Grillius: Überlieferung und Kommentar [Reprint 2012 ed.] 3110179768, 9783110179767

Der Kommentar zu Ciceros Schrift De inventione des späauml;tantiken Rhetors Grillius wurde 2002 von Rainer Jakobi neu ed

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Grillius: Überlieferung und Kommentar [Reprint 2012 ed.]
 3110179768, 9783110179767

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Α. Einleitung
Β. Die handschriftliche Überlieferung
C. Kommentar. Teil 1
C. Kommentar. Teil 2
D. Literaturverzeichnis
Ε. Register

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Grillius

w DE

G

Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte Herausgegeben von Gustav-Adolf Lehmann, Heinz-Günther Nesselrath und Otto Zwierlein

Band 77

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Grillius Überlieferung und Kommentar

von

Rainer Jakobi

Walter de Gruyter · Berlin · New York

© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die U S - A N S I - N o r m über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN-13: 978-3-11-017976-7 ISBN-10: 3-11-017976-8 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische D a t e n sind i m Internet über abrufbar.

© Copyright 2005 by Walter de Gruyter G m b H & Co. KG, D - 1 0 7 8 5 Berlin. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. J e d e Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Z u s t i m m u n g des Verlages unzulässig und strafbar. D a s gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in G e r m a n y Einbandentwurf: Christopher Schneider, Berlin D r u c k und buchbinderische Verarbeitung: H u b e r t Sc Co. G m b H Sc Co. KG, Göttingen

Vorwort Mit den Prolegomena zur handschriftlichen Überlieferung und dem kritisch-exegetischen Kommentar lege ich den Begleitband zur Teubneriana vor. Otto Zwierlein hat dem Manuskript eine gründliche Lektüre zukommen lassen und eine Reihe schlagender Emendationen beigetragen. Mein besonderer Dank gilt ihm dafür, daß er mich vor manchem Fehlurteil bewahrt hat. Für zahlreiche Verbesserungen und Hinweise bin ich Heinz-Günther Nesselrath verpflichtet. Mit Marcus Beck habe ich in den zurückliegenden Jahren viele Textprobleme erörtern können. Ihm danke ich zudem für die Erstellung der Druckvorlage.

R.J.

Inhalts verzeichni s Α. Einleitung I. Der Kommentar des Grillius und die Geschichte der Erklärung von ' de inventione' II. Zur Datierung des Kommentars III. Die Anlage des Kommentars 1. Der Titel 2. Umfang 3. Gliederung 4. Lemmatisierung B. Die handschriftliche Überlieferung I. Die direkte Überlieferung 1. Die Handschriften 2. Überlegungen zur spätantiken und frühmittelalterlichen Stufe der Überlieferung 3. Der Archetypus (ω) 4. Die Spaltung in zwei Überlieferungszweige (α und ß) . . 5. Die Deszendenz des Hyparchetypus α a) Die Aufspaltung in zwei Äste b) F als descriptus von Β c) Μ als descriptus von Ρ 6. Die Deszendenz des Hyparchetypus β a) Die Aufspaltung in zwei Äste b) Die Deszendenz von γ II. Die indirekte Überlieferung 1. Grillius p. 1,1-2,28 als argumentum artis rethorice in mittelalterlichen Boethiushandschriften (= π) a) Die Konstituierung von π b) π und die Grilliusüberlieferung 2. Die glossa vulgata

1 1 4 5 5 7 7 9 11 11 11 13 14 16 18 18 20 22 23 23 25 29 29 29 32 33

VIII

Inhaltsverzeichnis 3. Paris, B.N. lat. 7696 4. Oxford, B.L., Laud.lat. 49 5. Petrus Damiani

6. Manegolds 'de inventione'-Kommentar 7. Accessus und Glossen im Vaticanus Latinus 1694 (y) . . . 8. Paris B.N. lat. 2335 9. Firenze, Bibl. Laur. Plut. 50.10 (und Plut. 50.1) 10. Thierry de Chartres 11. Die 'de inventione'-Kommentierung 'ista videnda sunt circa artem rethoricam' 12. Petrus Helias 13. Wibald von Stablo 14. Der 'ad Herennium'-Kommentar ut ait Quintiiianus (Oxford, B.L. Corpus Christi College 250) 15. Der 'de inventione'-Kommentar ars rethorice sicut (Oxford, B.L., Canon, class, lat. 201) 16. Die 'ad Herennium'-Erklärung des 'Alanus' 17. Ein Kommentar zur Herennius-Rhetorik in Wien, Österr. Nationalbibl. 240 18. Brunetto Latinis 'Rettorica' 19. Der Valerius Maximus-Kommentar des Dionysius de Burgo 20. Der 'plena et perfecta'-Kommentar zu 'ad Herennium' 21. Vallas Adnoten zu Quintilian 22. Oxford, B.L., D'Orville 152 (O) 23. Berlin, Staatsbibl. Preuß. Kulturbesitz lat. oct. 197 . . . . III. Von Italien nach Paris: Drei Zeugnisse über Grillius als rhetorische Autorität 1. Anselm von Besäte 2. Benzo von Alba 3. Ps. Boethius, De disciplina scolarium IV. Verlorene Handschriften V. Vermeintliche Grilliana 1. Das Fragment si tarn agentis 2. Der Bücherkatalog der Bibliotheca Amploniana

36 36 38 38 39 41 42 43 44 46 47 47 48 49 50 50 51 52 52 53 56 56 56 57 57 58 59 59 60

Inhaltsverzeichnis

IX

3. Die sog. 'Extracta Grillii' in Stockholm, Kungl. Bibl. Va 10 61 VI. Der Kommentar in der Moderne 63 C. Kommentar 65 I. 1,1-9,215: Gesamtanalyse des ciceronianischen Prooems (inv. 1,1-5) 65 1,1-3,53 Ciceros Aufgabe innerhalb des Prooems: Die Verteidigung gegen Piaton und Aristoteles 68 3,54-4,83: Die Analyse des Prooems gemäß den naturales quaestiones 76 4,84-5,107: Ciceros Prooem als Thesis betrachtet 80 5,108-5,128: Die Verteidigung gegen Aristoteles nach den Grundsätzen der Güterlehre 83 6,129-9,215: vitia controversiarum: Eine Dublette der Kommentierung von inv. 1,10 86 II. 9,1-16,179: Die Einzelkommentierung von inv. 1,1 94 III. 16,1-29,178: Die Kommentierung der narratio: Ursprung und Glanz der rhetorica (inv. 1,2-3) 114 IV. 29,1-36,47: Die Kommentierung der narratio: Der Niedergang der Rhetorik (inv. 1,4-5 praesidio esset eloquentia)·. Bonam esse artem 152 V. 36,48-41,97: Laudes eloquentiae: Die Beredsamkeit als genus der civilis ratio (inv. 1,5 quare meo quidem iudicio - 1,6) . 1 6 6 VI. 41,1-51,49: Der Gegenstand der eloquentia: Ciceros Hermagoras-Kritik (inv. 1,7-1,9) 177 VII. 51,1-57,176 Statuslehre I: Status und Asystata (inv. 1,1011) 199 VIII. 57,1-69,45: Die Hermagoras-Kritik in inv. 1,12-14 alicuius constitutionis: Eine Kette von Syllogismen 212 IX. 69,46-75,27 Statuslehre III: Iuridicialis und negotialis (inv. 1,14 haec ergo constitutio - 1,16) 232 X. 75,1-81,190 Statuslehre IV: Ratio und scriptum als die beiden Teile der generalis constitutio (inv. 1,17) 247 XI. 82,1-86,77 Statuslehre V: Ratio und infirmatio rationis (inv. 1,18-19) 262

X

Inhaltsverzeichnis

XII. 86,1-97,80: Das Exordium im Lichte der genera causarum (inv. 1,20-22) 269 D. Literaturverzeichnis 289 E. Register 293 I. Namen und Sachen 293 II. Wörter 294 III. Stellen 295 IV. Handschriften 295

Α. Einleitung I. Der Kommentar des Grillius und die Geschichte der Erklärung von 'de inventione ' Ciceros 'de oratore' war eine Rhetorik, die von Rhetoren und einer gebildeten Öffentlichkeit gerne gelesen und zitiert wurde; für die zünftigen Curricula aber war 'de inventione' nicht nur das bessere Handbuch, welches seinen Stoff ohne bildungstheoretische Grundsatzdiskussion und republikanische Idealisierung bot, es war auch mit der Autorität des berühmtesten Praktikers geadelt. Den ersten nachweisbaren ' de inventione' -Kommentar hat Mitte des 4. Jh.s Marius Victorinus vorgelegt. ' M a r c o m a n n u s ' , der hermagoreische Rhetor germanischer Abstammung aus dem frühen 4. Jh. 1 , hat m.E. keinen Cicero-Kommentar, sondern eine rhetorische ' ars' verfaßt, in der wie bei Quintilian Ciceros ' de inventione' als — jetzt hermagoreischer — Referenztext genutzt, zitiert und in seinen 'Leerstellen' um die zeitgenössische Theorie erweitert wird. Wenn Victorinus p. 299,15 H. auf Marcomannus verweist, der die einzelnen modi der ratiocinatio durch jeweilige Beispiele im Detail durchspiele (sed haec in Marcomanno exempla suntposita = frg. 3 Schissel), so wird schon aus formalen Konventionen die Annahme wahrscheinlich, daß Victorinus von einer ars spricht: pereant qui ante me mea dixerunt heißt das Motto der antiken Kommentartradition; Vorgänger im gleichen Genre werden nur dann namentlich genannt, wenn man sie kritisiert. Ob der Rhetor Eusebius, den Grillius in 29,154 anführt, einen Kommentar zu 'de inventione' verfaßt2 oder die begriffliche Bestimmung

1

2

So zu Recht gegen eine Frühdatierung P. L. Schmidt (HLL V 122f.). Die Marcomannusfragmente hat Schissel in seinem RE-Artikel (XIV 2, 1637-42) ausführlich besprochen. Vgl. P. L. Schmidt, HLL V 123.

2

Einleitung

von commoditas (inv. 1,3) so wie Quintilian in einer 'ars' vorgetragen hat, muß unklar bleiben 3 . Vor der Mitte des 4. Jh.s hat Marius Victorinus als Teil seiner umfassenden grammatischen, rhetorischen und philosophischen Lehr- und Kommentierungstätigkeit auch eine ' de inventione' -Erklärung publiziert. Ihren Ort im Curriculum hat Victorinus selbst am Ende seiner Schrift zur Prosodie der Endsilben festgehalten: rhetoricam autem eloquentiam, id est veram, nosse non poterit, nisi qui ad earn hoc vestigio venerit, primum ut discat, quot sint pedes metrorum; deinde quae sit natura syllabarum in verbis, quod hie doeuimus; tum quid sit colon, quid comma; deinde quid sit periodus, quid numerus; quid sint orationes solutae, quid numerosum; quae sint praeterea tres primae figurae dicendi, magna temperata subtilis; postremo quae sint figurae verborum, quae sententiarum. his impletis Ciceronis rhetoricam omniaque eius ineipiat legere, id est totam rhetoricam, seque cotidie exerceat. (GL VI p. 227,26) Victorinus ist - überspitzt formuliert - eher an philosophischen Fragestellungen, zu denen 'de inventione' durchaus Potential bietet, interessiert als an der ausführlichen Erläuterung rhetorischer Doxologie: Während er die partes orationis-Lehre von inv. I noch mit einer gewissen Energie pflichtschuldig aber ohne intrinsisches Interesse durcharbeitet, nimmt die Kommentierungsdichte zur Statuslehre in inv. II deutlich ab, obgleich Cicero gerade auf diesen Bereich seinen sachlichen Schwerpunkt fokussiert und seine ganze Energie aufgewendet hat. Stattdessen fesseln definitorische Dihäresen, längere Explorationen zum virtus-Begnfi, zur Substanz- und Akzidenzlehre das exegetische Interesse des Neuplatonikers. Dieser 'unschulische' Charakter der Kommentierung des Victorinus, die den 'de inventione'-Text eher als Medium einer philosophischen Propädeutik nutzte, hat Anlaß zu einer Neukommentierung der orthodoxen Rhetorik gegeben, die nicht zuletzt in dieser Schrift Ciceros anders als in dessem rhetorischen Spätwerk den Primat der Rhetorik über die Philosophie entsprechend den Gepflogenheiten ihrer Zunft bezeugt

3

Verwiesen sei auf meinen Kommentar zur Stelle.

I. Grillius und die Geschichte der Erklärung von 'de inventione'

3

sehen konnte: Grillius nutzt den Kommentar des Victorinus als publica materies4 - Martins nicht vollständige Liste der Entlehnungen umfaßt 20 Seiten!5 eliminiert aber alle heterodoxen Elemente und stülpt dem Cicero-Kommentar formal und sachlich die Maske der HermogenesExegese über: Die Kommentierung verzichtet nicht auf die philosophische Begrifflichkeit wie vor allem die aristotelische Topik und Logik, nutzt diese aber polemisch zur Verteidigung der Rhetorik gegen die Vorhaltungen der Kritiker. Ein Text zur rhetorischen Theorie wird wie eine Rede selbst rhetorisch seziert. So handelt Grillius, um ein kennzeichendes Beispiel anzuführen, in 11,62 über das Problem, warum Cicero in inv. 1,1 entgegen der eigenen propositio mit der Behandlung der Nachteile der Redekunst einsetzt, statt mit deren Vorteilen zu beginnen: sed quaeritur, quare, quemadmodum proposuit, non ita respondeat: 'Quia cogitationi nostrae illa prius occurrant. quae mala sunt'. Grillius revoziert hier auf Victorinus, der die Frage folgendermaßen aufgeworfen und beantwortet hat: animadvertendum tarnen, proposuit. Ait enim supra incipit. Sed supra naturam Illa enim prima cogitationi

quod partes non eodem ordine exsequatur, quo 'bonine aut maliplus ': Nunc a malis eloquentiae ... secutus est, nunc cogitationis rationem servat. occurrunt, quae vicina sunt a nostra memoria (p.

175,25 Η.).

Victorinus wird also bei Grillius zum fictus interlocutor! In der Sache setzt Grillius dieser psychologisierenden Erklärung eine für ihn typische rhetorisch-strategische Ausdeutung entgegen: sunt vero qui ideo mala praemittunt, ut ea sequentium bonorum multitudo compescat. Scripturus ergo Tullius rhetoricam ipsa arte utitur (11,65).

4

Aus Victorinus zitiert ebenfalls der bisher nicht datierte Verfasser der Fragmente 'de attributis personae' und 'de attributis negotio', Teile eines spätantiken, mit Victorinus überlieferten Kommentars zu inv. 1,34-43 (RLM pp. 305-310 Η.; vgl. H L L V 122). Ein Beispiel für die Victorinus-Rezeption: p. 3 0 7 , 2 9 H. ( < V i c t o r i n . 2 2 0 , 1 6 H.). Im übrigen ein caveat: Das Fragment hat nichts mit Grillius zu schaffen.

5

Grillius 158ff.; vgl. auch Ward 1972,98-105.

4

Einleitung

Grillius nutzt den Kommentar als Medium eines rhetorischen Grundkurses, vornehmlich — soweit der Text erhalten ist — für die Vermittlung hermogenianischen Basiswissens, aber auch zur Einführung in die — durch ' de inventione' vorgegebene — Dialektik: Der Kommentar ersetzt das Lehrbuch, die große ars6. Zugleich ist er Medium der schulischen Ü b u n g : Beispiele w e r d e n gedehnt zu k l e i n e n e t h o p o i e t i s c h e n Deklamationen, die teilweise in ihrem Umfang jegliche Relevanz für den Referenztext verlieren. Vorbereiten soll das Werk auf die Lektüre der Reden Ciceros selbst, die als Beispiele von Anfang an präsent sind. Andere Redner, die in der rhetorischen Praxis und ästhetischen Krisis der Spätantike durchaus noch wirken, werden außer acht gelassen: Cicero aus Cicero zu erklären heißt das ausdrücklich formulierte Strategem. Allein Vergil, der poeta noster, der als Rhetor rezipiert wird — Grillius setzt curriculare VergilKenntnisse voraus —, wird als Brunnen von Analogie und Beispielen durchgängig angeführt. Das Cicero-Bild ist nicht einmal apologetisch prononciert, es ist zeitlos schlicht und radikal unpolitisch: Ciceros republikanische Rhetorik ist — anders als bei Victorinus — all ihrer politischen Grundlagen, Kontexte und Attribute entkleidet, gerade und trotz des Umstandes, daß Grillius aus den Kommentaren zu Ciceros Reden selbst historische Details zur Sach-Erklärung der Zitate aus den Reden anfuhrt. Dieser Klassizismus der Cicero- (oder Demosthenes-)Erklärung ist Bedingung, nicht das Resultat der Rezeption der Redner.

II. Zur Datierung des

Kommentars

Lorenzo Valla hatte in seinen Quintilian-Adnoten Grillius vorsichtig als Vorgänger des Victorinus eingeordnet 7 und damit eine in der

6 7

Vgl. unten S. 199; 213. Victorinus ... itemque ante eum, ut opinor, Grillius (ad Quint. 3 , 5 , 1 4 ; vgl. unten S. 52f.). Victorinus ist gewiß der Frühere, aber die Frühdatierung des Grillius zeigt ein stilistisches Gespür, das vielen der 'Modernen' fehlt.

II. Zur Datierung des Kommentars

5

Hauptsache m.E. präzisere Datierung als die moderne communis opinio vorgetragen, die seit Haupt8 und Münscher9 den Verfasser des Kommentars mit dem von Priscian (GL II 35,27) angeführten Grammatiker Grillius identifiziert, der laut Priscian eine Schrift ad Virgilium de accentibus verfaßt hat. Man pflegt Grillius meist als Zeitgenossen Priscians und als Lehrer der griechischen Rhetorik zu erachten, der aus dem Osten des Römischen Reiches stamme und die Stasislehre des Hermogenes im 6. Jh. dem Westen so vermittele, wie Priscian in dieser Zeit die Progymnasmata des Hermogenes übersetzt habe10. Diese — bisweilen schon in Frage gestellte — Datierung ist aufzugeben: Die durchgehende Nutzung quantitierend rhythmischer Klauseln weist auf das (frühe) 5. nicht das 6. Jh. Da aber spätantike Rezeptionszeugnisse für unseren Kommentar fehlen, ist keine genauere Datierung möglich.11

III. Die Anlage des Kommentars 1. Der Titel In der α-Tradition ist das Werk mit commentum Grilli überschrieben, während β (bzw. γ) keine subscriptio bietet. Der Begriff commentum gilt nicht, wie man bisweilen liest, dem Typus des Variorum-Kommentars 12 ,

8 9 10

11

12

Opuscula III 339. RE VII 1876. So Martin, Grillius 181; für eine frühere Entstehung (s. IV/V) votierten Leonhard (in: W. Kroll-F. Skutsch (Hrsgg.): W.S. Teuffels Geschichte der Römischen Literatur III, Berlin 6 1913, 388 und Hosius (in: M. Schanz-C. Hosius, Geschichte der römischen Literatur, Bd. I4, München 1927, 458 (im Grillius-Artikel des gleichen Handbuches [IV 2,263] hatte sich Hosius noch 1920 für die Spätdatierung stark gemacht) und W. Sontheimer, Kl. P. II 877. Mit Vorsicht für das 5. Ih., wie von L. Jeep (Philologus 67 [1908], 13f.) erwogen, hat zuletzt P. Gatti plädiert (DNP 4,1242). Mein in der Teubneriana, p. V vorgetragenes Votum, wonach der PolemonVergleich des Kommentars (28,134ff.) im 4. pseudoseverianischen Brief, einem in Wirklichkeit im 2. Jahrzehnt des 5. Jh.s in Cirta an Augustinus adressierten Dokument (CSEL 1, p. 252,17), genutzt sei, gebe ich hiermit auf. Vielmehr liegt, wie O. Zwierlein mich belehrt hat, eine gemeinsame Quelle zugrunde. Erst der Plural commenta macht ein exegetisches Werk zum Sammelkommentar: Die

6

Einleitung

er ist vielmehr ein Synonym für die Exegese in Form eines Kommentars (dicimus et commenta interpretationes commentariorum: ut commenta iuris, commenta virgilii, Plac. V 13,15); vor allem aber gilt der Begriff dem T y p u s des w e i t a u s h o l e n d e n a u s f ü h r l i c h e n K o m m e n t a r s : commentarius Uber, commentum volumen unterscheidet Isidor (diff. 1,155 C.)· Diese differentia wurzelt in der berühmten Gattungsdefinition des Origeneischen (Euvres, die Hieronymus in der Einleitung zur Übersetzung des Ezechielkommentars gegeben hat: Primum eius opus Excerpta sunt, quae graece σχόλια nuncupantur, in quibus ea, quae sibi videbantur obscura aut habere aliquid difficultatis, summatim breviterqueperstrinxit. Secundum homileticum genus ... Tertium quod ipse inscripsit το'μους, nos volumina possumus nuncupare, in quo opere tota ingenii sui vela spirantibus ventis dedit et recedens α terra in medium pelagus aufugit. (GCS 33 p. 318,13) Der Befund bestätigt die spätantiken Abgrenzungen: Commentum ist als Titel für die umfangreichen Auslegungen der Donatkommentare des Servius (Prise. GL II 8,15) und des Pompeius gesichert wie für die Vergil- und Terenzkommentare des Donat selbst. Der Horaz-Kommentar des Porphyrio trägt diesen Titel; commentum, nicht explanatio, findet sich in der subscriptio des 'de inventione'-Kommentars des Marius Victorinus wie auch in der Aristoteleserklärung des Boethius. Die in α überlieferte subscriptio entspricht also den spätantiken Usancen der Titelgebung für eine ausführliche und raumgreifende Kommentierung, wie sie auch bei Grillius vorliegt. Der vollständige Titel unseres Werkes dürfte somit COMMENTVM GRILLII IN (Μ. T.) CICERONIS RHETORICA gelautet haben: in + Acc. ist der in der Spätantike ausschließlich gebrauchte Präpositionalausdruck neben commentum (vgl. ThLL III 1868,3ff), 'Rhetorica' die in der Antike übliche (und ursprüngliche) Bezeichnung für ' de inventione'.

subscriptio der sog. Berner Lucan-Scholien lautet Lucani commentorum Uber.

III. Zur Anlage des Kommentars

7

2. Umfang Das ambitionierte commentum, das mitten im Satz innerhalb der Erklärung von inv. 1,22 abbricht, hätte auch unter Berücksichtigung einer abnehmenden Kommentierungsdichte einen Umfang von über eintausend Teubner-Seiten erreicht 13 . Das Werk ist damit weit umfangreicher konzipiert und ausgefallen als der Vorgängerkommentar des Marius Victorinus, entspricht aber in seinem Aufriss etwa den erhaltenen Philosophenkommentaren auch des lateinischen Westens und den ' Interpretationes Vergilianae' des Claudius Donatus, dem einzigen antiken Dichterkommentar, der noch in seiner ursprünglichen, nicht redaktionell epitomierten Fassung erhalten ist.

3. Gliederung Der Kommentar wurzelt im mündlichen Lehrvortrag, wie noch das zweimalige lectio in 64,204 interim pro intellectu praesentis lectionis

diximus

und 81,176 redeamus nunc ad propositum

lectionis, quia iam exposuimus

omnia

(nach einem Exkurs), die durchgehende Begrifflichkeit oraler Vermittlung (e.g. diximus), Anreden (durchgehend in der 2. Person Sing.) und Beispiele aus schulischem Milieu im Kontext einer 2. Person Plural (2,29ff.; hübsch ' officium', erläutert aus dem officium scholastici, 40,73) bezeugen. Schon der Ausdruck praesens lectio legt nahe, daß der Stoff gemäß Lehreinheiten gegliedert ist. Solche Einheiten (πράξεις / lectiones) lassen sich denn auch durchgehend nachweisen, weil Grillius den CiceroText in einzelnen Sacheinheiten vermittelt, die sich jeweils als Exegese nach ihrem Hauptinhalt, Kontext und Analyse der Argumentation (θεωρία) und einer sich daran anschließenden Einzelerklärung (λέξις)

13

Die beiden Vorverweise auf verlorene Teile (90,17 und 94,106) zeigen an, daß zumindest eine Kommentierung des ersten Buches fest konzipiert war.

8

Einleitung

von Sätzen, Kola oder Wörtern darstellt. Es handelt sich, wie der Kenner sofort sehen wird, um die von Karl Praechter so trefflich beschriebene literarische Form des griechischen Philosophen-Kommentars, wie sie sich seit dem 3. nachchristlichen Jh. entwickelt hat14. Die Gliederungen der π ρ ά ξ ε ι ς von inv. 1,1-22 entspricht meist derjenigen der modernen Herausgeber Ciceros, was nicht wundert, da Cicero selbst klare Leseanweisungen gegeben hat15. 1,1 - 5,128 9,1 - 16,179 16,1 - 29,178 29,1 - 36,47 36,48 - 41,97 41,1 - 51,49 51,1 - 57,176 57,1 - 69,45 69,46 - 75,27 75,1 - 81,190 82,1 - 86,77 86,1 - 97,80 (Abbruch)

Proleg. zu inv. 1-6 inv. 1,1 1,2-3 l,4-5a l,5b-l,6 1,7-9 1,10-11 l,12-14a l,14b-16 1,17 1,18-19 1,20-22

(= (= (= (= (= (= (= (= (= (= (=

128 179 178 175 129 278 176 350 166 190 120

Zeilen) Zeilen) Zeilen) Zeilen) Zeilen) Zeilen) Zeilen) Zeilen) Zeilen) Zeilen) Zeilen)

Die einzelnen πράξεις haben wie in den Philosophenkommentaren keine einheitliche Länge, dürfen also nicht in Vorlesungsstunden umgerechnet werden. Immerhin lassen sich Werte von 130 modernen Zeilen bzw. 175 Zeilen als Größen eruieren. Das Verhältnis der beiden Teile der π ρ ά ξ ε ι ς differiert je nach Sachlage und exegetischem Interesse. Es begegnen kurze θ ε ω ρ ΐ α ι wie längere, ja die θ ε ω ρ ί α kann zum selbständigen Lehrvortrag werden; so kommt z.B. die Einführung in die Syllogistik (57,1-64,203 [als tractatus gekennzeichnet 55,6]) der zugehörigen Einzelerklärung (64,204-69,45) an Umfang gleich. Aus den aufgeführten Ähnlichkeiten zur Lehrpraxis darf man aber nicht mit Martin den Schluß ziehen, daß unser Kommentar

14

15

Ich verweise nur auf seine Synthese ByZ 18 (1909), 516-538 (dort 531ff.); nachgedruckt in: Kleine Schriften, hrsg.v. H. Dörrie, Hildesheim-New York 1973, 282-304 (dort 297ff.). Die Gliederung meines Kommentars ist entsprechend den τράξας des Grillius angelegt.

III. Zur Anlage des Kommentars

9

unmittelbar auf ein Vorlesungsmanuskript oder gar eine Schülernachschrift zurückgeht: Dubletten 16 , Abschluß einer π ρ ά ξ ι ς mit Hinweis auf die zeitlich nicht mehr zu bewältigende Stoffülle oder gar namentliche Publikumsadressen oder andere Kennzeichen eines Konzeptes oder einer Mitschrift sind nicht mehr festzustellen: Der vorliegende Kommentar ist für ein Lesepublikum überarbeitet worden, was auch durch die außerhalb der rein technizistischen Partien weitgehend durchgeführte quantitierende Rhythmisierung nahegelegt wird. Berücksichtigt man die Gepflogenheiten einer spätantiken Publikation, wird man davon auszugehen haben, daß ein Vorwort mit Widmung verloren ist. Daß der Kommentar etwas unvermittelt mit dem Einwurf eines ' fictus interlocutor' einsetzt, wird man als weiteres Indiz für einen Textverlust im Eingang werten.

4. Lemmatisierung Da der Kommentar im Laufe seiner Überlieferung nicht in Interlinearund Randscholien aufgelöst worden ist, könnten die Lemmata selbst auf das ' Autorenexemplar' zurückgehen. Dem würde auch der von Martin (Grillius 144f.) erörterte Umstand Rechnung tragen, daß die Lemmata im Detail häufiger "aus dem Zusammenhang gehoben und gelegentlich auch der eigenen Gedankenführung angepaßt" sind. Nicht entschieden werden kann natürlich, ob die von Martin ebd. und unten im Kommentar nachgewiesenen Konvergenzen zwischen den Lemmata bei Grillius und Lesarten der ' integri' der ' de inventione' Überlieferung ursprünglich sind oder auf sekundäre Angleichung an einen (früh)mittelalterlichen Lesetext zurückgehen. Tunlichst habe ich es in der Edition vermieden, Lemmata an ihrem Ende um 'fehlende' Wörter zu ergänzen, selbst wenn das Bezugswort, dem die Erklärung gilt, nicht im Lemma vertreten ist (so etwa in 12,75; 12,78; 18,69;

16

Die Dublette in den 'Prolegomena' (6,129-9,215 = Komm, zu inv. 1,10) ist kein Gegenbeleg, weil sich hier nicht ein Lehrer selbst in aufeinander folgenden Stunden repetierend wiederholt, sondern die Kommentierung zu inv. 1,10 nichts in der Erklärung des Prooems verloren hat; zu den Details verweise ich auf die Einzelkommentierung.

10

Einleitung

22,182 etc.) oder das Lemma mitten in der Konstruktion etwa nach einer Praeposition abbricht. Genauso wenig wird man ' überlange' Lemmata, die weit über die interpretierte Einheit reichen, durch Athetese der Note selbst anpassen, eben weil man nicht sicher sein kann, ob man einen Schreiber oder den Autor bessert17. Auf jeden Fall ursprünglich ist aber die Technik der doppelten Lemmatisierung zu Eingang eines Abschnittes: Gemäß der exegetischen Gepflogenheit dieses Erklärers werden am Kapiteleingang Gedankengang und Argumentation Ciceros für den gesamten Abschnitt gegliedert: Dieser generellen Einlassung steht ein langes, häufig mehrzelliges Lemma voran. Danach werden für die Einzelerklärung Kola aus dem ' Generallemma' wiederholt.

17

Ich verweise auf die bisher methodisch umsichtigste Arbeit zur antiken und modernen Einrichtung von Lemmata: H. v. Thiel, Die Lemmata der Iliasscholien, ZPE 79 (1989), 9-26.

Β. Die handschriftliche Überlieferung I. Die direkte Überlieferung 1. Die Handschriften Ζ

R

G

Β

18 19 20 21 22

Firenze, Bibl. Riccardiana 3912, s.XIin, ff.l r -8 v l8. Der Text setzt mitten im Satz p. 46,68 gustatu ein und endet mit p. 91,45 iudices unde in der letzten Zeile am Zeilenende. Die Florentiner Hs. bildet exakt einen Quaternio, konkret den zweiten Quaternio eines ursprünglich nach vorne und hinten vollständigen Codex. Barcelona, Archivo de la Corona de Aragon, Ripoll 42, s.XI1, ff.7l v -95 r am Rande eines seinerseits interlinear glossierten 'de inventione'-Textes (Text und Grillius stehen ohne Bezugssystem unverbunden nebeneinander)19. Die Handschrift ist aufgrund ihres Inhaltes mit Sicherheit in Ripoll selbst entstanden20. Der Grilliustext reicht bis p. 72,51 vicem (Ende in der 2. Zeile einer rectoSeite). Bruxelles, Bibl. roy., 5348-5352, s.XI1, ff.64r-79r, entstanden in St. Peter zu Gembloux unter Abt Olbert (1012-1048)21; der Grilliustext, welcher der Herennius-Rhetorik (f.2r-32r) und 'de inventione' (f.33r-63v) folgt, reicht bis p. 93,96 iudicabitis (Abbruch mitten in der 6. Zeile; Rest der Seite leer). Bamberg, Staatsbibl. class. 24 (M.V.7), ff.l r -42 v , s.XI, deutschen Ursprungs22. Die Handschrift bietet den Text bis p. 96,45 crude-

Vgl. Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.

Münk Olsen I 323. Münk Olsen I 143. M.Passalacqua, I codici di Prisciano, Roma 1978, 10. Münk Olsen I 156. Münk Olsen I 321; III 2,48.

12

Β. Die handschriftliche Überlieferung liter und bricht am Zeilenende ab. Folio 43 r bietet ein nachgetragenes rhetorisches Schema von deutlich späterer Hand, f.43v die carmina AL 392 R 2 bzw. Chevalier 10087 wieder von der Hand, die Grillius kopiert hat. Es ist also ein Blatt ausgefallen, auf dem die noch in Ρ erhaltenen Zeilen bis p. 97,80 gestanden haben werden.

F

München, Bayer. Staatsbibl. clm 6406, f.l r -16 v , s.XIex, vorher in Freising (Frising. 206), vielleicht dort entstanden, jedenfalls süddeutschen Ursprungs 23 . Erhalten ist nur der erste Quaternio, in dem der Text in der letzten Zeile bis 67,27 partes eius kopiert ist. Die anderen Blätter der Miscellanhs. entstammen s.XII-XIII.

V

Bibl. Vatic. Chigi Η.VI. 179, s.XI-XII, ff.42 r -70 v . Grillius folgt Ciceros ' de inventione' (ff.9 v -41 v ), im Anschluß an Grillius ist die Herennius-Rhetorik kopiert (ff.71 r -l 18V). Die Handschrift ist italienischen Ursprungs 24 und bietet den Text bis p. 91,44 ordiri (Zeilenende der letzten Zeile). Paris B.N. lat. 15086, s.XII2, ff.30 r -64 v , aus St. Victor zu Paris25; Teil einer schulischen Sammlung (Ausonius, exc. aus Senecas ' de beneficiis' vor Grillius, nach Grillius Alanus de Insulis, 'Anticlaudianus' und Adelardus Bathonensis 'de quaestionibus naturalibus') französischen Ursprungs 26 . Die Handschrift bietet den Text bis p. 97,80 (Textende mitten auf der Seite am rechten Zeilenrand). Der Grillius-Text ist von späterer Hand (P2) an einer Reihe von Stellen durchkorrigiert worden. München, Bayer. Staatsbibl. clm 3565, s.XV 2 , ff,158 r -174 r ; die von verschiedenen Händen kopierte, aus Augsburg stammende Schulhandschrift bietet ff.2 r -157 r den Kommentar des Aegidius Romanus zur Aristotelischen Rhetorik und, im Anschluß an Grillius, Thierrys 'de inventione'-Kommentar (ff.l75 r -220 v ), worauf

Ρ

Μ

23 24 25

26

Vgl. Münk Olsen I 325. Vgl. Münk Olsen I 292f. Vgl. Le catalogue de la bibliotheque de l'abbaye de Saint-Victor de Paris de Claude de Grandrue 1514, Paris 1983, 357f. Vgl. Münk Olsen I 328; II 445.

I. Die direkte Überlieferung

13

der Auftakt des Victorinus folgt (ff.22 Γ-223Γ)27. Der Grilliustext bricht mitten auf der linken Spalte ab mit p. 97,80.

2. Überlegungen zur spätantiken und frühmittelalterlichen Stufe der Überlieferung Aus Vorverweisen ist ersichtlich, daß Grillius beide Bücher Ciceros zu kommentieren trachtete. Der Abbruch mitten im Satz innerhalb der Erklärung von inv. 1,22 resultiert also aus einem mechanischen Defekt, dem Verlust ganzer Quaternionen eines einzigen Codex. Andererseits ist die Existenz der Dublette zu den vitia controversiarum (6,129-9,215), die als Teil der 'Prolegomena' zum 'de inventione'Prooem in allen Hss. überliefert ist, Indiz dafür, daß der uns tradierte Text nicht den Text darstellt, der vom Autor selbst an die Öffentlichkeit gegeben wurde. Da die Dublette als Konzept von Grillius selbst stammt oder auf einer Vorlesungsnachschrift basiert, wird man folgern müssen, daß der Text der Publikation sekundär aus dem unmittelbaren Umfeld heraus unsachgemäß um die Dublette angereichert wurde. Von der Geschichte des Grillius-Textes im Altertum wissen wir ansonsten nichts. Die frühesten Textzeugen entstammen der karolingischen Aera. 'Typische Majuskelfehler' die für die Konstituierung eines spätantiken Archetypus bei luxuriösen Klassikereditionen argumentatives Gewicht tragen, wird man bei einem schulischen Gebrauchstext nicht suchen dürfen, der von vornherein eher für die Halbunziale bestimmt war. Alle gehäuft auftretenden Fehler wie die Vertauschung von a/e, a/i, a/o, a/u, r/s oder s/f sind keine spezifischen Minuskel- oder Majuskelfehler. Der Text ist offenbar über Norditalien in das Mittelalter gelangt, wie Indizien aus der direkten — Italien als Entstehungsort des Hyparchetypus ß — und indirekten Überlieferung — Grillius im Rhetorikunterricht norditalienischer Schulen — nahelegen. Italien ist in karolingischer Zeit

27

Vgl. Fredborg 34f.; Aegidii Romani opera omnia; I 5 a cura di B. Faes de Mottoni, Firenze 1990, 31-34.

Β. Die handschriftliche Überlieferung

14

Spender, nicht Empfänger singulärer Klassikertexte. Nördlich der Alpen ist ein vollständiger Grillius erst s. XI nachweisbar.

3. Der Archetypus (ω) Insgesamt stehen acht Handschriften vom 11.-15. Jh. zur Konstituierung des Archetypus zur Verfügung (BPZRGVFM); die ältesten erhaltenen Textzeugen entspringen aber einer Exzerpttradition (π), der Nutzung des Kommentarauftaktes pp. 1,1-2,28 als argumentum artis rhetoricae vor Boethius, ' Commentum in Ciceronis Topica', deren älteste Hs. aus dem 9.-10. Jh. stammt. Ebenso alt wie die Haupttradition sind die GrilliusAuszüge in der ' glossa vulgata'. Mit diesem Namen bezeichne ich die handschriftlich ab dem 10. Jh. nachgewiesene, in vielen 'de inventione'Handschriften mehr oder weniger identische Interlinearkommentierung, in die neben Grillius vor allem Marius Victorinus eingeflossen ist. Grillius-Exzerpte finden sich daneben auch in einer Reihe der verschiedenen hochmittelalterlichen wie humanistischen Kommentare zu ' de inventione' und zum 'auctor ad Herennium', aber auch in manch anderen Kontexten, in denen man diesen im Mittelalter als auctor geltenden Rhetor nicht sogleich erwarten würde. Alle direkten Textzeugen weisen eine Vielzahl gemeinsamer Depravationen auf: (1) Der Text bricht mitten in der Kommentierung von inv. 1,22 ab. (2) Alle Hss. bieten die Dublette zu den vitia controversiarum (6,1299,215). (3) Lücken wie in 14,124; 17,25; 18,57; 26,87; 32,79; 34,110; 57,165; 80,142; 86,4 oder 87,36. (4) Dislozierungen wie 34,125-128 post 35,16 und 42,40-44 post 43,55 (5) Mechanische Verschreibungen oder falsche Auflösung von abbrevierten Lemmata wie etwa 16,177

publicis rationibus] populo Romano ω

I. Die direkte Überlieferung 16,20 21,130 24,44 29,159 51,17 64,199 90,95

15

rationibus] rebus ω Diphyen] dipen ω duobus] vobis ω saepe] rem publicam ω asystatae controversiae] in statu controversia ω exaggerationem] execrationem ω Titus] petitus ω

Zwischen den Grillius-Hss. und π existiert trotz der Kürze des Auszuges ein Bindefehler, defensio] definitio codd. Grill.28 π

1,4

Damit bildet π den terminus ante quem für den Archetypus. Die Nutzung des Grillius-Auftaktes als eines selbständigen und geschlossenen argumentum artis rhetoricae ist Resultat einer gelehrten Arbeit am BoethiusText, also in der karolingischen Aera anzusetzen. Als Vorlage für π wird man schwerlich eine vorkarolingische Grillius-Tradition postulieren können. Nicht eine Hs. des 6. oder 7. Jh.s, sondern eine zeitgenössische Hs. wird dem Gelehrten, der Grillius mit Boethius kombinierte, vorgelegen haben. Zusammenfassend ergibt sich dieses vorläufige Stemma: Grillius s.V

π

28

ω'

s. VI/VII (?)

ω

frühkarolingisch (?) (Minuskel)

codd. Grill.

defensio in der späten Hs. Ο beruht auf Konjektur, wie unten gezeigt wird.

Β. Die handschriftliche Überlieferung

16

4. Die Spaltung in zwei Überlieferungszweige (α und ß) Die acht erhaltenen Handschriften spalten sich in die beiden Klassen α (BFPM) und β (ZRGV); β wiederum wird durch die beiden Äste Ζ und γ (RGV) konstituiert. Da Ζ erst ab p. 46,68 zur Verfugung steht, können bei Divergenz von α und γ die ß-Lesarten erst ab 46,68 rekonstruiert werden (somit stellen alle γ-Fehler bis 46,68 theoretisch zu eliminierende Sonderfehler dar). Als Bindefehler der α-Familie sind u.a. zu buchen: Lücken (d.h. folgende Textausfälle): 48,123 50,10 50,24 50,30 65,216 81,189 82,18

mendosissime rerum inventarum ex — dignitate rebus rede partes constitutione unde

Verschreibungen: 52,21 61,110 62,152 66,4 78,99 81,178 84,21

apertae rei statt α parte rei fortici statt soritici sunt statt fiunt ut statt fit nascitur statt nescitur sententiis scripturis statt sententia no η potuit statt oportuit

scriptoris

Interpolationen: 67,53

sive primam causae partem statt primam causae ris

Erweiterungen des Lemma: 76,28

deinde considerandum

est vor nam

Vor 46,68 bietet α u. a. folgende Fehler gegenüber γ:

accusato-

I. Die direkte Überlieferung

17

Lücken: 15,159 20,118 21,137 34,2 40,63 42,30 46,58

homini cum materies2 violabat stultorum dicere apposite nam — optime intellegentiam

Dittographien: 19,91

inter - inscientiam bis

Verschreibungen: 5,106 10,42 12,84 12,95 14,129 18,50 26,80 44,4

renovatas statt remotas specionis statt Scipionis invicta statt invecta nunc statt multas sequentiis statt si quis propugnabant ... propugnare statt propagabant gare superius statt gravius non esse statt nescire

... propa-

Die ß-Familie weist u. a. folgende gewichtigeren Bindefehler auf: Lücken: 47,81 60,88 62,132 65,238 83,9 90,1

non - poenae iumenta - reliqua dies — propositions iudiciale partitio si - causae

Verschreibungen: 69,35 73,85

venire statt evenire domi statt dum

Β. Die handschriftliche Überlieferung

18 78,83 83,4

discrevit statt decrevit et statt ut

Die Grillius-Exzerpte in den frühen 'de inventione'-Glossen des 10. und 11. Jh.s bieten keine Bindefehler zu α oder β (γ), so daß die Entstehungszeit der beiden Klassen nicht näher eingegrenzt werden kann.

5. Die Deszendenz des Hyparchetypus α Der Hyparchetypus α, der in s.IX ex /X zu datieren ist, wird durch die Handschriften BF und PM konstituiert; dazu tritt mit der Exzerpths. y ein italienischer Zeuge, der testiert, daß der α-Text s.X/XI in Norditalien zirkulierte 29 .

a) Die Aufspaltung in zwei Äste Die vier α-Codices BFPM spalten sich in die zwei Stränge BF und PM. Als BF-Fehler gegenüber PM und β sind etwa aufzufuhren: 2,21 7,168 10,30 12,86 19,91 21,152 34,108 48,120 50,21 51,37 63,174 63,182 64,189 66,23

29

Tullius scripturus] scripturus Tullius BF (pet)ebat - petebatur] om. BF (cum spatio) quod] om. BF disertissimos] disertos BF inscientiam] scientiam BF puta] om. BF reliquis talibus] t.r. BF libris] om. BF autem] om. BF facit partes illas quinque] p. i. q.f. BF sine consilio] cum consilio non BF administrari] om. BF debemusponere] ponere debemus B'F hoc loco sicut diximus] s.d.h.l. B'F

Vgl. unten S. 39ff.

I. Die direkte Überlieferung

19

Da F in 67,27 eius in der letzten Zeile f. 16V, d.h. des 1. Quaternios, abbricht, könnten nur bis zu dieser Stelle BF-Defekte verzeichnet werden. Da aber, wie unten gezeigt wird, F einen descriptus von Β darstellt, sind auch alle folgende B-Fehler für den Strang zu buchen: 70,55 70,58 72,51 72,62 79,131 90,22

illam aetatem] a.i. Β occiderit] om. Β illi]ei Β non potest dicere ideo fortiter] ideo n. p.d.f. Β eum] illum Β agit] ait Β

Aus dem Umstand, daß in 7,168 Β ein Fenster von ca. 19 Buchstaben (F nur sieben Buchstaben) nach pet[ bewahrt hat, wo PM den Text ohne Defekt bietet, ist zu schließen, daß BF mittelbar über eine Vorlage von α abhängt, in welcher der Text ursprünglich vorhanden, aber für spätere Nutzer nicht mehr lesbar war. Als PM-Defekte gegenüber BF und β sind zu buchen: 2,36 3,53 4,76 7,158 9,15 14,139 18,67 32,64 33,102 37,75 48,105 49,136 50,27 50,28 53,50 55,117-119 66,1 66,6 66,10 68,18

quod dicitis - argumentum] om. PM bonam] om. PM natura est] naturae est quod PM sunt] om. PM nisi probatam] om. PM est] om. PM ut sunt naturales] om. PM vides] videns PM rhetoricam dicendo] dic.rh. PM in] hic PM rebus Hermagoras] ermagoras rebus PM fieri] om. PM modo timentis] om. PM ne motu] nemo PM venire] vere PM et dir. - est] om. PM non possunt] om. PM partes] om. PM constitutio omnis] constitutionis PM ut est illa] om. PM

Β. Die handschriftliche Überlieferung

20 75,5 76,16

invicem] om. PM Sardos] sacerdos PM

93,95 94,105

debes] om. PM negotii2] om. PM

b) F als descriptus von Β F (olim Frisingensis 206) ist eine in Bayern genommene Abschrift des Bambergensis: F bietet alle entscheidenden B-Fehler, dazu einer Vielzahl von Sonderfehlern: 2,22 2,32 3,56 14,129 18,72 19,86 21,156 29,167 33,92 38,21 40,66 47,89 48,106

sunt] om. F ergo] om. F puta] om. F orator qualis esse] q.e.o. F ideo] deos F et] om. F ergo] vero F via vera] vera via F audaces] dicens audaces F consilia patrum] p. c. F hic] om. F mundi] om. F dictione] om. F

Daß F als Abkömmling von Β anzusehen ist, läßt sich aus zwei Springfehlern ersehen, die ihre Ursache im spezifischen B-Habitus haben: a) 31,51-52 läßt F durch Augensprung bei in Β unmittelbar in den Zeilen untereinanderstehenden duo< e contra Aristoteles dicebat unam artem esse, sed oratores duos>quando

30

Die Gefahr eines Zeilensprungs war umso größer, als in Β contra und quando sich im Schriftbild ähneln. Auch Μ läßt zufällig die gleichen Wörter aus, aber deswegen, weil in seiner Vorlage Ρ duo jeweils am Zeilenanfang steht.

I. Die direkte Überlieferung

21

b) In 42,39-40 läßt F demonstratio — vituperes vor einem demonstrativum aus: In Β stehen demonstratio und demonstrativum exakt in den Zeilen untereinander. Was Halm und Martin die Deszendenz nicht hat erkennen lassen, war zum einen eine gewisse Unsicherheit über das Alter der beiden Handschriften — F ist einst zu früh datiert worden 31 —, zum anderen der Umstand, daß F häufiger gegen Β das Richtige bietet. Alle Fälle könnten erkärt werden als konjekturale Verbesserungen einer leichten Verderbnis von der Art, die man stillschweigend sofort korrigiert, wie vor allem ein Ausmerzen falscher (Kasus)endungen: 2,21

Tullio B] Tullius F ω

13,115

cogitantem B] -e F ω

58,16

quod

quot V ω

Es ist jedoch nicht auszuschließen, daß die Korrekturen auf eine Zwischenquelle B' zurückgehen, aus der dann auch die Verbesserungen 24,23 59,63

vero F Β 2 ω] autem Β item F Β 2 ω] autem Β

geschöpft wären. Denn B 2 , eine spätere Hand, die Β gelegentlich aus einem Exemplar der ß-Tradition korrigiert hat, wird schwerlich die Quelle der beiden Verbesserungen sein, hat doch F folgende von B2 korrigierte B-Fehler bewahrt: 22,175

fuisset Β2 ω] -ent Β F

28,132 64,189 66,23

natura materiem Β 2 ω] m.n. Β F debemus ponere Β 2 ω] p.d. Β F hoc loco sicut diximus Β 2 ω] s.d.h.l. Β F

Wenn man nicht annehmen will, daß F die Wortfolge (bzw. das falsche fuisset) von Β bewahrt hat, obwohl B2 die Korrektur schon vorgeschlagen hatte, gilt: B2 ist terminus ante quem für Β', B' die Vorlage für F.

31

So noch M. Manitius, Hermes 39 (1904), 291-300, dort 291 (s.XI).

Β. Die handschriftliche Überlieferung

22

c) Μ als descriptus von Ρ Μ, eine sorglos kopierte humanistische Studentenkladde, deren schier unzählige Sonderfehler Martins Apparat aufgeschwemmt haben, kann als Bastard von Ρ eliminiert werden. Ich verzichte auf eine Buchung der Sonderfehler von Μ und begnüge mich mit dem Nachweis, daß Μ von Ρ selbst und nicht von einem verlorenen gemellus von Ρ abstammt: Die M-Lücke 34,120 ut videantur — 37,62 vincimur resultiert aus dem Überschlagen eines folio in P, wo die Abschnitte ut videantur — vincimur exakt f.82v und 83r füllen. Μ geht über eine verlorene Zwischenstufe (P') mittelbar auf Ρ zurück, die aus G kontaminiert war (P selbst weist keine G- bzw. γ-Varianten auf): 26,75 67,45

quod] qui GM subiecit] subiunxit GM

Aus dieser Quelle stammen auch die γ-Fehler in Μ 72,51 83.6

retulisse illi] i.r. γ Μ necatam] necandam γ Μ

Da der M-Text weniger durch Konjekturen als durch eine Unzahl von trivialsten Fehlern jeder Art gekennzeichnet ist, wird man auch die Übereinstimmungen mit ω nicht konjekturalem Spürsinn oder eigenem Vergleich mit anderen Grillius-Exemplaren (etwa der γ-Tradition) zuschreiben, sondern dem Umstand, daß eben seine — offenbar tüchtigere — Vorlage in einigen wenigen Fällen γ-Einfluß aufweist. Das betrifft Lesarten, die man ansonsten gewiß als leicht aus dem Kontext erschließbare Verbesserungen deuten würde, wie 3,68 31,53 41.7

immortalem Μ ω] mortalem Ρ rhetor Μ ω] rector Ρ oratoris Μ γ] -i α,

aber auch folgende schwerlich als Konjektur herleitbare Konvergenzen:

I. Die direkte Überlieferung 37,69 44,16 75,13

non esse Μ ω] e. η. Ρ rationem Μ ω] quaestionem Asianis Μ ω] asiamque Ρ

23

Ρ

Ρ', die vereinzelt aus G kontaminierte Abschrift aus P, ist in Paris entstanden, denn Ρ hat stets seit dem 13. Jh. in St. Victor gelegen, wenn nicht St. Victor sogar der Entstehungsort ist. P' ist erst zu einer Zeit aus Ρ gezogen worden, als seine Vorlage bereits mit Korrekturen, in der Regel Konjekturen, versehen war: Diesem Korrektor von P, d.h. P2, verdankt Μ über P' nicht nur die richtige Konjektur 30,24

descendebant P 2 M] def(f)endebant

ω,

sondern auch die Füllung der α-Lücke 42,30 nam - optime (P2 marg.) sowie das seltsame neutas statt vita in 5,119, das auf eine marginal eingetragene — falsche — Ergänzung ne vites aus der Feder von P2 zurückgeht. Terminus post quem für P' ist also P2.

6. Die Deszendenz des Hyparchetypus β a) Die Aufspaltung in zwei Äste Der ß-Zweig konstituiert sich aus Ζ und γ; γ wiederum wird durch die drei Hss. RGV gebildet. Da Ζ erst ab 46,68 zur Verfügung steht, kann vor 46,68 β nur bei Kongruenz von α mit γ bzw. einem der beiden Zweige von γ rekonstruiert werden. Die ß-Familie ist italienischer Provenienz: Z, die älteste Grillius-Hs., ist ebenso dort entstanden32 wie V33; die gemeinsamen GV-Lesarten gehen auf einen italienischen Stammvater von G zurück, denn V hat stets in Italien gelegen, während G in St. Peter zu Gembloux zwischen 1012 und 1048 unter Abt Olbert entstanden ist.34

32 33 34

Vgl. Münk Olsen I 323. Vgl. Münk Olsen I 292f. Vgl. Münk Olsen I 156.

Β. Die handschriftliche Überlieferang

24 Zu den Details:

1.) γ-Fehler gegen α Ζ: 47,101 48,132 51,43 51,9 52,31 53,49 53,69 54,93 55,109 55,115 55,124 57,168 58,30 59,69 59,70 59,71 60,77 60,87 62,141 63,178 67,37 68,17 69,29 69,32 69,36 71,17

augmenta α Ζ] argumenta γ ei\ enim γ partium] om. γ sit] fit γ dixit] om. γ enim est] est enim γ in eventu] inventum γ compensatio] compositio γ pro] om. γ inhonestum] honestum γ hoc e^i] id est γ constat] constet γ gwocf ei] sed et γ differentes] diversas γ habet] om. γ alicuius rei] r.a. γ Z>.