Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips auf der Basis eines generalpräventiv-funktionalen Schuldmodells [1 ed.] 9783428472277, 9783428072279

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Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips auf der Basis eines generalpräventiv-funktionalen Schuldmodells [1 ed.]
 9783428472277, 9783428072279

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HARTMUT SCHNEIDER

Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips

Strafrechtliche Abhandlungen . Neue Folge Herausgegeben von Dr. Eberhard Schmidhäuser em. ord. Professor der Rechte an der Universität Hamburg

und Dr. Friedrich-Christian Schroeder ord. Professor der Rechte an der Universität Regensburg

in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten

Band 72

Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips auf der Basis eines general präventiv-funktionalen Schuldmodells

Von

Hartmut Schneider

Duncker & Humblot . Berlin

Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Klaus Geppert, Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Schneider, Hartmut: Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips : auf der Basis eines generalpräventiv-funktionalen Schuldmodells / von Hartmut Schneider. - Berlin : Duncker und Humblot, 1991 (Strafrechtliche Abhandlungen; N. F., Bd. 72) Zug!.: Berlin, Univ., Diss., 1990 ISBN 3-428-07227-8 NE:GT

D 188

Alle Rechte vorbehalten © 1991 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübernahme: Hagedornsatz, Berlin 46 Druck: Druckerei Gerike GmbH, Berlin 36 Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 3-428-07227-8

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 1990 vom Fachbereich Rechtswissenschaft der Freien Universität Berlin als Dissertationsschrift angenommen. Das Manuskript der Arbeit wurde im Winter 1989 abgeschlossen; ich habe mich bemüht, Rechtsprechung und Literatur bis Dezember 1990 zu berücksichtigen. Im November 1991 wurde die Arbeit mit dem Ernst-ReuterPreis der Freien Universität Berlin ausgezeichnet. Dank sage ich vor allem meinem akademischen Lehrer, Herrn Prof. Dr. Klaus Geppert, der den Anstoß für die vorliegende Untersuchung gab, die Arbeit vorbildlich betreut und mich in den bislang fünf Jahren meiner Assistententätigkeit an seinem Lehrstuhl in verständnisvoller und anregender Weise gefördert hat. Dank schulde ich weiterhin meinem Freund und Kollegen Christoph Sowada für zahlreiche vertiefende Diskussionen. Zu danken habe ich schließlich auch den Herren Prof. Dres. Eberhard Schmidhäuser und Friedrich-Christian Schroeder für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe "Strafrechtliche Abhandlungen / Neue Folge". Gewidmet ist das Buch meinen Eltern; sie haben die Entstehung der Arbeit mit Fürsorge und Interesse begleitet. Berlin, im November 1991

Hartmut Schneider

Inhaltsverzeichnis 1. Kapitel: Einleitung

15

I. Problemstellung .................................................

1. Der allgemeine Ausgangspunkt der Selbstbegünstigungsdiskussion ..... 2. Zwei Problemkomplexe im besonderen ...........................

11. Ablauf und Grenzen der vorliegenden Untersuchung

15 16 18 23

Erster Teil

Der strafprozessuaIe "nemo-tenetur"-Grundsatz und das strafrechtliche Schuldprinzip 2. Kapitel: Der "nemo-tenetur"-Grundsatz und das strafrechtliche Selbstbegünstigungsprinzip ............................................................

27

....... . . . . . . . . . 1. Die traditionelle Inhaltsbestimmung .............................. a) Recht zur Passivität ....................................... . b) Grenzen des privilegierenden Regelungsgehalts . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Neuere Ansätze zur Erweiterung des Regelungsgehalts . . . . . . . . . . . . . . a) Grundsätzliche Öffnung des Rechtsinstituts für aktive Verhaltensweisen (Kühne) .................................................. aa) Ausgangsthesen .............................. . . . . . . . . . bb) Stellungnahme ........................................ b) Differenzierung nach Zwangsformen (Reiß) ..................... aa) Vis compulsiva als neuer Abgrenzungsmaßstab .............. bb) Stellungnahme ........................................

28 28 28 30 31

11. Rechtstheoretische, insbesondere verfassungsrechtliche Begründung 1. Verfassungsrechtliche Ausgangspunkte ............................ 2. Herleitung aus dem Rechtsstaatsprinzip ........................... a) Vorüberlegungen zum Rechtsstaatsverständnis .................. b) Der "nemo-tenetur"-Grundsatz als Ausfluß althergebrachter rechtsstaatlicher Überzeugungen ...................................... c) Auswirkungen der rechtsstaatlichen Verankerung auf die personale Schutzrichtung ............................................ 3. Herleitung aus Art. 2 I und I I GG a) Die "nemo-tenetur"-Konzeption Rogalls ........................ b) Kritik der würderechtlichen Ableitung von "nemo tenetur" ....... .

37 37 38 38

III. Exkurs: Auswirkungen auf die Unterlassungsdogmatik . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Ausgangslage ................................................ 2. Lösung der Unterlassungskonstellationen

50 50 51

3. Kapitel: Auswirkungen moderner Schuldkonzeptionen auf das Verständnis des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips .................................

54

I. Problemstellung .................................................

54

11. Das Verhältnis von Schuld und Prävention im Rahmen moderner Schuldmodelle 1. Der soziale Schuldbegriff als Grundlage präventiv durchstrukturierter Schuldmodelle ...............................................

56

I. Der Regelungsumfang des "nemo-tenetur"-Grundsatzes

31 31

32

34 34 35

40 42 43 43 45

56

8

Inhaltsverzeichnis 2. Das Modell der Integrationsprävention - kriminalpolitische Öffnungsklausel präventiv durchstrukturierter Schuldmodelle ....................... 3. Einzelne generalpräventiv-funktionale Schuldkonzeptionen - dargestellt am Beispiel des §35 I StGB ........................................ a) Die Verzahnung von Schuld und Prävention .................... aa) Generalpräventive Elemente der Entschuldigung . . . . . . . . . . . . bb) Generalpräventive Elemente der Gegenausnahmen . . . . . . . . . . b) Generalpräventiv-funktionale Schuldaspekte im Rahmen von §20 StGB 4. Zwischenergebnis ............................................. III. Kritik und Anti-Kritik der generalpräventiv-funktionalen Schuldkonzeptionen 1. Überblick über die Einwände der Kritiker generalpräventiv beeinflußter Schuldmodelle ............................................... 2. Empirische Einwände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Stoßrichtung der Kritik ..................................... b) Kritik empirisch motivierter Bedenken ..................... . ... aa) VerifIkationsdefIzite ......................... . . . . . . . . . . . bb) Rationaler Vorsprung funktionaler Modelle ................. 3. Verfassungsrechtliche Gerechtigkeitseinwände ...................... a) Stoßrichtungen der Kritik (Übermaßstrafen; Menschenwürdeverletzung; Bestrafung Schuldunfähiger) ................................. b) Würdigung der verfassungsrechtlich abgeleiteten Bedenken ........ aa) Vorüberlegungen ...................................... bb) Zum Vorwurf präventionsbedingter Bestrafung Schuldunfähiger cc) Zum Vorwurf präventionsindizierter Übermaßstrafen ......... dd) Zum Vorwurf der Menschenwürdeverletzung ............... 4. Präventionsunabhängige Erklärungen des § 35 I StGB? ............... a) Präsentation des kompensatorischen Entschuldigungsmodells (Rudolphi) b) Strafrechtsdogmatische DefIzite des notstandsspezillschen Kompensationsmodells .............................................. IV. Zusammenfassung und Folgerungen für die Untersuchung des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips .......................................

60 63 64 66 67 68 70 71 71 72 72 73 73 74 78 78 80 80 82 84 87 93 94 95 97

Zweiter Teil

Analyse von selbstbegüDstigungsrelevanten Straftatbeständen 1. Abschnitt

Fälle belastender SelbstbegüBstigung 4. Kapitel: Gewaltsame Selbstbegünstigung ................................. I. Verdeckungsmord

99

............................................... 100

1. Verdeutlichung der Selbstbegünstigungsproblematik ................. 100

2. Historische Entwicklung des Mordmerkmals "Verdeckungsabsicht" ..... a) §211 RStGB bis zur Reform des Jahres 1943 .................... b) Nachkriegsentwicklung bis zum E62 3. Das Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht vor dem Hintergrund eines kriminalpolitisch-funktionalen Schuldverständnisses ................ . a) Schuldspezillsche Ausgangslage ................... . ......... . b) Generalpräventive Wertungsfaktoren

103 103 105 107 107 109

Inhaltsverzeichnis 4. Zwischenergebnis 11. Gefährliche Eingriffe in den Bahn-, Schiffs-, Luft- und Straßenverkehr 1. Die §§ 315 III Nr. 2 und 315 b III StGB im Selbstbegünstigungskontext ... 2. Zur Auslegung minder schwerer Selbstbegünstigungsfälle im Rahmen der §§315III Nr.2 und 315bIII StGB ................................ a) Ansätze zur Erfassung von Selbstbegünstigungskonstellationen ..... b) Ausklammerung von Selbstbegünstigungskonstellationen auf der Basis strafrahmenmodifizierender halbabstrakter Wertgruppen ........... 3. Zwischenergebnis

9 110 112 112 113 114 115 116

III. Gefangenenmeuterei ............................................. 117 1. Verdeutlichung der Selbstbegünstigungsproblematik ........... . ..... 117 2. Generalpräventive Gründe der Strafschärfung ...................... 118 IV. Räuberischer Diebstahl ........................................... 1. Verdeutlichung der Selbstbegünstigungsproblematik ................. 2. Gründe fiir die strafschärfende Bewertung der Selbstbegünstigungsabsicht ...................................................... a) Die sog. "Hätte-auch"-These des Reichsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . .. aa) Komparative Ausgangserwägung .......................... bb) Kritik ................................................ b) Generalpräventive Erklärungsansätze .......................... 3. Zur Auslegung des Absichtsmerkmals ............................ a) Beschränkung auf materielle Vorteilssicherung? . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Zur generalpräventiv-dogmatischen Notwendigkeit der Erfassung reiner Strafvereitelungsfille ..................................

121 121 123 123 123 124 125 127 127 128

V. Zusammenfassung ............................................... 129 5. Kapitel: Verkehrsunfallflucht (§ 142 StGB)

131

I. Die selbstbegünstigungsspezifische Spannungslage des § 142 StGB ........ 1. Kriminologischer Hintergrund ................................ . .. 2. Schutzzweck und kriminalpolitische Leitgedanken des § 142 StGB a) § 142 StGB als Vermögensgefährdungsdelikt . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Kriminalpolitische Leitgedanken .............................. aa) Individualethische Erklärungen ........................... bb) Verkehrsspezifische Erklärungen ..........................

131 131 133 133 135 135 136

11. Verfassungskonforme Auslegung des § 142 StGB ...................... 1. Passivpflichten .................. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Die verfassungsrechtliche Unbedenklichkeit im Lichte eines traditionellen "nemo-tenetur"-Verständnisses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Abweichende verfassungsrechtliche Beurteilung unter Verweis auf den Gemeinschuldner-Beschluß (Reiß) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Stellungnahme ............................................ aa) Generelle Stoßrichtung des Gemeinschuldner-Beschlusses bb) Auswirkungen auf einzelne Auslegungsfragen ............... 2. Aktivpflichten .................................. . ...... . ...... a) Zur Unbedenklichkeit der Vorstellungspflicht ................. .. b) Verfassungsrechtlich gebotene Restriktion der nachträglichen Meldepflichten ....................................................

137 140 140 140 142 142 144 148 149 149

10

Inhaltsverzeichnis

152

111. Zusammenfassung 2. Abschnitt Delikte mit entlastender Selbstbegünstigung

6. Kapitel: Selbstbegünstigungsprivilegien im Rahmen der sogenannten Anschlußdelikte (§§257-259 StGB) ............................................ . 154 I. StrafVereitelung

................................................ . 154

1. Selbstbegünstigungsabsicht im Rahmen des § 258 I, 11 StGB .......... . 155

a) Dogmatische Ausgangslage und schuldpsychologische Privilegienerklärung ................................................. . 155 b) Notwendigkeit der Anreicherung schuldpsychologischer Modelle um generalpräventive Erklärungsfaktoren ......................... . 157

2. Selbstbegünstigungsabsicht im Rahmen des § 258 V StGB ........... a) Reichweite der Selbstbegünstigungsklausel .................... b) Fälle ungeklärter Vortat-Beteiligung .......................... aa) Postpendenzerwägungen ............................... bb) Wahlfeststellungserwägungen ............... . ........... cc) "In-dubio-pro-reo"-Grundsatz ........................... 11. Sachliche Begünstigung

. . . . . .

160 160 162 163 164 169

......................................... . 169

....... . a) Konkurrenzrechtliche Erklärung der Selbstbegünstigungsprivilegien b) Sonderprobleme im Rahmen des § 257 III 1 StGB ............... . aa) Verfolgungshindernisse ................................ . bb) Zurechenbarkeit von Vortat-Exzessen über §257III 1 StGB? 2. Die Sonderregelung des § 257 III 2 StGB a) Ablehnende Stellungnahmen im strafrechtlichen Schrifttum b) Kritik der teilnahmespezifischen Ablehnungsgründe ..............

169 169 170 171 172 175 176 176

III. Hehlerei ....................................................... 1. Unstreitig privilegierte Selbstbegünstigungshandlungen 2. Umstrittene Selbstbegünstigungskonstellationen .................... a) Fälle des strafbaren Beuterückerwerbs durch den Ersttäter ......... b) Straflose Beuteübernahme durch den Mittäter der Vortat .......... c) Strafbare Beuteübernahme durch den Anstifter zur Vortat .........

179 179 179 179 183 184

1. Selbstbegünstigungsabsicht im Rahmen des § 257 I, III 1 StGB

IV. Zusammenfassung ............................................... 186 7. Kapitel: Die Gefangenenbefreiung .... . ........ . .... . ...... . .... . ....... 187 I. Die Gefangenenselbstbefreiung

187

1. Präsentation und Kritik herkömmlicher Begründungen der Straflosigkeit

der Selbstbefreiung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 187

2. Generalpräventiv-kriminalpolitische Privilegien erklärung

190

11. Selbstbegünstigungsmotivierte Beteiligung an der Fremdbefreiung ........ 193 1. Ausgangsfalle im Lichte der höchstrichterlichen Rechtsprechung 2. Herkömmliche Stellungnahmen des strafrechtlichen Schrifttums ....... a) Rechtsgut- und teilnahmespezifische Erklärungsansätze ........... b) Schuldpsychologische Erklärungsansätze .......................

193 196 196 201

11

Inhaltsverzeichnis

3. Straflosigkeit der selbstbegünstigungsmotivierten Anstiftung auf der Basis eines kriminalpolitisch-funktionalen Schuldverständnisses ............ 203 a) Einschlägigkeit der normativen Isolierungsthese? .. . . . . . . . . . . . . .. 203 b) Straflosigkeit infolge faktischer Isolationstechniken ............... 205 4. Selbstbegünstigungskonforme Rechtsfortbildung im Hinblick auf § 258 V StGB ....................................................... 208 a) Präsentation und Kritik der herkömmlich vertretenen Güterpolarität 209 b) Dogmatische Folgerungen der Rechtsgüterharmonisierungen 213

8. Kapitel: Aussagedelikte ............................................... 215 I. Selbstbegünstigung im Rahmen der §§ 153 und 154 StGB

.............. . 216

1. Gründe für die Straflosigkeit der Beschuldigtenlüge ................ . 216 a) Strafprozessualer Erklärungsansatz ........................... . 217 b) Materiell-rechtlicher Erklärungsansatz (Lehmann) ............... . 218 c) Historischer Erklärungsansatz (v. Liszt) 219

2. Auswirkungen der selbstbegünstigungsfreundlichen Tatbestandsfassung auf Anstiftungskonstellationen ? ..................................... 221 a) Norminterne Schulderwägungen .............................. 221 b) Privilegienerweiterung durch Rechtsfortbildung? ................. 224 11. Die personale Reichweite des Selbstbegünstigungsprivilegs aus § 157 I StGB 226 1. Herkömmliche Erklärungsansätze ................................ 226

2. Der rein schuldpsychologische Deutungsversuch Bemmanns

.......... 229

3. Zur Notwendigkeit ergänzender generalpräventiver Erklärungsmomente (Sonderopfer) ................................................ 230 Dritter Teil

Die Reichweite der 8elbstbegüDstigungsprivilegien im Rahmen der §§ 145dII Nr.l und 164 8tGB 1. Abschnitt Die selbstbegüDstigungskonforme Rechtsanwendung des § 145 d 11 Nr.l StGB

9. Kapitel: Die Berücksichtigung des Selbstbegünstigungsgedankens im Rahmen des § 145 d StGB durch Rechtsprechung und Schrifttum ....................... 237 I. Ausgangspunkte der selbstbegünstigungsspezifischen Spannungslage der Beteiligtentäuschung ................................................. 237

11. Aktuelle Tendenzen zur Privilegierung der Selbstbegünstigungsabsicht

240

1. Selbstbegünstigungskonforme Behandlung der Fälle des Abstreitens der Tatbegehung ................................................. a) Strafprozessuale Ausgangsüberlegungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Kritische Würdigung des "nemo-tenetur"-Ansatzes ............... aa) Erwägungen zum Regelungsgehalt ........................ bb) Erwägungen zur beweisrechtlichen Verarbeitung .............

241 241 243 243 245

2. Selbstbegünstigungskonforme Behandlung der Fälle der Verdachtsablenkung ..................................................... a) Erstellung von Fallgruppen .................................. aa) Verdachtsablenkung und Gefahrenanalyse .................. bb) Alibi-Fälle und Schutzzwecknormativierung . . . . . . . . . . . . . . ..

249 249 250 252

12

Inhaltsverzeichnis b) Kritik der rechtsgutorientierten Privilegierungstendenzen .......... 254 aa) Schwachpunkte der normativen Rechtsgutbetrachtung ........ 255 bb) Schwachpunkte der rechtsgutorientierten Gefahrenbetrachtung 260 3. Fallgruppenübergreifende Restriktionstendenzen innerhalb des subjektiven Tatbestandes ................................................. 265 a) Ausgangserwägungen zur Vorsatzbestimmung (Eignungsthese) ..... 265 b) Kritik der subjektiven Eignungsthese .............. . . . . . . . . . . .. 266 111. Ergebnis ....................................................... 270

10. Kapitel: Globale Lösungsansätze zur selbstbegünstigungskonformen Rechtsanwendung des § 145 d 11 Nr. 1 StGB ............................. . . . . . . . . . . .. 271 I. Die strafrechtliche Konkurrenzlehre?

................................ 271

1. Konzept einer selbstbegünstigungsfreundlichen Auslegung der Subsidiaritätsklausel ................................................... 271

2. Kritik der Konkurrenzlösung .................................... 273 a) Kriminalpolitische Vorbehalte ................................ 273 b) Konkurrenzrechtliche Bedenken .............................. 274 11. Selbstbegünstigungskonforme Rechtsfortbildung 1. Methodologische Vorüberlegungen

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 277

.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 278

2. Vergleich der Regelungszwecke der §§ 145 d 11 Nr. 1 und 258 StGB a) These der Güterpolarität .................................... b) Rechtsgütervergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Schutzzweckbetrachtung auf der Basis einer ganzheitlichen Funktionsanalyse ...................................... . . . . . . . . . . .. aa) Richtigkeits- und Effektivitätsschutz im Rahmen des §258 StGB bb) Verfehltheit einer Differenzierung nach Regelungszwecken und Schutzreflexen ............................ . . . . . . . . . . .. cc) Kriminalpolitische Aspekte ........ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

280 280 282

3. Planwidrigkeit der Gesetzeslücke .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) Plankonformität der Regelungslücke im Lichte neuerer Gesetzesänderungen ? .................................................. aa) Ausgangsthese ........................................ bb) Kritik ................................................ b) Regelungspläne des historischen Gesetzgebers c) Zwischenergebnis ..........................................

292

282 283 286 290

292 293 294 296 298

4. Verbrechenssystematische Umsetzung der Rechtsfortbildung .......... 298 a) Alternativen in Gestalt der Tatbestands- bzw. Schuldlösung ........ 298 b) Dogmatische und kriminalpolitische Vorzugswürdigkeit der Schuldlösung ................................................... 300 III. Zusammenfassung ............................................... 301 2. Abschnitt

Die "selbstbegüDstigungskonforme" Rechtsanwendung des § 164 8tGB 11. Kapitel: Die Stellung des Straftatbestandes der falschen Verdächtigung im Selbstbegünstigungskontext ................................................ 302 I. Lösungsansätze zur Privilegierung selbstbegünstigender Falschverdächtigungen ........................................................ 303

Inhaltsverzeichnis

13

1. Dogmatischer Ausgangspunkt .......................... . ........ 2. Kritik der herkömmlichen Lösungsansätze ......................... a) Verfehltheit prozessualer Lösungsmodelle b) Schwachpunkte der rechtsgutorientierten Gefährlichkeitsanalyse ....

303 305 305 307

11. Alternative Ansätze zur Privilegierung selbstbegünstigender Falschverdächtigungen ....................................................... 1. Selbstbegünstigungskonforme Auslegung des Tatbestandes ........... a) Auslegung des Tatbestandsmerkmals Verdächtigung .............. b) Auslegung des subjektiven Tatbestandes c) Zwischenergebnis .......................................... 2. Selbstbegünstigungskonforme Rechtsfortbildung des Tatbestandes? a) Bestimmung des durch § 164 StGB geschützten Rechtsguts ........ aa) Vier denkbare Rechtsgutbestimmungen .................... bb) Zur Vorzugswürdigkeit der rein privatschützenden Sichtweise .. cc) Auswirkungen einer rein privatschützenden Sichtweise b) Analoge Heranziehung des § 193 StGB? ........................

308 309 309 311 314 314 315 315 316 319 320

III. Zusammenfassung ............................................... 322 Vierter Teil

Versuch einer Systematisierung der selbstbegünstigungsrelevanten Straftatbestände 12. Kapitel: Allgemeine Systematisierungsansätze

325

I. Einleitende Vorbemerkungen ...................................... 325 11. Monokausale Modelle ............................................ 1. Rechtsgutorientierte Systematisierungsansätze ...................... a) Ausgangsthesen ........................................... b) Würdigung des rechtsgutorientierten Modells 2. Verhaltensbezogene (aktionale) Systematisierungsansätze ............. a) Ausgangsthesen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Würdigung des aktionalen Modells . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. aa) Privilegierender Bereich ................................. bb) Belastender Bereich .................................... III. Strukturierung der privilegierten Selbstbegünstigung auf der Basis unterschiedlicher Modelle ............................................. 1. Formale und materiale Aspekte der privilegierten Vorteilssicherung 2. Formale Aspekte der strafVereitelnden Selbstbegünstigung . . . . . . . . . .. a) Rechtsgutorientierte Grundlage der Systematik .................. b) Aktionale Ergänzungen in Form der Privilegienverengung auf Flucht und Lüge .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. c) Zwischenergebnis ..........................................

326 327 327 328 332 332 333 333 334 336 337 340 340 343 345

13. Kapitel: Gründe rur die Privilegierung strafVereitelnder Selbstbegünstigungshandlungen ............................................................ 346

I. Herkömmliche Erklärungsansätze 1. Konkurrenzrechtliche Modelle

347 347

14

Inhaltsverzeichnis a) Ausgangsthesen ........................................... b) Schwachpunkte der konkurrenzrechtlichen Erklärungsmodelle aa) Empirische Erwägungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. bb) Rechtliche Erwägungen .................................

347 348 348 349

2. Prozessuale Erklärungsansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. a) "Ne-bis-in-idem"-Ansatz .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. aa) Ausgangsthesen ........................... . . . . . . . . . . .. bb) Kritik ................................................ b) Unschuldsvermutung, Art.611 EMRK ......................... aa) Ausgangsthesen ........................... . . . . . . . . . . .. bb) Kritik ................................................ c) "Nemo-tenetur"-Ansatz ..................................... aa) Ausgangsthesen ....................................... bb) Kritik ........................................... . . . ..

352 352 352 353 355 355 356 358 358 358

3. Schuldspezifische Erklärungsansätze .............................. a) Der Gedanke der notstandsähnlichen Zwangslage vor dem Hintergrund kompensatorischer Entschuldigungsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. aa) Ausgangsthesen ....................................... bb) Kritik ................................................ b) Zumutbarkeitsmodelle .............. . ....................... aa) Rein psychologische Modelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. bb) Ethisierende Menschenwürde-Erklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

360 361 361 363 365 365 368

11. Erklärung der selbstbegünstigungsspezifischen StrafVereitelungsprivilegien auf der Grundlage eines gemischt-funktionalen SchuldmodeUs .............. 372 1. Einleitende Vorbemerkungen

2. Kriminalpolitische Gründe für die Privilegienbeschränkung auf staatsschützende Rechtspflegedelikte .................................. a) Zur Ausgrenzung privatschützender Delikte . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. b) Zur Privilegienverengung auf staatliche Rechtspflegedelikte ........ aa) Ausgrenzung von Delikten mit gesellschaftlichen Rechtsgütern ............................................... bb) Ausgrenzung von Delikten mit akzidentiellem Rechtspflegebezug . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

372 374 374 378 378 379

3. Generalpräventiv-kriminalpolitische Gründe für die Straflosigkeit der Basishandlungen "Bucht" und "Lüge" ............................ 382 a) Die kriminalpolitische Bewertung selbstbegünstigender Lügen ...... 383 b) Die kriminalpolitische Bewertung selbstbegünstigender Fluchthandlungen ................................................... 385 Literaturverzeichnis

389

1. Kapitel

Einleitung I. Problemstellung Straftäter und Strafverfolgungsorgane stellen das klassische! Gegenspielerpaar des Strafverfahrens dar: Der Straftäter verletzt strafrechtliche Gebote/Verbote; die Strafverfolgungsbehörden sind im Interesse des den Regeln der Prävention folgenden strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes gehalten, die Normübertretung zum Zwecke der anschließenden Sanktionierung des Täters aufzuklären. Daß der Straftäter naturgemäß bestrebt ist, sich der staatlichen Strafverfolgung im Hinblick auf die drohende Bestrafung zu entziehen, liegt auf der Hand. Hierbei stehen ihm zahlreiche Verhaltensalternativen zur Verfügung. Beispielsweise wird er versuchen, seine Ergreifung durch Flucht vom Tatort zu verhindern; durch Vernichtung von Tatspuren oder sonstiger Beweismittel kann er der Überführung entgegenwirken. Im Verlaufe des Strafverfahrens wird der Täter die Tatbegehung leugnen, unter Umständen bezichtigt er Dritte der Verübung des Delikts. Häufig versucht er, in unlauterer Weise auf Zeugen Einfluß zu nehmen, etwa indem er sie zur Falschaussage anstiftet oder aber zur Abgabe eines falschen Alibis überredet. Selbst im abschließenden Verfahrensabschnitt, der Strafvollstreckung, vermag der Straftäter die Strafverfolgung z. B. durch Flucht aus der Justizvollzugsanstalt zu beeinträchtigen 2 • Schließlich kann er bestrebt sein, die durch die Vortatbegehung erlangten Beutestücke zu sichern, etwa indem er das ihn verfolgende Opfer eines Diebstahls niederschlägt (§ 252 StGB). Alle diese Verhaltensweisen, gerichtet auf Abwehr bzw. Vereitelung der staatlichen Strafberechtigung, lassen sich unter dem Begriff der "Selbstbegünstigung" zusammenfassen. 1 Neben der Beziehung Täter (Staat wird zukünftig infolge des seit dem 1.4.1987 in Kraft befindlichen Ersten Gesetzes zur Verbesserung der Stellung des Verletzten im Strafverfahren (BG BI. I, 2496) auch die Beziehung Täter (Opfer zunehmend im Strafverfahren eine Rolle spielen. Zu den damit einhergehenden forensischen Belastungen für den Täter, der sich nunmehr nicht nur mit dem strafverfolgenden Staat, sondern auch mit dem über diverse Rechte verfügenden Opfer auseinandersetzen muß, was die Erfolgsaussichten der Strafverteidigung beeinträchtigen kann, siehe die kritischen Ausführungen von Schünemann, NStZ 1986,193 (196fT.) sowie umfassend Weigend, Deliktsopfer, S. 380fT., 456fT., 465fT., 502fT., 545ff. Angesichts der damit eingeleiteten Trendwende (Küper, GA 1980,201,217 spricht von der "Wiederentdeckung des Opfers") erscheint es angebracht, die Gegenspielerkonstellation zwischen Täter und Strafverfolgungsbehörden als "klassisch" zu bezeichnen. 2 Weitere Beispiele bei Hauswirth, Selbstbegünstigung, S. 10, 14f.

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1. Kap.: Einleitung

1. Der aUgemeine Ausgangspunkt der Selbstbegünstigungsdiskussion

Selbstbegünstigungshandlungen sind gesellschaftlich unerwünscht, da sie die Strafverfolgung erschweren und im Erfolgsfall geeignet sind, das Vertrauen der Rechtsgenossen in die Funktionsfahigkeit des Strafverfolgungssystems zu unterminieren. Gleichwohl ist es nichts Ungewöhnliches, daß der Straftäter der ihm drohenden Bestrafung entgegenwirkt. So würde beispielsweise der von Beginn an geständige bzw. am Tatort bis zum Eintreffen der Polizei verharrende Täter eher auf Unverständnis denn auf zustimmende Bewunderung seitens der Rechtsgenossen stoßen. Mehr noch: gewisse Selbstbegünstigungshandlungen wie z. B. Flucht oder das Abstreiten der Tatbegehung werden von den Rechtsgenossen trotz der damit verbundenen Beeinträchtigung des Strafverfahrens als mehr oder weniger normal klassifiziert. Gleichwohl steht allein deswegen noch nicht fest, daß die Rechtsgemeinschaft derartige Handlungen tatenlos hinzunehmen hat; denn selbst weithin übliche Verhaltensweisen müssen keineswegs normativ geduldet werden. Allein die HaftgfÜnde in § 112 11 StPO unterstreichen das Bestreben der Rechtsordnung, sogar "einfache" selbstbegünstigende Verhaltensweisen wie "Flucht" durch teilweise einschneidende Maßnahmen zurückzudrängen bzw. bereits im Ansatz zu ersticken. Freilich lenkt gerade der Hinweis auf das Rechtsinstitut der Untersuchungshaft die Aufmerksamkeit auf die Art und Weise, in der Selbstbegünstigungshandlungen staatlicherseits entgegengetreten wird. Im einzelnen stehen dem Staat zwei grundsätzliche Strategien zur Verfügung: Eine Reaktionsmöglichkeit besteht darin, die staatliche Ermittlungstätigkeit zu intensivieren, um die durch den Täter bewirkte Erschwerung der Verbrechensaufklärung zu kompensieren. Das Kennzeichen dieser Strategie besteht im Absehen von strafrechtlicher Sanktionierung selbstbegünstigender Handlungen zugunsten rein faktischer Reaktionen kompensatorischer Natur ohne Strafcharakter. Die Besonderheit der rein faktischen Reaktion liegt folglich im Verzicht der Rechtsordnung auf das Aufstellen verhaltensleitender (strafbewehrter) Normen. Dadurch wird der sich selbst begünstigende Straftäter als Gegenspieler akzeptiert, den es zu überwinden, nicht jedoch zu bestrafen gilt. Im weiteren Sinne zählt insoweit auch die vorstehend genannte Untersuchungshaft zu den rein faktischen Reaktionen der Strafrechtsordnung gegenüber unerwünschten Selbstbegünstigungshandlungen. Denn Untersuchungshaft wird lediglich zum Zwecke der Sicherung des Strafverfahrens verhängt, ohne daß damit weiterreichende, der Kriminalstrafe vorbehaltene Ziele verfolgt werden dürfen 3 . Die Gründe für ein derartiges Verfahren der rein faktischen Reaktion gegenüber Selbstbegünstigungshandlungen mögen vielfältiger Natur sein. Sie können aus der Einschätzung resultieren, daß entsprechende selbstbegünstigungsspezifische Strafbestimmungen wirkungslos blieben (Gedanke der notstandsähnlichen Lage des Straftäters nach Tatbegehung 4 ). Ebensogut wäre es 3

Statt aller KleinknechtjMeyer, Rn. 5 vor § 112 mit Nachweisen.

I. Problemstellung

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denkbar, die Strategie der Kompensation selbstbegünstigender Verhaltensweisen durch rein faktische Reaktionen auf ein bestimmtes kriminalpolitisches Programm zurückzuführen. Unabhängig davon sind dieser Lösung des Konflikts zwischen Straftäter und Gemeinschaft jedoch verschiedene Schranken gesetzt. Einerseits ist es aufgrund der Ressourcenknappheit nicht möglich, das strategische Modell der rein faktischen Reaktion aufSelbstbegünstigungshandlungen beliebig auszuweiten. Die kompensatorische Steigerung der Ermittlungsmaßnahmen verursacht Kosten, die nur bis zu einer gewissen Höhe auf die Gesellschaft umzulegen sind. Insoweit wird der strafverfolgende Staat gar nicht umhin kommen, auch den Straftäter in die Pflicht zu nehmen und damit "kostenmäßig" zu belasten. Dies geschieht durch das Aufstellen strafbewehrter Bestimmungen, mittels derer der Straftäter zur Abstandnahme von bestimmten Selbstbegünstigungshandlungen bewegt werden soll. Neben diesen strafökonomischen Überlegungen verlangt weitergehend das allgemeine Rechtsbewußtsein, zumindest auf besonders schwerwiegende Selbstbegünstigungshandlungen durch Strafandrohung und -verhängung zu reagieren 5. Angesprochen ist damit der allgemeine Prozeß der Verankerung bzw. Verinnerlichung von normativ erwünschten Verhaltensmustern (Norminternalisierung). Erschießt z. B. der Täter den ihn verfolgenden Polizeibeamten oder tötet er einen Belastungszeugen, wird jedermann die Pönalisierung dieser Handlungen verlangen, und zwar unabhängig davon, ob sich der Täter durch den strafverfolgenden Staat bedrängt sah. Das bedeutet, daß die mit der rein faktischen Reaktion auf Selbstbegünstigungshandlungen einhergehende Ausdehnung von Freiheitsräumen zugunsten des Straftäters ihrerseits rückgekoppelt werden muß zu den grundlegenden Wertentscheidungen der Strafrechtsordnung. Insoweit dürften beispielsweise Selbstbegünstigungshandlungen, die unbeteiligte Dritte schädigen, kaum privilegierungsfähig sein, da kriminalpolitisch nicht plausibel gemacht werden könnte, weshalb der einzelne dem an sich illegitimen Selbst begünstigungsstreben des Straftäters Konzessionen erbringen soll. Daher besteht die zweite Strategie zur Bekämpfung selbstbegünstigenden Verhaltens in der Pönalisierung entsprechender Handlungen. Dieser zweite Weg folgt den herkömmlichen Gesetzmäßigkeiten der Verhaltensdetermination durch Strafrecht. Durch Verbotsnormen werden bestimmte Tabuzonen kreiert. Der Täter soll angehalten werden, von gewissen Selbstbegünstigungshandlungen Abstand zu nehmen. Die einschlägigen Strafdrohungen zielen darauf ab, den Täter bereits vor Tatbegehung zu einer Kalkulation der Vor- und Nachteile der in Frage kommenden Selbstbegünstigungshandlungen zu veranlassen. Auf diese Weise wird ein Beitrag zur Normstabilisierung insgesamt geleistet: Dem potentiellen Täter soll die Deliktsbegehung infolge der einsetzenden Strafverfol4 Vorerst statt vieler Dieter Hoffmann, Selbstbegünstigung, S.69ff.; Erdmann, Selbstbegünstigungsgedanke, S. 20 ff.; Hauswirth, Selbst begünstigung, S. 29. 5 Allgemein dazu Kunz, Bagatellprinzip, S.159ff.; Müller-Dietz, GA 1987, 134f. Weiterführend Neumann, ZStW Bd. 99 (1987), S. 567 (588ff.).

2 H. Schneider

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I. Kap.: Einleitung

gung und der damit einhergehenden Einschränkung der eigenen Verhaltensalternativen zur Abwehr der Strafverfolgungsorgane als zu riskant erscheinen, so daß er von der Tatausführung absieht 6 . Vorschnell könnte man meinen, die Belegung einer jeden Selbstbegünstigungshandlung mit einem strafbewehrten Verbot sei ein probates Mittel zur Verbrechensbekämpfung. Freilich verfährt keine Rechtsordnung in dieser Weise. Zunächst erscheint fraglich, ob potentielle Täter tatsächlich derart kalkulierend die Tatbegehung planen und infolge zusätzlicher Strafdrohungen vor Selbstbegünstigungshandlungen zurückschrecken 7 ; hieran bestehen zumindest im Hinblick auf spontan agierende Täter Zweifel. Ebenso scheint es eher unwahrscheinlich, daß Fahrlässigkeitstäter den intellektuellen Kalkulationsprozeß durchweg nachvollziehen. Damit ist die Effektivität globaler selbstbegünstigungsbeschränkender Strafnormen in Frage gestellt, zumal sich der Straftäter angesichts der Konfrontation mit dem Strafverfolgungsapparat ohnehin in einer psychischen Ausnahmesituation befindet, die ihm die Normbefolgung zumindest erschweren kann. Darüber hinaus ist es im Interesse des zurückhaltenden Einsatzes von Strafrecht (Rechtsgedanke der ultima ratio) auch gar nicht erforderlich, jeder strafvereitelnden Selbstbegünstigung mit Strafdrohung und anschließender Sanktion zu begegnen. Immerhin steht dem Staat ein potenter Strafverfolgungsapparat zur Verfügung, der prinzipiell aus eigener Kraft, also ohne an den Straftäter gerichtete Normappelle, die begangenen Straftaten aufklären kann. Insofern bleibt zu erörtern, inwieweit kriminalistische Erfahrung und faktische Verfolgungsmaßnahmen in gewissen Bereichen die Rücknahme des Strafrechtsschutzes kriminalpolitisch vertretbar erscheinen lassen. Des weiteren sind ebenso wie beim Vorgang der rein faktischen Reaktion auf Selbstbegünstigungshandlungen die Kosten spezieller Strafverfahren, die diverse Selbstbegünstigungstaten zum Gegenstand haben, zu berücksichtigen. Insoweit könnte also auch ein reines Pönalisierungskonzept auf ökonomische Schranken stoßen. Vor dem Hintergrund dieser knapp skizzierten Aspekte stellt sich insgesamt die Frage, wann das Strafrecht zur Bekämpfung von Selbstbegünstigungshandlungen sinnvollerweise zum Einsatz kommt und wann es als Instrument der Verhaltenssteuerung nicht erforderlich ist. Angesprochen ist damit das strafrechtliche Selbstbegünstigungsprinzip. 2. Zwei Problemkomplexe im besonderen

Die Redeweise von einem "Prinzip" legt die Annahme nahe, daß allgemeine Regeln über die strafrechtliche Bewertung von Selbstbegünstigungshandlungen 6 Ähnliche Überlegungen, freilich im Zusammenhang mit Fremdbegünstigungshandlungen, stellt Schroeder, Die Straftaten gegen das Strafrecht, S. 11, 21 an. 7 Siehe dazu Ruck, § 142 als Verrnögensdeiikt, S. 23 f. mit Nachweisen in Fn. 1, 2 auf S.24..

I. Problemstellung

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existieren, die Auskunft darüber geben, in welchen Fällen das Selbstbegünstigungsmotiv privilegierend oder aber strafschärfend wirkt. Hingegen hat jüngst ArztS festgestellt, daß es bisher noch nicht gelungen sei, den Unterschied zwischen belastender und entlastender Selbstbegünstigung systematisierend zu klären. Dieser Befund wird durch eine ganze Reihe von Urteilen der letzten Zeit bestätigt, in denen es um die strafrechtliche Bewertung von Selbstbegünstigungssachverhalten im Anwendungsbereich der §§ 145d, 164 und 157 StüB ging 9 • Allein die Vielzahl der veröffentlichten Judikate signalisiert eine gewisse Unsicherheit im Umgang mit Selbstbegünstigungskonstellationen. Zugleich sind die höchstrichterlichen Entscheidungen ebenso wie einschlägige literarische Stellungnahmen Beleg für eine zunehmende Sensibilisierung im Selbstbegünstigungskontext. Insofern erstaunt es, daß trotz intensiver wissenschaftlicher Bemühungen ein konsensfähiges Selbstbegünstigungsprinzip offenbar bislang nicht entwickelt werden konnte. Dieses strafrechtsdogmatische Defizit bei der (Re)-Konstruktion des Selbstbegünstigungsprinzips hat im wesentlichen zwei Ursachen: Einerseits leidet die gegenwärtige Diskussion an einer gewissen Inflexibilität im Umgang mit einzelnen selbstbegünstigungsrelevanten Straftatbeständen. Verwiesen sei allein auf die höchstrichterliche Rechtsprechung zur Verarbeitung der Selbstbegünstigungsabsicht in den §§ 145d und 164 StüB, die bekanntlich mit Hilfe von handlungsspezifischen Fallgruppen vorgenommen wird 10. So soll beispielsweise die Abgabe eines falschen Alibis seitens des Beschuldigten ebenso straflos bleiben wie die verteidigungsweise aufgestellte unwahre Beschuldigtenbehauptung, nicht Täter des ihm zur Last gelegten Delikts zu sein (Fallgruppe: "ich war es nicht")lJ. Hingegen wird das Ablenken der Strafverfolgungsbehörden auf eine falsche Spur als strafbar erachtet, während selbst begünstigende Verhaltensweisen wie die Verdachtslenkung auf einen Toten bzw. eine täuschende Anzeige gegen Unbekannt strafrechtsdogmatisch umstritten sind 12 • Die nur schlaglichtartig skizzierte fallgruppenorientierte Aufbereitung der Selbstbegünstigungsproblematik trägt gewiß zur Handhabbarkeit der betreffenden Straftatbestände bei. Sie entwickelt jedoch gleichzeitig eine Eigendynamik, die das dogmatische Interesse vornehmlich auf die gruppenspezifische Zuordnung des jeweiligen Einzelfalls lenkt 13 und damit die grundlegende Reflexion der systematischen Eingebundenheit der §§ 145d, 164 StüB in das strafrechtliche In: Arzt/Weber, LH 4, Rn. 260 Fn. 25. Zu § 145d StG B vgl. BayObLG NJW 1978, 2563; BayObLG JR 1985, 294; BayObLG FamRZ 1986, 1155; OLG Celle,JZ 1980, 480; zu§ 164 StGB siehe BayObLG JZ 1985,753; zu § 157 StGB vgl. BayObLG JR 1987, 37. 10 Siehe dazu Eser, StR III, S. 198 sowie LK-Willms, § 145d Rn. 11 ff.; weiterführend H.-J. Schneider, Deliktsvortäuschung, S. 78ff. 11 Prägnant OUo, JK, StGB § 145d/3; vertiefend SK/StGB-Rudolphi, § 145d Rn. 14ff.; umfassend H.-J. Schneider, Deliktsvortäuschung, S. 78ff. 12 Zusätzlich zu den in der vorstehenden Fußnote Genannten sei auf Sch / Schr / Stree, § 145d Rn. 13 ff. verwiesen. 8 9

2*

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1. Kap.: Einleitung

Selbstbegünstigungsprinzip nicht fördert 14 • Insoweit bleibt zu klären, ob eine Überwindung des fallgruppenorientierten Denkens bei den §§ 145d, 164 StGB die Bemühungen um die Strukturierung des Selbstbegünstigungsprinzips voranbringen kann. Freilich lassen sich die Schwierigkeiten bei der (Re)-Konstruktion des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips nicht allein auf einzeldeliktische Besonderheiten zurückführen. Sofern die in den einschlägigen Monographien und Aufsätzen 15 erarbeiteten Ergebnisse heute nicht mehr voll befriedigen, liegt dies auch in der wenig überzeugenden, einseitig aus der Perspektive des sich selbst begünstigenden Straftäters entwickelten theoretischen Fundierung des Selbstbegünstigungsprinzips begründet. Zum Beleg dafür, daß der derzeitige Stand der Strukturierungsbemühungen nur wenige Anknüpfungspunkte für eine system bezogene Anwendung selbstbegünstigungsrelevanter Straftatbestände bietet, sei die zentrale "Selbstbegünstigungsnorm" des § 258 StGB vorgestellt. Gemäß § 258 I StGB wird wegen Strafvereitelung bestraft, wer einen anderen der Bestrafung entzieht (Fremdbegünstigung). Aus dieser tatbestandlichen Fassung folgt die Straflosigkeit strafvereitelnder Selbstbegünstigungshandlungen. Nach nahezu unbestrittener Auffassung in Rechtsprechung und Literatur basiert die Privilegierung selbstbegünstigender Verhaltensweisen im Rahmen des Straftatbestandes der Strafvereitelung auf der psychischen Ausnahmesituation, in der sich der Strafverfolgung zu gewärtigende Täter befinde 16 • Gemeinhin wird die Lage des strafverfolgten Täters mit Blick auf§ 35 StGB (entschuldigender Notstand) als "notstandsähnlich" bezeichnet. Infolgedessen sei es gleichsam ein Gebot humanen Denkens, dem "natürlichen Recht auf Selbstschutz"l? nachzukommen und selbstbegünstigende Strafvereitelungshandlungen aufgrund Unzumutbarkeit anderweitigen Verhaltens straffrei zu stellen. Andererseits betonen Reichsgericht und Bundesgerichtshof in ständiger Rechtsprechung, daß die Straflosigkeit strafvereitelnder Selbstbegünstigung als Ausfluß des Unzumutbarkeitsgedankens nicht schrankenlos gewährt werden könne. Greift der Täter zur Verdeckung eigener Straftaten durch neues Unrecht 13 Kritisch gegenüber dieser Verengung der Lösungsalternativen Langer, GA 1987, 289ff. in Auseinandersetzung mit BayObLG JZ 1985, 753. 14 Skepsis gegenüber fallgruppenbezogener Argumentation äußern namentlich Kratzsch, Verhaltenssteuerung, S. 175 f. (in Auseinandersetzung mit Roxin, Täterschaft, S.4ff., 19ff. et passim) sowie Herzberg, JA 1985, 177 (181f.), insb. Fn.48 (in Auseinandersetzung mit Sowada, Jura 1985, 80). IS Münch, Die Selbstbegünstigung (1961); Dieter Hoffmann, Die Selbstbegünstigung (1965); Erdmann, Der Selbstbegünstigungsgedanke (1969); Ulsenheimer, GA 1972, 1 ff. und jüngst Fahrenhorst, JuS 1987, 707ff. 16 RGSt. 60, 346; RGSt. 63, 233; RGSt. 74, 44; BGHSt. 5, 75; BGHSt. 17,236. Für das Schrifttum statt vieler Erdmann, Selbstbegünstigungsgedanke, S. 21 ff. mit zahlreichen Nachweisen sowie -freilich kritisch- Hoffmann, Selbstbegünstigung, S. 69ff. 17 So pointiert Welzel, JZ 1958, 494 (496).

I. Problemstellung

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in die strafrechtlich geschützte Rechtsordnung ein, komme eine Privilegierung nicht in Betracht; denn die Rechtsordnung verlange, eher die Sühne für begangenes Unrecht auf sich zu nehmen, als neues Unrecht zu begehen 18. Legt man den Bemühungen zur Klärung von Grund und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips die Leitaspekte "U nzumutbarkeil" und "Sühnevorrang" zugrunde, zeigt sich relativ schnell die allenfalls begrenzte inhaltlich-systematisierende Tragfahigkeit der beiden Grund-Sätze: Zum einen fällt auf, daß "Unzumutbarkeit" und "Sühnevorrang" inhaltlich nicht zueinander passen, sondern vielmehr antinomisch auseinanderstreben. Während der Gedanke der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens in Strafverfolgungssituationen tendenziell zu grenzenloser Straflosigkeit führt (also nicht einfach auf § 258 StGB beschränkt werden kann), zielt der auf der Unrechtsebene angesiedelte Gesichtspunkt "Sühnevorrang" in die Richtung prinzipieller Irrelevanz der Selbstbegünstigungsabsicht 19. Dies mag kriminalpolitisch vertretbar sein, ist jedoch insoweit mißlich, als die Strafrechtsordnung mit den §§ 120 und 157 StGB zumindest zwei weitere Regelungen kennt, in denen selbstbegünstigende Verhaltensweisen privilegiert werden. Darüber hinaus vermag der Unzumutbarkeitsgedanke im Bereich des Selbstbegünstigungsprivilegs schwerlich zu überzeugen. Zumindest können dem Hinweis auf die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens unmittelbar keine Wertungskriterien entnommen werden, anhand derer die Grenzen der Privilegierung von Selbstbegünstigungshandlungen plausibel werden. Dies legt die Forderung nahe, "Unzumutbarkeit" im Selbstbegünstigungskontext vornehmlich als ergebnisbeschreibenden denn als ergebnisbegründenden Begriff zu verwenden. Jedenfalls zeichnet sich ab, daß der Argumentationstopos "Unzumutbarkeit" weniger Erklärungspotential enthält, als ihm gemeinhin zugeschrieben wird. Folglich ist der gegenwärtige Stand der Diskussion über das Selbstbegünstigungsprinzip neben einzeldeliktischen Besonderheiten auch Ausdruck des Fehlens weiterführender, den Diskurs belebender Systematisierungsfaktoren sowie deren inhaltlicher Aufbereitung. Es wird daher Aufgabe der vorliegenden Arbeit sein, neben der Einzelanalyse selbstbegünstigungsrelevanter Strafbestimmungen Vorschläge zur Strukturierung der strafrechtlichen Verarbeitung der Selbstbegünstigungsabsicht zu unterbreiten. Als Arbeitshypothese sei die Behauptung vorangestellt, daß eine ausschließlich oder vorwiegend an der subjektiven Befindlichkeit des sich selbst begünstigenden Straftäters anknüpfende Systematisierung in Form von Gesinnungs- oder Verwerflichkeitsurteilen notwendigerweise unzulänglich bleibt und wichtige überindividuelle, gesellschaftliche Bewertungsmerkmale übergeht. Deshalb richtet sich im folgenden besonderes Augenmerk auf die das Selbstbegün18 RGSt. 72,20(23); RGSt. 74,44(47); BGHSt. 3, 18f.; BGHSt. 5,75(81); BGHSt.17, 236 (238). 19 Eingehend Erdmann, Selbstbegünstigungsgedanke, S. 58.

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1. Kap.: Einleitung

stigungsprinzip entscheidend konstituierenden kriminalpolitischen Wertungsfaktoren. Insoweit wird es sich als fruchtbar erweisen, an die neuen kriminalpolitisch-generalpräventiven (funktionalen) Schuldlehren 20 anzuknüpfen. Einerseits eröffnen derartige Schuldmodelle durch die Integration präventiv-kriminalpolitischer Erwägungen eine neue Diskussionsebene, die im Rahmen des Schuldurteils über die subjektive Befindlichkeit des Einzelindividuums hinausragt. Andererseits gewähren die funktionalen Schuldlehren die Möglichkeit, die strafrechtsdogmatische Umsetzung kriminalpolitischer Faktoren von überwölbenden moralisch-ethischen Globalurteilen abzukoppeln und damit rational nachvollziehbar zu machen. Soweit in diesem Zusammenhang lerntheoretische Überlegungen 21 angestellt werden, ist von vornherein darauf hinzuweisen, daß damit strafrechtsdogmatische Ergebnisse unmittelbar nicht vorgezeichnet werden sollen. Vielmehr wird die Lerntheorie als prinzipielle Verständnismöglichkeit des Vorgangs der Verhaltensdetermination durch Strafrecht aufgefaßt und primär dann herangezogen, wenn strafrechtsdogmatische Ergebnisse auf vordogmatischer Ebene reflektiert werden sollen. Ob sich die untersuchten selbstbegünstigungsrelevanten Strafbestimmungen aus generalpräventiv-kriminalpolitischer Sicht de lege lata tatsächlich zu einem "Selbstbegünstigungsprinzip" verdichten lassen und im Sinne von "Wenn-dannAussagen" einzelnen Wertungskategorien zugeordnet werden können, erscheint vorerst ungewiß. Zum einen gilt es zu bedenken, daß sich Selbstbegünstigungstaten nicht allein auf den Bereich der Strafvereitelung (§ 258 StGB) beschränken, sondern auch materielle Vorteilssicherung (§ 257 StGB) bezwecken können und insoweit unter Umständen unterschiedlichen dogmatischen Regeln folgen. Zum anderen ist daran zu erinnern, daß sich die Untersuchung von Selbstbegünstigungshandlungen nicht allein in der Erklärung einschlägiger Privilegien erschöpfen kann; denn an zahlreichen Stellen erfahren sowohl die strafvereitelnde (beispielsweise § 121 StGB) als auch die vorteilssichernde (beispielsweise § 252 StGB) Selbstbegünstigungsabsicht eine strafschärfende Bewertung. Angesichts dieser Wertungsvielfalt und der beiden Selbstbegünstigungsstränge der Strafvereitelung und Vorteilssicherung erscheint es möglich, daß sich einige Tatbestände einer praktikablen und überschaubaren Systematisierung sperren; denn normalerweise agiert der Gesetzgeber bei der Abfassung von Strafnormen eher interventionistisch, ohne allzu stark auf systematische Überlegungen Rücksicht zu nehmen 22 . Daher ist es durchaus denkbar, daß am Ende der Untersuchung anstelle eines geschlossenen Systems lediglich gewisse Leitlinien präsentiert werden können. Diese mögen jedoch zur Übersichtlichkeit des strafrechtlichen Problemfeldes "Selbstbegünstigung" beitragen und die kriminalpolitische Dis20 Verwiesen sei vorerst allein auf Roxin, Henkel-Festschrift (1974), S. 171 ff. und Jakobs, Schuld und Prävention (1976). 21 Ausführlich dazu Jakobs, AT, 1/2ff. et passim; aus rechtssoziologischer Sicht Luhmann, Rechtssoziologie, S. 40 ff. 22 Vormbaum, Schutz, S. 73 f.

11. Ablauf und Grenzen der Untersuchung

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kussion vorantreiben. Im übrigen würde es der Arbeit nicht gerecht werden, ihren Wert allein nach dem Ertrag der Systematisierungserwägungen zu bemessen. Vielmehr versteht sich die nachfolgende Untersuchung bewußt als Symbiose aus deliktsspezijischen Einzelaspekten und systematisierender Gesamtschau. 11. Ablauf und Grenzen der vorliegenden Untersuchung Aus der allgemeinen Zielsetzung der Untersuchung leiten sich Aufbau und Grenzen der Darstellung ab. Im ersten Teil werden mit dem strafrechtlichen Schuldprinzip und dem strafprozessualen "nemo-tenetur"-Grundsatz zwei Rechtsinstitute erläutert, die in der Selbstbegünstigungsdiskussion in unterschiedlichem Zusammenhang immer wieder erörtert werden und somit in gewisser Weise Grundlagen des Selbstbegünstigungsprinzips darstellen. Eingedenk der thematischen Beschränkung der Arbeit muß allerdings auf eine umfassende Würdigung dieser beiden fundamentalen Grundsätze des deutschen Strafrechts verzichtet werden. Vielmehr können die Grundlagen und Inhalte des "nemo-tenetur"-Grundsatzes bzw. des Schuldprinzips nur insoweit vorgestellt werden, als sie für die Erarbeitung eines strafrechtlichen Selbstbegünstigungssystems von konkreter Bedeutung sind. Im einzelnen geht es vor allem darum, den Gehalt der Verbrechenskategorie "Schuld" als wechselseitige Verschränkung individuell-schuldpsychologischer und generalpräventiv-kriminalpolitischer Momente zu begreifen, um das präventive Potential der Schuld im Selbstbegünstigungskontext fruchtbar machen zu können. Die Würdigung des "nemotenetur"-Grundsatzes wird sich vornehmlich auf dessen personale Schutzrichtung konzentrieren und anläßlich der Unterlassungsdelikte der Frage nachgehen, ob "nemo tenetur" als originär anti-etatistisches Abwehrrecht auch im Verhältnis von Privaten untereinander gilt. Ein zentrales Ergebnis der Beschäftigung mit "nemo tenetur" wird darin bestehen, daß die nachfolgende Untersuchung selbstbegünstigungsrelevanter Straftatbestände auf aktive Verhaltensweisen verengt werden kann. Denn vor dem Hintergrund der personalen Schutzrichtung des "nemo-tenetur"-Grundsatzes weisen die Unterlassungsdelikte im Verhältnis zu den Begehungstaten keine selbstbegünstigungsspezifischen Wertungsdivergenzen auf, so daß insbesondere auf eine gesonderte Erörterung der §§ 323c und 138 StGB verzichtet werden kann. Das wichtigste, die gesamte Arbeit beeinflussende Resultat der "nemo-tenetur"-Untersuchung wird in der Erkenntnis bestehen, daß das Freiheitsstreben des Selbstbegünstigungstäters keinen positiven Rechtswert darstellt und für sich genommen weder im Begehungs- noch im Unterlassungs bereich eine Privilegierung von Selbstbegünstigungstaten zu rechtfertigen vermag. Auf der Basis der allgemeinen Überlegungen zum Schuldprinzip sowie zum "nemo-tenetur"-Grundsatz werden im zweiten Teil die selbstbegünstigungsrelevanten Bestimmungen der§§ 120, 121, 153, 157,21111/3. Gruppe, 252, 257, 258 259,315111 Nr. 2 und 315b III StGB untersucht. Im Anschluß daran werden in

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1. Kap.: Einleitung

einem gesonderten dritten Teil mit den §§ 145d II Nr.l und 164 StGB zwei Straftat bestände vorgestellt, die in letzter Zeit immer stärker in das Zentrum der Selbstbegünstigungsdiskussion gerückt sind, ohne daß bislang eine überzeugende Klärung der einschlägigen Selbstbegünstigungsprobleme gelungen ist 23 . Ursprünglich bildeten die §§ 145d II Nr. 1 und 164 StGB den Ausgangspunkt dieser Dissertation, zumal die Komplexität und Vielfalt der dort aufgeworfenen Fragen durchaus eine eigenständige monographische Aufarbeitung verdienen. Freilich erwies es sich als untunlich, die beiden Strafbestimmungen aus dem übergreifenden Selbstbegünstigungskontext auszugliedern und separat zu behandeln. Andererseits wäre es ebensowenig angängig, die §§ 145d und 164 StGB im zweiten Teil der Arbeit auf engem Raum vorzustellen; denn allein eine systemorientierte Herangehensweise würde dem dogmatischen Stellenwert dieser beiden Strafnormen nicht gerecht. Daß die Selbstbegünstigungsdiskussion im Rahmen der §§ 145d und 164 StG B in vollem Fluß ist, beweist bereits die Spruchtätigkeit der Obergerichte. Wenngleich die höchstrichterliche Rechtsprechung in ausgefahrenen Geleisen bemüht ist, die Privilegierung der Selbstbegünstigungsabsicht möglichst eng zu halten, deutet sich auf der Ebene der Untergerichte und im strafrechtlichen Schrifttum Opposition gegen die überkommenen Sichtweisen an. Folglich wird eine umfassende Bestandsaufnahme des Ist-Zustandes erforderlich sein, um aus dem vorgefundenen Material eine Lösung des Selbstbegünstigungsproblems im Anwendungsbereich der §§ 145d und 164 StGB zu entwickeln. Der unterbreitete Vorschlag wird dem Anliegen einer behutsamen Erweiterung von Verhaltensspielräumen des Beschuldigten Rechnung tragen und sich von tradierten Stellungnahmen sowohl in den Ergebnissen als auch in der Begründung unterscheiden. In Zusammenhang mit der Präsentation der§§ 145d 11 Nr. 1 und 164 StGB gilt es darauf aufmerksam zu machen, daß auch die Untersuchung der übrigen Delikte mit be- bzw. entlastender Selbstbegünstigung nicht in Form eines Kurzüberblicks erfolgt, der sich mit der bloßen Einordnung in die betreffenden Kategorien begnügt. Gewiß wäre es möglich, in dieser Weise zu verfahren. Allerdings würde dadurch der Schwerpunkt allzu stark auf übergreifende Systematisierungserwägungen gelegt, während die betreffenden Einzelnormen eine Fülle von Selbstbegünstigungsproblemen offenbaren, deren Erörterung zum Austarieren der Reichweite des Selbstbegünstigungsgedankens lohnenswert erscheint. Im Gegenzug ist es freilich ebensowenig möglich wie notwendig, jeder "selbstbegünstigungsindizierten" Fragestellung im Detail nachzugehen. So wird beispielsweise von einer Klärung der Beteiligungsprobleme im Rahmen der §§ 257, 258 StGB Abstand genommen. Zwar resultieren die einschlägigen Beteiligungsfragen aus der strafrechtsdogmatischen Umsetzung des Selbstbe23 An dieser Stelle sei allein auf die Entscheidungen OLG Frankfurt NJW 1975, 1895; BayObLG NJW 1978,2563; OLG Hamm VRS 67 (1984),31, BayObLG JZ 1985, 753 sowie BayObLG FamRZ 1986, 1155 verwiesen. Aus dem Schrifttum siehe statt vieler die Beiträge von Stree und Langer, jeweils in der Lackner-Festschrift (1987).

11. Ablauf und Grenzen der Untersuchung

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günstigungsprivilegs innerhalb der §§ 257, 258 StGB, so daß durchaus ein Bezug zum Thema dieser Arbeit besteht 24 • Jedoch handelt es sich in den entsprechenden Fällen jeweils um Fremdbegünstigungskonstellationen (Strafbarkeit desjenigen, der den sich selbst begünstigenden Täter der Vortat unterstützt), weswegen die Ausgliederung dieses Problemkomplexes angezeigt ist. Hingegen werden Fragen aus dem Bereich der Wahlfeststellungslehre im Zuge der Untersuchung des § 258 StGB angeschnitten, da sie die Reichweite des Selbstbegünstigungsprivilegs unmittelbar betreffen. Gleiches gilt für diverse konkurrenzrechtliche Fragestellungen anläßlich der Auslegung des in § 257 III 1 StGB verankerten Selbstbegünstigungsprivilegs. Insgesamt stellt der zweite Teil der Arbeit also einen Kompromiß aus einzelnormspezifischen Problemen und systembezogener Ausrichtung der Deliktsanalysen dar. Auf diese Weise scheint es am ehesten möglich, die Dimensionen der Reaktion des Strafrechts im Zusammenhang mit selbstbegünstigungstypischen Verhaltensweisen aufzuzeigen. In dem die Untersuchung abrundenden vierten Teil werden schließlich Überlegungen zur Systematisierung der strafrechtlichen Bewertung der Selbstbegünstigungsabsicht angestellt. Im Vordergrund steht die Erarbeitung eines Fundaments formaler Grundaussagen und deren materiell-inhaltliche Erklärung. Eine der Hauptaufgaben besteht darin, zu ermitteln, inwieweit die grundlegende Unterscheidung zwischen be- und entlastender Verarbeitung der Selbstbegünstigungsabsicht im Ausgangspunkt eher handlungsbezogen (Bewertung einzelner Verhaltensmuster) oder aber rechtsgutorientiert (Klassifizierung nach Beeinträchtigung bestimmter Rechtsgüter) vorzunehmen ist. Des weiteren gilt es zu klären, ob alle selbstbegünstigungsrelevanten Delikte auf ein einziges Prinzip zurückgeführt werden können oder ob eine zwischen strafvereitelnden und vorteilssichernden Selbstbegünstigungsformen differenzierende Systematisierung erforderlich ist. Dabei wird sich zeigen, daß die privilegierte Strafvereitelung verstärkte Aufmerksamkeit verdient, weil die Begründungen, die für die Besserstellung der einschlägigen Selbstbegünstigungshandlungen gegeben werden, vielfältiger Natur sind und gänzlich unterschiedlichen Denkrichtungen entspringen. Insbesondere in diesem Zusammenhang wird sich das Erklärungspotential der in dieser Arbeit verfochtenen generalpräventiv-funktionalen Schuld lehre wirkungsvoll entfalten. Auf eine Untersuchung zur Berücksichtigung der Selbstbegünstigungsabsicht im Bereich der Strafzumessung wird verzichtet. Zwar zeichnen sich auch im 24 Für die Beteiligungsprobleme bei § 258 StGB sei auf die Kontroverse zwischen Frisch, JuS 1983, 915 (919) und Rudolphi, Kleinknecht-Festschrift (1985), S.379fT. verwiesen. Grundlegend Lenckner, Schröder-Gedächtnisschrift (1978), S. 339 (350fT.); weiterführend (aus methodologischer Sicht) Lackner, Festschrift Fakultät Heidelberg (1986), S.39 (61f.) sowie jüngst Küpper, GA 1987, 385fT. Zu Beteiligungsfragen im Rahmen des § 257 StGB siehe SK/StGB-Samson, § 257 Rn. 22; LK-Ruß, § 257 Rn. 23; Sch/Schr /Stree, § 257 Rn. 19; Blei, BT, S.432 sowie Lenckner, JR 1977, 74f. und Geppert, Jura 1980,269 (275f.).

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1. Kap.: Einleitung

Strafzumessungskontext mannigfache Selbstbegünstigungsprobleme ab. Erinnert sei allein an die Frage, ob das Prozeßverhalten des Beschuldigten (z. B. hartnäckiges Leugnen) strafschärfend herangezogen werden darf. Ebenso ist fraglich, inwieweit strafvereitelndes, nach § 258 StGB strafloses Nachtatverhalten im Rahmen der Strafzumessung für die Vortat veranschlagt werden darf25. Wenngleich es reizvoll wäre, den Problernern unter dem Stichwort "Vermeidungsstrategien" nachzugehen, muß von diesem Vorhaben dennoch Abstand genommen werden. In Anbetracht der sich zunehmend verselbständigenden Entwicklung der Strafzumessungslehre würde das bloße Anreißen der Fragestellungen der Problematk nicht gerecht werden. Erforderlich wäre insoweit eine vornehmlich empirisch ausgerichtete Spezialuntersuchung, die - gegebenenfalls vor dem Hintergrund dieser Arbeit - die einschlägige Strafzumessungspraxis sichtet und ordnet. Ein derart umfangreiches Unternehmen kann vorliegend nicht geleistet werden. Schließlich wäre es möglich, in einem fünften Teil zu Fragen aus dem Bereich der Angehörigenbegünstigung Stellung zu nehmen, da es aufgrund gewisser Gemeinsamkeiten von Selbst- und Angehörigenbegünstigung durchaus üblich ist, beide Komplexe zusammen abzuhandeln 26 • Freilich wird in dieser Arbeit von einem derartigen Vorgehen abgesehen. Zum einen gebietet der zur Verfügung stehende Raum eine Begrenzung; zum anderen würde die Auseinandersetzung mit der Angehörigenbegünstigung, die eine Form der Fremdbegünstigung darstellt, allzu stark den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit übersteigen. Schließlich könnte eine Analyse der Angehörigenbegünstigung nicht ohne Eingehen auf Art. 6 GG erfolgen, ebenso wie man dem Problem der sog. nichtehelichen Lebensgemeinschaft im Rahmen des § 258 VI StGB nicht ausweichen dürfte. Insbesondere die verfassungsrechtlichen Problembezüge erweisen sich als derart komplex, daß die Bedenken gegen die gegenwärtige (wohl zu weitreichende, jedenfalls aber hinsichtlich nichtehelicher Lebensgemeinschaften unstimmige) Ausgestaltung des Angehörigenprivilegs lediglich benannt, jedoch nicht vertieft werden können. Weil zudem der Problemkomplex der strafrechtlichen Behandlung nichtehelicher Lebensgemeinschaften in einer vor kurzem erschienenen Dissertation 27 ausführlich behandelt wurde, erscheint die nachfolgende Zurückhaltung um so weniger als Manko. Insgesamt versteht sich also die vorliegende Arbeit als Beitrag zur Selbst- Begünstigung im engeren strafrechtlichen Sinne.

2S Siehe dazu BGHSt. 1, 105; BGH MDR 1980,240; Bruns, Leitfaden, S. 201 ff.; RieB, JA 1980,293 (297). 26 Zur Begründung der Angehörigenprivilegierung bezüglich § 258 VI StGB siehe Sch / Schr / Stree, § 258 Rn. 39 mit zahlr. Nachweisen. 27 Konrad, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft im Strafrecht (1986).

Erster Teil

Der strafprozessuale "nemo-tenetur"-Grundsatz und das strafrechtliche Schuldprinzip 2. Kapitel

Der "nemo-tenetur"-Grundsatz und das strafrechtliche Selbstbegünstigungsprinzip Sowohl höchstrichterliche Judikate als auch literarische Stellungnahmen vermitteln den Eindruck, daß der strafprozessuale "nemo-tenetur"-Grundsatz, wonach niemand zu seiner eigenen Überführung beizutragen verpflichtet ist, den Inhalt des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips maßgeblich determiniert. Beispielsweise nimmt die jüngste Diskussion um eine selbstbegünstigungsfreundliche Neuregelung des in der Praxis ausgesprochen bedeutsamen Straftatbestandes der Verkehrsunfallflucht ihren Ausgangspunkt im "nemotenetur"-Grundsatz, der nach Ansicht vieler eine Umgestaltung der als problematisch empfundenen Aktivpflichten von Unfallbeteiligten erforderlich mache l . Freilich spielt "nemo tenetur" nicht nur auf kriminalpolitischer Ebene, sondern auch im Zuge der Normauslegung eine wichtige Rolle. Im Hinblick auf die durch "nemo tenetur" garantierte Einlassungsfreiheit des Beschuldigten werden beispielsweise im Rahmen der §§ 145d 11 Nr. 1 und 164 I StGB bestimmte, an sich tatbestandsmäßige Verhaltensweisen für straflos erklärt, um eine Kollision mit dem Verbot des Zwangs zur Selbstbelastung zu vermeiden 2 • Weiterhin soll "nemo tenetur" den Umfang der Unterlassungsstrafbarkeit beeinflussen, indem die einschlägigen strafbewehrten Rechtspflichten zum Tun im Lichte der strafprozessualen Rechte des Straftäters auszulegen seien 3 • Und schließlich wird sogar der Versuch unternommen, den gesamten Bereich der strafrechtlichen Privilegierung selbstbegünstigender Verhaltensweisen auf den 1 Statt vieler Rogall, Der Beschuldigte, S. 163 f.; Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 201 ff.; Ruck, § 142, S. 51 ff. 2 Siehe dazu die ausführlichen Nachweise bei Sch/Schr/Stree, § 145d Rn. 14f.; LKWillms, § 145d Rn. 11 ff. Für § 164 StGB sei auf BayObLG NJW 1986,441 mit Anm. Geppert, JK StGB § 164/1 und Langer, Lackner-Festschrift (1987), S. 541 (560) sowie auf die Kommentierung Sch/Schr /Lenckner, § 164 Rn. 5 verwiesen. 3 BGHSt. 11, 135ff.; BGHSt. 11, 353ff.; BGH NStZ 1985, 24; Dreher/Tröndle, § 13 Rn. 16; Welzel, JZ 1958, 494ff.; Geilen, FamRZ 1964, 385ff. Umfassend Forster, Zumutbarkeit, S. 77 ff.; FreIlesen, Zumutbarkeit, S. 176 ff.; Ulsenheimer, GA 1971, 1 (8 ff.).

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2. Kap.: "Nemo tenetur" und strafrechtliche Selbstbegünstigung

"nemo-tenetur"-Grundsatz zurückzuführen, wodurch dieser faktisch das Fundament des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips darstellen würde 4 . Alle diese Auslegungs- und Systematisierungserwägungen lassen vermuten, daß "nemo tenetur" im Selbstbegünstigungskontext eine zentrale, normübergreifende Relevanz entfaltet, die es rechtfertigt, diesen fundamentalen Rechtsgrundsatz des Strafverfahrens losgelöst von einzelnen Strafbestimmungen gleichsam "vor die Klammer zu ziehen" und gesondert zu erörtern. Ein derartiges, die Untersuchung der einzelnen selbstbegünstigungsrelevanten Delikte entlastendes Vorgehen rechtfertigt sich im übrigen dadurch, daß "nemo tenetur" als anerkannter Bestandteil verfassungsrechtlicher Rechtsinstitute möglicherweise Regelungs- und Auslegungsvorgaben liefert, die angesichts ihrer verfassungsrechtlichen Bedeutsamkeit notwendigerweise - pars pro toto vorweg darzustellen sind. Inhaltlich wird es folglich darum gehen, den sachlichen Gehalt des "nemo-tenetur"-Grundsatzes sowie dessen Schutzrichtung zu ermitteln, um daraus Rückschlüsse für die Auslegung der im Anschluß zu untersuchenden Strafbestimmungen zu gewinnen. Weiterhin mag bereits die abstrakte Erörterung erste Aufschlüsse darüber geben, ob "nemo tenetur" das strafrechtliche Selbstbegünstigungsprinzip zu fundieren vermag.

I. Der Regelungsumfang des "nemo-tenetur"-Grundsatzes 1. Die traditioneUe Inhaltsbestimmung

a) Recht zur Passivität Der alter und bewährter Rechtstradition entsprechende Grundsatz "nemo tenetur se ipsum accusare" beinhaltet die für das Strafverfahren fundamentale Wertentscheidung, daß niemand gezwungen werden darf, gegen seinen Willen zu seiner eigenen Überführung beizutragen 5. Gemeinhin wird der "nemotenetur"-Grundsatz mit der Aussagefreiheit des Beschuldigten in Verbindung gebracht, die bekanntlich in zweierlei Richtung Wirkungen entfaltet. Ihre positive Funktion besteht darin, dem Beschuldigten die Möglichkeit zur aktiven Verteidigung zu verschaffen, indem sie Mitwirkungsrechte zur Selbstentlastung einräumt 6 • Allen voran ist insoweit § 136 11 StPO zu nennen, wonach dem Beschuldigten bei richterlichen Vernehmungen Gelegenheit zu geben ist, Verdachtsgründe zu beseitigen und entlastende Tatsachen geltend zu machen. Durch Einräumen aktiver Mitwirkungsrechte rückt der Beschuldigte aus der Rolle eines lediglich passiven Untersuchungsobjekts in die Stellung eines aktiv Hoffmann, Selbstbegünstigung, S. 65 ff. BVerfGE 56, 37 (49); ReiB, Besteuerungsverfahren, S. 172; Rogall, Der Beschuldigte, S.59ff. 6 Statt vieler Eser, ZStW 79 (1967), S. 565 (571) sowie RieB, JA 1980,293 (294) und Rogall, Der Beschuldigte, S. 59. 4

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1. Regelungsumfang des "nemo-tenetur"-Grundsatzes

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am Prozeß teilnehmenden Verfahrenssubjekts ein. Allerdings wird der Status des Verfahrenssubjekts nicht allein durch den positiven Aspekt der Aussagefreiheit begründet. Vielmehr kann der Beschuldigte über die Ausgestaltung seiner Verteidigung erst dann eigenverantwortlich disponieren, wenn ihm als Kehrseite zur Aktivität das Recht gewährt wird, staatliche Zumutungen zur Mitwirkung am Verfahren in Form des prozeßfördernden Tuns zurückzuweisen 7 • Damit sind die negative Funktion der Aussagefreiheit und gleichzeitig auch der "nemo-tenetur"-Grundsatz benannt. "Nemo tenetur" gewährt nach herkömmlicher Ansicht dem Beschuldigten ein umfassendes Schweigerecht, das die staatlichen Verfolgungsorgane zu beachten habens. Den Strafverfolgungsorganen ist es mithin nicht gestattet, die freie Entscheidung des Beschuldigten zwischen verteidigungsweisem Reden und defensivem Schweigen durch Zwang zu beeinflussen. Ausgeschlossen sind dadurch nicht nur direkte, torturähnliche Zwangsformen der vis absoluta; vielmehr ist es den Strafverfolgungsorganen gleichermaßen verwehrt, mittelbaren Druck in Gestalt von vis compulsiva auszuüben. Infolgedessen darf beispielsweise das Schweigen des Beschuldigten zum Tatvorwurf nicht als belastendes Schuldindiz gewertet werden. Denn würde man dergestalt verfahren, wäre Schweigen als Verteidigungsform faktisch entwertet, so daß die Beweiswürdigung des Schweigens als mittelbarer, auf dem Beschuldigten lastender Zwang gegen den "nemo-tenetur"-Grundsatz verstieße. Ebensowenig wäre es zulässig, den schweigenden Beschuldigten als "verstockt" zu bezeichnen und sein Aussageverhalten als Strafschärfungsfaktor heranzuziehen 9 • Wenngleich das Schweigerecht anerkanntermaßen den Kernbereich des "nemo-tenetur"-Grundsatzes ausfüllt, wäre es verkürzt, "nemo tenetur" und Schweigen synonym zu gebrauchen. Denn neben dem Schweigen betrifft "nemo tenetur" die Befreiung des Beschuldigten von der Editionspflicht des § 95 StPO sowie sonstige strafprozessuale Eingriffsregelungen (§§ 81a, 102 StPO), die den Beschuldigten gleichermaßen von aktiver Mitwirkung am Verfahren freistellen. Daher scheint es angemessen, "nemo tenetur" als globale Garantie der negativen Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten anzusehen 10. Konstitutiv ist also das Recht zur Passivität, das seinen augenfälligen Ausdruck in den Belehrungsvorschriften der§§ 115 III 1, 128 I 2,136 I 2, 163a III 2, 163a IV 2 und 243 IV 1 StPO 7 Rogall, Der Beschuldigte, S. 59f.; RieB, JA 1980,293 (294); Dingeldey, JA 1984,407 (409). 8 Ausführlich Rogall, Der Beschuldigte, S. 59ff., 155ff.; RieB und Dingeldey; jeweils a.a.O.; Stree, JZ 1966, 593f.; Wesseis, JuS 1966, 169ff.; Bauer, Aussage, S.4, 44; Castringius, Schweigen, S. 20, Höra, Wahrheitspflicht, S. 55 ff. Aus der Rechtsprechung BGHSt. 5, 330 (333); BGHSt. 14,358 (364f.); BGH NJW 1974, 1570f. 9 Ausführlich dazu Kühl, JuS 1986, 115ff.; RieB, JA 1980, 293 (295f.), Rogall, Der Beschuldigte, S.250ff.; Rüping, JR 1974, 134 (138). Kritisch dazu Günther, GA 1978, 89ff. 10 So insbesondere Rogall, Der Beschuldigte, S. 60.

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2. Kap.: "Nemo tenetur" und strafrechtliche Selbst begünstigung

gefunden hat. Insgesamt stellt "nemo tenetur" nach herrschender Ansicht ein negatives Abwehrrecht dar, das dem Staat verwehrt, den Beschuldigten zur Selbstbelastung durch Aktivität zu zwingen. b) Grenzen des privilegierenden Regelungsgehalts

Aus dem derart umschriebenen Regelungsinhalt des "nemo-tenetur"Grundsatzes leiten sich unmittelbar die Grenzen dieses Rechtsinstituts ab. Die alleinige Gewährleistung von Passivität verhindert zunächst einmal die Herleitung aktiver Eingriffsrechte des Beschuldigten in die Rechtsgüter Dritter. Aktive Selbstbegünstigungshandlungen fallen also nach herkömmlicher Ansicht von vornherein nicht in den Schutzbereich von "nemo tenetur"; sie können daher nicht mit dem Hinweis auf strafprozessuale Regelungen privilegiert werden ll. Daraus erhellt beispielsweise, daß die Beschuldigtenlüge nicht durch den "nemo-tenetur"-Grundsatz gedeckt ist; denn "nemo tenetur" gewährt dem Beschuldigten lediglich das Refugium der Passivität, ohne ihm ein Recht auf aktive Obstruktion der Wahrheitsfindung in Form der Lüge einzuräumen 12. Weiterhin folgt aus dem Umstand, daß der "nemo-tenetur"-Grundsatz nach herkömmlicher Interpretation dem Beschuldigten ausschließlich ein Recht zur Passivität einräumt, die gesetzgeberische Befugnis, aktive Verhaltensweisen des Beschuldigten unter Strafe zu stellen. Anders gewendet: Es ist dem Gesetzgeber von Verfassungs wegen vor dem Hintergrund von "nemo tenetur" nicht verwehrt, durch das Verbot aktiver Selbstbegünstigungshandlungen Passivität zu erzwingen 13. Dies soll nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts und der herrschenden Meinung im strafprozessualen Schrifttum auch dann gelten, wenn der strafbewehrte Zwang zur Untätigkeit die Gefahr der Strafverfolgung erhöht, da sich insoweit nur ein allgemeines Lebensrisiko realisiert, von dem "nemo tenetur" nicht entbinden will. Freilich wird einschränkend - wohl im Hinblick auf das allerdings nicht näher konkretisierte strafrechtliche Selbstbegünstigungsprinzip - verlangt, daß das Erzwingen von Passivität dem Schutz von Drittinteressen dienen müsse und sich keinesfalls allein in der bloßen Förderung der staatlichen Strafverfolgungstätigkeit erschöpfen dürfe 14. Insoweit wird deutlich, daß "nemo tenetur" nach herkömmlichem Verständnis über die Gewähr des Rechts zur Passivität hinaus nicht den Zweck verfolgt, die Strafverfolgungsgefahr für den Beschuldigten zu mindern. Resümiert man das vorherrschende Verständnis des "nemo-tenetur"Grundsatzes und projeziert man die gewonnenen Erkenntnisse über den 11 BVerfGE 16, 191 (193f.); Rogall, Der Beschuldigte, S. 158; Ruck, § 142, S.42ff.; Eser, ZStW 79 (1967), S. 565 (573 Fn.35). 12 Eser, a.a.O.; Höra, Wahrheitspflicht, S. 64f.; KK-Boujong, § 136 Rn. 20. 13 Vertiefend Ruck, § 142, S. 46ff. (insb. S. 50 Fn. 1). 14 BVerfGE 16, 191 (193f.); Rogall, Der Beschuldigte, S. 158 fT. mit zahlr. Nachw. und Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 171 fT.

I. Regelungsumfang des "nemo-tenetur"-Grundsatzes

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Regelungsgehalt dieses Rechtsinstituts auf das strafrechtliche Selbstbegünstigungsprinzip, wird relativ schnell ersichtlich, daß "nemo tenetur" nicht geeignet ist, die strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprivilegien in Gänze zu strukturieren. Denn während "nemo tenetur" lediglich den Zwang zu selbstbelastender Aktivität verbietet und damit allein Passivität garantiert, reichen die einschlägigen strafrechtlichen Besserstellungen selbstbegünstigender Verhaltensweisen deutlich über den Unterlassungsbereich hinaus, wie beispielsweise die Strafbestimmungen der §§ 120 und 157 StGB demonstrieren, wo aktive Selbstbegünstigungshandlungen wie "Flucht" und "Lüge" privilegiert werden. Demnach vermag "nemo tenetur" nach traditionellem Verständnis lediglich die Bewertung selbstbegünstigender Passivität zu beeinflussen, ohne rechtliche Vorgaben für die strafrechtliche Reaktion auf aktive Selbstbegünstigungshandlungen zu liefern. 2. Neuere Ansätze zur Erweiterung des Regelungsgehalts

Das Verhältnis des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips zum strafprozessualen "nemo-tenetur"-Grundsatz würde freilich in einem anderen Licht erscheinen, wenn man "nemo tenetur" nicht strikt auf den Bereich der Passivität beschränkt, sondern als globales Abwehrrecht begreift, das den Straftäter bzw. Beschuldigten in umfassenderem Maße von Strafverfolgungsgefahren freistellen soll. Dann nämlich dürfte der Staat nicht ohne weiteres durch das Aufstellen verhaltensleitender Strafnormen Passivität erzwingen. Vielmehr wäre er gehalten, die daraus resultierenden spezifischen Strafverfolgungsgefahren zu berücksichtigen, um gegebenenfalls selbstbelastend wirkende Verhaltensbefehle zugunsten entgegenstehender Beschuldigteninteressen zurückzunehmen. So verstanden würde der "nemo-tenetur"-Grundsatz nicht nur Passivrechte verbürgen, sondern auch aktive Verhaltensweisen in seinen Schutzbereich aufnehmen, womit sich die Möglichkeit böte, weite Teile der strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprivilegien auf "nemo tenetur" zurückzuführen. Insoweit erweist es sich zur inhaltlichen Erklärung des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips als unerläßlich, die im strafprozessualen Schrifttum unterbreiteten Ansätze zur Neubestimmung des Regelungsgehalts von "nemo tenetur" vorzustellen und zu überprüfen. a) Grundsätzliche Öffnung des Rechtsinstituts für aktive Verhaltensweisen (Kühne)

Von allen Vorschlägen zur Neubestimmung des Regelungsgehalts von "nemo tenetur" scheint die von Kühne entwickelte Konzeption am weitestgehenden. aa) Im Ausgangspunkt seiner Überlegungen stellt Kühne fest, daß die herkömmliche Unterscheidung zwischen nicht erzwingbarer selbstbelastender Aktivität und der durch Strafbestimmungen grundsätzlich einforderbaren

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2. Kap.: "Nemo tenetur" und strafrechtliche Selbstbegünstigung

Passivität deswegen zweifelhaft sei, weil beide Verhaltensweisen gleichermaßen die Strafverfolgungsgefahr erhöhen und daher selbst belastend wirken könnten 15. Insbesondere der Straftatbestand der Verkehrsunfallflucht, der fundamentale Selbstbegünstigungshandlungen durch das Gebot des Verweilens am Unfall ort pönalisiert, lasse die Verfehltheit der Beschränkung von "nemo tenetur" auf den Bereich der Passivität deutlich werden. Denn denkt man das Normprogramm des § 142 StGB unter Berücksichtigung des verfassungsrechtlichen Gleichbehandlungsgebots aus Art. 3 I GG folgerichtig zu Ende, wäre es unvermeidlich, Warte- und Aufklärungspflichten zum Schutze zivilrechtlicher Ansprüche im Anschluß an sämtliche Fahrlässigkeitsdelikte zu normieren, da die durch den Straßenverkehr gefährdeten Rechtsgüter auch anderweitig verletzt werden können 16. Darüber hinaus müßten entsprechende Passivitätspflichten erst recht auch Vorsatztäter treffen und zum Verweilen am Tatort zwingen, was auf die geradezu absurd anmutende Konsequenz hinausliefe, daß ein Dieb nicht nur aus § 242 StGB, sondern auch wegen "unerlaubten Entfernens vom Tatort" bestraft werden müßte l7 . Zur Vermeidung derart unsinniger Ergebnisse hält es Kühne für unerläßlich, den "nemo-tenetur"Grundsatz um aktive Verhaltensweisen zu erweitern, so daß selbstbegünstigende Aktivität prinzipiell durch "nemo tenetur" privilegiert werden könne. Derart verstanden würde sich "nemo tenetur" in jeder Situation mit erhöhter Strafverfolgungsgefahr aktualisieren, weswegen selbstbegünstigende Aktivität nicht mehr ohne weiteres bestraft werden dürfe 1s . Im Ergebnis würde Kühnes Verständnis von "nemo tenetur" folglich dazu führen, daß die jeweils kollidierenden Belange des Opfers mit denen des Straftäters gegeneinander abzuwägen wären, um bei Überwiegen der Selbstschutzinteressen des Straftäters den Anwendungsbereich der betreffenden Strafnormen im Hinblick auf den "nemo-tenetur"-Grundsatz teleologisch zu reduzieren. Damit wäre in der Tat ein Rechtsinstitut aufgezeigt, das gleichsam das Fundament des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips bilden und zu einer weitreichenden Privilegierung selbstbegünstigender Verhaltensweisen führen könnte. Allerdings stößt diese von Kühne entwickelte Interpretation des "nemo-tenetur"-Grundsatzes sowohl hinsichtlich der Extension des Regelungsgehalts als auch aufgrund methodologischer Erwägungen auf Bedenken. bb) Gewiß ist Kühne zuzugeben, daß durch den strafrechtlichen Zwang zur Passivität ähnlich intensive Strafverfolgungsgefahren begründet werden können, wie wenn der Staat dem Beschuldigten selbstbelastende Aktivität abnötigt. Daher mag es auf den ersten Blick in der Tat naheliegen, Tun und Unterlassen vor dem Hintergrund von "nemo tenetur" gleichermaßen zu privilegieren. Die 15 16

17 18

Kühne, Beweisverbote, S. 53. Ders. a.a.O, S. 54. Ders., a.a.O., S. 54f. Siehe dazu den knappen Hinweis Kühnes auf S. 55 seiner Dissertation.

I. Regelungsumfang des "nemo-tenetur"-Grundsatzes

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besondere strafrechtsdogmatische Brisanz einer derartigen Erweiterung des "nemo-tenetur"-Grundsatzes um aktive Verhaltensweisen bestünde insbesondere darin, daß dem Straftäter prinzipiell der Einwand eröffnet würde, in Ausübung seines "Selbstbegünstigungsrechts" zulässigerweise in Rechte Dritter eingreifen zu dürfen, so daß es nicht mehr eine Frage des Prinzips, sondern des Einzelfalles wäre, wo die Grenzen rechtlich gebilligter Selbstbegünstigung verlaufen. Faktisch würde damit im Selbstbegünstigungskontext auch für Begehungsdelikte eine Art Zumutbarkeitsprüfung eingeführt. In der Sache vermag es freilich nicht zu überzeugen, "nemo tenetur" eine Regelungsfunktion zuzubilligen, die dem allgemeinen Unzumutbarkeitsgedanken zurecht einhellig verweigert wird. Denn würde man "nemo tenetur" tatsächlich im Sinne Kühnes auf die Privilegierung aktiver Verhaltensweisen ausdehnen, erhielte dieser in das materielle Strafrecht transponierte strafprozessuale Rechtssatz dieselbe normunterminierende Tendenz, die dem allgemeinen Unzumutbarkeitsgedanken eigen ist. Ein wesentlich erweiterter "nemotenetur"-Grundsatz würde folglich zu einem Mehr an Rechtsunsicherheit führen, da weder für den Straftäter noch für das Opfer zuverlässig vorhersehbar wäre, inwieweit das Strafrecht aufgrund massiver Selbstbegünstigungsinteressen Beschränkungen erfährt. Dadurch würde die Bestimmungsfunktion der Strafnormen geschwächt, so daß sich nunmehr nicht das regulative Prinzip der Unzumutbarkeit, sondern der strafprozessuale "nemo-tenetur"-Grundsatz zur viel beschworenen Einbruchstelle des Strafrechts entwickeln würde. Allein diese ergebnisorientierten Einwände sollten die Problematik einer Erweiterung des "nemo-tenetur"-Grundsatzes um aktive Verhaltensweisen hinlänglich verdeutlichen. Darüber hinaus muß es aus methodologischer Sicht bedenklich stimmen, wenn Kühne eine althergebrachte Fundamentalbestimmung des deutschen Strafverfahrens durch den wesentlich jüngeren Straftatbestand der Verkehrsunfallflucht inhaltlich ausdeuten will. Träfe es zu, daß der Regelungsgehalt von "nemo tenetur" vom Straftatbestand der Verkehrsunfallflucht abhinge, müßte die (natürlich von niemandem propagierte) Aufhebung des § 142 StGB notwendigerweise auch zu einer inhaltlichen Veränderung des Strafprozeßrechts führen. Dies zugestehen hieße, "nemo tenetur" inhaltlich vom Strafverfahren abzukoppeln und als Privilegierungsinstitut sui generis an die Schwelle zum materiellen Strafrecht zu rücken. Obschon Interdependenzen zwischen Strafund Strafverfahrensrecht an sich nichts Ungewöhnliches sind, zumal sich das Strafrecht allein im Prozeß mit dem dort geltenden Regeln realisiert, wäre es jedoch überzogen, die Grundlagen des Strafverfahrens vom materiellen Strafrecht derart weitgehend abhängig zu machen und damit umzudeuten. Insoweit ist es mehr als zweifelhaft, § 142 StG B zum Angelpunkt für den "nemo-tenetur"Grundsatz hochzustilisieren. Dies gilt im übrigen auch für die von Kühne als reductio ad absurdum angedeutete Gleichbehandlungsbetrachtung, aufgrund derer "nemo tenetur" 3 H. Schneider

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2. Kap.: "Nemo tenetur" und strafrechtliche Selbstbegünstigung

zwecks Vermeidung absurder, vorgeblich durch Art. 3 I GG erzwungener Strafnormen in den Bereich der Aktivität erweitert werden müßte. Sicherlich könnte man sich auf den Standpunkt stellen, daß nach fahrlässigen Normverstößen strafbewehrte Bleibegebote den Täter zum Verweilen am Tatort zwingen sollten, was sich philosophisch mit Hilfe einer spezifischen Verantwortungsethik rechtfertigen ließe 19 . Jedoch besteht in der Realität für die Einführung eines globalen Bleibegebots keine Veranlassung. Wie später noch im Detail darzulegen ist, werden durch § 142 StGB Rechtsgutverletzungen erfaßt, die sich von anderen Beeinträchtigungen insoweit unterscheiden, als der anonyme, schnell ablaufende Straßenverkehr Besonderheiten aufweist, die für die geschädigten Verkehrsteilnehmer in der Regel ein Selbsthilfedefizit bei der Durchsetzung ihrer Ersatzansprüche begründen 20. Mithin erscheint der Einsatz des Strafrechts bei Schadensfällen zur Kompensation verkehrsbedingter Nachteile durchaus sinnvoll. Hingegen besteht beispielsweise für den großen Komplex schädigenden Fehlverhaltens im Betrieb und am Arbeitsplatz situativ keine Notwendigkeit, Strafnormen zur Durchsetzung entsprechender Schadenersatzansprüche einzuführen. Denn dort spielen die Aspekte "Schnelligkeit" und "Anonymität" in der Regel keine Rolle, so daß das Strafrecht als ultima ratio des Rechtsgüterschutzes nicht zum Einsatz gelangen muß21. Insgesamt wird man daher Kühnes Versuch, den "nemo-tenetur"-Grundsatz mit Blick auf§ 142 StGB um die Privilegierung aktiver Verhaltensweisen zu erweitern, als wenig überzeugend ansehen dürfen. b) Differenzierung nach Zwangs/ormen (Reiß) Einen weiteren Ansatz zur Ausdehnung des Regelungsumfangs von "nemo tenetur" hat jüngst Reiß in seiner Bonner Habilitationsschrift unterbreitet 22 . aa) Ebenso wie die Vertreter der herrschenden Meinung geht Reiß im Ausgangspunkt davon aus, daß "nemo tenetur" primär den Beschuldigten davor schütze, durch aktive Mitwirkungspflichten zu seiner Überführung beitragen zu müssen. Problematisch sei es hingegen, wenn die herrschende Meinung das Aufstellen passiver, selbstbelastend wirkender Duldungspflichten ohne weiteres für zulässig erachtet und im Anschluß daran den Regelungsumfang des "nemo-tenetur"-Grundsatzes mit dem verhaltensbezogenen Gegensatzpaar "Aktivität/Passivität" umschreibt. Die hinter dieser Abgrenzung zutage tretende Wertung, wonach Duldungspflichten einen geringeren Zwang ausüben als aktive Mitwirkungspflichten und daher weniger intensiv in das natürliche Recht auf Selbstschutz eingreifen, treffe nach Reiß in dieser Allgemeinheit nicht zu und führe erklärungstechnisch in die Irre. Vielmehr sei es 19

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Siehe dazu Paeffgen, VorüberIegungen, S.48 Fn. 169. Weiterführend Dünnebier, GA 1957, 33ff. und AKjStGB-Schild, § 142 Rn. 40ff. Wie hier auch Leipold, Verkehrsunfallflucht, S. 41. Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 176-179.

I. Regelungsumfang des "nemo-tenetur" -Grundsatzes

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angezeigt, den Inhalt von "nemo tenetur" nicht mittels rein formaler allgemeiner Verhaltenskategorien, sondern unter Zuhilfenahme originärer strafprozessualer Grundsätze zu ermitteln. Instruktiv sei insoweit ein Vergleich zwischen den §§ 81a und 81c StPO, woraus erhelle, daß der Beschuldigte im Zuge körperlicher Untersuchungen allein unmittelbaren Zwang in Form der vis absoluta, niemals jedoch mittelbare Zwangsmittel - wie sie für Zeugen in § 70 StPO vorgesehen sind - hinnehmen müsse 23 . Diese Beschränkung der Strafverfolgungsbehörden auf die an sich schwerer wiegende Zwangsform der vis absoluta mag auf den ersten Blick erstaunen, lasse sich jedoch aus der Geschichte des Strafprozesses erklären. Maßgeblich sei diesbezüglich die Ersetzung des Beweisrechts des Inquisitionsverfahrens, wo die Mitarbeit des Beschuldigten notfalls erzwungen werden konnte, durch eine grundlegend neue Verfahrenskonzeption; aufgrund derer die Strafverfolgungsbehörden gehalten waren, eigenständig und ohne zwangsweisen Rückgriff auf den Beschuldigten als Wissensträger den Beweis der Schuld zu führen 24 • Mithin verlaufe die entscheidende Trennlinie für die zulässige Zwangsausübung unter dem Gesichtspunkt von "nemo tenetur" dort, wo der Beschuldigte nicht als bloßes Augenscheinsobjekt (siehe § 81a StPO), sondern als Wissensträger zwangsweise veranlaßt werden soll, sich in den Dienst der Strafverfolgung zu stellen. Anders gewendet: Das Abnötigen unvertretbarer Beschuldigtenhandlungen sei dem strafverfolgenden Staat nicht gestattet, weswegen dem Beschuldigten neben selbstbelastendem Tun auch kein Dulden abverlangt werden dürfe, wenn dieses staatlicherseits nicht durch vis absoluta erzwingbar wäre. Daher sei jeder mittelbare Zwang in Gestalt strafrechtlicher Bestimmungen unzulässig, wenn dadurch der Beschuldigte Beweismittel gegen sich selbst produzieren müßte, die sich die Strafverfolgungsbehörden ohne Mitwirkung des Beschuldigten nicht beschaffen könnten 25 • Im Ergebnis werde der Regelungsumfang des "nemo-tenetur"-Grundsatzes folglich nicht durch Verhaltensformen des Beschuldigten, sondern durch die Art und Weise des staatlichen Zwanges bestimmt, wodurch gewisse Weiterungen in den Bereich selbstschützender Aktivität eintreten. bb) Vergleicht man die Konzeption von Reiß mit der "nemo-tenetur"Interpretation Kühnes, wird ersichtlich, daß Reiß "nemo tenetur" im Gegensatz zu Kühne nicht als globales Abwehrrecht des Beschuldigten begreift und keinesfalls für eine generelle Erweiterung des Rechtsinstituts um aktive Verhaltensweisen plädiert, sondern allein eine prozessual rückgekoppelte partielle Ausdehnung für angebracht hält. Daraus erhellt, daß der "nemo-tenetur"Grundsatz in der Interpretation durch Reiß nicht als allgemeine Grundlage des auch aktive Handlungsweisen privilegierenden strafrechtlichen SelbstbegünstiReiß, a. a. 0., S. 176. Reiß, a.a.O., S.l77f. 25 Reiß, a.a.O., S.179. Ähnlich Grünwald, JZ 1981, 423 (428f.). Kritisch hierzu PaefTgen, Vorüberlegungen, S. 69f. 23

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2. Kap.: "Nemo tenetur" und strafrechtliche Selbst begünstigung

gungsprinzips dienen kann. Freilich ist die von Reiß vorgeschlagene Ausdeutung des "nemo-tenetur"-Grundsatzes insoweit interessant, als sie mit dem Kriterium "mittelbarer Zwang" einen materiellen Abschichtungsfaktor einführt, der über die herkömmliche formale Unterscheidung von Tun und Lassen hinausreicht und an eine grundlegende Idee des reformierten Strafprozesses anknüpft (Beschuldigter als nicht in Anspruch zu nehmender Gegenspieler). Allerdings ergeben sich hiergegen Bedenken allein schon aus der sachlichen U ngeklärtheit des formalen Differenzierungskriteriums der" Unmittelbarkeit". Darüber hinaus scheint die von Reiß zur Diskussion gestellte Interpretation von "nemo tenetur" den in der vorherrschend befürworteten Unterscheidung zwischen privilegierter Passivität und nicht privilegierter Aktivität zutage tretenden Formalismus nicht zu überwinden, sondern lediglich zu verlagern, indem nicht mehr die Verhaitenskategorien des Beschuldigten, sondern die des Zwang anwendenden Staates ins Zentrum des Interesses rücken. Ob dadurch ein entscheidender dogmatischer Gewinn erzielt wird, bleibt freilich zweifelhaft. Denn unter Berücksichtigung des Schutzzwecks von "nemo tenetur" vermag allein das Abstellen auf den staatlichen Mitteleinsatz in qualitativer Hinsicht kaum weiterzuführen, da letztendlich das zwangsweise verfolgte staatliche Ziel und weniger die zu dessen Erreichen eingesetzten Mittel interessieren 26 . Daß letztlich auch Reiß selbst dieser Einschätzung nicht allzu fern steht, erhellt daraus, daß er in Einklang mit der herrschenden Meinung den privilegierten Sektor der Passivität als den Kernbereich des "nemo-tenetur" -Grundsatzes anerkennt und mit dem Aspekt der durch vis absoluta gegebenen Erzwingbarkeit des Beschuldigtenverhaltens ein primär strafprozessual-erklärendes Abgrenzungskriterium benennt. Folglich liegt das Weiterführende des Reißschen "nemo-tenetur"-Verständnisses eher im rein strafprozessualen als in dem in dieser Untersuchung des Selbstbegünstigungsprinzips primär interessierenden strafrechtlichen Bereich. Die möglicherweise verbleibenden, von Reiß27 vornehmlich in § 142 StGB ausgemachten strafrechtlich relevanten Divergenzen zur vorherrschenden Inhaitsbestimmung von "nemo tenetur" dürften sich darüber hinaus durch eine Präzisierung der personalen Schutzrichtung der strafprozessualen Selbstbelastungsfreiheit einebnen. Angesichts dessen erweist sich die Bestimmung des Adressatenkreises des "nemo-tenetur"-Grundsatzes gegenüber der prozessualen Randzonenabgrenzung aus strafrechtsdogmatischer Sicht als vorrangig. Als Zwischenergebnis bleibt daher festzuhalten, daß "nemo tenetur" (zumindest in seinem Kernbereich) ein Recht zur Passivität gewährt und staatlichen Zwang zu selbstbelastender Aktivität verbietet, ohne jedoch einer Pönalisierung aktiver Selbstbegünstigungshandlungen entgegenzustehen.

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Ausführlich Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 70. Besteuerungsverfahren, S. 201 ff.

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11. Rechtstheoretische, insbesondere verfassungsrechtIiche Begründung

Wenngleich mit der Garantie selbstschützender Passivität der Kernbereich des "nemo-tenetur"-Grundsatzes umrissen ist, läßt diese Bestimmung des Regelungsinhalts weiterhin die Schutzrichtung des Verbots zwangsweiser Selbstbelastung offen. Zwar steht fest, daß "nemo tenetur" gegenüber den staatlichen Strafverfolgungsbehörden Wirkung entfaltet; ungewiß ist jedoch, inwieweit dieses originär beschuldigtenschützende Rechtsinstitut über den Strafprozeß hinaus für andere staatliche Verfahren gilt. Weiterhin bleibt fraglich, ob "nemo tenetur" auch Auswirkungen auf die Rechtsbeziehungen Privater untereinander zeitigt 28 • Angesichts dieser Fragestellungen erweist es sich als erforderlich, die verfassungsrechtlichen Grundlagen des "nemotenetur"-Grundsatzes aufzudecken, um im Anschluß daran zu klären, inwieweit "nemo tenetur" auf die Strafrechtsdogmatik und dort namentlich auf die Unterlassungsdelikte einwirkt. Insbesondere der zuletzt aufgeworfenen Problematik kommt im Selbstbegünstigungskontext erhebliche Bedeutung zu. Denn sollte "nemo tenetur" tatsächlich - wie teilweise behauptet wird - ein die gesamte Rechtsordnung umspannendes Selbstschutzprivileg normieren 29 , so wäre zumindest für den Verhaltenssektor der Passivität ein allgemeines Regelungsprinzip zur Strukturierung des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsgedankens gefunden. 1. Verfassungsrechtliche Ausgangspunkte

Obschon die Strafprozeßordnung den "nemo-tenetur"-Grundsatz nicht ausdrücklich normiert, beweisen die Belehrungsvorschriften der §§ 115 111 1, 128 I 2, 136 I 2, 163a III 2, 163a IV 1 und 243 IV 1 StPO, daß der historische Gesetzgeber seit jeher von der Existenz der negativen Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten ausgegangen ist 30 • Heute besteht Einigkeit über die verfassungsrechtliche Verankerung von "nemo tenetur". Freilich ist der konkrete Standort des Grundsatzes innerhalb des Grundgesetzes umstritten. Während früher die Freiheit der Person (Art. 2 11 GG), die Gewissensfreiheit (Art. 4 I GG) bzw. das Grundrecht auf rechtliches Gehör (Art. 103 1,104 III 1 GG) als sedes materiae angegeben wurden 31 , wird heutzutage "nemo tenetur" entweder im grund gesetzlichen Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 III GG) oder aber als spezielles Freiheitsgrundrecht in Art. 2 I GG in Verbindung mit Art. 1 I und 19 11 GG angesiedelt 32 •33 • Ausführlich Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 187, 197, 199,201. So beispielsweise Rogall, Der Beschuldigte, S. 129ff. 30 Siehe dazu Fezer, Strafprozeßrecht I, 3 j 16 mit Nachw. 31 Siehe dazu ausführlich Rogall, Der Beschuldigte, S. 124ff. 32 Siehe hierzu statt vieler SKjStPO-Rogall, vor § 133 Rn.66 mit zahlreichen Nachweisen. 33 Eine neue Akzentuierung der verfassungsrechtlichen Wurzeln des "nemo-tenetur"Grundsatzes hat jüngst Keller, Rechtliche Grenzen, S. 131 f. vorgelegt, indem er "nemo 28

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2. Kap.: "Nemo tenetur" und strafrechtliche Selbstbegünstigung

Diese unterschiedliche verfassungsrechtliche Verankerung des "nemotenetur"-Grundsatzes dürfte sich auf die Schutzrichtung des Rechtsinstituts auswirken. Versteht man "nemo tenetur" als Ausprägung des grundgesetzlichen Rechtsstaatsprinzips, käme dem Selbstbelastungsverbot der Charakter eines Justizgrundrechts zu, das naturgemäß das verfahrensrechtliche Verhältnis Bürger / Staat regelt, ohne in die Rechtsbeziehungen Privater untereinander einzugreifen. Infolgedessen bliebe es dem Staat prinzipiell unbenommen, zum Schutze privater Rechtsgüter strafbewehrte Handlungspflichten zu normieren, selbst wenn sich der Normadressat bei Befolgung der Handlungsgebote einer erhöhten Strafverfolgungsgefahr aussetzen müßte 34 • Demgegenüber würde die Verankerung des "nemo-tenetur"-Grundsatzes in Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG eine Erweiterung des Schutzbereichs nahelegen; denn dann würde "nemo tenetur" die Bedeutung eines mit hohem Menschenwürdegehalt ausgestatteten Freiheitsgrundrechts erlangen, das über die unterlassungsspezifische Generalklausel der Unzumutbarkeit möglicherweise mittelbare Drittwirkungen auf die Rechtsbeziehungen zwischen Privaten entfalten könnte 35 • 2. Herleitung aus dem Rechtsstaatsprinzip

a) Vorüberlegungen zum Rechtsstaatsverständnis Sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch der Bundesgerichtshof haben die negative Mitwirkungsfreiheit des Beschuldigten mit dem Rechtsstaatsprinzip aus Art. 20 III GG in Verbindung gebracht 36 • So führt beispielsweise der 4. Strafsenat des Bundesgerichtshofs aus, daß das gesamte Strafverfahren unter dem Leitgedanken der Rechtsstaatlichkeit stehe, was unter anderem in § 136 I 2 StPO zum Ausdruck komme 37 • Demnach würde "nemo tenetur" zu den tragenden Gedanken unserer Staatsverfassung zählen und die Staatsgewalt tenetur" als besondere Ausformung des vom Bundesverfassungsgericht in BVerfGE 65, 1 (42, 46, 62f.) entwickelten Rechts auf informationelle Selbstbestimmung versteht. Allerdings erübrigt sich vorliegend eine gesonderte Untersuchung dieses Ansatzes deshalb, weil Keller durch den Rekurs auf die informationelle Selbstbestimmung normtheoretisch letztlich doch wieder auf die Art. 2 I, 1 I GG zurückgreift. 34 Siehe dazu Reiß, Besteuerungsverfahren, S. 201. 35 Weiterführend Rogall, Der Beschuldigte, S. 159 ff. 36 Zur verfassungsrechtIichen Verankerung des Rechtsstaatsprinzips siehe umfassend Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 63 ff. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist uneinheitlich: während beispielsweise BVerfGE 30,1 (24) betont, daß das Rechtsstaatsprinzip nicht in Art. 20 III GG verankert sei, sondern einen aus der Gesamtheit der Verfassung zu erschließenden Rechtsgrundsatz darstelle, benennen BVerfGE 35, 41 (47); BVerfGE 39, 128 (143) und BVerfGE 48, 210 (221) Art. 20 III GG als sedes materiae. Dieser Streit wirkt sich vornehmlich im Hinblick auf die "Ewigkeitsklausel" des Art. 79 III GG aus und ist für die Thematik dieser Untersuchung ohne Bedeutung. 37 BGHSt. 31, 304 (308). Ähnlich BGHSt. 1,39 (40) sowie BayObLG JZ 1984,492. Weiterführende Nachweise bei Nothhelfer, Freiheit, S. 11 Fn. 15.

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regulierend beschränken. Gleichwohl lassen sich auch Judikate finden, in denen "nemo tenetur" allein auf die Menschenwürde zurückgeführt wird 3B • Zudem hat Rogall gegen eine Zuordnung zum verfassungsrechtlichen Rechtsstaatsprinzip den Einwand erhoben, dadurch würde die negative Mitwirkungsfreiheit zu einem vom jeweiligen Staatsverständnis abhängigen, beliebig veränderbaren Rechtssatz degradiert, da das Rechtsstaatsprinzip eher formaler denn materieller Natur sei (wörtlich: "blankettartige Bezeichnung"). Schließlich führe das Heranziehen von Art. 20 III GG dazu, den "nemo-tenetur" -Grundsatz allein aus staatlicher Perspektive zu betrachten, obschon an sich eine individualethische Sichtweise angebracht sei, wie sie nur durch Art. 2 I in Verbindung mit Art. 1 I GG geleistet werden könne 39 • Diese von Rogall geltend gemachten Bedenken gegen die methodologische Zulässigkeit der Verankerung des "nemo-tenetur"-Grundsatzes in Art. 20 III GG basieren auf einem wohl überholten Rechtsstaatsverständnis 40 . Soweit Rogall die These vertritt, das grundgesetzliche Rechtsstaatsprinzip habe lediglich formal-gewaltentrennenden Charakter und sei daher nicht in der Lage, Rechtssätze materiellen Inhalts in sich aufzunehmen und verfassungsrechtlich abzusichern, übersieht er, daß sowohl das Bundesverfassungsgericht als auch das verfassungsrechtliche Schrifttum zunehmend materielle Rechtssätze wie beispielsweise das Verhältnismäßigkeitsprinzip in den Regelungsbereich des Art. 20 III GG einordnen 41 • Demgemäß ist heute anerkannt, daß das Grundgesetz einen Rechtsstaat im materiellen Sinne verkörpert, der sich nicht nur zu staatsorganisatorischen Formprinzipien, sondern auch zur grundlegenden Idee der Gerechtigkeit bekennt 42 • Inhaltlich konstituiert sich diese materielle Rechtsstaatlichkeit durch die Verbürgung von Grundrechten -verstanden als antietatistische Abwehrrechte 43 - sowie durch allgemeine Grundsätze und Leitideen, die auf althergebrachten, unbestrittenen Rechtsüberzeugungen beruhen und das vorverfassungsmäßige Gesamtbild formen, das der Verfassungsgeber bei Erlaß des Grundgesetzes vorgefunden und als ungeschriebenes Programm rezipiert hat 44 • BVerfGE 56, 37 (42); BGHSt. 14, 358 (364f.). Rogall, Der Beschuldigte, S. 138 f. 40 Zur historischen Entwicklung des Rechtsstaatsgedankens sei auf Stern, Staatsrecht I, S.764ff.; Benda, Handbuch, S.477ff. und Kunig, Rechtsstaatsprinzip, S. 21 ff. verwiesen. 41 Siehe bspw. BVerfGE 19, 342 (348f.); Maunz/Zippelius, Staatsrecht, S. 87; Benda, Handbuch, S.480, 494; Stern, Staatsrecht I, S. 624; Doehring, Staatsrecht, S. 235; Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 71 f.; Nothhelfer, Freiheit, S. 16. 42 Prägnant Maunz/ZippeIius, Staatsrecht, S. 87. 43 Benda, Handbuch, S. 494. 44 Grundlegend BVerfGE 2, 380 (403). Verdeutlichend Herzog, in: Maunz/Dürig, Art. 20 Abschn. VII Rn. 32f.; Reiß, Besteuerungsverfahren, S.141 sowie Paeffgen, Vorüberlegungen, S. 71 f. Das Abstellen auf "althergebrachte Rechtsüberzeugungen" schwächt die Kritik von Maunz / Zippelius, Staatsrecht, S. 91, wonach das vorkonstitutio38

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2. Kap.: "Nemo tenetur" und strafrechtliche Selbst begünstigung

Ausgehend von diesem modernen Verständnis des grundgesetzlichen Rechtsstaatsprinzips ist daher zu klären, ob der "nemo-tenetur"-Grundsatz zu jenen "althergebrachten Rechtsüberzeugungen" zählt, die als materielle Komponenten der Rechtsstaatsidee Eingang in die Verfassung gefunden haben. Darüber hinaus dürfte die Beschäftigung mit der geschichtlichen Entwicklung des "nemo-tenetur"-Grundsatzes Aufschluß über die Schutzrichtung dieses Rechtsinstituts geben. b) Der "nemo-tenetur" -Grundsatz als Ausfluß althergebrachter rechtsstaatlicher Überzeugungen

Gemeinhin wird "nemo tenetur" mit dem menschlichen Selbsterhaltungstrieb assoziiert 45 • Insbesondere die englische Entwicklungsgeschichte, in der es maßgeblich um die Freistellung von Eidespflichten vor besonderen Gerichten ging 4