Grenzüberschreitungen um 1900. Österreichische Literatur im Übergang [1. Aufl.] 9783932740763, 3932740769

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Grenzüberschreitungen um 1900. Österreichische Literatur im Übergang [1. Aufl.]
 9783932740763, 3932740769

Table of contents :
'Grenzbesichtigungen' der österreichischen Literatur um 1900 / Thomas Eicher --
Jahrhunderwende heute? Ein Briefwechsel anlässlich des Films "Eyes Wide Shut" / Fritz Hackert und Thomas Eicher --
Die Rezeption österreichischer Literatur der Jahrhundertwende in den Vereinigten Staaten, 1987-1999 / Donald G. Daviau --
Der Impressionismus als dominante Stilrichtung der deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende / Michel Reffet --
Ringstrasse oder Square. Junges Wien und Dandyismus / Rüdiger Görner --
Ansichten zum europäischen Kaffeehaus / Fritz Hackert --
Peter Altenbergs "Ashantee" / Alexander Honold --
Technische Zukunftsbilder der österreichischen Literatur um die Jahrhundertwende / Roland Innerhofer --
Literarische Phantastik oder Interpretationsprobleme? / Hans-Harald Müller --
Im Grenzverkehr der Künste / Ralph Köhnen --
Graf Alexander "Sascha" Kolowrat / Gertraud Steiner Daviau --
Grenzüberschreitung --
in eigener Sache / Dietmar Grieser.

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Thomas Eicher (Hg.)

Grenz¬ überschreitungen um 1900 Österreichische Literatur im Übergang

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https://archive.org/details/grenzuberschreitOOOOunse

Thomas Eicher (Hg.) Grenzüberschreitungen um 1900

Übergänge • Grenzfälle Österreichische Literatur in Kontexten Band 3

Grenzüberschreitungen um 1900 Österreichische Literatur im Übergang

Im Auftrag der Auslandsgesellschaft NRW und der Gesellschaft für österreichische Literatur und Kultur herausgegeben von Thomas Eicher unter Mitarbeit von Peter Sowa

Thomas J. Bäte uuia y

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FETERBOROÜGH, ONTARIO

ATHENA

Umschlagabbildung: Schloß Belvedere, aus: Wiener Veduten, Ansichtskarten der Wiener Werkstätten. Reproduktion mit freundlicher Genehmigung der Edition Brandstätter

Auslandsgeseilschaft Nordrhein-Westfalen

Gesellschaft für österreichische Literatur und Kultur e. V.

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Grenzüberschreitungen um 1900 : österreichische Literatur im Übergang / im Auftr. der Auslandsgesellschaft NRW und der Gesellschaft für österreichische Literatur und Kultur hrsg. von Thomas Eicher unter Mitarb. von Peter Sowa. 1. Aufl. - Oberhausen : Athena, 2001 (Übergänge - Grenzfälle ; Bd. 3) ISBN 3-932740-76-9

1. Auflage 2001 Copyright © 2001 by ATHENA-Verlag, Mellinghofer Straße 126, 46047 Oberhausen www.athena-verlag.de Alle Rechte Vorbehalten Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed in Germany ISBN 3-932740-76-9

Inhalt Thomas Eicher: Vorwort.7

Thomas Eicher: ,Grenzbesichtigungen‘ der österreichischen Literatur um 1900.9

Fritz Hackert und Thomas Eicher: Jahrhundertwende heute? Ein Briefwechsel anläßlich des Films „Eyes Wide Shut“.29

Donald G. Daviau: Die Rezeption österreichischer Literatur der Jahrhundert¬ wende in den Vereinigten Staaten, 1987-1999. Ein Bericht.53

Michel Reffet: Der Impressionismus als dominante Stilrichtung der deutschsprachigen Literatur der Jahrhundertwende.81

Rüdiger Görner: Ringstraße oder Square. Junges Wien und Dandyismus.95

Fritz Hackert: Ansichten zum europäischen Kaffeehaus.111

Inhalt

6

Alexander Honold: Peter Altenbergs „Ashantee“. Eine impressionistische cross-over-Phantasie im Kontext der exotistischen Völkerschauen.135

Roland Innerhofer: Technische Zukunftsbilder in der österreichischen Literatur um die Jahrhundertwende.157

Hans-Harald Müller: Literarische Phantastik oder Interpretationsprobleme? Zur Erzählkonzeption von Leo Perutz - dargestellt an der Novelle „Nur ein Druck auf den Knopf“.177

Ralph Köhnen: Im Grenzverkehr der Künste. Rilke, Rodin und Cezanne.193

Gertraud Steiner Daviau: Graf Alexander „Sascha“ Kolowrat. Ein Aristokrat als Lilmpionier.229

Dietmar Grieser: Grenzüberschreitung - in eigener Sache.247

Zu den Autoren dieses Bandes

251

Vorwort Das vorliegende Buch basiert auf einer Tagung, die vom 18. bis zum 21.5.2000 in der Auslandsgesellschaft NRW e.V. stattfand. Die „Grenzüberschreitungen“ haben bereits eine gewisse Tradition in diesem Hause: 1999 wurde dort eine kleine Tagungsveranstaltung zu Joseph Roth durchgeführt, deren Ergebnisse mittlerweile als Sammelband mit dem Titel „Joseph Roth: Grenzüberschreitungen“ vorliegen. Es ist mir eine ganz besondere Freude, an dieser Stelle wiederum meinen Dank bei Veranstalterin und Sponsoren abstatten zu dür¬ fen.

Ermöglicht wurden Tagung und Publikation u.a.

durch

freundliche Unterstützung des Athena-Verlags, des Kinos Cinestar, Dortmund, der Stadtsparkasse Dortmund, der Gesellschaft für österreichische Literatur und Kultur e.V. und des österreichischen Bundesministeriums für Auswärtige Angelegenheiten. Namentlich Frau Dr. Christa Sauer von der österreichischen Botschaft in Berlin sei für ihr persönliches Engagement gedankt. Insbesondere aber ist als Veranstalterin der Auslandsgesellschaft NRW zu danken, die durch ihre Räumlichkeiten, ihre Infrastruktur und den Einsatz ihrer Mitarbeiter die Tagung ermöglicht hat. Nicht umsonst wurde die Tagungsorganisation von allen Beteiligten als äußerst gelungen bezeichnet. In diesem Zusammenhang ist Peter Sowa als Leiter des Auslandsinstituts hervorzuheben, der organisatorisch wie inhalt¬ lich wesentlich zum Gelingen der Veranstaltung beigetragen und das Zustandekommen der vorliegenden Publikation nach Kräften gefördert hat. Dortmund, im November 2000

Thomas Eicher

Thomas Eicher

,Grenzbesichtigungen£ der österreichischen Literatur um 1900 l. Hat die österreichische Literatur der Jahrhundertwende Grenzen? - Die Frage muß immerhin gestellt werden, wo es um „Grenzüberschreitungen“ geht. Sie hat gleichwohl rhetorischen Charakter, wie der Untertitel dieses Buches mit dem Begriff „Übergänge“ an¬ deutet. Grenzen - so sieht es z.B. Joseph Roth, - können förmlich dazu einladen, überschritten zu werden.1 Sie sind gleichwohl will¬ kommen, um unsere Wahrnehmung und unser Denken zu struktu¬ rieren, allemal ein heuristisches Konstrukt, an dessen beständiger Infragestellung sich der Intellekt abzuarbeiten hat. Die Eingangsfrage offeriert freilich eine ganze Reihe thematischer Facetten, die im folgenden kurz angeschnitten werden sollen — nicht zuletzt, um den Beiträgen dieses Sammelbandes ein mögliches Gerüst zur Ver¬ ankerung zu errichten, das u.a. auch einige konzeptionelle Vor¬ überlegungen

zur

Tagung

„Grenzüberschreitungen

um

1900.

Österreichische Literatur im Übergang“ freilegt. Nach den Grenzüberschreitungen in der österreichischen Litera¬ tur ließe sich naheliegenderweise zuerst fragen. Die Grenzüber¬ schreitung als Sujet, etwa in der Reiseliteratur, könnte man hier an¬ führen, aber auch die im utopischen Roman, dem Roland Innerho¬ fer in diesem Band einen Beitrag widmet. So verbindet beispiels¬ weise Theodor Herzl in „Altneuland“ (1902) die Reisetätigkeit sei¬ ner Helden Löwenberg und Kingscourt mit einer in der Zukunft angesiedelten Besichtigung des Idealstaates Palästina - gewisserma¬ ßen eine doppelte Grenzüberschreitung. Ja sogar von einer literari¬ schen Kolonisierung Afrikas wäre in diesem Kontext zu berichten,

l

Vgl. Gerhard 1998, S. 219-224; Eicher 1999, S. 30f.

10

Thomas Eicher

die kurz vor der Jahrhundertwende ihren Ausgang in Österreich nimmt: Theodor Hertzka entwirft bereits 1890 mit „Freiland“ „ein sociales Zukunftsbild“, das ebenso reich an technischen Zukunfts¬ projektionen ist. Daß noch nicht einmal zwei Jahrzehnte zuvor ein realer Versuch der ,Landnahme“ durch die österreichische Marine hoch im Norden kläglich an jenen Naturgewalten scheiterte, die bei Hertzka dem Wohlstand der Freiländer dienen, ist dem Roman nicht im geringsten anzumerken. Die Norpolexpedition von Payer und Weyprecht 1872-74 mit ihrer Kartographierung des KaiserFranz-Joseph-Landes hätte jeder Art von Expansionsphantasie eigentlich deutlich genug Einhalt gebieten müssen. Die Überleben¬ den dieser Reise waren freilich noch stolz genug auf ihre Rettung, die doch die Überlegenheit des zivilisatorischen Fortschritts gegen¬ über der Natur zu beweisen scheint. Erst Christoph Ransmayr gelingt es mit seinem Montageroman „Schrecken des Eises und der Finsternis“ (1984), die Paradoxie die¬ ses Unternehmens vollständig zu entlarven. Die österreichische Expedition stößt hier buchstäblich an eine unüberwindliche Gren¬ ze aus Dunkelheit und Erstarrung, die lediglich sprachlich durch eine Unzahl von Namensgebungsakten behelfsmäßig transzendiert wird, als Julius Payer sein neues Land im Eis entdeckt. „Cap Tyrol“, „Insel Klagenfurt“ usw. sind eben nur zugewiesene Namen auf einer Landkarte, Begriffe, die auf die Eroberer verweisen, de¬ nen am Ende nur die Landkarte selbst bleibt, rauschende Signifi¬ kanten. Die Zukunftsprognosen, die die österreichische Literatur um 1900 anzubieten hat, schreiben in ihrer Dichotomie von Schei¬ tern und Fortschritt, Untergang und Rettung diese Grenzerfahrung am Nordpol fort. Ich will mich jedoch im folgenden von den Grenzen innerhalb der fiktionalen Weltentwürfe ab- und eher begrifflich-semantischen Grenzen zuwenden, die die metasprachliche Rede von den Gren¬ zen der österreichischen Literatur um 1900 impliziert. Dabei läßt sich die eingangs gestellte Frage weiter ausdifferenzieren: Welche Grenzen hat die Literatur? Welche Grenzen hat die österreichische Literatur? Welche Grenzen hat die Jahrhundertwende als ,Epo-

,Grenzbesichtigungen‘ der österreichischen Literatur um 1900

11

che‘? Ich bin mir durchaus der Tatsache bewußt, daß sich hinter diesen Fragen z.T. heftig umstrittene ontologische Problemstellun¬ gen der (germanistischen) Literaturwissenschaft verbergen, die schon deshalb gern umgangen werden, weil sie eben auf die Wesen¬ haftigkeit oszilierender Signifikate abzielen. Daraus ergibt sich aber zugleich, daß die zu erwartenden Antworten vor allem in An¬ näherungen bestehen können, die ihrerseits zu problematisieren sind.

2. Literatur hat ihre Grenzen; zumindest wenn man die zahllosen Versuche der Wissenschaft ernst nimmt, den Geltungsbereich di¬ verser Literaturbegriffe zu bestimmen. Solche Grenzen werden auch in den Beiträgen des vorliegenden Bandes virulent, seien es Genregrenzen, seien es Diskursgrenzen oder mediale Grenzen. Hans-Harald Müller wendet sich z.B. vehement gegen Leo Perutz’ Etikettierung als Vertreter der literarischen Phantastik. In sei¬ nem Plädoyer, das primär auf eine zweifelhafte Gattungszugehö¬ rigkeit abzielt, schwingen freilich auch Grenzziehungen der litera¬ rischen Wertung mit. Perutz zeichne eine Immunität „gegen die Konjunktur von okkultistischen und spiritistischen Denk-Moden nach der Jahrhundertwende [aus], welche wohl die bildende Kunst, nicht aber die Literatur zu großen Werken inspirierte“2. Somit ge¬ rät die Frage nach den Elementen der Phantastik in Perutz’ Texten auch zur Meßlatte ihrer Literarizität. Um Anerkennung einer anderen Gattung, nämlich der Literatur¬ reportage, ist es Dietmar Grieser zu tun, der in seinem Schlußwort zum vorliegenden Band die Ignoranz der germanistischen Litera¬ turwissenschaft gegenüber dieser Erzählform beklagt. Etwas spitz¬ findig läßt sich hier natürlich fragen, in welchen Kontext die Re¬ portagen Griesers Aufahme finden sollen, in der Literatur oder in der Wissenschaft? Tatsächlich befinden sie sich an der Nahtstelle

2

Müller in diesem Band, S. 177.

12

Thomas Eicher

zwischen zwei Diskursen. Sie bedienen sich literarischer Verfah¬ rensweisen und präsentieren zugleich recherchierte Fakten und Forschungsergebnisse aus der Literaturwissenschaft. Von dieser Diskursvermengung sind auch die technischen Zu¬ kunftsbilder geprägt, denen Roland Innerhofer in der österreichi¬ schen Literatur um 1900 nachspürt. Sie befinden sich als erzählte Wissenschaft in einem Grenzbereich, der wie die sozialen Utopien von den Erkenntnissen der Forschung profitiert, bisweilen sogar von Autoren bedient wird, die eigentlich nicht im literarischen Sy¬ stem heimisch sind. Ganz analog zur oben referierten ,Phantastik¬ schelte* provozieren auch die Utopien um 1900, eben weil sie einen Randbereich abdecken, die Frage nach ihrem literarischen Wert. Diese Frage an das kunstkritische Schaffen Rilkes zu richten, ist angesichts der klaren Zuordnung der Textsorte kaum statthaft. Aber auch im Übergang zwischen der Rede über Malerei bzw. Skulptur und poetischer Rede, den Ralph Köhnen beschreibt, ist eine Grenze zwischen Diskursen mehr oder minder deutlich nach¬ vollziehbar. Beide tasten sich indessen bei Rilke auch zu einer me¬ dialen Grenze vor, die sie hinter sich lassen wollen, um den Rah¬ men literarischer Ausdrucksmöglichkeiten zu erweitern. Die im vorliegenden Band behandelten Grenzüberschreitungen sind also u.a. diskursiver Art. Sie kennzeichnen die österreichische Literatur der Jahrhundertwende als Interdiskurs. Lit[eratur] ist [...] einerseits als Spezialdiskurs zu beschreiben (weil sie eigenen Formationsregeln unterliegt), andererseits als hochgradig inter¬ diskursiv, da sie, wie sich empirisch leicht feststellen läßt, in besonders] hohem Maße diskursübergreifende und -integrierende Elemente ins Spiel bringt. Lit[eratur] übernimmt also als Spezialdiskurs die Funktion inter¬ diskursiver Re-Integration.3

Die „Formationsregeln“ literarischer Texte sind indessen kulturell codiert, gesellschaftlich determiniert und historisch kontingent, also eingebunden in Systeme. So öffnen sich die Grenzen von ein¬ zelnen Werken und poetischer Rede zugunsten einer Betrachtung

3

Gerhard/Link/Parr 1998.

,Grenzbesichtigungen‘ der österreichischen Literatur um 1900

13

jener Elemente, die Vernetzungen von Texten und Medien ermögli¬ chen und dadurch das Bild einer ganzen ,Epoche“ prägen. Was auf diese Weise als Programm literaturwissenschaftlicher Arbeit formulierbar ist, äußert sich gleichermaßen in Kultur- und Kunsttheorien. Daß Literatur grenzenlos sei, ist eine vielgehörte Wunschvorstellung, die sich in künstlerischen Manifesten ebenso findet wie in wohlmeinenden Zielformulierungen bürgerlicher Kulturbeflissenheit. Postulate dieser Art haben in der Regel meh¬ rere Dimensionen: Die Forderung nach Grenzenlosigkeit zielt in beiden Kontexten bisweilen auf die Überwindung von Standes¬ grenzen, immer aber auf Intermedialität der Literatur und Interna¬ tionalität der Kunst. „Die Interaktion zwischen den Künsten ist gerade um 1900 äu¬ ßerst rege gewesen“, stellt Ralph Köhnen in diesem Band fest. Er konstatiert einen „Hang zum Transitionismus“4 der sich als Aus¬ druck einer neuen Ästhetik den tiefgreifenden Veränderungen der Lebens welt zur Jahrhundertwende entgegenstellt. Wo die Literatur der Sprachskepsis zu begegnen hat, nimmt sie unter anderem Zu¬ flucht zu einer Form der Selbstreferentialität von Kunst, die trotz ihrer Gebundenheit an das sprachliche Medium über es hinaus¬ weist: Sie koaliert mit anderen Medien, wie im Gesamtkunstwerk, im Panorama und später im Film, oder sie macht,Anleihen1 bei an¬ deren Künsten, um sich neue Ausdrucksmöglichkeiten zu schaffen. Texte werden auf diese Weise intermedial, voller ,lesbarer“ Bezie¬ hungen zu bildender Kunst und Musik. Heide Ellert hat diese Be Ziehungen für die erzählende Literatur um 1900 an zahlreichen Beispielen beschrieben. Ihren Ergebnissen zufolge ist der in dieser Zeit besonders häufig zu beobachtende Rekurs von Texten auf Kunstwerke nicht zuletzt eine Antwort auf die in Europa vielerorts wirksame Atmosphäre einer kulturellen Spätzeit, die u.a. auch die Autoren des „Jungen Wien“ erfaßt. Fremde Welten leuchten durch diese Bezugnahme in die fiktionalen Textwelten hinein und erweitern hier Bedeutungs-

4

Kühnen in diesem Band, S. 193.

14

Thomas Eicher

Spektren. Nicht nur Untergangsängste drücken sich in Kunstzita¬ ten aus, sondern auch Vitalität und Erlösungshoffnungen. Von ihnen geht nicht selten eine auratische Kraft aus, die der herr¬ schenden Tendenz zur Sakralisierung von Kunst durch Ästhetizis¬ mus und Decadence entspricht. Die Wirkung ihrer Werke wird mit religiöser Metaphorik umschrieben, sie werden mit mystischer Leuchtkraft ausgestattet. Darum eignen sich Kunstzitate besonders gut, um Höhepunkte der Handlung zu markieren oder Erkenntnis¬ leistungen der Figuren zu initiieren. Solchermaßen exponiert, die¬ nen sie jedoch auch einem elitärem Kunstverständnis. Neben dem .alexandrinischen“ Moment einer kulturellen Spätzeit er¬ scheint hier ein esoterisch-hermetischer Impuls wirksam, der die Front¬ stellung gegen eine banale und verachtete Wirklichkeit auf die Kommuni¬ kation zwischen Autor und Leser überträgt und als Reaktion auf ein in geflügelten Worten“ und nivelliertem Kunstkonsum allgemein verfügba¬ res und verflachtes Bildungswissen zu verstehen ist. Nur noch ein kleiner Kreis, eine ,coterie‘ von Kunstkennern und Genießern soll angesprochen werden, die allein zur Wahrnehmung der subtilen Ober- und Untertöne, mit denen das Material“ des Kunstwerks hier ,zum Klingen“ gebracht wird [...], noch fähig sind.5

Die Jahrhundertwende bietet indes nicht nur den medialen Grenz¬ überschreitungen, sondern auch Kulturerscheinungen internatio¬ nal-universellen Charakters, die überdies auch Vernetzungen er¬ kennen lassen, einen fruchtbaren Nährboden. Das Kaffeehaus ist ein solches kulturgeschichtliches Phänomen - nicht nur innerhalb Europas -,6 das verschiedene Diskurse der Künste und Wissen¬ schaften schon dadurch miteinander in Berührung bringt, indem es neben dem Salon zum bevorzugten Ort des Austauschs von Intel¬ lektuellen, Künstlern und Literaten wird. Es ist überdies nicht nur für die Sujets, sondern auch für den Produktionsmodus von Litera¬ tur nicht ohne Folgen geblieben. Kaffeehausliteraten wie Peter Al¬ tenberg oder Joseph Roth kultivieren - in Wien wie in Paris - ei¬ nen Schreibstil, der dem Impressionistisch-Flüchtigen nicht nur aus 5 6

Eilert 1991, S. 345. Vgl. dazu Hackert in diesem Band.

,Grenzbesichtigungen“ der österreichischen Literatur um 1900

15

einem Lebensgefühl heraus verpflichtet, sondern schlicht auch von der Umgebung des Schreibenden geprägt ist. Daß sich im Kaffeehaus, zumal im Literatencafe, ein internatio¬ nales Publikum, bestehend aus den .heimischen“ Autoren und ihren Gästen aus dem Ausland, zusammenfindet, zeugt von der grenz¬ überschreitenden Infrastruktur des kulturellen Lebens jener Zeit. Ähnliches gilt auch für die Bedingungen, die das Kaffeehaus der Lektüre schafft. Indem sich die konkurrierenden Häuser in der Anzahl dort verfügbarer Zeitungen und Zeitschriften überbieten, ermöglichen sie ihren Besuchern nicht zuletzt eine Partizipation an ,fremden“ Kulturen und Literaturen, wie heute die Internet-Cafes. Die .blinden Flecken“ auf den Landkarten um 1900 sind freilich größer als in unseren Tagen. Auch noch so intensive Zeitungslek¬ türe hätte deshalb z.B. Peter Altenberg nicht dazu befähigt, sein Unverständnis gegenüber den Lebensformen jener Schwarz-Afri¬ kaner, denen er ein ganzes Skizzenbuch widmet,7 zu beseitigen. In den eurozentristischen Anschauungen, die sich in ihm äußern, zeigt sich ein kulturell codiertes Wahrnehmungsraster, das den Autor zwar einerseits im Wege der teilnehmenden Beobachtung zur identifikatorischen Fraternisierung mit den Exoten treibt, das aber andererseits die Absurdität der Zurschaustellung und seine Modalitäten nicht erfaßt. Afrika ist weit, und Nachrichten aus diesem Teil der Welt sind hierzulande eher spärlich, obwohl wir in der Tat im Zeitalter des World Wide Web einer grenzenlosen Verfügbarkeit von Datenma¬ terial näher denn je scheinen. Der Zusammenbruch des eisernen Vorhangs hat zwar den lange verfeindeten Kulturen in Ost und West neue Märkte und Wege des Austauschs beschert. Daß der af¬ rikanische Kontinent von dieser wachsenden Offenheit - schon wegen der erforderlichen hohen Investitionen - vorerst ausge¬ schlossen bleibt, ist indessen kein Geheimnis. Die Beseitigung die ses Defizits ist wohl doch mehr als eine Frage der Zeit. Theoretisch ist gleichwohl der weltverbindenen Macht der Literatur via Inter-

7

Vgl. dazu Honold in diesem Band.

16

Thomas Eicher

net derzeit kaum eine Grenze gesetzt. Und auch der deutsche Buchmarkt spiegelt diese Internationalisierung seit Jahren wider. Österreichische Literatur wird und wurde in Deutschland dage¬ gen nie als fremd empfunden. Immer schon waren österreichische Autoren von Rang auf den deutschen Buchmarkt und das deutsche Theaterpublikum angewiesen, um Breitenwirkung im deutschspra¬ chigen Raum zu erzielen. Vielen österreichischen Verlagen ging und geht es da nicht anders. Ihre Verflechtungen mit dem deut¬ schen Verlagswesen sind Teil einer wachsenden Konzentration auf nur wenige international operierende Konzerne. Die solchermaßen zu verzeichnende Grenzenlosigkeit der heuti¬ gen (ökonomischen wie kulturellen) Globalisierung, die Nation und Sprachgemeinsaft ebenso hinter sich zu lassen vorgibt wie Fremdheit und Kulturschock, entspricht zugleich einer postulier¬ ten Durchlässigkeit gesellschaftlicher Hierarchien, die um 1900 na¬ türlich weit fester gefügt waren. Im Kontext der Intermedialität klang oben bereits an, daß es die ,hohe‘ Literatur keineswegs dar¬ auf anlegte, populär zu werden, sondern sich eher als Refugium des Wahren und Schönen verstand. Diese Anspruchshaltung korre¬ spondiert denn auch mit der Einschätzung etwa eines Hugo von Hofmannsthal, der die Kunstinteressierten seiner Zeit auf ein „paar tausend“ festlegt, die „in den großen europäischen Städten“8 leben. Empirisch betrachtet, ist diese Einschätzung zu differenzieren: Zwar ist die Jahrhundertwende ein erster Höhepunkt in der Ent¬ wicklung des Buchmarktes, zugleich aber auch einer seiner Tei¬ lung. Während das Verlagswesen florierte, der Absatz von Ge¬ drucktem stieg, die Alphabetisierung fortschritt und die Bücher immer erschwinglicher wurden, wuchs die Spaltung zwischen ,Kunstliteratur“ und populärem Geschmack; „die Entfremdung zwischen Schriftsteller und Gesellschaft hatte einen extremen Grad erreicht“9. Die Demokratisierung des Lesens hat einen steigenden Konsum an Groschenheftchen zur Folge, und auf den Bestsellerli-

1 9

Hofmannsthal 1950, S. 148. Wittmann 1991, S. 292.

,Grenzbesichtigungen“ der österreichischen Literatur um 1900

17

sten der Zeit finden sich nur wenige Autoren, die Eingang in den literarischen Kanon gefunden haben.10 Auf die dahinter stehende Dichotomie reagierten schon Wagner oder Nietzsche mit Versu¬ chen, Esoterik und Popularität miteinander zu verbinden. Leslie Fiedlers Aufruf „Cross the Border - Close the Gap“* 11 steht in dieser Tradition des Ausgleichs. Er markiert schließlich den Aufbruch in jene postmoderne Anspruchshaltung der Kunst, potentiell für alle rezipierbar zu sein, möglichst unabhängig vom Bildungsniveau. Umgekehrt ermöglichte die Expansion des Bil¬ dungswesens breiteren Schichten den freien Zugang zur literari¬ schen Öffentlichkeit. Daß das „Literarische Quartett“ dem Fernse¬ hen hohe Einschaltquoten beschert, scheint das breite Wirkungspo¬ tential von Literatur zu bestätigen. Es fehlt freilich aber auch nicht an Stimmen, die die Euphorie dämpfen: Hans Magnus Enzensber¬ ger z.B. bezeichnet die Literatur als eine „minoritäre Angelegen¬ heit“: Wahrscheinlich ist sich die Zahl derjenigen, die mit ihr leben, im Laufe der letzten zwei Jahrhunderte relativ gleich geblieben. Nur ihre Zusam¬ mensetzung hat sich verändert. Es ist längst kein Standesprivileg, aber auch kein Standeszwang mehr, sich mit ihr zu befassen. [...] Wenn sie aufgehört hat, als Statussymbol, als sozialer Code, als Erziehungspro¬ gramm zu gelten, dann werden nur noch diejenigen die Literatur zur Kenntnis nehmen, die es nicht lassen können.12

Was die Literaturgeschichte und damit das Leserinteresse an ,un¬ zeitgemäßen' Texten angeht, so darf man die Grenzen getrost enger ziehen. Die Literatur vergangener Epochen besitzt eine geringere Attraktivität als zeitgenössische.13 Der Jahrhundertwende geht es da kaum anders, obwohl die Verkaufszahlen von Autoren wie Kaf¬ ka oder Schnitzler nach wie vor ansehnlich sind.

10 11 12 13

Vgl. ebda., S. 298f. Vgl. Fiedler 1969. Enzensberger 1988, S. 72. Vgl. dazu Eicher 1999a, S. 180.

18

Thomas Eicher

Literaturvermarktung wie Leseförderung funktioniert heute im Medienverbund.14 Über Verfilmungen etwa an die literarischen Quellen vorzustoßen, ist ein nicht ungewöhnlicher Vorgang im Rahmen der Lesesozialisation. Bisweilen aber dringt der nicht-wis¬ senschaftliche Kinogänger nicht über die Grenze des neueren Me¬ diums vor. Darum fällt es mir verhältnismäßig schwer, etwa einen Filmerfolg wie den des „Engels mit der Posaune“ (1948, mit Paula Wessely, Attila Hörbiger, Oskar Werner und Curd Jürgens) als Re¬ zeptionsgewinn für die österreichische Literatur zu verbuchen. Im¬ merhin befindet Donald Daviau, daß dieser Film nach dem Roman „The Angel with the Trumpet“ (1944) von Ernst Lothar zur Ver¬ wendung im landeskundlichen Unterricht empfehlenswert sei15 vor allem jedoch als Illustration der historischen Entwicklungen im Österreich der ersten Jahrhunderthälfte, sicherlich weniger mit Blick auf die literarische Dimension. Ebenso mit Skepsis ist auch die Adaption des Schnitzlerschen „Traumnovelle“-Stoffes durch Kubricks „Eyes Wide Shut“ (1999) zu betrachten,16 die sich m.E. zu weit von ihrem Vorbild entfernt, um Schnitzler neue Leser zu bescheren, auch wenn die englisch- wie deutschsprachigen Textaus¬ gaben immer eine Kombination aus Novellenvorlage und Dreh¬ buch präsentieren. Die Rezeption von Literatur hat ihre Grenzen. Deutschsprachige Literatur hat es im Ausland derzeit nicht leicht, sich zu behaupten. Das Interesse an der deutschen Sprache und ihrer Kultur ist rück¬ läufig. Das spüren auch die Germanisten im nicht-deutschprachigen Ausland, erst recht, wenn sie sich mit der Literatur und Kultur des - heute - kleinen Österreich beschäftigen. Donald Daviau be¬ richtet in diesem Band von den Schwierigkeiten österreichischer Kulturarbeit in Amerika. Sie scheinen mir symptomatisch zu sein für die Fremdheit einer Literatur jenseits von politisch-geographi¬ schen und zeitlichen Grenzen. Dieser Abstand wird umso deutli¬ cher, wenn man sich dem Gegenstand, der österreichischen Litera14

Vgl. ebda., S. 22-25.

15

Vgl. Daviau in diesem Band, S. 73.

16

Vgl. Hackert/Eicher in diesem Band.

,Grenzbesichtigungen1 der österreichischen Literatur um 1900

19

tur, von Amerika aus annähert, und dies in der Gewißheit, dabei eine Außenperspektive zu gewinnen, gewissermaßen also über eine Grenze hinweg zu sprechen, die stets sichtbar bleibt.

3. Über die Frage, ob es eine spezifisch österreichische Literatur gebe und welche Erkennungsmerkmale sie habe, ist in der Vergangen¬ heit immer wieder diskutiert worden. So verwundert es nicht, daß sich auch einige Beiträge dieses Bandes des Problems annehmen. Im Kontext einer Technikgeschichte der Literatur lassen sich z.B. für eine Eigenständigkeit der Entwicklung Österreichs u.a. sozial¬ ökonomische Gründe anführen. So betont Roland Innerhofer, daß in der Habsburgermonarchie „die Wandlung von einem Agrar- zu einem Industriestaat keineswegs so radikal und vollständig wie in Deutschland, vielmehr regional sehr unterschiedlich erfolgte“17. Das anachronistische Wirtschaften könnte auch eine eigene Per¬ spektive auf gesellschaftliche Prozesse nach sich ziehen, was jedoch angesichts einer kulturellen Dominanz der Metropole Wien in der Literatur kaum zu Buche schlägt. „Die Erfahrungshintergründe österreichischer Autoren unterscheiden sich [...] nicht von [...] de¬ nen der deutschen Autoren.“18 Nimmt man hier jedoch den Blick¬ winkel der Rezeptionsgeschichte ein, so wird schnell klar, daß eine großstädtische Literatur auch in der Hauptsache von einer urbanen Leserschaft rezipiert wird, die in Deutschland weit größer gewesen sein dürfte. Der Spezifik einer österreichischen Literatur ist also nicht unter Ausblendung ihres Wirkungszusammenhangs beizu¬ kommen. In den Augen Daviaus - also auch mit einer außereuropäischen Perspektive - stellt sich die Frage nach der Eigenständigkeit öster¬ reichischer Literatur vor allem als Vermittlungsproblem, das neben Kulturförderung und Distributionswesen auch die akademische Lehre zu verantworten hat. Daviau plädiert für eine Entschärfung 17

Innerhofer in diesem Band, S. 157.

18

Ebda.

20

Thomas Eicher

der Diskussion durch eine Verminderung ihrer Emotionsgeladenheit - und diese Haltung wird möglicherweise auch durch einen räumlichen Abstand vom Objekt erreicht. Mit kaum verhohlener Gereiztheit wurde die Frage jedoch in den 90er Jahren von einigen österreichischen Germanisten beantwortet: „Die leidige Frage, ob es überhaupt eine österreichische Fiteratur gebe, muß nicht alle Jahre wieder gestellt werden. Hier sei mit Ernst Jandl kurz und de¬ zidiert ,ganz gewiß!' gerufen und als kleinster gemeinsamer Nen¬ ner der damit Beschäftigten zumindest der Konsens eines prakti¬ schen Konstruktes vorausgesetzt“19. Natürlich kann diese Frage nur gestellt werden, wenn ihre Beantwortung ebenso auf die Be¬ sonderheiten der österreichischen Fiteratur wie auf ihren repräsen¬ tativen Charakter für den europäischen Raum abzielt. Was also rechtfertigt diese Spezialisierung innerhalb der germanistischen Fiteraturwissenschaft, wenn nicht die Frage nach dem ,Wesen' österreichischer Fiteratur?20 Seit Claudio Magris 1963 mit „II mito absburgico nella letteratura austriaca moderna“21 die österreichische Fiteratur auf Trauer um die verlorene Größe, Wirklichkeitsflucht und Mythenbildung im Zeichen der Habsburgermonarchie festgelegt hat, sind ähnliche Kategorien wiederholt aufgegriffen worden,22 um das typisch Österreichische zwischen Grillparzer und Doderer herauszuarbei¬ ten. Noch 1979 unternimmt ein jüngerer Anhänger dieser Denkfi¬ gur, Ulrich Greiner, den umstrittenen Versuch,23 dieses Deutungs¬ muster bis zu Thomas Bernhard und Peter Handke bruchlos fort¬ zuführen: Entpolitisiert und resigniert, so Greiner, sei die österrei¬ chische Fiteratur seit dem Ende des Josephinismus, zum sozialen Nichthandeln verurteilt; sie verweigere sich der Wirklichkeit und werde von der Tradition erdrückt.24

^

Schmidt-Dengler/Zeyringer 1995, S. 12.

20

Vgl. Olles 1957, Strelka 1966.

2^

Vgl. Magris 1988.

22

Vgl. etwa Williams 1974.

22

Vgl. etwa Schmidt-Dengler 1982.

2^

Vgl. Greiner 1979, S. 14f.

21

,Grenzbesichtigungen‘ der österreichischen Literatur um 1900

Während solchen auf Magris zurückgehenden Zuschreibungen aus der Sicht des Österreichers der Makel nicht-österreichischer (und darum vielleicht unauthentischer) Urheberschaft anhaftete,25 findet sich ähnliches doch bereits vorgeprägt beim österreichischen Autor Herbert Eisenreich, der 1962 vergleichbare Charakteristika formuliert: Er hält die österreichische Literatur für distanziert ge¬ genüber der Wirklichkeit, antipragmatisch, aber doch vom Glau¬ ben an die umwälzende Kraft der Sprache beseelt, konservativ und antispekulativ, traditionalistisch und antimodern.26 Ontologische Bestimmungen dieser Art behaupten eine histori¬ sche Kontinuität, die ihnen nicht zukommt; sie setzen zudem die Existenz einer Nationalliteratur voraus, die sich neben geographi¬ schen aus sprachlichen und anderen kulturellen Komponenten zu¬ sammensetzt. Bei Eisenreich liest sich das folgendermaßen: „Wir halten [...] fest, daß uns zur Gewinnung des Begriffs der National¬ literatur keineswegs die abstrakte Gemeinsamkeit eines Dialekts genügt, sondern daß wir fordern, dieser Dialekt sei die geistige Antwort auf ein gemeinsames, konkret noch wirksames histori¬ sches Schicksal“27. Dahinter steht das Bemühen, den deutschen Sprachraum nicht nur, wie es schon Joseph Nadler — wenn auch mit ganz anderen Intentionen — mehrfach unternommen hatte, nach der Zugehörigkeit zu Volksstämmen und Landschaften zu differenzieren, sondern zugleich gegenüber der großdeutschen Ten¬ denz

Nadlers

eine

nationalstaatlich-österreichische

Eigenstän¬

digkeit der Literatur zu belegen. Gegen solche Bestrebungen ließe sich mit Gert Müller einwenden: „Eine nationale Kultur, die den politischen Anspruch auf Souveränität unterstützen soll, ist deshalb für Österreich überflüssig, weil niemand Anspruch auf das Staats gebiet Österreichs erhebt“29. Vor dem Hintergrund eines österrei¬ chischen

Beitritts

zur

Staatengemeinschaft

der

Europäischen

Vgl. Schmidt-Dengler 1982, S. 181. 26

Vgl. Eisenreich 1962, S. 106f.

27

Ebda., S. 97f.

28

Vgl. zuletzt Nadler 1951.

29

Müller 1982, S. 12; vgl. ebenso bereits Schmidt-Dengler 1979, S. 62.

22

Thomas Eicher

Union gewinnt hingegen Müllers Frage nach dem praktischen Nutzen einer Definition des Österreichischen30 neue Aktualität; steht doch überall in Europa den internationalen Integrationsbe¬ strebungen eine Rückbesinnung auf regionale Eigenheiten gegen¬ über. In der Tat fällt damit mehr denn je der Erforschung österrei¬ chischer Literatur die bereits 1979 von Wendelin Schmidt-Dengler eingeklagte Aufgabe zu, „die Bedeutung österreichischer Autoren für die europäische Literatur aufzuzeigen“31. Gerade aber im Hinblick auf eine begrenzte Zeitspanne scheint es mir vielversprechend, eine zugleich europäische und dennoch spezifisch österreichische Perspektive zu entwickeln; denn: „Es steht nicht ewig fest, was Österreich ist, sondern seine Existenz muß aus den Voraussetzungen jeder Zeit neu erfahren und begrün¬ det werden“32. Dabei wird naturgemäß keine überzeitliche We¬ sensschau und genausowenig der Nachweis eines historischen Kontinuums angestrebt - ohnedies ein Unterfangen, das Egon Schwarz als Absurdität zurückgewiesen hat.33 Trotzdem zeigt sich auch das Bild, das Schwarz von der österreichischen Literatur zeichnet, in hohem Maße abhängig von der Kultur- bzw. Sozialge¬ schichte eines Österreich, das sich seinerseits aber von Fall zu Fall, also für jeden historischen Untersuchungszeitraum neu, bestimmen lassen muß. „Aus diesem Grund wird man sich an relativ kleine Zeit-, Raum- und Gesellschaftseinheiten halten müssen, um die Art des Zusammenwirkens zwischen literarischen Werken und der Epoche, der sie ihre Entstehung verdanken, in den Griff zu be¬ kommen“34. Folgerichtig hat Albert Berger in jüngerer Zeit die Möglichkeit aufgezeigt, österreichische Literatur im Anschluß an die sozialwissenschaftliche Kulturraumforschung „als Relation ge¬ schichtlich sich verändernder regionaler Literaturräume innerhalb

30

Vgl. Müller 1982, S. 13.

31

Schmidt-Dengler 1979, S. 58.

32

Turnher 1981, S. 39.

33

Vgl. Schwarz 1982, S. 135.

34

Ebda., S. 149.

23

,Grenzbesichtigungen1 der österreichischen Literatur um 1900

einer

übergeordneten

Struktur

mit

Dominanz

des

Wiener

Raums“35 aufzufassen. Die regionalen Literaturräume, von denen Berger spricht, lassen sich für die Zieit um 1900 durch Landesgrenzen nicht umreißen, schon gar nicht durch die heutigen Staatsgrenzen der Republik Österreich. Diese Räume sind historisch kontingent und in ihrer funktionalen Abhängigkeit vom dominanten Raum fluktuierende Gebilde, die per se gleichsam grenzüberschreitend angelegt sind. Die Rede von der österreichischen Literatur ist darum gleichwohl nicht einfach unzulässig. Der Begriff ist vielmehr als Ordnungs¬ größe zu verstehen, unter der sich mit Blick auf einen zu definie¬ renden Zeitraum eine Textgruppenbildung vollzieht.36

4. Zeitengrenzen sind abschließend zu thematisieren, die immerhin benannt werden wollen, wo mit dem Begriff der Jahrhundert¬ wende wiederum eine Textgruppe fokussiert wird. Mit der Vorstel¬ lung von Nationalliteraturen eng verknüpft sind auch jeweils zuge¬ hörige Epochenbegriffe. Von der Literatur „um 1900 zu sprechen, wie im Titel des vorliegenden Bandes, entbindet von der leidigen Pflicht, einen solchen Begriff in Anschlag zu bringen. Michel Reffet hingegen macht es sich im vorliegenden Band zur Aufgabe, mit dem Impressionismus eine dominante Stilrichtung für den in Rede stehenden Zeitraum herauszupräparieren. Die Einführung eines Epochenbegriffs vermeidet aber auch er. Man könnte daraus folgern, daß selbst der dominant gesetzte Impressionismus zu we¬ nig Tragfähigkeit hätte, um einer ganzen ,Epoche“ seinen Namen zu geben, wie denn überhaupt die literarische Moderne seit dem Ende des 19. Jahrhunderts in ihrer Vielfalt nur mit Mühe auf weni¬ ge Nenner gebracht werden kann. In der Konzentration auf die österreichische Literatur liegt jedoch eine probate Möglichkeit, dem in Europa herrschenden Pluralismus eine regionale Eingren35

Berger 1995, S. 39.

36 Zur Textgrupenbildung vgl. Hamacher 2001.

24

Thomas Eicher

zung entgegenzuhalten. Nicht umsonst hat Peter J. Brenner Wien als die „Hauptstadt der Jahrhundertwende“37 charakterisiert. Und dort spielen Naturalismus wie Expressionismus eine weitaus klei¬ nere Rolle als auf deutschem Boden, womit sich einmal mehr zeigt, daß die Bestimmung von Stilmerkmalen für die Kennzeichnung einer ,Epoche“ ein ergänzungsbedürftiges Verfahren darstellt, weil damit außerliterarische Kontexte oder wenigstens solche außerhalb des Kunstsystems ausgeblendet werden. Die Zeitengrenzen der österreichischen Jahrhundertwendelitera¬ tur zu benennen fällt durch den Hinweis auf außerliterarische Kontexte keineswegs leichter. Läßt man sie mit dem Liberalismus der 80er Jahre beginnen, mit Machs „Analyse der Empfindungen“ (1886) oder erst mit der Entstehung des „Jungen Wien“ in den 90ern? Endet sie trotz kaum vorhandener literarischer Auswirkun¬ gen des immerhin in der Wiener bildenden Kunst wirksamen Ex¬ pressionismus mit Beginn des 2. Jahrzehnts, mit dem Ausbruch des 1. Weltkrieges oder mit dem Tod des Kaisers Franz Joseph I. (1916)? Was bleibt, ist eine Setzung, die ich vornehmen möchte, ohne Binnendifferenzierungen und Erweiterungen auszuschließen. Ca. 15 Jahre vor und nach 1900 dienen als Zeitraum, in dem sich die Gegenstände der im vorliegenden Band versammelten Beiträge verorten lassen. An der literaturdidaktischen Notwendigkeit - gerade aus der Sicht der französischen Auslandsgermanistik -, durch die Festlegung von Stilepochen der Geschichte deutschsprachiger Lite¬ ratur als Lehr- und Lernstoff beizukommen, besteht indes kein Zweifel. Solche Bemühungen zeigen umso nachhaltiger, wie abhän¬ gig die Ordnung der Dinge vom jeweiligen Standort des Betrach¬ ters ist. Und hier spielen wiederum die Sprachgrenzen eine wich¬ tige Rolle, die zugleich spezifische Fomen der Wissens- und Li¬ teraturvermittlung voneinander scheiden, obwohl diese doch dar¬ auf abzielen, eine Brücke zur ,fremden1 Kultur hinüberzuschlagen.

37

Brenner 1996, S. 201.

25

,Grenzbesichtigungen“ der österreichischen Literatur um 1900

Literatur Berger, Albert: Patriotisches Gefühl oder praktisches Konstrukt? Über den Mangel an österreichischen Literaturgeschichten. In: Literatur¬ geschichte: Österreich. Prolegomena und Fallstudien. Hrsg, von Wendelin Schmidt-Dengler u.a. Berlin 1995, S. 29-41 Brenner, Peter J.: Neue deutsche Literaturgeschichte. Vom „Acker¬ mann“ zu Günter Grass. Tübingen 1996 Eicher, Thomas: Grenzgänge in Leben und Werk Joseph Roths. In: Joseph Roth: Grenzüberschreitungen. Im Auftrag der Auslandsge¬ sellschaft NRW hrsg. von Thomas Eicher; mit CD: Joseph Roth: Grenzüberschreitungen. Gelesen von Dietmar Grieser. Textzusam¬ menstellung von Thomas Eicher. Oberhausen 1999, S. 19-32 Eicher, Thomas: Lesesoziahsation und Germanistikstudium. Pader¬ born 1999[a] Eilert, Heide: Das Kunstzitat in der erzählenden Dichtung. Studien zur Literatur um 1900. Stuttgart 1991 Eisenreich, Herbert: Das schöpferische Mißtrauen oder Ist Öster¬ reichs Literatur eine österreichische Literatur? In: Das große Erbe. Aufsätze zur österreichischen Literatur. Von Otto Basil/Herbert Eisenreich/Ivar Ivask. Graz/Wien 1962 Enzensberger, Hans Magnus: Lob des Analphabetentums. In. ders.. Mittelmaß und Wahn. Gesammelte Zerstreuungen. Frankfurt a.M. 1988,S.61-73 Fiedler, Leslie: Cross the Border - Close the Gap. In: Playboy (Dez. 1969), S. 151, 230, 252-254, 256-258 Gerhard, Ute: Nomadische Bewegungen und die Symbolik der Krise. Flucht und Wanderung in der Weimarer Republik. Opladen/Wies¬ baden 1998 Gerhard, Ute/Jürgen Link/Rolf Parr: Interdiskurs, reintegrierender. In: Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze - Per¬ sonen - Grundbegriffe. Hrsg, von Ansgar Nünning. Stuttgart 1998, S. 237 Greiner, Ulrich: Der Tod des Nachsommers. Aufsätze, Portraits, Kri¬ tiken zur österreichischen Gegenwartsliteratur. 1979

München/Wien

26

Thomas Eicher

Hamacher, Bernd: Aspekte der Textgruppenbildung. In: Arbeitsbuch: Literaturwissenschaft. Hrsg, von Thomas Eicher und Volker Wie¬ mann. 3., überarbeitete Auflage. Paderborn 2001 (= UTB, Große Reihe) [in Vorbereitung] Hofmannsthal, Hugo von: Prosa I. Hrsg, von Herbert Steiner. Frank¬ furt a.M. 1950 (= Gesammelte Werke in Einzelausgaben) Magris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. 2. Auflage. Salzburg 1988 Müller, Gerd: Einige Überlegungen gegen den Begriff „österreichi¬ sche“ Literatur. In: Für und wider eine österreichische Literatur. Hrsg, von Kurt Bartsch u.a. Königstein (Ts.) 1982, S. 9-13 Nadler, Josef: Literaturgeschichte Österreichs. 2., erweiterte Auflage. Salzburg 1951 Olles, Helmut: Gibt es eine österreichische Literatur? Ein Versuch zu ihrer Wesensbestimmung. In: Wort und Wahrheit 12 (1957), H. 2, S.115-134 Schmidt-Dengler,

Wendelin/Klaus

Zeyringer:

Literaturgeschichte

Österreichs. Eine Einführung in die Problematik. In: Literaturge¬ schichte: Österreich. Prolegomena und Fallstudien. Hrsg, von Wendelin Schmidt-Dengler u.a. Berlin 1995, S. 9-18 Schmidt-Dengler, Wendelin: ders.: Ulrich Greiner: Der Tod des Nach¬ sommers. Aufsätze, Porträts, Kritiken zur österreichischen Gegen¬ wartsliteratur. München: Hanser 1979. In: Für und wider eine österreichische Literatur. Hrsg, von Kurt Bartsch u.a. Königstein (Ts.) 1982, S.181-184 Schmidt-Dengler, Wendelin:

Europäische

nationale

Literaturen

I.

Österreich: „Pathos der Immobilität“. In: Frankfurter Hefte 10 (1979), S. 54-62 Schwarz, Egon: Was ist österreichische Literatur? Das Beispiel H. C. Artmanns und Helmut Qualtingers. In: Für und wider eine öster¬ reichische Literatur. Hrsg, von Kurt Bartsch u.a. Königstein (Ts.) 1982,S.130-151 Strelka, Joseph: Brücke zu vielen Ufern. Wesen und Eigenart der österreichischen Literatur. Wien u.a. 1966

,Grenzbesichtigungen‘ der österreichischen Literatur um 1900

27

Thurnher, Eugen: Gibt es eine österreichische Literatur? In: Literatur aus Österreich. Österreichische Literatur. Ein Bonner Symposium. Hrsg, von Karl Konrad Polheim. Bonn 1981, S. 36-46 Williams, C. E.: The Broken Eagle. The Politics of Austrian Literature from Empire to Anschluss. London 1974 Wittmann, Reinhard: Geschichte des deutschen Buchhandels. Mün¬ chen 1991

Fritz Flackert und Thomas Eicher

Jahrhundertwende heute? Ein Briefwechsel anläßlich des Films „Eyes Wide Shut“ Eine Ehefrau gesteht ihrem Mann, sie sei in einem dänischen Ur¬ laub der beiden vom flüchtigen Blick eines Fremden so tief berührt gewesen, daß sie ihm in aller Öffentlichkeit hätte einen sexuellen Antrag machen wollen.1 Der Ehemann erfährt darauf von einem befreundeten Pianisten „das Kennwort für eine hochgeheime Or¬ gie“2. Es heißt, wie in einem Vergleich zwischen Novelle und Film mit kritischem Unterton angemerkt wird,

etwas überdeutlich -

ausgerechnet ,Dänemark“4. Und zwar bei Schnitzler. Für den fein¬ sinnigen Erzähler retten könnte man diese Pointe nun, indem man sie ironisch versteht. Aber dann darf man dem Drehbuch von Kubricks Verfilmung solche Qualitäten nicht absprechen. „Fidelio“ lautet dort das „pass word“, das den Zugang für eine Veranstaltung massenhafter Untreue eröffnet, wobei die Ironie noch gebildet ver¬ schlüsselt ist. Deutsche wie vor ihnen amerikanische Zeitungen sparten nicht mit Vermutungen und Gerüchten über das neue Filmprojekt Kubricks, das sich als sein letztes erweisen sollte. In der „Frankfurter Rundschau“ war zu lesen, die Filmversion spiele „mit Tom Cruise und Nicole Kidman als Psychologenpaar“3, und die „Berliner Zei¬ tung“ fragte zu der „Wolke von Gerüchten“, die „über den Dreh¬ arbeiten“ schwebte, ob Schnitzlers „Traumnovelle“ beim „großen Stanley K.“ etwa für den „ersten Hollywood-Porno“ herhalten müsse.4 Auf das kritisch-bejahende Verhältnis Schnitzlers zum

1

Vgl. Schnitzler 1999, S. 13f.

2

Anonym 1999.

3

dpa 1999.

4

Göckenjan 1998.

30

Fritz Hackert und Thomas Eicher

neuen Medium des Films ging die „Süddeutsche Zeitung“ ein, die den Autor mit seiner Ablehnung zitierte, bloße Film-Exposes ein¬ zureichen, und seine Forderung hervorhob, für den Zweck der Verfilmung „eine ganze Novelle oder ein ganzes Stück zu lesen“, denn dies sei „hundertmal besser geeignet“, bei den Filmleuten „die Situationen und Bilder auftauchen zu lassen, die für die Verfil¬ mung in Frage kämen“5. Kein Zweifel, daß sich im Fall der „Traumnovelle“ Kubrick wie auch sein Drehbuch-Autor Frederic Raphael mit dem Text von Schnitzler eingehend befaßten. Raphael, der zahlreiche Romane und Kurzgeschichten schrieb; der eine Byron- und eine SomersetMaugham-Biographie verfaßte; Aeschylos, Sophokles und Euripides sowie die Gedichte von Catull übersetzte und neben essayisti¬ schen Abhandlungen nicht nur für Kubrick ein Drehbuch produ¬ zierte. Daß dessen Witwe, die „Nichte des Nazi-Regisseurs Veit Harlan“6, sich von Raphaels Darstellung seiner Kooperation mit Kubrick distanzierte, mindert den Informationswert dieser Entste¬ hungsgeschichte von „Eyes Wide Shut“ ebenso wenig wie die Ab¬ sicht, mit ihrer Publikation „von der Medienwelle zu profitieren“. Seit wann hätten gerade Schriftsteller auf Konjunkturvorteile zu verzichten? Überdies verspricht Raphaels Erinnerungs-Protokoll mit dem Titel „Eyes Wide Open“ nichts anderes als den Blick in die Werkstatt der beiden Medien-Translatoren und ist strecken¬ weise selbst als Drehbuch-Dialog gestaltet - also so amüsant wie selbstreflexiv auf seinen Verfasser rückbezogen. Aber wer läßt sich schon einfallen, dem Drehbuch einen seriösen literarischen Gat¬ tungs-Charakter zuzusprechen und es einer literaturwissenschaftli¬ chen Analyse für würdig zu befinden? Das Vorurteil, welches aus dieser Einstellung spricht, fällt jedoch auf seine Urheber zurück, denen der Film offenbar immer noch als Jahrmarkts- und Sensati¬ onsmedium und die Kino-Debatte immer noch nicht erledigt er¬ scheint.7 (Fritz Hackert) 5

Horwath 1997.

6

Steiner 1999, S. 6.

7

Vgl. Kino-Debatte 1878.

Jahrhundertwende heute?

31

Lieber Fritz, danke für Dein pflichtgemäß abgeliefertes Statement zum Film, das ich nun aber doch - entschuldige die Direktheit - zu lauwarm finde. Wenn wir uns über den Film streiten wollen, dann solltest Du Dich ja wohl zunächst eindeutig auf der Skala zwischen Ekel und Euphorie positionieren. Wo Du stehst, das muß ich ein Stück weit in Deine anfänglichen Äußerungen hinein- bzw. aus ihnen herausinterpretieren: Du nimmst zunächst den Film gegen¬ über jenen Kritikern in Schutz, die ihn hinter seine Novellenvor¬ lage zurückfallen sehen. Darüber werden wir zu diskutieren haben; denn ich bin - rundheraus gesagt - tatsächlich der Ansicht, daß er den Vergleich in einem qualitativen Sinne scheuen sollte. Ob das Verfahren im Falle der Kubrickschen Adaption mit filmpoetologischen Grundannahmen Schnitzlers konform geht oder nicht, ist mir, schon deshalb, weil ich Selbstaussagen von Autoren nicht für ein probates Argument bei der Analyse ihrer Produkte halte, ganz egal. Ich würde darüber hinaus auch zur Vorsicht raten, wo Du auf Raphaels publizistische Begleitmusik zum Film ver¬ weist. War er nun Kubriks Handlanger oder selbst ein begnadeter Autor, der nur seinerseits falsch interpretiert wurde? - „Wen kümmert’s, wer spricht“8, müßte man da mit Foucault antworten. Wir werden uns wohl an das Material halten müssen - natürlich nicht nur an die Texte, die ja dankenswerterweise in verschiedenen Aus¬ gaben vorhegen, sondern in der Tat auch an die Art und Weise ihrer Transmedialität. Wer Augen hat, der schaue, aber wir haben ja auch so manche Stimmen zu zitieren, die unser eigenes Schauen auf eine breitere Rezeptionsbasis stellen werden. Du mußt mir also gestatten, daß ich mich bei der Analyse und Interpretation, wenn immer das möglich sein wird, auf die Seite der Texte und des Filmmaterials schlagen und dabei immer die Optik des Rezipienten mitreflektie¬ ren möchte. Die Frage nach der Literarizität stellt sich für mich

8

Foucault 1988, S. 31.

32

Fritz Hackert und Thomas Eicher

dabei weniger; sie wäre eine, die man mit Fug sowohl an die „Traumnovelle“ als auch an „Eyes Wide Shut“ stellen könnte. Erlaube mir aber an dieser Stelle ein gewissermaßen nachgeholtes Eingangsstatement, das den Kubrik-Film in einen größeren Hori¬ zont einbettet: Daß am Ende des 20. Jahrhunderts zum wiederholten Male in¬ nerhalb der vergangenen Dekaden die Zeit um 1900 ins Blickfeld der öffentlichen Wahrnehmung gerät, scheint nicht weiter zu ver¬ wundern, wenn man sich als Angehöriger des Kulturbetriebs ein¬ gestehen muß, wie sehr die Präsentation und Rezeption kultureller Güter der Vergangenheit im Event-Zeitalter von Jubiläumsdaten aller Art abhängig geworden ist. Schön, wenn es das Kino als oft¬ mals verteufelter medialer Freßfeind der Bücher übernimmt, an eine jubiläumsreife Kulturerscheinung zu erinnern; noch schöner, wenn es ihm gelingt, Leser - wenn schon nicht zu rekrutieren - zu reaktivieren. Im Falle des Kubrick-Films gab es gleich doppelt Anlaß zur Rückbesinnung; galt es doch die Krönung eines Lebenswerks zu feiern, die ihrerseits retrospektiv auf eine längst vergangene Zeit gerichtet zu sein scheint, aber doch ewige Wahrheiten menschli¬ chen (Zusammen-)Lebens transportiert und deshalb mehr ist als Jubiläumsnostalgie. Dennoch: „Eyes Wide Shut“ will als Jahrhun¬ dertwende-Adaption eines Jahrhundertwende-Stoffes wahrgenom¬ men werden, und sämtliche der zahlreichen Rezensionen unter¬ streichen diese Bezugnahme - zurecht: Arthur Schnitzlers „Traum¬ novelle“, die Kubricks Film zugrunde liegt, datiert zwar aus dem Jahr 1925 - die 20er Jahre, eher ,roaring‘ als ,golden', haben bereits ihren Zenit überschritten -, aber der Autor ist mit seinem Stil und seinen Themen nicht mehr auf der Höhe der Zeit, auf keinen Fall jedoch ein Avantgardist wie Jahre zuvor etwa mit „Leutnant Gustl“ (1990). Hilde Spiel hat überdies in einem klugen Essay ge¬ zeigt, „daß dieses Prosastück, das die gebildeten Stände im republi-

Jahrhundertwende heute?

33

kanischen Österreich so außer Fassung brachte, noch im tiefen habsburgischen Frieden des Jahres 1907 konzipiert worden war“9. Kubricks „Eyes Wide Shut“ darf und muß als Interpretation ge¬ lesen werden. Der Vergleich kann in der Tat nicht nur sichtbar ma¬ chen, was Kubrick an der Vorlage verändert oder belassen hat. Ich bin sicher, daß über die nachweisbaren strukturellen Differenzen zwischen Novellentext, Drehbuch und Inszenierung ein Erwar¬ tungshorizont sichtbar wird, der die Rezeptionsgewohnheiten des Kinopublikums determiniert und vor dem sich darüber hinaus eine Schnitzler-Lektüre am Ende des Jahrtausends vollzieht. Das heißt nichts anderes, als daß Kubricks Film, ebenso wie seine Bespre¬ chungen, Rückschlüsse auf den heutigen Umgang mit der Klassi¬ schen Moderne, vor allem aber mit ihren Themen, erlaubt. (Tho¬

mas Eicher)

- Einem Umgang mit der Klassischen Moderne, lieber Thomas, dem wir selbst ja angehören und dem die Texte von uns entstam¬ men. Wie Du die Instanz nennen willst, die da aus Dir spricht, kümmert mich weniger als das Ungleichgewicht zwischen Deiner Position und dem Rang, den Du Deinem Gegenstand zugestehst. Hochgerüstet mit Foucault und Goethe warnst Du davor, den Drehbuch-Autor ebenfalls in voller Rüstung zu zeigen. Erstens je¬ doch führt der Weg von der Novelle zum Film eben über das „screenplay“, und zweitens erregte gerade der in Raphaels Rechen¬ schaftsbericht dargelegte Bildungsunterschied zwischen DrehbuchAutor und Film-Regisseur bei den Kubrick-Anhängern die wü¬ tendsten Proteste. Luft macht sich der Skript-Autor nach den Un¬ terwerfungsakten bei zahllosen Revisionen seiner Vorlage duich Bestehen auf seinen „academic attainments and his immense störe of knowledge“10, ein Fundus, den er vertragsgemäß zum willkürli¬ chen Gebrauch auszuliefern hatte an „Stanley the tyrant, Stanley

9

Spiel 1984, S. 62.

10

Herr 2000, S. 260.

34

Fritz Hackert und Thomas Eicher

the obsessive perfectionist, cold Stanley“ und was für Attribute noch aus hochfrustrierender Kooperation resultieren mögen. Ver¬ geblich übrigens suchte ich herauszufinden, wer den in seiner Kür¬ ze und Paradoxie genialen Filmtitel formuliert hat. Der DrehbuchAutor schreibt ihn ausdrücklich dem Film-Regisseur zu,11 was die andere Seite seiner Passion bezeugt, nämlich seine Bewunderung für den Regisseur, die ich teile und als Ausgangsposition für die Befassung mit „Eyes Wide Shut“ verstehe. Die Bedeutung dieser Formel wird in Porträts und Skulpturen verschiedenster Kulturen und Epochen einem bestimmten Gesichtsausdruck unterlegt. „Der Blick, der am weitesten in die Ferne geht,“ ist dann „der, der sich nach innen kehrt, ,in sich hineinschaut““12. Was man auf der Bühne oder im Film aber erblickt, wenn man schaut, bedarf nicht nur der Augen zu seinem Verständnis, sondern der medien- und kunstgeschichtlichen Kenntnisse von den Wahrnehmungs- und Bildtraditionen, die da benützt und zitiert werden. Typisch für Kubrick, so stellen seine Kritiker fest, ist situativ und choreographisch der hochartifizielle Charakter seiner Bilder, wofür ich ein beliebiges Beispiel aus der Historien-Satire „Barry Lyndon“ wähle. Es handelt sich um den stereotypen Kutschen-Überfall mit der Beraubung des Helden. „Even such a simple cinematic composition“, heißt es in der Analyse dieses Films, „settles into a gerne portrait, ,painted“, ,varnished“, ,framed“, and destined to be ,hung“ on the walls of a stately home or academy exhibition, perhaps laconically entitled ,A Highway Meeting“.“13 Erinnern wir uns an die Ikone, mit welcher der Film „Eyes Wide Shut“ eröffnet wird: Es ist die Rückenansicht von Nicole Kidman, ein kunstgeschichtli¬ ches Motiv, das klassischer nicht ausfallen könnte. Wie groß auch die Räume und Sichtdimensionen in Kubricks Filmen geraten, stets ist bei ihnen der Atelierfotograf am Werk, der mit Bildinszenierun¬ gen operiert und dabei die ästhetische Vorgeschichte seines jeweili-

11 12 13

Vgl. Raphael 1999, S. 136, 162. Kieser-Hess 2000. Walker 1999, S. 252.

Jahrhundertwende heute?

35

gen Werks auskostet. „Kubrick wanted to show, not teil“14, so be¬ zeichnet sein Drehbuch-Autor die unvermeidliche Differenz zu dem Regisseur, „who cared more for images than for drama“15. Ungefähr 20.000 Fotos sammelte er zur Vorbereitung eines Napo¬ leon-Films, aus dem dann nichts wurde.16 Mit der visualisierten Erotik der Jahrhundertwende befaßte er sich zur Verfilmung von Schnitzler anhand der Bilder von Schiele und Klimt,17 und die In¬ nenräume von „Eyes Wide Shut“ sind zum Teil mit Gemälden sei¬ ner Frau ausgestattet, die „eine erfolgreiche Malerin wurde“18. Niemand ist es in der freien Welt verwehrt, den Gang durch Mu¬ seen langweilig und den Film als Medium von ,action‘, nicht aber von Bildbetrachtung zu empfinden. Kubricks Studien und Experi¬ mente reichen in beide Extremdimensionen, und der Action-Fraktion kann man kaum verübeln, wenn sie „Eyes Wide Shut“ viel zu langatmig finden. Ein leitmotivisches Detail beim Vergleich der Novelle mit dem Film belegt nach meiner Meinung, daß die Aktualisierung der lite¬ rarischen Vorlage das Moment der sozialen Normalität hervorhob. Um Stimmungstopoi handelt es sich in beiden Fällen - bei Schnitz¬ ler um den impressionistisch sattsam genutzten Vorfrühling, bei Kubrick um die amerikanisch allbeherrschende Christmas Season. Schnitzler suggeriert damit als Erregungsquelle ein triebhaftes Ausbruchsbedürfnis, Kubrick integriert das Sexualverlangen in die Gesellschaftsrituale - offen oder geheim - des Konsumzeitalters.

{Fritz Hackert)

Lieber Fritz, gestatte mir, den Themenkomplex Liebe und Sexuali¬ tät etwas zurückzustellen und noch einen Moment bei den Bildin-

14 Raphael 1999, S. 121. 15 Ebda., S. 120. 16 Ebda., S. 155. 17 Ebda., S. 112. 18 Steiner 1999, S. 6.

36

Fritz Hackert und Thomas Eicher

szenierungen zu verweilen, die Du angesprochen hast. Die Vor¬ weihnachtszeit und die auf sie rekurrierenden Ausstattungsdetails bilden im Film ja ein weidlich ausgeschlachtetes Reservoir. Daß der Weihnachtsbaum, der in fast jedem der Räume steht, in denen agiert wird, eine Todeskonnotation transportiert, ließ sich einer erst kürzlich erschienenen Nachlese zum Film entnehmen.19 Doch das ist ja nur die eine Seite der Medaille. Schließlich transportiert die Weihnachtsatmosphäre ja auch Signifikate der Hoffnung und des Neuanfangs, wie sie auch im Spielzeuggeschäft der Schlu߬ szene in den Vordergrund treten - freilich auch hier nicht ohne eine ironische Brechung durch den todverkündenden Tannenbaum. Das könnte auch von Schnitzler sein und fällt ganz im Sinne der „Traumnovelle“ aus; denn auch hier stehen die Frühlingsgefühle der Ehepartner stets im Kontrast zu den allgegenwärtigen Bildern des Todes und der Krankheit, die der Film ebenfalls aufgreift. „Zweifelnd und hoffnungsvoll zugleich“ formuliert Fridolin nach der Erzählung seiner Abenteuer die Frage „Was sollen wir tun, Albertine?“ und bekommt unter anderem zur Antwort: „Niemals in die Zukunft fragen.“20 Das letzte Wort haben in der Traumno¬ velle optische und akustische Signale mit Symbolcharakter: Der Tag beginnt mit einem „sieghaften Lichtstrahl [...] und einem hel¬ len [noch einmal eine metaphorische Visualisierung]

Kinderla¬

chen“21. Auch Schnitzler war ganz sicher ein Meister der Bilder, selbst wenn er sie in der Erzeugung jener von Dir angesprochenen Früh¬ lingsatmosphäre in einem Maße strapaziert, das man ohne weiteres als kitschig bezeichnen kann. Und ich bin mir da nicht so sicher, ob das nur ein ironisches Spiel mit Versatzstücken populärer Prosa ist.22 Zumindest ist diese Bildersprache aufdringlich wie die von

19

Vgl. Herr 2000, S.267f.

20

Schnitzler 1999, S. 94f.

21 22

Ebda., S. 95. Horst Thome hat ein solches Verfahren z.B. für Schnitzlers frühere Erzählung „Frau Berta Garlan“ nachgewiesen. Vgl. dazu Thome 1987, S. 945.

37

Jahrhundertwende heute?

Kubrick,

der

in

opulenten

Ausstattungen

seiner

Innenräume

schwelgt und mit Leitmotiven nicht spart. Was

ich

aber

an

Stanley,

dem

manischen

Bildersammler,

schmerzlich vermisse, ist ein feineres Gespür für das hochsensible Bildmaterial der Traumnovelle, das ja nicht nur erst im Leser zum Tragen kommt, sondern bereits durch den Text und seine Thematik fokussiert wird. Schließlich geht es um Imagination, um den Traum, dessen Inszenierung Kubrick scheinbar absichtsvoll ver¬ meidet. Warum nur? Immer wieder ins Bild gebracht werden Vor¬ stellungsbilder des Arztes Bill, die ihm obsessiv den Liebesakt seiner Frau mit einem anderen Mann vor Augen führen, nachdem ihm diese von ihren Versuchungen berichtet hat. Ausgespart bleibt statt dessen jener grandios bebilderte Traum, den Albertme in der „Traumnovelle“ ihrem Ehemann schildert und der als ein Herz¬ stück der Novellenkonstruktion angesehen werden muß: Hier tritt - glaubt man Freud - das Unbewußte in Symbolen zu Tage. Tat¬ sächlich läßt sich der Traum Albertines - ohne Berücksichtigung des Kontextes - zunächst primär als Verarbeitung eines DänemarkUrlaubes lesen, der beiden Ehepartnern ungenutzte Möglichkeiten zum Seitensprung geboten hatte, vor allem aber als Akt der sexuel¬ len Entfesselung. Im Rahmen der Erzählhandlung freilich weist das Traumgesche¬ hen auffallende Parallelen zu Fridolins Stationenweg auf.23 Neben¬ bei wird in Albertines Traum auch die Bestrafung des Ehemannes für seine nächtlichen Abenteuer statuiert, indem ihn dort eine wol¬ lüstige Fürstin, der er sich verweigert - welche Ironie! -, ans Kreuz schlagen läßt. Albertine erscheint dabei als Zuschauerin, die, wäh¬ rend Fridolin seinen ,Kalvarienberg' erklimmen muß, „in den Ar¬ men eines Geliebten ruhte "4. Sowohl Fridolins Eskapaden als auch Albertines Traum sind Kompensationsversuche, die auf eine Überwindung gesellschaftli¬ cher Normen abzielen, ohne daß es zu mehr als einem imaginierten

23

Vgl. Knorr 1988, S. 200f.

24

Schnitzler 1999, S. 66.

38

Fritz Hacken und Thomas Eicher

Ehebruch kommt. Interessant hingegen ist dabei die Tatsache, daß der Mann ,hinaus ins Leben' schweifen darf und dafür lediglich im Traum der Frau bestraft wird, während dieser vom Erzähler eben ausschließlich imaginäre Abenteuer zugestanden werden. Daß aber der im Traum vollzogene Liebesakt vom Protagonisten höher be¬ wertet wird als der eigene mißglückte Annäherungsversuch an die schöne Unbekannte aus der Villengesellschaft, ist der Schnitzlerschen Ironie zuzuschreiben, der es in der „Traumnovelle“ wie auch in anderen seiner Texte gelingt, gesellschaftlich definierte weibliche Rollenzuschreibungen in Frage zu stellen.25 Albertine entwickelt durch diesen Traum jedenfalls ein Profil, das ihre Figur gegenüber dem handlungs- und perspektiventragenden Protagonisten aufwer¬ tet. Wie steht es in dieser Hinsicht mit Alice? Bleibt Kubricks Per¬ spektive nicht eine ungleich einseitigere? (Thomas Eicher)

Natürlich blamiere ich mich, lieber Thomas, wenn mir die Ehschon-Wissenden erklären müssen, worin die Todeskonnotationen des Weihnachtsbaums denn bestehen. Den Studierenden habe ich zu solchen Behauptungen immer an den Rand ihrer Arbeiten ge¬ schrieben: „Inwiefern?“ Was denn ist .grandios' an den Bildern von Albertines letztem Traum in der Novelle, den Kubrick ausgespart hat? Welche Parallelen weist er zu Fridolins Stationenweg auf? Wo¬ für ist die Vorweihnachtsstimmung ,ausgeschlachtet'? Ihre Zei¬ chenwelt, die ja vom Konsumsignal des Familien-Shoppings abge¬ schlossen wird, betont im Gegensatz zu Schnitzlers Stimmungskuhsse die massive gesellschaftliche Determination der Protagonisten, weniger dagegen ihre individuelle nervliche Reizbarkeit. Und mit dem Kind, das den Eltern unter dem Warenangebot mit seinen

Vgl. dazu Gutt 1978. Gutt entwirft hier u.a. eine Typologie der Frauengestalten in seinem Werk, in der aber Albertine bezeichnenderweise nicht vorkommt. Ihre ,Befreiung ist wohl zu wenig real, und die kritischen Einwände, die sie gegen den vorehelichen Libertinismus der Männer macht (vgl. Schnitzler 1999, S. 17: „Und wenn es auch mir beliebt hätte, zuerst auf die Suche zu gehen?"), stellen nur leise Zweifel dar.

39

Jahrhundertwende heute?

Wünschen den Nerv raubt, löscht Kubrick eine weitere kitschige Stereotype der Schmtzlerschen Vorlage. Weder deren Tag- und Nachtsymbolik für die Bereiche von Rationalität und Unbewu߬ tem, noch der unschuldig-naive Zukunftsoptimismus von ,hellem Kinderlachen1 sind heute mehr ohne faden Beigeschmack an pro¬ minenter Stelle wie dem Textschluß einzusetzen. Dem Filmschluß hat Schnitzlers drittes Finalsymbol den Weg gewiesen, die von der Straße

her

eindringenden

gewohnten

Alltagsgeräusche.26

Daß

Lichtsymbolik und Kinderlachen zu sensiblem Bildmaterial ge¬ hört, möchte ich selbst für Schnitzler bestreiten, der schließlich in einer Schwemme gerade dieser Symbolik während des Jugendstils gelebt und gearbeitet hat. Doch treibt mich im Ffinblick auf den Film genauso wie Dich die Frage um, weshalb sich Kubrick den filmisch überaus attraktiven, exotisch-dramatischen Schlußtraum Albertines, der motivisch an das Kinderbuch anknüpft, mit dem Schnitzler seinen Text eröffnet,-7 weshalb er sich diese Bilder und ihre Provokationen entgehen ließ. Stattdessen dehnt er das kurze dänische Urlaubsgeständnis der Ehefrau zu einer Eifersuchtsphantasie des Mannes: „When Bill s jealousies recur subhminally, Kubrick gives shape to them in blackand-white photography, as Bills mind fastens on his wife s confes-

sion.“

Selbst

Kubrick-Bewunderer

„These shots are hardly necessary

meinen

zu

dieser

Sequenz

und erblicken ihre Rechtferti

gung höchstens in einer betonten Profilierung des weiblichen Stars, nämlich in „revealing Kidman’s anatomy in more explicitly erotic activity.“28 Was aber hielt den Regisseur davon ab, den Rachetraum der Frau auszuführen, die ihrem Ehemann den Kreuzweg zudenkt und sozusagen vom Venusberg dabei höhnisch lachend über dessen Kalvarienberg fliegt?29 Befürchtete er den möglichen blasphemischen Effekt? Erschien ihm das Pathos der Motive und Bilder als Widerspruch zu der Nüchternheit seiner aktuellen Filmversion?

26

Schnitzler 1999, S. 95.

27

Vgl. ebda., S. 11 u. 62.

28

Walker 1999, S. 356.

29

Vgl. Schnitzler 1999, S. 67.

40

Fritz Hacken und Thomas Eicher

Wieder ist in der Textvorlage stiltypisches Bildmaterial für die Ent¬ stehungszeit der Novelle nachzuweisen, so vor allem die „blumenübersäte unendliche Wiese“30, auf der die Massen-Promiskuität wogt, „diese unendliche Flut von Nacktheit“31 - Jugendstil-Ele¬ mente ebenso wie es sich um den symbolistischen Frauenkörper handelt, welcher bei Schnitzler seinem Elelden „fahl entgegen¬ leuchtete“, wobei „lange, dunkle Flaarsträhnen [...] fast bis zum Fußboden herabffielen]“32. Klimt und Schiele wurden von Kubrick zwar studiert,33 doch eine historische Verfilmung der Novelle war nicht beabsichtigt. Zweifel an ihrem Aktualitätswert zielen besonders auf die emanzipatorische Fragestellung aus der Sicht weiblich-tugendmorali¬ scher Zwangsbeschränkung. Erinnern wir uns an die hohle Apolo¬ getik Fridolins für seine sogenannten „Jünglingserlebnisse“34 - „in jedem Wesen, das ich zu lieben meinte, habe ich immer nur dich gesucht.“35 - und den „mit seltsamer Klärte“36 geführten Angriff Albertines auf die ihrem Stand und Geschlecht verordnete TugendExistenz: „Und wenn es auch mit beliebt hätte, zuerst auf die Su¬ che zu gehen?“37 Dieses Problem mit der heuchlerischen Neutrali¬ sierung weiblicher Geschlechtsentwicklung und der einseitigen Tu¬ gendverpflichtung in der Ehe hat nach Meinung aufgeklärter Zeit¬ genossen heute seine Bedeutung doch verloren. Und auch der Drehbuch-Autor glaubt, den Regisseur darauf hinweisen zu müs¬ sen. „Things have changed a lot between men and women since Schnitzlers time.“38 Kubrick sperrt sich dagegen: „Have they? I

30

Ebda., S. 66.

31

Ebda., S. 65.

32

Ebda., S. 89.

33

Raphael 1999, S. 112.

34

Schnitzler 1999, S. 16.

35

Ebda., S. 17.

36

Ebda.

37

Ebda.

38

Raphael 1999, S. 26.

Jahrhundertwende heute?

41

don’t think they have.“ Und sein Partner gibt nach einigem Nach¬ denken - „(After thought)“ - schließlich zu: „Neither do I.“39 Zur Debatte stehen aber nicht generell die Rollenverteilungen zwischen den Geschlechtern, sondern speziell die meist unausge¬ sprochenen Normendifferenzen für das männliche und weibliche Sexualverhalten in einer bestimmten Gesellschaft, nämlich der bür¬ gerlich-christlichen. Behaupten möchte ich in dieser Hinsicht, daß der Unterschied zwischen den altösterreichisch-katholischen fei¬ nen Leuten und der White-Anglosaxon-Protestant Oberschicht höchstens graduell, jedoch keinesfalls prinzipiell auszumachen ist.

{Fritz Hackert)

Lieber Fritz, ich muß schon wieder einen Schritt zurück machen in einem doppelten Wortsinne: zum einen thematisch, zum ande¬ ren auch, indem ich gern noch einmal in die mir von Dir zuge¬ dachte Rolle des Proseminaristen schlüpfe, um mich zu rechtferti¬ gen. Ich gebe zu, daß ich auch Deine Pensionisten-Schlagfertigkeit unterschätzt habe und Dich mit einem Fußnotenverweis auf Mi¬ chael Herrs „Completely missing Kubrick“ ruhigstellen wollte. Dieser Freund des Verstorbenen bringt den ^Veihnachtsbaum als eine Art Verdrängungswerkzeug ins Spiel, mit dem der Tod zu¬ gleich eskamottiert und bildlich in Erinnerung gebracht wird,40 was ja auch angesichts der Todesprophetie, die sich mit der Geburt Jesu verbindet, nachvollziehbar ist. Man muß aber gar nicht auf diese mtertextuellen Bedeutungsebenen verweisen, sondern kann das auch an der intratextuellen Ebene der Semantik festmachen: Unter Nadelbäumen wird im Film gefeiert, gehurt, gestorben und im Falle der Geheimgesellschaft sogar generell mit der Todesdro¬ hung im Nacken agiert. Damit wird ja auch - ähnlich wie in der Novelle - eine Bewertung dieser Art von Sexualität vorgenommen, die ihr Glück außerhalb ehelich geregelter Konventionen sucht.

39

Ebda., S. 27.

40

Vgl. Herr 2000. S. 267f.

42

Fritz Hackert und Thomas Eicher

Mir scheint aber, daß Kubrick seinen Schnitzler-Stoff ernster oder besser: schwerer nimmt, als es der Erzähler der „Traumno¬ velle“ selber tut. Bei Schnitzler ist alles leicht und hat etwas Spiele¬ risches an sich - das gilt für den Kitsch, den wir beide an der Art der Darstellung bemerken, wie für die Sexualität. Schnitzlers No¬ velle kann die Jahrhundertwende-Bildlichkeit mit dem vorhande¬ nen zeitlichen Abstand im Bewußtsein ihrer Leser nur zitieren, und so ist auch der Blick des Erzählers auf die Lust der Ehepartner ein distanzierter. Flüchtig sind sämtliche sexuell konnotierten Be¬ gegnungen; diejenigen Albertines ja sogar als Erinnerungen, also Imaginationen

inszeniert,

Impressionen,

kaum

greifbar.

Ganz

ähnlich fallen auch die einschlägigen Kontakte Fridolins aus, die immer dort enden, wo der Ehebruch droht. Obendrein werden Fridolins Abenteuer in ein atmosphärisches Dämmerlicht getaucht, das sie in einen Bereich der Irrealität entrückt. Tatsächlich wird auch mehrfach vom Protagonisten der Realitätsgehalt seiner Er¬ lebnisse in Frage gestellt. Dieses Verschwimmen der Realitätsgren¬ zen, das unzweifelhaft eine filmische Herausforderung gewesen wäre, vermisse ich bei Kubrick. Statt dessen bierernst vorgetragene Dialoge, gellend repetierte Klavieranschläge und steril inszenierte Kopulationen. Als besonders nervtötend habe ich die Schwere empfunden, mit der Nicole Kidman zu reden hat, wenn sie sich einmal als Angeheiterte der Avancen auf dem Weihnachtsfest zu erwehren hat, und ein andermal haschrauchend ihren Ehemann da¬ zu nötigen möchte, seine sexuelle Erregung bei der Untersuchung attraktiver Patientinnen zu gestehen. An beiden Stellen entstehen unangemessene Pausen, und das, was sich da abspielt, bekommt eine völlig überdimensionierte Bedeutung. Überdimensioniert war freilich auch die Entrüstung der sitten¬ strengen Amerikaner über die zu erwartenden Orgien, die das deutsche Publikum ungekürzt zu sehen bekam und dann sicherlich die angekündigten Szenen zu unspektakulär finden mußte. Über¬ dimensioniert auch die einseitige Interpretation der amerikanischen Filmkritikerin Marcia Pally, die „Eyes Wide Shut“ „eine schwülsti-

43

Jahrhundertwende heute?

ge Moralpredigt über Aids“41 nannte. Der Dame ist insofern zuzu¬ stimmen, als im Film die moralische Keule an diversen Stellen ein¬ deutig zu heftig geschwungen wird. Die Aids-Erkrankung der Pro¬ stituierten, mit der Bill in seiner Not anbandeln möchte, gehört zu diesen auktorialen Fingerzeigen. „In ,Eyes Wide Shut‘ geht es dar¬ um, die Lektion zu lernen, daß man sich von Sex fern halten soll“42, lautet das Verdikt der Kritikerin. Das ist freilich viel zu ein¬ seitig, da doch ständig darüber geredet wird, sogar ab und zu mit den besten Vorsätzen. Daß das letzte Wort im Film „Fuck“43 heißt, ist dafür symptomatisch und möglicherweise auch dafür, was von Jahrhundertwende-Themen heute übrigbleiben kann. In Wahrheit stehen eine eheliche Beziehung und ihre Probleme im Vorder¬ grund. Derlei ist Schnitzler natürlich nicht fremd. Und in der Tat geht es auch ihm um die Vereinbarkeit von Sexualität und gesell¬ schaftlicher Wirklichkeit - nur eben mit mehr Gelassenheit. Schwer sind bei Kubrik sogar die Möbel samt Kronleuchtern und Wandverkleidungen, mit denen die überdimensionierten Wohnun¬ gen eingerichtet sind. Mit der sozialen Wirklichkeit eines Arztes haben die üppigen Ausstattungen wohl kaum mehr etwas zu tun. Auch Schnitzler läßt sich vorwerfen, er zeichne mit seinen Figuren gleichsam klassenlose Individuen, deren Arbeitswelt kaum der Re¬ de wert sei. Selbst in seiner .naturalistischen' Phase gibt es ja für ihn keine ,soziale Frage', sondern weit allgemeinere ethische Fra¬ gen zu behandeln. Wdnn schon die „Traumnovelle

die konkreten

sozialen Verhältnisse flieht, wie steht es dann erst um „Eyes Wide Shut“? Das gezeigte Interieur scheint mir jedenfalls auf eine gewis¬ se

Märchenhaftigkeit

hinzuweisen,

die

sowohl

an

Schnitzlers

„Palast des Kalifen“ aus dem eingangs zitierten Kinderbuch, als auch an Albertines Traum anschließbar wäre. (Thomas Eicher)

41

Pally 1999.

42

Ebda.

43

Kubrick/Raphael 1999, S. 165.

44

Fritz Hackert und Thomas Eicher

Lieber Thomas, ich stimme deiner Feststellung zu, daß Kubricks Weihnachtsdekor dem Film eine schwerere Stimmung verleiht als sie der Vorfrühling in Schnitzlers Erzählung grundiert. Doch ist die Forderung, den Impressionismus der Textvorlage, ihr atmosphäri¬ sches Dämmerlicht und das Verschwimmen der Realitätsgrenzen filmisch zu gestalten, bei einer Aktualisierung des Stoffs und seiner Übertragung vom Wien der Jahrhundertwende in das New York unserer Zeit denn berechtigt? Schnitzlers Figuren waren Freuds Zeitgenossen.

Kubricks

Personen

sind

keine

„Dämmerseelen“

mehr, sondern im nachfreudianischen Therapiebetrieb integriert und die Vermarktung der Bedürfnisse gewöhnt. Gellende Effekte zeigen an, wer und was sich gegen die Konkurrenz durchgesetzt hat, und, was die Moralhüter und -hüterinnen als Intimbereich zu schützen vorgeben, besitzt keine geheimnisvolle Individualität, sondern ist auf Umwegen von Lustmaximierung und Hygiene kurz: von Aufklärung - der allmächtigen Phantasie von mechani¬ scher Produktion überantwortet. Jawohl, das Kopulationsgesche¬ hen dieses Films ist steril und dieses Freudenhaus eine voyeuristisch besichtige Fickmaschine. Dem individuellen Lustverkauf in den Angeboten, denen Bill begegnet, kontrastiert es durch seine Abstraktion auf den einzigen Zweck in einer temporär dafür insze¬ nierten Situation, nach welcher das Geschäft sozusagen erledigt ist und weder ein Gefühl noch ein Gedanke darauf verschwendet wer¬ den muß, wie und mit wem es zustande kam. Ganz anders als in einer ständisch organisierten sind in der radikalen Warengesell¬ schaft Individualitätsräume kollektiviert, Sexualität oder Religion zu alltäglichen Beschwörungsritualen transformiert worden. Für erstere konstatiert im deutschen Kontext diese Entwicklung der Büchnerpreisträger Arnold Stadler, wenn er in seinem letzten Ro¬ man schreibt: „Von Ficken hätte ich sprechen können, das war nun möglich, ein gesellschaftsfähig gewordenes Wort, nicht aber von Gott.“44 Derlei Skrupel braucht man im Amerikanischen nicht zu haben, wo „fucking

44

Stadler 1999, S. 36.

als Intensivum so häufig erscheint wie Gott

Jahrhundertwende heute?

45

als persönlicher Bekannter. Auf Englisch klingt das letzte Wort im Film banal, auf Deutsch trotz Stadlers Einschätzung mindestens noch leicht ordinär. Und so hat auch die Synchronisierung des Drehbuchs gerade damit ihre hebe Not. Exemplarisch vorführen läßt sich dieses Dilemma, lieber Diskussionspartner, an der von Dir als nervtötend empfundenen Dialogszene des haschrauchenden Ehepaars (Szene 33), wo die beiden einander der Fremdgängerei verdächtigen und die deutsche Version bei dem Wortwechsel drei Mal nacheinander buchstäblich übersetzen kann. Dann aber wech¬ selt im englischen Text die Vorgangsbezeichnung „fucking“ in die Funktion eines Epitheton, das im Deutschen so nicht wiederzuge¬ ben ist, so daß die Leitmotivik abbricht. Lies es selbst: „ALICE: Why can’t you ever give me a straight fucking answer!“45 - „Wa¬ rum gibst du mir nie eine klare Antwort, verfluchte Scheißel?“46 Oder: „ALICE: [...] you have some gorgeous woman Standing in your office [...] and you’re feeling her fucking tits.“47 - „[D]u hast eine absolute Traumfrau vor dir [...] und faßt ihre fetten Titten an.“48 Oder: „BILL: [...] sex is the last thing on this fucking hypothetical woman patient’s mind.“49 - „Sex [ist] das Letzte [...], was diese blöde hypothetische Modellpatientin im Sinn hat.“50 Viel mehr als im Deutschen hat sich im Amerikanischen der Se¬ xualbegriff eingenistet und signalisiert gleichsam die Unterströ¬ mung des gesellschaftlichen Maskenfests und seiner Formen. Weih¬ nachten ist eine von ihnen samt der eleganten Kleidung, die man zu den Parties anzieht, bei denen dann in einem anderen Stock¬ werk die Kleider und die Masken fallen und Nacktheit angesagt ist. Neben der Rückenansicht von Nicole Kidman zu Beginn des Films ist in ihrer Szene ein zweites klassisches Bildmotiv im Spiel, näm¬ lich ihre Verwandlung in einen weiblichen Akt: „lets drop an ele-

45

Kubrick/Raphael 1999, S. 44; Hervorh. hier und im folgenden durch Verf.

46

Kubrick/Raphael 1999a, S. 120.

47

Kubrick/Raphael 1999, S. 44.

48

Kubrick/Raphael 1999a, S. 120.

49

Kubrick/Raphael 1999, S. 45.

50

Kubrick/Raphael 1999a, S. 120.

46

Fritz Hackert und Thomas Eicher

gant black dress to the floor“51, das erste von vielen folgenden Akt¬ bildern mit ihren Demaskierungsvarianten. Kein Zweifel, daß der Film dafür plädiert, der Sexualität im Ehe¬ leben gehörige Aufmerksamkeit und Praxis einzuräumen. Das ga¬ rantiert per se so wenig künstlerisches Gelingen wie demonstrierte Unmoral allein bereits zum Kunstwerk taugt. Das Schlußwort des Films entwickelt sich ja nicht unmittelbar, sondern aus der Lüftung einer Gesellschaftsmaske von täglich neuer, millionenfacher Ver¬ breitung. Oder wissen die Ehestandssüchtigen noch nichts bzw. die Ehestandsüberdrüssigen nichts mehr vom christlichen Ewigkeits¬ versprechen für den Status ihrer Beziehung. „Forever“, murmelt Bill in ritueller Automatik, als das Paar sich wieder versteht.52 Doch Alice wehrt die Metaphysik ab und bekennt sich mit ihrem, dem ominösen Schlußwort zur Gewöhnlichkeit ebenso wie Unver¬ meidlichkeit des irdischen Hier und Jetzt. {Fritz Hackert)

Nun ja, lieber Fritz, die Eheerfahrenen wissen aber auch, daß zur

Gewöhnlichkeit auch der Mangel an Gelegenheit gehört, was „Traumnovelle

und „Eyes Wide Shut“ anschaulich demonstrieren.

Und gerade unvermeidlich scheint das eben nur verhindert stattfin¬ dende eheliche Sexualleben der Harfords ganz und gar nicht zu sein. Es wird konsequenterweise auch nicht inszeniert - worin sich Film und Novelle nicht unterscheiden. Kopulierende Paare finden sich innerhalb der Novelle ja nur in Albertines Traum. Alice er¬ scheint mir dagegen - eine treffliche Kontrastierung mit „Alice in Wonderland“ - regelrecht phantasielos. Vielleicht ist es ja auch das, was sie in Alkohol und Drogen sucht. Noch einmal möchte ich daran erinnern, daß der Film lediglich dem Protagonisten Imagina¬ tionen als inszenierte Bilder zugesteht — bezeichnenderweise aber nicht als eigene Wunscherfüllung, sondern als Projektion, in deren Mittelpunkt Alice steht. Bei Bill reicht die Imaginationsfähigkeit 51 52

Kubrick/Raphael 1999, S. 3. Ebda., S. 164.

Jahrhundertwende heute?

47

also gerademal bis zur Eifersuchtsphantasie. Und das vor allem scheint mir für die eheliche Beziehung des Paares charakteristisch zu sein. Die Vorgänge im Haus der Geheimgesellschaft überläßt Schnitz¬ ler der Imagination des Lesers, was der Novelle in der Tat mehr Schlüpfrigkeit verleiht, als sie der Film auszustrahlen in der Lage ist. Du hast ganz recht: Die Offenheit, mit der hier die nicht-eheli¬ che Sexualität behandelt wird, nimmt ihr auch die Erotik, ähnlich wie die mancherorts so gehäufte Verwendung der zu Wortspielen anregenden /hc&mg-Terminologie. Dies könnte, wie das Scheitern außerehelicher Kontaktaufnahmen, neugierig machen auf die ver¬ hinderten Gewöhnlichkeiten der Ehe, die sehr geschickt mit Bills ärztlicher Professionalität im Umgang mit Patientinnen parallelisiert werden. In dieser Hinsicht bleiben aber Film und Text glei¬ chermaßen offen. Sie behalten sozusagen das Geheimnis einer funktionierenden Sexualität in der Ehe für sich. Aus der „Traum¬ novelle“ lese ich sogar einiges an Skeptik, was das anbelangt, und zwar vor allem deshalb, weil die Faszination, die hier vom außer¬ ehelichen Sex ausgeht, durch seine phantasieanregende Nicht-In¬ szenierung bis zuletzt ungebrochen bleibt. Versöhnlicher bis opti¬ mistisch dagegen der Film, sofern sich der Zuschauer von der Folie der Schnitzler-Lektüre befreien kann. Bei Schnitzler überwiegt für mich der Eindruck eines brüchigen Friedens, den die Eheleute schließen, bei Kubrick das Bewußtsein, daß der Bund fürs Leben immer wieder neu abgesichert werden muß, indem man zu zweit seine Konditionen reflektiert. Also doch ein Lehrstück? - Jedenfalls eins, das sich trefflich müht, noch lehrreicher als seine Vorlage zu sein. Ob es dadurch aber nicht über die Maßen an Unterhaltungswert eingebüßt hat? Wäre es nicht unterhaltsamer ausgefallen, wenn man ihm das De¬ korum der Jahrhundertwende und den Charme der Wiener Straßen und Kaffeehäuser gelassen hätte? Wozu dieser Ortswechsel und die Zwangsaktualisierung, die ja doch so recht keine ist, weil sie trotz aller Äußerlichkeiten wiederum in Zeitlosigkeit hineinführt? Dein Schlußwort, Fritz! (Thomas Eicher)

48

Fritz Hackert und Thomas Eicher

Reflexionen dürften kaum dabei ausreichen, den Zweierbund der bürgerlichen Ehe am Leben zu erhalten. Das ist es, was Alice am Ende des Films unmißverständlich ausspricht. Blenden wir auf des¬ sen Beginn zurück: Alice richtet sich für die Weihnachtsparty her in einer Szene voller Stereotypik für den ehelichen Alltag. „Schatz? Hast du meine Brieftasche gesehen?“53 - wird sie von Bill gefragt. Und er reagiert auf ihr Bewunderungsverlangen - dem Kontrast dazu, daß sie auf dem Klosett sitzt - mit den üblichen Klischees: „perfekt“ steht ihr das Abendkleid, „toll“ macht sich ihre Frisur, und überhaupt sieht sie „immer schön aus.“ - „Forever“, so könnte man für Bill den Bogen zu seiner Schluß-Platitüde schlagen. Alice nun, da bin ich vollständig d’accord mit Dir, ist nicht we¬ niger als Durchschnittsfigur konzipiert. Das betonen die wieder¬ kehrenden Sequenzen ihrer Tätigkeiten in der Mutter- und Haus¬ frauenrolle, wobei sie jeweils auch entsprechend kostümiert ist und dann so gar keinen Glamour von Kunst- und Partyposen mehr be¬ sitzt. Mit ein paar Drinks und ein bißchen Kiffen wird auch kei¬ neswegs eine dramatische Flucht aus dem Alltag angetreten, son¬ dern halt von massenweise verbreiteten Entspannungsmitteln Ge¬ brauch gemacht. Durchschnitt also, wohin man blickt. Und wenn Alice zu ihren eigenen Eifersuchtsphantasien ansetzt, weiß sie nichts Spannenderes, als auf Bills Umgang mit seinen Patientinnen zu insistieren, Situationen also seines beruflichen Alltags. Eben inmitten dieser Gewöhnlichkeit jedoch steckt das eigentli¬ che Geheimnis, das Du, lieber Thomas, präzise formuliert hast, „das Geheimnis einer funktionierenden Sexualität in der Ehe“ der bürgerlich-christlich sanktionierten sogenannten Normalehe. Kubrick diskutiert sie mit uns als Zeitgenossen in der Ära ameri¬ kanischer Idolatrie und Hypokrisie. Und die tiefste Ironie seines Films besteht eben darin, der verlogenen Geheimnistuerei dieser Gesellschaft um ihre sexuellen Bedürfnisse und Praktiken das ge¬ heime Problem ihres offiziellen Beziehungsmodus zu konfrontie53

Kubrick/Raphael 1999a, S. 4f.

Jahrhundertwende heute?

49

ren, des Beziehungsmodus der Zweisamkeit „forever“ und einer auf sie beschränkten Sexualität. Mit dem Verweis übrigens auf die Liberalisierung in der Praxis, den die Filmkritik dazu benützte, dieses Problem für erledigt zu erklären, ist für die Realität der amerikanischen Alltagskultur ge¬ rade dieser Kontrast zwischen dem rituellen Wedding-Pomp samt seinem metaphysischen Kontext und der obsessiven Entfaltung des Sexthemas in den Medien kläglich verharmlost. Nicht um Wort¬ spiele handelt es sich, wenn der Drehbuch-Autor im Englischen mögliche Fucking-Grammatik strapaziert, sondern um die Etablie¬ rung eines wichtigen Leitmotivs, wie sich am Schluß herausstellt. Welchen Unterhaltungswert dieser letzte Film Kubricks, von ihm selbst nicht mehr fertiggestellt, denn besitzt, müßte fairerweise im Rahmen des Gesamtwerks und bezogen auf den persönlichen Regie-Stil erörtert werden, der trotz thematischer und gattungs¬ mäßiger Unterschiede in den einzelnen Filmen denselben Blick und denselben Zugriff auf ein so gigantisches Unternehmen verrät, wie es der große Spielfilm nun einmal ausmacht. Nicht anders als die Produkte seiner berühmten Kollegen erwarten Kubricks Filme die Entdeckungslust ihrer Betrachter und verweigern sich der Frage, ob man sie wieder anschauen kann, zugunsten der Not¬ wendigkeit, sie wieder und wieder sehen zu müssen, um ihren Ge¬ nußwert zu erschließen. (Fritz Hackert)

Fürwahr, ein gelungenes Schlußwort, Fritz; Schaut Euch alle noch ein oder mehrere Male diesen Film an, erst dann bringt Ihi ihn in Euch zur vollen Entfaltung. Der hermeneutische Philologe in mir jubiliert angesichts dieser zirkularen Vorstellung, die für Cineasten angemessen, aber für das Kmopubhkum an sich doch verhängnis¬ voll ist: gefangen im Teufelskreis des Verstehens - das hat mir et¬ was zu Elitäres. Ich hatte den Eindruck, daß der Film recht schnell wieder aus den Kinos verschwunden ist. Ein amerikanischer Freund, seines

Fritz Hackert und Thomas Eicher

50

Zeichens Filmwissenschaftler, klärte mich darüber auf, daß das in den USA ähnlich gewesen ist54 - ein Wunder eigentlich, daß die Bücher, die er nach sich gezogen hat, überhaupt noch interessierte Leser gefunden haben. Daß der Genuß ja auch jenseits von Spannung oder Action ent¬ stehen kann, sogar durch das Aufspüren von Intertextualität, ist ge¬ rade mir höchst bewußt - selbst wenn es nur die Lust des Ci¬ neasten an der Aufdeckung von Bezügen zum Gesamtwerk Kubricks ist. Mag auch sein, daß ich da jetzt die Grenzen des Einzel¬ werkes zu hoch aufrichte, aber ich meine doch, daß ein Blick auf die „Traumnovelle“ noch legitimer ist als einer auf „Clockwork Orange“ oder „Odyssee im Weltraum“. Ich glaube schon, daß wir in unserem Gespräch einige der Be¬ deutungsdimensionen des Films klären konnten, auch mögliche Lehren, die wir und die Gesellschaft aus ihm ziehen dürfen. Warum bloß durfte unser Drehbuchautor Raphael nicht selbst eine Geschichte ,stricken‘, die der Aussageabsicht Kubricks noch weit¬ aus gerechter hätte werden können als die Textvorlage Schnitzlers? - Und das doch wohl erst recht, wo sich beide ja darüber einig waren, daß man den Text - vor allem dort, wo er Träume aufzeich¬ net - gar nicht so recht verfilmen könne.55 Schon 1970 mußten Ruth Kerry und Wolfgang Glück kläglich scheitern, als sie für den ORF die „Traumnovelle“ als Fernsehfilm inszenierten. Die Kritiker waren sich damals einig, daß das .eigent¬ lich Schnitzlersche des Stoffes bei der Verfilmung verlorengegan¬ gen sei. In der „Welt“ z.B. konnte man lesen: Das Fernsehen ist ein Medium, das vom Abtasten lebt. [...] Wo das satt¬ sam so genannte Einfühlen, das Zerwühlen von Seelen, Träumen und an¬ deren Innereien beginnt, streikt die Apparatur. Es sei denn, ein ganz Gro¬ ßer transportiert das Innen nach außen, findet die optische Adäquanz.56

54

Nach Informationen der Warner Bros, hatte der Film in den USA 55.637.680 Be¬

55

Raphael 1999, S. 39.

56

Polcuch 1970.

sucher in 12 Wochen und in Deutschland: 810.931 in 13 Wochen.

Jahrhundertwende heute?

51

- Mußte also erst ein Kubrick kommen, werden die Fans da sagen. Meine Bedenken bleiben: Wenn es so etwas wie Kongenialität bei der Interpretation und also auch bei der Verfilmung gibt, dann muß man im Falle dieser Verfilmung das Nachschaffen neu definieren; denn es ist ohne Zweifel mehr als nur eine Nacherzählung; es ist eine Neuerzählung, die sich verzeifelt bemüht, eine Vorlage abzu¬ streifen, die sie möglicherweise zu sehr in der eigenen Entwicklung behindert. (Thomas Eicher)

Literatur Anonym: Arthur Schnitzer: Traumnovelle - Stanley Kubrick und Frederic Raphael: Eyes Wide Shut. http://jwi.Feynsinn.de/Buch/ trmnvll.htm (15.9.1999) dpa.: Stanley Kubrick verfilmt Schnitzlers „Traumnovelle“. In: Frank¬ furter Rundschau, Nr. 298 (23.12.1997), S. 7 Foucault, Michel: Was ist ein Autor? In: ders.: Schriften zur Literatur. Frankfurt a.M. 1988, S. 7-31 Göckenjan, Gunter: Schnitzlers „Traumnovelle“ als Porno? Über den Dreharbeiten zum neuen Kubrick-Film schwebt eine Wolke von Gerüchten. In: Berliner Zeitung, Nr. 110 (13.5.1998), S. 110 Gutt, Barbara: Emanzipation bei Arthur Schnitzler. Berlin 1978. Herr, Michael: Completely Missing Kubrick. In: Vanity Fair (April 2000), S. 260-272 Horwath, Alexander: Augen Zu! Kubrick verfilmt Schnitzler. In: Süd¬ deutsche Zeitung, Nr. 92 (22.4.1997), S. 13 Kieser-Hess, Ulrike: Glänzende Marmoraugen. Skulpturen und Zeich¬ nungen des Japaners (Ausstellung: Katsura Funakoshi in Heilbronn). In. Südwest Presse, Ulm (10.4.2000) Kino-Debatte. Literatur und Film 1909-1929. Hrsg, von Anton Kaes, Tübingen 1978 Knorr, Herbert: Experiment und Spiel - Subjektivitätsstrukturen im Erzählen Arthur Schnitzlers. Frankfurt a.M. u.a. 1988 Kubrick, Stanley/Frederic Raphael: Eyes Wide Shut. A Screenplay by Stanley Kubrick and Frederic Raphael and the Classic Novel That

52

Fritz Hackert und Thomas Eicher

inspired the Film Dream Story by Arthur Schnitzler. New York 1999 Kubrick, Stanley/Frederic Raphael: Eyes Wide Shut. Das Drehbuch. Aus dem Englischen von Frank Schaff. In: Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Die Novelle. / Stanley Kubrick/Frederic Raphael: Eyes Wide Shut. Das Drehbuch. Frankfurt a.M. 1999 [a], S. 97-184 Pally, Marcia: Schwülstige Moralpredigt. Stanley Kubricks letzter Film „Eyes Wide Shut“ - eine simple Adaption von Schnitzlers „Traum¬ novelle“ Berliner Zeitung, Nr. 165 (19.7.1999), S. 12 Polcuch, Valentin: Freud und Freudloses. Traumnovelle. In: Die Welt, Nr. 181 (7.8.1970) Raphael, Frederic: Eyes Wide Open. A Memoir of Stanley Kubrick. New York 1999 Schnitzler, Arthur: Traumnovelle. Die Novelle. In: Arthur Schnitzler: Traumnovelle. Die Novelle. / Stanley Kubrick/Frederic Raphael: Eyes Wide Shut. Das Drehbuch. Frankfurt a.M. 1999, S. 9-95 Spiel, Hilde: Im Abgrund der Triebwelt oder Kein Zugang zum Fest. Zu Schnitzlers ,Traumnovelle“. In: dies.: In meinem Garten schlen¬ dernd. Essays. Frankfurt a.M. 1984, S. 61-67 Stadler, Arnold: Ein hinreissender Schrotthändler. Roman. Köln 1999 Steiner Daviau, Gertraud: Stanley Kubricks „Eyes Wide Shut“. Eine neue Dimension für Schnitzlers „Traumnovelle“. Unveröffentlich¬ tes Vortragsmanuskript. London 1999 Thome, Horst: Realistische Psychopathologie. Studien zur Geschichte literarischen Psychologisierens in deutschsprachigen Erzähltexten 1848-1914. Phil. Habil. Kiel 1987 Walker, Alexander: Stanley Kubrick. Director. Revised and expanded edition by Sybil Taylor and Ulrich Ruchti. New York/London: 1999

Donald G. Daviau

Die Rezeption österreichischer Literatur der Jahrhundertwende in den Vereinigten Staaten, 1987- 1999. Ein Bericht Die literarische Rezeption ist an sich eine komplexe Materie, und die Rezeption der österreichischen Literatur in den USA bildet hierin keine Ausnahme. Im Gegenteil, denn es kommt ein zusätzli¬ cher Faktor hinzu, der üblicherweise nicht in der Verbreitung und Aufnahme einer bestimmten Literatur in anderen Ländern vor¬ kommt: Österreichische Literatur wird meistens als Deutsche Lite¬ ratur rezipiert. Das englischsprachige Publikum, Wissenschafter ebenso wie die allgemeine Leserschaft, ist sich des Umstands, daß es sich dabei um österreichische Literatur handelt, oft gar nicht be¬ wußt. Denn nur eine Minderheit von Deutschprofessoren in den USA präsentiert österreichische Literatur als eine autonome, unab¬ hängige Einheit. Ob österreichische Literatur von deutscher Lite¬ ratur unterschieden wird, hängt vom Background sowohl als auch von der Einsicht und Absicht des einzelnen Lehrers ab. Viele Deutschprofessoren wollen keine eigenständige österreichische Li¬ teratur anerkennen, trotz aller Beweise für das Gegenteil. Die Zu¬ ordnung bleibt somit ein großes Problem in den USA, besonders bei der Rezeption durch eine allgemeine Leserschaft. Die literarische Rezeption kann auf viele Arten stattfinden, von wissenschaftlichen Büchern bis zu Gesprächen und Diskussionen. Um wirklich effektiv zu werden, muß sie jedoch ein kontinuierli¬ cher Prozeß und kein Einzelereignis sein. In diesem Beitrag be¬ handle ich die Rezeption in ihren zwei hauptsächlichen Formen: die akademische Rezeption, üblicherweise in wissenschaftlichen Büchern, die meist den Text auch in deutscher Sprache versteht, sowie Artikel, Rezensionen, Vorträge bei Konferenzen, ebenso in Textbüchern und Vorlesungen auf allen Ebenen der Lehre sowie

54

Donald G. Daviau

die generelle oder populäre Rezeption von Werken, die in engli¬ scher Sprache zur Verfügung stehen, als Übersetzungen, Theater¬ aufführungen

und

Filme,

zusammen

mit

deren

Rezensionen

und/oder Beiträgen über die Autoren in den Medien. Ich werde mit einer kurzen Übersicht über die Probleme der Re¬ zeption beginnen und dann die folgenden Fragen behandeln: 1. Welche literarischen Werke österreichischer Autoren der Jahr¬ hundertwende um 1900 sind derzeit in englischen Übersetzungen in den USA erhältlich und wie bekannt sind diese? Ihren Bekannt¬ heitsgrad ermittle ich durch die Anzahl von Rezensionen und wis¬ senschaftlichen Beiträgen von amerikanischen Forschern. 2. Welches Image von österreichischer Literatur und Österreich selbst wird damit englischsprachigen Lesern vermittelt? Ich werde im folgenden auf die eigentlichen Prozesse der literari¬ schen Rezeption nicht eingehen, da ich dieses Thema bereits an an¬ derer Stelle behandelt habe1. Dieser Beitrag ergänzt einen früheren Bericht über die Zeit von 1970 bis 1986.2

I. Wie oben erwähnt, ist das Hauptproblem, wenn man ein Bewußt¬ sein für österreichische Literatur in den USA schaffen will - ein Image- und Marketingproblem, kein literarisches Problem - immer dasselbe, nämlich die Frage der österreichischen literarischen Iden¬ tität, ein Thema, das sich in den zwei Arten der Rezeption stark unterscheidet. In akademischen Kreisen besteht die Schwierigkeit nicht darin, daß die Kollegen kein Bewußtsein für Österreich hät¬ ten, sondern daß österreichische Literatur in Literaturgeschichten, Textbüchern und Lehrveranstaltungen immer unter deutsche Lite¬ ratur subsumiert wird. Diese Situation ist auch an der Organisati¬ onsstruktur von Colleges und Universitäten ersichtlich: Es gibt keine einzige Abteilung für österreichische Literatur, nicht einmal in Österreich, keine Lehrstühle für österreichische Literatur und 1

Vgl. Daviau 2000.

2

Vgl. dazu Daviau 1989.

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

55

nur zwei Werke, die sich tatsächlich Österreichische Literaturge¬ schichten

nennen: Joseph Nadlers

„Literaturgeschichte

Öster¬

reichs“ (1956), die heute völlig veraltet ist und durch ihre einzigar¬ tigen Perspektive in ihrer Nützlichkeit sehr eingeschränkt, und, neuesten Datums, Herbert Zemans „Literaturgeschichte Öster¬ reichs“ (1996), die in Zusammenarbeit mit einem Team von Wis¬ senschaftern erstellt wurde - ein ehrgeiziger aber leider nicht er¬ folgreicher Versuch, die Literaturgeschichte in einem Band zu komprimieren und dennoch allumfassend zu sein. Derzeit arbeiten Zeman und sein Team an einer längeren fünfbändigen Literaturge¬ schichte, die befriedigender ausfallen sollte. Aufgrund der ständigen Bemühungen einer ganzen Reihe von Wissenschaftlern in den USA, eine unabhängige Identität für die österreichische Literatur zu schaffen, sind in den letzten dreißig Jahren viele Verbesserungen festzustellen. Dennoch gibt es überra¬ schenderweise immer noch Widerstand von vielen Wissenschaft¬ lern, besonders von Kollegen in Deutschland und Österreich, die immer noch auf der untergeordneten Position der österreichischen Literatur beharren, sowie bei älteren meist deutschstämmigen Kol¬ legen in den USA, die immer noch darauf bestehen, daß alles, was auf Deutsch geschrieben wurde und wird, zur deutschen Literatur gehört. Diese Behauptung ist natürlich unpräzise, denn zumindest seit Mareks erster Bibliographie, 1750,3 hat sich die österreichische Literatur unabhängig entwickelt, mit wenig Bezug auf den Verlauf der deutschen Literaturgeschichte, wie ein Vergleich zeigt.4 Die Hauptcharakteristika, welche die zwei Literaturen definieren und eindeutig voneinander unterscheiden, sind die grundlegenden Tat¬ sachen, daß die Österreicher anders als die Deutschen sind, ein¬ schließlich ihrer Sprache, und daß die österreichische Literatur österreichische und nicht deutsche Charaktere, Bedingungen, Um stände und Weltanschauungen behandelt. Österreichische Literatur

3

Vgl. Zeman, Teil 2, 1979, S. 563-586.

4

Vgl. Daviau 1998, S. 42-46.

56

Donald G. Daviau

ist eine deutschsprachige Literatur, obwohl sogar hier betont wer¬ den muß, daß die Sprachen weder schriftlich noch gesprochen identisch sind. Wie die USA und England sind Österreich und Deutschland zwei Länder, die durch dieselbe Sprache geteilt sind. Aber trotzdem schließt die Sprache selbst nicht aus, daß man die österreichische Literatur als eigenständig betrachten kann, wie es logischerweise sein sollte. Obwohl sie die englische Sprache ver¬ wenden, werden die amerikanische, die australische, die kanadische und die irische Literatur selbstverständlich weltweit als eigenstän¬ dige Literaturen anerkannt, in völliger Unabhängigkeit von der englischen Literatur. Der Widerstand einiger Kollegen in den USA wird mit der Zeit aufgegeben werden, da sich eine immer größere Anzahl jüngerer vorurteilsfreier Akademiker für Austrian Studies als attraktives Forschungsgebiet interessiert. Ein schwierigeres Problem taucht durch die Weigerung vieler österreichischer Kollegen sowie von vielen Schriftstellern selbst auf, die weiterhin nicht auf der Auto¬ nomie der österreichischen Literatur bestehen. Die Autoren, die ihre Bücher meist in Deutschland herausbringen, fürchten, daß sie Einkommenseinbußen hinnehmen müßten, wenn österreichische Literatur als eigenständig angesehen würde. Natürlich ist der öko¬ nomische Faktor wesentlich, denn ohne Zweifel bietet Deutsch¬ land den weitaus größeren und attraktiveren Markt. Die Befürch¬ tung aber, daß die Verkäufe leiden würden, scheint trotzdem über¬ trieben. Österreichische Schriftsteller werden ohnehin als solche erkannt, auch wenn sie in Deutschland publizieren, was sie gerne tun, sobald ihnen dazu die Möglichkeit geboten wird. Deutsche Leser wissen nicht nur, daß sie Bücher österreichischer Autoren kaufen, sondern mehr noch: das ist vermutlich der Grund, warum sie die Bücher kaufen. Obwohl die Schriftsteller des Jung-WienKreises - Leopold von Andrian, Hermann Bahr, Richard BeerHofmann, Hugo von Hofmannsthal und Arthur Schnitzler - ihre Bücher bei S. Fischer herausbrachten und in Deutschland viel gele¬ sen und aufgeführt wurden, glaubten sie alle an ein unabhängiges Österreich.

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

57

Viele österreichische Literaturwissenschafter ziehen es vor, en¬ gere Bindungen an Deutschland zu haben, als die österreichische Literatur als autonom zu betrachten. Ich habe versucht, herauszu¬ finden, warum die Frage der österreichischen literarischen Identität in 250 Jahren nie gelöst werden konnte, obwohl sich bereits über 400 Bücher und Artikel mit diesem Thema auseinandergesetzt haben.5 Ich kam zu dem Schluß, nachdem ich mich mit diesem Problem aus einer historischen Perspektive auseinandergesetzt habe,6 daß es unlösbar bleibt, weil man dieses Thema immer emo¬ tional und nicht rational betrachtet. Solange man die historischen Fakten einfach ignoriert, kann die Frage der Identität der österrei¬ chischen Literatur nie gelöst werden. Wirtschaftlich gesehen, bestand immer eine enge Bindung Öster¬ reichs an Deutschland, die seit Österreichs Beitritt zur Europäi¬ schen Union 1995 noch verstärkt worden ist. Wendelin SchmidtDengler hat kürzlich festgestellt, daß die Idee einer autonomen österreichischen Literatur heute eine belanglose Frage geworden sei.7 Es verwundert jedoch, wie eine Frage, die so lange problema¬ tisch geblieben ist, einfach zur Seite geschoben werden kann. Nicht einmal der Kontext der Europäischen Union ändert oder beendet das Problem. Literaturwissenschafter spielen die wichtigste Rolle in dieser An¬ gelegenheit, denn sie etablieren den literarischen Kanon, sie be¬ stimmen, welche Autoren und Bücher gelehrt werden, und tragen dadurch wesentlich zur Schaffung einer Identität bei. Es ist wichtig zu betonen, daß die Frage der Identität keine politische Frage ist, die etwa den Nationalismus wiederbeleben wollte, sondern aus¬ schließlich eine literarisch-historische Frage. Es gibt tatsächlich ein Land, das sich seit tausend Jahren Österreich nennt, und seine Schriftsteller schaffen Literatur, die eindeutig österreichisch ist. Der einzige gemeinsame Bezugspunkt ist die Sprache, die zwar denselben Namen hat, trotzdem aber große Unterschiede aufweist. 5

Vgl. Daviau/Johns 1984.

6

Vgl. Daviau 1999.

7

Vgl. Schmidt-Dengler 1995, S. 11.

58

Donald G. Daviau

Wenn die Sprache in Österreich Österreichisch genannt würde, wäre das Problem sofort gelöst. Es fällt auf, daß diese Frage sich nur in der Literatur stellt. Die Historiker zum Beispiel schreiben selbstverständlich eine österreichische Geschichte und würden nie daran denken, sie deutsche Geschichte Österreichs zu nennen. Da österreichische Historiker und Politikwissenschafter ohne weiteres die Idee eines unabhängigen Österreich vertreten, ist es um so mehr erstaunlich, warum die Anerkennung einer unabhängigen österreichischen Literatur so schwierig sein sollte. Aber wir wissen auch aus der revisionistischen Sicht des zwanzigsten Jahrhunderts über das Biedermeier,8 daß faktische Genauigkeit manchmal igno¬ riert werden kann. Schließlich ist die Literaturgeschichte das, was die Mehrzahl der Literaturwissenschaftler behauptet und glauben will. Die Frage, ob es eine österreichische Literatur gibt, ist nicht nur akademisch, sondern gerade jetzt von großer Wichtigkeit, da neue Literaturgeschichten geschrieben werden. Die älteren Standard¬ werke betonen alle die Verbindung, manche sogar die Unterordnung, zu oder unter die deutsche Literatur. Z.B. spiegelt die beste und umfassendste österreichische Literaturgeschichte bis zum heu¬ tigen Tage, von Nagl, Zeidler und Castle, schon im Titel „Deutsch¬ österreichische Literaturgeschichte“ die politische Situation der 30er Jahre. Derzeit arbeiten neben Zeman auch andere Wissen¬ schafter an neuen Literaturgeschichten, in Frankreich, Italien, Rußland und den Vereinigten Staaten. Als Beitrag zu diesen Vorha¬ ben und um notwendige neue Zugänge anzusprechen, war das „Austnan Symposium

an der Umversity of California Riverside

1995 dem Thema „Wie soll eine neue österreichische Literaturge¬ schichte geschrieben werden?

gewidmetd Die neuen Literaturge¬

schichten bieten die einmalige Chance, die österreichische Litera¬ tur endlich klar zu definieren. Entweder stellen sie nun die öster¬ reichische Literatur als autonome Einheit dar oder sie folgen dem

8

9

Vgl. Daviau in Vorbereitung. Vgl. Geschichte der österreichischen Literatur 1996.

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

59

traditionellen Pfad, sie als Unterkategorie der deutschen Literatur zu bezeichnen, die sie nicht ist. Welchen Weg diese Literaturge¬ schichten einschlagen werden, hat Folgen für die nähere und ferne Zukunft, da man damit rechnen kann, daß sie eine Generation lang verwendet werden. Sicher ist: Solange die österreichischen Litera¬ turwissenschaftler, Schriftsteller und Intellektuellen nicht gemein¬ sam auf einer Autonomie der österreichischen Literatur bestehen, wird das Thema der österreichischen literarischen Identität proble¬ matisch bleiben.

II.

In den USA ist der Versuch, ein unabhängiges Image für die öster¬ reichische Literatur zu schaffen, ein relativ neues Phänomen. Die Bemühungen, eine nationale Identität für Österreich aufzubauen, begannen ironischerweise mit den Exilschriftstellern in den 30er und 40er Jahren. Es waren die jüdischen Exilanten, die flüchten mußten, um ihr Leben zu retten, welche die österreichische litera¬ rische Tradition in ihren Zufluchtsorten rund um die Welt bewahr¬ ten, bis sie wieder in Österreich weitergeführt werden konnte. Ge¬ rade sie versuchten, den Amerikanern zu zeigen, daß es einen Un¬ terschied zwischen Österreich und Deutschland gibt. Damit wurde auch die Idee von Österreich als dem ersten Opfer Ehtlers unter¬ stützt, und Österreich blieb vorerst von Kriegsschuld verschont. Die Bemühungen der Exilanten lenkten die Aufmerksamkeit auf Österreich wie nie zuvor. Denn einer der Hauptgründe, warum kaum ein Österreich-Bewußtsein in den USA herrscht, ist die be¬ reitwillige Assimilation der Österreicher, die zu ,normalen“ Zeiten emigrierten und ihre österreichische Identität me besonders her vorhoben. E. Wilder Spaulding, ehemals Direktor des Fulbright Programms in Österreich, beschreibt die österreichischen Emi¬ granten in seinem gleichnamigen Buch als „Silent Americans Die Austrian American Councils in den USA haben sich bemüht,

io

Vgl. Spaulding 1968.

60

Donald G. Daviau

dieses Schweigen zu durchbrechen, indem sie den 26. September offiziell als „Austrian-American Day“ proklamieren ließen.

In der Nachkriegszeit stieg das akademische Interesse an öster¬ reichischer Literatur an. Zuerst lag der Schwerpunkt auf der Jahr¬ hundertwende, dann weitete sich das Gebiet auf die neue Nach¬ kriegsgeneration der Autoren aus, beginnend mit Handke und Bernhard. Derzeit arbeiten zahlreiche Kollegen im Bereich der österreichischen Literatur, weil es eine große Anzahl österreichi¬ scher Schriftsteller gibt und die österreichische Literatur jetzt die führende deutschsprachige Literatur ist. Daher sollte sich die Si¬ tuation bezüglich der Akzeptanz einer autonomen österreichischen Literatur weiter verbessern und bis zur allgemeinen Anerkennung gelangen. Bei allen großen Konferenzen sind heute eigene Sektio¬ nen für österreichische Literatur eingerichtet. Das Center for Austrian Studies wurde an der University of Minnesota etabliert, das neben seinen Konferenzen auch einen eigenen Newsletter heraus¬ gibt. Eine österreichische Buchreihe erscheint beim Peter LangVerlag; das „Austrian Yearbook“, das zu bestimmten Themen er¬ scheint, wird in England publiziert; schließlich muß „Modern Austrian Literature“ erwähnt werden, eine Zeitschrift, die aus¬ schließlich der österreichischen Literatur gewidmet ist; dann Ari¬ adne Press, „Studies in Austrian Literature, Culture and Thought“; sowie der Newsletter, den ACSAL, das American Council for the Studies of Austrian Literature, herausgibt. Wahrscheinlich am ef¬ fektivsten sind die häufigen Lesungen österreichischer Autoren, bei Konferenzen und auf Vortragstourneen, ebenso wie längere Auf¬ enthalte als Writers in Residence. Kurz gesagt, österreichische Literatur ist in akademischen Kreisen besser vertreten als je zuvor, aber immer noch ein ,Minderheitenprogramm“. Viele Universitäten und Colleges haben keinen Spezialisten für österreichische Litera¬ tur in ihren Reihen, und behandeln österreichische Literatur wei¬ terhin als eine Unterkategorie der deutschen. Bei der allgemeinen oder populären Rezeption ist das Problem weitaus größer, denn es ist Teil eines Gesamtproblems: In Amerika existiert kein klares Image von Österreich. Ohne eine Öffentlich-

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

61

keit, die mit Österreich überhaupt etwas verbindet, ist es schwie¬ rig, die Aufmerksamkeit auf österreichische Literatur zu lenken. Kommerzielle Verlagshäuser geben weiterhin österreichische Lite¬ ratur als deutsche Literatur heraus und bezeichnen kaum jemals österreichische Autoren oder Werke als solche. Das Problem ist so grundlegend, daß viele Amerikaner Österreich noch immer nicht von Australien unterscheiden. Normalerweise gab es kaum Nach¬ richten aus Österreich, bis die jüngsten Wahlen in Österreich die Aufmerksamkeit der Welt auf den rechtsgerichteten Jörg Haider lenkten. Bis dahin war das österreichische Image beim Durch¬ schnittsamerikaner, wenn er überhaupt eines hatte, vom touristi¬ schen Bild geprägt - Lippizzaner, Sängerknaben und Lederhosen oder von der idyllischen Landschaft, die man im überaus beliebten Film „Sound of Music“ (1964) findet. Touristen kommen deswegen eigens nach Österreich, um die „Sound of Music“-Tour mitzuma¬ chen, aber es ist zweifelhaft, ob sie deswegen österreichische Lite¬ ratur lesen. Ein klares und weithin anerkanntes österreichisches Image zu schaffen, bleibt das grundlegende Problem, das nur durch breite Medienberichterstattung gelöst werden kann. Dabei kann die Rolle des Österreichischen Kulturinstituts in New York gar nicht hoch genug veranschlagt werden. Es informiert mit seinem Newsletter „Austria Kultur“ und einer Internet-Homepage; auch der österreichische Presse- und Informationsdienst in Washington D.C. verfügt über eine Website und einen eigenen Newsletter, „Austrian Information“. Die Schaffung eines positiven Österreich-Images war auch im¬ mer die zentrale Aufgabe des Bundespressedienstes des Bundes¬ kanzleramtes, dem mit vielen Kulturpublikationen, die weltweit kostenlos und in mehreren Sprachen verteilt wurden, Rechnung getragen wurde. In jüngster Zeit, noch unter der rot-schwarzen Koalition, wurde diese Rolle allerdings empfindlich beschnitten. Das wöchentliche österreichische TV-Informationsmagazin „Hello Austria Hello Vienna“ wird nicht mehr in den USA gesendet und das hochinformative und prestigereiche Magazin „Austria Today“

62

Donald G. Daviau

wurde mit dem Tod seines Chefredakteurs nicht mehr von der rot¬ schwarzen Regierungskoalition weiterfinanziert. Die Schwierigkeit, Rezensionen von Übersetzungen oder ande¬ ren Büchern von österreichischen Schriftstellern unterzubringen, erschwert die Schaffung von Öffentlichkeit. Aus der Flut der wö¬ chentlich publizierten Bücher wählen die Zeitungs- und Zeitschrif¬ tenredakteure nur die bekanntesten aus. Der Geschmack eines Redakteurs, persönliche Kontakte und kommerzielle Interessen (die Schaltung einer bezahlten Anzeige als Gegenleistung für eine Buchrezension) spielen ebenfalls eine Rolle. Redakteure, die oh¬ nehin ständig über Platzmangel in ihrem Blatt klagen, sind kaum daran interessiert, neue Autoren einzuführen, sondern ziehen es natürlich vor, bekannte Namen der großen Verlagshäuser zu brin¬ gen, die wichtige Anzeigenkunden sind. Rezensionen in akademi¬ schen Magazinen sind kaum systematischer oder ,gerechter'. Die Auswahl des Buches und des Rezensenten ist durch verschiedene Faktoren

beeinflußt:

ob

der

Verlag

ein

Rezensionsexemplar

schickt, und ob der Kollege, der sich bereit erklärt hat, die Rezen¬ sion zu schreiben, diese auch wirklich abliefert. Manche wissen¬ schaftlichen Zeitschriften verwenden überhaupt immer wieder denselben Rezensenten für einen bestimmten Autor. So präsentie¬ ren sie über die Jahre immer nur eine einzige Perspektive und Mei¬ nung über einen Autor. Auch die enorme Verspätung von manch¬ mal zwei bis drei Jahren, bis endlich eine Rezension in einem aka¬ demischen Journal erscheint, macht selbst nützliche Informationen darin beinahe obsolet. Keine Zeitschrift kann zu allen wichtigen Publikationen Besprechungen bringen. Aus diesen Gründen ist es unmöglich, durch das gegenwärtige Besprechungssystem auf dem Laufenden zu bleiben. Außerdem konzentrieren sich die wissen¬ schaftlichen Zeitschriften auf die Sekundärliteratur und vernach¬ lässigen die Literatur selbst oder Übersetzungen. Dazu kommt das Problem, daß Universitätsbibliotheken me genügend Mittel zur Verfügung haben, um auch nur einen Teil der neuen Bücherflut zu erwerben.

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

63

III.

Nach dieser kurzen Übersicht über die allgemeine Situation der Rezeption und einige ihrer Schwierigkeiten, wenden wir uns jetzt den Autoren des Fin-de-siecle zu. Meine Darstellungen basieren auf der jeweiligen Anzahl der Werke, die in Übersetzungen erhält¬ lich sind, und der Quantität der Sekundärliteratur. Auf dieser Grundlage sind die bekanntesten Schriftsteller jene, deren Werke Eingang in die Weltliteratur gefunden haben, und die kaum als österreichische Autoren wahrgenommen werden. Sie werden nicht nur unterrichtet, sondern auch von einem größeren Publikum gele¬ sen, so daß sie auch lieferbar bleiben, was ausschlaggebend für die Rezeption ist. In vielen Fällen erscheint ein Buch zwar in Überset¬ zung und wird dann nicht wieder aufgelegt, entweder, weil die Ver¬ kaufszahlen hinter den Erwartungen zurückblieben, oder, weil das Buch von vornherein nur einen eng umgrenzten Markt hatte, der schon mit der ersten Auflage bedient wurde. Bücher sind heut¬ zutage eine Handelsware in einem Geschäft, das den Marktme¬ chanismen unterliegt. Buchhandlungen können sogar beeinflussen, was verlegt wird. Nur wenige Buchhändler sind an Literatur inter¬ essiert - die wenigen Ausnahmen setzen ihre Existenz aufs Spiel, die meisten interessieren sich nur dafür, wieviel ein Autor oder Buch einbringen kann, nicht dafür, was sie für die Schriftsteller tun könnten. In der Literatur der Jahrhundertwende ergibt sich bezüglich Übersetzungen kein erfreuliches Bild, obwohl das Fin-de-siecle die beliebteste Periode der österreichischen Literaturgeschichte ist. Die meisten Universitäten bieten Kurse über die Jahrhundert¬ wende um 1900 an. Unter den Autoren dieser Generation steht Arthur Schnitzler an erster Stelle; von ihm sind derzeit 28 Titel lieferbar.11 Fast alle seine Werke sind auf Englisch vorhanden, ein¬ schließlich der posthumen Dramen „Zug der Schatten

und „Das

Wort“, manche in neuen Übersetzungen. Es ist zu bezweifeln, daß sein vielleicht wichtigstes Werk, die Tagebücher, deren deutsche li

Vgl. Daviau 1982.

64

Donald G. Daviau

Fassung im Jahre 2000 abgeschlossen worden ist, wegen der hohen Kosten jemals auf Englisch erscheinen wird. Bis jetzt hat man auch keinen seiner Briefwechsel übersetzt. Unter seinen Werken ist das bei weitem bekannteste in den USA der „Reigen“ („Round Dance“), der öfters auf der Bühne in den verschiedensten Adaptionen als Burleske, Komödie und Musical wie auch als ernstes Drama aufgeführt wird.12 Von diesem Werk wurden so viele unautorisierte Versionen herausgebracht, daß Heinrich Schnitzler, der Sohn des Autors, es schließlich aufgab, die Kontrolle über das Copyright auszuüben und es freigab, um sich der ständigen Ärgernisse zu entledigen. Trotzdem wurde die jüng¬ ste Version des Österreichers Werner Schwab, „Der reizende Rei¬ gen nach dem reizenden Reigen des reizenden Herrn Arthur Schnitzler“, als eine so enge Adaptation betrachtet, daß Tantiemen dafür gefordert und für Aufführungen in der Schweiz auch bezahlt wurden. Zu nennen sind auch die Filmversionen von Max Ophüls sowie von Gene Kelly, der das Stück als Tanz ohne Dialog verfilmt hat. „Liebelei“ ist auch durch den Film von Max Ophüls (1932) sehr bekannt geworden.13 Der Cecil B. deMille-Film „The Affairs of Anatol“ (1921) war weit verbreitet und ist 2000 wieder neu auf Video herausgebracht worden. Diese Komödie hält Schnitzlers Namen lebendig, weist aber nur mehr einen sehr lockeren Bezug zum Onginalstück auf. 1931 kam, ebenfalls in Hollywood, der Film „Daybreak“ („Spiel im Morgengrauen“) heraus. Die vorerst letzte große Verfilmung eines Werks von Schnitzler ist „Eyes Wide Shut

(1999) nach der „Traumnovelle“, die auch schon als Video

(Warner Home Video) erhältlich ist. Nur den wenigsten ist be¬ wußt, daß die Vorlage von Schnitzler stammt, denn der Film wird ausschließlich als Stanley Kubrick-Film rezipiert. Es ist kein Ver¬ lust für den Novellenautor, denn der Film ist nicht erfolgreich und bringt Schnitzler, der sich als einer der ersten Autoren in Öster-

12

13

Vgl. Schneider 1995. Vgl. dazu Daviau 2001.

65

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

reich für die Möglichkeiten des Films interessiert hatte, keinen Ruhm. Andere Aufführungen sind die beliebten englischen Bearbeitun¬ gen Tom Stoppards von „Das weite Land“ als „Undiscovered Country“ (1987) und „Liebelei“ als „Dalliance“ (1987). Alistair Cook präsentierte eine TV-Reihe von fünf dramatisierten Ge¬ schichten, die 1974 in den USA gezeigt wurden. Unglücklicher¬ weise wurden diese Programme unter dem Titel „Vienna 1900. Ga¬ mes with Love and Death“ wieder entsprechend dem alten Kli¬ schee präsentiert und trugen nicht dazu bei, Schnitzlers Ruhm zu vergrößern.14 Ein junger kanadischer Regisseur, Simon Williams, übersetzte und inszenierte 1977 „Der einsame Weg“ und „Das weite Land“, jedoch ohne den Erfolg, der Stoppard mit seinen Ver¬ sionen beschieden war. Eine englische Adaptation von „Komtesse Mizzi“ wurde erfolglos 1979 Off-Broadway auf geführt. Sonst wer¬ den Schnitzlers Stücke kaum mehr gespielt. Alles in allem ist er in der englischen Sprache noch nicht gut angekommen, oder, um es anders zu formulieren, das amerikanische Publikum wurde noch nicht mit dem ,echten' Schnitzler konfrontiert. Das allgemeine Verständnis für diesen Schriftsteller hinkt daher noch bedeutend hinter den neuesten wissenschaftlichen Einschätzungen her. Derzeit wird Schnitzler in der akademischen Welt als ernstzu¬ nehmender Moralist genommen, der wie kein zweiter die Ober¬ klasse seiner Generation verstand. Er wird als ein profunder Den¬ ker über die Rolle der gesellschaftlichen Institutionen im Leben betrachtet, der glaubte, daß es zwar unmöglich wäre, einzelne Menschen zu ändern, sehr wohl aber die Gesellschaft, indem ihre Organisationen einem Wandel unterzogen werden.

Schnitzler

kommentiert die „comedie humaine und interessiert sich mehi füi Charaktere als für Plots. Seine Spezialität sind die interpersonellen Beziehungen; seine Theaterstücke nehmen sich )ede mögliche Va¬ riation der Beziehungen innerhalb der Klassenschranken vor. Ebenso wie Freud hat er es sich zur Aufgabe gemacht, tief in die

14

Vgl. Games with Love and Death 1974.

66

Donald G. Daviau

Psychologie der menschlichen Seele einzudringen. Er versucht nicht, Lösungen für soziale oder politische Probleme anzubieten, sondern offeriert Fallstudien, in denen er Variationen möglicher Verhaltensweisen illustriert. Viele seine Stücke und Prosawerke sind nichts als abschreckende Beispiele. Schnitzler war immer ein Impressionist, der das Leben mit Skepsis als einen andauernden Prozeß betrachtete, in dem Wertmaßstäbe nur relativ sind. Ebenso wie die anderen bedeutenden Schriftsteller seiner Zeit kritisierte er gleichzeitig die solipsistische impressionistische Lebensführung als oberflächlich und schädlich. Lange Zeit wurde er sogar als Nihilist betrachtet; heute wird Schnitzler zu Recht als Moralist gesehen. Denn zwei Generationen von Kritikern waren nur allzu gewillt, den Autor mit seinen Charakteren zu identifizieren. Obwohl er als ein Proponent der Doppelmoral begann, die um die Jahrhundert¬ wende vorherrschte, schuf er am Schluß unabhängige Frauen, die willens sind, auf ihren eigenen Füßen zu stehen. Als ein Impres¬ sionist war er immer für neue Ideen und Gedanken offen, immer bereit zu lernen und sich zu ändern, daher auch sein großes Inter¬ esse an dem neuen Medium Film. Schnitzler bemühte sich ernst¬ haft, in seinen Schriften zur Wahrheit vorzudringen, indem er strikt ehrlich war, sowohl mit seinen Lesern wie mit sich selbst, was seine Tagebücher zur Genüge bezeugen. Obwohl die glanz¬ volle einzigartige Lebensform des Wiener Fin-de-siecle mit dem Zusammenbruch der Monarchie unterging, haben die Werte der Moderne, die von dieser Generation geschaffen wurden, bis heute Gültigkeit und haben die westliche Welt bis zum heutigen Tage geformt. Diejenigen, die denken, daß die Moderne mit der Post¬ moderne endet, sollten einen zweiten Blick darauf werfen. Wäh¬ rend letztere völlig tot ist und wenig Spuren hinterlassen hat, sind viele der Werte der Moderne wie der Ruf nach Unabhängigkeit des Geistes und Selbstverwirklichung so lebendig und wesentlich wie je zuvor. Schnitzlers Ruhm war zur Zeit seines Todes am 21. Oktober 1931 bereits sehr verblaßt, wurde aber in den 50er Jahren in Wien durch die Burgtheateraufführungen Ernst Lothars neu begründet.

67

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

In den USA hatten es sich zwei Wissenschafter, Sol Liptzin und Otto P. Schinnerer, während der 30er und 40er Jahre zur Aufgabe gemacht, den Ruf Schnitzlers lebendig zu erhalten. Liptzin schrieb 1932 das erste Buch über Schnitzler auf Englisch, das immer noch gültig ist und 1994 neu verlegt wurde. Schinnerer hat viele grund¬ legende Artikel über Schnitzler verfaßt. In den 60er Jahren hat Professor Robert O. Weiß in den USA die „Internationale Arthur Schnitzler

Research

Association“

begründet,

mit

dem

Ziel,

Schnitzler, seine Werke und seine Zeit zu erforschen, um seine Be¬ deutung zu verbreiten. Bis 1968 wurden die Ergebnisse in einem Newsletter veröffentlicht, später wurde der Newsletter in die Zeit¬ schrift „Modern Austrian Literature“ umgewandelt. (Der Verfasser hat diese Zeitschrift 25 Jahre lang (1974-1999) an der Universität von Californien, Riverside, herausgegeben. Der neue Herausgeber ist Geoffrey Howes an der Bowling Green Universität, Bowling Green, Ohio.) Heute ist Schnitzler nicht nur als einer der größten Autoren der österreichischen Literatur anerkannt, sondern auch dem breiten Lesepublikum vertraut, weil man ihn immer noch mit Gewinn und Genuß lesen kann. Die Hauptänderung in der Gesinnung der Wissenschaftler be¬ trifft die Thematik in Schnitzlers Werken. 1894 hat Hermann Bahr seinen Freund als Autor einer „Note , nämlich „Liebelei , be¬ zeichnet. Diese Spitze wurde bis in die 50er Jahre gerne gegen Schnitzler verwendet. Heute ist dieses Klischee verschwunden, und die

allgemeine

wissenschaftliche

Meinung

betrachtet

ihn

als

„Diagnostiker seiner Zeit,“ dessen Themen nicht nur Liebe und Tod, sondern auch Politik und Philosophie einschließen.15 Zu seinen Lebzeiten war Hugo von Hofmannsthal als der füh¬ rende

Dichter

Österreichs

angesehen und

rangierte

weit

vor

Schnitzler. Diese Ansicht galt selbst noch in der Nachkriegszeit, auch in akademischen Kreisen in den USA. Aber überraschender¬ weise wurden trotz seiner Prominenz nur wenige Werke Hof¬ mannsthals übersetzt, und seine Schriften wurden nahezu aus-

15

Vgl. Roberts 1989 und Luprecht 1990.

68

Donald G. Daviau

schließlich auf Universitäten gelesen. Selbst als Librettist bleibt er ziemlich unbekannt. Die sechs Opern, die ständig im Repertoire bleiben, sind allgemein als Strauss-Opern bekannt. Momentan sind nur vier Übersetzungen lieferbar: „The Correspondence of Hugo von Hofmannsthal and Ottonie von Degenfeld“ (2000), herausge¬ geben von Marie Therese Degenfeld, ein wichtiger Band, der das vielleicht getreueste Porträt Hofmannsthals als Mensch, nicht als Dichter, bringt, „The Woman without a Shadow“ (1993) und „The Lord Chandos Letter“ (1986) sowie die überaus wertvolle „Corre¬ spondence

between

Richard

Strauss

and

Hugo

von

Hof¬

mannsthal“, die erstmals 1927 herauskam und seitdem immer lie¬ ferbar geblieben ist. Frühere Übersetzungen sind „The Death of Titian“ (1977), „Oedipus and the Sphinx“ von Gertrude Schoenbohm (1968), und der Band „Three Plays“ („Death and the Fool“, „Electra“, und „The Tower“) von Alfred Schwarz (1966). Pan¬ theon Press in New York zusammen mit Routledge and Kegan in London unternahm den bis dato ehrgeizigsten Versuch, Hof¬ mannsthal einem englischsprachigen Publikum zu präsentieren, und publizierte drei Bände: „Selected Prose“ (1952), übersetzt von Marie Hottinger und Tania und James Stern, „Poems and Verse Plays“ (1961), übersetzt von Christopher Middleton und Michael Hamburger, sowie „Selected Plays and Libretti“ (1963), herausge¬ geben von Michael Hamburger. Diese wie alle anderen Überset¬ zungen, beginnend mit Arthur Symons’ englischer Version von „Electra“ aus dem Jahr 1908, sind vergriffen. Trotz der neuen 40bändigen Ausgabe seiner Werke und der Tä¬ tigkeit der Hofmannsthal-Gesellschaft ist der Ruf Hofmannsthals heute sehr verblaßt. Hauptsächlich wird er durch die jährliche „Je¬ dermann“-Aufführung bei den Salzburger Festspielen und gele¬ gentliche Inszenierungen des „Schwierigen“ bewahrt. Bei den Fest¬ spielen 1999 gab es in fast allen Medien eine Reihe kritischer Stim¬ men dazu, daß die Festspiele an der Tradition des „Jedermann“ festhalten und das Programm völlig modernisiert werden sollte. So, wie sie sind, haben die Salzburger Festspiele völlig Hofmannsthals Ideal verlassen, das ihm vorschwebte, als er sie zusammen mit Ri-

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

69

chard Strauss and Max Reinhardt begründete. Anstatt eines Thea¬ ters für das Volk, dem die barocken Freilichtaufführungen als Vor¬ bild dienten, sind sie zu einem exklusiven Tummelplatz für die Reichen und das Jetset geworden, die kommen, um gesehen zu werden und Medieninteresse zu erwecken. Es wurden gute Pro¬ duktionen geschaffen, aber letztendlich steht bei den Festspielen nun weniger die Kunst als das gesellschaftliche Ereignis im Vorder¬ grund ebenso wie ihre Funktion als Tourismusattraktion, um die gigantischen Subventionen des Staates zu rechtfertigen. Es wäre fatal, nun auch den „Jedermann“ mit seiner anti-materialistischen Aussage fallen zu lassen, denn er wird genau vor dem richtigen Publikum gezeigt. Es ist eine köstliche Ironie, daß die Berühmten und Reichen derart hohe Preise bezahlen, um die Botschaft zu hö¬ ren, daß sie mit ihrem materialistischen Leben auf dem falschen Weg sind; eine Botschaft die entweder heute noch gilt oder völlig anachronistisch ist, je nach dem Blickwinkel des Betrachters. Die Festspiele wurden mit dem „Jedermann

als zentrale Darbietung

gegründet und sind dafür auch international bekannt. Es wäre eine völlige Veränderung, wenn Flofmannsthals Stück dem Modernisierunginteresse zum Opfer fallen würde. Dies würde auch einen empfindlichen weiteren Rückgang in der internationalen Präsenz von Hofmannsthals Werk bedeuten, dessen Ruf ohnehin bereits ständig an Boden verliert. Von Richard Beer-Hofmann ist derzeit nur ein Werk lieferbar, das Stück „Jacobs Dream“, das in der Übersetzung von Ida Bension Wynn 1946 erschien. Dazu kommen Samuel R. Wachteils eng¬ lische Fassung von „Memorial Oration on Wolfgang Amadeus Mo¬ zart“ (1943) und Sol Liptzins „Lullaby for Miriam“ (1941). Er kommt kaum mehr im Unterricht vor, und wenn, dann mit der Novelle „Der Tod Georgs“, die es verdiente, übersetzt zu werden. Von Leopold von Andrian ist kein einziges Werk auf Englisch lieferbar; er wird aber im Unterricht mit „Der Garten der Erkennt¬ nis“ und wegen seiner Freundschaft mit Hofmannsthal behandelt.

70

Donald G. Daviau

Nur sehr wenige Forscher haben sich mit Andrian befaßt; die letz¬ ten wichtigen Studien erschienen in den 80er Jahren.16 Von Peter Altenberg liegt nur eine Übersetzung vor, „Alexander King Presents Peter Altenberg’s Evocations of Love“ (1960), die allerdings schon lange nicht mehr lieferbar ist. Obwohl er für sei¬ nen außerordentlichen impressionistischen Stil anerkannt ist, inter¬ essiert sich die Forschung mehr für sein Leben als Bohemien und seine Freundschaften mit Karl Kraus, Oskar Kokoschka und Adolf Loos als für seine Werke. Nach Jahren der Vernachlässigung began¬ nen in den 80er Jahren sowohl amerikanische wie auch österreichi¬ sche und deutsche Kritiker, dem Wiener Original plötzlich größere Beachtung zu schenken. Schnitzlers Stück „Das Wort“ (1966 post¬ hum erschienen), ein überaus kritisches Porträt Altenbergs, kam 1994 auf Englisch als „The Word“ heraus. Die jüngste Studie über Altenberg wurde 1998 von Andrew Barker veröffentlicht.

Karl Kraus ist auf Englisch durch zwei von Harry Zohn heraus¬ gegebenen Bände vertreten: „In These Great Times: A Karl Kraus Reader“

(1976,

1986)

und

„Half-Truths

and

One-and-a-Half

Truths“ (1976, 1986). Bereits 1930 übersetzte Albert Bloch einen Band von „Poems“, der schon lange nicht mehr lieferbar ist; da¬ nach erschienen eine Generation lang keine weiteren Werke auf Englisch, vor allem, weil Kraus als unübersetzbarer Autor betrach¬ tet wurde. Der Verleger Friedrich Ungar, ein großer Bewunderer von Kraus und einer der Hauptstützen der österreichischen litera¬ rischen Tradition in den USA, versuchte den Ruf von Kraus in den USA zu verbreiten, indem er zwei Bände herausbrachte: eine ge¬ kürzte Fassung von „The Last Days of Mankind“ (1974), übersetzt von Alexander Gode und Sue Ellen Wright, und „No Compromise: Selected Writings of Karl Kraus“ (1977), die er selbst heraus¬ gab. Keiner der Bände fand die Aufnahme, auf die Ungar gehofft hatte, und er beklagte immer die geringe Resonanz von Kraus in den USA - was nicht überrascht, da er schließlich dem Publium vollkommen unbekannt ist -, und daß er mit beiden Übersetzun-

16

Vgl. Klieneberger 1985, Renner 1981, Rieckmann 1983, Scheible 1984.

71

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

gen Verluste hinnehmen mußte. Kraus wird in Österreich immer noch verehrt, aber in den USA ist er immer weniger präsent, so¬ wohl in der Lehre als auch in der Forschung, da die jüngere Gene¬ ration der Wissenschaftler nicht mehr so bereit ist wie die alten Krausianer, ihn kritiklos zu bewundern. Das jüngste wissenschaft¬ liche Werk von Rang ist Edward Timms’ sehr für Kraus einge¬ nommene Studie „Karl Kraus. Apocalyptic Satirist“, die 1986 er¬ schien.

Hermann Bahr, gegen den Kraus lebenslang eine einseitige Pole¬ mik

geführt

hat,

ist

heute

fast völlig

unbekannt,

unter

den

Deutschlehrern wie auch beim Publikum, in Europa ebenso wie in Amerika. Viele Akademiker betrachten Bahr mit Geringschätzung, da sie die ungerechtfertigten Anschuldigungen von Kraus über¬ nehmen, ohne jemals ein Werk von Bahr selbst gelesen zu haben. Wegen Problemen mit den Urheberrechten konnten bis jetzt auch keine Übersetzungen erscheinen. Die Werke werden 2004 endlich frei werden. Es ist eine Ironie des Schicksals, daß gerade der Schriftsteller, der fünfzehn Jahre lang (1891-1906) die führende Rolle in der deutschsprachigen literarischen Szene als „Bahnbre¬ cher der Moderne“

gespielt hat,17 heute vollkommen ignoriert

wird. Ein gutes Beispiel dafür ist der bekannte Historiker Carl Schorske, der ein Buch mit dem Titel „Fin-de-siecle Wien“ (1980, noch lieferbar auf Englisch und Deutsch) publizieren konnte, ohne den Namen Bahrs nur einmal zu erwähnen. Das Buch hat übrigens einen Pulitzerpreis erhalten, ein weiterer Beweis dafür, daß Ge¬ schichte wie auch Literaturgeschichte das ist, was wir Wissenschaf¬ ter sagen, aber nicht unbedingt, wie es wnklich ist. Glücklicher weise korrigieren sich diese Disziplinen selbst, und mit dei Zeit werden jüngere Wissenschafter mit offenem Blick, die nicht von Kraus beeinflußt sind, Bahr besser einschätzen können. Auch wenn die Werke aus der Kontrolle der gegenwärtigen Nachlaßver¬ walterin gelangen werden, die Theater seine Werke frei aufführen können und Verleger Neuauflagen herausbringen können, sollte

17

Vgl. Daviau 1985.

72

Donald G. Daviau

sich die Situation verbessern. Große Bedeutung in der Wiederher¬ stellung von Bahrs Position in der österreichischen Literaturge¬ schichte werden seine „Tagebücher“ einnehmen, von denen bis jetzt drei Bände unter der Herausgeberschaft von Moritz Csaky erschienen sind (1994, 1996, 1997).

Felix Salten war einer der meist übersetzten Autoren der Jahr¬ hundertwende: Zwischen 1910 und 1946 erschienen 15 Titel auf Englisch, meist seine populären Tiergeschichten. Heute sind noch fünf seiner Werke lieferbar, ausschließlich Tiergeschichten. Der große Favorit und Evergreen bleibt „Bambi“, der seit seinem Er¬ scheinen 1923 sein am weitesten verbreitetes und geschätztes Werk ist. Zwölf englische Buchversionen und zwei Videos sind heute er¬ hältlich. Die Geschichte „Fifteen Rabbits“ allein gibt es in vier Versionen. Zusätzlich ist noch „Josephine Mutzenbacher“ zu nen¬ nen. Ursprünglich von Salten anonym 1906 in Deutschland publi¬ ziert, um sein Image als Autor von unschuldigen charmanten Tier¬ geschichten nicht zu beschädigen, erscheint es immer wieder in neuen Ausgaben auf Englisch. Dieses gut lesbare Buch, das naiv im Vergleich zu der Pornographie erscheint, die man heute in Bü¬ chern, Zeitschriften und Frauenmagazinen findet, ist seit der ersten Übersetzung von Rudolf Schleifer 1967 lieferbar geblieben. Von Raoul Auernheimer, dem profilierten Autor und prominen¬ ten Theaterkritiker und Feuilletonisten der „Neuen Freien Presse“ wurden seit seiner Biographie „Prince Metternich. Statesman and Lover“ (1940), übersetzt von James A. Galston, keine Werke über¬ setzt. Bis 1938 war Auernheimer ein erfolgreicher Schriftsteller, Freund Hofmannsthals und Schnitzlers, dessen besondere Stärke darin lag, die einmalige Atmosphäre des Fin-de-siecle Wien einzu¬ fangen. Als er in die Emigration in die Vereinigten Staaten getrie¬ ben wurde, schrieb er weiterhin über dieselben Themen, über Menschen aus der Monarchie. Es gelang ihm nicht, Werke mit zeitrelevanteren Themen zu schaffen. Auernheimer starb

1948

bevor er wieder an seine Karriere in Wien anknüpfen konnte. Erfolgreicher war Auernheimers bester Freund, Ernst Lothar, der ebenfalls das Exil auf sich nehmen mußte. Er war jedoch einer

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

73

der wenigen, die ihre Karriere auch in den Vereinigten Staaten fortsetzen konnten. Dort veröffentlichte er fünf Romane auf Eng¬ lisch, die alle eine große Leserschaft fanden, da sie sich mit The¬ men des Krieges auseinandersetzten. Lothar gab seine amerikani¬ sche Staatsbürgerschaft wieder auf und kehrte 1948 nach Wien zurück. Sein Roman „The Mills of God“ wurde 1948 als „An Act of Murder“ verfilmt. Allgemein wird „The Angel with the Tram¬ pet“ (1944) als sein bester Roman angesehen, der Österreich in einer Lamiliengeschichte über vier Generationen hinweg von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs porträ¬ tiert. Der österreichische Eilm nach diesem Buch, „Der Engel mit der Posaune“ (1948), mit Paula Wessely, Attila Hörbiger, Oskar Werner und Curd Jürgens, eignet sich für den Einsatz im Unterricht über die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Sowohl Auernheimer wie auch Lothar erweckten akademisches Interesse wäh¬ rend der Zeit, in der Exilstudien in den USA florierten. Nun, nachdem diese Periode so ausführlich erforscht worden ist, hat das Interesse wieder nachgelassen, und beide werden heute ignoriert. Die bei weitem bekannteste Figur dieser Zeit ist Sigmund Freud, wahrscheinlich die international berühmteste und einflußreichste Persönlichkeit, die Österreich jemals auf kulturellem Gebiet her¬ vorgebracht hat. Alle seine Werke sind gegenwärtig auf Englisch lieferbar. Unter den Lyrikern wird Rainer Maria Rilke am meisten rezi¬ piert. Auch er gehört zur Weltliteratur und seine Werke bleiben ständig lieferbar. Er ist so beliebt, daß sogar seine Briefwechsel in Übersetzungen vorhegen. Zurzeit gibt es 32 Bände in englischer Übersetzung, einige Titel sogar in zwei oder drei Versionen. Von den Kraus-Freunden Oskar Kokoschka und Adolf Loos lie¬ gen ebenfalls Werke in Übersetzung vor. Von dem Maler Kokosch¬ ka, einer Doppelbegabung, sind zwei Bände in Übersetzung vor¬ handen: „Stories of My Life“ (1999) und „Plays and Poems“ (1999), beide von Michael Mitchell übersetzt, und von dem Archi¬ tekten Loos ein Band seiner Essays, „Ornament and Crime. Selec-

74

Donald G. Daviau

ted Essays“ (1997), ebenfalls in der Übersetzung von Michael Mit¬ chell. Wie Freud und Rilke wird auch Franz Kafka zur Weltliteratur gezählt. Der Name ist einem breiten Publikum geläufig, aber nur der Name, denn sonst ist kaum bekannt, wer er wirklich ist, woher er kommt oder daß er zur österreichischen Literatur gehört. Selbst Anfängerkurse in Englisch verwenden Kafka-Texte, ohne auf den Hintergrund einzugehen. Meist wissen die Studenten nicht einmal, daß sie Übersetzungen lesen, und den englischsprachigen Lehrern, die die deutsche Sprache nicht beherrschen, ist nicht bewußt, wie schlecht die Übersetzungen sind. Die Frage der Qualität ist ein großes Problem, das hier nicht erörtert werden kann. Kafkas Wer¬ ke bleiben alle lieferbar, derzeit sind 49 Titel vorhanden, mehrere Bücher sind sogar in zwei bis vier verschiedenen Übersetzungen präsent. Die International Kafka Association, von Maria-Luise Caputo-Mayr, entfaltet nach wie vor rege Aktivitäten, indem sie For¬ schungen zu Leben und Werk durch die Publikation der „Kafka Studies“ und durch ein jährliches Treffen beim Modern Language Association Meeting anregt. Stefan Zweig, der immer noch einer der meist übersetzten Auto¬ ren bleibt, ist nach wie vor in Amerika behebt, obwohl sich seine heutige Popularität nicht mit früher messen kann. Viele seiner Übersetzungen sind nicht mehr lieferbar, trotzdem bleiben derzeit immer noch 26 Werke, die auf Englisch erhältlich sind. Außerdem sind drei Videos auf dem Markt: „The Burning Secret“ (Live Home Video), „Letter from an Unknown Woman“ (Republic Pictures Home Video) und „Brainwashed“ (International Historie Films), eine englischsprachige Version der „Schachnovelle“. Es ist bemer¬ kenswert, daß keines seiner Stücke jemals übersetzt worden ist, aber seine gesamten historischen Biographien und andere Prosa¬ werke sind auf Englisch herausgekommen. Die neueste Erschei¬ nung ist seine Studie „Brazil“ (2000) und sein immer populäres „Decisive Moments in History“ (2000), für beide nahm Lowell Bangerter die Übersetzung ins Englische vor. Als Zweigs Meister¬ werk wird „The World of Yesterday. An Autobiography“ angese-

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

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hen, das er knapp vor seinem Tod 1942 fertiggestellt hat. Dieses Werk, das eher eine unübertroffene Analyse der einzigartigen Welt Wiens ist, in dem er aufwuchs, weniger eine persönliche Autobio¬ graphie, ist seit seinem ersten Erscheinen auf Englisch 1943 in der Übersetzung von Eden und Cedar Paul immer lieferbar geblieben. Zweig lebte im New Yorker Exil und unternahm 1939 eine große Tournee durch die Vereinigten Staaten, bei der er in 25 Städten Vorträge hielt und Lesungen gab. Ein Archiv, das sich seinem Werk und seinen Schriften widmet, befindet sich im Fredonia College in Upstate New York. Randolph Klawiters umfassende über 900 Sei¬ ten starke Bibliographie, die Zweigs Wirkung in 26 Ländern doku¬ mentiert, erschien 1991. Schon 1999 mußte ein Ergänzungsband von über 400 Seiten veröffentlicht werden.18 Robert Musil ist in den literarischen Kanon aufgenommen wor¬ den und findet immer neue Leser. Sechs Titel sind noch auf Eng¬ lisch lieferbar: „Diaries“ (1998), übersetzt von Phillip Payne, „Precision and Soul“ (1994), übersetzt von Burton Pike und David Luft, sein Meisterwerk „The Man without Qualities“ (1995) in einer neuen Übersetzung von Sophie Wilkins und Burton Pike, „Posthumous Papers of a Living Author“ (1989), übersetzt von Wortman, und „Selected Writings“ (1986), das „Young Törless, The Perfecting of a Love“, „Grigia“, „The Lady from Portugal“, „Tonka“ und eine Auswahl von „Posthumous Papers“ enthält. Die Internationale Musil-Gesellschaft in Saarbrücken fördert aktiv die Musilforschung durch ihre Zeitschrift, das „Musilforum“ und durch jährliche Symposien. Der ausgezeichnete Film „Der junge Törleß“ des Regisseurs Volker Schlöndorff ist eine bemerkenswert treue Adaptation, die heute in den USA auch als Video erworben werden kann (New Yorker Video). Franz Werfel, der in Beverly Hills gestorben ist, gerät zuneh¬ mend in Vergessenheit. Sein Werk wird im Unterricht kaum ver¬ wendet, und wenn, dann wegen seiner Bedeutung als expressioni¬ stischer Dichter. Neunzehn seiner Werke wurden zu seinen Leb-

18

Vgl. Klawiter 1991 und ders. 1999.

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Donald G. Daviau

Zeiten ins Englische übersetzt, nur einige seiner Romane sind aber auch lieferbar geblieben: „Between Heaven and Earth“, „The Song of Bernadette“, „Class Reunion“, „Embezzled Heaven“ und „The Forty Days of Musa Dagh“. Die Filme „Song of Bernadette“ und „Me and the Colonel“ waren große Hits, aber es ist zweifelhaft, ob die Zuschauer Werfel als Verfasser der Bücher registriert haben. Die Internationale Franz Werfel Gesellschaft veranstaltet ein jähr¬ liches Symposium, das Werfel und seinen Werken gewidmet ist. Derzeit erregt allerdings das außergewöhnliche Feben seiner Frau, Alma Mahler-Werfel, weitaus mehr Aufmerksamkeit bei Buchpublikationen, Theater und Film. Joseph Roth bleibt unter dem Bekanntesten dieser Generation in Amerika. Derzeit sind zehn Titel von ihm in Übersetzung vorhan¬ den, ein Beweis, daß er auch vom breiten Publikum gelesen wird. Andere Autoren, deren Werke lieferbar bleiben, weil sie beim all¬ gemeinen Publikum beliebt sind, sind Gustav Meyrink und Leo Perutz. Alle zehn Romane Meyrinks sind auf Englisch erhältlich; außerdem wird die Filmversion seines Hauptwerks, „The Golem“ (Regie: Paul Wegener) von Video Yesteryear angeboten. Feo Pe¬ rutz ist durch sieben seiner wichtigsten Romane repräsentiert. Von Hermann Broch, der ebenfalls im Exil in den Vereinigten Staaten lebte, sind immer noch fünf Werke in Übersetzung vorhan¬ den: „The Guiltless“ (2000), übersetzt von Ralph Mannheim, „The Unknown Quantity“ (2000) und „The Sleepwalkers“ (1996), beide übersetzt von Willa und Edwin Muir, „The Death of Virgil“ (1990), übersetzt von Jean Untermeyer, „The Spell“, übersetzt von Broch de Rothermann, und „Hugo von Hofmannsthal and His Time (1984), übersetzt von Michael P. Steinberg. Die neuen Über¬ setzungen all dieser Werke zeigen, daß Broch auch heute noch eine breite Anhängerschaft hat, und daß es nicht ausschließlich von den Akademikern abhängt, seinen Namen bekannt zu erhalten, wie dies sonst meist der Fall ist. Andere Autoren sind nicht in dieser glücklichen Tage. Von Max Brod, der als Freund Kafkas bekannt ist, aber ebenso als wichtiger Autor, ist kein einziges seiner zehn übersetzten Werke noch liefer-

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

77

bar, nicht einmal das weitverbreitete „Franz Kafka. A Biography“, dessen jüngste Herausgabe 1960 in der Übersetzung von G. Humphreys-Roberts und Richard Winston erfolgte. Ebenso nicht mehr lieferbar sind die Werke von Karl Schönherr, dessen naturalistische und expressionistische Werke ihn zu einem der berühmtesten Schriftsteller seiner Generation machten; auch von Peter Rosegger, ebenfalls einer der führenden Schriftsteller des späten 19. Jahrhunderts, ist nichts mehr lieferbar. Eine ältere Au¬ torin befindet sich in einer besseren Situation: Marie von EhnerEschenbach profitiert vom gegenwärtigen Interesse an Frauen als Schriftstellerinnen. Von ihr ist die Novelle „Beyond Atonement (1997) lieferbar, übersetzt von Vanessa van Ornam. Das Werk wird von Kritikern gern mit Theodor Fontanes Klassiker „Effi Briest“ verglichen. Weiters sind von Ebner-Eschenbach lieferbar: „Aphorisms“ (1999), übersetzt von Wolfgang Mieder und David Scrase (1997), und die Hundegeschichte „Krambambuli“ (1989), übersetzt von Paul Pratt. Dazu erschien 1997 eine neue Biographie von Do¬ ris M. Klostermaier, „Marie von Ebner-Eschenbach. The Victory of a Tenacious Will“. Ebner-Eschenbachs Zeitgenosse Ferdinand von Saar wurde ebenfalls auf Englisch zugänglich gemacht, durch eine Auswahl, die fünf seiner besten Prosaerzählungen enthält, „The Stonebreakers and Other Novellas“ (1999), übersetzt von Kurt und Alice R. Bergei.

IV. Generell zeigt es sich, daß die Literatur der Jahrhundertwende ge¬ genwärtig relativ gut durch Übersetzungen repräsentiert ist. Eine Gesamtübersicht über die Art der Übersetzungen der letzten hun¬ dert Jahre deckt jedoch auf, daß die Situation völlig vom Markt be¬ stimmt wird und sich jederzeit ändern kann. Die meisten Überset¬ zungen werden nur einmal aufgelegt, danach verschwinden sie mit¬ samt dem Autor. Der Stellenwert eines Autors oder einer Autorin in Österreich bestimmt auch die Lehre und die Forschungsfelder amerikanischer Germanistenlnnen. Dem breiten Publikum bleiben

78

Donald G. Daviau

selbst die größten Namen unbekannt, bis sie längere Zeit präsent waren und in der Presse besprochen wurden, wie Freud und Kafka. Es werden immer mehr Übersetzungskurse angeboten, wodurch in der Folge auch mehr Texte in Übersetzungen vorliegen. Wenn der Autor nicht über ein großes Publikum verfügt, was nur in Ausnah¬ mefällen vorkommt, ist der Markt jedoch auf die Universitäten be¬ schränkt und als solcher nicht groß genug, um solche Publikatio¬ nen zu erhalten. Sie können meist nur mit Hilfe der Subventionen des Österreichischen Kulturinstituts New York und des Unter¬ richtsministeriums in Wien herausgebracht werden. Nur die we¬ nigsten Übersetzungen können ohne diese Unterstützung erschei¬ nen. Das Kulturinstitut ist in der Tat die größte treibende Kraft der Austrian Studies in den USA, denn es stellt Gelder für Symposien, wissenschaftliche

Publikationen,

Lesetourneen

österreichischer

Autoren und Stipendien für amerikanische Forscher zur Verfü¬ gung, damit diese in Österreich studieren und arbeiten können. Ohne diese finanzielle Hilfe würde kaum ein Buch in Amerika in Übersetzung erscheinen oder ein Symposium stattfinden, denn die Universitäten verfügen nicht über die Mittel, um solche Aktivitä¬ ten zu unterstützen. In der gegenwärtigen politischen Lage ist Österreich jedoch zu scharfen Budgetkürzungen gezwungen, um die Anforderungen für die Einführung der gemeinsamen europäi¬ schen Währung, des EURO, am 1. Jänner 2002 zu erfüllen. Es bleibt eine offene Frage, in welchem Ausmaß die österreichischen Programme wieterhin unterstützt werden können. Möglicherweise sieht Österreich sein Image in den Vereinigten Staaten auch nicht mehr länger als eine Priorität an, und wird eher im Kontext der Europäischen Union näher an die deutsche Literatur rücken. Eine weitere Frage wird sein, ob die Übersetzungskurse in der Literatur der Jahrhundertwende weiterhin so populär bleiben wie bisher. Schon jetzt läßt sich ein Abrücken von der Jahrhundertwende zum größeren Fokus der zeitgenössischen Autoren, den Holocaust-Stu¬ dien und der Frauenliteratur erkennen. Nur die Zeit wird hier ent¬ scheiden. Immerhin hat sich das Bild der Rezeption seit meinem

Die Rezeption der österreichischen Literatur der Jahrhundertwende

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letzten Bericht (1987) bedeutend zum besseren gewandt. Es bleibt nun abzuwarten, wie es in einem weiteren Jahrzehnt aussehen wird.

Literatur Daviau, Donald G.: Arthur Schnitzler im Spiegel der Kritik - Fünfzig Jahre nach seinem Tod. In: Text und Kontext 10, Nr. 2 (September 1982), S. 411-426 Daviau, Donald G.: Hermann Bahr. Boston 1985 Daviau, Donald G.: The Reception of Austrian Literature in the Uni¬ ted States from 1970 to 1987. In: Von/From Wilson bis/to Wald¬ heim. Hrsg, von Peter Pabisch. Riverside, CA 1989, S. 156-182 Daviau, Donald G.: Introduction. In: ders.: Major Figures of Nineteenth-Century Austrian Literature. Riverside, CA 1998, S. 1-128 Daviau, Donald G. Österreichische Identität in historischer Perspekti¬ ve. In: Literatur im Kontext Robert Musil. Hrsg, von Marie-Louise Roth, Pierre Behar und Annette Daigger. Bern 1999, S. 63-82 Daviau, Donald G.: Die Prozesse der Rezeption der österreichischen Literatur in Amerika. In: Intellektuelle Erforschung der Österrei¬ chischen Literatur. Hrsg, von Herbert Arlt/Alexandr W. Belabratow. St. Ingbert 2000, S. 318-341 Daviau, Donald G.: Max Ophüls Film Adaptation of Arthur Schnitzler’s „Liebelei“. In: Zeitgenossenschaften / Contemporenities. Proceedings of the Arthur Schnitzler Conference, London, December 1999. Hrsg, von Ian Foster/Florian Krobb. Bern 2001, S. 297-313 Daviau, Donald G.: Biedermeier - The Happy Face of the Austrian Vormärz. In Vorbereitung Daviau, Donald G./Jorun B. Johns: On the Question of Austrian Lite¬ rature - A Bibliography. In: Modern Austrian Literature 17, Nr. 3/4 (Dezember 1984), S. 219-258 Games with Love and Death. Hrsg, von Robert Müller. London 1974 Geschichte der österreichischen Literatur, 2 Bde. Hrsg, von Donald G. Daviau/Herbert Arlt. St. Ingbert 1996. Klawiter, Randolph J.: International Stefan Zweig Bibliography, River¬ side, CA 1991

80

Donald G. Daviau

Klawiter, Randolph J.: Stefan Zweig. An International Bibliography. Supplement I. Riverside, CA 1999 Klieneberger, Hans Rudolf: Hofmannsthal und Leopold Andrian. In: Modern Language Review 80 (1985), S. 619-636 Luprecht, Mark: What People Call Pessimism: Freud and Schnitzler. Riverside, CA 1990 Renner, Ursula: Leopold Andrians „Garten der Erkenntnis“. Literari¬ sches Paradigma einer Identitätskrise in Wien um 1900. Frankfurt a.M. 1981 Rieckmann, Jens: Narziss und Dionysos: Leopold von Andrians „Der Garten der Erkenntnis“. MAL 16, H. 1 (1983), S. 65-81 Roberts, Adrian C.: Arthur Schnitzler and Politics. Riverside, CA 1989 Scheible, Hartmut: Metaphysik des Fiakers. In: ders.: Literarischer Ju¬ gendstil in Wien. München 1984, S. 32-49 Schmidt-Dengler, Wendelin, Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichi¬ schen Literatur 1945 bis 1990. Salzburg 1995 Schneider, Gerd: Die Rezeption von Arthur Schnitzlers Reigen. River¬ side, CA 1995 Spaulding, E. Wilder: The Quiet Invaders. The Story of the Austrian Impact upon America. Wien 1968 Zemann, Herbert: Die österreichische Literatur und ihre literaturge¬ schichtliche Darstellung vom ausgehenden 18. bis zum frühen 19. Jahrhundert. In: ders.: Die österreichische Literatur. Ihr Profil an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert, Teil 2. Graz 1979, S. 563586

Michel Reffet

Der Impressionismus als dominante Stilrichtung der deutschsprachigen Literatur der J ahrhundertwende Das Anliegen des vorliegenden Beitrags ist vor allem pädagogisch, und seine Pespektive ist konservativ. Als Auslandsgermanisten leh¬ ren wir eine fremdsprachige Literatur für angehende Fachleute. Deshalb müssen wir einigen Rückstand hinnehmen gegenüber den Erfassungsmethoden des Landes, in dem diese Literatur entsteht. Und da müssen wir nun einmal die Periodisierung der Literaturge¬ schichte mit jeweils bestimmenden Stilrichtungen in Übereinstim¬ mung bringen. Selbstverständlich verliert man, nicht aus den Au¬ gen, daß man es mit Schwerpunkten zu tun hat, daß eine Epoche verschiedene Stile zugleich hervorbringen kann. Aber die Neben¬ strömungen sind entweder nebensächliche Aspekte bei großen Vertretern der Epoche, oder sie sind nur bei Autoren zweiter Gar¬ nitur zu finden. Andererseits können die Schriftsteller, die fast ausschließlich die dominante Stilrichtung vertreten, keine Größen sein. Sie stellen je¬ doch die repräsentative Basis einer Epoche. Grillparzer schrieb schon in den ersten Seiten seines „Armen Spielmanns“: „Man kann die Berühmten nicht verstehen, wenn man die Obskuren nicht durchgefühlt hat.“1 In letzter Zeit hat man die Definition von Strömungen vernach¬ lässigt, und das betrifft ganz besonders die deutsche Literatur. Es bleibt ein Mangel für junge französische Studenten, denen die Ka¬ tegorien von Stil und Epoche ihrer nationalen Literatur gleichsam an der Wiege gesungen wurden.

1

Grillparzer 1997, S. 6.

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Michel Reffet

Im Falle der deutschsprachigen Literatur am Anfang des 20. Jahrhunderts wird die Unzulänglichkeit der pädagogischen Praxis durch eine wahre Anarchie der Handapparate hüben und drüben verschlimmert. Zuerst muß ich die Folge von Stilbezeichnungen ausschütten, die für diese Periode zur Anwendung kommen: Fin de Siecle wird zu Recht als übergreifendes europäisches Phänomen benutzt; es kommen dann: Jahrhundertwende, Moderne, Impres¬ sionismus, Symbolismus, Jugendstil / Art Nouveau, Dekadenz / Decadence, Ästhetizismus / Artismus / L‘artpour l‘art, Dandyismus / Dandytum / Dandysme, Neuklassik / Neuklassizismus / Neoklas¬ sizismus, Neuromantik. Es gibt auch schlechtweg Antirealismus und Überwindung des Realismus.2 Nebenbei findet man Renaissancismus und Japonismus. Erstaunhcherweise kommt Jung-Wien nur einmal vor.3 In mehr als 20 deutschen und französischen Lehrbüchern für Schüler und Studenten herrscht jedoch in 4 Punkten Konsens: 1. ) Wien ist der Kern der damaligen modernen Literatur. In Wien entfaltete sich die Moderne und der Impressionismus mit Schnitzler als typischem und manchmal einzigem Vertreter. 2. ) Es wird betont, daß die literarischen Stilbezeichnungen viel¬ fach der darstellenden Kunst entlehnt sind, vor allem Jugendstil und Impressionismus. 3. ) Stefan George, Rilke und Hofmannstahl bilden fast überall eine Gruppe. Dies ist mit der damaligen Rezeption konform. Sie wurden tatsächlich von ihren Zeitgenossen als die Großen Drei an¬ erkannt. 4. ) Schließlich bestreitet niemand, daß der terminus ad quem vom Fin de Siecle bzw. terminus a quo des literarischen neuen Jahrhunderts am Anfang des sog. Expressionistischen Jahrzehnts 1910-1920 anzusetzen ist.

2 Vgl. Brinkmann o.J. Da die literaturgeschichtlichen Klassifierungen aus den In¬ haltsverzeichnissen der herangezogenen Bücher ersichtlich sind, werden im fol¬ genden die Seitenzahlen nur gelegentlich genannt. 3

Vgl. Bianquis 1926.

Der Impressionismus als dominante Stilrichtung

83

Das sind die einzigen Punkte der Übereinstimmung. Sonst haben wir es mit einem heillosen Durcheinander zu tun - merkwürdiger¬ weise auch in Nachschlagewerken, die man für die anderen Zeitab¬ schnitte der deutschen Literatur hundertprozentig empfehlen darf.4 Einige Verfasser ziehen sich aus der Affäre, indem sie überhaupt keinen vorherrschenden Stil und nur datierte Perioden anbieten. Als erste muß ich Genevieve Bianquis anführen, denn ich bin ihr Nachfolger als Lehrstuhlinhaber in Dijon. Der Titel ihrer Disserta¬ tion lautet: „La poesie autrichienne de Hofmannsthal ä Rilke“. Auf Teil I: „Esthetes et decadents viennois“ über Jung-Wien, Peter Al¬ tenberg und Richard Beer-Hoffmann folgen Teil II: Hofmannsthal und Teil III: Rilke. Von Stilzuordnung keine Spur. Glaser/Lehmann/Lubos bringen nur Ästhetizismus ein, und zwar mit Bezug auf Thomas Mann. Viele kommen mit Jahrhundertwende aus. Fritz Martini begnügt sich mit Zeitwende. Der in allen Punkten stich¬ haltige Abriß der deutschen Literatur des Franzosen Jean-Louis Bandet setzt bei jeder Epoche die gängigen Stilströmungen ein, aber er nennt zwischen Realismus und Expressionismus keine re¬ präsentative Strömung! Ein neueres handliches Büchlein von JeanJacques Pollet belegt jede Periode der deutschen Literatur mit einer breitangelegten Textinterpretation. Es liefert also vor allen Dingen markante Stilbeispiele. Für die fragliche Periode nun listet es Tournant du siecle, Impressionisme, Jugenstil, Symholisme und Neoromantisme auf und zieht schließlich den Terminus Modernite

vor. Pollet betont, daß die Modernite in Wien konzentriert ist, und er zieht als Beleg einen Auszug aus den „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ heran. Nur zwei Literaturgeschichten stechen durch akribische Identifi¬ kation von Dichtern und Stilen hervor. Es ist zum einen Nürnber¬ ger (1992), der Impressionismus und Wiener Moderne verklammert - erstaunlicherweise ohne Hofmannstahl - Symbolismus klar ab¬ sondert und ihm Neuromantik unterordnet. Die andere gelungene

4

Als da sind: Bandet 1997, Glaser/Lehmann/Lubos 1961, Hoffmann/Rösch 1972, Mosse 1959, Pollet 1999.

84

Michel Reffet

Darstellung ist von Leiß und Stadler (1997): Sie stellt eine Liste der in Frage kommenden Strömungen auf, und jeder wird dann akku¬ rat eine Anzahl von Autoren zugewiesen. Die Auffächerung bleibt allerdings sehr breit. Einige Verfasser versuchen behutsam, die Stile in die Perioden einzubauen. In der so praktischen „Deutschen Literaturgeschichte in Frage und Antwort“ von Ammon wird das Etikett Impressionis¬ mus auf Fontane angewandt, und zwar wegen der „genauen Wie¬ dergabe der Stimmung“ und „charakteristischer Einzelheiten der Rede“5. Dort erscheint Symbolismus als Unterabteilung von Im¬ pressionismus, aber es wird nicht deutlich ausgesprochen. Bei Mar¬ tini wird „impressionistische Lyrik“ in „Zeitwende“ untergebracht (Dehmel und Liliencron).6 Bei FIoffmann/Rösch wird Fin de Siecle als „Zauber und Todesrausch der Schönheit“7 charakterisiert, dazu gehören: Symbolismus, Neuromantik, Jugendstil und Dekadenz. Baumann/Oberle (1945) betten in die „Literatur der Jahrhundert¬ wende“ Impressionismus-Abschnitte über George und Hofmanns¬ thal sowie über Schnitzler und Rilke ein. Die Verbindung zwischen beiden Tendenzen ist Wien, man muß demnach annehmen, daß Hofmannsthal zu beiden gehört. (Der Abschnitt „Fin de Siecle“, der im Inhaltsverzeichnis erscheint, tritt im laufenden Text nicht mehr auf. Dieses Kapitel 15 wird mit „Wilhelminische Zeit“ einge¬ leitet und bleibt, im Gegensatz zu den anderen, nicht sehr geord¬ net. Es endet mit Thomas Manns und Hermann Hesses Anfängen sowie mit Kafka.) Bei der Bemühung, Periode und Stile zu verklammern, möchte ich noch zwei Franzosen nennen, einen älteren und einen neueren: Zunächst Auguste Folz (1959), der Deutschlehrer in Metz, und dessen Sohn ein berühmter Historiker in Dijon war. Folz, der Va¬ ter, gibt für die Lyrik an: a) „Un impressionniste: Liliencron“, b) „Un expressionniste: Dehmel“ (bei Martini ist Dehmel ein Im¬ pressionist) und dann getrennt: c) Rilke, d) George. Es folgen 5

Ammon 1969, S. 207.

6

Vgl. Martini 1958, S. 443.

^

Hoffmann/Rösch 1972, S. 248.

Der Impressionismus als dominante Stilrichtung

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dann, sozusagen unter ferner liefen: „poetes impressionnistes, expressionnistes et eclectiques“. Schnitzler wird unter „Theätre naturaliste“ eingereiht und Hofmannstahl unter „Theätre neo-romanticc

que . Das neuere französische Buch, das ich erwähnen möchte, heißt „Precis de Litterature allemande“ von Pierre Deshusses (1999). Er resümiert unsere Periode in zwei Teilen: 1) „Impressionnisme“: Liliencron, Dehmel (der bei Folz ein Expressionist ist!) und Schnitz¬ ler; 2) „Symbolisme“: George, Hofmannstahl und Rilke. Die ande¬ ren werden zwischen „Neoclassicisme“ (Morgenstern, Carossa, Hesse) und „Neoromantisme“ (Broch, Ernst, Huch, Miegel, Was¬ sermann und der junge Thomas Mann) verteilt. Bei den Verfassern, die dem Stil der Vorrang zu geben versuchen und ihm die Periodisierung unterordnen, liest man überall von Stil¬ pluralismus. Das für die Gymnasialklassen bestimmte Büchlein von Brinkmann zählt Neuklassizismus und Neuromantik nicht zum Impressionismus, es sind „andere Wege zur Überwindung des Na¬ turalismus“8. Zmegac (1984) stößt zuerst ins selbe Horn: Man liest nur von „Stilpluralismus der Jahrhundertwende“ und „gegennatu¬ ralistischer Tendenz“. Die Wiener Moderne wird getrennt behan¬ delt. Aber ein Jahr später, in seiner „Kleinen Geschichte der deut¬ schen Literatur“ sorgt Zmegac für mehr Klarheit: Unsere Epoche steht „im Zeichen des Symbolismus“9. Ganz schlimm wird es, wenn man beide Sichtweisen, Periode und Stil ohne Verbindung und Hierarchisierung behandeln will. Das geschieht leider im von Fernand Mosse herausgegebenen fran¬ zösischen Handbuch, das vor 40 Jahren erschien und für die ande¬ ren Epochen als maßgeblich einzustufen ist. Jeder der fünf Teile wird von einem anderen Verfasser übernommen, der hochkompe¬ tente Mosse selbst lieferte keinen Beitrag. Der 5. und letzte Teil, der unsere spezielle Periode der Jahrhundertwende abdecken will, ist eine Katastrophe: Wie Kraut und Rüben ist da vom Naturahs-

Vgl. Brinkmann o.J., S. 25-30. 9

Vgl. Geschichte der deutschen Literatur 1985.

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Michel Reffet

mus, aber auch von „falschen Naturalisten“ die Rede. Unter Neo¬ klassizismus findet man Paul Ernst; man liest von Neuromantik für Moeller van der Bruck, Beer-Hofmann und Stücken. An zwei weit auseinandergerissenen Stellen tauchen die Neoromantiker auf. Dort, wo man sie nicht mehr erwartete, werden sie mit den Im¬ pressionisten zusammengepfercht und vereinigen Eduard von Key¬ serling und Ricarda Huch. In dieser wirren Folge wird der arme Stefan George zwischen den Abschnitten „Naturalismus“ und „Wien“ eingeklemmt! Interessant ist allerdings an der ganzen Bre¬ douille, daß nur Autoren zweiten Ranges ein Etikett bekommen, als würden die Großen sowieso jeden Rahmen sprengen. Das ist ein grotesker Fall. Aber die allgemeine Unübersichtlich¬ keit auch in seriösen Handbüchern zeugt von einem Problem. Die Verfasser bemühen sich verdienstvoll um eine Kategorisierung der Stile. Aber wegen allzu sorgsamer Beobachtung bringen sie es nicht fertig, Kraftlinien freizulegen. Neben den Lehrbüchern gibt es selbstverständlich die gründli¬ cheren Studien, die jede für sich eine der besagten Tendenzen zum Thema haben: Decadence, Fm de siecle, Impressionismus, Jahrhun¬ dertwende, Jugendstil, Moderne u.dgl.m. Man forscht jedoch ver¬

geblich nach der Differenzierung dieser Bezeichnungen. Für Jung¬ wissenschaftler sind sie austauschbar. Wir haben zwar talentvolle Abrisse für Germanisten, „Der literarische Jugendstil“ von Jost (1969) und „Literarischer Jugendstil in Wien“ von Scheible (1984). Auch bei ihnen wäre eine entschiedene Absetzung von den ande¬ ren traditionellen Benennungen - vor allem gegenüber dem Im¬ pressionismus — von Nöten. Bei Jost ist das Bindeglied die Orna¬ mentik, bei Scheible sind Jugendstil und Ästhetizismus gleichbe¬

deutend. Nun zählt Jost zum Jugendstil George, Hofmannsthal, Rilke. Hinzu kommen Thomas Mann, aber auch Wedekind, Heym, Lasker-Schüler, Stadler, welche samt und sonders von den Historikern des Expressionismus in Anspruch genommen werden. Man geht also unvermittelt vom Jugendstil zum Expressionismus über. Jost analysiert zwei repräsentative Gedichte von Else LaskerSchüler („Syrinxliedchen“ und „Eros“), und er kommt zu dem

Der Impressionismus als dominante Stilrichtung

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Schluß: „Die beiden Gedichte zeigen den Weg von der Ornamentik des Jugendstils zur ausfahrenden, leidenschaftlichen Ekstatik des Expressionismus.“10 Interessant ist in diesem Zusammenhang, daß der Prager Kritiker Willy Haas, der ja zu der Generation der Ex¬ pressionisten gehört, keine Lücke zwischen Jugendstil und Ex¬ pressionismus vermerkt. Er beschäftigt sich vor allem mit der Ma¬ lerei, u.a. Kandinski, Franz Marc, Edvard Munch, zieht aber auch die Entwicklung von Else Lasker-Schüler heran.* 11 Später und Willy Haas zitierend, stellt Robert Mühlher (1973) den Expressionismus als unmittelbaren Nachfolger des Jugendstils hin; für ihn ist jedoch der Expressionismus eine Reaktion auf den Jugendstil. Für Mühl¬ her schufen die Prager Dichter um Max Brod auf der Grundlage des Jugendstils, dann wurden sie, von Erneuerungsfieber erfaßt, die ersten Expressionisten. Schließlich überflügelten sie die um Her¬ mann Bahr gescharten Wiener Impressionisten. Das ist vertretbar, denn bevor die Expressionisten in Prag starteten, herrschte dort tatsächlich das, was man den Geblümten Stil um Hedda Sauer und Hugo Salus nannte, also eine Prager Form des Jugendstils. Inzwischen wurde die Kategorie Jugendstil in ihrer literarischen Anwendung zurecht angefochten. Seit 1992 hat die Reclam Uni¬ versal Bibliothek, die ja Maßstäbe setzt, folgende Bändchen abge¬ schrieben, die doch noch im historischen Katalog der Vereinigung von Reclam Leipzig und Stuttgart standen: „Prosa des Jugendstils“, „Einakter und kleine Dramen des Jugendstils“, „Lyrik des Jugend¬ stils“, „Theorie des literarischen Jugendstils“ und „Die Münchner Moderne“. Dafür wurden beibehalten: „Gedichte und Prosa des Impressionismus“ sowie „Berliner Moderne und Wiener Moderne“ (Katalog 1999-2000). Fin de siecle war 1993 eingeführt worden. Man kann daraus folgern, daß Jugendstil in der Forschung immer weniger Akzeptanz findet. Der neuere und maßgebende Aufsatz von Cornelia Blasberg in der „Deutschen Vierteljahrsschrift“ räumt gründlich auf: Jeder manieristischen Poesie hafte verbale

10 Jost 1969, S. 72. 11

Vgl. Haas 1962, S. 63.

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Ornamentik an. Diese könne demzufolge als Charakteristik einer Jugendstil-Literatur nicht eingesetzt werden. Weder „Tristan“ von Thomas Mann, noch Schnitzlers „Reigen“ verdienen diese Vereinnahmung. Trotz aller Durchlässigkeit zwischen den Künsten kann das Wort Jugendstil unmöglich auf die Literatur bezogen werden.12 Indessen schlägt Blasberg keine Alternative vor. Nun paßt Fin de Siecle zu Werken, die weit über 1900 hinausreichen. „Der Begriff Fin de Siecle“, schreibt Stefan Bodo Würffel, der einiges davon ver¬ steht, ist nicht von den Historiographen, sondern von den Zeitgenossen der Jahrhundertwende erfunden worden. [...] Dieses Ende fällt im europäi¬ schen Kontext [...] nicht mit dem kalendarischen Datum 1900 [zusam¬ men], an das man zunächst denken mag13;

und in Anlehnung an Detlev Peukert beschwört Würffel das „Ja¬ nusgesicht der Moderne“ herauf: „Fin de Siecle unfaßlich mit Zu¬ kunft gemischt“14. Wie dem auch sei, Moderne und Fin de Siecle gehen gleichermaßen dem Problem der Stildefinition aus dem Weg. Deshalb wollen wir jetzt einen Entschluß fassen: Ich als Litera¬ turpädagoge entscheide mich für Impressionismus als übergreifende Formel. In den raren Definitionen dieser Tendenz finden sich näm¬ lich alle Grundzüge, welche andere, vor allem Symbolismus, Deka¬ denz und Jugendstil aufweisen. Es erscheint wirklich überflüssig, den Symbolismus als eine konkurrierende Tendenz zum Impressio¬ nismus hervorzuheben, wie einige es tun.15 Die Grundmerkmale des Impressionismus lassen sich wie folgt zusammenfassen: 1.) Impressionismus, das ist der Verfall - die Dekadenz - in Ab¬ grenzung zum Realismus, so, wie der französische Naturalismus ms Phantastische hineinschlittert, weil er den Realismus bis zur Pa¬ thologie forciert. Stammler (1926) behandelt ja den Impressionis¬ mus innerhalb seines Kapitels: „Herrschaft der Materie“. Nur wird

^ Vgl. Blasberg 1998. 13 Würffel 1998, S. 61 f. Ebda., S. 67. 15

Vgl. Baumann/Oberle 1945, Bertaux 1928, Deshusses 1999, Folz 1959, Nürnber¬ ger 1992.

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die Deskription, die Schilderung, von der Impression abgelöst. Das, was Literarhistoriker „stoffbegierigen Naturalismus“16 nennen, gibt es nicht mehr. 2. ) Der also ausgedünnte Stoff wird durch die Preziosität des Stils kompensiert. Das scheint vorrangig die Wiener anzusprechen, aber die Deutschen Stefan George und Thomas Mann schreiben damals als Impressionisten. Der Stil ist ausgesucht, nicht festgefügt, son¬ dern manieriert. Jost ordnet die Novellen von Thomas Mann dem Jugendstil zu und nimmt sich als bestes Muster die Gestalt Spinell aus „Tristan“.17 Da erscheint es überzeugender, dem jungen Tho¬ mas Mann den breiteren Rahmen des Impressionismus zu öffnen. Der Ästhetizismus oder L’art pour Part ist nur eine Anstrengung, den Augenblick zu fixieren, weil man der Wandelbarkeit der Ge¬ fühle, ihrer unaufhaltsamen Fortentwicklung mißtraut. 3. ) Der Name Impressionismus besagt, daß man in den augen¬ blicklichen Eindrücken steckt. Stärker als in der bisherigen Dich¬ tung gewinnt die Atmosphäre, die Stimmung die Oberhand. Der Eindruck wird auch als flüchtiger empfunden als in der früheren Dichtung. Er will in aller Eile gepackt werden, der Impressionis¬ mus wertet wirklich den Moment auf. „Wir wollen , empfiehlt

Stefan George, „keine Betrachtung sondern Darstellung, keine Un¬ terhaltung, sondern Eindruck 18. Es ist genau der Gegensatz zum „goldnen Überfluß der ^Oßelt

von Gottfried Kellers „Abendhed .

Im Gegenteil, der Dichter ist bemüht, einen vergänglichen Ein¬ druck festzuhalten, wie in Georges Herbstgedicht, das oft als Schulbeispiel herhalten muß: Komm in den totgesagten park und schau: Der Schimmer ferner lächelnder gestade Der reinen wölken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade.

George spricht zwar von „Eindruck , aber im Endeffekt entschei¬ det man sich für „Impression“, denn dieses Wort signalisiert weni16

Hoffmann/Rösch 1972, S. 248.

17 Vgl. Jost 1969, S. 55. H

Zit. nach Kriwalski 1978, S. 151.

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ger Deutlichkeit und Festigkeit. Es hat den Vorteil der Aufge¬ schlossenheit für die anderen Künste und die europäische Dimen¬ sion. Trotzdem bleibt der literarische Impressionismus eindeutig der deutschsprachigen Literatur verhaftet. 4.) Alfred Biese siedelt den Impressionismus nur in der Lyrik an.19 Dies hat das Verdienst einer klaren Entscheidung. Die Ichbe¬ zogenheit der impressionistischen Figur bringt sie tatsächlich in unmittelbare Nähe zur lyrischen Subjektivität. Aber ihre Origina¬ lität besteht gerade darin, daß sie in allen Gattungen anzutreffen ist, was Wolfgang Stammler schon 1927 verzeichnete.20 Stammler ordnet weder Hofmannstahl noch den jungen Thomas Mann und nicht einmal George, Spitteier und Dehmel dem Impressionismus zu, sondern verteilt sie auf Dekadenz, Symbolismus, Neuromantik und Neuklassik, die separat behandelt werden. Trotzdem kann man behaupten, daß der impressionistische Mensch zwar als lyrisches Ich, aber gleichberechtigt auch als solipsistischer, labiler Charakter in Roman und Diama auftaucht. Bietet doch die Novelle keinen Raum für psychologische Entwicklungen; sie zeigt fertige Charak¬ tere, deren Reaktionen auf äußere Vorgänge nur durch Psychoana¬ lyse auszuloten sind. Deshalb ist er vorzüglich in der Novellengat¬ tung zuhause. Der Impressionismus hat den Dandy und dessen weibliche Entsprechung, die Femme fatale, hervorgebracht. Die Komplexität solcher Erscheinungen deutet Rüdiger Görner im vorliegenden Band an. Sie kleiden sich gelegentlich in Vitalismus, mit einer Vorliebe für nackte beschwingte Körper, die in Wirklich¬ keit ungeschützt und alles andere als viril sind. Das scheint mir in Stefan Georges Dichtung besonders auffällig. 5.) Die ersten Manifeste dieser Periode berufen sich auf den Impi essiomsmus der anderen Künste, und die Gegner der neuen Richtungen verweisen auf die Verschwommenheit der Begriffe, weil man keine klare Abgrenzung feststellt zu den sog. Symboli¬ sten und Dekadenten.21 19 Vgl. Biese 1930, S. 619-687. 21

Vgl. Stammler 1927, S. 35-37. Vgl. Kriwalski 1978 und Literarische Manifeste 1970.

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6.) Die Abfolge Impressionismus/Expressionismus ist konsequen¬ ter als jede andere. Im ersten umfangreicheren französischen Buch über Rilke ermittelt der Germanist Frangois Angelloz (1936) bei Rilke die einleuchtende Wandlung vom Impressionismus zum Ex¬ pressionismus. In seinem empfehlenswerten „Panorama de la litterature allemande contemporaine“ von 1928 setzt der höchst sach¬ kundige Felix Bertaux den Einschnitt 1910 als Übergang vom Im¬ pressionismus zum Expressionismus fest. In ihren wuchtigen fünf¬ bändigen „Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart“ widmen Hamann und Hermand (1977) der Jahrhundertwende zwei Bände. Der eine betrifft in seiner Gänze den Impressionis¬ mus, der andere deckt die restlichen Tendenzen ab. Im tiefschür¬ fenden „Handlexikon zur Literaturwissenschaft“ von Kriwalski fehlen Artikel zur Dekadenz, zum Fin de siede, zum Jugendstil und zum Symbolismus. Dafür sind die Abschnitte „Impressionis¬ mus“

und

„Jahrhundertwende“

überaus substantiell. All dies

spricht, so denke ich, für das Primat des Impressionismus. Selbstverständlich entstehen die großen Talente durch Zusam¬ menspiel aller Dimensionen der Epoche - die religiöse wie die mo¬ ralische miteinbegriffen. Die Mehrdimensionalität ist Vorausset¬ zung der Architektur eines GEuvres. Aber um der pädagogischen Effizienz willen stehe ich für Impressionismus als gemeinsamen Nenner dieser Epoche ein.

Literatur Ammon, Hermann: Deutsche Literaturgeschichte in Frage und Ant¬ wort, Bd. 2: Von 1500 bis zur Gegenwart, Bonn/Hannover/Mün¬ chen 1969 Angelloz, Jean Francois: Rainer-Maria Rilke. Revolution spirituelle du poete. Paris 1936 Bandet, Jean-Louis. Histoire de la litterature allemande. Paris 1997 Baumann, Barbara/Brigitte Oberle: Deutsche Literatur in Epochen. München 1945

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Michel Reffet

Die Berliner Moderne 1885 bis 1914. Hrsg, von Jürgen Schutte und Peter Sprengel, Stuttgart/Leipzig 1987 Bertaux, Felix: Panorama de la litterature allemande contemporaine. Paris 1928 Bianquis, Genevieve: La poesie autrichienne de Hofmannsthal ä Rilke. Paris 1926 Biese, Alfred: Deutsche Literaturgeschichte, Bd. 3: Von Hebbel bis zur Gegenwart, 24. durchgreifend erneuerte Aufl. München 1930 Blasberg, Cornelia: Jugendstil-Literatur. Schwierigkeiten mit einem Bindestrich. In: DVjs 72, H. 4 (1998), S. 682-711 Brinkmann, Karl: Impressionismus und Expressionismus in der deut¬ schen Literatur. 2. Aufl. Hollfeld/Obfr. o.J. [nach 1960] (= Dr. Wil¬ helm Königs Erläuterungen zu den Klassikern, Bd. 267: Epochen deutscher Literatur, Sonderheft II) Deshusses, Pierre: Precis de litterature allemande. Paris 1999 Einakter und Dramen des Jugendstils. Hrsg, von Michael Winkler. Stuttgart 1974 Fm de siede. Erzählungen. Gedichte. Essays. Hrsg, von Wolfgang Asholt und Walter Fähnders. Stuttgart 1993 Folz, Auguste: Manuel d’histoire de la litterature Allemande. (1946), 9. Auflage. Paris 1959 Gedichte und Prosa des Impressionismus. Hrsg, von H. Marhold. Stuttgart 1991 Geschichte der deutschen Literatur vom 18. Jahrhundert bis zur Ge¬ genwart, Bd. II/2. Hrsg, von Viktor Zmegac. Königstein/Ts. 1985 Glaser, Hcrmann/Jakob Lehmann/Arno Lubos: VEge der deutschen Literatur. Eine geschichtliche Darstellung. Frankfurt a.M/Berlin 1961 Grillparzer, Franz: Der arme Spielmann. Stuttgart 1979 Haas, Willy: Vom Jugendstil zum Expressionismus. In: ders.: Gestal¬ ten. Berlin/Frankfurt a.M./Wien 1962, S. 56-65 Hamann, Richard/Jost Hermand: Epochen deutscher Kultur von 1870 bis zur Gegenwart, Bd. 3: Impressionismus; Bd. 4: Stilkunst um 1900. Frankfurt a.M. 1977

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Hoffmann, Friedrich G./Herbert Rösch : Grundlagen, Stile, Gestalten der deutschen Literatur. Eine geschichtliche Darstellung, Frankfurt a.M. 1972 Jost, Dominik: Literarischer Jugendstil. Stuttgart 1969 (= Sammlung Metzler, Realienbücher für Germanisten, Abteilung Literaturge¬ schichte) Krywalski, Diether: Impressionismus. In: ders.: Handlexikon Zur Literaturwissenschaft. Reinbek bei Hamburg 1969 (= Handbuch rororo, Bd. 6221) Leiß, Ingo/Hermann Stadler: Deutsche Literaturgeschichte, Bd. 8: Wege in die Moderne 1890-1918. München 1997 Literarische Manifeste der Jahrhundertwende, 1890-1910. Hrsg, von Rupprecht, Erich/Dieter Bänsch. Stuttgart 1970 Lorenz, Dagmar: Die Wiener Moderne. Stuttgart 1995 Lyrik des Jugendstils. Hrsg, von Jost Hermand. Stuttgart 1964 Martini, Fritz: Deutsche Literaturgeschichte. Von den Anfängen bis zur Gegenwart. Stuttgart 1958 Mosse, Fernand (sous la direction de): Litterature allemande (5™ partie C. David). Paris 1959 Mühlher, Robert: Zwischen Jugenstil und „Neuem Pathos“. In: ders.: Österreichische Dichter seit Grillparzer. Wien/Stuttgart 1973, S. 375-388 Die Münchner Moderne. Die literarische Szene in der „Kunststadt“ um die Jahrhundertwende. Hrsg, von Walter Schmitz. Stuttgart 1990 Pollet, Jean-Jacques: L’explication de textes de litterature allemande. Paris 1999 Nürnberger, Helmut: Geschichte der deutschen Literatur. München 1992 Prosa des Jugendstil. Hrsg, von J. Mathes. Stuttgart 1982 Scheible, Harmut: Literarischer Jugendstil in Wien. München/Zürich 1984 (= Artemis Einführungen, Bd. 12) Stammler, Wolfgang: Deutsche Literatur vom Naturalismus bis zur Gegenwart. 2. durchgesehene Aufl. Breslau 1926

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Theorie des literarischen Jugendstils. Hrsg, von J. Mathes. Stuttgart 1984 Die Wiener Moderne. Literatur, Kunst und Musik zwischen 1890 und 1910. Hrsg, von Gotthart Wunberg. Stuttgart 1981 Würffel, Stefan Bodo: Traum, Tod und Verklärung im deutschen Fin de siede. In: Fm de siede. Zeitenwende. Beiträge zu einem interdiszi¬ plinären Gespräch. Hrsg, von Dimiter Daphinoff und Edgar Marsch. Freiburg/Schweiz 1998 (= Interdisziplinäre Seminare der Universität Freiburg, Schweiz), S. 61-87 Zmegac, Viktor/Zdenko Skreb/Ljerka Sekulic: Kleine Geschichte der deutschen Literatur. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, Bd. II/2. Frankfurt a.M. 1984

Rüdiger Görner

Ringstraße oder Square. Junges Wien und Dandyismus Im brieflichen Vorwort zu den Prosagedichten „Der Spleen von Paris“ nannte Baudelaire das „Leben in den Riesenstädten“ und „das Durcheinander ihrer zahllosen Beziehungen“ als Grund dafür, daß in ihm jenes „quälende Ideal“, gemeint sind seine Gedichte, habe entstehen können.1 Mit diesem Bekenntnis des in den „Rie¬ senstädten“ und unter der Wirkung von Opiaten sich verlierenden Ichs hatte die Moderne ihr erstes eigentliches Manifest. An ihrem Laufsteg, dem Boulevard Haussmann, wurde einstweilen freilich noch gearbeitet. Als Präfekt des Departements der Seine war Baron Haussmann im Jahre 1853 mit diesem gigantischen Zerstörungs¬ und Aufbauwerk betraut worden.2 Vier Jahre später gab Kaiser Franz Joseph in einem Handbillet die Order, „daß die Erweiterung der inneren Stadt Wien mit Rücksicht auf eine Verbindung dersel¬ ben mit den Vorstädten ehemöglichst in Angriff genommen“ wer¬ den solle.3 Auch vergaß er nicht die ästhetische Dimension dieses Projekts zu erwähnen, versehen jedoch, wie konnte es in seinem Falle auch anders sein, mit einem funktionalistischen Hinweis: Der Ring solle seine Residenz- und Reichshauptstadt regulieren und verschönern. Die Ringstraße als Regulativ und ästhetisches Phäno¬ men - damit war ein Spannungsgefüge benannt, das für die frühe Moderne in Wien durchaus konstitutiv werden sollte. Das Projekt der frühen Moderne umfaßte mithin einschneidende Veränderungen in der Physiognomie wichtiger Metropolen. Lon¬ don schleifte seine Squares jedoch nicht; sie hatten sich zu einer Art öffentlicher Intimzone entwickelt. Ihre Anlieger waren sich

1

Baudelaire 1977, S. 66.

2

Vgl. dazu u.a. Lepenies 1997, S. 145f.

3

Zit. nach Rietzschel 1999.

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Rüdiger Görner

auf distanzierte Weise nah; sie teilten sich das Grün in der Mitte des Squares, waren jedoch peinlich darauf bedacht, sich dort nicht zu begegnen. Ringstraße und Square, das scheint wie die Quadratur des Krei¬ ses in der Moderne, wie ein Symbol von Innovation und Traditionalismus, wobei die Ringstraße die Vorstellung einer umfassenden, aber in sich kreisenden Bewegung des Neuen nährte, wogegen man sich an bestimmten Londoner Squares für unübertrefflich tonange¬ bend in der Welt hielt. Betrachten wir aber zunächst jenen Modernen, der auf diesen Straßen promenierte: Beispielsweise Baudelaires Ich, das sich schwinden sah, hatte für sich das Recht in Anspruch genommen, jederzeit und nach Belieben es selbst oder ein anderes sein zu kön¬ nen.4 Damit hatte es ein Stichwort gegeben, das Rimbaud aufneh¬ men sollte, um zu erklären, daß sein Ich ein Anderer sei. Dieser Gedanke geht jedoch schon auf den frühen Dostojewski zurück, dessen Jakoff Petrowitsch Goldjädkin zu fragen Anlaß hatte, ob er nicht so tun solle, als „wäre ich gar nicht ich, sondern irgendein anderer, der mir nur zum Verwechseln ähnlich sieht“5. Während Dostojewskis Doppelgänger noch vieles seinem romantischen Vor¬ bild verdankte, wie es E.T.A. Hoffmann und Heine geschaffen und Schubert und Schumann vertont hatten, dissoziiert die Moderne das Ich vom Ich, weil sie das Individuum einem Selbstversuch aus¬ setzt, um das ganz Andere zu suchen. So will der junge Hermann Bahr nach seinem Paris-Erlebnis 1888/89 „täglich ein anderer sein“6, um auf diese Weise etwas ,Neues“ in der Kultur zu erfahren, mit dem sich, Nietzsche im Sinn, gegen Epigonalität und Histo¬ rismus polemisieren ließ. Das Pathos, mit dem der junge Bahr das Neue beschwört, richtet sich aber auch gegen die Gefahr einer Persönlichkeitsspaltung, da sie auf Kosten einer ganzheitlichen Lebenserfahrung gehen müßte, die Bahr noch unbedingt anstrebte. Doch die duplizitäre Persön4

Vgl. Baudelaire 1977, S. 92.

5

Dostojewski 1980, S. 15.

6

Zit. nach Farkas 1989, S. 113.

Ringstraße oder Square

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lichkeit, Nietzsche sprach bereits in „Menschliches, Allzumensch¬ liches“ von der „Selbstzertheilung des Menschen“ durch die Moral und von der „dividualen“ Existenz, die es jenseits der herkömmli¬ chen Moral zu überwinden gelte,7 diese duplizitäre Persönlichkeit blieb gerade der Wiener Moderne in Gestalt des „homo duplex“ und seiner dualistischen bis schizoiden Realitätswahrnehmung er¬ halten.8 Auf der Suche nach dem „neuen Menschen“ hatte Bahr unter an¬ derem auch Benjamin Constants Roman „Adolphe“ (1816) für sich entdeckt, die prototypische Geschichte eines Erotikers und Ästhe¬ ten aus der Nach-„Werther“- und Vor-Kierkegaard-Zeit, dessen übersteigerter Ästhetizismus zu einem Schwanken zwischen Bin¬ dung und Bindungslosigkeit führt. Constants „Adolphe“ partikularisiert sein Erfahren und Empfinden wie später Hofmannsthals „Andreas“ und Rilkes „Malte“; ihr später Erbe in unserer Zeit ist der „junge Mann“ des Botho Strauss. Die Art, in der Constants Protagonist seiner leidlich geliebten Ellenore einen Brief schreibt, sollte für den Umgang der Moderne mit Sprache einen geradezu paradigmatischen Wert erhalten: Ich schrieb zweideutig [...], trostlose Doppelsinnigkeiten, hilflose Spra¬ che, die so dunkel zu sehen mich jammerte und die klarer zu gestalten ich Angst hatte. [...] Ich erwog meine Worte nicht mehr nach dem Sinn, den sie enthalten sollten, sondern nach der Wirkung, die sie unweigerlich haben mußten [...].9

Constants Adolphe geht mit „ausladenden Schritten“ in seinem Zimmer, weil er hofft, auf diese Weise die richtige Sprache zu fin¬ den. Im geschlossenen Raum zum Peripathetiker werden, zum Promeneur des Inneren, das ist die eine Variante des Ästheten, der durch sein eigenes Selbst reist. Der Spaziergänger, den es aus seiner Behausung in das Innere von Paris oder Wien treibt, ist Baudelaires Protagonist. Dostojewskis Goldjädkin läßt sich dagegen stets in einer Droschke den Petersburger Newskij-Prospekt entlangfahren, 7

Vgl. Nietzsche 1988, Bd. 2, S. 76 (57).

8

Vgl. dazu bes. Farkas 1989, S. 133-137.

9

Constant 1998, S. 114.

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darin Oscar Wilde nicht unähnlich, der Zeiten kannte, als er Spa¬ zieren für vulgär erklärte und Droschken für kürzeste Entfernun¬ gen in Anspruch nahm. Balzac wiederum sollte dem Gehen eine ganze Studie widmen, und Nietzsche dachte am radikalsten über die Moderne und Decadence nach, wenn er sich auf langen Spa¬ ziergängen durch die Natur befand und gehend, der Umgebung kaum achtend, in sein Notizbuch schrieb. In der Umgebung von Sils Maria ging Nietzsche, wenn man so will, auf seinem Ringweg, wieder und wieder, seinem Lieblingsge¬ danken, der „ewigen Wiederkunft des Gleichen“ zuliebe. Für den Boulevard hatte er offenbar nur wenig Verständnis, dagegen für Plätze, wie etwa die Piazza San Carlo in Turin, deren Kaffeehäuser er der „gelati“ und „grissini“ wegen aufsuchte, wobei er selbst weitgehend anonym bleiben konnte. Und die langen, geraden Stra¬ ßen Turins interessierten ihn nur deswegen, weil sie gen Norden den Blick auf die Alpen, die absolute Natur und damit das Gegen¬ bild zur Decadence, freigaben und stracks auf sie zuzulaufen schie¬ nen. Nietzsche begriff die Stadt, ob Genua, Nizza oder Turin noch jeweils als Vorhut der Natur. Die Stadt galt in seinen Augen nur et¬ was, wenn ihr Hinterland nennenswerte Natur war. Aber die Stadt, Turin und Nizza zumal, war für ihn der Ort verschiedenartigster Musik und damit Gegenstück zur musikalischen Monokultur Bay¬ reuths. Der Nietzscheaner Hermann Bahr hatte gegen diesen Anspruch keine Bedenken. In seiner synästhetischen Dreieinigkeit der ,neuen Kunst“ hatte Wagner einen festen Platz: „Die decadents suchen das Gedicht, das malt, Richard Wagner ist die Musik, die denkt, Puvis de Chavannes ist die Malerei, die singt.“10 Mit Synästhesie gegen den Zerfall der Kultur. Was freilich die ei¬ nen für erfrischende Vielfalt hielten, galt den anderen als Symptom des Zerfalls. Im August 1901 etwa schrieb Hugo von Hofmannsthal der Gräfin Thun-Salm: „Unsere zerklüftete, bis zum Wahnsinn

10

Zit. nach Farkas 1989, S. 71f.

Ringstraße oder Square

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unzusammenhängende, von der Vergangenheit belastete Zeit ist entsetzlich, grauenhaft für einen Künstler [...].“n Der junge Hofmannsthal schwankte dabei zwischen Euphorie und Pessimismus. Sieben Jahre vor diesem Brief an die Gräfin Thun-Salm notierte er eine Phantasie, die sich beim Flanieren in ihm eingestellt hatte: Seit den Stürmern und Drängern bestehe das Junge Wien“ erstmals wieder aus „ganzen Künstlern“. Er kann sich aber folgendes Szenarium vorstellen: Das zerstörte Wien zu denken: alle Mauern verfallen, der innere Leib der Stadt bloßgelegt, die Wunden mit unendlichem Schlingkraut übersponnen, überall lichtgrüne Baumwipfel, Stille, plätscherndes Wasser, alles Leben tot; welch wundervolle Fern-und Durchsichten! Und Wächter zu sein in einem der Trajanstürme vor der Karlskirche, der noch aufrecht steht und mit Gedanken, die hier keiner mehr versteht, zwischen den Ruinen herumzugehen.12 Noch die Zerstörung, das zerstörte Dasein schien Hofmannsthal ästhetisch gerechtfertigt. Schon in seinen Aufzeichnungen aus den Jahren 1893 und 1894 tauchte die Vorstellung „Wien: als großes verfallenes Felsennest“ mit „paradiesischen Ruinen“ auf.13 Man muß berücksichtigen, daß diese, vergleichsweise ausführlich notier¬ te Phantasie auf einem P/Hgstspaziergang entstanden ist; was sich hier ins Bild setzte, war die Epiphanie einer negativen Ästhetik. Nur einen Monat später vermerkt Hofmannsthal erste Reaktionen auf eine Welt, die ihm trotz einiger Vorbehalte wahlverwandt er¬ scheint: Englischer Ästhetizismus als Element unserer Kultur. I. Erstes Entgegen¬ treten: als Sonderbarkeit, wohl etwa Affektation, Kostümtragen etc. II. Oscar Wilde, ,Intentions‘: starker narkotischer Zauber, sophistisch ver¬ führerisch, unelegant paradoxal, Reaktion gegen englischen Utditarismus. III. Ruskin, Pater, Madox Brown, Rossetti, Burne-Jones - die tiefen Zu-

11

Hofmannsthal 1999, S. 19.

12

Hofmannsthal 1980, S. 383. Vgl. dazu u.a. Lange 1995, S. 201-229.

13

Hofmannsthal 1980, S. 373.

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sammenhänge mit Seelenleben; das Ganze als Versuch einer inneren Kultur.14

Wesentlich an dieser Eintragung ist Hofmannsthals These, daß die¬ ser Ästhetizismus die Maske liebe, um es mit Nietzsche zu sagen, und anti-utilitaristisch gestimmt sei. Der Flaneur auf den Boule¬ vards oder in den Passagen, der Dandy in den Salons am Square und der bohemehafte Kaffeehausliterat15 im Inneren der Ringstra¬ ße haben eines gemeinsam: Sie wollen im Widerspruch zur Funk¬ tionalität der modernen Stadt leben. Der Flaneur unterläuft den Determinismus der utilitaristischen Zivilisation.16 Den Flaneur zeichnet gleichfalls aber aus, daß er oft dieselben Wege geht, dabei aber Anderes, Neues entdeckt. Hofmannsthal be¬ tonte denn auch das Zirkulare am Ende seiner Aufzeichnungen 1894/95 als etwas für Wien Konstitutives. Das Denken in Kreisen stellte für ihn augenscheinlich ein Argument gegen das darwinistisch geprägte lineare Bewußtsein der szientistischen Moderne dar. Beim Betrachten eines Bernsteins, so Hofmannsthal, komme es darauf an zu bedenken, „wie er als Harz von einem grünenden Baum geträufelt ist“;17 und umgekehrt lasse das heute träufelnde Harz den Bernstein von morgen erahnen. Hofmannsthal weiter: „Es bildet sich ein Kreis: da geht das Gespräch vom Allgemeinen immer ins Einzelne, vom Einzelnen ins Allgemeine.“18 Auf diese Weise kann Hofmannsthal aber auch einzelne Gedan¬ ken oder Themen einkreisen, und zwar bis zu dem Punkt, an dem sie sich auflösen. Entsprechend entstehen Stücke, die wie das „Kleine Welttheater“ bar jeglicher Handlung sind. Flauberts Ideal eines „livre sur rien“ und Mallarmes Würfelwurf mit Worten und Gedanken vermag Hofmannsthal, anders als Schnitzler, Rilke, Beer-Hofmann, aber auch Oscar Wilde, der noch in seiner Lyrik auf einem deutlich ausgearbeiteten Handlungskonzept beharrte,

14

Ebda., S. 386.

15

Vgl. dazu u.a. Bunzel 2000, S. 287-299.

16

So auch Steiner 1999.

17 Hofmannsthal 18

1980, S. 392.

Ebda.; vgl. zur Frage der Kreis-Bildung auch Timms 1993, S. 128-143.

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einzulösen. In seinem Werk bahnt sich die Emanzipation der Kunst von der Handlung an, die aber erst in der Postmoderne wirklich Programm werden wird. Allenfalls Bahr weiß der junge Hof¬ mannsthal in dieser Hinsicht als Verbündeten. Über ihn schreibt er: „Bahr spielt mit den Weltanschauungen der Menschen wie die Meerkatzen in der Hexenküche mit der gläsernen Welt.“19 Aber Hofmannsthal begriff dieses Spiel zurecht als ein Spiel auf Zeit, ein Spiel, bei dem alles, genauer: das innen schon hohlgewordene ein¬ stige Ganze vollends zerbrechen kann. Denn es handelte sich letzt¬ lich um ein Spiel mit der fragil gewordenen Sprache.20

II Aus der Sicht der Wiener Literaten bedeutete das Jahr 1900 auch deswegen einen Einschnitt, weil Karl Kraus sein Stammcafe ein zweites und entscheidendes Mal wechselte. Nach seinem Bruch mit der ästhetizistischen Griensteidel-Gruppe 1895 war er ins Cafe Central, der Heimstätte der sogenannten Naturalisten um Polgar und Altenberg, übersiedelt. Nun aber verließ er gleichsam das In¬ nere Wiens, um am Ring im Hotel Imperial mit dem Mondänen in Tuchfühlung zu kommen. Altenberg spielte Weitläufigkeit auf sei¬ ne Weise; er befaßte sich zeitweise mit dem Verkauf ägyptischer Zigaretten, trat mit Nietzsche-Schnurrbart und Holzsandalen auf, und wirkte alles in allem eher wie ein chifonnier und weniger als fläneur. Kraus, der seit 1893 zur „Überwindung des Hermann Bahr“ und damit eines weltfremden Kultus des Schönen, aufgeru¬ fen hatte, avancierte zum Exponenten einer Kultur der Kritik, de¬ ren exzentrische Geste in der Übertreibung lag. Und auf sie kommt es an, auch wenn sie im Falle von Kraus gegen den Ästheti¬ zismus des inneren Wiens gerichtet war. Gemeinhin gilt die These, daß um 1900 das Leben in Gestalt des von Nietzsche, aber auch Bergson inspirierten Vitalismus sich Bahn brechen wollte. „Leben als Grundwort der Epoche“, so 19

Hofmannsthal 1980, S. 386.

20

Vgl. Grimminger 1995, S. 169-200.

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Rüdiger Görner

Wolfdietrich Rasch,21 verkörpert durch den „Homo natura“.22 Sel¬ tener stellt man die Frage, was mit diesem „Leben“ eigentlich ge¬ meint war: Die ,plötzlich' auftretende üppige Vielfalt der Phäno¬ mene, wie sie Georg Simmel soziologisch und Edmund Husserl philosophisch zu erfassen versuchten? Oder verbarg sich hinter diesem Begriff ein zugegeben eher plakativer Einspruch gegen Technologie und Plandenken? Man muß nicht den Monte Veritä selbstentblößend besteigen oder Altenbergs Holzsandalen mit van Goghs hölzernen von Leuchtfarben umgebenen Pantinen in Verbindung bringen, um zu erkennen, daß weniger „das Leben“ als vielmehr die exzentrische Gebärde um 1900 gesellschaftsfähig zu werden begann. Das Reper¬ toire der Exzentriker reichte von hochkultiviertem Nudistentum hoch über Ascona, bis zu den handgeschöpften Bütten der Cranach-Presse im Zeitalter des Massenblatts. „Das Leben“ fand in Worpswede seinen esoterischen Ort, am Gordon Square in Lon¬ dons Stadtteil Bloomsbury und in Schmargendorf, wo man vor¬ zugsweise barfuß ging; der Flaneur wollte dort seiner Schuhe ver¬ lustig gehen, und schon spürte er den Puls des Lebens. Ja, die Dar¬ stellung des ,Lebens' wurde zum exzentrischen Kunstakt. Noch immer war das Vorwort zu jener ,unerhörten Begegebenheit' namens „The Picture of Dorian Gray“ von Oscar Wilde, die¬ ses singuläre Manifest des Ästhetizismus, gültig; nur daß es sich mittlerweile eben auch auf „das Leben“ übertragen ließ. Wildes Vorwort gipfelte in der These, daß alle Kunst nutzlos sei.23 Was jedoch keinen Gebrauchswert hat und frei von allem Zweck ist, vermag immerhin eines: Anstoß zu erregen. Kunst hat laut Wilde ihre eigene Vitalität. Moralische Kategorien dagegen ließ er nur gelten, sofern sie als .Material' für die Kunst brauchbar waren. Und doch kann Kunst nur eine Maske sein, hinter der sich die große Langeweile verbirgt. Es war der ennui oder Überdruß am 21 Rasch 22 23

1967, S. 17.

Riedel 1996. Eine in dieser Hinsicht exemplarische Einzelstudie jüngsten Datums liefert Michael Kahl 1999. Vgl. Wilde 1984, S. 17.

103

Ringstraße oder Square

bloßen Funktionieren des Lebens, es war der Erkenntnisekel, der hinter der Decadence gestanden hatte; und eben auf diesen Über¬ druß wollte der Vitalismus der Jahrhundertwende antworten. Man kann die Moderne um 1900 als einen großen Versuch lesen, Wider¬ sprüche, Antinomien zu entfesseln und zu kultivieren, aber auch zwischen Gegensätzen Unschuld zu heucheln, wie Nietzsche mit Blick auf Wagner meinte.24 Ein weiteres kommt hinzu. Ob am Londoner Square, an der Ringstraße, an der Turiner Piazza San Carlo oder in der Münchner Boheme, wie sie der junge Rilke in seiner Erzählung „Ewald Tragy“ (1898) geschildert hat, gilt eine Devise: Überwinden. Nietz¬ sche

versuchte

Wagner

zu

überwinden,

Kraus

wollte

Bahr

überwinden, Bloomsbury überwand weitgehend den sauertöpfisch gewordenen Viktorianismus, und im „Tragy“ fordert ein gewisser Wilhelm von Kranz wiederum dazu auf, Nietzsche zu überwin¬ den.25 Andererseits, auch das vermittelt Rilkes (bereits von ihm selbst) beharrlich unterschätzte Erzählung, befanden sich die diver¬ sen Richtungen der Moderne als Reaktion auf den Verlust eines ganzheitlichen Daseinsverständnisses in einer Art Weltanschau¬ ungsfieber. Schließlich bricht die Krankheit auch bei Tragy aus: Eines Morgens, im November noch, erwacht Tragy und hat eine Weltan¬ schauung. Wirklich. Sie läßt sich gar nicht leugnen, sie ist da, alle Anzei¬ chen sprechen dafür. Er weiß nicht recht, wem sie gehört, aber da er sie doch nun mal bei sich gefunden hat, nimmt er an, daß es die seine sei. Selbstverständlich bringt er sie nächstens mit ins .Luitpold*.26

Nietzsche hielt offenbar eine solche Weltanschauung nur in Gestalt aphoristischer Facetten für denkbar, eine Form, die gerade auch für das Junge Wien konstitutiv werden sollte und noch in Wittgen¬ steins Protokollsätzen nachwirkte. Was die Frage des Überwindens anbetraf, so qualifizierte Nietzsche sie im Turiner Brief über Wag¬ ner vom Mai 1888 genauer. Moralisten, so urteilt der zum unbe¬ dingten Bizet-Hörer avancierte Nietzsche, verstünden unter Über24

Nietzsche 1988, Bd. 6, S. 12. Vgl. dazu auch Weiß 1993, S. 51-61.

25

Vgl. Rilke 1996, Bd. 3, S. 274.

26

Ebda., S. 276.

104

Rüdiger Görner

windung stets Se/Amiberwindung. Er dagegen fordere die Über¬ windung der Zeit in sich. Und was diese, seine Zeit der Decadence ihm zu bieten hatte, bezeichnete Nietzsche wie folgt: „[...] das ver¬ armte Leben, der Wille zum Ende, die große Müdigkeit“27. Be¬ kanntlich glaubte er, daß Wagner diese Charakteristika der Mo¬ derne „resumirte“ und daß eine Überwindung dieser Zeit erst dann möglich sei, wenn man Wagner durchschaut habe. Aber die Moderne sah zunächst keinen Anlaß, Wagner und da¬ mit sich selbst .durchschauen“ zu müssen. Die Wagner-Kritik, wie sie in Wien durch Eduard Efanslick Schule gemacht hatte, konnte zu keinem Zeitpunkt zu jenen prinzipiellen Fragen Vordringen, wie sie Nietzsche im Zusammenhang mit Wagners quasi ideologischer Verführungskunst gestellt hatte. In England schlug sich George Bernhard Shaw wortgewaltig auf die Seite der Wagnerianer. Sein essayistischer Kommentar zum „Ring des Nibelungen“, der unter dem Titel „The Perfect Wagnerite

1898 erschien, betonte den sozialen Kulturrevolutionär Wag¬

ner und instrumentalisierte ihn in seiner Polemik gegen die Schein¬ moral des Viktorianismus. Shaws Intervention ist auch vor dem Hintergrund einer entschieden konservativen Musikszene in Eng¬ land zu verstehen, die an Mendelssohn festhielt und am mittleren Brahms. Shaw hatte sie als engagierter Musikkritiker genau zu ver¬ folgen und zu verachten gelernt. Es war ein Klima, in dem die Brahmsianerin Ethel Smyth gewisse Töne angab und 1901 Elgars „Land of Hope and Glory“ seine Premiere hatte und als .modern“ galt. Deutlicher noch wurde Shaw zu Fragen des Modernismus anläßlich seiner Auseinandersetzung mit Max Nordaus 1893 er¬ schienener Studie „Entartung“, die Shaw nicht zu unrecht als will¬ kommene Hilfestellung für jene ansah, die philiströs-eindimensio¬ nal mit jeder Art Moderne abrechnen wollten. In dieser Polemik gegen Nordau, er nannte sie „The Sanity of Art“ und gebrauchte einen Stil, der von weitem an Nietzsches gegen David Strauss ge¬ richtete „Erste Unzeitgemäße Betrachtung“ erinnerte, in dieser

27

Nietzsche 1988, Bd. 6, S. 12.

105

Ringstraße oder Square

Entgegnung nun stellte Shaw den Wagnerismus neben den Impres¬ sionismus und Ibsenismus als Insignien einer die Zukunft behei¬ matenden Moderne.28 Shaw meint eine Moderne, die sich von einer eher dekorativen Romantik absetzt, ohne jedoch das Ornament ganz abzulehnen. Sein Beispiel ist William Morris und die prä-raffaelitische Bewegung um Burne-Jones, Rossetti und Holman Hunt, die dem diskreditierten Ornament wieder Geltung verschaffen konnten. In Shaws eigenwilliger Deutung des Ornaments hatte die Verschlungenheit des Sozialen im Decors eines William Morris ihr Bild gefunden. Die am Kunsthandwerklichen orientierte soziale OrnamentKunst ging in England im großflächigen Bunt der Omega-Kunst um Vanessa Bell, Duncan Grant und Roger Fry auf, beides freilich Kunstformen, die sich geradezu programmatisch fern der ThemseMetropole auf dem Land ansiedelten; auch das ein Unterschied zur Secessions-Scene, die ein im wesentlichen städtisches Ereignis blieb.

III Man darf es schon ein Paradoxon der besonderen Art nennen, daß in städtebaulicher Hinsicht die Wiener Moderne ihr erstes, bedeu¬ tendes Symbol in Gestalt einer ringförmigen Straßenanlage bekam. Damit vollzog sie den Durchbruch ins Zirkulare und wagte den Fortschritt als Kreisbewegung. Noch die Secession sollte dieses Kreisrunde symbolisch aufgreifen und in einen ornamentalisierten Kugelbau verwandeln. Durch den Ring konnte jedoch das Labyrinthische des innersten Wien erhalten bleiben (und stellenweise zum Ort einer Anti-Ringstraßen-Architektur), wie auch das Passa¬ gengeflecht von Paris von der Geradlinigkeit der neuen Boulevards zunächst kaum tangiert wurde. Die Londoner Moderne hatte keine vergleichbare städtebauliche Symbolisierung ihrer Intentionen ver¬ sucht. Square blieb Square. Dicht an dicht und doch mit einem Na-

28

Vgl. Shaw 1986, S. 325ff.

106

Rüdiger Görner

turzitat in der hufeisenförmig umbauten Mitte. Nur an einer Seite offen, blieb der Square im Grunde ein Reservat des Privaten.29 Der Flaneur, Georg Simmel hatte dies bereits um 1903 erkannt, richtete dabei seinen ebenso genauen wie distanzierten Blick auf das permanente Wechselspiel der Alltagsszenen in den Metropolen. Der Flaneur wie der Dandy verweigerte sich dem Regelmäßigen, dem Arbeits- und Produktionsablauf. Beide schwelgten im kost¬ barsten Luxus; denn sie nahmen sich Zeit, ob verlorene oder wie¬ dergefundene. Der Unterschied zwischen ihnen: Während der Flaneur Beobachter war, inszenierte der Dandy die Facetten seines Ich, um seinerseits beobachtet zu werden. Seine Bildung bestehe aus Einbildung, und der Dandy empfange sie vor dem Spiegel; denn dort lerne man die Verstellung, bemerkte Rudolf Kassner, der neben Bahr wichtigste Vermittler zwischen englischer und Wiener Moderne, in seinem Versuch über den Dilettantismus. Im Dandy sah er die neuen Menschen als Dilettanten, die alles zugleich, nein, nicht sein, sondern darstellen wollten: „Asketen und Tennisspieler, Machiavelli und George IV“30. Im Grunde seien sie unerotisch, meinte Kassner, und auf abstoßende Weise anziehend. Das weibliche Gegenbild zum Dandy war die femme fatale, die Salonlöwin, Wildes „Salome“, der Richard Strauss ihren lasziven Lebensrhythmus gab, aber auch die heroische Judith, die bei Gu¬ stav Klimt gleichsam zu einer Ikone des ornamentalisiert Weibli¬ chen werden sollte.31 Das Fatal-Weibliche erwies sich als Bedro¬ hung der männlichen Welt; und das Erotische, bei Kierkegaard noch mühsam durch angestrengt religiöse und spielerisch ästheti¬ sche Reflexionen unter Kontrolle gehalten, erwies sich nun als potentiell destabilisierende Kraft. Waren sie nun allesamt Grenzüberschreiter, die Dandys, Fla¬ neure und „fatalen Frauen“? Oder blieben sie nicht vielmehr Grenzgänger in einer Gesellschaft, die sich ihrerseits zwischen Tra-

29 30 31

Vgl. dazu Görner 1998. Kassner 1976, S. 28. Vgl. dazu bes. Don Juan und Femme Fatale 1994.

Ringstraße oder Square

107

ditionalismus und Revolution, Beharrungswillen und Aufbruchs¬ stimmung einzurichten begann? Der Dandy war wohl tatsächlich jenes wunderliche Geschöpf, das schon Lichtenberg vornehmlich auf den Grenzen vermutet hat¬ te. Als Grenzfall des guten Geschmacks, als exzentrischer Sonder¬ ling und selbstinszenierter Widerspruch zum Konformismus der bürgerlichen Gesellschaft konnte der Dandy Schaustück der Deca¬ dence sein, Skandalon und Katalysator der Moderne dazu. Unpolitisch war er deswegen nicht gewesen. Im Mai 1895 etwa veröffentlichte Oscar Wilde seinen Essay „The Soul of Man under Socialism“, in dem er eine Harmonie, zumindest wenigstens einen Ausgleich zwischen Individualismus und dem kollektiven An¬ spruch des Sozialismus anstrebte, Gedanken übrigens, die Her¬ mann Bahr knapp zehn Jahre zuvor in anderer Form und im Kon¬ text seines Ibsen-Studiums vorgetragen hatte. Eine Frage stellt sich hierbei freilich: Wie ernst können wir diesen Sozialismus nehmen? Wie ernst nahm Wilde ihn? Gemeint war damit ein Gemein¬ schaftsideal als ästhetisches Vergnügen, eine Gemeinschaft der Ex¬ zentriker, die sich in der Menge baden, um durch diese abschrec¬ kende Erfahrung ihr Selbstverständnis als modische Sonderlinge bestätigt zu bekommen. Dem neuen Menschen in der Prägung Bahrs und Wildes stand freilich am Ende der Ersten Moderne keine Promenade bevor, son¬ dern der Schützengraben. Was ihm blieb, war die zweifelhafte Hoffnung, daß sein Avantgardismus wenigstens als Nachhut über¬ leben könne.

Literatur Baudelaire, Charles: Die Tänzerin Fanfarlo und Der Spleen von Paris. Prosadichtungen. Aus dem Französischen von Walter Küchler. Zü¬ rich 1977 Bunzel, Wolfgang: Kaffeehaus und Literatur im Wien der Jahrhundert¬ wende. In: Naturalismus. Fin de siede. Expressionismus 18901918. Hrsg, von York-Gothart Mix. München/Wien 2000, S. 287299

108

Rüdiger Görner

Constant, Benjamin: Adolphe. Anekdote. Gefunden in den Papieren eines Unbekannten. Aus dem Französischen übersetzt von Eveline Passet. Nachwort von Manfred Gsteiger. Zürich 1998 Don Juan und Femme Fatale. Hrsg, von Helmut Kreuzer. München 1994 Dostojewski, Fjodor M.: Der Doppelgänger. Eine Petersburger Dich¬ tung. Aus dem Russischen von E. K. Rahsin. München 1980 Farkas, Reinhard: Hermann Bahr. Dynamik und Dilemma der Moder¬ ne. Wien/Köln 1989 Görner, Rüdiger: Über den Square. In: ders.: Streifzüge durch die englische

Literatur.

Von

Alexander

Pope

bis

Harold

Pinter.

Frankfurt a. M./Leipzig 1998, S. 15-25 Grimminger, Rolf: Der Sturz der alten Ideale. Sprachkrise, Sprachkritik um die Jahrhundertwende. In: Literarische Moderne. Europäi¬ sche Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg, von Rolf Grim¬ minger u.a. Reinbek bei Hamburg 1995, S. 169-200 Hofmannsthal, Hugo von: Gesammelte Werke/Reden und Aufsätze III 1925-1929/Aufzeichnungen (1894). Hrsg, von Bernd Schoeller. Frankfurt a. M. 1980 Hofmannsthal, Hugo von/Christiane Gräfin Thun-Salm. Briefwech¬ sel. Hrsg, von Renate Moering. Frankfurt a. M. 1999 Kahl, Michael: Lebensphilosophie und Ästhetik: Zu Rilkes Werk 1902-1910. Freiburg i. Br. 1999 Kassner, Rudolf: Sämtliche Werke III. Hrsg, von Ernst Zinn und Klaus E. Bohnenkamp. Pfullingen 1976 Lange, Wolfgang: Im Zeichen der Dekadenz: Hofmannsthal und die Wiener Moderne. In: Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Hrsg, von Rolf Grimminger u.a. Rein¬ bek bei Hamburg 1995, S. 201-229 Lepenies, Wolf: Sainte-Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne. Mün¬ chen/Wien 1997 Nietzsche, Lriedrich: Kritische Studienausgabe. Bd. 2/6. Hrsg. v. Gior¬ gio Colli und Mazzino Montinari. München 1988 Rasch, Wolfdietrich: Aspekte der deutschen Literatur um 1900. In: Wolfdietrich Rasch, Zur deutschen Literatur seit der Jahrhundert¬ wende. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1967, S. 1-48

Ringstraße oder Square

109

Riedel, Wolfgang: „Homo natura“. Literarische Anthropologie um 1900. Berlin/New York 1996 Rietzschel, Thomas: Schauspiel verlorener Größe. Eine Zeitreise über die Wiener Ringstraße, ln: Frankfurter Allgemeine Zeitung (Bilder und Zeiten) (16. Oktober 1999) Rilke, Rainer Maria: Werke. Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hrsg, von Manfred Engel/Ulrich Fülleborn/Horst Nalewski/August Stahl. Bd. 3: Prosa und Dramen. Frankfurt a. M./ Leipzig 1996 Shaw, Bernhard: Major Critical Essays. Mit einem Vorwort von Mi¬ chael Holroyd. Harmondsworth 1986 Steiner, George: „The Arcades Programme“ Walter Benjamins. In: Times Literary Supplement (3. Dezember 1999) Timms, Edward: Die Wiener Kreise. Schöpferische Interaktionen in der Wiener Moderne. In: Die Wiener Jahrhundertwende. Hrsg, von Jürgen Nautz/Richard Vahrenkamp. Wien/Köln/Graz 1993, S. 128-143 Weiß, Johannes: Antinomien der Moderne. In: Die Wiener Jahrhun¬ dertwende. Hrsg, von Jürgen Nautz/Richard Vahrenkamp. Wien/ Köln/Graz 1993, S. 51-61 Wilde, Oscar: Complete Works. Mit einem Vorwort von Vyvyan Hol¬ land. London/Glasgow (1948) 1984

Fritz Hackert

Ansichten zum europäischen Kaffeehaus In dem bekannten Kanon, der die Buchstaben C a f f e e in Töne umwandelt und dann das ganze Wort diffamierend zum „Türken¬ trank“ erklärt, werden gerade noch die Kinder vor dem Giftgehalt dieses Getränks gewarnt. Tatsächlich verlief - wie häufig bei Innovationen - seine Verbrei¬ tung in Europa nicht nur unter positiven Vorzeichen. So erstatteten 1956 in London die Nachbarn des Friseurs James Ffarre Anzeige, weil er mit dem Kaffeerösten für seinen Ausschank Gestank ver¬ breite und übermäßige Feuergefahr verursache. Ein 1707 in Leipzig publizierter Ernährungs-Ratgeber bildete in Sachen Kaffee ein Damenkränzchen ab, in dein übrigens Karten gespielt wurde, und versah den Kupferstich mit der drastischen Warnung: „Sauffen wir uns gleich zutode / So geschieht’s doch nach der Mode“1. Geradezu als Spielhölle geriet 1735 „White’s Coffee House in London“ unter die karikaturistischen Bildfolgen von William Hogarth, in denen „The Rake’s Progress“, der dekadente Lebensweg eines Liederjahns, gebrandmarkt wird. Und wo man schimpft, darf Österreich nicht fehlen: noch im 19. Jahrhundert nannten die Wiener die Kaffeezelte, welche in den sommerlichen

Gärten

zum

Konsum

einluden,

abfällig

„Gift¬

hütten“. In Erinnerung hält das folgende Bild aus dem Biedermeier mit seiner Mittelpunktsfigur in türkischer Tracht, wem der Import dieses Genußmittels zu verdanken war, der Turkomanie nämlich im Rahmen einer Orientmode, die neben Bekleidungs-Imitationen auch den sogenannten Kaffeewahn mitbrachte. Zu ihm ließ sich in

1

M. Duncan: Von dem Mißbrauch heißer und hitziger Speisen. Leipzig 1707; zit. nach Heise 1987, S. 41.

112

Fritz Hackert

Paris im Jahr 1669, als man den Luxus im Stadtpalast des neuen türkischen Gesandten bestaunte, Madame de Sevigne folgenderma¬ ßen vernehmen: „Das Kaffeetrinken ist eine Mode, die ebenso wie der moderne Schriftsteller Racine der Vergangenheit anheimfallen wird.“2

Doch in beiden Fällen hat sich Madame geirrt. Ihre Abneigung ge¬ gen Innovationen bedient sich eines unausrottbaren Topos des Kul¬ turpessimismus, welcher in der Geschichte des Kaffeehauses in regelmäßigen Abständen auftaucht: „Kontinuierlich wird alle vier bis fünf Dezennien (und dies seit 1750) beklagt, daß die „große Zeit“ der Kaffeehäuser vorbei sei.“3 Wird im ersten Fall die Ver¬ gänglichkeit dessen, was man nicht mag, begrüßt, so erntet sie im zweiten Bedauern, weil eine Gewohnheit verschwindet. Dieser no¬ stalgischen Klage-Rhetorik widmet sich mit Vorliebe das Zeitungs-

2

Heise 1987, S. 37.

3

Ebda., S. 91.

Ansichten zum europäischen Kaffeehaus

113

feuilleton, in dem auf den Seiten eines Regionalblatts dieser Tage die gewerblichen Strukturveränderungen von Berlin bejammert wurden. „Am Kudamm sterben die Cafes aus“4, so lautete der er¬ schreckende Titel, und der Artikel schließt mit der Erkenntnis, daß nur noch in Wien Überreste einer Glanzzeit existierten, wo man „im ,Sacher‘ oder im ,Demel‘ noch den Hauch einer vergangenen Epoche mitbekommen“ könne. Das „Sacher“ jedoch, möchte man bescheiden einwenden, ist ei¬ nem Hotel angeschlossen und kein autonomes Kaffeehaus, und das „Demel“ eher als Konditorei denn als Cafe zu bezeichnen. Ja, was in der deutschen Hauptstadt aussterben mag, kann in der Provinz, etwa der schwäbischen, unversehens erblühen: zum Beispiel bei der Ortskernsanierung von Mössingen bei Tübingen, welche nach Auskunft derselben Zeitung - auf ein „Grünes Herz mit Kommerz und Cafe“5 abzielt. Als jüngst ein Foto der Associated Press mit der Frage um die Welt ging, „Ist dort der Virus in die Welt gesetzt worden?“, prangte über den Computern und den Köpfen ihrer Benutzerinnen unmißverständlich das Logo einer Kaffeetasse. Ein „Internet-Cafe in Manila“ soll der Tatort gewesen sein. - Zu den Versammlungs¬ zwecken und der Publikumsspezifik des Kaffeehauses seien nun eine Reihe von Beispielen vorgestellt. Wer dem Internet-Cafe seine Berechtigung als Kaffeehaus ab¬ spricht, vergißt die Dominanz des Vorgänger-Mediums am selben Ort. Es war die Masse der Zeitungen und Zeitschriften, aus der man sich die bevorzugten häufig von einem nur damit beschäftig¬ ten Zeitungskellner bringen lassen oder die man in einem eigens dafür reservierten Lesezimmer durchstudieren konnte. In einem Wiener Kaffeehaus in der Burggasse sah dies um 1900 folgender¬ maßen aus:

4

Südwest Presse Ulm (26.4.2000).

5

Schwäbisches Tagblatt (10.5.2000).

114

Fritz Hackert

Im Amsterdamer „Cafe Americain“, Schauplatz übrigens einer Szene von Joseph Roths Erzählung „Die Büste des Kaisers“, nahm man zur Zeitungslektüre sogar eigens an Lesetischen Platz.

Laufkundschaft wie Touristen, die an Zahl und Herkunft natürlich je nach Reise-Saison variieren, mischt sich mit Stammgästen ver-

115

Ansichten zum europäischen Kaffeehaus

schiedenster Berufs-, Standes- und Vergnügungsinteressen. Daß Leipzig im Lauf des 18. Jahrhunderts sich zu einer Zentrale des deutschen Buchhandels und Verlagswesens entwickelte, kam dem dortigen Kaffeehaus

„Richter“

(S.

114 unten) zugute, in dem

schließlich der Börsenverein des deutschen Buchhandels gegründet wurde. In den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts muß es gewesen sein, daß eine Strick- und Häkelwelle unter emanzipatorischen Vorwänden auch über die Schulen und Universitäten in Deutschland hereinbrach und natürlich das Kaffeehaus nicht ver¬ schonte, wo ein emsig sein ,work in progress* vorführendes Publi¬ kum zum Beispiel das Münchner „Cafe Handarbeiten“ frequen¬ tierte:

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts traf sich der Wiener Taubstum¬ menverband regelmäßig im Cafe Schiller - ein Ereignis, das um die Jahrhundertwende den Zeichner Moritz Jung von den Wiener Werkstätten so faszinierte, daß er in seine Serie von Karikaturen zum Kaffeehaus dieses „Gespräch zwischen Stummen“ einfügte:

116

Fritz Hackert

DtaaaiHDUaAMDOD OitOS

HW*3J§T

Keineswegs nur von der Zahl oder der Verweildauer seiner Gäste hing im Kaffeehaus die Höhe seines Umsatzes ab, sondern ent¬ schieden auch von der Art ihres Zeitvertreibs. Es versteht sich z.B., daß beim Tanzvergnügen die Getränkebestellungen steigen - hier der Tanzsaal des Wiener „Cafe Herrenhof“ in den Dreißiger Jah¬ ren:

Ansichten zum europäischen Kaffeehaus

117

Doch welchen Verzehr können etwa in unmittelbarer Nachbar¬ schaft des „Cafe Herrenhof“ die Schachspieler im „Cafe Central“ aufweisen, einem Kaffeehaus, das ihnen ein separates Zimmer re¬ servierte, wo nach einem Werbetext zeitweilig die „Zusammen¬ kunft aller Weltschachmeister“ stattfand?6 Richtig: Nicht sie selbst waren profitabel, sondern die zahlungskräftigen Zuschauer, was darauf hinweist, daß sich im Kaffeehaus immer auch unterschied¬ liche Formen des Schaugewerbes ausbreiten. Macher und Kiebitze versammelte in großen Mengen noch ein anderes Spiel im Kaffehaus. 1765 gegründet, erlangte im 18. Jahr¬ hundert das Wiener „Cafe Hugelmann“ (S. 118 oben) europäische Berühmtheit als „Universität der Billardspieler“, wo sich die Mei¬ ster des Fachs zur Klärung ihrer Positionen in der Spieler-Hierar¬ chie trafen. Auch das von Adolf Loos in sachlich-amerikanischem Stil ausge¬ stattete Wiener „Cafe Museum“ hatte selbstverständlich einen Bil¬ lardsaal. Den größten Billardraum Deutschlands besaß am Ende des 19. Jahrhunderts das Münchner „Cafe Luitpold“ - mit 15 Bil¬ lardtischen und einer exklusiven elektrischen Beleuchtung, die dem Haus seinen Spitznamen „Feenpalast“ eintrug. Und war es in Prag

6

Vgl. Brandstätter u.a. 1978, S. 101.

118

Fritz Hackert

oder Paris: das Billardzimmer gehörte um die Jahrhundertwende einfach zum renommierten Kaffeehaus.

Billard- und Schachspieler, Tanzpaare und Kriegsveteranen, Taub¬ stumme, Stricktanten und Buchhändler - ja, wo bleibt denn, so könnten Sie sich fragen, jener renommierteste Kaffeehaus-Typus, das Künstler- oder Literatencafe? Undenkbar, daß dort die Zeitungen fehlen, denn von der Diskus¬ sion des Kulturbetriebs und der Beteiligung an ihm lebt ja ihr Feuilleton. Bloß indirekt allerdings lebt das Kaffeehaus von den Künstlern und ihren Stammtischen, nämlich wenn es prominenten einzelnen oder aktiven Gruppen von ihnen gelingt, legendären At¬ traktionswert zu erreichen und dergestalt als Werbeträger für das Etablissement zu fungieren. So abstrus und realitätsfern die Debatte der Spinner, „Träumer“, „Narren , „Apostel“ oder „Weltverbesserer“ gewesen sein moch¬ ten, welche den Künstlercafes „in Paris, Wien, Berlin [...] den Spottnamen Cafe Größenwahn“ eintrugen, waren sie doch neben „Pflanzstätten der wechselnden künstlerischen Moden“ und „gei¬ stigen Hexenküchen“ im Einzelfall auch „eine amüsante Vorhölle

Ansichten zum europäischen Kaffeehaus

119

des Ruhmes“ - so das Zugeständnis von Franz Werfel am Beginn seiner Novelle mit dem Titel „Weißenstein, der Weltverbesserer“7. Von den harschen Verdikten Werfels zum Künstlercafe bleibt in der Memoiren-Literatur kaum mehr als ein bißchen Hölle übrig. Die Olympier dagegen mit ihrem Nachruhm durchsonnen die Er¬ innerungen, bei denen Werfel zunächst ausgerechnet Prag über¬ geht, um dann jedoch eben dort mit seiner Geschichte anzufangen. Wie die Treffpunkte der Träumer und Überkompensierer durch ihre Gastronomie und ihr Publikum international ,vernetzt' waren, zeigt bereits ein kurzer Blick auf die Entwicklung des Berliner „Cafe des Westens“, das ,Cafe Größenwahn“ vor dem Ersten Welt¬ krieg. Gerühmt wurde es „wegen seiner guten Wiener Küche“8. Und ein Kronzeuge auch aus der Folge-Institution, dem „Romani¬ schen Cafe“, der Zeichner und Schnorrer John Höxter, schilderte am Ende der zwanziger Jahre folgende Szene beim Betreten vom „Cafe des Westens“: Der Zeitungskellner, genannt der „rote Richard“, steht in der Tür „und salutiert [für den Stammgast] mit einem Zeitungshalter.“ „Zwei Minuten“, so heißt es weiter, „bleibe ich“ dann „stehen, um Hausschlüsselfragen mit Jacob van Hoddis zu ordnen (dem Teilha¬ ber meiner Zwei-Zimmer-Wohnung).“ Gleich „am nächsten Tisch bleibe ich wieder hängen. Herwarth Waldens ,Sturm‘-Gesellen Else Lasker-Schüler, Dr. Döblin, [...] Dr. S. Friedländer-Mynona und Carl Einstein haben Besuch aus Wien erhalten: Karl Kraus und Adolf Eoos führen ihre neueste Entdeckung, den Maler Oskar Ko¬ koschka, den Berlinern vor.“ Der Kellner Anton bringt einen ans Kaffeehaus adressierten Brief von der Deutschen Theater-Zeitung, mit dem Höxter beauftragt wird, den Stoff für seine Wochenkari¬ katur dem Berliner Gastspiel der Comedie Francaise zu entneh¬ men. Schließlich kommt der Stammtisch in Sicht, die „eigentlichen, alltäglich-allnächtlichen Kameraden, Erich Mühsam, Ferdinand

7

Werfel 1990, S. 87.

8

Schebera 1988, S. 17.

120

Fritz Hackert

Hardekopf, Rene Schickele [...] und ein neues Gesicht: der Maler Max Oppenheimer [...] aus Prag“9.

LE PROCOP JOURNAL 0*1 :

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Berlin - Wien - Paris - Prag, da sind sie wieder, die magischen An¬ ziehungspunkte der kontinentalen Kaffeehaus-Boheme. Und deren bevorzugte Cafes liegen in den Metropolen oft dicht beisammen. Das älteste Cafe in Paris zu sein, rühmt sich „Le Procope“, ge¬ nannt nach seinem Gründer, dem sizilianischen Adligen Francesco 9

Ebda., S, 20.

Ansichten zum europäischen Kaffeehaus

121

Procopio. 1686 wurde es im Quartier latin eröffnet und hatte das Glück, daß drei Jahre später auf der Straßenseite gegenüber die „Comedie Francaise“ zu spielen begann, so daß „Le Procope“ im 18. Jahrhundert für die Künstler und Intellektuellen zum wich¬ tigsten Treffpunkt avancierte. Voltaire, Rousseau und Beaumar¬ chais waren hier Gäste ebenso wie die in ihrem Unabhängigkeits¬ kampf von den Franzosen unterstützen Amerikaner Benjamin Franklin und Thomas Jefferson. Als „Rendez-vous des Arts et des Lettres“ galt das Cafe, und im 19. Jahrhundert, wo Hugo, Müsset, George Sand, Balzac und Zola dort verkehrten, erschien sogar eine Zeitschrift mit dem Namen des Cafes. Eine ihrer Ausgaben (S. 120) bildet auf der Titelseite die Szene ab, wie Verlaine das Cafe Procope betritt.

Unmittelbar nebeneinander liegen in St.-Germain-des-Pres das „Cafe les Deux Magots“ und das „Cafe de Flore“ (oben). Beide lei¬ ten ihre Namen von kleinen Skulpturen ab, die im Inneren odei vor der Tür aufgestellt sind oder waren: zwei chinesische Grotesk¬ figuren im „Deux Magots

und Flora, die römische Frühhngs-

göttin, vor dem „Cafe de Flore“. Dies ist von beiden das ältere,

122

Fritz Hackert

nämlich eröffnet 1865, während das „Deux Magots“ 10 Jahre spä¬ ter, 1875, gegründet wurde. Zur Innenausstattung des „f'lore“ notiert ein amerikanischer Kaffeehausführer von Paris, daß die „schäbige Art-Deco-Einrichtung aus rotgepolsterten Bänken, Mahagoni und Spiegeln [...] sehr gemütlich“10 wirke: Welch differierende Gesinnungsgruppen ab der Jahrhundert¬ wende im „Flore“ anzutreffen waren, geht schon aus wenigen Na¬ mensnennungen hervor. Die nationalistische „Action Francaise“ verfaßte im „Flore“

1899 ihre ersten Manifeste und ihr Kopf,

Charles Maurras, betitelte seine Autobiographie „Souvenirs de vie politique: Au signe de Flore.“ Den größten Nachruhm erntete in diesem Cafe jedoch Jean-Paul Sartre. Mit seiner berühmten Febensgefährtin, Simone de Beauvoir, arbeitete er während der deut¬ schen Besatzungszeit dort „von neun Uhr morgens bis zum Mittag und dann wieder von vier bis acht“* 11, beide an ihren jeweiligen Manuskripten.

Ungleich mehr Prominenz als das „Flore“ zog im Fauf seines Bestehens das „Deux Magots“ an seine Kaffeetische. Seine Speisekarte kündet vom „Rendez-vous de l’elite intellectuelle“12, womit nach dem amerikanischen Guide die überteuerten Preise begründet werden, welche vor allen Dingen durch den deut¬ schen Tourismus nach dem 2. Weltkrieg verdorben worden seien. Ein anderer französischer Aufsteiger aus der deutschen Besat¬ zungszeit hatte dort immer gefrühstückt: Jean Giraudoux. In den Zwanziger Jahren war im „Deux Magots“ das Surrealisti¬ sche Manifest von Andre Breton und Fouis Aragon entstanden, und hier hatte Picasso die Fotografin Dora Maar getroffen, die sein Modell und seine Febensgefährtin wurde.

10

Fitch 1993, S. 26.

11

Ebda., S. 29.

12

Ebda., S. 24.

Ansichten zum europäischen Kaffeehaus

123

Ungemein dicht wird die Kaffeehaus-Szenerie von Paris am Montparnasse, von dem sich nach Sartres Erinnerung die Franzosen in der Besatzungszeit zurückzogen, weil dort zu viele Nazis verkehr¬ ten.13 Am östlichen Ende des Boulevard profitierte „La closerie des Lilas“ von der nahegelegenen Kunst-Akademie „de la grande Chaumiere“ und entwickelte sich daneben zu einem Sammelpunkt von anglo-amerikanischen Autoren der klassischen Moderne: Dos Passos frequentierte die „Closerie“, Hemingway und Scott Fitzge¬ rald, Joyce, Ezra Pound und Archibald MacLeish. Westlich entlang dem Boulevard finden sich zwei traditionsrei¬ che Pariser Cafes wieder benachbart - unter der Hausnummer 108 das „Cafe du Dome“, sowie unter der Hausnummer 102 das 1927

13

Vgl. ebda., S. 29.

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Fritz Hackert

als Brasserie eröffnete Cafe-Restaurant „La Coupoie“. Vom „Cafe du Dome“, das um die Jahrhundertwende aus der Kombination einer Trinkhalle mit einem kleinen Cafe hervorging, gab es bereits 1929 Beschreibungen und Anekdoten in ungefähr 50 Büchern aus 15 unterschiedlichen Sprachen.

Wie im „Deux Magots“ mischten sich hier auch die Exil-Intellek¬ tuellen mit dem französischen Publikum, zählten im Ersten Welt¬ krieg Lenin und Trotzki zu den Stammgästen. Zwischen den Krie¬ gen trafen sich unter politisch entgegengesetzten Vorzeichen die russischen und die spanischen Exilantengruppen im „Cafe du Do¬ me“ - zu den Pariser Treffpunkten des deutschen Exils muß an die¬ ser Stelle der Hinweis auf Hermann Kestens Anthologie „Dichter im Cafe“ genügen. Strahlendes Zentrum des Montparnasse mit großer Cafeterrasse und riesigem Speiseraum, mit Tanzsaal, Bar und Dachterrasse war und ist das „Cafe Coupoie

(S. 125). Sein Ruf als „Akademie des

Trottoirs“14 spielt auf die Besuchermischung von Intelligenz und Boheme an, ein Spektrum, das vom Paris-Novizen Lawrence

14

Ebda., S. 44.

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Durrell reicht, der im Coupoie mit Anais Nin Schach spielte, bis zum Iswestija-Korrespondenten Ilja Ehrenburg, welcher vor dem Zweiten Weltkrieg dem kommunistischen Stammtisch dort präsi¬ dierte und an ihm eine utopische Idealgesellschaft predigte. - Und nach dem Krieg? Da schätzte Samuel Beckett das gedämpfte ArtDeco des „Coupoie“, aß Francoise Sagan häufig hier zu Mittag und ließ sich Gabriel Garcia Märquez zum Diner nieder.

Sucht man in der Topographie von Prag nach einem Parnaß von Kaffeehäusern, dann fällt im Stadtbild der Jahrhundertwende die Ansammlung von Cafes im „Graben“ auf. Zwei von ihnen, das „Cafe Central“ und das „Continental“, lagen unmittelbar neben¬ einander (S. 126). Zwei weitere an derselben Straße waren das „Cafe Wien“ und das „Cafe Edison“. Hartmut Binder, der Kafka-Spezialist, weiß von harten Konkurrenzkämpfen zwischen den Cafes am Graben zu berichten, die mittels der Zahl von angebotenen Zeitschriften ausgetragen wurden: „So hielt das ,Cafe Continental zunächst 200, später 250 Zeitungen und Zeitschriften, das [...] ,Cafe Edison' so¬ gar 300.“ Und „der Wettbewerb führte zu immer neuen Steigerun¬ gen. Während sich das ,Cafe Central' zunächst mit 200 Periodika

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begnügte, erhöhte es nach einer Renovierung und Neueröffnung im Herbst 1911 auf die doppelte Zahl.“15 Seine „Gier nach Zeit¬ schriften“, schrieb Kafka 1913 an seine Verlobte, Felice Bauer, zog ihn in diese Lese-Cafes, und auch das „Cafe Arco“, seit 1908 Heimstätte der deutschsprachigen Prager Expressionisten mit dem Wortführer Franz Werfel, hatte ein Lesezimmer (S. 127 oben).16 *

15 16

Binder 1991, S. 24f. Vgl. ebda., S. 38 u. 40.

1

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Ansichten zum europäischen Kaffeehaus

In der „Deutschen Zeitung Bohemia“ war am 7. September 1907 folgende Anzeige erschienen:

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