Grundrechte und Rechtskultur auf dem Weg nach Europa [1 ed.] 9783428532186, 9783428132188

Der Schwerpunkt des ersten Abschnittes dieser Arbeit liegt auf Fragen der Grundrechtsgeltung, der Grundrechtsinterpretat

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Grundrechte und Rechtskultur auf dem Weg nach Europa [1 ed.]
 9783428532186, 9783428132188

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Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 160

Grundrechte und Rechtskultur auf dem Weg nach Europa Von

Heinrich Scholler

a Duncker & Humblot · Berlin

HEINRICH SCHOLLER

Grundrechte und Rechtskultur auf dem Weg nach Europa

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 160

Grundrechte und Rechtskultur auf dem Weg nach Europa

Von

Heinrich Scholler

a Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Process Media Consult GmbH, Darmstadt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-13218-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Die nachfolgend hier abgedruckten Aufsätze umfassen einen Zeitraum von über 30 Jahren, beschränken sich aber im Wesentlichen auf Abhandlungen zum deutschen und zum europäischen Recht. Dabei stand ich vor der Frage, ob die schon vor vielen Jahren veröffentlichten Abhandlungen in ihrer ursprünglichen Form wiedergegeben werden sollen oder ob der Text oder auch die Anmerkungen einer Aktualisierung unterzogen werden müssen. Ich habe mich dazu entschlossen, keine Aktualisierung vorzunehmen, weil diese dann doch Stückwerk bleiben müsste, es sei denn, man würde relativ viel umschreiben und ergänzen. Dann würden aber auch die einzelnen Abhandlungen ihre Funktion verlieren, die man vor allem auch darin sehen sollte, dass sie sich in einen Diskussionszusammenhang hineinstellen und eine gemeinsame Problemerörterung unter bestimmten Zeitfragen darstellen sollen. Dort, wo Aufsatzsammlungen von Kollegen gelegentlich durch umfangreiche Aktualisierungen diesen Zusammenhang unbewusst oder bewusst aus den Augen verloren haben, sieht man auch gleich, dass der Zusammenhang aus der notwendigerweise zeitgebundenen Diskussion geschwächt ist oder gar verloren wird. Ich bin von diesem Grundsatz nur dort abgewichen, wo aus dem Text eine historische Rückanknüpfung gelegentlich erfolgte, so wenn ich mich zum Beispiel in dem einen oder anderen Artikel auf die Wende von 1989/90 beziehe und dies im Kontext mit der Zeitangabe „vor 10 Jahren“ gekennzeichnet wird, obschon beim Neudruck nunmehr ein längerer Zeitabschnitt verstrichen ist. Im Zusammenhang mit den Anmerkungen über die Publikationen in den Originalzeitschriften kann man aber unschwer den genauen Zeitpunkt der Publikation ermitteln. Die verschiedenen Abhandlungen wurden in folgende Abschnitte eingeteilt, um einen Zusammenhang stärker in Erscheinung treten zu lassen: • Teil 1 – Grundrechte • Teil 2 – Rechtskultur • Teil 3 – Toleranz • Teil 4 – Auf dem Weg nach Europa und das Problem der Globalisierung Damit wird erkennbar, dass es sich nicht nur um Abhandlungen zum Staatsrecht oder zum Verwaltungsrecht handelt, sondern dass auch Fragen der rechtstheoretischen Auseinandersetzungen und Probleme des Europarechts mit behandelt werden. So wird auf der einen Seite eine gewisse Breite der Themen erreicht, auf der anderen Seite aber dennoch eine Überfüllung vermieden. Dies vor allem dadurch, dass der Schwerpunkt auf Fragen der Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation liegt. Bewusst habe ich Beiträge zur Rechtsgeschichte, zum orientalischen Recht

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Vorwort

und zur Rechtsanthropologie weggelassen, obwohl ich 16 Jahre lang in der „Gesellschaft für Rechtsvergleichung“ den Vorsitz der Arbeitsgruppe 6 innehatte, die sich gerade um diese Themen durch eine Reihe von Publikationen bemüht hatte. Ich erlaube mir auf einige dieser Tagungen und ihre Publikationen hinzuweisen. Ich habe grundsätzlich darauf verzichtet, die zahlreichen Publikationen zu den Entwicklungsländern aufzunehmen. Soweit hierzu Abhandlungen veröffentlicht wurden, sind sie in Publikationen internationaler wissenschaftlicher Institutionen erschienen. Das Gleiche gilt auch für Veröffentlichungen in französischer Sprache, die in zwei Bänden der marokkanischen juristischen Fachzeitschrift Remald zusammengefasst publiziert wurden. Seit Jahren schon bin ich Mitglied der Vereinigung der marokkanischen Professoren des Staats- und Verwaltungsrechts. Dem Verlag Duncker & Humblot möchte ich für sein Entgegenkommen danken, der mit der Bearbeitung dieses Sammelbandes ein großes Engagement zeigte. Es war der Verlag, der auch meine Promotionsarbeit an der Juristischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität München veröffentlichte und dadurch mit am Anfang meiner wissenschaftlichen Publikationsarbeit steht. München, im Februar 2010

Prof. Dr. Dr. h.c. Heinrich Scholler

Inhaltsverzeichnis

Teil 1 Grundrechte A. Publizität und Persönlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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B. Der Wandel der Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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C. Die Einwirkung des revolutionären französischen Verfassungsrechts auf die europäische Verfassungsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

D. Sphären und Schutzbereiche in der Grundrechtsdiskussion . . . . . . . . . . . . . . . . .

63

Teil 2 Rechtskultur E. Gerechtigkeitssymbole . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

75

F. Rechtskulturen in Konflikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

G. Die Verfassung zwischen lex aeterna und Zeitgesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 H. Rechtsvergleichung als Vergleich von Rechtskulturen. Ein Beitrag zur Rechtsvergleichung bei Gustav Radbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 I. Recht der Mongolei aus deutscher Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Teil 3 Toleranz J. Dantes Vision einer christlichen Weltordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 K. Gewissen, Gesetz und Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 L. Toleranz und Fairness als objektiver Schutzgehalt der Religionsfreiheit . . . . . . . 169 M. Der Gewissensspruch als Geltungsgrund oder als Störung des Rechts . Zum Verhältnis von Ethik und Recht in der Rechtsphilosophie Arthur Kaufmanns 179 N. Kulturkonflikte, Toleranz und Ordre Public . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

8

Inhaltsverzeichnis

O. Mythos und Wirklichkeit Christlicher Reiche – Äthiopien und die deutsche Reichsidee. Myth and Reality of Christian Empires . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 P. Von der Kirche der „spaltigen Religion“ des Augsburger Religionsfriedens zur modernen Garantie des Pluralismus von Religionsgesellschaften . . . . . . . . . . . . 215

Teil 4 Auf dem Weg nach Europa und das Problem der Globalisierung Q. Europa und das Problem der Globalisierung des Rechtes heute . . . . . . . . . . . . . 233 R. Der Einfluss des Staatsverständnisses auf die Legitimation europäischer Einheit. Ein Beitrag zum Spannungsfeld Vaterland, Staat und Region im europäischen Integrationsprozess . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 S. Verfassung und Recht im Prozedere der Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 T. Die Entstehung und Bedeutung der europäischen Grundrechtecharta . . . . . . . . . 275 U. Der gleiche Zugang zu den Gerichten. Die Weiterentwicklung des Gleichheits satzes vom Willkürverbot zu einem Gebot der Chancengleichheit . . . . . . . . . . . . 285 Quellennachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 293

Teil 1 Grundrechte

A. Publizität und Persönlichkeit I. Vorwort zum Problem Das rechtswissenschaftliche Problem einer Grenzziehung zwischen einem absoluten oder relativen Persönlichkeitsraum und den öffentlichen Meinungs- und Informationsträgern kann einer Lösung nur dann zugeführt werden, wenn im Rahmen der Rechtsrealienforschung auch die kommunikationswissenschaftlichen und soziologischen Tatbestände der modernen, der entfalteten Verkehrs- und Industriegesellschaft in Rechnung gestellt werden. Bei der Orientierung an soziologischen Erkenntnissen erfährt die rechtswissenschaftliche Arbeit nicht nur Realienbereicherung, sondern sie erkennt, dass auch in der Gesellschaftswissenschaft ein verwandtes Problem sich aktualisiert hat und zur Diskussion steht: Publizistik und Gesellschaft. Die Problemstellung in der Soziologie ist jedoch von der rechts- und staatswissenschaftlichen verschieden, weil der Soziologe nicht primär die Rückzugsmöglichkeit der Person aus der Gesellschaft in Betracht zieht, vielmehr die Rückwirkung der Publizistik und damit der Gesamtheit der Meinungs- und Informationsträger auf die schöpferische Persönlichkeit als Grundlage der Gesellschaft der Wissenschaftskritik unterwirft. Es geht ihm um die Privatheit und Anonymität der Person als Ursprungsort von Leistungen, die von großem Öffentlichkeitswert und gleichsam Grundlage der Gesellschaft sind. Die Publizitätspersönlichkeit, die demonstrative Individualität verliert mit Privatheit und Anonymität ihre schöpferische Kraft, so dass hier das Interesse der Soziologie an dem Problem Persönlichkeit und Publizität ihren Sinn und Begründungskern hat.1 Es wird sich wieder die Fragestellung aufdrängen, ob das Problem des Persönlichkeitsschutzes gedanklich einfach auf die Sicherung eines Einsamkeitsraumes zurückgeführt werden kann oder ob nicht gerade dadurch das Entscheidende verschüttet zu werden droht. Die Fragestellung nach der Funktion der Meinung zwischen dem ein1 Vgl. Helmut Schelsky, Die Problematik der Publizität in der heutigen Gesellschaft. In: „Universitas“, Jg. 1963, S. 1169 (1180). Wie verschieden Denkweise und Problemstellung in der Rechtswissenschaft sein können, zeigen die Ausführungen Eberhard Schmidts zum Problem Öffentlichkeit und Publicity vom Standpunkt des Persönlichkeitsschutzes und der justiziellen Sachlichkeit aus (vgl. Eberhard Schmidt, Öffentlichkeit oder Publicity? In: Festschrift für Walter Schmidt. Berlin 1959, S. 338). Das juristische Problem ist erneut zur Diskussion gestellt durch den Referentenentwurf eines Gesetzes zur Änderung und Ergänzung schadensersatzrechtlicher Vorschriften, veröffentlicht mit Begründung im Februar 1967. Vergleiche hierzu auch Heinrich Scholler, Person und Öffentlichkeit. Zum Spannungsverhältnis von Pressefreiheit und Persönlichkeitsschutz. München, Beck 1967 (= Münchener ÖffentlichRechtliche Abhandlungen, Heft 3).

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Teil 1: Grundrechte

zelnen und der Gruppe erfährt in der Soziologie ebenfalls eine ambivalente Antwort, da einerseits die öffentliche Meinung eine unentbehrliche Entlastungsfunktion2 in der modernen, auf Erfahrungen zweiter Hand angewiesenen Industriegesellschaft ausübt, andererseits nur durch „ideologische Diät“3, Askese und Nicht-Partizipation4 einer Überflutung wahnhafter, erfahrungsentleerter und fiktiver Meinungen gesteuert werden kann. Der Pleonexie des modernen Wohlstandsdenkens, der um sich greifenden Konsumentenhaltung, der außengeleiteten Reizsteuerung und Reizverarbeitung, die den öffentlichen wie den privaten Raum überschwemmen, wird eine moderne Konsumaskese5 und eine ideologische Diät gegenübergestellt, um das Dasein aus der Massenhaftigkeit zu lösen, weil in der automatischen Erzeugung und Befriedigung von Konsumbedürfnissen des Menschen als „matre et possesseur de la socit“ die moderne Bedrohung der Freiheit liegt. II. Die außengeleitete Persönlichkeit Die Soziologie hat frühzeitig erkannt, dass die Gruppe auf die Einzelperson und umgekehrt die Einzelperson auf die Bezugsgruppe auf zwei charakteristische Weisen einwirken kann. Man hat diese beiden unterschiedlichen Gruppenbilder, Ferdinand Tönnies6 folgend, mit den Begriffen Gemeinschaft und Gesellschaft belegt: die durch das Gemeinschaftsbild geprägte Gruppe zeichnet sich aus durch „Willensformen“ Verständnis, Brauch und Glaube.7 Dabei wird von Tönnies das Merkmal der glaubensmäßigen Zusammenbindung der gemeinschaftsgeprägten Gruppe weiterhin gekennzeichnet durch die Wirkweisen der Eintracht, Sitte und Religion. Demgegenüber stehen die Willensformen und Wirkweisen der Gesellschaft, die sich begreifen lassen als Vertrag, Satzung und Lehre (Doktrin) und die hinsichtlich der Lehre weiter zerlegt werden in Konvention, Gesetzgebung und Öffentliche Meinung. Diese Dichotomie des Gruppenverhaltens ist auch von amerikanischen Soziologen fruchtbar gemacht worden, die die „Primärgruppe“, die auch als informelle Intimgruppe bezeichnet werden kann, als „sacred“- oder „folk“-society von der Sekundärgruppe als einer „secular“- oder „urban“-society abheben.8 Die Sekundärgruppe, die „urban“- oder

2 Sie liegt vor allem in der Signalisierung von Verhaltensmustern oder Rollen, die vom einzelnen übernommen werden oder an die er sich anpassen kann. Die Gruppe erscheint gleichsam als ein Flechtwerk von Rollen (vgl. Robert Francis, Wissenschaftliche Grundlagen soziologischen Denkens. Bern 1957, S. 64; Jürgen Tenbruck, Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie. In: „Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie“, Jg. 1961, S. 1. 3 Arnold Gehlen, Die Seele im technischen Zeitalter. Hamburg 1962, S. 62. 4 Paul Tillich, Christian thought and social action. New York 1933. 5 Arnold Gehlen, Mensch und Spätkultur. Bonn 1956, S. 108, 238. 6 Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Berlin 1912, S. 282. 7 Ferdinand Tönnies, Kritik der öffentlichen Meinung. Berlin 1922, S. 219. 8 Svend Riemer, Die Persönlichkeit des modernen Städters und die Tertiärgruppe. In: ZgStW, Bd. 117, S. 154 ff.

A. Publizität und Persönlichkeit

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„secular“-society, ist demnach durch Unpersönlichkeit und Einseitigkeit der zwischenmenschlichen Bezugssysteme geprägt. Es leuchtet ein, dass das Problem Persönlichkeitsschutz und Meinungsfreiheit ganz verschiedene Akzente, ja verschiedene Beantwortung erfährt, ob es für das zwischenmenschliche Verhalten in der Intim- bzw. informellen Primärgruppe gestellt wird. So hat Tönnies9 die öffentliche Meinung, die Motor und Medium der Sekundärgruppe ist, als etwas Fremdes, an die Menschen von außen Herantretendes bezeichnet, das in seiner Wirkweise, der literarischen, dergestalt in alle menschliche Beziehung, Glaube und Vertrauen, welche zwischen einem Redenden, Lehrenden und einem zuhörenden Verstehenden bestehen, eindringt, so dass diese ausgelöscht würden. Die Gewährleistung des Persönlichkeitsschutzes kann aber nicht einfach nach gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Gruppenphänomenen unterschieden werden, weil die moderne sozialverfasste Industriegesellschaft eine heterogene Gemengelage von Primär- und Sekundärgruppen enthält, die überdies durch eine Tertiärgruppe überschichtet ist. Die Erkenntnis dieser dritten Schicht ist vor allem den Untersuchungen von David Riesman10 zu verdanken, der neben der traditionsgeleiteten und innengeleiteten Gesellschaft eine dritte Kategorie, die so genannte außengeleitete Gesellschaft und den ihr entsprechenden Typus des außengeleiteten, marktbezogenen Menschen unterscheidet. Die Fragestellung nach dem Persönlichkeitsschutz kann also von der Soziologie nur vom Blickpunkt einer Gesellschaft aus gestellt werden, die auf der informellen Intimgruppe aufbauend über Sekundär- und Tertiärgruppen verfügt, die ganz anderen Gesetzmäßigkeiten gehorchen. Gleichzeitig muss der Trend von der traditionsgeleiteten Primärgruppe über die innengeleitete Sekundärgruppe zur außengeleiteten Tertiärgruppe beachtet werden, so dass Verhaltensweisen, die den beiden ersten Gruppen gemäß sind, weder soziologisch noch juristisch als ontisch oder normativ angesehen werden dürfen, weil sie womöglich schon in absehbarer Zeit durch neue Verhaltensweisen abgelöst werden. Es ist verständlich, dass der Ruf nach dem juristischen Persönlichkeitsschutz sich gerade in dem Zeitpunkt ergibt, in welchem sich die Gesellschaft von der innengeleiteten zur außengeleiteten umwandelt. Es ist die Umschichtung des „alten Mittelstandes“, der repräsentiert wird durch den Händler, den kleinen Unternehmer zum „neuen Mittelstand“, der durch den Bürokraten, den kaufmänni9

Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, a.a.O., S. 286. David Riesman, Reuel Denny, Norman Glazer, The Lonely Crowd. A Study of the Changing American Character. New Haven 1953, S. 19 f. (dt. Ausgabe u. d. T.: Die einsame Masse. Hamburg 1961, S. 35 f.). Andere Soziologen haben diesen Typus „Markt-Charakter“ (vgl. Erich Fromm, Psychoanalyse und Ethik. Stuttgart 1954, S. 82 ff.) oder „Ermittler“ (Mills) genannt. Riemer (a.a.O., S. 157) umschreibt die Tertiärgruppe, den Mutterboden des neuen Charakters, folgendermaßen: „Tertiärgruppe nennen wir eine Gruppe von Menschen, die zwar irrational zusammengehalten ist, die aber in einer anonymen Umgebung zustande kommt, wo kein Mensch den anderen kennt. Sowohl Anonymität wie auch Irrationalität sind also in der Tertiärgruppe vorhanden.“ 10

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Teil 1: Grundrechte

schen Angestellten u. a. geprägt wird. Dieser Mittelstandswechsel ist gekennzeichnet durch die fortschreitende Entmachtung der nominellen Eigentümer zugunsten derer, die über die Produktionsmittel wirklich disponieren, also die Machtverschiebung zu Gunsten des Managements, wie dies von S. Burnham11 dargestellt wurde. Die Verlagerung der Verfügungsgewalt innerhalb der Gesellschaft wird von einer analogen translatio imperii bzw. einer Souveränitätsverschiebung vom normativen Souverän auf das wirklich verfügungsbefugte Spitzenmanagement der Exekutive, die Kommandohöhen der Verwaltung begleitet.12 Änderungen dieser Art in Gesellschaft und Gemeinschaft wandeln selbstverständlich den Typus des von innen geprägten Menschen. Die Merkmale der Verhaltensweisen des neuen Mittelstandstypus sind: Indifferenz13, Verhaltensangleichung, Abhängigkeit von Ansichten und Gesinnungen der peer-group, Verhaltenssteuerung durch außenleitende Träger öffentlicher Meinung. Der außengeleitete Mensch neuen Stils orientiert sich nach D. Riesman am Erfolg, doch nicht so, dass die Leistung ausschlaggebend ist, vielmehr wird der Leistungstrieb korrigiert oder ersetzt durch den Anerkennungstrieb, das Erfolgsstreben gemäßigt durch das Suchen nach Freundschaft und zwischenmenschlicher Beziehung. An die Stelle des freien Wettbewerbs treten die faire Konkurrenz und die rivalisierende Zusammenarbeit. Die Ausrichtung an der Maxime „dont be different“ verursacht, dass der Typus des „Ermittlers“ als außengeleiteter Ermittler nie allein ist, ständig wie durch eine Radareinrichtung Signale von der Umwelt empfängt, so dass schon beim außengeleiteten Kind Selbstgespräch und Lied als Verhaltensweisen der Innenleitung selten werden. Während der innengeleitete Typus durch innere Wortlenkung, Gnade und Erwählungsbewusstsein wie durch Leistungsstreben im Beruf geprägt ist, während er durch Schande und Furcht vor sozialen Unwerthandlungen abgehalten wird, wird der außengeleitete Typ durch diffuse Angst sozial gesteuert.14 Auf dem politischen Felde zeigt der Typ des „new style indifferent“ ebenfalls eigenständige Verhaltensweisen, die sich von der moralischen Entrüstungshaltung des innengeleiteten Menschen wesentlich unterscheiden. Der außengeleitete Typus ist als „inside-dopester“ (Informationssammler) nicht mehr von politischen Handlungsimpulsen, sondern nur noch durch Verständnisbereitschaft bestimmt. Er hat seinen Ursprung nicht in der Berufs-, sondern in der Verbrauchersphäre, er begibt sich dabei 11 Vgl. Stuart Burnham, Das Regime der Manager. Stuttgart 1948, S. 183 u. 219 ff. Der Entmachtung des nominellen Eigentums zugunsten des Managements läuft eine Entwicklung der Entpersönlichung zugunsten anonymer Institutionen, wie Presse, öffentliche Meinung oder Interessenverbände, parallel. Hans Freyer, Theorie des gegenwärtigen Zeitalters. Stuttgart 1955, S. 115 bestätigt die Richtigkeit der Burnhamschen Theorie im Felde des nominellen Eigentums. 12 Vgl. Hans Freyer, Theorie, a.a.O., S. 115. 13 Vgl. Riesman, a.a.O.; ferner Helmut Schelsky in: David Riesman, Einsame Masse, a.a.O., S. 15. 14 David Riesman, Lonely Crowd (The peer-group becomes the measure of all things) S. 22, 49 ff., 64, 83, 138, (No longer talks to himself, invents songs) 112.

A. Publizität und Persönlichkeit

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jeder persönlichen emotionalen Beteiligung und stellt sich mit Konsumentenhaltung auf einen schnellen und häufigen Linienwechsel ein. Der Informationssammler sieht in der Politik im Wesentlichen ein Mittel zur Gruppenkonformität, die ein schlecht informierter Außenseiter nicht erreichen könnte. Auf dem Gebiet der Massenkommunikationsmittel bewirkt die Informationssammlerhaltung in steigendem Maße außengeleitete Toleranz und Verzicht auf Appelle an die innengeleitete Entrüstungshaltung. Nur dort, wo das Publikum noch dem innengeleiteten Typus zuzurechnen ist, gleichgültig und ablehnend gegenüber der Informationssammlerhaltung, auf Klatsch und Entrüstung ausgerichtet, kann eine intolerante Presse Verbreitung und Gehör finden. Impulslosigkeit und Toleranz des Informationssammlers bewirken schließlich das Phänomen der entpolitisierten Presse, die die politische Information auf Klatschoder Skandalgeschichten15 reduziert und nur aus einem atavistischen Hang zur Innenleitung dem Vorrang der Politik durch Abdruck auf den ersten Seiten Ausdruck verleiht. Die Frage drängt sich auf, welchen Funktionswert oder welche Position die Persönlichkeit und die Privatsphäre für den neuen Typus des außengeleiteten Menschen hat. Riesman gibt darauf zunächst die Antwort, dass der Marktcharakter des außengeleiteten Typus keine schützende Privatsphäre um die häuslichen Belange zulässt, weil beispielsweise selbst in den Essgewohnheiten zwischenmenschliche „fun morality“ oder öffentliche „taste-leadership“ starken Einfluss auf private Gewohnheiten und Geschmack ausüben. Im Verhalten der Geschlechter wird nicht mehr die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, sondern nur die Erprobung eigener Anziehungskraft gesucht. Dennoch erscheint die Persönlichkeit in der außengeleiteten Gesellschaft als individuelles Merkmal, nur dass sie nicht innengeleitet, sondern außengeleitet verstanden und deshalb durch „Oberflächendifferenzierung“ (marginal differentation) als Analogon zur Produktdifferenzierung der monopolitischen Wirtschaft erreicht wird. Zwangsläufig stellt sich damit die Frage, ob die oberflächendifferenzierte Persönlichkeit nach Persönlichkeitsschutz und Privatsphäre verlangt oder ob sie in der Apathie, der „Ohne-mich-Haltung“, dem „new style indifferent“16 bereits ihr Genüge findet und Privatsphäre nur als Freizeitkonsum verstanden wissen will. III. Kritik am außengeleiteten Menschen Für die juristischen Überlegungen hinsichtlich eines gesetzlichen Persönlichkeitsschutzes ist es von Bedeutung, ob die soziologischen Analysen Riesmans genügend abgesichert sind, um als Rechtsrealien beachtet zu werden. Mit anderen Worten: muss der Gesetzgeber vom Typus des außengeleiteten Menschen ausgehen und einen dem außengeleiteten Typus adäquaten Persönlichkeits- und Ehrenschutz normieren, um 15 Vgl. David Riesman, Lonely Crowd, S. 199, 200/207 („Emotional response“, „emotional allegiance“), („changes of line“) S. 207, („group conformity“) S. 208, 219, 220, („news“ of sex) S. 223. 16 Vgl. David Riesman, Lonely Crowd, S. 47, 152 ff.

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Teil 1: Grundrechte

den soziologischen oder sozialphilosophischen Postulaten der Konsumenthaltung, der ideologischen Diät oder der partiellen Nichtpartizipation ein juristisches Äquivalent an die Seite zu stellen? Oder müssen Gesetzgebung und Rechtsprechung zum Ehren- und Persönlichkeitsschutz von der gegenteiligen Tatsache der Innenleitung ausgehen und bereits jede außengeleitete Veränderung der Privat- und Persönlichkeitssphäre als Bedrohung des überkommenen Menschenbildes auffassen und deshalb nach einem juristischen Instrument zur Gewährleistung der innengeleiteten Lebensweise suchen? Es liegt auf der Hand, dass es sich hier um eine meta-juristische, aber für den Gesetzgeber entscheidende Weichenstellung handelt, für welche die Kommunikationswissenschaft und die Soziologie, denen sich das Problem unter dem Topos Innenleitung oder Außenleitung stellt, Wesentliches beitragen können. Eine grundsätzlich verschiedene soziologische Schau findet sich besonders bei Dahrendorf, doch haben schon Alfred Weber und Hans Freyer, ohne dass Letzterer auf Riesman Bezug genommen hat, gegenteilige Positionen bezogen. Dahrendorf geht nun von der Konzeption aus, dass der innengeleitete Mensch gegenüber dem totalen Herrschaftssystem grundsätzlich ein „Abweicher“ sei und dass umgekehrt der außengeleitete Typ das Funktionieren demokratischer Institutionen bedrohe. Das bekannte Misstrauen gegenüber der Privatheit, das mit Aufstieg und Fall McCarthys entstand und sein Ende fand, ist in den Vereinigten Staaten zweifellos eine Folge der Außenleitung. Dahrendorf stimmt hier Riesman und Shils zu,17 doch sieht er nicht im nationalen Geist, sondern im sozialen Geist das Phänomen, welches den außengeleiteten Menschen zur Preisgabe seiner privaten Sphäre und zur Hingabe der Innenleitung veranlasst. Außenleitung zerteile das Individuum und nehme es zerteilt in verschiedene Rollen in anonyme fremde Zusammenhänge hinein, so dass der außengeleitete Mensch in einen an geistige Desintegration grenzenden Zustand gerate. Die Kritik Dahrendorfs wirft Riesman vor, dass Letzterer die Folgen der Außenleitung nicht bis in alle Konsequenzen aufgezeigt habe. Die Außenleitung verwandle die demokratischen Institutionen in leere und funktionslose „Hüllen“, die den Zusammenhang mit dem Charakter der von ihnen erfassten Menschen verloren hätten. Während der innengeleitete Mensch demokratischer Institutionen und Strukturen bedürfe, könne der außengeleitete Mensch auch ohne Demokratie leben, weil die außengeleitete Gesellschaft im Grunde genommen eine „Demokratie ohne Freiheit“ sei. Die Konzeption vollständiger Außenleitung müsse notwendig zu einer gesellschaftlichen Stagnation und zu einem Zustand führen, den Riesman als den Staat bezeichnet, der von selbst läuft und der durch Führungslosigkeit charakterisiert sei. Vor allem weist nun Dahrendorf auf das Riesmansche Paradoxon hin, dass gerade die Medien und Faktoren der Massenkommunikation, welche aus allen Bereichen der Gesellschaft den innengeleiteten Typus durch den außengesteuerten ersetzen, selbst von innengeleiteten Menschen dirigiert oder manipuliert würden.18 Damit wird aber gerade die Innenleitung auf dem Gebiet der Massenkommunikation wie der Politik zu einem we17

Edward Shils, The Torment of Secrecy. Glencoe 1956, S. 207 und Ralf Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit. München 1962, S. 338 f. 18 Vgl. Ralf Dahrendorf, a.a.O., S. 342 ff., 353, 359.

A. Publizität und Persönlichkeit

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sentlichen Faktor der außengeleiteten Gesellschaft erhoben.19 Dahrendorf begnügt sich aber nicht damit, diese Inkonsequenz aufzuzeigen, vielmehr sieht er gerade im außengeleiteten Menschen, der dem sozialen Geist Persönlichkeit und Privatsphäre opfert, die Gefahr für freiheitliche Institutionen, weil Außenleitung zur Demokratie ohne Freiheit führt. Man kann die Kritik Dahrendorfs mit seinen eigenen Worten dahingehend zusammenfassen: „Nicht nur die Würde und Freiheit des Individuums werden in der Demokratie ohne Freiheit bedroht, sondern auch das Funktionieren der politischen Institutionen der Demokratie.“20 Ähnliche Vorstellungen zeigen sich im Begriff des „Dritten und Vierten Menschen“ bei Alfred Weber und in der Theorie vom „sekundären System“ bei Hans Freyer. Beide Soziologen sehen in der Gesamtverapparatung und in der Technisierung der modernen Welt Gefährdungen, die sowohl Einzelpersönlichkeit als auch die freiheitlich-demokratischen Institutionen bedrohen. Bei Alfred Weber erscheint der innengeleitete Mensch als der „Dritte Mensch“, der – durch die Integration von Freiheit und Menschlichkeit ausgezeichnet – zuerst in der Durchbrechung der hierarchisch-bürokratischen Herrschaft im Griechentum21 zur Entfaltung gelangt, im angelsächsischen22 Menschenrechtsdenken wiederhergestellt und im Rousseauschen Naturrechtsdenken seine Prägung gefunden hat. Diesem „Dritten Menschen“ steht der „Vierte“ gegenüber, der als Desintegrationstyp latente primitive Anlagen wieder evident werden lässt. Diesen Typus findet Alfred Weber sowohl im vorkommunistischen und vorindustriellen Russland, aber auch in wachsendem Maße mit dem Einsetzen der Saturierungsperiode in der teiltechnisierten Industriegesellschaft des Westens. Hier entstünden durch Gesamtverapparatung und Technisierungen Vorformen des „Vierten Menschen“, die besonders die Schicht der Beamten und Angestellten23 ergreifen, die bei Riesman gerade die Prototypen des außengeleiteten Menschen sind. Auch Hans Freyer sieht in der außengeleiteten Gesellschaft ein mehr oder weniger negatives Produkt, das er mit dem Begriff „sekundäres System“ belegt. An Stelle der alten und gewachsenen Ordnungen ist eine sekundäre Ordnung getreten, da der Staat als zentral gesteuerte Maschine und organisierter Betrieb den Menschen nur noch unter ein Sachsystem subsumiert, das durch willkürlich gesetzte Rechtsregeln den 19 Auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Institutionen zeigt sich das Spannungsverhältnis zwischen dem Humboldtschen Bildungsideal von Einsamkeit und Freiheit und dem modernen, außengeleiteten Wissenschaftsbetrieb besonders deutlich. Habermas sieht in den unvollständigen, weil noch innengeleiteten wissenschaftlichen Institutionen der Hochschulen im Anschluss an Riesman „institutionelle Schlupflöcher“ der Einsamkeit, Freiheit und Bildung, weil gerade die unrationalen Lehr- und Kommunikationsformen und die schleppend arbeitenden Selbstverwaltungskörper als Hemmungen der Außenleitung wirken (Jürgen Habermas, Das chronische Leiden der Hochschulreform. In: „Merkur“, 11. Jg. 1957, Bd. 1, S. 265 – 284; Helmut Schelsky, Einsamkeit und Freiheit. Hamburg 1963, S. 79, 215). 20 Ralf Dahrendorf, a.a.O., S. 355. 21 Alfred Weber, Der Dritte oder der Vierte Mensch. München 1953, S. 47. 22 Alfred Weber, a.a.O., S. 29. 23 Alfred Weber, a.a.O., S. 30, 43, 53 ff., 71.

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Teil 1: Grundrechte

Menschen nur noch als Leistungsquote erfasst.24 Der außerhalb dieser Leistungsquote des Menschen liegende Persönlichkeitsrest fällt aus dem Betrieb heraus, interessiert nicht mehr und gilt als privat. An die Stelle der Herrschaft über Menschen tritt die Verwaltung von Sachen, die den einzelnen zum funktionalisierten Menschen mit Fernsteuerung reduzieren und ihn vom Antrieb zum Getriebe herabmindern. Die Handlungsantriebe kommen nicht mehr aus ihm selbst, und wo sein Gewissen angesprochen ist, da regt es sich nicht persönlich, sondern reduziert, adaptiert oder konditioniert, gleichsam als „technisiertes Gewissen“.25 Verhaltensweisen, Meinungen, Gesinnungen werden objektiviert und regeln als „anonyme Aussagen“ durch unbewusste Reproduktion die zwischenmenschlichen Beziehungen. Dies hat zur Folge, dass Erfahrungen zweiter Hand oder womöglich gar Pseudo-Konzeptionen26 oder Pseudo-Sentiments an die Stelle des eigenen Urteils und der unmittelbaren Erfahrung dergestalt treten, dass Entscheidungen nicht mehr aus der Mitte der Persönlichkeit heraus getroffen werden, noch in sie hineinreichen.27 Auch Hans Freyer erkennt, dass die von ihm als „sekundäres System“ gekennzeichnete gesellschaftliche Außensteuerung im Wesentlichen durch den modernen, zyklische Kreislaufbewegungen erzeugenden Handel und die Verlagerung der Wirtschaftskontrolle vom Eigentümer auf das „Management“ bedingt ist, so dass hier die Ursachen für die durch Erfahrungsleere begründete Ideologisierung liegt. Für ihn stellt sich das Problem Persönlichkeitsschutz und Meinungsäußerung unter dem Gesichtspunkt der Ermöglichung eigener Erfahrung und originärer Urteilsfähigkeit gegenüber den zu Ideologien verstärkten objektivierten Meinungen und anonymen Aussagen, die im Grunde nur besondere Interessenlagen in die Form allgemeiner Urteile umformulieren.28 Persönlichkeitsschutz wäre somit die Gewährleistung einer wiederhergestellten unmittelbaren Erfahrungs- und Erlebniswelt, denn in der modernen arbeitsteiligen Industriegesellschaft zieht sich die Person aus der Arbeit zurück und versucht, als Persönlichkeit in einem Freiraum jenseits der Arbeitswelt Gestalt zu gewinnen.29 Diese Aufgabe kann als meta-juristisches Problem Gegenstand rechts- und sozialpolitischer Maßnahmen werden. Für die rechtswissenschaftlichen Überlegungen spielen die soziologischen Befunde immerhin eine nicht unbedeutende Rolle, weil Persönlichkeitsschutz in einer innen- oder außengeleiteten Gesellschaft ganz verschiedener Instrumente bedarf und unterschiedliche Zielsetzungen haben wird. Stellt man sich auf den Standpunkt Riesmans, so wird man die Außenleitung als eine unvermeidbare, aber demokratische Entwicklung ansehen und das Problem des 24

Hans Freyer, Theorie, a.a.O., S. 79 ff., 82, 89, 103. Hans Freyer, a.a.O., S. 96 / 98. 26 Hans Freyer, a.a.O., S. 110. 27 Hans Freyer, Idee der Freiheit im technischen Zeitalter. In: Festschrift für Carl Schmitt. Berlin 1959, S. 63 f. 28 Hans Freyer, Theorie, a.a.O., S. 120 f. 29 Hans Freyer, Idee, a.a.O., S. 65. 25

A. Publizität und Persönlichkeit

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Persönlichkeitsschutzes auf das Ziel ausrichten, die Autonomie des einzelnen zu beschränken, oder das einengen, was man partielle Nichtpartizipation oder Konsumaskese genannt hat. Der Jurist steht hier allerdings vor einer sehr schwierigen Aufgabe, denn der Persönlichkeitsschutz als Sicherung der Autonomie30 einer Denk- und Bildungselite wäre eine aristokratische, ja utopische Angelegenheit. Rechtlicher Schutz von Privatsphäre und Persönlichkeit wäre in Blickrichtung auf die geforderte Konsumaskese einerseits schon deshalb unvollkommen, weil eine Beschränkung der Presse in Bezug auf gewollte und gewünschte Publizität nicht möglich ist und andererseits die Unterbindung der ohne Einwilligung erfolgenden Publizität auf der Seite der Konsumenten als erzwungene Askese wertlos sein müsste. Wählt man dagegen für die juristische Betrachtungsweise den Ausgangspunkt Dahrendorfs und macht sich die Konzeption zu eigen, dass die Aufgabe des Persönlichkeitsschutzes in der Gewährleistung des innengeleiteten Menschenbildes bestehe, so dürfte der Schutz von Autonomie oder Konsumaskese innerhalb einer außengeleiteten Gesellschaft als ungenügend erscheinen. Der Jurist wäre dann vielmehr vor die Aufgabe gestellt, gerade die Wesensmerkmale innengeleiteter Lebensweise rechtlich zu schützen und zu verankern sowie Freiheit und Würde der Einzelpersönlichkeit wie der Gemeinschaft zu sichern. Obwohl demnach der soziologische Ausgangspunkt für Gesetzgebung und Rechtsprechung schwankend ist, ist für die Rechtswissenschaft eines sicher: der Schutz der Persönlichkeit kann nicht mit Beschränkungen auf die Einzelperson, sondern nur unter gleichzeitiger Beachtung der Auswirkungen auf die freiheitlich-demokratischen Strukturen konzipiert und realisiert werden.

IV. Persönlichkeit und Meinung im technischen Zeitalter Selbst die negativen Expektorationen bei Alfred Weber und Hans Freyer bestätigen die Veränderung der Persönlichkeit und ihrer Verhaltensweisen durch die moderne Industriegesellschaft. Arnold Gehlen findet deshalb in dem so befremdlichen Typus des radarmäßigen Reizaufnehmers und Reizverwerters, als welcher uns der von Riesman gezeichnete außengeleitete Mensch erscheint, ein Stück unseres Selbst. Auch Gehlen reiht die bereits erwähnten Merkmale des außengesteuerten Gleichgültigen aneinander und sieht mit Toynbee in dem Sich-Treiben-Lassen, in dem ImStich-Lassen, in der Empfindlichkeit des Gewissens und der Welt und Gesellschaftsflucht Zeichen der abendländischen Spätkultur. Arnold Gehlen stellt in diesem Zu30 Riesman (Die einsame Masse (dt.), Reinbek b. Hamburg 1961, S. 254, 264) räumt ein, dass Autonomie als freie Wahl zwischen Konformität und Nonkonformität in der innengeleiteten Gesellschaft leichter zu erreichen war, weil hier Gedankenfreiheit, Privatbereich oder Auswanderungsmöglichkeit ausreichende Gewährleistungen bildeten. Geigers Begriff des Nonkonformismus deckt sich mit der Konzeption der Autonomie Riesmans nicht, denn Geiger sieht im Nonkonformisten weder das isoliert zurückgezogene Individuum noch einen Attendisten, sondern einen ideologisch Engagierten (vgl. Wilhelm Geiger, Gewissen, Ideologie, Widerstand, Nonkonformismus. München 1963, S. 129 f.). Schließlich ist noch auf die kritische Beleuchtung des Autonomiebegriffes durch Dahrendorf (Gesellschaft und Freiheit, a.a.O., S. 358) hinzuweisen.

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Teil 1: Grundrechte

sammenhang zwei Thesen auf: die These von der Herabsetzung des Realkontaktes und die These vom wachsenden Subjektivismus als der Selbstverarbeitung und Raffinierung der vereinsamten Seele. Die Tendenz zur Herabsetzung des Realkontaktes basiert auf der Einengung des echten Erfahrungsbereiches der zwischenmenschlichen Beziehungen durch das Eindringen einer Zwischeninstanz, der Massenkommunikationsmittel, die news und facts als Erfahrungen zweiter Hand übermitteln. Der technische Zwang zur Kurzfassung, die betriebsnotwendige Beschränkung auf die zugemessene Wichtigkeit verwandeln zusammen mit dem Subjektivismus der Meinungsbildner die Tatsachenhülse in Meinungen, Kommentare oder Appelle. Bei der Meinungsbildung handelt es sich nach Gehlen um einen Spezialfall menschlicher „Ordnungsstiftung“, der eine besondere Entlastungsfunktion zukommt, da der auf Weltoffenheit angelegte Mensch einer Stabilisierung durch objektivierte Meinungen und Dritterfahrungen bedarf, weil sich die Welt als ein nur locker geordnetes Informationschaos aus Denkstoff31 darstellt, das offen und unabgeschlossen sich in schneller Veränderung befindet. Die Herabsetzung des Realkontaktes durch die Verarbeitung und Anwendung intermediär-zwischeninstanzlicher Erfahrungen birgt die Tendenz zur Herausbildung exzessiver Leitideen, Gesinnungen und Gruppengefühle,32 die zu Ideologien erstarken können, um dann Gruppe, Gesellschaft und Staat zu überschwemmen.33 Hier zeigt sich eine Aporie, die sich nicht nur für die Persönlichkeit, sondern in gleicher Weise auch für die Gruppe auswirkt: Meinung ist als Freiheit Abweichung von der Realität, aber mit diesem Realitätsverlust besteht koinzident immer die Gefahr der Abfälschung der Meinung in die pathologische Deformation, in Ideologien oder „lunatic frings“.34 Soziologie und Sozialpsychologie sehen in der Ausbildung objektivierter Meinungen und Verhaltensmuster – gleichgültig ob man ihnen den Namen „öffentliche Meinungen“ beilegt oder nicht – eine notwendige Ordnungsstiftung, weil durch diese objektivierten Verhaltensmuster Rollen signalisiert werden. Auch wenn die Meinung nicht in die patische ausartet, hat sie in ihrer objektivierten Form als Übermittlung von Rollen und Signalisierung von Verhaltensmustern eine gesellschaftliche Entlastungsfunktion, welche die Individualisierung der Persönlichkeit tangiert. Verstehen wir unter einer durch Meinung signalisierten Rolle eine in sich zusammenhängende Verhaltenssequenz,35 die auf die Verhaltenssequen31 Arnold Gehlen, Anthropologische Forschung. Hamburg 1961, S. 57, 127, 135; Arnold Gehlen, Die Seele, a.a.O., S. 47 ff., 62 f., 84. 32 Arnold Gehlen, Die Seele, a.a.O., S. 62. 33 Der Ideologisierungstheorie Gehlens stehen die Feststellungen anderer Soziologen gegenüber, die einen Schwund an Ideologie oder eine Informationssammlerhaltung nachzuweisen versuchen. Forsthoff scheint sich der Konzeption des Ideologieverlustes zu nähern, wenn er jedenfalls für Deutschland einen ideologischen Substanzverlust annimmt (vgl. Ernst Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung. Stuttgart 1961, S. 11). 34 Theodor W. Adorno, Meinung, Wahn, Gesellschaft. In: GRUR 1961, S. 601, 606. 35 Vgl. Peter R. Hofstätter, Sozialpsychologie. Berlin 1956, S. 36. Dahrendorf unterscheidet im Anschluss an die amerikanische Soziologie Positionen und Rollen, die er beide als „Aggregate von Segmenten“ bezeichnet (Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus. Köln 1961, S. 32). Zum Begriff der Rolle insbesondere: Ralph Turner, Role-Talking, Role Standpoint and Re-

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zen anderer Personen abgestimmt ist, so lässt sich unschwer erkennen, dass Soziologie und Sozialpsychologie mit dem Interesse an der Erforschung menschlicher Rollen unausweichlich ein Desinteresse an der Je-Einmaligkeit des Individuums verbinden.36 Positionszuordnung und Rollenverinnerlichung, die hinsichtlich der Drei-Rollen-Kategorien, der Muss-, Soll- und Kann-Erwartungen erfolgt, wird von Dahrendorf der Erziehungsaufgabe der Gesellschaft sogar dergestalt zugeordnet, dass er darin einen Sozialisierungsprozess sieht: weil der Mensch als homo sociologicus der Gesellschaft erst vermittelt und zum zweiten Mal geboren werde, indem er die außer ihm bestehenden Vorschriften der Gesellschaft in sich hineinnehme und zu einem Bestimmungsgrund seines Verhaltens mache.37 Ein so weitgehendes Desinteresse an der Autonomie und Freiheit der Persönlichkeit auch gegenüber der gesellschaftlichen Rolle wird man der Soziologie und Sozialpsychologie nicht vorwerfen dürfen.38 Die Arbeiten über die Gruppendynamik von Hofstätter zeigen demgegenüber, dass das, was in anderem Zusammenhang als Konsumaskese, ideologische Diät oder partielle Nichtpartizipation genannt und postuliert wurde, zu einer der Grundbedingungen einer leistungsfähigen Gruppe gehört. Denn neben der Kommunikations- und Akzeptierungsbedingung wird die Unabhängigkeitsbedingung zu einer notwendigen Voraussetzung für die Funktionsfähigkeit der Gruppe erhoben, die sowohl durch den vollkommen angepassten und rollenverhafteten „Nachplapperer“ als auch den nonkonformistischen, seinen Fund nicht mitteilenden „Nein-Sager“ verletzt wird.39 Die Unabhängigkeitsbedingung muss durch die Kommunikationsbedingung ergänzt werden, denn es ist natürlich für eine leistende Gruppe eine conditio sine qua non, dass überhaupt kommuniziert wird; doch verliert die Kommunikation jeden Informationswert, wenn leere Verhaltenshüllen praktiziert werden. Die Steuerung des Verhaltens vom Verhalten Anderer her, die wir als besonderes Merkmal der außengeleiteten Gesellschaft vorfinden, gehört als Reziprozitätsgrundsatz zu den fundamentalen Gruppentatsachen, die Gehlen und Levy-Strauß als Gegenseitigkeit, Tausch und Symmetrie bezeichnet haben.40 Soziologie und Sozialpsychologie versuchen, abgesehen von extremen Positionen, den Antagonismus zwischen Persönlichkeit und Meinung in der sozialen ference-Group Behavior. In: „The American Journal of Sociology“, Vol. 1956, S. 316; Jürgen Tenbruck, a.a.O., S. 1; Niklas Luhmann, Grundrechte als Institution. Berlin 1965, S. 84 ff. 36 Peter R. Hofstätter, Gruppendynamik. Hamburg 1957, S. 160. 37 Ralf Dahrendorf, Homo Sociologicus, a.a.O., S. 40 und Hans Freyer, Theorie, a.a.O., S. 97. 38 So verwahrt sich auch Gehlen in einer Rezension gegen die Gleichsetzung eines rollenbedingten Sozialisierungsprozesses mit einem Vorgang der Entpersönlichung (Arnold Gehlen, Rezension zu Dahrendorf, Homo Sociologicus. In: ZgStW, Bd. 117, S. 368). 39 Peter R. Hofstätter, Gruppendynamik, a.a.O., S. 165 f. 40 Peter R. Hofstätter, Gruppendynamik, a.a.O., S. 26. In den gleichen Zusammenhang stellt Hofstätter Weizsäckers „Gestaltkreis“, und die „Bedeutungslehre“ und das „feedbackModell“ der Kybernetiker.

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Rolle im Rahmen einer leistenden Gruppe aufzuheben, denn diese setzt für die Effektivität und Leistungsfähigkeit des Rollenverhaltens voraus, dass es sich sowohl auf Kommunikation und Adaption einerseits, als auch auf Unabhängigkeit andererseits einstellt. Die Kommunikation, durch Gegenseitigkeit, Symmetrie und Tausch bedingt und bewirkt, stützt sich vor allem auf die „ordnungsstiftenden Meinungen“,41 die zunächst als Privatsache „subjektive Ordnungsgefüge“42 darstellen und in ihrer Gesamtheit zum solipsistischen Gehäuse werden. In dieser Eigenschaft würde die solipsistische Meinung weder die Kommunikationsbedingung erfüllen noch die Unabhängigkeitsbedingungen und damit die Persönlichkeitsstellung gefährden. Die Flucht vor dem Einsamkeitsraum, vor dem exponierten Alleinsein43 mit unseren Meinungen stellt sich nun gerade als soziologischer Befund dar, der den rechtswissenschaftlichen Interessen am Persönlichkeitsschutz deshalb entgegenzuwirken scheint, weil er den einzelnen in das große Reservoir der „öffentlichen Meinung“ führt. Hier erfährt der einzelne durch die Adaption und den Gebrauch unkritischer, schemenhafter und leerformelhafter Meinungshülsen44 den Ausweg aus dem Unsicherheitserlebnis des „ich weiß nicht“ und der solipsistischen Meinungsunsicherheit; durch diese Entlastung wird er für die vordringliche Erledigung des Alltags befähigt. Hierdurch entstehen aber Rückwirkungen der Kollektivmeinung auf die Persönlichkeitsposition, die durch Vernichtung der Unabhängigkeitsbedingung – sei es durch Erziehung oder Propaganda – das Rollenverhalten zu einem eigenleistungsunfähigen Gruppenverhalten herabdrücken. Neben der zwischen Kommunikation und Unabhängigkeit stehenden sozialen Rolle sieht die Soziologie noch andere Gewährleistungen der persönlichen Autonomie selbst im Rahmen der außengeleiteten Gesellschaft.45 Zwar hat der Zusammenbruch der öffentlichen und privaten Ordnungsgefüge die Sozialdistanz minimalisiert und den einzelnen „desencadriert“,46 indem zunächst die Vielheit der Normen und Berufungsinstanzen traditioneller Ordnungen dem Wirtschafs- und Rentabilitätsdenken weichen mussten, bis schließlich diese Wirtschaft selbst erkrankt auf den Staat und das öffentliche Fürsorge- und Wohlfahrtsdenken zurückgefallen war. Doch bleibt selbst in dieser durch Öffentlichkeit und Veröffentlichung privatester Beziehungen gekennzeichneten mobilen Gesellschaft die symbiotische Gemeinschaft der Familie ein wirkungsvoller Gegenspieler aller Öffentlichkeit und ein „Asyl der Privatheit“.47

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Arnold Gehlen, Die Seele, a.a.O., S. 47. Peter R. Hofstätter, Psychologie der öffentlichen Meinung. Wien 1949, S. 74. 43 Vgl. Peter R. Hofstätter, Psychologie, a.a.O., S. 75. 44 Vgl. Peter R. Hofstätter, Psychologie, a.a.O., S. 4, 110. 45 Arnold Gehlen, Seele, a.a.O., S. 57. 46 Hans Freyer, Theorie, a.a.O., S. 97. 47 Arnold Gehlen, Seele, a.a.O., S. 57 f. Wesentliche Merkmale dieses Zustandes sind Psychisierung und Diskussion, die erstere der Innenverarbeitung, die letztere der Außenverarbeitung dienend. 42

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Diese Privatheit trennt sich allerdings scharf von der symbolentleerten, zu Verkehrsregeln herabgesunkenen Öffentlichkeitssphäre; der Privatbereich greift jedoch über den Familienbezirk hinaus und vermag unterhalb der Publizitätsschranke des industriegesellschaftlichen Überbaus einen nichtöffentlichen Raum mit lokalem und partikulärem Sonderpathos und seelisch ausfüllbaren Sitten und Künsten zu erfüllen. Es zeichnet sich also die Möglichkeit ab, der Persönlichkeit auch in der massenkommunikativ gesteuerten Industriegesellschaft Räume eigener Selbstentfaltung und Selbstdarstellung zu gewährleisten, so dass die Soziologie und Sozialpsychologie juristische Bemühungen in dieser Richtung nicht desavouieren muss, vielmehr durch die ihr adäquate Forderung nach Konsumaskese,48 ideologischer Diät und partieller Nichtpartizipation unterstützen kann. Mit der Forderung nach Konsumaskese (verstanden als disciplina und stimulans, als geistige Disziplin und Selbstkontrolle) will der Soziologe Arnold Gehlen den Prozess der Menschwerdung,49 der durch Ordnung stiftende Institutionen und dadurch bedingte Instinktreduktion voranschreitet, auf eine jenseits von Kapitalismus und Kommunismus liegende Ebene führen. Der Trend zum Wohlleben auf der Weltebene soll durch Eliten oder schöpferische Minderheiten überwunden werden, die den Ruf zur Konsumaskese als säkularisierte, christliche Instinktreduktion verwirklichen. Ohne auf die Anthropologie Gehlens und die von Max Müller jüngst erfolgte Kritik einzugehen, soll nur darauf hingewiesen werden, dass sich dieser Ruf nach der Elite deckt mit der Forderung Jacques Maritains50 nach einer „minorit de choc prophtique“ auf dem Gebiet des Politischen, und dass in diesen elitären Überlegungen – wie vielleicht im Gedanken des Persönlichkeitsschutzes überhaupt – immer ein wahrscheinlich auch notwendiges, weil ergänzend wirkendes aristokratisches Element mitspielt. Soweit sich die Soziologen für oder gegen Konsumaskese aussprechen, verstehen sie Persönlichkeitsschutz immer mehr oder weniger als Gewährleistung eines Hegungsraumes für den schöpferischen Menschen. Die Gedankenreihen in Soziologie und Rechtswissenschaft berühren sich zwar, doch laufen sie in verschiedener Richtung auseinander, so dass der Appell zur Konsumaskese oder zur partiellen Nichtpartizipation nicht im vollen Sinne als soziologisches Äquivalent des juristischen Persönlichkeitsschutzes verstanden werden kann. 48 Vor einer panikartigen Konsumkritik warnt dagegen Behrendt, weil er gerade im Konsum die Möglichkeit der Gewährleistung persönlicher Autonomie erblickt; er spricht sich deshalb für die Entwicklung eines gemeinsamen „Verhaltensrahmens“ aus (vgl. Richard F. Behrendt, Der Mensch im Lichte der Soziologie. Stuttgart 1962, S. 87, 133, zur Kritik an Gehlen, Freyer und Heidegger, S. 155; Theodor W. Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Frankfurt/M. 1964). 49 Arnold Gehlen, Anthropologie, a.a.O., S. 66. Gehlen bezeichnet die durch Askese hervorgerufene Bedürfnislosigkeit als „psychologisches Asyl“. Für eine hohe Produktivität sei eine Asylierung im Sinne einer Konzentration der Lebensführung und eines Verzichtes auf „facilits“ notwendig. Von hier aus wird die Diskussion Merkmal einer konsumorientierten Außenverarbeitung und die geforderte Askese soll gerade nicht zuletzt von der Diskussion, der öffentlichen Meinung, den Montagen „des Einverständnisses“ wegführen zum Stimulans der asylierten Ekstase (vgl. Arnold Gehlen, Urmensch und Spätkultur. Bonn 1965, S. 108, 288). 50 Jacques Maritain, LHomme et lEtat. Paris 1953, S. 129.

B. Der Wandel der Menschenrechte1 I. Die allgemeine neue Grundausrichtung 1. Der neue Rang Gleichsam mit einem Paukenschlag hat das Bonner Grundgesetz den Wandel im Grundrechtsdenken deutlich gemacht. Vom zweiten Teil der Verfassung, wohin noch die Weimarer Verfassung die Menschenrechte gerückt hatte, wurde das Bekenntnis zu einem Katalog der Grundrechte, d. h. der Bürger- und Menschenrechte, an die erste Stelle gerückt. Unübersehbar und unüberhörbar ist auch die anthroponome Spitze dieses Menschenrechtskataloges in Art. 1 Abs. 1, der die Würde des Menschen zum Ausgangspunkt und zum Angelpunkt der Menschenrechte macht, die gleichsam unmittelbar der theonomen Spitze, also der Invocatio Dei, steht. Die beiden ersten Artikel des Grundgesetzes – das Bekenntnis zur Würde des Menschen und zur freien Entfaltung der Persönlichkeit – sind aber auch zusammen mit anderen Normen wie z. B. dem Grundrecht der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen (Art. 4 Abs. 3 GG) eine fanalartige Abkehr von den Menschen missachtenden Verhältnissen des Nationalsozialismus. Es ist 50 Jahre2 her, dass dieses Bekenntnis in Form von Bürgerrechts- und Menschenrechtsformulierungen Grundlage der neuen politischen und sozialen Ordnung Deutschlands wurde. Manche Elemente sind verblasst, so z. B. durch den Streit um die Zulässigkeit einer Anrufung Gottes in einer Verfassungspräambel oder durch die Interpretation der freien Entfaltung der Persönlichkeit als Handlungsfreiheit durch die Rechtsprechung, aber dennoch ist es unverkennbar, dass die Menschenrechte bewusst auf die Grundlage des christlichen Naturrechtes und des christlichen Personalismus gestellt wurden. Deutlich wird dies auch in dem Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG, der die rassische und religiöse oder ethnische Diskriminierung verbietet, oder im Art. 6 GG, der das Elternrecht als natürliches Recht bezeichnet.

1

Schrifttum: siehe Literaturhinweis bei Sachs, Grundgesetz, München 1996, Vor Art. 1; Neuere Literatur zum gegenwärtigen Stand der Diskussion: Grundrechte-Report. Zur Lage der Bürger- und Menschenrechte in Deutschland. Hrsg. v. Müller-Heidelberg / Till / Finckh, u. a., 1997 u. 1999; Winfried Brugger, Menschenwürde / Menschenrechte / Grundrechte. 1997; Claus W. Canaris, Grundrechte und Privatrecht. Eine Zwischenbilanz – Stark erweiterte Fassung des Vortrages gehalten vor der Juristischen Gesellschaft zu Berlin am 10. Juni 1998. 1999; Ingo Müller / Arn Strohmeyer / Jürgen Wendler, 150 Jahre Grundrechte – 50 Jahre Grundgesetz. Hrsg.: Villa Ichon Bremen. 1999; Klaus Bosselmann, Ökologische Grundrechte. Zum Verhältnis zwischen individueller Freiheit und Natur. Baden-Baden 1998. 2 50 Jahre: Gemeint ist der Zeitpunkt der ersten Veröffentlichung des Artikels.

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Teil 1: Grundrechte

In der Weimarer Verfassung standen die Grundrechte zur Disposition des Gesetzgebers. Sie waren bestenfalls als Hohlräume bourgeoiser Freiheit, nicht aber als Grundlage eines demokratischen Rechtsstaates gedacht. Rudolf Smend hat so zutreffend dieses Denken als ein Denken in Trennung von Staat und Gesellschaft und zum Schutze eines privaten Ruhe- und Warteraumes angesehen, das er als die Garantie eines „Leberecht-Hühnchen-Daseins“3 charakterisiert hat. Demgegenüber wurden die Grundrechte zur Basis der Integration der Demokratie von unten nach oben und nahmen somit teil an dem status activus, zu welchem ursprünglich nur die Rechte auf Wahl und Abstimmung gehörten. Der Rechtsstaat war auch nicht nur mehr ein System rechtstechnischer Kunstgriffe, wie Ernst Forsthoff4 in einem viel umstrittenen Referat formulierte, sondern er wurde zum materiellen Rechtsstaat5, weil sich die Rechtstechnik mit den materiellen Grundrechtsgewährleistungen zu einer Einheit integrativ verband. 2. Das neue Grundrechtsdenken Bis zum Grundgesetz galt auf der Grundlage der Weimarer Verfassung die Garantie der Grundrechte im Rahmen der Gesetze. Man sprach auch davon, dass der Grundrechtskatalog der Weimarer Verfassung nichts anderes sei als die verfassungsmäßige Verankerung und Spezialisierung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung.6 Unter Spezialisierung verstand man eben die spezielle Ausrichtung der Verwaltungsbindung gegenüber bestimmten Lebensbereichen wie Presse- und Kommunikationsfreiheit, den religiösen Bereich, das Eigentum und das Gewerbe, die Freiheit der Person usw. Durch Art. 1 Abs. 3 GG wurden Verwaltung, Gesetzgebung und Rechtsprechung an die Grundrechte gebunden. Eine berühmte Formulierung von Jahrreiß hat dies folgenderweise ausgedrückt: An die Stelle des Gesetzes-Vor-Grundrechtsdenkens ist das Grundrechts-Vor-Gesetz-Denken getreten. Die Vorschrift des Art. 1 Abs. 3 GG stellt eine grundsätzliche Wendung im Grundrechtsverständnis dar, weil nunmehr auch der Gesetzgeber sich am Maßstab der garantierten Grundrechte messen lassen muss. Andere haben diesen Wandel bezeichnet als den Weg

3 Rudolf Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, Berlin 1968, wo er mit folgenden Worten auf das Buch von Heinrich Seidel „Leberecht-Hühnchen“ hinweist: „So pathetisch und positiv es in den Verfassungstexten dem einzelnen verbrieft ist, dass er Gleichheit, Freiheit, sein Eigentum genießen, (…), so nüchtern und negativ wird es nunmehr verstanden: es bedeutet nur Freiheit des privaten Bereichs gegenüber der Polizei, und es geht den Staat nichts an, ob der einzelne diesen Freiheitsraum ausfüllt mit der Flucht in des Herzens heilig stille Räume, mit einem Leberecht-Hühnchen-Dasein in Schlafrock und Pantoffeln, oder mit wirtschaftlichem Kampf.“ 4 Vgl. Forsthoff, in: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtlehrer, Heft 12, Berlin 1954, S. 8 ff. 5 Der materielle Rechtsstaat entwickelt sich auf dem Wege vom liberalen zum sozialen Rechtsstaat, vgl. Bodo Pieroth / Bernhard Schlink, Grundrechte – Staatsrecht II, Heidelberg 1994, Rn. 84 ff. 6 Vgl. Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, München 1998, § 13 I.

B. Der Wandel der Menschenrechte

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vom „Vorbehalt des Gesetzes“ zum „Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes“.7 Unter dem Vorbehalt des Gesetzes versteht man traditionell das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, wonach der eingreifende oder belastende Verwaltungsakt zu seiner Gültigkeit einer legislativen, also gesetzlichen Grundlage bedarf. Vom Sondervorbehalt spricht man dann, wenn wie im Art. 104 GG der förmliche Gesetzgeber, also das Parlament, handeln muss, wenn eine entsprechende Rechtsgrundlage geschaffen werden soll. In der Regel bedeutet aber der Vorbehalt des Gesetzes nur, dass ein Gesetz im materiellen Sinne, also auch Rechtsverordnungen und Satzungen, als Rechtsgrundlagen ausreichen. Der Vorbehalt des verhältnismäßigen Gesetzes kann also sowohl ein Vorbehalt des verhältnismäßigen förmlichen Gesetzes oder ein Vorbehalt des verhältnismäßigen materiellen Gesetzes sein. Aus den so genannten Vorbehaltsschranken der Grundrechte ergibt sich, inwieweit der Gesetzgeber bestimmte Ziele verfolgen muss, um die Grundrechte einzuschränken, und inwieweit er dazu das Gesetz als Mittel einsetzen darf. Man spricht daher von einer bestimmten Ziel-Mittel-Relation als Inhalt des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit8. So dürfen z. B. Gesetze als Mittel zur Trennung eines Kindes von der Familie nach Art. 6 Abs. 3 GG eingesetzt werden, wenn ein Kind verwahrlost ist oder zu verwahrlosen droht.9 Beschränkungen der Freiheit des Post- und Fernmeldegeheimnisses dürfen aufgrund eines Gesetzes erfolgen (Art. 10 Abs. 2 S. 2), wenn der Schutz der freiheitlich-demokratischen Grundordnung dies erfordert.10 Das Bundesverfassungsgericht hatte aufgrund dieser Zweck-Mittel-Relation immer wieder erklärt, dass das Wesen der Bindung des Gesetzgebers gerade darin liege, dass er vom Verfassungsgericht auf die Beachtung der Verhältnismäßigkeit nachgeprüft werde. Der überkommene Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes ermächtigte das Verfassungsgericht, Eingriffe der Verwaltung, die ohne Gesetz erfolgten, abzuwehren oder Gesetze unmittelbar zu eliminieren, die aufgrund ihrer Unbestimmtheit gegen das Rechtsstaatsprinzip der Normenklarheit11 und damit auch der Verhältnismäßigkeit verstoßen haben. In dem Augenblick, in dem sich dieser Grundsatz zum Prinzip des Vorbehalts des verhältnismäßigen Gesetzes gewandelt hat, werden sowohl unverhältnismäßige, also die Zweck-Mittel-Relation verletzende Maß-

7 Peter Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 1961, S. 30 mit Fn. 6; siehe auch: Paul Kirchhof, Gleichmaß und Übermaß, in Festschrift Lerche 1996; Fritz Ossenbühl, Maßhalten mit Übermaßverbot, in Festschrift Lerche 1996; Klaus Stern, Zur Entstehung und Ableitung des Übermaßverbots, in Festschrift Lerche 1996. So bezeichnet Bodo Pieroth / Bernhard Schlink, Staatsrecht II – Grundrechte, Heidelberg 1992 Rn. 310, den Wandel vom Vorbehalt des Gesetzes zum Vorbehalt des verfassungsmäßigen Gesetzes. 8 Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, München 1998, § 13 III, 6. 9 Vgl. Sachs, a.a.O., Art. 6, Rn. 73. 10 Die Interpretation der freiheitlich-demokratischen Grundordnung war Gegenstand der beiden verfassungsgerichtlichen Entscheidungen zum Parteienverbot: BVerfGE 2, 1 (SRPEntscheidung) und E 5, 85 (KPD-Entscheidung); siehe auch Jörn Ipsen, in: Sachs, GG, a.a.O, zu Art. 21, Rn. 142, 148. 11 Maunz / Zippelius, Deutsches Staatsrecht, München 1998, § 13 III, 5.

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Teil 1: Grundrechte

nahmen der Verwaltung abgewehrt, als auch Gesetze eliminiert, die unter Verletzung der Ziel-Mittel-Relation in die Freiheitsrechte eingreifen. Die sedes materiae, die Geltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, ist das Rechtsstaatsprinzip. Das verfassungsrechtlich garantierte Rechtsstaatsprinzip bindet daher den Gesetzgeber, indem aus ihm das Prinzip des Vorbehaltes des verhältnismäßigen Gesetzes abgeleitet wird.12 Eine Überdehnung des Verhältnismäßigkeitsprinzips würde allerdings an der Geltung des Gleichheitssatzes scheitern. Neben dem Verhältnismäßigkeitsprinzip gilt also auch das Gleichmäßigkeitsprinzip, und beide sind gegeneinander abzuwägen. Die Rechtsprechung hat den Inhalt des Verhältnismäßigkeitsprinzips auf drei Stufen entwickelt: Das Gesetz, das dem Vorbehalt des Verhältnismäßigkeitsprinzips genügen will, muss geeignet, notwendig und angemessen sein. Darüber hinaus gibt es einige Veränderungen in der wissenschaftlichen Ordnung oder Zuordnung: So ist an die Stelle der Lehre von den drei oder vier Statusarten Jellineks13 : status negativus, positivus, activus – oder auch proceduralis – die Lehre von den Generationen der Grundrechte getreten. Hierbei gehören die Freiheitsrechte zur ersten Generation, Grundrechte auf Entwicklung, Umweltschutz evtl. zu einer vierten Generation. Demgegenüber ist die herkömmliche Unterscheidung zwischen Menschenrechten und Bürgerrechten geblieben, obschon sie durch die Anerkennung internationaler Menschenrechte heute weniger Bedeutung hat. Von den internationalen in der Bundesrepublik und in dreißig europäischen Staaten geltenden Menschenrechten ist vor allem die europäische Menschenrechtscharta14 zu erwähnen. Welche Ranghöhe diese internationalen europäischen oder universellen Menschenrechte haben, hängt teilweise von der Regulierung der Verfassung ab, teilweise auch von der Interpretation durch die Gerichte. In der Bundesrepublik sind diese internationalen Menschenrechte und Grundrechte nicht auf den Rang der Verfassung erhoben, sondern gelten unter der Verfassung aber vor den Gesetzen, während sie in Österreich Verfassungsrang haben.15 Ein weiteres Thema ist die Offenheit und die Geschlossenheit moderner Grundrechtskataloge. Dies hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in der Bundesrepublik dadurch erreicht, dass sie Art. 2 Abs. 1 als unbenannte Auffangnorm16 bezeichnet hat, über welche bisher nicht problematisierte, doch nach in Kraft Treten des Grundgesetzes aufgetretene Grundrechtsprobleme durch die gerichtliche Anerkennung ungeschützter Rechtsgüter löst. Hierzu gehört zum Beispiel die Anerkennung des Rechtes auf die informationelle Freiheit der Persönlichkeit, der 12

EuGRZ 1984, 457. Georg Jellinek, System der subjektiv-öffentlichen Rechte, Nachdruck, Berlin 1963, S. 94 ff. 14 Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. 11.1950, BGBl. 1952 II, S. 686. 15 Streinz, in: Sachs, a.a.O., zu Art. 25, Rn. 80 ff. 16 Vgl. Murswiek, in: Sachs, a.a.O., zu Art. 2, Rn. 10. 13

B. Der Wandel der Menschenrechte

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Schutz des wissenschaftlichen Rufes, Unternehmerfreiheit und die Vertragsfreiheit. Eine solche Formel bedeutet natürlich einen Schritt weiter, in dem sie ein Richterrecht in die Anwendung und Weiterentwicklung der Grundrechte einführt. 3. Die Regeln der Grundrechtsinterpretation Eine besondere Bedeutung hat der Wandel der Bürger- und Menschenrechte auch dadurch erhalten, dass diese verfassungsrechtlichen Normen anders ausgelegt werden als dies bei den Rechtsnormen der einfachen Gesetzgebung oder auch der Verfassungsgesetzgebung der Fall ist. Um hier einem Irrtum entgegenzutreten: Es handelt sich nicht darum, die Menschen und Grundrechte der Verfassung als politische Programmsätze zu behandeln, sie sind und bleiben Rechtsnormen, aber sie erhalten intensivere und vollere Wirksamkeit dadurch, dass hier spezielle Interpretationsregeln anzuwenden sind. Nachfolgende Regelungen gehören zu diesen menschenund grundrechtsbezogenen Interpretationsmaßstäben: a) Die Broad Interpretations-Regel: Danach sind Bürger- und Menschenrechte in der Regel weit auszulegen, wenn zwei oder mehrere Auslegungen, also eine weitere und eine engere vertreten werden. So wurde zum Beispiel die freie Entfaltung der Persönlichkeit in Art. 2 I GG weit ausgelegt und darunter das Recht auf Handlungsfreiheit verstanden. Ähnliches gilt für die Garantie der Meinungsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 GG, worunter inzwischen auch die Äußerung von Tatsachenbehauptungen unter bestimmten Voraussetzungen gehört. Um den Schutz dieses Grundrechtes garantiert zu erhalten, muss es sich bei der Meinung auch nicht um eine wertvolle oder wichtige Äußerung handeln. Genauso hat die Rechtsprechung den Begriff der Kunstfreiheit in Art. 5 Abs. 3 GG weit ausgelegt, materielle Kriterien als Bewertungsmaßstab abgelehnt. Für das einfache subjektive Recht auf der Ebene des einfachen Gesetzes gilt eine solche Broad Interpretation nicht, weil es auch immer mit anderen Rechten auf gleicher Ebene kollidiert, die auch einer Broad Interpretation zugeführt werden müssten. b) Die Pro-libertate Interpretationsregel: Bei der Frage, ob ein Lebenssachverhalt durch ein Freiheitsrecht geschützt ist, ist im Zweifel zugunsten der freiheitsrechtlichen Garantie zu entscheiden. Diese Interpretationsregel ist vor allem im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 GG (der Garantie der freien Entfaltung der Persönlichkeit) zum Tragen gekommen, da hier unbenannte Grundrechte von der Rechtsprechung entwickelt wurden. c) Die Interpretationsregel von Präponderanz der Freiheit: Sie besagte ursprünglich, dass bei einem Konflikt zwischen einem Gleichheits- und einem Freiheitsrecht dem Freiheitsrecht der Vorzug zu geben sei. Dies führte zu einer Interpretation des Gleichheitssatzes im Sinne des Willkürverbotes. Differenzierungen waren zulässig und nur dort ausgeschlossen, wo wesentlich Gleiches ohne sachlichen Grund ungleich behandelt wurde oder umgekehrt. Die Anerkennung des Verhältnismäßigkeitsprinzips mit dem Verfassungsrang hat hier seinen Ursprung. Gleichmäßigkeitspostu-

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late und Verhältnismäßigkeitspostulate stehen also gegeneinander. In anderen Grundrechtskatalogen ist dagegen dem Gleichheitssatz eine strengere Bindungswirkung beigelegt und vor allem dort anerkannt, wo die „Affirmative Action“17, die bewusste Bevorzugung einer bisher behinderten Gruppe ausgesprochen wurde. Dies gilt als Beispiel für die Gleichbehandlung der Frauen in der äthiopischen Verfassung (Art. 34/35 Verfassung 1994) oder in der südafrikanischen Verfassung zugunsten der Schwarzafrikaner. Aber auch das Grundgesetz hat durch die Einführung von Art. 3 Abs. 3 S. 2 eine solche positive Gleichbehandlung zugunsten von Behinderten eingeführt und damit den Präponderanzgedanken, zumindest auf diesem Gebiet, verlassen. Auch auf anderen Rechtsgebieten, wie zum Beispiel dem Parteienrecht, wo formale Chancengleichheit garantiert wird, gilt der Grundsatz der Präponderanz der Freiheit vor der Gleichheit nicht. d) Der Grundsatz von der Einheit der Verfassung als Einheit der Bürger- und Menschenrechtsgarantien soll abschließend noch erwähnt werden: Hier gibt es in der Bundesrepublik einmal die Meinung des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs, der Hierarchie von Normen auch innerhalb der Verfassung anerkennt18, so dass die Rechtsfigur der verfassungswidrigen Verfassungsnorm19 denkbar ist. Es würden dann vor allem die Bürger- und Menschenrechte noch innerhalb der Verfassung Maßstab für andere Verfassungsnormen sein. Anders dagegen ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Es hat mit der Forderung nach Einheit der Verfassung der Meinung Ausdruck verliehen, dass auf der Verfassungsebene durch interpretativen Ausgleich, also durch das, was Hesse praktische Konkordanz20 nennt, die Auslegung gefunden werden muss, die keiner Verfassungsnorm eine Vorrangstellung einräumt. Mit diesen Ausführungen ist bereits aufgezeigt, dass der wesentliche Bedeutungswandel der Grundrechte nicht nur darin besteht, dass sie vom zweiten Teil der Verfassung an den ersten gerückt sind, dass eine Verfassungsgerichtsbarkeit die Einhaltung der Grundrechte prüft, sondern vor allem darin, dass sie nicht mehr nur Grenze staatlicher Tätigkeit, sondern Grundlage von Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung geworden sind. Sie haben also alle neben ihrem rein negatorischen, positiven oder aktiven Inhalt als unmittelbar geltendes Recht auch einen direktiven Geltungsgehalt, der von der Staatsgewalt Verwirklichung verlangt. Sie sind damit gleichzeitig Grundrechte und Verfassungsdirektive.

Vgl. Art. 34, 35 der Äthiopischen Verfassung von 1994 und Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG. Theodor Meder, Die Verfassung des Freistaates Bayern, Stuttgart 1992, Vorb. zu Art. 98, Rn. 2 ff. 19 Theodor Maunz / Reinhold Zippelius, Deutsches Staatsrecht, München 1998, § 41, IV, 4a. 20 Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg 1990, Rn. 317 ff. 17 18

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II. Die Neukonzeption der Menschenrechte Nachfolgend soll unter sieben Aspekten eine Theorie der Menschenrechte entwickelt werden. Dabei werden folgende Aspekte besonders untersucht werden: (1.) Die Menschenrechte als natürliches vorstaatliches Recht oder als staatliches Recht, (2.) die Menschenrechte als supreme law, (3.) das Verhältnis der nationalen zu den internationalen Menschenrechten, (4.) die so genannte Horizontalwirkung der Menschenrechte, (5.) die Menschenrechte als objektive direktive Garantien oder als subjektive Rechte, (6.) Verhältnis subjektiver Grundrechte und objektiv dirigierender Normen, (7.) das Verhältnis der Menschenrechte zur Wertordnung, (8.) die Bedeutung der Civil Society für die Realisierung von Menschenrechten, (9.) die Realisierung der Menschenrechte durch Gerichte oder non-governmental organisations, und schließlich (10.) die Generationen von Menschenrechten. 1. Die Menschenrechte als vorstaatliche oder staatliche Rechte Die Menschenrechte sind entstanden aus der Einforderung natürlicher Rechte. In diesem Sinne spricht Art. 1 Abs. 2 GG davon, dass die Grundrechte (Menschenrechte und Bürgerrechte) Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft sind. Art. 6 GG spricht vom natürlichen Erziehungsrecht der Eltern. Diese natürlichen Rechte sind im Rahmen der Verfassungsgebung zu staatlichen Garantien geworden. Ihr vorstaatlicher naturrechtlicher Charakter spielt aber weiterhin bei der Interpretation, insbesondere im Konfliktsfall, eine Rolle. 2. Die Menschenrechte als Teil des Supreme Law der Verfassung Die Verfassung gilt in den Ländern mit rechtsstaatlicher Orientierung als oberstes Prinzip oder als Norm der Normen: Alle anderen Normen sind unterhalb der Verfassung, und im Falle eines Widerspruches geht die Regelung der Verfassung vor. Die Menschenrechte als Teil der Verfassung haben nicht nur Rechtscharakter, sondern nehmen an dem Vorrang der Verfassung vor den einfachen Gesetzen teil. Die französische Menschenrechtsentwicklung hat einen anderen Weg eingeschlagen, da seit der allgemeinen Menschenrechtserklärung vom 26. August 1789 diese Menschenrechte als Ausdruck der Naturrechtsphilosophie der gesamten Menschheit angesehen wurden. Sie haben keine Rolle als supreme law und als Verfassungsrecht gespielt. Eine Änderung in den frankophonen Ländern und in Frankreich ist aber erkennbar. Sieht man die Menschenrechte nur als Naturrecht oder Ausdruck für philosophische Überlegungen an, dann entfällt die Realisierung durch Gerichtsentscheidungen. Richter können sie da nicht als konkretes Recht anwenden, weil sie nicht self-executive sind. Als Teil des supreme law nehmen die Menschenrechte auch an dem Prinzip des Vorranges der Gesetze (der Verfassung) teil, was bedeutet, dass bei jedem Widerspruch mit einem Grundrecht nicht nur der Verwaltungsakt oder eine Gerichtsentscheidung fehlerhaft sind, sondern auch jedes Gesetz.

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3. Die Stufenordnung der Menschenrechtsgarantien im nationalen und im internationalen Recht Die Menschenrechte sind sowohl auf nationaler Ebene in den nationalen Verfassungen garantiert, als auch auf internationaler Ebene, sei es durch internationales Konventionsrecht – wie durch die beiden Pakte – oder durch regionales Völkerrecht wie z. B. die europäische Menschenrechtskonvention. Es entsteht dann die Frage, in welchem Verhältnis sich das internationale Menschenrecht und seine Garantie zum nationalen Recht verhält. Hier sind zwei Theorien entwickelt worden: die monistische und die dualistische Theorie. Nach der älteren dualistischen Theorie bestehen beide Menschenrechtsgarantien unabhängig nebeneinander. Das bedeutet, dass die internationalen Menschenrechtsgarantien der nationalen Umsetzung bedürfen durch einen nationalen Rechtsakt. Die monistische Theorie dagegen sieht das nationale Recht als Teil einer über den Staat hinausreichenden allgemeinen Weltrechtsordnung, so dass die nationalen Menschenrechte wie das nationale Recht im Rang unter dem internationalen Menschenrecht stehen. Es ist sicher richtig festzustellen, dass die dualistische, mehr dem traditionellen Souveränitätsdenken verpflichtete Theorie nach und nach zu Gunsten der monistischen Auffassung an Boden verliert. Es ist aber immer noch herrschend, dass die nationalen Verfassungen Klauseln vorsehen, durch welche einmal zum allgemeinen Völkergewohnheitsrecht etwas ausgesagt wird (Art. 25 GG) und zum anderen festgestellt wird, welchen Rang internationales Recht, also auch internationales Menschenrecht, hat. Teilweise wird den internationalen Menschenrechten Rang unterhalb der Verfassung, aber vor dem nationalen Gesetzesrecht eingeräumt (so die Lösung in Deutschland); teilweise wird den internationalen Menschenrechtsgarantien, welchen der konkrete Staat beigetreten ist, eine höhere Garantie beigelegt. Dies geschieht z. B. dadurch, dass die nationalen Menschenrechte im Sinne der internationalen Menschenrechtspakte ausgelegt werden müssen. Dies sieht z. B. Art. 13 Abs. 2 der äthiopischen Verfassung 1994 und der entsprechende Artikel der Verfassung der südafrikanischen Republik vor. Dadurch soll verhindert werden, dass die Anwendung der nationalen Menschenrechte durch die nationalen Gerichte von der internationalen Rechtspraxis abweicht. 4. Dritt- oder Horizontalwirkung der Menschenrechte Die Menschenrechte haben wie die anderen Grundrechte grundsätzlich eine Wirkung gegenüber Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung. Manche Staaten, wie die Bundesrepublik Deutschland und auch Südafrika, haben den Menschenrechten aber auch bindende Wirkung gegenüber dem Gesetzgeber zugelegt (Art. 1 Abs. 3 GG). Verfassungsgerichtsbarkeit ist eigentlich nur dort als judicial review sinnvoll, wo auch der Gesetzgeber sich der richterlichen Kontrolle unterwerfen muss. Immerhin verbleibt auch die Bindung gegenüber dem Gesetzgeber im Rahmen der Vertikalwirkung der Menschenrechte. Von einer Horizontal- oder Drittwirkung der Grundrechte spricht man dann, wenn auch die sozialen Machtträger (Gewerkschaften, Ar-

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beitgeberverbände, Presse usw.) an die Grundrechte gebunden sind. Eine solche Bindung ist in Deutschland anerkannt21, doch nur so, dass die Grundrechte über die zivilrechtlichen und handelsrechtlichen Generalklauseln auf die Rechtsgestaltung Privater einwirken.22 Solche Generalklauseln sind z. B. die Verkehrssitte, die guten Sitten oder Treu und Glauben. So hat z. B. das Bundesarbeitsgericht entschieden, dass ein Wissenschaftler, der in einem deutschen Pharmabetrieb an der Entwicklung von Medikamenten gegen Atomstrahlung zu arbeiten hatte, unter Berufung auf sein Gewissen das Recht hat, diese Arbeit zu verweigern und eine andere im Rahmen des Betriebes zu verlangen. Dem Grundrecht der Gewissensfreiheit wurde Drittwirkung gegenüber dem Arbeitgeber eingeräumt. Ein anderer Bereich, in dem das Drittwirkungsproblem eine Rolle spielt, ist das Presse- und Medienrecht. Hier spricht man von „innerer Pressefreiheit“, wenn dem Journalisten gegenüber dem Presseunternehmen oder dem Medienträger ein Anspruch auf den Schutz seiner Meinungsfreiheit eingeräumt wird. Im Bereich des Arbeitsrechtes sieht Art. 9 Abs. 3 GG ausdrücklich eine Drittwirkung vor, in dem er sagt, dass die Zugehörigkeit zu Gewerkschaften von einem potentiellen Arbeitgeber nicht zum Anlass genommen werden kann, einen Arbeitsvertrag abzulehnen. 5. Die Menschenrechte als unmittelbar geltendes Recht Die Menschenrechte sollen im Prinzip unmittelbar geltendes Recht sein. Diese Natur als „self-executive“ soll bedeuten, dass der Gesetzgeber nicht erst einen Akt normativer Ordnung erlassen muss, um dem Menschenrecht eine Realisierungschance zu geben. Die Gerichte können also das garantierte Menschenrecht unmittelbar in einem Gerichtsverfahren anwenden. Allerdings gibt es selbstverständlich Menschenrechte, vor allem im Bereich des Paktes über kulturelle, soziale und wirtschaftliche Rechte, die nicht unmittelbar anwendbar sind. Sie haben den Charakter von „directive principles“, d. h. von Programmsätzen oder Verfassungsdirektiven, die dem einzelnen noch kein Recht einräumen. Sie verpflichten nur den Gesetzgeber, auf dem Gebiet der Kultur oder des Sozialen Rechtsvorschriften zu erlassen, die dann den einzelnen berechtigen können. Die „sozialen Grundrechte“ finden sich in vielen Verfassungen. Auch die Weimarer Verfassung verfügte über einen großen Katalog sozialer Grundrechte. Das Grundgesetz dagegen hat sie nicht aufgenommen, dafür aber die Garantie des Sozialstaates in Art. 20 GG als Verfassungsprogramm verankert. Nach der Wende 1989 war es ein neues Thema in der politischen und juristischen Diskussion, ob bei der Überarbeitung des Grundgesetzes nicht doch soziale Rechte aufgenommen werden sollten. Mit Art. 20a GG, der den Umweltschutz verankert hat, und Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG, der die „positive Diskriminierung“ für Behinderte zulässt, sind nun doch in gewissem Umfange soziale Grundrechte aufgenommen. Ein Verweis auf die südafrikanische Verfassung sei hier angebracht, die auch die „affirmative action“ in Art. 8 21 22

Seit BVerfGE 7, 198 „Lüth-Urteil“. Bodo Pieroth / Bernhard Schlink, a.a.O, Rn. 186 ff.

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verankert hat23, um eingetretene Nachteile, die auf die Rassendiskriminierung zurückzuführen waren, besser überwinden zu können. 6. Die Menschenrechte als objektive Grundrechte, directive principles oder Einrichtungsgarantien24 Selbst wenn Menschenrechte nicht den Charakter von subjektiven Grundrechten haben, d. h. nicht unmittelbar vor Gericht geltend gemacht werden können, ist zu unterscheiden, ob sie directive principles sind oder den Charakter von institutionellen Garantien haben. Directive principles würden als Programmsätze nur den Gesetzgeber verpflichten. Institutionelle Garantien, wie die Pressefreiheit, das Berufsbeamtentum und im gewissen Umfange auch das Eigentumsrecht, sind aber nicht nur Programmsätze, sondern sie enthalten gegenüber dem Gesetzgeber eine institutionelle Wirkung, indem sie einen bestimmten Normbereich (presserechtliche Normen oder eigentumsrechtliche Normen) vor Aufhebung oder substantieller Abänderung schützen. Die institutionelle Garantie der Pressefreiheit bedeutet somit, dass die Pressefreiheit den gesamten Prozess der Informationssuche und -gewinnung, der Informationsübermittlung bis hin zur Auslieferung des Presseerzeugnisses mitumschützt. Die Menschenwürde ist nicht eine institutionelle Garantie, sondern nur ein directive principle, das also nur den Gesetzgeber verpflichtet, nicht aber einen bestimmten Normenbestandteil schützt. 7. Das Verhältnis der Menschenrechte zur Wertordnung Die Menschenrechte als Teil der Grundrechtsordnung werden häufig mit der Wertordnung einer Gesellschaft oder Gemeinschaft identifiziert. Dies ist unrichtig. Die Wertordnung als Hierarchisierung ethischer Sollens-Vorstellungen ist von der juridischen Ordnung von Bürger- und Menschenrechten zu unterscheiden. Die „Solidarität“ innerhalb einer Gemeinschaft, insbesondere in einer Familie, kann bei Errichtung des Testamentes jemanden verpflichten, alle Mitglieder der Familie, Kinder oder Geschwister, gleich zu behandeln. Das Recht dagegen verlangt eine solche Gleichbehandlung nicht. Nach deutschem Recht kann ein Testator einzelne erbberechtigte Kinder z. B. auf den Pflichtteil setzen, während er anderen ein volles Erbrecht zukommen lässt. Die Willensfreiheit und die Testierfreiheit sind stärker ausgeprägt als der auf das Solidaritätsprinzip gestützte Gleichheitssatz innerhalb der Familie. Die Rechtsordnung erlaubt dem Angeklagten beispielsweise, vor Gericht zu schweigen, oder Zeugen, die Aussage zu verweigern (Zeugnisverweigerungsrecht). In der ethischen Ordnung mag es aber durchaus als verwerflich angesehen werden, zu einem Vorwurf zu schweigen bzw. ein Zeugnisverweigerungsrecht in Anspruch zu nehmen. Darüber hinaus ist zu beachten, dass innerhalb der Gemeinschaft nicht eine einzige 23

Vgl. Heinrich Scholler, Der Verfassungsdialog in der Republik Südafrika, in: ZÖR 52 / 1997, S. 63 – 89. 24 Vgl. hierzu auch Bodo Pieroth / Bernhard Schlink, a.a.O, Rn. 75 ff.

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ethische Wertordnung besteht, sondern dass hier sehr viele verschiedene Wertordnungen bestehen können.25 Deshalb ist es dem Richter nicht möglich, im Rahmen der Anwendung von Menschenrechten auf eine geschlossene Wertordnung zurückzugreifen. An manchen Stellen verweist das Gesetz allerdings auf die Wertordnung in der Gesellschaft. Dies geschieht dort, wo auf das Sittengesetz oder das Durchschnittsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verwiesen wird. Ein Beispiel, das ich hier auch anführen möchte, ist der Verweis im deutschen Recht auf die „Jagdgerechtigkeit“, d. h. auf die Vorstellungen unter den Jägern über die ethisch richtige Anwendung des Jagdhandwerkes. Zu diesen Grundsätzen gehört z. B. das Prinzip, dass ein gejagtes und nicht gleich getötetes Tier möglichst schnell von seinem Leiden erlöst werden muss. Dort, wo aber die Grundrechte nicht unmittelbar auf die allgemeine oder eine spezielle Wertordnung verweisen, kann der Richter nicht einfach Werte an die Stelle von Grundrechten setzen. 8. Durchsetzung der Grundrechte – die vierte Generation von Menschenrechten Die Durchsetzung der Grundrechte – Bürgerrechte und Menschenrechte – erfolgt durch die Gerichte, soweit sie selbst exekutiv sind. Soziale Grundrechte, directive principles oder kollektive Grundrechte können dagegen nicht durch die Gerichte durchgesetzt werden. Teilweise setzen sie eine Umsetzung durch den Gesetzgeber voraus. Neben den Gerichten ist es aber notwendig geworden, weitere Einrichtungen einzuschalten, wie z. B. den Ombudsmann oder Parlamentskommissionen zur Beobachtung und Realisierung der Menschenrechte. Eine weitere wichtige Rolle spielen vor allem die so genannten „non-governmental organisations (NGOs)“, die die Einhaltung der Menschenrechte beobachten und im Verletzungsfall mit Beratung und Musterprozessen den Bürgern zur Seite stehen.26 Im internationalen Bereich sind Amnesty International oder Human Rights Watch als wichtige NGOs tätig. In Deutschland ist vor allem in Bezug auf die früheren marxistischen Länder die Gesellschaft zum Schutz der Menschenrechte in Frankfurt größeren Kreisen bekannt geworden. Der Schutz zur NGOs ist vor allem bei der so genannten vierten Generation der Menschenrechte, zu denen die kollektiven Menschenrechte und die Menschenrechte auf Umwelt und ähnliches rechnen, von Bedeutung. Die Menschenrechte können nicht vom einzelnen durchgesetzt werden. Es bedarf der Unterstützung durch Gruppen, die in größerem Umfange zur PR-Arbeit in der Lage sind. Damit ergibt sich hier als Ergebnis die Erkenntnis, dass in der modernen Gesellschaft ein wirksamer Grund25 Die Koexistenz wird dann durch die Prinzipien der Toleranz und des ordre public geregelt, vgl. hierzu: Heinrich Scholler, Kulturkonflikte, Toleranz und Ordre Public, in: ARSP, Beihefte 19 – 22, 1985, 173 ff. 26 Vgl. auch Heinrich Scholler, Citizen Advocacy, in: Toward Independent Living, Proceedings of the 6th Asian Conference on Mental Handicap, Indonesia 1983, hrsg. von The Indonesian National Council of Social Welfare 1986, S. 132 ff.

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rechtsschutz nur dann möglich ist, wenn sie sich zu einer Civil Society entwickelt, in der neben den staatlichen Gerichten andere staatliche Einrichtungen und Institutionen und privatrechtliche Vereinigungen über die Entwicklung und den Schutz der Menschenrechte wachen. Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Grundrechte auf nationaler Ebene in Übereinklang zu bringen sind mit dem Umfang und der Funktion der Menschenrechte in den internationalen Vereinbarungen und Pakten. Hier tauchen vor allem zwei Probleme auf: a) Wie ist das nationale Recht zu ergänzen oder auszulegen, wenn die internationalen Menschenrechtsgarantien weiter sind und b) wie können nationale Menschenrechtsgarantien ohne Konflikt mit übernationalem Menschenrecht begrenzt werden? Diese zweite Frage ist bei weitem die entscheidendere und bedeutungsvollere Frage. Hierbei kommt es auch darauf an, ob die nationale Verfassung Menschenrechte ohne Beschränkungsmöglichkeit garantiert oder ob sie Vorbehaltsschranken genereller oder spezieller Art vorsieht. Das Grundgesetz hat für die Bundesrepublik das System vorgezogen, den einzelnen Grundrechten spezielle Schranken zuzuschreiben und auf eine generelle Schranke verzichtet. (Abgesehen davon gibt es Grundrechte, die im Grundgesetz schrankenlos gewährleistet sind, z. B. die Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit sowie die Kultusfreiheit in Art. 4 Abs. 1 und 2 GG.) Es kommt noch hinzu, dass die Vorbehaltsschranken im Grundgesetz keine generalisierende spezielle Vorbehaltsschranke darstellt. Generalisierend ist dann eine spezielle Vorbehaltsschranke, wenn sie das Grundrecht allgemein unter den Vorbehalt der Gesetze stellt. Dies ist z. B. der Fall bei Art. 2 Abs. 1 und 2 GG, wo die Gesetze eine Vorbehaltsschranke darstellen. Dies ist nicht der Fall, wenn im Falle der Freizügigkeit oder beim Schutz des Post- und Telekommunikationsgeheimnisses oder der Wohnung nur aufgrund von speziellen Rechtsgütern Schranken gezogen werden können. Die überstaatlichen internationalen Menschenrechtsgarantien, wie sie z. B. im Pakt für bürgerliche und politische Rechte enthalten sind, erlauben der nationalen Staatlichkeit Einschränkungen nur, soweit sie in einer offenen und demokratischen Gesellschaft (open and democratic society) zulässig sind, wobei häufig der Zusatz erscheint, dass diese Gesellschaft auf Gleichheit und Frieden basiert oder basieren muss. Damit wird etwas hergestellt, was man den Diskurs der Menschenrechte auf internationaler Ebene bezeichnen kann. Es wird nicht auf irgendein konkretes System der Schranken einer konkreten Nation oder Einrichtung verwiesen, sondern auf einen Typus der offenen und demokratischen Gesellschaft als ein abstraktes Modell. Wer bestimmt nun dieses Modell der open and democratic society, das Modell einer solchen Gesellschaft, das auf peace and justice oder equality gestützt ist? Kann man es den Juristen oder Gerichten überlassen, die Minimumstandards von Menschenrechten herauszuarbeiten, ohne die man nicht von einer open and democratic society sprechen kann? Gehören hierzu auch soziale Menschenrechte? Ist eine open and democratic society vorstellbar, ohne die Menschenrechte der vierten Generation: Selbstentfaltung, Umwelt-

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schutz und Bildung? Die Gerichte stehen hier vor der schwierigen Aufgabe, einen Konsensus herauszuarbeiten, der sich aus dem übernationalen Diskurs über Menschenrechte ergibt. Manche werden auf einen Minimumstandard abstellen und die Menschenwürde und die Selbstbestimmung als essentiell für das Vorliegen eines solchen Modells ansehen, andere dagegen stärker auf die Garantie der Gleichheit, vor allem auch zwischen Mann und Frau oder den Schutz des Kindes abstellen. Schließlich kann man auch als Minimumstandard den Schutz des Lebens und der Rechte der Habeas Corpus-Garantien in den Mittelpunkt rücken. Das deutsche Verfassungsrecht hat mit zwei Bestimmungen an der Spitze des Grundrechtskataloges für die Bundesrepublik einen solchen Diskurs eröffnet, in dem die Menschenwürde und die freie Entfaltung der Persönlichkeit als anthroponome Spitze des Grundgesetzes geschützt wurden. Hier wurde auch die Theorie entwickelt, dass diese Rechte Auffangnormen darstellen, d. h. immer dann als Schutzbereiche in Anspruch genommen werden können und vom Gericht angewendet werden sollen, wenn der Katalog kein spezielles Grundrecht enthält. Die Offenheit des Grundrechtskataloges gehört sicher auch zu dem Begriff der open and democratic society. Im wissenschaftlichen Diskurs ist der Begriff der Civil Society entwickelt worden. Er entspricht am meisten dem, was unter open and democratic society based on peace and justice gemeint ist. Zu diesem Begriff der open society und ihrem partizipativem Charakter gehört eben, dass im Wege einer vertikalen Gewaltenteilung über die Formen der Dezentralisation des Staatsapparates hinaus Aufgaben und Funktionen auf die Gesellschaft übertragen werden, die ursprünglich vom Staat wahrgenommen wurden. Hierzu gehört z. B. die Beschränkung des staatlichen Einflusses auf die Medienwelt. Rundfunk und Fernsehen sind in der Bundesrepublik Deutschland „staatsfern“ organisiert. Der Staat hat keine Fachaufsicht über die Durchführung der Rundfunkund Fernsehprogramme. Die Kontrolle wird ausgeübt von Rundfunkräten, in welchen die Gruppen der Gesellschaft, die für die Meinungsbildung relevant sind, proportional vertreten sind. Außerdem konkurrieren die staatlichen, aber staatsfernen, auf Landesebene organisierten Rundfunk- und Fernsehanstalten mit Privatfunk und Privatfernsehen. Dieser Vorgang der Privatisierung, Deregulierung und staatsfrei geführten öffentlichen Aufgaben ist ein wesentliches Element der Civil Society. Auch die Organisation der Berufe mit öffentlichen Aufgaben wie die Berufe der Ärzte, der Anwälte, der Notare in entsprechenden Kammern ist hier zu erwähnen. Überhaupt gehört hierzu der breite Bereich der so genannten NGOs, der non-governmental organisations, zur Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben, zu denen vor allem auch der Schutz der Menschenrechte gehört. In der Civil Society wird gerade auch dem Gedanken der citizen advocasy ein breiter Raum eingeräumt werden müssen.

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III. Die Menschenrechte im Rechtssystem und ihre systematische Verwirklichung Im Nachfolgenden sollen die Menschenrechte in ihrer Statusfunktion (1.), in ihrer Wirkweise (2.), ihrer Abänderbarkeit oder Beschränkbarkeit (3.), ihrer individuellen oder kollektiven Natur (4.) und ihrer Präponderanz (5.) untersucht werden. 1. Statusfunktion der Menschenrechte Während in der Gegenwart von den verschiedenen Generationen der Menschenrechte gesprochen wird als individuelle Rechte, als kollektive Rechte, als soziale und demokratische Rechte, steht die deutsche Rechtstheorie auf dem Standpunkt, dass die Menschenrechte unbeachtet ihrer historischen Entwicklung mehr die Funktion von Statusschutzrechten haben. So hat man die individuellen Menschenrechte als status negativus-Rechte bezeichnet, weil sie ursprünglich einen Freiraum des Menschen gegenüber dem Staat abschirmten, die demokratischen Rechte, die Teilnahme am Staat garantierten, als status activus, und die sozialen Rechte, die auf Leistung gerichtet sind, als status positivus oder status socialis bezeichnet. Diese Einteilung hat gegenüber der Lehre von den Generationen der Menschenrechte den Vorteil, dass der Eindruck nicht entsteht, als würden die jüngsten Generationen der Menschenrechte (Umweltschutz, Diskriminierungsverbote) wichtiger und stärker sein als die älteren, die auf Staatsabwehr gerichtet sind. Auch lässt sich natürlich der Begriff der Statusarten erweitern, so z. B. um die Menschenrechte des status proceduralis, d. h. um solche Rechte, die ein Verfahren garantieren, so z. B. das Verfahren vor einem Verfassungsgericht auf Menschenrechtsschutz, worin eine Weiterentwicklung des rechtlichen Gehörs gesehen werden kann. Die Entdeckung oder – besser gesagt – die Wiederentdeckung der kollektiven Menschenrechte (wie z. B. in der African Charter on Human and Peoples Rights) stellt auch nur bedingt einen Fortschritt dar, denn ursprünglich waren die Menschenrechtsgarantien wesentlich kollektiver und haben diesen kollektiven Charakter erst im Laufe der Geschichte verloren. An der liberalen Lehre von den Grundrechten als Freiheitsrechte des status negativus ist jedoch heute so viel als unrichtig erkannt, als die Freiheitsrechte nicht nur den Staat abwehren, sondern auch begründen. Sehr deutlich kann dies am Beispiel der Meinungsfreiheit und Pressefreiheit gezeigt werden. Meinungsfreiheit garantiert nicht nur die Äußerung von Meinungen – eventuell auch Tatsachen? – in Schrift, Wort und Bild, sondern sie garantiert auch das Entstehen einer öffentlichen Meinung und damit einer Einflussnahme auf die politische Willensbildung. Das Gleiche kann von der Vereins- und Versammlungsfreiheit gesagt werden, die vor allem in Gestalt der Demonstrationsfreiheit von essentieller Bedeutung für die demokratische Entwicklung und damit den status activus der Grundrechte ist. Hier sieht man also ein Zusammenspiel von echten Menschenrechten mit staatsbürgerlichen Grundrechten.

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2. Die Menschenrechte als objektives und subjektives Recht Über diese Frage wurde bereits im vorigen Abschnitt Näheres ausgeführt. In der geschichtlichen Entwicklung ist richtig festzustellen, dass manche Rechte, die ursprünglich nur objektive Rechte waren, später zu subjektiven Rechten ausgebaut wurden. So war das Eigentumsrecht ursprünglich als subjektives Recht beschränkt auf das Eigentum an Grund und Boden, wurde aber von der Rechtsprechung des Reichsgerichtes auf alle vermögenswerten Rechte erstreckt. Man wird also sagen können, dass das Rechtssystem eines jeden Staates, das auf individuelle Rechtsverwirklichung angelegt ist, die Tendenz entfaltet, dass die objektiven Grundrechtsverbürgungen schrittweise in subjektive Rechte umgewandelt werden. Der Zentralbereich des bürgerlichen Rechtes in einer open and democratic society ist eben die subjektiv-rechtliche Garantie, d. h. eine vom Staat sanktionierte, dem einzelnen zuerkannte Willensmacht, die er in seinem Interesse ausüben kann. Deswegen wird man der Neuentdeckung der kollektiven Rechte nicht unbedingt einen Fortschritt zuerkennen können. Bei den objektiven Rechten ist die Schwierigkeit sofort erkennbar, die darin besteht, dass die Rechtsordnung für die Realisierung objektiver Rechte nur ungenügend Mechanismen zur Verfügung stellt.

3. Abänderbarkeit und Unabänderbarkeit Auch die Abänderbarkeit und Unabänderbarkeit der Menschenrechte durch so genannte Ewigkeitsklauseln oder Grundrechtsbeschränkungen stellt ein zentrales Problem dar.27 Kann eine Verfassung, wie das Grundgesetz in Art. 79 Abs. 3, bestimmte Menschenrechte der Abänderbarkeit durch die Verfassungsänderung entziehen? Art. 79 Abs. 3, die sogenannte Ewigkeitsklausel, entzieht auch nicht die Grundrechte der Abänderbarkeit, sondern nur die Garantie der Menschenwürde, die eine objektive Norm ohne subjektiven Grundrechtsgehalt darstellt. Das Gleiche gilt für die Prinzipien des Art. 20 GG. So haben die Theorie und die Rechtsprechung anerkannt, dass die Menschenwürde als unabänderliche Garantie jeder Verfassungsänderung entzogen ist. Dies bedeutet, dass auch die konkret gewährleisteten Menschenrechte unabänderlich sind, soweit sie ein unverletzbarer Bestandteil der Menschenwürdegarantie sind. Dies gilt einmal für den Wesensgehalt eines Grundrechtes, der auch im Grundgesetz (Art. 19 Abs. 3) geschützt wird. Wird der Wesensgehalt eines Grundrechtes verletzt, dann ist das Gesetz verfassungswidrig. Allerdings schützt der Wesensgehalt nicht vor einem Eingriff des verfassungsändernden Gesetzgebers. Nur die Menschenwürde kann auch vom verfassungsändernden Gesetzgeber nicht beeinträchtigt werden. Jedoch kann die verfassungsgebende Gewalt des Volkes selbstverständlich nicht durch eine Positivierung einer Verfassung daran gehindert werden, sich eine neue Verfassung zu geben. Vor allem in Südafrika war die Bindung des Verfassungsgebers der Constitutional Assembly an vorgegebene unabänderbare Prinzipien von besonderer Bedeutung. In Situationen eines großen Umbruches scheint es ein passabler Weg 27

Vgl. Lücke, in: Sachs, a.a.O., zu Art. 79 GG.

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zu sein, den Verfassungsgeber aufgrund eines Konsensus in der Öffentlichkeit an bestimmte vorgegebene Prinzipien zu binden. Dies ist natürlich eine Beschränkung der Souveränität des Verfassungsgesetzgebers, nicht aber der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes. 4. Die individuellen und die überindividuellen oder kollektiven Menschenrechte Es wurde bereits mehrmals auf die Entwicklung kollektiver Menschenrechte hingewiesen. Auch das Grundgesetz kennt ein kollektives Grundrecht, nämlich das Grundrecht der kommunalen Freiheit (Art. 28).28 Es ist allerdings in die Trägerschaft der Kommune verlegt und steht also nicht den Gemeindebürgern zu. Dennoch ist es richtig, es als kollektives Recht anzusehen. Kollektive Menschenrechte werden vor allem dort eingeräumt werden müssen, wo Minderheiten religiöser, rassischer oder kultureller Art in ihrem Bestand bedroht sind. Die äthiopische Verfassung von 1994 geht dabei so weit, dass bei Nichtbeachtung oder Nichtgarantie solcher kollektiver Menschenrechte der Minderheitsgruppierung (Nations, Nationalities and Peoples) das Recht zur Dismembration oder Sezession eingeräumt wird (Art. 39 äthiopische Verfassung 1994). Dies zeigt gleichzeitig die Schwierigkeiten auf, vor denen der Schutz kollektiver Rechte steht. Meistens sind es eben Minderheitsgruppen, die sich gegenüber den Mehrheitsgruppen durchsetzen wollen und die letzten Endes in der Dismembration oder Sezession die einzige Hoffnung auf Selbstbestimmung sehen. Es ist aber nicht unbedenklich, eine immer wachsende Zahl von Nations, Nationalities and Peoples als souveräne Völkerrechtseinheiten anzuerkennen. Die Labilität des internationalen Zusammenlebens wird dadurch vermehrt und der Einfluss der Nachbarstaaten unnötig erhöht. Eine Entwicklung zu föderativen Systemen oder Systemen konföderativer Struktur mit weitgehenden Autonomien ist hier vorzuziehen. IV. Der Aufbruch zu einer neuen Generation von Menschenrechten: Menschenrechte auf Entwicklung und Umweltschutz Als zwei Beispiele einer neuen Generation von Menschenrechten soll hier die Garantie der Selbstverwirklichung und Entwicklung sowie des Umweltschutzes29 erwähnt werden. Hierbei ist die Frage aufzuwerfen, ob die Garantie der Entwicklung als Abwehrrecht zu verstehen ist oder als soziales Recht auf staatliche Leistung. Ist letzteres der Fall, so ist diese Garantie nicht self-executive, sondern bedarf der Umsetzung durch den Gesetzgeber. Das Gleiche wird man auch vom Umweltschutz sagen müssen. Er ist nicht so entwickelt, dass das Gericht im konkreten Falle sagen kann, welche Maßnahmen getroffen werden müssen oder welcher Schadenersatz dem einzelnen zugebilligt werden kann. Hierbei soll noch das Problem ange28 29

Vgl. Theodor Maunz / Reinhold Zippelius, Deutsches Staatsrecht, München 1998, § 16. Vgl. Dietrich Murswiek, in: Sachs, a.a.O., zu Art. 20a.

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schnitten werden, was bei einem Konflikt zwischen verschiedenen Grundrechten geschehen soll und welchem Grundrecht man den Vorrang gewähren muss. Vor allem Konflikte zwischen liberal-klassischen Grundrechten und modernen, wie z. B. Eigentumsschutz auf der einen Seite und Umweltschutz auf der anderen, aber auch Konflikte innerhalb eines klassischen Menschenrechtsbereiches wie zwischen Freiheitsrechten und Gleichheitsrechten, geben alte und neue Probleme auf. Bisher hat man in Europa den Standpunkt vertreten, dass die Freiheitsrechtsgarantien stärker sind als die Gleichheitsrechtsgarantien. Betrachtet man eine Reihe von neuen Grundrechtskatalogen vor allem in den Entwicklungsländern, so in Südafrika oder in Äthiopien, so erkennt man, dass eine solche Präponderanz der Freiheit über die Gleichheit nicht mehr ohne spezielle Untersuchung des Grundrechtskataloges anerkannt werden kann. Grund hierfür ist, dass viele Staaten vor der Wende, vor allem in den Entwicklungsländern, auf Ungleichheiten gestützt waren oder sie nicht bekämpften. Dies waren teilweise politische Ungleichheiten gegenüber der Opposition, aber auch rassische und kulturelle Ungleichheiten gegenüber anderen Rassen oder Kulturen. Von Bedeutung sind die umfangreichen Gleichheitsartikel in der neuen äthiopischen Verfassung (1994) und der am 8. Mai 1996 angenommenen Verfassung der Republik Südafrika. Hier finden sich z. T. detaillierte Bestimmungen gegen die Benachteiligung der Frau. Sie machen es unmöglich, im Konflikt zwischen Religionsfreiheit und Frauengleichheit beispielsweise im Falle der Beschneidung von einem größeren Gewicht der Freiheit der Religion gegenüber dem Gleichbehandlungsgrundsatz und der Nichtdiskriminierung von Frauen zu sprechen. V. Schlussbemerkung Die Universalität der Menschenrechte zeigt sich sowohl in der historischen vertikalen Richtung, als auch in der horizontal-räumlichen Ausdehnung. Aus allen Kulturräumen hat die Idee gleicher Freiheit, die Idee der Brüderlichkeit und Menschenwürde Zuspruch und Unterstützung erfahren, sind in einer lang zurückreichenden geschichtlichen Entwicklung die rechtlichen Dokumente zum Schutz von Menschenrechten hervorgegangen, die eine neue Grenzziehung zwischen der obrigkeitlichen Macht und der Sphäre des Individuums festlegten. So waren ursprünglich Menschenrechte Abmarkungen im politischen Machtverhältnis. Die demokratische Partizipation und die sozialstaatliche Vorstellung der brüderlichen Teilnahme verstärkten den Strom der Menschenrechte sowohl in historischer als auch in räumlich-horizontaler Richtung. Mit der Entwicklung völkerrechtlicher Schutzinstrumente und überhaupt der Vorstellung, dass individuelle Rechte von der Staatengemeinschaft her und nicht nur vom Nationalstaat geschützt werden müssen, trat die Idee universeller oder regionaler Menschenrechte in eine neue Phase ein. Hier brach sich auch die Vorstellung Bahn, dass auch im internationalen Recht der einzelne nicht nur Objekt, sondern Subjekt seiner Rechte gegenüber der Staatengemeinschaft sei. Krieg, Hungersnot und Bevölkerungsexplosion sind inzwischen größere Feinde geworden als staatliche Diktaturgewalt. Die Ungleichheit der Ressourcen und des Lebensstandards auf der Welt

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stellt eine neue Herausforderung an die Idee der Menschenrechte dar. Die Theorie der Menschenrechte sucht immer erneut nach einem Ur-Menschenrecht, das gleichsam der Elan Vital aller anderen Menschenrechte sein könnte. Vieles spricht dafür, dass das moderne Ur-Menschenrecht in dem Doppelgestirn von Recht auf Leben und Selbstbestimmung zu sehen ist.

C. Die Einwirkung des revolutionären französischen Verfassungsrechts auf die europäische Verfassungsentwicklung I. Einführung Der Aufsatz, der sich nicht mit dem französischen Zivilrecht des Code Napolon beschäftigt, sondern mit dem französischen öffentlichen Recht, muss dennoch zunächst auch dort seinen Ausgangspunkt suchen. Galt doch dieser Code auch in Westdeutschland bis zur Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, bis er durch das deutsche Bürgerliche Gesetzbuch abgelöst wurde. Es gibt aber noch einen anderen Grund, hier anzuknüpfen, denn der Code Napolon, dem der Autor in seiner modernsten Fortführung als Civil Code Äthiopiens aus dem Jahre 1960 begegnete, stellt ebenfalls eine Versöhnung oder einen Kompromiss zwischen dem radikal-französischen Revolutionsrecht und den Rechten und Forderungen der Gegenrevolution dar.1 Er basiert einerseits auf den Forderungen der Gleichheit und der Freiheit, bereitet aber gleichzeitig durch den Aufstieg des liberalen Bürgertums den Bürgerkönigen Frankreichs den Weg. Versucht man nun die Einwirkung des französischen öffentlichen Rechts auf das deutsche öffentliche Recht, insbesondere das Verfassungsrecht, zu untersuchen, dann muss man von den öffentlich-rechtlichen Grundsätzen der französischen Revolution, insbesondere der Menschenrechtserklärung2 von 1789, und den Verbürgungen der ersten Revolutionsjahre ausgehen und sie mit der Gegenbewegung verbinden, die in der Charte von 1814 und der französischen Verfassung von 1830 niedergelegt wurden. Das deutsche öffentliche Recht, insbesondere das deutsche Verfassungsrecht, wurde von den Postulaten von 1789 und den Verbürgungen von 1830 gleichermaßen beeinflusst, wenn auch der Einfluss in den verschiedenen Territorien Deutschlands ein unterschiedlicher war.3 Österreich und Preußen konnten sich bis zur Revolution 1 Christian Starck, Die Französische Revolution und das deutsche Staatsrecht, in: JZ 1989, 601; Peter Häberle, 1789 als Teil der Geschichte, Gegenwart und Zukunft des Verfassungsstaates, in: JÖR 37 (1988), 35; Demetrios L. Kyriazos-Govelis, Der moderne Verfassungsbegriff und seine historischen Wurzeln, in: JÖR 39 (1990), 55; Kufraisse / Müller-Luckner (Hrsg.), Revolution und Gegenrevolution 1789 – 1830, Zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und Deutschland, München 1991 (im nachfolgenden als „Revolution“ zitiert). 2 Siehe hierzu: Emile Boutmy, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte und Georg Jellinek, in: Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, hrsg. von Roman Schnur, Darmstadt 1964, S. 78 und Georg Jellinek, Zur Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, ebd. S. 1. 3 Siehe dazu: Jürgen Voss, Kurt von Rotteck und die Französische Revolution, in: Revolution und Gegenrevolution 1789 – 1830, zur geistigen Auseinandersetzung in Frankreich und

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1848/49 gegen diesen französischen Einfluss zur Wehr setzen. Die süddeutschen Staaten hingegen, vor allem Bayern, Baden und Württemberg – um nur die größeren zu nennen – waren viel stärker unter den französischen Einfluss geraten, hatte doch Bayern bereits 1808 die erste „Kompromissverfassung“ erlassen4. Diese Verfassung verband schon menschenrechtliche Postulate und eine demokratische Wahllegitimation mit dem liberal abgeschwächten monarchischen Prinzip. Der Aufsatz beschränkt sich daher auf diesen Einfluss Frankreichs, der auch besonders in der belgischen Verfassung von 1831 seinen Niederschlag und seine Ausstrahlung auf Deutschland fand. Ein intensiverer Anschluss an die Prinzipien garantierter Menschenrechte und demokratischer Legitimation fand erst in der Paulskirchenverfassung von 1849 seinen Ausdruck. Hier auch wurde der nicht nur dogmatisch begründete Widerstand gegen ein kodifiziertes Privatrecht nach dem Vorbild des Code Napoleon überwunden, sondern eben auch die Forderung nach einer einheitlich deutschen Kodifikation des privaten Rechtes verankert. Ähnlich wie im Falle des Code Napoleon führte auch die Verbindung von Revolution und Restauration zu dem, was man mit einem modernen Ausdruck den Prozess der defensiven Modernisierung nennt. Er soll hier im Bezug auf Deutschland bis zur deutschen Revolution in den Jahren 1848/49 dargestellt werden. II. Das revolutionäre Verfassungsrecht und die Verfassungen des 19. Jahrhunderts 1. Das französische revolutionäre Verfassungsrecht hat zumindest in zwei großen Schüben auf die Entwicklung auf dem Kontinent eingewirkt und zu den Verfassungsformen des 19. Jahrhunderts geführt. Dabei muss allerdings einschränkend darauf hingewiesen werden, dass das französische Verfassungsrecht selbst nicht ohne Einfluss des anglo-amerikanischen Rechtes gedacht werden kann. In der Würdigung der Bedeutung des Jahres 1789 für den Verfassungsstaat haben dies verschiedene Rechtswissenschaftler in der Bundesrepublik Deutschland ausdrücklich betont. Vor knapp 100 Jahren hat die bekannte Schrift Georg Jellineks über den Ursprung der Menschenrechte eine heftige juristische und politische Diskussion zwischen französischen und deutschen Historikern und Verfassungsjuristen hervorgerufen. Jellineks These zum Ursprung der Menschenrechte war eine doppelte: Einmal gingen die Menschenrechte nicht auf die allgemeine Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 zurück, sondern vielmehr auf die Bills of Rights der nordamerikanischen Kolonialverfassungen und zum anderen sei nicht die Redeoder Pressefreiheit das Mutter- oder Urgrundrecht, sondern die Glaubens- und Gewissensfreiheit. Neuere Untersuchungen wie die von Vossler haben die These Jellineks zwar unterstützt und die Abhängigkeit der Menschenrechtsentwicklung von den USA nachDeutschland, hrsg. von Roger Dufraisse unter Mitarbeit von Elisabeth Müller-Luckner, München 1991, S. 157. 4 Häberle (Anm. 1), S. 51.

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gewiesen, auch ist der Streit in ein wesentlich ruhigeres Fahrwasser geraten. Der heutige Verfassungsstaat geht sicher auf beide Wurzeln zurück, so dass man mit Häberle sagen kann: „Der gemein europäisch-nordamerikanische Typus ,Verfassungsstaat präsentiert sich in der Gegenwart in einer Weise, die teils 1789 (mit) zu verdanken ist, teils sogar gegen 1789 oder ohne 1789 zu erklären ist“.

Gelten diese Einschränkungen nun auch für die Verfassungen, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstanden sind? Zu ihnen gehören die französische Charte von 1830, die belgische Verfassung von 1831 und die griechische Verfassung von 1843/44. Ähnliches gilt auch für die Paulskirchenverfassung und die große demokratische Diskussion, die sich in Deutschland im Vormärz und in den Jahren 1848/49 um diesem Entwurf und seine Verkündung als Verfassung entfaltete. Man wird daher mit Recht die Ausstrahlung des französisch-revolutionären Verfassungsrechtes nicht auf die Jahre 1789 oder 1791/92 und 1795 beschränken dürfen, sondern man muss die Kodifikation bis zum Jahre 1830 und 1831 verfolgen. Wir haben es daher mit einer doppelten Einwirkung des französischen Revolutionsrechtes zu tun: einmal mit der Wirkung des revolutionären Verfassungsrechtes der Jahre des 18. Jahrhunderts und mit einer zweiten Einwirkung, der der Charte von 1814 und 1831, welche wiederum nur im Zusammenhang mit der französischen Charte von 1814 gesehen werden kann. Diese beiden letztgenannten französischen Verfassungsurkunden stellen bereits das Ergebnis eines Verbreitungsprozesses dar, welchem die revolutionären Verfassungsideen unterworfen wurden und in welchem sie sich mit mitteleuropäischen traditionellen Verfassungsvorstellungen verbanden. Als Ergebnis entstand daraus der so genannte konstitutionelle monarchische Staat, der das ganze 19. Jahrhundert kennzeichnen sollte. 2. Diese beiden Wirkebenen des französischen Verfassungsrechtes haben sich in der Schaffung der belgischen Verfassung von 1831 niedergeschlagen. Natürlich hat nicht erst die belgische Verfassung von 1831 Auswirkungen auf die griechische Verfassungsentwicklung gehabt. Man darf nicht vergessen, dass die Heilige Allianz von Beginn des griechischen Freiheitskampfes an immer die Besorgnis zum Ausdruck brachte, dass sich im griechischen Freiheitskampf die französische Revolutionsbewegung manifestiere und das dort entzündete Feuer eine Flamme der Französischen Revolution und des Jakobinertums sei. Für die deutschen Philhellenen war es nicht einfach, die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass die griechische Frage und die Lage Griechenlands nicht aus der Perspektive der Revolutionsbekämpfung betrachtet werden dürfe. Auch in den 20er Jahren, als Griechenland in drei Versammlungen sich verschiedene Verfassungen gab, ist die Einwirkung unmittelbar revolutionären französischen Verfassungsrechtes erkennbar. Die größere Nähe zur Demokratie und zur republikanischen Ordnung dieser Verfassungen wird allgemein auf das stärkere Einwirken französischer Revolutionsideen zurückgeführt. Thiersch spricht von einem gewissen Gallina, der mit einem

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Textbuch französischen revolutionären Verfassungsrechtes die Gemüter beunruhigt habe, und erwähnt auch griechische Sanscyloten5 , die sich in Gedanken der Französischen Revolution in Griechenland tummelten. Die französische Partei, die sich wohl schon damals in Griechenland bildete und die auch später dann eine führende Rolle unter Kolettis6 führen sollte, war aber keinesfalls gleichzusetzen mit Jakobinertum oder radikalem revolutionärem Gedankengut. Aus den Briefen, die Kolettis nach München an Thiersch schrieb, ist auf jeden Fall nicht eine solche Einstellung zu entnehmen. Die griechisch-französische Parteiung zeigte vielmehr auch damals schon, dass die revolutionären Ideen eine Verbindung eingegangen waren mit traditionellen kontinentaleuropäischen Verfassungsvorstellungen. Bei der Einwirkung des französisch-revolutionären und konstitutionellen Verfassungsrechts auf Mitteleuropa und damit auch auf Griechenland muss man schließlich eine weitere Brechungsebene berücksichtigen: Der Nationalkongress in Athen war sich durchaus bewusst, dass er nicht ohne Schaden ein fremdes Verfassungssystem übernehmen konnte. Es musste also eine Anpassung oder Amalgamierung an die griechischen Verhältnisse erfolgen. „Diese Gesetze ruhen auf der Demokratie und zeigen noch ungeachtet der monarchischen Modificationen von Argos den Einfluss der Boden und Sitten Griechenlands fremden Theorien Europas. Man muss also die Vorrechte der Krone hinzuthun und das übrige so zusammenfügen, daß die Forderungen einer monarchischen erblichen Ordnung mit den Rechten und Bedürfnissen Griechenlands in Einheit kommen, mit Einem Wort, es handelt sich darum die dem Präsidenten von dem Congreß gestellte Aufgabe zu lösen, die dieser entweder nicht erfüllen wollte oder nicht konnte. Durch Aufbauung auf das was es Überliefertes, Geschichtliches und gesetzmäßig Bestehendes gibt, durch Umschmelzung und Vervollkommnung desselben wird man die durch die Conferenz in London im Namen des minderjährigen Königs Griechenland in Aussicht gestellte Constitution vorbereiten. Das ist auch der Zweck den wir uns bei Behandlung der darauf Bezug habenden Dinge vorgesetzt hatten. Wir haben getrachtet alle aus fremden Systemen genommenen Ideen zu entfernen, die Spuren und Trümmer der einheimischen Institutionen sorgfältig hervorzuheben, ihren Gehalt zu erkennen, ihre Fehler zu verbessern und das Mangelhafte zu ergänzen, fest überzeugt daß es keine andern Mittel und Wege gibt zu einer den Sitten und Gewohnheiten, sowie den reellen Bedürfnissen des Landes angemessenen Ordnung der Dinge zu gelangen.“7

Umgekehrt erfuhr Europa über die Französische Revolutionsentwicklung auch eine Wiederbelebung und Rezeption antiker Gerechtigkeitsvorstellungen auf dem Gebiet des Verfassungs- und Staatsrechts. Vor allem ist die Idee der gemischten Verfassung i.S.e. Mehrzahl koordinierter Verfassungskräfte hervorzuheben8. Diese Ver5 Friedrich Thiersch, in: Augsburger Allgemeine Zeitung vom 22. 11. 1843, Beilage Nr. 326. 6 Heinrich Scholler, Griechische Politik im Spiegel der Briefe von Kolettis an Friedrich von Thiersch, in: Der Philhellenismus und die Modernisierung in Griechenland und Deutschland, Erstes Symposium, organisiert vom Institut für Balkan-Studien und Südosteuropa-Gesellschaft München (Hrsg.), Thessaloniki 1986, S. 65 ff. (zus. m. Vergi-Tzaviakos). 7 Beilage AAZ Nr. 326 vom 22. November 1843, S. 2559. 8 Häberle (Anm. 1), S. 39 m. Anm. 15.

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fassungskräfte sollten kompromissbereit sein und wurden so konstruiert, dass sie aufeinander angewiesen sind und sich ausbalancieren. Diese Vorstellung ist keine Neubegründung von Montesquieu und auch nicht erst im englischen Begriff des Rule of Law entwickelt worden, sondern bewusst eine Anknüpfung an antike Vorbilder. III. Die Wirkung der französischen Verfassung von 1789/91 und 1830 1. Inhalte der Verfassungen von 1789, 1791, 1793 und 1795 Eine beträchtliche Anzahl von verfassungsrechtlichen Institutionen und Regelungen stammen aus der Revolutionsverfassung Frankreichs (der bereits erwähnte Einfluss Nordamerikas soll nicht immer wieder wiederholt werden, gilt aber auch hier). Zu diesen Elementen gehören vor allem: • die Schriftlichkeit der Verfassungsurkunden, • Gliederung der Verfassungsurkunden in Präambeln, • Menschenrechtserklärungen, • Betonung von Freiheit, Gleichheit und Solidarität (Brüderlichkeit), • die Idee der Kodifikation i.S.e. Gesamtregelung von Rechtsmaterien des öffentlichen Rechts, des Verwaltungsrechts und des Verfassungsrechts, • die Unterscheidung zwischen der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes und damit verbunden die Idee der Volkssouveränität und des Allgemeinwillens: Contrat social, • Staatsform der Republik, • die Gewaltenteilung als Funktionsteilung und der Begriff des allgemeinen Gesetzes. Wo sich fortan in europäischen Verfassungsurkunden diese Elemente wiederfinden, sind sie unmittelbar zurückzuführen auf die französische Revolutionsverfassung. Bei einer Zusammenschau dieser Elemente wird man vor allem die führende Idee herausarbeiten müssen, dass das Volk als Subjekt selbstverantwortlich und souverän durch gewählte Repräsentanten handelt. 2. Inhalte aus der französischen Verfassung von 1830 In dieser reinen Gestalt sind die französischen Revolutionsprinzipien des Verfassungsrechts nicht Gegenstand des kontinentaleuropäischen Staates der konstitutionellen Monarchie geworden. An die Stelle der Revolution ist die Reform getreten, die in der Lage war, traditionelle Elemente des Verfassungsrechts mit den modernen zu verbinden. Hierzu gehören:

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• die Vorstellung, dass die Verfassung ein Vertrag ist (Verfassungsvertrag)9, • deutliche Unterscheidung zwischen plebiszitärer und repräsentativer Demokratie, • die Teilung der Staatsgewalt zwischen Parlament und Krone. Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus (Beschränkung der absoluten Demokratie durch verfassungsstaatliche Elemente), • die unabhängige Stellung der Gerichtsbarkeit und die Entwicklung der Verfassungsgerichtsbarkeit, • die vertikale Gewaltenteilung durch den Ausbau kommunaler Selbstverwaltung. Diese Elemente stellen eine Korrektur oder Ergänzung der unter 1. aufgeführten Revolutionsprinzipien des Verfassungsrechtes dar. Auf welche Weise sie nun gemischt wurden und sich miteinander verbinden konnten, macht die Normenfülle der sogenannten konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts aus. Während das französische revolutionäre Verwaltungsrecht einschließlich der Verwaltungsgerichtsbarkeit relativ schnell sich in Kontinentaleuropa durchsetzen konnte, war dies dem revolutionären Verfassungsrecht nicht ohne Amalgamierung mit traditionellen Vorstellungen möglich. Noch war es erforderlich, eine monarchische Exekutive zu erhalten, um Terror und Anarchie zu vermeiden, die Frankreich, aber auch Griechenland nach der Ermordung Kapodistrias erlebt hatten. Man wird daher den Amalgamierungsprozess nicht als einen schwächlichen Kompromiss zwischen den alten und den neuen Kräften ansehen müssen, sondern als den Versuch, die neuen Ideen, die neuen Institutionen und Prinzipien möglichst realistisch mit den notwendig traditionellen Elementen zu verbinden. IV. Die belgische Verfassung Neben der französischen Verfassung von 1830 ist vor allem die belgische Verfassung die erste europäische Verfassung, die diesen Amalgamierungsprozess mit großer Deutlichkeit zeigt. Natürlich finden sich auch in anderen Verfassungen, so in den süddeutschen Verfassungen, der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Verbindungen von traditionellem mit modernem französischen Verfassungsrecht. Hingewiesen werden sollte hier auf die badische Verfassung und auf die bayerische, ohne dass hier Raum gegeben wäre, diesem Gedanken weiter nachzuhängen10.

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Häberle (Anm. 1), S. 104. Die Zeitgenossen haben sofort und allgemein erkannt, dass die belgische Verfassung ein Vorbild für die griechische Verfassung von 1843 / 44 war, doch blieb unklar, in wieweit die französische von 1830 mitberücksichtigt wurde und in wieweit die Anpassung an bayerische Vorstellungen erfolgte. D.W. Daskalakis (Die Verfassungsentwicklung Griechenlands, in: JÖR Band 23 (1937), 285) schrieb dazu: „Die Nationalversammlung unterzog sich ihrer Aufgabe (eine Verfassung zu entwerfen) mit Eifer und beschloss eine Verfassung, die sich an die französische von 1830 und die belgische von 1831 anlehnte, jedoch die demokratischen Grundlinien der letzteren nicht übernahm“. 10

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In der zweiten Phase des französischen Revolutionsrechtes, also nach den Septembermorden von 1792 verstärkte sich in Deutschland die Hinwendung zur monarchischen Legitimität und nur eine kleine Gruppe weiterhin revolutionär orientierter Philosophen und Staatsrechtslehrer suchten eine Rechtfertigung und Weiterentwicklung i.S.e. „Idealkonstruktion der Französischen Revolution“11. Die Hinrichtung des französischen Königs wurde als Angriff auf ein gesamteuropäisches Verfassungsprinzip aufgefasst und weite Kreise erfasste eine Angst vor der „Pöbelherrschaft“. Das französische Herrschaftssystem wurde bestenfalls als Oligarchie und Ochlokratie gleichzeitig verurteilt. Der Dichter Klopstock, der ursprünglich ein begeisterter Anhänger der Revolutionsideen war, schrieb 179512 : „Nichts von dem, was der Franke des Guten verhiess und des Edlen / nichts von allem diesem geschah / wie es auch mit entzückendem Thron die Beredsamkeit aussprach, / und die Begeisterung es hob / Aber alles geschah, was je die stärksten der Worte / Schreckliches ahnten …“13. – Zitat des Fürsten L. in der Paulskirche

Schlözer formulierte: „Gleichheit und Freiheit sind Zwecke, nicht Opfer des Staats“14.

In Frankreich selbst fand eine Wende statt, denn die Konsulatsverfassung von 1799 enthielt keine Menschenrechte, die Charte von 1814 enthielt nur Rechte der Franzosen, wie auch dann die belgische und die griechische Verfassung nur Rechte der Belgier oder der Griechen aufnahm. Johann Christian Freiherr v. Aretin bezeichnete 1824 die Freiheits- und Gleichheitsrechte als Urrechte, die von der Verfassung der konstitutionellen Monarchie garantiert würden. Die Verfassungen wurden entweder oktroyiert oder „paktiert“. Die Sicherung der Bürgerrechte im konstitutionellen System wurde von dem bereits zitierten v. Aretin wie folgt beschrieben: „Der Monarch sei durch den Staatsvertrag, in der Gesetzgebung an die Mitwirkung der Repräsentation gebunden, wodurch bewirkt werde, dass das Volk einerseits solchen Gesetzen die Zustimmung versagen könne, welche ihm die bürgerliche Freiheit zu verletzen scheinen …“15.

Das Modell der konstitutionellen Monarchie, wie es in Deutschland von der Rechtswissenschaft gezeichnet wurde und auch in den beiden Schüben von Landes11

Starck (Anm. 1), S. 605, re. Sp. Starck (Anm. 1), S. 605 m. Anm. 56. 13 Klopstocks Ode trägt die Überschrift: „Zwei Nordamerikaner“. 14 Dazu A.L. Schlözer, Allgemeines Staatsrecht und Staatsverfassungslehre, Göttingen, 1793, S. 37; Heinz-Jürgen Böhme, Politische Rechte des einzelnen in der Naturrechtslehre des 18. Jahrhunderts und in der Staatstheorie des Frühkonstitutionalismus, Schriften zur Verfassungsgeschichte, Bd. 44, Berlin 1993, S. 13 ff.; zum Frühkonstitutionalismus siehe insbes. S. 67 ff. 15 Starck (Anm. 1), S. 607. 12

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verfassungen zutage trat, orientierte sich am englischen Vorbild16. Von deutscher Seite ist vor allem der Reformer Freiherr vom Stein zu erwähnen, der am englischen Vorbild orientiert versuchte, auf der Idee der Selbstverwaltung und der Partizipation eine ständische Vertretung in einem Verfassungsstaat aufzubauen. „Das zudringliche Eingreifen der Staatsbehörden in Privat- und Gemeindeangelegenheiten muss aufhören, und dessen Stelle nimmt die Tätigkeit des Bürgers ein, der nicht in Formen und Papier lebt, sondern kräftig handelt, weil ihn seine Verhältnisse in das wirkliche Leben hineinrufen und zur Teilnahme an dem Gewirre der menschlichen Angelegenheiten nötigt.“ Wie weit auch das englische Vorbild unmittelbar auf die belgische Verfassung eingewirkt hat, kann hier nicht näher nachgezeichnet werden. V. Die Juli-Verfassung von 1830 und die Rezeption der Prinzipien von 1789 in Deutschland 1. Die Einwirkungen auf Deutschland gingen nicht nur von der belgischen Verfassung von 1831 aus, sondern auch von der Charte von 1814, vor allem aber von der JuliRevolution und der entsprechenden Juli-Revolutionsverfassung von 1830. Einige Historiker, so Hartwig Brandt17, sehen gerade in dem Revolutionsjahr 1830 den entscheidenden Einschnitt zwischen dem die monarchische Legitimität noch aufrechterhaltenden Frühkonstitutionalismus und der nachfolgenden stürmischen demokratischen Entwicklung in Mitteleuropa. Dazu steht in einem gewissen Widerspruch die Auffassung von Karl Mannheim, der gerade eine paradoxe Auswirkung der französischen Revolutionsstöße in Deutschland, vor allem aber in Preußen, konstatiert, wo das „konservative Denken“ gerade nicht zu einer Revolution von unten, sondern zu einer „Verlebendigung“ der Bestrebungen des Adels geführt habe. Was hiermit in Wirklichkeit gemeint ist, ist eine stärkere Amalgamierung der monarchistischen Legitimität mit konstitutionellen Strukturen. Gleichzeitig wird der politische Stillstand beendet und eine neue soziale und demokratische Mobilität tritt in ganz Europa ein. In Deutschland kommt es zu einer Verfassungskonjunktur, in Belgien zur Staatsspaltung und zur nachfolgenden Verfassung von 1831, in Polen widersetzten sich Militär und Intellektuelle der russischen Fremdherrschaft und in England und Nordeuropa treten Sozialproteste und Verfassungsreformverlangen gemeinsam auf. Lorenz von Stein, der von der Entstehung einer „volkswirtschaftlichen Gesellschaft“ sprach, sollte Recht behalten, wenn er von einer „Gleichzeitigkeit des Lebens der französischen Nation mit den übrigen germanischen Nationen“ ausging. Das Ge-

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Auch für Griechenland kann nachgewiesen werden, dass sowohl die belgische Verfassung, die ein Vorbild der griechischen von 1843 / 44 wurde, als auch das englische Vorbild von entscheidender Bedeutung waren. 17 Hartwig Brandt, Die Julirevolution (1830) und die Rezeption der „principes de 1789“ in Deutschland, in: Revolution (Anm. 1), S. 225.

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setz der Revolution würde sie alle erfassen.18 Die Revolutionswelle sollte vom Zentrum nunmehr an die Peripherien gelangen. Gleichzeitig wich der Einfluss des Bonapartismus, der paradoxerweise über das vorangehende Jahrzehnt hinweg zu einer gewissen Stabilisierung traditioneller präkonstitutioneller Macht geführt hatte. Die Wirkungen, die als Revolutionsrezeption von 1789 über 1830 auf Deutschland ausstrahlten, waren mit den Namen Rotteck, v. Dahlmann und Welcker verbunden. Diese Beurteilung des Wendepunktes 1830 in der deutschen demokratischen Ideenentwicklung und Politiklandschaft wurde vielleicht deshalb lange Zeit verkannt, weil unter dem Einfluss Treitschkes diese Periode als „schwärmerischer Liberalismus“ abgewertet worden war.19 Auch Friedrich Gentz beurteilte offenbar das Entscheidungsjahr 1830 in gleicher Weise, wenn er an Wittgenstein schrieb: „Europa geht unverkennbar neuen Formen, neuen Kombinationen, neuen Schicksalen entgegen“.

Der schon zitierte Hartwig Brandt fasst diese These prägnant zusammen mit den Worten: „Die Juli-Revolution hatte dem Konstitutionalismus die disziplinierende Kraft genommen“.

2. Umso größer wird die Bedeutung der belgischen Verfassung, weil sie – und insoweit ist die These von Hartwig Brandt zu korrigieren – zunächst einmal die Prinzipien von 1789 und 1830 rezipierte, die stärkere demokratische Ausrichtung der Staatsmacht verankerte, ohne jedoch zu jener besonderen Schwächung des Konstitutionalismus zu führen. VI. Die Auswirkungen der Juli-Revolution auf Süd- und Südwest-Deutschland 1. Allgemeines Für die Entwicklung des griechischen Verfassungsrechtes waren nicht nur die Verfassungen in Frankreich und Belgien als Folge der Juli-Revolution von Bedeutung, sondern mittelbar auch ihre Auswirkungen auf Südwest-Deutschland und Süddeutschland, also insbesondere Bayern. Natürlich müsste auch die Auswirkung auf Österreich näher untersucht werden, doch blieb die Politik Metternichs von Ereignissen in Frankreich sehr viel weniger beeinflusst, als dies in Bayern, Württemberg und Baden der Fall war. Die konstitutionelle liberale Bewegung erhielt Auftrieb, doch kam es auch zu einer stärkeren radikalen Demokratisierungsbewegung und zu Aufständen, vor allem in 18

Lorenz von Stein, Geschichte der sozialen Bewegungen in Frankreich von 1789 bis auf unsere Tage, Bd. 1, Leipzig 1850, S. 341, Bd. 2, S. 5 ff. 19 Brandt, in: Revolution (Anm. 1), S. 230.

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Braunschweig, Hannover, Kurhessen und Sachsen. Diese Bewegung wurde abgefangen durch Verfassungen nach dem Vorbild der süddeutschen Verfassungen. Österreich und Preußen dagegen blieben von dem Prozess, welcher von der JuliRevolution ausgelöst wurde, weitgehend unberührt. Das süddeutsche Verfassungsleben war in relativ rauhes Fahrwasser gelangt, doch unter dem Einfluss der Juli-Revolution änderten sich die Verhältnisse schnell, so vor allem in Bayern, Württemberg, Baden, Hessen, Darmstadt und Nassau. In den Landtagen regte sich selbstbewusst die liberale Opposition und die lockere Handhabung der Karlsbader Beschlüsse machte es der Presse möglich, den liberalen konstitutionellen Gedanken stärker zu vertreten. E.R. Huber20 kennzeichnet diese Periode wie folgt: „Mit der Wende, die das Jahr 1830 im gesamteuropäischen Verfassungsgefüge bedeutete, vollzog sich auch in Deutschland (Süd) der Umschlag vom politischen Biedermeier des Frühkonstitutionalismus in die Epoche der existenziellen Verfassungskämpfe“21.

2. Die Verhältnisse in Bayern nach der Juli-Revolution König Ludwig hatte die Innenpolitik seinem Minister Schenk übertragen und dadurch den Übergang von der aufgeklärten Regierungsform zum katholischen Konservatismus eingeleitet. Die Neuwahlen zum Bayerischen Landtag führten im Dezember 1830 zu starken Stimmgewinnen der Liberalen und lösten in der Weihnachtsnacht 1830 studentische Unruhen aus. Die Universität München wurde geschlossen und es wurden Eingriffe in die Grundrechte ohne Rechtsgrundlage vorgenommen22. Am 28. Januar 1831 folgte eine Presseverordnung, wodurch die Pressezensur erheblich verschärft wurde. Zwar hielt sich die Presseverordnung im Rahmen der Verfassung, beendete aber die liberale Handhabung der Zensurbestimmungen von 1818. Die Zensur wurde nunmehr auch auf alle inneren Vorgänge erstreckt. Dennoch empfand man diesen Angriff auf die Pressefreiheit als einen allgemeinen Angriff auf die Grundrechte der Bürger. Die Opposition beantragte gegen Minister Schenk ein Anklageverfahren, das mit der Mehrheit von 27:50 Stimmen abgelehnt wurde. Dennoch erklärte im Mai 1831 die Kammer die Vorwürfe gegen die Presseverordnung als politisch begründet. Der König entließ am 25. Mai 1831 den Innenminister, um den Druck der Öffentlichkeit wegzunehmen. Die Presseverordnung wurde aufgehoben und eine mildere Zensurbe20 Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. 2: Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, 3. wesentl. überarb. Aufl., Stuttgart 1967, S. 32 m. Anm. 3. 21 Huber, Legitimität, Legalität und juste milieu, in: Nationalstaat und Verfassungsstaat, 1965, S. 71 ff. 22 Huber (Anm. 19), S. 32 m.Anm. 6. Hier weist der zitierte Autor auf eine Untersuchung König Ludwigs I von Bayern und die Ludwig-Maximilians-Universität 1826 – 1832 hin. Siehe hierzu die umfassende Biographie von Heinz Gollwitzer, Ludwig von Bayern, Eine politische Biographie, München 1986, zur Juli-Revolution S. 44.

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stimmung den Kammern vorgelegt. Allerdings scheiterte die Neuvorlage und der König kehrte zu einem strengeren Antiparlamentarismus zurück. Ein weiterer Streitpunkt zwischen der Exekutive und den Kammern war das Budgetrecht. Die Kammer versuchte nach Möglichkeit, die des Königs, aber auch andere Ausgaben zu streichen, wie z. B. Ausgaben für den Bau der Pinakothek und das Heer. Hinsichtlich des Heeres spielten auch die Forderungen der Kammer eine Rolle, dass das Heer auf die Verfassung vereidigt werde23. Unter der Führung des Präsidenten Rudhard, der später in Griechenland nach von Armansperg eine bedeutende Rolle spielen sollte, erreichte die Kammer eine Vertagung dieser kritischen Frage. Immerhin gelang es den Kammern, das Budget um 1/5 zu kürzen. Der bayerische König schlug eine stärkere antikonstitutionelle Politik ein, ordnete die Schließung des Landtages an und bildete Ende Dezember 1831 eine neue Regierung unter der Führung des Fürsten Wrede. Innenminister wurde von Oettingen Wallerstein, dessen aufgeklärte Haltung wesentlich dazu beitrug, dass keine schärferen Konflikte bis 1837 ausbrachen. 3. Die Entwicklung in Baden Als weiteres Beispiel für die Einwirkung der französischen Juli-Revolution auf Süd- und Westdeutschland soll Baden herangezogen werden, weil dort die Einwirkungen unmittelbarer und greifbarer sind als in Bayern. 1830 war für Baden ein Jahr des Thronwechsels, das Großherzog Leopold auf den Thron brachte (1830 – 1852). Die größere Nähe zu Frankreich, der Einfluss, den Elsass und die Schweiz auf Baden hatten, bewirkte eine stärkere und schnellere Liberalisierung der Öffentlichkeit. Der neue Monarch versuchte, dem zu entsprechen, indem er einen Liberalen an die Spitze der neuen Regierung stellte24. Die Zweite Kammer, die nach dem Thronwechsel zum ersten Mal 1831 zusammenkam, hatte zwei führende Staatspolitiker: von Rotteck und von Welcker. Im Rotteck-Welckerschen Staatslexikon schufen sie die Grosse Enzyklopädie des süddeutschen Liberalismus. Die Zweite Kammer war überwiegend von Liberalen besetzt, Liberale, die gleichzeitig dem Beamtenstand angehörten, aber durch ihre Zugehörigkeit zur Exekutive sich in keiner Weise gehindert fühlten, ihre liberale Politik frei zu vertreten. Auch in Baden entwickelte sich der Streit zwischen dem Landtag und der monarchischen Exekutive über die Handhabung des Pressegesetzes. Der Landtag vertrat den Standpunkt, dass die Bundesversammlung keine Autorität habe, die Presseverhältnisse in Baden zu regeln. Das Mittel, das eingesetzt wurde, war auch das Budgetrecht. Es gelang dem Landtag mit Hilfe des Budgetrechtes, also der Steuerverweigerung, gegen das Bundesrecht der Bundesversammlung eine Pressefreiheitsregelung durchzubringen. Welcker und Rotteck bestritten den Vorrang des Bundesrechtes, 23 24

Huber (Anm. 19), S. 346. Dies war von Reitzenstein, 1831.

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doch Baden hob auf Betreiben der Bundesversammlung die Pressefreiheit wieder auf und beseitigte das liberale Pressegesetz vom 28. Dezember 183125. Die Aufhebung der Pressefreiheit wurde durch Verordnung der Exekutive vom 28. Juli 1832 ohne Mitwirkung des Landtages beschlossen26. Man begründete die mangelnde Zuständigkeit und Notwendigkeit der Entscheidung durch die Kammer damit, dass die Unwirksamkeit nur festgestellt worden sei. Da Tumulte an der Universität Freiburg ausbrachen, wurde der liberale Innenminister Winter entlassen und die freisinnigen Professoren Rotteck und von Welcker zwangsweise unter Belassung des Ruhegehaltes in den Ruhestand versetzt. In Baden zeigte sich stärker als anderswo, dass man nicht nur eine konstitutionelle Monarchie, sondern eine demokratische Nationalrepräsentanz verlangte. Aus dieser Zeit darf das Buch von Paul Pfizer: „Briefwechsel zweier Deutschen, 1831“ erwähnt werden27. In die gleiche Richtung gingen zwei andere Schriften aus dieser Zeit, und zwar die von Wilhelm Schulz28 und Friedrich von Dagern29. VII. Das Bild der Französischen Revolution in der liberalen Geschichtsschreibung 1. Die neuere Forschung Unter diesem Titel hat Manfred Botzenhart30 eine Untersuchung vorgelegt, die die Stellung der deutschen Öffentlichkeit ungefähr zur gleichen Zeit untersucht, in der die griechische Verfassung von 1843 entstanden ist. So wird von ihm Friedrich Christoph Dahlmanns Buch analysiert, das 1845 unter dem Titel „Geschichte der Französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik“ erschienen war. Auch Johann Gustav Droysens Werk „Vorlesungen über die Freiheitskriege aus dem Jahr 1846“ wird näher untersucht. Beide politischen Professoren spielten dann 1848/49 in der Paulskirche eine entscheidende Rolle. Wenn auch dieser Zeitraum bereits nach der griechischen Verfassung liegt, so zeigt doch die Situation in Deutschland eine gewisse veränderte Widerspiegelung der Französischen Revolution. Dahlmanns Folgerung lässt sich auf die Formel bringen:

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Huber (Anm. 19), S. 41 m. Anm. 46. Huber (Anm. 19), S. 43. 27 Huber (Anm. 19), S. 42 m. Anm. 59; ders., S. 37. 28 Wilhelm Schulz, Deutschlands Einheit durch Nationalrepräsentation, 1832. 29 Huber (Anm. 19), S. 43 m. Anm. 50 und 51. 30 Manfred Botzenhart, Das Bild der Französischen Revolution in der historischen Geschichtsschreibung des deutschen Vormärz, in: Revolution (Anm. 1), S. 179; Friedrich Christoph Dahlmann, Geschichte der französischen Revolution bis auf die Stiftung der Republik, Leipzig 1843. 26

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„Freiheit kann es nur in der Ordnung geben, weil die zusammenbrechende Ordnung die Freiheit unter ihren Trümmern zu begraben pflegt“31.

Die Französische Revolution wird so zum negativen Gegenbild der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts, die Dahlmann ein Jahr zuvor beschrieben hatte. Im Gegensatz zu Dahlmann untersucht und beurteilt Droysen die Französische Revolution unter universalgeschichtlichen Aspekten nur als Teil einer insgesamt 50jährigen Epoche unterschiedlicher Volkskämpfe um die Freiheit. Diese Epoche beginnt nach ihm mit der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung und hat mit dem Erwachen der Völker in den Freiheitskämpfen gegen die Despotie Napoleons ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden. Das Ergebnis dieser Entwicklungen ist die Notwendigkeit, den Staat auf der Grundlage „sittlicher Mächte“32 neu zu konstituieren und insbesondere die bürgerliche Freiheit, die nationale Selbstbestimmung und die internationale Friedensordnung neu zu organisieren. So schreibt Droysen: „Es ist nicht möglich, dass die höchste sittliche Ordnung, in der der Mensch zu leben hat, … andere Aufgaben, andere Normen, andere Grundlagen als die der Gerechtigkeit, der Freiheit, des Friedens, andere als sittliche könne haben wollen. Es ist nicht möglich, dass der Staat … andere Machtmittel besitzen könne, als die solchen Aufgaben entsprechenden, oder er gibt seinen Beruf und sein Recht und seine Heiligkeit, eine Gottesordnung zu sein, dahin“33.

Es bestehen deutliche Unterschiede zwischen Dahlmann und Droysen. Beide sind sich zwar darin einig, dass die französische Monarchie vor der Revolution es versäumt habe, durch Reformen den Staat weiterzuentwickeln. Aber Dahlmann legt den Hauptakzent in seiner Revolutionsinterpretation auf die These, dass die französische Nationalversammlung nicht in ausreichendem Maße die Festigung der Monarchie i.S.e. Weiterentwicklung zur konstitutionellen Monarchie betrieben habe. Dagegen meint Droysen, dass man der Nationalversammlung im Grunde genommen keinen Vorwurf machen könne, weil dem Gegner der Freiheit das Entgleiten und Überschäumen der Revolution, Gewalt und Terror vorzuwerfen sei. Von diesen Revolutionsdeutungen – hier war nicht die Rede von der Position Rottecks – unterscheidet sich jene Deutung, die Friedrich Christoph Schlosser in seiner damals berühmt gewordenen Schrift: „Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts bis zum Sturze des französischen Kaiserreiches“ eingenommen hat. Der fünfte Band dieser Abhandlung erschien in zweiter Auflage 1844, also in dem Jahr der Annahme der griechischen Verfassung. Das Eigene an Schlossers Interpretation ist die Zustimmung zur gewaltsamen revolutionären Aktion. Nach ihm lässt sich eine extreme Position immer nur durch das entgegengesetzte Extrem zerstören, „rohe Gewalt und Vorteil der Grossen“ werde nur „der rohen Gewalt und dem blinden

31 32 33

Botzenhart (Anm. 1), S. 189 mit Anm. 9. So der Grundgedanke der Arbeit von Botzenhart. Julius Gustav Droysen, Vorlesungen über Freiheitskriege, Bd. 2 Kiel 1846, S. 561.

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Teil 1: Grundrechte

Schwindel der fanatisierten Masse“ weichen34. Botzenhart bemerkt zu Schlosser wohl zutreffend: „Er hat angeblich mit seiner Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts auf die öffentliche Meinung, namentlich des deutschen Mittelstandes, einen tiefen Einfluss ausgeübt und man könne vielleicht einmal der Frage nachgehen, ob Einwirkungen Schlossers auf die Entwicklung des demokratischen Radikalismus im deutschen Südwesten nachzuweisen sind. Ob er selbst im Ernstfall den Platz eines Professors auf der Kanzel mit dem des Henkers auf der Guillotine vertauscht hätte, scheint mir zweifelhaft“35.

Als Gesamterkenntnis kann wohl festgehalten werden, dass man in dem Kompromiss der konstitutionellen Monarchie die Lösung sah, welche die tragenden Prinzipien des Freiheitskampfes verbinden konnte mit den Garantien von Grundrechten und Grundfreiheiten und der demokratischen Mitwirkung des Volkes. 2. Die Neubewertung zur Zeit der Rheinbundstaaten Neben der Rezeptionsphase von der französischen Charte 1814 und der zweiten nach 1830/31 bis hin zum Vormärz, die gerade dargestellt wurden, besteht noch eine weitere, für die Rezeption der französischen Revolutionsideen wichtige Phase, nämlich die der süddeutschen Rheinbundstaaten. Es handelt sich hier um den Zeitraum von l806 bis 1813. Wenn auch dieser Zeitraum kurz bemessen ist, so war er für die Umsetzung der französischen Revolutionsgedanken in kontinentaleuropäisches Recht von Bedeutung. Die moderne Rechtsgeschichte sieht diese Phase nicht mehr als nationalen Irrweg an, sondern beginnt in ihr eine als „Politik der integrativen Staatsbildung und defensiven Modernisierung“ zu erkennen. Dadurch sollte die relative Rückständigkeit im Vergleich mit Westeuropa vermindert werden, da es zum französischen Modell keine gleichwertige Alternative gegeben habe. Auf diese neuen Forschungsergebnisse hat Wolfram Siemann36 hingewiesen. Zu gleichen Ergebnissen kommen Untersuchungen von Helmut Berding, Roger Duffraisse und Elisabeth Fehrenbach.37 Die Politik konzentrierte sich in Maßnahmen, die auch nach 1831, vor allem im Vormärz, Gegenstand der verfassungsrechtlichen Konkretisierung waren: Zurückdrängung des Adels, allgemeine Wehrpflicht, bürgerliche Rechtsgleichheit, Verfassungskodifikation, Agrarreform, konfessionelle Toleranz und Judenemanzipation.38 In diese Phase der südwestdeutschen 34

Friedrich Christoph Schlosser, Geschichte des 18. Jahrhunderts und des neunzehnten bis zum Sturze des Französischen Kaiserreiches, Bd. 5, Heidelberg 1844, S. 186 f. 35 Botzenhart (Anm. 1), in: Revolution, S. 188. 36 Wolfram Siemann, Die Französische Revolution in der Publizistik der Süddeutschen Rheinbundstaaten, in: Revolution, S. 121 / 122. 37 Siehe nähere Nachw. bei Siemann (Anm. 34), S. 121 m. Anm. 1. 38 Interessant ist, dass Michael Tsapogas für die Entwicklungspolitik unter der Regentschaft ein ähnliches Konzept der defensiven Modernisierung analysiert hat. Staatsrationalisierung und Verfassungsbewegung in Griechenland 1832 – 1843 Athen 1992.

C. Einwirkung des revolutionären französischen Verfassungsrechts

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Rheinbundstaaten fällt auch der Beginn eines neuen Zeitalters der Geistes-, Meinungs- und Pressefreiheit in Bayern unter Montgelas. Dazu gehört auch die bayerische Konstitution von 1808. 3. Die Zensur als Indikator In diesem Zusammenhang wird auch auf eine anonyme Schrift mit dem Titel: „Über Deutschlands Wiedergeburt“ hingewiesen. Sie stellte im Jahre 1808 das Vorhandensein einer „literarischen Revolution“ fest, die „uns eine bürgerliche, blutige erspart und durch die Wohltätigkeit ein Teil des gärenden Stoffes sich verdünstet“. Vieles, was in dieser Frühphase der Rheinbundstaaten literarisch in Flugblättern und Tageszeitungen, aber auch in Gesetzgebungswerken aus den Prinzipien der Französischen Revolution übernommen wurde, wird dann in der Zeit nach 1831 über die französische und belgische Verfassung wieder aufgegriffen. Insofern muss diese Phase zusammen gesehen werden mit der Entwicklung nach der Juli-Revolution. Hinsichtlich der Zensur während der Rheinbundzeit konnte in Bezug auf Württemberg folgendes festgestellt werden: Es gab 527 vorgelegte Titel, die das Oberzensur-Kollegium zu prüfen hatte. Bei weitem überwogen theologisch-pädagogische Werke und so entstammte mehr als die Hälfte der Autoren kirchlichen Kreisen oder waren Schulmänner, Stadtpfarrer, Superintendanten, Vikare, Schulinspektoren, Rektoren, Gymnasiumsprofessoren und höhere Beamte der Staatsverwaltung und der Universität. Sie machten einen Anteil von 70 % der gesamten Autoren aus. Freie Schriftsteller, Literaten oder Publizisten kamen kaum vor. Nur rund 20 Titel berührten unmittelbar das Verhältnis zu Frankreich, zur Revolution oder speziell zu Napoleon39. Ähnlich ist das Verhältnis in Bayern gewesen. Max Josef hatte durch Montgelas ein Überwachungsverfahren eingerichtet, das nicht unmittelbar parallel zur Zensur arbeitete. Ein Dekret vom 12. November 1804 befahl dem Oberbibliothekar Christian Freiherr von Aretin, regelmäßig die Monatsberichte über Rezensionen vorzulegen hinsichtlich solcher Werke, die sich auf Bayern bezogen. Kritisierte Werke bezogen sich auf Angriffe gegen die Sprachherrschaft des Französischen und die Identifizierung von Sprachherrschaft und Staatsherrschaft, gegen die Rettungsaufrufe der unterdrückten Freiheit und zur Teilnahme am Befreiungskrieg, gegen Werke mit germanischer oder altdeutscher Tendenz, die sich gegen französische Literatur richteten. Hier bemerkt Siemann, dass sich die Literatur der fortlaufenden Rezeption der Französischen Revolution defensiv und eher ablehnend verhielt. In Bezug auf die von Johann Friedrich Cotta herausgegebenen Zeitschriften: Enzyklopädische Annalen und der Rheinische Bund lassen sich verschiedene Felder festmachen, die mittelbar Revolutionsideen rezipieren. 1. Napolon als Bürge für die praktischen Errungenschaften der Revolution. 39

Siemann (Anm. 34), S. 126 m. Anm. 15.

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Teil 1: Grundrechte

2. Rezeption in der Diskussion über den Code Napolon. 3. Das Erbe der Französischen Revolution in den rheinbündischen Reformen. 4. Der Rheinbund und Napolon als Hüter nationaler Einheit. 5. Revolutionsrezeptionen als propagandistisches Schreckbild. 6. Brücken der Revolutionstradition über die Befreiungskriege hinweg.40 Der Transport von Revolutionsideen durch die rheinbündischen Reformen und den Code Napolon (Themenfelder 2 und 3) sind für unsere Betrachtung am interessantesten. Es kann hier aber auf diese Fragen nicht näher eingegangen werden. VIII. Die Situation bei der Beratung der revolutionären Paulskirchenverfassung von 1848/49 Die Kodifikation des privaten Rechtes stand in Frankreich wie in Deutschland in Wechselwirkung mit der Entwicklung eines revolutionären öffentlichen Rechtes. Beide Systeme wirkten aufeinander, wobei man eben betonen muss, dass der Code Napolon aus dem Jahre 1804 schon eine von Napolon gewollte Kompromisslösung zwischen dem traditionellen öffentlichen Recht der Revolutionsjahre 1789 bis 1793 und der späteren gegenrevolutionären Befriedung war. Zudem hat man immer wieder mit Recht bemerkt, dass dieses französische Zivilrecht sehr viel mehr dem germanischen fränkischen Recht entsprach, als jenes Recht, das die Pandektisten in Deutschland entwickelt hatten. Der in Deutschland ausgebrochene Streit zwischen den Anhängern einer zivilen Gesetzgebung nach französischem Vorbild wie Thibaut und den Gegnern unter der Führung von Carl von Savigny hatte zunächst die Übernahme und Verwirklichung des Kodifikationsgedankens verhindert. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts warf der bekannte Schüler der historischen Rechtsschule Puchta den Anhängern einer nationalen Kodifikation nach dem Vorbild des Code Napolon vor, sie würden den angebissenen Apfel, den Eva fortgeworfen habe wieder aufheben wollen. Wie kam es nun, dass der offenbar als revolutionär und fremdländisch, also französisch verschriene Gedanke der Kodifikation des Zivilrechtes und anderer Rechtsgebiete plötzlich im Zeitpunkt der deutschen Revolution von 1848/49 wiederbelebt wurde? Die Paulskirchenverfassung von Frankfurt vom 28. Februar 1849 sah nämlich in § 64 vor, dass auf dem Gebiet des Zivil- und Strafrechtes und weiterer Rechtsgebiete national einheitliche Gesetzgebungswerke geschaffen werden sollten. Genau gesehen war schon zuvor unter der Herrschaft des deutschen Bundes, dem Delegierten des Landes Holstein, Mandai, der Antrag gestellt worden, eine solche Gesetzgebung von Bundes wegen in die Wege zu leiten. Der „Reichsminister“ von Bohl, der das Justizministerium der Frankfurter Revolutionsregierung inne hatte, nahm den Gedanken auf eine 15. Kommission der Nationalversammlung der Paulskirche und dis40

Siemann (Anm. 35), S. 128.

C. Einwirkung des revolutionären französischen Verfassungsrechts

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kutierte unter der Leitung des berühmten Rechtsprofessors Mittermeier das Vorhaben Mandais, von dem der Antrag und damit der Vorstoß ausging. Der Antrag Mandais war weniger vom römischen Recht als vom deutsch-germanischen beeinflusst, war nämlich im Baltikum, in der Stadt Dorpat, vom Gedanken der „konservativen Kodifikation“ beeinflusst worden und hatte mehr das Ziel einer „konservativen revolutionären“ Gesetzgebung im Auge. Aber schon im Ausschuss der Nationalversammlung und auch im Plenum erkannte man, dass nicht die am Werk der Verfassung arbeitende verfassungsgebende Körperschaft dieses Werk durchführen könne; vielmehr erkannte man, dass dies der Reichsgesetzgebung überlassen werden müsse. Dies auch deshalb, weil im Gegensatz zu Frankreich das Zivilrecht bereits sehr stark zu einer Domäne der einzelnen Bundesländer geworden war. Immerhin hatten die Befürworter des § 64 der Frankfurter Reichsverfassung ein positives Beispiel zur Hand, das sie zur Begründung ihres Vorschlages einführten: Kurz zuvor war die allgemeine deutsche Wechselordnung beschlossen und in Kraft gesetzt worden. Somit kann man mit einem gewissen Recht sagen, dass in Deutschland der Gedanke der Kodifikation des Zivilrechtes weniger als ein Akt französischer als ein solcher deutscher revolutionärer Bewegung angesehen werden kann und dass darüber hinaus nicht zu sehr der nationale Gedanke und die Idee der Gleichheit an ihrer Wiege standen, als wirtschaftliche und handelsrechtliche „Globalisierungswünsche“, um ein so modernes Wort hier zu gebrauchen. Während so in Westdeutschland das französische Zivilgesetzbuch bis zum Inkrafttreten des BGB am 01. Januar 1900 galt, blieben in den übrigen deutschen Ländern die landesrechtlichen Kodifikationen, das preußische Allgemeine Landrecht oder der Codex Maximilianeus Bavaricus oder auch das österreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in Kraft. Erst die Reichsgründung nach 1871 konnte diesen Gedanken wieder aufgreifen und verwirklichen (siehe hierzu vor allem Wesenberg). Es kann aber sicher nicht in Abrede gestellt werden, dass eine solche Revolutionsgesetzgebung von 1848/49 den Gedanken nationaler Zivilrechtskodifikationen unter dem Eindruck der positiven Wirkung des Code Napolon in den westlichen deutschen Landesteilen wieder aufgegriffen hat. IX. Schlussbemerkung Über zweihundert Jahre nach der Französichen Revolution erscheinen die Auswirkungen auf das moderne Verfassungsrecht und den modernen Verfassungsstaat in einem differenzierteren Licht. Das 19. Jahrhundert wurde hinsichtlich der Entwicklung der neuen Verfassungsstaaten von zwei Strömungen gleichzeitig geprägt: von der einen, die aus der Französischen Revolution herstammte und der anderen, die über Amerika und England stärkeren Einfluss in Europa gewann. Ziel dieser zweiten Strömung war die königliche Demokratie, wie sie sich am reinsten wohl zuerst in Belgien 1831 entwickelte. Auch die belgische Verfassung war vom französischen Revolutionsrecht mitbestimmt worden. Zwar hatte auch die monarchistische französische

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Teil 1: Grundrechte

Charte von 1814 ihren Einfluss auf die belgische Verfassung ausgeübt, doch blieb unverkennbar die belgische Verfassung ein Mischprodukt aus der französischen und der anglo-amerikanischen Verfassungstheorie. Die französischen Revolutionsideen erreichten Mitteleuropa in verschiedenen Wellen; sie schlugen sich in verschiedenen Verfassungsentwicklungen nieder. Die Zeit der Rheinbundstaaten, die in der bisherigen Geschichtsschreibung verkannt wurde, stellt sich aus neueren Untersuchungen, nicht nur nicht als „nationaler Irrweg“ dar, sondern als einen Versuch der defensiven Modernisierung. Unter der Übernahme revolutionär französischer Verfassungs- und Verwaltungsprinzipien wollte man den eigenen nationalstaatlichen Gedanken stärken und den Staat somit widerstands- und überlebensfähig machen. Über die belgische Verfassung von 1831 wirkten auch die Französische Juli-Revolution und ihre Verfassung auf Mitteleuropa ein und begründeten zusammen mit der belgischen Verfassung eine neue Phase im Kampf um den Verfassungsstaat. Zu Recht sieht die moderne Geschichtsschreibung im Jahre 1830 eine entscheidende Wende in der Uminterpretation und Umfunktionierung des monarchischen Prinzips. Die Prärogative des Monarchen wird beschränkt und die Souveränität verlagert sich als Staats- oder Volkssouveränität nach unten. Man sieht deutlich im Kampf um die zweite Kammer der verschiedenen Staaten die Auswirkung dieses Kampfes zwischen dem monarchischen Prinzip und dem demokratischen Ansatz. Sowohl die griechische Verfassung von 1843/44 als auch der Verfassungsentwurf der Paulskirche von 1848/49 spiegeln diese Wende wieder, die mit der Französischen Juli-Revolution und der belgischen Verfassung in Europa eingetreten ist. In Griechenland hatte man sehr früh bemerkt, dass die Ideen aus Frankreich und dem übrigen Europa teils durch sehr erfahrene und überlegte, teils durch völlig unerfahrene Schwärmer verbreitet wurden. So schreibt die Beilage zur AAZ am 22. November 1843 wie folgt (in Bezug auf das Gesetz von Epidaurus vom 13. Januar 1823): „Man wird vielleicht erstaunen in diesen Versuchen einer Konstitution den Träumen und Ideen der neuesten Politik zu begegnen und zu sehen wie sie von einem eher noch mit Unwissenheit und Unterdrückung kämpfenden Volk ausgeübt werden; aber es befanden sich unter diesen Deputierten in Europa gebildete Männer, die von dort her einige Kenntnisse in politischen Fragen mitgebracht hatten, und sich noch überdies von ihren europäischen von allen Seiten herbeiströmenden und ihrer Sache sich annehmenden Freunden Rat einholten. Ein solcher war der Italiener namens Gallina, der nach Griechenland ein die neuesten Konstitutionen enthaltendes Buch gebracht hatte. Das war ein Schatz, von dem sich der Eigentümer niemals trennte, ein Orakel das man befragt und mit dessen Hilfe man in Griechenland ein System gründete, das, indem es die Kapitäne, die einzigen die ihm Freiheit hätten geben können, von der Macht ausschloss, damit anfing die Regierung zu schwächen und damit endete, das Land zugrunde zu richten“.41

41 Friedrich Thiersch, in: Augsburger Allgemeine Zeitung vom 22. November 1843, Beilage Nr. 326.

C. Einwirkung des revolutionären französischen Verfassungsrechts

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Als Griechenland 20 Jahre später seine Verfassung von 1843/44 erhielt, zeigten die Rechtsdenker und Politiker, dass die aufgetretenen Kinderkrankheiten überwunden waren. Der in Mitteleuropa erfolgreich verlaufende Amalgamierungsprozess setzte sich nun auch in Griechenland fort. Zu den französischen Revolutionsideen und den angloamerikanischen Legitimitätsprinzipien traten noch eigenständige griechische Grundwertvorstellungen hinzu.

D. Sphären und Schutzbereiche in der Grundrechtsdiskussion I. Vorbemerkung Die Abfassung meines Artikels „Sphären und Schutzbereiche in der Grundrechtsdiskussion“ liegt Jahre zurück und wurde damals auch nur in einer japanischen Fachzeitschrift veröffentlicht. Inzwischen hat sich in Rechtsprechung und Schrifttum sehr vieles getan, und man kann davon ausgehen, dass die Sphärentheorie in einer gewissen undifferenzierten Weise Anerkennung gefunden hat1. Dabei sind zwei Tendenzen klar in Erscheinung getreten: Einmal wird die Kernsphäre oder der Kernbereich stärker in seiner absoluten Funktion betont und zum anderen wird der Außen- oder Peripheriebereich stärker differenziert. Die Rechtsprechung, die den absoluten Kernbereich hervorhebt, ging vor allem vom BVerfG aus. Hiernach gehört zur absolut geschützten Menschenwürde auch ein absolut geschützter Kernbereich privater Lebensgestaltung nach Art. 2 Abs. 1 GG2. Die andere Tendenz, die auf Erweiterung des privaten Bereiches und auf Einschränkung der Öffentlichkeitssphäre abzielt, wurde vor allem von der Caroline-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte verfolgt3. Die Denkfigur bzw. die Argumentationsfigur der deutschen Rechtsprechung, die in dem Begriff der „absoluten Person der Zeitgeschichte“ viele Jahrzehnte Gültigkeit hatte, ist vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unter Berufung auf Art. 8 EMRK zwar nicht gestürzt, aber doch erheblich modifiziert worden. Die deutsche Rechtsprechung hatte sich zu lange daran gewöhnt, die Lebensbereiche oder Sphären des Öffentlichen oder Privaten in ihren verschiedenen Abstufungen zur Kenntnis zu nehmen, weil es nur drei Kategorien von Denkfiguren gab: die Person ohne Geschichte (!) sowie die „relative Person“ und die „absolute Person der Zeitgeschichte“. Alle auftretenden Probleme, die damit nicht bewältigt werden konnten, sollten durch einen oft nicht durchschaubaren Abwägungsprozess gelöst werde. Die Gliederung der menschlichen Lebensvorgänge in Abschnitte oder Sphären und die Zuordnung derselben zu diesen Kategorien sollten gerade eine Hilfsfunktion beim Abwägen leisten. Es ist daher wohl nicht falsch, die zurückliegende Publikation mit einigen neuen Hinweisen der deutschen Öffentlichkeit vorzustellen.

1 2 3

Wölfl, Sphärentheorie und Vorbehalt des Gesetzes, in: NVwZ 2002, 49 ff. NJW 2004, 999. NJW 2004, 2647.

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Teil 1: Grundrechte

II. Allgemeines In ihrer neuesten Auflage zum Verfassungsrecht haben Pieroth/Schlink4 die Behauptung aufgestellt, dass das Bundesverfassungsgericht im Volkszählungsurteil5, jedenfalls hinsichtlich der Informationseingriffe die „Sphärentheorie“ aufgegeben hätte. Die frühere Rechtsprechung hätte verschiedene Sphären der Persönlichkeitsentfaltung unterschiedlicher Schutzbedürftigkeit und Eingriffsmöglichkeiten zu unterscheiden versucht, und zwar die innerste Sphäre (Intimsphäre) als „letzter, unantastbarer Bereich menschlicher Freiheit …, der der Einwirkung der gesamten öffentlichen Gewalt entzogen ist“6. Eine Privat- oder Geheimnissphäre schließe sich um diesen Kernbereich an, der den Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG unterworfen sei. Diese beiden Sphären werden durch eine äußere Sphäre eingeschlossen, die von den beiden Autoren als „Sozialsphäre“ charakterisiert wird7. Die Autoren glauben, dass die Rechtsprechung damit eine Theorie aufgegeben hätte, an der seit langer Zeit Kritik geübt worden sei, weil sie alles ohne Unterschied umfasse von dem privaten Ehebett bis zum Urlaub8. Außerdem würden diese Sphären für verschiedene Menschen von verschiedener Bedeutung sein9. Grundsätzlich wird die Privatsphäre in Zweifel gezogen, indem die Autoren auf Podlech verweisen, wonach „Privatrecht … eine mögliche Eigenschaft des Umgangs mit anderen“ sei10. Gegen diese These hat sich Degenhardt gewandt11. Er verweist hierzu auf eine nach dem Volkszählungsurteil ergangene Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Frage der Privat- oder Geheimhaltung von Tagebuchaufzeichnungen. In dieser Entscheidung12 hatte das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung des Bundesgerichtshofs im Rahmen einer 4 : 4-Entscheidung nach § 15 Abs. 3 S. 3 BVerfGG bestätigt. Ausgangspunkt war die Frage, ob die von seinem Arzt empfohlenen Tagebuchaufzeichnungen des Angeklagten, dem ein Verbrechen nach § 211 StGB vorgeworfen wurde, verwendet werden durften. Das Gericht unterscheidet hier den absolut geschützten Kernbereich, den es auch Innenbereich nennt, von dem Bereich der Allgemeinheit. Der absolut geschützte Kern- oder Innenbereich sei dem Abwägungsbereich entzogen, für welchen die Möglichkeit besteht, dass wegen höherrangiger staatlicher Interessen in Interes4 Pieroth / Schlink, Grundrechte, Staatsrecht, 8. Aufl. 1992, Rdn. 434; ähnlich Rohlf, Der grundrechtliche Schutz der Privatsphäre, 1980, S. 123. 5 BVerfGE 65, 1. 6 BVerfGE 6, 32 (41); 38, 312 (320). 7 v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 2 Abs. 1, Rdn. 64 ff. 8 BVerfGE 27, 1; 27, 344. 9 Unter Hinweis auf Steinmüller u. a. Grundfragen des Datenschutzes, BT- Drucksache 6,3 826, 1972, S. 48 ff. 10 A.K., Art. 2 Abs. 1, Rdn. 38. 11 Degenhardt, Das allgemeine Persönlichkeitsrecht, Art. 2 1 iVm. Art. 1 I GG, in: JuS 1992, 361 (363); ähnlich Schmitt Glaeser, in: Isensee / Kirchof (Hrsg.) HdbStRVI. 1989, § 129 Rdn. 30. 12 BVerfGE 80, 367 (376); siehe hierzu auch: Störner, Zur Verwertbarkeit tagebuchartiger Aufzeichnungen, in: Jura 1991, 17 ff.

D. Sphären und Schutzbereiche in der Grundrechtsdiskussion

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sen oder Rechte des Beschuldigten eingegriffen werde. Wenn das Gericht generell von der Sphäre der Allgemeinheit spricht, kann das nicht so verstanden werden, dass der Kern- und Innenbereichssphäre eine undifferenzierte Sphäre der Allgemeinheit gegenübersteht. Vielmehr ist diese Sphäre der Allgemeinheit der Abwägungsbereich, in dem die einzelnen allgemeinen oder besonderen Persönlichkeitsrechte abgewogen werden können, in ihrer Wirksamkeit gegenüber den Interessen der Allgemeinheit, des Strafverfahrens usw. Selbstgespräche und private Aufzeichnungen werden diesem unantastbaren Eigenbereich zugewiesen, es sei denn, dass sie Angaben über konkrete Straftaten – begangene oder geplante – enthalten, denn dann würden sie nach Meinung des Bundesverfassungsgerichts nicht mehr dem unantastbaren Innenbereich angehören, sondern der Sphäre der Allgemeinheit. Wegen der Bedeutung der Sphärentheorie für Art. 2 Abs. 1 GG, der Unsicherheit, die im Schrifttum darüber besteht und wegen der ungeklärten Abgrenzung von Sphäre und Schutzbereich sollen beide Begriffe nachstehend näher untersucht werden. Zunächst einmal muss auf die Entwicklung der Sphärentheorie näher eingegangen werden. III. Die Entwicklung der Sphärentheorie Die Sphärentheorie entstammt nicht dem deutschen öffentlichen Recht, noch nicht einmal dem deutschen Recht, sondern dem englischen und französischen Rechtskreis. Sie wurde entwickelt, um den zivilrechtlichen Schutz der Persönlichkeit innerhalb der Privatsphäre zu sichern, wobei die Gesamtpersönlichkeit durch das Herausarbeiten einzelner Persönlichkeitsrechte abgegrenzt und damit geschützt werden sollte13. Persönlichkeitsrechte sollten vor „unbefugter Publizität“ schützen. Vor allem haben die Ausführungen Kohlers seit Ende des letzten Jahrhunderts dazu beigetragen, dass aufgrund rechtsvergleichender Untersuchungen die englischen, amerikanischen und französischen Vorbilder auch Eingang ins deutsche Recht fanden. Das Reichsgericht wehrte sich gegen die Rezeption solcher Rechtsfiguren, indem es den Rechtsschutz des Persönlichkeitsrechts nach § 823 Abs. 1 BGB zunächst nicht anerkannte. In neuerem Schrifttum hat vor allem Hubmann14 den Begriff der Sphärentheorie mit der Entwicklung des allgemeinen und besonderen Persönlichkeitsrechts verbunden. Er unterscheidet: – Individualsphäre, worunter er eine Sphäre versteht, die das Eigenleben des einzelnen in der Öffentlichkeit in seinen Beziehungen zur Welt usw. schützt. Das Individuum kann nicht vor dieser Öffentlichkeit bewahrt werden, aber es muss gegen sonstige Beeinträchtigungen gesichert sein. – Privatsphäre. Sie umfasst nach Hubmann jene Lebensumstände und jenen Bereich, die einem bestimmten oder unbestimmten, aber beschränkten Personenkreis ohne weiteres zugänglich sind, die der einzelne aber der Kenntnisnahme durch weitere 13 14

Helle, Besondere Persönlichkeitsrechte im Privatrecht, Tübingen 1991, S. 1 ff. Hubmann, Das Persönlichkeitsrecht, 2. Aufl. 1967, S. 268 ff.

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Teil 1: Grundrechte

Kreise entziehen möchte. Sie soll auf jeden Fall vor der Öffentlichkeit bewahrt werden. – Geheimsphäre. Sie umfasst, was der einzelne erkennbar geheim hält. An ihr besteht auch ein Geheimhaltungsinteresse. Mehrere Autoren haben ähnliche Unterscheidungen getroffen. So differenziert Evers15 zwischen der Privatsphäre, der Geheimsphäre und der Öffentlichkeitssphäre. Zur Öffentlichkeitssphäre zählt er all das, was nicht durch objektive Wahrnehmungsbeschränkung zugänglich ist und gegenüber dem sich kein Geheimhaltungswille dokumentiert. Ähnlich unterscheidet Maas16 Intimsphäre, Privatsphäre und Geheimsphäre. Er erkennt aber gegenüber den Vertretern einer dreigliedrigen Sphärentheorie als vierten Bereich auch eine Öffentlichkeitssphäre an. Auch Wenzel17 unterscheidet einen viergliedrigen Aufbau: Geheimsphäre, Intimsphäre, Privatsphäre und Sozialsphäre. Alexy18 differenziert zwischen innerer und weiterer Privatsphäre sowie Sozialsphäre. Ich selbst habe einen Ansatz gewählt, der private Sphären und Öffentlichkeitsbereiche oder Öffentlichkeitssphären unterscheidet19. Im Bereich der privaten Sphären (privat ist hier unspezifisch gemeint) werden von mir der Intimbereich, die Geheimsphäre, der Eigenbereich und die Privatöffentlichkeit unterschieden. Sie werden dann durch den Gemeinbereich und die Sozialsphäre erweitert. Damit habe ich außerhalb des Öffentlichkeitsbereichs (öffentliches Dasein, qualifizierte Öffentlichkeit und publizistische Öffentlichkeit) sechs Bereiche ausdifferenziert und voneinander definitorisch abgegrenzt. Während die Abgrenzungen im Intimbereich, Geheimsphäre und Eigenbereich kaum einer eigenen Definition bedürfen, sind die Privatöffentlichkeit, der Gemeinbereich und die Sozialsphäre näher zu umschreiben und ihre Abgrenzung darzulegen. Der Begriff der Privatöffentlichkeit soll dartun, dass der Mensch auch im Miteinander mit anderen nicht nur in Privatheit steht, sondern öffentlich zugänglich ist, ohne dass hier ein öffentlich-rechtlicher Bezug hergestellt wird. Erörterungsbedürftig mag vielleicht der Unterschied zwischen Gemeinbereich und Sozialsphäre sein. Der Gemeinbereich soll das bewusste öffentliche Auftreten der Privatperson ebenso umfassen wie das Auftreten in der Öffentlichkeit ohne Kundgebungswille. Die Sozialsphäre ist durch Public Relation, Presse und Massenmedien bewirkte Öffentlichkeit, in der sich Öffentlichkeit und Privatleben mischen. Ich bin der Meinung, dass nur eine differenzierte Unterscheidung der verschiedenen Bereiche in der Privatheit eine adäquate Wiedergabe des modernen Lebens ermöglicht. Das, was bei anderen Autoren allgemein als Individualsphäre oder Privat-

15 16 17 18 19

Evers, Privatsphäre und Ämter für Verfassungsschutz, 1960. Maas, Information und Geheimnis im Zivilrecht, Stuttgart 1970, S. 13. Wenzel, Das Recht der Wort- und Bildberichterstattung, Köln 1986, S. 111. Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt / M., 1986, S. 327. Scholler, Person und Öffentlichkeit, München 1967, S. 70 ff.

D. Sphären und Schutzbereiche in der Grundrechtsdiskussion

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sphäre bezeichnet wird, erscheint bei mir aufgeteilt in Privatöffentlichkeit, Gemeinsphäre und Sozialsphäre. Auf die unterschiedlichen Rechtsfolgen soll hier jedoch nicht weiter eingegangen werden. IV. Die Lehre vom Schutzbereich Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts sowie die Rechtsprechung anderer Gerichte und das Schrifttum gehen davon aus, dass die Grundrechte im allgemeinen, und nicht nur das Grundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG, im besonderen verschiedene Bereichssphären haben, in welchen sie auf unterschiedliche Weise wirken. Es konnte ja schon auffallen, dass im Rahmen der Rechtsprechung zu Art. 2 Abs. 1 GG, also zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht und zu den besonderen Persönlichkeitsrechten, das Bundesverfassungsgericht von einem Kernbereich des absoluten Schutzes sprach. Ein solcher Sprachgebrauch taucht auch bei anderen Grundrechten auf, die keine Persönlichkeitsrechte im strengen Sinne des Wortes schützen. So spricht das Gericht vom Kernbereich des Art. 2 Abs. 1 GG oder vom Kernbereich des Art. 8 Abs. 1 GG und gibt zu erkennen, dass alle Grundrechte einen unantastbaren Kernbereich haben, was zwei Vermutungen nahe legen kann: Dieser Kernbereich ist entweder identisch mit der Wesensgehaltsgarantie in Art. 19 Abs. 2 GG oder mit der Garantie der Würde des Menschen in Art. 1 Abs. 1 GG20. Würde man den Kernbereich mit dem Würdegehalt des Grundrechts gleichsetzen, dann würden allerdings nicht alle Grundrechte einen solchen absoluten Kernbereich haben, den die Rechtsprechung allen Grundrechten zuweist. Denn nicht alle Grundrechte haben automatisch einen Würdebezug21. So ist nicht einzusehen, warum das Grundrecht des Privateigentums in Art. 14 Abs. 1 GG mit all seinen Verästelungen einen Würdebezug haben soll. Auf jeden Fall aber hat es einen Wesensgehalt, in den nicht eingegriffen werden darf. Allerdings taucht bei der Identifizierung des Kernbereichs mit der Wesensgehaltsgarantie sofort ein weiteres Problem auf: nämlich jenes, was unter Wesensgehalt verstanden wird. Sicher ist wohl, dass der Wesensgehalt nicht generell und abstrakt für alle Grundrechte bestimmt werden kann, dass er vielmehr für jedes Grundrecht einzeln festgelegt werden muss. Dabei ist aber zwischen zwei divergierenden Meinungen zu unterscheiden: nämlich der einen, die eine jeweilige Wesensgehaltsgarantie anerkennt, indem sie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit in die Garantie des Wesensgehalts hinein nimmt. Nur das, was im konkreten einzelnen Fall unverhältnismäßig ist, verletzt den Wesensgehalt. Eine so geartete Lehre vom Wesensgehalt oder vom Kernbereich wäre eine Lehre von einem relativen Wesensgehalt22. Ein relativer Wesensgehalt verträgt 20 21 22

So Dürig, in: Maunz / Dürig u. a., Art. 1 Abs. II, Rdn. 81. Siehe auch Stern, JuS 1985, 329 (337). Maunz, in: Maunz / Dürig u. a., Art. 19 Abs. II, Rdn. 16 f.

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Teil 1: Grundrechte

sich aber nicht mit einem absoluten Kernbereich. Deswegen muss entweder der absolute Kernbereich etwas anderes sein als der Wesensgehalt oder man muss den Wesensgehalt nicht relativ, sondern absolut als etwas Substantiell-Onthologisches, also als einen Bereich von Normierung, der nach allen denkbaren Eingriffen noch übrig bleiben muss, definieren23. In diesem Sinne hat auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts den Wesensgehalt verstanden. Es besteht also eine große Annäherung zwischen der Wesensgehaltsgarantie eines Grundrechts und seinem Kernbereich. Denkbar ist, dass durch Hinzutreten des Menschenwürdesatzes der Kernbereich erweitert wird, so dass er über den Wesensgehalt hinausgeht. Diese Frage soll hier jedoch nicht weiter vertieft werden. Auch eine andere Frage bedarf hier keiner Erörterung, nämlich diejenige, die darauf abzielt, festzustellen, für wen bei der Lehre vom absoluten Wesensgehalt noch etwas übrig bleiben muss. Ist damit der Betroffene gemeint, auf den der Eingriff abzielt, oder genügt es, wenn vom Grundrecht für andere noch etwas Unverfügbares übrig bleibt? Nach den bisherigen Ausführungen scheint es jedenfalls so zu sein, dass der Kernbereich als Wesensgehalt eines Grundrechts bei jedem einzelnen Grundrecht das ist, was bei der grundrechtlichen Garantie des allgemeinen Persönlichkeitsrechts die Eigen-, Intim- oder Geheimsphäre ist. Das Urteil über den Schutz von Tagebuchaufzeichnungen hat dies eindeutig dokumentiert und damit gesichert, dass auch durch das Volkszählungsurteil die Theorie vom Kernbereich bzw. von den Sphären nicht aufgegeben wurde. Es wäre dem Bundesverfassungsgericht auch kaum möglich, eine solche Korrektur durchzuführen, wenn es sich auch mit der Frage auseinandersetzen müsste, ob nicht damit die ganze Kernbereichslehre der Grundrechte aufgegeben werden sollte. Die Sphärentheorie bei der Interpretation von Art. 2 Abs. 1 GG steht nämlich im innersten Zusammenhang mit der Lehre von den Kernbereichen der Grundrechte und der Absicherung des Wesensgehalts in Art. 19 Abs. 2 GG. Damit wäre aber die Frage der Gliederung des Grundrechtsschutzes noch nicht erledigt. Neben der Garantie des Kernbereichs sprechen Rechtsprechung und Schrifttum regelmäßig noch von zwei weiteren Bereichen, die vom Grundrecht oder doch vom Gesetzgeber erfasst werden, nämlich dem Schutzbereich und dem Regelungsbereich. So ist z. B. bei der grundrechtlichen Garantie der Versammlungsfreiheit in Art. 8 GG der Schutzbereich die friedliche und ohne Waffen durchgeführte Versammlung, während der Regelungsbereich sich auch auf die unfriedliche Versammlung und Versammlung mit Aktivbewaffnung erstreckt. Sehen wir aber näher hin, erkennen wir bei dem einen oder anderen Grundrecht, dass auch der Schutzbereich wiederum in sich differenziert ist und nicht einheitlich monolithisch uns gegenübertritt. So unterscheidet das Bundesverfassungsgericht bei der Anerkennung der Kunstfreiheit und ihres Schutzbereichs eine Werksphäre und 23

Hendrichs, in: v. Münch (Hrsg.), Art. 19 Rdn. 25.

D. Sphären und Schutzbereiche in der Grundrechtsdiskussion

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eine Wirksphäre24. Nicht nur die Werksphäre ist von der Garantie der Freiheit der Kunst geschützt, sondern auch die Wirksphäre. Doch lässt sich wohl erkennen, dass die beiden Sphären nicht unbedingt in allen Beziehungen gleichmäßig vom Grundrecht geschützt sind Ähnlich wird bei der Glaubensfreiheit im Tabak-Fall25 nicht nur das Haben eines Glaubens, eines Bekenntnisses und einer Weltanschauung geschützt, sondern auch die Ausbreitung und Propagierung des Glaubens, so dass man auch hier von einem Bereich des „inneren Gottesdienstes“ im Sinne Hegels sprechen könnte, um den sich ein Wirkbereich legt, der durch die ebenfalls schrankenlose Bekenntnisfreiheit geschützt ist. Bei der Ausbreitung des Glaubens wird allerdings als eine weitere und dritte Sphäre Art. 5 Abs. 1 GG bemüht werden müssen, weil das Grundgesetz keinen besonderen Schutz für die Glaubensverbreitung durch Wort, Schrift und Bild enthält. Eine solche Glaubensverbreitung würde den Schutz nach Art. 5 Abs. 1 GG genießen und wäre damit an die Schranken der allgemeinen Gesetze gebunden. Diese Bindung an die Schranken der allgemeinen Gesetze ist aber ein weiterer Schutzbereich insofern, als durch die Wechselwirkungslehre dem Grundrecht der Meinungsfreiheit (hier der religiösen Meinungsverbreitung) eine Einwirkung auf die Gestaltung der Schranke zugebilligt wird. Auf diese Probleme, die das Lüth-Urteil26 mit sich gebracht hat, möchte ich aber hier nicht eingehen. Nachgewiesen werden sollte nur, dass auch alle anderen Grundrechte über Sphärenabgrenzungen verfügen und dass dies z. B. bei der Glaubensfreiheit besonders deutlich hervortritt. Auf die Meinungsäußerungsfreiheit in Art. 5 Abs. 1 GG ist bereits eingegangen worden. Auch hier haben wir im Schutzbereich eine gewisse Gliederung, die es berechtigt erscheinen lässt, von der Absicherung bestimmter Sphären zu sprechen. Verbleibt nämlich der einzelne Meinungsäußernde in der Privatöffentlichkeit, so ist der Grundrechtsschutz genauso intensiv, als ob die Äußerungen im engeren Privatbereich gefallen seien. Steht die Äußerung aber im Bereich der Öffentlichkeit, weil z. B. ein Journalist in einer Zeitung eine Amtsperson, einen Politiker oder eine im öffentlichen Leben stehende Person angreift, dann gelten hier andere Grundsätze. Dies soll im nächsten Abschnitt an der Rechtsfigur von Presseangriff und Pressegegenschlag, also dem Phänomen der Pressefehde dargestellt werden. Obwohl die Beteiligten sich nach herkömmlicher Auffassung im privaten Rechtsverkehr befinden, hat die öffentliche Aufgabe der Presse ihre Rechtsbeziehungen zueinander qualifiziert und damit verändert. Es ist im Übrigen besser, nicht von der öffentlichen Aufgabe der Presse als einer Qualitätsveränderung der Rechtsbeziehungen zu sprechen, vielmehr muss man mit Hilfe der Sphärentheorie feststellen, in welchem Bereich sich Angreifer und Angegriffener befinden. 24 25 26

BVerfGE 30, 173 (189). BVerfGE 12, 1 ff. BVerfGE 7, 198.

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Teil 1: Grundrechte

In meinen früheren Ausführungen27 habe ich davon gesprochen, dass die Person über ein öffentliches Dasein verfügt. Diese Sphäre des öffentlichen Daseins umfasst den Bereich der Vorformung des politischen Willens, wie er von Art. 21 GG im Hinblick auf die Tätigkeit der politischen Parteien entschieden wird Diese Vorformung des politischen Willens kann aber auch durch die Massenmedien erfolgen, die ja in entscheidender Weise diese Vorformungsfunktion ausüben. In der Rechtsprechung und im Schrifttum hat man dieses Phänomen durch Anerkennung der Wahrnehmung einer öffentlichen Aufgabe durch die Presse bzw. die Massenmedien lösen wollen. Die Rechtsordnung allerdings hat eine solche öffentliche Aufgabe der Presse jedoch nicht zuerkannt. Die Anerkennung einer öffentlichen Aufgabe der Presse hat zur Anerkennung des so genannten presserechtlichen Gegenschlages im Rahmen einer Pressefehde geführt. Die öffentliche Aufgabe der Presse ist kein eigener Rechtfertigungsgrund. Diese Rechtsfigur, die im Schweizer Recht sich nicht in gleicher Weise durchgesetzt hat wie im bundesdeutschen Recht, gibt der Presse und den übrigen Medien nur die Befugnis, sich zum Sprachrohr anderer berechtigter Interessen zu machen. Ursprünglich war die Rechtfertigung der berechtigten Interessen auf die Geltendmachung eigener oder nahe angehender Interessen beschränkt. Durch die Anerkennung der öffentlichen Aufgabe der Presse ist es nun möglich, dass die Presse auch berechtigte Interessen dritter Personen geltend macht. Hierzu zählen zunächst strafrechtliche Verteidigungsinteressen, aber auch das Recht zum pressemäßigen Gegenschlag wie zum Boykott-Aufruf. Auf einen Gegenschlag könnten sich die Parteien dann berufen, wenn sie zunächst von der Presse angegriffen worden wären und wenn ein Medienträger in der Presse zurückschlagen würde. Der Angreifer in einer Pressefehde kann sich aber verständlicherweise nicht auf die Wahrnehmung berechtigter Interessen für seinen Angriff berufen, wenn er zum Erstschlag ausholt. Grundsätze von Presseangriff und Pressegegenschlag können sinngemäß auch nur zwischen zwei konkurrierenden und sich befehdenden Medienorganen angewandt werden. Zum Recht des Gegenschlags führt Wasserburg28 folgendes aus: „Als berechtigtes Interesse kann das Recht zum Gegenschlag in Frage kommen. Die Einschränkung des Ehrenschutzes muss hingenommen werden, wenn es dem Kritiker darum geht, einen Angriff auf eine von ihm vertretene Auffassung abzuwehren. Der Grundsatz ist in seiner Anwendung nicht auf Fälle beschränkt, in denen der von der herabwürdigenden Äußerung Betroffene seinerseits durch persönliche Diffamierung angegriffen hatte. Das Bundesverfassungsgericht betont, dass maßgeblich darauf abzustellen ist, ob und in welchem Ausmaß der von herabsetzenden Äußerungen Betroffene seinerseits an dem von Art. 5 Abs. 1 GG geschützten Prozess öffentlicher 27

Scholler, a.a.O. Wasserburg, Der Schutz der Persönlichkeit im Recht der Medien – Ein Handbuch über die Ansprüche auf Schadensersatz, Unterlassung, Widerruf und Gegendarstellung, Heidelberg 1988, S. 184 f. 28

D. Sphären und Schutzbereiche in der Grundrechtsdiskussion

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Meinungsbildung teilgenommen, sich damit aus eigenem Entschluss den Bedingungen des Meinungskampfes unterworfen und sich durch dieses Verhalten eines Teils seiner schützenwerten Privatsphäre begeben hat“29. Das Problem des rechtsverdünnten Raumes bei der Pressefehde im Bereich der öffentlichen Meinungsfreiheit kann viel einfacher gelöst werden, wenn man an die Stelle einer einheitlichen Meinungsfreiheit eine Unterscheidung nach Sphären einfügt: nämlich in Bezug auf die öffentliche Meinungsäußerung eine Öffentlichkeitssphäre, in Bezug auf die nicht öffentliche Meinungsäußerung einen Bereich der Privatheit. Eine solche Unterscheidung würde auch mit der Differenzierung bei Art. 8 GG Hand in Hand gehen. Dort unterscheidet die Verfassung selbst zwischen einer vorbehaltsschrankenlosen Versammlungsfreiheit in geschlossenen Räumen und einer Versammlungs-, oder Demonstrationsfreiheit ohne Waffen unter freiem Himmel. Nur letztere ist unter den Vorbehalt des Gesetzes gestellt. Würde man gedanklich hypothetisch auf diesen Gesetzesvorbehalt verzichten, ergäbe sich die Regelungsbefugnis für die Versammlung unter freiem Himmel automatisch aus den Kollisionsproblemen mit anderen Grundrechten. Die Versammlungsfreiheit unter freiem Himmel, also die Öffentlichkeitssphäre der Versammlungsfreiheit, umfasst selbstverständlich auch den Weg hin zur Versammlung bzw. zur Demonstration und nach der Auflösung den notwendigen Zeitraum der Fortbewegung vom Versammlungsplatz. Es kann also gar keine Rede davon sein, dass in der neuesten Rechtsprechung die Sphärentheorie aufgegeben worden sei. Im Gegenteil muss man erkennen, dass die Sphärentheorie gerade im Prozess der Güterabwägung eine zunehmende Bedeutung hat. Mit ihrer Hilfe kann man nämlich den verschiedenen Rechtsgütern wie Versammlungs- und Meinungsfreiheit usw. eine größere oder geringere Bedeutung zuerkennen bzw. das Rechtsgut der Sicherheit über Gefährdung der öffentlichen Ordnung qualifizieren bzw. quantifizieren. Gerade, wenn man erkennt, dass die gesetzlichen Vorbehalte immer mehr einer auf den Fall bezogenen Güterabwägung weichen, müssen die Sphären als immanente Strukturelemente der Grundrechte stärker in den Vordergrund gestellt werden.

29 BVerfGE 12, 132; 24, 278; BGHSt 12, 287; OLG Köln, AfP 1983, 285 (288); BayObLG, UFITA 1966, 356 (363).

Teil 2 Rechtskultur

E. Gerechtigkeitssymbole* I. Die Staatssymbole in der modernen Verfassungslehre 1. Das moderne Verfassungsrecht oder besser gesagt das moderne Staatsrecht hat sich wenig mit den Staatssymbolen1 beschäftigt, obwohl dieses Thema zu den traditionellen Gegenständen des Staats- und Verfassungsrechts gehört. Das Grundgesetz selbst spricht sich über Staatssymbole nicht aus. Es redet weder über die Staatshymne noch die Staatsflagge, obwohl oder gerade weil diese nach 1945 außerordentlich umstritten waren. Zu den weiteren Staatssymbolen gehören noch die Staatswappen und nach Meinung Peter Häberles auch die Präambeln in oder zu den Verfassungen.2 Der europäische Verfassungsentwurf, dessen vorläufiges Scheitern wir am 13. Dezember 2003 erlebt haben, enthält ebenfalls keine Aussage über die europäischen Verfassungssymbole3 wie Hymnus und Flagge, vielleicht gerade deshalb, weil diese bereits schon lange vorher festgelegt waren. In Bezug auf Flagge und Hymnus ist dies einmal die von Sternen eingerahmte Europaflagge und der Hymnus „An die Freude“ aus Beethovens 9. Symphonie. Andere junge Verfassungen sind dagegen außerordentlich bemüht, Staatssymbole festzulegen, wozu sie häufig auch die Staatssprache rechnen. So enthält die äthiopische Verfassung von 1994 eine Bestimmung über die Staatsflagge für eine politische Einheit, zu der über 80 verschiedene Ethnien in neun Bundesländern gehören.

* Heinrich Scholler, Die Gerechtigkeitssymbole in Europa und China, in: Modern Theories of Public Law Revisited, Festschrift in Honor of Prof. Dr. Yueh-Sheng Wengs 70th Birthday, Taipeh 2002, Vol. I, S. 991 ff. 1 P.E. Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik, 3 Bde., Stuttgart 1954 / 56; E. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde., Berlin 1923 / 24, 2. Aufl. Darmstadt 1953 / 54, Nachtrag München 1978; W. Bauer / I. Dümotz / S. Galowin, Lexikon der Symbole, Wiesbaden 1980, 7. Aufl. 1985. 2 Peter Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, in: Festschrift für Broermann, Berlin 1982, S. 211 ff.; ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, Berlin 1982, S. 15. 3 Der Europarat hatte sich schon 1955 für die bekannte Europaflagge entschieden. Diese Entscheidung wurde 1986, gemeinsam mit der Einführung von Beethovens 9. Sinfonie als Hymne, von der EG übernommen.

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Teil 2: Rechtskultur

In der Bundesrepublik war die Übernahme alter Staatssymbole genauso ein Problem wie in der Weimarer Zeit, die gerade auch durch den berühmten Flaggenstreit4 gekennzeichnet war. Für den neuen deutschen Staat war es einerseits eindeutig, nicht an den Farben Schwarz, Weiß, Rot der Preußenfahne wieder anzuknüpfen, sondern an der Fahne der Paulskirche, welche die Farben Schwarz, Rot, Gold zeigt. Umstritten war aber die Frage hinsichtlich der Nationalhymne. Hier löste Adenauer den Streit dadurch, dass er nur den Text der dritten Strophe zuließ, aber an der Melodie festhielt. Hier sieht man deutlich das Bestreben, möglichst Stabilität und historische Dimension durch die Symbole festzuhalten. Ähnlich entschied sich Präsident Putin für eine herkömmliche Symbolik für die Russische Föderation; hingewiesen werden soll auch auf den gegenwärtigen Versuch der Wojwodina, sich als Gliedstaat eine eigene Hymne und Flagge zuzulegen.5 Gleichzeitig sind die Symbole auch ein verfassungsrechtliches Bekenntnis, wenn sie davon sprechen, dass Einigkeit, Recht und Freiheit als Unterpfand gelten sollen. Wenn es erlaubt ist, wie ich glaube, die staatlichen Symbole der Autorität und auch der Gerechtigkeit mit den antiken religiösen Symbolen des göttlichen Rechtes zu vergleichen, dann darf man einen Blick auf die japanische Flagge und die Hymne sowie ihre Bedeutung in der Gegenwart werfen. Die Krise des japanischen Sozialstaates hat im Jahre 1999 dazu geführt, dass man durch ein Gesetz die alte Rundsonnenflagge und die alte Staatshymne einführte. Man verpflichtete auch vor allem die Lehrerund Schülerschaft, diese Symbole durch Achtungshaltung zu ehren. Es erinnert sehr an das Absingen der Nationalhymnen bei internationalen oder olympischen Sportveranstaltungen und man weiß, dass die Diskussion über das Verhalten der Sportler im Westen immer wieder und immer mehr zu einer Auseinandersetzung führt, welche körperliche und geistige Haltung der einzelne Sportler hierzu einnehmen sollte. Nishihara6 hat in einem Beitrag über Flagge und Hymne als Auslöser eines Gewissenskonfliktes in Japan einen sehr interessanten Beitrag geliefert. Gerechtigkeits- und Staatssymbole können in Widerspruch zur sittlichen Überzeugung des Einzelnen oder auch der Mehrheit der Bevölkerung – eigentlich des Volkes – treten. Würde man z. B. in der Beigabe des Schwertes der Justitia ein Bekenntnis zur Todesstrafe erblicken wollen, wäre diese Symbolbeigabe heute verfassungswidrig. Das Schwert der Justitia muss also einschränkend interpretiert werden. Ein ähnliches Problem zeigt sich bei der Interpretation der Bedeutung des Horns, das das Einhorn trägt. Japanische Interpreten haben darin das Recht zur Todesstrafe oder sogar das tödliche Instrument der Hinrichtung erblicken wollen. Dies dürfte schon deshalb unzutreffend sein, weil das Einhorn das Gerechtigkeitssymbol einer Scham- und nicht einer Ver4 Wilhelm Wegener, Die Farben und Symbole der Bundesrepublik in historischem und verfassungsrechtlichen Kontext, in: Zehn Jahre Grundgesetz, Annales Universitatis Saraviensis, Vol. VIII, Fasc. 1 / 2 1960, Saarbrücken 1960, S. 33 ff. 5 Der Spiegel Nr. 12, 15. März 2004. 6 Niroshi Nishihara, Die Tragweite der Gewissensfreiheit, in: Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, hrsg. von Bernd Schünemann, Jörg Paul Müller, Lothar Phillips, Berlin 2002, S. 99 ff.

E. Gerechtigkeitssymbole

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geltungskultur ist. Auch hinsichtlich der Übernahme von Staatssymbolen oder Gerechtigkeitszeichen oder der Gerechtigkeitssymbolik kann man also von einem Kontinuum, aber auch von einem Diskontinuum sprechen. 2. Zählt man auch die Präambel zu den symbolischen Formen der Staatswirklichkeit, dann trifft man hier auf das Problem der Bezugnahme auf die Geschichte noch deutlicher und insbesondere trifft man auf die Frage nach der Stellung der Religion innerhalb des Verfassungswerkes. Einerseits bekennen sich moderne Verfassungen zur Trennung von Staat und Religion, so auch Art. 140 GG, der ja auf die Weimarer Verfassung zurückverweist, andererseits enthält das Grundgesetz aber auch die Erwähnung der Verantwortung vor Gott und den Menschen. Ein ähnlicher Streit bewegt zurzeit die Diskussion um die Präambel der europäischen Grundrechtecharta. Sollte hier die religiöse Verantwortung und Tradition als historisches Erbe erwähnt oder sollte der französische Laizismus übernommen werden, der jede Erwähnung eines Religions- und Gottesbezugs ausschloss?7 Ein vermittelnder Vorschlag geht dahin, in der Präambel der Religion einen sog. „leeren Stuhl“ anzubieten, so dass jeder diesen „leeren Stuhl“ mit seinem eigenen Religions- und Gottesbegriff besetzen könne. Um wiederum die äthiopische Verfassung von 1994, eine postmarxistische Verfassung, zu erwähnen, soll auf die dort verankerte Trennung von Staat und Religion und die garantierte Religionsfreiheit hingewiesen werden; Garantien, die gleichzeitig doch nicht verhindern, dass der Staat religiöse, also insbesondere islamische Gerichtsbarkeit zulassen muss. 3. Sind die traditionellen Staatssymbole überhaupt noch von Bedeutung in der gegenwärtigen pluralistischen Gesellschaft oder müssen sie zumindest durch neue moderne Symbole ersetzt werden? Eine solche Ersetzung der traditionellen Staatssymbole hat Häberle durch seinen Hinweis auf den „runden Tisch“8 versucht. Er ist der Meinung, dass dieser 1989 im Rahmen des Wiedervereinigungsprozesses eingeführte „runde Tisch“ ein Symbol für die antihierarchische Diskussionssituation der Gegenwart ist. Kann man sich wirklich den „runden Tisch“ als ein Staatssymbol oder als Heraldik in einem Staatswappen vorstellen? Es scheint schwer zu fallen und doch liegt diesem Gedanken eine wichtige Information zugrunde: Der Staat der offenen Gesellschaft, der moderne pluralistische Staat kann sich nicht mehr durch ein Symbol darstellen. Er müsste auch in Bezug auf die Symbolik sich öffnen oder die Symbole als „leere Stühle“ graduieren. Als „leere Stühle“ würden aber die Staatssymbole ihre zentrale Funktion als Kommunikations- und Integrations7

Während die französische Fassung der Präambel vom „patrimoine spirituel et moral“ spricht, lautet die deutsche Version „geistig-religiöses und sittliches Erbe“. 8 Peter Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. Berlin 1998.

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Teil 2: Rechtskultur

zeichen verlieren. Der offene Staat zeichnet sich eben gerade dadurch aus, dass er Teile seiner Souveränität und Impermeabilität verliert und diese Eigenschaften auf höhere politische Einheiten überträgt. Zählt man z. B. auch die Staatsangehörigkeit zu den Symbolzeichen, dann ist es evident, dass im Bundesstaat die Staatsangehörigkeit in Gliedstaaten ihren Sinn verliert. Zwar hatte das deutsche Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 19139 nicht nur die Landesangehörigkeit gekannt, sondern auch nur durch die Landesangehörigkeit die Reichsangehörigkeit vermittelt, doch ist die Landesangehörigkeit nicht mehr wiederbelebt worden. Dies liegt eben gerade auch daran, dass die Landesangehörigkeit keine kommunikative Funktion mehr hat, was der Landeshymne und dem Landeswappen in einem gewissen Umfang aus historischen Gründen zukommt. Neben der Kommunikations- und Integrationsfunktion der Staatssymbole gehört vor allem auch die Funktion der Identitätsbegründung zu den zentralen Aufgaben der Staatssymbolik. Auch hinsichtlich dieser Funktion der Identitätsbegründung wird man feststellen können, dass Landeshymne und Landesflagge nicht mehr die gleiche Funktion haben, zwischen den Bürgern und dem Staat eine Identität zu begründen. Allerdings darf man nicht vergessen, dass die Kommunikationsfunktion und die Integrationsfunktion auch gerade im pluralistischen Staat eine neue Bedeutung gewinnen können, wenn sie dem Immigranten, dem Flüchtling oder dem Neubürger die Einordnung in das Kulturgefüge erleichtern und plausibel machen. Auch nach außen hin haben die Staatssymbole diese Funktion der Kommunikation, was bei jeder großen internationalen Sportveranstaltung erkennbar ist. 4. Gehören die Symbole der Gerechtigkeit zu den Staatssymbolen oder sind sie nur Symbole der Funktion der Gerichtsbarkeit, gleichgültig ob diese eine staatliche Veranstaltung oder eine Selbstverwirklichung des Rechtes ist? Im Common Law versteht sich das von den Gerichten gesprochene gerechte Recht, das richtige Recht, um einen Begriff von Stammler zu gebrauchen, nicht als Produkt des Staates, sondern als Ausspruch eines vorgefundenen Rechtes. Auch für dieses Recht und für diesen Rechtsspruch würde das Symbol der Justitia Geltung haben. Offenbar ist auch das Gerechtigkeitssymbol der Justitia nicht durch Rechtsnormen verankert, es stellt vielmehr eine Art Gewohnheitsrecht oder vielleicht sogar nur eine Art Gewohnheit der Justizverwaltungen dar. Allerdings gab es Zeiten, in welchen die Symbolik der Gerechtigkeit als funktionsübergreifendes Symbol angesehen wurde, so dass es die gesamte Staatstätigkeit von der Gesetzgebung über die Verwaltung bis hin zur Rechtsprechung erfasste. Dies ist bereits im Spätmittelalter oder der Frühneuzeit erkennbar. So be9 Die Diskussion über die Beschränkung der Freizügigkeit bei Verletzung nationaler Interessen durch einen sog. Rückruf war ausgelöst durch die Beteiligung deutscher an verfassungswidrigen Aktionen im Ausland. Hierbei spielte die Symbolwirkung der Staatsangehörigkeit auch eine wichtige Rolle bei der Beschränkbarkeit des Grundrechts des freien Zuges. Heinrich Scholler, Staatsangehörigkeit und Freizügigkeit. Zum Problem des Rückrufs und seiner Sanktionen, in: DÖV 1967, 496 ff.

E. Gerechtigkeitssymbole

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schreibt z. B. Alois Dempf die monumentale Wiedergabe der Justitia in Capua mit folgenden Worten: „Im vollen Bewusstsein einer euhemeristisch verstandenen, mythenbildenden Kraft wird das „dumme Volk, das aus Wundertaten Heilige schafft wie der Mythos Giganten“, zum Kult der Justitia als Volksreligion zur Verkleidung der Staatsmetaphysik gezwungen. Das Triumphtor von Capua, an dem zuerst sich die Renaissanceplastik entfaltet, ist der Altar der göttlichen Justitia. In übermenschlicher Größe thront sie über dem Tore, unter ihr der gekrönte Kaiser als ihr irdischer Repräsentant und Hohepriester. Neben ihm stehen Petrus von Vinea und Matthäus von Suessa als Laienpriester des Hochgerichts. Das Zeit- und Reichsbewusstsein hat seine Metaphysik und eine religiöse Ersatzformel gefunden, wenn auch noch in der nachwirkenden Kraft des mittelalterlichen Geistes, wie es die ganze Neuzeit hindurch keine mehr bis zu Hegel und Nietzsche finden sollte.“10 II. Die Globalisierung von Recht und Rechtssymbolen 1. Auch wenn man dem Phänomen der Globalisierung sehr kritisch gegenübersteht und in ihr im Wesentlichen eine Störung der Autonomie von Staats- und Rechtsordnungen sieht, wird man nicht umhin kommen, gewisse historische Erscheinungen der Globalisierung anzuerkennen. Dies gilt vor allem für den Begriff der rechtsstaatlichen Verfassung und der Verankerung von Menschenrechten in der Verfassung. 2. Die Idee eines globalen Rechtes ist nicht identisch mit dem Postulat des ewigen Friedens, denn beide Ideen und ihre geschichtlichen Ansätze überschneiden sich. Allerdings verbinden sich beide Postulate in Kant vor allem in seiner Schrift vom Ewigen Frieden. Nach Höffe11 ist Kant neben Augustinus ein Denker, bei welchem die Friedensidee mehr als eine nur marginale Bedeutung erlangt. Das kosmopolitische Denken der Antike verbindet sich mit staatsrechtlichen und rechtstheoretischen Ansätzen, den völkerrechtlichen Grundsätzen, die bei Grotius zentralen globalisierenden Ausdruck gefunden hatten. Höffe hat mit Recht darauf hingewiesen, dass bei Kant die Idee eines globalen Rechtes und eines ewigen Friedens nicht nur punktuell in seiner Friedensschrift auftaucht, sondern sein ganzes Werk durchzieht.12 Der Frie10

Alois Dempf, Sacrum Imperium, Darmstadt 1954, S. 325. Otfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 1999, S. 257. 12 Neben der Abhandlung „Zum ewigen Frieden“ (1795) sind eine Fülle weiterer Texte und Passagen zu diesem Thema einschlägig: „Idee zu einer Geschichte in weltbürgerlicher Absicht“ (1784), „Über den Gemeinspruch“ (1793, Teil III), „Rechtslehre“ (1797, §§ 53 – 62 und „Be11

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Teil 2: Rechtskultur

densbegriff ist ein diesseitiger, weshalb man ihn nicht als einen ewigen Frieden im transzendenten Sinne begreifen darf, sondern im Sinne eines sempiternen13 Zustandes. Bewusst wird deswegen auch das „Weltbürgerrecht“ neben das überkommene Bürgerrecht gestellt, so dass es dieses ergänzt. Ähnlich wie bei Grotius ist auch bei Kant Ausgangspunkt für sein Konzept die Erfahrung mit den Religionskriegen und der Glaube, dass durch die Globalisierung des Rechtes und Errichtung der Republik im Sinne einer konstitutionellen Monarchie der Angriffskrieg unterbunden werden könne. 3. In einer Vorlesung im Jahre 2002 in Qingdao vor Studenten der juristischen und der germanistischen Fakultät habe ich auf Ähnlichkeiten und Unterschiede der beiden Gerechtigkeitssymbole Chinas und Europas, dem Einhorn und der Justitia, hingewiesen. Der Moderator meiner Vorlesung war der Germanist Prof. Liu, der mir in der Vorlesung, aber auch später persönlich nochmals erklärte, dass in der „interkulturellen“ Diskussion der Germanistik bisher noch nie auf diese Problematik hingewiesen worden sei. Ich konnte auch den Eindruck gewinnen, dass nicht nur in Japan, sondern auch in China die traditionellen Gerechtigkeitssymbole völlig verdrängt waren und das allenfalls das Symbol der Justitia Eingang gefunden hatte. So trifft man auch an manchen Gerichtsgebäuden des fernen Ostens das uns vertraute Symbol der Justitia mit Schwert und Waage als Symbol der Gerechtigkeit an. Die Übernahme der Rechtsordnungen aus Europa – das gilt für Japan ebenso wie für Korea und die Volksrepublik China – hat offenbar ohne dass hier eine gesetzliche Norm erlassen wurde, zur Übernahme der Symbolfigur der Justitia geführt. Man kann hier von einem Vorgang der Rezeption des Gerechtigkeitssymbols sprechen, da Übernahme ohne Zwang von außen und wohl auch ohne Zwang von innen durch den chinesischen Gesetzgeber erfolgte. Ist es zwangsläufig richtig, dass man mit einer Rechtsordnung auch die zu Grunde liegenden einheitsstiftenden und kommunikativen Symbole übernimmt? Zunächst möchte man diese Frage bejahen, denn es scheint in diesem Vorgang eine zwangsläufige Richtigkeit zu liegen. Allerdings wird man zweifeln, wenn man den modernen Analytikern folgt, die festgestellt haben, dass das japanische moderne Recht „japanisiert“ und dass in China ein ähnlicher Vorgang sich entwickelt hat, der zu einem „marxistisch-chinesischen“ Recht geführt hat.14 Ob diese letztere Äußerung von von Senger heute noch zutrifft, oder ob der marxistische Anteil am modernen chinesischen Recht so stark im Schwinden ist, dass man nicht mehr von einem sino-marxistischen Recht sprechen kann, soll hier offen bleiben. Deutlich ist auf schluß“), „Verkündigung eines Traktats zum ewigen Frieden“ (1787); siehe hierzu auch Höffe, a.a.O., S. 257 f. 13 Sempitern: hier nicht im Sinne von religiöser Ewigkeit verwendet. 14 Harro von Senger, Die Einwirkung der Rezeption westlichen Rechts auf die sozialen Verhältnisse in der chinesischen Rechtskultur, in: Heinrich Scholler (Hrsg.), Die Einwirkung der Rezeption westlichen Rechts auf die sozialen Verhältnisse in der fernöstlichen Rechtskultur; Arbeiten zur Rechtsvergleichung, Schriftenreihe der Gesellschaft für Rechtsvergleichung, Bd. 158, Baden-Baden 1993.

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jeden Fall, dass traditionelle Gerechtigkeitsvorstellungen eine langsame Modifikation des übernommenen deutschen Rechtes herbeigeführt haben. Das gleiche lässt sich sagen vom äthiopischen Zivilrecht, das einmal von dem berühmten französischen Komparatisten Rn David entworfen wurde und dessen Familienrechtsbuch heute durch ein neues, den traditionellen Verhältnissen mehr entsprechendes Familienrecht ersetzt worden ist. Diese drei Beispiele sollen zeigen, dass die stille Revision des übernommenen Rechtes deshalb vor sich geht, weil natürlich die den traditionellen Gerechtigkeitssymbolen innewohnenden Vorstellungen nicht mit der tabula-rasa-Politik der Modernisierung verschwanden. Aus diesem Grunde ist heute ein interkultureller Dialog oder eine interkulturelle Kommunikation gerade in Bezug auf die sinnstiftenden Gerechtigkeitssymbole von besonderer Bedeutung. X III. Antike Gerechtigkeitssymbole 1. Die Gerechtigkeitssymbole der Griechen wie Themis und Dike werden zu den Begriffs- oder Sondergottheiten gezählt. Sie haben mit dem chinesischen Einhorn gemeinsam, dass sie weibliche Wesenheiten – dort Göttinnen, hier ein göttliches Tier – darstellen. Im Gegensatz dazu steht das Gerechtigkeitssymbol der Mongolen, ein Bogenschütze, der auf einen dünnen Faden mit gespanntem Bogen zielt. Dieses Symbol stellt die Situation des Richters oder auf jeden Fall des Entscheidungsträgers dar, der ein zielgenaues Urteil wie einen Pfeilschuss abgeben muss. Das Symbol stellt die Spannung vor der militärisch symbolisierten Situation dar. Es ist hier ein Mann, ein Krieger, der ein „tödliches“ Urteil abgeben muss. Für sehr viele vor allem militärische Tatbestände hatte das altmongolische Recht die Todesstrafe verhängt. Demgegenüber zeigt die ursprüngliche griechische Göttin Themis kein Schwert, wohl auch Dike nicht, die erst sehr viel später und endgültig erst in der Gestalt der römischen Justitia das Schwert als Zeichen der Strafjustiz oder Strafgerechtigkeit erhält. Man geht aber nicht fehl, wenn man im Schwert nicht nur die Strafgerechtigkeit erblickt, sondern eben die Form der Justitia distributiva, also die austeilende Gerechtigkeit erblickt, die der Ausgleichenden, der Justicia commutativa gegenübersteht. Das mongolische Gerechtigkeitssymbol des Schützen ist wohl erst später verbunden worden mit dem Symbol der Waage. Die Justitia dagegen hat wohl schon sehr früh neben dem Symbol des Schwertes auch das der Waage gezeigt. Dieses Symbol verweist auf die kurulischen Aedilen, die römische Marktpolizei, die zwar auch ein genaues Maß gewährleistete, aber doch anders ausgerichtet war als der mongolischen Bogenschütze. 2. Ähnlich wie das Einhorn der Chinesen, so ist auch Themis keine handelnde Gottheit, sondern eher eine „Urmutter“, die etwas Archaisches und Ungestaltetes auf-

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weist, das sie mehr in die Nähe des Einhorns rückt.15 Sie ist als vorhomerische Gottheit ein Ergebnis der Verbindung der Erdgöttin Gaia und des Himmelsgottes Uranus, so dass sie Feuer und Wasser verbindet. Erik Wolf, dem wir eine sehr gründliche Untersuchung des archaischen griechischen Rechtsdenkens verdanken, hat sich dagegen gewandt, Themis als Urbild göttlicher Weltenordnung zu begreifen, da er anhand anderer Nebengottheiten der Zwietracht und der Vergeltung, die ebenfalls in diesem Zusammenhang auftreten, ein Bild des griechischen Gerechtigkeitsdenkens entwickelt, das mehr das streitbare am Rechtsgang in den Mittelpunkt der Betrachtung stellt.16 Er lehnt es auch ab, sie als Ausdruck einer mehr naturrechtlichen physischen Gerechtigkeit zu verstehen, welcher man die Dike als Ausdruck der geregelten Sittlichkeit oder der Satzung gegenübergestellt hat. Dieser Interpretation gegenüber hat sich Erik Wolf skeptisch geäußert, weil die Wandlung von der titanischen Gottheit zu einer olympischen, vom Naturrecht zum sittlichen Recht und zum Sittengesetz, dem griechischen Denken fremd sei. Demgegenüber kann man aber gerade auch in der Entwicklung des chinesischen Einhorns zu einem Teilinhalt des chinesischen Symbols für Recht (Fa) eine Veränderung erkennen. Das Einhorn stellt sozusagen das Naturrecht dar, das Mensch und Tier mit umfasst, während das symbolisierte Einhorn im Zeichen Fa staatlich-kaiserliches Recht abbildet.17 Erik Wolf sieht Themis als „Schaffnerin“ und als „Eröffnerin“ des Symposiums der Götter, so dass wir in ihr, wollten wir dem antiken griechischen Denken folgen, auch das Agens unseres Symposiums erblicken könnten. Übrigens können wir in dem Hinzufügen der Augenbinde, die später Justitia tragen sollte, ebenfalls eine Weiterentwicklung der Gerechtigkeitssymbolik erkennen, die die Unparteilichkeit jedes gerechten Richteramtes darstellt. Im Veil of Ignorance finden wir in der Philosophie der Gegenwart diesen Gedanken wieder aufgenommen und zum Grundpfeiler jedes gerechten Urteils gemacht. In seiner Abhandlung „Die Idee des politischen Liberalismus“18 bringt John Rawls zwar an zentralen Stellen den „Schleier des Unwissens“19, ohne aber hier eine Verbindung zur Augenbinde der Justitia herzustellen.

15

Erik Wolf, Griechisches Rechtsdenken, Frankfurt a. Main 1950, S. 29 f. Erik Wolf, (Fn. 14), S. 29 ff. 17 Nach der hier dargestellten Interpretation enthält das Fa-Zeichen in der linken Hälfte die Symbole für Wasser und in der rechten eine stilisierte Darstellung des Einhorns. Nach Rückfrage bei dem Leiter des Ostasien-Institutes der LMU München, dem Sinologen Thomas Höllmann, wurde allerdings in Erfahrung gebracht, dass diese Interpretation zwar vertreten wird, aber nicht unbestritten ist. Der Sinologe Herbert Franke hält das Zeichen nur für ein Phonetikon und bezieht sich dabei auf Eberhard, Lokalkulturen I, Lokalkulturen des Nordens und Westens, Leiden 1942. 18 John Rawls, Die Idee des politischen Liberalismus, übersetzt aus dem Englischen, Political Liberalism, New York 1993, Frankfurt 1994, S. 61 f., 99 f., 126 – 128, 271 – 273. 19 Zuerst entwickelt in: John Rawls, A Theory of Justice, Cambridge, Massachusetts 1971. 16

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IV. Ein Vergleich der Symbole Justitia und Einhorn 1. Vergleicht man nun die Legende vom Einhorn im jüdisch-christlichen Kulturraum, dann kann man feststellen, dass bereits in den alttestamentarischen Psalmen das Einhorn als Fabelwesen auftaucht. In Psalm 91 sagt der Psalmist: „und es wird mein Horn erhöht werden, wie das eines Einhorns“. Im zweiten nachchristlichen Jahrhundert erschien ein Werk, das den Titel „Physiologus“ trug.20 Es enthielt Ausführungen zu allen wichtigen Tieren, die in ihrer allegorischen Deutung eine religiös-metaphysische Bedeutung erhielten. Diese Tierwelt vom Löwen bis zu den Tauben umfasste auch das Einhorn. In diesem Buch Physiologus liest man, dass das Einhorn ein kleines Tier wie ein Böckchen sei, das ganz friedlich und sanft sei, doch könne ihm der Jäger nicht näher kommen, weil es zu stark sei. Nur auf folgendem Wege könne man es fangen: Eine reine Jungfrau müsse sich ihm in den Weg stellen, worauf es ihr in den Schoß springe. Daraufhin könnte die Jungfrau das Tier in den Palast des Königs führen. Schon die Evangelien deuten das Einhorn auf Christus, denn in Lukas 1, 69 heißt es bereits: „Denn er hat aufgerichtet ein Horn im Hause Davids unseres Vaters und ein Horn des Heils ist er uns geworden“. Weiterhin wird das Horn des Einhorns als ein Gegenmittel gegen Gift, also als Heilmedizin angesehen. Lässt man die übrigen Berichte über das Fabeltier außer Acht, so wird man doch eines hier bemerken müssen: Mit der allegorischen Deutung des Einhorns auf Christus entsteht eine neue Ebene in der Gerechtigkeitsvorstellung. Schon die Schriften des Neuen Testamentes durchziehen die polaren Begriffe: Gesetz und Evangelium. Immer wieder haben sich große Staatsmänner, wie Bismarck, die Frage gestellt, ob die Bergpredigt eine Grundlage für eine weltlich-bürgerliche Rechtsordnung, also eine diesseitige Gerechtigkeitsidee sein könne oder nicht. Man weiß, dass Bismarck dies verneint hat, man weiß aber auch, dass nach 1945 gerade in Deutschland die Frage nach einem christlichen oder weltweit humanistischen Naturrecht erneut gestellt wurde und dass gerade im protestantischen Raum dem weltlichen Gesetzes- und Ordnungsbegriff die Vorstellungen einer biblischen Weisung (Erik Wolf21, Arthur Kaufmann22) oder einer lex charitatis (Johannes Heckel23) gegenüber traten. Auch die Idee des Sozialstaates in den verschiedenen Formen der Intervention zu Gunsten Benachteiligter, Alter, Kranker oder Behinderter ist eine Konkretisierung des christlichen Naturrechtes. Schließ20 Physiologus – Naturkunde in frühchristlicher Deutung, aus dem Griechischen von Ursula Treu, Hanau 1998, S. 42 ff. 21 Vgl. die Darstellung bei Arthur Kaufmann, Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre – und was daraus geworden ist, in: Über Gerechtigkeit, Köln 1993, S. 221 ff. 22 Arthur Kaufmann, Grundprobleme der Rechtsphilosophie, 2. Auflage, München 1997. 23 Johannes Heckel, Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, München 1953.

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lich darf man nicht übersehen, dass das mit der Justitia in Europa eingeführte und konkretisierte römische Recht vor allem in der Gestalt des römisch-kanonischen Rechtes in vielfältiger Weise den sozialen Gedanken oder die Gedanken der „Sorge“24 aufgenommen hat. Diese Korrekturen am römisch-kanonischen Recht erfolgten vor allem dadurch, dass in den Rigorismus des Rechtes die Ideen der Misericordia und Charitas getreten seien: „nicht nur in speziellen Rechtsinstituten hat das Alte Testament die europäische Rechtskultur geprägt; es hat auch dem europäischen Gerechtigkeitsbegriff unverwechselbare Züge mitgegeben, vor allem die gedankliche Verbindung von Justitia mit Charitas und Misericordia“25 ; „Bedenkt man, dass alle diese Leistungen in einer vormodernen Welt liegen, in der das Vorbild wissenschaftlichen Denkens in der Naturwissenschaft fehlte und auch das antike Geisteserbe den Juristen nur zu einem kleinen Teil verfügbar war, dann wird man der zu einem großen Teil von Kanonisten geprägten mittelalterlichen Rechtskultur aus heutiger Sicht mit Respekt und wohl auch Bewunderung begegnen können und hier ein noch im Recht unserer Zeit wirksames Element einer europäischen Tradition erkennen“.26 2. Die Ähnlichkeiten zwischen den beiden Rechtssymbolen sind erkennbar und deutlich und liegen in der Betonung der Gleichheitsidee. Diese wird im Symbol der Justitia durch die Waage, im Symbol des Einhorns oder des Fa-Ly-Zeichens durch die Wassertropfen, die die Wasseroberfläche darstellen, ausgedrückt. Man könnte hier fragen, ob neben dieser equalitas exacter, einer arithmetischen Gleichheit, auch eine geometrische ihre Geltung haben könne, wie sie vielleicht im Schwert oder im Horn ihren Ausdruck findet. An dieser Stelle scheint es aber wichtiger zu sein, die Unterschiede zu untersuchen. Sie liegen in dem, was man Schuld- und Schamkultur genannt hat. Die Justitia ist durch die starke Betonung des Schwertes und den römisch-rechtlichen wie jüdisch-christlichen Hintergrund Ausdruck der Schuldkultur. Das könnte man vielleicht auch vom Einhorn sagen, wenn das Horn wie von einem Forscher angenommen, Ausdruck einer Strafjustiz wäre, die durch Tötung den Schuldigen beseitigt. Diese Deutung scheint aber durch die Quellen nicht bestätigt zu sein. Der Friedenscharakter des Einhorns macht es untauglich, sowohl die Rolle des Richters als auch des Scharfrichters zu übernehmen. Ich halte daher die Interpretation für richtig, die im Horn das Instrument sieht, dass den „Schuldigen“ nur zur Seite drängt. Damit soll er nur in die ihm gebührende Schamposition gesetzt werden. Matsubara schreibt hierzu im Hinblick auf die japanische Rechtskultur: „Schlichtungsbemühungen nehmen 24 Heinrich Scholler, Gewissensspruch als Störung, in: Heinrich Scholler / Lothar Philipps (Hrsg.), Jenseits des Funktionalismus, Heidelberg 1989, S. 187 ff. 25 Peter Landau, Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien, hrsg. v. Heinrich Scholler, Baden-Baden 1996, S. 24. 26 Ders., S. 45; Landau verweist hier auf moderne Rechtsinstitute auf der Grundlage des kanonischen Rechts (z. B. „Quod omnes tangit …“, „cessante necessitate cessat lex“).

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einen breiten Raum im japanischen Rechtsdenken ein. Es geht nicht um Schuldzuweisungen, denn selten sind beide in einen Streit verwickelte Parteien ganz frei von Schuld. Es geht vielmehr um den Ausgleich, um die Versöhnung, um die Wiederherstellung einer spannungsfreien Beziehung. […] Konflikte wurden im Abendland als das Werk des Teufels angesehen, denn sie passten nicht in das Wunschbild der idealen menschlichen Gesellschaft. Deshalb musste es immer, wenn irgendwo ein Konflikt entstand, mindestens einen Schuldigen geben, den man überführen und bestrafen konnte.“27 Muss man nicht die Kritik an der Schuldkultur in ihrer extremen Form ernst nehmen und diese mit Elementen der Schamkultur verbinden? Ist vielleicht die Schamkultur bereits eine Form des rechtlichen Bewusstseins, in welchem die schroffe Schuldkultur durch Hineinnahme von Charitas und Misericordia abgeschwächt wurde? Allerdings ist zu befürchten, dass die Globalisierung auch das Recht ergreift, ja sie hat das Weltrecht bereits in ihren Sog gezogen.28 Das bedeutet aber, dass die Schuldkultur, die immer einen Verantwortlichen, einen Schuldigen sucht, einen, der abzuurteilen und wegzusperren ist, finden muss, die traditionellen Elemente der Schamkultur verdrängt. Dann ist auch zu fürchten, dass Charitas und Misericordia keinen mäßigenden oder richtungsweisenden Einfluss auf den Rechtsrigorismus haben werden; das, was Adalbert Stifter das „sanfte Gesetz“ genannt hat, ist aber eher verwandt mit der Schamkultur und kann am besten begriffen werden als eine Antwort auf die großen Postulate der Charitas und der Misericordia. Wie sollen wir in Zukunft unsere Gerechtigkeitsidee durch eine adäquate Personifizierung darstellen? Lassen sich die Symbole der Justitia und des Einhorns annähern?

27 Hisako Matsubara, Weg zu Japan. Westöstliche Erfahrungen, Bergisch-Gladbach 1986; Ruth Benedict, The Chrysanthemum and the Sword, 49. Auflage Tokio 1994, S. 238 f. 28 Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, Die Neugestaltung der Politik im 21. Jahrhundert, München 1997. Siehe hierzu auch Heinrich Scholler, in: Die Bedeutung der Lehre vom Rechtskreis und der Rechtskultur, Heinrich Scholler / Silvia Tellenbach (Hrsg.), Berlin 2001, S. 7 ff.

F. Rechtskulturen in Konflikt* I. Die Rechtsreform in Asien am Beispiel der Mongolischen Republik 1. Einleitung Alle asiatischen Länder haben in den letzten hundert Jahren tief greifende Rechtsreformen durchgemacht. Am entscheidensten waren diese Reformen in Japan, der Republic of China (Taiwan) und Südkorea. Länder wie die VR China und die Mongolei durchlaufen erst seit einem Jahrzehnt mit verschiedener Intensität eine Rechtsreform. Diese hat in der Mongolei zu einer grundsätzlichen Änderung geführt, während man in der VR China von der Entwicklung zu einem Sino-Marxismus spricht. Im Nachfolgenden soll in besonderer Weise die Entwicklung in der Mongolei dargestellt werden, um die Frage zu beantworten, ob die Neuordnung des Rechts auch zu einer neuen Zugehörigkeit in den großen Rechtsfamilien gehört. Das mongolische Recht steht in diesem Jahrhundert vor der zweiten umfassenden Rechtsreform. Ohne nähere Kenntnis der Rechtsgeschichte ist eine Reform immer von Risiken und Problemen begleitet. Jede Reform muss nach einer bestimmten Methode durchgeführt werden, weil sonst das neu zu schaffende Rechtssystem inkohärent, widersprüchlich und damit ineffektiv wird. Bei der Methodenwahl ist aber auch zu berücksichtigen, dass niemand mit einer tabula rasa, also mit einem völlig jungfräulichen System beginnen kann. Immer gab es schon vorher Rechtsordnungen, Gerechtigkeitsvorstellungen und rechtssystematische Entwicklungen, die man beachten muss. Schließlich verfallen Reformer in den Fehler, dass sie von ganz Neuem, also auf dem grünen Rasen, einer tabula rasa, beginnen wollen und alles bisher Bestehende zerstören möchten. So war es bei der Einführung des Christentums im Frankenreich, wo die Missionare den Frankenkönigen sagten: Bete an, was du verbrannt hast und verbrenne, was du angebetet hast. Wie gefährlich ein solcher fundamentalistischer Ansatzpunkt ist, zeigt sich in manchen der osteuropäischen Reform- oder Transitionsländer. Ich habe einen solchen Ansatz nie für richtig gehalten.

* Die nachfolgenden Ausführungen habe ich nach Verleihung der Ehrendoktorwürde durch das Rechtsinstitut der nationalen Universität der Mongolei am 19. 10. 1999 in Ulan Bator an meine Kollegen und Studenten gerichtet. Sie erschienen dann unter dem Titel „Bedeutung der Lehre vom Rechtskreis und die Rechtskultur“ in der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften (ZVR), 2000, S. 373 – 386.

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Zu welchem Rechtskreis gehört oder gehörte das mongolische Recht in seiner traditionellen oder in seiner sozialistischen Entwicklung? Man unterscheidet kontinentaleuropäisches (römisch-germanisches Recht), das Common Law, die religiösen Rechtssysteme (das Hindurecht, sowie das islamische und das jüdische Recht), sowie die gewohnheitsrechtlichen Rechtssysteme. Paul Anselm Feuerbach hatte schon vor zweihundert Jahren das mongolische Recht als eigenständig erkannt und als Teil einer größeren Rechtsfamilie der Nomadenvölker bezeichnet. Ob seine Klassifikation auch den heutigen Kriterien entspricht, mag dahinstehen. Immerhin wurde es als eigene Rechtsfamilie erkannt und als Gesetzes- und nicht als Gewohnheitsrecht qualifiziert. Ein weiterer Fehler wird dann begangen, wenn man die Reform einseitig auf einen isolierten Zweck ausrichtet. Zwar ist es richtig, dass die Rechtsordnung immer auch Zwecken dient, aber doch nicht isolierten Zwecken, sondern dem zentralen, dem Gerechtigkeitszweck. Der Gerechtigkeitszweck wiederum ist ein zusammengesetzter Zweck, der auf die Erreichung des Zustandes der Rechtssicherheit, der sozialen Ausgeglichenheit und des Rechtsfriedens ausgerichtet ist. Die Studie der Asian World Bank1 sieht das Telos der mongolischen Rechtsreform in dem Übergang zu einem World Marked System: „With the change to a market economy, Mongolia has altered the basis of social and economic relationships, and thus the essence and justification of its legal system. The impact of the new order on legal theory needs to be reassessed and a new theory of law developed. Similarly, legal education has to be restructured in terms of jurisprudence and, more practically, in the choice of courses, their content and their presentation. Legal instructors must adapt their knowledge to the realities and cultures of established market economies in order to prepare their students for the different range of work now open to them. The work of different legal professionals such as prosecutors, judges or criminal advocates, which have traditionally been the future roles of law graduates, has changed considerable in response to the new legal environment, and there should soon be a greater demand for commercial legal expertise.“

Damit wird ein rein ökonomisches Ziel zur Grundnorm aller Gesetze und rechtlichen Regelungen. Sie müssen auf dieses Ziel ausgerichtet sein, ja sogar die Rechtstheorie und die Rechtsphilosophie werden von dieser Zielrichtung her neu zu bestimmen sein. Dies ist der erste und wohl auch der häufigste Irrtum westlicher Experten. Der zweite Irrtum liegt darin, dass diese Studie nur davon spricht, dass das westliche Recht Modelcharakter für die Mongolei haben soll. Dabei wird nicht unterschieden und erkannt, dass in den beiden großen westlichen Rechtskreisen oder Rechtsordnungen zwei ganz verschiedene Prinzipien verwirklicht werden: das Common Law-Prinzip2 und das kontinentale oder das römisch-germanische Recht. Das erste ist ein Rich1

Developing Mongolias Legal Framework, Asian Development Bank, Manila 1995. P. S. Atiyah, Common Law and Statute Law in Michael Arnheim, Common Law, Dartmouth / UK, 1994, S. 1 ff.; George Winterton, The British Grundnorm: Parliamentary Supremacy Re-examined, in Common Law, a.a.O, S. 139 ff.; siehe auch Heinrich Scholler, Gustav Radbruch Gesamtausgabe Band 15 „Rechtsvergleichung“, Heidelberg 1999. 2

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ter-Rechtssystem, das andere ein Gesetzgebungs-System. Ist es für die Mongolei gleich, nach welchem System sie sich richtet? Der dritte Irrtum liegt darin, dass diese Studie wie auch viele andere die Abwendung vom Sowjetrecht als die Abwendung von dem Nichtrechtssystem begreifen und dass erst mit der Hinwendung zu einem marktorientierten Rechtssystem das Land, also die Mongolei, in die Familie rechtlich orientierter Staaten eintreten kann. Auch die sowjetische Rechtsordnung war eine Rechtsfamilie oder ein Rechtskreis, unabhängig davon, ob er im Einzelnen oder im Globalen missbraucht wurde und unabhängig davon, wie effizient er war. Und schließlich, das ist vielleicht auch das Wichtigste, darf man nicht von einer tabula rasa ausgehen, denn jede Gemeinschaft von Menschen hat eine existierende Rechtsordnung und präexistierende Grundnormen, wobei unter präexistierend der geordnete Zustand verstanden wird, der vor der jeweiligen Wende zum Marktrechtssystem vorhanden war. In den hier kritisierten Studien wird zum Beispiel gar nicht die Frage gestellt, welcher Rechtsfamilie oder welchem Rechtskreis die Mongolei kraft ihrer Zugehörigkeit zum sowjetischen Recht innerlich und systematisch zuzuordnen ist und – das ist noch eine weitergehende notwendige Frage – welcher Rechtsfamilie und welchem Rechtskreis rechtshistorisch die Mongolei vor ihrer Einbeziehung in das Sowjetrecht angehört hat. Das Recht des Dschingis Khan war bereits ein modernes Recht und muss dem Rechtskreis der Civil Law-Länder oder dem auf das römische Recht zurückgehenden kontinental-europäischen Rechtskreis zugerechnet werden. Es herrschte in der Mongolei kein reines Gewohnheitsrecht oder besser gesagt ein differenziertes Stammesgewohnheitsrecht vor, noch entwickelte sich ein Richterrecht ähnlich dem, das in den Common Law-Ländern zu finden ist. Es war ein Gesetzgebungsrecht, das entweder auf den großen Hural oder auf den mongolischen Heerführer, den Khan, zurückging. Insofern war die Akkulturation des mongolischen Rechtes mit dem aus der UdSSR stammenden Sowjetrecht nicht prinzipiell wesensfremd. Das mongolische Recht war ein säkulares, auf einen Gesetzgeber zurückgehendes, vom Gewohnheitsrecht unabhängiges und nicht von einem Richterrecht geprägtes Rechtssystem. Wenn ich bei meinen Reformbemühungen oft und hoffentlich nicht zu häufig beim deutschen bzw. kontinental-europäischen, also römisch-germanischen Recht meinen Ausgangspunkt gesehen habe, dann war dies nicht deshalb so, weil ich das deutsche Recht für das beste gehalten hätte, sondern weil es als Exponent der römisch-germanischen Rechtsfamilie der mongolischen Rechtsentwicklung am adäquatesten war. Man konnte also die traditionelle Rechtskultur der Mongolei durch rechtsstaatliche Verbesserung und menschenrechtliche Ausrichtung am besten fortsetzen. Auch in der Mongolei wie in so vielen anderen Staaten der Transition ist eine Art Kulturkampf, ein „Clash of Civilisation“, um ein Wort von Huntington zu gebrauchen, ausgebrochen. Hier wird häufig mit falschen Kampfparolen gearbeitet. So wurde vor Jahren schon in Korea der Ruf laut: Macht ein Ende mit der endlosen Germanisierung des koreanischen Rechtes. Dabei versteht man unter Germanisierung das moderne deutsche Recht, das aber weniger „germanisch“ ist als das französische Recht, denn dieses ist mehr „germanisch“ als das römisch-deutsche Recht; noch „germani-

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scher“ als das deutsche und das französische Recht ist natürlich das Common Law! Wenn das Wort „Germanisierung“ rechtshistorisch und nicht politisch verstanden wird, dann ist diese Formulierung sinnentleert. Das „germanische Recht“ ist im französischen und erst recht im anglo-amerikanischen Common Law viel stärker erhalten geblieben als im aktuellen deutschen Recht, das aus der Verbindung von römischem und germanischem Recht entstand. Wenn in Korea das römisch-deutsche Recht eine besondere Rolle gespielt hat und spielen wird, dann deshalb, weil es dem religiös-philosophischen Hintergrund, dem konfuzianischen Erbe Koreas, mehr entspricht als das auf dem Common Law basierende individualistische Richterrecht. Das mehr auf dem Pflichtensystem und der Pflichtenvorstellung aufbauende römisch-germanische Recht ist mit dem koreanischen indigenen Recht kongenialer. Das römische Recht mit seinen drei Postulaten: suum cuique tribuere, neminem laedere, honeste vivere (jedem das Seine geben, niemanden verletzen und ehrenhaft leben) enthält die drei obersten und höchsten Pflichten der römisch-rechtlichen Tugendlehre. Die drei soeben erwähnten höchsten römischen Rechtskulturwerte liegen also auf der Ebene einer Pflichtenvorstellung und nicht auf derjenigen einer individuellen Berechtigung oder Rechtssubjektivität. Das erlaubt es, einen Blick auf ein verwandtes Problem zu werfen, nämlich die Frage, inwieweit die Rechtsordnung einer Schuld- oder Verantwortungskultur einerseits oder einer Schamkultur andererseits zuzurechnen ist. An anderer Stelle habe ich darüber in der Mongolei Ausführungen gemacht. Während wir das chinesische und japanische traditionelle Recht ohne weiteres zum System der Schamkultur rechnen, finde ich heute größere Schwierigkeiten, die Mongolei in diesen Kulturkreis einzubeziehen. Schon das Rechtssymbol oder besser: das Gerechtigkeitssymbol der mongolischen Rechtskultur, nämlich der zielende Krieger mit dem Bogen und als Ziel den dünnen Faden, zeigt, dass für die mongolische Gerechtigkeitsverwirklichung das genaue Treffen im Kampf gleichsam im Rechtsduell entscheidend war. Dies bringt die Mongolei viel näher an das westliche Recht als an das chinesische, wo das Einhorn Symbol der Gerechtigkeit ist. Das Einhorn drängt den Schuldigen weg, nicht weil er sich verantworten muss, nicht weil er der Schuldige ist, sondern weil es der von ihm zu zeigenden Scham entspricht, sich zu verbergen. Ist es von daher gesehen nicht eine große Sorglosigkeit, wenn westliche Rechtsreformer ohne Rücksicht auf die jeweilige Rechtskultur das westliche Recht, das in sich selbst gespalten und uneinheitlich ist, pauschal auf eine andere Kultur übertragen wollen. Als Zwischenergebnis haben wir nun doch feststellen können, dass die Mongolei eine größere Affinität zur westlichen Rechtskultur als zur östlichen hat, wobei man den Westen verstehen muss als Kulturkreis des römisch-germanischen Rechtes. Nicht nur das sozialistische Recht oder der sozialistische Rechtskreis, zu dem die Mongolei längere Zeit gehörte, sondern gerade das traditionelle mongolische, also das autochthone Recht zeigt diesen Charakter. Die von mir kritisierte Studie der Asian Development Bank geht von mehreren Fehlurteilen oder unrichtigen historischen Ausgangspunkten aus. Neben den zwei erwähnten Fehlern, der einseitigen Orientierung am Wettbewerbsmodell und der Wirtschaft sowie der Außerachtlassung der Unterschiede zwischen den westli-

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chen Rechtskreisen ist aber noch hervorzuheben, dass die von der Asian Development Bank vorgeschlagenen methodischen Formen, vor allem in der Entwicklung der Curriculums und damit im Rechtsunterricht, einseitig am anglo-amerikanischen Recht, also am Common Law, ausgerichtet sind. Die Betonung des Case Law und der Legal Analysis zeigen dies deutlich. Beides sind zentrale Figuren des Common Law und spielen im anglo-amerikanischen Rechtsunterricht eine große Rolle. Selbstverständlich hat auch im römisch-germanischen Rechtskreis die Orientierung am Fall und die Bedeutung der Fallanalyse zugenommen, doch steht hier die Interpretation des Gesetzes im Vordergrund. Die Interpretationslehre ist für eine Rechtsordnung, die sich am kontinentalen, also am römisch-germanischen orientiert, der entscheidende Ansatzpunkt. Nun wird man vielleicht einwenden, dass es unproblematisch sei, in dem einen Rechtsgebiet das kontinentale, in dem anderen Rechtsgebiet das Common Law oder das Statute Law Amerikas zu übernehmen. Zum Beispiel könnte man daran denken, im bürgerlichen Recht ohne weiteres vom kontinentalen Recht, also vom römisch-germanischen, auszugehen, während man das Prozessrecht, also den Zivilprozess und den Strafprozess, dem amerikanischen Parteienprinzip zuordnet. Ein solches Verfahren bringt einen inneren Widerspruch und eine große Spannung in die Verwirklichung der Gerechtigkeitsidee, denn Gerechtigkeitsidee und Rechtstypus dürfen nicht in einen unerträglichen Gegensatz treten. Die Überlassung der Rechtsfindung, also des Tatsachenvortrages, und des Vortrages der relevanten Rechtsnorm an den Anwalt mag in einer Rechtskultur unbedenklich sein, in welcher die Parteien über gleich viele wirtschaftliche und gesellschaftliche Chancen, also Einkommen und Macht, verfügen. In Ländern großer Armut, großer Ungleichheit oder ethnischer Widersprüche ist ein solches Verfahren eine Garantie für die Entwicklung eines unsozialen und ungerechten Rechtssystems. Übernimmt man das amerikanische Prozessrecht, dann muss die Ausbildung auf den Anwaltsberuf ausgerichtet sein, übernimmt man dagegen das kontinentale Recht, dann ist das Ausbildungsziel der Richterberuf. Im Nachfolgenden möchte ich immer auch mit Blick auf Ostasien etwas über die Entwicklung, den Stand und eine Neuinterpretation der Lehre vom Rechtskreis vortragen. X II. Die Entwicklung der Lehre von Rechtsfamilien und den Rechtssystemen 1. Die Einteilung des globalen Rechtsstoffes Man sprach oder spricht auch heute noch von den Rechtsfamilien oder den Rechtssystemen, wenn man eine Einteilung des globalen Rechtsstoffes nach bestimmten inneren Kriterien vornimmt. Die Lehre von den Rechtskreisen dagegen ist weniger üblich, obwohl sie eigentlich aus der Anthropologie auch den Rechtsanthropologen ge-

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läufig ist. Dort unterscheidet man Kulturkreise nach bestimmten kulturellen Elementen, Töpferei und Hausbau, die ganz verschiedene Ethnien in ganz verschiedenen geographischen Gegebenheiten innerlich verbinden. Schon Leo Frobenius3 hat mit großem Erfolg diese Lehre vom Kulturkreis auf afrikanische Kulturzusammenhänge angewandt. Es ist vielleicht verfrüht, im Nachstehenden von Rechtskulturen und Rechtskulturkreisen zu sprechen, aber dennoch soll der Begriff Rechtskreis andeuten, dass man sich löst von dem Begriff der Rechtsfamilie und des Rechtssystems. Die Idee der Rechtsfamilie setzt voraus, dass wie in der natürlichen Familie Rechtsordnungen voneinander hervorgegangen sind, sich wie Elternrechtsordnung und Abkömmlinge oder Geschwister zueinander verhalten. Die Lehre von den Rechtssystemen dagegen knüpft an andere Kriterien an, die meistens rechtstechnisch ausgerichtet sind, z. B. die Normenstruktur, die Bedeutung der Entstehung der Norm aus der Rechtsprechungspraxis, die Gliederung in öffentliches und privates Recht und wiederum in personae, res und negotium, um nur ein Einteilungssystem des römisch-germanischen Rechtes zu verwenden. Diese Kriterien greifen aber nur nach sekundären Merkmalen und treffen nicht das Zentrum der Rechtskultur oder des Rechtskreises.4 2. Die Entwicklung bis 1914 Zu Recht hat man festgestellt, dass sich die europäische Rechtswissenschaft bis 1914 nur mit dem kontinentalen oder besser gesagt mit dem abendländischen Rechtssystem beschäftigt hat, da natürlich neben dem römisch-germanischen Recht auch das Common Law Gegenstand der Rechtsvergleichung war. Hier ging es im Wesentlichen um die Differenzierung zwischen Common Law auf der einen Seite und kontinental-europäischem Recht oder römisch-germanischen Recht auf der anderen Seite. Dabei brachten es die nationalgesetzlichen Strömungen und die Kodifikationen des 19. Jahrhunderts mit sich, dass man versucht war, auch zwischen den römisch-germanischen Rechtsfamilien die Untergruppen stärker hervorzukehren und gegeneinander auszuspielen. Gemeinsamkeiten des französischen Rechts, das auf dem code civil beruhte, des Schweizer Rechtes und des Deutschen Rechtes, das mit dem BGB im Jahre 1900 in eine kodifizierte gesamtdeutsche Form überging, wurden dabei häufig übersehen. Die Unterscheidungen basierten aber in der Regel nicht auf den primären Differenzierungsmerkmalen, sondern auf sekundären oder tertiären.5

3 Adolf E. Jensen, Leo Frobenius, Leben und Werk, bei Paideuma 1 (1938) S. 15 / 58, Eike Haberland, Leo Frobenius, 1873 / 1973, in: Paideuma 19 / 20, 1973 / 74: 1 / 3. Lebenswerk des Frobenius-Schülers Eike Haberland siehe Siegfried Seyfarth, Eike Haberland 1924 – 1992, Paideuma 38 (1992) wie auch Zum Problem der vergleichenden Wissenschaften, Ernst-Wilhelm Müller, Plädoyer für vergleichende Geisteswissenschaften, Paideuma (1993) S. 7 ff. 4 Ren David / Günther Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart. München 1966, S. 80, 94 und 100. 5 Auch Rn David / Günther Grasmann, a.a.O. S. 107.

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3. Die Entwicklung bis 1989 Die Entwicklung seit dem Jahre 1914, also dem Ausbruch des 1. Weltkrieges, und dem Jahr 1989, dem Jahr der Wende und des anschließenden Zusammenbruchs der UdSSR, war gekennzeichnet durch den Versuch einer weiteren Differenzierung und Untergliederung der einzelnen Rechtsfamilien, insbesondere der Familie des römisch-germanischen Rechtskreises. Innerhalb der Gruppe des römisch-germanischen Rechtskreises unterschied man demzufolge den romanischen Rechtskreis, den lateinischen, den skandinavischen, den südamerikanischen Rechtskreis oder entsprechend viele Rechtsordnungen. Gleichzeitig aber regte sich eine innere Kritik an den überkommenen Unterscheidungskriterien wie Richterrecht, Gesetzgebungsrecht, Normqualität, Hierarchie der Normen usw. Man erkannte mit Pound, dass die Rechtsnorm, an der man die Unterscheidung gerne festgemacht hätte, im Grunde genommen in ihrer höchsten Verfeinerung oder Rückführung Ausdruck philosophischer Ansätze oder einer weltanschaulichen Konzeption zur Gerechtigkeitsfrage ist.6 Wenn Pound an dieser Stelle das Recht als „social institution to satisfy social wants“ bezeichnet, verlagert er die Grundnorm in den sozialen Bereich, während doch die sogenannten jural postulates als Voraussetzungen für richtiges Recht in der ethischen Sphäre liegen. Die Identität der jural postulates und der rechtlichen Grundnorm findet sich dagegen bei den so genannten religiös orientierten Rechtsordnungen des islamischen Rechtes, des jüdischen Rechtes und des Hindu-Rechtes.7 Fraglich ist, ob man das kanonische Recht auch zu diesen religiösen Rechtsordnungen zählen kann. Hiergegen wird vor allem eingewandt, dass das kanonische Recht nicht für alle Bürger eines bestimmten Territoriums verbindlich sei. Dem ist entgegenzuhalten, dass das kanonische Recht ähnlich wie das islamische Recht in seinem religiösen Ausgangspunkt einen universellen Charakter hat.8 Ein weiterer Einwand gegen das kanonische Recht als Teil der religiösen Rechtskreise geht dahin, dass es zum großen Teil eben nicht religiösen Ursprungs sei, sondern auf dem Boden des römischen Rechtes sich entwickelt habe. Die Grenzlinie zwischen rein religiösem Ursprung und nichtreligiös orientiertem Ursprung dürfte jedoch im Einzelfall sehr schwierig sein. Schließlich ist fraglich, ob die Gewohnheitsrechte vor allem in Afrika, aber auch auf den Philippinen oder in Indonesien eine eigene Rechtsfamilie darstellen.9 Man 6 Rn David / Günther Grasmann, a.a.O, S. 17; siehe auch K. Zweigert / H. Kötz, An Introduction to Comparative Law, 2nd edition, Oxford 1992. 7 Es handelt sich um den Überschritt von den jural postulates, nicht um einen Schritt innerhalb eines Rechtsgewinnungsverfahrens, noch die Spitze der Stufenpyramide des Rechts. Siehe auch: Ludo Rocher, Hindu Conceptions of Law, in: Ved P. Nanda (Ed.), Hindu Law and Legal Theory, Dartmouth / UK 1995, S. 3 ff. 8 Judith Romney Wegner, Islamic and Talmudic Jurisprudence: The Four Roots of Islamic Law and their Talmudic Counterparts, in: Ian D. Edge (Ed.), Islamic Law and Legal Theory, Dartmouth / UK 1995, S. 35 ff.; zum jüdischen Recht siehe: Martin P. Golding (Ed.), Jewish Law and Legal Theory, Dartmouth / UK 1993. 9 Wojciech Koskenniemi (Ed.), Law and Religion, Dartmouth / UK 1992.

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wird sie aber doch eher als einen Rechtskreis begreifen können, weil zwar die Voraussetzungen für ein System oder eine Familie fehlen, aber bestimmte kulturelle Normen oder Grundnormen vorhanden sind, die die Identität von Rechtskreisen ausmachen. Der Konflikt zwischen modernen Menschenrechten und traditionellen Gewohnheitsrechten oder autochthonen Rechten ist hierfür ein Beweis. In allen gewohnheitsrechtlich charakterisierten Rechts- und Kulturkreisen treten solche Konflikte typisch auf. Ein weiteres für den Rechtskreis von Gewohnheitsrechten typisches Merkmal ist die Flexibilität und die Fähigkeit der Akkulturation durch religiöse oder säkulare Rechtsordnungen. Als besonderes Beispiel kann hier die Verbindung von nordafrikanischen Gewohnheitsrechten mit den islamischen Rechtsvorstellungen gelten. Auch wird man nicht von einem einheitlichen Rechtskreis der Gewohnheitsrechte sprechen können, sondern den gewohnheitsrechtlichen Rechtskreis nur als einen vagen Oberbegriff gebrauchen können, unter den dann ganz verschiedene, rechtskulturell orientierte Gruppierungen aufgezählt werden sollten.10 Ein Merkmal eines bestimmten gewohnheitsrechtlichen Rechtskreises könnte die segmentäre oder akephale Gesellschaft sein, die sich prägend auf das Verständnis des Gewohnheitsrechtes auswirkt. Ein anderes Merkmal könnte die matriliniare Familienrechtsordnung und das entsprechende Erbrecht sein. Diese Fragen können hier nicht weiter behandelt werden und sollen daher nur eine kurze Andeutung erfahren.

III. Die heutige Lage 1. Wegfall des sozialistischen Rechtskreises Das auffälligste Merkmal der gegenwärtigen Situation ist der Zusammenbruch des sozialistischen Rechtskreises. Zunächst einmal muss die Frage beantwortet werden, ob das sozialistische Recht tatsächlich dem Charakter eines Rechtskreises entspricht? Wenn man auf die rechtskulturelle Grundnorm abstellt, so ist dies wohl zu bejahen, obschon das Element des Richterrechts, also der Mangel der unabhängigen Rechtssprechungsinstitution, deutlich hervortritt. Der Wegfall dieses Rechtskreises hat zunächst zu einem Vakuum geführt, das durch konkurrierende Rechtskreise oder Rechtssysteme aus dem okzidentalen Recht aufgefüllt wird.11 Es gilt in geringerem Maße auch für China12, da die Marktöffnung es notwendig machte, sich bei der Modernisierung des Rechtes des westlichen Rechtsrepertoires zu bedienen. Aber auch 10 Wolfgang Fikentscher, Wechselspiel von Gewohnheitsrecht und Menschenrecht im Kulturvergleich; Gewohnheitsrecht und Menschenrechte – Aspekte eines vielschichtigen Beziehungssystems, Arbeiten zur Rechtsvergleichung. Hrsg. H. Scholler, Baden-Baden 1998, S. 29, sowie die Einführung des Herausgebers ebd. S.1 ff. 11 Zum Transformationsprozess Beiträge in Adam Podgorecki / Vittorio Olgiati, Totalitarian and Post-Totalitarian Law. Dartmouth / UK 1996. 12 Michael Palmer, Chinese Law and Legal Theory, Dartmouth / UK 1995; zu der ähnlichen Problemstellung im japanischen Recht siehe: Hideo Tanaka, The Role of Law in Japanese Society, Comparisons with the West, in: Koichiro Fujikura, Japanese Law and Legal Theory, Dartmouth / UK 1996, S. 285 ff.

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Indonesien erkannte vor Jahren die Notwendigkeit, die Kommandoordnung des Staates durch modernes Recht zu ersetzen. Das Gleiche gilt beispielsweise für die Mongolei13 oder auch Äthiopien14 und Südafrika15. Während in den beiden ersten Fällen eine marxistische oder sozialistische Rechtsordnung ersetzt werden muss, gilt in Südafrika die Aufgabe der Substituierung eines rassistisch ausgeprägten Rechts.16 Also ein rechtsstaatliches demokratisches Recht als ein Recht einer „open and democratic society based on peace and justice“. Im öffentlichen Recht gab es in Südafrika eine Konkurrenz zwischen dem kanadischen föderativen, menschenrechtlich orientierten System und dem bundesdeutschen. Die Mongolei dagegen, die ursprünglich eine sowjetische Orientierung ihrer Rechtsordnung hatte, blieb zwar nicht von amerikanischen Einflüssen unberührt, orientiert sich aber wesentlich stärker am römisch-germanischen Recht. Dies gilt aber nicht durchweg. So ist zum Beispiel das Strafprozessrecht eine Mischform zwischen dem amerikanischen Recht, also dem Parteiensystem, und dem deutschen Strafverfahrensrecht, das auf der Inqusitionsmaxime beruht.17 Auch im Verfahren vor dem mongolischen Verfassungsgericht gilt das amerikanische Prinzip des Parteienstreites. Demgegenüber kennt das deutsche Verfahrensrecht vor dem Bundesverfassungsgericht je nach der Natur des Streites die Inquisitionsmaxime oder den Parteienstreit.18 2. Ein Kampf der Rechtskreise Mit der Charakterisierung rechtlicher Zusammenhänge als Rechtskreis hat man auch ein besseres Verständnis für einen Vorgang, den vor einiger Zeit Samuel Huntington als den Kampf der Kulturen bezeichnet hat.19 Versteht sich das Recht als Teil 13

G. Sovd, Die Entwicklung des Rechtswesens in der Mongolei und seine Besonderheiten, in: Menschenrechte und nationale Sicherheit, Dokumente eines internationalen Symposiums, 30.9. / 4. 10. 1996 in Ulan Bator, Mongolei, Hanns-Seidel-Stiftung München 1998, S. 27 ff. und die dort zitierte weiterführende Literatur. 14 Jacques van der Linden, Introduction au Droit de Lthiopie Moderne, Bibiliotheque Africaine et Malgache, Bd. 10, 1971; Ren David, Sources of the Ethiopian Civil Code, in: Journal of Ethiopian Law Vol. IV No. 2, 1967 S. 341 ff. 15 H. Scholler, Der Verfassungsdialog in der Republik Südafrika, in: ZÖR 52 / 1997 S. 63 – 89. 16 Richard D. Relston, Apartheit, South Africas Peculiar Institution: Law Versus Justice in a Repressive Society, in: A. Podgorecki, V. Olgiati, Totalitarian and Post- Totalitarian Law, Darthmaouth / UK 1996, S. 215. 17 Sowohl die mongolische Strafprozessordnung, die nach der Wende als vorläufige Prozessordnung neu geschaffen wurde, als auch der Entwurf von 1998 / 99 sehen das Parteiensystem vor. 18 Im deutschen Verfassungsgerichtsprozess gilt für die Verfassungsbeschwerde nach § 90 BVerfGG das Parteiverfahren, während die objektiven Verfahren vom Inquisitionsprinzip beherrscht werden. 19 Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen, Die Neugestaltung der Politik im 21. Jahrhundert. Dt. Übersetzung München 1997, 4. Aufl., siehe hierzu auch die Auseinandersetzung mit Huntingtons Thesen, in: Konvergenz oder Konfrontation? Transformationen kultureller

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Teil 2: Rechtskultur

eines Rechtskulturkreises, wird viel leichter verständlich, warum die jeweilige Rechtsordnung nicht nur Gegenstand einer politischen Konfliktlage und Auseinandersetzung geworden ist; vielmehr dient sie zum Teil als primäre Waffe im Kampf der Kulturen. Huntingtons Ansatz ist insofern allerdings korrekturbedürftig, als er davon ausgeht, dass die abendländischen Rechtskreise, also Common Law und römisch-germanischer Rechtskreis, Waffen- und Angriffsinstrumente im Kampf gegen religiöse und asiatische Rechts-, Wirtschafts- und Kultursysteme seien. Der Kulturkampf als Kampf von Rechtskreisen vollzieht sich aber auch gerade als Wettlauf zwischen abendländischen Rechtskreisen, also vor allem dem anglo-amerikanischen Common Law und dem römisch-germanischen Recht in Asien. Allerdings ist ja nicht unbekannt, dass Ende des vorigen Jahrhunderts ein ähnlicher Kampf innerhalb Japans stattgefunden hat um die Frage, ob das französische Recht des code civil, das Common Law oder das deutsche Recht neue Grundlage für die Reform der japanischen Gesellschaft werden sollte.20 Also auch in den Subkreisen und zwischen ihnen, z. B. zwischen dem französischen und dem deutschen Recht, besteht eine bestimmte Konkurrenzlage. Der Konflikt der Rechtskulturen wird aber in der Diskussion unter einem anderen Kennwort geführt, und zwar unter den Begriffen der Globalisierung oder der Indigenisierung. a) Von der Globalisierung spricht man in der Regel im Zusammenhang von wirtschaftlichen Prozessen der Expansion oder des wirtschaftlichen Transfers. Dabei erscheint das einzelne Wirtschaftsunternehmen als global player und die gesamte Welt als Markt oder Spielplatz des wirtschaftlichen Wettkampfes. Dies bedeutet selbstverständlich auch, dass in diesem globalen Wettkampf eine einheitliche und für alle verbindliche Wettkampfregel gelten muss, will man Konflikte einheitlich und auch gerecht entscheiden.21 Den Regelungsrahmen dafür findet die World Trade Organization (WTO), doch ist für den Zugang zu ihr, wie das Beispiel der Volksrepublik China zeigt, erforderlich, dass auch im Binnenraum nationaler Politik und Wirtschaft Grundsätze des Marktmechanismus eingeführt und eingehalten werden. Jedes wirtschaftliche Ungleichgewicht in einem solchen Weltmarktsystem führt selbstverständlich auch dazu, dass die konkrete Entwicklung des übermächtigen Rechtskreises bei Verdrängung anderer Rechtskreise expandiert. Identität in den Rechtssystemen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, hrsg. Werner Krawietz / Gerd Reichers / Jens Vedder, Huntington-Sonderheft, Berlin 1998, Rechtstheorie Bd. 29 H. 2 / 4. Eine detaillierte Auseinandersetzung mit den dort vorgetragenen kritischen Analysen ist hier nicht möglich. 20 Koichiro Fujikura (Ed.), Japanese Law and Legal Theory, Dartmouth / UK 1995; siehe auch die Beiträge in Toward Comparative Law in the 21th Century, Chuo University Press, Japan 1998, neben dem Beitrag von Lorenz Friedman, Some Thoughts on the Rule of Law, Legal Culture and Modernity in Comparative Perspective, S. 1075 ff. auch die zu dem Grundrechtsvergleich in Japan und Deutschland sowie Roy N. Freed, A Task for Comparative Law Teachers in the Age of Globalization: To Harmonize Laws through International Cross Fertilization, S. 1057 ff. 21 Siehe dazu auch die Ausführungen in der vorstehenden Anmerkung sowie die zur Auseinandersetzung mit Samuel P. Huntington zitierte Literatur.

F. Rechtskulturen in Konflikt

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Huntington unterscheidet in Anlehnung an Nye zwischen „hard power“ und „soft power“ im Prozess der globalen Machterweiterung, wobei hard power die wirtschaftliche und soft power die rechtliche Expansion charakterisieren.22 Es ist offensichtlich, dass beide Expansionen in einem Zusammenhang stehen. b) Die gegenläufige Bewegung kann man als Indigenisierung bezeichnen, worunter man die Rückkehr zur eigenen Rechtskultur versteht, wendet man diesen Begriff auf die Lehre von den Rechtskreisen an. Einen solchen Fall der Indigenisierung kann man in dem Prozess der „Japanisierung“ des westlichen Rechts in Japan oder der „Sinisierung“, also der Wiederbelebung chinesischer Rechtstradition, sehen. Ob diese Prozesse so weit gehen können, dass sie die Elemente der Schuld und Verantwortungskultur durch solche der Schamkultur ersetzen können, ist fraglich. Der Druck auf die weitere „Advokatisierung“ in Japan ist ein deutlicher Beweis, dass durch den amerikanischen Rechtskreis und die ihn begleitende Wirtschaftspolitik eine Amerikanisierung der japanischen Rechtskultur und des japanischen Rechtskreises angestrebt wird. Die Indigenisierung finden wir aber auch in anderen Teilen der Welt, so z. B. in Südafrika, wo traditionelles Familienrecht im Vordringen ist, oder in Äthiopien, wo der berühmte Civil Code Äthiopiens, eine Schöpfung des Komparatisten Rn David, in Bezug auf nicht notwendigerweise einheitlich zu regelnde Rechtsgebiete in die Kompetenzen der neuen Regional- oder Länderregierung gelegt wurde.23 Auf dieser Ebene wird Erb- und Familienrecht nunmehr durch ein neu kodifiziertes autochthones Recht ersetzt werden oder zumindest ersetzt werden können. Eine andere Tendenz, die den religiösen Rechtskreis in besonderer Weise betrifft, stellt der Fundamentalismus dar. Er ist als besonderes Phänomen des Islam bekannt geworden und führte dazu, dass die traditionellen islamischen Staaten, die monokratisch organisiert waren, sich zu so genannten islamischen Republiken entwickelten. Besonders herausragende Beispiele sind der Iran und der Sudan. Fundamentalistische Strömungen mit dem Postulat nach Wiedereinführung der Scharia finden sich aber selbst in so konservativen Ländern wie Marokko oder Mauretanien. Die Strömungen des Fundamentalismus zeigen eine gewisse Ähnlichkeit mit der Bewegung, die oben als Indigenisierung bezeichnet wurde. Auch das Hindu-Recht und die konservativ-radikalen religiösen Gruppen in Israel zeigen deutlich solche Tendenzen. Auf der Grazer Tagung wurde ein Teilaspekt dieses Problems sehr verdienstvoll mit dem Ergebnis

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Samuel P. Huntington, a.a.O, S. 137 f. Der Prozess der Indigensierung wird am stärksten im Familien- und Erbrecht ausgeprägt. So hatte Prof. Bennet vor zwei Jahren den Auftrag, der südafrikanischen Regierung ein neues Familienrecht vorzulegen. In Äthiopien ist Familien- und Erbrecht in die Zuständigkeit der Member States gefallen. Im Bundesland No. 1 (Tigre) ist bereits ein neues Familienrechtsgesetz vom Landesparlament angenommen worden. In Tigre bestand allerdings schon lange ein kodifiziertes Gewohnheitsrecht. Friederike Kemink, Tegrenna, Customery Law Codes, in: Paideuma 37 (1991), S. 55 – 72; siehe auch dazu Bairu Tafla, in: Lothar Philipps / Roland Wittmann, Rechtskultur und Rechtsentstehung, Heidelberg 1960, S.5 ff. 23

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Teil 2: Rechtskultur

untersucht, dass selbst die UN zögert, gegen die Tradition der Beschneidung energischer vorzugehen.24 IV. Was kann eine Lehre vom Rechtskreis heute leisten? Die Einführung des Begriffes Rechtskreis und Kulturkreis soll – ohne dass man von einem Rechtskulturkreis sprechen muss – eine engere Anbindung einer oder mehrerer nationaler oder übernationaler Rechtsordnungen an die ihr zugrunde liegenden Grundnormen bedeuten. Damit erhält man einen Brückenschlag von den Grundnormen zur ausdifferenzierten Rechtsordnung auf der einen Seite und umgekehrt eine bessere Verknüpfung der einzelnen Normordnungen untereinander. Ob diese Grundnormen identisch mit der Menschenwürde und den Menschenrechten sind, wie das Art. 1 Abs. 2 GG nahelegt und von vielen angenommen wird, ist eine mehr akademische Frage. Die Gefahr einer Fundamentalisierung des abstrakten Rechtssystemes ist nicht zu befürchten, da zu diesen Grundwerten und Grundnormen auf jeden Fall auch das Toleranz- und das Fairnessprinzip gehören.25 Die Lehre von den Rechtskreisen bedeutet auch, dass die Trennungslinie zwischen den traditionellen Rechtsfamilien und Rechtssystemen neu gezogen werden muss. Die Systeme, die durch Gesetzgebungsrecht gekennzeichnet waren, haben in der Zwischenzeit insofern eine Modifikation erfahren, als die Rechtsprechung, insbesondere die Verfassungsgerichtsbarkeit, eine so große Kasuistik entwickelt hat, dass man nicht mehr zwischen legislativ und judikativ geprägten Rechtssystemen unterscheiden kann. Schon früher hat man bemerkt, dass von der Gerechtigkeitsidee her gesehen das Common Law und das Civil Law keine grundlegende Unterschiede aufweisen, im Gegenteil inhaltlich verwandt sind. Daher bedeutet die Rechtskreislehre, dass man in Zukunft mehr Wert und Augenmerk auf die Mischsysteme legen muss, d. h. auf Rechtskreise, in welchen Gesetzgebungs- und Richterrecht gemeinsam an der Fortentwicklung einer zukunftsoffenen Rechtsordnung arbeiten. Diese Mischformen von Rechtskreisen können dann ihrerseits untergliedert werden in solche, bei welchen die Intensität der Mischung geringer ist, also entweder das Gesetzgebungsrecht oder das Richterrecht überwiegen. Neben diesen Rechtskreisen mit gemischter Rechtskultur stehen dann die Rechtskreise, die überwiegend religiösen Ursprungs sind oder bei welchen das Recht in einem intensiven Kontakt zur Religion steht und der große Bereich der gewohnheitsrechtlichen Rechtskreise. Pauschal lässt sich sagen, dass eine von der jeweiligen Rechtskultur her neu interpretierte Rechtskreislehre folgende Einteilungskategorien und Ansätze eines neuen Verständnisses erbringen kann: 24

Sami A. Aldeeb Abu-Sahlieh, Circoncision masculine et feminine, Arbeiten zur Rechtsvergleichung, Nr. 184, Baden-Baden 1998, S. 81. 25 H. Scholler, Toleranz und Fairness als objektiver Schutzgehalt der Religionsfreiheit, in: Die neuen Inquisitoren – Religionsfreiheit und Glaubensneid Teil I, Hrsg: Gerhard Besier / Erwin K. Scheuch; Zürich 1999.

F. Rechtskulturen in Konflikt

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a) Die Wiederanknüpfung an rechtliche Grundwertentscheidungen. Damit würde die Rechtskreislehre ein bisheriges Versäumnis nachholen und die unter dem Stichwort Dritt- oder Horizontalwirkung entfaltete Grundrechtsdogmatik integrieren. b) Die Aufhebung der zu formalistischen Trennung zwischen Common Law und Civil Law zugunsten eines neuen Konvergenzverständnisses. c) Analytische Ansätze bei der Neubewertung der Zugehörigkeit von Mischsystemen auf Grundlage der Relevanz der einwirkenden rechtskulturellen Grundlage. d) Neugliederung und Differenzierung der autochthonen Rechtssysteme nach ihrer rechtskulturellen Affinität, wie z. B. Scham- oder Schuldkultur, Pflichtenoder Rechtskultur usw. Gerade in der besseren Beurteilung und Differenzierung autochthoner Rechtsordnungen scheint der besondere Vorteil der Einbeziehung rechtskultureller Ansatzpunkte zu liegen. V. Zusammenfassung und Ausblick Die Bemühungen um eine Wiederbelebung der chinesischen, japanischen und mongolischen Kultur, sowie die intensive Beschäftigung mit der Kulturgeschichte Asiens deuten darauf hin, dass eine gewisse Rückbesinnung auf eigene rechtskulturelle Werte stattfindet. Allerdings hat Huntington die Meinung geäußert, dass der Buddismus keinen eigenen Kulturkreis hervorgebracht habe.26 Es mag dahingestellt bleiben, ob dies in dieser Allgemeinheit richtig ist. Es ist sicher unrichtig für Recht und Rechtskultur Chinas, Japans und der Mongolei. Neben dieser Strömung einer vorsichtigen Indigenisierung bestehen zwei weitere Tendenzen oder Strömungen, nämlich die Wiederanknüpfung oder Fortsetzung der Rechtskultur des kontinentalen Rechtskreises und die Einbrüche aus dem nordamerikanischen Recht. So stehen z. B. die Mongolei und Taiwan zwischen einer Wiederbelebung der asiatischen Schamkultur und der aus Europa und den USA stammenden und sich offenbar verstärkenden Schuldkultur. Für eine Rechtsreform müssen ganz allgemein auf Grund der Zugehörigkeit zu einem besonderen Rechtskreis folgende vier Grundsätze beachtet werden: 1. Die Grundrichtung eines Rechtssystems muss inhaltlich kohärent und systematisch beibehalten werden. 2. Dem traditionellen, herkömmlichen Recht muss als der eigenständigen Rechtskultur Beachtung geschenkt werden. 3. Die soziale Komponente jeder Reform muss immer ein Teil des Reformprozesses werden. 4. Nationale oder wirtschaftliche Interessen der Geberländer dürfen bei der Reform keine Rolle spielen. 26

Samuel P. Huntington, a.a.O., S. 61 f.

G. Die Verfassung zwischen lex aeterna und Zeitgesetz I. Die Natur der Verfassung unter der Perspektive von Zeit und Recht Lange Zeit wurde die Verfassung nur unter dem Aspekt der politischen Absprache als politisches Dokument oder als Ausdruck der Konvention, d. h. vertraglicher Vereinbarung (Großbritannien), gesehen. Bei solcher Betrachtung entfällt eine Problematisierung der Verfassung unter dem Gesichtspunkt von „Zeit und Recht“. In dem Maße aber, in dem die Verfassung entweder als fließendes Gewand1 oder als supreme law verstanden und von den Gerichten judiziert wurde, stellt sich auch die Frage nach dem Zeitcharakter oder nach der Beziehung von Zeit und Recht in der Verfassung. Ist die Verfassung eine konkretisierte lex aeterna, ein ewig gültiges Recht, oder ist sie der zeitlichen Diskontinuität so unterworfen, dass sie nur für einen bestimmten Zeitraum oder nur als Zeitgesetz von vornherein beschränkt gilt. Unter Zeitgesetz versteht man unter Anlehnung an Ernst Forsthoff2 eine staatliche Maßnahme, die ähnlich wie Einzelpersonen und Einzelfallgesetze den essentiellen Charakter der Gesetzlichkeit deshalb zu verlieren drohen, weil sie nicht mehr generell und abstrakt, d. h. in die Zeit hinein offen für unbestimmt viele Zeitabschnitte gelten. Die Generalität und Abstraktheit einer Regelung ist aber anerkanntermaßen bis heute noch Kennzeichen für das Vorliegen einer lex. Ehe man also Verfassung als Zeitgesetz versteht, würde man eher schon damit den Gesetzescharakter absprechen, und die Problematisierung „Verfassung unter dem Aspekt Zeit und Recht“ würde bedeuten, dass sie nur als staatliche Maßnahme mit Maßnahmecharakter angesprochen werden kann. Eine solche letzten Endes bloßstellende Abqualifizierung der Verfassung erhält auch dadurch weiteres Gewicht, dass, was meistens nicht erörtert wird, die Verfassung in ihrer Variante als Notstandsverfassung tatsächlich nur momentanen Zeitcharakter hat. Bezieht man die Notstandsverfassung und die verfassungsrechtlichen Notstandsregelungen mit hinein in die Betrachtung, dann wird man dieser Form des Verfassungsrechtes den zeitgesetzlichen Charakter nicht absprechen können. Anders scheint es dagegen zu sein, wenn man den Normalfall der Verfassung ins Auge fasst.

1 Zur fließenden Geltungsfortbildung der Verfassung: Rudolf Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, München 1928. 2 Forsthoff / Bachhof, Begriff und Wesen des sozialen Rechtsstaates, VVDStRL 12 (1954), 8, 37; siehe auch: Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 70 Rn. 11.

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Teil 2: Rechtskultur

II. Das „Ewige“ und das „Zeitliche“ in der Verfassung 1. In Anlehnung an einen Buchtitel von Max Scheler3 „Vom Ewigen im Menschen“ kann man auch von der Verfassung sagen, dass sie in bestimmter Hinsicht Ewigkeitscharakter hat, oder man könnte vom Ewigen in der Verfassung reden. Gemeint ist nun hier nicht die oft zitierte Ewigkeitsklausel im Art. 79 Abs. 3 GG, sondern jenseits davon und darüber hinaus wird an solche Bestimmungen gedacht, die zeitlose Geltung, also eine Art Geltung als lex aeterna, beanspruchen können. Dies gilt sicher nicht für die gesamte Verfassung, aber doch gerade für den Teil, der sich mit den Grundlagenbestimmungen, vor allem mit den Grund- und Menschenrechten, befasst. Hier finden wir wohl folgende Elemente der Regelung vor, die wir als zeitlos oder unveränderlich oder ewig bezeichnen können: a) Eine solche zeitlose Kontinuumsgeltung nehmen sicher die Teile von Präambeln ein, die als invocatio Dei oder als Erwähnung Gottes eine theonome Spitze des Verfassungsrechtes bilden. Ob sie teilnehmen an der Rechtsverbindlichkeit des Verfassungsrechtes, ist allerdings eine andere Frage. Dass die Präambeln nicht rein politisch sind und in ihrer Gesamtheit nicht als rein politisch behandelt werden können, ist aber inzwischen durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt. b) Aber auch die anthroponome Spitze des Grundgesetzes oder anderer Verfassungen hat Anteil an dem, was wir das Ewige in der Verfassung nennen können. Dazu gehört sicher das Bekenntnis zur Menschenwürde in Art. 1 Abs. 1 GG über die dignitas hominis oder dignitas humana. Allerdings wird das, was unter diesem Begriff zu verstehen ist, durch die Judikatur der obersten Gerichte und in Deutschland vor allem durch die des Bundesverfassungsgerichtes zu konkretisieren sein. c) Darüber hinaus aber ist auch der Charakter der Unveräußerlichkeit der Menschenrechte ein Beleg dafür, dass es sich hier um etwas handelt, was der Zeitgesetzlichkeit entzogen ist. Unveräußerlich heißt eben „Vom Menschen nicht abtretbar, nicht verzichtbar, nicht übertragbar, aber auch nicht vom Staate dem Menschen wegnehmbar“. Soweit solche Menschenrechte unverzichtbar und unveräußerlich sind, gehören sie zum Ewigen in der Verfassung, auch wenn sie nicht durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützt sind. Denn diese Bestimmung erstreckt sich ja nur auf das Grundsätzliche in Art. 1 und 20 GG, wenn es um den Katalog der Grund- und Menschenrechte geht. Soweit aber Grund- und Menschenrechte als unveräußerlich angesehen werden müssen, können sie von der Verfassung, von einem Gesetzgeber oder von der gesetzgebenden Gewalt des Volkes modifiziert, aufgehoben oder verändert werden. Allerdings gibt die Entwicklung der Grund- und Menschenrechte einen neuen Anhalt dafür, dass auch sie unter dem Aspekt der Zeit Modifikationen und Veränderungen unterliegen. Die Lehre von den Generationen der Grund- und Menschenrechte besagt zwar zunächst nur, dass nach den Freiheits- und Gleichheitsrechten die Teilhaberechte, die demokratischen Rechte und die Umweltschutzrechte und Rechte 3

Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen, Berlin 1933.

G. Die Verfassung zwischen lex aeterna und Zeitgesetz

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auf Entwicklung als weitere Generationen von Rechten hinzugetreten sind, bedeutet aber auch, dass diese Grundrechte in ihrer Stoß- und Wirkungskraft einem zeitlichen Wandel unterworfen sind. Das Gewicht hat sich von den Freiheits- und Gleichheitsrechten auf die modernen Rechte des Umweltschutzes und der Entwicklung verlagert, ja gewisse Freiheitsrechte wie die Rechte der Freiheit des Eigentums an Grund und Boden oder an Produktionsmitteln sind im sozialistischen Rechtskreis verneint und aufgehoben worden. Der Imber edax, den Horaz in seiner berühmten Ode über Ruhm und Vergänglichkeit erwähnt, macht wohl auch vor den Grund- und Menschenrechten nicht völlig halt. d) Ein weiteres Element der Zeitlosigkeit oder der Teilhabe an der lex aeterna ist der Hinweis auf die Vorstaatlichkeit der Grund- und Menschenrechte, insbesondere der Menschenrechte in Art. 1 Abs. 2 GG, der davon handelt, dass diese Rechte Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft seien. Als solche Grundlage oder als Fundament – fundamental rights – sind sie dem zeitlichen Verfall der Verfassung oder des allgemeinen Gesetzesrechts entzogen. Die Idee der Vorstaatlichkeit steht in engem Zusammenhang mit der Konzeption von naturrechtlichen Menschenrechten oder der Lehre von den Menschenrechten als grundlegendes ius naturalis. Das Grundgesetz ist nicht eine rein positivistische Verankerung von Gesetzen unter Ausschluss jeder naturrechtlichen Geltungsebene. Gerade in Art. 1 Abs. 2 GG, aber auch an anderer Stelle, wie Art. 6 GG zeigt, der vom natürlichen Elternrecht handelt, ist ein Bekenntnis zum Ewigen im Verfassungsrecht enthalten. Soweit Art. 1 und 20 betroffen sind, ergibt sich diese Anspruchslage schon aus Art. 79 Abs. 3 GG, der ja die Unverbrüchlichkeit oder Ewigkeit dieser Grundsätze festschreibt. Dabei ist zu beachten, dass er nicht die positive Formulierung Zeitlosigkeit besitzen soll, sondern ihre grundsätzliche Anerkennung. Da dieser Beitrag sich nicht speziell mit Art. 79 Abs. 3 GG beschäftigen will, sondern mit den Ewigkeitselementen außerhalb dieser Bestimmung, soll nicht näher auf die Ausdehnung dieser Regelung auf die Grundsätze des Art. 20 GG eingegangen werden. 2. Weitere Ewigkeitselemente im Verfassungsrecht; das zeitlos Gültige und das Essentielle, sollen nachstehend betrachtet werden. III. Das zeitlos Gültige und das Essentielle 1. Diese beiden Kategorien gehören nicht zu dem, was wir „das Ewige im Recht“ genannt haben. Und dennoch gehören sie zu einer besonderen Gruppe von Verfassungsnormen. Unter dem „zeitlos Gültigen“ sollen hier die Garantien grundrechtlicher Art verstanden werden, die der vorbehaltsschrankenziehenden Gewalt des Staates entzogen sind. Dazu gehört beispielsweise die Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit, die Garantie der Bekenntnis- und Weltanschauungsfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG, aber auch die Garantie der Befreiung der Frauen vom Militärdienst. Zunächst muss darauf hingewiesen werden, dass neben der schrankenfreien Gewährleistung des Art. 4 Abs. 1 GG auch andere Grundrechte schrankenlos garantiert sind,

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Teil 2: Rechtskultur

wie z. B. Art. 4 Abs. 2 (Kultusfreiheit) oder Art. 5 Abs. 3 (Wissenschafts- und Kunstfreiheit). Eine besondere Stellung kommt auch der Kommunikationsfreiheit des Art. 5 I GG zu, da sie nicht durch das Gesetz, sondern nur durch das allgemeine Gesetz beschrieben wird, das noch dazu einer Wechselwirkung in Bezug auf das Grundrecht unterworfen ist (Lüth-Fall). Auf die Frage, ob bei Konflikten Grundrechtsgewährleistungen – erwähnt sei der berühmte Fall Mephisto, bei dem es sich um einen Konflikt zwischen dem Grundrecht aus Art. 2 I und 5 III GG gehandelt hat – dem Staat eine besondere ungeschriebene Kompetenz zur Konfliktslösung eingeräumt ist, soll hier nicht eingegangen werden. Hier steht nur die Frage inmitten, welche Zeitdimension diesen von der Verfassung her ohne Vorbehaltsschranken eingeräumten Gewährleistungen zukommt. Natürlich können sie durch die verfassungsändernde Gewalt gemäß Art. 79 Abs. 1 und Abs. 2 GG verändert oder aufgehoben werden. Dennoch kommt solchen zeitlosen Gewährleistungen eine besondere Gültigkeit zu, was sich auch bei der Güterabwägung im Konfliktsfall beweist. Ihnen wird eine Vorrangsstellung (Carl Schmitt spricht vom systematischen Vorrang der Gewissensfreiheit) oder eine Ausstrahlungswirkung zugeschrieben, welche das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich anerkannt und weiterentwickelt hat. Das jetzt gegenüber dem Vorbehaltsgesetzgeber zeitlos Gültige kann also nur unter besonders erschwerten Voraussetzungen durch einen rechtlichen Akt der Diskontinuität unterbrochen werden. Dennoch gilt gegenüber diesem zeitlos Gültigen eine Schranke, die außerhalb der Schranke des Art. 79 Abs. 1 und 2 liegt, die Schranke der Kulturveränderung oder des Kulturverfalls und die Schranke eines sich entwickelnden, höherrangigen, überregionalen Rechtes. Ein Beispiel für die erste Gruppe von Diskontinuität bei zeitlos Gültigem ist der Hinweis auf die Gewissensfreiheit. Max Scheler schreibt von ihr, dass sie Teil eines Abendrotes einer untergehenden Sonne eines Glaubens sei. Ist Gewissensfreiheit – und das mag auch für die Bekenntnis- und Weltanschauungsfreiheit und die Kultusfreiheit gelten – Teil einer verschwindenden Metaphysik, dann verliert das eigentlich zeitlos Gültige sein Substrat und wird bedeutungslos oder zumindest in seiner Bedeutung sehr reduziert. Hier taucht wieder die Frage auf, ob die neuen Generationen von Grundrechten die älteren Generationen absterben lassen. Ein Beispiel für die weitere zweite Gruppe ist die Entscheidung des europäischen Gerichtshofes über die Unzulässigkeit des Ausschlusses der deutschen Frauen vom Wehrdienst. Diese Regelung, die Art. 12a GG aufgenommen hatte, ist durch die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes im Januar 2000, durch die Berufung auf den europaweit geltenden Gleichheitsgrundsatz gefallen. Die Kontinuität im zeitlos Gültigen ist nur durch das überregional Gültige unterbrochen worden. Es liegt ein Fall vor, in welchem eine Norm höherer Raumqualität eine an und für sich zeitlos gültige Norm niederer Raumqualität überwindet. Das wirklich zeitlos Gültige muss auch das raumlos oder überräumlich Gültige sein, um zeitlos gültig bleiben zu können. 2. Die Garantie der Unangreifbarkeit des Wesensgehaltes von Grundrechten, wie sie sich in Art. 9 Abs. 2 GG befindet, ist ein weiterer Fall der Garantie von zeitlos Gültigem. Alle Grundrechte sollen in ihrem Wesensgehalt zeitlos gültig sein und daher dem in der Zeit agierenden Gesetzgeber und der damit verbundenen Gesetzgebungs-

G. Die Verfassung zwischen lex aeterna und Zeitgesetz

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änderungsfunktion entzogen werden. Dieses zeitlos Gültige des Wesensgehaltes scheitert nur am legitimen, verfassungsändernden Gesetzgeber des Art. 79 Abs. 1 und 2 GG. Er könnte, wenn er damit nicht die Grundsätze von Art. 1 und 2 GG mittangieren würde, die Garantie der Unangreifbarkeit des Wesensgehaltes aufheben. Die Frage, ob die Bindung von Gesetzgeber, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung an die Grundrechte in Art. 1 Abs. 3 GG noch einen Sinn hat, wenn es keine Wesensgehaltssperre mehr gibt, ist eine sehr beachtliche Frage und ein Hinweis dafür, dass wohl die Wesensgehaltssperre mit teilnimmt an der Garantie des Art. 79 Abs. 3 GG. Immerhin hat das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung zur Wesensgehaltssperre schon die Funktion dieser Norm ausgehebelt, da es keine substanzielle Wesensgehaltssperre, also keine Garantie eines Kernbereiches, anerkennt, sondern in der Wesensgehaltssperre nur die Garantie der Verhältnismäßigkeit von Eingriff, also von Ziel und Mittel, anerkennt. Damit ist dann eine Wesensgehaltsgarantie nicht mehr eine Garantie eines zeitlos Gültigen, sondern nur eine Garantie der Verhältnismäßigkeit von zeitlich jederzeit zulässigen, legislativen oder administrativen Eingriffen. Mit dieser Rechtsprechung entfällt Art. 9 Abs. 2 GG als Garantie von etwas zeitlos Gültigem, sollte man dieser Judikatur tatsächlich folgen wollen. IV. Die Gültigkeit des flüchtigen Wortes Die grundrechtliche Regelung der geistigen Kommunikation eröffnet einen verfassungsrechtlich umhegten Bereich der freien öffentlichen Diskussion.4 Dieser bildet wegen seiner offenkundigen Flüchtigkeit einen starken Kontrast zum Bereich der zeitlos gültigen Normen. Aus dem fließenden Gewand der Verfassung könnte so ein flüchtiges Gewand des grenzenlosen öffentlichen Diskurses werden. Zu den begrenzenden verfassungsrechtlichen Regelungen gehört aber vor allem der Schutz der Privatheit der Person. Die Intensivierung der plebiszitären Elemente in den modernen demokratischen Herrschaftsformen verlieh mit der Verstärkung der Funktionen des öffentlichen Meinens und der öffentlichen Diskussion, die soziologisch als Außenverarbeitung der Ideenüberreizung erscheinen, die Frage nach der umschützten Privatsphäre neues Gewicht. Muss der demokratische Staat den Erscheinungsformen der diskutierenden Außenverarbeitung und der Massenkommunikation so viel Spielraum lassen, dass deshalb die Privatsphäre sich ständig zurücknehmen muss, oder hat nicht die Demokratie einen genuinen Bezug zur Privatsphäre? Da die Privatsphäre im Wesentlichen einen Teil des Grundrechtsbereiches darstellt, gehört die Fragestellung in das Spannungsverhältnis Demokratie und grundrechtsschützender Rechtsstaat. Wenn auch die Diskussion, im Gegensatz zur Meinung von Carl Schmitt, im nachbürgerlichen sozialen Rechtsstaat keineswegs an Bedeutung abnimmt, sondern Intensität und Quantität

4 Nachfolgende Passage lehnt sich an meine Ausführungen in „Person und Öffentlichkeit“, München 1967 an.

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Teil 2: Rechtskultur

mehrt, so liegt doch eine Funktionsänderung der Diskussion vor, die bereits Tarde5 als Übergang von der „Conversation Lutte“ zur „Conversation change“ bezeichnet und damit den kommenden Typus des Informationssammlers bei Riesman antizipiert hat.6 An dieser Stelle der streitbaren Diskussion soll damit nach und nach die gegenseitige Information – „Information Mutuelle“ – treten, in Analogie zur Abwendung von der Streitbereitschaft und zur Hinwendung zum „Accord de Pense“. Auch erkennt Tarde bereits, dass die Bedeutung der Konversation, die sowohl die Diskussion als „Conversation Lutte“ als auch den Informationsaustausch als „Conversation change“ umfasst, weniger in den parlamentarischen Auseinandersetzungen als in den privaten Bereichen liegt, die sie ursprünglich beherbergten und für welche sie nunmehr zur Öffentlichkeit erstarkt. Dieser Funktionswandel hat die Diskussion rückwirkend zur Bedrohung und Gefahr der Privatheit werden lassen. Die Tatsache, dass Diskussion und Konversation zusammen mit der modernen Öffentlichkeit ihren Ursprung im Privatbereich haben, wie dies Habermas7 nachgewiesen hat, zeigt sich in der Unsicherheit und Mannigfaltigkeit der für das Abgrenzungsproblem Öffentlichkeit – Privatsphäre vorgeschlagenen Termini, die sich bald an die Person, bald mehr an den Privatbereich selbst anlehnen. Die begriffliche Entwicklung, die im nordamerikanischen Rechtsdenken in der Rechtsfigur des „Right to Privacy“ und dem „Right to be left alone“ ihren Ausgangspunkt genommen hatte, die im französischen Rechtsdenken im Begriff der „Sphre Personelle“ und „Domaine Personelle“ und im Italienischen als „Privatezza“ und „Riservatezza“ ihren Niederschlag gefunden hat, zeigt im deutschen Rechtsdenken eine Vielfalt der Formulierungen. Abgesehen von den Begriffen der Privatsphäre und des Privatbereiches wurde versucht, den schutzbedürftigen Bereich als den „Für-sich-Bereich“, „Raum des Stilleseins“, „lebensnotwendigen Eigenraum“ oder „Eigenleben“ schlechthin, „Bereich des Unbehelligtseins“, „Raum der Stille und Ungestörtheit“, oder schließlich als „Eigensphäre der Persönlichkeit“ als „Ganz-für-sich-sein“ als „Einheit und Abgeschlossenheit“ auszugrenzen. Das Problem wurde schon von Jefferson prägnant formuliert, wenn er die Meinung ausdrückte, dass er eine freie Presse ohne Regierung einer Regierung ohne freie Presse vorziehen würde. Allerdings hat er uns nicht verraten, wie in einem solchen Falle der Auflösung in Diskussionen das zeitlose Gut der Privatheit durch Selbstregulierung geschützt werden könnte. V. Die Verfassung als Übergangsregelung Man kann trotz all dieser Argumente für Ewiges oder zeitlos Gültiges im Verfassungsrecht nicht die Augen davor schließen, dass heute ganze Verfassungen nur noch als Übergangsrecht anzusehen sind, ja sich selbst als „transitory chartas“ bezeichnen. 5 6 7

Gabriel Tarde, LOpinion et la Foule, Paris, 1901, S. 88. David Riesman, Die einsame Masse, Hamburg, 1961, S. 193. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, Neuwied, 1962.

G. Die Verfassung zwischen lex aeterna und Zeitgesetz

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Als Beispiel hierfür möchte ich die „transitory charta“ Äthiopiens aus dem Jahre 1991 erwähnen, die bis 1994 gegolten hat und dann von einer endgültigen Verfassung abgelöst wurde. Es ließen sich noch viele andere Beispiele für solche Übergangsverfassungen geben, die von Hause aus nur als Zeitgesetze konzipiert sind. Das Grundrecht selbst hat sich in seinem Art. 146 a.F. GG selbst ursprünglich nur als Übergangsverfassung verstanden und deshalb den Namen Grundgesetz und nicht Verfassung angenommen. Nur die Kontinuität der Nachkriegszeit hat hier das Sprichwort wahr werden lassen „Le provisoire est le dfinitive!“. Aber vielleicht sind es gerade die Bezugnahmen auf das Ewige im Recht oder das zeitlos Gültige in diesem Grundgesetz, die der deutschen Nachkriegsverfassung eine so stabile Lebenskraft über ihren Charakter als Provisorium hinaus verliehen haben.

H. Rechtsvergleichung als Vergleich von Rechtskulturen Ein Beitrag zur Rechtsvergleichung bei Gustav Radbruch

I. Der bekannte deutsche Strafrechtslehrer und Rechtsphilosoph Gustav Radbruch starb 1949 in Heidelberg, wo der Verfemte nach der Befreiung das Rektorat übernahm. Sein bekanntester Schüler Arthur Kaufmann starb 50 Jahre später im Jahre 2001 in München, wo er ebenfalls Strafrecht und Rechtsphilosophie lehrte. Er hat die bei C.F. Müller in Heidelberg erschienene und zwanzig Bände umfassende Gesamtausgabe der Werke Radbruchs fast bis zum letzten Bande selbst besorgen können. Die rechtsvergleichenden Schriften Radbruchs wurden im Band 15 der Gesamtausgabe zusammengefasst.1 Unter diesen Schriften ragt vor allem die relativ kleine Publikation „Der Geist des Englischen Rechts“ 2 hervor. Im Nachfolgenden soll der rechtsvergleichende Ansatz bei Radbruch und Kaufmann3 als Teil einer vergleichenden Rechtskulturlehre4 verstanden werden. Jede Rechtsvergleichung muss sich mit der Frage der Analogie auseinandersetzen und jeder erfolgreichen rechtsvergleichenden Arbeit liegt eine brauchbare Analogielehre zugrunde. Arthur Kaufmanns Analogie lässt sich mit einem Zitat wie folgt kennzeichnen: „[…] so erweist sich die Ähnlichkeit der Dinge nicht als eine ihnen bloß vom Subjekt beigelegte, vielmehr tragen die Dinge die Merkmale der Ähnlichkeit allererst an sich selbst. 1 Gustav Radbruch, Rechtsvergleichende Schriften, hrsg. von Heinrich Scholler, Bd. 15 der Gustav Radbruch Gesamtausgabe, hrsg. von Arthur Kaufmann, Heidelberg 1999. Siehe ferner Rechtsvergleichung als Vergleich von Rechtskulturen, Ein Beitrag zu Gustav Radbruchs Rechtsvergleichung, in: Strafgerechtigkeit, Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, hrsg. von Haft / Hassemer / Neumann / Schild / Schroth, Heidelberg 1993, S. 743 ff., idem, Die Rechtsvergleichung bei Gustav Radbruch und seine Lehre vom überpositiven Recht, Berlin 2002 und idem, Epilogo, in: El Espritu del Derecho Ingles, Madrid 2001. 2 Ebd. S. 25; eine spanische Übersetzung unter dem Titel „Gustav Radbruch, El Espiritu del Derecho Ingls“, Madrid 2001 wurde von Ajuso Torres und Scholler herausgegeben. 3 In Würdigung der Leistung Kaufmanns wurden im April 2002 in Taipeh, Taiwan, und im Mai 2003 zwei Symposien abgehalten. 4 Siehe dazu meinen früheren Beitrag: „Rechtsvergleichung als Vergleich von Rechtskulturen, Ein Beitrag zu Gustav Radbruchs Rechtsvergleichung“, Die hier veröffentlichte Abhandlung ist ein geringfügig erweiterter Text meines eben genannten Beitrags in „Strafgerechtigkeit, Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag“, hrsg. von Haft / Hassemer / Neumann / Schild / Schroth, Heidelberg 1993, S. 743 ff.

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Teil 2: Rechtskultur

Dem entspricht unsere Erfahrung, dass kein Ding völlig beziehungslos isoliert für sich existiert. Das Aufeinanderbezogensein der Dinge ist eine Seinstatsache, nicht ein bloßer Denkvorgang. Freilich, die Ähnlichkeit als solche existiert nicht, sie hat keine handgreifliche Realität, wie es auch keinen Typus per se und keine ,Natur der Sache als solche gibt. Die ,Natur der Sache kommt gewissermaßen in der Natur nicht vor.“5

In der Entfaltung seiner Analogielehre unterscheidet er drei Stufen, die abstraktallgemeine, die konkretisiert-allgemeine und die dritte Ebene als die konkret materiell-positive Geschichtlichkeit des Rechts. Er bezeichnet dann die drei Ebenen als Rechtsidee, Rechtsnorm und Rechtsentscheidung.6 Romeo hat nun ausgeführt, dass für Arthur Kaufmanns Ausgangspunkt Heidegger von Bedeutung war, der Analogie als „Zusammengehörigkeit von Identität und Differenz“ bezeichnet hat und dass ihn weiterhin Lakebrink beeinflusste, da dieser die Analogie als „Mitte zwischen Identität und Widerspruch“ gekennzeichnet hat.7 Man kann diese Zusammenhänge sehr gut mit einem weiteren Zitat Arthur Kaufmanns belegen: „,Analogie des Seins bedeutet danach, dass die einzelnen Seienden in ihrer Seinsweise zugleich übereinkommen und sich unterscheiden, indem sie zwar alle an dem einen Sein (ontologisch verstanden – womit nicht gesagt ist, dieses ,Sein sei Gott) partizipieren, aber in unterschiedlicher Weise. Oder so ausgedrückt: das Sein ist ein einziges, aber es kommt den vielen Seienden nicht in der gleichen Weise zu, d. h. es ist in den irdischen Dingen nur analog verwirklicht. … Diesem ontologischen Befund entspricht der logische. Wir erkennen das Wesen eines Seienden durch Vergleich mit anderem Seienden, das (mindestens unter dem Gesichtspunkt des Vergleichs) bekannter ist als das zu erkennende Seiende. Dabei ist die Seinsanalogie vorausgesetzt: die Übereinkunft und Verschiedenheit, die Einheit und die Mannigfaltigkeit des Seienden.“8

Romeo bemerkt auch, dass sich Arthur Kaufmann auf den Spuren Gustav Radbruchs befindet, wenn er in jedem juristischen Begriff die Beschreibung der Wirklichkeit durch eine teleologische Anschauung derselben ersetzt sieht. „Die reine Logik kann nur mit der Identität arbeiten. Da aber in unserer Welt nichts gleich ist, müssen die Beziehungsglieder durch eine Abstraktion erst gleichgemacht werden, bevor die Schlüsse der Logik einsetzen, d. h. die Logik setzt einen Prozess der Analogie voraus“.9 Die Verbindung zwischen dem Analogieproblem und der „Natur der Sache“ einerseits, mit der Rechtsvergleichung verstanden als Vergleichung von Rechtskulturen andererseits, stellt Typuslehre und das Universalienproblem im Besonderen dar. 5 Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, Heidelberg 1982, S. 56. 6 Arthur Kaufmann, ebd., S. 12; siehe hierzu auch Francesco Romeo, Analogie – zu einem relationalen Wahrheitsbegriff im Recht, Edelsbach 1991, S. 24. 7 Arthur Kaufmann, ebd., S. 19; Martin Heidegger, Identität und Differenz, z. Aufl., 1957, S. 10; Lakebrink, Hegels dialektische Ontologie und die thomistische Analektik, 1955, S. 12. 8 Arthur Kaufmann, ebd., S. 21 f. 9 Arthur Kaufmann, ebd., S. 33.

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Die Rechtsvergleichung bedarf der Sinnfrage, indem sie nach dem Sinn der Lebensverhältnisse fragt, die Grundlage der Rechtskultur waren oder sind.10 Der Typus bildet nach Arthur Kaufmann die „Mittelhöhe“ zwischen Allgemeinem und Besonderem, denn ohne einen solchen Mittelbegriff ist Rechtsvergleichung unfruchtbar. Weiter ist für die Rechtsvergleichung von Bedeutung, dass sie das „Universalienproblem“ nicht verdrängt! Die Rechtsvergleichung steht hinsichtlich des „Universalienproblems“ zwischen Nominalismus und Realismus, indem sie die Typizität bejaht.11 II. Im Nachfolgenden soll nun die dritte Schaffensperiode der Rechtsvergleichung bei Gustav Radbruch dargestellt werden, um dieser inneren Verbindung zwischen Arthur Kaufmann und Gustav Radbruch nachzugehen. Der dritten Schaffensperiode, in der sich Radbruch vor allem dem englischen und dem öffentlichen Recht zuwandte, gingen zwei andere Schaffensperioden voraus, in welchen er sich, beginnend kurz nach der Jahrhundertwende, zunächst nur mit der vergleichenden Strafrechtswissenschaft beschäftigt. Die zweite Schaffensperiode seiner Rechtsvergleichung beginnt nach dem Ersten Weltkrieg und ist sehr allgemeinen Fragen gewidmet, wie z. B. dem Streit um den Bildungs- und Erziehungswert des römischen Rechts, den er mit seinem Kieler Kollegen, Gerhard von Beseler, geführt hat. Die dritte Schaffensperiode beginnt im Wesentlichen mit seiner Entlassung im Jahre 1933 und führt bis zu seinem Lebensende. Die Biographie Paul Anselm Feuerbachs beginnt im Jahre 1933 und zeigt rechtsgeschichtliche und rechtsvergleichende Züge nebeneinander.12 In dieser Biographie findet sich auch die aus dem Nachlass veröffentlichte Darstellung der geplanten Universalrechtsgeschichte auf rechtsvergleichender Grundlage, mit der Feuerbach – hätte er sie vollendet – einen Platz zwischen Montesquieu und Maines erhalten hätte.13 Jescheck bezeichnet diesen Fund „aus der großartigen Trümmerstätte des unvollendeten Werks“ als eine epochemachende Leistung der ethnologischen Rechtsvergleichung, die Gustav Radbruch der Vergangenheit entrissen habe. Ein weiterer Schwerpunkt während der Zeit der Verfemung Gustav Radbruchs lag aber nicht im europäisch-kontinentalen Recht, sondern im englischen Recht und der englischen

10 Arthur Kaufmann, ebd., S. 45; unter Hinweis auf Gustav Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, in: Festschrift zu Ehren von R. Laun, Hamburg 1948, S. 31 f. 11 S. Baratta, Juristische Analogie und Natur der Sache, in: Festschrift für Erik Wolf, 1972, S. 137 ff. 12 Gustav Radbruch, Paul Anselm Feuerbach, ein Juristenleben, Wien 1934. 13 Gustav Radbruch, Anselm Feuerbach, precurseur du droit compar, Recueil dtudes en Phonneur dEdouard Lambert, 1938, S. 284; ders., Anselm Feuerbach und die vergleichende Rechtswissenschaft, in: SchwZStR. 54, 1940, S. 22; ders., Elegantiae Juris Criminalis, 2. Aufl., Basel 1950, S. 193.

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Rechtskultur. Der einjährige Aufenthalt in Oxford14 hatte nach seinem eigenen Bekenntnis seine „Lebensanschauung nicht ohne Einfluss“ gelassen.15 Es erschienen im Jahr 1936 drei große Abhandlungen über englisches Recht in einer vergleichenden rechtsphilosophischen Methode. Die erste dieser drei rechtsvergleichenden und rechtsphilosophischen Arbeiten beschäftigt sich mit der Darstellung einer Entwicklungsgeschichte der anglo-amerikanischen Rechtstheorie von Sir William Blackstone über Bentham bis zu Austin und zur soziologischen Schule Amerikas (Holmes, Brandeis, Pound und Cardozo). Hier wägt Gustav Radbruch die Vor- und Nachteile der pragmatischen anglo-amerikanischen Rechtswissenschaft ab, die aller theoretisch-philosophischen Theorie abhold auf die Rechtspraxis abstellt.16 Auch der zweite, französisch geschriebene Aufsatz befasst sich mit angelsächsischem Recht unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit.17 Hier werden die drei großen Aufgaben der Rechtswissenschaft: Gemeinwohl, Gerechtigkeitsgewährung und Rechtssicherheit behandelt und in ihrem antinomischen Charakter dargestellt.18 Gustav Radbruch stellt hier die englische Tradition der Rechtssicherheit den damaligen Zuständen Deutschlands gegenüber. In diesem Sinne ist das folgende Zitat zu verstehen: „Ainsi dans lAllemagne actuelle une conception particulire du bien commun confre au droit son but unique: est droit ce qui sert la nation“.19

In seiner dritten hier zu erwähnenden Abhandlung zeigt Gustav Radbruch Unterschiede zwischen englischen und kontinentalen Strafrechtstheorien auf, die im Vorrang des prozessualen vor dem materiellen Strafrecht bestehen.20 An der Fehlinterpretation oder der falschen Problemstellung im Mignonette-Fall21 zeigt er die Bedeutung

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Gustav Radbruch, Der innere Weg, Aufriß meines Lebens, 1. Aufl., Stuttgart 1951, 2. Aufl., Göttingen 1961, S. 137, dort sagt er: „Ein Jahr verbrachte ich in Oxford als Gast des University College zu und gewann dort nicht nur ganz neue Einsichten in angelsächsisches Rechtsdenken, sondern auch ein unerwartetes Bild des englischen Volkscharakters, der auf meine Lebensanschauung nicht ohne Einfluß geblieben ist“. 15 Gustav Radbruch, ebd., S. 186. 16 Gustav Radbruch, Anglo-American Jurisprudence through Continental Eyes, in: Law Quarterly Review, Vol. 52, 1936. 17 Gustav Radbruch, La scurit en droit daprs la thorie anglaise in: Archives de philosophie du droit et de sociologie juridique, 1936, Hefte 3 / 4, S. 86. 18 Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, Stuttgart 1950, S. 168 ff.; ders., Der Zweck des Rechts, in: Der Mensch im Recht, Göttingen 1961, S. 88 ff. 19 Gustav Radbruch, Anglo-American Jurisprudence through Continental Eyes, a.a.O., S. 88; siehe auch Gustav Radbruch, La scurit en droit daprs la thorie anglaise, a.a.O., S. 88. 20 Gustav Radbruch, Jurisprudence in the Criminal Law, in: Journal of Comparative Legislation and International Law, Vol. 18, November 1936, S. 212 – 225. 21 Der Mignonette-Fall (Regina versus Dudley and Stephens, 1884), Law Report 14 Queens Bench Division 273, entnommen aus: Courtney Stanhope Kenny, „A Selection of Cases illustrative of English Criminal Law“, 7. Aufl., Cambridge 1928, S. 62 ff.

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der allgemeinen Lehren des Strafrechts.22 Hier verlangt er im Sinne des deutschen und kontinentalen Strafrechts „more jurisprudence (Rechtstheorie) in the Criminal Law“. Auch würdigt er das lange Jahre in Indien und Pakistan geltende englische Strafgesetzbuch von 1837.23 Das Thema der Abtreibung wird von ihm erneut aufgegriffen und die Entstehungsgeschichte erklärt.24 Die Bedeutung, die das englische Recht in Gustav Radbruchs Denken und Schaffen gewonnen hat, kann man an der Tatsache ermessen, dass sein kleines Buch „Spruchbuch für Anselm“, das Gustav Radbruch Ende 1942 seinem gefallenen einzigen Sohn ins Feld gesandt hatte, viele englische Rechtssprichwörter enthält. Dort sind Zitate von Sir William Blackstone, Johnson25, Macaulay und dem Lord Chief Justice Lord Hewart aufgeführt. Der bedeutende englische Richter und Rechtsgelehrte Coke ist mit vier Zitaten vertreten.26 Zum Strafvollzug hat Gustav Radbruch in dieser Zeit ebenfalls Stellung genommen.27 In dieser Abhandlung stellt er die in Amsterdam Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts entstandenen Gründungen den englischen Bridewells gegenüber und sieht in ihnen den Geist einer gesamteuropäischen Entwicklung, die einerseits durch die Entstehung einer proletarischen Massenkriminalität und andererseits durch die Idee der Staatsordnung als Erziehungsanstalt gekennzeichnet war. Diese Idee trat an die Stelle des eliminierenden Strafrechts. Die Entwicklung dieses Erziehungsgedankens hat Gustav Radbruch noch einmal in einem Beitrag in italienischer Sprache beschrieben.28 Hier nimmt er zu der deutschen Entwicklung ironisch Stellung, die von den Reichsgrundsätzen über den Vollzug der Freiheitsstrafe 1923 – an welchen Gustav Radbruch selbst mitgewirkt hatte – zur Aufhebung rechtsstaatlichen Strafvollzuges führte: „La educazione penale nel nuovo stato non riposa pi sul principio fondamentale dellautonomia, ma su quello della eteronornia e il suo fine non  pi il riadattamento sociale ma Fordinamento nella comunit nazionale“.29 22 Den Zusammenhang zwischen Rechtstheorie und Strafrecht zeigt er auch im Hinblick auf das englische Recht, in: Gustav Radbruch, Jurisprudence in the Criminal Law, a.a.O. 23 Gustav Radbruch, Das indische Strafgesetzbuch, in: SChWZStrR. 51 (1937), S. 142 – 152. 24 Gustav Radbruch, Abtreibung – §§ 218 – 220, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Besonderer Teil, Bd. 5, 1905, S. 159 – 183. 25 Gustav Radbruch, Dr. Johnson und sein Biograph, in: Gestalten und Gedanken, 1. Aufl. 1945, z. Aufl. 1954, S. 49. 26 Gustav Radbruch, Kleines Rechtsbrevier, Spruchbuch für Anselm, hrsg. mit Erg. v. Gustav Radbruch sowie eigenen Hinzufügungen von Fritz von Hippel, in: Kleine VandenhoeckReihe 4, Göttingen 1954; 2. unveränd. Aufl., Göttingen 1955; 3. unveränd. Aufl. Göttingen 1962. 27 Gustav Radbruch, Die ersten Zuchthäuser und ihr geistesgeschichtlicher Hintergrund, in: Elegantiae Juris Criminalis, a.a.O., S. 116, sowie in: Zeitschrift für Strafvollzug, Jg. 3, Nr. 3, 1952, S. 154 – 162. 28 Gustav Radbruch 11 pers sero educatso nell esexuzsone penale in Germania ieri ed oggi, in: Rivista di diritto penitenziario, 1935, S. 373. 29 Gustav Radbruch, ebd., S. 387.

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In der Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch hat Hans-Heinrich Jescheck bemerkt, dass die Strafrechtsvergleichung, aber auch die Rechtsvergleichung allgemein bei Gustav Radbruchs wissenschaftlichem Werk nicht an erster Stelle stehen. Weder habe der Nachruf von Eberhard Schmidt30, noch habe Erik Wolf in seiner Biographie „Große Rechtsdenker“31, noch habe Spendel32 die Rechtsvergleichung erwähnt. Doch weist Jescheck darauf hin, dass Gustav Radbruch die Rechtsvergleichung geschätzt habe33. Jescheck fügt an: „… dass gerade in seinen nicht zahlreichen rechtsvergleichenden Schriften wesentliche Züge seiner geistigen Persönlichkeit höchst eindrucksvoll hervortreten“34.

Über Gustav Radbruch als „Rechtsvergleicher“ schreibt Jescheck an gleicher Stelle: „Der Dogmatiker Radbruch verstand es, durch seine systematische Kraft die Stofffülle, unter der jede Rechtsvergleichung zu leiden hat, mit leichter Hand zu bewältigen und Überblicke zu entwerfen, denen man die Mühsal der Vorarbeit nicht anmerkt. Die rechtsphilosophische Schulung befähigte ihn, bei der Erforschung fremder Rechte das Allgemeine im Besonderen zu entdecken und zugleich den Fehler zu vermeiden, das vielen Auslandsrechten Gemeinsame deswegen schon für das richtige Recht zu halten. Gustav Radbruch als Kriminalpolitiker verwendete die Rechtsvergleichung bewusst zur Kritik an bestehenden Zuständen und hat es damit verstanden, die Beschäftigung mit fremden Rechten als praktische Disziplin nutzbar zu machen.“35

Die Auswirkungen der rechtsvergleichenden Tätigkeit Radbruchs auf Japan hat Koichi Miyazawa in der Gedächtnisschrift für Radbruch beschrieben. Hinsichtlich der Rechtsphilosophie beginnt Miyazawa seine Würdigung wie folgt: „Auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie kann es in Japan als Phänomen angesehen werden, dass sich so viele Menschen mit dem Gedankengut eines Rechtsphilosophen befasst haben wie mit dem Gustav Radbruchs.“36

Ausführlich wird hier auch der Einfluss Gustav Radbruchs auf dem Gebiet des Strafrechts auf Toshita Tokiwa und seine Schule aufgezeigt. Der Autor stellt dann die Radbruchforschung während des Zweiten Weltkrieges und die Entstehung der ja-

30 Eberhard Schmidt, Gustav Radbruch und die Rechtsgeschichte, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, a.a.O. 31 Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. 1963, S. 713. 32 Günter Spendel, Gustav Radbruch, Lebensbild eines Juristen, veröffentlicht durch die Gesellschaft Hamburger Juristen, Heft 8, 1967; ders., Jurist in einer Zeitenwende, Gustav Radbruch zum 100. Geburtstag, Heidelberg 1979. 33 Erik Wolf, Einleitung zu Gustav Radbruch, Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1950, S. 28. 34 Hans-Heinrich Jescheck, Gustav Radbruchs Beitrag zur Strafrechtsvergleichung, Göttingers 1968, S. 356 f. 35 Hans-Heinrich Jescheck, ebd., S. 356 f. 36 Koichi Miyazawa, Gustav Radbruch und die japanische Rechtswissenschaft, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, hrsg. von Arthur Kaufmann, Göttingen 1958, S. 366 ff.

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panischen Gesammelten Schriften Gustav Radbruchs dar.37 Dass er selbst aber auch die Bedeutung der Rechtsvergleichung für andere ostasiatische Länder erkannt hat, wird von Chong-Ko Choi betont: „Gustav Radbruch […], eine der führenden Persönlichkeiten der Rechtsphilosophie des 20. Jahrhunderts, schlägt in seinem Werk Vorschule der Rechtsphilosophie das für die Forschung in der Rechtssoziologie bedeutende Thema der Rezeption des römischen Rechts in Korea vor“.38

Chong-Ko Choi nimmt an, dass Gustav Radbruch, der selbst nie in Korea war, über Ernst Fränkel (1898 – 1973), einen Schüler von Hugo Sinzheimer (1875 – 1945) und Freund Gustav Radbruchs, über die koreanischen Verhältnisse gut informiert war.39 Gustav Radbruchs rechtsvergleichende Arbeiten beginnen kurz nach der Jahrhundertwende mit seiner Teilnahme an dem Monumentalwerk: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts.40 In seinem Artikel aus dem Jahr 1905/06: Über die Methode der Rechtsvergleichung41 bringt Gustav Radbruch zum Ausdruck, dass „das kriminalistisch interessierte Deutschland“ das Erscheinen dieses Werkes mit „Spannung“ erwarte. Gustav Radbruchs Beiträge zur Rechtsvergleichung beginnen mit diesem Artikel und den Beiträgen in dem erwähnten rechtsvergleichenden Werk: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, das als Ausgangspunkt für die anstehende Strafrechtsreform gedacht war. In dem erwähnten Artikel fasst Gustav Radbruch seine Position zur Rechtsvergleichung dahingehend zusammen, dass es sich um eine selbständige rechtswissenschaftliche Disziplin handle, die als Aufgabe nicht ein „Nebeneinander“ der Resultate, sondern ein „Inbeziehungsetzen“ derselben habe. Jene Resultate seien unter den Kriterien der Gleichheit und Ungleichheit zu prüfen und zu werten. Das tertium comparationis aller (Rechts-)Vergleichung sieht er nach dem Zurücktreten des Naturrechts in dem „Rechtsideal“42. Das Naturrecht43 hat sich nach Gustav Radbruch in 37 Koichi Miyazawa, ebd., S. 372, Gustav Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, Heidelberg 1946, (2. Aufl., 1947, 3. Aufl., Göttingen 1956, in: Kleine Vandenhoeck-Reihe, 4. Aufl. ebd., Göttingen 1958). 38 Gustav Radbrach, Vorschule der Rechtsphilosophie, 3. Aufl., Göttingen 1965, S. 51. 39 Chong-Ko Choi, Über die Rezeption westlichen Rechts in Korea, in: Manfred Rehbinder / Ju-Chan Sonn (Hrsg.), Zur Rezeption des deutschen Rechts in Korea, Baden-Baden 1990, S. 29 ff. 40 Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, 16 Bd., Leipzig 1904 – 1909. 41 Gustav Radbruch, Über die Methode.der Rechtsvergleichung, in: MSchrKrim, 2. Jg., 1905 / 06, S. 422 – 425, auch abgedr. in: Rechtsvergleichung, hrsg. von Konrad Zweigert / Hans-Jürgen Puttfarken, Dannstadt 1978, S. 53 – 56. 42 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 32 f.; siehe auch Gustav Radbruchs Rezension von Leonhard Nelson, System der philosophischen Rechtslehre und Politik, Leipzig 1924, in: Juristische Wochenschrift, 1925, S. 1252 f. In seiner Einführung in die Rechtswissenschaft, 7. / 8. Aufl. (1929), sagt Gustav Radbruch: „Der Gedanke des Naturrechts war also ein Irrtum – aber er war der denkbar fruchtbarste Irrtum. Es ist eine alte ,List der Weltgeschichte, das Recht, das sie zur Geltung bringen will, für bereits in Geltung und das

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zwei Teile zerlegt und getrennt weiterentwickelt, und zwar in den „Rechtstypus“44 und das „Rechtsideal“. Durch die Anknüpfung der Rechtsvergleichung an das „Rechtsideal“ stellt er gleichzeitig die Beziehung zur Rechtsphilosophie her, die für ihn nicht nur Methodenlehre ist. Gustav Radbruchs Schrift über die Methoden der Rechtsvergleichung steht am Anfang seiner Arbeiten zu diesem Thema, die mit seinem Buch über den Geist des englischen Rechtes nach dem Zweiten Weltkrieg abgeschlossen wird. Die Hinwendung der Rechtsvergleichung zum Common Law45, zur Einbeziehung des anglo-amerikanischen Rechtes46 ist charakteristisch für die Geschichte der Rechtsvergleichung und tritt besonders nach dem Ersten Weltkrieg überall in Erscheinung. Zunächst bedarf es aber noch der Klärung der Stellung Gustav Radbruchs und seiner rechtsvergleichenden Schriften in dem Entwicklungsprozess der Wissenschaft der Rechtsvergleichung selbst.

Recht, das sie außer Kraft setzen möchte, für schon außer Kraft anzugeben“, S. 32 f. Die spätere Radbruchformel stellt in gewissem Sinne eine Korrektur dieses Standpunktes dar; siehe auch Fritz Bauer, Das „gesetzliche Unrecht“ des Nationalsozialismus und die deutsche Strafrechtspflege, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, a.a.O., S. 302 ff. 43 Gustav Radbruch hat in seiner Vorschule, a.a.O., S. 86, ausgeführt, daß man deswegen zutreffend Hugo Grotius als Vater des Naturrechts bezeichne, weil er die Anwendbarkeit des Naturrechts postuliert und verwirklicht habe. Ansonsten betont Gustav Radbruch immer die Antinomiebezogenheit allen Rechtes, ein Phänomen, das gerade bei der Anwendung von Naturrecht deutlich sichtbar wird. 44 Gustav Radbruch überwindet die Krise des Naturrechts durch zwei Gedankenrichtungen: eine in Richtung auf das Rechtsideal und eine andere in Richtung auf die Entwicklung des Rechtstypus. 45 Gustav Radbruch, Die Erneuerung des Rechts, in: Die Wandlung, 2 / 1947, S. 11 – 13; Gustav Radbruch, Rezension zu Erich Schwinge, Irrationalismus und Ganzheitsbetrachtungen in der deutschen Rechtswissenschaft, Bonn 1938, in: SchwZStR., 53 / 1939, S. 109 f. In der 1. Aufl. der Einführung in die Rechtswissenschaft bringt Gustav Radbruch im Kapitel „Gerichtsverfassungsrecht nach der Behandlung der richterlichen Rechtsschöpfung“, S. 66, einen Abschnitt, den er als „Präjudizienkult“ bezeichnet, S. 69, wobei er die Bindung des Richterstandes in England betont. Wesentlich ausführlicher geht Gustav Radbruch in der 7. / 8. Aufl. (1929), auf das Common Law ein, S. 133 ff. Er zieht dann auch einen positiven Vergleich zwischen dem ius gentium und der Equity-Rechtsprechung im englischen Gerichts- und Rechtswesen. 46 Gustav Radbruch, Erneuerung des Rechts, Rede des Dekans anlässlich der Wiedereröffnung der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, in: Rhein-Neckar-Zeitung, Heidelberg vom 12. Januar 1946. Schon vor dem 2. Weltkrieg hatte sich Gustav Radbruch in drei Spezialuntersuchungen mit dem englisch-amerikanischen Recht befasst, und zwar in AngloAmerican Jurisprudence through Continental Eyes, a.a.O., ders., Jurisprudence in the Criminal Law, a.a.O., S. 212 – 225; ders., La scurit en droit daprs la thorie anglaise, a.a.O., ders., Justice and Equity in international relations, in: Justice and Equity in the international sphere (The new Commonwealth Institute Monograph), London 1936, S. 1–13. Zu erwähnen ist auch die anonyme Passage in Rechtsphilosophie in England und USA, in: Giorgio Del Vecchio, Lehrbuch der Rechtsphilosophie, deutsche Übersetzung der 3. italienischen Aufl., 1937, S. 480 – 487.

H. Rechtsvergleichung als Vergleich von Rechtskulturen

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Die zur Methode der Rechtsvergleichung beginnenden Arbeiten wurden stark durch seinen Lehrer Franz von Liszt beeinflusst. Letzterer hatte seinen theoretischen Standpunkt in zwei Programmschriften (1894 und 1902) niedergelegt.47 Der Einfluss auf Gustav Radbruch ist deutlich und doch ist erkennbar, dass er eigene Positionen bezieht. Er sieht in den „fremden Rechten“ nicht nur „Gedankeninhalte“, die durch die Rechtswissenschaft in ihrer Bedeutung zu ermitteln seien, sondern „Kulturmächte“, welche einer gesellschaftswissenschaftlichen Methode bedürfen, um erschlossen zu werden. Folglich müssen neben die Rechtswissenschaft, die es mit „Gedankeninhalten“ und ihrer Interpretation zu tun hat, die Gesellschaftswissenschaften treten. So verlangt Gustav Radbruch auch bei der Anwendung der gesellschaftswissenschaftlichen Methode ein Eingehen auf die jeweilige konkrete Interpretation und Anwendung des fremden Rechts im jeweiligen Kulturkreis. In seinem Aufsatz: Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung48 ging Franz von Liszt auf die Ausführungen Gustav Radbruchs ein, mit welchem er in seinem Aufsatz zur Methode der Rechtsvergleichung das Sein-Sollende oder Seiende im Recht scharf geschieden hat und mit dem Satz akzentuiert darstellte: „Das ,Sein-Sollende… ist Sache der wissenschaftlich undiskutierbaren … Überzeugung“. Von Liszt weist diesen Satz zurück. Er heißt bei Gustav Radbruch vollständig wie folgt: „Das ,Sein-Sollende lässt sich nimmermehr aus dem Seienden ableiten, die Betrachtung noch so vieler geltender Rechte vermag uns über das richtige Recht nicht zu belehren, es ergibt sich nicht empirisch, sondern apriorisch, es ist Sache der wissenschaftlich undiskutierbaren persönlichen Überzeugung. Insbesondere darf man nicht in den marxistischen Irrtum verfallen, zu glauben, durch den Nachweis, dass die Rechtsentwicklung, wenn sie in ihrer bisherigen Richtung fortschreite, eine bestimmte Rechtsgestaltung herbeiführen werde, dass ihre ,Entwicklungstendenz auf diese Rechtsgestaltung hingehe, diese nun auch als richtig und erstrebenswert erwiesen zu haben. Nimmermehr lässt sich aus dem Sein das ,Sein-Sollende ableiten, gleichviel ob ein gegenwärtiges oder vergangenes oder ob ein wahrscheinliches zukünftiges Sein in Frage steht“.49

Man sieht hier die neukantianische Position, die Gustav Radbruch gegenüber von Liszt einnimmt. Nach dem Ersten Weltkrieg verstärkt sich dagegen die empirisch-soziale Schule der Rechtsvergleichung. Diese Richtung umfasste auch die Einbeziehung des engli47 Franz von Liszt, Strafgesetzgebung der Gegenwart, Bd. 1, 1894, S. XIX–XXV; ders., in: Festschrift zum 26. Deutschen Juristentag 1902 (auch Aufsätze und Vorträge II, S. 422 f.). 48 Zum Begriff vom „richtigen Recht“ (Rudolf Stammler) siehe Gustav Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1. Aufl., 1910, S. 19 f.; ders., Literaturbericht Rechtsphilosophie, in: ZStW 25, 1905, S. 158 f.; ders., Literaturbericht Rechtsphilosophie, in: ZStW 27, 1907, S. 246 f. und S. 739 f. In seinem Geburtstagsartikel, Rudolf Stammler, Zum siebzigsten Geburtstag, der in der Vossischen Zeitung, Wochenbeilage „Recht und Leben“ vom 18. 2. 1926, Nr. 7 erschienen ist, bezeichnet Gustav Radbruch Rudolf Stammler als „Neubegründer deutscher Rechtsphilosophie“; siehe auch Franz von Liszt, Das „richtige Recht“ in der Strafgesetzgebung, in: ZStW, 26, 1906, S. 553 ff., ebenfalls abgedr. in: Rechtsvergleichung, a.a.O., S. 57 ff. 49 Gustav Radbruch, Über die Methode der Rechtsvergleichung, a.a.O., S. 52 ff.

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schen Common Law und die sozial-empirische Ausrichtung auf das öffentliche Recht. Diese Entwicklung wurde vor allem dadurch gefördert, dass nach dem Ersten Weltkrieg die Gründung des Völkerbundes, der Internationalen Akademie der Rechtsvergleichung und die Idee einer allgemeinen öffentlich-rechtlichen Kooperation weite Kreise von einer Neubelebung der Rechtsvergleichung überzeugten. Zweigert/Kötz50 haben darauf hingewiesen, dass die (historisch-) „vergleichende Rechtswissenschaft“ auch noch stark auf die Wiederbelebung der modernen Rechtsvergleichung gegen Ende des 19. Jahrhunderts eingewirkt habe, die durch eine beginnende Institutionalisierung wie Gesellschaften, Zeitschriften, Lehrstühle gekennzeichnet gewesen sei. Doch betonen sie, dass in Frankreich die neue Entwicklung am frühesten im Sommer 1869 einsetzte, dem Jahre, in dem Pollock51 sagen konnte, dass mit ihm die Rechtsvergleichung als neuer Zweig der Rechtswissenschaft vollständig anerkannt wurde. Nach dem Ersten Weltkrieg sei sie durch Art. X des Versailler Vertrages, der die Liquidation privatrechtlicher Vorkriegsbeziehungen zwischen Angehörigen der kriegführenden Staaten zu regeln versuchte, aus ihrem Dornröschenschlaf gerissen worden, was von Rabel als „seltsames Eingesponnensein“52 in Geschichte und Kultur bezeichnet wurde. Gustav Radbruch und das Strafrecht hatten aber den Schritt zur Modernität der Rechtsvergleichung schon vor dem Ersten Weltkrieg getan, was von einer zu sehr auf das Zivilrecht fixierten Betrachtungsweise übersehen wird. Wichtig ist für die weitere Entwicklung der Rechtsvergleichung auch die Befreiung aus dem bloßen Gesetzesvergleich ohne Einbeziehung der Rechtsanwendung und des Richterrechtes53. Diesen Schritt hat Gustav Radbruch kurz nach dem Ersten Weltkrieg eindeutig getan, wenn er auch mit der empirischen Methode sparsam umging. All diese Tendenzen finden sich auch in den rechtsvergleichenden Schriften Gustav Radbruchs wieder: die Hinwendung zum Common Law, die Einbeziehung des Völkerrechts in seine Überlegungen und die stärkere Betonung des sozialen Rechts und der sozialen Richtigkeit im Rahmen der Rechtsvergleichung. Gustav Radbruch war hier jedoch nicht nur ein Exponent dieser Entwicklung, sondern er war einer, der maßgeblichen Einfluss ausübte. Man kann die Arbeiten Gustav Radbruchs zur Rechtsvergleichung in drei Perioden einteilen. Während er sich in der ersten Schaffensperiode bis zum Ersten Weltkrieg rechtsvergleichend vorwiegend mit Strafrecht beschäftigt, beginnt er nach dem Ersten Weltkrieg seine Rechtsvergleichung in den Dienst des öffentlichen Rechts, ja der Politik, zu stellen. In einer dritten Schaffensperiode, die bereits vor dem Jahr 1930 beginnt, wendet er sich wieder intensiv dem anglo-amerika-

50 Konrad Zweigert / Heinz Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, 1, Tübingen. 1971, S. 60. Zur Vergleichbarkeit analoger Rechtsinstitute in verschiedenen Gesellschaftsordnungen siehe auch Konrad Zweigert / Hans-Jürgen Puttfarken, in: Rechtsvergleichung, a.a.O., S. 395 ff. 51 Konrad Zweigert / Heinz Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung a.a.O., S. 60. 52 Konrad Zweigert / Heinz Kötz, ebd., S. 62. 53 Konrad Zweigert / Heinz Kötz, ebd., S. 64.

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nischen Recht zu. Diese Beschäftigung findet ihren Höhepunkt und Abschluss in der Schrift Der Geist des englischen Rechts.54 Gustav Radbruch hat im ersten Abschnitt seiner „Vorschule der Rechtsphilosophie“ das Verhältnis von Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung zueinander bestimmt. „Die Rechtswissenschaft im engeren Sinn, die dogmatische Rechtswissenschaft, die systematische Rechtswissenschaft ist die Wissenschaft vom objektiven Sinn des positiven Rechts. Vom positiven Recht: dies ist der Unterschied von der Rechtsphilosophie und Rechtspolitik, die vom Wert des Rechts und von den Mitteln handeln, die zur Verwirklichung dieses Wertes dienen. Vom objektiven Sinn des positiven Rechts: dies ist der Unterschied von der Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung, der Rechtssoziologie und Rechtspsychologie, welche das Dasein des Rechts und die Tatsachen des Rechtslebens zu ihrem Gegenstand haben“.55

Somit sind das Dasein des Rechts in der Geschichte und sein Verhältnis zu anderen Rechtskulturen sowie das Rechtsleben im vergleichenden Verständnis Aufgaben der Rechtsvergleichung. Während Rechtsgeschichte das Sein, das Werden und das Wirken des Rechts in der historischen Dimension, im temporalen Ablauf zum Gegenstand hat und diese im Verhältnis zu anderen Kulturerscheinungen verstehen will, hat die rechtsvergleichende Betrachtung nicht diese temporale Dimension. Während die Rechtsgeschichte das „zeitliche Nacheinander der Rechtszustände zu ihrem Gegenstand“ hat, stellt die Rechtsvergleichung ein Nebeneinander der „verschiedenen nationalen Rechtsordnungen dar“.56 Gustav Radbruch zeigt hier deutlich die innere Verbindung von Rechtsgeschichte und Rechtsvergleichung als ein Einander gegenüber von Nacheinander und Nebeneinander. Soweit nun die Rechtsvergleichung über das positive Recht hinausgreift und das Recht als Erscheinung der Kulturvölker verglichen wird, entsteht eine weitere Dimension, nämlich die rechtspolitische.57 Die rechtspolitische Bedeutung der Rechtsvergleichung erkennt man sogleich beim Hinweis auf das 16-bändige Monumentalwerk: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, Vorarbeiten zur deutschen Strafrechtsreform58, zu welchem Gustav Radbruch selbst wichtige Beiträge geliefert hat.

54

Gustav Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, a.a.O. Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, a.a.O. 56 Gustav Radbruch, ebd., S. 11 f.; siehe auch ders., Rechtswissenschaft als Rechtsschöpfung, Ein Beitrag zum juristischen Methodenstreit, in: AfS 22, 1906, S. 359 f.; siehe auch ders., Literaturbericht Rechtsphilosophie, in: ZStW 28, 1908, S. 251 f., S. 688. 57 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 11 f. 58 Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, a.a.O., Gustav Radbruch hat dort aus dem Allg. Teil „Die Erfolgshaftung“, Bd. II, 1908, S. 227 und die „gesetzliche Strafänderung“, Bd. 111, 1908, S. 189, aus dem Bes. Teil „Die Abtreibung“; Bd. V,1905, S. 159 und „Die Aussetzung“, Bd. 1, 1905, S. 185, bearbeitet. Hans-Heinrich Jescheck sagt von Gustav Radbruch aus dieser Zeit: „Er war damals der junge, auch von den ausländischen Studenten verehrte, durch glänzende Vorlesungen berühmte Privatdozent“, 55

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Er fasst aber die Rechtsvergleichung bereits weiter und sieht im Hineinnehmen sogenannter autochthoner Völker (bei ihm primitive Völker genannt) eine Konstruktion der Vorgeschichte der Rechtsentwicklung der Kulturnationen. Schließlich, als letzte Stufe, erreiche die Rechtsvergleichung in der Universalrechtsgeschichte ihren Höhepunkt. Hier erwähnt er als Vorläufer dieser Disziplin Montesquieu („Esprit des lois“)59, Anselm Feuerbach60, Henry Summer Maine und Joseph Kohler. Unter dieser Universalrechtsgeschichte versteht Gustav Radbruch bestimmte Typen universalgeschichtlicher Abläufe und führt dazu Beispiele an, wie: vom Urkommunismus zum Privateigentum, vom Mutterrecht zur patriarchialischen Familie, von der Endogamie zur Exogamie (Raub- und Kaufehe), von der Polygamie zur Einehe, vom Status zum Contractus, von der Gemeinschaft zur Gesellschaft. Im Strafrecht sieht er als Erkenntnisgegenstand der universalen Rechtsgeschichte die Entwicklung von der Sippenrache zur öffentlichen Strafe und verweist hier u. a. auf Theodor Mommsen.61 In seinem Beitrag „Erneuerung des Rechts“62 hat Gustav Radbruch auf das Unwandelbare und Wandelbare im Recht im Hinblick auf die vergangenen 12 Jahre der Gewaltherrschaft hingewiesen. Dort führt er aus:

Hans-Heinrich Jescheck, Gustav Radbruchs Beitrag zur Strafrechtsvergleichung, in: Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, a.a.O., S. 358. 59 Auf Montesquieu geht Gustav Radbruch besonders ein, siehe dazu Gustav Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, a.a.O., S. 157 – 176; siehe auch die Sonderausgabe in der Reihe „Libelli“, Bd. 59, Darmstadt 1960, nochmals erschienen: Darmstadt 1964, S. 24 f. 60 In seiner Einführung in die Rechtswissenschaft, in: Wissenschaft und Bildung, 1. Aufl., Leipzig 1910, 7. / 8. Aufl., Leipzig 1929, schreibt Gustav Radbruch im Vorwort zur 1. Aufl., dass er die großen Schatten Savignys und Feuerbachs für die studentische Jugend beschwören wollte. Er rückt Paul Anselm Feuerbach, 1775 – 1833, in die Gegenposition Friedrich Carl von Savignys und an die Seite von Thibaut. Gustav Radbruchs Beurteilung Anselm Feuerbachs als Vorkämpfer und Begründer der Rechtsvergleichung drückt sich in seinen beiden Aufsätzen, Anselm Feuerbach –, precurseur du droit compar, in: Recueil dtudes en Phonneur dEdouard Lambert, 1938, S. 284 – 291, und Anselm Feuerbach und die vergleichende Rechtswissenschaft, in: SchwZStR, Jg. 54, 1940, S. 22 – 38, ebenso in: Elegantiae Juris Criminalis, a.a.O., S. 193 – 207, aus. Die Geistesverwandtschaft erkennt man in den Versen: Licht vom Feuer, du wie ich! Über das Jahrhundert winken, Von den Höhen, da sie blinken, Die verträumten Zeichen sich, in: Das neue Deutschland, B. Jg., 1919 / 1920, S. 17 f. 61 Zum ältesten Strafrecht der Kulturvölker, 1905 siehe Gustav Radbruch, Elegantiae Juris Criminalis, a.a.O., S. 1 ff.; ders., Vorschule der Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 67 f. Dort schreibt Gustav Radbruch: „Auf die glanzvolle, … Entfaltung der humanistischen Schule bei den Franzosen, die … in Cujas eine Vereinigung der Rechtsgelehrtheit mit Philologie und Geschichte hervorbrachten, welche bis auf unseren Mommssen nicht mehr da gewesen ist, …“! 62 Gustav Radbruch, Erneuerung des Rechts, Ansprache bei der Wiedereröffnung der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg, und in: Rhein-Neckar-Zeitung, 9. 1. 1946, siehe auch in: Die Wandlung, Monatsschrift, 1947, Heft 2, S. 8–16 sowie in: Der Mensch im Recht, a.a.O., S. 107 – 110; ebenso den Vortrag in der Universitätsstunde des Radio Heidelberg, in: Volk und Zeit, Karlsruhe, August 1948, S. 30 – 39.

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„Was am Rechte wandelbar, was ewig ist, wird am anschaulichsten sichtbar durch Rechtsvergleichung. Notwendig ist besonders die Vergleichung der beiden großen Rechtskulturen, die sich in den Erdkreis teilen: der europäisch-kontinentalen und der anglo-amerikanischen, jene aufgebaut auf das römische Recht und die späteren Modifikationen, also auf Gesetze, dieses auf richterliche Entscheidungen. Erst der Vergleich zwischen den beiden Rechtskulturen lehrt jede von ihnen in ihrer Eigenart kennen, in ihren Mängeln und Vorzügen würdigen.“

Deshalb war für Gustav Radbruch das Studium des anglo-amerikanischen Rechts aus viel tieferen und allgemeineren Gründen als nur aus der damaligen Nachkriegssituation Deutschlands erforderlich.63 Der Begriff der Universalrechtsgeschichte ist für Gustav Radbruch das, was heute im Anglo-amerikanischen mit Comparative Legal Culture bezeichnet wird.64 Diese Bedeutung des anglo-amerikanischen Rechts hat Gustav Radbruch dadurch betont, dass er nach dem Krieg ein kleines, aber gehaltvolles Werk mit dem Titel: Der Geist des englischen Rechts65 veröffentlicht hat. Dennoch mag die Auffassung von Gustav Radbruchs relativ geringer rechtsvergleichender Betätigung dadurch verständlich sein, als er in eine Zeit hinein geboren wurde, in welcher die Rechtsphilosophie durch nationale Rechtsvergleichung ersetzt wurde mit dem Ziele, in einer allgemeinen Rechtslehre die Rechtsphilosophie aufgehen zu lassen.66 Er war und blieb immer Rechtsphilosoph unter dem Einfluss sowohl der Zweckjurisprudenz als auch des Neukantianismus. Die Umwandlung der Rechtsphilosophie mündete zu Beginn des Jahrhunderts in wichtige rechtsvergleichende Werke, die gleichzeitig die allgemeine Rechtslehre konkretisierten. Hierher gehören gerade jene zwei großen Sammelwerke67: Die Strafgesetzgebung der Gegenwart68 und Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts69.

63

Gustav Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, a.a.O.; siehe auch ders., La securite en droit dapres la theorie anglaise, a.a.O., S. 86 – 99; ders., Anglo-American Juiisprudence through Continental Eyes, a.a.O., S. 530 – 545; siehe auch in: Archives de philosophie du droit et de sociologie juridique, 1936, S. 29 – 45 (La thorie anglo-amricaine du droit vue par un juriste du continent). 64 Lawrence M. Friedman, Some Thoughts on Comparative Legal Culture in Comparative and Private International Law, in: Festschrift für John Henry Merryman, hrsg. von David S. Clark, Berlin, 1990, S. 11 ff. 65 Gustav Radbruch, Der Geist des englischen Rechts, a.a.O. 66 Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, a.a.O., S. 10 f. 67 Siehe Fn. 54. 68 Gustav Radbruch, Die Strafgesetzgebung der Gegenwart, Bd. 1, Hrsg. F. Liszt, 1884; Bd. 2, Hrsg. Franz Liszt und Crusen, 1899; ders., Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts, a.a.O. 69 Hans-Heinrich Jescheck, Entwicklung, Aufgaben und Methoden der Strafrechtsvergleichung, 1955, S. 13 ff.

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Gustav Radbruchs Lehrer Franz von Liszt hatte an „diesen Groß-Betriebsformen der Wissenschaft“, die „für das Zeitalter der Induktion zu kennzeichnend sind“, eine allgemeine Rechtsdisziplin im Sinne einer „allgemeinen Rechtslehre“ zu erstellen, die als positivistischer Ersatz für die totgesagte Rechtsphilosophie zwischen dem absterbenden Hegelianismus und dem Heraufkommen des Neukantianismus mit großem Eifer erstellt wurde. Gustav Radbruch meinte, dass neben Franz von Liszt auch Adolf Merkel in einer solchen allgemeinen Rechtslehre die Krönung der Rechtswissenschaft gesehen hätte. In der Nachzeichnung des Lebenswerkes von Liszts bemerkt Gustav Radbruch, dass sein Lehrer bei seinem Vorhaben Widerspruch auch in der eigenen Schule fand, als er im Jahre 1906 seine Theorie zur Diskussion stellte.70 Ihm wurden die Argumente des inzwischen emporgewachsenen Neukantianismus der südwestdeutschen Schule von Windelband und Rickert entgegengehalten, die in einem schroffen Dualismus von Sein und Sollen, Wert und Wirklichkeit mündeten. Gustav Radbruch erwähnte ausdrücklich, daß auch ein zweiter Aufsatz von Franz von Liszt diese Tendenz verfolge.71 Er nimmt auch zum Strafgesetzentwurf in diesem Zusammenhang Stellung.72 Hier werden die Vorschläge der Wissenschaft mit dem inzwischen erschienenen Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch 1909 verglichen. Gustav Radbruch ist der Auffassung, dass sozusagen alle Fragen des „Allgemeinen Teils“ unter rechtspolitischen Gesichtspunkten diskutiert werden. Er beschreibt diese Situation in seinem Nachruf auf Hermann Kantorowicz73 wie folgt: „Er folgte damit einer Anregung Franz von Liszt, der seine evolutionistische Methode der Rechtsvergleichung zur Debatte gestellt hatte. Liszt hatte die Auffassung vertreten, richtiges Recht sei dasjenige Recht, das mit der Entwicklungstendenz der Rechtswelt übereinstimmt, aber er hatte unter dem Einfluss des Neukantianismus, der Südwestdeutschen Philosophenschule und des von beiden vertretenen Dualismus von Sein und Sollen, fast durchgängigen Widerspruch gefunden, auch bei seinen eigenen Schülern. Auch Hermann Kantorowicz gesellte sich diesen Gegnern zu, aber noch nicht mit werttheoretischer, vielmehr mit psychologischer Begründung: das Sollen wird als eine Art des Wollens aufgefasst, seine Ableitung aus dem Sein ad absurdum geführt als eine Ableitung dessen, was ich will, aus dem, was andere wollen. Aber dieses Listzsche Problem ist in dem umfangreichen Aufsatz nur eines von vielen Problemen der Rechtsvergleichungsmethodik“.74

70

Gustav Radbruch, Franz von Liszt, Anlage und Umwelt, in: Elegantiae Juris Criminalis, a.a.O., S. 208 f. Liszts methodische Grundgedanken finden sich in: ZStW 26, 1906, S. 553 ff. und 27, 1907, S. 91, die Gegenäußerungen finden sich ebd., 27, 1907, S. 246, 742 und 28, 1908, S. 251. 71 Franz von Liszt, Vortrag in Amsterdam, „Der Entwicklungsgedanke im Strafrecht“, in: Mitt. d. IKV. XVI, 1909, S. 497 ff. 72 Franz von Liszt, Der Strafgesetzentwurf und die Wissenschaft, in: MSchrKrimPsych., 7. Jg. 1911, S. 257. 73 Hermann Kantorowicz (1877 – 1940), verfasste u. a. Aus der Vorgeschichte der Freirechtslehre, 1925. 74 Gustav Radbruch, Hermann Kantorowicz, in: SchwZStR, 60, 1946, S. 271 f.

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Hermann Kantorowicz hatte also den Dualismus der Neukantianischen Schule in dem Sinne zu überwinden versucht, indem er aus dem „Sollen“ ein „Wollen“ machen wollte. Gustav Radbruch selbst, der ebenfalls in diesem Konflikt der Fortsetzung der Lisztschen Theorie und des Einflusses der Neukantianer stand, wandte sich mehr einer Modifikation des Seins-Sollens-Schemas dergestalt zu, dass das Sein eine „soziale“ Komponente erhalten sollte.75 Man hat gesagt: „Die Hinwendung zum Sozialen gehört zur Signatur unserer Zeit“.76 Aber schon im vorigen Jahrhundert fanden sich hierfür Vorkämpfer wie Otto von Gierke, Franz von Liszt77 und Anton Menger. Gerade und vor allem Gustav Radbruch wurde durch sie und nach ihnen zum Streiter für das „soziale Recht“78 und entwickelte Grundanschauungen, die diese Signatur der Gegenwart bestimmt haben. Für diese soziale Dimension seines Rechtsdenkens war neben Franz von Liszt und Emil Lask auch der französische Jurist Leon Duguit maßgebend.79 Mit Emil Lask verband ihn das Bekenntnis zum Neukantianismus der südwestdeutschen Schule, die das Recht als soziale Tatsache, vom Recht als Norm unterschied. Für beide war das Recht „realer Kulturfaktor“ und „sozialer Lebensvorgang“. Daher kam es, dass Gustav Radbruch der juristischen Methode eine „sozialtheoretische Betrachtung des Rechtes“ gegenüberstellte.80 Man hat allerdings bemerkt, dass es ihm, wie vielen anderen Anhängern der Neukantianischen Schule, an der empirischen Methode oder der Wirklichkeit empirisch gewonnener Ergebnisse gefehlt habe, so dass das Gedankengebäude ohne Realsubstrat blieb.81 Trotz dieses empirischen Defizits hat Gustav Radbruch zur Erhellung historischer Hintergründe für die Rechtsentwicklung Bleibendes geleistet, wie 75

Siehe Gustav Radbruch, Der Mensch im Recht, Heidelberger Antrittsvorlesung, in: Recht und Staat, Bd. 46, Tübingen 1927. 76 Thomas Würtenberger, Zur Idee des „sozialen Rechts“ bei Gustav Radbruch, in: Gedächtnisschrift, a.a.O., S. 200 ff. 77 Gustav Radbruch schreibt von Franz von Liszt: „Er gehört jenem sozialreformerischen Neoliberalismus an, der in dem Eintritt Friedrich Naumanns und seiner national-sozialen Freunde in die freisinnige Vereinigung, 1903, politischen Ausdruck gefunden hat. Liszt blieb der Liberale mit einem sozialen Ideal im Herzen.“ Gustav Radbruch, Franz von Liszt, Anlage und Umwelt, a.a.O. Das von ihm gebrauchte Zitat geht auf Eduard Kohlrausch, Berliner Rektoratsrede, 1932, S. 16, zurück. 78 Thomas Würtenberger, Zur Idee des „sozialen Rechts“ bei Gustav Radbruch, siehe Gedächtnisschrift, a.a.O., S. 204; Würtenberger weist auf Gustav Radbruch, Sozialismus und Strafrechtsreform, in: Sozialistische Monatshefte, Juli 1929, zit. nach Hermann Krämer, Strafe und Strafrecht im Denken des Kriminalpolitikers Gustav Radbruch, 1956, S. 69, hin; wonach im Anschluss an Duguit das Wort von „Der Sozialisierung des Rechts“ von Gustav Radbruch geprägt wurde. 79 Erik Wolf, Umbruch oder Entwicklung, in: Gustav Radbruchs Rechtsphilosophie, in: ARSPh 1959, S. 478. 80 Gustav Radbruch, Grundzüge der Rechtsphilosophie, a.a.O. 81 Erik Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, Tübingen 1921, S. 66 und S. 67.

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durch den Hinweis auf die Werke Elegantiae Juris Criminalis82 und Gestalten und Gedanken gezeigt werden kann. Ein Zentralbegriff, der auch für seine rechtsvergleichenden Studien von Bedeutung werden sollte, war der Begriff der „Natur der Sache“83, mit welchem er die Gegensätze des Neukantianismus zwischen Sollen und Sein, Wert und Wirklichkeit, überwinden wollte. Die Natur der Sache deutet bei ihm auf das „historische Klima“ hin, indem der Rechtsgedanke erzeugt wird und sich verwirklicht.84 In diesem Sinne erklärt er bei rechtsvergleichenden Arbeiten Begriffe wie „soziale Solidarität“, „soziale Interdependenz“85 und „soziale Rollen“ zu obersten Strukturprinzipien und Leitideen der Rechtsgestaltung und der Rechtssysteme. Sowohl für Duguit als auch für Gustav Radbruch war das Zeitalter der „Sozialisierung des Rechtes“ angebrochen.86 Dies verband ihn auch mit dem geistigen Vater der soziologischen Schule, Franz von Liszt, dessen Lehren Gustav Radbruch „im Lichte des Wandels vom liberalen zum sozialen Staat, vom Rechtsstaat zum Sozialstaat“ sah.87 Er hat sich auch bei seinen rechtsvergleichenden Schriften vor der Gefahr zu bewahren versucht, vorschnelle Hypothesen aufzustellen und der Fantasie einen zu freien Raum zu lassen. Allen Untersuchungen lagen minutiöse – aus allen erreichbaren Quellen zusammengetragene – Tatsachen zugrunde. Bei Anwendung seiner kultur-, sozial- und geistesgeschichtlichen Methode musste es bei aller Rechtsgeschichte oder Rechtsvergleichung darum gehen, neue Fragestellungen zum Ausgangspunkt zu machen, um auch zu neuen möglichst endgültigen Ergebnissen zu kommen. So war es sicher auch das Anliegen Gustav Radbruchs, die Strafrechtsgeschichte zu Ende zu schreiben.88 Die Rechtsvergleichung ist ein Mitwir82

Gustav Radbruch, Elegantiae Juris Criminalis, a.a.O., ders., Gestalten und Gedanken, Acht Studien, Leipzig 1944, z. erweit. Aufl. (zehn Studien), Stuttgart 1954. 83 Gustav Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, a.a.O., S. 5–40. Angeregt von Gustav Radbruch ist hierzu eine umfangreiche Literatur entstanden. Nach ihm haben sich Helmut Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 1950, S. 118 ff., Erich Fechner, Rechtsphilosophie, 1956, S. 146, Günter Stratenwerth, Das rechtstheoretische Problem der „Natur der Sache“, 1957, Werner Maihofer, Natur der Sache und Karl Engisch, Zur „Natur der Sache“ im Strafrecht, beides in: Die onthologische Begründung des Rechts, hrsg. von Arthur Kaufmann, Darmstadt 1965, S. 53 ff. und S. 204 ff., beschäftigt. Im gleichen Sammelband sind auch die Beiträge von Norberto Bobbio über den Begriff der „Natur der Sache“, S. 87 ff., und der ältere Beitrag von Max Gutzwiller, Zur Lehre von der „Natur der Sache“, S. 14 ff., abgedruckt. 84 Gustav Radbruch, Die Natur der Sache, a.a.O., S. 16 f. 80, Gustav Radbruch, ebd., S. 12 f. 85 Sozialismus und Strafrechtsreform, in: Sozialistische Monatshefte, Juni 1927, zit. nach Hermann Krämer, Strafe und Strafrecht im Denken des Kriminalpolitikers Gustav Radbruch, 1956, S. 69; Gustav Radbruch, in: Der Mensch im Recht, a.a.O., S. 32. 86 Gustav Radbruch, Franz von Liszt, Anlage und Umwelt, a.a.O. 87 Gustav Radbruch, Franz von Liszt, Anlage und Umwelt, a.a.O. 88 Eberhard Schmidt, Gustav Radbruch und die Rechtsgeschichte, in: Gedächtnisschrift, a.a.O., S. 242 – 251.

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ken „an dem erhabenen Problem der Selbsterkenntnis der Menschheit“. Neben diesem Wunsche eines zu Ende Schreibens und seiner damit verbundenen Erfüllung steht der andere Wunsch, dass das Recht sich im Prozess der Sozialisierung erfüllen möge. Dieses sich Erfüllen des Rechts als ein ans Ende kommen erhält die Züge eines Aufhebens und Vollendens. Denn, wenn auch Erfüllung – vor allem Erfüllung durch Aufhebung der Konflikte und Widersprüche – im sozialen Recht enthalten ist, ist ja gerade deshalb das soziale Recht bei Gustav Radbruch immer zugleich identisch mit dem Menschlichen, der Würde des Menschen, dem Humanum89 : „In Radbruchs Leben und Werk verband sich das Soziale allezeit mit dem Humanen“.90 Somit ist für Gustav Radbruchs Rechtsvergleichung das Recht als Soziales immer auch das Humanum, welches auf den verschiedenen Kulturebenen und in den verschiedenen Kulturepochen wertend zu vergleichen ist. Rechtsvergleichung ist nicht Rechtsanwendung, für welche die verschiedenen Interpretationskanones wie Analogie und Umkehrschluss von Bedeutung sind. Dennoch gilt für die Rechtsvergleichung ganz allgemein, was er in seinem Hund/ Bären-Beispiel ausgeführt hat, dass nämlich die Richtigkeit der Methodenwahl aus der praktischen Konkordanz – Radbruch spricht von praktischer Richtigkeit – in seiner Richtigkeit sich erweisen muss. Radbruch, der hier auf Ihering verweist, steht der Herleitung von Sollensätzen aus der „Natur der Sache“ oder unter Berufung auf den „Geist der Gesetze“ ursprünglich skeptisch gegenüber. Noch in seinem Aufsatz Die Natur der Sache als juristische Denkform91 klingt das Unbehagen des Neukantianers Radbruch nach, der auf Kants Ablehnung der Begrenzung eines Gesollten aus dem Seienden verweist; denn der Königsberger Philosoph hatte eine pöbelhafte Berufung auf vorgeblich widerstreitende Erfahrungen darin gesehen.92 Doch Radbruch überwindet die Vorstellung, dass in der Natur der Sache nur der „Widerstand der stumpfen Welt“ zu sehen sei. Im bereits erwähnten Aufsatz spricht er vom Sieg der soziologischen Rechtsschule von Liszts gegenüber der Rechtsdogmatik und Rechtstheorie Bindings und kommt letzten Endes doch auf die Denkfigur der Natur der Sache zurück. Für den Komparatisten gilt aber das gleiche wie für den Richter als Rechtsanwender insofern, als von beiden keine „scholastischen, unschöpferischen Operationen“, sondern eine Leistung der ganzen Persönlichkeit verlangt wird, die Denken, Fühlen und Wollen umfasst. Hier setzt Arthur Kaufmann mit seiner Neubewertung der Denkfigur der „Natur der Sache“93 ein, indem er sie mit der juristischen Hermeneutik verbindet.94 Die Kon89 Das Humanum erscheint bei Gustav Radbruch auch in der Gestalt des historischen Humanismus, der als Parallelphänomen zur Erneuerung der Kunst (Renaissance) und der Religion (Reformation) auftritt (siehe Gustav Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1910, S. 34 f.). 90 Eberhard Schmidt, Gustav Radbruch und die Rechtsgeschichte, a.a.O., S. 206. 91 Gustav Radbruch, Die Natur der Sache als juristische Denkform, a.a.O. 92 Gustav Radbruch, ebd., S. 3. 93 Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, a.a.O.

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kretisierung oder Rechtsverwirklichung vollzieht sich bei ihm in einem Dreistufen-Prozess, den er als „Werdegang des Rechtes“95 bezeichnet. Die Natur der Sache bekommt dadurch eine prozedurale Dimension. Die Rechtsprinzipien sind zwar das logisch Primäre und das Recht ist in diesem Stufenverfahren das ursprünglich und onthologisch Vorausliegende. Dann muss auf einer weiteren Stufe zur Norm hin „ein Seinhaftes hinzutreten“, der Lebenssachverhalt, den es zu beurteilen gilt.96 Durch dieses Zusammentreffen entsteht ein Assimilationsprozess, in dessen Verlauf der Lebenssachverhalt normativ aufgearbeitet wird und sich andererseits die normative Ordnung fachgerecht entfalten kann. Das Recht ist „Entsprechung von Sollen und Sein“ und auf das Hinzutreten eines Mittlers angewiesen, den es in der „Natur der Sache“ antrifft. Von hier aus ist es nur systemrichtig, wenn Kaufmann die traditionelle Substanzonthologie angreift und zu einer „relational-personalen“ Onthologie der Person gelangt. Trotz dieses prozeduralen Charakters seiner mehrstufigen Rechtskonkretisierung lehnt Kaufmann aber die Auslieferung des Richtigen und Sozialen im Recht an prozedurale Gerechtigkeitstheorien ab:97 „… aber sie sind nicht einzig das Produkt des Erkennenden, soll der Wahrheitsprozess nicht dem Unternehmen des Münchhausen gleichen, sich am eigenen Zopf aus dem Sumpf zu ziehen (,Münchhausen-Dilemma oder ,-Trilemma). Auch der normative Diskurs muss einen ,Gegenstand (wenn auch keinen substantiellen), ein ,Thema haben. Die Schwäche der rein prozeduralen Theorien besteht darin, dass sie glauben, auf Inhalte und Erfahrungen verzichten zu können. Sie sind daher ergänzungsbedürftig.“ In dieser Äußerung zu den prozeduralen Gerechtigkeitstheorien erkennt man den Einfluss, den Gustav Radbruch auch hier noch ausübt. Die Richtigkeit einer Norm war auch für ihn nie eine Form- oder Verfahrensfrage, sondern ein inhaltliches Problem, was auch in seiner dritten Schaffensperiode, die hier dargestellt wurde, mit Deutlichkeit hervortrat. Sein rechtsvergleichendes Werk, insbesondere seine Beschäftigung mit dem Common Law, führte dann auch zu der berühmten Schrift über gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht98, die gerade nach der Wiedervereinigung in den Strafverfahren gegen die Mauerschützen eine besondere Rolle gespielt hat.99

94

Arthur Kaufmann, ebd., S. 76 – 79. Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie im Wandel, Stationen eines Weges, 2. überarb. Aufl., Köln / Berlin / Bonn / München 1984, S. 126; siehe auch Heinrich Scholler, Jenseits des Funktionalismus, Arthur Kaufmann zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1989, S. 2. 96 Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, a.a.O., S. 18. 97 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit, Heidelberg 1992, S. 32. 98 SJZ, 1. Jg. (1946), S. 105 – 108; GRGA Bd. 3, S. 83 – 93. 99 Siehe Anm. 1. 95

I. Recht der Mongolei aus deutscher Sicht Die deutsche Rechtswissenschaft hat sich bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts mit dem mongolischen Recht befasst. Dies mag verwundern, weil der Kontakt zur Mongolei mehr aus historischer Erinnerung als aus gegenwärtigen Beziehungen bestand. Kein anderer als Paul Anselm Feuerbach, der große deutsche Jurist, der als Hochschullehrer und Präsident des Appellationgerichtes in Ansbach wirkte, hatte in seinem Versuch einer universalen Rechtsgeschichte auf die verschiedenen Rechtsfamilien hingewiesen, zu welchen er auch die mongolische Rechtsfamilie als eigenständige Entwicklung eines nomadischen Volkes zählte.1 Der schon erwähnte Paul Anselm Feuerbach wurde übrigens der Schöpfer des modernen deutschen Strafrechtes, als er im Jahre 1813 das Bayerische Strafgesetzbuch2 schuf, das dann Vorbild für das gesamte deutsche Strafrecht in den einzelnen Ländern, aber auch später im Reich wurde. Das führende deutsche Lehrbuch zur Rechtsvergleichung von Zweigert / Kötz erwähnt die Feuerbachsche Interpretation der Rechtsfamilien unter Betonung des mongolischen Rechtes, wenn auch heute die Einteilungskriterien sich verschoben haben. Dennoch ist auch heute noch das Recht des mongolischen Führers Dschingis Kahn Gegenstand des großen Interesses nicht nur in der Mongolei, wo man nach der Wende ein Aufblühen der mongolischen Rechtsgeschichte beobachten konnte. Ich möchte vor allem auf die Arbeiten des früheren Direktors des Rechtsinstitutes3, aber auch andere mongolische Wissenschaftler verweisen. Im mongolischen Recht des 13. Jahrhunderts hieß es z. B. im Hinblick auf die Stellung von Mann und Frau: Die Frauen haben das Recht, Geschäfte zu betreiben und Eigentum zu besitzen, die Männer sollen jagen.

1

Zu Feuerbachs Analyse schrieb Radbruch folgende Bemerkung: „Die entwickelteren Rechtsordnungen der Mongolei und Chinas […] werden dagegen gerade in ihrer eigentümlichen Individualität gewürdigt.“, siehe dazu: Gustav Radbruch Gesamtausgabe, hrsg. von Arthur Kaufmann, Band 6, bearb. von G. Haney, Heidelberg 1997, S. 238. 2 Zur überragenden Bedeutung des Bayer. Strafgesetzes siehe die Beurteilung von Gustav Radbruch GA, Band 6, Heidelberg 1997, S. 123. 3 An die Stelle von Prof. Dashnyam ist gegenwärtig Prof. Narangerel als Leiter des Rechtsinstitutes (Rechtsfakultät) in Ulan Bator getreten. Von ihm stammt auch die „Einführung ins mongolische Recht“, Berlin 2005, mit einer Einleitung von Schünemann.

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Damit hatten die Frauen mindestens den gleichen Anteil an der Erwerbstätigkeit für die Familie, doch war ihr Einsatz auf diesem Gebiet als Gewerbetreibende von einer deutlich höheren Qualität.4 Der bekannte Staatsrechtler Prof. Sovd hat das mongolische Recht seit dem 13. Jahrhundert wie folgt charakterisiert: „Als das Staatswesen geschaffen wurde, war als reale Grundlage dafür zweifellos ein konkretes System von Rechtsbeziehungen vorhanden. So nimmt die Mongolei auch unter denjenigen Ländern, die über frühe Quellen einer Rechtskultur und Rechtsgeschichte verfügen, einen gebührenden Platz ein. Dabei handelt es sich um Quellen, in denen das Leben eines östlichen Nomadenvolkes durch ein systematisiertes Gewohnheitsrecht geregelt wurde.“

Vom gleichen Autor stammt eine Darstellung der zentralen Punkte dieses frühen mongolischen Rechtes, wobei er bedauert, dass es keine Quellen gibt, die auf die davorliegende Zeit zurückreichen würden. In Bezug auf dieses mongolische Recht des Großreiches von Dschingis Khan sagt Sovd, dass es durch vier oder fünf Merkmale gekennzeichnet sei: Erstens sei das Recht ein systematisiertes Recht, das sich auf alle Lebensbereiche erstrecke und zweitens sei es kein clanbezogenes oder völkisch orientiertes Recht, sondern ein Herrschaftsrecht, das sich auf ein Territorium erstreckte.

Dadurch war es auch möglich, dieses Recht zur Grundlage eines Weltreiches zu machen. Diese beiden Eigenschaften haben etwas rudimentär mit dem römischen Recht gemeinsam. Aber auch das dritte und vierte zentrale Element des mongolischen Rechtes ist dem römisch-germanischen Recht verwandt: Das mongolische Recht regelt auch das honeste vivere, welches z. B. vorschreibt, dass man beim gemeinsamen Mahl nicht gierig essen dürfe oder dass das Würgen verboten sei. Viertens sei das mongolische Recht schließlich ein Recht, das aus der Militärordnung hervorgegangen sei oder mit der militärischen Disziplin auf das engste verbunden sich entwickelt habe.5

Auch hier haben wir Gemeinsamkeiten mit dem römisch-germanischen Recht. Die mongolischen Wissenschaftler und Studenten, die sich heute mit dem mongolischen Strafrecht beschäftigen, wissen also, dass dieses über die Brücke des sowjetischen Rechtes und die Vermittlung der Einwirkung der Rechtswissenschaft der DDR auf die Strafrechtswissenschaft Bayerns unter der Führung Feuerbachs zurückgeht. Ergänzend zur Familie Feuerbach sei hier noch Folgendes erwähnt: Aus ihr entstanden Maler und Wissenschaftler, vor allem aber auch der den Mongolen aus der 4 Die geheime Geschichte der Mongolen, Hrsg.: M. Taube, München 2005; enthält eine umfangreiche soziale und rechtliche Ordnung des mongolischen Staates. 5 Siehe dazu: G. Sovd, Die Entwicklung des Rechtswesens in der Mongolei und seine Besonderheiten, in: Menschenrechte und nationale Sicherheit, Dokumente eines internationalen Symposiums 30.09. – 04. 10. 1996 in Ulan Bator, Mongolei, Hanns-Seidel-Stiftung München 1998, S. 27 ff. und die dort zitierte weiterführende Literatur.

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Periode des sowjetischen Rechtes bekannte Ludwig Feuerbach, der während dieser Periode zusammen mit Marx, Engels und Lenin Recht und Politik bestimmen sollte. Dieser Ludwig Feuerbach war Sohn des hier erwähnten Paul Anselm Feuerbach. Auch in Deutschland hat man dem Studium Paul Anselm Feuerbachs, dem Juristen, wieder Aufmerksamkeit geschenkt und kein anderer als der berühmte Strafrechtler und Rechtsphilosoph Gustav Radbruch hat eine wichtige Biographie diesem bayerischen Juristen gewidmet. So hat einer der großen bayerischen Juristen den ersten wichtigen Blick auf das mongolische Recht und die mongolische Rechtsfamilie getan. Es wurde schon erwähnt, dass über die Brücke des sowjetischen Rechtes, das ebenfalls auf dem römisch-germanischen und damit dem deutschen Recht aufbaute, auch in der Zeit nach dem ersten Weltkrieg, also der Entstehung der mongolischen Republik bis hin zur Wende 1989/90, das deutsche Recht Einfluss gehabt hat auf die Entwicklung in der Mongolei. Die mongolischen jungen Juristen, die in Russland oder später auch in der DDR in Leipzig, Halle oder in Ostberlin Jura studiert haben, haben sich mit dem DDR-Recht beschäftigt, das zwar Teil einer sozialistischen Rechtsordnung und Rechtsfamilie war, das aber doch noch wesentliche Züge des deutschen Rechtes beibehalten hatte. Hier soll vielleicht nur der Hinweis erfolgen, dass die Verfassung der DDR im Wesentlichen auf dem Vorbild der Weimarer Verfassung von 1919 aufbaute. Viele mongolische Juristen sind daher schon lange vor der Wende mit den Grundzügen des deutschen Rechtes sowohl dem Öffentlichen als auch dem Privaten und dem Strafrecht vertraut gewesen und sprachen darüber hinaus auch Deutsch. Zu dieser Zeit gab es natürlich ein größeres Interesse der DDR-Juristen an der mongolischen Rechtsentwicklung, während die Bundesrepublik sich mit dem mongolischen Recht allenfalls als Teil der sozialistischen Rechtsfamilie beschäftigte. So war die Vertrautheit mit westlichem und damit deutschem Recht in der Mongolei wesentlich höher als die Kenntnisse des mongolischen Rechtes in der Bundesrepublik. Hier und dort war es in Westdeutschland auch erforderlich, gelegentlich Nachhilfeunterricht zu geben über die Hinneigung der mongolischen Kultur und damit auch der Rechtskultur zum westlichen Recht. So war es für den westlichen Juristen, der sich mit der Geschichte der Mongolei oder auch des sozialistischen Rechtes in Ostasien beschäftigt hat, im Grunde genommen keine Überraschung, dass die Mongolei sich für die Modernisierung des Rechtes entschloss und dabei das römisch-germanische Recht zum Vorbild wählte. Dieser Entschluss war sehr ausdrücklich und im vollem Bewusstsein darüber gefasst, dass eine allumfassende Umstrukturierung des gesellschaftlichen und politischen Lebens damit verbunden sein würde. Erleichtert wurde die Aufgabe dadurch, dass Grundelemente des mongolischen Rechtes mit dem deutschen Recht bereits vertraut waren, wie z. B. die Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Recht, die Unterscheidung zwischen materiellem und formellem Recht, die Einteilung des allg. bürgerlichen Rechtes in personae, res und negotia, also in Personen, Sachen und Rechtsgeschäfte. Bei der Beratung eines neuen Curriculums wurde ich persönlich dadurch

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sehr beeindruckt, dass man nicht nur römisches Recht unterrichten wollte, sondern auch bereit war, das Latein als Teil dieses Curriculums einzuführen, um ein besseres Eindringen in das römische Recht zu ermöglichen. Die neue mongolische Verfassung vom Jahre 1992 trägt deutlich die Handschrift des westlichen Verfassungsstaates, der als demokratischer Staat auf der Grundlage des Mehrparteiensystems die politische Entscheidung in den Willen des Volkes gelegt hat, das durch Wahlen und Abstimmungen über das Parlament die staatliche Macht kreiert, aber auch kontrolliert. Ein weiteres wichtiges Merkmal dieser Verfassung ist die Gewaltenteilung im modernen Sinn, wonach die gesetzgebende Gewalt vom Parlament (Hural), Exekutive von Regierung und der Verwaltung und die Judikative von der Gerichtsbarkeit ausgeübt werden. Hinzu kommt die Errichtung eines eigenständigen Verfassungsgerichts (Tsets), das insbesondere auch über die Einhaltung der von der Verfassung gewährleisteten Grundrechte zu entscheiden hat.6 Das mongolische Verfassungsgericht und der Katalog der mongolischen Grundrechte zeigen wohl die größte Annäherung an das kontinentale und hier vor allem an das deutsche Recht. Gerade dadurch, dass die Verfassungsgerichtsbarkeit durch ein Sondergericht und nicht nur das Oberste Gericht der Mongolei (in Straf- und Zivilsachen) ausgeübt wird, gleicht die Verfassung hier dem österreichischen und deutschen Vorbild. Allerdings wird man betonen müssen, dass die mongolische Lösung hier Besonderheiten aufweist, die ihr ein eigenes Gepräge geben. Mit Ausnahme von Südkorea7 und der Mongolei kennt kein Gericht in Ostasien eine ähnliche Lösung des Problems der Verfassungsgerichtsbarkeit. Japan und Indonesien sind dem Vorbild der Vereinigten Staaten gefolgt oder kennen überhaupt keine als „Sondergericht“ entwickelte Verfassungsgerichtsbarkeit. Von daher gesehen gehört die Mongolei in die Reihe der ostund südosteuropäischen Staaten, die im Rahmen der Übernahme des gewaltenteilenden Rechtsstaates und der Verfassungsgerichtsbarkeit sich am meisten dem deutschen Verfassungsrecht genähert haben. Es ist daher notwendig, im juristischen Curriculum, also der universitären Ausbildungsordnung der neuen Juristengenerationen, sowohl der Verfassungs- als auch der Verwaltungsgerichtsbarkeit einen breiten Raum einzuräumen und das Studium der Gerichtsentscheidungen auch zu einem wichtigen Instrument des juristischen Unterrichts zu machen. Die Bemühungen der Reform der Juristenausbildung, die seit 1995 von mongolischer Seite unternommen worden sind, gehen auch deutlich in diese Richtung. Der Bürger muss nachvollziehen können, aus welchen Überlegungen und Gründen das von ihm angerufene Gericht einem geltend gemachten Anspruch stattgibt oder ihn ablehnt. Nur dann ist die vom Rechtsstaat geforderte Berechenbarkeit der öffentlichen Gewalt garantiert. Die Einführung von Verwaltungsgerichten, die von der Verfassung vorgesehen ist, war in gewissem Sinne etwas Neues für die Mongolei. Sie haben pauschal gesehen 6 Die Entscheidungen des Gerichts werden im Internet in mongolischer Sprache veröffentlicht und sind für Verwaltung und Rechtsprechung verbindlich. 7 Das südkoreanische Verfassungsgericht, das nach deutschem, italienischem und spanischem Vorbild kreiert wurde, hat übrigens im Jahre 2008 sein 40jähriges Bestehen gefeiert.

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folgende Aufgaben: „Schutz der Menschenrechte, Wiederherstellung des verletzten Rechts, Schadenersatz“.8 Natürlich besteht eine gewisse Überschneidung mit anderen Gerichtsbarkeiten, so mit dem mongolischen Verfassungsgericht einerseits, dem der Schutz der Menschenrechte anvertraut ist, und den Zivilgerichten andererseits, die in erster Linie mit den Ersatzansprüchen bei erlittenen Schäden angerufen werden müssen. An dieser Stelle soll besonders die planende und gestaltende Mitwirkung an der Schaffung der mongolischen Verwaltungsgerichtsordnung durch den verdienten Juristen Prof. Biaraa Chimid dankend hervorgehoben werden. Die gesellschaftliche Bedeutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, die im Gegensatz zum früheren System eine neue Offenheit von Gesellschaft und Staat herbeiführen werde, wurde immer deutlicher, je mehr das Projekt der Verwaltungsgerichtsbarkeit Gestalt annahm. Zwei Ereignisse haben die Einführung der Verwaltungsgerichtsordnung vorbereitet und eingeleitet: Einmal eine groß angelegte Darstellung der Verwaltungsgerichtsbarkeit in den verschiedenen Rechtskulturen und zum anderen die Tatsache, dass die Hanns-Seidel-Stiftung den von der Asian Developing Bank9 ausgeschriebenen Preis für die Schaffung der Verwaltungsgerichtsbarkeit und das Training angehender Verwaltungsrichter gewonnen hat. Die von der Hanns-Seidel-Stiftung beratene mongolische VwGO trat im Jahre 2004 in Kraft10 – sie kennt zwei Instanzen, denn neben der erstinstantiellen Zuständigkeit ist beim Obersten Gericht eine Kammer für Berufungs- und Revisionsfragen eingerichtet. Die Zusammenfassung der ordentlichen Gerichtsbarkeit und der Verwaltungsgerichtsbarkeit in einen Gerichtskörper und verschiedene Spruchkammern stellt eine Verbindung des angelsächsischen und des kontinentaleuropäischen Organisationsplanes dar. Im Übrigen zeigt aber die mVwGO deutliche Züge der deutschen Regelung, wie z. B. die Vorschaltung eines Widerspruchverfahrens, die Statuierung verschiedener Klagearten sowie die Einbeziehung der Normenkontrolle in das Anfechtungsverfahren. Die Ergebnisse der immer wieder zur Fortbildungsveranstaltung zusammengerufenen Verwaltungsrichter sind schon beachtlich, denn nach objektiver Schätzung werden bis zu 50 % der behördlichen Entscheidungen nach Anrufung des Gerichts aufgehoben. Auch in der Durchführung der vertikalen Gewaltenteilung, d. h. in der Schaffung kommunaler Autonomie zeigt die Mongolei deutlich einen deutschrechtlichen Einfluss.11 Die Gemeinden oder die örtliche Selbstverwaltung stellen 8 Chimid, Das Wesen der Verwaltungsgerichtsbarkeit in der Mongolei, deren gesellschaftliche und rechtliche Bedeutung, in: HSS, Reformen in der Mongolei und Weltpraxis, Ulaanbaatar, 2004. 9 Developing Mongolias Legal Framework A Needs Analysis, Hrsg. Asian Development Bank, 1995. 10 Siehe dazu v. a. die Präambel zur Kommentierung der mVwGO durch Heinrich Scholler und Jürgen Harbich, HSS, München 2008. 11 „In der neuen Verfassung wird zum ersten Mal der Begriff ,die kommunale Selbstverwaltung verwendet, wie er im Sinne der westlichen Länder zu verstehen ist.“, siehe dazu den Beitrag von Scholler / Dugar, Allgemeines zum mongolischen Kommunalrecht, in Vorbereitung.

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Teil 2: Rechtskultur

einen wichtigen Teil der vertikalen Gewaltenteilung dar, der die horizontale Gewaltenteilung zu ergänzen hat. Ein ähnlicher Fortschritt ist auch auf dem Gebiet des Polizei- und Sicherheitsrechts12 festzustellen. Wenn auch die Fortschritte im kommunalen und im Polizeirecht nicht so evident sind wie die großen Modernisierungsmaßnahmen in der Gesetzgebung, vor allem der Schaffung einer Verwaltungsgerichtsordnung und der Umgestaltung der ZPO13 und der StPO14, so sind doch diese von der Zahl der Normen her kleineren Reformen im alltäglichen Leben häufig genau so wichtig, wenn nicht wichtiger, als die großen, gesetzgeberischen Maßnahmen. Man darf aber nicht übersehen, dass auf weiten Gebieten noch ein erheblicher Nachholbedarf vorliegt, der nicht so sehr auf eine Rückständigkeit altmongolischen Rechts zurückgeht, sondern vielmehr Überbleibsel kommunistischer Fehlentwicklungen ist. Hierzu gehört vor allem das Gefängniswesen, das Jugendrecht und das Jugendstrafrecht, die Vernachlässigung oder Nichtregelung des Bodenrechts, und schließlich die mangelnde Regelung des Verhältnisses des Staates zu der alten mongolischen Religion sowie zu den neuen religiösen Bewegungen. Hier gab es zwar immer wieder Annäherungsversuche und Reformdiskussionen, doch ist im Großen und Ganzen auf diesem Gebiet ein Regelungsdefizit festzustellen. Die Ursachen dafür sind ganz verschieden. So ist die fehlende Regelung der Nutzung von Grund und Boden oder der Regelung von Staat und religiösen Bewegungen wohl in inneren Spannungen apparativer und politischer Art zu sehen, während andere Defizite, wie z. B. dasjenige des Mangels eines Verwaltungsverfahrensgesetzes, eher auf mangelnde politische Unterstützung zurückzuführen sind. Der seit einiger Zeit bestehende Konflikt zwischen dem mongolischen Verfassungsgericht und dem Parlament über den Umfang der Kompetenz der verfassungsgerichtlichen Gesetzeskontrolle kann und darf als Zeichen dafür gewertet werden, dass die auch dem mongolischen Verfassungsgericht eingeräumte „negative Gesetzeskompetenz“, also die Befugnis, einen Akt der Gesetzgebung für nichtig zu erklären, der Implantation in das politische Bewusstsein bedarf. Im Juli 2001 fand anlässlich der Feier des 75. Gründungsjahres der unabhängigen mongolischen Gerichtsbarkeit eine Tagung in Ulan Bator statt, auf der diese Fragen ausführlich diskutiert wurden. Offenbar geht es auch um die Frage der Stellung der Gerichtsbarkeit, inwieweit die allgemeine Gerichtsbarkeit – also nicht nur die VerfasDas mongolische Polizeigesetz hat im Zeitraum von 1997 bis 2008 ca. 25 Änderungen erfahren. 13 Siehe den Abschlussbericht von Oberstaatsanwalt J. Joachimski (unveröffentlicht), der nicht nur die neue Formulierung der ZPO abdruckt, sondern auch einen Kommentar zur Erläuterung der notwendigen Änderungen beigefügt hat. 14 Die Grundsätze des neuen mongolischen Strafprozesses (10. 01. 2002) sind von Schünemann im wissenschaftlichen Kommentar, Ulaanbaatar 2003, näher umschrieben, der vor allem auf die Natur des Inquisitionsprozesses in Kombination mit dem Anklageverfahren eingeht. 12

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sungsgerichtsbarkeit – aus der Zuständigkeit des Justizministeriums der Mongolei herausgelöst werden kann oder soll, oder inwieweit sie der Autorität dieser Behörde nachgeordnet bleiben soll. Von amerikanischer Seite wurde schon seit einiger Zeit ein Programm entwickelt unter der Bezeichnung der Unabhängigkeit der Gerichtsbarkeit, die die Selbständigkeit der Gerichte propagiert. Zuständig hierfür war Heike Gramckow in einem US-Aid Programm, die über die Fortschritte der einzelnen Gerichtszweige in ihrer Unabhängigkeit von jeder Bindung an ein Ministerium berichtete. Ich erinnere mich dabei an den Vortrag des amerikanischen Botschafters, an dem auch wir von der Hanns-Seidel-Stiftung als Zuhörer teilnahmen und in dem er die Rückständigkeit des mongolischen Gerichtswesens mit einem alten indischen Bild darstellen wollte: Die Mongolen seinen zu vergleichen mit alten blinden Indern, denen die Aufgabe gestellt wurde, einen Elefanten zu erkennen, ohne dass sie vorher über die wahre Natur des Elefanten unterrichtet worden waren. Der erste, der ein Bein erwischte, meinte: Das Ding sei ein Baum! Ein zweiter, der nur den Rüssel zu fassen bekam, widersprach: Nein, es sei eine Schlange! Doch der dritte, der nur die Bauchdecke abtastete, bestand darauf, es handele sich um ein Gewölbe! Aber der vierte (das sagte nun mein mongolischer Nachbar mir ins Ohr), der sich am Schwanz nach oben hinaufgeklimmt hatte, erklärte: Das Ding sei der amerikanische Botschafter. Der Wunsch der mongolischen Staatsregierung, eine Verwaltungsgerichtsordnung zu schaffen, welche die bestehende Gerichtsbarkeit in die Lage versetzt, durch besser ausgebildete Richter die Rechtsstreitigkeit der Verwaltung zu überprüfen, folgte dem kontinentaleuropäischen, also insbesondere dem französischen und deutschen Vorbild. Hier sieht man ein Auseinandertreten des Rechtsstaatsbegriffes auf dem Kontinent gegenüber dem Begriff von „Rule of Law“ nach angelsächsischem Vorbild. Denn „Rule of Law“ nach angelsächsischem Modell bedeutet ausschließliche Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte nach dem ordentlichen Zivil- oder Strafprozessrecht in Bezug auf Überprüfung der Akte der Verwaltung. Die vom Parlament zu entscheidende neue mongolische Verwaltungsgerichtsordnung war daher ein wichtiger Schritt auf der Verwirklichung des Rechtsstaatsprinzips auch und gerade aus deutscher Sicht. Berücksichtigt man den Umstand, dass Deutschland erst im Jahre 1960 eine umfassende Verwaltungsgerichtsordnung erhielt, so ist der Übergang in einem Zeitraum von zehn Jahren vom zentralen Verwaltungsstaat der Mongolei zu einem modernen rechtsstaatlichen und damit kontrollierbaren Verwaltungsrecht sehr schnell erfolgt. Die Bedeutung, welche auch die neue Regelung der Zivilprozessordnung und der Strafprozessordnung in der Mongolei hat, zeigt, dass auch hier die rechtsstaatliche Legitimation der staatlichen Gewalt durch Verfahren allgemeine Anerkennung gefunden hat. Es wurde aber wiederholt eine weitere Frage auf dem Gebiet des öffentlichen, insbesondere des Verfassungsrechts, angeschnitten, inwieweit Modelle aus anderen Rechtsfamilien, insbesondere aus der angelsächsischen Rechtsfamilie des Common Law, vom dem kontinentalen Recht verpflichteten mongolischen Rechtssystem ohne Schaden übernommen werden können. Nach deutschem Rechtsverstehen ist zwar die Verfassungsgerichtsbarkeit ein Staatsorgan, und damit ist sie mindestens ein Mehr,

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Teil 2: Rechtskultur

wenn nicht ein Aliud gegenüber der ordentlichen Gerichtsbarkeit. Sie ist selbständig, der Richter ist nur an das Gesetz gebunden und kann nur unter gesetzlichen Voraussetzungen und aufgrund gerichtlicher Verfahren kontrolliert und ggf. sanktioniert werden. Daher hat der Justizminister keinerlei Weisungsrecht gegenüber den Gerichtsorganen. Sein Weisungsrecht ist auf den Generalstaatsanwalt beschränkt und auch hier muss es in generalisierter Weise ausgeführt werden. Allerdings liegt ein großer Teil der Personalverwaltung des gesamten Justizapparates in den Händen der Justizverwaltung, wenn man das deutsche Modell näher betrachtet. Eine Mischung verschiedener Modelle, hier des deutschen mit dem US-Modell, ist zwar theoretisch nicht ausgeschlossen, es muss aber jeweils von Fall zu Fall geprüft werden, welche nachteiligen Folgen sich aus der Blockade verschiedener Modellteile für die Verwirklichung des Rechtes ergeben können. Abschließend soll noch ein weiterer Gesichtspunkt angesprochen werden. Auf einer anderen Konferenz im April 2000 wurde die Frage eingehend zwischen mongolischen, amerikanischen, russischen und deutschen Experten diskutiert, zu welcher Rechtsfamilie15 sich die Mongolei zugehörig fühlt oder besser zu welcher sie Kraft der Verfassung zuzurechnen ist. Es wurde von allen Seiten Übereinstimmung erzielt, dass die Mongolei auch nach der Wende Glied der kontinentalen, also römisch-germanischen Rechtsfamilie bleibt. Wenn auch die Regelung über das Oberste Gericht in Art. 50 der mongolischen Verfassung eine Vorschrift vorsieht, die den höchsten Entscheidungen eine bindende Wirkung gegenüber allen Gerichten gibt (Art. 50 Abs. II), so ist doch Art. 20 so eindeutig, dass nur dem mongolischen Hural die Gesetzgebungsbefugnis zusteht (siehe auch die Bestimmungen in Art. 50 Abs. II S. 2 und Abs. III). Auch nach dem Grundgesetz geht die gesetzgebende Gewalt nur vom Volke aus und wird durch das Parlament ausgeübt.

15 Siehe dazu meinen Vortrag zur „Bedeutung der Lehre vom Rechtskreis und die Rechtskultur“ in der Zeitschrift für vergleichende Rechtswissenschaften (ZVR), 2000, S. 373 – 386.

Teil 3 Toleranz

J. Dantes Vision einer christlichen Weltordnung I. Die Ausgangssituation Das Werk des Augustinus, das den berühmten Titel von der Bürgerschaft Gottes (Civitas Dei) trägt, wirkt in der europäischen Geschichte über eineinhalb Jahrtausende bis hin zum beginnenden 19. Jahrhundert: Es begründete in besonderer Weise den Glauben an und die Hoffnung auf ein Ordo Christianus. Durch die wohl erst auf dem Totenbett erfolgte Taufe des Kaisers Konstantin und durch die Legende von dem Himmelszeichen vor der Entscheidungsschlacht gegen den Rivalen Konstantins an der milbischen Brücke („in hoc signo vinces“) war es den führenden, staatstheoretisch denkenden Theologen klar, dass dieser christliche Staat ein Weltkaisertum sein müsse. Als das weströmische Kaiserreich und damit sein Kaisertum verfiel, erlebte dieser Staatsgedanke im Westen eine Auferstehung durch die Kaiserkrönung Karls des Großen am zweiten Weihnachtsfeiertag des Jahres 800. Geprägt von den antiken Vorbildern vom christlichen Kaisertum im Westen, das nach einer konstantinischen Wende doch noch eine nicht geringe Zeit fortdauerte, und vor allem beeinflusst durch das byzantinische oströmische Kaisertum in jenem zweiten Rom, war der Gedanke an ein weströmisches Kaisertum als monokratische Weltordnung immer lebendig geblieben. Nicht unwesentlich wurde diese Vorstellung vom platonischen Staatsdenken mitgetragen, das nicht in der monokratischen Form der Monarchie, sondern nur in der Tyrannis einen negativen Staatsformtypus sah. Mit der Kaiserkrönung Karls des Großen vollzog sich das, was die Staatslehre später die „translatio imperii ad francos“ nannte. Daraus wurde später der Begriff des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation geprägt. Mit dem Westfälischen Frieden, dessen 350. Wiederkehr in Deutschland durch einen Staatsakt in Münster und Osnabrück gefeiert wurde, der die größte Anzahl an Staatsoberhäuptern seit langer Zeit versammelte, war dieser Ordo Christianus, dieses Weltkaisertum, ins Wanken geraten. Samuel Pufendorf hat mit Recht den durch diesen Frieden, das Instrumentum Pacis Osnabrugensis, entstandenen Staat als ein irreguläres, monströses Staatsgebilde bezeichnet: „Irregulare aliquod et monstro simile“. Unter und neben dem ins Wanken geratenen christlichen Weltkaisertum entwickelten sich nun in Europa die Nationalstaaten. In gewisser Hinsicht kann man das Imperium Bonapartes noch einmal als den Versuch bezeichnen, ein Weltkaisertum zu errichten. Nach ihm jedoch wurde das monokratische Weltherrschaftsgebäude durch die Aristokratie der westlichen Kaiser in der so genannten Heiligen Allianz abgelöst.

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Teil 3: Toleranz

Als Gegenmodell entwickelte sich die Vorstellung, dass der Staat und seine Legitimität auf die Volkssouveränität und damit auf den Contrat Social gestützt werden müsse. Diese Vorstellung erreicht in Rousseaus Gedanken seinen politischen Höhepunkt und wird von Kant in seinem Traktat vom Ewigen Frieden auch Grundlage einer neuen, auf Vertrag gegründeten Völkerbundsidee. Dennoch hat die Vorstellung eines Ordo Christianus mit dem Pluralismus oder der Pentarchie des 19. Jahrhunderts und der Lehre von der Volkssouveränität nicht sein Ende gefunden. Der Paneuropa-Gedanke und die Wiederbelebung der europäischen Idee nach dem Kriege durch Männer wie de Gaspari, Schumann und Adenauer sind Fernwirkung des Gedankens eines Ordo Christianus, der seine gültigste Ausprägung bei Dante Alighieri gefunden hat. Es ist aber auch nicht ohne Interesse, dass fast zur gleichen Zeit als Gegenmodell die Lehre von der Volkssouveränität von einem anderen Italiener, nämlich von Marsilius von Padua, ausgebaut und gerade vom deutschen Kaiser Ludwig dem Bayern zur Legitimation herangezogen werden sollte. II. Einführung in die Reihe politische Denker Nachfolgend sollen Staatsmodelle und Staatsdenken hervorragender Persönlichkeiten der abendländischen Staatsphilosophie anhand ihrer Werke vorgestellt werden. Die Werke selbst sind entweder als Begriffe in die allgemeine Staatslehre und die Staatsphilosophie eingegangen, wie zum Beispiel die Utopie des Thomas Morus, oder es sind daraus wichtige Schlüsselbegriffe – regulative Ideen – der Staatsphilosophie entstanden, wie zum Beispiel die Idee des Leviathan aus den Werken von Thomas Hobbes. So ist das Werk von Montesquieu Vom Geist der Gesetze nicht wegen seiner geisteswissenschaftlichen Interpretationsmethode der Gesetze, sondern wegen eines anderen Zentralbegriffes der Gewaltenteilung bis auf den heutigen Tag von Bedeutung. Solche Denker und ihre Werke sollen also vorgestellt und interpretiert werden, die für das moderne politische Denken programmatisch geworden sind. Wenn hier mit Dante Alighieri begonnen wird, so deshalb, weil er zentral im mittelalterlichen Denken steht, dennoch aber wichtige Elemente der späteren Entwicklung aufzeigt und in der Verbindung von Staatsdenken und Dichtkunst eine Urkraft mittelalterlich-europäischen Denkens darstellt. Auch ist Dante insofern mehr als manch anderer Denker eine Symbolfigur, als er der verfolgte Dichter und Politiker in einer Person ist, wie sie gerade dem 20. Jahrhundert wieder vermehrt geschenkt wurden. Der aus dem Exil zurückkehrende, aus dem Gefängnis befreite Dichter, der Dissident, der dann zum Staatspräsidenten wird, stellt keine Fabel, sondern eine Wirklichkeit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dar. III. Dante – Die Idee des Weltkaisertums 15 Jahre nach dem Tode Kaiser Friedrichs II. (1265) wurde Dante Alighieri in Florenz, der Stadt der italienischen Renaissance, geboren. Zwei Menschenalter lag der

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vierte Kreuzzug zurück, in dessen Verlauf unter der Führung des Dogen von Venedig, Dandolo, 1204 Byzanz erobert und geplündert worden war. Etwas mehr als 100 Jahre nach dem Tode Dantes wurde Byzanz von den Türken überrannt, erobert und zerstört (1453). Die Renaissance kam mit den flüchtenden Philosophen und Sprachwissenschaftlern nach Italien. Eineinhalb Jahrhunderte nach seinem Tode sollten zwei große Ereignisse den Beginn der Neuzeit kennzeichnen: Die Entdeckung Amerikas durch Kolumbus und die Geburt des Reformators Martin Luther. Dante wurde in Florenz, der schönsten, gelehrtesten und elegantesten Stadt Italiens, in Philosophie und Geschichte, Kunst und Wissenschaft eingeweiht. Als Mitglied der Zunft der Medici stieg Dante als 33-Jähriger in den obersten Rat und damit das oberste Amt der Stadt Florenz auf, in die Signoria. In Florenz, das sich nach dem Tode der Mathilde von Toskana langsam von Rom löste, entstand nach dem Tode Kaiser Friedrichs II. unter der Bezeichnung Primopopulo die erste demokratische Verfassung. Gleichzeitig brach aber der schwelende und lang andauernde Streit zwischen der päpstlichen Partei der Guelfen und der kaiserlichen der Ghibellinen aus und nach dem Sieg der Guelfen war diese Partei in eine weiße und eine schwarze Führung zerfallen. Nach dem Eingreifen Karls von Valois und dem damit verbundenen Sieg der schwarzen Guelfen wurde Dante mit den Führern und Freunden der weißen Guelfen auf Lebenszeit verbannt und in Abwesenheit sogar zum Tode durch Verbrennen verurteilt. Wie sah die Welt für den Verbannten damals aus? Dante hat eine heillos zerfallene Welt vor Augen: Im Norden ein Deutschland, das sich Heiliges Römisches Reich nennt, sich aber um Italien, den Garten des Reiches nicht kümmert (Purg. 6, 105); ein Frankreich, das längst freventlich – wie Dante es verstehen musste – aus dem Reichsverband ausgebrochen ist (Purg. 20, 64 ff.); ein England und ein Spanien, die mit dem Reich nichts zu tun haben wollen (Par. 19, 121 ff.); einen griechisch-slawischen Osten in geheimnisvollem Dunkel. Vor diesem geopolitischen Hintergrund müssen wir Dantes Staatslehre verstehen, der die Kunst des Dichters mit der Kunst des Politikers und der Philosophie des Denkers aufs Engste verband. Vielleicht war Dante nicht nur ein denkender Politiker und ein philosophischer Denker, sondern ein Visionär, der seinen großen christlichen Weltstaatsentwurf als Vision empfing? Diese Vision hat er vor allem in seinem Poema Sacro, seiner Divina Comedia dargestellt. Geführt von Gestalten der Antike, wie Vergil und Cicero oder seiner großen Angebeteten, der berühmten Beatrice, seiner Inspiratorin und seinem irdischen Ideal, durcheilt er die Geschichte, indem er von dem Inferno durch das Purgatorium, das Fegefeuer, ins Paradies, dem Ort der Gerechten und Seligen, wandert. In der Darstellung von Strafe und Belohnung, von Hölle und Paradies, entwickelt er sein Staatsverständnis, seine Staatsphilosophie, die vor allem mit großer Klarheit im 17. Gesang des Paradieses, dem berühmten Mittelgesang, der sich im Mittelpunkt der 33 Paradiesgesänge befindet, dargelegt wird. In diesem Gesang stellt er auch persönliche Fragen und sucht für sein eigenes Schicksal die Antwort der Vorsehung.

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IV. Die Situation Italiens im 13. Jahrhundert Ehe wir uns hier noch näher mit der in der Divina Comedia dargestellten Staatsphilosophie, dem Staatsdenken Dantes beschäftigen, soll eine Gesamtanalyse den Standort Dantes zu bestimmen versuchen. Dabei müssen wir auch auf andere Schriften eingehen, in welchen er sich mit der Staatslehre, dem universellen Kaisertum oder der Weltmonarchie beschäftigt hat. Das ist zum einen das Buch über die Volkssprache (De vulgari eloquentia), seine Schrift über die Monarchie (Monarchia) und das sind seine Darlegungen in den politischen Briefen. In all diesen Schriften, vor allem aber in der Monarchia, die ein politisches Testament Dantes darstellen könnte, entwirft er eine neue Welt- und Friedensordnung unter einem Weltkaisertum. Kann unsere Zeit, kann man zum Ende dieses Jahrtausends ein solches Bekenntnis zu einer Weltmonarchie, zu einer monarchistischen Welt- und Friedensordnung verstehen oder gar programmieren? Bei der Beurteilung dieser Frage sollte man zunächst zweierlei bedenken: Das Kaisertum zu Dantes Zeit war ein Wahlkaisertum, das auf dem deutschen Königsgedanken und der Idee des römischen Imperiums ruhte. Es entsprach weder dem Modell der späteren absoluten Monarchie noch einer nationalistischen Tyrannis oder Hegemonie eines Staates oder Volkes. Zum anderen zeigte sich gerade in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wie der Neopräsidentialismus ausgehend von einer Wiederbelebung des amerikanischen Modelles und der Übernahme De Gaulles in Frankreich einen Siegeszug um die Welt angetreten hat, der nunmehr auch die UdSSR erfasst. Auch für das sich immer schneller organisierende vereinte Europa wird sich die Frage nach der adäquaten Staatsorganisation stellen und auch hier wird der Neopräsidentialismus sicher eine wichtige Variante unter verschiedenen Modellen darstellen. V. Staat und Kirche im 14. Jahrhundert Im 14. Jahrhundert versuchte Rom das Verhältnis von Staat und Kirche neu zu regeln. Das Kaisertum war nach dem Tode des letzten Stauferkaisers Friedrich II. und der Hinrichtung seines Enkels Konradin geschwächt und ohne entscheidenden Einfluss in Italien. Der Papst Bonifaz VIII. verkündete daher in seiner Bulle „Unam Sanctam“ im Jahre 1302, auf dem Höhepunkt der politischen Laufbahn Dantes, mit der Lehre von den beiden Schwertern – der Kirche und dem Staat – seine Suprematie der Kirche über den Staat, da letzterer seine Macht und sein Schwert aus den Händen der Kirche erhalten habe. Anders als Marsilius von Padua, der die Kirche dem Staate unterordnete und den Staat auf die Souveränität des Volkes gründete, vertrat Dante gegen den Anspruch des Papstes auf die Vorherrschaft eine andere, wesentlich differenziertere Lösung, die keine einfache Unterordnung der Seinsmacht unter die andere Geistesmacht oder umgekehrt bedeutete. Seine Auffassung nimmt den Ausgangspunkt in der Vorstellung von den „zwei Glückseligkeiten“, die der Mensch verwirklichen sollte, einer diessei-

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tigen und einer ewigen oder jenseitigen Glückseligkeit. Für die erste sei der Staat geschaffen, für die zweite die Kirche. Das Verhältnis der beiden Glückseligkeiten bestimmt Dante wie folgt: „Das Menschengeschlecht kann aber nur in vollkommenem Frieden am freiesten und leichtesten an seine eigentlichen Aufgaben herantreten … Daraus ergibt sich klar, dass der Weltfriede das Beste unter allen Gütern ist, die zu unserer Glückseligkeit hingeordnet sind. Um den Frieden, das Glück zu verwirklichen, müssen alle Handlungen des Menschen von der Vernunft geleitet sein.“ (Mon. I, 5).

Die Einheit der Weltmonarchie erfordert nach Dante auch einen Herrscher: „Die Menschheit ist, sofern sie sich in guter Verfassung befindet, von einer Willenseinheit abhängig. Das ist aber nur möglich, wenn es einen einzigen Willen gibt, der alle anderen beherrscht und auf ein Ziel hinlenkt … Einen einzigen Willen kann es aber nur geben, wenn einer Herrscher über alle ist, der mit seinem Willen der Herr und Leiter für das Wollen aller anderen ist.“ (Mon. I, 14 – 15, vgl. Conv. IV, 4).

Vor diesem Hintergrund muss man die Lehre von den beiden Glückseligkeiten verstehen, wenn Dante dazu sagt: „Zur ersten Art gelangen wir aufgrund philosophischer Unterweisung, sofern wir ihr Folge leisten und sie durch moralische und intellektuelle Tugenden zum Ausdruck bringen. Zur zweiten Art gelangen wir durch geistliche Unterweisungen, die über die menschliche Vernunft hinausgehen, sofern wir ihnen folgen und sie in den theologischen Tugenden Glaube, Hoffnung und Liebe bestätigen.“ (Mon. III, 16).

Moderne Autoren wie Konrad Hesse haben das zeitgenössische Verhältnis von Kirche und Staat geradezu mit einem analogen Bild zu Dantes Vorstellung zum Ausdruck gebracht. Wenn Hesse den Begriff der Zweiherrschaft, der Dyarchie für das Verhältnis von Staat und Kirche im Nachkriegsdeutschland als bezeichnend ansieht, dann konvergiert er hier mit der Vorstellung Dantes. Auch die verschiedenen modernen Autoren, die das Verhältnis Staat und Kirche mit partnerschaftlichen Beziehungen kennzeichnen wollen, liegen auf dieser Linie. Wir sehen also, dass Dante durchaus einen ganz modernen Ansatz in der Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Kirche aufzeigt, ein Verhältnis, das grundlegend auch noch heute für das moderne Verständnis der Seins- und Geistesmacht in Europa ist. Dantes Vision von Staat und Kirche ist somit nicht als rein mittelalterlich abzutun, wenn auch Einzelelemente mittelalterlich erscheinen mögen. Nicht mittelalterlich ist das Verhältnis des menschlich-staatlichen zum göttlichen Recht. Zwar knüpft er auch – wie Thomas von Aquin – an die Vorstellungen der Lex Aeterna und Lex Naturalis an, doch sieht das Verhältnis beider Erscheinungsformen der Ordnung bei ihm anders aus. Die Lex Aeterna (von Gott ausgehend) steht Gott zu, doch die Lex Naturalis, das natürliche Gesetz, fällt in die Kompetenz des Kaisers, des Vollstreckers des göttlichen Willens in der konkreten staatlichen Friedens- und Rechtsordnung. Unterhalb des Kaisers stehen die Gesetzgeber – Staaten, Städte und Herrschaften – die eine Stufenleiter der Vollzugsgewalt darstellen. So wiederholt Dante auch hier in seiner Naturrechtslehre die partnerschaftliche oder dyarchische Organisation von Staat und

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Kirche, die einander als Geistes- und Seinsmacht zugeordnet, nicht aber über- und untergeordnet werden. Allerdings ist nicht zu verkennen, dass eine Reihe von Vorstellungen dem mittelalterlichen Denken verpflichtet ist, so die Analogie zwischen Welt- und Staatsordnung einerseits und göttlicher Heilsordnung andererseits, so die Gleichsetzung von Menschheitsgeschichte mit Heilsgeschichte und so die Bedeutung des Universellen gegenüber dem Pluralistischen und Partikulären. Doch die Kirche sah nicht die dem mittelalterlichen Denken verpflichteten Elemente noch das Geniale in dem großen Entwurf einer universellen Weltordnung, sondern sie sah eine Gefährdung ihrer Stellung in der Betonung der Eigen- und Gleichberechtigung des Staates als einer eigenen Seinsmacht, wie sie von Dante als Friedens- und Ordnungsfaktor dargestellt wurde. So wurden Dantes Schriften verboten und auf den Index Auctorum et Librorum Prohibitorum gesetzt. Sicher spürten seine Gegner nicht nur die Macht seines dichterischen Wortes, sondern auch den neuen Geisteshauch, der Dante zum Vorläufer der Renaissance machte. Von Aristoteles und Thomas von Aquin löste er sich durch die Betonung der Gleichmäßigkeit und Gleichberechtigung der staatlichen Seinsmacht und der kirchlichen Geistesmacht, so dass das Sacrum Imperium unter dem deutschen Kaiser und die Sancta Ecclesia einander zugeordnet wurden, um einen berühmt gewordenen Buchtitel von Alois Dempf zu zitieren. Zukunftsweisend war auch die Betonung der Volkssprache, was ihn mit dem Reformator Martin Luther verbinden sollte. Auch wendet sich Dante gegen den Islam und Mohammed nicht als dem falschen Propheten eines Irrglaubens, sondern er sieht in ihm die Bedrohung des einheitlichen mittelalterlichen Kosmos und verurteilt ihn als Zerstörer der Einheit. VI. Dantes Eintreten für die Wahrheit In seinem 17. Gesang des Paradieses, der schon erwähnt wurde, stellt Dante die Frage nach der Vorhersehung und der Vorherbestimmung der menschlichen Geschicke und der Menschheitsgeschichte. Damit verbindet er die Frage nach seinem persönlichen Ergehen, nach seinem eigenen Schicksal, ob er dem Exil entrinnen könne, ob er zurückkehren werde nach seiner Heimatstadt Florenz, oder ob er den Tod fern der Heimat finden werde. Hätte er nicht besser in seinem Asyl schweigen sollen, wenn er die Hoffnung auf Rückkehr hatte, um sich damit das Wohlwollen der Mächtigen in Florenz zu erkaufen? Auch hier ist Dantes Schicksalsbewältigung modern. 1315 schrieb er einen stolzen Brief an seinen väterlichen Freund in Florenz, in dem er eine Rückkehr unter demütigenden Bedingungen kategorisch ablehnte. Dante fasste seine Stellungnahme für die Wahrheit und gegen jeden Kompromiss mit der Unwahrheit in folgenden Versen zusammen: „Lass dich nicht ein auf lügenhaftes Schweigen, was du geschaut, das offenbare ganz, und lass nur kratzen, wo es Krätze gibt!

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Wer erst gekostet hat von deinem Wort, dem schmeckt es bitter; doch wer es verdaut, dem wird es lebendspendend reiche Nahrung. Und wenn du rügst, nimm dir den Wind zum Vorbild: Die höchsten Gipfel schüttelt er am meisten. Ein solcher Freimut muss dir Ehre bringen.“ (Par. 17, 127 – 135).

Dantes Schrift über die Monarchie – wohl sein letztes Werk, sein politisches Testament – schließt sich an diesen Gesang im Paradies an und führt die dort ausgesprochenen Gedanken zu einer neuen Staatslehre zusammen. Sein Eintreten für die Wahrheit und seine Zurückweisung eines jeden auf Unwahrheit basierenden Kompromisses weist Dante als einen modernen Denker aus. Was Havel, Präsident der Tschechoslowakei, auf seiner Salzburger Festrede – Ende Juli 1990 – über Wahrheit und Lüge und die mitteleuropäische Verstrickung gesagt hat, das hat Dante in seinen Briefen in seinem Mittelgesang im Paradies und in seinen sonstigen Schriften vorweggenommen. Als mitteleuropäische Verstrickung hatte Havel das Sich-Herauslügen bezeichnet, den Versuch, der Lüge durch eine neue Lüge zu entgehen: „Allzu häufig gebiert die Angst vor einer Lüge eine andere, eitel hoffend, dass sie als Rettung vor der ersten die Rettung vor der Lüge überhaupt sei. Doch kann uns die Lüge nie vor der Lüge retten.“ (FAZ, 22. 7. 1990).

Eine gewisse Gegenposition zu Dante nimmt Marsilius von Padua ein: Marsilius gehörte zu einer Reihe von Philosophen und Wissenschaftlern, die an der Wende des 12. und 13. Jahrhunderts aktiv in den so genannten Investiturstreit eingriffen, der die Frage des Ursprungs der geistigen und weltlichen Amtsgewalt betraf. Dieser Streit umfasste somit insbesondere das Problem, ob der Kaiser seine Gewalt von Gott oder vom Volke unmittelbar habe, oder ob er seine Amtsgewalt vom Papst übertragen erhielt. Die beiden damaligen „Großmächte“, die großen Pole Kirche und Staat, oder – wie es Alois Dempf genannt hatte – das Sacrum Imperium und die Sancta Ecclesia rangen miteinander um die Vorherrschaft, die so genannte Suprematie. Die politische und kulturelle Situation hatte sich im 12. und 13. Jahrhundert grundlegend verändert und strebte auf etwas zu, das man mit Recht das „frühe moderne Europa“ genannt hat. Der englische Historiker Gaines Post sagt hierzu: „Die Wiederbelebung des wirtschaftlichen, politischen und sozialen Lebens im Zusammenhang mit dem Auftreten neuer Lehrmethoden und neuer Schulen und neuer Literatur im Zusammenhang mit der Entstehung eines neuen Kunst- und Baustils bezeichneten die Anfänge einer neuen Kulturepoche im Westen. So vollendete sich im 13. Jahrhundert, was bereits im 12. Jahrhundert angelegt war, und reifte dann zu dem heran, was man ein frühes modernes Europa nennen darf.“1 1 Gaines Post, Studies in Media Legal Thought, Public Law and the State 1100 to 1322, 1964, S. 3.

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Teil 3: Toleranz

In dieser Wende prallten die Ideen der Anhänger und Gegner der staufischen Rechtstheorie aufeinander. Dante hatte diese Idee vertreten, und man spricht in der modernen Forschung von seinem Standpunkt mitunter als dem Schwanengesang der Kaiseridee. Die Kanonisten jedoch verwarfen den Grundsatz „unus imperator in orbe“ zugunsten einer Betonung der Nationalstaatlichkeit. Die Idee des Kaisertums verblasste, der Kaiser schien „nicht viel mehr als ein auszeichnender Titel“ zu sein, wie Walther Holtzmann2 festgestellt hat. Man hat diesen Vorgang „die Liquidierung des Kaisergedankens“ genannt. Marsilius von Padua ist an dieser Entwicklung wohl weniger ursächlich beteiligt, aber er steht doch mitten in ihr. Was für Kirche und Staat von den Ideen des Marsilius von Padua bestimmend wird, ist die Forderung nach einem Konsens, die in den Wunsch nach einem Generalkonzil mündete.3 Auf dem Boden der Volkssouveränität, oder um es moderner zu definieren, auf dem Boden des Konsensprinzipes, scheint es für das ruhige Zusammenleben der Menschen nicht erforderlich zu sein, dass die Staatenwelt durch ein Weltkaisertum überwölbt werde. Die wachsende Bedeutung der Verschiedenheit der Sprachen, die Betonung der unterschiedlichen Sitten und Lebensformen deuten jedoch schon in die Richtung der Nationalstaatlichkeit und sind Ausdruck eines antiuniversellen Denkens. Bei Marsilius beginnt sich ein Gedanke zu entwickeln, der dann auch von Martin Luther übernommen wird und der darin besteht, dass der Kaiser nur noch als Advokat der universalen Kirche auftritt. Der Münchner Kirchenrechtler und Kirchenrechtshistoriker Johannes Heckel hat auf diese Verbindung von Marsilius und Luther treffend hingewiesen.4 Wenden wir uns nun dem Inhalt der Schrift „Defensor Pacis“ zu. Die Abhängigkeit der Gedanken des Marsilius von Aristoteles ist bekannt. Diese gedankliche Reduzierung des Marsilius ist aber genauso unzutreffend wie seine Zurückführung auf die Funktion eines frühen Vorläufers des italienischen Patriotismus oder eines Vertreters italienischer Klein- und Einzelstaatlichkeit oder gar italienischer Stadtpolitik. Natürlich verliert Marsilius heute dadurch etwas an Bedeutung, dass sein Angriff gegen Papsttum und verweltlichten Klerus in der Gegenwart keine Seinsentsprechung findet, sondern ganz im Gegenteil Kirchen und Kirche zu friedensstiftenden Einrichtungen geworden sind in einer Welt, wo neue und gefährlichere Ursachen des Unfriedens auftraten.

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Walther Holtzmann, Das mittelalterliche Imperium und die werdenden Nationen, 1953. Heinz Angermeier, Das Reich und der Konziliarismus, Historische Zeitschrift Bd. 192 (1961), 531; Gerd Tellenbach, Vom Zusammenleben der abendländischen Völker im Mittelalter, in: Festschrift für Gerhard Ritter, 1950, S. 1 ff. 4 Johannes Heckel, Marsilius von Padua und Martin Luther, Zeitschrift der Savigny Stiftung für Rechtsgeschichte 75, Kanon, Abt. 44 (1958), S. 282 ff. 3

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Würden wir aber Kirche, Kirchenpolitik und Religion durch modernere Begriffe wie Partei und Ideologie oder Fundamentalismus substituieren, so würden wir sehr wohl sehen, dass auch gerade im 20. Jahrhundert die ideologische Spannung, die philosophische Ökonomie, die Parteidoktrin an der Wurzel der großen Kriege unseres Jahrhunderts standen. Der Wegfall dieser ideologischen Spannung durch den Zusammenbruch des Marxismus hat der Welt zumindest für den gegenwärtigen Augenblick eine Friedenspause verschafft. Die modernen Friedensforscher haben auch, ähnlich wie Marsilius, die Gefährlichkeit moderner Ideologien als die Saat des Unfriedens erkannt. Während sich so auf der einen Seite das Friedenspotential durch den Niedergang der Ideologie der marxistischen Welt erhöht hat, bedeutet die Islamisierung der Staaten der Entwicklungsländer eine neue Friedensgefährdung. Interpretieren wir also den Gedanken des Marsilius von Padua zulässigerweise als ein Anprangern von Fundamentalismus und Ideologie, so sehen wir, dass seine Betonung der Sicherung des Friedens durch staatliche Instrumente hochaktuell ist. Ein weiteres wichtiges Ergebnis der Theorie des Marsilius war, dass er die Grundsätze, die er in der Konsenstheorie für den Staat entwickelte, auch auf die Kirche und ihre Gläubigen übertrug. Das christliche Volk war und blieb in der Kirche der Gesetzgeber der Gläubigen, und dieser Gesetzgeber müsste sich in einem allgemeinen Konzil konkretisieren. Ein solches Konzil sollte von Laien und Priestern gebildet werden. Marsilius führt dadurch den Papst auf eine repräsentative Funktion zurück. Wenn man die Wirkung der politischen Theorie des Marsilius vom heutigen Standpunkt aus bewerten soll, so erkennt man in ihr einen sehr modernen Gedanken, der darin liegt, dass ein Mittelweg zwischen Einzelstaatlichkeit, also einem extremen Partikularismus, und der Zentralstaatlichkeit auf europäischer Ebene gesucht wird.5 Auch heute hat man in der europäischen Gemeinschaft und darüber hinaus ein ähnliches Ziel vor Augen, einen europäischen Gesamtstaat auf föderativer Grundlage zu entfalten, der weder einen extremen Zentralismus entwickelt noch durch die Macht der einzelnen nationalen Staaten zu sehr in seiner Aktion gehemmt wird. Die Übersetzung der göttlichen Komödie Dantes und ihre Interpretationen haben seither alle Generationen beschäftigt und fasziniert. Nimmt man nur den kleinen Blickwinkel Münchens und betrachtet man den überschaubaren und geographisch abgegrenzten Bereich der Beschäftigung mit Dante, findet man so bedeutsame Namen wie den von Carl Vossler, den von den Nationalsozialisten abgesetzten Rektor der Universität München, der als großer Humanist Weltansehen genoss, und nach dem Krieg vor allem Romano Guardini, der sich gerade neben seiner Hölderlin-Interpretation auch durch die Interpretation Dantes einen Namen weit über Deutschland hinaus gemacht hatte.

5 Heinrich Scholler, Dallo Stato AllEuropa Attraverso La Nazione, Behemoth n. 16, Anno IX – Fasc. 3 – 4, Luglio-Dicembre 1994, 43 ff.

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Schließlich darf ein Hinweis auf Rheinfelder nicht fehlen, der ideenreiche und vielseitige Dante-Interpretationen vorgelegt hat.6 München zu erwähnen, bedeutet aber auch im Hinblick auf Dante auf Stefan George zu verweisen, der mit und in seinem Kreise zu einer neuen Dante-Renaissance beitrug. Dies bezweckte auch sein vielfach missgedeutetes, im Jahre 1929 erschienenes Buch vom „Kommenden Reich“. Zum Stefan George-Kreise7 gehörten auch die drei Stauffenberg-Söhne, die an seinem Totenbett die Wache hielten. Der Widerstandskämpfer und Verschwörer Claus von Stauffenberg8, der am Abend des 20. Juli nach dem gescheiterten Attentat in der Bendlerstraße erschossen wurde, hat für viele mit seinem geheimnisvollen letzten Ausruf „Es lebe das heilige Deutschland!“ ein Rätsel hinterlassen. Weiß man aber um die Wiederbelebung der Reichsidee und der Idee einer friedlichen Weltordnung, wie sie Dante entworfen und wie sie vom George-Kreis wieder aufgegriffen wurde, dann könnte sich dieses Rätsel leicht lösen. Dantes Eintreten für die Wahrheit, für die universelle Weltordnung und den allgemeinen Weltfrieden ist nicht nur ein Bekenntnis der moralischen Kraft und des Gewissens des Menschen, sondern auch ein Bekenntnis zur Geschichte und zum Wirken Gottes in dieser. Man könnte es mit den Worten Gorbatschows auch so ausdrücken: Dante hat in all seinen Gesängen, in Briefen und Warnungen darauf hingewiesen, dass der, welcher zu spät kommt, von der Geschichte bestraft wird. So gilt dem Europa dieses ausgehenden Jahrtausends die Vision Dantes von Weltfrieden und Weltordnung in ganz besonderem Maße.

6 Hans Rheinfelder / Horst Denzer, Dante, in: Maier, Hans (Hrsg.): Klassiker des politischen Denkens, Bd. 1, 1986, S. 131 ff. 7 Carola Groppe, Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der Stefan GeorgeKreis 1890 – 1933, 1997; Georg P. Landmann (Hrsg.): Der George-Kreis. Eine Auswahl aus seinen Schriften, 1980. 8 Hans Bentzien, Claus Graf Schenk von Stauffenberg. Zwischen Soldateneid und Tyrannenmord, 1997; Peter Hoffmann, Claus Graf Schenk von Stauffenberg und seine Brüder. Das Geheime Deutschland, 1992.

K. Gewissen, Gesetz und Rechtsstaat I. Die Problemstellung Als vor über 80 Jahren Georg Jellinek1 in einer Vorstudie zu seiner „Allgemeinen Staatslehre“ die These von der Entstehung der Menschenrechte und ihrer Deklarationen in den Vereinigten Staaten und in Frankreich aus dem Recht der Gewissensfreiheit aufstellte, stieß er bei Historikern2 wie Juristen3 auf Zustimmung und Widerspruch. Die dogmatische und historische Forschung hat seitdem an diesem Thema weitergearbeitet, ohne dass eine endgültige Entscheidung dieser Streitfrage bisher gefallen wäre.4 Immerhin hat sich gezeigt, dass das Problem vielschichtig ist und dass auf verschiedenen Ebenen wechselnde Einflüsse eine erhebliche Rolle gespielt haben.5 Es konnte aber auch nachgewiesen werden, dass verfassungsgeschichtlich die Garantie der Gewissensfreiheit auf deutschem Rechtsboden eigene, von der Entwicklung der Menschenrechtsdeklarationen unabhängige Wurzeln hatte, die zurückreichen auf die Urkunde zum Westfälischen Frieden und darüber hinaus in die Streitigkeiten und Wirren der Religionskämpfe des 16. und 17. Jahrhunderts.6 Ob dieser rechtshistorische Befund für eine gegenwartsbezogene Interpretation des Grundrechts aktualisiert werden kann, mag wohl mit Recht bezweifelt werden, da trotz stereotyper Deklarationen der Grundrechtskatalog nicht schlechthin als edictum perpetuum7 ausgelegt werden darf. Allerdings wird man neben der Interpretation nach dem

1 G. Jellinek, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte. Bearb. v. W. Jellinek, München 1927; neu hrsg. v. R. Schnur, Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, 1964, Darmstadt, S. 1. 2 Boutny, Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1902, in: Schnur, S. 78 (98); vgl. auch Vossler, Studien zur Erklärung der Menschenrechte, 1930, in: Schnur, S. 166 (185) und Ritter, Ursprung und Wesen der Menschenrechte, 1958, in: Schnur, S. 202 (214 ff.). 3 Vgl. Welzel, Ein Kapitel aus der Erklärung, der amerikanischen Menschenrechte, in: Schnur, S. 238 ff.; Oestreich, Geschichte der Menschenrechte und Grundfreiheiten im Umriß, Berlin 1968, S. 57 ff. 4 Vgl. hierzu die Vorbemerkung von Schnur, in: Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, S. XI. 5 Welzel, S. 240. 6 Scholler, Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958, S. 53; ders., Gewissen als Gestalt der Freiheit, Köln 1962, S. 23; Podlech, Das Grundrecht der Gewissensfreiheit und die besonderen Gewaltverhältnisse, Berlin 1969, S. 28 mit Anm. 16 und 17. 7 Auch das Grundrechtssystem kennt perpetuierte Grundrechte und solche „pro ut res incidit“. Sohm / Mitteis / Wengen, Institutionen Geschichte und System des römischen Privatrechts, Berlin 1926, S. 76 / 77 und 88.

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objektiven Willen8 des Verfassungsgebers den historischen9 Bezug nie ganz außer Acht lassen dürfen. Der noch schwebende Streit über den historischen Primat der Gewissensfreiheit kann nicht daran hindern, in dieser tralatizischen10 Norm der Verfassung eine systematische Fundamentalentscheidung zu erblicken, welcher von Carl Schmitt11 bereits als grundsätzlicher Verteilungsnorm12 ein systematischer Primat eingeräumt wurde. Die Funktion der grundsätzlichen Verteilung und Zuordnung von Kompetenzen zwischen Bürger und Staat, Gesellschaft und Gemeinschaft, wenn diese Antithesen heute noch verwandt werden dürfen13, könnte vom Grundgesetz auf Art. 1 I und Art. 2 I GG übertragen worden sein, denn mit dem Bekenntnis zur unverletzlichen Würde und freien Entfaltung der Persönlichkeit werden die Grenzen des status negativus in bewusster und wertakzentuierter Weise neu gezogen.14 Der systematische Primat unter den Grundrechten würde nicht mehr der Freiheit des Gewissens, sondern der freien Entfaltung der Persönlichkeit zukommen. Rechtsprechung und Schrifttum haben sich dieser Anschauung wohl auch weitgehend genähert, ohne den Begriff oder die Theorie Carl Schmitts vom systematischen Primat wieder aufzugreifen. Wenn nämlich Art. 2 I GG als Mutter- oder Quellrecht15, als Hauptfreiheitsrecht16 oder unbestimmtes Auffanggrundrecht bezeichnet wurde, dann sah man in dieser Gewährleistung die Garantie für die Lückenlosigkeit der Freiheitssphäre vor staatlichen Interventionen. Auch die Ausdehnung des Wirkbereiches des Grundrechts auf eine allgemeine Handlungsfreiheit17 hat die funktionelle Verwandtschaft zur Gewährleistung der Gewissensfreiheit nicht verschleiern können. Die Versuche, Art. 2 I GG als Recht der ethischen Persönlichkeit zur freien Gestal-

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Schneider, VVDStRL, Bd. 20, S. 32 und 37 ff.; Ehmke, ebd. S. 58 ff. Peters, Auslegung der Grundrechtsbestimmungen aus der Geschichte, in: Festschrift G. Schreiber, München / Freiburg, 1953, S. 457. 10 Mommsen, Römisches Staatsrecht, 3. Aufl. Bd. 1 S. 208, Anm. 5. 11 Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 158. 12 Schmitt, S. 158; Podlech, S. 85 ff.; Böckenförde, Erklärung über die Religionsfreiheit, Einleitung, Münster 1968. 13 Scholler, Person und Öffentlichkeit, München 1967, S. 81 – 94. 14 Brinkmann, Grundrecht und Gewissen im GG, Bonn 1965, S. 57, 93, 135, 401 (nebengeordnetes Verhältnis von Art. 4 Abs. 1 und 2 Abs. 1); ders., Grundrechtskommentar zum GG, Bonn 1967, Art. 4 Anm. I 2 b. 15 BGH, Gutachten vom 28. 4. 1952, DVBl. 1953, 472; BGHZ 24, 72 / 78; BVerwGE 1, 48 / 51; kritisch hierzu: Maunz / Dürig / Herzog, Rn. 8 zu Art. 2 Abs. 1 GG. 16 v. Mangoldt / Klein, Anm. III 5 b zu Art. 2 (Freiheitsrechtsleitsatz). Maunz / Dürig / Herzog, Rn. 2 und 6 zu Art. 2 Abs. 1. Typisch hierfür sind die Entscheidungen des VGH Kassel Os 11 146 / 65, MDR 1967, 72 und des Hess. StGH vom 3. 7. 1968 P St 470, DVBl. 1969, 34 mit abl. Anm. v. Heydt. 17 BVerfGE 6, 32 und ständige Rechtsprechung. Leibholz / Rinck, 1. Aufl. Köln 1966, Rn. 3 und 4 zu Art. 2; Ergänzungsband S. N. 12 und N. 13. Ausdehnung auf die Belastungsfreiheit (BVerfGE 19, 215 und 19, 257). 9

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tung zu verstehen18, zeigen schließlich, dass es sich bei der Gewährleistung von Würde und freier Entfaltung der Persönlichkeit um eine geistesgeschichtliche Fortentwicklung der Gewissensfreiheit handelt. Von hier aus versteht man, warum die im 19. Jahrhundert noch so hoch gefeierte und vom Kulturprotestantismus als Urrecht19 verehrte Norm unter der Herrschaft des Grundgesetzes in einen Dornröschenschlaf verfiel. Dennoch ist von dem Grundrecht mehr übrig geblieben, als man auf den ersten Blick annehmen möchte, und zwar sowohl hinsichtlich der subjektivgrundrechtlichen, als auch der objektiv-quasi-institutionellen Wirkung. Diesen Gedanken soll im Folgenden nachgegangen werden, indem zunächst die Untersuchung sich der Gewissensfreiheit als Grundrecht und im Rahmen der Grundrechte zuwendet (II.), und alsdann ihre übergreifende Funktion für den Gesetzesbegriff (III.) und das Rechtsstaatsverständnis (IV.) untersucht. Alle Betrachtungen gehen von Art. 4 I als sedes materiae aus, ohne dass ein überpositiver Begriff von Gewissen oder Gewissensfreiheit zugrunde gelegt wird. II. Die Inhalte des Verfassungssatzes über die Freiheit des Gewissens und das Grundrechtssystem 1. a) Die Definition der Freiheit des Gewissens, wie sie von Art. 4 I verstanden wird, war lange Zeit eine rein innerrechtliche, und erschöpfte sich in der Feststellung, dass der Begriff des Rechtssatzes als eine sich nur an das äußere Verhalten wendenden Norm Gewissensfreiheit bereits garantiere.20 Somit war das Grundrecht durch seine Funktion, nämlich die Instrumentalisierung des Rechtssatzes, als Regelung des äußeren Verhaltens ersetzt worden. Die Wirkung des Grundrechts wurde mit dem zu definierenden Wesen verwechselt. Aus dem subjektiven Grundrecht war ein objektives Rechtsprinzip geworden; deshalb war die Versuchung groß, den begriffsleeren Raum durch meta-juristische – theologische oder philosophische – Begriffe zu füllen. Während die Rechtswissenschaft den eigentlichen Gewissensbegriff durch Uminstrumentierung21 verloren hatte, droht den neuen Interpretationsversuchen die Umfunktionierung aus einem Grundrecht des status negativus in eine objektive Schranke „wahrer

18 Peters, S. 50. a.A.: Brinkmann, Einl. I 1 b zu Art. 2; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Karlsruhe 1967, S. 160. 19 Leese, Geistesgeschichte und Seinsgewalten, 1946, S. 61. Baur, Die Epochen der kirchlichen Geschichtsschreibung, 1852, S. 257; Zippelius, BK, Rn. 2 bis 5 zu Art. 4 GG. 20 Die Unterscheidung zwischen freier Gewissensbildung und -betätigung hat das Problem aufgelockert, befreit aber nicht von der Entscheidung für den Gewissensvorbehalt oder eine restriktive Auslegung mit Gewissensklauseln. Zippelius hat dies scharf herausgestellt, BK, Rn. 42 bis 45 zu Art. 4 GG; vgl. auch Arndt, NJW 1965, 2196; v. Mangoldt / Klein, Anm. 111 zu Art. 4; Wetzet, Festschrift DJT I. 1960, S. 397; Kaufmann, Festschrift Erik Wolf, 1962, S. 371; Podlech, S. 29, insbes. Anm. 20; Weber, NJW 1968, 1610; Berg, JuS 1969, 16 / 19. 21 Scholler, Person, S. 212 ff. und 225 ff.; Luhmann, 7 A6R 90, 257; Podlech, JuS 1968, 123 Fn. 25; ders., a.a.O., S. 27, 28.

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Teil 3: Toleranz

sittlicher Werte“22 oder in eine modale immanente Schranke im Sinne der Existenzialphilosophie.23 Hier wird das allgemeine Problem der Interpretation wertbezogener Rechtsbegriffe offenbar. Die neutralisierende Funktion der Rechtswissenschaft darf weder hier noch an einem anderen neuralgischen Punkt des Rechtssystems verloren gehen durch Auslieferung der Rechtsordnung an die subjektive Wertperspektive.24 So nachdrücklich man auch das Recht der Kommunikation und des freien Bekennens und Äußerns von Glauben und Weltanschauung betonen muss, so sehr ist aber auch zu fordern, dass die Instrumente, die einen solchen Kommunikationsprozess ermöglichen und in Gang halten, nicht verfremdet und damit dysfunktional werden. b) Das BVerfG, welches den Irrtum einer meta-juristischen Interpretation bisher vermieden hat, sieht allerdings den Umfang der Gewissensfreiheit noch nicht klar genug.25 Folgt man nämlich seiner Interpretation zur teilinhaltlichen Gewährleistung der Glaubensfreiheit in Art. 4 I GG und versteht hierin das Recht auf jede Äußerung und Betätigung des Glaubens, so bedeutet das für die Gewissensfreiheit die Anerkennung des Vorranges der ethischen Aktion vor dem Gesetz, was man auch Gewissensvorbehalt nennen könnte. Diese Konsequenz dürfte aber schwerlich gezogen werden. Die Wesensbestimmung des Begriffsinhaltes fällt deshalb zusammen mit der Feststellung immanenter oder vorbehaltener Schranken. Die Wechselwirkung zwischen Grundrecht und Schranke beginnt also bereits beim Vorverständnis und bei der Begriffsumschreibung, was die These vom Ineinanderstehen von Recht und Freiheit zu bestätigen scheint.26 c) Die Norm des Art. 4 I GG hat hinsichtlich der Gewissensfreiheit drei (Teil-)Inhalte, deren Unterscheidung nicht klar genug gesehen wird. Neben dem Grundrecht, das ohne Vorbehaltsschranke gewährt ist, steht der dirigierende Teilinhalt, der auf legislative oder administrative Einräumung von Handlungsalternativen bei (schweren) Gewissenskonflikten gerichtet ist, und ein quasi-institutioneller „Bedeutungskern“, der in Zusammenschau mit anderen Strukturen und Normen der Verfassung wie Art. 20, 28, 140 GG i.V.m. Art. 136 / 139 WRV den modernen Rechtssatzbegriff und das Prinzip der Nichtidentifikation oder Neutralität des Rechtsstaates gewährleistet. Diese beiden letzten Teilinhalte sind nicht nur ohne Vorbehaltsschranken, son22

Hamel, Die Grundrechte IV 1, S. 47 / 48, 50 / 51, 54, 54 / 55, 72, 77, 78. Witte, AöR 87, S. 155, 165, 173, 180 / 81, 182, 183 bis 185, 186, t 187, 194. Podlech, JuS 1968, 122 / 123; Luhmann, AöR 90, 257. 24 Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte, München 1962, S. 123 f., 188. Vgl. auch die Besprechung in BayVBl. 1963, 162; Schricker, Gesetzesverletzung und Sittenverstoß. Habil. Schrift an der Münchner Jur. Fakultät 1969, maschinenschriftl. S. 43, 311 ff., insbes. S. 358 ff. 25 BVerfGE 12, 1; 12, 45; BVerfGE 19, 135 ff., 23, 127 (132 ff.); 23, 191 (204 f.); BVerwGE 30, 29; Häberle, JuS 1969, 265; ders., DÖV 1969, 385. Ferner: OLG Saarbrücken, NJW 1966, 1088; BayVerfGH, JR 1966, 116 = DÖV 1966, 657 (Sp. 187). 26 Häberle, Die Wesensgehaltsgarantie des Art. 19 Abs. 2 GG. Karlsruhe 1962; ders., JuS 1969, 267 insbes. Anm. 31. 23

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dern auch ohne inhärente Beschränkung oder Grenzen garantiert. Die früher vorgeschlagene Begrenzung auf den Schutz der Geheimsphäre, die verschiedentlich als Forum-Internum-Gewährleistung missverstanden wurde, wird insofern fallengelassen, als das Kriterium der Eigensphäre, das nach wie vor aufrechterhalten werden soll, nur bei der Güterabwägung als entscheidender Gesichtspunkt anzusehen ist. Eingriffe, die jenseits der Eigensphäre das Gewissen betreffen, sind anders zu beurteilen als Maßnahmen, die unter Verletzung der Eigensphäre ethische Konflikte und Gewissenskollisionen herbeiführen. Bei letzteren Maßnahmen spricht die grundsätzliche Vermutung gegen die Zulässigkeit der staatlichen Intervention. Außerhalb der Eigensphäre dagegen muss von Fall zu Fall eine Güterabwägung mit den kollidierenden Rechtsgütern vorgenommen werden. Sieht man dagegen Art. 4 I und 4 III nur als ein einziges Grundrecht an, dann erleidet das Grundrechtsverständnis sehr schnell eine Abwertung, weil die Gewährleistung nur noch als Klausel oder Verfassungsauftrag zur Schaffung von Klauseln aufgefasst wird und damit nur noch als Unzumutbarkeitsregelung oder Ausdruck des Übermaßverbotes verstanden werden könnte. 2. Die bei verschiedenen Grundrechten zu beobachtende Subjekt-Objektverschiebung27 – Kelsen spricht von der Verschiebung des Trägers der Freiheit28– kann auch bei den drei Absätzen des Art. 4 GG festgestellt werden. a) Die Gewissensfreiheit hat sich aus einem ursprünglichen Rechtsreflex (Toleranz29) und der daraus entwickelten Kultusfreiheit30 (Hausandacht31) einer Minderheit zu einem allgemeinen Menschenrecht entwickelt. Neben der Generalisierung des Rechtssubjektes steht die Veränderung des Inhaltes und des Adressaten. Als ethisches Hauptgrundrecht zielt das Grundrecht immer mehr auf die Garantie einer ethischen Handlungsfreiheit mit dem Postulat des Gewissensvorranges.32 Folgerichtig wird auch der Adressatenkreis erweitert und neben Staat und Kirche erscheinen

Scholler, Person und Öffentlichkeit, S. 319. Kelsen, Allgemeine, Staatslehre, Berlin 1925, S. 325 f. 29 Zippelius, BK, Rdnr. 2 bis 17; Werner, Recht und Toleranz, 1963; Maunz, Toleranz und Parität im deutschen Staatsrecht. Vortrag 1953; Krüger, Allgemeine Staatslehre, Stuttgart 1966, S. 41; Grundmann, BayVBl. 1967, 181. Auf die Entwicklung der formula politica: öffentliche Ruhe, Sicherheit und Ordnung, als dem säkularisierten Toleranzgebot führt die Befriedung nach den Religionskriegen. Vgl. hierzu die Untersuchungen von Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkriege des 16. Jahrhundert, 1962, S. 65 ff.; ders., Individualismus und Absolutismus, Berlin 1963, S. 40, 41, 50, 75, insbes. Anm. 90. 30 Fürstenau, Das Grundrecht der Religionsfreiheit nach seiner geschichtlichen Entwicklung und heutigen Geltung in Deutschlind, Leipzig. 1891, S. 114 ff.; im Gegensatz zu Zachariae, vgl. auch Podiech, S. 28. 31 Als Abschluss dieser Entwicklung kann man die Dreiteilung der Gewissensfreiheit bei Anschütz, HBdStR 1932, II, 683, ansehen. 32 Arndt, NJW 1965, 2196; Hamann, Grundgesetz, 2. Aufl., Art. 4 Anm. B 8; vgl. auch Zippelius, Rn. 42 ff. zu Art. 4. Podlech, S. 34 und 37. 27 28

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die sozialen Gewalten, auch der Dritte, die Rechtsbeziehung der Mitmenschlichkeit, im Horizont des Wirkungsbereiches.33 b) Ähnlich ist die Subjekt-Objektverschiebung bei der Garantie der Kultusfreiheit verlaufen, die aus einem Annexrecht der institutionellen Gewährleistung kirchlicher Freiheiten34 zu einem auch drittgerichteten Menschenrecht geworden ist.35 c) In ganz anderer Weise verhält es sich bei Art. 4 III GG, denn die Gewährleistung der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ist von vornherein als Menschenrecht konzipiert, obschon es sich um ein antragsbedingtes Minderheitenrecht handelt.36 Hier liegt auch eine Gemeinsamkeit zu Art. 38 GG, der mit der Gewährleistung des freien Mandats nur einen kleinen Personenkreis anspricht. Handelt es sich hier um Grundrechte oder nur um verselbständigte Ausnahmeregelungen37 zu Art. 4 I? Wenn nämlich Art. 4 I den Gewissensvorrang vor dem Gesetz in seiner Allgemeinheit nicht begründet, sondern ausschließt, dann sind Art. 4 III, Art. 12 a II 3 und Art. 38 Ausnahmerechte38, welche von der Verfassung gewährt wurden. 3. Art. 4 I wirft das Problem seiner Stellung zu Art. 2 I und zu den sonstigen Freiheitsrechten auf. Daneben bleibt noch die bereits angeschnittene Frage des Verhältnisses zu den sonstigen Regelungen bestehen, die wir kurz als Gewissensklauseln bezeichnen. a) Das Verhältnis zu Art. 2 I GG kann nicht hinsichtlich des Grundrechts wie des Schrankenteils unterschiedlich behandelt werden. Die Lehre von den primitiven Nichtstörungsschranken39, welche die Schranke des Art. 2 I Hs. 2 zur Schranke aller Grundrechte erhebt, kann über das Verhältnis von Art. 2 I zu Art. 4 I nicht entscheiden. Man wird Art. 2 I auch, soweit man nur die ethische Kernpersönlichkeit als mitgeschützt sieht, hinter Art. 4 I zurücktreten lassen müssen, weil das ethische Ver33 Vgl. BayObLG KirchE 5, 300 (302) zur Glaubensfreiheit; wohl auch BVerfGE 17, 302 (305) zur Glaubensfreiheit; BGHZ 38, 317 (319 f.); Zippelius, BK, Rn. 57 – 61 zu Art. 4; a.A. v. Mangoldt / Klein, II 7 zu Art. 4 GG; Häberle, JuS 1969, 267; ders., DÖV 1969, 385 ff.; Brinkmann, Grundrecht, S. 135. 34 Fürstenau, S. 117 / 119. 35 BVerfG, NJW 1969, 31 = DÖV 1968, 873. 36 Daran ändert auch nichts die zunehmende Aktivität der Werbung für die Kriegsdienstverweigerung. Zu dieser Problematik vgl. vor allem Häberle, JuS 1969, 272 und Fn. 68. 37 Die Frage lässt sich, auch dahingehend formulieren, ob Art. 4 Abs. 3 – abgesehen von der Bekenntnisfreiheit und der Kultusfreiheit – der erste Anwendungsfall der Gewissensfreiheit ist, oder ob die Vorschrift als Ausnahmeregelung konstitutiven Charakter hat. Zippelius, BK, Rn. 42 ff. zu Art. 4 GG. 38 Badura sieht hierin nur die subjektive Erscheinungsform der parlamentarischen Repräsentation. Badura, BK, Rn. 50 zu Art. 38; Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente im demokratischen Verfassungsstaat, 1958, S. 13; Brinkmann, a.a.O., der eigenartig zwischen Art. 38 Abs. 1 u. 12 a I 1 bis 3 unterscheidet. 39 Maunz / Dürig / Herzog, Rn. 69, 71 zu Art. 2 Abs. 1; Bettermann in: Grundrechte, IV, 2 1962, S. 767; Bachof, III, 1, 1958, S. 167 und Fn. 47; Zippelius, BK, Rn. 65 zu Art. 4; Berg, Konkurrenzen schrankendivergenter Freiheitsrechte im Grundrechtsabschnitt des GG, Berlin 1968, S. 65.

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halten hier eine speziellere und freiere Gewährleistung gefunden hat. Art. 4 I darf nicht auf die Abwehr von Angriffen auf die ethische Person beschränkt werden, weil Art. 2 I das aktive Handeln der sittlichen Persönlichkeit garantiert und beschränkt. Die eindeutig gewissensbezogene und nicht persönlichkeitsbezogene Handlung genießt den Vorzug der freieren Gewährleistung und fällt deshalb unter Art. 4 I GG.40 b) Im Verhältnis zu den anderen Grundrechten ist die Rechtsbeziehung unterschiedlich zu beurteilen. Denn Art. 4 I ist nicht Spezialnorm unter anderen Spezialnormen, so dass schlechthin die sachliche Zuordnung über die Anwendbarkeit oder Unanwendbarkeit entscheiden könnte. Dies kann aus Art. 12 a II 3, aber auch aus Art. 4 III entnommen werden. Die Gewissensklauseln beweisen nämlich, dass auch im Regelungsbereich spezieller Grundrechte bei der Schrankenziehung Konflikte denkbar sind, die nicht nur Beruf, Eigentum oder Meinung, sondern auch das sittliche Bewusstsein und damit die Gewissensentscheidung berühren. Aus diesem Grunde ist eine Interdependenz zwischen Art. 4 I GG und den sonstigen Grundrechten anzunehmen, so dass die Schranken der Spezialgrundrechte jeweils von Art. 4 I unter Kontrolle gehalten werden. Art. 4 I ist damit ein Sonderfall der Schrankenbeschränkung.41 c) Eine ähnliche Interdependenz und Beeinflussung besteht auch zwischen Art. 4 I als Hauptgewissensfreiheitsrecht und den sonstigen speziellen Gewissensnormen, wie Art. 4 III, 12 a II 3, 38 GG. Auch hier handelt es sich nicht schlechthin um die Spezialität besonderer Sachgesetzlichkeiten, sondern um eine Interdependenz. Die verfassungsrechtlichen oder gesetzlichen Ausnahmeregelungen gehen vor; aber Art. 4 I mit dem dirigierenden Teilinhalt wird durch die Spezialität der Ausnahmeregel nicht verdrängt. Die Verfassung durchbricht dieses Limit und erweitert die Geltungskraft auf bestimmten Teilgebieten durch Ausnahmeregelungen. Diese Ausnahmeregelungen können nur im Lichte des Hauptgewissensfreiheitsrechtes verstanden werden. Zwischen Art. 4 I und den besonderen Gewissensfreiheitsregelungen besteht also ein andersgeartetes Verhältnis als zwischen Art. 2 I als Hauptfreiheitsrecht und den speziellen Freiheitsrechten. Es liegt eine den Gleichheitssätzen verwandte Interdependenz vor. d) Die in der Rechtsprechung diskutierte und abgelehnte Frage, ob Art. 4 III einen Rückgriff auf Art. 4 I erlaube, ist schon falsch gestellt worden. Die Problemstellung konnte in dieser Form nur auftauchen, weil das Verhältnis zwischen dem Hauptgrundrecht des Art. 4 I und der Regelung des Abs. III unklar geblieben war. Die in der

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Berg, S. 86 und 90 ff., insbes. 124; ders., JuS 1969, S. 16. Zur Wechselwirkungs- oder Schrankenbeschränkungstheorie, BVerfGE 7, 230; 10, 118; 12, 113; 15, 17; 20, 150. Vgl. die Zusammenstellung der neuesten kritischen Äußerungen bei Scholler, Der Staat, S. 30, Anm. 62. Die umstrittene Blinkfür-Entscheidung, BGH, NJW 1964, 29 hat inzwischen die verfassungsgerichtliche Korrektur erhalten: BVerfG, B. v. 26. 2. 1969, NJW 1969, 1161 = DÖV 1969, 497. 41

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Rechtsprechung des BVerwG42 sehr früh erfolgte Gleichstellung beider Grundrechte ließ scheinbar nur noch den Ausweg offen, Art. 4 III als Spezialregelung jeder Einwirkung von Abs. 1 zu entziehen. Dieses Ergebnis ist aber kaum zu begründen. Erkennt man dagegen den Ausnahmecharakter von Art. 4 III oder anderen Gewissensklauseln an, so ist der Rückgriff auf die Hauptgrundrechte nur eine Bestätigung des gefundenen Ergebnisses. e) Es lässt sich feststellen, dass das Grundrecht der Gewissensfreiheit auch einen dirigierenden Charakter hat, und über seine aktuelle Bedeutung als subjektiv-öffentliches Recht hinaus den Verfassungsgeber beauftragt, Gewissensklauseln oder Handlungsalternativen dort zu schaffen, wo die objektive Bedeutung der Gewissensfreiheit als Reduktion der Rechtsnorm auf die Regelung des nur äußeren Verhaltens nicht voll zur Wirkung kommen kann. Dort, wo also die Rechtsordnung zwangsläufig mit äußerem Verhalten auch eine innere Einstellung erzwingt oder intendiert, wie z. B. bei den besonderen Gewaltverhältnissen, muss der Gesetzgeber bei schweren Gewissenskonflikten Handlungsalternativen schaffen.43 4. Von den drei Teilinhalten des Grundrechts aus Art. 4 I, nämlich der objektiv-institutionellen Bedeutung, der programmatisch-dirigierenden Wirkung als Verfassungsauftrag und der subjektiv-öffentlichen Grundrechtsfunktion interessiert im Zusammenhang mit der Schrankensystematik nur der subjektiv-rechtliche Teil der verfassungsrechtlichen Gewährleistung. a) aa) Die immanenten Schranken der Gewissensfreiheit können nicht von vornherein geleugnet werden, obwohl gerade hier die Gefahr besteht, die „fundamenta fidei“44 oder abendländische Grundvorstellungen über ethisches Verhalten als Schranken anzusehen. Die einzig unbestrittene immanente Schranke ist das Gewissen selbst, das als sachlich-immanente Gewährleistungsschranke – anders als bei positiver und negativer Glaubensfreiheit45 – die Abwesenheit von Gewissen, also die Gewissenlosigkeit, nicht schützt. Davon ist jedoch zu unterscheiden das Recht des Bür42 BVerwGE 7, 242; 9, 97; 12, 270; zur Frage der tatbestandsmäßigen nachweisbaren Voraussetzungen, Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht, Tübingen 1963, S. 136. 43 BVerfG, NJW 1969, 597 = DÖV 1969, 345. Luhmann, Grundrechte als Institution, Berlin 1965, S. 76 / 77; ders., AöR 90, 257 ff.; Podlech, S. 29, 30 und 106 ff. 44 Hamel, S. 79 spricht von dem auf bestimmten sittlichen Fundamenten ruhenden Gehalt der Bekenntnisfreiheit. 45 Eine Überbetonung der negativen Ausübungsformen der Grundrechte des Art. 4 Abs. 1 und 2 zeigt sich bei der Kultusfreiheit. Urteil des Hess. Staatsgerichtshofs v. 27. 10. 1965, DÖV 1966, 51; kritisch: Böckenförde, DÖV 1966, 30 / 36; Scholler, DÖV 1967, 469 (470 mit Anm. 16); Pongratz, Die Frage der verfassungsrechtlichen Zulässigkeit des Schulgebets an öffentlichen Schulen des Freistaates Bayern, Jur. Diss., München 1967, S. 96; Morgott, Das Gebet 1. d. Volksschulen Bayerns, Phil. Diss. München 1961, S, 85; Hame1, NJW 1966, 18; Gallwas, BayVBl. 1966, 122; BayVerfGH, BayVBl. 1967, 201 / 203 = DÖV 1967, 306; Grundmann, BayVBl. 1966, 37 / 40. BayVerfGH, U. v 17. 4. 1968, BayVBl. 1968, 241 ff. = DÖV 1968, 664 (Sp. 210). Neuerdings Podlech, insbes. S. 105 ff.; VG Hannover, Urteil v. 14. 3. 1968, DVBI. 1968, 49.

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gers, dem Gesetzesbefehl inneren Gehorsam, das heißt die Einverseelung, zu verweigern. Dieses Recht, sich kein Gewissen für die Rechtsordnung zu machen, ist mitgewährleistet. Dabei handelt es sich lediglich um eine reservatio mentalis, die aber nichts über das Recht oder die Pflicht der Befehlsverweigerung, des Ungehorsams oder des Widerstandes aussagt.46 Persönlich-immanente Gewährleistungsschranken kommen jedoch überhaupt nicht in Betracht.47 bb) Immanente oder inhärente Gewährleistungsschranken im weiteren Sinne sind dagegen von entscheidender Bedeutung. Zu den weiteren Immanenzlehren kann man sowohl die vom BVerwG entwickelte Theorie vom ungeschriebenen Gemeinschaftsvorbehalt48, als auch die von Dürig vertretene Auffassung von den „primitiven Nichtsstörungsschranken“49, die quasi-immanent wirken sollen und doch wiederum aus Art. 2 II Hs. 2 hergeleitet werden, zählen. Im Grunde genommen handelt es sich hierbei um die extensive Anwendung von Vorbehaltsschranken. Echte immanente Schranken im weiteren Sinne sind demgegenüber die interpretativen Verfassungsvorbehalte50, die Grundrechtsprägung oder Grundrechtskonturierung durch das Gesetz51 und die Güterabwägung im Inneren der Grundrechtsgewährleistung.52 (a) Die Lehre vom interpretativen Vorbehalt sieht im Soweit-Satz des Art. 2 I GG nur einen Hinweis auf allgemein vorhergehende Schranken, die auch schrankenfrei gewährten Grundrechten immanent sind. Art. 4 I wäre also interpretativ dahingehend auszulegen, dass die verfassungsmäßige Ordnung und damit die dem Grundgesetz formell und materiell konforme Rechtsordnung dem Gewissen schlechthin vorgehen

46 Zum näheren Zusammenhang zwischen Widerstandsrecht und Gewissensfreiheit, vgl. Scholler, Gestalt, S. 35; ders., Der Staat, 1969, S. 19 ff. 47 Anders: Häberle, JuS 1969, 271, unter Hinweis auf die bereits vom PrOVG entwickelten Verfahrensgrundsätze des Ausschlusses persönlicher Beteiligung (PrOVG 23, 211), unter Bezug auf den Grundsatz der Sachlichkeit und Überpersönlichkeit der Verwaltungsfunktion. Häberle, AöR 90, 385; Hesse, 199 ff.; Wolff, Verwaltungsrecht III, 2. Aufl. 1967, § 156 Il c 1. Häberle nimmt einen normativen Gemeinwohlauftrag als persönlich immanente Schranke des Amtswalters an. 48 BVerwGE 2, 295; 1, 48; 1, 92; 1, 296; 1, 303; 2, 89; 3, 21. An der geistigen Wiege dieser Theorie steht sowohl der Personalismus von Peters, Festschrift Laun, 1953, S. 669 (671), ders., Festschrift Messner, 1961, S. 362 (365 ff.) und Dürigs Lehre vom Schutz der Minimalwerte eines störungsfreien Gemeinschaftslebens. Maunz / Dürig / Herzog, Rn. 4, 69 zu Art. 2 Abs. 1 GG; Nipperdey, Grundrechte, IV 2, 767 (768), 813 f., 819; Berg, S. 24 ff. mit weiteren Nachweisen. Kritisch: Bachof, Verfassungsrecht, Verwaltungsrecht, Verfahrensrecht, 2. Aufl., 1964, S. 15. 49 Maunz / Dürig / Herzog, Rn. 4 und 69 zu Art. 2 Abs. 1 GG. 50 Maunz, Deutsches Staatsrecht, München 1968, 16. Aufl., S, 105, 108, 112. 51 Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, Köln 1961, S. 106, 118, 125 ff.; Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 73, 126, 138 / 141; Schnur, VVDStRL 22, S. 101 u. 103, insbes. Anm. 4 und 5, wo er sich kritisch mit Häberle auseinandersetzt. 52 BVerwGE 14, 21 (27 f.). v. Mangoldt / Klein, Vorbem. B XV 2 b, S. 125 ff.; vgl. kritisch: Bachof, Grundrechte III 1, 1958, S. 167 und 171; Häberle, Wesensgehaltsgarantie, S. 53 und 125.

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müssten. Eine solche Auslegung scheitert an dem deutlichen Wortlaut von Art. 4 I GG. (b) Die Auffassung, dass die Grundrechte erst durch das Hinzutreten gesetzlicher Normen zur Entstehung gebracht werden, weil sie dadurch geprägt und konturiert würden, hat ihre großen Verdienste bei disponiblen Rechtsgütern, wie Eigentum und Beruf. Hier sind verschiedene Modelle, Gestaltungen, Berufs- und Eigentumsbilder denkbar. Das gilt dem Prinzip nach auch von der Bestimmung des sittlichen Bewusstseins durch Einverseelung der von der Umwelt aufgestellten Verhaltensnormen. Auch das Gewissen wird der „Faktizität des Normativen“ unterworfen, die unbeachtete Kehrseite des bekannteren Vorgangs der Normativität des Faktischen.53 Aber gerade diese „Faktizität des Normativen“, die vom Einzelgewissen wiederum in ethische Sollenssätze umgemünzt eine Verstärkung der gesellschaftlichen Verhaltensregeln herbeiführt, wird von dem objektiven institutionellen Teilinhalt der Gewährleistung von Gewissensfreiheit ausgeschlossen. Das Gewissen soll nicht durch die „öffentliche Norm“ geprägt werden. Aus diesem Grunde müssen prägende Normen als immanente Grenzen der Gewissensfreiheit ausscheiden.54 cc) Immanente Schranken i.w.S. können auch im Wege der Güterabwägung gewonnen werden, wenn andere gleichrangige oder höherrangige Rechtsgüter zum Ausgleich gebracht werden müssen. Zu diesen gleichrangigen oder höherrangigen Rechtsgütern gehören auf jeden Fall die Grundrechte aus Art. 1 und 2 I, sowie Art. 5 I und 6 I GG. Muss die Gewissensentscheidung oder das Gewissenshandeln zurückstehen, weil das Gesetz die eheliche Lebensgemeinschaft schützt, so liegt darin eine immanente Güterabwägung und kein Eingriff in das Grundrecht.55 Anders verhält es sich bei den Rechtsgütern überindividueller Art, also den Interessen der staatlichen Gemeinschaft. Sie führen niemals zu einer immanenten Grundrechtsbeschränkung, sondern bedürfen einer Vorbehaltsschranke. b) Die Systematik verbietet es, aus Art. 2 I oder Art. 5 II unmittelbare oder mittelbare Verfassungsvorbehaltsschranken herzuleiten. Den Missbrauch des Grundrechtes jedoch muss die Rechtsordnung steuern können. Das geschieht gegenüber den kollidierenden Grundrechten der Mitbürger – wie oben ausgeführt – in der Sphäre der Mitmenschlichkeit durch Güterabwägung. Eine solche ist aber gegenüber objektiven Rechtsgütern der Gemeinschaft nicht möglich, weil sie dem Gewissen gegenüber inkommensurabel sind. Die missbrauchs- und kollisionslösenden Normen finden ihre

53 Luhmann, AöR 90, 257 ff. (S. 269, Anm. 20 kritisch zum Begriff der Einverseelung). Würtenberger Festschrift für E. Wolf, Frankfurt 1962, S. 337 (354). 54 Anders: Häberle, JuS 1969, 271 im Hinblick auf den Gemeinwohlauftrag; ders., DÖV 1969, 385. 55 BVerwGE 14, 21 (27 f.); BGHZ 38, 319 f.; Häberle, JZ 1966, 388, Fn. 49; ders., JuS 1967, 71. 73 f.; ders., JuS 1969, 271.

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Grundlage in der Zusammenschau der Grundrechtsnormen, welche die Entfaltung annexer Vorbehaltsschranken erlaubt.56 III. Die übergreifende Funktion von Art. 4 Abs. 1 GG für den Rechtsbegriff 1. Gewissensnorm und Rechtsnorm An verschiedenen Stellen des Grundgesetzes und der Länderverfassungen erscheint das Gewissen als übergreifender Verfassungsbegriff, der seine Spitze in den Präambeln findet, wo direkt neben der invocatio dei eine invocatio conscientiae steht.57 Die Vermutung einer Parallelität von Verfassungsnorm und naturrechtlicher Gewissensnorm wird dadurch nahe gelegt.58 Die Parallelität von Gewissens- und Gesetzesnorm findet sich andeutungsweise auch auf der Ebene des einfachen Gesetzes, wo der Rückgriff auf das Sittengesetz oder auf generalisierte Wertperspektiven über unbestimmte, wertausfüllungsbedürftige Rechtsbegriffe erfolgt. a) Die wertausfüllungsbedürftigen, unbestimmten Rechtsbegriffe sind nicht nur die Einfallpforten für Verkehrsanschauung und Verkehrssitte, sondern der Schnittpunkt, wo die ethischen Normen Bedeutung für die Rechtsordnung gewinnen. Die mittelbare Drittwirkung der Grundrechte im Allgemeinen und die der Freiheit des Gewissens im Besonderen zeigt ein Hineinwirken von Art. 4 I als einem Teil des objektiven Rechts auf das Privatrecht. Zugleich fließen aber daneben intersubjektive Wertnormen über diese Generalklauseln in die Rechtsordnung ein, so dass die Einfallpforten des privaten Rechts subjektive und intersubjektive ethische Normen mischen. Es könnte aus Art. 4 I GG ein Auftrag zur ständigen Kongruenz beider Normbereiche hergeleitet werden. Doch der Konflikt Rechtsnorm-Gewissen verlagert sich dadurch nur und würde zum Spannungsverhältnis Sittengesetz und Individualgewissen. b) Auf der Ebene des einfachen Gesetzes finden wir auch die Übernahme der Gewissensklausel, die wir als erfüllten Verfassungsauftrag aus dem dirigierenden Teilinhalt von Art. 4 I herleiten. Eine solche konfliktlösende Gewissensklausel findet sich

56 Ablehnend in Bezug auf immanente – auch systematisch-immanente – Schranken: Podlech, S. 29 / 30; Berg, JuS 1969, 19; zur Güterabwägung: Weber, NJW 1968, 1610; Podlech, JuS 1968, 123. 57 Bad.-Wttbg. Verf., Vorspruch, Art. 1; BayVerf., Art. 100; Brem. Verf., Art. 1, 5 / I; HessVerf., Art. 3, 27; Rheinl.-Pfalz. Verf., Vorspruch, Art. 1; Saarl. Verf., Art. 1; vgl. zur Entstehungsgeschichte der Präambel des Grundgesetzes: BK, Wernicke, Präambel. 58 Frh. v. d. Heydte, Existentialphilosophie und Naturrecht, in: Naturrecht oder Rechtspositivismus, Hrsg. v. W. Maihofer, Darmstadt 1962, S. 157; Utz, Naturrecht im Widerstreit zum positiven Gesetz, ebd., S. 219, 228, 235, 236 ff.; Hubmann, Naturrecht und Rechtsgefühl, ebd., S. 371; Messner, Naturrecht ist Existenzordnung, ebd., S. 527, 535; Spranger, Zur Frage der Erneuerung des Naturrechts, ebd., S. 106; Coing, Um die Erneuerung des Naturrechts, ebd., S. 110; Schrey, Naturrecht und Gottesgerechtigkeit, ebd., S. 185.

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beispielsweise in § 3 Abs. 1 BVFG59 für die Frage, inwieweit der Konflikt zwischen Rechtsnorm und Gewissensnorm beachtlich und durch eine Gewissensklausel zu entschärfen ist.60 Im besonderen Statusverhältnis wird die Notwendigkeit der konfliktlösenden Gewissensklausel noch deutlicher, weil die Weisungsunterworfenheit, die Pflicht zur gewissenhaften Erfüllung der Amtobliegenheiten und das Eintreten-Müssen für bestimmte Normen potentielle Konfliktmöglichkeiten beinhalten.61 Dies verkennt das BVerwG im Wunsiedel-Fall, wenn es durch Anwendung des Art. 4 I GG, in Wirklichkeit aber durch rechtsschöpferische Findung von Gewissensklauseln, den Pflichtenkreis im besonderen Statusverhältnis durchbricht.62 Es zeigt sich also sowohl die Tendenz zur Vermeidung von Gewissenskonflikten durch Normparallelität wie durch Schaffung von Gewissensklauseln. 2. Die Bedeutung von Art. 4 I für die Modalitäten der Rechtsgeltung Die Geltung jeder Rechtsnorm setzt eine Motivation der Gemeinschaft voraus. So lässt sich der sekundäre Rechtsgeltungswille auf dreifache Weise herleiten: aus der Gewissensgeltung als Folge des herrschenden Ethos und aus der Rechtssicherungsgewährleistung durch staatlichen Zwang.63 Die Rechtsnorm gilt dann entweder allein oder konvergierend als Gewissenspflicht, als herrschendes Ethos oder als garantierte und von der öffentlichen Gewalt erzwungene Regel. a) In den besonderen Statusverhältnissen wird z. B. durch Eidesformel64 gewissenhafte Pflicht- und Normerfüllung oder anderweitig Einverseelung verlangt65.

59 Gesetz über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge – BVFG – i.d. Fassung des 5. ÄnderungsG. vom 3. 8. 1964, BGBl. I S. 571. Vgl. hierzu. auch Scheidle, Das Widerstandsrecht, entwickelt anhand höchstrichterlicher Rechtsprechung der Bundesrepublik, Jur. Diss. München 1968. Vgl. ferner BVerwG, U. v. 22. 10. 1958, FVGE 8, 201; U. v. 9. 11. 1961, 8, 321; U. v. 21. 12. 1961, DÖV 1962, 394; U. v. 25. 4. 1962, JR 1963, 154; U. v. 28. 6. 1962, DÖV 1963, 187; U. v. 18. 10. 1962, DÖV 1963, 386; HessVGH, U. v. 15. 7. 1959, FVGE 8, 171. 60 Luhmann, AöR 90, 257, insbesondere 277. 61 BVerwGE 12, 273 (276); 14, 21 (24 ff.); 19, 260 (262); § 55 S. 2 BBG; § 37 S. 2 BRRG; Art. 97 Abs. 1 GG; § 126 RHO; § 44 Abs. 3 BDO; § 11 SG. Podlech, S. 118 ff., 129. 62 BVerwGE 30, 29; vgl. ferner BVerwGE 17, 267 und 19, 260 / 262; vgl. zur verwandten Frage des Statusverhältnisses der Bundeswehr, Der Spiegel Nr. 44, vom 28. 10. 1968, S. 38. 63 Zippelius, Vom Wesen des Rechts, München 1965, S. 5, 10, 28. 64 Vgl. auch § 58 BBG; § 40 I 2 BRRG; § 38 DRiG; § 9 I SG. Liermann, BBZ 1952, 49; Redelberger, DÖV 1954, 397; Schütte, DÖV 1956, 394; Schillen, ZBR 1956, 40. Podlech, a.a.O., S. 118 f. 65 BayVerfGH, E. v. 17. 4. 1968, BayVBL 1968, 241 = DÖV 1968, 664 (Sp. 210); BayVerfG, DVBl. 1967, 453 = DÖV 1967, 419; Link, BayVBL 1966, 297 / 301; OLG Nürnberg, NJW 1966, 1926; Hollerbach, AöR 92, 99 / 112; Hamel, NJW 1966, 18; Zippelius, Rn. 24 zu Art. 4 GG.

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b) Eine andere Struktur der Rechtsnorm liegt der Regelung des § 3 Abs. 1 BVFG zugrunde, wenn dort nur der schwere Gewissenskonflikt zwischen Gewissensnorm und Rechtsnorm die Handlungsalternative der Flucht rechtfertigt und durch Rechtsvorteile prämiert. Denn es wird grundsätzlich ein nicht schwerer Gewissenskonflikt als hinnehmbar angesehen und die Befolgung des Rechts gegen das Gewissen verlangt. Das gleiche zeigt sich auch bei der Verweigerung des Asylrechts gegenüber Asylanten, die wegen Verweigerung des Kriegsdienstes aus Gewissensgründen ihre Heimat verlassen haben.66 Auch hier wird die Duldung und Hinnahme des Gewissenskonfliktes grundsätzlich gefordert. Die Regelung des § 3 Abs. 1 BVFG oder des Asylrechts haben dogmatisch die gleiche Struktur wie Art. 4 III GG, denn sie stellen sich als Gewährungen von Handlungsalternativen zur Vermeidung besonders gelagerter Gewissenskonflikte dar. Dass solche Vergünstigungen auch wieder rückgängig gemacht werden können, folgt aus ihrem Ausnahme- und Klauselcharakter, soweit die Klausel selbst nicht Verfassungsrang hat67 oder einen Verfassungsauftrag erfüllt. c) Wir gelangen zu einer Kritik am moralischen wie am mechanischen Rechtsbegriff, denn beide Standpunkte verabsolutieren ein erkennbares Moment des Rechts unter Vernachlässigung des entgegengesetzten Aspektes. Vertreter der moralischen Lehre, wie Laun68 oder Delvecchio69 übersehen, dass es in der Gesamtheit der Rechtsregeln Normen gibt und geben muss, die gegen das Individualgewissen durchgesetzt werden.

66 Vgl. jedoch den Beschluss auf dem Sindelfinger Colloquium der Deutschen Nansen-Gesellschaft 1967, DVBl 1967, 821; VGH Kassel, U. v. 19. 10. 1966, DVBl. 1967, 490 = DÖV 1967, 578 (Sp. 225) – zum nachträglichen Eintritt in eine Exilorganisation. 67 Der Klauselcharakter zeigt sich eindeutig in der Rechtsprechung, die keine Freistellung vom zivilen Ersatzdienst zulässt. BVerfGE 19, 135 (137 f.); 23, 127 (132); BVerwGE 26, 182 (183); 24, 1. Die Situationsgebundenheit (BVerfGE 12, 56) und andere Gründe wie Verweigerung aus politischen oder soldatischen Gründen verwerfen die Entscheidungen, U. v. 23. 6. 1961, E 12, 270 f. = DÖV 1962, 302; U. v. 3. B. 1962, Buchholz, 448.0, § 25 Nr. 11. Die Tendenz zur Ausdehnung zeigt sich andererseits in der Anerkennung der Bedeutung äußerer Einflüsse, U. v. 3. 10. 1958, DÖV 1959, 261 (263); ständige Rechtsprechung zuletzt: U. v. 17. 12. 1965, BVerwGE 23, 98 = DÖV 1966, 351. Ob das Urteil vom 28. 11. 1968, VIII C 35.67 und vom 20. 6. 1968, VIII C 18.67 die nur mittelbare Anerkennung der Anschauung ausgesprochen haben, ist umstritten; vgl. Korbmacher, DVBl. 1969, 386 / 391. Eine Einengung des Klauselcharakters findet sich dagegen bei der Überbürdung der materiellen Beweislast (U. v. 24. 7. 1959, BVerwGE 9.97 und U. v. 11. 5. 1962, BVerwGE 14.46 = DÖV 1962, 547 und U. v. 9. 11. 1967, VIII C 15, 67 = NJW 1968, 1646; Bachof, Verfassungsrecht, I, S. 136; II 93 und 194). Das Gleiche gilt für die Ablehnung des Schlusses von der allgemeinen Glaubwürdigkeit auf die Echtheit des Gewissensentscheidung, anders noch BVerwGE 13, 171 = DÖV 1962, 303 und U. v. 17. 12. 1965 = BVerwGE 23, 98; demgegenüber jedoch U. v. 31. 10. 1968, VIII C 97.67, DVBl. 1969, 400; U. v. 31. 10. 1968, VIII C 20.67, DVBl 1969, 402). 68 Laun, Recht und Sittlichkeit, Rektoratsrede Hamburg 1924; ders., Wandel der Ideen von Staat und Volk als Äußerung des Weltgewissens, Barcelona 1933. 69 Delvecchio, Die Einsamkeit als ethisches und juristisches Problem in: öZöR, Wien 1961, S. 1(8); ders., Lehrbuch der Rechtsphilosophie, Berlin 1937.

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Vertreter des mechanischen Rechtsbegriffs, wie Hermann Kantorowicz70, der den Maschinenmenschen als einzig ganz gesetzestreuen Bürger bezeichnet, verkennen, dass einige Rechtsregeln durchaus auch inneres Verhalten normieren wollen, wenn auch die Erzwingbarkeit dahinstehen mag.71 Als dritte Rechtsschicht zeigen sich jene Normen, die weder als Gewissenspflicht, noch als Normen des herrschenden Ethos Geltung beanspruchen, sondern Ausfluss staatlicher Normativierung sind. Sie begnügen sich mit der Regelung des äußeren Verhaltens, so dass das ethische Problem erst dort auftaucht, wo das konkret verlangte äußere Verhalten gegen ein besonderes Individualgewissen verstößt.72 d) Eine Lösung dieser Gewissenskonflikte wird man nur zum Teil auf rechtsimmanentem Wege suchen. Die Rechtsfortbildung über Generalklauseln, die Lückenschließung oder die allgemeine Hermeneutik werden nur zum geringen Teil eine rechtsimmanente Konfliktlösung bewirken, die sich mehr am herrschenden Ethos als am Individualgewissen orientiert. Jene drei Kategorien mit verschiedener Rechtsmodalität, nämlich solche, die gleichzeitig oder alleine entweder unter Berufung auf das herrschende Ethos oder auf die Chance der Durchsetzbarkeit gelten, stehen in wechselndem Verhältnis zueinander. 3. a) Gegen das gewonnene Ergebnis, dass nur ein kleiner Teil der Rechtsnormen auf Einverseelung abzielt und mit der Gewissensnorm konvergieren soll, wird vorgebracht, dass eine Divergenz zwischen Rechts- und Gewissensnorm grundsätzlich aufgehoben oder abgeschwächt werden müsse. So verlangt Welzel73, dass sich die Rechtsordnung mit der Gewissensordnung decken oder wenigstens auf gewissensmäßige Anerkennung intendieren müsse. Die erkennbare Gefahr eines Weltanschauungsstaates und die Verletzung des Grundsatzes der Nichtidentifikation soll dadurch vermieden werden, dass das Postulat nur auf elementare Rechtsnormen beschränkt und darüber hinaus die Durchbrechung der Rechtsordnung durch Gewissensklauseln verlangt wird. Diese Auffassung orientiert sich an einem vom Strafrecht geprägten Rechtsordnungsdenken, das mit Elementarnormen zu tun hat. Der sozialverwaltende

70 Kantorowicz, Der Begriff des Rechts, Göttingen 1957, S. 60. Häberle, JuS 1969, 265 ff.; ders., DÖV 1969, 385. Häberle erkennt zwar deutlich die Unterschiede im besonderen Statusverhältnis zum allgemeinen Bürgerverhältnis, übersieht aber, dass das Statusverhältnis nicht das primäre, sondern das sekundäre ist. 71 Es besteht eine gewisse Parallelität zum Gleichheitssatz, der als proportionale Gleichheit dort verstanden wird, wo das Recht auf ethische Anerkennung und Einverseelung tendiert. Formal und mathematisch gilt er dagegen in Rechtsgebieten, die nur äußeres Verhalten fordern. Vgl. hierzu die Arbeit des Verfassers: Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder Gebot der Chancengleichheit, Berlin 1969. 72 Kant, Metaphysik der Sitten, 2. Aufl. hrsg. v. Vorländer, Leipzig 1907, S. 235, 243; ders., Kritik der praktischen Vernunft, Leipzig 1915, S. 51 / 52, 39; Ebbinghaus, ARSP 1964, S. 23 (53 ff.). 73 Welzel, Vom irrenden Gewissen, 1949, S. 15 / 16; ders., Festschrift DJT 1960, Bd. I S. 383 ff.

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Staat bedarf aber einer Fülle nichtelementarer Rechtsnormen, so dass die Voraussetzung für eine Konvergenz von Rechts- und Gewissensnorm entfällt. b) Der andere Weg einer partiellen Kongruenz besteht in der Durchbrechung der Rechtsordnung im Wege von Gewissensklauseln, welche Handlungsalternativen vorsehen. Auf dem Boden des Strafrechts versucht man deshalb zwischen Überzeugungstäter und Gewissenstäter zu unterscheiden. Beim Ersatzdienstverweigerer verneint die herrschende Lehre eine Berufung auf Art. 4 I und III GG und lässt eine Bestrafung zu.74 Der Schutz des Gewissenstäters und der Schutz des Rechtsgutes müssen hier gegeneinander abgewogen werden: Art. 4 I GG kann bei dieser Abwägung nicht als Grundrecht in Anspruch genommen werden, wohl aber als objektiv-dirigierende Verfassungsnorm. Der dirigierende Inhalt der objektiven Gewährleistung der Gewissensfreiheit verlangt eine Schaffung von Gewissensklauseln und Handlungsalternativen. Dieser Verfassungsauftrag kann vom Gesetzgeber verletzt werden. Es kann jedoch keine Rede davon sein, dass die Gewissensentscheidung bereits per se bei jedem Gewissenstäter die Tatbestandsmäßigkeit beseitige. Man gelangt zu diesem Ergebnis auch nur deshalb, weil die Begriffe des Gewissens und des Gewissenstäters religiös und strafrechtlich, also restriktiv ausgelegt werden.75 IV. Die quasi-institutionelle Bedeutung der Gewissensfreiheit für das Rechtsstaatsverständnis 1. Die Entstehung des demokratischen Rechtsstaates steht in einer Wechselwirkung zum Grundrecht der Gewissensfreiheit; denn sowohl mit der demokratischen wie mit der administrativ-technischen Komponente werden Postulate verwirklicht, die im Zusammenhang mit der Forderung nach Gewissensfreiheit immer gestellt wurden. Die Absicherung der Grundrechte der libert dme, wie schon Montesquieu glaubte, schien durch objektive Uminstrumentalisierungen von Rechtseinrichtungen am besten gewährleistet. Es lässt sich hier der Vergleich vom Schild der Einrichtungen und vom Schwert der Grundrechte ziehen, wobei die Uminstrumentalisierung immer darin bestünde, aus den Schwertern Schilde oder Rüstungen zu machen. Die funktionalistische Rechtssoziologie wie die wertakzentuierte Grundrechtsinterpretation haben diese Zusammenhänge zwischen Gewissensfreiheit und Rechtsstaatsverständnis verstellt, indem das Freiheitsrecht nicht mehr in seiner originären Schwertfunktion gesehen wird und deshalb die Schildfunktion auch gegen das Indi-

74 BVerfGE 19, 135 (137); 23, 127 (132) mit der Möglichkeit der Berücksichtigung der psychischen Zwangslage bei der Strafzumessung, zur Doppelbestrafung der Ersatzdienstverweigerer ablehnend BVerfGE 23, 191 (204 f.). Vgl. auch Anm. 66 dpa v. 2. 7. 1969, Bericht über Bundestagsbeschluss zur Ersatzdienstverweigerung. 75 Peters, Anm. zu OLG Hamm, NJW 1965; 777; ders., Festschrift für Hellmuth Mayer, Berlin 1966, S. 257 (276 ff.); Dürig, JZ 1967, 426 ff.; Hannover, GoldtArch. 1964, S. 33 ff.; Podlech, S. 130 ff.

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viduum in den Vordergrund treten ließ.76 Der quasi-institutionelle Charakter, der den dritten Teilinhalt des Art. 4 I kennzeichnet, soll nun in Auseinandersetzung mit diesen beiden Richtungen betrachtet werden. a) Das Grundrecht der Gewissensfreiheit wird von der rechtssoziologischen Betrachtungsweise funktionalisiert. Der Gewissenskonflikt kann von ihr nur als Störung der Rollen oder Handlungssequenzen verstanden werden, weshalb durch Bereitstellen von Handlungsalternativen der Gewissenskonflikt vermieden und die Garantie einer Gewissensfreiheit erübrigt werden soll. Auf drei verschiedene Weisen soll die Sozialordnung funktionell das Einzelgewissen entlasten und dadurch das Spannungsverhältnis Bürger-Staat abbauen oder ganz auflösen. Die Gewissensfreiheit erfüllt daher nur eine tertiäre Funktion, falls die originären Entlastungsmechanismen, die Handlungsalternativen und die Institutionalisierung, nicht in der Lage sind, den einzelnen nach Möglichkeit an seinem Gewissen „vorbeizusteuern“. „Die Gewissensfreiheit soll die Orientierung des Handelns am individuellen Gewissen nicht ermöglichen, sondern ersparen.“77 Das Grundrecht ergänzt die Entlastungsfunktion der Sozialordnung dort, wo der Staat die Handlungsalternativen reduziert oder ethische Zwangslagen schafft. Dem Einwand, dass somit dem grundrechtsgewährenden Staat eine auf Rollenverteilung und Rollendifferenzierung beschränkte, unfreie und intolerante Gesellschaft vorgezogen wird, begegnet die funktionale Theorie mit dem Hinweis, dass die wertorientierte Rechtswissenschaft das Gewissen durch Art. 4 I GG ebenfalls entschärfe, indem sie von einer doppelten Bindung, einer Innenbindung durch postulierte Einverseelung des Sittengesetzes und der Normordnung und durch Außenbindung über Art. 2 I, ausgeht.78 Die Erhaltung der Kontinuität in der Selbstauffassung und den Rollenbeziehungen, die eigentliche Funktion des Gewissens, geht der Gewissensfreiheit vor und wird zum Maßstab für die Beurteilung der Konflikte zwischen Recht und Gewissen. Wird die soziale Rolle durch die rollenwidrige Gewissensstörung unterbrochen, dann wird das Gewissen als dysfunktionaler Faktor behandelt. Schließlich wird unter dem Aspekt der Handlungsalternativen behauptet, dass Gewissensfreiheit gewährleistet ist, wenn anstelle der vom Gewissen blockierten Handlung eine andere ermöglicht wird. Gewissensfreiheit bedeutet dann nicht Opferfreiheit anstelle von Normerfüllung, sondern Ausweichen in Handlungsäquivalente, also in Alternativrollen.79 76 Zum gleichen Ergebnis kommen wir mit Hilfe der Interpretation des Art. 4, Abs. 1 als institutionelle Garantie mit dirigierendem Verfassungsauftrag, die neben dem Grundrecht steht. Vgl. hierzu Davy in: Institution und Recht, hrsg. v. Schnur, Darmstadt 1968, S. 1 ff.; sowie Monaco, ebd., S. 73 ff. Luhmann, Grundrechte, S. 12 / 13 bezeichnet die Institution als „ein Komplex faktischer Verhaltenserwartungen, die im Zusammenhang einer sozialen Rolle aktuell werden und durchweg auf sozialen Konsens rechnen können.“ Carr, Federal Protection of Civil Rights, New York 1947, S. 3. 77 Luhmann, AÖR 90, 257 (280). 78 Comte, Systme de politique positive, IV, 1854, appendice, S. 53. 79 Luhmann, AöR 90, 257 (281); Podlech, S. 33; Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964; dem entspricht auch der Begriff der Verwaltung bei Luhmann,

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b) Während bei Welzel das Gewissen die Rechtsordnung auf elementare Rechtsvorschriften beschränkt, die auf Einverseelung angelegt sein müssen, hat das Gewissen bei Luhmann die Funktion, die Rechtsordnung überhaupt zu ersetzen oder doch weitgehend überflüssig zu machen, weil der ungestörte Ablauf sozialdifferenzierter Rollen im Wege gesellschaftlicher Selbststabilisierung den rechtlich regelbaren Gewissenskonflikt auszuschließen habe. Die funktionale Rechtssoziologie verzichtet auf eine Ausrichtung der Rechtsnorm oder der sozialen Rolle an rechtsmetaphysische Elemente. Sie sieht im Gewissen nur eine sozialwissenschaftlich erfassbare Verhaltenskomponente, welche Rollenkontinuität begründen oder stören kann. In dieser Funktion wird das Gewissen als Sanktion gegen rollenwidriges Verhalten bejaht. Demgegenüber wird das Verlangen nach Freiheit des Gewissens überhört, weil eine metaphysikfremde Sozialwissenschaft kein Verständnis für systemfremde Rollen und Leistungsstörungen hat. Die funktionale Rechtssoziologie geht also mehr oder weniger von der sozialen Rolle als einem sozialethisch sanktionierten, gewissensmäßig konvergierenden Verhalten aus und trifft sich hierbei mit verkehrter Frontstellung in bestimmten Punkten mit der rechtsethischen Theorie der Konvergenz von Rechtsnorm und Sittlichkeit.80 Hierbei dürfen zwei Unterschiede nicht übersehen werden: Gewissen und soziale Rolle werden zum einen nur als empirische, antimetaphysische Größen verstanden; zum anderen ist die soziale Rolle – jedenfalls bei geringerer Mobilität der Gesellschaft – wesentlich intoleranter als die Rechtsnorm, die den Prozess der rationalen Bildung zu durchlaufen hat. Die Funktion der Gewissensfreiheit, den Menschen schlechthin von sittlichen Zwängen zu befreien81, wird nur zum Teil von Art. 4 I GG und den ausdrücklichen Gewissensklauseln erfüllt. Es hatte schon früh ein Prozess der Instrumentalisierung und Institutionalisierung eingesetzt, noch ehe die Gewissensfreiheit als Grundrecht voll anerkannt war. Diese historische Entwicklung begann mit der Trennung der ekklesiastischen und der politischen Gewalt82, setzte sich fort in den Garantien und Instrumentalisierungen zur Ausbalancierung der an die Stelle des Universalglaubens tretenden Glaubenszweiheit (aequalitas exacta mutuaque)83 und ging schrittweise von den Privilegien84 im tole-

als eines Handlungssystems mit institutionalisierter Struktur. (Luhmann, Theorie der Verwaltungswissenschaft, Köln, 1966, S. 114). 80 Vgl. Anm. 68. 81 Heckel, Festgabe für F. Kaufmann, 1950, S. 83; Dempf, Sacrum Imperium, 2. Aufl. 1954, S. 21; Krüger, Allgem. Staatslehre, 2. Aufl. 1966, S. 41. 82 Zippelius, BK, Rn. 19 zu Art. 4 Art. 5 § 1 der Urkunde des Westfälischen Friedens, bei Mirbt, Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, 1911, S. 291, 430. 83 Zum Gleichheitsprinzip im Rahmen der Parität vgl. Zippelius, BK; Rn. 20 / 21 zu Art. 4. Die Privilegien wurden nachhaltig bereits in der Paulskirchendiskussion erschüttert: Wigard, stenogr. Bericht über die Verhandlungen der deutschen konstituierenden Nationalversammlung zu Frankfurt a.M., Bd. 3, 1848, S. 1668 und 1646. 84 Stahl, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., 1846, II 2, S. 127 ff. (147); Thiersch, Über den christlichen Staat, Basel 1875.

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ranten und aufgeklärten Staat, zum christlichen Staat85 und zum modernen tat laque, der sich als „homme sans conscience“ versteht, über. Hierin findet auch die gewandelte Struktur der Rechtsvorschriften ihre Begründung, die nicht mehr auf Einverseelung, sondern nur noch auf Erfüllung ausgerichtet ist, ohne sittliche Anerkennung und Billigung zu verlangen. Der moderne Rechtsbegriff, der sich vom Moralgebot und der Sittennorm abhebt, ist das Ergebnis dieses geistesgeschichtlichen Prozesses zur Gewährleistung der Freiheit des Gewissens durch Grundrechte mit Schwertfunktion und objektive Rechtseinrichtungen des Rechtsstaates mit „Schildaufgaben“. Wenn die Rechtssoziologie Gewissenskonflikte durch Rollendifferenzierung, Rollenalternativen und Institutionalisierung eines unpersönlichen Rollenverhaltens eliminieren will, so setzt sie heute nur dort ein, wo die Rechtswissenschaft vor Jahrhunderten begonnen hat, mit dem einen Unterschied, dass die empirische Methode viel leichter der Gefahr der Rollenintoleranz unterliegt, als die neutralisierte Rechtswissenschaft. Der Abbau der Staatlichkeit schlechthin, die Durchsetzung der Hoheitsgewalt mit Interessengewalten86, die Selbstorganisation der Gemeinschaft aus der Gesellschaft87, wie sie für die Industriegesellschaft der Nachkriegszeit charakteristisch ist, das Zusammenfließen gesellschaftlicher und gemeinschaftlicher Institutionen muss schließlich automatisch zum Angriff auf die Rechtsnorm, mit oder ohne Berufung auf das Gewissen, und zur Ersetzung der Rechtsnorm durch die Rolle führen. Hier muss endlich die Sinnfrage gestellt werden, wenn nur die Ersetzung der rechtsdogmatisch starren durch sozialwissenschaftlich mobile Scheuklappen erreicht wird. 2. Die Interpretation der Gewissensfreiheit in Art. 4 I GG ist von anderer Seite so wertakzentuiert durchgeführt worden, dass sich schon Spannungen zwischen dem Grundrecht und der Gewährleistung des neutralen, nicht erst des laizistischen88 Rechtsstaates als der Heimstatt aller Bürger ergeben.89 Bedeutet Gewissensfreiheit als objektiv-institutionelle Gewährleistung nicht auch die Verankerung eines neutralen Staates, einer „laizistischen Gemeinschaft“, die durch Nichtidentifikation90 gegenüber Religion und Weltanschauung gekennzeichnet ist? Das Wagnis, dem Art. 4 I GG auch eine institutionelle Seite seiner Gewährleistung abzugewinnen, Tinet, Über die Freiheit des religiösen Cultus, übers. v. Volkmann, Leipzig 1943. Wittkämper, Grundgesetz und Interessenverbände nach dem GG, Köln 1963. 87 Forsthof, Die Bundesrepublik Deutschland, in: Merkur, XIV. Jg., H. 9, Stuttgart 1960, S. 808, 810 ff., ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, Res publica, Bd. 7, Stuttgart , 1961, S. 15. 88 BVerfGE 21, 262 (371); B. v. 5. 3. 1968 (Az: 1 BvR 579 / 67) DÖV 1968, 244, BayVBl. 1968, 238. So spricht Scheuner in einer Eskalation vom „neutralen, agnostischen oder gar laizistischen Staat“ (Kirche und Staat in der neuen Entwicklung, in: Staat und Kirche in der Bundesrepublik, Bad Homburg 1967, S. 166). A.A. Maunz, BayVBl. 1968, 213. 89 BVerfGE 12, 4; 18, 386; 19, 8 und 216. 90 Krüger, S. 178 ff., 528, 542. Hesse, Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen, in: Staat und Kirche in der BRD, S. 344, Anm. 36, und S. 387, Anm. 25. 85 86

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ist nicht so groß, bedenkt man, dass in der Trennung von Staat und Kirche und in der Verankerung des neutralen, laizistischen Rechtsstaates die Formel „ltat, cest 1homme sans conscience“ mitenthalten ist. Dabei kommt es nicht so sehr darauf an, ob wir den soziologischen Begriff der Institution Haurious91 im Hinblick auf die laizistische Vergemeinschaftung, oder den öffentlich-rechtlichen Carl Schmitts92 im Hinblick auf die Gesamtheit öffentlich-rechtlich geregelter Einrichtungen auffassen. Dass die Idee der institutionellen Garantie auch hier sinnvoll ist, wo es sich nicht um abgrenzbare Teilgemeinschaften oder verselbständigte Normkomplexe handelt, zeigt das Verständnis des Staates als Institution der Institutionen.93 Die institutionelle Funktion von Art. 4 I GG besteht also nicht in der seinsmäßigen Status-quo-Garantie einer ethischen Minorität, auch nicht der notwendigen Minorität „du choque prophtique“94, sondern in der Garantie der umfassenden Institution des Staates als einer neutralen Rechtsgemeinschaft. Die Herauslösung der Garantie der Gewissensfreiheit aus dem System staatskirchenrechtlicher Normen hat diese objektiv-institutionelle Funktion nicht berührt.95 3. a) Die objektive institutionelle Bedeutung der Gewissensfreiheit in Art. 4 I ist durch eine Interpretation gefährdet, die die Verfassungsnorm aus der Gesamtheit rechtsstaatlicher Gewährleistungen herauslöst und ihr subjektive oder intersubjektive Wertungen unterschiebt. Das Gemeinsame dieser Interpretation des Art. 4 I und III GG zeigt sich im Versuch einer metajuristischen Methode der Rechtsregelerörterung. Das Gewissen wird als transzendentale Größe erfasst und im Sinne einer zwischenkonfessionellen Theologie als nicht individuell, sondern objektiv interkonfessionell ausgelegt.96 Die Methode zeichnet sich durch einen „neoscholastischen Begriffsrealismus“ aus und ist durch einen Verzicht auf rationale Beweisführung gekennzeichnet. Der Freiheitsbegriff wird teils rechtsimmanent, teils metajuristisch im Sinne einer transzendentalen Freiheit durch Bindung verstanden, wodurch ein ständiges Changieren zwischen transzendenten und immanenten Begriffen die rationale Verifizierbarkeit erschwert. Die Gewissensentscheidung ist keine „Jedermannsentscheidung“, sondern die Entscheidung eines theologisch oder existenzialphilosophisch geschärften, geprägten und angereicherten Gewissens.97 Die fragwürdige funktionale Ineinssetzung zwischen theologischem und philosophischem Gewissen, die Reduzierung des philoso91

Gurvitch, Die Hauptideen Haurious in: Institution und Recht, Darmstadt 1968, S. 23 und Leontovitsch, Die Theorie der Institution bei Maurice Hauriou, ebd., S. 176. 92 Schmitt, Über die drei Arten des rechtswissenschaftlichen Denkens, Hamburg 1934. 93 Burdeau, Der Staat als Institution, in: Institution und Recht, S. 294 ff. (308). 94 Maritain, LHomme et LEtat, Paris 1953, S. 129. 95 Hesse, S. 387. Dass damit nicht das gleiche gesagt ist, wie in der WRV, hat richtungsweisend Smend, Staat und Kirche nach dem Bonner Grundgesetz, ebd., S. 34 ff. festgestellt. 96 Noch problematischer ist die Ausrichtung des Gewissensbegriffes bei Brinkmann auf das Wissen um das Gerechte und Ungerechte (Brinkmann, Grundrecht und Gewissen, S. 63 f., 67 und 127 und 101). 97 Kritische Stellungnahme Podlechs, S. 21 / 22; ders., JuS 1968, 122.

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phischen Gewissensbegriffs auf den existenzialphilosophischen und die Behauptung, die Verfassung habe diesen Gewissensbegriff konzipiert, werden nicht bewiesen.98 b) Bei einer kritischen Würdigung ist dieser Interpretation neben anderem die Umfunktionierung von Art. 4 I bzw. Art. 4 II aus einer altliberalen Schutznorm in eine Verbotsbestimmung für nichtchristliche Religionen vorzuwerfen.99 Hier begegnen sich diese Einwendungen mit Angriffen Forsthofs auf die Grundrechtstheorie Smends und die wertbezogene Grundrechtsinterpretation des BVerfG.100 Der sich hier andeutende Verfassungswandel auf dem Boden der Grundrechtsinterpretation, der sowohl religiös-transzendentale Glaubenaussagen, wie wertphilosophische Bekenntnisse zum Inhalt der Grundrechtssätze macht, würde die Sinngestalt des bürgerlich-liberalen Rechtsstaates verändern. c) Die beiden Extrempositionen, die radikal transzendentale oder rechtstheologische Begründung des Staates und die rational-puristische-rechtsimmanente Ausrichtung, sind ebenso unhaltbar wie dies für das Problem des Rechtsbegriffs an Hand der Gegenüberstellung der Identitäts- und Disparitätstheorie gezeigt wurde. Wenn die „fundamenta fidei“ über Art. 4 I Grundlage des Staates und der staatlichen Rechtsgemeinschaft werden, dann müsste dies eine Beschränkung der staatlichen Gesetzgebungsgewalt auf die Sicherung der pax im interkonfessionellen Raum bedeuten.101 Auf Teilgebieten des öffentlichen Rechts, wie z. B. auf dem Gebiet der Konfessionsschule102 oder der religiösen Parität103, ist unzweifelhaft die confessio und nicht nur das fundamentum fidei Grundlage staatlicher Verwaltung geworden. Mit Hilfe des Subsidiaritätsgedankens104 vollzieht sich auch auf dem Gebiet der öffentlichen Sozialhilfe eine tiefgreifende Umstrukturierung in der Rangfolge der staatlichen und der gesellschaftlich-pluralistischen, vorwiegend konfessionell ausgerichteten

98 Zippelius, Wertungsprobleme im System der Grundrechte, München 1962, 186 ff. Luhmann, AöR 90, 259, Anm. 5. 99 Podlech, AöR 88, 185 ff. 100 Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: Festschrift für C. Schmitt, Berlin 1959, S. 40, 47, 51 u. 60; ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, Stuttgart 1961, S. 35, 39; dazu: Hollerbach, AöR 85, 257. 101 Hamel, ZGesStW 109, S. 54 ff.; Podlech, AÖR 88, 185 (193), mit Erwiderung: Hamel, AöR 89, 322 ff., sowie Replik Podlechs, S. 22 / 23, insbes. Anm. 19; v. Campenhausen, Grundgesetz und Kirche, BayVBl. 1968, 221 / 222; Hollerbach, Verträge zwischen Staat und Kirche in der BRD, 1965, S. 122. 102 BVerwGE 10, 135 / 136; BayVerfGH, U. v. 7. 11. 1967, BayVB1. 1968, 97 = DÖV 1968, 171; Maunz, BayVBl. 1968, 1 / 4 ff., betont die Wechselwirkung zwischen den allgemeinen Gesetzen und der kirchlichen Autonomie. 103 Zippelius, BK, Rn. 19 zu Art. 4 GG; Scheuner, S. 195 ff.; Obermayer, Staatskirchenrecht im Wandel, ebd., S. 387 / 389, zur Verbindung von Parität und Gewissensfreiheit. 104 BVerfG, U. v. 18. 7. 1967, BayVBl. 1967, 343; Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, Berlin 1968, S. 183 ff., der sich an dieser Stelle auch kritisch zur Nichtidentikationstheorie Herbert Krügers äußert.

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Sozialaktivität.105 Haben diese Erscheinungen, die zweifellos den bürgerlichen Rechtsstaat traditioneller Prägung wandeln, ihre Rechtfertigung in Art. 4 I GG, in der Funktion des Gewissens als Vehikel der fundamenta fidei vel conscientiae? Die Eigenständigkeit der Garantie der Gewissensfreiheit – gegenüber der Glaubensfreiheit – wirft die Frage auf, wie weit die ethischen Inhalte fundamenta conscientiae als Sittengesetz dem Rechtsstaat vorgegeben sind. Das naturrechtliche Sittengesetz würde somit über Art. 1 II i.V.m. Art. 4 I GG weit hineinragen in das Rechtsstaatsverständnis. Diese Frage nach der institutionellen Funktion des Art. 4 I GG (Gewissensfreiheit) teilt sich in zwei Problemstellungen: Der Ausgrenzungsfunktion entspricht eine beschränkende institutionelle Garantie, der fundierenden Funktion eine naturrechtlich prägende. Die Antwort hängt somit davon ab, ob auch die Institutionen eine ausgrenzende und (oder) fundierte Funktion ausüben und welche dieser Funktionen im konkreten Fall überwiegt. Die Formulierung „1tat, cest 1homme sans conscience“ versucht die Rechtsimmanenz des Staates damit zu rechtfertigen, dass der Gemeinschaft kein Gewissen im Sinne des ethischen Bewusstseins zukomme. Dies geschieht aber als Fiktion, um den Übergriff auf das Individualgewissen des Bürgers durch die Konstruktion des Staates als radikal-immanentes Ordnungsgefüge zu verhindern. Der Rechtsstaat ist nicht seinem Wesen nach radikal rechtsimmanent, sondern er ist dies kraft gewillkürter Konstruktion. Ähnlich wie die Gewaltenteilung Montesquieus nicht einer vorgegebenen apriorischen Struktur des Gemeinwesens entspricht, sondern mit der Sicherung der „tranquillit d me“ gerechtfertigt wurde, ist der Rechtsstaat als Gesamtheit rationaler Einrichtungen zur Eliminierung von religiösen, weltanschaulichen und ethischen Spannungen gegründet worden, nachdem der Versuch der absoluten Monarchie zur Neuintegration gescheitert war. Auch hier machen – jedenfalls für die späteren Generationen – Kleider Leute, und aus dem Zufälligen wird das Notwendige, aus dem Akzidentiellen das Essentielle.

105 Zacher, BayVBl. 1962, 257; Nawiasky / Leusser / Schweigen / Zacher, Rn. 16, 17 zu Art. 3 BV; Tröger, BayVBl. 1968, 417.

L. Toleranz und Fairness als objektiver Schutzgehalt der Religionsfreiheit I. Von der Weimarer Verfassung zum Bonner Grundgesetz 1. Die Übernahme aus der Weimarer Verfassung Die Bestimmung des Art. 135 der Weimarer Verfassung unterscheidet sich im Wortlaut relativ wenig von Art. 4 Abs. 1 des Grundgesetzes. Beide garantieren Gewissensfreiheit1 und wollen damit ein eigenständiges Grundrecht in der Verfassung verankern. Es ist mehr der Kontext, der sie unterscheidet und für die Auslegung der beiden Normen von Bedeutung ist. Dieser Kontext bedeutet, dass die Väter des Grundgesetzes die Gewissensfreiheit aus ihrem historischen Ort, der Regelung des Staatskirchenrechts, herausgelöst haben und sie zusammen mit der Glaubensfreiheit und der weltanschaulichen und religiösen Bekenntnisfreiheit als eigenes Grundrecht im Grundrechtskatalog verankerten. Gleichzeitig wurden die Grundrechte an die Spitze der Verfassung gerückt. Hinter der Menschenwürde, dem Satz von der freien Entfaltung der Persönlichkeit und dem Bekenntnis zur Gleichheit nimmt die Gewissensfreiheit neben der Glaubensfreiheit einen vornehmen Platz im Katalog der Grundrechte des Grundgesetzes ein. Unmittelbar voraus geht der Garantie der Religionsfreiheit das Diskriminierungsverbot des Art. 3 Abs. 3 GG, der ausdrücklich die Dimension des Glaubens und der religiösen Überzeugung erwähnt.2 2. Der Bedeutungswandel des Art. 4 Abs. 1 GG Während noch Art. 135 WRV die Gewissensfreiheit unter den Vorbehalt des Gesetzes stellte, das Gewissen und den Glauben also nur dort für frei ansah, wo kein Gesetz eine Grenze zog, fehlt ein solcher spezieller verfassungsrechtlicher Vorbehalt in Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG vollkommen. Dieses Grundrecht gehört damit zu den wenigen Grundrechten, die keinen geschriebenen Verfassungsvorbehalt kennen. Immerhin ist dies kein Versehen des Verfassungsgebers, sondern bewusster Verfassungsgeberwille gewesen. Und ein drittes Merkmal kommt hinzu, das die Stellung aller Grundrechte und damit auch das der Gewissensfreiheit von den Grundrechten und ihrer Stellung in der Weimarer Verfassung unterscheidet. Art. 1 Abs. 3 GG sta1 Scholler, Gewissen, Gesetz und Rechtsstaat, DÖV 1969, 526 ff.; auch abgedruckt in: Gewissen in der Diskussion, Darmstadt 1976, S. 407 ff. 2 Die Bedeutung des Art. 3 III GG ist durch die Anfügung des Art. 3 III 2 GG bedeutend angewachsen.

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tuiert die Bindung von Gesetzgebung, vollziehender Gewalt und Rechtsprechung gegenüber den Grundrechten. Das „Gesetz-vor-Recht-Denken“, wie man es einmal formuliert hatte, ist unter der Herrschaft des Grundgesetzes durch das „Grundrecht-vorGesetz-Denken“ ersetzt worden. Nicht der Gesetzgeber bestimmt den Inhalt der Religionsfreiheit, sondern diese bindet die Gesetzgeber und verhindert dadurch seine Omnipotenz. Diese Merkmale unterscheiden Stellung, Bedeutung und Funktion der Religionsfreiheit in Art. 4 Abs. 1 GG grundlegend von der Rechtsgarantie der Religionsfreiheit in der Weimarer Verfassung. Offen geblieben ist jedoch, welchen äußeren Seinsbereich das Grundrecht erfassen soll. II. Die Bedeutung der Neupositionierung der Religionsfreiheit 1. Die Weitergeltung der Regelung des Art. 140 WRV in neuer Gestalt Das Grundgesetz löste somit mit Art. 4 die Garantie der religiösen Freiheit aus ihrer traditionellen Stelle im Regelungszusammenhang der staatskirchenrechtlichen Gegenstände und fügte sie in den Grundrechtskatalog ein. Art. 140 GG ordnete die Übernahme von staatskirchenrechtlichen Bestimmungen der Weimarer Verfassung als Kompromisslösung an. Die normative Trennung wurde als bedeutsam für die Interpretation der religiösen Freiheit angesehen, dennoch muss neben Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 auch über Art. 140 GG auf verschiedene Bestimmungen der Weimarer Verfassung Bezug genommen werden. Dazu gehört Art. 136, wonach die bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte unabhängig vom Bekenntnis bestehen und niemand gezwungen werden darf, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Nach Art. 136 Abs. 4 WRV darf niemand zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder einer religiösen Übung oder zur Benutzung einer religiösen Eidesformel gezwungen werden. Art. 137 WRV garantiert die Freiheit der Vereinigung zu Religionsgesellschaften, deren Zusammenschluss sowie ihr Selbstverwaltungsrecht. Darüber hinaus regelt Art. 7 Abs. 1 S. 1 GG – Ausnahme für Bremen nach Art. 141 –, dass der Religionsunterricht ordentliches Lehrfach ist.3 Die kirchenspezifischen und institutionellen Bestimmungen, die als Teil der Garantie der religiösen Freiheit aufgefasst werden können, sollen hier außer Betracht

3 OVG Lüneburg, NVwZ 1992, 79 ff.; OVG Münster, NVwZ 1992, 77; siehe auch zum Schulunterricht VGH München, NVwZ 1987, 706; VGH Kassel, NVwZ 1988, 951; sowie Kunig / Mager, Jura 1992, 364; v. Münch, GG Kommentar, Bd. I, 4. Aufl., München 1992, Art. 4 Rdn. 57, Stichwort: Schulsport; Richter, Privatschulfreiheit für die Grundschulen von Sekten?, NVwZ 1992, 1162; ders., Die schwierige Toleranz, NVwZ 1992, 1164; Spies, Verschleierte Schülerinnen in Frankreich und Deutschland, NVwZ 1993, 637.

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bleiben. Gegenstand der Untersuchung ist allein das individuelle Menschenrecht der Garantie der religiösen Freiheit, sowie ihre objektiven Strukturen.4 Hierzu gehören aber sicher auch Art. 136 Abs. 3 und Abs. 4 WRV mit dem Schweigerecht und der Nichtteilnahmepflicht an religiösen Handlungen. Diese beiden Rechte gehören zusammen mit der Garantie des Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG zum Bestand der durch die Religionsfreiheit garantierten Rechte. Umstritten ist, ob es sich dabei um ein einziges Recht oder um mehrere Rechte handelt.5 In Art. 4 Abs. 1 sind jedenfalls zwei Rechte garantiert, die Freiheit des Glaubens und des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Daneben besteht die Freiheit zu Kulthandlungen nach Art. 4 Abs. 2 (Kultusfreiheit). Die Garantie des Art. 136 Abs. 4 WRV mit dem Inhalt, nicht an religiösen Handlungen teilnehmen zu müssen, ist dagegen nichts anderes als die Garantie der negativen Kultusfreiheit nach Art. 4 Abs. 2 GG.

2. Die religiöse Freiheit in den Garantien der Landesverfassungen Auch die deutschen Landesverfassungen enthalten die Garantie der religiösen Freiheit. Dabei zeigt sich in den Landesverfassungen ein stärkerer Zug zur Säkularisierung der religiösen Freiheit, indem überwiegend nur die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und der Überzeugung garantiert wird, ohne besondere Garantie der religiösen Bekenntnisfreiheit (Art. 4 Bremer Verfassung, Art. 9 Hessische Verfassung, Art. 4 Saarländische Verfassung). Teilweise fehlt auch die Erwähnung der Kultusfreiheit (Art. 9 Hessische Verfassung, Art. 4 Saarländische Verfassung). Am stärksten orientiert sich die Bayerische Verfassung (BV) in Art. 107 an der überkommenen Formulierung der religiösen Freiheit. Diese Bestimmung enthält auch im ersten Absatz die traditionelle Garantie der Glaubens- und Gewissensfreiheit. Ähnlich, wenn auch nicht so detailliert, regelt die rheinland-pfälzische Verfassung in Art. 8 diesen Gegenstand. Die Berliner Verfassung reduziert die religiöse Freiheitsgarantie auf das Forum externum, indem sie in Art. 20 nur die Religionsausübung schützt. Sie kennt auch eine moderne Schranke in dem ausdrücklichen Verbot der Bekundung nationalen oder religiösen Hasses (Art. 20 Abs. 2). Der moderne Sprachgebrauch, dem auch die sächsische Verfassung folgt, unterscheidet dagegen eine Freiheit des Glaubens, eine Frei4 Siehe Scholler, Die staatliche Warnung vor religiösen Bewegungen und die Garantie der Freiheit der Religion, in: Festschrift für Martin Kriele, hrsg. v. Ziemske / Langheid / Wilms / Haverkathe, München 1997, S. 321 ff.; sowie ders., The Constitutional Guarantee of Religious Freedom in the Federal Republic of Germany, Jahrbuch zur Staats- und Verwaltungswissenschaft, Bd. 7 / 1994, S. 117 ff. Von aktueller Bedeutung ist die subjektive wie objektive Wirkung von Art. 4 GG vor allem gegenüber staatlichen Warnungen, gegenüber neuen religiösen oder weltanschaulichen Bewegungen, siehe hierzu: Kriele, Sektenjagd, ZRP 1998, Heft 6, S. 231, der sich speziell mit der Arbeit der EnquÞte-Kommission „Sogenannte Sekten und Psychogruppen“ beschäftigt; ders., Die rechtspolitischen Empfehlungen der Sektenkommission, ZRP 1998, Heft 9, S. 349. 5 Starck, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, Bd. 1, 3. Aufl. 1985, zu Art 4.

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heit des Gewissens und eine Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses. Dabei handelt es sich bei der Gewissensfreiheit um eine selbständige Freiheit, die sich aus der Verbindung mit der Glaubensfreiheit gelöst hat und weltanschauliche wie ethische Postulate des Guten und Bösen umfasst. III. Die objektiven Strukturen der Garantie religiöser Freiheit 1. Die Trennung von Staat und Kirche – Parität, Neutralität oder Nichtidentifikation Wie in der Weimarer Verfassung so hat auch im Bonner Grundgesetz die Garantie der Religionsfreiheit subjektive Grundrechtsqualität und objektiven Strukturgehalt. Doch zeigen sich hinsichtlich des objektiven Strukturgehaltes wesentliche Veränderungen: a) Während in der Weimarer Verfassung die Trennung von Kirche und Staat (wohl zutreffend eine hinkende Trennung genannt) mit Paritäts- und Neutralitätsstrukturen überwiegt, ist im Grundgesetz durch die stärkere Betonung der Subjektivität der Religionsfreiheit die Struktur einer Pluralismusgarantie deutlicher hervorgetreten. b) Nicht mehr Neutralität durch Parität der Konfessionen oder Gleichheitsgewicht zwischen Weltanschauung und Religion sind Merkmal der objektiven quasi-institutionellen Garantie, sondern Öffnung der Gesellschaft auf religiösen und weltanschaulichen Pluralismus hin. Dies zeigt schon die Anreihung der Grundrechtsgarantien in Art. 4 Abs. 1 GG, wo von der Freiheit des Glaubens und des Gewissens, aber auch des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses die Rede ist. Nicht mehr Glaubenszweiheit oder Glaubensdreiheit (christliche Konfessionen und Judentum) werden garantiert, sondern alle Religionen, Bewegungen und Weltanschauungen. c) Weiterhin bedeutet die Vorwegnahme des Art. 4 Abs. 1 bis 3 GG und ihre Einbettung zwischen Meinungsfreiheit und Diskriminierungsverbot in Art. 5 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3, dass auch die Toleranz gegenüber allen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen und der religiöse Minderheitenschutz ein objektives Strukturelement des Verhältnisses Staat – Religion geworden ist. Das religiöse und weltanschauliche Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 entspricht der Reaktion gegen die nationalsozialistische Unterdrückung und Verfolgung bestimmter religiöser Minoritäten. Der Schutz religiöser, weltanschaulicher oder ethischer Minoritäten kommt aber auch gerade in dem Schutz der Kriegsdienstverweigerer in Art. 4 Abs. 3 GG zum Ausdruck.6 Sowohl die objektiven Strukturen der Religionsfreiheit, als auch die Ausdeutung des Grundrechtsgehaltes müssen von dieser Positionierung des Grundrechtes in Art. 4 Abs. 1 ausgehen. Die im Art. 4 garantierte religiöse und weltanschauliche Freiheit ist nicht mehr identisch hinsichtlich der Garantien der Weimarer Verfassung, sondern wesentlich erweitert in Richtung auf Toleranz, Minderheitenschutz und Pluralismus. 6

Bethge, Gewissensfreiheit, Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI (1992), § 137 Rdn. 1 ff.

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Nur durch eine solche Auslegung ist möglich, das sonst in einer traditionellen Interpretation verkrustete Grundrecht mit seinen objektiven Strukturen der Neutralität in Einklang zu bringen mit den neueren internationalen oder europäischen Grundrechtsgarantien. Dies gilt zunächst einmal in besonderer Weise für die europäische Grundrechtsgewährleistung durch die Europäische Charta der Menschenrechte, aber auch für internationale menschenrechtliche Garantien des religiösen Schutzes des Individuums in Verbindung mit der Entwicklung objektiver Toleranzprinzipien. Dies gilt für die Bundesrepublik dort, wo sie solchen völkerrechtlichen Instrumenten beigetreten ist und diese inzwischen in Kraft gesetzt wurden. Für das Verständnis der Religionsfreiheit in rechtsvergleichender und überregionaler Hinsicht, ist sowohl das Erste Amendment der Verfassung der Vereinigten Staaten, als auch Art. 18 der Universal Declaration of Human Rights, sowie Art. 18 der International Convenant on Civil and Political Rights von 1966 von Bedeutung.7 Auch spielt im zunehmenden Maße die Europäische Menschenrechtskonvention (Art. 9) eine Bedeutung bei der Interpretation der Religionsfreiheit im nationalen Rahmen. Aus der Rechtsprechung des Federal Supreme Courts der Vereinigten Staaten ist zu erkennen, dass eine „prefered position“ gegenüber Strafgesetzen (Verbot der Polygamie oder Verbot der religiösen Drogeneinnahme) nicht akzeptiert wird, obwohl schon gegen diese ablehnenden Entscheidungen immer wieder kritische Stimmen laut wurden. Andererseits ist die „freedom of exercise clause“ weit ausgelegt worden und keinesfalls auf die Ausübung von religiösen Riten von Hochkulturen beschränkt worden. Hinsichtlich der Garantie von „free exercise“ unterscheidet die amerikanische Rechtsprechung zwischen trivialen und zentralen oder essentiellen religiösen Kultushandlungen und nimmt für letztere eine „prefered position“ an.

2. Fairness und Toleranz als Integrationsprinzipien Für die Interpretation von Menschenrechten hat die moderne Rechtstheorie sowohl das Fairnessprinzip (John Rawls), als auch das Toleranzprinzip von Arthur Kaufmann8 als defensive Interpretationshilfen angeboten. Beide Prinzipien können zusammengefasst werden als Ausdruck des so genannten „negativen Utilitarismus“. Das Fairnessprinzip bedeutet im Wesentlichen einen verstärkten Minderheitenschutz, weil die Vorteile und Nachteile einer intendierten Handlung gleich verteilt werden müssen. Es darf also nicht so gehandelt werden, dass alle Vorteile der Mehrheit und alle Nachteile der Minderheit aufgebürdet werden. Das Toleranzprinzip versucht die Handlungsgrundsätze dahingehend auszugestalten, dass Nachteile, Leiden und Behinderungen auf den kleinsten möglichen Kreis beschränkt werden. Beide Prinzipien, das Fairnessprinzip und das Toleranzprinzip bedeuten somit, dass die Grundrechte als Minderheitenschutz eine besondere Bedeutung auch dort haben, wo sie 7 Dlamini, Culture, Education and Religion, in: van Wyck u. a. (Hrsg.), Rights and Constitutionalism, Kenwyn 1994, S. 593 ff. 8 Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl., München 1997, S. 185 ff.; vgl. auch neuerdings, Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt 1998.

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nicht ausdrücklich für Minderheiten konzipiert sind. Wie im Nachstehenden noch zu zeigen ist, hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts diesen beiden tragenden Prinzipien in seiner Interpretation im Wesentlichen entsprochen, indem aus dem Grundrecht sowohl der Minderheitenschutz, als auch das Toleranzprinzip herausgelesen wurde, indem das Gericht als objektive Strukturen sowohl das Wohlwollensgebot, als auch die Toleranzpostulate betont hat. IV. Der programmatische und der objektive Gehalt der religiösen Freiheit in Art. 4 Abs. 1 GG 1. Der Inhalt der objektiven Wertgarantie Es handelt sich bei Art. 4 Abs. 1 GG nicht nur um eine subjektiv-rechtliche Grundrechtsgarantie, sondern um eine objektive Wertgarantie, die einen direktiven und strukturellen Inhalt hat. Art. 4 Abs. 1 GG schützt mit der religiösen Freiheit nicht nur den status negativus, sondern hat einen dirigierenden und zudem einen quasi-institutionellen Teilinhalt.9 Der Würdigung dieser beiden letzten Teilaspekte, nämlich der religiösen Freiheit als Programmnorm oder dirigierende Verfassungsnorm einerseits und als quasi-institutionelle Garantie andererseits muss im nachfolgenden Abschnitt nachgegangen werden. 2. Der dirigierende Inhalt des Art. 4 Abs. 1 GG Dass das Grundgesetz nicht nur aktuell geltende Normen enthält, sondern darüber hinaus auch Verfassungsaufträge oder Befehle, also einen dirigierenden Verfassungsteil kennt, ist unbestritten. Denn manche Normen verstehen sich expressis verbis als dirigierende Verfassung. Lerche hat gezeigt, dass das Grundgesetz in verschiedenen Dimensionen und Ebenen dirigierende Verfassungsnormen enthält. Dies gilt auch für die religiöse Freiheit in Art. 4 Abs. 1 GG, weil man nur dann Art. 4 Abs. 3 GG richtig interpretieren kann. So gesehen ist die Garantie der Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen – Art. 4 Abs. 3 GG i.V.m. Art. 12 a Abs. 2 GG – erste Realisierung dieses dirigierenden Teilgehaltes der Norm des Art. 4 Abs. 1 GG. Darüber hinaus wird aber dieses Verständnis von Art. 4 Abs. 1 GG für die gesamte Schrankenund Güterabwägungslehre von Bedeutung. Der dirigierende oder programmierende Teilinhalt von Art. 4 Abs. 1 GG ist im Hinblick auf die religiöse Freiheit von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch als „Ausstrahlungswirkung“10 des Grundrechts in Art. 4 Abs. 1 GG angesprochen worden. Diese Ausstrahlungswirkung ist dogmatisch gesehen nichts an9

Siehe oben Anm. 1. BVerfGE 32, 98, 108 f.; BVerfGE 23, 127, 132; BAG, NJW 1990, 203 ff.; vgl. Kunig, in: v. Münch / Kunig, GG Kommentar, Bd. 1, 4. Aufl., München 1992, Art. 4 Rdn. 57; siehe auch Konzen / Rupp, Gewissenskonflikte im Arbeitsverhältnis, 1990; Rupp, NVwZ 1991, 1033. 10

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deres als ein dirigierender oder programmatischer Teilinhalt, der auf Verfassungsebene wie auf Gesetzesebene die Umsetzung der Grundsatznorm in Verfassungs- oder Gesetzesrecht verlangt. Die Ausstrahlungswirkung als Funktion dirigierender Vefassungsnormativität bedeutet nun dreierlei: Dem Gesetz gegenüber die Forderung der Schaffung von Handlungsalternativen dort, wo ein Gewissenskonflikt auftritt oder auftreten könnte, der mit der prinzipiellen Entscheidung in favorem conscientiae des Art. 4 Abs. 1 GG unvereinbar ist. Zweitens verlangt die Ausstrahlungswirkung, oder besser gesagt, bewirkt sie einen Dispens von staatlichen Pflichten, wenn eine Handlungsalternative vom Gesetzgeber nicht geschaffen wurde oder nicht geschaffen werden kann und der Gewissenskonflikt schwer und untragbar ist. Schließlich wird gegenüber der Rechtsprechung und Verwaltung auf dem Wege der Ausstrahlungswirkung ein „Wohlwollensgebot“11 von der Verfassung her statuiert. Auch das Bundesverfassungsgericht hat dies erkannt, ja der Begriff des „Wohlwollensgebots“ geht auf seine Rechtsprechung zurück.12 In dieser dreierlei Gestalt: Handlungsalternativen, Dispens und Wohlwollensgebot wirkt Art. 4 Abs. 1 GG in seiner spezifischen Weise als Ausstrahlung oder dirigierende Verfassungsnorm auf Gesetzgeber, Verwaltung und Rechtsprechung ein. So gesehen ist eben Art. 4 Abs. 3 GG bereits der erste Anwendungsfall des Gebotes zum Dispens bzw. zur Schaffung von Handlungsalternativen. Während Art. 4 Abs. 3 GG noch den Dispensgedanken im Auge hat, hat Art. 12 a Abs. 2 GG auf Verfassungsebene die Handlungsalternative, nämlich den Ersatzdienst eingeführt. Da beide Normen sich auf der gleichen Verfassungsebene treffen, kann nicht davon gesprochen werden, dass die Hinzufügung der Handlungsalternative zu dem ursprünglich alternativfreien Dispens eine Einschränkung der religiösen Freiheit in der Gestalt des Art. 4 Abs. 1 GG und Art. 4 Abs. 3 GG sei. Dem Gesetzgeber muss ein solches Überwechseln von Dispens zur Handlungsalternative offen stehen, wenn nicht durch eine unterverfassungsgesetzliche Norm, also ein einfaches Gesetz, ein Verfassungsgebot ausgehöhlt oder unterlaufen werden soll, was hier wegen der gleichen Verfassungsqualität beider Normen nicht der Fall ist. V. Nichtidentifikation, Laizismus und Toleranz 1. Das Prinzip der Nichtidentifikation Ob man nun das in der Bundesrepublik herrschende System der Trennung von Staat und Kirche ein hinkendes oder unvollständiges nennen will, immerhin ist hier ein Anliegen verwirklicht worden, das man mit dem von Herbert Krüger geprägten Ausdruck der „Nichtidentifikation“13 bezeichnen darf. Der Staat darf sich mit ideologischen oder religiösen Einrichtungen nicht identifizieren, er muss neutral blei11 12 13

Rupp, NVwZ 1991, 1033, 1037. Siehe Anm. 11. Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1966, S. 178, 528 und 542.

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ben. Der tiefere Grund für diese Nichtidentifikation ist eben die Garantie einer geistigen freien Sphäre, die unabhängig von staatlicher Autorität sich entfalten und entwickeln soll. Neben dieser Nichtidentifikation steht ein anderer Grundsatz, den man bald als Laizismus, bald als weltliche Neutralität bezeichnen kann. Die konkreten Staatssysteme stehen meist zwischen beiden Extremen, dem antiklerikalen Laizismus und dem partnerschaftlichen System der Neutralität. Zurück geht diese Loslösung des Staatsrechts von einem religiös fundierten Staatskirchenrecht oder Kirchenstaatsrecht auf die Formel von Hugo Grotius, der, um das Zusammenleben von pluralistisch konfessionell ausdifferenzierten Gruppen im modernen Staat zu praktizieren, den Satz geprägt hat, dass man den Staat so konstruieren müsse, als ob es keinen Gott gebe.14 Damit erhält der moderne Staat seinen rein instrumentalen Charakter, wird er zum Organisationsstatut, zur sozialpolitischen Wirkeinheit ohne Transzendente oder transzendentale Basis. Wenn auch heute dies als selbstverständlich erscheint, so war es damals doch eine einer überkommenen Überzeugung hart abgewonnene Neuerung, die den Staat zum ersten Mal zu einem menschlichen Konstrukt machte. 2. Eine quasi-institutionelle Garantie des Pluralismus Fraglich konnte natürlich sein, ob ein so individuell ausgerichtetes Grundrecht wie das der Gewissensfreiheit gleichzeitig institutionelle Garantieelemente enthalten kann, weshalb hier vorsorglich von einer quasi-institutionellen Garantie gesprochen wird. Art. 4 Abs. 1 GG verlangt mit der Garantie der Religionsfreiheit eine besondere Organisation des Staates, denn gerade hierin erfüllt sich im Wesentlichen der Garantievollzug dieses Grundrechts. Es gewährt Gewissensschutz nicht nur durch eine subjektiv öffentlich-rechtliche Rechtsposition mit Grundrechtscharakter, sondern ebenso durch Organisation des Staatsapparates. So verseht sich wohl auch die Formulierung von Carl Schmitt, dass die Gewissensfreiheit einen systematischen Primat habe, weil sie weit stärker als andere Grundrechte auf institutionelle Wirkung eine Umorganisation des Staatsapparates zur Folge gehabt hat.15 Die Trennung von geistlicher und weltlicher Gewalt, die sich in der abendländischen Geschichte erst langsam vollzogen hat und in der Weimarer Reichsverfassung, die in diesem Punkt vom Grundgesetz übernommen wird, ihren Höhepunkt fand, ist letzten Endes eben ein Produkt oder eine Auswirkung der garantierten Religionsfreiheit. Wie man auch immer das Verhältnis Staat und Kirche unter dem Grundgesetz qualifizieren will, wie man auch immer die Beibehaltung einer öffentlich-rechtlichen Kirchenorganisation mit dem System eines neutralen partnerschaftlichen Staates in Einklang bringt, die grundsätzliche Scheidung von geistlicher und weltlicher Gewalt ist Teil der durch Art. 4 Abs. 1 GG garantierten quasi-institutionellen Wertordnung. 14

Grotius, De jure belli ac pacis 1625 II 15 III, Vorwort Nr. 11, vgl. Zippelius, Geschichte der Rechtsideen, München 1971, S. 119. 15 Schmitt, Verfassungslehre, 5. Aufl. 1970, S. 158 f.

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3. Die Toleranzgarantie Als weiteres Merkmal der objektiven Bedeutung des Art. 4 Abs. 1 GG muss hier die Toleranz erwähnt werden. Zwar bekennt sich das Grundgesetz nicht zu diesem staatspolitischen Begriff ausdrücklich, doch sind verschiedene Bestimmungen eindeutig Ausdruck eines modernen Toleranzdenkens. Das Diskriminierungsverbot16 in Art. 3 Abs. 3 GG, der Schutz von Asylbewerbern, die aus Überzeugung oder Gewissensgründen in ihrer Heimat verfolgt werden und diese verlassen haben, sind nur zwei beredte Weisen für rechtliche und politische Toleranz, die letzten Endes auch im Bekenntnis zur Menschenwürde ihren Ausdruck findet. Nur ein toleranter Staat kann wirkliche Menschenwürde achten und sie vor dem Zugriff politischer und sozialer Gewalten schützen. Ein ganz eminenter Ausdruck dieses Toleranzdenkens ist die Garantie der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in Art. 4 Abs. 3 GG. Eine Zusammenschau dieser Vorschriften alleine ergibt bereits, dass das Grundgesetz auf Pluralismus und Duldung angelegt ist und dass das Toleranzprinzip einen hervorragenden Rang unter dem Grundgesetz einnimmt. Schließlich müsste erwähnt werden, dass das Grundgesetz entgegen einer wohl missgedeuteten Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts keine allgemeine Bürgerpflicht zur Verteidigung der Verfassung und des Staates auferlegt. Es tut dies eben deshalb nicht, weil auf dem Prinzip der Gewissensfreiheit und der mit ihr verbundenen Regelung der Neutralität, Rechtsstaatlichkeit und der Toleranz eine solche Verteidigungspflicht in das Innere der Bürger eingreifen würde, das von solchen Reglementierungen freigehalten werden soll. Aus dem gleichen Grunde verzichtet es auch auf einen allgemeinen Bürgereid, der allerdings in der Geschichte nicht selten an der Wiege des modernen Staates gestanden hat. Pluralismus und Toleranz schützen und fördern ein Konsistenzverhalten. Diese Konsistenz als das Element der Verhaltenskomponente kennzeichnet die relative Beständigkeit einer moralischen Haltung.

VI. Schlussbemerkung Martin Kriele hat auf die Gefahr hingewiesen, dass Menschenrechte entinstitutionalisiert werden und dann in Gestalt reiner „Toleranzen“ fortleben.17 Das Toleranzprinzip muss also objektiv institutionell und subjektiv grundrechtlich verankert werden. Das unbestrittene Anwachsen neu-religiöser Bewegungen und die funktionalistische Leugnung von Gut und Böse in dem politischen Anathema gegen jedes 16 Der Zusammenhang zwischen Minderheiten und religiöser Freiheit zeigt sich am deutlichsten im Freiheitsrecht auf religiöse Erziehung in der eigenen Minderheitensprache. Siehe dazu: The Provisions on Human Rights and Humanity in the Concluding Document of the Vienna follow-up meeting, in: Human Rights Law Journal, Vol. 10 (1989), S. 264. Einleitung von H. Tretter, Hrsg.: E. Engel und P. Mahony. 17 Kriele, Einführung in die Staatslehre, Frankfurt / Mainz 1975, S. 116 unter Hinweis auf ein Zitat von Ernst Bloch.

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Freund-/Feind-Schema führen letztlich zu einer Ummünzung garantierter menschenrechtlicher Religionsfreiheit in ein System der Toleranzen, die jederzeit eingeschränkt oder widerrufen werden können. Das moderne Systemdenken und die funktionalistische Betrachtungsweise der Gesellschaft führen darüber hinaus ständig zur Behauptung, dass jeder Gewissensruf religiöser oder weltanschaulicher Art als Störung empfunden werden müsse.18 Erscheint nicht in dieser Religionsfeindlichkeit der modernen Gesellschaft und des modernen Staates ein Neopelagianismus oder ein platter Naturalismus auf ? Paul Tillich hat die kosmische Dimension des Gut-/ Böse-Schemas nachdrücklich verteidigt und sieht hierin einen Wesenszug jeder Religion. Andere Manifestationen fremder religiöser Bewegungen aus anderen Hochkulturen wie Chanten oder Tempeltanz dürften eigentlich in einem Kulturstaat, der sich als freiheitlicher Rechtsstaat begreift, selbstverständlich als unter der Kultusfreiheit mitgarantiert erscheinen.19 Die Berufung der staatlichen Gewalt im Rahmen so genannter Öffentlichkeitsarbeit auf die Verpflichtung zur Gefahrenvorsorge muss daher eher als Teil einer allgemein sich verbreitenden Xenophobie angesehen werden, die sich hier bald als Ausländerfeindlichkeit, dort aber als Religionsfeindlichkeit gegenüber divergierenden Kultusformen manifestiert.

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Scholler, Gewissensspruch als Störung, in: Jenseits des Funktionalismus, Arthur Kaufmann zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Scholler / Philipps, Heidelberg 1989, S. 187. 19 Tillich, Systematische Theologie, Bd. 2, 1987, S. 33 ff., 48 ff.

M. Der Gewissensspruch als Geltungsgrund oder als Störung des Rechts Zum Verhältnis von Ethik und Recht in der Rechtsphilosophie Arthur Kaufmanns

I. Der Begriff der Rechtsgeltung bei Arthur Kaufmann Das rechtsphilosophische wie das strafrechtliche Schrifttum im Lebenswerk von Arthur Kaufmann durchzieht die Frage nach dem Verhältnis von Ethik und Recht.1 Bezeichnend für seinen Ansatz ist aber besonders der Umstand, dass er nicht generelle Kategorien – hier Ethik und dort Recht – einander gegenüberstellt, dass er beide Aspekte von einem subjektiven Gesichtspunkt behandelt, nämlich die Ethik unter dem des Gewissens und das Recht unter dem der Geltung oder Gültigkeit. Denn Geltung und Gültigkeit des Rechtes sind für ihn nicht objektive Größen, lassen sich nicht zurückführen auf das Durchlaufen eines objektiv-formellen Rechtsgewinnungsprozesses2, sondern sind subjektiv und liegen in der Anerkennung oder doch auf jeden Fall in einer subjektiven Diskursebene mit objektiven Ordnungen. Allerdings zeigt auch schon die Wortwahl, dass das Gewissen nicht auf die Ethik und die Gültigkeit nicht auf die Rechtswelt beschränkt sind, sondern das Gewissen eine Kategorie ist, die für beide Welten oder beide Bereiche die ausschlaggebende Instanz ist. Insofern kann man wohl auch sagen, dass hier noch etwas nachklingt, was nach dem zweiten Weltkrieg als die Renaissance des Naturrechtes und der subjektiven Naturrechtlichkeit bezeichnet wurde.3 In seiner Gedankenführung beginnt nun die Auseinandersetzung mit dem Gewissen als der einzigen höchsten Instanz bei Jean Paul Sartre, also nicht bei Martin Hei1 In drei im Wesentlichen gleichlautenden Veröffentlichungen hat sich Arthur Kaufmann mit dem Problem der Rechtsgeltung und des Gewissens befasst: Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung (Hrsg. Philipps / Wittmann, Heidelberg 1991, S. 5 ff.); leicht verändert in: Juristische Studiengesellschaft Karlsruhe – Schriftenreihe Heft 190, Heidelberg 1990; sowie abgedruckt in: Über Gerechtigkeit, Köln 1993, S. 125 ff., auch schon Rechtsphilosophie, ebd. S. 1. Kaufmann lässt aber auch sehr verschiedene Formen des „Geltens“ oder des „Gültigseins“ zu: Kaufmann, „Grundprobleme der Rechtsphilosophie“, München, 1994, S. 177. Siehe auch ders., Rechtsphilosophie, Heidelberg 1997, S. 196 – 211, sowie: Recht und Sittlichkeit, in: Über Gerechtigkeit (s. o.) S. 73 ff. 2 „Rechtsgeltung“ S. 1 ff. („Rechtsgeltung“ im Nachfolgenden bezieht sich auf: Das Gewissen und das Problem der Rechtsgeltung, Schriftenreihe (Fn. 1)). 3 Arthur Kaufmann, Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre – und was daraus geworden ist, in: Über Gerechtigkeit (Fn. 1) S. 221.

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degger4, was man vielleicht zunächst vermuten könnte. Er sieht eben in Sartre die sich selbst widerlegende höchste Übersteigerung der Idee, dass der Mensch sein einziger und höchster Gesetzgeber selbst sei.5 Er lehnt dann richtigerweise diese Übersteigerung damit ab, dass man dadurch nicht zu allgemeinen verbindlichen Normen gelangen könne, so dass die Rechtswelt und die Welt des sittlichen Sollens völlig auseinandertreten müssten. Auf diese Weise würde die Heteronomie wieder an die Stelle eines sittlichen einheitlichen Sollens treten. II. Vom klassischen Autonomiedenken zum systemischen Ansatz bei Luhmann Zu dieser Frage und zu dem möglichen Widerspruch in dem Ansatz bei Kant hatte sich Kaufmann bereits in seiner Schrift vom Schuldprinzip6 näher und ausführlich geäußert. Er übernimmt die Figur des homo nuomenon, d. h. er geht bei der Frage der Autonomie des Sittlichen nicht vom animalischen Subjekt, sondern vom Menschen als Vernunftswesen aus. So wird auch für Kaufmann das Gewissen zum Organ der praktischen Vernunft. Auch in der anschließenden Auseinandersetzung mit Hegels Rechtsphilosophie, insbesondere seiner Ablehnung des eigentümlich subjektiven Wissens (Gewissens) hat er sich mit meinen Äußerungen hierzu befasst.7 Die konkreten Konfliktfelder zeigen sich vor allem im Problem der Anerkennung des Kriegsdienstverweigerungsrechtes und des einzelnen Kriegsdienstverweigerers, aber auch auf dem Gebiet der Sexualmoral. In späteren Schriften hat auch dann das Problem der Genetik als Konflikt zwischen Gewissen und Recht eine größere Rolle gespielt.8 Sehr kritisch sind hier seine Äußerungen gegenüber der päpstlichen Stellungnahme zur Empfängnisverhütung im Jahre 1988.9 Nachdem Kaufmann hier Welzel zitiert, hat er mich wie folgt erwähnt:

4

Bei Heidegger ist das Gewissen „verrufender Aufruf zum Schuldigsein“, in: Sein und Zeit, Tübingen 1963, S. 295. 5 „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 6) verweist hier auf: J. P. Sartre, Lexistentialisme est une humanisme, 1959, S. 22, 37, 47, 78, 93. 6 „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 8) verweist hier auf: Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 118 ff. 7 „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 17) verweist hier auf: Heinrich Scholler, Das Gewissen als Gestalt der Freiheit; Das Gewissen als Sinngestalt und Strukturprinzip im Verfassungsrecht, 1962, S. 49. 8 „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 13) verweist hier auf: Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts – oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, § 137. Dazu näher Scholler, Das Gewissen (Fn. 7) S. 47 ff. 9 „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 15) verweist hier auf: H. Fries, Leiden an der Kirche, 1989, S. 26. Vgl. dazu auch F. Böckle, Zur Kompetenz des Gewissens, in: Freiburger Akademiearbeiten 1979 – 1989, hrsg. von D. Bader, 1989, S. 15 ff, bes. S. 17 f.

M. Der Gewissensspruch als Geltungsgrund

181

„Durch Hegel erfolgt die verhängnisvolle etatistische Identifikation, bei der der Einzelne seine Subjektivität auf dem Altar des Staates zu opfern hat“.10

Die Auseinandersetzung mit der klassischen deutschen Rechtsphilosophie beendet Kaufmann mit dem Hinweis, dass möglicherweise der error iuris – bei dem man zwischen einem überwindlichen und einem unüberwindlichem Irrtum unterscheidet – das Problem nicht erfassen kann. Hierzu schrieb Kaufmann wörtlich folgendes: „Doch dann so scheint es, wird die Verbindlichkeit der moralischen und rechtlichen Ordnung letzlich nicht auf das Gewissen gegründet. Heißt das aber, zumindest für die Rechtsordnung, nicht eben doch, dass ihre Geltung auf Heteronomie gegründet wird, dass Rechtspflichten keine echten Pflichten sind, dass es im Recht nur ein Müssen, aber kein wirkliches Sollen gibt? Wird der Mensch durch das Rechtsgesetz nicht eben doch fremdgesetzlich bestimmt? Oder ist es am Ende völlig verfehlt, das Gelten der Rechtsordnung irgendwie mit dem Gewissensphänomen in Verbindung zu bringen?“11

Damit gäbe es dann im Recht doch eben nur ein Müssen und kein Sollen. Dann wäre es evtl. auch gänzlich verfehlt, eine geltende Rechtsordnung mit dem Phänomen des Gewissens in Verbindung zu bringen!? III. Der Gewissensspruch in der Gestalt der Anerkennung, des Konsensus oder des Diskursverfahrens Die Konfrontation eines objektiven, sittlichen gesellschaftlichen Gewissens mit dem subjektiven Gewissen versuchen die sog. Anerkennungs-, Konsensus- oder Diskurstheorien zu vermeiden, die von Kaufmann einzeln untersucht und kritisiert werden. Er hat mit klarem Blick erkannt, dass die abgebrochene Diskussion zur Bedeutung des subjektiven oder objektiven Gewissens in diesen Theorien ihre moderne Fortsetzung erfahren hat. Im Hinblick auf die Systemtheorie kritisiert die Untersuchung von Kaufmann mit Recht, dass aus der Notwendigkeit des Funktionierens einer Ordnung nicht auf das Gesollt-Sein dieser Ordnung, also das Richtig-Sein geschlossen werden kann. Er wirft hier mit Recht Luhmann vor, dass für jenen Gerechtigkeit nur eine ideologische Umschreibung darstellt.12 Dieser Frage bin ich in einem Beitrag für eine Festschrift zum 65. Geburtstag von Arthur Kaufmann nachgegangen, in dem ich die angebliche Lästigkeit oder Störung des Gewissensspruches in der Systemtheorie untersucht habe.13 Das Pendel hat damit in der Systemtheorie zum äußers10

Rechtsgeltung“ (Anmerkung 17) verweist hier auf: Scholler, Das Gewissen (Fn. 7),

S. 49. 11

„Rechtsgeltung“ S. 11. Hier soll auf § 17 StGB hingewiesen werden. „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 25) verweist hier auf: Niklas Luhmann, Positives Recht und Ideologie, in: ARSP 53 (1967), 567 f. „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 26) verweist auf: Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit, Heidelberg 1992, S. 24 ff.; ders., Prozedurale Theorien der Gerechtigkeit, München 1989, S. 11 ff. (jeweils mit Nachweisen). 13 Heinrich Scholler, Gewissensspruch als Störung, in: Scholler / Philipps (Hrsg.): Jenseits des Funktionalismus, Heidelberg, 1989 S. 187 ff. 12

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Teil 3: Toleranz

ten anderen Ende ausgeschlagen und die sittliche Subjektivität wird zur Störung des richtigen Systems. Einen anderen Ansatz stellt die Vertragstheorie dar, die in einer etwas lockeren Anknüpfung an Rousseau von John Rawls in dessen Gerechtigkeitstheorie aufgegriffen wurde. Das moralische Urteil soll dadurch erreicht werden, dass sich die Menschen in eine „original position“, also in einen gedanklichen Urzustand versetzen, der vor allem dadurch verstärkt wird, dass sie sich durch den „Schleier des Nichtwissens“ in eine Situation begeben, von welcher aus sie ihre eigenen Interessen durch die Interessen anderer beurteilen oder positionieren können14. Mit Recht kritisiert er die fiktive Bedingtheit dieser Position, die rein hypothetisch sich als Gedankenexperiment eines gebildeten Amerikaners darstellen muss. Hinzu kommt noch, dass das Rawlssche Verfahren ein Verfahren des monologischen Denkens ist, so dass eigentlich ein Diskurs oder eine Vertragssituation, die ja immer verschiedene Partner als Akteure voraussetzt, gar nicht gegeben ist. Anders verhält es sich dagegen bei der Position von Jürgen Habermas, nach dessen Theorie der Konsens in einem Diskursverfahren aufgrund einer idealen Sprechsituation erzielt werden soll15. Die Gültigkeit und damit die Richtigkeit des Diskursergebnisses soll natürlich nicht durch ein Kriterium von Außen bestätigt oder begründet werden, sondern nur durch formale Bedingungen und Voraussetzungen einer idealen Sprechsituation: Chancengleichheit für alle, Redefreiheit, keine Privilegien, Freiheit von Zwang und Wahrhaftigkeit. Hier sagt Kaufmann, dass diese Bedingungen wohl ein Indiz für die Richtigkeit der gefundenen Lösungen sein könnten, niemals aber die Richtigkeit selbst garantierten. Vielmehr hänge es von der Qualität der am Diskursverfahren Beteiligten ab, ob die praktische Richtigkeit Ergebnis des Diskursverfahrens sein kann. „Deshalb ist es im Normalfall (im Rechtsstaat) möglich und ausreichend, die Rechtsordnung auf dem Konsens der Gesellschaft zu stützen“.16 Im Ausnahmefall aber würde auch dieses Kriterium versagen, denn es könnte nicht das formal ordnungsgemäß zustande gekommene „Schandgesetz“ verhindern. Hier greift Kaufmann auf die Erfahrungen von 1933 bis 1945 zurück und knüpft an einen Begriff an, den sein Lehrer Gustav Radbruch in seinem berühmten Artikel über das gesetzliche Unrecht und das überpositive Recht aufgegriffen hat.17 Es verwundert daher nicht, dass in dem hier vor allem behandelten Artikel er kurz darauf Radbruch selbst

14

„Rechtsgeltung“ (Anmerkung 27) verweist hier auf: J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975. 15 „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 28) verweist hier auf: J. Habermas, Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, 1984, S. 127 ff. Kritisch zur Konsenstheorie Kaufmann in: Rechtsphilosophie in der Nach-Neuzeit (Fn. 12), S. 36. 16 Ähnlich Arthur Kaufmann in: Das Verfahren der Rechtsgewinnung, München 1999, S. 20. 17 Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, S. 105 ff., siehe dazu auch Scholler, Die Rechtsvergleichung bei Gustav Radbruch und seine Lehre vom überpositiven Recht, Berlin 2002.

M. Der Gewissensspruch als Geltungsgrund

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zu Wort kommen lässt und auf die nur habituell erfolgte Anerkennung hinweist.18 Wie schon erwähnt basiert hier Kaufmann auf der Grundlage der Theorien seines Lehrers Gustav Radbruch, dessen Kritik an der Anerkennungslehre er hier auch zitiert.19 Gegenüber dieser Anerkennungstheorie bemerkte schon Radbruch in seiner eben zitierten Schrift, dass in dieser Theorie die echte Anerkennung unmerklich übergehe in ein Anerkennen-Sollen. An dieser Stelle bemerkt Kaufmann, dass man im Kreis gegangen sei und man wieder am Ausgangspunkt der Diskussion ankomme. IV. Der Charakter der Analogiezität des Rechts und die Funktion des Rechts als Relation Vorausgehend betont die Untersuchung, die hier Gegenstand der Analyse ist, dass die Suche nach dem „richtigen Recht“ immer eines realen, nie eines nur gedachten Diskurses bedarf.20 Hierbei sagt er, dass die Richtigkeit einer Aussage nicht von der „Intersubjektivität“ zu trennen sei, so dass die Diskurstheorie nicht abgelehnt werden müsse, vielmehr bedürfe sie einer Ergänzung. Diese Ergänzung müsse in einem inhaltlichen Thema bestehen, denn ein Diskurs sei ohne ein solches Thema gar nicht denkbar. Dieser Gegenstand sei Ethik, Normentheorie oder Rechtswissenschaft, „aber nichts Substanzielles, wie die alte substanzontologische Naturrechtslehre annahm“. Er fügte hinzu, dass dies auch nicht etwas rein Funktionales sein dürfe, sondern etwas „Relationales“.21 Zwischen Recht und Gewissen muss ein besonderes Verhältnis bestehen, so dass das Recht dem Menschen nicht als etwas Artfremdes gegenübertreten muss. „Gültiges Recht muss analog zum Menschen sein“.22 Hier muss auf die Analogieschrift von Kaufmann verwiesen werden, denn seine nur andeutungsweise entwickelte Lehre von der Relationalität des Rechtes ist wohl nichts anderes als eine Fortentwicklung seiner Analogielehre. Als Problemfelder werden hier erwähnt: Das Widerstandsrecht, der zivile Ungehorsam, der Überzeugungs- und Gewissenstäter, Rechts- und Gewissensirrtum oder die Parallelwertung in der Laiensphäre. 18

„Rechtsgeltung“ (Anmerkung 30) verweist hier auf: Arthur Kaufmann in Kaufmann / Hassemer (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 5. Aufl. 1989, S. 112. 19 „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 31) verweist hier auf: Gustav Radbruch, Vorschule der Rechtsphilosophie, 3. Aufl., 1965, S. 36 = A. Kaufmann (Hrsg.), Gustav-Radbruch-Gesamtaufgabe, Band 3: Rechtsphilosophie III (bearbeitet von W. Hassemer), 1990, S. 153. 20 „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 32) verweist hier auf: K.-O. Apel, Diskurs und Verantwortung, 1988, S. 8, 117 f., 143 ff., 347 ff. u. ö.; Höffe, Politische Gerechtigkeit, 1987, S. 28. Auch Habermas (Fn. 15) spricht von einer Begründung „in letzter Instanz“. Dagegen Arthur Kaufmann, wie Fn. 10. Nicht unkritisch auch W. Kuhlmann, Reflexive Letztbegründung; Untersuchungen zur Transzendentalpragmatik, 1985. 21 „Rechtsgeltung“ S. 18. 22 „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 34) verweist hier auf: Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, 2. Aufl. 1982, S. 37 ff.

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Teil 3: Toleranz

Kaufmann setzt sich an dieser Stelle23 auch besonders mit meinem Einwand auseinander, dass sich solches Analogiedenken, also ein Denken in der Parallelität von Rechts- und Gewissensnorm am Strafrecht orientiert, dass es mit Fundamentaloder Elementarnormen zu tun habe. Der sozialverwaltende Staat bedürfe aber einer Fülle von Detailnormen. Diese können nur in einer abstrakten Form als sittlich notwendig anerkannt werden: So ist z. B. zwar sittlich einzusehen, dass der Verkehr einheitlich entweder als Rechtsverkehr oder als Linksverkehr geregelt werden muss, ob aber Linksverkehr dem Rechtsverkehr vorzuziehen sei oder umgekehrt, kann nicht sittlich begründet werden. Das Umschalten vom Linksverkehr in Schweden auf den Rechtsverkehr konnte wohl nur ökonomisch mit dem Hinblick auf den überwiegenden Rechtsverkehr auf dem europäischen Kontinent, nicht aber als sittlich gefordert begründet werden. Mit Recht weist hier Kaufmann daraufhin, dass z. B. Regeln des Gewässerschutzes nicht nur deswegen geprüft werden dürfen, ob sie funktionieren, sondern ob sie „dem Leben“ dienen und förderlich sind. Auch dann stellen sie sich als Postulate des Gewissens dar. Von hier aus greift er dann die Idee der „Deregulierung“ auf, ohne allerdings diesen Begriff zu verwenden. Es müsse dafür Sorge getragen werden, dass die immer mehr ausdifferenzierte Rechtsordnung auf solche Regeln zurückgeführt werde, die eine Chance hätten vom Gewissen akzeptiert zu werden. Kaufmanns Geltungstheorie des Rechtes wird von ihm abschließend mit dem sog. fragmentarischen oder subsidiären Charakter der Rechtsordnung begründet. Hier bezieht er sich auf die bekannte Formulierung von Georg Jellinek, wonach die Rechtsordnung nur die Funktion und Aufgabe habe, ein ethisches Minimum zu sichern.24 Allerdings versteht er diese Jellineksche Umschreibung nicht im Sinne von zwei sich schneidenden oder zwei konzentrischen Kreisen, sondern dahin, dass das Recht auf die Erzwingung einer Minimalethik beschränkt sei. Dies zeigt er dann mit dem Hinweis auf die Unzulässigkeit des Rechtes, eine aufgezwungene, also durch Vergewaltigung entstandene, Schwangerschaft so zu sanktionieren, dass die Frau keinen straflosen Abbruch verlangen könnte. Dieser Frage kommt aber auch allgemeine Bedeutung deshalb zu, weil das Schuldproblem im Strafrecht den Juristen dazu zwinge, die strafrechtliche Schuld als sittliche anzuerkennen, oder eine eigene rechtliche Schuldkategorie zu schaffen. Letztere würde dann nur eine Funktionsgarantie staatlichen Zwanges darstellen. Kaufmann sieht hier aber die Gefahr, dass dann diese funktionale Rechtsschuld ohne jede Grenze ausgedehnt und erweitert werden 23 „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 36) verweist hier auf: z. B. Heinrich Scholler, Gewissen, Gesetz und Rechtsstaat, DÖV 1969, S. 526 ff.; auch abgedruckt in: Das Gewissen in der Diskussion, 1976, S. 426: Diese Auffassung, nämlich dass sich die Rechtsordnung mit der Gewissensordnung decke, „orientiert sich an einem vom Strafrecht geprägten Rechtsordnungsdenken, das mit Elementarnormen zu tun hat. Der sozialverwaltende Staat bedarf aber einer Fülle nichtelementarer Rechtsnormen, so dass die Voraussetzung für eine Konvergenz von Rechts- und Gewissensnorm entfällt“. 24 „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 37) verweist auf: G. Jellinek, Die sozialethische Bedeutung von Recht, Unrecht und Strafe, 2. Aufl. 1908, S. 45. Siehe auch nachfolgend Fn. 29.

M. Der Gewissensspruch als Geltungsgrund

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könnte, was den Rechtsstaat im Kerne verletzen müsste. Hier folgt Kaufmann der Interpretation der Schuldfrage durch den bekannten Heidelberger Rechtsphilosophen Karl Jaspers. Der Richter könne nur deshalb den Täter für schuldig erklären, weil er, der Richter, in seinem eigenen Gewissen sich an die Stelle des zu verurteilenden Täters stellen kann (Zwischencharakter des Gewissens).25 V. Der Gewissensspruch als Störung der Rechtsordnung Der Spruch des Gewissens kann aber nicht nur als Zustimmung oder Nicht-Zustimmung verstanden, sondern auch als prinzipielle „Störung“ einer Ordnung oder eines Systems interpretiert werden. Dies geschieht v. a. bei einer funktionell-strukturellen Betrachtung eines Ordnungsgefüges. Aus diesem Grund sollen „Gewissenssprüche“ umgangen oder „eingespart“ werden.26 Warum die strukturell-funktionale Systemtheorie nun gerade in Bezug auf das Gewissen, aber nicht nur in dieser Hinsicht, sondern auch in Bezug auf alle subjektiven öffentlichen und privaten Rechte, zu der These von der Einsparung von Gewissenssprüchen als Widersprüchen und Konflikten kommt, kann nur aus dem Teil der Luhmannschen Theorie verstanden werden, der sich mit Konflikt und Widerspruch beschäftigt. In seiner Theorie der sozialen Systeme sieht er den Widerspruch im System als Selbstreferenz von Sinn27 an. Die Unbestimmtheit jedes Systems postuliere geradezu den Widerspruch als Totalwiderspruch. Sach- und Sozialdimension würden dann als Multiplikatoren des Widerspruchs hinzutreten und damit zum Konflikt werden. Gegen diese Störung entwickle die Gesellschaft ein Immunsystem und das Rechtssystem selbst sei das hervorragendste System zur Immunisierung gegenüber den steigenden Empfindlichkeiten in einer immer komplexer werdenden Gesellschaft. Be-

25 „Rechtsgeltung“ (Anmerkung 39) verweist auf: K. Jaspers, Die Schuldfrage, 1946, S. 37. Ebd. (Anmerkung 40) verweist auf: Arthur Kaufmann, Schuldprinzip (Fn. 5), S. 197 ff. 26 Siehe zu den nachstehenden Ausführungen Heinrich Scholler: Der Gewissensspruch als Störung, in: Jenseits des Funktionalismus (Fn. 13), sowie: The Ambivalent Relationship of Law and Freedom of Conscience: Intensification and Relaxation of Conscience trough the Legal System, in: Conscience: An Interdisciplinary View, 1987, S. 231 ff. 27 Niklas Luhmann, Soziale Systeme, Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt / Main 1984, S. 494. In der Gewissensfreiheit kann man im Schema von Zwang und innerer Freiheit eine Zweiwertigkeit oder das Vorliegen eines Rejektionswertes sehen, den Luhmann im Anschluss an Gotthard Günther als Wahlzurückweisung versteht. Ders., Die Codierung des Rechtssystems, in: Ausdifferenzierung des Rechts, Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt / Main 1981, S. 171 (181). Die Berücksichtigung solcher Rejektionswerte soll nicht zu chaotischen Verhältnissen, sondern zu Ambivalenzen führen. Hierzu schreibt Luhmann: „Er (der Rejektionswert) ist ein Wert, wenn er die Polykontexturalität der Gesellschaft in ihren Teilsystemen repräsentiert“, a.a.O., S. 183.

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Teil 3: Toleranz

zeichnend ist auch, dass nicht nach der Lösung solcher Störungen oder Konflikte im System gefragt wird, sondern nach ihrer Konditionierbarkeit. Arthur Kaufmanns Kritik am strukturell-funktionellen Systemdenken fußt einmal auf seinem Verständnis von Recht als Analogie28 und zum anderen auf dem Begriff der Relationalität des Rechts29, also im Verhältnis relatio-relata. Das bedeutet, dass das Recht nicht einfach ein Immunisierungsfaktor in systemisch verfassten Größen ist, sondern, so scheint es wenigstens, zwischen Lebenswelt und System steht. Die Symmetrie des Systemischen, vorgestellt als Kreis oder Kugel, ist ihm verdächtig. Die Komplexität der modernen Systeme soll nicht brachial reduziert, sondern analogisch aufgefangen werden, wobei eine aktive, nicht passive oder repressive Toleranz erforderlich sei. Luhmann dagegen wird der Toleranz äußerst skeptisch und ablehnend gegenüberstehen müssen, ist sie es doch, die Gewissenskonflikte im System erlaubt und austragen lässt.30 Sieht man in aktiver Toleranz und Ziviltheologie eine Form des institutionalisierten Verhaltens, das vom personenhaften Sittlichen abgelöst ist, dann entfällt die Notwendigkeit von Alternativen oder von Grundrechtsgarantien im speziellen Fall des Gewissens. Nur dort, wo Institutionalisierung nicht möglich sein sollte, wo Toleranz nicht derart gedacht werden kann, also repressive Toleranz ist, erhebt sich die Frage nach alternativen Lösungen: Grundrechtsgarantien des status negativus oder Handlungsalternativen. Richtig ist jedenfalls der Einwand, dass Toleranz niemals voll institutionalisiert werden kann und dass Alternativen inhaltlich und vom Anfang her beschränkt sind. Das dritte von der strukturell-funktionalen Systemtheorie angebotene Heilmittel, nämlich die Vermeidung von Konflikten durch Immunisierung, stößt auf einen gewichtigen Einwand, der darin besteht, dass auf den status negativus des Gewissens als Gewissensspruch und damit auf Konflikt und Widerspruch im System nicht verzichtet werden kann. Nicht das selbstreferenzielle System reproduziert sich, sondern zu einer evolutionären Reproduktion sind Widerspruch und Konflikt erforderlich. Arthur Kaufmann spricht kritisch von der systemischen Symmetrie und diese darf hier als widerspruchs- und konfliktfreie Systemharmonie verstanden werden, als der „Knochenmann“, also der Tod alles Lebendigen. Eine relationelle Rechtstheorie hebt die Unterscheidung von Lebenswelt und System nicht auf, sondern stellt Ana28 Arthur Kaufmann, Analogie und „Natur der Sache“, zugleich ein Beitrag zur Lehre vom Typus, 2. Aufl. Heidelberg 1982, S. 18 ff.; siehe auch ders., Beiträge zur juristischen Hermeneutik, Köln 1984, S. 10 sowie S. 18 f.; siehe hierzu auch Christian Schefold, Das normative Element des Rechts in seinem nicht zu funktionalisierenden Begründungssinn, in: Anuario de Filosofia del Derecho, Bd. 17, Madrid 1974, S. 283. Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie (Fn. 1), S. 196 ff. und passim. 29 Fortgeführt bzw. neu ausgerichtet hat Arthur Kaufmann seinen Standpunkt in der Rechtsrelationenlehre oder in der Relationenontologie, Arthur Kaufmann, Vorüberlegungen zu einer juristischen Logik und Ontologie der Relationen, in: Rechtstheorie, a.a.O., S. 257 – 276. Kaufmann nimmt hier auf Peirce Bezug (siehe auch die Dissertation von Lorenz Schulz, Das rechtliche Moment der pragmatischen Philosophie von Charles Sanders Peirce, 1988). Arthur Kaufmann, Beiträge zur Hermeneutik, a.a.O., S. 10, 18 – 19. 30 Arthur Kaufmann, Beiträge zur juristischen Hermeneutik, a.a.O., S. 209 – 225.

M. Der Gewissensspruch als Geltungsgrund

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logien und Relationen her und wenn es nur die Relationen der Ellipse oder des Ellipsoiden gegenüber dem Kreis und der Kugel sind. Die Kritik an der strukturell-funktionalen Systemtheorie als „neuem Naturrecht“ lässt sich deshalb dahingehend verschärfen, dass sie auf der Grundlage einer soziologischen Theologie, einer allmächtigen Selbstreferenz auf der Grundlage einer allwissenden „instrumentellen Vernunft“ aufbaut. Kaufmann ist dieser rein „instrumentellen Vernunft“31 entgegengetreten, die sich z. B. im Subsystem der Biotechnologie und Bioethik entwickelt hat: Hier wird die Bioethik als Störung der Biotechnologie empfunden und eine „Ethik des Machbaren“ postuliert. Hierzu sagt Arthur Kaufmann: Ihre Triumphe feiert diese „Ethik des Machbaren“ in jenen Konzepten, die die Wirklichkeit menschlichen Handelns auf funktional-logische Zusammenhänge reduzieren, bei Auswechselbarkeit ihrer Inhalte: beispielsweise im Strukturalismus von Levi-Strauss und Foucault, im Funktionalismus der Sozialtheorie Parsons und der Systemtheorie Luhmanns und in geradezu schamloser Offenheit im perrationalen Pragmatismus Skinners, dessen Hauptwerk den provozierenden Titel: „Beyond Freedom and Dignity“ trägt.32 Am Ende jenes Abschnitts sagt Luhmann: „Dann kann man jedenfalls sehen, dass die moderne Gesellschaft, verglichen mit allen historischen Vorgängern, Strukturen destabilisiert und die Neinsagepotenz beträchtlich erhöht hat“.33

Nachdem er die Neinsageposition aus sozialen Bewegungen oder aus Rechtspositionen unterstreicht, schließt er:

31 Ders., Rechtsphilosophische Reflexionen über Biotechnologie und Bioethik an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, JZ 1987, S. 837, in italienischer Übersetzung erschienen unter dem Titel: Riflessioni giuridiche e filosofiche su biotecnologia e bioetica alla soglia del terzo millennio, in: Rivista di Diritto Civile, Padova 1988, n. 2, S. 205 ff.; ders., Strafrecht und Freiheit, in: Fundamenta Psychiatrica, 25 / 1988, 146 ff.; ferner: ders., Recht und Rationalität, in: Rechtsstaat und Menschenwürde, Festschrift für Werner Maihofer, Frankfurt / Main 1988, S. 11 ff. Ein „postmodernes“ Phänomen ist sicher auch der blinde Glaube an die Geisterwelt, wie er Gegenstand der Entscheidung der 4. Strafkammer des Bundesgerichtshofs im Falle des „Katzenkönigs vom Möhnesee“ war, siehe R. Merkel, in: Die Zeit, Nr. 39 vom 23. 9. 1988, S. 11. 32 Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophische Reflexionen über Biotechnologie und Bioethik an der Schwelle zum dritten Jahrtausend, in: JZ 1987, 837, 838, 1. Sp. 33 „Das System immunisiert sich nicht gegen das Nein, sondern mit Hilfe des Neins; es schützt sich nicht gegen Änderungen, sondern mit Hilfe von Änderungen gegen Erstarrungen in eingefahrene, aber nicht mehr umweltadäquate Verhaltensmuster“, Niklas Luhmann, Soziale Systeme, S. 705; Stefan Andreae, Gewissenbildung und Gewissensurteil in der psycho-analytischen Sicht, in: Franz Böckle / Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hrsg.), Naturrecht in der Kritik, Mainz 1973, S. 244 ff.

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Teil 3: Toleranz

„Gegenwärtig versucht man beides in der Figur des zivilen Ungehorsams zu versöhnen. In jedem Falle wird man sich fragen müssen, wie von daher das doch auch nötige Ja zur Gesellschaft wiedergewonnen werden kann“.34

Der strukturelle Funktionalismus sieht also in jedem Widerspruch und in jeder Steigerung von Widersprüchen zum Konflikt nicht eine Teilnegierung eines Teilaspektes der Gesellschaft, sondern immer gleich die Negierung in systematischer Dimension, also der Totalität. Weiter kommt hinzu, dass das System nur immer sich selbst reproduzieren kann und nur in seiner Komplexität sich erweitert, ohne dass es änderungsfähig ist. Sieht man aber in der Konflikttheorie von Lewis Coser, Wright Mills oder Ralf Dahrendorf gerade im Konflikt das Agens zur Umschaffung, dann wird man die Luhmannsche These von der Einsparung von Gewissenskonflikten als ein trügerisches Geschenk für den einzelnen und als Selbststerilisierung des gesellschaftlichen Systems ansehen. Wir aber suchen nach dem archimedischen Punkt, von welchem aus wir das störende Gewissen rechtfertigen. Ist es die Würde des Menschen oder sind es die Gebote von Brüderlichkeit und Toleranz? Der Funktionalismus kennt, wie Luhmann in einem Abschnitt über „Archimedes und wir“35 selbst zugestanden hat, einen solchen archimedischen Punkt nicht. So unterscheiden wir uns von der Systemtheorie und dem Funktionalismus gerade dadurch: Wir sind auf der Suche nach dem archimedischen Punkt. Die Systemtheorie glaubt schon zu wissen, dass es diesen Punkt nicht gebe, ja nicht geben dürfe. Doch sollten wir uns bei der Suche nicht auf einen Wettlauf einlassen, denn, wie in der Fabel vom „Wettlauf des Igels mit dem Hasen“, ist die strukturell-funktionelle Theorie selbstreferierend wie der Igel, schon am Ziel. VI. Zusammenfassung Arthur Kaufmanns Rechtsgeltungslehre ist von ihm zutreffend als personale Rechtsgeltungslehre bezeichnet worden.36 Der Begriff des Gewissens als Zwischencharakter, wie er es selbst bezeichnet hat, spielt darin eine zentrale Rolle. Dabei kommt sowohl dem subjektiven Gewissen des Individuums als der sittlichen Überzeugung der Gruppe eine gleichwertige Bedeutung und Rolle zu. Aus Gesprächen mit ihm ging hervor, dass er daran gearbeitet hat, seine Rechtsphilosophie als personale Geltungslehre auszubauen, wobei dem Recht als Relationsverhältnis die entscheidende Rolle zukomme. Offenbar konnte er aber seinen Plan über die Theorie des Rechtes als Relation nicht mehr voll umsetzen. Ich glaube, dass man aber Recht tut, wenn man hier bei seiner Theorie der Analogie ansetzt und auch in seiner Schuldtheorie die entscheidenden Elemente einer rechtlichen Relationslehre sieht. Schließlich soll noch ein Gedanke aufgegriffen werden: 34 35 36

Niklas Luhmann, Soziale Systeme, S. 550. Niklas Luhmann, Archimedes und wir, hrsg. von Dirk Baecker, Berlin 1987, S. 156 ff. Arthur Kaufmann, Grundprobleme (Fn. 1), S. 184 f.

M. Der Gewissensspruch als Geltungsgrund

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Die personale Geltungslehre bei Arthur Kaufmann muss auch als Weiterführung der Radbruchschen Lehre vom übergesetzlichen Recht und vom gesetzlichen Unrecht angesehen werden.37 Sicher taucht in der hier zentral behandelten Darstellung der personalen Rechtsgeltungslehre von Kaufmann nicht umsonst der Begriff des „Schandgesetzes“ auf. Diesen Begriff braucht nämlich gerade Gustav Radbruch in seiner viel zitierten Abhandlung, in der er die nationalsozialistischen Rassegesetze als Schandgesetze kritisiert und seine Theorie vom übergesetzlichen Recht ausbaut. Dieses übergesetzliche Recht kann nur in dem personalen Gewissen verankert sein, das sich als Zwischenglied zwischen dem Individuum und der sittlich verfassten Kulturgemeinschaft entwickelt.

37 Dazu Arthur Kaufmann, Grundprobleme (Fn. 1), S. 41: „Für die Geltung erweislich unrichtigen Rechts lässt sich keine Rechtfertigung erdenken.“ Die bekannte Radbruch-Formel findet sich aber erst in dem berühmten Aufsatz aus dem Jahre 1946 (Fn. 17). Siehe auch Arthur Kaufmann, Gustav Radbruch und die Radbruchsche Formel, Brief an meinen Enkel Finn Baumann, in: Dieter Simon (Hrsg.), Rechtshistorisches Journal, Frankfurt / Main, 2000; Heinrich Scholler, Die Rechtsvergleichung bei Gustav Radbruch und seine Lehre vom überpositiven Recht, Berlin 2002.

N. Kulturkonflikte, Toleranz und Ordre Public I. Beständiges und Wandelbares im Ordre Public Die jeweils heimische Rechtsordnung lässt im modernen Staat durch Verweisungen und in Bezugnahmen fremdes – ausländisches – Recht gelten und wendet es an, wenn und soweit es nicht dem Ordre Public, d. h. den unverzichtbaren Bestandteilen der eigenen Rechtsordnung, widerspricht.1 Die guten Sitten wurden herkömmlich als Bestandteil dieses Ordre Public angesehen, jedoch mehren sich die Stimmen im Rahmen einer Neuregelung des Internationalen Privatrechtes, die Grundrechtsordnung einer jeweiligen Verfassung als essentiellen Inhalt des Ordre Public anzusehen.2 Dieser Ordre Public hat neben seiner Abwehrfunktion des inkompatiblen ausländischen Rechtes auch eine Ausweichfunktion auf andere anwendbare Rechtsregeln. Der Gesichtspunkt des Ordre Public ist insofern noch zu erweitern, als er auch im Begriff der öffentlichen Ordnung, des Sicherheits- und Polizeirechtes, ja auch in Staatsverträgen und Abkommen des internationalen Steuerrechtes3 – vor allem zur Doppelbesteuerung – vorzufinden ist. Mögen sich die Inhalte des Ordre Public jeweils vom einzelnen Rechtsgebiet speziell prägen, so steht dieser Ordre Public-Begriff der Idee staatlicher Toleranz4 gegenüber in Opposition. Allerdings muss in einem neutralen säkularen Staat das Toleranzgebot, das religiös mehr oder weniger afunktional geworden ist, neue Inhalte aufnehmen, die darin bestehen, objektive Verfassungsprinzipien mitzuprägen, zu korrigieren. Darüber hinaus dient es als Missbrauchswehr gegenüber staatlichen oder gesellschaftlichen Positionen. Das Toleranzprinzip leitet sich als übergreifendes Prinzip aus teilinhaltlichen Gewährleistungen von Grundrechten Art. 3 1 Kreuzer, in: Münchner Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 7, München 1983, Rn. 6 – 24 zu Art. 30 EGBGB. 2 Siehe § 7 des IPR-Gesetzentwurfes von Kühne / Kreutzer, a.a.O., sowie den Entwurf von Neuhaus / Gropholler und der Referentenentwurf zur Neuregelung des internationalen Privatrechtes vom 27.7.82, Art. 6 EG n.F., ebd. 3 Zum Ordre Public beim internationalen Steuerrecht siehe Vogel, Doppelbesteuerungsabkommen, Kommentar, München 1983, Art. 26, Rn. 88, 110; Schröder, in: Festschrift für Schlochauer, Berlin / New York 1981, S. 137. 4 Scholler, Person und Öffentlichkeit, in: Münchner öffentlichrechtliche Abhandlungen, Heft 3, München 1967, S. 158; ders., Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958, S. 51 u. passim; Werner wendet sich zutreffend gegen C. Schmitts These, das Wesen des Politischen bestehe in der Entgegensetzung von Freund und Feind, siehe C. Schmitt, Der Begriff des Politischen, 4. Aufl., Hamburg 1933; Werner, Recht und Toleranz, Tübingen 1963, S. 7. Zur These von Herbert Marcuses repressiver Toleranz siehe Kaufmann, Die Idee der Toleranz aus rechtsphilosophischer Sicht, in: Festschrift für Ulrich Klug, Köln 1983, S. 97 (100 ff.), S. 109 mit Anm. 160 sowie S. 160, Anm. 57 gegen Püttner.

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Abs. 3, 4 Abs. 1, 4 Abs. 2 GG sowie Strukturprinzipien wie Sozialstaatsprinzip und die Gewährleistung demokratischer Opposition ab. Das moderne aktiv zu interpretierende Toleranzprinzip verbietet polare und antagonistische Institutionen oder Prozesse, wie Regierung und Opposition, Staat und Gesellschaft, Streik und Aussperrung, in ein Freund/Feindschema zu bringen. Der Begriff des fair play ist schon seit langer Zeit im angelsächsischen Recht als Teilinhalt des politisch-positiven Toleranzprinzips entwickelt worden. Im deutschen Rechtskreis sind im 17. Jahrhundert als Ausdruck der Toleranz verschiedene Institute des Verfassungsrechtes geschaffen worden, wie Parität als Aequalitas ex acta mutuaque oder der Grundsatz der amicabilis compositio. Im modernen Recht, insbesondere im modernen Planungsrecht, finden wir eine Ausprägung dieses Toleranzschemas im Gebot der „Rücksichtnahme“.5 Das Toleranzprinzip im modernen Verfassungsstaat6 ist gleichzeitig Ausdruck des von der Menschenwürde7 geprägten gemeinschaftsbezogenen Menschenbildes.

II. Formen der Kulturrelation Urs Bitterli8 hat in seinem fast populär-historischen Werk „Die Wilden und die Zivilisierten“ verschiedene Formen der Kulturkorrelationen unterschieden: Kulturberührung, Kulturkontakt, Kulturkonflikt und Kulturverflechtung. Während Kulturberührung die Rituale oder zeremonielle Begegnung der ersten Exponenten verschiedener Kulturen darstellt, zeichnet den Kulturkontakt ein lockerer Austausch aus, der zwischen Mission und Handelsniederlassung auf der einen Seite und autochthonen Gesellschaften auf der anderen Seite entsteht. Kulturverflechtung auf der anderen Seite ist gekennzeichnet durch eine biologische Vermischung, die sich gleichzeitig mit der Verflechtung und Verbindung von Kulturelementen vollzieht, wie das vor allem am brasilianischen Beispiel gezeigt werden kann. Der Kulturkonflikt dagegen kann als Genozid, Vertreibung oder Versklavung in Erscheinung treten. Bitterli kennt demzufolge also nicht den Kulturkonflikt als ständiges konfligierendes Nebeneinanderbestehen verschiedener Kulturen, ohne dass es zur Vernichtung oder Versklavung oder Vertreibung kommen muss. Solche konfligierenden Kulturkonflikte sind aber genau so häufig und in neuerer Zeit häufiger als die genozitären. Kulturberührungen 5

Siehe Bundesverwaltungsgericht, Urteil v. 25. 10. 1976, BVerwGE 28, 145 (153); zur neueren Entwicklung siehe Redecker, Das baurechtliche Gebot der Rücksichtnahme, DVBl. 84, 870 und Schlichter, DVBl. 1984, 875, zu einer modernen Formulierung des Gebotes der Rücksichtnahme im Planungsrecht. 6 Zum staatsrechtlichen Ursprung des Toleranzprinzipes siehe Lutz, Das Toleranzedikt von 1781 im Kontext der europäischen Aufklärung, in: Glaube und Toleranz, Das theologische Erbe der Aufklärung, hrsg. v. T. Rendtorff, Gütersloh 1982, S. 10 ff. 7 Benda, Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Menschenwürde, in: Handbuch des Verfassungsrechts, Berlin 1983, S. 107 ff. 8 Bitterli, Die „Wilden“ und die „Zivilisierten“ – Die europäisch-überseeische Begegnung, München 1976. Auf zwei interessante Aspekte des künstlerischen Ausdrucks des Kulturkonflikts sei hingewiesen in: Jahn, Colon – das schwarze Bild vom weißen Mann, München 1983, dort vor allem: Rouch, Les Matres fous, S. 217 ff.

N. Kulturkonflikte, Toleranz und Ordre Public

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und Kulturkonflikte gehen einher mit dem Vorgang der Rechtsrezeption9, oder besser gesagt: der Unterwerfung unter fremdes Recht. Beim Vorgang des Rechtskulturkonfliktes kann man zwischen Rezeption, Transplantation und Oktroi unterscheiden. Diese drei verschiedenen Formen zeichnen sich durch einen verschieden verlaufenden Implementationsprozess aus. In den Ländern der Dritten Welt, vor allem in Afrika, ist weniger der Vorgang der Rezeption, als der der Transplantation und der des Oktroi bekannt, der zu einem Rechtsdualismus geführt hat, der bis in die Gegenwart andauert. III. Volksrecht oder Elitenrecht Recht als Agens der politischen und wirtschaftlichen Entwicklung wurde von modernen, urbanen Funktionseliten in den Entwicklungsländern adaptiert und geriet sehr bald in Widerspruch und in Konflikt zur autochthonen Volks- und Rechtskultur.10 Legendenbildungen11 – die lotharische Legende in Deutschland, die Legende von Zara Yakob in Äthiopien – dienen zur nachträglichen Legitimation des „Elitenrechts“. In einem weiteren Schritt vertieft sich dann der Kulturkonflikt und führt zu Teil- oder Ganzneutralisierungen des rezipierten oder oktroyierten Rechtes und eventuell zur Teilabstoßung oder Totalabstoßung dieser Normen. Demgegenüber stehen Versuche zur symbiotischen Verbindung pluralistischer Rechtskulturen, wie es die Verfassung von Nigeria von 1979 unternimmt. Organisierte Gerichtsbarkeit in verschiedenen Kammern und Senaten, je nach der Anwendung autochthonen, islamischen und modernen Rechtes. IV. Der Kulturkonflikt unter dem Gesichtspunkt des Rechtes 1. Die Rechtskultur so genannter primitiver, autochthoner oder archaischer Gesellschaften ist seit der ersten Kulturberührung mit den europäischen Rechtskulturen in einen Prozess akzelerierten Wandels getreten. Im Nachfolgenden soll die Entwicklung vom voreuropäischen12 zum kolonialen Recht nicht so sehr in autochthonen als in archaischen13 Gesellschaften untersucht werden. Gleichzeitig soll versucht wer9 Siehe die Begriffe Rezeption, Transplantation, Oktroi bei Scholler, Die Rezeption westlichen Rechts in Äthiopien. Ein Beitrag zur Rezeptions- und Implementationstheorie, in: Jahrbuch für Afrikanisches Recht, Bd. 2, 1981, S. 119. 10 Bryde, The Politics and Sociology of African legal development, Veröffentlichung aus dem Institut für Internationale Angelegenheiten der Universität Hamburg. Frankfurt 1976; sowie hierzu Besprechung von Scholler, in: ZaÖVR 1979, 134. 11 Zur Fetha Nagast-Legende (Ibn A1-Assal-Legende) siehe Selb, Zur Bedeutung des syrisch-römischen Rechtsbuches, München 1974; zur lotharischen Legende siehe Luig / Conring, Das deutsche Recht und die Rechtsgeschichte, in: Hermann Conring, Beiträge zu Leben und Werk, hrsg. von Stolleis, Berlin 1983, S. 355 ff. 12 Scholler, From Pre-Colonialism to the Modern African State, in: Law and State, Tübingen 1984, Vol. 29, S. 73 ff. 13 Hoebel, The law of primitive man, 4. Aufl., London 1954.

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den, das Schicksal autochthoner Gesellschaften gegenüber dem modernen europäischen Recht und das archaischer Gesellschaften gegenüber dem gleichen Rechtseinfluss in Relation zu setzen. Hinsichtlich der ersteren Gruppe könnte man an die verschiedenen Oromostämme Südäthiopiens denken. Sie sind autochthone Kulturen, die nicht von europäischen, sondern von äthiopischen Herrschervölkern „kolonialisiert“ oder unterworfen wurden. Für das letztere Beispiel, den Konflikt archaischer Rechtskulturen mit europäischem Recht, soll auf das Beispiel Äthiopiens eingegangen werden. Mit der Verwendung des Begriffes Rechtskultur soll dreierlei ausgesagt werden: a) dass das autochthone wie auch das archaische Recht vom Zeitpunkt der ersten Berührung an nicht isoliert standen, sondern immer im engsten Zusammenhang mit der Kultur des jeweiligen Stammes zu sehen sind; b) dass jede Kulturberührung und jeder Kulturzusammenstoß, auch wenn er außerhalb der unmittelbaren Rechtssphäre erfolgt, sofort seine Auswirkungen auf die Rechtskultur, also das System der formalen oder informalen sozialen Kontrolle haben müssen; c) dass es weiter von Vorteil ist, das Recht als Teil der Kultur zu betrachten, weil das Problem des rechtlichen Kulturkonfliktes auch ein Konflikt der verschiedenen konfligierenden Sprachkulturen14 darstellt. Das Element der Rechtssprache kann nicht abgetrennt werden von der Rechtskultur, wenn man Rechtskonflikte auf den Schnittpunkt der Berührungen autochthoner oder archaischer Gesellschaften mit europäischem Recht untersucht.15 Das europäische moderne Recht ist auf dem Weg der europäischen Sprache in die autochthonen Gesellschaften eingedrungen und hat dort zu einem „Bilinguismus“ und zu einer Doppelkultur geführt, die durchaus parallel zum Rechtsdualismus zu sehen sind. Dies haben vor nicht allzu langer Zeit die Untersuchungen von Bryde16 gezeigt, die erst in jüngster Zeit von den Arbeiten Vanderlindens, Leroi u. a. ergänzt wurden. 2. Obschon die autochthonen Rechtssysteme einen hohen Grad an „Revisibilität“ oder Adaptabilität und Flexibilität aufzeigen – Hoebel17 weist den drei vornehmlichen Rechtsfunktionen autochthoner Gesellschaften die Adaptabilität als vierte Funktion hinzu – gibt es auch die autochthonen Rechtswerte und Rechtskonzepte, die nicht ohne weiteres adaptiert werden können und daher keine eigene Toleranzgrenze aufweisen. Trotz des akzelerierten Wandels des autochthonen Rechtes zeigen sich bestimmte Rechtskonzepte oder rechtliche Wertparameter als durchgreifend und beharrend, so dass auch die koloniale Überdeckung mit europäischem Rechtsdenken sie

14 Zum Sprachproblem in Äthiopien siehe Fassil Abebe und Fischer, Journal of Ethiopian Law (JEL), Vol. 1, 1964, S. 315 ff. sowie Scholler, a.a.O. Rezeption, S. 122 Anm. 9. 15 Fitouri, Biculturalism, Bilinguism and Education, Neuchatel-Paris 1983. 16 Bryde, a.a.O. 17 Hoebel, a.a.O., S. 280; Scholler, Konzepte und Probleme des afrikanischen Rechts der Gegenwart als Ergebnis eines mehrschichtigen Implementationsprozesses, IVR-Tagung, Basel 1979, S. 40 ff.

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nicht verdrängen konnte. Schott18 hat dies an drei bezeichnenden Begriffen dargetan: einmal an dem des „Eigentums“ an Vieh und Kindern im Sinne der Verantwortlichkeit, dem „Senioritätsprinzip“ und der religiösen Funktion und Kompetenzen von „Erdpriestern“. Entwicklungsprojekte, die solche Strukturen nicht beachteten, mussten früher oder später scheitern. Ähnliche Wert- und Rechtskonzepte, die europäischem Recht widerstanden, finden sich auch in archaischen Rechtskulturen, wie der äthiopischen, so z. B. die Einsetzung von Unrecht und Sünde, die mangelnde Unterscheidbarkeit von Totschlag und Mord, die Zuständigkeit der Familie des Verletzten über Annahme oder Ablehnung von Blutgeld zu entscheiden, oder die Zurückweisung der Regierung als unsittlicher Einrichtung. 3. Eine ähnliche, vielleicht sogar tiefgreifendere, Umwandlung vollzog sich auch dort, wo nicht europäische Kolonisatoren, sondern afrikanische Völker sich autochthonen Gesellschaften unterwarfen. Braukämper19 spricht in seiner Studie „Geschichte der Hadyja Süd-Äthiopiens“ von den kulturellen Wandlungen im Gefolge der „amharischen Kolonisation“. Diese kennzeichnet er allgemein wie folgt: „Die Unterwerfung durch das äthiopische Kaiserreich bedeutet für die Hadyja-Völker nicht nur das Ende ihrer Selbständigkeit, sondern hatte einen weitreichenden Kulturwandel in allen Lebensbereichen zur Folge. Neben der sozio-politischen Struktur wurden durch den Machtwechsel auch die wirtschaftlichen, technologischen, religiösen und psychomentalen Gegebenheiten mehr oder weniger tiefgreifend verändert.“ Wichtig war auch, dass das egalitäre Gesellschaftssystem der Hadyja durch die hierarchisch orientierten Amharas in ein neues System gebracht wurde. Abschließend wird ähnlich wie bei der europäischen Kolonisation einerseits die friedenstiftende Wirkung der pax aethiopica, die die Stammeskonflikte und Todeszüge überwand, unterstrichen, wenn auch auf der anderen Seite destruktive Faktoren die Zerschlagung der alten Sozialordnung und die Errichtung einer Klassengesellschaft mit einem ethnisch bestimmten Ausbeutungssystem unterstreichen. 4. Wie positiv wir heute auch Eigentum als Verantwortung, das Senioritätsprinzip, religiöse Fundierung des Rechtes und den afrikanischen Begriff der Arbeit bewerten wollen, so ist es aber doch unübersehbar, dass daneben eine Reihe von Rechtswerten

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Schott, Leben am Rande der Sahara, S. 45; ders., Justice versus the law: traditional and modern jurisdiction among the bulsa of northern Ghana, in: Law and State, Vol. 21, 1980, S. 121 ff; ders., Law and Development in Africa, ebd., Vol. 24. 1981, S. 30 ff. Zusammenfassend ders., Aus Leben und Dichtung eines westafrikanischen Bauernvolkes. Ergebnisse völkerkundlicher Forschung bei den Bulsa in Nord-Ghana, 1966/67, Köln 1970; Pospisil, Anthropology of law, a comparative theory, New York 1971; Braukämper, Geschichte der Hadyja Süd-Äthiopiens, Studien zur Kulturkunde, Bd. 50, Wiesbaden 1980, S. 319, 323 mit Anm. 101 sowie S. 325. So Haberland zum Problem von Beharrung und Wandel in der politischen Struktur Äthiopiens, in: W. Fröhlich, Afrika im Wandel seiner Gesellschaftsformen, 1964, S. 109 ff., insbes. S. 116. Siehe auch die Besprechung von Scholler, in: Mundus XVIII, Nr. 2/1980, S. 101. 19 Braukämper, Geschichte der Hadyja Süd-Äthiopiens, Studien zur Kulturkunde, Bd. 50, Wiesbaden 1980, S. 319 ff., 325.

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und Rechtsnormen als Teil der Rechtskultur galten oder noch gelten, die den Ordre Public Europas und dem des modernen Afrikas zuwiderlaufen: a) Die mangelnde politische Struktur in den vielen akephalen Gesellschaften Afrikas hatte einen permanenten Kriegszustand zwischen Dörfern und Gehöften mit sich gebracht.20 Dies widersprach sowohl den Interessen als auch dem Konzept der europäischen Kolonisatoren, weshalb sie die Rolle der Stammeshäuptlinge stärkten und sie zu administrativen und judikativen Autoritäten im Wege der indirect rule machten. „Die Erzwingung des Friedens (…) schuf mit anderen Verwaltungsmaßnahmen eine zentralisierte, pyramidenförmige Organisation der exekutiven Autorität unter den Clanhäuptlingen der Tallensi, die unter der Führerschaft des Chiefs von Tongo entstehen.“21 Aus den Native-Courts entwickelten sich nach der Unabhängigkeit die Local-Courts. Diese Gerichte, die ursprünglich von der Kolonialmacht den Häuptlingen übertragen wurden, fanden nach und nach nicht mehr das „Native-Law and customs“, was sie nach englischer Auffassung tun sollten, sondern eine Mischung moderner europäischer Rechtsregeln. Eine Reihe von Verfahrensregeln und Verfahrenseinrichtungen musste dem Ordre Public der europäischen Prozessrechtskonzeption widersprechen, so die Opferungen und die Befragung von Wahrsagern. Dazu gehören auch Rechtseinrichtungen, wie der Eid als Selbstverfluchung bzw. das Giftnehmen als Beweis usw. b) Auch im gesamtäthiopischen traditionellen archaischen Recht gab es Rechtseinrichtungen, die nicht ohne weiteres übernommen werden konnten, wenn es galt, das Recht zu organisieren. Unter ihnen möchte ich zwei Verfahren erwähnen: die Afersata und den Lebashay.22 Beide Verfahren dienen der Wahrheitsermittlung und Vorbereitung eines Strafverfahrens oder sind Teil desselben.23 Beim Lebashay-Verfahren wird ein noch nicht mannbarer Junge mit Drogen intoxiert und dann um eine im Kreis sitzende Dorfgemeinschaft geführt. In diesem Zustand des Rausches und der Trance soll er dann in der Lage sein, den Täter zu entdecken. Das Afersata-Verfahren sollte auf einem anderen Weg zur Entdeckung des Täters führen. Die Dorfgemeinschaft hatte sich in kleineren Gruppen innerhalb eines umfriedeten Raumes im Freien zu versammeln. Dieser kleineren Gruppe stand ein gewählter oder er20 Schott, a.a.O., Entstehung und Wandel rechtlicher Traditionen, Fikentscher / Franke / Köhler (Hrsg.), Historische Anthropologie, Bd. 2, Freiburg / München 1980. 21 Schott, a.a.O. 22 Walker, The Abyssinian at Home, London 1933, S. 137, insbes. S. 157 ff; siehe auch Scholler, Open Air Courts, in: Ethiopian popular painting (im Druck); siehe auch die Arbeiten von Singer, Modernization of Law in Ethiopia: A Study in Process and Personal Values, The Harvard International Law Journal, Vol. 11, 1970, S. 121 ff.; ders., The Ethiopian Civil Code and the Recognition of Customary Law, Huston Law Review, Vol. 9, 1972, S. 458 ff.; ders., The use of writing as a factor in the integration of African legal systems: The case of the Kambata (Ethiopia), in: Rural Africana, Nr. 22, 1973; ders., The Relevance of traditional legal systems to modernization and reform. A consideration of Kambata legal structure, in: Ethiopie moderne, hrsg. von J. Tubiana, Rotterdam 1980, S. 537. 23 Walker, a.a.O., S. 153 ff. Aberra Jembere, „Tätäyyaq: The traditional Ethiopian mode of litigation prior to 1935“, in: 8th Conference of Ethiopian Studies, Addis Ababa 1984.

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nannter Vorsteher vor, der nun durch Befragung der Kleingruppe den Täter ermitteln sollte. Anschließend begab sich jeder Führer einer Gruppe zu einem am äußersten Ende des Kreises in einem Häuschen sitzenden Gerichtsbeamten und teilte ihm seine Beobachtungen mit. Aus der Fülle dieser Beobachtungen traf dann der Gerichtsbeamte seine Entscheidung hinsichtlich des Täters. Beide Verfahren wurden nach dem Ersten Weltkrieg nach und nach beseitigt, obwohl schon, genau wie in anderen afrikanischen Sozietäten, die heimischen Bräuche lange noch fortwirkten. Ob das an die Stelle der Afersata- und Lebashay-Verfahren getretene moderne polizeiliche Ermittlungsverfahren in afrikanischen Staaten sehr viel segensreicher gewirkt hat, mag allerdings bezweifelt werden. V. Der kaiserliche Chilot, der Special Court24 : Dualismus der Gerichtsbarkeit 1. In Äthiopien gab es neben den traditionellen archaischen Gerichten verschiedener Völker die kaiserliche Gerichtsbarkeit, die von Bezirks- und Distriktgerichten hinaufführte zum kaiserlichen Gericht des Chilot. Er soll hier kurz dargestellt werden und ihm gegenüber soll der Special Court25 (1908 bis 1936) als Beispiel dualistischen Rechtssystems26 gezeigt werden. Auf populären Darstellungen des Chilot werden dann die Gerichtspersonen mit dem Kaiser und den Symbolen gezeigt. Rechts oben befindet sich normalerweise der Afa Negus, der Mund des Kaisers, der rechts vom König steht, welcher mit dem Königslöwen als Symbol repräsentiert wird. Der Afa Negus, der anstelle des göttlichen Königs das Urteil verkündet, hält eine Fliegenklatsche in der Hand, die das Symbol des Adels ist und bereits aus ägyptischen Darstellungen bekannt ist. Ein Gerichtsschreiber und ein hochstehender gelehrter Priester kommen hinzu. Dieser muss vor dem Chilot oder dem Gibbi – dem kaiserlichen Gerichtshof – aus der Fetha Nagast, einem Gesetzbuch aus dem 15. Jahrhundert, das aus dem römisch-syrischen Rechtsbuch folgte, vortragen und den Text in die Umgangssprache, das Amharische, übersetzen. Im Gesetzbuch ist geistig-religiöses und weltliches Recht miteinander verbunden und wird in Form eines Gutachtens vorgetragen. Diese Verbindung von spirituellem und profanem Recht kommt auch in der Gerichtszusammensetzung zum Ausdruck, indem Priester, König und Adel zusammenwirken müssen. Die Wissenschaft ist durch Schirmträger symbolisiert. Als weitere Gerichtspersonen treten die Techiwoch auf, die als adlige Beisitzer mitwirken und nacheinander, angefangen vom Jüngsten bis zum Ältesten, ihr Urteil abgeben. Zwi24 Brinton, The Mixed Court of Egypt, New Haven 1930; Keeton, Extraterritoriality in international and comparative law, Receuil des Cours de 1Academie de Droit International de la Haye, Tom. 1948/I, S. 282. 25 Scholler, The Special Court of Ethiopia – 1922 – 1936, Mixed jurisdiction as an instrument of legal development, in: Proceedings of the Seventh International Conference of Ethiopian Studies, ed. Rubenson, Lund 1984, S. 381; Edwards, „and the king shall judge“, Extraterritoriality in Ethiopia 1908 – 1930, ebd., S. 373. 26 Scholler, Rezeption a.a.O., S. 126 mit weiterer Literatur.

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schen dem – in den Bildern meist links und rechts vorne dargestellten – Kläger und dem Beklagten ist ein Ligawa (Zeremonienmeister) sichtbar, der für die Verfahrensordnung und die Würde des Gerichtes verantwortlich ist. Weitere Symbole kaiserlicher Gewalt und Gerichtsbarkeit sind Darstellungen von Schwertern und einer Peitsche, meist zu Füßen des Kaisers. Das traditionelle Strafrecht wird in mannigfaltiger Weise auf diesen volkstümlichen Bildern dargestellt. 2. Die Darstellung des archaischen Talionsstrafrechtes, das Abhauen der Hand, das Ausstechen des Auges, das Abschlagen des Fußes, die verschiedenen Formen der Todesstrafe, die Übergabe des zum Tode Verurteilten an die Familie des Verletzten, damit sie die Todesstrafe verfüge, all das zeigt, dass Europäer sich von Anfang an zu wehren versuchten, dass dieses Recht auf sie angewandt wurde. Umgekehrt konnten Äthiopier nicht einsehen, warum eine Forderung verjähren sollte, warum in einem Konkurs Grund und Boden weggenommen werden konnte und gleichzeitig der Konkursschuldner nicht alle seine Schulden begleichen musste. Der von beiden Seiten, den europäischen Mächten wie dem äthiopischen Kaiserreich, gewünschte Handelsverkehr setzte also voraus, dass zwischen diesen beiden christlichen Rechtskulturen, der äthiopischen wie der europäischen, mindestens auf dem Gebiet der Kontakte in Handel, Technik und Bildung ein rechtseinheitliches, monistisches oder dualistisches System geschaffen wurde. Nach dem Vorbild des Mixed Court von Ägypten, der wiederum auf das älteste Vorbild zurückgeht, nämlich den Mixed Court in Konstantinopel, der zwischen Franz I. und dem Ottomanischen Reich im 16. Jahrhundert gegründet wurde, wurde im Jahre 1908 eine Vereinbarung geschlossen, wonach eine solche gemischte Gerichtsbarkeit, genannt Special Court of Ethiopia, eingeführt werden sollte. Sie sollte in allen zivilrechtlichen, strafrechtlichen und handelsrechtlichen Gegenständen zuständig sein, in welchen ein äthiopischer Staatsangehöriger mit einem europäischen Staatsangehörigen oder einem nicht europäischen Staatsangehörigen, der unter einer europäischen Schutzmacht stand, Streitigkeiten austragen sollte und umgekehrt. Dabei sollte jeweils das Recht des Beklagten angewandt werden. Dadurch erhielten die Europäer den Vorteil, sich dem äthiopischen Strafrecht entziehen zu können. Gleichzeitig fand auf äthiopische Kläger das europäische Recht mit den Rechtsvorteilen der Verjährung Anwendung. Zudem gehörten die Amharas zu den prozessfreudigsten Völkern Afrikas. Jensen beschreibt die Prozessführung zu den sogenannten Open Air Courts in Addis Abeba und auch anderswo zutreffend wie folgt: „Die Streitenden wählen irgendeinen Richter, die Gerichtsverhandlung ist fertig, die Szene wird zum Tribunal. Aus nichts verstehen die Amhara einen Streit- und Gerichtsfall zu machen. Eine solche improvisierte Gerichtsverhandlung auf offener Straße heißt Danda. Der Richter setzt sich auf eine Treppenstufe oder man bringt ihm einen Hocker, die Parteien stehen in achtungsvoller Entfernung vor ihm und überbieten sich gegenseitig in tiefen Verneigungen. Das ist die capitatio benevolentiae: so fängt es an. Aber dann macht man Gebrauch von seiner rednerischen Begabung, schleudert Witzworte, Sprüche, Anekdoten in die Rede, bietet Wetten an, springt, wenn man einen besonders stichhaltigen Trumpf ausspielt, zwei, drei Schritte vor und beschwört den Richter mit Jesus Christus und Haile Selassie, tötet seinen Gegner

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mit Blicken, buhlt um die Gunst der vox populi, wirft die sich in der Erregung immer wieder lösende Schama in kühnem Schwunge auf die Schulter zurück und tritt erschöpft zurück, der andere ist dran, das Spiel beginnt von neuem.“27 Das amharisch-äthiopische Rechtssystem kennt im Gegensatz zu autochthonen afrikanischen Rechten und Gesellschaften bis zur hierarchischen Spitze der Rechtsorganisationen eine eigene Rechtssprache. Allerdings sind offizielle Rechtssprachen immer noch englisch und amharisch, weshalb man nach der Beseitigung des Special Court im Jahre 1936 bzw. nach der Unabhängigkeit Äthiopiens im Zusammenhang mit der Beendigung der italienischen Okkupation 1941 davon sprechen kann, dass der Rechtsdualismus langsam durch einen Prozess der Rezeption, Transplantation und Oktroi fremden Rechtes durch Kodifikation ersetzt wurde. Auch auf die Revision der Verfassung (1955), auf das Strafgesetzbuch und den Code Civil (1960) sei nur kurz hingewiesen. Das duale Rechtssystem wurde somit durch eine Mischrezeption ersetzt. Da natürlich immer noch von einem bestimmten Dualismus zwischen Stadt und Land gesprochen werden kann, war die Anwendung des Code Civil außerhalb von Addis Abeba, Asmara und Harrar wohl nicht recht nennenswert. Das duale Rechtssystem, das autochthones Recht auf der untersten Ebene und modernes Recht auf der höchsten Ebene umfasst, hat immerhin Äthiopien in einer gemeinsamen Rechtssprache verbunden. VI. Schlussbetrachtungen Wir haben gesehen, dass eine einfache Verdrängung des rechtskulturellen afrikanischen Denkens in archaischen oder autochthonen Gesellschaften nicht möglich, aber auch gar nicht totalitär wünschenswert ist. Auf der anderen Seite können auch nicht einfach bestimmte Methoden der Rekonziliation übernommen, andere notwendig damit verbundene Elemente zurückgewiesen werden. Dieser Ecclectizismus oder Synkretismus liegt zwar dem modernen Juristen, muss aber letzten Endes scheitern und stellt ihn erneut vor die Frage: radikale Modernisierung oder radikale Umkehr zum autochthonen oder archaischen Recht? Der Versuch der nigerischen Verfassung von 1979, dem keine lange Lebensdauer beschieden war, führte zu den Regelungen in Art. 252, die auch im obersten Bundesgerichtshof in den Senaten Richter vorsah, die nicht nur im modernen, sondern auch im autochthonen und im islamischen Recht ausgebildet waren. Nur durch eine Beschäftigung mit dem autochthonen und dem archaischen Recht einschließlich des islamischen Rechtes an den Ausbildungsstätten, also Universitäten und Fakultäten, kann das wertvolle wilde Rechtsdenken aufgearbeitet und dem jungen Verwaltungsbeamten und Richter verständlich und handbar gemacht werden. Der mit solchen Normen verbundene Aufschwung einer jurisprudenziellen Elite, vertraut mit archaischem, islamischem und autochthonem Recht, könnte einen Weg echter Einschmelzung beider Rechtskulturen darstellen. Einen ähnlichen Weg gehen verschiedene Ko27 Jensen, Im Lande des Gada – Wanderungen zwischen Volkstrümmern Südabessiniens, Stuttgart 1936.

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difikationen, die islamisches Familienrecht und modernes europäisches, insbesondere französisches, zu verschmelzen versuchen. Ohne gleichzeitige Anhebung der jurisprudenziellen Eliten kann dies aber nicht zum Erfolg führen. Schließlich haben wir schon angedeutet, wenn auch nicht genügend ausgeführt, dass der Rechtspluralismus und der Kulturkonflikt auch ein Sprachdualismus und ein Sprachkonflikt sind. Auch hier ist inzwischen eine Wendung eingetreten, die an Stelle der radikalen Modernisierung oder radikalen Refundamentalisierung einen vermittelnden Weg einzuschlagen versucht. Ich erinnere hier an Fituri28, der, im Gegensatz zu Sala Germad29, nicht in absoluter Entfremdung oder Verstümmelung von Sprach- und Rechtskultur spricht, vielmehr zu einer transkulturellen Beziehung jenseits des bikulturellen Systems auffordert. Der Weg zu einem transkulturellen Recht kann nur wiederum über eine transkulturelle Rechtserziehung und Kulturerziehung führen. Damit verbunden ist aber für das afrikanische wie das europäische Recht ein Appell zu einer Deokzidentalisierung übersteigerter westlicher Rechtskonzepte vom Begriff des Eigentums bis hin zu jenem der Arbeit. Auch im Recht muss damit der uns so bekannte homo faber oder homo faustus zurücktreten und einem – denken wir an das spielende Vorbringen der Rechtsstreitigkeiten der äthiopischen Straßengerichte – Bild des homo ludens auch im Rechte Platz machen.

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Fitouri, Biculturalisme, biluiguisme et education, Neuchatel / Paris 1983. Jensen, Im Lande des Gada – Wanderungen zwischen Volkstrümmern Südabessiniens, Stuttgart 1936. 29

O. Mythos und Wirklichkeit Christlicher Reiche – Äthiopien und die deutsche Reichsidee* Myth and Reality of Christian Empires The Ethiopian Empire as a traditional Christian rule had a great degree of fascination for Christianity in Europe and especially for the Holy Roman Empire which had disappeared at the beginning of the 19th century. However, the idea of a Christian state in Germany and naturally also in other countries of Europe (i. e. Great Britain) dominated to a large extent the political thinking of the 19th century. Ethiopia was constructed very much along the topography of the old Israel state, so that we do still find many towns like Nazareth and Bethlehem and places like Tabor and Sinai. Another interesting common political idea was the idea to go to Jerusalem in order to establish worldwide rule and world peace. The restoration of Ethiopian central power by emperor Tewodros II. with the program: „Reform Abyssinia, restore the Christian faith and become Master of the World“, shows a lot of similarity with the restoration of the German „Kaiserreich“. Similarities and discrepancies therefore exist between the two political powers with regard to basic ideas and political belief. The juxtaposition of the Holy Church and a holy empire are common features for both of the political entities, the Roman and the German Reich on the one and the Ethiopian Empire on the other hand. The separation of state and religion in Germany after World War I and in Ethiopia during the Ethiopian revolution have changed the underlying ideology from a religious myth to the aim of international human rights and world peace.

I. Allgemeines Siegbert Uhlig hat sich in den Fußstapfen von Ernst Hammerschmidt in seiner ganzen aktiven Zeit als Wissenschaftler mit dem christlichen Äthiopien, dem Orbis Christianos Aethiopicus beschäftigt. Die von ihm nunmehr als Nachfolger von Ernst Hammerschmidt herausgegebene Reihe „Äthiopistische Forschungen“ und be* Eine nachträgliche Beschäftigung – nachträglich insofern, als ich das Buch Friedrich Heyers „Die Kirche Äthiopiens“ erst nach meinem Vortrag 2004 studiert habe – mit den orthodoxen Motiven in der neuen Reichsgeschichte und dem heilsgeschichtlichen Verständnis Äthiopiens ganz allgemein, hat mich in der Auffassung bestärkt, dass die Reichs- und Kirchenidee in Äthiopien ähnliche Grundmuster religiös kirchlichen und staatlichen Lebens hervorgerufen hat, wie im Römischen Reich Deutscher Nation. Ich darf hier einige Beispiele aus dem Buch Heyers als weiteren Beleg anfügen.

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sonders die von ihm selbst dort publizierten Texte der äthiopisch-orthodoxen Kirche sind ein Beweis für das weiter bestehende Interesse einer deutschen Öffentlichkeit an Staat und Kirche in Äthiopien. Mögen beide auch durch die Ereignisse nach 1974 aufgrund der neuen Verfassungsordnungen – so z. B. Art. 11 der äthiopischen Verfassung vom 08. Dezember 1994 – einer Trennung von Staat und Religion unterworfen sein, so ist doch unverkennbar, dass das christlich-religiöse Leben in Äthiopien wieder eine Renaissance erfahren hat. Ein führender äthiopischer Politiker hat mir noch während der Herrschaft des Derg den Wunsch geäußert, dass auch in Äthiopien ähnliche Einrichtungen wie die evangelischen oder katholischen Akademien entstehen möchten, in welchen die moderne äthiopische Elite einer moderne aufgeschlossene äthiopische Christlichkeit gegenüber treten könne. Das Asien/Afrika-Institut der Universität Hamburg hat unter der Leitung Siegbert Uhligs mehr als viele andere Einrichtungen einen solchen Beitrag zu leisten vermocht. II. „Restore the Christian faith and become Master of the World“ Die nachstehenden Ausführungen geben ohne jede Änderung ein Referat wieder, das der Verfasser während seiner Lehrtätigkeit an der Ex-Haile Selassie I Universität am 15. 12. 1973 vor ehemaligen äthiopischen Stipendiaten wenige Wochen vor Ausbruch der äthiopischen Revolution gehalten hat. Das große Interesse, dass das Referat damals, vor allem bei den äthiopischen Zuhörern fand und die dramatischen Ereignisse, die einen Monat später ihren Lauf nahmen, veranlassten den Verfasser, diese Gedanken unverändert wiederzugeben1. Allerdings lässt die Thematik es kaum zu, völlig abgesicherte Thesen vorzulegen. Die Darstellung bewegt sich im Grenzgebiet zwischen Geschichte, Politik und Staatsphilosophie und versucht, durch eine archetypische und universalgeschichtliche Methode Verbindendes und Trennendes zwischen dem „christlichen Äthiopien“ und der deutschen Geschichte aufzuzeigen. Dabei spielen Staatslegenden und mythologische Zielvorstellungen eine offenkundige Rolle. Von der politischen Leitidee Tewodros II., Staat und Kirche zu erneuern und eine pax christiana aufzurichten, gehen die Darstellungen aus, die sich mit dem Wandel dieser Vorstellungen im 19. und 20. Jahrhundert beschäftigen. Die Revolution selbst, die damals noch im Dunkel der Zukunft lag, hat der Verfasser zusammen mit Paul Brietzke, einem Kollegen der Law Faculty von Addis Ababa, in einer Studie unter dem Titel „Ethiopia, Revolution Law and Politics“ untersucht2. Da hier das Referat unverändert wiedergegeben werden soll, war kein Platz, auf die revolutionären Ereignisse einzugehen. Dadurch gewinnt aber die Darstellung ein gewisses dokumentarisches und zeitgeschichtliches Interesse.

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Unverändert ist der Teil II. Diese Arbeit ist im Weltforumverlag in München 1976 dann erschienen.

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1. Vergleichbares oder Unvergleichbares? Kann man Deutschland und Äthiopien vergleichen? Ist nicht schon der immer wieder angestellte Vergleich zwischen Kaiser Tewodros II. und Kaiser Menelik II. gewagt? Stehen sich nicht hier unvergleichbare Größen gegenüber? Es ist nicht meine Absicht, universalgeschichtliche Ähnlichkeiten oder Ähnlichkeiten aufgrund der Entwicklung der Produktionsmittel herauszuarbeiten. Vielmehr möchte ich versuchen, aufgrund kollektiver unbewusster Gegebenheiten eine Art politische Symbolik, die realpolitischen Auswirkungen zweier ganz verschiedener Völker, zu untersuchen, deren gemeinsamer Nenner einzig und allein die Begegnung mit dem Christentum ist. Deshalb scheiden rein oberflächliche Ähnlichkeiten oder rein zufällige Koinzidenzen aus, von denen es allerdings einige gibt, so zum Beispiel den religiösen Bürgerkrieg unter Kaiser Susenyos, der zeitlich mit dem 30jährigen Krieg in Mitteleuropa zusammenfällt. Auch der Niedergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das Pufendorf in seiner letzten historischen Phase ein „irreguläres Monstrum“ genannt hat, fällt mit der „Ära der Prinzen“ in Äthiopien zusammen, nur dass die äthiopische Ära wesentlich blutiger verlaufen ist als die mitteleuropäische Zeit des Biedermeier, die auf die allerdings auch blutige Zeit Napoleons folgte. Auch könnte man, wenn man oberflächliche Ähnlichkeiten mehren wollte, die Konfrontation von zwei Machtzentren, einem Nord- und einem Südreich – hier Preußen/Österreich, dort Tigre und Shoa – anführen. Doch wir wollen gerade von diesen zufälligen Koinzidenzen absehen. Dort ein junger Staat, ca. 100 Jahre alt seit der Neugründung im Jahre 1871. Rund 1200 Jahre seit seiner ersten Gründung durch Kaiser Karl den Großen. Hier ein altes Reich, zwei – ja dreitausend Jahre alt in seiner mündlichen Tradition. Dort ein Land im Kerngebiet Europas, hier ein Reich im Nordosten Afrikas. Dort eine sprachlichvölkische Einheit, hier in Äthiopien Vielfalt der Sprachen und Dialekte. Eine Industriegesellschaft in Deutschland, hier eine Agrargesellschaft; dort die entfaltete Verkehrsgesellschaft, hier statisch-primäre Gruppen von ursprünglicher Gesellschaftsstruktur. In Deutschland entwickelte Kommunikation in einer nachindustriellen, spät-kapitalistischen Gesellschaft, hier Kontakt- und Kommunikationsdefizit, Reste spät-feudaler Ordnungen. Wiederum im Zentrum Europas eine urbarnisierte City-Gesellschaft, auf der anderen Seite, im Nord-Osten Afrikas, eine Pächter- und Landbevölkerung mit semitisch-kuschitischer Führungsschicht, in Deutschland wiederum egalisierte deutsch-stämmige Funktionselite. Das pittoreske Panorama des Vergleichs von Unvergleichbarkeiten ließe sich beliebig vermehren. Doch hier soll der Versuch unternommen werden, Typisches in Tradition und Geschichte, Ähnlichkeiten in Struktur und Schicksal zu finden.

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2. Inbild und Imago? a) Was war es, was die Deutschen nach Äthiopien zog? Was ihre Gedanken seit Peter Heyling3 dort hinführte? Was war es, das Wissenschaftler wie Ludolf bis Dillmann und Littmann nach Äthiopien brachte und kommen ließ? War es der „Drang nach dem Süden“? Der Drang, der Deutsche nach Italien führte? In das „Land, wo die Zitronen blühen“, wie es Goethe formuliert hatte. War es vielleicht gerade die Anziehungskraft des Gegensätzlichen oder suchte man in Äthiopien ein „Inbild“, ein „Imago“, ja eine „Anima“, einen Spiegel der eigenen Seele zu finden? Der Drang nach dem Ursprünglichen, nach dem Urvolk und der Urkirche, beides war ein waches Verlangen des deutschen Denkens zu Beginn des 19. Jahrhunderts, und musste Deutsche anziehen. Herder und mit ihm eine ganze Generation hatten im alten Israel in den 12 Stämmen der hebräisch-semitischen Kultur das Vorbild des deutschen Stammeswesens und deutscher Kultur erblickt. Auf der Suche nach der „verlorenen Mitte“, nach der „verlorenen Handschrift“, auf der Suche nach der Urkirche glaubte man etwas im fernen Afrika gefunden zu haben oder doch zu ahnen, was eigentlich ureigenstes Christentum4 war oder sein sollte. b) Äthiopien ist im Wege einer Identifikation zum Heiligen Land zum Land der Paradiesströme gemacht worden. Es verfügt über einen Berg Sinai, einen Berg Tabor, einen neuen Ölberg, ein neues Nazareth und ein neues Bethlehem. Muss dann nicht auch die Hauptstadt ein neues Jerusalem sein? Doch dazu etwas später mehr. 3. Die politische Theologie In der Paulskirche5 zu Frankfurt, wo man 1848 über einen neuen deutschen Staat, ein neues Reich, eine neuere Verfassung diskutierte, erklärte einer der führenden Abgeordneten, der Professor der Rechte Georg Beseler, dass man nach dem Untergang des Reiches erst feststellen müsse, was ein Deutscher sei6. Dieses Wort hat leider bis zum heutigen Tage durch die Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg seine Gültigkeit behalten. Beseler bezog sich aber auf den Untergang des 1. Reiches im Jahre 1806 und er verwies auf die Zustände, die danach im Reiche herrschten. Zwar waren die 300 souveränen Staaten auf 39 durch die starke Hand Napoleons verkürzt worden. Aber dennoch: es gab keinen Kaiser, kein Deut3 Pankhurst, ,Peter Heyling, Abba Gregorius and the Foundation of Studies in Germany, in: Äthiopien, Sonderausgabe 1973, S. 144; Gothe, Peter Heyling, der erste Deutsche in Äthiopien, ebd., S. 147; Schweisthal, Deutsche Wissenschaftler in Äthiopien, ebd., S. 157; Fechter, History of German Ethiopian Diplomatic Relations, ebd., S. 149. 4 Hammerschmidt, Äthiopien, Christliches Reich zwischen Gestern und Morgen, Wiesbaden, 1967, S. 69. 5 Eyck, The Frankfurt Parliament 1848 – 1949, London, 1968. 6 Scholler, Die Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche, Darmstadt, 1973, S. 29, 194.

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sches Reich. Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, das 1000 Jahre lang von der Mitte Europas aus das Abendland beschützt hatte, war nicht mehr. So stand Deutschland ähnlich wie Äthiopien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor einem staatlichen Chaos. Ein Dichter hatte es so beschrieben: „Er [der Kaiser] hat hinab genommen des Reiches Herrlichkeit!“7, eine Herrlichkeit aus einer Verbindung von Kirche und Staat im Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation. Wenn sich auch dieses Gedicht auf die Zerstörung der stauffischen Dynastie und des stauffischen Kaisers8 bezog, so kann man diese Worte doch ohne weiteres auch auf den Untergang des Reiches im Jahre 1806 anwenden. Da begann in Deutschland, wie auch gleichzeitig in Äthiopien, nicht von oben, sondern von unten, vom Volke her, eine Erneuerung von Staat und Christentum: In Äthiopien war es Kassa, der Sohn der armen Bandwurm-Medizin-Verkäuferin aus den Wäldern von Quwarra9 ; in Deutschland war es die bereits erwähnte demokratisch-liberale Volksbewegung, die in die Paulskirchen-Versammlung von 1848 einmündete und die dem preußischen König die deutsche Kaiserkrone als Volkskrone eines neuen deutschen Volkskaisers10, eines neuen deutschen sozialen Kaisers, anbot11. Der noch heute sehr verehrte12 Volksmann Kassa in Äthiopien hat in ähnlicher Weise die Tradition des Kaisertums an sich genommen, in dem er spätestens 1863 sich nicht nur als „Elect of God“, sondern gleichzeitig auch als in der Salomonischen Dynastie verwurzelt verstand und darüber hinaus auch durch die Annahme seines Namens (Tewodros II.) eine Identifikation mit dem legendären Messias-Kaiser Tewodros I. vornahm. Sein Programm, wie uns der englische Reisende Plowden schilderte, war ein Dreifaches: „Reform Abyssinia, restore the Christian faith and become Master of the World.“13 Nicht nur die zeitliche Koinzidenz der geschichtlichen Ereignisse überrascht, sondern auch die Ähnlichkeit der Motivation des charismatischen Führertums zur Erneuerung vom Volk, Kirche und zur Festigung des Weltfriedens, denn das verstand man unter der Formel, „Jerusalem zu erobern“. Dabei spielt Jerusalem eben gerade 7

Schmitz, Deutsche Balladen, München, 1966, S. 31. Heinisch, Kaiser Friedrich II. in Briefen und Berichten seiner Zeit, Darmstadt, 1968, S. 639, Anm. 140. Die Quelle berichtet: „… er wer niht tot, und waren sin wartent, also daz er solt wider reichsen mit solichem gewalt und hereschraft als er wol dreu und drizzich jar getan het …“. 9 Rubenson, King of Kings Tewodros of Ethiopia, Addis Ababa, 1966, S. 46 ff. 10 Schwarz, Ludwig Uhland, Mühlacker, 1964, S. 90. Schwarz zitiert Uhlands Rede zugunsten des Wahlkaisertums: „Ich gestehe einmal geträumt zu haben, dass ein großartiger Aufschwung auch bedeutende politische Charaktere hervorrufen werde und dass hinfort nur die Hervorragendsten an der Spitze des freigewordenen und geeinigten Deutschlands sollten stehen können. Dies aber ist nur durch Wahl nicht durch Erbgang möglich …“. 11 Wagener, Brief an Bismarck vom 29. Juli 1875, in: Dokumente 1871 – 1933, herausgegeben und kommentiert v. Harry Bross, Frankfurt, 1959, S. 62 f. 12 Levine, Wax & Gold, Tradition and Innovation in Ethiopian Culture, Chicago 1965, S. 142. 13 Siehe Fn. 9. 8

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die geistige wie die geopolitische Mittelpunktsrolle, die ihm vom Real-politischen nicht mehr zukam. Dies gilt wenigstens für das 19. Jahrhundert, da im 20. Jahrhundert diese Stadt plötzlich wiederum in den Mittelpunkt der mediterranen Weltpolitik gerückt wurde. Der Führungsanspruch, den beide Staaten – Äthiopien hier in Afrika, Deutschland dort in Europa – immer wieder erhoben haben, muss in diesem Licht gesehen werden. Das Wort: „am deutschen Wesen soll die Welt genesen“, oder der biologisch und rassistisch begründete Herrschaftsanspruch der hinter uns liegenden Zeit, muss auf den Hintergrund eines religiösen Führungsbewusstseins begriffen gesehen werden, das dann allerdings in Deutschland pervertiert wurde. Dieses religiöse Führungsbewusstsein erglänzt heute allerdings nur noch als ein Teil des mannigfachen Abendrotes einer längst untergegangenen Sonne des Glaubens (Max Scheler). Bei Tewodros II. sind die Zusammenhänge mit der christlichen Zukunftserwartung noch sehr viel sichtbarer, aber auch König Wilhelm IV. und Kaiser Wilhelm II. zeigten durch ihr Interesse am deutschen protestantischen Bischofssitz in Jerusalem starke Relikte dieses traditionellen Glaubens14. Im Briefwechsel zwischen Kaiser Wilhelm II. und Menelik II. spielt der Schutz der heiligen Stätten in Jerusalem und der Schutz der äthiopischen Klöster in dieser Stadt eine hervorragende Rolle, weil Deutschland, aufgrund seiner guten Beziehungen zur Türkei, seine Dienste Äthiopien gegenüber anbot. III. Der geistesgeschichtliche Hintergrund 1. Die göttliche Stiftung Um den Hintergrund dieses christlichen Staates, des christlichen Kaisers in Äthiopien wie in Deutschland besser zu verstehen, um den Begriff „Elect of God“ oder „Dei Gracia“ begreifen zu können, müssen wir einen Gang durch die mittelalterliche Geschichte beider Reiche tun. Folgende 4 Punkte sind hervorzuheben: a) Das Reich war in Äthiopien wie in Deutschland ein heiliges, ein Sacrum Imperium. Es war eine göttliche Stiftung15, eine Civitas Dei, wie Augustinus sie beschrieben hatte. Aus diesem Staat entwickelte sich die Idee des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. b) Staat und Kirche waren so auf ihre Weise beide göttliche Stiftungen und göttlichen Ursprungs und dennoch getrennte Ordnungen in ihrer zeitlichen und ewigen Zweckrichtung16. Dies führte selbstverständlich zu einem starken Spannungsverhältnis, der den Staat bald zum „sterblich Göttlichen“ (Hegel) werden ließ und ihn mit der Kirche kon14

Samuel Gobat, Evangelischer Bischof in Jerusalem, Basel 1884, S. 327, 339, 496. Haberland, Einführung in die äthiopische Geschichte bis zur Jahrhundertwende, Zeitschrift für Kulturaustausch, Äthiopien, Sonderausgabe 1973, S. 21, 23. 16 Aymro Wondmagegnehu / J. Motovu, The Ethiopian Orthodox Church, Addis Ababa, 1970. 15

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frontierte. Auch in Äthiopien sind solche Konfrontationen nicht zuletzt unter Tewodros und zu Beginn dieses Jahrhunderts bekannt. Dieses Spannungsverhältnis, seine Intensität, Dauer und Stärke bestimmte zu einem gewissen Grade die Entwicklung von Staat und Kirche in Richtung auf Modernisierung und Anpassung. Mit anderen Worten, je weniger Spannung zwischen beiden Einrichtungen, um so statischer und archaischer blieben die Verhältnisse der Gesellschaft, des Rechtes und der Kultur. c) Für beide Reiche, Äthiopien wie für Deutschland, ist es kennzeichnend gewesen, dass der staatliche Mittelpunkt und der religiöse getrennt waren. In beiden Reichen war ursprünglich kein fester staatlicher Mittelpunkt, sondern der Kaiser und seine Pfalz wanderten von Ort zu Ort, um Gericht zu halten, um die Staatsgewalt auszuüben. Während das Heilige Römische Reich seinen religiösen Mittelpunkt in Rom und darüber hinaus in Jerusalem hatte, läuft die Linie vom äthiopischen staatlichen Mittelpunkt – war es Axum oder Gondar, Lallibela oder später Addis Abeba – über Alexandria nach Jerusalem, um sich dort mit der Linie aus Europa zu treffen. Verständlich erscheint es, dass in beiden Reichen eine Tendenz war, die Mittelpunkte, den staatlichen und den religiösen, zu stabilisieren und zur Deckung zu bringen. Das erste gelang durch die Errichtung fester Hauptstädte: Wien, Berlin, Bonn bzw. Gondar, Addis Abeba. Das letztere gelang nicht oder wurde auf einem anderen Wege gelöst, wie ich noch zu zeigen haben werde. d) Ein viertes Merkmal beider Reiche ist es, dass sie mediterrane Kulturen waren. Das scheint für Deutschland wie für Äthiopien übertrieben zu sein, sind sie doch nicht unmittelbare Anrainer an das Mittelmeer. Dennoch hat es seine Richtigkeit, da die griechisch-römische Kultur für beide Staaten, allerdings mit ganz verschiedenem Gewicht, zusammen mit dem christlichen Glauben bedeutsam wurde, die jeweils ihren Ausgangspunkt vom Mittelmeer genommen haben. Der religiöse und kulturelle Mittelpunkt des Mittelmeeres ging mit dem Einbruch des Islam verloren. Jerusalem fiel in die Hände der „Feinde des Glaubens“. Dies bedingte noch eine andere Entwicklung. Durch die Eroberung ganz Nord-Afrikas und des Mittleren Ostens durch den Islam wurden Handel und Austausch zwischen Italien und Nordeuropa auf der einen Seite, und in afrikanischen und nahöstlichen Staaten auf der anderen Seite zum Erliegen gebracht. Hauptstädte, Mittelpunkt pulsierenden Lebens, verödeten. Italien brach zusammen. Das Geldsystem wurde durch den Naturalhandel verdrängt. Die Schwerpunkte wirtschaftlicher und politischer Aktivität verlagerten sich im nördlichen Teil des Mittelmeeres von Konstantinopel, Rom und Norditalien nach Spanien, Portugal, Nordfrankreich, England und Deutschland. Ein Gleiches gilt für die „Insel Äthiopiens“; ihre Hauptstädte rückten nach Süden, von Axum bis nach Addis Abeba, um dem Islam zu entweichen. So erfolgt eine Neuzentrierung politischer, wirtschaftlicher und kultureller Macht und Bedeutung.

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2. Die politische Eschatologie a) Diese vier Elemente werden verbunden durch eine gemeinsame politische Eschatologie, die beide Reiche aus dem Christentum haben. Das Alte wie das Neue Testament spielen in beiden Reichsgründungen und in der Motivierung von Herrschaft und Recht eine große Rolle. So verweist schon die Reichsordnung Äthiopiens aus dem 13. Jahrhundert (Serata Mangest) auf die salomonische Dynastie in rechtlich geordneter Form hin. So geht das staatsrechtliche Schrifttum des 13. und 14. Jahrhunderts in Deutschland auf die alttestamentarischen Grundlagen zurück, auf Saul und Samuel und den „David Rex“ als die Begründung der staatlichen Autorität17. War Samuel, der Ahnherr geistlicher Herrschaft, oder war Saul, der Ahnherr und Pfeiler der Volkssouveränität, der Stärkere? Wer würde sich behaupten? Juristen des Deutschen Kaisers und des deutschen Mittelalters preisen den Kaiser als NovusDavid, als neuen David und neuen Moses. Doch haben sie es viel schwerer als die äthiopischen Kaiser, die sich biologisch auf die salomonische Dynastie zurückführen lassen können18, so dass sehr bald im deutschen staatsrechtlichen Schrifttum die Idee aufbricht, den Kaiser nicht auf eine Abstammung aus dem Alten Testament zurückzuführen, sondern unmittelbar auf den Volkswillen in Analogie zur Berufung Sauls durch das Volk. Hier genau beginnt die abendländische Idee der Volkssouveränität19, die sich in fortwährenden Stößen über die Bauernrevolution im Deutschland des 16. Jahrhunderts, die Revolution Cromwells, die französische Revolution und die russische, hindurchgezogen hat in das Bewusstsein der Gegenwart. b) Daneben wirken zwei Legenden: die Legende vom wiederkommenden Kaiser20 und vom Priesterkönig21 staatsgründend, staatsverändernd und zukunftsweisend. Die Legende vom wiederkehrenden Kaiser Barbarossa hier und Tewodros dort, ist bereits angedeutet worden. Bruce berichtet hierüber: „It is also confidentially believed, that he (Tewodros I.) is to raise again to reign in Abyssinia and in Abyssinia for a thousand years and in this period all war is to cause …“

Der deutsche Dichter Rückert22 hat die alte Kaiserlegende, die Legende vom wiederkehrenden Kaiser, auf seine Art zusammengefasst, so wie sie in Deutschland sich erhalten hatte. 17

Funkenstein, Samuel und Saul in der Staatslehre des Mittelalters, in: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie, Bd. 40 (1952), S. 129 (133). 18 Kebra Nagast, Die Herrlichkeit der Könige, übersetzt von C. Bezold, München, 1905, S. 136. 19 Schlieper, Wurzeln der Demokratie in der deutschen Geschichte, Bonn, 1967, S. 3. 20 Pfister, Die deutsche Kaisersage und ihre antiken Wurzeln, Würzburg, 1928. 21 Sergew Hable Selassie, Ancient and Medieval Ethiopian History to 1270, Addis Ababa, 1972, S. 254. 22 Friedrich Rückert (1788 – 1866), war ein deutscher Dichter und gilt als Begründer der deutschten Orientalistik.

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„Der alte Barbarossa, Der Kaiser Friedrich, Im unterirdischen Schloße, hält er verzaubert sich. Er ist niemals gestorben, Er lebt darin noch jetzt, Er hat im Schloss verborgen, zum Schlaf sich hingesetzt. Er hat hinabgenommen Des Reiches Herrlichkeit, Und wird einst wiederkommen Mit ihr zu seiner Zeit.“

Um das plastische Bild dieser Legende zu verdeutlichen, möchte ich noch eine Zeile des Gedichtes von Rückert zitieren: „Sein Bart ist nicht von Flachse, Er ist von Feuersglut, Ist durch den Tisch gewachsen, Worauf sein Kinn ausruht.“

Immer wieder hat man in Deutschland im Kaiser der wiederhergestellten Staatlichkeit des Deutschen Reiches seit 1871, später in Kanzlern oder politischen Führern, solche wiederkehrende Kaisergestalten, solche Gottesmänner sehen wollen und gesehen. Dass diese politische Theologie in unserer Generation Deutschland, Europa und die Welt an den Rand des Abgrunds getrieben hat, kann hier nur für ein Zeichen dafür genommen werden, wie stark solche Jahrhunderte alten Motivationen noch in der Gegenwart sein können. c) Die Kebra Nagast ist die Grundlage für eine translatio imperii von Israel an Äthiopien. Wir erinnern uns hier an die translatio imperii ad francos, ein historischer Akt unter Karl dem Großen, der das sacrum Imperium des ersten Roms an das Reich deutscher Nation weitergab23. Die Reichsidee hat in der Hauptstadt jeweils ein Abbild oder sogar die Verwirklichung des himmlischen Jerusalem gesehenen. Das gilt für Lalibella wie für Gondar. Heyer führt dazu aus: „Das Oberhaupt der Priesterschaft von Lalibella erzählt, diese Stadt sei zu einem Abbild Jerusalems ausgestaltet worden.“24. In Gondar trägt der Thron die Bezeichnung „Thron Davids“ und der goldene Stuhl als Symbol der Herrschaft war dem Alten Testament nachgebildet. Auf den Glauben des Kaisers Theodros, eine messianische Aufgabe zu haben, habe ich bereits hingewiesen. Die Grundlage der Prophezeiung des wiederkehrenden Kaisers ist das Buch „Fekkare Iyasus“, das die Prophezeiung enthält, dass ein König Tewodros die Rechtlosigkeit beenden wird. „Die Erwartung eines messianischen Königs Theodor wird von den Falascha geteilt. Dieser soll 40 Jahre in Jerusalem und eine gleiche Zeit

23 24

Heyer, Die Kirche Äthiopiens, Berlin 1971, S. 216. Heyer, a.a.O., S. 214.

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in Äthiopien herrschen.“25. Tewodros selbst bezeichnete sich in Briefen wie folgt: „Ich bin der Mann von Äthiopien und der Bräutigam von Jerusalem.“ Eine ähnliche Messianisierung galt auch dem Kaiser Yohannes. Pankhurst berichtet folgendes Lied, das als Preislied auf den Kaiser nach der erfolgreichen zweiten ägyptischen Expedition gegen den Soho des Khediven entstand: „Heil dem König! Deine Kraft ist Christus, dein Heiligtum zu Zion. Christus kennt dein Gebet und hört dein nächtlich Rufen. Wenn David noch einmal herrschten sein Gebet würde deins nicht auslöschen.“

Die Gefahren solcher Profanisierungen, gemeint im Sinne einer Säkularisierung messianischer Erwartungen, haben sich in einem Führer- und Kaiserkult niedergeschlagen, der blasphemische Züge trägt. Aus den Kaiser-Geburtstagsgedichten sollen hier zwei wiedergegeben werden26 : „Der Kaiser ward geboren, um die Welt zu erlösen. Er verwandelte den Fluch in Segen; er erlöste Eva vom Gefängnis: sie wurde zur großen Dame mit seidenem Schirm. Wenn du nicht geboren wärest, o unser Heiland, so hätte unser paradiesisches Land keinen anderen gefunden. Lasset uns doch den heutigen Tag feiern, da die Sonne der ganzen Welt für uns aufgegangen ist! Die Heere des Herodes hassten seine Geburt; die Übeltäter lieben das Licht nicht. Wenn du nicht geboren wärest, … Menschen, lasst uns diesen Tag des Heils festlich begehen! Durch die Geburt des Kaisers ist die Welt erlöst; dazu singen wir schöne Lieder, die süßer schmecken als Honig und Zucker. Wenn du nicht geboren wärest, … Am sechzehnten Tag des Monats Hamle, der Hoffnung Adams „Kidana mehrat“, leuchtete ein Licht für Äthiopien: es schwand die Finsternis, und die Nacht wurde Tag. Wenn du nicht geboren wärest, …“ „Er, der für die Menschheit einst am Anfang geschaffen wurde, unsere Lebenshoffnung und unser Heil – während er sich zur Zeit der Väter unsichtbar verhielt, wurde er uns als frohe Botschaft offenbart. Als er uns aus der Dunkelheit heraus in das Licht hineinführte, wunderte uns seine große Weisheit sehr.“

25 26

Heyer, a.a.O., S. 238, Anm. 96. Heyer, a.a.O., S. 247 f.

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Die zweite Kaiser- und Reichslegende ist die vom Priesterkönig Johannes, die zuerst vom Bischof Otto von Freiring aufgezeichnet wurde, zurückgehend auf einen Bericht des Bischofs von Rheims. Wenn wir auch keine gleiche deutsche Fabel haben, so sind doch die Gestalten wie Innozenz III. oder gerade der deutschblütige Papst Gregor VII. beste Beweisstücke dafür, wie sehr der Priesterkönig von beiden Seiten herbeigesehnt wurde. Von der Seite der Kirche wie von der Seite der Kaiserlichen: Wieder finden wir gerade hier in der Sage vom Priester Johannes einen Brief an den Kaiser Friedrich II., an denjenigen, dem eigentlich die Kaiserlegende vom Barbarossa-Gedicht gilt27, wie neuere Forschungen festgestellt haben. In diesem Brief erklärt der Priester Johannes dem deutschen Kaiser, dass sich der Priester Johannes von Äthiopien geschworen habe, das Grab des Herrn in Jerusalem zu erobern, Die Legende vom wiederkehrenden Kaiser, die Legende vom Priester Johannes treffen sich hier in dem entscheidenden Punkt, der „Eroberung Jerusalems“. Dass diese Vorstellung von der zentralen Bedeutung Jerusalems für die äthiopische Politik nicht ein Kuriosum bei Theodros II. war, zeigt das Gespräch zwischen Kaiser Johannes IV. und dem deutschen Missionar Johannes Martin Flad im Jahre 1873/74. Kaiser Johannes erwiderte auf eine Freundschafts-Botschaft Ismael Paschas schroff: „Sage dem Vizekönig von Ägypten, ich bin ein Christ und begehre keine Freundschaft mit einem Muslim. Meines Landes Grenze ist Jerusalem, und so bald ich Herr von Abessinien bin und alle meine Feinde besiegt habe, werde ich Ägypten und Jerusalem erobern.“28

d) Interessant für die Stellung des Gelobten Landes im Allgemeinen, wie Jerusalems im Besonderen, sind die Reisen des Ritters John Mandeville durch das Gelobte Land, Indien und China (1360). Er suchte den Priester Johannes, er lokalisierte das irdische Paradies in Oberindien. Bereits in den Mappae Mundi aus dem 8. Jahrhundert, welche Benediktinermönche allein ihrer Bibelkenntnis vertrauend aufgezeichnet hatten, war auch dem Paradies ein geographischer Raum zugeteilt. Im Zentrum dieser Karten lag meist die Stadt Jerusalem. In östlicher Richtung davon fand sich der Garten Eden, durch eine Darstellung von Adam und Eva gekennzeichnet29. Diese sakrale geografische Auffassung hat in Äthiopien wie auch im Abendland ihre realpolitische Konsequenz. Denn neben der sakralen Geografie stand die ecclesiologische Topik und die apokalyptische Theologie: Das neue Jerusalem war, wie eine Zusammenstellung Otto Böchers30 zeigt, ein konkret religionspolitischer Begriff: „Dennoch ist eine konsequent symbolische Deutung des neuen Jerusalem – etwa als der Kirche, die vom Seher nur ,symbolisch mit dem Namen der alttestamentlichen Gottesstadt bezeichnet werde (Sickenberger) – abzuweisen. Der Apokalyptiker hat ganz massiv damit gerechnet, die eschatologische Hoffnung seiner jüdischen 27 28 29 30

Nolthenius, Duecento, Hohes Mittelalter in Italien, Würzburg, 1957, S. 41 ff. Flad, 60 Jahre in der Mission unter den Falaschas in Abessinien, Giessen, 1922. Bitterli, Die Wilden und die Zivilisierten, München 1976, S. 58. Böcher, Die Johannesapokalypse, Darmstadt 1975.

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Erziehung und Umwelt werde sich in der Ergänzung des Zwölfstämmevolks Israel durch christgewordene Heiden erfüllen; die Zusammenführung dieser Stämme und ihre Ansiedlung für ewige Zeit erhofft er in Jerusalem, der von Gott für den Messias Jesus Christus glanzvoll neugeschaffenen Hauptstadt Israels.“31

IV. Staat, Kirche und Weltfrieden heute 1. Territorium und Staatsgewalt Die staatliche Wiedererneuerung Deutschlands ist 1945 territorial zerbrochen, nachdem schon der erstrebte Rechtsstaat 1933 zerstört wurde. Das finis Germaniae, das einen Atem lang Europa überschattete, hat zwar einem bestaunten wirtschaftlichen Aufschwung Platz gemacht, aber die Teilung des Reiches in Ost und West hat ein kaum lösbares Problem der Mitte, Berlin, hinterlassen. So erscheint die Teilung des Reiches, ganz im Gegensatz zu Äthiopien, das sich seit Tewodros II. ständig territorial konsolidieren konnte, als ein trauriges Vermächtnis seit dem Ausgang des 30jährigen Krieges. Schon damals hatte Pufendorf das sterbende Reich als ein irregulare aliquod et monstro simile, ein ungereimtes monströses Etwas genannt. Auch die Monarchie zerfiel wieder, kaum dass sie als Kaisertum 1871 neu errichtet worden war. Die Entwicklung zum „sozialen Kaisertum“, in Bismarcks Sozialgesetzgebung intensiv angestrebt, überdauerte nicht die Krise am Ende des ersten Weltkrieges. Äthiopien, das während des ersten Weltkrieges eine Staatskrise erlebte, aber außerhalb der unmittelbar beteiligten Mächte bleiben konnte, war im zweiten Weltkrieg durch die vorangehende Okkupation durch Italien unmittelbar beteiligt. Der Kaiser Haile Selassie I. war aber das erste ausländische Staatsoberhaupt, das der neu erstandenen Bundesrepublik einen Staatsbesuch abstattete und die Bande festigte. Der Prozess der territorialen und exekutiven Konsolidierung Äthiopiens entwickelte sich über den Zusammenschluss mit Eritrea zur Verfassungsrevision von 1955. Während die erste äthiopische Verfassung von 1931 auf dem Umweg über die japanische MeijiVerfassung von 1889 sich noch an der Deutschen Reichsverfassung von 1871 orientierte, waren nun stärkere angelsächsische Einflüsse vorhanden. Ein Katalog von Menschenrechten fand Eingang und der Beginn der Verfassungsgerichtsbarkeit wurde garantiert, wenn auch lange nicht in dem Umfange wie 1951 durch das Bundesverfassungsgericht in der Bundesrepublik. Wenn ich heute 28 Jahre nach dem Vortrag und seiner ersten Niederschrift den Gedanken neu aufgreife, so haben sich die Aspekte verändert. Die deutsche Teilung ist überwunden, aber von Äthiopien hat sich 1993 Eritrea gelöst und ist seit 10 Jahren selbständig. Der Grundrechtsschutz in der äthiopischen Verfassung von 1994 ist wesentlich erweitert und durch die Institution einer eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit durch das Council of Consitutional Inquiry (Art. 82 – 84 Verf. von 1994) und das House of Federation gesichert worden. 31

Böcher, a.a.O., S. 120.

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2. Der Untergang des christlichen Imperiums? Ende 2004 sind es 10 Jahre, dass die neue äthiopische Verfassung, die sog. föderalistische Verfassung, in Kraft ist und es fragt sich was vom Imperium Christianum übrig geblieben ist. Die Verfassung bekennt sich zur Trennung von Staat und Religion und hat schon durch die Wortwahl die Verbindung zur christlichen Tradition aufgegeben. Zweifellos hat sich nach dem Sturz des Mengistu-Regimes das religiöse Leben ganz allgemein in Äthiopien wieder befestigt und aktiviert. Der Wütus der 17-jährigen Herrschaft des areligiösen marxistischen Staates, der an die Stelle der salomonischen Abstammung den 3000-jährigen Klassenkampf setzen wollte, ist verflogen. Der ermordete Kaiser Haile Sellasie wurde zwar in einer würdigen öffentlichen Feier, an der aber keine Repräsentanten des neuen Staates teilnahmen, in der Georgskathedrale beigesetzt. Der moderne äthiopische Staat ist aber kein Imperium mehr, beruht nicht mehr auf der salomonischen Abstammung und hat auch das religiöschristliche Fundament aufgegeben. An ihre Stelle ist der Glaube an die Autonomie und die Selbstbestimmung der Ethnien getreten, zu der sich gemäß Art. 1 der neuen Verfassung Äthiopien als eine Nation von Nationen bekennt und welche die staatliche Souveränität nicht in das Volk sondern in die Gesamtheit der „Nations, Nationalities and Peoples“ gelegt hat. Natürlich ist die neue Verfassung geprägt von verfassungsrechtlichen Errungenschaften der westlichen Welt, die sich als Prinzipien oder Menschen- und Bürgerrechte auf eine gemeinsame abendländische christliche Tradition zurückführen lassen. So ist die Glaubens- und Gewissensfreiheit in ihrer Garantie als Religionsfreiheit in der westlichen Welt immer als die Wurzel aller Menschenrechte angesehen worden. Sie bedeutet auch heute noch neben ihrer Funktion als Menschenrechte die Garantie eines fundamentalen Prinzips der Trennung geistiger und geistlicher Macht auf der einen Seite und der weltlichen Autorität auf der anderen. In gewissem Sinne kann man auch in den verschiedenen Normen der Verfassung die Widerspiegelung einer politischen Theologie der Freiheit erkennen, so z. B. wenn Art. 39 der Verfassung die essentiellen Merkmale kultureller Autonomie mit folgenden Worten hervorhebt: Art. 39 Abs. 5 „A ,Nation Nationality or People for the purpose of this Constitution, is a group of people who have or share a large measure of a common culture or similar customs, mutual intelligibility of language, belief in a common or related identities, a common psychological makeup, and who inhabit an identifiable, predominantly contiguous territory.“

Wenn auch die kulturelle Vergangenheit als äthiopisches Erbe betont wird, so ist doch erkennbar, dass ein neuer Mythos oder besser gesagt neue Mythen an die Stelle des jüdisch-christlichen Mythos des „sacrum Imperium“ getreten ist. So treten an die Stelle des Imperiums die regna und ihre föderative Verbindung. So steht auf der einen Seite der politische Pluralismus im Bundesstaat Äthiopiens den der Religionen gegenüber. Das gleiche gilt auch für Deutschland, das noch in der Weimarer Zeit ohne Monarchie die Bezeichnung Imperium (Reich) trug, das aber heute nur noch ein regnum zwischen anderen europäischen regna ist. Beide Länder und Kulturen

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haben sacrum Imperium und sancta icclesia (Alois Dempf) und auch ihre gleichwertige Gegenüberstellung verloren. Der universelle Anspruch der äthiopischen Monarchie und der orthodoxen Kirche Äthiopiens hat heute der Garantie universeller Menschenrechte Platz gemacht, wie sie in der äthiopischen Verfassung von 1994 zum Ausdruck kommen. So sind die universellen Menschenrechte als Garanten von Frieden und Demokratie auch Kerygma des modernen Äthiopiens geworden.

P. Von der Kirche der „spaltigen Religion“ des Augsburger Religionsfriedens zur modernen Garantie des Pluralismus von Religionsgesellschaften I. Der Augsburger Religionsfrieden als Ausgangspunkt 1. Die Neupositionierung der Großkonfessionen Gerhard Besier hat sich wiederholt und eingehend mit Fragen der Konfliktbereiche zwischen der Zivilgesellschaft und dem Staat einerseits und den Trägern der Religionsgesellschaften andererseits beschäftigt.1 Zurückblickend auf den Augsburger Religionsfrieden im Jahre 1555 und die 450 Jahre Kirchen- und Religionsgeschichte soll die Frage untersucht werden, welchen institutionellen Wandlungen die Kirche in und gegenüber der Gesellschaft unterworfen worden war. Mit diesem Thema soll nach einer Neupositionierung der Kirche in der Gesellschaft im Sinne der Zivilgesellschaft gefragt werden. Dabei werden die beiden Großkonfessionen, wie sie sich in Europa gebildet haben aus historischer und juristischer Sicht gleichwertig behandelt werden. Gleichzeitig knüpft diese Betrachtung an die Bedeutung des Augsburger Religionsfriedens an, der am 25. 9. 1555 für den deutschen Teilbereich des römischen Weltreiches in Augsburg geschlossen wurde und dessen 450. Wiederkehr in der gleichen Stadt Augsburg durch einen ökumenischen Gottesdienst, Ansprachen der führenden Vertreter der katholischen Bischöfe Deutschlands und der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) sowie des deutschen Bundespräsidenten Horst Köhler gefeiert wurde. Gleichzeitig gab in Augsburg eine umfangreiche Ausstellung ein einprägsames Bild der damaligen Vorgänge. Eine Reihe von wissenschaftlichen Veröffentlichungen2 begleitete diese Ausstellung, wodurch ein neues Licht auf das so genannte lange 16. Jahrhundert3 geworfen werden soll. Darunter versteht man die Periode vom 16. Jahrhundert bis weit hinein in das 17. Jahrhundert, eine Periode, die man lange nur als Einschnitt, Bruch mit der Vergangenheit oder Begründung natio1 Siehe z. B. seinen Artikel „,Ist ein „Lebensbewältigungshilfe-Gesetz (LBewHG) nötig?“ in: Die neuen Inquisitoren Religionsfreiheit und Glaubensneid Teil 1, Hrsg. Gerhard Besier / Erwin Scheuch. 2 Als Frieden möglich war – 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden (nachfolgend als Frieden zitiert), Augsburg 2005, Martin Heckel, Der Augsburger Religionsfriede in Juristen Zeitung 2005, (20), 961 ff., Heinz Schilling, Der Augsburger Religionsfrieden als deutsches und europäisches Ereignis, Festvortrag, Augsburg 25. 09. 2005 (Manuskript), auch namhafte Zeitungen haben darüber berichtet: Dorothea Wendebourg, Der Augsburger Religionsfrieden in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt 24. 09. 2005, 9. 3 Der Begriff stammt von Heinz Schilling.

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naler Neuanfänge gesehen hatte. Eine neuere gesamteuropäische Orientierung sieht in diesem langen 16. Jahrhundert etwas anderes, das man als ein Novum in der Geschichte bezeichnen könnte. Die drei neuen Richtungen4 werden wie folgt charakterisiert: Die Ausweitung der Nationalgeschichte zu einer komparatistischen Geschichte des frühneuzeitlichen Europa, die Überwindung der konfessionellen Sicht durch eine vergleichende Konfessionalisierungsforschung und die Wende zur Kulturgeschichte. Diese kulturgeschichtliche Perspektive soll hier durch eine verstärkte Betonung einer gesellschaftswissenschaftlichen Betrachtung verstärkt werden. Dies folgt aus der Thematik: Will man die Kirche als Gesellschaft in der Gesellschaft behandeln, muss man sich mit Soziologie und ihren kulturellen Attributen im langen 16. Jahrhundert befassen. Für viele Menschen der Gegenwart war der Augsburger Religionsfrieden, ein wichtiger reichsrechtlicher Friedensschluss, der neben der Goldenen Bulle und dem Westfälischen Frieden5 von 1648 zu den fundamentalen Normen des Reiches gehörte6, in Vergessenheit geraten, war er doch nach weniger als 70 Jahren vom 30-jährigen Religionskrieg zerbrochen worden. Dennoch knüpfte auch der Westfälische Frieden an ihn an und führte eine staatsrechtliche und politische Situation herbei, die man mit Recht, wie ich glaube, als Beginn der Zivilgesellschaft bezeichnen darf. Um dies zu erhärten, muss man sowohl die juristischen Instrumente als auch die theologischen Maxime darstellen, die zu dieser Friedensregelung führten. Zu den juristischen Rahmenbedingungen oder Instrumenten gehörten: – Die Aufschiebung der Entscheidung religiöser Streitfragen der spaltigen Religion bis zu einer späteren endgültigen Bereinigung, so dass ein gewisses Zwischenreich oder ein Schwebezustand herbeigeführt wurde. 4 Franz Brendle / Anton Schindling, Der Augsburger Religionsfrieden und die Germania Sacra in Frieden, 104 ff.; Heinz Schilling, Der Augsburger Religionsfrieden als deutsches und europäisches Ereignis, Festvortrag, Augsburg 25. 09. 2005 (Manuskript). Während Brendle und Schindling historisch analytisch das Problem beleuchten, verlagert Schilling den Schwerpunkt seiner Untersuchung auf die Europäisierung des Ereignisses im Lichte der neueren und neusten Forschung. 5 Obwohl dieser Friedensschluss der Entstehungsgrund des modernen Völkerrechts wurde. 6 Siehe hierzu auch Michael Frisch, Das Restitutionsedikt Kaiser Ferdinands II. vom 6. März 1629, Tübingen 1992, S. 20 ff.: Aus dem letzten Reichstag vor 1640 wurde wieder gefordert, dass keine Überstimmung in den Religionsfragen stattfinden solle. Die vorgesehene itio in partes sollte, wie in Augsburg schon, angelegt durch eine amicabilis compositio überwunden werden. Der Augsburger Religionsfrieden hatte durch den geistigen Vorbehalt und seine unterschiedlichen Interpretationen ein schweres Problem für die Religionsparteien hinterlassen. Umstritten blieb die ganze Zeit die Auslegung und die Gültigkeit des Geistlichen Vorbehaltes, Heike Ströle-Bühler, Das Restitutionsedikt von 1629 im Spannungsfeld zwischen Augsburger Religionsfrieden 1555 und dem Westfälischen Frieden 1648, Regensburg 1991, 24 ff. Auch die heutigen Untersuchungen benutzen den Terminus des Untertan und nicht den des Bürgers oder den von Mitgliedern der Zivilgesellschaft, dennoch zeigt sich schon spätestens Anfang des 17. Jahrhunderts die Forderung nach Ausdehnung der gewährten Religionsfreiheit auf weitere Toleranz, z. B. der Evangelischen Predigt oder anderer Reformationsparteien (Calvinisten).

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– Einführung juristischer Institutionen und Verfahrensweisen7, die eine Streitregelung insbesondere auch durch Gerichtsentscheidungen herbeiführen sollte, wenn in religiösen Fragen keine Lösung erzielbar war. – Die Garantie eines ius emigrandi, d. h. die Garantie des freien Abzuges mit der Familie und Hab und Gut im Fall der Ausübung des Religionswechsels des Landesfürsten. – Stärkung des Föderalismus durch Übertragung des ius reformandi auf die Landesherren. – Entstehung eines paritätischen Verhältnisses zwischen den beiden anerkannten Konfessionen (ohne Anerkennung der calvinistischen Konfession), so dass ein System gleicher Berechtigungen ohne Berücksichtung der religiösen Konfession entstand.8 Damit war die mittelalterliche Idee der universalen Religion und des Universalismus aufgegeben, der sich in der Formulierung ausdrückt: religio es vinculum societatis. Der oben erwähnte Grundsatz des cuius regio eius religio, der sich im ius reformandi ausdrückte, erhielt eine Abschwächung der grundsätzlich geforderten Gewissensfreiheit, die dem einzelnen Bürger nicht zustand und doch aber gleichzeitig eine Betonung der zivilgesellschaftlichen Ordnung, insofern als in den bekannten Reichsstädten wie Augsburg, Ulm, Kempten, Nürnberg, Regensburg etc. dieses Recht nicht den Bürgervertretungen übertragen wurde. Hier entwickelte sich also innerhalb der Bürgerschaft unabhängig von staatlicher Steuerung die Religionszugehörigkeit nach rein subjektiver Gewissensfreiheit. Für die Entwicklung einer Zivilgesellschaft waren überall, besonders aber auch im 16. Jahrhundert, die fortschrittlichen Bürgerschaften größerer, reichsunmittelbarer Städte von größter Bedeutung. Insofern ist es auch zutreffend, wenn moderne Theologen und Kirchenhistoriker im Augsburger Religionsfrieden den Ursprung der Ökumene heute9 erkennen wollen. Der Zusammen7 Ursula Seiff hat sich dankenswerter Weise sehr interessant und erfolgreich mit der Darstellung des juristischen Instrumentariums beschäftigt, dass sowohl den religiösen Frieden sichern, als auch die zivilgesellschaftlichen Funktionen ausbauen sollte: Recht und Justizhoheit. Historische Grundlagen des gesetzlichen Richters in Deutschland, England und Frankreich, Berlin 2003, ead. Sur les origines de la garantie du „juge naturel“ en dehors des thories de la speration des pouvoirs 17 au 19 sicle, Rev, hist. Droit, 83 (2) avr.juin 2005. 8 Martin Heckel (2), id. Die Menschenrechte im Spiegel der reformatorischen Theologie, Heidelberg 1987, id. Deutschland im konfessionellen Zeitalter, Göttingen 1983, 62. Heckel spricht in Bezug auf 1555 von einer Parität des Gesamtsystems in Bezug auf die beiden Konfessionen als Teilsysteme. 9 Matthias Morgenroth, Geteilter Himmel, geteiltes Land 450 Jahre Augsburger Religionsfrieden – Eine Spurensuche in Ökumenische Perspektiven, Bayerischer Rundfunk 25. September 2005 (Manuskript 10 ff.): Morgenroth betont den Gleichheitsaspekt der Gläubigen und den direkten Zugang zu Gott als zentrale Elemente der Reformation. Zur Bedeutung des Augsburger Religionsfriedens für die Gegenwart insbesondere für die Ökumene siehe Hans Maier, Der Augsburger Religionsfrieden – ein Anfang, kein Ende in Frieden, 290 ff.

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hang zwischen Zivilgesellschaft und ökumenischer Entwicklung liegt auf der Hand. Betrachtet man die Situation in solchen Reichsstädten, die vor dem Augsburger Religionsfrieden die Frage der so genannten spaltigen Religion zu entscheiden hatten und dabei vom ius reformandi Gebrauch machten, so sieht man deutlich, dass dadurch nicht in gleicher Weise die Gleichberechtigung der beiden Konfessionen entstand, sondern eine neue religiöse Bevormundung oder Unterdrückung zu befürchten war. 2. Das Beispiel Basel Dies lässt sich am Beispiel der Stadt Basel gut zeigen. Dort hatte man zunächst bereits im Jahre 1518 Luthers Lehre in die Stadt und auf die Kanzel gebracht. 11 Jahre lang entwickelte sich eine heftige Auseinandersetzung auf den Kanzeln, im Rathaus und unter den Bürgern, bis schließlich auf Grund einer Großdemonstration am 8. Februar 1529 der Rat der Stadt die evangelische Konfession als verbindlich einführte. Damit war ein Religionswechsel vollzogen, nicht aber wie später auf Grund des Augsburger Religionsfrieden eine Parität der Religionsfreiheiten der Bürger der großen Städte erreicht. Der Entwicklung einer Zivilgesellschaft konnte das einseitige Festlegen auf die alte oder neue Konfession der spaltigen Religion aber in keiner Weise hilfreich sein. Beachtlich ist natürlich am Beispiel Basels, dass mit dem Auftreten der Religionsspaltung, unter Notwendigkeit einer verantwortlichen Entscheidung durch den Rat der Stadt, eine Demokratisierung des Wahlrechtes erfolgte. Eine Zivilgesellschaft kann nicht bei einer reinen Parität stehen bleiben, sondern muss eine Demokratisierung gerade im Bereich der Repräsentation von Handwerkern und Bürgern zur Vorraussetzung haben und damit auch fordern. Die Regelung des Augsburger Religionsfriedens hatte die Gefahr einer radikalisierten populistischen Entscheidung durch demokratische Organe vor allem in den Städten im Auge, wenn diese semi-demokratischen oder patrizischen Vertretungsorgane das ius reformandi eben nicht erhalten sollten.10

II. Der theologisch-philosophische Begründungshorizont Der Religionsfrieden von Augsburg hatte an die Stelle der religiösen Diskussion und der kirchlichen Machtausübung ein juristisches Prozedere gesetzt. Dieser Umstand wurde immer hervorgehoben und ist auch unbestritten. Dennoch gab es einen theologisch-philosophischen Hintergrund oder Unterbau dieser Entwicklung, der die Entwicklung der Zivilgesellschaft in ihrem Anfangsstadium unterstützte. Dazu gehörten die Ideen des allgemeinen Priestertums der Gläubigen, die die Volkssouveränität wieder erstarken ließen, die Trennung der geistlichen und weltlichen Gewalt, oder besser gesagt die Suspendierung der geistlichen Kontrolle bis zu einer end10

Die Gewalt in den Stadträten und ihren Versammlungen war offenbar nicht demokratisch und rechtstaatlich genug abgesichert, so dass die Gefahr bestand, dass das ius reformandi von Minderheiten intolerant ausgeübt werden könnte, Ren Teuteberg, Basler Geschichte, Basel 1988.

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gültigen Regelung, und den Schutz des Gewissens als conscientia libera, wie das erst später der Westfälische Frieden (pax osnabrugensis) ausdrücken sollte.11 Die Idee der Volkssouveränität in den Naturrechtslehren des 16. und 17. Jahrhunderts hat ihr metaphysisches Vorbild in der Lehre des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen als einer par conditio zur Ausübung der geistlichen Herrschaft innerhalb der communio sanctorum. Schon in den vorreformatorischen religiös revolutionären Bewegungen war das Laienelement unter Ablehnung von Sakrament, Kult und Priestergewalt stark hervorgetreten. Nicht nur die Bewegungen des 14. und 15. Jahrhunderts kannten die „Volkssouveränität“ des Laienvolkes innerhalb der Glaubensgemeinschaft, vielmehr war, schon lange vor Jan Huss und den Waldenser Bewegungen sowie der Bewegung von Arnold von Brescia, die Schrift zur alleinigen Quelle aller religiösen Erkenntnis gemacht und die Amtsgewalt in die Verantwortung der religiösen Gemeinde gelegt worden. Der religiöse Individualismus hatte in solchen Gruppentheologien und in der durch das ganze Mittelalter strömenden Bewegung der christlichen Mystik seine stärksten Wurzeln. Das Zentrum des religiösen Individualismus, der später auch den politischen und wirtschaftlichen Individualismus hervorbringen sollte, lag in der Unmittelbarkeit des Gotteserlebnisses, das der Häretiker wie der Mystiker außerhalb des opus operatum heilbringender Sakramente, außerhalb eines kirchlich hierarchischen Instanzenzuges und ohne kultische Einkleidung unmittelbar und absolut im Gewissen erlebte. Die Volkssouveränität als Analogon zur Lehre vom allgemeinen Priestertum, als Übertragung des religiösen Individualismus auf die Ebene der Politik, hat ihre gemeinsame Wurzel im neuen Gewissensbegriff, der sich als Ursprung des Individualismus der Neuzeit darstellt. Der interessante Artikel von Axel Gotthard12 (Erlangen) betont den objektiven strukturellen Charakter des ius emigrandi wie auch der conscientia libera und erkennt aber dennoch an, dass hier zumindest Vorformen der Toleranz und grundrechtlicher Schutzmechanismen gewährt wurden. Bei der Betonung des ,Ventilcharakters dieser Vorschriften wird aber übersehen, dass zwischen den Autoritäten von Staat und Kirche und den Untertanen an der Peripherie sich ein Bürgertum entwickelt hatte, dem eine größere Freiheit im Augsburger Religionsfrieden eingeräumt wurde, weil es wesentlich an der geistigen Auseinandersetzung teilnahm und teilnehmen wollte. Übrigens ist auch Georg Jellineks Ansatz13 insofern ein Beweis für die Richtigkeit der Sprengkraftwirkung der Gewissensfreiheit, als er in ihr und nicht in einer staatlich geordneten und 11 Heinrich Scholler, Das Gewissen als Gestalt der Freiheit – Das Gewissen als Sinngestalt und Strukturprinzip im Verfassungsrecht, Köln 1962, 6 – 13, id. Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958, 46 ff., id. Zum Verhältnis von (innerer) Gewissensfreiheit zur (äußeren) religiösen Bekenntnis- und Kultusfreiheit, in: Grund- und Freiheitsrechte im Wandel von Gesellschaft und Geschichte, Hrsg. Günter Birtsch, Göttingen 1981, 183 – 204, insb. 186 ff., wo auf die Interpretation der Gewissensfreiheit als Hausandacht durch Moser und Kreittmayr ausdrücklich hingewiesen wird und wo sie dann anschließend aus der Evangelischen Theologie zum Prinzip der subjektiven Autonomie erhoben wird. 12 Axel Gotthard, Säkularisierung – Toleranz – Menschenrechte Ideen- und mentalitätsgeschichtliche Blicke auf die Augsburger Ordnung in Frieden, 281 ff., insbes. 285 ff. 13 Georg Jellinek, Allgemeine Staatslehre, Berlin 1920, 239.

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verordneten Religionsfreiheit den Ursprung aller Menschenrechte sah. Die „pilgrim fathers“, die Anfang des 17. Jahrhunderts Amerika erreichten, waren eben doch Auswanderer, also Menschen, die ein ius emigrandi in Anspruch nahmen. Interessant sind natürlich die Hinweise auf den haereticus quietus, der eben quasi eine innere Auswanderungsfreiheit für sich in Anspruch nimmt. Dies hat Ernst Troeltsch14 bereits gut charakterisiert: „Dieser religiöse Individualismus ist nun aber das Gegenteil aller kirchlichen Autoritätsreligion. Er kennt nur eine Autorität, Gott, und das eigene Gewissen, in dem Gott spricht.“ Die alte mystische Lehre von der Synteresis, dem Seelenfünklein Meister Ekkehards, hatte sich in untergründigen Strömungen des Mittelalters immer behaupten können, wenn sie auch in der offiziellen Theologie von der syllogistischen Auffassung des Gewissens völlig verdrängt wurde, die der Thomismus mit seinem dualistischen Gewissensbegriff durchsetzen konnte. Diese Wertschau wird dem Mystiker vermittelt durch den Seelengrund, den oculus animae Augustins oder die scintilla animae der Ekkehardschen Mystik. Somit bestanden neben der auf Sakramenten aufbauenden Hierarchie der Kirche verschiedene durch den Gleichheitssatz und die Gewissensstimme allein determinierte Reihen von religiösen Gruppierungen. Bei Luther findet man diesen Begriff im Postulat der Freiheit: „in den ,Kammern anzubeten wen und welchen Gott man immer anbeten wolle.“ Der Begriff der Gewissensfreiheit als Grundrecht ist in seinem Kern hier getroffen, wenn es auch nur aus heutiger Sicht ein Element rudimentärer Religionsausübung war, denn die Teilnahme am privaten und am öffentlichen Kultus wurde nicht Jedermann gewährleistet. Immerhin war diese conscientia libera anderseits auch mehr als die später damit zum Ausdruck gebrachte Freiheit der Hausandacht (devotio domestica). Schon dieser Begriff lässt erkennen, dass es weniger um die Freiheit des einzelnen Gewissens als um das Bewusstsein oder das Gewissen der Freiheit ging. Damit ist ein weiteres wesentliches Merkmal der Zivilgesellschaft angesprochen, nämlich der Schutz des religiösen Intimbereiches und damit auch Anerkennung des Eigentums als Träger einer religiösen Individualsphäre. Es entwickelte sich in dieser häuslichen Atmosphäre, in welcher auch die Bibel vom Familienvorstand gelesen und ausgelegt wurde, ein neues Gefühl religiöser Freiheit und Gleichheit. III. Die zivilgesellschaftliche Diskussion 1. Leopold von Rankes traditionelle Betrachtung So konnte in dem juristischen Rahmen, welcher durch den Augsburger Religionsfrieden gegeben wurde und der von oben nach unten sich durchsetzen sollte, eine Bewegung von unten nach oben strömen, welche die juristischen Formen mit gelebtem Glauben ausfüllte. Der Nestor Leopold von Ranke hat dies in seiner Reformationsgeschichte noch nicht recht sehen können, obwohl gerade dieser Teil seiner For14 Ernst Troeltsch, Aufsätze zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, Tübingen 1925, 220, Scholler (11), 10.

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schung zu seinem Hauptthema gehörte. Mit Recht stellt er die Aufhebung der geistlichen Gerichtsbarkeit in den Mittelpunkt der Auswirkungen des Augsburger Religionsfriedens, doch betont er, dass die alten Gewalten nach wie vor Bestand hatten und ein vinculum religionis darstellten: „Noch bestanden aber die beiden Gewalten, von welchen man sich losriss. Noch lebte der Kaiser und war in der Nähe, der den Einrichtungen einen ganz anderen, einen dynastischen und religiösen Charakter zu geben gesucht hatte. Noch hielt das Papsttum alle seine Ansprüche fest und war mächtig genug, um sich nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Wir haben zu betrachten welches Verhältnis sich nach beiden Seiten hin in diesem Augenblick bildete.“15

Interessanterweise betrachtet von Ranke tatsächlich nur die beiden Seiten, nämlich die katholische und die protestantische, in ihren vertraglichen und politischen Beziehungen, nicht aber das tertium, das sich zwischen den beiden als Zivilgesellschaft entwickelte. Er und seine Zeit hatten noch nicht das Auge für die religiöse und politische Soziologie, deren Bedeutung erst im letzten Jahrhundert auch durch Männer wie Ferdinand Tönnies, Max Weber und Ernst Troeltsch erkannt wurde. In der Gegenwart ist erneut die Diskussion um das Verhältnis Religion und Zivilgesellschaft aufgekommen16 ; allerdings wird die gegenwärtige Diskussion mehr unter dem Aspekt der Gefährlichkeit der Religion für die Zivilgesellschaft geführt, weil sie vorwiegend an den Phänomenen des religiösen Terrorismus anknüpft. Der Religionsfrieden von 1555 schloss sich ebenfalls an einen blutigen Religionskonflikt an, war aber in der Lage, in Mitteleuropa (zumindest in Deutschland) für die nächsten 60 Jahre eine Friedensordnung herzustellen, in der sich föderative rechtliche Elemente17 mit theologischen Postulaten verbanden. Demgegenüber entwickelte sich in Frankreich und in Holland ein blutiger Religionskrieg18, so dass es dort erst später zu einer Aussöhnung und damit einer zivilgesellschaftlichen Ordnung kommen konnte.

15 Leopold von Ranke, Weltgeschichte / Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation, Bd. 5, Hamburg 1925, 341. 16 Wolfgang Kinzig, Christentum und Zivilgesellschaft – (k)ein europäischer Tagtraum, in: Religionen und Zivilgesellschaft, Hrsg. Francesca Vidal, Mössingen-Talheim 2002, 80 ff.: Nach Kinzigs Meinung ist nicht nur das Christentum ein Teil der Zivilgesellschaft, sondern letztere verlangt auch die religiöse Verständigung unter den Religionen Europas, Hans Maier (5). 17 Martin Heckel (2), Heinz Schilling (2). 18 Dorothea Wendebourg, Der Augsburger Religionsfrieden in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Frankfurt 24. 09. 2005, 9: Die Autorin betont die Bedeutung dieses ersten niedergeschriebenen, verfassungsrechtlich verbürgten Grundrechtes im Gewande eines religiösen Freizügigkeitsrechts. Während sie zutreffend die lange Friedenszeit in Deutschland betont, die sich bis zum Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges erstreckte, sieht sie in den französischen und niederländischen religiösen Kriegen das Ergebnis einer mangelnden rechtlichen Garantie. Allerdings ist mehr als religiöse Freizügigkeit gewährt, denn die ganze Familie und das Fahrniseigentum waren mitgeschützt.

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2. Die Kommunikation in der Zivilgesellschaft Wichtig für die Zivilgesellschaft in diesem langen 16. Jahrhundert war die Veränderung der Kommunikationstechnik und somit auch der Kommunikationsgeschwindigkeit. Die Kommunikationstechnik wurde durch Gutenbergs Buchdruck um 1450 entscheidend verändert, so dass in der Folge dieser neuen Technik auch die Kommunikationsgeschwindigkeit außerordentlich zunahm. Ob es darüber bereits eine Messungsmethode gibt, ist mir nicht bekannt. Immerhin waren Flugblätter des Thesenanschlags von Luther vom 31. Oktober 1517 schon im Januar 1518 Diskussionsgegenstand in der Basler Öffentlichkeit.19 Um 1500 war bereits ein Informationsträger entstanden, den man als die Einblattzeitung20 bezeichnet. Die Zunahme der Alphabetisierung im Zusammenhang mit der neuen Kommunikationstechnik ist ein weiterer wichtiger Faktor für das Funktionieren einer Zivilgesellschaft. Die Interaktion zwischen den Universitäten einerseits und den Kanzeln andererseits war ebenfalls sehr weit entwickelt worden, so dass der Übergang von der mittelalterlichen „Religionsgemeinschaft zur Religionsgesellschaft“ sich langsam vollziehen konnte. Übrigens ist der Ausdruck „Religionsgesellschaft“ später im evangelischen juristischen Sprachgebrauch die Bezeichnung für die Evangelische Kirche im Rechtssinne. Dies steht im Zusammenhang damit, dass Rudolph Sohm21 schon im 19. Jahrhundert der Meinung war, dass das weltliche Kirchenrecht für die Evangelische Kirche einen Widerspruch zur christlichen Natur der Kirche darstellen würde. Somit wurde an die Stelle einer Gemeinschaft religiöser Art die Kirche als Religionsgesellschaft konzipiert. Eine solche Religionsgesellschaft basiert aber, wenn wir den Kriterien von Ferdinand Tönnies folgen, nicht auf Gesetz sondern auf Vertrag, nicht auf Glaube sondern auf Meinung, nicht auf öffentlicher Konfession sondern auf der veröffentlichten und öffentlichen Meinung. Damit hat die Kirche aber einen sichtbaren rein gesellschaftlichen und nur einen unsichtbaren transzendenten Charakter, wenn man von der traditionellen evangelischen Rechtstheologie ausgeht. Diese Spannung hat das berühmte Buch meines verehrten Lehrers Johannes Heckel lex charitatis22 zu überwinden versucht. Natürlich liegt im Begriff der lex und der charitas genau das, was Tönnies23 mit den Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft umschreibt. 19

Ren Teuteberg (7). Die Einblattzeitungen, auch Einblatt-Drucke genannt, wurden zeitlich nach den Flugblättern veröffentlicht, worauf Otto Groth, in: Die Geschichte der Deutschen Zeitungswissenschaft, München 1948, S. 197, hinweist. In dieser Form der Kommunikation muss ein wichtiges Element der werdenden Zivilgesellschaft gesehen werden. 21 Rudolph Sohm, Kirchenrecht I, Berlin 19703, 481. 22 Dieses Werk wird zur Zeit an der größten Lutherischen Law School Valparaiso, Indiana, ins Englische übersetzt. 23 Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft, Darmstadt 1991, Neudr. der 8. Aufl. von 1935, Erstauflage 1887; Lars Clausen / Carsten Schlüter[-Knauer] (Hrsg.): Hundert Jahre „Gemeinschaft und Gesellschaft“. Ferdinand Tönnies in der internationalen Diskussion, Opladen 1991. Im letzteren Werk wird die Religionssoziologie von Tönnies von Alexander Deichsel, Die Herausforderung der Öffentlichen Meinung durch die Religion Soziologische Überlegungen zur Massenpublizistik in Tönniesscher Ansicht, 405 ff. und Rainer Waßner, 20

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Man muss erkennen, dass die Zivilgesellschaft sich pluralistisch zusammensetzt und zwar gehören dazu sowohl das bewusst gewordene Kirchenvolk beider Konfessionen, das nicht kirchlich gebunden ist, als auch jene Teile, die von sich aus sagen würden, nicht konfessionell gebunden zu sein. Ganz im Gegenteil partizipieren sie mit den Teilen der Zivilgesellschaft, die man als kirchlich nicht organisiert ansehen kann, die gleichen Grundwerte der Sozialität der Menschenwürde und der Toleranz. Der Hamburger CDU-Abgeordnete, der für die Anerkennung von Sterbehilfe eintritt, oder der Katholik, der seit einem Jahrzehnt die Bewegung der Kirche von unten begründet und begleitet hat, gehören ebenso zur Zivilgesellschaft christlicher Prägung wie fern stehende Kreise. Denn in einer Zeit, wo ein radikaler unmenschlicher Fundamentalismus weltweit nicht nur den Staat, sondern auch die Zivilgesellschaft bedroht, gilt es zu verstehen und dafür zu arbeiten, dass die spaltige Zivilgesellschaft im Grunde genommen auf gemeinsamen historisch begründeten Wertentscheidungen beruht, die es gemeinsam zu verteidigen gilt. IV. Die Kirche als Gesellschaft in der Gesellschaft Die Anwendung des Begriffes „Gesellschaft“ auf das Phänomen der Kirche oder der Kirchen oder sonstigen religiösen Gruppierungen entspricht nicht einem modernen Bedürfnis nach soziologischer Klassifikation, wenn auch zugegeben werden muss, dass eine solche rein soziologische Begriffsfestlegung ihre eigenständige Bedeutung und ihren eigenen Erkenntniswert hat. Vielmehr geht die Anwendung des Begriffes Gesellschaft auf die oben erwähnten kirchlichen Phänomene auf das 18. Jahrhundert zurück, in welchem nicht nur die Hoffnung auf die Wiederherstellung der kirchlichen Einheit aufgegeben wurde, sondern auch der Pluralismus christlicher Konfessionen im Reich unter dem Einfluss der Aufklärung seine Anerkennung als Rechtszustand erhielt. Allerdings hatte sich diese Einstellung bereits mit dem „Westfälischen Frieden“ aus dem Jahre 1648 zu erkennen gegeben, weil dort im Instrumentum Pacis Osnabrugensis drei öffentlich anerkannte und, was von Bedeutung ist, paritätisch zu behandelnde christliche Konfessionen entstanden waren. Das „Religionsverfassungsrecht“ – üblicherweise Staatskirchenrecht genannt – antwortete auf die entstandene Situation nicht mehr mit dem ursprünglichen Begriff einer „spaltigen Religion“, wie das im 16. Jahrhundert und darüber hinaus die Regel war. In diesem Begriff einer „spaltigen Religion“ liegt der Wunsch oder das politische oder religionspolitische Postulat, an der Einheit der Kirche weiter festzuhalten und den Zustand der konfessionellen Spaltung als einen nur vorübergehenden anzusehen. Dieses Religionsverfassungsrecht unterschied nach dem Instrumentum Pacis vier verschiedene Stufen der Religions- oder Konfessionsformen:

Tönnies Religionssoziologie und die neuen religiösen Bewegungen – Ein Stück angewandter Soziologie, 439 ff., behandelt. Danach soll der Schritt zur Gesellschaft weder vom Katholizismus noch von den neuen Religionen, sondern vom Protestantismus getan worden sein.

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• Die öffentlich aufgenommenen Kirchengesellschaften, die nur anerkannten konzessionierten Religionsgesellschaften sowie die geduldeten und die verbotenen Religionsgesellschaften.24 • Die erstgenannte Gruppe hatte das Recht, den Namen „Kirche“ zu führen und ihre Diener Pfarrer zu nennen. Selbstverständlich stand ihr auch das Recht des exercitium publicum religionis zu. Diese religiösen Feierlichkeiten konnten auch außerhalb des Kirchengebäudes öffentlich durchgeführt werden. • Demgegenüber genossen die „geduldeten Religionsgesellschaften“ nur das Recht des exercitium privatum religionis, also der privaten Religionsausübung in Gebäuden, die keine typischen Kirchenbaulichkeiten wie Türme und ähnliches aufwiesen. • Von dieser privaten Religionsausübung unterschied sich die dritte Stufe der nur geduldeten Religionsgesellschaften dadurch, dass sie nur das Recht der devotio domestica, also der einfachen (simplex) oder qualifizierten (qualificata) Hausandacht hatten.25 (Für die jüdischen Religionsgesellschaften galten Sonderregelungen.) Auch in der bayerischen Landesverfassung von 1946 findet sich als staatskirchenrechtliches Relikt im Rahmen der Religionsfreiheitsgarantie die Verbürgung der gemeinsamen Hausandacht26 verankert. Auch die politischen und bürgerlichen Rechte waren von der Zugehörigkeit zur einen oder anderen Stufe der Religionsgesellschaften abhängig. Ähnliches galt für den Zugang zu öffentlichen Ämtern, sowie für das Recht des Grunderwerbes und des Gewerbebetriebes. Demnach bestand also eine 24

Heckel hat den modernen Begriff der Religionsgesellschaft auf die Entwicklung der Lehre von der zentralen Bedeutung der Konfession zurückgeführt, die ihre Bedeutung in der Verlesung der Confessio Augustana vor Kaiser und Reich 1830 erhielt. Johannes Heckel, Melanchthon und das deutsche Staatskirchenrecht, Erich Kaufmann-FS, 83 ff.; Axel von Campenhausen weist darauf hin, dass über die Aufklärung, insbesondere die des Allgemeinen Preußischen Landrechtes, und über die Figur des Herrschaftsvertrages der Begriff der Kirchengesellschaft Grundlage des modernen Staatskirchenrechtes geworden ist. Axel v. Campenhausen, Anm. C, II, 19 zu Art. 137 WRV (Art. 140 GG), in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck, Kommentar zum GG, Band 3, 5. Auflage 2005; ders., Staatskirchenrecht 18 f., 129 f. 25 Heinrich Scholler, Die Freiheit des Gewissens, Berlin 1958, Nachdruck Berlin 2003, 53 f. und 64 ff., wörtlich heißt es im Westfälischen Frieden V § 34 in Carl Mirbt Quellen zur Geschichte des Papsttums und des römischen Katholizismus, 1911 „… patienter tolerentur et conscientia libera domi devotioni suae sine inquisitione aut turbatione privatim vacare, in vicinia vero ubi et quoties voluerint, publico religionis exercitio interesse vel liberos suos exteris suae religionis scholis aut privatis domi praeceptoribus instruendos committere non prohibeantur“. 26 BVerf Art. 142 Abs. 2 garantiert die gemeinsame Hausandacht, die eigentlich keine eigene Garantie mehr notwendig hatte, weil sie durch die private Kultusfreiheit geschützt war. Der Kommentar zur bayerischen Verfassung von Theodor Meder, Stuttgart 1992, verweist in Anmerkung B zu Art. 142 auf die Entscheidung des BVerfG vom 5. 2. 1991, ohne sich näher mit dem Problem auseinander zu setzen. Zwei Entscheidungen des Bayer VGH v. 5. 8. 1881 Entscheidungssammlung III, 222 und v. 16. 10. 1885 Entscheidungssammlung XVII, 72 hatten noch die Zulässigkeit der gemeinsamen Hausandacht verneint.

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klare Unterscheidung zwischen religiösen Gesellschaften, die als Kirchen öffentlich fungieren konnten und anderen religiösen Gruppierungen, die eben nur als Religionsgesellschaften eine Konzessionierung oder Duldung erfahren hatten. Der Toleranzgedanke, der vor allem in Preußen im 18. Jahrhundert seine stärkste Ausprägung fand, und die Aufklärung und ihre Verankerung im Preußischen Allgemeinen Landrecht27 (1794) führten allmählich zu einer Beseitigung der Unterschiede zwischen den verschiedenen Stufen religionsgesellschaftlicher Gruppierungen. Im weiteren Verlauf der Aufklärung und der politischen und religiösen Toleranz wurde dann auch im 19. Jahrhundert vor allem aufgrund der „Paulskirchen-Verfassung“28 ein größerer Begriff religiöser Freiheit und damit die Verwendung des allgemeinen Begriffes „Religionsgesellschaft“ erreicht. So erfolgte eine Ausdehnung der Religionsfreiheit auch auf die Glaubens- und Kultusfreiheit der jüdischen Religion und mit der Weimarer Verfassung von 1919 die zusätzliche Erweiterung auch auf die Weltanschauung, also auf die nichtreligiöse oder areligiöse Gesellschaft. So gebraucht die Weimarer Verfassung in ihren staatskirchenrechtlichen Bestimmungen als regulativen Zentralbegriff nur den der „Religionsgesellschaft“ und nur dort, wo eine Abkehr vom traditionellen Staatskirchenrecht postuliert wird (Art. 137 Abs. 1 WRV) spricht sie von der Trennung von „Kirche“ und „Staat“. (Allerdings spricht Art. 137 Abs. 7 WRV von Vereinigungen, die sich die Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen.) Absatz 3 S. 2 der gleichen Bestimmung handelt dagegen wiederum von den Religionsgemeinschaften. Dennoch ist der Zentralbegriff in Art. 136 WRV und in Art. 137 Abs. 2 WRV derjenige der Religionsgesellschaft. Während das Grundgesetz mit der Übernahme der entsprechenden Artikel der Weimarer Verfassung in Art. 140 GG den Begriff der Religionsgesellschaft aufrecht erhalten hat,29 haben die Landesverfassungen in Deutschland nach 1945 und die Verfassungen der neuen Bundesländer nach 1990 den Begriff der Religionsgemeinschaft vorgezogen (dies hat auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 83, 341 ff getan). Auch in der Kommentarliteratur zum deutschen Verfassungsrecht hat sich teilweise die Meinung gezeigt, den Begriff der Gemeinschaft, weil er als Begriff der Stiftung das Wesen der Religion deutlicher mache, dem der Gesellschaft vorzuziehen. Damit würde nunmehr der Begriff der Gemeinschaft oder Religionsgemeinschaft als Oberbegriff angesehen werden.

27 Reinhart Koselleck, Preußen zwischen Reform und Revolution. Allgemeines Landrecht, Verwaltung und soziale Bewegung von 1791 bis 1848, Stuttgart 1987, z. B. S. 143 betont allerdings mehr die freigesetzte Dynamik des Allgemeinen Landrechtes, ohne die Aufklärungswirkung stärker zu betonen; immerhin erwähnt er die zugrunde liegende Idee des Allgemeinen Landrechtes, die er in der Umsetzung der Reformation sieht; Hans Hattenhauer (Hrsg.), Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794, 1970, S. 18 mit einem ausführlichen Zitat aus Ernst Klein, Annalen, 4. Band, 2. Auflage, 334. 28 Heinrich Scholler, Grundrechtsdiskussion in der Paulskirche. Eine Dokumentation, Darmstadt 1973, Darmstadt 1982. 29 Axel v. Campenhausen, Anm. C, II, 20 zu Art. 137 WRV.

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Teil 3: Toleranz

Für die soziologische Betrachtung allerdings dürfte dies keine entscheidende Rolle spielen, denn man wird hier nach Ferdinand Tönnies30 keinen grundsätzlichen, sondern nur einen funktionellen Unterschied sehen. Während die Gemeinschaft sich an den Kategorien Gesetz, Institution und Weisung orientiert, lautet das entsprechende Begriffsfeld der Gesellschaft: Vertrag, Meinung, Selbstverpflichtung und Mitteilung. Das Recht, den Status einer Körperschaft des öffentlichen Rechts zu erlangen, ist heute jeder Religionsgesellschaft oder Religionsgemeinschaft eingeräumt, was bereits in Art. 137 Abs. 5 S. 2 WRV zum Ausdruck gebracht wurde. Diese Frage wurde auch vom BVerfG in der Entscheidung über den Status der Jehova-Zeugen bestätigt.31 Man hat auch gemeint, den Unterschied zwischen Religionsgemeinschaften und Religionsgesellschaften darin zu sehen, dass letztere vor allem die neueren religiösen Gruppierungen, die man auch Minderheitenreligionen nennt, umfassen, weil diese im Gegensatz zu den Religionsgemeinschaften ein distanzierteres Verhältnis zum Staat zeigen würden. Ob damit den Großkirchen, die man auch gerne als geborene Körperschaften des öffentlichen Rechts bezeichnet, wirklich ein Gefallen getan wird, erscheint zweifelhaft. Denn die damit ausgesprochene Nähe der Institution Kirche als Religionsgemeinschaft zur Institution Staat als Bürgergemeinschaft wird gerade als Schwäche des Selbstverständnisses der Großkirchen verstanden und mit wachsender Distanzierung durch Loslösung oder Austritt dokumentiert. V. Vom Paritätsdenken zur Garantie des religiösen Pluralismus 1. Von der Religionszweiheit zum Religionspluralismus Nicht zu Unrecht hat die Staatsrechtslehre des beginnenden 20. Jahrhunderts davon gesprochen, dass die deutsche Religionsverfassung vor der Weimarer Verfassungsgarantie nicht Glaubensfreiheit, sondern nur Glaubenszweiheit garantiert habe. In dem Begriff der Glaubenszweiheit scheint nochmals die Formulierung der „spaltigen Religion“ auf. Die Weimarer Verfassung hat diesen Zustand beendet und das Grundgesetz tat einen weiteren Schritt. Sieht man andererseits den Unterschied zwischen den übernommenen Weimarer staatskirchenrechtlichen Artikeln und dem System der Religionsverfassung im Grundgesetz näher an, so stellt man fest, dass nicht mehr die Parität und Neutralität des Staates im Sinne einer hinkenden Trennung im Vordergrund steht, sondern die Öffnung der religiösen und weltanschaulichen Sphäre zugunsten des Pluralismus. Dies bedeutet eben gerade die Voranstellung des Art. 4 GG im Grundrechtsteil des Grundgesetzes und damit die Notwendigkeit, die strukturellen Regelungen der übernommenen Weimarer staatskirchenrechtlichen Vorschriften in diesem Licht zu interpretieren. Dann ist es aber sinnvoller, aus den verschiedenen Begriffen für die religiösen Gruppierungen, Gemeinschaften und Verei30 31

Tönnies, a.a.O.; Clausen / Schlüter[-Knauer] (Hrsg.). BVerfG, 2 BvR 1500/97 vom 19.12.2000.

P. Vom Augsburger Religionsfrieden bis zum Pluralismus der Religionen

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nigungen denjenigen der Religionsgesellschaften als Oberbegriff zu wählen. Damit rechtfertigt sich das Thema auch heute noch, oder gerade heute wieder, das auch die Großkirchen als solche als Gesellschaften in der Gesellschaft behandeln will. Dieser Begriff ist auch insofern fruchtbar für die Erklärung eines allgemeinen innerkirchlichen Wandels, der auch die Katholische Kirche betrifft. Die Kirche heute als Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft gliedert sich weiterhin in innergesellschaftliche Einheiten oder Strömungen. So schreibt der Freiburger Soziologe Michael Ebertz von der modernen innerkichlichen Strukturierung der katholischen Kirche wie folgt: „Wir haben ja faktisch innerhalb der Kirche verschiedene Kirchen, also Sozialform von Kirche, meine ich damit: Also wir haben die Kirche als Gnadenanstalt, …, als Dienstleistungsbetrieb, …, die pfarrgemeindliche Form des kirchlichen Lebens, …, andere kommuniale Formen, …, und wir haben die Kirche als Event, wo man nur zu Großereignissen geht und … Wir haben bereits Kirche im Plural.“32

Die Bedeutung der Voranstellung des Art. 4 GG i.V.m. der Garantie der Menschenwürde und dem Religiösen Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 GG liegt gerade in der Öffnung zum Pluralismus: Trotz religiöser, weltanschaulicher oder ethischer Minoritäten kommt aber gerade auch in dem Schutz der Kriegsdienstverweigerer in Art. 4 Abs. 3 GG zum Ausdruck, dass sowohl die objektiven Strukturen der Religionsfreiheit als auch die Ausdeutung des Grundrechtsgehaltes von dieser Positionierung des Grundrechtes in Art. 4 Abs. 1 ausgehen müssen. Die in Art. 4 garantierte religiöse weltanschauliche Freiheit ist nicht mehr identisch hinsichtlich der Garantien der Weimarer Verfassung, sondern wesentlich erweitert in Richtung auf Toleranz, Minderheitenschutz und Pluralismus. Nur durch eine solche Auslegung ist natürlich das sonst in einer traditionellen Interpretation verkrustete Grundrecht, mit seinen objektiven Strukturen der Neutralität, in Einklang zu bringen mit den neueren internationalen oder europäischen Grundrechtsgarantien. Dies gilt zunächst einmal in besonderer Weise für die europäische Grundrechtsgewährleistung durch die Europäische Charta der Menschenrechte, aber auch für internationale menschenrechtliche Garantien des religiösen Schutzes des Individuums in Verbindung mit der Entwicklung objektiver Toleranzprinzipien. Auch im Grundrechtsteil des nicht Verfassungsrecht gewordenen Verfassungsvertrages33, der aus der Grundrechtscharta stammt, ist der weite Begriff Religionsfreiheit im Sinne des Pluralismus rezipiert und garantiert worden.34 Dies gilt für die Bundesrepublik dort, wo sie solchen völkerrechtlichen In32

Michael Ebertz in der Sendung Katholische Welt des Bayerischen Rundfunks vom 8.10.06, Diagnose Milieuverengung von Hartmut Meesmann, Manuskript, 17. 33 Artikel 10 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union sieht die übliche Garantie für Glaubens-, Gewissens- und Bekenntnisfreiheit vor. Der Streit ging mehr um die Frage der Einfügung einer sogenannten „invocatio dei“, wie der fachlich nicht ganz korrekte Begriff in der Diskussion gebraucht wurde. 34 Heinrich Scholler, Toleranz und Fairneß als objektiver Schutzgehalt der Religionsfreiheit, in: Die neuen Inquisitoren – Religionsfreiheit und Glaubensneid Teil I, Hrsg. Gerhard Besier / Erwin K. Scheuch; Zürich 1999, 171.

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Teil 3: Toleranz

strumenten beigetreten ist und diese inzwischen in Kraft gesetzt wurden. Weiterhin bedeutet die Vorwegnahme des Art. 4 Abs. 1 bis 3 GG und ihre Einbettung zwischen Meinungsfreiheit und Diskriminierungsverbot in Art. 5 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 3 GG, dass auch die Toleranz gegenüber allen religiösen und weltanschaulichen Bewegungen und der religiöse Minderheitenschutz ein objektives Strukturelement des Verhältnisses Staat – Religion geworden sind. Das religiöse und weltanschauliche Diskriminierungsverbot in Art. 3 Abs. 3 GG entspricht der Reaktion gegen die nationalsozialistische Unterdrückung und Verfolgung bestimmter religiöser Minoritäten. 2. Neue Strukturelemente neben dem religiösen Individualismus Trotz der starken Individualisierung des religiösen Lebens und des entwickelten religiösen Pluralismus sind Strukturelemente umformuliert oder auch neu begründet oder verstanden worden. Hierzu gehören das Toleranzprinzip und das Fairnessgebot auf der einen Seite, die partnerschaftliche Interpretation des Trennungsprinzips (Nichtidentifikation) und ein institutionelles oder quasi-institutionelles Verständnis des religiösen Minderheitenschutzes. Für die Interpretation von Menschenrechten hat die moderne Rechtstheorie sowohl das Fairnessprinzip (John Rawls), als auch das Toleranzprinzip von Arthur Kaufmann35 als defensive Interpretationshilfen angeboten. Beide Prinzipien können zusammengefasst werden als Ausdruck des sogenannten „negativen Utilitarismus“. Das Fairnessprinzip bedeutet im Wesentlichen einen verstärkten Minderheitenschutz, weil die Vorteile und Nachteile einer intendierten Handlung gleich verteilt werden müssen. Es darf also nicht so gehandelt werden, dass alle Vorteile der Mehrheit und alle Nachteile der Minderheit aufgebürdet werden. Das Toleranzprinzip versucht die Handlungsgrundsätze dahingehend auszugestalten, dass Nachteile, Leiden und Behinderungen auf den kleinst möglichen Kreis beschränkt werden. Beide Prinzipien, das Fairnessprinzip und das Toleranzprinzip, bedeuten somit, dass die Grundrechte als Minderheitenschutz eine besondere Bedeutung auch dort haben, wo sie nicht ausdrücklich für Minderheiten konzipiert sind. Wie im Nachstehenden noch zu zeigen ist, hat die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts36 diesen beiden tragenden Prinzipien in seiner Interpretation im Wesentlichen entsprochen, indem aus dem Grundrecht sowohl der Minderheitenschutz, als auch das Toleranzprinzip herausgelesen wurden, indem das Gericht als objektive Strukturen sowohl das Wohlwollensgebot, als auch die Toleranzpostulate betont hat. Ob man nun das in der Bundesrepublik herrschende System der Trennung von Staat und Kirche ein hinkendes oder unvollständiges nennen will – immerhin ist hier ein Anliegen verwirklicht worden, das man mit dem von Herbert Krüger gepräg-

35

Arthur Kaufmann, Rechtsphilosophie, 2. Aufl. München 1997, S. 185 ff.; vgl. auch neuerdings John Rawls, Politischer Liberalismus, Frankfurt 1998. 36 BVerfGE 102, 270 ff.; 105, 309 ff.

P. Vom Augsburger Religionsfrieden bis zum Pluralismus der Religionen

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ten Ausdruck der „Nichtidentifikation“37 bezeichnen darf. Auch die Ausprägung des Asylrechtes in Deutschland entspricht diesem Verständnis einer toleranten öffentlichen Gewalt. Wenn man bestimmte Garantien, wie z. B. die der Kriegsdienstverweigerung in Art. 4 Abs. 3 GG, näher untersucht, liegt in ihr auch eine sogenannte quasi-institutionelle Garantie vor, welche durch die Schaffung eines staatlichen Apparates zur Erfassung und zum Einsatz der Kriegsdienstverweigerer deutlich in Erscheinung tritt. Auch das Postulat der schonenden Interpretation von Konflikten zwischen Gewissen und Gesetz, wie das vom Bundesverfassungsgericht formuliert wurde, ist Ausdruck eines institutionellen Begreifens einer nicht nur individuell zu interpretierenden Gewissensverfassung. VI. Schlussbemerkung Die Erinnerung an den Augsburger Religionsfrieden vor 450 Jahren ist nicht eine rein historische Reflexion, sondern entspringt auch mehr einem Bedürfnis, geistige und religiöse Grundlagen für eine neue europäische Rechtsgemeinschaft und Staatsverfassung zu entwickeln. Nicht von ungefähr war der Streit um die Grundrechte der Verfassung der Europäischen Union gerade mit Blick auf die Religionsfreiheit so politisch überzogen, weil hier immer wieder sich die alten Probleme mit neuen Fragen der Positionierung der Kirchen und der Religionsgesellschaften in Europa gestellt haben. Auch bei der Diskussion um die Neuformulierung des Grundgesetzes im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung hat die religiöse Frage eine besondere Rolle gespielt, weil die Bezugnahme auf Gott in der Formulierung „in der Verantwortung vor Gott …“ aus rein laizistischer Sicht beseitigt werden sollte. Aber auch die Schaffung eines europäischen Friedenspreises in Erinnerung an den Westfälischen Frieden von 1648 und seine Verleihung im Jahre 2006 an den ehemaligen französischen Staatspräsidenten Giscard dEstaing, den wesentlichen Mitgestalter des europäischen Verfassungsentwurfes, sind deutliche Zeichen des Bewusstseins, dass das Ringen um religiöse Freiheit und um Vielgestaltigkeit des religiösen Lebens auch heute noch zentrale Anliegen des Staates und der öffentlichen Gewalt sind. Heute um so mehr, muss man hinzufügen, weil eine wachsende religiöse Intoleranz durch den Terrorismus die errungene Freiheit zu bedrohen beginnt. Von außen gesehen wird die Kirche als Gesellschaft innerhalb der Gesellschaft eine bessere Position haben, als wenn sie in eine Rolle der Konfrontation oder der Marginalisierung gedrängt würde. Ihr inneres Selbstverständnis als das ganz andere – um einen Begriff von Karl Bart auf die Kirche zu übertragen – ist von ihrer äußeren Rolle nicht berührt.

37

Herbert Krüger, Allgemeine Staatslehre, 2. Aufl., Stuttgart 1966, S. 178, 528 und 542.

Teil 4 Auf dem Weg nach Europa und das Problem der Globalisierung

Q. Europa und das Problem der Globalisierung des Rechtes heute I. Einleitung Der Begriff der Globalisierung soll hier als der Prozess bezeichnet werden, der sich schon seit längerer Zeit, nicht nur in Europa, sondern weltweit abspielt und der dadurch gekennzeichnet ist, dass bestimmte Rechtsordnungen, also Teile von Rechtssystemen oder Rechtsfamilien, aus ihrem Ursprungsland in ein anderes Gebiet eines souveränen Staates transferiert werden. Mit dieser Definition sind alle kolonialen Globalisierungen, also der Octroi1 des Rechtes des Mutterlandes in Teilen der Kolonien (rechtlicher Pluralismus) oder in der gesamten Kolonie von der Betrachtung ausgeschlossen. Allerdings muss man sich auch bewusst sein, dass der hier angesprochene „freiwillige Globalisierungsprozess“ unter bestimmten wirtschaftlichen Zwängen steht. Dieser wirtschaftliche Zwang wird zum Teil durch die finanziellen Kontrollmechanismen der Weltbank und des Weltwährungsfonds oder der WTO ausgelöst. Die nationalen oder regionalen Währungskrisen und ihre Sanierungen und der Wunsch nach Investment, sowie Kapitaleinfuhr stellen ein weiteres Druckmittel zur Angleichung des Wirtschaftsrechtes dar. Die Zwänge wirken natürlich auch in den europäischen Staaten und somit auch in den Mitgliedsstaaten der EU, doch gibt es in der EU ein legales Instrument oder doch wenigstens einen legalen Prozess, der zu einer Globalisierung des Rechtes in Europa führt. Dies ist selbstverständlich für das primäre Europarecht per Definition, gilt aber auch für das sog. sekundäre Europarecht und darüber hinaus auch für solche Rechtsgebiete, die nicht den Richtlinien der EU unterliegen. Vor allem gilt dies für die Gebiete des Handels- und Wirtschaftsrechtes, aber auch für das Gebiet des Strafrechtes, des Umweltschutzes und eines einheitlich europäischen Grundrechtskataloges. In Bezug auf den europäischen Grundrechtskatalog, d. h. den Grundrechtskatalog der Europäischen Union, muss bemerkt werden, dass die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte (EMRK)2 und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg keine Grundrechtsgarantie der Europäischen Union, sondern des Europarates darstellen. Für die Europäische Union gibt es keinen eigenen Grundrechtskatalog, sondern nur einzelne die Wirtschaft betreffende Grundrechte in den Verträgen, insbesondere im Maastricht-Vertrag und auch im Amsterdamer Vertrag.3 Von der Rechtsprechung des europäischen Ge1 Von der Verwaltung einseitig erzwungene Maßnahme, urspr. Bewilligung von Privilegien, später als Binnenzoll erhobene städtische Verbrauchsabgabe auf eingeführte Lebensmittel. 2 EMRK vom 4.11.1950. 3 Siehe hierzu: Maastrichter Vertrag vom 7. 2. 1992 sowie den Amsterdamer Vertrag vom 2.10.1997.

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Teil 4: Auf dem Weg nach Europa und das Problem der Globalisierung

richtshofes (EuGH) in Luxemburg wird allerdings gelegentlich die EMRK analog für die EU herangezogen oder sich auf ein ius commune europäischer Grundrechte als Gewohnheitsrecht berufen. Insofern ist die Frage noch offen, ob ein solches ius commune der Menschenrechte ausreicht, oder ob nicht doch im Rahmen einer Globalisierung europäischer Menschenrechte die EU einen solchen Katalog aufstellen soll.4 Versteht man die Schaffung europäischer Rechtseinheit als einen Vorgang der Harmonisierung oder Gewährleistung, liegt nicht der übliche Fall der Globalisierung vor, obwohl schon im Rahmen Europas der Zustand der Rechtsvereinheitlichung angestrebt wird. Dieser Vorgang der Harmonisierung ist in jedem Bundesstaat mehr oder weniger erkennbar. Das Grundgesetz hat in Artikel 72 Abs. 2 dem Bund auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung, also da, wo Bund und Länder gemeinsam gleiche Kompetenzen haben, den Vorrang dann eingeräumt, wenn dies aus Gründen der Rechtseinheit und der Wirtschaftseinheit erforderlich ist.5 Darüber hinaus sind nach dem Grundgesetz über Art. 28 Abs. 1 die Bundesländer dazu angehalten, auf dem Gebiet der rechtsstaatlichen und sozialen Demokratie Homogenitätsvorschriften zu schaffen. Allerdings ist dieses Globalisierungsgebot unproblematisch, weil die gekennzeichneten Vergleiche relativ begrenzt sind. Im Nachfolgenden soll unter Globalisierung ein anderer Prozess verstanden werden, der sowohl innerhalb der EU als auch außerhalb stattfindet. Danach wäre unter Globalisierung im engeren Sinne das Eindringen europäischer Rechtssysteme oder Rechtsteilordnungen zu verstehen, was als Ergebnis des wirtschaftlichen Angleichungsprozesses angesehen werden musst. Da solche Angleichungsprozesse in der Regel nicht ohne Druck von außen stattfinden, ist in diesem Systemzwang das eigentliche Problem zu sehen. Insofern handelt es sich bei den beiden Globalisierungsvorgängen um Systemzwänge, die teils außengesteuert, teils system-innengesteuert ablaufen. Zu den Beispielen der Globalisierung durch Außensteuerung zählt die Einwirkung des angloamerikanischen Rechtes, während das typische Beispiel für die Globalisierung durch Innensteuerung die Auswirkungen des römisch-kanonischen Rechtes sind. Zwischen beiden Formen kann man noch eine dritte Form erkennen, die ich hier als Binnensteuerung bezeichnen möchte. Hier spielt vor allem die Einwirkung des Europarechtes auf die zur EU gehörenden Länder eine besondere Rolle. Deshalb soll auch die Globalisierung durch die Richtlinien und Gesetze der EU als drittes Fallbeispiel oder als dritter Typus behandelt werden. Die Einwirkung des EU-Rechtes auf die Mitgliedstaaten zeigt natürlich solche Strukturen, die man eigentlich der Außensteuerung zuordnet, aber auch solche, die man als Innensteuerung bezeichnen möchte. Da beide Elemente hier zusammenwirken, ist es richtiger, die Situation der EU als einen „Sondertypus der Steuerung“ zu

4 Siehe hierzu Siegbert Alber / Ulrich Widmaier, Die EU Charta und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 497 ff. 5 Siehe hierzu Michael Sachs, Grundgesetz Kommentar, München 1999, Art. 72, Rdz. 10 ff.

Q. Europa und das Problem der Globalisierung des Rechtes heute

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behandeln und als Binnensteuerung zu bezeichnen.6 Damit ist gemeint, dass die beiden Elemente der Außensteuerung und der Innensteuerung bei dieser besonderen Form der Einwirkung zusammenfallen.

II. Die binnengesteuerte Globalisierung in Europa 1. Die europäischen Rechtsfamilien Die EU verfügt eigentlich nur über zwei grundsätzlich differenzierte Rechtsfamilien oder Rechtssysteme, nämlich das englische Common Law und das mitteleuropäische römisch-germanische Recht. Natürlich lassen sich vom römisch-germanischen Recht weitere Rechtsfamilien aussondern, und zwar die Familie des lateinischen Rechtes, wozu Frankreich, Spanien, Portugal und Italien gehören, und die des nordischen Rechtes, wozu sich die skandinavischen Länder zählen.7 Die Familie des sozialistischen Rechtes spielt in West- und Mitteleuropa keine Rolle und würde auch bei der Erweiterung der EU nach Osten durch die Aufnahme von Polen, Tschechien und Ungarn bedeutungslos bleiben, da die sozialistische Rechtsfamilie mit der Wende von 1989 mehr oder weniger ein Auslaufmodell darstellt. Islamisches Recht und Gewohnheitsrecht spielen im Bereich der EU eine geringe Rolle. Die beiden großen Rechtsfamilien des Common Law und des römisch-germanischen Rechtes haben für die EU-Organe der Gesetzgebung nebeneinander große Bedeutung. Das Richterrecht spielt auch im deutschen Recht eine zunehmend wachsende Rolle, weil die Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit dem case law ein weites Feld geöffnet hat. Insofern ist es auch für den europäischen Gerichtshof in Luxemburg von Bedeutung, der durch case law neben das eigentliche Gesetzgebungsorgan der europäischen Union treten wird. 2. Die Umsetzung der EU-Richtlinien als Binnensteuerung a) Das Problem der Umsetzung der europäischen Richtlinien Die EU-Richtlinien werden allerdings von den Mitgliedsländern der EU in Rechtsvorschriften umgesetzt. Das bedeutet für die Rechtsfamilien, die sich aufgrund des römisch-germanischen Rechts entwickelt haben, Umsetzung durch Parlamentsgesetze. Der Mechanismus des Rechts bleibt demnach der Gleiche. 6 Heinrich Scholler, Die Entwicklung der Lehre von den Rechtsfamilien und Rechtssystemen, Vorwort, in: Die Bedeutung der Lehre vom Rechtskreis und der Rechtskultur, in: Zeitschrift für Vergleichende Rechtswissenschaft (ZVR) 2000, S. 373 – 386, in (chinesisch): Law Review of Chung-Chen University, 3rd Vol., Juli 2000, S. 223 – 235. Ders., Die rechtlichen Rahmenbedingungen für den Übergang der Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft, in: Symposium „Regierung Markt Recht“ (Hrsg. Hanns-Seidel-Stiftung), Peking 2001. 7 Ingeborg Berggreen, Die „dissenting opinion“ in der Verwaltung, Berlin 1972. Konrad Zweigert / Hein Koetz, Einführung in die Rechtsvergleichung auf dem Gebiete des Privatrechts, Tübingen Bd. 1, 3. Aufl. 1996, Bd. 2, 2. Aufl. 1984.

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Teil 4: Auf dem Weg nach Europa und das Problem der Globalisierung

Es wird daneben nicht dazu kommen, dass die Gerichte der Mitgliedsländer eine Befugnis erhalten, wie sie die Common Law-Gerichte in England haben. Allerdings wird der europäische Gerichtshof in Luxemburg im stärkeren Maße rechtsfortbildend wirken. Die Frage, wie in Großbritannien die Umsetzung der Richtlinien erfolgt und inwieweit die Gerichte eher eine Rolle spielen, soll hier offen gelassen werden. Es ist aber wohl voraussehbar, dass auch in Großbritannien die Umsetzung immer mehr durch Statute Law, also durch das Parlament und Parlamentsrecht folgen wird.

b) Probleme bei der Rechtsbildung Im Rahmen der Rechtsbildung in den Staaten der Europäischen Union steht im Vordergrund die Frage nach der Kompatibilität der beteiligten Normensysteme. Um eine gemeinsam fortschreitende Rechtsbildung zu gewährleisten, steht auf Grund der verschiedenartigen Rechtssysteme nur das Instrument der Rechtsangleichung zur Verfügung. So ist z. B. die Entwicklung eines europäischen Privatrechtes in vollem Gange. Dies ist vor allem sichtbar an der Liste der schuldrechtlichen EWG-Richtlinien. Zu nennen sind hier vor allem die Produkthaftungsrichtlinie, die Verbraucherkreditrichtlinie, die Verbraucherschutzrichtlinie und die erst in Kraft getretene Fernabsatzrichtlinie.8 Auch im Gesellschaftsrecht zeichnet sich eine derartige Entwicklung ab. So hat die Verordnung über die europäische wirtschaftliche Interessenvereinigung eine supranationale Gesellschaftsform geschaffen. Auch die Europäisierung des Vertragsrechts schreitet fort, wie der europäische Kaffee-Kontrakt und der europäische Kartoffel-Vertrag zeigen. Diese Vereinheitlichung auf dem Gebiet des Privatrechtes hat jedoch einen Dämpfer erfahren. Obwohl die Vereinheitlichung gerade in Spezialgebieten des Privatrechtes weiter zunimmt, so ist doch eine gegenläufige Tendenz auf dem Gebiet einer umfassenden Vereinheitlichung des Privatrechtes zu erkennen. Dies liegt vor allem daran, dass in der Anfangszeit der Rechtsvereinheitlichung die nationalen Rechtsordnungen ein Reservoir für das bestehende Normendefizit darstellten und so die Systembildung vorantrieben. Mit der fortschreitenden Entwicklung des Gemeinschaftsrechtes zeichnen sich aber nun Rückwirkungen auf die nationalen Rechtsordnungen ab. So müssen die Vorteile der Vereinheitlichung des Rechtes durch „Anschaffungskosten“ für das neue Recht bezahlt werden. Dies zeigt sich daran, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten umfassende Reformen auf nationaler Ebene durchführen müssen, um die Ziele der Rechtsvereinheitlichung zu erreichen. Diese Einmischung in das nationale Recht stößt daher immer mehr auf Widerstand. Die Probleme der neuen Bildung von Recht lassen sich neben dem Beispiel des europäischen Einigungsprozesses auch am Aufbau nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime zeigen. Auch hier war zu beobachten, dass anfangs auf die sozialistisch begründeten Vorbehalte des alten Rechts gegenüber der Neuordnung des Rechts Rücksicht genommen werden musste. Diese Neuordnung konnte auch 8

Diese wurden zunächst spezialgesetzlich geregelt, später durch die Schuldrechtsreform.

Q. Europa und das Problem der Globalisierung des Rechtes heute

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nicht bei Null anfangen. So musste zunächst an der funktionierenden Ordnung festgehalten werden und dann mittels Expertenwissen und in der Praxis erprobter Gesetze und Gesetzgebungstechniken zuerst die Rahmenbedingungen für eine neue Normenordnung geschaffen werden. So weit diese ersten rechtlichen Hilfestellungen erfolgreich waren, kann jedoch die Aufbauarbeit als noch nicht beendet angesehen werden. Die Hilfestellungen haben weiterführend zu erfolgen, um möglichst nicht nur gemeinsame oder ähnliche Gesetze zu schaffen, sondern in erster Linie eine gemeinsame Rechtskultur. Auch hieran ist zu sehen, dass eine neue Rechtsordnung nicht einfach übergestülpt werden, sondern eine Entwicklung der neuen Rechtsordnung lediglich durch Impulse und Weichenstellungen eingeleitet werden kann. Möglicherweise wird das Ziel einer einheitlichen europäischen Rechtsordnung am besten dadurch erreicht werden, dass man nach den Grundlagen einer supranationalen Rechtskultur sucht. Als Anknüpfungspunkt ist hier in Europa, wie bereits eingangs dargestellt, z. B. an das römisch-kanonische ius commune9 zu denken. Auch scheint der frühere Gegensatz zwischen der Rechtsfindung anhand von Präjudizien und dem Gesetzesdenken langsam fließend zu werden.10 Während im anglo-amerikanischen Rechtskreis Gesetze zunehmen, gewinnen bei der kontinental-europäischen Rechtsfindung Fälle immer mehr an Bedeutung.

3. Mechanismen gegen die innereuropäische Globalisierung Allerdings hat sich im Europarecht eine Reihe von rechtlichen Mechanismen entwickelt oder ist vom Europarecht übernommen worden, die eine zu intensive innereuropäische Globalisierung hemmen oder ausschließen soll. Dazu gehören einmal das Subsidiaritätsprinzip, aber auch die Deregulierung und die Privatisierung. Deregulierung und Privatisierung sind im Grunde genommen nicht originäre Mechanismen zur Gegensteuerung gegen die innereuropäische Globalisierung, sondern Instrumente zur Stärkung der Zivilgesellschaft. Durch die Überführung von Staatseigentum in private Hand und die Reduktion der Normenflut sollen an die Stelle der hoheitlichen Gewalt die Privatinitiative und der schlanke Staat oder das Lean Management treten.11 Mittelbar haben aber die Deregulierung und Privatisierung eine ähnliche Wirkung wie das Subsidiaritätsprinzip. Sie unterscheiden sich allerdings dadurch, dass das Subsidiaritätsprinzip durchaus mit einem nicht deregulierten System und einem nicht privatisierten verbunden werden kann. Es besagt nämlich nur, dass die kleinere Einheit an die Stelle der größeren politischen Einheit treten soll, wenn die kleinere Einheit in der Lage ist, mit gleicher Effektivität die Aufgaben zu erfüllen, 9 Heinrich Scholler, Vorwort in: Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien, Baden-Baden 1996. 10 Karin L. Pilny, Präjudizienrecht im anglo-amerikanischen und im deutschen Recht, Baden-Baden 1993. 11 Lean Management wird im Deutschen im Bereich des öffentlichen Rechts in jüngster Zeit mit „schlanker Staat“ übersetzt, kritisch dazu: Wulf Damkowski / Claus Precht, Public Management, Stuttgart 1995, S. 179 ff.

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Teil 4: Auf dem Weg nach Europa und das Problem der Globalisierung

die bisher die größere politische Einheit erfüllt hat. Das Subsidiaritätsprinzip, das ursprünglich dem EU-Recht fremd war, ja das viele europäische Rechtsordnungen auch nicht kannten, ist nunmehr im Europarecht verankert.12 Ein treffendes Beispiel für den Widerstand gegen die Binnensteuerung, also die Globalisierung im Rahmen der EU-Gesetzgebung, stellt das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur so genannten Fernsehrichtlinie dar.13 Im Wesentlichen ging es darum, ob die EU kompetent sei, auf Grund von Vorschriften über das gemeinsame Wirtschaftsrecht eine einheitliche Rundfunk- und Fernsehzone für alle Mitgliedstaaten zu schaffen. Dies würde bedeuten, dass auf Grund des EU-Rechtes in die kulturellen Beziehungen und in die Bereiche auch der Staaten eingegriffen werden könne, bei welchen die Kulturhoheit vom Zentralstaat in die Gliedstaaten verlagert worden ist. Konkreter Inhalt der EG-Rundfunk- und Fernsehrichtlinie war es, die Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten hinsichtlich der so genannten Programmquoten (Anteile der Fernsehproduktionen aus der Gemeinschaft in den Programmen der Fernsehveranstalter), der Weiterverbreitung von Spielfilmen, über Inhalt und Dauer der Fernsehwerbung und ähnliche Aspekte anzugleichen. Die Ministerpräsidenten der Länder wie auch der Bundesrat lehnten eine Zustimmung zu dieser Richtlinie ab. Begründet wurde diese Ablehnung vor allem mit der fehlenden Kompetenz der Gemeinschaft, die diese Richtlinie auf die Dienstleistungsfreiheit gestützt hatte. Die Bundesregierung beschloss dennoch, der besagten Richtlinie grundsätzlich zuzustimmen, nicht zuletzt auf Grund der Tatsache, dass Fernsehsendungen nach ständiger Rechtsprechung des EuGH Dienstleistungen seien und deshalb die Kompetenz der EU aus Art. 49 EG (Dienstleistungsfreiheit) ausreiche. Die Bayerische Staatsregierung erhob sodann Klage beim BVerfG und beantragte die Feststellung der Verfassungswidrigkeit des Kabinettsbeschlusses der Bundesregierung. Gerügt wurde ein Verstoß gegen Art. 30 GG. Der Bund habe nicht das Recht, auf EG-Ebene über die den Ländern zustehende Rundfunkhoheit zu verfügen. Es sei keine Bundeskompetenz eingeräumt, nur aufgrund der Tatsache, dass es die Bundesregierung ausreichen lasse, dass lediglich bei leichter wirtschaftlicher Berührung in der Sache die Frage auf EU-Ebene zu entscheiden sei. Dies werde auch nicht durch Art. 24 GG gedeckt, da diese Vorschrift keine Neuordnung der bundesstaatlichen Kompetenzen erlaube. Obwohl die Bundesregierung entgegnete, dass es sich bei der Quotenregelung nur um einen Randbestandteil der Richtlinie handele, der lediglich die Verbindlichkeit einer politischen Erklärung der Mitgliedstaaten beizumessen sei, erblickte das BVerfG hierin eine Verfassungsverletzung. 12

Artikel 5 EG. BVerfG, Urteil vom 22. März 1995, 2 BvG 1/89, BVerfGE 92, S. 203 ff., AfP 1995, S. 483 ff.; vgl. auch die Besprechungen von Peter Lerche, Konsequenzen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes zur EG-Fernsehrichtlinie, AfP 1995, S. 632 ff. und G. Memminger, Bedeutung des Verfassungsrechtsstreits zur EG-Rundfunkrichtlinie, DÖV 1989, S. 846 f. 13

Q. Europa und das Problem der Globalisierung des Rechtes heute

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Im Wesentlichen ergibt sich das Problem aus dieser Zusammenfassung des Sachverhaltes, wie er sich auf Grund der Klage Bayerns dem Bundesverfassungsgericht im Jahre 1989 darstellte, wobei die Entscheidung erst im Jahre 1994 erging. Die Entscheidung bedeutet, dass über kulturelle Angelegenheiten in Fragen von Rundfunk und Fernsehen nicht ohne Mitwirkung der dezentralen Einheit entschieden werden kann. Damit wird der Pluralität der kulturellen Verhältnisse an der Basis größerer politischer Einheiten Rechnung getragen. Über die Frage der Anwendbarkeit oder der Benutzbarkeit lokaler Sprachen dürfte selbstverständlich nicht ein Einheitsstaat entscheiden, ohne dass er die Mitwirkung der dezentralen kulturellen Einheit vorher veranlasst hat. Das französische Beispiel der Zulassung der korsischen Sprache und des Widerstandes der Pariser Zentralverwaltung14 zeigt, dass gerade ein Einheitsstaat größte Schwierigkeiten mit dem Verständnis der Pluralität der lokalen Kulturen hat. Zurückgekehrt zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts ist jedoch Folgendes anzumerken: Zum Zeitpunkt der Entscheidung hatte das Grundgesetz bereits Art. 23, der seit dem 31. 08. 1990 die Mitwirkung der Bundesländer bei der Entwicklung der EU regelt15, neugefasst. Diesem ist schon insofern Rechnung getragen, indem es ein gezieltes Verfahren der Partizipation vorschreibt, sodass die Ländervertreter bei der Vertretung des Bundes gegenüber der EU beteiligt werden müssen. Folgendes ist hier aus dem Urteil hervorzuheben: der Grundsatz, dass die sogenannte Querschnittskompetenz, d. h. die Verbindung einer Sachkompetenz der Wirtschaft mit der Sachkompetenz Kultur, des Rundfunks und Fernsehens, der Bundesautorität nicht die Befugnis verleiht, schleichend in die Zuständigkeit der Länder einzugreifen. Es besteht also ein Verbot der schleichenden Kompetenzveränderung. Die Quotenregelung ist ein solches Instrument, das mit Hilfe des sogenannten Sachzusammenhanges oder der Natur der Sache in die kulturellen Beziehungen der Länder eingreifen würde. 4. Das kanonische Recht als Grundlage einer innereuropäischen Globalisierung (Innensteuerung)? Der Blick zurück zum kanonischen Recht gilt einer Darstellung der Weiterentwicklung der Rolle des römisch-kanonischen Rechtes für die heutige Geltung einheitlicher Rechtsprinzipien. Gleichzeitig richtet sich aber der Blick nach vorne, hat doch das Europäische Parlament vor einiger Zeit den Beschluss gefasst, die Grundlagen für ein einheitliches europäisches ziviles Recht zu erarbeiten.16 Diese Grundlagen sollen für ein Europa erstellt werden, das sowohl vom angelsächsischen Common Law als auch vom römisch-germanischen Rechtskreis geprägt wurde. Mit Recht hat Peter

14

Romain Leick, Gesetz des Schweigens, Spiegel Nachrichtenmagazin 36/2000, S. 206 f. Siehe z. B. Sachs (Fn. 5), Art. 23 Rdz. 90 ff., Ondolf Rojahn, in: Ingo v. Münch / Philip Kunig, Grundgesetz Kommentar, München 2001, Art. 23 Rdz. 55 ff. 16 Siehe oben Scholler, Die Bedeutung des kanonischen Rechts (Fn. 11). 15

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Teil 4: Auf dem Weg nach Europa und das Problem der Globalisierung

Landau17 betont, dass auch innerhalb des römisch-germanischen Rechtskreises zwei Entwicklungslinien deutlich zu unterscheiden sind, nämlich die römische und die germanische, oder um es an Personen festmachen zu können, auf Papinian und Kaiser Justinian einerseits und auf Eike von Repgow andererseits zurückgehend. Dabei kann die Thematik so verstanden werden, dass es um die Darstellung von solchen allgemeinen Rechtsprinzipien gehe, die weder auf das römische noch auf das germanische Recht allein zurückgeführt werden können. Allerdings wird häufig das kanonische Recht als Fortsetzung des römischen Rechtes betrachtet, ähnlich wie Thomas Hobbes die römisch-katholische Kirche als den aus dem Grab des römischen Reiches entwichenen römischen Geist ansah. Peter Landau betont mit Recht, dass den Umstand, dass die christliche Kirche ein eigenständiges Rechtsdenken entwickelt hat, das sich weder von den paganen Römern, noch von den Germanen herleiten lässt und das die europäische Rechtsgeschichte maßgeblich geprägt hat, zu Unrecht verkannt wird. So ist die Darstellung des kanonischen Rechtes gleichzeitig auch ein Beitrag zur Rolle der christlichen Kirche in der Rechtsgeschichte Europas. Gerade wegen dieser weitreichenden Bedeutung des kanonischen Rechtes sollten auf jener Tagung18 aus den gewichtigsten Ländern und Rechtsbereichen Wissenschaftler zu Wort kommen, die die Entwicklung im kontinentalen Raum (Deutschland, Frankreich und Italien) wie im angelsächsischen Raum (England und die USA) darstellen sollten. Hierin sollte nicht nur eine Klammer innerhalb der europäischen Union zu erkennen sein, sondern eben der Brückenschlag auch über den Kanal gemacht werden. Man mag hier den Vorwurf machen, dass eine solche Darstellung mehr der Rechtsgeschichte verpflichtet sei als der aktuellen Rechtsvergleichung. Einen solchen Gegensatz können wir jedoch nicht erkennen, da Rechtsvergleichung ohne rechtshistorische Fundierung nicht sinnvoll und möglich ist. Allerdings zeigen Komparativisten, wenn sie kodifikatorische Vorschläge machen, wenig Neigung, ihre Formulierungen rechtshistorisch zu begründen. Ein treffendes Beispiel hierfür ist der Ethiopian Civil Code, den Ren David Ende der 50er Jahre entworfen hat und der bis zum heutigen Tag Grundlage des äthiopischen Privatrechtes ist. In seinen Einzelbegründungen zum Obligationenrecht verweist er immer nur auf die bestehenden europäischen Zivilgesetzeswerke einschließlich der libanesischen und ägyptischen Codices.19

17 Peter Landau, Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien, in: Die Bedeutung des kanonischen Rechts für die Entwicklung einheitlicher Rechtsprinzipien, Hrsg. Heinrich Scholler, Nomos, Arbeiten zur Rechtsvergleichung, Bd. 177, Baden-Baden 1996. 18 Tagung bzgl. der Bedeutung des kanonischen Rechtes der Arbeitsgruppe 6 der Gesellschaft für Rechtsvergleichung von 1995. 19 Ren David, Commentary on Contracts in Ethiopia, Faculty of Law Haile Sellassie I. University.

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Reinhard Zimmermann hat in dieser Hinsicht seinem schönen Artikel20 eine Bemerkung vorausgeschickt, aus der Folgendes zitiert werden soll: „Eine unserer großen Gegenwartsaufgaben liegt in der Entwicklung eines europäischen Zivilrechts. Dabei bedarf es, jedenfalls zunächst, keineswegs einer alle Teilbereiche umfassenden Kodifikation, sondern der Europäisierung der weithin zur Landesjurisprudenz herabgekommenen Rechtswissenschaft in Forschung und Lehre. Von zentraler Bedeutung ist die Berufung auf die gemeinsamen historischen Grundlagen unserer modernen Zivilrechtsordnungen.“

III. Indigenisierung als Gegensteuerung zur Globalisierung 1. Das Recht als soft power Der Prozess der Globalisierung des Rechtes der EU ist noch in vollem Gange. Dies beweisen die vielen Bemühungen um einheitliche europäische Kodifizierung. Der stärkste Beweis für die theoretische Stärke dieses Prozesses ist die Behauptung oder der Glaube daran, dass es ein europäisches öffentlich-rechtliches Gewohnheitsrecht gebe. Diese Behauptung wird vor allem in Hinsicht auf die fundamentale Frage der einheitlichen Grundrechtsgeltung aufgestellt. Allerdings sind auch schon seit längerer Zeit gegenläufige Bewegungen erkennbar. Solche gegenläufigen Bewegungen kann man vor allem im Postulat des Subsidiaritätsprinzips erblicken, da mit ihm mitunter nicht nur funktionell die Vorhand der kleineren politischen Einheit gefordert wird, sondern dahinter steht eben doch ein der Globalisierung entgegentretender Prozess der Indigenisierung. Bevor dieses Problem der Indigenisierung behandelt werden soll, ist noch unter Bezugnahme auf Joseph Nye, den Samuel Huntington in seinem Werk über Clashes of Civilisations21 rezitiert, der Unterschied zwischen sanfter und harter Macht (soft and hard power) zu machen. Die dominierende Kultur dringt mit Sprache, Lebensauffassung und Lebensstil weit über den eigenen Kulturkreis hinaus in andere Kulturen ein.22 Dies bezeichnet Nye als sanfte Gewalt, welcher aber immer die harte Gewalt in der Gestalt der wirtschaftlichen Expansion und Kontrolle folgt. Wohin gehören nun die Rechtsordnung oder einzelne Elemente derselben, die aus ihrem jeweiligen Ursprungsland in fremde Kulturwelten hinein transferiert werden. Sind sie Teil sanfter oder Teil der harten Gewalt? Sie gehören, und das ist Teil des Problems, beiden Sphären an. Die elementaren Grundsätze des Rechtes, wie die Vertragstreue, die Grundsätze des römischen Rechtes, wie das suum cuique tribuere, neminem laedere und honeste vivere, gehören zur sanften Gewalt und bereiten damit auch das Einbrechen der harten Gewalt in der Gestalt des Wirtschaftsrechtes, des Banken- und Gesellschaftsrechtes, des Investmentrechtes, des Handelsrechtes,

20 Reinhard Zimmermann, Das römisch-kanonische Jus Commune als Grundlage europäischer Rechtseinheit, JZ 1992, S. 8 ff. 21 Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen (deutsche Ausgabe), 4. Aufl. München 1997, S. 156 ff. 22 So ist ein Beispiel für China der dortige große Erfolg des Filmes „Titanic“.

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Teil 4: Auf dem Weg nach Europa und das Problem der Globalisierung

ganz allgemein vor. An dieser Stelle möchte ich ein wörtliches Zitat von Samuel Huntington bringen: „Nye sieht ein breites Umsichgreifen von harter Macht in der Welt. Die großen Nationen sind weniger als in der Vergangenheit imstande, ihre traditionellen Machtressourcen zur Erreichung ihrer Ziele einzusetzen. Sind jedoch Kultur und Zivilisation eines Staates attraktiv, sind andere eher bereit einer Führung zu folgen und daher ist sanfte Macht genau so wichtig wie harte Befehlsmacht.“23

2. Die Globalisierung im Rahmen der EU als wichtige Triebfeder, auch die Tendenz, die Hegemonie eines nationalen Rechtssystems abzuwehren Diese hegemonialen Tendenzen gehen natürlich als sanfte Macht wiederum von der wirtschaftlichen Potenz aus und sind daher eher als Gefahr anzusehen, die auch vom römisch-germanischen Recht ausgehen könnte. Zwar stellt auch das Common Law Englands eine Bedrohung dar, doch ist die Reproduktion und Übernahme des Common Law durch europäische Gerichtsbarkeit von der kontinentalen Tradition der Rechtsetzung der Parlamente her ausgeschlossen. Immerhin könnte die lateinische Rechtsfamilie, angeführt von Frankreich, ebenfalls einen gewissen Globalisierungsdruck ausüben. Doch spricht die führende Rolle der französischen Sprache neben der englischen für einen Vorteil im Rahmen der Ausübung sanfter Gewalt. Da sich aber die drei wichtigen europäischen Rechtsfamilien, das Common Law, die römisch-germanische und die lateinische Rechtsfamilie sozusagen in Schach halten, wird der Globalisierungsdruck verstärkt. Eine gewisse Angst vor der Germanisierung des europäischen Rechtes besteht auch und wird eher dadurch verstärkt, wenn Chirac bei seinem Besuch in Berlin von Deutschland als der „grande ou mondial pouvoir“, also einer Groß- oder Weltmacht gesprochen hat. 3. Ansätze einer innereuropäischen Indigenisierung? Das mehrfach zitierte Werk von Huntington beschreibt die Gefahr der Asiatisierung oder Sinisierung, Japanisierung usw. der einmal übernommenen westlichen Rechtstraditionen mit sehr eindrücklichen Worten. Er verbindet dies auch mit den Persönlichkeiten, wie Banderaneike (Sri Lanka) oder Präsident Li (Singapore). Die Indigenisierung besteht darin, dass die überkommene westliche Rechtskultur, so z. B. die japanische, einem Prozess der Neutralisierung durch Übernahme oder Wiederaufgreifen traditioneller Rechtsvorstellungen unterworfen wird. Solche Tendenzen sind tatsächlich auch in der EU, insbesondere in Deutschland, bereits erkennbar. Viele Elemente eines globalisierten Rechtes stoßen auf Unverständnis oder Ablehnung. Dies reicht von relativ unkritisierten Übernahmen wie beim Filmsponsoring zur vergleichenden Werbung bis hin zu außerordentlich kritisch beurteilten Reduk23

Huntington (Fn. 21), S. 157.

Q. Europa und das Problem der Globalisierung des Rechtes heute

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tionen der Standardisierung im Lebensmittelrecht und der Genveränderung von Pflanzen und Tieren. Ein Beispiel, das zwischen diesen Extremen liegt, ist der von der EU verfügte Eingriff in die Kulturhoheit der deutschen Rundfunk- und Fernsehanstalten. Eine gewisse Formierung hat die innereuropäische Indigenisierung dadurch erfahren, dass man heute weniger von den Regionen oder vom Europa der Regionen spricht, dafür sehr viel mehr von dem europäischen Föderalismus; d. h. die Nationalstaaten sollen mit ihrer nationalen Kultur sehr viel stärker erhalten bleiben, als dies noch vor wenigen Jahren in der Europapolitik anvisiert worden ist. IV. Der Prozess der Europäisierung des Rechtes Als Ergebnis der vorangegangenen Betrachtungen können wir die Frage verneinen, ob die bisherige Binnensteuerung der Entwicklung eines europäischen Rechtes der gesamteuropäischen Rechtskultur adäquat war: Mehrere Fehler waren bei diesem System der Binnensteuerung entdeckt worden. Einmal wurde das Subsidiaritätsprinzip nicht beachtet und somit den Mitgliedsstaaten zu wenig Raum in der eigenen Rechtskultur gelassen. Eine gewisse Korrektur dieses Ansatzes kann man nicht nur in der Revision der Verträge erblicken, die nunmehr das Subsidiaritätsprinzip anerkennen, sondern auch in der deutlichen Abkehr von einem Europa der Regionen hin zu einem Europa der Nationalstaaten. Dies kam auch im Vorschlag des ehemaligen deutschen Außenministers Joschka Fischer im Mai 2000 zum Ausdruck.24 Im Rahmen dieses Prinzips müssen auch die Gemeinden und Gemeindeverbände stärkere Beachtung im Gesamtprozess der Europäisierung des Rechtes finden. Bei der Berücksichtigung der europäischen Tradition kommt vor allem dem römisch-kanonischen Recht eine besondere Bedeutung zu, denn dieses Recht war in seiner Weiterentwicklung vor allem im 19. Jahrhundert Grundlage für die verschiedenen nationalen Gesetzgebungen in vielen Mitgliedsstaaten der EU. Auch das Common Law wurde ja vom römisch-kanonischen Recht und seiner Systematik beeinflusst. Allerdings wird man nicht warten können, bis das traditionelle römisch-kanonische Recht mit seinen Verzweigungen in den europäischen Kodifikationen sich im Wege eines sozialen Prozesses zu einer neuen Kodifikation verwirklicht. Man wird schon wegen der Eilbedürftigkeit und Akzeleration des modernen Lebens nicht auf einen neuen sozialen Prozess der Rezeption und Implementation hoffen können. Die Rivalität in den verschiedenen Zweigen des römischen und römischgermanischen Rechtes erlaubt auch nicht einer europäischen Rechtskultur und ihrer Kodifikation, ein Übergewicht zu erlangen. So kommt doch der EU die Funktion der Neugestaltung des europäischen Rechtes zu, wobei aber das europäische Parlament das entscheidende Organ für die Kodifikation sein muss. Die bürokratische Behand24 Rede am 12. Mai 2000 vor den Lehrenden und Studierenden der Humboldt-Universität Berlin (unveröffentlicht).

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lung der europäischen Rechtsentwicklung in Brüssel steht im Widerspruch zur demokratischen Tradition Europas. Nur durch ein dafür kompetentes Parlament kann die europäische Gesetzgebung den notwendigen Grad an Legitimation erlangen. Schließlich kommt dem europäischen Gerichtshof eine wichtige Bedeutung der Schaffung eines europäischen Binnenrechtes zu. Er sollte nicht, wie es das Bundesverfassungsgericht getan hat, sich davor drücken nachzuprüfen, ob eine europäische einheitliche Gesetzgebung aus Gründen der Rechts- oder Wirtschaftseinheit erforderlich ist. Es wäre für Europa nicht gut, wenn die Rechtsprechung auch hier wieder mit der Doktrin des „political self-restraint“ sich aus der Verantwortung der Schaffung einer einheitlichen europäischen Rechtskultur herausstehlen könnte. Eine so entwickelte europäische Rechtskultur und ein europäisch kodifiziertes Recht wären dann auch im Stande, der Außensteuerung im weltweiten Globalisierungsprozess des Rechtes entgegenzutreten. In diesem Rahmen spielt auch die europäische Grundrechtscharta, die auf der Konferenz der EU in Nizza abgesegnet wurde, eine herausragende Rolle. Auf jeden Fall sollte es ausgeschlossen sein, dass eine rein merkantil ausgerichtete Außensteuerung mit dem Vorwand des Schutzes der Menschenrechte den Prozess der Europäisierung des Rechtes zukünftig stören kann. V. Schlussbemerkung Das Problem der Globalisierung hat zu folgenden Überlegungen geführt: Ausgehen möchte ich von der erwähnten Stelle bei Huntington,25 die ungefähr so lautet: Die westlichen Industriestaaten, vor allem Amerika, können heute nicht mehr ihre Expansion der Wirtschaft mit den traditionellen Mitteln durchsetzen. Deswegen ist dieser Prozess der Avantgarde, der soft power so wichtig. Ist einmal eine Kultur überzeugt von der Annehmlichkeit der westlichen Lebensweise, ist es sehr viel leichter, mit der hard power zu kommen. Heute denkt niemand mehr, dass vor 150 Jahren im Opiumkrieg die englischen, amerikanischen, wir können ruhig sagen, die westlichen Kriegsschiffe die chinesischen Städte bombardiert haben, um sie zu zwingen, sich für den Handel mit Opium zu öffnen. Ein österreichisches Buch, das 1946 oder 1947 über den Opiumkrieg etwas veröffentlicht hatte, wurde damals in Wien von der englischen Besatzungsmacht verboten. Das Recht wird benutzt als Instrument zur Vorbereitung des Eindringens der westlichen Kultur über die Menschenrechte, aber auch über alle möglichen Formen, z. B. Geschäfte, Absatz, Internet. Es wird schließlich als hard power in die Länder eingeführt mit Konkursordnung, Zwangsvollstreckung und Kündigung ohne Kündigungsschutz. 25

Siehe Fn. 21 und 23.

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Was zeigt sich gegen diese Tendenz der Außensteuerung? Gibt es hier eine Abwehr, eine Gegensteuerung? Denn ich möchte hier nicht alles negativ malen. Ich möchte aufrufen zur Besinnung, dass man diesen Prozessen etwas entgegenhalten muss. Es wird sicher nicht genügen, wenn wir diese „rivoluzione giuridica“, um Del Noce zu erwähnen, bekämpfen mit einer „controrivoluzione giuridica“, denn diese „controrivoluzione giuridica“ würde nur darin bestehen, dass man all diese Prozesse der Vergrößerung und Angleichung stoppen müsste, was ein Rückfall in die alten Nationalitätensysteme bedeuten würde. Worin kann eine Rückbesinnung nur bestehen, die sich beschäftigt mit der Wiederherstellung eines an Gerechtigkeit orientierten Rechtes? Ich glaube, wir wissen schon, wie diese Antwort aussehen muss. Wir müssen uns wirklich auf unsere Wurzeln, auf unseren Ursprung besinnen. Dazu gehört auch die Lehre der Subsidiarität. Dazu gehört auch ein stärkeres Bewusstmachen der nationalen Verantwortung. Man spricht heute nicht mehr vom Europa der Regionen, das würde ja bedeuten Beseitigung der Staaten, sondern man spricht heute vom europäischen Föderalismus, d. h. nicht Beseitigung der Staaten zugunsten eines auf Regionen aufgebauten Europas, sondern d. h. Rückkehr zu einer gewissen europäisch nationalen Rechtskultur.

R. Der Einfluss des Staatsverständnisses auf die Legitimation europäischer Einheit Ein Beitrag zum Spannungsfeld Vaterland, Staat und Region im europäischen Integrationsprozess1

I. Ausgangsposition 1. Die Themenstellung Die Themenstellung „Vaterland, Regionen und Staaten2 und der Prozess der europäischen Einigung“ zeigt zwei Besonderheiten: An die Stelle des Begriffes „Nation“ ist das Vaterland getreten, neben dem die traditionellen Staaten und die Regionen – obschon letztere ein neues Phänomen darstellen – ihre Position beibehalten konnten. Hat schon vor allem für einen deutschen Beobachter der Begriff „Nation“ eine problematische Bedeutung, weil der deutsche Zeitgenosse und Wissenschaftler ständig zwischen Staats- und Kulturnation hin und her schwankt, so birgt der Begriff „Vaterland“ noch mehr Problematik für den mitteleuropäischen Beobachter. Konsultiert man die derzeitigen deutschsprachigen Veröffentlichungen zum Begriff „Vaterland“, so findet man zwar gut 80 Buchpublikationen auf dem Markt, doch steht der Begriff „Vaterland“ meistens im Zusammenhang mit „Muttersprache“.3 Während der Begriff „Nation“ in Deutschland eine gewisse Renaissance erfahren hat, ist dies beim Begriff „Vaterland“ nicht der Fall. Es fällt also schwer, von Mitteleuropa aus diesen Begriff zu bewerten, weshalb im nachfolgenden Abschnitt ein Blick von Frankreich her auf das Problem geworfen werden soll. Das zweite Problem, das sich sofort mit der Thematik verbindet, ist die Frage der prozeduralen Situation und der damit verbundenen Legitimation. Der Begriff der Legitimation durch Verfahren (Niklas Luhmann) hat an Wirksamkeit nichts verloren und ist in gewissem Umfang in der Lage, frühere, nun verlorene Legitimationsgrundlagen des Vaterlands- oder Nationsbegriffes zu er1 Vortrag gehalten auf der Tagung des Internationalen Rosmini-Instituts in Bozen 1999; eine gewisse Berührung zeigt die Behandlung des Problems des Fernsehurteils des EuGH in dieser Abhandlung mit der Darstellung im vorangehenden Artikel „Europa und das Problem der Globalisierung des Rechtes heute“. 2 Delgado / Lutz-Bachmann (Hrsg.), Herausforderung Europa, München 1995; Hrbek / Weyand, Das Europa der Regionen, München 1994; Laufer / Fischer, Föderalismus als Strukturprinzip für die EU, Gütersloh 1996; Münkler, Reich, Nation, Europa, Weinheim 1996; Ossenbühl (Hrsg.), Föderalismus und Regionalismus in Europa, Baden-Baden 1989; Probst, Regionale Selbstverwaltung, München 1994. 3 Dies kann als Ergebnis einer Computerrecherche festgestellt werden.

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setzen. Dennoch ist es fraglich, ob die Verfahrenslegitimation am Vaterland, am Staat oder an der Region ansetzen soll. Alle drei Ausgangspunkte sind denkbar, implizieren aber unterschiedliche Probleme und Resultate. Weiterhin darf bemerkt werden, dass die Beurteilung der Thematik eine andere ist, betrachtet man sie von Deutschland, von Frankreich, von England oder von Südeuropa aus. In einer früheren Abhandlung habe ich versucht, das Problem von Deutschland aus in Bezug auf den Begriff der Nation und im Hinblick auf die Wiedervereinigung darzulegen. Dabei stand im Mittelpunkt der Begriff „Angst vor Deutschland“ und „Angst der Deutschen“.4 Nunmehr soll, wie bereits angedeutet, ein Blick von Frankreich aus auf das Problem geworfen werden, das ja mit Deutschland zusammen die Schlüsselrolle im europäischen Einigungsprozess einnimmt. Alle Verfahren der europäischen Einigung müssen von dieser Dualität des Problems Deutschland – Frankreich ausgehen. 2. Deutsche Einheit und europäische Integration Im Nachfolgenden soll das Problem Staat und Nation unter dem ersten und dritten Gesichtspunkt, also unter dem Gesichtspunkt der deutschen Vereinigung und der europäischen Integration untersucht werden. Beide Aspekte lassen sich wohl auch gut gemeinsam darstellen. Nicht nur ist die Vereinigung der beiden deutschen Staaten in die abschließende Phase der europäischen Integration hineingefallen, sondern sind gerade aus der deutschen Vereinigung entscheidende Fragestellungen und Ängste im Bezug auf ein überbürokratisiertes Europa oder eine Hegemonie innerhalb Europas entstanden. Dabei soll das Problem Staat und Nation immer auch gesehen werden unter einer dritten Idee: Fördergemeinschaft oder Weltbürgertum. Die großen europäischen Krisen, die französische Revolution, der Erste und der Zweite Weltkrieg, haben bei politischen Denkern immer wieder die Frage nach der Neuordnung der drei Ideen Staat, Nation und Weltbürgertum ausgelöst. So schrieb Kant bald vor zweihundert Jahren, nämlich im Jahre 1795, seine berühmte Schrift „Vom ewigen Frieden“5, die nicht nur schon damals in viele Sprachen übersetzt wurde, sondern die dann nach dem Ersten Weltkrieg auch mit dazu beitrug, der neuen Fördergemeinschaft den Namen Völkerbund zu verleihen, den Kant vorgeschlagen hatte. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg und im Nachklang zur Gründung des Deutschen Reiches im Jahre 1871 schrieb der berühmte deutsche Historiker Friedrich Meinecke sein Werk „Weltbürgertum und Nationalstaat“.6 Die erste Auflage dieses Werkes erschien 1908. Weitere Auflagen erschienen während des Ersten Weltkrieges, aber auch danach. Das Werk behandelt den Entwicklungsgang Deutschlands zum Nationalstaat, wobei es den Begriff der Staatsnation schafft. Dass Meinecke, trotz des anziehenden Titels seines Werkes,

4 5 6

Scholler, Vom Staat über die Nation zu Europa, in APF 1995, S. 61 ff. Kant, Vom ewigen Frieden, Königsberg 1795. Meinecke, Weltbürgertum und Nationalstaat, 7. Auflage, München 1928.

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auf der Seite des Nationalstaates stand, zeigt ein Satz aus dem Nachwort seiner Auflage von 1915. Dort heißt es: „Das industrielle Deutschland mit allen Massen, die es umfasst, hat seinen Willen und seine Kraft gezeigt, den deutschen Nationalstaat gegen eine Welt von Feinden zu verteidigen.“

Nach dem Zweiten Weltkrieg erschien eine kleine Veröffentlichung des Münchener Staatsrechtlehrers Willibalt Apelt mit dem Titel „Hegelscher Machstaat oder Kantsches Weltbürgertum“.7 In dieser Schrift versuchte Apelt über Meinecke hinaus zu Kant zurückzuführen, um in dem neuen Nachkriegseuropa einen neuen politischen Ansatz zu finden. Der Prozess der europäischen Einigung erscheint von Deutschland aus gesehen immer als eine Wiederholung föderativer Einigung, die erstmals 1871 zur Gründung des Deutschen Reiches und zum zweiten Mal 1989 zur Wiedervereinigung führte. Von hierher gesehen ist der Prozess der europäischen Einigung eine Einigung der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedsstaaten auf eine neue zentrale Autorität. Damit scheidet für den deutschen Betrachter einmal die Schaffung Europas als reine Konföderation aus, zum anderen ist Europa aber auch nicht ein Staat sui generis, der originäre Staatsgewalt schafft oder aus sich heraus entwickelt. Europa hat immer nur delegierte Staatsgewalt. II. Die französische Position unter besonderer Berücksichtigung der gaullistischen Strömungen Der französische Verfassungssatz in Bezug auf die Republik und das Ideal französischer Staatlichkeit, La Rpublique – une et indivisible8, ist von Frankreich niemals aufgegeben worden, so dass der Bundesstaat eigentlich nicht das Leitbild war, allenfalls, wie de Gaulle dies formulierte, ein Europa der Vaterländer. Damit kommt der Begriff zum Tragen, der im Thema angesprochen ist: „Europa – Regionen und Staaten und der Prozess der europäischen Einigung“. Dieses Europa der Vaterländer vom Atlantik bis zum Ural ist schlichtweg nur als Konföderation denkbar gewesen. Nur als solche ist sie vereinbar mit dem französischen Souveränitätsdenken und der Unteilbarkeit der staatlichen Autorität. Deshalb waren die Vorstellungen über die europäische Einigung links und rechts des Rheines eigentlich immer inkompatibel. Der Europagedanke, die EG und die EU, sollten für Deutschland eine „freiwillige Fessel“ sein. Die EG stand ja zeitlich im Zusammenhang mit der Gründung von EURATOM und der EGKS, die deutlich als Kontrollinstrumente über Deutschland und für Deutschland fungieren sollten. Mit der Wende von 1989 geriet daher das ganze, bis dahin aufrecht erhaltene System in eine Schieflage. Mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes schien die Notwendigkeit einer EG/EU zu entfallen und gleich7

Apelt, Hegelscher Machtstaat oder Kantsches Weltbürgertum, München 1948. Art. 1 der Französischen Verfassung vom 4. 10. 1958 lautet: „La France est une Rpublique indivisible, la que, dmocratique et sociale“. 8

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zeitig die Gefahr heraufzuziehen, dass bei Fortdauer der europäischen Einigung „lEurope allemande“ entstehen würde. Um diesen Ängsten entgegenzutreten, wurde von deutscher Seite eine Beschleunigung und möglichst schnelle Erweiterung der EG und ihr Umbau zur EU angeboten. Von französischer Seite aus dagegen wurden Überlegungen angestellt, wieder zu dem klassischen europäischen Konzept, der alten Pentarchie zurückzukehren unter der Vorherrschaft Frankreichs oder zumindest der Stabführung der Grande Nation. Frankreich verfügt ja als einziger Staat in dem kleinen oder in dem großen Europa neben Großbritannien über die atomare Bewaffnung, die force de frappe. Eine Alternative konnte man in dem stärkeren zentralistischen Ausbau der Eurokratie erblicken. Die Probleme, die durch eine Balkanisierung Europas drohten und die andererseits auch durch die Globalisierung der Wirtschaft hereinzubrechen schienen, sollten durch die französische Führungsrolle bewältigt werden. So schreibt Ralf Jonas: „Die Gaullisten betrachten Europa als einen Kontinent, auf dem Frankreich nach wie vor eine herausgehobene Position einnimmt, legitimiert nicht durch politische, wirtschaftliche oder militärische Stärke, sondern durch jene zum Axiom erhobene und insofern auch nicht ohne weiteres hinterfragbare ,Grandeur, die dem Außenstehenden als überkommener Mythos erscheinen mag, dem durch permanentes Beschwören und dauernde Bezugnahme gleichwohl reale ,Kraft innewohnt. Die EU hat mittlerweile zumindest einen Teil ihrer 1989/90 eingebüßten Reputation zurückgewonnen, weniger aus eigenen Verdiensten, sondern wohl insbesondere aus der Einsicht heraus, dass die Union trotz aller Schwächen und Mängel derzeit und auf mittlere Sicht alternativlos ist.“9

Die Präsidentschaftswahlen 1985 brachten mit Chirac eine neue Wende in der Europapolitik, wenn auch Chirac sich außerordentlich zurückhaltend und pragmatisch verhielt. Die RPR wird sich aber mit dem Fanfarenruf ihres Politikers Philippe Sguin auseinandersetzen, der mit viel Überzeugungskraft und einigem Erfolg einen Appell lancierte, zum wahren und authentischen Gaullismus zurückzukehren, und damit die neueren Modelle erwarb zu Gunsten der Rückkehr zu einem Europa der Vaterländer vom Atlantik bis zum Ural. Damit könnte das zentralistische wie das bundesstaatliche Europamodell verworfen sein zu Gunsten eines konföderativen. Europa als Konföderation könnte aber dann nicht an den Regionen ansetzen und von den Regionen her aufgebaut werden, sondern nur von den Staaten in ihrer historischen Gestalt als Vaterländer. III. Die gegenwärtige Diskussion um den Begriff der Nation 1. Der Standpunkt Rüdiger Bubners Rüdiger Bubner10 hat in seinem Werk die Frage „Brauchen wir einen Begriff Nation?“ bejaht und die Notwendigkeit der Rehabilitierung dieses Begriffes zu begründen versucht. Man hat ihm vorgeworfen, dass dies nur durch eine Gleichsetzung von 9

Jonas, Zwischen Nation und Europa – Die europapolitischen Vorstellungen der Gaullisten 1978 bis 1994, Berlin 1996, S. 384. 10 Rüdiger Bubner (1941 – 2007), war Professor für Philosophie in Heidelberg.

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Staat und Nation versucht werden könne. Sind Staat und Nation auch in Deutschland identisch? Für Frankreich und auch für England gilt dies, denn dort sind Nationalstaaten entstanden. In Mitteleuropa, vor allem in den deutschsprachigen politischen Ordnungssystemen, handelt es sich aber um eine Kulturnation, worunter man eine kulturelle Identität in verschiedenen staatlichen Organisationsformen versteht. Zur deutschen Kulturnation gehören Österreich und natürlich auch die deutschsprachige Schweiz. Gleichzeitig erkennt man, dass die Schaffung einer südslawischen Kulturnation nach dem 1. Weltkrieg misslungen ist und dass die Zwangsherrschaft Titos und des Kommunismus das Problem nur lange hinausgeschoben haben, bis der nationale Streit und Kampf umso heftiger entstand. Sicher sind auch die Tschechische Republik und die Slowakei eine Kulturnation, aber dies hat nicht gereicht, um sie nach dem Zusammenbruch der politischen Klammer – des Marxismus – in einer Staatsnation zusammenleben zu lassen. Die Frage, ob wir es mit Kulturnationen oder mit Staatsnationen zu tun haben, ließe sich auch an andere osteuropäische Staaten stellen. Aktuell ist dies zur Zeit im Verhältnis Ukraine zu Russland der Fall. Neueste Entwicklungen scheinen darauf hinzugehen, dass die Ukraine eine Staatsnation werden will, dass sie aber mit Russland für viele Jahrhunderte eine Kulturnation gebildet hat. Eine Kulturnation kann also in verschiedenen staatlichen Organisationen, in verschiedenen Rechtsordnungen und Staatsangehörigkeiten sich entwickeln, und dennoch werden die ihr angehörenden Menschen sich untereinander verbunden fühlen.

2. Die Argumentation Rudolf Walthers und ihre Schwächen Gegen die Auffassung von Rüdiger Bubner hat sich der Historiker und Philosoph Rudolf Walther zu Wort gemeldet. In seinem Werk „Krisenherd Europa“ ist er den Thesen Bubners entgegengetreten. Der Vorabdruck seiner Kritik ist in der Zeitung „Die Zeit“ Nr. 3, Januar 1994 erschienen unter dem Titel „Die Erfindung der Vergangenheit durch die Gegenwart“. Gegen den unitarischen Nationalstaat untermauert er die These, dass es „die deutschen Lande“ schon lange gab, bevor es den Singular „Deutschland“ gegeben habe. Hier übersieht Walther allerdings zwei wichtige Gesichtspunkte: Deutschland als Kulturnation ist immer nur föderalistisch zu einer Staatsnation geworden. Der Föderalismus ist sozusagen der Kompromiss oder das Bindeglied zwischen der einheitsstaatlichen Nationalstaatlichkeit und der pluralistischen Kulturstaatlichkeit. Außerdem gab es bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts zumindest noch nicht in Mitteleuropa den geschlossenen Staat mit einem geschlossenen einheitlichen Staatsgebiet und einer entsprechenden einheitlichen Staatsgewalt. Das territorium clausum ist nach dem Irrgang des „Römischen Reiches Deutscher Nation“, das schon Pufendorf als ein „irregulare aliquod et monstro simili“ bezeichnet hatte, als Folge der napoleonischen Kriege und napoleonischen Herrschaft künstlich geschaffen worden. Das territorium clausum entwickelte sich aber nicht auf der Reichsebene, sondern eben auf der Ebene der „deutschen Lande“ und wurde von über dreihundert

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Mächten und Herrschaften durch den Reichsdeputationshauptschluss 1803 auf 39 geschlossene Territorial-Staaten reduziert. Das Zweite, das übersehen wird, ist der Umstand, dass Mittel- und Osteuropa auf die Herausforderung durch die Entstehung des französischen Nationalstaates in entsprechender Weise antworteten, vielleicht auch antworten mussten. So entwickelte sich nach der Schaffung des Deutschen Bundes die Forderung nach stärkerer einheitsoder zentralstaatlicher Ordnung, eben nach dem Nationalstaat. Einen Höhepunkt erreichte diese Forderung in den Diskussionen und Debatten der Paulskirche im Revolutionsjahr 1848/1849. Verspätete Nationen wie Deutschland neigen dann natürlich auch dazu, den Prozess, den sie schneller durchlaufen, nicht nur weiter zu beschleunigen, sondern auch zu übertreiben. In neueren Untersuchungen zum Thema Revolution und Gegenrevolution, die die Auswirkungen der französischen Revolution von 1789 und der Restauration von 1814 bis 1830 zum Gegenstand haben, wird es heute deutlicher, dass damals zum Beispiel die süddeutschen Staaten Bayern, Baden und Württemberg die Modernisierung ihrer Verwaltung durch die Übernahme französischen Verwaltungsrechts und der Verwaltungsorganisation als ein entscheidendes Mittel im Kampf um das Überleben unabhängiger deutscher Staatlichkeit ansahen. Wenn man es später versucht hat, diese Einwirkung des französischen Nationalismus bzw. der Idealkonstruktion des französischen Nationalstaates auf Deutschland auszublenden, dann geschah dies auch, weil man den französischen Einfluss in allen Gebieten der Philosophie, des Rechts und der Politik zurückdrängen wollte. So versuchte man schon lange vor dem Jahr 1933 den Nationalstaat als etwas Urgermanisches zu konstruieren, was doch in Wirklichkeit eine Rezeption und Weiterentwicklung französischen revolutionären Gedankengutes war. Die großen Vertreter des deutschen Nationalstaatsgedankens wie Heinrich von Treitschke oder Paul de Lagarde schämten sich, eingestehen zu müssen, dass ihr Vorbild der französische Nationalstaat war und versuchten durch eine historische Uminterpretation, den einheitlichen Nationalstaat aus der germanischen Geschichte abzuleiten.

IV. Die historische Perspektive 1. Kontinuum und Diskontinuum in der Geschichte Betrachtet man aber als Historiker oder Politologe das Problem aus einer gewissen Distanz und größeren Perspektive, so sieht man sofort, dass es sich eigentlich um ein Problem handelt, das seit fast 1000 Jahren Europa beschäftigt und offenbar im Zusammenhang steht mit bestimmten Bedingungen der Einigung und der Trennung des gemeinsamen und des trennenden Fremden, was die europäischen Nationen zusammengehalten hat, oder was sie auseinander drängt. Zu den zusammenfügenden Elementen, zu den einheitsstiftenden Elementen gehört sicher das Katholische am Christentum. Unter katholisch ist hier das Allumfassende und Universelle zu verstehen. Weiterhin das Allgemeine am ius romanum, das ja gerade als ius gentium universellen Charakter erhalten hat. Das Universelle der griechischen Philosophie und

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der römisch-griechischen Kunst wie auch die Universität, die die Rechtsordnung im römischen Staat anstrebt und teilweise auch erhalten hat. Gegenüber diesen universellen Elementen erheben und erhoben sich immer wieder partikulare individuelle, dysarchische Strömungen, die sowohl mit der antiken libertas, der libert oder den Begriffen von freedom und Freiheit zu tun haben, als auch mit der Art und Weise, wie Menschen siedelten und untereinander verkehrten. Die germanische Siedlungsweise unterschied sich grundsätzlich von der römischen. Römische Siedlungen kannten immer das castrum und die villa. Die germanischen Siedlungen folgten nicht diesem Raster, waren entweder genossenschaftlich oder individuell und kannten nicht die Stadt als Zentrum einer Civic Society. 2. Dantes Europabild Schon bei Dante findet sich ganz eindeutig eine unserer heutigen Situation sehr verwandte Problemstellung: Wie sah er, der Verbannte, das Abendland? Dante hatte eine heillose, zerfallende Welt vor Augen: Im Norden ein Deutschland, das sich Heiliges Römisches Reich nannte, sich aber um Italien, den Garten des Reiches, nicht mehr kümmerte11, ein Frankreich, das sich längst frevelndlich – wie Dante es verstehen muss – aus dem Reichsverband herausgebrochen hat12, ein England und ein Spanien, das mit dem Reich nichts zu tun haben wollte13, und ein griechischslawischer Osten in geheimnisvollem Dunkel. Wenn Dante sich aus dieser verworrenen Lage eine Weltmonarchie vorstellte, dann war es nichts anderes als der Wunsch, einen einheitlichen Willen, also die Idee des römischen Imperiums zu postulieren. Dieses Weltkaisertum verbunden mit dem deutschen Königsgedanken war weder das Modell der späteren absoluten Monarchie, noch einer nationalstaatlichen Tyrannis, noch die Hegemonie eines Staates oder eines Volkes über die anderen Teile Europas. 3. Krise der Europaidee Es lassen sich sehr viele, ganz verschiedene Ursachen für die krisenhafte Entwicklung des Europagedankens anführen: die Angst vor dem point of no return, die Besorgnis hinsichtlich eines endgültigen Souveränitätsverlustes, ohne die gleichzeitig entwickelte Erfahrung eines funktionierenden Parlaments, die mangelnde parlamentarische Bewusstseinsentwicklung wegen der Schwäche der Straßburger parlamentarischen Einrichtung, die Sorge vor dem Teilenmüssen bei den reicheren Ländern, so Dänemark, mit den Ärmeren, die Angst vor Deutschland.

11 12 13

Dante, Divina Commedia, Purg, 6, 105. Dante, Divina Commedia, Purg, 20, 64 ff. Dante, Divina Commedia, Purg, 19, 121 ff.

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Vor allem letzterer Punkt ist immer wieder betont worden14, und ich glaube, dass in dieser Angst ein wahrer Kern der Krise steckt, der aber in Wirklichkeit anders aussieht, ohne dass dies schon allgemein bewusst geworden wäre.

V. Das Prozedere der Integration und die Legitimation Europas Ob man nun von einem Europa der Vaterländer, einem Europa der Staaten oder einem Europa der Regionen ausgeht, es wird immer eine wichtige Rolle spielen, wie und welche Kompetenzen mit welchem Prozedere übertragen werden. In einem Europa der Vaterländer wird man immer weniger Kompetenzen auf die Gemeinschaft übertragen können als in einem Europa der Regionen. Jedoch muss bei der Kompetenzübertragung auch immer auf die Erhaltung der Pluralität und Identität der Regionen geachtet werden. Ein ganz entscheidendes Beispiel ist hierbei das Urteil über den Quotenstreit im Fernsehen.15 Hierbei ging es um einen Beschluss der Bundesregierung, dem Vorschlag für eine Richtlinie des Rates der EG zur Koordinierung bestimmter Rechtsund Verwaltungsvorschriften der Mitgliedsstaaten über die Ausübung der Rundfunktätigkeit zuzustimmen. Die Richtlinie betraf insbesondere die Anteile der Fernsehproduktionen aus der Gemeinschaft in den Programmen der Fernsehveranstalter (Gesamtquoten). Gegen die Zustimmung der Bundesregierung reichte das Land Bayern Klage beim Bundesverfassungsgericht ein und berief sich auf die Kulturhoheit der Länder. Das Bundesverfassungsgericht gab schließlich der Klage mit der Begründung statt, der Bund habe keine Kompetenz über den Rundfunk und könne diese insofern auch nicht auf die Gemeinschaft übertragen. Es zeigen sich folgende Auswirkungen der Entscheidung auf künftige Regelungen im kulturell-wirtschaftlichen Bereich:16 Der Europäische Gerichtshof ist zur Entscheidung von schwierigen Fragen des Prozederes bei der Übertragung oder Einräumung von Kompetenzen zuständig, das Bundesverfassungsgericht bestätigt dies. Die Quotenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts schweigt zwar zur früheren Rechtsprechung, wonach das Gericht selbst europäisches Gemeinschaftsrecht an deutschen Grundrechten des GG messen kann, doch bestehen diese Rechtsprechung 14 So in den Memoiren der Lady Thatcher, auszugsweise abgedruckt in „Der Spiegel“, Nr. 42, 1993. 15 Urteil vom 22.03.1995 – 2 BvG 1 / 89 – AfP 1995, S. 483 f. 16 Vgl. hierzu Lerche, Konsequenzen aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur EG-Fernsehrichtlinie, in AfP 1995, S. 632 ff., siehe auch Lerche, Aktuelle Grundfragen der Informationsfreiheit, in Jura 1995, S. 561 ff. und Lerche, Auslandsoffenheit und nationaler Rundfunkstandart, in: Ole Due u. a. (Hrsg.), Festschrift für Ulrich Everling, Baden-Baden 1995, S. 729 ff.

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und auch das Maastricht-Urteil fort. Es ist ebenfalls ein wichtiger Gesichtspunkt zum Prozedere, dass die nationalen Verfassungsgerichte wegen des Fehlens eines europäischen Grundrechtskataloges der EU weiterhin diese Kontrollmöglichkeit haben. Ein wichtiges Element für das Prozedere ist das Prinzip der Bundestreue. Der Aushöhlung durch die sogenannten Querschnittskompetenzen („Salami-Taktik“) soll entgegengewirkt werden. Unter Querschnittskompetenzen ist zu verstehen, dass im Bereich des Kulturellen, also der Rundfunk- und Fernsehhoheit, Kompetenzen anderer Sachgebiete kraft Sachzusammenhangs in Anspruch genommen werden, z. B. Wirtschaftskompetenzen im Wirtschaftsrecht, oder eben umgekehrt. Unzulässig ist eine Kompetenz-Kompetenz der EU, d. h. dass die EU darüber entscheidet, wie weit ihre Kompetenzen reichen, also damit ohne Mitwirkung der Länder entscheiden kann. Es kann also keine globale Zuständigkeit der EU für Fernseh- und Rundfunksendungen geben. Damit ist die kulturelle Vielfalt im Rahmen der EU garantiert und beibehalten (Identitätsgarantie des Maastrichter Vertrages). Zu beachten ist als Strukturprinzip auch die Subsidiarität, sowie das Prinzip der Gemeinschaftstreue, ein Prinzip, das dem Prinzip der Bundestreue verwandt ist. Der Gesichtspunkt bzw. das Verfassungsprinzip der Subsidiarität ist vor allem durch das Urteil zum Maastricht-Vertrag herausgearbeitet worden und gilt inzwischen auch als Teil des europäischen Rechtes. Im Prozedere der europäischen Einigung muss hierauf großer Wert gelegt werden. Schließlich muss man auch die Motivation des Prozesses bzw. der Gründe, die zu dem Prozess geführt haben, betrachten, nämlich kulturelle Vielfalt und ihre Erhaltung auf Landesebene. Deswegen ist das Urteil zum Maastricht-Vertrag wie auch das Urteil zur Quotenregelung beim Fernsehen nicht nur für die bundesstaatliche Ordnung von Bedeutung, sondern überhaupt für das Verhältnis der EU zu den anderen europäischen Mitgliedsstaaten, die einheitsstaatlich organisiert sind, also über keine bundesstaatliche Struktur verfügen.

VI. Schlussbemerkung Dieses Thema scheint nur auf den ersten Blick aus deutscher Sicht besondere Probleme aufzuwerfen. Bei näherer Betrachtung aber erkennt man unschwer, dass die in der Bundesrepublik als föderalistischem Staatssystem erarbeiteten Grundsätze auch für die übrigen Mitgliedsstaaten der EU Geltung haben, selbst wenn sie nicht wie Belgien und Österreich föderative Strukturen aufweisen. Dies ergibt sich vornehmlich aus zwei grundlegenden Gesichtspunkten, die auch in der Thematik bereits angesprochen sind. Auch die europäischen Einheitsstaaten haben seit längerer Zeit deutliche Tendenz zur Dezentralisierung und zur Herausbildung von Regionen gezeigt. Wenn das Thema daher Europaregionen und das Prozedere umschließt, so gelten Grundsätze, die für Deutschland als föderativen Gliedstaat entwickelt wurden, eben auch für Einheitsstaaten mit regionaler Struktur. Zwischen der Region und dem deutschen Bundesland gibt es keine grundsätzliche Unterscheidung, sie haben an den gleichen Problemen Anteil und müssen unter gleichen Gesichtspunkten beurteilt werden.

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Der zweite Grund, warum auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Quotenregelung in Rundfunk und Fernsehen von Bedeutung ist, ergibt sich wiederum aus den dahinterliegenden Grundgedanken. Es geht ja nicht um die Frage, ob die Argumente dann entfallen, wenn Fernsehen und Rundfunk national organisiert sind und nicht regional, sondern darum, dass die Kultur in europäischen Staaten immer pluralistisch sein muss und sie gleichzeitig auch die Identität des einzelnen Gliedstaates erhalten soll. Dies gilt für Bundesländer genauso wie für europäische Regionen. Welches Prozedere auch immer von der EU eingeschlagen werden sollte, es muss klar ausgesprochen werden, dass die EU keine Kompetenz-Kompetenz hat und dass der Subsidiaritätsgrundsatz dahingehend gestärkt werden muss, dass kulturelle Pluralität innerhalb Europas und auch innerhalb der nationalen Einheitsstaaten so gewährleistet wird, dass die historisch-kulturelle Identität erhalten bleibt.

S. Verfassung und Recht im Prozedere der Globalisierung1 I. Der Übergang von der Plan- zur (sozialen) Marktwirtschaft Die großen Konferenzen der G 7/8-Staaten, aber auch der EU-Mitgliedsstaaten, waren von außerordentlichen Protesten und Tumulten begleitet. Von Göteborg über Genua (2001) bis zuletzt in Barcelona traten Kräfte auf, die sich vehement gegen die Globalisierung der Wirtschaft und auch des Wirtschaftsrechts wandten, weil sie ein Zerfallen der Gesellschaft, eine Polarisierung in reich und arm fürchten. In Porto Alegre wurde sogar ein Gegengipfel veranstaltet, ein Gegengipfel der Dritten Welt gegen die Erste Welt. In vielen Ländern der Dritten Welt ist die Wirtschaft durch Bestimmungen der Verfassung und des Rechtes gegen Einflüsse von außen abgeschottet, doch ist andererseits gerade ohne fremdes Kapital, ohne fremdes Investment und ohne Öffnung der Grenzen die Belebung eines stagnierenden Marktes nicht möglich. Ein bekannter deutscher Jurist hat hier von dem Problem gesprochen, dass die Feuerwehr als Brandstifter oder die Brandstifter als Feuerwehr auftreten wollen. Wie viel diskutiert das Problem auch in Deutschland ist, sieht man daran, dass seit 2001 ca. 50 Bücher auf diesem Gebiet publiziert wurden.2 Das Problem der Globalisierung des Rechtes soll hier besonders an der deutschen Situation dargestellt werden. II. Die deutsche Erfahrung im 20. Jahrhundert Deutschland hat im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten, aber auch im Gegensatz zu anderen westeuropäischen Ländern drei Phasen einer stärkeren Planwirtschaft durchlaufen, die immer wieder in Richtung Marktwirtschaft umgewandelt wurden. Die erste Phase war die Planwirtschaft im Ersten und nach dem Ersten Weltkrieg, entstanden aus der Notsituation der Bevölkerung, die zweite unter der Herrschaft des Dritten Reiches und den schwierigen ersten Nachkriegsjahren bis zum Jahre 1948 1 Der Vortrag wurde auf der Jahrestagung des Internationalen Rosmini-Instituts in Bozen 2002 gehalten, siehe dazu: in: Europa e Globalizzazione, Hrsg. Danilo Castellano, Bozen, 2003, S. 17 ff. 2 Einige Titel sollen hier erwähnt werden: Holger Gertel, Globalisierung des Rechts, Baden-Baden 2001; Hans Küng, Globalisierung erfordert ein globales Ethos, Jena 2000; ders., Kulturwandel und Globalisierung, Baden-Baden 2001; Ottfried Höffe, Demokratie im Zeitalter der Globalisierung, München 2001; Rolf Hofmann, Internationaler Wettbewerb – nationale Sozialpolitik, Berlin 2000; Helmut Schmidt, Globalisierung. Politische, ökonomische und kulturelle Herausforderungen, Stuttgart 1998.

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und die dritte, die allerdings nur den östlichen Teil Deutschlands betraf, die DDR, dauerte von 1945 bis 1989. 1948 erfolgte aber die Rückkehr von der Planwirtschaft nicht zu einer ungebremsten Marktwirtschaft, zu keinem Manchestertum, sondern zur sozialen Marktwirtschaft.3 Die Verfassung legte den neuen deutschen Staat auf die Garantie des sozialen Rechtsstaates fest. Dieser soziale Rechtsstaat, der auch die soziale Marktwirtschaft ins Leben rief, stellt eine Zwischenlösung zwischen Planwirtschaft und rein extrem liberaler Marktwirtschaft dar. An dieses System der sozialen Marktwirtschaft wurde auch nach der Wende im Jahre 1990 die Rechts- und Wirtschaftsordnung der aufgelösten DDR angeschlossen. Allerdings sind die soziale Marktwirtschaft und der Sozialstaat, wie sie im Jahre 1948 verstanden wurden, nicht unverändert geblieben. Seit mindestens einem Jahrzehnt läuft eine Neuorientierung der sozialen Marktwirtschaft, die man vielleicht am deutlichsten kennzeichnen kann durch die Politik der Privatisierung in Bezug auf die Trägerschaft der Post und der ehemaligen Reichs- oder Bundesbahn. In Vorbereitung auf den Wahlkampf in Deutschland im Jahr 2002 hat die CDU durch ihren Programmausschuss ein neues Papier entwickelt, das den umstrittenen Titel „Der neue Sozialstaat“ trägt. Im Rahmen dieses Vortrages werde ich auf die eine oder andere Idee dieses Grundsatzpapiers, das im Dezember 2001 auf dem CDU-Parteitag angenommen wurde, eingehen. Schließlich möchte ich einleitend auf ein Interview hinweisen, das eine führende deutsche politische Zeitschrift mit Mira Markovic´ (Witwe des serbischen Präsidenten Milosevic) geführt hat und in welchem sie nach ihrer Meinung über die Wandlungen des Sozialismus gefragt wurde.4 X Markovic´ : „Der bisherige Sozialismus hatte viele Mängel, vor allem, weil er alles Nichtsozialistische ablehnte. Der künftige Sozialismus, vielleicht wird er sich auch anders nennen, sollte eine Gesellschaft sein, die sich an den theoretischen und praktischen Erfahrungen beider Gesellschaftsordnungen des bisherigen Sozialismus wie des Kapitalismus orientiert. Vom Sozialismus sollte das Prinzip der Gleichberechtigung übernommen werden, vom Kapitalismus und der Bürgergesellschaft die Idee des wirtschaftlichen Fortschritts.“ Frage: „Welcher von den Staaten, die sich heute sozialistisch nennen, kommt Ihren Vorstellungen am nächsten?“ 3

Yongliu Zheng, Das Wirtschaftsrecht Chinas, Baden-Baden 1997; Rolf Stober, Allgemeines Wirtschaftsverwaltungsrecht, Stuttgart 1976 / 2000; Peter Badura, Wirtschaftsverwaltungsrecht in Besonderes Verwaltungsrecht, 10. Auflage, Berlin 1995, S. 201; sowie zum Sozialstaat: Hans F. Zacher, Der Sozialstaat an der Wende zum 21. Jahrhundert in VSSR 3 / 2000 S. 185; Stephan Leibfried / Ume Wagschald (Hrsg.), Der deutsche Sozialstaat, Schriften des Zentrums für Sozialpolitik, Band 10, Frankfurt 2000; Heinrich Scholler: Die Krise des Sozialstaates und die Garantie des sozialen Besitzstandes, in ZfSH/SGB 1983, 163 ff. 4 Spiegel Nr. 32 vom 06.08.2001.

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Markovic´ : „Keiner, allerdings was China betrifft, da scheint mir doch, dass sehr positive Schritte unternommen werden. China schottet sich nicht mehr wie früher gegen neue Erfahrungen, wie etwa die Marktwirtschaft ab.“

III. Die verfassungsrechtlichen Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft und die verschiedenen wirtschaftspolitischen Bewegungen seit 1948/49 1. Die Konkretisierung der Sozialstaatsgarantie in der Gesetzgebung Fast gleichzeitig mit dem Grundgesetz, in Wirklichkeit sogar ein Jahr früher (Juli 1948) setzte die Währungsreform ein, die die Zwangswirtschaft in Deutschland beendete. Das Grundgesetz bekannte sich mit der Garantie des Privateigentums auch an Produktionsmitteln, der Handels- und Handlungsfreiheit auch für den Unternehmer (Art. 14 GG) sowie der Garantie der Koalitionsfreiheit5 für die Gewerkschaften und die Verankerung des Sozialstaatsprinzips mit der sozialen Marktwirtschaft im neuen Typus der Wirtschaftsverfassung. Dieser Typus steht zwischen der Planwirtschaft, wie sie in der DDR und anderen sozialistischen Staaten herrschte, aber auch der so liberalen Wirtschaft der Vereinigten Staaten. Umstritten war die Frage, ob das Grundgesetz wirklich eine bestimmte Wirtschaftsverfassung festlegte: Eine Theorie sprach dafür, dass die soziale Marktwirtschaft in der Verfassung verankert wurde (Nipperdey), eine andere nur davon, dass punktuell Eingriffe der Staaten in die Wirtschaft vorgesehen seien (so die Sozialisierung nach Art. 15 GG). Das Verfassungsgericht schließlich legte sich darauf fest, dass das Grundgesetz wirtschaftsverfassungsrechtlich offen sei. Damit war es die Aufgabe des Gesetzgebers, die Elemente einer Neukonzeption der Wirtschaftsverfassung als soziale Marktwirtschaft oder als sog. OrdoLiberalismus festzulegen. Dies geschah durch mehrere entscheidende Gesetze, von welchen einige hier aufgezählt werden sollten: – Das Mitbestimmungsgesetz für Großunternehmen der Wirtschaft, welches Arbeitnehmern und Arbeitgebern eine gleich starke Rolle im Aufsichtsrat sicherte. – Eine eigene Arbeitsgerichtsbarkeit mit starker und paritätischer Beteiligung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern auf der Richterbank (ArbeitsgerichtsG vom 3. 9. 1953). – Die Schaffung einer Einheitsgewerkschaft im Deutschen Gewerkschaftsbund. – Das Gesetz über Wettbewerbsbeschränkungen vom 27.7.1957. – Das Stabilitätsgesetz, nach dessen § 16 das wirtschaftliche Gleichgewicht zwischen Wachstum, Währungsstabilität und Export hergestellt werden muss. 5

Das Grundgesetz enthält aber keine Garantie des Streikrechtes. „Bund und Länder haben bei ihren Wirtschafts- und finanzpolitischen Maßnahmen die Erfordernisse des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts zu beachten. Die Maßnahmen sind so 6

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– Eine umfangreiche sozialrechtliche Gesetzgebung, die schließlich in der Schaffung des Sozialgesetzbuches mit elf Büchern mündete. – Eine umfangreiche Gesetzgebung zum Natur- und Umweltschutz (z. B. BundesnaturschutzG vom 20. 12. 1976).7

2. Planwirtschaft und Marktwirtschaft sind keine reinen Modelle Versucht man, die Planwirtschaft und die freie Marktwirtschaft als zwei Typen einander gegenüberzustellen und zu vergleichen, so wird man feststellen, dass sie nicht im Sinne von Max Weber als Idealtypen verwirklicht wurden. Beide Formen der Wirtschaft enthalten Einschlüsse vom Gegenprinzip, d. h. die Planwirtschaft hat Elemente der freien Wirtschaft einbezogen und das System der freien Marktwirtschaft kennt umgekehrt Elemente planwirtschaftlicher Ordnung. So zeigt die sozialistische Planwirtschaft weiterhin das Festhalten am Geldverkehr, kennt die Dezentralisierung der Entscheidungen im Rahmen der Staatsverwaltungen und schließlich öffnet sich das System immer mehr in sogenannte Enklaven marktwirtschaftlicher Teilordnungen. Umgekehrt aber kennen die Systeme der freien Marktwirtschaft entscheidende Instrumente planerischen Wirtschaftens. Zu diesen Instrumenten der Wirtschaftsplanung gehören die Sicherung des Wettbewerbes (Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen), die Garantie des gesamten wirtschaftlichen Gleichgewichtes, sowie Maßnahmen der Struktur und Gesellschaftspolitik (Postulate aus der Sozialstaatsgarantie). Sicherung der Ernährung, der Energieversorgung und der Rohstoffsituation gehören ebenfalls zu solchen Gebieten, auf welchen der Staat planend eingreift. Hinzu gehört selbstverständlich auch das wachsende Gebiet des Umweltschutzes. Schließlich ist hier auch die sog. regionale oder sektorale Strukturpolitik zu erwähnen, die bestimmte Wirtschaftszweige durch Marktordnungen und Subventionen regelt und somit aus dem freien Verkehr herausnimmt. Dazu gehört der Kohlebergbau, die Landwirtschaft sowie die Stahl- und Energiewirtschaft. 3. Das „Timing“ des Überganges Bedeutet nun die Transition, der Übergang von der reinen sozialistischen Planwirtschaft in die eine oder andere Form der Marktwirtschaft, einen langsamen oder einen plötzlichen Prozess? Welche Elemente der Marktwirtschaft sind zu übernehmen und welche Steuerungselemente beizubehalten oder neu auszubauen? Was bedeutet diese Übernahme in Bezug auf die Innovation technischer und wirtschaftlicher Art? Hierauf versucht dieses Referat eine vorsichtige Antwort zu geben. zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus, zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichem Gleichgewicht bei stetigem und angemessenem Wirtschaftswachstum beitragen.“ 7 Das geplante einheitliche Umweltschutzbuch war zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels noch nicht abgeschlossen, wurde im Jahr 2009 dann als gescheitert anegsehen.

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4. Kein Entweder-Oder Zunächst einmal ist es falsch, von einem Entweder und Oder zu sprechen in Bezug auf die Geschwindigkeit der Übergangsphase. Es wäre falsch, wie z. B. in der ehemaligen Sowjetunion, den Übergang möglichst zu akzelerieren, ihn plötzlich vorzunehmen, aber es wäre wohl auch unrichtig, einen unbegrenzten Zeitraum dafür in Anspruch zu nehmen. Man wird zwischen einzelnen Maßnahmen unterscheiden: So musste die Geldwirtschaft sowohl im Jahre 1948 in der Bundesrepublik als auch im Jahre 1990 in der ehemaligen DDR von einem Tag auf den anderen umgestellt werden. Anders verhält es sich dagegen mit dem Lohn und Gehalt. Hier ist der entscheidende Ansatzpunkt die Produktivität. Da die fünf neuen Bundesländer, die früher zur DDR gehört haben, noch nicht den gleichen Produktivitätsstand wie in Westdeutschland erlangt haben, ist auch heute, etwa 20 Jahre nach der erfolgten Wiedervereinigung, der Lohn in Ost und West nicht der Gleiche. 5. Das Problem der Teilsozialisierung Bei der Privatisierung von Staatseigentum und Staatsunternehmen taucht neben der Frage des Zeitpunktes oder der notwendigen Geschwindigkeit die weitere Frage auf, ob nicht eine Teilsozialisierung beibehalten werden soll, bzw. welche Betriebe privatisiert werden und ob der Staat noch einen Anteil behalten soll. Im Falle der Wiedervereinigung wurde für die Privatisierung die Treuhand gegründet, ein staatlicher Träger, der die Unternehmen des früheren Staatsbetriebes DDR übernahm, um sie zu verkaufen. Allerdings ist hier die weitere wichtige Frage zu beantworten, ob dieses staatliche Eigentum an wirtschaftlichen Unternehmen oder Produktionsmitteln nicht in Kommunaleigentum, also in ein Eigentum der öffentlichen Hand besonderer Art überführt werden soll oder muss. Betont werden soll aber doch der Umstand, dass auch die Entstehung von Vermögen in kommunaler Hand ein wichtiges Steuerungsinstrument des Sozialstaates und der sozialen Marktwirtschaft darstellt. 6. Einwirkung durch EU-Richtlinien als weitere Phase Neben diesen zwei historischen Phasen der Überführung in Marktwirtschaft (1948 und 1990) gibt es eine dritte noch anhaltende Phase, die dadurch gekennzeichnet ist, dass durch die Politik und die Richtlinien der EU zunehmend in stärkerem Maße auf die Wirtschaftspolitik und die Wirtschaftsverfassung der Gliedstaaten eingewirkt wird. Ich möchte als Beispiel hier zwei Fälle herausgreifen, die gegenwärtig entschieden werden müssen oder entschieden wurden: Die deutschen Sparkassen als kommunale Unternehmen hatten bisher insofern eine Privilegierung gegenüber den Geschäftsbanken, als sie von den Gemeinden eine Garantiestellung erhielten. Es bestand also nicht die Gefahr, dass die Sparkasse, anders als eine Bank, in einen Konkurs geriet und dass dadurch die Anleger und die kleinen Kontoinhaber geschädigt würden. Dieses Privileg ist auf Beschwerde der

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deutschen Banken den Sparkassen von der Europäischen Kommission abgesprochen worden; nach der Übergangszeit von einigen Jahren werden sie die gleiche Stellung haben wie die Geschäftsbanken. Meines Erachtens ist das nicht gerechtfertigt, weil die besondere Stellung der Sparkassen ein Element sozialstaatlicher und sozialmarktwirtschaftlicher Steuerung und Absicherung war. Ein anderes Beispiel möchte ich deshalb geben, weil ich gerade hier die öffentliche Hand in verschiedenen Rechtstaatlichkeiten vor Gericht vertrete. Es geht darum, ob der Notarzttransport als staatliche Aufgabe im Auftrag des Staates von gemeindlichen Zweckverbänden durchgeführt werden darf oder ob hier durch die liberale Marktpolitik der EU auch diese Form des Rettungsdienstes in privater Hand abgewickelt werden muss. Bereits haben die Gerichte die öffentlich-rechtliche Struktur des Rettungsdienstes (Notarztdienst) in der Hand der kommunalen Zweckverbände anerkannt, doch ist die Frage noch nicht endgültig entschieden.8 Andere Einwirkungen der EU-Wirtschaftspolitik und Richtlinienkompetenz zeigen sich aber deutlich auf dem Gebiet der Telekommunikation. Hier hat die Bundesrepublik ein umfangreiches Privatisierungskonzept aufgestellt und die ehemalige staatliche Post in die privaten Bereiche Postbank, Postdienst und Telekommunikation aufgelöst. Für eine Übergangszeit hat die Briefpost noch ein öffentlich-rechtliches Monopol beibehalten, das aber wahrscheinlich früher oder später auch weiter reduziert wird. Neben Privatisierung und Kommunalisierung staatlichen Eigentums ist auch noch die Deregulierung zu erwähnen. Sie besteht vor allem darin, dass die Fülle öffentlichrechtlicher Beschränkungen und Reglementierung aufgehoben wird und dass die Autonomie der am Wirtschaftsverkehr Beteiligten durch Vertrag oder Selbstverpflichtung das Marktgeschehen regelt. Durch die Deregulierung wird selbstverständlich die Kontrollfunktion des Staates modifiziert und von einer Fachaufsicht in eine Kontrollstellung in Bezug auf die Entstehung von wirtschaftlicher Macht, also in Monopolkontrolle, umgewandelt. Im Rahmen der Deregulierungsdiskussion und der Durchführung von Deregulierungsmaßnahmen sollen hier Neuerungen im Verwaltungsrecht und Verwaltungsverfahren diskutiert werden, die teils dem Stichwort des „schlanken Staates“ (lean management), teils der Verschmelzung öffentlicher und privater Verwaltung diskutiert werden. Wie bereits angedeutet, gehören dazu der öffentlich-rechtliche Vertrag, die Einführung eines Moderators oder einer Moderation im Verwaltungsverfahren9 bzw. die Verlegung des Verfahrens von der öffentlichen Verwaltung auf einen fremdfinanzierten Moderator und die Selbstverpflichtung. Diese bisher nur angedeuteten Instrumente bedürfen kurz einer näheren Erläuterung. Der öffentlich rechtliche Vertrag, der erstmals im Jahre 1921 durch Willibalt Apelt in dessen Habilitationsschrift gründlich 8 Martin Schulte, Rettungsdienst durch Private, Berlin 1999. Dazu Scholler, BayVbl 2001, 511 (Buchbesprechung). BVerwGE. 9 Achim Seidel, Privater Sachverstand und staatliche Garantenstellung im Verwaltungsrecht, München 2000.

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dargestellt wurde, hat inzwischen eine Verankerung im deutschen Verwaltungsverfahrensrecht gefunden. Allerdings versucht man heute dieses Instrument wesentlich auszudehnen unter dem Stichwort der öffentlich-rechtlichen Kooperation zwischen Staat und Wirtschaft. Dabei wird der bisherige Grundsatz aufgegeben, dass ein solcher öffentlich-rechtlicher Vertrag nur da zulässig sei, wo das Gesetz entweder der Verwaltung Handlungsermessen einräume oder das Gesetz ausdrücklich einen solchen Vertrag vorsehe. Damit wird aber die Existenz einer allgemein verpflichtenden öffentlich-rechtlichen Norm aufgegeben oder zumindest in Frage gestellt. Denn alles wird verhandelbar, auch das öffentliche Interesse. Ähnlich liegt es auch bei dem zweiten Instrument, dem Moderator oder der Einräumung von Kompetenzen – evtl. durch eine öffentlich-rechtliche Vereinbarung – an einen Schlichter, der dann anstelle der gesetzlich zuständigen Behörde meist im Sinne von Vergleichsvorschlägen handelt. Dabei wird auch die weitere Variante diskutiert, ob die Kosten eines solchen Schlichters und Schlichtungsverfahrens nicht von der öffentlichen Hand getragen werden sollen, sondern von einer Stiftung. Dabei spielt auch der Gedanke eine Rolle, dass die Belastung des Haushaltes durch teuere Einspruchsverfahren belastet werden soll. Die Gefahr ist aber nicht von der Hand zu weisen, dass diese Stiftungsmittel von der privaten Wirtschaft zur Verfügung gestellt werden und sich somit wohl auch auf die Einstellung des Moderators auswirken könnten. Die sog. Selbstverpflichtung ist ein weiteres Instrument der Deregulierung. Sie soll an die Stelle der durch das Gesetz im Rahmen der besonderen verwaltungsrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtung treten. Daneben bestehen aber auch sog. Selbstverpflichtungserklärungen, die offenkundig nur politischen und daher nicht rechtlich erzwingbaren Charakter haben sollen.10 Die Erklärung der Arbeitgeberverbände oder die Forderung ihnen gegenüber, sich durch eine Selbstverpflichtungserklärung verbindlich zu verpflichten, eine bestimmte Zahl von neuen Arbeitsplätzen zu schaffen, würde hierzu zählen. Hier ist wohl nicht gemeint, das rechtlich nicht verankerte Grundrecht eines Rechtes auf den Arbeitsplatz auf dem Umweg über die Selbstverpflichtung zu regulieren. So bedeutsam solche politischen Selbstverpflichtungserklärungen im Raum der Politik sein können, so unbedeutend sind sie für die Frage der rechtlichen Durchsetzung und Erzwingung. Darüber hinaus gibt es aber auch Selbstverpflichtungen in Bereichen, wo an und für sich das Verwaltungsverfahrensgesetz bereits eine klare Verpflichtung zum Handeln oder Unterlassen statuiert hat. Was sollen in solchen Fällen zusätzliche Selbstverpflichtungserklärungen? Sollen sie nur die rechtlich erzwingbare Verpflichtung politisch verstärken? Wenn dies der Fall sein sollte, dann sind sie als politische Erklärungen rechtlich unbedenklich. Treten sie aber dort auf, wo das Gesetz keine legale Verpflichtung statuiert hat oder wo die Verwaltung noch nicht in den Verwaltungsakten eine solche Verpflichtung im Rahmen der gesetzlichen Möglichkeiten festgelegt hat, sind sie außerordentlich bedenklich. Sie erweitern nämlich den Kreis der zulässigen Tatbestände, für welchen der Staat oder die staatliche Verwaltung eine Sanktionierung vorsehen kann. Der 10 Eine frühe Form der Selbstverpflichtung waren die Filmselbstkontrolle oder der Presserat. Die Diskussion hierüber ist noch nicht abgeschlossen.

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Sinn einer solchen zusätzlichen oder ergänzenden rechtlichen Selbstverpflichtung kann doch nur sein, dass tatsächlich ein Rechtsgrund für die Erzwingung dieser Selbstverpflichtung entsteht. Damit wird das Prinzip der Legalität, also das Prinzip der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, verletzt. Dieses Prinzip befindet sich nicht nur in Deutschland, sondern in allen europäischen Staaten außerhalb der Reichweite des englischen und amerikanischen Common Law. Nur der Gesetzgeber kann Tatbestände der rechtlich zu sanktionierenden Verpflichtungen feststellen. Sollten darüber hinaus solche Rechtsverpflichtungen durch Erklärung eingegangen werden, ist es zweifelhaft, ob sie überhaupt zusätzlich zu dem Kreis der fest abgeschlossenen gesetzlichen Verpflichtungstatbestände treten können und ob sie von der Verwaltung vollstreckt werden dürfen. Nur dort, wo die Verwaltung nach Ermessen handeln kann und daher auch befugt ist, einen verpflichtenden Verwaltungsakt zu erlassen oder auf ihn zu verzichten, kann eine wirksame rechtliche Selbstverpflichtungserklärung der Wirtschaft erwartet werden. Denn es läge im Ermessen der Verwaltung, einen Verpflichtungsbescheid zu erlassen oder darauf zu verzichten, wenn die Behörde eine Selbstverpflichtung zuließe. Fraglich kann immer noch bleiben, ob solche Selbstverpflichtungserklärungen auch nach den Vorschriften über die Verwaltungsvollstreckung vollstreckbar sind. Vertragskoordinierung der Verwaltung, Schlichtungsverhandlungen durch nichtstaatliche Moderatoren und Selbstverpflichtungserklärungen der Wirtschaft zeigen einen Abbau an staatlicher Hoheitsqualität und ihre Ersetzung durch mehr oder weniger neue privatrechtliche Instrumente an. Wäre es nur unter dem Aspekt der sparsamen Verwaltung zu prüfen, könnte man darin wirklich eine Alternative sehen. Diese Vorgänge sind aber auch zu sehen unter dem Gesichtspunkt des Zurückweichens der an die Grundrechte und damit den Gleichheitssatz gebundenen Verwaltung. Es wäre auch unrichtig zu fordern, dass beim Übergang von der Planwirtschaft in die Marktwirtschaft alle Handlungsformen hoheitlichen Verwaltungshandelns überprüft und beseitigt werden müssten, soweit der Markt selber besser oder empfehlenswerte Instrumente anbieten kann. Bei allen drei genannten Instrumenten würde das Institut der Ermessensbindung der Verwaltung in der Gestalt der Selbstbindung11 durch vorangegangenes Handeln entfallen. Diese Selbstbindung ist Ausfluss des Gleichheitsgrundsatzes, der von der Verwaltung verlangt, im Rahmen der Ermessensbetätigung Ermessenstatbestände gleichmäßig zu beurteilen und vorangegangenes Verhalten als Maßstab für weiteres Tätigwerden anzusehen, es sei denn, dass ein sachlicher Grund eine Abweichung verlangt. Für die koordinierende vertragliche Verwaltung, das Amt des Koordinators oder Moderators im Schlichtungswesen oder die Selbstverpflichtungserklärungen besteht aber kein einheitliches vorgehendes oder vorgängiges Verhalten, oder doch zumindest nicht in dem Maße, wie es durch die hoheitlich handelnde Ermessensverwaltung besteht.

11

Scholler, Selbstbindung und Selbstbefreiung der Verwaltung, DVBl 1968, 409 ff.

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7. Die Rechtsstaatlichkeit des Sozialstaates und der sozialen Marktwirtschaft Art. 20 und 28 GG legen die Bundesrepublik auf den sozialen Rechtsstaat fest. Der Begriff des Rechtsstaates bedeutet, dass alle Eingriffe in Freiheiten und Rechte durch ein vom Parlament beschlossenes Gesetz erfolgen müssen. Die Rechtsprechung hat diesen Grundsatz dahingehend erweitert, dass alle wesentlichen Entscheidungen durch Parlamentsgesetze zu erlassen sind. Dem Einwand, dass eine parlamentarische Regelung notwendiger gesellschaftlicher Prozesse den kreativen Phänomenen der Gesellschaft immer weiter hinterherhinke, muss man allerdings Folgendes entgegenhalten: Das Initiativrecht zur Gesetzgebung hat nicht nur das Parlament, sondern auch die Bundesregierung (Art. 76 GG). In der Praxis werden 80 % aller Gesetze durch die Initiative der Bundesregierung, also der einzelnen Ministerien, auf den Weg gebracht. Dadurch ist gesichert, dass die notwendige Schubkraft aus der Gesellschaft sich möglichst schnell in gesetzliche Aktionen umsetzen kann. Andererseits ist die Form des Gesetzes notwendige rationale Kontrolle emotionaler politischer Schübe, die leicht Gefahr laufen, Einrichtungen von Wirtschaft und Gesellschaft und auch die grundrechtlichen Positionen zu unterlaufen und zu erschüttern. Alle wesentlichen Maßnahmen müssen also durch ein allgemeines Gesetz getroffen werden (Art. 19 Abs. 1 GG). Von dieser Grundregel gibt es aber eine Ausnahme, denn die Verfassung lässt aufgrund ihrer Offenheit sog. Maßnahmegesetze oder Richtliniengesetze zu. Diese spielen gerade bei der Wirtschaftsplanung eine besondere Rolle, weil sie entweder als Zeitgesetze oder als Einzelfallgesetze oder Einzelpersonengesetze ergehen können. Dieses „Plangesetz“ ist also nicht auf Dauer angelegt, sondern greift punktuell und zeitbezogen in den Wirtschaftsprozess ein, um einen gewünschten wirtschaftlichen Zustand herzustellen oder zu erhalten.12 Neben diesen Maßnahmengesetzen stehen die sog. Richtliniengesetze, wodurch ein bestimmtes politisches Programm durch Abwägungsgrundsätze festgelegt wird. Außerdem besteht kraft Verfassungsrecht die Möglichkeit, dass das Parlament auf die Exekutive, also die Ministerien, Gesetzgebungsbefugnisse überträgt, die dann in der Gestalt von Rechtsverordnungen Regelungs- und Lenkungsmaßnahmen übernehmen. Die Verfassung verlangt aber, dass das parlamentarische Gesetz Inhalt, Zweck und Ausmaß, also das Programm der Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen, auf die Verwaltung selbst festlegt (Art. 80 GG).

12 BVerfGE 4, 7; 25, 371; Beispiel: Fernstraßenausbaugesetz in der Fass. der Bek. vom 15. 11. 1993 (BGBl. I 1878).

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8. Die Stellung des Eigentums in der sozialen Marktwirtschaft a) Einwirkungen des Sozialstaatsprinzips auf die Grundrechtsformulierung Die Grundrechte des einzelnen wirtschaftenden Menschen, die Berufsfreiheit und der Eigentumsschutz stehen nicht unmodifiziert der Garantie des Sozialstaates gegenüber. Vielmehr findet man bereits in der Verankerung der Grundrechte Einwirkungen des Sozialstaatsprinzips auf die Grundrechtsformulierung. So wird die Berufsausübung nach Art. 12 GG durch das Gesetz geregelt, das bis in die freie Berufswahl hineinwirkt. Noch deutlicher ist aber die Einwirkung des Sozialstaatskonzeptes auf die Eigentumsfreiheit in der Eigentumsgarantie selbst zu erkennen. Zunächst einmal steht neben der Eigentumsgarantie in Art. 14 GG eine Norm, die die Sozialisierung von zentralen Produktionsmitteln zulässt (Art. 15 GG). Aber auch die Eigentumsgarantie enthält nicht nur die Möglichkeit der Einzelenteignung gegen Entschädigung (Art. 14 Abs. 3 GG), sondern die Garantie des Eigentums ist mehrfach konditioniert. Zunächst sagt Art. 14 Abs. 1 GG, dass Inhalt und Schranken des Eigentums vom Gesetzgeber festgelegt werden. Eigentum ist sowohl die Garantie eines subjektiven Rechtes des Eigentümers als auch die Garantie der Einrichtung des Eigentums. Zum Eigentum gehört nicht nur das Eigentum an Grund und Boden oder an beweglichen Sachen, sondern auch das Eigentum an Ansprüchen, so z. B. an Renten. Der moderne Mensch lebt nicht so sehr vom Sacheigentum als von Ansprüchen, die er auf Grund seines Arbeitslebens durch Einsatz seiner Arbeitskraft erarbeitet hat. Der Gesetzgeber wird also die verschiedenen Eigentumsarten, Unternehmenseigentum, Grundeigentum oder Verbrauchseigentum usw., je nach ihrer Funktion unterschiedlich gestalten. Das Eigentum soll aber auch die Privatautonomie der Entscheidung über die Produktion und Verteilung von Gütern sichern. Auf ihr ruht auch die Dezentralisation des wirtschaftlichen Prozesses und die Garantie der privaten Initiative im Produktionsbereich. Demgegenüber steht auch in der Eigentumsgarantie ein wohlfahrtsstaatlicher Aspekt, weil Abs. 2 von Art. 14 GG die soziale Verpflichtung des Eigentums betont. Wenn in diesem Zusammenhang schon davon gesprochen wurde, dass eine weitere Welle der Privatisierung durch die EU in Gang gesetzt worden ist, die z. B. in Deutschland Bahn und Post ergriffen hat, so sieht man aber auch, dass seit der letzten Bundestagswahl bestimmte Maßnahmen durchgeführt wurden, welche allerdings nicht unbestritten die Sozialpflichtigkeit des Eigentums wieder verstärkt haben. So erfolgten eine Stärkung des Mieters im Mietrecht und eine Erweiterung der Mitbestimmung gerade im Bereich mittelständischer Unternehmen13 (Inhaltsbestimmung des Eigentums, Abspaltung des Bergbaurechtes oder Regelung am unterirdischen Wasser (Grundwasser) durch das Wasserhaushaltsgesetz14).

13 14

BVerfGE 18, 121/131 f.; BVerfG, NJW 1993, 2035; BVerfGE 65, 196/209. BVerwG, JZ 1994, 197 (Kiesabbau in der früheren DDR).

S. Verfassung und Recht im Prozedere der Globalisierung

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b) Verhältnis von Rückgaberecht und Investitionschance Für die Entwicklung von Grundsätzen für die Überleitungsphase von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft ergeben sich hieraus wichtige Postulate. Hierzu möchte ich mich auf die Erfahrungen bei der Wiedervereinigung Deutschlands aber auch auf Eindrücke aus der Mongolei stützen. Bei der Rückgabe von Eigentum an Grundstückseigentümer, die zu Unrecht in der DDR enteignet worden waren, hat man das subjektive Recht des früheren Eigentümers über die soziale Pflichtigkeit gestellt. Es galt nämlich der Grundsatz, Rückgabe gehe vor wirtschaftlicher Nutzung. Da aber die Unterlagen über Vorgänge, die Jahrzehnte zurücklagen, häufig unvollständig waren, haben sich die Rückgabeverhandlungen oder -prozesse in die Länge gezogen. Während dieser Zeit konnten die Grundstücke oder Industrieanlagen nicht benutzt werden, bzw. waren keine Investoren zu gewinnen, da es unklar war, wer in Zukunft das Eigentumsrecht innehaben würde. Hier hat ein grundsätzlich richtiger Wiedergutmachungsgedanke zu einer Übertreibung der privaten Eigentümerstellung geführt, so dass die soziale Funktion des Eigentums oder des Betriebes gehemmt oder gar ausgeschlossen war. Die Sozialpflichtigkeit des Eigentums hätte verlangt, dass die Nutzung des Eigentums Vorrang habe und der frühere Eigentümer evtl. auf eine Abfindung im Wege der Enteignungsentschädigung zu beschränken sei. Ähnlich war es z. B. in der Mongolei, wo eine überstürzte Privatisierung des staatlichen Wohnungseigentums zu einer rasanten Steigerung der Mieten geführt hat.

9. Das Regelungsinstrument der Marktordnung Bei einer Marktordnung werden die Funktion des Wettbewerbes und seine Auswirkung auf die Gestaltung des Preises, des Inhaltes der Austauschbeziehungen, die Produktionsweise und der Warenverkehr durch staatliche Bestimmungen ersetzt oder modifiziert. Der Staat fürchtet, dass auf diesem geregelten Gebiet die ungebremste Marktwirtschaft zu unerwünschten Ergebnissen, z. B. zum Erliegen der landwirtschaftlichen Produktion, führen würde. Durch die Marktordnung werden Höchstpreise oder Richtpreise oder auch Interventionspreise festgelegt. Hier ist z. B. auf die Getreidemarktordnung oder die Bananenmarktverordnung zu verweisen. Dort ist eine Beschränkung der Marktwirtschaft durch EG-Recht erfolgt, die zu einer anhaltenden Diskussion auch gerade mit den Vereinigten Staaten geführt hat. Seit dieser Ordnung war die Präferenz für die Einfuhr von Bananen aus ehemaligen afrikanischen Kolonialstaaten der EU-Mitgliedsländer festgelegt.15 Ein weiteres Instrument zur Regelung bzw. zur Intervention in den Markt stellen die Subventionen oder die Steuervorteile (mittelbare Subventionen) dar. Hier werden bestimmte Regionen oder Sektoren der Wirtschaft, manchmal auch einzelne Unternehmen, Gegenstand besonderer staatlicher Lenkungsmaßnahmen. Man hat hier ge15 Antwort der BReg., auf eine kleine Anfrage betr. negative Auswirkungen der EG-Bananenmarktordnung auf den Bananenwelthandel, BT-Drucks. 12/7230. EuGH, EuZW 1993, 483 und 486.

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radezu davon gesprochen, dass nicht der Staat in die Wirtschaft, sondern die Wirtschaft in den Staat hinein über die Lobbies interveniere.16 IV. Die Gefährdung des sozialen Besitzstandes In den bisherigen Ausführungen wurde im Wesentlichen das Recht als Bedingung und Schranke der Globalisierung dargestellt. Selbstverständlich führt sich das Recht auf die Verfassung zurück, muss immer im Einklang mit dieser sein und ist daher Ausdruck und Ausstrahlung der Verfassungsordnung. Aber auch die Ausführungen – vor allem im vorausgehenden Abschnitt – haben schon gezeigt, dass die Verfassung unmittelbar angesprochen ist, weil sie ja sehr deutliche Normen enthält, wie z. B. die Artikel über die Berufsfreiheit und das Eigentum (Art. 12 und 14 GG). Bei der Garantie des Eigentums findet sich auch die Regelung in Art. 14 Abs. 2 GG, dass dieses Grundrecht sozial verpflichtet. Damit wird auf Verfassungsebene der Brückenschlag zur Garantie des Sozialstaates in Art. 20 und 28 GG getan. Aber gerade hier setzte bereits vor 20 Jahren eine Diskussion um die Frage ein, inwieweit der durch die Sozialstaatsgarantie erreichte soziale Besitzstand von Verfassung wegen garantiert sei. Die damalige Diskussion unterschied sich nicht grundlegend von der jetzigen, die unter dem Stichwort der Globalisierung geführt wird. Allerdings war der Druck damals ein innerstaatlicher, also eine innerstaatliche Krise des Sozialstaates, während die jetzige Diskussion sich um eine Krise dreht, die weltweit und damit außerhalb der nationalen Grenzen ausgelöst wurde. Vor 25 Jahren habe ich mich mit meinem Kollegen Peter Krause in einem publizierten Gutachten17 mit der Frage beschäftigt, inwieweit Behinderte eine Kürzung von finanziellen Leistungen hinnehmen müssen, oder ob sie sich auf den garantierten Besitzstand der einmal erworbenen Leistungen berufen können. Wegen der strukturellen und thematischen Ähnlichkeit beider Vorgänge – Bedrohung des Sozialstaates durch Kürzung des sozialen Besitzstandes damals oder durch die Globalisierung heute – darf ich inhaltlich auf einige Ausführungen Bezug nehmen, die ich zur gleichen Zeit in einem Artikel veröffentlicht habe.18 Unter den Beiträgen, die der Krise des Sozialstaates und der Wahrung des sozialen Besitzstandes gewidmet sind, ragten damals schon zwei Aufsätze von Josef Isensee hervor: „Verfassung ohne soziale Grundrechte“19 und „Der Sozialstaat in der Wirt16 BVerfGE 80, 124 – Schenke, GewArch. 1977, 313. Gesetz über Maßnahmen zur Förderung des deutschen Films (Filmförderungsgesetz) i. d. F.d. Bek. vom 25. 01. 1993 (BGBl. I 66). BVerwGE 90, 112. 17 Scholler / Krause, Die Neukonzeption des Sozialhilferechts und die Situation blinder Menschen, München 1978. 18 Scholler, Beiträge zum Behinderten- und Rehabilitationsrecht, Percha 1986, S. 221 ff.; auch abgedruckt in: Zeitschrift für Sozialhilfe und Sozialgesetzbuch, Bd. 5, 1983, S. 163 ff. 19 Josef Isensee, Verfassung ohne soziale Grundrechte, in: Der Staat 1980, 375; ders., Der Sozialstaat in der Wirtschaftskrise – der Kampf um die sozialen Bestände und die Normen der

S. Verfassung und Recht im Prozedere der Globalisierung

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schaftskrise – der Kampf um die sozialen Bestände und die Normen der Verfassung“. Im letzteren Beitrag beschäftigte sich Isensee besonders mit der Bedeutung und Deutung der Sozialstaatsklausel als Garantie des sozialen Besitzstandes einschließlich der sozialen Gleichheit und mit der rechtlichen Substanz der Sozialstaatsklausel. Dort meint er einleitend: „Zur verfassungsrechtlichen Apokalypse besteht jedoch kein Grund, wenn man das Grundgesetz mit nüchternen juristischen Augen sieht.“ Darunter versteht er die Ablehnung der Sozialstaatsklausel als reine Blankettvorschrift und die Garantie eines Mindeststandards eines menschenwürdigen Daseins. Isensee spricht sich dann für eine Legitimation des sozialstaatlichen „Aktivismus“ aus, da die Umverteilungsmasse riesig sei. Dabei soll der Sozialstaat nicht nur klassische „Notlagen“ abwehren, sondern das Normalniveau der Gesellschaft sicherstellen. Er wandte sich aber gegen „sozialreligiöse Schwarmgeister“, die den „Armutspegel mit wachsendem Wohlstand immer höher setzen und die Randgruppen immer weiter definieren“. Bei der Untersuchung der rechtsstaatlichen Hemmnisse des Abbaus im Prozess der Übergangsgerechtigkeit fand er sehr wenige rechtliche Barrieren, die verfassungsrechtlichen Rang haben. Insbesondere verfehlten Vertrauensschutz und Rückwirkungsverbot durch den Gleichheitssatz, der nur vor willkürlichen, aber nicht allgemeinen und gleichmäßigen Kürzungen schützt, ihre Schutzfunktion, so dass keine Garantie zukunftsgerichteter Konsequenz und sozialer Gewährleistung gegeben sei. Hier könnte aber eine neue Theorie des Schutzes von Sonderopfern hilfreich sein. Im Rahmen des Absteckens von Grenzen der Abgabenbelastbarkeit kommt Isensee dann zu einer Konkordanz von Sozialstaat und Steuerstaat20, von Steuerstaat und Grundrechtsschutz und von grundrechtlicher Leistungsfähigkeit und sozialem Staatsziel. Dass hier die Argumentation vielleicht zum Zirkel wird, sieht der Verfasser so, wenn er am Ende seiner Ausführungen schreibt: „Da der soziale Steuerstaat als Brandstifter und Feuerwehrmann in Personalunion die Not schafft, für die er Retterdienste anbietet, dass er derselben Person durch Abgaben entzieht, was er ihr (nach Abzug der Verwaltungskosten) durch Sozialleistungen wieder zuwendet.“

Verfassung, in: J. Listl / H. Schambeck (Hrsg.), Demokratie in Anfechtung und Bewährung, Festschrift für Johannes Broermann, Berlin 1982, S. 365 ff. 20 Die Krise des Sozialstaates und des mit ihm verbundenen Steuerstaates lässt die Zukunftssorgen Arnold Köttgens eher noch wirklicher erscheinen: „Niemand kann voraussagen, ob etwa eine solche Verfassungsrevision – im Hinblick auf sozialrechtliche Generalvollmacht des Bundes – dem ,Wohlfahrtsstaate die Tür öffnen würde, dem zur Zeit nicht zuletzt auch der Art. 74 GG entgegensteht. Gegen eine allgemeine Staatsbürgerversorgung könnten dann nur noch politische Argumente ins Feld geführt werden. Bislang ruht auf dem Sozialstaat eine doppelte Hypothek, mit dem Zugeständnis einer sozialrechtlichen Generalvollmacht des Bundes konzentrieren sich alle Spannungen zwischen Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit auf den sozialen Rechtsstaat.“ Arnold Köttgen, Der soziale Bundesstaat, in: Neue Wege der Fürsorge, Festschrift Hans Mothesius zum 75. Geburtstag, Köln 1960, S. 19 ff., abgedr. in: Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit, hrsg. von E. Forsthoff, Darmstadt 1968, S. 431 (459).

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Nicht nur diese grundsätzliche Kritik ist an dem Zirkel zwischen Sozialstaat und Steuerstaat angebracht, sondern auch eine prozessuale am Maße des Abbaus des sozialen Besitzstandes. Wenn man auch nicht leicht eine materielle Sicherung des sozialen Besitzstandes finden wird – abgesehen vom Mindeststandard menschenwürdigen Daseins21 –, dann wird man doch eine „Legitimation“ des Angriffs auf den sozialen Besitzstand „durch Verfahren“ erwarten dürfen. Da soziale „Errungenschaften“ sich eben nicht jeder Abwandlung gegenüber auf eine Verfassungsnorm berufen können, muss ein Prozedere gesucht werden, das die Rücknahme des sozialen Besitzstandes in sich legitimieren kann. Sicher ist, dass die Sozialstaatsklausel der Art. 20 und 28 GG über Art. 79 Abs. 3 GG dem sie ausführenden Gesetzgeber keinen unantastbaren Verfassungsrang für die differierenden Akte verleiht. Es würden zufällige politische Mehrheiten die Fähigkeit erhalten, den künftigen Gesetzgeber zu präjudizieren.22 Das Sozialstaatsprinzip verbietet nur, dass der Gesetzgeber Sozialleistungen zurücknimmt, die zu seiner Erfüllung unerlässlich sind. Damit ist eine Reduktion von Sozialleistungen zulässig, wenn es für das Gemeinwohl notwendig erscheint.23 Die Rechtsprechung hat zutreffend ausgeführt, dass „aus der Sozialstaatsklausel als Grundsatznorm des Grundgesetzes, wie auch immer die Grenze zu ziehen ist, die durch das Gebot sozialstaatlichen Handelns dem Gesetzgeber vorgezeichnet ist, nicht eine Verpflichtung zur allgemeinen Besitzstandswahrung sozialer Rechte hergeleitet werden kann“. Darüber hinaus kann aber der Gesetzgeber nicht schlechthin von allen Bindungen an einmal getroffene Regelungen freigesprochen werden.24 Danach ist ein vordringliches sozialpolitisches Erfordernis notwendig, welches die Reduktion von Sozialleistungen und den Eingriff in den sozialen Besitzstand als geboten ansehen lässt. Der Gesetzgeber, der eine Leistung streicht, unterliegt daher einem Rechtfertigungszwang. Er muss darlegen, warum die Beibehaltung 21

Der Widerspruch zwischen BVerfGE 5, 85/204 – sozialpolitische Partizipation einerseits – und BVerfGE 1, 97/104 – kein materieller Anspruch aus dem Menschenwürdesatz –, sowie BVerfGE 35, 202/235 – Anspruch auf Resozialisierung – bedarf noch einer Lösung im Rahmen einer weiterführenden Interpretation des Menschenwürdesatzes. Dazu der Vorschlag bei Maunz / Dürig / Herzog / Scholz, Rdnrn. 43 und 44 zu Art. 1 Abs. 1 GG, wo ein Anspruch auf die materiellen Außengüter aus dem Menschenwürdesatz bejaht wird. 22 Scholler/Krause, (siehe Anm. 11), S. 96. 23 Insofern sollte die reine „Dienlichkeit“ für das Gemeinwohl bei einer reformatio in peius sozialstaatlicher Leistungen nicht mehr als genügend angesehen werden, so Scholler/Krause, S. 96. 24 Siehe das kritische Dissenting Opinion der Bundesverfassungsrichterin Rupp v. Brünneck, Zum Beschluss des Ersten Senates des Bundesverfassungsgerichts vom 20. Oktober 1971, BVerfGE 32, 111 (129 ff.); siehe auch Rupp v. Brünneck, BVerfGE 36, 237 (248) und E. Katzenstein, Das Sozialrecht in der neueren Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: VSSR 82, 167 ff., der gegenüber W. Rüfner (Das Sozialrecht in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Jahrbuch des Sozialrechts der Gegenwart, 1979, 21) betont, dass im Berichtszeitraum nur die folgenden sechs Entscheidungen auf das Sozialstaatsprinzip sich bezogen, und zwar: BVerfGE 38, 187; 39, 316; 40, 65; 42, 176; 45, 376; 55, 100. Hinzuweisen ist ferner auf das Sondervotum von Schlabrendorff, BVerfGE 37, 363 (420), das auf das Sondervotum von Rupp v. Brünneck, BVerfGE 32, 129, Bezug nimmt.

S. Verfassung und Recht im Prozedere der Globalisierung

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der Leistung, insbesondere unter den veränderten Umständen, nicht angemessen erscheint. Er verletzt diese seine Begründungspflicht, wenn er umgekehrt argumentiert, indem er schlicht leugnet, dass es Gründe für die Aufrechterhaltung der vorgesehenen Begünstigung gibt.25 Insbesondere ist es nicht ausreichend, wenn ein Gleichheitsverstoß in einer Begünstigung behauptet oder pauschal auf die Haushaltslage verwiesen wird. Diese Pauschalbeurteilungen erfüllen nicht die Begründungspflicht bei der Rücknahme von Sozialleistungen und der Einschränkung des sozialen Besitzstandes. Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz aufgrund der zu revidierenden Begünstigung muss evident sein. Im Vorstehenden habe ich meine eigenen Äußerungen zur Krise des Sozialstaates vor zwanzig Jahren wiedergegeben. Damals war die Krise eine innerstaatliche, während sie heute eine übernationale, im Wesentlichen von der Wirtschaft ausgehende Krise ist, die als Nebenwirkung der Globalisierung des Rechtes in Erscheinung tritt. Gemeinsam haben beide Phänomene, dass die Verfassung keinen genügenden Widerstand bietet. Bei der Globalisierung des Rechtes ist bis heute sogar der legitimierende Rechtschutz durch ein besonderes Prozedere viel zu schwach ausgebaut. V. Umweltschutz und Schutz der Tierwelt als Verfassungsschranken der Globalisierung Die soziale Marktwirtschaft ist ein Ausdruck des Ordo-Liberalismus, was bedeutet, dass von der Verfassung her bestimmte Beschränkungen des freien globalisierten Marktes bestehen. Diese Beschränkungen wurden auch durch weitere Verfassungsänderungen verstärkt, wozu z. B. die Garantie des Umweltschutzes in Art. 20a GG gehört. Der freie Zufluss von Gütern für die freie Investition und Produktion von Gütern durch ausländisches Kapital ist beschränkt, wenn die geschützten Umweltgüter gefährdet oder gar verletzt werden. Gerade in dieser Verfassungsbestimmung zeigt sich, dass die Verfassung nicht nur berufen ist, sich gegen einen extremen globalisierten Liberalismus der Wirtschaft zu wehren, sondern sich auch in der Lage weiß, dies zu tun. In Deutschland besteht eine umfangreiche Gesetzgebung zum Schutz der Umwelt und eine Ergänzung des Grundgesetzes mit Art. 20a GG. Als jüngstes Beispiel möchte ich die Ablehnung des Ausbaus der Donaustufe Straubing erwähnen, welche zum Zwecke der Schiffbarkeit durch Lastschiffe angestrebt wurde. Ein solcher Ausbau hätte Staustufen bedingt, die zu einer allerdings umstrittenen Zerstörung der natürlichen Uferlandschaft geführt hätten. Genauso wie hier in einem innerdeutschen Streitfall die Umwelt gegen ein Landesvorhaben durch den Bund geschützt wurde, müssen auch Vorhaben, die über die Grenzen nach Deutschland hineingetragen werden, an der Garantie des Umweltschutzes gemessen und geprüft werden. Seit einiger

25

Scholler/Krause, S. 97.

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Teil 4: Auf dem Weg nach Europa und das Problem der Globalisierung

Zeit wird an einem Umweltschutzgesetzbuch26 in Deutschland gearbeitet, das aber bisher noch nicht fertiggestellt werden konnte. Teil dieses Umweltschutzdenkens ist auch der Verbraucherschutz. Allerdings hat hier die Forderung, dass der Verbraucher auch gegenüber dem Produzenten jederzeit ein Recht auf Auskunft hat, gerade jetzt einen Rückschlag erhalten.27 Ein Auskunftsrecht wurde dem Verbraucher nur gegenüber dem Staat, nicht aber gegenüber der Produktionsindustrie eingeräumt. Offenbar war der Einfluss der Lobbies in Brüssel zu stark. Hier liegt deutlich ein Fall einer europäischen bedrohlichen Globalisierung des Lebensmittelmarktes vor, der Verbraucherrechte und damit Umweltschutzrechte beeinträchtigt.

VI. Der notwendige Ausbau des Schlichtungsverfahrens der WTO Wirft man dagegen die Frage auf, ob im Rahmen der Abwehr negativer Globalisierungseinflüsse auch ein verfassungsrechtliches oder internationalrechtliches Prozedere eingeräumt ist, dann wird man dies leider im Wesentlichen verneinen müssen. Einmal verweisen die Verfassungsartikel 23 und 25 GG auf die Geltung von EURecht und EU-Richtlinien in Deutschland sowie auf die Transformation von völkerrechtlichem Vertragsrecht und völkerrechtlichem Gewohnheitsrecht. Soweit es sich um die WTO handelt, gibt es allerdings Rechtsschutzmöglichkeiten. In jüngster Zeit sind offenbar zwei neue Streitfälle zwischen den USA und Europa und insbesondere Deutschland erkennbar. Der eine betrifft die von Präsident Bush der amerikanischen Stahlindustrie zuerkannten Schutzzölle, der andere die Subventionierung der amerikanischen Luftfahrt mit 17 Milliarden Dollar, die dazu geführt hat, dass die amerikanischen Fluglinien mit Dumping-Preisen auf den Flugstrecken zwischen den USA und Europa auftreten. Hier sehen die Vorschriften des WTO Streitschlichtungsverfahren vor. Wahrscheinlich wird die Lösung des Globalisierungsproblems vor allem darin liegen, die WTO-Schlichtungsverfahren weiter auszubauen.

VII. Zusammenfassung und Schluss 1. Die angekündigte Reform des Sozialstaates Es wurde schon darauf hingewiesen, dass die Oppositionsparteien, die CDU und die CSU, für den Wahlkampf 2002 eine Reform des Sozialstaats in größeren Programmpapieren angekündigt haben. Ein zentraler Diskussionspunkt ist, die sog. „Staatsquote“ auf 40 % herabzusenken. Unter Staatsquote versteht man alle Abgaben an den Staat durch Steuern und sonstige Abgaben. Es ist eklatant, dass die Staatsquote in Deutschland 60 % des Einkommens der Bevölkerung beträgt, während sie in den 26

Stand 2009 nachgetragen: Das einheitliche Umweltgesetzbuch, das 2008 fertig gestellt worden war, wurde aus Gründen eines politischen Streits der Großen Koalition 2009 für gescheitert erklärt. 27 Die Brüsseler Richtlinie hat den Anspruch auf Information gegenüber dem Lebensmittelproduzenten nur in Richtung Staat und nicht in Richtung Lebensmittelindustrie anerkannt.

S. Verfassung und Recht im Prozedere der Globalisierung

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USA 34 % ausmacht. Seit Jahren hat man versucht, eine Senkung der Staatsquote, also vor allem der Lohn- und Einkommenssteuer, durchzusetzen. Es ist aus verschiedenen Gründen nicht gelungen. Die Koalitionsregierung von SPD und Grünen hatte zu Beginn mit dem Jahr 2003 eine Reform des Steuerrechtes und der Besteuerung angekündigt, die in verschiedenen Schritten zu einer massiven Senkung der Staatsquote führen sollte. Dadurch hoffte man, dass sich der Markt beleben und damit auch die Investition steigen würde. Vergleicht man die Staatsquote Deutschlands mit anderen europäischen Staaten, so sieht man, dass Deutschland, Finnland, die Niederlande und Österreich an der Spitze stehen und Frankreich mit einer Staatsquote mit 51 % und Großbritannien mit einer solchen von 49 % doch einen erheblichen Abstand zu Deutschland halten. Das Herunterdrücken der Staatsquote auf 40 % hat sich die USA zum Vorbild gemacht. Dort beträgt sie nämlich nur 34 %. Die mit einer solchen Steuerreform verbundenen Steuerausfälle hofft man dadurch kompensieren zu können, dass durch verstärkten Konsum und verstärkte Investitionstätigkeiten die höhere wirtschaftliche Produktivität und damit eine Anhebung der Steuereinnahmen einhergeht. Sieht man die Wachstumsraten an, so tritt hervor, dass die USA mit einer Wachstumsrate von 3,5 % weit vor der europäischen Wachstumsrate liegen. Finnland und Schweden haben eine Wachstumsrate von knapp 3 % (2,9 % und 2,8 %). Deutschland kann – vor Italien und Japan – nur eine Wachstumsrate von 0,7 % aufweisen. Noch vor einigen Jahren wurde die Wachstumsrate in Deutschland für das Jahr 2001 auf 2,7 % veranschlagt; die Korrektur jedoch hat nur noch eine Wachstumsrate von 0,7 % für das Jahr 2001 und 0,9 % für das Jahr 200228 ermittelt. 2. Gründe für die ungünstige wirtschaftliche Entwicklung Ursache für diese Entwicklung ist natürlich nicht nur die hohe Belastung des Etats durch die Kosten des Sozialstaates, sondern auch ein starker Rückgang der amerikanischen Wirtschaftsproduktivität. Allerdings haben auch bestimmte sozialstaatliche Maßnahmen der neuen Bundesregierung seit 1998 das Budget des Sozialstaates bzw. das Budget der Bevölkerung belastet, darunter die Erhöhung des Benzinpreises aus ökologischen Gründen und ähnliche Maßnahmen oder auch der lange Jahresurlaub in Deutschland, der vorgezogene Ruhestand und die starke Reduktion der Wochenarbeitszeit. Viele Jahre lang konnten sich diese Kosten des Sozialstaates und diese aus der Sozialmarktwirtschaft stammenden Ansprüche gut vertreten lassen, da sie mit einer großen Bewegung der technischen Innovation einhergingen. Das deutsche Modell der sozialen Marktwirtschaft hat man zu Recht oder zu Unrecht als Ausdruck eines Ordo-Liberalismus verstanden. Dieser Begriff bringt zum Ausdruck, dass auch das Wirtschaftsleben nicht dem freien Spiel der Kräfte alleine überlassen werden darf, sondern dass bestimmte Ordnungsgesichtspunkte sowohl von der Verfassung als auch vom Gesetz her aufgestellt und durchgesetzt werden müssen. Dabei hat man vielleicht zu lange geglaubt, dass ein einmal erreichtes 28

Feststellung durch die sog. „Wirtschaftsweisen“ im April 2002.

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Ziel der sozialen Marktwirtschaft unveränderlich beibehalten werden müsse. Die nationalen Wirtschaften sind aber nicht mehr isoliert und können sich nicht abschotten. Es sind große Wirtschaftsräume entstanden, von welchen vor allem hier der europäische Markt im Rahmen der Europäischen Union erwähnt werden soll. Auch die WTO, welcher die VR China und die Republic of China (Taiwan) beigetreten sind, übt ihren Einfluss auf die Regulierungskompetenz und die Regulierungsmaßnahmen der nationalen Volkswirtschaften aus. Auf der anderen Seite haben aber die Ereignisse seit dem 11. 09. 2001 gezeigt, dass der schlanke Staat, das „Lean Management“, nicht nur einen Schwachpunkt des sozialen Systems und der Solidarität der Menschen, sondern auch eine Schwäche im Bereich des Schutzes vor nationaler oder internationaler Kriminalität offenbart. Somit ist es die Aufgabe des modernen Gesetzgebers, einen Kompromiss, oder besser gesagt einen Ausgleich zwischen den großen Zielen Sicherheit, Freiheit und Solidarität zu erreichen.

T. Die Entstehung und Bedeutung der europäischen Grundrechtecharta1 I. Die Entstehung Am 1. Mai 2004 trat Ungarn zusammen mit neun weiteren Staaten der Europäischen Union bei, so dass von diesem Augenblick an auch die europäische Grundrechtecharta für unser osteuropäisches Nachbarland von erhöhter Bedeutung wurde. Prof. Antal dm2 hatte schon vor der Wende an der Integration Ungarns in die westliche Werte- und Rechtsgemeinschaft gearbeitet.3 Im Juni 1999 wurde auf Vorschlag der deutschen Präsidentschaft im Ministerrat beschlossen, eine Grundrechtecharta für die Europäische Union zu entwerfen.4 Vorausgegangen waren schon mehrere entscheidende Entschließungen der europäischen Organe. Die gemeinsame Erklärung der Organe vom 5. April 1977, der Beschluss des Rates zur Demokratie von 1978, die Erklärung des europäischen Parlamentes über Grundrechte und Grundfreiheiten vom 12. April 1989 und die Entschließung vom 10. Februar 1994 über das Projekt einer europäischen Verfassung.5 Von Bedeutung war auch ein Beschluss des Bundesverfassungsgerichts, Solange-Entscheidung genannt, das feststellte, dass die Vollkompetenz der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit solange erhalten bleibe, bis ein adäquates Grundrechtssystem auf Verfassungsebene der EU geschaffen werde.6 Der ins Leben gerufene Verfassungskonvent, der die Grundrechtecharta ausarbeiten sollte, umfasste u. a. folgende Mitglieder:

1 Dieser Artikel wurde in der Festschrift für Antal dm veröffentlicht. Siehe dazu: „Adamante Notare“ – Essays in honour of Professor Antal dm on the occasion of his 75th birthday, Editor Nra Chronowski, Pcs 2005, S. 518 ff. 2 Antal dm, Hochschullehrer an der juristischen Fakultät der Universität Pcs und Mitglied des ungarischen Verfassungsgerichts. Siehe dazu auch seinen Artikel: Die Religionsfreiheit als Verfassungswert in Ungarn, in: Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, hrsg. von Schünemann / Müller / Philipps, Berlin 2002, S. 73 ff. 3 Der Verfasser dieser Zeilen war seit 1988 wiederholt Gast an der juristischen Fakultät in Pcs und Budapest und konnte 1989 ein Symposium organisieren unter dem Thema: „Die Verfassung als Katalysator“. Hier hat Antal dm folgenden Beitrag geliefert: „Die Entwicklungstendenzen des ungarischen Verfassungslebens“. Antal dm war damals Vorsitzender der Grundrechtskommission für die Verfassungsrevision. 4 Europäischer Rat von Köln, Beschluss vom 04. 06. 1999, EuGRZ 1999, 364 f.; veröffentlicht wurde die Grundrechtecharta im ABl. der europäischen Gemeinschaften 2000, C 364, 01; EuGRZ 2000, 554. 5 Abl. EG 1994 Nr. C 61, S. 155. 6 BVerfGE 37, 271 ff. sog. Solange-I-Beschluss.

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15 Repräsentanten der europäischen Staats- und Regierungschefs, einen Beauftragten des Kommissionspräsidenten, 16 Mitglieder des europäischen Parlaments und 30 Mitglieder der nationalen Parlamente. Damit waren drei Viertel der Mitglieder unmittelbar demokratisch legitimiert. Vorsitzender war Roman Herzog, der frühere Präsident der Bundesrepublik Deutschland und ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Nach der deutschen Rechtsprechung war und ist die Union eine Vereinigung von Völkern und Staaten als sog. Staatenverbund, kein Bundesstaat.7 Deshalb wurde auch eine paritätische Vertretung der Organe im Konvent vorgesehen; man wollte ein Parlament der Nationen ins Leben rufen. In öffentlichen Sitzungen wurden Gewerkschaften, Kirchen und andere Organisationen der Gesellschaft und des öffentlichen Lebens angehört. Hunderte von Eingaben aus allen Schichten Europas wurden behandelt.8 Im September 2000 wurde die Grundrechtecharta proklamiert. Diese Charta umfasst neben der Präambel und den Schlussbestimmungen folgende Teile: Freiheit- und Gleichheitsrechte (Kapitel II und III), soziale Rechte im Abschnitt Solidarität (Kapitel IV), spezielle Bürgerrechte (Kapitel V) und die sog. justiziellen Rechte (Kapitel VI). Im Schlusskapitel werden der Adressatenkreis, die Grundrechtsschranken und das Verhältnis zu anderen Grundrechten behandelt. Damit enthält die Charta Grundrechte liberaler Natur, wie sie seit der französischen Revolution eingefordert wurden, aber auch soziale Grundrechte, wie sie sich zum Teil in der deutschen Paulskirchenverfassung von 18499 vorfanden, nicht aber im Grundgesetz verankert sind. Immerhin haben Portugal, Italien und Griechenland umfangreiche Grundrechtskataloge sozialer Natur vorgesehen. Daneben stehen kulturelle und wirtschaftliche Grundrechte individueller und kollektiver Natur. Aber auch ganz moderne Fragen sind grundrechtlich geregelt, wie z. B. die Rechte aus der modernen Medizin (Art. 3 Abs. 2). Trotz der verschiedenen Rechtskulturen – erwähnt sei der Unterschied zwischen dem Common Law und dem Continental Law – liegt kein simpler Minimalkompromiss vor. Die Unterschiede in der nationalen Kultur der Grundrechte als Verfassungsrecht sind sehr groß: So besitzt Portugal einen sehr umfangreichen Grundrechtekata-

7

Hierzu Rudolf Streinz, Europarecht, 6. Aufl., Heidelberg 2003. Alber / Widmaier, Die EU-Charta der Grundrechte und ihre Auswirkungen auf die Rechtsprechung, EuGRZ 2000, S. 497 ff. 9 Heinrich Scholler, Die sozialen Grundrechte in der Paulskirche, in: Der Staat, Band 13 (1974), S. 51 ff.; ders., Soziale Frage und soziale Rechte im Spiegel der „Deutschen Zeitung“ vom Vormärz bis zur Frankfurter Nationalversammlung, in: Ruland / von Maydell / Papier (Hrsg.), Verfassung, Theorie und Praxis (Festschrift für Hans Zacher), Heidelberg 1998, S. 965 ff.; ders., Die soziale Frage und die Forderung sozialer Grundrechte, in: Bahners / Roellecke (Hrsg.), 1948 – Die Erfahrung der Freiheit, Heidelberg 1999, S. 71 ff. 8

T. Entstehung und Bedeutung der europäischen Grundrechtecharta

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log, Großbritannien10 bis vor kurzer Zeit überhaupt keine geschriebene Verfassung und keinen Grundrechtskatalog und Frankreich nur einen Verweis in der Präambel auf die Erklärung vom 26. August 1789. Ein großer Unterschied besteht auch im Hinblick auf die reine Erwähnung oder die Anrufung Gottes (Invocatio Dei). Sie findet sich in drei Verfassungen, so z. B. in der griechischen und in der Verfassung von Irland und in der Präambel des Grundgesetzes, während Frankreich einem laizistischen, religionsfeindlichen Grundsatz folgt. Demgegenüber spricht man in Deutschland von einer „hinkenden Trennung“ von Staat und Kirche. Die Grundrechtsprechung des EuGH ist aus verschiedenen Gründen kasuistisch, während die Judikatur in den meisten Ländern Europas außer England systematisch ist und sich auch beim Grundrechtesystem zurückführen lässt. Es gab aber auch den Vorschlag, dass ein europäischer Grundrechtekatalog dadurch geschaffen werden sollte, dass die EU dem Europarat and damit der EMRK beitreten sollte.11 Andere Vorschläge gingen dahin, dass die EU aus Gründen der Vereinfachung nur die Menschenrechtsgarantien der Konvention übernehmen sollte. Die Übernahme der europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) käme aber im Grunde genommen einem Beitritt der Gemeinschaft gleich, was besondere Probleme aufwerfen würde. Auch käme zur Annahme der europäischen Grundrechtecharta eine Entscheidung des Parlamentes in Frage. Die Entscheidung des europäischen Gerichtshofes könnte sich auch verstärkt an den Grundrechtskatalogen der Gemeinschaftsstaaten als Ausdruck einer gemeinsamen europäischen Überlieferung orientieren, ohne dass ein neuer Grundrechtekatalog geschaffen würde. Auch könnten die europäische Sozialcharta und die Charta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer eine solche Leitlinie für die Rechtsprechung bilden.12 Klar war, dass die Grundrechtecharta keine Hoffnungen erwecken sollte, die später nicht eingehalten werden könnten und dass durch sie keine Kompetenzerweiterung der Gemeinschaft erfolgen sollte. Soweit die Charta soziale Grundrechte garantiert, musste klargestellt werden, inwieweit damit nur Programmsätze für den Gesetzgeber verankert werden sollten.

II. Die Vorteile einer europäischen Kodifikation der Grundrechte Durch eine Kodifikation der Grundrechte in einer Charta werden eine Reihe von Vorteilen gegenüber der bisherigen Rechtsprechungspraxis erzielt, wozu unter anderem folgende gehören: die Bestimmtheit der Normen, der Vertrauensschutz gegenüber bisher gewährten Positionen, die Verbesserung rechtsstaatlicher Grundsätze 10 Hierzu: Jörg Paul Müller, Neue Formen der Grundrechtsgewährleistungen in der Schweiz und in Großbritannien, in: Schünemann / Müller / Philipps, Das Menschenbild im weltweiten Wandel der Grundrechte, Berlin 2002, S. 63 ff. 11 Vgl. Ziff. 15 b der Entschließung des Europäischen Parlaments vom 16. 3. 2000 (A5 0064/00); Ziff. 27 b des Dimitrakopoulos / Leinen-Berichts vom 27. 3. 2000 über die Vorschläge des Europäischen Parlaments für die Regierungskonferenz (A5 - 0085/2000). 12 Beschlossen am 8. / 9.12.1989 vom Europäischen Rat, abgedruckt in: Soziales Europa 1 / 90, S. 52 ff.

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der Gemeinschaft und die größere Transparenz der Grundrechte. Für den Laien waren die grundrechtlichen Prinzipien schwer oder nicht erkennbar, die aus der Rechtsprechung des EuGH hervorgingen. Außerdem sind hier als Vorteile weiter aufzuzählen: die Generalisierung der einzelnen Rechtspositionen, die bisher nur zwischen den Parteien vor Gericht klargestellt waren und die Tatsache, dass Zweifel in Bezug auf die Trägerschaft der Grundrechte, die Adressaten der Grundrechte unter Schranken durch die Charta geklärt werden. Diese Auslegung der Grundrechte bedeutete auch, dass der Grundsatz der Interpretation zu Gunsten größter Freiheitssicherung abgesichert würde. Man versteht darunter eine sogenannte pro libertate Interpretation, die darauf ausgehen soll, vor allem den Freiheitsrechten einen möglichst weiten Anwendungsspielraum einzuräumen. Gleichzeitig ist in den letzten Jahren eine Verstärkung der nationalen Interessen erkennbar gewesen, so dass durch den Grundrechtekatalog eine Stärkung der Gemeinschaftsgesinnung und des politischen Willens erwartet werden konnte. Eine ähnliche Verstärkung der Legitimationswirkung (Rudolf Smend)13 konnte man auch beim Erlass der zehn Amendments der amerikanischen Verfassung oder den Grundrechten der Paulskirchenverfassung erkennen. Dies kommt vor allem den sog. sozialen Grundrechten zu und den Grundrechten der vierten Generation, wozu z. B. Umweltschutz, der Verbraucherschutz und der Gesundheitsschutz gehören. Dies kommt vor allem in der Präambel der Grundrechtecharta zum Ausdruck: „Die Völker Europas sind entschlossen auf der Grundlage gemeinsamer Werte eine friedliche Zukunft zu teilen, indem sie sich zu einer immer engeren Union verbinden. In dem Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität. (…)“

In der Präambel ist auch zu erkennen, dass zentrale Gehalte des Kataloges der Grundrechte vorstaatlichen Charakter haben, wie das schon in Art. 1 Abs. 2 GG für das deutsche Recht zum Ausdruck gebracht wurde. Der EuGH soll aber weiterhin zur rechtsvergleichenden Analyse im Wege der Rechtsfortbildung befugt bleiben. Dies ergibt sich aus Art. 52 Abs. 3 S. 2 der Grundrechtecharta (GRC), aus dem hervorgeht, dass auch die Formulierung neuer Grundrechte durch die Rechtsprechung möglich ist. Grundrechte weisen auch in die Zukunft der Rechtsgemeinschaft innerhalb der EU. Diesen Charakter haben vor allem folgende Verbürgungen der Charta: – Verbot jeder erniedrigenden Behandlung (Art. 4 GRC). – Verbot jeder Zwangsarbeit (Art. 5 GRC). – Unentgeltlicher Schulunterricht und unentgeltliche Arbeitsvermittlung (Art. 14 Abs. 2, 29 GRC). – Garantie des Kindesrechtes zu beiden Eltern (Art. 24 Abs. 3 GRC). 13 Rudolf Smend, Integrationslehre, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., Berlin 1968, S. 475 (482).

T. Entstehung und Bedeutung der europäischen Grundrechtecharta

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Wie schon gesagt, ist ein Beitritt zur EMRK nicht sinnvoll, schon deswegen nicht, weil die Verbindlichkeit unterschiedlich ist, da nicht alle Mitgliedsländer die Zusatzprotokolle zur EMRK in gleicher Weise unterschrieben haben. In Irland, Dänemark und Großbritannien hat die Konvention keine Geltung erlangt, die Grundrechtecharta müsste auf jeden Fall über dem sekundären Gemeinschaftsrecht oder sogar im Rahmen des primären Gemeinschaftsrechtes stehen. Der Präsident der Konvention Herzog hatte sich auch für ein Verfahren ausgesprochen, nach dem die Charta so behandelt werden sollte, dass sie später als Teil der Vertragsvereinbarungen aufgenommen werden könnte. Die Rechtsnatur der Grundrechtecharta ist die einer unverbindlichen Proklamation, doch haben die drei europäischen Organe Parlament, Rat und Kommission sie akzeptiert, so dass hier mindestens eine Selbstverpflichtung vorliegt. Man kann die Charta auch als Soft Law14 ansehen, doch fragt es sich, wie die verbindliche Wirkung gegenüber den Bürgern der Gemeinschaft konturiert und begründet werden kann. Eine weitere Funktion könnte die sein, dass die Charta für den EuGH Interpretationsgrundlage der Grundrechte ist.15 Zum Teil sollen die obigen Ausführungen nochmals aufgegriffen werden, um die Bedeutung eines besonderen Abschnittes der europäischen Grundrechtecharta besonders hervorzuheben. Dieser Abschnitt ist jener der Charta, welcher die Rechte der Solidarität verankert.16 Auch und gerade hier kann man die Vorzüge einer Kodifikation gegenüber dem Pretorianischen Recht aufzeigen: Bei der Kodifikation der europäischen Grundrechte handelt es sich also vor allem um die Frage der Zweckmäßigkeit einer dynamischen Fortentwicklung durch eine eventuell erweiterte Grundrechtsprechung kasuistischer Art durch den EuGH und zum anderen um die Frage der Übernahme des Menschenrechtskataloges in der EMRK durch eventuellen Beitritt der EU zu dieser völkerrechtlichen Konvention. Der eventuelle Vorteil ist vor allem durch einen Hinweis auf das Common Law zu begründen, das stärker dynamisch ausgerichtet ist als das kodifizierte kontinentaleuropäische Recht. Auf der anderen Seite bringt aber die Kodifizierung eines Grundrechtskataloges wegen dessen beachtlicher Klarstellungsfunktion erhöhte Rechtssicherheit und Praktikabilität. Gleichzeitig wird dadurch die Zufälligkeit der bisher gehandhabten punktuellen Rechtsprechung auf dem Gebiet europäischer Grundrechte überwunden, die mit jedem reinen Richterrecht verbunden ist. Unklarheiten aufgrund der bisherigen Rechtsprechung bestanden eben für die konkrete Schutzbereichsbestimmung, die Adressaten sowie die Schranken und die Schranken-Schranken. Bei der Heranziehung der bisherigen Erkenntnisquellen europäischer Grundrechte war der EuGH auf die Methode der „wertenden Rechtsvergleichung“ angewiesen. Mit Recht wird

14

Ulrich Ehricke, „Soft Law“ – Aspekte einer neuen Rechtsquelle, NJW 1989, S. 1906 ff. Albrecht Weber, Die Europäische Grundrechtscharta – auf dem Weg zu einer europäischen Verfassung, NJW 2000, S. 537 ff. 16 Hierzu ausführlich: Teresa Winner, Die Europäische Grundrechtscharta und ihre soziale Dimension, Frankfurt am Main u. a., 2005. 15

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gegen diese Methode vorgebracht, dass sie dogmatisch nicht genau gehandhabt wurde und dass ihr auch eindeutige Kriterien fehlten.17 Als weiteres Argument für die Kodifikation von Grundrechten wird auch gerade die zum 01. Mai 2004 eingetretene Erweiterung der EU angeführt. Durch einen solchen Zutritt neuer Mitglieder könnte die Methode der wertenden Rechtsvergleichung eventuell auch zu einem Rückschritt im Standard der Grundrechtsentfaltung durch die Rechtsprechung führen. In Bezug auf die deutsche Verfassungsentwicklung bzw. die Entwicklung sozialer Grundrechte im Rahmen der Verfassung ist die Paulskirche besonders hervorzuheben, weil häufig die unrichtige Meinung vertreten wird, dass die Paulskirchenversammlung keine sozialen Grundrechte diskutiert hätte. Beim Rückgriff auf die traditionellen nationalen Grundrechtsverbürgungen im Rahmen der „wertenden Rechtsvergleichung“ kann man zum Beispiel hinsichtlich der Garantie sozialer Rechte folgende drei Gruppierungen in der EU der 25 feststellen: Verfassungen mit geringem sozialrechtlichen Gehalt, Verfassungen mit einem großen sozialrechtlichen Abschnitt und solche, die zwischen beiden Gruppen stehen. Hinsichtlich des Kapitels über die Rechte der Solidarität zeigt sich ein interessantes Bild im Rahmen der vorbereitenden Diskussion: unter der Leitung von Simitis wurde in einem Vorentwurf zum Ausdruck gebracht, dass soziale Normen grundrechtlicher Art aufzunehmen seien und dass darüber hinaus auch bei ihnen wie bei den Grundrechten im Allgemeinen auf die außereuropäische Ausstrahlungswirkung zu achten sei. Die deutsche Seite trat vor allem durch die Entwicklung des sogenannten „Dreisäulenmodells“ hervor.18 Ob man allerdings bei der Entwicklung einer neuen europäischen Grundrechtstheorie von der alten Statuslehre ganz absehen kann und sich der modernen „Bündeltheorie“ (Alexy)19 zuwenden darf, ist fraglich. Diese Theorie unterscheidet acht verschiedene Formen der grundrechtlichen Ausgestaltung, beginnend mit den subjektiven verbindlichen und durchsetzbaren Grundrechten bis hin zu den rein objektiven programmatischen Sätzen. Dieses Strukturmodell bietet sich möglicherweise gerade bei den Rechten der Solidarität an.

III. Der Inhalt der Charta Hier soll der Inhalt der Charta noch kurz gestreift werden. Vorweg sei gesagt, dass man zu Unrecht den Grundrechten, wie sie in die Charta aufgenommen wurden, einen konservativen Charakter zugesprochen hat. Richtig daran ist der Umstand, dass diese Grundrechte eine Legitimationsfunktion der europäischen Einigung ausüben sollten, 17 Siehe: Gunter M. Hoffmann, Grundrechte in Europa – braucht Europa einen Grundrechtskatalog?, Aachen 1995, S. 26; Sasse, in: Mosler / Bernhardt / Hilf, Grundrechtsschutz in Europa / Berlin / Heidelberg / New York 1977, S. 51 ff. (62); Rudolf Streinz, Bundesverfassungsgerichtlicher Grundrechtsschutz und Europäisches Gemeinschaftsrecht, Baden-Baden 1989, S. 437. 18 Siehe hierzu das sog. Braibant / Meyer-Papier, das dann auch für die Konzeption der sozialen Rechte wegweisend war, Dokument Charte 4401 / 00 Contrib. 258 vom 4.7.2000. 19 Robert Alexy, Theorie der Grundrechte, Frankfurt a.M. 1994, S. 224 ff.

T. Entstehung und Bedeutung der europäischen Grundrechtecharta

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so dass man mehr auf bewährtes Grundrechtsgut zurückgreifen musste, als zukunftsweisende Vorschriften aufzunehmen.20 So hat man das Problem des Schutzes der homosexuellen Verbindungen genauso offen gelassen wie die Frage eines europäischen Asylrechtes. Hier sind die Länder der EU berufen, eigene Lösungen zu entwickeln oder eine neue europäische Grundrechtsgarantie gemeinsam hervorzubringen. Andere Grundrechte, wie z. B. das Grundrecht auf Heimat, scheiterten daran, dass Spanien und Frankreich aus ihrer eigenen Situation heraus ein solches Recht ablehnten, obwohl es von Deutschland gefordert worden war. Die Rechte der Solidarität und die Grundrechte der sogenannten 4. Generation, wie Umwelt-, Verbraucher- oder Gesundheitsschutz, sind nur als Programme aufgeführt.21 Dies ist schon deshalb geschehen, weil man sich an den Grundsatz halten wollte, dass die Gewährleistungen grundrechtlicher Art nicht über die Kompetenz der EU hinausgehen sollten. Allerdings hat man davon abgesehen, die actio popularis, eine Kollektivklage, zum Schutze dieser Grundrechte der 4. Generation in die Charta aufzunehmen. Man hat jedoch wohl wegen der Signal- oder Symbolwirkung bestimmter Grundrechte diesen Grundgedanken verlassen und z. B. das Verbot der Todesstrafe, der Folter oder die Garantie der Kriegsdienstverweigerung mit aufgenommen. Hier sollte die Charta in die Zukunft wirken, wie dies auch vor allem bei der Verbürgung in Art. 3 Abs. 2 GRC geschehen sollte, der im Bereich der modernen Biogenetik einen besonderen Grundrechtsschutz beabsichtigte. Ungeklärt bleibt allerdings die Frage der Aufnahme des Gottesbegriffes in die Präambel, da die Verfassungstraditionen Europas oder besser der europäischen Staaten zu unterschiedlich sind. Der Gedanke der Leerformel in der Gestalt des „leeren Stuhles“ hat in der letzten Zeit immer mehr Anhänger gefunden. Darunter versteht man eben die unkonkrete Aufnahme eines Religionsbegriffes, der es den verschiedenen religiösen Kulturen erlaubt, ihn mit eigenen Religionsbildern zu besetzen. Aus dem Kreis der justiziellen Grundrechte soll noch auf das Grundrecht auf einen fairen Prozess hingewiesen werden, wie er von Art. 47 GRC garantiert wird. Hier zeigt sich, dass der so positiv aufgenommene Begriff des „fair trial“ durchaus zu Problemen führen kann, weil er in Kontinentaleuropa in dieser weiten Bedeutung auf größte Bedenken stößt, da hier das Gesetz und nicht der Richterspruch ausschlaggebend ist für das Prozedere. Man darf hier auch nicht mit dem Begriff der „Natur der Sache“ argumentieren und behaupten, dass im Sachverhalt selbst gleichsam naturrechtlich auch die Strafgerechtigkeit und die Strafbarkeit einer Handlung als „Rule of the Case“ beschlossen liegt. Die Idee der Waffen- und Chancengleichheit wäre damit auch aufgegeben, weil immer nur die eine Seite, die siegreiche, in der Lage wäre, ein Gericht zur Aburteilung des unterlegenen Teiles durch ein eigenes aufge-

20

Ausführlich zur Legitimationsfunktion der GRC: Nils Rosemann, Die Entwicklung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte und ihre Bedeutung in der Bundesrepublik Deutschland, in: Frank / Jenichen / Rosemann (Hrsg.): Soziale Menschenrechte – die vergessenen Rechte? Zur Unteilbarkeit der Menschenrechte, S. 91 ff. 21 Art. 35, 37, 38 GRC.

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zwungenes Gesetz zu errichten.22 Allerdings bringt Art. 49 Abs. 2 GRC einen Gedanken ein, der, vom Common Law angeregt, den Grundsatz nulla poena relativieren könnte. Denn nach dieser Bestimmung soll eine Strafbarkeit auch dann ohne das Vorliegen einer lex möglich sein, wenn die Handlung oder Unterlassung zur Zeit ihrer Begehung nach den allgemeinen, von der Gesamtheit der Nationen anerkannten Grundsätzen strafbar war. Dabei bleibt nämlich offen, welche Rechtsnatur diese allgemeinen Grundsätze haben sollen. Hinsichtlich der Begründung einer rechtlichen Verbindlichkeit hat man gefragt, ob diese nicht eventuell durch einen Parlamentsbeschluss hergestellt werden kann. Aber auch hier ist man wohl der Meinung, dass ein solcher Beschluss nur die Verbindlichkeit von Soft Law hätte. Diese Bestimmung betrifft aber nur die Setzung sekundären Rechtes, die Grundrechtecharta steht aber darüber. Daher muss man ein anderes Verfahren wählen und zwar ein Vertragsänderungsverfahren. Aber auch hier kann man Zweifel haben, ob dies genügt und ob nicht vielmehr durch ein Plebiszit die Zustimmung des europäischen Volkes verlangt werden muss, jedoch ist ein solches Verfahren nicht nach Art. 48 EU-Vertrag vorgesehen. Zustimmungsbeschlüsse der Länder könnten das Defizit hier nicht beseitigen. Es bedarf also doch eines europäischen Referendums. Hier taucht die weitere Frage auf, ob der Rechtsnatur nach die Union ein solches Referendum durchführen kann. Sie ist nicht Bundesstaat, sondern, wie es die Rechtsprechung in Deutschland formuliert hat, nur „Staatenverbund“. Man hat hier vorgeschlagen, den Art. 48 EU-Vertrag abzuändern und die Mitwirkung des Parlamentes als erste Kammer und die des europäischen Rates als zweite Kammer (föderativ) vorzusehen; dann könnte man die Grundrechtecharta in die Verträge integrieren und nach Art. 46 EU-Vertrag würde die Rechtsprechung des EuGH automatisch auf die Grundrechtecharta erstreckt werden. IV. Ausblick: Die Charta als erster Teil einer europäischen Verfassung Schon seit 1984 wurde die Frage eines Grundrechtskataloges in Deutschland diskutiert. Nach Auffassung von Roman Herzog muss nicht unbedingt einer Grundrechtecharta auch eine formelle Verfassung nachfolgen. Nun ist der Begriff Verfassung abhängig von der Natur des zu verfassenden Gemeinwesens. Manche Autoren sind der Meinung, dass ein Staatenverbund nicht die Natur eines Staates und damit nicht die Fähigkeit habe, eine Verfassung zu haben. Verfassung ist die grundlegende Ordnung eines Staates mit Festlegung der Leitideen, die die Grundordnung und Kompetenzen der staatlichen Gewalt und damit die Funktionen und wesentlichen Entscheidungsstrukturen enthält. Man unterscheidet einen förmlichen Verfassungsbegriff und einen materiellen. Zur förmlichen Verfassung gehören alle Bestimmungen, die in dem förmlichen Verfahren der Verfassungsgebung festgelegt worden sind. Zum 22 Zur Chancengleichheit siehe auch: Heinrich Scholler, Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit, Berlin 1969, S. 30 ff.

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materiellen Verfassungsbegriff gehören alle Vorschriften, z. B. wie die Staatsangehörigkeit oder das Wahlrecht, also die Gesamtheit der geschriebenen und ungeschriebenen Normen über die Grundlagen der Organisation und Aufgaben und Befugnisse des Staates und die Stellung der Bürger im Staate. Auch wenn die Elemente in vollem Sinne (Volk, Gebiet und Staatsgewalt) fehlen (offener Staat), kann man dennoch davon sprechen, dass auch ein Staatenverbund eine Verfassung haben kann. Es muss eben ein Verfassungsvertrag ausgearbeitet werden, der die Stellung zwischen Staatenbund und Bundesstaat der EU klärt.

U. Der gleiche Zugang zu den Gerichten Die Weiterentwicklung des Gleichheitssatzes vom Willkürverbot zu einem Gebot der Chancengleichheit

I. Die Wandlungen des Gleichheitssatzes Vom formalen Standpunkt aus konnte man sagen, dass auch die arme Partei das Recht auf Zugang zu den Gerichten in gleicher Weise hat wie die vermögende. Niemand hindert die arme Partei, den Weg zu den Gerichten zu beschreiten, wenn sie sich auf irgendeine Weise Geld verschaffen kann, sei es durch ein Darlehen oder sei es durch irgend eine öffentliche Spendenaktion. Man spricht daher auch vom Inhalt des Gleichheitssatzes als dem Gebot der Rechtsgleichheit. Dieses Gebot der Rechtsgleichheit besagte nur, dass arm und reich gleiche Rechte haben und dass die Unfähigkeit der armen Partei, Gerichts- und Anwaltskosten zu bezahlen, nur eine Ungleichheit tatsächlicher Art sei. Die Rechtsgleichheit würde aber niemals verlangen, dass auch gleiche Tatsachen geschaffen würden. Dennoch entwickelte sich die Forderung nach einer galit en fait, also nach der Gleichheit der sozialen Tatsachen besonders im Hinblick auf die ungleichen Vermögensverhältnisse innerhalb der Gesellschaft. Wenn das Grundgesetz in Art. 6 Abs. 5 davon spricht, dass die Bedingungen der nicht ehelichen Kinder denen der ehelichen gleichgestellt werden müssen, so wird hier nicht nur eine Gleichheit der Rechte, sondern wohl darüber hinaus auch eine Gleichheit der tatsächlichen Verhältnisse gefordert. Dies ergibt sich aus dem Wort: „Gleichheit der Bedingungen“. Diese gleiche Wendung zur Tatsachengleichheit hat sich auch auf dem Gebiet der Gleichheit von Mann und Frau vollzogen. Der Grundsatz der Gleichheit der Geschlechter war ursprünglich in Art. 3 Abs. 2 GG nur als Rechtsgleichheit enthalten. Durch eine Novellierung der Verfassung ist aber nunmehr auch die tatsächliche Gleichheit mit den Worten „Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Beseitigung bestehender Nachteile hin“, hinzugefügt worden.

II. Die Waffengleichheit Auch ein weiterer Gesichtspunkt hat den Gleichheitssatz ausgedehnt auf die faktische Gleichheit: Aus den arbeitsrechtlichen Auseinandersetzungen und den arbeitsgerichtlichen Verfahren entwickelte sich das Postulat der „Waffengleichheit“. Es besagt, dass die Sozialpartner, insbesondere Arbeitgeber und Arbeitnehmervereinigungen im Ar-

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beitskampf, außerhalb des Gerichtes wie in der gerichtlichen und arbeitsgerichtlichen Auseinandersetzung mit gleich starken Waffen kämpfen sollen. Ihnen soll die Möglichkeit vom Recht eingeräumt werden, mit gleichen gerichtlichen, rechtlichen und politischen Waffen zu kämpfen. Damit wurde auch die Gleichheit des Zugangs zu den Gerichten besonders hervorgehoben. In Deutschland gibt es darüber hinaus für arbeitsrechtliche Streitigkeiten eine besondere arbeitsgerichtliche Gerichtsbarkeit, die über drei Instanzen – Arbeitsgericht, Landesarbeitsgericht und Bundesarbeitsgericht – organisiert ist. Schon die Herausnahme der Arbeitsgerichtsbarkeit aus der ordentlichen und Zivilgerichtsbarkeit war eine Betonung der Waffengleichheit und der Versuch, gleichen Zugang zu den Gerichten den Sozialpartnern, den Arbeitnehmern und den Arbeitgebern zu garantieren. In der Gestalt der Waffengleichheit tritt uns die Chancengleichheit ausschließlich in ihrem funktionalen Teilinhalt entgegen. Denn die Waffen, deren Anwendung chancengleich zugesichert wird, sind nicht Bedingungen, Interessen oder Reflexe, sondern ausgeprägte abgegrenzte Rechte. Gerade das Prozessrecht ist der Sitz dieser funktional verstandenen Chancengleichheit, wie am Beispiel der Rechtsmitteleinlegung dargetan werden soll. Der Prozessgang als Umformung des Waffenganges hat die Idee der Waffen- und Chancengleichheit am klarsten beibehalten. Zudem steht die prozessuale Chancengleichheit unter dem Gesetz der kleinen Zahl, da vor dem neutralen Richter nur zwei Gruppen handelnd auftreten. Dennoch finden wir auch im geltenden Prozessrecht unvollkommene Einrichtungen, die den Gedanken der Prozessgleichheit oder prozessualen Chancengleichheit nicht voll verwirklichen.1 Besondere Verfassungsvorschriften garantieren den gleichen Zugang zu den Gerichten durch das Jedermannsrecht gegenüber der öffentlichen Gewalt. Im deutschen Verfassungsrecht ist jedermann, also jeder Staatsbürger und jeder Ausländer und somit auch der Staatenlose, gegenüber der öffentlichen Gewalt geschützt. Ihm ist der Zugang zu den Gerichten garantiert und zwar in der Regel zu den Verwaltungsgerichten und zum Verfassungsgericht. Zum Verfassungsgericht ist nach Art. 93 Abs. 1, 4 a GG die Verfassungsbeschwerde eingeräumt, die sich gegen Gesetze, aber auch Verordnungen, Satzungen und Verwaltungsakte richten kann. Sie setzt natürlich voraus, dass der Beschwerdeführer in Rechten oder rechtlichen Interessen betroffen ist, sie ist aber grundsätzlich gebührenfrei. Nur im Falle eines Missbrauches dieses Rechtsbehelfes kann vom Verfassungsgericht eine Missbrauchsgebühr festgesetzt werden. Zwar ist die Verfassungsbeschwerde in der Regel erst zulässig, wenn die übrigen Rechtsbehelfe vor den ordentlichen Gerichten oder den Verwaltungsgerichten erfolglos durchlaufen sind, doch kann in besonderen Fällen der betroffene Jedermann sich auch unmittelbar an das Bundesverfassungsgericht wenden. Er muss den Rechtsweg nicht erfolglos durchlaufen, wenn es sich um eine Grundsatzfrage handelt oder wenn ihm Gefahr droht.

1 Vgl. hierzu auch: H. Scholler, Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit, Berlin, 1969.

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Die Garantie des effektiven Rechtsschutzes Der erwähnte Art. 19 Abs. 4 GG garantiert aber auch den Rechtsweg gegen die öffentliche Gewalt (vor allem Verwaltungsakte und sonstige Maßnahmen der Verwaltung) vor den Verwaltungsgerichten. Hier besteht grundsätzlich kein Anwaltszwang, so dass auch keine Anwaltsgebühren entstehen. Auch sind die Gerichtsgebühren vor den Verwaltungsgerichten wesentlich niedriger. Armenrecht oder Gerichtskostenhilfe kann aber auch hier gewährt werden. Allerdings muss hier noch erwähnt werden, dass vor dem Berufungsgericht, den Oberverwaltungsgerichten und vor dem Bundesverwaltungsgericht Anwaltszwang besteht. III. Das europäische Recht garantiert einen fairen Prozess Der Kreis der Staaten, die von diesem Recht auf den fairen Prozess erfasst werden, geht über die Mitgliedstaaten der EU hinaus und ergreift die Staaten, die der europäischen Menschenrechtskonvention beigetreten sind. Nicht nur das nationale Recht, sondern Völkerrecht und Europarecht bestimmen zunehmend die Stellung des Einzelnen gegenüber der Staatsgewalt. Es hat sich eine europäische Teilverfassung auf dem Gebiet der Grundrechtsgewährleistung herausgebildet, wenn auch die Gesamtverfassung noch nicht abgeschlossen ist. Das Recht auf fairen Prozess gehört zur gemeineuropäischen Verfassung und bildet ein Kernelement des europäischen Verständnisses von Rechtsstaatlichkeit. Es gibt hierfür drei Rechtsgrundlagen. Einmal die europäische Menschenrechtskonvention, zum anderen das gemeinsame europäische gewohnheitsrechtliche Grundrechtsverständnis und schließlich die europäische Grundrechtecharta. IV. Artikel 6 der EMRK 1. Es liegt ein völkerrechtlicher Vertrag aufgrund der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vor, der 1953 in Kraft getreten ist. Hier sind elementare Menschenrechte, Tötungsverbot, Folterverbot und Garantie liberaler Rechte wie Meinungs- und Pressefreiheit garantiert. Daneben bestehen aber auch verfahrensrechtliche Grundrechtsgarantien, die ein gemeinschaftliches System in den Mitgliedsstaaten herbeiführen sollen. 2. Art. 6 EMRK beschränkt den Anspruch auf ein faires Verfahren, also den Zugang zu den Gerichten, nach der Rechtsprechung nicht auf das strafrechtliche Verfahren. Darüber hinaus gewährleistet er auch den Anspruch auf die sog. Prozesskostenhilfe, worunter man heute den Anspruch versteht, der früher die Bezeichnung Armenrecht vor Gericht getragen hat. Daneben garantiert ausdrücklich Art. 47 der Grundrechtecharta, dass jedes Verfahren vor einem unabhängigen und unparteiischen Gericht verhandelt wird, das zuvor durch Gesetz bestimmt wurde. Dazu kommt noch, dass dieser Art. 47 das öffentliche Verfahren innerhalb angemessener Frist einem jeden garantiert. Die Grundrechtecharta hat aber zur Zeit noch keine unmittelbare Wirkung innerhalb der Organe der EU, allenfalls ist es ein Ausdruck für die Selbst-

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bindung dieser Einrichtungen. Mittelbar allerdings kann die Bestimmung dennoch in der Rechtsprechung des EuGH Bedeutung haben, als sie als Ausdruck einer allgemeinen Rechtsauffassung angesehen wird (allg. Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts). Dem steht nicht entgegen, dass Art. 6 der EMRK noch nicht geändert oder ergänzt worden ist. Als Voraussetzungen bestehen nach Art. 6 EMRK folgende Forderungen: – Das Vorhandensein eines unabhängigen Gerichtes (materieller Gerichtsbegriff). – Unabhängigkeit und Unparteilichkeit des entscheidenden Gerichtes. Diese Frage könnte sich hinsichtlich des Problems der Besetzung ohne gerichtliche Bestimmung besonders für den französischen Staatsrat ergeben. Das gleiche gilt für den italienischen Staatsrat, aber nicht für das deutsche Bundesverwaltungsgericht. Das gilt vor allem deswegen, weil die Mitglieder dieser Gerichtsbarkeiten sowohl an der gesetzlichen Beratung und Abstimmung, als auch an der gerichtlichen Entscheidung mitwirken können. 3. Der Anspruch auf ein faires Verfahren umfasst auch gerade den Anspruch auf den Zugang zu einem Gericht. Dies bedeutet allerdings, dass nur ein Anspruch auf eine Instanz besteht, so dass es kein Recht auf eine Beschwerde, Berufung oder Revision nach der Bestimmung des Art. 6 EMRK gibt. Allgemeine Zugangs- und Fristbestimmungen sind mit Art. 6 ebenfalls vereinbart. Das Recht auf gleichen Zugang zu den Gerichten als Teil des Anspruches auf ein faires Verfahren verlangt auch, dass dem Einzelnen der Zugang nicht aus wirtschaftlichen Gründen unmöglich ist. Die sog. Prozesskostenhilfe ist nur eine Form, den Zugang zu ermöglichen. Daneben bestehen andere Formen wie die wirtschaftlich günstige Vertretungsregelung oder die Beratung durch eigene Beratungsstellen. Dies bedeutet eben, dass hier der gleiche Zugang, die gleiche tatsächliche Möglichkeit ohne Rücksicht auf die wirtschaftlichen Verhältnisse des Klägers, eingeräumt wird. Der Grundsatz der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens bedeutet, dass die Verfahren genügende Transparenz also Durchschaubarkeit für die Partei haben. Daneben wird auch gefordert, dass sie kontradiktorisch ausgestaltet sind, worunter man vor allem die Waffengleichheit versteht. Dieser Grundsatz der Waffengleichheit bedeutet, dass im Verfahren jedem ausreichende Möglichkeiten der Stellungnahme zu allen entscheidungsrelevanten rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten dieses Verfahrens gewährt wird. Dazu gehört auch, dass der Partei Gelegenheit zur Beantwortung des Vortrages der anderen Seite gegeben sein muss. Auch müssen alle amtlichen Vorgänge allen Gerichtsparteien rechtzeitig übermittelt werden, so dass sie dazu Stellung nehmen können. Der Betroffene muss Fragen stellen dürfen, insbesondere an alle Zeugen und er muss sich während des Verfahrens mit Fragen auch an das Gericht wenden dürfen. Auf diesen Grundsätzen der Waffengleichheit hat in letzter Zeit der Schwerpunkt der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des EuGH gelegen. Verletzungen dieses Grundsatzes der Waffengleichheit wurden z. B. darin gesehen, dass in Belgien den Betroffenen keine Stellungnahme eingeräumt wurde zum Vortrag des Staatsanwaltes oder dass in Frankreich die Stellungnahme des

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Staatsanwaltes nur dem Anwalt, nicht aber dem Betroffenen unmittelbar, zugeleitet wurde. V. Weitere Teilinhalte des Grundsatzes eines fairen Verfahrens sind folgende Ansprüche – Das Recht auf rechtliches Gehör. – Das Recht auf persönliche Teilnahme am Verfahren. – Anspruch auf Begründung der Entscheidung. – Keine überlange Verfahrensdauer. Hier sind auch gerade vom Gerichtshof gegenüber deutschen Gerichten Verfahrensverletzungen festgestellt worden. Dem ist auch der EuGH gefolgt und hat eine Verfahrensdauer von fünf Jahren und sechs Monaten als Verletzung angesehen. Allerdings gilt das nicht absolut, denn maßgebend sind immer die Umstände des einzelnen Falles, so dass auch längere Verfahrensabläufe dem Grundsatz des fairen Prozesses noch entsprechen können. Ein wichtiges Problem hat die Frage dargestellt, ob Auskunftspflichten betroffener Unternehmen hinsichtlich der Kartellsituation gegenüber den Behörden als Selbstbelastungen durch Art. 6 ausgeschlossen seien. Allerdings ist Art. 6 im Gemeinschaftsrecht nur Erkenntnisquelle, nicht Rechtsquelle für das Gemeinschaftsrecht und den europäischen Gerichtshof. Auch unterscheiden sich beide Rechtskreise hinsichtlich der Durchsetzung: Art. 6 der EMRK kann nur zu einem Schadenersatzanspruch führen, während die Rechtsprechung des europäischen Gerichtshofes in Luxemburg berechtigt ist, die verletzende nationale Rechtsnorm für unwirksam zu erklären. Der Anspruch auf einen fairen Prozess, der auch den Anspruch auf gleichen Zugang zu den Gerichten zentral mit umfasst, ist somit ein Anspruch, der sich im Kern auf Rechtsvorschriften in Europa, aber auch auf solche des nationalen Rechtes zurückführen lässt. Art. 6 der Konvention ist die Vorschrift, die bisher am meisten als verletzt gerügt wurde. Sie enthält eine Reihe von Detailvorschriften, die sich aber zunächst hauptsächlich auf das Strafverfahren beziehen. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte sind diese Vorschriftteile aber auch außerhalb des Strafverfahrens anwendbar, so insbesondere im Verwaltungsgerichtsprozess. Diese einzelnen Normierungen in Art. 6 sind nur Ausdruck eines allgemein umfassenden Rechtsanspruches auf effizienten und fairen Prozess, der allen gleichmäßig zugänglich sein muss. Also kann man von einem Anspruch auf allgemeinen effizienten Zugang zu den Gerichten als durch Art. 6 garantiert sprechen. Dieser Anspruch zusammen mit anderen Ansprüchen, die sich auf Art. 6 beziehen und auf ihm beruhen, können als gemeineuropäisches Recht auf einen fairen und effizienten Prozess angesehen werden. Sie sollen den Zugang zu einem neutralen und objektiv entscheidenden Gericht sichern. Auch das europäische Gemeinschaftsrecht, das sich ja unabhängig von der Menschenrechtskonvention entwickelt hat, basiert ebenfalls auf dem Grundsatz der Garantie eines allgemeinen umfassenden Rechtes auf ein effizientes

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und faires Verfahren. Es beruht auf den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedsstaaten und der entsprechenden Gewährleistung der europäischen Menschenrechtskonvention, also Art. 6. Sie ist also ein allgemeines Gemeinschaftsrecht mit Gemeinschaftsverfassungsrang. Die Unterschiede dieses gemeineuropäischen Gemeinschaftsgrundrechtes zum Art. 6 bestehen aber in zwei Hinsichten: Einmal ist das europäische Grundrecht auf ein faires Verfahren von Haus aus nicht auf strafrechtliche Verfahren beschränkt und zum zweiten kommt diesem gemeinschaftlichen Grundrecht auf ein faires Verfahren Vorrang vor allen Rechten der Mitgliedstaaten der Gemeinschaft zu. Demgegenüber ist der Rang der europäischen Grundrechte in der Konventionsurkunde in den einzelnen Staaten verschieden. In Österreich gelten sie als Verfassungsnormen, in Frankreich kommt ihnen ein höherer Rang als den einfachen Gesetzen zu. In Deutschland und Italien gelten Art. 6 und die anderen Bestimmungen der europäischen Menschenrechtskonvention nur mit dem Rang eines einfachen Gesetzes. Demgegenüber hat die europäische Grundrechtscharta den Rang von europäischem Gemeinschaftsrecht auf der Ebene der Verfassung und damit Vorrang vor den nationalen Rechtsordnungen. Die Charta geht zurück auf die Arbeit der europäischen Verfassungskonvention unter der Leitung des deutschen Ex-Bundespräsidenten Roman Herzog. Von den acht erwähnten Rechts- oder Erkenntnisquellen für die europäische Grundrechtecharta sind für uns vier von Bedeutung: Die gemeinsame europäische Tradition, die EMRK, die Entscheidungspraxis der beiden europäischen Gerichtshöfe in Straßburg und Luxemburg. Auf sie wird auch in der Präambel zur europäischen Grundrechtecharta ausdrücklich hingewiesen. Von besonderer Bedeutung ist die europäische Verfassungstradition, die sich vor allem auch in der Spruchpraxis der beiden europäischen Gerichtshöfe niederschlägt. Vor allem hat der europäische Gerichtshof in Luxemburg sich wiederholt auf diese Tradition berufen, wenn er die Grundprinzipien der Europäischen Union entwickelt. Zwar findet sich das hier diskutierte Rechtsgut, der freie und gleiche Zugang zu den Gerichten, in Art. 6 EMRK garantiert, doch kann diese Bestimmung vom europäischen Gerichtshof in Luxemburg nicht unmittelbar angewandt werden, da die EU nicht zu den 45 Unterzeichnerstaaten der Konvention gehört. Deshalb ist es für die Rechtsprechungs- und Spruchpraxis von Bedeutung, ob hier auf die europäische Verfassungstradition zurückgegriffen werden kann. Weiterhin muss die Frage aufgeworfen werden, ob auch Art. 47 der europäischen Grundrechtecharta nicht ein Niederschlag der europäischen Verfassungstradition ist, so dass er als Interpretationshilfe auch bei der Rechtsprechung in Straßburg herangezogen werden kann. Eine europäische Verfassungstradition würde eine rechtsvergleichende Studie der Entwicklung der einzelnen Verfassungsinstitute, vor allem der Grundrechte, voraussetzen, was hier nicht geleistet werden kann. Ich beschränke mich daher auch beim Thema meines Referates entsprechend auf die deutsche Rechtsentwicklung, wie bereits oben ausgeführt, die aber für unser Problem nicht uninteressant ist. Dabei ist vorauszuschicken, dass neben der belgischen Verfassung von 1831 die Grundrechtser-

U. Der gleiche Zugang zu den Gerichten

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klärung der Frankfurter Paulskirchenverfassung von 1849 den größten grundrechtlichen Einfluss auf die Diskussion des Jahrhunderts gehabt hat. Hinzu kamen die großen Prozessgesetze der Zivilprozessordnung und der Strafprozessordnung. Die deutsche Doktrin sprach daher von der Einräumung der „Justizgewährgarantie“, worunter man das allemein anerkannte Recht nicht nur auf den Zugang zu den Gerichten, sondern auch auf die gerichtliche Entscheidung ansah. Interessant ist nun, dass der Begriff der Garantie des Zugangs zu den Gerichten mehr auf den Beginn des Prozesses, der Begriff der Justizgewährleistung mehr auf den Abschluss des Prozesses abzielt. Ein dritter Gedanke stammt aus dem englischen Recht und zwar aus der Garantie des „fair trial“, der den Lauf des Prozesses im Auge hat. „Fair trial“ wird von der Grundrechtscharta als „effektiver Prozess“ übersetzt, was den Begriff der Fairness nicht ganz oder nur zum Teil abdeckt. Denn „fair trial“ bedeutet vor allem Waffengleichheit während des Verfahrens, so dass beide Parteien die gleichen Chancen vor Gericht haben. Art. 47 enthält auch bedeutende Elemente dieses Gedankens „fair trial“, denn nicht nur der Begriff der Effektivität weist darauf hin, sondern das Recht sich zu beraten, zu verteidigen und vertreten zu lassen, sowie vor allem die Notwendigkeit der Einräumung des Prozesskostenhilferechtes. Dem letzteren Begriff ist sehr früh im deutschen Recht Rechnung getragen worden, wenn auch dieses Institut unter dem Namen „Armenrecht“2 lief. Heute ist dieses Prozesskostenhilferecht in der ZPO § 114 ff. reformiert worden und den modernen sozialstaatlichen Ansprüchen angepasst. Es bildet ein wichtiges Element der Chancen- und Waffengleichheit. Im deutschen Recht haben sich aber auch noch die Gedanken der kostenfreien Klage und der Popularklage erhalten, zwei Gedanken die den Zugang zu den Gerichten wesentlich erleichtern. Die aus dem römischen Recht stammende Popularklage – jeder Bürger (quivis ex populo) kann klagen ohne verletzt sein zu müssen – besteht heute noch im bayerischen Verfassungsrecht als Popularklage gegen Landesgesetze (Art. 98 S. 4 BV) fort. Ähnlich wie die Popularklage nach dem bayerischen Recht – sie besteht auch im ungarischen Verfassungsrecht – ist auch die Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 a und b kostenfrei. Die europäische Grundrechtecharta hat allerdings die Verbandsklage, die mit der Popularklage vergleichbar erscheint, nicht übernommen. Im Sinne der Waffen- und Chancengleichheit sind somit kostenfreie Verfassungsbeschwerde, Popularklage oder Verbandsklage wichtige Instrumente geworden. Wenn auch die Grundrechtecharta keine Verbandsklage kennt, so ist doch Art. 47 der Charta ein wesentlicher Fortschritt gegenüber der Regelung des Art. 6 EMRK. Der Grundrechtsschutz, der sowohl von Art. 6 EMRK als auch von Art. 47 der Charta angesprochen wird, gehört zu den wichtigsten freiheitlichen Bereichen, die von den Urkunden geschützt werden. Eine deutsche Kommentierung umfasst 160 Seiten in Bezug auf Art. 6 EMRK. Zum entsprechenden Art. 47 der Charta liegen noch keine ausführlichen Kommentierungen vor, doch ist zu erwarten, dass auch hier die Kommentierung einen großen Umfang einnehmen wird. Die Erweite2 Siehe dazu auch: Heinrich Scholler, Die Interpretation des Gleichheitssatzes als Willkürverbot oder als Gebot der Chancengleichheit, Berlin 1969, S. 30 ff.

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Teil 4: Auf dem Weg nach Europa und das Problem der Globalisierung

rung der Regelungssachverhalte, die in Art. 47 gegenüber Art. 6 EMRK aufgenommen wurde, ist beachtlich. Wie aktuell eine solche Erweiterung ist, zeigt sich am Merkmal der Gesetzmäßigkeit der Einrichtung unabhängiger und neutraler Gerichte. Selbst hier ist die Charta noch nicht eindeutig genug, denn sie sagt nicht, dass die Gerichte bereits vor der Begehung der Handlung errichtet sein müssen, welche sie aburteilen sollen. Dies würde genau dem Grundsatz entsprechen, den der deutsche Jurist Feuerbach mit dem Satz nulla poena sine lege3 ausgedrückt hat und der nunmehr in Art. 49 seine Verankerung gefunden hat. Dieser Grundsatz gilt nicht im Common Law, worauf bereits die Nürnberger Prozesse deutlich hingewiesen haben. Es ist evident, dass hier ein großer Unterschied zwischen der angelsächsischen und der kontinentaleuropäischen Rechtsauffassung klafft. Um ad hoc-Prozesse politischer Art zu vermeiden, muss größter Wert darauf gelegt werden, dass die Bestimmung des Art. 47 der Charta so ausgelegt wird, dass Verhandlungen, die vor der Errichtung der entsprechenden Gerichtsbarkeit vorgenommen wurden, nicht unter die Kompetenz des Gerichtes fallen können. Hier zeigt sich, dass der so positiv aufgenommene Begriff des „fair trial“ durchaus zu Problemen führen kann, weil er in Kontinentaleuropa in dieser weiten Bedeutung auf größte Bedenken stößt, da hier das Gesetz und nicht der Richterspruch ausschlaggebend ist für das Prozedere. Man darf hier auch nicht mit dem Begriff der „Natur der Sache“ argumentieren und behaupten, dass im Sachverhalt selbst gleichsam naturrechtlich auch die Strafgerechtigkeit und die Strafbarkeit einer Handlung als „Rule of the Case“ beschlossen liege. Die Idee der Waffen- und Chancengleichheit wäre damit auch aufgegeben, weil immer nur die eine Seite, die siegreiche, in der Lage wäre, ein Gericht zur Aburteilung des unterlegenen Teiles durch ein eigenes aufgezwungenes Gesetz zu errichten. Allerdings bringt Art. 49 Abs. 2 einen Gedanken ein, der vom Common Law angeregt den Grundsatz nulla poena relativieren könnte. Denn nach dieser Bestimmung soll eine Strafbarkeit auch dann ohne das Vorliegen einer lex möglich sein, wenn die Handlung oder Unterlassung zur Zeit ihrer Begehung nach den allgemeinen, von der Gesamtheit der Nationen anerkannten Grundsätzen strafbar war. Dabei bleibt nämlich offen, welche Rechtsnatur diese allgemeinen Grundsätze haben sollen. Abschließend soll bemerkt werden, dass die Regelung des Art. 47 der europäischen Grundrechtecharta auch heute schon von rechtlicher Relevanz ist, auch wenn die Charta selbst noch nicht als bindendes europäisches Verfassungsgesetz angesehen werden kann. Denn einmal stellt sich diese Regelung wie die ganze Charta als Selbstbindung der europäischen Organe dar und bewirkt die sog. Beweisumkehr in jedem Prozess, in dem sich der Kläger auf die Grundrechte der Charta berufen kann. Sieht man aber im Art. 47 schon heute den Ausdruck eines gemeinschaftlich-europäischen Verfassungsrechtes, dann ist er jetzt schon als verbindliches europäisches Recht anzusehen.

3 Siehe dazu: Gustav Radbruch Gesamtausgabe, Band 6, Feuerbach, hrsg. von Gerhard Haney.

Quellennachweise Teil 1 – Grundrechte A. Publizität und Persönlichkeit, in: Publizistik, Heft 2 / 3, Jg. 1967, Konstanz, S. 111 ff. B. Der Wandel der Menschenrechte, Rechts- und Verwaltungsreform in der Mongolei, Hrsg. HSS (H. Scholler), München 2001. Und in Zeitschrift Yu-Dan für Rechtswissenschaft, “The Taiwan Law Review“, 1 / 2002 Taipei, S. 143 – 153. Und in: Aktuelle Probleme des Rechtsstaates, Hrsg. Boguslaw Banaszak, Frankfurt (Oder) 2003 sowie in: Der Wandel der Menschenrechte, in: Cadernos da Escola de Direito e RelaÅes Internacionais da UniBrasil, n8 06 Jan / Dez 2006. C. Die Einwirkung des revolutionären französischen Verfassungsrechts auf die europäische Verfassungsentwicklung, in: Die Einwirkung des revolutionären französischen Verfassungsrechts auf die europäische Verfassungsentwicklung, I triti Sepemvriou 1843 ke to sintagma tis [griechische Zeitschrift: Der 3. September 1843 und die daraus entstandene Verfassung – Beurteilungen nach 150 Jahren], Athen 1999, S. 161 – 182. D. Sphären und Schutzbereiche in der Grundrechtsdiskussion, Jichi-Kenkyu, Bd. 69, Nr. 4, Tokio 1993, S. 68 ff. (ins Japanische übersetzt von Kentaro Shimazaki).

Teil 2 – Rechtskultur E. Gerechtigkeitssymbole, in: Modern Theories of Public Law Revisited, Festschrift in Honor of Prof. Dr. Yueh-Sheng Wenigs 70th Birthday, Taipeh 2002, Vol. I, S. 991 ff. und in: Gerechtigkeitswissenschaft – Kolloquium aus Anlass des 70. Geburtstages von Lothar Philipps, Hrsg. Schünemann / Tinnefeld / Wittmann, Berlin 2005, S. 149 ff. F. Rechtskulturen in Konflikt, in: Ausblicke, Heft 10, 2001, S. 89. G. Die Verfassung zwischen lex-aeterna und Zeitgesetz, in: Zeit und kommunikative Rechtskultur in Europa, Hrsg. Siegfried Lamnek / Marie-Theres Tinnefeld, Baden-Baden 2000, S. 117 – 124. H. Rechtsvergleichung als Vergleich von Rechtskulturen – Ein Beitrag zur Rechtsvergleichung bei Gustav Radbruch (deutsche Fassung), Strafgerechtigkeit, Festschrift für Arthur Kaufmann zum 70. Geburtstag, Hrsg. Haft / Hassemer / Neumann / Schild / Schroth, Heidelberg 1993, S. 743 ff. I. Recht der Mongolei aus deutscher Sicht, in: Mongolian State and Law (Staat der Mongolei und mongolisches Recht, Mongoliin tur, erkh zui), Nr. 1 / 2002, S. 80 ff. und in: Rechtsreform in der Mongolei im Laufe der Transformation, Dokumentation der Konferenz, Hrsg. HSS, Ulan Bator 2006 (mongolisch und deutsch), S. 54 ff.

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Quellennachweise

Teil 3 – Toleranz J. Dantes Vision einer christlichen Weltordnung, in: Studia iuridica, Auctoritate Universitatis Pcs Publicata (Festschrift für Antal Adam), Budapest 2000, S. 209 – 218. K. Gewissen, Gesetz und Rechtsstaat, in: DÖV 1969, 526 ff. und in: Das Gewissen in der Diskussion, Darmstadt 1976, S. 407 ff. L. Toleranz und Fairness als objektiver Schutzgehalt, in: Die neuen Inquisitoren – Religionsfreiheit und Glaubensneid Teil I, Hrsg: Gerhard Besier / Erwin K. Scheuch, Zürich 1999, S. 156 ff. M. Der Gewissensspruch als Geltungsgrund oder als Störung des Rechts, in: Gewissensspruch als Störung, in: Jenseits des Funktionalismus, Arthur Kaufmann zum 65. Geburtstag, Heidelberg 1989, S. 187 ff. und in: Seoul Law Journal, Vol. 32, Nrn. 1 und 2, Seoul National University, Seoul 1991, S. 135 ff. N. Kulturkonflikte, Toleranz und Ordre Public, in: ARSP, Beihefte 19 – 22, 1985, S. 173 ff. O. Mythos und Wirklichkeit Christlicher Reiche – Äthiopien und die deutsche Reichsidee, in: Studia Aethiopica, In Honour of Siegbert Uhlig on the Occasion of his 65th Birthday, edited by Verena Boll et alii, Wiesbaden 2004. P. Von der Kirche der „spaltigen Religion“ des Augsburger Religionsfriedens zur modernen Garantie des Pluralismus von Religionsgesellschaften, in: Glaube – Freiheit – Diktatur in Europa und den USA (Festschrift für Gerhard Besier), Göttingen 2007, S. 539 – 555, s. auch Zeitschrift Jura Nr. 2 / 2007, Pcs 2007, S. 155.

Teil 4 – Auf dem Weg nach Europa und das Problem der Globalisierung Q. Europa und das Problem der Globalisierung des Rechtes heute, in: Quale Governo per lEuropa, Hrsg. Danilo Castellano, Edizioni Scientifiche Italiane, Neapel 2002. R. Der Einfluss des Staatsverständnisses auf die Legitimation europäischer Einheit, in: Patrie Regioni Stati, Bozen 1999, S. 99 ff. S. Verfassung und Recht im Prozedere der Globalisierung, in: Europa e Globalizzazione, Hrsg. Danilo Castellano, Bozen 2003, S. 17 ff. T. Die Entstehung und Bedeutung der europäischen Grundrechtecharta, in: „Adamante Notare“ – Essays in Honour of Professor Antal dm on the Occasion of his 75th Birthday, Editor Nra Chronowski, Pcs 2005, S. 518 ff. U. Der gleiche Zugang zu den Gerichten, in: Zeitschrift Jura Nr. 2 / 2004, Budapest / Pcs 2004, S. 115 ff.