch die Freiheit der Interpretation. Die Einschränkung der Freiheit der Schrift, indem man sie zur Heiligen Schrift erklärt, ist eine Repression, die zu Intoleranz und Inquisition führt. Waren es früher die Monopolisten des Ritus, Priester und Schamanen, welche die Macht innehatten, waren es später die Schriftgelehrten, die über das Monopol von Glauben und Wissen und somit über die Macht verfügten. Heute sind es Juristen und Politiker, die mit ihren Worten Entscheidungen treffen, die das Leben der Adressaten auf materiell entscheidende Weise verändern. Die Sentenz eines Richters kann eine Person ins Gefängnis bringen, die Sentenzen der Politiker können die Bürger zur Zahlung höherer Steuern zwingen. In heutiger Terminologie ist diese Macht der Sprache, reale Veränderungen zu bewirken, das Wesen von Performativität. Das Zitat von Johannes ist also ein Hinweis auf die Performativität der Schrift und somit auf die Macht der Schrift über das Leben der Gläubigen. Kirchenorden, Mönchsorden, Klosterorden, das ganze Arsenal kirchlicher Organisationen und Operationen, vom Gebet bis zur Inquisition, beruht auf der Macht der Schrift. Das Wesen der Religion liegt im Wesen der Schrift und deren Performativität. Aus der Sprachphilosophie wissen wir, dass die Sprache als Regelsystem auch ein Befehlssystem ist: ein System von Anweisungen, das reale Veränderungen bewirkt. Die Entdeckung dieser Relation von Repräsentation und Reali38

Vgl. Friedrich Heer: Gottes erste Liebe: 2000 Jahre Judentum und Christentum. Genesis des österreichischen Katholiken Adolf Hitler, München (Bechtle) 1967.

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tät nennen wir die performative Wende. Am deutlichsten formulierte sie im 20. Jahrhundert John Langshaw Austin in seinem 1962 erschienenen Buch How to Do Things with Words. Sprache beschreibt nicht nur einfach Sachverhalte, sondern erschafft sie.39 Auf diese Weise führten und führen heilige Schriften Völker in Kriege. Ginge es nur um ein Gefecht der Worte, bliebe es bei theologischen Disputen. Aber bei der Umsetzung des Wortes in Handlung, wenn sich das Medium der Absenz in das Fleisch physischer Realität wandelt, kommt es zu realen Kämpfen. Diese Performanz von Sprache wird in nichts deutlicher als in der Ursprungsszene der christlichen Religion: der Kreuzigung Christi. In dem Augenblick, in dem römische Besatzer und Hohe Priester sahen, dass die Worte Christi die Wirklichkeit veränderten, glaubten sie, ihn kreuzigen zu müssen. Als performativer Akt wandelt sich hier das Wort der Religion in die Gewalt des Menschen gegen den Menschen. Die Schrift wird als heilig anerkannt, ihre Exegeten sprechen somit im Namen Gottes. Sie eignen sich die absolute göttliche Macht an. In diesem Moment kann sich das Medium des Wortes in das Medium des Schwertes verwandeln. „Und das Wort ward Fleisch.“ heißt: „The word becomes the sword. In the name of the word I unsheathe my sword.” Der Aspekt der Performativität wird auch in der Funktion religiöser Texte als Anleitung zu rituell wiederholten Handlungen deutlich. Peter Sloterdijk beschreibt Religionen schlicht als „Übungszonen“: Religiöse Schriften verändern Wirklichkeit, weil sie Anweisungen für geistige und körperliche Übungen sind. Blaise Pascal hat diesen Zusammenhang in einer berühmten Formel notiert, die uns Louis Althusser so überliefert: „Knie nieder, bewege deine Lippen zum Gebet, und du wirst glauben!“40 Die Übung erzwingt den Glauben, die Performance liefert den Sinn.

VIII. Religion ist Medium, die Medien sind Religion Religion war von Anfang an nicht nur an Medien gebunden, sondern war und ist selbst ein Medium. Wie erwähnt, ist alle Kommunikationstechnik Tele-Technik (Telefon, Television, Telefax, etc.).41 In dieser Funktion, die räumlichen und 39

40 41

Vgl. John Langshaw Austin: How to Do Things with Words (The William James Lectures delivered at Harvard University in 1955), Clarendon, Oxford MA (Harvard University Press) 1962; dt.: Ders.: Zur Theorie der Sprechakte, Stuttgart (Reclam) 1972, S. 164 ff.. Louis Althusser: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg (VSA) 1977, S. 138. Vgl. hier weiter oben, Kapitel IV.

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zeitlichen Distanzen zu überwinden, die uns von den natürlichen Sinnesorganen vorgeschrieben sind, und somit die vier Gitterstäbe oder Koordinaten der Raumzeit technisch zu überschreiten, also den Menschen aus dem Gefängnis von Zeit und Raum zu befreien, nähert sich die Technologie gewissen Versprechungen der Theologie. Der Begriff Engel 42 etwa beruht auf einer frühen Entlehnung aus dem Griechischen, ággelos für „Bote“. Durch die arianische Mission in den germanischen Sprachraum gelangt, bezeichnet Engel (Mittelhochdeutsch engel, Althochdeutsch engil, Gotisch aggilus, Niederländisch engel, Altenglisch engel, Schwedisch ängel) den Boten Gottes, das Mittelwesen zwischen Gott und Mensch. Die Engel waren also Überbringer der Nachrichten Gottes, sie hatten eine nachrichtentechnische Funktion. Was die technischen Medien versprechen, ist vergleichbar mit dem, was die Religion seit jeher in Aussicht stellt: die Überwindung von Zeit und Raum und das Erlangen von Unsterblichkeit. Nach Zeichnung und Schrift sind Fotografie, Telegrafie, Telefon, Film, Radio, Fernsehen, Video, Computer und Internet sowie all die anderen Erfindungen der letzten 150 Jahre gewissermaßen die technische Einlösung der religiösen Versprechen, Beweis ihrer apparativen Machbarkeit. Das läßt sich in dem Begriff Theo-Technologie zusammenfassen: Alle Technologie ist Tele-Technologie. Alle Tele-Technologie ist im Grunde immer auch TheoTechnologie. Die Religion wird von den Tele-Medien apparativ fortgesetzt und ergänzt. Damit wird deutlich, dass die Religion selbst ein Protomedium ist. Gerade als Medium der Absenz ist die Religion das Medium schlechthin, weil sie, was absent ist, präsent zu machen scheint. Es ist Aufgabe und Ziel jedes Mediums, das zeitlich und räumlich Abwesende zu vergegenwärtigen.43 Die Religion ist das Protomedium, das erste Medium, das Ursprungsmedium aller Medien. Die Religionen haben uns die Unsterblichkeit unserer Seelen versprochen; die Festplatten unserer Computer speichern Spuren unserer Individualität. Religion hat uns Levitationsphänomene versprochen, das freie Schweben; Flugzeuge und Raketen helfen uns, die Schwerkraft zu überwinden. Religion hat uns gezeigt, wie Propheten über Wasser gehen; Hovercraft-Schiffe gleiten mit uns über die See. Religion hat uns die Verwandlung von Wasser in Wein versprochen; die Chemie vollendet den Traum der Wandlung der Stoffe. Die Religion hat uns körperlose Erscheinungen versprochen, wie wir sie jeden Tag beim Anschauen der Fernsehnachrichten erleben. In Die Legende der Engel beschrieb Michel Serres 1993, wie viele Konzepte und Phänomene, die heute in der Informatik und in den neuen Technologien auftreten, mit Konzeptionen korrespondieren, die Philosophen bereits im Mittelalter in der Angelologie, der Engelskunde, formuliert hatten.44 42 43 44

Vgl. auch weiter oben, Kapitel I. Vgl. weiter oben, Kapitel IV. Vgl. Michel Serres: Die Legende der Engel, Frankfurt am Main, Leipzig (Insel) 1995.

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Theo-Technologie bringt uns nicht nur Gott näher, sondern macht uns auch Gott ähnlicher – wenn auch nur in der Form von Prothesengöttern. So notierte Sigmund Freud 1930 in dem erwähnten Essay, daß Wissenschaft und Technik „direkt die Erfüllung aller – nein, der meisten – Märchenwünsche“ seien. Der Mensch habe „sich seit langen Zeiten eine Idealvorstellung von Allmacht und Allwissenheit gebildet, die er in seinen Göttern verkörperte. Ihnen schrieb er alles zu, was seinen Wünschen unerreichbar schien – oder ihm verboten war. Man darf also sagen, diese Götter waren Kulturideale. Nun hat er sich der Erreichung dieses Ideals sehr angenähert […]. […] Der Mensch ist sozusagen eine Art Prothesengott geworden, recht großartig, wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.“ 45 Die Religionen zeigen ihre Medialität und die Medien zeigen ihre religiösen Züge besonders in dem Phänomen der Wiederholung, des Rituals. Gebete werden in allen Religionen idealerweise täglich gesprochen. Bestimmte Sendeformate werden täglich im Fernsehen oder auf dem Computer verfolgt oder immer wieder auf Video oder dem Rechner abgespielt. „Repeat“ und „replay“ steht auf den Tasten, die unsere Weltwahrnehmung, unsere Kultur und unser Selbstbild bestimmen. Die kultischen Rituale hatten unter anderem die Aufgabe, durch Wiederholung Wissen zu speichern und weiterzugeben. Diese Funktion wurde von der Technik der Schrift übernommen. Die heiligen Schriften, gemeißelt in Stein oder geschrieben auf Papyrus, verstärkten und steigerten diese Funktion der Rituale, indem sie dieses Wissen verabsolutierten und als Wissen Gottes ausgaben. Die Technik übernahm diese Funktion der Rituale, demokratisierte sie aber, indem sie seit der Erfindung der mobilen Buchstaben durch Gutenberg das Wissen entmonopolisierte und allgemein zugänglich machte. Die elektronische Technik ist somit eine Profanisierung der Speicher- und Wiederholungsfunktion von Ritual und Schrift. Die Möglichkeit der Wiederholung ist eine zentrale Eigenschaft der technischen Medien, die unsere Gegenwart bestimmen. Die Wiederholung ist aber ebenso ein Kernelement jeder religiösen Übung.46 Peter Sloterdijk geht sogar so weit zu sagen, dass es gar keine „Religion“ gibt, sondern „nur mißverstandene spirituelle Übungssysteme, ob diese nun in Kollektiven – herkömmlich: Kirche, Ordo, Umma, sangha – praktiziert werden oder in personalisierten Ausführungen – im Wechselspiel mit dem eigenen ‚Gott‘, bei dem sich die Bürger der Moderne privat versichern“.47

45 46 47

Freud: Das Unbehagen in der Kultur (wie Anm. 26), S. 57 f.. Vgl. Sloterdijk: Du mußt Dein Leben ändern (wie Anm. 30), S. 16. Ebd., S. 12.

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Der Prozess der Säkularisierung, der Ablösung verschiedener Lebensbereiche aus ihrer Bestimmung durch den christlichen Glauben, hat nicht zum langsamen und völligen Absterben der Religion geführt, sondern nur zu einem Verlust traditioneller Religiosität, während zugleich neue Formen der Religion entstanden sind, die der verstärkten Subjektivierung in der Gesellschaft entsprechen.48 Die von rituellen Wiederholungen gekennzeichnete „Medienreligiosität“49 trifft vor allem auf das Massenmedium Fernsehen und auf das zeitlich entkoppelte Medium Internet zu. Während Ersteres ganze Nationen einst vor dem Bildschirm rituell vereinigte, sind es nun die sich epidemisch verbreitenden Videos, die auf Millionen von Computern immer und immer wieder abgerufen werden.50 Wie sich der Wechsel vom Fernseher als Hausaltar mit festem Programm zum handheld device, das kontinuierlich mit den Informationen des Internet verbunden ist, auf die Medienreligiösität auswirkt, gilt es noch zu untersuchen. Doch oberflächlich betrachtet, scheint es der Differenz zwischen einerseits dem sonntäglichen Kirchenbesuch, verbunden mit klaren Ordnungs- und Symbolsystemen, und andererseits privater synkretistischer religiöser Praxis, sozial verankert durch die sichtbaren „Gefällt mir“-Äußerungen der Facebook-Freunde, YouTube-Nutzer etc., zu entsprechen. Die User stellen Inhalte unterschiedlicher Religionen, Sekten und Kultgruppen zusammen, reagieren auf ein Medium, in dem das Alte Testament nur einen Klick entfernt ist von gechannelten Botschaften Aleister Crowleys. Dies erinnert daran, dass bei aller strukturellen Betrachtung der Medien als Religion viele religiöse Gruppierungen – die USA sind dafür beispielhaft – elektronische Medien zur Kommunikation religiöser Inhalte nutzen. Bereits in den 1950er-Jahren arbeiteten die großen religiösen Verbände mit amerikanischen Fernsehsendern zusammen und etablierten überaus erfolgreiche Fernsehformate.51 2006 wurden in den USA 1600 Radio- und 240 Fernsehsender gezählt, die rund um die Uhr religiöse Inhalte verbreiten. Fernsehprediger, „Televangelisten“, hoffen auf die plötzliche Erweckung ihrer Zuschauer. In Europa erreichen Fernsehsender wie bibel.tv, k-TV oder ERF (Evangeliums-Rundfunk 48

49 50

51

Vgl. Hans Gerald Hödl: „Alternative Formen des Religiösen“, in: Handbuch Religionswissenschaft. Religionen und ihre zentralen Themen, hg. von Johann Figl, Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2003, S. 507f.. Vgl. Hubert Knoblauch, Religionssoziologie, Berlin, New York (de Gruyter) 1999, S. 204. Auf die Verbindung von Fernsehen und Religion wurde bereits Ende der 1970er Jahre hingewiesen, vgl. George Gerbner, Kathleen Connolly: „Television as New Religion“, in: New Catholic World, Vol. 221, Nr. 1322, März/April 1978, S. 52–56; und HansJürgen Benedict: „Fernsehen als Sinnsystem?“, in: Religionssoziologie als Wissenssoziologie, hg. von Wolfram Fischer, Wolfgang Marhold, Stuttgart et al. (Kohlhammer) 1978, S. 117–135. Vgl. auch Horst Albrecht: Die Religion der Massenmedien, Stuttgart et al. (Kohlhammer) 1993. Vgl. Knoblauch: Religionssoziologie (wie Anm. 49), S. 205.

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Fernsehen) pro Tag nur wenige Zehntausend bis maximal hunderttausend Zuschauer.52 War also Jesus ein Televangelist vor der Erfindung des Fernsehens? Ein Rebell, der das Monopol der anderen Televangelisten, der Hohen Priester, gefährdete, weil er ihnen das Geheimnis der Schrift entreißen wollte – weil er die Schrift demokratisieren wollte, um zu allen sprechen zu können? Wurde er deswegen und nur deswegen zum Tode verurteilt? Und bedarf es daher neuer Forschungen, wie Friedrich Kittler sie anregen wollte, um das Geheimnis von Jesus neu zu entziffern?

Religionen als sprachbasierte Weltentwürfe. Eine Nachschrift Das erste Medium der Welterklärung und Weltveränderung war die Sprache. Die Menschen der Urzeit lernten, den Dingen, den Pflanzen und Tieren Namen zu geben. Dann lernten sie, zwischen den Objekten und Wörtern Beziehungen herzustellen. Dann stellten sie fest, dass es zwischen den Wörtern eigenständige Beziehungen gibt, ebenso wie zwischen den Dingen. Sie lernten die Ordnung der Dinge, den Kreislauf der Elemente und sie lernten die Ordnung der Wörter, den Kreislauf der Grammatik. Sie erkannten, dass sich die Beziehungen zwischen Wörtern verselbstständigen können zu autonomen Systemen ebenso wie die Beziehungen zwischen den Dingen sich verselbstständigen können zu autonomen Systemen. Später lernten die Menschen, mit den Dingen auch Bilder und Zahlen zu verbinden. Am Anfang unterschieden sie nur zwischen einem und mehreren Dingen. Sobald es viele Dinge gab, mussten sie die Zahlen einführen, die sie dann ebenfalls zu einem autonomen System verselbstständigten. Schließlich wurde aus den Wörtern, Bildern und Zahlen das große System der Kultur- und Naturwissenschaften, mit dem die Menschen versuchten, die Welt nach ihrem Bilde zu entwerfen. Aber das erste Medium der Welterklärung und das Vorbild aller folgenden Medien der Welterklärung war und blieb die Sprache. Am Anfang, vor den Werkzeugen und vor den Bildern, konnte die Welt nur im Medium der Sprache erklärt werden. Die Entstehung der Welt, die Kosmogenese, die Entstehung des Menschen, die Anthropogenese, werden im Spiegel der Sprache erklärt. Daher gilt schon in der Bibel: „Am Anfang war das Wort.“ (Johannes 1,1). Später behaupteten Philosophen: „Die Grenzen meiner 52

Vgl. WIKI-Eintrag „Fernsehprediger“ (zuletzt abgerufen am 10.07.2016).

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Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt.“ (Wittgenstein 1921). Bücher anderer Philosophen trugen Titel wie: „Les mots et les choses“ (Foucault 1966) oder „Word and Object“ (Quine 1960). Aus der Sprache kam der erste Urknall: die Erfindung der Schrift. Mit ihr konnte die Welt in Zeichen und Zahlen gebannt werden. Die Macht der Schrift rührt daher, dass sie das Urmedium aller folgenden Medien ist. Mit der Schrift entstand der Buchstaben-Zoo, das Buchstabenfeld, ein Gewimmel von Zeichen, die sich über Jahrtausende stets veränderten. Nicht veränderte sich aber die Hoffnung und das Primat, mit diesen Zeichen die Welt erklären und verändern zu können. Das erste Medium war die Schrift. Dadurch konnte die Welt nur im Medium der Schrift erklärt werden. Der eigentliche Knall im Urknall aber war die Erfindung der vokalalphabetischen Schrift, also einer Schrift, welche die Konsonanten und Vokale der gesprochenen Sprache in Zeichen abbilden konnte. Dadurch entstand die Illusion einer möglichen „Veritas est adaequatio intellectus et rei“, einer korrekten, wahren und richtigen Beziehung zwischen den Dingen und den Gedanken über die Dinge. Das jeweilige Medium bildet also den Horizont der Welt. Im jeweiligen Medium spiegelt sich die Welterfahrung. In tausenden von Schriften in tausenden von Jahren wurde die Entstehung der Welt von den Menschen durch rein sprachliche Prozesse erklärt. In der Bibel beginnt das Menschengeschlecht mit zwei Personen im Paradies, nämlich Adam und Eva. Klarerweise lehrt uns die Evolution, dass es so ein Paradies nicht gab und auch nicht zwei Personen am Anfang des Menschengeschlechts. Adam als der erste und ursprüngliche Mensch existierte niemals. Aber es gibt das hebräische Wort „Adam“, das sehr ähnlich dem hebräischen Wort „adamah“ ist. „Adamah“ bedeutet soviel wie Erde, Grund, Lehm, Boden. In vielen Mythen glaubt man, Gott habe den Menschen aus Lehm geschaffen. Also ist Adam nur der verballhornte Name für das Wort „adamah“. Es gab keine Person Adam am Anfang des Menschengeschlechts. Es gab nur das Wort adamah, das personifiziert wurde. Es gab also keinen Menschen, der Adam hieß, sondern nur die Idee, dass der Mensch von Gott aus Lehm geschaffen sei. Adam ist also kein Existenzzeichen, sondern nur der Spiegel von Sprachprozessen. Adam ist das Produkt von Schrift, kein Produkt des Kosmos. So sind alle frühen kosmologischen, anthropologischen Ideen Produkte von Sprachprozessen. Glaubensbekenntnisse wie Religionen sind ebenfalls nur Effekte und Spiegeleien von Sprachprozessen. Jesus war offensichtlich der erste, der diese Erkenntnis in sich erahnte. Das war der zweite Urknall. Jesus erkannte, dass Glaubenssysteme Gefangene der Sprache sind. Als Sprachrebell hat er sich mit den Hohen Priestern angelegt, um das jüdische Glaubenssystem zu reformieren. Die Reform hätte genau darin bestanden, die Religion aus dem Gefängnis der Sprache zu befreien. Die Ausübung des Glaubens ist ja ein Übungssystem und diese Ausübung besteht in der ständigen Auslegung der Schrift als Verhaltensvorschrift. Jeder Gläubige legitimiert sein Handeln, indem er sich auf die Bibel oder den Koran beruft, das heißt auf seine Lesart der heili-

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gen Texte. Jeder Gläubige legitimiert sein Verhalten durch eine Lesart von Schriften. Er bleibt im Gefängnis der Sprache. Gerade dieses Gefängnis der Glaubenssysteme wollte Jesus sprengen. Die „Sprache“ seiner Predigten war Sprachkritik und Religionskritik und daher allegorisch und metaphorisch. Er wollte das jüdische Glaubenssystem aus dem Gefängnis der Sprache befreien. Umso verheerender ist es, dass in seinem Namen eine neue Religion, das christliche Glaubenssystem, begründet wurde, das noch mehr als das jüdische im und vom Gefängnis der Sprache lebt. Die Worte Jesu, die „Wunder“, die ihm buchstäblich zugeschrieben werden, waren der Entwurf einer Welt, die nicht abgeschlossen ist, die unwahrscheinlich ist, die Alternativen und Freiheitsgrade zulässt, also über die Grenzen dessen, was der Fall ist, hinausgeht. „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“, schrieb 1921 der Sprachphilosoph Ludwig Wittgenstein in seinem „Tractatus logico-philosophicus“. Jesu Botschaft war der Ausbruch aus dem sprachlichen Weltentwurf, die Offenbarung, dass die Welt offen ist, dass sie mehr ist als das, was der Fall ist. Umgangssprachlich nennt man diese logische Analyse eine Botschaft der Hoffnung und Liebe. Jesus war einer der Menschen, die in der Geschichte der Evolution immer wieder auftauchen, die einen evolutionären Impuls bedeuten, eine Selbstreflexion der Evolution durch den Menschen als Produkt der Evolution. Da aber der Evolutionsgedanke, der Gott als Schöpfer und Entwerfer der Welt ablöste, zu den Zeiten von Jesus noch nicht existierte, hieß es vereinfacht, er sei der Sohn Gottes des Weltschöpfers. In Wahrheit spricht die Evolution aus Jesus, beziehungsweise er sprach die Impulse der Evolution aus: Den Entwurf möglicher, besserer, menschlicher Welten. Jedes neue Medium bildet einen neuen Horizont der Welt, neue Modelle der Erklärung und Veränderung der Welt. Die Welt im Spiegel der Sprache ist ein Buchstaben-Zoo. Die Welt im Spiegel der Physik ist ein Teilchen-Zoo. Die Welt im Spiegel der Sprache orientiert sich an der Sequenz der Buchstaben. Die Welt im Spiegel der Genetik orientiert sich an der Sequenz der Proteine – eine Abfolge von A, C, T und G. Das Alphabet der Gene wird in das Alphabet der Proteine übersetzt und zwar durch Transkriptionen und Translationen, wie wir es von der Schrift gelernt haben. In den letzten tausend Jahren sind wir aber von der sprachbasierten Medien der Welterklärung und -veränderung zu den werkzeugbasierten Medien übergegangen, von den natürlichen Sinnesorganen zu den künstlichen, von Menschen gemachten Organen namens Werkzeuge. Die Maschinen und Medien bilden die von Menschen gemachten Erweiterungen der natürlichen Sinnesorgane. Sie erweitern besonders seit 200 Jahren das Feld des Elektromagnetismus, das elektromagnetische Spektrum. Diese neuen Medien und Werkzeuge verändern das Verhältnis der Sinnesorgane zueinander und das Verhältnis des Menschen zur Welt. Es entstehen neue Raum- und Zeitvorstellungen. Aus festgefügten Konstanten und scheinbar unveränderlichen Größen entsteht eine variable Skalierung. Vom Mikroskop zum Teleskop erkunden wir die relative und veränderbare Größe der

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Dinge und des Kosmos. Wir haben über das Leben Jesu und seine Botschaften keine Fakten. Wir verfügen nur über Zuschreibungen a posteriori und post mortem. Also ist es erlaubt, nachdem ihm schon alles zugeschrieben wurde, ihm auch neue Zuschreibungen hinzuzufügen. Wenn Jesus überhaupt etwas gesagt hat, was überliefert worden ist, dann können wir die Fiktionen, Erfindungen und Zuschreibungen seiner Apostel und deren bizarre Behauptungen über Wunder wie die wundersame Vermehrung des Brotes, den Gang über das Wasser und die Wiederauferstehung nach der Kreuzigung, vielleicht so interpretieren: Jesus hatte die Vision, gerade durch seine Kritik der Sprache, gerade durch seine Kritik der vokallosen Schrift, gerade durch seine Rebellion gegen die Kaste der Hohen Priester, dass jeder Mensch jederzeit und überall Zugang zum Wissen, zu Raum und Zeit, zum Raum-All und zum Zeit-All, also zur Ewigkeit, zur unendlichen Raumzeit haben sollte. Seine Rebellion gegen den Code der semitischen Schrift war der Beginn einer großen Reise zu einem Code, der alle Phänomene von Raum und Zeit umfassen, erklären und verändern kann. Die Maschinenund Medienkultur von heute liefert uns eine erste Ahnung der neuen, apparativen Raum- und Zeiterfahrung, welche die spirituellen Intuitionen von Geistreisen etc. technisch einlösen. Insofern können wir Jesus als Medienrebell verstehen. Seine Predigten zeugen von der metaphysischen Sehnsucht nach einem Pluriversum. Das Reich der Dinge und Erscheinungen unterwirft sich nicht nur einem Gesetz, denn das Reich der Dinge ist reicher als das Gesetz. Das Gesetz gilt nur für eine Welt. In einer anderen Welt gelten andere Gesetze. Wer also dem Reich des Gesetzes entfliehen will, wechselt die Welt. Nur wer für ewig unter dem Gesetz des Vaters stehen möchte, erträumt sich nur eine Welt, das Uni-Versum. Die Utopie erhofft sich eine Pluralität von möglichen Welten, wovon die unsere nur eine mögliche ist. Leibniz, nicht von ungefähr der Erfinder des binären Codes, der epistemologischen Voraussetzung für den Computer, hatte die Idee einer Unendlichkeit von möglichen Weiten als logisch konsequent vorgetragen. Als Anhänger des Gesetzes jedoch konnte er natürlich die freie Wahl beliebiger möglicher Welten, das hieße ja auch die Veränderung der bestehenden Welt in eine andere mögliche durch revolutionäre Aktionen, nicht legitimieren, sondern musste sie im Gegenteil dem obersten Gesetz, nämlich Gottvater selbst, überlassen. Dieser wählte unsere Welt als die beste aller möglichen Welten für uns aus. Voltaire hat diesen Kompromiss 1759 in „Candide oder die beste aller möglichen Welten“ leidlich verspottet. William James war einer der Ersten, die um die Jahrhundertwende die Idee eines einzigen Universums verwarfen. Sein „A Pluralistic Universe“ erschien 1909. Ein Freund von ihm, der amerikanische mystische Anarchist Benjamin Paul Blood, veröffentlichte 1920 das Buch „Pluriverse“. Aufgrund der Widersprüche der Quantenmechanik aber und des Einstein-Podolsky-Rosen-Paradoxes hat die Idee einer Unendlichkeit von Universen, von parallelen Weiten und „many-worlds Interpretations“ unter führenden zeitgenössischen Kosmologen und Physikern

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wie Hugh Everett, John A. Wheeler, David Deutsch und Bryce DeWitt einen ungeheuren Aufschwung genommen. John D. Barrow und Frank J. Tipler schreiben 1986 in „The Anthropic Cosmological Principle“ sogar: „The Many-Worlds Interpretation may well eventually replace the Statistical and Copenhagen Interpretations just as the Copernican system replaced the Ptolemaic“. Die neueste kosmologische Theorie, das inflationäre Universum von Alan H. Guth, Paul J. Steinhardt, A. D. Linde und anderen, unterstützt auf vielfältige Weise mit neuen Ideen die Vorstellungen eines Pluri-Versums. Im inflationären Modell des Universums scheint es möglich, dass das beobachtbare Universum sich aus einem infinitesimalen Bereich entwickelt hat, also fast aus dem Nichts. Daher haben die Konservationsgesetze, welche behaupten, dass gewisse physikalische Größen wie Energie, lineares Momentum etc. nicht veränderbar sind, keine ewige Gültigkeit mehr. Unser beobachtbares Universum ist auf alle Fälle nur ein sehr kleiner Teil des ganzen Universums, und es ist deswegen wahrscheinlich sehr unmöglich, die Struktur des Universums als Ganzes zu beobachten. Diese Erfahrung kann als schizophrene Erfahrung gedeutet werden. Die Zerrissenheit, die Spaltung, die in der Figur Jesu als Mittler zwischen Mensch und Gott, einmal Gottes Sohn und einmal Menschensohn, angelegt ist, ist vielleicht auf die Erfahrung der multiplen Welten und des unvollständigen Zugangs zum universalen Code der Welt zurückzuführen, wie es 1986 David Lewis’ „On the Plurality of Worlds“ entwickelte. War Jesus ein anarchistischer Sprachrebell, der für eine gewaltlose Welt der Liebe votierte? Wurde Jesus zu unrecht zu einem Religionsgründer, da er keine Religion, keine auf Gesetz und Gewalt basierende Ordnung wollte? Die Predigten Jesu sind gewissermaßen Botschaften aus dem Pluriversum und Entwürfe für neue Welten. Seine Mission war es, den Menschen die ihnen von der Evolution aufgetragene Mission zu verdeutlichen, nämlich in der Kälte des leeren Universums Leben und Liebe zu verbreiten. In dem Sinne ist jeder Jesus: JE JE

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„PILE: Und jetzt stürzt sich unser edles Schiff mit voller Geschwindigkeit in die düsteren Wogen der Nordsee. VATER UBU: Das wilde und unwirtliche Meer, in dem das Land badet, das Germanien heißt, so benannt nach den Germanisten, die dort wohnen.“ Alfred Jarry: König Ubu, Zürich 1959, S. 69

Im Anschluss an andere Beiträge des vorliegenden Bandes, gestatte ich mir zwei Vorbemerkungen, die zugleich in das gedankliche Zentrum der von mir zu diskutierenden Sachverhalte einführen. Erstens: In großer Bewunderung teile ich mit Friedrich Kittler die Idee einer prinzipiell archäologischen, besser, wenn wir den späten Foucault vor Augen haben : genealogischen Betrachtungsweise von medialen Phänomenen, Ereignissen, Prozessen. Die Definition eines Ursprungs, nach dem bekanntlich immer der Fall kommt, weil sie die Festlegung einer originären Wahrheit impliziert, ist dieser Betrachtungsweise von vergangenen Gegenwarten zutiefst fremd. Es gibt keinen guten Grund dafür, warum dies beim Vokalalphabet anders sein soll. Nach den Vorträgen und Diskussionen des ersten Tages haben wir uns bei der Suche nach dessen Herkünften und Entwicklungen den meta-methodischen Konzepten von Nietzsche und Foucault wieder genähert. Offenbar ist es empfehlenswert, von einer regional komplexeren und im zeitlichen Verlauf länger andauernden Durchsetzung sowohl des Schrift- als auch des Vokalalphabets auszugehen, das die westliche Kultur der letzten zweieinhalbtausend Jahre so stark mit bestimmt hat. So hochgradig zusammengesetzte und geschichtete Phänomene wie die Vergegenständlichung von Sprachen in Zeichen lassen sich nicht monokausal, sondern nur multikausal ableiten und auslegen. Sie entfalten sich in kulturellen Prozessen mit erheblicher Dauer und räumlicher Ausdehnung. Darauf macht der Beitrag von Ludwig Morenz in diesem Band deutlich aufmerksam.

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Oliver Primavesis Forschungsarbeit zu Empedokles ist ein gutes Beispiel dafür während jenes qualitativ bedeutenden Zeitraums, den man in der Wissenschafts- und Technikgeschichtsschreibung die „Periode der Kognition“ nennt1 – mit allen ihren Ambivalenzen und Turbulenzen innerhalb eines „manchfaltigen“2 Erkenntnisprozesses. Zwischen seinen ersten, euphorisch formulierten Interpretationen des berühmt gewordenen Straßburger Papyrus-Fragments des griechischen Dichterphilosophen in seiner Habilitationsschrift von 1997 und der kristallklar formulierten Idee, dass physikalisches Grundlagendenken (die VierElemente-Theorie), der religiöse Glaube an die Wiedergeburt und die Auffassung von der tiefen Solidarität allen Lebens bei Empedokles zu einem einzigen homogenen poetisch-philosophischen Kosmos gehören, liegen enorme Denkstrecken und -welten.3 Zweitens: Bei den Diskussionen um die Entstehung des griechischen Vokalalphabets aus dem Geist der Zwietracht und der Liebe, der Verwaltung und des Krieges wie der Poesie und Musik hält eine Irritation an, die ich zu Beginn als Frage äußern möchte, da sie auch für mein Thema ein Rolle spielt: Sind die Entwicklungen von der schier unüberblickbaren Vielheit von Sprach- und Sprechvarianten in Europa, in Kleinasien, im Vorderen Orient und in Nordafrika hin zu einem kulturell und politisch-ökonomisch leitenden Schriftsystem, dem Vokalalphabet, mit hoher administrativer Kompetenz und ausgeprägten Denkkompatibilitäten, das heißt: mit starker kognitiver Standardisierungs- und Universalisierungskraft, ein Zeichen zivilisatorischen Fortschritts? Warum müssen wir zwangsläufig Ereignisse und Prozesse, die zu Standardisierung und Universalisierung führen, als Progress denken? Paläontologen wie Stephen Jay Gould gehen von der Mannigfaltigkeit, dem Reichtum an Vielheit als höchstem 1

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Unter Kognition versteht Günter Ropohl jene Phase in der Genealogie eines technologischen Prozesses, in der ein „naturaler Effekt“ oder ein neues Gesetz entwickelt wird (vgl. Günter Ropohl: Eine Systemtheorie der Technik. Zur Grundlegung der Allgemeinen Technologie, München, Wien 1979, S. 95); medienarchäologisch angewandt und ausführlich diskutiert in: Siegfried Zielinski: Zur Geschichte des Videorecorders, Berlin 1986 Vgl. hier weiter unten. Vgl. den Beitrag von Oliver Primavesi in diesem Band. Und: Oliver Primavesi: Empedoklesstudien: Ein unveröffentlichter Papyrus und die indirekte Überlieferung, Frankfurt 1997; oder den mit Alain Martin, dem Entdecker des Empedoklesfragments, herausgegebenen Band: L‘Empédocle de Strasbourg. Introduction, Édition et Commentaire, Berlin / New York 1999; und schließlich jüngst die große Klarheit in: Ders.: Empedokles Physika I. Eine Rekonstruktion des zentralen Gedankengangs, Berlin und New York 2008. Meine erste Begegnung mit Primavesi hatte ich in dem Künstlerbuch des Malers Ulysses Belz: „Die Ewigkeit ist ein spielendes Kind auf dem Thron“. 69 Originalgrafiken von Ulysses Belz (mit Beiträgen von Wissenschaftlern und Künstlern zur Gegenwart des vorsokratischen Denkens: Dietmar Kamper, Oliver Primavesi, Otto E. Rössler, Botho Strauss, Siegfried Zielinski), Tübingen (Gallery Druck & Buch) 2000.

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Kriterium für Exzellenz aus, das Naturforscher wie Lorenz Oken im 19. Jahrhundert mit einer Begriffsvariante wie Manchfaltigkeit4 geadelt haben. In der Entwicklung des Planeten, der seit kurzem vom Menschen beherrscht werde – so die Paläontologen und geologischen Tiefenzeitforscher – habe es immer wieder starke Schübe der Reduktion von Vielheit und Komplexität gegeben. Könnte das nicht auch für die Mittel relevant sein, mit Hilfe derer die Erdlinge sich verständigen? Ich bin weder Altphilologe noch Philosoph. Als Sammler von Kuriositäten im Feld der technisch basierten und vermittelten Kommunikationen möchte ich in fünf Fragmenten ein Gedankenexperiment anbieten. In einem wörtlichen Sinn umkreise ich die beiden semantischen Bestandteile des mixtum compositum „Medi-Terraneum“ für ein paar Minuten, das Land ebenso wie das, was inmitten des Territoriums als Meer operiert; die Metrik spielt dabei auch eine Rolle.

I. mare internum, mare externum „Ströme und Meere sind nicht als dirimierend [als scheidend oder trennend, SZ] zu betrachten, sondern als vereinend“, bestimmt Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte eine „Geographische Grundlage der Weltgeschichte“. Für die drei Kontinente, die sich in der alten Welt begegnen, sei „das Mittelmeer das Vereinigende und der Mittelpunkt der Weltgeschichte ... Das Mittelmeer ist so das Herz der Alten Welt, denn es ist das Bedingende und Belebende derselben“. Ohne das Mediterraneum ließe sich die Weltgeschichte nicht vorstellen, sie wäre „wie das alte Rom oder Athen ohne das Forum, wo alles zusammenkam.“5 Weil es bei technischen Vermittlungsprozessen immer auch um die Reduktion von Komplexitäten zu Gunsten der Funktionalität geht, enthalten sie in der Regel Standardisierungen, Vereinheitlichungen. Die Gewalt des historischen Zusammenhangs wird zur Legitimation von Homogenisierung, zur Herstellung von Äquilibrien und letztendlich Harmonie. Ende der 1920er Jahre hat der bayerische Architekt Herman Sörgel das Konzept der Vereinheitlichung mit Blick auf das Mittelmeer buchstäblich und ernst 4

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Siehe vor allem den Teil „Mathesis. Vom Ganzen“ und den Abschnitt über das „Nichts“ in Lorenz Oken: Lehrbuch der Naturphilosophie (3 Teile), 1. Auflage, Jena 1809 – 1811, hier: 3. Auflage, Zürich 1843, S. 4 f.. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Erster Band: Die Vernunft in der Geschichte – die ich im Angesicht des reaktionären Weltbilds, das Hegel hier vor allem bezüglich Afrikas und Südamerikas entfaltet, in der bei Felix Meiner, Leipzig 1944, erschienenen Ausgabe, Zusatz: „Frontbuchhandlungsausgabe für die Wehrmacht“, bevorzuge: ebd., S. 201.

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genommen, als er in seinem ATLANTROPA-Projekt für die Verbindung der komplementären Ressourcen, Kräfte und Energien Afrikas und Europas plädierte. Kurz vor der Übergabe der politischen Macht an die deutschen Faschisten veröffentlichte er in einer Ausstellung in München seine Vision, die für ihn utopischen Charakter hatte: Vereinigung des Anfangs der Geschichte, das ist: Afrikas, und des Endes der Geschichte, das ist: Europas, mit Germanien und Berlin im Zentrum. Er schlug kurzerhand die Abtrennung der europäischen Welt von dem mare externum, dem Weltmeer, vor. Das hieß konkret: Schließung der Meeresenge von Gibraltar, Absenkung des Mittelmeeres und dadurch Expandierung der Nordküste Afrikas und der südlichen Küsten Europas, Schaffung eines neuen Kontinents, eben Atlantropa, innerhalb dessen das „Mittelländische Meer“ dann tatsächlich zu einer stehenden Brache verkommen wäre, die nichts mehr mit dem Ozeanischen oder Pazifischen zu tun gehabt hätte. „... die behutsamen Politiker Europas fürchten sich vor dem hohen Meer; sie betreiben nur Küstenschiffahrt“, schreibt Sörgel als Motto über die Einleitung seines Textes.6 Was Afrika zu viel habe, Energie-Ressourcen zum Beispiel, gebe es Europa, was Europa im Überfluss habe, zum Beispiel Arbeitskräfte und Technik, gebe es an Afrika ab. Mit imperialer Geste ordnet er 1932 von München aus die mediterrane Welt neu und aktiviert damit den Imperialismus in seiner tiefen Bedeutung und in seinen wichtigsten Eigenschaften: als universal, effektiv geregelt, ausbalanciert, gemäßigt. In einem Wort, das Friedrich Kittler mit Abscheu bedachte, sind diese Eigenschaften in der Regel Gesellschaft genannt worden, zusammengehalten im Modell Sörgels durch die Rationalität jenes nexus, der die Kontinente zusammenhält. Das Einhellige, das durch Konsens erzeugte Ganze, das für den Häretiker Kittler den denkbar größten intellektuellen und ideologischen Schrecken darstellte: das verlorene Paradies minus Utopie, oder – wie es Dietmar Kamper gern formulierte – der verlorene Garten Eden definitiv ohne Rückkehrmöglichkeit.

II. Verstreute Inseln „literatur wird bleiben, was sie schon immer war: staatsdienst, verklaerung eines gefaengnisses zur besten aller welten, verstaerkung des status quo. Dichtung (hingegen) wird sein, was gute dichtung schon immer war: transport neuer erkenntnisse und empfindungen ... verstärkung und erhebung des Inviduums,“ tippte Peter Weibel in diskreten ausschließlich kleinen Buchstaben in die 6

Ich beziehe mich hier auf die Buchausgabe von Atlantropa, die 1932 bei Fretz & Wasmuth in Zürich und bei Piloty & Loehle in München erschien: Herman Sörgel: Antlantropa, Zürich und München, S. V.

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mechanische Schreibmaschine, vermutlich eine LETTERA 22 von Olivetti, mit der zur gleichen Zeit auch Leonard Cohen und Bob Dylan viele ihrer Lyrics aufschrieben, mit denen sie nächtens auf den Ringen des Saturn kreisten. Das Zitat stammt aus dem Vorwort zum damals geplanten Buch „Mediendichtung“, das – wie viele von Weibels Arbeiten – so früh kam, dass keiner der etablierten Verlage zunächst etwas damit anfangen konnte. Der Text ist von 1969.7 In den 1990ern kam das Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin auf die Idee, das im Entstehen begriffene Monster der „Informationsgesellschaft“ auf eine besondere Art zu umwerben. Das HKW lud den in Martinique geborenen und in Paris wie New York arbeitenden Dichterphilosophen Édouard Glissant – den zeitgenössischen Empedokles der Karibik – ein, um seine Idee einer „Poetik der Relationen“ für den Diskurs über das sich entwickelnde techno-politische Vernetzungsdispositiv nutzbar zu machen. Ich durfte auf dem Podium mit Glissant diskutieren und kam bei der Vorbereitung unseres Dialogs in den Genuss einer besonderen Belehrung, die nicht nur deutlich machte, dass der Plan des HKW aktuell nicht aufgehen würde. Glissants Belehrung ist mir bis heute wichtige Gedankenstütze für ein anderes Denken der großen Zusammenhänge geblieben. Glissant hatte mir eine Liste von Begriffen aufgeschrieben, auf deren Bedeutungen und semantische Nachbarschaften er besonderen Wert legte, und die ich wiederum für die Diskussion mit meinen Anmerkungen versah (vgl. Abbildung 1). Im Mittelpunkt steht sein bekanntes Konzept der Kreolisierung, in dem er seine Idee einer Poetik der Relationen konkretisiert. Davon abgeleitet sind Felder wie dasjenige, das die feine, aber wichtige Unterscheidung zwischen mondialité (Weltzusammenhang ohne Vereinheitlichungsparadigma) und mondialisation (Globalisierung als Universalisierung) betrifft und dann die Erklärung dafür, warum diese Verständigung wichtig sei. Das Mittelmeer, unser (er sprach mich als Europäer an) geologisches Kleinod, das Hegel als Mittelpunkt der Weltgeschichte bezeichnete, sei zugleich unser großes Problem. Damit deutete er nicht auf die Funktion des Massengrabs hin, die das Mittelmeer seit vielen Jahrhunderten über die diversen Kriege auf dem Wasser und in den letzten Jahrzehnten für Flüchtlinge aus den armen und politisch umkämpften Regionen Afrikas zugewiesen bekommen hat. Auf die einstmals glitzernde schöne Pfütze in der Mitte zwischen dem afrikanischen Norden, dem asiatischen Westen und dem europäischen Süden wären, so Glissant, seit jeher alle Sehnsüchte des 7

Peter Weibel, aus dem Vorwort zu dem geplanten Buch Mediendichtung (1969), in: Ders: Mediendichtung: Arbeiten in den Medien Sprache, Schrift, Papier, Stein, Foto, Ton, Film und Video aus 20 Jahren, in: Protokolle, hg. v. Otto Breicha, 80 / 2, Wien, München (Jugend & Volk) 1982.

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Abbildung 1: Gesprächsnotiz, zweites nachchristliches Jahrtausend (Glissant/Zielinsiki). Man beachte die Begriffe: La mondialité, La mondialisation, La créolisation. (Persönliches Archiv Siegfried Zielinski)

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Kontinents gerichtet gewesen, und an ihren Küsten wären sämtliche Universalismen, alle politischen, ideologischen, ökonomischen und religiösen Ideen der Vereinheitlichung entwickelt und kommuniziert worden. E pluribus unum – Aus den Vielen das Eine: Was sich in das Wappen des US-amerikanischen Präsidialamts explizit eingeschrieben habe, verweise auf die europäische Herkunft der so genannten neuen Welt aus dem alten Europa. Sein Universalisierungsanspruch habe sich in der Neuen Welt fortgesetzt und in den vergangenen Jahrzehnten als spezifische Ideologie der Freiheit etabliert, die keinen Widerspruch duldet. „Einziger, ewiger allgegenwärtiger, unsichtbarer und unvorstellbarer Gott...!“ Mit diesen Worten des Moses beginnt das Libretto für die erste Szene im ersten Akt von Arnold Schönbergs gewaltiger Oper „Moses und Aron“; und der Gedanke an den Einzigen, Allmächtigen wird sofort mit dem Grund und Boden verbunden, auf dem sich der Imaginierende bewegt. „... Du stehst auf heiligem Boden“, ruft die Stimme aus dem Dornbusch, „nun verkünde!“ In der Karibik hingegen – so Glissant – habe das mare externum, der Ozean, keine verbindende Funktion wie das mare internum, sondern eine der Trennung.8 Darin steckt auch eine andere Auffassung vom Weltmeer als diejenige, wie sie von Deleuze & Guattari in den 1000 Plateaus entwickelt worden ist. Das mare externum ist in vielfacher Hinsicht genauso wenig ein glatter Raum wie das Mittelmeer nur ein gekerbter ist. Das Territorium in der Region, die wir Karibik nennen, ist zerschmettert, das gewaltige Wasser scheidet seine verstreuten Teile. Die einzige Einheit, welche den Bewohnern der Karibik vertraut ist, laufe entlang des ozeanischen Grundes zwischen Afrika und den Inseln MesoAmerikas. Diese imaginäre Einheit des dunklen Grundes sei durchfurcht und gekerbt von den Ketten des Sklavenhandels. (Wieder taucht hier die Kette auf, der nexus, der in der Darstellung von Elektrizität durch die Frühmoderne und vor allem die teologici electrici des 17. und 18. Jahrhunderts im Hinblick auf den machtvollen Zusammenhalt von Gegensätzlichem eine so wichtige Rolle spielt; aber dies ist ein anderes Thema.9)

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In einem kurzen Abschnitt über das Weltmeer akzentuiert Hegel nicht nur dessen prinzipielle Grenzenlosigkeit und seinen herausfordernden Charakter, sondern auch seine ambivalenten Implikationen in Form einer frühen Psychogeographie: „Das Meer erweckt den Mut; es lädt den Menschen zur Eroberung, zum Raub, aber auch zum Gewinn und Erwerb ein.“ (Hegel: Philosophie der Weltgeschichte, S. 188). Im Zusammenhang mit Walter Benjamin und seiner Beziehung zu Johann Wilhelm Ritter habe ich das Phänomen der theologici electrici kurz behandelt in Siegfried Zielinski: „Theologici electrici. Einige Passagen“, in: Bernd Witte, Mauro Ponzi (Hg.): Theologie und Politik. Walter Benjamin und ein Paradigma der Moderne, Berlin 2005, S. 254–268.

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Die Taktik der Verbindungen zwischen den verschiedenen territorialen Einzelnen und Einzelheiten bezeichnet Glissant als Kreolisierung. Damit zielt er ab auf „eine Mischung, [...] die Unvorhersehbares herstellt“.10 Beim Créole handelt es sich bekanntermaßen um eine hochgradig „zusammengesetzte Sprache, die aus dem Kontakt diametral verschiedener sprachlicher Traditionen und Strukturen entstanden ist. Die frankophonen Kreolsprachen der Karibik bildeten sich aus dem Kontakt bretonischer und normannischer Dialekte des 17. Jahrhunderts mit einer Syntax, von der man nicht genau weiß, woher sie stammt, aber man vermutet, dass sie eine Art Synthese der Sprachen des westlichen Schwarzafrikas darstellt.“ 11 Es ist nachäffende Imitation und Brechung zugleich, ähnlich wie im Verhältnis zur Sprache der Weißen das Black American, das idealiter gesungen wird. (Genauso wie Finnegan’s Wake von James Joyce primär gesungen und nicht gelesen gehört.) Seine Übersetzerin, Beate Thill, erläutert einige der Taktiken von Glissants Intervention konkret: Verdoppelungen von Silben, Assonanzen, verschobene Metriken, gezielte Umplatzierungen von Vokalen in einzelnen Wörtern …12 Mit solchen subversiven Taktiken lassen sich selbstverständlich kein Regierungsprogramm und keine Verwaltung begründen, aber lebendige Lieder und Gedichte komponieren. Das eine und das andere ist nicht dasselbe.

III. Orientalisieren Die Frage, ob etwas einheitlich oder zusammengesetzt ist, entscheidet sich auch als Frage des Standpunktes, der Distanz und der Perspektive, die man bei der Betrachtung des Phänomens einnimmt. Das homogen Erscheinende kann sich bei näherem Hinsehen als äußerst heterogen entpuppen. Der Entstehung von Künsten, Wissenschaften und Philosophien in den damals neuen hellenischen Städten ging – wie wir heute wissen – eine starke „orientalisierende Phase“ voraus, die mindestens zwei Jahrhunderte dauerte und mit einer – auch aus archäologischer Perspektive – immer noch unübersichtlichen „Flut materieller, künstlerischer, literarischer und ideeller Importe“13 einherging. 10 11 12 13

Édouard Glissant: Kultur und Identität. Ansätze zu einer Poetik der Vielheit, Heidelberg (Wunderhorn) 2005, S. 81. Ebd., S. 80. Vgl. ebd. Elmar Holenstein: Philosophie-Atlas, Zürich (Amman) 2004, S. 86. Holenstein interpretiert die Entstehung der griechischen Vokale aus dem phönikischen Alphabet als ein „Missverständnis“ von philologisch nicht gebildeten Kaufleuten, die mit den schwachen Konsonanten der phönikischen Sprache nicht klar kamen und sie durch Vokalisierungen ersetzten. „So wurde aus dem phönikischen Buchstaben Aleph für einen schwachkonsonantischen Kehllaut der hellenische Buchstabe Alpha für den Vokal a.“

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Die wichtigste Trennung der alten Welt bestand auf diesem Hintergrund nicht in dem Gefälle zwischen Nord und Süd, sondern in den Abgründen zwischen West und Ost. Die Schnittstelle bildete das Ionische Meer. Den äußersten Süd-Osten des europäischen Okzidents, als Fenster zum Orient, kann man eindrucksvoll immer noch in Städten wie Otranto im südlichen Apulien erleben, wo man – nebenbei gesagt – auch Strände finden kann, die man eher aus der sinnlichen Erfahrung in der Karibik kennt. Zwischen Albanien, den griechischen Inseln und dem äußersten Südosten Italiens existiert so etwas wie eine minimale europäische Karibik mit einem gezähmten Weltmeer. Sie war heftig begehrt und umkämpft in der Antike. Zwischen den Territorien Kleinasiens, Nordafrikas und Europas gelegen, erlebte sie rasche Wechsel von üppiger Entfaltung und Feldzügen der Zerstörung. Eine ganze Bande (im deleuzeschen Sinn) von aufrührerischen Denkern kommt aus diesem seltsamen Raum am Ionischen Meer: Heraklit von Ephesus, Parmenides von Elea, Demokrit von Abdera. „Der Ursprung liegt immer vor dem Fall, vor dem Körper, vor der Welt und vor der Zeit. Er liegt bei den Göttern und seine Erzählung ist immer eine Theogonie.“14 In der einfachen, aber nützlichen Darstellung des schweizer, im japanischen Yokohama lebenden Philosophen Elmar Holenstein über die Wege des philosophischen Wissens kann man deutlich die Dynamik der Entwicklung nicht eines einzigen Zentrums, sondern von drei lokalen Attraktoren für die Entwicklung der Wissenskünste in der alten Welt erkennen: Alexandria, Athen, Milet. Al-Farabi, der großartige Polymath der arabisch-islamischen Wissenstradition vor der ersten Jahrtausendwende, der auch eine eindrucksvolle frühe Enzyklopädie der Wissenschaften geschrieben hatte, konstruierte daraus im 10. Jahrhundert (unserer Zeitrechnung) eine Philosophie der Weltgeschichte, die das dynamische Dreieck noch mit Bagdad ergänzt und eine spiralförmige Konstruktion für die Darstellung der Entwicklung zulässt, die bis in die Neuzeit hinein verlängerbar ist. Sie unterscheidet sich grundlegend von den stufenförmigen, linearen und auf Dominanz ausgerichteten Konstruktionen, die uns aus der europäischen Philosophiegeschichte vertraut sind und von Hegel in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte favorisiert werden. Um das Verhältnis von Musik und Mathematik sowie die Musikentwicklung in der arabischen – sowohl islamischen als auch vor-islamischen – Welt besser verstehen zu können, vertrauen wir in unserem Projekt zur Variantologie der Künste und der Medien stark auf den Musikhistoriker und Musiktheoretiker

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(Ebd., S. 74). Michel Foucault: „Nietzsche, die Genealogie, die Historie“, in: Derselbe: Von der Subversion des Wissens (hg. und übersetzt von Walter Seitter), Frankfurt (Fischer) 1987, S. 71 (Hervorhebung SZ).

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Amnon Shiloah aus Jerusalem.15 In seinen unzähligen, häufig enzyklopädisch verfassten Beiträgen zur Genealogie der Musik kommt der weise Jude mit der äußerst porösen Haut im Hinblick auf die Wahrnehmung arabischer Kulturen immer wieder auf die „maßgebliche Rolle der Stimme“ und ihre medial-kommunikativen Funktionen zu sprechen. Er bezieht sich dabei auf eine Fülle verschiedener arabischer Schriften, u.a. von Jābir Ibn Hayyan aus dem achten Jahrhundert, al-Kindi aus dem neunten oder al-Hasan al-Katib, der im 10. Jahrhundert einen eigenen Traktat zu den Vokalen mit dem Titel „the sonorous or vocalising letters“ geschrieben hat. In semitischen Sprachen – so Shiloah – unterschieden sich die Konsonanten grundsätzlich von den Vokalen. Arabische Autoren betrachteten Konsonanten als „gesichtsloses und unaussprechliches stummes Skelett, das nur durch Vokale personalisiert und belebt werden kann“. Wenn Konsonanten nicht mit einem Vokal verbunden würden, ließen sie sich weder sprechen noch singen. Besondere Aufmerksamkeit widmet Shiloah den semitischen Urvokalen a, u und i, als „organische Zeichen der Darstellung von Gedanken, die verschiedene grammatische Funktionen der in einem Satz geäußerten Worte anzeigen. Die Vokale sind lang oder kurz; unterschiedliche Längen werden zur Kontrasterzeugung verwendet.“ 16 15

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Vgl. z. B. Amnon Shiloah: Music in the World of Islam, Detroit 1995; und ders.: „La scienza della musica negli scritti arabi“, in: La civilità islamica, ed. Roshdi Rashed (vol. 3 of Storia della scienza), Rom 2002, S. 525–538; und ders.: Music and its Virtues in Islamic and Judaic Writings, Abingdon 2007; oder die aussergewöhnliche Übersetzung des Beitrags von Umar Al-Khayyam zur arabischen Musikmathematik, die Shiloah zusammen mit Michele Barontini und Tito M. Toniette anfertigte (Manuskript und persönliche Kommunikation, Juli 2013). Amon Shiloah: „The Origin of Language and its Link with Music According to the Theory of Jābir Ibn Hayyan“, in: Variantology 5, hg. v. Siegfried Zielinski und Eckhard Fürlus, Köln 2011, S. 480 (komplette deutsche Übersetzung in dem Auswahlband Variantologie, hg.v. Siegfried Zielinski und Eckhard Fürlus, Berlin 2013). – Worauf Jābir mit den „organischen Zeichen“ abzielt, bleibt etwas unklar. Bei Shiloah heißt es über die „maßgebliche Rolle der Stimme“ bei Jābir: „Die menschliche Stimme als Kommunikationsmittel (...) bildet den Hintergrund mehrerer Passagen in Jābirs Schriften. In einer Kultur, in der Vokalkunst vorherrschte und hoch geschätzt wurde, preisen die Texte Jābirs und aus späteren Zeiten die Tugenden der Stimme, oft in ihrer Verbindung zur Sprache. In der vorislamischen Epoche wurde der Stimme die Fähigkeit zugesprochen, durch Intonationsmuster beim Vortragen eines Liedes und sogar bei der feierlichen Rezitation eines Gedichtes magische Laute erklingen zu lassen. Einige Autoren sahen die Stimme in Rede und Gesang als Abbild verschiedener Leidenschaften und als Kommunikationsmedium an. Für die Mystiker symbolisierte sie das göttliche Leben und brachte den Menschen in eine vibrierende Resonanz mit dem Himmlischen und Universalen. Aus diesem Grund ist die Stimme das vollkommenste Ausdrucks- und Kommunikationsmittel.“ (ebd.).

MITTEL UND MEERE

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Das ist alles bereits aus anderer Perspektive diskutiert worden. Als Scharnier zu meinem nächsten Paragraphen möchte ich nur noch darauf aufmerksam machen, dass Al-Khawarizmi Abu-Abdallah17 im neunten Jahrhundert in Bagdad in seinem Buch über die Schlüssel der Wissenschaften der Musik besondere Aufmerksamkeit widmet. Der Abschnitt über musikalische Parameter beginnt mit einer Diskussion des Terms naghma, für den al-Khawarizmi die folgende Definition gibt: „The naghma is a sound (sawt) invariable in acuity and gravity, for instance, the one produced by the open string bamm [the lowest string of the ūd] when plucked, or by the bamm or any other string, when a finger stops it on one of its frets, and it is then plucked. The nagham [pl. of naghma] are for the melody like the phonemes for the discourse of which the latter is composed.“18

IV. Der Automat der Banū-Mūsā „das material des dichters muss sich über den schreibtisch hinaus erweitern, von der feder zur kathodenröhre, von der weißen schriftseite zum bildschirm.“19 Kathodenröhre und Bildschirm – auf dem engen Raum dieses Textes sei ausnahmsweise und historischer Absicht ein Sprung erlaubt: Im Bagdad des neunten Jahrhunderts stehen an der Stelle von Bildschirm und Röhre ein universales Musikinstrument und drei junge Programmierer, die in vielfacher Hinsicht unverschämt modern dachten und handelten. Die Brüder Jafar Muhammad, Ahmad und al-Hasan, die als Banū-Mūsā, als Söhne des Musa bin Shakir in die Geschichte der Wissenschaften und Technik eingegangen sind, kennen wir zwar aus flüchtigen Erwähnungen in der Literatur, zum Beispiel zur Archäologie automatischer Musikinstrumente. In dem vom Kalifen al-Ma’mun (Regierungszeit 813 bis 833) gegründeten Haus der Weisheit (Bait al-hikma) in Bagdad, an dem auch al-Khawarizmi (al-Chwarizmi) forschte und das wie eine frühe Universität vorstellbar ist, studierten die drei Brüder Mathematik, Geometrie und deren diverse Anwendungen, beschäftigten sich mit Philosophie, Musik und dem Entwerfen wie Bauen technischer Apparate (Modelle/shakls). Aus den Texten Eilhard Wiedemanns und den Werken des Technikhistorikers Donald Routledge Hill waren mir die drei als ausgezeichnetes Team von Den17

18

19

Al-Khawarizmi Abu-Abdallah ist der Naturphilosoph und Mathematiker, nach dem jenes Verfahren benannt ist, durch das in endlich vielen Schritten, häufig unter Wiederholung desselben Verfahrens, eine mathematische Aufgabe gelöst werden kann: der Al-gorithmus. Aus der Übersetzung von Gerlof van Vloten: Liber Mafâtîh al-olûm. Explicans Vocabula Technica Scientiarum, Leiden (E. J. Brill) 1895, S. 240, hier zit. aus: Shiloah: „The Origin of Language“, S. 482. Peter Weibel: Vorwort Mediendichtung (1969), o.P..

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kern und Erfindern bekannt.20 2006 stand ich in den Räumen des Instituts für die Geschichte der arabisch-islamischen Wissenschaften, das der Istanbuler Kollege Fuat Sezgin an der Goethe-Universität Frankfurt über 40 Jahre lang aufgebaut hat, und sah zum ersten Mal eine triviale Rekonstruktion des legendären Musikapparats.21 Mit einem Blick auf das mechanische Herz des Artefakts wurde deutlich, wie radikal die drei Söhne des Musa bin Shakir im neunten Jahrhundert die Konzepte der Alten aufgegriffen und erweitert hatten, und ich lernte anschaulich das innere Geheimnis einer besonderen black box kennen. „Das Instrument, das von selbst spielt (Al-alat illati tuzammir binafsiha)“,22 nannten die Banū-Mūsā ihr Artefakt und betonten mit dem Hinweis auf die Selbstbewegung dessen Charakter als Automat. Die Beschreibung verweist zudem auf die universale Bedeutung, die sie ihrer Technik zusprachen. Offenbar wollten sie die Erfindung von der konkreten Ausführung des Flötenspielers unabhängig verstanden haben wissen. Durch Wasserkraft angetriebene und pneumatisch bewegte Vögel oder Flötisten sind aus der alten chinesischen Literatur ebenso bekannt wie aus der griechischen und alexandrinischen. Die technisch fortgeschrittensten Lösungen, was den Antrieb betrifft, werden Apollonius zugeschrieben. Er hatte bereits einen so komplexen hydraulisch-pneumatischen Mechanismus entwickelt, dass seine anthropomorphe Figur ohne Unterbrechung flöten konnte, insofern technisch ein ständiger Zufluss von Wasser gewährleistet war. Aufgrund einer zirkulären Konstruktion, bei der sich ein zweiter Wasserbehälter auflud, während der erste sich entleerte und die Luft für den Flötisten kontinuierlich hinauspresste, hatte der Automat ständigen Energiezufluss im direkten Sinn 20

21

22

Möglicherweise gibt es von den Banū-Mūsā eine Verbindung zu den drei Prinzen von Serendippo, die schließlich bei Horace Walpole im 18. Jahrhundert im Begriff der Serendipität aufgehoben werden, definitiv aber aus dem Morgenland zu kommen scheinen. Sie waren berühmt dafür, ständig Dinge gefunden und erfunden zu haben, nach denen niemand gefragt hat, oder die andere nicht entdecken konnten, weil sie sich nur auf das Offensichtliche konzentrierten. Die Übersetzung einer venezianischen Variante der Geschichte aus dem 16. Jahrhundert hat Theodor Benfey unter dem Titel Die Reise der drei Söhne des Königs von Serendippo (Helsinki 1932) besorgt. Jasia Reichardt hat 1968 am Londoner ICA der Cybernetic Serendipity die erste britische Ausstellung zur Kunst mit Computern gewidmet. Die Rekonstruktion befindet sich nun in dem wesentlich von Fuat Szegin initiierten und 2008 eröffneten Museum of Islamic Science & Technology im Gulhane Park, unweit des Topkapi Palastes in Istanbul. Den Text, in dem die Beschreibung enthalten ist, hat George Farmer nach eigenen Angaben im „Kloster der drei Monde“ gefunden, das einst zur Gemeinde der orthodoxen griechischen Kirche in Beirut gehörte. Das Manuskript soll ein Solitär darstellen (vgl. George Farmer: The Organ of the Ancients, London 1931), wurde aber nach unseren Recherchen mehrfach entwendet. Mit Hilfe des libanesischen Wissenschaftshistorikers George Saliba versuchen wir gegenwärtig in einer detektivischen Recherche das Original zu finden.

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des Wortes.23 Die drei Prinzen aus Bagdad bauten einen kompletten Musikautomaten, der nicht nur den Rhythmus variieren konnte, sondern beliebige Melodien auszuführen in der Lage war. Im Manuskript zum Automaten heißt es (in meiner Übersetzung von George Farmers berühmtem Buch zu den antiken Orgeln von 1931): „Wir wollen erklären, wie man ein Instrument baut, das von alleine und kontinuierlich jede Melodie, die wir wünschen, spielen kann – manchmal in einem langsamen Rhythmus und manchmal in einem schnellen Rhythmus, und auch, wie wir von einer Melodie in eine andere wechseln können.“24 Mechanisches Herzstück und das eigentlich Geheimnisvolle des Automaten war ein hydraulisch angetriebener rotierender Zylinder (vgl. Abbildung 2 und 3).

Abbildung 2: Photographie der Orgel.(Persönliches Archiv Siegfried Zielinski)

23

24

Vgl. Eilhard Wiedemann: „Über Musikautomaten“, in: Sitzungsberichte der physikalisch-medizinischen Sozietät in Erlangen, redigiert von Oskar Schulz, 46. Band, 1914, Erlangen (Max Mencke) 1915. Zit. nach Farmer: The Organ of the Ancients, S. 88; die arabischen Zeichen, die Farmer in Klammern setzte, wurden hier weggelassen. Sein englischer Text der übersetzten Passage lautet: „We wish to explain how an instrument [...] is made which plays by itself continuously in whatever melody [...] we wish, sometimes in a slow rhythm [...] and sometimes in a quick rhythm, and also that we may change from melody to melody when we so desire.“ (ebd.).

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Über seine Oberfläche wurden Ringe aus Holz oder Metall gezogen, die kleine Zähne in unterschiedlicher Länge trugen. Je nachdem, in welchem Abstand diese Zähne auf die einzelnen Ringe angebracht und in welches Verhältnis wiederum die einzelnen Ringe zueinander gesetzt wurden, öffneten oder schlossen sie über eine mechanische Übersetzung das Ventil der Flöte, der einzelnen Pfeife einer Orgel oder bewegten ein anderes Klang erzeugendes Objekt. Die Ordnung, wie die Zähne auf dem Zylinder gesetzt waren, formulierte die musikalische Vorschrift, in einem anderen Wort: das Programm des Instruments respektive des Musikautomaten. Die Hardware ist im Prinzip mit den Stiftwalzen-Mechanismen identisch, wie sie 500 Jahre später für die europäischen Glockenspiele des europäischen Spätmittelalters, und noch viel später die mechanischen Orgeln der Renaissance sowie für Schreib-, Zeichen- und Musikautomaten der Aufklärung benutzt wurden. Stellen wir uns die rotierenden Zylinder im projizierten Negativ vor – Athanasius Kircher hat mit solchen Darstellungen in seiner Musurgia universalis (Rom 1650) gearbeitet, wenn er seine Automaten zur Komposition von Musik und kirchlicher Gesangslyrik vorstellt – , dann erkennen wir das Prinzip der Lochstreifen (punchcards) wieder, mit denen Musikinstrumente gesteuert wurden, lange bevor damit Webstühle und Rechenmaschinen kontrolliert worden sind.

V. Kombinatorik und Algorithmik, Musik und Liebe Dass es zwischen der Tätigkeit des Erinnerns komplexer Sachverhalte, wie sie zum Beispiel die Liebe und der Krieg darstellen, und der Metrisierung von Texten einen Zusammenhang gibt, ist u.a. von Nietzsche betont worden. Der Zusammenhang wird evident in der Tradition der griechischen und lateinischen didaktischen Poesie, die sich häufig Themen der Medizin, der Technik, in späten Fällen sogar der Elektrizität widmet.25 Es gibt jedoch meines Wissens noch keine tiefer gehende Untersuchung, die sich dem Zusammenhang von Gesangs- und Mitteilungskünsten – wie denen der mittelalterlichen Troubadoure mit ihren Fähigkeiten, vielschichtige Erzählungen zu metrisieren und sie in affektive Energien zu übersetzen – mit der Entwicklung von algorithmischen Artefakten befasst. Sicher ist, dass der Katalane und junge Edelmann Ramon Llull im 13. Jahrhundert nicht nur exzessiv als Frauenheld aktiv war, sondern sich auch eifrig als reisender Troubadour betätigte. Bevor er auf dem Berg Randa religiös erleuchtet 25

Im Hinblick auf die Phänomene des Elektrischen denke ich an Guiseppe Mazzolaris umfangreiches monographisches Gedicht Electricorum (Rom 1767), das in meiner Archäologie der Medien (Reinbek 2002) ausführlich diskutiert wird.

MITTEL UND MEERE

Abbildung 3: Die Orgel der Brüder Jafar Muhammad, Ahmad und al-Hasan, genannt Banū-Mūsā, die Söhne des Musa bin Shaki. Das Schema zeigt die drei Zisternen der hydraulischen, wasserbetriebenen Orgel: a) Die Wasser-Zisterne, b) Das Wasserrad und die Ventile der Zisternen, c) Die luftkomprimierende Zisterne, offen und geschlossen (George Farmer: The Organ of the Ancients, London 1931).

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wurde und von Mallorca aus, dem westlichen Mittelmeer, das Denken des Göttlichen im okzidentalen Teil des Mittelmeeres, zwischen Spanien und Nordafrika, zu vereinheitlichen trachtete. Die Vida, die Anfang des 13. Jahrhunderts in Paris als eine Art intellektuelles Testament Llulls entstand, beschreibt das eindrucksvoll. Schon in den Wochen vor der großen mystischen Erfahrung, die er mit der Schau Gottes hatte, war sein nächtliches Schreiben von Liebesliedern mehrfach und in regelmäßigen Abständen durch die Erscheinung des leidenden Gottessohnes am Kreuz unterbrochen worden. “Jedoch, am folgenden Morgen stand er auf, ohne sich weiter Gedanken über die Vision zu machen und ging wieder an seine gewohnten eitlen Beschäftigungen. Ja, bald sogar, etwa acht Tage später am selben Ort wie vorher, fast zur gleichen Stunde, schickte er sich abermals an, seine vorbesagte Kantilene niederzuschreiben und zu vollenden. Abermals erschien ihm der Herr am Kreuze wie vorher. Da ging er wieder, noch mehr erschreckt als zuvor, zu Bett und schlief ein. Am folgenden Tage kümmerte er sich jedoch [abermals] nicht um die Erscheinung, die ihm zuteil geworden war und ließ auch nicht ab von seinem zügellosen Ansinnen. Und etwas später strebte er sogar mit Kräften danach, seine begonnene Kantilene doch noch zu vollenden, bis ihm in Abständen von einigen Tagen der Heiland ein drittes und viertes Mal erschien, und zwar ständig in derselben Gestalt wie beim ersten Mal.”26 Die profane Liebe inklusive der sexuellen (im Original: amor fatuo ) ist hier keineswegs als Antagonismus zur göttlichen Liebe zu betrachten, vielmehr sind das Schreiben/die Schrift als Vehikel zur Liebe Gottes zu verstehen. Sie vermitteln zwischen der Idee des Liebesliedes und der Erscheinung Gottes. Die Kunst jenes Genres der Troubadourdichtung, schreibt der katalanische Mystikexperte und Philosoph Amador Vega sinngemäß, verweise auf den Weg der ars inveniendi, die das Lullische System insgesamt charakterisiere. Während dieser Phase der Entwicklung sei die Suche nach dem poetischen Wort im Kontext des Motivs einer Veranschaulichung und Konversion des Göttlichen im Menschlichen zu begreifen – in der Inkarnation und der Passion –, die eine sensible Form annehmen sollte (uidit Dominum Iesum Christum). Sowohl die profane Zeit wie die profane Liebe realisieren ihren eigentlichen Sinn und ihr eigentliches Ziel im nur mystisch zu schauenden Fluchtpunkt der göttlichen Erscheinung.27 26

27

Die zitierten Textstellen aus der Vida (Vita coaetanea) sind entnommen aus der Übersetzung: Das Leben des seligen Raimund Lull, hg. Walter Nigg und Wilhelm Schamoni, Düsseldorf 1964. Vgl. Amador Vega: „Ars inveniendi“, in: Variantology 2, hg. v. Siegfried Zielinski und David Link, Köln 2006. In korrigierter und erweiterter deutscher Übersetzung in dem Auswahlreader: Variantologie, hg. Siegfried Zielinski und Eckhard Fürlus, Berlin 2013.

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Insbesondere anhand der katalanisch geschriebenen Texte Llulls aus der Zeit, in der seine Ars magna allmählich entstanden ist, weist Vega eindrucksvoll „den obsessiven Rhythmus des invocativen Schreibens“ nach, mit dem der Mallorquiner in das wissenschaftlich-mystische Wissen über Gott einzuführen versuchte. Gibt es in und zwischen den Büchern der drei Schriftreligionen, der Bibel, dem Koran, dem Talmud, die zugleich drei miteinander kämpfende Reiche konstituieren, ein definierbares rationales System, das sie miteinander kommunizierbar macht? Dafür entwickelte Llull die bekannten Textapparate mit den symbolischen Stellvertretern für die axiomatischen Setzungen, die Prädikate und die Fragen, die miteinander in komplexe Relationen zu bringen sind. (Von den beiden hellen Vokale E und I, die er im axiomatischen Teil benutzt, stehen E für Macht/Anfang: significat potestatem, principium; und I für Wahrheit: significat veritatem.) Das Buch aller Bücher, an dem er arbeitete, verstand sich in der Tradition der über die Jakobsleiter vom Himmel heruntergestiegenen Artefakte, die als göttliche Archetypen einer lingua universalis fungierten und sich in ihre Autoren wie in Medien einschrieben. Wie Kittler möglicherweise gesagt hätte: Led Zeppelin’s „Stairways to Heaven“ – the other way round. Der ehemalige Troubadoursänger und lyrische Komponist Ramon Llull, der keinerlei akademische Ausbildung genossen hatte, steigerte sich mehr und mehr in jene Tradition seiner eigenen Kultur hinein, die man als „Modell einer akustischen Offenbarung des Wortes“ (Vega 2006) bezeichnen kann. Wo die profane Liebe in die Liebe zum Göttlichen übergeht, ist die Poesie zu Hause. Dieser Gedanke war Friedrich Kittler nicht fremd, im Gegenteil. – „Omnia mea mecum porto, und das Mittelmeer ist mare meum“, sagte Vilém Flusser zu Beginn eines Vortrags, den er 1986 im Angesicht der „strahlenden“ und „wohl artikulierten“ Bucht von Neapel hielt, die man wunderbar vom Hotel Sirena in Sorrent überschauen kann. Und weiter: „Ich kann zum Mittelmeer, und zu den zahlreichen darin verlaufenden Achsen, nicht existenziell Distanz nehmen, weil ich das Erbe des Mittelmeers dank den Kulturgütern und dank meines Judeseins, in meinem Inneren trage.“28 Es klärt sich jetzt auf, warum ich meinen eigenen Vortrag in Anführungszeichen gesetzt habe. Der neapolitanische Vortrag Flussers – einer der wenigen zeitgenössischen Intellektuellen, die Kittler als Riese verehrte, auf dessen Schultern man arbeiten könnte – trug den Titel „Mittel und Meere“.

28

Zuerst abgedruckt in: Spuren, Heft 16, August 1986, S. 12–16. In englischer Übersetzung enthalten in: Variantology 5, hg. Siegfried Zielinski und Eckhard Fürlus, Köln 2011.

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Antikensehnsucht war in Deutschland immer auch Sehnsucht nach dem südländischen Meer. Auch im kommunikationstheoretischen Kosmos Friedrich Kittlers überwog im letzten Jahrzehnt deutlich die verbindende und intellektuell verbindliche Auffassung vom mare internum als vermittelndem Meer, wie sie auch Hegel favorisierte. Diese Auffassung korrespondierte mit der Idee, dass Lied und Gesang mediale Äußerungsformen in der Proximität, der wechselseitigen Attraktion, mit einem Wort: der Liebe wären. Sie stehen im scharfen Gegensatz zu den telematischen Medien der Trennung und Distanz, mit denen Kittler vor allem die Idee einer vom Krieg generierten und vorangetriebenen Kommunikation verband, dem Punkt, aus dem er seine Frage nach der Technik als die nach dem „technischen Apriori“ entwickelte. In diesem Sinn war er ein durch und durch europäischer Denker, der aus der Polarität von Krieg und Liebe und schließlich der von griechischer und judäo-christlicher Tradition dachte. Es sind die Spannungsfelder, in denen auch das Denken Villem Flussers steht und das all jener anderen Medientheoretiker, die wir in Deutschland seit den 1980er Jahren zu schätzen begonnen haben. In einer pazifischen oder ozeanischen Perspektive wäre der Sachverhalt als „Umzug ins Offene“ (Dietmar Kamper) noch einmal ganz anders zu interpretieren. Der Mut und die Techniken, die das Navigieren über große Distanzen im scheinbar Unbegrenzten und definitiv Unbeherrschbaren benötigt, unterscheiden sich von denjenigen, die in der Nähe und im unmittelbaren Kampf gefragt sind.

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Lars Denicke

LAND UND MEER, LUFT UND FEUER Die Vier-Elemente-Lehre der Geopolitik

Geopolitisches Denken ist auf die Beschaffenheit unserer Erde, die geographische Anordnung der Elemente angelegt. Es will Machtpolitik erklären, Entwicklungen ihrer Auseinandersetzung voraussagen und entflammt sich am Streit besonders zweier Elemente: Erde und Wasser. Der Rechtsgelehrte Carl Schmitt schrieb 1942 in seiner Geschichtserzählung Land und Meer: „Die Weltgeschichte ist eine Geschichte des Kampfes von Seemächten gegen Landmächte“1 – und der Blick auf eine beliebige Weltkarte, die Kontinente und Ozeane, Landmassen und Wasser ordnet, scheint diese Sicht zu legitimieren. Der Attische Seebund, der Ruhm Venedigs, die spanische Armada oder die englische Seemacht stehen germanischen Stämmen, mongolischen Reiterhorden, mittelalterlicher Feudalherrschaft oder der Expansion Napoleons gegenüber. Im folgenden möchte ich dieses Denken herausfordern und anhand der Geschichte alliierter Luftversorgung im Zweiten Weltkrieg von zwei auf vier Elemente erweitern, jene vier Elemente, die in der Elemente-Lehre des Empedokles als die unteilbaren und unveränderlichen benannt werden: Erde und Wasser, Luft und Feuer. Hören wir, wie Empedokles sie einführt. Am Anfang seines Naturgedichts steht die Unentschlossenheit über den Anfang. „Zweifaches werde ich sagen; denn einmal erwuchs Eines, um Einziges zu sein aus Mehrerem, ein andermal spross es wieder auseinander, um Mehrere aus Einem zu sein. (...) Feuer und Wasser und Erde und die unermessliche Höhe der Luft, und der verfluchte Streit: getrennt von diesen, aber sie überall aufwiegend, und die Liebe, in ihnen, und mit ihnen nach Länge und Breite gleich.“2 Die vier Elemente Erde und Wasser, Luft und Feuer sind einmal Ursprung des Einen, das aus Mehrerem erwuchs. Dann gehen sie aber aus diesem Einen, das selbst der Ursprung ist, hervor. Die Pointe an diesem Verhältnis von Einem und Mehrerem ist, dass es die vier 1 2

Carl Schmitt: Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung (1942), Stuttgart 2001, S. 16. Oliver Primavesi: Empedokles Physika I. Eine Rekonstruktion des zentralen Gedankengangs, Berlin und New York 2008, S. 232 f. und 249–251.

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Elemente nur gibt, weil der Streit sie auseinander treibt – und all unsere Liebe kann sie nicht zu dem Einen zusammenbringen, so dass sich die Frage nach einem Urzustand erübrigt. Dieses zyklische Denken von Auseinandertreiben im Streit und versuchter Vereinigung in der Liebe regiert nicht nur die vier Elemente sondern auch uns, die sterblichen Wesen. Empedokles: „Und die sterblichen Wesen lassen niemals ab vom beständigen Wechsel, indem sie bald durch die Liebe insgesamt zum Einen zusammenkommen, bald auch wieder jedes für sich bewegt wird vom Hass des Streites.“3 Nimmt man diese Parallelsetzung von Elementen und Menschen, Physis und Polis zum Ausgang und übersetzt Streit und Liebe als Krieg und Frieden, so verrät Empedokles vielleicht das Geheimnis der Geopolitik: die geographische Zugehörigkeit von Staaten zu einem Element ordnet die Erde in Land- und Seemächte und bestimmt die großen Linien der Kriege und Allianzen. Man kann aber auch eine andere Perspektive geltend machen und verfolgen, wie die Liebe als technische Vereinigung aller vier Elemente eine gesteigerte Kriegsführung ermöglicht hat. Letzteres ist für die folgenden Überlegungen maßgeblich. In einem Rückgriff soll zuerst die Ordnung des geopolitischen Diskurses in der Opposition von Land und Meer analysiert werden, um zu beschreiben, welche Neuausrichtung das Feuer und insbesondere die Luft bewirkt haben.

I. Land- und Seemächte Als Gründungsdokument der Geopolitik gilt ein Vortrag, den der englische Geograph Harold J. Mackinder 1904 an der Royal Geographical Society in London gehalten hat. Mackinder beschwor aus britischer Perspektive die Gefahr einer russisch-deutschen Allianz und mahnte seine Zuhörer, dass Europa Asien zugehörig sei. Schlimmer noch: mongolische Reiterhorden, „a cloud of ruthless and idealess horsemen,“ hätten das Geschick Europas so lange diktiert, bis sich West-Europa mit dem Schiff von diesem „asiatic hammer“ befreit habe. England und seine Kolonien, die USA als ehemalige eingeschlossen, aktuell ergänzt durch das aufstrebende Japan, legten als Seemächte einen Ring um die größte zusammenhängende Landmasse Eurasien und hielten diese so in Schach. Doch diese Balance der Land- und Seemächte, von Erde und Wasser, sah Mackinder gegenwärtig bedroht; zum einen durch den Bau der transsibirischen Eisenbahn, die die weiten Räume Russlands erschließe – zum anderen durch die Seemacht-Ambitionen der Landmacht Deutschland. 3

Ebd., S. 237–239.

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Die Vereinigung beider mache die unerschöpflichen Ressourcen Eurasiens strategisch nutzbar, ihre Allianz wäre nur schwer zu besiegen.4 Ob die Angst vor dieser Allianz berechtigt oder der Vortrag vor allem selbst eine politische Botschaft war, sei dahingestellt. In der Vor- und Nachgeschichte war die Balance allerdings viel eher durch die Konkurrenz von Seemächten untereinander gestört. England war im 18. und 19. Jahrhundert als Herrscherin über alle Meere zur führenden Weltmacht aufgestiegen. Diese Position der Seeherrschaft beruhte nicht alleine auf der größten Flotte, sondern vielmehr auf der Möglichkeit zu ihrer strategischen Verteilung. Das Feuer als drittes Element hatte auf den Schiffen Einzug gehalten: Kohleöfen trieben die Dampfmaschinen an, und ohne ein Netz von Häfen und Kohlestationen an Land konnte es keine Seemacht auf dem Wasser mehr geben. England kontrollierte ein solches Netz an den Küsten aller Kontinente und auf Inseln inmitten aller Weltmeere.5 Dieses Monopol war um 1900 aber in Frage gestellt durch die regionale Seemacht der USA in der Karibik und in Teilen des Pazifik, mit der sie die kolonialen Ansprüche in Lateinamerika und Asien in Frage stellte. Mit den konkurrierenden europäischen Kolonialmächten und den aufstrebenden Industriestaaten Japan und eben Deutschland kam es zu einem Ungleichgewicht der Seemächte, das in den Ersten Weltkrieg führte, der diese Konkurrenz aber nicht auflösen konnte. Der Zweite Weltkrieg folgte.6 Treffend hatte Mackinder bereits 1904 die Welt als ein „closed political system“ diagnostiziert, in dem jede Turbulenz an einem Ende der Welt ihre Resonanz auf der anderen Seite finden werde. Im 20. Jahrhundert galt dies umfassender als jemals zuvor. Doch die Technologie, die den größten Wirbel auslösen sollte, identifizierte nicht Mackinder, sondern ein Zuhörer in der Diskussion im Anschluss an seinen Vortrag: „Both the sea and the railway are going in the future – it may be near, or it may be somewhat remote – to be supplemented by the air as a means of locomotion, and when we come to that, a great deal of this geographical distribution must lose its importance.“7 Es ist vielleicht kein Zufall, 4

5

6

7

Vgl. dazu Sir Halford J. Mackinder: „The geographical pivot of history“, in: The Geographical Journal, Vol. 23, No. 5, Mai 1904, S. 421–444; vgl. auch Pascal Venier: „The geographical pivot of history and early twentieth century geopolitical culture“, in: The Geographical Journal, Vol. 170, No. 4, Dezember 2004, S. 330–336, und Gearóid Ó Tuathail: Critical Geopolitics. The Politics of Writing Global Space, London 1996, S. 26 ff.. Vgl. Paul Kennedy: „Imperial cable communications and strategy, 1870–1914“, in: The English Historical Review, Vol. 86, No. 341, Oktober 1971, S. 728–752 und ders.: The rise and fall of British naval mastery (1976), Houndmills 1985. Vgl. Alfred E. Eckes und Thomas W. Zeiler: Globalization and the American Century, Cambridge 2003, Andreas Hillgruber: Der Zweite Weltkrieg, Stuttgart, Berlin, Köln, Mainz 1982. Leo Amery bei Mackinder, Geographical Pivot, S. 441.

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dass zur gleichen Zeit, in der Mackinder die geopolitische Theorie von Land und Meer auf Eisenbahn und Dampfschifffahrt umstellte (am 25. Januar 1904) – und damit auf das Element Feuer – das erste motorisierte Flugzeug der Welt, der Doppeldecker der Gebrüder Wright, in die Luft abhob (am 17. Dezember 1905), und damit das vierte Element der Geopolitik eröffnete: die Luft. Die Luft sollte der blinde Fleck der Geopolitik bleiben, die bis heute zu gerne in das Muster der Opposition von Land und Meer zurückfällt. Herfried Münkler klassifizierte etwa 2005 in seiner viel beachteten, Imperien überschriebenen, universalhistorischen Studie nur „Land- und Seeimperien.“ Das Flugzeug und die Luft tauchen in seiner so bezeichneten Typologie imperialer Herrschaft nicht auf und das Feuer als Erdöl nur als versteckter Hinweis und Ressource geopolitischer Interessen.8 Doch Geopolitik, so die These meiner Ausführungen, ist mehr als diese universalhistorische Diagnose und Gegenüberstellung zweier Elemente. Es ist eine diskursive Konfiguration, die erst mit der Bewegung in allen und durch alle vier Elemente hervorgetreten und deren Jahrhundert deswegen das 20. unserer Zeitrechnung gewesen ist: als das Feuer in den Verbrennungsmotor gebannt war und Flugzeuge sich über Land und Meer in der Luft bewegten.

II. Die Raumrevolution des Luftkriegs Bevor ich dieses Zusammenspiel der vier Elemente entfalte, möchte ich auf das negative Verhältnis von Luft, Feuer und Erde zu sprechen kommen: den Luftkrieg. Unmittelbar auf die Pionierflüge und Flugschauen im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts folgte der militärische Einsatz des Flugzeugs im Italienisch-Türkischen Krieg um Libyen 1911 und im Ersten Weltkrieg. Doppeldecker dienten der Feindaufklärung und traten in Luftgefechten gegeneinander an. Zeppeline warfen ihre Bomben ab. Das Feuer traf aus der Luft auf die Erde. Für den Kriegsausgang war der Beitrag dieser Flugmaschinen weniger entscheidend, als dass ihr Einsatz eine Vorahnung künftiger Kriegsverläufe vermittelte. Der italienische General Giulio Douhet formulierte 1921 eine erste Doktrin des Luftkriegs, deren wesentlicher Gedanke bis heute Grundsatz militärischer Strategen ist. Demzufolge sind Flugzeuge insofern unabhängige Streitkräfte, als sie über die Front hinaus ins Hinterland fliegen können. Der Erste Weltkrieg 8

Vgl. Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten, Berlin 2005.

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hatte verdeutlicht, dass mechanisierte Armeen über lange Nachschublinien von den industriellen Zentren aus versorgt werden müssen. Luftangriffe sollten diese Linien erstens unterbrechen und zweitens die Zentren selbst zerstören.9 Diese Doktrin war maßgeblich für den Zweiten Weltkrieg auf Seite der Alliierten. Deutschland führte den Blitzkrieg in Europa zwar auch als Bombardierung aus der Luft, doch die Luftwaffe war als taktische Streitkraft den Bodentruppen untergeordnet. Sie verfolgte keinen Plan für einen im Sinne Douhets auf strategische Luftangriffe fokussierten Krieg, mit dem ein geographisch weiter reichender Ausgriff als zu den europäischen Nachbarstaaten möglich gewesen wäre. Ein Zeichen dafür war, dass die Entwicklung von Flugzeugen mit hoher Reichweite kaum Beachtung fand. Die Strategie sah vielmehr ein kontinuierliches Vergrößern des Deutschen Reichs mit dem Vorrücken der Bodentruppen auf der Erde, am Boden, vor. Anders die USA und England: Aus der Not der deutschen Expansion zielte das Strategic Bombing auf die Zerstörung der deutschen Industrie und Demoralisierung der Bevölkerung mit Luft-Angriffen auf deutsche Städte.10 Unter dem Einfluss dieser kontinuierlichen Ausdehnung des Deutschen Reichs setzte Carl Schmitt mit seinen universalhistorischen Betrachtungen zu Land und Meer ein und formulierte seine raumtheoretischen Überlegungen zu den Fundamenten des Rechts. Dabei können drei Phasen unterschieden werden. Zuerst sprach er in polemischen Vorträgen und Aufsätzen in den Jahren 1939 bis 1941 dem British Empire jene Raumordnung ab, die er mit den Begriffen „Volk“, „Heimat“, „Boden“ und „Reich“ für Deutschland in Anspruch nahm. Dem „StreuBesitz“11 Englands stellte er einen kontinuierlichen, kontinentalen „Großraum“ 9 10

11

Vgl. Giulio Douhet: Luftherrschaft (1921), Berlin 1935. Zur Geschichte der Luftwaffe vgl. Edward L. Homze: „German Aircraft Production, 1918–1939“, in: The Conduct of the Air War in the Second World War. An International Comparison (Proceedings of the International Conference of Historians in Freiburg in Breisgau, Federal Republic of Germany, from 29 August to 2 September 1988), Studies in Military History, hg. von Horst Boog, New York, Oxford 1992, S. 115–130; und: Werner Rahn: „Der Seekrieg im Atlantik und Nordmeer“, in: Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg, Bd. 6: Der globale Krieg. Die Ausweitung zum Weltkrieg und Wechsel der Initiative 1941–1943, hg. vom Militärischen Forschungsamt, Stuttgart 1990, S. 275–285; zum Strategic Bombing vgl. Horst Boog: Die Deutsche Luftwaffenführung 1935–1945. Führungsprobleme, Spitzengliederung, Generalstabsausbildung, Beiträge zur Militärgeschichte 21, hg. vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, Stuttgart 1982; und James Lea Cate und E. Kathleen Williams: „The Air Corps Prepares for War, 1939–41“, in: Army Air Forces in World War II, Vol. I: Plans and Early Operations. January 1939 to August 1942, hg. von Wesley Frank Craven und James Lea Cate, Chicago 1948, S. 130–150. Carl Schmitt: Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte. Ein Beitrag zum Reichsbegriff im Völkerrecht (1941), Berlin 1991, S. 34.

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als „zusammenhängende[n] Leistungsraum“ gegenüber.12 So versuchte er, die auf Europa konzentrierte Expansion des Dritten Reichs zu legitimieren, indem er sie von der geographisch weiter ausgreifenden, aber nur punktuell verankerten britischen Seeherrschaft absetzte. 1942, in einer zweiten Phase, verallgemeinerte Schmitt dann diese Betrachtung mit dem Konzept des „Nomos“ – die räumliche Logik jeglicher rechtlichen Ordnung, die in der ersten Landnahme ihre Legitimation hatte. In seiner eingangs zitierten, universalhistorischen Betrachtung Land und Meer stellte er nicht nur Land- und Seemächte gegenüber; er konstatierte auch eine Raumrevolution durch das Flugzeug, die die Raumordnung von Land und Meer verändere und skizzierte bereits eine Vier-Elemente-Lehre. „Als das Flugzeug hinzukam, war sogar eine neue, zu Land und Meer hinzutretende, dritte Dimension erobert, sogar ein drittes Element hinzugetreten, die Luft als ein neuer Elementarbereich menschlicher Existenz. Stellt man sich die Explosionsmotoren vor, durch die die Luftmaschinen bewegt werden, so erscheint einem eher das Feuer als das hinzutretende, eigentlich neue Element menschlicher Aktivität.“13 Doch weiter sollte er diese Vier-Elemente-Lehre nicht entwickeln. In der dritten Phase von Carl Schmitts Überlegungen zum Raum war die Luftmaschine nur noch eine zerstörerische – was vielleicht der Tatsache geschuldet ist, dass eine Bombe der alliierten Luftmacht im August 1943 sein Wohnhaus in Berlin zerstört hatte.14 In seinem raumtheoretischen Hauptwerk von 1950, Der Nomos der Erde, ist diese Perspektive des von oben Getroffenen maßgeblich. „Es ist heute nicht mehr möglich, an den traditionellen Raumvorstellungen festzuhalten und sich den Luftraum als eine bloße Pertinenz oder ein Ingredienz, sei es des Landes oder sei es der See zu denken. Das wäre in einer geradezu naiven Weise von unten nach oben gedacht. Es wäre die Perspektive eines Betrachters, der, von der Fläche des Landes oder des Meeres aus, in die Luft guckt und, den Kopf im Genick, von unten nach oben starrt, während der den Luftraum durcheilende Bomber seine ungeheuerliche Einwirkung von oben nach unten vollführt.“15 Mit dieser negativen Bestimmung des Flugzeugs als den Boden verachtendes Ereignis der „absoluten Entortung“ entging Schmitt aber dessen territoriale Dimension, die ich im folgenden als Verschränkung der vier Elemente entfalten möchte, und zwar ganz bewusst aus der Perspektive von unten nach oben, mit einer Konzentration auf die immensen Operationen der Alliierten im Zweiten Weltkrieg am Boden und im Dienste des Luftverkehrs. 12 13 14 15

Ebd., Abschnitt VII. Ebd., S. 104 f.. Vgl. Reinhard Mehring: Carl Schmitt. Aufstieg und Fall. Eine Biographie, München 2009, S. 414. Carl Schmitt: Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln 1950, S. 297 f..

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III. Luftverkehr findet am Boden statt So verbreitet das Geschichtsbild auch heute noch sein mag, dass ein überraschender Luftangriff auf Pearl Harbor die USA am 7. Dezember 1941 zum Eintritt in den Zweiten Weltkrieg gezwungen habe, so gründlich muss es revidiert werden. Es geht hierbei nicht um Verschwörungstheorien, ob die USA von dem bevorstehenden Angriff Japans gewusst oder diesen sogar provoziert haben.16 Es geht um die von der amerikanischen Militärgeschichte selbst ausführlich dargestellte Tatsache, dass die USA bereits in den Jahren 1940 und 1941 über ein wachsendes Netz von Flugrouten England mit Material und Flugzeugen versorgten. Zur Wahrung der Neutralität übernahm die zivile Fluggesellschaft Pan Am diese Aufgabe, wesentliche Elemente dafür waren der Bau und die Entwicklung von Flughäfen in Nord- und Südamerika, Grönland und Afrika. Denn die technologische Bedingung des Luftverkehrs in dieser Zeit gab vor, dass Flugzeuge wegen ihrer begrenzten Reichweite regelmäßig zwischenlanden und auftanken mussten. Dieses Streckennetz wurde im Verlauf des Kriegs erweitert und führte über fünf Linien: über den Nordatlantik nach England; über Alaska an die Grenze zur Sowjetunion; über den Pazifik nach Australien und Asien; über den Südatlantik nach Nordafrika; und von hier aus weiter nach Indien und über den Himalaya nach China. Über diese Wege flogen Flugzeuge zu den Kriegstheatern, die sie von außerhalb versorgten. Es war diese Logistik, die den globalen Anspruch der Bezeichnung eines Weltkriegs legitimiert (vgl. Abb.1).17 Der Diskurs zur Entwicklung dieser Logistik war der einer vorauseilenden Verteidigung und konzentrierte sich auf den Atlantik. Spätestens seit Ende der 1930er kursierten Szenarien von Militärstrategen auch in der Öffentlichkeit, die eine drohende Invasion des amerikanischen Doppelkontinents über den atlantischen Luftweg beschworen. In der Zeitschrift Foreign Affairs erschien bereits 1938 ein Artikel, der die „Totalitarian Inroads in Latin America“ und damit vor allem die der deutschen zivilen Fluggesellschaften, die in Lateinamerika tatsächlich operierten, als Bedrohung skizzierte: Eine feindliche Luftmacht sei bereits als zivile getarnt in der Westlichen Hemisphäre stationiert, die Kontrolle des neuralgischen Panama-Kanals und der Sprung über die Karibik stünden bevor.

16 17

Vgl. Robert B. Stinnett: Pearl Harbor. Wie die amerikanische Regierung den Angriff provozierte und 2476 ihrer Bürger sterben ließ (2000), Frankfurt 2003. Vgl. Services around the World, in: Army Air Forces in World War II, hg. v. Wesley Frank Craven und James Lea Cate, Vol. VII, Chicago 1958.

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Abb. 1: Die Karte zeigt die Routen der Luftversorgung und die wichtigsten Flughäfen zur Zwischenlandung, sieben Monate nach dem Angriff auf Pearl Harbor.

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Im Juli 1941 erschien dann jener Beitrag, der eine Karte des atlantischen Raumes kommentierte, in der die Distanzen der Luft- und Seewege über den Atlantik eingezeichnet waren. „For three centuries Americans have been accustomed to think of their world in continental terms. The land mass of the Western Hemisphere was the New World. Expansion meant moving west and settling land. This three-hundred-year period in American life has come to an end.“ Deutlich verabschiedete sich der Autor also von jener Epoche, in der die USA sich als Landmacht in ihrer eigenen Hemisphäre hätten isoliert und sicher fühlen können. Jetzt seien sie in Reichweite feindlicher See- und vor allem Luftstreitkräfte. Die Verteidigung dieser Luftstreitkräfte war allerdings nicht an der eigenen Küste möglich, sondern erforderte ein Vorgreifen auf die potentiellen Startpunkte der Gegner. „Our coastline is no longer the line of American defense. The controlling forces must be in possession of Greenland, Iceland, the British Isles, Gibraltar, the Azores, Cape Verde Islands, and either Dakar or some nearby point on the West Coast of Africa.“18 Für die Luftmacht war also die Neuverteilung von Posten an Land nötig und die USA bewegten sich dafür Richtung Osten nach Europa und Afrika. Die Regierung Roosevelt hatte bereits 1940 mit der Entwicklung dieser Luftstützpunkte begonnen. Seit Juli 1940 machte das geheime Airport Development Program die Aufrüstung der Flughäfen der Pan Am in der Karibik und ihrer brasilianischen Tochter, Panair do Brasil, in Brasilien möglich. Die Operationen der zivilen Luftfahrt waren Tarnung für die Entwicklung der militärischen Logistik.19 Ab April 1941 wurden die Baumaßnahmen in Afrika fortgesetzt, als Upgrade des Streckennetzes der Imperial Airways, Vorgängerin der British Airways, von Stationen für Wasserflugzeuge auf Flughäfen mit Start- und Landebahnen. Damit besetzten die USA strategische Punkte im Empire Englands. Auf beiden Seiten des Ozeans wurden zehntausende einheimische Arbeiter rekrutiert, die unter Anleitung von Ingenieuren der Pan Am die Flughäfen bauten. Die anfangs leichten Flugzeuge waren noch auf offenen Feldern gestartet und gelandet, die von so genannten „Flughafenschafen“ beweidet wurden, die das Gras kurz hielten und den Boden festigten. Neue Flugzeugtypen aus den USA beendeten 18

19

Fancis Pickens Miller: „The Atlantic Area“, in: Foreign Affairs, Vol. 20, No. 4, Juli 1941, S. 727; für ähnliche Szenarien des US-Militärs vgl. schon William Mitchell: „Airplanes in National Defense“, in: Annals of the American Academy of Political and Social Science, Vol. 31, „Aviation“, Mai 1927, S. 38–42. Vgl. dazu Deborah Wing Ray: Pan American Airways and the Trans-African Air Base Program of World War II, A Dissertation in the Department of History, New York University 1973 ; Theresa L. Kraus: The Establishment of United States Army Air Corps Bases in Brazil, 1938–1945, Ann Arbor (Michigan) 1989; Stanley E.Hilton: „Brazilian Diplomacy and the Washington-Rio de Janeiro ‚Axis‘ during the World War II Era“, in: Hispanic American Historical Review, Vol. 59, No. 2, 1979, S. 201 bis 231.

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die pastorale Phase der Luftfahrt. Jetzt wurde ein Standard implementiert, bei dem asphaltierte Start- und Landebahnen von 2000 m Länge kreuzwinklig angeordnet waren, damit die Flugzeuge je nach Windrichtung optimal starten und landen konnten. Luft und Erde waren also als technisches System aufeinander bezogen.20 Für den Nord-Atlantik schlossen England und die USA im September 1940 den Base-Destroyer-Deal. In dessen Rahmen lieferten die USA fünfzig Zerstörer an England, die zur Umgehung der Neutralität von der US-Marine als veraltet klassifiziert worden waren. Dafür erhielten sie das Recht zur 99 Jahre dauernden Pacht auf dem kanadischen Neufundland, den Bahamas, den karibischen Inseln Jamaika, St. Lucia, Trinidad sowie in British Guiana an der Nordküste Südamerikas. Diese Vereinbarung ist von hoher Symbolik – die alternde Seemacht erhielt ausrangierte Schiffe und verhalf den USA zum Ausbau ihrer Luftmacht. Im November 1940, also mehr als ein Jahr vor Pearl Harbor, begannen die USA Bomber, mit Zwischenlandungen eben in Neufundland und Schottland, an England zu liefern. Um auch Flugzeuge kürzerer Reichweite überführen zu können, war ein Raster von ungefähr 1000 km nötig. Dazu bedurfte es neuer Flughäfen auf Grönland und Island. Vor allem in Grönland erschwerte der Schnee die Bauarbeiten. Zum Einsatz kam ein neuer standardisierter Baukörper – Stahl-Gitterplatten, die in Reihen in einander verhakt und flächendeckend verlegt werden konnten.21 Die Start- und Landebahn wurde somit modular, die Erde als technischer Baukörper im Dienste der Luft gedacht. Über diese Strecke wurden insgesamt 9000 Bomber nach England geflogen.

20

21

Vgl. dazu: Pratt Committee Investigation of Construction Activities in Latin America: Construction of Certain Latin American and Caribbean Air Bases built by the United States (1945), National Archives, RG 160 Records of Headquarters Army Service Forces [ASF]; Records of the Control Division, Records of the Pratt Committee investigation of airport construction in Latin America and the West Indies, 1945–46, Vol. I, Box 1–2, S. 64 f.; vgl. auch Kraus: Establishment of US Airbases, S. 156, 187; und Chief of Engineers Office: Synopsis of Airport Development Program, Pan American Airways System as of 30 June 1945 (1. 11. 1945), National Archives, RG 165 Records of the War Departments General and Special Staffs, Office of the Director of Plans and Operations Pan-American Group, Box 2009 NM-84 Entry 433; Security-Classified Correspondence and Reports; Relations to the Central and South American Airport Development Program, 1940–45; Airport Development Program: Cost Estimates. Vgl. Blanche D. Coll, Jean E. Keith, Herbert H. Rosenthal: The Corps of Engineers: Troops and Equipment, United States Army in World War II. The Technical Services, Washington (D.C.) 1958; und Gerald G. Greulich: Portable Deck (1.9.1942), United States Patent Office No. 2,294,550.

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Das Strategic Bombing deutscher Städte wäre ohne die Entwicklung dieser Flughäfen zur Zwischenlandung, deren erster der im Base-Destroyer-Deal gepachtete auf Neufundland war, nicht möglich gewesen.22 Der strategische Kontext für die Entwicklung der Strecke über den Südatlantik war die Versorgung der britischen Truppen in Nordafrika. Somit führt uns der Weg zurück zum Mittelmeer und zu den beiden anderen Elementen, Feuer und Wasser. Erstens das Feuer: Die Erfolge der deutschen Truppen in Nordafrika 1940 und auf dem Balkan 1941 sowie der Angriff auf die Sowjetunion waren von immenser strategischer Bedrohung für die Alliierten, weil sie die Ölvorkommen auf dem Kaukasus und im Nahen und Mittleren Osten in den potentiellen Zugriff Deutschlands brachten. Zweitens war die Versorgung über die Luft nötig, weil der Seeweg nach Nordafrika abgeschnitten war. Das Mittelmeer kontrollierten deutsche U-Boote und Flugzeuge. Umgekehrt war die logistische Maschine aus den USA mit dem Flughafenbau nicht nur auf die Anstrengungen am Boden für die Passage in der Luft ausgerichtet, sondern auch mit Wasser und Feuer verzahnt. Tanker aus den USA lieferten Flugbenzin an die Westküste Afrikas, von wo es über rudimentäre Straßen- und Wegenetze an die Flughäfen verteilt wurde. Einen isolierten Flughafen im Sudan konnten nur Kamele versorgen: Jeweils einhundert Tiere legten den Weg durch die Wüste zurück, um ein Flugzeug aufzutanken.23 Die britischen Truppen in Ägypten wurden so erfolgreich von außerhalb der Kriegszone vom Süden aus versorgt und konnten das Deutsch-Afrika-Korps nach Libyen zurückdrängen. Die Eröffnung einer zweiten Front mit der Landung alliierter Truppen in Casablanca und in Algerien nahm die deutschen Truppen dann in die Zange. Diese Operation Torch wird historisch als amphibische Verzahnung von See- und Landstreitkräften bewertet, die von taktischen Kampfflugzeugen aus der Luft unterstützt wurde. Doch die vier Elemente kamen auch hier gleichberechtigt zusammen. Vorbereitend wurde eine Flotte von Transportflugzeugen von Ghana in Westafrika aus in den Norden des Nachbarlandes Nigeria verlegt, die dann 22

23

Vgl. dazu Rahn, Der Seekrieg, S. 282–369; und Stetson Conn, Byron Fairchild: The Western Hemisphere, Guarding the United States and its outposts, 2 vols., U.S. Army in World War II, Vol. II, Washington (D.C.) 1964, S. 451–455, 533–539; und Samuel Milner: „Establishing the Bolero Ferry Route“, in: Military Affairs, Vol. 11, No. 4, Winter 1947, S. 213–222. Vgl. John D. Carter: „The Early Development of Air Transport and Ferrying“, in: Army Air Forces in World War II, Vol. I, S. 310–365; und ders.: „Airway to the Middle East“, in: Army Air Forces in World War II, Vol. VII, S. 46–62; und auch Ray, Pan American Airways.

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mit Flügen über die Sahara die vorrückende Front in Nordafrika versorgten. Diese Operationen erforderten den Ausbau von Zielflughäfen in Marokko und Algerien, die ihrerseits über ein schnell wachsendes Netz von Pipelines von den Häfen aus mit Treibstoff versorgt wurden. Die Luftversorgung verschaltete wiederum alle vier Elemente.24 Diese entscheidende Rolle des Luftverkehrs für den Krieg in Nordafrika und das US-Engagement bereits vor offiziellem Kriegseintritt sind Thema des Films Casablanca – vordergründig die Geschichte um die Fluchthilfe für den ungarischen Widerstandskämpfer Victor Laszlo durch den US-Amerikaner Rick, dessen Bar als Kaleidoskop Nazis, Vichy-Franzosen und Flüchtlingen zusammenführt, sowie die Liebesgeschichte zwischen Rick und Laszlos Frau Ilsa. Doch zuletzt opfert der Film all diese Handlungsstränge und fokussiert auf die Entscheidung der USA, in der Person Ricks in den Krieg einzutreten. In der Mitte des Films fragt sich Rick noch: „If it’s December 1941 in Casablanca, what time is it in New York?“ und sinniert weiter: „Bet they’re asleep in New York. Bet they’re asleep all over America.“ Deutlich kritisiert diese Stimme also die zurückhaltende Position der USA, in den Zweiten Weltkrieg einzutreten. In der abschließenden Flughafenszene, die im Film auf den 4. Dezember 1941, also unmittelbar vor den Angriff auf Pearl Harbor datiert ist, erschießt Rick den deutschen Major Strasser, der verwaltende Polizeikommissar Renault zerschmettert symbolträchtig eine Flasche Vichy-Mineralwasser, und gemeinsam laufen sie auf die Start- und Landebahn in die Dunkelheit mit dem Ziel, zu den Truppen des Freien Frankreich in Äquatorial-Afrika zu stoßen – wo die Truppen unter General Charles de Gaulle den transafrikanischen Luftweg verteidigten.25 Der Film war damit ein zeitnaher Kommentar der Ereignisse und verriet, dass 24

25

Vgl. dazu John D. Carter: „North Africa and the Mediterranean“, in: Army Air Forces in World War II, Vol. VII, S. 63–9, S. 64 f.; und Thomas J. Mayock: „The North African Campaigns“, in: Army Air Forces in World War II, Vol. II: Europe: Torch to Pointblank, August 1942 to December 1943, hg. von Wesley Frank Craven und James Lea Cate, Chicago 1949, S. 3–206, 83, 116 ff.; John E. Fagg: „The Aviation Engineers in Africa and Europe“, in: Army Air Forces in World War II, Vol. VII, S. 239–275, 250; und Alfred M. Beck, Abe Bortz, Charles W. Lynch, Lida Mayo, Ralph F. Weld: The Corps of Engineers: The War Against Germany, Office of the Chief of Military History, United States Army, Washington (D.C.) 1985, S. 85–93. Vgl. Julius J. Epstein, Philip G. Epstein, Howard Koch: Casablanca, Drehbuch nach der Vorlage „Everybody goes to Rick“ von Murray Burnett und Joan Alison, 1942 http:// www.imsdb.com/scripts/Casablanca.pdf (zuletzt aufgerufen am 12.10.2013), S. 126; vgl. Denis Linehan (ohne Jahresangabe): Heroes and heterotopia: Geopolitical Intrigue in the Warner Brother’s Casablanca, http://www.ucc.ie/ucc/depts/geography/stafhome/ denis/casablanca.htm (zuletzt aufgerufen am 12.10.2009), Gary Green: „‚The Happiest of Happy Accidents? A Reevaluation of ‚Casablanca‘“, in: Smithsonian Studies in American Art, Vol. 1, No. 2., 1987, S. 2–13, S. 11; Aljean Harmetz: The Making of Casablanca. Bogart, Bergman, and World War II (1992), New York 2002, S. 236 f..

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die USA – gerade noch rechtzeitig – bereits vor Pearl Harbor über die transafrikanische Luftversorgung in den Krieg eingetreten waren. Als der Film Anfang 1943 in die Kinos kam, war die Operation Torch gerade erfolgreich abgeschlossen und President Roosevelt selbst auf der ersten internationalen Flugreise eines US-Präsidenten jemals, die ihn just nach Casablanca zur Konferenz mit Churchill und de Gaulle führte. Der Flugverkehr zwischen den USA, Südamerika, Afrika und Europa war mittlerweile intensiviert und über den Mittleren Osten nach Indien und China erweitert worden. Um nur eine letzte Idee von dem Ausmaß der Operationen zu vermitteln: in China bauten – die Zahlen schwanken – zwischen 500.000 und 900.000 Arbeiter mit rudimentären Mitteln Flughäfen für die Luftmacht der USA. Wichtig scheint mir zweierlei: Erstens waren die USA bereits vor offiziellem Kriegseintritt militärisch in den Zweiten Weltkrieg involviert, und zwar über die Entwicklung und den Betrieb von Strecken der Luftversorgung und der Überführung von Bombern. Mit Fokus auf den Atlantik revidierte das Flugzeug und die Möglichkeit einer feindlichen Invasion die Selbsteinschätzung der USA als Land- oder auch Seemacht in einer eigenen Hemisphäre zu existieren. Als einzige Kriegspartei begannen sie konsequent, eine Strategie der Luftmacht für den weltweiten Krieg zu verfolgen, die neben der Entwicklung von Flugzeugtypen mit hoher Reichweite auf den Ausbau eines Streckennetzes von Flughäfen fokussiert war. Seither liegen Stützpunkte des Luftverkehrs auf allen Kontinenten im Zugriff der USA. Friedrich Kittlers Abwandlung des Clausewitz’schen Diktums, Frieden sei die Fortsetzung des Krieges mit denselben Verkehrsmitteln, gilt also auch umgekehrt.26 Die Technologien des zivilen Luftverkehrs und des militärischen Einsatzes waren zumindest bis zum Ende des Jahrhunderts aufeinander bezogen: Transport-, Passagierflugzeuge und Bomber waren häufig gleicher Bauart, und zivile Flughäfen darauf ausgerichtet, im Kriegsfall sofort auf militärische Operation umzustellen. Und in einer permanenten Bewegung der Konversion dienten zivile Fluggesellschaften auch nach 1945 im Kriegsfall der militärischen Logistik. Eine zivile Luftfahrt gibt es nicht, die Flotte der USFluggesellschaften ist bis heute als Civil Reserve Air Fleet stille Reserve des Militärs. Und als palästinensische Befreiungsorganisationen Anfang der Siebziger Jahre mit Flugzeugentführungen kurzzeitig jenes souveräne Territorium in der Luft besetzten, das ihnen am Boden verwehrt war, radikalisierte ein Vorschlag der Luftsicherung diese Ununterscheidbarkeit von ziviler und militärischer Luftfahrt: alle Passagiere sollten sich vor Betreten des Flugzeugs aus Sicherheitsgründen zur Leibesinspektion vollständig ausziehen und während des Flugs einen Overall als Uniform tragen.27 26 27

Vgl. Friedrich A. Kittler: „Auto bahnen“ (1985), in: Short Cuts 6, hg. von Peter Gente und Martin Weinmann, Frankfurt 2002, S. 242. Vgl. James F. Dunnigan: How to Make War. A Comprehensive Guide to Modern War-

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Zweitens, und das ist für unser Thema wesentlich und über das zeitgeschichtliche Interesse hinaus interessant, zeigen diese Operationen die enge Verschränkung aller vier Elemente. Luftverkehr bleibt wegen seiner Zwischenlandungen auf die Geographie von Land und Meer bezogen, auch wenn es als einziges Verkehrsmittel beider Lufträume durchquert und nicht an den Grenzen der Erdteile aufgehalten wird. Pointiert lässt sich daher sagen: Luftverkehr findet am Boden statt. Das Flugzeug ist ein Fahrzeug, das durch seine spezifische Architektur der Flügel die Beschleunigung am Boden für den aerodynamischen Auftrieb nutzt und das bei der Landung wieder in ein solches Fahrzeug transformiert werden muss – die wesentliche Leistung der Start- und Landebahnen. Der Grund aber für die Zwischenlandungen ist das vierte Element: das ausgehende Feuer an Bord des Flugzeugs, dessen Treibstoff Kerosin, das raffinierte Erdöl, die Reichweite vorgibt.

IV. „What does a man with a $350 million income really want?“ Ein Blick auf einen Nachbar des Mittelmeers soll die Erschließung des Feuers aus der Luft noch einmal fokussieren, und zwar in dem Land, das zur größten Tankstelle der Welt werden sollte. Bis Anfang der 1940er Jahre tauchte SaudiArabien auf der politischen Weltkarte der USA nicht auf, es lag im traditionell England vorbehaltenen Einflussgebiet. Die Strecken der Luftversorgung führten über die arabische Halbinsel, und so bemühten sich die USA ab 1943 um den Bau eines Flughafens, der diese Strecke um 10% verkürzt hätte. Doch das war nur ein vorgeschobenes Argument. Im Hintergrund stand vielmehr, die Entwicklung der immensen Ölvorkommen des Landes über die Luft zu operationalisieren (vgl. Abb. 2). Denn ein Konsortium aus den USA verfügte bereits über die Konzession zur Förderung. König Ibn Saud hatte erst 1932 die zentrale Herrschaft über das Gebiet rivalisierender Nomadenstämme durchgesetzt – und gleich einen Geologen aus den USA eingeladen nach Wasser und Gold zu suchen. Dieser stieß aber auf Ölvorkommen, die dann ab 1938 von der Arabian American Oil Company, kurz ARAMCO, gefördert wurden, allerdings auf einem niedrigen Niveau.

fare in the Twenty-First Century (1982), New York 1993, S. 589–601; und U.S. Air Force: Civil Reserve Air Fleet (2011), http://www.amc.af.mil/library/factsheets/factsheet.asp?id=234 (zuletzt aufgerufen am 12.10.2013).

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Abb. 2: Die Karte aus Life Magazine aus dem Jahr 1949 markiert Saudi-Arabien als USTerritorium umgeben vom British Empire.

Der Treibstoff der West-Alliierten im Krieg kam zu 70% noch aus der westlichen Hemisphäre, nämlich aus den USA selbst und den Fördergebieten von amerikanischen Firmen in Mexiko oder Venezuela. Ab 1943 verbreitete sich die Sorge, diese Ölvorkommen könnten endlich sein. Deswegen, so die Sicht des State Department, sollte ARAMCO bei der Entwicklung der Vorkommen unterstützt werden. Die Anbindung ihrer Stätte über den Luftverkehr schien dafür essentiell. Und die USA unterstützten den jungen Staat finanziell und bemühten sich um den Bau eines militärischen Flughafens.28 28

Vgl. dazu Robert Vitalis: America’s Kingdom. Mythmaking on the Saudi Oil Frontier, Stanford 2007; Lawrence Wright: Der Tod wird Euch finden. Al-Qaida und der Weg zum 11. September (2006), München 2007, S. 82; Robert Lacey: The Kingdom, London 1981, S. 231 ff.; Irvine H. Anderson: Aramco: The United States and Saudi Arabia;

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Im Zuge der Annäherungspolitik zwischen beiden Staaten traf President Roosevelt auf der Rückreise von der Konferenz in Yalta im Februar 1945 König Ibn Saud auf einem Kriegsschiff im Suez-Kanal. Saud äußerte deutlich die Sorge, das Interesse der USA werde mit Kriegsende wieder erlöschen, wie ihn britische Diplomaten warnten. Folgenreicher als die Antwort, die Roosevelt auf diese Zweifel an der Verlässlichkeit der USA gab, war das Geschenk, das im Anschluss im State Department für Ibn Saud gewählt wurde. Denn es war kein Zufall, dass die Wahl auf eine DC-3 fiel – jenes Flugzeug, das auch ohne große Flughäfen auskam. Mit geringer Luftbefüllung boten die Reifen der Maschinen sogar eine ausreichend hohe Auflage für die Landung auf Wüstensand.29 Durch dieses Geschenk gewissermaßen geködert, verfiel Ibn Saud in einen regelrechten Flugrausch und stimmte im August 1945 schließlich dem Bau des Flughafens zu – als der Krieg in Europa beendet war und der Sieg gegen Japan unmittelbar bevorstand. Die militärische Nutzung konnte nur noch für die Demobilisierung der Truppen gerechtfertigt werden, fertiggestellt war der Flughafen allerdings auch hierfür zu spät. Das Abkommen zielte aber schon auf eine zivile Nutzung und bereits 1946 tauchte Dhahran, die Stätte der Ölförderung von ARAMCO, als Ziel im Flugplan der US-Fluggesellschaft TWA auf.30 Ihre Crews flogen aber auch die Flotte von mittlerweile zehn DC-3 Flugzeugen der neu gegründeten Saudi Arabian Airlines, die Ibn Saud kontrollierte und dessen Hofstaat sie mobilisierte. Die Luftfahrt hatte für den Ausbau der Macht des Königshauses hohe Bedeutung. Um es in der Logik von Deleuze und Guattari zu sagen, operationalisierte das Flugzeug den – neben dem Meer – glatten

29

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a Study in the Dynamics of Foreign Oil Policy, 1933–1950, Princeton 1981; Special Committee Investigating the National Defense Program: Investigation of the National Defense Program. Additional Report of the Special Committee Investigating the National Defense Program, pursuant to S. Res. 71 (77th Congress, and S. Res. 6, 78th Congress), Resolutions Authorizing and Directing an Investigation of the National Defense Program. Report of the Subcommittee Investigations Overseas, Section 1 – Petroleum Matters, 78th Congress, 2nd Session, Senate, Report No. 10, Part 15, February 16 (legislative day, February 7), 1944, United States Government Printing Office, Washington (D.C.) 1944. Vgl. Department of State: Cassius C. Davis, Capt. A.C. Res., To Department of State, 9.11.1946, National Archives, RG 59 General Records of the Department of State, Decimal File 890F.796/11–946. Vgl. Department of State: Agreement Signed July 4th [between Saudi Arabia and Trans World Air], 12.7.1946, National Archives, RG 59 General Records of the Department of State, Decimal File 890F.796/7–1246.

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Abb. 3: In der gleichen Ausgabe von Life Magazine setzt dieses Foto das Zusammenspiel von Flugzeug und Erdöl in Szene.

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Raum par excellence: die Wüste. In Konkurrenz zu anderen Dynastien, die die Macht der Sauds in Frage stellten,31 hatte das Königshaus ein Monopol auf diesen beschleunigten Modus nomadischer Bewegung in der Luft (vgl. Abb. 3). Allerdings war dieses Monopol durch eine weitere Fluggesellschaft eingeschränkt, die Aramco Air. Mit sieben DC-3 Flugzeugen konnte das Personal des Ölunternehmens ebenso frei und flexibel innerhalb des Landes und der Region befördert werden wie die Königsfamilie. Die Fluggesellschaft war in den 1940er und 1950er Jahren sogar schon im Besitz von Flugzeugen höherer Reichweite, die mittlerweile Direktverbindungen in die USA ermöglichten. Die Reichweite des Königshauses blieb hingegen regional limitiert. Als in den USA 1957 über ein Geschenk für König Saud, Sohn des 1953 verstorbenen Staatsgründers Ibn Saud, nachgedacht wurde, schlug der US-Botschafter in Riad vor, ihm ein Flugzeug interkontinentaler Reichweite vom Typ DC-6 zu schenken. Um dessen Kauf hatte Saud sich bisher vergeblich bemüht.32 Eine Stimme aus dem State Department pflichtete bei: „What does a man with a $350 million income really want. Well, this one wants a DC 6. He has tried to buy one, I believe, but none were available. Roosevelt gave his father one plane so why can’t we repeat for the man who controls our largest, single overseas investment?“33 President Eisenhower entschied anders und wählte eine lederne Schreibtischunterlage als Geschenk. Der Rückgriff auf ein Medium der Schrift anstelle des Flugverkehrs markierte die Distanz, die in den folgenden Jahren die Beziehungen zwischen beiden Staaten offiziell prägen sollte. Dennoch stieg die Ölförderung durch ARAMCO kontinuierlich; Saudi-Arabien wurde zur heute größten Tankstelle der Erde. Die Weltkarte des Öls ist seither eine völlig andere als vor dem Zweiten Weltkrieg. Erschlossen wurde diese Feuerquelle aber wesentlich aus der Luft, und das Flugzeug operationalisierte den glatten Raum der Wüste.

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Vgl. dazu Madawi Al-Rasheed: „Evading State Control. Political Protest and Technology in Saudi Arabia“, in: The Anthropology of Power. Empowerment and disempowerment in changing structures, hg. von Angela Cheater, London 1999, S. 149–162, S. 155. Vgl. Department of State: The Ambassador in Saudi Arabia (Wadsworth) to the Secretary of State, ‚Presidential Handling’, Dhahran 3.1.1957, National Archives, RG 59 General Records of the Department of State, Decimal File 786A.11/1–357. Department of State: Thayer, Molly To Robert Murphy, Kindnes of Frazier Wilkins, Dhahran 12.1.1957, National Archives, RG 59 General Records of the Department of State, Decimal File 786A.11/1–1257.

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V. Was ist eigentlich ein Mittelmeer? In Platons Dialog Phaidon urteilt Sokrates treffend, dass die Erde sehr groß sei und wir, ihre Bewohner, „nur an einem sehr kleinen Teil, wie Ameisen oder Frösche um einen Sumpf, um das Meer herum wohnen“, das für Platon von Georgien (Phasis) bis zur Strasse von Gibraltar (Säulen des Herakles) reicht.34 Weiter sagte er voraus: „Wenn jemand zur Grenze der Luft gelangte oder Flügel bekäme und hinaufflöge, so würde er dann hervortauchen“ aus dem mittelmeerischen Sumpf und sehen, daß dort jenseits der Grenze „der wahre Himmel ist und das wahre Licht und die wahre Erde.“35 Über unsere Erde hatte Sokrates aus dieser imaginierten Position nur vernichtende Worte. „Denn die Erde hier bei uns und die Steine und der ganze Ort hier ist zerfressen und verwittert.“36 Abb. 4: Auf dem Höhepunkt globaler Emphase zeigten Globen nur noch die Städte wichtiger Flughäfen; der Unterschied von Land und Meer war obsolet, Distanz wurde als direkte Verbindung vermessen.

Der Blick aus der Luft auf die Erde offenbarte 2350 Jahre später allerdings etwas anderes. Er beflügelte ein neues Bild der Erde, das die Elemente Wasser und Erde in ein neues Verhältnis zueinander setzte. Dieses Bild förderte eine Emphase der Globalität, deren populärste Stimme die des republikanischen Gegenkandidaten der Präsidentschaftswahl 1940, Wendell Willkie, war. Nach einem Flug um die Erde entlang des US-Streckennetzes zur Luftversorgung im Jahr 1943 veröffentlichte er den Bestseller One World. Willkie propagierte den Zusammenhang der Erdteile, wie er aus der Luft sichtbar war, als Voraussetzung für ein neues demokratisches Zeitalter. „When I say that peace must be planned on a world basis, I mean quite literally that it must embrace the earth. Continents and oceans are plainly only parts of a whole, seen,

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Platon: Phaidon 109 a–b. Ebd.. Ebd..

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as I have seen them, from the air.“37 Der Blick aus der Luft offenbarte einen Zusammenhang der Erde, der sie zu einem geschlossenen System machte, noch eindeutiger als Mackinder unter den Bedingungen der Schifffahrt gefolgert hatte. Der Gegensatz von Land und Meer war in dieser Emphase eingeebnet. Deutlich wird diese Einebnung in jenen weißen Globen und Karten, die nur noch Punkte der Flughäfen zeigen (vgl. Abb. 4). Doch so unschuldig dies in der Propaganda für globale Demokratie klingt, war die Einebnung dieses Gegensatzes nicht. Die spezifische Kartographie der Luftfahrt war die der Azimuthal-Projektion: ein Verfahren, bei dem die Karte die Erdkugel in einem Punkt tangiert und die Erdteile als Entfernung von diesem Punkt projiziert werden. Damit wird die Distanz exakt wiedergegeben und direkte Verbindungen entlang der Erdkrümmung werden als Geraden dargestellt. Distanz und Richtung, Reichweite und Route werden damit als für den Luftverkehr wesentliche Parameter operationalisierbar. Fast alle Weltkarten, die in den 1940er Jahren kursierten, wählten den Nordpol als ihr Zentrum.38 Dadurch eröffneten sie den Blick auf die arktische Region und deren mögliche Bedeutung als zukünftiger Luftweg zwischen Nordamerika und Eurasien. Die beiden Kontinente rückten in eine neue Nachbarschaft und hatten ein neues, eigenes „Mittelmeer“. Der Schifffahrt war es wegen des ewigen Eises verschlossen geblieben, die Luftfahrt dagegen eröffnete dem Wasser und der Erde ihre je eigene Lage. Es war dieser Blick, der die Spaltung der Welt im Kalten Krieg konfigurierte. 1942 veröffentlichte der Geograph Hans Weigert ein Buch mit dieser Landkarte, in der Piktogramme und Linien die Flugdistanzen über das Nordmeer angaben. 1947 ergänzte er dann: „In the Far North the situation is obscure. Here the U.S.S.R. is our immediate neighbor over the top of the world, across the ‚Arctic Mediterranean‘. Dangerous errors of judgment can follow a habit of looking across the vast expanse of the Pacific. Look north!“39 (vgl. Abb. 5). Noch grundlegender auf die strategische Analyse dessen gerichtet, was ein Mittelmeer auszeichnet, war der Blick des 1943 verstorbenen Nicholas Spykman, Professor für Internationale Beziehungen an der Yale University. In seinen letzten Vorlesungen identifizierte er aus der Perspektive der Luftfahrt 37 38

39

Wendell Willkie: One World, with an introduction by Donald Bruce Johnson (1943), Urbana, London 1966, S. 203 f.. Vgl. Alan K. Henrikson: „The Map as an ‚Idea‘: The Role of Cartographic Imagery During the Second World War“, in: The American Cartographer, Vol. 2, No. 1, 1975, S. 19–53; und Susan Schulten: „Richard Edes Harrison and the Challenge to American Cartography“, in: Imago Mundi, Vol. 50, 1998, S. 174–188. Hans W. Weigert: „U.S. Strategic Bases ad Collective Security“, in: Foreign Affairs, Vol. 25, No. 2, Januar 1947, S. 250–262, S. 260 f..

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Abb. 5: Das Flugzeug erschloss dem Nordmeer seine Lage als Mittelmeer zwischen den beiden Kontinenten, Amerika und Eurasien, in der geopolitischen Tradition Mackinders das ‚Heartland’.

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zwischen den beiden Kontinenten Eurasien und Amerika drei Meere: den atlantischen, den arktischen und den pazifischen Ozean (vgl. Abb. 5). Ein Ring der Seemacht, wie Mackinder noch analysiert hatte, könne Eurasien nicht mehr eindämmen. Die Schiffe wären den Flugzeugen Eurasiens ausgeliefert. Für die Luftmacht der USA war die Distanz über die drei Weltmeere aber noch zu weit. Benötigt wurden Landgebiete außerhalb der USA, die, durch ein Meer von Eurasien getrennt, genügend Schutz boten, aber noch in Reichweite lagen. Dieses Konzept der „opposite coast“ hatte im Weltkrieg der Sieg der Alliierten im Krieg um unser herkömmliches Mittelmeer instruiert. Die Truppen setzten von Nordafrika aus nach Italien über, mit der Luftversorgung im Rücken. „Our North African and Italian campaigns have illustrated the fact that, if there is an opposite coast on which air power can be based, certain regions of the Old World can be effectively controlled from these points. The North Sea, the European and Asiatic Mediterraneans, and the Sea of Japan can be considered in this classification, for the opposite coasts of these marginal seas can support air power which would be utilized against a continental air force.“40 Spykman identifizierte damit nicht nur die wesentlichen Gebiete, auf die die USA sich im Kalten Krieg zur Eindämmung der Sowjetunion konzentrieren würden, er erfand eine Formel dafür, wie Land und Meer in ein strategisches Verhältnis im Interesse der Luftmacht gesetzt werden können. Dazu übertrug er das Bild unseres südeuropäischen Mittelmeers auf jegliches Ziel der Erde, für das stets das nächstgelegene Meer und die gegenüberliegende Küste in strategischer Reichweite gefunden werden muss.41 Der Kalte Krieg war durch eine Steigerung dieser Reichweiten und Erhöhung der Flugdauer geprägt. So kursierten bis Ende der sechziger Jahre mit Atomwaffen bestückte B-52 Bomber, die in der Luft betankt wurden, permanent einsatzbereit in verschiedenen Regionen an den Rändern zur Sowjetunion. Sie landeten immer erst dann, wenn eine andere B-52 sie abgelöst hatte. Mit dieser Zunahme der Reichweite von Flugzeugen und Erhöhung ihrer Flugdauer über die Luftbetankung verloren die Ozeane zunehmend ihre Weite und wurden tatsächlich alle zu solchen Mittelmeeren. Als am 7. Oktober 2001 die Luftangriffe der USA auf Afghanistan einsetzten, starteten Tarnkappenbomber vom Typ B-2 von ihrem Stützpunkt in Missouri und flogen über den Atlantik und Europa bis zu den Einsatzgebieten. Ihr Rekordflug von 44 Stunden ohne Landung war nur 40 41

Nicholas John Spykman: The Geography of Peace (1944), hg. von Helen R. Nicholl, New Haven 1969, S. 54 f.. Damit erübrigt sich übrigens auch die Frage, ob Flugzeugträger diese vier Elemente der Geopolitik obsolet machen. Ein Flugzeugträger ist nur eine Erweiterung der Reichweite der Seemacht. Strategische Luftmacht muss an Land stationiert sein.

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möglich, weil sie unterwegs in der Luft betankt wurden, von Flugzeugen, die ihrerseits in Europa und Asien stationiert waren.42 Damit wird noch einmal deutlich, wie es um die strategische Realität der Luftmacht bestellt ist. Bis heute gilt, dass Flugzeuge zur Erde zurückkehren müssen, und diese Funktion kann nur ein Flughafen übernehmen, versorgt mit Flugbenzin, das über Meer und Land transportiert wird und hergestellt aus in Jahrmillionen Erdgeschichte entstandenen Kohlenwasserstoffen.

Abbildungs-Nachweise Abb.1: Army Air Forces in World War II, Vol. 1, Plans and Early operations. January 1939 to August 1942, hg. von Wesley Frank Craven und James Lea Cate, Chicago 1948, Map11. Abb. 2 und 3: Aramco – An arabian-american partnership developed desert oil, in Life Magazine, 28.3.1949, S.62–79. Abb. 4: Cleveland, Reginald M. und Leslie E. Neville (1944): The Coming Air Age, New York, London 1944. Abb. 5: Weigert, Hans W.: Generals and Geographers. The Twilight of Geo-politics, New York, London, Toronto 1942.

42

Vgl. dazu CNN (Cable News Network): Defense officials: Air operation to last ‚several days’, 7. Oktober 2001, http://www-cgi.cnn.com/2001/US/10/07/ret.attack.pentagon/ 2001 (zuletzt aufgerufen am 12.10.2013); und „Geballte Streitmacht“, Der Spiegel 7.10.2001, http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,161260,00.html (zuletzt aufgerufen am 12.10.2013).

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1.

Friedrich Kittler: Musik und Mathematik. Band I: Hellas. Teil 1: Aphrodite, München 2006, S. 12.

2.

Friedrich Kittler: „Zu den Römern. Auszug aus einem nachgelassenen Text zu ‘Musik und Mathematik II: Roma aeterna. Römer und Christen’“, in: TUMULT. Schriften zur Verkehrswissenschaft, Nummer 40: Friedrich Kittler, Technik oder Kunst? (hg. Walter Seitter, Michaela Ott), Wetzlar 2012, S. 39 – 148, 141 (Vorabdruck aus: Friedrich Kittler: Musik und Mathematik. Band II: Roma aeterna (aus dem digitalen Nachlaß herausgegeben von Gerhard Scharbert), erscheint München (Fink) 2017).

3.

Vgl. auch Joulia Strauss: „Demonstrationen sind Performances“ (Interview mit Helmut Hoege), http://www.taz.de/!5050084. Und Diess: “Demonstrations are Performances”, in: Global Activism. Art and Conflict in the 21st Century (ed. Peter Weibel), MIT Press 2015, S. 511.

4.

Friedrich Kittler: Optischen Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, S. 12.

5.

Peter Weibel, in: Kunstzeitung, September 2012.

6.

Kittler: Musik und Mathematik I.1, Aphrodite (vgl. oben Nachweis 1), S. 307.

7.

Die Vorsokratiker, Griechisch / Deutsch (ausgewählt, übersetzt und erläutert von Jaap Mansfeld und Oliver Primavesi), Erweiterte Neuausgabe, Stuttgart 2011, S. 185, Fragment 88, aus Kapitel 3: Pythagoras, ältere Pythagoreer.

8.

Emilios Harbis: „Athens Biennale, a social CERN at Omonoia“, in: Kathimerini Zeitung, 19. November 2015, S. 13.

9.

Akadimia Platonos, in der die von Joulia Strauss gegründete Avtonomi Akadimia stattfindet (www.avtonomiakadimia.net), ist der Eigenname des Athener Gartens, von dem die Bezeichnung aller heutigen Akademien stammt. Daher die zunächst exotisch wirkende Schreibweise „Akadimia“.

10. Ebd., S. 403: Kapitel 7: Empedokles, Einleitung (Oliver Primavesi). 11. Ebd., S. 404; zitiert ist ein Vers aus dem von Oliver Primavesi rekonstruierten Kontinuum I des ersten Buchs der Empedokleischen Physika, Fragment 66b, Vers 232 – 330, hier: 267, wo es im Text des Fragments heißt: „[In Liebe] kommen wir [Elemente] zu einem Kosmos zusammen, [im Streit] wachsen sie auseinander, um aus Einem Mehrere zu sein – ...“; in eckigen Klammern stehen die Worte, die im Strasburger Papyrus, Strasb.a(i), zerstört sind und auch nicht anderweitig überliefert, sondern vom Herausgeber ergänzt wurden. Zum „Wir“ vgl. auch Vers 287 und 303.