Grenzerfahrungen und Globalisierung im Wandel der Zeit [1 ed.] 9783737013994

258 38 7MB

German Pages [393] Year 2022

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Grenzerfahrungen und Globalisierung im Wandel der Zeit [1 ed.]
 9783737013994

Citation preview

Gesellschaftskritische Literatur – Texte, Autoren und Debatten

Band 12

Herausgegeben von Monika Wolting und Paweł Piszczatowski

Ewa Wojno-Owczarska / Monika Wolting (Hg.)

Grenzerfahrungen und Globalisierung im Wandel der Zeit

V&R unipress

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. Gedruckt mit finanzieller Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung. Gutachter: Prof. Dr. Zbigniew Feliszewski © 2021 Brill | V&R unipress, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: © Natascha Wolting, Globalisierung (2021) Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2629-0510 ISBN 978-3-7370-1399-4

Norbert Honsza zum Gedächtnis

Inhalt

Ewa Wojno-Owczarska / Monika Wolting Einleitung. Grenzerfahrungen im Wandel der Zeit

. . . . . . . . . . . . .

11

Hubert Orłowski (Poznan´) Vom Zufall, vom Annähern an ›das Globale‹. In memoriam Norbert Honsza . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Manfred Osten (Bonn) Globalisierung und Entschleunigung. Ein Essay . . . . . . . . . . . . . . .

29

Bodo Heimann (Kiel) Oswald Wiener und seine »verbesserung von mitteleuropa« . . . . . . . .

35

Martin A. Hainz (Eisenstadt) »Game of Drones«. Grenzwertiges

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

43

Monika Wolting (Wrocław) Die Macht der Kriegsbilder im globalen Kontext der Medienwirksamkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Stephan Wolting (Poznan´) Zeitenwende oder Metanoia? Die Pandemie in deutschsprachigen literarischen und philosophischen Werken . . . . . . . . . . . . . . . . .

73

Michael Segner (Hamburg) Vertrieben aus dem Kiez-Paradies? Neue deutsche Gentrifizierungsromane . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

93

8

Inhalt

Dieter Stolz (Berlin) »Widerstand beginnt mit Wahrnehmung« oder Heran an das Leben, Dichter! Dichter! Ein Essay . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113 Uwe-K. Ketelsen (Bochum) Der leere Raum der Globalisierung. Wilhelm Vershofens Finanznovelle »Der Fenriswolf« (1914) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Ewa Wojno-Owczarska (Warszawa) Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

. . . . . . 125

Volker Neuhaus (Osnabrück) Pan Kiehot und Don Quijote. Zwei Ritter aus König Günters Tafelrunde oder: Was würde Günter Grass in Zeiten der digitalen Globalisierung und der globalen Digitalisierung zur Corona-Pandemie sagen? . . . . . . . . . 159 Klaus Hammer (Berlin / Koszalin) Er hat den Stachel nicht aus unserem Fleisch gezogen. Der Bildhauer, Zeichner, Grafiker und Schriftsteller Wieland Förster . . . . . . . . . . . . 173 Edward Białek (Wrocław) Autoren aus Oberschlesien in der Liegnitzer Zeitschrift »Die Saat« (1919–1924) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 Ewa Jarosz-Sienkiewicz (Wrocław) Literatur als globale Erscheinung am Beispiel der Schriften von Heinz Piontek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Krzysztof A. Kuczyn´ski (Łódz´) Felix A. Voigts unbekannter Brief an Gerhart Hauptmann über seine Flucht aus Breslau im März 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Alina Dittmann (Nysa) Der poetische Akt als Haltung zur Welt im Schaffen von Irena Brezˇná . . 229 Agnieszka Kodzis-Sofin´ska (Wrocław) Von (No/O)stalgie zur Kritik. Wladimir Kaminers Erinnerungsbilder an die Sowjetunion und Russland im Roman »Onkel Wanja kommt« . . . . 243

Inhalt

9

Andrzej Gwóz´dz´ (Katowice) Unterwegs nach Hause. Gedächtniskulturen der Zwangsmigration Deutscher nach 1945 im Kino zweier deutscher Staaten . . . . . . . . . . 259 Therese Chromik (Husum / Kiel) Franziska Gräfin zu Reventlow und »Der Geldkomplex« . . . . . . . . . . 285 Hans-Christoph Graf v. Nayhauss-Cormons (Karlsruhe) Zum Stand der deutschen Literaturdidaktik heute. Vom Abschiedsblick auf den Gegenstand und seine Lernziele zum Blick auf die eigene Befindlichkeit mit ihren Kompetenzen am Beispiel des Antikriegsjugendbuches »Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß« von Rudolf Frank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk (Gdan´sk) Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig als Fallbeispiel. Literatur als Rhizom von Zukunftsnarrativen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Manfred Gawlina (München) Interpolation im Neuen Testament. Eine Machtkritik . . . . . . . . . . . . 349 Katja Petrowskaja im Gespräch mit Monika Wolting Die Hölle in Brand setzten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Wolfgang Bittner (Göttingen) Fünf Gedichte für Norbert Honsza (†) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 377 Stephan Wolting (Poznan´) Der Vermittler. Zum Tod des polnischen Germanisten Norbert Honsza (1933–2020). Ein Nachruf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Verzeichnis der Verfasserinnen und der Verfasser

. . . . . . . . . . . . . 385

Ewa Wojno-Owczarska / Monika Wolting

Einleitung. Grenzerfahrungen im Wandel der Zeit

Norbert Honsza, einer der »profiliertesten polnischen Germanisten«, wurde im Jahr 1933 geboren. Als Zeitgenosse war es ihm vergönnt, bis 2020 die Prozesse der Globalisierung mitzuverfolgen und deren zentrale Einflüsse in sein wissenschaftliches Wirken zu integrieren, indem er auf interkulturelle Kommunikation, Wissenstransfer, Grenzen übergreifende Vernetzung der Wissenschaft und nicht zuletzt auf kulturelle Neugier setzte. Als Humboldtianer ging Honsza der Prämisse nach, mit Fachspezialisten weltweit zu kooperieren, unabhängig von Herkunft und Alter, weit über die Grenzen seines sozialen und beruflichen Umfelds hinaus. Ihm ist dieser Band gewidmet. Die vorliegende Publikation nahm ihren Ausgangspunkt in der Gegenwart, um von hier aus, Aspekte der Globalisierung in der deutschsprachigen Literatur der vergangenen, fast hundert Jahre zu betrachten. Bereits Karl Jaspers verwendete in seiner kulturkritischen Schrift »Die geistige Situation der Zeit« von 1932 den Begriff »planetarisch« in Bezug auf die technischen und wirtschaftlichen Probleme seiner Zeit. Dabei zeigt es sich, dass die deutschsprachige Literatur des 20. und des 21. Jahrhunderts maßgeblich von Themen zunehmender weltweiter Verflechtungen in den Bereichen von Politik, Wirtschaft, Kultur, Kommunikation und nicht zuletzt von Umwelt, beeinflusst ist. Dieser Prozess findet zwischen einzelnen Individuen, Gesellschaften, Institutionen und Staaten statt. So kann man davon ausgehen, dass der Begriff der »Globalisierung« das europäische Denken inzwischen wenigstens ein ganzes Menschenleben lang prägt. In der »Zeit« diagnostizierten Thomas E. Schmidt (13. Mai 2020) und Uwe Jean Heuser (27. Mai 2020), dass durch die Covid-19-Pandemie nicht allein der »wohl größte Globalisierungsschub der Geschichte zu Ende« ging, sondern die Epidemie lediglich bestimmte, sich seit Jahren abzeichnende Tendenzen sichtbar machte. Eine Stagnation von Verflechtung und Offenheit der Weltwirtschaft ist bereits seit der Wirtschaftskrise von 2008 zu beobachten, kontinentaleuropäische Populismen fanden zunächst konkreten Ausdruck im Brexit, Trumps Soundbite »America first« belegt weltweite nationalistische Tendenzen. »Die Globalisierung

12

Ewa Wojno-Owczarska / Monika Wolting

im Zeichen eines Zutrauens, also der Nachahmung, des Lernens, der Offenheit, der kulturellen Neugier, gelangte an ihr Ende«, beschließen Schmidt und Heuser ihren Beitrag. Angeregt durch die aktuellen Veränderungen erscheint es geboten, exemplarisch literarische Auseinandersetzungen mit neuen Tendenzen in der Weltgeschichte und in der komplexen Realität des 21. Jahrhunderts auszuloten. Literatur nimmt das globale Geschehen zum Schauplatz, zur Medieninszenierung oder auch als Hintergrund erzählter Geschichten und stellt Globalisierung, Glokalisierung und Regionalisierung im Wechselverhältnis von politischem und ästhetischem Interesse dar. Das »realistische Schreiben« der Gegenwartsliteratur äußert sich im Text in einer möglichst großen Annäherung an eine soziale und kulturelle Wirklichkeit der Figuren und im Versuch des Einfangens ihrer Lebenslage und Konflikte. Mit der Bezeichnung »realistisches Schreiben« wird auf eine Schreibtechnik rekurriert, wodurch »sich dem Leser automatisch eine erzählte Welt, eine Diegese präsentiert, ohne dass er [sich] zunächst mit Phänomenen der Textebene« (Baßler, 2012) auseinandersetzen muss. Wird Literatur als Modell von Wirklichkeit aufgefasst, das gesellschaftliche Zustände und Prozesse in literarische Formen verwandelt und sie auf diese Weise der Leserin oder dem Leser erfahrbar macht, so lassen sich literarische Texte als Ausdruck der Notwendigkeit einer ästhetischen wie ethischen Auseinandersetzung mit dem Weltgeschehen betrachten. Die Hauptziele der Kooperation im Rahmen des von Ewa Wojno-Owczarska geleiteten Projekts »Topographien der Globalisierung/Topographies of Globalization«, das von der Alexander von Humboldt-Stiftung unterstützt wird, fasst die folgende Kurzbeschreibung im Humboldt-Netzwerk zusammen: »In unserem Projekt ›Topographien der Globalisierung‹ konzentrieren wir uns auf die Darstellungsmöglichkeiten unterschiedlicher globaler Probleme in der Literatur. Das Hauptaugenmerk richtet sich zum Ersten auf die ökonomischen Grundlagen der menschlichen Existenz und die problematische Lage des Einzelnen in den neoliberalen Staaten, zum Zweiten auf die Frage der nationalen Identität im Zeitalter der Globalisierung. Die Reflexion über ökonomische und politische Krisen und deren Auswirkungen, wie Arbeitslosigkeit und Migration, wird als wichtiger Teil des Globalisierungsdiskurses angesehen. Auch die Folgen des Klimawandels und des internationalen Terrorismus werden zunehmend als ein Realität gewordenes Katastrophenszenario dargestellt. Diese komplexe Problematik wird vor dem Hintergrund der literarischen Katastrophendiskurse erläutert. Das Projekt hat das Ziel, die Reflexion über globale Probleme in unterschiedlichen Kulturkreisen zu vergleichen«.1 Thematisch schließt der vorliegende Band an die Publikationen »Topographien der Globalisierung«, Band I und II an, 1 Vgl. www.humboldtalumni.weebly.com.

Einleitung

13

die als Ergebnis des gleichnamigen Projekts entstanden und wissenschaftliche und literarische Texte versammeln, die auf unterschiedliche Aspekte der Globalisierung verweisen. In einer Welt, die sich in einem ständigen Wandel befindet, scheint es geboten, die Grenzen unserer Vorstellung sowie die engen Grenzen der einzelnen Fachdisziplinen und künstlerischer Gattungen zu überschreiten; diese Problematik steht im Zentrum des vorliegenden Bandes, der stärker Bezug auf die Wechselverhältnisse zwischen den Medien nimmt. Auch in diesem Band werden Texte publiziert, die narrative Darstellungsformen unterschiedlicher globaler Phänomene analysieren. Dabei wird das Thema unter folgenden Aspekten beleuchtet: die ökonomischen Grundlagen menschlicher Existenz in Zeiten der Globalisierung, Grenzgänger, Fremde, Flüchtlinge, die Frage nationaler Identitätskonstrukte im Wechselverhältnis mit Alteritätskonstrukten, kultureller Vielfalt und (liberaler) Multikulturalität (Beyersdörfer, 2004), die Komplexität von Geschichte und Geschichten im Spannungsfeld von Regionalität und Globalität, Kulturaustausch und Kulturkonflikte, Kultur- und Ideentransfer und nicht zuletzt nationale und transnationale Erinnerungsbilder. Auch Reflexion über die globale Digitalisierung und Überwachungssysteme, weltweite Mobilität und Grenzenlosigkeit und die damit verbundenen Formen des internationalen Terrorismus stehen im Fokus des vorliegenden Bands. Die Anzeichen einer globalen Metakrise (Leggewie/Welzer, 2009), vom gegenwärtigen Schicksal der Flüchtlinge, über die Gewaltanwendung und die neuen Kriege, verstanden als »organisierte Gewalt in Zeiten der Globalisierung« (Kaldor, 2001), bis hin zur Kritik am Postkolonialismus (u. a. Vernichtung globaler Ressourcen) und am Umweltdesaster liegen im weiteren Interessenspektrum dieses Bandes. Es stellt sich die Frage, inwieweit diese Topoi in literarischen, kulturellen und künstlerischen Formen Ausdruck finden. Das Interesse an Raumfragen, wie sie im ›topographical turn‹ (Weigel, 2004) bzw. ›spatial turn‹ (Döring/Thielmann, 2008) konfiguriert werden, erlaubt zudem Anknüpfungen an frühe Forschungen der Moskau-Tartuer Schule um Jurij M. Lotman. Darüber hinaus hat sich neben dem Paradigma vom »Verschwinden des Raumes« (Schlögel, 2003) eine differenzierte Raumforschung etabliert, die historisch wie kulturwissenschaftlich neues Terrain auszuloten begann und von Fragen der Geopolitik bis zur Emotionsforschung (Süselbeck, 2012) oder Mentalitätengeschichte reicht (Dünne/Günzel, 2006). Aus den komplexen globalen Veränderungen dieser neuen Raumordnung(en) gewinnen Fragen nach Erinnerungskulturen wie nach kulturellen Identitäten eine neue Bedeutung. Nachhaltig ablesbar werden solche Ein- und Umschreibungen in der Literatur, die als eine »ausgezeichnete Form der Selbstbeobachtung von Gesellschaften« (Böhme, 1998) gilt. Die oben aufgeführten Themenkomplexe fanden Nachhall in den Beiträgen des Bandes.

14

Ewa Wojno-Owczarska / Monika Wolting

Hubert Orłowski befasst sich in dem Beitrag »Vom Zufall, vom Annähern an ›das Globale‹« mit der Kategorie des Zufalls, die hier als Initialzugriff auf die Globalisierungsgeschichte Europas dient. An den ›Container‹-Begriffen global bzw. Globalisierung wird der Zweck bzw. Sinn einer historischen Zufalls-Perspektive verifiziert bzw. falsifiziert. Einige der in den letzten Jahrzehnten des 20. und im frühen 21. Jahrhundert erschienenen monumentalen Geschichtswerke (Wehler, Nipperdey, Herbert) dienen dem Verfasser als (meta-)narrative Demonstrationsobjekte. Manfred Osten verbindet in dem Essay »Globalisierung und Entschleunigung« den Globalisierungsgedanken mit weiteren Kategorien: der Beschleunigung und dem rasenden Stillstand, der Herkunftsvergessenheit und der sittlichen Verwilderung. Der Verfasser sieht in den Phänomenen keine Erfindung der Moderne, sondern Themen, die bereits in Goethes Werk »Faust« eine zentrale Rolle spielen. Bodo Heimann zeigt in seinem Text »Oswald Wiener und seine ›verbesserung von mitteleuropa‹« einen grundsätzlichen Widerspruch der modernen Welt am Beispiel der Sprache auf, die der ›roman‹ zwar angreift, dabei aber selbst auf sie angewiesen ist. Der Aufstand gegen Sprache und Gesellschaft erscheint Heimann bei Wiener selbst ohne Zukunftsaussichten. Die moderne Gesellschaft habe sich im Zeitalter der Kybernetik der Zukunft versichert und das Ziel der Geschichte erreicht. In dem funktionierenden System sei auch das Unberechenbare und Irrationale eingeplant. Auch Außenseiter, Kritiker und Revolutionäre könnten ihr nur noch dienen und die bereits festgestellte totale Sicherheit des Systems nur noch absoluter machen. Martin A. Hainz geht in dem Beitrag »Game of Drones. Grenzwertiges« dem Problem nach, wie Grenzen zu Orten (oder »Nicht-Orten«) werden. Der Übergang könne für den Globalisierungsgewinner eine Formalität sein, für viele gehe es um Visa. Diese Möglichkeiten werden von dem Verfasser anhand theoretischer Texte, hier vor allem mit Bezug auf die Arbeiten von Jean-Claude Milner und Slavoj Zˇizˇek, und literarischer Texte von Elfriede Gerstl, Elfriede Jelinek, Uljana Wolf und Kathrin Röggla erarbeitet. Monika Wolting führt den Diskurs der neuen Kriege in ihrem Betrag »Die Macht der Kriegsbilder im globalen Kontext der Medienwirksamkeit« weiter fort, indem sie den Schwerpunkt auf die literarische Reflexion über die Kriegsberichterstattung verlagert. Die Verfasserin untersucht einige Repräsentationen der Medien in Gegenwartsromanen. Zu den bedeutendsten zählt sie: die Steuerung der öffentlichen Meinung durch die Medien, Kriegsberichterstattung als Teil der politischen und kapitalistischen Maschinerie, Krieg als Medienkrieg, »Fernsehkrieg« und der Einfluss technologischer Medien auf die Wahrnehmung und Mediatisierung von Krieg.

Einleitung

15

Stephan Wolting wendet sich in seinem Beitrag »Zeitenwende oder Metanoia? Überlegungen zum Corona-Diskurs in aktuellen literarischen und philosophischen Veröffentlichungen« einer weiteren Krise der Gegenwart zu. Innerhalb seines Beitrags versucht der Verfasser an drei konkreten Beispielen die geistigkulturellen Reaktionen auf die Corona-Pandemie vor dem Hintergrund einer »unruhigen Gesellschaft« aufzuzeigen. Die Ergebnisse von Woltings Betrachtung beziehen sich auf die bundesrepublikanische Gesellschaft im Jahre 2020/2021, sie sind aber mit kulturellen Modifikationen mutatis mutandis sicherlich auch auf andere Kulturen bzw. Gesellschaften übertragbar. Michael Segner verweist im Artikel »Vertrieben aus dem Kiez-Paradies? Neue deutsche Gentrifizierungsromane« auf die gegenwärtige Krisensituation vieler Metropolen der Welt. Im Zuge der Globalisierung finde eine Umwälzung des innerstädtischen Raumes statt. Über Generationen gewachsene Strukturen in den Großstädten lösten sich im Zuge der Gentrifizierung von Stadtteilen auf. Das Phänomen der Gentrifizierung habe Eingang in die Literatur gefunden. Michael Segner bespricht Texte junger deutscher Autorinnen und Autoren wie Anke Stelling, Synke Köhler, Jan Brandt und Kristine Bilkau, in denen das o. g. Thema die Rahmenhandlung bildet. Dabei betont er die Auswirkungen der Gentrifizierung auf das Leben des Individuums und die sozialen Folgen der Prozesse. Dieter Stolz bezieht seinen Essay »›Widerstand beginnt mit Wahrnehmung‹ oder Heran an das Leben, Dichter! Dichter!« auf einige Aussagen des Autors Ingo Schulze als eines provozierenden Aufklärers, dem es in seinem Hauptberuf um die Bedingungen der Möglichkeit für adäquate poetische Verfahren geht, um Vielstimmigkeit, denn nur auf diese Weise kann der Komplexität unserer Gegenwart Rechnung getragen werden. Uwe-K. Ketelsen zeigt in seinem Beitrag »Der leere Raum der Globalisierung: Wilhelm Vershofens Finanznovelle ›Der Fenriswolf‹ (1914)« exemplarisch, wie an die Stelle einer topographischen Ordnung des Raums ein über die Funktion der Figuren geknüpftes Netzwerk wechselseitiger Abhängigkeiten tritt. Ketelsen zählt zu den epistemologischen Voraussetzungen von Globalisierung eine seit der Frühen Neuzeit fortschreitende Säkularisierung der Entwürfe, in denen der zeitgenössische Mensch seine Wahrnehmung von Welt fasst. Diese würden immer abstrakter, d. h. leerer. Dieser Prozess hinterlasse Spuren in der Literatur, die Ketelsen am Beispiel des Textes Wilhelm Vershofens ›Finanznovelle‹ »Der Fenriswolf« sichtbar werden lässt. Ewa Wojno-Owczarska untersucht in ihrem Beitrag den Roman »Blackout« (2012) von Marc Elsberg. Das Werk präsentiert eine kritische Einschätzung der globalen Gesellschaft, deren blinde Technologiegläubigkeit die Menschheit ins Unglück stürzt. Die Verfasserin hebt besonders die Zweifel des Autors am möglichen Nutzen der globalen Digitalisierung hervor. Der Beitrag weist nach, dass Elsbergs pessimistische Diagnose des globalen Sozialwesens weitgehend

16

Ewa Wojno-Owczarska / Monika Wolting

auf Jean Baudrillards Theorie zurückgeht. Als wahre Ursache der kommenden Apokalypse sieht Wojno-Owczarska im Text Marc Elsbergs den Verfall der ethischen Werte, verbunden mit einer krassen Gewinnsucht des heutigen Menschen, was die globale Gesellschaft wie eine Krankheit unterminiert. Volker Neuhaus hebt in seinem Text »Pan Kiehot und Don Quijote – Zwei Ritter aus König Günters Tafelrunde oder: Was würde Günter Grass in Zeiten der digitalen Globalisierung und der globalen Digitalisierung zur Corona-Pandemie sagen?« die Aktualität der Texte von Günter Grass hervor. Der Verfasser bezieht bei der Interpretation von Grass’ Texten die »Phänomene der Textebene« mit ein und kommt zu dem Ergebnis, dass die aktuellsten Themen in seinen Werken zu finden sind. Dazu zählt Neuhaus: Fragen nach Identitätskonstrukten im Wechselverhältnis mit Alteritätskonstrukten, Globalisierung, Glokalisierung und Regionalisierung sowie Motive wie Grenzgänger, Fremde und Flüchtlinge. Klaus Hammer stellt in seinem Beitrag »Er hat das nur ihm Verfügbare in die künstlerische Metapher übertragen. Zur Einheit von bildhauerischem, zeichnerischem und literarischem Werk von Wieland Förster« das Lebenswerk des 1930 in Dresden geborenen Künstlers Wieland Förster dar. Der Autor des Beitrages führt seine Diskussionen mit Norbert Honsza zur Gegenwartskunst und -literatur fort und setzt das künstlerische und literarische Werk des 1930 in Dresden geborenen Wieland Förster in Bezug zur Epoche, die dieser erlebt, erlitten und eindringlich gestaltet – ja gleichsam »abgearbeitet« – hat. Zwischen tragischer Gespanntheit und fast arkadischer Gelassenheit liegt hier ein Lebenswerk vor, das uns weiter ins neue Säkulum begleitet als noch immer offene Frage nach der Würde und Selbstbestimmung des Menschen. Edward Białek widmet seinen Text »Autoren aus Oberschlesien in der Liegnitzer Zeitschrift ›Die Saat‹« (1919–1923) der Beschreibung der Zeitschrift des Logaubunds Liegnitz (1919–1924), die eine der vielen Neugründungen auf dem schlesischen Zeitschriftenmarkt im ersten Jahrzehnt nach der Beendigung des Ersten Weltkrieges war. Białek stellt die Zeitschrift hauptsächlich als Publikationsorgan der schaffenden Mitglieder des Logaubundes dar. Im Beitrag wird auf die literarischen Publikationen der aus Gleiwitz, Oppeln, Beuthen und Neisse stammenden Schriftsteller hingewiesen, u. a. auf Bruno Arndt, Max HerrmannNeisse, Hugo Gnielczyk, Paul Grabowski und Curt Mirau. Ewa Jarosz-Sienkiewicz sucht in ihrem Beitrag »Literatur als globale Erscheinung am Beispiel der Schriften von Heinz Piontek« nach Spuren der Globalisierung in Pionteks Schaffen. Einen wichtigen Schwerpunkt setzt die Autorin dabei mit dem Begriff der Heimat und untersucht diese Thematik im Verhältnis zur Identität. Sie kommt zu der Auffassung, dass die Oberbegriffe, der die Menschen verbinden sollen, nach Piontek das Menschliche und das Humane waren.

Einleitung

17

Krzysztof Kuczyn´ski geht in seinem Beitrag »Felix A. Voigts unbekannter Brief an Gerhart Hauptmann über seine Flucht aus Breslau im März 1945« auf den bis heute unbekannt gebliebenen Schriftverkehr der beiden Autoren ein, in dem Details über die Flucht des Dramatikers aus Breslau wie auch über die ersten Wochen des Aufenthalts im Süden Deutschlands vermittelt werden. Im vorliegenden Text bringt der polnische Germanist einen Lebensabriss und eine Zusammenfassung des – mit Gerhart Hauptmann verbundenen – wissenschaftlichen Werkes von Felix A. Voigt. Agnieszka Kodzis-Sofin´skas Text »Von (No/O)stalgie zur Kritik. Wladimir Kaminers Erinnerungsbilder an die Sowjetunion und Russland im Roman ›Onkel Wanja kommt‹« eröffnet ein Segment mit Texten, in denen es um verschiedene Formen des Erinnerns geht. Die Verfasserin stellt die wichtige Frage nach der ›Selektivität‹ des Erinnerns auf. Im Beitrag wird erwogen, ob Wladimir Kaminers Schaffen als Medium wirkt, das das kollektive und kulturelle Gedächtnis einer bestimmten Gemeinschaft mitgestaltet. Alina Dittmann analysiert in ihrem Beitrag »Der poetische Akt als Haltung zur Welt im Schaffen von Irena Brezˇná« die Lage der Kulturen rund um den Globus in Werk Brezˇnás in Hinsicht auf den Umgang mit Menschenrechten, demokratischen Idealen und der Erinnerung an die eigene Geschichte. In der Folge ergibt sich aus dem Schaffen Brezˇnás ein »Psychogramm Mitteleuropas« in Wechselbeziehung zur Welt. Im Zentrum des Textes stehen literaturwissenschaftliche Analysen der Erfahrung des Heimatverlustes, des Umgangs mit Sprachen und der Sprachlosigkeit, die im Brezˇnás Werk eine zentrale Rolle einnehmen. Andrzej Gwóz´dz´ greift in seinem Beitrag »Unterwegs nach Hause. Gedächtniskulturen der Zwangsmigration Deutscher nach 1945 im Kino zweier deutscher Staaten« die Frage der filmischen Erinnerung an Flucht und Vertreibung der Deutschen aus den ehemaligen Ostgebieten nach dem Zweiten Weltkrieg im deutschen Kino auf. Unter Verweis auf einige Werke, die sich mit diesem Thema beschäftigen, schlägt der Verfasser deren Typologisierung hinsichtlich von Narrativierungsstrategien der Erinnerung im Kontext unterschiedlicher Gedenkpraktiken vor. Therese Chromik erinnert in ihrem Text »Franziska Gräfin zu Reventlow und ›Der Geldkomplex‹« an eine schillernde Figur der Münchner Künstlerszene. Durch ihre Bekanntschaft mit einer Gruppe polnischer Emigranten, die zur Schwabinger Bohème gehörten, wirkte sie unter deren Einfluss. Die Schriftstellerin wird in jüngerer Zeit gern im Zusammenhang mit den Emanzipationsbewegungen der Jahrhundertwende erwähnt. Chromik stellt Franziska zu Reventlow als Künstlerin, Malerin, Sängerin, Schauspielerin vor, als eine der ersten Frauen, die sich als Schriftstellerin und Übersetzerin ihren Lebensunterhalt zu sichern versuchte.

18

Ewa Wojno-Owczarska / Monika Wolting

Im Beitrag »Zum Stand der deutschen Literaturdidaktik heute. Vom Abschiedsblick auf den Gegenstand und seine Lernziele zum Blick auf die eigene Befindlichkeit mit ihren Kompetenzen am Beispiel des Antikriegsjugendbuches ›Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß‹ von Rudolf Frank« fasst HansChristoph Graf v. Nayhauss-Cormons einige Gedanken in Hinsicht auf die Entwicklung eines handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts in der Gegenwart zusammen. Seiner Meinung nach werden in der Literaturdidaktik kaum mehr Inhalte vermittelt. Um zu verdeutlichen, inwieweit Lernziele und Kompetenzen sowohl dem Lerngegenstand als auch dem Lernenden gerecht zu werden vermögen, präsentiert der Verfasser das Antikriegs-Jugendbuch »Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß« von Rudolf Frank als Beispiel literarischen Lernens und stellt die Frage: Warum soll man mit Jugendlichen ein Antikriegsbuch behandeln und was möchte man mit dieser Beschäftigung erreichen? Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk widmet ihren Beitrag »Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig als Fallbeispiel. Literatur als Rhizom von Zukunftsnarrativen« der Darstellung der Konzeption des Kulturzentrums. In ihrem Artikel präsentiert die Verfasserin Gedanken, die zur Profilierung der Institution beitragen könnten. Im Ideenentwurf wird vorgeschlagen, wie die Konzepte der modernen geisteswissenschaftlichen Forschung wie Interkulturalität, ›border studies‹, Gegengedächtnis und Dialogizität, in konkreter Kulturarbeit umgesetzt werden können. Manfred Gawlina geht in seinem Beitrag »Interpolation im Neuen Testament. Eine Machtkritik« den tausendjährigen Spuren der Abfassung und der Redaktion der Bibel nach. Im Vertrauen auf sprachwissenschaftliche Erkenntnisse setzt der Verfasser deren Analysemethoden und Erkenntnisse ein, um dem Ursprungstext der Heiligen Schrift näher zu kommen. In dem Gespräch mit Katja Petrowskaja, das Monika Wolting führte, geht es um die Bedeutung der Sprache, der Erlebnisse und der Emotionen für die Literatur. Die Autorin erzählt von ihrem Leben und Schreiben in Deutschland, von ihren Erinnerungen an die Zeiten der Perestroika und von ihrem Engagement für eine bessere Zukunft. Den Band runden »Fünf Gedichte für Norbert Honsza« von Wolfgang Bittner und ein Nachruf auf Norbert Honsza von Stephan Wolting ab. Wir bedanken uns bei allen Verfasserinnen und Verfassern, die unserer Einladung zu diesem Band gefolgt sind. Unser Dank gilt ebenfalls der Alexander von Humboldt-Stiftung, die es möglich machte, diesen Sammelband im Rahmen des Projekts »Topographien der Globalisierung« zu publizieren. Ganz herzlich danken wir Herrn Professor Honsza posthum für seine Unterstützung unserer wissenschaftlichen Vorhaben.

Hubert Orłowski (Poznan´)

Vom Zufall, vom Annähern an ›das Globale‹. In memoriam Norbert Honsza »Der Zufall ist die Erfahrung faktischer Einmaligkeit …«1

Lassen Sie mich eingangs auf unsere Kollegialität, wenn nicht sogar auf die einmalige Freundschaft, zurückzukommen, die mich und Professor Norbert Honsza jahrzehntelang verbunden hat. Erwähnenswert ist sie wohl vor allem aus einem Grunde, nämlich dem des Ursprungs selbst. Die Rückerinnerung an jenen Ursprung, an jenes für uns beide wohl unterschiedlich begriffene einzigartige ›Glacis‹ einer intellektuellen Begegnung vor fünfzig Jahren, ist hier nun sowohl als Einstieg in unsere, ein halbes Jahrhundert andauernde Beziehungsgeschichte zu verstehen, als auch in das weite Feld des Zufalls. »Tief ist der Brunnen der Vergangenheit«…; aber nicht unergründlich! Vor Jahrzehnten, als ich in der Frühzeit meiner publizistischen Aktivität wiederholt bemüht gewesen bin, polnische Leser auf germanistische Publikationen bzw. auf die deutsche Literatur bezogene Veröffentlichungen aufmerksam zu machen, las ich auch u. a. punktuell und kritisch den Band »W kre˛gu literatury niemieckiej« (»Im Kreise der deutschen Literatur«) von Norbert Honsza. Jugendliche Verbissenheit und primanerhafte Prinzipientreue waren für mich zu jenem Zeitpunkt ein verpflichtender Orientierungsfokus. Mein recht tendenziös orientierter Verriss erschien in der Wochenzeitschrift »Współczesnos´c´« (»Die Gegenwart«, 1969); denn in der Tat: Es war ein Verriss, obzwar ich zu jenem Zeitpunkt noch nicht mit dieser Kategorie und mit dieser Perspektive allzu befreundet war. Auf Umwegen erreichten mich Gerüchte von Norbert Honszas emotionaler Reaktion und verständlicher Irritation. Das Ziel durfte also als erreicht bezeichnet werden…: ein nur wenige Jahre älterer Kollege wurde von nun ab (nach meinem Selbstverständnis) als publizistisch ›diszipliniert‹ begriffen …. Wenige Jahre später bemühte ich mich um ein heißbegehrtes Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung; nicht nur aufgrund einer sachlich begründeten Bewerbung, sondern auch auf dem bürokratisch-realsozialistischem« 1 Hoffmann, Arnd: Zufall und Kontingenz in der Geschichtstheorie. Mit zwei Studien zu Theorie und Praxis der Sozialgeschichte. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2005, S. 67.

20

Hubert Orłowski

(Um-)Wege eines Antrags via Hochschulministerium in Warschau. Erfolglos! In einem knappen Schreiben wurde mir mitgeteilt, mein Antrag gehöre in die Peripherien der aktuellen Hochschulpolitik. Mein ›Fall‹ wurde erstaunlicherweise (inoffiziell) publik; ist doch meine damals erschienene Monographie »Literatura w III Rzeszy« (»Literatur im III. Reich«) vielmals rezensiert und zitiert worden. All dies erwähne ich nicht aus purer Selbstdarstellungssucht, sondern um Norbert Honszas einmalige Entscheidung und Haltung herauszustellen. Was passierte nun also?! – Ein Anruf! Ja: ein Anruf von Professor Honsza! Ohne mit einem einzigen Wort auf meine scharfe Kritik an seiner Monografie einzugehen, teilte er mir mit, er sei von meinem missglückten Bemühen um ein Stipendium der Humboldt-Stiftung informiert und biete mir nun seine kollegiale Hilfeleistung an. In wenigen Tagen reise er nach Westberlin; und so könnte er mein Bewerbungsdossier mitnehmen, um es von Berlin-West aus an die Humboldt-Stiftung in Bonn-Bad Godesberg zu senden. (Erwähnt sei, dass zu jenem Zeitpunkt Professor Honsza als einer der ersten polnischen Humboldtstipendiaten schon bekannt gewesen ist!) Ich stand vor einer schweren Entscheidung. Überraschung, Hoffnung und Freude – einerseits, Fragen, Zweifel und Bedenken – andererseits. Darf ich, soll ich einem Kollegen vertrauen, dem ich mit meiner Rezension wenig Gefallen getan hatte? Intuitiv traf ich die richtige Entscheidung: Norbert Honsza ist zu vertrauen! Und so, auf diesem wohl einmaligen Wege, gelang mein Bewerbungsantrag nach Bad Godesberg. Meine Bewerbung wurde begutachtet und positiv eingestuft! Das Hochschulministerium gestattete mir, nach längerem Bemühen meinerseits, dann endlich die Ausreise! All diese Ereignisse prägten tief und dauerhaft meine, ja: und wohl auch unsere freundschaftliche Beziehung. Die Einladung, mich am Band für Professor Honsza zu beteiligen, ist für mich vor allem also eine Gelegenheit an unseren frühen Freundschafts[p]akt zu erinnern, vor allem aber um mich bei Norbert Honsza gerade jetzt, nach seinem Ableben, herzlich und öffentlich zu bedanken! In diesem Zusammenhang möchte ich zugleich auch auf die intendierte Intention der Gedenkschrift eingehen, nämlich auf den historischen Augenblick, in dem der Band erscheinen wird, gedacht nämlich, als eine Schrift, die Werk und Wirken eines Gelehrten in unruhigen Zeiten zu demonstrieren und zu würdigen als Ziel hat. ›Inspiziert‹ man selbst flüchtig das opulente Schaffen von Norbert Honsza, so mag es auf den ersten Blick scheinen, als tausche er mit Vorliebe und vordergründig Interessengebiete, Autoren und Autorinnen oder auch Forschungsgebiete aus, als greife er wiederholt das Werk des einen oder des anderen Autors auf. Ein zweiter Blick verrät allerdings Honszas erstaunlich konstante Treue für (›nur‹) einige Autoren, Themen und Motive. Der dritte Blick hingegen – meines Wissens bislang kaum beachtet – verrät sogar eine einmalige Leidenschaft für

Vom Zufall

21

konkrete Schriftsteller und spezifische Problemstellungen; und dies in seinem gesamten Forscherleben. Wie ist das zu verstehen? Etwas verkürzt darf man wohl von einem Dreigestirn sprechen, dem Norbert Honsza mit erstaunlicher Konsequenz seine intellektuellen Energien gewidmet hat. Gemeint sind nämlich drei Schriftsteller, drei Erbauer von literarischen Merk- und Mahnsteinen zur jüngsten deutschen Geschichte, nämlich Thomas Mann (1972, 1975, 1977, 1988), Heinrich Böll (1995, 1997) und Günter Grass (1987, 2000, 2008, 2014). Die erwähnten Jahresdaten verweisen auf das Erscheinen seiner wichtigsten Publikationen zu den genannten Autoren. Was verbindet diese Schriftsteller? Alle Genannten gehören in die Loge der Nobelpreisträger und -trägerinnen; nicht das war für Norbert Honsza das Entscheidende, als er sich ihrem Leben und Schaffen vielmals und in wechselnder Erzählweise zuwandte. Es ist nicht mein Ziel – nicht nur wegen der riesig angewachsenen Forschungsliteratur zu den genannten Autoren – auf diesem Wege das Besondere von Norbert Honszas Schaffen herauszustellen. Das Besondere ist woanders zu suchen und zu finden, meine ich. Nämlich im Herausfinden der Unterschiede, den sie, die genannten drei Schriftsteller, in ihrem Denken und Schreiben über ›das Wirkliche zwischen Symbol und Substanz‹ kultureller Phänomene konzipiert sowie persönlich repräsentiert hatten. Honsza hat dies (wohl eher) intuitiv herausgefunden; aber wie auch immer: dies ist sein Verdienst. Ein jeder der drei Autoren ging in dieser Frage seine eigenen Wege, nämlich die der Spannung ›zwischen Symbol und Substanz‹. Für Thomas Mann war das der Weg von einer (emblematisch begriffenen) Welt ›konservativer Revolution‹ in Richtung auf eine (wie auch immer begriffene) Demokratie, für Heinrich Böll das Ringen um christliches Verhalten und Handeln in den ›unmenschlichen Zeiten‹ des III. Reiches und in denen der saturierten bundesdeutschen Gesellschaft, für Günter Grass wiederum ein ununterbrochen grotesk-satirisch-ironisches Spiel mit der deutschen (klein-)bürgerlichen Moral und der (Nicht-)Verantwortbarkeit ›der Deutschen‹. Man darf (und sollte wohl auch) fragen, welche Funktion nun in all diesem Zusammenhang die Kategorie, wenn nicht sogar die Perspektivierung per Zufall zu spielen habe, zu spielen hat. Ich gebe zu: Auf Umwegen, nachdenkend über die herausfordernde Formel von den »Topografien der Globalisierung«, bin ich nun hier bemüht, dieser Frage näher zu kommen. Ein in Vorbereitung begriffener Band der »Posener Deutschen Bibliothek« (»Poznan´ska Biblioteka Niemiecka«) zu den Kategorien ›Zufall‹ und ›Kontingenz‹ wird sich mit dem ›Netz‹ der Zufälligkeit in einer kommentierten Auswahl von Quellentexten ausführlich befassen; und diese Beschäftigung mit dem weiten Feld des Zufalls lenkt meinen Blick auf den Zufall ›als solchen‹ sowie auf die Rolle ›des Zufälligen‹ in den Beziehungen zwischen Norbert Honsza und mir.

22

Hubert Orłowski

Allerdings! Ich bin mir nicht ganz im Klaren, wohin die Herausgeberinnen der Gedenkschrift mit der Ausformulierung des auffallend programmatischen Titels des Projekts »Topografien der Globalisierung« zielen bzw. worauf sie hinauswollen und welche historische ›Marschroute‹ des 20./21. Jahrhunderts sie mit diesem derartig ›globalen‹ Begriffskomplex zu evozieren beabsichtigen. Globalisierung, ein wahrer ›Container‹-Begriff, ist nämlich ein in unseren Zeiten überdurchschnittlich gern verwendeter und überstrapazierter Begriff, welcher (selbst wenn nicht intendiert) nicht nur in den wie auch immer definierten Kulturwissenschaften in den Diensten einer »Kunst der Verunklärung« stehen kann. Immerhin scheint aber dieser den Verdacht einer methodologischen Omnipotenz erregende Begriff augenblicklich zu den (nicht nur politisch) griffigsten Topoi zu gehören. Der hier allerdings nur knapp angesprochene Begriff der Globalisierung richtet meinen Blick auf die gesamtheitliche Lage der Gesellschafts- resp. Geisteswissenschaften insofern, inwiefern sie jüngst verkürzt von dem Philosophen Ingolf Dalferth angesprochen und moniert worden ist. »Orientierungslos im Meer der Ideologien« lautet der Kern seines ›Gutachtens‹. Die Betitelung des polemischen Beitrags zur »Lage der Geisteswissenschaften« klingt also recht fatalistisch. Einer der Schlüsselsätze des Textes enthält Dalfehrts Credo: »Wissenschaftliche Reputation hängt an wissenschaftlicher Leistung. Alles andere befördert Ideologisierung und führt in die akademische Bedeutungslosigkeit.« Und weiter: Der Weg dorthin beginnt scheinbar harmlos. Man umrankt seine Anträge und Publikationen mit gesellschaftspolitischen Signalwörtern, um Auflagen der Verwaltung umzusetzen oder die Aktualität seiner Arbeiten zu belegen. Doch wo sich Forschung und Lehre primär der Rettung der Welt verschreiben, wo sie zur Arena von Gerechtigkeitskämpfen werden, wo es bei Forschungsprojekten vor allem darum geht, Machtverhältnisse aufzudecken, da werden Macht- und Gerechtigkeitsfragen schnell zum einzig wichtigen Thema.2

Gehört nicht also heutzutage – meine ich fragen zu müssen – die Kategorie Zufall oder – anders formuliert – der Gesamtdiskurs Zufälligkeit ebenso in den ›Machtbereich‹ des Globalisierungsrausches? Geht es nicht in diesem Bereich weniger um die Etablierung von Sachfragen denn um die Durchsetzung von Meinungen? Die unabdingbare, wenn auch meist unausgesprochene Voraussetzung sowie Attraktivität von Globalisierungstrends, -ideologien und -moden liegt ja wohl in deren Generalisierungsansprüchen, denen Halt zu bieten fast unmöglich scheint.

2 Dalferth, Ingolf U.: »Lage der Geisteswissenschaften: Orientierungslos im Meer der Ideologien«. In: FAZ, 23. 7. 2020.

Vom Zufall

23

Mein Ausgangs- bzw. Ansatzpunkt ist weit bescheidener als der (wohl vorstellbare) Initialzugriff der Herausgeberinnen, der (aus meiner Sicht) im methodologischen Mainstream von historischen Meistererzählungen, Großdeutungs- bzw. Globalisierungsgeschichten (Europas, der Welt) zu platzieren ist. Bescheidenheit sollte allerdings auf keinen Fall mit resignativer Haltung gegenüber Fragestellungen und Anzweifelungen gleichgesetzt werden. Berechtigt, wenn nicht sogar erforderlich, ist die Befragung (gegebenenfalls Verifizierung oder auch Falsifizierung) einer jeden (nationalen) Geschichtsschreibung in Sachen Zufalls-Perspektive. Die Sinnfindung des Zufalls in historischen Narrativen dürfte dabei vielleicht sogar zu einer Hauptfrage der jüngsten Geschichtsschreibung werden. Meine ersten Recherchen, konzentriert auf einige der in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts und im frühen 21. Jahrhundert erschienenen repräsentativ-monumentalen Geschichtswerken von Thomas Nipperdey, HansUlrich Wehler und Ulrich Herbert sollen als (meta-)narrative Demonstrationsobjekte für das (Nicht-)Vorkommen der Kategorie und/bzw. Perspektive ›Zufall‹ dienen. Unter meinen Überlegungen zur Betitelung des Bandes in der Buchreihe »Posener Deutsche Bibliothek« notierte ich selbst solche Ausformulierungen wie »O czytaniu/rozumieniu przypadku (»Die Lesbarkeit des Zufalls«) oder auch »Na pocza˛tku był… przypadek?« (»Im Anfang war … der Zufall«). Und dazu möchte ich nun in einigen wenigen Worten Stellung nehmen. Im historiographischen Argumentationsgewebe von Thomas Nipperdey, einem der Koryphäen deutscher Geschichtsschreibung der Nachkriegszeit, spielt die Kategorie des ›Zufalls‹ eine funktionell nicht zu übersehende Verortung, und dazu noch unter der Berufung auf die ersten Worte des Johannis-Evangelium »Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort«. Die einleitenden Worte im ersten Band seines gewaltigen Geschichtswerkes lauten nämlich: »Am Anfang war Napoleon.«3 Auf die Schlüsselrolle des ›eisernen Kanzlers‹ hingegen geht Nipperdey sogar zweimal in verbal recht brachialen Statements ein. Den ersten Teil des zweiten Bandes seines Werkes eröffnet er mit den Sätzen »Gewiß, die Geschichte, die 1866 begann, war offen. Und gewiß, sie war, mehr als üblich, von einem Manne geprägt, von Bismarck. Mit ihm fing alles an.«4 Der zweite Halbband wiederum wird eingeleitet mit den quasi kanonischen

3 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1800–1866. Bürgerwelt und starker Staat. Verlag C. H. Beck: München 1983, S. 11. 4 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918. Erster Band. Arbeitswelt und Bürgergeist. Verlag C. H. Beck: München 1991, S. 9.

24

Hubert Orłowski

Sätzen »Am Anfang war Bismarck. Vor zehn Jahren habe ich meine Geschichte des 19. Jahrhunderts mit dem Satz begonnen: Am Anfang war Napoleon.«5 Verkürzt, wenn nicht sogar verfälschend, wäre allerdings der Versuch, Nipperdeys Geschichte Deutschlands im 19. Jahrhundert auf diesen einzigen Satz komprimieren zu wollen. Im Abschluss des zweiten Bandes liefert der Verfasser eine perspektivisch erweiterte sozialgeschichtliche Stellungnahme. Und sie lautet: Aber es gibt doch äußere wie innere Faktoren, die den deutschen Imperialismus spezifizieren. Zuerst: Die Deutschen waren imperialistische Spätkommer […]. Der Übereifer nun war begleitet von der deutschen Perfektion und Effizienz, dem Ergebnis von Disziplin, Organisation und Begabung. Der fulminante und rasante Aufstieg der deutschen Wirtschaft und die Eroberung von Exportmärkten sind symptomatisch für diese Effizienz. Spätgekommen, übereifrig und schrecklich effizient, das machte die Deutschen nicht eben beliebt in der Welt.6

Eindeutig wird auf das Besondere der deutschen Entwicklung hingewiesen, also (auch) auf ›das Zufällige‹; nicht zuletzt in der Selbstauffassung und -darstellung. Eine gewisse Rolle spielt in diesem Zusammenhang wohl auch der Katholizismus des Autors, zumal er selbst in diesem Raum sozialen Handelns das Besondere des Zufalls und der Kontingenz nicht aus den Augen verliert: Wenn der religiöse Sinn des Lebens schwindet oder an den Rand rückt, wenn das Schwinden des Letzten nun viel Platz für all das Vorletzte läßt, dann ist die Frage, was an seine Stelle tritt. Die säkulare Kultur bietet sich entweder – wie die Kunst – ihren Teilhabern selbst als Sinn an oder doch als sinnvermittelnde Instanz, aber das bleibt nur Sache der Eliten, ohne vitale Kraft in der Bewältigung von Zufall (Kontingenz) und Unglück. Zur Modernität des 19. Jahrhunderts nun gehört es, daß politische Ziele fundamentale Sinnorientierung beanspruchen, politische Bewegungen Glaubensbewegungen werden, Politik Funktionen erfüllt, die ehedem die Religion wahrnahm – all das, bevor die Erfolge der Marktgesellschaft und die Enttäuschungen der Politik Wohlstand und Selbstverwirklichung auf den Thron gesetzt haben.7

Diese statementsartige Feststellung macht eines deutlich: Der Zufall ist als eine selbstverständliche Kategorie selbst in historische Großerzählungen hineingewachsen. In einer Art geschichtsphilosophischer Zusammenfassung geht Nipperdey erstaunlicherweise auch auf Bismarck und auf Hitler ein, indem er beide Politiker nämlich in dasselbe Charisma-Narrativ hineinzwängt. Indem er konstatiert: »Zu all dem kam nun die Person des Nachfolgers, Wilhelms II., dieses fleisch5 Nipperdey, Thomas: Deutsche Geschichte 1866–1918. Zweiter Band. Machtstaat vor der Demokratie. Verlag C. H. Beck: München 1992, S. 1. 6 Nipperdey, Deutsche Geschichte. 1992, S. 886. 7 Nipperdey, Deutsche Geschichte. 1992, S. 897f.

Vom Zufall

25

gewordenen Unglücks der jüngeren deutschen Geschichte von Hitler«,8 zwängt er sie überdeutlich in die Konvulsionen des deutschen Geschichtsverlaufs. Er beruft sich sogar auf Max Weber, um die Kontinuierlichkeit der ›Zufallslinie‹ zu verstärken: »Es ist kein Zufall, daß einer der größten Geister der Zeit, Max Weber, ein entschiedener Nationalist gewiß, den nationalistischen Kaiser und all seine Unfähigkeit abgrundtief gehaßt und für das deutsche Unglück mitverantwortlich gemacht hat.«9 Auch Hans-Ulrich Wehler positioniert die Bedeutung der Weberschen Kategorie der charismatischen Herrschaft (als Ausnahme und Zufall!) in der deutschen Geschichte entsprechend hoch, wobei seiner Meinung nach die »abgehobene Sonderstellung des deutschen Diktators [Hitler] […] nicht nur auf seinem Personalcharisma [beruhe], sondern auch und vor allem auf dem zugeschriebenen Charisma des Wundertäters, des Erlösers, des ›zweiten Bismarck‹«.10 Diese These wird dann mehrfach wiederholt, variiert und dann sogar in einer harten Version apodiktisch ausformuliert: »Ohne Hitlers charismatische Sonderstellung mit ihrem Monopol der Weltdeutung und Handlungsanweisung für den finalen Krieg zwischen Ariern und Juden wäre es nicht zum Holocaust gekommen.«11 Vielleicht ist also dem ›Zufallsforscher‹ Arnd Hofmann recht zu geben, wenn er behauptet, Wehler verstehe unter Geschichtsschreibung grundsätzlich nichts anderes als ein »Kontingenzreduktionsunternehmen«?! Einen weit wichtigeren Einblick in Wehlers Vorgehen mit dem Zufall bietet sein Hauptwerk, nämlich der dritte und vierte Band der »Deutschen Gesellschaftsgeschichte«. Ein zentrales Anliegen des Autors ist nämlich eine ausführliche Analyse der Rolle »charismatischer Herrschaft« in Deutschland.12 Wehler nominiert Bismarck zum Politiker, der in Deutschland »als erster«13 charismatische Herrschaft ausgeübt habe. Weit mehr Raum sowie vertiefte analytische Aufmerksamkeit widmet Wehler dem ›Charismatiker‹ Adolf Hitler. Des ›Führers‹ Aufstieg, Karriere und Macht finden seine ausführliche Aufmerksamkeit im vierten Band seines gewaltigen Geschichtswerks.14 Es fallen dort Worte, die auf den ersten Blick befremdend sein mögen. Wehler behauptet nämlich:

8 Nipperdey, Deutsche Geschichte. 1992, S. 421. 9 Nipperdey, Deutsche Geschichte. 1992, S. 422. 10 Wehler, Hans-Ulrich: Der Nationalsozialismus. Bewegung, Führerschaft. C. H. Beck: München 2009, S. IX. 11 Wehler, Der Nationalsozialismus. 2009, S. X. 12 Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band. C. H. Beck: München 1995, S. 368f. 13 Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 1995, S. 376, S. 848f. 14 Vgl. Wehler, Hans-Ulrich: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Vierter Band. C. H. Beck: München 2003, S. 542f.

26

Hubert Orłowski

Pointiert gesagt: Ohne Hitler wäre der Nationalsozialismus aller Wahrscheinlichkeit nach eine ordinäre autoritär-nationalistische Partei mit diffusen Zielen geblieben, wie es sie mancherorts gab, ohne aber zu einer der verhängnisvollsten Destruktivkräfte des 20. Jahrhunderts aufsteigen zu können. […] In der Aufklärung der Wechselwirkung zwischen diesem welthistorischen Individuum und seiner Gesellschaft liegt daher der Schlüssel zu einer rationalen Analyse des Nationalsozialismus.15

In solch einem Zusammenhang benennt nun Wehler die von Max Weber konzipierte Kategorie als einen »noch weit aufschlußreichere[n] Idealtypus zur Anleitung der Interpretation, wenn es um Hitlers Aufstieg, den Charakter der nationalsozialistischen Massenbewegung […] geht.«16 Für Wehler sind nämlich »die Natur charismatischer Herrschaft«, »die Monokratie des ›Führers‹ und die Polykratie der Machtzentren«17 Schlüsselfragen des ›Zufälligen‹ im III. Reich. Und nicht nur das. Ein weiteres synthetisierendes Unterkapitel betitelt er zudem vielsagend: »Ergebnisse charismatischer Herrschaft: Kontinuitätslinien vom Kaiserreich bis 1945.«18 Auch der Historiker Ulrich Herbert geht in seiner unlängst erschienenen »Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert« auf die deutschen ›Sonderwege‹ ein. Selbst im »Vorwort« lässt er schon wissen: Und doch dominiert in Europa nach wie vor eine Sichtweise, die den Nationalstaat als den vermeintlich natürlichen Aggregatzustand der historischen Entwicklung begreift und sich darum bemüht, nationale Differenzierungen und Sonderwege, Kontingenz und Divergenz als primäre, Konvergenz und Vereinheitlichungen hingegen eher als nachgeordnete Prozesse zu begreifen.19

Und wohl nicht zuletzt deswegen geht er dann in seinen weiteren Ausführungen mehrmals auf potenziell nicht auszuschließende historische Wegscheiden der deutschen Geschichte ein und stellt eine Reihe quasi rhetorischer Fragen: Wie die Entwicklung in Deutschland von der wirtschaftlichen und kulturellen Blüte des Landes um die Jahrhundertwende zu diesem Tiefpunkt führen konnte, ist die eine Frage. Wie die Deutschen in den folgenden sechzig Jahren aus dieser Apokalypse herausfanden, die zweite. Gleichwohl, die Menschen wussten fünfzig oder zwanzig Jahre zuvor nicht, was im Sommer 1942 geschehen würde, sie konnten das nicht einmal ahnen. Das gilt sogar für die Antisemiten und die zu dieser Zeit noch ziemlich wenigen Nationalsozialisten. Das begrenzt die Frage, ›wie es dazu kommen konnte‹, und verweist auf die Offenheit des Geschehens, auf die Alternativen und die zahlreichen Nebenwege und Seitengassen der Geschichte. Noch im Juli war der Erste Weltkrieg abwendbar. Bei den Reichstagswahlen vom 28. Mai 1928 erzielten die Nationalsozialisten ganze 15 16 17 18 19

Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 2002, S. 551. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 2002, S. 552. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 2002, S. 623. Vgl. Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte. 2002, S. 933. Herbert, Ulrich: Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. C. H. Beck: München 2014, S. 11.

Vom Zufall

27

2,6 Prozent der Stimmen. Noch im Herbst 1939 war das Schicksal der europäischen Juden ungewiss. Wer nur nach der Vorgeschichte der Probleme der Gegenwart oder der zeitlich je unterschiedlichen Gegenwarten fragt, folgt einer verborgenen Teleologie und blendet jene Entwicklungen aus, die abgebrochen wurden, die scheiterten oder im Sande verliefen.20

Vorbehaltlos nimmt Herbert an, daß die Durchsetzungskraft der NSDAP vor allem darauf zurückzuführen sei, »daß sie als einzige über eine herausragende Führungsfigur verfügte, welche die Partei einte und die Massen begeistern konnte.«21 War dies nun ein Zufall – möchte man wissen – in dem Sinne, wie ihn der Historiker in einer der Folgen des »[K]alten Krieges« sehen möchte? Herbert versicherte nämlich: »Das war für die Deutschen – vor allem für die Westdeutschen, wie sich bald herausstellen sollte – ein bemerkenswerter Glücksfall.«22 Hm: Ein Historiker argumentiert über die Glücksschiene …?! Wenn Ute Daniel Recht hat zu behaupten, der Begriff ›Zufall‹ sei ein Schlüsselwort der Kulturgeschichte, dann meinte sie es wohl im Kontext solcher Ausführungen wie derjenigen des amerikanischen Historikers Gordon Craig, die er zu Hitler mit der Meinung vertrat, »daß ›der Dämon Zufall‹ dem verwegenen Glücksspieler und Hochstapler Hitler bei seinem Aufstiege und bei seiner schließlichen Berufung zum Kanzleramte zu Hilfe gekommen sei.«23 Es gilt Abschied zu nehmen. Von Dir, Lieber Norbert. Wo auch immer sich Dein Geist aufhalten mag, es soll Ihm, es soll DIR gut ergehen; was immer das auch bedeuten mag. Es gab Zufälle, es gab DEN ZUFALL, der uns zusammengeführt hat. Ihm sei, allerdings IN ABSTRACTO, gedankt.

20 21 22 23

Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. 2014, S. 15f. Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. 2014, S. 280. Herbert, Geschichte Deutschlands im 20. Jahrhundert. 2014, S. 561. Craig, Gordon A.: »Hitler und die neue Generation«. In: Craig, Gordon A.: Über die Deutschen. dtv: München 1982, S. 74.

Manfred Osten (Bonn)

Globalisierung und Entschleunigung. Ein Essay

Beschleunigung und rasender Stillstand, Herkunftsvergessenheit und sittliche Verwilderung: Die Phänomene der Globalisierung sind keine Erfindung der Moderne. Bereits Goethe ahnte, was auf die Menschheit zuzukommen drohte. Zumal im »Faust« kann man es nachlesen. »Denn Zyniker sind nicht dumm, und sie sehen durchaus hin und wieder das Nichts, zu dem alles führt.« Eine Einsicht Peter Sloterdijks in seiner unorthodoxen, lebenskritischen »Kritik der zynischen Vernunft«, in der er vor über 20 Jahren bereits eindringlich auf den »philosophischen Rang« des Goetheschen »Faust« für das heraufziehende Zeitalter der Globalisierung hingewiesen hat. Goethes Mephisto präsentiert sich hierbei als der erste heiter-nihilistische Kritiker jener Globalisierungsgesellschaft, deren Zynismus inzwischen »längst die Schlüsselstellungen der Gesellschaft« (Sloterdijk) erobert hat.

Weltliteratur In der Tat ist Goethe früh angekommen im globalen Dorf, hier, wo die Flagge des rasenden Stillstands digitaler Lichtgeschwindigkeit weht. Und er hat sie früh erkannt, die »Weltrisikogesellschaft« (Ulrich Beck), in der zunehmend die Angst, die Antizipation von Katastrophen, das Lebensgefühl bestimmt und wo der schrille Ruf nach Sicherheit die Werte von Freiheit und Gleichheit zu verdrängen droht. Und dennoch, Goethe war alles andere als ein Alarmist. Er ist vielmehr auch in Sachen der sich ankündigenden Globalisierung seiner Maxime treu geblieben: »Ich gehe so gern, wo die Widersprüche schwirren.« Das heißt, er hat letztlich weder das Positive noch das Negative zu sehr verehrt. Er hat vielmehr beides ironisch im Sinne »sehr ernster Scherze« betrachtet, um auf diese Weise dem einen wie dem anderen den Charakter des Problematischen zu erhalten. So hat er denn 1827 mit dem Begriff »Weltliteratur« bereits die literarische Globalisierung eingeläutet und der Moderne erste Orientierungshilfe geboten: »Nationalliteratur will jetzt nicht viel sagen, die Epoche der Weltliteratur ist an

30

Manfred Osten

der Zeit.« Um dann aber an anderer Stelle die Warnung hinzuzufügen: »Jetzt, da sich eine Weltliteratur eingeleitet, hat, genau besehen, der Deutsche am meisten zu verlieren; er wird wohltun, dieser Warnung nachzudenken.« Friedrich Nietzsche mutmaßte 1886, Goethe sei in der Geschichte der Deutschen »ein Zwischenfall ohne Folgen«. Er ahnte aber nicht, dass Goethe wenige Jahre nach seinem Tod (1832) bereits zum Vorreiter der Frühphase der Globalisierung avanciert war. Karl Marx hatte anhand der »Faust«-Tragödie dingfest gemacht, dass Goethe doch weit mehr war als ein »Zwischenfall ohne Folgen«. 1847 im »Manifest der Kommunistischen Partei« hatte er (mit Engels) den Prozess einer globalen Entfesselung des Kapitals charakterisiert mit den Worten: »Alle festen eingerosteten Verhältnisse […] werden aufgelöst, […] Alles Ständische und Stehende verdampft.« Der junge Marx hatte sich hierbei von Goethes Mephisto inspirieren lassen, der im »Faust« das Erfolgsrezept des Kapitals bereits mit den Worten beschreibt: »Wenn ich sechs Hengste zahlen kann, /Sind ihre Kräfte nicht die meine?/Ich renne zu und bin ein rechter Mann,/Als hätt’ ich vier und zwanzig Beine.« Eine Erkenntnis, die Marx kommentiert hatte: »Was ich zahlen, d. h. was das Geld kaufen kann, das bin ich, der Besitzer des Geldes selbst. […] Ich-meiner Individualität nach – bin lahm, aber das Geld verschafft mir 24 Füsse, ich bin also nicht lahm; ich bin ein schlechter, unehrlicher, gewissenloser, geistloser Mensch, aber das Geld ist geehrt, also auch sein Besitzer […]. Geld ist also der wirkliche Geist aller Dinge, wie sollte sein Besitzer geistlos sein?« Es grüßen von ferne die »Heuschrecken« der Finanzmärkte des 21. Jahrhunderts. Goethes Faust aber ist es, der diese »Heuschrecken« digital beschleunigt früh auf den Weg bringt mit dem modernsten aller Flüche: »Fluch vor allem der Geduld«. Mephisto verschafft dieser Ungeduld 24 Füße. Im Dienste einer entfesselten Beschleunigungs- und Wachstumsdynamik bietet er Faust die Instrumente des Fortschritts an: den schnellen Degen, den schnellen Mantel, das schnelle Geld. Und als Dreingabe den schnellen Mord und die schnelle Liebe. Es ist diese globale Unterwerfung unter das Diktat der Beschleunigung, die Goethe 1825 auf eine Formel bringt, deren Aktualität auf der Hand liegt, »alles veloziferisch«. Er verbindet hierbei die Eile (velocitas) mit Luzifer zum Psychogramm des 21. Jahrhunderts.

Gesellschaft des Vergessens Zur Beschleunigung kommen die Orgien des Vergessens: Faust liquidiert das Gedächtnis als die Bedingung personaler und kollektiver Identität, indem er in Lethes Tau, im Wellness-Bad des Vergessens, die Schleifspur seiner Verbrechen löscht. Faust befreit sich im Interesse globaler Flexibilität und Offenheit vom

Globalisierung und Entschleunigung

31

lästigen »Ballast« gedächtnisgestützter Phänomene wie Moral und Sittlichkeit. Er folgt hierbei dem ironischen Goethe-Motto einer globalisierungsfreundlichen Fortschritts-Ethik: »Wollt ihr Moralien, so nehmt von den frischesten.« Denn Goethe weiß: »So wenig nun die Dampfwagen zu dämpfen sind, so wenig ist dies auch im Sittlichen möglich.« Faust also als Pionier einer Gesellschaft des Vergessens. Das heißt, er setzt jene Einsicht außer Kurs, die Kierkegaard der Gedächtniserosion entgegenhalten wird. Dass nämlich das Leben zwar vorwärts gelebt, aber nur rückwärts verstanden wird. Faust zerstört die Möglichkeit, das Leben rückwärts zu verstehen. Mit der Zerstörung der Gedächtnisarchive ebnet Faust gleichzeitig die Wege zum Bildungsbegriff der Globalisierung. Wege zu einer Bildung, die nicht mehr verstanden wird als gedächtnisgestützte Urteilskraft, sondern als beschleunigter Erwerb von Zukunftskompetenz ohne Herkunftskenntnisse. Mit der damit notwendigerweise verbundenen Unfähigkeit, Qualitätsbeurteilungs- und Wertekriterien für eine sinnvolle Bewältigung von Gegenwart und Zukunft aus dem Archiv der Fehler und Vorzüge der Vergangenheit zu gewinnen. Gleichzeitig wächst die Versuchung des Regierens nach der Devise »Es gilt das gebrochene Wort«, da das gestern gesprochene Wort nicht mehr gegenwärtig ist. Hinzu kommt der drohende Verlust aller auf Gedächtniskultur angewiesenen Parameter der Humanität. Eine Gefahr, die schon Grillparzer 1849 als Folge gedächtnislosen Fortschritts beschrieben hat: »Der Weg der neuen Bildung geht/ Von der Humanität/Durch die Nationalität/zur Bestialität.« Bei Goethe geht diesen Weg der Baccalaureus im zweiten Teil der »Faust«-Tragödie. Für ihn hat sich die Bevölkerungspyramide bereits umgedreht. Angesichts steigender Staatsverschuldung zur Finanzierung der Sozialsysteme entwickelt er einen Masterplan zur globalen Entsorgung demografischer Probleme. Den als greisen Gelehrten verkleideten Mephisto konfrontiert er mit einem Vorschlag in Sachen Sterbehilfe: »Das Alter ist ein kaltes Fieber/Im Frost von grillenhafter Not;/Hat einer dreissig Jahr vorüber, /So ist er schon so gut wie tot./Am besten wär’s, Euch zeitig totzuschlagen.« Mit dem Verlust der Parameter der Humanität öffnet Goethe aber auch das Tor zur (ironischen) Antizipation globaler Science-Fiction-Phantasien mit dem Ziel einer Optimierung des Menschen. Der Versuch, den menschlichen Phänotyp zu ändern durch Eingriff in seinen Genotyp, misslingt zwar (im zweiten Teil der »Faust«-Tragödie): Der (mit Mephistos Hilfe) künstlich generierte Mensch präsentiert sich als nur halb zur Welt gekommener Homunculus. Aber gelungen ist, wie die intellektuellen Kunststücke dieses Homunculus zeigen, ein wichtiges Ziel des zum Gentechniker avancierten Famulus Wagner, »ein Hirn, das trefflich denken soll«. Eine Optimierung des menschlichen Gehirns also, die bereits die Frage aufwirft, wem im Reich evolutionswissenschaftlich begründeter Beliebig-

32

Manfred Osten

keit die Entscheidungskompetenz in Fragen einer künftigen Bestimmung des menschlichen Phänotyps zuerkannt werden soll.

Flucht und Migration Anders als sein Famulus Wagner weist der auf Weltherrschaft sinnende Faust in eine ganz andere globale Zukunft, nämlich Vertreibung, Flucht und Migration. Denn Faust erwägt bei der Liquidierung von Philemon und Baucis die Möglichkeit einer gewaltsamen Inbesitznahme des Anwesens durch Vertreibung. Der Vertreibungsgedanke stützt sich hierbei auf das Vierte Buch Moses: Die beiden Alten sind nämlich für Faust »Dorn den Augen, Dorn den Sohlen«. Es sind dies die Worte Gottes, mit denen er die Kinder Israel in das Land Kanaan einweist. Mit der Warnung, bei der Vertreibung der Kanaaniter niemanden im Lande zu belassen, da sie sonst »euch bedrängen in dem Lande, in dem ihr wohnt«. Ein abgründiges Wort, dessen Aktualität (im Zuge der Globalisierung) inzwischen dramatische Dimensionen gewonnen hat. Mit Migrationsbewegungen, die Goethe bereits vorführt am Beispiel politischer Flüchtlinge (»Hermann und Dorothea« und in den »Unterhaltungen Deutscher Ausgewanderten«) und des migratorisch global ausgreifenden Studierstubenflüchtlings Faust. Auch das mit dem Globalisierungsphänomen der Migration drohende Ende des westlichen Selbstverständnisses als einer säkularisierten eurozentristischen Belehrungsgesellschaft hat Goethe bereits fest im Blick. Im »West-östlichen Divan« findet sich die Warnung: »Das eigentliche, einzige und tiefste Thema der Welt- und Menschengeschichte, dem alle übrigen untergeordnet sind, bleibt der Konflikt des Unglaubens und Glaubens.« Eine Prognose, 180 Jahre vor Huntingtons »Clash of Civilizations«, die der Einsicht geschuldet ist, dass der Islam sich definiert vor dem Hintergrund eines ungebrochenen glaubens- und damit gedächtnisgestützten sakralen Weltverständnisses. Mit der notwendigen Folge, dass aus der Sicht des Islams auf westlicher Seite jede Identität eines Dialogpartners fehlt. Zumindest, solange die Globalisierung dem westlichen Muster einer Aufklärung folgt, die sich im faustischen Sinne versteht als Abwerfen von Gedächtnis- und Glaubens-»Ballast« im Interesse einer beschleunigten Gewinnung von Zukunft ohne Herkunft.

Goethes Therapie-Vorschlag Goethe hat es nicht bei der Diagnose der Kollateralschäden der Globalisierung belassen. Die veloziferisch-faustische Entgrenzung der Ungeduld endet zwar im 5. Akt der Tragödie in der totalen Erblindung Fausts. Es ist die Sorge als fatales

Globalisierung und Entschleunigung

33

Stigma der globalisierten Welt, die ihn blind werden lässt für die Realität der analogen Welt. Mit dem Ergebnis eines (blindheits-bedingten) totalen Verlusts des Ansehens von Natur und Mensch – mit der Folge ihrer Zerstörung. Aber mit der Gestalt des nicht-veloziferischen Lynkeus weist Goethe gleichzeitig hin auf die – auch für das 21. Jahrhundert weiter offen stehende – Rettungsmöglichkeit einer Rückgewinnung des Ansehens von Natur und Mensch durch ihr (sinnliches) Ansehen: »Zum Sehen geboren/Zum Schauen bestellt…So seh ich in allen die ewige Zier.«1

1 Der Beitrag erschien am 22. 09. 2007 in der NZZ. Der Abdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Redaktion der NZZ.

Bodo Heimann (Kiel)

Oswald Wiener und seine »verbesserung von mitteleuropa«

Oswald Wiener, am 5. Oktober 1935 in Wien geboren, studierte zwischen 1953 und 1958 eine Vielzahl von Fächern an der Universität Wien: Rechtswissenschaft (1954), Musikwissenschaften (1955/56), Afrikanische Sprachen (1956/57), Mathematik (1958), machte aber bei so vielfältigen Interessen in keinem der Fächer einen akademischen Abschluss. Während der Studienzeit spielte er auch als Trompeter in einigen Jazzbands. Von 1958 bis 1966 arbeitete er, zum Schluss in leitender Position, für die Firma Olivetti im Bereich Datenverarbeitung. Durch seine Freundschaft mit Konrad Bayer bekam er Kontakt zur literarischen Wiener Gruppe mit Artmann, Achleitner und Rühm. Als Mitveranstalter eines studentischen Ereignisses unter dem Titel »Kunst und Revolution« sprach Wiener 1968 in Hörsaal 1 des Neuen Institutsgebäudes der Universität Wien »Über den Zusammenhang zwischen Denken und Sprechen«. Dieser 7. Juni 1968 wurde zu einem revolutionären Höhepunkt der Wiener Studentenbewegung, der auch als »Uni-Ferkelei« bezeichnet wurde und nach dem polizeilichen Eingreifen ein juristisches Nachspiel hatte. Wiener floh 1969 nach Berlin. Er eröffnete dort ein Gasthaus mit dem Namen »Exil« und studierte an der Technischen Universität Berlin von 1980 bis 1985 Mathematik und Informatik. Seit dieser Zeit besteht der Schwerpunkt seiner Arbeit in einer Synthese aus Kognitionswissenschaften und künstlerisch-philosophischer Literatur. Dabei versuchte er, naturwissenschaftliche Denkweisen auf die Philosophie anzuwenden. Seit 1986 lebte Wiener in Dawson City, Kanada und in Krefeld. Von 1992 bis 2004 war er Professor für Poetik und künstlerische Ästhetik an der Kunstakademie Düsseldorf, 1995 wurde er Ehrendoktor an der Universität Klagenfurt. Seine frühen literarischen Versuche, Prosa, Gedichte, Montagen, Konstellationen, Chansons, szenische Stücke, hatte Wiener Ende der fünfziger Jahre vernichtet, beeinflusst durch seine 1958 beginnende Beschäftigung mit Ludwig Wittgenstein und die um diese Zeit stärker in das öffentliche Interesse gerückten Schriften Fritz Mauthners. Außer einigen Gedichten blieben fast nur Gemeinschaftsarbeiten mit anderen Mitgliedern der Wiener Gruppe erhalten.

36

Bodo Heimann

Wieners bekanntestes Werk »die verbesserung von mitteleuropa« erschien zunächst zwischen 1965 und 1967 in der Grazer Literaturzeitschrift »manuskripte« als Fortsetzungsroman eigener Art, danach als Buch im Rowohlt Verlag.1 Rund ein halbes Jahrhundert später erschien es als Layoutidente Neuauflage bei Jung und Jung in Salzburg und Wien,2 herausgegeben und mit einem Nachwort von Thomas Eder. Wiener bezeichnete sein Buch als »roman«, begann dann aber seltsamerweise mit einem »personen- und sachregister«, das erstens ein wissenschaftliches, kein erzählerisches Ordnungsprinzip vermuten lässt und zweitens auch nicht an den Anfang, sondern ans Ende gehört hätte. Irritierend wie diese Anordnung ist auch die Zusammenstellung der Namen. Sie scheinen auf keinen fiktionalen Zusammenhang zu verweisen, »bergson«, »bakunin«, »bebel«, »beckett«, »bense«, »descartes«, »feuerbach«, »hegel«, »heidegger«, »heisendberg«, »hitler«, »hobbes«, »joyse«, »marx«, »newton«, »schiller«, »schopenhauer«, »wittgenstein«, »zola« und viele andere seitenlang deuten – in Wieners konsequenter Kleinschreibung leicht verfremdet – auf politische ebenso wie philosophische und literaturgeschichtliche Zusammenhänge. Dieser »roman«, so viel verrät schon das Register, erzählt nicht die Geschichte bestimmter Personen, sei es eines Individuums oder einer Familie oder Gruppe, sondern bewegt sich diachron und synchron durch die europäische Geschichte und richtet sein globales Interesse darüber hinaus auf die Deutung und Entwicklung der Welt überhaupt. In diese Richtung weisen Sachwortverzeichnisse wie »abbildung«, »arbeit«, »bedeutung«, »bewusstsein«, »denken«, »erkenntnis«, »geheimnis«, »grammatik«, »sprache«, »verstand«, »zeit«, »zweifel« und mehr. Schon im Register wird auch deutlich, dass es sich nicht um ein philosophisches oder sprachkundliches Sachbuch handelt, denn es enthält auch Namen wie »helga« und »herbert« – zwischen »heisenberg« und »herder« – und »olga« und »oswald« und »ossi«, die Namen des Verfassers, der auch als Romanfigur auftritt, dazu Hinweise wie »arsch« – zwischen »argument« und »astronaut« – »blöd«, »faselei«, »ja, scheisswelt« – zwischen »scheisse« und »schiller« – und »vögeln«. Das alles und noch viel mehr erscheint am Anfang im Register auf reichlich neun Seiten zu je zwei Spalten. Mit dem Erfolg, dass sich Leser hin und her blätternd für dies und jenes interessieren können und dazu die jeweils passende Seite suchen. Die Seiten des ganzen Buches sind wiederum ungewöhnlich und anspruchsvoll in römischen Ziffern angezeigt. 1 Wiener, Oswald: die verbesserung von mitteleuropa. roman. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 1969. 2 Wiener, Oswald: die verbesserung von mitteleuropa. Roman, Layoutidente Neuauflage, hrsg. und mit einem Nachwort von Thomas Eder, Salzburg und Wien: Jung und Jung 2014 (im Folgenden unter der Sigle »VM« mit Seitenzahl im Text, die angegebenen römisch bezifferten Seitenangaben sind für beide Ausgaben identisch).

Oswald Wiener und seine »verbesserung von mitteleuropa«

37

Dem Doppelspiel der Auflösung der literarischen Gattung Roman durch scheinbare Wissenschaftlichkeit und Auflösung von Wissenschaft durch Parodie dient auch die Anfügung von »anmerkungen« so wie das für einen Roman ungewöhnliche »literaturverzeichnis«. Schon aufgrund der Form, aber auch wegen der zahlreichen offenen und verdeckten Anspielungen auf Theorien, auch wegen der mitunter äußerst hochgetriebenen Sprache setzt Wiener akademisch gebildete Leser voraus, um ›verstanden‹ zu werden und provokatorisch zu wirken. So machen die Inkohärenz der Teile, die unausgeführten Bruchstücke, die Nonsensepassagen, die Auflösung von Sprache und Textbild, z. B. VM, XCVII f., das Buch stellenweise unintelligibel. Dieser Bruch wird von Wiener ausdrücklich reflektiert, die Unverständlichkeit geradezu gewollt: »sagt er: weisst ossi…, ich versteh immer nur ein viertel von dem was du sagst (wie du, verkommener bankert, der du hier schmökerst) (er schaut auch recht blöde drein wenn er zuhört) (wie du!) sagt er« (VM, LXX). Die Invektiven sind nur zum Teil auch eine Aufforderung zu genauem Lesen, wie sie auch an anderer Stelle, ebenfalls ironisch wiederkehrt: ihr müsst euch mehr zeit nehmen! heutzutag lesen die menschen nicht mehr richtig: viel zu flüchtig! sie haben das lesen verlernt! was für ein schaden, am besten schlagt ihr’s wieder weiter vorn auf seite XV oder XXV, und studiert die ganze geschichte noch einmal durch (VM, CXXIV).

Vordergründig ist dies ein Wort des Autors an den Leser. Aber der Autor spricht nicht ›eigentlich‹, sondern zitiert gängige Phrasen und macht sich auf diese Weise über die Aufforderung zugleich lustig. Solche Vorformung durch Sprache sieht Wiener kritisch, weil sie eigenes authentisches Leben der Menschen verhindert. Bedient man sich der gesellschaftlichen Sprache, so nicht mehr ›eigentlich‹, sondern zitierender Weise: ein baum wurde langsam wieder ein baum, aber es war eine andere sorte baum als früher und nicht eigentlich ein baum sondern gewissermassen ein ›baum‹, aber die anführungszeichen konnten sie ja nicht sehen beim reden und das half mir, denn für sie wars dasselbe. das reden war so geworden als ob ich nur in zitaten redete, aber es klang gut und wenn ich kaffee wollte so hatte sich der ober an die bestellung gewöhnt und es war ihm scheissegal ob ich günczler zitierte oder den hofrat kringel, nur wenn ich den tonfall nachahmte lachte er (VM, XCC).

So erklären sich auch die vielen ›gewissermassen‹, ›sozusagen‹, ›gleichsam‹, die wir in dem Buch immer wieder finden. Klaus Hohmann schrieb: Eine Beschreibung des Werkes ist problematisch, weil es keinerlei inhaltlichen Konnex aufweist. Auch dem Aufbau nach ist es nicht nur alles andere als ein Roman, wie der

38

Bodo Heimann

Leser ihn kennt, sondern ein Un-Buch, da es nur aus Register, Vorwort und Appendix A-C samt Literaturhinweisen besteht.3

Wieners Auflösung der literarischen Gattung und das Misstrauen gegenüber der konventionellen Sprache entspricht der Abspaltung der Subjektivität vom Normalen. Der enthumanisierenden Norm antwortet das Normen abweisende, Normen auflösende, letztlich ›unnormale‹ Subjekt, dessen Rest Menschlichkeit in den Schablonen der Industriegesellschaft nicht aufgeht und das sich darum in einer Außenseiterposition wiederfindet, von der aus erst die Entfremdung erlebt und notiert werden kann. Der entscheidende Bruch erscheint bei Wiener als ›knacks‹: früher schien ich einer von ihnen gewesen zu sein […] bis dann der knacks passiert ist mit mir und sozusagen war es einmal ein sätzchen auf das ich gestoßen war und das nun wirklich nicht zum stimmen zu bringen war, augenscheinlich stimmte er aber ohnehin, alle sagten aber nein ossi der stimmt doch ohnehin schau doch richtig hin und schliesslich musste ich ihnen recht geben weil sie mich so komisch anguckten und weil mir recht unbehaglich war auf einmal (VM, CXIX f.).

So wird der Aufstand gegen die Sprache zum Aufstand gegen die Gesellschaft: die sprache wird gemeinhin als gesellschaftliches bewusstsein, ja als gedächtnis der menschheit bezeichnet. diesen kalauer einmal wörtlich genommen: ein aufstand gegen die sprache ist ein aufstand gegen die gesellschaft (VM, CXLIV).

Das ist ein grundsätzlicher Widerspruch dieses ›romans‹, der die Sprache angreift, aber selbst auf sie angewiesen ist, der das Individuum in seinem Widerstand stärkt, ihm aber keine Chance mehr gibt und Widerstand als aussichtslos ansieht. Der Aufstand gegen Sprache und Gesellschaft erscheint bei Wiener selbst ohne Zukunftsperspektive. Die moderne Gesellschaft hat sich im Zeitalter der Kybernetik der Zukunft versichert und das Ziel der Geschichte erreicht oder fast erreicht. In dem funktionierenden System ist auch das Unberechenbare und Irrationale eingeplant oder einzuplanen, jedenfalls ohne Gefahr. Auch Außenseiter, Kritiker und Revolutionäre können ihr nur noch dienen und die bereits totale Sicherheit des Systems nur noch absoluter machen. die moderne demokratie ist so gefestigt, weil sie die abnormität studiert […] sie erkennt daraus zwar nicht die einzuschlagende richtung, wohl aber erprobt sie ihre mittel zu der eingeschlagenen. (richtung ist ja doch das falsche wort, das zielgebiet ist schon so nahe, dass es den ganzen horizont bedeckt: der weg durch die zeiten ist absolviert) (VM, CXLIII).

Das selbstbestimmte Individuum erscheint ohne Chance, sein Freiheitsraum reduziert sich zur nur noch negativ zu bestimmenden anarchistischen Verwei3 Hohmann, Klaus: Experimentelle Prosa. Paderborn: Ferdinand Schöning Verlag 1974, S. 102.

Oswald Wiener und seine »verbesserung von mitteleuropa«

39

gerung, zum Aufstand gegen Sprache und Bewusstsein, zur »ablehnung des guten tons« zu »sabotage und terror«. Nach Wiener wären diese nur abzulehnen, wenn sie einem Zweck dienen, nicht wenn sie Selbstzweck sind, wenn sie die Macht schwächen, wenn sie versuchen, »breschen zu legen, damit man freier atmen kann« (VM, CXLIV). So finden wir in Wieners Roman keine episch zusammenhängende Darstellung, keine Handlung, keine Romanhelden, auch keine Erzählperspektive und Erzählhaltung, sondern – ganz unverbunden – Aphorismen, Reflexionen, auch Nonsenspassagen. Sobald ein Zusammenhang zu entstehen droht, wird er zerstört. So begibt sich der Roman bewusst in Widerspruch zu wissenschaftlicher Prosa. ich mache mir nicht die soziale mühe einer definition, nicht die pflicht dem zugriff der staatsanwaltschaft einen anhaltspunkt zu schaffen, schwein, eine proklamation für ganze mengen, ich aber bin der einzelne fall (VM, XXV).

Systematik und Strategie werden unterlaufen durch spontane, ungeordnete und unzusammenhängende Gedanken, gedankliche Schärfe durch fehlende Eindeutigkeit, Rationalität durch gewollte Unverständlichkeit. Die »notizen zum konzept des bio-adapters« als »essay« und der »appendix A« mit der Überschrift »der bio-adapter«, logisch im Zusammenhang entwickelt, bilden einen Höhepunkt des Romans und sind, wie Wiener meint, wohl die verständlichsten Teile: ich denke, dass die folgenden zeilen, welche einen geschlossenen abschnitt meines romans bilden, […] jeden nicht bloss vernünftigen menschen ansprechen werden. […] er ist ein versuch der desertion aller weltbilder und der geschichte […]; die auflösung der geschichte in wohlgefallen; das ausrollen der neuzeit in kybernetik (VM, CXXXIV).

Der »bio-adapter«, eine ›Erfindung‹ des Datenverarbeitungsingenieurs Wiener, ist eine Maschine, in die der Mensch steigt oder die er wie einen Anzug anlegt und die ihn von der Umwelt hermetisch abschließt. Diese Umweltmaschine, auch ›glücksanzug‹ genannt, erspart dem Individuum den Kontakt mit der Umwelt und funktioniert als Umweltersatz. Der Adapter simuliert Wirklichkeit und Kommunikation: »der zu adaptierende mensch wird pausenlos nach seinen bedürfnissen abgetastet, solange bis dieselben zum zwecke erhöhten lustgewinns vom adapter selbst erzeugt werden können« (VM, CLXXVI). Der Adapter verschmilzt mit seinem menschlichen Inhalt mehr und mehr zu einer technisch-halluzinatorischen Bewusstseinseinheit und nimmt schließlich nur noch die Funktion wahr, dieses Bewusstsein zu konservieren, die dafür notwendige Energie wird durch den Abbau des Körpers gewonnen. Schließlich »besorgt der adapter den glücklichen tod seines patienten, und wird, nach selbsttätiger stillegung seiner funktionen, zum leblosen sarg seines toten inhalts (euthanasie)« (VM, CLXXVII). Bezeichnend ist das Ende dieser Überlegungen:

40

Bodo Heimann

die entwicklung des bio-adapters ist freilich völlig von der geisteskraft, vom mut und von der selbständigkeit des subjekts abhängig. wo das ungenügen nicht stark genug, wo die das bewusstsein ausmachenden sozialen strukturen überstark sind, da kann auch der adapter nur eine normale welt erzeugen – auch in der zweiten phase. möglicherweise sind wir alle (VM, CLXXXIII)

Der Satz bricht ab, ohne Punkt. Eine Einladung an den Leser weiterzudenken? Dafür wird ihm jedenfalls Zeit gelassen, es folgen anderthalb leere Seiten. Klaus Kastberger meint: Die Ausführungen zum Bio-Adapter verdanken ihre Bekanntheit wohl auch dem Umstand, dass die technische Realisierbarkeit des beschriebenen Apparats zusehends wahrscheinlicher wird. Es handelt sich dabei um einen Anzug, der sich über die Haut seines Trägers legt, sich mit dessen Nerven verbindet und diesem die jeweils gewünschte Außenwelt simuliert; wobei der Adapter jenen Nutzern, die von ihm und der sofortigen Wunscherfüllung genug haben, auch den Ausstieg aus diesem vorzumachen vermag.4

Bedenklich erscheint auch, dass Wiener diese Maschinen nicht nur den Individuen zur Verfügung stellen will, sondern diese auch ›staatlichen machtmittel‹ zur ›beschikkung des adapters‹ angewendet werden können: »die beschikkung des adapters stellt wohl ein ethisch-rechtliches problem dar, dieses sollte aber nicht unlösbar sein. sie kann auf freiwilliger basis erfolgen, es könnte aber auch sein, dass die staatlichen machtmittel zum besten der bürger in anwendung gebracht werden müssen.« Eine besondere Pointe bei so viel Glück liefert die entindividualisierte Sprache: »beschickung des adapters«, »auf freiwilliger basis«, »in anwendung gebracht«. Ebenso inhuman wirkt die konkrete Vorstellung: »man wird sich vorstellen dürfen, dass millionen von adaptern dicht aneinander gepackt in […] wabensilos untergebracht werden können […]« (VM, CLXXVII). Ein grundsätzliches Problem betrifft die Auflösung der Sprache. Sie wird mehrmals vorgeführt, zum Beispiel (VM, CXC): die wasser aufm dem see istallSee So coquett am see am ese amesel am straucei bne amse. früh ling kom he lga kom und schreb ich doch äh wasa lles s? helgas libees amsSElteir, liebes h helgentir. es isrt 7

Der Aufstand gegen die Sprache könnte so und so ähnlich aussehen, aber dann gäbe es das Buch nicht. Auch Harald Hartung meint: »Die Paradoxie, daß der

4 Kastberger, Klaus. Falter 41 vom 11. 10. 2013, S. 19.

Oswald Wiener und seine »verbesserung von mitteleuropa«

41

Angriff auf die Sprache in der Sprache vorgeführt wird, hat der Autor nicht auflösen können.«5 Und Klaus Hohmann schrieb: Die anarchistische Lebenseinstellung Wieners, seine wiederholte radikale Absage an Bindungen findet ihren Spiegel in diesem ›Roman‹, der somit als eine Art Summe des Lebens und Denkens, als eine Art von Autobiographie aufgefaßt werden kann, die gleichzeitig das fluktuierende, gegensätzliche Nachdenken während des Schreibens reflektiert.6

Auch Wiener formuliert im folgenden »appendix C« wieder verständliche Sätze: wenn der leser einen gewinn aus der lektüre meines buches ziehen kann, so wird das, hoffe ich, ein gefühl davon sein, dass er sich mit aller kraft gegen den beweis, gegen die kontinuität und die kontingenz, gegen die formulierung, gegen alles richtige, unabwendbare, natürliche und evidente richten muss, wenn er eine entfaltung seines selbst – und sei es auch nur für kurze zeit – erleben will. möge er bedenken, welcher kraft, welchen formats es bedarf, gegen eine im grossen ganzen abgerundete, stimmige, einhellige welt aufzustehen, wie sie uns in jedem augenblick an den kopf geworfen wird; er wird mir verzeihen, wenn ich die richtigen ansatzpunkte selten gefunden und in vielem über das ziel hinausgeschossen habe (VM, CXCI).

Oswald Wiener wurde für sein Buch mehrmals ausgezeichnet. 1987 erhielt er den Preis der Stadt Wien für Literatur, 1989 den Großen Österreichischen Staatspreis für Literatur, 1993 den Grillparzer-Preis, 2006 den Manuskripte-Preis des Landes Steiermark. Und wie versteht Wiener seinen Buchtitel? Er vergleicht sich mit denen, die gern die Welt verbessern wollen: ganz ähnlich ist es damals mir ergangen, und darum habe ich meinen roman ja auch ›die verbesserung von mitteleuropa‹ genannt, damals, und als ich an mitteleuropa ohne besonderen grund das interesse verloren hatte wars noch immer ein schöner titel, und mitteleuropa wurde immer schöner je weiter ich davon wegkam, und weiss gott ich bin ganz gut im rennen (VM, CXX).

5 Hartung, Harald: Experimentelle Literatur und Poesie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1975, S. 83. 6 Hohmann, Experimentelle Prosa. 1974, S. 104.

Martin A. Hainz (Eisenstadt)

»Game of Drones«. Grenzwertiges

1. Im Folgenden soll es nicht um jenes »Game of Drones«, das in Anlehnung an die populäre Saga benannt wurde, sondern mit dem Bild, das dieser Name für ein Spiel evoziert, darum gehen, dass Grenzen zu Orten eines solchen – leichtfertigen und obszönen – Spiels werden, indem man die Frage, ob sie zu passieren seien, automatisiert. Ebenso geht es dann darum, was Grenze stattdessen sein könnte. Der Staat als vorgeblich natürliche Einheit ist nämlich ebenso nicht natürlich wie ein Procedere, das regelt, von Nation A zu Nation B zu gelangen, vielleicht gar mitten durch Nation C. Insofern ist es keineswegs so, dass das tiefe Verständnis dessen, was Staat und Grenzübergang seien, einem Regeln zu formulieren gestattet, die tatsächlich von einem Programm auszuführen wären. Der Staat ist so echt und natürlich wie das anarchistisch-ironische Kunstprojekt in Wien, das die Staatlichkeit zu dekonstruieren versuchte, nämlich die Mikronation Kugelmugel.1 Weil dem so ist, ist die Frage, wer eine Grenze überqueren darf, nur durch Privilegien einfach geregelt: einfach falsch. Der Übergang kann für den Globalisierungsgewinner eine Formalität sein, für viele geht es um Visa und Einsichtnahmen, die das Universelle des Rechts implizit negieren können, für manche geht es darum, sich Überwachungssystemen ausgesetzt zu sehen, manchmal zu spät, die sich gegen jene richten, die aus Unwissen oder Gründen, die legitim sein können, diese Formalitäten umgehen und die Grenze ›illegal‹ überqueren wollen. Im letzten Falle ist die Automatisierung die Einwilligung, dass es das Gesetz nicht gibt. Man könnte auch sagen: die Einwilligung, dass es die Grenze nicht gibt, als Nicht-Ort, der diskursiviert quasi-besteht. Was bliebe? ›Schurkenstaaten‹ wären alle Staaten, die sich darauf einließen, jedenfalls bis zu einem gewissen Grade. Sie wären zur Krise unfähig, und zwar programmatisch, doch nur die 1 Vgl. N.N.: »Kugelmugel«. Auf: http://kugelmugel.eu (Zugriff am 20. 5. 2017).

44

Martin A. Hainz

Krise – ›krisis‹, Entscheidung – ist das, was Programme zaudernd2 auszusetzen sich entschließen kann.3 Die Krise an diesen Grenzen, die keine sind, ist, dass die Krise keine ist oder sein soll. Das ist das Modell kaum theorieaffiner, dafür aber paranoider ›Reichsbürger‹ samt ihrem pseudopolitologischen ›Jargon der Eigentlichkeit‹ – und derer, die diese ›marktwirtschaftlich versorgen‹: »Wenn Sie das nächste Mal von […] ›besorgten Bürgern‹ hören, dann prüfen Sie doch einfach einmal, welche Gruppe von Milliardären deren Aktivitäten finanziert.«4 Das, was die ›Reichsbürger‹ sind und unfreiwillig demonstrieren, ist eher ein Bildungsproblem, das zwar, wenn eine kritische Masse dieses hat, zu einer Krise von Nation und Kultur wird, der aber die ›Reichsbürger‹ am allerwenigsten eigentlich Ausdruck verleihen oder mit analytischem Vermögen begegnen könnten – geschweige denn anderen Krisen: Stattdessen gibt es Phantasien von Hohlwelten, Reptiloiden und der Nation, die nur eine Ges.m.b.H. wäre, die ahnen lassen, dass die Krisenunfähigkeit auch denjenigen schadet – sie geistig impotent macht –, die dennoch schurkische Programme verfolgen.

2. Das Gesetz besteht also als »Frage, die es zu interpretieren gilt«,5 was zu ignorieren nun einerseits die Privilegierten zu Privilegierten auf Zeit macht, andererseits und vor allem aber die, die nicht privilegiert sind, unendlich exponiert. Ihnen widerfährt die drastischste Automatisierung, jene nämlich, die Frage legitimer Grenzüberschreitungen zuletzt an Prozessordnungen und sozusagen im Endstadium an Künstliche Intelligenzen zu delegieren, womit man Menschenleben eben zum Gegenstand eines Spiels von Drohnen macht, zum Spielball von LAWs, Lethal Automous Weapons, wie der Fachterminus heißt. Diesen ist nicht vorzuwerfen, dass sie »in ihrer Grausamkeit […] ›ungeschickt‹«6 sind, vielmehr ist die Frage, ob nicht genau die Reibungslosigkeit und die Arbeitsteilung bei den Tötungsakten noch zum Problem gehört; verwiesen sei 2 Vgl. Vogl, Joseph: Über das Zaudern. Zürich, Berlin: diaphanes 2007. 3 Vgl. dazu u. a. Dan, Hansong/Wojno-Owczarska, Ewa: »Introduction. Global Crises and Twenty-First-Century World Literature«. In: Global Crises and Twenty-First-Century World Literature. Hrsg. von Hansong Dan/Ewa Wojno-Owczarska. Comparative Literature Studies 55.2 [Special Issue], 2018, S. 245–261. 4 Sanders, Bernie: Unsere Revolution. Wir brauchen eine gerechte Gesellschaft. Frank Born, Karen Genschow & Klaus-Dieter Schmidt. Berlin: Ullstein 2017, S. 97. 5 Stiegler, Bernard: Denken bis an die Grenzen der Maschine. Ksymena Wojtyczka & Erich Hörl. Hrsg. von Erich Hörl. Zürich, Berlin: Diaphanes 2009 (transpositionen 35), S. 49. 6 Schirach, Ferdinand von/Kluge, Alexander: Trotzdem. München: Luchterhand Literaturverlag 2020, S. 67.

Game of Drones

45

auf die von Ironie durchsetzte Schrift Quinceys, »On Murder Considered as One of the Fine Arts«, worin bei aller Moral eine Schönheit der Gewalt diskutiert wird, von ästhetischen Verbrechen schreibt er, »their imperfection becomes their perfection«.7 Das bedeutet, dass die Ästhetik zu einer Anästhetik in Bezug aufs Schreckliche führt: Ästhetik als »Verfeinerung der Grausamkeit«8 scheint diese verschwinden zu lassen, durch eine schreckliche ›Hygiene‹.9 Diese Hygiene stellt sich schon bei jenen Waffen ein, die eine Distanz zwischen dem, der Soldat oder Mörder ist, und dem, der Soldat einer anderen Macht oder Opfer ist, etablieren. Wenige mögen grundlos – als gäbe es hinreichende Gründe – einen anderen erschlagen, selbst mit der Schusswaffe zielen Soldaten, wie unter anderem Auswertungen des Vietnam-Kriegs zeigten, oft absichtlich zu hoch. Bomben-Abwürfe und das Feuern von Raketen scheinen leichter zu fallen. Die Drohne, die die Rakete abfeuert, verbringt den Schützen endgültig an einen Joystick mit Bildschirm irgendwo in seinem Heimatland, etwa im August in der Türkei, als eine Drohne irakische Offiziere und PKK-Kommandanten tötete, die sich zu Gesprächen getroffen hatten.10 Das Gespräch gibt es nach dem Willen dieser Waffe nicht, nicht die Deeskalation, nicht den Kompromiss, nicht die Synthese, nur den Willen dessen, der die Waffe lenkt. Die Schuld der Konstrukteure nimmt scheinbar etwas von der Schuld vom konkreten Täter, bis nur mehr diese Schuld übrigbleibt, die sich nicht als solche verstehen will. Der mörderische Wille sei der der LAWs, als seien sie als Schicksal über uns gekommen…

3. Diese setzen statt Fragen Gesetze durch, ihr Akronym ist nicht Zufall, wobei diese Gesetze eigentlich Privilegien sind: die derer, die das Privileg haben, an Ort A zu sein – oder mobil zu sein, privilegiert, unter anderem an Ort A zu sein. Statt einer Heimat haben sie einen »Standort«, also das »Gegenteil einer ursprünglichen Heimat«,11 die nicht gewählt, sondern nur verloren werden könnte: nicht »kom7 De Quincey, Thomas: Collected Writings. New and Enlarged Edition. Hrsg. von David Masson. Edinburgh 1897, Bd. 13, S. 15; Vgl. Schirach/Kluge, Trotzdem. 2020. 8 Nietzsche, Friedrich: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden. Hrsg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari. Bd. 11: Nachgelassene Fragmente 1884–1885. München, Berlin, New York: Deutscher Taschenbuch Verlag, de Gruyter 21988 (dtv 2231), S. 510. 9 Vgl. Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. I: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: C. H. Beck 71988 (Beck’sche Reihe 319), S. 247. 10 Vgl. Schneider, Wieland: »Wut in Bagdad über tödlichen Drohnenangriff«. Die Presse, Do., 13. Aug. 2020, S. 4. 11 Sloterdijk, Peter: »Philosophische Aspekte der Globalisierung«. In: Wohin führt der globale Wettbewerb? Deutsche Fragen – Symposion des Bundesverbandes deutscher Banken und der

46

Martin A. Hainz

plett (zu) ersetzen«, wie Assmann schreibt; »Heimat ist ein Begriff, der zu leuchten anfängt, wenn man sie verloren hat«,12 so formuliert er von der Nostalgie des Privilegs, das keines blieb. Dann ist die Flucht die Hoffnung – die, die der nicht nötig zu haben scheint, der bleiben und auch reisen darf. Alle sind das nicht, alle können sich das nicht leisten; darum bemerkt Zˇizˇek, dass die Rede vom Recht aufs solcherart Unleistbare bloß zynisch ist. ›Recht‹ ist eine Kapitalfrage, die zu stellen das Recht erst ganz zu dem machte, was man damit verbindet. Dieses Recht besagte, dass »the right to ›free movement‹ should be limited«,13 insofern diesem das universelle Vermögen hierzu entsprechen müsste, welches aber ›nicht besteht‹, weil nicht jeder es bis zu jener Grenze schafft, die dann, weil »wir das schaffen« (freilich schaffen es dagegen nicht alle, die kommen können müssten), als offene eine Lüge ist. Natürlich ist auch die schlecht geschlossene Grenze genau diese Lüge; so besteht eine Grenze, an der bloß nicht jeder beispielsweise die rund € 400,– aufbringt, für die man in Nordafrika einen Platz in einem der Schlauchboote nach Europa bekommt (etwa € 2.500,– kostet die Risikominimierung, per Motorboot überzusetzen, dazu den Anteil an der Summe, für die Wachen an der nordafrikanischen Küste unaufmerksam sind, kolportiert zwischen € 300,– und 600,–14), geschweige denn über die Mittel für die berüchtigten ›Golden Visa‹ verfügt, ›Identity Management‹ bei Staatsbürgerschaftsmaklern wie Henley & Partners in Auftrag zu geben.

4. Nicht jeder kann also das Recht in Anspruch nehmen, auch wegen eines juristischen Unwissens und einer Unkenntnis der geforderten vor Formularen, die den Menschen, der kommt, damit zum Objekt machen. Die Sprache derer, die kommen, interessiert die Privilegierten nicht, die Ankömmlinge sollen offenbar gerade einmal die Befehle verstehen und befolgen, die darum vielsprachig formuliert sind, aber nicht in Frage stellen, dass die Sprache denen gehöre, die Universität Hohenheim. Hrsg. von Andreas Menke. Berlin: Gesellschaft für Bankpublizität 1999, S. 50–71, S. 59. 12 Assmann, Jan: »Im Gespräch«. Perspektiven Integration 03/2018: Heimat und Identität, S. 20– 27, S. 21. 13 Zˇizˇek, Slavoj: »In the Wake of Paris Attacks the Left Must Embrace Its Radical Western Roots«. In These Times, 16. 11. 2015. Auf http://inthesetimes.com/article/18605 Zugriff am 27. 6. 2017; vgl. hierzu auch bereits die früheren Überlegungen in Zˇizˇek, Slavoj: Violence. Six sideways reflections. London: Profile Books 2009 (Big Ideas), S. 88f. 14 Vgl. Hackensberger, Alfred: »Korruption öffnet das Tor nach Europa«. Die Presse, Di., 14, Aug. 2018, S. 4.

Game of Drones

47

zufällig schon da sind. Es ist ein strategisches Desinteresse an der Sprache der anderen oder an der Frage, ob ein Nur-Befehlen demgemäß ist, was Sprache und ›logos‹ meinen. Es imaginiert einen, der wohl »die Fähigkeit besitzt, den ›Logos‹ zu verstehen«, doch »ohne die Fähigkeit des ›Logos‹ selbst zu besitzen«,15 wie Rancière Aristoteles zu dieser Frage zusammenfasst, diesem privatisierten, unerwiderbar und unübersetzbar16 sein wollenden Logos, der darum eindeutig bleibt, zunächst ausgeliefert. Rancière bezieht sich in seinem erhellenden Text zum ›Unvernehmen‹ auf eine alte Zuschreibung bei Aristoteles, die seitdem mehrfach abgewandelt immer wieder dazu dient, die Ungeheuerlichkeit, dass es Sklaven gibt, anthropologisch oder eher quasi-juristisch zu rechtfertigen: Es gebe »von Natur aus so geartete Menschen«,17 bestimmt, zu dienen, da es ihre Anlage sei, nicht ein ihnen zuteilwerdendes Unrecht; sie hätten am Logos nur verstehend – Geheiß oder Befehl empfangend – teil, ohne sich desselben auch bedienen zu können, wobei diese Dienlichkeit nun auch des Logos es schon nahelegt, dass er nicht universell (und universelle Rechte begründend) gedacht wird. So, wie es »Seele und Körper« gebe, so bestehe »auch in der gesamten Menschheit ein von Natur aus gebietender und ein von Natur aus gehorchender Theil«,18 schreibt Aristoteles. [V]on Natur Sclave ist, wer im Stande ist, zu einem Anderen ganz und gar zu gehören […] und wer an der Vernunft bloss in so fern Theil hat, dass er sie vernimmt, aber nicht besitzt; ›durch einen Gebieter also, welcher Vernunft besitzt‹…19

Der weist dem Rechtelosen Grenzen auf, auch an der Grenze, die ins Landesinnere verlegt werden kann, rund um Lager, wobei die Papiere, derer es bedarf, es fast sinnlos zu machen scheinen, diese Orte zu verlassen – dort ist man gelagert, ungehört wie die Ankömmlinge an den Grenzen. Das Sprachliche derer, die sprechend dem ›ochlos‹ nicht zugehören und seinen Begriff problematisieren, müsste das dekonstruieren, was vom Anderen, das im Rahmen von Formalitäten immer sensibler definiert zu werden scheint, dabei doch absieht – wie Milner es anhand der Schutzbefohlenen von Calais beschreibt: »Nobody knows what languages they are speaking and anyway one doesn’t listen to them«, so formuliert er

15 Rancière, Jacques: Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, trad. Richard Steurer. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2002 (suhrkamp taschenbuch wissenschaft 1588), S. 30. 16 Vgl. auch Derrida, Jacques: »Racism’s Last Word«. Üb. von Peggy Kamuf. Critical Inquiry, N°12, Autumn 1985, S. 290–299, S. 292. 17 Aristoteles: Politik. Erstes, zweites und drittes Buch. Üb. und hrsg. von Jacob Bernays. Berlin: Wilhelm Hertz 1872, S. 14, I 5. 18 Aristoteles, Politik. 1872, S. 16, I 5. 19 Aristoteles, Politik. 1872, S. 17, I 5.

48

Martin A. Hainz

die Haltung, die aber offensichtlich »knows that they speak«20 – und die ›an/mit diesem Wissen scheitert‹. Es ist ein Scheitern, das vor allem die erleiden, die sich hörbar machen wollen, ohne gegen Regeln zu verstoßen: da sie so in etwas, das kein Spiel sein darf, alles verspielten. Wir achten darauf, weder vorlaut noch zu breit noch zu ausführlich noch zu schleppend noch zu schnell noch zu langsam im Reden zu sein. Nichts davon können wir sein, wir sprechen Ihre Sprache leider nicht…21

5. Die Regeln der Formulare ähneln denen der Drohnen: Alles ist schon vorgegeben, die Identität derer, die kommen, steht schon fest, damit aber auch ihr Geschick. Das Privileg ist jenes, sich frei zu bewegen und mitzubestimmen, wem dieses Privileg noch zukomme. Und wie mit jenen zu verfahren sei, die dieses Glück nicht haben. Stimme: die Fragen: Sie heißen sondern Anschuldigungen.22

Sie wohnen

Sie sind geboren

sind nicht Fragen

Diese Scheindiskursivität von Verfahren, die keine sind, schildert auch Jonke, indem er Paragraphen erfindet – oder, da er etwas trifft, findet –, die die Tätigkeit eines Grenz- und Brückenwächters regeln. Hierin heißt es dann, Personen, die »nicht ganz geheuer erscheinende«23 seien, seien von der schönen Ordnung, der die Brücke gehört, mittels derselben auszuschließen – sie hätten allerdings die Möglichkeit der Bestechung, die also in der Satzung auch gleich vorkommt, natürlich mit der Einräumung: »Meistens gelingt dies aber nicht.«24 Der legale Weg sei der »Brückenlichtbildausweis«, der freilich nichts helfen müsse; 20 Milner, Jean-Claude, zit. nach Slavoj Zˇizˇek: »The Prospects of Radical Change Today«. tripleC, Nr 16(2) 2018, S. 476–489, S. 488. 21 Jelinek, Elfriede: Die Schutzbefohlenen [2013–2015/2016]. In: Elfriede Jelinek Homepage. Auf: https://www.elfriedejelinek.com/fschutzbefohlene.htm, Zugriff am 18. 3. 2017; vgl. hierzu u. a. Romana Weiershausen: »›Verstehen werden Sie nicht, und unser Reden wird ins Leere fallen‹. Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen und die Anerkennungsthematik im Theater über Flucht«. In: Anerkennung und Diversität. Hrsg. von Christine Kanz/Ulrike Stamm. Würzburg: Königshausen & Neumann 2018 (Film – Medium – Diskurs, Bd. 98), S. 205–217, S. 211, 214f. sowie Hainz, Martin A.: »Zufluchtsort: nirgends. Bilder globalen Flüchtens als Zombieimaginationen«. In: Globalisierungsdiskurse in Literatur und Film des 20. und 21. Jahrhunderts. Hrsg. von Ulrike Stamm/Ewa Wojno-Owczarska. Berlin: Peter Lang 2019 (Europäische Studien zur Germanistik, Kulturwissenschaft und Linguistik, Bd. 12), S. 199–217, S. 202f. 22 Gerstl, Elfriede: Werke [in vier Bänden]. Hrsg. v. Christa Gürtler/Helga Mitterbauer. Bd. I: Mittellange Minis. Graz, Wien: Literaturverlag Droschl 2012, Bd. 1, S. 64. 23 Jonke, Gert: Geometrischer Heimatroman. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1969, S. 41. 24 Jonke, Geometrischer Heimatroman. 1969, S. 43.

Game of Drones

49

erscheint der Besitzer unheimlich – und es »gibt Zeiten, in denen den Brückenwärtern prinzipiell alle Personen nicht geheuer oder aber unheimlich erscheinen« –, könne sich der Abgewiesene bloß »einen zweiten Brückenlichtbildausweis […] besorgen.«25 Das Verfahren wird zum Vorwand. Die Polizeisprache bestünde ohne die Wahrnehmung der Herausforderung, nicht zu etwas dieser Art zu verkommen (oder es nicht zu bleiben), in der von einer falschen »Unbescholtenheit«26 betriebenen Auflösung des Textes in »Textfragmente, die zusammengesetzt Vorschriften für die Erhebung und Auswertung biometrischer Daten ergeben«, wie Zemanek (mit Bezug auf Uljana Wolf) schreibt; starre Abläufe ersetzten also das, was an Sprache Anspruch ist – statt des Ansprechens bleibt viel zu oft eine alles zum Objekt entstellende oder schon entstellt habende »Sicherheitstechnik«.27 Das wiederholt sich, man ahnt es, innerhalb der Gesellschaft. Es ist nicht so, dass das die Reichsbürger und ihresgleichen entschuldigte oder es ratsam erscheinen ließe, Spinnereien gelten zu lassen, die Adressierbarkeit aber, die als Standard nach außen gelten soll – und eingefordert wird, nicht jedes Kauderwelsch wird sich zu einer Sprache entstören und ordnen lassen, dies ist bloß die Chance, die jedenfalls zu geben ist –, muss auch nach innen gelten, das, was an der Grenze Drohnen sind, sind Computertestungen von Kompetenzen in Schulen, die Lyotards Satz bestätigen: Er »sehe kein pädagogisches Hilfsmittel, das nicht schlimmer als das Übel wäre, dem es Abhilfe schaffen soll.«28

6. Von denen, die herrschen, schreibt Rancière: »Das, was den Mündern der Plebejer entströmte, konnte für sie keine Sprache sein«…29 Das drücken die Handreichungen aus, nach denen an der Grenze vorgegangen wird, wo also Algorithmen abgearbeitet werden, von Drohnen oder anderen Unintelligenzen, denn weder eine KI noch eine natürliche Intelligenz könnte so von ihren Vorausset25 Jonke, Geometrischer Heimatroman. 1969, S. 44. 26 Hamacher, Werner: Keinmaleins. Texte zu Celan. Frankfurt am Main: Vittorio Klostermann 2019 (Klostermann Rote Reihe, Bd. 108), S. 94; vgl. u. a. auch Hainz, Martin A.: »Celan und die Unsprache … oder »seiner Daten eingedenk«, zu Wissen und Dichtung«. In: Paul Celan. Interpretationen – Kommentare – Didaktisierungen. Hrsg. von Johann Georg Lughofer. Wien: Praesens Verlag 2020 (Ljurik, Bd. 9), S. 204–214, S. 211. 27 Zemanek, Evi: »Gegenwartslyrik (seit 1989)«. In: Handbuch Lyrik. Theorie, Analyse, Geschichte. Hrsg. von Dieter Lamping. Stuttgart: J. B. Metzler 22016, S. 472–482, S. 479. 28 Lyotard, Jean-François: Grabmal des Intellektuellen. Üb. von Clemens-Carl Härle. Graz, Wien: Böhlau 1985 (Edition Passagen 2), S. 48. 29 Rancière, Jacques: Die Ränder der Fiktion. Üb. von Richard Steurer-Boulard. Wien: Passagen Verlag 2019 (Passagen Forum), S. 167.

50

Martin A. Hainz

zungen absehen und dermaßen in einem Interesse aufgehen, dass zuletzt etwas, das Unvernunft wurde, hier nur mehr den Privilegierten dient. Den Impuls, das, was nicht kommt, sondern andränge, zu töten, wie es das Implikat des Einsatzes der KI sein kann, kennt man aus Zombie-Imaginationen. Zu wie jene Zombies zu Behandelnden werden hier die, die kommen, durch die Routinen, die nichts der Deeskalation wert befinden können (sollen): Bist Du bereit? Dann mach sie alle Dafür bleibst Du auch am Leben Hast Du genug Blei dabei? Dann sage ich Dir: »Feuer frei!« Ob Neunmillimeter oder Maschinengewehr Schieß doch einfach ’n paar Magazine leer!30

In genau dieser Szene aus dem Song »Anti-Zombie« (auf dem Ärzte-Album »Geräusch« von 2003) heißt es dann aber eben: So wie ich die Sache sehe Ist die Intelligenz bereits ausgerottet Und es leben nur noch die Idioten.31

Die, die kommen, sind schon ›morituri‹, zum Tod verurteilt, nämlich durch eine Unintelligenz, die an eine andere Unintelligenz, die nicht denken können soll, es delegierte, zu entscheiden, wer ein Mensch mit Menschenrechten sei (was auch die sicher Eingeschlossenen zur von ihren mörderischen Wächtern eingehegten Herde machen kann – und spätestens da offenbart sich, dass die Vorgehensweise dumme Implikate hat). Die Wahrscheinlichkeit der Missachtung der aufgrund wovon auch immer als rechtelos Definierten im Zuge der Abarbeitung von Routinen ist informationstheoretisch zu begründen, mit schon der angedeuteten Krisenunfähigkeit der Agenda jener Wächter; wenn man zustimmt, dass Basis des Handelns oder eher der Exekutionen Algorithmen sind, so können die konkreten Fälle kein Teil der »Arithmetisierung von Problemen«, die nämlich »zuvor schon formalisiert worden sein müssen«, sein: So wird das Programm bedingungslos auf Basis von etwas ausgeführt, das als unbedingtes Präjudiz die Judikatur und den Fall ne-

30 Die Ärzte: »Anti-Zombie«. In: bademeisterTV (29. 6. 2020). Auf https://youtu.be/PKJBRYF-k qg, (Zugriff am 18. 3. 2017). 31 Die Ärzte, »Anti-Zombie«. 2020. Vgl. u. a. Hainz, »Zufluchtsort: nirgends. Bilder globalen Flüchtens als Zombieimaginationen«. In: Globalisierungsdiskurse in Literatur und Film des 20. und 21. Jahrhunderts. Hrsg. von Ulrike Stamm/Ewa Wojno-Owczarska. Berlin: Peter Lang 2019 (Europäische Studien zur Germanistik, Kulturwissenschaft und Linguistik, Bd. 12), S. 199–217.

Game of Drones

51

gierte, am Ort des Prozesses indes, der »der formale Ort einer Nichtformalisierbarkeit«32 ist. Am vielleicht drastischsten ist das bei den Versuchen, biogenetische Waffen zu entwickeln; man ist dann sein Erbgut, damit seinem Stamm zugehörig und auf seinen Ort fixiert, der einer des Todes ist – wo man sich nämlich als ansonsten und damit auch hier »distinguishable […] on the basis of heritable features«33 befindet. Man hat denen, die – als dieser mittels zweifelhafter Metaphysik definierter ›plebs‹ – kommen, also die Fähigkeit zum Handeln und Sprachhandeln genommen. Das legt auch die erwähnte Uljana Wolf in »falsche freunde« mit einem drastischen Bild nahe: Die Kommenden zehren von dem, was sie (noch) sind, dabei die Organe des Zeigens und des Erzählens und Erklärens einbüßend, »manche aßen ihre finger, anderen fehlte selbst der mund.«34

7. Sprache müsste dagegen sich geben – oder sich selbst verlieren. Sie operiert nicht mit dem Wissen, an wen sie sich richte, das sie im Zuge des Dialogs vielmehr rekalibriert, als Ahnung, die die Hermeneutik aber nicht an die Stelle dessen setzt, was da an Sprache komme. Und an Sprachfähigkeit. Wenn ich ein Theaterstück schreibe, denke ich wohl über Positionierungen nach, aber ich baue keine Identitäten, die ich dann gegeneinander losschicke, viel zu ambivalent und flüssig erlebe ich diese in unserem Leben, ich bin sozusagen nicht so sehr an Menschen interessiert, sondern an Zwischenmenschen,35

so schreibt Kathrin Röggla; das aber, was als Zwischenmenschliches das Menschliche konstituiere, verunmögliche es in der Folge, »den anderen […] permanent als den anderen (zu) konstruieren.«36 Diesen Anspruch muss man gerade da verstehen, wo eine Grenze gezogen wird, an der das ›Schibboleth‹ nicht (ein Pass für) die genehme ›Identität‹ ist, sondern etwas, dem gerecht zu werden es gilt. Das 32 Mersch, Dieter: »Kreativität und künstliche Intelligenz. Einige Bemerkungen zu einer Kritik algorithmischer Rationalität«. Zeitschrift für Medienwissenschaft, Nr 21: Künstliche Intelligenzen, 2/2019, S. 65–74, S. 69. 33 Sarich, Vincent/Miele, Frank: Race. The Reality of Human Differences. Boulder: Westview Press 2004, S. 207. 34 Wolf, Uljana: falsche freunde. Gedichte. Idstein: Kookbooks 2009 (Reihe Lyrik, Bd. 15), S. 59. 35 Röggla, Kathrin: »Reden in Zeiten der Verrohung«. In: Literarische Katastrophendiskurse im 20. und 21. Jahrhundert. Hrsg. v. Ewa Wojno-Owczarska. Berlin: Peter Lang 2019 (Warschauer Studien zur Kultur- und Literaturwissenschaft, Bd. 13), S. 297–317, S. 297f. 36 Röggla, »Reden in Zeiten der Verrohung«. In: Literarische Katastrophendiskurse im 20. und 21. Jahrhundert. Hrsg. v. Ewa Wojno-Owczarska. Berlin: Peter Lang 2019, S. 298.

52

Martin A. Hainz

Schibboleth ist das »Recht, Rechte zu haben«,37 sonst ›nichts‹ – aber das doch immer und immer wieder … und dessen Übersetzung, die wieder und neu zu übersetzen sein wird.38 Dieses Passwort, das also keines ist, mahnt als die Grenze und/oder die Sprache selbst an der Grenze das Sprechen ein, weshalb man die Grenze, es wurde angedeutet, nicht an sich negieren kann und darf, aber auch nicht dazu nutzen, dieses Sprechen von der Universalie zum Instrument zu entstellen. Als Instrument wird die Sprache zum kalauernden Spottgebilde, wie es Kaléko zeigt: »Wer keinen Ausweis hat, wird ausgewiesen.«39 Philologie ist dagegen Komplize des Kommenden, die Ahnung, manchmal sei »die Nacht die Tugend«,40 und das Votieren für eine andere Sprache und Politik – schon im Rahmen einer anderen Sprache und Politik.

37 Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München, Berlin: Piper Verlag 202017 (Serie Piper 1032), S. 614; Vgl. auch Hamacher, Werner: Sprachgerechtigkeit. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2018 (S. Fischer Wissenschaft). 38 Vgl. u. a. Derrida, Jacques: Schibboleth. Für Paul Celan. Üb. von Wolfgang Sebastian Baur. Wien: Passagen Verlag 21996 (Edition Passagen 12), S. 134 sowie Baudrillard, Jean: Paßwörter. Üb. von Markus Sedlaczek. Berlin: Merve Verlag 2002 (Internationaler Merve Diskurs 246), S. 9ff. 39 Kaléko, Mascha: Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden. Hrsg. von Jutta Rosenkranz. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 22013, Bd. I, S. 607. 40 Kluge, Alexander: Theorie der Erzählung. Frankfurter Poetikvorlesungen. Berlin: Suhrkamp Verlag 2012 (filmedition suhrkamp 34), S. 44.

Monika Wolting (Wrocław)

Die Macht der Kriegsbilder im globalen Kontext der Medienwirksamkeit

Literarische Reflexion Literarische Reaktionen auf den Afghanistankonflikt lassen sich in der deutschsprachigen, französischen, englischen, polnischen wie in der amerikanischen Literatur beobachten.1 Die Literatur reagiert auf die globalen Geschehnisse und nimmt den Krieg als Schauplatz, Medieninszenierung oder auch als Hintergrund erzählter Geschichten und stellt das Thema im wechselnden Verhältnis von politischem und ästhetischem Interesse dar. Der Krieg in Afghanistan interessiert die Autoren auf unterschiedliche Weise, auch als Gegenstand einer sich auf Recherche, Zeitzeugengespräche und Berichte stützenden, ihren Realismus betonenden Literatur. Das ›realistische Schreiben‹ äußert sich dann im Text in einer möglichst großen Annäherung an die soziale Wirklichkeit der Figuren und in der versuchten Widerspiegelung ihrer Lebenslage und Konflikte. Allerdings interessierte der Krieg als Erzählstoff schon immer Literaten und eine breite Leserschaft. Auch wenn sich der Krieg wegen seines Ausmaßes an Akteuren, Räumen und der zeitlichen Dimension schon immer als schwer erzählbar darstellte, so verwundert die Verbreitung der Gattung doch sehr. So muss der »Reiz« der Kriegserzählungen woanders, als in ihrer Erzählbarkeit liegen. Unter Wissenschaftlern herrscht Konsens darüber, dass Kriegs- und Krisenerzählungen nicht zuletzt deshalb im Laufe der Jahrhunderte, seit der Entstehung erster griechischer Kriegsepen, oder sogar seit den alttestamentarischen Kampferzählungen, nichts an ihrer Popularität eingebüßt haben, weil Kriege Sozial1 Tengour, Habib: Der Fisch des Moses. Roman. Innsbruck: Haymon Verlag 2004; Lugrin, Lisa (Hrsg.): Afghanistan: récits de guerre. Poitiers: Éd. FLBLB 2011; Geda, Fabio: Nel mare ci sono i coccodrilli: storia vera di Enaiatollah Akbari. Stuttgart: Reclam 2015; Giordano, Paolo: Il corpo umano. Mondadori 2012; Adams, Lorraine: Crash. Üb. v. Miriam Mandelkow. Hamburg: Arche Literaturverlag 2011; Ahmad, Jamil: Der Weg des Falken. Hamburg: Hoffmann und Campe 2013; Aslam, Nadeem: Das Haus der fünf Sinne. Üb. v. Bernhard Robben. Reinbek: Rowohlt 2010; Foden, Giles: Sansibar. Üb. v. Ulrich Blumenbach. Berlin: Aufbau Verlag 2003; Durlacher, Jessica: Der Sohn. Üb. v. Hanni Ehlers. Zürich: Diogenes 2012.

54

Monika Wolting

systeme neu sortieren und sich für soziale, ökonomische und kulturelle Umbrüche verantwortlich zeigen. Sie erzeugen damit gleichsam einen enormen Normalisierungsdruck. Die Normalisierung2 von Konflikten und Differenzen bedeutet eine Funktion, die die Erzählungen für die und in der Gesellschaft zu leisten haben. Dabei geht es nicht nur um Wiedergutmachung oder Kompensation. Narrationen arbeiten in jenem Bereich, wo der Krieg Eingang aus dem individuellen ins kulturelle Gedächtnis findet, indem der bestehende Konflikt mit Bedeutung und Normativität versehen wird. So übernimmt die Literatur die Rolle einer Vermittlerin zwischen soziologischen wie gesellschaftlichen Erfahrungen und dem kulturellen Bestreben einer Gesellschaft und dem Bedürfnis ihrer Individuen. Seit dem Vietnamkrieg dauert das Interesse deutschsprachiger Autoren für globale, kriegerische Konflikte gleichfalls an. Bürgerkriege, Guerillakämpfe, neue Kriege, kleine Kriege oder Kriege an der Peripherie der Wohlstandsgesellschaft rücken immer stärker ins Zentrum des Interesses der Literatur.3 Bis 2001 handelt es sich stets um Kriege, an denen keine deutschen Soldaten und Soldatinnen teilnehmen, auch wenn sie mit deutscher finanzieller Unterstützung geführt werden. Lützeler bezeichnet dieses Engagement der Autoren mit dem Begriff »postkolonialer Blick« – gemeint ist damit »die Sehweise der Empathie, des Verstehenswollens und der transnationalen Anerkennung der Menschenrechte«.4 Nun rückt aber 2002 der Krieg näher an Deutschland heran. Die Beteiligung der Bundeswehr am militärischen Einsatz in Afghanistan wurde auf Antrag von Bundeskanzler Gerhard Schröder vom Deutschen Bundestag in zwei Abstimmungen vom 16. November 2001 und 22. Dezember 2001 beschlossen. Sie betraf die militärische Unterstützung der von den USA geführten Operation ›Enduring Freedom‹ und ISAF-Einsatz mit dem Ziel der Stabilisierung der politischen Lage 2 Vgl. Link, Jürgen: Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird. Opladen: Westdeutscher Verlag 1997. 3 Böhmer, Wolfgang: Hesmats Flucht. Eine wahre Geschichte aus Afghanistan. München: cbt/cbj Verlag 2008; Dieckmann, Dorothea: Guantánamo. Stuttgart: Klett-Cotta 2004; Janesch, Sabrina: Ambra. Berlin: Aufbau 2012; Kurbjuweit, Dirk: Kriegsbraut. Berlin: Rowohlt 2011; Lehn, Isabelle: Binde zwei Vögel zusammen. Köln: Bastei Lübbe 2016; Niermann, Ingo/Wallasch, Alexander: Deutscher Sohn. Berlin: Blumenbar 2010; Rausch, Jochen: Krieg. Berlin: Berlin Verlag Taschenbuch 2013; Reichlin, Linus: Das Leuchten in der Ferne. Berlin: Galiani 2013; Schätzing, Frank: Breaking News. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014; Scheuer, Norbert: Am Grund des Universums. München: C. H. Beck 2017; Scheuer, Norbert: Die Sprache der Vögel. München: C. H. Beck 2015; Schorlau, Wolfgang: Brennende Kälte. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2008; Streeruwitz, Marlene: Die Schmerzmacherin. Frankfurt/Main: S. Fischer 2011. Eine detaillierte wissenschaftliche Analyse dieser Texte wurde von Monika Wolting in: Der neue Kriegsroman. Repräsentationen des Afghanistankriegs in der deutschen Gegenwartsliteratur. Winter: Heidelberg 2019 vorgenommen. 4 Vgl. Lützeler, Paul Michael: Bürgerkrieg global. Menschenrechtsethos und deutschsprachiger Gegenwartsroman. München: Wilhelm Fink 2009.

Die Macht der Kriegsbilder

55

in Afghanistan. Der Einsatz endete am 31. Dezember 2014. Deutschland beteiligte sich nach einer fast 60jährigen Vermeidung militärischer Auseinandersetzungen wieder an einem Krieg. Wurde noch Ende der 1980er Jahre die deutsche Literatur als individualistisch, selbstbezogen und unpolitisch bezeichnet, so wurde im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrtausends der Ruf nach einer sich ernsthaft mit der Gegenwart auseinandersetzenden, erzählenden Literatur laut. 2005 veröffentlichten Matthias Politycki, Martin R. Dean, Thomas Hettche und Michael Schindhelm ein »Positionspapier« in der »Zeit« mit dem Titel »Was soll der Roman?« Im Zentrum des Beitrags steht das Votum für einen »relevanten Realismus«, der »die zwar unbequeme, aber aufregende Gegenwart zum zentralen Ort des Erzählens und des Erzählten« werden lassen soll. Auch wenn es bereits vor 2005 Romane in deutscher Sprache gab, die sich weitgehend mit den globalen Problemen auseinandersetzen5 (Norbert Gstrein: »Das Handwerk des Tötens«6, Nicolas Born: »Die Fälschung«7), ist das Thesenpapier insofern von Bedeutung, als es eine klare Forderung an Autoren und Autorinnen ausspricht. Die Verfasser geben zu bedenken: Unser Ziel ist eine relevante Narration, denn wir glauben, dass dem Roman heute eine gesellschaftliche Aufgabe zukommt: Er muss die vergessenen oder tabuisierten Fragen der Gegenwart zu seiner Sache machen, er muss die Problemfelder, ob in lokalem oder globalem Kontext, in eine verbindliche Darstellung bringen. Die Forderung nach mehr Relevanz leiten wir nicht nur aus unserem Alter ab, sondern auch aus dem Zustand einer ›unheimlich‹ gewordenen Welt. Ihre Bewohnbarkeit beizubehalten und weiter zu erschließen ist die Aufgabe des Romans. Dies setzt voraus, dass der Schreibende eine erkennbare Position bezieht, die moralische Valeurs mit ästhetischen Mitteln beglaubigt.8

Die Autoren fordern von gegenwärtigen Romanciers eine Verbindung von Realität und Fiktion, Subjekt und Gesellschaft, Globalem und Lokalem oder Moral und Ästhetik. Mit dem Näherrücken von globalen Konflikten an die Peripherie der Wohlstandsgesellschaft, mit der ersten deutschen Teilnahme an einem Krieg nach 60jährigen Abstinenz, kommen die Postulate der »Moralisten« zum rechten Zeitpunkt: Zu bekämpfen sei die »grassierende Irrelevanz, die unser kulturelles Leben lähmt«. Der »relevante Realismus« ergibt sich aus der Verbindung von »Zeitgenossenschaft« und »ästhetisch-moralischer Verantwortung«. Die Autoren und Autorinnen der Afghanistan-Romane stehen poetologisch diesen Kombi5 6 7 8

Vgl. Lützeler, Bürgerkrieg. 2009, S. 337–346. Gstrein, Norbert: Das Handwerk des Tötens. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003. Born, Nicolas: Die Fälschung. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1979. Dean, Martin R./Hettche, Thomas/Politycki, Matthias/Schindhelm, Michael: »Was soll der Roman«. In: Zeit Online, 23. 06. 2005, Auf: https://www.zeit.de/2005/26/Debatte_1/komplettan sicht (Zugriff am 08. 09. 2020).

56

Monika Wolting

nationen sehr nah, ihre Texte machen neue, oft fremde Deutungs- und Wahrnehmungspositionen sichtbar, realisieren einen Perspektivenwechsel und sprechen im Namen eines Individuums.9 Um auf den theoretischen Kern des Problems zurückzukommen, sei die Frage erlaubt: Was ist an den neuen Kriegen im Vergleich zu den alten Kriegen neu, die eine fundierte Beschreibung in Clausewitz Abhandlung »Vom Kriege« (1823– 1824) fanden.10 Herfried Münkler gilt neben Mary Kaldor als der bedeutendste Theoretiker der ›neuen Kriege‹ und zugleich als einer der renommiertesten deutschen Politikwissenschaftler und Ideenhistoriker. In seinem Band »Kriegssplitter. Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert« schlägt er drei Merkmale der neuen Kriege vor, die als Charakteristika gelten können.11 Zum einen ist es die fortschreitende »Privatisierung des Krieges«, »die zur Folge hat, dass die Staaten nicht länger die Monopolisten des Krieges sind« (KS, 210). Mary Kaldor, die 1999 den Terminus ›neuer Krieg‹ prägte, nennt als dessen Kennzeichen »das Verschwimmen der Grenzen zwischen Krieg […], organisiertem Verbrechen […] und massiven Menschenrechtsverletzungen«.12 Bereits 2002 greift Herfried Münkler in seinem Standartwerk »Die neuen Kriege« den Terminus auf und vertieft die von Kaldor erwähnte Verquickung von politischen und ökonomischen Interessen: Kurz, ethnische wie religiöse Gegensätze sind meist nicht die Ursachen eines Konfliktes, sondern sie verstärken ihn nur. Die neuen Kriege werden von einer schwer durchschaubaren Gemengelage aus persönlichem Machtsterben, ideologischen Überzeugungen, ethnisch-kulturellen Gegensätzen sowie Habgier und Korruption am Schwelen gehalten und häufig nicht um erkennbare Zwecke und Ziele geführt.13

Die Kriege werden von Warlords unterschiedlicher Herkunft geführt und durch sie auch entschieden, deswegen ist der Krieg für viele Interessengruppen längst zu einem finanziellen Faktor geworden: Je länger der Konflikt andauert, desto größer sind die Einnahmen bestimmter privater Organisationen und Individuen. Die literarische Fiktion reagiert schnell auf diese Veränderung und entwickelt eine neue Figur – die des Warlords (z. B. die Figur Dilawar aus Linus Reichlins: »Das Leuchten in der Ferne«). Heupel führt als Ergebnis ihrer Analyse eine weitere Hypothese hinzu, wonach die ideologische und identitätsbezogene Rhe9 Mehr dazu Wolting, Monika: Der neue Kriegsroman. Repräsentationen des Afghanistankriegs in der deutschen Gegenwartsliteratur. Heidelberg: Winter 2019. 10 Clausewitz, Carl von: Vom Kriege. Hinterlassenes Werk des Generals Carl von Clausewitz. Hrsg. v. Werner Hahlweg. Bonn: Dümmler 1991. 11 Münkler, Herfried: Kriegssplitter: Die Evolution der Gewalt im 20. und 21. Jahrhundert. Berlin: Rowohlt 2015, S. 210–211 (im Folgenden unter der Sigle »KS« mit Seitenzahl im Text). 12 Kaldor, Mary: Neue und alte Kriege. Organisierte Gewalt im Zeitalter der Globalisierung. Üb. v. Michael Adrian. Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000, S. 16. 13 Münkler, Herfried: Die neuen Kriege. Reinbek: Rowohlt 2002, S. 16.

Die Macht der Kriegsbilder

57

torik der Warlords nur noch »als Deckmantel ihrer ökonomischen Gewaltmotive«14 diene. So können die Kriege nicht durch Friedensabkommen enden, sie bedürfen meist eines unbeteiligten Dritten. Diese Annahme ist bereits oft widerlegt worden und die Forderung nach Abzug internationaler Ordnungsmächte gewinnt immer mehr Anhänger, weil auch bei einem durch starken finanziellen Zufluss abgeschlossenen Friedensabkommen die Gefahr groß ist, dass der Krieg gleich wieder an einem anderen Ort ausbricht. Auch dieser Umstand ist zum inhaltlichen Schwerpunkt literarischer Texte geworden: Der Sinn des geführten Krieges wird von den handelnden Figuren diskutiert, die Zweifelhaftigkeit der Beteiligung deutscher Truppen immer wieder thematisiert (z. B. in den Romanen von Dirk Kurbjuweit: »Kriegsbraut« und Jochen Rausch: »Krieg«). Als ein weiteres Merkmal der neuen Kriege führt Herfried Münkler, die »Asymmetrierung der Kriegsgewalt« an, also strategischer Kalküle, mit denen die »Stärken des Gegners in Schwächen verwandelt werden sollen« (KS, 211). Dementsprechend findet auch diese Eigenschaft Eingang in die literarische Fiktion, z. B. in Form von Bildern, in denen westliche Medien als Plattform zur Veröffentlichung von Forderungen der Terroristen oder Aufständischen benutzt werden (Frank Schätzing: »Breaking News«). Als drittes Charakteristikum nennt Herfried Münkler die »Demilitarisierung des Krieges« (KS, 211).Damit ist gemeint, dass das reguläre, staatlich zugeordnete Militär nicht länger »Monopolist der Kriegsführung« ist (KS, 211). Dies wird in der literarischen Fiktion deutlich, wonach Soldaten der westlichen Mächte gegen Krieger, Aufständische, Terroristen kämpfen müssen und sich mit keiner regulären Armee mehr konfrontiert sehen (Dirk Kurbjuweit: »Kriegsbraut«, Jochen Rausch: »Krieg«, Frank Schätzing: »Breaking News«). Mit der Demilitarisierung des Krieges löst sich die Grenze zwischen Krieg und Frieden auf, »und an die Stelle des Kriegsparadigmas tritt zunehmend das Kriminalitätsparadigma« (KS, 211). Inzwischen spricht Herfried Münkler von »transkulturellen Kriegen«, die nicht mehr unter Beteiligung kulturell nahestehenden Nachbarstaaten stattfinden, sondern vermehrt durch die Intervention globaler Ordnungsmächte beeinflusst werden und dadurch sich noch weiter von der Möglichkeit einer Symmetrieherausbildung entfernen, die auf kultureller Nähe beruht und das Einhalten von Regeln und Vereinbarungen begünstigen könnte (KS, 210).

14 Heupel, Monika: Friedenskonsolidierung im Zeitalter der »neuen Kriege«: Der Wandel der Gewaltökonomien als Herausforderung. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2005, S. 10.

58

Monika Wolting

Der Journalismus der globalen Kriege Der Trailer zum 2014 erschienenen Roman von Frank Schätzing »Breaking News« liefert folgende Schlagzeilen: Stell dir vor, du jagst Neuigkeiten hinterher. Und plötzlich stellst du fest: Die Neuigkeiten jagen Dich! Stell Dir vor … Du lügst wie gedruckt. Und alles ist wahr. Stell Dir ein Pulverfass vor und Du bist die Zündschnur.15

Buchtrailer sind inzwischen zum substanziellen Teil der Marketingstrategie der Buchverlage avanciert. Den Anfang der Erfolgsgeschichte dieses Genres setzte 2004 der Verlag Kiepenheuer & Witsch mit dem Bestsellerroman »Der Schwarm« von Frank Schätzing. Von daher verfügt der Autor über eine langjährige Erfahrung mit dem Einsatz von Paratexten dieser Art für das Erwecken von Interesse bei einem potenziellen Leser. Die Leitfrage ist dabei, inwieweit die textuelle Bearbeitung des Trailers im Sinne des Genette′schen »Paratexts« als eines zusätzlichen medialen Texts zum »eigentlichen« Text auf ihn zurückwirkt.16 Narratologisch wird dem Paratext eine vielgestaltige Menge von Praktiken beigemessen. Sein »funktionaler Charakter« gibt die Richtung der Deutung vor: In diesem Buchtrailer werden die Elemente zusammengefasst, die für den Roman essenziell erscheinen, genauer diejenigen, die in Verbindung mit Berichterstattung, Informationsaustausch oder Informationsgewinnung stehen. Wenn Genettes Vorschlag gilt, den Paratext in seiner Funktion als Maßnahme zur Beeinflussung der Interpretation zu verstehen, dann können die Elemente demzufolge als Schwerpunkte einer möglichen Analyse dienen. Um der Bedeutung dieser Begriffe näher zu kommen, war es für diesen Beitrag angeraten, auf die Medientheorie von Niklas Luhmann zurückzugreifen.17 Luhmann ist der Überzeugung, dass [d]ie wohl wichtigste Besonderheit des Codes Information/Nichtinformation in dessen Verhältnis zur Zeit [liegt]. Informationen lassen sich nicht wiederholen; sie werden, sobald sie Ereignis werden, zur Nichtinformation. Eine Nachricht, die ein zweites Mal gebracht wird, behält zwar ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert (RM, 41).

Genau diese Eigenschaft der Informationen werden im Zusammenhang mit der Aufgabe des Journalisten in dem Trailer zu »Breaking News« betont. Das Verb »jagen« rekurriert auf eine Heftigkeit in der Bewegung, auf Eile, Hast, gieriges Streben. Die Feststellung »[…] du jagst Neuigkeiten hinterher« beschreibt in 15 Buchtrailer zu Breaking News von Frank Schätzing, 2014. Auf: https://www.kiwi-verlag.de (Zugriff am 12. 11. 2016). 16 Vgl. Genette, Gérard: Paratexte: das Buch vom Beiwerk des Buches. Frankfurt/Main: Campus 1989, S. 9–18. 17 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien. Opladen: Westdeutscher Verlag 1996 (im Folgenden unter der Sigle »RM« mit Seitenzahl im Text).

Die Macht der Kriegsbilder

59

knapper Form die Tätigkeit eines Journalisten. Allerdings erwartet der Trailer noch mehr von seinem Rezipienten, er legt ihm eine Form von Identifikation mit dem Journalisten nahe, denn er spricht den Zuschauer direkt mit dem Pronomen »Du« an. Der Rezipient sollte kurzfristig die Position der Hauptfigur Tom Hagen einnehmen, sich in dessen Situation einfühlen. Hagen ist darauf angewiesen, als erster an eine Information zu kommen. Sobald eine Information ausgegeben wird, verliert sie ihren Wert im Sinne von Neuigkeit und sie wird aus journalistischem Blickwinkel wertlos. Frank Schätzing siedelt die Handlung des ersten Teils seines Trillers »Breaking News«,18 unter dem Titel 2008 in »Afghanistan, nördliche[n] Provinze[n]« an. Es wird die Geschichte eines Journalisten erzählt, der dem Auftrag folgt, eine Reportage über das deutsche Camp in Kunduz zu schreiben. Vor der Abreise erhält er eine für das politische und gesellschaftliche Leben Deutschlands zunächst unbedeutende Nachricht über drei in Afghanistan entführte Mitglieder einer unparteiischen NGO-Organisation: den Entwicklungshelfern – Mariane Degas, Max Keller und ihren einheimischen Fahrer, Walid Bakhtari. Tom Hagen bricht mit zwei Kollegen, mit der Praktikantin Inga und seinem langjährigen Fotografen-Kollegen Björklund nach Afghanistan auf. Datum und Ort werden bereits zu Beginn des Erzählvorgangs explizit genannt. Inoffiziell hat Hagen vor, den Aufenthaltsort der Entführten aufzuspüren und darüber eine Story für sein Hamburger Blatt zu schreiben. Sein Kontaktmann Husain verschafft ihm die nötigen Informationen, stellt den Kontakt zu den Entführern her und organisiert ein Treffen mit den Entführern vor Ort. Hagen darf das Interview nicht nur mit den Entführten, sondern vor allem mit den Entführern führen, weil sich die terroristische Organisation mediale Wirkung davon verspricht. Obwohl die Geiseln sich bereits seit drei Monaten in ihrer Gewalt befinden, zeige bis dahin keine politische Einrichtung Interesse daran, sich des Falls anzunehmen. Als Hagen von der geheimen Aktion ins Camp zurückkehrt, erfährt er, dass »Le Monde« bereits eine Nachricht über die drei Geiseln geliefert hat, denn Mariane Degas ist, wie es sich herausstellte, die Nichte eines bedeutenden französischen Politikers. Hagen reagiert dementsprechend, sein bisher gesammeltes Material würde ihn nicht mehr »aus dem Sommerloch herauskatapultieren« und beschließt folglich, die Befreiung der Geiseln bei der Bundeswehr zu erzwingen, um nach dieser Aktion seinem Blatt eine brisante Story zu liefern. Weil ihm Bundesregierung wie auch Bundeswehr, wie es offiziell heißt: »aus Sicherheitsgründen« die Anwesenheit bei dem Einsatz verwehren, organisiert er für sich und seine beiden Kollegen eine private Fahrt an den Ort des Geschehens. Vor Ort müssen die drei Journalisten feststellen, dass sie die landschaftliche Beschaffung 18 Schätzing, Frank: Breaking News. Roman. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2014 (im Folgenden unter der Sigle »BN« mit Seitenzahl im Text).

60

Monika Wolting

des Terrains unterschätzt haben, die Wanderung durch das Gebirge erweist sich als äußerst schwierig. Im entscheidenden Moment, kurz vor dem Beginn der Aktion, stürzt Inga ab; mit dem durch den Sturz verursachten Lärm alarmiert sie die Entführer, die Zeit genug haben, sich mit den Geiseln in eine nahe gelegene Höhle zu flüchten, die sie kurz darauf sprengen. »Breaking News« gilt als ein Paradebeispiel für Texte, die die Frage der Beschaffenheit, der Funktionen und Wirkungen des Mediensystems in den neuen Kriegen, zum Gegenstand literarischer Auseinandersetzung machen. 1979 schrieb Nicolas Born »Die Fälschung« und 2003 veröffentlichte Norbert Gstrein »Das Handwerk des Tötens«, 2013 publizierte Linus Reichlin »Das Leuchten in der Ferne«. In den drei Texten stammen die Hauptfiguren aus dem Milieu der Medienstadt Hamburg, bzw. aus Berlin und alle drei gehören der journalistischen Zunft an.19 Sie berichten als deutschsprachige Kriegsjournalisten aus Krisengebieten über kleine Kriege, die ersten beiden über »fremde Kriege«. Reichlins Protagonist übt seine Tätigkeit in der Zeit des deutschen Einsatzes in Afghanistan aus. Allerdings wird die deutsche Beteiligung am Afghanistankrieg nur am Rande zum Gegenstand der literarischen Reflexion gemacht. In der Beschäftigung mit der Differenz von Krieg in Krisengebieten und Nicht-Krieg in Ländern, die sich nur von außen am Krieg beteiligen, taucht die gewichtige Frage nach der Vermittlung der Geschehnisse und der Funktion der Nachrichten aus Kriegsgebieten auf. Der Mittelpunkt der literarischen Reflexion über die Kriegsberichterstattung erfolgt in diesen Texten in mehreren thematischen Kreisen: Erstens wird gezeigt, wie der Standpunkt der Öffentlichkeit durch Medien gesteuert wird, zweitens, wie die Kriegsberichterstattung als Teil der politischen und kapitalistischen Maschinerie eingesetzt wird, drittens, wie ein Krieg zum Medienkrieg, »Fernsehkrieg« evolviert und viertens, welchen Einfluss die technologischen Medien auf die Wahrnehmung und Mediatisierung von Krieg, vor allem seit der Zeit der Kriege in Bosnien und im Persischen Golf (1991) ausüben. Des Weiteren thematisieren die Romane den Wandel der Berichterstattung, die stark mit der Veränderung der Kriegsführung zusammenhängt. Münkler hebt darauf ab, dass der Zugang der Krisenjournalisten zum Kampfgeschehen und ihre Orientierung 19 Es existiert bereits auch eine breite Palette filmischer Reflexionen über den Beruf des Krisenreporters. Als Beispiel dafür gilt der Debütspielfilm des deutschen Regisseurs Lancelot von Naso »Waffenstillstand« von 2009, der von einem humanitären Einsatz einer Hilfsorganisation, an dem sich zwei deutsche Journalisten: der Reporter Oliver und der Kameramann Ralf beteiligen. Der Konvoi ist in Irak in der Zeit eines vermeintlichen Stillstands unterwegs, sein Ziel ist Medikamente an das Krankenhaus in Falludscha zu bringen. Der Reporter Oliver hofft dabei auf eine exklusive Story für sein Blatt, in dessen Auftrag er in Irak arbeitet. Weitere filmische Darstellungen des Kriegsreporters finden sich in Filmen, wie in dem Oscargewinner 2002 »No Man′s Land« (Nicˇija zemlja) des bosnischen Regisseurs und Politikers Danis Tanovic´ aus dem Jahre 2001.

Die Macht der Kriegsbilder

61

daran einer massiven Wandlung von einer relativen Überschaubarkeit des Kampffelds der früheren Kriege bis zu einer zunehmenden Unübersichtlichkeit räumlich zersplitterter Kriegsschauplätze der Gegenwart unterliegt. Auch dem Bild wird in der Zeit der Medialisierung eine neue Bedeutung zugeschrieben. Bredekamp definiert in seiner Abhandlung »Theorie des Bildaktes« die alten und neuen Funktionen der Bilder im Bereich des Militärs. Er macht neben der traditionellen Bedeutung der Bilder eine weitere für die bewaffnete Auseinandersetzung wie Siegeszeichen, Mittel der Aufklärung und der Propaganda aus, die sich unter den Bedingungen des asymmetrischen Krieges entwickelt: Bilder werden als »Primärwaffen« benutzt. Über die Massenmedien und das Internet eingesetzt, dienen sie dazu, Konflikte über die Augen hinaus zu entgrenzen und mentale Prozesse in Gang zu setzen, die auf unmittelbarere Weise als zuvor den Waffengang selbst zu steuern oder gar zu ersetzen vermögen.«20 In Frank Schätzings Roman kommen diese Bereiche der neuen Formen der Berichterstattung in großem Maße zum Ausdruck. Zum einen wird gezeigt, wie das gegenwärtige Handlungsfeld dem Krisenjournalisten viele Möglichkeiten eröffnet, den Journalismus als die vierte Macht in die Öffentlichkeit zu bringen, zum anderen aber, wie die vorgegebenen Strukturen der Kriegsführung die Chancen, einschränken, die Informationen nach eigener Vorstellung zu gewinnen und zu verbreiten Des Weiteren erscheint es schon an dieser Stelle notwendig, darauf hinzuweisen, dass Frank Schätzing zum Aufbau seiner Figur stereotypisierte Bilder des investigativen Journalismus benutzt, die des Öfteren in Kriegsfilmen oder politischen Thrillern (z. B. das Paradebeispiel: »The Odessa File« von Frederick Forsyth) verwendet werden.

Krisenreporter als Teil des Mediensystems Der Text setzt in medias res ein: Unterwegs in einem Toyota Land Cruiser, sieben Uhr morgens, Sack überm Kopf, unter der Kinnlade zugebunden. Der offene Mund saugt Stoff an, da durch die Nase nicht genug Luft in die Lungen strömen will, doch tatsächlich ist es ein mentales Problem. Das Gewebe ist durchlässig, der Rest Gewöhnungssache. Kann man sich daran gewöhnen? Seiner Sicht beraubt über Bergstraßen voller Schlaglöcher zu kacheln, während einem die Rückbank ins Kreuz drischt? Hängt von den Umständen ab. Selbst in weniger zivilisierteren Gegenden gibt es nicht viele Gründe, jemandem eine muffige schwarze Kapuze über den Kopf zu stülpen. Entweder wird man gleich darauf erschossen oder aufgehängt […] Dritte Möglichkeit,

20 Bredekamp, Horst: Theorie des Bildaktes. Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2007. Berlin: Suhrkamp 2010, S. 2.

62

Monika Wolting

man trägt das Ding freiwillig, weil der Fahrer nicht will, dass man sich später an die Route erinnert. Hagen weiß, dass Björklund neben ihm weniger gut mit der Situation zurechtkommt (BN, 7).

Als Beginn des Erzählens wird ein konkreter Zeitpunkt des Geschehens gesetzt. Hagen und Björklund sind offensichtlich in einem Geländewagen auf unbefestigten Straßen unterwegs. Die Handlung beginnt kurz vor einem gefährlichen und, wie es scheint, geheimen Einsatz. Der Leser wird in das Geschehen eingeführt, aber auch zum Teil durch die nur langsam preisgegebenen Informationen irritiert. Der Einstieg in das Geschehen verrät allemal die freiwillige Teilnahme Tom Hagens an einer gefahrenträchtigen Mission. Damit wird bereits zum Anfang das berufliche Umfeld des Protagonisten umrissen, seine Bereitschaft an riskanten und potenziell bedenklichen Aktionen teilzunehmen. Insofern kann es als das erste Zeichen für die Typisierung der Kriegsreporterfigur angesehen werden: Hagen gehört jener Figurengruppe an, die sich für ihren Beruf in Gefahr begeben. Er liefert in einem Gespräch mit dem General im Camp Kundus eine Selbstbeschreibung. An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass die Figurenbeschreibung von Hagen grundsätzlich über Selbstreflexionen und Selbstbeschreibungen verläuft. Das Bild der Hauptfigur, das im Roman entworfen wird, stammt hauptsächlich von ihr selbst, was zu Folge hat, dass es nicht verifizierbar ist und geglaubt werden muss. Hagen erzählt: »Meine erste Reportage war Gaza. Flüchtlingslager Dschabaliya, Ende der Achtziger. Ich war 23. Seitdem hält mich nichts mehr zu Hause, wenn irgendwo Krieg ist, die Erde bebt, Tsunamis übers Land rollen. Ich hab mich in jeder Scheiße gewälzt, glauben Sie im Ernst, ich wäre noch durch Vorurteile zu beeindrucken?« »Darf ich fragen, warum?« »Warum was?« »Warum tun Sie sich das an?« »Es ist mein Job.« »Sie könnten über andere Dinge berichten. Schönere Dinge« (BN, 63f.).

Der Erzähler unterlässt eigene Kommentare über seinen Handlungsträger Tom Hagen, dafür aber gestattet er Hagen, viel über sich, seine Entscheidungen und Überlegungen selbst zu erzählen. In dieser Textpassage kommt ein erfahrener, selbstsicherer und von seiner Tätigkeit überzeugter Journalist zum Vorschein. An anderer Stelle spricht Hagen auch von anderen Gründen, warum er sich gefährlichen Aktionen aussetzt: »[…] also versuche ich, wenigstens die Geiseln zu retten.« »Mehr wollen Sie nicht?« »Was meinen Sie?«

Die Macht der Kriegsbilder

63

»Keine – hm – Schlagzeile?« »Alle Schlagzeilen der Welt, was denn sonst! Ich bin Reporter« (BN, 58f.).

Es sind deutliche Zeichen für Schätzings Verwendung eines weiteren Typus’ des Kriegsjournalisten als eines menschlich engagierten Korrespondenten. Barbara Korte bezeichnet diesen Typus als »Sprachrohr der Menschlichkeit«.21 Dabei handelt sich um einen engagierten Kriegsjournalisten, der »die Unmenschlichkeit des Krieges anklagt und für die zivilen Opfer der Gewalt Partei ergreift«.22 In dieser Beziehung möchte sich Hagen als wirkungsmächtiger Aufklärer der Öffentlichkeit ins Bild setzten. Hagen verbindet in seiner Tätigkeit als Kriegsjournalist den humanen Auftrag mit den Erfordernissen des medialen Systems, dessen Teil er selbst ist. Er ist sich im Klaren darüber, dass er dem »Erfordernis der Aktualität« entsprechen muss und dies führt unmittelbar zur »Konzentration der Meldungen auf Einzelfälle – Vorfälle, Unfälle, Störfälle, Einfälle« (RM, 68). Luhmanns Gedanken aufgreifend, lässt sich behaupten, das Hagen über die Beschaffenheit seines Berufs genau Bescheid weiß und seine Arbeitsweise nach dem Faktor der »Aktualität« richtet. Er ist auf der Suche nach bestimmten »Vorfällen«, die als Störung von »Normalitätserwartungen« gedeutet werden können. »Irritierbarkeit wird ja durch Erwartungshorizonte erzeugt«, schreibt Luhmann, die entweder Normalitätserwartungen bereitstellen, die aber im Einzelfall durch Zufälle, Vorfälle, Unfälle durchbrochen werden können« (RM, 150). Die »Normalitätserwartungen« und die »Erwartungshorizonte« der Zielgesellschaft bestehen darin, dass die Konvois im Sinne humanitärer Hilfe nicht angegriffen werden, und die Insassen solcher Konvois nicht als Geisel genommen werden. In dem Fall von Degas, Keller und ihrem Fahrer kommt es anders, so erfüllt dieser Vorfall die Bedingungen eines selbstreferenziellen Mediensystems. Hagen sieht seine Funktion zunächst in dem Beschreiben der Störung, die eingetreten ist. Erst als die Befürchtung aufkommt, mit seinem Beitrag nichts Neues auf den Informationsmarkt zu bringen, entscheidet sich Hagen, weiterzugehen und die Aktion der Befreiung der Geiseln einzuleiten, bzw. sie bei der Bundesregierung und der Bundeswehr zu erzwingen. Hagen handelt im Sinne des Systems, dessen Codierung nach sich zieht, wie Luhmann es formuliert, »dass sich das System selbst zwingt, ständig für neue Information zu sorgen« (RM, 42). Dies liegt daran, dass sich Nachrichten nicht wiederholen lassen. Nachrichten, die publiziert werden, werden in kürzester Zeit zu »Nichtinformation«, was nach sich 21 Korte, Barbara: »Dargestellte Kriegsdarsteller. Typisierungen des Kriegsreporters in Roman und Film des 21. Jahrhunderts.« In: Barbara Korte, Horst Tonn (Hrsg.): Kriegskorrespondenten. Deutungsinstanzen in der Mediengesellschaft. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2007, S. 202. 22 Korte, »Kriegsdarsteller«. 2017, S. 202.

64

Monika Wolting

zieht, dass diese bei wiederholtem Aufkommen ihren Informationsgehalt verlieren. Luhmann formuliert es wie folgt: »Das System veraltet sich selbst« (RM, 42). Das sorgt dafür, dass die Gesellschaft durch die Massenmedien wachgehalten wird, da sie ständig mit neuen Überraschungen und Störungen konfrontiert wird (vgl. RM, 42). »New information« ist ein zentrales Motiv »der modernen Gesellschaftsdynamik« (RM, 44). Die Berichterstattung von militaristischer Aktion der Geiselbefreiung, die zum Zwecke der Wiederherstellung des Normalzustands herhalten soll, würde Hagen erneut die Möglichkeit geben, als erster Bilder und Text auf den Informationsmarkt zu liefern und im Sinne des Mediensystems zu agieren, das besagt, dass »Informationen sich nicht wiederholen lassen; sie werden, sobald sie Ereignis werden, zur Nichtinformation. Die wohl wichtigste Besonderheit des Codes Information/Nichtinformation liegt in dessen Verhältnis zur Zeit. Eine Nachricht, die ein zweites Mal gebracht wird, behält zwar ihren Sinn, verliert aber ihren Informationswert« (RM, 41). Hagen – ein auf Erfolg erpichter Reporter einer angesehenen deutschen Zeitung – ist darauf angewiesen, ›Schlagzeilen zu machen‹. Sein Beruf erfordert geradezu eine solche Einstellung. Die nächste Textstelle, in der der Erzähler die Gedanken Hagens schildert, ist ebenfalls ein Beleg für seine karrierebewusste Haltung: Husain freut sich, von Hagen zu hören. Was der Job macht, wie es der Familie geht. Eine Ouvertüre an Umständlichkeiten, orientalisch gedrechselt. Hagen ist es recht. Wenn sein pakistanischer Freund ihm eine Story liefert, die ihn aus dem Sommerloch katapultiert, kann er ihm den Koran in Endlosschleife vorlesen (BN, 9).

Für eine Story ist Hagen bereit, viel aufs Spiel zu setzen, er scheut sich auch nicht, »sein Team Risiken auszusetzen« (BN, 35). So vertritt Hagen als literarische Figur zugleich einen weiteren Typus des Kriegsreporters: Er ist der rücksichtslose Berichterstatter, der für eine gute Story alles riskieren wird.23 Dieser Einsatz fordert das Leben von Inga und kostet die Freundschaft zu Björklund, er selbst verliert seine Lizenz und wird fortan für ein drittklassiges Online-Magazin arbeiten. Proleptisch ist hier zu vermerken, dass diese Ereignisse in Afghanistan nichts an seiner Einstellung zum Beruf verändert haben. Hagen gehört zum Ensemble jener Figuren, die sich im Laufe der Erzählung nicht entwickeln. Die im ersten Teil des Romans angelegte Konstruktion der Figur bleibt bis zum Ende des Erzählvorgangs bestehen.

23 Vgl. Korte, »Kriegsdarsteller«. 2017, S. 212.

Die Macht der Kriegsbilder

65

Medien als neue Primärwaffe Im demokratischen Staatssystem wird den Medien eine grundlegende Funktion zugeschrieben: Ihre Aufgabe ist, die Gesellschaft über gesellschaftsrelevante Themen zu informieren, durch Kritik und Diskussion zur Meinungsbildung beizutragen und damit eine breit verstandene Partizipation zu ermöglichen. Münkler stellt fest: »Der Staat ist nicht mehr Herr der Nachrichten, und er ist es umso weniger, je mehr er in seinem politischen Selbstverständnis liberalen Werten verpflichtet ist« (KS, 250). Dieser Hinweis ist insofern entscheidend, als Münkler hier darauf abhebt, dass die demokratischen Rechtsstaaten des Westens im »Krieg der Nachrichten eine größere Vulnerabilität aufweisen als autoritäre Staaten« (KS, 250 f). Luhmann sieht die Funktion der Massenmedien »im Dirigieren der Selbstbeobachtung des Gesellschaftssystems« (RM, 173). Luhmann weiter folgend wird es ersichtlich, dass das Gedächtnis des Mediensystems einen wichtigen Einfluss auf die Herstellung der »Hintergrundrealität« weiterer Kommunikationen ausübt. Es bedeutet ergo, dass jede neue Meldung aus dem »Bedürfnis« des Systems heraus entsteht. Schätzing konzentriert sich im ersten Teil seines Thrillers auf die Darstellung der Funktion der Massenmedien als: zum einen der »Erzeugung von Irritationen« durch journalistische Recherchen und sich daraus ergebenden offene Forderungen und zum anderen als der »Bearbeitung von Irritation«, also Reaktionen auf die gegebene Faktenlage. Tom Hagen sieht die Notwendigkeit, Daten über den Verbleib von den drei Geiseln in Erfahrung zu bringen, weil er ein klares Versagen der Politik feststellt, die sich jeglicher Verantwortung für das Leben der zwei NGO-Mitarbeiter und ihres Fahrers entzieht. Dort sind sie verschwunden. Drei Tage später informiert die Organisation – Heal Afghanistan – das Auswärtige Amt und gibt eine Pressemeldung heraus. Der Faktengehalt geht gegen null. Es gibt kein Bekennervideo, keine Forderungen. Im Krisenreaktionszentrum halten sie pfleglich die Hände still. Was sollen sie auch groß unternehmen? Es gilt ja nicht mal sicher, ob überhaupt jemand die drei hopsgenommen hat. Vielleicht düngen sie schon längst afghanisches Ackerland. […] Will jemand losziehen, sie zu suchen? Schon besser gelacht. Weil man den Vorfall andererseits nicht völlig ignorieren kann, veröffentlicht die Presse zehn Zeilen Text, in denen Heal Afghanistan seine Verluste beklagt. Die Meldung erscheint im Nachrichtenfriedhof des Panorama-Teils (BN, 8).

Als Hagen die Nachricht erhält, ist er im Begriff, einen Flug nach Afghanistan zu organisieren. Ein Journalistenteam soll im Feldlager Kundus eine Reportage über »den Alltag der Bundeswehr« (BN, 9) machen. Hagen hat vor, sich vor Ort etwas näher mit der Entführung zu beschäftigen. Es weiß nämlich, dass Politik auf die Entführung nicht entsprechend reagieren kann, denn das System hat bereits

66

Monika Wolting

»gelernt«, dass die Reaktion erst dann ausgelöst wird, wenn »Bekennervideo«, bzw. »konkrete Forderungen« vorliegen. Weil nichts dergleichen vermerkt wurde, kann das System nicht irritiert werden. Die Information der NGO-Organisation findet keinen Kommunikationsanschluss, wird also schnell zur Nichtinformation und verliert ihren Wert, in der Äußerung des Erzählers: sie »erscheint im Nachrichtenfriedhof«. Ganz im Sinne der »Erzeugung von Irritation« beschließt Tom Hagen, die Entführer und ihre Geisel zu finden und eine Story für sein Magazin zu liefern. Die sehr ambivalenten Gründe, die sein Vorhaben begleiten, haben ihren Ursprung in dem von ihm ausgeübten Beruf. Einerseits weiß er, dass ein Interview mit den Geiseln und Geiselnehmern Druck auf die Politik ausüben würde, das System irritieren und zum Handeln nötigen, andererseits ist er ein Teil des autopoietischen Systems, das auf das Erzeugen von Informationen, Neuigkeiten, Störfällen angewiesen ist, mit anderen Worten: »Journalismus ist Hagens Job« und nicht humanitäre Hilfe, daran schließt sich seine Erwartung an seine Arbeit an. In dieser Diskrepanz zwischen dem realen Wunsch, Hilfe zu leisten und der Beteiligung an einem System, das nach eigenen Regeln wirkt, liegt die eigentliche Ursache für das bevorstehende Desaster.24 Hagen reagiert gemäß den Anforderungen des Mediensystems: Er braucht »explosives« Fotomaterial und unmittelbare Eindrücke aus der durchgeführten Aktion, damit seine Reportage den »Nachrichtenwert« (im Luhmannschen Sinne) erhält. Kriegsberichterstattung befindet sich stets im Spannungsfeld zwischen den Anforderungen der journalistischen Tätigkeit, den häufig humanen Idealen der Reporter und den vielfach propagandistischen Anstrengungen von Militär und Staat. Oft sind die bedeutenden Medienanstalten Verstärker offizieller Stellungnahmen von Politikern. Die Kriegsberichterstattung der neuen Kriege weist einen hoch politischen Charakter auf. Dieser Sachverhalt verstößt offensichtlich gegen die Freiheit des Journalismus’, zumindest jener Form, wie sie sich in den demokratischen Staaten im 20. Jahrhundert etabliert und bewährt hat. Es gibt zahlreiche Untersuchungen zu den neuen Kriegen, die allesamt belegen, dass in den weltweit medienwirksamsten Kriegen, wie dem Golfkrieg von 1991, dem Afghanistankrieg von 2001 und auch dem Anfang des Irakkrieges von 2003 Politik, Militär und Journalismus gleiche Ziele verfolgten.25 Die Kriegsberichter24 Ein ähnliches Verhalten der Journalisten wird in Film »Waffenstillstand« (2009) dargestellt: »Krankenschwester: »Wir müssen die Verletzten mitnehmen.« Reporter: »Wir haben die Bilder. Wir brauchen jemanden, der das alles gesehen hat. Zeugen, am besten einen Arzt.« Krankenschwester: »Zwei Ärzte sind tot, die anderen operieren. Ihr seht, was hier los ist.« Reporter: »Ihr macht euren Job und wir unseren.« (72.10 Min.) »Wir sind nicht hier, um Verletzte abzutransportieren. Du bist Journalist und nicht Krankenpfleger.«« (73.02 Min.). 25 Vgl. Kellner, Douglas: »Kriegskorrespondenten, das Militär und Propaganda. Einige kritische Betrachtungen«. In: Korte, Tonn, Kriegskorrespondenten. 2007, S. 17f.

Die Macht der Kriegsbilder

67

statter stehen vor einer großen Herausforderung, angesichts des Drucks, aber auch der Obhut des Staates und des Militärs, die bestimmte politische Ziele verfolgen, eine faire Information zu liefern. Die meisten Reporter der neuen Kriege reisen zusammen mit dem Militär, wohnen in Militärcamps und werden von Soldaten beschützt. Dies führt dazu, dass das Militär einerseits für die Sicherheit der Reporter sorgt, andererseits bestimmt, was gesehen werden soll, worüber geschrieben werden darf und welche Themen vermieden werden sollen. Wirft man einen Blick auf das Verhältnis von Reportern und Militär, so fällt auf, dass die Arbeitsweise von Journalisten von dieser Verbindung im Krieg wesentlich beeinflusst wird: Nach Kortes Meinung hat sie […] in der Geschichte der Kriegsberichterstattung unterschiedliche Ausprägungen erfahren, die von Kooperation bis zu Antagonismus reichen. […] Das intensive Informationsmanagement von Militär und Politik […] hat auch in der fiktionalen Darstellung das Bild vom Reporter hervorgebracht, der über den Krieg eigentlich nicht mehr berichten kann, weil er kaum etwas zu berichten bekommt oder weil ihm jeder Überblick über das Kriegsgeschehen fehlt, und der damit zu einem Spielball degradiert wird.26

In der Konstruktion der Figur Tom Hagens wird genau das Gegenprogramm realisiert. Schätzings Reporter sucht nach Wegen, um aus dem eingefahrenen Abhängigkeitsverhältnis herauszukommen und seiner Profession nachzugehen. Der Konnex des Auftrags, »den Alltag der Bundeswehr« (BN, 9) in einer Reportage zu schildern, lautet für Hagen unmissverständlich: Ein Job, auf den er nicht die geringst Lust verspürt. […] Was zum Teufel soll er da? Wenn nämlich die dortige Informationspolitik der Doktrin des Verteidigungsministeriums folgt, kann er ebenso gut in Hamburg bleiben und seine Reportage googeln. Ihm als Repräsentanten des schandmäuligen Enthüllungsjournalismus, so viel ist sicher, werden sie den Presseoffizier gleich auf den Leib schweißen (BN, 9).

Hagen weiß um das Prozedere im Camp. Er ist sich sicher, dass die Campleitung es verhindern wird, eine gesellschaftswirksame Story zu verfassen. Diese Auflagen widersprechen den Anforderungen eines autonomen Journalismus’, der auf Aufdeckung und Verarbeitung von Irritationen und Störungen angewiesen ist, wenn man Luhmann folgen will. Dagegen besitzen die Informationen, zu denen Hagen offiziell Zugang erhält, keinen Nachrichtenwert, sie sind schon oft tradiert worden und allseits bekannt. Dieses Dilemma wird im folgenden Gespräch, das zwischen Hagen und dem Presseoffizier stattfindet, deutlich: »Ich soll vom Alltag unserer Soldaten hier erzählen«, beharrt Hagen. »Dafür muss ich was zu erzählen haben.« »Haben Sie doch.« »Machen Sie Witze? Seit einer Woche werden wir Zeuge, wie das 13. Kontingent seine Panzer entstaubt, heimwehkranke Rekruten zur 26 Korte, »Kriegsdarsteller«. 2007, S. 205.

68

Monika Wolting

Poststelle rennen, Feldjäger versuchen, aus einem Haufen afghanischer Analphabeten Polizisten zu machen…« »Das ist der Alltag unserer Soldaten.« […] »Dieser Einsatz ist saugefährlich, das ist euer Alltag! Darüber will ich berichten. Nicht wie ihr im Camp Wasserschutzübungen durchführt für den Fall, dass im Stabszimmer die Kaffeemaschine durchbrennt.« »Es gibt bestimmt andere Wege, Ihre Auflage zu erhöhen.« […] »Aber wir halten es nun mal anders in der Bundeswehr. Wenn die Royal Marines kein Problem damit haben, Reporter in die Green Zone zu schleppen, ist das deren Sache. Mir wurde eingeschärft, Sie und Ihr Team zu schützen.« »Es wäre unsere freie Entscheidung, wenn wir mitkämen.« »Falsch. Solange Sie im Rahmen unserer Einsätze berichten, ist es meine Entscheidung« (BN, 25).

Der Presseoffizier liefert in dieser Passage eine klare Aussage über die Funktion des Journalismus während des Kriegs in Afghanistan. Die Bundeswehr hat die Verfügungskraft zu entscheiden, worüber in der Presse berichtet wird und worüber nicht, auch darüber, an welchen Aufgabenbereichen des Einsatzes die Reporter beteiligt werden können und welchen sie fern bleiben sollen.27 Zwar begründet er seine Entscheidung über den Verbleib Hagens und seines Teams während der Befreiungsaktion im Camp mit Sicherheitsmaßnahmen und der Erzähler enthält sich jeglichen Kommentars, berichtet auch nicht über die Gedanken des Presseoffiziers, aber angesichts eines solches Beschlusses ist anzunehmen, dass der Presseoffizier aktiv unterbinden wird, dass eine mögliche Berichterstattung, die die Soldaten im Einsatz, im Kampf zeigt, zustande kommt. Das bedeutet, dass das Interesse der Campleitung weitgehend in eine andere Richtung als die von Hagen geht. Von den Soldaten soll kein kämpferisches, kriegerisches Bild in der Presse vermittelt werden, sondern eines von Entwicklungshelfern: »Wasserwerke« (BN, 27), Bildungshelfern: »Jungenschule in Bagdad als erster Besuchspunkt« (BN, 27), Gründern, Erbauern und Beschützern von Mädchenschulen: »Die Soldaten haben für den Wiederaufbau Mädchenschule in Aliabad gespendet« (BN, 27) konnotiert werden. Hier findet offensichtlich eine Verschiebung des Bildes der deutschen Soldaten statt, von einem kämpferischen, der historisch übermittelt ist und oft mit den Soldaten im Zweiten Weltkrieg gleichgesetzt wird zu Soldaten, die humanitäre Hilfe leisten, für Aufklärung sorgen, Bildung transferieren, sich an der Modernisierung eines durch Krieg rückständig gewordenen Landes maßgeblich beteiligen. Hagen sieht dafür nur einen Grund, wie der Erzähler berichtet: Nie wieder sollte [der Krieg] durch deutsche Befindlichkeiten geistern, weshalb das ganze hier auch nicht Krieg heißen darf Im Krieg gibt es ›Gefallene‹, das ist das Problem. 27 Dieses Vorgehen des Presseoffiziers erinnert an Szenen aus dem amerikanischen Film »Jarhead – Willkommen im Dreck« des britischen Regisseurs Sam Mendes aus dem Jahr 2005, der den autobiographischen Roman von Anthony Swofford zur Vorlage hat, in dem das Journalistenteam instrumentalisiert wird und ausschließlich in Sinne des Militärs und der Politik handelt. (Vgl. Min.: 30:00–40:38)

Die Macht der Kriegsbilder

69

Im Frieden nippelt man einsatzbedingt ab. […] So sind die Hindukusch-Befohlenen im blinden Fleck gelandet, da man zu Hause am liebsten überhaupt keine Geschichten über Soldaten hören möchte, ob tot, halb tot oder lebendig. Nirgendwo sonst wird einer Armee, die im Ausland den Kopf hinhält, so wenig Rückendeckung zuteil, wie in Deutschland (BN, 28).

Hagens Reportage soll der Legitimation des Geschehens in Afghanistan dienen. Die »Message« soll die bei der Bundeswehr und der Bundesregierung bestehenden Konstruktionen und Rahmen befürworten und nicht infrage stellen, oder gar demaskieren. Der einsatzbereite Soldat mit Gewehr ist ein Motiv von Nationalismus, Patriotismus und der Legitimation von hegemonialer, gewaltsamer Politik.28 Dieses Bild findet zur Zeit des Afghanistaneinsatzes keine positive Resonanz in der bundesrepublikanischen Gesellschaft mehr. Unterdessen wurden im Zuge des Einsatzes der Bundeswehr in Afghanistan intensive Bemühungen fortgesetzt, ein positives Bild des Soldaten in der Heimat zu konstruieren. So wurde das Bild eines ›Entwicklungshelfers in der Uniform‹ etabliert.29 Deswegen setzen Politik und Militär gezielt jene Berichterstattung ein, die im Handlungsfeld vorgegebener Strukturen stattfindet. Aber Hagen verspürt kein Interesse an der Mitwirkung an diesen Maßnahmen, er nennt sich selbst »Enthüllungsjournalist« und ist determiniert, in diesem Sinne zu handeln. Aus diesem Grund gilt sein Augenmerk einem Geschehen, das Störungen des Normalzustands der Gesellschaft erzeugt. Hagen ist sich bewusst, dass es bei dem Einsatz von Medien nicht um Erkenntnisgewinn, Botschaftsübermittlung oder einen didaktischen Auftrag geht, sondern und das ständige Erzeugen und Bearbeiten von Irritation. So richtet sich das Mediensystem nach eigenen Regeln, die anders sind als jene des politischen Systems. Falls ein System nicht bereit ist, seine Grenzen zu modifizieren, handelt es weiter unter den eigenen unveränderlichen Bedingungen. Tom Hagen will weder den Anweisungen des Presseoffiziers noch des Stabsgenerals folgen und handelt fortan ohne die Rückendeckung des Militärs. Bekanntlich bedient sich die Kriegsführung den Medien in den neuen Kriegen auf zweifache Weise: Einerseits werden sie durch verschiedene Maßnahmen der Gewalt der Politik und des Militärs untergeordnet, andererseits wird der Krieg, indem er einen Schauplatz in den Medien erhält, durch Überbringung von Bil28 Vgl. Daxner, Heimatdiskus. 2012, S. 42. 29 Vgl. Geklappt hat nur der Abzug. In: TAZ, 28. 04. 2015: »Die Taliban stehen vor Kundus. Gescheitert ist das Konzept der ›Entwicklungshelfer in Uniform‹. Nicht der einzige Fehler der deutschen Afghanistan-Politik.« Auf: http://www.taz.de (Zugriff am 27. 08. 2020); Sabine Matthay: Offiziell gerne gesehen. In: Deutschlandfunk Kultur, 10. 08. 2009: »Entwicklungshelfer in Uniform – das Bild, das lange Zeit deutsche Soldaten in Afghanistan begleitet hat, gilt nicht mehr. Immer häufiger geraten Bundeswehr Soldaten – vor allem in der Region Kundus – in Gefechte.« Auf: https://www.deutschland-funkkultur.de (Zugriff am 27. 08. 2020).

70

Monika Wolting

dern, Bekundungen, Aufrufen der Gegenseite medial gesteuert. Spätestens seit dem Golfkrieg von 1991 wird Krieg als Medienereignis dargestellt und reflektiert. Im Mittelpunkt der Reflexion steht die Frage nach dem Einfluss der Medien auf den Verlauf, die Wahrnehmung wie auch die Mediatisierung (Mittelbarmachung) des Krieges. In diesem Kontext schreiben die Herausgeber des Bandes »Kriegskorrespondenten. Deutungsinstanzen in der Mediengesellschaft den Medien in den neuen Kriegen« eine qualitativ neue Rolle zu: »Sie sind integraler Teil der Kriegsführung. Bilder gehören zu den Ressourcen im Informationskrieg. Sie sind Mittel der Kriegsführung, die sowohl zum Zweck der Eskalation als auch der Deeskalation eingesetzt werden können.«30 Eine ähnliche Einschätzung des Einflusses der Medien auf den Verlauf des Krieges in Afghanistan teilt der Erzähler in Schätzings Roman: Weil die Taliban verstanden haben, dass dieser Krieg nur in den Medien zu gewinnen ist. Und die Medien sind es leid, den immer gleichen Blutfleck heranzuzoomen. So tragisch es sein mag, wenn Zivilisten zerfetzt werden und Gefreite in Särgen nach Hause reisen, die Welt gewöhnt sich daran. […] Also setzt die Quetta Shura fort an auf Aktionen, die den Taliban 24-stündige Dauerpräsenz auf CNN gewährleisten. Das ist die neue Direktive. Sieger der Sendezeit (BN, 14).

In einem weitgehend ähnlichen Zusammenhang stellt Petersen folgende These auf: »Seit der Jahrhundertwende heißt es über Terror und Terrorismus zu sprechen fast zwangsläufig […], nicht über die Ereignisse, sondern über Medienereignisse zu sprechen.«31 In diesem Sinne handelt auch Schätzings Figur: Es geht ihr nicht um die Darstellung der Faktenlage, sondern um die Inszenierung eines Medienereignisses, das die Zielgesellschaft zur Diskussion stellen kann. Die »Dauerpräsenz in den Medien« verschafft den Terroristen die Möglichkeit, einen entsprechenden Druck auf die betroffenen Gesellschaften und Regierungen auszuüben. Denn, wenn folgender Gedanke von Niklas Luhmann: »Was wir von der Gesellschaft und ihrer Welt wissen, wissen wir fast ausschließlich durch die Massenmedien« (RM, 3), aufgegriffen und auf Schätzings Text angewendet werden kann, dann wird ersichtlich, wie nah Schätzing an dieser Einschätzung die Handlungen seiner Figuren und die Äußerungen seines Erzählers ansetzt: Nur medial überlieferte Bilder werden als Irritation im politischen und gesellschaftlichen System verstanden. Nur auf so präparierte Störungen reagieren Regierungen und Gesellschaften. Tom Hagen weist in dem Gespräch mit den Entführern unmissverständlich auf die Funktion der Zeitungen in der Kriegsführung hin: 30 Korte, Barbara/Tonn, Horst: »Einleitung«. In: Korte/Tonn, Kriegskorrespondenten. 2007, S. 14. 31 Petersen, Christer: Terror und Propaganda. Prolegomena zu einer Analytischen Medienwissenschaft. Bielefeld: transcript 2016, S. 20.

Die Macht der Kriegsbilder

71

»Du schreibst für eine bedeutende Zeitung?« »So ist es.« »Und es steht in deiner Macht, die Öffentlichkeit deines Landes zu beeinflussen.« »Es steht vor allem in meiner Macht, die Entscheidungen meiner Regierung zu beeinflussen.« »Inwiefern?« »[…] Bei allem Mitgefühl, solange keiner der dreien irgendeine Titelseite ziert, geht das Interesse gegen null. In Berlin legt man Wert darauf, dass das so bleibt. Niemand dort will Horrorgeschichten über verschleppte Bundesbürger in den Medien sehen« (BN, 45).

Hagen schätzt seinen Einfluss in der Medienwelt und den Einfluss der Medien sehr hoch ein. Denn er weiß, dass in modernen Gesellschaften Bilder ungeheure Macht entwickeln können. Münkler schreibt zu der Entwicklung in den postheroischen Gesellschaften im Hinblick auf die Wahrnehmung von Erpressungsmeldungen: »Asymmetrisch schwache Akteure, wie Terroristen und Geiselnehmer, können die Durchschlagskraft ihrer Aktionen erheblich steigern, wenn sie diese mit Nachrichten und Bildern verbinden, die auf die labile psychische Verfassung postheroischer Bevölkerung zielen« (KS, 249). Hagen ist davon überzeugt, dass der Enthüllungsjournalismus, dessen Vertreter er zu sein glaubt, die Entscheidungen der Bundesregierung und der Bundeswehr beeinflussen kann. Dabei lassen sich interpretatorische Anschlüsse an den sogenannten CNN-Effekt herstellen, der bedeutet, dass durch massive Erzeugung medialen Drucks eine Intervention des Westens zu provozieren ist.32 Schätzing entwickelt in seinem Roman eine Gegenposition zu der Meinung, dass die Medien in ihrer Berichterstattung über die Kriege in Afghanistan und im Irak vor allem unter der Gewalt der regierenden Mächte standen.33 Der Journalismus, der sich der Obhut der Bundeswehr entzieht und ihrer Auflagen widersetzt, ist imstande, auch andere, politisch nicht konforme Inhalte öffentlich zu machen. Colin Powell, der damalige Vorsitzende der Joint Chiefs of Staff, äußert sich 1991 vor dem Hintergrund des Golfkrieges, wie folgt: »Wenn alle Truppen in Bewegung sind und die Kommandeure an alles gedacht haben, richte deine Aufmerksamkeit auf das Fernsehen, denn du kannst die Schlacht gewinnen und den Krieg verlieren, wenn du mit der Story nicht richtig umgehst.«34 Diese Worte sind eine öffentliche Bekundung, dass diese Kriege, die neuen Kriege, die Bürgerkriege, die Guerillakriege, der ›War on Terror‹ nicht mehr auf den Schlachtfeldern, sondern in den Medien entschieden werden. Der Protagonist Tom Hagen wiederholt erneut die Überzeugung, die bereits der Erzähler in Bezug auf die Gedanken eines der Terroristen erwähnt hatte: »Ich habe dieses Treffen vorgeschlagen, um euch ein Forum zu geben. Du weißt sehr wohl, Amanullah, dass dieser Krieg in den Medien gewonnen wird« (BN, 44). 32 Vgl. Robinson, Piers: The CNN effect. The myth of news, foreign policy and intervention. London: Routledge 2004. 33 Vgl. Hafez, Kai: »Konsumenten schwarzer Propaganda«. In: Zeit-Online, 28. 10. 2016. Auf: https://www.zeit.de (Zugriff am 27. 08. 2020). 34 Zitiert nach: Petersen, Terror. 2016, S. 21–22.

72

Monika Wolting

Münkler erläutert zur Funktionsweise der medialen Einflussnahme Folgendes: Sowohl bei dem Entschluss zur Intervention als auch bei dem zum Rückzug der Interventionskräfte spielen im Übrigen die Massenmedien eine unverhältnismäßig große Rolle – sei es dadurch, dass sie ausdrucksstarke Bilder von Hunger, Elend und Gewalt zeigen, sei es dadurch, dass sie die grausame und entwürdigende Behandlung gekidnappter oder getöteter Soldaten der Interventionskräfte auf den Bildschirm bringen. In beiden Fällen erzeugen sie gesellschaftlichen Druck auf die Politik, die dann nicht nach längerfristig angelegten Plänen, sondern unter dem Diktat der aktuellen Bilder agiert.35

Unter diesen Vorzeichen erweist sich der internationale Terrorismus als eine »neue Form des Kriegs, dessen eigentliches Material Bilder sind«.36 Hagen bedient sich dieser neuen Kampfformen des schwächeren Parts der neuen Kriege, um seinen Zielen nachzukommen, eine Story zu schreiben, die gesellschaftliche Strukturen irritiert.

35 Münkler, Herfried: Der Wandel des Krieges. Von der Symmetrie zur Asymmetrie. Weilerswirst: Velbrück Verlag 2006, S. 146. 36 Seeßlen, Georg/Metz, Markus: Krieg der Bilder – Bilder des Krieges. Abhandlung über die Katastrophe und die mediale Wirklichkeit. Berlin: Edition Tiamat 2002, S. 17.

Stephan Wolting (Poznan´)

Zeitenwende oder Metanoia? Die Pandemie in deutschsprachigen literarischen und philosophischen Werken

Aber nun, da so vieles anders wird, ist es nicht an uns, uns zu verändern? Könnten wir nicht versuchen, uns ein wenig zu entwickeln, und unseren Anteil Arbeit in der Liebe langsam auf uns nehmen nach und nach? Man hat uns alle ihre Mühsal erspart, und so ist sie uns unter die Zerstreuungen geglitten, wie in eines Kindes Spiellade manchmal ein Stück echter Spitze fällt und freut und nicht mehr freut und endlich daliegt unter Zerbrochenem und Auseinandergenommenem, schlechter als alles. Wir sind verdorben vom leichten Genuß wie alle Dilettanten und stehen im Geruch der Meisterschaft. Wie aber, wenn wir unsere Erfolge verachteten, wie, wenn wir ganz von vorne begännen die Arbeit der Liebe zu lernen, die immer für uns getan worden ist? Wie, wenn wir hingingen und Anfänger würden, nun, da sich vieles verändert.1

Einführung: Konkrete Zukunftsentwürfe und neue Utopien als Unbehagen an der Dystopie in einer dystopischen Welt Wat is eijentlich mit die Leute los? […]. Eben noch war’n se alle uffjeklärt und abjeklärt, und plötzlich schieben se Corona-Panik. Man hat fast den Eindruck, als ob bald Typen mit Schnabeltassen durch de Jehjend loofen und Pestzeichen an de Häuserwände malen.2

Im folgenden Beitrag geht es um Darstellungen der Corona-Pandemie bzw. von Sars Covid-19 in populär gewordenen Werken innerhalb der bundesdeutschen Öffentlichkeit im Sinne eines weiten Literaturbegriffs. Dabei soll am Beispiel der hier behandelten Werke der Frage nachgegangen werden, ob Sachbücher aus dem geistes- bzw. kulturwissenschaftlichen Bereich von Philosophie, Soziologie oder Kommunikationswissenschaft in Hinblick auf die Auswirkungen der Pandemie eher konkret lösungsorientiert sowie zum Teil utopisch im Hinblick auf eine zukünftige Gesellschaft oder Zukunftswissenschaft daherkommen, und ob 1 Rilke, Rainer Maria: Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge. Auf: www.gutenberg.org /cache/epub/2188/pg2188.html (Zugriff am 18. 02. 2021). 2 Harmsen, Torsten: »Steigste aus und biste dot.« Berliner Zeitung vom 07./08. 03. 2020.

74

Stephan Wolting

es sich andererseits Autorinnen und Autoren literarischer Veröffentlichungen in ihren »Dystopien bequem« machen, um mit Precht (Precht 2018) zu sprechen. Und reicht dies wirklich noch aus, wenn die Welt angesichts der Corona-Pandemie selbst zu einer Art ihrer eigenen Dystopie verbunden mit kulturell-gesellschaftlich hysterischen Reaktionen geworden ist, in dem Sinne wie der Schweizer Literaturgermanist Peter von Matt bekennt: »Das wenigste, was wir brauchen, sind Corona-Romane. Jetzt muss uns ja niemand mehr sagen, wie es ist«?3 Dessen ungeachtet erschienen im März 2021 noch zwei »Corona-Romane« von prominenten Vertretern der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Zum einen handelt es sich um das Werk »Über Menschen«4 von Juli Zeh, der in der »SZ« als »der erste echte Corona-Roman, der mitten im Lockdown im Frühjahr 2020 spielt und die gesellschaftlichen und ganz privaten Folgen der Pandemie beschreibt«.5 Zum anderen legte Steffen Kopetzky seinen Roman »Monschau«6 vor, worin er den Ausbruch der Pocken-Krankheit 1962 im besagten Eifeldorf Monschau thematisiert, was in Hinblick auf die »Verletzlichkeit, die zum Leben dazu gehört« als historische Analogie zur aktuellen Pandemiesituation gelesen werden kann.

Eine Zeitenwende im Globalen, gar Metanoia? Im globalen Rückblick scheint es im Jahr 2020 weltweit ein einziges Thema gegeben zu haben: Corona bzw. die Krankheit Covid-19. Sowohl das deutsche Wort wie das Unwort des Jahres hatten damit zu tun,7 Jahresrückblicke konnten sich neben der Wahl des amerikanischen Präsidenten oder die Wahl in Polen vorwiegend auf dieses Thema beschränken. Nachrichten- oder Kultursendung sendeten über ein Jahr also vor allem Berichte und Reportagen über die Pandemie; beinahe täglich wurden in den bundesrepublikanischen öffentlich-rechtlichen Medien neue »Brennpunkte« zur aktuellen Entwicklung gesendet und Kultursendungen wie »Kulturzeit«, »TTT/

3 Matt, Peter von Auf: »Ich empfand eine wohlige Sinnlosigkeit«. In: NZZ vom 25. 07. 2020. Auf: https://nzzas.nzz.ch/hintergrund/peter-von-matt-im-interview-zum-1-august-ld.1568213?red uced=true (Zugriff am 18. 02. 2021). 4 Zeh, Juli: Über Menschen. München: Luchterhand 2021. 5 Magenau, Jörg: »Mein Freund, der Nazi«. In: Süddeutsche 23. 03. 2021. Auf: https://www.suedde utsche.de/kultur/juli-zeh-ueber-menschen-rezension-1.5241933 (Zugriff am 06. 04. 2021). 6 Kopetzky, Steffen: Monschau. Hamburg: Rowohlt 2021. 7 Das Wort des Jahres 2020 in Deutschland lautete »Coronapandemie«, das Unwort neben »Rückführungspatenschaften« »Corona-Diktatur«.

Zeitenwende oder Metanoia?

75

Titel, Thesen, Temperamente«, Talkshows8 oder Satire-Sendungen wie die »Die Heute Show«, »Noch nicht Schicht« etc. nahmen sich schwerpunktmäßig dieses Themas an. Intellektuelle mischten sich mit Debattenbeiträgen wie u. a. von Juli Zeh, Boris Palmer, Alexander Kekulé, Julian Nida-Rümelin in die Diskussion ein.9 Virologen wurden zu Medienstars, die You-Tuberin und promovierte Chemikerin Mai Thi Nguyen Kim wurde von Angela Merkel bei einer ihrer Regierungserklärungen im deutschen Bundestag zitiert. Ich habe hier den perfekten Wirt. Diese Menschen, die leben auf dem ganzen Planeten. Die sind global stark vernetzt, sind soziale Lebewesen. Die können also nicht ohne soziale Kontakte leben. Die sind hedonistisch veranlagt. Die gehen gerne feiern. Also besser kann es gar nicht sein. […] Ne, Virus. Hast du denn gar nichts aus der Evolution gelernt? Da haben wir Menschen schon mehrfach gezeigt, dass wir verdammt gut darin sind, uns in schwierigen Situationen anzupassen. Wir werden dir zeigen, dass du dir den falschen Wirt ausgesucht hast. […] Wenn wir uns klarmachen, dass es sonst auch viel schlechter laufen könnte, kann man da auch die Motivation für manchen Verzicht draus ziehen.10

Neben dem Chefvirologen der berühmten Berliner Klinik Charité Christian Drosten erhielt Nguyen Kim zudem das Bundesverdienstkreuz aus der Hand des deutschen Bundespräsidenten Franz Walter Steinmeier für ihre Verdienste um die mediale Darstellung komplizierter naturwissenschaftlicher Zusammenhänge, nicht zuletzt im Hinblick auf die Krise. Hieran anknüpfend lässt sich dialektisch gesprochen von einer »Verunterhaltungisierung« oder Infotainment der Wissenschaft wie von einer Verwissenschaftlichung der (medialen) Öffentlichkeit sprechen. Zugleich geht damit eine Hinwendung zu den positivistischen Wissenschaften wie eine Abkehr von den »Schwafelwissenschaften« in der Öffentlichkeit einher (siehe etwa den Podcast von Christian Drosten im NDR).11 Innerhalb dieses Beitrags wird in Hinblick auf die Betrachtung dieser kulturellen Tendenzen versucht, eine Art »Mittelweg« zu beschreiten, innerhalb dessen exemplarisch geistes- oder im weitesten Sinne kulturwissenschaftliche Texte mit literarischen Texten in Be-

8 Hierzu wurden Statistiken veröffentlicht, wie häufig ein Thema in den Talkshows behandelt wurde, woran sich auch im Jahre 2021 kaum etwas verändert hat. 9 »Corona: Raus aus dem Lockdown – so schnell wie möglich.« In: DER SPIEGEL. Auf: https:// www.spiegel.de/politik/corona-raus-aus-dem-lockdown-so-schnell-wie-moeglich-a-000000 00-0002-0001-0000-000170604448 (Zugriff am 20. 02. 2021). 10 Regierungserklärung von Bundeskanzlerin Merkel. Auf: https://www.bundeskanzlerin.de/b kin-de/aktuelles/regierungserklaerung-von-bundeskanzlerin-merkel-1807160 (Zugriff am 16. 02. 2021). 11 Enke, Julia: »Warum wir gerade lieber Drosten als Sloterdijk hören«. Auf: https://www.faz.ne t/aktuell/feuilleton/debatten/corona-theorien-warum-wir-lieber-drosten-als-sloterdijk-hoer en-16741391.html (Zugriff am 17. 02. 2021).

76

Stephan Wolting

ziehung gesetzt werden. Ob sich darüber hinaus verallgemeinerungswürdige Urteile fällen lassen, ist dabei keinesfalls von vorneherein ausgemacht. Vielfach wird behauptet, die Corona-Krise habe als eine Art Katalysator auf eine Entwicklung gewirkt, die sich schon vorher latent abzuzeichnen begann. So schreibt Andreas Wirsching von dem »Zäsurjahr 2020«,12 Markus Gabriel vom »moralischen Fortschritt in dunkler Zeit«13 und Eva von Redecker14 fordert eine »Revolution für das Leben« im Alltag. Allen gemein ist, dass sie den Begriff ›Krise‹ als Möglichkeit der Umkehr verstehen, im Sinne einer Metanoia im theologischen Sinne. Dabei wird von der Prämisse einer »Wirklichkeitskrise« oder »epistemischen Krise« ausgegangen, was Anlass zum Innehalten wie zu einer Rückbesinnung bieten kann: Wirklichkeitskrisen können im Einzelfall recht unterschiedlich ausfallen, sind aber meist dann besonders folgenreich, wenn mit ihnen individuelle oder kollektive ›Grenzerfahrungen‹ verbunden sind: Epidemien und Unglücksfälle, Kriege und Naturkatastrophen, Verbrechen und Wahnsinn – alles Ereignisse, bei denen eine nicht übersehbare Diskrepanz zu dem aufscheint, was unter vertrauten Bedingungen als ›wahr‹, ›normal‹, ›richtig‹ oder ›vernünftig‹ gilt. Kulturell besonders problematisch sind dabei jene Krisen, in denen grundlegende Überzeugungen hinsichtlich der ›Beschaffenheit der Welt‹ infrage gestellt werden. Während personale Wirklichkeitskrisen die Stellung des Individuums in Beruf oder Familie (beispielsweise wenn das Subjekt erfährt, kein leibliches Kind seiner Eltern zu sein) oder politische Wirklichkeitskrisen das Selbstverständnis als Staatsbürger (etwa wenn offenbar wird, dass es eine systematische staatliche Kontrolle persönlicher Kommunikate gibt) infrage stellen, geht es in dem, was wir hier ›epistemische Krisen‹ nennen möchten, um die generelle Beschaffenheit unserer natürlichen Umwelt, der sozialen Ordnung und vielleicht sogar der ›ganzen Welt‹ in einem metaphysischen Sinne.15

Rekapitulieren wir: Der weltweite Ausbruch der Corona-Pandemie, sowie die Allgegenwärtigkeit der Corona-Krise in Medien und öffentlichen Diskussionen bzw. Diskussionsforen, hat eine Entwicklung beschleunigt, die sich bereits lange vor der Corona-Pandemie angedeutet hatte. Dabei stellt sich die Frage eines eher

12 Geschichte – Historiker: Corona könnte zur »epochalen Zäsur« werden – Wissen. Auf: https:// www.sueddeutsche.de/wissen/geschichte-historiker-corona-koennte-zur-epochalen-zaesurwerden-dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-201019-99-994794 (Zugriff am 18. 02. 2021). 13 Gabriel, Markus: Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten. Universale Werte für das 21. Jahrhundert. Berlin: Ullstein 2020. 14 Redecker, Eva von: Revolution für das Leben. Philosophie der neuen Protestformen. Frankfurt am Main: Fischer 2020 (im Folgenden unter der Sigle »RL« mit Seitenzahl im Text). 15 Biebert, Martina F./Schetsche, Michael T.: »Theorie kultureller Abjekte. Zum gesellschaftlichen Umgang mit dauerhaft unintegrierbarem Wissen.« Aus: BEHEMOTH A Journal on Civilisation, 2016, Volume 9, Issue No. 2, S. 3. Auf: https://www.researchgate.net/publication /311807485_Theorie_kultureller_Abjekte_Zum_gesellschaftlichen_Umgang_mit_dauerhaft _unintegrierbarem_Wissen (Zugriff am 17. 02. 2021).

Zeitenwende oder Metanoia?

77

optimistischen Lebensentwurfs von Zukunftsforschern wie Horx16 etc., was von anderer Seite wiederum stark kritisiert wird.17 Brock etwa macht implizit in diesem Sinne auf die Wesensverfassung des Menschen aufmerksam. Letztendlich bleibt dem Menschen im Sinne von Sartre, aber auch schon bei Heidegger,18 nur die Möglichkeit mit dieser existentiellen Geworfenheit in die Welt im Sinne der Kontingenz zu akzeptieren und kein noch so gewiefter Zukunftsforscher wird dies in einen Sieg für den Menschen umdeuten können. Brock beendet seinen Beitrag mit der Erkenntnis: »Und dass die Gebildeten unter den Menschen die Ohnmacht des Wissens zu ertragen haben.« Es geht letztendlich darum, durch die Pandemie auf eine positiv besetze Angst als das »anthropologische Existential«19 sowie der Angst als spezielle Art der »Fremde« als »Dasein in der Welt«20 bzw. als »Grundform menschlichen Daseins« verwiesen zu sein. Insofern, aber nur in diesem Sinne, bietet sich gerade im dialektischen Sinne diese jüngste Entwicklung durchaus tatsächlich auch als Chance, eigene epistemologische »Überzeugungen« zu hinterfragen, zu verifizieren respektive zu falsifizieren.

Kulturthema21 Corona und die Rezeption in der Öffentlichkeit Aufgrund der in weiten Teilen der Welt als bedrohlich empfundenen (Welt-)Lage sowie der fast stündlichen Veränderung der Informations- und Nachrichtenlage (in den »Breaking News«), sind aufgrund der Aktualität des Themas neben wissenschaftlichen Analysen bzw. Erkenntnissen auch aktuelle populärwissenschaftliche publizistische Veröffentlichungen mit einzubeziehen.22

16 Vgl. Horx, Matthias: Die Zukunft nach Corona: Wie eine Krise die Gesellschaft, unser Denken und unser Handeln verändert. Düsseldorf: Econ 2020. 17 Brock, Bazon: »Leben nach dem Virus«. Auf https://bazonbrock.de/werke/detail/?id=3831 (Zugriff am 17. 02. 2021), zuerst erschienen in Die Welt vom 29. 03. 20121, S. 9. 18 Mit »Geworfenheit« ist bei Heidegger die Unausweichlichkeit des Daseins, also des Menschen, gemeint. Vgl. Heidegger 192006, S. 194. 19 Riemann, Fritz: Grundformen der Angst. Eine tiefenpsychologische Studie. Basel/München: A. Reinhard Verlag 452019. 20 Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer 192006, S. 57ff. 21 Der Begriff ›Kulturthema‹ wird im Sinne von Alois Wierlacher benutzt, als ein »Thema, das im öffentlichen Selbst- und Weltverständnis einer oder mehrerer Kulturen zu einem bestimmten Zeitpunkt besondere Bedeutung« gewinnt (Wierlacher 1993, 33). 22 In diesem Sinne wäre etwa noch an andere Veröffentlichungen deutscher »Medienintellektueller« zu erinnern. Ich denke dabei an Caroline Emckes Journal. Tagebuch in Zeiten der Pandemie (Frankfurt/M.: Fischer 2021), Nathalie Weidenfelds/Julian Nida-Rümelins Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren (Berlin: piper-Verlag 2021) oder Richard David Prechts Von der Pflicht. Eine Betrachtung (München: Goldmann 2021).

78

Stephan Wolting

So stellt etwa der Autor Christian Röther in einem Feature für den Deutschlandfunk vom 18. 03. 2020 heraus, dass die »menschliche Gesellschaft gerade ihren Betrieb vorübergehend« einstellen würde und den Platz frei mache für »Geister«, die die Menschheit im Allgemeinen seit ihren Anfängen begleitet hätten, jene Geister, die heute in Gestalt des Corona-Virus’ und in dieser Zeit in Form von »Geisterspielen, Geisterkonzerte oder Geisterflügen« oder auch »Geisterlesungen« auftreten würden. Unter Bezug auf den Begriff »Geist«, der im Althochdeutschen so viel wie »Ergriffenheit« und/oder Erregung bedeutete,23 führt er einige Wortspiele vor, innerhalb derer er leicht ironisch auch auf den Begriff bzw. die Bedeutung der »Geisteswissenschaft« zu sprechen kommt. Der öffentliche Raum wird so zum geistreichen Geisterhaus. Das ist jetzt der Zeitgeist – doch für wie lange? Denn unsere Gesellschaft wird wohl kaum den Geist aufgeben oder ihren Geist aushauchen. Und die wachen Geister ahnen schon: Wir haben sie jetzt gerufen, doch wir werden sie schon bald wieder austreiben. Vielleicht in ein paar Wochen, vielleicht in einigen Monaten. Vielleicht können Geisteswissenschaftler den Zeitpunkt schon berechnen.24

Damit leitet er, gleichwohl ungewollt, zu jener Art von Wissenschaften über, die sich mit den »Geistern« beschäftigen, sprich jene »Geisteswissenschaften«, die er besonders in die Pflicht nimmt. Dem entspricht eine allgemeine Tendenz, dass in der bundesdeutschen Öffentlichkeit neben den inzwischen Kultstatus erreicht habenden Virologen, neben den bekannten Politikern es im weitesten Sinne Kultur- oder Geisteswissenschaftler sind, die Orientierung geben sollen, in einer Zeit der »Geisterbeschwörung«, um im Bild zu bleiben. Dazu gerät auch der phänomenologisch fremdhermeneutische oder fremdkulturelle Aspekt mit in den Fokus der Diskussion bzw. des Diskurses. In einer Zeit, in der ehemalige amerikanische Präsident den Corona-Virus einen »ChineseVirus« nennt, in der fast alle Grenzen auch in Europa geschlossen werden und der österreichische Bundeskanzler Kurz die Ansicht äußert, dass Europa angesichts der Corona Krise versagt hätte, und in einer Phase, in der Verschwörungstheorien lanciert werden, etwa wonach die Chinesen den biologischen Virus implementiert hätten. Gerade in Zeiten einer großen Krise, sprich einer weltweit grassierenden 23 Vgl. Köbler, Gerhard: Proto-Germanisches Wörterbuch. Auf: http://www.koeblergerhard.de /mhd/mhd_kurzform.html (Zugriff am 19. 03. 2020): »geist, mhd., st. M.: nhd. Geist, überirdisches Wesen, Gott, Engel, Heiliger Geist, Seele, Herz, Sinn, Geisteskraft, Kraft, Vernunft, Geistesgabe, Lebenskraft, Lebensgeist; E.: germ. *gaista-, *gaistaz, st. M. (a), Erregtsein, Geist; s. idg. *gˆʰeisdo-, V., Mund aufsperren machen? Kluge s. u. Geist; s. idg. *gʰeis-, Adj., aufgebracht, bestürzt, erschreckt, Pokorny 427; vgl. idg. *gˆei- (1), V., Sb., antreiben, bewegen, schleudern, Geschoss, Pokorny 424; idg. *gˆʰe¯- (2), *gˆʰə-, *gˆʰe¯i-, *gˆʰı¯-, V., gähnen, klaffen.« 24 Röther, Christian: »Die Rückkehr der Geister«. Auf: https://www.deutschlandfunk.de/corona -krise-die-rueckkehr-der-geister.886.de.html?dram:article_id=472609 (Zugriff am 19. 03. 2020).

Zeitenwende oder Metanoia?

79

Pandemie, scheinen die Menschen zunächst auf einfache kulturelle Schuldzuweisungen, Sündenbocktheorien25 oder »konservative Lösungen« wie Hübl es nennt,26 verfallen zu wollen. Was Menschen aber universal letztendlich als Kulturträger (ver-)eint, ist die Konfrontation mit »unlösbaren Problemen« (Bazon Brock, siehe Zitat unten), was wir als Menschen gemäß dem Soziologen Heinz Bude27 allein in Solidarität lösen können. Nur in diesem Sinne können wir hoffen, dass diese existentielle Bedrohungsphase nicht nur anthropologische Ängste, Aggressionen etc. entstehen, sondern zugleich Werte wie Solidarität, Engagement für andere ( jene spezielle Art des Commitment) an die Oberfläche kommen lässt, die wir im philosophisch ethischen wie moralischen Sinne zum, etwas pathetisch und überpointiert gesprochen, gemeinsamen »Überleben«28 benötigen.

Zeitgeistdiagnosen im Zeichen von Panik und Pandemie Wenn Menschen in Zukunft überhaupt noch etwas gemeinsam haben werden, dann sind es nicht Illusionen kultureller Identität – wie gemeinsame Sprache, Religionen, Tischsitten –, sondern die Konfrontation aller mit nicht lösbaren Problemen (Bazon Brock).

Bereits ohne, dass die Entwicklung der Corona- Krise damals in ihrem Ausmaß absehbar war, wurde die berühmt berüchtigte symbolische Doomsday Clock (auch Weltuntergangs- oder Atomuhr genannt) zu Beginn dieses Jahres 2020 von 2 Minuten vor 12 auf 100 Sekunden vorgestellt. Damit war sie so weit vorgerückt wie noch nie seit 1947, als sie als Metapher für die weltweite globale Bedrohung eingerichtet und konzipiert wurde. Dass es sich hierbei nicht einfach um eine wissenschaftliche Spielerei handelt, bestätigt sich daran, dass das Entscheidungsgremium aus Wissenschaftlern aus aller Welt besteht, darunter einem Dutzend Nobelpreisträgern. Dieses Komitee begründete diesen Schritt mit den weltweit lagernden Nuklearwaffen und deren mögliche Anwendung sowie zum anderen mit der fortschreitenden Klimakrise,29 worauf durch Bewegungen wie Fridays for Future, Scientists for Future, Extinction Rebellion o. ä. in jüngster Zeit verstärkt aufmerksam gemacht wurde. Zu den Kriterien des Gremiums ließen 25 26 27 28 29

Vgl. Girard, René: Der Sündenbock. Einsiedeln: Benzinger 1998. Hübl, Gesellschaft. 2019, S. 133ff. Bude, Heinz: Solidarität. Die Zukunft einer großen Idee. München: Hanser 2019. Denn darum geht es jetzt, nicht mehr allein um den Einzelnen. Vgl. z. B. den Bericht der EEA (European Environmental Agency), der Europäischen Umweltagentur vom 09. 02. 2020 ist der Klimawandel in Europa bereits unausweichlich. Auf: https://www.heise.de/newsticker/meldung/EU-Umweltagentur-Klimawandel-in-Europa-be reits-unausweichlich-4656601.html (Zugriff am 14. 02. 2020).

80

Stephan Wolting

sich noch die Ressourcenverschwendung, das Verschwinden der Artenvielfalt und aus aktuellem Anlass eben Seuchen, Epidemien, Pandemien o. ä. zählen. Insgesamt wird die momentane Gegenwart, Echtzeit, Wirklichkeit oder wie man es immer nennen möchte, auf einer Skala als im besten Fall »unübersichtlich« (Catherine Newmark30) oder de facto als »äußerst besorgniserregend« bis »Angst einflößend«31 empfunden. Dementsprechend ist beinahe beispielhaft für die meisten der westlichen europäischen Länder bereits vor der Corona-Krise die deutsche bundesrepublikanische Gesellschaft in einer Art Zeit- oder Zeitgeistdiagnose32 als eine »Gesellschaft der Angst« (Bude, »Angst«, 2014), einer »aufgeregten Gesellschaft« (Hübl, »Gesellschaft«, 2019), »einer erschöpften Gesellschaft« (Grünwald, »erschöpfte Gesellschaft«, 2013) oder gar »psychotischen Gesellschaft« (von Schirach, »psychotische Gesellschaft«, 2019) etc. bezeichnet worden und eine »große Gereiztheit in der öffentlichen Diskussion« (Pörksen/von Thun, »Miteinander«, 2020 Pörksen, »Gereiztheit«, 2018) festgestellt worden ist. Es handelt sich dabei beileibe nicht mehr allein um jene bekannte, sehr spezifische Form der »German Angst«, sondern um eine »exemplarische« Angst innerhalb hoch entwickelter Gesellschaften und Kulturen überhaupt, die Welzer (2019, »Gesellschaftsutopie«) beschreibt, worin ihm Haberl (2019, »Entzauberung«, S. 15) folgt. Dass es sich bei den oben dargestellten Verhältnissen oft auch um »Ersatzkonflikte« handelt, wohinter im Grunde diffuse Zukunftsängste stecken, ist an anderer Stelle ausreichend dargestellt worden. Der Kölner Psychologe Stephan Grünewald, der als Leiter des Rheingold-Instituts jährlich in 200 Projekten mit 5000 Probanden repräsentative Umfragen auf der Basis der Tiefenpsychologie mit Bürgern in Deutschland durchführte und zu der Einschätzung der Unterteilung im Bewusstsein der Menschen zwischen, metaphorisch gesprochen, einem »Auenland« (das eigene) und »Grauenland« (das andere, was zunächst nicht zum eigenen Gehörende) kam. Man wolle sich gerne in einem »bequemen und prosperierenden Land« einrichten und nur sehr bedingt die Probleme der übrigen Welt anerkennen bzw. wahrnehmen. Insofern ist es für ihn beispielsweise

30 Newmark, Catherine: »Editorial – Was 2020 wichtig wird – Impulse zum Weiterdenken.« In: Philosophie Magazin. Edition 2020, 3. Auflage, Berlin: PHILOMAGAZIN Verlag GmbH 2020. 31 Die mit dem Kyoto-Preis (wie der Nobelpreis der Philosophie) ausgezeichnete Philosophieprofessorin an der University of Chicago Marthe Nussbaum spricht von einem »Königreich der Angst«. Vgl. Nussbaum, Martha: Königreich der Angst. Gedanken zur aktuellen politischen Krise. Darmstadt: WbG (Wissen Bildung Gemeinschaft). 32 Der Verfasser ist sich bewusst, dass der Begriff »Zeitgeist« nicht unumstritten ist oder war wie schon der Aufsatz »Die geistige Situation der Zeit« von Karl Jaspers aus dem Jahre 1932 belegt. Vgl. Jaspers, Karl: Die geistige Situation der Zeit. (Sammlung Goeschen, Bd. 1000). 8. Abdr. der im Sommer 1932 bearb. 5. Aufl. Berlin/New York: de Gruyter 1979.

Zeitenwende oder Metanoia?

81

nur folgerichtig, dass die größte Homophobie und Fremdenangst dort herrschen, wo kaum Ausländer leben.33 Diese Projektion diffuser Zukunftsängste auf Flüchtlinge funktioniert umso besser, je weniger reale Erfahrung ein Mensch mit einem Flüchtling hat. Das ist einer der Gründe, wieso die Angst und die Aversion gegenüber Flüchtlingen besonders in den Regionen besonders hoch ist, in denen die Menschen kaum die Möglichkeit haben, in einen direkten Kontakt mit ihnen zu kommen. In der konkreten Begegnung wird der Flüchtling zu einem Menschen, der einem befremdlich oder sympathisch ist, mit dem man spricht oder streitet und der irgendwann einmal zum gern oder ungern gesehenen Teil des eigenen Alltags wird.34

Wenn man so will, dann geht diese Art von Zuschreibung über eine rein psychologische Erfassung der »Stimmung« oder Gemütslage (»wie jemand tickt«, wie Grünewald im Titel schreibt) innerhalb der Bundesrepublik hinaus und wird zu einer kulturellen Zuschreibung. Was an Grünewalds »Analyse« allerdings epistemologisch fragwürdig erscheint, ist die Übertragung individueller Befunde auf kulturelle Prozesse, weshalb hier auch das Wort »Befund« in Anführungszeichen zu setzen ist. Es ist in der Forschung verschiedentlich darauf hingewiesen worden, dass sich individuell-psychologische Untersuchungen nicht ohne weiteres auf Kulturen übertragen lassen, weshalb heutzutage nur mit äußerster Vorsicht von so etwas wie Kulturpsychologie oder »Cultural Anthropology« oder »Culture and Personality School« im Sinne Margaret Meads (Mead, »Anthropology«, 1964), Ruth Benedicts (Benedict, »Urformen«, 1955), Franz Boas (Boas, »General«, 1938) oder anderer und schon gar nicht von einer Völkerpsychologie im Sinne Wilhelm Wundts (Wundt, »Völkerpsychologie«, 1912) zu sprechen ist. Straub bezeichnet dieses Phänomen viel »neutraler« als eine »die Kultur integrierende Psychologie« (Straub, »kulturintegrierende Psychologie«, 2007). Georg Dietz notiert, dass der bundesdeutschen Gesellschaft ein (positives) Selbstbild fehle und dass viele Menschen nur noch wüssten, »wer sie nicht sein wollten«. Für jede Gesellschaft sei aber eine antizipierte Zukunft wichtig, um »aus seiner eigenen Zeit herauszusteigen«. Er fährt fort: Die Zukunft ist ein Mittel seine eigene Hermetik zu durchbrechen. Die Zukunft ist eine nötige Utopie ohne Zukunft gibt es nur Rasen Stillstand ohne Zukunft herrschen die Verhältnisse ohne Zukunft fehlt das Versprechen dass es anders und auch besser werden könnte ohne Zukunft beginnt man sich in ein Grab aus Beton ob man es merkt oder nicht Erst wenn man weiß wohin man will wird man den Aufbruch wagen.35

33 Grünewald, Stephan: Wie tickt Deutschland? Psychologie einer aufgewühlten Gesellschaft. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2019. 34 Grünewald, Psychologie. 2019, S. 37f. 35 Diez, Boten. In: Gross u. a., Twitter. 2020, S. 13f.

82

Stephan Wolting

Hat sich aber nun wirklich schon etwas verändert? Sind wir schon so weit, ein erstes Resümee zu ziehen, dass sich von einer »Wendezeit« sprechen lässt, um den berühmten Ausdruck von Fritjof Capra bereits aus dem Jahr 1976 zu betätigen.36 Festhalten lässt sich zunächst, dass es neben hektischer Impf- und Lösungssuche, auch was die Publikationen anbetrifft, hektisch geworden ist. Es fällt dabei auf, dass es sich größtenteils um Sachbücher oder naturwissenschaftliche Bücher handelt. Geisteswissenschaftliche, geschweige denn literarische Veröffentlichungen, haben es seit Beginn der Krise schwer, wenn wir an die Aussage des Kulturwissenschaftlers Joseph Vogel denken, wo sie schreibt: Mein Misstrauen gegen die schnellen Stellungnahmen von Agamben, Sloterdijk oder Zˇizˇek rührt daher, dass sie sich auf einen Sachverhalt bezogen, der keineswegs festgestellt war, […]. Das Objekt (das Virus, die Seuche: ein Wahrscheinlichkeitsobjekt, dessen Umfang völlig unterschiedlich eingeschätzt wurde und wird) und das objektbezogene Verhalten (Maßnahmen unterschiedlichster Herkunft und Zielsetzungen) bestanden im Wesentlichen aus Variablen. Demgegenüber wurde ›theoretisch‹ nicht von ungewissen Entwicklungen, sondern von voreingestellten Resultaten her argumentiert. Der Umgang mit Ungewissheit und unvollständigem Wissen schien dabei keine besondere Rolle zu spielen – es ging um den Gewinn eines hermeneutischen Vorsprungs gegenüber einer Wirklichkeit, die auf unbequeme Weise im Fluss ist.37

Dabei wäre die Frage nach einer kathartischen Wirkung der Krisen unserer Zeit durchaus zu stellen, die sowohl die Germanistik als auch die Kulturwissenschaften seit geraumer Zeit umgetrieben hat. So stellen etwa die evangelische Theologin Oda Wischmeyr und Literaturgermanistin Christine Lubkoll schon 2009 die Frage nach dem ›ethical turn‹ – in den Geisteswissenschaften in neuer Verantwortung38 und Welzer und Heidbrink (2007) vom »Ende der Bescheidenheit« der Geisteswissenschaften. Dominic Busch fragt sich 2018 in Bezug auf das Fach Interkulturelle Kommunikation nach dem ›moral turn‹39 und die Er-

36 Vgl. Capra, Fritjof: Wendezeit – Bausteine für ein neues Weltbild: Frankfurt am Main: Fischer 1976. 37 »Kulturwissenschaftler Joseph Vogl über die Coronakrise als Lackmustest unserer Gesellschaften« (monopol-magazin.de). Auf: https://www.monopol-magazin.de/joseph-vogl-coro nakrise (Zugriff am 24. 02. 2021). 38 Der Begriff stammt ursprünglich aus der nordamerikanischen Hermeneutik (J. H. Miller, Martha Nussbaum), vgl. Waldow (2011), S. 7; Majorie B. Garber/Hanssen, Beatrice/Walkowicz, Rebecca L.: The Turn to Ethics. New York/London: Psychology Press 2000; Todd F. Davies/Womack, Kenneth: Mapping the Ethical Turn. A Reader in Ethics, Culture and Literary Theory: Virginia: University Press 2001. 39 Busch, Dominic: »Die Renaissance der interkulturellen Kompetenz: Der Moral Turn in den Interkulturalitätsdiskursen.« In: Glottodidactica. An International Journal of Applied Linguistics. 45 (2) Frankfurt am Main: Lang 2018, S. 89–104. Auf: https://pressto.amu.edu.pl/inde x.php/gl/article/view/16754 (Zugriff am 20. 02. 2021).

Zeitenwende oder Metanoia?

83

langer Literaturgermanistin Stephanie Waldow von einer Literaturwissenschaft als »ethischem Dialog« als Antwort auf die Wertekrise.40

Die Pandemie in der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur Allerdings wurde auch innerhalb der deutschsprachigen Literatur relativ schnell auf das Thema reagiert. Auf »literaturkritik.de« wurde unter dem Titel »Lesen in der Corona-Krise« eine Übersicht von Texten bzw. musikalischen Stücken veröffentlicht, die entweder aus Anlass der Pandemie veröffentlicht wurden oder sich durch einen Bezug zu Covid-19 auszeichneten, die sich mit dem Thema beschäftigten. Interessanter Weise finden sich auf dieser Liste in erster Linie Sachbücher, oder »literarische Werke«, bei denen man das Gefühl hat, sie sind von den Verlagen dem Leser in Corona-Zeiten untergeschoben worden (wie von Schirach etc.), weil sie der Meinung waren, dass »Medienintellektuelle« nun halt auch etwas zu der Krise sagen sollten. Ansonsten schimmert durch, dass auch hier in vielerlei Beziehung die Krise viele überrascht hat (mit einigen Ausnahmen, dass sie entweder wenig zum Thema zu sagen haben oder die Krise für ihr Thema vereinnahmen, an dem sie schon jahrelang sitzen. Unter den Titeln befinden sich u. a. Thomas Glavonics »Corona-Tagebuch« in Die Welt, das er »Fortsetzungsroman« nennt, das Corona-Album »Vivid« des schottischen Musikers und Künstlers Momus als Work-in-Progress, die Hinweise auf die Aktualisierung des »Decamerone« durch zeitgenössische Autorinnen und Autoren für die Zeit, auf Thomas Manns »Der Tod in Venedig« oder Albert Camus’ »Die Pest«.41 40 Waldow, Stephanie: »Mich kümmert’s, wer spricht. Literaturwissenschaft als ethischer Dialog.« In: Luboll/Wischmeyer (2009), S. 119–137. 41 Natürlich ist zu konzedieren, dass aus vielerlei Gründen Corona nicht die Pest ist. Vgl. Hermann Brandenburg, Lehrstuhl für Gerontologische Pflege an der PTHV und Verena Breitbach, Referentin für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit an der PTHV, Soziologin und Wissenschaftsjournalistin: »Was hat uns Albert Camus Werk »Die Pest« in der aktuellen Krise zu sagen?« Zu Camus’ »Die Pest«: Das Buch der Stunde. In Hinblick auf Werte wie Solidarität, Nächstenliebe und Dankbarkeit. Auf: Was hat uns Albert Camus Werk »Die Pest« in der aktuellen Krise zu sagen? (idw-online.de) (Zugriff am 22. 02. 2021); Rowohlt hat inzwischen die 90. (!!!) Auflage angekündigt, das Buch ist seit Wochen vergriffen; vgl. dazu auch Lobo, Sascha: »Wider die Vernunftpanik«. In: Der Spiegel, 18. 03. 2020. Auf: Corona-Gesellschaft: Wider die Vernunftpanik – Kolumne – DER SPIEGEL (Zugriff am: 22. 02. 2021); »Wir sind in einem Versuchslabor«. Interview mit Hartmut Rosa. In: taz, 25. 3. 2020. Auf: Soziologe Hartmut Rosa über Corona: »Wir sind in einem Versuchslabor« – taz.de. (Zugriff am 22. 02. 2021); Agamben, Giorgio: »Zum Umgang der liberalen Demokratien mit dem Coronavirus: Ich hätte da eine Frage«. In: Neue Zürcher Zeitung, 15. 04. 2020. Auf: Coronavirus: Giorgio Agamben zum Zusammenbruch der Demokratie (nzz.ch) (Zugriff am 22. 02. 2021). Der bekannte Prinzipal und Leiter der Berliner Schaubühne Thomas Ostermeier, spricht davon, dass das Theater zu Shakespeares-Zeiten wegen der Cholera mehrere Jahre, ja Jahrzehnte ge-

84

Stephan Wolting

An fiktionalen Texten sei noch der Roman des langjährigen NZZ-Feuilletonjournalisten Martin Meyers »Corona« über den verwitweten Buchhändler Matteo genannt, der sich in seiner Einsamkeit eine eigene Geisteswelt mit Albert Camus’ »Die Pest«, Thomas Manns »Der Tod in Venedig« und Jeremias Gotthelfs »Schwarze Spinne« schafft. Thea Dorn thematisiert in ihrem Roman die Trauer und den Schmerz in Coronazeiten.42 Zu erwähnen sind darüber hinaus zwei Comics zum Thema, u. a. der Comic des bekannten Zeichners Ralf König, »Vervirte Zeiten«43 genannt, oder der Corona-Comic »Through The Dunes« von Lucie Langston ist vor kurzem in der New York Times veröffentlicht worden.44 Darüber hinaus erschienen populärwissenschaftliche »Lebensratgeber« und populäre Fach- bzw. Sachbücher unterschiedlicher Provenienzen.45 Auch Ferdinand von Schirach darf mal wie erwähnt wieder nicht fehlen, wenn es um ein brisantes Thema geht.46 Als das erste literarische Werk gelten die Bergamo-Tagebücher des italienischen Physikers und Schriftstellers Paolo Giordano »In Zeichen der Ansteckung«

42 43 44 45

46

schlossen war und es dennoch die größte Zeit des dramatischen Theaters zur Zeit der elisabethanischen Periode war. Auf: Zukunft der Berliner Theater: Mindestabstands-Shakespeare mit Spuckvisier – Kultur – Tagesspiegel (Zugriff am 22. 02. 2021). Dorn, Thea: Trost. Briefe an Max. Berlin: Matthes & Seitz 2020. Königs, Ralf: Vervirte Zeiten. Hamburg: Rowohlt 2021. Langston, Lucie: »Through the dunes«. Auf: https://lucielangston.de/through-the-dunes (Zugriff am 20. 02. 2021). Mukerji, Nikil/Mannino, Adriano: Covid-19: Was in der Krise zählt. Über Philosophie in Echtzeit. Stuttgart: Reclam Verlag 2020 (wie schnell Philosophie etc. auf die aktuellen Entwicklungen der Katastrophe bzw. der Pandemie reagieren kann oder sollte); Stelter, Daniel: Coronomics. Nach dem Corona-Schock, Neustart aus der Krise. Frankfurt am Main: CampusVerlag. 2020 (der Ökonom und Bankenkritiker plädiert, wie schon der Titel andeutet, eher aus wirtschaftlicher Perspektive, für einen Neustart in vielen gesellschaftlichen Bereichen); Jenseits von Corona. Unsere Welt nach der Pandemie – Perspektiven aus der Wissenschaft. Hrsg. von Bernd Kortmanns und Günther G. Schulze. Bielefeld: transcript Verlag 2020 (Versuche von Antworten auf die Frage, wie nachhaltig Corona unsere Welt verändern wird, mit Beiträgen von Nadia Al-Bagdadi, Michael Butter, Eva von Contzen und Julika Griem, Lars P. Feld, Bernd Fitzenberger, Gerd Folkers, Ute Frevert, Bärbel Friedrich, Markus Gabriel, Lisa Herzog, Bert Hofman, Vera King, Kai von Klitzing, Sybille Krämer, Wilhelm Krull, Jörn Leonhard, Karl-Heinz Leven, Birgit Meyer, Herfried und Marina Münkler, Jürgen Osterhammel, Bettina Pfleiderer, Shalini Randeria, Jürgen Rüland, Carl-Eduard Scheidt, Günther G. Schulze, Gert Scobel, Magnus Striet, Dieter Thomä, Andreas Voßkuhle sowie Dorothea Wagner); Karen Gloy Demokratie in der Krise? Überlegungen angesichts der Corona-Krise. Würzburg: Könighausen und Neumann (aus philosophischer und soziologischer Sicht wird die Beschleunigung und eine rasante Geschwindigkeit der Gesellschaft auf Potenzierungen innerhalb der Corona-Krise bezogen); Andreas Brenner: CoronaEthik, Ein Fall globaler Verantwortung. Würzburg: Könighausen & Neumann 2020 (der Philosoph und Experte für Globalisierung und Wirtschaftsethik geht der Frage nach, inwieweit ein andauernder Ausnahmezustand weltweit seine Berechtigung habe). Schirach, Ferdinand von/Kluge, Alexander: Trotzdem. München: Luchterhand Literaturverlag 2020.

Zeitenwende oder Metanoia?

85

(Rowohlt Hamburg 2020). Festzuhalten bleibt, dass viele dieser Werke mit »heißer Nadel gestrickt« sind und von daher einen eher bescheidenen Erkenntniszugewinn versprechen. An dieser Stelle sollen deshalb wie bereits oben angekündigt vor allem drei ernstzunehmende Werke konkretere Beachtung in Hinblick auf die Frage einer »Metanoia« im Angesicht der Krise finden.

Metanoia 1: als »moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten« (Markus Gabriel) Die Schwachstellen einer globalen Ökonomisierung und die Veränderung dessen durch neuen moralischen Realismus47 stellt Markus Gabriel heraus, wobei er die Corona-Pandemie als Weckruf bezeichnet: Die Corona-Pandemie ist ein Weckruf, sie wirkt geradezu, als habe unser Planet sein Immunsystem aktiviert, um die Hochgeschwindigkeit unserer Selbstausrottung zu bremsen und sich vor weiteren Übergriffen jedenfalls temporär zu schützen.48

Der neue Shooting-Star der deutschen Philosophie, der sich vor allem als Poststrukturalismuskritiker einen Namen gemacht hat und gegen einen Wertenihilismus polemisiert, den er auf ein falsches Denken zurückführt, nimmt die Krise zum Anlass, um über die Möglichkeit eines moralischen Fortschritts in dunklen Zeiten zu räsonieren. Er setzt dabei an der Globalität der Krise an bzw. stellt die Universalität dieser Situation über alle Ländergrenzen und Kulturen hinweg in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen. Für ihn bedeutet Corona zunächst, dass die Wirklichkeit zurückschlägt und wir zeitgenössischen Menschen einmal einhalten und über ihren Lebensstil nachdenken müssen, und zwar überall auf der Welt, wenngleich die gesellschaftlichen Entwicklungen und kulturellen Ausformungen unterschiedlich sind. Gabriel weist daraufhin, dass eine universale Wertekrise besteht, die durch die Pandemie noch einmal befeuert werden. Er fordert die Entwicklung eines neuen Gesellschaftsmodells in Hinblick auf eine neue Ethik. Zunächst schien alles in diese Richtung zu laufen: Zunächst freilich erzeugte sie positive Wirkungen. Seit März 2020 war eine neue Solidarität spürbar, dadurch ausgelöst, dass die Politik eine bisher beispiellose moralische Entscheidung getroffen hat: Um Menschenleben zu retten, das Gesundheitssystem aufrechtzuerhalten und die Infektionsketten der Pandemie zu unterbrechen, wurde die neoliberale Annahme außer Kraft gesetzt, Marktlogik sei das oberste gesellschaftliche Gebot. Während die viel verhängnisvollere Klimakrise bisher nicht dazu geführt hat, dass wir tiefgreifende wirtschaftliche Einbußen in Kauf nehmen, um das moralisch

47 Gabriel, Fortschritt. 2020, S. 23. 48 Gabriel, Fortschritt. 2020, S. 17.

86

Stephan Wolting

Richtige zu tun, hat das neuartige Corona-Virus kurzerhand Sand ins Getriebe der globalen Produktionsketten geworfen.49

Auch Zukunftsforscher tendierten in diese Richtung, doch schien dies nicht lange anzuhalten, worauf unter anderem der Lyriker und Satiriker Thomas Gsella mit zwei in Deutschland sehr populär gewordene Gedichte aufmerksam gemacht hat, die durch die Öffentlichkeit gehen. Im gewissen Sinne nimmt er eine eher kulturpessimistische und zugleich antiaufklärerische Position ein, d. h. nicht mehr an die Möglichkeiten auch einer »neuen Art von Aufklärung« im Sinne von Gabriel glaubt. wo er schreibt: Quarantänehäuser sprießen/Ärzte, Betten überall,/ Forscher forschen, Gelder fließen/Politik mit Überschall./Also hat sie klargestellt:/Wenn sie will, dann kann die Welt. Es scheint zunächst eine positive Haltung zu generieren, um dann aber kontrapunktisch fortzufahren: »Also will sie nicht beenden/Das Krepieren in den Kriegen/Das Verrecken vor den Stränden/Und dass Kinder schreiend liegen/In den Zelten, zitternd, nass. /Also will sie. Alles das.«50 Das zweite Gedicht mit dem bezeichnenden Titel »Corona als Chance« lässt die Leserinnen und Leser nicht so ganz pessimistisch zurück, wo es heißt: Schön ist jedes Applaudieren/Aus den Fenstern, vom Balkon,/Schön ist auch ein Honorieren/Haushoch überm Mindestlohn./Liebe Pfleger, liebe Schwestern,/Liebe Leute an den Kassen:/An euch hängt nicht erst seit gestern/Alles Wohl der Menschenmassen!/ Legt ihr jetzt die Arbeit nieder/Wäre Spahn wohl leicht verstört./Also streikt! Und singt die Lieder! /Und ihr kriegt, was euch gehört.51

Diese Haltung vereint die Positionen von Gabriel (eher an Kant und der Aufklärung ansetzend) und Eva von Redecker (eher den Hegel auf die Füße stellend im neu marxistischen Sinne zur politischen Aktion aufrufend). Was ist aber nun nach Gabriel zu tun und welche Lehren können aus der Zeit der Pandemie gezogen werden? Gabriel versucht es mit einer dialektischen Antwort, wonach jede Krise Risiken wie Chancen auf eine Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse bietet. In diese Richtung geht auch das zweite Gedicht von Gesella »Die Corona-Chance«. Insofern treffen sich Gsella, Gabriel wie auch Eve von Redecker in dem Ziel, die Gesellschaft zu verändern. Allein Gsella glaubt weder an die Einsicht des Menschen im Sinne der Erkenntnis noch an moralischen Fortschritt, während Gabriel eine »Vision des Guten« aufrechterhält. Dazu bedarf es allerdings bestimmter Voraussetzungen wie den Wunsch nach Autonomie und Selbststeuerung und die Diskussion um eine neue Wertordnung, die

49 Gabriel, Fortschritt. 2020, S. 11f. 50 Gsella, Thomas: Die Corona-Lehre. Auf: https://signaturen-magazin.de/thomas-gsella-die-co rona-lehre.html (Zugriff am 22. 02. 2021). 51 Auf: LYRICS | Corona Hub. Auf: www.corona-hub.net (Zugriff am 22. 02. 2021).

Zeitenwende oder Metanoia?

87

sich nicht allein an ökonomischen werten orientiert, d. h. eine neue Art von Aufklärung:52 Dies setzt voraus, dass wir von dem tiefsitzenden Gedanken abrücken, eine Gesellschaft sei fundamental durch Wettbewerb und Verteilungskämpfe gesteuert, die man nur durch staatliche Kontrolle und Überwachung im Griff halten kann. Die dunklen Zeiten, in denen wir allem Anschein nach leben und um die es im Folgenden gehen wird, sind dadurch gekennzeichnet, dass das Licht der moralischen Erkenntnis teilweise systematisch, zum Beispiel durch Verbreitung von Fake News, politischer Manipulation, Propaganda, Ideologien und sonstigen Weltanschauungen, verdeckt wird.53

Gegen dunkle Zeiten hilft nur Aufklärung, und zwar eine neue Aufklärung. Darin stimmt Gabriel mit Stephen Pinker (2019), »Aufklärung jetzt«, überein. Dem Erstarken des Nationalismus sowie der ökologischen Krise ist nach Gabriel nur durch moralischen Fortschritt begegnen. Die Menschheit wird nur überleben, und daran mahnt uns die Corona-Krise, wenn wir bereit sind, Nationalismen, Chauvinismus, Gier und Egoismus aufzugeben und uns auf unsere globalen, altruistischen Fähigkeiten besinnen, wir es aber trotz allem, mit Gsella gesprochen, ansatzweise in der Corona-Zeit doch geschafft haben. Diese Krise betrifft alle Menschen, Nationen, Gruppen, Gesellschaften etc. ausnahmsweise. Und es geht dabei nicht nur um große und globale Lösungen, sondern wir müssen gleichzeitig bei uns selbst, bei unseren eigenen Vorurteilen und unserem eigenen Handeln anfangen. Moralischer Fortschritt ist nur dann möglich, wenn wir anerkennen, dass das Böse nicht nur »da draußen«, etwa bei den Amis, den Milliardären, den Saudis, den Chinesen, den russischen Hackern oder wem auch immer stattfindet, dem man die Schuld an den dunklen Zeiten in die Schuhe schieben möchte.54

Diese Art von Moral nennt Gabriel mit einem Wort von Peter Sloterdijk KoImmunismus: »Es geht darum, für jedes Zeitalter den Wertekanon von Freiheit, Gleichheit, Solidarität usw. inhaltlich neu zu justieren und die jeweilige Gefahrenlage einzuschätzen, die mobilisiert wird, um die Vernunft zu Fall zu bringen.«55 Gabriel bleibt von der Veränderungsfähigkeit, ja -möglichkeit in Zeiten der Pandemie überzeugt. Noch einen Schritt weiter in Hinblick auf die Notwendigkeit der Veränderung im Sinne der Metanoia geht Eva von Redecker. Im positiven Sinne hält die Rezensentin Katharina Döbler von Redeckers Werk als »den Entwurf einer neuen Graswurzelrevolution gegen die Sachherrschaft und die menschengemachte Zerstörung des Planeten.«56 52 53 54 55 56

Gabriel, Fortschritt. 2020, S. 16. Gabriel, Fortschritt. 2020, S. 13. Gabriel, Fortschritt. 2020, S. 26. Gabriel, Fortschritt. 2020, S. 28. Döbler, Katharina: »Die Welt wahren in wilder Verbundenheit.«; Eva von Redecker: »Revolution für das Leben« – Die Welt wahren in wilder Verbundenheit. 2020. (deutschlandfunk-

88

Stephan Wolting

Metanoia 2: Die Corona-Pandemie: »Eine Revolution für das Leben«? Have you seen death singing /in the straw-coloured light //He sings of youth enraged / And the burning of Atlanta / And these viral times /… /And woe to the sun / And woe to the dawn /And woe to the young /Another hearse is drawn. (Patti Smith)

Auf den ersten Blick tendieren die Überlegungen von Eva von Redecker in eine ähnliche Richtung. Die Philosophin engagiert sich schon lange unter dem Einfluss von Adorno und Judith Butler für Widerstandsbewegungen, die gegen die Zerstörung von Lebensraum und Lebenswertigkeit protestieren. Sie ist davon überzeugt, dass die Pandemie uns Menschen zeigen, dass wir im Auge des Zyklons leben, dass Sicherheit nirgends zu haben ist unter Bezug auf Brecht »Das Sichere ist nicht sicher. So wie es ist, bleibt es nicht.« Und zugleich fügt sie dem Zitat hinzu: »Und wir brauchen keinen großen Knall, um vom hier in ein anderes Jetzt zu kommen« (RL, 17). Schon in ihrem vorangegangenen Werk »Praxis und Revolution«57 votiert sie für ein neues Revolutionsverständnis. Dialektisch gedacht sieht sie mit der Pandemie die Zeit der Umkehr, des Umdenkens, also theologisch gesprochen, der Metanoia gekommen, in einer Revolution, um des Lebens willen, wo sie betont: »Unter den Bedingungen einer globalen Pandemie wird dieser Kampf greifbarer und allgegenwärtiger.« Dabei macht sie vor allem auf die sozialen Folgen und die Möglichkeit des Lernens aus diesen Konsequenzen für eine zukünftige lebenswertere Welt »nach der Revolution für das Leben« aufmerksam. Das Virus selbst, als mikroskopisch winzige, fettumhüllte Molekülkette, diskriminiert nicht. Dass menschliche Verletzbarkeit und Sterblichkeit überhaupt wieder als geteiltes Schicksal erfahrbar werden, ist ein Ereignis. Alle starren auf das gleiche grüne, stachelige Erreger-Piktogramm und auf dieselben Statistiken. Wir fürchten uns allesamt vor Atemnot. Aber das Virus lebt außerhalb von Zellstrukturen, ohne Wirt nur für wenige Augenblicke, und auch unsere Verletzbarkeit teilen wir für kaum mehr als einen flüchtigen Moment. Als sozialer Prozess der Ansteckung diskriminiert Covid-19 dagegen sehr wohl. Wer muss weiter raus, und wer kann von zu Hause arbeiten? Wer ist zu Hause in Sicherheit und wer von Gewalt bedroht? Wer hat überhaupt ein Zuhause und wer nicht einmal Zugang zu Wasser und Seife? Wer kann sich jenseits von Lockdowns bewegen, und wer ist sowieso schon in überfüllten Gefängnissen oder Lagern eingeschlossen? Wer wird im Zweifelsfall künstlich beatmet und wer nicht? Und schließlich: Wessen Leben ist nicht längst in viel größerer Gefahr, durch rassistische Gewalttaten,

kultur.de). Auf: https://www.deutschlandfunkkultur.de/eva-von-redecker-revolution-fuer-d as-leben-die-welt-wahren.1270.de.html?dram:article_id=484502 (Zugriff am 22. 02. 2021). 57 Redecker, Eva von: Praxis und Revolution. Eine Sozialtheorie radikalen Wandels. Frankfurt am Main: Campus 2018.

Zeitenwende oder Metanoia?

89

Grenzregime, durch Dürren und Bürgerkriege, durch Erschöpfung und Umweltzerstörung? (RL, 152)

Ähnlich wie Markus Gabriel sieht sie zunächst die »dunklen Seiten« der Pandemie, die soziale Unterschiede verstärkt und erst im Tod den Verstorbenen einebnet. Gerade deshalb aber bedarf es der »Revolution für das Leben«, der es darum geht, die Chancen für alle neu zu justieren und die unterschiedlichen Eigentums- und Produktionsweisen anzugleichen. Dazu muss unter anderem auch der Besitz neu überdacht werden und vielerorts in eine Art von »Pflegschaft« umgewandelt werden. Das Virus operiert nicht nur als Verstärker bereits bestehender Hierarchien. Es schafft auch selbst neue Achsen der Differenz. Wer lebt in Ballungsgebieten, wessen Immunsystem ist bereits geschwächt, wer kann sich schlecht auf Abstandnahme einlassen? Vor dem Virus sind also nicht alle gleich. Aber nach dem Virus sollten wir es sein. Der Tod sorgt dafür auf seine Weise. Aber die Revolution könnte es auf ihre Weise tun: für das Leben. Was aus den diversen, oft auch gegenläufigen Rebellionen für das Leben eine Revolution macht, ist die Verweigerung der Abstufung und die Verknüpfung des Kampfs für das Leben mit dem für die geteilten Lebensgrundlagen, die allen gleichermaßen zustehen (RL, 155).

Insofern wird in Zeiten der Pandemie die Revolution für das Leben greifbarer, denn »was als Ausnahmezustand plötzlich alle betrifft, ist nicht für alle ein Bruch mit der Normalität.« Unter anderem weist sie in dem Zusammenhang darauf hin (RL, 78), dass die Frage nach Leben und Tod diesmal öffentlich. Denn bei allen Gefahren einer Politik, in der es ums nackte Leben geht, ist es doch weitaus schlimmer, wenn die Angelegenheiten des Lebens als unpolitisch angesehen und unter dem Deckmantel der Sachherrschaft still im Privaten besorgt werden. […] Das Monster ist schon da. In der pandemischen Schockstarre zeigt sich in seltener Klarheit, in welchen politischen Registern die gegenwärtige Sachherrschaft operiert, wenn sie unter verschärften Bedingungen lebensspaltend regiert (RL, 97).

Metanoia 3: Lola Randl, »Die Krone der Schöpfung« In eine andere Richtung tendiert das Werk von Lola Randl, der »Systematikerin des Nature-Writing«, wie Seibt sie nennt (siehe unten), wenngleich auch sie am homo sapiens mit ihrem Titel andockt. Seibt schreibt weiter, dass Randl die »zweite Welle der Corona-Literatur« nach der »Tagebuch-Welle« einleite. Schon im Titel drückt die Filmemacherin und Autorin Lola Randl ironisch ihre Haltung zum Menschen als Krone der Schöpfung aus. In 157 (!) Kapiteln, die als Überschriften alle mit Stichwörtern zur Corona-Krise versehen sind (mit

90

Stephan Wolting

jeweils einem Prolog und Epilog),58 spielt die Schriftstellerin reale wie utopische Möglichkeiten, der Krise zu trotzen, durch. Dem Werk ist das Gryphius-Zitat »Es ist alles eitel«59 vorangestellt, und damit intertextuell ein Bezug zur Zeit des Barocks mit seinem Vanitas-Motiv, Carpe-Diem oder Mememto mori hergestellt. Sowohl auf den Tod wird im Werk explizit eingegangen, das ›Carpe-DiemPrinzip‹ scheint in Zeiten der Pandemie nur bedingt möglich. Mehrmals wird auch auf das Motiv der Pest verwiesen, allerdings jeweils mit leicht spöttischem, ironischem, distanzierendem Blick: literarisches »Social Distancing«. Letztendlich zeigt sich der Mensch in seinem Corona-Alltag tief in seinem Inneren erschüttert und keinesfalls als die »Krone der Schöpfung«. Einen Roman, wie der Text überschrieben ist, kann man das Werk eigentlich nicht nennen, im besten Fall ein »Traktat«-Roman wie Gustav Seibt es nennt.60 Die Autorin schreibt aus einem Dorf in der Uckermark, wo sie lebt, nicht im Verhältnis 1:1, sondern mit Abstand 1:1,5 über Phänomene der Corona-Pandemie, die ihr medial vermittelt werden und die ihr Leben dennoch stark beeinflussen. Daneben laufen »Alltagsdinge« nebenher, die dann doch noch »den Plot« ergeben: eine Affäre (vom »Liebhaber« wird häufiger gesprochen, der Mann der Erzählerin taucht eher en passant auf), ein Drehbuchprojekt (das zunächst nicht angenommen wird, weshalb sie ganz coronagemäß auf eine Zombie-Serie im Stil von Dead-Man-Walking verfällt) und die Kinder (im Homeschooling); darüber hinaus wird die »Welt über YouTube vermittelt«, das »Erlebte« und das durch die Medien vermittelte, wird nicht mehr klar voneinander getrennt: »Ich saß am offenen Küchenfenster, denn das war der Platz, an dem jetzt am besten jeder sitzen sollte, und schaute über den Dorfplatz zur Kirche, zum Haus des Liebhabers und zum Dorfsupermarkt. Im Hintergrund liefen auf YouTube Lieder aus meiner Jugend, das erschien mir gerade am passendsten.«61 Die Erzählerin kann sich an keinen Moment erinnern, an dem die Welt sich in einem ähnlich ungewissen Zustand befunden hätte. An einem Tag konnte man glauben, dass

58 Begriffe wie Social Distancing, Viren und Virologen, Schnell-Test, Impfstoffe, Experte, Talkshows, Unsichtbares Epizentrum, Tracing, Wirte, Spanische Grippe, Normalität, Verschwörungstheorien, Querdenker, Inzidenzwert, -zahl, Ausgangssperre, Kontaktperson o. ä. Manche Begriffe wie Pest etc. tauchen mehrmals auf, dazu wird immer wieder der Dorfsupermarkt wie Honka, die Bar des Vergessens, ein ehemaliges, jetzt geschlossenes Hotel, als vermeintliche Treffpunkte des Dorfs erwähnt. 59 DU sihst/wohin du sihst nur eitelkeit auff erden./Was diser heute bawt/reist jener morgen ein:/Wo itzund Städte stehn/wird eine Wisen sein/Auff der ein Schäffers Kind wird spilen mitt den Heerden./Andreas Gryphius aus: Es ist alles Eitel (1637). Aus: Randl, Krone. 2020, S. 3. 60 Seibt, Gustav: »›Die Krone der Schöpfung‹ – Menschen, Viren, Zombies. Definitorisch gelifteter Alltag: Lola Randl läutet die zweite Welle der Corona-Literatur ein«. Auf: https://www. sueddeutsche.de/kultur/die-krone-der-schoepfung-menschen-viren-zombies-1.5087296 (Zugriff am 22. 02. 2021). 61 Randl, Krone. 2020, S. 49.

Zeitenwende oder Metanoia?

91

eigentlich alles fast noch so war, wie es immer gewesen war, oder dass es zumindest so oder so ähnlich wieder werden würde. Am nächsten Tag war dann klar, dass nichts mehr jemals wieder so sein würde. Trotzdem war immer häufiger zu hören, dass das Leben jetzt wieder weiterginge. Das war im Prinzip natürlich richtig, denn das Leben war ja schon die ganze Zeit weitergegangen, aber man wusste instinktiv, dass es diesmal nicht so einfach sein würde. Die Demontage der Gewissheiten wird der Nährboden der Utopien gewesen sein. […] Na ja, im Grunde war alles einfach ganz normal.62

Der »Roman«63 nimmt bei den hier behandelten Werken eine Zwischenstellung ein. Die Erzählerin ist also durchaus um Normalität bemüht, sodass »der oder das Virus ist das Normalste der Welt. Genauso normal wie die Hysterie, die er auslöste, und die Angst, die der Mensch um sich und die Seinen hat.« Insgesamt scheinen viele der Betrachtungen allerdings relativ banal und lassen den großen (aufklärerischen) Wurf vermissen: Alles scheint gleichberechtigt, eingeebnet, ohne Möglichkeit jeder anderen Perspektive. Die Erzählerin versucht den »kollektiven Lernprozess der letzten Monate zusammen« (Seibt). Doch im Grunde wird dieser ad absurdum geführt. Der homo sapiens lernt entgegen der Evolutionstheorie Dinge erst viel zu spät, die er dann nicht mehr brauchen kann. In diesem Lernprozess steht der Mensch nicht besser da als die von der Erzählerin bemühten Motive von Ameise, Virus oder Leberegel. Insofern lässt sich hier eine dystopische Haltung erkennen. Was hier u. U. eine Umkehr bewirken könnte, ist der immer wieder geschilderte Umstand, von welchem Punkt der Welt man sich auch befindet, kein Stein wird auf dem anderen bleiben, nichts wird bleiben, wie es war. Diese Umkehr scheint sich unabhängig vom Menschen zu vollziehen, weshalb von Metanoia im strengen Sinne nicht mehr gesprochen werden kann. Von jedem neuen Aufklärungsfuror oder der »Energie der unendlichen Sehnsucht« der Veränderungsfähigkeit des Menschen im Sinne von Redeckers oder Gabriels scheint dieses Werk meilenweit entfernt: Die »Veränderung« könnte allein darin bestehen, dass es noch nicht so schlimm werden sollte, wie überall angenommen wird. Insofern wirkt die mentale Verfassung der Erzählerin in den einzelnen Kapiteln erschöpft und haltlos. Zu Beginn wird ein Ende vorweggenommen, das nicht vorweggenommen werden kann. Mit wir ist immer der homo sapiens gemeint, jene »Krone der Schöpfung«, die sich nicht mehr zu helfen weiß. Am Schluss wird dennoch der Blick nach vorne gerichtet wird, allerdings antiprospektivisch: Wenn Sie das hier lesen, wird das Gröbste schon vorbei sein. Vielleicht wird es aber auch erst noch kommen. In Wirklichkeit haben wir überhaupt keine Ahnung, was das Gröbste gewesen sein wird, und möglicherweise werden wir es auch nie wissen. Die Auswirkungen, die das Ganze haben wird, werden später noch ganz andere Auswir62 Randl, Krone, 2020, S. 117. 63 Es handelt sich wohl mehr um eine essayistische Kommentierung von Stichworten der Krise.

92

Stephan Wolting

kungen haben, von denen selbst Sie jetzt, wo Sie das lesen und schon viel mehr Ahnung haben als ich, wo ich das schreibe, nichts ahnen können.64

Resümee Innerhalb dieses Beitrags ist versucht worden, insbesondere an drei konkreten Beispielen, geistig-kulturelle Reaktionen auf die Corona-Pandemie vor dem Hintergrund einer »unruhigen Gesellschaft aufzuzeigen. Die Ergebnisse der Betrachtung beziehen sich auf die bundesrepublikanische Gesellschaft im Jahre 2020/2021, sie ist aber mit kulturellen Modifikationen mutatis mutandis sicherlich auch auf andere Kulturen bzw. Gesellschaften übertragbar, Einzeluntersuchungen zum Zusammenhang zwischen der Pandemie und der publizistischen Reaktion darauf, stehen zum Teil weiterhin aus. Im kulturkontrastiven Sinne wurde hier auf die Bergamo-Tagebücher hingewiesen. Gemeinsam ist allen hier behandelten Publikationen neben dem Empfinden der Krise eine Forderung nach Metanoia, was sich bei von Redecker und Gabriel stärker als bei Randl äußert. Die ersteren beiden stehen auf dem Boden der Aufklärung, fordern eine »neue Aufklärung«, wobei Redecker stärker hegelianisch und darüber hinaus systemkritisch und systemsprengend im Hinblick auf eine neue, stark sozial gefärbte »Revolution, die nichts mit der alten zu tun hat’«, argumentiert, Randl versucht sich stärker in »Gedankenspielen«, wobei das utopische Moment etwas zu kurz kommt, was wohl für literarische Veröffentlichungen zur Krise generell gilt. Alle drei kommen dahingehend überein, dass die Pandemie auf ein Umdenken und »Umhandeln« oder »Andershandeln« aufmerksam macht und erfordert, der es mit Veränderungen der »Krone der Schöpfung« zu begegnen gilt, in Hinblick auf einen neuen ›moral turn‹ im neuaufklärerischen Sinne oder aber ganz handlungspraktisch im Sinne des alten deutschen Begriffs der »Pflegschaft« in einer »Gemeinschaft der Teilenden« bzw. einer »Revolution für das Leben«.

64 Randl, Krone. 2020, S. 107.

Michael Segner (Hamburg)

Vertrieben aus dem Kiez-Paradies? Neue deutsche Gentrifizierungsromane

Der Breslauer Germanist Norbert Honsza hat die Bedeutungen von Topographien in literarischen Werken hervorgehoben, zum Beispiel die Rolle Danzigs als »topographischer Faden« in den Werken von Günter Grass. In seinem Buch »Kulturlandschaft Literatur« stellt Honsza fest: Stadtlandschaften gehören zu den interessantesten ›Welten‹ der Literatur, sie werden von Schriftstellern intensiv erfahren, geprägt und gelegentlich auch mythologisiert […] Eine Debatte um die soziokulturelle Bedeutung des Urbanen steht bei vielen Schriftstellern im Vordergrund. Und findet starken Ausdruck im literarischen Werk.1

Honszas Feststellung trifft auch auf die neueste deutsche Literatur zu, die häufig den städtischen Raum zu ihrem Handlungsort macht. Eine besondere Konjunktur erfuhr in den vergangenen zehn Jahren Berlin, und dort vor allem das InViertel Prenzlauer Berg. Die Texte, die Berlin im Hinblick auf die urbanen Transformationsprozesse beschreiben, können unter dem Begriff »Gentrifizierungsromane« subsumiert werden. Ihr Hauptmerkmal besteht darin, dass sie sozialkritisch sind und eine neue Ästhetik des Schreibens über den Stadtraum entwickeln. Im Zuge der Globalisierung findet eine Umwälzung des innerstädtischen Raumes statt. Über Generationen gewachsene Strukturen in den Großstädten lösen sich im Zuge der Gentrifizierung von Stadtteilen auf.2 Der Begriff ›gentrification‹ geht auf die britische Soziologin Ruth Glass zurück, die erstmals den Begriff im Rahmen einer Studie aus dem Jahre 1964 über die Veränderungen in einem Arbeiterstadtteil in London durch den verstärkten Zuzug von Menschen aus der unteren und oberen Mittelschicht benutzte:

1 Honsza, Norbert: Kulturlandschaft Literatur. Wrocław: Wydawnictwo Wyz˙szej Szkoły Filologicznej we Wrocławiu 2016, S. 117. 2 Vgl. Eckart, Frank: Gentrifizierung. Forschung und Politik zu städtischen Verdrängungsprozessen. Wiesbaden: Springer VS 2018; Harvey, David: Rebellische Städte. Berlin: Suhrkamp 2013.

94

Michael Segner

One by one, many of the working class quarters of London have been invaded by the middle classes – upper and lower. Once this process of ›gentrification‹ starts in a district it goes on rapidly until all or most of the original working class occupiers are displaced and the whole social character of the district is changed.3

Die Veränderung der innerstädtischen Quartiere mit der »Verdrängung einkommensschwacher Haushalte durch wohlhabende Haushalte«4 findet mit einiger Verspätung auch in deutschen Großstädten statt. Der bekannteste gentrifizierte Stadtteil Deutschlands ist zweifelsohne der Prenzlauer Berg, der paradigmatisch für ähnliche Entwicklungen in anderen deutschen Städten steht. Der Prozess der Gentrifizierung läuft in der Regel in den gleichen vier Phasen ab.5 Zunächst kommt es durch den Zuzug von Künstlern und sozialen Randgruppen auf der Suche nach »ihrer Nische in der sozialen und ethnischen Vielfalt des Viertels«6 und bezahlbarem Wohnraum zu einer Neusortierung der Bevölkerung. Es ist in der Regel ein Arbeiterbezirk, auf den die Wahl trifft. Das Viertel liegt verkehrsgünstig in der Nähe der Stadtmitte, die Mieten sind erschwinglich, selbst Wohneigentum scheint dort noch finanzierbar zu sein. Durch den Zuzug von Menschen mit alternativen Lebensentwürfen, von Studenten und Künstlern aller Art entsteht mit der Zeit ein trendiges Szene-Quartier mit einer bunten Kneipen- und Kunstszene. Das Viertel verwandelt sich durch diese Pioniere in ein quirliges, lebensfrohes Quartier mit vielfältigen, spannenden Ausgeh- und Kontaktmöglichkeiten. Von diesem bunten Treiben angelockt ziehen in den Kiez die ersten »Gentrifizierer, Paare mit höherer Schulbildung und höherem Einkommen«.7 Zwar leitet der Begriff sich von dem englischen Wort ›gentry‹ ab, welches ›niedriger Adel‹ bedeutet,8 im deutschsprachigen Raum wird er jedoch als Teil der Bezeichnung ›Gentrifizierung‹ mit linksalternativem Bildungsbürgertum kontextualisiert. Es sind gutsituierte, akademisch gebildete Paare oder Familien, die sich die Mieten bzw. Kaufpreise der renovierten Altbauwohnungen oder der zu Lofts oder Ateliers ausgebauten Fabriketagen leisten können und für eine schleichende Veredelung des Viertels sorgen. Für diese erste Gruppe von Gentrifizierern findet seit 2007 unter den Gentrifizierungskritikern die Be-

3 Glass, Ruth: »Introduction«. In: Glass, Ruth et. al.: London. Aspects of Change. Ed. by Centre for Urban Studies at UCL. Urban Design Library Nr. 15. London: Macgibbon and Key 1964. P. xviii. 4 Kronauer, Martin: »Gentrifizierung: Ursachen, Formen und Folgen«. In: Dossier Stadt und Gesellschaft, 09. 07. 2018. Bundeszentrale für politische Bildung. Auf: https://www.bpb.de/poli tik/innenpolitik/stadt-und-gesellschaft/216871/gentrifizierung-ursachen-formen-und-folgen ?p=all (Zugriff am 26. 12. 2020). 5 Vgl. Kronauer, »Gentrifizierung«. 2018. 6 Kronauer, »Gentrifizierung«. 2018. 7 Kronauer, »Gentrifizierung«. 2018. 8 Sußebach, Henning: »Bionade-Biedermeier«. In: Die Zeit, 07. 11. 2007.Auf: https://www.zeit.de /2007/46/D18-PrenzlauerBerg-46 (Zugriff am 26. 12. 2020).

Neue deutsche Gentrifizierungsromane

95

zeichnung ›Bionade-Bourgeoisie‹9 Verwendung. Nicht selten spricht man auch vom Postbürgertum und von Macchiato- oder Edel-Eltern. Die Journalistin Anja Maier hat in ihrer Feldstudie10 festgestellt: […] im Prenzlauer Berg – in den Großstädten des Landes hat sich eine neue soziale Schicht gebildet. Nennen wir sie die Macchiato- oder Edel-Eltern. Das sind die postbürgerlichen Eroberer deutscher Innenstädte, die urban und extravagant leben, aber nicht auf das verzichten mögen, was sie kennen: kleinstädtische Identität plus Destinktionsgewinn einer Metropole.11

Der verstärkte Zuzug von finanzkräftigen, gut ausgebildeten Paaren und Familien im Alter von 25 bis 45 Jahren in den bunten Stadtteil führt in der dritten Phase zu einer Umschichtung der Bevölkerung: der Akademikeranteil steigt, das Durchschnittsalter sinkt. Es findet ein Austausch der Bevölkerung statt, da Wohnraum durch den Zuzug nicht länger für alle bezahlbar ist. Die Stammbevölkerung aus Arbeitern, kleinen Angestellten, armen Rentnern und erfolglosen Künstlern und Kunsthandwerkern bleibt dabei auf der Strecke. Die Bevölkerung teilt sich in Gewinner und Verlierer: Gentrifizierung verdrängt und separiert. Sie segregiert die sozialen Schichten in der Stadt entlang einer sozialräumlichen Achse des Wohlstands. Im Ergebnis sind innerstädtische Randgebiete in vielen Städten gentrifiziert, das heißt, sie beherbergen die Neuen Mittelschichten und Oberschichten.12

Die Aufwertung des innerstädtischen Wohnraumes hat zur Folge, dass die Bevölkerungsstruktur auseinanderfällt. Die in der zweiten und dritten Phase Zugezogenen bleiben und freuen sich dann über die Wertsteigerung ihres Wohneigentums. Sie können den Stadtteil nun endgültig nach ihren Vorstellungen modellieren. Die alteingesessenen Bewohner des ehemaligen Arbeiterbezirks hingegen, die sich die mit der Wertsteigerung einhergehenden Mieterhöhungen, die steigenden Gewerbemieten oder gar die Kaufpreise für ihre Wohnung nicht leisten können, sind gezwungen, in die Randbezirke der Städte außerhalb des S-Bahn-Rings auszuweichen. Die Gentrifizierung kann allerdings noch eine weitere Steigerungsform, eine vierte Phase, erreichen, wenn der Wohnraum selbst für diese neue Mittelschicht nach der Finanzkrise nicht mehr finanzierbar ist und auch sie in andere Quartiere ausweichen müssen.13

9 Sußebach, »Bionade-Biedermeier«. 2007. 10 Maier, Anja: Lassen Sie mich durch, ich bin Mutter. Von Edel-Eltern und ihren Bestimmerkindern. Köln: Bastei-Lübbe 2011. 11 Maier, Lassen Sie mich durch. 2011, S. 11. 12 Helbrecht, Ilse (Hg.): Gentrifizierung in Berlin. Verdrängungsprozesse und Bleibestrategien. Bielefeld: Transcript Urban Studies 2016, S. 6. 13 Kronauer, »Gentrifizierung«. 2018.

96

Michael Segner

Prenzlauer Berg als Schwabylon In Prenzlauer Berg, dem ehemaligen Grenzbezirk am Mauerstreifen zum WestBerliner Wedding, fand ein bemerkenswerter ›neighbourhood turn‹ statt: »Seit der Wende sind 80 Prozent der ursprünglichen Bewohner aus dem Prenzlauer Berg weggezogen. Statt ihrer sind vor allem jene gekommen, die der kleinstädtischen Enge ihres überwiegend westdeutschen Elternhauses entfliehen wollten.«14 Es sind vor allem westdeutsche Zuwanderer aus Schwaben oder dem Rheinland, die den traditionellen Arbeiterbezirk für sich erobert haben. Für die alteingesessenen ostdeutschen Bewohner oder die in den ersten Jahren nach der Wende in den stark sanierungsbedürftigen Stadtteil zugezogenen Lebenskünstler ist der Aufenthalt in der neuen Kiez-Idylle der ›Bionade-Bourgeoisie‹ nicht nur kaum finanzierbar, für sie ist dort kein Platz mehr: Sie wandern ab oder sie werden verdrängt. Die Kolonisation des Prenzlauer Bergs scheint vollzogen, die Zugezogenen haben sich dort in einer biedermeierlichen Familienidylle eingerichtet, fast so wie daheim in ihren schwäbischen Kleinstädten und Dörfern, nur eben in einem Großstadtambiente in bonbonfarbenen Jugendstilhäusern oder bauhausartigen Glaspalästen. Darüber hinaus findet in dem Kerngebiet des Prenzlauer Bergs durch die von den neuen Anwohnern erstrittene Verkehrsberuhigung eine Entschleunigung statt: Fahrradstraßen und Spielstraßen vervollständigen die Kleinstadtidylle, in der Kinder auf der Straße spielen können und die Eltern Zeit für ein Pläuschchen mit den Nachbarn haben. Das Urbane bleibt lediglich in dem Maße erhalten, wie es die Idylle nicht beeinträchtigt. Auf die alteingesessenen, ostdeutschen Bewohner des Kiezes wirken diese Veränderungen befremdlich.15 Die veränderten Verhältnisse im heutigen Prenzlauer Berg gestalten sich nach Anja Maiers Eindrücken folgendermaßen: Jetzt dominiert dort ein risikofreies urbanes Leben in ganz und gar geordneten Verhältnissen. Alle paar Meter ein noch abgefahreneres Geschäft. Cafés, in denen die

14 Maier, Lassen Sie mich durch. 2011, S. 14. 15 Die Schauspielerin Anna Thalbach, die bereits zu DDR-Zeiten zur Ausreise gezwungen wurde, beklagt den Wandel in dem Viertel und bezeichnet sich und ihre Nachbarn als »letzte Mohikaner«, als letzte Vertreter des alten Prenzlauer Bergs. Vgl. Wochnik, Thomas: »Wir sind hier die letzten Mohikaner. Mit Anna Thalbach durch den Prenzlauer Berg«. Der Tagesspiegel, 04. 01. 2020. Auf: https://www.tagesspiegel.de/berlin/mit-anna-thalbach-durch-prenzlauer-b erg-wir-sind-hier-die-letzten-mohikaner/25388224.html. (Zugriff am 05. 01. 2021). Dieser Artikel erhielt eine Gegenrede von Phillip Lengsfeld, der den Wandel als natürliche Entwicklung betrachtet und Thalbach Nostalgie vorhält. Die Veränderungen im Viertel seien, schreibt Lengsfeld, eine natürliche Entwicklung, der Kiez lebe vom Wandel. Lengsfeld, Phillip: »Es gibt keine Verdrängung in Prenzlauer Berg. Gentrifizierung ist ein Kampfbegriff«. In: Der Tagesspiegel, 17. 01. 2020. Auf: https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/gentri fizierung-ist-ein-kampfbegriff-es-gibt-keine-verdraengung-in-prenzlauer-berg/25444316.ht ml (Zugriff am 05. 01. 2021).

Neue deutsche Gentrifizierungsromane

97

Friedrichs und Alruns auf winzigen Stühlchen vor laktosefreiem Kakao sitzen. Spielplätze, auf denen Kinder buddeln, die gekleidet sind wie kleine Lords und Ladies auf Studienreise. Häuserlücken, in denen baubiologisch einwandfreie Townhouses und Lofts zum Verkauf stehen. Eine unvorstellbare Volvo-, Saab- und Therapeutendichte, Geburtshäuser, Kitas, Privatschulen, so viel man will …16

Solche Konflikte oder Irritationen sind bezeichnend für die dritte Phase der Gentrifizierung, aber auch dass sich die Pioniere und die Altmieter zu wehren beginnen und »sich der Umwandlung ›ihres‹ Viertels widersetzen«.17 In ihrem Roman »Die Entmieteten« beschreibt Synke Köhler, wie Hausbewohner, die weichen sollen, versuchen, sich gegen den Abriss ihres Hauses und die drohende Verdrängung aus dem Prenzlauer Berg zu wehren. Die Hausmauern in dem Kiez schmückten Slogans, die auf den Lifestyle der Zugezogenen zielten, wie z. B. »Fuck Yoga!«, oder Bekenntnisse des Lokalpatriotismus wie »Ostberlin wünscht eine gute Heimfahrt«; in den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr, wenn die Zugewanderten die Verwandtschaft in Westdeutschland besuchen, konnte man lesen, dass diese Tage als »Tage der Befreiung« begrüßt wurden.18

Über Gentrifizierung schreiben Zu den ersten Autoren, die sich mit der Verdrängung aus dem innerstädtischen Raum und der drohenden Obdachlosigkeit befassten, gehörte der selbst von der Situation betroffene Jan Peter Bremer mit seinem Roman »Der amerikanische Investor« (2011). Der Autor wurde im Deutschlandfunk Kultur als »Godfather der Gentrifizierungsliteratur«19 bezeichnet. Seit der Mitte des letzten Jahrzehnts scheint die Zahl der Romane über den Berliner Vorzeigebezirk zuzunehmen: Synke Köhlers Text »Die Entmieteten« (2018), Enno Stahls »Sanierungsgebiete« (2019), »Skandinavisches Viertel« (2018) von Thorsten Schulz, »Eine Wohnung in der Stadt/Ein Haus auf dem Land« (2019) von Jan Brandt – um nur einige zu nennen – beschäftigen sich mit den Auswirkungen der Gentrifizierung auf das Leben der Stadtbewohner und mit den Folgen, wie Verlust von Wohnraum, Verdrängung, Entmietung und Vertreibung.20 Die Autorin Anke Stelling lieferte 16 17 18 19

Maier, Lassen Sie mich durch. 2011, S. 17. Kronauer, »Gentrifizierung«. 2018. Maier, Lassen Sie mich durch. 2011, S. 122f. Teusch, Katharina: »Wie wir leben wollen – von der Wichtigkeit des Wohnens für das Schreiben«. In: Deutschlandfunk Kultur. 15. 11. 2019. Manuskript. Auf: https://www.deutsch landfunkkultur.de/index.media.7580d712 f407acf80154bff25685dfb5.pdf (Zugriff am 26. 12. 2020). 20 Gentrifizierung ist natürlich nicht nur in Berlin vorzufinden. Die Autorin Kristine Bilkau beispielsweise beschreibt in ihrem Roman »Die Glücklichen« (2015) die Veränderungen in ihrem Heimatbezirk Hamburg-Eimsbüttel.

98

Michael Segner

mit »Bodentiefe Fenster« (2015) und »Schäfchen im Trockenen« (2018) gleich zwei der Klassiker der Gentrifizierungsliteratur. Das Phänomen der Gentrifizierung wird verstärkt von jungen Autorinnen und Autoren verschriftlicht, die den innerstädtischen Wandel aus unmittelbarer Nähe beobachten21 und zum Teil selbst von Verdrängung und Heimatverlust betroffen sind. Diese autobiographisch motivierten Texte reagieren »[…] schnell und seismographisch auf gesellschaftliche Veränderungen, die […] auf subjektive Weise verarbeitet werden.«22 Es ist deshalb auch dem Literaturkritiker Jens Bisky zuzustimmen, wenn er sagt, dass: die Wohnungsfrage für die Gegenwartsliteratur das werden könnte, was der Ehebruch für den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts war: ein Motiv, in dem vorfabrizierte Träume, Selbstbilder, sozialmoralische Erwartungen und harte Tatsachen wie Verträge, Vermögen, Status existenzbedrohend zusammentreffen.23

Biskys Verweis24 auf den realistischen Roman des 19. Jahrhunderts ist auch deswegen interessant, weil die Gentrifizierungstexte einerseits in der Tradition des realistischen Schreibens stehen – die meisten von ihnen verfolgen das mimetische Prinzip und wollen die Wirklichkeit »abbilden« – anderseits zeichnen sie sich durch subjektive Perspektive und autofiktionale Einschübe aus. Diese etwas eklektische Schreibweise ermöglicht die Gentrifizierung als ein generelles

21 Autobiographische Bezüge sind bei vielen der Autoren sichtbar. Anke Stelling wohnt, wie ihre Protagonistin Sandra, in einem Baugruppenprojekthaus im Prenzlauer Berg. Sie hat, genau wie ihr Alter Ego Resi im Roman »Schäfchen im Trockenen«, den mit 15000 Euro dotierten Preis der Leipziger Buchmesse 2019 erhalten. Das »Herausfallen aus dem Milieu« (Bisky, Jens: »Nehmt das, naive Freunde der Mittelklasse«. In: Süddeutsche Zeitung, 29. 11. 2018. Auf: https://www.sueddeutsche.de/kultur/anke-stelling-schaefchen-im-trockenen-rezension-1.4 232312; Zugriff am 29. 12. 2020) aber hat die Bestseller-Autorin Anke Stelling im Gegensatz zu ihrer Figur Resi kaum zu befürchten. Seit dem Erfolg ihrer Bücher und der Verleihung diverser Buchpreise gehört Stelling als prominente Künstlerin endgültig zum Milieu, zur InCrowd, und ist vielleicht sogar eines der Aushängeschilder der Prenzelberg-Community. Andere Autoren wie Synke Köhler, Jan Peter Bremer und Jan Brandt waren selbst von der Aufwertung der Innenstadtquartiere und drohender Verdrängung betroffen. 22 Wolting, Monika: »Einleitung«. In: Monika Wolting (Hg.): Neues historisches Erzählen. Göttingen: V+R unipress 2019. S. 12. 23 Bisky, Jens: »Nehmt das, naive Freunde der Mittelklasse«. In: Süddeutsche Zeitung, 29. 11. 2018. Auf: https://www.sueddeutsche.de/kultur/anke-stelling-schaefchen-im-trockenen-rez ension-1.4232312. (Zugriff am 29. 12. 2020). [Anm.: Mit ihrer gegenwartsbezogenen Erzählweise erweitern die Gentrifizierungsromane als neue Zeit- und Gesellschaftsromane zudem das Repertoire der Berlin-Romane.] 24 Das Wohnungsproblem wurde auch in den Zeitromanen der Weimarer Republik zum Thema erhoben, man denke an Kleiner Mann, was nun? von Hans Fallada, Fabian von Erich Kästner oder Das kunstseidene Mädchen von Irmgard Keun. Wohnungsnot und Arbeitslosigkeit haben schon in der Zeit zwischen den Weltkriegen zum Erstarken rechtsextremer wie auch linksextremer Parteien geführt. Autoren wie Kurt Tucholsky haben damals erfolglos vor dieser Entwicklung gewarnt und sind an ihrer Wirkungslosigkeit verzweifelt.

Neue deutsche Gentrifizierungsromane

99

Phänomen, welches die Großstädte prägt, und gleichzeitig als eine subjektive Erfahrung zu beschreiben. Es geht somit um den dokumentarischen Impetus und affektive Betroffenheit: Es ist nicht zu übersehen, dass die meisten Texte aus der Perspektive der Opfer geschrieben sind, die unter den Veränderungen leiden. Diese Position erlaubt eine kritische Haltung gegen diejenigen, die den Stadtraum verändern und mit neuen habituellen Praktiken ausstatten.

Linksliberales Bürgertum hinter bodentiefen Fenstern Die Verhältnisse der dritten Phase im gentrifizierten Prenzlauer Berg spiegelt Bestseller-Autorin Anke Stellung25 in ihren Romanen »Bodentiefe Fenster« (2015) und »Schäfchen im Trockenen« (2018). Dabei beleuchtet sie vor allem die westdeutschen Gentrifizierer, die sich in dem ehemaligen Sanierungsbezirk im Osten Berlins Wohneigentum und linksbürgerliche, biologisch-bewusste Lebenswelten schaffen, und deren Träume vom Wohnen und Zusammenleben. In ihrem Buch »Bodentiefe Fenster« beschäftigt sich Stelling mit dem Phänomen des Baugruppenprojekts in dem Stadtteil Prenzlauer Berg. Stelling hat hier, stellt Jens Bisky heraus, »als eine der Ersten das zeittypische Ineinander von Selbstverwirklichungsromantik und robuster Bürgerlichkeit geschildert«.26 Baugruppenprojekte sind der neueste Trend für diejenigen, die zwar über alle Voraussetzungen für die Zugehörigkeit zur Neuen Mittelschicht des Prenzlauer Bergs verfügen, aber (noch) keine standesgemäße und finanzierbare Wohnung dort gefunden haben. Die an so einem Gemeinschaftsprojekt Beteiligten träumen, wie die Protagonisten in Stellings Roman, »von einer Art von Dorfleben mitten in der Stadt«.27 Eine Baugruppe oder Baugemeinschaft verfolgt mit ihrem Projekt das Ziel, gemeinsam Wohnraum für Gleichgesinnte zu schaffen. Die Schlüsselwörter »gemeinschaftlich – selbstorganisiert – nachhaltig – weltoffen« stehen dabei für die Grundpfeiler solcher Konzepte.28 Die Mitglieder der Projektgruppe werfen ihr Kapital zusammen und gemeinsam lassen sie – mitunter auch unter Eigenleistung – ein neues Mehrfamilienhaus nach eigenen Vorstellungen in ihrem Lieblingskiez entstehen. Die einen verfügen über ererbtes Kapital, die anderen unterschreiben Kreditverträge oder packen selbst mit an. 25 »Schäfchen im Trockenen eine Woche verspätet auf Platz 4«. In: Buchreport, 09. 04. 2019. Auf: https://www.buchreport.de/news/schaefchen-im-trockenen-eine-woche-verspaetet-auf-plat z-4/ (Zugriff am 05. 01. 2020). 26 Bisky, »Nehmt das, naive Freunde«. 2018. 27 Stelling, Anke: Bodentiefe Fenster. Berlin: Ullstein Verlag 2015, S. 117 (im Folgenden unter der Sigle »BF« mit Seitenzahl im Text). 28 CoHousing = GemeinsamWohnen. Auf: https://www.cohousing-berlin.de/de/worum-gehts (Zugriff am 31. 03. 2021).

100

Michael Segner

Private Baugruppen sind im Prenzlauer Berg ein »Must have«,29 also quasi der denier cri, und wohl auch eine willkommene Notlösung für all jene, die bei der Verteilung der noch bezahlbaren geräumigen Altbauwohnungen einfach »zu spät gekommen sind«.30 Sandra, die Ich-Erzählerin und Hauptprotagonistin in Stellings Roman »Bodentiefe Fenster«, lebt seit drei Jahren in so einem alternativen Wohnprojekt, in dem die Bewohner ihre Vorstellungen von Gleichheit und Freiheit zu verwirklichen suchen, ohne dabei zu merken, dass sie dabei stark nach kapitalistischen und neoliberalen Prinzipien handeln. Mit Sandra schafft Stelling eine Figur, die sowohl die Innen- als auch die Außenperspektive auf das Bauprojekt ermöglicht. Als Teil der Gruppe agiert die Protagonistin im Namen des Kollektivs, was sich durch die Verwendung der Pluralform manifestiert: »Wir haben versucht darauf zu achten, dass unsere Gruppe nicht zu homogen ist, dass auch Ältere, Kinderlose, Schlechtverdienende und Nichtakademiker dabei sind und wir trotzdem alle Entscheidungen im Konsens treffen« (BF, 15). Die Pluralform darf aber nicht konsequent verwendet werden: Die Protagonistin und ihr Mann Hendrik sind wenig erfolgreiche Künstler und damit gehören sie zu den eher Schlechtverdienenden in dem Haus. Beide stammen aus kleinbürgerlichen Familienverhältnissen, in denen Bildung zu einem Fetisch geriet, der sozialen Aufstieg zu versprechen schien. Den Einzug in das Mehrfamilienhaus konnten sie dadurch bewerkstelligen, dass sie handwerkliche Eigenleistungen einbrachten und diese als Selbsthilfe auf den finanziellen Teil anrechnen ließen (BF, 74). Die Protagonistin konnte sich als exotisches Anhängsel mit ihrer Familie den Einzug in ihr Gemeinschaftsparadies sichern, sie leidet allerdings unter den Unehrlichkeiten der Bewohnerschaft und räumt ein, sich gegenüber den Mitbewohnern zu verstellen: »Hier im Projekt bin ich die kluge und verständnisvolle Sandra, wo ich doch in Wahrheit alle hasse und verachte« (BF, 125). Der Preis für die Anpassung ist hoch: […] ich muss mich einschmeicheln, unersetzbar machen, denn wo landen wir sonst? Ohne das Haus können wir uns den Bezirk nicht mehr leisten, also sind wir nützlich, garantieren die lustige, lebendige Mischung, sind die Bedürftigen, die Leuten wie Jörn und Ricarda das Gefühl vermitteln, dass sie nicht abheben mit ihrem Geld (BF, 125). Meine Gruppe ist nicht meine Gruppe, wir haben keine gemeinsame Utopie, wir haben ein Haus mit bodentiefen Fenstern, und das Einzige, was von den Slogans meiner Kindheit übrig bleibt, ist die Behauptung, dass ›Gemeinschaft‹ etwas Positives sei (BF, 148 f).

29 Maier, Lassen Sie mich durch. 2011, S. 36. 30 Maier, Lassen Sie mich durch. 2011, S. 36.

Neue deutsche Gentrifizierungsromane

101

Stellings Roman »Bodentiefe Fenster« gewährt tiefe Einblicke in die Wohn- und Lebensformen der Bewohner des Gemeinschaftshauses und in das Selbstverwirklichungsmilieu im gentrifizierten Prenzlauer Berg. Die Fenster des Projekthauses entsprechen selbstverständlich den in jeglicher Hinsicht hohen Ansprüchen der Baugemeinschaft, ihren »hohen ökologischen Standards« (BF, 52). Nach außen hin wirken die bodentiefen Fenster mit ihrer dreifachen Verglasung wie eine Mauer aus Glas. Die gläserne Wand bildet auch die Undurchdringbarkeit der Klassengrenzen ab. Die riesigen Fenster mit Dreifachverglasung bilden nämlich eine dezente, fast unscheinbare Art der Grenzziehung zwischen denen, die dort wohnen können und dürfen, weil sie zum Milieu gehören, und all jenen, die draußen bleiben müssen, weil sie die Idylle des Kreativbürgertums stören. Wie mühelos die Vertreter der Neuen Mittelschicht ihr Selbstbild vom linksalternativen, engagierten, ökologisch bewussten Zeitgenossen mit dem Wunsch nach Abgrenzung gegenüber den Milieufremden verbinden können, verwunderte auch Jens Bisky, der in der »Süddeutschen Zeitung« schrieb: Die urbanen Kreativromantiker von heute kombinieren klassische Außenseiterideale mit dem unbedingten Willen zu Status, Vermögen, Anerkennung, zur Besetzung der Mitte. Sie sind gegen Kommerz, Konformität, Enge und werden, ohne ihrem moralischen Selbstbild abzuschwören, Eigentümer, Chefs, abgeschottet von – eben – bodentiefen Fenstern.31

Nach außen hin können die bodentiefen Fenster mit ihrer dreifachen Sicherheitsverglasung in der Tat wie eine Mauer aus Glas wirken. Die gläserne Wand aus bodentiefen Fenstern bildet die durchsichtige, aber keineswegs durchlässige Grenze zwischen Drinnen und Draußen, zwischen den Klassen.

Die Schäfchen ins Trockene gebracht In Anke Stellings Roman »Schäfchen im Trockenen« spielt ebenfalls ein Gemeinschaftshaus, das aus einem Baugruppenprojekt entstanden ist, eine tragende Rolle. Dieses Mehrfamilienhaus trägt mit der Projektbezeichnung »K23« sogar einen eigenen Namen, so wie auch Villen manchmal Namen tragen. Vielleicht ist »K23« ein Akronym, eine Abkürzung, z. B. für »Kastanienallee 23«, was auch die Verwendung des Femininums erklären würde. Allerdings erinnert »K23« auch an eine Chiffre, welche aus Gründen der Geheimhaltung verwendet wird, oder an die Bezeichnung eines Festungsstützpunktes. Die Bauherren sind auf Unauffälligkeit bedacht: Die Fassade des Gebäudes besteht nämlich – wie schon in »Bodentiefe Fenster« – aus glattem Mauerwerk und viel Glas: 31 Bisky, »Nehmt das, naive Freunde«. 2018.

102

Michael Segner

Die Fassade der K23 ist in mildem Beige gehalten. Wunderschön, wie Vanilleeis. Darin sitzen weiß lasierte Holzfenster, bei denen man die Maserung noch durchsieht, und im Garten gibt es nur zartblättrige Pflanzen, keine Nadelgewächse oder Liguster, sondern Birken und Flieder und Bambus und Wein. Nicht sehr trittfest, nicht gerade schmutzabweisend, nicht dafür gemacht, dass es Angriffen standhält; wenn die K23 eine Burg ist, dann sieht man es ihr von außen nicht an.32

Die helle, mit dem Hintergrund verschmelzende Fassade sorgt dafür, dass das Haus nicht bedrohlich wirkt und in das Ambiente einfließt, mit ihm verschmilzt. Man soll der »K23« vielleicht nicht gleich ansehen, dass sie eine Festung ist. Wenngleich die »K23« nicht dem Bild, das man gemeinhin von einer Burg hat, entspricht, so ist ihre Funktion doch eine ähnliche. Der helle Anstrich sowie die zarten Pflänzchen sind die Tarnung, die die Festung schützt. Der Garten ist zwar nicht von einer Mauer umgeben, die unscheinbaren, zarten Pflanzen bilden jedoch eine weiche Grenze und markieren so das Eigentum. Das Selbstbild der aufgeklärten, gut gebildeten Mittelschicht verhindert zwar, dass Mauern gebaut werden, um die Anderen draußen zu halten, aber die Grünpflanzen erfüllen die gleiche Funktion und wirken nicht bedrohlich – so wie die soften Bewohner nicht wie aggressive Kolonisatoren von ostdeutschem Wohn- und Lebensraum wirken wollen. Die Hauptprotagonistin des Romans, Resi, ist Schriftstellerin und Mutter von vier Kindern; ihr Mann Sven ist Künstler mit geringem bzw. unregelmäßigem Einkommen. Anders als die Protagonistin in »Bodentiefe Fenster« ist Resi nicht mit in das Gemeinschaftshaus gezogen. Dabei hätte sie »mitmachen können«, das fehlende Kapital wollte ihr einer der Baugruppenmitstreiter zinsfrei leihen (ST, 71). Die Mitglieder der Projektgruppe sind fast ausschließlich Freunde aus der Schulzeit in der schwäbischen Provinz, die seinerzeit gemeinsam mit Resi für das Studium nach Berlin gezogen sind. Die Projektgruppe hätte Resi und ihre Großfamilie gern dabeigehabt, damit die Hausgemeinschaft, wie der Protagonist Ingmar in einem Gespräch äußert, »nicht so ein langweiliges homogenes Biotop« (ST, 75) ist. Resi allerdings vermutet, man wollte lediglich sagen können: »Doch, es sind auch Geringverdiener mit an Bord. Künstler« (ST, 75). Resi beobachtet das Leben in der Gemeinschaft von außen und schreibt im Rahmen einer Auftragsarbeit einen Artikel über das Wohnprojekt für eine Zeitung (ST, 89). Dieser Artikel verändert alles. Die Freunde fühlen sich von Resi bloßgestellt und stellen ihre Handlungs- und Redefreiheit in Frage: »Wer bist du, dass du deine Sicht über andere stellst? […] Wer hat dir das bitte sehr erlaubt?« (ST, 15) Die Hausgemeinschaft der »K23« empfindet Resis »Selbstermächti-

32 Stelling, Anke: Schäfchen im Trockenen. Berlin: Verbrecher Verlag 2018, S. 64f. (im Folgenden unter der Sigle »ST« mit Seitenzahl im Text).

Neue deutsche Gentrifizierungsromane

103

gung«33 als Verrat, weil sie aus dem Nähkästchen geplaudert hat und die Zustände im Haus offen beschrieben und die Verlegenheit der Bewohner gegenüber ihren maßgefertigten Wandschränken und Terrakottafliesen benannt hat (ST, 93). Resi wird nun rigoros aus dem sozialen Umfeld des Selbstverwirklichungsmilieus ausgegrenzt. Zunächst kündigt Frank die an Resi untervermietete Wohnung, indem er bei seinem Vermieter die Kündigung einreicht. Resi erhält lediglich die Kopie von Franks Schreiben, die mit dem Stempel »Zur Kenntnis« versehen ist (ST, 12). Die Distanzierung gegenüber Resi wird noch dadurch gesteigert, dass Frank nicht direkt mit ihr kommuniziert, sondern sie nur die Kopie des Schreibens an einen anderen Adressaten mitlesen lässt. Sogar die Wendung »Zur Kenntnis« ist eine Verkürzung der Bitte um Kenntnisnahme. Danach kündigt Resis beste Freundin Vera ihr mit den pathetischen Worten »Unser gemeinsamer Weg ist hier zu Ende« (ST, 13) per E-Mail die Freundschaft. Mit der Kündigung verliert Resi nicht nur ihre Wohnung und ihr soziales Umfeld, sondern auch ihren Arbeitsraum, eine kleine fensterlose Kammer neben der Küche mit einer an die Wand gedübelten Sperrholzplatte als Schreibfläche. Da sie die Regeln der Gruppe verletzt hat, so die Schlussfolgerung, muss Resi wohl krank sein. Selbst die Befähigung zu ihrem Beruf als Schriftstellerin sprechen die Hausbewohner ihr ab; Friederike äußert gegenüber Christian: »Wenn sie [eine Schriftstellerin] wäre, hätte sie ein bisschen Phantasie. Dann hätte sie’s nicht nötig gehabt, aus anderer Leute Leben zu tratschen« (ST, 193). Resi wird als Kranke markiert, als Tratschtante verunglimpft, der das in den Kreisen der oberen Mittelschicht angeborene Taktgefühl schlichtweg fehlt. Hier zeigen sich also die »feinen Unterschiede«.34 Resi – ein Emporkömmling, eine die nach oben geschwemmt wurde, die die Codes ihrer Schulfreunde nicht verstand, ihre Sportarten nicht beherrschte und das vorausgesetzte Taktgefühl nicht aufbringen kann (ST, 116f.). Es scheint, dass Resi trotz ihrer Bildung und ihrer akademischen Ausbildung letztlich ihrer Klasse nicht entkommen konnte. Die im aufgeklärten Bürgertum seit den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts propagierte Durchlässigkeit und Durchdringbarkeit der Klassengrenzen hat sich schließlich als Trugbild erwiesen. Die öffentliche Bloßstellung der Baugruppe in der Zeitung macht Resi in der Folge zur Paria. Sie fürchtet, dass sie mit ihrer Großfamilie in einem der Berliner Vorstadtbezirke wie Marzahn oder Ahrensfelde außerhalb des S-Bahn-Rings landen wird, dort wo kinderreiche Familien zu den Begleiterscheinungen des proletarischen Lebens gehören. Der S-Bahn-Ring teilt die große Stadt nämlich in 33 Ströbele, Carolin: »Schweigen im Prenzlauer Berg«. In: Zeit Online, 21. 03. 2019. Auf: https:// www.zeit.de/kultur/literatur/2019-03/anke-stelling-leipziger-buchpreis-gewinnerin-wuerdig ung (Zugriff am 29. 12. 2020). 34 Vgl. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1982.

104

Michael Segner

zwei Teile: Innerhalb des Rings leben diejenigen, die sich ein Leben in der Stadt leisten können und die Bildungs- und Kulturangebote genießen können. Außerhalb des Rings ist der Ort für die Armen, die Vertriebenen, Verdrängten, Abgeschobenen und Vergessenen, hier ist zwar weder Kultur noch der Klassenaufstieg zu finden, vielleicht aber bezahlbarer Wohnraum. Die Furcht vor der Vertreibung aus dem bildungsgesellschaftlichen Paradies innerhalb des S-BahnGürtels und die Angst vor der Rückkehr zur eigenen Klassenzugehörigkeit, versinnbildlicht durch ein zukünftiges Leben in Ahrensfelde, wird Resi fortan ständig bedrücken. Die Entfremdung von der eigenen Herkunft und Klasse äußert sich auch in der Angst vor den Menschen, mit denen sie zukünftig in Ahrensfelde oder Marzahn zusammenleben könnte. Resi hält die Menschen dort für »wilde Tiere«, die »überhaupt keine Vorstellung davon (haben), was sie anrichten, und ihre Impulse nicht unter Kontrolle (haben)«, weil sie »wegen ihres Mangels an Bildung […] dumm und deshalb so gefährlich sind« (ST, 116). Bildung ist für Resi immer noch ein Fetisch und Distinktionsmerkmal, obwohl sich die Bildung als Schlüssel zum gesellschaftlichen Aufstieg als Chimäre erwiesen hat, denn auch ihre »Bildungsbeflissenheit«35 erhebt sie nicht von ihrer Herkunftsklasse und kann die feinen gesellschaftlichen Unterschiede nicht verdecken oder nivellieren. Die Ereignisse, die zur Kündigung der Wohnung geführt haben, schildert die Ich-Erzählerin Resi in einem Brief an ihre älteste Tochter Bea unter Zuhilfenahme von Rückblenden. Sie versucht, ihr die Hintergründe ihrer Handlungen und Entscheidungen plausibel zu machen und vor den eigenen Irrtümern und Utopien zu warnen. Der imaginäre Brief an die Tochter bildet den erzählerischen Rahmen des Romans und ist im Hinblick auf die Kommunikationsstruktur des Textes interessant, denn die, die hier angesprochen wird – die Adressatin des Briefes – ist noch ein Kind, das die Probleme der Mutter nicht verstehen kann. Der Brief soll also höchstwahrscheinlich erst später von ihr gelesen werden; im Moment erfüllt er eher die Rolle eines Tagebuches der Mutter. Dieser intime Ort des Schreibens ermöglicht, die eigenen Enttäuschungen zu ordnen und zu sortieren. Die Erfahrung der Ausgrenzung wird zu einer Schlüsselerfahrung in der Biographie von Resi und zu einem Leitmotiv ihrer Gedanken. Gleichzeitig soll ihre Erfahrung in gesellschaftlichen Kategorien erfasst werden: Der Text versteht sich als eine Art Intervention gegen bestimmte, durch Globalisierung und Neoliberalismus bedingte Tendenzen des gesellschaftlichen Lebens. In dem Brief eingewoben sind »Rückblicke auf Resis Kindheit, die Kindheit der Mutter, Szenen aus dem Familienalltag, Fantasien, Alpträume, Selbstgespräche, nie abgeschickte Briefe, Drehbuchpassagen«, wodurch der Roman, wie

35 Vgl. Bourdieu, Die feinen Unterschiede. 1982, S. 500ff.

Neue deutsche Gentrifizierungsromane

105

Carolin Ströbele anmerkt, »etwas Collagenhaftes« und Fiebriges erhält.36 Das »Collagenhafte« trägt dem dezentrierten Leben der Gegenwart Rechnung, es korrespondiert auch mit dem psychischen Zustand der Hauptprotagonistin.

Die Elenden vom Kollwitzkiez Synke Köhler hat einen Zeitroman verfasst, in dem die dritte Phase der Gentrifizierung im Prenzlauer Berg und das Schicksal der alteingesessenen Bewohner beleuchtet werden. In ihrem Erstlingswerk »Die Entmieteten« aus dem Jahr 2019 hat sie die neuen Grenzziehungen, die Neusortierung der städtischen Nachbarschaften, die Verdrängung angestammter, ärmerer Bevölkerungsgruppen aus den Innenstädten sowie »das Verschwinden des Raumes«37 zum Gegenstand der literarischen Auseinandersetzung erhoben. In Köhlers Roman geht es um den drohenden Abriss eines alten Plattenbaus in der (fiktiven) Marner Straße im Kollwitzkiez im Prenzlauer Berg.38 Das Haus, eine letzte Insel der Alteingesessenen, soll zeitgemäßen Wohnformen Platz machen, vielleicht einem weiteren Baugruppenprojekt. Das Haus ist zum Spekulationsobjekt geworden und wird im Zuge der Romanhandlung systematisch entmietet. Der vierstöckige Plattenbau aus den 1960er Jahren war nicht das erste Haus im Prenzlauer Berg, das entwohnt wurde, der Block war sogar einer der letzten, der bisher noch nahezu ungeschoren davongekommen war, […]. Ganz Berlin wurde entwohnt. So kam es einem jedenfalls vor. Die Menschen wurden ausgetauscht. Wurden separiert, hier die mit Geld, hier die ohne.39

Die Entmietung erzählt Köhler wie eine Tragödie: Der Konflikt steigert sich, erreicht den Höhenpunkt und wird dann aufgelöst. Im Zentrum stehen dabei die Bewohner aus dem Osten der Stadt: Sie sind die tragischen Figuren, die der Gentrifizierung zum Opfer fallen. Aufgrund ihrer Lebensumstände, die durch Analepsen nachvollziehbar gemacht werden, sind sie quasi zum Scheitern prädestiniert: Die Entmietung wird hier zu einem Schicksal, dem man nicht entkommen kann. Nach der Exposition des Romans müssen die Protagonisten den Kampf und die Wohnung verlieren. Die Figuren weisen Merkmale auf, durch die sie einer Gruppe zugehörig erscheinen, sie werden als Typen und nicht Cha36 Ströbele, »Schweigen im Prenzlauer Berg«. 2019. 37 Vgl. Schlögel, Karl: Im Raum lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München: Hanser 2003. 38 Geißler, Cornelia: »Die Entmieteten von Synke Köhler. Im Hamsterrad der Gentrifizierung«. In: Frankfurter Rundschau, 27. 09. 2019. Auf: https://www.fr.de/kultur/literatur/entmieteten -synke-koehler-hamsterrad-fortschritts-13042675.html (Zugriff am 05. 01. 2021). 39 Köhler, Synke: Die Entmieteten. Berlin: Satyr Verlag 2019, S. 31f. (im Folgenden unter der Sigle »E« mit Seitenzahl im Text).

106

Michael Segner

raktere dargestellt. Es fällt auf, dass Köhler hier mit Oppositionen, Übertreibungen und Stereotypen arbeitet. Der Immobilienunternehmer namens Windinger, der den Plattenbau abreißen lassen möchte, ist in der Tat ein windiger Typ, ein Windhund: Er hat eigens zum Zweck der Entmietung die Psychologin Verena Wilke als so genannte Mieterberaterin beschäftigt, um auf die Altmieter Druck auszuüben und sie von einem schnellen Auszug zu überzeugen (E, 17–20). Das Büro mit der euphemistischen Benennung ›Mieterberatung‹ bietet den Mietern zwar Ersatzwohnungen an, allerdings sind diese nicht im heimischen Stadtteil, sondern in einem der Außenbezirke außerhalb des S-Bahn-Gürtels. Die meisten Mieter gehen aus Angst vor einer möglichen Obdachlosigkeit auf die Wohnungsangebote der Mieterberaterin ein. Eine kleine Gruppe von Mietern ist jedoch fest entschlossen, gegen die Entmietung, »die Verdrängung, die Versnobung, letztendlich die Auslöschung des Kiezes« (E, 32) Widerstand zu leisten. Sie fürchten Opfer der Gentrifizierung und damit der Verwestlichung ihres Kiezes zu werden. Rentner Dieter Sonntag, der seit Jahrzehnten in dem Haus lebt, malt dystopische Raumverwandlungen aus: »Irgendwann werden die um den Prenzlauer Berg wieder eine Mauer ziehen, damit Unliebsame, Wenigverdiener, Kinderlose, Rentner, Künstler usw. draußen bleiben. ›Gated Community‹ nennen die das dann« (E, 33).

Gescheiterter Widerstand Während Verena Wilke mit ihrem Chef Windinger bereits vorzeitig auf den Erfolg anstößt, läuft einer der widerständigen Mieter, der angegraute DDRRockstar Grozki, zur Höchstform auf. Grozki veranstaltet Aktionen, um auf die Entmietung und den Bevölkerungsaustausch im Prenzlauer Berg aufmerksam zu machen. Zu diesem Zweck lässt Grozki seine alte Band ›Nachtasyl‹ für ein Konzert, das in der Marner Straße vor einer Zuhörerschaft von vielleicht fünfzig Menschen veranstaltet wird, auferstehen (E, 81–84). In den offenen Fenstern stehend variieren die Musiker ihren alten Vorwende-Hit »Vera kaputt«, wobei das Subjekt »Vera« durch immer neue Begriffe aus dem Kontext der KaputtSanierung im Kiez ersetzt wird: ich bin hier, vera darling, kaputt prenzlauer berg kaputt kauf dich kaputt, sauf dich kaputt sanier dich kaputt, trainier dich kaputt (E, 85)

Allerdings scheinen – so die Einschätzung des allwissenden Erzählers – die Performance und die Akteure aus Zeit und Raum gefallen zu sein: »Sie wirkten deplatziert, sowohl in Bezug auf die Fans von Nachtasyl als auch deplatziert im

Neue deutsche Gentrifizierungsromane

107

Prenzlauer Berg, sie wirkten wie Überbleibsel einer längst untergegangenen Zeit, Grozki […] stemmte beide Arme gegen die Fensterseiten, Jesus ohne Kreuz« (E, 81f.). Kurze Zeit darauf finden weitere Protestaktionen auf dem Grundstück vor dem Haus statt: Grozki hatte nach der Entrümpelung des Kellers durch die Abrissfirma aus den Resten der Kellerverschläge hölzerne Grabkreuze gebaut; diese hat er mit Slogans wie »Opfer der Rendite« versehen und als Mahnung an die Bäume, die auf dem Grundstück vor dem Haus standen und von der Abrissfirma abgesägt worden waren, an die Leerstellen gestellt (E, 111). In diesem Ambiente bietet Grozki eine Performance und gibt Interviews (E, 116). Eine weitere, unausgereifte Aktion mit Bannern an der Hausfassade und eine Lautsprecher-Aktion, bei der er das hilflose Mantra »Das ist unser Haus« stammelte, sorgten kaum noch für Aufmerksamkeit. Grozki merkt allerdings, dass er es nicht mehr versteht, seinen Protest in eine klare Richtung zu bringen (E, 117); er »fühlte sich seiner Bühne und damit seiner Energie beraubt« (E, 117). Einst lieferte Grozki den Soundtrack für den Prenzlauer Berg der DDR-Zeit, der in den 1970er und 1980er Jahren ein Zentrum der Opposition war. Mit der Bedeutungsveränderung des Ortes seit der Wiedervereinigung ging auch ein Bedeutungsverlust der Akteure einher. So anachronistisch und veraltet wie der Auftritt der Band »Nachtasyl« erscheint auch der Plattenbau aus DDR-Zeiten mit seinen Hausbewohnern, die mit ihren DDR-Biographien nicht mehr zur Zeit und zu dem gewandelten Ort passen. Trotz eines erwirkten Baustopps schreitet die Entmietung mit raschen Schritten voran: Gasleitungen werden insgeheim entfernt, das Wasser wird abgestellt und die unablässig offenstehenden Türen und Fenster der mieterfreien Wohnungen verwandeln das Haus in einen zugigen winddurchtränkten, baufälligen Torso. In dieser Phase beginnt die kleine Widerstandsgemeinschaft sich sukzessive aufzulösen. Der erste, der seine Felle ins Trockene bringt, ist der Protagonist Markus Armreiter. Er war bereits kurz nach dem Einsetzen der Abrissarbeiten zu seiner Freundin übergesiedelt. Nun droht der selbstbewusste Journalist aus dieser komfortablen Situation heraus der Mieterberaterin mit einem großen Enthüllungsartikel und einem kritischen Fernsehbeitrag über die Gentrifizierer im Kiez. Während des Verhandlungsduells mit Verena Wilke in einem angesagten Restaurant am Kollwitzplatz, dem Forum Romanum des Prenzlauer Bergs, spielt er seine Karten geschickt aus und signalisiert seine Auszugsbereitschaft für eine fünfstellige Summe; Armreiter »kam […] sich vor wie in einem Mafia-Film« (E, 153). Und es sollte nun auch nur noch eine Frage der Zeit sein, bis auch der tragische Rebell Grozki sich auf ein Gespräch mit der Mieterberaterin einlassen würde, um für sich und für seine Geliebte Kathleen finanzielle Abfindungen zu verhandeln.

108

Michael Segner

Die Letzten machen das Licht aus Eine weitere Figur des Romans, Rentner Dieter Sonntag, dessen Frau mittlerweile aufgegeben hatte und mithilfe ihres Sohnes fortgezogen gezogen war, lebt nun allein in dem »Geisterblock« (E, 214). Er verbringt die durchwachten Nächte mit Betrachtungen über seine Jugend und sein Leben in der DDR. Er beklagt die Veränderungen des Milieus: »Früher hatte Geld nicht gezählt, da hatten Beziehungen gezählt. […] Die Leute waren sich gleicher. Akademiker kamen aus Arbeiterhaushalten. Er kam aus einem Arbeitshaushalt« (E, 220). Er hatte es vom Waldarbeiter zum Professor gebracht. Aber die Verhältnisse hatten sich geändert, auf dem Gebiet der ehemaligen DDR und ganz besonders im Prenzlauer Berg. »Heute werden die Kasten immer undurchdringlicher«, stellt Dieter resigniert fest, »jede Kaste passt auf, dass niemand hineindrängt. Die Hartzer sind die Unberührbaren« (E, 220). In dieser letzten Nacht in seinem Zuhause läuft Dieters Leben wie ein Film vor ihm ab; der Erzähler verwendet zur Verstärkung dieses Effekts die erlebte Rede. Das Bild von dem Leben, das noch einmal wie ein Film vor einem abläuft, ist verbunden mit den Gedanken vor dem Tod, den letzten Eindrücken vor dem Sterben. Mit seinem Heim verliert Dieter den Raum, an dem er sich und sein Leben verortet. Die Wohnung und die Sachen darin sind eng mit seinem einstigen Leben in der DDR und den vielen Erinnerungen daran verknüpft. Die Dinge aus der Wohnung, wie Möbel, Fotos, Alben, ein Herbarium, kann er zwar als mobile Dinge mit sich nehmen; sie symbolisieren die materielle Kultur eines Lebens in der DDR. In der neuen Umgebung müsste Dieter die Dinge dann jedoch neu einordnen und bewerten. Die Wohnung allerdings als »immobiles Ding«40 muss zurückbleiben und existiert nach dem Abriss des Hauses nicht mehr, genauso wenig wie sein gelebtes Leben im Prenzlauer Berg. Die letzte Nacht in dem Haus erlebt Dieter somit als Nahtod- oder Sterbeerfahrung. Die Verdrängung in die Außenbezirke bedeutet für ihn das Hinübergleiten in den sozialen Tod und die Auslöschung seiner bisherigen Existenz. Die Menschen aus dem Osten werden durch die Gentrifizierung aus dem Prenzlauer Berg aussortiert und vertrieben. Die Immobiliengesellschaften bieten ihnen gezielt die Umsiedlung in die Außenbezirke oder nach Brandenburg an, also weit weg von den Innenstadtbereichen Berlins. Die alteingesessenen Einwohner wie Grozki oder Dieter Sonntag, der es in der DDR sogar vom Arbeiter zum Professor gebracht hatte, passen nicht zum Lifestyle im gentrifizierten Prenzlauer Berg. Selbst der ergraute Rockstar Grozki scheint aus der Zeit gefallen 40 Stuhlmann, Andreas: »›Du sollst in Häusern wohnen, die du nicht gebaut hast‹«. In: Bischoff, Doerte/Schlör, Joachim (Hrsg.): Dinge des Exils. Exilforschung. Ein internationales Jahrbuch. 31/2013. edition text + kritik: München 2013, S. 55.

Neue deutsche Gentrifizierungsromane

109

zu sein. Seine Aktionen zeigen höchstens noch bei einigen Gleichaltrigen aus dem ehemaligen DDR-Oppositionsmilieu mit ähnlichen Lebenserfahrungen Wirkung, und auch das nur für die berühmten fünfzehn Minuten der Aktion. Köhlers Geschichte von dem gescheiterten Widerstand der Bewohner in einem Plattenbau bietet schon aufgrund der stereotypen Figuren und wegen der klaren Einteilung in Gut und Böse ein schnell vorhersehbares Ende.41 Verwunderlich ist zudem auch nicht, dass den Protagonisten kein Happy End beschert ist. Die einzige wirkliche Überraschung ist, dass die von der Immobiliengesellschaft beauftragte Psychologin Verena Wilke in dem geräumten Abrisshaus Selbstmord begeht. Allerdings scheint diese Handlung, auf die nichts hindeutete, nicht zu der abgeklärten, kühlen Erfolgsfrau zu passen. Freilich erfüllt sich dadurch die Katharsis: Die Antagonistin reinigt sich nach ihrem Sieg von der Schuld durch Selbsttötung. Betrachtet man das Personeninventar in Köhlers Text, so ist herauszustreichen, dass es sich bei ihren Figuren fast ausschließlich um Menschen handelt, die schon zur Wendezeit Brüche in ihren Biographien hinnehmen mussten und sich mühsam nach der Wiedervereinigung zurechtzufinden hatten. Für viele war damit der Verlust der Arbeitsstätte und sozialer Abstieg verbunden. Die Nachbarn und der Kiez waren oft noch stabilisierende Faktoren in einer Welt der Umbrüche und Brüche. Zwanzig Jahre später trifft eine zweite Welle des sozialen Kahlschlags auf diese Menschen. In ihrem postkatastrophischen Szenario schildert Köhler, die selbst aus dem Osten stammt, den Untergang eines über Jahrzehnte gewachsenen Biotops, die Auslöschung der Spuren sowie die Ausund Umsiedlung der Bewohner des alten Prenzlauer Bergs. Die Figuren in Köhlers Roman »Die Entmieteten« werden quasi aus dem innerstädtischen Raum vertrieben, manche versuchen dabei ihr Fell so teuer wie möglich zu verkaufen. Am Ende bleiben alle auf der Strecke, sogar die Mieterberaterin Verena Wilke, nur die Heuschrecke Windiger fährt weiter, zum nächsten Spekulationsobjekt. Synke Köhler beschreibt in ihrem Roman, wie die Entmietungsstrategien der Immobilienspekulanten funktionieren, und berichtet damit aus ihrem unmittelbaren Erfahrungsbereich, sie war nämlich, während sie noch an ihrem Roman arbeitete, selbst von Verdrängung bedroht. Synke Köhler wollte, so sagt sie in einem Interview für den Tagesspiegel, mit ihrem Buch vor allem »auf die Gefahren eines vollkommen unregulierten Wohnungsmarktes hinweisen«.42

41 Porombka, Wiebke: »Strich durch die Rechnung«. In: FAZ, 30. 11. 2019. 42 Steiner, Eva: »Schicksale des harten Berliner Wohnungsmarkts«. In: Der Tagesspiegel, 04. 11. 2019. Auf: https://www.tagesspiegel.de/berlin/roman-die-entmieteten-von-synke-koehler-sc hicksale-des-harten-berliner-wohnungsmarkts/25184860.html (Zugriff am 03. 01. 2021).

110

Michael Segner

Köhler zeigt die dramatische, unhaltbare Situation auf dem Wohnungsmarkt aus der Perspektive der ersten Opfer. Die kleine Hausgemeinschaft in dem Plattenbau, bestehend aus einem Musiker, Rentnern, Studenten, Geringverdienern, Freiberuflern, Arbeitslosen, bildet einen Mikrokosmos des alten Prenzlauer Bergs. Mithilfe dieser Figuren macht Köhler literarisch erfahrbar, wie es den alteingesessenen Einwohnern ergeht, wenn ihr Kiez gentrifiziert wird. Köhlers Protagonisten sind tragische Helden, die nach kurzem Aufbäumen am Lauf der Dinge, der »natürliche(n) Entwicklung« bzw. dem »Wandel« des Kiezes,43 scheitern. Die Welt dieser Don Quijotes wird mit ihrem Wohnhaus vom Stadtplan ausradiert, sozusagen gelöscht, damit der Ort als leerer Raum neu beschrieben werden kann; der Raum wird durch eine Neubesiedlung umgewertet und erfährt in der Folge eine Aufwertung. Was für die einen Stadtteilentwicklung, Modernisierung und Verbesserung der Lebensqualität bedeutet, ist für die ursprünglichen Bewohner des Prenzlauer Bergs in der Regel ein existenzerschütterndes Drama: Entwurzelung und Verlust des alten sozialen Umfeldes. Es ist Köhler gelungen, den Widerstand gegen die Gentrifizierung des traditionsreichen Stadtteils in die Gegenwartsliteratur einzubringen und auf diese Weise den allerersten Opfern dieser urbanen Transformationsprozesse Gesichter zu geben. Das Szenario in Köhlers Beschäftigung mit dem Phänomen der Gentrifizierung ist als Folie auf andere Orte, auch transnational, übertragbar.

Fazit Während Synke Köhler das Medium Literatur benutzt hat, um auf die Folgen der Gentrifizierung für die ursprüngliche Bevölkerung und auf den demographischen Austausch im Prenzlauer Berg aufmerksam zu machen, stellt Stelling in ihren Romanen »Bodentiefe Fenster« und »Schäfchen im Trockenen« eine andere Seite der Gentrifizierung vor. In ihren Büchern stehen die aus dem Westen zugewanderten Bewohner des Prenzlauer Bergs und ihre Wohnformen im Mittelpunkt. Stellings Protagonisten sind allesamt Menschen aus dem ökolinken Milieu, die versuchen, sich in dem ehemaligen Sanierungsbezirk ihren Traum vom grün-alternativen, kreativen »urban village« zu erfüllen. Als neue Bauherren tragen sie allerdings mit ihren Projekthäusern und dem milieutypischen Lebensstil, den sie dem Viertel verordnen, wesentlich zur Gentrifizierung des Kiezes bei. Ja, man kann sagen, auch Vertreterinnen und Vertreter des Selbsterfah43 Von einer natürlichen Entwicklung spricht der Ostberliner CDU-Mitglied Phillip Lengsfeld, Sohn der DDR-Bürgerrechtlerin Vera Lengsfeld. In: Lengsfeld, Phillip: »Es gibt keine Verdrängung in Prenzlauer Berg. Gentrifizierung ist ein Kampfbegriff«. In: Der Tagesspiegel, 17. 01. 2020. Auf: https://www.tagesspiegel.de/berlin/polizei-justiz/gentrifizierung-ist-ein-kampfbegri ff-es-gibt-keine-verdraengung-in-prenzlauer-berg/25444316.html (Zugriff am 05.01. 2021).

Neue deutsche Gentrifizierungsromane

111

rungsmilieus sind Gentrifizierer, nicht nur die klischeehaften Immobilienhaie oder Banker. Die Zusammensetzung der Bewohnerschaft in dem Projekthaus »K23« ist im Gegensatz zum Anspruch der Projektgründer nicht durchmischt, sondern eher homogen, und so steht der Mikrokosmos in der »K23« für eine unglückliche Entwicklung im gentrifizierten Prenzlauer Berg. Stelling liefert in ihren Texten eine Zustandsbeschreibung des Milieus und zeigt die Gefahr der Verdrängung von denjenigen, die nicht ins Raster der neuen Bürgerlichkeit passen oder sich eine Wohnung in dem gewandelten Ortsteil nicht mehr leisten können, auf. In ihrem Text »Schäfchen im Trockenen« macht Stelling die Furcht der in der zweiten Phase Zugezogenen vor der Verdrängung hinter den S-BahnRing, d. h. die Furcht vor dem gesellschaftlichen Tod, zum Gegenstand der literarischen Auseinandersetzung.44 Stelling stellt damit die Verhältnisse in der dritten Phase der Gentrifizierung in den Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Köhler und Stelling liefern zwei Seiten der Medaille: In dem Text von Köhler stehen die Gentrifizierten und ihre Verdrängung aus dem innerstädtischen Raum im Vordergrund. Bei Stelling erhalten wir tiefe Einblicke durch bodentiefe Fenster in die Welt der Gentrifizierer der zweiten und dritten Phase und erfahren nebenhin, dass auch für die in der zweiten Phase Zugezogenen bereits die Gefahr der Verdrängung besteht. Die Gentrifizierung scheint eine Spirale in Gang zu setzen, deren Ende längst nicht in Sicht ist. In Anbetracht der drohenden Homogenisierung sowohl der In-Viertel als auch der Randbezirke scheinen gesellschaftliche Alpträume wie Ghettoisierung und die Abschottung in Gated Com-

44 Die Wohnungsfrage und die Gentrifizierung treten bei der Rezeption von Stellings Romanen mittlerweile zugunsten anderer Aspekte in den Hintergrund. In einigen Besprechungen oder Abhandlungen wird auf die Milieukritik und die soziale Wohnungsfrage nur noch am Rande eingegangen. Carolin Ströbele hat in der Zeit die Parole ausgegeben, Stellings Roman sei »nicht – wie in vielen Kritiken zu lesen war – die literarische Antwort auf die Gentrifizierung in deutschen Städten«, sondern »eine zutiefst sarkastische und tieftraurige Abrechnung mit den Idealen der westdeutschen Nachkriegszeit«. (Ströbele, »Schweigen im Prenzlauer Berg«. 2019). Ströbele liest den Roman »Schäfchen im Trockenen« vor allem als »Ermächtigungsrede« einer »völlig isolierte(n) Frau, entfremdet von der eigenen Familie, den alten Freunden und der eigenen Vergangenheit«. »Schäfchen im Trockenen«, so Ströbele weiter, »ist auch ein Roman über die Selbstermächtigung einer Frau; sagen wir es deutlicher: einer vierfachen Mutter, die gottverdammt nochmal Schriftstellerin sein möchte« (Ibid.). Auch Annika Klanke und Linda Leskau wenden sich in ihrem Aufsatz »Geschlecht, Geld und Gentrifizierung. Überlegungen zu Anke Stellings Roman ›Schäfchen im Trockenen‹« den Gender-Aspekten in dem Roman zu (Klanke/Leskau 2019, 36). Der griffige, alliterarische Titel hat das Geschlecht/ Gender an die erste Stelle gestellt, und so sind es auch die Geschlechtskonstruktionen in Stellings Buch, die hinterfragt werden. Die beiden Kulturwissenschaftlerinnen betrachten den Roman »Schäfchen im Trockenen« durch die Brille der Urban Gender Studies und lesen ihn als das Ringen einer Frau um »die räumliche Legitimierung des Schriftstellerinnendaseins«. (Lengsfeld, »Es gibt keine Verdrängung«. 2020).

112

Michael Segner

munities nicht mehr nur in den Bereich der Dystopien zu gehören.45 Welche Folgen die Entmischung der Städte haben wird, ist noch nicht abzusehen. Die Literatur kann einen Beitrag dazu leisten, gesellschaftliche Fehlentwicklungen bewusst zu machen, indem sie Themen wie die Mietpreisexplosion, soziale Verdrängung oder Segregation aufgreift und veranschaulicht, wohin die Gentrifizierung der Innenstädte führen kann. Die jungen wütenden Autorinnen und Autoren weisen mit ihren Gentrifizierungsromanen auf eine soziale Schieflage hin. Sie machen bewusst, was lange Zeit auf der Brandmauer eines besetzten Hauses in Kreuzberg zu lesen war: »Die Grenze verläuft nicht zwischen den Völkern, sondern zwischen oben und unten.«46

45 Vgl. dazu Just, Tobias/Dückers, Tanja: »Die Debatte: Ist Gentrifizierung gut für unsere Städte?« In: Focus, 07. 09. 2016. Auf: https://www.focus.de/magazin/archiv/die-debatte-istgentrifizierung-gut-fuer-unsere-staedte_id_5891223.html (Zugriff am 08. 01. 2021). 46 Staiger, Markus: »Übermalt, ausgeschnitten, entfernt. Politische Wandbilder in Berlin«. Die Tageszeitung, 12. 06. 2014. Auf: https://taz.de/Politische-Wandbilder-in-Berlin/!5040238/ (Zugriff am 30. 12. 2020).

Dieter Stolz (Berlin)

»Widerstand beginnt mit Wahrnehmung« oder Heran an das Leben, Dichter! Dichter! Ein Essay

Nennen wir den in der Überschrift zitierten, an Alfred Döblin genmahnenden Dichter »Ingo Schulze«, die Zeit »jetzt«, den Ort des Geschehens »hier« und umschreiben wir den mit der gewagten Doppeltitel-Kollage bereits skizzierten Ansatz des Schriftstellers wie folgt: Schulze, geboren 1962 in Dresden, steht mitten in der Gesellschaft und tut als kritischer Zeitgenosse das trotz ermutigender Vorbilder noch immer nicht Selbstverständliche: Er mischt sich ein. Er redet Tacheles. Er sagt, was aus seiner Perspektive öffentlich gesagt werden muss. Als Bürger seines Landes, als überzeugter Europäer und aufmerksamer Beobachter des Weltgeschehens, der vom Leben in der DDR geprägt wurde, registriert er auf seine ganz eigene Art politische, ökonomische und soziale Probleme sowie ihr historisches und mentalitätsgeschichtliches Fundament. Und als jemand, der weiß, dass nicht nur die so genannte »gesamtdeutsche« Geschichte kein vom Himmel fallendes Naturereignis ist, sondern jederzeit und überall von Menschen gemacht wird, also im besten Fall veränderbar bleibt, scheut er sich nicht, vor fatalen Weichenstellungen mit globalen Konsequenzen zu warnen und das ist gut so. Ein bereits 2012 publiziertes, aber nach wie vor hochaktuelles Beispiel für viele, ich zitiere aus seinem Essay »Kapitalismus braucht keine Demokratie«: »Jeden Tag ist zu hören, die Regierungen müssten ›die Märkte beruhigen‹ und das ›Vertrauen der Märkte wiedergewinnen‹. Mit Märkten sind vor allem die Börsen und Finanzmärkte gemeint, damit also jene Akteure, die im eigenen Interesse oder im Auftrag anderer spekulieren, um möglichst viel Gewinn zu machen. Sind das nicht jene, die das Gemeinwesen um unvorstellbare Milliarden erleichtert haben? Um deren Vertrauen sollen unsere obersten Volksvertreter ringen?« Weiter heißt es in Ingo Schulzes »Thesen gegen die Ausplünderung unserer Gesellschaft«: Es ist alles so offensichtlich: die Abschaffung der Demokratie, die zunehmende soziale und ökonomische Polarisation in Arm und Reich, der Ruin des Sozialstaates, die Privatisierung und damit Ökonomisierung aller Lebensbereiche […], die Blindheit für den

114

Dieter Stolz

Rechtsextremismus, das Geschwafel der Medien, die pausenlos reden, um über die eigentlichen Probleme nicht sprechen zu müssen, die offene und verdeckte Zensur […] und, und, und. Die Intellektuellen schweigen. Aus den Universitäten hört man nichts, von den sogenannten Vordenkern nichts, hier und da gibt es einzelnes kurzes Aufflackern, dann wieder Dunkel.1

Es werde Licht: Denn nicht nur vereinzelte Schriftsteller sind davon überzeugt, dass es gerade in sich verfinsternden Nachwende- bzw. zur Medien- und Massenhysterie verführenden Pandemiezeiten darauf ankommt, uns alle mit genau diesen und anderen Grundsatz-Fragen zu konfrontieren, sprich: das Verschwinden staatlicher Ordnungen mit menschlichem Antlitz zu konstatieren, schon deshalb am Status quo zu rütteln und nicht zuletzt den eigenen Standpunkt immer wieder zu hinterfragen. Vor diesem Hintergrund stellt Ingo Schulze letztlich die alles entscheidende System-Frage: »Was wollen wir für eine Gesellschaft?« Und so machen sich engagierte Zeitgenossen auf die Suche nach Antworten, ohne in bequeme Selbstironie oder billigen Zynismus zu flüchten. Sie suchen nach neuen Wegen jenseits der allzu oft propagierten Alternativ- oder Zwangsläufigkeit. Ingo Schulze geht dieses Lebens- und Schreibprojekt einerseits als Ausrufezeichen setzender Redner und Essayist an, andererseits mit den Mitteln der eher auf Fragezeichen setzenden Literatur. Beides tut seines Erachtens Not, zumal er als DDR-gebranntes Kind ahnt, dass die »Sprache der Politiker«, die uns vertreten sollten, gar nicht mehr in der Lage ist, die Komplexität der Wirklichkeit zu erfassen: Es ist eine Sprache der Selbstgewissheit, die sich an keinem Gegenüber mehr überprüft und relativiert. Die Politik ist zu einem Vehikel verkommen, zu einem Blasebalg, um Wachstum anzufachen. Alles Heil wird vom Wachstum erwartet, alles Handeln wird diesem Ziel untergeordnet. […] Das gesellschaftliche Ideal wäre der Playboy, der in möglichst kurzer Zeit möglichst viel verbraucht.2

Also sprach der bewusst provozierende Aufklärer, dem es in seinem Hauptberuf um die Bedingungen der Möglichkeit für adäquate poetische Verfahren geht, also um Vielstimmigkeit, nicht um billige Rechthaberei oder banale Erklärungen. Ingo Schulze weiß, eindimensionale Antworten (auch die seinen) sind Sprachkunstwerken, die den Namen verdienen, fremd; selbst tausend Geschichten nie genug; die eine, die alle anderen durch überraschende Perspektiven ergänzt, fehlt immer. 1 Schulze, Ingo: »Thesen gegen die Ausplünderung der Gesellschaft: Kapitalismus braucht keine Demokratie.« In: Süddeutsche Zeitung, 12. 01. 2012. Auf: https://www.sueddeutsche.de /kultur/thesen-gegen-die-auspluenderung-der-gesellschaft-kapitalismus-braucht-keine-dem okratie-1.1255949 (Zugriff am 06. 08. 2020). 2 Schulze, »Thesen gegen die Ausplünderung«. 2012.

»Widerstand beginnt mit Wahrnehmung«

115

Und so setzt der vielseitige Autor vom Stamme Sisyphos, der möglichst Erhellendes über einen bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit erzählen möchte, von Buch zu Buch neu an. Die unerschütterbare Grundlage liefert ihm sein hier hoffentlich zur Kenntlichkeit entstelltes Welt- und Selbstverständnis. Mit anderen Worten, sowohl sein Versuch, Bürgerrechte wahrzunehmen als auch seine literarische Arbeit folgen unter diesem Gesichtspunkt dem gleichen Ansatz. Schulze nutzt demnach Interviews und Podiumsgespräche, den poetologischen Essay, die Erzählung, autobiografische Notizen, das Kinderbuch, vor allem aber wechselnde Spielarten des Romans, um zeitgenössische Leserinnen und Leser vom Veränderungspotenzial des Wirklichkeitssinns und von der Macht der Fiktion zu überzeugen, um ihnen dadurch überlebensnotwenige Phantasie- bzw. Reflexionsräume zu eröffnen. Sein Hauptimpuls ist so alt wie die Menschheitsgeschichte selbst: »Erzähle … erzähle, sage ich mir, sonst wird alles ins Vergessen taumeln. Erzähle, damit der Faden nicht abgeschnitten wird…« Und weil Schriftsteller wie er selbst im Zeitalter der Globalisierung allen Unkenrufen und Selbstzweifeln zum Trotz noch längst nicht ausgestorben sind, ist glücklicherweise kein Ende der Geschichte in Sicht: Literatur ist dafür da, dass man mit bestimmten Erfahrungen nicht allein bleibt, mit Erfahrungen, die nicht im Gespräch oder einer wissenschaftlichen Erörterung sagbar sind, die in ihrer Universalität und Gleichzeitigkeit nur in einer Geschichte, einem Gedicht, einem Roman Ausdruck finden. Literatur ist nicht dafür gemacht, etwas zu erklären, aber sie darf und sollte für eine gesellschaftliche Selbstverständigung genutzt werden. Denn das Bild, das wir uns von unserer Zeit, von unserem Ort machen, hat Einfluss auf das, was wir wollen, was wir tun. In diesem Sinne halte ich diejenige Literatur für die wirksamste, die unsere Welt am differenziertesten beschreibt.3

3 Schulze, Ingo: Tausend Geschichten sind nicht genug: Leipziger Poetikvorlesung 2007. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2008. Weiterführende Literatur: Ingo Schulze: Was wollen wir? Essays, Reden, Skizzen. München: Deutscher Taschenbuch Verlag 2011. Ders.: Unsere schönen neuen Kleider. Gegen die marktkonforme Demokratie – für demokratiekonforme Märkte. München: Hanser Berlin im Carl Hanser Verlag 2012. Ders.: Die rechtschaffenen Mörder. Roman. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2020.

Uwe-K. Ketelsen (Bochum)

Der leere Raum der Globalisierung. Wilhelm Vershofens Finanznovelle »Der Fenriswolf« (1914)

Seit Menschen über sich und ihre Stellung in der Welt nachdenken, entwerfen sie Bilder von der Ökumene. Diese fallen selbstverständlich sehr verschieden aus, je nachdem, was die Zeitgenossen jeweils vom Weltenkreis wahrnehmen, in welcher Weise sie sich darin verorten, welche Interessen ihr Denken leiten und welche Machtstrukturen dieses einschränkend oder erweiternd organisieren. Tief graben sich die (kollektiven) Denkmuster ihrer Zeit und die durch sie geprägten Raumerfahrungen in die Entwürfe dieser Bilder ein. Thomas Morus lässt seinen Raphael Hythladeus eine andere Welt sehen als Geoffrey Chaucer jene 30 Leute, die er auf den Weg nach Canterbury zum Grab des Thomas Becket schickt, oder als die NASA, als sie Neil Armstrong zum Mond fliegen ließ. Der ›moderne‹ Entwurf des Lebens- und Wirkungsraums, den wir mit dem historisch noch relativ jungen Ausdruck ›Globalisierung‹ wachrufen,1 ist ein entschieden anderer als jener des Mittelalters; der Weg von Köln nach Santiago de Compostela mag ähnlich weit und beschwerlich sein wie jener von Berlin nach Trondheim, und doch ist er seinem Konzept nach ein ganz anderer. Diese grundlegende Veränderung der Vorstellungen vom Raum, die sich im Prozess der Säkularisierung seit dem späten Mittelalter und der frühen Neuzeit vollzieht, verengt und erweitert zugleich das Bild von der Welt, in der wir leben;2 dieser Wandel bedeutet eine der wesentlichen epistemischen Voraussetzungen moderner Globalisierungs-Entwürfe. Er wirkt gleichsam wie eine Hintergrundstrahlung aller modernen Vorstellungen von Globalisierung (und selbst noch in deren identitären Gegenbildern). Mit den technischen Neuerungen auf dem Feld der Kommunikation im 19. Jahrhundert, vor allem mit dessen fortschreitender Elektrifizierung seit den Jahrzehnten um 1850,3 ge1 Vgl. Deuerlein, Martin: Das Zeitalter der Interdependenz. Globales Denken und internationale Politik in den langen 1970er Jahren, Göttingen: Wallstein 2020. 2 Vgl. Green, Brian: Die verborgene Wirklichkeit. Paralleluniversen und die Gesetze des Kosmos, Berlin: Siedler 2012, bes. S. 97–134. 3 Vgl. Günther, Hanns: Radiotechnik. Das Reich der elektrischen Wellen, Köln: Herbst 1985 (= Nachdr. der Ausg. Stuttgart: Franckh 1921).

118

Uwe-K. Ketelsen

winnt der globale Raum jene Gestalt, in der wir ihn – zumindest alltagsweltlich – heute noch denken (selbst wenn alte Medien, wie etwa der Brief, weiterhin der Komprimierung von räumlichen Distanzen dienen). Ein Text wie z. B. Wilhelm Vershofens »Der Fenriswolf. Eine Finanznovelle« (1914)4 liefert ein anschauliches Bild vom säkularisierten Raum der Globalisierung, wenn auch ein frühes, oder vielleicht auch gerade, weil es ein frühes ist, also quasi ein aus unserer Sicht proto-globalisiertes.5 Die ›Novelle‹ sticht literarisch nicht besonders hervor, aber sie verdient doch Interesse, weil sie sich exemplarisch in Hinsicht auf neuzeitliche literarische Raumkonzeptionen lesen lässt. Sie erschien zuerst 1913 unter dem sperrigen Titel »Ein Epos aus dem Leben des Kapitals«6 in Fortsetzung ab dem 3. Heft der Kulturzeitschrift »Quadriga«7, die Vershofen (1878–1960) gemeinsam mit seinem Schwager Josef Winckler (1881– 1966) herausgab; die beiden wollten mit diesem Periodikum (in den Fußstapfen des ›Deutschen Werkbundes‹) dazu beitragen, die Sphären von Kunst und Industrie zusammenzuführen,8 oder – wie es im Editorial zum ersten Heft mit kaiserzeitlichem Zungenschlag hieß – »Eichenblätter und Rosenkränze wollen wir in das fliegende Rad der Maschine flechten und um die Bronzestirn der nimmermüden Arbeit.«9 Vershofen fühlte sich durch Neigung und Beruf gedrängt, an dieser epochalen Aufgabe mitzuwirken.10 Er hatte von 1901 bis 1906 u. a. in Bonn und Jena u. a. Germanistik und Volkswirtschaft studiert, war mit einer Arbeit über Shakespeare promoviert worden, arbeitete zunächst als Lehrer, dann als Syndikus bei der thüringischen Spielwarenindustrie. Später saß er für die (linksliberale) DDP in 4 Vershofen, Wilhelm: Der Fenriswolf. Eine Finanznovelle, Jena: Diederichs 1914. (1918 erschien eine norwegische (bei A. Cammermeyer, Christiania), 1934 eine italienische Übersetzung (bei Bocca, Milano); 1922 u. 1931 gab der Deutsche Metallarbeiterverband Ausgaben heraus (Stuttgart: DMV); die letzte nachweisbare Ausg. Nürnberg 1958). – Hier wird die 4. Aufl. Jena: Diederichs 1922, zugrunde gelegt (im Folgenden unter der Sigle »FW« mit Seitenzahl im Text). 5 Vgl. Köster, Werner: Stichwort »Raum, politischer«. In: Ritter, Joachim und Gründer, Karlfried (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Basel: Schwabe 1992, Sp. 122– 131. 6 Die Änderung des Titels ging auf das Konto des Diederichs Verlags und fixierte eine Lesart des Textes, über die der Verf. allerdings aus verständlichen Gründen nicht eben glücklich war. (Der Sage nach droht der F., die Welt zu verschlingen, und wird nur durch einen Betrug gebändigt. Auf dem Buchdeckel ist dementsprechend ein Wolf in expressionistischer Stilisierung zu sehen, der einen wild gestikulierenden Menschen hinunter würgt.) 7 Vershofen, Wilhelm u. Winckler, Josef (Hrsg.): Quadriga. Vierteljahresschrift der Werkleute auf Haus Nyland, 8 Hefte, Jena: Vopelius 1912–1914. 8 Vgl. Breuer, Ulrich: »Weimar in Hopsten? Die Werkleute auf Haus Nyland als literarische Vereinigung«. In: Westfälische Forschungen 4, 1997, S. 117–136. 9 Quadriga, H. 1, S. 4f. 10 Vgl. Bergler, Georg (Hrsg.): Kultur und Wirtschaft. Eine Festgabe zum 70. Geburtstag von Wilhelm Vershofen, Nürnberg: Nauck 1949.

Der leere Raum der Globalisierung

119

der Weimarer Nationalversammlung und wurde schließlich Professor für Wirtschaftswissenschaft in Nürnberg. Ihm schlug eine heftig pulsierende poetische Ader: schon früh veröffentlichte er zusammen mit Winckler und dem angehenden Lehrer Jakob Kneip (1881–1958) einen Band mit Gedichten;11 immer wieder erschienen Prosawerke von ihm, deren bekanntestes der mehrmals nachgedruckte »Fenriswolf« ist. Sein wirtschaftswissenschaftliches Denken kreiste vor allem um die Systematisierung einer Theorie wirtschaftlichen Nutzens und um die Frage der Zusammenführung kapitalistischen Wirtschaftens mit dessen gesellschaftlicher Einhegung; er gilt als einer der Vordenker des ›Ordoliberalismus‹; sein bekanntester Schüler war Ludwig Erhard (1897–1977), der Vater des westdeutschen Wirtschaftswunders der 1950er Jahre. Die eigenwillige Bezeichnung des »Fenriswolf« als eine ›Finanznovelle‹ wie auch die ursprüngliche Angabe, es handele sich um ein in der Welt der Wirtschaft spielendes ›Epos‹, signalisieren nachdrücklich die Absicht, die diskursiven Lücken im Ensemble (ökonomisch, finanzpolitisch, technisch, militärisch etc. fundierter) wirtschaftswissenschaftlicher Redeweisen zu nutzen, um unbeleuchtete Dimensionen ökonomischer Reflexionen zu erhellen und im Gegenzug der in der idealistischen Tradition gefangenen Poesie wirtschaftliche Themen zu erschließen. Das schmale, (in der Ausgabe von 1922) nur 117 Seiten umfassende Bändchen besteht aus 45 zwischen dem 7. Februar und dem 2. Juli 1909 geschriebenen – fiktiven – Geschäftsbriefen nebst 14 Anlagen sowie sieben Telegrammen, in denen ein (wir würden heute sagen) Deal zur internationalen Nutzung norwegischer Wasserenergie ausgehandelt wird. Das beteiligte, seine Ziele durchaus bedenkenlos verfolgende (nota bene männliche) Personal ist überschaubar. Die Schreiben werden im Wesentlichen zwischen wenigen, aber entscheidungsmächtigen und entscheidungsfrohen Personen gewechselt: dem Generaldirektor eines norwegischen, in Christiania (dem heutigen Oslo) angesiedelten hydroelektrischen Konzerns namens Bjarnsen, einem in dessen Aufsichtsrat sitzenden Berliner Bankdirektor Kommerzienrat Heinrich Böhle, dessen Bevollmächtigtem Dr. Walter Vranken, einem norwegischen Informanten Böhles Dr. Vaermland in Trondheim und einem norwegischen Finanzagenten T. B. Sorrelsen in Christiania. In den Schriftstücken geht es – kurz zusammengefasst – darum, bei der anstehenden gesetzlichen Neuregelung der wirtschaftlichen Nutzung norwegischer Wasserkräfte nachhaltig Einfluss auf das norwegische Parlament zu nehmen. Dabei stehen sich nationalistische und sozialistische Kräfte auf der einen und liberale, internationale Finanzinteressen auf der anderen Seite gegenüber. Die Initiative geht zwar von Bjarnsen aus, der internationales Kapital benötigt. 11 Kneip, Jakob, Winckler, Alfred J. u. Vershofen, Wilhelm: Wir drei! Bonn: Röhrscheid u. Ebbecke 1904.

120

Uwe-K. Ketelsen

Aber der Arrangeur im Mittelpunkt eines internationalen Netzwerks ist Böhle. Er organisiert das Engagement französischer, englischer, deutscher und norwegischer Investoren, ermöglicht mit seinen brieflichen Anweisungen eine konkurrenzfähige technische Verbesserung der industriellen Nutzung von Elektrizität, manipuliert die Aktienkurse, greift in die Organisation des norwegischen Finanzmarktes ein und betreibt die nötige klandestine ›Landschaftspflege‹, insbesondere im Bereich der Presse. Wie realistisch diese in den Schriftstücken höchst komprimierte, dramatisch zugespitzte performative Inszenierung eines wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozesses ausgefallen ist12 und wieviel Doku in der Fiktion steckt oder wie schlüssig der Vorgang dargelegt wird, ist in literarischer Perspektive nicht von Belang; auch die wirtschaftstheoretischen Vorstellungen des Autors geben keine sonderlichen Rätsel auf. Er hat nämlich seinen Glauben an den gesellschaftlichen Fortschritt vermittels einer staatlich eingehegten privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung bereits ein Jahr zuvor im ersten Heft der »Quadriga«13 unter dem Titel »Die mittlere Linie« ausgerechnet mit Blick auf die norwegische Energiewirtschaft dargelegt. Die in der ›Novelle‹ geschilderten Machinationen lösen die Wünsche des Verfassers allerdings nicht ein, können das – so wie er die Aktionen angelegt hat und wie die derzeitige politische Situation nun einmal ist (FW, 70) – auch gar nicht (es sei denn, er habe auf die hegelsche List der Geschichte setzen wollen).14 Im historischen Rückblick (und das bedeutet auch: im Blick zu uns hin) ist indes vor allem die literarische Organisation des Textes von Belang. Zwar fällt der Zuschnitt der handelnden Personen traditionell, wenn nicht gar antiquiert aus: im bürgerlichen Gewand agiert das (allerdings recht eindimensional dargestellte) Personal, als sei es shakespeareschen Mord- und Intrigengeschichten entsprungen. Die Erzählweise dagegen ist höchst ›modern‹: Der Text unterwirft die thematisierten wirtschaftspolitischen Entscheidungsprozesse jenem neuzeitlichen Abstraktionsverfahren, das zu den epistemischen Voraussetzungen eines Konzepts von Globalisierung gehört. So erscheinen die Figuren lediglich als Funktionäre innerhalb der Mechanik einer wirtschaftspolitischen Aktion. Falls ihnen überhaupt einmal individuelle, d. h. zufällige Charakterzüge zugestanden werden (so ist Böhle z. B. verheiratet), sind diese glattgeschliffen und der Position ihrer Träger im Geflecht der Aktionen funktional untergeordnet. Erzählt wird auch nicht der wirtschaftspolitische Entscheidungsprozess selbst; dieser taucht 12 Norsk Hydro Rjukan. Auf: https://en.wikipedia.org/wiki/Norsk_Hydro_Rjukan (Zugriff am 2. März 2021). 13 Quadriga H. 1, S. 60–64. 14 Dieser Umstand macht eine andere, nämlich kapitalismuskritische Lektüre des Textes möglich, wie die Umformulierung von dessen Titel seitens des Diederichs Verlags und die Gestaltung des Buchdeckels zeigen.

Der leere Raum der Globalisierung

121

nur indirekt, als Effekt der performativen Aktionen der Beteiligten in der Folge von unpersönlichen, schematisierten Geschäftsbriefen und Zeitungsberichten auf, mit denen ihre Urheber den Gang der Dinge im Sinne der Positionen, die sie vertreten, zu steuern suchen. Der sich als Text-Arrangeur verbergende Erzähler transformiert die eigentliche Handlung in Kommunikationsdaten. Gleichsam im Vorgriff auf spätere Doktrinen der Neuen Sachlichkeit sind diese Schriftstücke bloße Dokumente. Es finden sich darin keinerlei subjektive Spuren etwa ihrer Entstehung oder eines persönlichen Duktus ihrer Verfasser. Am radikalsten aber ist der Raum, in dem die Figuren der ›Novelle‹ gemäß ihren jeweiligen Funktionen in Aktion gesetzt werden, dem Prinzip der Abstraktion, d. h. der Entleerung unterworfen. Die Briefschreiber rufen nichts als eine Reihe von Ortsnamen auf, an denen ihre Sendungen die jeweiligen Adressaten erreichen sollen: Berlin, Kristiania, Trondheim; Zürich, Paris, London, zudem werden einmal beiläufig die USA genannt. Das aber bleiben bloße Namen, sie sind jeder Spezifik entkleidet, außer dass sie clichéhaft Knotenpunkte der internationalen Finanzwelt markieren, an denen deren Agenten ihre Sitze haben. Es würde sich nichts ändern, wenn sie Amsterdam oder Mailand hießen. Auch Norwegen, das Ziel der Transaktionen, bleibt in diesem Raumgefüge ein weißer Fleck; das Land lockt Investoren lediglich an, weil an den dortigen Wasserläufen zu vermarktende Elektroenergie erzeugt werden kann. Bewohnt ist diese Weltgegend in den Augen der Akteure anscheinend nur von Leuten, die an Wasserrechten interessiert sind. Allenfalls können die Damen der handelnden Personen dort Ferien machen. Ansonsten bleibt dieser Raum völlig leer, von allen in Hinsicht auf das Projekt kontingenten Besonderheiten gereinigt; ihn kennzeichnen keinerlei (beispielsweise durch metereologische Zwischenfälle bedingte) Eigenschaften. Insofern ist er auch – etwa im Gegensatz zum Raumkonzept der Kolonialliteratur15 – grenzenlos; alle Bestrebungen, ihn mit Barrieren einzuzäunen, werden als ideologisch (d. h. als sozialistisch bzw. als nationalistisch-völkisch) abgewiesen. Insofern bedarf es zur literarischen Darstellung dieser Leere auch keiner verbalen Repräsentation, nicht einmal einer metaphorischen,16 die bloße Nennung der Ortsnamen in den Briefköpfen reicht aus. 15 Für das Narrativ der Kolonialliteratur ist es konstitutiv, Grenzen zu ziehen, die ein Außen setzen, in dessen Fremde etwa der Expeditionsbericht Breschen schlägt (vgl. z. B. Finke, Reinhard: Karl Peters’ Griff zum oberen Nil. Die deutsche Emin-Pascha-Expedition 1889/90 nach Berichten des Dr. Carl Peters und des Leutnants Adolf von Tiedemann, Norderstedt: BoD 2020) oder der Fotoband koloniale Spots (wie Missionsstationen oder Wegebauten) dokumentiert bzw. lokale Eigentümlichkeiten dem staunenden Auge darbietet (Vgl. etwa Loiseaux, Olivier (Hrsg.): Die Entdeckung der Welt. Frühe Reisefotografie von 1850 bis 1914, München: Prestel 2019). 16 Vgl. Seeber, Hans Ulrich: Globalisierung, Utopie und Literatur. Von Thomas Morus (1516) bis Darcy Ribeiro (1982), Berlin: LIT 2017, S. 114–118.

122

Uwe-K. Ketelsen

Allerdings: der Raum kann am Ende trotz seiner Leere nicht völlig in dieser verschwinden, denn er bleibt in den zielgerichteten kommunikativen Akten, die ihn durchqueren müssen, doch präsent. Diese Verbindungen addieren die globalisierte Welt zu einer Summe von Transiträumen; es knüpft sich ein (aus heutiger Sicht noch ziemlich grobmaschiges) Netz, dessen Struktur an die medientechnischen Bedingungen ihrer Zeit gebunden ist. (Echtzeit ist erst eine Errungenschaft zeitgenössischer Globalisierungskalküle.) Böhle trägt diesen technischen Bedingungen, den Raum zu durchdringen, mit einem Medienmix Rechnung: postalischer Briefverkehr, telegraphische Anweisungen, Quasipräsenz durch Entsendung eines Bevollmächtigten und unmittelbare Präsenz der Entscheidungsmächtigen garantieren je nach Dringlichkeit den Informationsfluss; eine Störung aufgrund unkalkulierbarer Hindernisse im Raum ist nicht vorgesehen, kein Sturm lässt das Postschiff havarieren und kein Briefträger erkrankt. Globalisierung sieht keine Störungen der Durchdringung des leeren Raums vor, in Vershofens fiktiver Geschäftswelt verläuft alles modellhaft wie im Lehrbuch. Aber dieser ausgeleerte Raum ist kein naturgegebenes Faktum, er muss im Konkurrenzkampf geschaffen werden. Besonders die Figur des Kommerzienrats Böhle, des Heros der kapitalistischen Feldschlacht, wendet einige Mühe auf, um das Betätigungsfeld der Investoren opak zu halten. Transparenz ist nicht sein Fall, im Gegenteil. Er arbeitet aufklärenden Pressekampagnen manipulativ entgegen und sucht zugleich seinerseits die Möglichkeiten einer Kontrolle seiner Kommunikationswege einzuschränken, etwa indem er Absprachen per Telegramm möglichst zu meiden sucht, weil dieser Übermittlungsweg technisch schlecht abzusichern ist. So ist es aus seiner Sicht nur konsequent, wenn die Erzeugung von Energie und deren wirtschaftliche Nutzung in ein Kartell eingeschlossen, d. h. den Blicken und damit dem Zugriff der Öffentlichkeit entzogen wird. Der in Böhles Sinn globalisierte Raum verträgt keine uneingeschränkte Öffentlichkeit; Kapital ist scheu. An diesem Widerspruch zwischen dem finanziellen Interesse an leerer Grenzenlosigkeit und der durch das Lechzen nach wirtschaftlichem Erfolg erzeugten Limitierung krankt die ganze Inszenierung Vershofens (und dieser Widerspruch ist bis heute politisch nicht aufgelöst). Eine solche Entwertung der Topografie bedeutet allerdings nicht, dass die Figuren in Vershofens Geschichte quasi berührungslos wie Ballons frei im leeren Raum schwebten und allein ihrem wirtschaftlichen Begehren folgten. Sie agieren nicht ortlos, nur sind die Orte, von denen aus und unter deren Bedingungen sie operieren, nicht topographisch definiert. Die Figuren sind keine Ruhrbarone oder oberschlesische Grubenbesitzer (mehr). In der Welt des Kapitals sind ihre Positionen von allen Zufälligkeiten befreit, sie sind stattdessen gesellschaftlich konstruiert: Die Akteure sind in einem Netzwerk von Personen und Institutionen über ihre Funktionen im Wirtschaftsleben festgelegt (weswegen Böhle das Projekt der

Der leere Raum der Globalisierung

123

Internationalisierung der norwegischen Energieerzeugung auch ohne jede einschränkende Schwierigkeit von Berlin, Paris, London und Kristiania aus lancieren kann). Auch dieses System wechselseitiger Abhängigkeiten ist den Figuren gleichsam schicksalhaft vorgegeben; es ist nur fluider. Oder wie Böhle in einem Augenblick menschlicher Anwandlung einem seiner Kontrahenten schreibt: »Wir planen alle viel und müssen doch der Wucht des Augenblicks gehorchen« (FW, 70).

Ewa Wojno-Owczarska (Warszawa)

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

Einleitung Dank der fortgeschrittenen technologischen Errungenschaften können wir heute Informationen sekundenschnell weltweit übermitteln, ohne politische Grenzen zu respektieren, und unser Wissen mit Mitgliedern unterschiedlicher Kulturen austauschen. Identische Medien werden allenthalben eingesetzt, was sowohl die künstlerische und die wissenschaftliche Kooperation erleichtert als auch unsere Befindlichkeiten in Zeiten einer Pandemie in den Raum stellt. Führende internationale Anbieter versorgen die anspruchsvolle Kundschaft mit immer besseren technischen Produkten, die leicht, schnell und gut zu bedienen sein müssen. Vorbei sind die Zeiten der Abhängigkeit vom Straßenzustand, vom Wetter oder den Grenzsystemen, die die traditionelle schriftliche Kommunikation verzögern konnten. Neue, andersartige Systeme sind entstanden, die uns in Echtzeit mit Usern überall auf dem Planeten verbinden. Doch eine genauere Betrachtung offenbart bei der Verwendung der globalen Medien auch ernstzunehmende Probleme, die wir gern mit einem Mausklick aus dem Bewusstsein drängen. Auf diese Schattenseiten verweisen zahlreiche literarische und filmische Dystopien an der Wende vom 20. ins 21. Jahrhundert. Sind die flüchtigen, oft unverbindlichen Kontakte per Bildschirm das »wahre« Leben? Vermitteln uns die globalen Medien ein reales Bild der Wirklichkeit? Lassen sich aktuelle Krisen in der virtuellen Welt lösen oder müssen wir unserem Gegenüber bei der persönlichen Begegnung ins Auge schauen können? Dieses Bündel von Problemen findet sich zunehmend in dystopischen Visionen, die beobachten, wie unsere Zivilisation aus den Schienen läuft und unsere Realität in den Albtraum driftet. Der Sieg der pseudo-kulturstiftenden Erfindungen des Computers und weiterer globaler Medien zerstört am Ende wohl mehr, als dass er der Menschheit dient. Unsere zunehmende Abhängigkeit von virtueller Präsenz beeinflusst das Empfindungsvermögen und das Verständnis von Identität. Auch künstlerisches Schaffen unterliegt anderen Kriterien. Das Internet lässt zudem viele Türen offen für Zensur, Manipulation und kaum widerrufbare Verleum-

126

Ewa Wojno-Owczarska

dungen. Auf diese Schwächen im Bild der globalisierten Medien und Technologien verweisen an der Wende vom 20. ins 21. Jahrhundert zahlreiche literarische und filmische Dystopien, u. a. der Roman »Blackout« von Marc Elsberg1 (2012), dessen Analyse der vorliegende Beitrag gewidmet ist.2 Zweifellos ist die Nutzung digitaler Geräte heutzutage nicht verzichtbar; überhaupt ist der »Mensch […] gegenwärtig nicht mehr ohne diese Art von Technik wenigstens zu denken«.3 Die künstlerischen Arbeiten der Gegenwart zeigen daher auch positive Beispiele auf, in denen die Rechner die Welt vor dem Untergang retten. In Dan Browns »Inferno« (2013) und der gleichnamigen Verfilmung (2016, Regie: Ron Howard) hilft z. B. der Einsatz der modernen Technik dem US-amerikanischen Professor Robert Langdon, eine Verschwörung aufzudecken, die alles Leben mit einem künstlich konstruierten Virus zu vernichten droht.4 Der alleinige Beweis für die Untat, Notizen in einem Laptop, fällt dem Protagonisten zufällig in die Hände. Hier verhilft der Inhalt der Festplatte dazu, die Terroristen aufzuspüren und zu fassen. Viel häufiger entwerfen heutige Künstler jedoch Szenarien, die die moderne Technik verteufeln. Allein das Datum des Millenniums führte zu der Panik, das weltweite Computernetz könne kollabieren oder durch Cyberangriffe manipuliert werden; ein entsprechendes Szenario liefert u. a. Jon Amiel in seinem Film »Verlockende Falle« (»Entrapment«, 1999). Mit der kriminellen Veränderung von elektronischen Daten und der Identitätsfälschung wird die menschliche Existenz grundlegend gefährdet, wie Irwin Wilders Thriller »Das Netz« (»The Net«, 1995) überzeugend darstellt. Auch in Joshua Ferris’ Roman »Mein fremdes Leben« (»To Rise Again at a Decent Hour«, 2014) sieht sich der Protagonist mit dem Albtraum konfrontiert, dass ein User seine Identität untergräbt.5 In Tony Scotts Action-Thriller »Der Staatsfeind Nr. 1« (»Enemy of the State«, 1998) will die US-amerikanische Sicherheitspolizei NSA ein Gesetz durchbringen, das ihren Überwachungsspezialisten erlaubt, modernste technische Mittel zu nutzen, um den Ruf und die Glaubwürdigkeit jedes beliebigen Bürgers zu ruinieren, der sich ihren Machenschaften widersetzt. Die Computerüberwachung durch Peilsender und Abhörgeräte treibt hier die Menschen in die Enge. Auch im Roman »GRM – 1 Eigentlich: Marcus Rafelsberger, geb. 1967 in Wien. 2 Vgl. Elsberg, Marc: Blackout. München: Blanvalet Verlag 2012 (im Folgenden unter der Sigle »B« mit Seitenzahl im Text). 3 Lötscher, Christine/Zanetti, Sandro: »Die Universität als ästhetisch-digitaler Raum. Ein Gespräch mit Oliver Ruf«. Auf: https://geschichtedergegenwart.ch/die-universitaet-als-aesthe tisch-digitaler-raum-ein-gespraech-mit-oliver-ruf/ (Zugriff am 10. 04. 2021). 4 Vgl. Brown, Dan: Inferno. [Aus dem Amerikanischen von Axel Merz und Rainer Schumacher]. Köln: Bastei Lübbe 2013; Brown, Dan: Inferno. London: Bantam Press 2013. 5 Vgl. Ferris, Joshua: Mein fremdes Leben. [Aus dem Amerikanischen von Marcus Ingendaay]. München: Random House 2016; Ferris, Joshua: To Rise Again at a Decent Hour. New York: Little, Brown and Company 2014.

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

127

Brainfuck« von Sybille Berg (2019), in Großbritannien nach dem Brexit verortet, werden alle Bürgerinnen und Bürger kontrolliert, indem man ihnen einen Chip mit sämtlichen identitätsrelevanten Daten einpflanzt; zudem erhalten sie ein Grundeinkommen.6 Nur vier Kinder, die Hauptfiguren des Romans, widersetzen sich der computergesteuerten Überwachung durch die rechtspopulistische Regierung. Die Angst, die Technik könne die Kontrolle über unsere Existenz übernehmen, mündet in der Gegenwartsliteratur und im zeitgenössischen Kino in immer erschreckenderen Zukunftsszenarien, in denen Maschinen zunehmend eine Bedrohung für Leib und Leben der Bürgerinnen und Bürger sind. In Alex Projas’ »I, Robot« (2004) lehnen sich humanoide Roboter nach einer Software-Aktualisierung mit einer Zentraleinheit für Emotionen gegen die Menschen auf. Nur eine Umprogrammierung kann sie aufhalten. In ihren Werken gehen die Künstlerinnen und Künstler des 21. Jahrhunderts auf die Angst ihrer Zeitgenossen ein, technische Apparate könnten das eigentlich Menschliche unterminieren, insbesondere Gefühle und Fantasie, und schließlich ihre Erschaffer ersetzen. In Spike Jonzes »Her« (2013) verliebt sich ein einsamer Mann in die weibliche Computerstimme einer lern- und gefühlsfähigen Software, was befürchten lässt, dass ein perfektioniertes technisches Instrument emotionale Abhängigkeiten auslösen könnte. Eine ähnliche Vision, in der sich die Grenzen zwischen Realität und virtueller Welt verwischen, entwickelt Raphaela Edelbauer im Roman »DAVE« (2021).7 Auch in diesem Werk wird eine künstliche Intelligenz mit dem menschlichen Bewusstsein eines Romanprotagonisten ausgestattet. Diese Idee verfolgt Luc Besson noch weiter: Der Körper der Titelfigur in »Lucy« (2014) mutiert nach der kriminellen Verabreichung einer Droge in eine Art Supercomputer und löst sich anschließend im Internet völlig auf, eine Dystopie, in der dem Menschen die Identität geraubt wird und die Grenzen zwischen Realität und einem Computerprogramm völlig verschwinden. Der vernichtende Einfluss unserer virtuellen Präsenz, die oft zu Abhängigkeit führt, auf unsere Sensibilität – einschließlich der Kunstwahrnehmung – erweist sich als Auslöser erschreckender Visionen, die eine Zivilisation aus den Angeln heben, die sich auf Realität gewordene Albträume stützt. Betrachtet man diese vor dem Hintergrund der philosophischen Diskurse unseres Zeitalters, wecken die literarischen und filmischen Bilder Assoziationen zu Günther Anders’ »Die Antiquiertheit des Menschen«, einem Werk, in dem der deutsche Philosoph bereits am Anfang des 20. Jahrhunderts vor den verheerenden Folgen des technologischen Fortschritts warnt:

6 Vgl. Berg, Sybille: GRM – Brainfuck. Köln: Kiepenheuer & Witsch 2019. 7 Vgl. Edelbauer, Raphaela: DAVE. München: J. G. Cotta’sche Buchhandlung 2021.

128

Ewa Wojno-Owczarska

Wer heute durch die Maschinen gefährdet ist, ist ja nicht der Handwerker […]; auch nicht nur der Fabrikarbeiter […]; sondern jedermann; und zwar jedermann deshalb, weil jedermann effektiv Konsument, Verwender und virtuelles Opfer der Maschinen und Maschinenprodukte ist.8

Laut François Walter zählt Günther Anders zu einer Strömung der »Philosophie der Angst«. Er sieht ihn als Repräsentanten des Katastrophismus in der deutschen Erkenntnistheorie, die sich dieser Fragestellung etwa zwischen 1970–1980 intensiv zuwandte.9 Auf Günther Anders als einem bekannten Kritiker des technologischen Fortschritts, der außer Kontrolle gerät und sich gegen seinen Erschaffer wendet, beziehen sich im 21. Jahrhundert zahlreiche Autorinnen und Autoren, u. a. der Globalisierungskritiker Ulrich Beck.10 Dieser warnt vor weiteren, bisher unbekannten Gefahren als Folgen der – bereits von Anders diagnostizierten – »Apokalypsen-Blindheit«11 und stellt die »Legitimierung neuer Technologien« in Frage, die sich global durchsetzen und den Menschen in Abhängigkeit von industriellen Vorrichtungen bringen: Durch die Zukunftstechnologien – der Genetik, der Nanotechnologie und der Robotik – öffnen wir ›eine neue Büchse der Pandora‹. Gerade deshalb dürfte es in Zukunft kaum mehr genügen, wenn die Verantwortlichen einer gut gemeinten Forschung und technologischen Entwicklung in der Öffentlichkeit den gesellschaftlichen Nutzen und das geringe ›Restrisiko‹ ihres Vorhabens beteuern.12

In seiner Monografie konstatiert Ulrich Beck zudem den Wandel der Industriegesellschaften in Risikogesellschaften, wo man Vor- und Nachteile bewusst abwäge, statt folgenschwere Katastrophen unbedacht einzuladen; der moderne Mensch plane eindeutig mit Berücksichtigung von Problemen der Zukunft: »Die unkalkulierbaren Bedrohungen werden von der Industriegesellschaft in kalkulierbare Risiken überführt.«13 Bei der Neuauflage seines Werks revidiert der Autor jedoch den Titel: Gegenwärtig hätten sich die Sozialwesen angesichts von Gefahren mit weltweiter Größenordnung in eine »Weltrisikogesellschaft« verändert.14 So schließt der Soziologe, die Regeln der Risikovorbeugung hätten im Globalisierungszeitalter »nur bedingt« Bestand, u. a. bei der Bekämpfung des 8 Anders, Günther: Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. I. Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution. München: C. H. Beck 1956, S. 6. 9 Vgl. Walter, François: Katastrophen. Eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert. Stuttgart: Philipp Reclam jun. 2010, S. 260. 10 Vgl. u. a. Beck, Ulrich: »Von der Antiquiertheit des linearen Fortschrittspessimismus«. In: Ulrich Beck: Weltrisikogesellschaft. 4. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2015 [2008], S. 201–210. 11 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. I. 1956, S. 235. 12 Beck, Weltrisikogesellschaft. 2015, S. 38–39. 13 Ebd., S. 201. 14 Ebd.

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

129

transnationalen Terrorismus, den Elsbergs Roman »Blackout« thematisiert.15 Selbst die supranationalen Institutionen und Sicherheitsapparate versagten hier in einer Gefahr, die sich krakenartig im virtuellen Bereich festsetzt. Gegen Becks Theorie der Risikogesellschaft polemisiert Jean-Pierre Dupuy, der als Vertreter des sog. »aufgeklärten Katastrophismus« gesehen wird. Für den französischen Wissenschaftstheoretiker sind Katastrophen unabwendbare Teile unserer Realität. Deshalb rät er zeitgenössischen Autorinnen und Autoren, unbedingt negative Gesellschaftsbilder in ihre Texte einzubeziehen: »Dieser Entwurf muss genügend katastrophenhaft sein, um abstoßend zu wirken, und glaubwürdig genug, um zum Handeln zu bewegen«.16 Der Plot des Romans »Blackout« entspricht Dupuys Ansatz. Elsberg warnt, im Einklang mit der Theorie des französischen Philosophen, vor einer atomaren Katastrophe mit verheerenden Folgen. Dass eine international angewandte moderne Technik, mit der der Leser vertraut ist, versagen könnte, macht die Handlung aufregend, aber durchaus nachvollziehbar. Zudem sorgt die Angst vor einem Super-GAU für eine Verfestigung der fundamentalen gesellschaftlichen Krise vor dem sog. Blackout. Die Globalisierung von politischen Institutionen und von Technologien führt in Elsbergs imposantem Werk jedoch zum Versagen der Gesellschaften und auch der Individuen, insbesondere in den Wirren der zusammenbrechenden Stromversorgung, was Havarien in Kernkraftwerken und Chaos in der gesellschaftlichen Ordnung auslöst. Auf die negativen Auswirkungen der Globalisierungsprozesse für das Sozialwesen verweist auch Richard Sennett, da die Profitmaximierung insbesondere der weltweit agierenden Konzerne zur Einschränkung der menschlichen Rechte führe. Dieselbe Skepsis widerspiegelt Elsbergs Roman. Beide Autoren verbinden die Kritik an den freien globalen Märkten mit Zweifeln am möglichen Nutzen der Digitalisierung. So stellt Sennett in seiner Monografie »Der flexible Mensch« (»The Corrosion of Character«, 1998) fest: [O]bwohl Produktivität überaus schwer zu messen ist, gibt es zumindest gute Gründe zu bezweifeln, daß die gegenwärtige Epoche produktiver ist als die jüngere Vergangenheit. […] Einige Ökonomen sind sogar der Meinung, bei Hinzunahme aller Kosten der Umstellung auf Computer habe es sogar ein Produktivitätsdefizit gegeben.17

Auch Elsberg ist der Überzeugung, dass in Aussicht gestellte positive Auswirkungen der Globalisierungsprozesse auf Wirtschaft und Sozialwesen sehr fraglich sind. Ebenso wenig hält er die Digitalisierung aller Lebensbereiche für not15 Ebd., S. 267. 16 Walter, Katastrophen. 2010, S. 273; vgl. Dupuy, Jean-Pierre: Pour un catastrophisme éclairé. Quand l’impossible est certain. Paris: Edition du Seuil 2002, S. 57. 17 Sennett, Richard: Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus. Berlin: Berlin Verlag 1998, S. 63; vgl. Sennett, Richard: The Corrosion of Character: The Personal Consequences of Work in the New Capitalism. New York: W. W. Norton & Company 1998.

130

Ewa Wojno-Owczarska

wendig und sinnvoll. Die damit verbundenen Risiken zeitigten keine Hilfe gegen den Cyberterrorismus. Könnte man in Marc Elsbergs dystopischem Roman vielleicht die Erfüllung des Wunschdenkens frustrierter Erdbewohner finden, die sich ohne Rücksicht auf alltägliche Realitäten wie Leistungsdruck, Effizienz und Flexibilität paradiesische Zustände erträumten, in denen das Ende der politischen Strukturen ein entspanntes Leben ermöglichen würde, frei von gesellschaftlichen Zwängen jeglicher Art? Solchen Gedankenspielen erteilt Elsbergs Roman eine Absage: Erfolgreiche Terrorangriffe dürften die menschliche Existenz auf unserem Planeten stark beeinträchtigen, wenn nicht gar zerstören. Vor diesem Problem stehen viele Figuren in zeitgenössischen Dystopien, u. a. die männliche Hauptgestalt im Werk »Blackout«. Elsberg spielt mit Versatzstücken einer imaginierten Zukunft, in der der Treibstoff für die Maschinerie unserer Zivilisation plötzlich nicht mehr zur Verfügung steht, jedoch bezieht er sich auch auf den Zustand der globalen Gesellschaft im neuen Jahrtausend. Dieser Beitrag will zeigen, dass das international gleichgeschaltete Stromnetz im Roman »Blackout« als Metapher für die grenzüberschreitende Kooperation steht, die in Krisenzeiten versagt, was der österreichische Schriftsteller als negative utopische Globalisierungsfolge wertet.

Zu Marc Elsbergs Roman »Blackout« (2012) Angesichts der Saturiertheit des Kunstmarkts mit kineastischen und literarischen Desasterbildern, von der Sintflut über archaisch wirkende Dürreperioden bis hin zu einer neu hereinbrechenden Eiszeit, müssen den Autorinnen und Autoren immer neue Themen einfallen, um die zeitgenössische »Lust«18 an Sensationen zu sättigen. Wie Norbert Honsza treffend bemerkt, kann Literatur jedoch »nicht nur Reservat für süffisantes Geschmäcklertum sein, sondern muß zugleich wichtiges Dokument der Zeit bleiben.«19 Elsbergs Dystopie erfüllt diese Anforderung. Im Vergleich mit weiteren literarischen und filmischen Dystopien ist der Plot im Roman »Blackout« zwar beängstigend, jedoch nicht realitätsfremd. Bereits 1965 kam es in den USA und Kanada zu einem Stromausfall, der das Leben von 30 Millionen Menschen paralysierte. 90 Millionen Menschen waren von einem Stromausfall 1999 in Brasilien betroffen. 2003 zerstörte ein Brand in Atlanta ein wichtiges elektrisches Kabel. Eine Kettenreaktion schaltete 18 Vgl. Alewyn, Richard: »Die Lust an der Angst«. In: Richard Alewyn: Probleme und Gestalten. Essays. Frankfurt am Main 1974, S. 307–330; Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. [Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser]. München/Wien: Carl Hanser Verlag 2003, S. 28– 29. 19 Honsza, Norbert: Deutschsprachige Literaturgeschichte der Gegenwart. Warszawa: Pan´stwowy Instytut Wydawniczy 1989, S. 5.

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

131

16 Atomkraftwerke in Kanada und den Vereinigten Staaten automatisch ab. Im selben Jahr ereignete sich Vergleichbares in Italien: Eine Überhitzung wegen hoher Lufttemperaturen führte dazu, dass weite Landstriche für mehrere Stunden keinen Strom hatten. Ein Szenario, wie das in Elsbergs Roman, erscheint durchaus im Rahmen des Möglichen in einer Zeit des internationalen Technologiewettstreits, in der unser Leben bis ins Detail bereits von Computern, global agierenden Organisationen und grenzüberschreitenden administrativen Strukturen determiniert wird. Das Werk »Blackout« präsentiert eine kritische Einschätzung der Weltgesellschaft, deren blinde Technologiegläubigkeit die Menschheit ins Unglück stürzt. Der österreichische Autor äußert hier seine Zweifel am möglichen Nutzen der Digitalisierung und stimmt darin weitgehend mit den Schriften von Jean Baudrillard überein. In »Simulation und Verführung« (»Simulacres et Simulation«) stellt der französische Philosoph fest, mediale Bilder hätten mehr Macht und Wirksamkeit als die Wirklichkeit selbst.20 Zeichen und Bezeichnetes hätten jeglichen Zusammenhang verloren; wir seien nurmehr mit »Simulakren« konfrontiert.21 In unserer Epoche könne man nur noch Ideen, Phantasmen, Bilder und Träume reproduzieren.22 Auch ein unabhängiger Wertekanon liege nicht 20 Vgl. Baudrillard, Jean: Simulacres et Simulation. Paris: Galilée 1981; Baudrillard, Jean: Simulation und Verführung. München: Fink 1994. 21 Jean Baudrillard stellt fest: »Heutzutage funktioniert die Abstraktion nicht mehr nach dem Muster der Karte, des Duplikats, des Spiegels und des Begriffs. Auch bezieht sich die Simulation nicht mehr auf ein Territorium, ein referentielles Wesen oder auf eine Substanz. Vielmehr bedient sie sich verschiedener Modelle zur Generierung eines Realen ohne Ursprung oder Realität, d. h. eines Hyperrealen. Das Territorium ist der Karte nicht mehr vorgelagert, auch überlebt es sie nicht mehr. Von nun an ist es umgekehrt: (PRÄZISION DER SIMULAKRA:) Die Karte ist dem Territorium vorgelagert, ja sie bringt es hervor. Um auf die Fabel zurückzukommen, müßte man sagen, daß die Überreste des Territoriums allmählich Ausdehnung und Umfang der Karte annehmen. Nicht die Karte, sondern Spuren des Realen leben hier und da in den Wüsten weiter, nicht in den Wüsten des REICHES, sondern in unserer Wüste, in der Wüste des Realen selbst. […] Das Imaginäre der Repräsentation, das im verrückten Projekt der Kartographen, ein ideales Nebeneinander von Karte und Territorium zu erzeugen, gipfelt und sogleich zugrunde geht, verschwindet in der Simulation – ihre Operation und Maßnahmen sind nuklearer und genetischer Natur und keineswegs spiegelartig und diskursiv. Mit der Simulation verschwindet die ganze Metaphysik. Es gibt keinen Spiegel des Seins und der Erscheinungen, des Realen und seines Begriffs mehr. […] Die Produktion des Realen basiert auf verkleinerten Zellen, Matrizen und Erinnerungen, auf Befehlsmodellen – und ausgehend davon läßt es sich unzählige Male reproduzieren. Es muß nicht mehr vernünftig sein, da es nicht mehr an irgendeiner idealen oder negativen Instanz gemessen wird. Es ist hyperreal, Produkt einer sich ausbreitenden Synthese von kombinatorischen Modellen in einem Hyperraum ohne Atmosphäre.« (Baudrillard, Jean: »Die Präzision der Simulakra«. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 7–10) 22 Vgl. Baudrillard, Jean: Przejrzystos´c´ zła. Warszawa: Sic! 2009, S. 5; Baudrillard, Jean: Die Transparenz des Bösen. Berlin: Merve Verlag 1992; Baudrillard, Jean: La Transparence du Mal. Essai sur les phénomènes extrêmes. Paris: Galilée 1990.

132

Ewa Wojno-Owczarska

mehr vor. Der Autor kommt in seinen Schriften zu dem Schluss, dass »es keine Wahrheit, keine Referenz und keinen objektiven Grund mehr gibt«.23 In einer von den modernen Medien bestimmten Welt beherrsche die »Hyperrealität« bereits alle Lebensbereiche, wobei ein Bezug zum Realen kaum zu rekonstruieren sei. Dies habe u. a. die Vernachlässigung moralischer Maßstäbe zur Folge. In seinem Essay »Das perfekte Verbrechen« stellt Baudrillard fest: Der Leichnam des Realen ist nicht aufgefunden worden, denn das Reale ist nicht tot, es ist schlicht und einfach verschwunden. Es ist ins Virtuelle abgeglitten. Und wir sind an einen Punkt gelangt, an dem die Frage nach dem Realen, nach dem Referentiellen, nach dem Subjekt, nach der Freiheit nicht einmal mehr gestellt werden kann. Es handelt sich also tatsächlich um eine Endlösung – nicht mehr um die physische der Vernichtungslager, sondern um die wörtliche und metaphorische einer gesamten Kultur, die […] ihr eigenes Ende, ihren eigenen Tod, ihre eigene Realität bereits überschritten hat. […] Wenn ich sage, die Realität ist verschwunden, dann meine ich damit das Prinzip der Realität samt dem ganzen damit verbundenen Wertesystem. […] All das verschwindet bei der Vernichtung des Realen. Das ist das perfekte Verbrechen.24

Laut Baudrillard ignoriert der westliche Mensch in diesem »virtuellen Zeitalte[r]« die Tatsache, dass die krankende Zivilisation in den Abgrund steuert.25 Mit dem Zerfall der moralischen Werte trete auch die gesamte gesellschaftliche Entwicklung auf der Stelle; wenn etwas geschehe, dann ausschließlich als Simulation. »Raum und Zeit« seien »durch nichts mehr getrennt, Anfang vom Ende«; »eine Art gegenseitiger Vernichtung« finde statt, bei der beide traditionellen Pole ineinander stürzen: IMPLOSION […] des Sinns. An diese Stelle tritt die Simulation. Überall dort, wo sich die Unterscheidung zweier Pole nicht mehr aufrechterhalten lässt, ganz gleich auf welchem Gebiet (Politik, Biologie, Psychologie, Medien), betritt man das Feld der Simulation und absoluten Manipulation – man ist nicht passiv, man kann vielmehr aktiv und passiv nicht mehr unterscheiden.26

Die Entfremdung des Einzelnen im Zeitalter der digitalen Medien beschreibt Baudrillard als »Verwirklichung eines lebendigen Satelliten«, in der »sich jede Person unter der Kontrolle einer hypothetischen Maschine sieht, die in einer vollkommenen und fernen Souveränität isoliert ist, in unendlicher Distanz von

23 Baudrillard, Jean: »Die göttliche Referenzlosigkeit der Bilder«. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 10–16, hier S. 11. 24 Baudrillard, Jean: »Das perfekte Verbrechen«. In: Jean Baudrillard: Das perfekte Verbrechen. München: Matthes und Seitz 1996, S. 11–20, hier S. 11–12. 25 Ebd., S. 12. 26 Baudrillard, Jean: »Das Ende des Panoptikums«. In: Jean Baudrillard: Das perfekte Verbrechen. München: Matthes und Seitz 1996, S. 44–51, hier S. 50–51.

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

133

ihrem Ursprungsuniversum«.27 Kennzeichen dieser Epoche sei Hilfslosigkeit des auf sich selbst bezogenen, durch die ihn umgebende virtuelle Welt verwirrten Einzelnen. Der französische Soziologe bemerkt: Natürlich gibt es diesen Willen zum Realen, zur Aktion, zurück zu den Kategorien des Körpers und des Geistes, zu Wille und Begehren, zu allem, was menschlich ist und uns an die Wirklichkeit knüpft. Aber es gibt heute so viele Mittel, diese Sehnsucht einzufangen und sie in Virtualität aufzulösen.28

Während die u. a. in der »Matrix«-Trilogie der Wachowski-Geschwister dargestellte Hyperrealität die Reste des Realen verdrängt, erreicht laut Baudrillard die westliche Zivilisation den Zustand des allmählichen Zerfalls. Anarchie sei, so der französische Philosoph, ein Symptom dieser sozialen Degeneration. Die Reflexion über gesellschaftliche Missstände führt den Soziologen zu der überspitzten Aussage, der Terrorismus sei »überall, als ein Virus oder Urszene und als letztes Stadium der Globalisierung«,29 da alle Verbindlichkeiten und Maßstäbe, auch die ethischen, im Chaos verloren gegangen seien. Nach Ansicht einiger Autorinnen und Autoren könne die fortschreitende Globalisierung diesen Eindruck nur noch verstärken: Um den Erdball zirkulieren im 21. Jahrhundert nicht nur Waren-, Geld- und Kommunikationsströme sowie toxische und kontaminierte Substanzen in immer größerer Geschwindigkeit, sondern auch Menschen (als Arbeitsmigranten, Touristen, beruflich Reisende oder Flüchtlinge). Zu den problematischen Auswirkungen dieser Turbo-Zirkulation liegen zahlreiche Daten, Analysen und Prognosen vor.30

Auch die omnipräsente Folge der globalen Digitalisierung, der stets zugängliche und unbegrenzte virtuelle Raum, erregt bei vielen Zeitgenossen die Befürchtung, er könne kriminellen und terroristischen Gruppierungen als Einfallstor für die Ausführung ihrer Verbrechen dienen. Dieses Problem greift Marc Elsberg in seinem Roman »Blackout« auf: Hackerattacken, die sog. »Kritische Infrastrukturen«31 sabotieren, stehen hier erst am Ausgangspunkt einer Reihe von 27 Baudrillard, Jean: »Illusion, Desillusion, Ästhetik«. In: Illusion und Simulation. Begegnung mit der Realität. Hrsg. von Stefan Iglhaut/Florian Rötzer/Elisabeth Schweeger. Ostfildern: Cantz 1995, S. 90–101. 28 Festenberg, Nikolaus von/Seidl, Claudius: »›Der Feind ist verschwunden‹. Interview mit Jean Baudrillard«. Auf: https://www.spiegel.de/politik/der-feind-ist-verschwunden-a-de20d391-0 002-0001-0000-000013487866 (Zugriff am 12. 04. 2021). 29 Baudrillard, Jean: »Die Gewalt des Globalen«. In: Jean Baudrillard: Der Geist des Terrorismus. Wien: Passagen Verlag 2002, S. 37–64, hier S. 63. 30 Hille, Almut/Jambon, Sabine/Meyer, Marita: »Vorwort«. In: Globalisierung – Natur – Zukunft erzählen. Hrsg. von Almut Hille/Sabine Jambon/Marita Meyer. München: IUDICIUM Verlag 2015, S. 7–9, hier S. 7. 31 Dazu zählen u. a. »Informationstechnik und Telekommunikation, Transport und Verkehr, Energieversorgung oder das Gesundheitswesen. Diese sind aufgrund ihrer internen Komplexität sowie der großen Abhängigkeit voneinander hochgradig verletzbar. Terroristische

134

Ewa Wojno-Owczarska

Desastern, die ein Romangeschehen vorantreiben, das nicht linear abläuft, sondern im Stil von kinematographisch geordneten Episoden vorgeht.32 Durch die Dramatik dieser Szenen aus der Realität der grenzenlosen Welt weist der Autor nach, welches Chaos der modernen Gesellschaft droht, und stimmt darin weitgehend mit den Schriften von Jean Baudrillard überein. Ausgehend vom Bereich der globalen Medien und der Verzahnung von Technologien übt Elsbergs Text Kritik an der internationalen Zusammenarbeit im 21. Jahrhundert. Der österreichische Schriftsteller ist mit Jean Baudrillard der Ansicht, schlechte soziale und wirtschaftliche Möglichkeiten der menschlichen Existenz weltweit als eine Krankheit sehen zu müssen, die als Terrorismus symptomatisch Form annimmt. Beide Autoren interpretieren die Ausübung von rücksichtsloser Gewalt als Folge des maßlosen Zorns von enttäuschten Globalisierungsverlierern und somit, auch im Roman »Blackout«, als ein »letztes Stadium der Globalisierung«.33 Die modernen Kommunikationsmittel ermöglichten transnationalen Angreifern in Elsbergs Werk schnelle und gezielte Terrorakte, denen die in Regelwerke gebundenen, zentral gesteuerten politischen Institutionen nicht gewachsen seien, auch wegen ihres mangelnden Willens zu uneingeschränkter Kooperation. Im Roman »Blackout« wird die männliche Hauptfigur, ein italienischer Informatiker, das Opfer eines Verkehrsunfalls, da die Ampeln nicht mehr funktionieren, und muss im Krankenhaus behandelt werden. Dieser singuläre Katastrophenfall weitet sich aus in einen Ausnahmezustand, der wie ein Chaos, d. h. wie die Kumulation bekannter Störfälle wirkt. Gleich mehrere Kernkraftwerke geraten in eine kritische Lage, weil es aufgrund von Schwierigkeiten mit der Notstromversorgung zum Versagen der Kühlsysteme kommt, als hätte die Europäische Union nichts aus den vergleichbaren Störfällen 1986 in Tschernobyl und 2011 in Fukushima gelernt. Einen Schwerpunkt des Romans bildet zudem die angedeutete, fast an Hybris grenzende Selbstgewissheit der deutschen Bürgerinnen und Bürger, ihre Sicherheit könne durch nichts erschüttert werden, eine Überzeugung, die im Werk »Blackout« nicht nur durch die tragischen Folgen des Anschläge, Naturkatastrophen oder besonders schwere Unglücksfälle haben nicht erst im zurückliegenden Jahrzehnt offenkundig gemacht, welche weitreichenden Folgen die Beeinträchtigung oder der Ausfall Kritischer Infrastrukturen für das gesellschaftliche System insgesamt haben können«. (Petermann, Thomas [et al.]: »Gefährdung und Verletzbarkeit moderner Gesellschaften – am Beispiel eines großräumigen Ausfalls der Stromversorgung«. In: TAB-Arbeitsbericht Nr. 141. Auf: https://www.tab-beim-bundestag.de/de/untersuchungen /u137.html, Zugriff am 21. 03. 2021; vgl. Burdziej, Aleksandra: »Zwischen Unterhaltung und ›Wissenschaft‹. Zum Katastrophennarrativ in Marc Elsbergs Roman Blackout«. In: Germanica Wratislaviensia (144), 2019, S. 113–127, hier S. 120) 32 Vgl. u. a. Löser, Philipp: Mediensimulation als Schreibstrategie. Film, Mündlichkeit und Hypertext in postmoderner Literatur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1999; Mecke, Jochen/Roloff, Volker (Hrsg.): Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur. Tübingen: Stauffenburg 1999. 33 Baudrillard, »Die Gewalt des Globalen«. 2002, S. 63.

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

135

Cyberangriffs, sondern auch durch weitere brennende Probleme der Zeit, wie z. B. die Migrationskrise oder die tragische Lage todkranker Menschen, ad absurdum geführt wird. Der Roman nimmt die Stimmung unserer durch Krisen geplagten Epoche auf, die die Welt zunehmend ins Chaos versinken sieht. Der Protagonist Piero Manzano erkennt, dass der weltweite Stromausfall auf einen Terrorangriff im virtuellen Bereich zurückgeht, der flächendeckend zum Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung führt, bald auch in den USA, womit er globale Auswirkungen hat. Die Funktionsabläufe der technischen Systeme brechen in Elsbergs Roman nach und nach zusammen. Der egomane Überlebenskampf der Menschen treibt das Werk der Vernichtung weiter, das sich, wie das Stromnetz, in alle Richtungen verzweigt. Sechs Tage nach den ersten Angriffen auf die europäische Energieversorgung werden ebensolche Cyberattacken in den USA gemeldet. In seinem Roman warnt der österreichische Schriftsteller die einseitig auf den technologischen Fortschritt fokussierte Öffentlichkeit und stellt in katastrophisch-dramatisch erzählten Episoden die Errungenschaften des technischen Zeitalters auf den Prüfstand. Die hier gezeigte Wirklichkeit im 21. Jahrhundert lässt an apokalyptische Zustände denken. Der Einzelne wagt nicht mehr, aktiv zu agieren, entsprechend Baudrillards Zeitkritik. Die Überzeugung, dass jegliche Angriffe seitens der Anarchisten nur die bereits bestehenden Schwachstellen der gesellschaftlichen Systeme aufdeckten, vertritt in Elsbergs Roman der Anführer der Terroristen, wobei dieser mit den Ansichten des französischen Philosophen in Bezug auf die soziale Krise übereinstimmt: Jetzt aufzugeben hieße, wieder klein beizugeben. Wieder den anderen die Räume des Handelns und der Interpretation zu überlassen. Dieser Gesellschaft, die vom Geld besessen war und von Macht, von der Ordnung und der Produktivität und der Effizienz, vom Konsum, von der Unterhaltung und vom Ego und davon, wie sie möglichst viel von allem an sich reißen konnte. Für die Menschen nicht zählten, nur Profitmaximierung. Für die Gemeinschaft nur ein Kostenfaktor war. Umwelt eine Ressource. Effizienz ein Gebet, Ordnung ihr Schrein und das Ego ihr Gott. (B, 323)

Der Anarchist Jorge Pucao will seinen Kampf nicht aufgeben. Selbst nach den Havarien der Kernkraftwerke beschließt er, seine destruktiven Pläne weiter zu verfolgen, im festen Glauben, nur die Zerstörung der administrativen und politischen Strukturen könne zu einer Erneuerung führen. Fortlaufend melden unterschiedliche Staaten neue Ausfälle in der Stromversorgung, schließlich den vollständigen Blackout. Die Cyberattacken erstrecken sich weltweit auf genauso viele Tage, wie der Schöpfer der Welt, dem biblischen Text zufolge, für die Erschaffung der Erde benötigte. Das Versagen der technischen Geräte bietet eine Parallele zu dem von Baudrillard diagnostizierten Prozess der Auflösung des

136

Ewa Wojno-Owczarska

gesamten abendländischen Systems; die Terrorattacken werden, entsprechend seiner Theorie, vom Scheitern der gesellschaftlichen Ordnungen erst bedingt und dann begleitet. Im Roman »Blackout« bagatellisieren die EU-Länder die ersten Anzeichen des immanenten Zusammenbruchs; man setzt auf intelligente Technik, auf Risikovorbeugung und funktionierende Warnsysteme. So steht in Elsbergs Werk auch Ulrich Becks Theorie der Weltrisikogesellschaft zur Debatte. Der österreichische Autor bezweifelt, dass das globale Sozialwesen trotz modernster Technik imstande ist, unerwarteten Desastern vorzubeugen. So versucht man z. B. in Elsbergs Roman zwar Strom zu generieren oder auch zu importieren, jedoch kennen die Angreifer die Schwachstellen der Steuerungssysteme. Es gelingt ihnen, Europa ins Chaos zu stürzen. Mitten im Winter versagen Heizung, Versorgung und Kommunikation. Die Cybermanipulation der Steuerungssysteme lässt u. a. in einem österreichischen Wasserkraftwerk alle Messgeräte versagen. Die verantwortliche Crew muss wegen des Frequenzabfalls den Strom abschalten, um eine Explosion der Anlage zu verhindern. Erhebliche Leistungsschwankungen innerhalb des EU-weiten Stromnetzes lösen weitere automatische Unterbrechungen in der Energiezufuhr aus. Europaweit müssen die Stromanbieter vergleichbare Probleme feststellen; die gewohnte Ordnung bricht zusammen. Zum Teil fallen die Netze völlig aus, anderswo bietet sich eine kaum ausreichende Energieversorgung. Da auch der politische und der gesellschaftliche Zusammenhalt international nicht mehr stattfindet, hat Europa dem technischen Versagen nichts entgegenzusetzen; keine der Regierungen ist im Katastrophenfall zu wirksamer Kooperation fähig. Elsberg zeigt auf, dass es genügt, einen eher unkomplizierten Schadcode in Stromzähler zu installieren, um das Funktionieren der neoliberalen globalen Wirtschaft zu vereiteln. Das Virus reist dem American Way of Life von der Alten Welt aus entgegen, völlig konträr zur historischen Richtung der kulturellen Dominanz der USA: Nach dem europäischen Blackout geht auch das Licht in den Vereinigten Staaten aus. Die zuvor so faszinierende globale Vernetzung in der Zusammenarbeit über politische Grenzen hinweg bricht als Katastrophe über die Menschheit herein. Die Technisierung der Lebenswelten bei gleichzeitigem Verfall der ethischen Werte unterminiert die globale Gesellschaft wie eine Krankheit, bis diese Degeneration zu Schwachstellen und einem Einfallstor für das Chaos führt. In gewohnter Manier übertreffen die Regierungen einander in gegenseitiger Beschuldigungs- und Desinformationspolitik.34 Auch in Berlin wird hektisch bera34 Die Migrationskrise am Anfang des 21. Jahrhunderts machte deutlich, dass die grenzenlose Zusammenarbeit innerhalb der EU zu wünschen übrig lässt. Acht Jahre nach dem Erscheinen des Romans »Blackout« wählten die Briten den Brexit. Auch die gegenwärtige Covid-19Pandemie stellt die idealisierte Vorstellung einer gelingenden Kooperation der EU-Staaten auf den Prüfstand; einerseits bestimmen politische Partikularinteressen das Leben in den

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

137

ten, welche Informationen man nach den ersten Havarien den Nachrichtendiensten zukommen lässt, insbesondere angesichts der Tatsache, dass der Stromausfall ausgerechnet am ersten Tag der bundesweiten Winterferien eintritt. Man nutzt die üblichen Floskeln und stellt sich ein positives Zeugnis über durchgreifende Maßnahmen aus. Der Autor kreiert ein Bild von totaler globaler Konfusion auf politischer Ebene, die den Leserinnen und Lesern erst im Fall einer ernsthaften Krise bewusst werden dürfte. Die europäischen Institutionen sind in Elsbergs Roman dem Ausmaß der Katastrophe nicht gewachsen. Als sichtbares Zeichen der u. a. von Baudrillard diagnostizierten sozialen Problemlage in der globalisierten Welt35 verschärfen sich auch in Elsbergs Roman die Unterschiede in den gesellschaftlichen Interessenlagen der Bürgerinnen und Bürger. Die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung gelingt nur sporadisch; die Kooperation der Polizeikräfte über die eigenen Landesgrenzen hinaus erschöpft sich in Ersatzhandlungen. Die bekannten Schwachstellen in der Kommunikation über das Internet verhindern die offene Diskussion, auch zwischen verbündeten EUStaaten. Computer dürfen im Katastrophenfall nur sehr eingeschränkt genutzt werden, was sowohl den Verantwortlichen in den Kraftwerken die Entscheidungen erschwert als auch den NATO-Offiziellen in ihren Video-Konferenzen. Indessen spitzt sich die Katastrophenlage zu: Häftlingen gelingt der Ausbruch aus den Gefängnissen, Anarchisten versuchen den Sitz einer Landesregierung zu stürmen. Menschen sterben durch Polizeigewalt, eine Provokation für sonst gesittete Bürgerinnen und Bürger, zu »Wutbürgern«36 zu mutieren und sogar einen Putsch für möglich zu halten. Die Schwäche der globalisierten Sicherheitsstrukturen wird evident, da die eingeübten Handlungsabläufe für Krisenfälle nicht für den absoluten Katastrophenfall ausreichen. Somit ist die Grundlage für Demokratie und internationale Zusammenarbeit schwer gestört; das Versagen der elementaren virtuellen Systeme führt ins Chaos. Ein einziger Störfall, die vom Schadcode infiltrierte Stromversorgung, dient als Parabel für die Unzulänglichkeit der internationalen Vernetzung und Kooperation. Elsberg weist zudem auf die Machtlosigkeit von Sicherheitseinheiten und Polizeikräften im Fall eines virtuell organisierten Verbrechens hin: Terroristen schlagen blitzschnell zu und einzelnen Ländern, andererseits gilt der jeweilige Rückhalt durch harte oder weichere Währungen. Solidarität und Empathie stehen hinter dem Eigennutz zurück. 35 Laut Baudrillard konstituierte sich insbesondere in globalisierten »Metropolen« eine »völlig inventarisiert[e], durchanalysiert[e], in den Sphären des Realen künstlich wiederhergestellt[e] Welt der Simulation […], [die] sich […] schon seit längerem auf alle abendländischen Gesellschaften ausgedehnt hat«. (Baudrillard, Jean: »Ramses oder die jungfräuliche Wiederauferstehung«. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 16–24, hier S. 18–19) 36 Diesen Begriff prägte Dirk Kurbjuweit im Spiegel. Vgl. Kurbjuweit, Dirk: »Der Wutbürger«. In: Der Spiegel, 11. 10. 2010. Auf: https://www.spiegel.de/spiegel/a-724587.html (Zugriff am 12. 10. 2010).

138

Ewa Wojno-Owczarska

sind verschwunden. Das Internet erlaubt den Anarchisten neue Formen von grenzüberschreitenden Angriffen. Die Identität der Täter festzustellen ist für die Ermittler kaum möglich. In Elsbergs Roman arbeiten die Terroristen mit Tarnnamen, die sie bevorzugt von historischen Anarchisten und Reaktionären des 19. und 20. Jahrhunderts ausleihen, was sie untereinander ausweist, jedoch wenig Material für Schlussfolgerungen bietet. Es bleibt die genaue Untersuchung ihrer Chats auf Hinweise geographischer Art. Als Ergebnis drängen sich Rückzugsorte in Mexico und in Istanbul auf. Da die Täter ihre Schlupfwinkel in Stadtteilen mit internationaler Bewohnerstruktur bevorzugen, fallen dort fremde Gesichter kaum auf. Auch die Geldwäsche der Terrororganisationen funktioniert im Internet reibungslos; solche Dienstleistungen liefern kleine fiktive Handelsgesellschaften, deren Sitze wie zufällig in denselben Bürohäusern firmieren. Diesem Netz von kriminellen Verwicklungen ist die Verbrechensbekämpfung nicht gewachsen, da die Regierungen der betroffenen Länder die Zuständigkeiten nicht klären können oder wollen. Man schickt z. B. US-amerikanische und europäische Eliteeinheiten in die Türkei, um die Kräfte vor Ort zu unterstützen. Hochdotierte Mitarbeiterstäbe, ausgestattet mit modernster Technik, bringen jedoch kaum Ergebnisse: Es mangelt an Vertrauen und Kooperation, sodass die Ermittler keine Erfolge erzielen. Wie Ulrich Beck bemerkt, versagen die staatlichen »Kontrollmittel« bei der Bekämpfung des »transnationalen Terrorismus«: Die Tätergruppen und ihre ›Hintermänner‹ sind weder territorial noch staatlich fixiert. […] Der Einsatz staatlicher Machtmittel setzt die Verfügung über ein Territorium oder die Eroberung eines solchen voraus. Dieser Terroristentypus verfügt über kein Territorium, ist auch nicht, wie der Staat, in einem solchen verwurzelt, also staatsfrei, demnach überall und nirgends präsent – ein schlechter Ansatzpunkt für militärische Abschreckung und Interventionen.37

Ausgehend von der umfassenden Gesamtschau des europäischen Debakels nach den Terrorangriffen auf das internationale Stromnetz konzentriert sich Elsbergs Werk auf einzelne betroffene Bürgerinnen und Bürger in den EU-Ländern. Auch der Hintergrund der Romanfiguren verweist auf globale Dimensionen. Der Talaefer-Vorstandsvorsitzende James Wickley ist als Weltbürger international aktiv, die CNN-Journalistin Lauren Shannon lebt als Expat in Paris und reist nach den ersten Havarien berufsbedingt nach Den Haag. Der Informatiker Piero Manzano hat internationale Erfahrung, zunächst als Student in Deutschland, später als weltweit gefragter IT-Berater und Konferenzteilnehmer. Eine junge Schwedin namens Angström arbeitet für die Europäische Kommission. Parallel zu den Lebensläufen der Protagonistinnen und Protagonisten zeigen auch die Handlungsorte eine breite Vielfalt. Wie in Nachrichtensendungen wird in den 37 Beck, Die Weltrisikogesellschaft. 2015, S. 267–268.

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

139

jeweiligen Romankapiteln zuerst der Ort des Geschehens genannt, von der Kulturmetropole Rom in ein österreichisches Skigebiet, dann Berlin, Düsseldorf, Den Haag, und, als Sitz der EU-Institutionen, Brüssel, und damit die Inkarnation des Begriffs Globalisierung. Elsberg versucht, auch die unterschiedlichen Positionen abzubilden, die sich im gegenwärtigen Diskurs über Möglichkeiten und Gefahren der modernen Technik widerspiegeln: Einerseits verweist er auf den Cyberterrorismus als modernste Form des transnationalen Terrorismus, andererseits auf die Realität der medialen Manipulation und der digitalen Überwachung der Bürgerinnen und Bürger durch supranationale Sicherheitsorganisationen, alles Mittel, deren sich auch der CIA und andere Polizeikräfte bedienen. In diesem virtuellen Krieg verwischen sich die Grenzen zwischen Gut und Böse. Die Vision einer maschinell gesteuerten und von Computern überwachten Welt, wie sie Tony Scott im Thriller »Der Staatsfeind Nr. 1« vorstellt, setzt sich auch im Werk »Blackout« zunehmend durch. Ein ähnlich dystopisches Bild der globalisierten, dank modernster Technik kontrollierten Welt bildet auch Jean Baudrillard in seinen Schriften ab: Unter dem Vorwand äußerster ›objektiver‹ Bedrohung braut sich im Schatten dieses Dispositivs ein neues System zusammen. Unter dem atomaren Damoklesschwert wird nämlich ein System von noch nie dagewesener maximaler Kontrolle erarbeitet und installiert. Der ganze Planet Erde wird durch dieses Hypersicherheitsmodell in eine Umlaufbahn geschickt – satellisiert. […] Durch die Installierung von Kontrollsystemen, die sich in einer Umlaufbahn befinden, werden bei der friedlichen Koexistenz sämtliche irdischen Mikrosysteme satellisiert und verlieren damit ihre Autonomie. Die gesamte Energie und alle Ereignisse werden durch diese exzentrische Gravitation absorbiert. Alles kondensiert und implodiert in Richtung auf ein einziges Modell: das Mikromodell der Kontrolle (der Satellit in seiner Umlaufbahn).38

Auch im Werk »Blackout« gewinnt der Blick auf die Zukunft der globalen Gesellschaft laufend beängstigendere, entpersönlichte Züge. Die Vision der Vernichtung der Lebenswelt durch einen Super-GAU spielt hier die wesentliche Rolle. Baudrillards Thesen verweisen zudem auf den für unser Zeitalter immanenten »Katastrophen-Kapitalismus«.39 Laut des Soziologen dienen Grauen erregende Schreckensbilder den führenden Klassen dazu, die eigene globale Machtvollkommenheit auszuüben:

38 Baudrillard, Jean: »Das Orbitale und das Nukleare«. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 51–69, hier S. 54 und 56. 39 Vgl. Klein, Naomi: Die Schock-Strategie: Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus. Frankfurt am Main: Fischer Verlag: 2007; Klein, Naomi: The Shock Doctrine: The Rise of Disaster Capitalism. New York: Metropolitan Books 2007.

140

Ewa Wojno-Owczarska

Das Risiko der nuklearen Pulverisierung dient angesichts der Verfeinerung der Waffensysteme nur als Vorwand, um ein weltweites Sicherheits-, Sperr- und Kontrollsystem einzurichten […]. Der abschreckende Effekt bezieht sich also keinesfalls auf das atomare Inferno, […] sondern auf die sehr viel größere Wahrscheinlichkeit jedes realen Ereignisses, d. h. auf all das, was in diesem allgemeinen System ein Ereignis bewirken könnte und wodurch das Gleichgewicht ins Wanken geraten könnte.40

In Elsbergs Dystopie sieht man nach den Havarien der Kernkraftwerke Baudrillards Feststellungen in Bezug auf die Entmutigung und Kontrolle der Bürgerinnen und Bürger bestätigt. Am Ende des Romans »Blackout« werden Städte wie Istanbul und Mexico City nur noch aus der Perspektive von Überwachungsund Helmkameras gezeigt. Die Protagonistin Michelsen wertet z. B. Kamerabilder der globalisierten Metropolen aus. Die Romanfiguren erleben das Geschehen nach den Havarien der Kernkraftwerke wie Zuschauer, außerhalb des eigenen Handlungsraums. Wegen der atomaren Verstrahlung und des Ausfalls der öffentlichen Verkehrsmittel ist die Realität nach dem Blackout für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger nur über die Vermittlung durch Fernsehen und Internet erfahrbar. Weitere Assoziationen zu Baudrillards Theorie stellen sich hier ein. Der französische Forscher weist in seiner Medienkritik nach, eine eigene Wirklichkeit werde anhand solcher (medialer) Bilder konstituiert: Wir befinden uns in der Logik der Simulation, die nichts mehr mit einer Logik der Tatsachen und einer Ordnung von Vernunftgründen gemein hat. […] Fernsehwahrheit. […] Das TV […] ist und schafft die Wahrheit. Nicht mehr die reflexive Wahrheit des Spiegels oder der Perspektive, die Wahrheit des Panoptikums oder des Blicks, sondern die manipulatorische Wahrheit von Tests, die sondieren und befragen, die Wahrheit des Lasers, der abtastet und zerschneidet, die Wahrheit des genetischen Codes, der unsere Gefühlswelt mit Informationen versorgt. […] Sogar das Medium ist als solches nicht mehr greifbar […]. Es gibt kein Medium im buchstäblichen Sinne des Wortes mehr: von nun an läßt es sich nicht mehr greifen, es hat sich im Realen ausgedehnt und gebrochen, und man kann nicht einmal sagen, es habe sich dadurch verfälscht.41

Der Einzelne fühlt sich auch in Elsbergs Roman der Krisenlage ausgeliefert, wie das Beispiel eines älteren Nachbarn der Hauptfigur zeigt, der nur wenige Einzelheiten der medialen Nachrichten auf einem alten Rundfunkempfänger erhaschen kann. Die globale Krise offenbart zudem die Mängel des politischen Systems, vor allem im Bereich der grenzüberschreitenden Kooperation. Die Staaten versuchen zunächst hartnäckig die eigenen Leistungen zu demonstrieren, wie z. B. Frankreich, das sich verfrüht mit der Wiederherstellung des Stromnetzes brüstet, je40 Baudrillard, »Das Orbitale und das Nukleare«. 1978, S. 53. 41 Baudrillard, »Das Ende des Panoptikums«. 1978, S. 46 und 48–59. Vgl. u. a. auch: Baudrillard, Jean: »Der politische Zauber«. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 26–29.

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

141

doch die kritische Lage der eigenen Atomkraftwerke kaum beherrschen kann. Virtuelle Treffen der politischen Entscheidungsträger ufern in heftige Diskussionen aus. Hier regt sich die alte Rivalität unter den europäischen Mächten, verstärkt durch die Auflösung der einzelnen gesellschaftlichen Systeme, die auch Baudrillard sieht: »In diesem, von jeglicher Bedrohung des Sinns gereinigten Universum, aseptisch und schwerelos, hat das GESETZ zu existieren aufgehört, und nur die operationale Immanenz aller Details erweist sich noch als gesetzgebend«.42 Der französische Philosoph wirft den administrativen Institutionen vor, ihre gesetzlich geregelten Funktionen nicht wahrzunehmen.43 In Übereinstimmung mit Baudrillards Theorie finden die auflaufenden Probleme im Roman »Blackout« keine Lösungen auf EU-Ebene: »Der politische Einsatz ist tot, es sind nur noch Simulakra von Konflikten und sorgfältig eingegrenzte Einsätze übriggeblieben.«44 Auch Deutschland, so Elsbergs dystopischer Roman, handelt nicht angemessen in der Krisenlage. So erweist sich der Terrorangriff auf das Energiesystem als Katalysator, der die Mängel in der internationalen Zusammenarbeit bloßstellt und die Machtlosigkeit der EU-Institutionen aufgrund von nationalen Vorurteilen und Rivalitäten nachweist.45 In Elsbergs Roman scheitern verschiedene Versuche auf nationaler Basis, die Versorgung hochzufahren. Bildlich vor Augen geführt wird den Protagonistinnen und Protagonisten der Handlung das Ausmaß des Desasters auf einer Kontrollprojektionswand, die zunächst den Ausfall der vier größten Stromanbieter im europäischen Netz zeigt. Selbst Großbritannien ist in weiten Teilen betroffen. Der Kettenreaktion innerhalb der Stromversorgungssysteme und der Verbreitung des Computervirus lassen sich keine Grenzen setzen, wie auch der Störung und dem Zerfall der internationalen Zusammenarbeit kein Einhalt geboten werden kann. Die Beschreibung der globalen Abhängigkeit vom elektri42 43 44 45

Baudrillard, »Das Orbitale und das Nukleare«. 1978, S. 55. Vgl. ebd. Ebd., S. 54. Auf die Krise der europäischen Institutionen und das Machtstreben der politischen Entscheidungsträger verweist auch Jean Baudrillard: »Alles verwandelt sich in seinen entgegengesetzten Term, um in geläuterter Form zu überleben. Alle Mächte und alle Institutionen verleugnen sich, wenn es darum geht, mit Hilfe einer Simulation des Todes ihrer wirklichen Agonie zu entkommen. Die Macht inszeniert ihren eigenen Tod, um wieder einen Schimmer von Existenz oder Legitimität zu erlangen. […] Man versucht, sich, mit Hilfe des eigenen Todes, frisches Blut zu verschaffen, mit Hilfe der Krise, der Negativität und der Anti-Macht (pouvoir) den Kreislauf der Macht wieder anzukurbeln.« (Baudrillard, Jean: »Spiralförmige Negativität – die Möbius-Spirale«. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 29–35, hier S. 34–35) In »Die Strategie des Realen« stellt der Autor fest: »Die Macht spielt um ihr Leben, doch es ist bereits zu spät. […] Jeglicher Glanz ist verschwunden, heil bleibt nur die Fiktion eines politischen Universums.« (Baudrillard, Jean: »Die Strategie des Realen«. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 35–44, hier S. 40 und 42)

142

Ewa Wojno-Owczarska

schen Strom nähert sich in Elsbergs Roman der Groteske: Die Frequenzstörungen führen dazu, dass auch Energie produzierende Kraftwerke abgeschaltet werden müssen. Deren Ausfall unterläuft nicht nur das Netzwerk der EU-Staaten, er betrifft die globale Wirtschaft. Die Fließbänder für die Produktion von Waren und Gütern stehen still. Einkaufszentren sind wegen verdorbener Lebensmittel geschlossen, weil die Kühlketten ausgefallen sind. Die Romanfiguren können ihre Luxuslimousinen mangels Benzins nicht mehr nutzen; die internationalen Statussymbole haben ihren Wert eingebüßt.46 Die anschließende finanzielle Krise bringt die Wirtschaft weltweit ins Wanken. Auch darin sieht Elsberg einen Nachteil der ökonomischen Globalisierung. Zudem funktioniert der Handel nicht mehr, was die Börsianer weltweit zur Verzweiflung bringt. In den Städten kommt es zu Unruhen wegen der fehlenden Versorgung. Die Automaten spucken kein Bargeld aus und unbar zu bezahlen ist unmöglich. Elsbergs Roman zeigt in dramatischen Bildern, wie ein einzelner gezielter Terrorangriff einen Dominoeffekt von mehrfachen Zusammenbrüchen auslösen kann, die nicht mehr auf ein bestimmtes Land zu begrenzen sind.

46 In Elsbergs Roman hilft die CNN-Journalistin Lauren Shannon dem Informatiker Piero Manzano bei seiner Flucht aus Deutschland, da er immer noch als Terrorist verdächtigt wird. Als sie versuchen, auf dem Land Lebensmittel aufzutreiben, raubt ihnen ein bewaffneter Bauer den teuren Porsche. Der ursprüngliche Plan, den Sitz der EU-Institutionen in Brüssel zu erreichen, scheitert; nun müssen sie andere Transportwege suchen. Auch diese Episode zeigt den Abbau der sozialen Verantwortung als Hauptursache für den nahenden Untergang der westlichen Zivilisation. Die Analysen des Romans »Blackout« konzentrieren sich hauptsächlich auf dystopische Szenen nach einem imaginierten Ausfall des internationalen Stromnetzes bzw. auf die Figurencharakteristik in diesem Werk. (Vgl. u. a. Korycka, Marta: »Blackout czy error 404? (Prawie) apokalipsa według Elsberga i Dukaja«. Auf: www.gazeta.pl, Zugriff am 13. 03. 2015; Lada, Wojciech: »BLACKOUT. Ktos´ zgasił s´wiatło«. Auf: https://wpoli tyce.pl/kultura/253565-blackout-ktos-zgasil-swiatlorecenzja, Zugriff am 9. 03. 2015; Nijakowski, Lech M.: S´wiat po apokalipsie. Społeczen´stwo w ´swietle postapokaliptycznych tekstów kultury popularnej. Warszawa: Wydawnictwo Naukowe Scholar 2018; Rathke, Martina: »Blackout in Lubmin: der gleichnamige Bestseller von Marc Elsberg packte Millionen Leser. Nun wird der Thriller verfilmt. Wichtige Szenen des Films wurden im stillgelegten KKW gedreht«. In: Ostsee-Zeitung, 20. 12. 2020, S. 1; Sobiecka, Marta: »Blackout. Elektryczna Apokalipsa«. In: Fantastyka, 12, 2015, S. 11–13) Katrin Schneider-Özbek betont, dass wir es in Elsbergs Werk mit einem Heldenpaar und keinem einzelnen Superhelden zu tun haben. (Vgl. Schneider-Özbek, Katrin: »Frau rettet Welt? Ontologisierung des Weiblichen im Ökothriller«. In: Technik und Gender. Technikzukünfte als geschlechtlich codierte Ordnungen in Literatur und Film. Hrsg. von Marie-Hélène Adam/Katrin Schneider-Özbek. Karlsruhe: Karlsruher Institut für Technologie (KIT) 2016, S. 151–172, insb. S. 156–157) Für die meisten Textpassagen ist jedoch die Fokussierung auf die Perspektive der männlichen Hauptfigur charakteristisch. Aleksandra Burdziej gründet daher ihre Interpretation des Romans »Blackout« auf die von Robert Jewett und John Shelton Lawrence entwickelte Konzeption des Superhelden. Die Literaturwissenschaftlerin sieht in Elsbergs Protagonisten das Gegenbeispiel eines Figurentyps, der in der US-amerikanischen Massenkultur populär sei. (Vgl. Burdziej, »Zwischen Unterhaltung und ›Wissenschaft‹«. 2019, S. 113–127)

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

143

Die deutlichsten negativen Globalisierungsfolgen schreibt der österreichische Autor den Stromproduzenten zu. Weltweit vernetzte Lieferverträge führten im Katastrophenfall zum Totalversagen in der Energieversorgung. So sei z. B. ein einzelner deutscher Anbieter für die Stromlieferungen nach ganz Nordeuropa zuständig. Das große Geld verdiene man in diesem Wirtschaftssektor mit globalisierten Lösungen, auch auf dem Gebiet der installierten Software. Elsbergs Dystopie läßt an Becks Feststellung denken: »Globalisierung, ökonomisch verstanden und forciert, minimiert Kosten, maximiert Gewinne.«47 Der österreichische Schriftsteller kritisiert, dass sämtliche Kraftwerke den Softwarehersteller derselben Marke haben, sodass eine Manipulation an nur einem der intelligenten Stromzähler mithilfe eines Schadcodes das gesamte Netz zum Erliegen bringt, auch da die installierte Backdoor-Software international identisch ist und entsprechend gesteuert werden kann. Kleinere Energieproduzenten wurden in den EU-Ländern aus dem Geschäft gedrängt. Die Katastrophe bringt zudem die Übermacht weiterer globaler Konzerne ans Licht; die nationalen Regierungen können sich nicht gegenüber den finanziellen Interessen der einflussreichen Multis behaupten. Nachdem den Terroristen die Infiltrierung der Stromzähler gelungen ist und die Fehlermeldungen sich häufen, will Interpol zunächst die Produzenten der unzulänglichen Software vor Regressansprüchen schützen, ohne die Interessen der Bürgerinnen und Bürger zu berücksichtigen, ändert jedoch später die offizielle Einstellung. Ein ökologisch sinnvoller Rückgriff auf kleinere, auch private Stromanbieter scheitert am Netzausfall. Bei Temperaturen weit unter null Grad, der Zerstörung der Schaltzentralen und der Hochspannungsmasten fehlt in ganz Europa die Energie zum Heizen. Die Stromerzeuger in den einzelnen EU-Staaten bleiben, trotz sich zuspitzender Krise, auf dem alten Kurs der gegenseitigen Konkurrenz und setzen bei den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern die Schweigepflicht durch. Ohne allseitige Unterstützung sind die Kraftwerke jedoch nicht bereit hochzufahren. Der Versuch in Deutschland, sich vom europäischen Stromnetz abzuriegeln, um Frequenzstörungen zu minimieren, erweist sich als unmöglich. Die Stromversorgung von Millionen von Menschen kann nicht im Alleingang erreicht werden, was der Roman als Aussage über die wirtschaftliche und politische Lage in der EU unterstreicht. Die Probleme der Energieproduzenten sind ein Schwerpunkt des Werks, ein weiterer ist die Lebensqualität der in Mitleidenschaft gezogenen Bürgerinnen und Bürger in der Krise. Nach den ersten Stromausfällen stranden Skitouristen aus diversen Ländern am Alpenrand wegen Spritmangel. Ohne Internet finden sie keine Unterkunft. Die Hotels der großen Ketten sind geschlossen. Der Ausweg wäre der Schritt zurück zur Natur, mit eigenem Brunnen und Gartengemüse, 47 Beck, Ulrich: Was ist Globalisierung? Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1997, S. 82.

144

Ewa Wojno-Owczarska

über was nur wenige verfügen, die ihre Pfründe erbittert verteidigen.48 Im Vergleich dazu ist die Lage in den europäischen Metropolen wie Rom, Brüssel und Den Haag, die Elsberg vorstellt, noch schlimmer. Selbst am zentralen Sitz der EUInstitutionen, einschließlich von EURATOM, dem Verwaltungszentrum der Erzeugung der Kernenergie in der belgischen Hauptstadt, ist das normale Leben zusammengebrochen. Der Blackout hat den öffentlichen und den privaten Verkehr gestoppt; Menschen müssen aus Aufzügen und U-Bahnen befreit werden. Trotz leerer Straßen regiert das Chaos die Städte, parallel zur Krise der globalen Gesellschaft. Sämtliche Lebensbereiche sind von den Folgen des Cyberterrors betroffen, dessen wahre Ursachen die Hilflosigkeit der Behörden und die mangelnde internationale Kooperation auf globaler Ebene sind. Der Erzähler nennt den Ausfall von Wasserversorgung und Kanalisation, den Mangel an Medikamenten, bis hin zu der von den Ärzten in den Krankenhäusern durchgeführten Euthanasie, um das Leid von Todkranken zu verkürzen. Menschen in existenzieller Panik greifen zu Plünderungen, die sich zur Anarchie ausweiten: »Aus Rom, Sofia, London, Berlin und zahlreichen anderen europäischen Städten berichte[n] Korrespondenten von Angriffen gegen öffentliche Einrichtungen wie in Den Haag, sogar aus den USA k[om]men erste ähnliche Meldungen« (B, 648). In Deutschland schlägt man sich um Lebensmittelpakete. In den Niederlanden seien randalierende Massen im Anmarsch auf das Palais Noordeinde. Auch hier herrscht das Chaos: »In einigen Straßen Den Haags bot sich Manzano dasselbe Bild wie bei der Abfahrt aus Brüssel. Verbrannte Autos und Häuser, rauchender Müll. […] Auf den Straßen um das Gebäude patrouillierten Panzerwagen« (B, 672). Eine der Romanprotagonistinnen stellt fest: »Da draußen herrscht Anarchie« (B, 706). Politiker diskutieren online über einen Ausnahmezustand und den Einsatz von Gewalt durch externe Antiterror-Einheiten, jedoch wird befürchtet, gerade dadurch könnten weitere Extremisten eingeschleust werden. Selbst Interpol versagt bei der Aufgabe, der Anarchisten habhaft zu werden, die die ganze Welt ins Chaos stürzten. Nur dem Informatiker Piero Manzano, einem ehemaligen Hacker, gelingt es, hinter den Modus der Cyberattacke zu kommen; weder die Energiehersteller noch Interpol schenken ihm Glauben, da er sich politisch missliebig gemacht hatte: Er sei »gegen die korrupte Politikerkaste Italiens auf die Straße gegangen« und habe zudem »in Genua gegen die Ungerechtigkeiten der Globalisierung gekämpft« (B, 780). So wird Manzano lange Zeit als Verdächtiger überwacht und 48 Ein anderes Zukunftsszenario stellt z. B. Alan Weismann in The World Without Us (2007) vor. Erst nach »dem Verschwinden des Menschen […] erobert sich die Natur den Boden zurück, den die Zivilisation ihr streitig gemacht hat«. (Horn, Eva: Zukunft als Katastrophe. Frankfurt am Main 2014, S. 8, vgl. Weismann, Alan: The World Without Us: Reise über eine unbevölkerte Erde. Aus dem Amerikanischen von Hainer Kober. 2. Auflage, München/Zürich: Piper Verlag 2007)

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

145

verfolgt. Bei einer Freundin in Brüssel fasst ihn die Polizei und setzt ihn fest. Ein Brand in der Haftanstalt verhilft ihm zum Entkommen, nach ihm wird jedoch weiterhin als Täter gefahndet, da es den Terroristen gelingt, seinen Laptop mit falschen Informationen zu füttern, die ihn belasten. Brutale Sicherheitsbeamte schießen ihn auf der Flucht an. Elsbergs Roman führt vor, wie rücksichtslose supranationale Institutionen zwar gegen Einzelne hart durchgreifen, aber in der Sache der Terrorismusbekämpfung versagen. Dennoch ist es der ehemalige Hacker Manzano, der einen zweiten Cyberangriff verhindern kann und schließlich mit den Behörden zusammenarbeitet. In Elsbergs dystopischer Zukunftsvision geht die gesellschaftliche Ablehnung der globalisierten Organisationen quer durch alle Schichten: »Die Menschen in Europa und den USA begnüg[en] sich nicht mehr mit Diskussionen, Petitionen und Demonstrationen« (B, 648). Die Hauptakteure der Verschwörung sind im Roman »Blackout« »Personen unterschiedlichster Herkunft, Nationalität, sozialer Schicht, Bildung, beiderlei Geschlechts«, deren Überzeugungen sich radikalisiert haben (B, 648). Ihr Anführer stellt fest: Die Akteure kommen in den seltensten Fällen aus den armen und unter den Verhältnissen am heftigsten leidenden Unterschichten, sondern rekrutieren sich aus der gebildeten Mittel- und Oberschicht der jeweiligen Gesellschaften. Hier könnten wir es erstmals mit einem derartigen Phänomen auf globaler Basis zu tun haben. (B, 690–691)

Das Ziel der Terrorgruppe sei die »gewaltsame Zerstörung des Systems als Möglichkeit der Erneuerung« unserer Zivilisation (B, 649). Wenn man das Stromnetz im Werk »Blackout« als Parabel der internationalen Beziehungen interpretiert, ist die Aussage des Romans pessimistisch: Es bestehe nicht viel Hoffnung auf die Besserung der Lage weltweit, was Baudrillards These vom Zerfall der westlichen Systeme entspricht. Elsberg zeigt in seinem Werk auf, dass die grenzüberschreitende Digitalisierung das Einfallstor für Verbrecherbanden bietet; denn »[w]enn die uns über das [Netz] angreifen, können sie das ja von jedem Ort der Welt« (B, 612). Der Schriftsteller charakterisiert das Internet ausdrücklich als ein Medium, das die Vorbereitung und weltweite Durchführung von Terrorangriffen vereinfacht. Ein einziger Schadcode, von den Extremisten intelligent ins System platziert, greift auf jeden Computer der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Energiekonzerns Talaefer über und verteilt sich von dort aus auf alle mit ihnen kommunizierenden Rechner. So können die Terroristen jede E-Mail lesen, jedes Telefonat und jede interne Konferenz mithören, auch die Laptop-Kameras aktivieren und die jeweilige Software manipulieren, eingeschlossen die der Kraftwerke. Die feindliche Überwachung basiert hier auf einem sprachlichen Filtersystem, das bestimmte Formulierungen und Schlagworte erkennt und auswertet und die Computersysteme angreifbar macht. Eine vom Hersteller installierte Backdoor-Software, die

146

Ewa Wojno-Owczarska

bewusst Schwachstellen in den Programmcode eingeschleust hat und als Betriebsgeheimnis gilt, erlaubt den Terroristen den Zugriff. Der Europol-Funktionär Bollard stellt fest: »Wie es scheint, sind die Typen überall eingedrungen und lasen, sahen und hörten alles mit«, ein Albtraum, der an die Szenarien der Thriller »Red I« (Regie: Robert Schwentke, USA 2010) und »Red II« (Regie: Dean Parisot, USA 2013) erinnert (B, 678). Laut dem Romanprotagonisten Piero Manzano bedienen sich auch die CIA-Mitarbeiter ähnlicher Abhörmethoden, nicht nur die aktive Terroristengruppe. In Übereinstimmung mit Baudrillards Theorie betont der österreichische Schriftsteller, dass der einzelne Bürger in der globalisierten Welt alles kontrollierenden digitalen Strukturen ausgeliefert ist. In seinen Schriften stellt der Philosoph fest, die virtuelle, sich aus medialen Bildern zusammensetzende Welt verdränge die Reste des Realen in der Wahrnehmung des Einzelnen.49 Zudem werden die Figuren beängstigenden Nachrichten ausgeliefert. Auch in diesem Aspekt lehnt sich Elsberg an Baudrillards Schriften an. Der französische Philosoph spricht von der »Fernsehwahrheit«, die dem Publikum dargeboten werde: »Das TV […] ist und schafft die Wahrheit […], die Wahrheit einer Matrix«.50 Auch die Grenzen zwischen medialen Bildern und dem Realen seien nicht vermittelbar, was den Einzelnen in immer mehr Verwirrung stürze.51 Diese Auffassung teilen viele Forscherinnen und Forscher, die sich mit der Globalisierungskritik in literarischen Werken befassen. In ihrem Beitrag »Die Angst vor der Moderne. Literatur als virtuelle Evaluierung sozialer Umbrüche und Krisenphänomene« stellt z. B. Bernardetta Matuszak-Loose fest, dem modernen Durchschnittsmenschen fehle die Orientierungsmöglichkeit »in einer Überfülle an Informationen und Diskursen, so dass das Individuum mehr und mehr an chronischer Überforderung leidet und Gefahr läuft, seine Konturen zu verlieren«.52 Von daher ist der Absturz der Computer in Elsbergs Text mit der Wiederherstellung traditioneller, technokratiefreier Zustände gleichzusetzen. »Ist der Mensch erst weg, verschwinden irgendwann auch seine Spuren, die Welt gerät in eine natürliche Balance, sie wird blühen und grünen«, stellt Eva Horn fest.53 Im Roman »Blackout« wird ein solch idealer Raum jedoch nicht erreicht; nur das Ende des Anthropozäns könnte ihn ermöglichen. Die digitalen Geräte der Medienwelt fallen durch den Blackout aus. Die Reporter können sich 49 50 51 52

Vgl. Baudrillard, »Das Orbitale und das Nukleare«. 1978, S. 56–57. Baudrillard, »Das Erde des Panoptikums«. 1978, S. 46. Vgl. ebd., S. 48. Matuszak-Loose, Bernardetta: »Die Angst vor der Moderne. Literatur als virtuelle Evaluierung sozialer Umbrüche und Krisenphänomene«. In: Literatur und Literaturwissenschaft im Zeichen der Globalisierung. Hrsg. von Anna Kochanowska-Nieborak/Ewa Płomin´ska-Krawiec. Frankfurt am Main: Peter Lang Verlag 2012, S. 63–70, hier S. 63. 53 Horn, Zukunft als Katastrophe. 2014, S. 10.

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

147

ihrer neuen schöpferischen Freiheit jedoch kaum erfreuen: Ohne Energiequellen lassen sich die eingeübten Informationswege nicht nutzen. So haben sie keine Chance zu erfahren, dass auch die Atommeiler europaweit in eine kritische Lage geraten sind. Für die Bürgerinnen und Bürger ist die Situation äußerst gefährlich, da sie keinerlei Nachrichten über die aktuellen Zustände im Blackout erhalten. Somit wendet sich die Technik gegen ihre Erschaffer, vergleichbar u. a. mit der Aussage Günther Anders’, der eine solche Entwicklung in Bezug auf den technologischen Fortschritt prophezeit. Der Philosoph stellt fest, es gebe keinen Zug, der für uns Heutige so charakteristisch wäre wie unsere Unfähigkeit, seelisch ›up to date‹, auf dem Laufenden unserer Produktion zu bleiben,54 also in dem Verwandlungstempo, das wir unseren Produkten selbst mitteilen, auch selbst mitzulaufen und die in die (›Gegenwart‹ genannte) Zukunft vorgeschossenen oder uns entlaufenen Geräte einzuholen. Durch unsere unbeschränkte prometheische Freiheit, immer Neues zu zeitigen (und durch den pausenlosen Zwang, dieser Freiheit unseren Tribut zu entrichten), haben wir uns als zeitliche Wesen derart in Ordnung gebracht, daß wir nun als Nachzügler dessen, was wir selbst projektiert und produziert hatten, mit dem schlechten Gewissen der Antiquiertheit unseren Weg langsam fortsetzen oder gar wie verstörte Saurier zwischen unseren Geräten einfach herumlagern.55

Dieser Diskurs wird auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fortgesetzt: So betont z. B. Karl Jaspers in seiner 1958 erstmals veröffentlichten Schrift »Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewusstsein in unserer Zeit«, dass die fortgeschrittene Technisierung die Menschheit in eine Existenz bedrohende Situation geführt habe. Angesichts der Entstehung totalitärer Staatsformen werde der Frieden, insbesondere in Zeiten des Kalten Krieges, nur noch durch den Besitz der Furcht erregendsten Waffe gesichert.56 Auch die im 20. und 21. Jahrhundert wachsende Ökokritik stellt die friedliche Nutzung der Kernenergie zunehmend in Frage, was sich in literarischen und filmischen Werken widerspiegelt. So lehnt der Plot in Elsbergs Werk an die Super-GAUs in Tschernobyl und Fukushima57 als Symbol gewordene Katastrophen an. Der Roman »Blackout« deutet Ähnliches an für europäische Kraftwerke, u. a. für Brokdorf, Fessenheim, Saint-Laurent und Temelin. In einem der deutschen Meiler liegen die verbrauchten heißen nuklearen Brennstäbe trocken in den sonst mit Wasser gefüllten Kühlbecken; der Zugang ist wegen der Verstrahlung nicht möglich. 54 Hervorhebung durch den Autor. 55 Anders, Die Antiquiertheit des Menschen. Bd. I. 1956, S. 16. 56 Vgl. Jaspers, Carl: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit. München: Piper Verlag 1958. 57 Wie Elsberg in einem Nachwort zu seinem Roman erklärt, habe er in seinem Romanentwurf von 2009 eine Katastrophe vorhergesehen, die später in Fukushima aufgrund der Überforderung der Notkühlsysteme zur Realität wurde. (Vgl. Elsberg, Marc: »Aktualisiertes Nachwort und Dank«. In: Marc Elsberg: Blackout. München: Blanvalet Verlag 2012, S. 798–799, hier S. 798)

148

Ewa Wojno-Owczarska

Auch die Evakuierung der benachbarten Großstädte Stuttgart und Karlsruhe kann nicht mehr gelingen. Wie der Bundeskanzler feststellt, könne man nur noch beten. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Ministeriums »für Umweltschutz, Naturschutz und Reaktorsicherheit«, mit dessen Namen Elsberg seinen Spott treibt, erkennen zunächst nur eine geringe Gefährdung für die deutsche Bevölkerung, jedoch ist es z. B. in Tschechien schon zur Kernschmelze gekommen (B, 685). In Frankreich sei hingegen ein Kernkraftwerk explodiert. Bei entsprechenden Windverhältnissen breite sich die atomare Wolke über ganz Europa aus, danach weltweit. Nationale Versuche der Problemlösung müssten daher scheitern. Die folgenden Textpassagen in Elsbergs Werk erinnern an die Katastrophenszenarien in Robert Merles »Malevil« (1972), Gudrun Pausewangs »Die letzten Kinder von Schewenborn« (1983) und Inge Merkels »Die letzte Posaune« (1985), die den Versuch eines Neubeginns nach einem Super-GAU vorstellen. Im Roman »Blackout« sind verängstigte Menschen überall in Europa auf den Straßen auf der Flucht. Viele Bürgerinnen und Bürger müssen entmutigt an die eigene negative Haltung u. a. gegenüber den Migrationsströmen aus afrikanischen und asiatischen Krisengebieten denken. Jetzt sind sie selbst den katastrophalen Zuständen ausgesetzt: Tote werden in Massengräbern verscharrt, in den einstigen Kulturmetropolen verfaulen Tierkadaver. Sterbende werden sich selbst überlassen, humane Werte gelten nicht mehr. Nur das eigene Überleben hat noch Bedeutung; der von Baudrillard diagnostizierte Zerfall des gesellschaftlichen Zusammenhalts bei gleichzeitiger Zerstörung aller ethischen Werte weltweit58 wird infolge eines Super-GAUs bestätigt. Nach seiner Verhaftung sieht auch Piero Manzano verstörende Szenen in der Kulturmetropole Brüssel. Die Situation auf den Straßen gleicht immer mehr einer militärischen Auseinandersetzung. Die dramatischen Anblicke übersteigen die Vorstellungskraft der EU-Bürgerinnen und -Bürger und sind nur noch mit Filmszenarien vergleichbar: [Manzano] starrte durch die vergitterten Scheiben in die Finsternis, in der dunkle Fassaden vorbeizogen. Die einzigen Fahrzeuge, die er sah, waren gepanzerte Wagen des Militärs, außer Soldaten in Zweiertrupps kaum Menschen auf den Straßen. Sie trugen Taschenlampen oder Laternen, die Soldaten Leuchten am Helm. Wie in einem verdammten Katastrophenfilm,59 dachte er. In Zukunft sehe ich mir nur noch ›Liebesschmonzetten‹ an. Wenn es eine Zukunft gibt. (B, 617) 58 So stellt der französische Philosoph fest, dass es in der heutigen Welt »keine Wahrheit, keine Referenz und keinen objektiven Grund mehr gibt«. (Baudrillard, Jean: »Die Präzision der Simulakra«. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 7–10, hier S. 9) 59 Jean Baudrillard betont in seinen Publikationen, dass die medialen Bilder längst mächtiger und wirklicher seien als die Wirklichkeit selbst. Auf diese Situation verweist auch Susan Sontag: »Nach vierzig Jahren aufwendiger Katastrophenfilme aus Hollywood scheint der

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

149

Selbst in Den Haag, dem Sitz zahlreicher EU-Institutionen wie z. B. Europol und dem Europäischen Gerichtshof, die Sicherheit und Recht garantieren sollen, sieht die Lage kaum anders aus: »In einigen Straßen Den Haags bot sich Manzano dasselbe Bild wie bei der Abfahrt aus Brüssel. Verbrannte Autos und Häuser, rauchender Müll. […] Auf den Straßen um das Gelände patrouillierten Panzerwagen« (B, 672). Die CNN-Journalistin Lauren Shannon hört Schüsse in der Ferne und bemerkt: »Das sieht hier ja aus wie im Krieg« (B, 672). Für die »Weltrisikogesellschaft« im 21. Jahrhundert sei, so Ulrich Beck, die »Ausdifferenzierung und Mischung kriegsähnlicher oder post-kriegerischer Formen organisierter Gewalt« charakteristisch.60 Die Unzufriedenheit der Bürgerinnen und Bürger und der soziale Notstand wirken in Elsbergs Roman wie Zeitbomben; wiederkehrende Gewaltausbrüche und Unruhen läuten hier eine neue, fortwährende Kriegsführung und eine globale, nicht mehr zu überbrückende Krise ein. Die Zustände in ganz Europa beweisen, dass das von den Terroristen angefachte Feuer der gesellschaftlichen Unruhen weiter schwelt: So demonstrieren Tausende von Menschen in Mailand auf dem »Platz vor der Kirche […] für eine bessere Versorgung und gegen die Regierung. Manchmal übertön[en] sie sogar das Tosen des Verkehrs, das nur gedämpft zu ihnen hinaufdr[ingt]« (B, 795). Auf einer digital übermittelten Sitzung der europäischen Entscheidungsträger erwägt man den Kriegszustand. Die soziale Instabilität und der zunehmende »Zorn auf die öffentlichen Stellen, die im Voraus die Katastrophe nicht verhindert hatten«, können nicht abgebaut werden; somit zerstört sich die Gesellschaft in ihrem Kern, auch wenn die Terroristen nicht mehr aktiv sind, und die chaotischen Zustände lassen sich nicht mehr eingrenzen (B, 796). Obwohl die »Server, die den Netzbetrieb steuern, […] wieder funktionsfähig« sind und auch »aus den meisten Kraftwerken, die deaktiviert worden waren«, Meldungen über die »Fehlerbehebung« kommen, bleibt eine Entwarnung illusorisch (B, 643 und 723). Die Zukunftsaussichten sind für die meisten Staaten für lange Zeit negativ: »Viele Firmen werden noch für Tage oder Wochen stillstehen, weil Rohstoffe und Material fehlen. Viele Produktionsanlagen wurden auch beschädigt oder gänzlich zerstört […]. Zahlreiche Güter, die sich gerade in Herstellung befanden, wurden ruiniert« (B, 766). Die psychischen Folgen des erlebten Horrors bleiben der globalen Gesellschaft noch lange erhalten. Am Ende der Handlung sind auch die »Probleme der Lebensmittelproduktion« noch immer nicht behoben (B, 766). Weitreichende Folgen des Blackouts müssen selbst solche Staaten tragen, die Ausspruch ›Es war wie im Kino‹ an die Stelle jener anderen Formel getreten zu sein, mit der Überlebende von Katastrophen das zunächst Unfaßbare dessen, was sie durchgemacht haben, früher auszudrücken versuchten: ›Es war wie im Traum‹.« (Sontag, Susan: Das Leiden anderer betrachten. München: Carl Hanser Verlag 2003, S. 28–29) 60 Beck, Die Weltrisikogesellschaft. 2015, S. 264.

150

Ewa Wojno-Owczarska

keine Energieprobleme hatten: »Die Wirtschaft war auf Jahre ruiniert, eine gewaltige Depression wurde erwartet« (B, 796). Man befürchtet, dass »auch China, Indien, Brasilien und andere […] bald mit hoher Arbeitslosigkeit und in der Folge mit sozialen Konflikten sowie politischer Instabilität kämpfen« werden (B, 767). So können Anschläge auf das internationale Stromnetz, die in Elsbergs Werk durch eine Kettenreaktion einen weltweiten Blackout verursachen, als Bild der unsicheren grenzüberschreitenden Kooperation im Zeitalter der Globalisierung gesehen werden, die wegen unterschiedlicher aktiver Krisenherde die Welt ins Chaos stürzt. Die imaginierten dystopischen Verwicklungen im Roman »Blackout« finden sich im Einklang mit Baudrillards Thesen über den Zerfall der westlichen Systeme und die Entwicklung der den Menschen verstörenden Hyperrealität. Der Bezug auf die Energiekrise als eines der Symptome des Zerfalls der abendländischen Zivilisation verweist zudem auf die Hollywood-Thriller, die diese Problematik aufgreifen: Die Energiekrise und die Inszenierung der Ökologie sind in ihrer Gesamtheit selbst ein Katastrophenfilm. Stilistisch (aber auch vom Wert her) entsprechen sie den Filmen, die derzeit Hollywood wieder in Schwung bringen. Man braucht diese Filme im einzelnen gar nicht zu interpretieren und ihre Bezüge zu einer ›objektiven‹ sozialen Krise oder gar einer ›objektiven‹ Katastrophenphantasie herauszuarbeiten, viel wichtiger ist der Hinweis, daß sich das Soziale ist in einem ganz anderen Sinn im heutigen Diskurs gemäß dem Scenario eines Katastrophenfilms organisiert.61

Auch der Roman »Blackout« thematisiert explizit die globale Energiekrise und die Auswirkungen der Digitalisierung auf sämtliche Lebensbereiche. Ein Jahrzehnt nach der Welle der Millenniumangst, d. h. der Furcht vor dem Zusammenbruch aller computergesteuerten Systeme anlässlich des Jahrtausendwechsels, stellt Elsberg ein imposantes Werk im literarischen Filmstil vor, bestehend aus einer Vielzahl von dynamischen Episoden, die das Hereinbrechen einer imaginierten Katastrophe in der nahen Zukunft in einer von globalisierten Medien beherrschten Welt vorstellen, was den österreichischen Schriftsteller als einen zeitkritischen und ökologiebewussten Künstler kennzeichnet. Wie der Protagonist Manzano treffend feststellt, führt die im Roman entwickelte Katastrophe, ganz im Gegensatz zu den Intentionen der Terroristen, nicht zu einem gesellschaftlichen Umsturz. Nur in wenigen Fällen werde es dauerhafte Regierungswechsel geben, und die soziale Kluft zwischen den Profiteuren und den Verlierern der Globalisierung könne durch die anschließende Krise nicht überwunden werden, entgegen den Absichten der Anarchisten, eine neue Ordnung zu etablieren.

61 Baudrillard, Jean: »Das Orbitale und das Nukleare«. 1978, S. 66.

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

151

Ulrich Beck bemerkt, dass sich der Begriff »Sicherheit« im Globalisierungszeitalter »wesentlich geändert« habe: Mehr und mehr wird Sicherheit auch verstanden auf dem Hintergrund einer weltweiten Solidarität (manifestiert durch ein UN-Mandat), als Sicherung elementarer Menschenrechte in Regionen, in denen die elementaren Menschenrechte akut bedroht sind: in denen Staaten zerfallen, privatisierte, kommerzialisierte, gesetzlose, brutale Gewalt Menschen tyrannisiert und quält, Terroristen mit dem Einsatz von Massenvernichtungsmitteln drohen etc.62

Die Aussage des Romans »Blackout« stimmt mit den Ausführungen des deutschen Soziologen weitgehend überein. Auch die Bundesrepublik wird von Elsberg nicht als sichere Insel gesehen, die sich vom Rest der Welt abgrenzen kann. Eine Politik, die sich die Lösung globaler Probleme auf internationaler Ebene nicht zum Ziel setzt, erweise sich als kurzsichtig. Eine Mitarbeiterin des deutschen Wirtschaftsministeriums deutet in Elsbergs Roman darauf hin, dass die Missachtung der elenden Lebenswirklichkeit breiter Bevölkerungsschichten, inner- und außerhalb Europas, zu sich vertiefenden globalen Krisen führen werde: »Einige Wirtschaftsforscher sagen uns lateinamerikanische Verhältnisse voraus, mit einer kleinen reichen Oberschicht, einer verschwindenden Mittelschicht und dem Großteil der Bevölkerung in ärmlichen, ungesicherten Lebensverhältnissen« (B, 767). Nicht zufällig stammt also der Leiter der Anarchisten im Roman »Blackout« aus Brasilien, einem riesengroßen Land mit extremen Klassenunterschieden. Der Drahtzieher für die Attentate ist kurz vor seiner Verhaftung überzeugt, dass sich die Welt einen Schritt entfernt vom wiederholten Ausbruch des Chaos befindet, solange es Menschen gibt, die sich von der globalen Politik und der Weltwirtschaft enttäuscht und ausgenutzt fühlen: Menschen, die genug haben von der Art, wie die westliche Zivilisation und der Raubtierkapitalismus sie knechten und ausbeuten. Die es satthaben, beherrscht, belogen und ausgeraubt zu werden von einer kleinen Gruppe von Verbrechern, die sich Politiker, Banker und Manager betiteln. Die die feige Trägheit in den Reihenhaussiedlungen und Wohnsilos und Bürofabriken nicht mehr ertragen. (B, 780)

Diese pessimistische Diagnose unserer Zeit, in der Bürgerinnen und Bürger ihr Vertrauen in die Politik verlieren und sich das Politische immer mehr von ihrem Alltag entfernt, stimmt mit Baudrillards Thesen überein. In Bezug auf die heutigen Entscheidungsträger stellt der französische Philosoph fest: »Die Macht spielt um Leben, doch es ist bereits zu spät. […] Jeglicher Glanz ist verschwunden, heil bleibt nur die Fiktion eines politischen Universums.«63 Auch in »Das 62 Beck, Die Weltrisikogesellschaft. 2015, S. 266. 63 Baudrillard, »Die Strategie des Realen«. 1978, S. 40 und 42.

152

Ewa Wojno-Owczarska

Orbitale und das Nukleare« äußert Baudrillard seine Überzeugung, dass eine Lösung der aktuellen Probleme auf politischer Ebene nicht mehr möglich ist: »Der politische Einsatz ist tot, es sind nur noch Simulakra von Konflikten und sorgfältig eingegrenzte Einsätze übriggeblieben.«64 Der Autor führt aus, viele politische Parteien repräsentierten nicht mehr die öffentlichen Interessen und versagten daher bei der Erfüllung ihrer historischen Ziele.65 Die Macht des Kapitals entmächtige die Volksvertreter, was deren Anspruch als illusorisch erweise.66 Vor diesem Hintergrund erscheinen dem Philosophen die Versuche unbegründet, die sog. Kritischen Infrastrukturen aufrechtzuerhalten, die er explizit verspottet: »[R]ettet Hab und Gut, rettet den Apparat, rettet den Staat, rettet die Institutionen«.67 In Elsbergs Roman findet man daher weitere Parallelen zu den Auffassungen des französischen Denkers, obwohl der Schriftsteller auch das Leid der von den Desastern Betroffenen berücksichtigt. In »Blackout« kritisiert der Leiter der Terrorgruppe die Konzentration von finanzieller Macht in Institutionen wie dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank: Für ihn sind es »Instrumente der etablierten Staaten, um die Konkurrenz der sogenannten Schwellenländer kleinzuhalten« (B, 782). Bei aller Skepsis Elsbergs gegenüber dem virtuellen Raum, der die schnelle Vorbereitung und Durchführung von Verbrechen ermöglicht, drängt sich der Eindruck auf, dass er als Globalisierungskritiker dem Anarchisten Jorge Pucao eigentlich ein gewisses Recht auf sein Handeln einräumt, wenn er den administrativen Institutionen ihre Ohnmacht, den Politikern ihr Machtstreben und den globalen Konzernen ihre Geldgier ohne Rücksicht auf die Interessen der Bürgerinnen und Bürger vorwirft. In einem Presseinterview für den »Falter« stellt der Schriftsteller fest: Ich versuche […], verschiedene Positionen abzubilden. Auch Haltungen, mit denen ich nicht unbedingt einverstanden bin, möchte ich nicht von vornherein denunzieren, weil sie womöglich ihre Berechtigung haben. Man kann dem so genannten Krieg gegen den Terror der USA und ihrer Verbündeten diverse Dinge vorwerfen. Auf der anderen Seite ist so eine Situation nie nur schwarzweiß. Jemand, der Drohnenschläge befiehlt, mag dafür gute Gründe haben. Diese Ambivalenz kann man schon aufzeigen.68

64 Baudrillard, »Das Orbitale und das Nukleare«. 1978, S. 54. 65 Vgl. Baudrillard, Jean: »Was veranlaßt Althusser zu schreiben?«. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 99–110, hier S. 106. 66 Vgl. Baudrillard, Jean: »Das Zaubergefecht oder die letzte Flöte«. In: Jean Baudrillard: Agonie des Realen. Berlin: Merve Verlag 1978, S. 71–84, hier S. 82. 67 Baudrillard, »Was veranlaßt Althusser zu schreiben?«. 1978, S. 102. 68 Fasthuber, Sebastian: »›Eigentlich bin ich proamerikanisch‹. Der Wiener Bestsellerautor Marc Elsberg über seinen neuen Roman, die USA und die Verantwortung der Politik«. In: Falter 12/21. Auf: https://www.falter.at/zeitung/20210324/-eigentlich-bin-ich-proamerikanisch /_8ff14f5d2e?token=e414ec0a85898661 (Zugriff am 24. 03. 2021).

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

153

Der Schriftsteller verweist in »Blackout« sowohl auf die negativen Folgen der Globalisierung, insbesondere in den Bereichen Technologie, Wirtschaft und Politik, als auch auf die sozialen Missstände weltweit; so drängt sich die Vermutung auf, gerade das beängstigende Zukunftsszenario solle Leserinnen und Leser zum Handeln aufrufen. Somit unterstützt Elsberg durch dieses Vorgehen die Postulate des aufgeklärten Katastrophismus. In seinem Roman warnt er vor einem Zukunftsszenario, das Ulrich Beck in seinem Text »Ausblick: Untergang à la carte – Die Brasilianisierung der Welt« vorstellt: »In gefährdeten Innenstädten leben und arbeiten beschlipste Angestellte in videoüberwachten, nach dem alten Schloss-Prinzip eng verschachtelten Hochhäusern – Trutzburgen, die von transnationalen Konzernen bestückt und regiert werden.«69 Der österreichische Schriftsteller bildet im Werk »Blackout« eine ähnliche dystopische Zukunftsvision für die globalisierte Welt ab: Trotz der Lösung der technischen Probleme des Stromnetzes ist ein Normalzustand für die Protagonistinnen und Protagonisten nicht wiederherstellbar, da die Ursachen des Zerfalls der globalen Gesellschaft nicht behoben sind, zu denen in seinem Roman die Rivalität der einzelnen Staaten untereinander, und, auf menschlicher Ebene, die Konzentration auf die eigenen Interessen und die Gleichgültigkeit gegenüber dem Leid der Anderen zählen. So ist die Infragestellung der Digitalisierung sämtlicher Lebensbereiche und des »zivilisatorischen Urvertrauen[s] in die Kontrollierbarkeit« der Technik nur ein Teil der tiefen Kritik an den im Globalisierungszeitalter geltenden Maßstäben.70 Dank der Einführung des filmischen Erzählstils gelingt es dem Autor, in den unterschiedlichsten Romanepisoden ein breites Spektrum an Positionen und Meinungen vorzustellen, aus dem sich ein facettenreiches Bild der Gefahren ergibt, die die Digitalisierung heraufbeschwört.

Zusammenfassung In Marc Elsbergs Roman »Blackout« löst ein Versagen der computergesteuerten Systeme eine Kettenreaktion aus, die nicht nur zum Stromausfall in Europa und den USA führt, sondern auch die Mängel der politischen Systeme und die Schwächung der sozialen Beziehungen ans Licht bringt. Wie oben gezeigt, steht hier das sabotierte Stromnetz als Metapher für das Scheitern der grenzüberschreitenden Kooperation, die sich in Krisenzeiten nicht bewährt, was der österreichische Schriftsteller in seiner Dystopie als negative Globalisierungsfolge wertet.

69 Beck, Ulrich: »Ausblick: Untergang à la carte – Die Brasilianisierung der Welt«. In: Ulrich Beck: Was ist Globalisierung? Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 2007, S. 266–268. 70 Beck, Die Weltrisikogesellschaft. 2015, S. 38.

154

Ewa Wojno-Owczarska

Einen aufschlussreichen Hinweis für die Interpretation von »Blackout« als Ausdruck der Globalisierungskritik des Autors bietet im vorliegenden Beitrag Jean Baudrillards Theorie der Auflösung der globalen Gesellschaft. Die Technisierung sämtlicher Lebensbereiche, verbunden mit krasser Gewinnsucht, wird im 21. Jahrhundert vom Verfall der ethischen Werte begleitet, der die Strukturen des menschlichen Zusammenlebens wie eine Krankheit unterminiert, bis diese Schwäche zum Einfallstor für gefährliche Tendenzen bis hin zum Terrorismus führt. In einer pessimistischen Diagnose unserer Zukunft stellt Jean Baudrillard fest, die soziale Gemeinschaft habe den Zustand der Zerstörung von innen erreicht. Die Rückkehr zur Normalität halten daher auch Elsbergs Protagonistinnen und Protagonisten kaum für möglich, selbst nach der Wiederherstellung der grenzüberschreitenden Stromversorgung. Der von Günther Anders prophezeite Sieg der Technik über den Menschen führt im Werk »Blackout« zur Aufdeckung der gesellschaftlichen Missstände, der wahren Ursache für den Niedergang unserer Zivilisation. Sigmund Freud stellt fest: »Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß die Menschen gemeinhin mit falschen Maßstäben messen, Macht, Erfolg und Reichtum für sich anstreben und bei anderen bewundern, die wahren Werte des Lebens aber unterschätzen.«71 Diese Worte bleiben auch im 21. Jahrhundert aktuell, jedoch wird das Wissen um die Schwächen der globalen Sozialstrukturen in der Regel unterdrückt. Es bedarf einer Katastrophe, wie des von Elsberg imaginierten Blackouts, um den Menschen die sittliche Anforderung bewusst zu machen, dass die Regeln des Zusammenlebens auf unserem Planeten neu überdacht werden müssen: »Weil es wenn die Flut morgen kommt, fürs Erinnern zu spät sein wird und zu spät fürs Betrauern. Und weil es dann niemanden mehr geben wird, der sich unser wird entsinnen können.«72 Vom katastrophalen Zustand der globalen Gesellschaft und den Mängeln in der internationalen Zusammenarbeit zeugt in Elsbergs Werk die Tatsache, dass Politiker weltweit keine gemeinsamen Pläne verwirklichen können, selbst wenn es darum geht, Terroristen zu stoppen und die Folgen des Desasters zu lindern. Trotz bester Ausstattung erscheinen hier die vereinten Polizeikräfte der EU und des CIA einschließlich der Terror-Spezialeinheiten nach den Cyberattacken als Muster an Hilflosigkeit, da die Anarchisten Lücken in den computergesteuerten Sicherheitssystemen nutzen und Programme installieren, die sich auch ohne menschliches Eingreifen aktivieren können. Das Unbehagen des Lesers wird insbesondere durch die politische Lage in Europa geweckt: Die Regierungen übertreffen einander in ihrer Beschuldigungs- und Desinformationspolitik. Dies 71 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Kapitel I. Auf: https://www.projekt-gutenbe rg.org/freud/unbehag/unbehag.html (Zugriff am 31. 03. 2021). 72 Anders, Günther: Die atomare Drohung. München: Beck 1971, S. 7.

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

155

führt in vielen der vom Stromausfall betroffenen Ländern zur Absetzung der Machthaber bzw. zu Putschversuchen; die Anarchie probt die Weltherrschaft. Das Versagen der internationalen Sicherheitsstrukturen zeigt sich überdeutlich nach den Häftlingsausbrüchen und den Straßenrandalen in ganz Europa. Elsbergs Globalisierungskritik bezieht sich u. a. auf die Unfähigkeit länderübergreifender Organisationen zur Solidarität und zum gemeinsamen Handeln, insbesondere dem der EU-Institutionen. Die Schwäche des Systems zeigt sich im Mangel an Kooperation in nationaler und supranationaler Politik. Die Beziehungen innerhalb der EU sind in Elsbergs Werk von gegenseitiger Rivalität und nationalen Vorurteilen geprägt. Während der Krise bleiben hilfsbedürftige Bürgerinnen und Bürger ebenso unversorgt wie die Katastrophenflüchtlinge, wenn sie nicht auf die Hilfe privater Wohlfahrtsorganisationen zurückfallen können. Armut und Hunger bestimmen nach dem Blackout den Alltag weltweit, selbst in berühmten Kulturmetropolen Europas, denn auch das Nötigste ist nicht gesichert, nachdem Transport- und Verkehrsmittel den Betrieb eingestellt haben. Der Ausbruch von Anarchie und Chaos ist in Elsbergs Werk auf unzulängliche Lösungen zurückzuführen, die einerseits für den globalen Warenverkehr, andererseits für die virtuellen Strom- und Finanzmärkte gelten. Das Fehlen eines Mosaiksteins im Weichbild der Multis führt zu durchgehenden Problemen in der Wirtschaft und im Finanzwesen, wo eine Krise die Regulierung der Märkte aufhebt. Elsbergs Zustandsbeschreibung unterstreicht Baudrillards These vom unabwendbaren Zerfall der westlichen Systeme. Gesellschaftliche Unterschiede, die sich bereits vor dem Desaster bemerkbar machten, verschärfen sich angesichts der weltweiten Krise, die mehrere Bereiche erfasst: von der Energieversorgung über Transport und Industrie bis hin zur landwirtschaftlichen Produktion, die durch die Folgen der atomaren Bestrahlung weitgehend ausfällt.73 Trotz dieser sichtbaren Schwächen des gesamteuropäischen Systems wird nach dem Blackout keine neue Weltordnung entworfen. Es liegt die Vermutung nahe, dass sich die sozialen Unterschiede vergrößern und neue Diktaturen entstehen. Mit dem Mittel der Globalisierungskritik bringt Elsbergs Roman zudem deutlich seine Vorbehalte gegen die fortschreitende Digitalisierung in seinen umfangreichen, vielschichtigen Text ein, der sich nicht nur als ein spannender Thriller und als Warnung vor einem übermäßigen Vertrauen in die Technik, sondern auch als Ausdruck seiner tiefen Reflexion über den Zustand unserer Zivilisation lesen lässt. Zum Glück »gibt [es] einzelne Männer, denen sich die Verehrung ihrer Zeitgenossen nicht versagt, obwohl ihre Größe auf Eigenschaften und Leistungen ruht, die den Zielen und Idealen der Menge durchaus 73 Dazu vgl. u. a. Global Crises and Twenty-First-Century World Literature. Hrsg. von Hansong Dan/Ewa Wojno-Owczarska. Comparative Literature Studies 55.2 [Special Issue], Penn State University 2018.

156

Ewa Wojno-Owczarska

fremd sind.«74 Freuds Worte treffen in Elsbergs Werk jedoch auf einen AntiHelden zu, einen ehemaligen Hacker, dessen Wissen und Erfahrung erlauben, der Ursache des Blackouts auf den Grund zu gehen, die Terroristen im Netz aufzuspüren wie auch zur Verhaftung des Hauptverdächtigen persönlich beizutragen. Ausgehend von einem singulären Verkehrsunfall in Rom, in den die männliche Hauptfigur, Piero Manzano, verwickelt wird, weitet sich die Erzählperspektive allmählich ins Globale aus: Episoden aus dem Leben unterschiedlicher EU-Bürgerinnen und -Bürger und Berichte über die Gesamtlage in Europa und den Vereinigten Staaten veranschaulichen das Ausmaß der Katastrophenfolgen. Globalisierte politische Institutionen erfüllen ihre Funktion nicht mehr. Länderübergreifende Sicherheitsorganisationen erweisen sich als handlungsunfähig; die Eigeninitiative des Einzelnen ist hingegen gefordert. Der Plot in Elsbergs Roman ist zwar beängstigend, jedoch realitätsnah; diesen Eindruck unterstützen Informationen über die weltweit angewandten technologischen Lösungen und Auszüge aus fiktiven Medienberichten.75 Der Autor wendet sich hier gegen idealisierende Vorstellungen von digitalen Kommunikationsmitteln und von modernsten Technologien, die von Weltkonzernen produziert werden; gerade die globale Nutzung computergesteuerter Software derselben Marke macht das Stromnetz im Roman »Blackout« für anarchistische Attacken anfällig. Durch die Globalisierungskritik bringt Elsbergs Werk deutlich seine Vorbehalte gegen die fortschreitende Digitalisierung und Automatisierung in sämtlichen Lebensbereichen zum Ausdruck. Die Manipulierbarkeit der konsumorientierten Gesellschaft durch das Diktat der modernen Technologien bei gleichzeitigem Verfall der ethischen Werte unterminiert die globale Gemeinschaft wie ein Virus, bis diese Degeneration zu Schwachstellen und einem Einfallstor für das Chaos führt. In einem Presseinterview betont der österreichische Schriftsteller die Aufgabe der engagierten Künstler, die vielschichtigen Probleme der globalisierten Welt aufzugreifen, wobei er in Hinsicht auf die Fähigkeiten der künstlichen Intelligenz skeptisch bleibt: »Letztendlich geht es aber immer darum, seinen eigenen Weg zu gehen. Sonst könnte man das Zeug von Computern schreiben lassen.«76 Nach den Cyberattacken, die kaum vorstellbare Desaster wie in einem Katastrophenfilm auslösen, ist das Leben in Elsbergs dystopischer Zukunftsvision bis 74 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. Kapitel I. Auf: https://www.projekt-gutenbe rg.org/freud/unbehag/unbehag.html (Zugriff am 31. 03. 2021). 75 Vgl. dazu u. a. Pörksen, Bernhard/Bleicher, Joan Kristin (Hrsg.): Grenzgänger: Formen des New Journalism. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004. 76 Fasthuber, Sebastian: »›Eigentlich bin ich proamerikanisch‹. Der Wiener Bestsellerautor Marc Elsberg über seinen neuen Roman, die USA und die Verantwortung der Politik«. In: Falter 12/21. Auf: https://www.falter.at/zeitung/20210324/-eigentlich-bin-ich-proamerikanisch/_8 ff14f5d2e?token=e414ec0a85898661 (Zugriff am 24. 03. 2021).

Zur Globalisierungskritik in Marc Elsbergs Roman »Blackout«

157

in die entferntesten Teile unseres Planeten aus dem Gleichgewicht geraten. Die Überzeugung, einer der EU-Mitgliedstaaten könne angesichts der Metakrise77 brennende Probleme wie das der Migration oder des Verbrauchs von Energieressourcen allein lösen, erweist sich als unzeitgemäß. Die Diplomatie erschöpft sich in Ersatzhandlungen; Politiker richten sich nicht mehr nach dem Wohl der Bürgerinnen und Bürger, sondern beugen sich der Allmacht weltweit agierender Finanzhaie. Vor diesem Hintergrund bestätigen die Terroranschläge genau die Krankheit der globalen Gesellschaft, von der u. a. Jean Baudrillard spricht. Ein friedliches Gemeinwesen sei weltweit nicht möglich, wenn die zahlreichen Probleme im Inneren ungelöst bleiben; sie seien der wahre Auslöser für den immanenten apokalyptischen Umsturz. Unter den Staaten der Welt, insbesondere den Profiteuren der Globalisierung, existiere große Rivalität; Verleumdungen und Machtspiele kennzeichneten die politische Bühne. Auch die Frage nach dem Status der BRD in der internationalen Politik greift Elsberg auf. Überall sei man auf seine partikulären Interessen fokussiert und beharre auf der nationalen Perspektive, um die Probleme unseres Zeitalters zu lösen, vom Stromverbrauch über das Gesundheitswesen, bis hin zur Frage des Ausbaus des Kernenergiesektors. Der unparteiische globale Überblick auf die Gesamtlage sei im Schwinden. In dieser ungünstigen Situation falle es Einzelgängern wie Elsbergs Romanprotagonisten Piero Manzano zu, fortschrittliche Initiativen zu entwickeln. Insofern ist die erschreckende Zukunftsvision im Roman »Blackout« auch als Aufforderung zu deuten, unsere Lebenswirklichkeit zu überdenken und die zumeist selbstgesetzten engen Grenzen zu überschreiten. In Übereinstimmung mit Dupuys Theorie des aufgeklärten Katastrophismus ist das Werk als Aufruf zu erkennen, trotz aller Globalisierung und Technisierung unserer Welt dem Einbruch der apokalyptischen Zustände zu widerstehen, sich verantwortlich für die positive Entwicklung der Staatengemeinschaften einzusetzen und ihre Zukunft mitzugestalten, besonders auch durch die Unterstützung der internationalen Zusammenarbeit in Wissenschaft und Kunst.

77 Vgl. Leggewie, Claus/Welzer, Harald: Das Ende der Welt wie wir sie kannten. Klima, Zukunft und die Chancen der Demokratie. Fischer Verlag: Frankfurt am Main 2009.

Volker Neuhaus (Osnabrück)

Pan Kiehot und Don Quijote. Zwei Ritter aus König Günters Tafelrunde oder: Was würde Günter Grass in Zeiten der digitalen Globalisierung und der globalen Digitalisierung zur Corona-Pandemie sagen?

Die dreiunddreißigjährige, niemals getrübte, stets von wechselseitiger und niemals kriselnder oder gar in Frage gestellter Loyalität und Hilfsbereitschaft getragene Freundschaft zwischen Norbert Honsza und mir begann 1987, als wir uns beide als Mitglieder einer Runde von Grass-Forschern aus Polen und den beiden noch streng getrennten Deutschlands begegneten. Ich hatte als mein Entréebillett die soeben ausgedruckte und in sog. ›Aushängebögen‹ vorliegende zehnbändige Grass-Gesamtausgabe im Gepäck. Der Ort war das von Fontane geliebte Krummhübel, »das heute, weil seit Kriegsende in polnischem Besitz, Karpacz heißt«, schreibt Grass später in »Ein weites Feld« in Erinnerung an diese Tage; denn um Grass und seine Frau Ute hatten wir uns dort auf Einladung der Universität Wrocław versammelt. Der Vergleich mit König Artus’ Tafelrunde drängte sich mir bei den Vorarbeiten für mein persönliches Gedenken an Norbert Honsza blitzartig auf, hatten sich doch lauter Grass’sche Paladine während sechs festlicher Tage vom 17. bis zum 23. Mai 1987 zu König Artus liebster Jahreszeit in einer der schönsten Landschaften Mitteleuropas wie auf einem Hoftag um König Günter und Königin Ute versammelt.1 Den Gawein, »der Tafelrunde höchster Preis«, wie Wolfram von Eschenbach ihn genannt hat, gab im Amt eines Hofmarschalls im Riesengebirge Marian Szyrocki, Grass’ ältester Freund in der Runde und vor allem, zusammen mit Albrecht Schöne und Leonard Foster, Inspirator und Stichwortgeber für das »Treffen in Telgte«, und König wie Königin saßen vom Frühstück bis zu den abendlichen Gelagen wie selbstverständlich in der Tafelrunde. Sogar einen lästernden Keie gab es – einer der ›Paladine‹ hatte inzwischen die Seiten gewechselt und als abendliches Vortragsthema ernsthaft das damals gerade Aufsehen erregende gehässige Machwerk »Der Grass« aus der Feder eines gewissen »Günter Ratte«2 gewählt. 1 Vgl. dazu Der Mensch wird an seiner Dummheit sterben: Günter-Grass-Konferenz, Karpacz 17– 23 Mai 1987. Hg. v. Norbert Honsza, Jerzy Łukosz, Marian Szyrocki. Germanica Wratislaviensia [Sonderband], Wrocław 1990. 2 Nebenbei: Bei dem bis heute nicht entschlüsselten Verfasser handelt es sich um Jürgen Lodemann.

160

Volker Neuhaus

In dieser allgemeinen ›hövescheit‹, wie es in der deutschen Artusepik heißen würde, kam doch das eigentlich ›Ritterliche‹ des Artusmythos als Kampf für und um Werte nicht zu kurz. Die PaladinInnen in der Tafelrunde wurden zweimal Zeuge, wie König Artus selbst zur Lanze griff, einmal, als Grass in einer Diskussion gegen eine polnische Teilnehmerin mit orthodox marxistischen Argumenten in die Schranken ritt, die im Immer-Noch-Ostblock einen ideologisch abweichlerischen DDR-Teilnehmer immer schärfer in die Enge trieb, dann gegen die Wand quetschte und ihn dort genüsslich festzunageln begann, so dass ihm nur noch die Alternative zwischen totalem Gesichtsverlust vor den westlichen Tafelrundlern oder der Gefährdung seines Leipziger Lehrstuhls blieb – oder eben Artus’ Lanze half. Für den Erhalt des Lehrstuhls war das vielleicht nicht förderlich, aber den verlor der Verteidigte dann 1990 aus eher umgekehrten Gründen. Der zweite Anlass, bei dem Artus selbst unvermutet zur Lanze griff, war der festliche Abschlussabend. Am Samstagvormittag war der Kongress zu Ende gegangen, der Nachmittag galt der Touristik mit einer Rundfahrt durch die Umgebung, bei der u. a. Gerhart Hauptmanns ehemalige Residenz Haus Wiesenstein und eine Glasbläserei besichtigt wurden. Natürlich gab es Tischreden und die wichtigste oblag dem zu König Günters Ehren eigens zum Festmahl angereisten Woiwoden – vergleichbar einem deutschen Ministerpräsidenten – der Woiwodschaft Niederschlesien. Er las den üblichen einen Ehrengast gebührend feiernden und ihm schmeichelnden Referentenentwurf vor, für uns Deutsche wurde er abschnittsweise übersetzt und einen Gang später antwortete der solcherart Geehrte. Und überraschte sämtliche Anwesenden wie einst im Oktober 1965 die Darmstädter Festgemeinde bei der Verleihung des Büchner-Preises, als Grass statt einer zu erwartenden interpretierenden Hommage an den Namensgeber des Preises eine empörte Abrechnung mit der deutschen Zivilgesellschaft im Ganzen und seinen Kollegen im speziellen oder sogar im Einzelnen und deren Wahlkampfverhalten im soeben zu Ende gegangenen Bundestagswahlkampf seinen Zuhörern förmlich um die Ohren schlug. Wie damals hätte Grass auch knapp zwölf Jahre später sagen können: »Meine Damen und Herren. Wie peinlich. Ich betrüge Sie in aller Öffentlichkeit um den Genuß einer Festrede«,3 als er immer wieder den Woiwoden direkt ansprach und ihn mit den Punkt für Punkt drastisch beschriebenen Missständen in den Stunden zuvor allen Gästen als Sehenswürdigkeit stolz präsentierten Glashütte konfrontierte. Wie könne man im hochentwickelten Sozialismus, der im Brudervolk bereits in den endgültigen Kommunismus überzugehen im Begriff sei, eine Fabrik betreiben, in der von den Glasbläsern bis zu den umher3 Vgl. dazu Rede über das Selbstverständliche. Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises in Darmstadt, NGA 20, S. 171ff.

Pan Kiehot und Don Quijote

161

wandelnden und die Produkte in Körben einsammelnden Frauen ohne jeden Arbeitsschutz vor Hitze, Staub, darunter sogar Glasstäuben unter frühkapitalistischen Bedingungen arbeiteten, die genau 125 Jahre zuvor zur Entstehung von Gewerkschaften geführt hätten.4 An besonders aggressiv formulierten Stellen beschwor Grass den Übersetzer immer wieder, gerade diesen Passus ja wörtlich zu übersetzen, was bei einem zu über zwei Dritteln perfekt zweisprachigen Publikum wohl kaum vonnöten war – kein Übersetzer hätte hier beschönigen können. Norbert Honsza und ich, mit Grass’ literarischem Werk bestens vertraut, haben damals an einem Mikroevent – ich durchaus ein wenig betreten – erstmals König Artus im Kampf erlebt und haben beide schlagartig begriffen – hier spricht kein Politiker, sondern ein von Missständen tief betroffener und in der Geschichte beschlagener Humanist klagt an, der sich des Öfteren dazu bekannt hat, seine moralischen Maßstäbe der Setzung der christlichen Tradition, speziell der Bergpredigt mit ihrer Seligpreisung der nach Gerechtigkeit Hungernden und Dürstenden zu entnehmen. Ein Politiker hätte den Woiwoden nach der Tafel angesprochen – schließlich wimmelte es von kompetenten und Grass zugeneigten Dolmetschern –, ihm seine Eindrücke, durchaus plastisch und anklagend geschildert, der Woiwode hätte dabei ständig mit dem Kopf genickt und dann erklärt, Grass habe ja Recht und er danke ihm für seine klaren Worte, aber genau die von Grass angemahnten Reformen stünden gerade für diesen Betrieb schon im nächsten Monat an und er hoffe, dass Grass schon bald wieder in seine Woiwodschaft käme, dann werde er über die Fortschritte erstaunt sein. Solche politischen Wege hat Grass lebenslang nie betreten; für ihn war Politik nie die »Kunst des Möglichen« und »entstand« für ihn auch nie »im Streit«. Bei Grass unterlagen alle seine vermeintlich »politisch« klingenden und auch von der Öffentlichkeit meist so aufgefassten Verlautbarungen immer dem Ablaufgesetz dieses Samstags in Karpacz: Er hatte sich ausreichend Zeit genommen, über das Gesehene nachzudenken, war in dieser Zeit, ob es sich nun um einen Nachmittag oder mehrere Monaten handelte, zu einem klaren Ergebnis gekommen und hatte dieses dann überraschend verkündet – zu diskutieren oder zu erörtern gab es da nichts und an den meist dadurch ausgelösten und oft heftigen Diskussionen beteiligte er sich nicht weiter – mit dem britischen Königshaus teilt Grass die Devise never complain, never explain. Wo Grass, wie sein Briefwechsel mit Willy Brandt beweist, den stärksten »politischen« Einfluss genommen und damit den größten Erfolg erzielt hat, geschah dies gerade durch seine intransigente Hartnäckigkeit – bei der Verbesserung des Verhältnisses zu Israel und der Aussöh4 In einem Gedicht von Grass, seiner Sammlung alter Gläser gewidmet, heißt es: »Weithergeholt Atem, der nicht zerbrach./ So überlebt ohne Namen/ Luft und ihr Mehrwert:/ die Glasbläser, liest man, wurden nicht alt« (NGA 1, S. 240).

162

Volker Neuhaus

nung mit Polen. Wenn die immer noch umlaufenden Gerüchte, Grass habe um 1970 irgendwann einen Ministerposten in einem Kabinett Brandt angestrebt, einen wahren Kern haben sollten, so hat sich dieser zu Grass’, Brandts und unserem Glück nie realisiert. Dieser Karpacz’sche Modellfall für Grass’ Politikverständnis – Goethe hätte es nachgerade dessen »Urphänomen« genannt: »ideal als das letzte Erkennbare, real als erkannt, symbolisch, weil es alle Fälle begreift, identisch mit allen Fällen« – liegt in der Tat all den vielen Fehden, die Grass in politicis gefochten hat, zugrunde, so auch der, die er am 04. 04. 2012 mit seinem Gedicht »Was gesagt werden muß« in der »Süddeutschen Zeitung«5 auslöste. Der Anfang »Warum schweige ich, verschweige zu lange, was offensichtlich ist und in Planspielen geübt wurde« beschreibt die diesmal sogar »zu lange« Bedenkzeit, die dem Grass’schen Losschlagen schon in Karpacz vorausgegangen war, und nennt den Anstoß, der es jetzt ausgelöst hat: einen drohenden atomaren »Erstschlag« gegen den Iran, »in Planspielen geübt […], an deren Ende als Überlebende wir allenfalls Fußnoten sind.« Niemand in seinen gesunden Sinnen denkt hier an Israel – warum auch: Hier sind eindeutig die USA gemeint, deren Rüstungs- und Strategiedebatten mit dem für die Nato proklamierten »Recht auf den Erstschlag« und den »Planspielen« des Pentagons in der Ära Reagan zur »Führbarkeit eines Atomkriegs« mitsamt seinen »Megatoten« und den wenigen »Überlebenden«, »offensichtlich«, weil öffentlich geführt sind. In früheren Reden und Schriften von Grass ist all das nachzulesen. Wer wüsste dergleichen von Israel? In dieser nie abgerissenen Kontinuität sieht Grass auch die jüngeren und jüngsten militärischen »Erstschläge« der USA und des »Westens« gegen den Irak, die Kriege in Libyen oder Afghanistan und ebenfalls einen seit langem offen diskutierten bevorstehenden Angriff der USA auf den Iran inklusive seiner denkbaren atomaren Ausweitung. »Israel« wird erst ab der dritten Strophe zögernd umkreist und umschrieben und in der fünften endlich mit Namen genannt und nicht etwa als Aggressor im globalen Maßstab, sondern als eine öffentlich heimlich Atomwaffen besitzende Nation, wie sie im Iran nur vermutet werden. Und so fordert das Gedicht schlussendlich eine »unbehinderte und permanente Kontrolle/des israelischen atomaren Potentials/und der iranischen Atomanlagen/durch eine internationale Instanz.« Zum einheitlich antiisraelischen Gedicht wurde der Text durch einen merkwürdigen Umstand: Dem enragierten Anti-Antisemiten Hendryk M. Broder war tags zuvor anonym und unter konspiratorischen Umständen eine Kopie des Gedichts zugespielt worden, woraufhin der eine wüst antigrassische und dessen Aussagen willkürlich grob entstellende Polemik verfasste, im Internet verbreitete 5 Den ganzen Vorfall habe ich in meiner Grass-Biographie Günter Grass – Schriftsteller – Künstler – Zeitgenosse. Göttingen: Steidl 2010, S. 450–458 ausführlich dargelegt.

Pan Kiehot und Don Quijote

163

und die am nächsten Morgen in der Welt zu lesen war und in der Regel dem weniger von Fanfarenstößen begleiteten Original in der Süddeutschen zuvor kam. Jedenfalls übernehmen alle, aber ausnahmslos alle daraufhin über Grass voll Hass und Wut bis hin zu zahlreichen Todeswünschen ausgeschütteten Tiraden Broders Lesart und alle machten den 16jährig zur Waffen-SS Einberufenen 68 Jahre später zum Verfasser des Gedichts, keiner bequemte sich zu dessen vorurteilsfreier Lektüre.6 Als ich daraufhin zur schlichten Richtigstellung eine solche vorlegte und deshalb die Pressestelle vom Steidl Verlag, Grass’ Verleger seit zwanzig Jahren, anrief, wurde ich recht barsch beschieden, keine Redaktion in Deutschland würde jetzt einen Grass verteidigenden Text annehmen und man kenne auch persönlich keinen Redakteur, der Grass schlicht wohlgesonnen sei. Ob sich das in dieser barschen Endgültigkeit wirklich exakt so verhielt, bleibe dahingestellt, jedenfalls bestätigten meine Telefonate mit den Rundfunkredakteuren, die ich gerade von gemeinsamen Grass-Aktivitäten her gut zu kennen glaubte, dieses Bild. Einzig mein ehemaliger Schüler Jürgen Wiebicke organisierte bereits einen knappen Monat später für den 3. Mai zur besten Sendezeit eine Live-Hörfunksendung des WDR aus dem gut gefüllten Kleinen Sendesaal des Kölner Funkhauses, in der ich meine Lesart des Gedichts vortragen und in der Diskussion mit einem renommierten Kölner Kulturjournalisten und dem Publikum gegen anfänglichen Widerspruch siegreich vereidigen und behaupten konnte. Gedruckt wurde der Text schließlich doch noch, Norbert Honsza sei Dank: Was im Frühjahr 2012 in ganz Deutschland wenigstens »einmal gesagt werden«, aber keineswegs gedruckt werden konnte, vermittelte mein polnischer Freund auf der Stelle nach Polen7 und bat mich zusätzlich noch für dieselbe Zeitschrift um eine Gesamtwürdigung von Günter Grass zu dessen anstehendem 85. Geburtstag.8 Um diese so nüchtern sachliche wie eindeutige Widerlegung der interpretatorischen Ungeheuerlichkeiten und geradezu verbrecherischen Lügen scheinbarer Autoritäten, wie der des seinerzeit recht bekannten Frank Schirrmachers9 und seines akademischen Lehrers Hans Ulrich Gumbrecht,10 schließlich doch noch auch in Deutschland zu Gehör zu bringen, kümmerte sich Norbert 6 S. dazu die Sammlung Was gesagt wurde. Eine Dokumentation über Günter Grass’ ›Was gesagt werden muss‹ und die deutsche Debatte. Hg. v. Heinrich Detering und Per Ohrgaard. Steidl: Göttingen 2013. 7 »Die Debatte um ein Grass-Gedicht: Klärende Erläuterungen und dringend notwendige Richtigstellungen«. In: Zbliz˙enia Interkulturowe. Interkulturelle Annäherungen. Polen – Deutschland – Europa, Nr. 11 (2012), S. 56–63. 8 »›…lehne ich glücklich am Zaun, ohne die Hühner zählen zu müssen, weil sie zahllos sind und sich ständig vermehren‹ – Günter Grass zum 85. Geburtstag«. In: Zbliz˙enia Interkulturowe, Nr. 12 (2012), S. 7–14. 9 »Was Grass uns sagen will.« In: Detering/Ohrgaard, Was gesagt wurde. 2013, S. 49–52. 10 Detering/Ohrgaard, Was gesagt wurde. 2013, S. 153–157.

164

Volker Neuhaus

Honsza um den Druck in einer polnischen Druckerei auf gutem Papier bei einem exzellenten Layout und mit einem attraktiven Umschlag und das alles zu einem guten Preis. Und so kam es zu einer ansehnlichen, gut gestalteten Broschüre, verfasst von mir, »herausgegeben von Norbert Honsza« und geschmückt mit einem eindrucksvollen Grass-Porträt aus der Kamera seines Sohnes Tomasz. Beide taten wir es um eben der Gerechtigkeit willen, die auch Grass zur Abfassung seines Gedichts getrieben hatte: Zwei Ritter aus Artus’ Tafelrunde ritten aus um der Gerechtigkeit für König Günter willen. Dass diese Schutzschrift nun ausgerechnet den Titel »Eine Lanze für Günter Grass« trug, mag acht Jahre später unterschwellig auf mein eingangs gewähltes Bild von Grass als König Artus und seinen Paladinen zurückgewirkt haben, war aber indianischen Ursprungs: Das einzige polnische Buch, dessen Titel ich jemals sofort ins Deutsche übersetzen konnte, als ich es im Fenster einer Wrocławer Buchhandlung liegen sah, hieß »Karol May– anatomia sukcesu« und hatte Norbert Honsza zum Verfasser – die 50.000er Erstauflage war noch am selben Tag vergriffen. So erfuhr ich von unserer weiteren gemeinsamen Liebe neben der zu Günter Grass – der zu Karl May. In der Zeit von dessen tiefster Verfemung in Deutschland als überführter Hochstapler und geborener Verbrecher und Verfasser pornographischer Ferkeleien hatte sein späterer Verleger, der Jurist und Journalist Euchar Albrecht Schmid, dessen Rehabilitation mit der berühmt gewordenen Verteidigungsschrift »Eine Lanze für Karl May« eingeleitet, genau in diesem Sinne wollten wir nun »Eine Lanze für Günter Grass« brechen. Ich schickte das Heftchen an die deutschen FeuilletonRedaktionen und so gut wie alle namhaften Kulturjournalisten, insgesamt wohl hundert persönliche Adressen – und erhielt vier nichtssagend freundliche Antworten. Zwei Artusritter, die um ihres Königs Günter willen ausgeritten waren, kehrten wie Pan Kiehot und Don Quijote gescheitert, aber nicht besiegt zurück – wie anders als vergeblich könnte der Kampf gegen Windmühlen und eine ganze Herde Schafe sonst ausgehen? Genau das hat Grass immer wieder erlebt und ist doch immer wieder ausgeritten. In diesem Sinne möchte ich Sie bitten, mich auf einer imaginären Donquijoterie des Autors alias König Artus zu begleiten – bei der Überlegung, wie Grass wohl auf Corona reagiert hätte. Grass’ Antwort war dabei schon im Titel des Karpaczer Kongresses von 1987, einem Grass-Zitat zu lesen: »Der Mensch wird an seiner Dummheit sterben«. Ich beginne mit einem heute vornehm so genannten »trivium«: Lebte Grass noch, wäre er jetzt Ende März 2021 trotz seiner »Alterskohorte« und seiner starken und einschlägigen Herz-Lungen-Vorschädigung vermutlich immer noch nicht geimpft, da er nicht in einer Seniorenresidenz lebte, sondern mit seiner etwas jüngeren Ehefrau im eigenen Heim auf dem Lande. Dorthin hätten die erst

Pan Kiehot und Don Quijote

165

noch zu organisierenden Impfaußenkommandos bestimmt noch nicht gefunden und die Zuweisung eines Impfplatzes in einem weit entlegenen Impfzentrum hätte eines Internet-Antrags durch die »Impflinge« selbst bedurft – nur, Grassens hatten nie einen Internetanschluss. Bliebe nur der sie hervorragend betreuende Hausarzt, aber der käme erst, wenn überhaupt, Ende April ins Spiel, auch wenn er gerade im Falle des Ehepaars Grass nicht die durch Hausärzte angeblich gefährdete »Priorisierung« verletzt hätte. Ansonsten ist die eigentliche Frage nach Grass’ Reaktion auf die Pandemie im Grunde eine leichte Frage, denn Jan Ross hat in einem geistreichen Artikel in der ZEIT vom 11. 02. 2021 überzeugend gezeigt, dass die Corona- oder Covid-19Pandemie, die so umstürzend wie aus dem Nichts plötzlich über die Welt hereingebrochen ist und nach der angeblich nichts mehr so sein wird wie vor dem Februar 2020, in einem Jahr keinen einzigen neuen Gedanken produziert hat, vielmehr jeder sich in seinen schon immer geäußerten und vertretenen Vorstellungen und Forderungen bestärkt sah, so wohl auch Grass. Der Papst sah in seiner Enzyklika »Fratelli tutti« im Schmerz, in der Angst, der Unsicherheit und im »Bewusstsein der eigenen Grenzen, welche die Pandemie hervorgerufen habe«, einen Appell, »vor allem den Sinn unserer Existenz zu überdenken«; die »Neue Zürcher Zeitung« pries im Namen einer »Kirche der Marktwirtschaft und der Unternehmerfreiheit« die »individualistische Wettbewerbsgesellschaft«, die allein »Großtaten gewinnorientierter Privatfirmen« wie die schnelle Entwicklung konkurrierender Impfstoffe ermöglicht habe. Ökologen betonten die Erziehung zu Selbstbeschränkung und zur stabilitas loci, während ihre Gegner forderten, jetzt könne nur noch möglichst großes und ungehemmtes Wachstum die aufgelaufenen Schulden schnell tilgen helfen. Die Europäische Kommission sah in einer beschleunigten Europäisierung die Panazee, während sich in Großbritannien die ›Brexiteers‹ bestätigt sahen, durch den Ausbruch in Wuhan die Warner vor China und durch die Bekämpfungserfolge in beiden Koreas und Taiwan die Verfechter eines südöstlich autoritäreren Tugendkatalogs. »Und ist uns«, wie Ross seine Aufzählung schließt, »nicht auch vor der homeofficegetriebenen Karriere des virtuellen Meetings schon einmal zu Ohren gekommen, dass der Digitalisierung die Zukunft gehört?« Insofern hat diese hypothetische Frage nach Grass’ Reaktion auf die Pandemie auch den Vorteil, nahezu alle Gegenstände anzusprechen, die die Herausgeberinnen uns Beiträgern als »Rahmen für Beitragsvorschläge« aufgezählt haben: »Globalisierung, Glokalisierung und Regionalisierung«, »Grenzgänger, Fremde, Flüchtlinge, die Frage nationaler Identitätskonstrukte im Wechselverhältnis mit Alteritätskonstrukten«, »Postkolonialismus« und, »Umweltdesaster«. Dies alles sind Fragen, mit denen sich Grass nachweislich und zentral in den letzten 50 Jahren seines Lebens intensiv beschäftigt hat und die durch Corona wieder aktuell geworden sind.

166

Volker Neuhaus

Eines ist jedenfalls von vornherein sonnenklar: Als Angehöriger einer Generation, deren Jugend ab dem 15. Lebensjahr erst von der Verpflichtung als Flakhelfer, dann vom Arbeitsdienst, von Kriegseinsatz und Kriegsgefangenschaft beherrscht war und die dann, vom Hunger getrieben, oft als Heimatvertriebene oder Ausgebombte, vor einem Nichts standen, in dem sich keinerlei Perspektive auftun wollte, hätte Grass das nahezu universelle Gerede von einer neuen verlorenen Generation, der durch Corona Jugend wie Zukunft gestohlen worden sei, schlichtweg angewidert. Der Zufall wollte es, dass ich mich durch meine Mitarbeit an der Kommentierung des Grass’schen Gesamtwerks, die noch 2021 abgeschlossen werden soll, seit vier Jahren mit Werken eingehend auseinandergesetzt habe, die diese Themen behandeln: »örtlich betäubt« (1969), »Aus dem Tagebuch einer Schnecke« (1972), »Kopfgeburten« (1980) und »Rättin« (1986), samt und sonders weniger populäre und stärker problem- und politikbestimmte Werke mit wenig eingängigen, oft gewöhnungsbedürftigen Erzählfiktionen – die »Unkenrufe« (1992) gehören auch noch in diese Reihe. Offensichtlich bevorzugte Grass bei komplexen, heterogenen und kontroversen Themen komplexe und polyphone Erzählweisen. Gerade wenn man bei Grass gegen Moritz Baßlers Rat durchaus auch »Phänomene der Textebene« einbezieht, springen einen die oben genannten aktuellen und aktuellsten Themen geradezu an, und das bei Werken aus über fünfzig Jahren: Die Fragen nach Identitätskonstrukten im Wechselverhältnis mit Alteritätskonstrukten durchziehen auf der Suche nach einem rätselhaften »Deutschen«, woran er wie auch Thomas Mann und Helmut Schmidt fest glaubte,11 Grass’ gesamtes Werk seit den »Hundejahren« bis zu den »Kopfgeburten« und »Ein weites Feld«; wo wären »Globalisierung, Glokalisierung und Regionalisierung« sowie »Grenzgänger, Fremde, Flüchtlinge« wie die Frage polnisch-deutscher »Identitätskonstrukte im Wechselverhältnis mit Alteritätskonstrukten« bei deren gleichzeitigem Verschwinden im völlig gesichtslosen modernen homo oeconomicus intensiver diskutiert und bildhafter gestaltet als in den »Unkenrufen«? Das Gleiche gilt für den »Postkolonialismus« in den »Kopfgeburten« mit Vicki Baums radikal kolonialkritischen Roman »Liebe und Tod auf Bali« als Prätext und für »Umweltdesaster« und Atomkriegsapokalypse in »Die Rättin«? Große Zustimmung hätte bei Grass sicher die Aussage des Pandemie-Historikers Frank Snowden ausgelöst: Er bezeichnete Covid-19 aufgrund intensiver Austausch- und Investitionsprogramme zwischen den frühen Herden China und Italien, speziell der dichtbesiedelten und stark luftverschmutzten Lombardei, 11 Zu diesem spezifisch »deutschen Wesen«, das im »Vansittartismus« kulminierte, bei Grass vgl. Volker Neuhaus: Günter Grass, 3. Auflage. Metzler: Stuttgart 2010, S. 153f., allgemein ders.: Gipfelgespräche mit Martin Luther – Johann Wolfgang von Goethe – Thomas Mann – Günter Grass. Marixverlag: Wiesbaden 2017, S. 147–155.

Pan Kiehot und Don Quijote

167

aber auch wegen des immer stärkeren Eindringens menschlicher Habitate in bislang unberührte Faunen bei gleichzeitig ständig wachsendem globalen Reiseverkehr und ähnlicher Phänomene »als erste Pandemie der Globalisierung«, der weitere mit Sicherheit folgen würden. Oder, wie der Astrophysiker und Wissenschaftsjournalist Harald Lesch lakonisch sagte: »Nach der Pandemie ist vor der Pandemie«. Inhaltlich am nächsten berührt sich die Position des Papstes im Roßschen Panazeen-Katalog mit der von Günter Grass: Schmerz, Angst, Unsicherheit und das »Bewusstsein der eigenen Grenzen, welche die Pandemie hervorgerufen habe« als Appell, »vor allem den Sinn unserer Existenz zu überdenken« hätte Grass in seinem tief christlich wie existenzialistisch fundierten Verständnis der conditio humana ebenso gesehen.12 Schließlich lebte er seit seinem 20. Lebensjahr nach dem Zusammenbruch von Faschismus und Stalinismus in der transzendenten Obdachlosigkeit seiner Generation, wie man das gelegentlich etwas pathetisch genannt hat. Die intellektuelle Schulung bei den Düsseldorfer Franziskanern um 1950 und im Sartre-Camus-Streit der Pariser 1950er Jahre haten ihn gelehrt, im Vakuum zu leben und hatten ihn lebenslang gegen alle Heilslehren gefeite, vom Faschismus, von dem er herkam, und vom Marxismus, der ihn weltweit ablösen wollte, und dem American Way of Life, den ihm der Westen samt seinem Kind, einem unbedingten Glauben an einen grenzenlosen technischen Fortschritt altius, citius, fortius hin zu einem so überfließenden wie überflüssigen Wohlstand verhieß, und sogar noch gegen den Sozialdemokratismus, den er seit den 1960er Jahren zu vertreten lernte, an den er aber nie als Erlösungslehre glauben konnte – das buntgemischte Werk »Vonne Endlichkait«, das er eine Woche vor seinem Tod druckfertig abschloss, wurde schon im Titel zu seinem Vermächtnis. Gegenüber jeglichem Fortschrittsglauben ist der Roman »örtlich betäubt« von 1969 bis in den Titel hinein ein Schlüsselwerk – selbst der nicht zu leugnende Fortschritt in der Medizin wird nie zu unserer endgültigen Rettung werden, wie sie die Zeitung Bild uns in Balkenüberschriften – »Bald werden wir alle 120 oder endlich: Todes-Gen entschlüsselt« – von Zeit zu Zeit verheißt. In »örtlich betäubt« hat der Erzähler, ein vierzigjähriger Studienrat, dem einstigen radikalen Anarchismus seiner siebzehn Jahre, dem fanatisch messianischen Führerglauben seiner Kollegin im selben Alter und dem von Marx und Marcuse gleichermaßen gefütterten Erlösungsglauben seiner siebzehnjährigen Schüler neben Hinweisen auf die begrenzten und mittelfristigen Fortschritte in der Medizin, wie sie sein Zahnarzt anpreist, nur die »Traurigkeit meines Besserwissens« entgegenzusetzen. Diese 1969 gefundene Formel gilt seitdem bis zu seinem Tod für Grass’ 12 S. dazu grundlegend Volker Neuhaus: Das christliche Erbe bei Günter Grass, in: Günter Grass. Text und Kritik. Hrsg. von H. L. Arnold. H. 1/1a, 6. Auflage, Neufassung 1988, S. 108–119; und zuletzt in Gipfelgespräche (vgl. Fußnote 296) das Kapitel zu Günter Grass.

168

Volker Neuhaus

denkbare Triumphe, wenn seine von seinen zahllosen Gegnern meist als ›Besserwisserei‹ denunzierten Prognosen wieder einmal eingetroffen waren. Der große konservative Denker der 1920er Jahre, Gilbert Keith Chesterton, der auch lebenslang wie Uwe Johnsons Jakob Abs und Günter Grass »immer quer über die Gleise gegangen« war, hatte sich einst dazu bekannt, durchaus etwas Positives in Mussolinis faschistischem »Marsch auf Rom« gesehen zu haben: Er habe die unerschütterliche Gewissheit der Kommunisten, der von ihnen genüsslich konstatierte Zerfall der bürgerlichen Demokratien könne gesetzmäßig nur als Einbahnstraße stracks in den Sozialismus führen, handfest widerlegt. Diese »klammheimliche Freude«, wie wir das seit dem Mescalero-Artikel zum Mord an Generalbundesanwalt Siegfried Buback zu nennen pflegen, hat Grass, der so oft mit seinen Prognosen Recht hatte, nie empfunden – Grass kannte nur die immer größer werdende »Traurigkeit [s]eines Besserwissens«. So würde ihn auch das so plötzlich wie peinlich aufkommende und schnell an Größenwahn grenzende Eigenlob der Deutschen jeglicher Couleur im Sommer 2020, wie herrlich weit uns unsere Corona-Disziplin und unser hervorragend organisiertes Gesundheitswesen in der Meisterung der Pandemie an die Weltspitze gebracht habe, nur in seinem Deutschlandbild bestätigt haben, während der unmittelbar folgende ebenso jähe Absturz in die ›Zweite Welle‹ mit dem kläglichen und dennoch von großmäuligen Versprechungen begleiteten völligen Versagen bei der Beschaffung von Masken, Impfstoff und Teströhrchen Grass kaum überrascht hätte. Die eigentlich unbegreifliche Korruption bei der Maskenbeschaffung unter starker Einbindung der CSU samt ihrer Schwester hätte ihn natürlich empört, aber nicht überrascht und den Missbrauch des »C« durch beide Parteien hat Grass seit den frühen Sechzigerjahren wieder und wieder bekämpft. Insgesamt hätte sich ihm im Grunde nur der tiefe Pessimismus des Schlusses von »Im Krebsgang« 2002 bestätigt, des pessimistischsten aller Grass-Schlüsse seit Oskars Todesvision und Mahlkes finalem Untertauchen, wie die Novelle auch die bei weitem drastischste Formulierung des Grass’schen Geschichtsbildes bietet. Wo sonst vom »Stein des Sisyphos«, der »Tretmühle der Vernunft« oder dem »Paternoster der Geschichte« die Rede war, heißt es jetzt: »Die Geschichte, genauer, die von uns angerührte Geschichte ist ein verstopftes Klo. Wir spülen und spülen, die Scheiße kommt dennoch hoch« (18, 109). Schon früh in der Novelle sagt Tulla von der Gustloff-Katastrophe: »Das heert nie auf« (NGA 16, S. 54), und der Erzähler fragt gegen Ende: »Hört das nicht auf ?« (S. 195), um sich selbst, in der musikalisch-rhetorischen Figur des in sich rückläufigen »Krebses«, die er den letzten Sätzen gibt, die Antwort zu geben: »Das hört nicht auf. Nie hört das auf.« Sogar zu der bei Roß abschließend genannten und im Grunde die gesamten Facetten des aktuellen Coronadiskurses dominierenden Vision einer totalen

Pan Kiehot und Don Quijote

169

Digitalisierung der Welt hat Grass frühzeitig seinen Standpunkt dargelegt. Mitten im Grass nahezu völlig hilflos machenden und seine Frau Ute physisch wie psychisch an den Rand der Zerstörung treibenden indischen Chaos hofft im »Telegraph« »der Autor eines längeren Artikels über ›Indien im Jahr 2001‹, daß durch Computerisierung der Verwaltung die Korruption abgeschafft und endlich eine gerechte Landreform eingeleitet werden könne. – Aufklärung als Aberglaube.«13 Dem ist auch im Corona-Diskurs 35 Jahre später nichts hinzuzufügen, nur dass man statt von »Computerisierung« heute von »Digitalisierung« spricht – Digitalisierung aller Deutschen durch Apps auf Smartphones zur Infektionsverfolgung, Digitalisierung des staatlichen und des allgemeinen Gesundheitswesens, digitalisierte Organisation der Durchimpfung aller nach Alterskohorten »priorisierten Impflinge« und last not least but always: endlich die Digitalisierung des schulischen und – wo möglich – auch des universitären Unterrichts, die seit über einer Generation durch uns verschlafen – Corona sei Dank! Jetzt forciert vorangetrieben werden müsse. Sie wird alle von Georg Pichts Bildungsnotstand von 1964 und den diversen Pisa-Schocks diverser Jahre festgestellten und beklagten Defizite von der nicht existenten Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeit peinlich vieler Schulabgänger bis hin zu nicht studienfähigen Abiturien endlich lösen – »endlich wird aus Wasser Wein, endlich kommt die rechte Stunde, endlich, endlich kommt einmal« dichtete Johann Christian Günther 1713 und verhieß der Osnabrücker Schuldezernent Wolfgang Beckermann 2020 bei der Verteilung von über 2000 Tablets und Notebooks an alle Osnabrücker Schultypen: »Chancengleichheit durch Bildungsteilhabe und Bekämpfung von Kinderarmut ist eines der strategischen Ziele unserer Stadt. Deshalb freue ich mich sehr, dass wir diesem Ziel durch die Förderung ein Stück näherkommen können.« Endlich wird kein deutsches Kind mehr der ihm zustehenden Bildung durch Bildungsferne oder Armut der Eltern entzogen werden können, alle sitzen sie endlich sozialschichtenunabhängig vor ihrem Tablet und können dort individuell betreut werden, computergesteuert und digital überwacht von Lernschritt zu Lernschritt zum gleichen Lernerfolg geführt. Und die Lehrkräfte erfahren Anleitung darin, »professionelle Online-Lehrangebote« zu erstellen, wofür jetzt schon die Lernmittelgroßkonzerne marktgerechte »Lernplattformen« und jegliche Form von Lehrsoftware bereitstellen, die auch das Bildungsangebot zentralisieren, Schulabschlüsse vergleichbar machen und ganz nebenbei das Bildungsgefälle in Deutschland endlich ausgleichen. Grass lässt diese Vision schon für das Ende der 1980er Jahre in den »Kopfgeburten« 1979 von einem Studienrat verkünden:

13 Grass, Günter: Zunge zeigen. Luchterhand: Darmstadt 1988, S. 40.

170

Volker Neuhaus

Stell dir vor, unser Kind wird an den Schulcomputer angeschlossen. Nicht alleine natürlich, die ganze Klasse, alle Schulpflichtigen werden, na, sagen wir, ab Ende der achtziger Jahre nicht mehr altmodisch, durch viel zu teure und nur schwer zu kontrollierende Humanlehrkräfte, sondern durch staatlich programmierte Lehrcomputer unterrichtet: direkt in die Hirnzellen der lieben Kleinen: Tickeditack! Schluß mit dem blöden Büffeln. Kleines und großes Einmaleins? Sitzt in einer halben Stunde. Tickeditack! Die englischen unregelmäßigen Verben? Ein Zehnminutenprogramm. Tickeditack! Vokabelhefte führen? Daß ich nicht lache. Alles besorgen die handlichen Kinderschlafzimmercomputer. Im Schlaf lernen, das ist die Zukunft! Und die Kleinen mit ihren Daten, Zahlen, Formeln, Verben speichernden Hirnen werden alles und nichts wissen. Und wir, Mutter Dörte, Vater Harm, werden blöd dastehen, mit nichts als überflüssigen Erinnerungen, Halbkenntnissen und moralischen Bedenken im Kopf.14

Grass’ Kommentar wäre 2021 derselbe wie 1979 und 1988: »Aufklärung als Aberglaube«.15 Grass hat die lähmende Präsenz der Pandemie, die unser Leben derzeit überschattet, nicht mehr erlebt und auch vorher Trumps Präsidentschaft nicht, die sein USA-Bild nur bestätigt hätte, aber er kannte die alltäglichen Apokalypsen, wie sie Butt und Rättin in ihren Büchern den Menschen vorrechnen, die Rättin etwa in ihrer von Jean Pauls »Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab«, daß kein Gott sei inspirierten Rede an die Menschheit vom Müllberg herab: Die sterbenden Wälder, geschenkt, doch soll ich alle stinkenden Flüsse, nur noch schwer atmenden Meere, ins Grundwasser suppenden Gifte aufzählen? Alle die Luft beschwerenden Teilchen, die neuen Seuchen und auflebenden Altseuchen: Ipputsch und Chol! Soll ich den Zuwachs der Wüsten, den Schwund der Moore berechnen und von Müllbergen herab: Ihr Räuber, Ausbeuter, ihr Giftmischer rufen?! Schon saß sie auf einem Müllberg und höhnte herab: Jämmerlich, eure Schlußbilanz! Überall Hunger, von dem ihr wortspielend sagtet, er sei nagend. Andauernde Kleinkriege, die eurer Meinung nach dem ganz großen Krieg zu vermeiden hatten. Millionen Arbeitslose, die ihr von Arbeit befreit nanntet.

Von all dem wusste Grass, sogar schon 1986 erwähnt er »die neuen Seuchen«, wusste aber auch: »Mörderisch werden wir überleben und lustig sein. Wir werden uns anpassen, uns wehren, uns einrichten und absichern«,16 verstand es aber 14 NGA 11, S. 45. 15 Nach meinem Verständnis kann man hinter diesem Vertrauen auf ein reines Medium der Übermittlung einen eigentümlich materialistischen, sozusagen stofflichen Wissens- und Bildungsbegriff erkennen, was wohl mit dem Ideal einer Digitalisierung zusammenhängen mag. Diese Vorstellung von »Weisheit« und Bildung sowie ihrer Vermittlung hat schon Sokrates gegenüber dem Dichter Agathon verspottet, wie der im Symposion berichtet: »Das wäre vortrefflich, Agathon, wenn es mit der Weisheit so wäre, daß sie, wenn wir einander nahten, aus dem Volleren in den Leereren überflösse, wie das Wasser in den Bechern durch einen Wollstreifen aus dem Vollen in den leeren fließt« (Plato: Symposion 175d in Schleiermachers Übersetzung). 16 Kopfgeburten, NGA 11, S. 121.

Pan Kiehot und Don Quijote

171

auch, mit Heinrich Schütz im »Treffen in Telgte« »der Ohnmacht – er kenne sie wohl – ein leises ›dennoch‹ abzunötigen«.17 Schon Grass in »Ein weites Feld« nie namentlich genannter »F.«, hat 130 Jahre zuvor das in Verse gebracht, was mit Sicherheit Grass’ letztes Wort zur pandemischen Apokalypse oder zur apokalyptischen Pandemie gewesen wäre: Es kribbelt und wibbelt weiter./ Die Flut steigt bis an den Arrarat/ Und es hilft keine Rettungsleiter,/Da bringt die Taube Zweig und Blatt –/ Und es kribbelt und wibbelt weiter./ Es sicheln und mähen von Ost nach West/ Die apokalyptischen Reiter,/ Aber ob Hunger, ob Krieg, ob Pest,/ Es kribbelt und wibbelt weiter./ Ein Gott wird gekreuzigt auf Golgatha,/ Es brennen Millionen Scheiter/ Märtyrer hier und Hexen da,/ Doch es kribbelt und wibbelt weiter./ Covid 19 sichelt und rafft uns dahin/ In allen fünf Teilen der Erde./ Da schau: es kommt ein Vakzin – Gleich heißt’s wieder: Stirb und werde! /So banne Dein Ich in Dich zurück/ Und ergieb Dich und sei heiter./ Was liegt an Dir und Deinem Glück?/ Es kribbelt und wibbelt weiter.18

Dem allen zum Trotz hat König Günter alias Don Quijote oder Pan Kiehot immer wieder gedichtet und geredet und hat immer wieder zur Lanze gegriffen. So reite ich denn gemessenen Gangs vor seine Ehrentribüne und senke meine schwarz umflorte Lanze für das Andenken an König Günter und seinen Paladin Norbert Honsza.

17 NGA 10, S. 77. 18 Nur der guten Ordnung halber: Eine Strophe ist nicht von Fontane, sondern von mir.

Klaus Hammer (Berlin / Koszalin)

Er hat den Stachel nicht aus unserem Fleisch gezogen. Der Bildhauer, Zeichner, Grafiker und Schriftsteller Wieland Förster

Vorbemerkung: In unseren Gesprächen über Literatur und Kunst in der DDR galt Norbert Honszas Interesse in besonderer Weise auch dem Werk Wieland Försters. Dieser Beitrag soll eine Fortführung unserer Gespräche sein. »Ich bin nicht Bildhauer geworden, weil ich irgendwann glaubte, eine übermäßige bildhauerische Begabung zu haben«, äußerte sich Wieland Förster 1977 in einem Gespräch, sondern ich litt an ganz bestimmten Grundverletzungen, mit denen ich sehr schwer fertig geworden bin. Deshalb suchte ich nach einer Möglichkeit, sie loszuwerden, eine Form der Heilung zu finden… Es war der Versuch, aufzuarbeiten, was an Erschütterungen von der Zeit her in mich eingedrungen ist.1

So entstanden seine Gemarterten und Verzweifelten, Hoffenden und Liebenden, Polarisierungen und Vermischungen des Humanen und Barbarischen, Martyrium und Ecce homo, Arkadischer Akt mit Beinen nach oben, Großer schreitender und Großer trauernder Mann, Große Neeberger Figur und PenthesileaGruppe, die Frau als Symbol des Naturhaft-Unzerstörbaren und der vom Leben gezeichnete, mit schlimmen Erfahrungen belastete Mann, plastische KörperEinblicke und Torsi als eine Form der Konzentration auf das Wesentliche, als »Porträt des Leibes«.2 Seine Porträtplastiken – zuletzt die von Elfriede Jelinek und Jean Genet, aber auch des ermordeten jüdischen Arztes Dr. Benno Hallauer, die im Parlamentsgebäude gegenüber dem Reichstag steht – leben aus der Spannung zwischen abstrakter Form und der Individualität des Dargestellten. Der 1930 in Dresden geborene und seit den 1960er Jahren in Berlin und dann im Land Brandenburg ansässige Bildhauer Wieland Förster, der zugleich ein bedeutender Zeichner und sensibler Schriftsteller ist, hat Biographisches, das nur ihm Verfügbare, in die bildhauerische Metapher übertragen, die das Persönliche 1 Zitiert nach Hammer, Klaus: »Ein Kunstwerk auf dem Prüfstand.« Literaturkritik. Marburg. Februar-Ausgabe 2015. 2 Förster, Wieland: Einblicke. Aufzeichnungen und Gespräche. Union-Verlag: Berlin 1985, S. 21.

174

Klaus Hammer

ins Allgemeingültige, das Empfinden und Erleben eines einzelnen in die existenzielle Erfahrung vieler hebt. Das Thema Leid und Liebe, der Widerspruch von Leben und Tod, von Aggression und Erleiden hat in seinem Werk ihre Form gefunden. Der heute 91jährige, für den die stalinistische Lagerhaft in Bautzen schlimmste psychische und gesundheitliche Schäden gebracht hat, widmet seine Mahnmale den unzähligen namenlosen Opfern in der ganzen Welt. Mord und Denunziation werden nicht verziehen, sagt er, man solle aber nicht vergessen: Auch die Wärter hatten ihre Schicksale. Immer wieder versuche man, im Künstler den Moralisten zu sehen, doch das Kunstwerk und der Mensch, der es geschaffen habe, seien zwei verschiedene Dinge. Förster will nicht als Opfer, sondern als Künstler bewertet werden. »Formung und Erfindung werden auf den biographischen Bericht reduziert«, so führte er in Dresden bei der Einweihung seiner Skulptur »Namenlos – Ohne Gesicht« aus, was spätestens seit der »Passion«, also 1966, »längst ins weltweit Menschliche gewachsen war«.3 Diese »Passion« stellt einen aufgepfählten männlichen Körper in erbarmungslos lädierter Nacktheit dar. »Ecce homo« (1980) die Anthropomorphisierung einer versehrten und zerstörten Felsform, die zugleich von Beharrung und Widerstehen geprägt ist. »Erschossener« (1968), ein Klumpen Mensch vor der Erschießungsmauer. Aus einem Sandsteinfindling hat Förster 1974 einen »Männlichen Torso« gehauen: »Bin bei der Arbeit immer so erregt, als hinge von dieser Stunde meine ganze Existenz ab: die Folge Herzflattern und Armlähmung, so dass ich, wie heute, in Angst lebe; Herzinfarktangst – die Symptome sind alle beisammen«.4 »Einblick IV« (1978) zeigt aufregende Verläufe, Hebungen und Senkungen, die Epidermis von einem Gespinst von Buckelungen und linearem Geäder überzogen: »Hier stirbt jede Macht, sie wird nicht bekämpft, nicht besiegt, sie erlischt«.5 In Paar-Kompositionen wird jener unerlöste Widerspruch von Leben und Tod, von Aggression und Erleiden, von Sinken und Trotzen auf zwei Figuren übertragen. Der Torso als Fragment trägt prozessualen Charakter, er bleibt als Form offen und sperrt sich nicht gegen Verbindungen, Verschmelzungen, Verknotungen, Überlagerungen. Der Körper wird zur zuckenden, auffahrenden Form, zur lodernden Landschaft, und diese wiederum zu organischem Leben mit allen Zeugungsmerkmalen erweckt. Erregung ist für Förster Bewegung, Drehung,

3 Förster, Wieland: Rede anlässlich der Einweihung des Denkmals »Namenlos – Ohne Gesicht«. Hrsg. Stiftung Sächsische Gedenkstätten. Dresden, 07. 11. 1995. 4 »Tagebuchnotiz.« In: Förster, Wieland: Labyrinth. 34 Zeichnungen 1974–85 sowie Notizen über die Entstehung eines Zyklus und Arbeitstagebuch: Labyrinth 1973–84 mit Naturstudien, Skizzen und Entwürfen. Berlin 1985, S. 74 (im Folgenden im Text mit der Sigle »L« und Seitenzahlen geführt). 5 Förster, Wieland: Begegnungen. Tagebuch, Gouachen und Zeichnungen einer Reise in Tunesien. Volk und Welt: Berlin 1974. S. 54 und 56.

Zur Einheit von bildhauerischem und literarischem Werk von Wieland Förster

175

Krümmung, Zusammenballung und Streckung, Wendung, Taumel und Ineinander-Stürzen aufgerissener, torsierter Leiber. Für seine Bildwerke aus Stein, Bronze und Zementguss hat Förster die Beziehung zur umgebenden Landschaft, zum Menschen in der Landschaft, hinzugewonnen – ja, die Landschaft selbst zum Formthema seiner Arbeiten gemacht. Die plastische Form einer Talmulde zwischen flachen Hügeln, jene typisch mecklenburgische oder märkische Landschaft, hat er seit den 1970er Jahren zum Gegenstand seiner Reliefs als Torso oder »Einblick« gewählt und ihre Spannungen und Kraftlinien in die Körperformen, die schwellenden Wölbungen wie zurücktretenden Einsenkungen, in die sich rhythmisch verschiebenden Flächen übertragen. Die Metamorphose des Landschaftlichen, des Geologischen wie Vegetabilen, zum Menschlichen und umgekehrt ist charakteristisch für ihn. Die Einblicke, die Öffnungen, diese Übergänge zwischen innen und außen. Es entstehen Kompositionen von Konvexem und Konkavem, von Höhlungen und Auskragungen, Masse und Binnenraum, die ein Zusammenspiel von passiver Ruhe und intensiver Aktion, eine Durchdringung von Natur und Bildwerk ergeben. Das skulpturale Gebilde greift in den Raum, es wird Geäst, Gewächs oder Felsformation, Metapher einer Sehnsucht des Menschen, deren Preis die Verletzung, deren Triumph die Vermenschlichung ist.6 Darum auch die Beziehung dieser Figuren zu den mythischen Gestalten, in denen das Erlebnis von Sturz und Scheitern, Abbruch und jäher schmerzhafter Wendung aufbewahrt ist. Nach dem »Opfer« (1994), dem sich aufbäumenden, geschundenen Körper eines Gepeinigten, in Verzweiflung auf das Ich zurückweisend, hatte sich Förster erneut dem weiblichen Akt, dem Daphne-Thema in kleineren und mittleren Formaten zugewandt. Sie sind von großer handschriftlicher Frische und Erotik, von einer Freiheit gegenüber dem Körper, auf der Basis der »Großen Neeberger Figur« in sich steigernden Asymmetrien, einer rindenähnlichen Epidermis, ganz dem Wachstum, dem Schöpferischen verpflichtet. Die geradezu von Intensität vibrierende »Große Daphne« (1996) wurde Zeichen der Steigerung und Erfüllung des Wunsches nach der Einheit von Mensch und Natur, wie sie nach 1967 durch das Erlebnis des Tänzerischen der Ölbäume während seiner Tunesien-Reise geweckt wurde, die den menschlichen Körper assoziieren. 6 Wieland Förster schreibt: »Die Einblicke in den menschlichen Körper entstanden aus der plötzlich erkannten sinnlichen Kraft und der möglichen Umdeutung – der Verlandschaftung – des Details. Ein gebeugter Leib wurde zur Höhle, in die eine Brust als bedrohliche Form einbricht, ein gestreckter Torso zu sanft schwellenden Hügeln; von Beckenkante zu Rippe ungeheure Weite mit Einbrüchen, Nabel und Leibmittenrinne, in der Ferne die Massive aufgerichteter Schenkel, das Haar dort wie Erlengesträuch – und alles der bekannte menschliche Leib. Ergriffenheit durch das Detail, tieferes Erlebnis, das auf die Sicht des Ganzen zu wirken beginnt. Verzauberung und Verdeutlichung«. »Aufgeschriebenes III« (1965–1975). Nach: Einblicke. Aufzeichnungen und Gespräche. Berlin 1985, S. 21f.

176

Klaus Hammer

Denn gleicherweise ist die Zeichnung und Grafik bei Förster dem Wechsel, dem Fluktuieren zwischen Innen- und Außenwelt verschrieben, setzt Signale in der Problem- und Krisenhaftigkeit des künstlerischen Subjekts, in der Lebensund Zeitempfindlichkeit des Künstlers, damit der von ihm bevorzugten Form des Tagebuchs vergleichbar. Das Erlebnis »Labyrinth« (1988), seine Dauerhaftigkeit und Anfälligkeit, gewinnt auf vielen Blättern Gestalt; im Verfall des Steins sieht der Künstler Analogien zu organischen Verfallsprozessen. Die Zeichnungen der Akte und Liebespaare werden zum Gegengewicht des »Labyrinth«-Zyklus, deren erotische Seite (die Landschaft mit Zeugungsmerkmalen) wirkt auf sie ein. Werden, Sein, Vergehen werden zur Kunst-Formel, eine neue Form der Humanisierung findet statt. Der Künstler bekennt: »Ich zeichne immer auf des Messers Schneide: Gelingen – Versagen.«7

Die Große Neeberger Figur – ein Jahrhundertwerk Ein Hauptwerk Försters – und der figürlichen Bildhauerei nach 1945 überhaupt –, ist die »Große Neeberger Figur« (1971–1974, Bronze). Hier werden Fragen nach der Darstellung des Menschen, Positionen zu Themen wie Realismus und abstrahierte Figur, Schmerz, Leben und Tod, Akt und bekleidete Figur diskutiert. Die Entstehung der »Großen Neeberger Figur« hat Förster so beschrieben: Dieser Name Neeberg geht auf ein kleines Dorf am Bodden zurück, in dem ich mich aufhielt. Dort habe ich die Figur in der Landschaft stehen gesehen – ich mag das Wort Vision nicht – aber als Vorstellung […] Ich lag da am Strand und habe sie gesehen, einfach, weil ich immer irgendwelche Bilder sehe. Und dieses Bild war für mich so stark, dass ich diese Figur machen musste und fast drei Jahre daran arbeitete. Ganz wichtig an dieser Figur war für mich die absolute Ehrlichkeit der Form. Verstehen Sie mich richtig: bei dieser Figur ist jedes Detail bis zum letzten ausgesprochen, Anfang und Ende der Form, Höhe und Spannung und alles. Es war ein Prozess der Bestandsaufnahme und handwerklichen Wahrhaftigkeit.8

Die »Neeberger Figur«, ganz Vertikale bis zu den aufgereckten Armen, verkörpert eigentlich ein alltägliches Motiv, das des Hemdausziehens. Aber sie ist, aus Eiformen aufgebaut (das Ei als Quelle des Lebens), in den Körperformen so abstrahiert, dass sie zur Übersteigerung des traditionellen Körperideals geworden ist. Ihre Zehen bohren sich in die Erde, ihre Arme reckt sie wie Zweige, ihre Finger 7 Förster, Wieland: »Notizen vom Weiterleben.« In: Sinn und Form. 41. Berlin 1989. S. 357ff. Labyrinth. 8 Notizen bei der Auswahl einiger Arbeiten für eine Ausstellung (1972). Nach: Förster, Einblicke. 1985, S. 18.

Zur Einheit von bildhauerischem und literarischem Werk von Wieland Förster

177

züngeln wie Geäst in den Himmel. Verborgen ist der Kopf, nur die Brüste halten das herabgleitende Gewand auf. Ihr Gegenbild ist der »Große Trauernde Mann« (1979–1983, Bronze), in sich zusammengesunken, aber voller innerer Energien bebend in der Erinnerung – das sind die Entsprechungen wie Polaritäten, die das Werk eines der bedeutendsten Künstler der Gegenwart bestimmen. Von tragischer Gespanntheit vermochte Förster in seinem Alterswerk zu einer fast arkadischen Gelassenheit zu gelangen, so wenn er der durch das Feuer gegangenen Nike von 1998 atmenden Rhythmus und tänzerische Beschwingtheit verleiht. Dieser Hoffnung auf Überleben, auf Überdauern steht dann wieder der durch die Überdrehung des Leibes an den Füßen wie aufgehängte, gehäutete »Marsyas – Jahrhundertbilanz« (1999) gegenüber. Und diese Polarität begleitete den Bildhauer weiter ins neue Säkulum als noch immer offene Frage nach der Würde und Selbstbestimmung des Menschen. An die Opfer des Nationalsozialismus, »deren Leiden ohne Vergleich ist«, denkt er mit besonderer Achtung, denn er hat als Kind und Jugendlicher erlebt, was faschistische Diktatur ist. Das diesen Opfern gewidmete »Große Martyrium«, das, 1977–1979 entstanden, wegen des Fehlens jedes politisch-sieghaften Pathos nicht in die Konzeption der damals Kulturverantwortlichen passte, erhielt erst 1994 seinen Platz an der Konzerthalle in Frankfurt/Oder: Vier kopfunter hängende Körper verschmelzen zu einem Leib, zu einem Klumpen Fleisch. Der voller Schmerz in sich versunkene »Große Trauernde Mann. Den Opfern des 13. Februar 1945 in Dresden gewidmet« – Förster hat einen Tag nach seinem 15. Geburtstag dieses Inferno, als das barocke Dresden in Schutt und Asche fiel, traumatisiert selbst miterlebt – , ist seit 1984 auf dem Georg Treu-Platz (an der Brühlschen Terrasse) aufgestellt, der zu einem Ort der Trauer, der Besinnung und Ehrung der Toten geworden ist. Nackt, mit angezogenen Beinen, hockt der Mann blockhaft zusammengekrümmt auf einem schmalen Sockel, die Hände vor das Gesicht geschlagen, als könne er den Anblick dessen nicht ertragen, was da geschehen ist. Im November 1995 wurde im Nordosthof der Mahn- und Gedenkstätte Dresden das Denkmal »Namenlos – Ohne Gesicht, den zu Unrecht Verfolgten nach 1945« und »Das Opfer« in der Potsdamer Gedenkstätte Lindenstraße 54 eingeweiht. »Namenlos – ohne Gesicht«, der Titel entstammt einem Gedicht von Anna Achmatowa, ist, eine Traube von Menschenleibern, ein Denkmal für die nach 1945 zu Unrecht Verurteilten und zu Tode Gebrachten. »Das Opfer«: der sich aufbäumende, geschundene Körper eines Gepeinigten, in Verzweiflung auf das Ich zurückweisend. Indem Förster den Bewegungsspielraum seines Torsos so weit wie möglich beschneidet, ihn zum wahrhaften Stand-Bild einengt, die Arme, den Rumpf preisgibt und diesen mit den Beinen zu einer durchlaufenden Senkrechten vereinigt, revoltiert bei ihm die Gebärde gegen die beharrenden, lotrechten Formabsprachen, gegen die Mitte des Leibes, gegen das sicher Umgrenzte, gegen die maßvoll abgestumpfte Form. Der Schnitt, der durch

178

Klaus Hammer

den Körper hindurchgeht, der Widerspruch, dem keine Versöhnung beschieden ist – er ist auch in uns. Förster hat den Stachel nicht aus unserem Fleisch gezogen. 2009 wurde in Dresden-Laubegast – dort, wo Wieland Förster geboren wurde und aufgewachsen war –, »Die Elbe« (2002, Bronze) eingeweiht, eine wie auf einer Welle schwebende, dahingleitende weibliche Figur. Der Körper, am Kopf, an der Schulter und an den Knien torsiert, richtet sich durch eine leichte Linksdrehung aus der Horizontalen in die Diagonale auf, was sowohl der Wellenbewegung entspricht als auch ihr entgegenläuft. Diese Mensch gewordene Undine bewegt sich kraftvoll, selbstbewusst und den Elementen anpassend wie trotzend – es muss nicht das Wasser, es kann auch die Luft sein, die sich hier zu einem die Gestalt tragenden oder ihr widerstrebenden Medium materialisiert.

Jeder der Porträtierten hat ein Geheimnis – sein Geheimnis Aus der Faszination für die Subjektivität des Menschen ist auch die Leidenschaft Försters zum Porträt – mit unterschiedlichen plastischen Formulierungen – zu erklären. So hat er eine große Zahl Porträtplastiken geschaffen, den ergreifenden »Kopf der Gelähmten« (1964–1965), »von mir nahen und auch fernen« Dichtern (Johannes Bobrowski, 1967; die Porträtstele Erich Arendt, 1968; Franz Fühmann, 1969; die Porträtstele Pablo Neruda, 1974; Heinrich Mann, 1977–1978; Peter Huchel, 1998–1999; Elfriede Jelinek, 2000; Uwe Johnson, 2006), Musikern, Komponisten (Hanns Eisler, 1962; Zoltan Kodaly, 1964), bildenden Künstlern (Horst Zickelbein, 1964; Otto Niemeyer-Holstein, 1967; Otto Nagel, 1971–1972; Hans Theo Richter, 1981; die Porträtstele Hans Purrmann, 1980/81), Dirigenten (Otmar Suitner, 1965; Hartmut Haenchen, 1997) Regisseuren (Walter Felsenstein, 1963– 1964), Schauspielern und Wissenschaftlern (Walter Jens, 1997). Kein »Machtmensch« ist darunter, Willy Brandt zog ihn eher durch »seine Sensibilität als Mensch« an. Die große Heinrich-Böll-Stele ist erst nach dessen Tod 1988 vollendet worden. Förster hat berichtet, wie er den Schriftsteller bei einem Interview im West-Fernsehen »wie besessen zeichnete« und sein »Erkennungsnetz« über dessen Gesicht warf. Tage danach begann er eine Stele, »in der ich ihn meinem Blick unterwarf und ihm zugleich huldigte«.9 Sie steht im Zugangsbereich der Heinrich-Böll-Bibliothek in der Greifswalder Straße, Prenzlauer Berg. Auch das Bernhard-Minetti-Porträt von 1991–1992 wurde durch »langjährige Beschäftigung mit Filmen, Zeichnungen vor dem Fernsehgerät vom agierenden Schauspieler aus früheren Jahren gestützt, so dass die Sitzungen 1991 lediglich der Bestätigung, der Verfestigung des herangewachsenen inneren Bildes dienten.« »Die Menschen müssen mich berührt haben, in welcher Form auch immer, sie 9 Förster, Wieland: Das Blättchen. Berlin, Dezember 2017.

Zur Einheit von bildhauerischem und literarischem Werk von Wieland Förster

179

müssen eine Rolle in mir gespielt haben.« Jeder der Porträtierten hat ein Geheimnis, sein Geheimnis. »Ohne Geheimnis, das sich in der Arbeit erst langsam enthüllt, keine Kunst«, sagt Förster (L, 151). Man muss erst durch die Höllen der Genauigkeit und Festigkeit hindurchgegangen sein, sagte der heute Einundneunzigjährige vor gut 20 Jahren, um von tragischer Gespanntheit zu einer fast arkadischen Gelassenheit gelangen zu können. Die zeichenhaft aufsteigende, überlängte »Nike« von 1998 ist wohl durchs Feuer gegangen, das Flügelpaar verkürzt, verbrannt, der Körper mit Narben bedeckt, und doch hat die symbolische Gestalt eine neue Freiheit gewonnen, einen atmenden Rhythmus und eine tänzerische Beschwingtheit, die aus der »Altersfreiheit« des Künstlers erwachsen ist. »Nike ’89, Sieg mit gebrochenen Flügeln« (1997–1998) steht vor dem Landtag in Dresden, während die sich auf einer Granitsäule erhebende »Nike’89« (1999, vergoldete Bronze), zum 10. Jahrestag des Falls der Mauer an der Glienicker Brücke, Potsdam, eingeweiht wurde. Jener Hoffnung auf Überleben, auf Überdauern steht als letzte große bildhauerische Arbeit Försters der durch die Überdrehung des Leibes an den Füßen wie aufgehängte, gehäutete »Marsyas – Jahrhundertbilanz« (1999) – er steht vor dem Museum in Bautzen – gegenüber. Mit dieser Polarität wurden ein Jahrhundert und ein Lebenswerk beschlossen – und sie hat uns weiter ins neue Säkulum begleitet als noch immer offene Frage nach der Würde und Selbstbestimmung des Menschen. Nach der Einweihung der Uwe-Johnson-Porträtstele in Güstrow 2007 musste Förster krankheitsbedingt seine Tätigkeit als Bildhauer beenden und widmete sich seitdem verstärkt dem Schreiben. Seinen Reisetagebüchern der 1970er und den Erzählungen der 1980er Jahre folgte der bereits 1982–1983 entstandene Briefroman »Der Andere – Briefe an Alena«, ein Plädoyer für das Recht auf Individualität und Toleranz, die Geschichte einer gescheiterten ostdeutschen Existenz, die Förster damals aus guten – politischen – Gründen nicht zum Druck einreichte. Sie erschien erst 2009. Seine Reisetagebücher sind 2000 unter dem Titel »Die Phantasie ist die Wirklichkeit« geschlossen publiziert worden, neben den bereits bekannten zu Tunesien, Rügen, die Sächsische Schweiz und dem tschechischen Kuks auch die bisher nicht veröffentlichten zu Bulgarien und Paris. Auszüge aus Försters Tagebüchern, die er seit 1953 kontinuierlich geführt hat, kamen aus dem Zeitraum von 1958–1974 vor zwei Jahren heraus.

Das Labyrinth als Kunst- und Lebensmetapher Wohl kein Künstler hat mit einer so beeindruckenden Konsequenz an der Form publizierbarer Tagebuchaufzeichnungen – in sensiblem Mit- und Gegeneinander von Text und Zeichnung – festgehalten wie Förster. Um ein Pendant zu seiner

180

Klaus Hammer

»unliterarischen Bildhauerei und Zeichnung« zu haben und sich damit der Fülle der andrängenden Bilder, Vorstellungen und Erschütterungen zu erwehren, begann er damit vor gut viereinhalb Jahrzehnten. Die Tunesienreise, die er 1967 unternahm, war für ihn das überwältigende Erlebnis einer farbigen, kontrastvollen Wirklichkeit – der »Landschaft als Vorbedingung unserer Existenz und Kultur« (L, 8) – gewesen. Wenig später suchte er es durch die ganz andersartige Beziehung zur Ostseelandschaft – das Thema Himmel und Erde anvisierend – in seinem Rügen-Tagebuch zu kompensieren. In dem 1986 erschienenen KuksTagebuch wurde, ausgehend von der Kindheitslandschaft in und um Dresden, Landschaft ganz ins Geistige transponiert. Als selbst gestellte Aufgabe nannte der Autor seine Tagebuch-Bemühungen den »Versuch, die Vereinzelung, die additive Aufzählung der Dinge und Elemente zu überwinden und alles Sichtbare in Zusammenspiel und Abhängigkeit, in einem alles verbindenden Rhythmus zu erfassen« (L, 25). Dabei fällt der dialogische Charakter der Aufzeichnungen auf, bezogen nicht auf den Leser, sondern auf einen – um mit Elias Canetti zu sprechen – noch »grausameren« Partner, auf sich selbst. Sie können wohl der Gedächtnisentlastung dienen, vor allem aber als Ventil von Spannungen und Widersprüchen fungieren und sind damit als »Schlüssel« zur Künstler-Persönlichkeit zu lesen. Sie lassen den »Überdruck an Wahrnehmungen« ab, »an dem ich ersticken würde«; der Autor will sie als »Psychogramme«, »Befindlichkeitsmeldungen« verstanden wissen. Sie sollen »der verzeichnenden Erinnerung die Wahrheit des Augenblicks« entgegenstellen (L, 17). Die vorgelegten Aufzeichnungen, die Jahre 1974–1985 umfassend, thematisieren einen Zyklus von Zeichnungen unter dem Titel »Labyrinth« und bestehen aus Notizen über die Entstehung dieses Zyklus, aus dem Arbeitstagebuch, den 34 Kohlezeichnungen (auf grauem Tonpapier) des Zyklus selbst sowie aus einer Fülle von Naturstudien, Skizzen und Entwürfen. Der Name Labyrinth steht für ein Felsblockgefüge in der Sächsischen Schweiz, und den Grundtypen und Strukturen dieses Labyrinths im Uttewalder Grund, von dem schon Caspar David Friedrich die Naturstudie für sein 1801 über Bleistift mit Sepia lavierten »Felstor im Uttewalder Grund« anfertigte, spürt Förster zeichnend und reflektierend nach. Jene Felsenwelt der Sächsischen Schweiz hatte den jungen Menschen einst »Urängste« eingegeben. Die beiden Schreckenserlebnisse der Kindheit, das Labyrinth und der Amselsee, waren zu einem Traum verwoben, der gleichsam auch die Vorstellungs- und Gefühlswelt des Labyrinth-Zyklus prägte. Schon durch die Arbeit am Block war Sandstein mit seinen Höhlen, Graten und Schrunden der »menschlichste« Stein für den Künstler geworden, »der weicheste und vergänglichste« (L, 11–12). »Vorsatzlosigkeit«, Zufall stand am Anfang, die Verlockung, in die Unüberwindbarkeit der Labyrinth-Wände einzudringen, die Neugier, »das Gesetzhafte der erstaunlichen Bildungen und verrückten Schönheiten zu erfahren, zyklopische Mächtigkeit und morbideste Figuration« (L, 74). Der Abstieg ins

Zur Einheit von bildhauerischem und literarischem Werk von Wieland Förster

181

Labyrinth gleicht dem Eintritt ins Totenreich, der Auf- und Abstieg der Gänge führt ins Tiefinnere wie in Himmelsnähe. Jede Höhle bietet Schutz, während Schächte, Wege, Treppen immer tiefer ins Ausweglose führen. Und gerade das Wissen um das Vorhandensein des Ausgangs kann zum Wahnsinn treiben. Eine persönliche Grunderfahrung nimmt so die »Dimension des Kollektiven, Weltweiten« an. Der Labyrinth-Zyklus wird zusehends zum Gleichnis von Leben, seinen Wegen und Aufenthalten. Individuelle Lebensgeschichte und Kindheit der Menschheit kommen zusammen. Verbunden mit dem Angsttraum der Kindheit gerinnt die Metapher zur beängstigenden Zukunftsvision der unbewohnbar gemachten Erde. In einem erschütternden Prozess von Hoffnungen und Rückschlägen, von psychischen Beunruhigungen und »selbstvergessener Hingabe« wird »jene vorgestellte, so nicht bekannte Welt« dargestellt, »nicht eine zeichnerische Metapher für etwas Bekanntes« (L, 12). Försters psychische Realität ist das Trauma der Labyrinth-Erfahrung. Da wird »Trauerarbeit« geleistet, Depressionen und Verkrampfungen stellen sich ein – und dann werden wieder in beglückender Weise vorher nicht gewusste Zusammenhänge, ungeahnte Bildwelten gefunden. Das Labyrinth, »das sind die verschlungenen Wege alles Handelns, die zu irgendeiner Mitte hinführen…« (L, 88). Das Tagebuch, eine Form der persönlichen Krise und der Bewältigung dieser Krise, steht hier in der äußersten Subjektivität dem Bewusstseinsprotokoll nahe. Sein spezifischer Charakter, die fragmentarische und nach Tagen geordnete Anlage, die Öffnung von einer zur nächsten Eintragung hin, beginnt sich in anderen Formen aufzulösen. Andererseits regeneriert auch diese Form sich aus sich selbst. Sie ist dem Wechsel, dem Fluktuieren zwischen Innen- und Außenwelt verschrieben, setzt Signale in der Problem- und Krisenhaftigkeit des künstlerischen Subjekts, in der Lebens- und Zeitempfindlichkeit des Künstlers. Anregungen für den Zyklus können auch die Hinterhöfe des Prenzlauer Bergs geben, wo man sich mitten im Labyrinth fühlt: Durchfahrten, Höfe, Keller, Nischen, Balkone, Mauern und Wände. Dann wieder flieht der Künstler vor dem Alltag in die Sächsische Schweiz, ist erdrückt und fasziniert zugleich von dieser »archaischen« Architektur. Das Erlebnis Labyrinth, seine Dauerhaftigkeit und Anfälligkeit, beginnt sich auf die figürliche Plastik zu übertragen. Denn da stehen gleichzeitig die Überlagerungen zur Kleist-Skulptur, zum Thema Individuum und Macht, da werden die ersten Umrisse am Stein angelegt, da naht sich Kleist an manchen Abenden stumm dem Künstler. Die Arbeit am Stein der Gefesselten setzt an, der Block für den Trauernden Mann wird bestellt, das Große Martyrium begonnen. Förster studiert die Felswände, um hinter das Wesen des Verfalls zu kommen, die Brechungen, Verläufe, Risse, Schwingungen zu begreifen. Im Verfall des Steins sieht er Analogien zu organischen Verfallsprozessen. Dann wird das Erlebnis der Felsen schwächer, die Phantasie hat die Realität teilweise überholt, wenigstens eine »ebenbürtige Kunstwirklichkeit« geschaffen (L, 88).

182

Klaus Hammer

Die Zeichnungen der Liebespaare werden zum Gegengewicht des LabyrinthZyklus; deren erotische Seite (die Landschaft mit Zeugungsmerkmalen) wirkt auf die Liebespaare ein. Förster flüchtet aus der Wirklichkeit in die sanfte Schönheit und Gelassenheit, die Lebensfreudigkeit der Korfu-Welt, die Lawrence Durrells Korfu-Buch »Schwarze Oliven« beschwört und die Sehnsucht nach dem Süden weckt. Daneben gehen die Betrachtungen des Labyrinth-Mythos von James Joyce einher, der in seinem »Ulysses«-Roman (1922) konsequent den »Bewusstseinsstrom« erprobte, auch von Henry Millers Griechenland-Buch »Koloss von Maroussi« von 1940, in dem die archaische Welt der klassischen Mythen von der Phantasie des Autors neu belebt und durchtränkt wird. Befreit heißt es am Schluss: »Ich habe den Himmel wieder« (L, 198). Werden, Sein, Vergehen werden zur Kunst-Formel, die Aufforderung ergeht an sich selbst, spielerisch zu arbeiten. Bekenntnishaft heißt es: »Ich zeichne immer auf Messers Schneide: Gelingen – Versagen« (L, 151). Stand am Anfang noch die Unfähigkeit zur Ordnung, die Inanspruchnahme des Rechts des Nonfinito, wird Kunst später zur »Ordnung und Form, Überwindung des Chaos und somit Trost« (L, 17). Und: Der Künstler wählt seine Stoffe, Themen, Motive weniger, sondern »er wird gewählt…von den Verhältnissen seiner Zeit…; er wird nicht selten Opfer seiner seelischen, gedanklichen, visuellen Reizbarkeit, seiner traumähnlichen Assoziationsfähigkeit…« (L, 170). Im Labyrinth, jenem uralten Symbol, geprägt und mit Bedeutungen angereichert durch Hunderte von Generationen, treffen kollektive, anonyme Erfahrung und individuelles Suchen aufeinander. Wenn ein Künstler auf traditionelle Symbole zurückgreift, muss er bestrebt sein, sie aufzubrechen, durch seine Innovationskraft, durch eine neue visuelle Syntax neue Wirklichkeitsbereiche zu erschließen. Er muss aus der Anonymität, aus der kollektiven Erfahrung des Symbols heraustreten und sich selbst zu erkennen geben, sich über sein künstlerisches Ich, auch über seine Gefährdung als Individuum, zu verständigen. Die Vorstellung des Irregehens, des Auswegsuchens ist wohl ohne die von Gewissheit, Ordnung und Orientierung, von Einheit und Ganzheit, Synthese und Form undenkbar. Wieland Förster hat in erregender Weise das Neue, Unerwartete, Weiterführende, Noch-nicht-Betretene in diesen Labyrinth-Zyklus eingebracht. Ein so aufrichtiges und authentisches Zeugnis über die Entstehung eines Kunstwerkes findet sich in unserer Literatur selten. Beschreiben kann vom Gegenstand erlösen.

Zur Einheit von bildhauerischem und literarischem Werk von Wieland Förster

183

Hommage à Kleist Mitten im Arbeitstagebuch zum Labyrinth-Zyklus – Förster lebt in den Felshöhlen, Felsgängen, Felsenstädten seiner Zeichnungen, er fühlt sich Kräften ausgesetzt, die schwer zu beherrschen sind: Ausgeliefertsein und Nähe – die Erwähnung eines neuen Steins (2.10.74): Gestürzter? Gefolterter? aus einem etwas größeren Findling der Sächsischen Schweiz angefangen. Die Steinarbeit ist erfrischend, ganz anders als die in Ton oder Gips: der Stein hat Herkunftsgestalt. Die unbegrenzten Möglichkeiten der Komposition entfallen und damit viele Zweifel: es kann immer nur nach innen, auf den Kern hingearbeitet werden (L, 82).

Erst zehn Tage später wird der Stein bezeichnet – es ist ein liegender Torso, ein Findling mit Vorbildung der bewegtere Vorläufer des Kleist-Steins, der sich dann als Symbol aufrichten wird –, werden Schaffensprobleme benannt: Sehr unzufrieden, weil keine Spannung entsteht. Der Stein hat noch zu viel Masse, aber es wäre töricht, zu früh gliedernde Details einzusetzen. Halte mich an die Geduld der frühen Griechen, an Maillol, der wusste, dass die Zeit, die man einer Plastik nimmt, von der Zeit (in der Zukunft) der Plastik genommen wird. Lese noch einmal den ganzen Kleist, den geliebten Kohlhaas, der mir sehr nahe Kafkas Schloss steht: Individuum und Macht. Ist die Vermutung falsch, dass beim Aufbau seiner Erzählungen Kleists militärische Schulung unbewusst fortwirkt? Nicht zum Nachteil übrigens! Sie beginnen, er braucht nur wenige Sätze, wie ein Offiziersrapport; Feststellung von Ort, Zeit, handelnden Personen – danach entfaltet sich die Erzählung, ohne dass die vorangestellten ›Daten und Personen‹ mühsam erzählerisch eingeführt werden müssen (L, 84).

Anderthalb Jahre später (17.4.76) erst der nächste Kleist-Eintrag: »Gestern auf den Kleist-Stein Umrisse angelegt, ein Wagnis, ihn frei zu hauen« (L, 127). Zweieinhalb Jahre später (14.03.77) über die Arbeit am Stein bei Wind und Wetter: »Wärme die Eisen unter der Achsel an, damit ich sie überhaupt halten kann. Sturm fegt eisig über die Ebene, dringt durch Pelz und Wattehosen, er dörrt mich aus wie sengende Hitze« (L, 127). Förster will den ›natürlichen‹ Wuchs des Steins erhalten. Wodurch erhält er seinen stärksten Ausdruck? Nachts, er kann vor Ungewissheit nicht schlafen, geht er mit der Taschenlampe zum Kleist, »um Fehler zu finden, zu sehen, ob noch genug Stein da ist, Veränderungen möglich zu machen. Der angewinkelte Arm, die Maße der Hand. Zweifel Zweifel« (L, 130). Abends, beim Spaziergang, stellt sich Kleist ein, wie in einer Geste von Brüderlichkeit, stumm geht er einen Schritt hinter ihm, in Richtung Wannsee, dann verlässt er ihn, ohne Gruß, denn er wird an einem der nächsten Abende wiederkommen. Am 21.3.77 hat Förster das Gefühl, »am Kleist völlig versagt zu haben. Entschluss: ihn noch einmal scharf anzugehen, ohne Schonung des Vorhandenen« (L, 132).

184

Klaus Hammer

Es muss sich ein Grundgefühl für die jeweilige Arbeit einstellen, der Bildhauer ist angehalten, etwas, das in sehr viele Elemente und Vorstellungen aufgesplittert ist, in ein geschlossenes Bild zusammenzufassen, die Summe allen Wissens zu einem Zeichen umzuwandeln. Das macht Kleist für Förster aus: Alles bis zur letzten Konsequenz voranzutreiben und nicht mit sich handeln zu lassen. Ein Dichter, dem die ›Mittellage‹ fehlt, der die besänftigende Stimme nicht kennt oder anwendet, der an den Polen des Seins operiert, der alles fordert. Förster hat versucht, diese Widersprüche nicht aufzuheben, aber sie innerhalb der Skulptur so weit zusammenzuführen, dass diese nicht gänzlich zerrissen wird. Ihm ging es um das bedingungslose Aufstreben, diese Sehnsucht nach Gerechtigkeit und Würde, nach Wahrheit und Vertrauen. Und obwohl auch der Kleist-Stein weder Kleist noch eine seiner literarischen Figuren konterfeien soll, wenn eine geistige Analogie gefunden werden sollte, dann wäre es die zu Michael Kohlhaas. Ein Mann, dessen Träume und Hoffnungen ins Absolute zielen, der extrem, besessen, verwundet und verletzt ist, von Hellsichtigkeit und dunkelster Ahnung getrieben, von Glut, Leidenschaft und Kälte gleichermaßen verbrannt. Kleist ist nicht der Dichter, der den Stachel aus unserem Fleische gezogen hätte, sagt Förster. Den tektonischen Würdeformen von Pfahl und Stele, die er zu einem Höchstmaß an Strenge und Hoheit verdichtete, hat Förster im Kleist-Stein eine flammende, zuckende, auffahrende Form entgegengesetzt. Er hat die signalisierenden Möglichkeiten der Gliedmaßen in das Zentrum seiner Arbeit gestellt. Das beginnt mit einer unbeirrbaren, fast aggressiven Aufwärtsbewegung, die durch organisch ungleichmäßige Aufwellungen und Einziehungen eine atmende Lebendigkeit erhält, und steigert sich in der heftigen, leidenschaftlichen Gebärde am oberen Ende. Der emporgereckte Oberarm winkelt sich im Ellenbogen zum abbrechenden Stumpf, die Hand hinterfängt den Kopf, zu einer dramatischen Leibhaftigkeit des Steins, die ihresgleichen sucht. In Verzweiflung auf das Ich zurückweisend. Das Figürliche wird mit neuer plastischer Zeichenkraft versehen, zum Denk-Zeichen, zum Symbol der schöpferischen Potenz schlechthin, dem kein Tun, keine ausgreifende Entfaltung möglich ist. Förster ist ein Bildhauer der physiognomischen Gebärde. Darin scheint ein Widerspruch zu stecken, denn Gebärden werden von unseren Gliedmaßen vollbracht, die physiognomischen Kräfte sind dagegen auf das menschliche Antlitz beschränkt. Förster aber führt, was sich gegenseitig auszuschließen scheint, zu einer Gestalt zusammen, zu einem Ganzen, das größer ist als seine Teile, das mächtiger wirkt als seine anatomischen Bestandteile. Er schmilzt auf und verdichtet. Er erfindet Verzahnungen und Verschränkungen, Formen, die einander verschlingen, die sich verkrallen, die überlappen und überquellen. So wird der Schädel mit dem eben nur angedeuteten Antlitz zur lodernden Landschaft, diese zur urtümlichen grimassierenden Verzweiflung. Eine jähe Schnittfläche, schräg

Zur Einheit von bildhauerischem und literarischem Werk von Wieland Förster

185

durch den Arm und Schädel geschlagen, beendet abrupt, wie der Schuss am Wannsee, die Figur. Aus der Leibesmitte können physiognomische Energien aufbrechen, Hebungen und Senkungen, Buckelungen und Höhlungen. Indes Förster den Bewegungsspielraum seines Kleist-Torsos so weit wie möglich beschneidet, ihn zum wahrhaften Stand-Bild einengt, die Arme, den Rumpf preisgibt und diesen mit den Beinen zu einer durchlaufenden Senkrechten vereinigt, revoltiert bei ihm die Gebärde gegen die beharrenden, lotrechten Formabsprachen, gegen die Mitte des Leibes, gegen das sicher Umgrenzte, gegen die maßvoll abgestumpfte Form. Dieser Aufruhr trägt schließlich den Sieg davon. Das skulpturale Gebilde greift inbrünstig in den Raum, wird Metapher einer Sehnsucht des Menschen, deren Preis die Verletzung, deren Triumph die dionysische Ekstase ist. Darum auch die Beziehung der Försterschen Figuren zu den mythischen Gestalten, in denen das Erlebnis von Sturz und Scheitern, Abbruch und jäher, schmerzhafter Wendung aufbewahrt ist: Dädalus, Ikarus, Orpheus, aber auch Penthesilea. Die Modernität von Kleists »Penthesilea« ist gerade darin zu sehen, dass in ihr die Frage nach dem Verhältnis von Liebe und Gewalt im »patriarchalischen Zeitalter« gestellt wird. Mit dem Trauerspiel geht die utopische Hoffnung auf einen Gesellschaftszustand einher, der mit der menschlichen Natur korrespondieren möge. Die menschliche Natur gibt es geschichtlich gesehen aber nur in weiblicher oder männlicher Ausprägung, so dass das postulierte Gegenbild auf Utopisches, Nicht-Vorhandenes zielt. Achilles vertraut auf die Liebesfähigkeit der Frau als ihre eigentliche »Natur« und verkennt dabei den Charakter Penthesileas und des Amazonenstaates. Christa Wolf hat in diesem Sinne eine Lesart der »Penthesilea« angeboten, nach der die aus der Geschichte des Abendlandes ausgegrenzte und unterdrückte weibliche Kultur sich nur im Exzess Ausdruck verschaffen kann. Humanität sei, so das Fazit der Kleistschen Tragödie, auf der Tradition der sich auf die Konstruktion eines humanen Griechenlands berufenden europäischen Kultur nicht zu begründen. Kleists Antwort: »…kein Ausweg, keine Möglichkeit, keine Hoffnung«.10 Paar-Kompositionen treten bei Förster von dem 1969 modellierten Liebesakt – sie Horizontale, er Diagonale – über Hero und Leander bis zur vierten Penthesilea-Fassung immer mehr in den Vordergrund, in denen jener Konflikt, jener unerlöste Widerspruch von Leben und Tod, von Aggression und Erleiden, von Sinken und Trotzen auf zwei Figuren übertragen wird. Allein in den vier Penthesilea-Gruppen (1984–1987) ist die Begegnung zweier Torsi komprimiert und erregend zu verfolgen. Die Leiber sind verlandschaftet, zunächst wie Felsbrocken, wie Schwemmhölzer aufeinander geworfen. Sie verströmen geradezu ins 10 »Der ganze Schmutz zugleich und Glanz meiner Seele«. Die Briefe Heinrich von Kleists als Teil seines Werks. Hrsg. von Gisela Dischner. Aisthesis-Essay: Bielefeld 2012.

186

Klaus Hammer

Unbegrenzte des Raumes. Mit der dritten und vierten Fassung setzt Förster eingepfählte, aufragende, sich bewegende Zeichen, Ruf-Zeichen. Sein Penthesilea-Zyklus bezeugt die Identität von Nähe und Ferne, die wechselweise ineinander umschlagen können: – das Erkennen von Mann und Frau, erschauerndes Ahnen und Erwachen; – der besiegte Mann – die besiegte Frau: Ausdruck von Gewalt und Gewalttätigkeit in der Geschlechterbeziehung; kopfunter hängt sie wie die Figuren des Försterschen »Martyriums«, der Menschentraube; – der Tanz, der Liebestanz, die Verzückung, das sich unmerklich IneinanderDrehen, das zum Todeskampf wird, die Dualität von Leben und Tod bezeugend. Liebe und Tod werden eins in Rausch, Lust und Grausamkeit, heißes Gefühl und todesverachtende Tat fallen zusammen. Dabei spielt der eigentliche Vorgang ja im Innern, in der Unfassbarkeit, in der »Rätselhaftigkeit« des fühlenden Herzens. Äußere Umstände und Verkettungen sind nur Katalysatoren. Der Torso hebt bei Förster mit der Vollständigkeit auch die Vereinzelung der Figur auf und sperrt sich nicht gegen Verbindungen, Verschmelzungen, Überlagerungen. Schon angesichts von »Passion« hatte der Bildhauer über den Torso geschrieben: »Er ist nicht Zeichen der Zerstörung eines Ganzen, ist nicht Fragment, sondern zeigt das augenblicklich Erfassbare (sonst wäre das Bildnis auch eine Form der Zerstörung), vermeidet, dass Kopf, Hand und Arm Zutat werden, und wird so Komplexes, als Skulptur, als Ausdruck einer Idee. Als Porträt eines Leibes«.11 Ein Leib setzt den anderen, übergangslos, fort, sie geben Einblicke in aufregende Verläufe, Hebungen und Senkungen, die Epidermis eines Gespinsts von Buckelungen und linearem Geäder durchzogen. Der Körper wird zur lodernden Landschaft, und diese zu organischem Leben mit Zeugungsmerkmalen erweckt. Keimen, Wachsen, Fruchttragen und Untertauchen zu neuer Zeugung heißt der Kreislauf. Idole der Wucherkraft, sind sie buchstäblich gewachsen. Die physiognomische Gebärde ist für Förster auch hier ein Mittel, den menschlichen Leib zu vitalisieren, durch und durch zu einem vibrierenden Erregungskörper zu artikulieren. Erregung ist für ihn Drehung, Krümmung und Wendung, Taumel und Ineinander-Stürzen aufgerissener, miteinander verklammerter Leiber. Und da eine große strömende Energie diese Körper formt, ihre Buckel und Höhlen bestimmt, ereignet sich eben jene Wechselbeziehung zwischen den drei Körperzonen: Antlitz, Rumpf und Gliedmaßen verwachsen miteinander. Der Körper wird zum Gestus, die Gliedmaßen zu physiognomischen Verdichtungen, und der Rumpf, diese für en Bildhauer wenig ergiebige »Festlandsmasse« der Form, büßt

11 »Aufgeschriebenes I« (1968). Nach: »Einblicke« (1985), S. 15.

Zur Einheit von bildhauerischem und literarischem Werk von Wieland Förster

187

seine kompakte Geschlossenheit ein, er wird von der Kraft der Extremitäten aufgespalten, zerrissen und in den Raum gezerrt. Försters Thema der plastischen Erfindungen bekennt und behauptet die Verwandelbarkeit von Mensch und Natur, die Metamorphose zu gemeinsamem Wucherwuchs, ein Deutlichmachen plausibler Phasen des Übergangs von einem zum anderen Bereich. Es sind Figuren, die wie Gewächse oder Felsformationen beschaffen sind, und Gewächse und Felsformationen sind ebenso gebaut und strukturiert wie jene anderen Arbeiten, die an der menschlichen Gestalt ermessen werden. Kleist ging wie Penthesilea – wenn man so will – »an der Wirklichkeit vorbei«. Jenes »Hic Rhodus, hic salta!«, das ihm Goethe in seinem Brief vom 1. Februar 1808 zurief,12 hat er sich nicht zu eigen machen können. »Das Leben, mit seinen zudringlichen, immer wiederkehrenden Ansprüchen, reißt zwei Gemüter schon in dem Augenblick der Berührung so vielfach auseinander, um wieviel mehr, wenn sie getrennt sind. An ein Näherrücken ist gar nicht zu denken; und alles, was man gewinnen kann, ist, dass man auf dem Punkt bleibt, wo man ist«, schreibt er verbittert 1811 an Marie von Kleist.13 Er, seine Penthesilea und auch sein Kohlhaas standen unter einem anderen Lebensgesetz. Der Riss, der durch sie hindurchgeht, der Widerspruch, dem keine Versöhnung beschieden ist – er ist auch in uns. Kleist hat es uns vorgelebt. In der Tat: Er hat den Stachel nicht aus unserem Fleische gezogen.

»Tamaschito« – Erzählend sucht der Erzähler zu verstehen und verstehend zu erzählen 2012 erschien der »Seerosenteich. Autobiographie einer Jugend in Dresden 1930– 1946« und 2017 veröffentlichte Förster »Tamaschito. Roman einer Gefangenschaft«, in dem er die sein ganzes Leben belastende Geschichte seiner Jugend erzählt, als der Sechzehnjährige 1946 durch die Denunziation eines kommunistischen Landrats wegen angeblichen Waffenbesitzes dem sowjetischen NKWD übergeben, nach dreimonatigen nächtlichen Verhören von einem sowjetischen Militär-Tribunal zu siebeneinhalb Jahren Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt, jedoch wegen seiner Auszehrung in das sowjetische Speziallager Nr. 4 Bautzen überstellt wurde. Dort erkrankte er u. a. an Tuberkulose und wurde 1950 ohne Papiere und offizielle Begnadigung entlassen. So schrecklich diese Zeit gewesen 12 Johann Wolfgang Goethe an Heinrich von Kleist am 1. Februar 1808. Zitiert nach Rudolf Loch: Heinrich von Kleist. Reclam: Leipzig 1978, S. 192. 13 Heinrich von Kleist an Marie von Kleist Anfang Oktober 1811. Zitiert nach: Loch, Heinrich von Kleist. 1978. S. 267.

188

Klaus Hammer

ist, über die er in der DDR zu schweigen gezwungen war, hat sie ihm doch erst die Motivation gegeben, Zeugnis für den Menschen abzulegen. Förster berichtet in dem Roman von einem jungen Mitgefangenen, einem »Häufchen hustenden Verfalls, einem Knochenmann, dem Rest eines Menschen«, der in sein blutbespienes Taschentuch das »Wortmonstrum« TAMASCHITO gestickt hat. Denn zu seinem Geburtstag hatte ihm immer seine Tante Martha eine köstliche Torte gebracht, die er »TAnte MArthas SCHIcht Torte, TAMASCHITO« nannte. Als Tamaschito, so wird der 16jährige Ich-Erzähler Thomas Gerber ihn künftig nennen, »seine Lunge erbrach, schwammige Blutfetzen, Lungenreste, Schaum, eine Lache aus Blut« (T 50), und tot vor Thoms Füßen lag, stand fest: »Für ihn würde er sich erinnern, ein Leben lang schreiben«.14 »Tamaschito« versucht eine großangelegte Synthese von politischer Zeitdiagnose und sinnlich dichterischer Wirklichkeitsdarstellung. Es ist das Aufscheinen von Grund und Hintergrund, die diese erzählte Vergangenheitsgeschichte für uns heute so lesbar und gegenwärtig macht. Das Unmenschliche als Einseitigkeit, als ungeheuerliche Konzentration auf eine Sache, auf einen Gedanken, auf einen Sinn – irgendwie zu überleben. Hilflos ausgeliefert zu sein und dennoch zu bestehen – das ist das innere Thema des Romanes. Im Aufdecken des Unmenschlichen als Einseitigkeit wird die Philosophie des Romanes zur Philosophie des Lebens. Die Verbindung von Imagination und Authentizität, von pure fiction und seiner Lebenswirklichkeit beschreibt Förster in seinem Roman. Dabei bedient er sich einer jonglierenden Dialogstruktur zwischen dem impliziten Ich-Erzähler und seinen Leidensgefährten unterschiedlicher Couleur wie Wächtern, Richtern und über sein Leben Entscheidenden. Der Leser wird Zeuge einer unabgeschlossenen Existenz. Am Ende kommuniziert der Erzähler wieder allein mit seinem Helden, der in der entscheidungslosen Entscheidung steht: Weiterleben – aber unter welchen Bedingungen – oder Tod. Im letzten Durchgang ist der Mensch auf sich allein gestellt. Jede Geschichte muss offenbleiben, darf kein Ende haben, kein Geschehen ist abgeschlossen, es wirkt weiter. Es wird sich dann zeigen, ob eine solche Geschichte tatsächlich ein Ende gehabt hat – oder überhaupt haben kann. Die unaufhebbare Zwangssituation steigert sich zur existentiellen Kraftprobe des einzelnen, der so erst die Klarheit über sich selbst gewinnt. Der Erzähler erzählt, um das zu verstehen, zu begreifen, abzuarbeiten, was ihn da jahrzehntelang belastet hat. Erzählend sucht er zu verstehen und verstehend zu erzählen. Wieland Förster kann in der Tat heute auf ein vielfältig wirksames Jahrhundertwerk zurückblicken. Die Auszüge aus seinen frühen Tagebüchern, die erst 2018 erschienen sind, enden mit seinem Eintrag am 12. Mai 1974: 14 Förster, Wieland: Tamaschito. Roman einer Gefangenschaft. Sandstein Verlag: Dresden 2017, S. 51.

Zur Einheit von bildhauerischem und literarischem Werk von Wieland Förster

189

Ich habe meine Lieben und meine Leiden gelebt und aus diesem Leben – hat sich meine Arbeit entwickelt. Und so wie ich Teil meiner Zeit war und bin, so sind es auch meine Plastiken und Zeichnungen: sie entstanden in der Identität mit meinem Inneren, dem ich immer vertraut habe. Denn die letzte Wahrheit des Menschen kann nur die selbsterfahrene sein.15

15 Förster, Wieland: »…eil aus dem Zweifel das Wachstum entsteht«. Aus den Tagebüchern von 1958 bis 1974. Berlin: Akademie der Künste 2018, S. 110.

Edward Białek (Wrocław)

Autoren aus Oberschlesien in der Liegnitzer Zeitschrift »Die Saat« (1919–1924) Norbert Honsza, dem Gelehrten und stolzen Oberschlesier zugeeignet.

In ihrer umfangreichen Monographie der Zeitschrift »Der Oberschlesier« meint Katarzyna Postrzednik, die Entstehung von neuen Presseorganen nach der Beendigung des Ersten Weltkrieges sei lediglich »nur vor dem Hintergrund der politisch-wirtschaftlichen Lage, wie auch der ideologisch-kulturellen Konstellation in Schlesien zu verstehen und zu bewerten«,1 denn mit der Einstellung von Kriegshandlungen waren in der östlichsten Provinz des Reiches keinesfalls Ruhe und Friede eingekehrt. Die Auswirkungen der Novemberrevolution wie etwa die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten gingen sowohl mit politischen wie auch militärischen Auseinandersetzungen einher. Während Niederschlesien mit seiner Metropole Breslau durch die Gründung eines Volksrats, »dem Vertreter der sozialistischen und der bürgerlichen Linksparteien im Verhältnis 66 zu 34 angehörten«,2 binnen kurzer Zeit neue Verwaltungsorgane ins Leben rufen und damit den wirtschaftlichen und kulturellen Wiederaufbau beginnen konnte, blieb Oberschlesien als Objekt polnischer Gebietsansprüche noch lange ein Unruheherd. Neben den äußeren Gefahren galt es, sich der inneren zu erwehren. […] Die Jahre seit dem Ende des Ersten Weltkriegs waren durch ebenso einschneidende wie weitreichende gesellschaftliche Umschichtungen geprägt. Mit der weitgehenden Zerstörung des alten Bürgertums und damit auch der wirtschaftlichen Führungsschichten waren wichtige Elemente der bisher tragenden und bewahrenden Gesellschaft weggebrochen.3

Unmittelbar nach dem Kriegsende machen sich in ganz Schlesien Bemühungen bemerkbar, die Tätigkeit der alten Vereine, Bünde und Gesellschaften wieder zu beleben sowie neue bildungsbürgerliche Einrichtungen entstehen zu lassen, die die in der Kriegszeit eingegangenen Kulturinstitutionen hätten ersetzen können; 1 Katarzyna Postrzednik-Lotko: »Der Oberschlesier« 1919–1942. Monographie einer Zeitschrift. Dresden 2016, S. 53. 2 »Konrad Fuchs: Vom deutschen Krieg zur deutschen Katastrophe (1866–1945)«. In: Norbert Conrads (Hrsg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas: Schlesien. Siedler: Berlin 1994, S. 616. 3 Ebd.

192

Edward Białek

im Zuge derartiger Bestrebungen entstand u. a. der Logaubund Liegnitz (1919– 1924),4 eine Literaten- und Künstlervereinigung, die ein beredtes Zeugnis für die führende Rolle örtlicher Intellektueller im Wiederaufbau des schlesischen Kulturlebens im ersten Jahrfünft des Bestehens der Weimarer Republik darstellt. Die gleiche Entwicklung beobachtet man im Zeitschriftenwesen; noch während des Ersten Weltkrieges und gleich nach dessen Beendigung, wurden nämlich trotz der gedämpften Stimmung im Nachkriegsdeutschland und ungeachtet der veränderten politischen und wirtschaftlichen Situation, in allen Provinzen des untergegangenen Reiches, darunter auch in Schlesien, zahlreiche Initiativen zur Schaffung neuer Präsentationsmöglichkeiten für Literatur ergriffen. Auf dem eher bescheidenen niederschlesischen Markt literarischer und kulturpolitischer Periodika erschienen einige neue Titel; es wurden auch Versuche unternommen, diejenigen Zeitschriften wieder ins Leben zu rufen, die infolge von Kriegshandlungen eingestellt worden waren. Die meisten der Neugründungen erwiesen sich jedoch – vor allem wegen steigender Teuerung – als Ephemeriden, die sich bei der immer schlechter werdenden materiellen Lage der Bevölkerung, der wachsenden Inflation, der Papierkontingentierung sowie dem mangelnden Interesse seitens breiterer Leserkreise nicht lange über Wasser halten konnten. Eines der Gründungsmitglieder des Logaubundes, der Schriftsteller und Gymnasiallehrer Hans Zuchhold (1876–1953),5 berichtet in einem Rückblick über die Idee der am Liegnitzer Bund Mitwirkenden, ein Publikationsorgan zu schaffen, in dem Autoren und Maler aus Nieder- und Oberschlesien ihre Werke einem breiteren Lese- und Kunstpublikum vorstellen könnten: »Die Zeitschrift, die wir uns schufen und mit deren Schriftleitung ich betraut wurde, ›Die Saat‹, brachte neben manchen wertvollen Aufsätzen über Hermann Stehr, Carl und Gerhart Hauptmann eine Fülle von Lyrik meist unbekannter Autoren.«6 Zuchhold machte aus seiner Zeitschrift eine Diskussionsplattform für Vertreter verschiedener Generationen von Kulturschaffenden unterschiedlicher ästhetischer und politischer Provenienz. Sogar während der Volksabstimmung in Oberschlesien wurde die Zeitschrift »Die Saat«, im Gegensatz zu anderen niederschlesischen Kulturperiodika, nicht einmal zum Ort verbissener Agitation und politischen Kampfes. Unter den ständigen Mitarbeitern des in der Katzbach-Stadt erscheinenden Pe4 Vgl. Białek, Edward: Der Logaubund Liegnitz und die Zeitschrift »Die Saat« in der literarischen Kultur Niederschlesiens nach dem Ersten Weltkrieg. Dresden: Neisse-Verlag 2012. 5 Zuchhold war zu diesem Zeitpunkt schon mit mehreren Buchpublikationen an die Öffentlichkeit getreten und galt als begabter Lyriker und Verfasser von einem der ersten Prosatexte über den Ersten Weltkrieg. Vgl. Białek, Edward, Radłowska, Justyna: »Bilder aus der russischen Gefangenschaft in Hans Zuchholds Erinnerungsbuch »Aus der Hölle empor««. In: Krieg in der Literatur, Literatur im Krieg. Studien. Hrsg. von Dahlmanns, Karsten/Freise, Matthias/Kowal, Grzegorz. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, S. 293–310. 6 Zit. nach: Lindemann, Hans: Hans Zuchhold – Dichter und Lehrer. Skizzen seines Lebens. Hofheim/Taunus: Henske-Neumann 2010, S. 157.

Autoren aus Oberschlesien in der Liegnitzer Zeitschrift »Die Saat«

193

riodikums findet man mehrere Namen von in Oberschlesien beheimateten Schriftstellern und bildenden Künstlern; einige von ihnen gehörten dem Liegnitzer Literaten- und Künstlerbund als ordentliche bzw. schaffende Mitglieder an. Im Folgenden wird die Rezeption ihres Schaffens im Organ des Logaubundes dokumentiert. Der Zeitschrift »Die Saat«, die als satzungsmäßiges Organ des Logaubundes Liegnitz von Hans Zuchhold herausgebracht wurde und die vom Februar 1919 bis Ende 1920 als Vierteljahresschrift, vom Januar 1921 bis Juni 1924 dagegen als Monatsschrift erschien, war ein durchaus kurzes Dasein beschieden: Als typisches Vereinsorgan musste sie nämlich mit der Auflösung ihres institutionellen Trägers eingehen. Trotz ihres kurzen Bestehens kann »Die Saat« als eine relevante Quelle für die Erforschung des kulturellen Geschehens im Schlesien der 1920er Jahre gelten. Die Zeitschrift spiegelt – im Unterschied zu vielen anderen Periodika dieser Zeit – nicht nur die provinzielle Enge, die sich bekanntlich in der Verherrlichung der Natur, der Heimat, der Scholle und in der Beschwörung anderer Versatzstücke mythischer Provenienz manifestiert, sondern auch eine wegen der verwirrten historischen Lage kaum zu erwartende ideologische und ästhetische Aufgeschlossenheit schlesischer Schriftsteller und Kritiker wider. Ein Blick in die einzelnen Hefte lässt die Fülle des literarischen und kritischen Materials erkennen und »Die Saat« als eine Kulturzeitschrift einstufen, deren Interessengebiet sich keineswegs in der Heimatkunst erschöpft. Dies bestätigen u. a. die darin abgedruckten Gedichte der in Hirschberg bzw. in Liegnitz aufgewachsenen Expressionisten Georg Heym und Kurt Heynicke wie auch die des Oberschlesiers Max Herrmann-Neiße.7 Dass die Liegnitzer Zeitschrift noch im 6. Jahrgang erscheinen konnte, ist wohl einem enorm starken Engagement einer Gruppe von örtlichen Intellektuellen und auswärtigen – darunter auch in Oberschlesien ansässigen – Mitgliedern des Logaubundes zu verdanken, die sich der Relevanz ihres Vorhabens, eine regionale wie zugleich überregionale Schrift zu begründen, von Anfang an bewusst waren. Um diesem Relevanzanspruch gerecht zu werden, mussten sich viele von ihnen einer vom heimatlich-völkischen Vokabularium grundsätzlich freien Sprache bedienen, auch dann, wenn sie ideologische und politische Positionen beziehen wollten, wie es ihnen etwa der Fall Oberschlesien abverlangte. Die oberschlesische Frage galt übrigens als etwas, was alle Mitarbeiter der »Saat«, auch diejenigen aus dem Rheinland, Marburg, Berlin und Hamburg zusammenhielt. In vielen Aufsätzen wie auch in redaktionellen Notizen wird der Wunsch aus7 Eigentlich Max Herrmann, geb. 1886 in Neiße, starb 1941 in London, Lyriker und Erzähler; vgl. Max Herrmann-Neisse. Eine Einführung in sein Werk und eine Auswahl von Friedrich Grieger. Wiesbaden: Steiner 1951; Schuhmann, Klaus: »Ich gehe wie ich kann: arm und verachtet.« Leben und Werk Max Herrmann-Neisses (1886–1941). Bielefeld: Aisthesis 2003.

194

Edward Białek

gedrückt, die Liegnitzer Zeitschrift zu einem gesamtschlesischen Publikationsforum werden zu lassen; dass dabei die prekäre wirtschaftliche Lage des Bundesorgans eine Rolle gespielt haben konnte, ist nicht auszuschließen. »Die Saat« war nämlich lange auflagenschwach, was ihre kulturpolitische Bedeutung in der Region determinierte. In vielen Heften werden daher die »Saat«-Leser zur Mitarbeit an der Festigung der Position der Zeitschrift aufgerufen, vor allem jedoch dazu, für neue Abonnenten zu werben. In einer redaktionellen Notiz aus dem Jahre 1920 heißt es etwa: Neuwerbungen für die Bestellungen der ›Saat‹ sind dringend notwendig. Unsere Zeitschrift, die deutsche Art, Heimatliebe und schlesisches Schrifttum zu pflegen zum Ziele sich gesetzt hat, ist noch lange nicht genug bekannt und findet allzu wenig Unterstützung noch, selbst in den Kreisen der Heimattreuen und der Deutschgesinnten. Hier sollte jeder von uns werbend helfen; auch die auswärtigen Saatleser und Logaubündler. Denn die Zeitschrift umspannt ganz Schlesien und will letzten Endes deutschem Wesen überhaupt zunutze sein.8

Die Oberschlesier, die hier ihre geistigen Repräsentanten fanden und die angesichts der drohenden Teilung dringend mentale Unterstützung brauchten, schienen sich als eine beachtenswerte Zielgruppe erwiesen zu haben. So ist die Präsenz von Texten der in Neisse, Gleiwitz, Oppeln und Beuthen lebenden Literaten und Künstler einerseits als ein kulturpolitischer Eingriff, andererseits als eine Werbemaßnahme zu deuten. Die hier erwähnte Offenheit gegenüber manch einer Tendenz, die nicht im Einklang mit der im Schlesien der Zwischenkriegszeit dominierenden Heimatkunstbewegung in ihrer Spätphase stand, vermochte jedoch den latenten Antisemitismus kaum zu verdecken: Oberschlesische Autoren jüdischer Herkunft, wie etwa der Gleiwitzer Arthur Silbergleit, der seine Texte u. a. in den in Breslau erscheinenden »Schlesischen Monatsheften« publizierte, sind in der »Saat« – bis auf eine Ausnahme, von der später die Rede sein wird – nicht zu finden. An dieser Stelle sei ein Exkurs erlaubt: Einige »Saat«-Beiträger, darunter auch Autoren aus Oberschlesien, fest überzeugt von einer »landschaftsbedingten und stammesorientierten«9 Grundlage der Kultur, begeben sich in ihren literarischen und kritischen Aufsätzen auf die ideologisch und politisch motivierte Suche nach dem so genannten schlesischen Wesen; unter Einbeziehung altbekannter Mythologeme, auch religiöser Provenienz, wird Schlesien von Helmut Wocke, dem anerkanntesten Literaturkritiker aus Liegnitz, als »eine wahre Heimat mystischer

8 »Mitteilungen der Schriftleitung«. In: Die Saat. Zeitschrift des Logaubundes Liegnitz. 2. Jahrgang, 1920, Heft 7/8, Doppelheft, S. 16. 9 Rossbacher, Karlheinz: Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende. Stuttgart: Klett 1975, S. 13.

Autoren aus Oberschlesien in der Liegnitzer Zeitschrift »Die Saat«

195

Gottesversunkenheit«10 gepriesen. Distinktive Merkmale einer regionalen Wesensart hoffte man zum Beispiel in der Wahl der Handlungsorte, in der Zeichnung der Charaktere und nicht zuletzt in der Gegenüberstellung von »schlesischen« Protagonisten den »artfremden« Figuren festzustellen. Dieser von den Theoretikern der Heimatkunstbewegung vorgeschriebenen und durch die politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen der jungen Weimarer Republik gefestigten Tendenz huldigen jedoch nicht nur völkische oder der stammesmäßigen Kunsttheorie verschriebene Heimatkundler, von denen einige ihre Texte in der Zeitschrift des Logaubundes erscheinen ließen, sondern auch seriöse Wissenschaftler, wie z. B. Werner Milch (1903–1950)11 vom Deutschen Institut der Universität Breslau, aus dem einige führende Persönlichkeiten des Liegnitzer Geisteslebens hervorgegangen waren. Aber auch etliche Schriftsteller, deren Texte regelmäßig in der »Saat« erschienen, suchten das Besondere am schlesischen Menschen zu bestimmen. So behauptet z. B. der mit zwei Sonderheften geehrte und von vielen »Saat«-Mitarbeitern als eine Kultfigur verehrte Romancier Hermann Stehr: Rassen und Stämme [sind] das Ergebnis eines unentwirrbar vielfältigen Durcheinanderströmens verschiedensten Blutes. Eine der buntesten Musterkarten stellt der Schlesier dar, ich meine in Hinsicht seiner Abstammung und darum seiner Wesenseigenart. […] Das Seltsamste ist, dass in jedes schlesischen Einzelmenschen Eigenart sich alle diese Stämme und Rassen durcheinander zu tummeln scheinen, aus denen im Laufe der Jahrhunderte die Bevölkerung meines Heimatlandes zusammengemischt worden ist. Du selbst, Schlesier, legst dich schlafen wie ein Vlame, springst wie ein draufgängerischer Franke in den Tag, arbeitest wie ein Pole, und verlierst dich, von einem sentimentalen Tschechen oder Wenden an der Linken, von einem verträumten Thüringer an der Rechten geführt, durch den Abend in die Nacht. Der Charakter der Schlesier ist wie eine Volksversammlung, die erregt debattiert und keine Revolution fasst.12

Ob diese Theorie von einem seltsamen Blutgemisch, das Stehr dem schlesischen Menschen attestiert und das auch das polnische Element mitberücksichtigt, was eigentlich nur im Falle der oberschlesischen Bevölkerung zur Diskussion hätte gestellt werden können, viele Anhänger unter den Liegnitzer Literaten und Kulturfunktionären fand, lässt sich eher bestreiten.

10 Wocke, Helmut: »Hans Christoph Kaergel.« In: Die Saat. November 1921, Nummer 11, S. 172. 11 Vgl. Milch, Werner: »Schlesische Sonderart im deutschen Schrifttum.« In: Zeitschrift für Deutschkunde, 45. Jahrgang, 1931, 9. Heft, S. 566–581; ders.: »Oberschlesische Eigenart im deutschen Schrifttum der Gegenwart.« In: Der Oberschlesier, 14. Jahrgang, 1932, S. 20–23. 12 Stehr, Hermann: »Der Schlesier.« In: Keller, Paul/Muthreich, Marie/ Klerlein, Marie/Stehr, Hermann: Erzählungen und Dichtungen. Schweidnitz 1914 [= Die schlesischen Bücher, Band 1. Hrsg. v. Paul Barsch], S. 1–3.

196

Edward Białek

»Die Saat« erweist sich als ein durchaus modern gestaltetes Periodikum, in dem literarische, kritische, literaturwissenschaftliche und musikgeschichtliche Aufsätze erschienen. Zuchhold sorgte dafür, dass die Leser möglichst schnell über die neuesten Publikationen der Bundesmitglieder informiert werden; freilich wurden auch Neuerscheinungen anderer Autoren besprochen. In jedem Heft der »Saat« gab es eine Rubrik mit Buch- und Zeitschriftenbesprechungen, in der die einzelnen Hauskritiker, allen voran Wocke, Zuchhold, Georg Selke und Alfred Geyer durch des Öfteren glorifizierende Besprechungen hauptsächlich Texte der schaffenden Mitglieder des Logaubundes förderten, sowohl literarische als auch wissenschaftliche, darüber hinaus Bücher schlesischer Autoren und anderer, die in ihren Werken Regionalismus in engerem Sinne zum Gegenstand hatten. Als programmatischer Hinweis ist es zu verstehen, dass die Rubrik mit der Rezension des durchaus volkstümlichen Werkes »Die Heimat. Ein Buch für das deutsche Volk« sowie von zwei Bänden mit Heimaterzählungen des im Süden Deutschlands populären Dichters Peter Dörfler (1878–1955) eröffnet wurde. Es gibt zahlreiche Besprechungen von Buchreihen und Zeitschriften; regelmäßig wird etwa das Oppelner Periodikum »Der Oberschlesier« relativ eingehend besprochen. Es wurde freilich auch auf Neuerscheinungen oberschlesischer Heimatdichter hingewiesen. Das im Februar 1919 erschienene erste Heft der Liegnitzer Zeitschrift wird zur Gänze der lokalen literarischen Kultur gewidmet. Bereits in der zweiten Nummer wird aber an eine Gestalt erinnert, die als ein symbolisches Bindeglied zwischen den zwei Teilen der schlesischen Provinz gelten könnte, und zwar an den in Landeshut geborenen, in Liegnitz und im oberschlesischen Neisse wirkenden Geistlichen und Schriftsteller sowie politischen Publizisten Karl Jentsch.13 In der Besprechung des Buches »Karl Jentsch – von ihm selbst, nach seinen Werken« (zusammengestellt von Alois Mühlan und Anton Heinrich Rose, Leipzig 1918) würdigt Johannes Hönig, Vorsitzender des Logaubundes, den mit dem Ehrendoktorat der Universität Breslau bedachten Schlesier wie folgt: Als Karl Jentsch am 28. Juli 1917 nach einem arbeitsreichen Leben im Alter von 84 Jahren im Bade Ziegenhals heimging, war mit ihm nicht nur der Nestor der schlesischen Schriftsteller, sondern auch eine der eigenartigsten Schriftstellerpersönlichkeiten des gesamten deutschen Schrifttums aus einem von der großen Welt unbemerkten und doch so überaus vielseitigen Schaffen geschieden.14

13 Geb. 1833 in Landeshut, starb 1917 in Bad Ziegenhals, Priester (Altkatholik) und Schriftsteller; seit 1864 als katholischer Kaplan in Liegnitz, 1870 suspendiert; vgl. Felix Priebatsch: »Karl Jentsch«. In: Schlesische Lebensbilder. Zweiter Band: Schlesier des 18. und 19. Jahrhunderts. Hrsg. von Friedrich Andreae, Max Hippe, Paul Knötel, Otfried Schwarzer. Breslau: Wilhelm Gottlieb Korn 1926, S. 313–317. 14 Die Saat. Zeitschrift des Logaubundes Liegnitz. Heft 2, Mai 1919, S. 6–7.

Autoren aus Oberschlesien in der Liegnitzer Zeitschrift »Die Saat«

197

Ein weiterer Beitrag eines oberschlesischen Autors erscheint erst anderthalb Jahre später, im Septemberheft 1920. Es handelt sich um ein Prosastück von Curt Mirau15 unter dem Titel »Silhouette. Aus Oberschlesien«,16 in dem die oberschlesische Industrielandschaft skizziert wird, wobei die erstrebte Harmonie durch die unerwünschte Gegenwart der Fremden und des Fremdartigen gestört wird. Der Gegensatz von polnisch und deutsch, von fremd und heimisch wird hier am Beispiel von musikalischen Darbietungen aufgezeigt: Plötzlich blöken die hundert Sirenen… Schichtwechsel… Die Straße füllt sich mit Menschen, Witze, Lachen und dumpfes Murmeln der Masse… Schritte, Schritte… allmählich weniger, einer, noch zwei… ganz still… leer… […] Das Entzücken der Industriemenschen! – phantastische Meere von Helligkeit bildend, seltsame Sternbilder vortäuschend, Lichtkegel, -täler, Scheinwerfer… Bunt glitzern die Augen der Arbeit… Ein klagender Ruf aus den Feldern! Trompetengeschmetter… Das aufgeregte, kurzatmige Wachtsignal der fremdländischen Besatzungstruppe… Man glaubt, sie zu sehen: Stahlhelme, hellblaue Felduniform, Wickelgamaschen und der vielverlachte Bachstelzenschritt. Nervosität, Unbeständigkeit, etwas Fremdes… Jetzt ist es vorbei. Man steht und sinnt… sinnt… Der slavische Marsch… Das fremde Signal… und dazwischen, dazwischen… das deutschliebe Volkslied… Romantik im Dröhnen der Hämmer…17

Mirau meidet das Adjektiv »polnisch«: an seine Stelle tritt in weiteren Textpassagen »slavisch«, was der Erzähler in seiner Miniatur mit »wild«, »schwer und düster« sowie »nebeldampfend« assoziiert. Auch in seinen anderen Prosatexten, mit denen die »Saat«-Leser mehrmals bekannt gemacht wurden, bringt er Schilderungen der oberschlesischen Bergmannswelt, ohne dass dabei klare nationale Positionen bezogen werden. In der Miniatur »Oberschlesisches Werk«18 zeigt er das multilinguale Arbeitermilieu seiner Region, lauter tüchtige Oberschlesier, die – obwohl arbeitsmüde – allesamt stolz auf ihr Werk – auf den Förderturm und die Fabrik mit riesengroßen Schloten seien. Im Jahre 1920 erschien ein »Die schlesische Landschaft«19 überschriebenes Doppelheft der Liegnitzer Zeitschrift, das hauptsächlich der Gegenwartsliteratur gewidmet ist. Darin könnte man wohl den Versuch vermuten, einen vorläufigen Kanon der neuen Regionalliteratur zu erstellen. Dass dabei die implizierte Überlegenheit des niederschlesischen Schrifttums dem oberschlesischen gegenüber

15 Geb. 1889 in Neudorf bei Oppeln, Mitglied des Logaubundes; verfasste u. a. »Drei Mädel und ich. Roman«. Breslau 1920; vgl. Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens. Bd. II, München 1967, S. 285. 16 Die Saat. Zeitschrift des Logaubundes. Zweiter Jahrgang, Heft 6, September 1920, S. 5–6. 17 Ebd., S. 6. 18 Die Saat, 3. Jahrgang, Oktober 1921, Nummer 10, S. 147–149. 19 Die Saat. Zweiter Jahrgang, Heft 7/8, Doppelheft: Die schlesische Landschaft. Liegnitz 1920.

198

Edward Białek

unter Beweis gestellt werden sollte, lässt sich nicht leugnen: neben den Brüdern Hauptmann, Hermann Stehr, Fedor Sommer und Hans Christoph Kaergel sowie mehreren jüngeren Autoren (Erich Worbs, Hermann Gebhardt, Max Scholz, Will-Erich Peuckert u. a.) stößt der Leser nur auf drei Autoren aus dem »anderen« Schlesien, und zwar auf Max Herrmann-Neiße, Paul Grabowski20 und Curt Mirau. An die einstige Blütezeit der deutschen Literatur aus Oberschlesien soll ein Gedicht von Eichendorff erinnern (»Stimmen der Nacht«, S. 11). Selbst der Schriftleitung musste aber die Textauswahl kontrovers vorgekommen sein: Wenn im vorliegenden Doppelheft der ›Saat‹ nach dem Gesichtspunkt ›Schlesische Landschaft‹ Ausschnitte und Proben heimischer Dichtungen gesammelt worden sind, so konnte bei der Raumbeschränkung und der Fülle des Stoffs an eine irgendwie ausschöpfende Darstellung nicht gedacht werden, viele Schätze sind ungehoben geblieben hier, die Dichter Oberschlesiens, auch viele Schilderer unserer niederschlesischen Heimat, Dichter wie Paul Keller, E. G. Seeliger, Eberhard König, der Isergebirgslyriker Wilhelm Müller-Rüdersdorf, Bruno Wille (»Abendburg«) u. a. sind in dieser Sammlung nicht vertreten. Wenn dies ›Saat‹-Heft dazu beiträgt, Heimatstolz und Liebe zum schlesischen Lande durch solche Landschaftsbilder unserer Dichter zu wecken und zu fördern und zum Nachlesen und Weitersuchen in ihren Büchern anzuregen, so hat es seine bescheidene Aufgabe erfüllt.21

Eine symbolische Funktion erfüllt in diesem Heft das Gedicht »Schmiedeberg im Riesengebirge« von Max Herrmann-Neisse: ein Dichter aus Oberschlesien preist hier eine geschichtsträchtige niederschlesische Ortschaft, was man wohl als einen Ruf nach der Einheit der Region interpretieren kann. Ähnlich verhält es sich mit dem Gedicht »Breslauer Dominsel vor 100 Jahren« des Gleiwitzer Heimatdichters Paul Grabowski (S, 10); der Frühverstorbene ist in diesem opulenten Heft noch mit dem Gedicht »Nachtwanderung im Industriebezirk« vertreten (S, 12). Der Anteil der Oberschlesier an dieser Edition wird mit Curt Miraus Prosastück »Von der Poesie der Schornsteine« abgerundet (S, 12). Je zwei lyrische Texte von Grabowski (»Abend« und »Die kleine Stadt«, S, 55) und Mirau (»Ich kannte eine schöne Frau«, »Stimmung und Andacht«, S. 56) erschienen im Aprilheft des Jahres 1921. Die oberschlesische Repräsentanz wird hier um Arthur Zobels22 Gedichte (»Mein Kind« und »Letztes Reifen«, S, 56–57) ergänzt. Ähnlich wie Jentsch galt Zobel als ein Wanderer zwischen Nieder- und 20 Geb. 1878 in Boitschew bei Gleiwitz, starb 1922 in Gleiwitz, Lehrer in Orzegow bei Beuthen. Vgl. Dolezich, Norbert: »Zum Gedenken des Lyrikers Paul Grabowski.« In: Mitteilungen des Beuthener Geschichts- und Museums-Vereins, Heft 1. Dortmund 1970, S. 31–33. 21 »Mitteilungen der Schriftleitung.« In: Die Saat, 2. Jahrgang, Heft 7/8, Doppelheft, S. 16 (im Folgenden unter der Sigle »S« mit Seitenzahl im Text). 22 Geb. 1890 in Parchwitz bei Liegnitz, lebte in Patschkau, starb 1963. Nach dem Krieg Oberstudienrat in Aachen; Orts- und Flurnamenforscher; verfasste u. a.: Die Verneinung im Schlesischen. Breslau 1928. Schlesischer Flurnamensammler. Herausgegeben von Dr. Arthur Zobel.

Autoren aus Oberschlesien in der Liegnitzer Zeitschrift »Die Saat«

199

Oberschlesien, was im Jahr der schlimmsten militärischen Auseinandersetzung im Kohlerevier eine symbolische Bedeutung hätte gewinnen können. Seine Gedichte (»Sommer, Abend, Nacht und Winternächte«) erschienen auch im September-Heft des Jahres 1921 (S, 140–141). Der institutionelle Träger der Zeitschrift, der Logaubund, pflegte eine Reihe von literarischen Geselligkeitsformen, wie Lesungen, literarhistorische Vorträge und Rezitationsabende; als Begleitveranstaltungen gab es jeweils Kunstausstellungen und Konzerte, was dem Angebot des Logaubundes einen ausgesprochen interdisziplinären Charakter verlieh. Der Anteil der Oberschlesier an diesen Aktivitäten ist eher als gering zu bezeichnen. In den »Mitteilungen des Logaubundes« im Aprilheft des Jahres 1921 wird über eine Veranstaltung berichtet, die in Zusammenarbeit mit anderen örtlichen Anbietern zustande kam und an der ein Gast aus Oberschlesien, und zwar Hugo Gnielczyk23 teilnahm: »Am 13.12.20 wirkte der Logaubund vereinigt mit dem Lautenbund bei einem öffentlichen Abende des Arbeiterbildungsausschusses. Dichtungen von Boetticher, Gebhardt, Gnielczyk, Hönig, Worbs, Seiffert und Zuchhold kamen zum Vortrag.«24 Rund ein halbes Jahr später fand in der dichten Veranstaltungsfolge wieder ein Literaturabend statt, an dem das Werk eines in Oberschlesien aufgewachsenen Autors dem Liegnitzer Bildungsbürgertum vorgestellt wurde. In der politisch unruhigen Zeit nach der Volksabstimmung in Oberschlesien fand ein gesamtschlesischer Literaturabend statt, an dem u. a. Texte des in Beuthen geborenen Schriftstellers Bruno Arndt25 und die von zwei Autoren aus Niederschlesien – Stehr und Kaergel – kommentiert und vorgetragen wurden. Vor einer stattlichen Zahl von Bundesmitgliedern und Gästen sprach in der ordentlichen Sitzung des Logaubundes vom 9. Mai 1921 Dr. Helmut Wocke über ›Dichter der Stille‹ und führte in die Welt Hermann Stehrs, Bruno Arndts und H. Chr. Kaergels liebevoll und anschaulich ein.26

23 Hugo Gnielczyk (Eichhof-Gnielczyk), geb. 1888 in Ujest, starb 1977; lebte in Bratsch/OS, Schriftsteller, Eichendorffpreisträger von 1929; verfasste u. a. »Der Riese vom Huhlberge. Ein Volksmärchen«. Breslau [1919]; Novelle vom zerbrochenen Ringlein, 1922; Kumpel Grubenpferd, 1929; vgl. Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens. Bd. II. München: Bergstadtverlag Korn 1967, S. 233. 24 Die Saat. 3. Jahrgang, April 1921, Nummer 4, S. 64. 25 Geb. 1874 in Beuthen OS, starb 1922 in Breslau, Pseudonym Karl Bittermann, studierte Literatur und Sprachwissenschaft in Breslau, Lehrer in Kattowitz und Breslau; vgl. Wocke, Helmut: »Bruno Arndt, ein schlesischer Dichter.« In: Schlesien. Halbmonatsschrift für Heimatkunde, 4. Jahrgang, Liegnitz und Friedeberg/Queis 1924, Heft 6, S. 206f., ders.: Arndt, Bruno. In: Wir Schlesier, Jahrgang 4, 1923/24, S. 192–194, ders. »Bruno Arndt.« In: Der Ostwart, Jg. 1924, S. 94–98; Tau, Max: »Bruno Arndt. Sein Wesen und Werk.« In: Festschrift für Max Tau. Hg. von Alfons Perlick, Dortmund 1961, S. 34–64 und Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens. Bd. II, München 1967, S. 172f. 26 »Mitteilungen des Logaubundes.« In: Die Saat, 3. Jahrgang, Nummer 6, 1921, S. 96.

200

Edward Białek

Auf den einführenden literarhistorischen Vortrag folgte der Rezitationsteil. Arndt ist auch im August-Heft des Jahres 1921 mit einem Prosastück vertreten (»Drei Legenden«, S. 114–116). In den Buchanzeigen dieser Ausgabe weist Hans Zuchhold auf ein Buch des im Kreis Neisse aufgewachsenen Mundartdichters Karl Klings27 (»Bauernbrud. Mundartliche Gedichte.« Durfmusicke-Verlag Breslau 1921) hin: »Das Buch eines längst bekannten schlesischen Dichters enthält eine Fülle guter, wirklich volkstümlicher, mundartlicher Gedichte, meist ernster Art. Dieses Bauernbrot ist zwar im Kriege gebacken worden, aber es ist kein Kriegsbrot«.28 Erwähnt wird auch eine Neuerscheinung und zwar die Anthologie »Schläscher Lichtaobend« (Doppelband 2 und 3 der Heimatbücherei »Schlesisches Himmelreich«), in der u. a. Lieder des im oberschlesischen Kreuzendorf bei Leobschütz geborenen Dichters Philo vom Walde29 erschienen. Im DezemberHeft des Jahres 1921 erschien ein dem oberschlesischen Maler Max Odoy30 gewidmeter Essay; Odoy porträtierte u. a. schlesische Schriftsteller und Künstler. Von großem Können zeugt das Porträt des einsamen, in seiner Bedeutung als Lyriker und Epiker noch immer nicht genug gewürdigten Schlesiers Bruno Arndt. […] Von Geburt ist Odoy Oberschlesier. Und Schlesien, und im Besonderen wieder seinem engeren Heimatlande, bekundet er wiederholt seine Liebe in Werken, in denen sich die ganze Wucht und Kraft seiner Darstellung verrät.31

Im Februar-Heft des Jahres 1922 bespricht Alfred Geyer die 18. Sondernummer der Oppelner Zeitschrift »Der Oberschlesier. Wochenschrift für Kultur, Politik und Wirtschaft«, die Bruno Arndt gewidmet ist (S, 32–34). Oberschlesisch »wirkt« auch das Mai-Heft: Fritz Müller-Prem, Komponist und Dirigent, der u. a. auch in Breslau wirkte, erinnert in einem musikgeschichtlichen Aufsatz an einen Aufenthalt Carl Maria von Webers als »herzoglicher Hofmusikintendant« im oberschlesischen Carlsruhe (S, 69–75). In einer umfangreichen Besprechung wird auf ein soeben erschienenes Buch »Schlesien. Ein Heimatbuch« (herausgegeben von Wilhelm Müller-Rüdersdorf, Liegnitz 1922) verwiesen, in dem u. a. Beiträge von den aus Oberschlesien stammenden Logaubündlern Hugo Gnielczyk, Paul Grabowski und Curt Mirau veröffentlicht wurden. Ausführlich wird

27 Geb. 1867 in Geseß, Kreis Neiße, lebte seit 1900 als Lehrer in Berlin, wo er 1940 verstarb, Dialektlyriker. 28 Die Saat. August 1921, Nummer 8, S. 126. 29 Eigentlich Johannes Reinelt, 1858–1906, oberschlesischer Dialektdichter, Herausgeber, 1903– 1904 Redakteur der Zeitschrift »Der Osten. Literarische Monatsschrift«. Herausgegeben vom Verein »Breslauer Dichterschule«; vgl. Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens. Bd. II. München 1967, S. 100–104 und Wocke, Helmut: »Philo vom Walde.« Zum 5. August. In: Wir Schlesier! Halbmonatsschrift für schlesisches Wesen und schlesische Dichtung, 8. Jahrgang, Schweidnitz 1928, Nummer 24, S. 663–664. 30 Geb. 1876 in Siemianowitz, starb 1976 in Lindhain. 31 Wocke, Helmut: »Max Odoy.« In: Die Saat, 3. Jahrgang, Dezember 1921, Nummer 12, S. 190.

Autoren aus Oberschlesien in der Liegnitzer Zeitschrift »Die Saat«

201

auch Gnielczyks Buch »Das zerbrochene Ringlein. Eine Eichendorff-Novelle«, Gleiwitz 1922 besprochen (S, 83–84). Die »Saat«-Ausgaben vom Juni und Juli/August 1922 bringen lyrische Texte sowie umfangreiche literarische Porträts von Paul Grabowski32 und Philo vom Walde;33 auch Curt Mirau ist mit einem längeren Gedicht vertreten (»Sehnsucht«, Juli/August 1922, S, 120–12). Georg Selke ediert und kommentiert darüber hinaus einen an eine gewisse Frau Güntzel gerichteten Brief Johannes Reinelts vom 14. Februar 1884, dessen Thema Geistern und Spiritualabend ist. Der nachfolgende Brief wurde mir anlässlich eines vom Logaubunde veranstalteten Philo-Abends von Herrn Güntzel, Liegnitz, einem persönlichen Freunde des 1906 verstorbenen Dichters, zur Veröffentlichung übergeben. Der Brief verdient besondere Beachtung einmal, weil er für Philos Verhältnis zum Spiritismus wertvolle Angaben enthält, sodann weil er ein Zeugnis für die innige Freundschaft Philos und Max Heinzels34, des bekannten Schweidnitzer mundartlichen Dichters ist.35

Im Januar-Heft des Jahres 1923 erschien in der »Saat« der Name des in Grottkau geborenen Dichters Walter Schimmel-Falkenau,36 der in seiner Lyrik und Prosa, auch in dem im Liegnitzer Periodikum besprochenen Buch »Der Trubadur. Balladen und Lieder zur Zeit« (Iser-Verlag, Friedeberg Queis 1922) eine chauvinistisch orientierte antipolnische Propaganda betrieb. Er verbreitete in seinen Schriften zahlreiche Vorurteile, die er in eine derbe, zum Teil von saloppen Ausdrücken nicht freie Sprache kleidet. Gern erstellt er einen Katalog von oberschlesischen Tugenden, die er alle mit dem Adjektiv »deutsch« bekräftigt. Die Präsenz des polnischen Elements im Kohlenrevier wird in seinen Schmähschriften eindeutig auf die demagogische antideutsche Hetzarbeit des katholischen Klerus zurückgeführt: »Der Oberschlesier ist deutsch, er hat keine Sehnsucht nach Polen, mit Ausnahme der polenbesetzten Grenzdörfer. Wären die Priester zu nicht so vielen im Lande, würden auch die Dörfer an der Grenze wohl

32 Geyer, Alfred: »Paul Grabowski.« In: Die Saat. 4. Jahrgang, Juli/August 1922, Nummer 7/8, S. 127–128. 33 Selke, Georg: »Philo vom Walde.« In: Die Saat. 4. Jahrgang, Juli/August 1922, Nummer 7/8, S. 121–123. 34 1833–1898; Mundartdichter und Journalist, lebte vorwiegend in Schweidnitz. 35 Die Saat. 4. Jahrgang, Juni 1922, Nummer 6, S. 97–99. 36 Geb. 1895 in Grottkau in Oberschlesien, starb 1971 in Berlin; studierte Germanistik, Schriftsteller, war eine Zeit lang auf Schloss Pläswitz bei Striegau als Bibliothekar tätig. Bücher: Wir sind Menschen. Gedichte (1921), Die Liebesprobe. Lustspiel (1934), Das Reich und die Reiter. Roman (1939), Die sehnsüchtige Reise. Romantische Erzählung aus dem Riesengebirge (1944) Vgl. Zuchhold, Hans: »Walter Schimmel-Falkenau, ein schlesischer Dichter.« In: Die Saat, April 1923, Nummer 4, S. 50–51; Wocke, Helmut: »Walter Schimmel-Falkenau«. In: Schlesien. Liegnitz 1923, S. 317.

202

Edward Białek

deutsch geblieben sein.«37 In dem anonym in der »Saat« besprochenen Sammelband »Der Trubadur« findet sich eine Satire auf Wojciech (Adalbert) Korfanty: Gar bitter und rauh schmeckt des Pudels Kern, Ich denke an den aus dem Lande gestiebten, In die Schweinebande, die Polen, verliebten – Na ja, eben an einen ganz gewissen Herrn.38

Im selben »Saat«-Heft wird außerdem das Buch »Die Spiegelbrücke« (Leipzig 1922) des in Oppeln und Neisse wirkenden Schriftstellers Willibald Köhler (1886–1976) besprochen. Im April-Heft des Jahres 1923 wird Walter SchimmelFalkenau mit einem Aufsatz bedacht (Hans Zuchhold: »Walter Schimmel-Falkenau, ein schlesischer Dichter«, S, 50–51). Kein einziger Text von ihm ist in der »Saat« erschienen – dies könnte ein Indiz dafür sein, dass seine Schreibweise von der Redaktion der Liegnitzer Zeitschrift nicht akzeptiert wurde. Im 5. Jahrgang erschienen in der »Saat« noch zwei Gedichte von Curt Mirau und eine Besprechung des Buches »Die Mutter des Judas. Roman aus der Zeit Christi« von Hugo Gnielczyk. 1924, nachdem der Logaubund in den Verein für deutsche Bildung eingegangen und die Zeitschrift »Die Saat« Vereinsorgan geworden war, erschien als Doppelheft 1/2 (Januar/Februar) ein Hermann Stehr gewidmetes Heft. Eben in dieser Festschrift erscheint ein Aufsatz des damals blutjungen Verlagslektors Max Tau,39 des einzigen »Saat«-Beiträgers jüdischer Herkunft. Als Vorabdruck erschien in diesem »Saat«-Heft Taus Text »Hermann Stehrs ›Peter Brindeisener‹. Ein Brief an den Dichter«, der wenig später in einem von Wilhelm Meridies herausgebrachten Sammelwerk40 untergebracht wurde. In seiner Würdigung des

37 Schimmel-Falkenau, Walter: »Der oberschlesische Wald.« In: Wir Schlesier. Halbmonatsschrift für schlesisches Wesen und schlesische Dichtung. 4. Jahrgang, Nr. 1. Schweidnitz, den 1. Oktober 1923, S. 3. 38 Schimmel-Falkenau, Walter: »Etwas von den Schelmen.« In: Der Trubadur. Friedeberg/Queis und Leipzig 1922, S. 131. 39 Geb. 1897 in Beuthen/OS, starb 1976; Verlagslektor, Schriftsteller, Herausgeber von Stehrs Werken (9 Bände, 1924), Förderer junger Literaten: zum Durchbruch verhalf er u. a. Bruno Arndt, Horst Lange und August Scholtis. Emigrierte 1938 nach Norwegen, dann nach Schweden; lebte nach dem Krieg in Oslo; vgl. Festschrift für Max Tau. [Mitteilungen des Beuthener Geschichts- und Museumsvereins]. Hrsg. von Alfons Perlick. Dortmund 1961; Lubos, Arno: Geschichte der Literatur Schlesiens. Bd. II. München: Bergstadtverlag Korn 1967, S. 394; Haas, Olaf: Max Tau und sein Kreis. Zur Ideologiegeschichte oberschlesischer Literatur in der Weimarer Republik. Mit einer Einführung von Hans-Georg Pott. Paderborn: Schöningh 1988. 40 Hermann Stehr. Sein Werk und seine Welt. Hrsg. von Wilhelm Meridies. Habelschwerdt: Franke 1924.

Autoren aus Oberschlesien in der Liegnitzer Zeitschrift »Die Saat«

203

neuen Romans von Stehr scheut Tau nicht vor pathetischen und hymnischen Worten zurück: Ja, mein verehrter lieber Meister, die lautlosen Worte ergreifen am tiefsten und heute vermag ich nur freudig und glücklich zu sagen: Ehrfurcht! Dankbarkeit und immer wieder Dankbarkeit! Sie haben dem deutschen Volke viele große, schöne und tiefe Bücher geschenkt. Aber hier haben Sie, wie der Geigenspieler im höchsten Moment, Ihre eigene Kunst zur Intensität und inneren Fülle des Lebens erhöht. Brindeisener zeitennah: weil in ihm der Konflikt der gegenwärtigen Jugend überhaupt lebt, die die Erschütterungen des Wirklichkeitserlebens vor der inneren Reise der seelischen Bereitschaft empfangen hat. Brindeisener zeitenfern: weil in ihm der ewige Zwiespalt zwischen der Erlebnisrealität und der himmlischen Sehnsucht aller Jugendlichen lebt.41

Im Aprilheft des Jahres 1924 erschienen mehrere Gedichte und Prosatexte sowie Tagebuch-Aufzeichnungen des zwei Jahre zuvor verstorbenen Schriftstellers Bruno Arndt. Helmut Wocke besorgte eine »Zusammenstellung der Dichtungen des verstorbenen Schlesiers. Sie waren ihm aus dem Nachlass Arndts zugänglich; mit einem Schattenbild des Dichters von G. Simon« (S, 75). Den oberschlesischen Anteil an dieser Nummer ergänzt ein Aufsatz von Alfred Geyer über den im Kreis Neiße geborenen Maler Eduard von Grützner42 (S, 93–98). An den analytischen Teil schließen sich drei Bilder an: »Geburtshaus«, »In der Klosterbibliothek« und »Der Künstler im Atelier an seinem 75. Geburtstage« (aus Künstlerbrevier »Eduard von Grützner«, Hugo Schmidt Verlag, München). Das Doppelheft vom Mai 1924 erwies sich als das allerletzte; es beschloss eine beinahe sechsjährige Geschichte des Publikationsorgans des Logaubundes Liegnitz bzw. des Vereins für Deutsche Bildung. Auch in dieser Abschiedsnummer fand die Redaktion der »Saat« Platz für Literatur aus Oberschlesien: sie bringt nämlich ein Gedicht von Curt Mirau (»Almosen«, S, 126–128).

41 Die Saat, 6. Jahrgang, 1924, Nr. 1/2, S. 21–22. 42 Genremaler, geb. 1846 in Großkarlowitz bei Neiße, starb 1925 in München; vgl. Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Begründet von U. Thieme und F. Becker. Fünfzehnter Band: Leipzig: Gresse-Hanselmann 1922, S. 141.

Ewa Jarosz-Sienkiewicz (Wrocław)

Literatur als globale Erscheinung am Beispiel der Schriften von Heinz Piontek

Heinz Piontek, ein in Kreuzburg geborener und bis zu seinem Tode in Bayern lebender Schriftsteller, Dichter, Übersetzer und Dramatiker hat in seiner Essayistik eine ganze Reihe von Literaten angesprochen. Als Deutscher griff er nicht nur nach deutschsprachiger Literatur. In seinen Analysen beschäftigte er sich mit Spaniern, Franzosen, Russen, Polen, Engländern, Jugoslawen und entdeckte in ihrer Literatur nicht nur für bestimmte Nationen charakteristische Züge. Vielmehr ging es dem Schriftsteller darum, das allgemein Menschliche in der Dichtung der Autoren aufzudecken, Stile zu vergleichen, Lebensläufe zu erforschen, damit, abgesehen von anderen Faktoren, letzten Endes ein Bild der Literaturwelt vor Augen steht, das ein Beweis des globalen Charakters der Literatur sein würde. Interessant ist es, wie Piontek das Globale der Literatur zwischen den Zeilen seiner Texte bestätigt. Im Essay »Formen der Unruhe«, der der Dichtung der Polen Zbigniew Herbert und Tadeusz Róz˙ewicz gewidmet ist, vergleicht er zum Beispiel die Rezeption des Dichterpaares Róz˙ewicz und Herbert mit der Rezeption der Schweizer Max Frisch und Friedrich Dürrenmatt. Er schreibt: Wie Frisch und Dürrenmatt, so nennt man auch Herbert und Róz˙ewicz gern in einem Atem. Was sie verbindet, ist das Exemplarische ihrer Leistungen. Doch sie unterscheiden sich auch voneinander mindestens ebenso stark wie die Schweizer. Der drei Jahre jüngere Herbert ist ein Meister des lyrischen Motivs, der scharfsinnigen Durchdringung der Probleme, der Pointierung und Dialektik. Tadeusz Róz˙ewicz hingegen ist der sprachlich Kühnerer, ein ›Progressiver‹, der die größere formale Kraft besitzt.1

In obiger Aussage macht sich der Hang Pionteks deutlich, die Literatur nicht nur als ein nationaltypisches Phänomen zu betrachten, sondern die Schriftsteller in einen breiteren Kontext der Tendenzen der Weltliteratur zu stellen, wenn auch mit Hilfe eines auf den ersten Blick simpel klingenden Vergleiches. Von den Schweizern Frisch und Dürrenmatt geht Piontek aus, wenn er die Popularität zweier Pole, Herbert und Róz˙ewicz in ihrem Land vergleichen will. 1 Piontek, Heinz: »Formen der Unruhe«. In: Heinz Piontek: Schönheit: Partisanin. Schriften zur Literatur. Zu Person und Werk. München: Schneekluth 1983, S. 267.

206

Ewa Jarosz-Sienkiewicz

Die Art einer als global bezeichneten Betrachtung der Literatur wird bei der Untersuchung der Literaten besonders deutlich, die in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts der mittleren Generation angehört haben und in den zwanziger Jahren zur Welt gekommen sind.2 Piontek beginnt mit der Aufzählung ihrer ähnlichen Lebenserfahrungen, die wenig von ihrer Staatsangehörigkeit abhängen. Er betont, dass es bei dieser Generation keine Erinnerung an den Ersten Weltkrieg mehr gäbe und bei ihnen von daher ein gereiftes Urteilsvermögen erst nach dem Zweiten Weltkrieg zu Wort gekommen sei (ZJL, 276). Bei aller Achtung vor dem erreichten Frieden, entdeckt Piontek bei Vertretern dieser Generation eine Enttäuschung über den wiederkehrenden alten, nicht einwandfreien Rhythmus der Welt. Und nicht nur deutsche Literaten greifen in ihrem Schaffen diese Problematik auf (ZJL, 276). Der Essayist Piontek sieht auch außerhalb Deutschlands Vertreter dieser Generation. Er betont gleiche bzw. ähnliche Probleme, auf die sich die Literatur der einzelnen Länder beruft, ähnliche Gefühle, die die Dichter weltweit begleitet und zum Schreiben angeregt haben: »In der Kunst der mittleren Generation jedenfalls – schreibt er – zeigen sich sogar über Kontinente hinweg, Zusammenhänge zwischen Ideen und Mitteln; unter den Künstlern besteht Übereinstimmung, manchmal Solidarität.« (ZJL, 276) Es ist eine Feststellung, die das Allgemeingültige des Schaffens einer ganzen Generation, abgesehen vom Land der Herkunft einzelner Autoren, bewusst macht und das Globale der Ideen und der in der Literatur verarbeiteten Einfälle in einer gewissen Zeitperiode in den Vordergrund rückt. Als Beispiel dienen Piontek, wie er offen gestanden hatte, zwei Jugoslawen Vasko Popa und Miodrag Pavlovic´ mit ihrer Vorliebe für Erzählgedichte. Man analysiert die Rollengedichte von Pavlovic´, die bei der Interpretation Vieldeutigkeit zulassen, er weist auf dessen Tendenz nach dem Mythos als dem Menschheitsgut zu greifen und im »Nationalen« auch das »Universale« zu erkennen (ZJL, 279–281). Auffallend ist Pionteks Interesse am Franzosen René Char, den unter anderen auch gerade ein österreichischer Dichter, Paul Celan, den Deutschen zugänglich gemacht hatte.3 Piontek vergleicht Char mit Franz Kafka, ihn interessieren die Naturgedichte von Char, weil der Dichter ausgerechnet in der Natur, ähnlich wie Piontek selbst, eine Art Sprache erblickt, die für alle verständlich ist (UF, 236). So arbeitet Char mit Bildern, die allgegenwärtig im Bewusstsein der Menschen stecken. In Char findet Piontek übrigens den Fortsetzer des Österreichers Rainer Maria Rilke und des Deutschen Friedrich Hölderlin (UF, 238). 2 Vgl. Piontek, Heinz: »Zwei jugoslawische Lyriker«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 275 (im Folgenden unter der Sigle »ZJL« mit Seitenzahl im Text). 3 Vgl. Piontek, Heinz: »Unbeweisbare Formeln«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 233 (im Folgenden unter der Sigle »UF« mit Seitenzahl im Text).

Literatur als globale Erscheinung bei Heinz Piontek

207

Im Essay »Poesie ohne Aufwand« schreibt Piontek über den deutschen Lyriker und Prosaiker Walter Helmut Fritz.4 Bei ihm bemerkt der Dichter wiederum Zusammenhänge seiner Werke mit dem Schaffen ausländischer, hauptsächlich französischer Autoren; Vigée, Ménard, Jaccottet, Bosquet und Follain (PA, 342). Man spricht sogar von der »Sprachverwandtschaft zwischen Dichter und Dolmetscher« (PA, 342), die sich bei Fritz dank der Übertragung der Werke der o. g. Literaten entwickelt hatte. Der Autor der »Schönheit Partisanin« selbst übersetzte die Lyrik des 1821 verstorbenen Engländers John Keats, dem er den Essay »Gedenkblatt für einen jungen Engländer. Zum 150. Todestag von John Keats«5 gewidmet hatte. Keats betraf auch eins seiner Gedichte, in dem sich das Interesse Pionteks an Keats Dichtung nochmals widerspiegelt: Die Wahrheit englisch. In des Wassers Schrift Unüberwindlich schön, was doch erliegt: Südwind, der Mädchen Blutfarb und Kristall Und gar des Herbstes Ruhm –. Die Nachtigall Klagts dem Jahrtausend, das uns überfliegt.6

Interessant ist es, wie oft Piontek sich selbst in seinen Werken auf Keats berufen hatte, bzw. seine Kenntnisse über Keats ausnutzte und sie darin thematisierte. In seinem Erzählband »Anhalten um eine Hand« befindet sich die Erzählung »Last Residence, 1821«, in der Piontek die letzten Monate des Lebens von Keats in Rom thematisiert.7 Es fällt in der obigen Erzählung zwar nicht der Name von Keats, trotzdem lassen die in Anmerkungen von Piontek angegebenen Informationen zum Werk ohne Zweifel auf den Engländer schließen. Am Ende der Erzählung wird sogar ein Fragment des originalen, von Keats selbst entworfenen Grabspruchs, der nach seinem Tode auf seinem Grabe auf dem protestantischen Friedhof an der Pyramide des Cestius in Rom angebracht wurde8 vorgeführt: »Whose Name was writ in Water.«9 In den Anmerkungen Pionteks steht dann der vollständige Text des authentischen Grabspruchs: »Here lies One/whose Name

4 Vgl. Piontek, Heinz: »Poesie ohne Aufwand«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 341–349 (im Folgenden unter der Sigle »PA« mit Seitenzahl im Text). 5 Piontek, Heinz: »Gedenkblatt für einen jungen Engländer. Zum 150 Todestag von John Keats«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 183–187. 6 Piontek, Heinz: »Keats zum Gedächtnis«. In: Heinz Piontek: Indianersommer. Ausgewählte Gedichte. Würzburg: Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn 1990, S. 57. 7 Vgl. Piontek, Heinz: »Last Residence, 1821«. In: Heinz Piontek: Anhalten um eine Hand. Ausgewählte Erzählungen. Würzburg: Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn 1990, S. 21–23. 8 Vgl. Piontek, Heinz: »Anmerkungen«. In: Piontek, Anhalten. 1990, S. 263. 9 Piontek, Heinz: »Last Residence, 1821«. In: Piontek, Anhalten. 1990, S. 23.

208

Ewa Jarosz-Sienkiewicz

was writ in Water« und lässt auf die Zusammenhänge der Erzählung von Piontek mit dem Lebenslauf Keats schließen.10 Im Titel der Erzählung fällt auch das vermerkte Datum, 1821, mit dem Todesjahr von Keats zusammen und der in der Erzählung erwähnte Name Severn ist mit dem Namen des Malers Severn zu assoziieren, mit dem Keats die letzten Tage des Dichters in Rom an der Spanischen Treppe verbracht hatte.11 Piontek behandelt in seiner Essayistik auch andere Autoren, die in ihren Werken, ähnlich wie er in »Last Residence, 1821«, die Lebensläufe anderer Literaten verarbeiteten. Seine Aufmerksamkeit widmet er zum Beispiel Johannes Rüber und seinem Roman »Malapa Malapa« in dem Text »Das Leben des sterbenden Malaparte«.12 Er beschreibt die letzten Tage des italienischen Schriftstellers Curzio Malaparte, die der Italiener sterbenskrank in einer Klinik in Rom verbrachte. Authentisches mischt sich im Roman Rübers, wie es Piontek bemerkt, mit Fiktion und Paraphrase.13 Das Ziel des Romans beruht darauf, den seelischen Zustand eines Sterbenden vor Augen zu führen. Wenn es um Malaparte selbst geht, urteilt Piontek über den Roman: »Nicht eine Rechtfertigung dieses Lebens wird versucht, sondern eine Sinnsetzung von seinem Ende her.«14 Der dem Katholizismus ergebene Rüber rückt in seinem Werk bei dem Nazianhänger Malaparte einen Prozess in den Vordergrund, sich in Angesicht des nahenden Todes zu bekehren und taufen zu lassen.15 Auch Werke anderer Autoren versucht Piontek in sein Schaffen selbst miteinbeziehen. In seinem »Imaginären Interview. Über den Roman ›Dichterleben‹« berichtet er über den Helden seines Werkes, Achim Reichsfelder.16 Im Roman lässt Reichsfelder seinen Begleiter, Janko Machwitz ihm den »Don Quijote« von Cervantes lesen. Fiktion mischt sich mit Realität. Piontek meint, er habe, was diese Tendenz anbetrifft, viele Vorgänger und nennt neben den deutschen Schriftstellern auch Literaten anderer Nationalitäten. Auf die Frage, ob man »das Leben von erfundenen Figuren und dasjenige von wirklich existierenden mischen kann?« (II, 824) antwortet er: Warum nicht? Viele vor mir haben es getan. Bei Fontane wird Effi Briest dem alten Kaiser Wilhelm vorgestellt; er tritt ans Fenster, um den Aufzug der Schlosswache zu beobachten; die kaiserliche Familie, Minister und Politiker kommen vor oder werden

10 Vgl. Piontek, Heinz: »Anmerkungen«. In: Piontek: Anhalten. 1990, S. 263. 11 Vgl. Piontek, »Anmerkungen«, 1990, S. 263. 12 Vgl. Piontek, Heinz: »Das Leben des sterbenden Malaparte«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 524–526. 13 Vgl. Piontek, »Das Leben des sterbenden Malaparte«. 1983, S. 525. 14 Piontek, »Das Leben des sterbenden Malaparte«. 1983, S. 525. 15 Vgl. Piontek, »Das Leben des sterbenden Malaparte«. 1983, S. 525. 16 Vgl. Piontek, Heinz: »Imaginäres Interview. Über den Roman ›Dichterleben‹«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 824–827 (im Folgenden unter der Sigle »II« mit Seitenzahl im Text).

Literatur als globale Erscheinung bei Heinz Piontek

209

erwähnt zusammen mit frei erfundenen Gestalten. Solschenizyn liefert im »Ersten Kreis der Hölle« eine glänzend beängstigende Studie Stalins, lässt den Minister für Staatssicherheit persönlich in fiktives Geschehen eingreifen. In den »Hundejahren« erscheint im letzten Drittel massenweise westdeutsche Prominenz. In Flauberts »Education« stehen viele Künstler und Wissenschaftler der beschriebenen Zeit im Hintergrund. Die Reihe von Beispielen ließe sich leicht verlängern (II, 824–825).

In Anbetracht seines Werkes »Dichterleben« versucht Piontek das Allgemeine der Poeten hervorzuheben: »Die Poeten – wo immer sie herkommen mögen – ähneln einander« (II, 826) – urteilt er. Doch auf der anderen Seite bekennt er sich zum Deutschtum. Er betrachtet jemanden, der sich zu Deutschland, zur deutschen Tradition bekennt, sein Land in Einzelheiten analysiert auch nicht gerade als einen Chauvinisten (II, 826). In seiner Literatur schöpft Piontek aus der Weltliteratur genauso wie aus der deutschen Tradition. Sei es Poesie, Roman, Erzählung oder Essayistik – Piontek bezieht sich auf verschiedene Vertreter der literarischen Szene. Er trachtet nach Zusammenhängen, auch wenn es das kleinste Detail sein würde. Im oben genannten Roman »Dichterleben« fällt der Name von Dostojewski,17 man kann die Anspielung auf das als »alter Roman« bezeichnete, bekannte Werk von Cervantes »Don Quijote« erkennen (DL, 103). Man nennt auch den österreichischen Dichter, Celan, der sich im Gespräch mit Achim dazu bekennt, in seinem weltbekannten Werk, »Todesfuge« an die Tradition, alte deutsche Totentanzgedichte aus dem 16. Jahrhundert anzuknüpfen (DL, 122). Der Titel des Werkes wird zwar im »Dichterleben« nicht unmittelbar genannt. Zitiert wird jedoch ein Vers der »Todesfuge«: »Der Tod ist ein Meister aus Deutschland« (DL, 122). Erwähnt werden auch im »Dichterleben« die Psalmen von Luther (DL, 242), was mit der literarischen Tätigkeit von Piontek zu verbinden ist, wenn man bedenkt, dass er die Bibel in Luthers Übersetzung studierte, als er seine Erzählung »Nach Markus«18 geschrieben hatte. Analysiert man die Lyrikbände von Piontek findet man hier ebenfalls Anspielungen auf konkrete Namen der Weltliteratur. Im Lyrikband »Neue Umlaufbahn« schreibt Piontek das Gedicht »Pferde«, wie es im Untertitel lautet »Nach Jessenin«.19 Für Jessenin ist das Motiv der Pferde von vorrangiger Bedeutung gewesen: Die Pferde auf den Höhen rupfen Gras und Laub, Dann Hufescharren. Und Zeit zerstiebt zu goldenem Staub. 17 Vgl. Piontek, Heinz: Dichterleben. Roman. München: Deutscher Taschenbuchverein 1981, S. 79 (im Folgenden unter der Sigle »DL« mit Seitenzahl im Text). 18 Vgl. Heinz, Piontek: Nach Markus. Erzählung. Würzburg: Bergstadtverlag Wilhelm Gottlieb Korn 1991. 19 Piontek Heinz: Pferde. Nach Jessenin. In: Heinz Piontek: Neue Umlaufbahn. Gedichte. Würzburg: Wilhelm Gottlieb Korn 1998, S. 28.

210

Ewa Jarosz-Sienkiewicz

Schwarz wehn die Mähnen, als sie ohne Grund Hinunterpreschen – bis zum blauen Sund.20

Als nachahmenswert bezeichnet Piontek in seiner Essayistik den Iren, Samuel Beckett und bestätigt zugleich, dass der Nobelpreisträger auch in Deutschland zu den literarischen Größen seiner Zeit angerechnet sei.21 Der Essay Pionteks »Der junge und der alte Beckett« setzt sich mit seinem frühen Roman »Watt« auseinander,22 kritisiert seine Romane wegen Passagen, die ständig dasselbe wiederholen und denen Piontek Geschwätzigkeit vorwirft.23 Der Autor »des Indianersommers« betont aber zugleich das wertvolle der Prosagedichte Becketts »Residua«. Was dabei besonders interessant ist: Piontek findet es wichtig, dass das Werk mehrsprachig herausgegeben wurde, in deutscher, französischer und in einer von Beckett selbst besorgten englischen Fassung24 – ein Schritt in Absicht eines globalen Verstehens des Werkes über alle Grenzen hinweg. Für das Globale der Literatur spricht übrigens auch die Bemerkung Pionteks, der Ire Beckett hätte in seinen Roman »Watt« auch Hölderlin-Zitate eingesetzt.25 In »ensemble. Internationalem Jahrbuch für Literatur oder Umgang mit Weltliteratur und ihren modernen Klassikern«, einem Nachtrag zur Broschüre 4 der Materialien »Zur Wirkungsgeschichte eines schreibenden Einzelgängers« hat Piontek den von Elman Tophoven ins Deutsche übersetzten Ausschnitt aus dem Romanmanuskript »Mercier und Camier« platziert.26 Piontek greift ebenfalls in das private Leben von Beckett ein, indem er in seinem Nachtrag das Porträt der Cousine von Beckett, Peggy Sinclair, mit einer Unterschrift versieht, in der er feststellt, Beckett hätte wegen ihr die deutsche Sprache tief ins Herz geschlossen.27 Samuel Beckett widmet Piontek auch 1976 sein eigenes Gedicht »Letztwillig«: […] Maulwürfen und Genossen hinterlässt du, was unter der Erde von dir möglicherweise 20 Piontek, Pferde. Nach Jessenin. 1998, S. 28. 21 Vgl. Piontek, Heinz: »Wenn die überragenden Autoren fehlen«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 425. 22 Vgl. Piontek, Heinz: »Der junge und der alte Beckett«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 498–501. 23 Vgl. Piontek, »Der junge und alte Beckett«. 1983, S. 501. 24 Vgl. Piontek, »Der junge und alte Beckett«. 1983, S. 501–502. 25 Vgl. Piontek, »Der junge und alte Beckett«. 1983, S. 499. 26 Vgl. Piontek, Heinz: »ensemble. Internationales Jahrbuch für Literatur oder Umgang mit Weltliteratur und ihren modernen Klassikern. Zur Wirkungsgeschichte eines schreibenden Einzelgängers«. Nachtrag zur Broschüre 4. Aus der Sammlung Margrit Dürring, München, Heinz Piontek Archiv Lauingen, S. 14. Verwendet nach Genehmigung des Leiters des H. P. Archivs, Anton Hirner. 27 Vgl. Piontek, »ensemble. Internationales«. S. 14 a.

Literatur als globale Erscheinung bei Heinz Piontek

211

noch eine Weile zu gebrauchen ist –, Den Leserinnen und Lesern: Was aus der Aschenglut Deiner Schriften Am Ende rauchblau, ein blauer senkrechter Faden, ätherblau aufsteigen wird, ohne Halt – Oder? Nicht einmal. Nur.28

Das erwähnte Jahrbuch »ensemble. Internationales Jahrbuch für Literatur« ist darüber hinaus ein Beweis für das globale Denken seiner Herausgeber, Heinz Piontek und Clemens Podewils. Hier werden Lyrik, Erzählungen, Essays, Briefe, Berichte verschiedener Autoren veröffentlicht.29 Bei der Autorenauswahl geht es nicht um Vertreter derselben Ideologie. Mehr handelt es sich um Zuneigung und ästhetische Qualität, die die Autoren verbindet.30 Sie sollen gemeinsam das Vertrauen in die Literatur beweisen, die Tatsache bewusst machen, dass ausgerechnet Literatur imstande ist, die Wahrheit mit Hilfe des Wortes herauszufinden.31 Man gibt die Aufteilung in die Literatur des Ostens und des Westens auf.32 Ebenfalls ist das Alter der Autoren ohne große Bedeutung.33 Es gibt auch Erstdrucke und Vorabdrucke ausländischer Autoren, manchmal auch zweisprachig herausgegeben.34 Im Band sieben, der vor allem der Lyrik gewidmet wurde, werden Werke schwedischer, italienischer, angloamerikanischer und deutschsprachiger Verfasser veröffentlicht.35 Allgemein gibt es Texte aus der UdSSR, Schweden, England, Irland, Frankreich, Spanien, Italien, Israel, afrikanischen Staaten und aus Lateinamerika, der USA, Japan, der DDR und der BRD. Es sind 28 Piontek, Heinz: Letztwillig. Heinz Piontek: Neue Umlaufbahn. Gedichte. Würzburg: Wilhelm Gottlieb Korn 1998, S. 49. 29 Vgl. Klappentext zu Ensemble. Lyrik, Prosa, Essay. Hrsg. von Clemens Graf Podewils/Heinz Piontek. München: R. Oldenbourg Verlag 1969. 30 Vgl. Podewils/Piontek, Klappentext. 1969. 31 Vgl. Podewils/Piontek, Klappentext. 1969. 32 Vgl. Podewils/Piontek, Klappentext. 1969. 33 Vgl. Podewils/Piontek, Klappentext. 1969. 34 Vgl. Piontek, Heinz: »Aus Anlass des 10. Bandes. Vorwort zu Band 10 von ›ensemble‹.« In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 732. 35 Vgl. Steinherr, Ludwig (Hg.): »Heinz Piontek. Zur Wirkungsgeschichte eines schreibenden Einzelgängers«, Exemplar 3, Broschüre 4, Heinz Piontek Archiv Lauingen, S. B629,4. Verwendet nach Genehmigung des Leiters des H. P. Archivs, Anton Hirner.

212

Ewa Jarosz-Sienkiewicz

sowohl Schriftsteller und Dichter vertreten, die bereits einen Namen hatten, als auch diese, die noch unbekannt gewesen sind.36 Da jedoch nach dem Krieg eine deutliche Aufteilung in die im Ostblock und im Westen entstandene Literatur zum Ausdruck kam, versuchte der in Bayern ansässige Schlesier zunächst die Literatur des Ostens zu analysieren. Bekannt sind sein Hinweis auf die Erzählgedichte von B. Brecht,37 die von Piontek gezeichnete Darstellung des 1828 geborenen Russen Lew Tolstoi und zugleich die mit Zitaten belegte, im Essay angedeutete Bewunderung, die der österreichische Schriftsteller Elias Canetti Lew Tolstoi geschenkt hatte, indem er die in ihm steckenden Widersprüche zu loben wusste.38 Piontek spricht von den Auftritten gegen die Kirche, den Staat, die Reichen und von einem bei Tolstoi sichtbaren Zusammenfügen »kommunistischer« Utopien mit christlicher Weltauslegung.39 Wiederum meldet sich ein Gedicht zu Wort, in dem Piontek im Abschnitt »Ich, Anton Pawlowitsch« an die authentische Äußerung Anton Tschechows erinnert.40 Im Werk wendet sich Tschechow an seine Kritiker, die seine angebliche politische Unentschiedenheit angegriffen haben: »Als hätte ich nicht/von Anfang an/gegen die Lüge protestiert«.41 Der Satz wurde fast wortwörtlich einer mündlichen Aussage von Tschechow entnommen. Piontek schreibt es in den Anmerkungen zu seinem Lyrikband »Indianersommer«, indem er die authentische Aussage direkt herbeiführt: »Habe ich nicht zeitlebens gegen die Lüge protestiert!«42 Schon an diesen Beispielen sieht man, wie Piontek mit seinen Texten beweisen wollte, dass Literatur und ihr Erleben über die Grenzen steigen, das Globale bestätigt der Dichter weiterhin in seinem Text »Zu einer Anthologie«, der die Tatsache hervorhebt, dass die Literaten in ihrem Schaffen und Wirken Ähnlichkeiten verraten, wobei der Begriff »Ähnlichkeit« sowie gegenseitiges Interesse über die Staatsgrenzen reicht.43 Der westdeutsche Dichter Piontek bezeichnet zum Beispiel in einem Atemzug als »sympathisch-unaufdringlich« den Polen Zbigniew Herbert, den DDR Lyriker Günter Kunert und den westdeutschen Lyriker Peter Rühmkorf.44 36 Vgl. Piontek, Heinz: »Aus Anlass des 10. Bandes«. 1983, S. 733. 37 Vgl. Piontek, Heinz: »Erzählgedichte. Vorwort zu ›Neue deutsche Erzählgedichte‹«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 158. 38 Vgl. Piontek Heinz: »Eines alten Mannes Jahre«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 196–205. 39 Vgl. Piontek, »Eines alten Mannes Jahre«, 1983, S. 201. 40 Vgl. Piontek, Heinz: »Ich, Anton Pawlowitsch«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 774–775. 41 Tschechow, Anton: Ich, Anton Pawlowitsch, zit. nach: Piontek, »Ich, Anton Pawlowitsch«. 1983, S. 775. 42 Vgl. Piontek, Heinz: »Anmerkungen zu einzelnen Gedichten«. In: Piontek: Indianersommer. 1990, S. 194. 43 Vgl. Piontek, Heinz: »Zu einer Anthologie«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 302–306. 44 Vgl. Piontek, »Zur einer Anthologie«. 1983, S. 304.

Literatur als globale Erscheinung bei Heinz Piontek

213

Er teilt auch aus verschiedenen Ländern stammende Dichter in Gruppen ein, welche beweisen, dass sich über die Grenzen hinweg Literaten nach gewissen Tendenzen ordnen lassen. Hier nennt er die Gruppe der Lyriker, die mit dem Satz experimentieren, die Gruppe der Dichter, die verständliche Sätze schmieden, und die Gruppe der Autoren, die dazwischenstehen. Unter den angesprochenen Dichtern findet man in diesem Zusammenhang als Untersuchungsmaterial die Österreicher Hans Carl Artmann, Ernst Jandl und Friedericke Mayröcker, den Deutschen Helmut Heißenbüttel, den Italiener Edoardo Sanguineti, die Polen Tadeusz Róz˙ewicz und Zbigniew Herbert, die Jugoslawen Pavlovic´ und Popa, den (ehemaligen) DDR-Dichter Günter Kunert, den Schweden Lars Gustafsson, den Russen Andrej Wosnessenskij, den Tschechen Miroslav Holub, den Franzosen Yve Bonnefoy, den Deutschen Günter Grass sowie die Amerikaner Charles Olson und Robert Creeley.45 In dem aus dem Jahr 1976 stammenden Essay »Erzählungen von Muschg« entdeckt Piontek die Zusammenhänge im Schaffen des Schweizer Erzählers Adolf Muschg mit der amerikanischen klassischen Shortstory.46 Um das Globale der Dichtung hervorzuheben muss Piontek einige stereotype Meinungen in Frage stellen. Es geschieht bereits in seinem Essay »Hunger nach der Welt«. Piontek unterstreicht dort, dass es falsch sei, zu denken, in der DDR hätte es nur linientreue Dichtung gegeben oder dass die Poesie in Ostdeutschland völlig verstumme.47 Als Beweis der Zusammenarbeit der Nationen, um die Literatur aus der nationalen Enge herauszuholen und die Werke in anderen Ländern bekannt zu machen, nennt er die Anthologie »Deutsche Lyrik auf der anderen Seite«, die die Westdeutschen zum ersten Mal mit der ostdeutschen, nicht unbedingt sozialistisch gestimmten Lyrik bekannt machen sollte. Was nach Piontek ins Auge fällt, ist die Tatsache, dass diese Anthologie nicht von einem Deutschen, sondern von einem Holländer herausgegeben wurde.48 Unter den interessanten Dichtern der DDR nennt Piontek außer Johannes Bobrowski noch Reiner Kunze. Er macht auf seinen Aufenthalt in der Tschechoslowakei in den sechziger Jahren aufmerksam und meint, das Nachbarland und seine Literatur habe ihn geprägt und sogar zu Nachdichtungen bewogen. Genannt werden u. a. Ludvík Kundera, Miroslav Holub und Jan Skácel.49 Er nennt darüber hinaus unter den Dichtern, von denen Kunze schöpfte, den Italiener Giuseppe Ungaretti,50 der Piontek auch sehr nahegestanden hatte. Der Dichter entwarf sogar in seinem Lyrikband »Umlaufbahn« ein Gedicht unter dem Titel 45 46 47 48 49 50

Vgl. Piontek, »Zu einer Anthologie«. 1983, S. 305. Vgl. Piontek, Heinz: »Erzählungen von Muschg«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 537–538. Vgl. Piontek, Heinz: »Hunger nach der Welt«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 369–370. Vgl. Piontek, »Hunger nach der Welt«. 1983, S. 370. Vgl. Piontek, »Hunger nach der Welt«. 1983, S. 374. Vgl. Piontek, »Hunger nach der Welt«. 1983, S. 376.

214

Ewa Jarosz-Sienkiewicz

»Per Sempre. Nach Ungaretti«, das am 24. Mai 1959 in Rom entstanden ist.51 Man liest dort: Ohne alle Ungeduld will ich träumen, mich über die Arbeit erneut hermachen, bei der kein Ende abzusehen ist. Nach und nach fällt mir auf, wie den wiedererstandenen Armen am Ende Hände zur Hilfe kommen, die sich öffnen. Und in die verlassenen Höhlen kehren deine lebendig hellen Augen zurück, um Licht zu verbreiten. Unversehens bist du auferstanden, unversehrt, um mir von neuem die Richtung anzusagen mit deiner Stimme neben mir. Für immer seh ich dich wieder.52

Viel Aufmerksamkeit schenkt der Dichter auch Peter Huchel, der in den siebziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts die DDR verlassen hatte. Piontek definiert Huchels Schaffen als Schaffen, dass sich nicht nach Moden gerichtet habe. Dem in den 1950er Jahren unmodernen Naturgedicht hat Huchel nämlich nach wie vor nicht den Rücken gekehrt, er schrieb sogar Naturgedichte.53 Der im Westen lebende Piontek zieht im Abschnitt »Peter Huchel – siebzig Jahre« Schlüsse, die die Grenzen zwischen ostdeutschen und westdeutschen Dichtern und ihren Empfängern weitgehend verwischen. So haben wir – konstatiert er – verallgemeinernd, an ihm ein Vorbild für Mut und Beständigkeit in einem sich nach dem Allerneuesten skrupellos verzehrenden Betrieb. Er zeigt, dass sich dem Modischen widerstehen lässt; dass man ein heutiger Autor sein kann, ohne dem alten Schönen abschwören zu müssen.54

Der ehemalige Rostocker Walter Kempowski ist mit seinem autobiographischen Romanen »Tadellöser & Wolff« und »Uns geht’s ja noch gold« zum Thema der Erwägungen Pionteks geworden. Der Fall Kempowskis zeigt die Konfrontation des in Rostock geborenen Schriftstellers mit der westdeutschen und ostdeutschen Wirklichkeit, die in seinem Werk einen Widerhall gefunden hat. Nun wird das Globale der Literatur nicht nur auf das Ästhetische, sondern auch auf die Thematik bezogen. Der nach Rostock zu Besuch kommende Hauptheld des Romans »Uns geht’s ja noch gold«, wird dort nämlich als Spion verhaftet.55 Nach 51 Vgl. Piontek, Heinz: »Per sempre. Nach Ungaretti«. In: Piontek: Neue Umlaufbahn. 1998, S. 64. 52 Zit. nach Piontek, Heinz: »Per sempre. Nach Ungaretti«. In: Piontek: Neue Umlaufbahn. 1998, S. 64. 53 Vgl. Piontek, Heinz: »Peter Huchel – siebzig Jahre«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 488–489. 54 Piontek, »Peter Huchel – siebzig Jahre«. 1983, S. 491. 55 Vgl. Piontek, Heinz: »Nachkrieg«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 521–522.

Literatur als globale Erscheinung bei Heinz Piontek

215

Piontek ist Kempowski mit Grass zu verbinden, weil er aus der Perspektive eines »Halbwüchsigen« in seinem Werk das Leben des Deutschen Groß- und Kleinbürgertums in der Hitlerzeit, dem Krieg und der Nachkriegszeit zeigt und sie mit Ironie und Satire vor Augen führt.56 Einen interessanten Teil von »Schönheit Partisanin« bietet der Abschnitt »Bücher, die mich beschäftigen«.57 Es ist ein Beweis persönlicher Interessen Pionteks für Monografien über Schriftsteller. Im ersten Beitrag »Briefe zwischen Pound und Joyce« ›rekonstruiert‹ der Deutsche die Beziehung zwischen dem amerikanischen und irischen Literaten.58 Pound hatte ausgerechnet Joyce in seiner schriftstellerischen Tätigkeit gefördert. Piontek bezeichnet die Bemühungen von Pound sogar »Kampf für Joyce« (B, 495–496) mit Verlegern, Redakteuren, die am Anfang Joyce Texte überhaupt nicht drucken wollten. Piontek nennt Joyce eine Entdeckung von Pound, obwohl im Laufe der Zeit sich Joyce, der erfolgreiche »Ulysses«- Autor als undankbar und überheblich erwiesen hätte (B, 497). Obwohl sich die Kontakte der beiden mit der Zeit aufgelockert haben, schreibt Piontek über Pounds anhaltenden Respekt Joyce gegenüber (B, 497). Amerikanische Literatur scheint Piontek besonders zu interessieren. Er spricht über den Nobelpreisträger Romancier Saul Bellow und unterstreicht, dass er in Deutschland dank des übersetzten Romans »Herzog« bekannt geworden sei.59 Piontek respektiert die Übersetzung ins Deutsche von Walter Hasenclever.60 Die Reflexionen der Literaten über Dichter aus anderen Ländern, die Lust der Literaten, selbst Anthologien herauszugeben, in denen Schriftsteller nach gewissen, nicht nationalbedingten Maßstäben geordnet werden, Freundschaften, die aus Anlass des literarischen Schaffens entstehen, Rezensionen ausländischer Bücher, die Suche nach dem, was Dichter nicht nur als Literaten, sondern auch als Menschen verbindet, das Verarbeiten der Lebensläufe anderer Schriftsteller im eigenen Schaffen – das alles spricht für das Globale der Literatur und des Literaturbetriebes. Am Beispiel der Essayistik von Piontek, die zum Beispiel auch Polen wie Zbigniew Herbert und Tadeusz Róz˙ewicz betrifft, kann man beobachten, wie sehr Piontek in der Weltliteratur bewandert war. Im Essay »Formen der Unruhe« beschäftigt sich Piontek mit dem ersten Band von Róz˙ewicz′ »Unruhe«. Er unterstreicht die Kriegsvergangenheit, die tief im Bewusstsein des Autors steckte. Trotzdem weiß er, den Hang von Róz˙ewicz, das

56 Vgl. Piontek, »Nachkrieg«. 1983, S. 521. 57 Piontek, Heinz: »Bücher, die mich beschäftigen«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 494–563. 58 Vgl. Piontek, Heinz: »Briefe zwischen Pound und Joyce«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 495– 498 (im Folgenden unter der Sigle »B« mit Seitenzahl im Text). 59 Vgl. Piontek, Heinz: »Der Romancier Bellow«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 512. 60 Vgl. Piontek, »Der Romancier Bellow«. 1983, S. 513.

216

Ewa Jarosz-Sienkiewicz

Grausame im literarischen Werk nur dezent kundzutun oder ins Schweigen zu hüllen, hoch einzuschätzen.61 Analysiert Piontek polnische Gedichte, fällt ihm ihre Wortkargheit ins Auge. In Gedichten von Róz˙ewicz sieht er ein Beispiel dafür. Doch unterstreicht er zugleich, dass Róz˙ewicz mit ästhetischen Mitteln (Piontek nennt hier Kontrastierung, Wiederholung und Rhythmisierung) (FU, 268) mit dem genau ausgewerteten, sparsamen Wortschatz, eine enorme Wirkungskraft des Ausdrucks erziele (FU, 268). Der deutsche Dichter hat Respekt vor der Art und Weise mittels der wortkargen Poesie Gefühle beim Leser zu erzeugen, bzw. auf eine mittelbare Weise Gefühle preiszugeben. Er unterstreicht die von Róz˙ewicz ausgesprochene Warnung vor der goldenen Mitte als einem Akt des Sich-Anpassens. Im Gegensatz zu dem Sich-Anpassen, das er mit einem langsamen Sterben assoziiert, stiftet Róz˙ewicz nach Piontek in seinen Gedichten Unruhe (FU, 272). Seine Entwicklung, die von Piontek als »Entwicklung der kleinen Schritte« (FU, 273) bezeichnet wird, beruht auf ständig wachsender Erfahrung mit ästhetischen Mitteln. Piontek bemerkt die wachsende Offenheit von Róz˙ewicz fremden literarischen Mustern und Orten gegenüber. »Der Dichter ist auch nicht mehr reiner Regionalist«, – schreibt er – »er kann sich jetzt ebenso gut auf italienische, französische, deutsche Orte einen Vers machen« (FU, 273). Es ist ein Zeichen des globalen Charakters der Literatur, dass man die Literatur in einzelnen Ländern unter verschiedenen, gemeinsamen Aspekten vergleichen kann. Es wird dabei immer wieder auf dieselben Maßstäbe angespielt, die in einzelnen Ländern mehr oder weniger vorherrschen. So vergleicht Piontek in seinem Essay über die Lyrik Herberts die Bezogenheit auf die Sache des Menschen im Osten und Westen. Er schreibt dem Polen eine im Vergleich zu der Poesie, die im Westen entstanden ist, größere Menschenbezogenheit zu. Die Orientierung auf humane Werte des Gedichtes, abgesehen von der formalen Seite der Poesie, ist nach Piontek die charakteristische Eigenschaft jugoslawischer, polnischer und russischer Dichtung.62 Herbert scheint für Piontek bescheidener als andere Dichter, die ihren Ruhm erreicht haben, zu sein. Seine Weltberühmtheit ist nur auf sein Werk, nicht auf seine Biografie bezogen (LH, 257). Dank Dedecius lernt Piontek den Lebenslauf Herberts kennen. Er akzentuiert unter anderen die Weltoffenheit des Poeten, dem es vergönnt war, Reisen durch Frankreich, Italien, Griechenland und Eng-

61 Vgl. Piontek, Heinz: »Formen der Unruhe«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 266–272 (im Folgenden unter der Sigle »FU« mit Seitenzahl im Text). 62 Vgl. Piontek, Heinz: »Die Lyrik Herberts«. In: Piontek, Schönheit. 1983, S. 257 (im Folgenden unter der Sigle »LH« mit Seitenzahl im Text).

Literatur als globale Erscheinung bei Heinz Piontek

217

land zu unternehmen (LH, 258), die dann zum Beispiel im Prosabuch »Ein Barbar in einem Garten« verarbeitet wurden. Piontek erklärt die Gründe, warum Herbert vorwiegend Parabeln geschrieben hatte. Er bezweifelt, dass es Formen der listigen Verschlüsselung der Inhalte wären, die nicht offen gesagt werden können, sondern betont das Instinktive der Wahl, bei der mittels der Parabel der Sinn der Äußerung im Text sofort vom Leser verstanden wird (LH, 259). Versteht man das Globale der literarischen Texte als Bezogenheit auf die Tradition der Weltliteratur, kann man bei Piontek in seinem Essay über Herbert Passagen herausfinden, die beim polnischen Dichter die Anknüpfung an die klassische Mythologie, die Bibel, Marc Aurel, Seneca, Thukydides erwähnen (LH, 259). Das Globale der Literatur bestätigt Piontek auch am Beispiel von Herbert, indem er zum Schaffen Herberts feststellt: Man spürt polnische, französische Einflüsse, etwa den Surrealismus, hört Anklänge an Traditionen heraus – Herbert ist in vielen europäischen Literaturen bewandert. Als Arbeitsprinzip greift er die Forderung Apollinaires ›Ordnung und Abenteuer‹ auf (LH, 265).

Piontek, der ebenfalls als Aquarellist bekannt gewesen ist, betont darüber hinaus in seinem Essay das Interesse Herberts auch für andere Kunstbereiche, z. B. für die Malerei. Er nennt den im 15. Jahrhundert wirkenden Italiener, Piero della Francesca, den Herbert besonders hochschätzt und ins Herz geschlossen hatte (LH, 265). Man kann Beispiele mehren, in denen Piontek die Weltliteratur einer Analyse unterzieht, auf ästhetische bzw. thematische Zusammenhänge der Werke einzelner Autoren hinweist, über die Grenzen hinweg über Anthologien spricht, ja selbst eine Anthologie verfasst, in der allgemein nicht die gemeinsame Ideologie, nicht die Staatsangehörigkeit, nicht das Alter der Autoren, sondern das Humane der Schriftsteller als Kriterium der Autorenauswahl herangezogen wurde. Bewandert in der Literatur, von der Luther-Bibel bis auf Vertreter der zeitgenössischen Literatur in Ost und West nutzt und verarbeitet Piontek nach eigenem Belieben fremde Einfälle und Muster in seinem eigenen Schaffen, so dass sie ihren individuellen Charakter bekommen, wendet sogar konkrete Namen aus der Welt der Literatur in seinen literarischen Werken an, macht Schriftsteller zu Hauptfiguren seiner literarischen Texte, mischt Phantasie mit Wirklichkeit, um das Leben des Autors zu verarbeiten und sich selbst schreibend mit den Werken anderer Autoren auseinanderzusetzen. Er benutzt auch Übertragungen fremder Literatur ins Deutsche und gilt selbst als Übersetzer. Global bedeutet weltumspannend. So wirken manche Texte von Piontek. Sie sprechen auch für das Globale der Literatur: ein Phänomen der nach Außen und nach Innen gekehrten Wechselwirkung.

Krzysztof A. Kuczyn´ski (Łódz´)

Felix A. Voigts unbekannter Brief an Gerhart Hauptmann über seine Flucht aus Breslau im März 1945

Würde man eine Liste von Gerhart Hauptmanns Freunden oder Bekannten zusammenstellen, so hätte man eine wahre Kulturgeschichte vor Augen. Es ist bekannt, dass der große Dichter es für angebracht hielt, bedeutende Personen aus verschiedenen Kreisen um sich zu haben. Zu Gerhart Hauptmanns Weggefährten gehörte auch Felix A. Voigt, sein verdienstvoller Biograph. Der dargebotene Text besteht aus zwei Teilen: einer Biografie des Breslauer/Würzburger Gerhart Hauptmann-Kenners und einem Brief an den Dichter über seine Flucht aus Schlesien im März 1945. Zu den verdienstvollen Kennern, ja den Begründern der wissenschaftlichen Gerhart-Hauptmann-Forschung, gehört Felix A. Voigt, der schon in der Zwischenkriegszeit bedeutende Abhandlungen und redaktionelle Bearbeitungen, aber auch Hauptmanns Werke und das wertvolle »Gerhart-Hauptmann-Jahrbuch« herausgegeben hat. Felix Alfred Voigt wurde am 13. Oktober 1892 in Breslau geboren. Hier besuchte er das bekannte humanistische König-Wilhelm-Gymnasium, und 1910 begann er an der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität Klassische Philologie, Germanistik, Geschichte, Philosophie und Geschichte der Religion zu studieren. 1913 bekam er ein Stipendium in Italien, was für einen Studenten der Klassischen Philologie von großer Bedeutung war. In den Jahren 1915–1918 absolvierte er seinen Militärdienst, wonach er – mehrmals verwundet – entlassen wurde. Felix A. Voigt holte das Staatsexamen nach und begann 1918 seinen erfolgreichen, langjährigen Schuldienst, u. a. in Beuthen, Görlitz und ab 1929 als Oberstudiendirektor in Kreuzburg.1 1933 wurde er wegen »politischer Unzuverlässigkeit« aus dem Schuldienst entlassen. Er siedelte mit seiner Frau Camilla (geb. Brock) und zwei Töchtern, Mechthild und Liutgard, nach Breslau über. Die Großstadt bietet ihm gute Möglichkeiten, seine kulturellen Interessen zu entfalten. Felix A. Voigt interessierte sich schon als junger Lehrer in den frühen zwanziger Jahren für die 1 Gambke-Ganse, W.: »Später Dank. Erinnerungen an Felix A. Voigt«. In: Kreuzburger Nachrichten 3, 1992, S. 1f.

220

Krzysztof A. Kuczyn´ski

schlesische Kultur. Er hielt u. a. im Jakob-Böhme-Jahr 1924 zahlreiche Referate und Reden und war in den Jahren 1929–1933, als er in Kreuzburg tätig war, aktiv in der Gustav-Freytag-Gesellschaft. Im Jahre 1933, nachdem er nach Breslau gekommen ist, beginnt sich Felix A. Voigt intensiv mit dem Leben und Werk Gerhart Hauptmanns zu beschäftigen. Einen Ansporn dazu bot ihm die Bekanntschaft mit Max Pinkus, in dessen »Schlesierbücherei« er einige Zeit recherchiert hatte und durch dessen Vermittlung er am 6. Dezember 1933 Gerhart Hauptmann auf dem Wiesenstein aufsuchte. Er wohnte sogar in Kiesewald, in der Nähe von Agnetendorf, und hatte eine gute Gelegenheit, den Dichter besser kennenzulernen. Bald wird Felix A. Voigt zum herausragenden Kenner des Lebens und Werkes von Gerhart Hauptmann, er gewinnt auch die Zuneigung und Sympathie des Dichters und seiner Familie. In Anlehnung an die ihm zur Verfügung gestellten Archivalien rekonstruiert er einige Werke von Gerhart Hauptmann, veröffentlicht zahlreiche Bücher und Abhandlungen. Felix A. Voigt schreibt u. a. an einer umfangreichen Biografie Gerhart Hauptmanns, geplant für 4–5 Bände. Allein der 1. Band zählte 1000 Seiten. Leider war er bei seiner Flucht aus Breslau 1945 gezwungen, seine Materialien zurückzulassen, wobei er nur Briefe Gerhart Hauptmanns, die der Dichter an ihn in den Jahren 1933–1945 adressierte, retten konnte. Ende 1937 und in den ersten Monaten des Jahres 1938 ist er als Sekretär des Dichters tätig; ein anderer Beweis der Anerkennung Gerhart Hauptmanns für seine hervorragenden Leistungen war der Entschluss des Dichters, ihm – neben C.F.W. Behl – die Herausgabe seiner gesammelten Werke, der sog. »Ausgabe letzter Hand«, anzuvertrauen, die zum 80. Geburtstag Gerhart Hauptmanns erscheinen sollten. Vor 1939 hat Felix A. Voigt zahlreiche Bücher und Aufsätze, veröffentlicht in führenden wissenschaftlichen Zeitschriften, geschrieben. Es waren u. a. »Antike und antikes Lebensgefühl Gerhart Hauptmanns« (1935), »Hauptmann-Studien. Untersuchungen über Leben und Schaffen Gerhart Hauptmanns«, Bd. 1/1936 (der geplante Band 2 ist leider nicht erschienen) und die Abhandlung, verfasst zusammen mit dem bekannten amerikanischen Germanisten Walter A. Reichart, »Hauptmann und Shakespeare« (1938). Über diese Arbeit schrieb Klaus Hildebrandt im Jahre 1991: »Wenn auch inzwischen in der Forschung Ergänzendes geboten wurde, hat diese Darstellung bis heute Gültigkeit. Das Buch über die Beschäftigung des Schlesiers mit dem Großen der Weltliteratur und dessen Werk bleibt eine Leistung von grundsätzlicher Bedeutung.«2 2 Hildebrandt, Klaus: »Vorwort«. In: Reichart, Walter A.: Ein Leben für Gerhart Hauptmann. Aufsätze aus den Jahren 1929–1990. Ausgewählt und hrsg. von Klaus Hildebrandt in Zusammenarbeit mit Holger Pingel. Erich Schmidt Verlag: Berlin 1991, S. X.

Felix A. Voigts unbekannter Brief an Gerhart Hauptmann

221

Walter A. Reichart erinnert sich in einer Studie aus dem Jahre 1990 an die Zusammenarbeit mit Felix A. Voigt wie folgt: Im April 1934, nach einer schönen Reise durch Sizilien, Italien und Österreich, kam ich nach Breslau, wo ich mich mit Felix Voigt an die Arbeit machte, um unsere Studie ›Hauptmann und Shakespeare‹ zu schreiben, nachdem wir beide Vorstudien dafür schon erledigt hatten. Mein dreimonatiger Breslau-Aufenthalt ermöglichte immer wieder Tage in Agnetendorf.3

Beide Autoren weisen in der Einleitung darauf hin, dass es drei Gebiete gibt, denen Hauptmann besonders viel verdankt: die Antike, Johann Wolfgang Goethe und Shakespeare. Sie stellen weiter fest, dass der Einfluss Shakespeares schon in Hauptmanns frühesten Werken zu beobachten ist, wie z. B. in »Germanen und Römer«. In vielen anderen Werken, wie in »Hamlet in Wittenberg«, ist der Nachklang der Shakespeareschen Dramen unverkennbar. Der Band über Shakespeares Einfluss auf Gerhart Hauptmann ist eine Art Krönung der wissenschaftlichen Arbeit Felix A. Voigts vor 1939, der jedoch andere wichtige Studien vorangegangen sind. 1935 erscheint »Antike und antikes Lebensgefühl im Werke Gerhart Hauptmanns«, wo der Autor u. a. schreibt: Hauptmanns Bild der Antike hat seine ganz eigenen Züge, die ihn nicht ohne weiteres in die Reihe der ›Dionysier‹ der Zeit um 1900 treten lassen, gerade die Verehrung der chthonischen Götter und Mächte in seinem Alterswerk teilt er mit keinem zweiten seiner Zeitgenossen. […] So ist ihm die große antike Literatur meist nur Mittel zu seinen Zwecken. Gewiss reizt ihn die realistische Seite der alten Welt, und deshalb teilt er mit Platon die Vorliebe für den Minus und die mimische Literatur, aber dringt auch durch die Natur in das gebärende Geheimnis des hellenischen Heimatbodens vor […] nur die griechische Natur, Mystik, Religion, Philosophie, kurz nur das hellenische Urerlebnis konnte ihn zu dem visionären Schauen seiner Alterswerke führen … .4

Der Band rief viele positive Rezensionen hervor, u. a. bemerkt F. R. Schröder: »Das Buch gehört zum Besten, was über den Dichter überhaupt geschrieben worden ist. […] So ist es gewiss nicht zu viel gesagt, wenn man die Arbeiten von Voigt als Marksteine der Hauptmann-Forschung bezeichnet.«5 Ein reges Interesse zeigte Felix A. Voigt für die frühe Zeit des Schaffens von Gerhart Hauptmann, davon zeugt u. a. der Band »Hauptmann-Studien«, in dem sich der Autor intensiv mit dem Leben und Schaffen Hauptmanns in den Jahren 1880–1900 beschäftigt hat. Im Vorwort schreibt Voigt: Die vorliegenden ›Hauptmann-Studien‹ beruhen zur Hälfte auf bereits früher veröffentlichten Aufsätzen, zum andern Teil sind sie unmittelbar aus den Vorarbeiten für 3 Reichart, Ein Leben für Gerhart Hauptmann. 1991, S. 164. 4 Voigt, Felix A.: Gerhart Hauptmann und die Antike [Neufassung]. E. Schmidt: Berlin 1965, S. 178. 5 Schröder, F. R.: »Rezension«. Germanisch-Romanische Monatsschrift 1935, S. 67.

222

Krzysztof A. Kuczyn´ski

eine große wissenschaftlich unterbaute Biographie Hauptmanns erwachsen. Bei den langen Vorbereitungen dafür durch fast ein halbes Menschenalter mußte ich immer wiederfeststellen, wie unsicher unsere Kenntnis von vielen Einzelheiten dieses großen Lebens war, wie gering die Zahl der wirklich fördernden Untersuchungen hierüber….6

Felix A. Voigt, ein gebürtiger Schlesier, konnte schwerlich über ein Thema hinweggehen: Gerhart Hauptmann und die schlesische Frage. Günther Grundmann, der Provinzialkonservator für Niederschlesien, schreibt mit Anerkennung über die Anfänge des Voigtschen Bandes »Gerhart Hauptmann der Schlesier«, der 1942 in der ersten Auflage erschien. Wie bekannt, feierte man im Jahre 1937 den 75. Geburtstag des greisen Dichters. Einen Vortrag in der Schlesischen Gesellschaft für Vaterländische Cultur in Breslau hat eben jener Felix A. Voigt gehalten. Günther Grundmann erinnert sich daran: Der Anstoß hierzu ging von Professor Merker, dem Literaturhistoriker der Breslauer Universität, aus, der den damaligen Vorsitzenden der Gesellschaft für diese Veranstaltung zu gewinnen vermochte. Wenn er gewonnen wurde, so vielleicht deshalb, weil ihm Professor Merker als Redner einen der besten Kenner des Schaffens Gerhart Hauptmanns vorschlagen konnte, Felix A. Voigt.7

In demselben Band »Begegnungen eines Schlesiers mit Gerhart Hauptmann« erzählt Günther Grundmann weiter über ein Treffen mit Felix A. Voigt einige Jahre später, als die Nazis den großen Dichter nur ungern duldeten und großangelegte Feierlichkeiten verboten waren: In dieser bedrückenden Zeit seelischer Zermürbung und körperlicher Überarbeitung brachte mir Felix A. Voigt das für den Druck durchgearbeitete Manuskript seines im Jahre 1937 gehaltenen Vortrags »Gerhart Hauptmann der Schlesier«, das ich in der von mir herausgegebenen Reihe der ›Schlesienbändchen‹ als eine Gabe der Heimat zu Gerhart Hauptmanns 80. Geburtstag veröffentlichen wollte.8

In den 30er Jahren ergreift Felix A. Voigt eine sehr wichtige Initiative, und zwar mit der Herausgabe des »Gerhart-Hauptmann-Jahrbuchs«, das vor dem Kriege 1936 und 1937 erschienen ist. Für seine Idee konnte er nicht nur Gerhart Hauptmann gewinnen, sondern auch viele bedeutende Forscher wie Prof. H. G. Fiedler aus Oxford, Prof. Fr. W. J. Heuser aus New York, Prof. P. Merker aus Breslau, Prof. W. A. Reichart aus Ann Arbor oder H. von Hülsen. Band 1 erschien 1936; die Buchdruckerei Brehmer u. Minuth in Breslau hat 30 Exemplare auf echtem Bütten vorbereitet, die von Gerhart Hauptmann selbst signiert wurden. Im Vorwort schreibt Felix A. Voigt wie folgt: 6 Voigt, Felix A.: Hauptmann-Studien. Untersuchungen über Leben und Schaffen Gerhart Hauptmanns. Bd. 1, Breslau 1936, S. 7. 7 Grundmann, Günther: Begegnungen eines Schlesiers mit Gerhart Hauptmann. Gesellschaft der Bücherfreunde: Hamburg 1953, S. 47. 8 Grundmann, Begegnungen eines Schlesiers. 1953, S. 77.

Felix A. Voigts unbekannter Brief an Gerhart Hauptmann

223

Seit einem halben Jahrhundert wurde die Welt nicht müde, sich mit Gerhart Hauptmanns dichterischem Werk – oft in leidenschaftlichen Kämpfen – auseinanderzusetzen, so dass heute die Literatur, die sich mit ihm beschäftigt, nahezu unüberschaubar geworden ist. Auch dort, wo man glaubte, schweigend an ihm vorbeigehen zu können, blieb der Dichter immer im Mittelpunkt hohen geistigen Interesses. Unüberschaubar, wie die Literatur über ihn, erscheint aber auch sein Werk selbst. Es reicht weit über den Rahmen des heute Bekannten hinaus. Im Archiv des Hauses Wiesenstein zu Agnetendorf ruhen noch in Fülle Dichtungen und Dichtungsfragmente, die bisher von ihrem Schöpfer der Öffentlichkeit nicht übergeben wurden, und ebenso Aufzeichnungen aller Art, die Gerhart Hauptmanns Persönlichkeit ungeahnt über die heute zugänglichen Bezirke ausweiten. Ein Kreis deutscher, englischer, amerikanischer und skandinavischer Gelehrter und Künstler ist zusammengetreten mit der Absicht, eine würdige Stätte zur Veröffentlichung dieses bisher noch zurückgehaltenen literarischen Gutes zu schaffen. […] Das »Gerhart-Hauptmann-Jahrbuch« will damit der Vorbereitung einer großen kritischen Gesamtausgabe, darüber hinaus aber auch der Darstellung, Betrachtung und Deutung dieses reichen Lebenswerkes selber dienen… .9

So brachten die beiden Bände von 1936 und 1937 eine Reihe von Auszügen aus Gerhart Hauptmanns bedeutenden Werken, u. a. aus »Der große Traum«, »Der neue Christophorus«, »Kynast«. Ihre Arbeiten stellten der Redaktion des Jahrbuches die besten Kenner des Lebens und Schaffens von Gerhart Hauptmann zur Verfügung. Bis heute bedeuten die zwei Jahrgänge (wie auch Band 3 von dem Jahre 1948) des Jahrbuchs eine Fundgrube für alle Hauptmann-Forscher. Felix A. Voigt äußert die Hoffnung, die Jahrgänge des Jahrbuchs sollten eine Vorbereitung einer großen kritischen Gesamtausgabe der Werke Gerhart Hauptmanns sein. Dazu kam es leider nicht mehr, aber 1942 erschien die sog. »Ausgabe letzter Hand«, die das gesammelte Werk des Dichters in 17 Bänden beinhaltete. Die Ausgabe bereitete Felix A. Voigt zusammen mit C.F.W. Behl sorgfältig vor. Die geplante Abteilung 2 kam wegen des Krieges nicht zustande, obwohl erste Vorarbeiten dazu (u. a. C.F.W. Behl) geleistet wurden. Zu den größten Leistungen Felix A. Voigts gehört die zusammen mit C.F.W. Behl verfasste »Chronik von Gerhart Hauptmanns Leben und Schaffen«. Sie erschien in einer ersten Auflage 1942, konnte aber aus politischen Gründen nicht alle Einzelheiten berücksichtigen. In den Nachkriegsjahren erschien sie noch zwei weitere Male, wobei die Ausgabe aus dem Jahre 1993, bearbeitet von Voigts Tochter M. Pfeiffer-Voigt, eine Neufassung mit zahlreichen zusätzlichen Materialien darstellt. »Man schreibt das Jahr 1945« … Die Zivilbevölkerung muss Breslau verlassen, auch die Familie Voigt begibt sich Anfang März über Prag in die Oberpfalz nach Bayern. In Kemnath wird Felix A. Voigt als Vorsteher eines Finanzamtes eingestellt. Bald wird er zum Oberregierungsrat befördert. Sein frühes Interesse für 9 Voigt, Felix A.: »Vorwort«. In: Gerhart-Hauptmann-Jahrbuch. Breslau 1936, S. 3.

224

Krzysztof A. Kuczyn´ski

Gerhart Hauptmann ist nicht erloschen, aber seine Hauptmann-Sammlung und vor allem seine Manuskripte musste er in Breslau zurücklassen.10 Auch seine jetzige Arbeit lässt ihm wenig Zeit für weitere Hauptmann-Forschung. Es kommen Schwierigkeiten mit dem Zugang zu Hauptmanns-Nachlass dazu, den der Sohn Benvenuto an einem unbekannten Ort verbarg. Trotz vieler Schwierigkeiten konnte noch 1948 ein dritter Band des »Jahrbuchs« erscheinen, was in erster Linie Margarete Hauptmann zu verdanken war, die – wie Felix A. Voigt schreibt – »uns ihre Hilfe zugesichert und die Erlaubnis erteilt hat, ein wichtiges Dichtwerk Hauptmanns aus seiner Frühzeit erstmalig zu veröffentlichen …«.11 Nach dem Krieg sah Felix A. Voigt bekanntlich Gerhart Hauptmann nicht mehr wieder, im Mai 1946 erhielt er seinen letzten Brief von Hauptmann. Nur im Jahre 1947 besuchte Felix A. Voigt, zusammen mit Frau Camilla, Margarete Hauptmann in Ebenhausen bei München – es ist möglich, dass eben während dieses Besuchs Voigt die Druckrechte für die Veröffentlichung von Fragmenten aus dem Werk des Dichters erhalten hat. Felix A. Voigt zählt weiter zu den bedeutendsten Forschern des Lebens und Werkes von Gerhart Hauptmann. 1947 verleiht ihm die Würzburger Universität die Würde eines Dr. h. c. vor allem in Anerkennung seiner hohen Verdienste um das Werk Gerhart Hauptmanns. 1957 siedelt Felix A. Voigt nach Würzburgüber; dort schreibt er einige kleinere Artikel über Gerhart Hauptmann, u. a. eine Erinnerung an seine Tage mit Gerhart Hauptmann in Rapallo.12 1962 werden große Feierlichkeiten zum 100. Geburtstag des Dichters vorbereitet; Felix A. Voigt gehört dem Kreis an, der Konferenzen und eine neue Gesamtausgabe aus eigener Erfahrung unterstützt. Sein langjähriger Mitarbeiter C.F.W. Behl schreibt, nachdem Voigt unerwartet am 31. März 1962 gestorben ist, folgendes: »Im März dieses Jahres kurz vor seinem Tode, war es ihm noch vergönnt, an der Germanistentagung in der Freien Universität Berlin teilzunehmen und Professor Hass aus persönlicher Erfahrung wertvolle Aufschlüsse für die Centenarausgabe zu geben…«.13 Die vielen bedeutenden Verdienste Felix A. Voigts um das Leben und Werk Gerhart Hauptmanns, seine zahlreichen Bücher, Studien und Aufsätze, sichern 10 Vgl. Kuczyn´ski, Krzysztof A.: »W poszukiwaniu zaginionej monografii. Wrocławskimi ´sladami pracy Felixa A. Voigta o Gerharcie Hauptmannie«. In: Dialog kultur. Studia nad literatura˛, kultura˛ i historia˛/Dialog der Kulturen. Studien zur Kultur, Literatur und Geschichte. Hrsg. von Anna Warakomska [et al.]. Warszawa 2016, S. 487–496. 11 Voigt, »Vorwort«. 1948, S. 5. 12 Voigt, Felix A.: »Mit Gerhart Hauptmann in Rapallo«. In: Gerhart Hauptmann. Leben und Werk, eine Gedächtnisausstellung. Hrsg. von Bernhard Zeller, Turmhaus-Druckerei: Stuttgart 1962. 13 Behl, C.F.W.: »Felix A. Voigt – ein Hauptmann-Forscher«. Mainpost 24. 05. 1962.

Felix A. Voigts unbekannter Brief an Gerhart Hauptmann

225

ihm einen würdigen Platz unter den Hauptmann-Forschern.14 Seine wissenschaftliche Arbeit genießt großes Ansehen bis heute, sie gilt als zuverlässig, sehr gut dokumentiert und exakt in der Interpretation. Mechthild Pfeiffer-Voigt schrieb 2002 über ihren Vater an den Verfasser des vorliegenden Artikels: Mit einem zeitlichen Abstand von Jahrzehnten und inzwischen in einem Alter, das mein Vater gar nicht erreicht hat, ermesse ich selbst erst die Leistung meines Vaters: kaltgestellt in dem Beruf, der ihm eine Berufung bedeutete, von Vertretern eines politischen Regimes, das er von Anfang an hasste, hat er es vermocht, sich einen neuen geistigen Lebensinhalt zu schaffen und etwas Einmaliges zu leisten. Dass daraus für ihn eine Bereicherung erwuchs, die Freundschaft mit einem Großen der Weltliteratur, hat er nicht nur als Anerkennung, sondern als ein bleibendes Geschenk in seinem Leben empfunden.15

Es scheint, dass diese Worte in einer knappen, doch treffenden Weise, das Wesentliche der Lebensarbeit Felix A. Voigts charakterisieren. Felix A. Voigts unbekannter Brief an Gerhart Hauptmann lautet: (13 a) Kemnath-Stadt, Kreissparkasse, den 30.III.4516 Hochverehrter Herr Doktor! Nun will auch ich aus weiter Ferne einmal versuchen, ob ein Brief an Sie nach Agnetendorf gelangen kann. Allzuviel Hoffnung hat man ja nicht, aber der Zufälle sind viele, und lange wird man ohnehin diesen Versuch nicht mehr machen können. Obwohl ich so lange nichts von mir hören lassen konnte, so gingen doch täglich unsere Gedanken zu Ihnen und Ihrer Frau Gemahlin. Jetzt endlich wissen wir, wo wir Sie im Geiste suchen dürfen; möchte doch ein gütiges Schicksal es fügen, dass Sie auch weiterhin in erträglichen Verhältnissen und in leidlicher Gesundheit auf dem Wiesenstein leben können. Das ist unser aller innigster Wunsch für Sie und Ihr Haus. Das ganze Flüchtlingselend haben wir ja nun reichlich ausgekostet. Am 3.3. mussten wir, d. h. meine Frau, unsere älteste Tochter, die Ärztin17, und ich, Schreiberhau verlassen. Wir fuhren nach Reichenberg, wo wir 2 Tage blieben, dann über Prag, Pilsen, Furth im Wald (Nacht dort à la Nachtasyl von Gorki), Amberg in Richtung Würzburg, wo wir unsere Freunde Schrö-

14 Voigt, Felix A.: Gerhart-Hauptmann-Studien 1934–1958. Hrsg. von Mechthild Pfeiffer-Voigt. Erich Schmidt: Berlin 1999. 15 Brief von Dr. Mechthild Pfeiffer-Voigt an den Verfasser, Berlin, den 02. 02. 2002 (Privatarchiv von KAK). 16 Den Brief ihres Vaters an Gerhart Hauptmann habe ich von Frau Dr. Mechthild Pfeiffer-Voigt während meines Besuches in ihrer Wohnung in Berlin-Pankow (Kissingenstr. 30) Anfang der 1990er Jahre erhalten. Für ihre Druckerlaubnis (leider post mortem) danke ich herzlich. 17 Mechthild (1944 – Staatsexamen mit I, Doktor summa cum laude) erholte sich gerade in Oberschreiberhau von einer Erkrankung, ihre Eltern flüchteten wahrscheinlich aus Breslau zuerst ins Riesengebirge.

226

Krzysztof A. Kuczyn´ski

ders, meinen Schwiegersohn und vielleicht unsere Jüngste18 zu treffen hofften. Aber ein Durchkommen durch Nürnberg war unmöglich, so dass wir in Hersbruck den Zug verliessen. Wir fanden, aber nur vorübergehend, dort ein Notquartier und genossen in dem reizenden kleinen Frankenstädtchen ein paar Tage der Ruhe. Aber wohin? Würzburg wurde immer gefährdeter – ich ahnte das, was dann auch wirklich kam, ganz klar voraus. Jede Verbindung dahin fehlte auch. Da erinnerten wir uns einiger Breslauer Bekannter, die in Kemnath ein Haus besassen und vermutlich dort waren. Ich machte mich also auf u.[nd] fuhr allein hin, fand sie auch vor und hilfsbereit. Zugleich rief ich Dr. Ebermayer an, der mir mitteilte, dass grade tags zuvor das GH-Archiv in Kaibitz eingetroffen sei. Auch Behl sei zu erwarten. Ich empfand das als einen Wink des Schicksals. Der Ortsgruppenleiter war denn auch gleich bereit, uns aufzunehmen. Am 15.3. siedelten wir denn von Hersbruck hierher über. Wir haben ein grosses schönes Zimmer für meine Frau u.[nd] mich. Dazu ein eigenes gekacheltes Badezimmer!! Zentralheizung. Mechthild hat ein Zimmerchen in der kleinen Stadt. Vor allem aber, wir fanden hervorragende Verpflegung bei einem Fleischer, wo wir allwöchentlich bisher 12–13mal reichliche Fleischmahlzeiten bekommen. Und nun weiter das Seltsame: am 2. Tage erfolgte ein Anruf aus Bayreuth von unserer jüngeren Tochter, die von Rathenow dorthin gekommen war. Sie suchte uns in Würzburg u.[nd] wollte zugleich ihren Verlobten dort suchen, um unter unserer Assistenz zu heiraten. Aber sie kam in die brennende und total zerstörte Stadt (die Residenz ist eingestürzt, die göttlichen Gemälde Tiepolos sind nicht mehr, der Marienberg zusammen geschlagen usw., Dom zerstört). Wo ihr Verlobter19 ist, ob er noch lebt, wir wissen es bis heute nicht. Nun, bei allem Schrecklichen, die Familie war wenigstens vereint. So haben wir hier denn ohne jede Alarme 14 ruhige Tage verlebt und uns etwas erholt, freilich auch gemerkt, wie furchtbar es ist, so alles verloren zu haben. Wir besitzen ja selbst das Allernötigste nicht mehr. Und nun kommt vom Westen her die Front immer näher, auch Würzburg ist bereits evakuiert. Ich empfinde doch alles als durch Schicksalsfügung geschehen. Nun sind auch Behls da, wir waren in Kaibitz bei Ebermayer, Arbeit habe ich auch. Ich ordne und transkribiere z. Z. die Jesus-Studien, bei denen doch ein lesbares Manuskript herauskommen wird. Dann will ich den Winckelmann abschreiben, von dem nur ein Ex.[emplar] besteht!! Wir werden alles tun, um das Archiv, sei es selbst unter Einsatz unserer Personen, zu schützen. Gebe Gott, dass wenigstens keine Kampfhandlungen sich hierher ziehen. Alarme haben wir, wie gesagt nicht, aus dem Grunde, weil es hier keine Sirene gibt. Aber oft dröhnt die Erde durch die fernen furchtbaren Luftangriffe, oft ziehen die feindlichen Geschwader hell – leuchtend am Tage über uns weg und das Dröhnen der Motoren klingt in unseren Ohren. Aber Kemnath mit seinen 1500 Einwohnern, eine Stunde von der nächsten Bahn, ist ja kein lohnendes Ziel – solange die Front nicht nahekommt. Ob wir uns jemals wiedersehen werden? Ob wir wieder einmal die dionysisch-beschwingten Stunden auf dem Wiesenstein erleben werden? Ich weiss es nicht, und möchte es zuzeiten bezweifeln. Aber die Gedanken und Gefühle innigen Dankes für all das Unvergessliche, was ich in den 12 vergangenen Jahren dort gefunden habe, sind immer bei Ihnen! Möge ein gütiges Geschick Sie auch weiterhin bewahren und Ihnen vor 18 Liutgard, jüngere Tochter von F. A. Voigt. 19 Hans-Gert Scheffer, verlobt 1944 mit Liutgard.

Felix A. Voigts unbekannter Brief an Gerhart Hauptmann

227

allem beiden die Gesundheit erhalten oder wiederherstellen. Jedenfalls haben wir uns hier ein Stückchen der Gerhart-Hauptmann-Welt wiederaufgebaut, wenn auch vielleicht nicht für lange. Aber noch atmen wir bei allem Elend doch noch in der uns gemässen geistigen Atmosphäre. Von unseren Bekannten wissen wir so gut wie nichts. Merkers werden wohl in Dresden gewesen sein; ob sie also noch leben, ist höchst ungewiss20. Post kommt bisher gar nicht an. Wenn nicht höhere Gewalt uns von hier vertreibt, wollen wir bleiben, solange es eben geht. Dass Behl und ich alles tun werden, um die Schätze des Archivs zu hütten und zu retten, dessen dürfen Sie versichert sein. Und somit unser aller herzlichste und innige Wünsche für Ihrer beider Wohlergehen. Meine Frau und meine Töchter schliessen sich all dem an. Sie schrieben mir einmal vor Jahren, in besseren Zeiten: »Pflanzen wir also die Fahne der Hoffnung auf!«. In diesen argen Läuften will ich sie trotzdem nicht einholen. In herzlicher Verbundenheit und stetem Gedenken Ihr dankbarer Felix A. Voigt

20 Professor Paul Merker überlebte zwar die Luftangriffe, starb aber bald (am 25. Februar) an den Folgen einer Rauchgasvergiftung.

Alina Dittmann (Nysa)

Der poetische Akt als Haltung zur Welt im Schaffen von Irena Brezˇná

Unterschiedliche Faktoren entscheiden über den Erfolg eines literarischen Werks. Olga Tokarczuk betont in ihrer ausgezeichneten Interpretation des Romans von Bolesław Prus »Die Puppe« einen ausschlaggebenden Aspekt: Ein Merkmal, das von der Größe eines literarischen Werkes zeugt, ist der gewaltige Eindruck, den dieses Werk hinterlässt. Der Eindruck einer Annäherung an ein gewisses Geheimnis, gleichzeitiges Umfassen diverser Elemente oder ganz einfach – die Berauschung, Verwunderung, Unruhe. Es handelt sich immer um ein tiefes Erlebnis – und es ist immer eine emotionale und nicht eine intellektuelle Kategorie. Emotional bedeutet hier privat, sogar intim.1

Während der Lektüre von Irena Brezˇnás Texten und in einem direkten Gespräch mit der Autorin fesselt die Leser*innen/Dialogpartner*innen die kompromisslose, souveräne und sachliche, aber zugleich ästhetisch anspruchsvolle Ausdrucksweise. Es fallen auch andere Qualitäten ihrer Werke auf, wie u. a. die authentische, überzeugende Verantwortung für die ethische Kondition europäischer Gesellschaften und ihre moralische Haltung zu der Welt. Neben einer kompromisslosen, klaren, das Problem auf den Punkt bringenden Narration gibt es in der Erzählweise der Autorin jedoch noch das gewisse Etwas, wovon Tokarczuk spricht, den gewaltigen Eindruck, der die Texte unvergesslich macht. Die Steigerung ästhetischer Elemente variiert zwar in den einzelnen Werken, ähnlich wie ihre poetische Qualität, aber die Berührung bildet durchgehend die tragende Komponente von Brezˇnás Prosawerk und entscheidet über den Erfolg sowohl der frühen politischen Reportagen der Achtzigerjahre und der Kriegsberichte aus Tschetschenien als auch der Essays über gesellschaftliche Umbrüche im Ost- und Mitteleuropa der Neunzigerjahre. Die sehr universelle Prosa Brezˇnás umfasst solche Themenkreise wie: das Leben zwischen Sprachen und Kulturen, den Heimatverlust, die Migration und Erfahrung der Fremdheit, das Spannungsfeld

1 Tokarczuk, Olga: Lalka i perła. Kraków: Wydawnictwo Literackie 2001, S. 10–11 (übers. v. A. D.).

230

Alina Dittmann

zwischen Ost- und Westeuropa, zwischen dem Norden und dem Süden und vor allem Waffenkonflikte und den Totalitarismus. Die in der deutschen Sprache schaffende, vielfältig ausgezeichnete schweizerisch-slowakische Autorin verdient in vielerlei Hinsicht die Aufmerksamkeit der Literaturkritik, die sie als mittlerweile prominente Schriftstellerin seit Jahren genießt.2 Als die 1951 in Bratislava geborene und in Trencˇin aufgewachsene Siebzehnjährige 1968 in die Schweiz immigrierte, erarbeitete sie sich – in die Situation der Sprachnot zwischen die gastfeindlichen schweizerischen Dialekten geraten – eine besondere Beziehung zu der deutschen Standardsprache, die zu ihrem Arbeitswerkzeug in den erlernten Berufen der Psychologin und Übersetzerin wurde. Die Einheimischen liebten es, die Fremden mit ihren Dialekten zu bewirten, eine Mundartspeise nach der anderen. Sie führten uns von Tal zu Tal, von Dialekthof zu Dialekthof. Bündig, steinig wurde hier gesprochen. Unvertraute kratzende Kehllaute ertönten. […] In den engen Dialekttälern war eine andere Lebenserfahrung kodiert als die meine. Ich war keine beschauliche Sommergästin, die sich an ihren pittoresken Lauten hätte erfreuen können, sondern verdammt dazu, mich hier einzurichten. Der Dialekt war der Geruch der Sippe, ihr Erkennungsmerkmal. Wer nicht nach Dialekt roch, blieb ein fremder Fötzel. […] Ich wollte die Schriftsprache, sie roch nach nichts. […] Die neue Sprache war das größte Abenteuer des Exils, ich scheute keine Mühe, sie zu erkunden. Es ging um mehr als ums Überleben als sprachliches Wesen – ich wollte meine Sprachwürde.3

Eine völlig neue Begegnung mit der Zweitsprache Deutsch findet jedoch beim Verfassen von Reportagen und insbesondere ästhetischen Prosatexten statt. Den literarischen Schaffensakt in einer Nicht-Muttersprache nennt die Autorin in ihrem Essay »Sprachbilder. Über Sprachen, Körper, Schreiben« (1992) einen ›schwindelerregenden Raub‹: Mein Deutsch sind die Fotos von weiblichen Akten eines blinden Fotografen. Er ist im ehemaligen Jugoslawien geboren, als Kind erblindete er, jetzt lebt er in Paris und fotografiert auf schwarzem Satin, im Dunkeln liegende Frauenkörper, die er vorher abgetastet hat. […] auch ich schreibe mit dem Tastsinn. […] Wie mein Deutsch auf

2 U. a. 2002: Theodor-Wolff-Preis, zweimal: EMMA-Journalistinnenpreis und 2008: Preis des Slowakischen Schriftstellerverbandes für das beste Buch des Jahres (vgl. www.brezna.ch). I. Brezˇná publiziert Beiträge in deutschsprachiger Presse (Neue Zürcher Zeitung, Die Zeit, Die Weltwoche, Annabelle, Berner Zeitung, Tages-Anzeiger, WOZ, Freitag, Merian, Frankfurter Rundschau, Zeit-Magazin, Badische Zeitung) und in der Slowakei. Die Reporterin arbeitete viele Jahre lang als Schweizer Korrespondentin des slowakischen Deutsche Welle Service und für den BBC-Sender. Sie verfasste regelmäßig Reportagen für deutschsprachige DRS und WED Sender, ihre Artikel erschienen in zahlreichen Anthologien und Zeitschriften für Literatur (u. a.: Transatlantik, Drehpunkt, Kafka, Entwürfe, Individualität, Poesie). 3 Brezˇná Irena: Die undankbare Fremde. Berlin: Galiani 2012, S. 113.

Der poetische Akt als Haltung zur Welt bei Irena Brezˇná

231

andere wirkt, höre ich mir wundernd an. […] Ich schreibe auf Deutsch als besetzte ich ein fremdes Territorium.4

Das literarische Sprachexperiment mit Deutsch ist ein durchaus geglücktes und resultiert endgültig in der Verleihung des ›Eidgenössischen Preises für Literatur‹ (2012). Ausgezeichnet wurde sowohl das mutige Engagement in die brennenden, aber nicht immer populären Initiativen gegen die Verletzung von Menschenrechten und die Bestrebung nach einer effizienteren Integrationspolitik für Asylsuchende sowie auch die Idee von Exil als einer paradoxen Metapher: »todernst, hochkomisch, tiefenscharf und berührend«.5 Trotz des Einsatzes in gesellschaftlich-kritischen Themenbereichen kann man Brezˇnás Texte nicht ausschließlich als sozialengagiert bezeichnen. Sie berühren gleich intensiv existentielle Fragen des Zeitalters der Mobilität, wie den Umgang mit Alterität und das Fremdsein als ›Heimat‹ oder das ›Heimischwerden‹ in den Transiträumen, in denen neue fluide Identitäten und eine transnationale Selbstverständlichkeit zum »dritten Raum«6 werden. Die Annäherung an die Alterität von Sprache, Umgebung, Mitmenschen und Situationen geschieht bei der Schriftstellerin mittels einer Fremdsprache, was einen gesteigerten Fall von hermeneutischer Schwierigkeit bedeutet.7 Vor allem sind die Texte jedoch einzigartig in Hinsicht auf ihre sprachliche Kreativität im Bereich der Wortwahl, des Aufbaus, der Metaphorik8 und Symbolik, die der Narration eine besondere Ausdrucksstärke verleihen. Gleichzeitig berichten die Werke schonungslos über dramatische Ereignisse der jüngsten Geschichte, denn Brezˇná bleibt hauptsächlich Reporterin, die von den Schauplätzen der heikelsten Krisenherde auf dem Erdball erzählt. Ihr Interesse erwecken von der Welt vergessene Konflikte, wie der Exodus der Krimtataren und ihre Rückkehr auf die Halbinsel:

4 Brezˇná, I.: »Sprachbilder. Über Körper, Sprachen schreiben«. In: Falsche Mythen. Reportagen aus Mittel- und Osteuropa nach der Wende. Hrsg. von Irena Brezˇná. Bern: eF-eF-Verlag 1996, S. 54–62, hier: 57–58. 5 Vgl. Preisbegründung der Literaturjury des Schweizer Literaturpreises 2012. Auf: www.bre zna.ch (Zugriff am 20. 04. 2021). 6 Vgl. Brezˇná, Irena: Wie ich auf die Welt kam. In der Sprache zu Hause. Zürich 2018, S. 168 (im Folgenden unter der Sigle »WI« mit Seitenzahl im Text). 7 Vgl. Gadamer, Hans-Georg: »Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik«. 4. Aufl. Tübingen 1975, S. 365. In: Hunfeld, Hans: Fremdheit als Lernimpuls. Skeptische Hermeneutik, Normalität des Fremden, Fremdsprache Literatur. Alpha Beta/Drava: Meran/Klagenfurt 2004. S. 324. 8 Zur Metaphorik im Prosawerk Irena Brezˇnás siehe die sehr wertvolle Analyse von Katarína Motyková: »Die Sprache in den Metaphern im Roman Die undankbare Fremde von Irena Brezˇná. Eine Metaphernanalyse«. Slowakische Zeitschrift für Germanistik. Verband der Deutschlehrer und Germanisten der Slowakei. Jahrgang 4, Heft 2, 2015. S. 18–25.

232

Alina Dittmann

Die Nachricht von der biblischen Heimreise der von Stalin deportierten Krimtataren berührt mich. Ein ganzes Volk kehrt seit Mitte der neunziger Jahre nach einem halben Jahrhundert verwehrter Heimat aus den zentralasiatischen Steppen auf die Krim zurück. Die Redakteurin eines Schweizer Magazins blickt leer, als ich ihr diese Reportage vorschlage: »Wo, sagen Sie, ziehen diese Leute hin? Wozu? Nein, das zieht nicht.« Mich zieht das Ende des Heimatverlustes an. Ich fahre nach Bachtschissaraj, Auf einem Rosenfeld sehe ich aufgeschlagene Zelte, darin Armut und Entschlossenheit zu bleiben.9

Eine ähnliche Gleichgültigkeit, mit der die westliche Welt auch auf den ersten tschetschenischen Krieg reagiert, hält die Reporterin nicht davon ab, sich in den Kaukasus zu begeben und Leidgenossin tschetschenischer Frauen zu werden – aus der nächsten Nähe vom Genozid zu berichten, den die EU nicht als solchen einstufen wollte: Ich sehe geraubte Heimat, die Frauenhände sanft aus den Ruinen zurückbringen, indem sie den Fremden Tee aus angeschossenen Tassen servieren. […] Ich begegne so vielen Geschichten von Tod, Folter, Verrat, Selbstaufgabe, Rettung und Widerstand, und jede ist wie ein Granatsplitter, der sich unter meine Haut bohrt und mit jedem Satz über das geschundene Tschetschenien ziehe ich einen heraus. Ich bleibe verletzt und dem Schreiben verpflichtet für hunderttausend Jahre.10

Brezˇná ist fokussiert auf das Thema Tschetschenien; sie wird zur Chronistin des ersten Krieges (1994–1996) und der kurzen Unabhängigkeitsphase (1996–1998). Als Verfechterin der Menschenrechte in Tschetschenien bleibt sie jedoch kritisch gegenüber der Nachkriegssituation und liefert ein differenziertes Bild der Lage auf dem Kaukasus. Sie schildert gleichzeitig ihre große Enttäuschung über den Umgang europäischer Behörden und auch der deutschen Staatsoberhäupter mit dem tschetschenischen Problem, etwa als die UNO-Menschenrechtskommission in Genf der befreundeten, aus Tschetschenien angereisten Freiheitskämpferin, Sainab Gaschajewa, lediglich drei Minuten Sprechzeit gewährt, um die Kriegsverbrechen in ihrem Land zu schildern.11 In dem Berliner Schloss Bellevue schien das Thema ebenfalls unbequem zu sein, auch wenn die Autorin dort 2002 für ihre Reportagen aus Tschetschenien den Theodor-Wolff-Preis erhielt.12 Die ungewöhnliche Sensibilität und Aufmerksamkeit angesichts des zu Unrecht bagatellisierten und dem Visier der Weltpolitik entglittenen kollektiven 9 Brezˇná, Irena: Die Sammlerin der Seelen. Unterwegs in meinem Europa. Berlin: Aufbau-Verlag 2003, S. 11–12 (im Folgenden unter der Sigle »DS« mit Seitenzahl im Text). 10 Brezˇná, Irena: »Heimatsinne und Fremd-Card«. In: Brezˇná, Die Sammlerin der Seelen. 2003, S. 10–12. 11 Vgl. »Schreie im Tempel zu Babel. Auftritt der tschetschenischen Menschenrechtlerin Sainab Gaschajewa vor der UNO-Menschenrechtssession in Genf«. Essay in: Brezˇná, Die Sammlerin der Seelen. 2003, S. 197–199. 12 Es handelt sich um den Text Die Sammlerin der Seelen. Unterwegs in meinem Europa (2001) – ein literarisches Portrait von Sainab Gaschajewa; zu Tschetschenien siehe auch die Reportagen-Sammlung von Irena Brezˇná: Die Wölfinnen von Sernovodsk (1997).

Der poetische Akt als Haltung zur Welt bei Irena Brezˇná

233

und individuellen Leides (etwa der politischen Häftlinge und Dissidenten zahlreicher Diktaturen der Welt) lassen das Schaffen der Schriftstellerin in Verbindung mit einer ästhetisch anspruchsvollen Sprache als einen wahren poetischen Akt der Haltung zur Welt13 erscheinen.

Von Menschenrechten und demokratischen Idealen zur eigenen Biographie Das Grundthema ›Heimat‹ und ›Fremde‹ spaltet sich bei Brezˇná in zahlreiche Facetten – je nach dargestellter Situation des jeweiligen Landes bzw. der Region. Dabei ist die Komponente Freiheit immer anwesend und ermutigt zur Solidarität mit den Unterdrückten. Bereits in den 1980er Jahren, als das westafrikanische Guinea »den Kommunismus abschüttelt«, ist die Reporterin dabei und nimmt die Aussagen der Überlebenden des Konzentrationslagers Camp Boiro auf: Hier wurde des Hungers gestorben, im schwärzesten schwarzen Humor hieß es diete noire, hier lernten tschechoslowakische Geheimdienstler mit Strom foltern, wenn Conakry stromlos im Dunkeln versank. […] Ich fühle Scham, Respekt und Nähe. Ich erlebe, wie Guinea sich öffnet […] komme immer wieder hierher, als wäre es mein postkommunistisches Trencˇin (WI, 70).

Die Begegnung mit Guinea resultierte in einigen Initiativen, u. a. der Gründung einer Bibliothek und der Veröffentlichung des Bandes mit Reportagen und Erzählungen über fremdkulturelle Annäherungen und Differenzen (»Karibischer Ball«, 1991). Unter den frühen Textsammlungen der Autorin befindet sich darüber hinaus der sehr gelungene Sammelband »Falsche Mythen« (1996) mit Texten über den ehemaligen Ostblock, die die Zeit nach der politischen Wende von 1989 dokumentieren. Im Auftrag diverser Schweizer Magazine berichtet die Reporterin in den Jahren 1989 bis 1996 über Orte und Menschen aus dem Osten. Der Band enthält Essays und Reportagen über Frauen in der ehemaligen Tschechoslowakei, den Staat im Vorfeld seiner Unabhängigkeit und unmittelbar danach. Jedoch nicht nur die eigene Heimat wird besucht, sondern auch Gebiete jenseits des Ural. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs werden Nationalismen wach und in dem postsowjetischen Russland entstehen kriminelle Netze, deren Mechanismen Brezˇná beim Paten der Wladiwostoker Mafia kennen lernt, den sie interviewt, ähnlich wie auch den Nationalisten Wladimir Schirinowski. Auf dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion werden freidenkende Menschenrechtler*innen und 13 Vgl. Brezˇná, Irena: Fabel vom Fuchs, von der Flucht, vom Schreiben und vom Widerstand. Mein Weg nach Tschetschenien 1997. In: Brezˇná, Die Sammlerin der Seelen. 2003, S. 151.

234

Alina Dittmann

Künstler*innen verfolgt. Die Autorin porträtiert einige von ihnen, u. a. den Wissenschaftler, Politiker und Menschenrechtsaktivisten Sergej Kowaljow und den Reformator des Justizvollzugsystems und Mitglied der Moskauer HelsinkiGruppe Walerij Abramkin. Die neueste Reportagesammlung von 2018 (»Wie ich auf die Welt kam«) setzt den Porträtzyklus über die sowjetischen Dissidenten fort. In dem Text »Meine Helden und Heldinnen« gedenkt die Autorin des mutigen Solidaritätsakts mit der von Panzern des Warschauer Paktes überrollten Tschechoslowakei, als am 25. August 1968 drei Russinnen und fünf Russen auf dem Roten Platz protestierten: »Es lebe die freie und unabhängige Tschechoslowakei […]«. KGB-Beamte und Beamtinnen in Zivil kamen angerannt und gebärdeten sich als aufgebrachte Sowjetbürger, die lediglich ihr Vaterland verteidigten […], einer traf Viktor Fainberg mit dem Fuß ins Gesicht. Danach lag Fainbergs Gebiss auf dem Roten Platz als Beweisstück für den Akt des freien Willens. […] Als ich Wiktor Fainberg, der inzwischen ausgebürgert in Paris lebte, Anfang der Achtzigerjahre auf einer Menschenrechtskonferenz in Zürich kennenlernte, lud ich ihn zu mir nach Basel ein, und an jenem Abend spielte er für mich die wichtigsten Minuten seines Lebens nach. Ich schaute dieser Inszenierung gebannt zu, stellvertretend für die Bevölkerung der zwangsmoralisierten Tschechoslowakei, die von der Aktion der Solidarität nichts erfahren sollte (WI, 37–39).

Die Atmosphäre des Prager Frühlings schildern einführende Texte des Bandes »Wie ich auf die Welt kam« (2018). Angefangen mit dem Ausbruch der Prager Proteste erinnert sich die achtzehnjährige Erzählerin an die eigene Euphorie, als das Porträt Antonin Novotnys von den Gymnasiasten in Bratislava von der Wand gerissen wurde und sie selbst mit den Mitschüler*innen darauf »kreischend und stampfend« als Bürgerin geboren wurde. In einem weiteren, dem Frühling 1968 gewidmeten Text erzählt einer der sowjetischen Besatzer und späterer usbekische Oppositionspolitiker Muchammad Salich aus seiner Perspektive über die August-Offensive einer sowjetischen Panzerdivision in Bratislava. Das Motiv der Okkupation der Tschechoslowakei kehrt in dem Text »Panoramablick« erneut auf, in dem die Begegnung mit Dürrenmatt rekonstruiert wird. Die Idee, ein Interview mit Friedrich Dürrenmatt zu führen, hatte der Schriftsteller Igor Pomeranzew aus Kiew, der für den russischsprachigen Sender der BBC in London arbeitete. […] Es war ein schöner Sommertag 1981, als wir an der Tür seines Hauses in Neuenburg läuteten. […] Dürrenmatt saß an seinem langen Tisch, vorgebeugt mit verschränkten Armen […]. Er kam mir wie ein regloser Leguan vor. Umso lebendiger wirkte sein wacher, unsteter Blick (WI, 31).

Befragt nach seinen Erfahrungen mit der Tschechoslowakei erwähnte der Autor die sehr gute Aufnahme seines Stückes »Die Wiedertäufer«, das als Protest gegen das Regime Novotnys verstanden wurde. Die damals dreißigjährige Reporterin

Der poetische Akt als Haltung zur Welt bei Irena Brezˇná

235

registriert Dürrenmatts Reflexionen über die Atmosphäre in Prag, seine Verbundenheit mit der tschechischen Mentalität und Geschichte und vermutlich auch mit dem tschechischen Sinn fürs Absurde, Makabre und Groteske.14 Der Band von 2018 schließt u. a. die jüngsten Ereignisse in der slowakischen Heimat der Autorin ein, die nach dem Mord an dem investigativen Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten aufgetreten sind. Der slowakische Frühling 2018 verbindet sich auf dem Platz des Slowakischen Nationalaufstandes mit den früheren Protesten der Jahre 1944, 1968 und 1989. Der Ruf nach Anstand »[…] soll die ganze Gesellschaft durchdringen, auch die Behörden und die Gerichte. Das Wort weitet sich« (WI, 182). Brezˇná deckt die Hintergründe der Proteste auf und erklärt die Zusammenhänge und die Verschwörungstheorien, auf die die Gesellschaft nicht hereingefallen ist. Hellhörig wird die Autorin auch auf die Situation in Weißrussland – und zwar lange bevor es zu den Wahlfälschungen von 2020 kommt. Die Reportage »Bei den nüchternen Slawen« (2018)15 ist ein Ergebnis eines Besuchs in Minsk, bei dem dortigen Verlag Lohvinau. Neben Gesprächen mit Literaturschaffenden und Leser*innen macht die Reporterin ihre Beobachtungen über die Lebensweise und die Ansichten der Bevölkerung: In Belarus bin ich um eine Theorie ärmer geworden. Sie war nicht originell, daher hielt ich sie für stichhaltig: dass in der slawischen Welt das Gefühl dominiert. Doch in Weißrussland ist man verschlossen und beherrscht. In der Öffentlichkeit wird weder gelacht noch gewankt, und man befolgt die Regeln! […] Kein Überschwang. Man hat Wichtigeres zu tun (WI, 142).

Der Blick hinter die Kulissen offenbart die extreme soziale Notsituation und die beinahe buddhistische Einstellung der Menschen, die angesichts der Unterdrückung jeglicher öffentlicher Initiativen auf das eigene Überleben konzentriert sind. Eine interessante Passage betrifft die paradoxe Sprachsituation, wo Weißrussisch zwar noch einen emotionalen Wert habe, aber nicht wirklich lebendig sei. Ein anderer Analyseaspekt betrifft die damals begrenzte Europabegeisterung der Weißrussen und ihre eingeschränkte Bereitschaft, die Opposition öffentlich zu unterstützen. Hier wird seitens der aktiven Intellektuellen des Pen-Clubs noch viel Frust über die Passivität der eigenen Landsleute geäußert. Die 2020 erfolgte Mobilisierung der Gesellschaft ahnt man noch nicht und es fehlt auch die mentale Unterstützung des Westens, der Weiβrussland nicht zur Kenntnis nimmt. In jüngster Zeit gilt das Interesse der Autorin stärker ihrer eigenen Biografie, präsentiert vor dem Hintergrund einschneidender geopolitischer Wandlungen in 14 Ein Teil des Interviews wurde später von dem tschechoslowakischen Sender von Free Europe in München ausgestrahlt. 15 Brezˇná, Irena: »Bei den nüchternen Slawen«. In: Brezˇna, Wie ich auf die Welt kam. 2018, S. 142–149.

236

Alina Dittmann

Europa. Zwei Romane Brezˇnás (»Die beste aller Welten« von 2008 und »Die undankbare Fremde« von 2012) können gerade für Leser aus Mittelosteuropa und Osteuropa auf Grund der Thematik und der Abstammung der Autorin ein hohes Identifikationspotential darstellen, ähnlich wie die bereits erwähnte neueste, ebenfalls autobiographisch geprägte Sammlung von Essays und Reportagen aus einem halben Jahrhundert (»Wie ich auf die Welt kam« 2018). Diese Werke markieren den Weg zur Identitätsfindung zwischen Anpassung und Widerstand sowie die Auseinandersetzung mit fremdkulturellen Wirklichkeiten, welche unabdingbare Prozesse und eine Voraussetzung der korrekten Beziehung, nicht nur zu der neuen, sondern auch zu der alten Heimat darstellen. Der Erstlingsroman »Die beste aller Welten« (2008) ist ein Kindheitsbuch. Amüsant und kritisch zugleich stellt der Text eine Rekonstruktion der tschechoslowakischen Heimat der frühen 1960er Jahre dar. Der sozialistische Alltag wird anhand kurzer Bilder wiedergegeben, in denen Menschen sich durch Überlebenskunstgriffe zu helfen wissen. Es werden reizvolle wie frusterregende Momente des Heranwachsens in einer heute nicht mehr existierenden Realität präsentiert. Aus der Froschperspektive erzählt der Text über wichtige Phänomene des Lebens im Ostblock. Die Aufbaujahre des tschechoslowakischen Kommunismus werden vor dem Hintergrund einer Mädchenkindheit samt ihren Nöten ironisch und humorvoll geschildert. Unverständlich und befremdend wirkt auf die junge Erzählerin das plötzliche Verschwinden ihrer Mutter, die für den Versuch einer illegalen Auswanderung in den Westen für ein Jahr im Strafarbeitslager inhaftiert wird. Die fehlende Meinungsfreiheit und die Gefahren eines Lebens in der kommunistischen Diktatur werden für die jugendliche Protagonistin immer deutlicher erkennbar. Der Roman endet zum Zeitpunkt des Niedergangs der Stalin-Ära. In ihrem zweiten Roman wendet sich die Autorin ihrer neuen Heimat zu – dem Schweizer Exil. »Die undankbare Fremde« (2012) wurde überschwänglich von der Kritik in der Schweiz begrüßt. Sie zeigt die Mühen der Integration, interkulturelle Missverständnisse und den langwierigen Verstehens- und Verständigungsprozess. Das Thema ist sehr aktuell in der Schweiz, wo jeder vierte Einwohner Wurzeln außerhalb des Landes hat. Aus der Doppelperspektive wird das Leben der Schweizer und der Immigranten in der Schweiz geschildert. Die Geschichte verläuft in zwei Strängen, vermittels zwei Erzählerinnen: einer siebzehnjährigen Immigrantin und einer bereits erfolgreich integrierten erwachsenen Ausländerin, die in der Schweiz ein Studium absolvierte und als Dolmetscherin für Schweizer Behörden arbeitet. Beide Erzählerinnen stellen dieselbe Person dar. Sie berichten nicht nur über zahlreiche interkulturelle Begegnungen, sondern gewähren auch Einblicke in die Atmosphäre der Schweiz der späten 1960er und frühen 1970er Jahre:

Der poetische Akt als Haltung zur Welt bei Irena Brezˇná

237

Wir waren in eine vorrevolutionäre Vergangenheit geraten. Die Slogans an den Mauern riefen nicht dazu auf, die Gesellschaftsschichten abzuschaffen, sondern sie luden ein, sich auf eine Matratze mit mehreren Schaumschichten zu legen. […] Der seriös winkende Mann, der auf einem Plakat versprach: »Wir sorgen für Sie«, verriet nicht, dass seine Fürsorge gekauft werden musste. […] Es gab keine Menschenmasse, in der wir hätten aufgehen können wie einst in unseren Demonstrationen zum Ruhm des Fabrikproletariats. Hier trugen bloß zwei Langhaarige das Transparent »Recht auf Freiheit« und waren ernst dabei wie bei der Arbeit.16

Die Schweiz erscheint der jungen Asyl suchenden Slowakin sowohl als ein Konsumparadies als auch ein Staat, »in dem Frauen […] immer noch kein Wahlrecht hatten und die Obdachlosen trotz des allgemeinen Wohlstands in den Straßen ihr armseliges Leben führten.«17 Der Blickwinkel ist u. a. auf die Lage der Zugewanderten gerichtet, aber dank der jahrzehntelangen Schweiz-Erfahrung der Autorin werden dem Leser auch tiefgreifende Einblicke in das Wesen des gesellschaftlichen Lebens der bodenständigen Bevölkerung geboten. Die Schweizer Heimat ist zugleich auch ein Labor, in dem sich die Wege zahlreicher Dissidenten kreuzen, ein Fenster zur Welt, das die anfangs nach einer eigenen Identität suchende Slowakin zu einer engagierten Menschenrechtlerin werden lässt, die es nicht scheut, in Krisengebiete zu reisen. Die Autorin macht darüber hinaus Vorschläge für ein besseres soziales Miteinander innerhalb der Schweizer Gesellschaft, wie etwa der in dem Zimmerwald-Manifest-Text aus dem neuesten Essay-Band »Wie ich auf die Welt kam« unterbreitete Vorschlag einer neuen Qualität der Schweizer Einwanderungsgesellschaft, in der »eine schmerzvolle und befreiende Annäherung« stattfinden soll ohne die Erwartung, sich dem Mainstream anzupassen, denn »[…] inzwischen gibt es selbstbewusste Einwandererstimmen, die den Spieß umdrehen: Und Sie, sind Sie integriert in die neue, multikulturelle Schweiz?« (WI, 166) Es wäre an der Zeit, bemerkt die Erzählerin, dass sich die Schweiz mehr über die Zukunft als über ihre Vergangenheit definiert. »Wer meint, man könne in einer Schweiz mit über einem Viertel Einwanderern leben, ganz ohne aufgerüttelt zu werden, hat nicht mit dem Talent, dem Selbstbewusstsein und dem Gestaltungswillen derer gerechnet, die da sind und die noch kommen werden« (WI, 166–167). In diesem jüngsten Essayband setzt sich die Schriftstellerin mit noch einem schmerzhaften Aspekt schonungslos auseinander. Sie entscheidet sich dafür, zu der aufgedeckten Verwicklung ihres Vaters in die Maschinerie des tschechoslowakischen Geheimdienstes Stellung zu nehmen. Diese zwar episodische, jedoch eindeutig

16 Brezˇná, Irena: Die undankbare Fremde. Berlin: Galiani 2012, S. 11. 17 Dittmann, Alina: »Identität und Alterität am Beispiel des Schaffens von Irena Brezˇná«. In: Denkerische und dichterische Heimatsuche. Hrsg. von Drewniak, Tomasz/Dittmann, Alina. Görlitz: Neisse Verlag 2012, S. 339.

238

Alina Dittmann

dokumentierte Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst wird in dem genannten Sammelband von 2018 durch die Autorin kommentiert.18

Psychogramm Europas in Wechselbeziehung zur Welt In dem Band »Die Sammlerin der Seelen. Unterwegs in meinem Europa« durchquert die Erzählerin das sich aufs Neue konstituierende Ost- und Mittelosteuropa. Die Themenkreise dieser Essaysammlung umfassen u. a. den Krieg in Kosovo, einige wertvolle faktenreiche Ethnographien über die europäischen Regionen der Südostkarpaten und Siebenbürgen, über die slowakische Minderheit im rumänischen Bihor, die Ostslowakei, Tatra und Moldawien. Elf andere Texte gelten Russland und Tschetschenien, mit besonderem Augenmerk auf die Situation der Frauen und politischer Häftlinge. Den Faden bilden Reisen durch die Gebiete des ehemaligen Ostblocks und der Versuch der Schilderung ihres mentalen Zustandes während der Konsolidierung neuer politischer Systeme. Die Texte des Bandes stammen aus den Jahren 1997 bis 2002. Wie sind die Lebensbedingungen für die Gesellschaften in den genannten Staaten? Finden sie ihre von den früheren Diktaturen unterdrückten kulturellen Wurzeln wieder oder fallen sie neuen Gefahren zum Opfer? Wie ist die eigentliche Seele Mitteleuropas? Als Grenzgängerin schildert die Autorin mit Scharfsinn und Poesie exemplarisch Menschen auf dem Hintergrund ihrer Regionen, gibt den einzelnen Entwurzelten oder an falsch begriffenen Traditionen sich Klammernden eine Stimme. Eine ältere Sächsin führt sie in Zeiden in die evangelische Kirche der Siebenbürger ein, von denen sich die meisten 1999 bereits als Spätaussiedler in Deutschland befinden, während ihre Geburtshäuser in Transsilvanien mittlerweile von Rumänen und Roma bewohnt werden. Nach Deutschland seien sie aus Sehnsucht gekommen, »als Deutsche unter Deutschen zu leben«, aber gerade inmitten der deutschen Kultur fängt ihr Einzelschicksal an. Die Geschichte ihres kleinen Volkes ist zu Ende. Und mit ihr verschwindet ihr singendes mittelalterliches Deutsch. Aus Transsilvanien haben sie Siebenbürgen gemacht. Ihre Vertikale steht dort (DS, 74).

Auf der Suche nach vergessenen Ecken Europas erschließt Brezˇná in informativen Passagen Lesern und Leserinnen in Westeuropa Landstriche wie Transnistrien, das sie metaphorisch einen ›abgesägten Obstgarten‹ nennt: Moldawien wurde 1990 ein Glied amputiert, der schmale Landstreifen Transnistrien, der ein verlängerter Arm Moskaus ist. […] In den fünfziger und sechziger Jahren kamen aus der ganzen Sowjetunion Spezialisten, herbeigelockt mit Doppelgehältern, um die 18 vgl. Brezˇná, Irena: Doktor und Raucher. In: Brezˇná, Wie ich auf die Welt kam. 2018, S. 55–62.

Der poetische Akt als Haltung zur Welt bei Irena Brezˇná

239

führenden Posten in Moldawien zu besetzen. […] Nachdem Rumänisch 1990 zur einzigen Staatssprache erklärt und Moldawien 1991 unabhängig geworden war, fühlten sich die meisten Russen und Ukrainer ausgeschlossen […] und zogen sich hinter den Dnjestr zurück, gründeten mit Hilfe Moskaus ihren eigenen Staat im Staat (DS, 128).

Neben festgehaltenen aufmerksamen Beobachtungen der Journalistin enthalten die Essays dieses Bandes zahlreiche intertextuelle Bezüge und Querverweise auf Werke anderer Autoren, die sich mit dem Geist Ost- und Westeuropas auf eine polarisierende Weise beschäftigen, etwa der kroatischen Schriftstellerin Dubrawka Ugresˇic´ oder Iwan Gontscharows. Das Gesicht Mittelost- und Osteuropas ohne den eisernen Vorhang offenbart zahlreiche Narben und Unzulänglichkeiten, hat aber in den entlegensten Orten ihren ursprünglichen Charakter noch nicht eingebüßt. Viel dramatischer stellt sich die Situation in Russland dar. Die Autorin schildert u. a. detailliert die Lage der weiblichen Gefangenen in den GULAGs exemplarisch anhand der bewegenden Biographie einer der Internierten aus einem Frauenlager im Ural, sie entlarvt die soziopsychologischen Hintergründe der russischen Aggression auf Tschetschenien und zeichnet ein psychologisches Portrait Wladimir Putins, der ein ferngelenkter Sohn der Matuschka Rossija sei, die ihn als den neuen »Wächter ihrer Grenzen, ihrer Grenzenlosigkeit [belohnt]«.19 Am Ende des Sammelbandes von 2003 befasst sich die Autorin mit aktuellen Ereignissen in dem ihr vertrauten Tschetschenien, wo 2001 die Misshandlungen der Zivilbevölkerung ein noch raffinierteres frevelhafteres Gesicht annehmen. Sie scheut nicht davor, die grauenhaften Verbrechen russischer Soldaten minutiös der westlichen Öffentlichkeit zu schildern, stellvertretend für die Betroffenen. Der Band endet mit einem Strahl der Hoffnung auf einen ersehnten Frieden für Grosny. In ihrem programmatischen Essay »Fabel vom Fuchs, von der Flucht, vom Schreiben und vom Widerstand« (1997)20 spannt die Erzählerin den Bogen zwischen der eigenen Flucht aus der Tschechoslowakei 1968 und der Ankunft im Dorf Sernowodsk in Tschetschenien knapp dreißig Jahre später, dessen literarische Anwältin sie wird: Ich kenne nur einen Ausweg, einen sprachlichen […] Im Schreiben über den Krieg in Tschetschenien begreife ich, woher meine Sehnsucht kommt, der Zerstörung eine gerechte, eine sprachliche Existenz zu verleihen, gleich mir, die sich in der neuen Sprache aufgerichtet hat, in ihr die Würde der Verletzten fand. Meine deutsche Sprache ist die Sprache einer ehemaligen Stummen, sie ist keine Selbstverständlichkeit, in jedem Wort ist der Überlebenswille. Diese Sprache soll nicht geglättet, mein Schicksal darf aus ihr nicht ausgemerzt werden. Meine Auferstehung in der deutschen Sprache ist das einzige

19 Brezˇná, Irena: »Mattuschka Rossija und ihr Sohn. Ein Politmärchen über Russlands Krieg in Tschetschenien«. In: Brezˇná, Die Sammlerin der Seelen. 2003, S. 164. 20 Erschienen in dem Sammelband Die Sammlerin der Seelen, 2003.

240

Alina Dittmann

Haus, das ich aufgebaut habe, die Worte sind meine gestalteten Dinge. In dieser Tat füge ich Misstöne und Anmut zusammen, der poetische Akt ist meine Haltung zur Welt (DS, 151).

Der Begriff ›engagierte Literatur‹ scheint mit dem der poetischen Prosa im Widerspruch zu stehen. Irena Brezˇnás Werke widerlegen die Notwendigkeit einer solchen pauschalen Trennung. Sie lassen sich auch nicht eindeutig als Literatur der Migration einstufen21 Das Thema des Heimatverlustes, die Nöte des Integrationsprozesses im Exil, aber auch Vorteile der Erfahrung einer Entwurzelung, nehmen zwar einen bedeutenden Platz im Schaffen der Autorin ein, sie werden von ihr jedoch nicht vorrangig durch das Prisma der individuellen Erfahrung der Emigration präsentiert. Brezˇná spannt den Bogen weiter und schildert anhand multipler individueller Schicksale von Menschen aus zahlreichen Ländern, denen sie authentisch begegnet ist und deren Geschichten sie dichterisch miteinander zu einem Panorama des Leides, des Mutes und der Hoffnung verwebt, dass die räumliche Entfernung im ›globalen Dorf‹ nur eine Illusion ist und jegliche Untätigkeit angesichts des Unrechts langfristig eine Leugnung der eigenen Menschlichkeit wäre. Die vielfältige Tätigkeit, der schöpferische Reichtum und die aktive Lebensweise der Schriftstellerin widerspiegeln sich in der Vielschichtigkeit ihrer Texte. Neben der schriftstellerischen Tätigkeit engagiert sich Irena Brezˇná in Wohltätigkeitsprojekten in unterschiedlichen gesellschaftlich-politischen Lebensbereichen: in den 1970er und 1980er Jahren als Koordinatorin der Schweizer Amnesty International bemühte sie sich zwölf Jahre lang um die Befreiung sowjetischer politischer Häftlinge. Sie unterstützte Oppositionelle in Osteuropa und hatte ihren Anteil an der Gründung der ersten feministischen Zeitschrift der Slowakei ›Aspekt‹. Sie fördert einige Projekte zugunsten tschetschenischer Frauen. Während des Krieges im Kosovo arbeitete sie einige Monate lang in der Beratungsstelle des schweizerischen Roten Kreuzes in Basel.22 Leitmotive ihrer Texte sind Aspekte von Fremdheit, Gewalt, Ungerechtigkeit sowie die Konfrontation mit der eigenen Geschichte der Auswanderung und der ›Erdung beim Gehen‹, wie H. J. Heinrichs das Unterwegssein als ›Gefühl der Ruhe‹ im gegenwärtigen Europa nennt, wo Fremdsein nicht nur ein Ausdruck für Andersheit sei, sondern auch für Heimatgefühle, denn »[…] in dem Maße, wie an die Stelle von Heimat multikulturelle Zentren getreten sind, ist unsere Mitte ins

21 Zur Definierung der Literatur der Migration vgl. Werner, Nell: »Zur Begriffsbestimmung und Funktion einer Literatur von Migranten«. In: Literatur der Migration. Hrsg. von: Amirsedghi, Nasrin/Bleicher Thomas. Mainz: Donata Kinzelbach Verlag 1997, S. 34–48. 22 Rduch, Aleksandra: Einladung zur Lesung von Irena Brezˇná am Lehrerkolleg für Fremdsprachen in Jastrze˛bie-Zdrój 2010.

Der poetische Akt als Haltung zur Welt bei Irena Brezˇná

241

Ausland verlegt worden.«23 Die Hervorhebung der Prozesshaftigkeit von Kulturen bildet eine permanente Determinante im Prosawerk der Autorin. Migrationsprozesse erwecken ihr besonderes Interesse, weil sie zur Interaktion und zum Austausch von unterschiedlichen kulturellen Mustern führen, Patchwork-Identitäten formen und individuelle wie kollektive Biographien prägen.24 In ihrer sinnlich-analytischen Sprache betont die Autorin die Selbstverständlichkeit der Transkulturalität und die Unvermeidlichkeit von Völkerwanderungen angesichts des fortdauernden Leidens von Millionen von Menschen. Sie ermutigt dabei zur Freiheit und Menschlichkeit und eröffnet neue Bereiche der Gegenwartsliteratur, die Verantwortung übernimmt und durch die Unmittelbarkeit der Bilder berührt. Irena Brezˇná ist zweifellos eine nichtkommerzielle Autorin, die sich entschieden mit den unmenschlichen Ausgeburten der Wirklichkeit auseinandersetzt. In polnischer Sprache ist noch kein Buch Brezˇnás erschienen, was Möglichkeiten für Übersetzer und Liebhaber einer sublimierten Prosa mit einer starken Botschaft bietet.

23 Heinrichs, Hans-Jürgen: Inmitten der Fremde. Von In- und Ausländern. Hamburg: rororo 1992, S. 7. 24 vgl. Jelecˇ, Marijana/Popovic´, Nada: »Zwischen dem Eigenen und dem Fremden. Zur Migrationserfahrung bei Melinda Nadj Abonji und Irena Brezˇná«. In: Folia Linguistica et Litteraria. ˇ asopis za nauki o jeziku i knjizˇevnosti Journal of Language and Literary Studies. Nr 25/2018, C S. 196.

Agnieszka Kodzis-Sofin´ska (Wrocław)

Von (No/O)stalgie zur Kritik. Wladimir Kaminers Erinnerungsbilder an die Sowjetunion und Russland im Roman »Onkel Wanja kommt«

»Weder meine Erzählungen noch die Charaktere sind fiktiv. […] Das Leben und die Realität bieten genügend Stoff, um zu schreiben«,1 hat Wladimir Kaminer 2002 in einem seiner ersten Interviews festgestellt. Als er aber in einem anderen Gespräch gefragt wurde, ob seine Erzählungen von den Lesern als eine »wertvolle Wahrheit« oder eher als »richtig süße Lüge« aufgenommen werden, gibt er keine fertige Antwort, sondern versucht eher der Frage zu entgehen: Meine Erfahrung zeigt, dass die wahren Geschichten immer als Lüge aufgenommen werden und die Lügen als wahre Geschichten. Wenn ich irgendwas zusammenspinne, dann fragen die Leute gar nicht nach, sondern nehmen das einfach so auf wie das ist. Oder umgekehrt…2

Schließlich bekennt er jedoch, dass er seine Geschichten oft poetisiere und überspitze.3 Aus den oben angeführten Äußerungen lässt sich schlussfolgern, dass die Grenzen zwischen Realität und Fiktion in Kaminers »Alltagsbewältigungsprosa«4 fließend sind. Und dies bleibt nicht ohne Einfluss auf die Artikulation des Erinnerten in seinen Erzählungen und Romanen. Der Beitrag setzt sich zum Ziel, darauf einzugehen, wie der Schriftsteller mit der Erinnerung umgeht und wie die Inszenierung des Erinnerten sich in seinem Roman zeigt. Anschließend werden die Fragen beantwortet, inwieweit das Werk von Wladimir Kaminer als eine historische Quelle angesehen werden kann, die das Bild einer vergangenen Ära überträgt und »konserviert« und ob diese als Medium wirkt, das das kollektive und kulturelle Gedächtnis einer bestimmten Gemeinschaft mitgestaltet. Dies soll in Anlehnung an die Theorie von Jan und 1 Shilova, Ardita: »›Ich würde gerne auf Nationalitäten verzichten‹«. In: literaturcafe.de 15. 04. 2002. Auf: http://www.literaturcafe.de/html/berichte/kaminer/ophp/ (Zugriff am 21. 10. 2020). 2 Kinder, Alexej: »Interview mit Wladimir Kaminer«. In: EASTTALK 28. 08. 2014. Auf: https://ver lag.buschfunk.com/kuenstler/interviews/78_Russendisko/26_Interview_mit_Wladimir_Kam iner (Zugriff am 06. 04. 2020). 3 Vgl. Huemer, Peter: »›Glauben Sie mir: Jedes System ist gefährlich!‹ Peter Huemer im Gespräch mit Wladimir Kaminer«. In: Zukunft 1, 2002, S. 37. 4 Shilova. »Nationalitäten…«

244

Agnieszka Kodzis-Sofin´ska

Aleida Assmann behandelt werden. Des Weiteren soll die Rolle der zu betrachtenden »kleinen Literatur«5 im Prozess des Erinnerns an die Vergangenheit recherchiert werden. Was die Reichweite der zur Untersuchung bestimmten Primärliteratur anbetrifft, so wurde hier der russlandbezogene Roman »Onkel Wanja kommt« (2012) aus dem bereits opulent gewordenen Oeuvre des Autors ausgewählt. Ein solches Verfahren ist angestrebt, um besser nachvollziehen zu können, wie und wie weit sich die Optik des Autors auf die Russland-Problematik über die Jahre verschoben hat. Darüber hinaus stellt das Werk einen Wendepunkt im Schaffen von Wladimir Kaminer dar – einen deutlichen Übergang zur kritischen Einstellung, die sich auch in der späteren Geschichtensammlung des Autors – »Goodbye Moskau« (2017) – äußert, und ein spannendes und komplexes Feld zur weiteren Untersuchung bietet. Wladimir Kaminer muss inzwischen auch außerhalb Deutschlands6 nicht mehr vorgestellt werden.7 Im Laufe von 20 Jahren seiner schriftstellerischen Tätigkeit hat der populäre Exil-Russe in Berlin 29 Bücher veröffentlicht, die millionenfach verkauft wurden. Sein Erfolg auf dem Büchermarkt ist demnach unstrittig, wozu auch gelungene Marketingstrategien (u. a. eine ständige Medienpräsenz des Autors) beigetragen haben. Er ist nämlich nicht nur als Schriftsteller bekannt, sondern auch als Kolumnist, DJ bei den von ihm veranstalteten sogenannten »Russendisko«-Partys, als Lesereisender, Lieblingsspezialist der Medien in Sachen Osten, Brückenbildner zwischen Ost- und Westeuropa und schließlich als Kritiker von Wladimir Putins Politik bekannt. Die Mini- und Mikronarrationen von Wladimir Kaminer wurden bereits wissenschaftlich aufgearbeitet. Vor allem die Migrantenfrage und »Multikultiidee« wurden besonders gern als zentrale Motive seines literarischen Werkes untersucht.8 Dabei werden am meisten die markante Rolle des Schriftstellers im 5 Polubojarinova, Larissa: »Wladimir Kaminer, ein Nomade – ›Kleine Literatur‹ als ein großes Problem der Interkulturalitätsforschung«. In: Germanica 38, 2006, S. 87–102. 6 Die Werke von Wladimir Kaminer wurden bereits u.a ins Englische, Estnische, Finnische, Französische, Griechische, Polnische, Russische und Tschechische übersetzt. 7 Eine biographische Skizze des Autors befindet sich u. a. in: Kodzis-Sofin´ska, Agnieszka: »Niemiec z wyboru. Wladimir Kaminer«. In: dies.: Oblicza literackiej twórczos´ci generacji Golfa. Nurty ideowo-artystyczne w utworach niemieckich pisarzy przełomu XX i XXI w. Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 2015, S. 207–211. 8 Vgl. u. a.; Plath, Jörg: »Wladimir Kaminer, Radek Knapp und Artur Becker – drei deutschsprachige Schriftsteller mit osteuropäischem Hintergrund«. In: Dialog 68, 2004. Auf: http:// www.arturbecker.de/Presse/varia/artikel005.html (Zugriff am 02. 04. 2020); Polubojarinova, Larissa: »Wladimir Kaminer, ein Nomade – ›Kleine Literatur‹ als ein großes Problem der Interkulturalitätsforschung«. In: Germanica 38, 2006, S. 87–102; Zsigmond, Aniko: »Interkulturelle Aspekte in Wladimir Kaminers Schönhauser Allee«. Studia Germanica Gedanensia 30, 2014, S. 173–182; Kodzis-Sofin´ska, Oblicza…, 2015; Roeder, Caroline: »Russen-Disko(urs). Russland-Stereotype in deutschsprachiger All Age-Literatur unter erinnerungskultureller Perspektive«. In: Akten des XIII. Internationalen Germanistenkongresses Shanghai 2015 Germa-

Von (No/O)stalgie zur Kritik bei Wladimir Kaminer

245

interkulturellen Dialog und die Fähigkeit seine »russische Seele« auf die westliche Kultur zu projizieren, hervorgehoben. Auch der zweiten Tendenz, die sich in den essayistischen Erzählungen von Wladimir Kaminer zeigt – dem Erinnern an die Sowjetunion – wurde schon literaturwissenschaftlich nachgegangen. Sowjetische, beziehungsweise russische Komponente (Identität, Kultur, Geschichte, Politik) in seinem Werk wurden u. a. im Kontext von Homi K. Bhabhas Theorie von Christoph Meurer erforscht. In seiner Analyse kommt er zum Schluss, dass die ständigen Zusammenstellungen und Vergleiche der ost- und westeuropäischen Kultur im Werk des Schriftstellers zur Entstehung einer Metaebene (des »Dritten Raumes«9) führen.10 Eines bleibt aber noch zu klären: Wladimir Kaminer als Grenzgänger überschreitet zwar in seinen Geschichten geographische und kulturelle Grenzen, verbindet seine Erstund Zweitsprache miteinander, reflektiert seine multikulturellen Erfahrungen und baut daraus seine neue Weltwahrnehmung. Es ist allerdings zu überlegen, inwieweit das fortwährende Umschalten des Schriftstellers zwischen der »eigenen« und der »fremden« Kultur nicht nur eine Manifestation einer Doppeloptik ist. Christoph Meurer befasste sich in seinem Aufsatz nur mit den ersten Werken von Wladimir Kaminer. Seit der Veröffentlichung dieser Analyse hat sich jedoch der Blick des Schriftstellers auf die Ereignisse der politischen und gesellschaftlichen Bühne in Russland deutlich verändert. Der ehemalige Neuankömmling aus der Sowjetunion hat sich nämlich inzwischen in Berlin eine neue Existenz aufgebaut – er ist zu einem »Shootingstar der deutschen Literaturszene«,11 beziehungsweise zu einem lokalen Pop-Star geworden. Zugleich ist er in seinem Engagement in politische und gesellschaftliche Angelegenheiten seines Herkunftslandes (sowohl vor als auch nach dem Zerfall der Sowjetunion) vom »Virtuosen der Distanznahme«12 zu einem scharfsinnigen Beobachter, Kommentator und strengen Kritiker evolviert.

9 10

11 12

nistik zwischen Tradition und Innovation. Hrsg. von Jianhua Zhu/Jin Zhaound/Michael Szurawitzki. Bd. 11, Frankfurt am Main u. a.: Peter Lang 2016, S. 121–126; Isterheld, Nora: »Metadiskurs, Metonymie und Mimikry in Wladimir Kaminers Prosaminiaturen«. In: dies: »In der Zugluft Europas«. Bamberger Studien zu Literatur, Kultur und Medien Zur deutschsprachigen Literatur russischstämmiger AutorInnen. Bamberg: University of Bamberg Press 2017, S. 184–203. Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg 2007, S. 5. Meurer, Christopher: »›Ihr seid anders und wir auch‹: Inter- und transkulturelle Russenbilder bei Wladimir Kaminer«. In: Von der nationalen zur internationalen Literatur. Transkulturelle deutschsprachige Literatur und Kultur im Zeitalter globaler Migration. Hrsg. von Helmut Schmitz. Amsterdam/New York Brill/Rodopi 2009, S. 233. Bergamini, Julia/Buhre, Jakob: »Fiction gibt es für mich nicht«. In: Planet Interview 06. 07. 2001. Auf: http://planet-interview.de/wladimir-kaminer-06072001.html (Zugriff am 23. 07. 2020). Plath, Jörg: »Virtuosen der Distanznahme. Zur Konjunktur des literarischen Grenzgängertums zwischen Ost und West«. In: Neue Zürcher Zeitung 12. 02. 2005.

246

Agnieszka Kodzis-Sofin´ska

Im Laufe der Zeit scheint die Kritik immer gnädiger gegenüber der literarischen Tätigkeit von Wladimir Kaminer geworden zu sein. Anfänglich konnte jedoch die Reaktion der Rezensenten eher demütigend auf den werdenden Schriftsteller wirken. Seine ersten Werke wurden nämlich von Norbert Mecklenburg als »humoristische Billigprodukte«13 abgetan. Auch Dieter Hildebrandt,14 Stefan Mesch15 und Eva Hausbacher16 haben Kaminers Sammlungen einer eindeutig strengen Kritik unterzogen. Ihrer Auffassung nach würden die Geschichten an die Popliteratur der 1990er Jahre erinnern und in Richtung Ostalgie ausschlagen.17 Da die beiden Begriffe hier als Vorwürfe gelten, und dennoch zugleich als wichtige Werkzeuge bei der Analyse der ausgewählten Werke von Wladimir Kaminer berücksichtigt werden müssen, sollen sie im Folgenden näher erörtert werden. Die Tendenz zur »Ostalgie« hat sich in den 1990er Jahren des 20. Jahrhunderts in der deutschen Kultur und Kunst herauskristallisiert, besonders aber in der Literatur und im Film (»Good Bye, Lenin!« 2003, »Das Leben der Anderen« 2006). Der Begriff entstand in Folge der Zusammensetzung zweier Wörter: »Osten« und »Nostalgie«, wobei das erste Wort als Synonym für die DDR und Ostberlin und das zweite – für das Erinnern an »gute Zeiten« verwendet wird. Die Ostalgie, die die Sehnsucht nach dem Osten bedeutet, ist jedoch oft mit der Ästhetisierung und Verschönerung der sozialistischen Realität verbunden, deshalb wird sie als »Gefahr für die Demokratie«18 angesehen. Darüber hinaus werden den Anhängern dieser Richtung eine »Trivialisierung der Geschichte« und »Entdämonisierung« der historischen Ereignisse vorgeworfen. Ostalgie ist ein wichtiges Phänomen des literarischen Erinnerns, der Begriff fungiert jedoch im gegen-

13 Mecklenburg, Norbert: »Eingrenzung, Ausgrenzung, Grenzüberschreitung. Grundprobleme deutscher Literatur von Minderheiten«. In: Die andere deutsche Literatur. Istanbuler Vorträge. Hrsg. von Manfred Durzak/Nilüfer Kuruyazıcı. Würzburg: Königshausen & Neumann 2004. S. 29. 14 Vgl. Hildebrandt, Dieter: »Ein Grüner radelt nach Sibirien. Wladimir Kaminers Ausflüge in die Wirklichkeit«. In: Die Zeit (Literaturbeilage) 47, 2002. 15 Vgl. Mesch, Stefan: »Balsam für die Kartoffelseele. ›Küche totalitär – das Kochbuch des Sozialismus‹. Leichtverdauliches aus dem Hause Kaminer«. In: literaturkritik.de, 10, 2006. Auf: http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=10013&ausgabe=200610 (Zugriff am 10. 11. 2019). 16 Hausbacher, Eva: »Zwischen Konsalik und Kafka: Wladimir Kaminer – ein russischer Star der deutschen Literatur«. In: dies.: Poetik der Migration. Transnationale Schreibweise in der zeitgenössischen russischen Literatur. Tübingen: Stauffenberg Verlag 2009, S. 247–253. 17 Hausbacher, Zwischen Konsalik und Kafka. 2009, S. 247. 18 Hoensbroech, Constantin Graf von: »Ostalgie ist eine Gefahr – Interview mit Joachim Gauck«. In: Die freie Welt 24. 09. 2010. Auf: http://www.freiewelt.net/interview/ostalgie-ist-eine-gefah r-interview-mit-joachim-gauck-12045/ (Zugriff am 20. 11. 2020).

Von (No/O)stalgie zur Kritik bei Wladimir Kaminer

247

wärtigen wissenschaftlichen Diskurs vor allem als Marker falscher Erinnerungen.19 In Kaminers Werken manifestiert sich die Neigung zu einer beachtlich milderen Form der Ostalgie. Er weckt Erinnerungen vor allem daran, was in seinem Herkunftsland – der Sowjetunion »exotisch« und grotesk war. Es ist daher eher ein Ausdruck der Nostalgie nach bestimmten Facetten der UdSSR, nach der Kindheit, Jugendzeit – keine Sehnsucht nach dem Regime und der Supermacht des nicht mehr existierenden Landes, sondern nach einer UdSSR, die so wäre, wie man sie sich gewünscht hätte, die als eine Art der Trauer, dass »es nicht mehr so ist, wie es auch früher nie war«20 angesehen werden darf. Diese Erscheinungsform der Ostalgie wird zwar von Wladimir Kaminer zu einem wichtigen Element seiner Vermarktungsstrategie erhoben, aber sie wird nie zu einer kritiklosen, naiven Lobpreisung des Ostens. Deswegen lässt sich die Ostalgie in Sowjetunion-bezogenen Erzählungen des Autors als sogenannte reflexive und nicht restaurierende Nostalgie erfassen. Nach der Darlegung von Svetlana Boym versucht nämlich die restaurierende Nostalgie […] den verlorenen Wohnsitz wiederzubauen und die Gedächtnislücken zu erfüllen. Die reflexive Nostalgie dreht sich […] um den Wunsch und den Verlust und auf den unvollkommenen Prozess der Erinnerung.21

Die Autorin der Auslegung hebt dabei hervor, dass im Gegensatz zu der restaurierenden Nostalgie die reflexive »ironisch und humoristisch sein« kann, und dass sich »Sehnsucht und kritisches Denken nicht gegenseitig ausschließen, weil affektive Erinnerungen nicht von Mitgefühl, Urteilsvermögen oder kritischer Reflexion beraubt werden müssen«,22 was in Kaminers Erzählungen der Fall ist. Wenn man sich mit den Werken des Autors beschäftigt, kann man auch auf Versuche stoßen, sie unter der Kategorie der breit diskutierten »Populärliteratur« oder »Massenliteratur« zu katalogisieren. Dazu hat wohl seine Popularität beigetragen: Große Aktivität in den Medien, zahlreiche Interviews, Berichte, Artikel und Rezensionen seiner Veröffentlichungen haben zum Zweck, vor allem

19 Vgl. Frei, Stella Maria: »Tagungsbericht: Gute Erinnerungen an böse Zeiten – Nostalgie in ›posttotalitären‹ Erinnerungsdiskursen nach 1945 und 1989«, 18. 04. 2018–20. 04. 2018 München. In: H-Soz-Kult 02. 07. 2018. Auf: www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte -7775 (Zugriff am 21. 11. 2020). 20 Decker, Kerstin/Decker, Gunnar: Gefühlsausbrüche oder ewig pubertiert der Ostdeutsche: Reportagen, Polemiken, Porträts. Berlin: Das Neue Berlin 2000, S. 21. 21 »Restorative nostalgia […] proposes to rebuild the lost home and patch up the memory gaps. Reflective nostalgia dwells […] in longing and loss, the imperfect process of remembrance.« Boym, Svetlana: The Future of Nostalgia. New York: Basic 2001, S. 41. 22 »Reflective nostalgia […] can be ironic and humorous. It reveals that longing and critical thinking are not opposed to one another, as affective memories do not absolve one from compassion, judgement or critical reflection«. Boym, The Future, S. 49–50.

248

Agnieszka Kodzis-Sofin´ska

das Interesse der Leserinnen und Leser an dem Schaffen Wladimir Kaminers zu steigern. Und umgekehrt wirkt sich die mediale Präsenz des Schriftstellers positiv auf die Verkaufszahlen der Zeitungen und Zeitschriften aus, die über sein Schaffen und Leben berichten, da er schon zu einer Marke geworden ist, was unter anderem dem »popkulturell ausgetüftelten Medienverbundsystem, das von Hör- und Kochbüchern über Bekleidung bis klug gesampelten Webauftritten reicht«23 zu verdanken ist. Der Autor kann nämlich seine Bücher geschickt »verkaufen« – sie erzielen hohe Auflagen, werden schnell in viele Sprachen übersetzt und stürmen oft Bestsellerlisten. Andererseits können die Strategie der Journalisten und die immerwährende Werbung der Marke »Kaminer« eher abwertende Konnotationen hervorrufen und dazu führen, dass seine Literatur als »niedrig«, minderwertig und banal eingestuft wird. Weitere Erfolgsgründe des Schaffens von Wladimir Kaminer liegen hauptsächlich in der Themenauswahl, die ein breites Publikum erreicht, weil sie Inhalte überträgt, die gewünscht und leicht verstanden werden. Hinzu kommt noch die unkomplizierte Form, die die Aufmerksamkeit der Leser auf sich zieht. Dies entspricht den Kriterien der Popliteratur, die von Moritz Baßler in der PopBibel »Der deutsche Pop-Roman. Die Neuen Archivisten« (2002) formuliert werden. Neben der gelungenen Vermarktung und einer gewissen »Oberflächlichkeit seiner Texte in Form und Inhalt«,24 tragen sowohl die sogenannte Archivierung und Literarisierung der Alltäglichkeit25 als auch die intensive Selbstinszenierung und -ironisierung26 dazu bei, dass Kaminers Schaffen in die Nähe der Popliteratur rückt. Mit der Frage, ob der Schriftsteller als Vertreter dieser Richtung (im Sinne der zweiten Popliteratur-Welle aus den 1990er Jahren) gelten kann, beschäftigte sich Thomas Ernst,27 der jedoch weit davon entfernt ist, Kaminers Miniaturen ohne Weiteres mit dem literarischen Pop zu verbinden. Man darf auch nicht unbeachtet lassen, dass Wladimir Kaminer sich selbst von den Vertretern des literarischen Pops distanziert, indem er schreibt, dass er zu diesen Autoren zählt, die nicht durch eine Wohlstandskindheit verdorben sind – ganz im Gegenteil zu einigen der heutigen Popliteraten. Während wir eine eher linke Position vertreten, verbindet

23 Roeder, »Russen-Disko(urs)«. 2016, S. 121. 24 Hausbacher, »Zwischen Konsalik und Kafka«. 2009, S. 267. 25 Baßler, Moritz: Der deutsche Pop-Roman. Die Neuen Archivisten. München: C.H. Beck 2002, S. 95. 26 Ernst, Thomas: »Jenseits von MTV und Musikantenstadl. Popkulturelle Positionierungen in Wladimir Kaminers ›Russendisko‹ und Feridun Zaimog˘lus ›Kanak Sprak‹«. In: text+kritik, Sonderband: Literatur und Migration 9, 2006, S. 148–158. 27 Vgl. Roeder, »Russen-Disko(urs)«. 2016, S. 121.

Von (No/O)stalgie zur Kritik bei Wladimir Kaminer

249

diese eine konservative Gesinnung. Sie stehen für einen jungen Konservatismus, obwohl sie sich ja jeder politischen Aussage entziehen.28

Obwohl es aber offensichtlich ist, dass Wladimir Kaminers »kleine Literatur« vor allem der Unterhaltung dient, lässt ich nicht übersehen, dass in seinen Geschichten solche Konstanten der Popliteratur wie die Ich-Bezogenheit und Fokussierung auf Musik, Mode und Marken nicht verehrt, sondern travestiert werden. Dies sprengt den Rahmen der Popliteratur. Darüber hinaus ist die Kaminersche Archivierung der Vergangenheit und Gegenwart nicht typisch popliterarisch: Sie ist nicht mit einer Standpunktlosigkeit verbunden, weil der Autor die von ihm dargestellten gesellschaftlich-politischen Ereignisse einer kritischen Überprüfung unterzieht und beurteilt. Darüber hinaus zeigt sich in seinen späteren Sammlungen schon eine dezidiert politische Botschaft, ein spürbares politisches Engagement, worauf im folgenden Teil des Beitrags hingewiesen wird. Im Vergleich zu Wladimir Kaminers humorvollen Sammlungen aus der früheren Schaffensphase ist eine signifikante Veränderung in dem Charakter in seiner späteren Veröffentlichung aus dem Jahr 2012 – »Onkel Wanja kommt. Eine Reise durch die Nacht« – zu beobachten. Der Autor beschäftigt sich hier nicht ausschließlich mit den glücklichen Momenten der menschlichen Existenz. »Onkel Wanja kommt« ist keine Sammlung selbstständiger Geschichten mehr – die einzelnen Kapitel des Werkes bilden eine geschlossene Einheit – einen Roman. Der Großteil seiner Handlung baut auf Gesprächen des Erzählers mit seinem alten Onkel auf, der aus Russland nach Berlin zu Besuch kommt. Interessant ist, dass der Autor das erste Mal einen völlig fiktiven Charakter als Hauptund Titelhelden seines Werkes wählt. Onkel Ivan besucht seinen Verwandten, denn vor seinem Tod beschloss er, die Welt zu besuchen – auch wenn diese »Welt« nur von der Hauptstadt Deutschlands repräsentiert würde. Dies ist jedoch kein Roman über Berlin – nur gelegentlich werden hier Berlin-Abschnitte eingeschoben, in denen der Erzähler seinem Onkel »das Leben nach der Wende« in der deutschen Hauptstadt erklärt. Deshalb bildet Berlin hier nur einen räumlichen Hintergrund der Nachtreise, die der Erzähler mit seinem Onkel zu Fuß unternimmt. Die Wohnung, die sie erreichen möchten, ist nur wenige Kilometer vom Hauptbahnhof entfernt. Auf dem Weg hat der Neffe die Möglichkeit, das Leben des Onkels genauer zu reflektieren, seine eigenen Erinnerungen an die UdSSR aufzufrischen und Gedanken über das gegenwärtige Russland in die Narration zu »schmuggeln«. Der Erzähler ist in diesem Fall durchaus als Alter Ego des Autors anzusehen, da der Roman auch viele autobiografische Details vom Wladimir Kaminers Leben beinhaltet. Indem der Erzähler sich als Schriftsteller vorstellt, 28 Herrmann, Karsten: »Wladimir Kaminer im Gespräch. ›Berühmt zu sein ist sehr anstrengend‹«. In: CULTurMAG – Literatur, Musik & Positionen 26. 02. 2004. Auf: http://culturmag.de /litmag/wladimir-kaminer-im-gesprach/14852 (Zugriff am 23. 11. 2020).

250

Agnieszka Kodzis-Sofin´ska

wird darauf hingewiesen, dass dessen Werke in den Regalen der Bahnhofbuchhandlung unter dem Buchstaben »K« (wo größtenteils Bücher der »Humoristen« stehen) zwischen Franz Kafka und Heinz Konsalik zu finden sind.29 Damit will er auch das Profil seines Schaffens kurz, aber prägnant erläutern. Des Weiteren demaskiert er sich schließlich selbst in einem Gespräch mit dem Beamten, der ihn »Herr Kaminer« nennt (OW, 23). Ein interessantes Novum, das dieses Buch mit sich bringt, ist seine originelle metaphorische Ebene und reiche Anspielungen auf russische Kultur und Geschichte. Bereits im Titel des Romans findet sich ein Hinweis auf Anton Tschechows Drama »Onkel Wanja«.30 Der Autor erklärt selbst, dass es sich hier nur zum Teil um eine zufällige Namensgleichung handelt: Zum anderen ist Tschechows Onkel Wanja auch ein Mann, der sehr viel sieht, versteht und anstrebt, aber nicht wirklich vorankommt. Das ist ein Mann, der ein Leben lebt, von dem man gar nicht weiß, ob das jetzt im Zeichen der Hoffnung oder im Zeichen des Scheiterns stattfindet. Dies ist im Grunde das Hauptgefühl meines Buches. Der beschriebene Fußweg vom Hauptbahnhof bis zum Mauerpark ist ja eine kleine Reise. […] Es ist auch eine Zeitreise.31

Die Zeitreise führt die beiden Männer zurück in die Sowjetunion. Sie suchen in ihrer Vergangenheit die Antworten auf Fragen der Gegenwart: was war, was daraus geworden ist? – und wie möglicherweise die Zukunft aussehen wird?32 Der Autor erklärt dies in einem Interview zu diesem Roman folgendermaßen: »Mein Onkel kommt nur mit einem kleinen Koffer in Berlin an. Aber das Hauptgepäck befindet sich in seinem Kopf. Es sind die Geschichten des 20. Jahrhunderts. Ohne dieses Gepäck ist keine Zukunft möglich.«33 Der Besuch des Onkels taut eingefrorene Erinnerungen des Erzählers an seine sowjetische Vergangenheit auf. Sie reichen in dem Roman bis in seine Jugend und Kindheit hinein, aber diesmal sind sie in einer umgekehrten Reihenfolge reflektiert – von seinem Leben in Berlin – bis zu seinen frühsten Lebensjahren in der UdSSR. Besonders markant ist dabei, dass die Kapitel des Romans so zusammengestellt sind, dass im Laufe des Spaziergangs und mit dem sich immer annähernden 29 Kaminer, Wladimir: Onkel Wanja kommt. München: Manhattan/Wilhelm Goldmann 2012, S. 31 (im Folgenden unter der Sigle »OW« mit Seitenzahl im Text). 30 »Onkel Wanja. Szenen aus dem Landleben« (1965) ist ein Drama in vier Akten von Anton Tschechow. 31 Neumann, Olaf: »Exklusiv-Interview: Wladimir Kaminer über seine Zeit als Hausbesetzer«. In: Main Post 16. 08. 2012. Auf: https://www.mainpost.de/ueberregional/kulturwelt/kultur/ex klusiv-interview-wladimir-kaminer-ueber-seine-zeit-als-hausbesetzer-art-6975801 (Zugriff am 14. 12. 2020). 32 Vgl. »Haben die Russen wirklich immer einen im Tee, Herr Kaminer?«. In: bz-berlin.de 14. 08. 2012. Auf: https://www.bz-berlin.de/artikel-archiv/haben-die-russen-wirklich-immer-einen -im-tee-herr-kaminer (Zugriff am 23. 11. 2020). 33 Neumann, »Exklusiv-Interview«. 2012.

Von (No/O)stalgie zur Kritik bei Wladimir Kaminer

251

Ziel der Wanderung die Erinnerungen auf Kosten der tatsächlichen Handlung vertieft werden. Der Untertitel des Werkes – »die Reise durch die Nacht« – weckt sofort unwiderstehliche Assoziationen, diesmal aber mit Verdunkelung, einer unscharfen Optik und schließlich – mit verzerrten Bildern des Gedächtnisses. Es könnte also als eine Vorwarnung verstanden werden, dass der Autor sich dessen bewusst ist, dass seine Erinnerungen lückenhaft und fragmentarisch sind. Auf der metaphorischen Ebene bietet die Überschrift des ersten Kapitels – »Das Philosophenschiff« Anknüpfungspunkte zu einer Aktion, die in den Jahren 1922–1923 von den sowjetischen Behörden durchgeführt wurde und zum Zweck hatte die Vertreter der russischen intellektuellen Elite in den Westen zu verschiffen ohne das Recht, in das Land zurückzukehren.34 Das Geschehen in dem einführenden Kapitel fängt mit der Betrachtung der alten Familienfotos des Erzählers an. Die Schlüsse, die am Ende des Romans gezogen werden, werden auch durch das Fotoanschauen inspiriert. Demzufolge bilden die Fotos eine Klammer der Handlung und weisen zugleich darauf hin, dass es sich in dem Fall um ein (auto-)biographische Erfahrungen reflektierendes Werk handelt. Schon in dem ersten Kapitel geht der Erzähler auf die »Methode« ein, mit der er das gegenwärtige Russland erfasst: Jedes Mal, wenn ich nach Russland fahre, schaue ich mir die alten Schwarzweißfotos meines Onkels an. […] Ich vergleiche die Fotos mit meinen Eindrücken draußen und versuche, anhand dieser Zeitdokumente festzustellen, wie stark bzw. wenig das Land sich verändert hat (OW, 5).

Das bedeutet, dass diesmal nicht nur Erinnerungen aus der UdSSR-Zeit berücksichtigt werden. Mehr und mehr konzentriert sich der Erzähler auf die gesellschaftliche und politische Situation seines Herkunftslandes nach dem Zerfall der Sowjetunion. Diese gegenwärtige Sachlage kennt er eher vom Hörensagen der Bekannten und Familienmitglieder, die dortgeblieben sind und auch von eigenen Reisen in die Russische Föderation. Schon in dem ersten Kapitel stellt der Erzähler fest, dass seine Beobachtung nicht durch die Medien gestützt werden kann, da auf der Suche nach der Wahrheit »auch Zeitungen und Fernsehberichte keine große Hilfe« sind (OW, 5). Es ist ein harter Vorwurf sowohl gegen die russischen als auch westeuropäischen Informationsträger, die das Image des Landes im Ausland deutlich verzerrt und beschädigt haben. Dies hat seines Erachtens auch ein andauerndes Chaos der Meinungen über Russland bewirkt: Manche meinen, das Land stehe am Anfang einer neuen Ära, die anderen behaupten, umgekehrt, es sei dem Untergang geweiht. Mit einem Blick aus dem Fenster ist jedoch 34 Vgl. Ingold, Felix Philipp: »Aktion Philosophenschiff. Wie sich die Sowjetmacht der ›bourgeoisen‹ Intelligenz entledigte«. In: FAZ, 19. 12. 2003.

252

Agnieszka Kodzis-Sofin´ska

ein Aufgang nicht von einem Untergang zu unterscheiden. Ähnlich ist es, wenn man auf die Sonne am Himmel schaut. Auch bei ihr ist nicht gleich klar, ob sie auf dem Weg nach unten oder nach oben ist. Die meiste Zeit hängt die Sonne einfach herum und strahlt. Irgendwann ist sie weg, und niemand wundert sich (OW, 5).

Deswegen werden die Medien in dem Roman unbarmherzig als erstes Objekt der Kritik mit typisch Kaminerscher Ironie verspottet: Oft und gern wird in den Nachrichtenprogrammen Werbung für Kopfschmerztabletten, für Schmerzmittel überhaupt, gemacht. Vielleicht denken die Nachrichtenmacher, die Medizin werde den Weltschmerz mindern, den ihre Nachrichten hervorrufen (OW, 6).

Einer genaueren Beobachtung und Kritik werden auch viele russische Kuriositäten unterzogen. Am Anfang schon ist es russische Post, die wie ein russisches Roulette funktioniert (OW, 21), die russische Botschaft in Berlin, die alles möglichst komplizieren mag (OW, 21–22), dann – russische Züge, die immer zu spät ankommen (OW, 31) und schließlich auch sowjetische Lebensmittel und die Gastronomie (OW, 61–63). Das Kapitel »Russen grüßen am Döner-Paradies« ist dagegen hauptsächlich den allgemein verbreiteten nationalen Vorurteilen, vor allem jenen, die die Russen betreffen, gewidmet. Im Gespräch mit drei »Erzengeln« aus Syrien, die die Wanderer am Tor zum Dönerparadies treffen, multiplizieren sie Beispiele für Stereotype, auf denen sich das Bild eines Russen aufbaut: »Alle Russen tragen Lederjacken« (OW, 96), »Russen tragen gern Sportanzüge, es sind sportliche Menschen« (OW, 97) – stellen die Syrier der Reihe nach fest. In dem Kontext steht aber nicht das Streitgespräch der beiden Seiten im Vordergrund. Alle Ausländer treffen sich in einer Kneipe in Berlin, die symbolisch »Paradies« heißt. Nachdem sie aus ihrem Heimatparadies geflohen sind, beziehungsweise vertrieben worden sind, finden sie in dem Ankunftsland ein neues – in einer »Multikultistadt«. Dieses Paradies entlarvt sich jedoch als trügerisch, sobald erwähnt wird, dass die Taxifahrer aus Syrien und Jugoslawien, mit denen die Helden sprechen, in ihren Herkunftsländern Fachleute – Ärzte, Juristen und Ingenieure waren, deren Abschlussdiplome in Deutschland nicht anerkannt wurden. Auch die Erinnerungen an das sowjetische Militär und die Haltung der Soldaten tauchen in dem Roman »Onkel Wanja kommt« immer wieder einmal auf und bestätigen nur das Bild der Institution, das von dem Autor schon in seinem Episodenroman »Militärmusik« (2001) vermittelt wurde. Die sowjetische Armee wird als Koloss auf tönernen Füßen und ihre Funktionäre und Soldaten entweder als Apparatschiks oder als passive Dissidenten dargestellt, die wilde Partys gefeiert haben (OW, 156), ihre Arbeit und Pflicht nicht geschätzt haben, und alles getan haben, um diese zu vermeiden (OW, 162).

Von (No/O)stalgie zur Kritik bei Wladimir Kaminer

253

Interessanterweise wird in dem Roman auch die religiöse Lage der ehemaligen UdSSR und des gegenwärtigen Russlands angesprochen, was in Wladimir Kaminers Erzählungen bisher nicht oft zum Gegenstand wurde. Mit der Problematik befasst er sich vor allem im Kapitel »An der Kirche«, in dem er die geistige Wiedergeburt der 1990er Jahre, in denen hunderte von Religionen blühten, als Folge der geistigen Haltlosigkeit der Bürger der ehemaligen Sowjetunion erklärt (OW, 131). Aber schon am Anfang des Buches geht er auf die Ursachen des Phänomens ein, wo er feststellt: Die politische Ideologie der Vergangenheit wird im heutigen Russland zum großen Teil durch die Religion ersetzt, so bekommt man oft in den Nachrichten von Adepten der Kirche zu hören, der wahre Grund jedes Unglücks sei der Unglaube, und alle Gnade komme von Gott (OW, 6).

An einer anderen Stelle heißt es, dass der Erzähler in der Sowjetunion als Kind und Jugendlicher eigentlich mit keinen religiösen Spannungen konfrontiert wurde: Ich habe als Kind und später als Jugendlicher geschafft an dieser Religionsproblematik völlig vorbeigelebt. […] Meine Eltern waren nicht einmal Atheisten. Sie waren immer zu beschäftigt gewesen mit den alltäglichen Problemen des Seins und hatten daher keine Zeit gehabt, sich groß mit den Fragen des Bewusstseins zu beschäftigen (OW, 130).

Die Erkenntnisse, die er aus diesem Erinnerungsbild zieht, können jedoch überraschend wirken. Die Eltern des Erzählers sollten dank ihres religiösen Desinteresses glücklicher sein und (im Vergleich zu den anderen, die in religiöse Zweifel gestürzt worden sind) »keinen Depressionen verfallen« (OW, 130). Die Erinnerungen an die Sowjetunion, die im vorletzten Kapitel des Romans »Von Mauern und Zäune« im Mittelpunkt stehen, sind von der Berliner Mauer und aller Art Umzäunungen, auf die die nächtlichen Wanderer auf ihrem Weg getroffen sind, inspiriert. Der Erzähler gesteht in dem Fragment, dass es ihm »lange Zeit nicht bewusst [war – A.K.S], dass [er – A.K.S] in einem von der übrigen Welt abgeschotteten, von allen Seiten eingezäunten Land lebte« (OW, 156). Die Bedeutung der Grenzen habe er erst im Alter von 14 Jahren, als er in Odessa seinen Onkel besuchte, erkannt. Dort traf er sich mit seiner Bekannten Ella, von der er erfährt, dass ihre Familie aus Russland nach Westen zieht: »[Ellas – A.K.S.] Eltern haben einen Ausreiseantrag bewilligt bekommen und bereiteten ihre Auswanderung vor. Das war nichts Außergewöhnliches, damals saß halb Odessa auf den gepackten Koffer. […] Ihre Eltern konnten dem Sozialismus nichts abgewinnen. Beide waren Ärzte, und als solche, so waren sie überzeugt, würden sie im Westen ein weitaus besseres Leben haben« (OW, 157).

254

Agnieszka Kodzis-Sofin´ska

Damit spricht er wieder einmal die Problematik von Vertreibung und Flucht der Russen aus ihrem Land an, die dort eine lange Tradition haben.35 In demselben Kapitel wird ein Loch in einem Zaun zu einer Metapher für Bewältigung einer Krisensituation. »Meine ganze Kindheit und Jugend war ein ständiges über etwas Drüber- oder unten Drunterklettern, um durch die unzähligen Sicherheitsvorrichtungen meiner Heimat zu gelangen« (OW, 161) – bemerkt der Erzähler grüblerisch und kommt schließlich zu einem bitter klingenden Schluss, dass der höchste Sinn in seinem Leben eigentlich darin bestehe, ständig ein Loch im Zaun zu suchen (OW, 166). In dem letzten Kapitel – »Pink Floyd ist an allem schuld« ruft bei dem Erzähler die Beobachtung verschiedener Souvenirs aus der Vergangenheit philosophische Reflexionen über das Bestehen und die Vergänglichkeit hervor. Die Gegenstände – eine von der Mutter gestrickte Decke, Vaters Hosenträger und Seemannsmütze, die kaputte Kuckucksuhr der Großmutter sind alle unnütz geworden, jedoch nehmen sie einen wichtigen Platz in der Wohnung des Erzählers ein, denn sie sind gefrorene Erinnerungen: »Gegenstände [wurden –A.K.S.] nicht für den Moment, sondern für die Ewigkeit geschaffen […]. Ihr wahrer Zweck ist der des Erinnerns« (OW, 190) – bemerkt der Autor. Der Roman endet mit der eher resignierten Feststellung, dass »unser Planet ein Museum [ist – A.K.S.]. Die Besucher kommen und gehen, die Objekte bleiben« (OW, 190). Während des nächtlichen Spaziergangs durch Berlin kommt es zur Wiederherstellung verlorener Erinnerungen aus den Fragmenten der Vergangenheit. Der Autor führt sie in die Narration des Romans auf eine sehr unterhaltsame Art mit typischer Ironie und Selbstironie ein. An den scheinbaren Banalitäten der dargestellten Ereignisse und Erinnerungen hängt er aber wichtige Fragen an und zeigt unzählige Hindernisse und Verbote, die das Leben seiner Generation in Moskau benachteiligt haben. Auch seine Sichtweise der gegenwärtigen gesellschaftlichen Entwicklung in seinem Herkunftsland wird hier dargestellt. Jedoch ist trotz des allgegenwärtigen Humors und bissiger Satire der Roman im Vergleich mit den früheren Werken des Schriftstellers direkter, persönlicher und ernster und seine Aussage ist daher alles andere als tröstend. Durch die ganze Narration kann man verfolgen, wie der Onkel versucht, sich mit seinem Leben in Russland zu versöhnen. Er versucht zwar gegen den Strom zu schwimmen, aber er tut es immer so, als ob er mit dem Strom schwimmen wolle. Er zieht stets um, wechselt die Wohnungen und Wohnorte, aber nie und nirgends fühlt er sich tatsächlich zu Hause (OW, 13 f). Dies weist auf die kosmopolitische Seele des Onkels hin, die sich als Folge seiner Entwurzelung in Russland entwickelt hat. An 35 Kaminer selbst zählte sich zur »fünften Emigrationswelle« aus Russland. Kaminer, Wladimir: »Russen in Berlin«. In: ders. Russendisko. München: Manhattan/Wilhelm Goldmann 2000, S. 12.

Von (No/O)stalgie zur Kritik bei Wladimir Kaminer

255

der Figur des Onkels zeigt der Autor auch, dass die Vorstellung leider nicht immer der Realität entspricht. An dieser Stelle soll die Antwort auf die erste Forschungsfrage dieses Beitrags Berücksichtigung finden. Die Beziehung zu Russland und die Inszenierung des Erinnerten äußern sich im Roman »Onkel Wanja kommt« auf unterschiedlichen Ebenen: geographischen (räumlichen), politischen, kulturellen und gesellschaftlichen. Der Umgang des Schriftstellers mit der Erinnerung zeichnet sich durch feste Signifikanten aus, die auch in anderen seiner Werke zu finden sind. Zum einen deutet die stilistische Ebene seines Romans auf seine Einstellung zu Russland und beeinflusst zugleich die Perspektive des Lesers. Es ist vor allem an der allgegenwärtigen Ironie, an dem beißenden Spott, witzigen Wortspielen und grotesken Inhalten zu erkennen, die das Vertraute fremd machen. Dadurch wird vom Erzähler eine Distanz zum Objekt seiner Erzählungen geschaffen. Die Distanz resultiert ferner daraus, dass der Autor die Situation von Russland aus der äußeren Perspektive eines Auswanderers beobachtet. Zum anderen ziehen die Russlandbezüge des Erzählers immer den Vergleich zu Deutschland nach sich und bilden somit einen Ausganspunkt zu weiteren Reflexionen. Vor dem Hintergrund des gerade besprochenen Kontextes erscheint die Antwort auf die zweite Forschungsfrage offensichtlich. Die Literatur von Wladimir Kaminer, die zwar das Bild einer vergangenen und gegenwärtigen Ära in Russland transportiert und »konserviert«, darf nicht als historische Quelle angesehen werden, weil es trotz der autobiographischen Komponente des Autors Zweifel am Wahrheitsgehalt des Erzählten bestehen. Es betrifft auch jene Passagen, wo der Erzähler »aus zweiter Hand« – vom Hörensagen – erzählt. Die Zweifel sind umso stärker, wie der Autor selbst in seinen Interviews betont, dass er hier und da »richtig süße Lügen« in seine Geschichten schmuggelt und dass er mit dem »Stoff manchmal auch hart verfahre.«36 Die ironisch gefärbten und dadurch verzerrten Erinnerungsbilder von Wladimir Kaminer sind Rekonstruktionen seines Gedächtnisses, in dem von ihm als wichtig empfundene Erlebnisse gespeichert und anschließend literarisch bearbeitet werden. Erinnerungen solcher Art können nicht als feststehende oder verlässliche Begriffe bewertet werden und haben als solche natürlich keinen dokumentarischen Charakter, obwohl sich die Geschichte und Erinnerung komplementär zueinander verhalten, indem sie sich stets überlappen. Nichtsdestominder bleibt das Schaffen von Wladimir Kaminer ein Medium, das das kollektive und kulturelle Gedächtnis einer bestimmten Gemeinschaft mitgestalten kann. Die Rolle der »kleinen Literatur« von Wladimir Kaminer im Prozess des Erinnerns an die Vergangenheit ist dabei nicht zu unterschätzen.

36 Kinder, »Interview mit Wladimir Kaminer«. 2014.

256

Agnieszka Kodzis-Sofin´ska

Mittels des Mediums »Buch« versucht der Autor nämlich seine eigenen Erinnerungen in die Rahmen der kollektiven Erinnerung zu pressen. Der Begriff wurde von Maurice Halbwachs geprägt, auf dessen Konzept sich Aleida und Jan Assmann bei der Entwicklung ihrer Theorie des Gedächtnisses gestützt haben. Zum einen ist das kollektive Gedächtnis nach seiner Auffassung keine mechanische Fähigkeit der Registrierung der beobachteten Phänomene. Vielmehr beruht sie auf der Rekonstruktion der vergangenen Wirklichkeit auf Basis der Erinnerung.37 Zum anderen – liegt ihm ein individuelles Gedächtnis zugrunde, das unter dem Einfluss des soziokulturellen Umfelds in das kollektive verwandelt wird. In diesem Sinn ist das kollektive Gedächtnis ein Produkt einer Epoche, das von ihren politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Einflüssen abhängig ist. Nach der Theorie von Jan und Aleida Assmann, ist das kollektive Gedächtnis, in das kommunikative und kulturelle Gedächtnis zu unterteilen.38 Die Besonderheit des ersten ist, dass es sich auf die eigenen Erfahrungen eines Individuums bezieht, auf das von ihm Erlebte. Kommunikative Erinnerungsbilder werden durch die Berichte von Zeugen geprägt und über Generationen hinweg weitergegeben. Das kommunikative Gedächtnis gehört somit zur Privatsphäre, dagegen bezieht sich das kulturelle Gedächtnis auf alles, was öffentlich ist, und baut auf den systematisierten Trägern der Erinnerung wie u. a. Medien und Archive auf. Als Schriftsteller nutzt Wladimir Kaminer die Möglichkeit, seine »privaten« Erinnerungen in den Rahmen des mediengestützten kulturellen Gedächtnisses zu verschieben. Erst durch diese »mediale Repräsentation und Distribution« – hier in der Form eines Bestseller-Romans – »können persönliche Erinnerungen […] zu kollektiver Relevanz gelangen.«39 Da der Autor seine Kindheit und Jugend in der Sowjetunion verbracht hat, erfuhr er den Kommunikationsmechanismus der Leute und der Politik aus dem Erlebten. So ist er als Zeuge in der Lage, die Probleme und Missstände der Sowjetunion und Russlands in seinen Werken zu thematisieren, die bisher entweder tabuisiert, verdreht dargestellt oder von den großen Medien überhaupt ignoriert worden sind.40 Einerseits bietet er also mit seinen Büchern eine zeitkritische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, die von den meisten deutschen Lesern als »exotisch« empfunden werden kann, andererseits rettet er zugleich seine erlebte Vergangenheit vor der Gefahr des Vergessens. Dabei geht er bei seiner »Literarisierung der Alltäglichkeit« über den Rahmen der typisch popliterarischen Ar37 Halbwachs, Maurice: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1985, S. 24. 38 Vgl. Assmann, A., Schatten. 2006, S. 83–190. 39 Erll, Astrid/Nünning, Ansgar: Gedächtniskonzepte der Literaturwissenschaft. Berlin: de Gruyter 2005, S. 251. 40 Vgl. Assmann, Jan: »Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität«. In: Kultur und Gedächtnis. Hrsg. von Jan Assmann/Toni Hölscher, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1988, S. 10 und 12.

Von (No/O)stalgie zur Kritik bei Wladimir Kaminer

257

chivierung hinaus.41 Die beobachteten und erinnerten Situationen und Ereignisse versucht er nämlich zu erklären, in einen breiten Kontext zu stellen und dabei aktiv auf die entstehende Geschichte einzuwirken. Bewusste pop-ähnliche Simplifizierungen sind dagegen zu Wladimir Kaminers Marke geworden, sie machen seine Bücher leicht zugänglich und unterstützen dadurch ihre Vermarktung. Dasselbe gilt für die Ostalgie, die in früheren Werken eher als spezifisches Werbungsmittel gewirkt hat und nicht als Ausdruck einer echten Sehnsucht. Im Roman »Onkel Wanja kommt« sind aber ihre Spuren nicht mehr zu finden, da sie durch eine deutliche Kritik des »Ostens« ersetzt wird. Wladimir Kaminers veröffentlichte Erinnerungen werden zu Bestandteilen des kollektiven Gedächtnisses, in dem »mentale Bilder zu Ikonen und Erzählungen zu Mythen [werden A.K.S.], deren wichtigste Eigenschaft ihre Überzeugungskraft und affektive Wirkmacht ist.«42 Damit schreibt der Autor sich in eine zeitgenössische literarische Tendenz zur Rückschau der historischen, politischen und gesellschaftlichen Wandlungsprozesse ein, die sich Ende des 20. Jahrhunderts herauskristallisiert hat.

41 Vgl. Baßler, Pop-Roman. 2002, S. 95. 42 Assmann, A., Schatten. 2006, S. 40.

Andrzej Gwóz´dz´ (Katowice)

Unterwegs nach Hause. Gedächtniskulturen der Zwangsmigration Deutscher nach 1945 im Kino zweier deutscher Staaten

»Was machen wir mit dem, was sich uns eingeprägt hat? Das ist keine Frage, sondern ein Ausruf, ein Hilferuf womöglich. Wozu wir Hilfe brauchen, das unterscheidet uns mehr als manches andere«.1

Es geschah vor nicht allzu langer Zeit… Im Finale von Volker Schlöndorffs »Blechtrommel« (BRD-Frankreich 1979) fährt der verwaiste zwanzigjährige Oskar Matzerath, mit der Menge in einen Güterwagen getrieben und mit dem flehenden Ruf »Babka« auf den Lippen vom Danziger Bahnhof ab. Oskar weiß nicht, wohin ihn der Zug bringen wird – der vage Begriff Westen bezeichnet kein Ziel, sondern nur den Abschied für immer von Danzig und seiner Großmutter. Sie ist sich übrigens der Situation, in der die Verabschiedung stattfindet, durchaus bewusst: »So ist es nun mal mit den Kaschuben, Oskarchen. Die treibt es immer am Kopf. Aber ihr fährt ja nun weg nach drüben, wo besser ist. Nur die Oma wird bleiben. Denn mit den Kaschuben kann man keine nicht Umzüge machen. Sie müssen immer dableiben und Köpfchen hinhalten, damit die anderen draufdeppern können. Weil unsereins nicht richtig Polnisch ist und nicht richtig Deutsch genug. Und die müssen immer alles genau haben«.2 In der DDR-Produktion »Kindheit« (DDR 1986) von Siegfried Kühn verlässt der neunjährige Held im Frühjahr 1945 zusammen mit seiner Oma-Mutter, die ihn aufzieht, ein niederschlesisches Dorf auf einem Pferdewagen, als im Hin1 Wolf, Christa: Kindheitsmuster. Berlin und Weimar: Aufbau-Verlag 1984, S. 402. 2 Dieses und andere Zitate stammen – sofern nicht anders angegeben – von der Tonspur der Filme. (In diesem Fall entstammt die Orthographie des Dialektes dem Literaturoriginal). Eine ähnliche Figur der Danziger Großmutter (und ihrer Altersgenossen), die nach dem Krieg in Danzig blieb und den kaschubischen Dialekt tagtäglich benutzte, wird Jahre später in Robert Glin´skis Unkenrufe (BRD–Polen 2005) auftauchen, hier jedoch am Ende der kommunistischen Ära, während des Falls der Berliner Mauer 1989.

260

Andrzej Gwóz´dz´

tergrund eine Kanonade der Russen ertönt, um sich unterwegs vielleicht einem Treck von Vertriebenen anzuschließen, die in Richtung Westen unterwegs sind. Doch Alfons fährt nicht weit, und zwar an einen bestimmten Ort, denn zu seinem Onkel in die Lausitz, die bald die Grenze zwischen Polen und der sowjetischen Besatzungszone und anschließend der Deutschen Demokratischen Republik markieren wird. Die Wertsachen der Bauern wurden auf dem Hof vergraben, denn »Churchill und Stalin haben sich geeinigt, den Polen Schlesien bis Stettin zu geben«, wie der Zirkuskünstler und Vagabund Nardinio der Oma-Mutter erklärte und sie (im Übrigen erfolglos) zu überreden versuchte, gemeinsam nach Westen zu ziehen. Und die Strafpredigt der durch die Bombardierung ruinierten Tante Hede aus Breslau: »Schlesien ist und bleibt unser« erklingt wie eine verspätete Vergeltung für den verlorenen Krieg. Bei beiden Geschichten handelt es sich um Jahre zurückliegende Erinnerungen von Personen, als sie noch Kinder oder Jugendliche waren (im Fall von Kühns Film ausgelöst durch den Besuch eines Mannes aus der DDR auf dem Marktplatz im heutigen Krakau, zu dem er während des Krieges von einem polnischen Zwangsarbeiter überredet wurde), und damit weitgehend um Konfabulationen nach Jahren (im Fall des Romans von Grass, in dem Oskar als Patient einer psychiatrischen Klinik sein Leben aufschreibt, wird das noch deutlicher). Die Erinnerungen werden auch weitgehend den Vertriebenendiskurs ausfüllen, denn mit der Abnahme der Energie des kommunikativen Gedächtnisses (charakteristisch für Zeugen von Ereignissen und ihre Nachfolger in der intergenerationalen Überlieferung) wurden die Mechanismen der Erinnerung von den Strategien des kulturellen Gedächtnisses (kodifiziert durch die »institutionalisierte Mnemotechnik« von Erinnerungskulturen) übernommen.3 Doch die Problematik der erzwungenen Migration aus den nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen, Tschechoslowakei und die UdSSR verlorenen deutschen Ostgebieten hat im deutschen Kino keine reichhaltige Darstellung erfahren. Vielmehr war sie als aufwändiger Plot über Flucht und Umsiedlung im Filmrepertoire beider deutscher Staaten relativ schwach vertreten.4 Meist auf Andeu3 Zu dieser Unterscheidung siehe: Assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München: C.H. Beck 2005, S. 48–66. Zum Versuch, dieses Konzept innerhalb der Filmkultur zu übernehmen siehe: Gwóz´dz´, Andrzej: Wir bei ihnen – sie bei uns oder: Über gute Nachbarschaft in Stanisław Lenartowicz’ »Ope˛tanie« und Egon Günthers »Die Schlüssel«. In: Brigitte Braun, Andrzej De˛bski, Andrzej Gwóz´dz´ (Hg.): Unterwegs zum Nachbarn. Deutsch-polnische Filmbegegnungen. Trier: Wissenschaftlicher Verlag Trier 2015, S. 115–128. 4 Die Auflistung von 74 Spielfilmtiteln aus den Jahren 1945–1990 zum Thema »Flucht und Vertreibung« bleibt trügerisch, da es sich größtenteils um Titel handelt, die die signalisierte Problematik lediglich andeuten, und den Löwenanteil bilden überdies Fernsehserien (Tiews, Alina Laura: Fluchtpunkt Film. Integrationen von Flüchtlingen und Vertriebenen durch den deutschen Nachkriegsfilm 1945–1990. Berlin-Brandenburg: be.bra wissenschaft verlag 2017,

Gedächtniskulturen der Zwangsmigration

261

tungen und oft nicht eindeutige Spuren reduziert, entfaltete sie sich mit voller Wucht erst in den Fernsehfilmen der zweiten Hälfte des letzten Jahrzehnts – »Die Flucht« (BRD 2007) von Kai Wessel und dem Zweiteiler »Die Gustloff« (BRD 2008) von Joseph Vilsmaier, die auf der Welle des Vertreibungs-»MemoryBooms«,5 ausgelöst durch Günter Grass’ 2002 herausgegebene Novelle »Im Krebsgang«6 (aber im westdeutschen Fernsehen bereits durch frühere Serien wie »Jauche und Levkojen«, BRD 1978, von Günter Gräwert, Rolf Hädrich und Rainer Wolffhardt, oder Egon Günthers »Heimatmuseum«, BRD 1988, angekündigt),7 erschienen. Die beiden Filme, die die aktivsten Stränge der Erinnerungskonjunktur des neuen Jahrhunderts mitgestalteten, reihten sich auf unterschiedliche Weise in die filmische Repräsentation der Migrationserfahrung ein und fokussierten in unterschiedlichem Maße den Schiffbruch der MS Wilhelm Gustloff, bei dem im Januar 1945 fast siebentausend Passagiere (darunter dreitausend Kinder) ums Leben kamen und der in den Erinnerungskulturen zunächst der Besatzungszonen und dann beider deutscher Staaten sogar emblematischen Charakter entwickelte, obwohl er bis ins 21. Jahrhundert hinein kaum artikuliert wurde. Nichts dergleichen geschah damals oder später innerhalb der deutschen Kinematographien zweier deutscher Staaten, die sich in dieser Hinsicht auf die Aktivitäten des Fernsehens verließen (interessanterweise waren die Filme von Wessel und Vilsmaier keine Fernsehversionen von Kinofilmen, wie es oft geschieht, und sie gaben auch keinen Anlass für Kinoversionen). Dabei ging es um zehn bis zwölf Millionen Menschen, die zwischen 1944 und 1948 ihre Heimat im Osten des Reiches verlassen mussten und von denen die erste Zählung in den westlichen Besatzungszonen Ende 19468 sechs Millionen erfasste, während eine

5

6 7 8

S. 332–335). Strittig bleibt auch das Kriterium der Zuschauerzahlen, das die Auswahl der Titel für diese Liste bestimmt (Ebd., S. 22–23). Vgl. Erll, Astrid: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart: Metzler 2005, S. 2–4;: Röger, Maren: Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. Mediale Erinnerungen und Debatten in Deutschland und Polen seit 1989. Marburg: Herder-Institut 2011, S. 79–109. Die Initiierung eines breiten Erinnerungsbooms geht jedoch bereits auf die 1980er Jahre zurück und ist u. a. mit der Kommodifizierung von Erinnerung in der Kultur, insbesondere durch die Medien, verbunden (vgl. Huyssen, Andreas: »Present pasts: Media, politics, amnesia«. In: ders.: Present Pasts. Urban Palimpsests and the Politics of Memory. Stanford, CA: Stanford University Press S. 11–29). Vgl. Grass, Günter: Im Krebsgang. Eine Novelle. Göttingen: Steidl Verlag 2002. Vgl. Tiews, Fluchtpunkt Film. 2017, S. 230–291. Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. 2011, S. 33 und 41. Laut Schätzungen hatten bis zu 16 Prozent der Bevölkerung der späteren Bundesrepublik Deutschland mit Flucht oder Vertreibung zu tun gehabt (Vgl. Sowade, Hanno: »Das Thema im westdeutschen Nachkriegsfilm«. In: Flucht, Vertreibung, Integration: Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, Deutsches Historisches Museum, Zeitgeschichtliches Forum Leipzig (Hg.). Bielefeld: Kerber 2006, S. 129).

262

Andrzej Gwóz´dz´

ähnliche Zählung in der sowjetischen Besatzungszone im August 1950 mehr als drei Millionen Vertriebene ergab (nach westdeutschen Schätzungen waren es allerdings fast eine Million mehr).9 Die gelegentliche Beteiligung der DDR- und der BRD-Kinokultur am »kollektiven Mediensprechakt«10 über die Zwangsmigration der Deutschen mag gerade im Hinblick auf das westdeutsche Kino überraschen, für das ein »revisionistischer« Ton im Mainstream der »Abrechnungen« mit der jüngsten Vergangenheit zu erwarten gewesen wäre. Er hätte sogar zu einer Waffe im politischen Kampf um die Begründung der Rückgewinnung der verlorenen Gebiete werden können, was in den strategischen Zielen zumindest einiger westdeutscher Nachkriegsregierungen festgeschrieben war und wofür zahlreiche Landsmannschaften der Vertriebenen gekämpft haben (und immer noch kämpfen).11 Obwohl beispielsweise in 20 Prozent der Filme, die zwischen 1945 und 1949 in den Besatzungszonen Deutschlands entstanden sind, die Vertriebenen als Opfer des Krieges auftreten, handelte es sich meist um Nebenfiguren, die nur »Auslöser« des Vertreibungsdiskurses waren und nicht dessen Haupthelden.12 Auch wenn sie in späteren Jahren (vor allem in Fernsehfilmen) eine größere Rolle spielten, ist es – insbesondere im Hinblick auf den Kinofilm – schwierig, von einer Art filmischer Wendung bei der Darstellung der Vertreibungsproblematik in der Bundesrepublik Deutschland zu sprechen oder gar eine gewisse Strömung in Zusammenhang mit Flucht und Vertreibung zu erkennen: Umso mehr in der DDR, wo es keine »Vertriebenen« mehr gab, weil sie erst vom illusorischen politischen Projekt des »Volkes der DDR« aufgesogen und dann zu deren »Staatsbürgern« wurden. Fast ein halbes Jahrhundert früher als Wessels »Flucht« war der Kinofilm »Nacht fiel über Gotenhafen« (BRD 1960) von Frank Wisbar der erste und für lange Zeit einzige Film, der an die Ereignisse von vor fünfzehn Jahren erinnerte, die, als er auf die Leinwände kam, noch ein lebendiges Gewebe des kommunikativen Gedächtnisses darstellten, aber in beiden deutschen Staaten – wenn auch aus jeweils etwas unterschiedlichen Gründen – verdrängt wurden13: In der DDR 9 Vgl. Lexikoneinträge: Brandes, Detlef/Sundhaussen, Holm/Troebst, Stefan (Hg.): Lexikon der Vertreibungen. Deportation. Zwangsaussiedlung und ethnische Säuberung im Europa des 20. Jahrhunderts. Wien–Köln–Weimar: Böhlau Verlag 2009. 10 Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. 2011, S. 103. 11 Ausführlich zur Politisierung von Vertreibungen in der Politik der beiden deutschen Staaten Vgl. Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. 2011, S. 32–55. 12 Vgl. Greffrath, Bettina: Gesellschaftsbilder der Nachkriegszeit. Deutsche Spielfilme 1945–1949. Pfaffenweiler: Centaurus-Verlagsgesellschaft 1995, S. 239–244. 13 »Mochte doch keiner was davon hören, hier im Westen nicht und im Osten schon gar nicht. Die »Gustloff« und ihre verfluchte Geschichte waren jahrzehntelang tabu, gesamtdeutsch sozusagen. Mutter hçrte trotzdem nicht auf, mir per Kurierpost in den Ohren zu liegen. Als ich das Studium geschmissen hatte und ziemlich rechtslastig für Springer zu schreiben be-

Gedächtniskulturen der Zwangsmigration

263

aus systemisch-doktrinären Gründen, die es nicht erlaubten, über das GustloffSyndrom oder irgendeine andere Episode des Migrationskomplexes zu sprechen, weil das Thema automatisch die Frage der an die Brudernationen der UdSSR, Polen und die Tschechoslowakei verlorenen Ländereien hätte heraufbeschwören müssen (es sei denn, es ginge darum, es mit den politischen Veränderungen, insbesondere der Agrarreform, zu verknüpfen, deren Muster als Nutznießer die Vertriebenen sein sollten).14 Und doch wurden die verlorenen Gebiete im Osten fast sofort nach dem Krieg wie legitime Kriegsreparationen für Polen, die Tschechoslowakei und die UdSSR behandelt. In der Bundesrepublik Deutschland – weil man zunächst politische Radikalisierung der Neuankömmlinge fürchtete und weil dann die politische Korrektheit dazu führte, das Problem zu marginalisieren, so dass »der erinnerungspolitische Kurzschluss teils zu einer Art vorauseilendem Gehorsam [führte]. Um nicht einem potenziellen Revisionismusvorwurf ausgesetzt zu sein, wurde das Thema auch umgangen. […] Die Unsicherheit, wie mit der Vertreibung der Deutschen »korrekt« umzugehen sei, wurde in Teilen der Gesellschaft so groß, dass man das Thema »Flucht und Vertreibung« teilweise vermied«.15 Im vorliegenden Artikel möchte ich einen genaueren Blick auf die Spielfilme innerhalb der Kinokultur werfen, in denen das Thema der Flucht, Vertreibung und Umsiedlung über den Migrationshintergrund selbst hinausgeht, manchmal sogar – wie in Johannes Schmids »Wintertochter« (BRD–Polen 2010) – eine markante Grundhandlung des Films bildet.16 Es geht um Darstellungsstrategien, die Wege zur Visualisierung von Flucht und Vertreibung etablieren, indem sie über die Psychologie der Figuren hinaus auf Spuren, Motive, Fäden und Handlungen zurückgeführt werden. Kinokultur, erstens, weil sie als diskursive Forgann, bekam ich zu lesen: ›Der ist ein Revanchist. Der setzt sich für uns Vertriebene ein. Der druckt das bestimmt in Fortsetzungen, wochenlang…‹« (Grass, Im Krebsgang. 2002, S. 31) – sagt die »Umsiedlerin« (wie es im Osten hieß), ein »Ostflüchtling« (wie im Westen) aus Langfuhr, nun im ostdeutschen Schwerin, Gustloffs Geburtsstadt. 14 Röger meint, es »sollte über die ganze Dauer der DDR nicht von einem Tabu gesprochen werden, sondern von stark selektivem und ideologisch geregeltem Erinnern« (Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. 2011, S. 50), in der Regel verbunden mit Kampagnen gegen westdeutsche Revanchisten. Es ist dagegen schwierig, der folgenden Meinung von Tiews zuzustimmen: »Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte unterlag die Auseinandersetzung mit Flucht und Vertreibung der Deutschen einem Tabu, weder in der Bundesrepublik noch in der DDR, auch wenn dies in den Medien oft behauptet wurde« (Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. 2011, S. 13). 15 Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. 2011, S. 44. 16 Die Heldin, eine fünfundsiebzigjährige Berlinerin, unternimmt eine außerplanmäßige Reise in ihren Geburtsort bei ehemaligen Allenstein/Olsztyn (oder vielmehr eine Wanderung in ihr eigenes Ich), wo sie in einem hoch an einem Baum hängenden Vogelfutterhäuschen ein vor Jahren zurückgelassenes Bild ihrer Familie findet. Von hier aus flohen die Mutter und ihre Tochter 1945 vor der Roten Armee in den Hafen von Danzig, was mit dem Vermissen des Kindes endete.

264

Andrzej Gwóz´dz´

mation eine eigene Spezifik entwickelt, die sich von der des Fernsehens unterscheidet: Das Kino hat keinen programmatischen, sondern einen RepertoireCharakter, es lebt von den Premieren und nicht von ganzen Erzählblöcken; in der Regel kontextualisiert es Werke auch nicht in interdiskursiven und paratextuellen Verflechtungen in dem Maße, wie es das Fernsehen tut, und es funktioniert nicht nach den Gesetzen einer Serie. Der Fernsehfilm bleibt in hohem Maße das Medium Fernsehen – er ist eine Form des Fernsehdiskurses und der Fernsehnarration, die anderen Gesetzen unterliegen als das Kino, was für den Erinnerungsdiskurs und die filmische Erinnerungskultur, die er hervorbringt, nicht ohne Bedeutung bleibt (auch wenn er manchmal sowohl mit den Filmnarrativen der Vertreibung als auch mit der Ikonographie von Flucht und Vertreibung im Kinofilm zusammenfällt). Und die meisten Fernsehtitel bezüglich der Problematik von Zwangsmigration sind eben die Fernsehserien und -reihen, die manchmal ganze Fernsehstaffeln bilden, u. a. daraus resultiert ihre führende Position im Diskurs.17 Zweitens sind Fernsehfilme nicht Teil des Mainstreams der Filmgeschichte, sie bleiben Bausteine des Mediums Fernsehen (auch der Fernsehgeschichte), obwohl ihre Rolle bei der Etablierung von Mechanismen der Erinnerungsarbeit nicht hoch genug geschätzt werden kann. Deshalb ist es für das Kino viel schwieriger, die Kriterien für »Erinnerungsfilme«18 zu erfüllen – einem vor allem sozialen Phänomen, das im Spannungsfeld zwischen dem Film als symbolischem System und den Netzwerken multimedialer sozialer Systeme funktioniert, innerhalb derer sie funktionieren,19 und deren erinnerungsstiftende Energie bei der Konstitution und Konsolidierung des kollektiven Gedächtnisses weitaus größer ist. In diesem Fall macht »nicht der Gegenstand des im Film Erinnerten, sondern das durch den Film ›um den Film herum‹ Erinnerte […] seinen Status als Erinnerungsfilm aus«.20 Damit wurde nicht das Kino, sondern das Fernsehen zum Leitmedium im Prozess der Inszenierung von Erinnerung und zum aktiven Gestalter dieses »Memory-Booms«, an dem das Kino nur sekundär beteiligt war, sei es durch Wiederholungen von Filmen in Fernsehsendungen oder deren Verbreitung mittels VHS-Kassetten, DVDs oder Präsenz im Internet, und so auf multimediale Konstellationen der Erinnerungsformen von »Erinnerungsfilmen« hinarbeitete.21 Zu den Ausnahmen gehört si17 Vgl. Tiews, Fluchtpunkt Film. 2017 (die Mehrheit der Monographien wurde eben den Fernsehproduktionen gewidmet). 18 Vgl. Erll, Astrid, Wodianka Stephanie: »Einleitung: Phänomenologie und Methodologie des »Erinnerungsfilms««. In: Astrid Erll, Stephanie Wodianka unter Mitarbeit von Sandra Berger, Julia Schütze (Hg.): Film und kulturelle Erinnerung. Plurimediale Konstellationen. Berlin/ New York: Walter de Gruyter 2008, S. 1–20. 19 Vgl. Erll/Wodianka, »Einleitung«. 2008, S. 18. 20 Erll/Wodianka, »Einleitung«. 2008, S. 8. 21 Möglicherweise war ein Effekt dieses Booms das Erscheinen einer DVD mit Pohls Brücke im Jahr der Ausstrahlung von Wessels Flucht. Der Film Nacht fiel über Gotenhafen wurde zum

Gedächtniskulturen der Zwangsmigration

265

cherlich Schlöndorffs »Blechtrommel«, obwohl die Migrationsthematik nur den Hintergrund bildete und als Höhepunkt der Handlung präsent war, aber die Erinnerungsenergie, die dieser Film hervorrief, war im Vergleich zu anderen Kinofilmen unübertroffen. Aus der Perspektive des Langzeitgedächtnisses kann das Kino selbst von der Zirkulation in neuen Umgebungen profitieren, aber solche Reaktivierungen machen nicht die lebendige Materie des Kinos aus, sondern werden vor allem Teil der Prozesse der medialen Paratextualisierung »nachher«. Dies gilt umso mehr, als der Druck des Fernsehens auf die filmischen Darstellungen der Erinnerung an die Vertreibung keinen Einfluss auf eine entsprechende Dynamik innerhalb des Kinos hatte und ein umgekehrter Prozess niemals stattfand.22 So werden Filme vor allem zu einer Quelle des medialen Gedächtnisses, das sich aus der Zirkulation von Übertragungen in den kulturellen Räumen der Medien ergibt.23

Spurensicherung in den Filmen der Besatzungszonen Die mit der Vertreibung verbundenen Handlungsstränge, die vor der Gründung der beiden deutschen Staaten auftauchten (d. h. in Filmen, die von den Behörden der vier Besatzungszonen lizenziert wurden), waren in den Kriegsgeschichten angesiedelt und gehörten meist zum Kriegsgeschehen. Mehr noch als um Stränge geht es hier um Spuren oder Motive – Handlungsinserts – die noch nichts mit jeglichem Revisionismus zu tun hatten, da sie in Zeiten angesiedelt waren, als der Krieg noch andauerte und die Umrisse der Nachkriegsordnung sich gerade erst formten. Von systemischen Deportationen, die im Oktober 1945 beginnen sollten (mit Ausnahme der sog. wilden Vertreibungen vor der Potsdamer Konferenz im Juli und August 1945), war noch nicht viel zu sehen und zu hören. Sie können daher als typische Fluchten, noch nicht als Vertreibungen, vor der herannahenden Front oder dem Schrecken der Luftangriffe eingestuft werden (sog. Bombenflüchtlinge), was explizit in den Filmen der westlichen Besatzungszonen ersten Mal im (west)deutschen Fernsehen im Mai 1968 im ZDF gezeigt. 1994 erschien die VHS-Kassette mit Wisbars Film, zwölf Jahre vor der DVD-Edition. 22 Das zeigt sich beispielsweise in der DDR-Serie Wege übers Land (DDR 1968) von Martin Eckermann, in der die auf fast 25 Minuten ausgedehnte Fluchtsequenz der Heldin mit ihren drei Pflegekindern (eine Jüdin, ein Pole, ein Säugling, der der Frau von einem sowjetischen Soldaten anvertraut wurde) zum Hauptmotiv der dritten Folge wird. Doch Gertrud, deren Mann sich für die Front entschieden hat, statt in SS-Uniform Zivilisten zu töten, flieht vor der Roten Armee nicht von ihrem eigenen Hof, sondern von dem einer polnischen Familie geraubten, was ihre Flucht zu einer Heimkehr macht, anders also als im Fall der Flüchtlinge aus dem Osten, die nach Westen ins Ungewisse aufbrechen. 23 Zum medialen Gedächtnis vgl: Ebbrecht, Tobias: Geschichtsbilder im medialen Gedächtnis. Filmische Narrationen des Holocaust. Bielefeld: transcript 2011, S. 39ff.

266

Andrzej Gwóz´dz´

»In jenen Tagen« (britische Besatzungszone 1946) von Helmut Käutner, »Zwischen gestern und morgen« (amerikanische Besatzungszone 1947) von Harald Braun oder »Film ohne Titel« (britische Besatzungszone 1948) von Rudolf Jugert angeschnitten wird und worauf vierzig Jahre nach der Uraufführung des ersten Films das Finale der DDR-Produktion »Kindheit« von Siegfried Kühn hinweisen wird. Es sind Filme-Gedächtnisspuren, in denen die Problematik der Umsiedlung zwar keine umfangreichen Narrative bilden, doch die Energie eines noch frischen kommunikativen Gedächtnisses unterstützen, das parallel zur Zeit ihrer Entstehung funktioniert. Sogar in der Episode »Maria und Joseph« aus dem Film »In jenen Tagen« von Helmut Käutner, selbst wenn die Protagonistin auf der Flucht aus Schlesien ist (höchstwahrscheinlich Niederschlesien) und drei Tage lang mit ihrer Tochter umherwandert (nachdem sie sich in einem Flüchtlingstreck verirrt hat und nun auf dem Weg zur Mutter seines gefallenen Mannes in der Nähe von Hamburg ist), bedeutet dies lediglich eine erzählerische Spur. Tatsächlich ist der eigentliche Protagonist des Films ein klappriger Opel von 1933, der in den sieben Episoden die Geschichte seiner sieben Besitzer ab 1933 erzählt und nun – aus der Perspektive einer Scheune in einem Dorf irgendwo in Norddeutschland – das Schicksal der Frau auf der Flucht am Heiligenabend 1944 verfolgt, die mit ihrer Tochter von dem Soldaten Joseph (der auf die Gefahr hin, der Fahnenflucht verdächtigt zu werden, der Frau bei der Weiterreise hilft) in einer Scheune aufgefunden wird.24 Die kaum wahrnehmbare Szene des Vorbeimarsches von Flüchtlingen hinter dem Scheunentor unterstreicht, vielleicht weil sie so unauffällig ist, nur die Symbolik der biblischen Wanderung Marias und Josephs wie auch des Stalls von Bethlehem (eine ähnliche biblische Parallele zu ihrer Beziehung mit dem vagabundierenden Zirkuskünstler wird auch von der Oma-Mutter in Kühns »Kindheit« erwähnt), was im Übrigen Joseph auffällt. Auf die Frage Marias: »Wo fahren Sie mich hin, Joseph?« antwortet Joseph: »Nach Ägypten, Marie, nach Ägypten.« »Und dann?« – fragt Maria. »Dann steigst du in die Bahn und fährst nach…« – Joseph verdreht notorisch den Namen von Marias Zielort… »Illingworth« – korrigiert ihn die Frau mit einem Lächeln im Gesicht immer wieder aufs Neue. In einem anderen ›Trümmerfilm‹, »Zwischen gestern und morgen« von Harald Braun, ist das Motiv der Flucht noch stärker marginalisiert, reduziert eigentlich auf eine Aussage, die in den Ruinen eines ehemaligen Münchner Nobelhotels von einem Mädchen in Hosen geäußert wird, vor kurzem noch Ho24 Vgl. Gwóz´dz´, Andrzej: »Als es noch keine deutschen Staaten gab… Kriegsbilder im deutschen Zonenkino 1945–1949«. In: Jürgen Egyptien (Hg.): Erinnerung in Text und Bild. Zur Darstellbarkeit von Krieg und Holocaust im literarischen und filmischen Schaffen in Deutschland und Polen. Berlin: Akademie Verlag 2012, S. 350–352.

Gedächtniskulturen der Zwangsmigration

267

telbarkeeperin, nun verstrickt in schmutzige Geschäfte des Nachkriegsschwarzmarkts, die »Trümmerfrau« Kathrin (Hildegard Knef). Als vor vier Jahren (also wahrscheinlich 1940) die Luftangriffe auf Stettin begannen, floh Kat zu ihrer Tante und hat seit drei Jahren keine Nachrichten mehr von ihren Eltern. Die ›Trümmerfilme‹ wurden fast unmittelbar nach ihrem Erscheinen zum Gegenstand ironischer Distanz und sogar zur Parodie. Paradoxerweise war es aber gerade der ironisch-parodistische »Film ohne Titel« von Rudolf Jugert, der die Spurensicherung der Flucht im Kino der Besatzungszonen am umfassendsten interpretiert hat. Als ein distinguierter Breslauer sich mit seiner Familie in einem niedersächsischen Dorf wiederfindet, sagt er zu seiner Frau: »Flüchtlinge sind Menschen zweiter Klasse. Die Leute hier wissen ja gar nicht, was gespielt wird«, und die Ehefrau ergänzt: »Wenn die das durchgemacht hätten, was unsereins durchgemacht hat«. »Als deutscher Mensch«, fügt der Ehemann stolz hinzu und ruft damit klar das Problem der »kalten Heimat«25 hervor – der Ablehnung von Neuankömmlingen als Andere (Zigeuner, Polacken), für die es in den Gegenden, in denen sie ankommen, keinen Platz gibt. Doch trotz der Zurückhaltung der Eltern, die sich nach ihrer schlesischen Heimat sehnen, heiratet ihre Tochter Helene einen Mann von hier, den Bruder der Hauptfigur Christine (Hildegard Knef), die in eine Vorkriegsaffäre mit einem Berliner Kunsthändler verstrickt ist, welcher nun von seiner zerschlagenen Volkssturm-Einheit zu ihr gekommen ist. Und ausgerechnet aus seinem Mund »fließt« der Vertriebenenmonolog, obwohl er selbst nur ein Kriegsankömmling und kein Vertriebener im eigentlichen Sinne ist; und er erfährt auch keine unangenehmen Reaktionen der Einheimischen, die die Ankömmlinge mit »Zigeunern«26 vergleichen, selbst wenn er mit ihnen in einen Topf geworfen wird: »Wir Flüchtlinge sind eine Plage für euch. Wir sind wie ein Steinchen in eurem Schuh, das drückt, weil dafür kein Platz vorgesehen ist. Und das sich auch deshalb immer getreten fühlt« – bekennt er Christine gegenüber. Für die Politik Ostdeutschlands – zuerst der sowjetischen Besatzungszone und dann der »antifaschistischen« DDR – war die Frage der Zwangsmigration von Reichsbürgern aus den Gebieten östlich der Oder kein Element der Abrechnung, denn diese Prozesse wurden von Anfang an mit aller Macht verdrängt. Sie war jedoch ein ideologisches Druckmittel in der Propaganda für sozialistische Arbeitsverhältnisse, insbesondere für die Kollektivierung der Dörfer und der Industrie. Deshalb wurden aus »Vertriebenen« (Fremden) fast sofort (neue) »Sied25 Vgl. Kossert, Andreas: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. München: Siedler Verlag 2008. 26 Als Helene nach Milch fragt, schnurrt der Wirt unter der Nase: »Schlimmer wie die Zigeuner«. »Zigeuner« werden auch der Vagabund aus Kühns Kindheit und der Vertriebenentreck aus Artur Pohls Brücke genannt, was nur die Universalität dieses Begriffs bestätigt, das in Bezug auf unterwegs befindliche Fremde gebraucht wird.

268

Andrzej Gwóz´dz´

ler« (Vertraute), die in der Wirtschaft so dringend gebraucht wurden, besonders in den kriegszerstörten Gebieten an der Oder, und ihre Rolle bei der Integration der ganzen Gesellschaft und gleichzeitig ihr Schutz vor sozialer Ausgrenzung waren von unschätzbarem Wert. »[…] In der Sowjetzone versprachen die Behörden eine Parzellierung der Junkergüter, verboten ihnen [den Vertriebenen] aber gleichzeitig schnell, öffentlich über ihr Schicksal zu sprechen.«27 Bürger, die sich für einen Verbleib in der Ostzone entschieden, wurden automatisch, gewissermaßen von Amts wegen, entlastet und im kommunistischen Sozialisierungsprozess von ihrer unbequemen Vergangenheit abgeschnitten. Die Wirkung der Verdrängung ließ nicht lange auf sich warten – sie wirkte sofort mit der Kraft eines Blitzes und ließ ein Syndrom der Anpassung an die sozialistischen Verhältnisse der DDR entstehen, das die »Trauerarbeit« völlig beseitigte. Letztere wäre hier fehl am Platz gewesen, denn die vier Millionen Flüchtlinge, Vertriebene und Aussiedler in der sowjetischen Besatzungszone (und später in der DDR) hatten nichts zu beklagen – die territorialen Verluste wurden durch ein neues, für alle gerechtes System mehr als ausgeglichen. Dies umso mehr, als dass das Trauersyndrom die durch das System legitimierte Schuldlosigkeit an den Verbrechen wirkungsvoll blockierte und diese durch ein neues, »fortschrittliches« System kompensierte, wozu übrigens der »Kalte Krieg […] als Ausdruck einer kollektiven Abwehr schuldigen Verhaltens«28 einen wesentlichen Beitrag leistete. Denn »in den sozialistischen Ländern durfte man glauben, durch ›Frieden und Sozialismus‹ zu besseren Menschen zu werden.«29 So denken und in diesem Sinne handeln auch die Protagonisten von Milo Harbichs »Freies Land« (sowjetische Besatzungszone 1946), des zweiten DEFASpielfilms nach »Die Mörder sind unter uns« (sowjetische Besatzungszone 1946) von Wolfgang Staudte und mit Hildegard Knef in der Hauptrolle,30 dessen Handlung kurz nach Kriegsende im Landkreis Westprignitz und im Gebiet um das brandenburgische Lebus an der Oder spielt, wo der Krieg seine besonders tragischen Spuren hinterließ und der Landkreis zum Notstandsgebiet erklärt wurde. Der Film, der im Vorspann zum »Tatsachenbericht« deklariert wurde, profitiert neben professionellen Schauspielern auch von der Beteiligung »deutscher Flüchtlinge, Bauern und Siedler«, was ihm neben der aktuellen Thematik eine aufrichtige Authentizität verleiht (die allerdings durch den deklaratorischen 27 Krzemin´ski, Adam: »Dwie wizje pamie˛ci«. In: ders.: Lekcje dialogu. Mowy, eseje i wywiady (Grass, Weizsäcker, Küng, Dönhoff, Habermas, Winkler, von Thadden i inni). Wrocław: Oficyna Wydawnicza Atut 2010, S. 142. 28 Maaz, Hans-Joachim: Der Gefühlsstau. Psychogramm einer Gesellschaft. München: Verlag C.H. Beck 2010, S. 11. 29 Maaz, Der Gefühlsstau. 2010, S. 11. 30 Somit wird Hildegard Knef (neben Sonja Ziemann) zur femininen Leitfigur der Nachkriegszeit im westdeutschen Kino.

Gedächtniskulturen der Zwangsmigration

269

Appell des Dorfvorstehers, eines Agitators für die Kollektivierung des Dorfes, unterdrückt wird), und ist bis heute ein wertvolles Dokument des kommunikativen Gedächtnisses der Wendezeit der ersten und zweiten Hälfte der 1940er Jahre (der Film wurde während der Bodenreform gedreht). Das brandenburgische Dorf sprudelt über vor Ankömmlingen aus dem Osten, aber es gibt für sie keine Unterkunft in den gepflegten und wohlhabenden Gehöften des Ortes oder in dem von den Gutshofbauern eingenommenen Palast. Ein von der Ostfront zurückgekehrter, aus Königsberg stammender Soldat, der seine Familie sucht, findet schließlich seine Frau und Tochter, die mit einem Flüchtlingstreck hierhergekommen sind (das zweite Kind starb während der Flucht und wurde am Straßenrand begraben). Harbich hat geschickt die Ingredienzien des »Trümmerfilms« (Bilder von Lebus) mit dem »Heimkehrerfilm« kombiniert. Es handelt sich um die wohl längste Sequenz eines Flüchtlingstrecks im ostdeutschen Kino, in der Bilder aus NS-Chroniken mit inszenierten Szenen kombiniert wurden (eine Praxis, die auch in späteren westdeutschen Filmen massenhaft angewandt wurde). Diese stellt eines der frühesten ikonografischen Zeugnisse von Flucht und Vertreibung dar, wie es wohl nie wieder im DDR-Kino erscheinen sollte, übrigens genauso wie der »verbotene« historische Name von Königsberg, wie auch andere deutsche Namen von Städten der »verlorenen Heimat«, die im geopolitischen Diskurs der DDR mit Bann belegt wurden.31 Und so ist der Flüchtlingstreck zum repräsentativsten Motiv der Ikonographie der Vertreibungen geworden, vor allem als »Erinnerungsort«,32 der den ›Memory-Boom‹ des Jahrhundertbeginns bewirtschaftete, eine Art Rufzeichen für Flucht und Vertreibung. Doch in der DDR wurde jede Erinnerung an den ehemaligen deutschen Osten bewusst verwischt – »Königsberger Klopse hießen nun »Kochklopse« und für die Verbreitung von Texten schlesischer Volkslieder konnte man ins Gefängnis kommen.«33 Aber gerade in der sowjetischen Besatzungszone wird der einzige Film entstehen, dem der Charakter einer breiten filmischen Repräsentation der migrantischen »Nachkriegswelt, die ›unterwegs‹ ist«,34 zugeschrieben werden kann; 31 Das Problem des verlorenen Königsbergs wird nach Jahren in Peter Kahanes Fernsehfilm Eine Liebe in Königsberg (BRD 2006) aufgegriffen (»Ich wollte Dresdner sein und kein Vertriebenenkind« – wird der Mann sagen, der nach Kaliningrad mit der Mission kommt, die Asche seiner Mutter in der Stadt ihrer Kindheit und Jugend zu verstreuen). Ähnlich wie im Fall von Johannes Schmids Wintertochter handelt es sich schließlich um einen Migrationshintergrund für eine gegenwärtige Handlung. 32 Vgl. Paul, Gerhard: Der Flüchtlingstreck. Bilder von Flucht und Vertreibung als europäische lieux de memoires. In: ders. (Hg.): Das Jahrhundert der Bilder. Band 1: 1900 bis 1949. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2009, S. 666–673. 33 Krzemin´ski, »Dwie wizje pamie˛ci«. 2010, S. 142. 34 Glaser, Hermann: Kleine Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland 1945–1989. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung 1991, S. 20.

270

Andrzej Gwóz´dz´

man kann ihn sogar für bahnbrechend als Eröffnung Inauguration eines ernsthaften Erinnerungsdiskurses zum Thema der »Umsiedlungen« (wie man hier, die Nomenklatur des Potsdamer Systems respektierend, zu sagen pflegte) erklären, da er ein reiches und das in Ostdeutschland das alleinige Bild der »Migrationskultur«35 der unmittelbaren Nachkriegszeit überhaupt, sichtbar werden ließ. Es ist unmöglich, Arthur Pohls »Die Brücke« (sowjetische Besatzungszone 1949) mit irgendetwas zu vergleichen, was jemals in den beiden deutschen Kinematographen geschaffen wurde. Das liegt vor allem daran, dass »Die Brücke« einen reichen Komplex von Vertreibungs- und vertreibungsverwandten Themen enthält, die nicht nur die Grundlage der Handlung bilden, sondern auch ihre Dynamik bestimmen – sie sind die einzige und wichtigste Triebkraft des dramaturgischen Konflikts; und zwar von der ersten Einstellung an, in der wir das Eindringen eines Flüchtlingstrecks in das umzäunte Lagergelände sehen – das, wie sich herausstellt, vor nicht allzu langer Zeit ein Lager für Kriegsgefangene oder Zwangsarbeiter war (davon zeugen die in die Tafeln eingeritzten Inschriften). In keinem anderen Film über erzwungene Migration kam die Realität der Vertriebenen im Lager so deutlich zum Ausdruck; ebenso wurde in keinem anderen der Treck der Migranten als potenzielle Gefangene gezeigt – eine Menschenmasse, die in den Baracken hinter dem Zaun gefangen ist. Aber auch nur in Pohls Film kommt es zu einer echten Konfrontation zwischen den Einheimischen und den Ankömmlingen, als das Gespräch auf das Problem der Schuld und Strafe kommt. Und auch hier, wie kaum woanders, erreicht der Konflikt auf der Linie Einheimische – Fremde in solch hohem Maße eindeutig Klassencharakter: Proletarische Antifaschisten werden den Wehrmachtsoldaten gegenübergestellt, die eindeutig als Kriegsschuldige und Verantwortliche für den Exodus der Deutschen aus dem Osten identifiziert werden, aktuell aber beim Bier von einem weiteren heroischen Krieg schwärmen. All das hat zur Folge, dass das Syndrom der »schwierigen Heimat« in Pohls Film ein außergewöhnlich klares und tragisches, ja kriminelles Antlitz bekommt, etwas gedämpft durch die Affäre von Hanne, der Tochter der Hauptfigur, des Vertriebenen Michaelis, mit dem einen Schnellkurs in demokratischer Sozialisierung durchlaufenden Reinhart, dem Neffen des Bürgermeisters, der sich, von dem Mädchen erzogen, als aktiver Verfechter der Integration im Wunschdenken des »Volkes der DDR« entpuppt: »Ihr redet immer so viel von Volk und von unserer Heimat, ja und wenn ihr erst von Deutschland sprecht, dann habt ihr gleich Tränen in den Augen. Aber immer bloß davon reden, damit ist keinem geholfen. Ihr müsst auch was dafür tun«. Als in Scharen Fremde das thüringische Städtchen betreten, nachdem sie die Brücke überquert haben, die sie wie eine Grenze vom Städtchen trennt, drücken die Einwohner Verachtung ihnen ge35 Glaser, Kleine Kulturgeschichte der Bundesrepublik Deutschland. 1991, S. 20.

Gedächtniskulturen der Zwangsmigration

271

genüber aus: »Die sehen ja aus wie Zigeuner«, und in aller Eile nehmen sie ihre trocknenden Laken ab und verstecken ihre Pferde, weil sie Angst vor Diebstahl haben. Die rhetorische Frage: »Was ist denn das für ein Volk?« verwandelt sich in einen lautstark geäußerten Wunsch der Spießbürger: »Wenn die bloß nicht hierbleiben!«, denn schließlich: »Sowas nistet sich ein wie Ungeziefer!«36 Einer der Stammgäste im Gasthaus wird vermeintlich beiläufig hinzufügen, dass die Vertriebenen geräuchert werden sollten, und die Gastwirtin (ein anschauliches Bild der spießbürgerlichen Mentalität, genau wie der Bürgermeister und seine Frau) stiftet zu der Untat an: Die Einheimischen schneiden die Pfähle der morschen Brücke an, was Michaelis mit dem Leben bezahlen wird. Die Frau muss selbst im Feuer sterben, damit der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Und erst der Flächenbrand, der das Städtchen erfasst, bringt Versöhnung zwischen den beiden Gruppen – die Brücke wird in einer Geste der Solidarität gemeinsam wiederaufgebaut, und somit die Grenze zwischen den beiden ein für alle Mal aufgehoben. In der letzten Einstellung sehen wir einen mit Töpferwaren beladenen Lastwagen, wie sie die dank einer von den Vertriebenen gegründeten Genossenschaft unter der Leitung des Töpfers Michaelis (die Flüchtlinge hätten aus der Gegend von Bunzlau stammen können) zu einem Symbol der integrierten Kleinstadtgemeinschaft werden. Die Flüchtlinge in Pohls Film, oder zumindest einige von ihnen, erkennen, dass – wie Michaelis auf die Provokation eines der Gäste in der Kneipe antwortet – »die Heimat […] weit hinter uns [liegt]«, also muss man jetzt nach vorne schauen, nicht zurück. Interessanterweise teilten die Filmemacher die Darsteller sogar im Vorspann in »Einheimische«, »Umsiedler« und »Andere« ein, wobei sie die zweite Gruppe mit authentischen Migranten besetzten und so die Dichotomie der Kleinstadtgemeinschaft noch weiter betonten. Die Darstellung der Vertriebenen am Zielort, unter Auslassung der eigentlichen Wanderroute (das Drehbuch sah große Passagen vor, die sich in einem Viehwaggon während des Transports abspielten),37 stellt natürlich einen Effekt der ostdeutschen Umsiedlungspropaganda dar, in der kein Platz war, die Flucht selbst zu zeigen. In keinem der DEFA-Filme sehen wir den Leidensweg der Flüchtenden (oder die Vertreibung selbst), weil ihr Bild das Propaganda-Ethos der Sowjetunion und anderer Bruderstaaten in diesem Krieg hätte treffen können, die bedingungslos als Befreierin behandelt wurde, unter Ausschluss aller moralisch verwerflichen Züge. Kurzum, es wäre unmöglich gewesen, glaubhaft

36 Diese Metapher wurde häufig im Rassendiskurs des Dritten Reiches. Im aufwiegelnden Der ewige Jude (Deutschland 1940) von Fritz Hippler wird ein solcher Vergleich auf die Juden bezogen. 37 Vgl. Tiews, Fluchtpunkt Film. 2017, S. 74ff.

272

Andrzej Gwóz´dz´

darzustellen, was vor der Ankunft der Flüchtlinge geschah, ohne das wahre Gesicht des sowjetischen Verbündeten zu zeigen.

Umsiedlerdasein in der DDR Nach der Gründung der beiden deutschen Staaten wurde das Thema in der DDR nur noch gelegentlich, anlässlich von Feierlichkeiten der neuen gesellschaftspolitischen Realität, aufgegriffen, wobei auf die Abstammung der Protagonisten als Verfechter der richtigen Sache verwiesen wurde, als hätte die eine »Brücke« das Problem ein für alle Mal gelöst. Diese Art des »selektive[n] Erinnern[s] an die Umsiedlungen«38 wurde durch die Angst vor der Irritation der sowjetischen Verbündeten hervorgerufen, die schließlich zusammen mit den westlichen Alliierten (nun tödliche, nicht mehr nur ideologische Feinde aus dem »kapitalistischen Westen«) über das Schicksal der Bewohner der verlorenen Gebiete entschieden hatten. Schließlich betraf das Problem vor allem die sowjetische Besatzungszone, zu der letztendlich Brandenburg, Mecklenburg, Sachsen-Anhalt, Sachsen und Thüringen gehörten, weil sie vor allem Migranten aus den östlichen Reichsgebieten (Ost- und Westpreußen, Grenzmark Posen-Westpreußen, Pommern, Nieder- und Oberschlesien) aufnahm. Ein Drittel aller Vertriebenen (fast 4,5 Millionen) kam bis 1950 in die sowjetische Besatzungszone (ab 1949 DDR), und noch im selben Jahr stellte die Anerkennung der Grenze an der Oder und Neiße durch die DDR-Regierung in ihrer »Umsiedlerpolitik« den Abschluss der Frage einer möglichen Rückkehr in die »alte Heimat« dar; ebenso wie die von der SED bereits 1948 abgelehnte Frage der Entschädigung für zurückgelassenes Vermögen, was eine Änderung der Nomenklatur nach sich zog: Die Umsiedler waren nun nur noch »ehemalige Umsiedler« oder »Neubürger«,39 die sich mit ihrem eigenen Gedächtnis nicht abmühen mussten (und sollten). Der 1949 eingeführte Begriff »Staatsbürger« sollte die Erinnerungskulturen der Vertriebenen auslöschen und setzte alle als Bürger des neuen sozialistischen Vaterlandes den Deutschen gleich. In der DDR handelte man deshalb so, als gäbe es kein Problem, oder besser gesagt – als hätte es kein Problem geben dürfen, weil die Frage der Vertreibung der Weisheit und der historischen Gerechtigkeit des östlichen »Bruders« zugeschrieben wurde, der viel dafür getan hatte, dass die Gesellschaft der DDR die Dämonen einer diffizilen Vergangenheit aus ihrem Bewusstsein verdrängen und sich auf den Aufbau des »ersten Arbeiter- und Bauernstaates auf deutschem

38 Vgl. Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. 2011, S. 48–51. 39 Zur namenkundlichen Konfusion siehe auch: Tiews, Fluchtpunkt Film. 2017, S. 79.

Gedächtniskulturen der Zwangsmigration

273

Boden« konzentrieren konnte, womit sich beide die »ewige Freundschaft« verdienten. So erfolgte der Aufbau der DDR auf durch und durch morbiden Strukturen; der faschistischen Vergangenheit mit der unerträglichen Schuld an einem wahnsinnigen Krieg und der brutalen Ermordung und Vernichtung von Millionen von Menschen. […] Die DDR begann ihre staatliche Existenz mit einem Riesenberg an Schuld, Demütigung, Kränkung, Verletzung und Entfremdung, der niemals bearbeitet wurde, ja nicht einmal benannt werden durfte.40

Und dies umso mehr, als die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze durch die DDR im Jahr 1950 als »Friedensgrenze« die Frage der »alten Heimat« endgültig beendete und die Angelegenheit der Umsiedlung zumindest politisch abschloss.41 Denn die DDR hatte sich mit gutem Propagandaeffekt von der Verantwortung für den Zweiten Weltkrieg und für den gesamten industriell-imperialen Komplex, der ihn auslöste und der als Blüte der imperialistischen Politik des wilhelminischen Deutschlands galt, abgekoppelt, mit der die DDR-Bürger angeblich nichts zu tun hatten, ja, sie waren furchtlose Kämpfer für die richtige Sache der historischen Gerechtigkeit (eine solche Geschichtsinterpretation offenbart in aller Pracht Wolfgang Staudtes »Der Untertan«, DDR 1951). Die Rückkehr zur schmerzhaften Episode der Nachkriegsgeschichte war aus propagandistischer Sicht unerwünscht, weil sie unerwünschte Fragen und noch unerwünschtere (lies: ungerechtfertigte) Antworten hätte provozieren können, auch oder gerade beim sowjetischen Verbündeten. Die Partei- und Staatsdoktrin der DDR (was auf dasselbe hinausläuft) stand unter der Schirmherrschaft des Prinzips, dass es kein Problem mit der Zwangsmigration gibt, weil für alle Bürger des Staates, die die friedliche Arbeit lieben, eine historische Chance entstanden sei, ein neues Leben im Arbeiter- und Bauernstaat zu beginnen, welcher aus dem antifaschistischen Widerstand eines großen Teils des deutschen Volkes erzeugt worden sei, der sich zwischen Oder und Elbe angesiedelt habe. Die DDR sei die Heimat der wahren friedlichen Deutschen, die von der Roten Armee aus der Schlinge des Imperialismus befreit worden seien und für die der territoriale Exodus einen Höhepunkt darstellte, der in die Heimat der historischen Gerechtigkeit führte. Dies ist auch der Tenor der Kulturpolitik. In gewissem Sinne galt dies für ganz Deutschland, denn »mit Kriegsende waren (fast) alle Nationalsozialisten verschwunden. Fanatismus hatte man erwartet; Wölfe (Werwölfe);

40 Maaz, Der Gefühlsstau. 2010, S. 28–29. 41 Bis 1961 stellten Umsiedler ein Drittel der Flüchtlinge aus der DDR in die Bundesrepublik (750.000 bis 900.000) dar (siehe Amos, Heike: Die Vertriebenenpolitik der SED 1949 bis 1990. München: Oldenbourg 2009, S. 253).

274

Andrzej Gwóz´dz´

man traf auf Unschuldslämmer. Verwandelt schien dieses Volk; war es eine Wandlung? Konnte man sich auf die Mutation verlassen?«42 Warum also sollte man – zum Unbehagen der Nation – den Kern der schmerzhaften, doch schließlich notwendigen Operation untersuchen, die von den »Brüdern« aus dem Osten durchgeführt wurde, damit die Deutschen endlich zu Hause und in guten, friedliebenden Händen sind? Dies umso mehr, als die politische Ästhetisierung des öffentlichen Lebens in der DDR den Umsiedlern einen Ersatz für die mit den verlassenen Gebieten verloren gegangenen nationalen Rituale bot und damit eine ähnliche Rolle erfüllte wie aus psychosozialer Sicht die Heimatfilme im westlichen Nachbarland. Denn »man bedenke nur, mit welcher Leichtigkeit, trotz der abgrundtiefen Schuld des deutschen Volkes, die faschistische Lebensweise in die sozialistische übergegangen war: der Führerkult, die Massenaufmärsche, die religionsartigen Rituale und Fetische, der Fremdenhass und die Feindbildmechanismen […]. Die ›Entnazifizierung‹ war eine der großen, gefährlichen Illusionen dieses Jahrhunderts«.43 So war also jenes »Deutschtum der DDR«:44 verstrickt durch »brüderliche« Anbindung an die UdSSR, mit von oben verordnetem Antifaschismus, der gerade durch seine Zugehörigkeit zum sozialistischen Lager die faschistische Vergangenheit eines großen Teils seiner Bürger wegwusch.

Narrativierungen der Erinnerung – Praktiken des Gedenkens Der zweiteilige Film »Schlösser und Katen« (Teil 1: »Der krumme Anton«, Teil 2: »Annegrets Heimkehr«, DDR 1957) von Kurt Maetzig, in dem die Narrativierung der Erinnerung an die Vertreibung eine reiche Handlungsdeutung erfährt, zeigt diese Phänomene in ihrer ganzen Wucht. Einerseits klingt hier das Syndrom der »kalten Heimat« stark nach (die Einheimischen beschuldigen die Neuen, »mit nichts aus Polen gekommen zu sein«), andererseits werden die Neuankömmlinge, verächtlich »Zigeuner« genannt, zu glühenden Anhängern der Agrarreform und zu deren Nutznießern (der alte Sikura, ein Umsiedler aus Ostpreußen, wird zum Vorsitzenden des Bauernverbandes gewählt, die Familie zieht in ein Einfamilienhaus und die Schwiegertochter wird zur erklärten Sozialistin und steigt zur Vorsitzenden der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft auf). Maetzigs Film ist in der Tat ein heimatlicher »Gedächtnisfilm« mit einer klaren staatsbildenden Botschaft (die Gestaltung der sozialistischen deutschen 42 Glaser, Kleine Kulturgeschichte. 1991, S. 25 (S. 14). 43 Maaz, Der Gefühlsstau. 2010, S. 113. 44 Vgl. Ash, Timothy Garton: »Und willst du nicht mein Bruder sein…« Die DDR heute. Übersetzt aus dem Englischen von Yvonne Vesper-Badal. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1981.

Gedächtniskulturen der Zwangsmigration

275

Heimat) und einer klassenkämpferischen Deutung, was einerseits durch die Person des DEFA-Vorzeige-Regisseurs und andererseits durch das mnemotechnische Potential des Heimatfilms mit seiner genretypischen dramaturgischen Konstellation gewährleistet wurde. Dies geschieht anhand der Konfrontation der Neuankömmlinge mit den Einheimischen (die Liebesgeschichte des aus russischer Gefangenschaft zurückgekehrten Hans, der unter den Vertriebenen seine Mutter findet, mit dem einheimischen Mädchen Annegret, und das Schicksal der Bauernfamilie Sikura aus Ostpreußen), der Apologie der Natur, mit Festen und einem Happy End.45 So muss Christel Sikura Vorhaltungen des Gutsverwalters ertragen, »ihre Heimat […] [sei] Ostpreußen«. Ein Novum an der Figurenkonstellation der DEFA ist aber, dass hier eine Vertriebene aus Ostpreußen zur Musterfrau einer sozialistischen Gesellschaft wird, die durch die Hand des gestrigen Gutsverwalters stirbt, der die Personifizierung des bösen Kapitalismus darstellt.46 Die Umsiedler werden damit zum gewünschten Bindeglied des neuen Heimatgedankens erhoben, der das Wunschbild der sozialistischen Heimat mit der integrativen Funktion der Regionen verbindet, indem er Vaterland und Heimat, Nation und Region zu einem sozialistischen Staatskonglomerat im Sinne des von der Politik der frühen SED propagierten »Volkes der DDR« gleichsetzt. Und die Szene mit dem improvisierten Vertriebenenlager im Schloss des mit seiner Familie geflohenen Grafen gehört sicherlich zu den bildintensivsten Topoi der Heimatsuche, die das DDR-Kino überhaupt bot. Etwas komplizierter stellte sich das Vertreibungssyndrom in der politischen Kultur Westdeutschlands dar. Es war in den politischen Debatten und im gesellschaftlich-politischen Leben der Bundesrepublik als Element der sog. Heimatpolitik ständig präsent und wurde zum Faustpfand der Bonner Politik, gleich welcher politischen Couleur, was die Entstehung der sog. LandsmannschaftenBewegung (mit dem »schlesischen Zweig« an der Spitze) effektiv legitimierte47. 45 Vgl. Tiews. Fluchtpunkt Film. 2017, S. 127–128. 46 Interessant ist dabei, dass die Darsteller des Ehepaares Sikura tatsächlich aus den östlichen Teilen Deutschlands stammten: die in der Rolle der alten Frau Sikura besetzte Lotte Loebinger wurde 1905 in Kattowitz geboren, und der ihren Ehemann darstellende Hans Finohr kam 1891 im westpreussischen Rynnek (siehe: Tiews, Fluchtpunkt Film. S. 137.) zur Welt, was ihrer Aussprache den eindeutig erwarteten ostdeutschen Akzent verlieh. 47 Vgl. Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. 2011, S. 41–46. In einem Propagandabuch, exemplarisch für den Vertreibungsdiskurs der Volksrepublik Polen, konnte dies mit Genugtuung festgestellt werden: »Der Revisionismus wurde zur politischen Doktrin der führenden Kräfte der Bundesrepublik Deutschland, aller Parteien: der Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen. Dieser Revisionismus richtet sich nicht nur gegen Polen. Er hat auch andere, modischere Slogans gefunden. Der Bezug auf die Idee des karolingischen Europas, auf die abendländische Kultur, auf die wirtschaftlichen und ideologischen Errungenschaften der sog. freien Welt, erweiterte die Basis des westdeutschen Revisionismus erheblich. Es ist nun möglich, nicht nur im Namen Deutschlands zu sprechen, sondern im Interesse Europas und der gesamten sog. freien Welt. Dies ist die wichtigste Legitimation der

276

Andrzej Gwóz´dz´

Zwar finden sich bereits im westdeutschen Kino der frühen 1950er Jahre (vor allem in den Heimatfilmen) Vertreibungsmotive (wie sie hier genannt wurden)48 oder noch elaboriertere narrative Vertreibungsmuster, aber von einem komplexen Erinnerungsdiskurs über die Vertreibung im deutschen Kino kann keine Rede sein. Doch nur wenig von dem, was ein Kulturwissenschaftler im Zusammenhang mit der deutschen »Migrationskultur« der Nachkriegszeit bemerkt, nämlich, dass »die Nachkriegswelt […] eine, die ›unterwegs‹ ist, zunächst aus Not, dann, weil Mobilität Nutzen bringt,49 war – spiegelt der Filmdiskurs beider deutscher Staaten wider. Flucht, Vertreibung und Umsiedlung bleiben weitgehend Themen aus einer nicht dargestellten Welt des Spielfilms. Und auch wenn der Reflex dieser Beobachtung im »Film ohne Titel« von Rudolf Jugert, in dem der Erzähler aus dem Off »das sogenannte neue Leben auf einem der Bahnhöfe, in einem Güterzug mit unbekanntem Ziel« kommentiert, die Hypothese des Kulturwissenschaftlers bestätigt und an die Formulierung des Reportageautors Hans Werner Richter über »ein Leben am Schienenstrang«50 erinnert, so ist auf dem Bildschirm davon nicht viel zu sehen. Abgesehen von Heimatfilmen (und dazu gehören nun einmal auch »Schlösser und Katen« von Kurt Maetzig) ist es im Prinzip schwierig, von erweiterten Vertreibungsnarrativen zu sprechen, die einen klaren Memorialdiskurs in Bezug auf die Vertreibung geschaffen hätten. In der Zeit vor Wessels »Die Flucht« gibt es tatsächlich keine stilistischen oder inhaltlichen, erst recht keine genretypischen Muster des Flucht- und Vertreibungsfilms, so ist die Aussage, dass es »folglich nicht den Film über Flucht und Vertreibung [gibt]«,51 für diese Periode richtig. Aber die westdeutschen Heimatfilme verzeichneten zumindest »die Herausbildung eines bundesrepublikanischen Menschentyps, geprägt durch ein materialistisch orientiertes Sehnsuchtspotential«.52 Besonders in zwei Heimatfilmen des Genres wird dieses Problem zur Grundlage der Filmhandlung. In Hans Deppes »Grün ist die Heide« (BRD 1951), dem Kinohit der Saison 1951/1952 mit fast 19 Millionen Zuschauern, basiert die Handlung auf den traumabedingten Zuständen eines Neuankömmlings aus einem ostpreußischen Familiengut bei einer Familie in der niedersächsischen Heide, der in den nahen Wäldern wildert und damit den Hunger nach Heimat

48 49 50 51 52

Bonner Regierung« (Bartosz, Julian/Hajduk, Ryszard: Rodowody rewizjonistów. Katowice: Wydawnictwo »S´la˛sk« 1965, S. 15). Zum Vokabular bezüglich der Zwangsmigration siehe: Röger, Flucht, Vertreibung und Umsiedlung. 2011, S. 87–103. Glaser, Kleine Kulturgeschichte. 1991, S. 20. Glaser, Kleine Kulturgeschichte. 1991, S. 21. Tiews, Fluchtpunkt Film. 2017, S. 23. Glaser, Kleine Kulturgeschichte. 1991, S. 20.

Gedächtniskulturen der Zwangsmigration

277

sublimiert.53 Das Vertreibungs-Timbre des Films wird durch ein Fest ergänzt, bei dem eine schlesische Landsmannschaft in schlesischer Tracht dem von Vagabunden vorgetragenen »Riesengebirgle Heimatlied« lauscht, mit der Phrase »Riesengebirge, deutsches Gebirge….« Vielleicht nahm die Darbietung dieses Stücks durch Wandermusikanten während eines traditionellen Festes in einem niedersächsischen Dorf (die Landeshauptstadt Hannover war Partnerstadt der Landsmannschaft Schlesien) ihm zwar die eindeutig revanchistische Aussage54 (anders als es in Ostdeutschland passiert wäre55) – schließlich muss die Sehnsucht nach der Heimat nichts Politisches an sich haben – aber sie nahm ihm nicht seine heimatliche Nostalgie, vor der schließlich der Heimatfilm »Grün ist die Heide« strotzt. Das verleiht dem Syndrom der »kalten Heimat« jedoch für den Neuankömmling Lüdersen ein weicheres Antlitz. »Geduldet sind wir hier gerade« – behauptete Lüdersen als Reaktion auf die Aussage seiner Tochter (Sonja Ziemann): »Wir sind doch hier nur zu Gast, es geht uns doch gut«, um während des Schützenfestes zu gestehen, dass die Heide »auch für mich eine zweite Heimat geworden« ist).56 Die besänftigende Rolle des Gesangs wirkt Wunder, und Lüdersens Appell, die Einheimischen mit den Neuankömmlingen zu assimilieren, enthielt erhebliches Identifikationspotenzial, das sich in Publikumsfrequenz umsetzen ließ. In Deppes Film gibt es auch die Zirkuskünstlerin Nora, vielleicht eine Schlesierin, vielleicht aus Ostpreußen stammend, aber für sie soll Amerika 53 Zur kompensatorischen Funktion des Heimatfilms in der deutschen Kultur siehe: Gwóz´dz´, Andrzej: »Der Sozrealismus mit anderen Mitteln oder der Kaprealismus des Heimatfilms«. In: Konrad Klejsa, Schamma Schahadat unter Mitarbeit von Christian Nastal (Hg.): Deutschland und Polen. Filmische Grenzen und Nachbarschaften. Marburg: Schüren Verlag 2011, S. 178– 190. 54 Aufmerksam darauf macht Tiews, Fluchtpunkt Film. 2017, S. 105. 55 Dasselbe Lied trägt zur Verwirrung beim ersten Nachkriegs-Weihnachtsabend bei, den der Bürgermeister einer Kleinstadt in der sowjetischen Besatzungszone für Vertriebene im Roman Wir Flüchtlingskinder von Ursula Höntsch-Harendt organisiert: »Bei der Zeile »Riesengebirge, deutsches Gebirge« war der kleine dicke Mann auf dem Podium unruhig geworden. Er fuhr sich ein paarmal mit dem Taschentuch über die Glatze, stand schließlich auf und rief: »Das ist verboten!« Da verstummten die Leute. Mutter aber wollte wissen, wer’s verboten habe und wo das geschrieben stehe. Weil sie keine Antwort bekam, stimmte sie die zweite Strophe an, und einige sangen mit. Ihr war wohl der Schnaps schon in den Kopf gestiegen. Der Mann redete mit dem Bürgermeister, dann ging er. Die anderen vom Podium gingen auch, nur Hans Rathmann und Herr Hübner kamen zu uns. Sie ließen uns aussingen. Hans Rathmann sagte, er könne verstehen, daß wir unsere Heimatlieder singen möchten. Bloß bei diesem Lied wäre es nun mal so, daß das Riesengebirge jetzt zu Polen und zur Tschechoslowakei gehöre. »Deutsches Gebirge« klänge dann, als erkenne man nicht an, was die Alliierten beschlossen hätten. Die Frauen gingen mit den Kindern nach Hause, die Männer blieben beisammen. ›Nu doas koann joa nuch woas warn‹« (Höntsch-Harendt, Ursula: Wir Flüchtlingskinder. Halle: Mitteldeutscher Verlag 1985, S. 188). 56 Deppes Grün ist die Heide stellt seinerseits ein Remake des Films von Hans Behrendt aus dem Jahr 1932 dar. Eine Neuverfilmung von Deppes Film unter der Regie von Harald Reinl aus dem Jahr 1972 enthält keinerlei Hinweise auf die Problematik der Vertreibung mehr.

278

Andrzej Gwóz´dz´

das Umsiedlungsparadies werden, das sie anstrebt, weil sie »in der sogenannten Heimat nichts mehr bindet«. In Wolfgang Schleifs Film »Das Mädchen Marion« (BRD 1956) läuft dieses Vertreibungsnarrativ wiederum auf Heimatfilmklischees hinaus, die aber visuell sehr aussagekräftig sind. Es geht nämlich um Frauen, die zusammen mit den Männern eine wichtige emanzipatorische Rolle in der Ikonographie Westdeutschlands spielten, indem sie bewiesen, wie wichtig die manchmal als »erste Gastarbeiter« bezeichneten Neuankömmlinge aus dem Osten für die deutsche Wirtschaft waren.57 Gleichberechtigter Protagonist des Films ist hier ein Trakehnerhengst mit dem Namen Prusso, mit dem die Gutsbesitzerin und ihre Tochter den Weg von Ostpreußen nach Niedersachsen zurücklegen. Dort finden sie ein Obdach und Arbeit (die Frau sitzt am Webstuhl, der üblicherweise mit Ostdeutschland assoziiert wird58). Aber dafür ist es notwendig, mit den polnischen Pferdedieben zu kämpfen, die sich als Beauftragte der britischen alliierten Behörden ausgeben und den Hengst beschlagnahmen – jedoch nur für kurze Zeit, weil sich das Tier nicht nur regenerieren, sondern sich bald als Champion in Sportwettbewerben entpuppen wird. Die Integration ist, trotz der anfänglichen Zurückhaltung der Gutsbesitzerin, voll gelungen. Interessant ist, dass die Frauen nicht in einem Flüchtlingstreck unterwegs sind, sondern eine selbständige Wanderung wagen, was die Ikonographie der Flucht individualisierter und noch dramatischer macht. Doch die Zuschauer wollten die Härten der Winterwanderung 1944/1945 nicht sehen (sie blieben ihnen auch in anderen Heimatfilmen erspart), denn diese lagen noch im Bereich des kommunikativen Gedächtnisses, auch des Familiengedächtnisses. Sie zogen es vor, das Eigene und Fremde als integrierende Liebesgeschichten zu genießen, unter Beteiligung der malerischen Försterei und ihrer munteren Mägde, sowie ihren Blick an den Farben deutscher Wälder, Berge und Seen zu weiden. Noch bezeichnender ist, dass in keinem der erwähnten Filme die Landschaft der verlorenen Gebiete auftaucht, es gibt keine Darstellung des Landes, in dem die Flucht begann (mit Ausnahme von Schlössern, Gutshöfen und der nächsten Umgebung, aber deren Identifikationspotential ist gering), was die geographische Identifizierung dieser Orte unmöglich

57 Vgl. Ast, Michaela S.: »Flucht und Vertreibung im bundesdeutschen Spielfilm der 1950erJahre«, 2012. Auf: https://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/74912/fl ucht-und-vertreibung (Zugriffhttps://www.bpb.de/geschichte/zeitgeschichte/deutschlandarchiv/74912/flucht-und-vertreibung am 17. 09. 2020). 58 Deutlich wird diese Identifikation in Veit Harlans Kolberg (1945), einem Film, in dem die Heldin während des napoleonischen Feldzuges 1806 am Webstuhl in Kolberg ein Lied singt, das wiederum in dem Film Nacht fiel über Gotenhafen auftauchen wird: Maikäfer, flieg! mit dem Refrain: »Der Vater ist im Krieg, die Mutter ist im Pommerland. Und Pommerland ist abgebrannt.« Es stammt vom Ende des 18. Jahrhunderts und ist mit dem Dreißigjährigen Krieg verbunden, war aber während des Zweiten Weltkriegs populär.

Gedächtniskulturen der Zwangsmigration

279

macht.59 Der Ausgangspunkt der Flucht ist ein symbolisches Land, imaginiert (vor allem für die Nichtvertriebenen), nur als Erinnerungsort in den Erinnerungen der Vertriebenen präsent und damit auf seine Weise unrealistisch und abwesend, zu dem es kein Bedürfnis gibt, zurückzukehren (im Gegensatz zu politischen Diskursen, die mit der Rückkehr in »verlorene Gebiete« jonglierten).60 Dies eben führte unter anderem zu einer weitreichenden Tabuisierung des Themas Vertreibung, denn die Schuldigen am Schicksal der Vertriebenen wurden von konkreten Orten abstrahiert und verwandelten sich in Figuren imaginierter Welten. Allerdings gibt es eine Ausnahme. In Wolfgang Schleifs »Ännchen von Tharau« (BRD 1954) organisieren die Einheimischen eine »Sondervorstellung für Ostvertriebene«, unter denen sich hauptsächlich Vertriebene aus Ostpreußen befinden. Auf der improvisierten Leinwand eines fränkischen Städtchens am Main läuft der Vorspann des Dokumentarfilms »Ostpreußen, das Land der Pferde«, der spontane Reaktionen im Publikum hervorrief. Hier lebt die Landschaft der verlassenen Heimat auf der Leinwand als therapeutische Heimatséance wieder auf, die Einheimische und Neuankömmlinge vereint. Das beste Zeugnis für die Integration ist jedoch, dass die aus dem früheren Tharau (dem heutigen Wladimirowo im Kaliningrader Gebiet) stammende Kellnerin des dortigen Restaurants, Ännchen, nicht nur den Vater des Jungen findet, den ihr die sterbende Mutter des Kindes bei ihrer Flucht an der Weichsel anvertraut hatte (zusammen mit einem Foto des Vaters, dank dem er erkannt wurde), sondern auch ihr Glück in einer Beziehung zu dem Mann besiegelt. Was in den Heimatfilmen nicht akzeptiert wurde – vor allem die grellen Bilder des Trecks – lebte jedoch in anderen Genres wieder auf, zum Beispiel in Frank Wisbars Kriegsdrama »Nacht fiel über Gotenhafen«. Ausgerechnet in diesem Film offenbarte sich die Ikonographie der Flucht in ihrer ganzen Kraft, mit einem erweiterten Treck-Motiv als Symbol der Völkerwanderung (verstärkt durch dokumentarische Bilder der Wochenschau). Der Film – was wichtig für die Strategie der Narrativierung der Erinnerung erscheint – ist eine Megaretrospektive, erzählt von einem sachlichen Erzähler aus dem Off, aus der Perspektive der GustloffKatastrophe. Im Grunde wird nämlich der Untergang des von sowjetischen Torpedos getroffenen Schiffes zum Symbol für Flucht und Vertreibung, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass die inszenierten Bilder der Katastrophe in den Rang ikonischer Zeitdokumente aufgestiegen sind, weite Teile der Katastrophen59 Erst Wessels Flucht nutzte die authentischen Freiflächen des Kurischen Haffs und ersetzte imaginäre Orte durch sie. 60 Darauf macht auch Ast 2012 aufmerksam und schreibt von der »filmisch-narrativen Übertragung der alten Heimat […] an einen neuen Ort, d. h. der vollständigen Ersetzung der Regionen, aus denen man geflohen ist oder vertrieben wurde, durch die Regionen, in die man kam«.

280

Andrzej Gwóz´dz´

Ikonographie besiedeln und zu einem Element des medialen Gedächtnisses wurden.61 Die Bilder von der Evakuierung des ostpreußischen Gutshofes und die anschließende Flucht-Wanderung in den Hafen von Gotenhafen bilden übrigens nur einen der Handlungsfäden in der Geschichte der Berliner Radiosprecherin (Sonja Ziemann neun Jahre nach dem Film »Grün ist die Heide«), die bei ihrer Freundin im ostpreußischen Laswethen eintrifft, um sich von hier mit den Einheimischen nach Gotenhafen zu flüchten (die Baronin des Hofes, auf dem die Freundin wohnte, wurde noch während der Fluchtvorbereitungen zusammen mit einem französischen Zwangsarbeiter von den Russen erschossen). »Eine Beziehungskiste in Kriegszeiten« – ironisierte Grass. »In ›Nacht fiel über Gotenhafen‹ geben, nach viel zu langem Vorspiel in Berlin, Ostpreußen und sonst wo, ein Soldat an der Ostfront als betrogener Ehemann und späterer Schwerverwundeter auf dem Schiff, die ungetreue Ehefrau mit Säugling, die sich aufs Schiff retten konnte, als hin- und hergerissene Reizfigur und ein leichtlebiger Marineoffizier als Ehebrecher, Vater und Retter des Säuglings das Personal der Dreiecksgeschichte ab«.62 Der Erzähler bei Grass verweist nachdrücklich (worauf auch die Presse aufmerksam machte) auf die Verwendung bewährter UFA-Muster im Film,63 enttarnt aber in gewisser Weise auch die Selektivität der Erinnerung, die der Film offenbart; die Tatsache, dass wir es mit einer einseitigen Bewertung der Ereignisse zu tun haben, was zur Dominanz eines Erzählmusters führt, in dem das Bild der Vertreibung vom Narrativ über deutsche Opfer übernommen wird.64 Den Protagonistinnen von Wisbars Film sind im Angesicht der endgültigen Katastrophe zwar imstande zu gestehen: »Aber bedauern dürfen wir uns nicht mit. Die Frauen sind ja selber schuld. Immer wieder halten wir den Rücken, auf dem die Männer ihre Kriege austoben und machen nichts um es zu verändern«. Doch an keiner Stelle weist der Film auf ihre Schuld als Unterstützerinnen oder gar Aktivistinnen des Regimes hin; er hebt lediglich ihren Heroismus in der Zeit der Flucht und Vertreibung hervor – dieser »Stunde der Frauen«,65 als (wie es im Kommentar aus dem Off heißt) »deutsche Frauen das Heldentum ihrer Männer mit einsamen und schlaflosen Nächten erkauft haben«. Auch der Einsatz von Kindern als Opfer der erzwungenen Migration löst bei den Zuschauern zwar erwartete emotionale 61 62 63 64

Vgl. Tiews, Fluchtpunkt Film. 2017, S. 151. Grass, Im Krebsgang. 2002, S. 113–114. Zit. nach Tiews, Fluchtpunkt Film. 2017, S. 149. Vgl. Röger, Marion: »Flucht, Vertreibung und Heimatverlust der Deutschen in Film und Fernsehen Polens und Deutschlands 1945–2010«. In: Klejsa, Konrad/Schahadat, Schamma (Hg.), Deutschland und Polen. 2011, S. 77. 65 Vgl. die für diesen Diskurs paradigmatischen Erinnerungen von Libussy Fritz-Krockow: Graf von Krockow, Christian: Die Stunde der Frauen. Bericht aus Pommern 1944 bis 1947. Nach einer Erzählung von Libussa Fritz-Krockow. Deutsche Verlags-Anstalt DVA: Stuttgart 1988, der zur Grundlage für das Drehbuch der Fernsehproduktion Die Flucht von Wessel wurde.

Gedächtniskulturen der Zwangsmigration

281

Effekte aus, ist aber mit einem ethisch fragwürdigen Kalkül belastet (Wisbars Film beginnt mit einer Szene von Kinderleichen, die auf den Wellen der Ostsee treiben). Keiner der genannten westdeutschen Filme weist auf die Ursachen hin oder berührt die Quellen der Vertreibungen von 1945, und selbst wenn ähnliche Motive im ostdeutschen Kino auftauchen, werden sie unweigerlich Opfer einer einseitigen Klasseninterpretation der Geschichte, ihrer einzigen politisch korrekten Version. Keiner der besprochenen Filme erwähnt die deutschen Vertreibungen der Polen im Rahmen des Generalsiedlungsplans, beginnend mit den Vertreibungen der Polen aus dem Wartheland 1939,66 oder die Deportationen aus den östlichen Gebieten Polens nach Sibirien – mindestens genauso tragisch wie die Vertreibungen der Deutschen aus dem Osten.67

Gedächtnisarbeit – Praktiken des Erinnerns Neben Filmen, die das Gedächtnis im Kontext von Praktiken des Gedenkens narrativieren, sind mindestens zwei Werke zu nennen, in denen die Gedächtnisarbeit selbst als Mechanismus von Praktiken des Erinnerns eine dominierende Rolle spielt. In Harald Brauns »Solange du da bist« (BRD 1953) werden sogar die Mechanismen des Gedächtnisses in Form eines schauspielerischen Psychodramas evoziert. Die Heldin Eva, die ihre Familie bei den Bombenangriffen verloren hat, wird zur Flüchtigen, die ihren verwundeten Mann, der sie gerettet hatte, am Bahnhof zurücklässt. Nach dem Krieg finden sich die Eheleute wieder und leben in einer Baracke am Bahndamm, hinter der die Schornsteine ihres Arbeitsplatzes – einer Textilfärberei – stehen, im Elend. Eva nutzt die Chance, die Geschichte ihres Lebens in einem Film zu spielen. Sie tut es und ihre Rolle wird zu einer Art Psychodrama – die Szene am Bahnhof, als sie ihrem Mann nicht hilft, in den Zug zu steigen, und allein ins Ungewisse fährt, gewinnt 66 Der Erlass zur Festigung deutschen Volkstums vom 7. Oktober 1939 empfahl Himmler die Durchführung von Massenumsiedlungen der polnischen Bevölkerung. Allein in Pommern erreichte die Zahl der während des Krieges vertriebenen Polen 120.000–170.000marion, aus der Region um Zamos´c´ – 100.000–110.000 und aus Warschau nach dem Warschauer Aufstand – 500.000–600.000, was insgesamt 1.689.000–1.709.000 Vertriebene in den besetzten Gebieten ausmacht. Hinzu kommt noch die Zahl von über einer Million Deportierten aus den nach dem Septemberfeldzug in die UdSSR eingegliederten Gebieten bis 1941 und mindestens 100.000 bis 1945. 67 Eine Ausnahme bildet die DDR-Serie Wege übers Land von Martin Eckermann, in der das Motiv der Besetzung eines gerade von Polen verlassenen Hauses irgendwo in der Posener Gegend durch eine deutsche Offiziersfamilie einen wichtigen dramaturgischen Knotenpunkt des Films bildet. In Schmids Wintertochter hingegen wird die Spur der Gebietsverluste im Osten Polens deutlich (der Besitzer des Gasthauses in Gdan´sk verweist in einem Gespräch mit einer Vorkriegs-Allensteinerin auf seine Lemberger Herkunft).

282

Andrzej Gwóz´dz´

Schlüsselcharakter. Die Rolle der Eva im Film ist eigentlich eine Retrospektion aus dem Leben der Frau, visualisiert als Film. Interessant ist dabei, dass in Brauns Film, im Gegensatz zu Filmen, die das Vergessen empfehlen, die intensive Erfahrung des Gedenkens ein Heilmittel für das Trauma bildet. Eine andere Art von Gedächtnisarbeit evoziert »Vergeßt mir meine Traudel nicht« (DDR 1957) von Kurt Maetzig, ein Film, der im Repertoire der DEFA deswegen außergewöhnlich ist, weil sich im Potsdamer Filmstudio etwas bewegt zu haben schien. Obwohl die Rahmenhandlung eine extrem propagandistische Aussage liefert (eine jugendliche Ausreißerin aus dem Erziehungsheim durchläuft unter den wachsamen Augen eines Polizisten einen beschleunigten Erziehungskurs), ist für ihr Schicksal als ungehorsames Mädchen wichtig, dass sich Traudel als Waise aus niederschlesischem Neusalz/Oder, entpuppt. Und das allein ist bereits ein Ereignis in der DEFA-Produktion der 1950er Jahre. Schließlich erinnerte sich Kühn noch dreißig Jahre später, in Bezug auf den Film »Kindheit«: Das fertige Drehbuch lag aufgrund der Umsiedlungsproblematik ein paar Jahre in der Schublade, man wollte sich damit nicht auseinandersetzen, weil es nicht opportun war. Es ist besser, die problematischen Punkte unter den Teppich zu kehren, statt die Leute daran zu erinnern. Als ich dann plötzlich den Film machen konnte, war man gerade in einer Phase der Entspannung mit Polen, mit der BRD, oder mit wer weiß wem.68

Die Hervorhebung der Herkunft der Heldin aus den »verlorenen« Gebieten Deutschlands, und mehr noch die Benennung des konkreten Namens des Ortes, der bereits seit einem Jahrzehnt in Polen lag – das gab es im Kino der DDR noch nie, und sollte es auch später (eigentlich bis zu Kühns »Kindheit«) nicht geben.69 Noch interessanter ist die Tatsache, dass eine Art »Konsilium« von Flüchtlingen aus Neusalz/Oder über die Herkunft von Traudel entscheidet und dazu beiträgt, das Rätsel des 1939 an der Oder (nun auf polnischer Seite) geborenen Kindes zu lösen: Es stellt sich heraus, dass das Mädchen nach den alliierten Teppichbombardements auf Dresden im Jahr 1945 am dortigen Bahnhof als Waise der im KZ Ravensbrück ermordeten Eltern (Vater war Zwangsarbeiter) gefunden wurde. Waisenhaus, Pflegeeltern, Erziehungsanstalten – das war das Schicksal von Traudel, die jetzt, an der Schwelle zur Volljährigkeit, ihren Personalausweis aus den Händen ihren Personalausweis aus den Händen des Volkspolizisten (und Volkserziehers zugleich) erhält.

68 Richter, Erika: Dichtung und Wahrheit. Zwei Filme von Siegfried Kühn: »Don Juan – KarlLiebknecht-Str. 78« und »Kindheit«. In: Hrsg. v. Ralf Schenk. Booklet zur DVD-Edition der Filme. Icestorm Entertainment. Berlin 2015, S. 11. Es ging vor allem um die geografische Bezeichnung Schlesien, die, aus dem offiziellen DDR-Diskurs eliminiert, ein sprachliches Tabu darstellte. 69 In Pohls Brücke fallen wiederum Namen westdeutscher Orte (Würzburg, Hamburg), die im geopolitischen Diskurs der DDR vorbehalten waren.

Gedächtniskulturen der Zwangsmigration

283

Es ist verständlich, dass zu den Themen, die in der filmischen Erinnerungskultur der DDR über Flucht und Vertreibung nicht behandelt wurden, auch die Beteiligung Polens an der Zwangsmigration der Deutschen aus dem Osten gehört.70 Aber gerade in den letzten Jahren, in denen dank Fernsehproduktionen des vereinigten Deutschlands die bisher tabuisierten Themen der Flucht und Vertreibung in die Populärkultur Einzug hielten, könnte man auch dieses Motiv erwarten. Vielleicht würde das Kino dann die auch für uns wichtigen Fragen beantworten. Fragen, die zum Beispiel in Robert Glin´skis deutsch-polnischer Koproduktion »Unkenrufe« (2005) auftauchen, obwohl es sich eher um einen Film über die Sehnsucht nach der Heimat (deutsch im polnischen Danzig und polnisch im litauischen Vilnius) handelt, in dem ein »berechtigtes Heimatgefühl« der Propaganda der Landsmannschaften gegenübergestellt wird. In »Unkenrufe« stellen die Migrationen einen Vorwand für eine zeitgenössische Handlung dar, aber sie sind nur ein Element des verbalen Diskurses (der manchmal Rückblenden auslöst), der zwar die Handlung des Films vorantreibt, aber als solches nicht sein lebendiges Gewebe ausmacht. Vielmehr geht es hier um die Strategien der Erinnerung, die ein einfallsreiches polnisch-deutsches Paar in die Ökonomie der Erinnerung verwandelt. Aber hier verlassen wir schon den Rahmen unseres Artikels.

70 Ast, »Flucht und Vertreibung«. 2012.

Therese Chromik (Husum / Kiel)

Franziska Gräfin zu Reventlow und »Der Geldkomplex«

Franziska zu Reventlow wird in jüngerer Zeit gern im Zusammenhang mit den Emanzipationsbewegungen der Jahrhundertwende erwähnt. Verständlich ist es auch, dass die Frauenbewegung sie als Vorkämpferin betrachtete. Eigentlich Künstlerin, Malerin, Sängerin, Schauspielerin – war sie eine der ersten Frauen, die sich als Schriftstellerin und Übersetzerin mit Schreiben ihren Lebensunterhalt zu sichern suchte. In ihrem starken Freiheitsstreben und ihrer konsequenten Selbstverwirklichung verkörperte sie die Emanzipationsbestrebungen und entsprach dem Muster einer erotischen Befreiung. Ihre Biografie kann als ein Beispiel gelebter Emanzipation angesehen werden. Sie hat sich jedoch niemals mit der Frauenbewegung identifiziert. Franziska Gräfin zu Reventlow, 1871 als adlige Tochter im Husumer Schloss geboren und 1918 in Locarno/Schweiz mit 47 Jahren an den Folgen eines Fahrradunfalls gestorben, zählt zu den schillerndsten Figuren der Schwabinger Bohème der Jahrhundertwende und war eine der ungewöhnlichsten Frauengestalten der damaligen Zeit. Sie verließ den geschützten Raum ihres Elternhauses, kehrte ihrer aristokratischen Familie den Rücken, befreite sich aus den ihr vorbestimmten Bahnen traditioneller Mädchenerziehung und suchte einen eigenen Weg, um sich zu verwirklichen, wobei sie finanziell unabhängig vom Elternhaus, beständig jedoch in finanzieller Not war.1 Franziska Gräfin zu Reventlow war schon zu ihren Lebzeiten eine »Legende« in der Schwabinger Bohème und darüber hinaus in literarischen Kreisen Deutschlands. Ihr turbulentes Leben gab ihr den Stoff für ihre Erzählkunst, die sich in geistreichen Romanen und Novellen niederschlug. Sie führte ein ungewöhnlich freies Leben, das die freie Liebe, die selbstbestimmte Sexualität, einschloss. Als sie nach München kam, um eine Malschule2 zu besuchen, stieß sie auf 1 Vgl. Egbringhoff, Ulla: Franziska zu Reventlow. Hamburg: rororo 2000. 2 Sie malte in der Malschule des slowenischen Malers Anton Azbe (1862–1905). In: Reventlow, Franziska zu: Ellen Olestjerne. Roman. Edition monacensis. München: Allitera-Verlag 2000 umschrieben mit »der Zarekkreis«. In dieser Malschule wurden später auch Wassily Kandinsky und Alexej von Jawlensky ausgebildet.

286

Therese Chromik

eine Gruppe polnischer Emigranten, die ihr Künstlertum lebten und zur Schwabinger Bohème gehörten. Sie waren der Russifizierung entflohen und sie einte nach den drei Teilungen Polens zwischen Preußen, Österreich und Russland verständlicherweise der Traum von einer unabhängigen Heimat. 1863 nach dem Jahr des Aufstandes gegen den Zaren brachen viele polnische Künstler nach München auf, der Ausdruck »polnisches München« wurde geprägt. Der polnische Maler Marian Trzebin´ski (1871–1942) äußert sich als Repräsentant der Nachfolgegeneration der 1863er über die Anziehungskraft Münchens: Es hat sich so zusammengetragen, dass die Kunst nicht in Warschau, erstickt von den Moskovitern, und nicht im verschlafenen Krakau blühte, aber in der Fremde, in München, wo es preiswerte und bequeme Ateliers gab, eine nette und den Polen wohl gesonnene Umgebung, die Verdienstmöglichkeiten waren hier höher als woanders, und schließlich gab es eine große polnische, sich selbst versorgende Kolonie.3

Franziska zu Reventlow nahm diese Belebung der Kunst freudig auf, wie man aus ihrem 1903 von Julian Baltazar Marchlewski4 herausgegebenen ersten autobiografischen Roman »Ellen Olestjerne« entnehmen kann. Am 12. November schreibt Ellen darin: Jetzt bin ich alle Tage droben in den Pausen und oft auch abends. Da kommen viele Maler hin, meist Polen und Russen […] Walkoff hat meine Studien in die Hand genommen, und ich lerne viel durch ihn, muß ihm alle meine Zeichnungen bringen […] Aber so habe ich noch nie über Kunst sprechen hören, sie sind alle wie toll, wenn sie davon anfangen.5 Fast alle Nachmittage war sie jetzt bei ihm, er ließ sie mit seinem Modell arbeiten und lehrte sie sehen (SW, 133).

Der soziale Zusammenhang und das Kunstverständnis der Polen beeindruckten Franziska. Außer Julian Marchlewski gehörten zum engeren Kreis um Franziska weitere polnische Münchener:6 Adolf Eduard Herstein (1869–1932), der aus Warschau stammte und als erster für Franziska zu Reventlows neue Lebensphase von Bedeutung war. Von ihm war sie sofort fasziniert, es entwickelte sich ein 3 Trzebin´ski, Marian: Pamie˛tnik malarza. Wrocław: Ossolineum 1958. zitiert nach dem Katalog »Alles möchte ich immer«. Franziska zu Reventlow (1871–1918). Göttingen: Wallstein Verlag 2010. 4 Julian Baltazar Marchlewski (1866–1925), aus der Schweiz kommender polnischer Emigrant kam als Gelehrter und Verleger 1896 nach München. Franziska zu Reventlow las für seinen Verlag hin und wieder Korrektur. 5 Reventlow, Franziska zu: Ellen Olestjerne. In: Sämtliche Werke in fünf Bänden. Hrsg. Michael Schardt. Oldenburg: Igel Verlag 2004, Bd.1, S. 125 (im Folgenden unter der Sigle »SW« mit Seitenzahl im Text). 6 Über alle vier Polen erfährt man Einzelheiten im Katalog »Alles möchte ich immer« dank der Recherche von Küchmeister, Kornelia, im Kapitel: »Polski Wahn-Moching. Reventlow und die polnischen Münchner«. In: »Alles möchte ich immer«. Göttingen: Wallstein Verlag 2019, S. 170–183.

Franziska Gräfin zu Reventlow und »Der Geldkomplex«

287

Verhältnis. Er ist es, der in »Ellen Olestjerne« zur literarischen Figur Henryk Walkoff wurde. Baron Bohdan von Suchocki (1862–1955),7 Kunstmaler, entstammt der Massalski-Dynastie, dem königlichen Haus um den Herrscher des polnisch-litauischen Bündnisses, Władysław Jagiełło; er kam nach München zum Kunststudium. Mit ihm und dem Schriftsteller Franz Hessel und ihrem Sohn Rolf gründete Franziska zu Reventlow in der Kaulbachstraße 63 in Schwabing eine Wohngemeinschaft. Der 2004 veröffentlichte Briefwechsel8 stellt ein Denkmal ihrer Liebesbeziehung dar. Er wanderte später nach Mexiko aus. Graf Xaver Orlowski, (1862–1926), polnischer Aristokrat und Freund von Bohdan von Suchocki, geboren in Jarmolince (damals polnisch, heute ukrainisch), aufgewachsen in der Familienresidenz in Malejowce (Podolien, damals Polen, heute Ukraine). Er kam als Attaché bei der kaiserlichen russischen Gesandtschaft nach München; er erwarb das Schloss Winkl, wohin Bohdan von Suchocki mit Franziska zu Reventlow des Öfteren eingeladen wurden und vom Mai bis Herbst 1906 schließlich mit dem Kind Rolf wohnten. Nach Bohdans Abreise nach Amerika hatte sie allein das Gastrecht dort, bis Orlowski 1910 das Haus verkaufte. Die Gastfreundschaft und überhaupt die solidarische, fast kommunistisch anmutende Art des Zusammenlebens beeindruckten Franziska zu Reventlow. Dass diese Lebensweise der polnischen Münchener staatlich observierte wurde, störte sie nicht, sie fand das im Gegenteil anziehend. Franziska zu Reventlow war Malerin aus Leidenschaft; zeitweise war sie Schauspielerin und Sängerin, immer aber auch nebenbei Schriftstellerin und Übersetzerin, um sich ihren Lebensunterhalt zu sichern. Dabei fand sie »schreibende Frauen« geradezu verachtenswert. Sie hasste den Ausdruck »schreibende Frau«: »Es hat so viel peinlichen Beigeschmack – eine schreibende Frau – schrecklich.«9 Dabei war sie eine der ersten Frauen, der das Geldverdienen durch Schreiben zweitweise gelang. Sie fühlt sich jedoch eigentlich zur Malerei berufen. Wieweit das Schreiben wirklich nur dem puren Gelderwerb diente, kann man durchaus kritisch hinterfragen.10 »Jetzt schreibe ich ein zweites Buch, ich täte viel lieber schwarze und weiße Kleckse machen, das Schreiben ist ein unangenehmes Handwerk«, schreibt sie in 7 Über seine Herkunft findet sich Genaueres im Katalog »Alles möchte ich immer«. 2019, S. 174. 8 »Wir üben uns jetzt wie Esel schreien« Franziska Gräfin zu Reventlow/Bohdan Suchocki, Briefwechsel 1903–1909. Hrsg. von Irene Weiser, Detlef Seydel und Jürgen Gutsch. Passau: Verlag Karl Stutz 2004. 9 Reventlow, Franziska zu: »Von Paul zu Pedro«. In: Gesammelte Werke 1976, S. 75. 10 Böhning, Antje: »Schreiben als purer Gelderwerb? Die Bedeutung des Schreibens für Franziska zu Reventlow.« In: Zu früh zum Aufbruch? Schriftstellerinnen in Nordfriesland zur Jahrhundertwende. Hrsg. von Bammé, Arno u. a. Braest/Bredstedt 1996, S. 121–134.

288

Therese Chromik

einem Brief aus Ascona an Ralf von Hoerschelmann.11 Im Briefroman »Der Geldkomplex«12 reagiert sie auf die Ansprache »Schriftstellerin« heftig. Als sie sich gegen wissenschaftliche Berufe für Frauen ausspricht, entgegnet die Medizinerin: Aber Sie sind doch selbst Schriftstellerin…, [worauf die Protagonistin antwortet:] Ach Barmherzigkeit, wie kommt sie zu dieser Kenntnis? Du weißt ja, Maria, ich kann das nun einmal nicht vertragen und habe gegen das bloße Wort eine förmliche Idiosynkrasie. So fuhr ich denn auch diesmal auf wie von sechs Taranteln gestochen und sagte: Nein, ich sei gar nichts. Aber ich müsse hier und da Geld verdienen, und dann schriebe ich eben, weil ich nichts anderes gelernt hätte. Gerade wie die Arbeitslosen im Winter Schnee schaufeln- sie sollte nur einen davon fragen, ob er sich mit dieser Tätigkeit identifizieren und sein Leben lang mit ›Ah, Sie sind Schneeschaufler‹ angeödet werden möchte. Das verstand sie nicht und sagte etwas von der Befriedigung, die alles geistige Schaffen gewähre. Die kenne ich nicht, aber ich habe manchmal davon gehört, wagte ich hier zu bemerken, was mich selbst in solchen Fällen aufrechterhält, ist ausschließlich der Gedanke an das Honorar.13

Verständlich ist es, dass die Frauenbewegung sie als Vorkämpferin betrachtete und als Heldin der Emanzipation, ganz gegen ihren Willen. Das Schreiben hielt sie nicht für eine Möglichkeit, sich zu emanzipieren, im Gegenteil, das mache unlebendig, alt und grau. Mit den Kämpferinnen14 für die Emanzipation teilte sie nicht das Ziel der Befreiung der Frau durch ein Berufsleben. Sie sah eher darin die Gefahr einer Vermännlichung und das sei der erotischen Kultur abträglich. Ohne politisch ausgerichtet zu sein und sich mit Emanzipationsbewegungen der Frauenrechtlerinnen zu identifizieren, verkörperte sie jedoch diese Bestrebungen und entsprach dem Muster einer erotischen Emanzipation, wie es der Buchtitel »Die erotische Rebellion. Das Leben der Gräfin zu Reventlow« von Helmut Fritz15 festhält. »In der sexuellen Bigotterie der wilhelminischen Gesellschaft besaß sie den Mut zur öffentlichen Unmoral, zur Verherrlichung der freien Liebe ohne Schuldkomplexe, zur freien Mutterschaft jenseits der patriarchalischen Familie;«16 so fasst Helmut Fritz die Lebenseinstellung der Franziska zu Reventlow zu Beginn seines biografischen Buches. zusammen. Franziskas Freiheitsstreben war sehr ausgeprägt. Sie schreibt 1893 an Michael Georg 11 Brief an Ralf von Hoerschelmann, Ascona, Sommer 1912. In: SW, Bd. 4, Briefe 1890–1917, S. 593. 12 Reventlow, Der Geldkomplex. In: SW, Bd. 2, 2004. 13 Reventlow, Der Geldkomplex. 2004, S. 124. 14 Sie war dennoch mit Anita Augspurg, Führerin der deutschen Frauenstimmrechtsbewegung und mit Lydia Gustava Heymann, der Herausgeberin der Zeitschrift »Frau im Staat« befreundet. 15 Fritz, Helmut: Die erotische Rebellion. Das Leben der Franziska Gräfin zu Reventlow. Frankfurt am Main: Fischer TB-Verlag 1980. 16 Fritz, Die erotische Rebellion. 1980, S. 9.

Franziska Gräfin zu Reventlow und »Der Geldkomplex«

289

Conrad in einem Brief, in dem sie Unterstützung bei der Verbreitung und Anerkennung ihrer Dichtung erbittet: Und doch ist dieses Künstler-Bohème-Leben das Beste von meinem ganzen bisherigen Leben gewesen. Es ist wenigstens frei, ganz frei und man sieht hinter den Kulissen ungleich viel wahrer, und an den Menschen lernt man in der Not viel Gutes kennen, an das man sonst nur als Kind glaubt.17

Sie umgab sich mit frei denkenden Menschen und wurde von ihnen in ihrem Freiheitsdrang bestärkt; einige wichtigste seien hier genannt: Erich Mühsam,18 anarchistischer deutscher Schriftsteller und Aktivist, war Gymnasiast im Katharineum in Lübeck gewesen, hatte dort Franziska zu Reventlow kurz kennengelernt und in München zufällig wiederentdeckt. Ludwig Klages,19 Graphologe und Philosoph, der wohl am treuesten und verantwortungsvoll in bloßer Freundschaft mit Franziska zu Reventlow verbunden war und die Vormundschaft über ihren Sohn Rolf übernommen hat. »Man konnte das nicht Verliebtheit nennen, kaum auch nur Liebe; es knüpfte sich (von mir aus) ein metaphysisches Band.«20 Und Otto Gross,21 Vertreter der freien Sexualität und antiautoritären Erziehung, Schüler von Siegmund Freud gehörten dazu, aber auch Rainer Maria Rilke, der in seiner Besprechung ihres ersten autobiografischen Romans »Ellen Olestjerne« die Einsamkeit der Heldin unter der Oberfläche ihres heiteren »Amüsements« erkennt und sie verehrt.22 Erich Mühsam charakterisiert Franziska zu Reventlow in seiner autobiografischen Erzählung »Die Gräfin«: In die Zukunft gerichtet war ihr Leben, ihr Blick, ihr Denken; sie war ein Mensch, der wusste, was Freiheit bedeutet, ein Mensch ohne Vorurteile, ohne Fesseln, ohne Befangenheit von der Philistrosität der Umwelt […] und das Herz erfüllt von der Schönheit des Lebens und von der Schönheit nach einer schönen und freieren Menschenwelt.23 17 18 19 20

Fritz, Die erotische Rebellion. 1980, S. 271. Erich Mühsam (1878–1934), seit 1909 in München. Ludwig Klages (1869–1958). Eggert, Hans: »Ludwig Klages. Die Geschichte seines Lebens«, Teil I: »Jugend«. Bonn 1966. Auszug abgedruckt in: Kubitschek, Brigitte: Franziska Gräfin zu Reventlow: Leben und Werk. München/Wien: Profil Verlag 1998, S. 558. 21 Otto Gross, (1877–1920) österreichischer Psychiater, Psychoanalytiker und Anarchist, Freudianer; 1906 Reise nach Ascona zum »Entzug« wegen Drogenabhängigkeit, in der Naturheilanstalt Monte Verita; er lernte hier Erich Mühsam kennen. Kontakt zur Anarchistenszene und zur Schwabinger Bohéme. Karl Wolfskehl (1869–1948), promovierter Germanist, mit Stefan George in Freundschaft verbunden, seit 1900 mit Franziska zu Reventlow durch Ludwig Klages Bekanntschaft und lebenslange Freundschaft; emigrierte 1938 nach Neuseeland. 22 Rilke, Rainer Maria: »Franziska Gräfin zu Reventlow. Ellen Olestjerne.« In: Die Zukunft 12 (1904), S. 306ff. 23 Erich Mühsam: »Die Gräfin.« In: Prosaschriften II, Bd. 2, Berlin: Verlag Europäische Ideen 1978, S. 147–155 und vollständig abgedruckt in: Kubitschek, Brigitta: Franziska Gräfin zu Reventlow. Leben und Werk. Mit einem Vorwort von Arno Bammé. München/Wien: Profil Verlag 1998.

290

Therese Chromik

[Dass sie] trotz Krankheit, Schulden, Pech jeder Art« die Fähigkeit behielt, Glück zu genießen, gerade dies will ihm genial erscheinen und dass sie nicht nur träumte von dem, was Selbstverwirklichung genannt wird, sondern die »Befreiung von Konventionen zur Maxime ihres Handelns machte.24

Sie verwirklichte in ihrem Leben, was Erich Mühsam in seinem »Frauenrecht« fordert und wurde in anarchistischen Kreisen daher als Lebenskünstlerin gefeiert. Ich sah und sehe in der Ehe als einer gesellschaftlich geschützten Einrichtung die Wurzel persönlichkeitsunterbindenden Zwanges, in der Einschätzung monogamen Lebens als Treue die Verfälschung sittlicher Grundbegriffe, in der Anerkennung der geschlechtlichen Eifersucht berechtigte und zu Ansprüchen berechtigten Empfindung die Förderung schlimmster autoritärer Triebe und in der Gleichsetzung von Liebe und gegenseitiger Überwachung eine die Natur vergewaltigende, tief freiheitswidrige und reaktionären Interessen dienende Sklavenmoral.25

Die Befreiung von Bindungen des Liebeslebens ist Bestandteil der Befreiung von knechtischem Druck. Diese Unabhängigkeit hat ihren Preis in einer Zeit, in der es als Frau schwer ist, unabhängig zu leben und seinen Lebensunterhalt durch eigenen Beruf und erst recht als Künstlerin zu verdienen, Insofern spielen die Finanzen zur Existenzsicherung im Leben der Franziska zu Reventlow eine besondere Rolle. Franziska zu Reventlow musste ihren Freiheitswillen teuer bezahlen. Ihr Leben in Unabhängigkeit vom Elternhaus, ohne bürgerliche Berufsausübung und als Künstlerin in einer Zeit, in der Kunst von Frauen noch nichts galt, brachte es mit sich, dass sie nicht selten in finanzieller Not war. Franziska zu Reventlow hat ihre missliche Lage mit Selbstironie und Humor in dem satirisch anmutenden Werk verarbeitet, das 1916 erschien: »Der Geldkomplex«. Helmut Fritz nennt es »das vielleicht schönste Buch der Gräfin.« und weiter: »›Der Geldkomplex‹ gehört zu den witzigsten Darstellungen der Psychoanalyse. Ohne Vorurteile ironisiert die Gräfin darin den Jargon der Freudianer und macht sich über die Verdrängung der weiblichen Sexualität lustig.«26 Der Hintergrund ist die finanzielle Not, in der sowohl die Protagonistin als auch Franziska selbst immer wieder als schreibende Frau steckt. Der Titel »Geldkomplex« legt mit dem Begriff ›Komplex‹ erst einmal nahe, dass es sich um ein Geflecht von Vorstellungen handelt, die unbewusst verdrängt, oft durch Störungen in der frühkindlichen Entwicklung verursacht, auf Handlungen, Denken, Träume, aber auch Neurosen und Zwangsvorstellungen Einfluss haben. Die Tiefenpsychologie versteht unter einem Komplex das sozusagen 24 Kubitschek, Franziska Gräfin zu Reventlow. 1998. 25 Mühsam, Erich: »Rückblick, Ausblick.« In: Mühsam, Prosaschriften. 1978, S. 235. 26 Fritz, Die erotische Rebellion. 1980, S. 130.

Franziska Gräfin zu Reventlow und »Der Geldkomplex«

291

»festgefrorene Ergebnis« eines Konflikts zwischen Triebwünschen und Hemmungen. Dem Konflikt wird ausgewichen, er wird nicht gelöst, wirkt im Unbewussten weiter. Im Unbewussten entziehen sich die Regungen der Kontrolle durch den Verstand und der überlegten Entscheidung, doch steuert der Komplex immer noch das Verhalten und Empfinden. Überwinden lässt sich der Komplex nur, wenn alle Seiten des Konflikts überdacht werden und eine freie Entscheidung zwischen Gewährung und bewusstem Verzicht getroffen wird. – Sogar eigentlich nebensächliche Erlebnisse können in den individuellen Komplex eingehen. Freud sagt, diese solle man nicht auszurotten versuchen, sondern sich mit ihnen »ins Benehmen setzen«, sie so weit gewähren lassen, wie sie auf Grund der Erfahrungen berechtigt sind und sie so weit zu beherrschen versuchen, dass sie keinen Zwang mehr ausüben. Im Traum, in freien Einfällen und Fantasien wirken sie noch gestalterisch mit, wie wir sehen werden. Theoretisch könnte auch die Erfahrung mit Geld die eine nebensächliche Sache sein, die jemanden von Kindheit an in einen unlösbaren Konflikt zwischen Triebwunsch und auferlegter Hemmung gestürzt hat und ins Unbewusste verdrängt als Komplex weiterwirkt. In diesem psychologisch klassischen Sinn trifft das bei Franziska nicht zu, ihr Problem ist nicht lösbar durch eine freie neue Entscheidung über den Ausgleich von Triebwunsch und Hemmung, eine Zurücknahme des Wunsches wäre ja ein existentieller Untergang, sie musste ihren Sohn ernähren und sah sich oft am Rande der Existenz, so dass sie alle möglichen Arbeiten annahm, um Geld zu verdienen und zeitweise in der Not auch die Prostitution wählte. Es ist also ein reales und kein psychisches Problem. Allerdings hat sie in der Kindheit auch keine Erfahrung im Umgang mit Geld machen können, sie erinnert sich, dass über Geld nicht gesprochen wurde. Vielleicht ist daher das Phänomen »Geld« für sie etwas Abstraktes, Unfassbares, fast Metaphysisches. Sie spricht das Geld im Briefroman an, als sei es ein Liebespartner. Indem sie als Autorin aber den tatsächlichen Geldmangel und die Sorge der Briefroman-Protagonistin, wie der nächste Tag zu überstehen und das Essen zu besorgen sei, im Roman auf die Schiene einer psychischen Krankheit schiebt, die behandelt werden muss, gibt sie zu, dass das Problem bei ihr liegt, schaut sie aus humorvoller Distanz auf ihr Problem. Ich habe die Sache mit dem Geld niemals ernst genommen, ließ es so hingehen und dachte, es würde schon einmal anders werden. Kurz, um mich im Freudianerjargon auszudrücken, – ich habe es entschieden ins Unterbewusstsein verdrängt, und das hat es sich nicht gefallen lassen […] Also – die wirtschaftliche Krisis erreichte einen nie geahnten Höhepunkt.27

27 Reventlow, Der Geldkomplex. 2004, S. 116.

292

Therese Chromik

Dadurch macht die Autorin sich zum Subjekt des Geschehens und ist nicht länger nur Objekt. Der Leser findet sich in einer Spannung wieder: belustigt, durch den koketten frechen Plauderton gut unterhalten und zugleich in der mitfühlenden Ahnung der biografischen Hintergrundsituation. Eben an jenem Morgen traf ich dann einen mir flüchtig bekannten Nervenarzt, einen ›Freudianer‹. Ich wollte mich unbefangen mit ihm unterhalten, konnte aber aus meinem Gedankengang nicht mehr herauskommen. Er wurde aufmerksam, interessierte sich, tat alle möglichen Fragen, dann blieb er mitten im Wege stehen, sah mich enthusiastisch an und stellte fest: Ich litte an einem schweren Geldkomplex, und den könne man nur durch psychoanalytische Behandlung heilen, die er am liebsten selbst übernehmen wollte. Im weiteren Verlauf des Gesprächs schlug er mir vor, ich solle mich einstweilen in die Anstalt seines väterlichen Freundes, Professor V, begeben, er selbst habe die Absicht, seine Ferien dort zu verbringen, und werde also nachkommen. Dem Professor X möchte ich nur um Gottes Willen nichts von der geplanten Behandlung sagen, denn er sei ein erbitterter Gegner allen Freudianertums. Ich könnte mich ja auf irgendeine fixe Idee hinausreden und ein wenig simulieren.28

In diesem lockeren unterhaltsamen Erzählton geht es in diesem Briefroman weiter. Als der Professor sie diagnostisch in Richtung Verdacht auf Depressionen auszufragen sucht, ob sie »etwa oft und ohne Grund Neigung zum Weinen fühle«, muss sie lachen: Darüber fiel ich wieder aus der Rolle und musste über dieses merkwürdige Ansinnen herzlich lachen. [Der Professor vermutet, dass sie] am Ende irgendwelche schwere seelische Erschütterungen durchgemacht [habe. Die Erzählerin schreibt in ihrem Brief weiter:] [A]ch du lieber Gott, auch ohne den Geldkomplex zu erwähnen, konnte ich ihm doch nicht gut sagen: ja gewiß, – aber sie lagen ausschließlich auf pekuniärem Gebiet.29

Der Briefroman ist, wie man schnell heraushört, eine Satire auf die Tiefenpsychologie Freuds, die für die tatsächliche praktische Notlage keinen Blick hat und psychoanalytisch an das Problem herangeht. Wo es um Geldmangel, Existenznot und Hunger geht, sieht der Freudianer einen Komplex, eine übermäßige Fixierung auf etwas, weil der Konflikt zwischen Triebwünschen und Hemmungen nicht gelöst wurde. Eine Verdrängung der Triebe und ein deshalb unausgetragener Konflikt liegen bei der Protagonistin nun tatsächlich nicht vor, so dass der Leser und die Leserin schon über diese absurde Konstellation schmunzeln muss. Franziska zu Reventlow nimmt in dem Briefroman »Der Geldkomplex« also dreierlei aufs Korn: die Psychoanalyse Freuds, ihr eigenes Unvermögen, mit Geld umzugehen und die Gattung ›Briefroman‹, den sie parodiert: War im 18. Jahrhundert der Briefroman die beliebte Gattung, um Subjektivität und Empfindsamkeit zu inszenieren, so kommt es ihr gerade nicht auf Wahrheit 28 Reventlow, Der Geldkomplex. 2004, S. 118–119. 29 Reventlow, Der Geldkomplex. 2004, S. 120.

Franziska Gräfin zu Reventlow und »Der Geldkomplex«

293

und Authentizität an, sondern frech plaudernd und ironisierend lässt sie die Wirklichkeit komisch erscheinen. Maria, die Adressatin der Briefe, lernt man nicht kennen, sie bleibt im Dunkeln. Der biografische Stoff, dem die Autorin dichtend folgt, ist folgender: Erich Mühsam, der die finanzielle Not Franziskas kennt, verhilft ihr zu der Bekanntschaft mit Alexander von Rechenberg-Linten, einem baltischen Baron, der eine Frau für eine Scheinehe sucht, die er eingehen will, weil die Erbschaft an ein Heiraten gebunden ist. Nun sucht er eine geeignete Frau. Die Scheinehen-Frau soll die Hälfte des Geldes bekommen, eine sehr hohe Summe. Franziska zu Reventlow lässt sich darauf ein in der Hoffnung, dass all ihre finanziellen Sorgen dann ein Ende haben, und heiratet ihn im Jahre 1911, womit sie die russische Staatsbürgerschaft erhält, da es ja zu der Zeit den Staat Polen nicht gab. Diese Staatsbürgerschaft erwies sich später als nicht unproblematisch, da sie ja nun als »Feindin« gelten konnte. Sie schildert die Hochzeitszeremonie in Locarno »in einem bezaubernden Briefe« an Erich Mühsam, wie dieser in seiner Erzählung »Die Gräfin« erwähnt.30 1914 stirbt der Schwiegervater. Statt des erhofften großen Erbes erhält Alexander Rechenberg-Linten nur den gesetzlichen Pflichtanteil, da der Vater dem Scheincharakter der Ehe auf die Schliche gekommen ist. Das Geld wird auf einer Bank angelegt. Franziska schreibt dann an Mühsam, »daß sie zum ersten Male in ihrem Leben etwas bürgerlich vollkommen Korrektes getan« hatte, nämlich das Geld einer Bank zu geben.31 Genau da aber geht die Bank pleite und die Erbschaft ist verloren. »Es scheint kein Segen an dem Geld gehangen zu haben« und dass die ganze Geschichte ihr nur ähnlichsehe, schreibt sie an Mühsam, wie er berichtet.32 Franziska, die sich als Übersetzerin, Schauspielerin und Bildhauerin finanziell gerade so über Wasser halten kann, wird von den finanziellen Forderungen ihrer Gläubiger nahezu erdrückt. »Der Geldkomplex« entstand nach Eintreffen der Botschaft, dass die lange erwartete Erbschaft im letzten Moment durch den Zusammenbruch der Bank nicht ausgezahlt werden kann – der Briefroman, nah erzählt am realen Geschehen, erschien 1916. Reventlow verarbeitet diese missliche Lage mit viel Selbstironie und Humor, in dem sie ihre Protagonistin wegen eines Geldkomplexes in ein Sanatorium für Nervenkranke einweisen lässt. Dies ist der Schauplatz des Romans. Die illustre Gesellschaft dort ist geprägt von Ängsten, Attacken, Macken, der Exzentrik einzelner Patienten und vor allem von ihrer nicht fruchten wollenden Therapie bei einem »Freudianer«. Mühsam erwähnt in seiner autobiografischen Erzählung »Die Gräfin« den Psychoanalytiker Dr. Otto Groß: »Groß wollte der Gräfin helfen, indem er in 30 Mühsam, Prosaschriften. 1978, S. 593–560. 31 Mühsam, Prosaschriften. 1978, S. 593. 32 Mühsam, Prosaschriften. 1978.

294

Therese Chromik

seiner genialen und faszinierenden Art alle ihre Sorgen und Leiden als Wirkung seelischer Komplexe bewusst zu machen und dadurch aufzulösen suchte.«33 Sie verspottet im Roman die psychoanalytischen Bemühungen Dr. Baumanns – alias Dr. Groß – um die Behebung des bei ihr diagnostizierten Komplexes. Nach meinem Gefühl wären fast alle Psychosen in erster Linie mit Geld heilbar [, schreibt sie mit Blick auf die Patienten. Und über sich sagt sie:] … ich war mein Leben lang allen menschlichen und seelischen Konflikten gewachsen, nur den wirtschaftlichen nicht. Weder glückliche noch unglückliche Liebe, weder Ehe noch Ehebruch, sondern ausschließlich Gläubiger, Hausherren und Lieferanten haben es dahin gebracht, mich psychisch zu zerrütten.34

Aber die Romanfigur Baumann sieht das anders: Die Ich-Protagonistin könne kein Gespräch führen, ohne dass sie die Gedanken ans Geld immer wieder einholten, folglich litte sie an einem »Geldkomplex«. Er kann sich nicht von der Brille des suchenden, analysierenden Psychiaters befreien und so sieht er – statt ihre wirkliche Not zu erkennen, nur den interessanten »Fall«; und den könne man nur durch psychoanalytische Behandlung heilen: Er begann seine Erörterung damit, fast jeder Komplex beruhe auf verdrängter Erotik – mir schien, […] er wolle auch in meinem Fall versuchen, ihn auf diesen Ursprung zurückzuführen. Etwa so: wenn jemand sein ganzes […] Leben vor allem nach Geld trachtet, muß er viele andere, lebendigere Regungen, wie vor allem die erotischen, unbedingt verdrängen.35

Sie lässt sich das allerdings nicht einreden und schreibt: »Es war eben umgekehrt, als wie er anfänglich gemeint hatte. Das Geld selbst war verdrängt worden, nicht die anderen Dinge«.36 Baumann wendet in seiner psychoanalytischen Behandlung folgerichtig seine Aufmerksamkeit den frühkindlichen Gelderlebnissen der Franziska zu, denn: »Auf diese Zeit sollen ja die meisten Komplexbildungen zurückgehen«.37 Dabei stellt sich heraus, dass Geld in Franziskas Kindheit gar keine Rolle gespielt habe und sie es schon als Kind »für überflüssig und armeleutehaft hielt, sich um Geldfragen zu bekümmern«,38 also schon damals angeblich eine ziemliche Arroganz gegenüber dem Geld an den Tag legte. Die Diagnose »Geldkomplex in Reinkultur« stand damit fest. Und so schildert sie, wie das Geld diese Arroganz dadurch quittierte, dass es fernblieb. Eine kindliche Vorstellung zum Schmunzeln. Dass sie das Geld mit Gleichgültigkeit bedacht und nicht ernst genug genommen habe, sagt sie und wiederholt dieses verstärkt mit 33 34 35 36 37 38

Mühsam, Prosaschriften. 1978. SW, Bd. 2, S. 120. SW, Bd. 2, S. 861. SW, Bd. 2, S. 862. SW, Bd. 2. SW, Bd. 2.

Franziska Gräfin zu Reventlow und »Der Geldkomplex«

295

dem Verfassen dieses Romans, der sich ja im Ganzen auch als ein Akt des Sichlustig-Machens über das Geld liest. Denn lustvoll für den Leser erzählt sie, dass die Ich-Erzählerin Geld als heimtückisches »persönliches Wesen« auffasst, das ihr feindlich gesonnen sei und von dem sie erkannt habe: »durch liebevolle Indolenz verdirbt man’s vollständig mit ihm«.39 Am Ende gibt sich der Freudianer geschlagen und die Patientin triumphiert mit dem Argument, dass ihr Komplex allein »durch positives Geld zu heilen ist«.40 Die Figuren im Roman sind außer der Erzählerin und dem labilen Psychoanalytiker noch einige merkwürdige Mitpatienten: ein russischer versoffener Adliger und seine treulose Braut, Intriganten, eine larmoyante Witwe, ein Gründer von Aktiengesellschaften, der ständig bankrott ist, dann der »Miterbe […] ein ebenfalls dem Alkohol heftig zusprechender Russe«, der zum Schein mit der Erzählerin verheiratet ist, um an sein Erbe zu kommen. Die Figuren sind aus ihrem realen Leben gegriffen und literarisch geworden: Der »Miterbe« ist ihr 2. Ehemann Alexander v. Rechenberg-Linten; der Nationalökonom Professor Edgar Jaffee, späterer Finanzminister der Revolutionsregierung, den Mühsam erwähnt, mag mit Pater gestanden haben. Er hatte versucht, Franziska zu Reventlow eine Stellung als Sekretärin zu verschaffen. Ludwig Klages bescheinigte ihm einen »Gründerwahnsinn« und ihr Freund Albert Hentschel war das Vorbild für »Henry«, den manischen Gründer von Aktiengesellschaften. Die Mitglieder ihres Zirkels im Sanatorium sind bald alle von ihrem Leiden geheilt: Alle planen, spekulieren, wollen in Russland und Südamerika investieren, haben Gewaltiges vor, ignorieren ihr Bankrott-Sein. Die Ich-Erzählerin wartet ihrerseits auf die Erbschaft, die sie sich durch die Scheinheirat gesichert hat und durch die sie sich vom Geldkomplex geheilt sähe. Aber auch dieses Mal scheint sich das Geld gegen sie zu sperren durch den eingetretenen Bankenkrach. Im Tagebuch äußert sie sich des Öfteren über das Geldproblem. 1907 notiert sie: »[…] was für ein Götterleben könnten wir zwei führen, wenn wir Geld hätten.«41 Und als sie einen kurzen Moment nach der Beerbung von Rechenberg Geld hat, kann sie sich »den Ausschweifungen des Geldes hingeben«. Sie muss sich immer wieder »sehr zusammennehmen, um nicht einen furchtbaren Anfall von finanziellem Leichtsinn zu bekommen«.42 An anderer Stelle […] »wir müssen aus der chronischen Misere heraus, ich will mich noch einmal in Geld wälzen.«43 Am 11. Geburtstag ihres Sohnes heißt es im Tagebuch: »Wir verpulvern viel zu viel Geld und amüsieren uns königlich. Er ist ganz aufgelöst vor Seligkeit, darf 39 SW, Bd. 2. 40 SW, Bd. 2. 41 Reventlow, Franziska zu: »Tagebücher«. In: Sämtliche Werke, Briefe in fünf Bänden. Hrsg. von Michael Schardt, Oldenburg: Igel Verlag Literatur 2004, S. 429. 42 Reventlow, »Tagebücher«. 2004, S. 456. 43 Reventlow, »Tagebücher«. 2004, S. 456.

296

Therese Chromik

alles machen, was er will«.44 Wie großzügig sie im besten Sinne mit Geld umgeht, zeigt eine andere Notiz: Einen Entschluss gefasst und zum Verleger Langen gegangen, ich wusste nicht mehr aus noch ein. Ihm meine Lage erzählt und gesagt […], ich wollte arbeiten, was er wollte, nur müsste er mir gleich einen Vorschuss geben. Gab mir ein Buch zum Übersetzen und 200 Mark, 100 Mark habe ich S. gegeben, der am Rand der Verzweiflung ist.45

Wie anstrengend ihre intensive Übersetzungsarbeit ist, zeigt die folgende Notiz: »350 Druckseiten, macht 500 geschrieben, erst übersetzen, dann korrigieren, schließlich ins Reine schreiben- die Abschrift habe ich jetzt in 10 Tagen gemacht« […] und »Jetzt habe ich wieder 280 Druckseiten zu übersetzen, die mir 150 M einbringen, aber in 14 Tagen fertig sein sollen.«46 Einmal übersetzt sie in einer Woche ein ganzes Buch, jede Nacht bis zwei Uhr sitzt sie daran. An anderer Stelle fragt sie sich: Was tu ich eigentlich mit dem Geld […] Ich arbeite wie ein Pferd und […] [h]abe nie etwas. Allerdings passierte es neulich, dass ich einen Fiaker nahm, um nicht zu spät zur Stunde zu kommen, und ihm 10 M. gegeben, weil ich mich nicht mit Wechseln aufhalten wollte. Na, ja, ich bin eben nie um die Schulden herumgekommen, […] und das richtige Sparen lerne ich nie.47

Einige Biografen haben wohl zu Recht von ihrer völligen »Unökonomie« gesprochen; schon die schlichtesten Kenntnisse, unabdingbare Voraussetzung eines halbwegs vernünftigen Haushaltens gingen ihr ab. »Sie habe keinerlei Beziehung zu […] den wirtschaftspolitischen Dingen, selbst des alltäglichsten Lebens. Sie habe erst in den späteren Jahren, kurz vor ihrem Tod, ungefähr gewusst, was ein Kilo Mehl kostet, oder dass die Kartoffeln teurer oder billiger sind- das war erst am Schluss ihres Lebens.«48 Auch ihr Sohn Rolf bezeugt später, und sie wusste es auch selbst, dass sie wie »ein Sieb war«, durch das das Geld »nur so durchtropfte«, »ein Fass ohne Boden«.49 Ihr Dauerkommentar »Finanzen unter aller Kanone«. Oft wird erwähnt, dass das Geld nicht mal mehr für eine Briefmarke reiche. Das Schuldenmachen war an der Tagesordnung und der Gerichtsvollzieher als Dauergast ging ein und aus. Es scheint verständlich, dass sie meinte, man müsse schon Winkelzüge anwenden, um das Geld, diese ihr »feindlich gesonnene, heimtückische Bestie«, zu bändigen und untertan zu machen. »Geld lässt sich zur Liebe nicht verge-

44 45 46 47 48 49

Reventlow, »Tagebücher«. 2004, S. 448. Reventlow, »Tagebücher«. 2004, S. 52. Reventlow, »Briefe«. 2004, S. 280. Im Brief an Paul Schwabe vom 15. 6. 1897. Reventlow, »Tagebücher«. 2004, S. 94. Fritz, Die erotische Rebellion. 1980, S. 123. Zitiert nach Faber, S. 208.

Franziska Gräfin zu Reventlow und »Der Geldkomplex«

297

waltigen – nein, lieben muss man es, damit es einen wiederliebt. Und das lag Fanny Reventlow sehr fern.«50 Klages hat die Geldverachtung der Bohéme,51 die seiner Meinung nach einer Arbeitsverweigerung gleichkam, als Opposition gegen die Geldwirtschaft gedeutet. »Die gesamte Bohéme hat nie auch nur so viel Geld verdient, als erforderlich war, um notdürftig zu existieren. Man lebte in Schulden, wahrte aufs äußerste die persönliche Unabhängigkeit und starb mittellos: Gegenpol des damaligen industriellen und finanziellen Aufschwungs der Bourgeoisie.«52 Franziska formuliert ihre Bilanz so: Ich hatte nie ein festes Einkommen, nie einen bestimmten Beruf, sondern nur vorübergehende Tätigkeiten, bei denen nicht viel herauskam, und doch habe ich eine ganze Reihe von Jahren existiert vielleicht sogar besser und angenehmer gelebt wie manche andere mitsamt Beruf.53

Aufschlussreich scheint mir auch folgender Abschnitt aus dem Tagebuch: Die letzten drei Wochen eine qualvolle Geldnot, die meine Gedanken in Anspruch nahm. Man sucht sich selbst solche Zeiten durch viel Angenehmes zu würzen. Ich will mich nicht mehr von diesem Geld-Kram niederdrücken lassen, bekomme auch tatsächlich immer mehr Lebenslust und immer mehr ›trotzdem‹. Es ist ja unmöglich, immer da zu sitzen und zu denken: Nun ist bald alles aus! Wenn man sich zum Mut zwingt, kommt er schließlich doch von selbst wieder.54

Sich über den Ernst der Lage hinwegsetzen können, auf das Wunderbare hoffen wie im Märchen ist eine Lebenskunst, das aber auch noch sozusagen von oben mit scharfem Blick distanziert und mit lockerer selbstkritischer Feder launig und vergnüglich zu verarbeiten, ist Dichtkunst. Helmut Fritz nennt den »Geldkomplex« eine der witzigsten Darstellungen der Psychoanalyse. Und Dr. Gross charakterisiert er als eine »der exzentrischsten Erscheinungen der internationalen Bohéme.«55 Ernst Bloch erwähnt Franziskas Roman »Geldkomplex« positiv in seinem Band »Das Prinzip Hoffnung«, das 1954 erstmalig erschienen ist. Theodor Heuss rezensiert den Roman 1916 in einer Zeitschrift und schreibt: »Eine entzückende Laune beherrscht das Buch, dessen Unbefangenheit selbst einen Philister gewinnen müsste, so unphiliströs es auch ist. Stilistisch durchsichtig und bewegt, in 50 Zitiert nach Faber, S. 209. 51 Die »Bohéme« wird nach Mühsam folgendermaßen definiert: »die gesellschaftliche Absonderung künstlerischer Naturen, denen die Bindung an Konventionen und die Einfügung in allgemeine Normen von Moral und der öffentlichen Ordnung nicht entsprechen.« In: Mühsam, Erich: »Bohéme«. In: Mühsam, Prosaschriften II. 1978, S. 23ff. 52 Mühsam, Prosaschriften II. 1978, S. 23ff. 53 Reventlow, »Der Geldkomplex«. 2004, S. 150. 54 Reventlow, »Tagebücher«. 2004, S. 484. 55 Fritz, Die erotische Rebellion. 1980, S. 130ff.

298

Therese Chromik

der Haltung geistreich und ungemein unterhaltend.«56 Schon im Untertitel ist der Schalk in den Augen der Autorin zu erkennen: »meinen Gläubigern zugeeignet«, denen natürlich das Geld lieber wäre, das sie wiederum durch die Herstellung dieses Bandes eher übereignet bekommen. Ein humorvoller Offenbarungseid, wo doch ihre finanzielle Situation wirklich oft desaströs war. Das Biografische und Fiktive liegen dicht aufeinander, es ist die humorvolle Sicht auf die Dinge und krasse Schilderung, die das Geschehen ins Literarische hebt. Während Franziska zu Reventlow lange Zeit von LiteraturwissenschaftlerInnen unbeachtet blieb, »obwohl sie zu Beginn des Jahrhunderts eine der bekanntesten Schriftstellerinnen der Bohéme war, ist ein größeres Interesse am Leben und Werk in jüngster Zeit feststellbar«.57 Arno Bammé skizziert die neuere Rezeption der Werke der Franziska zu Reventlow im Vorwort der Biographie von Brigitta Kubitschek.58 Die herausgehobenen Hinweise zu Biografien, Essays und Aufsätzen zu einzelnen Werken werden von Arno Bammé gewürdigt und regen zu weiterem Studium an. In seinem Vorwort stellt er vorweg heraus, dass Else Reventlow, Herausgeberin, Nachlassverwalterin und Schwiegertochter der Franziska zu Reventlow »einen großen Anteil am Verdienst« der Forschungslage hat.59 Eine wichtige Etappe war dann die 1979 erschienene Dissertation von Johannes Székely.60 Auch Ausstellungen mit Katalogen machten auf Franziska zu Reventlow aufmerksam: Hans Eggert Schröder: »Franziska Gräfin zu Reventlow – Schwabing um die Jahrhundertwende«. Die neuste Ausstellung mit dazugehörigem Katalog in mehreren Großstädten (Lübeck, Berlin, Hamburg, München) und in Husum erweckte großes Interesse. Der Katalog »Franziska Gräfin zu Reventlow. Alles möchte ich immer«, dessen Texte und Bilder der gründlichen Recherche von Kornelia Küchmeister, Dörte Nicolaisen und Ulrike Wolff-Thomsen zu verdanken sind und der mit einem Beitrag von Ulla Egbringhoff versehen ist, gibt ein anschauliches, lebendiges und umfassendes Bild vom Leben und Werk der Franziska Gräfin zu Reventlow. Er enthält das bis 2010 neuste und ausführlichste bibliografische Verzeichnis und verweist ausdrücklich anerkennend auf den von Johanna Seegers herausgegeben Band mit dem Verzeichnis der Primär- und Sekundärliteratur, das bis 2006 das ausführlichste war.

56 Heuss, Theodor: »Einige Bücher«. In: März 10 14 1916, S. 239, zitiert nach Egbringhoff, Ulla: Franziska zu Reventlow. Reinbek: rororo 2000. S. 129. 57 Bammé, Arno: »Vorwort«. In: Kubitschek, Franziska zu Reventlow. 1998, S. 9ff. 58 Bammé, »Vorwort«. 1998, S. 9ff. 59 Bammé, »Vorwort«. 1998. 60 Székely, Johannes: Franziska zu Reventlow. Leben und Werk. Bonn: Bouvier 1979.

Hans-Christoph Graf v. Nayhauss-Cormons (Karlsruhe)

Zum Stand der deutschen Literaturdidaktik heute. Vom Abschiedsblick auf den Gegenstand und seine Lernziele zum Blick auf die eigene Befindlichkeit mit ihren Kompetenzen am Beispiel des Antikriegsjugendbuches »Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß« von Rudolf Frank »und die findigen Tiere merken es schon, dass wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt« (Rilke)

1.

Zur Situation

Der erste Satz meines Themas spricht von etwas, das es in der Gegenwart eigentlich nicht mehr gibt: Er spricht von ›Literaturdidaktik. In den »Vorbemerkungen« meines Heftes »Aspekte deutscher Literaturdidaktik von 1945 bis heute« formulierte ich 2013, dass die Beiträge des Heftes vor allem aus der Zeit vor der Jahrtausendwende stammten und als Versuche anzusehen seien, die Entwicklung der bundesdeutschen Literaturdidaktik nachzuzeichnen. Dabei spannte sich der Bogen von der »Methodik des Deutschunterrichts« Robert Ulshöfers bis zur Methodik des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts der Gegenwart. Ulshöfer nannte seine Didaktik der Lebenshilfe eine Methodik, da die zu bestimmenden Inhalte der Literatur als abendländische Kulturwerte nichtfaschistischer Prägung feststanden. Auch in der DDR sprach man von Methodik, da die kommunistische Ideologie den Weg der Geschichtsentwicklung zu wissen glaubte und somit die diesem Weg dienenden Inhalte ebenso feststanden. Die Entwicklung des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts in der Gegenwart zu einer Methodik liegt darin begründet, dass nun keine Inhalte mehr feststehen, sondern sie durch den grundlegenden Perspektivenwechsel in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts in ihrem Wert für den Unterricht so beliebig geworden sind, dass sie austauschbar wurden. Weiter heißt es in meinen »Vorbemerkungen« der »Aspekte deutscher Literaturdidaktik von 1945 bis heute«:

300

Hans-Christoph Graf v. Nayhauss-Cormons

Konkretisierte man in Zeiten der Didaktik, die immer zugleich in ihrer unterschiedlichen Bewertung der Inhalte ein demokratischer Wettlauf zu größerer Kenntnis und Einsicht war, die Inhalte zu Lernzielen, so gerieten in den Zeiten der Beliebigkeit der Inhalte Kompetenzen in den Blick, die hinreichend entfernt von jeder Selbstbeteiligung nur Bewegungsrichtungen anzeigen, auf welche möglichen Fertigkeiten und Fähigkeiten zuzuarbeiten wäre.1

Da der Blick des Rezipierenden von Literatur also nicht mehr auf den Gegenstand, die Literatur, gerichtet ist, sondern auf die verschiedenen Fähigkeiten, die sich im Rezipienten im Umgang mit der Literatur ergeben könnten, bedurfte es nicht mehr einer Didaktik, die aus der Pluralität des literarischen Angebots das heraussucht, was für den Menschen als geschichtliches Wesen in seiner Enkulturation, Sozialisation und Personalisation von Bedeutung ist.2 Durch den Blick vom Kinde her, wie er Ende der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts propagiert wurde, ist auch das Aufgabenfeld der Literaturdidaktik geschrumpft. Textauswahl, Lernzielbestimmung und Kanonbildung waren jetzt nicht mehr gefragt. Der Verlust ihres Aufgabenfeldes machte die Literaturdidaktik als wissenschaftliche Disziplin überflüssig. Sie scheint auch als Begriff obsolet geworden zu sein, denn heute spricht man kaum mehr von Literaturdidaktik, man spricht von literarischer Kompetenz oder vom ›literarischen Lernen‹. Zu diesem Begriff hat Kaspar H. Spinner im 200. Heft der Zeitschrift »Praxis Deutsch« 2006 einen Basisartikel betitelt »Literarisches Lernen« geschrieben, dessen Thesen erst jetzt in der zweiten Dekade des 21. Jahrhunderts in der Forschungsdiskussion angekommen sind.3 So haben in der Internet-Zeitschrift »Leseräume«, die sich um »Literalität in Schule und Forschung« kümmert, Ulf Abraham, Michael Baum und Klaus Maiwald zu Spinners »Elf Aspekten des literarischen Lernens«, in denen er einen neuen Diskurs über Literatur im Unterricht eröffnet, Stellung bezogen. Abraham will in dieser Debatte über die Modellierbarkeit und Überprüfbarkeit literarischer Kompetenzen Spinners Konzept des »literarischen Lernens erstens ergänzen und präzisieren, zweites anthropologisch reflektieren und drittens in einen größeren Zusammenhang einordnen, in dem es um den Erziehungs- und Bildungsauftrag der Schule im Ganzen geht.«4 Für Maiwald verfolgen Spinners »Elf Aspekte« eine Subjektorientierung auch unter dem Vorzeichen der Kompetenzorientierung. Er versucht die Bezüge der »Elf Aspekte« zu weiteren Zielen des Literaturunterrichts, insbesondere Spinners »Ziel1 Nayhauss, Hans-Christoph Graf v.: Aspekte deutscher Literaturdidaktik von 1945 bis heute. Karlsruhe: PH-Druck 2013. 2 Vgl. Nayhauss, Aspekte deutscher Literaturdidaktik. 2013, S. 6. 3 Spinner, Kaspar H.: »Literarisches Lernen«. In: Praxis Deutsch 200, 2006, S. 6–16. 4 Abraham, Ulf: »Literarisches Lernen in kulturwissenschaftlicher Sicht«. In: Leseräume. Zeitschrift für Literariltät in Schule und Forschung. 2. Jahrgang 2015, Heft 2, S. 6–15, hier: S. 6 (Abstract).

Zum Stand der deutschen Literaturdidaktik heute

301

setzungen« von 1999 in einem weiterführenden Modellvorschlag zu systematisieren, in dem »literarisches Lernen« als umfassender didaktischer »Integrationsbegriff fungiert«.5 Michael Baum schließlich fragt nach der sprachlichen Form und diskursiven Funktion der »Elf Aspekte«, wobei er feststellt, dass Spinners Text sich dadurch gegen Kritik immunisiert, dass er Transparenz dort vortäuscht, wo Intransparenz vorliegt. Als Beispiel dient Baum Spinners Umkreisen des Begriffs ›Kompetenz‹, wenn er in seinem Basisartikel formuliert: Als Verbindungsglied zwischen den Begriffen Literatur und Lernen kann der Kompetenzbegriff gelten. Er ist in der neuen Bildungstheorie und -diskussion zum Schlüsselbegriff geworden. […] Ziel des literarischen Unterrichts ist in diesem Sinne die literarische Kompetenz.6

Spinner geht davon aus, dass »das Vermitteln literarischer Kompetenz seit jeher ein Kernanliegen des Deutschunterrichts« sei. Der von ihm benutzte Begriff des literarischen Lernens gründet in seiner Auffassung, »dass es Lernprozesse gibt, die sich speziell auf die Beschäftigung mit literarischen, das heißt hier: fiktionalen, poetischen Texten beziehen«.7 Dabei schließt literarisches Lernen auch auditive und visuelle Rezeptionsformen, also etwa Hörbuch oder Theater ein. Baums Analyse der begrifflichen Mehrdeutigkeit Spinners verdeutlicht, dass leicht zugängliche Metaphern wie diejenige des »Schlüsselbegriffs« … auf der einen Seite [suggerieren], dass der Leser gar nicht anders kann, als beim Kompetenzbegriff anzusetzen, wenn es um »literarisches Lernen« geht, auf der anderen Seite rotieren sie aber in sich selbst, weil sie über ihre rhetorische Funktion nicht hinauskommen.8

Dieser Befund Baums trifft meines Erachtens die gesamte Situation des gegenwärtigen Deutschunterrichts in Deutschland nach dem Abschied von der Literaturdidaktik. Alle ehemaligen lernzielorientierten früheren Literaturdidaktiker befinden sich heute in einer Situation, in der ihre frühere wissenschaftliche Rechtgläubigkeit nun mit dem methodischen Mainstream des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts und seinem Wechsel der Blickrichtung vom Gegenstand weg auf den Rezipienten hin kollidiert. Dabei kollidieren die Begriffe der Literaturdidaktik mit ihren genau definierten Lernzielen mit den aus internationalen Studien übernommenen Kompetenzbegriffen, die nicht deckungsgleich sind, da sie zu viele semantisch blinde Passagiere aus anderen Disziplinen

5 Maiwald, Klaus: »Literarisches Lernen als didaktischer Integrationsbegriff – Spinners ›Elf Aspekte‹ als Struktur- und Denkrahmen für weiterführende Modellierung(en)«. In: Leseräume. 2015, S. 84–95, hier: S. 85 (Abstract). 6 Spinner, »Literarisches Lernen«. 2006, S. 6f. 7 Spinner, »Literarisches Lernen«. 2006, S. 6. 8 Baum, Michael: »Der Tanz des Bären. Zur intransparenten Transparenz von Kaspar Spinners ›Elf Aspekten des literarischen Lernens‹«. In: Leseräume, 2015, S. 16–26, hier: S. 19.

302

Hans-Christoph Graf v. Nayhauss-Cormons

enthalten. Man denke nur an den sehr genauen und grundsätzlichen Aufsatz von Juliane Köster über »Evaluation von Kompetenzen im Deutschunterricht«.9

2.

Ein Beispiel

Um zu verdeutlichen, inwieweit Lernziele und Kompetenzen sowohl dem Lerngegenstand als auch dem Lernenden gerecht zu werden vermögen, sei das Antikriegs-Jugendbuch »Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß« von Rudolf Frank als Beispiel literarischen Lernens vorgestellt. Die Kernfrage dieses Beispiels ist: Warum soll man mit Jugendlichen ein Antikriegsbuch behandeln und was möchte man mit dieser Behandlung erreichen? Dazu gehört, was habe ich als Unterrichtender für einen Literaturbegriff und welche Kompetenzen soll ein Schüler durch die Lektüre eines Antikriegsbuches erwerben?

2.1.

Mein Blick zurück ohne Zorn

Eine der Grundfragen und eines der Grundprobleme sind für mich gegenwärtig als Literaturwissenschaftler und Literaturdidaktiker im Ruhestand, ob heute noch die wissenschaftstheoretischen Voraussetzungen Gültigkeit beanspruchen können, nach denen ich vor etwa fünfzig Jahren im Wissenschaftsbetrieb angetreten war. Für mich galt damals wie heute, dass Literatur als Spiegel dessen gilt, was gerade den aktuellen Diskurs in einer Gesellschaft bestimmt. Weiterhin spiegelt Literatur bestimmte Fragestellungen und Themen, die aufgrund bestimmter Anlässe in die gegenwärtige Diskussion einer Gesellschaft geraten. Der Anlass, der die Beschäftigung mit dem Antikriegsbuch der Kinder- und Jugendliteratur »Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß« von Rudolf Frank, liegt bei mir mehr als dreißig Jahre zurück. Im Wintersemester 1983/84 beschäftigte ich mich in meinem Seminar über »Jugendbücher für den Frieden« unter anderem10 mit Rudolf Franks Buch anlässlich des damals drohenden Kriegs der 9 Köster, Juliane: »Evaluation von Kompetenzen in Deutschunterricht – Neues Etikett oder bildungspolitische Wende?« In: Kompetenzen im Deutschunterricht. Hrsg. von Heidi Rösch. Frankfurt am Main: Peter Lang 2005, S. 175–193. 10 Unter den Rubriken »Bedrohter Frieden« (1), »Krieg und Frieden« (2), »Fabeln und Utopien vom Frieden« (3) und »Der tägliche Unfrieden« (4) behandelte ich damals unter 1. Nina Rauprich: Ich heiße Sokom; Hildegard Wohlgemuth (Hrsg.): Frieden, mehr als ein Wort; R. Frisch/Fr. Mennekes (Hrsg.): Gestern Krieg – heute Frieden – morgen …; Lise Loewenthal: Schalom, Ruth, Schalom; unter 2. Judith Kerr: Warten bis der Frieden kommt; Rudolf Frank: Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß; Jan Prochazka: Es lebe die Republik; H. Vinke (Hrsg.): Als die erste Atombombe fiel. Die Rubrik Nr. 3 enthielt Erich Kästner: Die Konferenz der Tiere und Christine Nöstlinger: Wir pfeifen auf den Gurkenkönig. In der letzten Rubrik

Zum Stand der deutschen Literaturdidaktik heute

303

Sterne, bei dem Europa zum atomaren Schlachtfeld der damaligen Supermächte USA und UdSSR zu werden drohte. Mit dieser zurückliegenden Buchbegegnung verbindet sich natürlich auch eine unterschiedliche literaturwissenschaftliche und -didaktische Form des Zugehens auf Texte und der Realisierung des Unterrichts. Ausdruck dieser Veränderung ist heute auch, dass die didaktische Perspektive gegenüber der Literatur- und Medienwissenschaft offenbar keinen eigenen Blickwinkel mehr beanspruchen kann, bzw. nur noch von »Literatur und Sprache im Vermittlungszusammenhang« gesprochen wird.11 Auch in der von Elisabeth K. Paefgen propagierten Definition der Literaturdidaktik als »Theorie des Lehrens und Lernens von Literatur in Lernkontexten«,12 die an die von Rolf Geißler 1970 in seinen »Prolegomena zu einer Theorie der Literaturdidaktik« geforderte »Theorie des Lesens und des Lesers«13 erinnert, spiegelt sich der Abschied vom Gegenstand der Literatur, da hier nur auf die konkreten Fähigkeiten und Fertigkeiten des unterrichteten Subjekts abgehoben wird. Gab es bis in die 1980er Jahre noch eine wissenschaftliche Literaturdidaktik, die sich durch die Frage nach dem »was gelernt werden soll«, also nach dem Kanon und nach den Lernzielen konstituierte, so ist der in der Gegenwart vorherrschende handlungs- und produktions-orientierte Unterricht nur noch, wie Kasper H. Spinner im »Handbuch des Deutschunterrichtes« formuliert, eine Art von Methode, in der nach dem »Wie soll gelernt werden« gefragt wird. Das hat Konsequenzen für das, was zu lernen ist. Gab es früher einen Katalog von Fein-, Grob- und Richtzielen, die am Unterrichtsgegenstand, also dem literarischen Werk orientiert waren, so geht es heute um Kompetenzen des Lesers. Kompetenzen sind vergleichbar mit den früheren Richtzielen, wie es 1978 Christine Möller in ihren curricularen Lernzielebenen beschrieb. Dort sind Richtziele die allgemeinste und abstrakteste Form von Zielen, die als das »große Endziel« bezeichnet werden und mit der Arbeit am konkreten Gegenstand kaum mehr etwas zu tun haben. Anders gesagt: Der gegenwärtige handlungs- und produktionsorientierte Unterricht bedingte im Erziehungswesen einen grundsätzlichen Wandel des Verhältnisses zur Literatur. Hatten früher die Schüler/innen die Möglichkeit, sich am literarischen Text abzuarbeiten als kritische Deutungsmöglichkeit von Welt (Klaus Gerth), als Erkenntnis (Helmut Heißenbüttel), als stand Leonie Ossowskis Buch Die große Flatter. Diese Zusammenstellung von mir orientierte sich damals an einem GEW-Info vom April 1982 unter der Überschrift ›Jugendbücher zum Thema »Frieden«‹ sowie einem Schaubild von Birgit Dankert »Bücher für den Frieden«. 11 Vgl. Baum, Michael/Gohrbandt Detlev (Hrsg.): Wissenschaft der Fachdidaktik: Literatur und Sprache im Vermittlungszusammenhang. Landau: Markus Knecht 2007. 12 Paefgen, Elisabeth K.: Einführung in die Literaturdidaktik. Stuttgart/Weimar: Springer 1999, S. VII. 13 Geißler, Rolf: Prolegomena zu einer Theorie der Literaturdidaktik. Hannover: Hermann Schroedel Verlag 1970, S. 24.

304

Hans-Christoph Graf v. Nayhauss-Cormons

einem Gegenüber, das uns etwas von der Geschichtlichkeit des Menschen erfahren lässt (Rolf Geißler), als ein dialogisches Du (M. Buber), aus dem das Ich sich herausfragen konnte, so sehen sie heute Literatur nur als Anlass für eine vermeintlich eigene Kreativität und Produktivität, die sich jeglicher Beurteilung und Wertung entzieht oder die Literatur im Höchstfalle als Mittel der Konditionierung von Lebensstrategien begreift. Ob das ein Schritt zur Selbstautonomie ist, bleibt für mich offen. Für dieses monologische Ausbilden von Fähigkeiten und Fertigkeiten, für diese Überbetonung von Erziehung durch Literatur gegenüber einer Erziehung zur Literatur spielten im Laufe der letzten Jahrzehnte die Inhalte der Literatur immer weniger eine Rolle. Was aber kann uns außer dem Inhalt des Buches von Rudolf Frank denn zu einer Haltung gegen den Krieg aufrütteln, wenn wir Literatur als humane Utopie einem drohenden Krieg der Sterne 1983–1984 oder der Erinnerung an den Untergang Europas im Ersten Weltkrieg 1914–1918 entgegenhalten? Zur Klärung dieser Frage möchte ich am Beispiel von Rudolf Franks Buch »Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß« im Sinne der Literaturdidaktik der 1980er Jahre an den Text herangehen und danach mehr aus unterrichtsmethodischer Sicht abwägen, ob das gegenwärtige unterrichtsmethodische Herangehen an Texte die gleiche Nachhaltigkeit wie das der einstigen Literaturdidaktik erreicht. In meinen Augen gibt es Nachhaltigkeit nur, wenn man begreift, was einen ergriffen hat, d. h. die Diffusität der Sinneseindrücke durch das reflektierte Verstehen geordnet wird.

2.2.

Rudolf Franks Antikriegsroman für die junge Generation »Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß«

2.2.1. Allgemeines zum Buch In der Erstausgabe dieses Jugendromans, der 1931 im Verlag Müller & I. Kiepenheuer mit dem Titel »Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua« und dem Untertitel »Kriegsroman für die junge Generation« erschien, werden als Verfasser Rudolf Frank und Georg Lichey genannt. In der Ausgabe des Ravensburger Jugendbuchverlags von 1982 fungiert nur noch Rudolf Frank als Autor, während Georg Lichey, Redakteur und Schriftsteller sowie Hauptmann im Ersten Weltkrieg, als »Berater für militärisch-technische Fragen« erwähnt wird. Laut Auskunft des Sohnes von Rudolf Frank, Herrn Dr. rer. pol. Vincent C. Frank-Steiner, hat Georg Lichey zum Schädel des Negerhäuptlings Makaua […] die militärischen Teile beigetragen, denn davon verstand mein Vater nichts. Man merkt es schon am Stil, welche Abschnitte von

Zum Stand der deutschen Literaturdidaktik heute

305

Lichey sind. Ich vermute, dass sein wichtigster Beitrag war, für den Roman einen Verleger zu finden.14

Georg Lichey war also auch kein Pseudonym von Rudolf Frank, wie es der Ravensburger Otto Maier Verlag bei der Neuherausgabe des Buches 1982 angenommen hat. Dass die Bezeichnung »Negerhäuptling« inzwischen als diskriminierend galt, führte in der Ravensburger Jungen Reihe 1982 auch zu einer Titeländerung des Buches, das fortan »Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß« hieß. Damit wurde allerdings die politische propagandistische Dimension des Schädels des Negerhäuptlings Makaua, der der Überlieferung nach Sultan eines einstigen afrikanischen Großreiches gewesen war und dessen Schädel angeblich von deutschen Soldaten 1889 in Ostafrika geraubt worden sei, sehr verkürzt. Die Franzosen benutzen den Schädel Makauas als Symbol dafür, ihren schwarzafrikanischen Soldaten eine Renaissance des einstigen Großreiches vorzugaukeln und damit das Ende der Unterdrückung durch die weißen Kolonialherren. Obwohl es den Schädel Makauas in Wirklichkeit weder bei den Deutschen noch bei den Franzosen gab, gewann er durch Propaganda eine solche Realität, dass sogar im Versailler Friedensvertrag in Artikel 246 tatsächlich von den Deutschen gefordert wurde, den Schädel an die Alliierten auszuliefern. In dem zweiten Gipfelpunkt der Handlung des Buches von Rudolf Frank, im Lazarett von Neuville an der Westfront in Frankreich, heißt es: […] [U]ns allen, die wir hier sind, hat man als Lohn für unsere Schmerzen und unser Blut den Schädel des Häuptlings Makaua versprochen. Man hat nur andere Namen dafür gebraucht. Man hat nicht Makaua gesagt, man hat gesagt: Freiheit, Vaterland, Gerechtigkeit, einigen sagte man: Belgrad, andern Revanche, wieder andern: Väterchen Zar. Man sagte nicht Makaua, man sagte: Kultur, Zivilisation, Menschheit, man sagte sogar: ehrenvoller Friede. Aber das bedeutete alles das gleiche. Und wir alle haben draußen auf den Schlachtfeldern nichts von dem gefunden, was man uns versprochen hatte: keine Kultur, keine Zivilisation und keine Menschlichkeit […]. Wir alle, Schwarze und Weiße, sind in den Krieg gezogen für einen Wahn, jeder für einen andern, aber alle diese Wahnbilder sind im Blutdunst der Schlachtfelder zu nichts zerronnen.15

Rudolf Frank erweitert den Mythos des Schädels von Makaua zu einem der Symbole der Verführung durch Herrschende, um dessentwillen mehr als zehn Millionen Menschen in den Tod gejagt wurden.16

14 Zitiert bei: Clarissa: Clarissas Krambude. Autoren erzählen von ihren Pseudonymen. Novum Publishing GmbH 2011, S. 245. 15 Frank, Rudolf: Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß. Ein Roman gegen den Krieg. Ravensburg: Otto Maier Verlag 1982, S. 178f. (im Folgenden im Text mit der Sigle »DJ« und Seitenzahlen geführt). 16 Vgl. Leutheuser, Karsten: Freie, geführte und verführte Jugend. Politisch motivierte Jugendliteratur in Deutschland 1919–1989. Paderborn: Igelverlag 1995, S. 66.

306

Hans-Christoph Graf v. Nayhauss-Cormons

Der Untertitel des Buches »Kriegsroman für die junge Generation« verbirgt zunächst, dass es sich um einen Antikriegsroman handelt. Frank versucht hier, seine eigentliche Intention, die junge Generation vor der Kriegsverherrlichung zu bewahren und zu Zivilcourage aufzufordern, zu verschleiern. Sein Roman könnte vom Titel her genauso gut eines der Kriegsbücher sein, die während des Ersten Weltkrieges herauskamen, um Freiwillige für den Kriegsdienst zu werben. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die etwas gespenstische Reihe über die Erlebnisse zweier Kriegsfreiwilliger von 1914 bis 1916 in drei Bänden, die erzählt werden für Jung und Alt von einem Oberleutnant a. D. Hans Willig und einem Schulrektor namens Wilhelm Heinrich. Die Titel dieser Bücher verraten schon den Geist, der in ihnen west: Band 1 ist mit »Marsch! Marsch! Hurra!« betitelt, Band 2 mit »Jungens! Frisch drauf!« und Band 3 will »Mit Hurra zum Siege!« eilen.17 2.2.2. Annäherung an Texte in den 1980er Jahren Sowohl die literaturwissenschaftliche als auch die literaturdidaktische Diskussion Ende der 1970er und der beginnenden 1980er Jahre war geprägt von der literarischen Hermeneutik. Hans Robert Jauß arbeitete die ästhetische Erfahrung auf der Basis der literarischen Hermeneutik heraus, Rainer Warning entwickelte die Rezeptionsästhetik als literaturwissenschaftliche Pragmatik, und Wolfgang Iser entwarf das Programm einer Wirkungsästhetik literarischer Prosa in seinem Buch »Der implizite Leser« und untersuchte den »Akt des Lesens«, um eine Theorie ästhetischer Wirkung zu entwickeln. Als Stammvater der Hermeneutik wurde Hans-Georg Gadamer gefeiert, dessen Buch »Wahrheit und Methode. Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik« aus dem Jahre 1947 nun mehrfach erweitert endlich im wissenschaftlichen Bewusstsein der 1970er Jahre angekommen war. In der Literaturdidaktik nutzte Rolf Geißler in seinen »Prolegomena zu einer Theorie der Literaturdidaktik« (1970)18 Gadamers Erkenntnisse, wenn er Lesen vom Verstehen her fasste und damit der hermeneutischen Fragestellung Gadamers folgte.19 Geißler forderte für die Literaturdidaktik als Wissenschaft eine Theorie des Lesers und des Lesens. Dieser rezeptionstheoretischen literaturdidaktischen Position huldigte auch ich in meinen Seminaren zu Beginn der 1980er Jahre, also auch im Seminar »Jugendbücher für den Frieden«. Damals hatte ich auf der Grundlage der Gadamerschen Hermeneutik ein Text17 Willig, Hans/Heinrich, Wilhelm: Marsch! Marsch! Hurra! Die Erlebnisse zweier Kriegsfreiwilliger im Weltkriege 1914. Band 1. Berlin: A. Weichert 1914; Jungens! Frisch drauf! Band 2. Berlin: A. Weichert Verlag 1915; Mit Hurra zum Siege! Band 3. Berlin: Rob. Bachmann 1916. 18 Geißler, Prolegomena zu einer Theorie der Literaturdidaktik. 1970. 19 Vgl. Nayhauss, Hans-Christoph Graf v.: Einführung in die Literaturdidaktik. Texte und Fragen. München: Paul List Verlag 1978, S. 27.

Zum Stand der deutschen Literaturdidaktik heute

307

Leser-Modell entwickelt, bei dem in der Schnittmenge der beiden Kreise Text und Leser die Horizonte beider zu einer Interpretation verschmelzen. Außerhalb der Schnittmenge werden bei der Textbeschreibung literaturwissenschaftliche Kategorien erfragt, deren Beantwortung Einblick in die Struktur der Texte erlaubt. Beim Leser bleibt außerhalb der Schnittmenge gegenwärtig, dass sein Blick auf Texte immer abhängig ist von seiner eigenen Personalisation, Sozialisation und Enkulturation. Voraussetzung für mein Schema der Texterkenntnis war neben der Rezeptionstheorie die literaturpädagogische sequenzorientierte Literaturdidaktik von Johann Bauer, der seinem Konzept den in der modernen Lernpsychologie von Hans Aebli entwickelten Begriff des Lernens zugrunde legte. Aebli hatte das Lernen definiert als »Differenzierung eines Ausgangsverhaltens und Integration von bisher unverbundenen Verhaltenselementen zu einem höheren Ganzen«.20 Das Lernen im literarischen Unterricht kommt nach Bauer dadurch zustande, wenn die beiden Fähigkeiten, Texte zu verstehen und ihre Inhalte kritisch zu reflektieren, »zunehmend differenziert und die dabei erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten zu einem höheren Endverhalten integriert werden«.21 Diese Definition benutzte Bauer, »um das Erleben und Erfahren der Welt im Medium der Literatur«22 zu klären. Da der Literatur nach Bauer neben der Wissenschaft eine entscheidende Bedeutung für das Welt- und Daseinsverständnis zukomme, sei das Lernen an der Literatur gemäß der Definition von Aebli immer verbunden mit der Differenzierung des Sehvermögens für literarische Gestaltung. Aus den mannigfaltigen Formen der Literatur könnten Erkenntnisse über die Wirklichkeit gewonnen werden, da das Wahrnehmen von poetischen Strukturen, das Erkennen von Gestaltelementen zugleich mit dem Auffassen und Deuten der in ihnen gesehenen, bzw. gestalteten Wirklichkeit identisch sei. Je differenzierter der Formsinn des Verstehenden, des Lesers von Literatur sei, umso vollkommener vermag sich nach Bauer das literarische Werk im Verständnis des Lesers zu konkretisieren. Die Konsequenz dieser Überlegung für den Unterricht hieß: Beim Schüler muss der Formsinn differenziert werden in der fachwissenschaftlichen Erschließung des Unterrichtssujets. Seine Verstehensfähigkeit entfalte sich in dieser Differenzierung so, dass er schließlich in der Lage sei zu urteilen und zu reflektieren. Textanalyse, didaktische Analyse und methodische Unterichtsskizze wurden dementsprechend als Schritte der Lehrervorbereitung gefordert. Wie schon bei Hermann Helmers steht auch in dieser didaktischen Konzeption die Vermittlung von Gestaltelementen der Literatur, von fachwis20 Zitiert nach Bauer, Johann: Einführung in die literaturpädagogische Konzeption des Lesebuchs schwarz auf weiß. Hannover: Schroedel 1970, Neubearbeitung 2. Schuljahr, S. 2. 21 Bauer, Einführung in die literaturpädagogische Konzeption. 1970. 22 Bauer, Einführung in die literaturpädagogische Konzeption. 1970, S. 6.

308

Hans-Christoph Graf v. Nayhauss-Cormons

senschaftlichen Gattungskriterien im Vordergrund. Nach Bauer garantierte nur eine fachwissenschaftlich orientierte poetische Elementarlehre, dass der spätere Erwachsene sich in der Welt des Schrifttums zurechtfindet und als kritischer, urteilsfähiger Leser (bzw. Hörer) nicht mehr Objekt des Schrifttums, sondern handelndes, wertendes auswählendes Subjekt ist.23

Auf der Folie dieser aufklärerischen Utopie bietet Literatur nach Bauer Interpretationsmodelle der Realität, die, über das bloß Faktische hinaus, das Wirkliche erkennbar machen. Wer Literatur besser verstehen könne, verfüge über differenziertere Zugangsmöglichkeiten zur Realität. Bauers Literaturunterricht als eine Erziehung zur Wirklichkeit war also orientiert an der gattungspoetischen Literaturwissenschaft sowie an strukturalen Methoden der Textanalyse, insofern sie eine Art Elementarkurs zur systematischen literarischen Verstehensschulung anstrebt. Das damals in den 1980er Jahren sehr verbreitete von Johann Bauer initiierte Lesewerk »schwarz auf weiß« betonte dementsprechend die gattungspoetischen Strukturen.24 Von diesen Voraussetzungen her, der Hermeneutik Gadamers und der literaturdidaktischen Positionen von Geißler und Bauer, entwickelte ich damals mein Schema der Texterschließung, das für mich auch heute noch aufschließende Fragen an Texte stellt und nach dem in meinem Seminar das Buch »Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß« von Rudolf Frank interpretiert und didaktisch aufbereitet wurde. Bevor ich nach diesem Modell an den Text herangehe, hier zunächst noch eine kleine Inhaltsangabe, so dass die Anwendung der literaturwissenschaftlichen und literaturdidaktischen Kategorien verständlicher wird. 2.2.3. Inhaltsangabe Am 14. September 1914 vergisst der deutschsprachige Polenjunge Jan Kubitzki seinen 14. Geburtstag, da an diesem Tag sein polnisches Heimatdorf Koptschowka in Russisch-Polen durch Beschuss der zurückweichenden russischen und der nachrückenden deutschen Truppen zerstört wird. Jans Mutter ist gestorben, Jans Vater ist Soldat bei der Armee des Zaren, Jans Onkel, der für ihn zu sorgen versprochen hatte, kommt bei der Bombardierung von Koptschowka ums Leben. Jan, der sowohl Deutsch wie Polnisch spricht, wird von den deutschen Soldaten aufgespürt. Mit ihm ist der Königspudel Flox im Dorf übriggeblieben. Da er keine Familie mehr hat und allein im Dorf nicht mehr bleiben kann, schließt er sich den Deutschen an. Die deutschen Soldaten, besonders der Sachse Albin Rosenlöcher und der Offizier Hans Alert, genannt »der weiße Rabe«, 23 Bauer, Einführung in die literaturpädagogische Konzeption. 1970, S. 12. 24 Vgl. Nayhauss, Aspekte deutscher Literaturdidaktik. 2013, S. 47f.

Zum Stand der deutschen Literaturdidaktik heute

309

kümmern sich um Jan und Flox. Jan wird zum Maskottchen der Kompanie. Aufgrund seiner Sprachkenntnisse, Ortskunde und seines Einfallreichtums rettet er den Soldaten mehrfach das Leben. Besonders bei den Kämpfen um die Stadt Dombie in Russisch-Polen sorgt eine von ihm reparierte Telefonleitung und sein Aufspüren einer getarnten russischen Stellung für einen präzisen deutschen Infanterieangriff, der ein großes Blutbad zur Folge hat. Jan wird sich immer mehr der Sinnlosigkeit des Krieges bewusst. Ihm stellt sich die Frage: Warum das alles? Und für wen? Gehöre ich wirklich hier hin? Bleibt er bis Ende des Jahres 1914 Zeuge des Kriegsgeschehens im Osten, so wird er nach der Verlegung seines Bataillons an die Westfront nun Beobachter des Stellungskrieges in Frankreich und durch weitere Heldentaten zum Schutzengel der Batterie. Als er für seine Leistungen vom Kaiser ausgezeichnet und als Deutscher eingebürgert werden soll, verschwindet er mit seinem Hund Flox ins Dunkel der Nacht, indem er zu ihm sagt: »Wir lassen keinen Makaua aus uns machen… Kein Mensch muss müssen, du nicht und ich nicht.« 2.2.4. Die Textbeschreibung 2.2.4.1. Zur Erzählsituation und zu den Zeitverhältnissen Das von mir erwähnte Schema der Texterschließung beginnt, wie Sie am Fuße der Beschreibungspyramide sehen, bei der Textbeschreibung mit Fragen nach der Erzählsituation, der Erzählzeit, der erzählten Zeit sowie Fragen nach Zeitraffung, Zeitdehnung und -deckung. Die Fragen nach der Erzählsituation orientierten sich noch in den 1980er Jahren an Franz K. Stanzels Forschungen über eine Theorie des Erzählens.25 Stanzel unterschied damals die Ich-Erzählsituation, die personale Erzählsituation und die auktoriale Erzählsituation. Wenn man nun ausgerüstet mit den Formen des Erzählens von Stanzel an Rudolf Franks Jugendroman »Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß« herangeht, ist festzustellen, dass einerseits im Roman die auktoriale Erzählsituation vorherrscht, andererseits manche Abschnitte auch aus der Sicht der Hauptfigur Jan Kubitzki erzählt werden, hier also die personale Erzählsituation gewählt wurde. Diese Mischung ist nicht unbeabsichtigt, sie hat eine Funktion. Die Wahl der auktorialen Erzählsituation, d. h. eines Erzählers, der mehr weiß als die erzählte Hauptfigur und einen Überblick über das Gesamtgeschehen besitzt, erlaubt dem Autor, seine Handlungsträger zu kommentieren und das Erzählerverhalten zu werten, so dass Sätze auftauchen wie: »Strategie, Taktik klingt wunderschön, aber auf gut deutsch heißt’s Massenmord, weiter nichts« (DJ, 91) 25 Stanzel, Franz K.: Typische Formen im Roman. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1955 (9. Aufl. 1979) und Stanzel, Franz K.: Theorie des Erzählens. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1979.

310

Hans-Christoph Graf v. Nayhauss-Cormons

oder »All das geschah im Namen der militärischen Disziplin. Ihr opferte man die menschliche Vernunft und die menschliche Freiheit« (DJ, 116). In solchen Sätzen kommt die kompromisslose Ablehnung des Krieges durch den Autor zum Ausdruck, der dabei allerdings seinen Rezipienten das reflektierende Lesen vorenthält. Die eingestreute personale Erzählsituation, das Erzählen aus der Sicht von Jan, ermöglicht für die Leser ein stärkeres Miterleben mit der Hauptfigur und im Sinne des Jugendbuches ohne den pädagogischen Impetus seiner Autoren, in dem normalerweise die Ich-Erzählsituation bevorzugt wird, auch Identifikation. Die personale Erzählsituation zeigt sich vor allem in den Dialogen, in denen die Eindrücke, die Jan im Krieg sammelt, versprachlicht werden. Durch die verschiedenen Formen des Erzählens ergibt sich sowohl eine Distanz zum entsetzlichen kriegerischen Geschehen als auch eine Identifikationsmöglichkeit mit der Hauptfigur. Die Distanz und das Miterleben erzeugen Reflexion und Betroffenheit. Die im Schema der Texterschließung in der gleichen Rubrik der Erzählsituationen angesiedelten Fragen nach den Zeitverhältnissen sind ebenfalls erhellend für die Grundstruktur des Textes. So beginnt hinsichtlich der erzählten Zeit Rudolf Franks Jugendroman ganz konkret am 14. September 1914, als Jan seinen Geburtstag vergaß. Weitere Zeitangaben folgen geradezu kalendarisch: Wir lesen vom 15. Oktober (DJ, 67), dem 1. November (DJ, 93), vom Advent (DJ, 115), vom 22. Dezember (DJ, 119), vom 4. Advent (DJ, 117), vom 23.12. als die Batterie über die Oder aus Russland an die Westfront fährt, hören von Weihnachten sowie von den Weihnachtstagen in Plauen (DJ, 134) und vom 27. Dezember, doch dann 1915 an der Westfront fehlen Zeitangaben, als ging der Krieg hier ins Zeitlose und Immerwährende über. Die Entsetzlichkeit des Krieges macht den Augenblick dieser Situation zur Dauer. Die erzählte Zeit erstreckt sich dementsprechend vom 14. September 1914 bis ins Frühjahr 1915. Hier ist die Zeit meistens gerafft. Dass die Gipfelpunkte der Handlung, die Schlacht um Dombie und die Diskussion im Lazarett von Neuville über den Schädel des Negerhäuptlings Makaua zeitdeckend erzählt werden, entspricht den üblichen Regeln des Spannungsaufbaus. 2.2.4.2. Figurenkonstellation Die Hauptfigur des Buches ist der vierzehnjährige Polen Jan Kubitzki, der als moderner Simplizissimus zu bezeichnen ist. Wie der Simplex des 17. Jahrhunderts gerät er in die Maschinerie des Krieges. Aus seinem polnischen Dorf, in dem er mit seinem Onkel lebt, da die Mutter gestorben ist und der Vater in der Armee des Zaren dient, wird er mit dem Hund des Schäfers Flox, der ihm zuläuft, zu einem Mitglied der Batterie, bzw. zu einem Teil der deutschen Armee, denn die Soldaten behandeln ihn nicht wie einen Gefangenen, sondern kümmern sich um den nun heimatlosen Jan und seinen Hund. Sie nennen ihn Panje, was auf Pol-

Zum Stand der deutschen Literaturdidaktik heute

311

nisch Herr bedeutet, aber von den deutschen Soldaten bei der Namensnennung von Jan als Nachname missverstanden wird. Waren die Figuren neben Jan im Dorf Koptschowka noch dem kleinen Horizont der Familie mit Onkel Peter, dem Schäfer, der Goloborotka, dem Panje Ostrowski und dem Krämer Kaczmar verpflichtet, so erweitert sich durch die Anwesenheit der deutschen Soldaten und Offiziere diese enge Heimat. Jan lernt deutsche Soldaten kennen, die von weit herkommen. Besonders der Sachse Albin Rosenlöcher aus Plauen und der Oberleutnant Hans Alert, den man deshalb einen weißen Raben nennt, weil er über alle Dinge seine eigene Ansicht hatte, was beim Militär so selten war wie ein Rabe mit weißem Gefieder, und Cordes, der jahrelang in den deutschen Kolonien in Afrika war und die Geschichte des Schädels des Negerhäuptlings Makaua erzählt, der lange Hottenrot, Fritz Behr und Distelmann, der Vollbart, sind Jan enger verbunden. Als Jan mit den Soldaten nach Gradicz zieht, erweitert sich seine Dorfperspektive zur Kunde seiner näheren Heimat. In der Schlacht von Dombie westlich von Warschau ist nun Jans weitere Heimat Handlungsort. Mit dieser geographischen Ausweitung des Horizontes begegnet Jan natürlich auch immer mehr fremden Leuten. Er sieht hohe Offiziere, Generäle, zahllose Soldaten und Sterbende, wie den Schäfer Vladimir aus Koptschowka, dem der Hund Flox gehörte. Als schließlich die Batterie an die Westfront verlegt wird und auf der Fahrt durch Deutschland nach Frankreich über Plauen fährt, erreicht Jan bei den Offizieren, dass Albin Rosenlöcher einen kleinen Heimaturlaub über Weihnachten bei seiner Familie in Begleitung von Jan und Flox antreten darf. Jan erlebt in Plauen ein deutsches Weihnachtsfest und lernt Rosenlöchers Sohn Oskar und dessen Cousine Sissi kennen. Als Rosenlöcher und Jan am 27. 12. 1014 zurück zu ihrer Truppe wollen, wird Rosenlöcher von einem Major auf dem Bahnsteig so schikaniert, weil er diesen angeblich nicht richtig gegrüßt hat, dass er einen Herzinfarkt bekommt und ins Krankenhaus gebracht wird. Jan will nun allein nach Frankreich fahren. Er schließt sich Pionieren an, die ebenfalls nach Frankreich gebracht werden. Der Vizefeldwebel Eugen Papke, den Jan in Polen kennengelernt hat, erlaubt ihm, mit dem Militärzug an die Westfront mitzufahren, um zu seiner Batterie zu kommen. Als sie in Köln sind, gibt es Fliegeralarm. In dem Durcheinander rennt der Ingenieur Papke mit einem ehemaligen Schulkameraden namens Heinz Wolfart zusammen. Wolfart ist Flieger-Beobachter an der Westfront. Er schließt sich dem Militärzug ebenfalls an. Als die Pioniere ihren Standort im Westen erreichen, sollen sie einen Flugplatz herrichten und Hallen für die Flugzeuge bauen. Jan bleibt vorerst bei den Pionieren, da er nicht weiß, wo seine Batterie steckt. Wolfart nimmt Jan auf einem seiner Beobachtungsflüge mit, wo er gerade dabei ist, die von Jan gesuchte Batterie, das Halbbataillon 17, einzuschießen. Aus der Luft sehen die Menschen wie Ameisen aus. Der Beobachtungsflug ermöglicht einen Überblick über das ganze Land. Mit

312

Hans-Christoph Graf v. Nayhauss-Cormons

dieser räumlich-geographischen Erweiterung geht bei Jan die größte Horizonterweiterung einher. Er fragt sich, ob auch Gott von solchen Höhen zur Erde hernieder blicke, so »dass ihm das alles wie ein dummes kindliches Spiel erschien?« und »Was trieb dies traurige Geziefer an, sich selbst zu vernichten?« (DJ, 154) Mit diesen Fragen ist Jan reif, die Ausweitung seines geistigen Überblicks ins Universelle zu erkennen. Die Sinnlosigkeit des Krieges, der sich als reine Materialschlacht darstellt, wird Jan bewusst. Das »Welttheater« Krieg zeigt sich besonders in der Lazarettszene in Neuville. Hier lernt Jan Schwarze, Franzosen, Elsässer, Belgier, Engländer, Österreicher und Deutsche kennen. Die ganze Welt hat sich hier eingestellt, und es wird deutlich, dass alle diese Rassen und Nationen die Sinnlosigkeit des Krieges empfinden. Cordes schließlich sagt, als die Schwarzen den Schädel ihres Häuptlings Makaua fordern: Wir alle, Schwarze und Weiße, sind in den Krieg gezogen für einen Wahn, jeder für einen anderen, aber alle diese Wahnbilder sind im Blutdunst der Schlachtfelder zu nichts zerronnen (DJ, 179).

Auch Jans Erfahrungen gipfeln jetzt in der Einsicht, dass Menschen für kollektive Wahnideen in Kriege gehetzt werden. Als er dann erfährt, dass er naturalisiert, also Deutscher werden und als männliche Jeanne D’Arc ideologisch eingespannt werden soll, macht er nicht mehr mit und verschwindet. 2.2.4.3. Handlung und Aufbau Die Handlung des Romans verläuft linear und sukzessiv im Raum der erzählten Zeit. Sie beginnt im polnischen Dorf Koptschowka mit dem Auftauchen von Jan Kubitzki und endet im zeitlosen Inferno irgendwo an der Westfront in Frankreich, als Jan mit Flox im Dunkel der Nacht auf immer verschwindet. Die Handlung wird in 21 Kapiteln durcherzählt. Die durchschnittliche Seitenzahl der Kapitel umfasst 8–9 Seiten. Daraus ragen das 2. Kapitel (Jan wird Kanonentier) mit 16 Seiten, das 3. Kapitel (Was sollen die Soldaten essen) mit 12 Seiten, das 10. Kapitel (Dombie) mit 15 Seiten, das 11. Kapitel (Advent) mit 12 Seiten und das 17. Kapitel (Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua) mit 14 Seiten hervor. Aus dem Umfang der einzelnen Kapitel lassen sich inhaltliche Schwerpunkte erschließen. In der Grobgliederung gibt es Kapitelgruppen, die zusammengehören. So gehören die Kapitel 1–3 mit der Einleitung und der Situation der deutschen Soldaten, des Militärs zusammen. Ebenso die Kapitel 4–10, in denen Jan mit dem Krieg erste Erfahrungen macht und eine erste Einsicht gewinnt. In den Kapiteln 11–17 potenzieren sich seine Erfahrungen an der Westfront und werden ins Universelle ausgeweitet. Die Kapitel 18–20 gelten dem Versuch, Jan dennoch für den Krieg zu gewinnen und seiner Entscheidung dagegen. Und im Nachwort (Kapitel 21) geht es um die Verallgemeinerung der Erfahrungen Jans.

Zum Stand der deutschen Literaturdidaktik heute

313

Nach Eberhard Lämmerts »Bauformen des Erzählens« haben wir hier eine Typenreihe, in der eine bestimmte Hauptfigur in ihren wechselvollen Lebensstadien verfolgt wird. Dieses plane Erzählen ›vom Anfang bis zum Ende‹ eignet ebenso der aktionsgedrängten Kleinform des Erzählens wie dem weitgespannten Entwicklungsroman mit exponierter Hauptfigur.26

In Franks Roman liegt eine Art Entwicklungsroman vor mit einer exponierten Hauptfigur. Wir haben in diesem Jugendroman keine Parallelhandlung oder eine »Aufsplitterung der Geschichte in ein Kaleidoskop von Einzelverläufen und Begebenheiten.«27 Analog wie bei der Figurenkonstellation weitet sich auch handlungsmäßig Jans Erfahrungshorizont von der eingeschränkten Perspektive der dörflichen Welt von Koptschowka mit einer Kneipe und ein paar Häusern über die nähere Heimat des Gebietes südwestlich von Warschau zur weiteren Heimat westlich von Warschau mit dem Schlachtschauplatz Dombie (Dambje, Damje), der in die Kriegsgeschichte einging. Die Schlacht von Dombie ist der erste Gipfelpunkt der Handlung. Der zweite ist die Szene im Lazarett, als der Sergeant Kru-Kru vom Schädel des Königs Makaua erzählt und Cordes verdeutlicht, dass diese Legende nur dazu dient, die Afrikaner für England oder Frankreich in Europa kämpfen zu lassen. Nehmen im Dorf Jan und Flox an der Handlung als Akteure teil, während über den Vater, den Onkel und den Schäfer Vladimir nur gesprochen wird, so kommen mit den deutschen Soldaten weitere Akteure ins Spiel. Jan wird in eine Männergesellschaft aufgenommen, in der er einen Ersatz für seine Dorffamilie findet. Durch diese Männergesellschaft, die aus Akteuren individuellen Charakters besteht und die ihm Elternersatz ist, kann sich Jan aus seiner vertrauten Umgebung ohne große Trauer lösen. Als er dann mit der Batterie die nähere und weitere Heimat verlässt und durch Deutschland nach Frankreich fährt, verschwinden ebenso wie bei den Zeitangaben auch die Raumangaben und geographischen Bezeichnungen. Dafür begegnet er aber im Lazarett Menschen aus aller Welt mit ihren Träumen, Sehnsüchten, aber auch Wahnideen, wenn es um den Krieg und die Kriegsschuld geht. Der Fokus der Handlung liegt nicht mehr auf der Darstellung des Kriegsalltags, sondern auf der Begegnung mit Menschen, die mit ihren unterschiedlichen Mentalitäten alle gleichermaßen dem »Menschenschlachthaus« Krieg ausgeliefert sind.

26 Lämmert, Eberhard: Bauformen des Erzählens. Stuttgart: Metzler 1972, S. 37. 27 Lämmert, Bauformen des Erzählens. 1972, S. 39.

314

Hans-Christoph Graf v. Nayhauss-Cormons

2.2.4.4. Gattungszugehörigkeit Rudolf Frank konzipierte seinen Roman unter dem Titel »Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua« im Untertitel als einen »Kriegsroman für die junge Generation«. Die hier im Untertitel auftauchende Gattungsbezeichnung »Roman« lässt also ein Buch erwarten, das umfangreicher ist als eine Novelle, und eine Handlung, die sich an der Wirklichkeit orientiert, sie aber nicht naturalistisch abkupfern möchte. Sowohl Titel wie Untertitel verschleiern allerdings die wahre Absicht Rudolf Franks, einen Antikriegsroman zu schreiben. Das ist sicher dem Zeitgeist in Deutschland 1931 geschuldet. Lässt der Titel vielleicht einen Afrikaroman erwarten, so ist die Vorstellungsweite des Untertitels so groß, dass er das völlige Gegenteil der Absicht Franks zum Ausdruck bringen könnte: nämlich für den Krieg zu werben. Auch die Bemühungen des Ravensburger Otto Maier Verlages bei der Neuauflage führten beim Titel nicht zu einer aufschlussreicheren Version. So lässt der Titel »Der Junge, der seinen Geburtstag vergaß« ebenfalls die Vorstellung einer Familienidylle zu. Erst der Untertitel »Ein Roman gegen den Krieg« stellt Eindeutigkeit her. Die schon erwähnte Bezeichnung des Romans als Bildungs- bzw. Entwicklungsroman kann in unserem Fall auf die Definition von Karl Morgenstern zurückgehen, der um 1820 von Goethes »Wilhelm Meister« ausgehend den Begriff des »Bildungsromans« prägte. Er schrieb damals, dass sich im Bildungsroman das »Geschick eines Individuums« im Spannungsfeld gesellschaftlicher Einflüsse darstelle und der Roman einerseits »die Menschen und Umgebungen auf den Helden wirkend« zeige, andererseits es Aufgabe des Romans sei, die Charakterologie des Helden vor den Augen des Lesers zu entwickeln, indem er »die darzustellende allmähliche Bildung seines Innern uns erklärend« verfolge.28 Diese Definition Morgensterns passt auf unseren ›Jungen, der seinen Geburtstag vergaß‹. 2.2.4.5. Aussage Der moderne Simplex Jan Kubitzki, ein vierzehnjähriger Pole, gerät in die Maschinerie des Ersten Weltkrieges. Er brachte den deutschen Soldaten Hilfe, weil sie gut zu ihm waren. Mit der räumlichen Horizonterweiterung, die eine Erfahrung mit immer mehr Völkern einschließt, erkennt er zunehmend den Wahnsinn des Krieges und die Vorurteile und Feindbilder, die zu kollektiven Aggressionen führen. Der topographische Weg vom Krieg in Russland bis zum Krieg in Frankreich, von der individuellen über die innergesellschaftliche bis zur internationalen Ebene des Problems, den seine Figur abschreitet, geht parallel mit der wachsenden Einsicht einher, dass man sich den Interessen des Krieges entziehen 28 Zitiert bei Hillebrand, Bruno: Theorie des Romans. Erzählstrategien der Neuzeit. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 51996, S. 198f.

Zum Stand der deutschen Literaturdidaktik heute

315

muss. Das sollte jeder auf seine Art tun, z. B. nach dem Motto: »Stell dir vor, es ist Krieg, und keiner geht hin.« 2.2.4.6. Lernziele Mit dieser Aussage des Buches sind wir bei meinem Schema der Texterschließung eingetreten in die Schnittmenge zwischen Text und Leser, in den Bereich der Textinterpretation, in der die Horizonte von Text und Leser verschmolzen sind. Auf dieser fachwissenschaftlichen Analyse baute in den 1970er und 1980er Jahren die fachdidaktische Analyse auf, in der der Bildungswert des Unterrichtsgegenstandes ganz allgemein reflektiert wurde. Aus dieser Analyse erwuchsen dann kognitive Lernziele, die sich an den Kategorien der Textbeschreibung orientierten. Lernziele wurden nach den Prinzipien »Vom Einfachen zum Schwierigeren«, »Vom Linearen zum Komplexen«, »Vom Konkreten zum Abstrakten« formuliert. Hier nun Beispiele: I. Bei der Erzählsituation sollen die Schüler/innen erkennen: 1. Es wird von einem Erzähler erzählt. 2. Der Erzähler weiß mehr als die erzählte Hauptfigur. 3. Der Erzähler hat einen Überblick über das Gesamtgeschehen. 4. Zuweilen wird auch aus der Sicht der Hauptfigur Jan Kubitzki erzählt. 5. Dadurch kann der Leser bestimmte Abschnitte intensiver miterleben. 6. Durch die verschiedenen Erzählweisen ergibt sich eine Distanz zum Geschehen und zugleich Identifikationsmöglichkeiten mit der Hauptfigur. 7. Distanz und Erlebnis erzeugen Reflexion und Betroffenheit. II. Bei den Figuren sollen die Schüler/innen erkennen: 1. Die Hauptfigur ist der vierzehnjährige Polenjunge Jan Kubitzki. 2. Im Sinne der Erweiterung treten deutsche Soldaten, Offiziere, deutsche Familien, Franzosen, Elsässer, Schwarze, Belgier, Österreicher und Engländer in Kontakt mit Jan. 3. Die Vervielfältigung verschiedenartigster Personen führt zur Erkenntnis dessen, was eigentlich alle Völker und Menschen wollen: Frieden. 4. Jans Beziehung zu den einfachen deutschen Soldaten lässt den Gegensatz zwischen friedliebenden Bürgern und dem kriegsliebenden Militär hervortreten. III. Bei der Handlung sollen die Schüler/innen erkennen: 1. Die zeitliche Entwicklung läuft parallel zur räumlichen Entwicklung. 2. Vom konkreten Zeitpunkt des 14. Septembers 1914 gibt es Zeitangaben bis zum 27. Dez. 1914. An der Westfront bis ins Frühjahr 1915 geht die Handlung ins Zeitlose, Immerwährende über.

316

Hans-Christoph Graf v. Nayhauss-Cormons

3. Die Schlacht bei Dombie und die Diskussion im Lazarett von Neuville sind Gipfelpunkte der Handlung. 4. In Dombie erkennt Jan durch den Tod des Schäfers Vladimir das Entsetzliche im persönlichen Bereich, im Lazarett für alle Völker. 5. Dass Jan seine Uniform auszieht und verschwindet hat für alle Aufforderungscharakter, aus dem Krieg auszusteigen.

3.

Fazit

Heutzutage nach dem Abschied von der Literaturdidaktik scheint eine solche kognitive Erarbeitung eines Buches obsolet geworden zu sein. Im heutigen handlungs- und produktionsorientierten Unterricht erfolgt eine »Annäherung an Franks Antikriegsbuch mit allen Sinnen: Hören, Fühlen, Sehen, Schmecken«, wie es in einem Handout heißt. Gefragt wird: »Wie hört sich der Krieg an?«, »Wie sieht der Krieg aus?«, »Wie schmeckte der Krieg?« »Wie fühlt sich der Krieg an?«. Dazu werden kleine Textstellen aus Frank Buch zitiert, die auf das Hören, Sehen, Fühlen und Schmecken abheben. Das analytische Denken scheint aus dem Unterricht verbannt zu sein. Es geht also nicht mehr darum, an der Literatur als einem herausfordernden Gegenüber etwas zu lernen, seine Kenntnisse und sein Bewusstsein und Urteilsvermögen zu erweitern, sondern nur darum, festzustellen, ob die eigenen Sinneswahrnehmungen noch vorhanden sind. Es geht nur noch um die Fähigkeiten und Fertigkeiten des Rezipienten, seine Sinneswahrnehmungen anzuwenden, aber nicht mehr darum, sich mit einer anderen Meinung, einer fremden Weltsicht auseinanderzusetzen und Toleranz anderen gegenüber zu üben, was die grundlegende Funktion von Literatur ist. Dieser Wandel vom Willen nach Erkenntnis hin zur Feier der eigenen privaten Sinnenhaftigkeit im Sinne der Methodik des handlungs- und produktionsorientierten Unterrichts der 1990er Jahre hat also den Tod der reflektierten wissenschaftlichen Literaturdidaktik eingeleitet, wenn sie einerseits auf die akribische kognitive Textanalyse, andererseits auf die aus dieser Analyse abgeleiteten Lernziele verzichtet. Lernziele werden heute durch Kompetenzen ersetzt, d. h. durch die am abstraktesten und unverbindlichsten Formulierungen früherer Richtziele. Kompetenzen sind weniger eng auf Anforderungen von Berufen oder Tätigkeiten bezogen, sondern allgemeine Dispositionen von Menschen zur Bewältigung bestimmter lebensweltlicher Anforderungen wie die menschliche Fähigkeit zur Teilhabe an gesellschaftlicher Kommunikation oder, wie in unserem Fall, die Teilhabe am literarischen Leben. Der Kompetenzbegriff orientiert sich nicht am Schulstoff, sondern stets an lebensweltlichen Bezügen des Lernenden, am »Sich-

Zum Stand der deutschen Literaturdidaktik heute

317

Bewähren im Leben«.29 Kompetenzorientierter Unterricht achtet stärker auf den Schüler und seine Lernvoraussetzungen als ein am Stoff ausgerichteter Unterricht. Der Fokus des Interesses ist also nicht auf das Verständnis einer Sache, eines Unterrichtsstoffes gerichtet, sondern auf die Fähigkeit eines Lernenden, mit einem Unterrichtsstoff umzugehen. Literatur zu verstehen, ist nicht mehr das Ziel des Unterrichts. Literatur ist zu einem Materialreservoir geworden, aus dem man sich beliebig bedienen kann, um eigene Fähigkeiten und Fertigkeiten zu trainieren. Ein solcher Funktionswandel von Literatur wirft die Frage auf, warum man sich überhaupt mit dieser oder jener Literatur beschäftigen soll. Warum und wie soll ich mich mit dem Buch von Rudolf Frank auseinandersetzen? Welche Kompetenzen außer der ›Lesekompetenz‹, der sog. ›Literarischen Kompetenz‹ als Kombination verschiedener Fähigkeiten im Umgang mit Literatur oder welche Schlüsselqualifikationen erwerbe ich, wenn ich mich mit Antikriegsbüchern beschäftige? Ich muss gestehen, ich weiß es nicht, denn die Schärfung allein meiner eigenen Sinneswahrnehmungen hilft mir bei der Entscheidung, ob ich für oder gegen den Krieg bin, nicht weiter. Ohne Einsicht und Erkenntnis kann ich keine Position beziehen. Auch kann ich bei dem methodischen Ansatz des handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterrichts nach Spinner weder weiter und umschreibend Textstellen ergänzen, Textmuster imitieren, malen, vertonen und szenisch spielend mich mit Literatur beschäftigen, wenn ich nicht weiß, was Literatur überhaupt ist und welche gesellschaftliche Funktion sie hat. Man sollte sich an das Stalin zugeschriebene Wort erinnern, dass Autoren die »Seeleningenieure eines Volkes« sind.

29 Konsequenzen der PISA-Ergebnisse für die Qualitätsentwicklung an Schulen – Überlegungen aus der Perspektive der Schulentwicklung. In: Steffens, Ulrich/Messner, Rudolf (Hrsg.): Macht PISA Schule? Perspektiven der Schulentwicklung. Wiesbaden: HeLP 2003, S. 45–57.

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk (Gdan´sk)

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig als Fallbeispiel. Literatur als Rhizom von Zukunftsnarrativen Ich setze Skepsis gegen Glauben. Ich bestreite, daß irgend etwas Bestand hat. Mein Ekel vor dem Absolutem und ähnlichen Daumenschrauben. Warum ich gegen die Ansprüche des ›einzig Wahren‹ und für Vielfalt bin.1 Günter Grass »Aus dem Tagebuch einer Schnecke«

Die Welt um uns herum wird nicht einfacher. So ist eine wesentliche Aufgabe der Kunst, uns die Realität in ihrer Komplexität übersichtlicher zu machen, was keine Vereinfachung bedeutet. Die Stadt Danzig hat 2016 als Zweigstelle der Danziger Stadtgalerie eine neue Kulturinstitution ins Leben gerufen – das Chodowiecki und Grass-Haus. Dafür wurde ihr der staatliche Gebäudekomplex des Waisenhauses aus dem 17. Jahrhundert im Stadtteil Hakelwerk (auf Polnisch Osiek) zur Verfügung gestellt. Somit wurde die Verwirklichung der Idee greifbar, Günter Grass – dem neben Lech Wałe˛sa berühmtesten Sohn der Stadt – ein würdiges Denkmal zu setzen. Maria Janion bezeichnete Grass als »das fehlende Glied der polnischen Literatur«.2 Seinem Schaffen widmete Norbert Honsza einen bedeutenden Anteil des eigenen wissenschaftlichen Lebenswerks. Er gehörte zum engsten Kreis der Förderer von Grass’ Literatur für die polnischen Leserinnen und Leser.3 Die Stadt Danzig hat mit ihrer Entscheidung nicht nur ihre Wertschätzung der Wirkungskraft der Literatur und des gesellschaftlichen Potentials des interme1 Grass, Günter: Aus dem Tagebuch einer Schnecke. Neuwied und Darmstadt: Luchterhand 1972, S. 170. 2 Der Beitrag basiert auf dem Konzept des Chodowiecki und Grass-Hauses, das 2020 im Auftrag der Danziger Stadtgalerie verfasst wurde. Das Konzept wurde dann in einem deutsch-polnischen Team, bestehend aus Anna Czekanowicz, Andreas Kossert, Marta Wróblewska und Leszek Z˙ylin´ski diskutiert, und unter Leitung der Verfasserin in ein Aktionsprogramm übertragen. 3 U. a. Honsza, Norbert: Günter Grass. Werk und Wirkung. Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 1987; ders. /Łukosz, Janusz: Günter Grass w krytyce polskiej [=Acta Universitas Wratislaviensis, Nr. 1015, Germanica Wratislaviensa, Bd. 74]. Wrocław 1988; Honsza, Norbert: Günter Grass: Skizze zum Porträt. Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 1997; Güntera Grassa portret własny. Übers. v. Elz˙bieta Herden/Mieczysław Motowilczuk. Wrocław: Wydawnictwo Uniwersytetu Wrocławskiego 2000; Günter Grass – szaman literatury niemieckiej. Biografia. Łódz´: Wyz˙sza Szkoła Stosunków Mie˛dzynarodowych 2008; Grass. Biografia. Gdan´sk: Oskar 2014.

320

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

dialen Schaffens beider Namensgeber bewiesen, sondern offensichtlich zugleich eine Lücke in der bestehenden Kulturlandschaft erkannt. Wie kann man diesen Mangel diagnostizieren? Während des Kulturkongresses in Warschau 2016 sind Przemysław Czaplin´skis Worte »ein Königreich für die Erzählung!« gefallen. Der Posener Literaturwissenschaftler postulierte neue Begrifflichkeiten und Erzählungen. Sie sollen Emotionen ansprechen, aber zugleich nach Wahrheit streben, indem sie den Sinn des erfahrenen bzw. sich vollziehenden Wandels ausdrücken. Ihre Aufgabe sei es, den Zukunftsglauben zurückzugewinnen, den Menschen von Angst zu befreien und soziales Vertrauen aufzubauen. Jede Erzählung antworte schließlich auf den Geist der Zeit, wonach sie nach ihrem Leser suche. Welche Narrative, die durch die Lebenswerke von Chodowiecki und Grass inspiriert sein könnten, bräuchten wir heutzutage in Danzig, in Polen, in Europa beziehungsweise in der globalisierten Welt? – könnte man in diesem Zusammenhang zu Recht fragen. Es fehlt in der Gegenwart nicht an Erzählungen. Ganz im Gegenteil – neue Gedenkorte, Museen und Denkmäler werden gestiftet. In Polen wird nach 2015 das Inventar der durch die Erinnerungspolitik legitimierten Narrative um die Figuren der sogenannten »verstoßenen Soldaten«4 und der Opfer des Flugzeugabsturzes von Smolensk erweitert. So wundert es keinesfalls, dass der heutigen Welt eine ›kommemorative Obsession‹ (Pierre Nora)5 diagnostiziert wird. Dass ein Narrativ dieser Art die polnische Gesellschaft in ihrer internen Differenzierung – sowohl in Bezug auf die Weltanschauung als auch auf das Familiengedächtnis – zusammenführen kann, bezweifle ich. So wie es auch nicht imstande ist, die im 20. Jahrhundert insbesondere infolge des Zweiten Weltkriegs von Generation zu Generation übertragenen Traumata zu überwinden. Das Chodowiecki und Grass-Haus liegt auf der neuen touristischen Route der Stadt, die über den alten Stadtkern hinausführt, also über Lange Gasse und Langen Markt. Der historische Gebäudekomplex des Waisenhauses, der zum Sitz der Kulturstätte werden soll, befindet sich in unmittelbarer Nähe zum Museum der Polnischen Post, auf dem Weg zwischen dem Europäischen Solidarnos´c´Zentrum (ECS) und dem Museum des Zweiten Weltkriegs. Die beiden letzteren sind Flaggschiffe städtischer Kulturpolitik im 21. Jahrhundert, die zugleich für Aufsehen sorgen und nach 2015 zu einer heiklen Frage der öffentlichen Debatte wurden. Die Aufgabe der städtischen Kulturinstitutionen in Danzig ist es, die Zivilgesellschaft zu stärken, und das nicht nur in lokaler Dimension. Nach dem 4 Dazu Kobielska, Maria: Die »verstoßenen Soldaten.« Embleme eines Erinnerungsbooms. In: zeitgeschichte online, 1. 07. 2016. Auf: https://zeitgeschichte-online.de/themen/die-verstosse nen-soldaten (Zugriff am 1. 2. 2021). 5 Nora, Pierre: Erinnern und kollektive Identität. Die Zukunft des Gewesenen – Erinnern und Vergessen an der Schwelle des neuen Millenniums. Bad Homburg: H. Quandt Stiftung 2000, S. 22.

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

321

tragischen Tod des Stadtpräsidenten Paweł Adamowicz im Januar 2019 wird eine derartige Herausforderung als Bestandteil seines Nachlasses verstanden. Dem ermordeten Präsidenten lag es am Herzen, dass sich aus Danzig, aus der Stadt der Freiheit und der Solidarnos´c´-Bewegung, eine starke Stimme für die Rechte der Schwachen, für die Solidarität und für den Fortschritt erheben würde.6 Solch eine Aufgabe bedeutet zugleich eine Herausforderung für die Stadt, die danach strebt, als Hüterin der Freiheit nicht nur in historischer Perspektive wahrgenommen zu werden, sondern die Freiheit auch bewusst zu manifestieren und als das Fundament einer europäischen Ordnung zu praktizieren. Einer Ordnung, die sich auf Zivilcourage, Verantwortung, gegenseitigen Respekt und Solidarität stützen soll. Diese Werte will die Stadt als ihr zu bewahrendes Gut betrachten – so kann man die Äußerung der Stadtpräsidentin Aleksandra Dulkiewicz während der Feier zum 29. Jubiläum der Gründung der Solidarnos´c´Bewegung paraphrasieren.7 Im offiziellen städtischen Dokument »Program Operacyjny 2023 Kultura oraz Czas wolny«8 [Aktionsprogramm 2023: Kultur und Freizeit] ist folgende Feststellung zu finden: »Danzig verfügt über ein einmaliges und für die europäische Kultur wesentliches Erbe.« Dies ergibt sich aus der Situierung der Stadt im Grenzraum: zwischen Ost- und Westeuropa, zwischen dem germanischen und slawischen Sprachbereich, zwischen der polnischen und der deutschen Kultur sowie im Ostseeraum. Diese Faktoren beeinflussten das Lebenswerk beider Namensgeber des Chodowiecki und Grass-Hauses. Wie kann demzufolge ein Narrativ über Grass und Chodowiecki, das die Kulturstätte tragen wird, konstruktiv zum gegenwärtigen Erzählreichtum beitragen? Was kann die Interpretation aus dem Danziger Blickwinkel zum bereits existierenden Deutungsnetz der Rezeption von Chodowiecki und Grass hinzufügen?

Zur Geschichte der Idee Die Ideen für eine Danziger Kulturstätte, die Günter Grass gewidmet wäre, unterlagen dem Wandel der Zeit. Die Anfänge von Grass’ Kontakten mit dem Danziger literarischen Milieu gehen auf die 1960er Jahre zurück. Die Rolle seines 6 Mehr dazu Adamowicz Paweł: Gdan´sk jako wspólnota. Gdan´sk: Słowo/Obraz Terytoria 2018. 7 Vgl. Umie˛cka, Anna: »Hołownia, Kozłowska, Obracht-Prondzyn´ski o współczesnym obliczu solidarnos´ci – debata w ECS.« In: gdan´sk.pl, 31. 8. 2019. Auf: https://www.gdansk.pl/wiadomo sci/kozlowska-holownia-obracht-pradzynski-o-wspolczesnym-obliczu-solidarnosci-debataw-ecs,a,153676 (Zugriff am 1. 6. 2020). 8 Zugriff auf: https://app.xyzgcm.pl/gdansk-pl/d/20160471492/program-operacyjny-kultura-i– czas-wolny.pdf (Zugriff am 01. 06. 2020).

322

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

»Cicerone« in der polnischen Nachkriegsrealität der Stadt übernahm für Jahrzehnte der Schriftsteller Bolesław Fac. Die erste offizielle Einladung der Stadtverwaltung, dem Verband Polnischer visueller Künstler und dem Verband Polnischer Literaten erhielt Grass zum Zeitpunkt des »Solidarnos´c´-Festivals«, der über ein Jahr andauernden Zeitspanne relativer Freiheit nach den August-Streiks 1980 in Polen. Im Juni 1981 wurden in der Danziger Diele am Langen Markt 34 seine Graphiken ausgestellt. Nichtsdestoweniger galt er in der Volksrepublik Polen als verdächtige Person, der man das Visum in letzter Minute erst nach politischer Intervention der Gastgeber ausstellte. Im Jahr 1993, nach dem demokratischen Umbruch in Ostmitteleuropa, ehrte man Günter Grass in seiner Heimatstadt mehrfach. Die Universität Gdan´sk verlieh ihm die Ehrendoktorwürde für sein herausragendes Schaffen, für seinen Beitrag zur deutsch-polnischen Versöhnung, für seine »an Danzig haftende Imagination« sowie für die Kreierung von dessen Bild als »symbolischer Ort der menschlichen Existenz mitsamt all ihren wunderbaren Aspekten und verfluchten Problemen«.9 Der Stadtrat zeichnete den Schriftsteller mit der Ehrenbürgerschaft und der Kaschubisch-Pommersche Verein mit dem Bernard Chrzanowski-Preis »Er bewegte den Meereswind« aus. Zu betonen ist, dass die Stadt Danzig kein Vorreiter in diesem Bereich war. Zum ersten Mal wurde Günter Grass in Polen 1978 während des 8. Treffens der Kaschubisch-Pommerschen Literaten in Wdzydze mit der Aleksander Majkowski-Medaille geehrt, was in den deutschen Medien auf Resonanz stieß.10 Die erste Ehrendoktorwürde bekam der Künstler 1990 von der Adam MickiewiczUniversität in Posen verliehen, was allerdings nicht ganz reibungslos verlief. Erst 1999, nach der Verleihung des Literaturnobelpreises an den »Schriftsteller aus Langfuhr«,11 setzte sich in den Danziger meinungsführenden Kreisen die Sichtweise durch, dass Grass’ Schaffen zu einem tragfähigen Bestandteil der Stadtmarke12 werden könne. Seine Literatur wurde darüber hinaus in der allgemeinen Auffassung für einen Träger der deutschen Vergangenheit der Stadt 9 Vgl. Nawrocka, Ewa: »Doktoraty honoris causa w Polsce«. In: Marek Jaroszewski/Mirosław Ossowski (Hg.): Gdan´ska encyklopedia Güntera Grassa w Gdan´sku. Gdan´sk: Oficyna Gdan´ska 2017, S. 42–43, hier 42. 10 Vgl. Borzyszkowska-Szewczyk, Miłosława: »Recepcja Grassa w ruchu kaszubsko-pomorskim«. In: Gdan´ska encyklopedia Güntera Grassa. S. 169–170. 11 So lautete der Titel des Vorworts zur ersten Ausgabe der Übersetzung von »Die Blechtrommel« ins Polnische, die im Samisdat erschien. Ba˛dkowski, Lech: »Pisarz z Wrzeszcza«. In: Grass, Günter: Blaszany be˛benek. Warszawa: Niezalez˙na Oficyna Wydawnicza 1979, S. 3–4. 12 Auch Städte rufen bestimmte Assoziationen, Vorurteile und Erwartungen bei Menschen hervor, die für die Entwicklung einer Kommune von Bedeutung sind. So sind positive Assoziationen und Vorstellungen vorteilhaft, da sie auf Investoren, Bewohner, Besucher und Touristen Anziehungskraft ausüben. Demnach sind auch Städte als Marken zu verstehen und zu führen. Vgl. Marken-Glossar. Auf: https://www.brandmeyer-markenberatung.de/marken -glossar/stadtmarke (Zugriff am 1. 4. 2021).

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

323

gehalten. Dabei hob man hervor, dass Grass’ Werk auf multikulturelle Traditionen des Orts aufmerksam macht. Eine bedeutende Rolle spielte zu diesem Zeitpunkt der Verlag Polnord/Oskar, der über das Exklusivrecht zur Publikation der Grass-Werke in polnischer Übersetzung verfügte. 2003 wurde die Günter Grass Gesellschaft in Danzig, die Vertreter von Kultur, Kunst und Wissenschaft zusammenschloss, ins Leben gerufen. Eines der in ihrer Satzung formulierten Ziele war die Gründung eines Günter Grass Dokumentations- und Kommunikationszentrums (Centrum Dokumentacyjno-Komunikacyjnego Güntera Grassa)13 und darauf folgend die Unterstützung und Entwicklung einer solchen Kulturstätte. Die Gesellschaft setzte sich zum Ziel, Initiativen zur Sammlung, Dokumentierung und Präsentation von Materialien unterschiedlicher Art zu Grass’ Schaffen und seinen Bezügen zu Danzig in die Wege zu leiten und zu unterstützen. Die Satzung berücksichtigt u. a. auch die Förderung des internationalen Dialogs, insbesondere mit den Nachbarstaaten, sowie den Austausch und die Zusammenarbeit mit anderen Grass gewidmeten Institutionen.14 Ein Konzept für ein solches Zentrum reichte der damalige Vorsitzende der Gesellschaft, Maciej Krain´ski, nach den Danziger Feierlichkeiten zum 80. Geburtstag von Günter Grass im Rathaus ein. (Die Vorbereitungen zu den Feierlichkeiten wurden von dem medialen Sturm gestört, der 2006 durch das »verspätete Bekenntnis« des Künstlers ausgelöst wurde, dass er die letzten Kriegsmonate als Soldat der Waffen-SS verbracht hatte.) Krain´ski gab in seinem Konzept auch der mit Grass geteilten kulinarischen Leidenschaft Ausdruck. In der Zwischenzeit veranstaltete die Gesellschaft nach seinem Drehbuch u. a. fünfzehn Folgen eines »Kochtheaters« nach Günter Grass. Darüber hinaus organisierte sie in Zusammenarbeit mit der Universität Gdan´sk zwei internationale Tagungen (2007 und 2012), die Grass’ Werk und Rezeption gewidmet waren. Die Gesellschaft war institutionell an der Vorbereitung einer Reihe von Ausstellungen und Publikationen, die das Werk des »Schriftstellers aus Langfuhr« präsentieren, beteiligt.15 Infolge des Beschlusses des Danziger Stadtrats vom 30. September 2008 wurde die Danziger Günter Grass Galerie gegründet. Als ihr Ziel wurde die Sammlung und Präsentation des visuellen Werks des Künstlers (Zeichnung, Graphik und Skulptur) sowie die Verbreitung des Wissens über Grass’ Lebenswerk und seine Bezüge zu Danzig bestimmt. Zu den der Kulturstätte gestellten Aufgaben gehören auch die Darstellung und Verbreitung von seltenen graphischen Techniken. Seit 2009 fördert die Galerie die Rezeption des Künstlers multidimensional, 13 Vgl. Satzung der Günter Grass Gesellschaft in Danzig, die auf der Homepage der Gesellschaft zugänglich ist. Auf: http://grass-gdansk.org/de/satzung-beitrittserklarung/ (Zugriff am 2. 12. 2020). 14 Ebd. 15 Vgl. Homepage der Gesellschaft. Auf: http://grass-gdansk.org/ (Zugriff am 2. 12. 2020).

324

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

u. a. indem sie jedes Jahr das Festival ›Grassomania‹ veranstaltet. Grass’ bildendes Werk in den Kontext der gegenwärtigen Kunst einschreibend, beschreitet die Institution allmählich das Terrain des intermedialen Dialogs in Wort und Bild. Der Gewinnung des historischen Gebäudekomplexes in Osiek (auf Deutsch Hakelwerk) für den Sitz des Chodowiecki und Grass-Hauses bildet die nächste wesentliche Etappe zur Verwirklichung und Etablierung einer sich mit Grass’ Werk multidisziplinär befassenden Institution. Es ist ein Ort mit einer spannenden Geschichte (von Wohltätigkeit bis hin zu sozialer Ausgrenzung), der vom Geist der Aufklärung und von der Idee bürgerlicher Verantwortung durchdrungen ist. Seine Geschichte selbst, mit allen Fragezeichen, welche die Wohltätigkeit im Laufe der Zeit begleiteten, ist es wert, ins Inventar des Danziger Narrativs aufgenommen zu werden. Nicht ohne Bedeutung ist auch die Lage des ehemaligen Waisenhauses – im Hakelwerk, im historischen Vorort, der im Mittelalter von kaschubischen und pruzzischen Fischern und Bernsteinhandwerkern bewohnt war. Grass hat den Stadtteil im Roman »Der Butt« (1977) als eine Fischerinsel inmitten der Mottlau porträtiert. Dort ließ Grass die Köchin Mestwina wirken, die in seiner imaginierten Welt zur Zeit des Besuchs von Bischof Adalbert aus Prag den Verlauf der Geschichte mit ihrer Kochkunst lenkte. Dort betrieb man einen elaborierten Kult des heidnischen Fisch-Gottes. »›Buttke Buttguttke!‹ riefen die ›Hakelwerkkinder‹ nach dem Butt, der Wünsche erfülle, Rat erteile, besonders dem Firschersmann zugetan und obergescheit ist.«16 Die Konzeptskizze für die Gründung der Institution hat Anna Czekanowicz, Kulturmanagerin, Dichterin, langjährige Leiterin der Kulturabteilung der Stadt Danzig und Beraterin von Paweł Adamowicz, erstellt. Im Kontext der polnischen Grass-Rezeption ist darauf hinzuweisen, dass Czekanowicz an den legendären Seminaren von Maria Janion an der Danziger Universität teilnahm. Seit 1978 besprach die vor kurzem verstorbene grande dame der polnischen Literaturwissenschaft mit Seminarteilnehmern Grass’ literarische Texte. Janion ist (Mit-) Herausgeberin der für Grass’ Rezeption in Polen kanonischen Bände »Grass. Punkty widzenia« (1984), »Polskie pytania o Grassa« (1985, 1988) sowie »Günter Grass i polski Pan Kichot« (1999). Ihre Seminare besuchten u. a. die künftigen Danziger Schriftsteller Stefan Chwin und Paweł Huelle. Grass selbst war in diesem Forum im Juni 1981 zu Gast. Maria Janion hat sich nicht nur um die Verbreitung von Grass’ Werk in Polen verdient gemacht, sondern die polnische literarische Reflexion in dieser Hinsicht wesentlich geprägt. Seine Literatur hat sie in die Tradition des Großromans gestellt (Cervantes/Mann/Grass). In dem Schriftsteller aus Danzig sah sie den 16 Grass, Günter: Der Butt. Darmstadt und Neuwied: Luchterhand 1977 (4. Auflage), S. 108.

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

325

Fortsetzer der kritischen Abrechnung mit dem Deutschtum (bzw. Deutschsein) und mit der deutschen Schuld zum einen, zum anderen das »fehlende Glied der polnischen Literatur«.17 Das Konzept von Czekanowicz hat dieses Gedankengut beziehungsweise intellektuelle Erbe berücksichtigt und um das Werk von Daniel Chodowiecki (Gdan´sk 1726 – Berlin 1801) – Zeichner, Graphiker und Kupferstecher, führender Illustrator der deutschen Aufklärung und Rektor der Königlich-Preußischen Akademie der Künste in Berlin – als Mit-Patronfigur erweitert. Chodowiecki ist auch der Autor des Zeitzeugnisses »Von Berlin nach Danzig. Eine Künstlerfahrt im Jahre 1773«, das er auf Französisch verfasste. Als wichtige Säule der Tätigkeit werden Residenzaufenthalte für Künstler geplant. Der intermediale Wort-Bild-Dialog wird damit bestätigt und offensichtlich auch einer der weiteren Wirkungsbereiche – die gesellschaftliche Rolle der Kunst –, da beide Künstler vermittels der Synergie von Feder und Meißel auf die Wirklichkeit reagierten.

Wie soll man erzählen? Wie kann man das Narrativ weben? Was kann diese Erzählung, die nicht nur auf den lokalen Markt abzielt, aus dem Danzig-pommerschen Blickwinkel über das Lebenswerk der beiden Namensgeber mitteilen? Wie sollen beide Persönlichkeiten ins bereits existierende Erzählgewebe über Danzig und die Region eingefügt werden, ohne die Kontroversen um die Person Grass außer Acht zu lassen? Es geht dabei sowohl um die Zugehörigkeit des Minderjährigen zur Waffen-SS als auch um das späte diesbezügliche Bekenntnis des Schriftstellers, der in Deutschland längst mit dem Etikett des Moralpredigers versehen worden war. Dass beide in Danzig geborene Künstler sind, bildet zwar einen fundierten Ausgangspunkt, es fehlt jedoch eine Aktualisierung, die den Nerv der Zeit berücksichtigen würde. Wäre aus Danzig zu stammen und einen Welterfolg zu erzielen ausreichend, um zum Patron einer Institution zu werden, würde das auf den provinziellen Geist der Danziger meinungsführenden Schicht hindeuten. Vor allem lohnt es sich, die Frage zu stellen, was das Chodowiecki und GrassHaus ins Repertoire an Geschichten zu Polen und Europa in der Spätmoderne einbringen kann, um über das Format der Stadtgalerie hinauszuragen. Wie kann es den Menschen dabei helfen, die momentane liminale Zeitspanne, die uns in eine unsichere Zukunft hinausführt, zu überwinden? Es handelt sich um die Zukunft, die man gerne mitgestalten möchte, ohne über Einschränkungen in

17 Vgl. Nawrocka, Ewa: »Grass – brakuja˛ce ogniwo literatury polskiej«. Przegla˛d Polityczny 43, 2000, S. 146–150.

326

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

dieser Hinsicht hinwegzusehen, die uns von der Covid-19-Pandemie in aller Schärfe veranschaulicht wurden. Die Auswahl von Erinnerungsfiguren folgt einer Zukunftsvision. Was für Erzählungen braucht der Mensch, um die Vergangenheit für die Gestaltung einer Zukunft zu gewinnen, die dem Anderen mit Offenheit begegnet? Das Ziel wäre in diesem Fall die Koexistenz mit der Andersheit im Alltag und die Befreiung von der Angst vor dem Fremden, die so erschöpfend zur politischen Manipulation ausgenutzt wird. Das Andere oder Fremde ist aber zum integralen Teil der Gegenwart geworden, die jedoch nicht nur von Globalisierung und Migration geprägt wird, sondern zugleich von zunehmenden nationalistischen Tendenzen und von einer Radikalisierung der Sprache gegen das Fremde im öffentlichen Raum. Demzufolge hat das Chodowiecki und Grass-Haus die Chance, die Identität der Stadt als eines modellhaften (nicht im Sinne eines vorbildlichen) Labors von modi co-vivendi18 in dieser mehrfach differenzierten und geteilten Welt mitzukreieren. Das Zentrum hiermit in die Peripherie rückend, würde ich vorschlagen, diese Danziger Erzählung über Grass und Chodowiecki aus den Antworten auf die Frage ›zusammenzuweben‹, wozu der schräge Blick, über nationale Makroerzählungen hinweg, beitragen kann. Was könnte die Stadt, die an der Schnittstelle der Kulturen und historischer Ansprüche liegt, Konstruktives hinzufügen? In der Zwischenkriegszeit bildete die Freie Stadt Danzig sogar einen Grenzraum par excellence und wurde als Resultat eines ungewollten Kompromisses angesehen. Daniel Chodowiecki und Günter Grass, wenn man sie chronologisch auflistet, sind beide kulturelle Migranten, die in mehrkulturellen Familien im Grenzraum geboren wurden. Sie repräsentieren dabei die Idee der Multikulturalität in vielerlei Hinsicht – in ethnischer, sprachlicher, konfessioneller und gesellschaftlicher. Beide sind Menschen des Wortes, die sich der Rolle und Wirkungskraft der Literatur und Kunst bewusst waren. Beide sind intermediale Künstler, die das Wort und die bildende Kunst verbunden haben. Und, was auch erwähnt werden soll – sie kannten sich mit den Regeln des literarischen Marktes aus. Den kulturellen Überfluss, der von der Mehrheit in den national zugeschnittenen imagined communities als ein Handicap angesehen wird, haben sie in einen messbaren Lebenserfolg verwandelt. Beide wollten in ihrer Kunst nicht nur ästhetischen Maßstäben gerecht werden, sondern damit auch die Wirklichkeit beeinflussen. Die Kunst bildete somit für sie ein wichtiges Medium des politischen, gesellschaftlichen, bürgerlichen und interkulturellen Dialogs.

18 Vgl. Bauman, Zygmunt: O edukacji. Rozmowy z Ricardo Mazzeo. Ins Polnische übers. v. Patrycja Poniatowska. Wrocław: Wydawnictwo Naukowe Dolnos´la˛skiej Szkoły Wyz˙szej 2012. S. 111–112. (Orig.: On Education. Conversations with Riccardo Mazzeo, 2012).

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

327

Als Protagonisten einer seiner Geschichten hat Grass Daniel Chodowiecki gewählt. Grass’ Erzählrahmen überragt die polnische Erzählung über den polnischen Künstler im Dienste des preußischen Königs sowie die deutsche – über den führenden Kupferstecher der deutschen Aufklärung und den Reformator der Preußischen Akademie der Künste. Es ist eine Geschichte über einen Europäer aus Danzig. Das europäische, verstanden als ein übernationales Format Chodowieckis, erläuterte Grass zum Beispiel 1991 im Gespräch mit Paweł Huelle. Dabei markiert er Parallelen zum eigenen Lebenslauf: Ich glaube, daß die homogenen Kulturen langweilig sind. Die besten Geschichten entstehen da, wo die Kulturen zusammenstoßen, sich mischen. Ich bin ein typisches Mischprodukt aus dem Deutschen, Kaschubischen… das ist spürbar. Dann kommt man gar nicht auf diese dumme Idee, sich national zu begreifen. […] Chodowiecki [war] väterlicherseits polnischer Herkunft und von der Mutter kalvinistisch-schweizerisch […]. Sein Tagebuch von Berlin nach Danzig schrieb er in französischer Sprache. Er war preußischer Beamte, was die dummen polnischen Nationalisten ihm noch heute übelnehmen… Aber er war ein großartiger Präsident der Berliner Akademie, er hat sie reformiert, er war ein Mann der Aufklärung und hat seine polnische Herkunft nie verleugnet… Das sind für mich diese europäischen Figuren, die es in Deutschland wie in Polen gibt, und da ist der Zusammenhang zu suchen.19

Von daher hat Grass, der selbst im Zeitraum 1983–1986 Präsident der Berliner Akademie der Künste war, 1992 die Daniel Chodowiecki-Stiftung gegründet. Ihr Ziel ist es, die deutsch-polnischen Beziehungen zu fördern, insbesondere in den Bereichen des kulturellen Austauschs und der Kunst. Die Stiftung verleiht u. a. einen Preis für Zeichnung und Graphik an Künstler aus Polen und Deutschland.

Das Alternative an Grass’ Narrativ. Einschluss von Gegengedächtnis und Mehrstimmigkeit des Grenzraums Mit Grass muss man nicht übereinstimmen. Man kann seine Ästhetik der Bildhaftigkeit ablehnen, aber es fällt schwer, seinem Wort gegenüber gleichgültig zu bleiben. Zu Recht hat Peter Oliver Loew festgestellt, dass Grass’ Narrativ über die Vergangenheit Danzigs alternativ ist.20 Es verbindet die nationalen Monologe, die

19 Günter Grass und Paweł Huelle in Gespräch. Danzig/Gdan´sk. In: Deutsche und Polen. 100 Schlüsselbegriffe, hg. v. Ewa Kobylin´ska, Andreas Lawaty und Rüdiger Stephan. München: Pieper 1992, S. 547–561, hier 556–557. 20 Loew, Peter Oliver: Gdan´sk i jego przeszłos´c´. Kultura historyczna miasta od kon´ca XVIII wieku do dzisiaj. Übers. ins Polnische v. Janusz Mosakowski. Gdan´sk: słowo/obraz terytoria 2003.

328

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

mit selektiv ausgewählten Argumenten samt ihren Zuschreibungen aus der Vergangenheit jonglieren. Der Darmstädter Historiker und Slawist hat die Danziger Mythen in seiner Typologie modellhaft zusammengestellt. Nicht unbedingt stimme ich jedoch mit ihm überein, worin das Alternative bestehen soll. Indem Grass auf das Palimpsestuöse des Vergangenheitsbildes der Stadt im Grenzraum hingewiesen hat, hat er nicht nur das Un-Gedächtnis an mehreren Stellen aufgebrochen bzw. durchbrochen und dadurch Kritik an der deutschen Vergangenheit und an unserer Gegenwart geübt. Die deutschen Danziger daran erinnert, dass das Unglück des Zweiten Weltkriegs nicht erst im Winter 1945 mit dem Heimatverlust begann, sondern dass sie bereits vor 1939 hier nicht allein wohnten. Den polnischen Bewohnern der Nachkriegszeit zeigte er Danzig aus der Vorkriegsperspektive, die bei Grass nicht nur deutsch geprägt war. Das Alternative an seinem Bild bestand aber nicht nur darin, die polnische und die deutsche Makroerzählung dialogisch miteinander in Verbindung zu setzen. Er ging einen wesentlichen Schritt weiter, indem er die nationalen Erzählungen mit dem kaschubischen und dem jüdischen Gegengedächtnis21 (im Sinne von Michel Foucault) der Minoritäten verflocht. Somit hat er eine postnationale Erzählung über die Vergangenheit geschaffen, die teilt (ein gebrochenes bzw. geteiltes Gedächtnis von Pomorze22) und zugleich in einer zerklüfteten Erinnerungslandschaft verbindet.23 Zwar wurde die Metapher »zerklüftete Erinnerungslandschaft« in Bezug auf das deutsche kulturelle Gedächtnis hinsichtlich des ehemaligen deutschen Ostens von den Historikern Eva Hahn und Hans-Henning Hahn geprägt, sie fasst jedoch auch recht zutreffend den Stand des Vergangenheitsbilds der Region in der Gesamtheit ihrer Vorstellungen zusammen, inklusive der ihrer einheimischen und heutigen Bewohner. Jene bilden ein Netz von Narrativen, die von den mit der Region verbundenen soziokulturellen, kulturellen und ethnischen Gruppen getragen werden. Je nach dem Blickwinkel formt sich wie bei einem Kaleidoskop ein jeweils anderes Mosaik dieses Gesamtgedächtnisbilds.24

21 22 23 24

S. 373. Die deutsche Originalfassung: Danzig und seine Vergangenheit 1793 bis 1997. Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen. Osnabrück: Fibre 2003. Foucault, Michel: »Nietzsche, genealogia, historia.« In: ders.: Filozofia, historia, polityka. Wybór pism. Übers. ins Polnische v. Damian Leszczyn´ski, Rotar Lesin´ski. Warszawa, Wrocław: Wydawnictwo Naukowe PWN, S. 113–135, hier 131. Obracht-Prondzyn´ski, Cezary: Wielokulturowe Pomorze – Wielokulturowy Gdan´sk. Szkice z pogranicza. Gdan´sk: Instytut Kaszubski 2017. S. 23ff. Hahn, Eva/Hahn, Hans-Henning: »Flucht und Vertreibung«. In: Etienne François/Hagen Schulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte. Bd. 1. München: C.H. Beck 2001, S. 335–351, hier 350. Eingehender habe ich mich mit diesen Aspekten in den folgenden Beiträgen befasst: »Pomorska kultura pamie˛ci«. In: Katarzyna Kulikowska/Cezary Obracht-Prondzyn´ski (Hg.): Pomorska debata o kulturze: kultura na pograniczu – pogranicza kultury. Edycja II, Gdan´sk: Instytut Kaszubski 2015, S. 19–32 (mit Cezary Obracht-Prondzyn´ski), und: »Kalejdoskop

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

329

Grass’ Danzig ist ein Raum kultureller Vielfalt, die jedoch nicht mit der Multikulturalität25 im Sinne eines »koexistente[n], Integration und Differenz fördernde[n] Nebeneinander[s] verschiedener Kulturen unter dem Dach einer Staatsnation« verwechselt werden sollte. Eher handelt es sich um eine von kultureller Hierarchisierung und Dominanz im Sinne »eines normativen nationalen Schmelztiegels«26 geordnete gesellschaftliche Struktur, in der in der Zwischenkriegszeit der deutschen Kultur und Sprache der Status jener normativen beziehungsweise dominanten Kultur zugeschrieben wird. Ins Zentrum treten bei Grass Grenzgänger. Sie zeigen den Raum Danzigs und des Pommernlandes als oft wacklige Symbiose von Kulturen und Religionen, die diese kulturelle Landschaft geprägt haben. Das Individuum steht in diesem Kontext vor der Herausforderung mehrerer Wahlmöglichkeiten, die unter oppressiven Systemen mit Zwang verbunden sind und konkrete Folgen nach sich ziehen. Die nationalen Abgrenzungen verlaufen nicht selten durch die Mitte des Familientischs, wie es bei den Matzeraths in »Die Blechtrommel« der Fall ist, solange Oskars Mutter Agnes lebt und Matzeraths ihr kaschubisch-polnische Lieblingsvetter Jan Bronski regelmäßig besucht. Dabei wird die Zwischenkriegszeit als Zeitraum gezeigt, in dem die exkludierenden Formen kultureller Identität Vorrang hatten und erzwungen wurden. Günter Grass, der deutsche Nobelpreisträger aus Danzig, stellt in seinem Werk den Austausch zwischen Dominanzkulturen in Bezug auf Danzig und die Region sowie ihr reziprokes Verhältnis dar, in dem das jeweilige Andere als die Kehrseite des Autostereotyps fungiert. Er ergänzt jedoch das Bild um jüdische und kaschubische Figuren. Insbesondere die Kaschuben werden in seinen literarischen Welten als hybride Identitäten und somit als ein »dritter Raum«27 (im Sinne von Homi Bhabha) inszeniert. Agnes Matzerath und Jan Bronski werden in »Die Blechtrommel« in diesem Zusammenhang als ein Paar kreiert, das für alternative nationale Optionen der Kaschuben in der Freien Stadt Danzig und ihrer pomorskiej pamie˛ci«. In: Pomorska debata o kulturze: kultura na pograniczu – pogranicza kultury, S. 95–103. 25 Vgl. Clyne, Michael/Kreutz, Heinz: »Horizonte und Fluchtlinien interkultureller Germanistik«. In: Alois Wierlacher/Andrea Bogner (Hg.): Handbuch interkulturelle Germanistik. Stuttgart: Springer 2003, S. 47–68, hier 48. 26 Ortrud Gutjahr: »Tabus als Grundbedingung von Kultur. Sigmund Freuds Totem und Tabu und die Wende in der Tabuforschung«. In: Claudia Benthien/Ortrud Gutjahr (Hg.): Tabu. Interkulturalität und Gender. München: Wilhelm Fink 2008, S. 9–50, hier 11. 27 Zu Homi Bhabhas Konzept »dritter Raum« siehe Bhabha, Homi K.: Die Verortung der Kultur, übers. v. Jürgen Freudl/Michael Schiffmann, Tübingen: Stauffenburg Verlag 2000. Mit dem Bild der Kaschuben habe ich mich u. a. im folgenden Beitrag befasst: »Mit schrägem Blick? Das Kaschubische im Kontext von Günter Grass’ Lebenswerk und seiner Rezeption«. In: Freipass. Forum für Literatur, Bildende Kunst und Politik, Bd. 4: Volker Neuhaus/Per Øhrgaard/Philipp-Jürgen Thomsa (Hg.): Horst Janssen und Günter Grass. Berlin: Links 2019, S. 108–130.

330

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

Folgen steht. Jan Bronski, Absolvent des polnischen Karthäuser Gymnasiums und Beamter der polnischen Post in der Freien Stadt Danzig, wird als Verteidiger der polnischen Post im September 1939 von den Nazis getötet. Die Familie seiner geliebten Kusine, die einen Deutschen – Matzerath – geheiratet hat, wird ihre kaschubische Verwandtschaft während des Krieges als politisch unbequeme Beziehung auf Distanz halten, um ihr Deutschtum zu bekräftigen. Ihr Spross – Oskar Matzerath – teilt 1945 das Schicksal der deutschen Bevölkerung und wird zwangsausgesiedelt. Die Kaschuben werden in Grass’ autobiographisch fundierten fiktionalen Welten demnach im Zwischenraum zwischen dem Deutschen und dem Polnischen situiert und, vor mehrfachen Wahlmöglichkeiten in nationaler Hinsicht stehend, als das Andere stigmatisiert. Nichtsdestotrotz werden sie als Element der Fortsetzung, als jener »dritte Raum«, in dem vom Bevölkerungsaustausch betroffenen Raum und als Gegenstand der Ansprüche von zwei nationalen Kulturen gezeigt. Um es noch einmal hervorzuheben: Grass’ Verdienst ist es eben, sowohl die hegemonialen Narrative in Bezug auf diesen Raum als auch die der Minderheiten – der jüdischen und der kaschubischen – in der Konvention des Gegengedächtnisses (Michel Foucault) dialogisch zu integrieren. Wenn Grass über deutsche Zeitverschiebungen schreibt, dann verweist er zugleich auf die Ungleichzeitigkeit der Erfahrungen, auf Asymmetrien der Deprivation des monologisierenden nationalen Narrativs über den Zweiten Weltkrieg. »Ein Schriftsteller, Kinder, ist jemand, der gegen die verstreichende Zeit schreibt.«28 Zugleich entblößt er die tabuisierten und ausgelöschten Bereiche in diesen national sakralisierten Erzählungen. Mit der Groteske verfährt er nicht selektiv, wenn man bedenkt, wie er von allen Seiten für seine literarischen Spiele mit den tradierten Bildern des Polen, des Juden, des deutschen Danzigers und des Kaschuben kritisiert wurde. Das Dazwischen-Sein zeigt Grass in seiner kulturellen Bedeutung, die nicht nur auf den territorialen Aspekt zugeschnitten ist. Er stellt Migrationen, die Existenz an der Schnittstelle der Kulturen, Flucht und Zwangsaussiedlung als globale Erfahrung dar, die – dadurch, dass sie mitgeteilt wird – auch verbinden kann, wie in der Beziehung der Protagonisten im Roman »Unkenrufe« (1992). Und gerade diesen Deutungsschlüssel des Schaffens von Grass, die Erfahrung des Migranten als »Klebstoff« für das Gemeinschaftsgefühl, betonte Salman Rushdie.29

28 Grass, Günter: »Wie sagen wir es den Kindern?« In: Danzig 1939. Schätze einer zerstörten Gemeinde. Braunschweig 1982. S. 13–26, hier S. 22 (=Veröffentlichungen des Braunschweigischen Museums). 29 Rushdie, Salman: Heimatländer der Phantasie. Essays und Kritiken 1981–1991, Reinbek bei Hamburg: btb 2014.

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

331

Die Figur des ›Zwischenraums‹ avancierte im Rahmen der Cultural Studies zum symbolischen Ort. Die Interkulturalität als Forschungszugang, der Phänomene und Prozesse zum Verhältnis sowie zur Verflechtung von Kulturen nachzuvollziehen ermöglicht, wurde in den letzten Jahrzehnten zu einem zeittypischen Paradigma. Im Falle der Interkulturalität geht ihre soziale Auswirkung mit der Prämisse einher, politisch und gesellschaftlich begründetes stereotypierendes Denken überwinden zu können. Der Begriff ›Zwischenraum‹ soll die Chance auf einen Gegen-Diskurs gewähren, der sich nicht aus dem Gegensatz der Kulturen, sondern von dem Raum aus, wo die Minderheiten situiert werden, entwickeln soll.30 Die Erinnerung an die Kultur der Kolonisierten, Diskriminierten und Sklaven – und die Liste kann man um kulturelle Minoritäten erweitern – wird damit eine interkulturelle bzw. transnationale Gegenkultur der Moderne mitfundieren.31 Gegen den »Mief der Nachkriegszeit« hat Grass die Erzählungen des Gegengedächtnisses (Juden, Kaschuben und Frauen) integriert. Den Terminus ›contre-mémoire‹ hat Michel Foucault 1976 während seiner Vorlesungen im Collège de France über Machtverteilung und Diskursordnung zum ersten Mal benutzt Damit erfasste er alternative Vergangenheitsrepräsentationen, darunter die Narrative der Ausgegrenzten, d. h. der Gruppen, die an der Macht nicht beteiligt werden wie Minoritäten, Frauen, Sklaven und Migranten. Diese Erzählungen ergänzen das Narrativ der kulturellen Mehrheit und verifizieren es zugleich. Nicht ohne Grund hat Grass die Rolle des Schriftstellers in seiner Nobelpreis-Rede wie folgt formuliert: Auch daß die Schriftsteller – was ihres Berufes ist – die Vergangenheit nicht ruhen lassen können, zu schnell vernarbte Wunden aufreißen, in versiegelten Kellern Leichen ausgraben, verbotene Zimmer betreten, […] ihnen also generell nichts […] heilig ist, all das macht sie anrüchig, strafwürdig. Ihr schlimmstes Vergehen jedoch bleibt, daß sie sich in ihren Büchern nicht mit den jeweiligen Siegern im historischen Verlauf gemein machen wollen, sich vielmehr dort mit Vergnügen herumtreiben, wo die Verlierer geschichtlicher Prozesse am Rande stehen, zwar viel zu erzählen hätten, doch nicht zu Wort kommen. Wer ihnen Stimme gibt, stellt den Sieg in Frage.32

Grass hat das Fundament eines Dialogs bestimmt, den die Danziger Schriftsteller der fiktionalen Literatur wie Paweł Huelle, Stefan Chwin, Barbara Piórkowska – in unterschiedlichem Ausmaß bezüglich der Mehrstimmigkeit –, aber zugleich auch die Autoren der literarischen Reportage, die die Besonderheit der Region 30 Vgl. Weigel, Sigrid: »Zum ›topographical turn‹. Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften«. In: KulturPoetik 2, 2 (2002). S. 151–165, hier 155. 31 Vgl. Weigel: »Zum ›topographical turn‹«. S. 156. 32 Grass, Günter: »Die Fortsetzung folgt… Rede anläßlich der Verleihung des Nobelpreises für Literatur«. In: ders.: Essays und Reden IV. 1997–2007. Göttingen: Steidl 2007. S. 64–81 , hier 71–72.

332

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

darstellen, fortsetzen. Das Schaffen des Schriftstellers aus Langfuhr und das daraus resultierende intellektuelle Ferment wurden zur Inspiration für die emanzipatorischen Prozesse der »Rebellion der Provinz« in Polen nach 1989.33 Sie betonen die Spezifik der »peripheren« Regionen in Bezug aufs nationale Zentrum. Die wesentliche Rolle innerhalb dieser Strömung spielten die Kreise um den Borussia-Verein in Olsztyn/Allenstein, die Stiftung »Pogranicze« in Sejny, das Zentrum Os´rodek Brama Grodzka – Teatr NN in Lublin sowie die kaschubische Regionalbewegung in Danzig.

Grass und Chodowiecki – Menschen des Grenzraums. Danzig als Stadt im Grenzraum Beide Schirmherren verbindet unbestreitbar – über Geburtsdatum und -ort, d. h. am 16. Oktober in Danzig, hinaus – die Erfahrung des Aufwachsens im Grenzraum. Es handelt sich um eine Existenz an kulturellen Schnittstellen, wo sich Geschichte, Sprachen, Erinnerungen, Verwandtschaften, Identitäten, Mentalitäten und Animositäten überlappen, durchdringen und verflechten.34 Die Familiengeschichten beider weisen folgende Phänomene auf: kulturelle Vermischung, Mehrsprachigkeit, Assimilation bzw. Akkulturation, und zugleich die Dilemmata, die mit der Existenz an der kulturellen Schnittstelle einhergehen: interfamiliäre Aushandlungen und die Folgen der in dieser Hinsicht getroffenen Entscheidungen. Wie es bereits am Beispiel der Matzeraths Familie in »Blechtrommel« erwähnt wurde, sind die Abgrenzungen auch in nationaler Hinsicht Bestandteil des Alltags und teilen nicht selten Familien im Grenzraum auf. Zugleich wissen beide aus dieser Erfahrung in ihrem kreativen Schaffen Nutzen zu ziehen. Grass und Chodowiecki haben die Erfahrung des Grenzraums nicht zum Fundament ihres Erfolgs gemacht, jedoch zum Bestandteil der Selbstbestimmung eines Europäers. Ihre Identitätsprojekte und Lebensentwürfe beweisen, dass Grenzen nicht nur abgrenzen, sondern auch verbinden, und das Leben ›im Dazwischen‹ (in-betweenness) von universellem Charakter ist. Dabei finden wir in Grass’ literarischen Welten keine Spur von Sakralisierung der eigenen Herkunftsregion oder versunkener Heimatidylle. Nicht ohne Grund hat der Schöpfer der Bezeichnung »Danziger Trilogie«, der britische Literatur-

33 Vgl. das Verzeichnis der Debatte: »Co zostało z rebelii prowincji. O współczesnych wyzwaniach dla kultury«. In: Borussia 51, 2012, S. 5–32. 34 Vgl. Pletzing, Christian/Serrer, Thomas: »Zwischen Enteignung und Aneignung: Geschichte und Geschichten in den ›Zwischenräumen Mitteleuropas‹«. In: dies. (Hg.): Wiedergewonnene Geschichte, Wiesbaden: Harrasowitz 2006, S. 9.

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

333

wissenschaftler John Reddick, den radikalen Mangel an Sentimentalität als das grundlegende Merkmal der Grass’schen Bildhaftigkeit diagnostiziert.35 Grass’ Schaffen und Tätigkeit haben in verschiedenen Kreisen Widerstand und Kontroversen hervorgerufen. Nichtsdestoweniger sind beide Künstler Integrationsfiguren, die über nationale Grenzlinien hinaus verbinden und die vor allem imstande waren, über die Denkschemata ihrer Gegenwart hinauszuschauen und zu -wirken. Die Krakauer Slawistin Maria Da˛browska-Partyka nannte zwei grundlegende Einstellungen zum Grenzraum. Von der xenophoben Haltung, die dazu neigt, die Welt eindeutig in den fremden und eigenen Raum aufzuteilen, unterscheidet sie die Einstellung der Öffnung. In diesem Fall versucht der Mensch, eigene Erfahrungen, auch von traumatischem Charakter, positiv umzudeuten und sie als bereichernd anzusehen. Demzufolge wird der Grenzraum als alternativer Wert zu den legitimierten, dominierenden Diskursen des kulturellen Zentrums betrachtet. Wesentlicher Bestandteil dieser alternativen Einstellung ist die Kreierung eines kulturellen Bildes vom Grenzraum, der als Ort von intimsten, privatesten Erfahrungen fungiert, die das »Gewebe« des uneindeutigen und komplexen Alltags bilden.36 Das Chodowiecki und Grass-Haus scheint dem Obengenannten zufolge gerade dazu prädestiniert, die Einstellung der Offenheit dem Anderen gegenüber zu praktizieren und zu stärken. Es soll als Reflexions- und Begegnungsforum dienen, innerhalb dessen der Dialog über Kunst und Literatur auch durch Kunst und Literatur selbst praktiziert wird. Für beide Namensgeber bedeutete das Gespräch und der intellektuelle Austausch ein Wert an sich, was ihre umfangreichen Briefsammlungen und das Netz ihrer Kontakte bezeugt. Daher steht die Kulturinstitution in statu nascendi vor der Herausforderung, die Herausbildung einer Identität zu fördern, die aus einer Mischung des Gefühls lokaler Zugehörigkeit und einer kosmopolitischen Sichtweise bestehen und für das Transkulturelle sensibilisiert wäre. Sie könnte als Alternative zu nationalen Abgrenzungen dienen. Der Kosmopolitismus, dieser Feind autoritärer Systeme, bedeutet primär, dass der Mensch imstande ist, die ihm von seinen Zugehörigkeiten und seiner Eigenkultur bestimmten Grenzen zu überschreiten und sich selbst als ein Mitglied einer größeren Gesellschaft – als Weltbürger – zu betrachten.37 Somit hätte die entstehende Kulturinstitution die Aufgabe, in unserer polarisierten Wirklichkeit die Wahrnehmungsmatrix »sowohl – als auch« zu fördern, welche die Menschen des Grenzraums auszeichnet. Sie charakterisiert auch die 35 Reddick, John: The ›Danzig Trilogy‹ of Günter Grass. London: Secker & Warburg 1975, S. 17. 36 Da˛browska-Partyka, Maria: Literatura pogranicza, pogranicza literatury. Kraków: Wydawnictwo Uniwersytetu Jagiellon´skiego 2004, S. 10. 37 Vgl. Antweiler, Christoph: Mensch und Weltkultur. Für einen realistischen Kosmopolitismus im Zeitalter der Globalisierung. Bielefeld: transcript 2011, S. 70.

334

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

Strategien, dritte Wege zu beschreiten, was für Günter Grass seinem Biographen Dieter Stolz zufolge typisch ist. Solch eine Matrix zu verbreiten heißt, eine Alternative zum Schema »entweder – oder« zu bieten, das die nationalen Gemeinschaften fundiert und das dem Menschen im Prozess der Sozialisation vermittelt wird. Bei einer mehrkulturellen Begegnung käme es eher darauf an, auf das »Bindegewebe« im Verständnis von Czesław Miłosz und Krzysztof Czyz˙ewski38 zu verweisen. Danzig war für Grass nicht nur Geburtsort, sein Vorort Langfuhr (heute Wrzeszcz) bildete für den Schriftsteller das Universum seiner literarischen Welten. Es ist zugleich »Ausgangspunkt für kulturhistorische Exkurse« und »Träger […] der Allegorie«,39 obwohl dem Schriftsteller der Eskapismus nicht fremd war.40 Danzig/Gdan´sk ist zugleich der Raum der Wiederbegegnungen, wo er stets nach Zeichen des genius loci suchte, jener konstitutiven Merkmale, die den Menschen über das Nationale hinaus prägen. Er verspürte die Fremdheit des polnischen Gdan´sk und entdeckte zugleich das Eigene an den dortigen Fragmenten. Wie Grass 1962 im Gespräch mit Horst Bienek offenbarte, fand er die Spuren Danzigs in solchen Einzelheiten der Stadtlandschaft wie »Männer […], die schon wieder diesen etwas wiegenden Gang haben, wie ihn eigentlich nur Leute haben, die in einer Hafenstadt geboren sind. Es mag doch sein, daß so etwas formt und über die Nationalitäten hinweg prägend ist.«41 Seit 1958 kam der Künstler regelmäßig ins polnische Gdan´sk, um Stoff für weitere Texte zu ergänzen und kaschubische Verwandte zu besuchen. Allmählich schloss er neue Bekanntschaften mit den infolge des Bevölkerungstransfers Zugezogenen und mit der kaschubischen Regionalbewegung. In Interviews und im autobiographischen Roman »Beim Häuten der Zwiebel« erzählt er die Anekdote, wie ihn seine Großtante Anna Krause, das Vorbild für die literarische Figur Anna Koljaiczek, begrüßte. Erst nach der Überprüfung seines Reisepasses ließ sie ihn die Hausschwelle übertreten, mit dem Kommentar: »Na Ginterchen, bist aber groß jeworden.«42 Damit fügte sie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammen. 38 Czyz˙ewski, Krzysztof, Miłosz. Tkanka ła˛czna. Chorzów: Medeia 2014. 39 Krason, Viktoria: »Danzig-Variationen im Werk von Günter Grass«. In: Jörg-Philipp Thomsa/ Viktoria Krason (Hg.): Von Danzig nach Lübeck. Günter Grass und Polen. Lübeck: Günter Grass-Haus 2010, S. 35–42, hier 41. 40 Dazu mehr bei Per Øhrgaard: »Zum Eskapismus im Werk von Günter Grass«. In: Marion Brandt/Marek Jaroszewski/Mirosław Ossowski (Hg.): Literatur – Kunst – Politik. Dokumentation der internationalen Konferenz. 4.–6. 10. 2007 in Danzig. Gdan´sk: Fundacja Rozwoju Uniwersytetu Gdan´skiego, S. 57–64. 41 »Ich sehe keinen Grund, den Schauplatz Danzig zu wechseln (März 1962)«. In: Günter Grass. Gespräche 1958–2015. Ausgewählt und mit einem Nachwort von Timm Niklas Pietsch. Göttingen: Steidl 2019, S. 6–23, hier 13. 42 Grass, Günter: Beim Häuten der Zwiebel. Göttingen: Steidl 2006, S. 18.

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

335

Grass kapselte sich jedenfalls nicht in der Danziger Vergangenheit ab. Er verließ sich beim Schaffen nicht auf seine Erinnerungsobsession, sondern differenzierte und ergänzte das Bild der Welt von Gestern mit der polnischen Gegenwart der Stadt und Region, u. a. in den Romanen »Aus dem Tagebuch einer Schnecke«, »Der Butt«, »Die Rättin« und »Unkenrufe«. Seine Wiederkehr in die Heimatstadt nach Jahren zeichnete auch Daniel Chodowiecki mit Wort und Strich in »Von Berlin nach Danzig. Eine Künstlerfahrt im Jahre 1773« nach. Auch er beschränkte sich dabei nicht nur auf die Ortschaften, die er von Kindheit an kannte. Er nahm die Gegenwart von Danzig auf, führte den Leser in die Danziger Vororte und schenkte seine Aufmerksamkeit der Region – dem Pommernland. Chodowieckis Zeichnungen sind in der Stadt verortet, sie gewähren jedoch dem Leser sowohl den Blick in ihre Straßen als auch in Innenräume von Patrizierhäusern, von Handwerkerwerkstätten und aristokratischen Residenzen in Vororten. Seine Zeichnungen helfen den Betrachtenden, die Stadt in der historischen Perspektive des 18. Jahrhunderts zu verstehen, die von bahnbrechender Bedeutung in ihrer Geschichte ist: am Ende der Oberhoheit der polnischen Krone, im Vorfeld der modernen Nationsbildung, mit den Preußen schon an den Stadtgrenzen.

Menschen der Aufklärung – Bürger und intermediale Künstler Grass und Chodowiecki waren sich der sozialen Aufgabe der Kunst bewusst, sie waren Menschen des Wortes und zugleich des Bildes, die auf gesellschaftliche Intervention abzielten. Betrachten wir das Oeuvre von Daniel Chodowiecki, der in ihrer Botschaft revolutionäre Texte seiner Zeit illustrierte, wie das bürgerliche Trauerspiel »Kabale und Liebe« von Friedrich Schiller mit seiner Kritik an absolutistischer Macht, oder das Ideendrama »Nathan der Weise« von Gotthold Ephraim Lessing. Chodowiecki arbeitete jahrelang mit Georg Christoph Lichtenberg zusammen, – dem »Kant aus Göttingen« – seine späteren Publikationen, die auf die Emanzipation des Menschen als Bürger zielten, mit Bildern versehend. Keiner von den genannten Texten wurde ad acta gelegt. So finde ich den Titel der Chodowieckis Lebenswerk gewidmeten Monografie »Das gestochene Argument« sehr treffend. Sie interpretiert seine bildende Kunst gerade mit dem Ansatz der Bildtheorie zur Zeit der Aufklärung.43 In dieser Richtung könnte man auch die Veröffentlichung der Publikationen zur Geschichte Polens in den Jahren 1796 und 1797, also drei Jahre nach der 3. Teilung Polens, mit Chodowieckis

43 Kirves, Martin: Das gestochene Argument. Daniel Nikolaus Chodowieckis Bildtheorie der Aufklärung. Berlin: Dietrich Reimer 2012.

336

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

Illustrationen deuten. Die Texte beinhalten Bilder zu Ereignissen und Personen aus der Geschichte Polens sowie polnischer Volkstrachten. Das Ziel der Aufklärung, für die Chodowiecki eine Schlüsselfigur im deutschsprachigen Raum war, und Grass ihr kritischer Befürworter, war die Herausbildung eines im Sinne von Immanuel Kant kritisch denkenden Menschen. Dieser soll nicht nur den Mut haben, sich des eigenen Verstandes zu bedienen, sondern darüber hinaus diese Denkweise im gesellschaftlichen Leben praktizieren. Ohne mich auf die Polemik über die Auswirkungen des Erbes der Aufklärung einzulassen, will ich es bei dem Fazit von Jürgen Habermas belassen, dass die Moderne und mit ihr die aufklärerischen Ideen stets ein unvollendetes Projekt geblieben sind,44 insbesondere wenn man Bildung, Rationalismus, (bürgerliche) Emanzipation und die Kunst der Kritik betrachtet. In diesem Projekt hatte die Kunst die Schlüsselrolle bei der Formung einer modernen Gesellschaft, die auf eine »richtige« Ordnung gestützt werden sollte. So bietet es sich an, die Frage nach der Richtigkeit der Ordnung(en) beziehungsweise nach der Diskursordnung zum Gegenstand der Reflexion des Chodowiecki und Grass-Hauses zu machen. Wie Maria Janion 1993 in ihrer Laudatio zu Ehren von Günter Grass als Doktor honoris causa der Universität Gdan´sk betonte, war er nicht nur einer der größten Künstler des 20. Jahrhunderts, sondern zugleich derjenige, der alles, womit er in Berührung kam, künstlerisch umzugestalten wusste.45 Um seine Wirkungskraft zu optimieren, bietet sich als ein modus operandi des Hauses eine breit angelegte Zusammenarbeit mit den Institutionen an, die gegründet wurden, um die Rezeption von Grass’ und Chodowieckis Lebenswerken zu stärken. Die Hauptsammlung von Chodowieckis bildendem Werk beherbergt die Akademie der Künste in Berlin, in Danzig die Danziger Bibliothek der Akademie der Wissenschaften PAN und die Danziger Abteilung des Nationalmuseums. Auf der Agenda der neuen Kulturinstitution steht ohnehin die Fortsetzung der Kooperation mit dem Günter Grass-Haus in Lübeck, mit der Günter und Ute GrassStiftung, dem Literaturarchiv Günter Grass und der Akademie der Künste in Berlin, mit der Medienarchiv Günter Grass-Stiftung Bremen, sowie eine Kontaktaufnahme mit dem frisch gegründeten Günter Grass-Archiv in Göttingen. Die letztgenannte Institution ist eine gemeinsame Initiative der Georg-AugustUniversität Göttingen und des Steidl-Verlags, mit dem Grass seit den 1990er 44 Habermas, Jürgen: Die Moderne. Ein unvollendetes Projekt. Philosophisch-politische Aufsätze. Leipzig: Reclam 1994. 45 Janion, Maria: »Opinia na temat wniosku o nadanie stopnia doktora honoris causa na Wydziale Filologiczno-Historycznym Uniwersytetu Gdan´skiego Panu Günterowi Grassowi.« In: Die Verleihung des Titels Doktor honoris causa der Universität Danzig an Günter Grass. Gdan´sk-Oliwa den 26. Mai 1993/Nadanie Günterowi Grassowi tytułu doktora honoris causa Uniwersytetu Gdan´skiego. Gdan´sk-Oliwa dnia 26 maja 1993 roku. Gdan´sk: Wydawnictwo Uniwersytetu Gdan´skiego 2000, S. 24–31, hier 31.

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

337

Jahren verbunden war. Daher ist eine der künftigen Aufgaben die Stärkung der Position von Danzig als einem Zentrum der Grass-Rezeption zum einen, zum anderen die Vermittlung der Danziger Sichtweise auf sein Schaffen an einen breiteren Adressatenkreis. Das Chodowiecki und Grass-Haus hat das Potenzial, ein Kunstforum und zugleich ein Ort der bürgerlichen Bildung zu werden. Beide Namensgeber kann man als »lernende Lehrer« der Zivilgesellschaft und zugleich Ingenieure der Zukunft behandeln, für die »das ›Prinzip Zweifel‹ als Grundwert«galt.46 Sie waren zwar kritische und aufmerksame Beobachter ihrer Realitäten, aber zugleich auch ihre subtilen Mitschöpfer. Sie nahmen die Wirklichkeit mit vielen Sinnen wahr und teilten ihre Sichtweise mithilfe vieler Medien mit, wie Literatur und bildende Kunst. Als Vertreter des bürgerlichen Patriotismus, die ihre inhomogene Herkunft nicht verdrängten, können sie als Vorbilder für eine Alternative zum »Fackel-Patriotismus«47 fungieren, der zurzeit wieder immer stärker präsent ist.

Menschen des Wortes und des Bildes. Das Buch in der Epoche neuer Medien Grass und Chodowiecki waren multikreative Künstler, die an der Gestaltung des Buches in der Synergie von Wort und Bild arbeiteten. Auch wenn der Kampf um das Buch verloren zu sein scheint, wie die polnische Schriftstellerin der jungen Generation Dorota Masłowska sagt, wäre der Verzicht auf die Entwicklung der Buchkunst ein Versäumnis . »Das europäische Wesen liegt in der Geschichte des Romans« – hob Zygmunt Bauman in Anlehnung an Milan Kundera hervor, um die Rolle der Literatur bei der Erklärung komplexer Zusammenhänge zu betonen.48 Seinen Reflexionen zu diesem Thema setzte er folgenden Gedanken als Pointe: »Literatur zeigt nämlich andere Lösungen und überschreitet die Grenzen des bisher Bekannten«. So wäre es von Bedeutung, im Chodowiecki und GrassHaus nicht nur die Literatur und ihre Rolle im Wandel zu reflektieren, sondern zugleich den Leser zu Interpretationen anzuregen, welche die vereinfachende Wahrnehmungsmatrix in Frage stellen, nach Differenzierung des Wirklichkeitsbildes streben und offene Fragen zulassen. Es handelt sich daher um eine kulturelle Intervention, die zum Denken und zur Tat ermutigen würde. Auch wenn wir 46 Vgl. Grass, Günter: »Der lernende Lehrer. Rede auf einem Gesamtschul-Kongreß.«. In: ders.: Essays und Reden IV. 1997–2007. Göttingen: Steidl 2007, S. 40–58, hier 44. 47 Vgl. Klata, Jan; Pawlicka, Aleksandra, »Kibolski patriotyzm«. In: Newsweek v. 23. 08. 2015. Auf: https://www.newsweek.pl/jan-klata-kibolski-patriotyzm/zxkvyl3 (Zugriff am 1. 4. 2021). 48 Bauman, Zygmunt: »Europa ist ein Sprachgewirr«. Ein Interview von Agnieszka Hudzik. In: Die Zeit v. 23. 9. 2011. Auf: http://www.zeit.de/kultur/literatur/2011-09/zygmunt-bauman-in terview/komplettansicht (Zugriff am 2. 1. 2021).

338

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

in der Zeit des Bildes leben: was könnte das Komplexe vollständiger abbilden und den Nerv der Zeit besser treffen als das Wort im Dialog mit dem Bild? Das Programm der Residenzaufenthalte würde ich an Künstler, Kunstkuratoren, Übersetzer und Forscher richten, insbesondere an jene, die in ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit die Grenzen des Campus überschreiten. Ein Aufenthalt in Danzig wäre für sie eine Möglichkeit, die Geburtsstadt beider Namensgeber mit ihrer wechselvollen Geschichte und den genius loci vor Ort kennenzulernen, zugleich die Gegenwart der Stadt zu erfahren und die Botschaft, welche die Institution mit Inhalten füllen will, zu stärken. Eine nächste Säule der Tätigkeit sehe ich in der Anregung und Förderung von Forschungsvorhaben zur Intermedialität und Interkulturalität.49 Es geht dabei sowohl um die institutionelle Teilnahme an Projekten als auch um die Verbreitung ihrer Ergebnisse. Wesentlich wäre die Stärkung der Grass-Interpretation im Kontext der Literatur kultureller Grenzräume, als deren Vertreter man Grass bezeichnen kann. Einen kulturellen Text kann man als Manifestation von Prozessen des kulturellen Kontakts in seiner Vielfalt von Erscheinungsformen betrachten, die als produktiver Austausch, symbiotische Anverwandlung, Ausgrenzung oder auch als permanenter Konflikt erlebt werden können.50 Mehr noch, die Literatur kann in diesem Kontext nicht nur als Indikator und Reflexionsmedium, sondern sogar als Triebkraft dieser Prozesse gelten.51 Sie ist auch die subjektive Aufzeichnung von individueller sowie die Repräsentation von kollektiver Erfahrung, oft mit Reflexion aus räumlicher und zeitlicher Distanz. Sie erzielt eine Wirkungskraft, zumal wenn das Wort mit dem Bild gekoppelt wird, was beide Namensgeber realisierten.52

49 Die Begriffe Multi-, Inter- und Transkulturalität werden in der vorliegenden Arbeit weder als konkurrierende Konzepte wahrgenommen, noch in einer Abfolgerelation befindlich verstanden, sondern eher in ein Kontinuitätsverhältnis gestellt. Interdisziplinär erfassen sie Forschungsbereich, der die Varianten des Kulturkontakts reflektiert sowie Phänomene und Prozesse zum Verhältnis beziehungsweise zur Verflechtung von Kulturen hinterfragt. Mit Abgrenzungen und Parallelen in theoretischer Hinsicht befasste ich mich eingehender im Subkapitel »Inter- und Transkulturalität« der Abhandlung Jüdische Gedächtnistopographien im Grenzraum. Autobiographik nach 1945 von Autoren jüdischer Herkunft aus dem Pommernland (Pommerellen und Hinterpommern). Gdan´sk: Wydawnictwo Uniwersytetu Gdan´skiego 2019, S. 68–73. 50 Vgl. Sakson, Andrzej/Traba, Robert: »Gross Purden. Uniwersalny charakter i specyfika opowies´ci o pograniczu polsko-niemieckim«. In: dies. (Hg.): Przeszłos´´c zapamie˛tana. Narracje z pogranicza. Olsztyn: Borussia 2007, S. 16–30, hier 17. 51 Vgl. Mecklenburg, Norbert: »Interkulturelle Literaturwissenschaft.« In: Wierlacher/Bogner (Hg.): Handbuch Interkulturelle Germanistik, S. 437. 52 Das Konzept Literatur kultureller Grenzräume habe ich in der folgenden Arbeit erläutert: Jüdische Gedächtnistopographien im Grenzraum. Autobiographik nach 1945 von Autoren jüdischer Herkunft aus dem Pommernland (Pommerellen und Hinterpommern). Gdan´sk: Wydawnictwo Uniwersytetu Gdan´skiego 2019, S. 47–60.

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

339

Mit der Danziger Trilogie hat Grass Langfuhr, Danzig, das Kaschuben- und Pommernland mit ihrer kulturellen Spezifik des Grenzraums in die Weltliteratur eingeführt. Er skizzierte das Bild Danzigs nicht als einer einsamen Insel, sondern zeigte die Stadt, die aus der Perspektive der kulturellen Zentren für eine Peripherie gehalten wurde, in regionalen und überregionalen Kontexten. Sie wird als das Zentrum des Grass-Erzählers und seines Mikrokosmos dargestellt und bildet zugleich ein universales Narrativ über Ambivalenzen an der Schnittstelle von Kulturen sowie über ideologische Verstrickung, das über den deutsch-polnischen und über den europäischen Kontext hinausweist. Falls Übersetzer im Programm der Residenzaufenthalte berücksichtigt würden, könnte es ihnen bei der Übertragung des lokalen Kolorits von Danzig und der Region behilflich sein. Das betrifft die kulturelle Besonderheit und sprachliche Vielfalt, die Grass in Form von Einsprengseln in verschiedenen Sprachen des Grenzraums und in ihren dialektalen Varianten einflicht, wie z. B. das Danziger Platt (Danzigerisch) – die Sprache der Danziger Straße. Die von Grass regelmäßig organisierten Übersetzertreffen waren auch diesem Aspekt gewidmet. Eins davon fand 2007 in Danzig statt. Bei der Stärkung der Rezeption des Lebenswerks beider Namensgeber soll die Institution auch Ausgaben aktualisierter Übersetzungen von Grass’ Texten initiieren.

Das Forum der deutsch-polnischen Reflexion PLUS Einer der Tätigkeitsbereiche des Chodowiecki und Grass-Hauses ist es, als ein Forum zu fungieren, das die deutsch-polnischen Beziehungen mitgestaltet. Wie viel zu tun ist, zeigt u. a. der Gebrauch des »deutschen Schreckgespenstes« in der letzten Wahlkampagne von 2020 sowie die wiederkehrende Rhetorik von den deutschen Sentiments Danzigs in der öffentlichen Debatte seitens der rechten Medien als für die Fremdartigkeit der Stadt sprechendes Argument.53 Und in diesem Kontext taucht regelmäßig der Topos Grass als Mitglied der Waffen-SS auf, dessen Kult die Stadt betreiben soll. Die Beteiligung an der Herausarbeitung und Förderung eines Modells zur Integration des deutschen Erbes in die Kulturlandschaft des deutsch-polnischen Grenzraums gehört mit Sicherheit auch zu den Herausforderungen, vor denen die Institution steht. Zweifellos ist eins der Gesichter Danzigs, die Grass entwarf, das einer historischen Konfliktzone und eines Raums interethnischer Rivalität, ein Gegenstand der 53 Vgl. Wolff-Powe˛ska, Anna, »Anatomia kłamstwa o Gdan´sku«. In: Przegla˛d Polityczny 156/ 2019. Auf: http://przegladpolityczny.pl/anatomia-klamstwa-o-gdansku-pp-156-2019/ (Zugriff am 1. 4. 2021).

340

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

Machtansprüche von unterschiedlichen Herrschenden, was der Grass-Erzähler u. a. so bildhaft mit wechselnden Ortsnamen zum Ausdruck brachte. Damit knüpfte er an die Tradition der Darstellung vom »Grenzland in Flammen« an, blieb aber nicht dabei stehen. Der Künstler zeigte auch die andere Seite des Zusammenseins unterschiedlicher Kulturen in einem Raum – als Koexistenz, Nachbarschaft, alltägliches Überschreiten kultureller Grenzen und Hybridisierung. Auf diese Weise führte er eine künstlerische Intervention durch, die für viele bis heute nicht an provokantem Potential verloren hat. Das Panorama der deutsch-polnischen Machtwechsel bereicherte er um das Bild der Kaschuben als eine Gemeinschaft der langen Dauer. Grass zeigte sie als eine ethnische Gruppe, die in diesem Raum über Jahrhunderte hinweg trotz Wechsel von Dominanzkulturen und -sprachen sowie trotz flüssiger und wandernder Grenzen überdauert hat. Die kaschubische und die mit ihr verbundene westpreußische oder pommerellische Motivik sind vor allem von autobiographischem Charakter. Sie haben zugleich funktionale Bedeutung. Die Kaschuben hat Grass in seiner Literatur als eine im Zwischenraum zwischen Deutschen und Polen situierte Gemeinschaft inszeniert, dabei auch Ambivalenzen in dieser Hinsicht signalisierend. Kaschubisch sind u. a. die Figuren Oma Koljaiczek, Jan Bronski und Agnes Matzerath in der »Blechtrommel«, Anton und Lisbeth Stomma in »Aus dem Tagebuch einer Schnecke«, oder Amanda Woyke mit ihren Töchtern im »Butt«. Das Charakteristische bei der Konturierung der kaschubischen literarischen Figuren sind ein differenziert ausgeprägtes Bewusstsein der kaschubischen Eigenart sowie diverse Entscheidungen in Bezug auf nationale Optionen. Bhabhas Konzept des »dritten Raums« zufolge bestehen an der Schnittstelle der gegensätzlichen Kulturen Räume, wo es zur Begegnung, zur Hybridisierung, zur Durchbrechung der Polarisierung von Identitätszugehörigkeiten und der ihnen zugeschriebenen tradierten Handlungsmuster kommen kann (nicht muss).54 Ein ›dritter Raum‹ wird somit zum Raum eines ›andauernden Überquerens‹,55 der als unauflösbare und wechselseitige Durchdringung modelliert wird.56 In dieser Konvention konstruierte Grass die Figur von Oma Koljaiczek in »Die Blechtrommel« sowie die Danziger Einheimische Erna Brakup in »Unkenrufe«. Inwieweit das Kaschubische als Grass’ Selbstbestimmung zu verstehen ist und in welchem Ausmaß als künstlerische Autokreation, lassen wir an dieser Stelle offen. Nichtsdestoweniger bietet Grass eine alternative Sichtweise auf die deutschpolnische kulturelle Verflechtung von Danzig und der Region an – von unten 54 Bhabha, Homi K, Die Verortung der Kultur, Tübingen: Stauffenburg 2000 (orig. The Location of Culture, 1994). 55 Bhabha, Homi: Über kulturelle Hybridität. Übertragung und Übersetzung. Hg. und eingeleitet von Anna Babka und Gerard Posselt. Wien und Berlin: Turia + Kant 2012, S. 61. 56 Nünning, Ansgar (Hg.): Grundbegriffe der Kulturtheorie und Kulturwissenschaft. Stuttgart/ Weimar 2005, S. 68.

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

341

bzw. von innen. Er verweist auf Räume der Verzahnung, kultureller Uneindeutigkeiten und Ungleichzeitigkeiten. Er betont das Wandelbare am Blickwinkel, der in der Interkulturalitätsforschung die zentrale Forschungskategorie bildet. Auf die Perspektivenvielfalt hinweisend, gestaltet er Empathie und Offenheit dem Anderen gegenüber. Sein Schaffen half vielen, den Schlüssel zur Wahrnehmung der Komplexität des Umfeldes und zur Einschreibung des eigenen Familiengedächtnisses in das kulturelle Gewebe von Danzig zu finden. Zumal, wenn das Familiengedächtnis nicht in die legitimierte polnische Stadtbiografie passt, die auf Mythen wie »das ewig polnische Gdan´sk«, »die Stadt von Anfang an« oder »der vollständige Bevölkerungsaustausch« aufbaut. Somit bildeten Grass’ Romane den identifikatorischen identitären Anschluss an die Fremdheit von Architektur und Gegenständen, die Prozesse von ›Zueigenmachung‹ (»umojenia«) der kulturellen Landschaft im deutsch-polnischen Grenzraum im Sinne von Robert Traba möglich machen. Nach gemeinsamen Figuren und Verflechtungen in der deutsch-polnischen Geschichte zu suchen, für die Daniel Chodowiecki ein Beispiel ist, wäre das nächste Postulat an die Kulturinstitution, die der Optik von Grass folgen will. Ein ergiebiger Gegenstand für einen komparativen Zugang wäre zum Beispiel ein Vergleich von Wikipedia-Einträgen in unterschiedlichen Sprachen, wie die Figuren und ihr Lebenswerk je nach Blickwickel gedeutet und zugeordnet werden. Ist Chodowiecki eigentlich ein polnischer, deutscher, preußischer, hugenottischer oder Danziger Kupferstecher? Daher der Vorschlag, im Chodowiecki und Grass-Haus die Dichotomien der deutsch-polnischen Beziehungen überschreitend zu betrachten. Das Modell deutsch-polnische Beziehungen PLUS soll »das Bindegewebe«, Hybridisierungen, Uneindeutigkeiten, Ungleichzeitigkeiten und regionale Spezifik in den Fokus nehmen. Danzig kann man als ein Weltmodell betrachten, ohne darauf beschränkt zu bleiben und ohne das Globale aus den Augen zu verlieren. Die Bildung zur Kultur des Dialogs und der Begegnung, auch in intergenerationeller Hinsicht, wäre somit das Ziel der Institution. Für Grass war es ein wesentliches Thema, das er in mehreren Romanen aufgriff: »Aus dem Tagebuch einer Schnecke«, »Im Krebsgang«, »Beim Häuten der Zwiebel« und »Die Box« könnte man an dieser Stelle nennen. Ohne kontroverse Fragen zu verschweigen, sollen sie gerade zum Anlass dienen, mit anderen Bildern von Danzig in Dialog zu treten, wie z. B. mit jenen von Brunon Zwarra, Grass’ größtem Gegenspieler in der lokalen Literatur. Die Frage des späten Bekenntnisses zur Waffen-SS-Mitgliedschaft als Minderjähriger oder die communis opinio über Gefahren der inhomogenen bzw. hybriden Identität sollte man gerade als einen Anstoß zur anregenden Diskussion betrachten. Das Chodowiecki und Grass-Haus soll daher Projekte unterstützen, initiieren und realisieren, welche die Namensgeber zum einen in den intellektuellen Ver-

342

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

netzungen ihrer Zeit, zum anderen im Dialog mit den Ideen der Gegenwart präsentieren und so stets aktualisieren.

Erinnerungsaustausch. Gedächtnisaustausch – Kultur des Dialogs Die Erzählung über Grass und Chodowiecki könnte auch als eine Einladung zum Erinnerungsaustausch fungieren. Grass praktizierte es z. B. im Roman »Aus dem Tagebuch einer Schnecke«, wo einer von drei Erzählsträngen die Geschichte der Danziger Juden ist. Mit kritischem Blick setzt er sich mit der Erinnerung als Phänomen in »Beim Häuten der Zwiebel« auseinander, wo er Mechanismen des Erinnerns und der Verdrängung reflektierte. Die entstehende Kulturinstitution könnte daher in ihrer Ausstellungs- und Bildungstätigkeit zur Auseinandersetzung mit der eigenen Familiengeschichte und zum Austausch von Erinnerungen animieren, gerade im Hinblick auf Uneindeutigkeiten und kulturelle Verflechtungen, die oft einer negativen Selektion im Familiengedächtnis unterliegen, zumal wenn der Zeitgeist eindeutige Zuordnungen fördert beziehungsweise erzwingt. Diese Exkurse in eigene Familiengeschichten würden somit die Herausbildung von Empathie unterstützen und dadurch als »Impfstoff« gegen populistische Parolen und gegen das auf einfachen Zukunftsvisionen basierende politische Versprechen wirken. Pierre Nora zufolge gehören gerade die Revindikation und der Protest gegen das von der Macht dominierte Geschichtsbild zu den Aufgaben des Gedächtnisses.57 Und der Erinnerungsaustausch im Kontext der verwickelten Geschichte und Erfahrungen in Europa ist nach Paul Ricœur eins der Modelle, die das Ethos vom neuen Europa in seinem Streben nach friedlicher Koexistenz von kulturell diversen Gemeinschaften fundieren könnten.58 Es müsste jedoch nicht nur auf die Abrechnung mit Schuld und Verlust, Konflikt und Rivalität zielen, sondern gerade auf Momente von Koexistenz, überethnischer Zusammenarbeit und Uneindeutigkeiten, die sich im Grenzraum anhäufen. Diesen Aufruf in die Tat umzusetzen wäre wohl vollständiger, wenn man den Austausch um die Erinnerungen der Minderheiten erweitern würde. Damit würden sie in ihrer Differenz zu kulturellen Mehrheiten sichtbar gemacht und hätten die Chance, in den Horizont des durch die Vertreter der kulturellen Mehrheiten Wahrnehmbaren eingeschlossen zu werden. Gerade das strebte Grass in Bezug auf die Kaschuben an.

57 Vgl. Bojarska, Katarzyna/Solarska, Maria: »Przeciw-pamie˛c´«. In: Magdalena Saryusz-Wolska (Hg.): Modi memorandi. Leksykon kultury pamie˛ci. Warszawa: Scholar 2014, S. 396–403, hier 397. 58 Vgl. Ricoeur, Jaki ma byc´ nowy etos Europy? S. 131.

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

343

Das Festival ›Danziger Biografien – Tage der nationalen Minderheiten‹ zeigt auf, dass Stoff zum Austausch in großer Menge vorhanden ist. Das Forum, welches das Chodowiecki und Grass-Haus bietet, sollte darüber hinaus ethnische und religiöse Minoritäten einbeziehen, und territorial auf das gesamte Pommernland ausstrahlen. Die Grundlage dafür schufen die literarischen Reportagen u. a. von Olga De˛bicka, Barbara Szczepuła, Dorota Karas´, Magdalena Grzebałkowska und Anna Sobecka. Sie veranschaulichen die kulturelle Vielfalt der Gegenwart und somit die Fortsetzung der historischen Polyphonie von Danzig und seinem Umland vor 1939, wenn auch in anderem Umfang und diverser Konstellation. Ergänzt wird sie von den infolge der »Aktion Weichsel« zwangsumgesiedelten Ukrainern und Lemken sowie der letzten Migrationswelle aus der Ukraine und den von Kriegen betroffenen Gebieten. Von der der Vergangenheit in der Gegenwart der polnischen Gesellschaft zugeschriebenen Rolle zeugt u. a. die zurzeit maßgebliche Vision von Geschichtspolitik – die »Politik des nationalen Stolzes«.59 Als Beispiel hierfür kann der Konflikt angesehen werden, der den Regierungsplänen zur Vereinigung des Museums des Zweiten Weltkriegs mit dem Westerplatte-Museum folgte und in den nicht nur die polnische Wissenschaft und Öffentlichkeit involviert war.60 Nicht allein die Gegenwart steht auf dem Spiel, sondern auch die Zukunft. Es handelt sich schließlich um die Bildung der künftigen Generationen und die Vision einer angestrebten Zukunft. Und es ist schwierig, einen anderen Begriff zu finden, welcher nicht dermaßen in Ideologien, Werte- und Symbolsysteme verwickelt ist wie jener des Gedächtnisses, und der eine vergleichbare Mischung von explosivem Potential bieten würde.

Patriarchen zum Patriarchat Beide – Grass und Chodowiecki – waren in einer traditionellen patriarchalen Welt verankert, dabei ihrer gesellschaftlichen Rolle als Väter, Brüder, Söhne und Ehemänner bewusst. Es fällt schwer, sie aus ihrem erweiterten familiären Kontext 59 Vgl. Saryusz-Wolska, Magdalena/Stoll, Katrin/Stach, Sabine: »›Verordnete Geschichte?‹ Zur Dominanz nationalistischer Narrative in Polen. Eine Einführung«. »Zeitgeschichte online« v. 19. 7. 2016. Auf: http://www.zeitgeschichte-online.de/thema/verordnete-geschichte-zur-domi nanz-nationalistischer-narrative-polen (Zugriff am 19. 8. 2016). 60 Vgl. »Polens Regierung will ihr Geschichtsbild durchdrücken. Streit um Westerplatte-Museum in Danzig.« Florian Kellermann im Gespräch mit Julius Stucke In: »Deutschlandfunkkultur« v. 18. 07. 2019. Auf: https://www.deutschlandfunkkultur.de/streit-um-westerplat te-museum-in-danzig-polens-regierung.1008.de.html?dram:article_id=454259 (Zugriff am 1. 4. 2021).

344

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

herauszulösen. Er gab ihnen nicht nur Halt in ihrer Künstlerexistenz, sondern bildete zugleich die Inspiration zum Schaffen und war Gegenstand kritischer Reflexion. Man denke an dieser Stelle etwa an Grass’ »Aus dem Tagebuch einer Schnecke«, »Die Box«, »Der Butt«, sowie Chodowieckis Zeichnungen und Stiche, die das bürgerliche Leben im 18. Jahrhundert porträtierten. Sie können als Abbildungen des Familienlebens dienen, aber zugleich als eine Art Abrechnung mit den Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie Frauen- und Männerschicksalen. Das Familienleben bildet dabei nicht nur den Rand von Chodowieckis Oeuvre, sondern ein wiederkehrendes Thema, was die Biografie »Daniela Chodowieckiego przypadki« (2018) [Der Fall Daniel Chodowieckis] von Kalina Załuska hervorhebt. Grass’ »Butt« wird von Maria Janion als ein Katalog wechselnder Männerrollen im Laufe der Zeit behandelt, aber zugleich als eine Ergänzung der Geschichte um den weiblichen Anteil als handelnder Subjekte. Thematisiert hat den letzten Aspekt die Ausstellung »Feminał/The Womenal« im Jahre 2019 in der Danziger Günter Grass Galerie. Der Butt selbst, wie die Literaturwissenschaftlerin in ihrem Vorwort zur polnischen Ausgabe des Romans betonte, schloss sich im Laufe der Handlung den Frauen an, und man weiß nicht, wie die Geschichte weiter verlaufen wird.

Die Kulturinstitution als Rhizom. Ein Forum für kulturelle und bürgerliche Bildung Paweł Adamowicz gestand im Band »Günter Grass – Entinnerungen« ein: »Es ist ein Paradoxon, dass ich, der Nachfahre einer Familie, die aus Vilnius vertrieben wurde, meine Stadt von einem deutschen Schriftsteller erlernen musste, der aus Danzig vertrieben wurde.«61 Die Danzig-kaschubisch-pommerschen Romane von Grass kann man als Reiseführer in die Vergangenheit der Stadt betrachten. Sie entblößen die mit Spannungen gesättigte Wirklichkeit der Stadt. Sie sollen wohl auch irritieren, provozieren und Fragen stellen, die zum Nachdenken anregen. Ebenso decken auch die Zeichnungen von Chodowieckis Reise Danzig und das Pommernland in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts vor dem Leser auf. Ihre Texte zeigen die kulturelle Landschaft und schreiben ihr zugleich eine neue semantische Dimension zu, während sie zu multisensorischer Lektüre anregen, die auch Geruch und Geschmack der pommernländischen Kochkunst berücksichtigt.

61 Adamowicz, Paweł: »***«. In: Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk (Hg.): Günter Grass – Odpominania/Entinnerungen. W 90. rocznice˛ urodzin/Zum 90. Geburtstagsjubiläum. Übers. v. Marek Szalsza. Gdan´sk: Instytut Kaszubski 2017, S. 26–31, hier 26.

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

345

Ein nächster Kooperationskreis der entstehenden Kulturstätte wären die Institutionen zur Bildung der Zivilgesellschaft. Dazu gehören vor allem das Europäische Solidarnos´c´-Zentrum und das Museum des Zweiten Weltkriegs. Das letztere wurde zwar im kulturellen Grenzraum errichtet, jedoch vermittelt es de facto ein nationszentriertes Narrativ, das mit staatlicher Erinnerungspolitik legitimiert wird. In der Stadt, die vorgibt, programmatisch den Pluralismus der Sichtweisen hochzuschätzen und die sich auf die multikulturelle Vergangenheit der Stadt und den ursprünglichen Solidarnos´c´-Geist stützt, knirscht solch ein Narrativ, das eine ausdifferenzierte Gesellschaft nicht repräsentiert. Es stellt nur die Erzählung der »Dominanzkultur« (im Sinne von Birgit Rommelspacher62) dar, die als die einzig richtige vermittelt wird. Somit hätte das Chodowiecki und Grass-Haus die Chance, die nationale Erzählung dialogisch zu ergänzen und zu vervollständigen. Und hier stellt sich die nächste Frage: Welche Namensgeber brauchen wir heutzutage in Anbetracht der Verwicklungen des Menschen in die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts? Die hagiographisch zugeschnittenen Biografien von Helden regen eher wenig zum Nachdenken an bei einer Generation, die nicht dem Pathos zugeneigt scheint. Ganz im Gegenteil, sie generieren Zweifel: Was ist der Selektion unterlaufen? Was wurde beschönigt? Vielleicht wäre ein Vorbild für unsere Zeit gerade der Mensch, der imstande ist, aus seinen Jugendfehlern Lehren zu ziehen und eine Abrechnung mit der eigenen Vergangenheit vorzunehmen? Was ist für die Bewertung eines Menschen und seines Lebenswerkes wesentlich? Zählt die Gesamtheit oder die Verwicklungen der Jugend? Nach der Leiche im eigenen Keller zu suchen wird zur Aufgabe bestimmt, die Grass dem Schriftsteller im Roman »Aus dem Tagebuch einer Schnecke« stellt. Grass gehört eben zu denen, die »den Faschismus entdämonisierten« (Maria Janion), der zurzeit in diversen Varianten zurückkehrt. Wesentlich scheint demnach nicht nur, wie die Geschichten der Namensgeber erzählt, sondern auch, welche Fragen in diesem Zusammenhang gestellt werden. Das Chodowiecki und Grass-Haus scheint geradezu prädestiniert, die RhizomIdee zu veranschaulichen. Die von den französischen Philosophen Gilles Deleuze und Félix Guattari vorgeschlagene Denkfigur verbildlicht die Ontologie der Vielfalt: »Rhizome bilden heterogene Vielheiten aus vieldimensionalen Konsistenzebenen«.63 Ein Rhizom generiert stets neue Bedeutungen und verbindet neue Bedeutungsketten und -verflechtungen, Herrschaftsstrukturen und Zufälle: »Rhi-

62 Rommelspacher, Birgit: Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin: OrlandaFrauenverlag 1995. 63 Vgl. Röttgers, Kurt: »Rhizom«. In: Stephan Günzel (Hg.): Lexikon der Raumphilosophie. Unter Mitarbeit von Franziska Kümmerling. Darmstadt: WBG 2012, S. 344.

346

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

zome kennen auch die einfache Differenz von Innen und Außen nicht, durchwuchern vielmehr alle bisherigen Grenzen«.64 Und gerade die Idee der Multiplikation von Interpretationen am Beispiel und aus Inspiration durch das Schaffen beider Namensgeber soll zum programmatischen Ziel des Hauses werden. Dabei spielt die angestrebte Zusammenarbeit der Institution mit ihrem sozialen Umfeld eine Rolle (Stichwort: Partizipation), zumal schon im Dokument »Strategia Marki Gdan´sk do 2013« [Strategie der Stadtmarke bis 2013], als Ziel angestrebt ist: die soziale Aktivierung der Bewohner und Herausbildung eines starken Zugehörigkeitsgefühls zur Heimat.65 Demzufolge soll die Kulturinstitution programmatisch mit den NGOs und individuellen Kulturschöpfern kooperieren, die sich auf das Schaffen beider Namensgeber beziehen beziehungsweise konvergente Ziele haben. Die RhizomIdee, die das Wurzelgeflecht verbildlicht, sowie die Grass’sche kaskadenartige Erzählweise könnten als Inspiration für das Konzept der Hauptausstellung dienen. Einzelne Tätigkeitsbereiche sowie Leitmotive könnte man präsentieren, dabei von Grass’ Bildsymbolen (wie die Zwiebel, die Schnecke, die Blechtrommel, die Röcke von Oma Koljaiczek, Butt) sowie von Chodowieckis Darstellungen mit ikonischer Bedeutung als Sinnbilder bürgerlicher Werte (z. B. das bürgerliche Leben, Protagonisten von kanonischen Texten der deutschen Aufklärung, Danziger Porträts) ausgehend. Ein so strukturiertes Narrativ würde es den Besuchern ermöglichen, die Lebenswerke der beiden Namensgeber nach ihrem je eigenen Schlüssel zu lesen, das »gewobene Narrativ« wie die Inhalte nach dem Bild und seinen Zuschreibungen in Parallelen und Unterschieden zwischen beiden zu ordnen. Zugleich würden sie in Ursache-Folgen-Bezüge zusammengefügt, indem auf die Rolle des Zufalls, des soziohistorischen Kontexts zum einen, zum anderen auf eigene Wahlentscheidungen und die Entschlossenheit in der Gestaltung des eigenen Lebenswegs hingewiesen wird. Beide Künstler personifizieren schließlich das Prinzip der Tat.

Ausblick Die Lebenswerke beider Namensgeber verfügen über ein Werte-Potential, das intern ausdifferenzierte Gemeinschaften verbinden könnte, um ein Gemeinschaftsgefühl hervorzurufen, das an so vielen Stellen fehlt. Die Mehrdimensionalität dieser Persönlichkeiten und ihres jeweiligen Schaffens ermöglicht eine Deutungsvielfalt. Diese Eigenschaft ist als konstitutiver Vorteil des kulturellen 64 Ebd. 65 Strategia marki Gdan´sk do 2013. Auf: https://app.xyzgcm.pl/gdansk-pl/d/20140352157/strate gia-marki-gdansk-do-2013-r.pdf (Zugriff am 2. 9. 2020).

Das Chodowiecki und Grass-Haus in Danzig

347

Textes zu betrachten, der – hermeneutisch gesehen – aktualisiert werden muss, um anzusprechen. Er wird demnach der Gegenwart der Leserin und des Lesers angepasst, um gelesen werden zu können. Das Plastische an der Erzählung betonte Grass in seiner Nobelpreisvorlesung: Von Anfang an wurde erzählt. Lange bevor sich das Menschengeschlecht im Schreiben übte und nach und nach alphabetisierte, erzählte jeder jedem, und jeder hörte dem anderen zu. Bald gab es unter den noch nicht Schreibkundigen solche, die mehr und besser erzählten oder glaubhafter lügen konnten.66

Nichtsdestoweniger bildet die Interpretation stets ein Feld für Vereinfachung, Verzerrung, Spekulation und Mythologisierung, was in der vom Informationsüberfluss gekennzeichneten Wirklichkeit in einem höheren Maße der Fall ist. Schließlich kehrt man zu der Frage zurück, wie man eine Erzählung aufbaut. Zugleich entsteht eine weitere Herausforderung für das Chodowiecki und GrassHaus: Es geht darum, die Besonderheit des Danziger Blickwinkels auf beide Namensgeber zu erklären und eine Reaktionsweise auf die Grass betreffenden Spekulationen, politischen Manipulationen und ›Fake News‹ zu erarbeiten, die im öffentlichen Diskurs aufkommen. »Ich bitte euch, bleibt empfindlich. […] Eine Schnecke – immer unterwegs – verläßt feste Standpunkte.«67 – so wendet sich der Grass-Erzähler im Roman »Aus dem Tagebuch einer Schnecke« an seine Kinder. Nicht ohne Bedeutung ist wohl die Tatsache, dass das Konzept für das Chodowiecki und Grass-Haus während des Coronavirus-Lockdowns und der Kampagne vor der Präsidentschaftswahl 2020 in Polen entstand. So wird auch die Wissenschaft zum Zeitzeugen, wie einfach man die Welt mit Angst, Hassreden, die Andersheit ausschließen und sich auf eine angeblich einzig richtige Wahrheit berufen, lenken kann. Man kann beobachten, wie die Demokratie erodieren kann, während schrittweise die Kontrolle über Rechtswesen, Wirtschaft, Bildung und Medien übernommen wird. Was wurde aufgegeben? Wie kann man dem entgegenwirken? – diese Fragen werden wiederholt in der Öffentlichkeit gestellt sowie die Antwort darauf formuliert: durch politische Bildung. Das Chodowiecki und Grass-Haus soll auf die Bildung eines Menschen zielen, der selbstreflexiv ist, zur Verifizierung der eigenen Weltanschauung bereit, und der sozialen Manipulation und ideologischer Beeinflussung gegenüber möglichst immun bleibt. Der Position von Grass – als Künstler und Bürger – geht die Abrechnung mit der Verstrickung des kleinen Menschen in das oppressive System des Dritten Reiches voraus. Der in einer kaschubisch-deutschen Familie Geborene, das ehemalige Mitglied der Hitlerjugend, stellte die Ergebnisse der 66 Grass, Die Fortsetzung folgt, S. 65. 67 Grass: Aus dem Tagebuch einer Schnecke, S. 177.

348

Miłosława Borzyszkowska-Szewczyk

ideologischen Vergiftung auch in der eigenen Generation dar. Gleichzeitig identifizierte er sich nie mit der biblischen Idee der transgenerationalen Schuldvererbung, was in der folgenden Textpassage in »Aus dem Tagebuch einer Schnecke« zum Ausdruck kommt: Es stimmt: Ihr seid unschuldig. Auch ich, halbwegs spät genug geboren, gelte als unbelastet. Nur wenn ich vergessen wollte, wenn ihr nicht wissen wolltet, wie es langsam dazu gekommen ist, könnten uns einsilbige Worte einholen: die Schuld und die Scham; auch sie, zwei unentwegte Schnecken, nicht aufzuhalten.68

Die Frage der Abrechnung mit dem Zweiten Weltkrieg, der Verantwortung, von Sühne und Schuld gehören zu den leitenden Themen seines Schaffens. Die eigene Stimme in den Gedächtnisdiskurs (Ort – Kunst – Literatur – Identität – Gedächtnis – Bürgerlichkeit) einzuführen, bietet sich daher als Aufgabe für das Chodowiecki und Grass-Haus an. Wie Anna Wolff-Powe˛ska im Band »Pamie˛c´ – brzemie˛ i uwolnienie« [Erinnerung – Ballast und Befreiung] (2011) betont, geht die gegenwärtige Reflexion über Vergangenheit und Identität unwiderruflich mit Fragen der Moral und Psychologie einher.69 Aleida Assmann stellt sogar fest, dass kultureller Fortschritt mit einer Erhöhung von Schuldgefühlen bezahlt werde.70 Die eigenen Welten »wob« Grass auf der Grundlage der Inhalte seines eigenen Gedächtnisses, die er im »Fluchtgepäck«, wie er es 1996 in der Dankesrede »Die Fremde als andauernde Erfahrung« anlässlich der Verleihung des ThomasMann-Preises der Hansestadt Lübeck nannte, mit auf den Weg nahm. Er schöpfte aus dem Gedächtnis, das jedoch nicht an die Vergangenheit gekettet war. Er machte seine Verstrickungen in den soziopolitischen Kontext deutlich. Daher bietet es sich an, dass die Kulturinstitution auch diesen Aspekt reflektiert und künstlerische, wissenschaftliche und Bildungsprojekte unterstützt. Der, der in Stein gemeißelt werde, lebe nicht mehr, schrieb Grass im Essay. »Rückblick auf die Blechtrommel oder Der Autor als fragwürdiger Zeuge« (1973). Wenn jedoch der Stein beziehungsweise Klinker des ehemaligen Waisenhauses die Zukunftsvision des Künstlers verkörpert und ein Forum für intellektuelles Ferment bietet, das die Wirklichkeit in globalisierter Zeit beeinflussen und nach ihrer Korrektur streben will, gewinnt solch ein Urteil, wenn es auch als künstlerische Provokation gemeint war, eine andere Dimension.

68 Ebd., S. 17. 69 Wolff-Powe˛ska, Anna: Pamie˛c´ ̶ brzemie˛ i uwolnienie. Warszawa: Zysk i S-ka 2011, S. 57. 70 Assmann, Aleida: Das neue Unbehagen an der Erinnerungskultur. Eine Intervention. München: C.H.Beck 2013, S. 9.

Manfred Gawlina (München)

Interpolation im Neuen Testament. Eine Machtkritik

Zentrale Bibelbelege – vorgebliche! – lassen sich als Einschübe in einen älteren (autoritativen) Text nachweisen. Ich greife einige Beispiele heraus, die als Vorwände für die Errichtung einer kultisch-ämterorientierten und darin vom Volk abgetrennten und so fälschlich so genannten Kirche (»ekklesia« = Volksversammlung!) dienen, bis heute. Dabei geht es nicht um die Demontage der Gestalt des Jesus von Nazareth. Im Gegenteil. Erst durch eine Dekonstruktion textlicher Hinzufügung erstrahlt sie in ihrem klaren Licht. Vergessen wir nicht: Es gibt nur marginal eine freie Theologie. Theologie, auch die sogenannte progressive, bewegt sich an der kurzen Leine von »geistlich« Vorgesetzten. Bereits das erklärt den Erfolg der Fälschungen. Noch die Bibelkritik des 18. bis 20. Jahrhunderts bleibt – wie vorher Wyclif, Hus und Luther – im Bann jener Disziplinierung. Menschheitsgut wurde das Neue Testament bislang nur mit jenen bis zu den Evangelikalen editorisch mitgetragenen Entstellungen, voran Einschüben, Interpolationen. Die Frohe Botschaft kann aber erst eigentlich sie selber werden und den Menschen in seiner Freiheit und wahren Moralität ansprechen, wenn jene Dubia oder Incerta ausgemerzt oder zumindest kenntlich gemacht werden. Dazu soll hier, in Orientierung an der Philologie Rudolf Ottos und Religionstheorie Immanuel Kants, ein Versuch unternommen werden. Dabei stemmen wir (1) zunächst die Errichtung eines Petrusamts auf, bevor wir uns – methodisch durch Textkritik – an das Unterverständnis v. a. der Eucharistie und Dreifaltigkeit wagen, unten ab (2).

Confessio Petri »Du bist Christus, des lebendigen Gottes Sohn! Und Jesus antwortete […]: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel«, zitiert die lutherische Stuttgarter Jubiläumsbibel in ihrem synoptischen Anhang das »Petrusbekenntnis« Mt 16,13ff. Nicht allein der Quervergleich zu den anderen Evangelien, bereits und vor allem

350

Manfred Gawlina

Längslektüre zeigt, dass die Verse 17 bis 19 eingeschoben sind. Denn Satzanschluss und Wortlaut von V. 20 passen sprachlich nur zu V. 16 und stehen nur so, in jener Kürzung (die keine ist!), in Harmonie mit den drei Paralleltexten. V. 16 präsentiert sich sogar selbst als Einschub, nach einer eigentlich schon vom Sinnbogen, dem eines Wortspiels, her geschlossenen Rede: »Und ich sage dir auch: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen [Petros von gr. petra oder aram. kepha] will ich bauen meine Gemeinde.«1 Diese Hauptquelle zur Rechtfertigung eines hierarchisch-eigeninstitutionellen Primats von Papst, Bischöfen und Priestern über von ihnen und ihrem Narrativ, Narrativ der Macht, »sakramental« durch sog. Weihe (die sie doch nur ordinatio nennen) abgesonderte Laien, also dem Volk, dieser vorgebliche Beleg, der ist gefälscht. Ist interpoliert, ein Einschub. Sogar ein doppelter. Man hat hier noch eine Steigerung eingefügt, insanta scala: VV. 17 und 18 werden überboten – auch semiotisch im absurden Bild von »Schlüsseln«, claves, für ein Reich, das Gottesreich, als wäre es ein Haus, Schloss oder mehr noch ein Kloster, jedenfalls claustrum! – durch V. 19, wo wiederum Jesus die Selbst- und Gottesentmachtung, die Gottesabdankung, unterschoben wird, zugunsten eines römischen Episkopalherrschaftssystems: »Und« – schon das zeigt im Text, Einschub, selber die Addition an, in Repetition des Und von V. 18, ja von V. 17 und 18, dreimal also Einfügung mit Und – »ich will dir des Himmelreichs Schlüssel geben: alles, was du auf Erden binden wirst, soll auch im Himmel gebunden sein, und alles, was du auf Erden lösen wirst, soll auch im Himmel los sein.«2 Mehr als dieses metronomische Und-Und-Und und Alles-Alles geht nicht, es ist die absolute Totalität! Zumal das ganze Binden und Lösen inhaltlich vage bleibt, also nach Belieben bzw. Macht(erschleichung) gefüllt werden kann, eine begriffliche Variable also. Ihre Emphase sprengt leicht die doch ebenfalls mehrfach im (eingefügten) Text genannte Personalisierung »dir« auf nur den Simon-Petrus! – Doch wer immer

1 Dasselbe, Mt 16, ab V. 17, nochmals in (wenigstens) zwei Stufen bereinigt in anderer Darstellung, Einschub und Interpolation(en?) im Einschub beseitigt (zur benutzten Literatur siehe nachfolgende Anmerkung[en]): »Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut hat dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.« [18] « Vielleicht ist hier die Begründung nach »denn« ersetzt worden. Oder es wurde nur »sondern mein Vater im Himmel« hinzugefügt. – Mk 8,29 sagt Petrus (eigentlich wohl: Simon; Mt hat »Simon Petrus«) schlicht, »Du bist Christus!«. Und Jesus, wie reagiert er dort? Er gebot ihnen, Simon nicht eigens, ja »bedrohte sie« zu schweigen! Mk 8,30. Bei Joh liegt bei einer situativ nahen Antwort des Simon der Akzent auf du bist der »Sohn«, Joh 6,69. 2 Stuttgarter Biblisches Nachschlagewerk. Anhang zur Stuttgarter Jubiläumsbibel. Stuttgart 1932, S. 659. V. 19 ist dort sogar fett gedruckt!

Interpolation im Neuen Testament. Eine Machtkritik

351

sich auf jenes Du zu beziehen vermag, identifizierend, assimilierend, der ergiffe sich den Schlüssel zur Macht; durch Text zur Macht! In dieser Formel steckt der gesamte suizidale Dualismus des Abendlandes zwischen, mit dem Staufer Friedrich II. und Dante formuliert, papato ed impero. Und es steckt darin, bis in jüngste Vergangenheit, die gesamte Aufhetzung einer Nation gegen einer andere. Nicht England hat die balance of powers erfunden, es war Rom, die Kurie, das Papsttum. Und das nicht nur, oft im Bund mit Sarazenen und Osmanen, gegen die christlichen Völker, sondern auch hinein in die christlichen Sippen, Bruder gegen Bruder, je nach Obödienz. Das gesamte kuriale Diplomatie- und Rechts(beugungs)system ist logisch in der Technik oder im, wenn man will, Tropus der Interpolation eingeschlossen. Somit aber auch, beginnend spätestens im 13. Jhd., der gesamte Widerstand gegen einen solchen Gott selbst eliminierenden Machtanspruch einer trotz Ehevermeidung über Generationen hinweg mit organisatorischer Konsequenz fortgebildeten Fehlinterpretation Jesu. Dass man dann in Berlin die protestantische Hauptkirche genau nach dem Modell des Petersdoms baute, sogar zweimal nacheinander im 19. Jhd., beweist die Suggestionskraft jenes Banns. Stehen doch am Tambour der Peterskuppel, auch in Griechisch, eben die gefakten Worte »Tibi dabo claves regni caelorum«. Andererseits: Schon auf Deutsch, Lutherdeutsch gar, in der Protestantenbibel, zerlegt Sprachkritik und Achthabe auf Dialoglogik alles Amtskirchentum, allen Ekklesiasmus oder Papalismus. Grundlos, bodenlos also mit dem Petrusprimat der »petrinische« Charakter des Christentums mit dessen politisch-sozialer Inzwietrachtsetzung. Durch die dann ein deistisch bis atheistisches posttheologisches Denken angefacht wurde, als Pazifikationshoffnung, das auf Naturwissenschaft und Technik und auf bloße Verstandesrationalität setzt, um die Menschheit zu vereinen.3 Auch deshalb kann das Narrativ vom Petrusamt (munus oder ministerium) nicht überzeugen, weil eine Anwesenheit Petri in Rom unglaubwürdig ist. Die dies beschreibenden Petrusakten sind insgesamt gefälscht. Ebenso einige PaulusBriefe.4 Seine Epistel an die Römer ist aber wohl echt, von Petrus darin aber keine 3 Der heutige Vatikan und Jesuitismus, sie suchen bis zur Auflassung der Gottheit Jesu an diese Weltsteuerung Anschluss, als Update des alten Machtspiels. Vgl. Raffalt, Reinhard: Wohin steuert der Vatikan? Papst zwischen Religion und Politik. München: Piper 1973, insbesondere S. 108–112. 4 Näher: Fuhrmann, Horst: »›Mundus vult decipi.‹ Über den Wunsch der Menschen, betrogen zu werden.« In: Ders.: Einladung ins Mittelalter. 3. Aufl. München: Beck 1988, S. 211–221. In einem Folgeband wird der in Breslau geborene spätere Leiter der Monumenta Germaniae Historica unter »Die ›Wahrheit‹ der Bibel« deutlicher: Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit. München: Beck 1996, S. 50: »[D]as Ende des Markusevangeliums dürfte erst im 2. Jahrhundert geschrieben worden sein; die Apostelgeschichte ist ein mixtum compositum verschiedener Autoren und wurde lange Zeit eher als ein literarischer, das Kirchenleben nicht bindender Text angesehen; die unter dem Namen des Johannes lau-

352

Manfred Gawlina

Rede. Der Errichtung einer römisch-zentralistischen Amtskirche widerspräche auch die unmittelbar-göttliche Berufung des Paulus – neben die, und alle zumindest aspektuell konkurrierend, Führungsgestalten Jakobus und Johannes. Im Register einer verbreiteten AT-Ausgabe findet sich der Hinweis »Fels = Gott«.5 Wird damit nicht erneut das ganze Ausmaß der Verkehrung deutlich, denn nach dem Einschub vergleicht Jesus den Simon-Petrus mit solchem »Fels«, er benennt ihn geradezu danach, d. h. er macht ihn gleich-ursprungsbezogen zum Vater wie er selber unmittelbar vom Vater her (»heilig«) ist? Das durch die Jesus unterschobene Aussage, direkt »sein Vater im Himmel« habe den Petrus belehrt. Jesus und Petrus verschmelzen so geradezu; Jesus gründet hier die Amtskirche, während es später »der Heilige Geist« tut, bei genauem Hinsehen in Verdrängung von Jesus, dessen Auferstehung relativierend, in völliger Unkenntnis von Jesu Abschiedsreden und deren Zusage eigener Präsenz. Der autoritative Grundtext allerdings scheint uns klar die Zwei-Einigkeit von »Sohn« und, seinem Aufblick folgend, »Vater« zu zeigen. Das ist, sprachlich betrachtet, der Grundschritt, das Grundmaß seiner Dramatik. Und der einzigauthentische Schlüssel zu allen vier Evangelien und Schriften des NT. Beachten wir: Nach Apg war Petrus nie in Rom, und wenn, hätte er sich wohl kaum in einem Gegenzeichen zum wahren Kreuz Jesu verkehrt exekutieren lassen wollen! Wiederum Textvergleich vermag zu erhärten: Die später in Rom angesiedelte »Befreiung Petri« aus dem Kerker, für den »ersten Papst« (wie sie propagieren) musste es das mamertinische Staatsgefängnis sein, sie ist eine literarische Übertragung der Episode seiner Lösung aus den Ketten des palästinischen Herodes. Und prompt meldete sich Petrus damals bei seinem Oberen zurück, dem Jakobus, Apg 12,17. Hätte es Mt 16,13ff. schon gegeben, etwa in Q, Petri Einsetzungsmythe hätte offenkundig nicht überzeugt. Äußere Geschichte bestätigt textimmanente Analyse und umgekehrt. Sichtbar wird hier und im Folgenden, wie ein historisch-willkürliches Glaubenssystem – Kant unterscheidet zwischen faktischem Kirchen- und natürlichrationalem Vernunftglauben, der allein verbindlichen eigentlichen Vernunftreligion – sich von der inneren Logik (und ihrer Verkehrung) eines literarischen fenden Schriften sind von verschiedenen Verfassern, der Name fingiert; von den paulinischen Episteln sind der 2. Thessalonicherbrief, der Kolosser- und der Epheserbrief Fremdprodukte; schließlich die Pastoralbriefe des Apostels Paulus: sie sind Ende des 1. oder um die Wende des 2. Jahrhunderts aufgesetzt.« 5 Das Alte Testament. Hg. von Hamp, Vinzenz und Stenzel, Meinrad. 15. Aufl. Aschaffenburg: Pattloch 1963, S. 1142. Zum Neuen Bund verwenden wir: Das Neue Testament. Übersetzt und hg. von Kürzinger, Josef. 22. Aufl. Aschaffenburg: Pattloch 1971. Ferner: Novum Testamentum tetraglotton. Zürich: Diogenes 1981. (Leider wirken die im griechischen Teil angeführten Textvarianten durchgehend harmlos, als Bestätigung des Machtdiskurses des kirchlichen Mainstreams.) Sowie: La Sacra Biblia. Edizione ufficiale della CEI. 6. Aufl. Rom 1982. Biblia, to jest Pismo S´wie˛te Starego i Nowego Testamentu. Warszawa: Towarzystwo Biblijne w Polsce 1975.

Interpolation im Neuen Testament. Eine Machtkritik

353

Textes oder Corpusses wie dem NT unterscheidet. Wohlgemerkt, mit Kant: Beide »Testamente« sind bloß äußerlich, geschichtlich, also nicht a priori religiös in dem Sinn, wie gemäß Vernunftreligion uns Gott angeboren ist. Zugleich dürfen wir annehmen, dass sich »Kirchenzucht« schriftliches Material für ihre Interessen zurechtbiegt. Macht baucht immer Inszenierung, und sei es nur Akzent(um)setzung.

Der Einschub der Messe Text ohne seinen Kontext bleibt unverständlich. Bei der »Einsetzung der Eucharistie« und dem Kerngeschehen der von ihrem Schlusswort »Entlassung« so genannten Messe liegt derart offenkundig – doch zugleich selten oder nie ausgesprochen – ein Einschub als Textfortgangsverletzung vor, dass man gleich auf den Rahmen eines solchen Tuns raten muss. Ich sehe jene kultische Eucharistieerfindung als alternative Taurobolie, als christliche (aber nicht jesuische!) Antwort auf den sakramentalen Blutkult der Mithrasreligion, einer Hauptkonkurrentin des Christentums in der hellenistischen Welt.6 Man musste, erkläre ich das, den eigenen Anhängern oder Aspiranten etwas wenigstens Gleichwertiges zu den Weihe- und Erlösungsriten der Mithrasjünger bieten, konkret zu deren Taufe mit dem noch heißen Blut eines über ihnen (sie selber saßen unter einem Gitter in einer Höhle) abgestochenen Stieres, um sie bei der Stange zu halten, d. h., um ihren menschlich-eingefleischten Aberglauben, ihr verdinglichtes Religionsmissverständnis zu befriedigen. Dazu benutzte man eine allenfalls rein symbolisch (wenn nicht als bloße Hyperbel, als provocatio oder remonitio) gemeinte Geste Jesu und wertete sie, Zug um Zug, auf zu einem Supersakrament und zur Quelle aller Sakramentalität und Hierarchie der christlichen Kirche.7 So problematisch es ist, von jüdischen Gebräuchen auf das Tun Jesu zurückzuschließen, erscheint uns doch offenkundig – und dabei keineswegs kultisch, sondern »nur« sittlich-konvivial – der Bezug von Jesu Brotgeste zum Sedermahl 6 Auch Konstantin war erst Mithras-Anhänger, dann einer des Sol-Invictus, bevor er Christ wurde. Als (noch) Ungetaufter berief und leitete er die Konzile zur Christologie. – Michelangelo hat den Jesus des Jüngsten Gerichts nach dem Modell des Apolls vom Belvedere gestaltet. Mit Rudolf Otto lässt sich annehmen, dass jene Gestalten alle auf einer in Jesus gipfelnden Linie liegen: Varunja-Mithra (Varunja als der indische Gott »Wahrheitswort«), Sol, Apoll! Vgl. Voelkl, Ludwig: Der Kaiser Konstantin. 306–337. Annalen einer Zeitenwende. München: Prestel 1957. Der konstantinischen Gesamtgestaltung von Reich und Volk/Völker aus Gott heraus sind Geistlichkeit (und kirchliche Organisation) samt damals gering ausgebautem Sakramentenwesen untergeordnet. Ähnlich bei Karl und Otto den Großen. 7 Siehe, von einem Sprachwissenschaftler: Bersu, Philipp: Kulturen und Religionen. Rückblicke und Ausblicke auf das Ringen und Sehnen der Menschheit. Berlin: Union Deutsche Verlagsgesellschaft 1926, S. 112–116.

354

Manfred Gawlina

am Vorabend des Pessach, wo der Mahlvorsitzende vom Mazze spricht: »Dies ist das Brot des Elends, das unsere Väter in Ägypten gegessen haben, wer hungrig ist, der komme und esse mit uns.«8 – Dagegen, und Herder hat es bereits bemerkt (nicht aber die Interpolation dabei!), ist Jesu Abschiedsgeste, zuletzt und insgesamt, eine Freudengeste!9 Deshalb ein Freudentrunk, Freudenbecher trotz, ja eigentlich: wegen Jesu Vollendungsschritt des Kreuzes! Denn selbst das Kreuz ist nur Aspekt! Es geht um die Bewährung und Erhöhung des Lebens! Insgesamt um die Wahrhaftmachung der Wahrheit. Um das Amen! Das Amen der Ethizität.10 Dafür, dass Jesu Brot-und-Wein-Geste ebenso wenig sakralen Stellenwert hat(te) wie für sich genommen seine Hinrichtung (ethisch-sakral ist das ganze Erdenleben Jesu!), zeugt schon, dass das genaueste und zugleich spirituellste Evangelium, das von Johannes, der Person, welcher der Hellenist Jesus am nächsten stand, kein Iota über die »Eucharistie« äußert. Genauso wenig kommt sie in den drei anderen Evangelien vor; in die Synoptiker wird sie nur eingeschoben! Das aber so ungeschickt, dass man das Messer bei der Arbeit sieht. Doch wer von den Exegeten hat es bemerkt oder kenntlich gemacht? Die eigentliche später, und zwar gerade vom Machtpapst Innozenz III., so dogmatisierte »Wandlung« oder, was ohne Aristotelismus nicht denkbar ist, »Transsubstantiation«, heute oft plumper »Impanation« (wie »Inkarnation«) genannt, die Ostkirche verharrt bei mysterion, »Geheimnis«, in allen Fällen das, was den Priester über das Volk stellt und es zu einem fremder Leitung bedürftiger Laien degradiert (substanziell sind beide verschieden!), eine solche »Heiligung« des Brotes, durch eine Beziehung seines Gebrochenwerdens auf sich, Jesus, diese Geste soll nach dem einfachen Speise- bzw. Agape-Mahl stattgefunden haben, als eigener Akt des 8 Schoeps, Hans-Joachim: Religionen. Wesen und Geschichte. Gütersloh: Bertelsmann 1961, S. 249. Vgl. vom selben: Theologie und Geschichte des Judenchristentums. Tübingen: Mohr 1949. 9 Herder, Johann Gottfried: Christliche Schriften. Fünfte Sammlung: Von Religion, Lehrmeinungen und Gebräuchen. Leipzig: Hartknoch 1798, S. 141–165 und S. 166–182 (»Probe übelgefasster Lehrmeinungen am Abendmahl«), S. 169 argumentiert gegen »Verwandlung« als Widerspruch zu Jesu Gesamthandlung. 10 Im Austrinken des Kelches wie im Brechen des Brotes deutet Jesus auf sich selber, nicht auf ein Ding oder Zeichen. Anders wäre es magischer Hokuspokus, als Herrschaftsmittel einer Clique (Priesterkaste, einer, wenn konsequent, mit geheimen Oberen). Mit solcher Einsicht ist alle Ritualität, alle Kultzauberei, als zu einer hier unzuständigen theoretischen Vernunft gehörig, verabschiedet. Siehe, doppelbödig formuliert, denn allein (»bloß«) die Vernunft bestimmt den Sinn von Religion und kann nur selber Letztauslegerin von Glaubensschriften sein: Kant, Immanuel: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. 2. Originalausgabe (=B) Königsberg: Nicolovius 1794 (Erstaufl. 1793), dort v. a. das »Vierte Stück«, B 225–314, überschrieben mit »Vom Dienst und Afterdienst unter der Herrschaft des guten Prinzips oder von Religion und Pfaffentum«; Letzteres nennen wir »Ekklesiasmus« oder »Papismus«. Religion, »subjektiv betrachtet«, schützt er sich, definiert Kant als »die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttlicher Gebote«, B 229. Kultmagische Praktiken bleiben allerdings als psychologisches Problem (von Infantilismus).

Interpolation im Neuen Testament. Eine Machtkritik

355

dann zweiteiligen Abendmahls. Trotzdem setzen Redakteure, Überarbeiter die knappen »Einsetzungsworte« teilweise, den Erzähllauf zerstörend, mitten in den Bericht zur bloßen Agape. So dass die Elf (bei Lukas ist sogar noch Judas dabei) erst Wein, dann Jesu Blut, dann wieder Wein trinken! Man lese hier Mt 26, Mk 14 und Lk 22 nach; interpoliert sind Mt 26, 26–28, Mk 14, 22–24 und Lk 22, 19–20. Frappieren muss es jeden selber! Deshalb bloß Hinweise: Durch den Einschub erhebt Jesus bei Lk gleich zweimal den Kelch, Lk 22,17 und 20, und zwar nach vorherigem förmlichen Beenden von Speisen und Trinken! Und der Verräter kommuniziert! Ungerührt über die »heilige Kommunion« (aus der später, in einer Monstranz als Präparat dargeboten, das »Allerheiligste« wird), beginnen gleich anschließend die Jünger einen Streit darüber, wer denn jener Sohn des Verderbens sei. Und danach zanken sie, wer von den Übrigen als der Größte zu gelten habe! Bei Mk wird, genau betrachtet, das gewöhnliche Symposion nach der Kommunion wiederaufgenommen. Siehe V. 25, dessen »wahrlich, wahrlich« logisch nicht mehr nach dieser gebraucht werden kann, denn es ist Jesu höchste Bekräftigungsformel für das Höchste. Weshalb sie bei Mt 26,29 weggelassen ist. Mt 26,26 verzichtet beim Einschub ganz auf einen Übergang: Jesus schwenkt danach von der Enttarnung des Iskarioten direkt zur Kommunionspendung und V. 29 hart zurück zu gewöhnlichem Wein, auf den er nun verzichten werde, bis er, im hellenistischen Kulturkontext, von ihm wieder trinken werde im Vollanbruch des Reiches Gottes – auf Erden? Wie arm wäre das Leben mit Jesus, ereignete sich die Gott-Mensch-Einung nur, gar in Gestalt von kurzer Zeit (digestionsabhängig!) in jener interpolierten Eucharistie! Wobei verdinglichende Populärtheologie dann aus dem Zeichen die Sache selbst macht und anstelle von Jesus selbst, sein – horribile dictu! – Fleisch bzw. Blut erwartet! (In Neapel genügt auch das nicht, da orakeln sie aus dem Blut des hl. Gennaro!) Der biblische Term »Fleisch« wird damit genauso missdeutet wie die für sich nicht unkorrekte Semiotik eines Thomas von Aquin, die er zum angemessen übersinnlichen Verständnis aller Sakramente aufbietet.

Baalscher Schatten Nur unliterarischen Augen erscheint, sei gegen Einwände angemerkt, als (2′), der Hebräerbrief als Kronbeleg für einen Jesu Identität (und nicht bloß eine anthropologisch-mythologisch konstruierte »Christus«-Figur) kennzeichnenden Opferbegriff. Sogar in seiner maximal-blutigen Form! Erst das abgeleitete Messopfer überwindet das Kruente, setzte es aber voraus und »präsent«. Bei beidem kehrt, obzwar abgewandelt, die schon den Jerusalemer Tempeldienst prägende baalische Kultpraxis wieder, zumindest als Ethos-Norm. Baal-Moloch forderte gesamtpalästinisch das sacrificium der Erstgeburt. Zum Ausgleich der Sünden

356

Manfred Gawlina

der Eltern. Die Leviten haben es ablösbar gemacht (Luk 2, 22–24). Doch genau das wird – der Deutung nach – dann in Jesus revidiert. Er opfert sich selbst, als sein eigener Hohepriester! Und Johannes schiebt man jenes Sophisma unter: Joh 11,49–52 und 18,14. In einer fehlgeleiteten Tradition wurde der Hebräerbrief dominant so interpretiert. Doch künstlerisch betrachtet, weist, von seiner Erzählweise her, gerade dieser dann revolutionäre Text, alle physisch-reale Opferrede ab, und zwar als mit Jesus selbst überholt und fortan universal entwertet! Was aber zugleich Entpriesterlichung und Entkultung bedeutet, samt Entkommerzialisierung des Seelischen. Es gibt nur mehr eine Liturgie und Eucharistie, die des selbstbestimmten Rechttuns und der rechten, durch sich selber rechten, Selbstbestimmung – und so, allein so, der wahren Gottverherrlichung wie zugleich Menschenfeier. Hinfällig wird damit alle scheinbar Jesus getreue Ethik (ein Moralersatz!) des aut pati aut mori. Gegen den vielleicht nur noch in der Offenbarung des Johannes überbotenen poetischen Grundsinn des Briefes halte ich (als didaktische Glosse) eingeschoben Hebr 9,22, wenigstens das Stück ab dem zweiten »und«: »et sine sanguinis effusione non fit remissio«, verdeutscht oft mit: »kein Heil, außer es fließt Blut«. Nicht ohne Grund schwanken die lateinischen Quellen zwischen »fusione« und »effusione« für haimatekchysía. Neben »remissio«, »Vergebung«, wird hier – gegen die Erzählweise sonsthin im Brief – auf engstem Raum ein zweiter hochspezialisierter Fachterminus gebraucht. Das wie der Sprachbruch beweist uns die Interpolation hier – und deren Widersinn, weg von der eigentlichen Pointe, dass mit Jesus alle Blutopfermagie noch den letzten Grenzwert von Legitimität, den sie vor ihm (sehr!) vielleicht gehabt haben mag, verloren hat, auch als Zivilisationsfortschritt.11 Unabhängig davon, dass Paulus wohl kaum den mit seinem Namen versehenen Hebräerbrief – er richtet sich, von der Sprachwurzel her, an alle Söhne des Ebr! – verfasst hat, ist dieser Mann aus Tarsus der erste literarische Zeuge Jesu (und insofern dann Vorbild für Johannes!). Dieses sein Zeugnis ist durchaus

11 Vgl. hierzu – wie allgemein zum Thema »Kompilationsprozess« der Evangelien und des NT – die Arbeiten von Vinzent, etwa seinen unsere Gesamtargumentation stützenden, obgleich dabei die iranisch-indische Linie ausblendenden und so den Otto-Standard unterlaufenden, Aufsatz: Vinzent, Markus: »Jesus, der Christus, ein griechisch-jüdischer Mysterienmythos? Ein Beitrag zu Markions Evangelium.« Keryx. Zeitschrift für Antike, Bd. 4: Religiöse Praktiken in der Antike. Individuum – Gesellschaft – Weltbeziehung. Hg. von Scheuermann, Leif und Spickermann, Wolfgang. Graz: Unipress 2016, S. 75–86. Vinzent ersetzt die Logienquelle Q durch ein Urevangelium des Markion. Jener spätere »Ketzer« wäre danach der Erfinder der Textgattung Evangelium und Urkompilator des Neuen Testaments.

Interpolation im Neuen Testament. Eine Machtkritik

357

nicht historisch, sondern »pneumatisch« oder, was begrifflich dasselbe ausdrückt, rein-geistig, intellektuell. Paulus hat ein spekulatives Bild von Jesus entworfen: ersehen. Genetisch geht das allen »Evangelien« voraus. Deshalb zählen wir Paulus mit zur Philosophie; sein Einblick, der allerdings breit in Floskeln von Banalität oder Präjudiz versinkt, gehört zur Erkenntnis der Erkenntnis und darin zum Versuch, das Heilige zu begreifen, d. h. uns (in differenzierten Kreisen ursprünglich alle) in Einheit mit ihm. Vgl. Eph 4,6. Entsprechend betont ein Interpret gegen Verdinglichungsverstehen: »Die Idee, dass die paulinische Lehre dem Wirken Christi die Bedeutung eines Gotts dargebrachten Opfers zuschreibe, nimmt Bilder und Symbole wortwörtlich und muss als tiefer Irrtum bezeichnet werden.« Ein Kollege ergänzt, Paulus »kennt nur die Liebe als das Motiv, aus dem Gott seinen Sohn dahingegeben hat« – s. das Gleichnis von den Winzern, etwa Mk 12, 6–7. Eine legalistische Satisfaktionstheorie ist Pauli »Bewusstsein fremd«.12 Das eigentlich Maligne und Vitiöse einer dinglichen Opfertheologie und entsprechenden Kalkülfrömmigkeit ist ja: Je mehr man opfert ( je mehr Männer Priester werden und je frequenter sie »zelebrieren«), desto weniger bedarf es der Moralität, desto mehr waltet bzw. ergießt sich »Gnade« oder, diskontiert, »Barmherzigkeit« und »bedeckt« die Sünde oder schafft sie nunmehr, bis auf Weiteres, amtskirchlich ab. Dinglichkeit, Reifikation, bedeutet hier konkret, dass man das Tropische, vielleicht die Metonymie, von »Brot und Wein« außer Acht lässt, ein besonderes Sprachhandeln und seinen verständnisnotwendigen Kontext (bzw. Kon- und Subtext zugleich, das stets mitgemeinte Unterschwellige, Unsagbare jeder Aussage, die Konnotation). Zur das fortspinnenden Messopferfeier aber haben wir keine ursprünglichen Belege, nur spätere – gänzlich unjesuische wie antipaulinische – Praktik. Die Einschübe beweisen es. Das Interpolationsverfahren passt zu der im Grunde leeren Nomenklatur von »Ordination«, »Brotbrechen« oder, wie erwähnt, »Messe« von missa, »Entlassung«, oder auch von »Sakrament«, ergänzt durch »Sakramentalien«, oder gleich der gesamten Konzilskirche als »Sacramentum mundi«.

12 Ramsay, William Mitchell: Teaching of Paul in Terms of the Present Day: The Deems Lectures in New York University. London: Hodder & Stoughton 1914, S. 198. Kaftan, Julius: Jesus und Paulus. Eine freundschaftliche Streitschrift gegen die religionsgeschichtlichen Volksbücher von D. Bousset und D. Wrede. Frankfurt: Mohr 1906, S. 38. Pfleiderer spricht von einer kirchlichen »Entstellung und Verflachung« der Lehre des Paulus und verlangt eine Wiederentdeckung seiner »vollen mystisch-ethischen Tiefe«: Pfleiderer, Otto: Der Paulinismus. Ein Beitrag zur Geschichte der urchristlichen Theologie. 2. Aufl. Leipzig: Fues 1890 (1. Aufl. 1873), S. 185.

358

Manfred Gawlina

Die Erfindung des Heiligen Geistes (3) Als 1334 der Avignon-Papst Johannes XXII. das Dreifaltigkeitsfest in der Gesamtkirche einführte, mit der Trinitatis-Präfation an fast allen Sonntagen, gegen die Logik des stets dem Dreieinigen gewidmeten servitium, vermochte man sich nur auf eine einzige Bibelstelle zu beziehen, und die ist Interpolation: Mt 28, 19–20. Schon sprachlich zeigt sich, noch in treuen Übersetzungen, durch eine Doppelung (»lehret«), dass da etwas eingefügt wurde, und zwar sowohl die Dreifaltigkeit, dogmatisiert erst im Jahr 381, wie das Taufsakrament (Joh 20, 22–23 hat man das spätere Beichtsakrament eingeschaltet).13 Jesu Worte setzen wir kursiv und zitieren sie bereinigt, um zwei Stufen. Denn es könnte sein, dass Jesus von derselben Taufe gesprochen hat, von der – oder doch Einschub? – Apg 2,38 spricht, das baptisma auf Jesu Namen! Sie wäre dann nur die Anzeige eines Bekenntnisses zur Gestalt Jesus von Nazareth gewesen, also ein Nicht-Ihn-Abweisen. »Taufen auf [einen Namen]« ist ein sinnvoller Ausdruck, nicht aber »taufen in [einem solchen]«; letzterer Formel fehlte das Objekt der Handlung und somit der Rechtspunkt: »Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. Darum gehet hin und lehret alle Völker alles halten, was ich euch befohlen [= anvertraut, erinnernd angesonnen; M. G.] habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende.« Interpoliert, erfunden, durch Setzung des bestimmten Artikels, wirkt (4) der Heilige Geist, als nachösterliche »Dublette« Jesu (R. Otto). Etwa Joh 20,22. Die Verse 22 und 23 unterbrechen dort mit ganz anderem und dabei völlig überraschendem Inhalt, eben dem »Empfang« des Hl. Geists, den Erzählfluss. Der zielt ganz offensichtlich auf Thomas, den Zweifler, Abwesenden, nicht auf die Neufigur des Spiritussanktus. Nach meiner Deutung ist der Hl. Geist überhaupt der Geist Gottes, eine besondere dritte göttliche Person passt nicht in die Botschaft Jesu. Das vorhin Zitierte belegt es! Jesus selbst ist laut dem, bereinigt oder nicht, Vers Mt 28,20 der Beistand, der bleibt, der Tröster, also, per definitionem der Heilige Geist. Zumindest aber die Fülle heiligen Geistes.14 Dieselbe interruptio ereignet sich in den Abschiedsreden Jesu vor seiner Passion, etwa Joh, Kapitel 13 bis 17. Gerade sie lehren oder zeigen die höchste Intensität zwischen Sohn und Vater (Joh 13, 3.34; 14, 3.7–11), die zugleich jene Bildlichkeit als unzulänglich zurücklässt. Wenn dann, noch dazu ohne Einführung, Übergang, Vermittlung, plötzlich der Hl. Geist da hineinplatzt, z. B. Joh 14,26, 15,26 und 16,7 interpoliert wird, von höchst Unsensiblen, wird gerade jenes 13 Man stelle sich vor, Jesus würde Maria Magdalena ein Bußregime auferlegen! 14 Beider (ineinander übergehender) Gebrauch findet sich schön 1 Kor 12, 1–11, also gemäß King James Bible »the Spirit of God« oder »the Holy Ghost«.

Interpolation im Neuen Testament. Eine Machtkritik

359

Innigste und Tiefste – in das ja auch wir hineinsollen und -dürfen – gestört. Hätte Jesus tatsächlich so geredet, selber also interpoliert, es hätte die Schüler und voran Johannes zurecht verdutzt. Sie hätten nichts mehr verstanden, sich auch an das Vorherige nicht mehr erinnert. Eine separate dritte Person passt in all diese Fälle (hier nur eine Auswahl der loci) nicht hinein. Außer, wenn man die Intensität der Liebe zwischen Vater und Sohn als diese – immer schon mitanwesende – »dritte Person« deutete. Festgezurrt wird es erst lange nach der Erstversion des NT, 381 auf dem Konzil von Konstantinopel I. Jede Verbildlichung der dritten Person muss allerdings scheitern. Als Mensch geworden, anthropomorph (im griechischen Sinn!), ist Jesus am leichtesten und dabei realistisch darzustellen. Beim Geist bleibt es zunächst beim bloßen Symbol, etwa bei »Feuer« und »Sturm«, was ihn aber einseitig, über Maß, dem Vater als alttestamentlichem Gewittergott angleicht. Die »Taube« wird nicht in allen Kulturen gleich, und gar als Bild der Friedensstiftung, verstanden; im Chinesischen etwa gilt sie als Zeichen des Lusttriebs. Allgemein verständlich und sicher ist dagegen die Bildlichkeit bei Jesus selber: Der Granit des NT ist die Anrede »Vater« durch Jesus, der damit DER Sohn ist, sich als DEN Sohn bestimmt und offenlegt.15 Jene göttliche Dualität stören nun in der Bibel zahlreiche Hl.-Geist-Einschübe. Und doch lässt sich diese Dualität durch sich erweitern, innerlich, und das sogar in doppeltem Sinn. Einmal durchaus in Richtung auf jenen Vater-und-Sohn-innerlichen Hl. Geist. Und darüber hinaus und im Zusammenhang damit als Integration einer vierten Person. Diese aber ist gewiss nicht, wie es prominent C. G. Jung behauptet hatte (irgendwie mit Origines und Hiob), Satan.16 Es ist die Gott-zugewandte, d. h. autonom sittlich qualifizierte, Menschheit. Also, wenngleich oft im Kürzel von anima (oder in der Person von »Maria«), alle Menschen, die »das Gute suchen und ihm nachjagen«, »vollkommen« sein wollen. Philologisch kommt es bei der Thematik Hl. Geist meist auf den Artikel an (s. Apg 2,4 im Vgl. zu 4,31). Ist vom oder von Geist die Rede? Sogar wenn der Artikel steht, ist – wie etwa Gen 1,2 – der allgemeine Geist oder das Wesen Gottes gemeint, also eine Verdoppelung wie bei Indianer-Rede, wenn statt »ich« gesagt wird »mein Herz«.17 Selbst das Credo sagt, vom Griechischen her, nicht »emp15 Siehe den Schluss und Höhepunkt von: Otto, Rudolf: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen. 17.–22. Aufl. Gotha: Klotz 1929 (1. Aufl. Breslau: Trewendt & Granier 1917), S. 221. 1915 bis 1917, während der Abfassung »des Heiligen«, lehrte Otto an der Universität Breslau als Professor für Systematische Theologie. 16 Jung, Carl Gustav: Gesammelte Werke, Bd. 11: Zur Psychologie westlicher und östlicher Religion. Olten: Walter 1963, S. 185. Vgl. Hiob 1,6. 17 Anders als es (der junge) Otto annahm, in Die Anschauung vom Heiligen Geiste bei Luther. Eine historisch-dogmatische Untersuchung, Göttingen: Vandenhoeck 1898, wäre es absurd, behaupten zu wollen, »der Geist Gottes« von Gen 1,2 sei die dritte göttliche Person und nicht

360

Manfred Gawlina

fangen vom Hl. Geist«, sondern »von heiligem Geist«, d. h. von Gott selber als Seinem Hauch. Tempel heiligen Geistes ist jeder! Ein »Missionsbefehl« setzt jene Gottinnigkeit bereits voraus! Und nur durch jenes, mit Fichte, Aus-Gott-Heraus der Freiheit und Selbstbestimmung konnte/kann ein Jesus überhaupt verstanden werden. Alle »Offenbarung« ist damit innerlich, sie ist Spontaneität der Vernunft, ein »Als-Ob« nach Kants hier mit Herder und Fichte konkordierender Religionsschrift.18 Die Sendung heiligen Geistes, was vermag sie damit mehr zu bedeuten als einen tiefer inneren Erkenntnisaufbruch in der Urgemeinde, im sozusagen Urvolk! Der Hl. Geist weht also nicht aristotelisch oder stoizistisch von außen, er kommt platonisch-fichtisch-deutsch-idealistisch, mit Rilke zu reden, »aus Innen«. Und das erklärt mit der Glossolalie die »Feuerzungen« als sich mitteilendes Leuchten und Auto-Illumination (Apg 2,3–4). In diesem Sinn dürfte Pfingsten als das Fest der Redintegration Gottes in sich selbst gefeiert werden. Zugleich als das der Vergöttlichung von Menschheit (s. Apg 4,32). Als Hochfest der dann eigentlich zweiseitigen, kommunikativen theôsis. Das deutsche Denken und Fühlen hat früh jene Höhe ergriffen. Nach Meister Eckhart kann sich die »Seele« mit keiner restsinnlichen Dreifaltigkeit befriedigen; sie strebt dorthin, wo die Personen »ausblühen«. Deshalb sinnt Eckhart uns an, uns »Gottes quitt« zu machen. Das daraus abgeleitete Hauptwort des Angelus Silesius müsste danach lauten: »Mensch, werde, ineins, deiner wie Gottes über-wesentlich!«19

Der selber ganz und gar und wesentlich, von dem Jesus aussagt, »Gott ist Geist«! Gen 1,1 und 1,2 handelt es sich um intensional denselben Akteur. 18 Fuhrmann 1996, S. 50 weist auf den lange nicht kanonischen Rang der zu(m) hl. Geist handelnden Apostelgeschichte. Ebenso auf Jacques LeGoffs These von einer Erfindung des Fegefeuers – das dann so manche vorgebliche Mystik ausmalt (La naissance du purgatoire, Paris: Gallimard 1981) – durch Fehllesung, einer Ersetzung des Adjektivs »purgatorius« im Sinn von »strafend« durch das vergegenständlichende Substantiv »Fegefeuer«, eben »purgatorium«, inszeniert durch Pariser Magister, zu Gunsten des päpstlichen Fiskalismus, konkret des Kaufs von Ablassbriefen für die Armen Seelen: Fuhrmann, 1988, S. 282; 1996, S. 136. In der Ostkirche gibt es jene Instanz bzw. Lektüre übrigens nicht und damit keinen Ablass. – Ebenso auf Fehlphilologie beruht der Zölibat. Zu dessen naturverstümmelnder Erfindung (überliefert sind Anreden, nicht Titel, wie »presbytera« und »episcopissa«): Fuhrmann 1996, S. 150–171 mit Literatur S. 290–292, darunter, in zwei Teilen, erschienen Altenburg: Pierer 1828, von den Breslauern Johann Anton und Augustin Theiner Die Einführung der erzwungenen Ehelosigkeit bei den christlichen Geistlichen und ihre Folgen. 19 »Wer Freiheit liebt, liebt Gott.« So S. 26 von Angelus Silesius [= Scheffler, Johann]: Aus dem Cherubinischen Wandersmann und anderen geistlichen Dichtungen. Auswahl und Einleitung von Haring, Erich. Stuttgart: Reclam 1979; in gewöhnlicher Gestalt findet sich der Satz S. 32.

Interpolation im Neuen Testament. Eine Machtkritik

361

Flankierung durch andere Fälschung Zur Interpolation gesellen sich weitere Eingriffsverfahren. Voran die Umerklärug alttestamentlicher Texte hin auf einen pro-jesuischen Bezug. Etwa nach dem Einschub des »Protoevangelium(s)« von Gen 3,15. Als ob Jesus irgendwelcher Fremdlegitimation bedurft hätte! Ihm selber sogar schiebt man solchen Umgang mit der hebräischen Bibel unter. Auf das dort noch massivere Thema von Interpolation und vorher Kompilation und Redaktion – vgl. nur die vergeistigtere Fassung von Lev 16, 29–34 mit der Parallele Lev 16, 1–28 – brauchen wir nicht eingehen; Spinoza hat es in seinem Tractatus theologico-politicus, anonym erschienen Amsterdam 1670, getan und wurde dafür prompt exkommuniziert.20 Jesus ist nicht der jüdische Messias, als Vorstellung ohnehin nur Zutat zum eigentlich religiösen Gesetz. Denn Er gilt mehr! Er ist, es gilt, dies selber frei mitzuvollziehen, »der Heilige Gottes« laut Mk 1,24 (vgl. Lk 4,34) oder, wieder mit Definitartikel, »der Sohn Gottes« (Mt 8,29; Mk 5,7 [Hauptstelle]; Lk 8,28). Jesus hat sich höher gestaltet als nur in die politisch ausgerichtete Rolle eines »Befreiers«! Trotzdem verlangt Petrus von Jesus genau jene enge, irdische, Messianität noch nach der Auferstehung! »Herr, richtest du jetzt das Königtum wieder auf in Israel?«, Apg 1,6. Noch immer ist selbst im engsten Kreis nicht verstanden, wieso Jesus es seinen Jüngern zu Beginn (doch das heißt: als Prinzip) geradezu verboten hat, ihn auf »Christos« festzulegen, etwa Mt 16,20. Auch »Menschensohn« greift nicht; Jesus erhandelt sich aus dem Oben schlechthin! Und gerade darauf kommt es, im Wissen und so für uns alle, an!21 Eine philologisch-logische Heilung (auch) der Interpolationen geht einher mit einer Theologie der Aspektualität oder Hinsichtlichkeit. Nicht absolut, sondern – qua Metapher oder Metonymie – ist Jesus in seinen »Attributen« dann doch, relativ zum Kontext, der Salvator, in Wiederaufnahme iranischer Vorstellungen vom soter oder saoshyant.22 Absolut genommen aber würde Jesus durch ein solches Schema defiguriert. Wie durch das von »Opfer« oder »Priester«; allenfalls im Sinn des rex-sacerdos Melchisedek ist er es, mit der Basis »König«! Beachten wir, dass der Auferstandene am spontansten zunächst als »Gärtner« bezeichnet und dann als »Lehrer« angesprochen wird: didaskale! Welch Verzerrung also, 20 Spinoza, Baruch de: Theologisch-politischer Traktat. Übertragen und hg. von Gebhardt, Carl. 4. Aufl. Leipzig: Meiner 1922, S. 110–123. Dazu: Römer, Thomas: L′Ancien Testament. Paris: Que sais-je?/Humensis 2019, S. 10, 52. 21 Im Besonderen diskutiert Rudolf Otto die unzulängliche Zuschreibung »Menschensohn«, s. ders.: Reich Gottes und Menschensohn. Ein religionsgeschichtlicher Versuch. 2., verbesserte Aufl. München: Beck 1940 (1. Aufl. 1933), S. 118–208. Ottos Philologie repräsentiert noch genauer seine Richard Garve gewidmete Edition, Stuttgart: Kohlhammer 1935, Der Sang des Hehr-Erhabenen. Die Bhagavad-Gita. 22 Bersu 1926, S. 114. Ausführlich: Lommel, Hermann: Die Religion Zarathustras nach dem Awesta dargestellt. Tübingen: Mohr 1930.

362

Manfred Gawlina

wenn in späteren Darstellungen der Gottheit diese eine ein- oder dreifache Papsttiara trägt. Wobei die Tiara wie die Mitra aus dem Mithras-Kult stammt, dem Konkurrenten des jungen »Christentums«. Genauso wenig aber dürfte man sich jüngerseitig als »Jesuiten« oder Joshuaner nennen, denn Jesus kam es nicht auf sich – in seiner humanitas – an, sondern auf Gott und Seine Gottheit in Gott! Deshalb, nicht, weil er ein Mensch war und »im Fleisch«, konnte er sagen: »Ich bin die Wahrheit!« Er hat also keine Religion gestiftet und keinen »Glauben« (schon gar keinen Kirchen-), sondern an die allgemeine Wahrheit erinnert, die selber, als ganze und göttliche, personal ist, d. h. sich zu sich selber verhält, in ihrer Tiefe und Unauslotbarkeit für je begrenzte Verstehensakte. Deshalb also gilt – hier absolut, nicht bloß aspektuell – der Beginn des Johannesevangeliums, wonach Gott der Logos ist und der Logos, die sich vollbringende Wahrheit, Gott. Der griechische Text gebraucht hier das Imperfekt als Wesensausdruck, »ên« (Joh 1, 1–2). Nie um Für-wahr-Halten geht es Jesus, vielmehr stets um Erkennen – und ein Rechtleben aus sich und Ihm, interpersonal, heraus. Verbindlich an Jesus ist so nicht seine Menschheit, allein ist es seine und das heißt: die Gottheit.

Vom wahren Schatz Philologisch-positiv dürfte man Jesus in seinem Selbstsein, Selbst-Aussage-Sein nachzuzeichnen suchen (a) durch seine Selbstbekundungen, anhebend oft mit »ego eimi«, und (b) durch seine Gleichnisse. Bei Letzteren fallen wieder sehr Interpolationen auf, so, wenn, die Pointe bzw. den intendierten Erkenntnisblitz beim Hörer/Leser verderbend, ein fabula docet eingefügt wird, ähnlich wie der Happyend-Anhang bei Job. Oder wenn die Anmutung, der Schlagcharakter der Lehre geglättet wird, wie etwa beim Gleichnis von der Sorglosigkeit, Mt 6,25 ff: »Betrachtet die Lilien des Feldes…«. Jenes Herrliche schwächt ein buchhalterischer Einschub in V. 26, wonach Gott genau wisse, dass der Mensch eben doch der vom Meister verlachten Güter bedürfe. Jesus selber wendet sich Mt 17, 25–26 gegen die Tempel-, heute Kirchensteuer. Interpoliert aber wird, gegen den Sinn und als (implizite) Leugnung der Gottheit Jesu, der Kirchenregimentsgedanke, Petrus hätte sie trotzdem »heimlich« für Jesus und seine Schar bezahlt, Petrus also damit im Herzen Komplize des Levitismus, mit Hilfe (und spätestens daran verrät sich der Einschub) einer Mirakelgeschichte, die man auch aus den Grimmschen Märchen kennt: Fisch speit Münze (V. 27). Direkte Umkehr findet sich beim sog. Isaakopfer: Liegt die Bedeutung der atl Perikope gerade darin, dass YHWH keine solchen Sakrifize mehr will, stellt der Römische Messkanon Isaak als zentrales Vorbild für Jesus und dessen erforderte Schlachtung dar. Gegen einen solchen Missbrauch der theo-

Interpolation im Neuen Testament. Eine Machtkritik

363

retischen Vernunft äußert Jesus, dessen Moralstandard wiederum Redaktion Mt 7,12 und Lk 6,31 bloß auf die Goldene Regel vermindert: »Barmherzigkeit will ich, nicht Opfer!«23 Im Gleichnis vom Guten Hirten um Joh 10,11 spricht Jesus von »Schafen«, und zwar wissenden, denn sie »kennen« die Stimme des Pastors, ihren Klang, der für sie sein Leben, sein ganzes, nicht allein das der Karwoche, einsetzt, und können sie vom Falsett der Wölfe (im Schafspelz) unterscheiden. Anstelle von (1) rekurriert der offizielle Machtdiskurs heute gern auf ein Stück des Johannes-Evangeliums, wo der auferstandene Jesus Petrus (immerhin: allenfalls ihm selber und das neben anderen Führern!) aufträgt, dreifach, »weide meine Lämmer!« (Joh 21,15 ff). Doch erneut und methodisch verstärkt dürfen wir nachfragen, ob jenes Großbeispiel (5) nicht (Part einer) Interpolation ist, und zwar einer Verschlechterung der Lehre, einer evidenten Passiv-Machung der »Christen«. Denn jene »Lämmer« treten außerhalb eines Gleichnisses auf, im Realkontext des Pascha. Soll Petrus sie (alle irgendwie) zur Opferung geleiten? Beim Abschied hat Jesus die Seinen nicht einmal mehr »Schüler« genannt, vielmehr seine »Freunde«. Nun aber werden sie zu Nachläufern und bloßen Untertanen degradiert. Moral aber ist nicht, spricht (nach Kant) die freiheitermächtigende Vernunft, per se Gehorsam. Schon die Stellung dieser Perikope muss verwundern; (5) stellt einen addierten, also zweiten Schluss des Evangeliums dar, nach dem eigentlichen ersten Joh 20,31.24

Canossasakrament Vorher wird (6) die Beichte hineinerfunden, als »Gnadenmittel« zur Gefügigmachung vor allem der »reichen« Sünder, seit Heinrich IV. vorzugsweise der deutschen Könige und Kaiser als Herrschaftswettbewerber des Papsttums. Philologisch kenntlich wird es wieder an einer offensichtlichen Unterbrechung und Sinnstörung der Zwiesprache zwischen Jesus und Thomas Joh 20, 22–23. Erneut wirkt V. 23 wie ein Einschub zweiten Grades, ein Nachdruck zur Gewissensunterwerfung. In 22 ist nur vom hl. Geist die Rede, dann, 23, von einem Nachlas23 Mit »Barmherzigkeit«, Mt 9,13, ist aktive höhere Ethisierung, nicht Gnadenüberschüttung gemeint. 24 Die dritte klerikalistische Hauptstelle, Luk 22,32 bzw. 31–38, wird durch die Parallelen der übrigen Evangelien als (interpoliertes?) Sondergut ausgewiesen: Mt 26,31–35, Mk 14, 27–31, Joh 13, 36–38. Auf Einschub (über das gewöhnliche Patchwork hinaus!) deutet schon die unterschiedliche Anrede Jesu an den sog. Apostelfürsten, nämlich Lk 22,31 zunächst »Simon, Simon«, kurz darauf aber, V. 34, »Petrus«! Und was ist von einem Jesus zu halten, der alle Jünger in der Glaubensanfechtung sieht, V. 31, doch V. 32 nur für einen, den Chef quasi, betet, hier wieder Petrus und Gott-Vater assimilierend (vgl. Mt 16,17) und sich selber als Zentralfigur herausnehmend?

364

Manfred Gawlina

sungs-Formalismus, den Jesus selbst geradezu verworfen hatte, kam es (ihm) doch auf die Innerlichkeit und Aufrichtigkeit von Reue an. Luk 18,14 ist der zerknirschte Zöllner eben dadurch schon voll und ganz »justificatus«! Joh 21 wird in der Erzählung zunehmend fantastisch, etwa wenn der Auferstandene nunmehr als arbeitend vorgestellt wird, als Koch oder Wirt, »Heilsökonom«, und Fische brät, Joh 21,9, und dazu ein Feuer angezündet und die passive Beute geschuppt und ausgenommen hat. Sind die gefangenen und gerösteten »Fische« Vorgeschmack der »Lämmer«?25 Das alles wirkt wie eine narrative Gegenströmung zum eigentlichen Jesus seines öffentlichen Auftretens. Bei (a) und (b) kommt es im Besonderen auf das Zarte des Nicht-Aussprechens und doch – geteilt, gemeinsam, interpersonal – Wissens, Erkennens an! Rhetorisch und erzieherisch bewegt sich das gegen jeden statischen »Katechismus«. Denn der Logos ist mehr als ein Begriff! Der Begriff selber nur Leiter, nur Zeige! Deshalb Jesu rekurrierendes, insistierendes »Seht!« Im Licht dieses auch fühlenden Selbersehens erscheint klar, dass Jesus genauso wenig, wie einen »sakramentalen« Blut- und Opferkult eine Kultisierung seines Wortes verlangt oder erwartet hat. Schon deshalb nicht, weil viele seiner logoi aus späterer Redaktion heraus, nicht also als dictatus, gefasst sind. Zudem muss man auf die Bezüglichkeit der Gesamthandlung, zu der Reden oder auch bloß Andeuten gehört, achten (können). Die einzig-legitime Bibellektüre ist damit die auf den Sinn der Rede in ihrem Zusammenhang sinnende, d. h. die »sensibel« literarische oder aspektuelle und insofern bezügliche. Getragen wird sie von der Endabsicht der Moralität; sie allein gilt zuerst wie zuletzt. Alles Übrige insbesondere zum Gebiet der theoretischen Vernunft Gehörige ist auf sie hin relativ. Obgleich nicht bloß einfache, minimale Ethik gemeint ist, vielmehr höhere, ihre eigene Kreativität und somit die Chance dauernder Neugeburt der Guthandelnden in ihrer Kommunität (die Kant »unsichtbare Kirche« nennt), in Verwandlung auch des Wagnisses der Vernunft selbst!

Rechtsfälschung Bibelmanipulation steht nicht allein. Sie wird durch andere Dimensionen von Fälschungsbereitschaft bzw. Betrugswirklichkeit »plausibel«, durch Verstrickungskonsens. Das betrifft v. a. Rechtsfälschung. Das Kronexempel liefert hier die sog. 25 Der zweite Schluss des Evangeliums ist Joh 20,24, ein dritter der nachfolgende Vers. Zur Genauigkeit sei angemerkt, dass bei dem dreifachen Weideauftrag Joh 21,15 ff nur das erste Mal von »Lämmern« gesprochen wird. Auch redet Jesus den Petrus – wie zur Entwertung von (1) – »Simon« an!

Interpolation im Neuen Testament. Eine Machtkritik

365

Konstantinischen Schenkung, eine Urkundenfälschung, die bereits Otto I. durchschaute. Mit dieser falsificatio erschlichen sich die anfänglichen Diener, »Diakone«, der Gläubigen für sich untereinander, ihren eigenen sich so immer mehr auskristallisierenden Zirkel, eine eigene Rechtspersönlichkeit, in solcher Restriktion dann »Kirche« genannt, auf Kosten des Volkes und durch seine Beraubung (steresis). Man sieht es auch am Lexem »Priester«; es besagt eigentlich nur »Älteste«, presbyteroi. Auch episkopoi sind begriffsursprünglich nicht mehr als Aufseher der Gemeinde für die Gemeinde. Jene sprachlich-interpolativ erschlichene Ämterkirche fungierte als Rechtssubjekt und konnte etwa erben oder (über Stiftungen) beschenkt werden. Diese »zivilrechtliche« Fiktion reichte ihnen indes nicht; in kurialer Auslegung verleiht Konstantins Akt zugleich »öffentlich-rechtliche« Hoheitlichkeit. Ein einzelner Kaiser hätte danach dem Papsttum für immer den gesamten Westen des Römischen Reiches übertragen (samt, noch unentdeckt, Amerika…) und so sukzessive jeden Papst zu einem Mit-, nein: Überkaiser erhoben.26 Gregor VII. genügte das noch immer nicht. Durch erkünstelten Vorrang des »Geistlichen« über alles, auch das königlich-kaiserliche, »Weltliche«, wird bei ihm und seinem Anhang der Papst zum caput mundi! Sogar Gott gehorcht ihm, hat er seinem Bevollmächtigten doch die »Schlüsselgewalt« übertragen. Auch vor Gott ist der Papst oder sein Vertreter bis zum kleinsten Kaplan inappellabel. Jene Fälschungspraxis nach außen und gegen das Volk, d. h. die sich verbindenden Einzelnen, die Jesus lieben, verfährt kastenintern nicht anders. Konkret gefälscht wird hier das kanonische Recht, am prominentesten durch die Erfindung der Pseudoisidorischen Dekretale.27 Sie erst spreizen den Bischof von Rom auf zum angemaßten Träger eines »Universalepiskopats« mit Befehlsgewalt über die anderen Bischöfe. Die Gerissenheit konzentrierte sich hier v. a. auf ortsynodale Dekrete, die sie zu dem Gesamtzweck manipuliert hatten! Man schlage Näheres bei Döllinger nach.28

26 Dazu: Fuhrmann 1988, S. 196: »Die offizielle Kirche hielt später diesen den Kirchenstaat begründenden Schenkungsakt [durch das fingierte Constitutum Constantini] für so wichtig, dass als Ketzer angesehen wurde, wer das Dokument zurückwies.« Macht- und Glaubenspolitik bilde(t)en also eine Einheit. Nach demselben Framing oder Skript gab/gibt es zudem eine »Pippinsche Schenkung«. Fortsetzung offen. 27 Vgl. Schoeps 1961, S. 329. In seiner Habilitationsschrift beschäftigte sich Fuhrmann ausführlich mit, so Johannes Haller, der aber unsere Thematik ignoriert, »dem größten Betrug der Weltgeschichte«: Einfluss und Verbreitung der pseudoisidorischen Fälschungen. Von ihrem Auftreten bis in die neuere Zeit. 3 Bände. Stuttgart: Hiersemann 1972–1974 (= Schriften der Monumenta Germaniae Historica, Bände 24.1–24.3). 28 Nochmals Fuhrmann: Ignaz von Döllinger. Ein exkommunizierter Theologe als Akademiepräsident und Historiker. Stuttgart: Kohlhammer 1999 (= Sitzungsberichte der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse, Band 137, Heft 1).

366

Manfred Gawlina

Eine Manipulation korroboriert die andere, trotz mancher Rückschläge ein langer Gleichmarsch durch die Jahrhunderte. Weitere Faktoren der Inszenierung ließen sich nennen, etwa die ökonomisch üppigen Anlass zu Reliquienfälschung bietende Hyperbolik der Christenverfolgungen,29 übertrieben in Quantität und, mehr noch, im Sadomasochismus der »berichteten« Strafen, wiederum in Herabwürdigung der weltlichen Autoritäten (weder Pilatus noch gar Tiberius wollten Jesus angreifen!). Paganen Göttern gleich, assimiliert, tragen solche »Märtyrer« die Attribute ihrer finalen Heiligung zur Schau. Dabei kommt es zum Austausch des Personals. Antike Gottheiten kehren als Heilige wieder. Sankt Christophorus wird in der Ostkirche als Hund dargestellt; nicht das einzige kanonisierte Tier.

29 Fuhrmann 1988, S. 196–197 und öfter.

Katja Petrowskaja im Gespräch mit Monika Wolting

Die Hölle in Brand setzten

Monika Wolting: Katja, wenn ich deinen Lebenslauf und dein schriftstellerisches Engagement betrachte, so bist du Zeugin und Archivarin eines ganzen Jahrhunderts. Ich fange bei dem ersten an: ist dein Lebenslauf eine Kette von Zufällen, ein Spiel des Schicksals? Oder gab es für dich einen konkreten Lebensplan? Denn, du bist in Kiew geboren, damals zur Sowjetunion gehörend, bist 1986 nach Moskau zur Schule, dann nach Tartu (Estland) zum Studium gegangen, dann wieder nach Moskau zurück, um da deine Dissertation zu schreiben und schließlich 1999 nach Berlin, um hier zu leben und zu arbeiten. Katja Petrowskaja: Eigentlich würde ich am liebsten auf diese Frage einfach nur schweigen. Aber wenn du das schon fragst, dann ergeben sich in meinem Lebenslauf in der Tat Eckpunkte, die mein Leben geformt haben. 1986 wurde die Stadt, in der wir lebten, stark vom Tschernobyl-GAU in Mitleidenschaft gezogen. Meine Eltern entschieden damals, dass ich nach Moskau in die Schule gehen soll. M.W.: Zum Studium gingst du nach Tartu? K.P.: Aus heutiger Sicht hört sich das wenig einleuchtend an. Die Universität Tartu war zu dieser Zeit das Zentrum der russischen Philologie. Es ist für mich immer merkwürdig, eine nacherzählte Biografie zutage zu fördern, es klingt immer etwas glänzend und glamourös. Meine Geschichte war es aber bei Weitem nicht. Auch wenn ich nach der Tartu-Zeit wieder nach Moskau ging, um da meine Dissertation zu verfassen. Es waren die 90. Jahre, Moskau gehörte zu den teuersten Städten der Welt und ich schrieb meine Doktorarbeit, ohne dafür ein Stipendium in Anspruch zu nehmen. Die Zeit war übersät mit Schwierigkeiten und Hindernissen. Es überrascht mich immer wieder, wieviel Bitterkeit und Einsamkeit in einem Erfolgt steckt. Die Überraschung ist umso größer, wenn man zu den Menschen gehört, die Erfolg nicht schätzen.

368

Katja Petrowskaja im Gespräch mit Monika Wolting

M.W.: Du hast deinen Mann, einen engagierten Umweltschützer, Mitte der 90. Jahre in Kiew kennengelernt und ihr seid dann zusammen nach Berlin gegangen. K.P.: Eigentlich war es nie mein Ziel, nach Deutschland zu gehen. Ich war eher amerikanisch orientiert, auch wenn in meiner Familie durchaus Interesse an deutscher Kultur bestand. Ich habe weder in der Schule noch im Studium Deutsch gelernt, mit meinem Mann sprach ich immer Russisch. Meine Geschichte ist aber keine Opfer-Täter-Geschichte, ich habe meinen Mann überredet, nach Deutschland zurückzukehren. Aber vielleicht gehört es zum jüdischen Glück, einen Deutschen zu heiraten und sich dann in Berlin zu verlieben. Als ich zum ersten Mal nach Berlin kam und mitten auf dem noch leeren Potsdamer Platz stand, hat mich diese Unbestimmtheit, der rohe Zustand, dieser leere Raum stark angezogen. Das war ein spannender Moment. Gerade die Zerstörung hat Berlin so faszinierend gemacht, so frei für Neues und trotzdem so friedlich. Es ist ein faszinierender Raum, der aus der bewussten Bewältigung des Krieges, der Teilung Deutschlands erwachsen ist. Moskau war zu dieser Zeit anders, da spürte man schon die Begeisterung für Putin. Ich konnte mich in der neuen MoskauerRealität nur schwer finden. Mein Mann wollte zwar in Moskau leben und sich dort für den Umweltschutz engagieren. Unser Weg führte dann aber nach Berlin. Die ersten Jahre in Berlin gehören nicht zu den glücklichen. Vieles davon habe ich später in »Vielleicht Esther« verarbeitet. War es Zufall, war es Schicksal? Für mich ist dabei eigentlich nur wichtig die Frage, was man daraus macht, was einem zustößt. Erst nach der Niederschrift des Buches verstand ich den Sinn der Zufälle und der Schicksalsschläge. M.W.: In Berlin hast du ein Leben in mehreren Sprachen angefangen. K.P.: Ja, das Sich-Bewegen von einer Sprache in die andere bedeutet für mich immer noch das totale Chaos. Auch wenn jede Sprache für mich eine ihr fest zugeschriebene Funktion hat, z. B. zu Hause unterhalten wir uns auf Russisch, meine Arbeitssprache ist Deutsch. M.W.: Warum hast du »Vielleicht Esther« auf Deutsch geschrieben? K.P.: Seit einigen Jahren stelle ich mir die Frage, warum ich »Vielleicht Esther« auf Deutsch verfasst habe und heute gar kein Bedürfnis verspüre, auf Deutsch etwas zu schreiben. Die Anfänge des Bandes liegen auf Russisch vor, ich habe zuerst angefangen, die Geschichte auf Russisch aufzuschreiben, weil sie auf Russisch in der Familie erzählt wurde und ich russischsprachige Notizen gemacht hatte. Ich habe auch viel recherchiert, die Dokumente und Memoiren, die ich als Grundlage

Die Hölle in Brand setzten

369

benutzt habe, lagen auf Russisch vor. Die Sprache war die wichtigste Frage und das wichtigste Motiv, das die Entstehung des Bandes begleitet hat. Für mich ist sie auch die wichtigste Protagonistin des Bandes. In gewisser Weise handelt der Erzählband von den Verlusten des 20. Jahrhunderts, über Verluste, die viele Menschen, Familien, Völker erlitten haben. Ich suchte nach einem Mittel, wie ich den Verlust dem Band einverleiben kann, wie ich über den Verlust sprechen kann. So kam ich zu der Erkenntnis, dass gerade der Verlust der Muttersprache ein Leitmotiv und zugleich das Symbol dafür sein könnte. Denn auf der Muttersprache lastet die eigene Biografie. Eine fremde Sprache ist wie ein leerer Raum, der mit Wörtern verbunden ist, die nicht erlebt, sondern gelernt wurden. Die Sprache ist fiktiv und kennt kein Gefühl, sie trägt keine Last. M.W.: Ich möchte Migration als einen Prozess verstehen, der sich zwischen dem Politischen und dem Persönlichen ereignet. Wie siehst du das? K.P.: Ich habe immer noch meinen ukrainischen Pass, und das aus Prinzip. Das ist meine Freiheit der Emigration. In der Zeit der Perestroika dachte ich, dass ich der Generation ›Pepsi‹ angehöre, dass ich überallhin reisen darf, überall leben, studieren kann und dass für mich die Welt offensteht. Das war aber eine absolut falsche Denkweise. In Deutschland durfte ich nur wegen der Heirat mit einem deutschen Staatsbürger bleiben. Ich wollte mich aber auch nie als Jüdin in Deutschland ansiedeln, die Verantwortung dafür trägt wahrscheinlich mein nationaler Stolz. M.W.: Richtet sich Stolz nicht gegen denjenigen, der ihn hat? K.P.: Ja, auch meine Lebenserfahrung hat mich das gelehrt. Es war und ist immer die Frage, wie ich als Migrantin, die ich eigentlich nie war, meinen Raum gestalte und kreiere. Der Raum ist sicherlich trügerisch, er verspricht, dass man irgendwohin gehört, wenn man eigentlich weiß, dass man nirgendwohin gehört. Ich spreche lieber von Wanderung als von Migration. M.W.: Wie ist dein Bezug zu deiner Muttersprache? K.P.: Russisch war für mich immer wichtig. Nachdem ich »Vielleicht Esther« geschrieben hatte, hat sich mein Verhältnis zum Russischen gewandelt. In den letzten zwei, drei Jahren schreibe ich wieder mehr auf Russisch. Das heißt, ich versuche es, aber ich entwickle auch kein richtiges Gefühl für die russische Sprache. Ich bin noch verrückter auf Russisch. Meine Sätze sind ohne Punkt und Komma und ganz ohne Syntax. Es ist wirklich interessant, ich dachte, ich hätte

370

Katja Petrowskaja im Gespräch mit Monika Wolting

mich in der Fremdsprache ausgetobt, aber eigentlich ist es eher Reduzierung gewesen. In der russischen Sprache bin ich dazu noch zu sehr Satirikerin. M.W.: Wie ist dein Verhältnis zu der deutschen Sprache heute? K.P.: Ich bin in einer Kluft aufgewachsen, einer Kluft zwischen Bach und »Hände hoch!«, zwischen großen Werken deutscher Kultur: mein Vater kennt Heinrich Heine in allen russischen Übersetzungen, könnte seine Gedichte zwei Tage lang zitieren, und dem Kriegs-Diskurs. Für die, die keinen Zugang zur deutschen Kultur hatten, standen auf der anderen Seite Kriegsfilme und der russische Kriegsmythos. Mit »Vielleicht Esther« habe ich das Deutsche für mich unschuldig gesprochen. So dreht sich der Band nicht nur um den Verlust, sondern auch um die Unschuld der Sprache, der deutschen Sprache. Sprache empfinde ich wie ein Minenfeld, auf der einen Seite ist die russische Verlogenheit, die sich in dem oben genannten Mythos manifestiert, auf der anderen Seite ist die Entwertung der deutschen Sprache. So habe ich versucht, diese Minen zu umgehen und sie sichtbar zu machen. Aus diesem Grund fängt mein Buch mit den Großbuchstaben, BOMBARDIER an, weil Bomben in dem Wort stecken, weil Gewalt von diesem Wort ausgeht, weil »am Anfang das Wort war«. Würde ich den Band auf Russisch verfasst haben, wäre ich unweigerlich in einem moralischen Diskurs von Sieg und Opferbereitschaft gefangen. Von demselben auf Deutsch zu berichten, bedeutete hingegen, sich ein deutsches Gegenüber zu imaginieren. Und so konnte ich davon erzählen, dass die Geschichte von Opfer und Täter für mich nicht existent ist. Die deutsche Sprache kam da einer Befreiung gleich. Wenn ich meine Geschichten auf Russisch schreibe, so ist klar, dass ich meine Opferrolle annehme, weil sie der russischen Sprache eingeschrieben ist. Wenn ich aber dasselbe auf Deutsch schreibe, ist es nicht ganz klar, wer ich bin, und es ist eine gewisse Entfremdung, Entfremdung meiner Person, meiner Familie und auch der Geschichte, die ich erzähle. M.W.: Nun hast du aber gesagt, dass du seit einigen Jahren wieder zum Russischen im Schreiben tendierst. K.P.: Auf Deutsch zu schreiben, bedeutet für mich den Text 100 Mal zu überarbeiten, es ist eine harte und mühsame Arbeit. Momentan vermute ich, mir fehlt ein so großes Ziel, um mich einer solchen Anstrengung auszusetzten. Es hat sicher auch mit den Bedürfnissen zu tun. Bei dem Schreiben von »Vielleicht Esther« hatte ich das Gefühl, ich muss diese Geschichte niederschreiben und dazu war der Preis angemessen. Eigentlich besitze ich keine Erfahrung als Schriftstellerin. Es war mein erstes Buch. Es ist möglich, dass es für mich einfacher war, eine deutsche Schriftstellerin zu werden, als Schriftstellerin überhaupt. Zu einer

Die Hölle in Brand setzten

371

schriftstellerischen Arbeit gehört, einen Ton zu finden, eine Besonderheit der Sprache hervorzuheben, die sie von der Alltagssprache unterscheiden würde. Das habe ich in der deutschen Sprache gefunden, denn sie ist nicht meine Alltagssprache. M.W.: Du verweist auf Einzelfiguren, die in der großen Geschichte fungieren. Dabei wird »Vielleicht Esther« oft als ein Roman der Identitätssuche bezeichnet. Beide Feststellungen passen eigentlich nicht gut zusammen. K.P.: Unter dem Begriff Gesellschaft, deutsche, russische, polnische Gesellschaft konnte ich mir nie etwas vorstellen. Mich interessiert der Mensch, der zwischen Räumen lebt und diese Erfahrungen der Bewegung, des Überschreitens von Grenzen in sich trägt und diese Erfahrungen wahrnimmt. In Gesellschaften finden sich Menschen mit unterschiedlichen Biografien und unterschiedlichen Erfahrungen. Es ist nichts Ganzheitliches, es lässt sich nicht durch einen Diskurs beschreiben. Auch meinen Roman »Vielleicht Esther« sollte man nicht unbedingt als einen Identitäts-Roman, einen Identitätsfindung-Roman. Damit hat der Roman nichts zu tun. Für mich sind die Begriffe Erleben und Erlebnis, Erfahrung, das Erfahren essenziel wichtig. In der Erfahrung liegt die Bewegung inbegriffen. Was mich am meisten interessiert, ist das Wahrnehmen meiner eigenen Erfahrungen. Ich bin unter dem Zeichen des ganz großen sowjetischen Kriegsmythos’ aufgewachsen auf der einen Seite, auf der anderen Seite habe ich eine historischphilosophische Prägung meiner Familie erhalten, die den Mythos stets in Frage stellte. Als junge sowjetische Frau bin ich aus Kiew, nach Moskau dann nach Tartu und nach St. Petersburg gegangen. So sind meine eigenen Erfahrungen mit diesen Ländern verwachsen. Danach kam ich nach Berlin. Mich verwunderte in Berlin, warum so viele stets über die Geschichte stolpern. Die Wahrnehmung von Topographie von Berlin hat mich zu der Erkenntnis geführt, dass der Krieg wie ein Bernstein in der Topographie der Stadt eingeschlossen ist. Berliner Mauer konservierte Spuren des Zweiten Kriegs. Meine Gedanken überwältigten die Erlebnisse eines sowjetischen, ex-sowjetischen Menschen in diesem Raum Berlins. Die Struktur meines Romans wird von zwei Grunderfahrungen bestimmt: (Aus)Wanderung und Rückkehr nach Hause. Dieser Weg nach Hause verläuft über europäische Landschaften, durch das »Bloodland« von Timothy Snyder. In meinem Roman liegen auch alle Ortschaften entlang eines blutigen Weges der vergangenen Jahrhunderte. M.W.: Inwiefern spielen für dich solche »Ideenkonglomerate« wie das Polnische, das Deutsche, das Ukrainische, das Jüdische, das Russische eine Rolle?

372

Katja Petrowskaja im Gespräch mit Monika Wolting

K.P.: Ich glaube, so eine spezifische Sprache, die du grade verwendest, die konkret etwas bezeichnen will, ist nur auf wissenschaftlichen oder auch politischen Gebieten möglich. Aber wenn es und Beschreibungen und Charakteristika von Menschen geht, dann muss anderer Schlüssel gefunden werden. Für mich ist der Schlüssel das Beschreiben von Erfahrungen. Ich kann mir schwer ein Schreiben über das Deutsche, das Russische, das Jüdische vorstellen. Als Autorin betrachte ich wie sich das Leben entwickelt, was für eine Geschichte einem Menschen zuteilwird. Durch meine Erfahrung weiß ich, wie zentral stets die Frage nach dem ist, wer bin ich gegenüber den Anderen?, z. B. einer Polin wie dir. Ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen, meine Familie ist polnischer Herkunft, meine Eltern entwickelten eine Sehnsucht nach dem Polnischen. Sie waren Dissidenten in der Sowjetunion und zugleich verstanden sie sich als Bürger dieses Landes und trotzdem haben sie die Schuld der Sowjetunion Polen gegenüber stets betont. Das prinzipielle Moment ihrer Erinnerung war das Ereignis, als 1944 die russischen Truppen an der Weichsel die Geschehnisse in Warschau abgewartet haben. Ich erinnere mich, als ich am Anfang der Perestroika-Bewegungen 1987 den Film »Der Kanal« von Andrzej Wajda in einem großen Kinosaal in Kiew gesehen habe und da hat jeder verstanden, dass in der letzten Szene die Protagonisten die Soldaten der Sowjetischen Armee waren. Das ist eine sehr interessante Haltung, das bedeutet: Ich komme aus einer Familie, die sich nicht durch Identität verstanden hat, nicht als Ukrainer, Russen oder Juden sondern meine Eltern identifizierten sich mit einem bestimmten Gewissen. Es ist auch meine Haltung, mein Credo. Es ist mir nicht so wichtig, wer was ist, sondern zu verstehen und dem nachzugehen, wo die Wahrheit liegt, wer in der Geschichte, in einer bestimmten Situation leidet, wer recht haben könnte. Es war für mich immer wichtig herauszufinden, über wen die Geschichte noch nicht erzählt ist. Ich erinnere ein Ereignis aus meiner frühen Zeit in Berlin. Ich traf auf einem Spielplatz einen Mann, der heute das polnische Filmfestival in Berlin leitet. Als ich erfuhr, dass er aus Polen kommt, habe ich mich sofort bei ihm für die drei Teilungen Polens entschuldigt. Ich glaube, er hat mich damals nicht so ganz recht verstanden, was ich wollte. Aber das genau war meine Haltung, mich dafür zu entschuldigen, was in der Geschichte Schlimmes anderen Menschen angetan wurde. Die polnische Frage war für die russischen Intellektuellen eine Gewissensfrage, vergleichbar vielleicht mit der jüdischen Frage für viele Polen. Der russische Staat hat Polen stets erniedrigt, verletzt und geteilt. Ich beschäftige mich grade mit einem russischen Verlag, der als erster trotz Verbots die Texte von Adam Mickiewicz veröffentlicht hat. Das hat mich immer interessiert. Wo liegt das Gewissen? Das hat mit Identität, mit ethnischen Beschreibungen nicht unbedingt etwas zu tun. Mich interessieren vor allem Ideen, die nicht durch Identitäten entstehen, sondern durch Mitgefühl.

Die Hölle in Brand setzten

373

M.W: Wo würdest du die Quellen deiner Erfahrungen ausmachen? K.P.: Begegnungen mit Menschen, die Topographien der Städte, alle Erlebnisse, die einem zuteilwerden. Erfahrung ist prinzipiell alles andere als sortierte wissenschaftliche oder biographische Erkenntnisse. Wenn man von Erfahrung spricht, meint man den ganzen Menschen. M.W.: Du engagierst dich politisch, unterstützt Künstler, Aktivisten, die bis zum Äußersten gehen, um gegen das Unrecht in ihrem Land zu protestieren. K.P.: In der Tat, ich schreibe oft Kolumnen, in denen ich mich zu politischem Engagement vieler Künstler, Journalisten äußere. Wichtig ist es aber dabei zu betonen, dass ich nicht jeden Schritt und jede Handlung russischer oder ukrainischer Aktivisten unterstütze. Ich stehe nicht hinter allen Bewegungen, oder auch Menschen, da ich jeglichen Fanatismus ablehne. Ich setzte aber oft meinen Namen für gute Zwecke ein, wenn ich weiß, dass ich jemandem helfen kann. Ich würde mich aber auch nicht als Kämpferin einschätzen, es gibt bestimmte Momente, in denen ich denke, ich könnte was tun, ich fühle, mein Engagement wird gebraucht, dann werde ich aktiv. M.W.: Wie verstehst du dein politisches Engagement? K.P.: Ich habe oft das Gefühl, dass ich etwas machen muss, aber ich verstehe politisches Engagement nicht als meine Rolle. Es gibt bestimmte Situationen, z. B. gegenwärtig, in Belarus als Maria Kolesnikowa verhaftet wurde, habe ich die Notwendigkeit einer Tätigkeit eingesehen. Wir haben dann mit vielen Kolleginnen und Kollegen einen Brief der deutschen Kulturschaffenden verfasst, in dem wir an die Bundeskanzlerin appellieren, die Freilassung von Kolesnikowa zu erwirken. Bei diesem Vorhaben war mir der Umstand wichtig, dass ich meine Erfahrungen mit den Menschen in Belarus teile, ich habe viele Freunde, die an der Protestbewegung teilnehmen und von den staatlichen Maßnahmen betroffen sind. Eine gute Freundin von mir, eine Musikerin, ist gut mit Kolesnikowa befreundet. Das war der erste Impetus für mein Engagement. Es ist oft nur ein Zufall, dass man sich mit der großen Geschichte auf einmal verbunden fühlt. M.W.: Lass und bitte noch etwas weiter zurück gehen. Als in Kiew Schüsse auf dem Maidan fielen, hast du mit deinen Eltern telefoniert, was waren deine Empfindungen in Hinblick auf eine so nah erlebte Gefahr? K.P.: Auf den letzten Seiten meines Romans beschreibe ich die Straße, in der ich meine Kindheit und Jugend verbracht habe und in derselben 2014 Schüsse fielen

374

Katja Petrowskaja im Gespräch mit Monika Wolting

und Menschen umgebracht wurden. Ich hatte das Gefühl, dass ich nichts geschafft habe. Ich schrieb über diesen vergessenen Ort Kiew, über die Katastrophen in Kiew und in Babyn Jar. An eine weitere Katastrophe wollte ich in diesem Moment nicht glauben. Mir schien es, dass die Welt untergeht. Der Zustand, dass in einer friedlichen Straße, wie ich sie erlebt hatte, auf Menschen geschossen wird und Menschen getötet werden, erlebte ich wie eine persönliche Niederlage. Ich konnte mir diese Situation weder soziologisch noch politisch erklären. Man konnte zu dieser Zeit Maidan 24 Stunden von verschiedenen Seiten sehen. Die modernen Medien geben uns einen uneingeschränkten Einblick in Situationen. Damals fragte ich mich, wer die Geschehnisse auf dem Maidan besser einschätzen kann, die Menschen, die da anwesend sind, oder die, die das Geschehen unter Bezugnahme moderner Medien betrachten? Anfang Februar bin ich aber tatsächlich mit meinen Kindern nach Kiew gefahren, es war kurz vor dem Massaker, bei dem am 20. Februar 100 Menschen getötet wurden. Für mich persönlich bedeutet Maidan vor allem Topographie meiner Kindheit. Meine Schule, mein Zuhause liegen ganz in den Nähe. Ich sang im Chor, ich tanzte in einer Tanzgruppe im Oktoberpalast. Die ganze Woche lief ich als Kind über den Maidan, aß Piroggen in einem Bistro. Ich erinnere mich noch an noch die Umbauarbeiten in den 80. Jahren auf dem Maidan. Mein Vater meinte damals, der Platz solle eine Gestalt annehmen, dass er für Proteste und Demos ungeeignet sei. Die Sowjetunion versuchte damals stark das zu verhindern, was in Polen mit der Solidarnos´c´-Bewegung in Gang gebracht wurde. Die Ereignisse auf dem Maidan waren für mich in vielerlei Hinsicht ein Schock, sie stellten alles in Frage, was ich bis dahin mit Maidan in Verbindung brachte. M.W.: Du hast »Vielleicht Esther« vor sieben Jahren veröffentlicht. Ist das Projekt des Bandes für dich damit abgeschlossen? K.P.: Ich frage mich oft, was eigentlich dieses Buch ist? Grade, dass die Ereignisse auf der Institutska-Straße die letzten sind, die ich beschreibe und 2014 in dieser Straße weiter Geschichte geschrieben wird: Auf über 200 Menschen wurde geschossen. Wo endet die Geschichte? Wo fängt die Literatur an? Diese Erkenntnis hat mich sehr erschüttert. Deine Frage ist insofern auch von größter Bedeutung, weil sie darauf verweist, dass jeder literarische Text etwas öffnet und etwas schließt. Der Roman ist auch auf diese Weise entstanden, dass ich ständig über Gräber gelaufen bin. Den Tod von Millionen Menschen kann niemand verstehen. Nach der jahrelangen Beschäftigung mit dem Thema ist es gar nicht möglich, einen Punkt zu setzten. Es entstehen immer wieder neue Verweise, Bezugspunkte, Fragen, auf die ich nach Antworten suchen muss. Dieser Roman ist mein persönliches Oratorium. Vielleicht auch aus diesem Grund passt die deutsche Sprache zu diesem Roman besser als jede andere der Welt. Es ist die Sprache

Die Hölle in Brand setzten

375

von Bach und ich habe 10 Jahre im Chor Bach gesungen. Es ist eine Art einer religiösen Verbindung. Ich habe die Ereignisse aus dem Leben meiner Familie aufgeschrieben, um weiter zu leben. In diesem Sinne war der Roman fertig. Es ist aber keine Vollendung. Die Geschichte ist zwar abgeschlossen aber das Denken darüber, auch für mich, habe ich erst geöffnet.

Wolfgang Bittner (Göttingen)

Fünf Gedichte für Norbert Honsza (†)

Corona-Frühling 2020 So ging die Sonne auf, heute eine angefaulte Tomate, kalt und unwirklich. Notstand ist angesagt, verboten die Straße, der Park, die Wohnung zu verlassen. Virologen erklären die Welt und Viren herrschen im Küchenradio, selbst in unserem Briefkasten, in der Suppe, im Fernseher, flattern über den Blumen vor der Haustür und verteilen sich auf der Fensterscheibe. Ich beschließe, mich zu waschen und ein Gedicht zu schreiben, ist doch eigentlich Frühling.

Topografie 1 Es steht in der Zeitung, das Fernsehen berichtet, Tag für Tag Wahnsinn: So viel Hass, so viel Gewalt, Intoleranz, Fanatismus.

378 Verwüstete Wohnungen bedeutet das, Bücher aus dem Regal geworfen, Matratzen aufgeschlitzt, Bespitzelungen, Bedrohungen, Folter und Mord, die vielen Kriege. Wer sind die Täter? Wie leben sie? Wissen sie, was sie tun? Was antworten sie, wenn sie gefragt werden? Wir fragen sie!

Bomben-Stimmung Ganze Länder zerstört, aufgemischt, entstaatlicht, chaotisiert. Hunderttausenden das Leben genommen, Millionen in die Flucht getrieben, Abermillionen die Existenz entzogen, Hunger und Not verbreitet. Menschlichkeit, ein schöner Traum, ein Vorwand, »humanitäre Einsätze«, heißt das oder »Demokratisierung«. In Wahrheit: Profit, Rendite, Strategie und Größenwahn. Zurück bleiben: ein Schlachtfeld, die Weinenden, Leidenden, die Entrechteten und Bedürftigen, die tickenden Zeitbomben – und das Staatstheater Terrorismushysterie.

Wolfgang Bittner

Fünf Gedichte für Norbert Honsza

Flüchtling Woher kommst du, Flüchtling? Sag mir, woher du kommst. Warum senkst du den Blick? Warum schüttelst du den Kopf ? Kommst du aus Syrien, Afghanistan, Somalia? Aus Libyen, dem Irak, Marokko? Kommst du aus den sagenhaften Städten des Orients? Oder aus dem heimgesuchten Afrika? Kommst du aus dem goldreichen Mali? Dem geheimnisvollen Timbuktu? Vielleicht aus Damaskus, der uralten Metropole am Fuße des Berges Qasyun, der Heimat des weisen Sultans Saladin? Oder aus Sanaa, der liebreizenden Stadt Jemens mit den zum Himmel strebenden Lehmhäusern, jetzt zerstört durch Granaten und Bomben. Oder kommst du aus der unglücklichen Ukraine, dem Reich der Kiewer Rus, einst Kornkammer des Ostens? Sag mir doch, Fremder, woher du kommst. Was hat dich aus deiner Heimat vertrieben? Steht dein Haus noch, gibt es deine Stadt noch? Wo sind deine Eltern, die dich umsorgt haben? Wo ist deine Frau, wo sind deine Kinder? Was hat dich schweigsam gemacht? Sag, was ist dir geschehen? Nun komm herein, Fremder, es ist Krieg. Sag mir, woher du kommst, nenne mir deinen Namen.

Bleib bei dir! Lass dich nicht kaufen, warte nicht auf den Gewinn, denke nicht an eine Karriere, du würdest dich nicht wiedererkennen, lass dich nicht verbiegen. Lebe dein Leben, verschieb es nicht auf morgen, morgen ist es nicht besser,

379

380 und gestern war es nicht besser, halte dich offen, spiele, gehe hin und wieder in den Wald, sei nicht enttäuscht, es ist wie es ist. Lass dich nicht benutzen, lass dich nicht zum Narren halten, sie lügen dir ins Gesicht und erwarten deinen Dank, sie predigen Aberglaube, sie treiben Götzendienst. Atme tief, atme in Frieden. Du triffst auf Missgunst, du triffst auf Gehirnzwerge, du musst sie ignorieren, aber verachte niemanden, schlage niemanden, drohe keinem, versuche zu verstehen, engagier dich, aber lass dich nicht vereinnahmen, missachte das Scheitern. Lass dich nicht verwirren, es geht um Inhalte, nicht um Personen, informiere dich anderweitig, höre zu, denk auch vom andern her, traue dir, begreife das Unsagbare, versuche morgens zu lächeln. Genieße die Schönheit, sei ehrlich, sei hilfreich, freue dich, sei ein humanes Wesen, aber schlage ihnen ein Schnippchen, spiele ihnen einen Streich. Schwimme nicht mit dem Schwarm, er führt dich ins Netz. Lies Gedichte, bleibe empfindsam, hilf dir selbst, lebe zeitlos, meditiere die Unendlichkeit. Vertraue nicht auf deine Kinder, warte nicht auf deine Enkel, es geht um Erkenntnis, es geht um Liebe, lass dich nicht kaufen, sei Mensch, bleib bei dir.

Wolfgang Bittner

Stephan Wolting (Poznan´)

Der Vermittler. Zum Tod des polnischen Germanisten Norbert Honsza (1933–2020). Ein Nachruf

Einen Nekrolog, gespickt mit Hinweisen auf seine besonderen Verdienste oder herausragenden wissenschaftlichen Leistungen, hätte sich Norbert Honsza wohl eher verbeten. Was ihm dagegen gefallen hätte, wären kleine Geschichten oder Anekdoten, mit denen man sich seiner erinnert. Deshalb soll dies hier ganz in seinem Sinne versucht werden. Ich erinnere mich besonders an unsere erste Begegnung, als ich Norbert Honsza auf dem Internationalen Kongress des Polnischen Germanistenverbands in Warschau im Oktober 1996 zum Thema »Deutsch und Germanistik in Mitteleuropa« das erste Mal erlebte. Ich war gerade neu als DAAD-Lektor am Germanistischen Institut in Warschau tätig. Damals galt noch der schöne Brauch, dass die Vorträge und die sich daran anschließenden Fragen der Diskussion am Ende in einer Art Co-Referat vom Sektionsleiter kurz zusammengefasst wurden. Und ich erinnere mich daran, wie prägnant Norbert Honsza die Fragen zusammenfasste, jeweils speziell und sehr persönlich auf den Vortragenden und die Fragenden bezogen – immer unter Nennung des Namens und an das übergeordnete Thema anschließend. Darin drückte sich für mich eine besondere Art von Respekt sowohl den Vortragenden als auch den Fragestellern gegenüber aus, wie ich es vorher und nachher selten erlebt habe. Das nahm mich von Anfang an für ihn ein und blieb mir nachhaltig in Erinnerung. Schon damals fielen mir zwei Facetten der Persönlichkeit Norbert Honszas auf: neben seinem guten Gedächtnis vor allem eine Charaktereigenschaft, die man von Männern seiner Generation eher nicht erwartet hätte. Er war ungeheuer emphatisch. Das zeigte sich nicht zuletzt in einer Fähigkeit, die zwar immer wieder vehement eingefordert wird, aber bei Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern keineswegs immer selbstverständlich ist: Norbert Honsza konnte vor allem zuhören, die Positionen und Gedanken anderer wahrnehmen und diese als Impulse für sein eigenes Denken fruchtbar werden lassen, ohne dabei die Urheberinnen und Urheber der Reflexionen zu vergessen. Diese Fähigkeit öffnete ihm sprichwörtlich manche Türen, etwa zu seiner langen Freundschaft mit Marcel Reich-Ranicki und Günter Grass, bei denen er

382

Stephan Wolting

des Öfteren »zu Hause« war. Manche dürften daran zweifeln, ob man gleichzeitig mit beiden befreundet sein konnte. Norbert Honsza konnte dies durchaus und bezog daraus sogar wichtige Impulse für seine eigenen Forschungsarbeiten, wie seine Bücher über Grass und Reich-Ranicki zeigen, wo er biographische Einzelheiten über beide »verraten« durfte, die sonst nur wenigen zugänglich waren. Darüber hinaus vertrat er, darin mit Grass übereinstimmend, die Position einer engagierten Literatur, die sich in Öffentlichkeit und Politik Gehör verschaffen sollte, in Polen wie in Deutschland. Honsza war schon sehr früh einer der wenigen polnischen Germanisten, der interkulturelle Themen für sich entdeckte und der schon lange vor der Wende internationale Kontakte mit wichtigen Germanisten nicht nur in Deutschland hatte. Ich erinnere mich noch an viele andere Begegnungen, besonders aber steht mir jene noch vor Augen, als er 2003 den Kulturpreis Schlesien des Landes Niedersachsen erhielt. Wir saßen beide im Publikum in der ersten Reihe neben Marcel Reich-Ranicki, der die Laudatio auf ihn halten sollte. Einer der weiteren Preisträger, der Kabarettist Dieter Hildebrandt, schien mit einer voll Witz und Esprit gehaltenen Rede zunächst allen anderen Laudatoren und Preisträgern die Show zu stehlen. Wie es Hildebrandts Art war, sah er dabei auch nicht davon ab, sich ironisch zu der Preisverleihung und mit allem damit Verbundenen zu äußern, was nicht durchweg den Beifall seitens Reich-Ranickis fand. Irgendwann hielt es dieser auch in Anbetracht der Länge des Vortrags seines Vorredners nicht mehr aus, begann schließlich auf seinem Stuhl hin und her zu rutschen, bis ihm irgendwann ein nicht sehr schmeichelhaftes Wort auf Polnisch entfuhr. Daraufhin flüsterte Norbert Honsza ihm trocken zu: »Warten sie ab, Herr Reich-Ranicki!« (Sie siezten sich bis zum Schluss trotz der Freundschaft, also bis zu Reich-Ranickis Tod.) »Sie sind ja auch noch an der Reihe, dann können Sie alles in Ihrem Sinne wieder zurechtbiegen. Das dürfte Ihnen doch nicht schwerfallen.« Reich-Ranicki war beruhigt, fühlte sich geschmeichelt und es kam, wie Honsza es vorausgesagt hatte. Marcel Reich-Ranicki hielt eine kurze Einführung auf Deutsch, die eigentliche Laudatio damals aber auf Polnisch, zu »Ehren von Norbert Honsza und den Polen, die im Raum sind«, wie er betonte. Sie wurde dann simultan ins Deutsche übersetzt. Diese kleine Anekdote verrät nicht nur viel über die Beziehung zwischen ReichRanicki und Norbert Honsza, sondern sie gibt auch Aufschluss über die Person Honszas, dem es stets um ein geistreiches Vermitteln von Literatur wie um persönliche und auch politische Versöhnung ging, auch wenn manche seiner Texte – je älter er wurde – durchaus »scharf geschrieben« waren, wie er selbst das nannte. Das Vermitteln lag ihm besonders am Herzen, was ihm später in Rückblick auf die kommunistische Zeit zuweilen auch vorgeworfen wurde, worüber ich an dieser Stelle nicht urteilen kann und will. Wie ich ihn kennengelernt hatte, gehörte diese Haltung jedenfalls zu seiner Person.

Zum Tod des polnischen Germanisten Norbert Honsza

383

Was wird von Norbert Honsza bleiben? Die Erinnerung an einen Menschen und Wissenschaftler, was er in seiner Existenz nicht trennte, der sich in erster Linie als ein Vermittler verstand, ein Vermittler zwischen Literatur, Literaturwissenschaft und Literaturkritik (er kam ursprünglich vom Journalismus), zwischen Schriftstellern, Wissenschaftlern, Studierenden und einem größeren Publikum sowie zwischen polnischer, deutscher1 und tschechischer Germanistik.2 Dazu gab er über viele Jahre die viel beachtete internationale germanistische Zeitschrift »Zbliz˙enia/(Interkulturelle) Annäherungen« heraus, deren Titel man als Quintessenz seiner wissenschaftlichen wie gesellschafts- und kulturpolitischen Ambitionen betrachten kann. Er war weit über die polnischen Grenzen hinaus ein bekannter und anerkannter Wissenschaftler, arbeitete an verschiedenen Hochschulen in Polen (neben seiner Alma Mater in Breslau in Oppeln, Cze˛stochowa, Katowice und Łódz´) und bekleidete Gastprofessuren in Bielefeld, Bochum, Hamburg und Siegen. Insgesamt veröffentlichte er fast 30 wissenschaftliche Bücher (mehrere über Günter Grass und auch über Karl May) und viele hundert Artikel. Uneitel wie er war, liebte er das Leben, ein gutes Glas Wein oder Bier, gutes Essen und alles Schöne, was zum Leben gehört, um nicht indiskret in zu viele Details zu gehen. So einen wie ihn wird es nicht mehr geben, dazu haben sich die Zeiten und akademischen Institutionen nach der Wende und vornehmlich im letzten Jahrzehnt zu stark verändert: einen Wissenschaftler und Menschen, dem es auf persönliche Kontakte ankam und der die Idee der deutsch-polnischentschechischen Freundschaft lebte. Vielleicht ist in einem Nachruf auf den Toten abschließend ein Zitat von Jewgeni Jewtuschenko (aus dem Gedicht »Uninteressante Menschen gibt es nicht« in der Übersetzung von Volker Braun) angemessen: »Nicht Menschen sterben, Welten hören auf.« Norbert Honsza starb am 16. Juli 2020 in Breslau im Alter von 87 Jahren.

1 Er hielt engen beruflichen und persönlichen Kontakt zu einigen bekannten Germanisten wie Ulrich Engel (Mannheim), Hans-Gert Roloff (FU Berlin), Hans-Christoph Graf von NayhaussCormons (Karlsruhe), Heinz Ludwig Arnold (Göttingen), Uwe-K. Ketelsen (Bochum), Michael Lützeler (St. Louis) oder Alois Wierlacher (Bayreuth), um nur einige zu nennen, aber zugleich auch zum ehemaligen Bischof von Oppeln Alfons Nossol. 2 Über lange Jahre arbeitete er am Germanistischen Institut der Universität in Ostrava (Ostrau), in der Stadt, die von seinem polnisch-tschechisch-deutsch kulturell geprägten Geburtsort Wodzisław S´la˛ski (auf Deutsch: Loslau) nur 25 Kilometer entfernt lag.

Verzeichnis der Verfasserinnen und der Verfasser

Białek, Edward, Prof. Dr., Leiter der Abteilung für Literaturdidaktik am Institut für Germanische Philologie der Universität Wrocław; Literaturhistoriker, Übersetzer, Mitherausgeber der Zeitschriften »Orbis Linguarum« und »Silesia Nova«. Publikationen zur Soziologie der literarischen Kultur in Deutschland und Österreich (Zeitschriften, literarische Gruppen und Bünde); Mitglied des MGV und der Österreichischen Gesellschaft für Germanistik. Bittner, Wolfgang, Dr., Schriftsteller und Publizist, promovierter Jurist, freier Mitarbeiter bei Zeitungen, Zeitschriften, Rundfunk und Fernsehen; von 1996 bis 1998 beim Rundfunkrat des Westdeutschen Rundfunks in Köln, Mitglied im Verband deutscher Schriftsteller (1997–2001 im Bundesvorstand) und im PEN, mehrere Auszeichnungen und Preise; Ausgedehnte Reisen nach Vorderasien, Mexiko, Kanada und Neuseeland, Gastprofessuren 2004 und 2006 in Polen. Veröffentlichungen: etwa 70 Bücher für Erwachsene, Jugendliche und Kinder, darunter die Romane »Hellers allmähliche Heimkehr«, »Niemandsland« und »Die Heimat, der Krieg und der Goldene Westen«. Borzyszkowska-Szewczyk, Miłosława, Dr. habil., kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaftlerin und Germanistin, Professorin am Lehrstuhl für deutschsprachige Literatur und Kultur im Institut für deutsche Philologie der Universität Gdan´sk. Forschungsschwerpunkte: Literatur, kollektives Gedächtnis und literarische Imagologie im deutsch-polnischen kulturellen Grenzraum. Vorsitzende der Günter Grass-Gesellschaft in Danzig. Neueste Monographie: »Jüdische Gedächtnistopographien im Grenzraum. Autobiographik nach 1945 von Autoren jüdischer Herkunft aus dem Pommernland (Pommerellen und Hinterpommern)« (2019). Chromik, Therese, Dr., Studium der Philosophie, Germanistik, Geografie und Kunst in Marburg und Kiel. Leiterin der Werkstätte für Kreatives Schreiben mit SchülerInnen und Erwachsenen, Seminarleiterin in der Erziehungswissenschaft-

386

Verzeichnis der Verfasserinnen und der Verfasser

lichen Fakultät der CAU Kiel. Bis 2007 Schulleiterin an der Theodor-StormSchule in Husum. Promotion in Wroclaw 2010. Zahlreiche Buchveröffentlichungen und Aufsätze. Mehrere Literaturpreise: zuletzt der Nikolaus-LenauPreis 2012 und der Andreas-Gryphius-Preis 2014. Dittmann, Alina, Dr. habil., Literaturwissenschaftlerin, Professorin an der Staatlichen Hochschule in Nysa, Studienrätin im Fach Deutsch als Fremdsprache/ DaZ. Forschungsschwerpunkte: Literatur der Migration, fremdsprachliche Literaturdidaktik, Reiseprosa. Monographien: Kowalczyk, Alina: »Literarische Texte im Sprachlernprozess. Konzepte und Beispiele für interkulturelle Didaktik der Mittel- und Oberstufe DaF.« Bd.1 und 2., Nysa 2007, »Carl Stangen – Tourismuspionier und Schriftsteller. Der deutsche Thomas Cook.« Peter Lang: Frankfurt am Main 2017. Gawlina, Manfred, Dr., 1994 Promotion, Hochschulassistent und Lehrbeauftragter für Philosophie, Politische Wissenschaft und Geschichte an der Universität München, Feodor-Lynen-Stipendiat der Alexander von Humboldt-Stiftung. Autor von Texten zu Kant und Klassischer Deutscher Philosophie. Monographien: »Das Medusenhaupt der Kritik. Die Kontroverse zwischen Immanuel Kant und Johann August Eberhard.« Berlin & New York 1996. »Interpersonalità e prassi. Per una filosofia trascendentale dell′economia e del diritto.« Neapel 2001. »Grundlegung des Politischen in Berlin. Fichtes späte Demokratie-Theorie in ihrer Stellung zu Antike und Moderne.« Berlin 2002. Gwóz´dz´, Andrzej, Prof. Dr., Professor am Institut für Kulturwissenschaften der Humanistischen Fakultät der Schlesischen Universität in Katowice. Langjähriger Leiter des Lehrstuhls für Film- und Medienwissenschaft; in den Jahren 2005–2009 Präsident der Polnischen Gesellschaft für Kulturwissenschaften; vom 2006–2014 Chefredakteur der Zeitschrift »Kultura Współczesna«; 2015 Mitbegründer und Vizepräsident der Polnischen Gesellschaft für Film- und Medienforschung. Arbeitsschwerpunkte: Film- und Medientheorie, lokale Filmgeschichte, Geschichte des deutschen Films. Veröffentlichungen: »Kino na biegunach. Filmy niemieckie i ich historie 1949–1991« (Gdan´sk 2019), »Zaklinanie rzeczywistos´ci. Filmy niemieckie i ich historie 1933–1949« (Wrocław 2020, 2. korrigierte und erweiterte Ausgabe). Hainz, Martin A., Prof. Mag. Dr. phil., Literatur-, Sprach- und Kulturwissenschaftler, Philosoph und Bildungswissenschaftler; tätig an der PH Burgenland (Eisenstadt, Österreich). Vorstandsmitglied der Rose Ausländer-Gesellschaft. Alumnus der Alexander von Humboldt-Stiftung. Veröffentlichungen: »Silbenzwang« (Tübingen 2017), »Lapsus« (Würzburg 2014), »Entgöttertes Leid« (Tü-

Verzeichnis der Verfasserinnen und der Verfasser

387

bingen 2007), »Masken der Mehrdeutigkeit« (Wien 2001, ²2003); zahlreiche Aufsätze zur deutschen und österreichischen Literatur sowie zu philosophischen Fragestellungen. Hammer, Klaus, Prof. Dr., Literatur- und Kunstwissenschaftler, tätig als Hochschullehrer an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, an der TU Dresden, an der Universität Szczecin, an der Pommerschen Akademie in Słupsk und an der TU Koszalin. Publikationen zur Literatur und Kunst des 18., 19. und 20. Jahrhunderts; Theaterlexikon, Theorie und Geschichte des Dramas, Roman der Postmoderne, deutsch-polnische Literatur- und Kunstbeziehungen, Literatur und bildende Kunst der Gegenwart, Historische Friedhöfe und Grabmäler u. a., Literatur- und Kunstkritik. Heimann, Bodo, lehrte Germanistik an Universitäten in Haiderbad (Indien), Edmonton/Kanada und Kiel. Er veröffentlichte Abhandlungen zur deutschen Literatur und eigene Lyrik (»Blaue Stunde« Gedichte, 2013) und Prosa. Ausgezeichnet mit dem Eichendorff Preis u. a. Letzte Veröffentlichung: »Literatur und Freiheit von Lessing bis zur Gegenwart« (2014). Jarosz-Sienkiewicz, Ewa, Prof. Dr., Professorin an der Universität Wrocław am Lehrstuhl für die Gegenwartsliteratur Deutschlands am Germanistischen Institut der Universität Wrocław. Autorin von zahlreichen Veröffentlichungen und einer in polnischer Sprache verfassten Monographie über Breslau in schlesischen Romanen von der Aufklärung bis zum Ende der Weimarer Republik: »Wrocław w powies´ciach niemieckoje˛zycznych ze szczególnym uwzgle˛dnieniem pisarzy s´la˛skich od połowy XIX wieku do kon´ca republiki weimarskiej«. Forschungsschwerpunkte: Heinz Pionteks Leben und Werk, politisches Engagement in der deutschsprachigen Literatur nach 1945, Motive der Stadt und Alltagsmotive in der zeitgenössischen deutschen Literatur. Ketelsen, Uwe-K., Dr. Prof. a. D. für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum; Forschungsschwerpunkte: Aufklärung, Forcierte Rechts-Literatur seit 1870, Theater, Arbeiterliteratur. Veröffentlichungen u. a.: »Der Einbruch der Ungelehrten in die Domäne der Schrift: Touristische Konstituierung von Natur im ›Koppen-Buch‹ des Grafen Schaffgotsch« (Aufsatz, 1996); »Der Rundfunk: ein Medium des kollektiven Anrufs. Arnolt Bronnens/ A. H. Schelle-Noetzels ›Kampf im Aether Oder Die Unsichtbaren‹ als ›rechter‹ Rundfunkroman« (Aufsatz, 2011); »Die ›Gruppe 61‹ im Banne der Traditionalität« (Aufsatz, 2021).

388

Verzeichnis der Verfasserinnen und der Verfasser

Kodzis-Sofin´ska Agnieszka, Dr. habil. Seit 2005 Assistenzprofessorin am Institut für Deutsche Philologie der Universität Wrocław. Studierte germanische und niederländische Philologie an den Universitäten Wroclaw, Münster und Leipzig. Promotion 2003 an der Universität Wrocław, Habilitation 2017 in Wroclaw: Monografie »Oblicza literackiej twórczos´ci Generacji Golfa« [Literarische Tätigkeit der Generation Golf. Ideologische und künstlerische Trends in den Werken deutscher Schriftsteller um die Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert]. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Nachkriegsliteratur, Komparatistik, Wechselbeziehungen von Literatur und Musik, das deutschsprachige Drama und Theater nach 1945, deutsche Popliteratur der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert. Kuczyn´ski, Krzysztof, Prof. Dr., Germanist und Deutschlandforscher; emeritierter ordentlicher Prof. an der Universität Lódz´, Gründer und langjähriger Leiter des Lehrstuhls für Deutschlandstudien; Forschungsschwerpunkte: deutschpolnische und österreichisch-polnische kulturelle Wechselbeziehungen, deutsche Literatur Schlesiens. Autor und Herausgeber von mannigfaltigen Buchpublikationen und Sammelbänden. Jahrelange intensive Nachforschungen über das Leben und Werk u. a. von Karl Dedecius, Gerhart Hauptmann, Gerda LeberHagenau und Bonifacy Mia˛zek. Nayhauss-Cormons, Hans-Christoph Graf v., Prof. Dr. phil. habil. Dr. h. c. mult. (Omsk, Moskau, Krasnodar), Advisory Professor der Hua Dong-Universität in Shanghai; seit 1971 Dozent, seit 1976 Professor für deutsche Literatur und Literaturdidaktik an der PH-Karlsruhe bis 2007; von 2007 bis 2017 Lehrbeauftragter an der PH-Karlsruhe; Begründer und Leiter der »Forschungsstelle zur Rezeption und Didaktik deutschsprachiger Literaturen in nichtdeutschsprachigen Ländern« von 1988–2018. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Literaturwissenschaft, Literaturgeschichte, Literaturdidaktik und interkulturellen Germanistik. Neuhaus, Volker, Prof. Dr., Studium der Germanistik, Komparatistik und Evangelischen Theologie in Zürich und Bonn, 1968 Promotion, 1968 bis 1977 Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Literatur und Kunst in einer Stiftung, 1975 Habilitation für Deutsche Philologie und Vergleichende Literaturwissenschaft, 1977– 2008 Professur für Neuere Deutsche und Vergleichende Literaturwissenschaft in Köln, 2009 bis 2019 Lehrbeauftragter für diese Fächer in Osnabrück. Forschungsschwerpunkte: Europäisch-nordamerikanischer Roman, Geschichte des Detektivromans, Literatur und Theologie, Goethe, Grass (Editionen, Monographien, Biographien, Monographien und Aufsätze seit 1970; Hg. sämtlicher Werkausgaben von 1987 bis 2007).

Verzeichnis der Verfasserinnen und der Verfasser

389

Orłowski, Hubert, Prof. Dr., em. Professor an der Adam-Mickiewicz-Universität zu Poznan´ (Posen), o. Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Forschungsschwerpunkte: Historische Stereotypenforschung/historische Semantik, Literatur und literarisches Leben im Dritten Reich; deutsch-polnische Wechselbeziehungen. Publikationen: »›Polnische Wirtschaft‹. Zum deutschen Polendiskurs der Neuzeit«, 1996 (poln. Ausg. 1998); »Literatur und Herrschaft – Herrschaft und Literatur. Zur deutschen und österreichischen Literatur im 20. Jh.« (2000); »Ermland aus der Ferne. Ent-Innerungen« (polnisch, 2000), »Z modernizacja˛ w tle. Wokół rodowodu nowoczesnych niemieckich wyobraz˙en´ o Polsce i Polakach« (Modernisierung als Hintergrund. Zur Geburt deutscher moderner Vorstellungen von Polen und den Polen 2002); »Przemoc – tabu – trauma ofiar. Wokół najnowszej opowies´ci Güntera Grassa« (2002); »Dzieje kultury niemieckiej« (Mitautor, 2008, 2. Aufl. 2006), Herausgeber der Buchreihe Poznan´ska Biblioteka Niemiecka (Posener Deutsche Bibliothek) 1995–2020, 50 Bände. Osten, Manfred, Dr. jur., nach Tätigkeit im diplomatischen Dienst und als Generalsekretär der Alexander von Humboldt-Stiftung heute Publizist, Autor und Moderator. Publikationen vor allem zu Goethe, Alexander von Humboldt und zu Fragen der Gedächtniskultur. »Goethes Entdeckung der Langsamkeit«, »Die Kunst, Fehler zu machen«, »Das geraubte Gedächtnis«, »Gedenke zu leben! Wage es, glücklich zu sein! oder Goethe und das Glück« (2017). Mit Alexander Kluge zahlreiche Fernsehgespräche zu Themen der Philosophie, Musik, Literatur, Geschichte. Segner, Michael, Dr., Studium der Germanistik und Publizistik an der Freien Universität Berlin. Promotion an der Universität Wrocław. Lehre in Deutschland, Polen und Österreich. Dozent am UNS Institut für Deutsch in Hamburg. Veröffentlichungen: »›Der traurige Clown‹. Kurt Tucholskys Weg in das Schweigen«. Frankfurt am Main 2013. »Walter Meckauer (1889–1966).« In: Brämer, Andreas u. a.: (Hg.): »Jüdisches Leben zwischen Ost und West. Neue Beiträge zur jüdischen Geschichte in Schlesien.« Göttingen 2014. Stolz, Dieter, Dr., lebt als freier Lektor, Hochschullehrer und Autor in Berlin. Er promovierte an der TU Berlin mit einer Arbeit über Konstanten und Entwicklungen im literarischen Werk von Günter Grass, der ihn anschließend als »verdeckten Ermittler« für seinen Roman »Ein weites Feld« engagierte. Von 1993 bis 1999 Wissenschaftlicher Assistent, Redakteur der Zeitschrift »Sprache im technischen Zeitalter« und von 2000 bis 2006 Programmleiter beim Literarischen Colloquium Berlin (LCB), seit 2010 Herausgeber der Biographie-Reihe »Leben in Bildern«; Mitherausgeber und Kommentator der neuen Grass-Werkausgabe im

390

Verzeichnis der Verfasserinnen und der Verfasser

Steidl Verlag (NGA), Redakteur des Periodikums der Günter und Ute GrassStiftung mit dem Titel »Freipass« und seit 2013 Honorarprofessor an der Universität zu Lübeck. Wojno-Owczarska, Ewa, Dr., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut der Universität Warschau. Von 1997 bis 1998 war sie DAADStipendiatin in Jena; von 2001 bis 2002 Stipendiatin des Bayerischen Staatsministeriums für Forschung, Wissenschaft und Kunst an der LMU München. Nach der Promotion über die Entwicklung der deutschen Literaturoper im 20. Jahrhundert erhielt sie ein Stipendium der Alexander von Humboldt-Stiftung am Institut für deutsche Literatur der Humboldt-Universität zu Berlin. 2016–2018 war sie Leiterin des internationalen Projekts »Globalisierungsdiskurse in Literatur und Film des 20. und 21. Jahrhunderts« (in Kooperation mit der HU Berlin und der ELTE Budapest). Seit 2016 ist sie Leiterin des Netzwerks »Topographien der Globalisierung« für Humboldt-Alumni. Sie veranstaltete einige wissenschaftliche Tagungen und literarische Lesungen, u. a. von Kathrin Röggla, Enno Stahl und Kristine Bilkau. Sie ist Herausgeberin der Sammelbände »Global Crises and Twenty-First-Century World Literature« (mit Hansong Dan, Comparative Literature Studies 55.2 [Special Issue], Penn State University 2018), »Literarische Katastrophendiskurse im 20. und 21. Jahrhundert« (Berlin 2019), »Globalisierungsdiskurse in Literatur und Film des 20. und 21. Jahrhunderts« (mit Ulrike Stamm, Berlin 2019) und »Topographien der Globalisierung«, Band I und II (Berlin 2020). Wolting, Monika, Prof. Dr., Professorin am Germanistischen Institut der Universität Wrocław, Sprecherin des Internationalen Christa-Wolfs-Zentrums und stellvertretende Präsidentin der Goethe Gesellschaft-Polen. 2020 erhielt sie die Auszeichnung »Verdiente Versöhner«. Sie ist auch als Literaturkritikerin tätig. Publikationen: Der Heimkehrerroman der Gegenwart. Oxford German Studies 49/3/2020, S. 305–327; »Neues historisches Erzählen.« Hg. V&R: Göttingen 2019; »Der neue Kriegsroman. Repräsentationen des Afghanistankriegs in der deutschen Gegenwartsliteratur.« Winter: Heidelberg 2019; »Zaangaz˙owanie. Reprezentacje politycznos´ci w literaturze niemieckiego obszaru kulturowego.« Hg. mit Ewa Jarosz-Sienkiewicz. Universitas: Kraków 2019; »Klassik als kulturelle Praxis.« Hg. mit Paula Wojcik, u. a. De Gruyter: Berlin/Boston 2019. Wolting, Stephan, Prof. Dr., Universitätsprofessor und Lehrstuhlleiter für Interkulturelle Kommunikation am Institut für Angewandte Sprachwissenschaft an der Adam-Mickiewicz-Universität Poznan´. Nach mehrjähriger Tätigkeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf arbeitete er an diversen europäischen und außereuropäischen Universitäten. Sein Forschungsschwerpunkt liegt in den Berei-

Verzeichnis der Verfasserinnen und der Verfasser

391

chen fremdkultureller Hermeneutik, Kultur- und Literaturvermittlung (Fokus: internationale akademische Kulturen), Thanatologie sowie Kreatives und Literarisches Schreiben. Veröffentlichungen: »Undine Gruenter – Deutsche Schriftstellerin mit Ziel Paris.« Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. »Enhancing Intercultural Skills through Storytellling.« In: Rings, G./Rasinger, S.: The Cambridge Handbook of Intercultural Communication. Cambridge University Press 2020, 276ff.