Grundfragen der Erkenntnistheorie 9783787332410, 9783787340736

In seiner systematischen Grundlegung Grundfragen der Erkenntnistheorie (1931) arbeitet Hönigswald in Auseinandersetzung

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Grundfragen der Erkenntnistheorie
 9783787332410, 9783787340736

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RICHARD HÖNIGSWALD

Grundfragen der Erkenntnistheorie Herausgegeben von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

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Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet abrufbar über ‹http://portal.dnb.de›. ISBN: 978-3-7873-1349-5 ISBN eBook: 978-3-7873-3241-0

© Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1997. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. www.meiner.de

INHALT

Einleitung. Von Wolfdietrich Schmied-Kowarzik . . . . . . . VIl

Richard Hönigswald Grundfragen der Erkenntnistheorie. Kritisches und Systematisches Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

1. Das Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

5

II. Wissenschaftstheoretische Grundfragen, Positivismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Psychologie, Phänomenologie . . . . . . . . . . . . . . . .

45

IV. Zur Kritik neuerer Auffassungen des Problems der Erkenntnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

59

V. Gegenständlichkeit - Gegenstand - Methode Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

70

VI. Systematische Grundfragen. Weiteres zur Kritik der Phänomenologie und Naturphilosophie . . . . . . .

84

VII. Methode, Vollzug, Sprache, Geschichte . . . . . . . . . 132 VIII. Individuum, Gemeinschaft, vom Problem der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 IX. Vom Recht

165

X. Über Kunst

177

XI. Vom Problem des Glaubens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 XII. Schluß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

VI

Inhalt

Systematische Selbstdarstellung {1931) Systematische Selbstdarstellung Auswahlbibliographie 1. Schriften von Hönigswald . . . II. Schriften aus dem Nachlaß . . ill. Forschungsliteratur vor 1945 . IV. Forschungsliteratur nach 1945

205

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245 252 253 256

Sach- und Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288

EINLEITUNG

I. Biographische Notizen Als im Jahre 1931 die Grundfragen der Erkenntnistheorie von Richard Hönigswald herauskamen und fast gleichzeitig seine „Systematische Selbstdarstellung" in dem von Hermann Schwarz herausgegebenen Band Deutsche systematische Philosophie nach ihren Gestaltern erschien, 1 zählte der 56jährige Richard Hönigswald zu den angesehendsten Philosophen im deutschen Sprachraum. Ein Jahr zuvor war Hönigswald auf das Ordinariat für Philosophie der Universität München berufen worden. Die Berufungsliste spiegelt die Wertschätzung wider, die er in der philosophischen Fachwelt jener Jahre genoß: An erster Stelle standen pari passu alphabetisch gereiht Ernst Cassirer und Richard Hönigswald, an zweiter Stelle folgte Nicolai Hartmann und an dritter Stelle Hermann Brunstädt.

Richard Hönigswald, Grundfragen der Erkenntnistheorie. Kritisches und Systematisches (Beiträge zur Geschichte der Philosophie 1), Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) 1931. Richard Hönigswald, in: Hermann Schwarz (Hg.), Deutsche systematische Philosophie nach ihren Gestaltern, Berlin: Junker und Dünnhaupt 1931, Bd. l, 191-223. Dieser Beitrag erschien zunächst ohne Titel und wird meist unter „Selbstdarstellung" zitiert. 1933 kam noch eine seitenidentische Sonderausgabe dieses Beitrags als separate Broschüre heraus - ebenfalls im Verlag Junker und Dünnhaupt-, der Richard Hönigswald den Titel Systematische Selbstdarstellung gab. Einen Nachdruck dieses Beitrags nahm Hans-Ludwig Ollig unter dem Titel „Philosophie als Theorie der Gegenständlichkeit" in den Band Neukantianismus, Stuttgart 1982 (Reclam 7875, 335-396), auf. Wir behalten hier den von Hönigswald 1933 eingeführten Titel bei. 1

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Zuvor hatte Richard Hönigswald 23 Jahre lang an der Universität Breslau Philosophie gelehrt, seit 1906 als Privatdozent, ab 1911 als Titularprofessor. 1916 wurde er auf das Extraordinariat für Philosophie, Psychologie und Pädagogik berufen (Nachfolge von William Stern), das 1919 zum Ordinariat angehoben wurde. Am 18.7.1875 in Ungarisch-Altenburg (Magyar-Ovar) in Österreich-Ungarn geboren und aufgewachsen, studierte Richard Hönigswald zunächst Medizin in Wien (Dr. med. 1902) und danach Philosophie bei dem Kantianer Alois Riehl in Halle sowie dem Gegenstandstheoretiker Alexius v. Meinong in Graz. 1904 wurde er mit der Dissertation Über die Lehre Hume's von der Realität der Außendinge in Halle promoviert, und zwei Jahre später habilitierte er sich an der U niversität Breslau. Schon mit seiner Habilitationsschrift Beiträge zur ErkenntnistheorieundMethodenlehre(l 906) hat sich Hönigswald als Kantianer ausgewiesen. Noch entschiedener greift er mit seiner Schrift Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik (1912) von einem kantianischen Standpunkt aus in die wissenschaftstheoretische Diskussion der modernen Naturwissenschaften ein, speziell in die Debatte um die Bedeutung der Relativitätstheorie. Von der Marburger Schule der Neukantianer steht ihm Ernst Cassirer am nächsten, der sich im gleichen Jahr wie Hönigswald mit einer ganz ähnlichen Themenstellung - Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit (1906) - in Berlin habilitiert hatte. Von der Südwestdeutschen Schule des Neukantianismus ist Hönigswald besonders Bruno Bauch, der in seinen Studien zur Philosophie der exakten Wissenschaften (1911) ebenfalls eine ganz ähnliche Position vertritt, in Freundschaft verbunden. Diese Gemeinsamkeiten kommen auch in Hönigswalds Schrift Die Skepsis in Philosophie und Wissenschaft (1914) zum Ausdruck. Seinen kantianischen Ansatz entfaltet Hönigswald in ständiger Auseinandersetzung mit der philosophischen Tradition, wovon neben einer Reihe von Einzelstudien insbesondere seine großen philosophiegeschichtlichen Werke Philosophie des Altertums

Einleitung

IX

(1917) und Die Philosophie von der Renaissance bis Kant (1923) zeugen. Doch die systematischen Konturen seiner eigenständigen Position - eines um das Problem der konkreten Subjektivität, der „Monas", erweiterten Kantianismus - werden erst in seinen beiden frühen Hauptwerken Über die Grundlagen der Pädagogik (1918, 2. erw. Aufl. 1927) und Die Grundlagen der Denkpsychologie (1921, 2. erw. Aufl. 1925) 2 voll entfaltet. Es sind dies nicht nur - dem Auftrag seiner Professur entsprechend - Hinwendungen zu Grundfragen der Psychologie und Pädagogik, sondern in ihnen entwirft Hönigswald die Umrisse seiner philosophischen Systematik. Neben der erkenntnistheoretischen Methodenlehre, wie er sie mit den Neukantianern entwickelt, tritt vor allem die Frage nach der konkreten Subjektivität immer stärker hervor, wie sie auch in der Phänomenologie jener Zeit bedacht wird. Die konkrete Subjektivität, die wir je selber sind, ist für Hönigswald in der Selbstpräsenz des Erlebens der Monas gegeben, einerseits ist sie unauflöslich über den eigenen Organismus mit der Natur in ihrer Ganzheit verknüpft und andererseits unaufhebbar mit den anderen Subjekten in eine Verständigungsgemeinschaft von Kultur und Geschichte gestellt. Dies alles geht nun 1931 in seine Darlegung der Grundfragen der Erkenntnistheorie ein, in der Hönigswald in Auseinandersetzung mit den Hauptströmungen der damaligen Diskussion die korrelative Dialektik von Erkenntnis und Monas für den Prozeß des Begreifens der Wirklichkeit herausarbeitet. Er bezieht hiermit eine originäre Position innerhalb der damaligen philosophischen Diskussion, die den Einseitigkeiten des Neukantianismus einerseits und der Phänomenologie andererseits zu entgehen und doch auch den Motiven beider Richtungen in

Richard Hönigswald, Über die Grundlagen der Pädagogik, München 1918, 2. umgearb. Aufl., München 1927; Richard Hönigswald, Die Grundlagen der Denkpsychologie, München 1921, 2. erw. Aufl., Leipzig/Berlin 1925, Nachdruck Darmstadt 1965. 2

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einem doppelpoligen fundamentalphilosophischen Ansatz zu genügen versucht. Ergänzend zu seinen Grundfragen der Erkenntnistheorie erscheint noch 1933 seine Geschichte der Erkenntnistheorie, in der er einen prägnanten philosophiegeschichtlichen Abriß zur Entwicklung der Grundprobleme theoretischer Philosophie von der Antike bis zur Gegenwart vorlegt. 3 Mitten aus dieser so erfolgreichen Bahn als Lehrer und Forscher wurde Richard Hönigswald 1933 durch die Machtergreifung des Nationalsozialismus und das Gesetz „Zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums" vom 11. April 1933 gerissen, denn obwohl 1904 zum Protestantismus konvertiert, galt Hönigswald nach diesem Gesetz als Volljude und war daher zwangsweise in den Ruhestand zu versetzen. Allerdings gab es Ausnahmeregelungen, die auf ihn hätten Anwendung finden können. Darauf abzielend, setzten sich - für die damalige Zeit sehr außergewöhnlich - nicht nur seine Kollegen der Philosophischen Fakultät I der Universität München, sondern 13 ordentliche Professoren verschiedener deutscher Universitäten und zwei italienische Gelehrte für Hönigswald ein, darunter der angesehene Philosoph und ehemalige Kultusminister im faschistischen Italien Giovanni Gentile. Darüber hinaus legte der berühmte Physiker und Nobelpreisträger Max v. Laue der Physikalisch-mathematischen Klasse der Preußischen Akademie der Wissenschaften in Berlin die Arbeit „Kausalität und Physik" von Richard Hönigswald vor, die noch im Sommer 1933 in den Sitzungsberichten der Preußischen Akademie der Wissenschaften erschien. Durch diese öffentliche Beachtung verunsichert, holte das Bayerische Kultusministerium drei Negativgutachten ein, darunter eines von Martin Heidegger, in dem dieser entschieden die Entfernung Hönigswalds aus der Universität München rechtfertigt. Mit dieser Rückenstärkung wird Richard Hönigswald am 13. August vom Reichsstatthalter

Richard Hönigswald, Geschichte der Erkenntnistheorie, Berlin 1933, Nachdruck Darmstadt 1966. 3

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in Bayern zum 1. September 1933 zwangsweise in den vorzeitigen Ruhestand versetzt. 4 In sehr bescheidenen Verhältnissen lebend, arbeitet Richard Hönigswald als Privatgelehrter in München an seinem philosophischen Werk weiter. Neben einer Reihe von Abhandlungen in philosophischen Zeitschriften Italiens, Schwedens und den Niederlanden kann Hönigswald 1937 in der Schweiz noch sein grundlegendes Werk Philosophie und Sprache publizieren, in dem er die korrelative Dialektik der Sprache von W eltkonstitution und Verständigungsgemeinschaft herausarbeitet. Leider ist dieser bedeutende Beitrag zur Philosophie der Sprache, da er während der NS-Zeit unbeachtet in kleiner Auflage im Ausland erschien, bis heute weder von der sprachwissenschaftlichen noch von der sprachphilosophischen Diskussion angemessen wahrgenommen, geschweige denn aufgearbeitet worden. 5 Ebenfalls in der Schweiz erschien als letzte Buchveröffentlichung zu Lebzeiten Hönigswalds sein Band Denker der italienischen Renaissance (1938). Im Reichspogrom der „Kristallnacht" wird Hönigswald verhaftet und ins KZ Dachau verschleppt, wo der 63jährige drei Wochen der Erniedrigung und Peinigung durchlebt. Als er am 1.12.38 entlassen wird, ist ihm klar, daß er in Deutschland nicht länger bleiben kann. Freunde aus der Schweiz helfen ihm und seiner Familie, im Frühjahr 1939 über die Schweiz in die Vereinigten Staaten zu emigrieren. In den USA lebt Hönigswald - ohne erneut akademisch Fuß fassen zu können mit seiner Familie in äußerst armseligen Verhältnissen in New York. Trotz der bedrückenden Lebenssituation arbeitet Hönigswald auch in diesen Jahren philosophisch sehr intensiv

Siehe hierzu Claudia Schorcht, Philosophie an den bayerischen Universitäten: 1933-1945, Erlangen 1990, sowie Tom Rockmore, „Philosophie oder Weltanschauung? Über Heideggers Stellungnahme zu Hönigswald", in: Erkennen - Monas - Sprache, Würzburg 1997. 5 Richard Hönigswald, Philosophie und Sprache. Problemkritik und System, Basel 1937, Nachdruck Darmstadt 1970. 4

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weiter. Am 11.7.1947 stirbt Richard Hönigswald während eines Besuchs bei seinem Sohn, dem Sprachwissenschaftler Henry M. Hoenigswald, in New Haven im Alter von 72 Jahren. 6 Sein umfangreicher Nachlaß wird von 1957 bis 1977 vom Hönigswald-Archiv in Bonn unter Leitung von Hans Wagner und unter maßgeblicher Betreuung von Gerd W olandt in zehn Bänden herausgegeben: Vom erkenntnistheoretischen Gehalt alter Schöpfungserzählungen (l 957),Analysen und Probleme (1959), Abstraktion und Analysis (1961), Wissenschaft und Kunst (1961), Grundprobleme der Wissenschaftstheorie (1965), Philosophie und Kultur (1967), Die Grundlagen der allgemeinen Methodenlehre (2 Bde., 1969 /70), Die Systematik der Philosophie aus individueller Problemgestaltung entwickelt (2 Bde., 1976/77). Aber die Zeit zu einer erneuten Auseinandersetzung mit der originären philosophischen Position Richard Hönigswalds war damals - über einige Diskussionskreise hinaus 7 - noch nicht reif. Erst in allerjüngster Zeit - gerade 50 Jahre nach Hönigswalds Tod beginnen junge Wissenschaftler zu entdecken, daß es, durch Hönigswalds Werk angestoßen und vermittelt, noch sehr viele philosophische Probleme zu durchdenken gilt. 8

Zur Biographie siehe auch Henry M. Hoenigswald, „Zu Leben und Werk von Richard Hönigswald", in: Erkennen - Monas - Spra· ehe, Würzburg 1997. 7 Das größte Verdienst, die Hönigswald-Rezeption begonnen und wachgehalten zu haben, kommt dabei Gerd Wolandt zu; siehe seine Bücher Gegenständlichkeit und Gliederung, Köln 1964, Idealismus und Faktizität, Berlin/New York 1971, Letztbegründung und Tatsachenbezug, Bonn 1983, sowie seine Darstellung „R. Hönigswald: Philosophie als Theorie der Bestimmtheit", in: Josef Speck (Hg.), Grundprobleme der großen Philosophen (Philosophie der Gegenwart 2), Göttingen 1973, 3. Aufl. 1991. 8 Siehe hierzu die Tagungsbände zu den ersten beiden HönigswaldSymposien 1992 in Wrodaw und 1995 in Kassel: Ernst Wolfgang Orth/Dariusz Aleksandrowicz (Hg.), Studien zur Philosophie Richard Hönigswalds, Würzburg 1996; Wolfdietrich Schmied-Kowarzik (Hg.), Erkennen - Monas - Sprache. Internationales Richard Hönigswald6

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II. Versuch einer einführenden Interpretation Die Grundfragen der Erkenntnistheorie und die „Systematische Selbstdarstellung" erschienen beide im Jahre 1931 und sind auch beide in unmittelbarem Zusammenhang entstanden. Die „Systematische Selbstdarstellung" liest sich wie eine prägnante, nochmals in der Argumentation verfeinerte Zusammenfassung der Grundfragen der Erkenntnistheorie, und umgekehrt können die Grundfragen der Erkenntnistheorie als die um eine kritische Abgrenzung von konkurrierenden philosophischen Ansätzen einerseits und um die Behandlung einzelner konkreter Problemfelder andererseits erweiterte Durchführung der „Systematischen Selbstdarstellung" angesehen werden. Dies ist auch keineswegs verwunderlich, denn beide Arbeiten behandeln mit leicht modifizierten Zielsetzungen die Grundlinien der Philosophie Hönigswalds in ihrer damaligen Ausgestaltung. In der „Systematischen Selbstdarstellung" enthält sich Hönigswald jeglicher biographischer Bezüge seines Weges zur Philosophie und entfaltet seine philosophische Position allein in systematischer Argumentation. Ganz entsprechend stellt er in den Grundfragen der Erkenntnistheorie die Philosophie dar, wie er sie als das umfassende System einer „kritischen Erkenntnistheorie" vertritt. Ausdrücklich verwahrt sich Hönigswald dagegen, dem Neukantianismus als Schulrichtung zugeordnet zu werden (3), 9 wohl aber bekennt er sich dazu, das von Kant begonnene Projekt einer kritischen Erkenntnistheorie oder transzendentalen Analysis radikal voranzutreiben und zu Ende zu denken.

Symposion Kassel 1995, Würzburg 1997. (Auf alle mehrfach zitierten Publikationen wird im weiteren Textzusammenhang abgekürzt mit Jahreszahl verwiesen, so sind sie leicht in den Auswahlbibliographien am Ende des Bandes auffindbar.) 9 Alle direkten Verweise auf den vorliegenden Text und alle Zitatnachweise aus dem vorliegenden Text werden allein mit der eingeklammerten Seitenzahl angegeben. Hinweise auf andere Schriften Hönigswalds werden dagegen in den Anmerkungen ausgewiesen.

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Wie alle großen systematischen Denker entwickelt auch Richard Hönigswald seine ihm eigene philosophische T erminologie und seinen eigenwilligen Denkstil. Meist dauert es ein bis zwei Schülergenerationen, bis sich solche Eigenwilligkeiten im doppelten Wortsinn - aufgelöst haben, d.h. der breiteren Diskussion erschlossen und von ihr eingeschliffen werden. Hier aber begegnen wir einem philosophischen Werk, dessen Rezeption, noch bevor sie so recht aufgenommen werden konnte, 1933 bereits radikal abgebrochen wurde und das daher heute in einer geschichtlich anders fortgeführten Diskussion in seiner Begrifflichkeit und Eigentümlichkeit nahezu gänzlich neu entdeckt und durchgearbeitet werden muß. Damit sollen keineswegs die Leistungen der unmittelbaren HönigswaldSchüler vor 1933 und nach 1945 sowie die Verdienste der aus dem Umfeld des Hönigswald-Archivs hervorgegangenen großen Interpretationsarbeiten unterschlagen oder geschmälert werden. 10 Doch gerade daran, daß diese Arbeiten auf wenige Diskussionskreise begrenzt blieben, zeigt sich, wie radikal und nachhaltig die Zerstörung bestimmter philosophischer Traditionslinien 1933 war und wie mühsam und langwierig ihre Wiedergewinnung ist. Um den Sprung - 66 Jahre zurück - etwas zu erleichtern, sei mit beständigem Bezug auf die vorliegende Schrift der Versuch einer einführenden Interpretation in das philosophi-

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Verwiesen sei hier zunächst auf die philosophischen Arbeiten von Siegfried Marck und die denkpsychologischen und pädagogischen Schriften von Moritz Löwi vor 1933. Nach dem Zweiten Weltkrieg knüpften - als unmittelbare Schüler - Wolfgang Cramer in der Philosophie und Alfred Petze! in der Pädagogik an Hönigswald an und gründeten Schulrichtungen, in denen das Denken Hönigswalds wachgehalten wurde. Aus den Editionsarbeiten des von Hans Wagner gegründeten Hönigswald-Archivs erwuchsen die ersten umfassenden Hönigswald-Interpretationen von Gerd W olandt (siehe Anm. 7), die von seinen Schülern fortgeführt wurden. Siehe hierzu auch die Verzeichnisse ausgewählter Forschungsliteratur vor 1933 und nach 1945 am Ende dieses Bandes.

Einleitung

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sehe Anliegen Richard Hönigswalds unternommen, der jedoch keineswegs bereits den Anspruch einer kritischen Diskussion erheben möchte, sondern lediglich einen Zugang zu Hönigswalds Grundfragen der Erkenntnistheorie bahnen soll. 11 Da sich Richard Hönigswald in den ersten Kapiteln der Grundfragen der Erkenntnistheorie meist ohne Namensnennung kritisch gegen andere erkenntnistheoretische Positionen seiner Zeit abgrenzt und dabei immer schon seinen Ansatz voraussetzt, läge es nahe, zunächst die Lektüre mit der „Systematischen Selbstdarstellung" zu beginnen, um so aus der Kenntnis des originären Ansatzes Hönigswalds, seine kritischen Abgrenzungen und die weitere Durchführung seiner transzendentalanalytischen Erkenntnistheorie als philosophisches System verfolgen zu können. Allerdings expliziert die „Systematische Selbstdarstellung" die philosophische Position Hönigswalds so komprimiert, daß es doch ratsamer erscheint, sie erst nach dem Durchgang der ersten, kritisch abgrenzenden Kapitel als konzentrierte Zusammenfassung des eigenen Ansatzes Hönigswalds zu lesen, um erst dann zu den konkreten Problemfeldern ab dem sechsten Kapitel fortzuschreiten. 1. Ausgangspunkt und Abgrenzungen Philosophie ist für Hönigswald Erkenntnistheorie, transzendentale Rechtfertigung und Letztbegründung all unserer Wirklichkeitserkenntnis, wobei allerdings „Erkenntnis" von ihm sehr weit gefaßt wird, so daß darunter nicht nur die wissenschaftliche Erkenntnis, sondern auch die sittliche Einsicht, das ästhetische Urteil und der religiöse Glaube fallen. Aber auch umgekehrt gilt für Hönigswald, daß Erkenntnistheorie nichts anderes ist als die Philosophie selbst in ihren

Vgl. darüber hinaus Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Richard Hönigswalds Philosophie der Pädagogik, Würzburg 1995, sowie „Annäherungen an Hönigswalds transzendemalanalytische Systematik der Philosophie", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997). 11

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fundamentalsten Fragen und nicht etwa nur eine Vorklärung des Denkwerkzeugs - wie Hegel polemisch gegen Kant unterstellte. Gerade, um den Vorwürfen Hegels gegen die transzendentale Fragestellung Kants zu begegnen, muß diese selbst zur absoluten Selbstbegründung der Philosophie erweitert werden. Mehr als bei irgendeinem anderen Denker seiner Zeit ist bei Hönigswald die Rückbesinnung auf den transzendentalen Ansatz Kants als Antwort auf die Herausforderung der absoluten Philosophie Hegels zu verstehen, wie dies Hönigswald in der Abhandlung „Gedanken zur Philosophie Hegels" 12 ebenfalls im Jahre 1931 - herausgestellt hat. Kant hat in der Kritik der reinen Vernunft die „ursprünglichsynthetische Einheit der Apperzeption" als letztbegründende Instanz unserer theoretischen Erkenntnis aufgewiesen. Von daher ist es nicht mehr möglich, unmittelbar von der Erkenntnis der Weh zu sprechen, ohne sich zugleich über den Beitrag des erkennenden Subjekts an der W eherkenntnis Rechenschaft zu geben, und umgekehrt ist es auch unsinnig, die Erkenntnisvermögen des Subjekts zu differenzieren, ohne zugleich ihren Wirklichkeitsbezug zu klären. Es gibt keine Erkenntnis der Weh, die nicht zugleich Erkenntnis eines erkennenden Subjekts ist. 13 Alle große Philosophie und Erkenntnistheorie seither versucht, dieser von Kant aufgewiesenen transzendentalen Letztbegründungsproblematik gerecht zu werden. Sie versucht dies jedoch in unterschiedlichen Modifikationen und Systematisierungen. Nach Hönigswald ist es die Aufgabe der Philosophie als Erkenntnistheorie, die letztbegründende Ermöglichung aller Wirklichkeitserkenntnis aufzudecken. In diesem Zusammenhang spricht er von dem Gedanken der „Gegenständlichkeit".

Richard Hönigswald, „Gedanken zur Philosophie Hegels", in: Preußische Jahrbücher 226 (1931). 13 Siehe Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 131: „Das: Ich denke, muß alle meine Vorstellungen begleiten können." 12

Einleitung

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Diese erweist sich immer als eine zweipolige Problemstellung, nämlich den korrelativen Zusammenhang von Wirklichkeit und Erkenntnis, von gegebenem und erkanntem Gegenstand sowie erkennender und sich selbst gegenwärtiger Monas zu bestimmen. 14 Um diesen Begriindungsgedanken von Richard Hönigswald einführend näher zu erläutern, sei zunächst in Stichpunkten auf die kritischen Abgrenzungen eingegangen, wie sie Hönigswald in den ersten Kapiteln der Grundfragen der Erkenntnistheorie entwickelt. a) Positivismus und Phänomenologie Nach einem allerersten Problemaufriß im ersten Kapitel setzt sich Hönigswald im zweiten Kapitel zunächst vom Positivismus seiner Zeit ab, wobei er sowohl den popularphilosophischen Positivismus der damaligen Wissenschaften als auch vor allem die positivistische Wissenschaftstheorie von Ernst Mach, vielleicht aber auch schon die von Moritz Schlick im Auge hat. 15 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts war es Mode geworden, sich entweder gänzlich von der Philosophie abzukehren und die Wissenschaften mit ihren Erkenntnissen direkt an ihre Stelle treten zu lassen oder die methodologischen Selbstklärungen der Wissenschaften bereits als philosophische Wissenschaftstheorie auszugeben.

Vgl. Wolfgang Marx, „Grundlagen und Aktualisierungsmöglichkeiten der Systematik Hönigswalds", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997). 15 Bereits in seinen allerersten Schriften - noch als junger Mediziner - setzt sich Richard Hönigswald kritisch mit den Positivismen um die Jahrhundertwende auseinander: Zum Begriff der ,exacten Naturwissenschaft', Leipzig 1900; Ernst Haeckel, der monistische Philosoph, Leipzig 1900; Zur Kritik der Machschen Philosophie, Berlin 1903. Zu Ernst Mach siehe auch Richard Hönigswald, Geschichte der Erkenntnistheorie (1933), 177. 14

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Nun geht die positivistische Wissenschaftstheorie Ernst Machs keineswegs unmittelbar - wie der naive Positivismus von irgendwelchen positiven Tatsachen als solchen aus. Auch Mach weiß von der Bezogenheit von Tatsache und Erkennen. Daher setzt sein empirisch-kritizistischer Positivismus bei den Empfindungen als Erfahrungstatsachen an, auf die sich alle Erkenntnis einzig und allein logisch-methodisch zu beziehen habe. Aber die philosophisch nun erforderlichen Klärungen unterbleiben: „Worauf eigentlich gründet sich der Erkenntniswert von Tatsachen? Warum sind Tatsachen Argumente? Wie bestreiten oder widerlegen ,Tatsachen' das Recht einer Fragestellung ... ?" (26) Zweifach entzieht sich Mach selbst die Möglichkeit, seinen Ansatz philosophisch zu begründen. Zum einen dadurch, daß er das „Ich" selbst in eine Tatsache auflösen oder besser „in ein ,Zusammen' von ,Elementen' verwandeln möchte" (144), denn dadurch beraubt er sich der Instanz, von der her und für die Erkenntnisse in ihrer Geltung gerechtfertigt werden könnten. Zum anderen aber versucht er - wie alle Positivisten -, das philosophische Fragen selbst wiederum auf eine wissenschaftliche Tatsachenerkenntnis zu reduzieren, was aber jeglicher Wissenschaftstheorie ihre Grundlage entzieht. „Man sieht also, daß die positivistischen Tendenzen ... voraussetzen, was sie bekämpfen müssen, und bekämpfen, was sie voraussetzen, nämlich den Begriff der Erkenntnis, das Problem des Gegenstandes." (30) Im geradezu polaren Gegensatz zum Positivismus stehen die Gegenstandstheorie und die Phänomenologie, auf die Hönigswald im dritten Kapitel zu sprechen kommt. Die Gegenstandstheorie von Alexius v. Meinong - bei dem Hönigswald selber in Graz gehört hatte - und die Phänomenologie von Edmund Busserl kommen beide von der Bewußtseinsanalyse Franz Brentanos her, weshalb ihnen das Ich, das Bewußtsein, selbstverständlich Instanz und Ort aller Erkenntnisdifferenzierung ist. Entschieden grenzen sie sich von jeglichem Psychologismus - einer Abart des Positivismus - ab, da es ihnen nicht darum geht, alles aus Psychischem erklären zu wollen, sondern um

Einleitung

XIX

Differenzierungen der Erkenntnisgegenstände und der Phänomene des Erlebens, auf die sich unser Bewußtsein intentional zu richten vermag. 16 So sehr Hönigswald immer wieder die Verdienste der Phänomenologie in der Differenzierung von Gegenstandserkenntnissen und Erlebensdimensionen würdigt, so betont er doch, daß auch sie dem philosophischen Erkenntnisproblem in zweifacher Weise nicht gerecht wird. Erstens wird die „ideierende Wesensschau", wie sie H usserl einführt, mit einer so radikalen Trennung von der T atsächlichkeit der Erfahrung sowohl der erfahrenen Tatsachen als auch dem tatsächlichen Erfahren - erkauft, daß es unmöglich wird, phänomenologische Wesensforschung und wissenschaftliche Erkenntnisse beispielsweise in den Naturwissenschaften - miteinander zu verknüpfen. „Ideierendes Schauen und Naturforschung fallen vom Phänomenologen aus besehen weit auseinander, so weit, daß auch der leiseste Schein einer Verwechselung beider Gebiete peinlichst vermieden werden muß." (53) Zweitens erweist sich die Phänomenologie als ein halbierter und daher schlechter Platonismus, indem er nur Platons Schau der Ideen übernimmt, nicht aber die philosophische Begründungsproblematik der Dialektik Platons (56 f.), d.h. die Phänomenologie ist groß im Differenzieren von Erkenntnis- und Erlebnisbereichen, aber es fehlt der philosophische Rechtfertigungsund Letztbegründungsgedanke. „Der Kritiker des Begriffs einer phänomenologischen ,Wesensschau' durfte fragen, woher es denn kommen mag, daß ,Wesen' schaubar sind ... Die ,Schaubarkeit' wird naiv, d.h. ohne Rechtfertigung angenommen, weil man eben ,Wesen' kurzerhand als ,Gegenstände' einführt. Um die Voraussetzungen dieses Verhaltens kümmert man sich nicht weiter" (93).

Zur Kennzeichnung der Phänomenologie und Hönigswalds Abgrenzung von ihr siehe auch Richard Hönigswald, Geschichte der Erkenntnistheorie (1933), 181 f., vor allem aber Richard Hönigswald, Grundlagen der Denkpsychologie (1925). 16

XX

Wolfdietrich Schmied-Kowarzik

b) Neukantianismus und Existentialontologie Während die beiden bisher besprochenen Richtungen das Problem der Erkenntnis in entgegengesetzter Weise von jeweils nur einem der Bezugspunkte - von den Erkenntnisgegenständen in ihrem Empfindungsbezug bzw. vom erkennenden Bewußtsein mit seinem intentionalen Phänomenbezug - her in den Blick nehmen, stellen sich die nächsten beiden Richtungen in weit komplexerer und kompetenterer Weise der philosophischen Aufgabe der Erkenntnisbegründung. Es handelt sich dabei zum einen um die aus der Phänomenologie hervorgegangenen ontologischen bzw. existentialphilosophischen Ansätze von Max Seheier, Nicolai Hartmann, Karl J aspers und Martin Heidegger und zum anderen um die Schulen des Neukantianismus, die Südwestdeutsche Schule (Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert, Emil Lask), die Marburger Schule (Hermann Cohen, Paul Natorp, Ernst Cassirer) und die Richtung von Otto Liebmann und Alois Riehl, der sich Hönigswald in besonderer Weise verpflichtet fühlt. Sowohl in den Grundfragen der Erkenntnistheorie als auch in der zwei Jahre später erschienenen Geschichte der Erkenntnistheorie behandelt Hönigswald die ontologischen und die kantianischen Positionen in der genannten Reihenfolge, um dadurch auch seine besondere Verbundenheit mit den kantianischen Richtungen zu bekunden. Wir wollen jedoch aus Darstellungsgründen für unsere einführende Interpretation im folgenden die Reihung umkehren. Im fünften Kapitel der Grundfragen der Erkenntnistheorie, das schon sehr stark Züge einer Selbstdarstellung seiner eigenen Position aufweist, setzt sich Hönigswald kritisch mit Kant und -ungenannt - auch mit den Schulrichtungen des Neukantianismus auseinander. 17 Mit leicht unterschiedlichen Akzentset-

Siehe hierzu auch Richard Hönigswald, Geschichte der Erkenntnistheorie (1933), 184-190. Vgl. Reinhold Brei!, Hönigswald und Kant. Transzendentalphilosophische Untersuchungen zur Letztbegründung 17

Einleitung

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zungen haben die verschiedenen Richtungen des N eukantianismus die Herausforderung des rasanten Aufstiegs der Einzelwissenschaften seit Mitte des 19. Jahrhunderts angenommen und die transzendentale Fragestellung Kants den erweiterten Begründungsbedürfnissen gemäß fortgeschrieben. Dabei ist es allen diesen Richtungen klar, daß man weder von ungefragt hingenommenen Empfindungstatsachen noch allein von den reinen lntentionalitäten des Bewußtseins ausgehen könne, sondern daß sich- gemäß der „ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption" - Erkenntnisgegenstände und Erkenntnisakte nur als auseinanderbestimmt und aufeinanderbezogen begründen lassen. So ist die Eingangskennzeichnung zum fünften Kapitel sowohl als Selbstdarstellung der eigenen kritischen Erkenntnistheorie als auch als Übereinstimmung mit dem Kantischen Erbe, wie es im Kantianismus der letzten Jahrzehnte fortgeführt worden war, zu lesen: „,Subjekt' und ,Objekt' erweisen sich ,transzendental', d.h. im Motiv der Gegenständlichkeit aufeinanderbezogen; sie treten in diesem ihrem Bezug korrelativ auseinander. In solcher Korrelation allein bestimmt sich die ,Unabhängigkeit' des Gegenstandes von mir, sein ,Sein'. Und dieses wieder umspannt die ganze Fülle seiner Bestimmtheit. Bestimmtheit des Gegenstandes bedeutet mithin Unabhängigkeit ,von mir' durch Bezogenheit ,auf mich'. Das Gesetz dieses Zusammenhangs aber heißt ,Gegenständlichkeit'. Es umspannt in jener Bezogenheit des Objekts auf ,mich' auch und vor allem das Problem der Psychologie. Denn in der Bestimmtheit des Gegenstandes ergreift es dessen Erlebbarkeit und in dieser Erlebbarkeit ,mich'." (70) Bis auf die letzten zwei Sätze - auf die wir gleich noch näher eingehen werden -, wird hier in dem für Hönigswald

und Gegenstandskonstitution, Bonn 1991; Hans Wagner, Kritische Philosophie. Systematische und historische Abhandlungen, Würzburg 1980; Werner Flach, „Richard Hönigswalds systemtheoretisches Methodologiekonzept", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997).

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typischen Stil das kantianische Programm einer kritischen Erkenntnistheorie umrissen. Die Wirklichkeitserkenntnis, deren Ermöglichungsbedingung und Letztbegriindung Hönigswald mit „Gegenständlichkeit" benennt, ist nicht trennbar in eine Wirklichkeit an sich und eine Erkenntnis für sich, sondern beide sind nur korrelativ auseinander und aufeinander letztbestimmbar. Die kritische Erkenntnistheorie hat diese „urspriinglich-synthetische Einheit" von Gegenstand und Erkennen im ganzen Geflecht ihres wechselseitigen Bedingens und Bestimmens zu begriinden und zu rechtfertigen. Soweit weiß Hönigswald sich mit den kantianischen Richtungen seiner Zeit, insbesondere aber mit Ernst Cassirer und Bruno Bauch einig. Nun aber kommt jener Gedanke, der sich oben in den letzten beiden Sätzen ausspricht und der Hönigswald über den Kantianismus hinausgehen läßt. Im Zentrum der Kantischen T ranszendentalphilosophie stehen die „Theorie des Gegenstandes" und die „Theorie des Urteils", d.h. Kant deckt in der Kritik der reinen Vernunft die Bedingungen der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse auf und betont in diesem Zusammenhang, daß „das: Ich denke" alle Wirklichkeitserkenntnisse begleiten können muß. Dabei bleibt aber das sich selbst erlebende Subjekt und das Gegebene seines Erlebens - und dieses umschreibt Hönigswald mit dem „Problem der Psychologie" - eigentümlich unterbestimmt. „Es bleibt natürlich noch eine Frage für sich, ob Kant alle im Begriff der transzendentalen Frage gesetzten Möglichkeiten erschöpft habe. Man kann es ruhig bezweifeln. Das Problem der Psychologie z.B. bleibt außerhalb der Grenzen seines Theorems." (7 4) Auch der „Entwicklungsgang des kritischen Denkens" (76) im Neukantianismus übergeht zunächst das Problem der Psychologie, erst Paul Natorp hat es - wenn auch unzureichend - aufgenommen. 18 So kann Richard Hönigswald von

Paul Natorp, Allgemeine Psychologie nach kritischer Methode, Tübingen 1912. Vgl. Karl-Heinz Lembeck, „Rekonstruktive Psychologie und Denkpsychologie", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997). 18

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sich zu Recht behaupten, daß er dieses Problem in semen Grundlagen der Denkpsychologie (1921) erstmals in seiner philosophischen Tragweite und Schärfe gestellt und diskutiert hat. Mit dem Problem der Psychologie ist keineswegs die Psychologie als Einzelwissenschaft und schon gar nicht der Psychologismus gemeint, sondern der fundamentale Selbstbezug, den Hönigswald auch das Problem der Selbstpräsenz der Monas nennt. Um eine Verwechslung mit der Psychologie als Einzelwissenschaft zu vermeiden, sei im folgenden nur noch vom Problem der Monas gesprochen. Mit dem Problem der Monas ist aber noch ein weiteres Zentralproblem korrelativ verbunden, das Kant mit dem Grenzbegriff „Ding an sich", der Wirklichkeit an sich, umschrieb. Fast der gesamte Neukantianismus versuchte dieses Problem wegzurationalisieren, lediglich Alois Riehl hielt an ihm fest. Hönigswald nimmt dieses Problem von seinem Lehrer auf und weist seinen korrelativen Zusammenhang mit dem Problem der Monas nach. 19 Es ist kein Selbsterleben der Monas möglich, wo nicht korrelativ ein Erleben von Gegebenem vorliegt. Erleben von Gegebenen steht aber immer in der Gegebenheit als Ganzheit, oder anders gesagt, der Selbstbezug der sich unmittelbar gegenwärtigen Monas ist nur korrelativ zum Wirklichkeitsbezug des in ihrem Erleben Gegebenen erfahrbar und denkbar. Insofern ist mit der Gegebenheit nichts anderes als die Ganzheit der Wirklichkeit als Idee angesprochen, auf die das Erleben der Monas bezogen ist. Somit erweist sich die Gegebenheit als eine andere Sichtweise der Gegenständlichkeit, jedoch nun nicht von der Bestimmtheit wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern vom konkreten Erleben der Monas her betrachtet. Hier nun ist der Ort auf das vierte Kapitel zurückzugehen, das sich mit den ontologischen und existenzphilosophischen

19

Vgl. Wolfgang Ritzel, Studien zum Wandel der Kantauffassung, Meisenheim 1952; Kurt Walter Zeidler, Kritische Dialektik und Transzendemalontologie, Bonn 1995.

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Positionen - Max Scheler, Nicolai Hartmann, Karl Jaspers, Martin Heidegger - auseinandersetzt, 20 wobei Hönigswald ohne Zweifel in Martin Heidegger, den er als einzigen in diesem Kapitel namentlich erwähnt, seinen Hauptkontrahenten sieht. So polemisch sich Hönigswald gerade auch von diesen Richtungen absetzt, so ist doch nicht zu übersehen, daß er mit ihnen im eben genannten Problem der Selbstpräsenz der Monas und ihres Bezugs zur Gegebenheit einen gemeinsamen philosophischen Problemzusammenhang verfolgt. Dies zeigt sich beispielsweise an folgenden Ausführungen Hönigswalds, deren thematische Verwandtschaft zur ontologischen Existentialanalyse - trotz aller Unterschiede in Begrifflichkeit und Darstellungsform - unübersehbar ist: "Das ,Ich' und jenes etwas, darauf ich ,stoße', das mir in diesem Sinne ,gegeben' ist, erfüllen in ihrem Wechselbezug eine und dieselbe Bedingung ... Ich ,bin' nicht, wenn nicht in der Korrelation und vermöge der Korrelation zu jenem ,etwas'; und dieses etwas wiederum ,ist' nur als einem möglichen ,ich' ,gegeben'. Dieses seine ,Gegebenheit' aber fällt damit zusammen, daß es mir gegenüber ,etwas' ist; d.h. sie fällt zusammen mit dessen Unabhängigkeit von mir. Darum ist diese Unabhängigkeit von mir zugleich sein Bezug ,auf mich'." (62) Das Problem der Selbstpräsenz der Monas und der Gegebenheit des Seins, so können wir sagen, verbindet Richard Hönigswald - gegen seine kantianischen Freunde - mit den ontologischen und existenzphilosophischen Richtungen. Aber nur, um ihnen im sofortigen Gegenzug dazu - gemeinsam mit den Kantianern - vorzuhalten, daß sie es versäumen, die ontologische Existentialanalyse, von der sie ausgehen, mit den Problemen bestimmender Gegenstandserkenntnis und dem philosophischen Anspruch letztbegründenden Denkens zu verknüpfen. Natürlich sprechen auch sie vorn Denken, aber es wird allein in seiner Begrenztheit und Abhängigkeit gegenüber der über-

20

Siehe auch Richard Hönigswald, Geschichte der Erkenntnistheorie {1933), 182 f.

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mächtigen Gegebenheit der Existenz gesehen, ohne zu bemerken, daß auch diese Bestimmung eine - wenn auch unzureichende - des Denkens ist. Keine Philosophie kann sich letztlich dem Problem des korrelativen Auseinandertretens und Aufeinanderbezogenseins von Gegebenheit und Denken entziehen, denn sie selbst steht unaufgebbar im Medium des Denkens, auch dann, wenn dieses sich selbst auf ein schweigendes Hören auf die Gegebenheit des Seins einzugrenzen versucht, wie Hönigswald mit deutlicher Anspielung auf Heidegger schreibt. „Man hat vergessen, daß Gegebenheit Gegenständlichkeit, daß Gegebenes genau so Erfüllung einer letztdefinierten Forderung bedeutet ... Das Thema hat sich unbemerkt verschoben ... Die Unabhängigkeit des Gegenstandes von mir erscheint nun in jene Überunabhängigkeit verwandelt, die den Bezug des Gegenstandes auf die Möglichkeit seines Erlebtseins, und damit freilich auch jeglichen Anspruchs solcher ,Überabhängigkeit' selbst auf Bestimmtheit, aufhebt ... So ist aus dem Wechselbezug von Gegebenheit und Denken, aus ihrem Aufeinander-angewiesen-Sein unbemerkt ein ,Ding' geworden, das diese Wertbezogenheit ,erklärt', indem es sie überwindet ... Hier ist alles ,dogmatisiert': die Begriffe der ,Gegebenheit', des ,Denkens', ihre Spannung und deren Lösung im Gegensatz des Endlichen und des Unendlichen." (60 f.) 21 Die weiteren Ausführungen des vierten Kapitels lesen sich wie ein kritischer Kommentar zum philosophischen Disput zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger in Davos 1929, der über weite Strecken auch ein Streit darüber war, ob Kant als Kronzeuge für die Unendlichkeit menschlicher Geistigkeit oder für die Endlichkeit menschlichen Seins in Anspruch genommen werden müsse oder dürfe. 22 Hierbei versucht

Die folgende Polemik gegen Martin Heidegger (62) sei an dieser Stelle übersprungen, da wir im Zusammenhang mit dem „Problem des Glaubens" darauf noch zurückkommen werden. 22 Die Bezüge zum Davoser-Disput sind frappant. Ob Hönigswald tatsächlich nähere Kenntnisse darüber aus der Presse oder durch 21

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Richard Hönigswald, die Motive beider Kontrahenten aufzunehmen und sie von der Korrelation der Aufgabe der Gegenstandserkenntnis und der Selbstpräsenz der Monas her aufzulösen. So kann Hönigswalds Betonuf'.g der geschichtlichen Endlichkeit des Menschen durchaus als Ubereinstimmung mit Heidegger gelesen werden: „Es liegt nicht sehr fern, von dem Gedanken der Endlichkeit her das Problem des Menschen aufzurollen, - ... insoweit als er in seiner spezifischen ,Endlichkeit' gewürdigt ... wird ... Der Mensch in ... [dieser] Hinsicht ist der Mensch der Geschichte, genauer: der Mensch, soweit sein Begriff durch den der Geschichte bestimmt wird, der Mensch als Träger der ,Kultur'." (64) Doch sofort anschließend grenzt Hönigswald die Ausschließlichkeit der Geschichtlichkeitsthese Heideggers wieder ein, um mit Cassirer die unendliche Aufgabe kultureller Selbstwerdung des Menschen zu betonen: „Sie erst ergreift ihn in seiner geschichtlichen Bedingtheit ... ; nur sie erfaßt ihn aber auch in dieser seiner Valenz als Träger aller gegenständlichen und doch dialektisch bewegten Überzeitlichkeit der Kultur. Und darauf gründet es sich auch, daß der ,Mensch' nicht in seiner ,Endlichkeit' verharrt. Er hat teil an der ,Unendlichkeit' eines Systems nie erfüllter und als Totalität trotzdem übersehbarer Aufgaben." (66 f.)

mündliche Berichte hatte, ist mir nicht bekannt. Unsere heutige Quelle der Davoser-Disputation zwischen Ernst Cassirer und Martin Heidegger ist die - von der einen Seite etwas nachgebesserte - Wiedergabe der von Joachim Ritter und Otto-Friedrich Bollnow angefertigten Protokolle in der 4. Aufl. von Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik (1929), 4. erw. Aufl., Frankfurt a.M. 1973, 246-268. Vgl. Karlfried Gründer, „Cassirer und Heidegger in Davos 1929", in: Hans-} ürgen Braun/Helmut Holzhey /Ernst Wolfgang Orth (Hg.), Über Ernst Cassirers Philosophie der symbolischen Formen, Frankfurt a.M. 1988. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, „Annäherungen an Hönigswalds transzendentalanalytische Systematik der Philosophie", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997).

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c) Hegels absolute Philosophie

Mit diesen zweimaligen kritischen Abgrenzungen, wie sie Hönigswald in den ersten Kapiteln der Grundfragen der Erkenntnistheorie gegenüber Positivismus und Phänomenologie einerseits sowie gegenüber den ontologisch-existenzphilosophischen Richtungen und den Schulen des Neukantianismus andererseits darlegt, konnten wir bereits viel von der doppelpoligen Problemstellung von Hönigswalds eigener Position kennenlernen. Obwohl Hönigswald darauf in den Grundfragen der Erkenntnistheorie nicht explizit eingeht, müssen wir jedoch an dieser Stelle auch seine Abgrenzung von Hegel einbeziehen, denn an keinem philosophischen Anspruch hat sich Hönigswald so sehr gerieben und gemessen wie an Hegels absolutem System. Hegels absoluter dialektischer Synthesis stellt Hönigswald seine sich zu Kant bekennende absolute transzendentale Analysis entschieden entgegen. Implizit ist diese Entgegensetzung in allen seinen systematischen Schriften anwesend, so auch in den Grundfragen der Erkenntnistheorie; explizit hat Hönigswald sie 1931 zum 100. Todesjahr Hegels in der Abhandlung „Gedanken zur Philosophie Hegels" und zwei Jahre später in der Geschichte der Erkenntnistheorie sowie in weiteren Studien ausgeführt. 23

Richard Hönigswald, „Vom Problem der Idee", in: Logos XV (1926); „Vom philosophischen Problem der Romantik", in: Euphorion 30 (1929); „Gedanken zur Philosophie Hegels", in: Preußische Jahrbücher 226 (1931); Geschichte der Erkenntnistheorie (1933), 165-172; „Hegel und die Grundlagen der Denkpsychologie", in: Algemeen Nederlands Tijdschrift voor Wijsbegeerde en Psychologie 4 (1938/39); „Philosophy of Hegelianism", in: Twentieth Century Philosophy, ed. D.D. Runes, New York 1943, 265-291. Vgl. Wolfdietrich SchmiedKowarzik, „Synthesis und Analysis. Eine Auseinandersetzung mit Hönigswalds Hegel-Kritik" (1969), in: ders., Richard Hönigswalds Philosophie der Pädagogik (1995), sowie „Annäherungen an Hönigswalds transzendentalanalytische Systematik der Philosophie", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997). 23

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Gerade auch die Denker des Deutschen Idealismus - Fichte in den Grundlagen der gesamten Wissenschaftslehre (1794/95), Schelling im System des transzendentalen Idealismus (1800), Hegel in der Phänomenologie des Geistes (1807) - knüpfen mit Entschiedenheit an Kants "ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption" an und versuchen diese in einer transzendental-historischen oder dialektischen Bewegung zu rekonstruieren. Insbesondere stellt sich bei Hegel die Dialektik als ein Durchlaufen aller möglichen Stufen von Gegenstandserkenntnis und Selbstbewußtwerdung dar - von der noch ganz in den Gegenstand verlorenen "sinnlichen Gewißheit" und dem "Selbstbewußtsein" des Subjekts über ihre Vermittlung in der erkennenden „Vernunft" und im geschichtlich-tätigen „Geist" bis hin zur Anschauung des Absoluten in der „Religion" und dem „absoluten Wissen" der Philosophie. Für Hegel wird so die Dialektik der Philosophie zum Vollzug der ursprünglich-synthetischen Einheit selbst, alle Momente möglicher Gegenstandserkenntnis und Selbstbewußtwerdung sind in ihr in dem sich wissenden Vollzug der Synthesis eingeholt. So großartig dieses in Anspruch und Durchführung einmalige absolute System der Philosophie Hegels auch ist, es hat das Mißliche an sich, daß es alle Stufen der Gegenstandserkenntnis und der Selbstbewußtwerdung zu bloßen Momenten des absoluten Wissens macht, d.h. ihrer Eigenständigkeit als Gegebenheiten und als Subjekte beraubt. Es geht der Hegelschen Philosophie nicht mehr darum, die Wirklichkeit - beispielsweise die Natur in ihrer Gegebenheit - zu begreifen, und auch nicht darum, die Subjekte zum Bewußtsein ihrer selbst zu führen, sondern die Stufen der Gegenstandserkenntnis und der Selbstbewußtwerdung sind nur Momente im absoluten Wissen der Philosophie, das sich als das Absolute selbst erfaßt. „Hegels Begriff der Dialektik hat das Motiv der ,Gegebenheit', das für Kant mit gewissen Einschränkungen noch unantastbar war, gleichsam aufgesaugt. Hegel ist der Gegenstand in der Gegebenheitsform ... des ,Geistes' beschlossen. Nie kann daher bei ihm das Problem der Psychologie zu voller systematischer Ausprägung gelangen. Das wechselbezogene Auseinander von

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Erlebnis und Gegenstand, das in dem kritischen Begriff der ,Gegebenheit' vorliegt, kann Hegel immer nur als eine vorübergehende, in der Vollendung seines Systems ,aufzuhebende' Phase erscheinen ... Denn nur das Ganze ist ihm ,das W ahre' ."24

Dem Motiv, alle Gestalten der Gegenstandserkenntnis und der Selbstbewußtwerdung philosophisch einzuholen, stellt sich auch Hönigswald, aber Philosophie darf dabei nicht zum Selbstzweck werden, sondern hat hier die dienende Funktion, uns konkrete Wirklichkeitserkenntnis und je eigene Selbstfindung zu ermöglichen. Daher schreitet die Philosophie bei Hönigswald geradezu umgekehrt wie bei Hegel voran. Mit all unserer Wirklichkeits- und Selbsterkenntnis stehen wir immer schon in der „ursprünglich-synthetischen Einheit" der Gegenständlichkeit, sie ist immer schon da, und wir leben und denken in ihr. Die Philosophie hat sie daher nicht erst in dialektischer Synthesis zu vollbringen, sondern ihre Aufgabe ist die transzendentale Analysis, d.h. sie hat die die Wirklichkeits- und Selbsterkenntnis ermöglichenden Bedingungen aufzudecken. Als transzendentale Analysis erzeugt die Philosophie keine neuen Gegenstandserkenntnisse und keine Aufgaben der Selbstverwirklichung, sondern sie zeigt die erkenntnistheoretischen Maßstäbe ihrer Letztbegründung und Rechtfertigung auf. In der Besonderheit der transzendentalen Analysis liegt eine der Schwierigkeiten im Zugang zu Hönigswalds Werk begründet, denn seine Problementfaltung ist keine dialektisch auseinander- und aufeinanderfolgende Bewegung, sondern von immer wieder anderen Problemstellungen und Perspektiven her stellt sie die erneute Rückkehr zur Synthesis der Gegenständlichkeit dar, die sich in der Analysis als das unauflösbar korrelative Auseinandertreten und Aufeinanderbezogensein von Gegenstandserkenntnis und Selbstpräsenz der Monas erschließt.

24

167 f.

Richard Hönigswald, Geschichte der Erkenntnistheorie (1933),

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Dabei spiegeln beide wiederum diese Wechselbezogenheit in sich, so daß der Darstellungscharakter in Hönigswalds Werk einer spiralenförmigen Verschlingung von Problementfaltungen gleicht, durch die schrittweise das komplexe Geflecht eines Bedingungsgefüges sichtbar wird, das unsere Wirklichkeits-und Selbsterkenntnis begründet und rechtfertigt. 2. Positionsbestimmung Hier ist nun der Ort, wo es sich empfiehlt, die „Systematische Selbstdarstellung" Hönigswalds als Positionsbestimmung seiner Philosophie zu behandeln, denn die Grundfragen der Erkenntnistheorie schreiten sofort nach den kritischen Abgrenzungen zur Diskussion von konkreten Erkenntnisproblemen fort von der Besprechung einiger Grundfragen der Naturerkenntnis über die Klärung der Grundlagen menschlicher Verständigung bis hin zur Erörterung der Dimensionen von Sittlichkeit, Kunst und Glaube aus erkenntnistheoretischer Perspektive. Es kann natürlich an dieser Stelle nicht unsere Aufgabe sein, die selbst sehr geraffte Positionsbestimmung, die Richard Hönigswald von seiner transzendentalanalytischen Philosophie in der „Systematischen Selbstdarstellung" gibt, 25 nochmals verkürzt wiederzugeben. Lediglich um die Brücke von den bisherigen kritischen Abgrenzungen zur Diskussion der konkreten Problemfelder zu schlagen, seien hier zusammenfassend einige Hinweise gegeben. „Das Problem der Philosophie ist die Philosophie selbst, ist ihr eigener Begriff." (205) Mit diesem Satz beginnt Hönigswald seine „Systematische Selbstdarstellung". Seit die Philosophie in

Ausführlicher entwickelt Richard Hönigswald seine philosophische Position in der zweiten, gänzlich umgearbeiteten Auflage seines Buches Grundlagen der Pädagogik (1927), das wegen seines Titels in der philosophischen Diskussion viel zu wenig Beachtung gefunden hat. Vgl. auch Gerd Wolandt, Letztbegründung und Tatsachenbezug (1983). 25

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der Antike bewußt als Philosophie hervortritt, geht es ihr nicht darum, Erkenntnisse oder Wertungen neu hervorzubringen, sondern auftretende theoretische Aussagen und praktische Forderungen in ihrer Geltung als Erkenntnisse und als sittliche Ansprüche zu begründen. Sie begründet diese dadurch, daß sie die Bedingungen der Möglichkeit aufdeckt, die eine Erkenntnis oder einen sittlichen Anspruch aus sich selbst einsichtig machen und ihre Anerkennung erzwingen. Philosophie ist somit Rechtfertigung von Erkenntnissen und sittlichen Ansprüchen für die Erkennenden und in sittliche Ansprüche Gestellten. Sie kann dies nur, da sie selbst nichts anderes als der „Gedanke der Rechtfertigung", die „sich selbst begründende Idee" ist: „Rechtfertigung einer Setzung, so darf man sagen, schließt immer auch die Rechtfertigung des Gedankens der Rechtfertigung in sich. Auf sie zu reflektieren, ist daher die erste und unerläßliche Aufgabe des Philosophen''. (206) In aller Erkenntnis geht es uns um eine Erkenntnis von etwas, um Gegenstandserkenntnis, Wirklichkeitserkenntnis, und in allen Geltungsforderungen (Sittlichkeit, Recht, Kunst, Glaube) geht es um Ansprüche, die an uns ergehen, insofern wir in einen natürlichen und gesellschaftlichen Wirklichkeitszusammenhang gestellt sind. Wir versuchen hiermit Hönigswalds grundlegenden „Begriff der Gegenständlichkeit" zu umschreiben. Er umschließt immer beides in doppeltem wechselseitigem Bezug: die Wirklichkeit und uns, die Wirklichkeit, die wir zu erkennen versuchen, und die von uns etwas fordert. „So wird denn das Motiv der Rechtfertigung immer deutlicher zum unverrückbaren Ausgangs- und Angelpunkt aller philosophisch-wissenschaftlichen Uberlegungen. Nun schließt aber dieser Begriff, und zwar auf doppelte Weise, das Motiv der Gegenständlichkeit ein: einmal, weil das Gerechtfertigte oder Zu-Rechtfertigende in seiner Geltung von ,mir' unabhängig geworden ist; sodann aber, weil Rechtfertigung als Prinzip der Geltung von Aussagen allemal einen ,Gegenstand' dieser Aussagen fordert. So erkennt man Gegenständlichkeit „. als das höchste Gesetz des Gegenstandes „." (208), aber auch der Monas, die wir je selber sind.

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Um die „urspriinglich-synthetische Einheit" der Gegenständlichkeit im ganzen Gefüge der sie konstituierenden Momente aufzuklären, hat die transzendentale Analysis einen Spannungsbogen von der Ist-Bestimmtheit, der Bestimmtheit unserer Wirklichkeitserkenntnis, bis zur Ich-Bestimmtheit, die von der Wirklichkeit an uns als Handelnde ergeht, aufzuklären. Der Weg, den die transzendentale Analysis dabei durchschreitet, stellt keine dialektische Folge dar - wie bei Hegel -, denn die beiden sie korrelativ bedingenden und bestimmenden Pole Gegenstand und Monas - mit all ihren Untergliederungen bilden ein gleichzeitiges Gefüge, das erst gemeinsam den ganzen Begriff der Gegenständlichkeit erschließt. Zu Recht wurde Hönigswalds transzendentalanalytische Systematik mit einer Ellipse mit zwei Brennpunkten verglichen. 26 Von jedem der beiden unterscheidbaren Pole her kann der jeweils andere und das Ganze in den Blick genommen werden, aber die Perspektive ist eine je unterschiedliche und erst, wenn beide Perspektiven eingenommen wurden, wird die Einheit dieser doppelpoligen Ellipse erfaßt. Die Ist-Bestimmtheit der Wirklichkeitserkenntnis erweist sich selbst wiederum als ein korrelatives Gefüge zweier auseinandertretender und aufeinanderbezogener Momente. Zum einen besagt sie, daß jeder Gegenstand der Erkenntnis bestimmt ist durch den Begriff, durch das prädizierende „ist" des Urteils, durch die Methode wissenschaftlichen Erkennens, d.h. gesetzt und erarbeitet ist durch das erkennende Subjekt. Dies ist es, was Kant in der Kritik der reinen Vernunft herausgearbeitet hat und was die Neukantianer nach den verschiedenen Wissenschaften differenziert fortgeführt haben. Es ist keine andere Wirklichkeitserkenntnis denkbar als eine die Wirklichkeit begreifende. In diesem Sinne formuliert Hönigswald in

26

Kurt Walter Zeidler, „Richard Hönigswalds Weg zur Denkpsychologie" und W olfdietrich Schmied-Kowarzik, „Annäherungen an Hönigswalds transzendental analytische Systematik der Philosophie", beide in: Erkennen - Monas - Sprache (1997).

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den Grundlagen der Pädagogik: „Der Begriff verschont nicht nur, wenn es gut geht, die Wirklichkeit; auch fristet er sein Dasein nicht gleichsam neben ihr. Er selbst ,ist' nur, sofern er die Wirklichkeit bestimmt; und nur eine bestimmte und zu bestimmende Wirklichkeit ,ist'. So verbürgt der Begriff dem Wirklichen, wo es sich auch finden und wie immer es sich auch kennzeichnen mag, seine Unantastbarkeit und Fülle, d.h. seine durch nichts geschmälerte Gegenständlichkeit. "27 Zum anderen liegt aber in der Ist-Bestimmtheit noch ein weiteres, mit dem ersten korrelativ verknüpftes Moment. Wir sagen von etwas: „es ist", wenn es uns in der Erfahrung, im Erleben gegeben ist, wenn wir auf es stoßen, wenn wir es als daseiend vorfinden. Erst durch dieses „ist" erkennen wir die Unabhängigkeit eines Gegenstandes gegenüber unserem Erkennen an, wird die Erkenntnis zur Wirklichkeitserkenntnis. „Denn eben, daß sie [die Sache] von ,mir' unabhängig ist, macht sie zur ,Sache'. Und bestimmbar wird die Sache lediglich im Hinblick auf diese ihre Unabhängigkeit von ,mir'. Freilich, auch Unabhängigkeit von ,mir' schließt eine Beziehung auf ,mich' ein. Allein, das beeinträchtigt jene Unabhängigkeit nicht nur nicht, das allein sichert ihr erst Sinn und Bestand. In der Unabhängigkeit der Sache von ,mir', d.h. in dem Problem des Gegenstandes, erscheint eben auch das des ,Ich' notwendig gesetzt." (222) Obwohl wir bereits einige Verweise auf den anderen Brennpunkt der Ellipse, das Ich oder die Monas, haben, müssen wir zunächst bei der Ist-Bestimmtheit der Wirklichkeitserkenntnis bleiben: dem Ist des Bestimmtseins eines Gegenstandes durch ein erkennendes Subjekt und dem Ist des Gegebenseins eines Gegenstandes für ein erlebendes Subjekt. Nirgends, wo es um Wirklichkeitserkenntnis geht, können wir aus der Korrelation dieser beiden Bezugspunkte heraustreten. „Begriff und Gegenstand sind also nicht zwei ,Wirklichkeiten', durch eine un-

27

Richard Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik (1927), 15.

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ergründliche Kluft voneinander getrennt .. . Der ,Begriff' in seiner Bestimmtheit ist allein das Maß der ,Wirklichkeit' des Gegenstandes; und der Begriff wiederum ist nichts, wenn nicht eben diese Bestimmtheit des Gegenstandes selbst ... " (221) Es wäre falsch zu glauben, Hönigswald wolle mit dem transzendentalanalytischen Aufweis dieser Korrelation sagen, daß alle unsere Erfahrungen und Weltdeutungen eo ipso diesen Zusammenhang erfüllen. Vielmehr weist die transzendentale Analysis zum einen die prinzipiellen Bedingungen der Möglichkeit von Wirklichkeitserkenntnis auf, zum anderen aber gibt sie Kriterien an die Hand, von denen her vermeintliche Erfahrungen und behauptete Theorien auf ihren Geltungsanspruch hin untersucht werden können. 28 Wenden wir uns nun dem zweiten Pol oder Brennpunkt, der Ich-Bestimmtheit, bezogen auf die Wirklichkeitserkenntnis zu. 29 Die Perspektive verändert sich total, und der erste Schein trügt, glaubt man, daß es sich dabei in bezug auf das Vorhergehende um ein bloßes Spiegelverhältnis handelt. Mit der Ich-Bestimmtheit kommt eine Perspektive zur Sprache, die der Neukantianismus nicht in den Blick zu nehmen vermochte und die Hönigswald in gewisser Weise mit den phänomenologischen und existentialontologischen Richtungen verbindet. Er selbst hat sie in seinen Grundlagen der Denkpsychologie (1921)

Damit ist Richard Hönigswald in seiner Fragestellung bereits über Kants eingeschränkteres Problem empirisch-wissenschaftlicher Erkenntnis hinaus. So wird für Hönigswald auch „Kants Lehre vom sogenannten ,Schematismus' ... hinfällig" (78), wie er in Anspielung auf Martin Heidegger, Kant und das Problem der Metaphysik, Tübingen 1929, kritisch anmerkt. 29 Zur vollen Entfaltung der Ich-Bestimmtheit müßten wir - wie oben angedeutet - auch auf die das Ich bestimmenden Geltungsforderungen eingehen, die in den späteren Problemfeldern noch angesprochen werden. Hier gehen wir nur auf das Ich als das die Wirklichkeitserkenntnisse konkret ermöglichende und vollziehende Subjekt ein, das sich zugleich aus der ihr gegebenen und aufgegebenen Wirklichkeit bestimmt weiß. 28

Einleitung

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in phänomenologischer Differenziertheit und erkenntnistheoretischer Strenge grundgelegt und später immer wieder unter dem Begriff der Monas und dem Problem einer Monadologie abgehandelt. 30 Auch von der Seite der Ich-Bestimmtheit her haben wir zwei korrelativ auseinandertretende und aufeinanderbezogene Momente zu bedenken. Zum einen die Monas selbst - alle Erkenntnis kann nur vollzogen werden von einem sich selbst gegebenen und sich selbst reflektierenden Subjekt. Die Monas, die wir hier bedenken, ist nicht das allgemeine Erkenntnissubjekt, das Kant meinte, wenn er von dem „Ich denke" sprach, sondern es ist das konkrete Subjekt, das wir je selber sind. Wenn oben vom Gegebensein von etwas als dem einen Moment der Ist-Bestimmtheit die Rede war, so können wir jetzt vom anderen Brennpunkt, der Monas, her hinzufügen, daß etwas Gegebenes immer nur im Erleben erfahrbar ist, und zwar uns, einem konkreten Subjekt, das sich selbst als daseiend erlebt, aber in diesem sich selbst Gegebensein zugleich sich selbst weiß und reflektiert. Dies alles müssen wir mitdenken, wenn wir mit Hönigswald von Monas sprechen, von der Einzigartigkeit unseres Selbstpräsens. 31 „Diese Bedingung nun ist der Bezug auf sich selbst, wenn man so will: die Beziehung der ,Reflexion'. ,Präsenz' bedeutet eben ,ich' und damit die einzigartige Reihe: ,Ich weiß, ich weiß, daß ich weiß, ich weiß zu wissen, daß ich weiß usw.', oder, was dasselbe besagt, die

Richard Hönigswald, Die Grundlagen der allgemeinen Methodenlehre, 2 Bde., Bonn 1969/70; Die Systematik der Philosophie aus individueller Problemgestaltung entwickelt, 2 Bde., Bonn 1976/77. Vgl. Wolfgang Cramer, Die Monade. Das philosophische Problem vom Ursprung, Stuttgart 1954; Reiner Wiehl, „Denkpsychologie und Denkontologie. Richard Hönigswalds und Wolfgang Cramers Philosophien der Subjektivität", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997). 31 Richard Hönigswald, „KONONIA", in: ders., Analysen und Probleme, Stuttgart 1959, 179 ff. Vgl. Ulrich Wienbruch, Das bewußte Erleben. Ein systematischer Entwurf, Würzburg 1993. 30

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Reflexionsrelationen ,ich - mich', ,ich - mir'. Denn nur wofern diese Relationen möglich sind, ,bin' ,ich'. ,Ich' ,bin' geradezu die Möglichkeit jener Reflexion; durch sie bestimmt sich die µov&c;, d.h. der ,Vollzug'; jene Reflexion ist das Korrelat der Bestimmtheit des Gegenstandes." (103) Im letzten Satz verweist Hönigswald auf die große Korrelation zwischen der Monas in ihrer Ich-Bestimmtheit und der IstBestimmtheit des Gegenstandes. Doch diese wollen wir an dieser Stelle noch nicht aufnehmen, sondern zunächst noch das zweite korrelative Moment in der Ich-Bestimmtheit aufsuchen. Dieses liegt darin begründet, daß es kein Sich-Erleben und Sich-Gegenwärtigsein einer Monas geben kann, wenn nicht zugleich etwas erlebt wird, wenn der Monas nicht zugleich etwas gegeben ist. Dabei kommt es hier nicht auf das Gegebensein bestimmter Gegenstände - wie in der Ist-Bestimmtheit an, sondern auf das Moment der Gegebenheit schlechthin, das das Sich-selbst-Gegebensein der Monas mit umschließt. 32 Was hier aufscheint, ist die Ganzheit des Wirklichkeitserlebens, in das sich die sich selbst erlebende Monas miteinbezogen und in ihrem Wirklichsein bestimmt weiß. „Deshalb mündet denn auch jede Erörterung des Problems der ,Gegebenheit' in eine Theorie der Ganzheit „. Das ,Ganze' also ist ein zeitliches Gefüge, gebunden an die Unterscheidung zwischen früher und später ... Das Ganze ist allemal ,geschlossen' und ,überschaubar', d.h. bestimmt im Sinne eines Zeitmodus, demzufolge die Ordnung der Zeit bejaht ist „. Alle Ganzheit bedeutet anders ausgedrückt, Zeitgestaltung und ,Gefüge'. Sie hat ,Struktur' und wird ,verstanden' „. In jeglicher Ganzheit offenbart sich die Norm des Erlebens. Sie unterliegt den Bedingungen der Präsenz." (90 f.)

Wir haben also hier die eigentümliche Korrelation vor uns, daß die Monas in ihrer Selbstpräsenz als je einzigartiger Erleb-

32

Vgl. Manuel Schneider, Das Urteil und die Sinne. Transzendentalphilosophische und ästhesiologische Untersuchungen im Anschluß an Richard Hönigswald und Helmuth Plessner, Köln 1989.

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nismittelpunkt zugleich auf die Gegebenheit in ihrer zeitlichen Ganzheit, auf die Existenz schlechthin bezogen ist, die die Monas selbst mit umgreift. In geradezu Heideggers Sein und Zeit (1927) vorwegnehmenden Ausführungen schreibt Hönigswald in der Abhandlung „Vom Problem derldee" (1926): „Das Problem der Existenz nun fällt in einem ganz bestimmten Belang mit dem der Zeit zusammen ... Das Existierende ist allemal ,jetzt'! Setzt also auch die Existenz die an sich unzeitliche Gesetzlichkeit des Zeitverlaufs selbst voraus, so kommt ihre Zeitbestimmtheit trotzdem ... nicht jener allgemeinen Gesetzlichkeit des Zeitverlaufs ... gleich, sondern ist die Einheit einer Zeitganzheit auf dem Grunde des Erlebnisses der verlaufenden Zeit. Das Existierende ist immer jetzt, es ist stets ,ganz', es ist nie anders denn als System ... In ,jedem Jetzt des Erkennens' ist eben die Wahrheit ,präsent': Existenz bedeutet stetige J etztheit. "33 Die große Differenz zu Heidegger, die Hönigswald in den Grundfragen der Erkenntnistheorie auch ausdriicklich anmerkt, ist die, daß für Hönigswald die Selbstpräsenz der Monas über den eigenen Organismus mit der Gegebenheit als Ganzheit vermittelt ist: „In diesem Sinne allerdings wäre Sein Zeit." (79) Hier schließt sich die elliptische Bahn von Hönigswalds transzendentaler Analysis in einem allerersten Durchgang innerhalb unserer verkürzten Schematisierung. Sie begann mit der Gegenständlichkeit und der Analyse der sie konstituierenden Momente der Ist-Bestimmtheit, und sie kehrt nun von der Analyse der konstituierenden Momente der Ich-Bestimmtheit zur Gegenständlichkeit unter dem Blickpunkt der Gegebenheit in ihrer Ganzheit zuriick. Die Perspektiven von den beiden Brennpunkten auf das Gesamtgefüge sind grundverschieden. Geht es vom ersten Pol her - um es Kantisch zu sagen - um die bestimmenden Urteile der einzelnen Gegenstandserkennt-

Richard Hönigswald, „Vom Problem der Idee", in: Logos XV (1926), 290 f. Vgl. Norbert Meder, „Die Abbildung von Sachverhalten in die Zeit", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997). 33

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msse, so stehen vom zweiten Pol her die reflektierenden Urteile auf das Ganze bezogen zur Debatte - wie Kant sie im teleologischen Teil seiner Kritik der Urteilskraft formuliert hat. Beides gehört aber für Hönigswald unlösbar korrelativ zusammen, wie auch die Monas in ihrer erlebten Selbstpräsenz und als sich wissendes Subjekt untrennbar nur eine ist. „Sucht man sich des Sachverhalts durch philosophiegeschichtliche Kategorien zu bemächtigen, so wird man den ,Gegenstand' ... in Leibnizens Terminologie gleichermaßen ,effizient' wie ,final' bestimmt sein lassen ... Er ,ist' nur als System, d.h. als Erfüllung der wechselbezogenen Forderungen regulativer und konstitutiver Gesichtspunkte zugleich; er ,ist' nur als Erfüllung der Bedingungen des Urteils, soweit dieses auch die Idee des Gefeges repräsentiert ... [Er] ,ist' Synthesis, im Hinblick auf die in ihm erhobene Forderung, erlebt werden zu können, also die Norm seiner möglichen Erlebbarkeit darzustellen." (92 f.) 3. Erörterung konkreter Problemfelder Damit haben wir zwar keineswegs alle Probleme angeschnitten, die Richard Hönigswald in der „Systematischen Selbstdarstellung" anspricht, aber doch eine erste Klärung seines transzendentalanalytischen Ansatzes gewonnen, um uns jetzt den konkreten Problemfeldern zuwenden zu können, die Hönigswald ab dem sechsten Kapitel der Grundfragen der Erkenntnistheorie behandelt. Denn Hönigswald geht es nicht nur um den transzendentalen Aufweis der Bedingungen der Möglichkeit aller Wirklichkeitserkenntnis, sondern mehr noch um deren Bewährung in der Diskussion konkreter Problemfelder der wissenschaftlichen Erkenntnis, der sprachlichen Verständigung sowie der Geltungsansprüche der Sittlichkeit, des Rechts, der Kunst und des religiösen Glaubens. Hönigswald selbst greift in den Grundfragen der Erkenntnistheorie nur einige Problemfelder heraus und erwähnt andere nur kurz, obwohl sie für seine systematische Philosophie sehr zentral sind und er ihnen eigene Bücher gewidmet hat - so die Grundlagen der Denkpsychologie,

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die Grundlagen der Pädagogik und Philosophie und Sprache. 34 Wir werden in unserer einführenden Skizze nochmals reduzieren müssen und können hier nur einige zentrale Themen kurz benennen.

a) Probleme der Naturerkenntnis Im sechsten Kapitel geht Hönigswald auf zwei Problemkomplexe der Naturerkenntnis ein: Probleme der modernen Physik, diskutiert an der Relativitätstheorie, und das Organismusproblem. Beginnen wir mit dem letzteren, da an ihm zunächst das Gesamtproblem klarer herausgestellt werden kann. Wie gerade in den letzten Abschnitten der Positionsbestimmung angedeutet wurde, kann auch die Naturerkenntnis insgesamt nur von einer doppelten Problemstellung erschlossen werden. Zum einen werden Naturphänomene, Prozesse und Strukturen von naturwissenschaftlichen Methoden her als Erkenntnisgegenstände in gesetzlichen Zusammenhängen bestimmt. Diesen objektiven Gesetzeszusammenhängen steht zwar grundsätzlich transzendentalanalytisch aufweisbar das Erkenntnissubjekt gegenüber, und ohne diese Korrelation wäre schlechthin keine Erkenntnis möglich. Aber niemals kann aus methodologischen Gründen - das Erkenntnissubjekt und der objektive Gesetzeszusammenhang selber wiederum in einen Gesamtzusammenhang gebracht werden. Ganz anders verhält es sich dort, wo wir den Gesamtzusammenhang der Natur reflektieren, denn hier schließt dieser uns als Reflektierende grundsätzlich mit ein. Dieser uns bereits von Kant her aus der doppelten Thematisierung der Natur in der Kritik der reinen Vernunft und in der Kritik der (teleologischen) Urteilskraft vertraute Problembestand wird von Hönigswald am Organis-

34

Die Gesamtsystematik geben wohl am umfassendsten die beiden nachgelassenen Hauptwerke von Richard Hönigswald wieder: Grundlagen der allgemeinen Methodenlehre (1969/70) und Systematik der Philosophie aus individueller Problemgestaltung entwickelt (1976/77).

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musproblem und dem Problem der Erfahrung von Gegebenem konkretisiert. Beginnen wir diesmal mit der Selbstpräsenz der Monas, die wir je selber sind, dem je gegenwärtigen Selbstbezug in all unserem Erleben, in dem wir uns aber zugleich aus der zeitlichen Ganzheit der Gegebenheit bestimmt erfahren. Diese Selbstpräsenz der Monas als Erlebnismittelpunkt ist kein freischwebendes Bewußtseinsphänomen, sondern unlösbar verknüpft mit einem Organismus als lebendigem Träger der sich erlebenden Monas. „Dem Begriff eines Kontextes der Natur muß, so sahen wir, derjenige der Präsenz entsprechen „. Als Erlebnis des ,jetzt' aber muß auch die Präsenz ihre Stelle innerhalb jenes Kontextes der Natur finden „. Als solche fordert sie [die Monas] ihren ,Zeitort' in dem Kontext der Natur, d.h. ein Naturobjekt, das ihrer Bedingung genügt „. Ein Naturobjekt erscheint mithin gefordert „„ das selbst die Erfüllung der Bedingungen des Erlebens darstellt. Es heißt Organismus. Alles Geschehen in diesem gliedert sich nach einer Ordnung der Zeit „. Der Organismus „. ist immer jemandes Organismus, d.h. er hat, und zwar als Organismus, teil an der Gesetzlichkeit jener Reihe ,Ich weiß, ich weiß, daß ich weiß, ich weiß zu wissen, daß ich weiß usw.', d.h. an der Gesetzlichkeit des ,Ich', der µov&c;, und er bildet sich auf sich selbst ab." (103 f.) 35 Hönigswald zeigt also hier über Kant hinausgehend auf, daß das Verhältnis der Monas zur Idee der Natur als sich selbst organisierender Zweckmäßigkeit nicht nur ein reflektiertes ist, sondern zugleich ein lebendiges. Denn über unsere Leiblichkeit, ohne die es kein Erleben und kein Sich-selbst-Erleben gäbe, sind wir als den Gesamtzusammenhang der Natur Reflektierende selber lebendig in den Naturzusammenhang einbezogen. Aber mehr noch: allem Erleben von Gegebenem liegen letztlich Reize und Empfindungen zugrunde, über die die

35

Vgl. Ernst Wolfgang Orth, „Psyche und Organismus bei Richard Hönigswald", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997).

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Monas in ihrer Leiblichkeit mit der gesamten Natur verbunden ist bzw. sein kann. Ohne diesen Zusammenhang wäre das, was man gemeinhin Erfahrung nennt, nicht möglich. Alles, was uns als gegeben erfahrbar ist - von den Millionen von Lichtjahren entfernten Sterngebilden bis zu den flüchtigen Signalen kleinster Atomreaktionen -, kann uns immer nur als Reiz und Empfindung über unseren eigenen Organismus erreichen, oder anders: die Monas steht über ihren Organismus mit der gesamten Natur in einem möglichen Gegebenheitszusammenhang. „Im Hinblick auf diesen Zusammenhang nun fordern das Erleben, die oben charakterisierten Organe, nicht minder aber die ,Natur' selbst, besondere Kennzeichnung. Jenes Erleben heißt ,Empfindung', die Organe sind ,Sinnesorgane', die Naturereignisse ,Reize'. Unter Reizen hat man also nicht Naturereignisse besonderer Art zu verstehen, die sich, durch andere Naturvorgänge vermittelt, an irgendeiner Stelle auf grundsätzlich unerklärliche Weise in Empfindungen ,umsetzen', sondern Glieder in der unzerreißbaren Kette der N aturbegebenheiten, die unter bestimmten, definierten Umständen im Hinblick auf den Begriff des Sinnesorgans die eindeutige Bestimmtheit von Erlebnissen ausdrücken." (106) Wieder hat sich der Bogen von einem der entgegengesetzten Pole zum anderen gespannt. Diesmal von der Monas und ihrem Bezug zum je eigenen Organismus ausgehend, sind wir nun bei dem angekommen, was uns gegeben ist und auf das sich alle wissenschaftliche Naturerkenntnis letztlich beziehen muß; andernfalls wären ihre theoretischen Modelle reine Spekulationen im schlechten Wortsinn. Von dieser Doppelproblematik in der Naturerkenntnis her tritt Hönigswald immer wieder in eine kritische Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften selbst ein. So hat er schon sehr früh in die Diskussion um die philosophische Deutung der Relativitätstheorie eingegriffen 36 - eine Thematik, die Hönigswald im

Richard Hönigswald, Zum Streit über die Grundlagen der Mathematik, Heidelberg 1912. Vgl. Massimo Ferrari, „Eine Diskussion 36

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sechsten Kapitel der Grundfragen der Erkenntnistheorie wieder aufnimmt und paradigmatisch bespricht. In keiner Weise möchte Hönigswald die Relevanz der Relativitätstheorie für die Wissenschaft der Physik in Frage stellen, aber er wendet sich dagegen, daß die Einbeziehung der Zeit in eine vierdimensionale Welt vorschnell verabsolutiert und zu einer erkenntnistheoretischen bzw. naturphilosophischen Aussage hochstilisiert wird. In der Relativitätstheorie handelt es sich um die Relativierung der „Zeitmessung", um die mathematisierende Verknüpfung von Raum und Zeit. Wenn also von der vierdimensionalen Welt als einer absoluten gesprochen wird, so handelt es sich um die „absolute Welt der Rechnung" (110), aber dieser kommt keine unsere Wirklichkeitserkenntnis begründende Valenz zu. Denn in zweifacher Hinsicht liegt ihr die philosophische Zeitbestimmung voraus, und dies Verhältnis ist ein konstitutives, das nicht umgekehrt werden kann. „Ob aber ein erkenntnistheoretischer Begriff für definiert gelten darf, entscheidet sich nicht in der Physik ... Weder ist also aus der physikalischen Relativierung der Zeit eine Philosophie zu machen, noch auch bedeutet sie ... ,Relativierung' der Erkenntnis." (115 f.) Zum einen ist auch die Relativitätstheorie als wissenschaftliche Bestimmung der physikalischen Welt an die Erfahrung von Gegebenem rückgebunden. Eine „Theorie der Erfahrung" bringt aber unweigerlich einerseits das je gegenwärtige Jetzt der Selbstpräsenz der erfahrenden Monas ins Spiel und andererseits den Horizont der zeitlichen und räumlichen Ordnung der Gegebenheit als Ganzheit, in die auch die Monas im Zeitort ihrer Leiblichkeit miteinbezogen ist, denn andernfalls könnte in der Erfahrung kein gegebenes Ereignis abgegrenzt von anderen im Erleben einer Monas identifiziert werden. „Der Erkenntnistheoretiker wird sich sogar die Frage vorzulegen haben, ob nicht jegliche Ganzheit jenseits der Grenzen zu

über die Relativitätstheorie. Richard Hönigswald und Moritz Schlick", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997).

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liegen kommt, die dem Geltungsbereich der Relativitätstheorie gezogen sind. Ja schon der elementarste Versuch, ein Ereignis gegen andere abzugrenzen, operiert mit dem Begriff der gestalteten Zeit, d.h. mit einem als streckenhaft gewerteten ,jetzt', das ein ,früher' oder ,später' in erlebensmäßiger Einheit umspannt ... Das alles freilich bedeutet nur, daß die Relativitätstheorie nicht an die Stelle einer Theorie der Erfahrung treten kann, weil sie recht eigentlich deren Begriff voraussetzt ... Das Naturobjekt, den ,Kontext' der Natur, betrifft sie nur, soweit jenes und dieser Maßwerten unterliegt." (112) Zum anderen setzt auch die physikalische Theorie der relativen Verrechnung von Zeit und Raum selbst schon die transzendentale Bestimmtheit von Zeit und Raum voraus. „Ein Problem ,Kant oder Einstein' gibt es in dieser Form nicht" (114); wer - gleich von welcher Seite - doch davon spricht, bringt eine Aussage der theoretischen Physik mit der erkenntnistheoretischen Aufgabe der Bestimmung des Begriffs der Physik durcheinander. Kant hatte mit der transzendentalphilosophischen Bestimmung der Begriffe Raum und Zeit keine physikalische Theorie aufgestellt, sondern Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstandskonstitution schlechthin aufgedeckt. „Es wäre angemessen, endlich zu begreifen, daß ,reiner' Raum und ,reine' Zeit eine physikalische Valenz weder haben, noch beanspruchen. Sie sind die Möglichkeitsbedingungen physikalisch valenter Begriffe, unter denen die ,Union' ihre Stelle haben mag. Die Relativitätstheorie habe, so sagt man, das herkömmliche Vorurteil einer für alle Systeme gültigen Zeit überwunden ... Daß es aber eine Ordnung der Zeit ist, der zufolge man die Gemeinsamkeit eines zeitlichen Maßwertes für alle Systeme ablehnt, bleibt so gewiß unüberwunden, als es zur Überwindung jenes Vorurteils unerläßlich bleibt zu wissen, was ,Zeit' bedeutet." (118) Nochmals gilt es hervorzuheben, daß Hönigswald keineswegs die Relativitätstheorie als physikalische Theorie in Frage stellt, sondern einzig und allein sich dagegen verwahrt, daß aus ihr vorschnell erkenntnistheoretische oder naturphilosophische Schlüsse gezogen werden. Die Relativitätstheorie oder die

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Quantentheorie sind keine Weltdeutungen, sondern sie sind und bleiben physikalische Bestimmungen der in ihren methodischen Erkenntnishorizont fallenden Gegenstände. Niemals aber können sie die transzendentalphilosophische Problemstellung der Begründung und Rechtfertigung von Wirklichkeitserkenntnissen in ihrer Ist- und Ich-Bestimmtheit ersetzen. 37 b) Das Problem der Verständigung Die Monas, die wir je selber sind, ist im Sich-selbst-Wissen Mittelpunkt all ihrer Erlebnisse und jeweils Mittelpunkt des Jetzt der Zeit; sie ist sich präsent im Erleben von Wirklichkeit, da sie im Erleben bezogen ist auf die zeitstrukturierte Gegebenheit in ihrer Ganzheit, durch die sie sich selbst als gegebene bestimmt erfährt. Die Bezogenheit der Monas auf die Gegebenheit als Ganzes ist vermittelt durch ihre eigene Leiblichkeit, den eigenen Organismus, über den allein ein Erleben von Gegebenen möglich ist und der zugleich Organ ist, das über Reiz und Empfindung der Möglichkeit nach mit allem Gegebenen der Natur in ihrer Ganzheit verbunden ist. Soweit haben wir bisher die Monas als konstitutives Moment aller Erkenntnis behandelt, aber wir haben damit bei weitem noch nicht die Gesamtproblematik der Mitwirkung der Monas an der Wirklichkeitserkenntnis abgesteckt. 38 Dem einzigartigen Erlebnismittelpunkt, den jede Monas darstellt, stehen unendlich viele Monaden, die selbst wiederum einzigartige Erlebnismittelpunkte sind, gegenüber. Zwar sind sie untereinander über Reiz und Empfindung ihrer Organismen naturhaft miteinander verbunden, aber gerade nicht in ihrer

Richard Hönigswald, Grundprobleme der Wissenschaftslehre, Bonn 1965. 38 Überhaupt sei jeder, der sich näher mit dem Problem der Monas auseinandersetzen will, zunächst auf Hönigswalds Grundlagen der Denkpsychologie (1921/1925) sowie auf seine Grundlagen der allgemeinen Methodenlehre (1969/1970) verwiesen. 37

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Einzigartigkeit als Monaden. Hier nun ist das Problem der Verständigung situiert, die Monas als einzelne kann sich gar nicht als Monas realisieren, nur in der Verständigung mit anderen Monaden kann sie der Einzigkeit ihres Erlebens und zugleich der Gemeinsamkeit ihres Verstehens mit den anderen gewahr werden. Diesem in bezug auf die Selbstgewißheit der Monas formulierten Problem entspricht korrelativ ein Erkenntnisproblem. Für eine einzelne Monas kann es keine Wirklichkeitserkenntnis geben. Die Korrelation von Ist-und Ich-Bestimmtheit, die wir oben explizierten, konnte nur unter der stillschweigenden Voraussetzung sprachlicher Verständigung - wie wir sogar noch präzisieren müssen39 - erfolgen, denn die Verknüpfung von je eigenem Erleben von Gegebenen und allgemeiner Gegenstandsbestimmung kann - obwohl sie von jeder Monas selber vollzogen werden muß - niemals von einer Monas allein geleistet werden. Nur über die Sprache in einer Verständigungsgemeinschaft kann die Monas einerseits das je Eigene ihres Erlebens anderen mitzuteilen versuchen und kann der Monas andererseits das Allgemeine gemeinsamer Erkenntnis als Anspruch vermittelt werden. Ohne dies hier ausdrücklich zu erwähnen, knüpft Hönigswald mit dem Problem der sprachlichen Verständigung an alte Einsichten Platons im Kratylos an, die Friedrich Schleiermacher in seiner Dialektik weiter differenziert hat: Wirklichkeitserkenntnis ist nur im Verständigungszusammenhang mehrerer Subjekte, bezogen auf eine gegebene Wirklichkeit möglich. 40 Durchaus Schleiermacher fortführend, versteht Hönigswald dies als einen "dialektisch-geschichtlichen" Progreß, in dem sich die Selbstwerdung der Monas, die Kulturwerdung der

Zum gesonderten Problem der Verständigung der Tiere siehe Richard Hönigswald, Grundlagen der allgemeinen Methodenlehre (1970), II, 124 ff. 4 F.D.E. Schleiermacher, Dialektik (1814/15). Einleitung zur Dialektik (1833), Hamburg 1988. 39

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Gemeinschaft und die Differenzierung der Wirklichkeitserkenntnis miteinander verschränken. 41 Reflektieren wir nun auf die Sprache als das vermittelnde Medium zwischen den sich verständigenden Monaden bezogen auf die gemeinsame Wirklichkeitserkenntnis, so erscheint die Sprache selbst unter einer doppelten Perspektive als ergon und energeia, wie Hönigswald in Anspielung auf Wilhelm v. Humboldt sagt. Über die Sprache werden der Monas nicht nur kulturelle Geltungsansprüche vermittelt, sondern die Sprache selbst stellt einen solchen Geltungsanspruch dar, sie repräsentiert das Allgemeine des menschlichen Geistes - in diesem Sinne kennzeichnet Hönigswald die Sprache durchaus so wie sein kantianischer Mitstreiter und Freund Ernst Cassirer. 42 Aber zugleich ist die Sprache in ihrem intermonadischen Vollzug des Gesprächs und in der Spontaneität monadischer Ausdrucksfindung das Individuellste des menschlichen Geistes - und hierin setzt sich Hönigswald kritisch von Ernst Cassirer ab. „Wem die Sprache Problem wird, dem stellt sie sich unter ganz bestimmten Gesichtspunkten immer auch als Gegenstand psychologischer Fragestellung dar „. Die Sprache verkörpert Erlebnis und Natur in ihrer Wechselbezogenheit, und zwar selbst wieder im Medium des Erlebens. Insoweit erscheint die Sprache als ein Phänomen sui generis. Dieses ihr Eigenleben aber bewährt sich auch noch nach anderen Richtungen hin. Die Sprache hat als Medium und Substrat aller ,Dialektik' teil an dem Aufbau der Erkenntnis. Und darum muß sich das Gefüge dieses Aufbaus nicht allein in der Struktur der Sprache,

Was hier nur sehr gerafft angedeutet werden kann, hat Richard Hönigswald in seinem Werk Philosophie und Sprache (1937) facettenreich dargelegt und diskutiert. Vgl. Holger Burckhart, Sprachreflexion und Transzendentalphilosophie, Würzburg 1991, sowie „Sprachphilosophie als Geltungsreflexion?", in: Erkennen - Monas - Sprache 41

{1997). 42

Siehe Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, 3 Bde. 1923-1929, Bd. I: Die Sprache, Nachdruck Darmstadt 1956 ff.

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sondern auch in der Wissenschaft von dieser Struktur verraten. Die Sprache ist als Gegenstand dieser Wissenschaft immer fertig und strebt immer auch über sich selbst hinaus; sie ist 'fcp-yov und f:vl=p-yrnx zugleich, genauer der Ausdruck für die Möglichkeit dieses Zugleichseins. Nie wird die Wissenschaft von der Sprache aufhören Grammatik zu sein, aber auch die Absolutheit grammatischer Werte zu bezweifeln ... Individuell und interindividuell zugleich, verkörpert die Sprache die Gemeinschaft an der µov&c;, die µov&c; an der Gemeinschaft. Oder genauer: sie verkörpert beides." (150 f.) Diese wenigen Skizzierungen mögen genügen, um die fundamentale Bedeutung zu unterstreichen, die der Sprache, der sprachlichen Verständigung im weitesten Sinne für die ganze menschliche Kultur und Geschichte und damit auch für die Wirklichkeitserkenntnis in ihrer Kulturgeprägtheit und Geschichtlichkeit zukommt. Um dieses Problemfeld abzurunden, seien hier noch einige Bemerkungen zum Geltungswert der Sittlichkeit, auch als Grundlage für Pädagogik und Politik (Recht und Staat), angefügt. 43 Zunächst unterstreicht Hönigswald, daß alle Geltungswerte - die Wissenschaften, die Sittlichkeit, das Recht, die Kunst, der religiöse Glaube - Gestaltungen geistiger Allgemeinheit sind, die nicht deshalb gelten, weil die Mehrheit einer kulturellen Gemeinschaft sie zu ihren Normen erhoben hat, sondern deren Begründungsstruktur sich grundsätzlich umgekehrt darstellt: weil etwas wahr, sittlich, rechtlich ist, gelten sie für alle, wird ihre Anerkennung von allen gefordert. „Werte sind Geltungsbestimmtheiten ... Eben deshalb aber und nur deshalb sind sie objektiv ... Das Objektive ... ist in dessen Abhängigkeit von dem Gedanken der Geltung beschlossen ... Gelten und Gel-

All diese Themen werden in den Grundfragen der Erkenntnistheorie von Hönigswald nur kurz angerissen. Vielleicht deshalb, weil er sie vier Jahre zuvor in der zweiten, um das Doppelte erweiterten Auflage seines Werkes Über die Grundlagen der Pädagogik (1927) systematisch entfaltet und ausführlich erörtert hat. 43

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tungswert haben heißt nicht von irgend jemand als geltend anerkannt sein, oder gar von irgend jemandes Anerkennung und Zustimmung abhängen. Es heißt im Gegenteil von jeglicher Anerkennung und Verwerfung unabhängig sein oder doch unabhängig sein sollen ... Das ,Wahre' verlangt Zustimmung; es ,soll' ihm zugestimmt werden ... Die Wahrheit ,ist' nicht, weil man ihr zustimmt; sondern man soll ihr zustimmen, weil sie ,ist'. Ihr Sein aber ist allemal Geltung. "44 Auf die Sittlichkeit bezogen liegt in dieser grundsätzlichen Struktur der „kategorische Imperativ" - wie Kant dies nannte - begründet. Trotzdem ist damit das Problem der Geltungswerte nur von einem Brennpunkt her beleuchtet, denn erfüllen kann sich Sittlichkeit - wie jede andere Art von Geltung auch - nur im Vollzug ihrer Anerkennung und ihrer erstrebten Verwirklichung durch die sittlich handelnden Subjekte in einer gelebten sittlichen Gemeinschaft. „Geltung erhebt, wie sie Geltung unabhängig ,von allen' bedeutet, den Anspruch darauf Geltung ,für alle' zu sein. Sie fordert die Gemeinschaft der diesen Anspruch Anerkennenden und Erfüllenden ... Es sind die Bedingungen des Vollzugs der Anerkennung und sie schließen den Gedanken an ,jemanden', als an das Subjekt dieses Vollzuges, ein ... Ebendarum aber ist das ,Ich' auch nicht ein Geist neben meinem, neben ,jemandes' Ich; nicht ein Gespenst neben, in oder über der Natur ... Das ,Ich' bedeutet den Gegenstand gemäß der Bedingung der Gemeinschaft, d.h. in der Form der Verständigung. Es repräsentiert den Gegenstand als Aufgabe ... " 45 Alle Kulturwerte, auch die der Kunst und des Glaubens, gelten zwar schlechthin und beanspruchen von daher objektive Geltung, aber sie sind nichts außerhalb der konkreten Subjekte, die sie in intermonadischer Gemeinschaft anerkennen, vollziehen und erfüllen. Unter allen Geltungswerten kommt

44

45

71.

Richard Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik (1927), 31 ff. Richard Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik (1927), 61 u.

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dabei dem Wert der Sittlichkeit eine ganz besondere Rolle zu, denn hier bezieht sich der Wert auf das Handeln der Monas im mitmenschlichen Zusammenhang selbst. Der Wert liegt nicht in einer Sache, sondern in der Bestimmtheit, aus der die Monas sich zu einer Handlung, bezogen auf andere Monaden, entschließt. Hier erst erfüllt sich der Begriff der Ich-Bestimmtheit ganz. In der Erfüllung sittlicher Ansprüche wird das Ich zur Persönlichkeit. „Und gerade ... damit ... rückt sie [die Philosophie] auch das ,Erleben' als den systematischen Gegenspieler jener Gemeinschaft [von Geltungen], und damit den kritischen, von allen undefinierten Voraussetzungen befreiten Begriffs des Wertes, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Sie ergreift mit dem Problem der systematischen Einheit möglicher Werte deren unerläßlichen Bezugspunkt, das ,Ich', in der ungeschmälerten Fülle seiner Einmaligkeit, mit seinem Ringen um sittliche und religiöse Entscheidung, als Quellpunkt der künstlerischen Tat ... und Bindungen in sozialer und rechtlicher Hinsicht." (22) Gerade aber in dieser Konzentration auf die Aufgabe sittlichen Handelns, das jede Monas nur je für sich „erstreben" kann, liegt zugleich die Perspektive auf die Gemeinschaft, denn nur innerhalb einer Gemeinschaft läßt sich sittliches Handeln und Zusammenleben vollziehen. So wird klar, warum Hönigswald dem Problem der Pädagogik als Aufgabenstellung der Überlieferung und der konkreten Vermittlung von Geltungen und Werten in den gelebten Vollzug der heranwachsenden Subjekte einen so großen Stellenwert in seiner Philosophie beimißt. 46 Daß daneben Recht und Staat unter der sittlichpolitischen Aufgabe der Erhaltung der kulturellen Gemeinschaft stehen, entwickelt Hönigswald im neunten Kapitel der

Siehe hierzu W olfdietrich Schmied-Kowarzik, Richard Hönigswalds Philosophie der Pädagogik (1995) sowie ders., Bildung, Emanzipation und Sittlichkeit, Weinheim 1993. Vgl. Erwin Hufnagel, „Zu Richard Hönigswalds Pädagogik", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997). 46

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Grundfragen der Erkenntnistheorie.47 Wo aber der Vollzug bedacht wird, der immer nur von konkreten Subjekten geleistet werden kann, da wird die sittliche Gemeinschaft und die Menschheitsgeschichte zur Aufgabe. Somit ist die Sittlichkeit in ganz besonderer Weise auf die Aufgabe gelebter Verwirklichung in der kulturellen Gemeinschaft und in der Menschheitsgeschichte angewiesen. „Es ist kein Zufall, daß sich hier ebenso unvermittelt wie unausweichlich die Wendung von der ,menschlichen', besser der ,menschheitlichen', Gemeinschaft aufdrängt „. Denn der sittlich-pädagogische, der Kulturbegriff der ,Menschheit' ist es, zu dessen Träger jetzt der Begriff der Generation wird „. Der Begriff der Menschheit selbst ist der Begriff eines Wertes .„ [Er] bedeutet, daß die ,Menschheit' sich als ,Idee' bestimme „. Die Menschheit ist mit anderen Worten überhaupt nur als der Sinn ihrer eigenen Entfaltung gemäß dem Gedanken ideeller Vollkommenheit „. Der ,Mensch' allein entfaltet sich, vermöge der Abfolge seiner Generationen und der kulturellen Kontinuität dieser Abfolge, in seiner Geschichte „. Oder etwas zugespitzter „. formuliert: die ,Menschheit' als Kultursubjekt ,hat' nicht nur ,Geschichte', sie ,ist' es auch. "48 c) Vom Problem des Glaubens Auf kommentierende Bemerkungen zum Problemfeld der ästhetischen Erkenntnis, wie sie Hönigswald im zehnten Kapitel bespricht, verzichten wir an dieser Stelle, 49 um nur noch abschließend auf das elfte Kapitel „Vom Problem des Glaubens"

Vgl. Wolfgang K. Schulz, „Zur Staatsphilosophie von Richard Hönigswald", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997). 48 Richard Hönigswald, Grundlagen der Pädagogik (1927), 110 u. 121. 49 Siehe Richard Hönigswald, Wissenschaft und Kunst, Stuttgart 1961. Vgl. Stephan Nachtsheim, „Zu Richard Hönigswalds Theorie der Künste", in: Erkennen - Monas - Sprache (1997). 47

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einzugehen, da sich an ihm der die transzendentale Analysis endgültig abrundende Rückbezug der Monas auf die Gegenständlichkeit verdeutlichen läßt. Für Hönigswald gipfelt das Problem des Glaubens in der existentiellen Bejahung der Gegenständlichkeit als einer von der Gemeinschaft der Glaubenden erlebten Sinnstiftung, von der sie sich immer schon als abhängig und in die Existenz gestellt erfahren. Dies wird von Hönigswald jedoch nicht - wie bei Hegel - als eine Begrenztheit des Glaubens gegenüber der Philosophie verstanden, sondern macht für ihn gerade die höchste Gestalt transzendentalen Selbst- und Wirklichkeitsbegreifens aus - hierin vielmehr Friedrich Schleiermacher und Hermann Cohen verpflichtet. 50 "Gott ist nicht, weil ich an ihn glaube, sondern ich glaube an ihn, weil er ist. Aber in diesem seinem ,Sein' spiegelt sich der Sinngehalt des Glaubens ... Als Erfüllung dieser Voraussetzungen erscheint das göttliche Sein unbedingt. Gottes Unbedingtheit offenbart den glaubensmäßigen Sinn alles Bedingten und Bedingenden. Ich denke Gott im Sinne des Glaubens, indem ich mich selbst durch Gott ,gesetzt' weiß." (189) Im Glauben wird die Gegebenheit der Gegenständlichkeit, in die die Monas sich gestellt erlebt, als ein gestiftetes Sinnganzes erfahren und bejaht. Aber mehr noch ist die Sinnstiftung Ermöglichung unseres sprachlichen und sittlichen Sinnverstehens und Sinnerstrebens. Hierin wurzelt der Begriff der "Offenbarung", wie Hönigswald - fast schon an parallele Ausführungen Franz Rosenzweigs erinnernd51 - ausführt. Im Erleben erfährt sich die Monas in ihrem Existieren in die Ganzheit der Existenz gestellt, in der Sprache aber ist ihr der

Vgl. Almut Sh. Bruckstein, .Richard Hönigswald im Kontext des jüdischen Neukantianismus", in: Erkennen - Monas - Sprache 50

(1997}. 51

Vgl. hierzu Wolfdietrich Schmied-Kowarzik, Franz Rosenzweig. Existentielles Denken und gelebte Bewährung, Freiburg/München 1991.

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ermöglichende Horizont von Sinnverstehen und Sinnverständigung erschlossen, der sich ihr als im voraus gestifteter Sinnanspruch offenbart. „Seine [Gottes] ,Absolutheit' bedeutet, daß jede µ011lxr; in ihrem notwendigen Kulturbezug als Wert allezeit fähig erscheint, um ihre Abhängigkeit von Gott zu wissen. Und ,Abhängigkeit' wieder besagt in diesem Zusammenhang die Möglichkeit einer Verständigung mit einem einziggearteten ,Du', also eine im Hinblick darauf selbst wieder einziggeartete Form der Verständigung „. Der Begriff der Verständigung schließt den des ,anderen' in sich. Durch ihn bestimmt sich die µ011/xr; im Medium der Sprache „. Die absolute µ011lxr; muß - einzig wie die Gegenständlichkeit selbst - den Wertbezug der Monaden als Modus der Verständigung bestimmen können „. Die Monaden sprechen, Gott aber ist ein ,Du', das sich mir offenbart „. Gott ist in der bestimmten Bedeutung dieser Überlegungen der monadisch aktuelle Inbegriff aller intermonadischen Beziehungen „. So umspannt der Begriff der Offenbarung meine verständigungsmäßig-kulturellen Beziehungen zum ,anderen'. So steht ,Offenbarung' grundsätzlich jenseits aller Sprachen. Sie ist übersprachlich und setzt doch Sprache und Sprachgemeinschaften, d.h. eben den Menschen notwendig voraus." (190 f.) Gemäß der gesamten Anlage seiner transzendentalanalytischen Korrelations-Dialektik arbeitet Hönigswald jenes Bedingungsgefüge jüdischer und christlicher Glaubenstradition heraus, das den von Gott her gestifteten dialogischen Sinnbezug als Aufgegebenheit gemeinsamen Menschseins erfahren läßt und zu bewähren versucht. So erreicht erst im Problem des Glaubens Hönigswalds T ranszendentalanalyse im Horizont „kritischer Metaphysik" die letzte Tiefe existentieller Selbstfindung im Gedanken bejahter Gegenständlichkeit. 52

Siehe hierzu auch Richard Hönigswald, „Vom philosophischen Problem des religiösen Glaubens", in: Zeitschrift für Religionsphilosophie 5 (1932), sowie Erkenntnistheoretisches zur Schöpfungsgeschichte der Genesis, Tübingen 1932, und Vom erkenntnistheoreti52

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Hier ist nun der Ort, auf die Polemik gegenüber Heidegger zurückzukommen, an die Hönigswald hier ausdrücklich erinnert. „Im Zusammenhang desselben Problemkreises ... [der unaufhebbaren Verwiesenheit der Monas auf die Gegenständlichkeit] entgeht man der fatalen Berührung mit dem Begriffsbereich der Methode freilich dadurch, daß man sich entschlossen in die sichere Obhut des Nichts begibt. 53 Unvergleichlich, wie es seinem Wesen nach nun einmal ist, brütet das ,Nichts' tröstliche Angst verbreitend, indem es, so lautet der naheliegende und gerade darum überraschende Ausdruck, ,nichtet' ... Indessen, solche Einsichten entziehen sich ... jedem Bedenken ... Denn Bedenken bedeuten immer Fragen; wieweit nun Fragen bis in die unheimlichen Tiefen des ,Nichts' überhaupt herabreichen, läßt sich grundsätzlich nicht ausmachen. So ist denn der Rest auch hier Schweigen ... Gegenständlichkeit kann nicht verneint werden, so gewiß Verneinung selbst bejaht, d.h. unter die Bedingung gegenständlicher Geltung gestellt sein muß. So empfängt die Verneinung von der Gegenständlichkeit allein Sinn und Funktion." (62 f.) Ob zu Recht oder Unrecht, das ist hier nicht zu diskutieren, Hönigswald sieht jedenfalls in Heideggers Explikation der Frage „Was ist Metaphysik?" nicht nur die Fundamente jeglicher Philosophie, sondern auch jeglichen religiösen Glaubens in Frage gestellt. Denn der religiöse Glaube ist letztlich nichts anderes als die Bejahung der Aufgabe der Existenz durch die Monas aus der glaubenden Erfahrung des Bejahtseins durch den sinnstiftenden Existenzzusammenhang, der Gott genannt wird. „Gottes Sein und meine Gemeinschaft mit diesem mich setzenden Sein sind eins. In solchem Sinn aber weiß ich auch alles,

sehen Gehalt alter Schöpfungserzählungen, Stuttgart 1957. Vgl. dazu Irene Kajon, „Die biblische Schöpfungserzählung bei Richard Hönigswald, Hermann Cohen und Ernst Cassirer", in: Erkennen - Monas Sprache (1997). 53 Hönigswald verweist hier in der Anmerkung auf Martin Heidegger, Was ist Metaphysik?, Bonn 1929.

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was zu ,mir' gehört, durch Gott gesetzt. Er ist der Sinn dieses meines ,Wissens'; innerhalb dieses Sinnes aber ist, gleich mir selbst, die Natur Geschöpf Gottes. Gemäß diesem Sinn nenne ich Gott ... ,Du'. Er muß mich, wie immer ich auch zu ihm rede, verstehen, und ich verstehe ihn, indem ich, von ihm bedingungslos abhängig, zu ihm rede. Ich werde im Glauben ,seiner gewiß'. Ich ,vertraue' ihm in der Bedingungslosigkeit gläubiger Abhängigkeit, er ,erhört' mich, ich bin ,seiner Gnade teilhaftig', ich ,bete' zu ihm ... " (195) Aber die transzendentale Analyse der Möglichkeit des Glaubens kann nicht das letzte Wort der Philosophie sein; die Philosophie muß mit der transzendentalanalytischen Explikation der Idee der Gegenständlichkeit enden. Dies bedeutet aber nicht, daß die Philosophie sich höher dünken könne als der Glaube, sondern nur daß sie auf ihre Weise den Gedanken der Gegenständlichkeit als sich selbst rechtfertigende Letztbegründung zu Ende zu führen hat. Gerade auch am Verhältnis von Philosophie und Glaube wird nochmals das gleichzeitige und gleichwertige Nebeneinander der Geltungssphären deutlich, auf das Hönigswald im Schlußkapitel der Grundfragen der Erkennt· nistheorie ausdrücklich nochmals verweist (197 f.). Die Philosophie als aufklärende Analysis der korrelativ auseinandertretenden Momente weiß sich unaufgebbar einbezogen in die Gegenständlichkeit als letzte und höchste Idee - im Sinne Platons und Kants. Diese Idee als Letzthorizont, von der her und auf die hin alles Denken als letztbegründende und rechtfertigende Analysis sich immer schon ereignet, sei abschließend mit Hönigswalds eigenen Worten aus der Studie „Vom Problem der Idee" (1926) ausgesprochen, da in ihnen Hönigswalds Motiv nochmals prägnant zum Ausdruck kommt, Hegels System der Synthesis - an dem er sich letztlich immer wieder mißt - eine ebenso in sich geschlossene Systematik der Analysis entgegenzusetzen: „Sie [die Idee] bedeutet als &11v7r6i'Jcro11 Inbegriff und Prozeß, Letztheit und Anfang, Gehalt und Norm, Gegebenheit und Aufgabe auf einmal. Der Indifferenzpunkt jeder Frage und jeder Antwort, verkörpert die Idee, die höchste Form der

Einleitung

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Notwendigkeit ... Ebendarum aber bedeutet sie auch im tiefsten und komplexesten Sinn des Wortes Freiheit ... ; denn sie ,ist' schlechthin; d.h. sie ist, mit den Worten Hegels, ,präsent', also ,wesentlich itzt'. Sie steht nicht in der Zeit; aber auch nicht außerhalb dieser. Denn sie ist ja die Zeit, ... die Zeit als Ganzheit, d.h. als Ewigkeit. In diesem, und nur in diesem Verstande bedeutet die Idee das Sein selbst; das Sein ... als der sich ewig erneuernde und gestaltende, gerade damit aber die höchsten Bedingungen des Gegenstandsgedankens fordernde und zugleich erfüllende, in sich selbst gründende Sinn. Der Sinn war ,im Anfang'; und er steht am Ende. Im Sinn sind Anfang und Ende eins. Denn der Sinn ist das Ganze. "54

III. Editorische Notiz Die Grundfragen der Erkenntnistheorie. Kritisches und Systematisches von Richard Hönigswald erschien als erster Band in der Buchreihe Beiträge zur Philosophie und ihrer Geschichte im Verlag J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1931 (171 S.) und fast gleichzeitig kam in dem von Hermann Schwarz herausgegebenen Band Deutsche systematische Philosophie nach ihren Gestaltern im Verlag Junker und Dünnhaupt Berlin - ohne Titel5 5 - Richard Hönigswalds "Systematische Selbstdarstellung" (Bd. I, 191-223) heraus. Wir danken den Verlagen und besonders Prof. Dr. Henry M. Hoenigswald (Pennsylvania) für die Erlaubnis zur vorliegenden Neuausgabe. Der Textbestand der Grundfragen der Erkenntnistheorie und der "Systematischen Selbstdarstellung" wurde zwar neu erfaßt, aber ganz so belassen, wie ihn Hönigswald für den Erstdruck autorisiert hatte. Lediglich einige wenige offensichtliche Tippfehler wurden stillschweigend korrigiert, und die Buchhinweise

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Richard Hönigswald, „Vom Problem der Idee" (1926), 301. Siehe Anmerkung 1.

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in den Anmerkungen den heutigen Gepflogenheiten gemäß ergänzt. Die gesperrt gedruckten Hervorhebungen wurden kursiv gesetzt, Doppelhervorhebungen - gesperrt und in Anführungen - wurden nicht übernommen, sie erscheinen hier als einfache Kursivhervorhebungen. In das von Hönigswald erstellte Register zu den Grundfragen der Erkenntnistheorie wurde auch die „Systematische Selbstdarstellung" mit einbezogen, ansonsten aber blieb es im Begriffsbestand unangetastet; Personen- und Sachregister wurden aus Gründen der besseren Übersichtlichkeit getrennt. Dem Text wurde eine Auswahl der wichtigsten Veröffentlichungen von Richard Hönigswald sowie der Forschungsliteratur zu Hönigswald bis 1945 und ab 1945 angefügt. An dieser Stelle habe ich Frau Ute Ritter, Frau Nicola Schmidt, Herrn Jürgen Lachmann und Herrn Winfried Meyer zu danken, vor allem aber Herrn Frank Hermenau MA und Frau Siggi Rasenberger, die die Hauptlast der Texteinrichtung und der mehrfachen Textkontrolle übernommen haben. Kassel, im Juli 1997

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RICHARD HÖNIGSW ALD GRUNDFRAGEN DER ERKENNTNISTHEORIE. KRITISCHES UND SYSTEMATISCHES

VORWORT

Die vorliegende Arbeit bemüht sich um die Grundfragen der Erkenntnislehre. Die kritischen Exkurse, die sie dabei in die Philosophie der Gegenwart unternimmt, schaffen die methodischen Voraussetzungen für die Erörterung jener Grundfragen. Wie sie daher notwendig zu Absicht und Ausführung des Ganzen gehören, ohne doch Selbstzweck zu sein, so handeln auch sie nicht sowohl von Autoren, als vielmehr von Dingen. Vor allem aber erheben sie keinen Anspruch darauf, die Sachlage zu erschöpfen. Gänzlich abwegig wäre es, die polemischen Erwägungen dieser Schrift als eine Selbstverteidigung des "philosophischen Kritizismus" zu deuten. Überhaupt versagen philosophiegeschichtliche Schlagworte, wo es sich nicht um Bekenntnisse, sondern um Forschung handelt. Denn keines Menschen Name ist groß genug, um an die Stelle von Problemen zu treten. Um Probleme allein aber handelt es sich hier, und nicht um diese oder jene „Lehre". Es tut denn auch nichts zur Sache, ob man die vorliegenden Darlegungen, die sich einer wissenschaftlichen Beurteilung natürlich nur als Einheit erschließen, durch Worte wie "Kantianismus" oder "Neokantianismus" kennzeichnet. Ebensowenig wird die Absicht der Schrift durch summarische Thesen über "kritisches" Philosophieren berührt, die aus schwindelig-souveränen Höhen gefällt Nuancen verwischen, Unterschiede nivellieren, Probleme übersehen oder sich darauf beschränken, mit mehr oder weniger Geschick und Selbständigkeit, mit einem größeren oder geringeren Aufwand wissenschaftlicher Kunstausdrücke Stimmungen zu proklamieren oder pathetische Voraussagen zu machen. Auch die lautesten Totenlieder haben noch keinem das Leben gekostet. Nur die Fragen, die sie stellt, entscheiden über Charakter und Recht einer wissenschaftlichen Haltung. Das Wort "kritische Erkenntnis-

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Vorwort

theorie" zu vermeiden, lag daher - obschon es zur Zeit zarteren Ohren peinlich klingt - kein Grund vor. Wie immer sich Philosophie von anderen Wissenschaften abgrenzen mag - einen Zug teilt sie doch mit allen: sie kann weder ihre Ausgangsposition, noch auch den Punkt, an dem ihre Erwägungen Halt machen, in ungehemmter Willkür wählen. Möglich zwar, daß der Philosoph dem „Einzelnen" eine grundsätzlich andere Stellung einräumt, als es die Vertreter anderer Wissenschaften tun und tun dürfen; möglich sogar, daß er dabei dem „Willen" des Einzelnen eine entscheidende Rolle zuerkennt; die Frage bleibt, ob jene Stellung und diese Rolle gefordert, d.h. begründet erscheinen. Sie ist in aller Exaktheit zu diskutieren und mit ihr die Probleme der Exaktheit, der Begründung und der Rechtfertigung selbst. Zu welchen Ergebnissen methodisches Philosophieren auch immer führen mag, es verbürgt ihren autonomen Sinn, d.h. ihre Freiheit nur, indem es seinen eigenen Bestand mit unerbittlicher Strenge sichert. „Wissenschaft (kritisch gesucht und methodisch eingeleitet) ist die enge Pforte, die zur W eisheitslehre führt." München, im April 1931

Richard Hönigswald

1. DAS PROBLEM

Erkenntnistheorie, so sagt man zuweilen mit betonter Überlegenheit, leiste für alle wirkliche Philosophie immer doch nur Vorarbeit. Sie sei zwar zu gegebener Zeit unerläßlich; allzuweit ausgesponnen aber hemme sie nur den Höhenflug der eigentlich philosophischen Gedanken. Mit sichtlichem Behagen verweilt man bei dem bekannten Worte, man müsse doch schließlich vom Messerwetzen einmal auch zum Schneiden, vom Stimmen der Instrumente endlich auch zum Musizieren kommen. Wer es unternimmt, sich über das Problem der Erkenntnistheorie Rechenschaft abzulegen, tut gut, über die nächste dialektische Wirkung solcher Einwürfe hinweg die kühle Frage nach ihrem sachlichen Recht zu stellen. Der handliche Einwurf, auch diese Rechtsfrage verstricke uns doch nur aufs neue in die Fährnisse der Erkenntnistheorie, braucht niemanden zu schrecken. Denn es wird sich zeigen, daß und weshalb im Bereich philosophischer Forschung Messer und Schnitt, Stimmen und Musizieren schlechthin zusammenfallen. Gewiß, einer der Kronzeugen für den Begriff der Erkenntnislehre, Kant, gebraucht vielfach Wendungen, die jene Gleichnisreden zu begünstigen und zu rechtfertigen scheinen: auch er spricht, wie tausendfach wiederholt worden, von einer Prüfung des Werkzeugs, die allen Versuchen philosophischer Erkenntnis vorauszugehen hätte; auch er fordert, daß man fürs erste seine Kräfte überschlagen müßte, ehe man den schweren Gang philosophischer Einsicht antritt. Und so erklärt man denn auch Kant unter dem Gesichtspunkt höherer und ewig aktueller Ziele der Philosophie kurzweg für "überwunden". Vorsichtige Beurteiler werden es sich freilich gerade hier nicht versagen können, zwischen einer pädagogisch wirksamen Formel und dem methodischen Sinn oder dem sachlichen

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Das Problem

Ergebnis der Kantischen Fragestellung klar zu unterscheiden. Aber es handelt sich ja in diesem Zusammenhang nicht sowohl um Kant, als vielmehr um den Begriff der Erkenntnistheorie. Mit ihm haben wir uns zunächst auseinanderzusetzen. Theorie der Erkenntnis schildert nicht den Vorgang des Erkennens. Sie prüft vielmehr die Voraussetzungen, die bereits ins Spiel gebracht sind, wo man es unternimmt, jenen Vorgang zu schildern. Ob und wie an diesen Voraussetzungen auch die Rücksicht auf den Prozeß des Erkennens beteiligt ist, bleibt besonderen erkenntnistheoretischen Erwägungen vorbehalten. Nun könnte man in solchen Feststellungen eine willkürliche Beschränkung des Problemkreises der Erkenntnislehre erblicken oder sie als bloße terminologische Angelegenheit kurzerhand ablehnen. Darauf sei jetzt schon und unter Hinweis auf spätere Erwägungen erwidert, daß Rechtfertigung ein grundsätzlich anderes ist, wie Schilderung. Daß etwas den Anspruch erheben kann, für wahr gehalten zu werden, bedeutet nicht, daß und aus welchen Motiven es für wahr gehalten wird. Sollte es nun einen im definierten Sinn letzten Grund für das Recht des Begriffs der Rechtfertigung selbst geben, so erscheint Erkenntnislehre gefordert und mit ihr eine grundsätzliche Klärung auch des Begriffs „Tatsache''. Wie jener letzte Grund beschaffen ist, genauer, wie sich seine „Letztheit" selbst rechtfertigen mag, wird später zu prüfen sein. Wichtig ist im Augenblick der Gedanke als solcher. Allein, man bemerkt ihm gegenüber, daß die Abwehr des „Psychologismus" - denn um diesen handle es sich doch nur nicht mehr zeitgemäß sei. Sie renne offene Türen ein. Der Psychologismus sei tot und der Erneuerer des „Psychologismus-Streites" übersehe die Fülle positiver Aufgaben, die den heutigen Philosophen von allen Seiten her bedrängen. Aber vielleicht trügt am Ende das stolze Gefühl, so herrlich weit gekommen zu sein, auch hier. Man glaubt zu wissen, was „Psychologismus" bedeutet: Psychologie am unrechten Ort. Wie viele Antworten aber gibt es in der zeitgenössischen Philosophie auf die schlichte, dabei notwendige Frage: Wie kommt Psychologie dahin? Wie kommt sie dazu, sich Funktio-

Das Problem

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nen anzumaßen, die ihr nicht gebühren? Ja, welches sind überhaupt ihre ursprünglichen Funktionen? Man steht mit solchen Erwägungen inmitten einer Theorie der Psychologie und vor allen grundsätzlichen Schwierigkeiten der Frage: Was ist "Erleben"? Zwar könnte man sich weigern, diese Frage zu stellen, um der Sackgasse der "Erkenntnistheorie" und den Fährnissen des "Rationalismus" zu entrinnen. Man könnte auf einen "Begriff" des Erlebens verzichten wollen, in der Meinung damit die "Unmittelbarkeit" des Erlebens zu sichern. Allein, man beachte, daß die Vertreter solcher Ablehnung nicht sowohl das von niemandem bestrittene oder bestreitbare Recht ihres eigenen Erlebens verfechten, als daß sie vielmehr das Erleben diskutieren; es dem "Denken" gegenüberstellen, gegen alle "Forschung" ausspielen und gegen alles "Begriffliche" abgrenzen; es als den Wert aller Werte preisen; es als Ganzheit der Zersplitterung des "Nur-Wissenschaftlichen" entgegenhalten; ihm in Rücksicht darauf Charaktere zusprechen, die dem "Nur"-Wissenschaftlichen fehlen sollen; daß sie an ihm Sphären umschreiben und Phasen unterscheiden.Ja, kann man denn das alles ohne einen Begriff vom Erleben? Man glaube nicht, diesen Fragen entgangen zu sein, indem man sich auf den Gedanken zurückzieht, jeder wüßte ja schließlich doch, was "Erleben" bedeute. Denn eben um diese Selbstverständlichkeit handelt es sich, und in dem Faktor "jeder" wiederholte sich nur das Problem. Man mag solche Gedanken als "papieren" oder "pedantisch" lächelnd abwehren, man kann sich ihnen auch subjektiv verschließen, aber man hat sie nicht beseitigt, solange man mit dem Worte "Erleben" argumentiert. Ist man denn aber, so fragen wir weiter, selbst so ganz frei von allen Erdenresten des Psychologismus, wenn man "Erkenntnistheorie" als bloße, obschon nützliche vielleicht sogar bedeutsame, "Vorarbeit" zur Philosophie erschöpfend gekennzeichnet zu haben glaubt? Man mache sich eines klar. Der Gedanke einer nur "vorläufigen" Funktion der Erkenntnislehre trennt, ohne sich über Begriff und Folgen solcher Trennung Rechenschaft geben zu können und zu wollen, grundsätzlich die Fähigkeit zu erkennen von dem Gegenstande des Erkennens.

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Das Problem

Er unterscheidet genauer das Gesetz, das die Tatsache jener Fähigkeit, beziehungsweise Unfähigkeit, beherrscht, von der Gegebenheit des Gegenstandes. Das Problem der Erkenntnis spaltet sich ihm gleichsam. Es ist einmal das Problem jener „Fähigkeit"; und es ist sodann eine Theorie davon, wie wohl das den Bedingungen der Erkenntnisfähigkeit Gemäße oder Entrückte beschaffen sein mag. Gewiß, auch Zwischenfragen schalten sich ein. Sie beziehen sich auf die Art, wie Erkennen und Gegenstand zueinander kommen. Allein solche Zwischenfragen, wieweit man sie auch ausspinnen wollte, vermögen die Grundzüge der Problemstellung nicht zu verändern. Diese erscheinen durch die Gegenüberstellung von Erkenntnisfähigkeit und Gegebenheit des Gegenstandes endgültig gekennzeichnet. Ebendeshalb aber führt der natürlich mannigfach abstufbare Gedanke von einer immer nur „vorbereitenden" Funktion der Erkenntnislehre zu einer bezeichnenden Sonderung. Er drängt zu einer „Metaphysik" als der Wissenschaft von der Gegebenheit des Gegenstandes; und er stellt dieser Metaphysik eine Erkenntnislehre an die Seite, beziehungsweise gegenüber. Jene allein gilt ihm aus begreiflichen Gründen für richtige „Philosophie", Erkenntnislehre dagegen bleibe immer nur vorbereitende philosophische Lehre von den Erkenntniskräften „des Menschen". Auch dieser These ergeht es, wie man schnell übersieht, nicht viel besser als der naiven Hoffnung, Rechtsfragen durch psychologische Erwägungen bewältigen zu können. Auch sie verstrickt sich im Fangnetz des Psychologismus. Man glaubt freilich den Maschen dieses Netzes zu entgehen, wenn man sich nur rechtzeitig auf die Betrachtung der gegenständlichen Seite des Problems beschränkt. Allein man irrt. Jene einer „Metaphysik" gegenübertretende „Erkenntnislehre" bleibt aller Gegenstandstheorie zum Trotz was sie ist, auch wenn man seine Aufmerksamkeit noch so sehr von den Vorgängen des Erkennens ab- und dem zuwendet, was man „meint", worauf man sich „richtet", was man „trifft" oder auch „verfehlt". Gänzlich belanglos ist es dabei für die Beurteilung der Sachlage, ob der Vertreter des Gedankens, Erkenntnislehre leiste nur vorbereitende Arbeit, seine Wissenschaft von der

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Gegebenheit des Gegenstandes „Metaphysik" oder anders nennt; und ebenso, welches Maß der Bedeutung er jener Vorarbeit angesichts der Gegebenheit des Gegenstandes einräumt. Wichtig ist hier nur, daß man, mag es nun bejaht werden oder nicht, dem Psychologismus seinen Tribut gezollt hat, so lange man sich in irgendeiner Form zum Grundsatz der „Vorläufigkeit" erkenntnistheoretischer Forschung bekennt. Der Sachverhalt ist durchaus einfach: Man hat den Psychologismus nicht überwunden, auch wenn man seine Blicke noch so stürmisch von ihm wendet; er bleibt unbezwungen, auch wenn man die „Gegebenheit" des Gegenstandes noch so laut und in noch so scharf gellenden Kunstausdrücken den Ansprüchen einer Erkenntnislehre gegenüberstellt. Mehr war in diesem Augenblick nicht zu zeigen. Sätze wie der von der „Vorläufigkeit" der Erkenntnislehre bewegen sich ungefähr auf dem Niveau der Idolen-Theorie Bacons. Ist der Gegenstand des Erkennens vor allen „subjektiven" Zutaten und Fälschungen bewahrt, so gilt Bacon die Wissenschaftlichkeit eines Verfahrens mit Recht für verbürgt und erschöpft. Nur ist ihm der Gegenstand das dem Erkennen schroff gegenüberstehende, im Erkennen schlau zu überlistende. Er ist grundsätzlich undefiniert und schlechthin, d.h. unanalysiert und undefiniert „gegeben". Und wie Bacon, so hat man auch den Verfechter des Gedankens von der „Vorläufigkeit" der Erkenntniswissenschaft zu fragen: Warum eigentlich „trifft", oder „verfehlt" das „Denken" grundsätzlich den Gegenstand? Was bedeutet überhaupt das Getroffenwerden des Gegenstandes durch das Denken? Man mißverstehe diese Erwägungen und Bedenken nicht. Sie bezweifeln mit keinem Worte, daß die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Erkennen zu Recht besteht; auch hüten sie sich zu behaupten, daß der Gegenstand dem Erkennen etwa nicht „gegeben" sei, oder daß das Erkennen den Gegenstand nicht „vorfände". Nur fordern sie, daß sich „Gegebenheit" und „Vorgefundensein" bestimmen; und zwar nicht in sorgenvoll zu Herzen dringenden Worten, sondern nach Grundsätzen, die ihr Recht zu erweisen haben. Was nun jene Forderung selbst bedeutet, und wie sich ihre Bedingungen

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Das Problem

erfüllen mögen, wird sich zeigen. Nur sofern sie sich aber erfüllen, ist der Psychologismus "überwunden". Mag es also auch unmodern anmuten, in einer wissenschaftlich-philosophischen Untersuchung der Gegenwart das Wort Psychologismus anzutreffen, sein Problem ist gegeben, solange es nicht beseitigt ist. Es interferiert mit den Begriffen des Erkennens, der Gegebenheit, der Psychologie. Aber auch wer das Bezogensein des Denkens auf den Gegenstand dadurch zu sichern unternimmt, daß er beide auf eine dritte, gemeinsame, wie immer zu benennende "reale", ja die beiden an Realität vielleicht sogar überbietende Instanz zurückführt, hat der Klärung der Sachlage noch nicht gedient. Denn einmal führt er ohne Bestimmung und Rechtfertigung "Grade" der Realität ein; sodann aber operiert auch er kritiklos mit dem Wort "Gegebenheit" (oder verwandten Ausdrücken), d.h. e:r fürchtet es zu entheiligen, wenn er Anstalten träfe, die Kompetenzen seines Gebrauchs und die Gründe für dessen Notwendigkeit zu ermitteln. Kein noch so feierlicher und eindrucksvoller Kunstausdruck vermag als solcher schon Probleme zu bewältigen; auch dann nicht, wenn er subjektive Bedürfnisse befriedigt oder ein Unbehagen beseitigt. Zwar "bedrängen" die Probleme den Forscher. Als Probleme aber sind sie Instanzen von gegenständlichem Sinn. Sie müssen "gesehen", d.h. in ihrer problemhaften Bestimmtheit unabhängig von der Bedrängnis des Forschers, ja unabhängig selbst von dessen empirischer Existenz umschrieben und gewertet werden können. Sie müssen in ihrer objektiven Notwendigkeit zu begreifen sein; nicht minder freilich auch diese Notwendigkeit selbst. Denn auch die "Möglichkeit" des Problems überhaupt fordert Bestimmung; auch sie ist notwendig. Es liegt m.a.W. eine besondere methodische Aufgabe vor, wo ein Problem vorliegt: der Begriff einer Methode, die sich selbst begründet; der Begriff also einer Wissenschaft von sich selbst. Wir nennen sie Philosophie. Ihren Bedingungen muß, gleichviel unter welcher Flagge und mit welcher Terminologie, genügt werden. Diesen Bedingungen aber wird nicht genügt, wenn man einen „Gegenstand" erdenkt, ihm Merkmale zuschreibt und sie

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aufzählt. Denn die Wissenschaft von sich selbst ist, wie sich noch genauer zeigen wird, die Wissenschaft von der Möglichkeit des Gegenstandes überhaupt. Keine Schilderung eines Gegenstandes, und sei sie noch so sublimiert, kann an die Stelle einer Theorie des Gegenstandes treten. Und wenn sonst die Wechselbezogenheit von Denken und Gegenstand zu dieser Theorie gehört, so kann auch sie ihre Klärung nicht von einer Art von Übergegebenheit erwarten, die zugleich für die Gegebenheit des Gegenstandes, wie für die des gegenstandsbezogenen und gegenstandsgebundenen Erkennens verantwortlich sein soll. Was überhaupt heißt hier "verantwortlich sein", was bedeutet irgendeiner der vielen an diesem Punkte unvermeidlichen parallelen Ausdrücke? Weiß man eigentlich, was es mit der Beziehung des Erkennens auf den Gegenstand, mit dem Getroffensein des Gegenstandes im Erkennen, mit dem „Betroffensein" des Erkennenden, oder mit jener angeblichen Kluft zwischen dem Erkennen und dem ihm gegebenen Gegenstand auf sich habe, wenn man eine tief im Schoße des „Seins" ruhende Urbeziehung ins Spiel bringt? Erscheint die Mannigfaltigkeit und das System möglicher Gegenstände, erscheint die Vielgestaltigkeit ihres Erlebtwerdens in jener Urbeziehung wirklich durchleuchtet? Man verstehe recht: Einern Faktor lassen sich scharfsinnig erdachte oder in irgendeinem Sinn des Wortes „vorgefundene" Merkmale zuschreiben, die den Bedingungen einer Aufgabe genügen. Allein, man glaube nicht, damit diese Bedingungen auch schon erfüllt und jenen Faktor als Erklärungsgrund legitimiert zu haben. Die Merkmale müssen sich als möglich erweisen, sollen sie eine definierte Aufgabe - nach objektiven Gesichtspunkten - lösen. Sie müssen m.a.W. aus denselben Gesichtspunkten verstanden werden, die auch den Begriff der Philosophie bestimmen. Sie müssen aus "Prinzipien" hergeleitet sein. Oder anders: Nur ein Faktor, mit dem zugleich die Möglichkeit einer Wissenschaft von sich selbst gesetzt erscheint, kann als Bedingung für die Lösung philosophischer Aufgaben gelten. Solche Faktoren dürfen letztdefinierte Instanzen heißen. D.h. sie sind "letzte", nicht weil die Kräfte versagen, um über sie hinauszugreifen,

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sondern weil sie in ihrer Letztheit bestimmt erscheinen. Genauer: Sie repräsentieren den Sinngehalt aller Bestimmtheit selbst. Versteht man also unter Philosophie ein anderes als die gedankliche Befriedigung subjektiver Bedürfnisse, so bedeutet sie dies, daß ein System von Aufgaben als Funktion letztdefinierter Instanzen zu begreifen sei. In diesem Belang ist Philosophie Wissenschaft. Natürlich bestreitet sie niemandem das Recht, seine intellektuellen Bedürfnisse mit seinen Mitteln und auf beliebige Weise zu befriedigen. Auch kann es auf eine durch Geschlossenheit und Wucht imponierende Art geltend gemacht werden. Allein dieses Recht begründet noch lange keinen Anspruch auf Anerkennung der Wissenschaftlichkeit jener Mittel oder der Ergebnisse, die sie zeitigen. Aber vielleicht ist Wissenschaftlichkeit gar kein Ideal des wirklichen Philosophen! Vielleicht bedeutet sie nur ein der Philosophie von außen her zu unrecht und nur unter dem Druck gewisser Zeitströmungen dogmatisch aufgedrängtes Merkmal. Vielleicht ist es ihr eigentümlicher Sinn, sich von diesem Druck zu befreien und sich abseits von der Wissenschaft in unmittelbarer Berührung mit dem Leben zu entfalten. Niemand, der sich zu dieser Auffassung bekennt, kann getadelt werden. Nur muß er mehreres leisten können. Er muß jenes „Leben" bestimmen, gerade auf daß es nicht mit der Wissenschaft verwechselt werde; er muß seine eigene Haltung gegenüber derjenigen der Wissenschaft abgrenzen; und er muß solche Abgrenzung gemäß den Bedingungen vollziehen, denen zufolge Wissenschaft eben Wissenschaft und nicht etwa selbst sogenanntes „Leben" ist. Auf entsprechende Weise muß er seine Lehre vom Leben gegenüber den von der Wissenschaft abweichenden Formen und Typen der Gegenstands- und Aufgabenbezogenheit sichern. Er muß, will er sich nur selbst verstehen, und den Verzicht gerade hierauf wird er sich kaum auferlegen, sagen können, wie seine These zu Kunst und Religion, zu Sittlichkeit und Recht steht - und zwar auch dann, ja dann erst recht, wenn das, was er als Repräsentanten des „Lebens" Philosophie nennt, mit diesen eine gewisse Wegstrecke sollte teilen müssen. Vermag er das

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alles, ohne sich aufs neue in das Gestrüpp der Wissenschaftlichkeit zu verirren - so hätte er geleistet, was er leisten wollte. Der kühle Beobachter freilich bemerkt davon, wenigstens in der literarischen Vertretung der Lehre, wenig. Was er sieht, sind im wesentlichen nur Deduktionen, die auf einen stimmungsmäßig angesetzten Punkt abzielen, oder von einem solchen herkommen, und deren Prinzip der Gedanke ist, die „anderen" würden schließlich nicht umhin können, ihnen aus diesem oder jenem zwingenden Motiv zuzustimmen. Man versteht dabei freilich nicht, wie ein geschäftiges und selbstbewußtes Argumentieren eine als grundsätzlich wissenschaftsfremd betrachtete Angelegenheit überhaupt sollte fördern können; warum sich gerade Wissenschaftsfremdheit in die üppig wallenden Gewänder einer gelehrten Terminologie sollte hüllen müssen. Derlei Fragen und Bedenken sind als Ausfluß eines verderblichen Hanges zum „Begriff" freilich wenig beliebt und pflegen z.Z. sehr geringen Widerhall zu finden. Allein, wer sie überhört, hat sie noch nicht zerstreut; und wer auf sie mit der Beteuerung reagiert, sie verfehlten den eigentümlichen Sinn des „Erlebens", der verwechselt die Wiederholung eines Satzes mit seiner Begründung. Nun könnte man ja versucht sein, zugunsten der Philosophie einen ganz neuen Typ der Wissenschaft zu konstruieren und für die Philosophie besondere Gegenstände in Anspruch zu nehmen. Allein, man mache sich klar, was solche „Besonderheit" zu bedeuten hätte. Gegenstand sein, heißt „mir" gegenüber bestimmt sein. Das gilt natürlich auch von den Gegenständen, die Gegenstände nur für mich sind, etwa von den sogenannten „Vorstellungsgegenständen". Denn auch sie bestimmen sich als Gegenstände, wenn auch in einem eigentümlichen Bezug auf „mich", dadurch, daß sie von „mir" unabhängig sind. Aber auch wo dieser besondere Bezug auf mich nicht vorliegt, der den Vorstellungsgegenstand kennzeichnet, kann ein Bezug auf „mich" nicht fehlen. Er erscheint in die Unabhängigkeit „von mir" eingeschlossen. Denn eben, daß etwas von mir unabhängig ist, bedeutet einen Bezug auf „mich". Der in Frage stehende philosophische Gegenstand nun

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müßte als eine Art von Übergegenstand grundsätzlich ganz anderen Bedingungen genügen. Er wäre ein Gegenstand, der von mir in einem gänzlich neuen Sinn des Wortes unabhängig ist, mag sich dieser Sinn nun hinter den Worten „Erleben" und „Erlebt werden"verbergen, mag er auf den Gedanken abzielen, dem philosophischen Gegenstand eine sonst nirgendwo erfüllte und erfüllbare Art der „Existenz" zuzuerkennen. Welches aber ist jener neue Sinn der Unabhängigkeit des Gegenstandes „von mir"? Läßt sich diese Beziehung überhaupt noch abwandeln? Und wenn sie sich abwandeln ließe, welchen Grundsätzen folgt sie, welchen Bedingungen genügt sie dabei? So lange diese Fragen unbeantwortet bleiben, so lange bleibt auch der mit der Verantwortung für das „Sein" belastete „philosophische" Gegenstand grundsätzlich unbestimmt, mag ihn ein philosophisches „Bedürfnis" noch so stürmisch zu fordern scheinen und mag er von Philosophen mit noch so großen Worten benannt werden. Aber folgt aus allem dem nicht, daß Philosophie eines eigentümlichen Gegenstandes und damit einer charakteristischen Aufgabe überhaupt entbehre? Bedeuten diese Feststellungen nicht einen verhüllten Verzicht auf alle Philosophie, vor allem aber auf deren Wissenschaftlichkeit? Wer so fragt, operiert mit einem unkontrollierten Begriff des Gegenstandes. Er meint, der „Gegenstand" sei unter allen Umständen ein „Ding", und Philosophie sei eben die Wissenschaft von einem besonderen Ding. Dabei bleibt ihm „Ding" wiederum nur ein unanalysierter Popularbegriff; d.h. er belastet sich nicht mit Fragen nach dem Recht seines Gebrauchs und der Besonderheit seines Gefüges. Ob er dabei das philosophische „Ding" mit einem terminologisch komplexen Namen belegt, ob er es scharfsinnig sublimiert, oder ob er etwa das Erleben dieses Dings als eine besondere Art des Erlebens kennzeichnet, ist einerlei. Denn weder dieses noch jenes fördert die in Frage stehende Aufgabe. Welche Aufgabe? Sie ward oben bereits umschrieben und umfaßt alles, was sich als Funktion letztdefinierter Instanzen erweist. Das Problem der Philosophie bilden nun recht eigentlich diese letztdefinierten Instanzen

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selbst, oder um es mit einem einzigen Wort auszusprechen, es ist in der Frage nach dem Sinnbereich des Begriffs der Gegenständlichkeit beschlossen. Denn dieser Begriff kennzeichnet den gesamten Umfang letztdefinierter Instanzen. Nicht als ob es nicht auch Instanzen gäbe, die der Erkenntnis Schranken setzen. Letztdefiniert aber können nur diejenigen heißen, die keine Begrundung mehr zulassen, weil sie der Gedanke der Begrundung selbst sind. Dieser Gedanke der Begrundung aber ist der der Gegenständlichkeit, wenn sonst in der Begrundung allein das von „mir" Unabhängige Gestalt und Gliederung, d.h. Bestimmtheit gewinnt, wenn sonst das von mir Unabhängige das in irgendeinem Sinn „Gegrundete" ist. Bestimmtheit bestimmen wollen, heißt Bestimmtheit leugnen. Daß sich Bestimmtheit nicht bestimmen läßt, offenbart daher nicht eine Schranke ihres Wesens, sondern gerade den Sinngehalt der Bestimmtheit selbst. Bestimmtheit deckt sich eben mit Gegenständlichkeit, und Gegenständlichkeit ist nicht als Gegenstand unter Gegenständen anzutreffen, sondern Gegenstände werden, auch in ihren Gemeinschaftsbezügen, durch Gegenständlichkeit als durch ihre letztdefinierte Bedingung allererst ermöglicht. D.h. Gegenständlichkeit bedeutet das Prinzip, den Grund und den Sinn auch aller Rechtfertigung. Erst das Gerechtfertigte und Zu-Rechtfertigende ist gegenständlich. Man wendet hier freilich mit deutlicher Frontstellung gegen den „Rationalismus" ein, „Gegebenes" sei als solches nie zu rechtfertigen, und doch sei gerade das „Gegebene" das primär und ursprunglich „Gegenständliche". Allein man erschleicht damit doch nur, was erst noch zu erweisen wäre. Denn eben das Recht des Begriffs der Gegebenheit ist in Frage gestellt, wo methodisch und wissenschaftlich philosophiert wird. Das Recht des Begriffs „Gegebenheit", oder was dasselbe bedeutet, die Notwendigkeit bestimmter Abwandlungen dieses Begriffs. Es. ist aufzuweisen, was jenen Begriff „möglich" macht; es ist sein Gefüge zu ergrunden; d.h. auch er muß eben aus letztdefinierten Faktoren, also in seinem Verhältnis zum Problem der Gegenständlichkeit verstanden werden. Aber vielleicht verschließt man sich solchen Aufgaben, teils unter Berufung

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auf den „gesunden Menschenverstand", der Doktorfragen seit jeher gern ausweicht, teils aus mehr grundsätzlichen Erwägungen. Jedenfalls könnte man auch hier, und zwar auf das Zeugnis des „Erlebens" hin, sich des Umwegs über das Problem der Gegenständlichkeit überhoben glauben. Ist denn nicht, so fragt man, jeder Umweg angesichts der Eindringlichkeit, mit der sich Gegebenes eben als „Gegebenes" aufdrängt und kundgibt, grundsätzlich überflüssig und vermeidbar? Auch die Wissenschaft scheint solchen Zweifel von vielen Seiten her zu fördern und zu stützen. „Wahrnehmung" und „Schau", eine „ontologisch" gesicherte Überzeugung oder die unwiderstehliche Wucht einer Menschheit und Weltgrund ausschöpfenden metaphysischen Gesinnung scheinen das „Gegebene" vor jedem Versuch einer analysierenden Rechtfertigung zu sichern. Es ist eine Frage für sich, ob nicht das Streben nach solchen Sicherheiten auf der unzutreffenden Voraussetzung beruht, jeder Ansatz zur Rechtfertigung vergreife sich bereits an der „Realität" ihres Gegenstandes. Man verwechselt eben nur allzuleicht die Frage nach den Bedingungen eines Sachverhalts mit dem Zweifel an seinem Bestand. Man verkennt m.a.W. den Unterschied zwischen dem Zweifel im Dienste der Erkenntnis mit dem Zweifel an der Erkenntnis. Gewiß, jeder Versuch einer Rechtfertigung des Begriffs der Gegebenheit, stellt diese „in Frage"; - aber nicht um sie „aufzulösen", sondern um sie zu bestimmen. Gegebenes als „Bestimmtes" hört nicht auf, „Gegebenes" zu sein. Es erscheint im Gegenteil kraft seiner Bestimmtheit als „Gegebenes" gefordert. Bestimmt aber kann es erst genannt werden, wenn es in seiner Abhängigkeit vom letztdefinierten Begriff der Gegenständlichkeit durchschaut ist. Aber selbst zugegeben, daß an „Gegebenes" ein Maßstab im Sinne der Frage nach den Bedingungen seiner Gegebenheit nicht angelegt werden dürfte, es bleibt immer noch ein entscheidendes Bedenken bestehen. Welche Bewandtnis hat es eigentlich mit der unleugbaren Mannigfaltigkeit des „Gegebenen"? Denn was wird nicht alles als „gegeben" bezeichnet? Die Sätze der Identität und des Widerspruchs, die Axiome der Mathematik und das System mathematischer Axiome, sodann

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das System der Wissenschaften, Recht und Sittlichkeit, Kunst und Glaube, Staat, Gesellschaft und Familie; Geschichte, Natur und Naturgesetzlichkeit; Wahrnehmungen und Erlebnisse jeder Art, schließlich die Sprache und die Mannigfaltigkeit der Sprachen - ganz zu schweigen von den nur einer "phänomenologischen" Schau zugänglichen "Wesen" verschiedenen Ranges oder von den „ontologisch", oder gar "fundamental-ontologisch" zu sichernden Realitäten jeder Art und Abstufung. Welcher Natur ist solche Mannigfaltigkeit, was bestimmt ihr Gefüge, und woher kommt sie? Gewiß, auch sie könnte ja eben als Mannigfaltigkeit kurzweg wieder "gegeben" genannt werden. Allein, wie umgrenzt man unter dieser Voraussetzung den Kompetenzbereich des Begriffs der "Gegebenheit"? Warum ist nicht schlechthin alles "gegeben"? Haben "Wesen" als Gegebenheiten nicht noch andere Wesen von noch höherem Gegebenheitswert hinter sich? Warum wird nicht schon der erste Ansatz, philosophische Fragen zu stellen, in den Bereich jener Kompetenzen mit einbezogen? Wie verhalten sich überhaupt Frage und „Gegebenheit" zueinander? Erscheint jene in dem gleichen Sinn des Wortes gegeben, wie das System der Antworten, das sie provoziert oder die "Dinge", auf die sie sich bezieht? Und warum überhaupt sind es "Dinge"? Was bedeutet diese Mehrzahl in der Problemschicht der "Gegebenheit"? Ob solche und ähnliche Fragen beantwortet werden können, hat natürlich nur derjenige zu entscheiden, der auf den kritischen Versuch, jedes philosophische Problem und damit den Begriff der Rechtfertigung selbst zu rechtfertigen, von den stolzen Höhen der „Gegebenheit" kühl herabsieht. Ebenso, ob sie überhaupt gestellt werden dürfen. Er kann also antworten, oder die Antwort ablehnen, weil er die Fragen für falsch hält. In jedem der beiden Fälle aber versuche er in der Konsequenz seines Verhaltens ohne das Problem auszukommen, was "Gegebenheit" eigentlich sei. Nur wenn ihm dies gelingt, darf er sich vor jedem Angriff sicher fühlen. Gelingt es ihm aber nicht, dann hat er selbst auf dem Boden seiner eigenen Voraussetzungen, d.h. mit bedenklichem Mangel an Folgerichtigkeit, verhüllt oder ausdrücklich, eine Frage gestellt, deren Recht er

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grundsätzlich bestreitet. Der Fall liegt einfach genug: Operiert man mit dem Begriff der "Gegebenheit", so muß er auch im wissenschaftlichen Sinn des Wortes Problem geworden sein, und zwar Problem nicht allein im Hinblick auf nähere und entferntere Bedingungen eines bestimmten Gegebenen, sondern vor allem in Rücksicht auf die letzten Voraussetzungen für das Recht und die Möglichkeit eines Gegebenen "überhaupt".Jene Voraussetzungen nun stehen im Begriff der Gegebenheit zur Erörterung; durch sie wird "Gegebenheit" Gegenstand und Element einer wissenschaftlich-philosophischen Frage. Aber darf man denn von einem Problem der Gegenständlichkeit sprechen, wenn Gegenständlichkeit eine letztdefinierte Instanz sein soll? Müßte sie nicht als "Problem" wieder hinter sich selbst und so ins Unbegrenzte zurückverweisen? Der Fall ist im Grund genommen der des platonischen "&v1nrot'Jcro1/'. Das Problem der letztdefinierten Instanz deckt sich mit dem ihrer Funktion, jegliches andere zu bedingen. Oder umgekehrt: Die Begründung der "Möglichkeit" eines Faktors schließt Möglichkeit als Problem und zugleich als Sinn aller Problemstellung ein. Wie „Gegebenheit" möglich ist, kann daher in einer wissenschaftlich-philosophischen Betrachtung nicht unerörtert bleiben. Wird aber die Frage methodisch aufgenommen, so erwächst alsbald neben dem Problem des Gegenstandes auch das seines Erlebtwerdens. Nicht freilich auf jene elementare Weise, daß man gleichsam nur um des Wortsinnes willen sofort und unmittelbar die Frage aufwirft: „Gegebenheit für wen"; sondern in jener tieferen und bis zu den Wurzeln der Aufgabe hinführenden Bedeutung, daß, wo "Gegebenheit" in Rede steht, zugleich die Möglichkeit der Frage "für wen" nach Erörterung verlangt. Das Problem der Gegebenheit ist allemal auch das Problem des Subjekts. Das aber bedeutet, daß Gegenständlichkeit auch die logische Quelle, d.h. den sachlichen Grund für das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt darstellen müsse. Wir haben damit einen Punkt von besonderer problemgeschichtlicher und systematischer Bedeutung erreicht. Vorab und grundsätzlich aber sei eines ausdrücklich festgestellt. Es

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handelt sich hier nicht um den trivialen Satz "Kein Subjekt ohne Objekt, kein Objekt ohne Subjekt"; - auch nicht um dessen subjektivistische - man sagt wohl auch gern "idealistische" - oder objektivistische Auswertung. Es geht vielmehr auch hier wieder um die Möglichkeit des Satzes. Nicht eine Tatsache gilt es m.a.W., und sei sie auch noch so allgemein und einleuchtend, zu fixieren, sondern ein Prinzip aufzusuchen, auf Grund dessen sie gefordert erscheint. Das Geforderte, und fügen wir gleich hinzu: das auf Grund letztdefinierter Instanzen Geforderte allein darf im philosophischen Sinn des Wortes für bestimmt gelten; nur das so Geforderte ist zum Unterschied von dem bloß Vorgefundenen, aus „Prinzipien" überschaubar. Ebendarum repräsentiert es einen weit höheren "Tatsachenwert" als alles nur" Tatsächliche". Denn es geht auf dessen Möglichkeit. So werden denn auch die Zuordnung und das Wechselverhältnis, oder was dasselbe bedeutet, das Auseinandertreten von „Subjekt" und „Objekt", in einer methodisch scharf umrissenen Bedeutung Problem; Problem nicht im „subjektiven" Sinn; - nicht als Gegenstand des Staunens oder der Erschütterung über eine unüberbrückbare Kluft zwischen „Ich" und "Gegenstand" und die geheimnisvollen Seinswerte, die sich aus ihren unergründlichen Tiefen dem Eingeweihten entgegendrängen; das Auseinandertreten von Subjekt und Objekt wird vielmehr Problem im gegenständlichen und zugleich philosophischen Sinn des Wortes, als Funktion jener letztdefinierten Instanz der Gegenständlichkeit, die selbst wieder an diesem Auseinandertreten Bestimmtheit und Gestalt gewinnt. Zwischen Subjekt und Objekt gähnt nicht ein Abgrund, den es - sei es abgestumpft und resigniert, sei es sorgenvoll und bestürzt - zu bejahen, den es bekümmert oder optimistisch zum Gegenstand metaphysischer Bekenntnisse zu machen gilt; das Verhältnis zwischen Subjekt und Objekt bedeutet eine Aufgabe, die nach Kriterien Bestimmung, einen Wechselbezug, der aus Prinzipien Klärung fordert. Und wiederum ist es nicht die Frage, ob das Thema vom Abgrund zwischen Subjekt und Objekt mit seinen vielen, geschichtlich und sachlich bedingten Varianten erschreckt, fesselt oder befriedigt;

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in Rede steht vielmehr die Frage nach der „Möglichkeit" des Abstandes zwischen Subjekt und Objekt, d.h. nach dem Begriff ihrer Beziehung. Davon hängt mehr ab, als man fürs erste vielleicht denkt. Denn an der Relation Subjekt-Objekt entscheidet sich zunächst auch die Relation Subjekt-Subjekt wenn sonst diese letztgenannte Relation das Problem der Verständigung mit umfaßt, und Verständigung Konvergenz auf den Gegenstand bedeutet. Hinter der Beziehung SubjektSubjekt aber verbirgt sich die ganze Fülle der Aufgaben, die das Wort Psychologie einschließt. Es ist ein Gemeinplatz, daß es auch Psychologie mit „Tatsachen", nur mit Tatsachen der sogenannten „inneren" Erfahrung, zu tun habe; ein Gemeinplatz, der nicht wie andere auch bloß leer, sondern der zugleich in hohem Grade bedenklich erscheint. Das soll nicht etwa heißen, Psychologie sei Naturwissenschaft, und die „innere" Erfahrung unterscheide sich nicht von der „äußeren". Psychologie ist nicht Naturwissenschaft, weil sie - unbeschadet ihres Bezugs auf den Begriff der Natur, ganz andere methodische Invarianten aufweist als diese. Ihr Gegenstand erscheint nicht im gleichen Sinn, wie der der Natur, größenbestimmt; das Erlebnis fordert einen eigentümlichen Zeitwert, eine besondere, von substantialen Quantitätswerten abweichende Bestimmung der Kontinuität. Die Unterscheidung zwischen „innerer" und „äußerer" Erfahrung besagt im wissenschaftlichen Sinn des Wortes erst dann etwas, wenn sie aufhört, bildhaft zu sein. Nur nach Klärung des Begriffs vom Gegenstande gewinnt sie m.a.W. sachliche Bedeutung, d.h. nicht früher, als das Gefüge des Gegenstandes durchschaut und die Frage beantwortet ist, wie sich die Struktur des Psychischen diesem Gefüge gegenüber verhält, und was angesichts dieses ihres Verhaltens das Wort „Tatsache" mit Bezug auf die Psychologie und deren Problembereich zu bedeuten habe. Psychologie fordert einen sachlich bedingten Ort im System der Erkenntnis. Kein noch so bewegtes Klagen über die Kluft zwischen Subjekt und Objekt, keine noch so leidenschaftliche Abkehr von den Tücken des Psychologismus aber erfüllt die Bedingungen dieser Forderung. Man muß angeben können,

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was Psychologie ist, oder anders: der Begriff der Psychologie muß methodisch erörtert sein, ehe man überhaupt daran gehen kann, zu bestimmen, was Psychologie nicht, oder wie Psychologismus möglich sei. Die Einsicht in die Bedingungen jenes "korrelativen Auseinandertretens" von Subjekt und Objekt allein aber genügt dieser Forderung: d.h. eine Theorie des Gegenstandes, das analytische Zurückgreifen auf die Gegenständlichkeit als letztdefinierten Faktor. Vor dem Problem der Psychologie die Augen zu verschließen, bedeutet eben - auch wenn es bewußt, ja mit stolzer Aktivität und mit kühnen Ausblicken auf feinste psychologische Feststellungen geschieht, ein anderes wie jenes Problem zu stellen. Dazu kommt noch eines! Philosophie als Theorie des Gegenstandes betrifft vor allem das Problem der Wissenschaft, wenn sonst Wissenschaft gegenständliche, gegenständlich gelten sollende Zusammenhänge erstrebt. Das Problem der Wissenschaft aber ist von dem eines Systems der Wissenschaften nicht zu trennen. Denn daß Forschung gegenständlich zu bestimmende, "in sich" selbst bestimmte Ergebnisse zu zeitigen den Anspruch erhebt, verbindet allein schon jedes Forschungsgebiet mit der Idee jedes andern. In der "Anwendbarkeit" des einen auf das andere wird diese Verbindung gleichsam technisch, in dem Gedanken des „Konzentrationsunterrichts" pädagogisch greifbar; in der eigentümlichen Tatsache, daß die Wissenschaften eine Reihe bilden, gewinnt sie einen kaum zu übersehenden methodologischen Ausdruck. Was bedeutet nun diese, selbst wieder Gegenstandswert beanspruchende, d.h. jegliche Willkür grundsätzlich ausschließende Reihe? Wie, in welcher Abwandlung, offenbart sich in ihr Gegenständlichkeit als "principium"? Man werfe hier nicht ein, daß Philosophie noch ganz andere als wissenschaftliche Bezüge haben müßte; daß der "theoretische Mensch" durchaus keinen Idealtypus verkörpere; daß die Bindung an die Erkenntnis den Philosophen seiner immanenten Aufgabe, die Welt zu "erleben" und "Weltanschauung" zu vermitteln, entfremde. Denn eine Theorie der Gegenständlichkeit betrifft den Grund jedes Anspruchs auf Geltung, also auch den der Sittlichkeit, des Glaubens, der

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Kunst und des Rechts. Sie bedeutet das Eindringen in die Voraussetzungen und Folgen ihres Wechselbezugs; sie umspannt das Problem ihrer systematischen Einheit. Auch das System der Wissenschaften entfaltet sich in notwendigem Bezug auf dieses Ziel. Und gerade weil Philosophie als Wissenschaft vom Gegenstande das „Subjekt" und damit die Psychologie mit umfaßt, weil sie darüber zu entscheiden hat, ob Psychologie mit Wissenschaft, Sittlichkeit, Glaube, Kunst und Recht nur in summativer, oder aber in organischer und „konstitutiver" Gemeinschaft verknüpft erscheint; ob Psychologie nur neben jenen steht, oder aber ob sie etwa deren Begriff, und den ihrer Gemeinschaft, auf besondere Weise ausdrückt und sich damit selbst als wohlumrissenes System von schlechthin universeller Bedeutung offenbart, - rückt sie auch das „Erleben" als den systematischen Gegenspieler jener Gemeinschaft, und damit den kritischen, von allen undefinierten Voraussetzungen befreiten Begriff des Wertes, in den Mittelpunkt ihrer Betrachtung. Sie ergreift mit dem Problem der systematischen Einheit möglicher Werte deren unerläßlichen Bezugspunkt, das „Ich", in der ungeschmälerten Fülle seiner Einmaligkeit, mit seinem Ringen um sittliche und religiöse Entscheidungen, als Quellpunkt der künstlerischen Tat und des künstlerischen Genießens, mit allen seinen gefühlsmäßigen oder triebhaften Schwankungen und Bindungen in sozialer und rechtlicher Hinsicht. Nicht obwohl wissenschaftliche Philosophie Philosophie der Wissenschaft bedeutet, muß sie auch Philosophie der Kunst, des Glaubens, des Rechtes, der Sittlichkeit, und zwar als autonomer, der Wissenschaft gegenüber wohlbestimmter Gegenstände sein, sondern weil sie jenes bedeutet, ist sie dieses, und damit auch Grundwissenschaft aller Pädagogik und Träger der „Weltanschauung". Gewiß, manchem Spezialforscher erscheint eine Philosophie, die die positive Wissenschaft, „ein-" bzw. sich selbst aus dem Bereich dieser letzteren „ausklammert", nicht eben unsympathisch. Er sieht seine philosophischen Bedürfnisse, die er als rein persönliche zu betrachten und von allen wissenschaftlichen Bestrebungen zu sondern liebt, vielleicht durch sie befriedigt; er braucht

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nicht zu besorgen, daß seine Kreise durch Erörterungen über Begriff und Methode, über Beweiskraft und Wahrheitsanspruch seiner Ergebnisse gestört werden könnten. Je weiter ihm eine solche Philosophie steht, um so williger folgt er ihren Winken und Anregungen. Allein Neigung und Abneigung entscheiden in keinem Belang über Sinn und Recht philosophischer Fragen, und der wissenschaftliche Philosoph kann sich der Aufgabe, die Tatsache der Wissenschaft, wenn man will: deren Tatsächlichkeit, zu rechtfertigen nur im Widerspruch mit sich selbst entziehen. Denn die Tatsache der Wissenschaft ist eine Tatsache eigener Art; und der Philosophie wird diese Tatsache in ihrem Gefüge und mit ihrem Anspruch auf Anerkennung zum Problem. Es ist wohl wahr: Alles kann Gegenstand genannt werden. Aber innerhalb dieser Fülle von Gegenständen sondern sich gewisse Gegenstände. Sie dienen einem eigentümlichen Verhalten, das Methode, einem charakteristischen Ordnungsgefüge, das „Wissenschaft" heißt, als Ansatz; wie sie andererseits selbst in und von diesem Verhalten Form und Bestimmtheit erlangen. Was diese Gegenstände von allen übrigen unterscheidet, welchem Prinzip gemäß sie sich differenzieren, worin mithin das Recht jenes besonderen Verhaltens besteht, das sich als Methode jedem beliebigen Verhalten gegenüber abgrenzt, sind Fragen, die sich dem Philosophen als Theoretiker der Gegenständlichkeit aufdrängen. Geht er an ihnen achtlos vorüber, so verfehlt er die Bedingungen seiner Aufgabe: er unterscheidet vielleicht Objekte, bzw. Typen von Objekten, aber er nimmt die „Möglichkeit" solcher Unterscheidung, also den Begriff des Objektes selbst, ungeprüft hin. Objekte und Objekttypen stehen für ihn gegeneinander grundsätzlich isoliert da. In der Praxis des Denkens überwindet er freilich solche Isolierung: in einem unendlichen Reichtum an Formen und Bezügen verbinden sich auch ihm die Gegenstände zu systematischer Gemeinschaft. Aber nicht um die Tatsache, sondern um das Recht seines Verhaltens handelt es sich hier. Und eben dieses Recht bleibt unerwiesen und unerweisbar, so lange ihm der Begriff des Gegenstandes nicht Problem geworden. Oder anders gesagt: Die Unterscheidung

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der Objekttypen selbst, und damit die Valenzen der Gegenstände, bleiben unter seinen Voraussetzungen immer subjektiv, gleichviel ob man nun diese Valenzen nivellieren zu wollen vorgibt, oder ob man sie in Erfüllung scheinbar unabweisbarer Bedürfnisse der Forschung in immer feineren Nuancen festzuhalten und gegeneinander abzuwägen strebt.

II. WISSENSCHAFTSTHEORETISCHE GRUNDFRAGEN, POSITIVISMUS

Die Sachlage ist einfach genug: Der Philosoph, will er seine eigene Haltung verstehen, kann die Frage nicht umgehen, wie das Objekt zu dem Anspruch kommt, "ergriffen", von anderen Objekten unterschieden, methodisch definiert, durch die „ Wissenschaft" geklärt, mit anderen einem methodisch gegliederten oder zu gliedernden System eingeordnet zu werden; wie "ich" dazu komme, das eine Mal für mich, das andere Mal im Namen der" Wissenschaft" zu sprechen, meine Meinungen zu gliedern oder zu korrigieren und die Zustimmung „aller" zu meinen so korrigierten Meinungen zu fordern; dabei den Prozeß der Korrektur dieser Meinungen für unabschließbar zu erklären und mich als Erlebnismittelpunkt zugleich Ausdruck und Träger von „Werten" sein zu lassen. Nicht eine unerwiderte Liebe treibt also den Philosophen zum Problem der positiven Wissenschaft, sondern die sachliche Notwendigkeit, es in die Theorie der Gegenständlichkeit einzugliedern, und sich damit selbst seinen Ort im System der Erkenntnis zu bestimmen. Es soll freilich eine der zahlreichen „Krisen" in der Philosophie der Gegenwart anzeigen, daß der positive Forscher unter Verzicht auf philosophische Hilfe für die Befriedigung seiner erkenntnistheoretischen Bedürfnisse selbst aufkommt. Nun, wer philosophische Fragen stellt, muß sich mit philosophischen Gegenfragen abzufinden wissen. Und so darf der wissenschaftliche Philosoph über dieses angebliche Krisenzeichen gelassen hinwegblicken. Oder sollte sich das Problem der Erkenntnis dadurch, daß es ein positiver Forscher stellt, von Grund auf gewandelt haben? Hört es auf ein philosophisches Problem zu sein, daß die positive Wissenschaft an bestimmten Punkten zu philosophischen Fragen hindrängt, nur weil diese Punkte von dem Vertreter einer positiven Wissenschaft entdeckt werden. Die Angelegenheit erscheint wahrlich weit

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weniger bedeutsam als man vielfach denkt. Der positive Forscher ist Philosoph, sofern er philosophische Fragen stellt, und er stellt philosophische Fragen auch da - und da ganz besonders -, wo er die Philosophie in welcher Form immer ablehnt. Daher muß sich denn auch der Gegner der "Schulphilosophie", in welchem Lager er immer stehen mag, philosophische Gegenfragen leider schon gefallen lassen. Sie können vor allem dem nicht erspart bleiben, der als moderner Positivist die Wissenschaftlichkeit philosophischer Probleme durch die planvolle Beschränkung auf Tatsachen verbürgt sieht. Dabei ist es im weitesten Umfang nebensächlich, was man als „Tatsache" bezeichnet, ob lediglich sinnlich „Gegebenes" oder aber auch sogenannte „Zuordnungen". Denn in beiden Fällen erhebt sich die Frage: Worauf eigentlich gründet sich der Erkenntniswert von Tatsachen? Warum sind Tatsachen Argumente? Wie bestreiten oder widerlegen „Tatsachen" das Recht einer Fragestellung, insbesondere wenn diese Tatsachen gar nicht in Zweifel zieht, sei es daß sie den Begriff der Tatsache, sei es daß sie etwas erörtert, was gar nicht „ist", sondern sein soll? Zwar kann man ja behaupten, daß es solche Fragen überhaupt nicht „gebe", weil es eben nur Tatsachen „gibt". Dann aber sage man einem auch, worauf der trügerische Schein jener anderen im Namen der Tatsache abgelehnten Gegebenheiten beruht, vor allem aber - will man wissen, was man selbst behauptet hat was hier „geben" heißt. Man kann freilich solche Fragen kühl oder gereizt überhören. Aber dann betätigt man sich nicht, wie man im Kreise jenes Positivismus glaubt, im Sinne wirklicher „Erkenntnis", man bekennt sich vielmehr ganz im Gegensatz zur eigenen Absicht, zu einem „Standpunkt", von dem man mit bestem Willen nicht sagen kann, er sei frei von Stimmungen. Von selbst versteht es sich dabei, daß eine Stimmung auch dann Stimmung bleibt, wenn sie sich selbst gegen alles Stimmungsmäßige wendet. Nicht wer sich, wie der neueste Positivismus, dem Begriff des Grundes und der Erörterung dieses Begriffs prinzipiell entzieht, sondern nur der, dem der Begriff des Grundes Problem geworden, ist dem Bereich der Stimmungen entrückt; nur er verfolgt als Philosoph Ziele der Erkenntnis.

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Oder grundsätzlich: Wer im Bereich philosophischer Probleme nach Art des Positivismus nur "gegenständliche" Aussagen duldet, der mache sich auf die Frage nach dem Begriff des Gegenstandes gefaßt. Man gibt freilich der Forderung stimmungsfreier Gegenständlichkeit gern einen besonderen Sinn: den des alten Comteschen „savoir pour prevoir". Er mag zutreffen, wenngleich sich mancher beklommen fragen wird: Was sagen Prähistorie oder Archäologie voraus? Aber vielleicht haben sie vor einem strengen Forum wirklicher und schlechthin „voraussetzungsloser", lediglich auf" Tatsachen" gegründeter Erkenntnis keinen Anspruch darauf, Wissenschaften zu heißen. Wie aber steht es um die Mathematik? Was eigentlich sagt sie in ihrer Zeitlosigkeit „voraus"? Man verbindet allerdings mit der Formel der „Voraussage" gern den Gedanken der „Eindeutigkeit". Möglich immerhin, daß "Eindeutigkeit" eine Bedingung jener Kunst des Vorhersagens darstellt. Wie aber folgt das aus „Tatsachen", ja welcher Art von Tatsache ist Eindeutigkeit selbst? Man stellt hier mit überlegener Ablehnung die Gegenfrage: Was heißt "folgen"? Jawohl, was heißt „folgen"? Was heißt vor allem "Eindeutigkeit" ohne jenen Gedanken des „Folgens" und "Folgen-Könnens"? Der moderne Positivismus ist auf das "Folgen", weil in ihm die Idee einer „alten" Logik weiterzuleben scheint, vielfach nicht gut zu sprechen. Und doch läßt sich Logik nur schwer auf „Tatsachen" zurückführen, schon weil Tatsachen die Eigentümlichkeit haben, logischen Forderungen zu genügen und überhaupt Bedingungen zu erfüllen, die an irgendeiner Stelle das Problem der Logik enthüllen, und sei es auch keine andere Forderung als die der „Eindeutigkeit", und keine andere Bedingung, als die der Verbindung von Tatsachen in der „Tatsache" der Forschung. Allein, vielleicht läßt sich Logik in Beziehungen auflösen, die nun einmal „da" sind. Vielleicht "gibt" es eine begrenzte Anzahl von Beziehungen, die die Fülle der" wirklich" aktuellen Erkenntnisse beherrschen. Man flüchtet vor den Gefahren der Logik zur Logistik. Indessen, der Ausweg führt in neue Schwierigkeiten. Wir meinen zunächst die implicite schon angedeutete

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Frage, woher denn nun die Logistik die der Logik angeblich fehlenden Kräfte sollte nehmen können, um „Tatsachen", vor allem auch solche der „Erkenntnis", zu beherrschen. Wie kommen die „Tatsachen" dazu, den Beziehungen, die die Logistik zusammenfaßt, zu genügen? Und vor allem: Ist mit der Logistik Logik wirklich abgeschafft? Oder erhebt sich nicht Logik hinter aller Logistik, wenn sonst auch Logistik Urteile aneinanderreiht, die beisammen stehen, weil sie zueinander gehören? Erhebt sich nicht hinter diesen Sätzen und ihrer Zusammengehörigkeit die Frage nach dem Begriffaller Setzung und „folgt" nicht aus diesem Begriff erst die Möglichkeit und der Gehalt aller Logistik selbst? Und wie steht es überhaupt um das Problem der Methode? Das, so werden wir freilich belehrt, gibt es ja gar nicht, oder doch nur innerhalb jenes „savoir pour prevoir". Allein, „gibt" es denn nicht auch Unterschiede zwischen jenen eigentümlichen Gebilden, die wohl auch der positivistische Logistiker kaum anders denn als „Wissenschaften" bezeichnen wird? Man antwortet vielleicht: nein, denn „Wissenschaften" sind ja nur Arten, Tatsachen „ökonomisch" zusammenzufassen. Was aber ist „Ökonomie"? Natürlich auch „Tatsache", aber doch wohl eine Tatsache, von der eine Verknüpfung von Tatsachen abhängen soll. Ja, diese Verknüpfung ist, wenn nicht alle Zeichen trügen, auch vom Positivisten dazu bestimmt, neue Tatsachen zu zeitigen. Es kann freilich niemandem verwehrt sein, den Begriff der T atsache so weit auszudehnen, daß sie die Ökonomie mit umspannt. Nur muß man dann auch das Prinzip anzugeben, den Gesichtspunkt zu nennen und zu begründen vermögen, die solchen Wandel der Bedeutung beherrschen. Man nimmt in solchem Zusammenhang seine Zuflucht gern zur „Psychologie". Was aber ist sie und woher schöpft vor allem sie die Kraft zu der ihr hier zugemuteten Funktion? Als Wissenschaft kann doch auch sie für den konsequenten Positivismus nur eine ökonomische Abwandlung der Tatsachen darstellen. Wie aber liefert sie alsdann wieder das Prinzip dieser Abwandlung? Man erklärt dagegen vielleicht, nicht sowohl die Psychologie als Wissenschaft, denn vielmehr die psychischen Reaktionen des Men-

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sehen gemeint zu haben. Allein, von einer Bestimmtheit psychischer Reaktionen sprechen, heißt nichts anderes als den Begriffsapparat der Psychologie ins Spiel zu bringen. Denn was bedeuten die "Tatsachen" der "Empfindung", der „Vorstellung", des "Denkens", ja was bedeutet die des "Erlebens" überhaupt unabhängig davon, daß diese Begriffe in einem durch die Psychologie methodisch zu bestimmenden Sinn gebraucht und in ihrem Zusammenhang erörtert werden. Man hält zur polemischen Kennzeichnung solcher Erwägungen, übrigens weit über den Bereich des Positivismus hinaus, bis hinauf zu den feierlichsten Formen des "Realismus", das Wort Panmethodismus bereit. Daß man damit häufig Leerlauf und wissenschaftliche Unfruchtbarkeit meint, beweist noch nicht, daß man es richtig verstanden hat. Es kommt alles darauf an, ob man imstande war, des Begriffes vom Gegenstande Herr zu werden. Sieht man nämlich in der "Methode" ein starres, lediglich subjektiv gültiges Schema, in dessen Maschen man den im übrigen fertig dastehenden Gegenstand einfangen, ein Netz, das man dem Gegenstand gleichsam über den Kopf werfen will, d.h. trennt man die Begriffe Methode und Gegenstand und tastet man, anstatt diesen zu erfassen, mit der „Methode" gleichsam ins Leere, dann freilich ist „Panmethodismus" der denkbar schärfste Vorwurf, der den Philosophen treffen kann. Bedeutet aber das Wort, daß in der Bestimmtheit des Gegenstandes der Gegenstand selbst zum Problem wird, und daß Bestimmtheit das Gesetz eines gegenständlich bedingten Fortschreitens offenbare, so gibt es keine schärfere Charakteristik für die Bestrebungen des wissenschaftlichen Philosophen. Unter dieser Voraussetzung haftet dem Ausdruck denn auch nichts von jenem „Rationalismus" an, den manche hinter jedem klar umrissenen Begriff vermuten und der sie darum solche Begriffe fliehen und ihnen das behaglich-wolkige Halbdunkel ahndungsvoller Prophetie vorziehen läßt. Das Wort "Methode" bezeichnet das Gegenteil "rationalistischer" Verirrung. Denn es bezeichnet die Bedingungen, jeden undefiniert und willkürlich eingeführten Faktor zu tilgen. Jeglicher "Rationalismus" aber ist die Frucht eines willkürlich-stimmungs-

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mäßigen Gebrauchs von Begriffen. Die „Methode" erschließt dem Blick des Forschers alle Formen, die der Anspruch auf Geltung anzunehmen vermag, d.h. die Welt der Erkenntnis genau so, wie die der Werte, und was vielleicht das Wichtigste ist: die unlösbare Zusammengehörigkeit jener mit diesen. Man sieht also, daß die positivistischen Tendenzen, um nunmehr auf sie zurückzukommen, voraussetzen, was sie bekämpfen müssen, und bekämpfen, was sie voraussetzen, nämlich den Begriff der Erkenntnis, das Problem des Gegenstandes. Dabei ist die geschichtliche Lokalisation jener T endenzen ganz gleichgültig: sie können als Sophistik dem grauen Altertum oder als Hüterinnen der Voraussetzungslosigkeit aller Erkenntnis der philosophischen Gegenwart angehören. Die ganze Sachlage aber entscheidet sich nicht zuletzt an der einen, grundlegenden Frage: Welches eigentlich ist die „ökonomische" Leistung, die sich als Philosophie - natürlich als positivistisch geläuterte und nicht etwa als veraltete „Schulphilosophie" von aller sonstigen Wissenschaftsökonomie unterscheidet, die Rollen verteilt, dieses ablehnt, jenes bejaht, hier verbessert und korrigiert, dort einschränkt und tadelt, hier lobt, dort opponiert? Sind eigentlich Ablehnung, Bejahung, Verbesserung, Tadel, Lob und Opposition wertende oder ökonomische Leistungen? Freilich, man hat gelernt, sich zu bescheiden. Was sich als Erkenntnis ausgibt, sei, so sagt man, im letzten Grunde - man denkt an die Logik der Kyniker - nur „Tautologie". Denn es enthüllte doch immer nur Beziehungen, die in dem Gegenstand der Erörterung „da" sind, wenn er nur selbst „da" ist. Und wenn auch dem engen Sinn des Subjekts manches Forschungsergebnis „neu" erscheint, den Philosophen bindet solcher Schein nicht. Warum eigentlich nicht? Verfügt er denn über ein eigenes Prinzip der Forschung? Erörtert er am Ende gar den Begriff des Gegenstandes, also etwas, dessen Bedingungen sich in aller Erkenntnis erfüllen sollen? - Wieder einmal tritt uns die ganze Tragik des Positivismus leibhaftig vor Augen: er muß fordern, was er ablehnt. Und dann die vielgepriesene „Tautologie"! Macht sie denn nicht weitreichende und schwerwiegende Voraussetzungen hinsichtlich der „Eindeutig-

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keit" von „Sätzen", „Aussagen", „Urteilen"? Und erörtert sie so nicht implicite eine Voraussetzung auch aller Logistik? Ob man diese Voraussetzung freilich in die Logik verweist oder nicht, fällt gegenüber der „Tatsache" ihres „Daseins" kaum ins Gewicht. Und weiterhin! „Logistik" verlange, so sagt man, als Lehre von Zuordnungen und Ordnungsbezügen ein völliges und grundsätzliches Absehen von Sinn und Inhalt, von Wahrheitsanspruch und lrrtumscharakter eines Satzes. Daß das den grundsätzlichen Verzicht auf das Problem der Methode, den übrigens auch schon das Motiv der „Tautologie" ausspricht, einschließen muß, versteht sich von selbst. Weniger greifbar mag dagegen eine andere Konsequenz erscheinen. Ist nämlich das, was sich Erkenntnis nennt, im letzten Grunde „tautologisch", dann reduziert sich die viel berufene „Eindeutigkeit" auf eine rein „formale" Funktion. Was eindeutig ist, wird nicht mehr Gegenstand der Überlegung. Sehr fraglich, ob sich dieser Gedanke überhaupt zu Ende denken läßt. Keinem Zweifel aber unterliegt es, daß man mit einem konsequenten Verzicht auf jegliches Verhältnis zum „Inhalt" des Urteils in eine beängstigende Nähe zu jener formalen „Logik" gerät, deren Bereich und Autorität, deren ominöser „Folgerichtigkeit" man mit Hilfe der Logistik für alle Zeiten glücklich entronnen zu sein glaubte. Indessen, am bedenklichsten erscheint ein weiteres. Die Absage an das Problem der Methode, die grundsätzliche Gleichgültigkeit gegenüber der „Tatsache", was ein Urteil betrifft, worüber es ergeht, wodurch es sich von anderen unterscheidet, kommt einer völligen Gleichgültigkeit auch gegenüber dem grundlegenden Problem des Ansatzes gleich. Man überlege, was das bedeutet. Nichts geringeres, als den grundsätzlichen Verzicht auf „Einfall" und „Ursprünglichkeit" in aller Erkenntnis, auf Frage und Aufgabe, auf Besonderung und Gliederung der Gedanken, natürlich auch auf Angriff und Abwehr, auf Vergangenheit und Zukunft, auf die Geschichte und die pädagogischen Auswirkungen der Wissenschaft. Denn alle diese Faktoren sind Funktionen des „Ansatzes". Ob solcher Verzicht - auch nur in Gedanken - möglich ist, ob es

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Voraussetzungen geben kann, denen er genügt, mögen diejenigen entscheiden, die sich den Verzicht auferlegen wollen. Durchgeführt aber, müßte er alles, was in der Forschung Bestimmtheit heißt, nivellieren, d.h. alle Forschung selbst tilgen und damit auch den eigenen Plan des Positivismus auslöschen. Das Problem des Ansatzes kennzeichnet den tiefsten Punkt, bis zu dem Erkenntnislehre vorzudringen vermag; den tiefsten Punkt nicht freilich als Schranke, sondern als Inbegriff möglicher Probleme. Methode und Geltung, Vollzug und Ergebnis, Weg und Ziel aller Erkenntnis, Erlebnis- und Gegenstandsbestimmtheit, Sprache und Gemeinschaft, das Problem der Psychologie und dasjenige ihres Abstandes von allem anderen das den Anspruch auf den Namen „Wissenschaft" erhebt, schließlich das Maß ihrer Zugehörigkeit zu diesem anderen und zur Philosophie - alles das stellt sich in jenem Terminus zu kritischer Erörterung. „Terminus" aber bedeutet hier nicht ein Wort, einen „Kunstausdruck", sondern einen notwendigen, durch letztdefinierte Faktoren geforderten Bezugspunkt. Das „Was" des Gedachten und das „Wie" des gegenständlichen, d.h. methodischen Denkens gehören zusammen, wie Argument und Funktion. Oder anders: Der Ansatz ist notwendig Element des Urteilsgefüges. Nicht freilich in dem rohen Sinn, daß man, um zu urteilen, auch „ansetzen" müsse, sondern in jener tieferen Bedeutung, daß das Urteil die Bedingung erfüllt, einen „Inhalt" zu haben. Nur im Hinblick auf diese Bedingung stellt jedes Urteil eine geschlossene, im Denken „übersehbare", besser der Bedingung denkgemäßer „Übersehbarkeit" genügende „Ganzheit" dar; nur darum erscheint das Urteil mit anderen Urteilen, einerlei ob „logistisch" oder logisch-folgernd und „dialektisch", in übergreifenden Funktionen verbunden und verbindbar. Hier offenbart sich auch der eigentliche und letzte Sinn der Hypothese. Denn auch Hypothesen sind in jenem kritischen Verstande Ansätze; sie „setzen" dem Sinn einer Methode gemäß, d.h. nach gegenständlichen Kriterien, Urteilsinhalte, durch die sich ein systematischer Urteilszusammenhang bestimmt. Sie sind Begründungsansätze und können aus dem

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Gefüge des gegenständlichen Denkens ebensowenig ausgeschaltet werden, wie der „Inhalt" aus der Struktur des Urteils. Wir sprechen hier mit Vorbedacht von „Struktur". Der Ausdruck deutet an, daß aus dem Urteil kein „Inhalt" herauszuholen ist, um etwa von seiner „Form" getrennt zu werden, sondern daß im Urteil ein eigenartiger Gliederungsbestand vorliegt, der gewisse funktionelle Unterscheidungen begründet. Erst vermöge und innerhalb deren gewinnt die Rede vom „Inhalt" des Urteils Sinn und Recht. Nun möchte man in radikaler „Voraussetzungslosigkeit" das Wort „Hypothese" am liebsten aus dem Wortschatz der Wissenschaft streichen. Das mag durchaus in der Konsequenz eines Theorems liegen, das alle Erkenntnis sich in „Tautologien" erschöpfen läßt. Aber sie hat etwas von der Konsequenz desjenigen, der, um ein Spiegelbild in seiner ungetrübten T atsächlichkeit zu genießen, das Licht auslöscht, durch das es erzeugt worden. Alle Voraussetzungslosigkeit steht eben, um selbst möglich zu sein, unter Voraussetzungen. Man beruft sich gern auf Newtons berühmtes „Hypotheses non fingo". In der Tat, es heißt bei Newton: „Quicquid enim ex phaenomenis non deducitur, hypothesis vocanda est; et hypotheses seu metaphysicae, seu physicae, seu qualitatum occultarum, seu mechanicae, in philosophia experimentali locum non habent." 1 Der Zusammenhang freilich, in dem diese Sätze sich finden, läßt über Newtons Absicht kaum einen Zweifel. „Die Schwerkraft gegen die Sonne setzt sich aus den Schwerkräften gegen die einzelnen Teilchen der Sonne zusammen und nimmt mit der Entfernung von der Sonne genau im quadratischen Verhältnis der Abstände bis zur Bahn des Saturn ab, wie aus der Ruhe des Aphels der Planeten hervorgeht, sogar bis zu den äußersten Aphelien der Kometen, wenn diese Aphelien in Ruhe sind. "2 „Aber den Grund dieser

Isaak Newton, Philosophiae naturalis principia mathematica, Scholium generale (Opera quae exstant omnia, Vol. III, London 1782, 174). 2 Gravitas in solem componitur ex gravitatibus in singulas solis particulas, et recedendo a sole decrescit accurate in duplicata ratione 1

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Eigenschaft zu gravitieren habe ich aus den Erscheinungen noch nicht ableiten können", - „et hypotheses non fingo. "3 Was Newton in diesen Sätzen ablehnt, ist eine bestimmte Art, naturwissenschaftliche Probleme zu stellen. Er will, nach einem scharfen, auf Galilei geprägten Wort, die Frage nach dem „warum" der Naturgegebenheiten zugunsten der Frage nach dem „wie" der Naturvorgänge vermieden wissen. Im Dienste jenes „Warum" seien hypothetische Annahmen auszuschalten. Im Dienste dieses „Wie" aber hat Newton Hypothesen erdacht, wie nur irgendeiner der großen Naturforscher vor und nach ihm. Oder sollte der Gedanke, daß das Galileische Gesetz des freien Falles der Körper zum Gesetz der Gravitation erweitert werden könne, anders denn durch eine „Hypothese" zu gewinnen gewesen sein? Konnten die Newtonschen Begriffe des „absoluten Raumes" und der „absoluten Zeit" - ganz abgesehen von ihrer geschichtlichen und erkenntnistheoretischen Bedeutung oder von ihrem sachlichen Wert für die Physik der Gegenwart - anders denn „hypothetisch" eingeführt werden? Wahrlich, man muß die Bedeutung des Wortes „Tautologie" weit ausdehnen, wenn es fähig bleiben soll, Newtons Gedanken von der Identität der Gesetzlichkeit des freien Falles und der Bewegung der Himmelskörper einwandfrei zu kennzeichnen. Werden bei Newton nicht Begriffe exponiert, die sich als Voraussetzungen von Tatsachen, d.h. in ihren Folgerungen bewähren sollen? Hat nicht auch er, gleich Leonardo da Vinci, Galilei und Kepler, eine bis dahin unanalysierte Erfahrung ,risolutiv' auf ihre Bedingungen hin geprüft und damit zugleich ,compositiv' aus diesen Bedingungen die kritisch analysierte, d.h. in ihrer Gesetzlichkeit ergriffene Erfahrung aufgebaut? Auch ihm galt es, wie sehr viel

distantiarum ad usque orbem Saturni, ut ex quiete apheliorum planetarum manifestum est, et ad usque ultima cometarum aphelia, si modo aphelia illa quiescant. Ibidem, 173 f. 3 Rationem vero harum gravitatis proprietatum ex phaenomenis nondum potui deducere et hypotheses non fingo. Ibidem, 174.

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später Gustav Kirchhoff, als Aufgabe der Mechanik, "die in der Natur vor sich gehenden Bewegungen zu beschreiben"; auch für ihn aber gilt der berühmte Nachsatz Kirchhoffs: „und zwar vollständig und auf die einfachste Weise zu beschreiben". 4 Dieser Nachsatz enthält alle die entscheidenden Hinweise auf jene Fülle der Bedingungen, denen das „Beschreiben" zu genügen hat. Sie erst sichern dem "Beschreiben" scharfe Umrisse; sie erst entrücken es dem subjektiven Bereich der Willkür oder des Zufalls, indem sie an dem Material der Beschreibung nach Grundsätzen eine Auswahl treffen; sie erst machen aus ihm eine Veranstaltung von gegenständlicher Bedeutung; sie erst gestalten es zu einem seiner eigenen Absichten bewußten Verfahren, zur „Grundlage" aller wissenschaftlichen Erfahrung oder platonisch gesprochen: zur Hypothesis. Dieser Begriff der Beschreibung ist eben dazu bestimmt, den der Naturwissenschaft zu definieren; darum verleugnet er auch nirgends deren Bedingungen. Und so dringt denn auch das Motiv der Wissenschaft, als Voraussetzung aller Voraussetzungslosigkeit der Forschung, dem Positivismus allenthalben aus den Poren und übertönt in heilsamer Inkonsequenz alles Rufen nach einer Philosophie der reinen „Tatsachen" und der tautologischen Sätze. Und so verfällt man denn auch selbst, gewiß sehr gegen die eigene Absicht, aber in strenger Konsequenz des sachlich unüberwundenen Begriffs der Forschung, allen vermeintlichen Fährnissen, die der kritische Aufstieg von den Tatsachen zu deren Bedingungen einzuschließen scheint. Man verfällt selbst der peinlich gemiedenen „Lyrik", indem man die anscheinend nichts voraussetzende Voraussetzungslosigkeit allein der „Würde" der Wissenschaft gemäß sein läßt. Das Problem der Gegenständlichkeit fordert eben als Wert sein Recht, wo man Wissenschaft als freie, nur ihren eigenen Bedingungen gehorchende Tathandlung des Forschers faßt. Als solche aber muß man sie fassen

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rede.

Gustav Kirchhoff, Vorlesungen über Mechanik, Leipzig 1876, Vor-

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können, wenn sonst im Begriff der Gegenständlichkeit auch die Idee eines sich am Gegenstande, d.h. frei gestaltenden Subjekts, die Idee der Persönlichkeit, beschlossen ist. Das Problem des Ansatzes, um nun darauf zurückzukommen, erschließt also den Ausblick auf eine umfassende Theorie des Urteils. Darunter aber ist natürlich weder eine Nominaldefinition des Urteils, noch auch eine Schilderung und Würdigung der Tatsache zu verstehen, daß im Urteil ein Gegenstand "ergriffen" wird, sondern eine Analyse der Frage, wie sich die Gegenstandsbezogenheit des Urteils in dessen Gefüge offenbart, wie das Urteil als Funktion der Gegenständlichkeit jenes Gegenstandsbezugs und damit seiner entscheidenden Beziehung auf die psychologische Tatsache des Vollzugs, also des Erlebens, überhaupt fähig wird. Aber auch die Aufgabe selbst muß, soll sie den Namen einer philosophischen Analyse verdienen, als Funktion der Gegenständlichkeit erkannt, als Forderung auf Grund des letztdefinierten Faktors der Gegenständlichkeit bestimmt sein. Unter solchen Gesichtspunkten hatten wir oben das Problem des "Ansatzes" ins Auge gefaßt; unter solchen Gesichtspunkten ihn als R~präsentanten der Inhaltsbestimmtheit, als Ausprägung der Uberschaubarkeit, also der Ganzheit, der Geschlossenheit des Urteils dargestellt; unter solchen Gesichtspunkten auch das unveräußerliche Recht der "Hypothese" erwogen. So gewiß Inhaltsbestimmtheit, also Ganzheit des Urteils, so gewiß auch "Ansatz" und Hypothese. Freilich, die Hypothese gehört gleichsam einer besonderen Dimension der Urteilsbestimmtheit an. Sie betrifft die Ganzheit des Urteils, sofern diese den Begriff des Zusammenhangs von Urteilen - man mag ihn als Schluß oder anders bezeichnen ausprägt. Denn die Ganzheit eines Urteils ist nichts anderes, als sein möglicher Zusammenhang mit anderen. Ein Urteil stellt sich nur dann als bestimmt dar, wenn es überschaubar, also in diesem Sinne "ganz", und als überschaubar, wenn es gegen andere abgegrenzt erscheint, wenn es grundsätzlich möglich ist, es zu anderen Urteilen in eindeutiger Beziehung stehend zu denken. Ein Urteil aber erhebt Anspruch auf Wissenschaftlichkeit, wenn sich in jenem Zusammenhang der Gegenstands-

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bezug - als Methode - zur Erörterung stellt. Das wissenschaftliche Urteil ist bestimmt vermöge seines methodischen, d.h. durchwegs gegenständliche Bezüge offenbarenden Zusammenhangs mit anderen. Es muß also von jedem Urteil zu jedem anderen dieses Zusammenhangs ein "Weg" führen. In diesem Weg bestimmt sich somit jedes der einzelnen in Betracht kommenden Urteile. Oder anders: Jener Weg allein - und man mag ihn ruhig im platonischen Sinn des Wortes "dialektisch" nennen - entscheidet über die Eindeutigkeit des Urteils. „Eindeutigkeit" gewinnt erst damit einen klar umrissenen Gehalt. Denn sie ist nun aus einer leeren Form zum Träger des Urteilssinns selbst geworden. Alle scheinbare Indifferenz gegenüber den gegenständlichen Bindungen des Urteils ist geschwunden. "Eindeutigkeit" erscheint nun als Korrelat der Methode. Sie erweist sich als Funktion der Bestimmtheit des Urteils, wenn man will: als Funktion des Urteilsinhaltes. Sie ist, wenn man das Wort richtig versteht, nunmehr relativ zu dem Urteilssinn, oder sie ist überhaupt nicht. Ebendarum sichert sie diesem gegenständliche, d.h. methodisch geklärte Valenz. Nicht als zwei getrennte Instanzen treten also Methode und Urteilssinn in die Erscheinung, als Instanzen, nur durch die übermächtige Gewalt eines gleichsam von außen her auf sie wirkenden Drucks künstlich zusammengeführt und zusammengehalten; sondern als zwei einander im Gedanken der Gegenständlichkeit, d.i. der Eindeutigkeit, wechselseitig bestimmende Bezüge. Und das wieder bedeutet nicht, daß jedes sinnvolle Urteil ohne weiteres auch schon methodische Bindungen erkennen lasse. Es besagt nur, daß es möglich sein müsse, den Sinnbestand jedes Urteils, genauer: das Urteil als Sinnbestand, der Frage nach seinen methodischen Bindungen zu unterwerfen. Der "Sinn" ist von vornherein "methodenhaft", wie die Methode von vornherein "sinnhaft". Kein Urteil daher, dem gegenüber es gleichgültig wäre, zu fragen, ob es für "wahr" zu gelten habe, d.h. ob sich in ihm - vermittelt oder unvermittelt - die Bedingungen einer Methode offenbaren. Daß Urteilssinn und Methode trotzdem unterschieden werden können, liegt an den psychologischen Bezügen des ersteren. Es liegt daran, daß

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der "Urteilssinn" zugleich den Tatbestand des Urteilsvollzugs, also den Bezug auf den Faktor "Ich" ausprägt, mit allem, was an eigentümlichen Bestimmungen zu ihm gehört. Aber auch an diesem Faktor erschließt sich wiederum nur - wir wissen es das Gesetz der Gegenständlichkeit. Auch der Begriff des „Subjekts" ist in jenem Gesetz beschlossen, das die angebliche Kluft zwischen "Subjekt" und "Objekt" in die wohldefinierte Beziehung des korrelativen Auseinandertretens verwandelt hat. So erscheint denn auch die immanente Methodenbezogenheit des Urteils nur als Ausdruck dieses Verhaltens. Und nun erst begreift man, warum das anscheinend rein psychologische Phänomen des "Ansatzes" das methodologische Grundproblem der "Hypothese" grundsätzlich in sich schließt. Hier liegen eben Beziehungen vor, die durch kein Schlagwort erschöpft werden können; Beziehungen, die hinter der Front alles „Tatsächlichen", d.h. im Bereich der Bedingungen seiner "Möglichkeit" zu suchen sind. In dieser Front entscheidet sich denn auch das Problem des Begriffs der Psychologie. Nicht als bezweifelte man ihre Beschäftigung mit „Tatsachen". Aber die grundsätzliche Eigenart dieser Tatsachen erschließt sich nur der Frage nach dem Verhältnis des Faktors "Ich" zu dem einzigen wirklichen "principium", zu der letztdefinierten Instanz der Gegenständlichkeit. Psychologie erweist sich als mit dieser Instanz gesetzt. Sie bedeutet die Wissenschaft, in der sich eine der Voraussetzungen des Begriffs vom Gegenstande entfaltet, nämlich die, um derenwillen es unerläßlich ist, den Gegenstand erlebbar zu nennen. Darum deckt sich in ihrem Bereich „Tatsache" allemal mit "Prinzip". Daher gibt es denn auch für eine Wissenschaft von den Prinzipien, d.h. für Philosophie, keinen Verzicht auf psychologische Bezüge. Das bedeutet nicht, wie man bei flüchtiger Kenntnis der Sachlage glauben könnte, den Versuch einer "Psychologisierung" etwa der Logik; nicht die Verwechselung psychologischer und logischer Gesichtspunkte, sondern die Einsicht in einen Sachverhalt, aus dem die Notwendigkeit eines Wechselbezugs der Begriffe „Logik" und "Psychologie" folgt. Es ist die Einsicht in das Gefüge der Geltung, die selbst nichts anderes bedeutet als

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„Gegenständlichkeit". Niemals also darf die Unterscheidung von Psychologie und Logik ein Mittel werden, Probleme von der einen Instanz zu der anderen hinüberzuschieben. Gleichwie der Begriff des Ansatzes gerade auch seiner ganzen psychologischen Realität und Inhaltsfülle nach zu der Theorie des Urteils gehört, so verknüpfen sich nicht minder „Ansatz" und „Hypothese" gemäß der Struktur des Urteils zu unlösbarer Einheit. Oder anders: Ansatz und Methode bedingen in ihrem notwendigen, d.h. im Begriff der Gegenständlichkeit geforderten Wechselbezug den Begriff der „Hypothese". Es ist darum durchaus in der Sache begründet und nicht etwa eine Angelegenheit des freien Ermessens, daß man dem „Ansatz" einen entscheidenden Anteil an dem Gefüge des Urteils einräumt. So ist denn auch die Frage der Hypothese nur von dem höchsten Gesetz der Sache her und nicht unter dem Gesichtspunkt eines wenn auch noch so sublimierten Begriffs der Nützlichkeit zu entscheiden. Gewiß, es leuchtet unschwer ein, daß manches auch in der Forschung - nützt und vieles schadet. Ob aber die Antwort auf die Frage, ob Nutzen Erkenntnis bedeutet, selbst Nutzen bringt oder aber als unnütz beiseite geschoben zu werden verdient, ist doch wohl von jener Antwort selbst unterschieden. Manches hiervon ist sicherlich schon oft und man darf wohl sagen auf klassische Weise ausgesprochen worden. Dennoch muß es wiederholt werden, solange man nicht aufhört, sein Gegenteil zu wiederholen. Es versteht sich nun nach allem, was vorausgegangen, von selbst, daß der Begriff des Ansatzes weit mehr bedeutet als einen polemischen Gesichtspunkt in der Auseinandersetzung mit älteren und neuesten Abarten des Positivismus. Er gewinnt demgemäß eine weit über alle Kritik des Positivismus hinausgreifende grundsätzliche Bedeutung. Denn hat man erst einmal eingesehen, daß unter „Ansatz" nicht ein Ereignis zu verstehen ist, sondern ein zeitbezogener Relationstatbestand, in dem sich die Forderungen der Gegenständlichkeit erfüllen, so hat man seine schlechthin universelle erkenntnistheoretische Bedeutung begriffen. Gehört er zu den wesentlichen Bestandteilen einer Theorie des Urteils, so kann

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dieser Theorie niemals vorgehalten werden, sie bleibe im "Formalen" stecken und eine wirklich philosophische Behandlung des Problems habe sie zunächst einmal zu „überwinden". Es gibt keine größere Inhaltsfülle als die, die der Gedanke der Gegenständlichkeit fordert. Denn nur von ihm aus wird der Begriff des „Inhalts" überhaupt erst möglich. Fordert man also allem „Formalismus" gegenüber eine Philosophie der „Inhalte", so fordert man eine Auseinandersetzung mit dem Problem der Gegenständlichkeit. Verfährt man aber ohne Rücksicht auf dieses letztere, dann wird Philosophie zu einer Heerschau beliebig aufgeraffter Gegenstände. Nun geht man denn auch in rascher Befriedigung methodisch unkontrollierter „Bedürfnisse" darauf aus, Gegenstände „hinter" den Gegenständen zu suchen, um damit deren „Sein" recht eigentlich erst zu verbürgen; nun wird alles, weil ich mich darauf zu „richten" vermag, zum „Gegenstand", der Gegenstandsbereich, da ich doch stets imstande bin, mich auf „alles" zu richten, unkritisch und nach Gutdünken erweitert und damit jede methodische Analyse des Gegenstandsgedankens abgeschnitten. Ungehemmt redet man nun von "wesenhaften" Bestimmungen, in ihrem zeitlosjenseitigen Bestande unantastbar und unveränderlich, aber trotzdem oder vielleicht gerade darum einer besonderen Art der Erkenntnis zugänglich. Sie ist Erkenntnis und doch auch wieder keine. Sie ist Erkenntnis unter der zum mindesten merkwürdigen Voraussetzung, daß alle Bedingungen gegenständlichen Erkennens vorerst sorgfältig abgeblendet werden. In diesem Zeichen berühren sich trotz ganz verschiedener persönlicher, geschichtlicher und sachlicher Voraussetzungen die heterogensten Lehrmeinungen, der Positivismus jeder Färbung, die Phänomenologie und Gegenstandstheorie aller Abarten und Nuancen, schließlich die Metaphysik aller Grade und Schattierungen. Denn keine dieser Richtungen gewinnt, wenigstens in der Konsequenz ihrer Problemstellung, zu der grundlegenden Frage nach dem Recht ihrer eigenen Position ein Verhältnis. Alle „setzen" Objekte, alle „finden" Objekte „vor"; keine aber erörtert das Problem des Objekts, wenn darunter die Frage nach dem Recht verstanden werden darf,

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den Begriff des Objekts einzuführen, also die Frage nach dem Gefüge dieses seines Begriffs. Alle freilich erheben für ihre Setzungen und Feststellungen höchste Ansprüche, sowohl in bezug auf deren Inhalt, wie auf deren Gewißheitswert, - die einen, weil ihre Gegenstände alles im Dasein zu erhalten bestimmt sind, was sich sonst in „Wissenschaft" und „Leben" Gegenstand nennt, die anderen, weil sie ihre Ergebnisse Überlegungen zu verdanken glauben, die jeden Zweifel auszuschließen scheinen, manche wieder, weil sie sich von jedem Schein grundsätzlich „tatsachenfremder", also prinzipiell in die Irre führender Überlegungen fernhalten. Damit hängt es denn auch zusammen, daß sowohl die „Setzung" als auch das „Vorgefunden-" bzw. das „Gegebensein" des Objekts je nach dem, besonderen Neigungen entsprechenden Ziel des Beweisgangs sehr verschiedene und doch auch wieder sehr verwandte Bedeutungen annehmen. In einer Hinsicht aber kommen sie geradezu überein: sie beanspruchen für sich einen schlechthin absoluten Sinn. Jede Frage nach ihrem Recht wird grundsätzlich ausgeschaltet, indem diese von vornherein in das Objekt hineingelegt, vom Objekt gleichsam aufgesogen wird. Was einer kritischen Analyse als Mangel erscheint, wird hier in den Begriff des Gegenstandes selbst aufgenommen und damit scheinbar unschädlich, ja zu einem rühmenswerten Vorzug. In Wahrheit freilich brechen die Gefahren, die einem nicht-kritischen, seines eigenen Rechts nicht bewußten Begriff des Gegenstandes von dem Problem der Methode her drohen, auf Schritt und Tritt durch. Denn es gibt keine mit dem Anspruch auf schlechthinnige Verbindlichkeit, ja auch nur mit irgendeinem Anspruch auftretende Lehre von dem im eigentlichen Sinn philosophischen Gegenstand, dem Övrwc; öv, die sich nicht gezwungen sähe, auf ihre Methode zu reflektieren, indem sie sie anderen Methoden gegenüber abzugrenzen sucht. Gewiß wird sie dabei ihre Methode schließlich doch immer nur als Funktion, gleichsam als Derivat ihrer Gegenstände auffassen können. In der Praxis der Argumentation aber läßt sie sie doch stets wieder den Gegenständen als relativ selbständige Instanz gegenübertreten: sie vermag von der Methode nur zu sprechen,

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indem sie sie von dem durch sie zu Erfassenden und zu Bewältigenden unterscheidet. Da es nun an einem Prinzip solcher Unterscheidung notwendig gebricht, wo man einer Analyse des Begriffs vom Gegenstande grundsätzlich ausweicht, also nur „Gegenstände", natürlich auch philosophische Gegenstände, anerkennt, nicht aber auch ein Problem vom Gegenstande, so muß jener Unterschied sich alsbald zu einem Abstand vertiefen, den zu überbrücken nach Lage der Dinge alle Mittel fehlen. So treten sich denn Methode und Gegenstand abermals als zwei im letzten Grunde getrennte Instanzen gegenüber und die Frage, kraft welcher Voraussetzungen die Methode den Gegenstand bezwingt, erhebt sich aufs neue in ihrer ganzen Wucht und Größe. Das aber bleibt natürlich nicht ohne weitreichende und bedeutsame Folgen. Sie konzentrieren sich besonders eindrucksvoll auf einen oft übersehenen Punkt. Wenn von definierenden Bedingungen des Gegenstandes nicht die Rede sein darf, und man sich den Ausblick auf die Methode, wie sie das Verhalten des Gegenstandes nun einmal widerspiegelt, dennoch überall offen halten muß, dann bleibt kaum ein anderes übrig, als Formeln zu erdenken, die beiden Bedingungen genügen. Sie werden zwar auf den Begriff der Methode abgestimmt sein müssen, den von allen Bezügen auf diesen Begriff unabhängig zu fassenden Gegenstand aber doch nie aus dem Auge verlieren dürfen. Die Problemkreise verdoppeln sich nun gleichsam: Man hütet sich ängstlich davor, der Logik eine den Gegenstand bestimmende Funktion einzuräumen, muß sich aber dennoch dazu verstehen, Beziehungen anzusetzen, die zwar den Stempel der Logik noch an sich tragen, der Logik gegenüber aber wiederum die Färbung des Gegenstandes annehmen. Man ersinnt also neben den „formalen" und ,,logischen" auch noch andere, etwa „ontologische", „Kategorien", die kritisch unkontrolliert, daher nach subjektiven Maßstäben beliebig vermehrbar, das Problem des Gegenstandes ebensowenig bewältigen können, wie etwa jene Gegenstände höherer und höchster Ordnung, deren Aufzählung und Beschreibung für viele den Bestand der wissenschaftlichen Philosophie verbürgen und erschöpfen soll. -

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Es regten sich oben Bedenken dagegen, „hinter" den Instanzen, die in Wissenschaft und Leben „Gegenstände" genannt werden, noch andere Gegenstände als spezifische Gegenstände der Philosophie anzusetzen. Allein, hätte man nicht gerade dadurch dem oben diskutierten Begriff des „Ansatzes" Genüge getan? Bekennte man sich also nicht gerade damit zu dem kritisch eingeführten Begriff der „Hypothese"? Die Antwort auf diese Fragen darf nach allem, was vorausgegangen, kurz ausfallen. Der Begriff des Ansatzes gewinnt seinen definierten Sinn von dem der Gegenständlichkeit. Gegenständlichkeit aber fordert, gerade als Ansatz, „Inhalt"; und Inhalt bedeutet von der Seite des Erlebenden, d.h. wieder unter einem im Gegenstandsgedanken selbst vorgebildeten Gesichtspunkt aus beurteilt, „Gegebenheit". Gegebenheit hat somit in der Gegenständlichkeit ihr notwendiges Korrelat. Daher kann von „Ansatz" im kritischen Sinn nur unter der Voraussetzung des Begriffs der Gegebenheit die Rede sein. Niemals wird also ein Ansatz das Problem der Gegebenheit ausschalten können. Und das eben wäre der Fall, wenn in „philosophischer" Absicht ein Ansatz gemacht, und dabei die Frage nach dem Begriff des Gegenstandes doch grundsätzlich umgangen würde. Dieser Fall aber liegt vor, wo man an die Stelle der Erörterung des Problems der Gegenständlichkeit, d.h. an die Stelle einer Erörterung des Rechtes jeglichen Ansatzes, unbemerkt selbst wieder Ansätze treten läßt, d.h. Gegenständlichkeit mit Gegenständen verwechselt. So berühren sich in der tiefsten Problemschicht, gewiß sehr gegen die Absicht ihrer Urheber und natürlich auch ganz ohne ihr Zutun, jene positivistische Philosophie der „Tatsachen" und die auf jegliche Rechtsfrage grundsätzlich verzichtende Setzung „philosophischer" Gegenstände. Noch einmal: Diese Gemeinschaft verträgt sich aufs beste mit gegenseitiger schärfster Ablehnung. Gerade in solcher Zwiespältigkeit aber offenbart sich mit besonderem Nach druck jenes nur der Philosophie eigentümliche Verhalten, jede anscheinend noch so schroffe systematische Spannung auf dem Hintergrund ihres eigenen Problems zu lösen, jeden noch so großen zeitlichen Abstand auf jenem Hintergrund zu über-

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brücken. Das bedeutet nicht eine Vermengung der sachlichen Gesichtspunkte mit quellenmäßig historischen Feststellungen und eine Sünde wider den Geist der Geschichte. Es liefert im Gegenteil die Voraussetzungen, den systematischen Bestand der wissenschaftlichen Philosophie methodisch zu gliedern und ihre geschichtlich bedingten Erscheinungsformen gegeneinander klar abzuwägen. Wie Philosophie systematisch immer sich selbst zur Aufgabe haben wird, so ist Geschichte der Philosophie stets Problemgeschichte. Man verleugnet diese Einsicht, wenn man es sich grundsätzlich versagt, auf den Gedanken der Rechtfertigung, und damit auf die systematische Würdigung des Begriffs vom Gegenstande methodisch einzugehen.

III. PSYCHOLOGIE, PHÄNOMENOLOGIE

Auch das eben erzielte Ergebnis nun führt uns zurück in die Bahn unserer eigentlichen Untersuchung. Gegenstände, die aus dem Problembereich der Gegenständlichkeit prinzipiell ausgeschlossen werden sollten, - etwa deshalb, weil ja schließlich doch auch Gegenständlichkeit selbst nur für einen "Gegenstand" unter anderen Gegenständen zu gelten hätte, einen Gegenstand, auf den ich mich gegebenenfalls ebenso zu "richten" vermöchte, wie auf jeden sonst, entbehren eines klar umschreibbaren Verhältnisses zum Begriff der Erkenntnis. Gewiß, diese Konsequenz schreckt nicht jeden. Aber vielleicht schließt sie doch Elemente in sich, die manches zu denken geben. Wer von philosophischen Gegenständen redet, ohne das Kriterium der Gegenständlichkeit im Sinne einer letztdefinierten Instanz zu sehen und sehen zu wollen, der verfällt, auch wenn das seinen Absichten noch so radikal zuwiderläuft, den Fährnissen des Psychologismus. Denn er nennt "Gegenstand" nur das, worauf ich mich eben zu "richten" vermag; der Gegenstand bestimmt sich ihm also grundsätzlich von der Tatsache des Erlebens her. Damit aber hat er bemerkenswerter Weise auch auf eine grundsätzliche Bestimmung des Begriffs der Psychologie verzichtet, dessen Recht nur von dem der Gegenständlichkeit, d.h. von einer Theorie des Urteils her, erweisbar wird. "Gerichtet-Sein" ist zunächst freilich nur ein Bild und drückt eine "beobachtbare Tatsache" aus. Für den Erkenntnistheoretiker aber gewinnt diese Tatsache einen methodisch greifbaren Gehalt durch die Frage, wie sie sich wohl zu dem Problem des Gegenstandes verhalten mag. Es ist die Frage, wie das "Meinen", weiterhin das "Meinen des Meinens" und damit das "Meinen" meiner selbst, mit dem Begriff des Gegenstandes gesetzt sei. Sie erst stellt auch die Eigenart der psychologischen "Tatsache" zur Erörterung, deren

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nicht etwa nur äußerlich abgelesenes, sondern in seinen definiert letzten Motiven durchschautes Verhältnis zu den „T atsachen" der Natur, sodann aber zu jenem Tatsachenwert von besonderer Einzigartigkeit, der als Ich in jedes Erlebnis eingeht. Denn die psychologische Tatsache hat nicht die Einzigartigkeit etwa des geschichtlich Tatsächlichen oder des mathematischen Gegenstandes. Ihr eignet vielmehr die dimensionierte Einzigartigkeit der µ,ovoa;, die nicht eine undefinierte Substanz hinter dem „Ich" bedeutet, sondern dessen erkenntnistheoretische Struktur ausprägt und sich so als Möglichkeitsbedingung für die Bestimmtheit des Gegenstandes darstellt. Freilich, auch geschichtlicher Gegenstand und µ,ovca; stehen nicht beziehungslos nebeneinander. Der Gegenstand „ist" - als Gegenstand - unabhängig von „mir". D.h. sein Begriff schließt im Hinblick auf diese seine Unabhängigkeit einen eigentümlichen Bezug auf „mich" ein. Das „Sein" des Gegenstandes unabhängig von der Tatsache seines Erlebtseins fordert also die Tatsache eben dieses Erlebtseins, bzw. Erlebtwerden-Könnens. Nur was sich der allgemeinen Bedingung der Erlebbarkeit, also der allgemeinen Bedingung des „jetzt", d.h. der dem Erleben eigentümlichen Zeitbestimmtheit, fügt, ist möglicher Gegenstand. Daß nun aber kein Gegenstand dem anderen gleicht, ist nicht sowohl eine Tatsache, als vielmehr eine Voraussetzung der Erfahrung, eine Voraussetzung für die „Gegebenheit" ihrer Gegenstände. Als solche genügt sie natürlich auch der Bedingung, einem Erlebnismittelpunkt zuzugehören, mithin der Bedingung der µ,ov&c;. Ja mehr noch: diese Bedingung ist die Rechtsquelle jener Voraussetzung. Daß der Gegenstand sich von jedem anderen unterscheidet, drückt nur auf besondere Weise aus, daß er seinem Begriff nach erlebbar ist. Die Begriffe der Bestimmtheit und der Notwendigkeit einer Bestimmung des Gegenstandes erweisen sich als wechselbezogen. Oder anders: Der Gegenstand ist in solchem Wechselbezug konstituiert. Es ist der Wechselbezug zwischen Methode und µ,ov&c;. Dabei ist nicht an eine Verbundenheit zweier im übrigen gegeneinander abgehobenen, gleichsam in rerum natura unterschiedenen Faktoren zu denken, sondern an zwei vonein-

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ander abhängige Gesichtspunkte, die eben darum immer nur in ihrer funktionalen Gemeinschaft auftreten. Der Gegenstand bedeutet Bestimmtheit und Bestimmbarkeit zugleich in wechselseitiger funktionaler Gemeinschaft. Seine Bestimmtheit ist daher immer individuell, weil sich in der Bestimmbarkeit die Monadizität eines Erlebnismittelpunktes ausprägt. So unterscheiden sich zwar das gegenständlich Individuelle - "dieser", von allen übrigen unterschiedene Gegenstand - und die Individualität des Erlebens. Der Gegenstand bleibt auch für sich selbst, d.h. unabhängig von der besonderen Form der Tatsächlichkeit des Erlebens betrachtet, einzig und individuell. In den tiefsten Schichten des Problems aber erweisen sich individueller Gegenstand und monadische Bestimmtheit des Erlebens als unaufhebbar verbunden. Erst in solchem Zusammenhang klärt sich nun der Begriff der psychologischen Tatsache. Es ist die "Tatsache", daß Psychisches nie ein Ergebnis der Summation, also nie eine "Menge" bedeuten, daß seine Identität mit sich selbst niemals als Größenwert erscheinen könne; die „Tatsache", daß Psychisches jeweils als ein „Intensives" bestimmt und in irgendeiner Hinsicht der Kennzeichnung im Sinne der „Schwelle" zugänglich sein müsse. Alles das aber bedeutet wieder nur, daß es im Psychischen kein „Teile" gibt, daß in allem Begrenzten das „Ganze" lebt, daß alles im Erleben Ganze, weil es begrenzt ist, über sich selbst zu immer weiterer Ganzheit im Erleben hinausweise, daß mithin die Diskretheit des Erlebten immer auch der Aufhebung aller Diskretheit in einem übergreifenden Kontinuum gleichkomme. Diese ewig über sich selbst hinausweisende, nie abschließbare Bewegung zum Ganzen hin, dieses Ineinander von Diskretheit und Kontinuum im Erleben heißt Ich. Gewiß wird es auch in jenem "Gerichtetsein" auf den Gegenstand ergriffen. Allein es entbehrt der theoretischen Klarheit, solange es nicht gelingt, in dem Faktor "Ich" ein notwendiges, dabei jeden "Psychologismus" ausschließendes Korrelat des Gedankens vom Gegenstande überhaupt aufzuweisen, das „Erleben" als eine in jenem Gedanken selbst gelegene Forderung, nicht aber als dessen Ersatz zu begreifen.

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Man „überwindet" den Psychologismus nur durch eine restlose Klärung des Begriffs der Psychologie, nicht aber dadurch, daß man immer wieder beteuert, nur auf den Gegenstand achten zu wollen, während man ihn zugleich durch jene Tatsache des „Sich-auf-ihn-richten-Könnens" allein bestimmt sein läßt. Daß der undefiniert eingeführte Begriff des Gegenstandes eines klar umrissenen Verhältnisses zu dem der Erkenntnis entbehrt, bedeutet also, daß keine Bedingung angegeben werden kann, die ihn mit anderen Gegenständen in der systematischen Gemeinschaft einer letzten Beziehung verbindet; einer Beziehung, die seinen Anspruch darauf, Gegenstand zu heißen, allererst begründen würde. Die Gegenstände erscheinen nun gegeneinander grundsätzlich und unaufhebbar isoliert ganz gleich, ob das in der „Praxis" der Forschung greifbar hervortritt oder nicht. Ja, man muß um der Vollständigkeit willen und zur Vermeidung jedes Mißverständnisses sofort noch hinzufügen: Auch diese Isolierung selbst entbehrt eines Prinzips. Auch sie also verharrt in grundsätzlicher Unbestimmtheit. Gewiß, die geschichtlich gegebene Arbeit des Forschers zieht diese Konsequenz - um es nun noch einmal auszusprechen - nicht; sie wird allenthalben durch die Erkenntnispraxis übertönt. Man nennt manche der „philosophischen" Gegenstände, deren Reich sich als Welt des wesenhaften Seins nur der „Schau" oder dem „ontologischen" Denken erschließen soll, „individuell", andere „allgemein". Man redet, in der Mehrzahl, von Dingen „hinter" den Dingen. Aber die Frage nach dem Recht solcher Rede bleibt unbeantwortet. Warum gelten auch in diesen Sphären des wesenhaft Wirklichen Zahl und Zählung? Wie kommt wesenhaft Wirkliches dazu, sich in die Kategorien des „Individuellen" und des „Allgemeinen" einfangen zu lassen? Wie ist die Gegebenheit jener philosophischen Dinge zum Unterschied von jeder anderen Gegebenheit - nicht etwa nur benannt - sondern analytisch, d.h. in ihren Bedingungen definiert? Man hält diese und verwandte Fragen für unberechtigt. Sie mögen es sein. Aber weshalb sind sie es? Und woher nimmt man die Kraft, eine Frage für unberechtigt zu erklären, wenn man dem Begriff

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des Rechts in der Philosophie entweder überhaupt keine Stätte zu gewähren, oder aber ihn nur im Schatten des „philosophischen" Gegenstandes, d.h. als sekundäre Instanz zu sehen vermag? Offenbar drohen hier bloße Analogien aus dem Bereich einer „ein"- bzw. „auszuklammernden" Sphäre die Welt des wirklichen Seins bedenklich zu überschatten. Natürlich werden dabei „Phänomenologie" und „Metaphysik" klar auseinandergehalten. Es wird zunächst nicht bezweifelt, daß sich Phänomenologie um die sachgemäße Unterscheidung bestimmter „Gegebenheiten" verdient gemacht, und noch viel weniger verkannt, daß sich die gesamte philosophische Entwicklung - man darf sagen - von Jahrtausenden im Zeichen metaphysischer Fragestellungen vollzogen habe. Aber gerade weil Metaphysik so zum festen Bestande philosophiehistorischer, vor allem auch problemgeschichtlicher Forschung gehört, stellt sich die Frage nach ihrem Verhältnis zum systematischen Grundbegriff der Rechtfertigung als definiert letzter Instanz in immer schärferen Umrissen zur Erörterung. Am allerwenigsten verfallen natürlich metaphysische Realitäten und phänomenologische „Wesen" einer Verwechslung. Jene, so weiß man, stehen in „Klammern", wo von diesen die Rede ist. Nur sehen sich Phänomenologie wie Metaphysik, wenn auch aus nicht ganz übereinstimmenden Gründen, den gleichen Schwierigkeiten gegenüber, wenn sie den letztlich unvermeidlichen Versuch machen, methodische Rangverhältnisse zwischen den Wissenschaften zu erörtern und damit ihren eigenen Ort in einem System der Wissenschaften zu bestimmen. Beide gliedern den Begriff der Gegebenheit nach Schichten und Wirklichkeitssphären, ohne doch über ein definiertes Prinzip solcher Gliederung zu verfügen, das immer nur einer methodischen Analyse des Begriffs der „Gegebenheit" selbst entspringen kann. Der Phänomenologe wird freilich auch diese Gliederung wieder für ein Ergebnis unmittelbarer Wesensschau erklären. Indessen man erkennt leicht, daß sich hier im Grunde genommen die gleichen Schwierigkeiten ankündigen, wie bei der grundsatzlosen Verallgemeinerung des Begriffs „Gegenstand". Man kann gewiß jede Erkenntnis als auf Wesensschau

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beruhend auffassen, also auch die Einsicht in alle Unterschiede des gegenständlichen Gewißheitsgrades, des Geltungsanspruchs und der Geltungsart. Man stößt auf „wesensmäßige" Unterschiede zwischen Apriori und Aposteriori; nicht minder „wesensmäßig" ist auch deren Wechselbezug und W echselbedingtheit; „wesensmäßig" sicherlich auch, daß dem Unterschied der Wissenschaften der Begriff der Geltung der Sache nach vorausgeht, „wesensmäßig", daß sich in jenem Unterschied das Prinzip des Urteils mannigfach gliedert und abwandelt: man „schaut", worin sich das „ist" im mathematischen, von dem des physikalischen, des biologischen, des geschichtlichen und des - phänomenologischen Urteils unterscheidet. Erfaßt doch gerade durch diese Schau der Phänomenologe seinen Abstand von dem Biologen, dem Physiker, dem Historiker. Also, schließt oder vielmehr „schaut" man, seien Gegenständlichkeit und Geltung selbst geschaut und nur als Geschautes zu werten. Man täuscht sich. Denn wer Gegenständlichkeit und Geltung in dem ganzen Umfang ihrer Gliederung „erschaut", der schaut etwas, das nicht nur insofern ein anderes ist, wie dieses „Schauen" selbst, als es eben geschaut wird; sondern vor allem auch insofern, als es die Tatsache des Schauens selbst bedingt. Gewiß, so wird man belehrt, jenes „Schauen" ist nicht einfach psychische Tatsache. Denn es „ideiert", es schaut „Wesen". Schon bei dem leisesten Versuch aber, seinen Abstand von der einfachen psychischen Tatsache zu bestimmen, wiederholt sich das ganze System von Fragen, ohne daß damit doch das Recht der Feststellung erschüttert wäre, daß auch das „ideierende" Schauen als Tatsache „ist", als Methode bestimmt zu sein beansprucht, und Ergebnisse zeitigen will, die keinem Zweifel unterliegen sollen. Aber was sind Zweifel und Gewißheit natürlich nicht ihrem deskriptiv psychologischen Bestande nach oder in ideierend wesensmäßiger Beschreibung? Weich es ist ihre Rolle im System der Erkenntnis, welches ihr Verhältnis zum Problem der Methode? Diese Fragen müßte beantworten können, wer Zweifel grundsätzlich beseitigen und grundsätzlich Gewißheit begründen will. Vermag es der Phänomenologe? Nicht „Schauen oder Nicht-Schauen" ist eben hier die

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Frage, sondern ob sich in dem Geschauten ein principium, eine letztdefinierte Instanz ausprägt. Nicht grundsätzlich isolierte „Wesen" gilt es zu suchen, die aus wesenhaftem Zufall zusammenpassen oder sich ausschließen, sondern die Besonderheit von Bedingungen aufzudecken, vermöge deren von Zusammenhang und Isolierung, von „Wesen" und deren Funktion überhaupt erst die Rede sein kann. Es sind Erwägungen über den kritischen Begriff der Gegenständlichkeit, über die kritisch gefaßte Idee der Methode. Mit peinlicher Sorgfalt trennt der Phänomenologe das Erschaute von dem vermittelt Erschlossenen. Allerdings bekennt er sich damit zu einer Unterscheidung, die dem möglichen Argument, auch Gegenständlichkeit sei nur „Geschautes", im Prinzip schnurstracks zuwiderläuft. Nicht freilich als wäre Gegenständlichkeit „erschlossen"; - sondern deshalb, weil man etwas, was von jedem konkreten Erlebnis unabhängig zu gelten beansprucht, neben der schauenden Ideierung bestehen läßt. Warum eigentlich ist nicht auch das Vermittelte und Erschlossene „geschaut"? Die Dinge liegen hier in gewisser Hinsicht, wie bei dem viel berufenen Terminus „Erleben". Man unterscheidet das Erleben vom Erkennen vielfach nur, um ihm mit selbstverständlichem Schwung einen höheren Rang einzuräumen als diesem. Aber man überhört gern die Frage, ob und weshalb nicht auch „Erkennen" so viel bedeute wie „Erleben"? Genauer besehen steht hinter diesen und verwandten Schwierigkeiten eine grundsätzliche Unklarheit hinsichtlich des Ausdrucks „Wesen". Die kritische Analyse sieht sich hier mit besonderer Eindringlichkeit auf Fragen verwiesen, die in anderem Zusammenhang schon aufgetaucht waren. Unterliegen denn auch „Wesen" einer Ordnung? Nach welchem Prinzip? Sind auch „Wesen" aufeinander bezogen? Wie können Wesen als Angriffspunkte für Beziehungen gelten? Man glaube nicht die Bedenken beseitigt zu haben, indem man auch Beziehungen „Wesen" sein läßt und zum Zeichen dessen die sie ausdrückenden Verbalformen in substantivierte Infinitive verwandelt. Denn sofort werden auch diese Infinitive zum Anlaß, die alten, lästigen Fragen zu wiederholen. Warum eigentlich deckt sich

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das Ergebnis meines „Schauens" mit dem eines „anderen"? Nun, so sagt man, weil wir doch beide „Wesen" schauen. Warum aber sind Wesen von „vielen" schau bar? Ja warum sind sie es überhaupt? Sind auch die Schauenden phänomenologisch verstandene „Wesen"? Man kann vielleicht das Recht solcher Fragen unter phänomenologischen Voraussetzungen bestreiten. Dann aber verzichte man auch darauf, für sein eigenes Verfahren methodische Charaktere in Anspruch zu nehmen, sei es nun, daß man seine Kompetenzen gegen diejenigen anderer Forscher sorgsam abgrenzt, sei es, daß man für sich allein philosophische Wissenschaftlichkeit in Anspruch nimmt. Woran überhaupt erkennt man im konkreten Sonderfall, daß man Wesensschau getrieben und Wesen schauend ergriffen habe? Gewiß, von „Kriterien" darf auf dem Boden der Wesensforschung - in überraschender und doch auch wieder leicht erklärlicher Gemeinschaft mit den extremsten Formen des Positivismus - nie die Rede sein. Aber man lehrt doch wohl, im engeren und weitesten Sinne dieses Wortes, W esensforschung. Da kann es denn kaum ausbleiben, sich darüber Rechenschaft geben zu müssen, ob wohl der Partner sein Ziel erreicht habe oder nicht. Man kann ihn freilich immer nur an „Wesen" heranbringen und muß das „Schauen" dann ihm allein - methodenlos und kriterienfrei - überlassen. Warum aber setzt man voraus, daß sich dieses Heranbringen des anderen an das von mir geschaute Wesen als „Beschreibung" vollziehen kann? Warum nimmt man an, Geschautes so beschreiben zu können, daß „andere" das gleiche ideierend zu schauen vermöchten. Ja - man verzeihe diese triviale und doch in die Tiefen des ganzen Problemkreises hinabreichende Frage - wer sind die anderen? Psychologisch-biologisch charakterisiert und so als Gegenstände phänomenologischer Forschung einer erbarmungslosen Ausklammerung verfallend, und dennoch in einer merkwürdigen Harmonie auf Wesen gerichtet, Wesen meinend, berührend, ergreifend, aber nicht bestimmend. Und um es noch einmal einzuflechten: Man führt, natürlich ohne Begründung und Rechtskriterium, ganz wie es der Sinn des eigenen Vorhabens verlangt, die Begriffe „individueller" und

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„nicht individueller" Wesen ein. Ist man aber auch wirklich sicher, mit dieser Unterscheidung streng im Bereich der Wesensschau verblieben zu sein, d.h. keiner ausgeklammerten Instanz Eingang in die verbotenen Gefilde des Wesenhaften gewährt zu haben? Alles das freilich stellt wieder nur den Begriff des „Wesens" zur Erörterung. Und eben darum drängt es, hier eine weitere, entscheidende Frage zu stellen. Ideierendes Schauen und Naturforschung fallen vom Phänomenologen aus besehen weit auseinander, so weit, daß auch der leiseste Schein einer Verwechselung beider Gebiete peinlichst vermieden werden muß. Das nun, um dessentwillen N aturforschung getrieben wird, heißt Naturgesetz. Dabei ist es vorerst gänzlich gleichgültig, ob man dem Naturgesetz eine die T atsachen „beherrschende" oder eine sie nur „beschreibende" Funktion beimißt. Auf keinen Fall deckt sich von dem Standort des Forschenden aus gesehen der Tatsachenbestand ohne weiteres mit dem Naturgesetz, obwohl das Tatsächliche erst im Naturgesetz und durch das Naturgesetz seine Bestimmtheit als Tatsache erlangt. Fällt z.B. ein Körper im leeren Raume nicht mit einer dem Galileischen Gesetz entsprechenden Beschleunigung, so liegt auch die „Tatsache" des freien Falles nicht vor. Sind nun auch Naturgesetze „Wesen"? Manches drängt dazu, die Frage zu bejahen, vor allem, daß das Naturgesetz, vorsichtig ausgedrückt, nicht in demselben Sinne „Tatsache" genannt werden könne, wie die Tatsachen, auf die es sich bezieht. Es wird gleichsam durch diese Tatsachen hindurch „geschaut". Andererseits aber besäße es ohne den Bezug auf diese Tatsachen selbst keinen Bestand. Sie sind in ihm mitgedacht. Wie nun steht es in diesem Fall um die phänomenologische Ausklammerung des Empirischen? Es wird schwerfallen, sie durchzuführen und man wird um eine bedenkliche Interferenz mit der positiven Forschung kaum herumkommen. Hält man dagegen Naturgesetze nicht für „Wesen", dann wird man Gefahr laufen, das Naturgesetz und die Tatsachen, auf die es sich bezieht, zusammenfallen zu lassen und damit zu Konsequenzen geführt, die Sinn und Funktion des Naturgesetzes ernstlich in Frage zu stellen drohen. Faßte man aber das

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Naturgesetz als eine Art von Zwischeninstanz, ein µtaov, zwischen dem Bereich der Tatsachen und der Sphäre der Wesen, so wiederholten sich nur, und zwar in verschärftem Maße, alle bisher erwogenen Schwierigkeiten. Es war oben schon nach der Möglichkeit von Beziehungen zwischen den einzelnen „ Wesen" gefragt worden. Die Frage darf nun klarer dahin formuliert werden: Gibt es ein System der „ Wesen", etwa ein „ Wesen", das Wesen aller anderen ist? Die Frage bedeutet ein Korrollar zu den Bedenken, die sich an den Begriff einer grundsätzlichen Isolierung der „Wesen" knüpfen mußten; zugleich aber auch einen gewissen Beitrag zur Erörterung des Verhältnisses zwischen Wesensforschung und „Kriterium". Denn ob es auch ein Wesen vom Wesen gebe, bedeutet auf dem Boden der Wesensforschung die Frage nach einem Kriterium der Wesensschau. Man steht hier vor einem keineswegs bedeutungslosen Dilemma. Gibt es nämlich auch vom Wesen Wesen, so gibt es auch eine Instanz, die, jenseits der Wesen stehend, über die W esenhaftigkeit eines Bestandes entscheidet. Das aber schlüge in das Gemäuer der Wesensforschung eine breite Bresche: ihr Gegenstand geriete in bedenkliches Wanken. Er hörte auf, die Voraussetzungen zu erfüllen, vermöge deren die Wesensforschung „Grundwissenschaft" sein und sich in schlechthinnigem Abstand von allen bedingten Gegebenheiten entfalten sollte. Dabei gelingt es auch nicht, das allen Wesen übergeordnete Wesen als eine definiert letzte Instanz zu erweisen, und damit die Wiederholung der Frage nach seinem Wesen grundsätzlich zu vermeiden. Möglich immerhin, daß jenes Wesen aller Wesen zu diesen in einem prinzipiell ganz anderen Verhältnis steht, als die Wesen selbst zur ausgeklammerten Erfahrung. Allein, so lange man nicht in der Lage ist, über die Besonderheit dieses Verhältnisses etwas Positives auszusagen, entbehrt die genannte Möglichkeit jeglicher wissenschaftlichen Bedeutung. Aber auch der zweite Fall führt nicht weiter. Gibt es nämlich von Wesen kein Wesen, dann werden alle bereits oben erwogenen Schwierigkeiten unmittelbar greifbar: Die grundsätzliche Isolierung der Wesen voneinander, um nicht zu sagen, ihre grundsätzliche

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Zerstreuung, ihr ganz und gar negatives Verhältnis zu dem Problem der Methode, die unkritisch eingeführte Voraussetzung, daß der Begriff des Wesens ein grundsätzlich "letzter" sei, d.h. die gänzliche Unbestimmtheit seiner Beziehung zu dem Träger der wissenschaftlichen Argumentation, dem Begriff, und damit zu dem gesamten Bestande der Erkenntnis und ihrer Geschichte. Diese Bedenken beziehen sich selbstverständlich nur auf das Prinzip und nicht auch auf das aktuelle Verhalten des Forschers auf phänomenologischem Gebiete. Der Einzelne kann über die fruchtbarsten wissenschafts- und philosophiegeschichtlichen Kenntnisse verfügen - die Frage bleibt, ob es die Phänomenologie ist, die ihm den Zugang zu ihnen eröffnet, ob er durch jene Kenntnisse phänomenologische Forderungen erfüllt. Wie sie sich dem Problem der Rechtfertigung überhaupt verschließt, so schildert die Phänomenologie zwar allenthalben und beredt die Absichten, die sie bewegen, versagt es sich aber grundsätzlich, die Notwendigkeit und die Eigenart der Notwendigkeit dieser Absichten zu kennzeichnen. Sie entdeckt ermutigende Ähnlichkeiten, überraschende Analogien und Übereinstimmungen mit früheren Fragestellungen, und bedient sich ihrer nicht ungern als einer Art geschichtlicher Bestätigung ihres eigenen Vorhabens; sie hält sich im Prinzip mit bestimmten wohleingeführten und unbestrittenen Wissenschaften, z.B. der Mathematik, für nahe verwandt; allein sie vermag weder die Gründe dieser Sachlage zu enthüllen, noch auch, was übrigens ein gleiches bedeutet, sich selbst in die Kontinuität wissenschaftlicher und philosophischer Aufgaben einzugliedern. Sie klärt m.a.W. nicht, warum es nie einen Vorwurf begründen kann, daß die Philosophie in immer neuen Formen und Abwandlungen auf die gleichen Probleme zurückkommt, deren Inbegriff mit. dem Problem ihrer eigenen Möglichkeit zusammenfällt. Sie hat demzufolge auch kein grundsätzliches Verhältnis zu dem Ganzen der Philosophie, das immer zugleich Geschichte und Problem sein muß, keine sachlich begründete Einsicht davon, wie sich jenes Ganze auf jeder scheinbar noch so entlegenen Stufe der Entwicklung in unge-

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schmälerter Fülle darbietet. Sie entbehrt einer methodisch vermittelten Beziehung zum Gedanken einer Problemgeschichte, als der einzig möglichen, d.h. dem Begriff ihres Gegenstandes angemessenen Form der Geschichte der Philosophie. Denn Problemgeschichte ist Geschichte der Philosophie unter dem Gesichtspunkt des sich selbst tragenden Begriffs der Gegenständlichkeit. Gerade unter problemgeschichtlichen Gesichtspunkten aber bietet die Phänomenologie besonderes Interesse. Die Wesensforschung selbst verwahrt sich immer wieder gegen Verwechselungen mit platonischem "Realismus". Meint man damit die Lehrmeinung, daß unter den Ideen Platos „substantial-wesenhafte Dinge" hinter und über den Dingen verstanden werden sollen, durchaus zu Recht. Denn die „Wesen" der Phänomenologie sind nicht substantiale „Dinge". Allein die Beziehungen zwischen Phänomenologie und Platonismus sind damit keineswegs erschöpft, und zwar weder in positiver, noch auch in negativer Hinsicht. Die schwierige problemgeschichtliche Frage, ob und weshalb wohl bei Plato jedem Ding eine Idee sollte entsprechen können, wie es ferner um die Möglichkeit negativer Ideen stehen möchte, verweist auf die gleichen Bedenken und Motive, auf die eine kritische Analyse des Grundgedankens aller Phänomenologie schon bei den ersten Versuchen einer Auseinandersetzung stoßen muß. So gewaltig auch die Ansätze Platos gewesen sein mochten, das Problem des Gegenstandes zu meistern - der letzte Sinn seiner wuchtigen Kritik an der Sophistik, seiner tiefsinnigen Lehren von Zahl und Wert, von Staat und Erziehung -, die restlose analytische Bewältigung des Begriffs "Ding" konnte ihnen aus mannigfachen Gründen noch nicht gelingen. Denn, um nur dies zu nennen, die höchste Idee, die Idee aller Ideen, das r!x11u7roiJe7011, war notwendigermaßen, aber vorzeitig, mit Wertcharakteren ausgestattet worden, die die Seinsbestimmtheit der Idee vorwegnehmen, und damit das Problem des Seins, d.h. die Frage nach dem Gefüge des Einzeldings als Funktion der Idee, verdunkeln mußten. Die Wertbestimmtheit der Idee spiegelte sich wohl in ihrem Seinswert, nicht aber erschloß ihre

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Funktion, Wahrheit zu bedingen, die Gedanken vom Seinsbezug des Wertes und der Wertbezogenheit des Seins. Damit konnte ein unanalysierter, d.h. nicht auf letztdefinierte Faktoren zurückgeführter Begriff des Dinges in die Sphäre der Idee eindringen. Zwar bedingt also die Idee das Einzelding als dessen Sinn und „Vorbild"; zugleich aber übertragen sich die Konturen des Einzeldings auf die Idee. Das Einzelding hat wohl teil an der Idee, allein die Idee richtet sich selbst doch wieder so sehr nach dem Einzelding, daß für alles, was sich als „Ding" von anderen Dingen abgrenzbar erweist, auch eine Idee in Anspruch genommen wird. Daher - ungeachtet des Tiefsinns der dialektischen Methode, die die Welt der „Dinge" in den Fortgang eines Prozesses verstrickt, dessen Prinzip eben das Gefüge der Ideen liefert - die relative „Isolierung", das bloße Nebeneinander der Ideen; daher weiterhin, als Folge solcher Isolierung, eine methodenindifferente Setzung von Ideen, wie sie der Gedanke negativer Ideen einschließt. In diesen Zusammenhängen nun offenbaren sich zwischen Phänomenologie und Platonismus weit tiefere problemgeschichtliche Beziehungen, als es die gelegentliche Ablehnung platonisierender Bestrebungen durch die Phänomenologie vermuten läßt. Diesen positiven Zusammenhängen aber stehen, möglicherweise sehr gegen die Absicht der Phänomenologie, andere, negative Beziehungen zwischen ihr und dem platonischen Gedankenkreis gegenüber. Der Platonismus bleibt der klassische Vertreter der dem Begriff der Erkenntnis eigentümlichen Forderung einer kritischen Selbstbesinnung. Darum erörtert er - allen entgegenwirkenden Tendenzen zum Trotz - implizit oder explizit - immer wieder auch das letztdefinierte Motiv der Geltung, oder wie wir es nennen dürfen, der Gegenständlichkeit; darum bekundet er allenthalben ein fein abgestuftes Verständnis für die unbegrenzte Spannweite dieses Begriffs, darum leistet er einer grundsätzlichen Ablehnung jeglicher Rechtsfrage, und aller Erörterungen von Rechtsgründen auch dieser Ablehnung, einen unbezwingbaren Widerstand; darum offenbart der Platonismus mit bewußter Schärfe das aufs höchste sublimierte Motiv der Norm und damit die bis in ihre

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letzten Konsequenzen hinein ausgereifte Idee des Kriteriums. Unter der Last einer Selbstbeschränkung auf „Gegebenes", natürlich auf „originär" Gegebenes, droht das eigene methodologische Fundament der Phänomenologie zu versagen. Darum stellt der Platonismus aller Zeiten dem Forscher die Aufgabe, sich auf das Problem der „Gegebenheit" selbst und damit auf die letztdefinierten Voraussetzungen alles „Gegebenen" zu besinnen. Gewiß, gerade der Platonismus hat die Philosophie des Abendlandes zum erstenmal „schauen" gelehrt. Aber das eben kennzeichnet dieses platonische Schauen, daß es die Begriffe „Methode" und „Kriterium" in sich hegt. Denn die „Schau" der Idee bedeutet hier zugleich das dialektische Gefüge der Denkschritte, in denen die Phänomene aus der Fessel des Zufalls „errettet", d.h. letzten Bedingungen der Erkenntnis unterworfen werden. Die platonische „Schau" ist eben nur die Kehrseite der platonischen Frage: „rl, li 'foriv E7rL